Katherine Kincaid Zauber der Morgenröte
Eins Hopewell, Kansas – 1877 »Maddie, da ist er! Chase Cumberland! Der Mann, ...
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Katherine Kincaid Zauber der Morgenröte
Eins Hopewell, Kansas – 1877 »Maddie, da ist er! Chase Cumberland! Der Mann, der jedem erzählt, daß seine Stute deinen Hengst schlagen wird.« Hocherhobenen Hauptes, ohne auch nur eine Miene zu verziehen, ignorierte Maddie McCrory das plötzliche Herzrasen und schritt schnurstracks den Holzsteg auf der Oberseite der Main Street entlang. Sie verschwendete nicht einen einzigen Blick in die Richtung, in die ihre Schwester starrte. »Beachte ihn nicht, Carrie. Tu so, als bemerktest du ihn nicht, als ob du nicht wüßtest, was er gesagt hat. Und laß dir vor allem weder Aufregung noch Angst anmerken. Pa sagt immer, es sei ein großer Fehler, seinem Gegner auch nur die kleinste Schwäche zu zeigen.« »Aber Maddie! Er kommt uns entgegen. Bestimmt hat er uns gesehen. Willst du nicht wenigstens wissen, wie er aussieht?« Kurz entschlossen legte Maddie die Hand auf die Schultern ihrer dreizehnjährigen Schwester und bugsierte sie geschickt um ein paar Mehlfässer herum, die vor Grovers Handels- und Modewarenhaus standen. »Von mir aus kann er mitten auf der Main Street splitterfasernackt auf einem Büffel reiten. Geh weiter. Zoe und Little Mike warten auf uns. Wir haben nicht die Zeit, um mit Mr. Chase Großmaul Cumberland zu plaudern. Nach dem Rennen können wir den Mann in aller Ruhe unter die Lupe nehmen – aber es wird ihm nur daran gelegen sein, uns den Geldpreis streitig zu machen, den er uns schuldet. Meinetwegen kann der Mann hingehen, wo er hergekommen ist – mit eingeklemmtem Schwanz. Hauptsache, wir haben diesem Prahlhans eine Lektion erteilt.« »Maddie, er wird dich hören. Oh, du lieber Himmel! Maddie, er kommt zu uns… « »Miss McCrory!« ertönte eine tiefe Männerstimme. »Warten Sie einen Augenblick. Ich möchte mit Ihnen sprechen.« Um ein Haar wäre Maddie vom Holzsteg gefallen, so schnell wirbelte sie
herum. »Mr. Cumberland?« fragte sie so frostig wie möglich. »Was in aller Welt wollen Sie, Sir? Das Rennen beginnt in einer Stunde, und wir haben noch Vorbereitungen zu treffen. Und zwar jetzt.« Maddie sagte sich, er sei nichts Besonderes. Nur ein Mann wie jeder andere. Aber der Anblick dieses Gentlemans, von dem sie schon seit Tagen gehört hatte, brachte sie ernsthaft aus der Fassung. Erstens war er groß und breitschultrig. Sie mußte den Kopf nach hinten beugen, um in das sonnengebräunte Gesicht zu schauen. Und zweitens war er schlank und muskulös, hatte blendend weiße Zähne und scharfe Raubtieraugen. Irgend etwas an ihm erinnerte sie an einen Präriewolf. Unter dem schwarzen Stetson und den dunklen, hervorquellenden Haarsträhnen blickte sie ein Augenpaar an, das die Farbe von Coyotenaugen hatte – leuchtender Bernstein –, und er schien auch ebenso unerbittlich zu sein. Es fiel ihr nicht schwer, sich vorzustellen, wie er Menschen zerfleischte und ihre Leber zum Frühstück verschlang, sich zufrieden die Lippen leckte und dabei überlegte, was er zum Abendbrot verspeisen würde. Die Wolfsaugen musterten sie. Als erstes ruhten sie auf ihrem wehenden roten Haar; bereits vor Stunden hatten sich Strähnen aus ihrem dichten Zopf gelöst. Dann wanderten sie das verstaubte braune Kattunkleid hinunter, das sie immer bei ihren Stadtbesuchen trug. Zum Schluß streiften sie kurz ihre entschieden unweiblichen, schlämm- und mistverkrusteten Lederstiefel. In diesem Augenblick wurde sich Maddie bewußt, daß sie nicht wie eine Lady aussah, zu der ihre Mutter sie erzogen hatte. Aber in Hopewell, einer schmutzigen, aufstrebenden Rinderstadt in Kansas, konnten sich nur wenige Frauen mit dem strengen Bostoner Standard messen, und Maddie hatte diesen Versuch bereits vor Jahren aufgegeben. »Oh, Miss McCrory, da wir uns noch nicht vorgestellt worden sind, möchte ich Ihre Bekanntschaft und Sie fragen, ob es dabei bleibt, daß heute nachmittag Ihr Hengst gegen meine Stute antritt.«, ließ sich sein gedehnter, tiefer Bariton vernehmen mit dem Erfolg, daß ihre Nervenenden erzitterten. Entschlossen, trotz dieses dummen, klopfenden Herzens Haltung zu bewahren, reckte Maddie das Kinn noch ein wenig höher. »Nein, Mr.
Cumberland, ich habe meine Meinung nicht geändert und werde heute nachmittag meinen Hengst ins Rennen schicken. Nicht nur, daß ich das bessere Pferd habe, gemäß den Regeln würde das Rennen für den anderen verfallen, und diese Person darf die Hälfte des ausgesetzten Gewinns einstreichen. Bei der Hälfte von zweitausend Dollar verliert man eine schöne Stange Geld, und ich habe nicht die Absicht, Sir, darauf zu verzichten.« Er grinste. Die Veränderung in seinem Gesicht war einfach umwerfend. Die Augen leuchteten auf, als ob sie einwendig von Kerzen erhellt würden. Trockener Humor blitzte auf seinen kantigen Zügen und machte ihr auf geradezu verwirrende Weise bewußt, daß dieser Mann schön war. Gefährlich schön. Genau der Typ, bei dem jedes junge Mädchen wie eine dumme Gans den Kopf verlor – und das Herz. Zum Glück rechnete sie sich nicht zu diesem Federvieh, sie war längst über das Backfischalter mit all den albernen Schwärmereien hinaus. Heute war ihr zweiundzwanzigster Geburtstag, auch wenn kein Mensch daran gedacht hatte. »Darauf können Sie sich verlassen, Sir. Ich beabsichtige nicht, dieses Rennen zu verlieren«, wiederholte sie und blickte ihm fest in die Augen. »Es mag Sie überraschen, Miss McCrory, aber ich denke ebenso. Ich bin bereit und meine Stute ist es auch. Jedoch hatte ich gehofft, Sie zur Absage des Rennens bewegen zu können, um Ihnen die Schande einer Niederlage in Ihrem eigenen Heimatbezirk zu ersparen. Sie können behaupten, Ihr Pferd sei lahm oder habe eine Kolik; man wird es glauben, und der Ruf der McCrorys bliebe unangetastet.« »Das heutige Rennen wird unseren Ruf nur verbessern, Mr. Cumberland, also können Sie sich genausogut Ihre Bemühungen, die nur darauf abzielen, mein Selbstvertrauen zu erschüttern, sparea Offensichtlich wollen Sie mich verunsichern. Meine Angst soll sich auf unseren Hengst und seinen Reiter, der zufällig mein Bruder ist, übertragen, damit sie schlecht laufen. Gegen derart lächerliche Absichten bin ich gefeit, abgesehen davon sind wir McCrorys nicht so leicht einzuschüchtern. Wenn hier einer beunruhigt sein sollte, dann Sie, Sir, nicht wir. Gold Deck hat seine letzten zehn Rennen gewonnen. In seinem ganzen Leben hat er nur zweimal verloren, als die Bahn schlammig war. Heute…« – sie
wies zu der prall am blauen Himmel scheinenden Sonne hin – »… sind die Hopewell-B ahnen fest und trocken- genauso, wie er es mag.« Wieder leuchtete das spöttische Grinsen auf. »Dann habe ich noch eine Stunde, um für Regen zu betea. Wenn Sie allerdings so siegesgewiß sind, könnte man das Preisgeld auch auf dreitausend Dollar erhöhen.« Dreitausend. Schwer schluckend gelang es Maddie, ihre Reaktion zu verbergen. Sie hatte keine dreitausend Dollar. Ehrlich gesagt, sie hatte keine zweitausend – die Summe, die vereinbart worden war. Sie hatte nicht einmal die Hälfte dieses Betrags. Aber sie war nicht bekümmert. Sie war zwar ihrem Gegner, dem Neuankömmling in der Stadt, heute zum ersten Mal begegnet, aber seine Stute hatte sie bereits kurz nach seiner Ankunft vor zehn Tagen gesehen. Er hatte das Pferd in den städtischen Mietstall gebracht, und sie hatte sich hineingestohlen, um einen Blick auf die Konkurrenz zu werfen, bevor sie die Abmachung traf. Die Stute war verschmutzt und matt nach ihrem langen Weg von Gott weiß woher. Sie sah mager aus. Verwurmt und unterernährt würde sie, wie Pa sagte, eine leichte Beute sein. Im Stall war es zu dunkel, um genauer festzustellen, wie sie gebaut war, aber die besten Proportionen der Welt konnten die unzureichende Ernährung und den erbärmlichen Zustand des Pferdes nicht wettmachen, das unterwegs beinahe zuschanden geritten worden war. Maddie hatte die Herausforderung auf der Stelle angenommen, und Jake Bussel, der hiesige Schmied, hatte das Rennen für heute nachmittag festgesetzt. Jake kümmerte sich um sämtliche Antworten auf die Handzettel, die sie in der Stadt verteilt und angeschlagen hatte; durch die mußte Chase Cumberland auf das Rennen aufmerksam geworden sein. Gold Deck hatte bereits jeden Kontrahenten der umliegenden fünf Bezirke geschlagen, und jetzt meldete sich außer Fremden keiner mehr auf ihre Ankündigungen. Rennen A Kansas Champion. Distanz über sechzigtausend Yards. Gewicht von Reiter und Sattel beliebig. Die Höhe des Einsatzes bestimmen Sie. Bargeld erwünscht. Aber dreitausend! Bei den meisten Rennen mit Gold Deck ging es mehr oder weniger nur um tausend – und im letzten Herbst lief er für eine
Wagenladung Mais. Sie hatte sämtliche Küken aus dem Hühnerstall dagegengesetzt, weil sie es sich sowieso nicht leisten konnte, sie durchzufüttern. Der Mais hatte sie im vergangenen Winter gerettet… Auch wenn sie bereit wäre, so hoch zu setzen, Chase Cumberland erschien ihr nicht wohlhabend genug, um dieses Vermögen unauffällig in seinen hautengen Breeches zu verstauen. »Es ist zu spät, um jetzt den Einsatz zu ändern, Mr. Cumberland. Wir haben uns auf zweitausend geeinigt, und ich bestehe auf unserer ersten Abmachung. Wenn Sie auf mehr aus sind, können Sie nebenbei noch einige Wetten abschließen. Das ist hier in der Stadt gang und gäbe. Das tun die Leute zu ihrer Unterhaltung – sie setzen bei Wettrennen.« Chase Cumberland wippte auf den Stiefelabsätzen. Er verschränkte die Arme über seinem unverschämt breiten Brustkorb, der mit ausgeblichenem blauen Flanell bedeckt war. Dem Kleidungsstück fehlte allerdings ein Teil der erforderlichen Knöpfe, so daß sie fast bis zu seinem Nabel sehen konnte. Schwarze Haarkringel bedeckten die Brust. Es war ihr peinlich, daß sie beobachtet wurde, wie sie darauf blickte – ihn anblickte. Ein Ausrutscher, den sie nicht mehr vertuschen konnte. Nur mühsam gelang es ihr, ihm einigermaßen unbefangen ins Gesicht zu sehen, und schon wieder umspielte dieses verheerende Lächeln seine Mundwinkel. Ausgerechnet war dieser Mund auch noch sinnlich und ließ sie sofort ans Küssen denken, eine Beschäftigung, die sie bedauerlicherweise nicht gewöhnt war… Zur Hölle damit! Dieser Schuft schien sich köstlich zu amüsieren. »Ich habe bereits ein paar Wetten abgeschlossen«, teilte er ihr mit schelmisch zur Seite geneigtem Kopf mit. »Die meisten setzen auf Sie, Miss McCrory. Oder besser gesagt, auf ihr Pferd. Sollte ich mich entschließen, nach meinem Sieg in diesem Rennen hier in der Gegend zu bleiben, dann habe ich die Ausrüstung, die ich brauche, den Wagen und neues Zaumzeug.« Arroganter Kerl! Was er denn, wer er ist? Er verdient es, zu verlieren, nur weil er so eingebildet ist. Sie hatte sich keinesfalls getäuscht, als sie ihn für ein aufgeblähtes Großmaul hielt oder einen Schaumschläger, wie Pa es nennen würde.
»Ich dachte, ich hätte mich vorhin deutlich genug ausgedrückt, Mr. Cumberland. Sie werden dieses Rennen nicht gewinnen. Glauben Sie allen Ernstes, Ihre Stute kann meinen Hengst besiegen? Ich habe sie gesehen. Sie wurde scharf geritten, und es fehlt ihr Kondition. Meiner Meinung nach braucht sie mindestens sechs Wochen Ruhe, um wieder zu Kräften zu kommen – doch Sie waren ja bereit, sie sofort nach Ihrer Ankunft auf die Rennbahn zu schicken.« Maddie beherrschte die Kunst noch nicht so gut, das Selbstvertrauen eines Gegners zu untergraben. Nicht so gut wie Pa, aber sie lernte schnell. Wie Mr. Cumberland noch herausfinden mußte, gehörte zu einem Wettrennen weit mehr als das schnellste Pferd; manchmal siegte ein Pferd, bevor es auch nur einen Huf auf die Rennbahn gesetzt hatte – und manchmal verlor es einfach, weil der Besitzer an seinen Fähigkeiten zweifelte, das Wetter schlecht wurde oder der Reiter an einer Magenverstimmung litt. Eine zuversichtliche Einstellung war die Gewähr für den Erfolg, behauptete Pa immer. »Also, Miss McCrory«, sagte er wieder in diesem aufreizend gedehntem Ton. »Wie kann man ein Pferd scharf reiten und ihm die Kondition absprechen? Weil die Stute so hart rangenommen wurde, ist sie in Hochform und wird Ihren Hengst schlagen. Sie haben Ihr Pferd nicht ein einziges Mal in dieser Saison laufen lassen, und der Frühling hier war spät und regnerisch. Es war so naß, daß Sie wahrscheinlich kaum mit ihm trainieren konnten, um ihn nach einem langen Winter fit zu machen. Meine Stute hingegen hatte keine Zeit zu einer Ruhepause. Sie war den ganzen Winter hindurch im Einsatz.« Die Angst streckte die ersten Tentakeln aus und schlang sie um Maddies Herz. Was er sagte, entsprach der Wahrheit. Seit der Geschichte mit dem Mais war ihr Hengst kein Rennen mehr gelaufen, und das schlechte Wetter hatte ein ernstzunehmendes Training fast bis Ende Mai verzögert. Jetzt war Mitte Juni. Die einzige wirkliche Übung, die der Hengst gehabt hatte, war das Besteigen einiger Zuchtstuten, und Maddie hegte immer schon den Verdacht, daß dies eher an seinen Kräften zehrte als sie aufbaute. In den vergangenen Jahren hatte Pa, soweit es möglich war, Gold Decks Rennen ans Ende der Rosse gelegt – im Juli oder besser im August.
Diesen Luxus konnte sie sich allerdings nicht mehr leisten. Da sie mit den Hypothekenzahlungen für die Farm bereits seit drei Monaten im Rückstand waren und die Steuer im Juli fällig wurde, hatte sie jede Herausforderung, die sich ihr bot, annehmen müssen – und darum hatte sie auch diese Chance ergriffen. »Wo genau kommen Sie her, Mr. Cumberland?« fragte sie, um das Thema zu wechseln. »Sehr weit südlich von Kansas, wo wir Ihre schlimmen Winter nicht haben.« Texas, dachte sie. Er hat die schleppende Aussprache der Texaner und hat etwas Texanisches an sich – und trotzdem versucht er mein Selbstvertrauen zu erschüttern. »So schlimm war der Winter und der Frühling nicht«, log sie. »Unser Hengst hat ein ausreichendes Training bekommen. Zum Glück hat er sich nicht überanstrengt, nicht wie Ihre arme Stute. Abgesehen davon hätten Sie nicht einen Hengst herausfordern sollen. Manche Leute betrachten es als unfairen Wettkampf, wenn man einen Hengst gegen eine Stute laufen läßt.« »Tatsächlich? Wie stehen Sie dazu, Miss McCrory? Was meinen Sie? Ehrlich gesagt, ich zähle Sie nicht zu der Sorte, die eingesteht, daß Männer den Frauen überlegen sind.« Eine dunkle Braue hob sich spöttisch. »Das sind sie natürlich nicht – ausgenommen bei Pferderennen«, widersprach sie, wie er es erwartet hatte. »Bei fast allen anderen Dingen sind Frauen sehr wohl in der Lage, allein zurechtzukommen. Danke.« Er brach in Lachen aus, sehr zu Maddies Befremden. Sie konnte nicht ausstehen, wenn sie ausgelacht wurde, schon gar nicht von einem großen, gutaussehenden, eingebildeten Texaner. In diesem Augenblick keimte in ihrem Herzen Haß gegen Chase Cumberland auf. Sie wollte, daß Gold Deck gewann, nur um dieses selbstgefällige Grinsen aus dem arroganten Gesicht dieses Menschen zu fegen. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, Mr. Cumberland, ich muß gehen.« Sie packte Carrie an der Hand und wollte die Schwester seitlich an ihm vorbeiziehen. Er aber baute sich in voller Größe mitten auf dem Steg vor
ihr auf und machte ihren hoheitsvollen Abgang zunichte. »Hören Sie, Miss Groß und Mächtig. Ich habe vor, dieses Rennen zu gewinnen. Aber wenn Sie jetzt zurücktreten möchten, werde ich nicht auf der Vorschrift bestehen, daß Sie die Hälfte des Preisgeldes einbüßen. Soweit ich gehört habe, hatte Ihre Familie in letzter Zeit viel Pech gehabt. Wenn Ihr Vater diese Abmachung getroffen hat, steht er mir dafür gerade, aber in Anbetracht Ihrer Unerfahrenheit bin ich bereit…« »Scheren Sie sich doch zum Teufel! Ich meine, dahin, wo der Pfeffer wächst, Sir. Sie hoffen doch nur, daß ich aufgebe, weil Sie fürchten. Sie könnten verlieren. Sie bereuen Ihre Unüberlegtheit. Nun, ich bestehe auf unserer Vereinbarung. Unsere Pferde werden um zwei Uhr zum Rennen antreten, und wenn Ihre Stute nicht erscheint, schulden Sie mir eintausend Dollar. Ist das klar, Mr. Cumberland?« »Vollkommen, Miss McCrory.« Ein Blick aus zusammengekniffenen Augen ersetzte sein Lächeln. Er trat einen Schritt zur Seite und tippte zum Gruß mit der Hand an den Hut. »Wir sehen uns um zwei. Möge das beste Pferd gewinnen.« »Ich bin sicher, daß er das wird.« Mit einem kurzen Nicken schritt sie davon. Dieser Augenblick hätte ihre vornehme, elegante Mutter entzückt, deren vollkommene Manieren auch dem forschesten Mann verlegen und stumm gemacht hätten. Aber gerade da stolperte Carrie über ihren eigenen Rock, hielt sich am rettenden Geländer einer Veranda fest und blickte Maddie mit leuchtenden Augen an. »Ohhh, Maddie! Er sieht ja so gut aus!« kreischte sie aufgeregt, daß man es im Umkreis von drei Meilen hören konnte. »Das muß ich gleich Zoe erzählen. Sie wird grün vor Neid, weil ich ihn zuerst gesehen habe… Glaubst du, daß er verheiratet ist? Ob er mich wohl bemerkt hat? Was meinst du, für wie alt hält er mich?« »Zwei. Du benimmst dich wie eine Zweijährige«, gab Maddie im Weitergehen schroff zurück und schob ihre mannstolle Schwester auf dem Holzsteg vor sich her. Das Gelächter hinter ihnen schwoll an. Maddie brauchte sich nicht umzudrehen, um die Ursache zu ergründen. Glücklicherweise ließ der höhnische
Unterton Carries Lippen verstummen und lehrten sie, wie Maddie hoffte, in Zukunft vorsichtiger zu sein, wenn sie einen ihrer törichten Gedanken zum Ausdruck brachte. Carrie und Zoe waren für ihr Alter fast ein wenig frühreif. In ihrer blühen- den Fantasie stellten sich die Zwillinge vor, jedes männliche Wesen, das ihren Weg kreuzte, wäre von ihrer Schönheit betört und müsse als möglicher Ehemann betrachtet werden. Seit der Hochzeit einer sechzehnjährigen Tochter aus dem Freundeskreis schmiedeten die Zwillinge Zukunftspläne. Sie wollten nicht wie Maddie als Mauerblümchen enden, nach dem sich kein heißblütiger Mann mehr umdrehen würde. In Hopewell stempelte man ein Mädchen, das nicht im reifen Alter von zwanzig verheiratet war, als hoffnungslosen Fall ab, das der Lächerlichkeit preisgegeben und bereits in jungen Jahren in den Startlöchern steckengeblieben war. Kurz gesagt, sie hatte schmählich versagt und wurde weit und breit als alte Jungfer eingestuft. Aber es war nicht Maddies Schuld. In der entscheidenden Zeit – im Alter von dreizehn bis neunzehn – lastete zuviel Verantwortung für die Familie auf ihren Schultern. Sie war zu erschöpft und überarbeitet, um sich um die jungen Burschen zu kümmern, die ihr den Hof machten. Jetzt waren die jungen Burschen vergeben, entweder verheiratet oder fortgezogen, um ihr Glück anderswo zu versuchen. Manche waren bereits Väter geworden. Wie es schien, hatte sie ihre Chance auf Ehe und Mutterschaft vertan, aber sie würde, bei Gott, nicht die Farm der Familie verlieren. Die McCrorys mußten dieses Rennen und alle zukünftigen Rennen gewinnen, damit jeder Pferdebesitzer in ganz Kansas seine Stuten von ihrem Hengst decken lassen würde. Die Familie würde wieder glückliche Zeiten erleben, so wie früher bis zu dem schrecklichen Tag, als ihre schwerkranke Mutter starb und Pa nicht mehr weiterleben wollte. »Beeil dich, Carrie«, rief sie. »Oh, ich hab’s ja geahnt, daß ich nicht noch in die Stadt gehen sollte, um Mrs. Watsons Elixier zu besorgen. Aber ich dachte mir, wenn ich es nicht tue, würde Little Mike kurz vor dem Rennen wieder Magenschmerzen bekommen, und dann wären wir wirklich in tausend Nöten. Hast du die Flasche? Du hast sie dochnicht irgendwo stehenlassen, oder?« »Nein, ich hab’ sie, Maddie… Hätte ich heute lieber mein Haar hochstecken sollen, was meinst du? Ich sehe damit älter aus.
Schade, daß sich in unserer Familie das rote Haar so durchgesetzt hat; es ist so auffallend und gewöhnlich. Bei mir und Zoe ist wenigstens etwas Gold dabei, aber ich wünschte, es wäre reines Blond; die Männer drehen sich nach jeder blonden Frau um. Und meine Augen müßten noch eine Spur grüner sein. Ein Glück, daß sie nicht blau wie deine sind. Blaue Augen und rotes Haar » das ist sooo abgedroschen. Das ist dein Problem, Maddie, deine Haarfarbe und deine Sommersprossen. Du bist bunt und fällst auf, doch Männer mögen keine auffallenden, offenherzigen Frauen. Gegen deine Augenfarbe kannst du nichts tun, aber die Sommersprossen könntest du überpudern und das Haar mit Buttermilch spülen, um das krasse Rot zu übertönen. Und um noch einmal auf offenherzig zurückzukommen, sogar Pa sagt, du solltest…« Maddie hielt sich die Ohren zu, als die Litanei kein Ende nahm. Sie mußte offen sagen, was sie auf dem Herzen hatte, sonst würde sie sich nie Gehör verschalten. Schließlich plapperten die Zwillinge ununterbrochen über Kleider, Frisuren, Schönheitsmittel und die neueste Ausgabe von Godey’s Lady’s Book, die sie so oft durchblätterten, bis sie auseinanderfiel. Maddie hingegen zog hitzige Debatten über die Blutlinien berühmter Quarter Horses vor. In Carries Alter war sie manchmal nächtelang aufgeblieben, um mit Pa die besten Stammbäume zu erörtern. Und jetzt konnte sie nur mit Little Mike über Pferde sprechen, doch der vierzehnjährige Bruder hatte für gewöhnlich nicht viel zu sagen. Little Mike war schon immer ein stilles Kind gewesen. Nach Mas Tod war er schwermütig geworden und litt häufig unter Magenschmerzen. Maddie hoffte nur, daß diese Beschwerden nicht durch seine Nervosität ausgelöst würden. Vor einem Rennen hatte er jedesmal Lampenfieber. Sie war nur froh, daß Mr. Cumberland ihm nicht vorher begegnet war. Das war der Hauptgrund, warum sie vor einem Rennen einen Bogen um die Stadt machten. Dadurch wurde ein störender Wortwechsel wie soeben mit ihrem Gegner vermieden. »Laufe ein Rennen nie mit dem Mund«, hatte Pa geraten. »Verbringe die Zeit mit deinem Pferd. Denk an den Sieg. Erfolg hängt von deiner inneren Einstellung ab, und wenn du sie nicht hast, woher soll sie dann dein Pferd haben?«
Klein und drahtig, gerissen und durch nichts aus der Fassung zu bringen, wußte der alte Mike McCrory alles, was es über Rennen zu wissen gab, aber er hatte nicht die Zeit gehabt, alles an Little Mike weiterzugeben, bevor der Junge für ihn übernehmen mußte. Maddie tat ihr Bestes, um ihren Bruder auszubilden. Ihr ganzes Leben lang hatte sie Pferde geritten und jeden Ratschlag ihres Vaters beherzigt, aber sie hatte noch kein Rennen geritten, da der Rennsport ausschließlich Männern vorbehalten war – und ihre Mutter war eisern geblieben und hatte ihr die Teilnahme an Wettkämpfen verboten, bei denen es um Geld ging. Trotzdem wußte sie genug, um Little Mike vor einem Rennen vor schlechter Beeinflussung zu bewahren. Pa und Zoe waren beim Wagen mit Little Mike und Gold Deck am Rande der Stadt geblieben. Pa wußte zwar über das Rennen Bescheid, aber Zoe hatte ihre Anweisungen erhalten. Sie sollte jeden von Gold Deck und Little Mike fernhalten, bis Maddie zurückkam, und dann wollten sie gemeinsam zur Hopewell-Strecke gehen, einer Viertelmeilenbahn, die vor der Stadt festgelegt worden war, nicht weit vom Saline River entfernt. Fast jede Kleinstadt hatte ihre eigene Viermeilenbahn, eine Anlage von nebeneinanderliegenden Doppelbahnen, die an Start und Ziel von Markierungen begrenzt waren. Gold Deck war auf sämtlichen Strecken in Kansas, Oklahoma, Nebraska, Arkansas und Teilen von Texas und Colorado geritten. Am Gipfel seiner ruhmreichen Laufbahn, als Ma noch gesund war, galt er als ›König des Kurzstreckenrennens‹. Jetzt wurde er alt, und Maddie wußte nicht, was sie tun würde, wenn seine Tage als Rennpferd zu Ende gingen. Hoffentlich würden die Zwillinge bis dahin verheiratet sein. Little Mike müßte die väterliche Farm übernehmen. Und was Pa anbetraf. Nun, sie wußte nicht, was aus Pa werden würde. In den vergangenen fünf Jahren hatte sie die Mutter gepflegt und sich um die Geschwister gekümmert, und wahrscheinlich würde sie die nächsten fünf Jahre damit verbringen, für Pa zu sorgen. Bis dahin würde sich kein Mann mehr für sie interessieren. Ein einsames Alter erwartete sie… Aber es half auch nicht viel, wenn sie sich jetzt darüber den Kopf zerbrach. Little Mike brauchte jetzt eine Schwester, die vor Siegesgewißheit strotzte, wenn er Kraft und Entschlossenheit sammeln wollte, um dieses
Rennen zu gewinnen. Als sie mit Carrie beim Wagen ankam, hatte sie sich unterwegs in den Zustand begeisterter Siegesstimmung versetzt. »Little Mike! Zoe!« rief sie fröhlich. »Wo steckt ihr? Ist Gold Deck schon gesattelt? Habt ihr Wasser für ihn geholt und ihn mit Mais gefüttert, während ich weg war?« Shovel und Hoe, die Pferde des Gespanns, waren an einer Seite des Wagens angebunden und Gold Deck an der anderen. Shovel und Hoe – große, behäbige Zugpferde, die nie an einem Rennen teilgenommen hatten – trugen immer noch das Geschirr, und Gold Deck war noch nicht gesattelt. Er wieherte, als er sie sah, und gab ihr zu verstehen, daß er nach dem langen Weg in die Stadt hungrig und durstig war. Maddies Stimme schlug in Zornesgebrüll um. »Zoe! Little Mike! Kann ich mich denn nicht darauf verlassen, daß ihr das tut, was ich euch aufgetragen habe? Nicht einmal an einem Renntag! Kommt sofort raus, ihr Faulpelze.« Da sie die Geschwister nicht in der Nähe des Wagens entdeckte, vermutete sie, daß sie im Inneren waren. Pa hatte diesen großen, mit hölzernen Seitenteilen versehenen Spezialwagen bauen lassen, um alles, was er brauchte, bei sich zu haben, wenn er von Rennen zu Rennen fuhr. Ein Häuschen auf Rädern, das mit Regalen ausgerüstet war, um alles mögliche zu verstauen, mit schmalen Schlafbänken, einem kleinen Tisch und Bänken, damit man bei Regen im Trockenen essen konnte. An beiden Sei- ten befanden sich Holzpaneele, die wie eine Plane aufge zogen und befestigt werden konnten und den Pferden bei Regen oder Sonnenschein als Unterstand dienten. Er hatte an alles gedacht, als er ihn bauen ließ, und überall, wo der Wagen auftauchte, erregte er Aufsehen. Maddie war noch nie etwas Ähnlichem begegnet, obwohl sie bereits mehrere schlechte Imitationen gesehen hatte. Kaum hatte sie die kleine hintere Tür des Wagens aufgerissen, streckte Zoe auch schon aufgeschreckt den rotgoldenen Schöpf heraus. »Maddie! Du bist schon da! Ist es denn schon so spät?« »Wo ist Pa…? Und was hat dieser graue Brei auf deinem Gesicht zu suchen?« Eine Masse, die wie die Überreste eines verwesten Fisches roch und aussah, bedeckte Zoes hübsches Gesichtchen – normalerweise Carries Spiegelbild. Die gräßliche
Mixtur hatte sich auch auf der Schürze verbreitet, die sie über das gute Stadtkleid gezogen hatte, und die Ärmel beschmutzt. »Sommersprossenentfemungsmittel. Um es auszuprobieren, wollte ich warten, bis ich ein paar Minuten für mich allein habe, aber bis jetzt hat es noch nicht gewirkt.« »Oh, du siehst furchtbar aus!« gluckste Carrie hinter Maddie. »Wenn Nathan Wheeler dich jetzt sehen könnte, würde er nicht mehr sagen, deine Haut sei so weich und rosa wie eine Kälbernase!« »Wehe, du erzählst Nathan davon, Carrie! Dann kratz’ ich dir die Augen aus. Nathan ist mein Schwärm. Du läßt die Finger von ihm! Und erzähle nie wieder Dinge weiter, die ich dir im Vertrauen gesagt habe!« »Muuuuuh«, äffte Carrie sie spöttisch nach und hob gleichgültig die Schultern. »Dein stelzbeiniger Nathan kümmert mich nicht die Bohne. Ich habe heute einen Mann kennengelernt, der viel älter ist und besser aussieht, ein Mann, der viel reifer ist und aufregender…« »Kinder, jetzt hört aber auf!« mischte sich Maddie ein. »Wir müssen in knapp einer Stunde zum Rennen antreten, und Gold Deck ist nicht fertig. Zoe, wo ist Little Mike? Hab’ ich dir nicht gesagt, du sollst ihn im Auge behalten?« »Wie soll ich das wissen, Maddie?« Zoes Augen wirkten besonders grün, als sie aus dem grauen Schleim auf ihrem Gesicht hervorblickten. »Er ist mit ein paar seiner widerlichen Freunde losgezogen. Ich hab’ ihm gesagt, er soll lieber hierbleiben, aber er wollte nicht auf mich hören.« Maddie spähte in das Wageninnere. »Und Pa? Ich habe dich gefragt, wo Pa ist, und du hast mir noch nicht geantwortet.« »Pa hat seine Flasche genommen und ging zum Fluß hinunter. Ich hab’ ihn gebeten, im Wagen zu bleiben, aber er wollte auch nicht auf mich hören. Keiner in dieser Familie nimmt mich oder Carrie für voll. Aber du weißt ja, wie Pa ist; auf mich hört er schon gar nicht.« Ja, sie wußte es. O mein Gott, wie sie es wußte. Wahrscheinlich war Pa jetzt sturzbetrunken und schlief seinen Rausch in den Binsen aus. »Wir haben keine Zeit, um jetzt nach ihm zu suchen«, seufzte sie. »Als erstes müssen wir Little Mike finden. Ich weiß nicht, wie oft ich ihm das schon gesagt habe; er kann nicht auf Gold Deck aufsitzen und ein Rennen
gewinnen, ohne ihn vorher warmzulaufen… Bist du sicher, ihm war nicht übel, bevor er wegging? Zoe, wasch dein Gesicht ab und hilf mir beim Satteln. Carrie, du suchst nach deinem Bruder.« Maddie hatte den Hengst bereits gesattelt und aufgezäumt, als Carrie mit Little Mike auftauchte. Bei seinem Anblick setzte ihr Herzschlag aus. »Mike! Was ist passiert?« Seine Nase blutete und ein Auge war bereits völlig zugeschwollen. Wimmernd hielt er den linken Arm fest. Es war offensichtlich – Little Mike hatte sich geprügelt, ausgerechnet an einem Renntag! Er schleppte sich zu ihr und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Sie waren beide gleich groß, aber auf einmal schien er viel kleiner zu sein. Er wollte ihr nicht in die Augen sehen. Statt dessen blickte er auf die Zehenspitzen und murmelte vor sich hin. »Tut mir leid, Maddie, aber Amos Graft sagte, Pa sei ein Saufkopf und du ein greuliches Mannweib. Er höhnte, es sei nicht normal, wie du breitbeinig auf den Pferden reitest und uns herumkommandierst und daß du die Leitstute seist. Er sagte, ich soll nicht mehr tun, was du sagst, weil ich ein Mann bin und du bloß eine Frau. Ja, und dann nannte er dich noch eine sauertöpfische alte Jungfer.« Oh, Ma würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie ihren einzigen Sohn diese verletzenden, grausamen Ausdrücke wie greuliches Mannweibs und ›sauertöpfische alte Jungfer‹ aussprechen hörte. »Er hat mir und Pa Schimpfnamen gegeben, nicht wahr? Nun, da hat er wahrscheinlich recht, zumindest, was mich betrifft. Ich werde älter und damit auch verdrießlicher. Hast du schlimme Schmerzen? Kannst du trotzdem reiten?« »Natürlich kann ich reiten. Ich wird’ mir nur das Gesicht abwischen und… Au!« Er nahm die Hand hoch und sah sie erstaunt an. Beim Versuch, den Daumen zu bewegen, verzog er schmerzhaft das Gesicht. »Ich glaub’, er hat mir den Daumen gebrochen. Darum tut er auch so weh.« »Das hat uns gerade noch gefehlt«, murmelte Maddie. »Wenn er wirklich gebrochen ist, dann kannst du Gold Deck unmöglich reiten. Komm’, laß mich sehen.« Sie wollte Little Mike an der Schulter näher zu sich heranziehen, aber er
zuckte zusammen und wich zurück. »Nicht! Meine Schulter tut auch weh. Bei der kleinsten Bewegung brennt sie wie Feuer.« »Oh, warum mußtest du dich ausgerechnet heute prügeln? Hätte das nicht bis nach dem Rennen warten können? Hast du denn keine Ahnung, was dieser Wettkampf für uns bedeutet?« Maddie blickte in die haselnußbraunen Augen ihres Bruders und sah, daß er nicht wußte, wie wichtig für sie das heutige Rennen war. Sie hatte ihre Geschwister nicht darüber aufgeklärt, wie schlecht es um sie stand. Little Mike war erst vierzehn und tat bereits alles, was Pa nicht mehr auf der Farm erledigen konnte. Der Junge sollte nicht noch die Sorgen eines Mannes tragen, wenn er schon Männerarbeit leistete. Die Zwillinge mußten abgeschirmt werden. Ihre Geschwister sollten mit einem gewissen Maß an Geborgenheit aufwachsen. Maddie hatte bereits vor längerer Zeit beschlossen, sie so lange wie möglich vor der harten Wirklichkeit des Lebens zu schützen. Es war schon schlimm genug, wenn sie nachts wach lag und sich Gedanken machte, wie es weitergehen sollte. »Verflixt, Maddie. Es tut mir leid.« Little Mike war den Tränen nahe. »Macht nichts. Ist schon gut. Großes Lamentieren hilft jetzt auch nicht. Geh in den Wagen und zieh dich aus. Gib mir alles bis auf deine Stiefel.« »Was hast du vor? Wozu brauchst du meine Kleider?« »Ich werde an deiner Stelle reiten. Das Haar werde ich unter einen Hut stopfen, und keiner wird den Unterschied bemerken.« »Mädchea. Damen… reiten nicht bei Wettrennen.« »Junge Männer mit Verletzungen auch nicht. Tu, was ich dir sage, Mike. Wir müssen dieses Rennen gewinnen. Wenn nicht, kann es uns die Farm kosten.« »Aber Maddie, du hast Gold Deck seit… seit… Ich kann mich nicht mehr an das letzte Mal erinnern.« »Ich habe ihn sehr oft geritten. Ich schaffe es. Beeil’ dich, Mike. Gold Deck und ich müssen unsere morschen alten Knochen aufwärmen.« »Pa würde das nicht gefallen. Und Ma würde einen Wutanfall bekommen.« »Ma ist nicht da, und Pa weiß nicht, welcher Tag heute ist und schon gar nicht, daß wir die Farm verlieren könnten.« Maddie konnte ihre Verbitte-
rung nicht ganz verbergen. Sein einziges Trachten schien darin zu bestehen, seine Sorgen in Fusel zu ertränken. »Aber du wirst gegen einen Mann reiten, Maddie«, machte Carrie geltend, als ob Maddie nicht selbst darauf gekommen wäre. »Mr. Cumberland reitet sein eigenes Pferd. Er könnte dich erkennen.« »Ich werde mir Erde ins Gesicht schmieren und auf Gott vertrauen. Und wenn er mich erkennt, spielt es auch keine Rolle. Es würde nichts ändern. Bei unserer Vereinbarung wurde nicht gesagt, daß ich Gold Deck nicht reiten darf… Steh nicht so herum, Mike. Tu, was ich gesagt habe.« Der Bruder warf ihr einen letzten zweifelnden Blick zu und stieg dann eilig in den Wagen, während Maddie mit einer Horde Grashüpfer kämpfte, die in ihrem Magen herumkrabbelten. Es ging nicht anders. Sie mußte diese zweitausend Dollar gewinnen. Würde Gold Deck sich daran stören, wenn ein anderer Reiter auf seinem Rücken saß? Obwohl der Hengst für gewöhnlich fügsam war, konnte er sehr temperamentvoll sein… Herr im Himmel! Und wenn Chase Cumberlands Stute rossig war? Gold Deck würde dann denken, er solle sie bespringen, anstatt sie zu überholen. Er würde die Nase an ihren Schweif heften und ihr bis zur Ziellinie folgen. Das war noch einer der Gründe, warum Pa ihn nie während der Rosse laufen ließ. Solch schlimme Gedanken darfst du gar nicht haben, Maddie McCrory. Anstatt dir die furchtbarsten Katastrophen auszumalen, überlege dir lieber, wie du deinen Gewinn ausgeben wirst. Zuerst zahlst du die fälligen Hypotheken, dann die Steuern, und wenn danach noch etwas übrigbleiben sollte, kaufst du Little Mike eine neue Hose und den Zwillingen Bänder fürs Haar… Oh, und du gibst Pawnee Mary zurück, was du ihr schuldest… Pawnee Mary war die hübsche Indianerin, die manchmal bei der Wäsche und in der Küche aushalf. Mary bestand stets darauf, daß die Mahlzeiten und das Beisammensein mit der Familie Bezahlung genug seien, aber Maddie hatte ein schlechtes Gewissen, denn sie wollte die Großzügigkeit der Frau nicht ausnutzen, vor allem, da ihre Nachbarn nicht im Traum daran dachten, eine niedere Squaw über die Türschwelle ihres Hauses zu lassen.
Ja, beschloß Maddie, wenn sie dieses Rennen gewann, würde sie darauf bestehen, daß Mary sich wenigstens die Dienste bezahlen ließ, die sie in den schwierigen und entbehrungsreichen Monaten nach Ma’s Tod geleistet hatte. Ohne Marys Hilfe – die Indianerin schien immer zu wissen, wann sie gebraucht wurde – wäre das Leben zehnmal so schwer gewesen. Nachdem sie dies entschieden hatte, gelang es Maddie, ein zuversichtliches Lächeln aufzusetzen und sich für den schicksalhaften Augenblick zu sammeln.
Zwei Chase Cumberland stand im Schatten einer dürren Pappel neben den Hopewell-Bahnen und flüsterte seiner Stute ins Ohr, ein Hilfsmittel, das sie vor einem Rennen immer zu beruhigen schien. Er wußte, daß sie ihm zuhörte, denn die langen goldfarbenen Ohren waren aufgestellt und aufmerksam auf ihn gerichtet. Das anhaltende Schnauben konnte als Zustimmung gelten. »Wir werden dieses Rennen gewinnen, mein Mädchen«, teilte er ihr mit, ohne auf den Lärm der Zuschauer zu achten, die sich in der Nähe der Bahn aufgestellt hatten. »Das ist unsere große Chance. Dann haben wir endlich genug Geld, um eine Farm zu kaufen; Bück und ich können das Herum vagabundieren aufgeben, und du kannst es dir gutgehen lassen und schöne honigfarbene Fohlen zur Welt bringen, anstatt dir im Frühjahr, Sommer und Herbst fast jede Woche die Hufe abzugaloppieren. Ich werde dir einen prächtigen Hengst besorgen, und deine Nachkommen können künftig die Rennbahnen bevölkern. Du hast nichts anderes zu tun, als dich auf endlos grünen Weiden zu räkeln und mit Mais und Präriegras vollzufressen. Hört sich das nicht gut an, mein Mädchen?« Bonnie Lass rieb sich die Nüstern an seinem Hemd, und Chase kraulte sie am Hals unter der Mähne, was sie besonders mochte. Stolz wanderte sein Blick über den glänzenden Pferdeleib. Wie ihr Vater, der berühmte Bonnie Scotland, war Bonnie Lass ein Falbe mit dunklen Beinen und einer sternförmigen Blesse auf der Stirn. Bis zum Widerrist maß sie einen Meter dreiundsechzig und hatte die langen Schultern, die breite Brust, den kurzen Rücken, die kraftvollen Vorderbeine und die mächtige Hinterhand des
geborenen Sprinters. Mager war sie geworden, das mußte er zugeben. Die Rippen waren unter dem glänzenden Goldbraun der Decke sichtbar, aber in Chases Augen zeigte sie weder Anzeichen von Erschöpfung noch schlechter Kondition. Die zehntägige Ruhepause nach monatelangem Unterwegssein hatten ihr gut getan. Bonnie Lass stampfte ungeduldig mit den Hufen, als ob sie das Rennen kaum noch erwarten könne. Chase lächelte unwillkürlich. Miss Maddie McCrory irrte sich gewaltig; Bonnie Lass war in Hochform und würde den Hengst schlagen, dessen Siegesruf sich durch ganz Texas bis zum Rio Grande verbreitet hatte. Chase dachte über alles nach, was er in der Stadt über die Familie McCrory gehört hatte, und sein Lächeln erstarb. Er mußte dieses Rennen unbedingt gewinnen. Er brauchte das Geld dringend, aber der Gedanke paßte ihm nicht, Geld von der Familie eines Mannes zu nehmen, der den Tod seiner Frau nicht überwinden konnte und im Alkohol Zuflucht suchte und der seine Kinder sich selbst überließ. Chase hegte keine große Sympathie für Big Mike McCrory, dem man nachsagte, er sei ein gerissener Pferdehändler und gefürchteter Gegner beim Rennen, trotzdem kam er sich vor, als würde er die Kinder dieses Mannes berauben, einschließlich des widerborstigen, rothaarigen Wesens, das aussah, als ob es eine Lektion in Weiblichkeit gut vertragen könne. Außerdem erzählte man sich in der Stadt, daß die vier jungen McCrorys unter Führung der ältesten Tochter mehr oder weniger von der Hand in den Mund lebten, nachdem ihre Mutter vor knapp einem Jahr gestorben war. Die halsstarrige Maddie McCrory hatte sich geweigert, die Hilfe der Nachbarn anzunehmen. Mühsam versuchte sie den Familienbetrieb allein weiterzuführen, während ihr Vater den mageren Gewinn vertrank, den sie erwirtschaftet hatte. Es sei ein Skandal, sagten die Leute, so wie sich Big Mike McCrory gehenließe, aber seine Frau war in der Familie immer wie ein Fels in der Brandung gewesen. Auf sie konnte man sich verlassen, bis eine mysteriöse Krankheit an ihr zehrte und sie ans Bett fesselte. Mehrere Jahre lang focht sie tapfer einen aussichtslosen Kampf, bis sie endlich erlöst wurde. Chase hatte diese Geschichte aus verschiedenen Quellen gehört, aber erst nachdem er sich zum Rennen gemeldet hatte. Er hatte selbst schwere Zeiten
durchgemacht und wollte daher Miss McCrory die Möglichkeit geben, aus dem Vertrag auszusteigen. Anstatt Vernunft anzunehmen, hatte sie sein Mitleid mit mistverkrustetem Stiefelabsatz in den Staub getreten. Es war ihre Entscheidung. Er hatte es wenigstens versucht und war jetzt fest entschlossen, dieses Rennen zu gewinnen und das Preisgeld zu kassieren, einschließlich der Wettbeträge, die sich noch in der Stadt ansammeln würden. Er und Bück waren zu lange unterwegs gewesen. Nach dreieinhalb Jahren hatten sie das Recht, wieder neu anzufangen. Mittlerweile mußten die Madisons aufgehört haben, nach seinem Bruder zu suchen, und die Gesetzeshüter in Dallas County hatten doch wahrlich Besseres zu tun, als einen Mann zu verfolgen, der ihres Wissens nach sowieso unschuldig war. Clint Madisons Tod war ein Unfall gewesen. Bück hatte niemals den Vorsatz gehabt, Clint zu töten, als er das Whiskeyfaß auf seinem Kopf zertrümmerte. Clints unablässige Hänseleien hatte ihn zu dieser Gewalttat getrieben. Wären die Madisons nicht die reichste Familie in Dallas County gewesen, dann wäre es nie so weit gekommen. Einen Monat später hätte man den Vorfall vergessen. Nachdem sie kreuz und quer durch verschiedene Staaten gezogen waren, war Chase sicher, die Beauftragten der Bezirkspolizei sowie die Prämienjäger abgeschüttelt zu haben. Er und Bück hatten keine Spuren hinterlassen. Im vergangenen Jahr hatte keine lebende Person Bück auch nur zu Gesicht bekommen, der in diesem Augenblick weit draußen in der Prärie das Lager aufgeschlagen hatte und auf Chase wartete, der ihn mit den Pferden fortbringen würde, sobald er einen Platz zum Bleiben für sie gefunden hatte. Dies würde der Platz sein. Hopewell, Kansas, in der tiefsten Provinz. Hier in dieser Abgeschiedenheit würde er Pferde züchten und sie verkaufen, wofür er und sein Bruder einmal in Texas berühmt waren. Er mußte nur dieses Rennen gewinnen, dann würde er endlich genug Geld haben, um eine Farm zu kaufen und das zu verwirklichen, was er und Bück am besten konnten - nämlich Pferde züchten. Kein Mensch in Hopewell brauchte von Bück zu wissen; sie würden seine Existenz geheimhalten. Aufgrund des auffallenden Äußeren seines Bruders und einer besonderen Behinderung war es besser, wenn keiner von ihm erfuhr. Bück brauchte nur einen Saloon zu betreten, einen Laden, einen Mietstall oder sogar eine Kirche,
und die Leute drehten sich nach ihm um und redeten hinter vorgehaltener Hand. Früher oder später würde einer der Burschen den starken Mann spielen, das Verkehrte sagen oder eine Prügelei anfangen, und Chases Hintern wäre wieder im Sattel. »Gewinne dieses Rennen für Bück«, flüsterte Chase in Bonnies Ohr. »Ich nehme nur ungern Geld von den McCrorys, aber ich habe Miss McCrory die Möglichkeit gegeben, es sich anders zu überlegen. Dieser starrsinnige kleine Drache zog es jedoch vor, an der ursprünglichen Abmachung festzuhalten. Also gehen wir ins Rennen. Wir können doch Bück nicht im Stich lassen, oder, mein Mädchen? Er zählt auf uns. Abgesehen davon habe ich das Gefühl, daß heute unser Glückstag ist. Zeig diesem Hengst deine Hufe. Und wenn er sich auch auf Cold Deck und Steel Dust zurückverfolgen läßt, du kannst ihn schlagen. Dein Blut ist so gut wie seines. Und er ist kleiner als du – und häßlich. Kurz und plump, mit quadratischem Kiefer und Schweinsaugen. Ich weiß das. Ich hab’ ihn neulich in der Stadt gesehen und ihn unter die Lupe genommen. Ich wette, er kann nicht schneller laufen als ein dreibeiniger Hund.« Chase streichelte Bonnie Lasses weiche Nüstern und fügte noch weitere Schmähungen hinzu, während er auf das Eintreffen seines Gegners wartete. Das anschwellende Gemurmel der Zuschauer sagte ihm, daß Gold Deck angekommen war. Er wandte sich um und erblickte das Pferd mit dem kleinen, fast winzigen Reiter. Die Größe des Reiters beunruhigte ihn; Chase wog sicher zweimal soviel. Kein Wunder, daß Miss McCrory das Gewicht des Reiters nicht festlegte, was bedeutete, daß jeder Teilnehmer selbst bestimmen konnte, welches Gewicht sein Pferd tragen würde. Aber die Fettpolster an Gold Decks grobknochigem Rahmen machten Chases zusätzliche Pfunde mehr als wert. Mit scharfem Kennerblick, den er sich in langjähriger Erfahrung erworben hatte, musterte Chase seinen Rivalen. Was er sah, gefiel ihm. Es war unverkennbar, daß er von Steel Dust abstammte, der das siegreiche Rennpferd Cold Deck gezeugt hatte. Steel Dust war in Kentucky zur Welt gekommen, starb aber in Lancaster, Texas. Daher erkannte Chase die Merkmale seiner Nachkommen: Ein Meter fünfzig oder mehr geballter Muskelkraft, ein breiter Unterkiefer und die mächtige Hinterhand, die ein
Pferd befähigte, über kurze Entfernungen wie ein Berglöwe loszusprinten und sich auf den Hinterbeinen wie eine Katze zu drehen, die ihrer Schwanzspitze nachjagt. Gold Deck war ein Rotfuchs wie der große Cold Deck, nur mit mehr Gelb im Fell – und er hatte wirklich keine Schweinsaugen. Chase hatte das nur gesagt, um Bonnie Lass davon abzubringen, fleischliches Interesse an diesem hübschen Kerl zu zeigen. Zum Glück würde seine Stute heute nachmittag nicht zu einem Flirt aufgelegt sein; es war nicht ihre Zeit. Aber sie würde bald rossig werden, und dann hätte Chase nichts dagegen, wenn sie sich mit Gold Deck paarte. Auch wenn der Hengst dieses Rennen nicht gewinnen würde, so hatte er doch viel zu bieten. »Die Konkurrenz ist da, Mädchen. Zeit zum Aufsitzen.« Als sich Chase in den Sattel schwang, bäumte sich Bonnie Lass auf und tänzelte ungeduldig. Er ließ sie einige Male im Kreis gehen, um sie zu beruhigen, dann drehte er ihren Kopf zu dem Neuankömmling hin. Der Hengst schnaubte zur Begrüßung, aber der Junge auf seinem Rücken zog die Schultern ein und wandte das Gesicht ab, das unter einem Schlapphut verborgen war. Aus der wogenden Menge hagelten die verschiedensten Kommentare wie Pfeile auf die beiden herab. »Little Mike, du bringst das Pferd als erster durchs Ziel, hast du verstanden? Hab ‘ne Menge auf dieses Rennen ge setzt.« Chase erkannte Silas Grover, der einen Wintervorrat Bohnen, Kaffee und Mehl gegen Chases kostbaren mexikanischen Sattel gesetzt hatte in der Hoffnung, daß der Hengst Bonnie Lass schlagen würde. »Sind Sie sicher, daß Ihre Stute einen Hengst überholen kann?« wollte ein Mann im roten Wollhemd wissen. »Ich hab’ Sie unterstützt, Cumberland, und es kostet mich hundert Dollar, wenn Sie mich als Lügner hinstellen.« »Sie schafft es«, antwortete Chase. »Wo ist der Schmied? Soweit ich weiß, hat er die Leitung bei diesen Rennen.« »Haltet eure Pferde im Zaum. Bin schon zur Stelle.« Ein riesiger Kerl mit einem faßförmigen Oberkörper und Bizeps wie Berge bahnte sich den Weg durch Männer, Frauen und Kinder, die in Scharen gekommen waren, um
das Rennen zu sehen. Ganz Hopewell schien auf den Beinen zu sein, einschließlich des Mannes, der seinen Wagen und verschiedene landwirtschaftliche Geräte gegen Chases kunstvoll gravierte Sporen, gesetzt hatte, wenn der Hengst der McCrorys über Chases Stute siegte. »Ihr alle kennt die Regeln«, verkündete Jake Bussel auf seine grobschlächtige Art. »Gestartet wird auf mein Kommando. Sobald ihr bereit seid, teure ich die Pistole ab, und der erste, der die Ziellinie überquert, ist der Sieger.« Chase blickte zu seinem Gegner auf Gold Decks Rücken; die Hände des jungen Mannes zitterten. Er umklammerte die Zügel des Pferdes, als ginge es um Leben und Tod. Chase wollte etwas sagen, um die Nervosität seines Gegners zu mildem, besann sich aber rechtzeitig eines Besseren. Zuviel stand auf dem Spiel, und es konnte ihm ja nur recht sein, daß der Junge nervös war und Fehler machen würde. Er suchte die Menge nach Maddie McCrory ab, aber der struppige rote Zopf und das ernste Sommersprossengesicht des Mädchens war nirgendwo auszumachen. Sie hatte eine niedliche Stupsnase, erinnerte er sich, eines der wenigen mädchenhaften Dinge an ihr – dies und das kleine Grübchen am Kinn –, und er fragte sich, ob ihr Bruder beides geerbt hätte. Miss McCrorys jüngere Schwester, sinnierte er weiter, versprach allen Anzeichen nach eine echte Schönheit zu werden, mit dem rotgoldenen Haar und der beinahe fleckenlosen Haut. Maddie selbst war so widerborstig und mürrisch gewesen, daß er sich nicht weiter an sie erinnerte, vor allem ihre Kühle und Ablehnung waren ihm im Gedächtnis geblieben. Und wenn sie über die Straße ging, glaubte man, sie hätte einen Stock verschluckt. Seine Unfähigkeit, sich an weitere Einzelheiten zu erinnern, verwunderte ihn, da er stets ein Auge für Frauen hatte. Aber er hatte nur wenig Zeit für Frauen, so daß die Formen des weiblichen Körpers fast vergessen waren, die Süße ihres Lächelns, ihr betörender Duft, ganz besonders, wenn er ungewöhnlich war. Maddie McCrory, das fiel ihm jetzt ein, hatte ein wenig nach Pferdedung gerochen. Zum Teufel, mußte er ausgerechnet jetzt seine eigenen Interessen obenan
stellen! Der Junge war so nervös, daß er wie ein alter Hund zitterte, den man bei einem Gewittersturm vor die Tür gesetzt hatte. Voller Mitgefühl beugte sich Chase vor und tippte ihn an der Schulter. Der schmächtige Körper zuckte zusammen, der Kopf fuhr herum, und zwei blaue Augen starrten ihn aus einem schmutzverschmierten Gesicht an. Wo hatte er diese blauen Augen schon einmal gesehen? Ein so lebhaftes Blau, das vor Zorn aufblitzte. Dann fiel es ihm wieder ein. Der Junge hatte die gleichen Augen wie seine Schwester – und deren Nase. Und das Grübchen am Kinn. Und die Widerborstigkeit. »Was wollen Sie?« fragte er barsch. »Regen Sie sich nicht auf, junger Mann. Es ist nur ein Rennen«, riet Chase. »Ob Sieger oder Verlierer, die Sonne geht morgen wie immer auf.« »Fassen Sie mich nicht an, Mister«, herrschte der Junge ihn an. Er war auch nicht freundlicher als seine Schwester, dachte Chase. Der Junge zog den Hut tiefer in die Stirn, so daß unter der Krempe nur noch der zusammengepreßte Mund zu sehen war. Wenn der junge Reitersmann schon kein Entgegenkommen zeigte, so mußte Chase wenigstens seine Unverfrorenheit bewundern. »Vor lauter Hut werden SE nicht die Ziellinie sehen. Es sei denn. Ihre Augen können sich durch den Filz bohren.« »Die brauch’ ich nicht zu sehen. Ich weiß, wo sie ist.« »Seid ihr beiden fertig?« Jake Bussel winkte ungeduldig mit seiner Pistole. »So viel Zeit haben wir nicht. Heute nachmittag muß ich noch zwei Pferde beschlagen. Wendet die Pferde mit dem Rücken zu den Startpfosten.« Chase faßte die beiden Holzpfosten ins Auge, die die Startlinie markierten, und die gestampften Bahnen, die nebeneinander verliefen. Eine Viertelmeile weiter weg, auf diese Entfernung hatten sich Chase und die Schwester seines Gegners geeinigt, stand ein zweiter Satz Pfosten, die das Ziel markierten. Nachdem er zufrieden das Ziel angepeilt hatte, wendete Chase seine Stute auf der Hinterhand und fühlte, wie sich ihre Muskeln erwartungsvoll spannten. Bonnie Lass begann ein Rennen gern auf diese Art und Chase auch, denn die Fähigkeit der Stute, nach dem Wenden sofort scharf anzugaloppieren, brachte ihr fast immer den entscheidenden Vor-
sprung ein. Er hatte es vorgeschlagen. Miss McCrory hätte sich eine der unzähligen anderen Möglichkeiten aussuchen können, aber das hatte sie nicht getan, und Chase fragte sich jetzt, ob der Junge auf Anhieb sauber starten könne oder mehrere Neustarts verlangte, wie es bei Rennen dieser Art oft der Fall war. Er bereitete sich innerlich bereits auf verschiedene Ausgangspositionen vor. »Fertig!« hörte er den Jungen mit heiserer Stimme sagen. »Los!« antwortete er und duckte sich tief, als Bonnie Lass herumwirbelte und die Bahn entlangdonnerte. Einen Sekundenbruchteil später ging die Pistole los und bestätigte offiziell den Beginn des Rennens. Über Lass’ Hals gebeugt, trieb Chase seine Stute voran. Sie legte die Ohren an und hörte ihm zu, als er ihr noch einmal einprägte, was dieses Rennen für ihn und Bück bedeutete. Ihre Mähne peitschte sein Gesicht. Zwischen seinen Schenkeln fühlte sich der lange, kräftige Körper weich und ge schmeidig an. Wie ein Vogel flog sie dahin, und er wußte, warum seine Liebe dem Pferderennen galt. Es gab nur wenige Dinge im Leben, die dieser Erfahrung gleichkamen: das Gefühl zu fliegen. Und die Gewißheit zu siegen. Die Freude, einen würdigen Gegner herauszufordern und zu besiegen. Nur eine einzige Sache hielt diesem Vergleich möglicherweise stand: die Eroberung einer schönen Frau. Es war schon lange her, seitdem er das letzte Mal mit einer Frau geschlafen hatte, und es fiel ihm schwer, sich dieses Erlebnis wieder ins Gedächtnis zu rufen. Er lebte für das Pferderennen. Es vermittelte ihm, wer er war. Das Rennen und der Stolz, den er für sich und seine Pferde empfand. Er hatte Bonnie Lass gezüchtet, war bei ihrer Geburt dabeigewesen, führte das auf unsicheren Beinen stehende Fohlen zur Milch der Mutter, trainierte das Pferd und bildete es für Rennen aus. Und jetzt bekam er seine Belohnung. Als sie ihren Rhythmus gefunden hatte, streckte sich ihr Galopp, und wenn er es nicht besser gewußt hätte, würde er geschworen haben, ihre Hufe hätten den Boden nie berührt. Dann war es vorbei. Sie passierte die Ziellinie, und er richtete sich im Sattel auf, um ihren Vorwärtsschub abzufangen. Kein Pferd lief vor ihm, und das bedeutete, daß er gesiegt hafte. Er riß den Hut vom Kopf, warf ihn hoch in die Luft und stieß laute Tri-
umphschreie aus, die bei der Zuschauermenge ein begeistertes Echo fanden. »Juhuuu! Du hast es geschafft, altes Mädchen!« Noch bevor der Jubelruf aus seinem Mund kam, galoppierte Gold Deck vorbei und wehrte die Versuche seines Reiters ab, ihn durchparieren zu wollen. Der Hut des Jungen war herabgeflogen und ein struppiger Rotschopf zum Vorschein gekommen. Ein langer, aufgelöster Zopf wehte über die Schulter. Wie Schuppen fiel es Chase von den Augen: Das war kein Junge. Der Reiter war Maddie McCrory. Sie wendete den Hengst auf der Hinterhand – eine so gekonnte Wendung hafte er noch nie gesehen. Mit vor Wut funkelnden blauen Augen und einem grimmigen Strich als Mund ritt sie zu ihm zurück. Ihr kleiner Jungenhintern, ein sehr hübscher Hintern, wie er bemerkte, schien mit dem Sattel verwachsen zu sein. Und sie war überhaupt nicht mehr ängstlich. Im Gegenteil, sie war gereizt wie eine Klapperschlange, die von einem Pferd getreten worden war. »Sie haben gewonnen!« Ihre Stimme schnitt durch das Stimmengewirr um sie herum. »Sie haben gewonnen. Aber ich halte nicht viel von Ihrer Taktik, Sie erbärmliches, hinterhältiges, verlogenes Stinktier!« Ihre Feindlichkeit erstaunte ihn. »Was meinen Sie damit? Ich bin mein Rennen geritten. Ich habe einen fairen Sieg errungen, Miss McCrory. Vielleicht sollten Sie vo n nun an Ihren Bruder reiten lassen. Entscheidungsrennen sind kein Sport für Frauen. Die Gefühle gehen Ihnen durch. Verdammt noch mal, so verängstigt, wie Sie heute am Start waren, hätten Sie sich das Genick brechen können.« »Ich spreche nicht von heute]« schrie sie. »Das Pferd, das Sie heute reiten, hat mit dem Tier, das ich nach Ihrer Ankunft in der Stadt im Stall gesehen habe, überhaupt nichts zu tun.« »Beschuldigen Sie mich etwa, die Pferde ausgetauscht zu haben?« Chase spielte die beleidigte Unschuld. Er würde doch nicht zugeben, daß er das getan hatte, was er immer tat, wenn er in eine fremde Stadt ritt und nach einem Rennen Ausschau hielt. Er hatte vorher Sand und Asche in Bonnie Lass’ Fell gerieben und ließ sie lahmen, wenn ein neugieriger Betrachter in ihre Nähe kam. Aber Maddie McCrory konnte nicht gesehen haben, wie Bonnie Lass lahmte, wenn sie nur kurz in den Stall geschaut hatte.
»Ich dachte. Ihre Stute wäre kein ernstzunehmender Konkurrent, so mager und jämmerlich, wie sie da im Stall stand… Jetzt, nachdem Sie das Tier gestriegelt und ihm reichlich zu fressen gegeben haben, sehe ich, was mir vorher entgangen ist. Was mir absichtlich entgehen sollte. Dieses Pferd stammt von einem Champion ab. Ich wette, daß Sie mit ihr auf dem ganzen Kontinent Rennen gelaufen sind und gewonnen haben. Oder wollen Sie das etwa abstreiten?« Chase nahm kaum wahr, daß die Zuschauer näher an sie herantraten und die Hälse reckten, um besser zu sehen und möglichst jedes Wort zu verstehen. Er ließ ein träges, bedeutungsvolles Grinsen über das Gesicht huschen. »Ja, ich gebe zu, wir haben einige Rennen gewonnen.« »Wußte ich’s doch! Habt ihr das gehört?« schrie Maddie McCrory aufgeregt in die Menge. »Aber haben Sie Jake Bussel nicht gesagt, daß Sie Ihr letztes Rennen verloren haben?« »Zum Teufel noch mal, das habe ich gesagt… weil wir es verloren haben. Aber ich habe Ihnen auch gesagt, daß sie in Form ist, weil ich sie den ganzen Winter über geritten habe. Wollen Sie das abstreiten?« Chase hätte es nicht für möglich gehalten, daß das Gesicht eines Menschen so rot werden konnte wie das von Miss Maddie McCrory. Die dunkelroten Wangen überstrahlten das Haar. Die blauen Augen knisterten beinahe vor Wut. »Sie haben mich in ein hochdotiertes Rennen gelockt, indem Sie vortäuschten. Ihr Pferd sei ein Verlierer. Das ist unaufrichtig, und ich werde es auch nicht vergessen, Mr. Cumberland… und auch keiner der Umstehenden hier.« »Holla«, sagte er, und sein eigener Arger wuchs. »Habe ich Ihnen nicht die Möglichkeit geboten, von diesem Rennen zurückzutreten?« »Ja, und auch die Möglichkeit, den Einsatz zu erhöhen. Noch nie ist mir ein Mensch vorgekommen, der so aalglatt mit zwei Zungen sprechen kann. Sie haben virtuos auf der Tastatur meiner Leichtgläubigkeit gespielt, aber leider habe ich die Melodie erst jetzt erkannt.« »Ich habe keine Melodie gespielt, die Sie nicht schon vorher gehört haben – oder vielleicht auch selbst spielten. Ich habe einiges erfahren, als ich in die Stadt kam. Wie die Leute mir sagten, tauchte Ihr Pa immer wieder bei
Farmern auf und gab vor, nur ein einfacher Rinderknecht zu sein mit einem alten Klepper. Und euer Champion würde struppig und verdreckt aussehen, damit niemand auch nur eine Spur von Schnelligkeit in ihm vermutete. Aber dann, wenn dann der richtige Augenblick gekommen war, würde er…« »Lassen Sie meinen Pa da raus! Wenn es darum geht, einen falschen Eindruck zu erwecken, dann kann er ihnen nicht das Wasser reichen. Sie… Sie…« Sie schien nach einem Schimpfwort zu suchen, das beleidigend genug war, um ihren Gefühlen Ausdruck zu geben. »Miss McCrory…« Chase beugte sich über den Widerrist seiner Stute und senkte die Stimme. »An Ihrer Stelle würde ich die Sache jetzt auf sich beruhen lassen, weil die Leute Ihnen sonst nachsagen würden. Sie jammern nur so, weil Sie verloren haben.« »Ich jammere nicht!« »Nein?« Chase hob die Augenbrauen. »Dann haben Sie mir etwas vorgemacht.« »Ohhhh!« Ohne Rücksicht auf die Zuschauer zu nehmen, riß sie den Hengst herum und galoppierte davon. »Miss McCrory!« rief er ihr nach. »Vergessen Sie nicht, daß wir in einer Stunde in der Stadt mit meinem Preisgeld verabredet sind.« Wahrscheinlich hatte sie ihn nicht gehört, aber die Regeln waren ihr schließlich bekannt. Sie waren vorher übereingekommen, daß der Verlierer eine Stunde nach dem Rennen das Geld übergeben müsse und zwar am Fuße der großen Eiche, die in der Mitte der Stadt stand. Normalerweise oblag dieses wichtige Detail dem Rennleiter, aber Jake Bussel hatte ihm erklärt, daß die Dinge in Hopewell traditionsgemäß etwas anders abliefen, da dies der einzige Baum der Stadt war. Chase blickte nach vom und entdeckte Maddie McCrorys kleine Schwester, die ihn mit großen Augen ansah. Du lieber Himmel, es gab zwei von ihr! Nein, das heißt, es waren Zwillinge. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Es gab Maddie, Little Mike und die Zwillinge. Carrie und… an den Namen der anderen konnte er sich nicht mehr erinnern. »Sagt eurer Schwester, ich erwarte sie in einer Stunde an der Eiche.«
Er glaubte, die Augen würden ihnen aus dem Kopf fallen. Sie nickten gleichzeitig. »Ja, Sir, Mr. Cumberland«, ertönte es im Chor. »Maddie wird das Geld bringen«, versicherte Carrie ihm. Oder war es die andere? »Gut. Sorgt bitte dafür.« Nachdem das geklärt war, zumindest hoffte er das, ritt Chase durch die sich langsam zerstreuende Zuschauermenge, um den Rest seiner Einsätze abzuholen, bevor die Verlierer verschwanden. Maddie kehrte zum Wagen zurück und glitt von Gold Deck herab. Dann nahm sie ihm das Zaumzeug ab, legte ihm das Halfter um, band ihn am Wagen fest und rief ihrem Bruder zu: »Little Mike, ich bin wieder zurück! Kannst du Gold Deck herumführen, damit er sich abkühlt? Ich werde Pa suchen.« Der Bruder steckte den Kopf aus der rückwärtigen Tür des Wagens. »Haben wir gewonnen, Maddie?« Das unverletzte Auge blickte sie hoffnungsvoll an. Das andere war dunkelblau wie ein Veilchen. Als er ihr Gesicht sah, zog er eine Grimasse. »Verdammt! Wir haben nicht gewonnen?« Sie schüttelte den Kopf. »Zieh meine Sachen an, wenn du willst. Ich suche jetzt Pa. Wir schulden Chase Cumberland zweitausend Dollar. Ich brauche Pa. Er muß mir helfen, einen Ausweg zu finden.« »Pa wird keine große Hilfe sein. Du kannst dir die Mühe sparen, ihn um Rat zu fragen.« Die verächtlichen Worte des Bruders vermehrten nur die Verzweiflung, die wie ein Stein auf ihrem Herzen lastete. »Er war nicht immer so«, verteidigte sie ihn, so wie sie es immer tat, wenn einer ihrer Geschwister das Offensichtliche aussprach. »Vergiß das nicht, Mike. Früher wußte Pa für alles eine Lösung. Er kann nichts dafür, daß er so geworden ist.« »Vielleicht nicht, aber Amos Graft hat recht, Maddie. Pa ist ein Trunkenbold. Er wird nicht wissen, wie wir die zweitausend Dollar auftreiben können.« »Sag’ das nicht! Vielleicht weiß er doch einen Ausweg. Jedenfalls gehe ich ihn jetzt suchen.
Kümmere dich um Gold Deck. Ich bin so schnell es geht wieder zurück.« Maddie eilte zum Fluß und durchsuchte die Binsen am Ufer. Eine Viertelstunde später stolperte sie über den linken Fuß ihres Vaters. Den Kopf an einen Felsen gelehnt, die Flasche unverschlossen neben sich, lag Pa mit dem Blick zum Wasser am Ufer. Er schnarchte laut. Beim Ausatmen gab er Geräusche von sich, die wie der Blasebalg eines Schmieds klangen. Die Hände hatte er wie ein Toter über der Brust gefaltet. Maddie konnte nichts von dem liebenswürdigen und anziehenden Mann entdecken, den sie als Kind und junge Frau kannte. Dieser Mann war ein Fremder; er sah nicht einmal aus wie er selbst. Das rote Haar war über Nacht grau geworden. Nase und Wangen hatten die Farbe überreifer Äpfel. Der Bart war bereits drei Tage alt. Wenn Maddie ihn nicht dazu drängte, badete und rasierte er sich nicht mehr. Als Ma noch lebte, wäre es ihm nicht im Traum eingefallen, unrasiert und ungewaschen zum Frühstück zu erscheinen. Maddie kniete sich neben ihn, nahm die Flasche und drehte den Hals nach unten. Nur ein einziger Tropfen fiel in das Büffelgras. Die Flasche war leer. Das hieß, daß sie wieder mit Argusaugen darauf achtgeben mußte, daß er nichts Wertvolles in die Stadt brachte und in Alkohol umsetzte. Eines Tages hatte sie ihn sogar dabei erwischt, wie er mit Gold Deck nach Hopewell ritt, um ihn zu verkaufen! Er hatte fast jeden Gegenstand von Wert, den das Haus enthielt, weggetragen, darunter Ma’s kleine Schätze aus dem Femen Osten sowie einige schöne luxuriöse Dinge, die sie im Laufe ihrer Ehe erworben hatten. Nur wenig war übriggeblieben, das an den Wohlstand der Familie während ihrer ›guten Jahre‹ erinnerte. Es war ihr gelungen, einige Dinge zu verstecken, die Pa vergessen hatte, aber die Gesamtsumme aller Gegenstände, die in der Scheune unter dem Stroh lagen, würden keine zweitausend Dollar einbringen. Höchstens zweihundert, gerade genug für eine bescheidene Feier und Mitgift für die Zwillinge, wenn sie heiraten würden, so hatte Maddie ausgerechnet. Trotz alldem mußte sie dieses Problem mit Pa besprechen oder es zumindest versuchen. Sie hatte einfach nicht damit gerechnet, daß Gold Deck gegen
eine Stute, die aus dem letzten Loch zu pfeifen schien, verlieren würde. Sicherlich würde ihr Vater, wenn er den Ernst der Lage erkannte, sich zusammenreißen und ihr beistehen. »Pa!« Sie schüttelte ihn an der Schulter. »Pa, wach’ auf!« Er rührte sich nicht. Sie schüttelte ihn fester. »Bitte, Pa. Ich muß mit dir reden.« Ein blutunterlaufenes, blaues Auge öffnete sich. »Laß mich in Ruhe«, murmelte er. Maddies Verzweiflung wuchs. »Hör1 mir zu, Pa. Du mußt aufwachen und nüchtern werden. Heute nachmittag habe ich ein Rennen mit Gold Deck verloren, und ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich schulde dem Sieger eine Riesensumme Geld… Pa, das könnte das Ende für uns sein. Es könnte uns die Farm kosten! Ich kann die Hypothekenzahlungen nicht aufbringen, die Steuern werden nächsten Monat fällig, und dieser Fremde wartet darauf, daß ich ihm das Preisgeld bringe.« »Clara?« Plötzlich war wieder Leben in ihn gekommen. Pa stützte sich auf einem Ellbogen ab. »Clara Ann, Liebes, bist du es?« Clara Arm hieß ihre Mutter. Maddie unterdrückte ein Schluchzen. »Oh, Pa. Wie kannst du uns das antun? Auch wir haben sie verloren, verstehst du? Nicht nur dir fehlt Ma… Pa, wir brauchen dich. Carrie und Zoe und Little Mike und ich. Hast du uns vergessen? Kümmert es dich nicht mehr, was mit deiner eigenen Familie geschieht?« Ihr Vater zeigte kein Anzeichen, daß er sie verstanden hatte. Mit zitternder Hand tastete er im Gras. »Wo ist meine Flasche? Hilf mir beim Suchen. Ich habe Durst.« Maddie sprang auf die Füße, ergriff die Flasche und schleuderte sie so weit sie konnte in den braungrünen Fluß. Mit einem Platschen landete sie im Wasser, ging aber nicht sofort unter. In der Mitte des Flusses tanzte sie verloren auf und ab, bis sie sich allmählich mit Wasser füllte und von den Fluten verschlungen wurde, wie Maddie, deren Probleme sie einem gefährlichen Strudel gleich in die Tiefe zu reißen drohten. »Sie ist weg, Pa. Weg. Und ich weiß nicht, woher du das Geld bekommst,
um dir eine neue zu kaufen. Jedenfalls nicht von mir. Gleichgültig, wie sehr du mich bittest, anflehst und bedrohst, du bekommst kein Geld mehr, weil nämlich alles Geld weg ist.« Ihr Vater sank wieder gegen den Fels und schloß die Augen. »Laß mich allein. Laß mich hier. Ich will noch nicht nach Hause. Nicht, wenn Clara nicht da ist.« Das sagte er immer, wenn Maddie kam und ihn nach Hause bringen wollte. Wenigstens würde es ihm zu dieser Jahreszeit nicht schaden, wenn er hier noch eine Weile schlief und sich dann allein auf den Heimweg machte, sobald er wieder dazu in der Lage war. Sie brauchte sich jetzt nicht wie im Winter zu sorgen, daß er sich zu Tode fror. Wenn er nicht in ein, zwei Stunden am Wagen auf- tauchte, würde sie Little Mike bitten, ihn vor ihrer Heimfahrt zur Farm zu holen. Aber, oh, was war sie wütend und enttäuscht! Und sie wußte nicht mehr ein noch aus. Ausgerechnet jetzt, wo sie ihn am meisten brauchte, hatte er sie im Stich gelassen. Wie konnte ein Mann in so kurzer Zeit so tief sinken? Das war nicht gerecht. Zuerst hatte sie ihre Mutter verloren und dann auch noch ihren Vater. Sie hatte ihn an den Kummer und den Whiskey verloren. Ma’s Tod war ein doppelter Schicksalsschlag gewesen, aber das war ihr erst später klargeworden. Mit hängenden Schultern trottete sie zum Wagen zurück und zermarterte sich das Hirn nach einer Lösung: Was sollte sie tun? Es blieb ihr nur noch eine knappe halbe Stunde, bevor sie Chase Cumberland gegenübertreten mußte. Sie brauchte mehr Zeit! Sie hob den Kopf und blickte zum Himmel. Der Stand der Sonne brachte die Lösung! Selbst wenn sie das Geld hätte, läge es bei der Spar- und Darlehenskasse von Hopewell, der einzigen Bank der Stadt, und heute war es bereits zu spät, um die Summe abzuheben. Die Schalter schlössen samstags um zwölf Uhr – zwei Stunden vor Beginn des Rennens. Sie hatte die perfekte Entschuldigung, die Zahlung bis Montag hinauszuschieben, wenn die Bank wieder geöffnet hatte. Das gab ihr einen weiteren vollen Tag und zwei Nächte, um einen Weg zu finden, wie sie die zweitausend Dollar vielleicht doch noch auftreiben konnten. Sie lachte leise vor sich hin. Wieso war sie nicht schon früher darauf gekommen? Die so gewährte Gnadenfrist erschien ihr wie ein köstliches
Geschenk. Sie würde Chase Cumberland an der Eiche treffen und ihm mitteilen, daß er bis Montag auf sein Geld warten müsse. Sicherlich würde er toben und schimpfen, aber was konnte er anderes tun? Hatte er tatsächlich erwartet, sie würde ihm noch heute nachmittag mit zweitausend Dollar in bar aufwarten? Natürlich hatte sie diese Zahlungsweise vorgeschlagen, denn in Hopewell war es eine lange bestehende Tradition, die ihr jetzt zugute kam, da sie das Geld Jake Bussel noch vor dem Rennen gegeben haben konnte. Mr. Cumberland würde dies verstehen. Und wenn nicht, dann war es schade. Ihre Erklärung würde genügen müssen. Bis Montag würde ihr etwas einfallen. Vielleicht würde ihr die Bank etwas Geld leihen. Ihr schauderte bei dem Gedanken, an Horace Brownley, den Bankdirektor und Bürgermeister von Hopewell, heranzutreten. Wieder würde sie ihm auseinandersetzen müs sen, warum sie die in diesem Monat fällige Hypothekenzahlung nicht leisten könne und warum sie sich jetzt obendrein noch Geld leihen müsse. Zum Glück hatte die Rennsaison gerade erst begonnen, und eine weitere Niederlage wie heute war höchst unwahrscheinlich. Das nächste Mal würde sie gewinnen. denn das nächste Mal würde sie sich nicht mit einem kurzen Besuch in einem dunklen Stall begnügen, um den Rivalen zu begutachten. Das nächste Mal würde sie darauf bestehen, das Pferd bei Tageslicht zu sehen, und sie würde sich nicht von alten Tricks an der Nase herumrühren lassen oder ›Bemühungen‹, wie man sie auch nannte, die ihr Vater früher ebenfalls angewandt hatte, um einen Leichtgläubigen zu täuschen. Sie selbst wäre besser darauf vorbereitet, wenn es nötig sein sollte, an Little Mikes Stelle im Sattel zu sitzen, und Gold Deck wäre in besserer Kondition. Ab heute wollte sie seine Maisration um die Hälfte kürzen und sein Training verdoppeln. Für die Niederlage im Rennen heute konnte sie keinem anderen als sich die Schuld geben, aber es würde nie wieder geschehen. Das würde sie nicht zulassen. Jetzt brauchte sie Horace Brownley nur noch von dieser Tatsache zu erzeugen – und Chase Cumberland um Geduld bitten.
Drei »Was soll das heißen. bis Montag warten? Sie selbst haben doch darauf bestanden, daß der Verlierer das Preisgeld genau eine Stunde nach dem Rennen zu übergeben hat.« Die Arme über der breiten Brust verschränkt und die bernsteinfarbenen Augen zu Schlitzen verengt, stand Chase Cumberland grollend im Schatten der alten Eiche. Mehr denn je erinnerte er Maddie an einen gefährlich knurrenden Wolf, der sie zudem noch auf eine beunruhigende Art faszinierte. Maddie war froh, daß sie wieder das braune Kattunkleid angezogen hatte, denn unter dem weiten Rock konnte er nicht sehen, wie sehr ihr die Knie zitterten. Sie strich sich eine vorwitzige Haarsträhne aus der Stirn und versuchte so gelassen wie möglich zu erscheinen. »Ich habe mich bereits für diese Unannehmlichkeit entschuldigt, Mr. Cumberland, und erklärt, derart mit den Vorbereitungen für das Rennen beschäftigt gewesen zu sein, daß ich vergaß, das Geld vor Schließung des Bank Schalters abzuheben. Was erwarten Sie denn noch? Muß ich einen Kniefall machen und Sie um Verzeihung bitten?« Sie blickte in die Gesichter der Leute, die sich in einem kleinen Kreis um die beiden geschart hatten, weil sie bei der Übergabe des Preisgeldes dabei sein wollten. Früher hatte ihr Vater diese Männer nach einem siegreichen Rennen zu einer Runde Bier im Ruby Garter eingeladen. Offen- sichtlich hofften sie, Mr. Cumberland würde seinen Sieg auf ähnliche Weise feiern, obwohl Maddie sie eines Besseren hätte belehren können; die Spendierhosen hatte Chase Cumberland gewiß nicht an. »Ich möchte nicht Ihre Entschuldigungen hören, Miss McCrory, ich möchte mein Geld. Das ist ein Spiel für Männer, und wenn Sie mitspielen möchten, dann sollten Sie auch wie ein Mann spielen - und das Risiko eingehen, mit einer Kugel im Bauch zu enden. Wenn der Verlierer versucht sich aus einer Abmachung herauszuwinden, so kann er mit sofortiger Vergeltung rechnen.« Wie um sich selbst Mut zu machen, stemmte Maddie die Hände in die Hüften und zwang sich, ihm in die erbarmungslosen, gelbschimmernden Augen zu blicken. »Dann erschießen Sie mich. Es war nur ein Versehen. Natürlich versuche ich nicht, unsere Absprache zu umgehen. Ich habe einfach nicht damit gerechnet, daß ich das Geld heute
nachmittag bereithalten muß; ich war überzeugt, wir würden gewinnen. Das tun wir immer, nicht wahr, meine Herrn?« Sie lächelte die umstehenden Männer ermutigend an, aber nicht ein einziger gab ein Zeichen der Zustimmung von sich. Verräter! Ohne Geld konnte Mr. Cumberland sie leider nicht zu einer Siegesfeier einladen. »Ich bitt’ Sie um Entschuldigung, Miss McCrory, aber Ihr Pa hätte das Preisgeld in der Tasche gehabt«, erklärte der alte Amos Pardy feierlich, der im Ruby Garter Gläser wusch und den Boden fegte und sich damit seinen Lebensunterhalt verdiente. »Er hat selten verloren, aber wenn, dann war er nicht zu stolz, um seinen Verpflichtungen nachzukommen.« »Wie Ihnen ja bereits bekannt sein wird, ist Pa zu krank, um sich um unsere Geschäfte zu kümmern, Mr. Pardy, und Little Mike ist noch zu jung, also liegt nun alles bei mir. Es tut mir aufrichtig leid, daß ich heute morgen versäumt habe, die Bank aufzusuchen, aber das werde ich gleich am Montag nachholen, und dann kann sich Mr. Cumberland wieder auf den Weg machen, um das nächste gutgläubige Schaf zu scheren, das ihm auf seiner Reise durch Kansas über den Weg läuft.« »Es geht Sie zwar nichts an, Ma’am, aber ich habe die Absicht, hier in dieser Gegend zu bleiben, so kann ich also gut und gern bis Montag auf mein Geld warten.« Das letzte, was Maddie erwartet hatte, war eine schnelle Kapitulation, besonders auf seine anfänglichen Vorwürfe hin. In Chase Cumberlands finsteren Gesichtszügen lag etwas Unergründliches, das ihr sagte, daß sie diesem Mann besser nicht über den Weg traute. »Danke, Sir. Ich weiß Ihr Entgegenkommen zu schätzen. Wollen wir uns übermorgen wieder an der Eiche treffen? Wäre das in Ihrem Sinn?« »Also, für Montag elf Uhr habe ich eigentlich etwas anderes geplant. Ich hatte vor, zu einer Farm hinauszureiten, die hier in der Gegend zum Verkauf steht. Aber ich glaube, wenn ich meine zweitausend Dollar kassieren möchte, werde ich meinen Plan wohl ändern müssen, oder?« Er wollte es ihr nicht zu leicht machen, dachte sie. »Dann nennen Sie mir den Tag und die Uhrzeit«, erwiderte sie kurz angebunden. »Ich werde mich bemühen, pünktlich zu erscheinen.« »Von welcher Farm sprechen Sie, Mister?« fragte Hiram Garret, ein weiterer Stammgast im Ruby Garter. Mit seiner eigenen Farm war es
bergab gegangen, seitdem es ihn Abend für Abend in den Saloon zog, trotzdem aber blieb er über Landwirtschaft und Geschäfte der Rancher und Farmer auf dem laufenden. »Das alte Hanaway-Anwesen«, erklärte Mr. Cumberland. »Ich hörte, daß es zum Verkauf steht, und habe vor, am Montag hinzureiten, um es mir anzusehen.« »Das wird Ihnen nicht viel nützen. wurde vor vier Tagen verkauft. Der Bursche, der es gekauft hat, hat’s mir gestern erzählt.« »Verdammt!« zischte Chase Cumberland wütend und meinte dann mit einem Seitenblick auf Maddie: »Entschuldigen Sie, Miss McCrory, aber mein Gewinn sollte mir dabei helfen, die Farm zu kaufen, vorausgesetzt, sie hätte mir gefallen.« »Wenn Sie Land wollen, dann schauen Sie doch mal beim alten Parker nach, liegt da draußen, gleich bei den McCrorys.« Jefferson Potts spuckte einen Mundvoll Tabaksaft in Richtung Eichstamm. Er war ein großer, ungepflegter Mann mit dickem Wanst u Fäusten wie ein Amboß. Ebenso wie Hiram Garret steckte er seine Nase gern in anderer Leute Angelegenheiten. Maddie wünschte von Herzen, er würde seine Zunge verschlucken. Pa hatte jahrelang die Parker-Farm im Auge gehabt, u Maddie selbst war ebenfalls entschlossen, sie zu kaufen, falls es ihr wieder gelingen sollte, Gewinne zu erwirtschaften. Sie brauchten dringend mehr Weideland, und die Parzelle grenzte an ihren eigenen Grund. Seit dem Ableben des alten Mr. Parker bereits drei Jahre vor Ma’s Tod stand es zum Verkauf, aber irgendwie war es nie zum Kauf gekommen, und jetzt konnten sie es sich absolut nicht mehr leisten. »Mr. Cumberland dürfte sich nicht für die Parkerfarm interessieren«, warf sie ein. »Das Wasser ist schlecht.« »Das Wasser ist schlecht?« Hiram bezweifelte es. »Das hab’ ich nie gehört.« »Darum weißt du auch nichts«, spöttelte Jefferson Potts. »Ich hab’ immer schon gehört, daß das Wasser dort draußen nichts taugt. Wahrscheinlich alkalihaltig, wie der Saline River.«
»Vielleicht braucht man nur einen neuen Brunnen«, bemerkte Chase Cumberland kühl. »Ich glaube, ich werde mir die Farm trotzdem ansehen, ob das Wasser nun schlecht ist oder nicht. Da die Farm nicht weit von Ihnen entfernt ist, Miss McCrory, könnte ich Montag nachmittag vorbeikommen und mir mein Geld abholen. Auf diese Weise haben Sie mehr als ausreichend Zeit, um die nötigen Absprachen mit der Bank zu treffen.« »Wieso kommen Sie auf den Gedanken, ich müsse Absprachen treffen? Ehrlich gesagt, mir ist es lieber. Sie in der Stadt zu treffen, Mr. Cumberland. Es würde Ihnen nur Umstände machen, Montag nachmittag bei uns vorbeizukommen.« Auf keinen Fall wollte Maddie, daß Chase Cumberland den Fuß auch nur in die Nähe ihres Hauses setzte. Er sollte nicht sehen, wie es wirklich um sie stand – die Zäune fielen zusammen, die Dächer der Häuser und Scheunen waren während des Winters an manchen Stellen undicht geworden, und das Mauerwerk hatte Schaden genommen. Der Garten mußte dringend gejätet werden. Die Treppen zur Veranda waren morsch und die Tür des Gerätehauses drohte jeden Augenblick aus den Angeln zu fallen. Das Farmhaus der McCrorys war zum Großteil aus Kalkstein blocken erbaut und zählte einst zu den besonders gepflegten und solide gebauten Gebäuden des Bezirks – aber jetzt nicht mehr. Die Vernachlässigung forderte ihren Tribut. »Oh, es macht mir durchaus keine Umstände, bis Montag zu warten, Miss McCrory. Sie brauchen also nichts weiter zu tun, als das Geld für mich bereitzuhalten. Dann sehen wir uns am Montagnachmittag um vier Uhr.« »Aber… aber…«, stammelte Maddie, doch Chase Cumberland hatte ihr bereits den Rücken gekehrt und entfernte sich mit dem geschmeidigen Gang eines Raubtiers. Es schien, als gehörte ihm bereits die Stadt oder er habe zumindest die Absicht, sie in nächster Zukunft aufzukaufen. Als das Abendessen vorüber war, brachte sie Pa zu Bett. Nachdem das Geschirr gespült und abgetrocknet war, setzte sich Maddie in Mutters Schaukelstuhl und überlegte, was sie Horace Brownley, dem Bankdirektor, am Montag sagen sollte, wenn sie ihn um einen weiteren Kredit bat. So sehr sie sich auch den Kopf zerbrach, ihr fiel keine andere Begründung ein,
als ihm die Wahrheit zu sagen. Der Mann hatte sich zwar bei den überfälligen Hypothekenzahlungen überraschend nachsichtig gezeigt, aber sie wußte nicht, wie lange sein Mitgefühl noch anhalten würde, vor allem, wenn sie ihn jetzt um zweitausend Dollar bitten mußte. Wenn er es ablehnte, wußte sie nicht, was sie tun sollte. In der kommenden Woche war Gold Deck zu einem weiteren Rennen in Salina gemeldet, aber nur für eintausend Dollar, was ausreichte, um die Hypothek für diesen Monat und einen Teil der Steuern zu zahlen, aber nicht, um die Schulden der Familie zu tilgen. Abgesehen davon hatten sie überall in der Stadt Schulden. Bei Jake Bussel, der den Pferden im Winter die Fesselköpfe beschnitten hatte. Bei Mr. Grover für Waren aus dem Kaufladen, und zu Maddies größtem Verdruß gab es beim Ruby Ganer offene Getränkerechnungen, von denen Maddie bis zum heutigen Nachmittag nichts gewußt hatte. Lily Tolliver, die mollige, schwarzhaarige, stets rot gekleidete Besitzerin des Ruby Garter, hatte sich Maddie nach ihrer Auseinandersetzung mit Chase Cumberland in den Weg gestellt und die sofortige Begleichung einer Summe von sage und schreibe dreihundertachtundvierzig Dollar verlangt, für ›Unterhaltungen‹, die Pa wahrscheinlich während des Winters und Frühjahrs im Saloon genossen hatte. »Ich hatte Mitleid mit ihm, er war so traurig und niedergeschlagen«, machte sich Miss Tolliver bei Maddie Luft, wobei ihr wogender Busen das Mieder des Kleids zu sprengen drohte. »Aber wenn euer Pferd jetzt im Rennen verliert, bekommt Big Mike keinen Kredit mehr, und Sie tun gut daran, seine Schulden bei mir zu bezahlen, sonst lasse ich ihn ins Gefängnis sperren, wo er Schimmel ansetzen kann, bis er mir das Geld hingeblättert hat.« Maddie war es entgangen, daß ihr Vater im Ruby Garler verkehrte, aber sie sagte sich, daß sie es eigentlich hätte wissen müssen. Pa hatte sie jedesmal alle in Aufregung versetzt, wenn er des öfteren auf geheimnisvolle Weise verschwand. Ritt er mit Black Jack in die Stadt, hatte sie angenommen, er würde sich mit einigen alten Freunden treffen, niemals aber wäre sie auf den Gedanken gekommen, daß er in der Gesellschaft zweifelhafter Damen im Saloon zechte. Maddies demütigende Begegnung mit Lily Tolliver gab ihr für diesen Tag den Rest, nachdem sie bereits die bittere
Niederlage beim Rennen hafte einstecken müssen. Einen Tag, der noch schlimmer endete, konnte sie sich nicht vorstellen; ihr blieb nur noch der kleine Trost, daß die unglückseligen vierundzwanzig Stunden bald vorbei sein würden. Die Zwillinge waren schon vor einer Weile hinaufgegangen, und Little Mike hafte sich gleich nach dem Abendessen in seine Kammer unter dem Dach verzogen, um seine Verletzungen auszukurieren. Maddie gähnte herzhaft und überlegte, ob die Lösung ihrer Probleme nicht bis morgen warten könne. Im Augenblick war sie einfach zu müde und erschöpft, um einen klaren Gedanken zu fassen - jedenfalls nicht klar genug, um einen Ausweg aus dieser Sackgasse zu finden. Ihre Schwierigkeiten hatten sich nun schon seit über einem Jahr angehäuft und würden sich nicht von heute auf morgen aus dem Weg räumen lassen. Auch wenn Horace Brownley sich erbot, ihr am Montag zehntausend Dollar zu leihen, und Chase Cumberland nicht erschien, um sein Preisgeld einzufordern, die Sorge um Pa würde sie nicht los sein. Maddie spürte ein heißes Brennen in den Augen. Mühsam unterdrückte sie die Tränen. Wenn sie nur jemanden hafte, mit dem sie ihre Nöte und Ängste teilen könnte! Einen Menschen, der ihr zuhören würde, Vorschläge machte und ihr das Gefühl der Verlassenheit nahm. Sie sehnte sich nach ihrer Mutter, obwohl sie mehr Gemeinsamkeiten mit ihrem Vater hafte. Aber solange Ma noch lebte, war Maddies Welt im Lot. Sie brauchte sich keine Gedanken zu machen, woher die nächste Mahlzeit der Familie kam, wann das nächste Rennen angesagt sein würde oder wie sie ihren Schuldenberg abtragen sollte. Jetzt mußte sie sich um alles kümmern und hafte niemanden, auf den sie sich stützen konnte. Ein leises, unterdrücktes Lachen war von der Treppe her zu hören. Maddie blinzelte schnell, damit die Tränen verschwanden, und setzte sich aufrecht hin. Cob, die maisfarbene Katze, deren Aufgabe es war, die Mäuse aus dem Haus zu verjagen, sprang plötzlich auf Maddies Schoß. Rasch streichelte sie das dichte gelbe Fell, als die Zwillinge in den vorderen Raum schlichen und sich kichernd außerhalb des Lampenscheins hinstellten. »Ich dachte, ihr beiden seid schon zu Bett gegangen. Es ist spät. Ich wollte gerade selbst hinaufgehen.«
»Wir haben etwas für dich, Maddie.« In dem bodenlangen, altmodischen Nachthemd und mit dem rotgoldenen Zopf im Nacken sah Zoe kindlich und unschuldig aus. Ein rosa Bändchen schmückte Zoes und ein hellblaues Carries Nachthemd. Maddie sah, daß jeder Zwilling eine Hand hinter dem Rücken hielt; was haften sie jetzt schon wieder ausgeheckt? »Alles Gute zum Geburtstag, Maddie!« riefen die Mädchen im Chor und zogen gleichzeitig etwas aus dem Halb schatten hervor, das sie Maddie unter die Nase hielten. »Du lieber Himmel! Ich dachte, alle hätten meinen Geburtstag vergessen; ich. ich auch. bis zu diesem Augenblick.« »Pa und Little Mike haben ihn vergessen, aber wir nicht.« Carrie konnte es sich nicht verkneifen. »Wir wußten genau, was wir für dich besorgen wollten, aber wir mußten es erst noch ein wenig verändern. Wir sind gerade fertig geworden, und hier ist es. Los, mach es schon auf!« Maddie scheuchte Cob vom Schoß. Behutsam nahm sie das unförmige Päckchen in die Hand. Es war in einen Musselinstreifen eingewickelt, der wie Zoes älteste Hemdbluse aussah. Mit strahlenden Augen und laut jubelnd warteten die Zwillinge ungeduldig, daß Maddie das Geschenk auspackte. »Ich habe keine Ahnung, was es sein könnte«, meinte Maddie. »Wir können uns doch nichts leis…« Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie sah, was die Zwillinge ihr geschenkt hatten: Eine neue Haube. Ein blaukariertes Sonnenhäubchen aus schwerem. Kattun mit weißem Zickzackband und einem Hauch kostbarer Spitze umrandet. »Um Sonne und Wind von deinem Gesicht fernzuhalten, damit du nicht so viele Sommersprossen bekommst«, erklärte Carrie. »Und sie ist blau, in der Farbe deiner Augen«, fügte Zoe stolz hinzu. »Wir wollten dir noch die dazu passende Schürze schenken, aber soviel Geld hatten wir nicht. Auf jeden Fall paßt sie zu deiner weißen Bluse und dem dunkelblauen Rock, den du immer zu besonderen Anlässen trägst.« Maddie verschwieg lieber, daß der dunkelblaue Rock an den Säumen
zerschlissen war und ihren ungeschickten Ausbesserungsversuchen widerstanden hatte. »Ich frage das nur sehr ungern, aber ist sie… bezahlt?« wagte sie sich zu erkundigen. »Ihr habt sie doch nicht auf Pump gekauft?« Liebevoll strich sie mit den Fingern über den breiten Rand der Haube. Jedes Kleidungsstück, das nicht zu Hause angefertigt wurde, kostete viel Geld, dazu gehörten auch weiße Zickzackborten und hauchdünne Spitzen. »Kinder, sagt mir lieber gleich die Wahrheit. Ihr habt doch Mr. Grover nicht überredet, das Geld dafür anzuschreiben, oder? Wenn das der Fall war, dann müssen wir die Haube leider wieder zurückbringen. Für notwendige Sachen schulden wir ihm bereits zu viel Geld; in unserer jetzigen Lage kommt dieser Firlefanz nicht in Frage. Außerdem hat er heute eine Menge Geld verloren, weil er auf Gold Deck gesetzt hatte; ich glaube, wir werden in seinem Laden längere Zeit nicht mehr willkommen sein.« Carrie klatschte mit den Händen auf das obere Teil der Haube. »Die wird nicht zurückgegeben, Maddie. Ganz gleich, was du sagst. Du hast so lange nichts Neues mehr gehabt. seit… ich kann mich gar nicht mehr erinnern, jedenfalls nicht mehr seit Ma’s Tod.« »Ihr habt auch nichts Neues mehr bekommen.«, begann Maddie einzuwenden, aber Zoe unterbrach sie schnell. »Sie ist beinahe bezahlt. Jedes Mal, wenn ich und Carrie frische Eier in die Stadt brachten, um sie ihm Laden zu verkaufea.« »Carrie und ich«, verbesserte Maddie mechanisch. »… Carrie und ich, haben wir ein bißchen Geld beiseite gelegt, um diese Haube zu deinem Geburtstag zu kaufen.« »Und ich dachte immer, was sind die Eier heutzutage billig!« »Das stimmt auch!« beeilte sich Carrie zuzustimmen. »Nur nicht so billig.« Sie tauschte einen verschwörerischen Blick mit ihrer Zwillingsschwester aus. »Und es fehlen uns nur noch ein paar Cents, dann ist die Haube vollständig bezahlt.« »Nur noch ein paar Cents«, seufzte Maddie. »Das ist trotzdem mehr, als wir uns im Moment leisten können. Also sollten wir vielleicht doch.« »Nein!« riefen die Mädchen wie aus einem Munde. Zwei haselnußbraune
Augen blitzten sie fest entschlossen an. »Dazu ist es nun zu spät, Maddie«, versicherte ihr Zoe. »Nachdem wir die Zackenlitze und die Spitze aufgenäht haben, ist die Haube nicht mehr so, wie wir sie gekauft haben. Mr. Grover wird sie nicht zurücknehmen, da sie nicht mehr im Originalzustand ist.« »Ihr habt sie verschönert. Ich bin überzeugt, Mr. Grover würde nichts einzuwenden haben.« »O doch!« Carrie kreuzte die Arme über dem sprießenden Busen. »Er wird verärgert sein. Laut unserer Abmachung müssen wir ihm noch dreimal Eier zum niedrigeren Preis liefern. Willst du, daß man in der ganzen Stadt erzählt, wir halten uns nicht an unsere Abmachung?« Carrie hatte recht, mußte Maddie sich eingestehen, aber das Schlimme war nur, daß die Familie McCrory ab Montag im ganzen Bezirk aus genau diesem Grund bekannt sein würde. Ja, sie würden sogar in ganz Kansas und noch weiter als Lügner und Betrüger angesehen werden, wenn Maddie nicht zweitausend Dollar beschaffen konnte. Chase Cumberland hatte nicht unrecht, wenn er davor warnte, daß Männer bereits wegen kleinerer Summen erschossen wurden. Erschossen, gehängt oder aus der Stadt gejagt… Mittlerweile hatte Maddie viele Geschichten über Vergeltung und Rache gehört. Pa selbst hatte Verlierer mit der Pferdepeitsche bedroht, wenn sie sein gewonnenes Geld nicht schnell genug auf den Tisch legen konnten. Schaudernd hielt Maddie sich vor Augen, daß Mr. Grover ruchsteufelswild werden würde, wenn sie die Haube wieder in den Laden zurückbrachte – und sie war so hübsch und weiblich. Und die Farbe stand ihr so gut! Die Zwillinge hatten sich selbst übertroffen. Im Geist sah sie, wie die beiden allen Versuchungen auf den Regalen widerstanden und ihre eigenen Wünsche zurückstellten, um ihr zum Geburtstag etwas Besonderes zu kaufen. Wieder drohte sie in Tränen auszubrechen. »Du wirst doch nicht weinen, oder?« fragte Zoe entsetzt. »Wir wollten doch, daß du wieder lachst, Maddie, so wie du immer gelacht hast, als Ma noch lebte.« Maddie zwang sich zu einem Lächeln, das ihr auf den Lippen ungewohnt und fremd vorkam. »Ihr beide seid wirklich sehr lieb, wißt ihr das? Ich
glaube, ich werde die Haube doch behalten müssen. Aber wartet! Vielleicht sollte ich sie zuerst aufsetzen. Was ist, wenn sie mir nicht paßt? Dann würde keiner von uns viel dagegen haben, wenn ich sie wieder zurückbringe und Mr. Grover bitte, den Kaufpreis von dem hohen Betrag abzuziehen, den wir ihm schulden.« »Zoe, hol schnell Ma’s Handspiegel«, befahl Carrie. »Komm, ich setz’ sie dir auf, Maddie. Mal sehen, wie du aussiehst.« In atemloser Spannung schloß Maddie die Augen und wartete, bis Carrie ihr die Haube aufgesetzt, zurechtgerückt und die Bänder unter dem Kinn zusammengebunden hatte. »Fertig. Du kannst jetzt in den Spiegel schauen«, jauchzte Zoe. Maddie öffnete die Augen und starrte fassungslos in den kleinen Spiegel, den ihre Schwester ihr vorhielt. Sie erkannte sich kaum wieder. Verschwunden war das karottenfarbene Haar, das ihr Gesicht wie wild lodernde Flammen umrahmt hatte. Es hatte sich vollständig im Innern der großen Haube versteckt. Die Augen waren größer und leuchtender geworden. Das Himmelblau wurde durch das einfarbige blaue Futter der Haube vertieft. »Oh«, seufzte sie begeistert, als sie die zarten, edlen Züge ihrer Mutter in ihrem Gesicht wiedererkannte, die schmale Nase und auch das Grübchen am Kinn. Die Haut ihrer Mutter war weich und makellos weiß gewesen, ohne eine einzige Sommersprosse. Maddies Haut war bereits kräftig gebräunt, da sie sich dem Sonnenschein stets ohne Kopfbedeckung aussetzte, und natürlich hatte sie unzählige Sommersprossen. Aber trotzdem sah sie unbestreitbar weiblich aus, sogar ein wenig geheimnisvoll, da die Augenpartie von dem breiten Haubenrand beschattet wurde. Das Bavolet, eine großzügige Ripsschleife, war so angebracht, daß sie den Nacken vor Sonnenbrand schützte. Sie war ebenfalls mit Spitze besetzt und trug sehr zum Zauber des Häubchens bei. Sie war sicher, daß sie diese Haube gerne tragen würde, im Gegensatz zu der schlichten, schwarzen Haube, die einmal ihrer Mutter gehört hatte und die nicht nur auseinanderfiel, sondern auch ihr Gesicht nicht aufhellte und sie obendrein noch blaß und schwindsüchtig aussehen ließ. »Vielen Dank, ihr beiden«, flüsterte sie an dem Kloß in der Kehle vorbei. »Sie gefällt mir
wirklich sehr. Es ist eine wunderschöne Sonnenhaube, und ich verspreche, daß ich sie trage, wenn sich eine besondere Gelegenheit dafür ergibt.« »Nein, nein…« Die Zwillinge schüttelten den Kopf. »Jeden Tag«, bestimmte Carrie. »Du mußt versprechen, daß du sie immer aufsetzt, wenn du ins Freie gehst« »Nur um die Küken zu füttern? Oder die Kuh zu melken? Oder – Gott bewahre – wenn ich Little Mike beim Training mit den Pferden helfe oder den Stall ausmiste? Wohl kaum, meine Lieben. Ich möchte das Häubchen nicht ruinieren. Und wenn es mir bei bestimmten Gelegenheiten die Sicht versperrt, werde ich es auch nicht tragen. Schließlich muß ich sehen, was ich tue.« »Maddie, du bist unmöglich!« quietschte Zoe. »Darum haben wir es ja gekauft… damit du nicht mit diesem häßlichen schwarzen Ding hinausgehst, mit dem du wie ein Rabe aussiehst.« »Darum trage ich die Haube auch nicht gem. Sie ist scheußlich, und außerdem kann ich damit nicht viel sehen.« »Du bist eine Lady. Ob du nun etwas siehst oder nicht, ist völlig unwichtig, außer du hältst dich im Haus auf. Eine Haube schützt die Haut und bedeckt das Haar«, erklärte Carrie streng. »Und was dein Haar anbetrifft, so ist es entschieden von Vorteil.« »Du trägst auch nicht immer eine Haube«, wandte Maddie ein. »In der Stadt hast du heute zum Beispiel keine aufgehabt…« »Das hab’ ich leider vergessen, aber das nächstemal werde ich es bestimmt nicht vergessen, da kannst du sicher sein. Ich hab’ mir heute die Nase verbrannt.« »Das tut mir leid«, bemitleidete Maddie sie. »Ihr habt euch mit dem Geschenk wirklich etwas einfallen lassen und mir eine große Freude bereitet. vor allem nach einem Tag wie heute.« Als hätten die Zwillinge gleichzeitig dieselbe Eingebung – ein Phänomen, mit dem Maddie bereits vertraut war – , legten Carrie und Zoe tröstend eine Hand auf Maddies Schulter. »Es wird alles gut werden, Maddie.« Sorgenvoll legte Zoe die Stirn in Falten. »Wir werden das Geld schon auftreiben«, fügte Carrie hinzu. Maddie zwang sich wieder zu einem Lächeln. »Natürlich! Man muß nur fest auf Gott vertrauen. Gleich Montag früh werde ich zu Mr. Brownley in die Bank gehen – mit meiner neuen Haube. Mein bezauberndes Aussehen
wird ihn so bestechen, daß er mir das Geld widerspruchslos aushändigt. Noch besser: wahrscheinlich wird er sogar darauf bestehen, daß wir uns mehr leihen, als wir brau- chen.« Allein die Vorstellung, daß der angeberische, glatzköpfige, dickwanstige Junggeselle Horace Brownley voller Bewunderung für Maddie sein würde, ließ Zoe und Carrie in prustendes Gelächter ausbrechen. »Oh, Maddie, du mußt morgen sofort mein neues Sommersprossenentfernungsmittel probieren! Dann wird er von dir so hingerissen sein, daß er uns seine Hilfe aufdrängt!« Wenn das nur möglich wäre, dachte Maddie, als sie wieder die Verzweiflung überkam. Die Leute sagten, Horace Brownley sei so halsstarrig und unnachgiebig, daß keine Frau ihn als Ehemann haben mochte – obwohl er ein wohlhabender Bankdirektor und der Bürgermeister der Stadt war! Sie hatte seine Geduld bereits ungewöhnlich lange auf die Probe gestellt. Es würde an ein Wunder grenzen, wenn er noch weiter mitspielte. Er könnte auf Gold Decks Niederlage ebenso mißtrauisch und fordernd reagieren wie Lily Tolliver. Oh, lieber Gott, mach’ bitte, daß er Montag guter Laune ist! »Jetzt aber ab ins Bett mich euch beiden. Ich komme gleich nach. Ich muß erst noch mal nach Pa sehen.« Sie hatte die Mädchen bitten müssen, Pa zum Wagen zu bringen, aber als sie dann zu Hause waren und schließlich das Abendessen auf dem Tisch stand, hatte Pa sich geweigert, auch nur einen Bissen zu essen. Wortkarg und mürrisch war er zum Stall geeilt. Eine Weile später schwankte er grinsend durch die Haustür. Irrtümlicherweise hatte Maddie die Flasche am Fluß für seine letzte gehalten; nun hatte er doch noch eine aus ihrem Versteck geholt. Nachdem er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, war er wie ein Stein in sein Bett gefallen. Maddie mußte seine Stiefel ausziehen und ihn für die Nacht zurechtmachen. Wie lange konnte ein Körper überleben, der mit Mais schnaps statt mit fester Nahrung gefüllt wurde? Das war eine weitere Frage, auf die Maddie keine Antwort wußte, aber sie hatte furchtbare Angst, daß sie es früh genug erfahren würde. »Nacht, Maddie.« Carrie und Zoe gaben ihr rechts und links ein Küßchen, umarmten sie und
huschten hinaus. Maddie blickte ihnen nach, bis sie auf der Treppe verschwunden waren. Dann nahm sie vorsichtig ihre neue Sonnenhaube ab und stand auf, um nach ihrem Vater zu sehen. Er schnarchte, als sie in sein Schlafzimmer kam. Der Lichtkegel ihrer Lampe erfaßte seine trunkenen Züge und schien ihn geweckt zu haben. »Wer ist da?« wollte er wissen, kniff die Augen zusammen und hielt schützend eine Hand davor. »Ich bin es, Pa… Maddie. Ich wollte nachsehen, ob mit dir alles in Ordnung ist.« Maddie stellte die Lampe auf das Tischchen neben dem Bett. Als sie sich über ihn beugte, atmete sie den scharfen, sauren Geruch abgestandenen Whiskeys ein und den Gestank eines alten, ungewasche nen Mannes. Morgen mußte er unbedingt ein Bad nehmen, sich rasieren und frische Kleider anziehen. Bald würde er wie ein Schwein stinken und sein Zimmer wie ein Schweinestall. »Du hast nichts zu Abend gegessen, Pa. Kann ich dir noch etwas bringen? Ein Glas warme Milch und eine Scheibe Brot vielleicht?« »Nein, Liebling. Ich könnte keinen Bissen essen. Nicht einmal Brot… es sei denn, es kommt frisch und heiß aus dem Ofen. Frischgebackenes Brot ist etwas Köstliches.« Das Brot, das Maddie anbieten konnte, war mindestens drei Tage alt. Um es herunterzuschlucken, brauchte man warme Milch. Sie hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen, als wäre sein mangelnder Appetit irgendwie ihre Schuld. »Morgen oder übermorgen werde ich Brot backen«, versprach sie und fragte sich, wie sie das in ihren langen, arbeitsreichen Tag einfügen sollte, der mit der Morgendämmerung begann und spät nach Sonnenuntergang endete. »Du bist so gut zu mir, Maddie.« Er hob den Arm und blickte sie aus blutunterlaufenen Augen an. »Du warst immer schon ein so liebes Mädchen, so verantwortungsbewußt und gut. Meine süße kleine Maddie, mein Herzchen, meine rotschopfige, kleine Pferdenärrin…« Seine Klarheit entzündete einige Hoffnungsfunken, und Maddie beeilte
sich, diese seltene Gelegenheit zu nutzen. »Ich tue mein Bestes, Pa, aber manchmal ist’s eben nicht gut genug. Manchmal mache ich Fehler, und dann weiß ich nicht, was ich tun soll. Erst neulich, zum Beispiel.« »Mach dir deswegen keine Sorgen, mein Liebling«, unterbrach er sie und winkte mit einer Hand ab, als ob er ihre Sorgen damit wegwischen wollte. »Wenn man Sorgen hat, findet man auch einen Ausweg. So ist es immer schon gewesen.« »Aber Pa, dieses Mal habe ich.« »Bin so müde…«, stöhnte er. »So verdammt müde.« Er schloß die Augen und drehte das Gesicht vom Lichtschein weg. Maddie merkte, daß er ihr nicht mehr zuhörte. Er hatte sich zurückgezogen, so wie er es immer tat, wenn er nicht hören wollte, was sie sagte, was seine Kinder sagten. »Pa!« flüsterte sie mit erstickter Stimme und hätte ihn am liebsten wieder zu sich gedreht. Sie wünschte, er wäre der Mann, der er einmal gewesen war. Der lachende, charmante Mann ihrer Jugend, der für alle Probleme eine Lösung wußte, jede Herausforderung annahm und immer die besten Argumente hatte. Stets hatte er Zeit für sie gehabt, nie hatte er sie ausgeschlossen, so wie er es jetzt immer tat. »Ich hab’ dich lieb, Maddie«, antwortete er leise, daß sie es kaum verstehen konnte. »Ich hab’ dich lieb, mein Mädchea.« Dann war er wieder eingeschlafen, tief und langsam atmend. Er bemerkte nicht mehr, daß sie immer noch neben ihm stand, tiefschluchzend und mit brechendem Herzen. »Oh, Pa«, flüsterte sie. Tapfer gegen Kummer, Müdigkeit und Sorgen ankämpfend, nahm sie die Lampe vom Tischchen und verließ langsam das Zimmer.
Vier »Meine liebe Miss McCrory! Kommen Sie doch herein… Oh, was sehen Sie heute morgen bezaubernd aus. Ist das Häubchen neu? Ich glaube nicht,
daß ich es vorher schon einmal an Ihnen gesehen habe.« Als Horace Brownley Maddies Hand nahm und sie in sein Büro in der Spar- und Darlehenskasse von Hopewell führte, überlegte sie unwillkürlich, ob er den Preis ihrer Neuerwerbung überschlug und sich fragte, wie sie sich das leisten konnte. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, die Haube zu tragen. Er führte sie hinüber zu einem Lehnstuhl aus Holz, der vor seinem riesigen Schreibtisch stand. Die Platte war mit einem glänzenden Lack überzogen, wie man ihn weder in den staubigen, mit Schindeln gedeckten Häusern noch in den Farmgebäuden und Ranchhäusern der Umgebung finden konnte. Außer dem Schreibtisch, auf dem einige Schriftstücke lagen, und einer mit Goldbronze verzierten Uhr, die an der Wand dahinter hing, war das Büro spärlich möbliert, aber das wenige war von allerhöchster Qualität. Ein glänzender Messingspucknapf stand in einer Ecke neben dem Fenster, von dem man auf eine schmale Seitenstraße blickte. Den Boden zierte ein dicker rot-blauer Teppich. Ansonsten war das Zimmer leer, bis auf die beeindruckende, schwarz gekleidete Gestalt von Horace Brownley. Maddie warf einen kurzen Blick auf seinen makellosen Anzug. In einer Stadt, in der die Männer sogar zu einer Beerdigung selten in Anzug, Weste und ordentlich geputzten Schuhen erschienen, wirkte Horace Brownley fehl am Platz. Maddie dachte im stillen, daß er sich mit Absicht so anzog, um jeden, der ihn sah, von der Wichtigkeit seiner Position zu überzeugen. Sie war ein wenig von Ehrfurcht ergriffen, verdrängte sie jedoch schnell, indem sie sich sagte, daß er lange nicht so bedeutend war, wie er sein wollte. Wie viele andere war er in der Hoffnung, reich zu werden, nach Hopewell gekommen, als es sich zu einem blühenden, erfolgreichen Zentrum der Rinderzucht zu entwickeln schien, aber die Eisenbahn und damit der Handel war statt dessen nach Abilene verlegt worden. In Abilene, Dodge City oder Ellworth wäre Horace Brownley ein Königsmacher und Begründer bedeutender Imperien geworden; in Hopewell war er nur Bankier und Bürgermeister, und letzteres nur, weil kein Mensch den unbezahlten Posten übernehmen wollte. »Was verschafft mir das Vergnügen Ihres Besuches?« fragte er, als Mad-
die vor dem Schreibtisch Platz nahm. Er setzte sich hinter die breite, glänzende Holzfläche und blickte sie durch die runde Drahtbrille an, die auf dem Rücken seiner breiten Nase saß. »Darf ich die Hoffnung hegen, daß Sie in die Stadt gekommen sind, um Ihre überfälligen Hypothekenzahlungen zu begleichen?« »Nun, also, ehm… nein. Ehrlich gesagt, suche ich Sie in einer anderen Angelegenheit auf, Mr. Brownley.« »Horace. Nennen Sie mich Horace, meine liebe Miss McCrory… Maddie. Bitte, sagen Sie es mir, was macht Sie so unglücklich? Hatten Sie sich am vergangenen Samstag nicht zu einem Rennen gemeldet? Bedauerlicherweise war ich nicht anwesend, um Ihren Sieg mitzuerleben. Ich hatte geschäftlich in Abilene zu tun und kehrte erst gestern spätabends in die Stadt zurück.« Er hatte noch nicht gehört, daß Gold Deck verloren hatte. Sie mußte es ihm jetzt sagen. »Wir haben das Rennen nicht gewonnen, Mr. Brownley. Nächstes Wochenende jedoch werden wir in einem anderen Rennen in Salina antreten. Ich bin zuversichtlich, daß wir bei diesem Rennen siegen werden und auch bei anderen. Die Rennsaison hat gerade erst begonnen, und ich werde mit Sicherheit in der Lage sein, alles zu bezahlen, was wir Ihnen schulden… mit Zinsen. am Ende der Frist. Aber darum geht es jetzt nicht. Das Problem ist…« Sie hielt inne und war nicht fähig, es auszusprechen. »Ja?« Horace Brownley lehnte sich vor. Das freundliche Lächeln war aus seinem Gesicht gewichen. »Nur raus damit, meine Liebe. Ich warte mit angehaltenem Atem.« »Ich brauche sofort zweitausend Dollar, um meinen Verlust vom letzten Samstag zu decken.« Ein langes Schweigen, das nur von dem schicksalhaften Ticken der Uhr unterbrochen wurde, folgte auf Maddies Ankündigung. »Sie haben beim Rennen am Samstag Geld eingesetzt, das Sie nicht hatten. nicht haben?« Maddie gab es ungern zu und nickte nur langsam. »Ich war überzeugt, daß wir gewinnen würden, Mr. Brownley… Horace.
Fast alle rechneten damit. Sie kennen den Ruf unseres Hengstes; wären Sie in der Stadt gewesen, dann hätten Sie auch auf ihn gesetzt.« »Zweifellos. Zum Glück habe ich diese Gelegenheit versäumt. Aber Sie wissen doch, daß es der Gipfel des Leichtsinns und der finanziellen Verantwortungslosigkeit ist, Geld bei einem Pferderennen zu verwetten, das Sie nicht zahlen können.« »Selbstverständlich weiß ich das… Aber was sollte ich machen? Die Pferderennen sind unsere Haupteinnahmequelle. Es ist unser Familiengeschäft, und darin sind wir stets sehr erfolgreich gewesen. Nichts anderes – weder die Zucht noch der Verkauf von Pferden, noch unsere beschei- denen Versuche in der Landwirtschaft – hat jemals ähnlich hohe Gewinne erbracht. Ich erzähle Ihnen nichts, was Sie nicht schon selbst wüßten. Horace. Also mußte ich diese Herausforderung annehmen, ob ich das Geld bei der Hand hatte oder nicht, was unglücklicherweise nicht der Fall war.« »Sie haben zweitausend Dollar eingesetzt, die Sie nicht haben.« Es schien ihm einfach nicht in den Kopf zu gehen. »Was hat Ihr Vater den ganzen Winter über gemacht? Hat er wieder, wie es seine Gewohnheit war, Enten und Gänse geschossen und sie in Fässern von Abilene aus zu den Märkten im Osten verschickt? Das brachte ihm doch immer eine hübsche kleine Summe ein.« In den vergangenen Jahren hatte Big Mike seinen Sohn im Winter oft zum Jagen in die Cheyenne Bottoms mitgenommen, um das Familieneinkommen außerhalb der Rennsaison aufzubessern. Vor Ma’s Tod waren alle seine Unternehmungen erfolgreich gewesen, aber dieses Jahr… »Pa war gesundheitlich nicht auf der Höhe, um im Winter auf die Jagd zu gehen, und Little Mike wollte ich nicht allein losziehen lassen. Das ist einer der Gründe, warum wir mit den Hypothekenzahlungen im Verzug sind, und ich habe nicht das Geld, den Sieger vom Samstagsrennen auszubezahlen.« »Ihr Vater ist ein lebensuntüchtiger, unfähiger und disziplinloser Gauner, Miss McCrory. Es wird höchste Zeit, daß er den Tod Ihrer Mutter überwindet und sich seiner Verantwortung stellt.« Zu gern hätte sie Horace Brownley einen Schlag auf die Nase verpaßt, so wie es Little Mike mit Amos Graft getan hatte, weil er fast das gleiche gesagt hatte. Aber das würde ihrer Sache nur schaden. Sie mußte den Bankier überzeugen, ihr zu
helfen. So sehr sie ihm seine Worte übelnahm, stimmte sie zu, daß die Trauer ihres Vaters das Maß des Angemessenen überschritten hatte. »Sei es, wie es sein möge, Mr. Brownley, ich habe nicht die Mittel, um Mr. Chase Cumberland den geschuldeten Betrag zu zahlen, und er kommt noch heute nachmittag zu uns nach Hause, um sein Preisgeld abzuholen.« »Ebensowenig haben Sie die Mittel, um die überfälligen Hypotheken zu zahlen!« Oder um meine Steuern zu begleichen, fügte Maddie trotzig hinzu, wenn auch nur im stillen. Mr. Brownley erhob sich gewichtig, ging um den Schreibtisch herum und schritt vor dem geschlossenen Fenster nachdenklich auf und ab. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, lief vier Schritte in eine Richtung, machte kehrt und lief vier Schritte in entgegenge setzter Richtung zurück. Maddie fröstelte. Wie benommen saß sie da und fürchtete das Schlimmste, bis er endlich stehenblieb und sich ihr zuwandte, ohne den Zustand heftiger Erregung zu verbergen. Die Wangen waren so rot wie Lily Tollivers Kleid, Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und unter den Achseln seines makellosen Jacketts wurden feuchte Stellen sichtbar. Maddie, die selbst dem Ersticken nahe war, wünschte, er würde das Fenster öffnen und die frische Luft des milden Junimorgens hereinlassen. »Miss McCrory, es gibt nur einen Ausweg aus dieser schrecklichen Lage«, verkündete er feierlich. »Und der wäre?« fragte Maddie in der Hoffnung, er würde ihr das Geld leihen, ohne daß sie darum bitten mußte. »Sie müssen jemanden mit Vermögen heiraten – einen Mann mit Disziplin und Willensstärke, da Ihnen beides ja bedauerlicherweise fehlt, jemand, der die Verantwortung für Ihre Familie übernimmt und diese schwerwiegenden Probleme löst.« »Heiraten!« In ihrer Überraschung kippte Maddie mit dem Stuhl nach hinten und wäre krachend am Boden gelandet, hätte Mr. Brownley die Stuhllehne nicht rechtzeitig aufgefangen. Ein fiebriges Leuchten war in seine kleinen blauen Augen getreten. »Ich wollte Ihnen schon vor langer Zeit etwas sagen und habe es aus Respekt vor dem Verlust, den Ihre Familie erlitt, und vor der Aufgabe, die Sie seit dem vorzeitigen Ableben Ihrer Mutter übernehmen mußten, nicht getan.« »Welche Aufgabe meinen Sie damit?« Maddies Hoffnung sank. Sie glaubte zu wissen, worauf dieses
Gespräch hinauslief. »Seit dem Tod Ihrer Mutter lastete alles auf Ihren Schultern, mein liebes Kind, während Ihr Vater in Selbstmitleid badet und von Tag zu Tag mehr verkommt. Für Sie gibt es nur einen einzigen Ausweg aus dieser Sackgasse. Sie müssen Ihr eigenes Leben führen und Ihren Vater und Ihre Geschwister dazu zwingen, ihr Leben zu leben, wie immer es sein mag.« Maddie hatte sich halb vom Stuhl erhoben. »Wenn Sie damit sagen wollen, ich soll meine Familie im Stich lassen und in der Stunde der Not davonlaufen.« Seine großen, fleischigen Hände drückten sie wieder sacht auf den Sitz. »Nein, nein… nicht ganz. Ich habe mich zu kraß ausgedrückt So war das nicht gemeint. Aber was ich sagen will… heiraten Sie mich und…« »Sie heiraten!« kreischte Maddie. »Mr. Brownley, ich kenne Sie doch nicht einmal und hege nicht die geringste Absicht, Sie zu heiraten!« »Ja, aber das kann sich alles ändern, meine Liebe. Ich bin Junggeselle, wie Sie wissen. Bei meinen Bemühungen, zu Einfluß und Erfolg zu kommen, konnte ich keine Zeit mit Frauen oder Heirat verschwenden, ich meine, mich darum zu kümmern. In letzter Zeit jedoch überlege ich mir ernst- haft, eine Frau zu nehmen und Erben für mein bescheidenes Imperium in die Welt zu setzen. In dieser Hinsicht hat Hopewell nur wenig zu bieten – mit einer einzigen Ausnahme. Und das sind Sie, Miss McCrory.« »Ich?« Maddie konnte kaum sprechen, so groß war der Klumpen in ihrer Kehle. Ihr Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen, als ob ihr Korsett zu fest geschnürt worden wäre, nur trug sie keins. »Ja, Sie. In Anbetracht des Mangels an unverheirateten Frauen in diesem Teil des Landes habe ich mindestens seit einigen Monaten, wenn nicht Jahren, ein Auge auf Sie geworfen und viel über Sie herausgefunden. Erstens: Sie sind vernünftig, gesund und fleißig. Sie lächeln selten, was einige Männer abgeschreckt haben mag, mich aber nicht, da ich Koketterie bei Frauen ablehne. Sie sind über alle Maßen loyal, was Ihnen zum Vorteil wie auch zum Nachteil gereicht, zudem sind Sie zu freundlich und nachsichtig. Ich jedenfalls bin bereit, diese kleinen Fehler zu übersehen, denn Sie sind jetzt in einem Alter, in dem Sie an einen eigenen Hausstand denken sollten. Und wenn Sie den richtigen Rahmen haben, werden Sie wie eine Blume in der Sonne
erblühen und die nötigen weiblichen Tugenden entwickeln, die ich in einer Frau suche.« Maddie wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie biß sich auf die Unterlippe, um eines von beiden zu vermeiden. Sie fragte sich, was Horace Brownley wohl sagen würde, wenn er erführe, daß sie das Rennen am Sonntag geritten hatte. Sicherlich wußte er nur wenig über ihre tägliche Routine, die sich um Pferde drehte und nicht um den Haushalt. Seine Annahme, sie besäße keinen Humor, war falsch, denn in den glücklicheren Jahren lachte sie so viel wie andere Leute auch, wenn nicht mehr. Nur im letzten Jahr hatte sie keine Veranlassung gehabt, fröhlich und ausgelassen zu sein. »Sie sind nicht unattraktiv«, fuhr er nach einer Pause fort. »Vor allem mit diesem hübschen blauen Häubchen, das das schreiende Rot Ihres Haares verbirgt.« »Schreiend?« Maddies wunder Punkt. Sie war gekränkt, daß er ihre Haarfarbe mit ebensowenig Takt erwähnte wie ihre Geschwister. »Soll ich die Haube auch im Schlafzimmer tragen, oder wäre es Ihnen lieber, ich würde jeden Abend einen Sack über den Kopf ziehen, bevor ich zu Bett gehe?« »Was?« Mr. Brownley blinzelte wie eine erschreckte Eule. »Nichts, Sir. Ich habe mir nur einen kleinen Scherz erlaubt, nichts weiter.« Er zog die buschigen Brauen zusammen. »Nehmen Sie meinen Antrag nicht auf die leichte Schulter, meine Liebe. Darf ich Sie daran erinnern, daß Sie mich hier aufgesucht haben, weil Sie Geld benötigen. Statt dessen habe ich weit mehr angeboten – Sicherheit, Respekt, eine gesellschaftliche Stellung in der Gemeinde wie auch Freiheit von finanziellen Sorgen. Wenn Sie in eine Heirat einwilligen, werde ich Ihrer Familie natürlich aus der augenblicklichen Misere helfen, obwohl ich nicht versprechen werde, daß ich den Rest meines Lebens – unseres Lebens – damit verbringe, Ihre Familie vor jedem Mißgeschick zu retten, das sie sich selbst zuzuschreiben hat.« Maddie versuchte die in ihr aufsteigende Wut zu unterdrücken. »Verzeihen Sie, Mr. Brownley«, sagte sie mit spröder Stimme. »Ich fühle mich sehr geschmeichelt durch Ihr Interesse, aber einen Antrag hatte ich wirk-
lich nicht erwartet. Abgesehen davon war Ihr Antrag so bar jeder… jeder Gefühlsregung. Es klang mehr nach einem geschäftlichen Vorschlag und nicht nach dem Wunsch, daß zwei liebende Herzen sich vereinen. Ich bin erstaunt, Sir. Ehrlich gesagt, erstaunt ist noch zu milde ausgedrückt für das, was ich im Augenblick fühle.« »Ich weiß, ich habe Sie sehr überrascht. Ich hatte nicht die Absicht, mich auf diese brüske Art zu erklären. Mir schien nur, daß wir möglicherweise zusammenpassen würden. Ich bin natürlich ein ganzes Stückchen älter als Sie, aber…« »Ich bin gerade zweiundzwanzig geworden.« Auf Mr. Brownleys Stirn bildete sich eine steile Falte. »Schon zweiundzwanzig? Oh, ich hielt Sie für viel jünger, aber das Alter spielt wirklich keine Rolle. Sagen wir doch, wir beide haben einen Lebensabschnitt erreicht, in dem man im Hinblick auf die eigene Zukunft in seinem besten Interesse handeln sollte, bevor es zu spät ist. Ich bin Ihre Zukunft, Maddie. Heiraten Sie mich, und ich befreie Sie von den Fesseln, die Sie jetzt binden.« »Mr. Brownley, ich betrachte meine Familie nicht als Fessel. Wir haben unsere Schwierigkeiten, gewiß, aber ich liebe meinen Bruder und meine Schwestern und sogar meinen Vater, auch wenn er Außenstehenden als verantwortungslos erscheint. Im Augenblick mögen wir mittellos sein, oder beinahe, aber ich betrachte diese Situation nur als vorübergehend und…« »Miss McCrory, Sie brauchen mich«, unterbrach sie Horace Brownley unhöflich. »Warum sind Sie sonst hierhergekommen, wenn Sie nicht mit meinem Entgegenkommen gerechnet haben? Warum tragen Sie das neue Häubchen? Doch nur, um Ihre Weiblichkeit zur Geltung zu bringen.« »Ich kam in die Bank, weil ich mir Geld borgen wollte, und nicht, um mir einen Ehemann zu beschaffen!« Am liebsten hätte Maddie ihm einen Schwall von Schimpfworten an den Kopf geworfen, aber zum Glück zögerte sie so lange, bis sie sich eines Besseren besann und die Folgen bedachte. Sie hatte zwar nicht die Absicht, Horace Brownley jemals zu ehelichen, wollte sich aber diesen Mann auf keinen Fall zum Feind machen. Er schien der Typ zu sein, der es nur schwer ertrug, wenn eine Frau ihm einen Korb gab. Sie zügelte sich, preßte die
Hände in ihrem Schoß zusammen und räusperte sich gründlich. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, mir… mir einen Heiratsantrag zu machen, Mr. Brownley, aber ich. ich brauche noch ein wenig Bedenkzeit. Wir sollten uns beide besser kennenlernen. In der Zwischenzeit muß ich trotzdem meinen finanziellen Verpflichtungen nachkommen. Bitte, Mr. Brownley… Horace, könnten wir diese beiden Dinge nicht voneinander trennen?« »Sie trennen? Wollen Sie damit sagen, Sie möchten eine gewisse Zeit der Werbung auskosten, bevor das Datum für unsere Hochzeit festgesetzt wird?« »Ja, das ist eine nette Art, es auszudrücken.« »Und Sie möchten das Geld auf jeden Fall?« Maddie nickte, erstickte aber fast an dieser Erniedrigung. »Ich. ich müßte am Ende der Saison in der Lage sein, Ihnen das Geld zurückzuzahlen. Ich bitte Sie nicht, mir das Geld zu schenken, verstehen Sie mich recht. Ich will es Ihnen wiedergeben.« »Also gut, meine Liebe. Die Spar- und Darlehenskasse von Hopewell wird Ihnen zweitausend Dollar zum augenblicklichen Zinssatz leihen. Zudem gewährt sie Ihnen eine Frist bis zum Ende der Rennsaison. Sie verpflichten sich, die Summe zu diesem Zeitpunkt zurückzuzahlen sowie Ihre Hypothekenzahlungen wieder aufzunehmen.« »Heißt das, ich kann in dieser Zeit meine Hypothekenzahlungen einstellen?« krächzte Maddie aufgeregt. Sie brauchte jetzt nur das Geld für die Steuern aufzubringen! »Ja, meine Liebe. Die aufgelaufenen Zinsen werden natürlich wie bisher zu den bereits fälligen hinzukommen. Trotz meiner mitfühlenden Seele muß ich die Integrität meiner Stellung wahren.« »Oh, Mr. Brownley… Horace!« Im Überschwang ihrer Erleichterung sprang sie vom Stuhl auf und umarmte den Mann, wobei sie ihm die Brille von der Nase riß. »Danke, danke, Sir.« Bevor sie sich bücken konnte, um sie aufzuheben, schlang Horace Brownley die Arme um ihre Taille, zog sie an sich wie ein Grizzlybär, der ein Lamm reißt, und setzte einen dicken feuchten Kuß auf ihren offenen Mund. Maddie war zu überrascht, um sich zu wehren. Als sie wieder zur Besinnung kam, hatte er sie wieder freigegeben, keuchend und
mit puterrotem Gesicht, aber auch ungeheuer selbstgefällig. »Tja, meine Liebe«, rief er aus, »das ist heute wirklich mein Tag. Ja, das kann man wohl sagen.« Maddie wollte nichts dringlicher als sich den Mund abwischen, um den Geschmack des unwillkommenen Kusses loszuwerden, aber dann fiel ihr plötzlich ein, daß sie ihn herausgefordert hatte. »Ja, gewiß«, stimmte sie schwach zu und überlegte, ob sie nun tatsächlich eingewilligt hatte, ihn zu heiraten. Aber nein, sie hatte nichts in dieser Richtung gesagt und würde es auch nicht tun. Sie hatte sich für seine Großzügigkeit bedankt und eingewilligt, daß er ihr eine gewisse Zeitlang den Hof machte. Am Ende dieser Werbung würde sie sich zum richtigen Zeitpunkt so rück- sichtsvoll wie möglich aus der Affäre ziehen. »Und nun zum nächsten Samstag.«, sagte er und strahlte sie an. »Nächsten Samstag?« Gold Deck würde beim Rennen am Sonntagnachmittag laufen, und sie benötigte den Samstag für die Vorbereitungen. Eigentlich wollten sie am Samstag nach Salina fahren, damit der Hengst für das Rennen am nächsten Tag gut ausgeruht war. »Haben Sie es vergessen? Es handelt sich um ein geselliges Beisammensein, das von der Stadtverwaltung veranstaltet wird. Ich erwarte, daß Sie mich begleiten, Maddie. Es ist die beste Gelegenheit, um jeden von unserer Absicht in Kenntnis zu setzen.« »Unserer Absicht.« Die Worte drangen wie Hammerschläge an ihr Ohr und betäubten sie beinahe. Sie müßte ihm jetzt widersprechen. ihm ihre eigene Absicht klarmachen, die sich nicht mit den seinen übereinstimmten. »Tragen Sie diesen hübschen neuen Hut. Er verleiht Ihren Augen ein so tiefes Blau.« »Tatsächlich?« Maddie trat von ihm zurück und senkte den Kopf, um ihren Gesichtsausdruck unter dem breiten Haubenrand zu verbergen. O Gott! Sie würde sein Werben ertragen müssen, wenn sie ihn nicht verärgern wollte. Sie durfte nichts tun, was ihn veranlassen konnte, den eben gewährten Kredit neu zu überdenken. Sie würden mitten in der Nacht von zu Hause aufbrechen und in der Dunkelheit nach Salina fahren müssen, trotzdem konnte sie ihm für Samstag nicht absagen. Er streckte eine Hand aus, hob ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Sie haben mich heute zu einem glücklichen Mann gemacht, meine Liebe.
Daher freut es mich, wenn ich auch Sie glücklich sehe. Teilen Sie Mr. Chase Cumberland mit, daß er jederzeit in der Bank vorbeikommen kann, um sich den Gewinn auszahlen zu lassen.« »Es wäre mir lieber, wenn ich das Geld mitnehmen könnte. Ich habe ihm versichert, daß ich die Summe heute nachmittag zur Verfügung hätte.« »Tatsächlich?… Dann gehe ich doch recht in der Annahme, daß Sie den Ausgang Ihrer kleinen Stippvisite in der Bank geplant hatten, nicht wahr?« Er sah abstoßend selbstgefällig aus. Es war niemals meine Absicht, Ihre Verlobte zu werden! schrie es aus Maddies Innerstem. »Ich. ich hatte nur gehofft, Sie würden meiner Bitte nachkommen und mir helfen.« »Und das werde ich auch – auf meine besondere Art, meine süße kleine Prärieblume.« Prärieblume! Jetzt wurde er auch noch rührselig! Vor Angst, ihr könne übel werden, zog Maddie den Kopf ein, um einem weiteren Kuß zu entgehen. »Schön, dann werde ich Ihrem Vorschlag folgen und ihn zur Bank schicken, damit er seinen Gewinn abholen kann. Haben Sie nochmals vielen Dank, Mr. Brownley. Aber jetzt muß ich wirklich gehen.« »Horace… ab jetzt dürfen Sie nicht vergessen, mich Horace zu nennen.« Er faßte nach ihrer Hand und preßte sie an seine vollen, feuchten Lippen. »Dann bis Samstag, Liebste. Ich werde Sie in meinem Buggy abholen. Wäre es Ihnen um halb vier genehm? Die Entfernung von Ihrem Haus bis zur Stadt ist doch beträchtlich, und die Veranstaltung beginnt punkt sechs. Ich muß pünktlich erscheinen, da ich die Feier mit einer Ansprache eröffne » das ist Teil meiner Pflichten als Bürgermeister, Sie verstehen.« »Ich verstehe. Das… das geht in Ordnung.« Maddie zog die Hand zurück und wischte sie, damit er es nicht sehen konnte, hinter dem Rücken in einer Falte ihres Rockes ab. »Ausgezeichnet.« Er begleitete sie bis zur Tür, und sie floh hinaus. »Miss McCrory!« Eine bekannte Stimme ertönte vom Vorgarten des Hauses her. Maddie, bis zu den Ellbogen in Mehl getaucht, erstarrte. Es war doch viel zu früh für das Treffen mit Chase Cumberland; es war erst drei Uhr. Was wollte er hier, eine ganze Stunde vor der verabredeten Zeit? Sie hatte sich
noch nicht zurechtgelegt, was sie ihm sagen wollte – wie sie es ihm erklärte, daß er wieder in die Stadt zurückreiten müsse, um sich das Geld bei der Bank abzuholen. Vermutlich würde er verärgert sein. Er könnte ihr sogar vorwerfen, sie wolle ihm seinen Gewinn nicht auszahlen. Sie schob eine Haarsträhne von den Augen, merkte, daß sie dabei die Wange mit Mehl verschmierte, und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Bevor er kam, wollte sie aufräumen, und jetzt blieb keine Zeit mehr dafür. Er störte sie mitten beim Brotbacken, einer mühseligen Arbeit, der sie sich unterzogen hatte, weil sie hoffte, den nicht vorhandenen Appetit ihres Vaters zu wecken. Zum Teufel mit allen! Für eine weitere Begegnung mit dem verwirrenden Mr. Cumberland war sie vollkommen unvorbereitet. Schön, ich werde sowieso mit ihm sprechen, jetzt oder später, dachte sie trotzig und marschierte auf die Veranda hinaus. »Sie kommen ein wenig zu früh, Sir!« Sie blinzelte gegen das Sonnenlicht, das ihn in einen Strahlenglanz tauchte. Heute nachmittag sah er noch wesentlich dunkler, schö ner und tückischer aus als bei ihrer ersten Begegnung. Er war ganz in Schwarz gekleidet, Hemd, Weste, Lederhose, Stetson und Stiefel. Mit anmutiger Lässigkeit saß er auf seiner schlanken goldfarbenen Stute. Eine ohnmächtige Wut über die Niederlage am Samstag stieg wieder in ihr auf. Wenn sie ihn vorher zu Pferde gesehen hätte, dann würde sie seine Herausforderung niemals angenommen haben. Er und seine Stute hatten eine besondere Art fließender Harmonie entwickelt, die sie eins werden ließ. Am Tag des Rennens war ihr das sofort aufgefallen, aber sie hatte gehofft, daß sein größeres Gewicht sich zu ihrem Vorteil auswirken würde. Aber das erwies sich als Irrtum, der immer noch an ihr nagte. »Ich sagte, Sie kommen zu früh«, wiederholte sie und dachte, daß er ihre Begrüßung vielleicht absichtlich überhört hatte. »Ich habe Sie schon verstanden«, erklärte er seelenruhig. »Aber ich war von Ihrem Aussehen so überrascht, daß ich nicht sofort antworten konnte.« Mit gestrafften Schultern blitzte sie ihn an und wünschte, sie hielte eine Bratpfanne in der Hand, die sie ihm auf den Kopf donnern würde, falls er es wagte, noch eine beleidigende Bemerkung von sich zu geben. Für den
heutigen Tag war das Maß an Kränkungen voll, nachdem Horace Brownley die Farbe ihres Haares als ›grell‹ bezeichnet hatte. »Was stört Sie an meinem Aussehen?« herrschte sie ihn an und wischte dabei an der mehlverschmierten Wange herum. »Ich backe gerade Brot, da kann ich mich nicht auch noch um mein Aussehen kümmern.« Er grinste. Es war ein verwirrendes, unerwartet charmantes Grinsen, das in ihrem Herzen einen schmerzhaften Stich hinterließ. »Ich bin nur überrascht, Sie in einer hüb sehen weißen Schürze zu sehen wie ein weibliches Wesen und nicht in den Reithosen Ihres Bruders. Und was das Mehl in Ihrem Gesicht angeht, so gefällt es mir, denn es macht Sie menschlicher. Ich kann besser mit Ihnen reden, wenn Sie nicht so steif und förmlich sind. Oder so giftig.« »Und was fällt Ihnen zu meinen Haaren ein?« fragte sie bissig. »Doch nicht etwa eine unverschämt geistreiche Bemerkung zu der Farbe meiner Locken?« Mit einem kurzen Blick auf ihr Haar glitt er aus dem Sattel. »Nein, Miss McCrory. Das Haar sieht schön aus. Rot wie ein Leuchtfeuer und unverändert wie bei unserer ersten Begegnung. Und das trifft auch auf Ihr Verhalten zu.« »Mein Verhalten?« Sie trat an die Treppe. Nachdem er abgestiegen war und sie auf der Veranda stand, waren beide gleich groß, und er wirkte nicht mehr so einschüchternd auf sie. »Sie sind immer noch so kratzbürstig, Miss McCrory. Ich glaube, Sie machen weder von mir noch von anderen viel Aufhebens, oder?« »Von Ihnen jedenfalls nicht. Aber das Thema hatten wir schon. Und nun zu Ihrem Geld…« »Ja, zu meinem Geld…«Er ließ die Zügel der Stute auf den Boden fallen und kam ihr mit klingenden Sporen die halbe Treppe entgegen. »Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen.« Argwohn machte sich in ihrem Inneren breit. »Was für einen Vorschlag?« »Sie kennen doch Ihr Feld, das an den Parkerbesitz angrenzt?« Maddie nickte. Das Feld bestand aus einem breiten Streifen Grasland, auf dem Little Mike und sie oft mit den Pferden trainiert hatten. Ein Bach durchlief es am äußeren Ende, und es gab nur einen einzigen Baum – ein riesiges altes knorriges Ding, einer der wenigen Bäume in der Gegend,
unter dem man an einem heißen Sommertag Schatten fand. »Natürlich kenne ich es«, entgegnete sie unwirsch. »Was dachten Sie denn?« Wieder blitzte dieses umwerfende Grinsen in seinem Gesicht auf. »Oh, ich nehme an, Sie wissen beinahe über alles Bescheid«, spottete er. »Und falls Sie etwas nicht wissen, dann haben Sie nichts Eiligeres zu tun, als es herauszufinden.« »Was ist mit dem Feld?« »Ich möchte es kaufen. Sagen wir, ich wäre einverstanden, das Feld gegen das Geld einzutauschen, das ich am Samstag gewonnen habe. Und wenn Ihr Hengst als Zugabe meine Stute ein oder zweimal kostenlos bespringt, dann wäre der Handel perfekt.« »Das glaube ich Ihnen aufs Wort! Aber dieses Feld ist nicht zu verkaufen, Mr. Cumberland. Das Heu, das wir auf diesem Feld ernten, bringt unser Vieh durch den Winter. Also verkaufen wir es weder an Sie noch an jemand anderen. Aber warum wollen Sie es überhaupt?« Sie standen sich jetzt so nahe gegenüber, daß sich ihre Nasenspitzen fast berührten, so nahe, daß sie die goldenen und braunen Sprenkel in seinen Augen sehen konnte, die ihnen diese eigenartige Bernsteinfarbe verliehen. Sie roch den sinnlichen Duft von Leder, spürte die Wärme seines geschmeidigen, männlichen Körpers. Als Antwort darauf beschleunigte sich Maddies Puls. Ein bislang unbekannter Teil von ihr erwachte plötzlich. »Weil ich. ehm, gleich heute morgen. Ich bin Ihr neuer Nachbar. Ich habe das alte Parker- Anwesen unbesehen gekauft, und jetzt, nachdem ich es abgeritten habe, merke ich, daß es für meine Zwecke nicht groß genug ist. Ich möchte, daß das Feld dazugehört.« Maddie konnte ihre Überraschung und Enttäuschung nicht verbergen und taumelte, als sie einen Schritt nach rückwärts auswich. »Sie können es nicht haben! Es gehört uns, und wir haben auch vor, es zu behalten. Vielleicht hätten Sie sich das Parker-Anwesen gründlicher ansehen sollen, bevor Sie sich zum Kauf entschlossen. Eine Farm zu kaufen, ohne sie gesehen zu haben, ist immer sehr riskant.« »Ich brauchte sie mir vor dem Kauf nicht anzusehen; ich habe mich ausreichend in der Stadt erkundigt und wußte, daß sie meine Ansprüche erfüllt. Als ich das Feld sah, wollte ich es haben. Zweitausend Dollar ist mehr als ein fairer Preis. Ich bezweifle, daß Ihnen jemand aus der Nachbar-
schaft eine solche Summe zahlen würde. Ich bin nur bereit, soviel zu bieten, wenn Sie einsehen, daß ich größten Wert darauf lege, ungestört zu leben. Ich werde ein unbefugtes Betreten des Landes, wenn es einmal mir gehört, nicht dulden. Ob es Nachbarn sind oder nicht, meine Grenzen müssen respektiert werden, und ich möchte auf keinen Fall, daß jemand auf meinem Grund herumschnüffelt, der unwillkommen ist.« »Sie… Sie…« Wieder fehlten Maddie die Worte. Ihr fielen nicht die passenden Scheußlichkeiten ein, die sie diesem niederträchtigen Menschen an den Kopf werfen konnte. Sie bedauerte zutiefst, daß sie die zweitausend Dollar nicht in der Hand hatte, um sie ihm mit einer großartigen Geste voller Verachtung ins Gesicht zu schleudern. »Ihr Geld ist bei der Bank in Hopewell sicher aufgehoben«, brachte sie statt dessen hervor. »Der Bankdirektor, Mr. Horace Brownley, wollte mir nicht zumuten, mit soviel Bargeld durch die Gegend zu reiten. Sie müssen sich also auf die Bank bemühen, um das Geld zu holen. Stellen Sie sich vor, Sie würden wieder an einem Rennen teilnehmen. Bevor Sie sich’s versehen, sind Sie schon auf dem halben Weg zur Stadt. Jedenfalls möchte ich Sie bitten, meinen Grund und Boden zu verlassen, Mr. Cumberland. Ihr anmaßendes Gehabe habe ich nun lange genug ertragen und…« Ein gellender Schrei ertönte. Die Stute warf den Kopf auf, wich zur Seite aus und drehte sich in die Richtung, aus der der plötzliche Aufruhr kam. »Was zum Henker…?« Chase Cumberland sprang die Treppen hinunter und ergriff die Zügel, bevor sie durchgehen konnte. Laute Rufe und ein weiterer Schrei sagten Maddie, daß hinter dem Haus bei den Stallungen etwas Furchtbares passierte. Das aufgeregte Wiehern eines Pferdes mischte sich in die Geräusche menschlicher Stimmen. Aus den gutturalen Lauten, die jetzt zu hören waren, schloß Maddie, daß Gold Deck beteiligt sein mußte. Sie erwartete beinahe, daß der Hengst mit wehendem Schweif am Haus vorbeistürmte, mit aufgeblähten Nüstern, wie er es tat, wenn er eine rossige Stute witterte. »Es ist Gold Deck«, sagte sie atemlos. »Irgend etwas stimmt nicht. Little Mike sollte den Hengst lieber nicht ohne mich auf eine Stute lassen. Das habe ich ihm nicht nur einmal, sondern tausendmal gesagt. Er muß warten, damit ich ihm helfen kann, bevor er den Hengst auch nur in die Nähe einer
Stute läßt.« Sie eilte die Treppen hinunter und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß es nicht zu spät sein möge und daß keiner verletzt worden war. Mit hochgerafften Röcken flog sie in Richtung Stall.
FÜNF Chase schlang Bonnie Lasses Zügel einmal um das Verandageländer und lief Maddie McCrory hinterher. Die Außengebäude der Farm, wie das Wohnhaus aus festen Kalksteinblöcken gebaut, befanden sich in einer leichten Mulde ungefähr eine Viertelmeile vom Haupthaus entfernt. Chase konnte nicht ausmachen, was vor sich ging, bevor er das Hühnerhaus und den Hühnerhof umrundet hatte. Das Wiehern und die Schreie kamen von dem offenen Gelände vor dem Stall. Chases Blick fiel als erstes auf eine von Maddies Schwestern. Sie lag auf dem Boden und versuchte verzweifelt, den stampfenden Hufen einer wild bockenden Stute auszuweichen. Zu seinem Entsetzen dachte das Mädchen nicht daran, die Führungsleine des Pferdes loszulassen. Statt dessen hielt sie sich wie eine Ertrinkende daran fest und setzte sich der drohenden Gefahr aus, unter den Hufen zu Tode getrampelt zu werden. Bevor Chase überhaupt eingreifen konnte, schrie Maddie genau das, was er auch dachte. »Laß sie los! Um Himmels willen, laß los, Carrie, damit sie weglaufen kann!« Ein junger Mann, wahrscheinlich Maddies Bruder, stand an der Stallseite und zerrte mit grimmiger Entschlossenheit am Zügel des auskeilenden und hocherregten Gold Decks. Der Hengst wollte seine widerspenstige Stute um jeden Preis bespringen, auch wenn er sich dafür Tritte ins Maul einhandeln konnte. Außer der bockenden Stute schien der Hengst nichts und niemanden in seiner Nähe wahrzunehmen. Er stand auf seinen Hinterbeinen, ruderte mit den Vorderbeinen wild in der Luft herum und stieß dabei durchdringende Schreie aus. Der stolze, vornehme Hengst vom Rennen am Samstag hatte sich jetzt in eine über siebenhundert Kilo schwere Zuchtmaschine verwandelt und folgte dem Ruf der Natur. Chase überließ Maddie das eigensinnige Mädchen und stürzte auf den
Hengst zu, riß dem jungen Mann die Führungsleine aus der Hand und zerrte das frustrierte Tier zu den offenstehenden Stalltüren. Der Hengst wehrte sich so gut er konnte und schleuderte ihn heftig hin und her. Chase ließ nicht locker, bis es ihm endlich gelang, den Strick um Gold Decks empfindliche Schnauze zu schlingen und sie mit einen Laufknoten zu befestigen, so daß sich die Schlinge verengte, wenn das Pferd am Strick zog. Dann packte Chase das Tier beim nächsten Ohr, das er erwischen konnte, zog heftig daran und bewies dem Hengst abermals, daß er Gewalt über ihn hatte. Gold Deck heulte entrüstet auf, wurde von seinem Hauptziel abgelenkt und ließ sich durch den Stall in eine große, stabile Box führen. Sofort schloß Chase das schwere Holztor, sicherte es und ließ einen wütend wiehernden und gegen die Holzwand schlagenden Hengst zurück. Als Chase in den Hof trat, schien sich die Stute bis auf die bebenden Flanken beruhigt zu haben. Unwillkürlich mußte ein Betrachter an eine zitternde Jungfrau denken, die vor einer brutalen Vergewaltigung gerettet wurde. Das Mädchen stand wieder auf den Beinen und weinte laut, während Maddie sie in ängstlicher Hast nach gebrochenen Knochen abtastete. Der Junge, der aussah, als ob er einen üblen Faustkampf bestanden hätte, blickte sie alle finster an. Die beiden waren nur knapp einem fruchtbaren Unglück entkommen. Wütend über ihren Leichtsinn stürzte Chase auf die Geschwister zu und herrschte sie an. »Was, zum Teufel, habt ihr euch dabei gedacht? Konnte euch nichts Dümmeres einfallen, als zwischen Hengst und Stute zu gehen, wenn er sie bespringen will?« »Genau das wollten wir ja auch. Er sollte sie decken. Carrie ist schuld, daß alles schiefgelaufen ist. Sie hat die Stute nicht in der richtigen Stellung gehalten.« Der junge Mann blinzelte Chase aus einem dunkelblau geschwollenen Auge an. »Sie hätte die Stute überhaupt nicht festhalten dürfen!« donnerte Chase. »Die Stute hätte sie an den Kopf treten können. Sie war noch nicht bereit, sonst hätte sie nicht gebockt.« »Gold Deck dachte aber, sie wäre zum Decken bereit, und normalerweise hat er immer recht«, erwiderte der Junge. »Wenn ich oder Maddie sie
gehalten hätten, wäre das nie passiert.« »Ich wollte die zickige, dumme Stute sowieso nicht halten«, maulte Carrie. »Du hast gesagt, es wäre ganz einfach. Du meintest, sie würde einfach die Beine spreizen und stillstehen und du würdest auf Gold Deck aufpassen. Es ist nicht meine Schuld. Du bist schuld. Du hättest ihn wegzie- hen sollen, als du gesehen hast, daß sie es nicht will.« »Keiner von euch beiden hätte es ohne mich versuchen sollen«, stieß Maddie McCrory wütend hervor. »Little Mike, dir habe ich es immer wieder gesagt, ich möchte nicht, daß Carrie oder Zoe beim Decken dabei sind. Ihr härtet warten sollen, bis ich euch zu Hilfe komme, und in Anbetracht deiner Verletzungen von Samstag hättest du es heute sein lassen sollen, ob die Stute nun bereit war oder nicht. Und erzähl’ mir nicht, du härtest keine Schmerzen. Das kann ich dir vom Gesicht ablesen.« »Hat hier jeder den Verstand verloren?« brüllte Chase, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Pferdezucht ist nichts für Frauen und Kinder. Keiner von euch hätte es weder heute noch an einem anderen Tag tun dürfen. Es ist viel zu gefährlich.« »Ich bin kein Kind«, ließ ihn der Junge beleidigt wissen. »Ich halte die Stuten immer, wenn wir sie decken lassen. Und sonst hält Maddie immer Gold Deck. Nur heute hatte Maddie im Haus zu tun, deswegen habe ich Carrie gefragt, ob sie mir nicht helfen kann. Ich habe ihr den leichteren Job gegeben. Woher sollte ich denn wissen, daß sie die Nerven verliert und alles falsch macht? Sonst hat es ja immer geklappt. Wir sind Pferdezüchter. Einer muß schließlich diese Aufgabe übernehmen.« »Du hast das schon oft gemacht?« fragte Chase ungläubig. »Da habt ihr aber ein Mordsglück gehabt, daß nicht schon längst einer von euch zu Tode gekommen ist. Warum treibt ihr die Stute und den Hengst nicht auf die Koppel und überlaßt den Rest der Natur?« »Weil die Gefahr zu groß ist, daß Gold Deck von einer sich sträubenden Stute wie dieser hier getreten oder verletzt wird… Hören Sie, Mr. Cumberland, wir wissen, was wir tun«, mischte sich Maddie mit eiskalter Stimme ein. »Mit Little Mike kümmere ich mich um alles. Normalerweise sind die Stuten willig, und Gold Deck verhält sich höflich und wohlerzogen. Nur gelegentlich.« »Höflich! Danach sah er mir ganz und gar nicht aus. Und was ist mit dieser
verrückten Stute? Was haben Sie über die zu sagen? Sie hatte nicht einmal Fußfesseln.« »Armes Mädchen.« Maddie McCrory streichelte den schweißnassen Hals der Stute. »Für sie war es das erste Mal. Sie hatte einfach Angst.« »Ich auch«, sagte Carrie und zog schniefend die Nase hoch. »Es war auch mein erstes Mal. Ich weiß, ich sollte ihr Hinterteil in Gold Decks Richtung halten, aber ich konnte sie nicht dazu bringen, daß sie still stand, und dann hat Little Mike mich angebrüllt und… und…« Sie schluchzte herzergreifend. »Und da fing die Stute an zu bocken. Ich hatte Angst, sie würde Gold Deck verletzen; darum habe ich sie nicht losgelassen.« »Sie hätte dich verletzen können«, erklärte Chase grollend. »Noch nicht gedeckte Stuten bocken oder schlagen oft aus, auch wenn sie zum Decken bereit sind. Sie begreifen nicht, was das alles soll, und regen sich zu sehr auf, wenn der Hängst in ihre Nähe kommt. Hast du überhaupt ihre Bereitschaft getestet, bevor du die beiden zusammengebracht hast?« »Selbstverständlich«, protestierte der Junge. »Ich habe Gold Deck durch den Stall an ihr vorbeigerührt. So reizen wir immer die Stuten. Wir wissen, wenn sie bereit sind, weil sie dann…« »Ich sagte, wir wissen, was wir tun, Mr. Cumberland«, warf Maddie McCrory hochmütig dazwischen. »Wir sind Ihnen dankbar, daß Sie uns geholfen haben und Gold Deck in den Stall brachten, aber bitte bemühen Sie sich unseretwegen nicht weiter. In Zukunft wird Carrie keine Stute mehr halten. Carrie und Little Mike haben aus ihrem Fehler gelernt, da bin ich sicher.« »Sie wissen überhaupt nicht, was Sie tun«, widersprach Chase. »Aber es ist schwer, einem Narren einen segensreichen Rat zu geben, wenne r meint, er weiß alles.« Der Vorfall, dessen Zeuge er gerade geworden war, hatte ihn dermaßen entsetzt und in Rage gebracht, daß er die beiden jungen Leute am liebsten übers Knie gelegt hätte, um ihnen Vernunft einzuprügeln. Und Maddie McCrory… tja, sie war schlimmer als die beiden zusammen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß sie einen Hengst während dieser gefährlichen Angelegenheit hielt. Zum Teufel, sie war so sittsam und keusch, daß sie höchstwahrscheinlich mitten im Geschehen die Augen schloß! Was dachte sie sich nur dabei, ihr Leben und das ihrer Geschwister in Gefahr zu bringen? Er selbst hatte herausgefunden, daß es Hilfsmittel gab, welche die Pfer-
dezucht erleichterten. Schließlich war es aber nicht seine Sache, den McCrorys seine Verbesserungen mitzuteilen. Er könnte ihnen zum Beispiel eine Art Rampe bauen, so wie jene, die er sich in Texas eigens für diesen Zweck konstruieren ließ. Der Mensch brauchte weder den Hengst noch die Stute zu halten, wenn man sie zur Paarung zusammenführte. Was gingen ihn aber Maddie McCrory und ihre verflixte Familie an? Er hatte genügend eigene Probleme. Da sie aber schlecht auf ihn zu sprechen war, würde Maddie McCrory ihm nicht einmal zuhören. »Wo, sagten Sie, wäre mein Geld?« knurrte er. »In der Stadt auf der Bank«, antwortete Maddie, und die blauen Augen blitzten wie Stahl auf. Ihm schien, daß ihr der Themenwechsel genausowenig gefiel wie die Auseinandersetzung, die sie gerade gehabt hatten. »Aber Sie werden bis morgen warten müssen, um es abzuholen. Bis Sie in die Stadt zurückgeritten sind, wird die Bank bereits wieder geschlossen haben.« »Die Bezahlung von Schulden scheint genausowenig Ihre Stärke zu sein wie die Zucht von Pferden«, schnaubte Chase verächtlich und zog sich die Hose hoch. »Ich hoffe doch, Sie verstehen sich besser aufs Brotbacken als darauf, den Mann zu spielen.« »Ich spiele weder den Ma…Mann!« stotterte sie entrüstet. »Noch habe ich die Absicht, einer zu sein. Soweit ich es erlebt habe, sind die Männer die dümmsten, starrsinnigsten, ekelhaftesten Wesen, die Gott auf die Erdkugel gesetzt hat, Sie eingeschlossen, Mr. Cumberland.« Dann, mit einem Seitenblick auf Little Mike, verbesserte sie sich. »Du bist natürlich eine Ausnahme, Mike… obwohl mir manchmal auch bei dir Bedenken kommen.« »Danke für Ihr unparteiisches, unvoreingenommenes und gerechtes Urteil«, sagte Chase in gedehntem, absichtlich beleidigendem Tonfall. »Nachdem Sie mich erst einen oder zwei Tage kennen, scheinen Sie sich ja sehr schnell eine Meinung gebildet zu haben.« »Den Charakter eines Menschen kann ich sehr gut beurteilen, und der Ihre, Sir, ist leider nicht vorhanden!« Miss McCrory schüttelte den Kopf so heftig, daß die Haarnadeln herausfielen, mit denen sie die Haare locker im
Nacken zusammengesteckt hatte. In einer wilden Kaskade fiel ihr die leuchtend rote Pracht auf die Schultern. »Maddie!« zischte Carrie und blickte die Schwester entsetzt an. Chase verspürte auf einmal den unsinnigen Wunsch, die Finger in Miss McCrorys rote Haarpracht zu tauchen und die restlichen, unordentlich gesteckten Nadeln herauszuziehen, um zu spüren, wie sich das verdammte Zeug in seinen Händen anfühlte. Würde es weich, weiblich und seidig sein oder kraus und widerspenstig und voller Leben, wie die junge Miss McCrory selbst?… Mein Gott, sie machte ihm gehörig zu schaffen mit ihrer merkwürdig spröden, versteckten Weiblichkeit! »Meine Worte brauche ich nicht auf die Goldwaage zu legen, Carrie«, fuhr das Objekt seiner plötzlich lustvoll gewordenen Gedanken fort. »Mr. Cumberland hat bereits bewiesen, zu welcher Art Mann er gehört. Er braucht nicht so zu tun, als sei er um unser Wohlergehen besorgt, wenn er in Wirklichkeit nur darauf aus ist, eines unserer Felder zu einem Bruchteil seines Wertes zu kaufen, und obendrein erwartet, Gold Deck würde seine Stute als Zugabe kostenlos decken.« Seine Vorstellungen über die Beschaffenheit Miss McCrorys Haar lösten sich wie Nebel in der Morgensonne auf. »Wie ich bereits betont habe, bot ich Ihnen einen fairen Handel an, Miss McCrory. Genauer gesagt, sogar mehr als fair. Aber da ich jetzt einen Einblick in Ihren Charakter gewonnen habe, hätte ich wissen müssen, daß Sie es ablehnen. Noch nie ist mir eine Frau begegnet, die so voller Widersprüche ist. Findet die Logik keinen Eingang in Ihr Hirn, oder verlassen Sie sich nur auf Ihren weiblichen Instinkt und Ihre Gefühle, auch wenn sie noch so töricht und unvernünftig sind?« »Ich handle nicht gefühlsmäßig! Ich lebe und atme durchaus bewußt. Ich stelle fest, was getan werden muß, und dann erledige ich es.« Zwei hektische rote Flecken erschienen auf Maddie McCrorys Wangen. Die blauen Augen blitzten vor Zorn. Chase hielt den Atem an. Wenn sie in Zorn geriet, vibrierte Maddie McCrory vor Leben und Kraft. Ihr überschäumendes Temperament setzte ihn immer wieder in Erstaunen. Sie verströmte Energie, wie ein brennender Ofen Hitze ausstrahlte, und er fragte sich – nur einen Sekundenbruchteil lang –, wie dieses kleine Biest wohl im Bett wäre.
Zeigte sie da nur halb soviel Feuer wie jetzt, dann wäre es, als ob er mit einer Wildkatze schliefe, und bei dieser Vorstellung gerie t sein Blut in Wallung. »Dann heißt das also, Sie melden sich weiterhin zu Rennen. Sie reiten den Hengst selbst, wenn Ihr Bruder gerade nicht verfügbar ist, riskieren Kopf und Kragen bei der Pferdezucht und beschimpfen jeden, der Ihnen entgegenkommenderweise behilflich sein möchte. So ist es doch, oder? Ich biete Ihnen ein gutes, faires Geschäft an, und Sie fassen es als Beleidigung auf… Oh, das nenne ich logisch, Miss McCrory. Zu einem anderen Schluß kann ich nicht kommen.« »Ich glaube, wir haben uns nichts mehr zu sagen, Mr. Cumberland. Bringen Sie Ihren Sarkasmus bitte anderswo unter – nebst Ihren Gelüsten nach unserem Land. Das Feld würde ich nicht an Sie verkaufen, auch wenn Sie zehntausend Dollar dafür bieten würden.« »Aber Maddie«, wandte ihre Schwester ein. »Bedeutet das, wir brauchten Mr. Cumberland in diesem Fall nicht die zweitausend Dollar zu zahlen, die wir nicht haben? Vielleicht sollten wir doch…« »Kommt nicht in Frage!« Maddie kreischte jetzt wie eine Frau, deren Abneigung in Haß umgeschlagen war. Sie haben keine zweitausend Dollar? »Sie sagten, mein Geld liege auf der Bank in Hopewell, Miss McCrory.« Chase warf ihr einen Blick zu, der Männer in ihren Stiefeln zittern ließ, so daß sie nach ihrer Waffe griffen. »Wenn es nicht dort ist, dann komme ich mit dem Sheriff zurück, und dann werden wir über das Land sprechen, das Sie mir nicht verkaufen wollen. Weigern Sie sich dann immer noch, kommen Sie hinter Schloß und Riegel.« »Meine Schwester werden Sie nicht ins Gefängnis bringen!« Mit geballten Fäusten stellte sich Little Mike schützend vor seine Schwester. »Jetzt hör mir gut zu, du kleiner Stöpsel.« Chase tippte Little Mike auf die Brust. »Deine Schwester schuldet mir Geld. Zum Donnerwetter, ihr alle schuldet mir Geld. Wenn ihr es nicht habt, dann stellt euch lieber darauf ein, mir dafür einen Ersatz anzubieten. Das nächste Opfer, das Sie sich suchen, Miss McCrory, ist vielleicht nicht so nachsichtig wie ich; der Mann könnte noch am Tag des Rennens die Waffe auf Sie richten, falls Sie das
Geld nicht zur Hand haben.« »Aber wir haben das Geld!« Maddie McCrory schubste ihren Bruder zur Seite. »Es ist genau da, wo ich gesagt habe – auf der Bank in Hopewell. Sie brauchen es sich nur zu holen.« »Morgen«, schnaubte Chase höhnisch. »Da Sie mir den Betrag bereits seit Samstag schulden, müßte ich Ihnen die Zinsen von drei Tagen aufbrummen.« »Ein Tag davon war ein Sonntag, Sir. Nur ein gottloser Heide käme auf den Gedanken, Zinsen für Sonntage zu berechnen.« »Aha, nun bin ich also ein gottloser Heide. Möchten Sie noch andere Schlüsse ziehen, oder ist Ihr Repertoire für heute erschöpft?« »Wenn mir noch etwas einfällt, lasse ich es Sie wissen«, erwiderte das scharfzüngige kleine Biest schnippisch. »Bedaure, aber ich muß jetzt gehen.« Chase machte auf dem Absatz kehrt und ging auf das Haus zu. »Und passen Sie auf, daß Sie nicht an Ihrem eigenen Gift ersticken, Miss McCrory.« »Was?« schrie sie und eilte ihm wütend nach. »Was haben Sie gesagt?« Er drehte sich um, nahm mit einer ausholenden Bewegung den Hut vom Kopf und verbeugte sich vor ihr. »Ich sagte, ich wünsche Ihnen einen angenehmen Nachmittag, Miss McCrory.« »Das wünsche ich Ihnen auch, Sir.« Sie verengte die bemerkenswerten Augen und beäugte ihn mißtrauisch. »Seien Sie vorsichtig, daß Sie auf dem Rückweg in die Stadt nicht eine Kugel in den Rücken bekommen.« »Sollte man auf mich schießen, dann weiß ich wenigstens, wo ich den Schuldigen zu suchen habe.« Er lächelte. Es freute ihn, daß sie gegen seine Spitzen nicht völlig immun war. Chase kehrte ihr den Rücken zu und ging weiter. Es war fast dunkel, als Chase auf seiner neu erworbenen Farm eintraf, mit seinem Bruder Bück und ihren Pferden im Schlepptau. In Windeseile hatten sie die kleine Herde von Stuten und Fohlen auf die neue Koppel getrieben und ihnen verstaubtes, aber doch noch schmackhaftes Heu aufgehäuft, das sie in der Scheune entdeckt hatten. Chase arbeitete schweigend neben seinem Bruder, füllte den Trog mit Wasser, das, wie er bereits festgestellt hatte, keineswegs alkalihaltig war, nahm seinem erschöpften
Pferd den Sattel ab und rieb es ab, bevor er es zu den anderen ließ. Mittlerweile standen die ersten Steine am Himmel. Bück war mit seiner Arbeit fertig und hatte sämtliche Wirtschaftsgebäude gründlich inspiziert, behielt jedoch seine Meinung für sich. Müde stapften sie endlich in das dunkle Haus. Mühelos fand Chase Lampe und Streichhölzer, die er vorher zurechtgelegt hatte. Nachdem die Lampe brannte, setzte er sich an den runden Holztisch im vorderen Zimmer des einfachen Holzhauses. Da Nutzholz in dieser Gegend knapp war, hatte ihr neues Heim nur bescheidene Ausmaße, aber es war vollständig eingerichtet und enthielt alles, was der alte Mr. Parker vor seinem Tod besessen hatte. Die Ansprüche des Mannes waren bescheiden gewesen, aber alles Lebensnotwendige war da: Möbel, Schränke, Regale, Geschirr, Haushaltsutensilien und so weiter. Das beste daran war, daß es zwei Schlafzimmer gab, die an den Wohnraum grenzten, so daß jeder einen eigenen Bereich hatte. Die dazugehörigen Betten waren ebenfalls vorhanden. In einem Zimmer stand ein Vierpfostenbett, groß genug für zwei Personen, während das andere mit einem kleineren, weniger bequemen Bett ausgestattet war, das sich mehr für ein Kind als einen ausgewachsenen Mann eignete. »Das dort ist dein Zimmer, Bück.« Chase wies mit dem Kinn auf das größere Zimmer, das feudal mit dem Riesenbett eingerichtet war, einem Schrank und sogar mit einem Waschtisch samt Schüssel und Wasserkrug. Wahrscheinlich war dies das Zimmer, das Mr. Parker bis zu seinem letzten Atemzug bewohnt hatte; das Bett war noch mit Leinen bezogen. Die Kissen aus Gänsedaunen und der kunstvoll gemusterte Quilt waren sicherlich einmal Mrs. Parkers Stolz und Freude gewesen. Im Haus zeugten noch weitere Spuren von einer weiblichen Hand: bunte Kattunvorhänge an den kleinen Fenstern und ein quadratisches Tischtuch aus leicht vergilbter Spitze in der Mitte des runden Tisches. Ein fröhlich blau-weiß gemustertes Geschirr stand ordentlich auf den Regalen und in dem offenen Schrank. Eine dicke Staubschicht hatte sich überall niedergelassen, aber Chase war mit dem, was er vorgefunden hatte, sehr zufrieden. Ein gewisses Maß an Ordnung und Sauberkeit sprach von der Zeit, die seine Bewohner hier in diesem einfachen Heim mit Stolz und Würde verbracht hatten. Vor allem
gefiel ihm der große alte Kamin, vor dem zwei stabile Schaukelstühle standen, für jeden einen. Scheune, Stall, Nebengebäude, Koppeln und das umliegende Weideland waren der Grund gewesen, warum er das Anwesen gekauft hatte, aber zu seiner Freude ließ es sich im Haus auch noch angenehm wohnen, und jetzt wartete er geduldig darauf, daß sein Bruder ein Zeichen der Anerkennung von sich geben würde. Am gegenüberliegenden Ende des Zimmers stand Bück mit zu ihm gewandten Rücken. Er hatte sich geBuckt, um eine alte Wiege in der Ecke zu betrachten. Ob die Parkers Kinder gehabt hatten? Es war nichts darüber erwähnt worden, aber vielleicht waren sie schon längst fortgezogen oder gar gestorben. Chase hatte man gesagt, daß es keine lebenden Verwandten mehr gab; die Farm mußte verkauft werden, um die Steuern zu bezahlen, die sich seit dem Tod des alten Parker angesammelt hatten. Bedächtig richtete Bück sich auf, nahm den zerbeulten braunen Stetson ab und schleuderte ihn plötzlich zu einer Reihe von Holzstiften, die in die Wand neben der Eingangstür eingelassen waren. Der Hut fand Halt und blieb hängen. Bei dieser Geste würgte es in Chases Kehle. Bück hatte diesen Wurf schon vor Jahren zur Perfektion gebracht, als die beiden Brüder noch die Familienranch in Texas bewirtschafteten. Seitdem hatte er Bück nie mehr seinen Hut werfen sehen. Bis jetzt hatten sie noch keinen Platz gefunden, an dem sie sich zu Hause fühlten, um den Hut an den Haken zu hängen. Aus dieser einzigen Geste konnte Chase das Einverständnis seines Bruders erkennen. »Also meinst du, es genügt uns, hm?« Er verbarg seine Freude hinter einem wissenden Lächeln. Bück grinste und nickte, und Chase lächelte wieder, um seine Bestürzung zu verbergen, die ihn immer wieder befiel, wenn er Bück ansah, auch nach all den vielen Jahren. Bück war Ende Dreißig, nur vier Jahre älter als Chase, sah aber alt genug aus, um sein Großvater zu sein. Schneeweißes Haar hing Bück bis zu den Schultern, passend zum silbernen Bart, Augenwimpern und Brauen. Chase hatte die braungoldenen Augen des Vaters geerbt und Bück das dunkle Graublau der Mutter. Dieser ungewöhnliche Farbton verlieh ihm einen wilden, stechenden Blick, der
durch die weißen Wimpern und Brauen verstärkt wurde. In seiner Jugendzeit hatte Bück ebenso dunkles Haar wie Chase. Eines Tages aber war Bück bei einem schweren Gewitter hinausgeritten, um Chase beim Eintreiben einer Rinderherde zu helfen. Bei dem wolkenbruchartigen Regen sah Chase den Bruder nur verschwommen über das offene Gelände auf ihn zureiten, als plötzlich ein greller Blitz den Himmel aufriß und die Erde zu spalten schien. Pferde und Rinder stoben in wilder Panik davon. Chase hätte es beinahe vom Pferd geschleudert. Als er wieder fest im Sattel saß, ritt er sofort zu Bück. Der ältere Bruder lag bewußtlos am Boden. Er atmete nur schwach, aber er sah wie ein toter alter Mann aus. Jedes Haar an seinem Körper war silberweiß geworden. Zu Hause dauerte es dann noch eine Woche, bis Bück wieder zu Bewußtsein kam. Als er aufwachte, konnte er sehen und hören, aber die Sprache hatte er verloren. Noch schlimmer waren die Anfälle, bei denen er am ganzen Körper heftig zitterte und sich mit Schaum vor dem Mund am Boden wälzte. Die Anfälle gaben sich mit der Zeit, aber Bück war nicht mehr der gutmütige, hilfsbereite, zu allen Scherzen aufgelegte Gefährte, der fleißige, immer lachende Freund, den Chase geachtet und bewundert hatte. Er war zu einem grüblerischen Fremden geworden, mit unberechenbaren Lauen. Kein Wunder. Die Leute dachten, er wäre wirr im Kopf, und behandelten ihn, als wäre er über Nacht zum Idioten geworden. Aber da irrten sie sich. Bück konnte mit den Menschen einfach nicht mehr umgehen. Seltsamerweise schien seine Fähigkeit, sich mit Tieren zu verständigen, zugenommen zu haben. Sein Einfühlungsvermögen ging so weit, daß er schon im voraus zu sagen vermochte, was eine Kuh oder ein Pferd dachte, bevor es das Tier selbst wußte. Im Lauf der letzten Jahre hatte Chase herausgefunden, daß es das beste war, Bück von den Menschen fernzuhalten. Die kleine, verlassene Ranch, die er hier erworben hatte, schmiegte sich in die Mulde einer für Kansas verhältnismäßig hügeligen Landschaft. Hier gab es alles, was er und Bück
zu ihrem Leben und Wohlergehen brauchten. Sogar die Umgebung von Hopewell erinnerte Chase ein wenig an Texas, besonders an den Teil, wo er und Bück auf der väterlichen Farm zu Männern herangewachsen waren. Nach dem Tod ihrer Eltern standen sie auf eigenen Beinen und waren zu Wohlstand gekommen, bis das Schicksal sie so tragisch heimsuchte. Chase war unsäglich froh, daß es Bück hier ebenfalls gefiel. Sie waren lange auf der Flucht gewesen. Nun war es genug. Von jetzt an würde diese Ranch ihr Zuhause sein. »Was hältst du von einem wannen Essen, um den Tag zu feiern?« Chase ging zu einem Schrank, öffnete ihn und zeigte auf die Vorräte, die er am Nachmittag besorgt hatte. »Heute abend müssen wir uns leider mit Bohnen aus der Büchse begnügen, aber das Frühstück wird besser. Zuvor mußt du jedoch noch herausfinden, wie dieser Ofen funktioniert, großer Bruder.« Er stellte eine Flasche Whiskey ab. »Ich glaube, wir genehmigen uns zuerst einen Drink. Nachdem die Pferde einen sicheren Schlafplatz haben und wir ein Dach über dem Kopf, sollte uns nichts daran hindern, das Glas zu erheben und uns zuzuprosten.« Bucks Augen strahlten bei diesem Vorschlag und erinnerten Chase daran, nicht zuviel Alkohol ins Haus zu bringen. Wenn er die Möglichkeit hatte, ertrank Bück gern seine Einsamkeit in billigem Whiskey, aber Chase hatte dem sehr schnell einen Riegel vorgeschoben, bevor es ihm zur Gewohnheit werden konnte. Ein Schluck zur Feier des Tages war eine Ausnahme, und Chase hatte das Bedürfnis zu feiern. Er holte zwei Zinnbecher aus dem Schrank, stellte die Flasche auf den Tisch und zog einen Stuhl heran. »Hier muß mal anständig gefegt und gewischt werden, aber das hat bis morgen Zeit.« Gewohnt, die Unterhaltung für zwei zu führen, redete Chase munter vor sich hin. Nur so konnte er verhindern, daß Bucks Unfähigkeit sich mitzuteilen sie beide zu einem Paar schweigsamer, verstockter alter Bullen machte. Während sie beide es sich gemütlich machten, fuhr er fort, ihm seine weiteren Betrachtungen kundzutun. »Die Madisons werden uns hier nicht finden. Ich hab’ seit über einem Jahr weder ein Zeichen von ihnen noch von einem der Prämienjäger entdeckt. Ich glaube, mittlerweile haben sie es aufgegeben, meinst du nicht
auch? Es muß ihnen ja vorgekommen sein, als seiest du vom Erdboden verschwunden.« Bück nickte zustimmend und hob schweigend den Becher, um mit dem Bruder anzustoßen. Dann trank er ihn aus. Chase ließ sich Zeit und nippte an dem feinen Whiskey. Als das Getränk ein angenehmes Brennen auf dem Weg zum Magen hinterließ, dachte er an Clint Madison und dessen Bruder Luke, der einmal Chases bester Freund gewesen war. Clint war ein feinsinnig aussehender Mann, aber ein Prahlhans, wie er im Buch stand. Als ältester Sohn wohlhabender Eltern war schamlos verwöhnt worden und meinte, er könne tun, was ihm gerade in den Sinn kam. Dazu gehörte auch das ewige Schikanieren Bucks. Wann immer sich die Gelegenheit bot, hänselte er ihn mit einer dummen Bemerkung oder machte sich in Anwesenheit anderer über ihn lustig, kurz, er amüsierte sich auf Bucks Kosten. Bei Luke lagen die Dinge anders. Er war ruhig und bedächtig, und die Herzlosigkeit seines Bruders, andere Menschen zu verletzen und zu quälen, war ihm fremd. Im gleichen Alter wie Chase, war Luke wie ein zweiter Bruder für ihn gewesen, und als Luke heiratete, lud er Chase und Bück zur Hochzeitsfeier ein. Chase hatte Bedenken, Bück mitzunehmen, aber schließlich hatten sie doch gemeinsam an dem Fest teilgenommen. Whiskey floß wie Wasser, und Clint konnte es sich nicht verkneifen, diese einmalige Gelegenheit zu nutzen und wieder seine Witze über Bück zu reißen. Chase erinnerte sich nicht mehr, wie alles begann. Jedenfalls war es zwischen Bück und Clint zu einer Schlägerei gekommen, die tragisch endete, als Bück ein Whiskeyfaß auf Clints Schädel zertrümmerte und ihn dadurch bewußtlos schlug. Am Anfang hatte sich kein Mensch über diesen Vorfall erregt. Halb Dallas County hatte es miterlebt, und jeder wußte, daß Clint ihn mit seinen bösen Hänseleien zur Weißglut gereizt hatte. Die meisten Zuschauer fanden, daß Clint diese Strafe verdient hatte. Drei Tage vergingen, ohne daß er das Bewußtsein wiedererlangte. Am Morgen des vierten Tages war Clint tot. Aufgebracht trommelten die gramgebeugten Madisons einen Trupp Männer zusammen, die Bück lynchen sollten. Luke führte sie an. Der Mann, der Chases bester Freund gewesen war, wurde jetzt zu seinem schlimmsten Feind, der geschworen hatte, Cha ses Bruder zu töten.
Nur mit ihren Pferden – einer Koppel bester Stuten, Abkömmlinge der legendären Rennpferde Bonnie Scotland und Kentucky Whip – waren Bück und Chase nach Texas geflohen. Stets saß ihnen eine Meute von Prämienjägern im Nacken, die auf die Belohnung aus waren, welche die Familie Madison für die Ergreifung Bucks ausgesetzt hatte. Während der ersten zwei Jahre hatten die Brüder versucht, sich in verschiedenen, möglichst entlegenen Orten niederzulassen. Das ständige Unterwegssein schwächte die Pferde und machte die Zucht nahezu unmöglich. Aber jedesmal, wenn sie glaubten, ein neues Zuhause gefunden zu haben, geschah etwas, das ihre Pläne zunichte machte. Bück schien die Schwierigkeiten wie ein Magnet anzuziehen. Gleichgültig, wohin sie kamen, er wurde zur Zielscheibe grober Spötteleien. Sein ungewöhnliches Aussehen und seine Unfähigkeit, sich zu artikulieren, reichten den Maulhelden aus, sich über ihn lustig zu machen. Mehr als einmal mußten sie fluchtartig eine Stadt mitten in der Nacht verlassen, und wenn Bück sich nicht selbst in Schwierigkeiten brachte, dann warteten sie am Wegesrand auf ihn. ›Wanted‹-Plakate mit seinem Konterfei gelangten in die gottverlassensten Orte und in die Hände von Männern, die darauf erpicht waren, sich ein paar schnelle Dollars zu verdienen. Sie brauchten nur einen Mann abzuknallen, der als Mörder gesucht wurde. »Yep«, sagte Chase, als er sich an all das erinnerte. »Es dürfte die beste Entscheidung sein, deine Existenz geheimzuhalten. Es mag vielleicht ein wenig einsam um uns werden, aber wir werden ein gutes Leben haben, Bück. Wir werden wieder Pferde züchten, so wie wir uns das vorge stellt haben, und ich werde so oft wie möglich an Rennen teilnehmen, um unseren Lebensunterhalt zu bestreiten. Bück Courtland gibt es nicht mehr, und den Namen Cumberland hat noch keiner gehört. Solange wir vorsichtig sind, können wir leben, wie wir es uns immer gewünscht haben.« Bück stellte den Becher ab und machte ein paar Handbewegungen. Und die Frauen? fragte er in einer besonderen Zeichensprache, die sich aus indianischen Elementen zusammensetzte sowie einer selbst entwickelten Verständigungsart, die sie mit den Jahren erfunden hatten. Chase schüttelte energisch den Kopf. »Keine Frauen. Das können wir nicht riskieren, Bück, nicht einmal einen Abstecher in ein Bordell oder einen Saloon, es sei denn, er ist meilenweit von hier entfernt.«
Bück zog eine Grimasse, langte nach der Flasche und schenkte sich noch einen Becher Whiskey ein. Vor seinem Unfall hatte Bück viel Erfolg bei den Frauen, und es traf ihn besonders hart, auf weibliche Gesellschaft und die damit verbundenen Freuden verzichten zu müssen. Kurz vor dem Unfall hatte er sich in eine schöne junge Frau namens Ella Mae Cass verliebt und ihr ernsthaft den Hof gemacht. Ella Mae jedoch betrachtete die äußerliche wie seelische Veränderung Bucks als zu erheblich, um mit ihm zusammenleben zu können. Sie lief ihm weg und heiratete einen anderen Mann, ohne es ihm vorher zu sagen. Diese Erfahrung hatte nicht nur Bück, sondern auch Chase ver- bittert, der schon lange zu der Überzeugung gekommen war, daß man von einer Frau nicht erwarten konnte, daß sie treu zu einem Mann hielt und mit ihm durch dick und dünn ging. Seither wollte Chase nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Gelegentlich eine Nacht bei einem leichten Mädchen verschaffte ihm alles, was er vom anderen Geschlecht wollte oder brauchte, aber er war bereit, auch darauf zu verzichten, wenn es um Sicherheit und Anonymität ging. Wenn er und Bück wirklich einmal das Bedürfnis verspüren sollten, dann würden sie sich eine Stadt aussuchen, die weit genug von Hopewell entfernt war, so daß keiner Chase erkannte und berichten konnte, er hätte eine nachtliehe Zechtour mit einem stummen, weißhaarigen Riesen unternommen. »Wenn dir hier die Decke auf den Kopf fällt, großer Bruder, dann gehen wir nach Abilene, dort kann sich ein Mann zum angemessenen Preis alles kaufen, was er will. Zuerst aber müssen wir die Weiden für die Pferde einzäunen, und dann will ich noch das Feld hinzukaufen, durch das ein Bach fließt. Ich habe dir davon erzählt. Mit ausreichend Wasser und gutem Gras können wir die Pferde ohne Bedenken gut und gern einige Tage allein lassen.« Bück bedeutete ihm durch Zeichen, daß Chase es doch sofort kaufen sollte, wenn er es unbedingt wollte. Jetzt mußte Chase ihm einiges über ihre Nachbarn erklären, ein Thema, das er bisher vermieden hatte. »Das habe ich schon versucht, aber die McCrorys, denen das Land gehört, sind nicht am Verkauf interessiert. Ich hatte ihnen angeboten, das Feld anstelle des Geldes zu nehmen, das ich letzten Samstag gewonnen
habe, aber Maddie McCrory wollte nichts davon hören. Jetzt muß ich mir etwas anderes einfallen lassen, um sie umzustimmen. Dieses Stück Land brauchen wir unbedingt, wenn wir Rinder und Pferde züchten wollen. Da wir vom Züchten sprechen, ich würde Bonnie Lass gern mit ihrem Hengst kreuzen. Wenn er tatsächlich von Gold Deck abstammt, dann dürfte seine Blutlinie mit der Blutlinie von Bonnie Scotland ein wirklich aufsehenerregendes Tier hervorbrin- gen. Aber mit diesem Plan hatte ich auch nicht viel Glück. Miss McCrory scheint mich nicht ausstehen zu können.« Wieviel verlangt sie fürs Decken? fragte Bude mit Zeichen. »Fünfzig Dollar pro Sprung. Das habe ich in der Stadt gehört. Für Bonnie Lass wird sie wahrscheinlich mehr verlangen. Sie ist sehr feindselig, weil unsere Stute ihren Hengst im Rennen geschlagen hat. Vermutlich ist sie Niederlagen nicht gewohnt.« Chase lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Der Whiskey hatte ein wohliges Gefühl im Magen hinterlassen und ihn locker und gesprächig gemacht. »Im Grunde müßte sie verdammt nett zu mir sein, wenn man bedenkt, wie dringend sie das Geld braucht. Ihr Vater ist ein unverbesserlicher Säufer, der überall in der Stadt Schulden hat. Außerdem erzählt man sich, er würde hohe Zechen im Saloon machen, während Maddie und ihre Geschwister nicht wissen, wovon sie am nächsten Tag leben sollen.« Maddie? Bück formte den Namen mit den Lippen. Die blauen Augen blickten Chase fragend an. »Miss McCrory«, verbesserte sich Chase, selbst über die sen Versprecher überrascht. »Sie und ihr Bruder sowie die beiden jüngeren Schwestern müssen alles ohne Helfer bewältigen – sogar Pferde züchten. Anscheinend macht der alte Mann nicht einmal mehr einen Finger krumm. Die einzige Hilfe, die sie sich ab und zu leisten können, ist eine indianische Squaw, ein Halbblut. Sie heißt Pawnee Mary. Die Squaw ist die Stadthure, soviel ich gehört habe, und keine anständige Familie würde ihr Arbeit geben. Abgesehen davon, daß sie eine Indianerin ist, gehört sie zum Abschaum der Stadt.« Bück lachte bitter auf. Du meinst, sie steht noch eine Stufe tiefer als ich? Chase stimmte in Bucks Lachen ein. »Bruderherz, sie ist noch viel tiefer. Die Menschen hier haben nicht gerade die besten Erinnerungen an die
Indianer. Die meisten Stämme sind fortgezogen oder wurden in Reservate gesperrt. Ich weiß nicht, wie diese Squaw der Deportation entkommen ist, jedenfalls sind die McCrorys die einzigen, die dumm genug sind oder so dringend Hilfe brauchen, daß sie die Indianerin ins Haus lassen. Kann ja sein, daß sie keine Diebin oder eine Hure oder von mir aus Mörderin ist, aber du weißt ja, was die Leute denken, wenn es um Indianer geht.« Oder um Männer, die wie ich aussehen. »Oder um Männer, die wie du aussehen«, stimmte Chase ihm zu. »Eine alte Indianersquaw ist wenigstens zu etwas nütze, wenn auch nur als Hure – aber ein Ausge stoßener ist und bleibt ein Ausgestoßener.« Nicht mehr, sagte Bück und schüttelte den Kopf. Nicht mehr. Das ist unser neues Zuhause, und hier werden wir bleiben. »Das ist richtig, Bruderherz.« Chase schenkte sich und Bück Whiskey nach, hob seinen Becher und stieß mit dem Bruder an. »Auf unser neues Zuhause… und daß uns alles gelingt, was getan werden muß, um hierzubleiben und Erfolg zu haben.« Beide tranken ein paar kräftige Schlucke. Der warme Nebel, der sie jetzt einhüllte, ließ alle Hindernisse verschwimmen. Chase war felsenfest davon überzeugt, daß er einen Weg finden würde, Maddie McCrorys Abneigung ihm gegenüber abzubauen und sie für seine zukünftigen Pläne zu gewinnen. »Und wenn ich auf die Knie fallen und die Stiefel dieses frechen Rotschopfs lecken müßte, ich werde sie dazu bringen, mir das Feld zu verkaufen und Bonnie Lass von ihrem Hengst decken zu lassen! Und das werde ich mit einem Lächeln tun. Ich zeige ihr, daß die Cumberlands nicht zu der Sorte Männer gehören, die ein Nein als Antwort gelten lassen.« Ist sie hübsch? Ein wehmütiger Ausdruck zog über Bucks Gesicht. Wie sieht sie aus? »Langweilig wie eine Zaunlatte«, lästerte Chase. »Bis auf das Haar, das rot ist wie ein Präriefeuer. So viel Sommersprossen, daß man sie nicht zählen kann; zudem ist sie wie ein Junge gebaut und obendrein nicht mehr die Jüngste. Die Blüte ihrer Jahre hat sie schon hinter sich, hat man mir in der Stadt erzählt.« Dann dürfte sie für dich genau die Richtige sein, gab ihm Bück mit einem Grinsen zu verstehen.
Chase warf protestierend die Hände hoch. »Laß mich bloß damit in Frieden, Brüderchen. Du weißt, wie ich über Frauen denke; ein gutes Pferd kann ich tage- und nächtelang reiten, und es bleibt mein bester Freund – aber eine Frau? Frauen sind anders. Sie passen nur ins Bild, wenn ein Mann sie unbedingt haben muß; sucht er Treue, sollte er bei seinem Pferd bleiben.« Bück schlug sich stumm lachend auf die Knie. Chase lehnte sich in seinen Stuhl zurück und hing seinen Gedanken nach. Um die Wahrheit zu sagen, Maddie McCrory war nicht sein Typ. Ebensowenig hatte er in seinem Leben Platz für eine Frau. Mit Bück als Bruder konnte er nichts mit einer Frau anfangen. Wo sollte sie leben?… Und wo sollte Bück leben? Er stellte sich vor, er würde um die Hand einer Frau anhalten, sie dann nach Hause bringen, um ihr seinen Bruder vorzustellen – und ihr dann erklären, daß Bück immer bei ihnen leben würde und daß niemand von seiner Existenz erfahren durfte. Das wäre wohl das richtige Hochzeitsgeschenk für die junge Braut! Mit einemmal kehrte er wieder in die Wirklichkeit zurück. Ein Bild von Maddie McCrory kam ihm in den Sinn: blitzende blaue Augen, fliegendes rotes Haar, Wangen und Lippen von einem rosaroten Hauch überzogen. Als langweilige Zaunlatte konnte man sie wohl kaum bezeichnen, aber rassige Brünette oder milchweiße Blondinen waren ihm lieber. Trotzdem war sie ein faszinierendes Geschöpf – eine Frau, die er gerne beobachtete, wenn auch nur, um zu sehen, was sie als nächstes sagen oder tun würde… und er mochte ihr Haar. Und die blitzblauen Augen. Und den festen kleinen Hintern. Und die Art, mit der sie ihn bei jeder Begegnung herunterputzte. Ihre Widerspenstigkeit weckte in ihm den Wunsch, sie zu erobern und zu zähmen wie ein wildes Stutenfohlen. Ein Fohlen mußte mit großem Einfühlungsvermögen behandelt werden; nahm ein Mann sich die Zeit, es mit Geduld und Lob zu trainieren und nicht mit Strafen und Gewalt, dann würde es sein Bestes geben. Überforderte er aber das Tier und wandte grobe Methoden an, dann wurde das Fohlen verschlagen und böse. So ein Tier keilte gern aus, biß um sich und bockte oder bäumte sich auf, wenn
man es am wenigsten erwartete. Vielleicht sollte er Maddie McCrory auf die gleiche Art behandeln wie Bonnie Lass. Mit Achtung und Freundlichkeit. Es wäre interessant zu sehen, ob sie wie ein temperamentvolles Pferd reagieren würde. Aber das würde er erst in der Praxis herausfinden. In einer Woche vielleicht, wenn er hier alles im Griff hatte, würde er zu ihr hinüberreiten, um ihr noch weitere Tips für die Zucht zu geben, oder noch besser, um Little Mike zu zeigen, wie er eine Rampe zum Decken baute. Ihm waren noch weitere Dinge aufgefallen, an denen es bei den McCrorys mangelte, aber dies war meistens mit Tätigkeiten verbunden, die mehr als ein Händepaar erforderten. Wenn er sich als guter Nachbar zeigte und Little Mike bei schweren Arbeiten half, dann würde Maddie McCrory wahrscheinlich entgegenkommender sein und ihm letztendlich doch das Feld verkaufen und erlauben, daß Gold Deck Bonnie Lass und einige andere seiner Stuten zur Hälfte des üblichen Preises deckte. Das sollte er sich wirklich durch den Kopf gehen lassen. Außerdem wäre es ihm nicht unangenehm, Maddie McCrory wiederzusehen. Ob er sie wohl dazu brachte, ihre Kratzbürstigkeit abzulegen und ihn anzulächeln? Während ihrer kurzen Bekanntschaft hatte er nicht ein einziges Mal erlebt, daß sich ihre Lippen zu einem von Herzen kommenden Lächeln öffneten. Es würde eine lohnende Erfahrung sein, wie ein Sonnenstrahl, der nach einer verregneten Woche am Himmel erschien. Ja, in ein oder zwei Wochen würde er den McCrorys den nächsten Besuch abstatten, und dieses Mal würde er Miss Maddie McCrory mit seinem Charme einwickeln, bis hinunter zu ihren kleinen rosa Zehen. Bevor er ging, würde er sie bitten, ihm ihr Feld zu verkaufen und seine Stute mit Gold Deck zu decken. Und dabei lächelte er still vor sich hin.
SECHS »Wir haben gewonnen, Maddie! Diesmal haben wir gewonnen!« Carrie und Zoe schlangen die Arme um Maddies Hals und wären beinahe mit den Köpfen zusammengestoßen, als sie ihr mit einem Kuß zum Sieg gratulier-
ten. »Ja, ja, ich weiß! Ich war doch dabei. O Gott, mir fällt ein Stein vom Herzen! Diese tausend Dollar brauchen wir dringend.« Maddie befreite sich aus der Umarmung ihrer Schwestern, die sich jetzt bei den Händen packten und auf der staubigen Hauptstraße von Salina einen Freudentanz aufführten, während Maddie davoneilte, um Little Mike zu seiner guten Leistung zu beglückwünschen. Wie seine Schwestern strahlte auch Little Mike wie ein Honigkuchenpferd. Sogar Gold Deck sah stolz und zufrieden aus. Er stupste seine Herrin mit der Schnauze, beugte den Nacken und schnaubte kräftig durch die Nüstern, als ob er sagen wollte: Siehst du? Ich hab’ alles wieder wettgemacht. Ich bin immer noch das schnellste Pferd von Kansas. »Gut gemacht, Mike. Und du auch, mein Braver.« Maddie drückte einen Kuß auf die samtene Schnauze des Hengstes, bevor sie sich den Zuschauern zuwandte, um ihren Begeisterungsrufen und Kommentaren zuzuhören. »Ich glaub’, der wußte, wer ihn heute geritten hat!« rief ein Mann. Maddie nickte. Ihre Freude war zu groß, um an der Feststellung Anstoß zu nehmen, Gold Deck käme mit Little Mike besser zurecht als mit ihr. Der Mann konnte mit die ser Behauptung recht haben, aber sie bezweifelte es. Sie war überglücklich, daß Gold Deck seinem Ruf auch in Salina treugeblieben war. Der leicht errungene Sieg über den heutigen Gegner machte die Niederlage gegen Mr. Cumberlands Stute wieder wert, finanziell gesehen natürlich nicht, aber sein Sieg stellte Maddies Glauben an die Schnelligkeit und das Können ihres Pferdes wieder her. Ihr Hengst war immer noch in Hochform und hatte nichts von seiner Kraft eingebüßt, wie sie anfangs befürchtet hatte, außerdem trug sein Sieg viel dazu bei, das Gefühl auswegloser Verzweiflung zu vertreiben, das sie seit dem vergangenen Abend nach dem katastrophalen Treffen mit Horace Brownley befallen hatte. Maddie war jede einzelne Minute in der Gesellschaft des Bankiers höchst zuwider gewesen. Abwechselnd langweilte oder verärgerte er sie. Auch nahmen die Peinlichkeiten kein Ende, vor allem, weil Horace sich benahm, als ob sie ihm
bereits gehörte, und er zu erwarten schien, daß sie allen seinen Äußerungen – seien sie noch so töricht und belanglos – bewundernd zustimmte und ihre eigene Meinung zugunsten der seinen änderte. Außerdem war sie die ganze Zeit über in Sorge gewesen, nicht rechtzeitig nach Hause zu kommen, um die Vorbereitungen für das Rennen in Salina zu treffen. Aus diesem Grund hatte sie Horace gebeten, sie vorzeitig nach Hause zu bringen. Mit der Aufzählung seiner Pflichten als Bürgermeister hatte er ihr aber diese Bitte abgeschlagen und erklärt, von nun an sei ihre Zeit die seine, und sie müsse ihre Prioritäten zugunsten der seinen ändern. Wie gerädert war sie heute morgen aufgestanden. Sie hatte zu wenig geschlafen, und ihr Magen schien immer noch aus einzelnen Knoten zu bestehen. Aber jetzt, nachdem alles überstanden war, genoß sie die wohltuende Wirkung des Triumphes. Gold Deck hatte das Rennen gewonnen, und ihre Familie war um eintausend Dollar reicher. »Miss McCrory, Ma’am?« ertönte eine Stimme hinter ihr. »Könnte ich Sie ‘ne Minute sprechen?« Ein großer, dürrer Rancher mit kleinen schwarzen Augen und hervorstehendem Adamsapfel hielt ihr wedelnd einen ihrer Handzettel unter die Nase. »Wenn Sie mir ‘nen Augenblick zuhörn könnten, dann möcht’ ich Sie fragen, ob mein Hengst gegen Ihr Pferd laufen kann, gegen das Pferd, das gerade dieses Rennen hier gewonnen hat.« »Selbstverständlich«, antwortete Maddie. »Leider ist der Augenblick nicht sehr günstig, um uns darüber zu unterhalten. Ich muß sofort…« »Fünftausend Dollar, Ma’am. Ich bin bereit, fünftausend zu setzen, daß mein Hengst Ihren Gold Deck schlägt, auf der Bahn von Abilene, heute in einem Monat.« »Fünftausend?« wiederholte Maddie ungläubig. »Sie wollen fünftausend Do llar gegen mein Pferd setzen?« »Hör’n Sie schwer, Ma’am? Das hab’ ich doch eben gesagt.« Natürlich reizte Maddie das Angebot, aber sie zögerte bei diesem hohen Betrag, wie damals bei Chase, als er den Einsatz erhöhen wollte. Zwischen diesem Mann hier und Mr. Cumberland bestand jedoch ein himmelweiter Unterschied; vielleicht traf dies auch für sein Pferd zu, wenn sie es mit Bonnie Lass verglich zu. Jedenfalls war dieses Angebot einer Überprüfung
wert. »Einen Augenblick«, sagte sie. »Lassen Sie mir einen Augenblick Zeit, und wir sprechen in aller Ruhe darüber… Carrie! Zoe!« Sie winkte ihre Schwestern herbei. »Ich habe mit diesem Herrn etwas Geschäftliches zu besprechen. Kümmert euch bitte solange um Little Mike und Gold Deck und auch um Pa, ja? Sorgt dafür, daß er im Wagen bleibt und nicht allein zum Feiern loszieht. Es wird nicht lange dauern. Also, Mister… ehm… ich glaube, Ihren Namen haben Sie mir noch nicht genannt, Sir.« »Gratiot. Lazarus Gratiot. Ich bin neu hier in der Gegend. Hab’ mir grade was in Abilene gekauft, und da such’ ich jetzt nach einer Möglichkeit, meinen Hengst hier bekannt zu machen.« »Kommen Sie hier entlang, Mr. Gratiot. Sie können nichts Besseres für den Ruf Ihres Pferdes tun, als ihn gegen unseren Hengst antreten zu lassen, der in ganz Kansas sowie den angrenzenden Staaten bekannt ist. Auch wenn Sie verlieren, werden Sie sich einen Namen machen, weil Sie uns herausgefordert haben. Wenn Ihr Hengst den Leuten gefällt und eine gute Figur macht, dann wird man Ihnen ihre Stuten zum Decken bringen.« »Ich werd’ Ihrem Gaul nicht hinterherlaufen, Ma’am; ich werd’ ihn schlagen. Das ist der Hauptgrund, warum ich hier bin… um mein Pferdchen bekannt zu machen, wenn’s den großen Gold Deck besiegt. Und ich will, daß ganz Abilene dabei ist…« Wieder so ein aufgeblasener Gernegroß, dachte Maddie. Genau die Sorte schlug sie gem. Nach knapp einer Stunde hatte sie das höchste Angebot angenommen, das ihr oder ihrem Vater jemals gemacht wurde. In einem Monat würde Gold Deck gegen Mr. Gratiots Hengst One-Eyed Jack für fünftausend Dollar in Abilene antreten. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was Horace Brownley wohl dazu sagen würde – oder vielleicht weil sie es nur zu genau wußte –, hatte Maddie wieder um einen Betrag gewettet, den sie nicht besaß. Aber sie hatte sich das Pferd vorher genau angesehen, und dieser Hengst war entschieden ein Verlierer. Die langen Beine, der schmale Rahmen und die eher kleine Hinterhand zeigten, daß er am Start nicht zu dem kraftvollen
schnellen Galopp fähig war, der die Weichen für den Sieg stellte. Zudem war er noch auf einem Auge blind, wie sein Name schon besagte. Sie hatte vor, Little Mike an seiner schlechten Seite reiten zu lassen, um Gold Deck die Möglichkeit zu geben, seinen Gegner im Auge zu haben, ohne daß der Gegner ihn sah. Manche Pferde liefen nur gut, weil sie nicht von einem anderen Pferd überholt werden wollten. Vielleicht gehörte Mr. Gratiots Hengst dazu. Als sich Maddie zu ihren Geschwistern im Wagen ge seilte, schwebte sie auf Wolken. Die einzige Sorge bildete Mr. Gratiots Wunsch, das Rennen auch noch für zusätzlich aufgebotene Pferde offen zu lassen. Er bestand darauf, daß derjenige, der den gleichen Betrag setzte, auch das Recht harte, am Rennen teilzunehmen. Maddie hatte schließlich eingewilligt, daß ein drittes Pferd teilnehmen durfte, aber sie hoffte, daß sich niemand melden würde. Bei diesem hohen Einsatz und dem Favoriten war es unwahrscheinlich. Abilene war mehr als einen Tagesritt von Hopewell entfernt, trotzdem befürchtete sie, daß Chase Cumberland Wind von diesem Rennen bekommen könnte. Wenn er Bonnie Lass bei diesem Rennen aufböte, dann hätte sie Grund zur Sorge. Da Mr. Cumberland dieses Rennen nicht besucht hatte, nahm sie an, daß er im Augenblick vollauf mit seiner neu erworbenen Farm beschäftigt war. Wenn sie ihm während der nächsten vier Wochen aus dem Weg ging, bestand die Möglichkeit, daß er erst von dem Rennen erfuhr, wenn es bereits gelaufen war. Sollte er aber trotzdem davon erfahren, würde er nicht daran teilnehmen in der Annahme, es handle sich nur um ein typisches Zweier-Rennen, zu dem keine anderen Pferde zugelassen waren. Der Heimweg von Salina verlief fröhlich. Carrie und Zoe und Little Mike waren guter Dinge, schwatzen über den Sieg und machten Pläne für das nächste Rennen, während Pa im Wageninneren schlief. Gold Deck war hinten am Wagen angebunden und folgte ihnen. Als sie im goldenen Licht des Spätnachmittags in den Hof vor den Stallungen einbogen, drang ein hämmerndes Geräusch an Maddies Ohr. Als Little Mike das Gespann zum rückwärtigen Teil des Hauses lenkte, sah sie, daß der Mann, der den Hammer schwang, kein anderer war als Chase Cumberland!
Bei ihrem Sprung vom Wagensitz verfingen sich Maddies Beine in den Röcken, und sie fiel auf die Knie. Im Nu stand sie wieder auf den Beinen, strich den Rock glatt und schnauzte den hochgewachsenen Mann an, der mit bloßem Oberkörper vor dem Stall stand und eifrig an etwas herumzimmerte. »Was machen Sie da, Mr. Cumberland? Sie wagen es, unangemeldet auf unserem Grund und Boden zu erscheinen und sich in aller Seelenruhe auf unserem Hof an weiß Gott was zu schaffen zu machen! Erinnern Sie sich nicht mehr, daß Sie es sich damals ausdrücklich verbeten hatten, daß auch nur einer von uns Ihr Land unbefugt betritt? Aber Sie scheinen es wohl vollkommen in Ordnung zu finden, daß Sie unseren Grund als Unbefugter betreten. So geht es nicht! Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie den Hammer noch in dieser Sekunde ablegten und dahin gingen, wo Sie herkamen.« Den Hammer noch in der Hand haltend, schob Chase Cumberland den Stetson zurück und wandte ihr langsam das Gesicht zu. Maddie staunte über den Anblick des breitmuskulösen, behaarten Oberkörpers, den er so ungeniert zur Schau stellte. Sie hatte bereits einmal einen Teil seines Oberkörpers gesehen, und natürlich auch bei Little Mike und Pa, wenn sie in der Sommerhitze beim Holzschlagen im Wald das Hemd aufknöpften, aber dieser freie Ausblick auf Chase Cumberlands Brustkorb beeindruckte sie auf völlig andere Art. Ein übriges trugen die bernsteinfarbenen Augen bei, die im Schatten der Hutkrempe zu glühen schienen und ihr wissend signalisierten, daß sie ihn als Mann erkannt hatte. »Ich bin hier nicht unbefugt eingedrungen, Miss McCrory. Ich habe die Erlaubnis bekommen.« »Ich habe sie Ihnen nicht erteilt. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß dies jemand ohne mich zu fragen getan hätte.« Maddie sah die Schwestern prüfend an, dann den Bruder. Aber alle drei schüttelten den Kopf und blickten sie nur fassungslos an. »Als ich heute morgen auf den Hof kam, begegnete mir eine große, hübsche Frau mit dem Namen Mary. Ich erklärte ihr, warum ich gekommen sei, und sie meinte, ich solle schon anfangen und…« »Wo ist Mary jetzt?« wollte Maddie wissen, ohne ihn ausreden zu lassen.
Am Abend vor ihrer Abreise nach Salina war Pawnee Mary gekommen, um sich während ihrer Abwesenheit um das Haus und das Vieh zu kümmern. Aber es sah Mary nicht ähnlich, einen Fremden auf das Anwesen zu bitten, auch war es ungewöhnlich, daß sie nicht aus dem Haus eilte, um sie zu begrüßen und sich nach dem Ausgang des Rennens zu erkundigen. »Woher soll ich wissen, wo sie steckt, Miss McCrory.« Immer noch den Hammer in der Hand, kam er mit der natürlichen Geschmeidigkeit auf sie zu, die sie an einen Wolf erinnerte. »Jedenfalls scheint sie nicht zu den Frauen zu gehören, die einem Mann mit weit aufgerissenen Augen bei der Arbeit zusehen.« Mit dem Tonfall deutete er an, daß er Maddie dazu zählte. Kalt und heiß stieg ihr die Röte in die Wangen und breitete sich bis zum Ansatz des roten Haares aus. Chase Cumberland war nun einmal ein Mann, der auffiel; auch in diesem Augenblick konnte Maddie die beeindruckende Pracht seines entblößten Oberkörpers schwerlich übersehen. Bächlein von Schweiß rannen über die wie gemeißelt wirkenden Muskeln der nackten Brust. Aber anstatt sich entrüstet abzuwenden, blickte sie ihn fasziniert an. Die Landschaft dieses Torsos war so anders beschaffen, war ihr so fremd, daß sie den Wunsch verspürte, sie mit all ihren Hügeln und Mulden zu erkunden. Als Maddie gewahr wurde, woran sie gerade dachte, färbten sich die Wangen noch einen Ton dunkler, und sie antwortete schärfer als beabsichtigt. »Wenn Mary zurückkommt, werde ich ihr sagen, daß sie ihre Pflicht verletzt hat. Nie hätte ich mir träumen lassen, daß sie einem her- umstreichenden Mann während unserer Abwesenheit Zutritt zu unserem Gelände gewährt.« »Ich bin kein herumstreichender Mann. Ich bin Ihr Nachbar, ob es Ihnen paßt oder nicht, Maddie.« »Für Sie MISS McCrory, Mr. Cumberland«, gab Maddie bissig zurück. In diesem Augenblick hörte man einen dumpfen Schlag am Wagenende. Gold Deck schnaubte aufgeschreckt, und Maddie wirbelte instinktiv herum, um zu sehen, was nun schon wieder Furchtbares passiert sein mochte. Mit Chase Cumberland im Gefolge eilte sie zum rückwärtigen Teil des Wagens, und – Gott hab’ Erbarmen! – sie sah ihren Vater halb im Wagen und halb aus dem Wagen heraushängen. Ein Fuß hatte sich an der Türschwelle verfangen, so daß er mit einem Bein daran hängengeblieben
war und sein Hut zwischen Gold Decks Beinen lag. Zum Glück war der Hengst so weit zurückgewichen, wie es seine Führungsleine erlaubte. Er tat sein Bestes, um weder auf den Hut noch auf den Mann zu treten. Dümmlich grinsend blinzelte Pa zu ihr hinauf. »Sind wir schon zu Hause angelangt, Maddie, Schätzchen? Warum steht alles Kopf und dreht sich? Verdammt noch mal, mir brummt der Schädel, als ob die Indianer an meinen Schläfen die Kriegstrommel rührten.« »Oh, Pa, du hast auf dem Heimweg wieder getrunken. Und ich dachte, du würdest schlafen.« Rasch band sie Gold Deck los. Den Strick warf sie Little Mike zu, der gerade um die andere Seite des Wagens herumkam. »Führ Gold Deck in seinen Stall, Mike, während ich Pa ins Haus bringe.« Maddie kniete sich neben den Vater. »Steh1 auf, Pa. Komm schon. Ich helf dir.« Sie packte ihn unter den Achselhöhlen, aber er stieß nur einen langen Seufzer aus und schloß die Augen. Es schien ihn nicht zu stören, daß er halb im Inneren, halb außerhalb des Wagens lag. »Carrie, Zoe, kommt her! Ihr müßt mir helfen. Carrie, du hebst ein Bein, Zoe, du das andere. Ich fasse ihn bei den Händen.« »Aus dem Weg, alle.« Mit einer schnellen, fließenden Bewegung ließ sich Chase Cumberland auf ein Knie fallen, packte die Arme des alten Mannes und hob ihn hoch. Mühelos hielt er ihn in den Armen, als ob er nicht mehr als ein Sack Weizen wöge. »Wohin soll ich ihn tragen? Gehen Sie voran«, sagte er zu Maddie. »Carrie, Zoe, kümmert euch um das Gespann.« Maddie beeilte sich, um vor Chase zum Haus zu gehen. »Sorgt dafür, daß die Pferde gefüttert, getränkt und abgerieben werden, aber sofort. Oh, und der Stall muß noch ausgemistet werden. Sagt es Little Mike.« Die Mädchen stießen hinter ihr einen Stoßseufzer aus, aber Maddie blickte nicht mehr zurück, als sie mit Chase Cumberland im Schlepptau auf das Haus zuging. Wie entsetzlich, daß Pa betrunken aus dem Wagen gefallen ist! dachte sie. Um einigermaßen Haltung zu bewahren, hob sie den Kopf hoch und tat so, als wäre nichts Besonderes dabei – aber, oh, wie peinlich war ihr das alles! Sie führte Mr. Cumberland durch die dunkle Diele in das
ebenerdige Schlafzimmer, das ihre Eltern viele Jahre miteinander geteilt hatten. Chase legte ihren Vater auf das knarzende Bett, richtete sich auf und blickte sie in dem dämmerigen Licht forschend an. »Sie sind verdammt gut darin, Ihren Geschwistern Befehle zu erteilen«, bemerkte er. »Aber wieso lassen Sie Ihren Pa damit so einfach davonkommen?« Er drehte den Kopf zu ihrem schnarchenden, völlig betrunkenen Vater. »So ein Benehmen ist eine Schande Ihnen und Ihren Geschwistern gegenüber. Ich verstehe nicht, wieso Sie das dulden.« Er zog die Oberlippe verächtlich nach oben, was bei Maddie einen Gefühlsausbruch auslöste. »Glauben Sie etwa, ich unterstütze das?« schrie sie ihn an. »Glauben Sie tatsächlich, er war immer so?« »Wirklich?« Chase Cumberlands Ton zeigte kein Mitleid. »Er sollte sich schämen, und Sie sollten sich ebenfalls schämen, daß Sie es so weit kommen ließen.« »Was soll ich denn tun?« Maddies Stimme war zu einem erstickten Flüstern geworden. »Vor dem Tod meiner Mutter hatte er nie soviel getrunken. Oh, er genoß immer sein ›kleines Schlückchen‹, wie er es nannte, aber erst nach ihrem Tod wurden diese kleinen Schlückchen immer größer, bis er eine halbe Flasche auf einmal austrank… ich habe ihn zu Vernunft bringen wollen. ihn angefleht, damit aufzuhören oder zumindest weniger zu trinken, aber meine Bitten fanden kein Gehör mehr. O Gott, ich weiß nicht, was ich tun soll…« »Werfen Sie die Flaschen weg«, erwiderte Chase scharf. »Schütten Sie die Flaschen aus und zerschlagen sie. Sperren Sie ihn aus dem Haus aus, wenn er betrunken ist. Führen Sie ihm vor Augen, was er nicht nur sich selbst antut, sondern Ihnen und Ihren Geschwistern. Sie lassen zu, daß er in grenzenlosem Selbstmitleid zerfließt. Solange Sie ihm das erlauben, wird er weder die Folgen seines Tuns einsehen, noch den Wunsch haben, sich zu ändern.« »Sie denken, es ist so einfach. so leicht Man braucht den Gegenstand der Versuchung einfach nur zu entfernen, und schon ist Pa auf dem Weg der Besserung. So war das doch gemeint, nicht wahr? Soll er doch selbst sehen, wie er damit fertig wird! Nun, um die Folgen kümmert er sich nicht mehr und auch nicht darum, was die Leute denken. Abgesehen davon ist er mein
Vater. Bis vor ungefähr einem Jahr war er der beste Vater und Ehemann der Welt. Er vergötterte seine Frau und liebte seine Kinder. Und das soll ich ihm auf diese Weise vergelten, indem ich ihn aus seinem eigenen Haus aussperre? Indem ich seine Schnapsflaschen zertrümmere, das einzige, was ihm noch etwas be- deutet?« »Dann sagen Sie ihm wenigstens, wie sehr Sie darunter leiden – warten Sie aber damit, bis er einigermaßen nüchtern ist.« »O ja«, murmelte Maddie und kämpfte mit den Tränen. Der angestaute Kummer drohte hervorzubrechen, aber sie wollte sich nicht schon wieder gehenlassen. »Oh, natürlich werde ich ihm sagen, daß er mir das Herz bricht«, antwortete sie mit hölzerner Stimme. »Und daß ich ihn manchmal hasse, weil er mir und sich selbst das antut. Ich werde ihm sagen, daß ich nachts wach liege und mich sorge, wie es mit ihm und mit uns weitergehen wird, ohne ihn… Ich werde ihm sagen, daß ich nachts manchmal an seinem Bett stehe, wenn er sinnlos betrunken einschläft, und mir beinahe wünsche, er möge nie mehr aufwachen. und wie schuldig ich mich hinterher fühle. Ich werde ihm sagen, wie sehr ich mich vor der Zukunft fürchte und wie sehr ich den Mann vermisse, den ich als mein Vater gekannt habe. O ja, ich bin sicher, daß ich ihm das alles sagen kann, Mr. Cumberland, gleich nachdem ich ihm erklärt habe, daß ich ihn nicht mehr suchen werde, wenn er getrunken hat. Und wenn die kalte Jahreszeit anbricht und er nicht nach Hause kommt, dann kann er die Nacht im Freien verbringen und erfrieren oder sich eine Lungen- entzündung holen, an der er stirbt…« Maddies Schultern hoben sich, als die ersten Schluchzer in ihrer Kehle auf stiegen. Verzweifelt versuchte sie, sich zu beherrschen, aber es half nichts. Mit einem kleinen gurgelnden Geräusch barg sie das Gesicht in den Händen und ließ den Tränen freien Lauf. »Maddie, es tut mir leid…« Seine Verachtung schwand und machte einem plötzlich aufkommenden Mitleid Platz. Chase Cumberland trat auf sie zu und legte die Arme schützend um sie. In ihrem Kummer ließ Maddie ihn gewähren, ja, sie schlang die Arme um seinen Hals und schluchzte an seiner Schulter. Alle Gefühle, die sie so viele Wochen und Monate zurückgehalten hatte, drängten hervor. Sie quollen heraus wie Wasser, das nach
einer Überschwemmung über die Ufer tritt und die Dämme sprengt. Auch als sie weinte und rührende kleine Laute des Wehklagens von sich gab, war sie sich der Stärke, Wärme und Härte seines bloßen Oberkörpers bewußt. Ihre Brüste preßten sich höchst unkeusch an ihn, und hätte sie dieser schreckliche Weinkrampf nicht mit aller Macht gepackt, dann wäre ihr die Schamesröte ins Gesicht gestiegen. »Es ist ja gut… es ist ja gut«, murmelte er tröstend und streichelte ihren Rücken, wobei er sich mit den Fingern in dem aufgelösten Haar verfing. »Weinen Sie nur, Maddie. So war das doch nicht gemeint. Es ist nicht Ihre Schuld, daß Ihr Vater ein nutzloser Trunkenbold geworden ist. Bestimmt nicht. Aber es ist mir ernst, wenn ich Ihnen sage, daß Sie ihm gegenüber hart sein müssen, sonst zerbrechen Sie daran, und Ihr Vater wird sich um keinen Deut bessern. Wenn der Whiskey einen Mann beherrscht, dann hilft nur Härte. Spürt Ihr Vater auch nur eine Schwäche bei Ihnen – die kleinste Schwäche –, dann wird er versuchen, Sie zu beherrschen, so wie der Whisky ihn beherrscht. Der Schwache kann nicht überleben. Ich habe es durchgemacht. Ich weiß es.« »Aber er war ein so wunderbarer Mensch!« klagte Maddie mit tränenerstickter Stimme, »Sie hätten sehen sollen, wie zärtlich er meine Mutter pflegte, als es mit ihr zu Ende ging. Es gab nichts, was er nicht für sie getan hätte, keine Arbeit war ihm zu niedrig oder zu schwer. Er war ein starker Mann, er lachte viel und war voller Lebensfreude. Pa baute seine Farm aus dem Nichts auf, Stein für Stein. Wenn er auch noch so beschäftigt war, stets nahm er sich Zeit für mich und gab mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein…« »Noch ein Grund mehr, warum Sie nicht zulassen dürfen, daß es so weitergeht, Maddie… Zum Donnerwetter noch mal, wir veranstalten hier genügend Lärm, um einen Toten aufzuwecken, und er merkt nicht einmal, daß wir in seinem Schlafzimmer neben seinem Bett stehen!« »Ich glaube nicht, daß ich das kann«, schluchzte Maddie. »Eine Tochter kann ihrem Vater nicht den Rücken kehren und ihn aus seinem Haus vertreiben, nur weil er… weil er alt, krank und schwach ist und ihre Erwartungen nicht mehr erfüllt.« »Hier geht es nicht um Krankheit oder Alter, hier geht es um ein verheerendes Verlangen nach Whiskey. Er leidet an einer Sucht, die ihn umbringt
und die Sie und Ihre Familie mit ins Verderben reißt. Ihnen schwimmen die Felle davon, Maddie; Sie müssen jetzt versuchen, das Schlimmste zu verhindern.« »Oh, Sie haben ja so recht! Ich weiß, daß Sie recht haben. Aber ich weiß nicht, ob ich es schaffen werde.« Von Schluchzern geschüttelt, klammerte sie sich an Chase Cumberland. Hatte sie in diesem Moment nicht den besten Beweis dafür, wie tief ihr Vater gesunken war? Er rührte sich weder in seinem Bett noch zeigte er Anzeichen, daß er ihrer Verzweiflung gewahr wurde oder der Anwesenheit eines Fremden, der seine älteste Tochter im Arm hielt. Chase Cumberland sagte nichts mehr, statt dessen beruhigte und tröstete er sie. Als sie zu schluchzen aufhörte und ein wenig von ihm zurückwich, nahm er ihr Gesicht in die warmen, schwieligen Hände und schaute sie ernst aus bernsteinfarbenen Augen an. »Maddie McCrory, Sie sind eine der stärksten und streitbarsten Frauen, die mir bislang in meinem Leben begegnet sind. Sie werden sich die beste Möglichkeit ausdenken, um mit diesem Problem fertig zu werden, und wenn Sie einen Weg gefunden haben, bringen Sie auch den Mut auf, das zu tun, was getan werden muß.« Sie glaubte ihm. Es war unmöglich, einem Menschen nicht zu glauben, der sie so ansah wie Chase Cumberland. Mit einemmal fühlte sie sich nicht mehr so verzweifelt und niedergeschlagen, so allein gelassen. Sie nickte stumm. Der Ausdruck seiner Augen hatte sie überzeugt. Er lächelte, und sie konnte weder eine Spur Sarkasmus noch etwas Wölfisches an ihm entdecken. Während sie nahe beisammenstanden, seine Hände ihr Gesicht umfaßten und ihre Körper sich Brust an Brust berührten, verschob und veränderte sich etwas zwischen ihnen. Wieder wurde ihr bewußt, daß er ein Mann war. Ihre Brüste brannten an seinem nackten Oberkörper. Sie erzitterte. Ein Sehnen rollte sich tief in ihr auf, wie ein Blatt, das sich im Frühling entfaltet. In ihm schien etwas Ähnliches vorzugehen. Sie konnte es in seinem Gesicht sehen. Sie konnte es aus dem kaum merklichen Aufrichten des Oberkörpers erspüren. Seine Augen verdunkelten sich, der Blick fiel auf ihren Mund. Der Atem ging schneller und paßte sich ihren unregelmäßigen Atemzügen an.
Sie wurde das beunruhigende Gefühl nicht los, daß ihre Lippen anschwollen. Schnell fuhr sie mit der Zunge darüber, um sie anzufeuchten. Begierig beobachtete er diese winzige Bewegung, während er mit den Daumen köstlich brennende Kreise auf ihre Wagen malte. Dann neigte er sich zu ihr, oder sie zu ihm – sie war sich dessen nicht sicher. Sie wußte nur, daß sein Atem über ihre Stirn strich und die fieberheiße Haut kühlte und zugleich erhitzte. Er bog ihren Kopf zu sich hinauf, während sich seine Hände zu ihrem Nacken bewegten. Dann glitten die Finger durch ihr Haar. »Maddie…«, sagte er, und ihr Name wurde zur Melodie. Noch nie hatte ihn jemand mit soviel Gefühl ausgesprochen. Langsam näherte sich sein Mund dem ihren. Kurz bevor sich ihre Lippen trafen, ertönte das unmißverständliche Rums! der sich öffnenden Haustür. Mit einem überraschten Aufschrei sprang sie zurück. Enttäuschung loderte in den Bernsteinaugen, aber dann setzte er wieder dieses spöttische Lächeln auf und wies zur Tür. »Sehen Sie lieber nach, wer da ist, Miss McCrory, bevor Sie ein Opfer des Umstandes werden, daß ich lange ohne Frau gelebt habe.« Ohne Frau. Das war unmißverständlich rein sexuell ge meint. Er bekannte sich offen zu seinen Bedürfnissen und seiner Lust als Mann. Er wollte sie küssen – hatte es jedenfalls gewollt. Und das war noch nicht alles, was er begehrte. Mit erschreckender Bestimmtheit wurde ihr klar, daß er auch mit ihr schlafen wollte. Zur Paarung. Zur Zucht. Er wollte sie mit der gleichen, unverhohlenen Direktheit und Bereitschaft haben wie der Hengst die Stute. Was sie aber noch mehr erstaunte, war ihre Reaktion darauf. Sie begehrte ihn auf gleicher Ebene – mit der Inbrunst einer Stute. Dieses spontane Echo ihres Körpers erlebte sie zum ersten Mal. In diesem Moment hatte sich ihre Einstellung zu sich selbst und zu Chase Cumberland für immer grundlegend geändert. Plötzlich konnte sie ihm nicht mehr in die Augen sehen, vermochte den leichten Spott, den sie darin entdeckte, nicht zu ertragen. Außerdem verunsicherte es sie über alle Maßen, daß er in ihr Innerstes geblickt hatte. Er wußte, daß sie sich gewünscht hatte, er würde sie küssen. Er hatte sie durchschaut. Ihre Hilflosigkeit entsetzte sie. Sie hatte sich von ihren Gefühlen treiben lassen, hatte sich ihnen ausgeliefert.
Dafür schämte sie sich unsäglich. Wie konnte sie sich nur so gehenlassen und in seinen Armen weinen? Und dann so geradewegs vom größten Kummer zu lustvollem Begehren überspringen! »Es ist besser, Sie gehen jetzt«, erwiderte sie gefaßt. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, aber ich komme jetzt allein zurecht.« »Davon bin ich überzeugt«, murmelte er und erinnerte sie dabei an seine Feststellung von zuvor, daß sie einen Weg finden würde, um die Sucht ihres Vaters zu bekämpfen, und daß sie dann auch den nötigen Mut aufbrächte, um das zu tun, was getan werden mußte. Jetzt war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Ohne seine schützende Umarmung war sie wieder zur pflichtbewußten Tochter geworden und im Muster ihres alten Verhaltens gefangen. Sie fürchtete das, was vor ihr lag, und fühlte sich außerstande, eine Änderung herbeizuführen. Nichts, was sie in letzter Zeit gesagt oder getan hatte, konnte ihren Vater davon abhalten, sich weiter dem Leben zu entziehen und dem Alkohol zu frönen; es bestand kein erkennbarer Grund zu glauben, daß alles, was sie in Zukunft sagen oder tun würde – zum Beispiel ihn seinem Schicksal zu überlassen und aus dem Haus zu sperren –, ihren Vater wieder in den Mann verwandelte, der er einmal gewesen. Als sie das väterliche Schlafzimmer in Gedanken versunken verließ, wäre sie beinahe mit Little Mike zusammengestoßen. »Wo ist Pawnee Mary?« fragte der Bruder. »Hat sie etwas zum Abendessen gemacht? Im Stall ist alles erledigt, und jetzt habe ich einen Bärenhunger.« »Ich weiß es nicht. Sie ist nicht hier, aber sie hat bestimmt etwas vorbereitet. Das tut sie sonst immer. Sieh bitte im Ofen nach. Du kennst ja Mary; sie kommt und geht, wie es ihr paßt. Jetzt fällt es mir eia. ich habe ihr gesagt, daß wir heute abend zurückkämen. Dann ist sie auf jeden Fall schon gegangen.« Während dieses Gesprächs mit Mike ging Chase Cumberland schweigend um die beiden Geschwister herum und verließ das Haus ohne ein weiteres Wort. Maddie war es nur recht. Sie hätte nicht gewußt, was sie ihm sagen sollte. Erst als er bereits fort war, kam sie wieder zu Verstand und fragte sich, aus welchem Anlaß er gekommen war und was im Himmel er da hinter dem Stall zusammengezimmert hatte. Nach einer fast schlaflosen Nacht stand Maddie im Morgengrauen auf
und ging hinunter, um das Frühstück zu machen. Am Herd stand Mary und rührte in einem großen Topf Maisbrei. Aufrecht und stumm stand die schöne Indianerin in ihrem mit Fransen verzierten Hirschledergewand vor ihr, das Gesicht ernst und undurchdringlich. Ohne Maddie zu beachten, rührte sie unablässig im Topf herum, fast so wie damals, als Maddie sie zum ersten Mal gesehen hatte – nach Ma’s Tod, als sie schweigend den Brei am Herd gerührt hatte. Damals wie jetzt erklärte sie nicht, wer sie war, woher sie kam oder warum sie da war. Sie war in das Leben der McCrorys getreten, weil sie Hilfe brauchten, und zeigte mit ihrem Verhalten, daß sie Erklärungen nicht für notwendig hielt. »Guten Morgen, Mary«, sagte Maddie und ging zum Schrank, um ein paar Schalen herauszuholen. »Danke für das leckere Kaninchenragout, das du uns gestern gekocht hast. So ein gutes Ragout habe ich lange nicht mehr gegessen, und die anderen fanden das auch.« Marys Mundwinkel hoben sich kaum merklich. Maddie harte die Frau niemals lachen sehen oder erlebt, daß sie einmal offen ihre Gefühle gezeigt hätte. Marys Gesicht schien aus glattem goldenem Eichenholz geschnitzt und war von einer herben Schönheit, ohne aber Freude oder Leid auszudrücken. Nur die dunklen, braunen Augen verrieten ihre inneren Regungen. Es waren weit offene, ernste Augen, von tiefer Traurigkeit überschattet, aber von einer Würde, die nach Maddies Ansicht jedem auffallen mußte, der sie genauer betrachtete. Aber sie wußte, daß die Weißen sich nicht die Mühe machen würden, sich eingehender mit einer Indianerin zu befassen. Wenn sie Mary erblickten, sahen sie nur den verhaßten Indianer und interessierten sich nicht für das Innenleben dieser schönen, verschlossenen Frau. Maddie weigerte sich, all das zu glauben, was man über sie erzählte; Marys Taten widerlegten den Klatsch von Hopewell. Mary hatte sich der McCrorys nach dem schmerzlichen Verlust der Mutter angenommen, und so hielt sie es auch heute noch. Sie kam schweigend, wenn sie meinte, daß man ihre Hilfe brauchte, und ging schweigend. Ihr plötzliches Auftauchen sowie ihr Verschwinden waren unheimlich, aber seitdem sie bereit war,
kleine Geschenke in Form von Nahrungsmitteln, Kleidungsstücken oder Geld anzunehmen, die Maddie unauffällig in den Binsenkorb steckte, den Mary stets dabei hatte, stellte Maddie keine Fragen mehr und lehnte ihre Hilfe auch nicht mehr ab. Sie war Mary für ihre Mitarbeit sehr dankbar, und sie hätte sie gekränkt, wenn sie das unerwartete Kommen und Gehen der Indianerin getadelt hätte. Während sie den Tisch für das Frühstück deckte, überlegte Maddie, wie sie das Thema Chase Cumberland anschneiden könne, um Mary zu fragen, wieso sie ihm gestern das Betreten des Hofes erlaubt hatte. Außerdem wollte sie unbedingt wissen, woran Chase Cumberland herumbastelte und natürlich auch, worüber Mary und Chase gesprochen hatten. Mary behielt ihre Gedanken gerne für sich, so daß sich die Unterhaltung mit ihr auf wenige Worte beschränkte, auch wenn es um unverfängliche Dinge ging wie das Wetter oder die beste Methode, ein Kaninchen zu häuten. Als Maddie das Besteck aus der Schublade holte, hörte Mary mitten im Rühren auf und drehte sich zu ihr. »Sohn des Wolfes kam gestern, als du mit Pferd bei Rennen warst«, erklärte sie mit einfachen, knappen Worten. »Sohn des Wolfes?« Maddies Herz klopfte schneller. »Meinst du den Mann mit den bernsteinfarbenen Augen?« Erstaunlich, daß dies ebenfalls Marys erster Eindruck von Chase Cumberland gewesen war! Mary nickte. »Augen wie Wolf. Gehen wie Wolf. Vielleicht denken wie Wolf. Er sagen, er machen etwas, das du brauchst für Pferde züchten. Ich sagen, fein. Anfangen.« »Aber du kennst Mr. Cumberland doch nicht!« Mary warf ihr einen langen, tiefgründigen Blick zu. »Ich ihn kennen. Ich sehen in Augen. Sehen Seele. Sehen Geist des Wolfes. Mein Geist kommen von Erde. Ich seien Mutter und Schwester für Wolf. Ich wissen, Herz seien gut. Also ich sagen ja.« »Aber… aber…« Maddie war überrascht. Sie konnte sich nicht erinnern, daß Mary jemals so viele zusammenhängende Sätze hintereinander gesagt hatte. Zudem konnte sie dem Gerede über die Geister nicht folgen. Sie bekam davon nur Gänsehaut.
»Du brauchen Gestell«, fuhr Mary seelenruhig fort. »Stute hineinstellen. Hengst auf sie springen. Stute kann nicht ausschlagen oder weglaufen. Keiner verletzt.« »Ein Gestell? Du meinst ein… ein Gestell zum Decken?« Marys Kopf bewegte sich zustimmend auf und ab. »So er es nennen. Deckstand. Gute Sache. Ich mich fragen, wieso noch keiner vorher daran denken. Sehr viel Sinn haben.« »Er hat dieses… diesen Deckstand für uns gebaut? Und anstatt mich bei ihm zu bedanken, habe ich ihn vom Hof gejagt! Oh, Mary! Ich habe mich wie ein zänkisches Weib benommen!« Maddie ließ das restliche Besteck auf den Tisch fallen. »Ich gehe sofort zu ihm und entschuldige mich. Er kam als wohlmeinender Nachbar zu mir, und ich habe ihm nicht einmal zugehört. Wie kann ich das wieder gutmachen? Glaubst du, er kommt zurück und baut das Gestell fertig, wenn ich ihn freundlich darum bitte? Wird er uns auch zeigen, wie man dieses Ding benutzt? Gestern, nachdem wir das Rennen gewonnen hatten, haben sich in Salina sechs Züchter mit ihren Stuten bei uns zum Decken angemeldet. Die Stuten werden bald eintreffen, und wenn es eine Möglichkeit gibt, mit der ich diese ganze Prozedur sicherer machen kann…« »Ihn zum Essen einladen«, schlug Mary mit steinerner Miene vor, obwohl Maddie geschworen hätte, daß sie dabei gezwinkert hatte. »Morgen abend. Ich machen gutes Essen. Du Haare bürsten und schönes Kleid anziehen. Dann er Gestell gewiß fertig bauen.« »Mary!« Maddie war zutiefst entrüstet. »Das klingt ja, als ob wir vorhätten, ihn in eine Falle zu locken.« »Keine Falle. Wir ihn locken, damit Deckstand fertig werden. Du ihn zum Abendessen einladen und ihm zeigen, daß du guter Nachbar.« »Du hast recht!« Als sie unterwegs zum Stall war, um ein Pferd zu satteln, fiel Maddie ein, daß sie sich geschworen hatte, nichts mehr mit Chase Cumberland zu tun zu haben. Sie wollte ihm weder ein Stück Land verkaufen, noch seine Stute kostenlos von Gold Deck decken lassen. Wahrscheinlich war das in erster Linie der Grund, warum er das Gestell bauen wollte. Er hatte sie bereits um zweitausend Dollar ausgetrickst. Nur weil er sie gestern abend im Arm
gehalten hatte, während sie sich ausweinte und sie um ein Haar geküßt hätte, bestand noch lange kein Grund, ihre Ablehnung und ihr anfängliches Mißtrauen zu vergessen und zu ihm zu eilen, um ihn zum Abendessen einzuladen. Und dabei hatte sie noch nicht einmal gefrühstückt! Außerdem hatte er ausdrücklich gesagt, er wünsche keine Unbefugten auf seinem Grund. Sie konnte bestens ohne Deckstand leben, schließlich hatten sie das jahrelang getan. Als sie ihren Schritt verlangsamte, zählte sie die Vorzüge ihrer eilig getroffenen Entscheidung auf und erkannte dabei, daß sie Chase Cumberland unbedingt wiedersehen wollte. Die Entschuldigung und die Einladung zum Abendessen waren nur ein Vorwand. Die ganze Nacht lang hatte sie gegen die Gefühle gekämpft, die er bei seiner Umarmung in ihr wachgerufen hatte. Es waren Gefühle, die sie verzaubert hatten, weibliche Regungen, die sie sich noch nie gestattet hatte… die noch kein Mann in ihr geweckt hatte. Im Morgengrauen war sie endlich überzeugt gewesen, daß sie sich alles nur eingebildet hatte. Vielleicht hatte er nie die Absicht gehabt, sie zu küssen; sie hatte sich nur wie eine Närrin danach gesehnt. War er tatsächlich der Anlaß, daß ihr die Knie zitterten? Hatte der Anblick seines entblößten Oberkörpers diese lüsternen Gedanken hervorgerufen? Allein in ihrem Bett liegend, konnte sie es einfach nicht fassen, wie sie sich diesen Fantastereien hingeben konnte. Sie war die gleiche Person, die sie immer gewesen war – die praktisch veranlagte Maddie McCrory mit einer gehörigen Portion gesundem Menschenverstand. Maddie McCrory, die so sehr um das Wohl ihrer Familie besorgt war, daß sie nichts mit einem Mann zu tun haben wollte und schon gar nicht mit einem undurchsichtigen, eingebildeten Fremden, dessen Pferd Gold Deck besiegen konnte. Romantische Träumereien waren ihren jüngeren Schwestern vorbehalten. Bei der nächsten Begegnung mit Chase Cumberland würde sie vollkommen gelassen bleiben. Stockender Atmen, Herzklopfen, zitternde Knie oder erregte Aufwallungen kamen nicht in Frage. Ja, das war der Grund, warum sie jetzt zu seiner Farm ritt: sie wollte sich beweisen, daß er sie völlig kalt ließ. Ja, sie mochte ihn nicht einmal!
Außerdem hatte er sich nicht in ihr Leben einzumischen und ihr zu erklären, wie sie mit ihrem Vater umgehen müsse, oder ihr vorzuführen, wie man ›gewisse Dinge‹ besser erledigte… Die Liste der Mängel wurde immer länger, als sie eine gutmütige alte Stute sattelte, die wohl kaum mehr rossig werden würde. Sie hatte vor, höflich zu bleiben, aber wenn Mr. Cumberland auch nur ein falsches Wort von sich gab oder wieder sein unverschämt spöttisches Grinsen aufsetzte oder es gar wagte, sie respektlos aus gierigen Wolf saugen anzublicken, dann würde sie… nun, dann würde sie ihn nicht zum Abendessen einladen. Ins Gesicht spucken würde sie ihm und davongaloppieren. Und unter keinen Umständen würde sie jemals wieder einen Gedanken an ihn verschwenden.
SIEBEN »Dann bis später, Bück. Ich will heute die Grenzen abreiten. Mal sehen, mit welchen Schwierigkeiten wir rechnen müssen, wenn wir mit dem Einzäunen beginnen. Zum Abendessen bin ich bestimmt wieder zurück.« Chase zog die Zügel fester an, da Bonnie Lass vor Begeisterung, daß es endlich losging, ungeduldig herumtänzelte. Bück hatte das Stutenfohlen nicht aus den Augen gelassen, das er zu dem kleinen Korral führen wollte, um es an diesem sonnigen warmen Morgen zuzureiten. Wenn Bück mit Pferden arbeitete, tauchte er in eine andere Welt ein. Vielleicht war dies das Geheimnis seines Erfolges. Während Chase sich manchmal durch die verschiedensten Gedanken ablenken ließ und zum Beispiel überlegte, was an diesem Tag zu tun war, schottete Bück sich von allem ab und konzentrierte sich nur auf das Tier an seiner Hand. Chase schüttelte nachdenklich den Kopf über seinen Bruder und schlug mit Bonnie die Richtung zum äußersten Zipfel der Ranch ein. Eigentlich hatte er gestern vorgehabt, die Grenzen abzureiten, hatte seinen Plan aber zugunsten der McCrorys geändert, um ihnen einen Besuch abzustatten. Jetzt tat es ihm leid, daß er zu seinen Nachbarn geritten war. Wenn es um Maddie McCrory ging, konnte er nichts recht machen. Er hatte gehofft, Maddies Sympathie zu gewinnen, wenn er ihrem Bruder beim Bau eines Deckstandes half. Als er ihn nicht auf der Farm angetroffen hatte, machte
er sich trotzdem an die Arbeit – mit Pawnee Marys Erlaubnis. Die Indianerin hatte ihm gesagt, er könne die Holzbretter dazu verwenden, die draußen hinter dem Stall aufgestapelt waren. Und was war geschehen? Maddie und ihre Familie kehrten zurück, als seine Arbeit an diesem Gestell noch in vollem Gange war, und bevor er sich’s versah, wurde er in eine peinliche Situation verwickelt, die er mit so viel Taktgefühl meisterte, daß er von einem Fettnäpfchen ins andere trat. Um allem die Krone aufzusetzen, hätte er dieser schwierigen, verwirrenden, widerspenstigen Frau noch um ein Haar einen Kuß geraubt! Gestern nacht hatte er deswegen kein Auge zugetan. Immer wieder fragte er sich, was ihn dazu getrieben hatte, Dinge wie an diesem Abend zu sagen und zu tun – und gleichzeitig bedauerte er, daß es nicht zu einem Kuß gekommen war. Bei dem Gedanken an Maddie McCrory spürte er den süßen Busen an seinem nackten Oberkörper, roch er den erdigen Duft des sonnenwarmen Haars und der Haut, genoß er das Gefühl, die weinende junge Frau im Arm zu halten, aber die Antwort seines Körpers konnte er nicht unterdrücken. Mit einfachen Worten gesagt, er begehrte sie. Er war kein bißchen zivilisierter als ein geiler Hengst, der eine rossige Stute witterte. Es machte ihm schwer zu schaffen, als er erkannte, wie dürftig es um seine Selbstbeherrschung bestellt war. Maddie McCrory hatte seit dem ersten Tag ihrer Begegnung kein einziges freundliches Wort zu ihm gesagt, ihn nicht ein einziges Mal angelächelt, und doch war er wie ein trunkener Narr hinter ihren Rocken her. Sie hatte nichts anderes getan als an seiner Brust zu heulen, und schon wollte er mit ihr ins Bett gehen und sie ihre Sorgen im Rausch der Leidenschaft vergessen lassen. Zum Teufel, was war nur mit ihm los? Voller Abscheu vor sich selbst trieb er Bonnie Lass zu einem leichten Trab an. Hatte er eine Frau wirklich so nötig – irgendeine Frau –, daß er ein ältliches Mädchen entjungfern wollte, an dessen Schürzenband eine Schar hungriger Geschwister zappelte? Eines würde er auf keinen Fall tun: zurückgehen und dieses verflixte Gestell zu Ende bauen. Soll sie sich doch ewig fragen, was er da zimmern wollte, falls es sie überhaupt interessierte. Sie war ja nicht einmal so neugierig, um ihn danach zu fragen, auch nachdem sie vor ihm zusammen-
gebrochen war und ihm die Hucke vollgeheult hatte. Keine Freundlichkeiten mehr! Er hätte bei seinem ursprünglichen Vorsatz bleiben sollen, sich um seine eigenen Sachen zu kümmern und die McCrorys von sich fernzuhalten. Chase war jetzt bereits länger als eine Stunde über das Gelände geritten. Völlig in Gedanken versunken, hatte er weder Augen für das weite, hügelige Land, das er jetzt sein eigen nannte, noch für die schier endlosen flachen Weiden, die allmählich in der Ferne auftauchten, als er auf eine klei- ne Anhöhe ritt. Auch den ständig wehenden Kansas-Wind beachtete er nicht, der um diese Jahreszeit extrem warme Luft mit sich führte, und auch nicht den wolkenlosen blauen Himmel über sich. Als er am Gipfel des kleinen Hügels angekommen war, blieb er plötzlich stehen, blickte sich um und stellte fest, daß er keine Ahnung hatte, wo er war und ob er sich überhaupt noch auf dem eigenen Land befand. Er hatte vergessen, nach Grenzmarkierungen zu schauen, und wußte nicht einmal mehr, wo sich sein Haus und die Nebengebäude befanden. Langsam wendete er Bonnie Lass im Kreis, um das Gelände besser nach einem vertrauten Orientierungspunkt absuchen zu können. Zu seiner Überraschung war das Haus von dieser Anhöhe aus zu sehen, die wohl die höchste Erhebung in dieser Gegend war. Bück arbeitete noch mit dem Stutenfohlen im kleinen Korral. Die anderen Pferde hatten sich um einen Wassertrog im großen Korral ge schart. »Du dämlicher Tagträumer!« Bonnie Lass spitzte die Ohren, als meinte sie, er würde zu ihr sprechen. »Den halben Vormittag hast du damit verschwendet, an Maddie McCrorys rotes Haar zu denken, das sich auf deiner nackten Brust kringelte!« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, entdeckte er in der Ferne einen Reiter, der schnurstracks auf das Haus zukam. Er kniff die Augen zusammen, um den Reiter besser zu erkennen. Es war nicht schwer, sie auszumachen. Sie trug einen Männercowboyhut, und eine Kaskade roter Haare reichte ihr bis zum Rücken. Außerdem saß sie genauso auf dem Pferd wie auf Gold Deck, als sie im Ren- nen gegen ihn verloren hatte. Chase stieß einen gotteslästerlichen Fluch aus. In fünf bis zehn Minuten würde sie die Ranch erreicht haben, und Bück würde sie vielleicht erst
bemerken, wenn sie vor dem Korral stand… Oh, warum war er heute morgen nicht zu Hause geblieben! Er hätte sich denken können, daß sie es sich in den Kopf gesetzt hatte, ihn zu besuchen, und mutterseelenallein über das Land ritt und genau das tat, was er ihr ausdrücklich verboten hatte: seinen Grund und Boden unbefugt zu betreten. Chase nahm seinen Stetson ab, klatschte ihn Bonnie Lass auf die Hinterhand und drückte ihr die Sporen in die Flanken. Wie von der Tarantel gestochen galoppierte die überraschte Stute den Hügel hinunter. Ohne auf Schlupflöcher der Präriehunde zu achten oder auf verborgene Felsbrocken oder Dornengestrüpp stoben Roß und Reiter den Abhang hinunter. Im hintersten Winkel seines Kopfes wußte Chase, daß er das Leben seines kostbarsten Pferdes aufs Spiel setzte, abgesehen von seinem eigenen Leben. Aber der verzweifelte Wunsch, seinen Bruder vor der Entdeckung zu schützen, überwog seine Bedenken. Er wußte, es war zwecklos; Maddie würde die Ranch vor ihm erreichen. Trotzdem ließ er sich nicht davon abhalten, es wenigstens zu versuchen oder zumindest so schnell wie möglich bei Bück zu sein. Die Vorstellung, daß Maddie seinem Bruder von Ange sieht zu Angesicht gegenüberstand, erschreckte ihn. Sie sollte nicht wissen, daß er einen wie einen Verrückten aus sehenden Bruder mit schneeweißem Haar hatte, dessen Konterfei als gesuchter Mörder in Texas aushing. Vielleicht hatte sie dieses Plakat irgendwo gesehen. Wie sollte er ihr das jemals erklären? Was würde sie denken? Und was würde Bück denken – oder tun –, wenn eine fremde Frau plötzlich allein aus dem Nichts vor ihm auftauchte? Bück war seit Monaten nicht in die Nähe einer Frau gekommen, und seine fleischlichen Gelüste überstiegen die seinen bei weitem. Seit Jahren war er keiner anständigen Frau mehr begegnet; wahrscheinlich hatte er vergessen, wie man sich ihr gegenüber zu benehmen hatte. Chase konnte sich zwar nicht vorstellen, daß Bück die Situation ausnützen würde, aber trotzdem beschlich ihn ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken, daß Maddie und Bück sich unerwartet gegenüberstanden. Also ritt er wie der Leibhaftige aus der Hölle, und Bonnie Lass versuchte ihr Bestes zu geben. Auch als sie bereits über ebenes Gelände galoppierten, wußte Chase, daß er zu spät kommen würde.
Als Maddie auf das alte Haus der Parkers zuritt, das jetzt Chase Cumberland gehörte, ermahnte sie sich, daß es lächerlich sei, nervös und ängstlich zu werden. Sie kam nur, um sich für ihre Unhöflichkeit am Vortag zu entschuldigen und Chase zum Zeichen ihres guten Willens zum Abendessen einzuladen. Trotzdem paßte es so gar nicht zu ihr; im Geiste war sie bereits ein Dutzendmal umgekehrt. Chase hatte deutlich zum Ausdruck gebracht, daß sie sich von der Ranch fernhalten solle. Womöglich würde er diese Geste der Versöhnung nicht zu schätzen wissen. Zu allem Übel trug sie einen alten schäbigen Rock mit Weste und ritt im Herrensitz, so daß sich Rock und Unterrock vor ihr aufbauschten und das halbe Bein zu sehen war. In der Eile hatte sie einen von Little Mikes verbeulten Hüten aufgesetzt, um ihr Gesicht vor der brennenden Sonne zu schützen. Statt dessen hätte sie lieber ihr hübsches neues Häubchen aufsetzen sollen. Wenn das dichte Haar nicht wäre, hätte sie am Nacken schon längst einen Sonnenbrand bekommen. Das war noch so eine Sache. Ihr Haar. Heute morgen hatte sie es einige Male mit der Bürste bearbeitet und einige Haarnadeln hineingesteckt, die aber unterwegs bereits wieder herausgefallen waren. Vollkommen verschwitzt und schmutzig würde sie ankommen. Schlimm würde sie aussehen, obwohl es ihr Stolz verlangte, daß sie hübsch und gepflegt vor Chase Cumberland trat. Seitdem sie ihn kannte, hatte sie nicht ein einziges Mal hübsch und gepflegt ausgesehen. Es war ihr einfach unbegreiflich, wieso ein Mann eine Frau, die so unordentlich aussah wie sie, überhaupt küssen wollte. Sollte er ihr heute morgen nicht einen einzigen anerkennenden Blick zuwerfen, dann geschah es ihr nur recht. Aber irgendwann, vielleicht morgen abend, wenn er ihre Einladung zum Abendessen annahm, würde sie versuchen, sich hübsch zu machen, jedenfalls so gut es ging. Dann würde er schon sehen, daß sie jemand war, den man mit Respekt behandelte, eine Frau, die sein Herz höher schlagen ließ. Und wenn er sehr nett war, dann würde sie ihm vielleicht erlauben, sie zu küssen. Der Gedanke, Chase Cumberland zu küssen, verursachte in ihrem Bauch ein merkwürdig aufregendes Gefühl. Oh, sie war lüstern. Seitdem sie diesem Mann begegnet war, kannte sie sich selbst nicht mehr. Er brachte sie dazu, Dinge zu sagen und zu fühlen, von denen sie niemals zu sprechen
oder zu träumen wagte. Da sie die Verantwortung für ihre Familie übernommen hatte, würde es zwischen ihnen nie etwas Ernstes geben, aber wenigstens einmal, bevor sie zu alt wurde, wollte sie wissen, wie es ist, echt und aufrichtig geküßt zu werden und von einem Mann, den sie sehr anziehend fand, bewundert zu werden. Sie hoffte nur, er würde nicht wieder auf ihren Vater zu sprechen kommen. In Pa’s augenblicklichem Zustand war es verrückt, einen Gast zum Essen einzuladen. Andererseits wußte Chase über ihren Vater Bescheid, und Pa’s Benehmen wäre keine Überraschung für ihn. Falls Chase Cumberland ihre Einladung annehmen sollte, mußten ihre Geschwister dafür sorgen, daß Pa an diesem Abend nüchtern blieb. Dazu war sie fest entschlossen, auch wenn sie Pa in seinem Zimmer einsperren mußte. Als sie sich dem Haus näherte, sah sie einen Mann im Korral, der mit einem Pferd arbeitete. Sie konnte ihn nicht deutlich erkennen, weil das Tier ihr die Sicht versperrte, aber sie nahm an, daß es der Mann sein mußte, den sie sprechen wollte. »Chase! Ich meine, Mr. Cumberland!« Sie nahm den Hut ab und schwenkte ihn hin und her, um auf sich aufmerksam zu machen. Zu ihrem Erstaunen packte er das Pferd beim Zügel und führte es durch das Korraltor hinaus und eilte zur Scheune. Er winkte nicht zurück und erweckte den Eindruck, als hätte er sie nicht bemerkt. Maddie ließ die alte Stute langsamer gehen und überlegte, was sie ihm sagen sollte. Offensichtlich war er verärgert. Gestern abend hatte sie ihn wortlos gehen lassen. Sie hatte sich nicht einmal von ihm verabschiedet. Vielleicht war er verärgert, weil sie ihn nicht auf das Gestell ange sprechen hatte, das er für sie baute, oder weil ihr Beinahe-Kuß nicht zustande gekommen war. Vermutlich war es auch ein Fehler gewesen, daß sie ihn im Befehlston aufgefordert hatte, auf der Stelle zu gehen. Nun, heute wollte sie freundlich sein, ihn um Entschuldigung bitten und mit ihrer Einladung zum Essen alles wiedergutmachen. Und wenn er kam, dann wollte sie, zum Teufel noch mal, auch den Abend mit ihm von Herzen genießen! Maddie ritt bis zu dem Geländer vor dem Haus, saß ab und schlang die Zügel darum. All ihren Mut zusammennehmend, schritt sie auf die Scheune zu. Nach dem grellen Sonnenlicht draußen war es im Innern der Scheue kühl
und dunkel. Sie brauchte einen Augenblick, um sich an das dämmrige Licht zu gewöhnen. Sie ging einen schmalen Gang entlang, zu dessen Seiten sich die verschiedensten Geräte und Werkzeuge stapelten. Ein einziges Pferd, das Fohlen, mit dem Chase gearbeitet hatte, war an einem Ring an der Wand festgebunden, aber von Chase selbst war nichts zu sehen. »Mr. Cumberland? Wo sind Sie? Seien Sie mir bitte wegen gestern nicht böse. Als mir bewußt wurde, wie unhöflich ich mich Ihnen gegenüber benommen habe, beschloß ich, zu Ihnen zu reiten und mich zu entschuldigen. Ich. ich glaube, Sie haben recht, was meinen Vater anbelangt. Ich weiß nur noch nicht, ob ich es fertigbringe und ob es funktionieren wird. Meinen Sie wirklich, daß ich damit Erfolg haben werde?« Sie blieb in der Mitte der Scheune stehen und blickte in einen kleineren Seitengang hinein. Wieder sah sie niemanden, aber sie hatte das seltsame Gefühl, daß jemand da war und jede ihrer Bewegungen beobachtete. Ihr Unbehagen wuchs. Sie konnte nicht glauben, daß er ihr absichtlich aus dem Weg ging oder, noch schlimmer, daß er sie erschrecken wollte. So sehr hatte sie ihn nun auch wieder nicht verärgert! Ein alter Wagen stand in der Mitte des Ganges, hinter dem sich ein riesiger Berg Heu befand, der die geschlossene Tür am anderen Ende versperrte. Staubwölkchen tanzten in der Luft, als ob das Heu gerade bewegt worden wäre. Den Atem anhaltend, ging Maddie vorsichtig Schritt um Schritt den Gang entlang auf den Wagen zu. »Ist hier jemand?« Sie lauschte angestrengt und meinte dann ein tiefes Einatmen gehört zu haben. Wenn Chase sich vor ihr versteckte, dann würde sie ihm gehörig die Leviten lesen, weil er versucht hatte, sie zu erschrecken. Vorsichtig ging sie um den Wagen herum und stand einem großen Mann gegenüber. Nach Luft schnappend wie ein Fisch an Land, stand Maddie zitternd vor ihm. Zum ersten Mal seit langem hatte es ihr die Sprache verschlagen. Er war ungefähr so groß wie Chase, aber etwas breiter und schwerer gebaut. Seine Züge erinnerten sie an Mr. Cumberland, aber auf keinen Fall war dies der Mann, den sie hier erwartet hatte. Dieser Mann hatte schneeweißes Haar, das bis zu den Schultern reichte, lange weiße Augenwimpern und
buschige weiße Augenbrauen. Die Farbe verblüffte sie, erschreckend aber waren seine Augen. Das unheimliche Graublau und das wilde, sonderbare Aussehen des Mannes jagten ihr Angst ein. Er blieb vollkommen regungslos stehen und sah sie abweisend und verärgert an, aber er sagte kein einziges Wort – und das erschreckte sie am meisten. »Ent…Entschuldigen Sie bitte«, stammelte sie mit klappernden Zähnen. »Ich wollte Sie nicht stören. Verzeihen Sie, daß ich hier hereingekommen bin; ich ge…gehe sofort.« Langsam ging sie zurück. Sie rechnete damit, daß der Mann ihr folgen oder zumindest eine Bemerkung machen würde. Aber er öffnete weder den Mund noch bewegte er einen Muskel, so daß sie unbehelligt bis zur Scheunenmitte gehen konnte. Da er bis hierher immer noch nichts unternommen hatte, machte sie kehrt und rannte davon. Mit gerafften Rockschößen hastete sie den Gang entlang, stürzte atemlos ins Freie und eilte zu ihrer Stute. In Windeseile schwang sie sich in den Sattel, riß das Pferd herum und galoppierte von Chase Cumberlands Ranch, als ob der Teufel hinter ihr her wäre. Sie verlangte das Äußerste von ihrem Pferd und kümmerte sich wenig darum, daß das arme Tier ein so scharfes Tempo nicht gewohnt war. Sie verlangsamte das Tempo erst, als sie auf dem Grund der McCrorys waren, auf dem großen Feld, das Chase Cumberland der Familie abkaufen wollte. Das Pferd strauchelte und schnaufte schwer; Maddie selbst war einer Ohnmacht nahe. Sie ließ das Pferd im Schritt gehen und beschloß, langsam zur Farm zu reiten, damit sich das Tier, wie sie hoffte, unterwegs abkühlen konnte. Plötzlich hörte sie das Trommeln galoppierender Hufschläge hinter sich. Bis ins Mark erschrocken wirbelte sie herum, um zu sehen, wer ihr hier folgte. Das Pferd erkannte sie noch vor dem Reiter; es war Bonnie Lass, die von einem besorgt dreinblickenden Chase Cumberland geritten wurde. »Fehlt Ihnen etwas?« Sein Blick suchte sie vom Kopf bis zu den Fußspitzen ab, als ob er eine Bestandsaufnahme ihrer Körperteile machte und sich überzeugen wollte, ob sie alle vorhanden waren.
»Ich bin nur ein wenig erhitzt und müde«, gab sie zu. »Und mein Pferd auch.« »Aber Ihnen fehlt nichts?« beharrte er. »Sie sehen blaß aus.« Vermutlich sah sie wie eine Vogelscheuche aus, aber sie nickte, um ihn zu beruhigen. »Ich bin nur ein wenig außer Atem, das ist alles.« Den ausgestandenen Schrecken erwähnte sie nicht. Sie hielt es für besser, wenn er jetzt das Wort ergriff. »Es tut mir leid, daß ich nicht auf der Ranch war, als Sie kamen«, sagte er. »Ich war unterwegs, um die Grenzen abzureiten, und sah Sie dann auf meine Ranch zukommen.« Maddie wartete, daß er ihr erklärte, wer der fremde Mann in seiner Scheune gewesen war, aber da er keine Anstalten dazu machte, mußte sie das Thema anschneiden. »Ich habe Sie in der Scheune gesucht. Sie waren nicht da. Aber ich habe jemanden gesehen, der… der…« »Der was?« fragte er scharf. »Was hat er gemacht? Sagen Sie es mir. Ich habe Sie davor gewarnt, auf meiner Farm herumzuschnüffeln. Wie Sie soeben festgestellt haben, hatte ich guten Grund dazu.« »Er hat nichts getan«, sagte sie und war über seine Heftigkeit erstaunt. »Er stand nur da und sah mich an. Ich weiß nicht, wieso, aber ich bekam Angst. Hätte er etwas getan, wenn ich geblieben wäre?« »Ich denke nicht… aber ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen. Mein Bruder mag keine Fremden, darum hat er sich, als sie ankamen, in der Scheune versteckt. Das ist auch der eigentliche Grund, warum ich nicht wollte, daß Sie sich unaufgefordert auf der Farm umsehen.« »Was ist mit ihm passiert? Wieso sieht er so aus? Und warum hat er kein Wort zu mir gesagt? Er hätte sich zumindest vorstellen können.« »Er wurde von einem Blitz getroffen, wenn auch schon vor sehr langer Zeit. Als er wieder zu sich kam, war das Haar schneeweiß, und er hatte die Sprache verloren.« »Das tut mir leid«, murmelte Maddie. »Der arme Mann.« »Bedauern Sie ihn nicht. Das kann er nicht ausstehen. Also keine Sorge, er ist weder ein Irrer noch ein Ungeheuer.« »Das wollte ich damit nicht sagen. Ich meinte nur, daß… daß es schwer sein muß, anders zu sein.
Die Leute haben nicht immer Verständnis für einen Menschen, der sich im Aussehen oder Verhalten von ihnen unterscheidet.« »Er kann damit leben und geht den Menschen aus dem Weg. Er hat mich und die Pferde, für die er eine unglaublich gute Hand hat. Hören Sie…« Chase beugte sich vor und berührte kurz ihre Hand, was zur Folge hatte, daß ein Schauer ihren Arm hinaufjagte. Maddie saß stocksteif da und versuchte, ihre Reaktion zu verbergen. »Versprechen Sie, daß Sie meinen Bruder Dritten gegenüber nicht erwähnen werden«, fuhr er eindringlich und mit leiser Stimme fort. »Keine Menschenseele darf etwas von seiner Existenz erfahren. Das ist sein Wunsch. Und meiner auch.« »Sie meinen. Sie wollen geheimhalten, daß es ihn gibt?« Maddie war entsetzt. Für sie war es unvorstellbar, daß ein Mensch auf diese Art leben konnte – versteckt auf einer Ranch, ohne jemals andere Menschen zu sehen oder zu sprechen. »Es ist zu seinem Besten, Maddie.« Chase blickte sie forschend an. Ein entschuldigender Unterton schlich sich in den Klang seiner Stimme ein. »Er hatte versucht, unter Menschen zu gehen, aber es klappt einfach nicht. Es lief immer darauf hinaus, daß irgendein Bursche Streit mit ihm anfing. Wir mußten unseren letzten Wohnort verlassen, weil die Frau, die neben uns wohnte, um ihre Kinder fürchtete. Eines Tages sahen die Kleinen meinen Bruder auf dem Pferd ausreiten und erschraken vor seinem ungewöhnlichen Aussehen. Wenn er mit ihnen hätte sprechen können. um sie zu beruhigen. aber das kann er nicht. Am nächsten Tag kam der Vater der Kinder zu uns und fing ab sichtlich eine Schlägerei mit ihm an.« »Und was geschah dann?« »Bück brach ihm das Nasenbein, und wir wußten, daß es wieder an der Zeit war weiterzuziehen. Als ich die Ranch hier kaufte, hoffte ich, endlich einen Platz gefunden zu haben, der abgelegen genug war, um Zwischenfälle dieser Art zu vermeiden. Aber das war wohl ein Irrtum. Anscheinend ist er nicht einmal auf seinem eigenen Hof sicher, wenn er ein Pferd zureitet… Vergessen Sie, daß Sie ihn gesehen haben. Bitte, Maddie, um Bucks willen. Damit er in Frieden leben kann, dürfen Sie keinem Menschen von ihm erzählen.«
Am liebsten hätte Maddie den flehentlichen Ausdruck in Chase Cumberlands goldbraunen Augen übersehen. Es ging ihr gegen den Strich, vor ihrer Familie Geheimnis se zu haben. Es wäre möglich, daß Little Mike oder eines der Mädchen Bück Cumberland zufällig begegneten, und dann wäre es besser, wenn man sie rechtzeitig über ihn aufgeklärt hätte. Sie überdachte die Angelegenheit einen Moment lang. Dann kam ihr plötzlich der rettende Einfall. »Chase!« rief sie aus und drehte sich zu ihm um. »Eigentlich bin ich zu Ihnen auf die Ranch geritten, um Sie morgen abend zum Essen einzuladen, zum Dank dafür, daß Sie uns diesen Deckstand gebaut haben. Pawnee Mary hat mir erklärt, warum Sie zu uns auf die Farm gekommen waren, und ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich mich Ihnen gegenüber unhöflich benommen habe. Anstatt Ihren Bruder auf Ihrer Ranch zu verstecken, könnten Sie ihn doch zu uns mitbringen. Auf diese Weise würde meine Familie iha.« »Nein!« Chase blieb eisern. Die ansehnlichen Gesichtszüge verwandelten sich in eine grimmige Maske. »Erstens würde er nicht kommen. Zweitens ist es eine idiotische Idee. Kennt Ihre Familie ihn, dann dauert es nicht lange, und ganz Hopewell weiß Bescheid.« »Sie würden es keinem verraten! Die McCrorys können Geheimnisse bewahren. Bück wäre dann keine Überraschung mehr für sie, sollten sie ihm unerwartet begegnen. Und Bück würde sich wohler fühlen, wenn er auf seiner Ranch ungestört herumreiten kann, weil er weiß, daß wir ihn kennen. Kein anderer Mensch wird ihn sehen, oder befürchten Sie, wir könnten uns über ihn lustig machen oder ihn schlecht behandeln?« »Das ist im allgemeinen so üblich, auch unter den Kirchgängern. Das sind oft die schlimmsten. Sie werfen einen Blick auf ihn und meinen, sie hätten den Spießgesellen des Teufels oder was weiß ich vor Augen.« »Aber wir nicht. Sie sind ungerecht. Pawnee Mary behandeln wir wie ein Familienmitglied, obwohl keiner etwas mit ihr zu schaffen haben will, weil sie eine Indianerin ist. Alle reden nur schlecht über sie, aber das ist dummes Geschwätz. Die McCrorys würden einen Menschen niemals auf Grund bösartiger Klatschgeschichten verurteilen. Da wir Nachbarn werden, sollten Sie das wissen. Pa hat uns gelehrt, sich eine eigene Meinung über
Menschen zu bilden.« Chase Cumberlands Augen blitzten kurz auf. »In der Stadt heißt es, Mary sei ein gefallenes Mädchen oder eine befleckte Taube, wenn Sie wollen. Ich nehme an, das glauben Sie nicht.« »Bestimmt nicht. Noch glaube ich, daß sie uns mitten in der Nacht skalpiert, uns die Augen aussucht oder uns auf irgendeine andere Weise schadet. Sie ist eine freundliche, aufrichtige Person mit einem liebevollen, großzügigen Herzen. Wenn die Leute das nicht erkennen, schaden sie sich selbst. Aber das ist deren Problem und nicht meins.« Chase Cumberland lachte. »Sie hätte ich gern als Verteidiger, sollte man mich eines Tages wegen eines Vergehens beschuldigen.« Auch Maddie mußte jetzt lachen. »Dann kommen Sie morgen abend zum Essen zu uns und bringen Ihren Bruder mit. Wir werden ihn gemeinsam begrüßen, damit er sich willkommen fühlt.« Chases Lächeln verschwand. »Ich habe es Ihnen bereits gesagt: er wird nicht kommen, und es wird ihm auch nicht gefallen, daß dieses Gespräch zwischen uns stattgefunden hat. Es ist einfacher für ihn, als Einsiedler zu leben, als den Versuch zu machen, sich in die Gesellschaft einzufügen und das Risiko einzugehen, erneut zurückgewiesen zu werden. Es ist wie ein rotes Tuch für ihn, und er wird sich nie mehr darauf einlassen.« »Aber Sie werden ihn fragen! Versuchen Sie es wenigstens.« Chase schüttelte den Kopf. »Ich will’s versuchen, aber seien Sie nicht enttäuscht, wenn er nicht mitkommt.« Allein die Zusage, den Versuch zu unternehmen, stimmte Maddie glücklich. Unwillkürlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, das Chase erwiderte. Sie saßen wieder auf und lachten sich ein wenig dümmlich an. Daß dieser schweigsame, ernst blickende Mann die Mundwinkel verzog, eine Reihe weißer Zähne aufblitzen ließ und sie aufrichtig und ohne jeden Sport anlachte, ließ ihr Herz vor Freude springen. »Wissen Sie«, sagte er und lehnte sich wieder über den Sattelknauf, »daß Sie mich heute zum ersten Mal angelächelt haben?« Maddie errötete. Wie merkwürdig, daß er in diesem Augenblick die gleiche Überlegung anstellte wie sie! »Vielleicht lachen wir beide zuwenig.« »Vielleicht haben Sie recht«, stimmte er ihr zu. »Ich verspreche, öfter zu
lachen, wenn Sie möchten. Bei Ihrem Lächeln vergesse ich beinahe, was für ein kleiner Drache Sie sind, und dann denke ich: ›Wo kommt dieses süße hübsche Ding her, und wieso ist sie mir vorher nie aufgefallen?‹« Das Kompliment löste in Maddies Brust einen Aufruhr aus, dessen Ausläufer sicherlich auf ihrem Gesicht zu sehen waren. Um ihre Verwirrung zu überspielen, neigte sie den Kopf zur Seite und blickte ihn forschend an. »Flirten Sie mit mir, Mr. Cumberland?« »Waren wir nicht mittlerweile bei Chase angekommen? Ich war mir sicher, daß es seit gestern so wäre.« Der Gedanke an ihren Beinahe-Kuß löste ein neues Chaos aus. Verwirrt senkte Maddie die Lider. »In Anbetracht des gestrigen Tages, vor allem der schlechten Dinge, die ich von Ihnen gedacht habe – und Sie wahrscheinlich von mir –, sollten wir noch einmal von vorne beginnen und unsere… Bekanntschaft erneuern. Ich würde mich freuen, Sie mit Chase anzureden, und Sie Ihrerseits dürfen Maddie zu mir sagen.« »Ich bin froh, daß wir das geklärt haben. Was, zum Henker… Entschuldigung. Was in aller Welt bedeutet Maddie?« Sie hob die Lider und blickte in die schimmernden Bernsteinaugen. Sie waren wunderschön, wenn sich das goldene Sonnenlicht in ihnen spiegelte. »Madeline. Ich wurde nach Tante Madeline, einer Verwandten mütterlicherseits, genannt. Aber ich werde immer Maddie gerufen. Madeline klingt zu steif und paßt nicht zu mir, sagte Pa immer.« Chase zwinkerte. »Da könnte er recht haben. Gibt es noch einen zweiten Namen?« »Elizabeth. Madeline Elizabeth McCrory ist mein voller Name. Und Ihrer?« »Chase Ezekiel Cumberland… Zu Ihren Diensten, Ma’am.« Schwungvoll nahm er den Stetson ab und verbeugte sich so tief, daß er sich beinahe am Sattelknauf aufspießte. Dies und der zweite Vorname ließen sie wie ein Schulmädchen kichern. »Ezekiel?« Mit wenig Erfolg versuchte sie, sich das Lachen zu verbei-
ßen. Er sah weiß Gott nicht wie ein Ezekiel aus. »Sie rinden meinen Namen amüsant? Er scheint Sie in unangebrachter Weise zu erheitern.« Die Verwendung von Fünf-Dollar-Worten, wie Pa sie bezeichnen würde, fand sie ebenfalls besonders komisch. Maddie konnte sich nicht mehr beherrschen und brach in schallendes Gelächter aus, was wiederum einen heftigen Schluckauf auslöste. Als das häßliche Geräusch wiederholt aus ihrem Mund kam, brannten ihr die Wangen vor Be schämung. Oh, warum mußte sie immer einen Narren aus sich machen? Ausgerechnet bei diesem Traum von einem Mann? »Achtung! Fallen Sie mir nicht vom Pferd, Madeline Elizabeth«, ermahnte er sie ernst, zwinkerte dabei aber mit einem Auge. »Wenn Sie ein Mann wären, würde ich Sie zum Duell fordern, weil Sie sich über meinen Namen lustig gemacht haben.« Das ernüchterte sie auf der Stelle. »Verzeihung. Ich wollte Sie nicht beleidigen.« Seine Augenbrauen hoben sich. »Nicht? Es hätte aber sein können.« »Tut mir leid, aber für mich haben Sie nichts von einem Ezekiel.« »Für mich sind Sie auch keine Madeline Elizabeth.« »Was bin ich dann für Sie?« Er überlegte einen Augenblick und grinste. »Wenn ich einen Namen für Sie aussuchen müßte, würde ich Sie… Sexy nennen.« »Sexy! Was ist das für ein Name!« »Ein Name, der paßt. Ihr Haar ist sexy, Ihr Mund ist sexy, und Ihr kleiner Hintern ist sexy.« »Mr. Cumberland!« Er fühlte sich in keiner Weise betroffen. »Chase… oder Ezekiel, wenn es sein muß.« »Neia. Wolf. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich Sie Wolf nennen.« Er blickte sie erstaunt an. »Wolf?« »Oder Sohn des Wolfes. So hat Sie Mary genannt. Sie haben Augen wie ein Wolf, und Sie bewegen sich wie ein Wolf. Ich dachte sofort an einen Präriewolf, als ich Sie das erste Mal sah.« Er lehnte sich zu ihr hinüber, legte ihr eine Hand um den Nacken und zog
sie so nahe heran, daß sie fürchtete, von ihrem Pferd zu fallen. »Sie wissen, was passiert, wenn man einem Wolf zu nahe kommt?« »Was?« fragte sie atemlos und wünschte, er würde sie küssen. »Sie könnten gefressen werden. Ich verspüre plötzlich diesen unwiderstehlichen Drang, Sie zu verschlingen. Aber statt dessen werde ich Sie wohl nur…« Bonnie Lass wählte just diesen Augenblick, um Maddies Pferd kräftig zu beißen. Die Stute jaulte auf und wich dem unerwarteten Angriff mit einem gewaltigen Sprung aus. Maddie fiel nach vorn und mußte sich an der Mähne festhalten, um nicht aus dem Sattel zu fallen. Chases Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen. »Bevor einer von uns noch zu Schaden kommt, ist es sicher besser, wenn ich mich einstweilen verabschiede, aber morgen abend komme ich zum Essen. Guten Tag, Miss Madeline Elizabeth McCrory.« Er zupfte kurz an der Krempe seines Stetsons, wendete die Stute und galoppierte in Richtung seiner Ranch davon. In Maddies Brust wirbelte alles durcheinander. Aufgewühlt und verwirrt starrte sie ihm nach. Chase Cumberland kam morgen zum Abendessen. Oh, was sollte sie nur kochen? Und – noch wichtiger – was sollte sie anziehen?
ACHT »Also, vergoßt nicht: Wenn Mr. Cumberlands Bruder erscheint, dann bitte keine Bemerkung über sein merkwürdiges Aussehen. Er wird euch seltsam vorkommen, aber laßt es euch nicht anmerken und tut nichts, was ihn in Verlegenheit bringen könnte. Habt ihr verstanden?… Carrie? Zoe? Little Mike?« Mit den Händen auf den Hüften stand Maddie in der Mitte des auf Hochglanz geputzten Hauptraums des Hauses und blickte ihre Geschwister der Reihe nach streng an. Zur Antwort erhielt sie nur Stirnrunzeln und Seufzer. »Ehrlich, Maddie. Du glaubst wohl, wir sind auf einer Farm mitten im Nirgendwo aufgewachsen?
Vielleicht trifft es ja zu, aber schließlich war Ma eine der vornehmsten Damen in Kansas.« Zoe schüttelte das schimmernde rotgoldene Haar und strich mit den Fingern über den hohen Spitzenkragen ihrer besten weißen Bluse, die sie zu einem dunkelgrün gemusterten Rock trug. Sie klimperte kokett mit den Wimpern und schnurrte geziert: »Wie nett, Sie kennenzulernen, Mr. Cumberlands Bruder. Was ist denn mit Ihren Augenbrauen geschehen, Sir?… Was? Sie können nicht antworten? Barmherziger! Dann sind Sie vom Teufel besessen, Sir!« Mit einem übermütigen Blick zu ihrer Schwester brach Zoe in stürmisches Gelächter aus, in das Carrie zugleich einfiel. Sogar Little Mike konnte sich das Lachen nicht verkneifen, und Pawnee Mary, die an einem kleinen Beistelltischchen in der Ecke Kartoffeln pellte, zuckte verdächtig mit den Mundwinkeln. »Hört sofort auf«, schimpfte Maddie und bemühte sich, nicht mitzulachen. »Ich warne euch zwei, oder besser euch drei. Ich wünsche, daß ihr euch mustergültig benehmt. Es ist schlimm genug, daß ich wegen Pa besorgt sein muß. Ich möchte nicht auch noch ständig Angst haben, daß einer von euch etwas Unangemessenes sagt oder tut.« »Auf keinen Fall, Maddie. Hör auf, wie eine Glucke herumzugackern, und zieh dich lieber um«, meinte Carrie streng. »Unsere Gäste können jede Minute hier sein, und du bist noch nicht fertig.« »Und ob ich fertig bin. Das hier ziehe ich an.« Maddie strich die frische weiße Schürze glatt, die sie über einem dunklen Hängerkleid trug, das am Rücken mit einer breiten Quetschfalte verziert war. Sie zupfte an den gebauschten Ärmeln des Kleides und blickte die Geschwister stirnrunzelnd an, die ihre Gesichter verzogen und die Augen zur Decke rollten. »Stimmt etwas nicht? Mama trug das Kleid gern, wenn wir Gäste hatten. Es ist immer noch elegant, und ich dachte, ich ziehe es an.« »Aber… es ist schwarz, Maddie. Es belebt dich einfach nicht… na schön, sagen wir, es wirkt dämpfend«, bemerkte Carrie, als sie die ältere Schwester prüfend betrachtete. »Trotzdem, es ist düster und unterstreicht auch noch dein Alter. Es läßt sie ältlich aussehen, findest du nicht auch, Zoe?«
»Oh, das Kleid ist in Ordnung, würde ich sagen. Die Haut macht mir mehr Sorge. Hast du die Salbe benutzt, die ich dir empfohlen habe, Maddie?« »Welche? Du hast mehrere entsetzliche Mixturen erwähnt, die ich mir ins Gesicht reiben sollte.« »Die aus Buttermilch und Hafermehl, natürlich. Anschließend soll man das Gesicht mit Glyzerinwasser abspülen.« »Die habe ich probiert«, gestand Maddie etwas beschämt ein, weil sie zum ersten Mal den Wunsch gehabt hatte, Gottes Handwerk zu verbessern. »Sieht man das nicht? Meine Gesichtshaut fühlt sich an, als würde sie abbröckeln, wenn ich heute abend zu viel lache.« »Du hast dir Zoes gräßliches Zeug ins Gesicht geschmiert?« Little Mike griff nach einer Scheibe frisch gebackenen Brotes, zog die Hand aber schnell zurück, als Pawnee Mary ihm einen Klaps versetzte. »Bitte, Mary. Ich hab’ Hunger. Beim Duft des Brathähnchens läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Bis zum Essen halte ich es nicht aus. Laß mich kosten. Ich muß doch prüfen, ob es genießbar und nicht vergiftet ist.« »Bevor unsere Gäste nicht da, du nichts vom Essen anfassen«, warnte ihn Mary mit steinernem Gesichtsausdruck. »Wenn du es berühren, du einen Finger verlieren. Vielleicht zwei.« »Ach Mary, nur ein Stückchen altes Brot oder einen Hühnchenflügel.« Mary beäugte ihn drohend. »Nein, dir sonst Finger fehlen.« »Wie sehen meine Haare aus?« fragte Maddie die Schwestern. »Gefällt es euch? Ich habe mein Bestes versucht, um es weniger… auffallend zu machen.« »Zu matt«, sagte Carrie. »Nicht matt genug«, entgegnete Zoe. »Ganz gleich, was sie damit macht, es ist immer viel zu rot«, beharrte Carrie. »Am besten, du trägst ein Häubchen.« »Doch nicht im Haus oder während des Essens«, protestierte Maddie. »Ich hasse Häubchen. außer dem schönen neuen, das ihr mir geschenkt habt«, fügte sie schnell hinzu. »Aber ich glaube, das Blau paßt nicht gut zu Schwarz, und ein anderes habe ich nicht gefunden.« »Du siehst nicht mehr wie du selbst aus, wenn du das Haar so glatt kämmst«, mischte sich Little Mike ein. »Wenn du möglichst natürlich
aussehen möchtest, dann sollte es vom Kopf wegstehen, wie von einem Windstoß aufgewirbelt.« Maddie lachte. Da diese Bemerkung von Little Mike kam, ärgerte sie die Hänselei nicht. Im Gegenteil, sie freute sich, daß er Anteil nahm und sich nicht grübelnd zurückzog, wie er es in letzter Zeit häufig getan hatte. »Danke für eure Bemerkungen und Vorschläge.« Sie raffte die Röcke und machte einen tiefen Knicks. »Und habt vielen Dank, daß ihr den ganzen Nachmittag geputzt, gewienert und gekocht habt. Ich stehe auf ewig in eurer Schuld.« »Oh, das hat uns nichts ausgemacht«, verkündete Carrie. »Wir haben so lange keine Einladung mehr gegeben, daß ich mich nicht mehr an den letzten Gast erinnern kann. Weißt du es noch, Zoe?« Zoe hob die Schultern. »Mamas Beerdigung. Das war wohl das letzte Mal, daß wir Besuch hatten.« »Ich werd’ noch mal im Stall nachsehen, ob alles erledigt ist«, murmelte Little Mike. Eine steile Falte stand auf seiner Stirn. Er ging hinaus und ließ die Tür knallend hinter sich zufallen. »Oh, Zoe… du hättest Ma’s Beerdigung nicht erwähnen sollen«, seufzte Maddie. »Gerade als Little Mike sich endlich wieder einmal normal benommen hatte.« »Er benimmt sich nie normal«, antwortete Zoe. »So wie Vater – nur daß er nicht trinkt. Die meiste Zeit zieht er sich zurück und knurrt, wenn er gestört wird.« »Da fällt mir Pa ein. Ich werde nachsehen, ob er den gebügelten Anzug angezogen hat, den ich ihm zurechtgelegt habe.« Maddie lief zur geschlossenen Schlafzimmertür. »Carrie und Zoe, pflückt noch ein paar Blumen im Garten und stellt sie dann in einem Krug auf den Tisch, bitte, ja? Ich wollte es noch machen, aber jetzt ist die Zeit zu knapp.« »Das hättest du uns auch vor dem Umziehen sagen können«, maulte Carrie. »Den ganzen Vormittag habe ich Erbsen gepflückt, da hätte ich auch gleich die Blumen holen können, wenn ich schon draußen war.« »Geht in den rückwärtigen Teil und schaut bei Mamas Rosensträuchern nach. Die müßten jetzt aufgeblüht sein. Vor ein paar Tagen waren lauter Knospen zu sehen. Beim Rosenpflücken macht ihr euch nicht schmutzig.«
Maddie hob die Hand und klopfte an die Schlafzimmertür. »Pa, bist du schon angezogen?« »Ich werde mir die Hände zerkratzen«, murrte Carrie. »Komm, Zoe, wenn ich es tun muß, mußt du es auch tun.« Die Zwillinge gingen hinaus und knallten die Tür wie ihr Bruder zu. Maddie schüttelte den Kopf und klopfte fester an die Schlafzimmertür. »Pa?« Sie öffnete die Tür und lugte in das Zimmer. Ihr Vater saß immer noch auf der Bettkante, genauso, wie sie ihn verlassen hatte. Die frischen Kleidungsstücke neben sich hatte er nicht angerührt. »Pa, du bist nicht angezogen, und unsere Gäste werden gleich hier sein. Wechsle wenigstens das Hemd. Das, welches du anhast, muß gewaschen werden.« Wenn sie ehrlich war, roch es nach Whiskey. Offensichtlich hatte Vater sich damit an der Vorderseite bekleckert. Maddie stellte sich vor ihn, um ihm das Hemd aufzuknöpfen. Aber noch bevor sie damit anfing, packte er ihre Hände und schob sie von sich weg. »Laß mich allein, Maddie. Ich fühle mich nicht wohl. Wenn du etwas für mich tun möchtest, dann hol mir eine Flasche. Ich weiß, du hast sie versteckt, aber ich brauchte jetzt einen winzigen Schluck. Nur einen winzigen kleinen Schluck, Maddie, Schätzchen, dann würde es mir gleich bessergehen.« Maddie bemühte sich, nicht die Nase über die säuerlichen Ausdünstungen und den schalen Mundgeruch ihres Vaters zu rümpfen. Aber er klang nüchtern, und auch die Augen hatten den glasigen Ausdruck verloren, den sie nach übermäßigem Alkoholgenuß annahmen. Sie war heute morgen frühzeitig aufgestanden, um seine Verstecke ausfindig zu machen. Sie war sich ziemlich sicher, alle aufgestöbert zu haben. Drei, um genau zu sein, vier Verstecke im Haus und in der Scheune hatte sie entdeckt. Sie wünschte nur, sie wüßte, wie er an soviel Alkohol herankam; jedesmal, wenn sie glaubte, sein Vorrat sei zu Ende, zauberte er auf rätselhafte Weise eine neue Hasche hervor. Dieses Mal hatte sie alle gefunden – das hoffte sie! – und sie im Hühnerhaus versteckt, wo ihr Vater wohl kaum nachsehen würde. Später, wenn sie den Nerv dazu hatte, wollte sie den Whiskey ausschütten und die Flaschen
Little Mike geben, damit er sie als Zielscheibe benutzen konnte, wenn er mit Pas Winchester Schießübungen machte. »Pa, heute abend brauchst du keinen Schluck. Wir haben Gäste, weißt du das nicht mehr? Ich habe dir heute morgen davon berichtet, und du warst einverstanden, mit uns zu Abend zu essen und als Gastgeber so charmant wie früher zu sein… Die Zwillinge, Little Mike und ich freuen uns schon darauf. Würdest du dich jetzt bitte umziehen und uns Gesellschaft leisten?« »Erst, wenn du mir eine Flasche geholt hast, Maddie«, beharrte ihr Vater. »Ich fühle mich zu elend, um bei euch zu sitzen, Kindchen. Das ist der einzige Grund, warum ich mir ein Schlückchen genehmige. Hilft gegen mein Rheuma. Und läßt mich auch vergessen. du weißt… daß wir unsere Ma verloren haben. Anscheinend habt ihr das alle schon vergessen.« Maddie verkniff sich eine Antwort. Das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um mit ihm darüber zu debattieren, nicht, wenn sie Gäste erwarteten. Sie wollte ihm widersprechen und ihm seine Fehler vorwerfen, aber sie kannte ihn zu gut. Wenn sie jetzt nur ein einziges Wort sagte, würden sie kurz vor dem Eintreffen Chase Cumberlands zu streiten anfangen. »Es gibt gebratenes Hühnchen, dein Lieblingsessen«, lockte sie ihn statt dessen. »Und Rührkartoffeln mit jungen Erbsen sowie Pawnee Marys Maispudding, den du auch so gerne ißt, und ihre köstlichen Plätzchen. Bei einem so guten Essen wirst du dich sofort besser fühlen; ich habe ei- genhändig zwei Apfeltorten nach Mamas Rezept gebacken. Bitte, Pa… iß mit uns mit. Du würdest uns allen eine große Freude machen.« Pa ließ ihre Hände los und schob sie fast von sich weg, dann legte er sich wieder auf das Bett, mitten auf die frischen Anziehsachen, die sie für ihn zurechtgelegt hatte. »Ich mag nichts essen, Maddie.« »Möchte«, verbesserte sie. »Du möchtest nichts essen. Ma würde es nicht gerne sehen, wenn wir nicht korrekt sprechen. Ich muß Little Mike und die Mädchen ständig zurechtweisen. Es wäre hilfreich, wenn du meine Bemühungen unterstützen würdest.« »Ich unterstütze nichts und niemanden. Wenn du mir jetzt keine Flasche holst, dann verschwinde und laß mich endlich schlafen. Ich bin viel zu müde, um den Kopf vom Kissen zu heben, und dein Gejammere macht mich auch ganz wirr.«
Maddies Zorn stieg wie ein Springbrunnen empor. »Du hast keinen Grund, müde zu sein, Pa. Du hast heute nichts getan. nicht einen Finger hast du gerührt, nur geschlafen. Was du jetzt brauchst, ist eine anständige warme Mahlzeit, die du mit deiner Familie einnimmst.« »Ich brauche nichts als meine Ruhe. Der einzige Freund, der mir geblieben ist, ist die Flasche.« Sein Selbstmitleid und der weinerlicher Ton zerrten an Maddies Nerven, trotzdem bemühte sie sich vernünftig zu bleiben. Die Geduld zu verlieren half nichts; es entfremdete ihr den Vater nur noch mehr. Dieser hilflose, klagende alte Mann war ein Fremder. Aber in seinem Innersten, und daran klammerte sie sich fest, war er der starke, liebende, fröhliche Vater, den sie von Kind an gekannt hatte. Irgendwann, irgendwie würde sie ihn wieder dahin zurückführen, und wenn es das letzte war, was sie in ihrem Leben tun sollte. »Die Flasche ist wohl kaum dein Freund, Pa. Oder unserer. Für uns ist sie ein Feind, der dich uns wegnimmt. Darum möchte ich sie dir nicht geben.« Tränen stiegen in den Augen ihres Vaters auf. Maddie entdeckte sie, bevor er die Hand hob, um sie vor ihren Blicken zu verbergen. »Das verstehst du nicht, Maddie. Du bist ein braves Mädchen, und du versuchst dein Bestes, um darüber hinwegzukommen, aber du kannst es einfach nicht verstehen. Ich verstehe selbst nicht, warum ich mich so fühle. Ich will nur dorthin gehen, wo Ma ist. Ich kann nicht begreifen, daß ich noch hier bin, seit sie nicht mehr da ist. So sollte es nicht sein. Ich bin doch der Ältere, und wir dachten immer, ich würde zuerst gehea. aber sie ist mir zuvorgekommen. Und jetzt weiß ich nicht, was ich mit mir anfangen soll. Die Flasche lindert meinen Schmerz. Es ist das einzige, das meinen Schmerz lindert. Außerdem, was ist schon Schlimmes dabei, wenn ein Mann ein wenig zu tief in die Flasche schaut? Wie ein Hund habe ich mein Lebtag lang geschuftet, und da habe ich ein Recht auf dieses kleine Vergnügen.«. Trotz ihres Zorns empfand Maddie auf einmal das Bedürfnis zu weinen und ihrem Vater alles zu geben, was er sich wünschte. Schuldgefühle drohten sie zu ersticken. Wenn sie ihm nur alles recht machen konnte! Sie war seine älteste Tochter; war es nicht ihre Pflicht, alles für ihn zu tun, nachdem er alt und müde war und vom Schicksal gebeutelt?
»Ma würde nicht wollen, daß du so leidest, Pa. Aber sie würde gewiß nicht wollen, daß du dich zu Tode trinkst. Stell dir vor, wie entsetzt sie wäre, wenn sie erführe, daß du immer noch so elend bist, ein Jahr nach ihrem Tod. Auch wenn dir so zumute ist, mußt du dein Leben weiterleben. Denk an Little Mike, Carrie und Zoe und mich. So viele Dinge müssen auf der Farm erledigt werden und… und finanziell haben wir auch Schwierigkeiten. Die Rennsaison hat begonnen; diese Zeit hast du doch immer so geliebt…« »Daran kann ich nicht denken, Maddie. Ich kann an nichts mehr denken. Ich habe meine Kraft verloren. Verdammt, ich weiß oft nicht mehr, welchen Tag wir haben.« »Heute ist Dienstag, der achtzehnte Juni, und wenn du dich von diesem Bett erheben und öfters mit uns am Tisch zu Abend essen würdest, dann würdest du dich kräftiger fühlen.« »Himmeldonnerwetter noch mal! Mußt du mir Vorschriften machen, Kind? Laß mich jetzt endlich schlafen. Anschließend komme ich vielleicht noch zu euch.« »Oh, Pa! Wirklich? Das wäre wunderschön. Mary wird einen Teller für dich aufheben und im Ofen warm halten, bis…« »Miss Maddie?« Pawnee Mary steckte den Kopf in die Tür. »Sohn des Wolfs kommt. Ich ihn sehen auf Haus zureiten.« Maddie wirbelte herum. Ihr Herz schlug plötzlich wie wild. Mit drei Schritten war sie an der Tür und fragte leise: »Ist er in Begleitung?« »Nein. Er allein kommen. Reiten auf wunderbarem goldbraunem Pferd.« »Das ist seine Stute. Sie hat Gold Deck besiegt. Du lieber Gott, wo sind die Zwillinge? Haben sie die Blumen für den Tisch gebracht? Ist Little Mike schon aus der Scheune zurück?« Marys dunkle Augen blitzten belustigt auf. Sie hob eine Hand, als wolle sie Maddies Aufregung dämpfen. »Er nur ein Mann, liebe Freundin. Ihm nicht zeigen, daß er dein Herz bewegen.« »Mein Herz bewegen?« wiederholte Maddie erstaunt. »Wieso? Ich weiß, daß es nur ein Mann ist. Und er bewegt gar nichts«, behauptete sie hitzig. Pawnee Marys Brauen hoben sich ungläubig. Ein Lächeln huschte über
ihr Gesicht. »Wenn du so sagen, ich glauben. Oder vielleicht nicht. Deine Augen sprechen andere Sprache.« »Meine Augen sprechen nicht ein einziges Wort. Ich rege mich nur auf, weil wir einen Gast zum Abendessen haben und nicht, weil ich besondere Gefühle für ihn hege. Hör mit diesem Unsinn auf, Mary, begrüßen wir ihn jetzt lieber.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schlüpfte Maddie an der Indianerin vorbei. Du lieber Himmel, wenn ihre Gefühle so leicht zu erkennen waren, dann wußte jeder bereits Bescheid, bevor sie begriffen hatte, was mit ihr los war. Heute abend würde sie sich besonders in acht nehmen, damit Mr. Cumberland – Chase – nicht einmal ahnte, wie sehr sie seine Gegenwart aus der Fassung brachte! Wie so oft verlief der Abend besser, als Maddie zu hoffen gewagt hatte. Die Geschwister zeigten sich von ihrer besten Seite, und Chase erwies sich als charmanter, unterhaltsamer Gast und erfreute sie mit lustigen Geschichten über Pferderennen, bei denen er zugesehen oder teilgenommen hatte. Er sah umwerfend gut aus in dem dunkelgrünen Hemd, das den warmen, goldbraunen Ton seiner Augen hervorhob. Die Zwillinge verknallten sich natürlich sofort in ihn. Little Mike beteiligte sich lebhaft an der Unterhaltung, und Pawnee Mary steuerte ebenfalls einige Bemerkungen bei. Das Schönste von allem war, daß Pa sich eine Weile zu ihnen gesellte. Er aß ein wenig, lachte über Chases Witze und zog sich dann mit der Entschuldigung zurück, er fühle sich nicht wohl und müsse wieder zu Bett gehen. Bei Kuchen und Kaffee sprachen sie über die verschiedenen Abstammungen von Quarter- Rennpferden, und Maddie erfuhr, daß eine von Chases Stuten von einem berühmten Vollblut mit dem Namen Frank James gedeckt wurde. Sie erfuhr auch, daß Chase reiten gelernt hatte, indem man ihn ohne viel Federlesens auf einen Pferderücken setzte. Ein Sattelgurt, der um den Bauch des Pferdes und seine Knie gezurrt wurde, sorgte dafür, daß er nicht herunterfiel. Dann ließ man das Pferd los und wartete ab, wie er damit zurechtkam. Als einzige Anweisung riet man ihm, es sei besser, sich am Kehlriemen festzuhalten als an den Zügeln, und er solle die Beine benutzen, um das Pferd zu lenken oder zu einer schnelleren Gangart anzutreiben.
»Hatte Ihr Vater nicht Angst, es könnte gefährlich für Sie werden?« Zoe starrte ihn in ehrfurchtsvollem Staunen an, das süße Gesichtchen vor Bewunderung gerötet. »Wenn es der Fall war, dann zeigte er es nicht«, antwortete Chase lachend. »Seine Methode erwies sich als erfolgreich, denn mit fünf Jahren habe ich mit ihm wilde Freilandrinder eingefangen.« »Wo ist Ihr Vater jetzt?« wollte Little Mike wissen. »Er starb an einem Schlangenbiß, als ich elf war. Meine Ma wurde drei Jahre später von einem Tritt ihrer Stute so schwer verletzt, daß sie ihm ins Grab folgte. Mein Bruder hat mich aufgezogen.« Sein kaum merkliches Erröten sagte Maddie, daß er seinen Bruder an diesem Abend nicht erwähnen wollte. Carrie nutzte diese Gelegenheit sofort. »Warum haben Sie Ihren Bruder heute abend nicht mitgebracht, Mr. Cumberland? Wir möchten ihn kennenlernen. Maddie hat uns alles über ihn erzählt. Wir würden ihn merken lassen, daß er in unserem Haus willkommen ist.« »Sie hat euch alles über ihn erzählt? Wirklich?« Die Bernsteinaugen suchten Maddies Gesicht, und sie hätte schwören können, darin ein gelbes, ärgerliches Aufblitzen zu sehen. »Ich hielt es für das beste«, beeilte sie sich zu erklären. »Meine Familie wird ihn früher oder später herumreiten sehen, und falls Sie sich entschlossen hätten, ihn heute abend mitzubringen, wollte ich, daß sie Bescheid wissen über… über…« »Sein ungewöhnliches Aussehen«, half er ihr weiter. Chase blickte in die Runde, in aufmerksame, interessierte junge Gesichter. Drei blaugrüne Augenpaare waren gebannt auf ihn gerichtet. Sogar Pawnee Mary schien fasziniert zu sein, dachte Maddie, und sie wünschte sich erneut, Bück Cumberland hätte seinen Bruder heute abend begleitet. »Ich bitte euch alle um den gleichen Gefallen, um den ich eure Schwester gestern vormittag gebeten habe. Behaltet die Anwesenheit meines Bruders bitte für euch. Bück ist besonders scheu und braucht seine Privatsphäre. Darum sind wir hierher gezogen, um neu anzufangen, ohne daß ein Mensch von ihm weiß. Er hat nicht die Absicht, unsere Ranch auch nur einmal zu verlassen. Er ist vollkommen zufrieden mit seinem Leben und möchte allein gelassen werden. Er ist nicht verunstaltet, aber sein Äußeres reizt zu Bemerkungen. Mein Bruder wird dann wütend, um so mehr, da er
sich nicht verständlich machen kann. Wie soll er den Leuten zeigen, daß er im Inneren so ist wie sie? Kann ich mich darauf verlassen, daß ihr ihn in Frieden laßt und niemandem von ihm erzählt?« Mit großen Augen nickten die Zwillinge feierlich. Little Mike zuckte mit den Schultern. »Es geht niemanden etwas an, wer bei uns wohnt«, sagte er und hörte sich wie Pa an. »Ich auch Geheimnis behalten«, machte sichPawnee Mary plötzlich von ihrem Platz am Ende des Tisches bemerkbar, weil Maddie darauf bestanden hatte, daß sie am Essen teilnahm. »Aber ich nicht einverstanden, warum du das wollen. In Versteck leben machen deinen Bruder unglücklich. Ich wissen. Ich leben mit Verachtung und Haß. Besser sich stellen. Stolz bleiben. Feinden in Auge sehen.« »Das haben wir versucht. Es hat nicht funktioniert«, antwortete Chase kurz angebunden. »Genug über meinen Bruder. Das ist das letzte, was ich über ihn sage. Es gibt ihn nicht.« Die kleine Runde am Tisch verstummte für eine Weile, bis Carrie mit strahlenden Augen vorschlug: »Wollen wir nicht auf die Veranda gehen? Dort ist es kühler, und meine Schwester brennt sicherlich darauf, von den Blutlinien unserer Stuten zu berichten.« »Carrie!« wandte Maddie streng ein, aber das Zwinkern war wieder in Chases Augen zurückgekehrt. »Besitzen Sie Stuten, die der Erwähnung wert sind, Miss McCrory? Ich muß gestehen, bisher hatte ich den Eindruck, das einzige wertvolle Pferd, das sich in Ihrem Besitz befindet, sei dieser träge alte Klepper.« Froh über den Themenwechsel, biß Maddie nicht am Köder an. »In der Tat, wir haben ein paar alte Zossen im Stall, deren Stammbaum Sie interessieren dürfte. Aber vielleicht auch nicht, da Ihnen die Väter wahrscheinlich unbekannt sind.« »Short horses?« In seiner Stimme schwang Neugier. Um sich zu erheben, raffte Maddie raschelnd ihre Röcke. »Kommen Sie mit auf die Veranda, vielleicht werde ich Ihnen davon erzählen. Und ihr Mädchen seid so lieb und helft Mary beim Abräumen.«
»Ach, Maddie!« riefen beide wie aus einem Mund. »Wir können doch abräumen, wenn Mr. Cumberland nach Hause geht. Aber Mike könnte ja auch einmal mithelfen.« »Kommt nicht in Frage.« Little Mike schob den Stuhl zurück. »Tellerwaschen ist nicht meine Aufgabe. Außerdem bin ich müde. Wenn ihr mich jetzt entschuldigt. Ich gehe zu Bett.« »Es war nett, daß ich dich kennengelernt habe, Mike.« Chase Cumberland stand auf und reichte dem jungen Mann die Hand. »Falls du Zeit haben solltest, würde ich gern ein oder zwei Tage herkommen und den Deckstand mit dir fertig bauen und dir auch zeigen, wie man ihn benutzt. Aber ich brauche deine Hilfe. Unter uns gesagt, wir haben das in Null Komma nichts erledigt. Dann kannst du allen deinen Schwestern sagen, sie sollen von diesem Geschäft die Finger lassen.« »Sicher. Also… danke.« Maddie bemühte sich, ein nicht allzu freudestrahlendes Gesicht zu zeigen. Chase hatte ihren Bruder vollkommen richtig behandelt. Er sprach ihn als Erwachsenen an und gab ihm damit zu verstehen, daß er beim Decken auch ohne die Hilfe der Schwestern zurechtkommen würde. Anfangs hatte sie befürchtet, Little Mike könnte Chases Einmischung übelnehmen und es als Beleidigung auffassen, daß er auf den Gedanken kam, die McCrorys brauchten einen Deckstand. Aber Chase hatte die möglichen Schwierigkeiten geschickt umgangen und Little Mikes Stolz nicht verletzt. Glücklich, wie sie es lange nicht mehr gewesen war, führte Maddie ihn zur vorderen Veranda. Als Maddie und Chase Cumberland hinausgegangen waren, räumte Pawnee Mary mit Carrie und Zoe rasch den Tisch ab. Als dies erledigt war, entband sie die Mädchen von weiteren häuslichen Arbeiten in der Küche und schlug ihnen vor, sich zu ihrer Schwester und ihrem Gast zu gesellen. Mit einer kurzen Umarmung bedankten sich die Zwillinge bei der Indianerin. »Bist du sicher, es wird dir nicht zuviel, alles allein abzuwaschen und wegzuräumen, Mary?« fragte Zoe, während ihre Schwester bereits zur Vordertür hinaussauste, ohne noch einmal zurückzublicken.
»Nichts ausmachen. Was heute nicht fertig, kann warten bis morgen. Ich Essen wegräumen und schmutzige Teller aufstapeln. Dann gehen. Heute langer Tag. Füße wollen Ruhe. Du sagen Maddie, ich denken, wir genug tun für einen Tag.« »Du bist so lieb, Mary! Ich werde es ihr sagen. Wenn du es sagst, hört sie darauf und läßt alles über Nacht stehen. Ich möchte nicht eine Minute von Mr. Cumberlands Be such verpassen. Er ist sooo schön, findest du nicht auch?« Mary nickte und lächelte über die Schwärmerei des Mädchens. »Du bleiben nur kurze Zeit, dann gähnen und Schwester fortziehen. Maddie allein lassen im Mondlicht mit Sohn des Wolfs.« »Sie allein lassen! Aber…« Zoe nagte an der Oberlippe und seufzte. »Oh, ich glaube, du hast recht. Mr. Cumberland – Sohn des Wolfs – paßt viel besser zu Maddie als dieser gräßliche Horace Brownley. Es ist nur… ich mag ihn auch, Mary… und Carrie auch.« »Zu alt für dich und Carrie. Besser er sein euer Schwager. Ihr müssen helfen. Liebe zum Blühen bringen. Du Carrie sagen.« »Carrie wird das nicht gefallen; sie beabsichtigt, Mr. Cumberland selbst zu heiraten. Das hat sie mir gestern abend gesagt.« »Was ihr in Kopf steigen? Älteste Tochter müssen zuerst heiraten. Dann kleine Schwestern. Du ihr sagen, ich ihren Hintern mit Rute schlagen, wenn sie Maddie und schönen Nachbarn nicht allein lassen.« »Das würdest du tun? Du würdest ihr mit der Rute den Hintern versohlen? Allmächtiger, das wird ihr nicht gefallen!« Mary nickte ernst und verbarg, daß sie Zoes Leichtgläubigkeit belustigte. »Ihr sagen, Pawnee Mary kennen wilde Bräuche ihres Stammes. Pawnee Mary nicht fürchten, sie für guten Zweck zu gebrauchen. Miss Maddie brauchen einen treuen Gefährten. Nicht häßlichen Mann in Bank mit kleinen Augen wie Schwein. Sohn des Wolfs viel besser. Schwestern helfen, sonst nicht sitzen können eine Woche lang. Ich dafür sorgen.« Bei dieser Androhung weiteten sich Zoes Augen. »Sie wird gehen, Mary, und wenn ich sie mit mir fortziehen muß. Wir werden beide zu Bett gehen wie Little Mike und Pa.«
»Dein Bruder guten Verstand haben. Wenn du und Carrie zeitig gehen, ich euch machen morgen Blaubeerpastete. Versprechen. Reife Blaubeeren unten am Fluß, wo ich wohnen.« »Blaubeerpastete! Meine Lieblingsspeise… und Carries auch.« Mary nickte und war sicher, daß sie damit ihr Ziel erreicht hatte. »Du jetzt zu ihnen gehen, nur kleine Weile. Ich bald gehen. Bis morgen.« Sie blickte Zoe nach, wie sie zur vorderen Veranda hinausschlüpfte. Dann räumte Mary die Reste des Essens zusammen und packte sie in ihren Korb. Das Gespräch über Mr. Cumberlands geheimnisvollen Bruder hatte sie sehr bewegt. Wenn der Mann tatsächlich einen Blitzschlag überlebt hatte, dann mußte seine Medizin sehr mächtig gewesen sein. Das war ein weiterer Beleg dafür, wie dumm und blind die Weißen waren; es sah ihnen ähnlich, grausam und herzlos einem Menschen gegenüber zu sein, den die Geister gesegnet hatten. Die Indianer verehrten einen Menschen, der sich von den anderen unterschied, während die Weißen ihn fürchteten und verachteten. Mary dachte an Männer, die sich wie eine Frau kleideten und benahmen; die Weißen schössen auf sie oder jagten sie aus dem Dorf. Die Indianer aber behandelten sie mit Achtung und betreuten sie mit besonderen rituellen Aufgaben. Bei den meisten Stämmen war dies jedenfalls üblich. Bück Cumberland gehörte auch zu diesen Ausnahmen. Die Tatsache, daß er ungewöhnlich aussah und nicht sprechen konnte, bewies, daß er eine besondere Beziehung zu einer Welt besaß, die sich dem Wissen eines gewöhnlichen Menschen entzog. Und doch mußte er Hunger leiden, und sie, die diese Dinge verstand, würde ihm Nahrung bringen und ihm zu verstehen geben, daß sie ihn im Gegensatz zu den anderen verehrte und achtete. Ihr ganzes Leben lang war sie einen einsamen Pfad gegangen, weil die meisten Menschen sie fürchteten oder verachteten. Bereits jetzt fühlte sie sich die sem unbekannten Mann seelisch verwandt. Heute abend würde sie diesen silberhaarigen Mann aufsuchen und ihn wissen lassen, daß er nicht allein war.
NEUN Gedankenversunken saß Maddie im Korbsessel auf der Veranda, während die Schwestern kichernd mit Chase Cumberland flirteten. Chase hatte sich auf dem Geländer niedergelassen, ein gestiefeltes Bein lässig auf die Brüstung gelegt, das andere gegen den Holzboden gestemmt. Vom Haus her drang nur ein matter Lichtschein nach draußen. Die Sterne waren hell genug, um sein Profil in silbernes Licht zu tauchen. Er war schön und männlich. Maddies Herz schmerzte, als sie ihn betrachtete. Jetzt, da sie ihn besser kannte, wurde ihr klar, daß Chase genau der Mann war, den sich eine Frau zum Ehemann wünschte, als Geliebten, als Freund… ein Mann, der sie zum Lachen brachte und ihr Inneres in Gelee verwandelte, wenn er sie nur ansah. Ein Mann, mit dem sie Träume teilte, der die Ranch führte und einen Teil der finanziellen Verpflichtungen tragen würde, die jetzt so schwer auf ihren Schultern lasteten. Ja, eines Tages könnte sie zwar einige Aufgaben an Little Mike abtreten, aber es wäre nicht dasselbe, als wenn ein geliebter Mann sie vor der oft harten, unbarmherzigen Welt abschirmen würde. Maddie war noch nie einem Mann begegnet, der sie zu all diesen Überlegungen veranlaßt hatte. Natürlich dachte sie nicht eine Sekunde an Horace Brownley, wenn es um Kinder ging, oder gar deren Zeugung! Bis jetzt hatte sie ihr Alleinsein nicht gestört, ja, sie hatte sich nicht einmal eingestanden, daß sie allein war. Bis jetzt. Im Augenblick schien Chase von Carrie und Zoe begeistert zu sein, aber gelegentlich schweifte sein Blick zu ihr herüber, und das langsame, bedeutungsvolle Lächeln war sicherlich für sie allein bestimmt. Daher fiel ihr plötzlich ein, daß er nur um ihretwillen nett zu den Geschwistern war; seine Miene gab ihr deutlich zu verstehen, daß er ungeduldig darauf wartete, die Mädchen würden gute Nacht sagen und zu Bett gehen, damit er den restlichen Abend mit ihr allein verbringen konnte… Jedenfalls hoffte sie, daß er das mit seinem Blick sagen wollte. »Kinder, es ist schon spät, und Mr. Cumberland muß bald nach Hause reiten. Ihr solltet euch jetzt verabschieden.« Chases Lächeln wurde intensiver.
»So spät ist es nun auch wieder nicht«, widersprach Carrie. Überraschenderweise aber war Zoe einverstanden. »Komm schon, Carrie. Du hast versprochen, mir heute abend die Haare zu bürsten und es mit Bändern und Stäbchen zusammenzubinden, damit es morgen gelockt ist.« »Oh, das hatte ich vergessen. Dein Schwärm kommt ja morgen vorbei und will eine Stute zum Decken bringen.« Carries Absicht, Chase dadurch mitzuteilen, daß Zoe bereits einen Freund hatte, war für alle offensichtlich, einschließlich Zoe. Erstaunlicherweise nahm Zoe aber keinen Anstoß daran. »Er sagte, vielleicht käme er vorbei; ich weiß es nicht genau. Aber ich möchte eine neue Frisur ausprobieren, und du hast versprochen, mir dabei zu helfen, Carrie.« »Na schön«, räumte Carrie ungnädig ein, nachdem Zoe ihr mit dem Ellbogen einen kräftigen Stoß gegen die Rippen versetzt hatte. »Du brauchst mir nicht gleich die Knochen zu brechen. Ich hab’ schon begriffen.« »Gute Nacht, ihr beiden. Vielen Dank für den schönen Abend«, sagte Chase zu den Zwillingen, die einige Höflichkeiten erwiderten. »Kommen Sie bald wieder!« rief Carrie ihm zu und berührte kühn seinen Arm. »Sie sind immer herzlich willkommen, wenn Ihnen nach einer guten, selbstgekochten Mahlzeit ist. Nicht wahr, Maddie?« Diese Überschwenglichkeit empfand Maddie als peinlich; sie nahm sich vor, ihre Schwester deswegen zu tadeln. »Ich glaube, Mr. Cumberland wird um diese Jahreszeit zu viel auf seiner Ranch zu tun haben, um uns zu besuchen.« »So weit ist es ja nicht«, beharrte Carrie. »Oh, und Sie müssen das nächste Mal nach Abilene kommen, wenn wir Gold Deck laufen lassen!« »Das nächste Mal?« Chases Augenbrauen hoben sich, während Maddies Herz sank. »Wann ist das? Sind Sie oft beim Rennen in Abilene?« Sage ja kein Wort mehr, Carrie McCrory. Maddie warf der Schwester einen wütenden Blick zu, aber Carrie wollte genau wissen, wann sie eine Gelegenheit haben würde, Chase Cumberland wiederzusehen. »Wir haben gerade ein Rennen in Salina gewonnen, an dem Tag, an dem
Sie mit dem Bau dieses Gestells begonnen hatten, und jetzt haben wir einen weiteren Termin in Abilene, am vierzehnten Juli. Diesmal geht es um sage und schreibe… fünftausend Dollar! Wenn wir gewinnen, sind wir reiche Leute!« Und wenn wir verlieren, müssen wir die Farm abgeben, mit allem Drum und Dran. Du dummes, dummes Mädchen! Wie kanntest du das Chase gegenüber erwähnen, dem letzten Menschen auf der Welt, der darüber Bescheid wissen sollte? »Fünftausend Dollar«, wiederholte Chase und sah sie nachdenklich und gleichzeitig beeindruckt an. »Ihr müßt wirklich sehr überzeugt sein, um auf diesen hohen Einsatz einzugehen. Ich nehme an, es wird ein Zweier-Rennen sein, so wie damals, als euer Hengst gegen meine Stute lief.« »Sicher, ich denke schon«, plapperte Carrie munter drauflos, ohne zu merken, welch großen Fehler sie gemacht hatte. In ihrer zerstreuten Art hatte sie nicht richtig zugehört, als Maddie über die besonderen Bedingungen des Rennens sprach, denn der Naseweis erwähnte nicht, daß für das Rennen noch ein drittes Pferd aufgeboten werden konnte. Gott sei Dank! Maddie sprang auf die Füße. »Schlafenszeit, Kinder! Ihr habt sie lange genug hinausgezögert. Wir haben morgen viel zu tun. Und jetzt möchte ich keine Widerrede hören. Marsch ins Bett mit euch!« »Ehrlich, Maddie«, maulte Carrie. »Du behandelst uns wie kleine Kinder. Ob es dir gefällt oder nicht, wir sind erwachsene Frauen.« »Darüber läßt sich streiten, Carrie, aber das Thema wollen wir heute nicht vertiefen. Weckt Pa oder Little Mike nicht auf, wenn ihr ins Haus geht. Und bitte, schickt mir Pawnee Mary einen Augenblick heraus. Ich möchte sie fragen, ob sie mir in dieser Woche bei der Wäsche helfen kann. Wenn nicht, dann müßt ihr Mädchen das allein machen, denn ich werde die ganze Woche über mit den Pferden beschäftigt sein.« »Pawnee Mary ist bereits nach Hause gegangen«, murmelte Zoe über die Schulter zu Maddie gewandt. »Aber sie meinte, sie komme morgen früh wieder, um den restlichen Abwasch zu machen.« »Hm! Eigentlich braucht sie uns morgen nicht zu helfen, da außer mir noch zwei erwachsene Frauen im Haus sind.«
Carrie und Zoe warfen ihr einen angeekelten Blick zu. »Gute Nacht, Mr. Cumberland!« flöteten beide und verschwanden, bevor Maddie ihnen noch andere Aufgaben für den morgigen Tag auftragen konnte. Chase lachte und nahm das Bein vom Geländer. »Sie scheinen es nicht immer einfach mit Ihren Schwestern zu haben, Maddie. Nach ihren Blicken zu schließen, müssen die beiden Sie für einen wahren Tyrannen halten.« »Das muß ich sein«, antwortete Maddie und wandte sich ihm aufmerksam zu. »Sonst würde hier alles stehen und liegen bleiben.« Bitte, lieber Gott, mach, daß er sich nicht nach dem Rennen erkundigt! Wenn er mich fragt, dann muß ich ihn anlügen. Ich kann ihm doch nicht sagen, daß das Rennen noch offen ist. Er könnte Bonnie Lass als drittes Pferd aufbieten, aber dann würden wir mit Sicherheit verlieren! Nun, vielleicht nicht mit Sicherheit, aber das Risiko besteht, und das möchte ich nicht eingehen. Sie hoffte, daß Gesicht und Augen ihre Gedanken nicht verrieten, und so war es wohl auch, denn Chase kam nicht wieder auf das Rennen zu sprechen. Statt dessen trat er näher an sie heran. Er stand einfach da, lachte sie an und brachte ihren Puls allein durch seine Nähe zum Rasen. Sie wußte nicht, ob sie einen Schritt zurückgehen sollte oder nicht oder ob sie da stehenbleiben sollte, wo sie war. Auch wußte sie nicht, wo sie hinschauen sollte, um seinen wachsamen Augen zu entgehen. Als die Sekunden verrannen und er schwieg, verflogen die Gedanken an das Rennen. Sie dachte nur noch an die Feuerwellen, die von seinem Körper ausstrahlten und daß mit Sicherheit etwas geschehen würde. Ja, es würde sie nicht wundern, wenn sie jetzt beide ein mächtiger Wirbelsturm erfaßte und über die Prärie hinaustrug. Chase streckte die Arme aus und umfaßte ihre Taille leicht mit den Händen. »Es war ein großartiges Essen, Maddie«, sagte er ruhig. »Oh, Sie sollten sich bei Pawnee Mary bedanken.« Maddie bemühte sich, ihre Verwirrung nicht zu zeigea »Ich habe nur den Kuchen gebacken.« »Der Kuchen war das beste.« Er zog sie zu sich heran, und ihre Brust berührte seinen Oberkörper. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als würde ein Fieber sie verbrennen. Wenn er sie länger so hielt oder irgendwo berührte, dann würde sie sich in Rauch und Flammen auflösen. »Ich wollte Ihnen
auch sagen, wie schön Sie heute abend ausgesehen haben. wie schön Sie aussehen, und wie sehr es mir bei Ihnen gefallen hat. Es ist viel zu lange her, seit ich das letzte Mal in familiärer Atmosphäre so gepflegt gegessen habe. Das habe ich sehr genossen.« Sie kämpfte um Unbefangenheit, obwohl sich zwischen ihnen etwas Schweres, Dunkles und Verheißungsvolles zusammenbraute. »Nicht jeder würde ein Abendessen im Kreis der Familie McCrory als gepflegt bezeichnen. Manchmal lassen sich unsere Mahlzeiten mit einem frisch gerissenen Wild vergleichen, das ein Rudel Coyoten seinen Jungen auftischt.« Er lachte leise. »Sie sollten sich keine Gedanken darüber machen, wenn man Ihre Familie nicht gerade von ihrer besten Seite sieht. Kleine oder große Streitereien gehören genauso zum Alltag wie ein liebevoller und höflicher Umgang miteinander.« Jetzt mußte sie lachen. »Haben Sie uns vielleicht nachspioniert? Wenn ja, dann haben Sie zweifellos bemerkt, daß in unserer Familie häufiger gestritten als liebevoll und höflich miteinander umgegangen wird.« »So?« Er hob die Schultern. »Ich habe schon vor langer Zeit herausgefunden, daß es viel mehr Spaß machte, mich mit meinem älteren Bruder zu streiten, als sich mit ihm zu vertragen. Vielleicht fühle ich mich deswegen so zu Ihnen hingezogen, Maddie. Sie sind ein würdiger Gegner. Schlagfertig und bissig, nicht wie die meisten Frauen, vor deren klebriger Süße die Männer davonlaufen möchten.« Seine Lippen waren jetzt den ihren sehr nahe, und Maddie hatte das beunruhigende Gefühl, daß sie am Rand eines Abgrunds stand, bereit, den Sprung ins Unbekannte zu wagen, auch wenn es ihr Untergang sein sollte. »Ich dachte immer, Männer mögen Frauen, die süß und hilflos sind.« Sie trank seinen Atem, der leicht nach dem Zimt des Apfelkuchens roch. Die gleiche Luft wie er einzuatmen war berauschend, als wittere sie die Vorläufer eines Präriesturms. »Im allgemeinen schon. Seitdem ich Sie kennengelernt habe, fange ich an, meine jugendlichen Vorlieben neu zu überdenken.« Der Griff seiner Hände wurde fester. Sein Mund kam näher und strich über ihre Lippen, vorsichtig, als würde er sich im Küssen üben. Sie bewegte ihre Hände zu seinen Schultern und ließ sie dort liegen. Unter den Fingerspitzen waren diese Schultern breit, fest und stark, so wie eine
Männerschulter sein sollte. Die federleichte Berührung seiner Lippen hielt einem Vergleich mit Horace Brownleys Kuß nicht stand, auch nicht mit den Küssen, die sie vor vielen Jahren mit ein, zwei jungen Männern getauscht hatte. Ihre allerersten Küsse waren ungeschickte peinliche Angelegenheiten, die sie in Carries und Zoes Alter bekommen hatte. Jetzt bei Chase erfuhr sie, daß weder etwas Peinliches noch Abstoßendes dabei war, wenn seine Lippen sie leicht berührten, als ob er sie necken und verführen wollte und sie einlud, seinen Kuß zu erwidern. Sie merkte, wie sie sich an ihn lehnte, um sich zu stützen. Ihre Beine waren gefährlich weich geworden, wie die eines neugeborenen Fohlens. Langsam vertiefte er den Kuß, preßte den Mund fester auf den ihren. Dann öffnete er die Lippen und zog sie ein wenig zurück, um ihr etwas in den Mund zu flüstern. »Mach auf, Maddie… für mich. Hab’ keine Angst. Ich werde dir nicht weh tun.« Jetzt wurde sie gewahr, daß sie die Lippen fest zusammengekniffen hatte, um den Empfindungen zu widerstehen, die sein Kuß in ihr wachgerufen hatte. Sie fürchtete, alle Vorsicht beiseite zu lassen und sich dem Rausch der Gefühle hinzugeben. Sie atmete hastig durch, öffnete die Lippen und fuhr kurz mit der Zunge darüber. Bevor sie seine Absicht bemerkte, hatte er sie fest an sich gezogen und küßte sie voller Inbrunst mit offenem Mund. Zunge an Zunge. Ihr Atem vermischte sich, die Körper verschmolzen. Das Zeichen seiner Erregung preßte sich gegen ihren Unterleib, und sie fürchtete, zu seinen Füßen zusammenzubrechen. Ihre Beine drohten einzuknicken und unter ihr wegzurutschen und sie als zitterndes Häufchen am Boden liegenzulassen. Aber er hielt sie fest und hob sie hoch, so daß ihre Körper sich vollkommen aneinanderfügten. Unwillkürlich dachte sie an Schloß und Schlüssel. Nur daß sein Schlüssel mächtig war und vor Leben pulsierte. Durch ihren Rock und Unterrock konnte sie ihn spüren – ihn, zwischen ihren Schenkeln, wie er sich an ihre intimste Stelle preßte. Alles kam zu plötzlich und zu früh. Zum ersten Mal begriff sie, warum Stuten, die noch nie gedeckt worden waren, wie wild ausschlugen, angstvoll wieherten und dem Hengst zu entkommen versuchten. War es die Angst vor dem Unbekannten oder nur Aufregung und Unsicherheit? »Chase!« keuchte sie in seinen hungrigen Mund, während er jedes weitere
Wort verschlang. Er unterbrach den Kuß. Ihr Atem ging stoßweise und dröhnte in den Ohren. Sie wollte, daß er aufhörte. Gleichzeitig wünschte sie sich, daß er sie für immer weiterküssen möge. Vor allem wollte sie wissen, wohin das Küssen und die süßen Verheißungen führten. Sie hielt sich an ihm fest, die Füße über dem Boden. Er hielt sie immer noch an sich gepreßt, und sein Geschlecht drängte sich ihrem bebenden Leib entgegen. »S…sollten Sie mich nicht lieber absetzen?« Ihre Stimme war ein ersticktes Krächzen. Langsam und widerstrebend ließ er sie an sich hinabgleiten. Diese kleine wundersame Reise diente nur dazu, ihre bereits erregten Sinne mit süßen Folterqualen zu belegen. Die Füße standen zwar wieder auf festem Boden, aber ihr selbst fehlte die Kraft, sich von ihm zu lösen. Mit den Lippen berührte er ihr Haar. »Es tut mir leid, Maddie. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich. ich hatte beinahe vergessen, wie schön es ist, eine Frau im Arm zu halten.« Enttäuschung überkam sie. Da war es wieder. Er erwähnte das Bedürfnis nach weiblicher Nähe. Was hatte er an dem Abend gesagt, als sie in seinen Armen weinte? »… bevor Sie der Tatsache zum Opfer fallen, daß ich lange Zeit ohne Frau gewesen bin.« Jede Frau hätte das bei ihm erreichen können; es ge schah nicht, weil er sie, Maddie McCrory, in den Armen hielt. Plötzlich fand sie die Kraft, von ihm zurückzutreten. »Sie haben mich nicht erschreckt. Ich hatte nur vergessen, wie es ist, einen Mann zu umarmen.« Sein Lachen blitzte in der Dunkelheit auf. »Sie haben dies schon öfter getan?« Der Ton seiner Stimme sagte ihr, daß er ihr nicht eine Sekunde lang glaubte. Verdammter Kerl! Wieso fühlte sie sich bei ihm scheu, verlegen und furchtbar unerfahren, vor allem jetzt, da sie ihr Selbstvertrauen dringend wiedergewinnen mußte, um den Aufruhr ihrer Gefühle zu bändigen? »Sie sind nicht der erste Mann, den ich geküßt habe«, ließ sie ihn he-
rablassend wissen. »Und ich bezweifle, daß Sie der letzte sein werden.« Hoffentlich hatte sie ihn damit in die Schranken gewie sen. Bildete er sich etwa ein, sie müsse für seine Aufmerksamkeiten dankbar sein? Als arme, vergessene Jungfer? Was war überhaupt in sie gefahren? Wie konnte sie einen Gegner so nahe an sich herankommen und ihre Widerstandskraft derartig untergraben lassen? »Sie versuchen alles, um mich nicht zu mögen, nicht wahr?« schalt er sie. »Wahrscheinlich keine schlechte Idee… bei der Verantwortung, die ich meinem Bruder KI’KIMI über habe.« »Und ich meiner Familie gegenüber. Ehrlich gesagt, habe ich weder Zeit noch Lust, diese Intimitäten fortzusetzen, Chase… Mr. Cumberland.« »Jetzt sind wir also wieder bei Mr. Cumberland.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Vielleicht ist es besser so… Miss McCrory. Wir könnten uns schließlich bei einem Rennen als Gegner wiedersehen, und im schlimmsten Fall wäre das peinlich.« Sie erstarrte innerlich und fürchtete zu atmen, damit er ihr Geheimnis nicht erfuhr. »Oh, ich denke, es wird uns gelingen, diese Situation zu umgehen, wenn wir uns nur bemühen. Warum einigen wir uns einfach nicht darauf, es nicht zu tun?« »Was nicht zu tun?« Er stellte sich absichtlich dumm. »Gegeneinander im Rennen anzutreten«, erwiderte sie spitz. »Da wir Nachbarn sind und miteinander auskommen müssen, sollten wir uns jetzt das Versprechen abnehmen, uns in Zukunft nicht herauszufordern. Ich bilde eines unserer jüngeren Pferde als Rennpferd aus, was Sie sicherlich auch vorhaben werden, aber es ist einfach töricht -und finanziell unklug – ständig miteinander zu konkurrieren. In der Region gibt es genügend andere Pferde, wieso sollten wir da unsere Freundschaft aufs Spiel setzen und uns gegenseitig zu überbieten versuchen?« Er zuckte unmerklich zusammen und sah sie mißtrauisch an. »Haben Sie mich aus diesem Grund heute abend eingeladen? Weil Sie weder mich noch meine Pferde zum Gegner im Rennen haben wollen? Und Sie dachten, das könnte man gleich von vornherein klären?« »Deswegen habe ich Sie nicht eingeladen, aber ich finde wirklich, wir
sollten es vermeiden, gegeneinander zu reitea. in rein nachbarschaftlichem Interesse natürlich.« »Sie meinen, zum Schutz Ihrer eigenen Interessen? Ich bezweifle, daß Sie das vorgeschlagen hätten, wenn Ihr Hengst Bonnie Lass geschlagen hätte und nicht umgekehrt.« Er hatte recht. Bestimmt hätte sie ihm nicht diesen Vorschlag gemacht. Statt dessen hätte sie ihn zum nächstbesten Rennen herausgefordert. »Dann sind Sie nicht einverstanden?« »Nein, Miss McCrory. Auf keinen Fall. Bück und ich sind hierhergezogen, um unsere Situation zu verbessern. Und das werde ich nach besten Kräften versuchen. Gerne werde ich eines meiner Pferde gegen eines Ihrer Pferde zum Rennen aufbieten, zu jeder Zeit, an jedem Ort, zu jedem Preis. So sehr glaube ich an meine Pferde. Können Sie das nicht von sich und Ihren Pferden sagen, dann sollten Sie sie nicht ins Rennen schicken, schon gar nicht für fünftausend Dollar. Soweit ich mich erinnere, wollten Sie nicht annähernd soviel gegen mich setzen.« »Nein, ganz richtig. Wie ich mit meinen Gegnern verfahre – Sie ausgenommen –, steht auf einem anderen Blatt. Ich jedenfalls glaube fest an meine – unsere – Pferde. Sie hatten einfach Glück bei unserem ersten Rennen, Mr. Cumberland.« »Oh, dann haben Sie gegen eine Wiederholung nichts einzuwenden? Wie hoch möchten Sie dieses Mal gehen? Wie wäre es mit dem Stück Land, das ich haben möchte, und einem Dutzend kostenloser Sprünge von Ihrem geheiligten Gold Deck gegen. sagen wir… oh, nennen Sie bitte den Betrag, aber fünftausend erscheinen mir angemessen, wenn Sie so viel haben, um es gegen einen Konkurrenten zu setzen.« »Ich akzeptiere keine Gebote von Ihnen. Gold Deck ist für diese Saison bereits ausgebucht«, log sie. Sie hatte kein weiteres Rennen als das nächste große, über das sie sich gerade auseinandersetzten. »Auch wenn ich noch ein Rennen einschieben könnte, würde ich nicht ein zweites Mal gegen Sie antreten.« »Weil Sie wissen, daß er verlieren würde.« »Weil es bei uns immer die Regel war, nicht gegen unseren nächsten Nachbarn zu laufen.«
»Der alte Parker ließ Pferde im Rennen laufen?« »So habe ich das nicht gesagt.« »Nein, ganz richtig. Sie sind kein guter Heuchler, Miss McCrory. Auch wenn es hier draußen dunkel ist, ich sehe es Ihren Augen an, daß Sie nicht ganz aufrichtig zu mir sind.« »Ich bin Ihnen nicht zu hundertprozentiger Aufrichtigkeit verpflichtet! Ich bin Ihnen zu nichts verpflichtet. Außer vielleicht zu einem ›gepflegten‹ Abendessen, weil Sie die Güte besaßen, uns einen Deckstand zu bauen. Dabei fällt mir ein, um mich dafür zu revanchieren, könnte ich Ihnen einen Decksprung von Gold Deck schenken. Das wäre nur fair…« »Ich habe diesen Deckstand nicht gebaut, um Sie zu bewegen, eine meiner Stuten kostenlos zu decken.« Chases Kieferknochen spannten sich ärgerlich; obwohl es dunkel war – Wolken mußten den Himmel überzogen haben –, konnte sie das mühelos erkennen. »Warum haben Sie uns dann den Deckstand gebaut? Ich erinnere mich nicht, Sie darum gebeten zu haben. Wir McCrorys haben unseren Stolz und erwarten von niemandem Hilfe… vor allem nicht von unseren Konkurrenten.« »Weil Sie mir leid getan haben, verdammt noch mal! Man muß Ihnen helfen, bevor einer oder mehrere von Ihnen ernsthaft verletzt werden.« »Sie sagen, Sie hätten Mitleid mit uns? Wir brauchen Ihr Mitleid nicht! Wir sind durchaus in der Lage, unsere Probleme selbst zu lösen. Haben Sie vielen Dank.« »Mein Bruder braucht Ihr Mitleid ebenfalls nicht. Wir wollen nichts weiter, als daß Sie uns in Frieden lassen und sich von unserem Grund und Boden fernhalten. Sie kümmern sich um Ihre Angelegenheiten und wir uns um unsere.« »Fein. Ausgezeichnet. Gute Nacht, Mr. Cumberland!« »Gute Nacht, Miss McCrory!« Als Chase wutschnaubend die Veranda verließ, marschierte Maddie ins Haus zurück und knallte die Tür hinter sich zu. Die Schläfen pochten, rote Kringel tanzten ihr vor den Augen. Am liebsten hätte sie jetzt das Geschirr gegen die Wand geknallt. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so wütend gewesen zu sein; und leider wußte sie nicht einmal mehr genau, worüber sie
gestritten hatten. O ja, jetzt fiel es ihr wieder ein! Er hatte sie nach Strich und Faden beleidigt und ihr zu verstehen gegeben, daß jede Frau in der Lage war, ihn zu. zu… erregen. Und er war erregt, als er sie im Arm hielt und küßte. Sie wußte Bescheid, wann ein Hengst erregt war, und es war keine Kunst, dies bei einem Mann zu erkennen, vor allem, wenn er sich an sie preßte. Damit hatte es begonnen. Dann hatte er sie ausgelacht, obwohl er genau wußte, was mit ihr los gewesen war, und damit hatte er sie auch noch aufgezogen. Oh, und dann hatte er ihr noch vorgeworfen, sie würde ihn belügen, als sie ihm ausweichend geantwortet hatte, um ihm keine Unwahrheit aufzutischen. Und zu guter Letzt behauptete er auch noch, er hätte Mitleid mit ihrer Familie. Eine Unverschämtheit! Er und sein Bruder waren zu bemitleiden; zutiefst zu bemitleiden! Der eine versteckte sich wie ein Verbrecher, und der andere ließ es zu und erlaubte, daß sein einziger Bruder wie ein Einsiedler lebte, vom Rest der Welt abgeschnitten. Chase Cumberland sollte sich schämen! Von einem neuen Wutanfall gepackt, raste Maddie in dem Vorderzimmer auf und ab und blieb erst stehen, als Zoes weißgewandete Gestalt am Fuß der Treppe auftauchte. Ihre Schwester sah wie ein Geist aus, der soeben aus dem Grab gekrochen war. Das Haar war in Strähnen aufgeteilt, die ungeschickt auf kleine Holzstäbchen gerollt und mit Stoffetzen zusammengebunden waren; außerdem hatte sie eine schleimige, klebrige Masse auf Wangenkno chen und Nasenrücken verteilt. »Was ist passiert, Maddie? Wo ist Mr. Cumberland? Hattet Ihr eine Meinungsverschiedenheit?« »Darüber möchte ich nicht sprechen.« »Aber… was ist passiert? Ihr hattet euch doch so gut verstanden.« »Tut mir leid, aber es ist unmöglich, sich mit Chase Cumberland zu verstehen. Ich möchte nicht, daß sein Name jemals wieder in meiner Nähe erwähnt wird. Geh jetzt zu Bett, Zoe. Geh sofort zu Bett, sonst fange ich zu schreien an und schlage alles kurz und klein.« »Ehrlich, Maddie, wenn du nicht lernst, zu den wenigen noch vorhandenen akzeptablen Männern netter zu sein, vor allem, wenn einer davon so aussieht wie Mr. Cumberland, dann wirst du niemals heiraten.«
Zoe machte kehrt, flitzte die Treppen hinauf und ließ Maddie im Angesicht der bitteren Wahrheit zurück: Wahrscheinlich würde sie sich niemals verheiraten. Jedenfalls nicht mit Chase Cumberland. Und auch mit keinem anderen. Während der verhältnismäßig kurzen Zeitspanne, in der sie sich kannten – und noch kürzeren, in der sie sich küßten –, hatte er sie vollkommen für jeden anderen Mann verdorben, der auf Gottes grüner Erde wandelte. Im Mondenschein stand Pawnee Mary mit ihrem Korb in der Hand vor dem dunklen Haus, das dem Sohn des Wolfes und seinem Bruder Bück, dem Silberhaarigen, gehörte. Es war noch zu früh zum Schlafen, trotzdem drang kein Lichtstrahl aus dem kleinen, bescheidenen Haus. Vielleicht war er schon zu Bett gegangen. vielleicht auch nicht. Ein prickelndes Gefühl lief ihr über die Schulterblätter. Eine Regung, die sie immer überkam, wenn sie sich einer Grabstätte näherte. Sie spürte die Gegenwart eines Geistes, nur daß dieser nicht verstorben war und die starke Medizin eines kraftvollen, lebendigen Mannes besaß. Langsam und angestrengt lauschend, drehte sich Mary im Kreis, aber sie entdeckte nichts Ungewöhnliches. Ihre angespannten Sinne nahmen die Pferde im Korral nahe dem Haus wahr. Sie konnte sie sehen, riechen und hören, aber nichts wies auf die Anwesenheit eines Menschen hin. Trotzdem wußte sie, daß er da war, sich in einem dunklen Schattenfleck versteckte und kaum zu atmen wagte, um sich nicht zu verraten. Sie überlegte, ob sie ihn ansprechen sollte, verwarf den Gedanken aber sofort. Zuerst mußte er zu erkennen geben, daß er eine Begegnung wünschte. Ihre Erfahrungen mit wilden, ungezähnten Tieren hatten sie gelehrt, Geduld zu haben. Das Wild würde sonst fliehen, bevor sie auch nur einen Blick darauf werfen konnte. Sie wußte, daß sie mit diesem ungewöhnlichen, gequälten Menschen besonders vorsichtig umgehen mußte, da er bei einer vorhergehenden Begegnung von seinen Mitmenschen in tiefster Seele verletzt worden war. Er würde also doppelt wachsam sein, wenn es je wieder zu einem Zusammentreffen mit einem Menschen kam oder kommen sollte. Mary stützte den Korb mit dem Essen auf eine Hüfte, ging zur Verandatreppe und stellte ihn ab.
Das war ihr erstes Angebot. Es würden weitere erforderlich sein, um Silberhaar zu bewegen, sich endlich zu zeigen. Sie wohnte nicht allzu weit weg, um ihm regelmäßig etwas dazulassen. Ihre Hütte befand sich unten am Fluß, näher am Cumberland-Anwesen als bei den McCrorys. Die meisten hielten das Häuschen für unbewohnt. Tatsächlich hatten es vor einigen Jahren Weiße verlassen, als nach einer Heuschreckenplage alles in Sichtweite abgefressen worden war. Es war alt und feucht und war mehr aus Erde als aus Holz und Kalkstein gebaut, aber sie verstand es, das Haus gemütlich einzurichten. Nur wenige wußten, daß sie es jetzt bewohnte. Sie war froh, daß es in seiner Nähe lag; jetzt wohnte sie in der gleichen Gegend wie ein Mann, den Tirawa gesegnet hatte, der Himmelsbewohner und Schöpfer der Welt und allem, was in ihr war. Der Bruder von Sohn des Wolfes war sich seiner Kräfte vielleicht nicht bewußt, aber wenn er ihr nur eine kleine Chance gab, dann würde sie ihm zeigen, wie besonders er war… von den Göttern geliebt, unter denen Tirawa der größte war. Silberhaar könnte sogar ein Wakan sein, was bei den Weißen so viel wie ein Medizinmann oder Schamane war. Mary war sich aber erst sicher, wenn sie ihm begegnet war. Auch dann könnte sie noch Zweifel hegen. Ihre Erinnerung an die Sitten und Gebräuche ihres Stammes war mit den Jahren verblaßt; Pawnee Mary hatte vor langer Zeit in Kansas gelebt, und nur wenige ihrer Blutsverwandten lebten noch dort. Sie selbst wuchs unter den Kiowas auf. Als man die Kiowas zwang, in Reservaten zu leben, wurde sie von weißen Missionaren aufgenommen. Aber sie war ihnen weggelaufen, weil sie nicht vergessen wollte, wer sie war und woher sie kam – aus dem alten Stamm der Skidi Pawnee. Einst hatte ihr Volk dem Gott des Morgensterns Menschenopfer dargebracht, aber sie ehrte es trotzdem und bemühte sich, ihres Erbes würdig zu sein. Aus diesem Grund war sie heute nacht hier. Der Bruder von Sohn des Wolfes war ein von Tirawa gezeichneter Mann, und sie wollte ihm die gebührende Ehre erweisen, so gut sie es wußte. Nachdem sie den Korb auf der Treppe abgestellt hatte, huschte sie in das bleiche Licht des aufgehenden Neumonds zurück und beobachtete weiter die Umgebung. Wenn sich Silberhaar heute nacht nicht zeigte, würde sie
sich damit zufrieden geben müssen, seine Nähe gespürt zu haben, obwohl sie es nicht erwarten konnte, ihn in Fleisch und Blut zu sehen. »Komm, sieh nach, was ich dir gebracht habe«, flüsterte sie in ihrer eigenen Sprache und mußte dann über ihre Torheit lachen. Gesegnet oder nicht, Silberhaar würde nicht ein Wort verstehen. Ihre Aufforderung stieß auf taube Ohren, aber mit der Zeit würden ihn ihre Bemühungen überzeugen. Er würde ihr vertrauen Sie dachte an ein besonderes Geschenk, das sie ihm machen könnte: ein weiches bequemes Paar Mokassins. Sie waren viel freundlicher zu den Füßen als die steifen schweren Stiefel, die der weiße Mann so gerne trug! Während sie überlegte, wie sie die Schuhe verzieren würde und ob er wohl die gleiche Schuhgröße wie sein Bruder hatte, wandte sie sich zum Gehen. Sie hatte den Hof vor dem Haus bereits zur Hälfte überquert, als plötzlich ein Schuß ertönte und etwas an ihrem linken Ohr vorbeizischte. Mary blieb stehen und wartete, aber keiner sprach zu ihr. Niemand erschien. Langsam drehte sie sich zur Scheune um, aus der sie den Angriff vermutete. Für einen Mann mit einer Waffe machte sie das Mondlicht zum leichten Ziel, aber wenn Silberhaar sie töten wollte, hätte er es bereits getan. Sie hatte sich lange genug auf dem Grund aufgehalten, als sie den Korb auf der Verandatreppe abstellte. Sie hob den Kopf, rief nach ihm und machte ihm das erste Geschenk: seinen neuen Namen. »Silberhaar! Dich nicht fürchten. Ich dir nichts Böses wollen. Ich nur bringen Essen.« Sie wartete, aber sie hörte nur das Wispern des Windes und das Hufgetrappel der Pferde, die durch den unerwarteten Schuß aufgeschreckt worden waren. »Silberhaar… auch ich kennen Einsamkeit und Schmerz. Ich bin Pawnee, ausgestoßen und allein. Gib mir eine Chance, Silberhaar. Komm zu mir. Zeige dich.« Im Schatten bewegte sich etwas. Eine Gestalt löste sich aus dem Scheunendunkel und schritt langsam auf sie zu. Als er näher kam, sah Mary, daß er groß war und daß sein Haar tatsächlich silberweiß im Mondlicht schimmerte. Die Augen leuchteten wie zwei Zwillingsmonde in einem fin- steren, abweisenden Gesicht. Jetzt stand er vor ihr. Einen Augenblick sahen sie sich schweigend an.
Sie wußte, daß er nicht den ersten Schritt tun würde, und ergriff die Initiative. Sie hob die Hand und legte sie sanft auf die rauhe Haut seines Kiefers. Er duldete ihre Berührung. Die wilden, brennenden Augen forschten in ihrem Gesicht, als ob er ihr mißtraute und nicht glaubte, daß sie seinetwegen gekommen war. Sie wagte ein Lächeln. »Ich bin hier, Silberhaar«, flüsterte sie. »Du jetzt nicht mehr allein sein.« Das Gewehr war noch in seiner Hand, aber nach einer langen Pause hob Silberhaar die andere und strich mit zitterndem Finger den Bogen ihrer Wangenknochen entlang. Sie schloß die Augen und beugte sich der zaghaften Berührung entgegen. Den Kopf wendend, streifte sie mit den Lippen die Innenfläche seiner Hand und hieß ihn willkommen. Diese winzige Geste war alles, was er brauchte. Er ließ das Gewehr zu Boden fallen und zog sie an sich. Sie spürte sein Zittern, aber vielleicht war es auch sie, die wie ein Blatt im süßen Nachtwind bebte. Sie standen beisammen, die Arme umeinander geschlungen. Marys Blick schweifte zum silbernen Neumond hinauf, und dort sah sie das Profil von Tirawa, der sie an diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt zusammengeführt hatte. Älter als die Zeit und weiser als jedes lebende Wesen, lächelte Tirawa auf sie herab. Es war ein gutes Omen, ein Zeichen, das ihre Hingabe besiegelte. Von diesem Augenblick gehörten sie einander an.
ZEHN Verdammtes Frauenzimmer! Maddie McCrory wurde allmählich so lästig wie ein Schwärm Mücken nach einem ausgiebigen Regen. Oder wie Fliegen auf einer offenen Wunde. Oder wie ein Pferd, das sich nicht einfangen ließ. Oder wie ein schlammverschmierter Hund auf einem frischgewaschenen Kleidungsstück. Als Chase im Mondschein nach Hause ritt, stellte er im Geiste eine Liste aller Dinge auf, die ihn maßlos an ihr störten. Was hatte er heute abend nur gesagt, um sie derart in Harnisch zu versetzen? Erst schmolz sie in seinen Armen wie Butter auf einer warmen Scheibe Toast, und in der nächsten Sekunde zog sie eine beleidigte Schnute und funkelte ihn an, als ob er das Unaussprechliche getan hätte.
Er bezweifelte, daß er sie jemals würde begreifen können. Einer Sache jedoch war er sich ganz sicher. Sie wollte auf keinen Fall, daß er mehr über das Rennen erfuhr, das sie in Abilene geplant hatte. Als Carrie es beiläufig erwähnte, sagte ihm das Entsetzen auf Maddies Gesicht mehr, als Worte es auszudrücken vermochten. Als sie sich geschickt herauswand, um nicht weiter darüber zu sprechen, und später den Vorschlag machte, daß er sie nicht wieder zu einem Rennen herausfordern solle, war ihm sofort klar, daß das Rennen in Abilene wahrscheinlich noch für eine weitere Nennung offen war. Die meisten Pferderennen in dieser Gegend waren schlichte, einfache Wettkämpfe: Zwei Pferde und zwei Reiter, die Kopf an Kopf gegeneinander antraten, um zu zeigen, wer der schnellste war. Im Osten liefen reinrassige Vollblütler jetzt auf oval angelegten Bahnen, damit mehrere Pferde gleichzeitig über eine Distanz von einer Meile oder mehr laufen konnten. Aber je weiter man nach Westen ging, desto öfter traf man auf ShorthorseRennen, bei denen zwei oder gelegentlich drei Pferde mit gemischten Stammbäumen über eine Distanz von einer Viertelmeile zwischen zwei deutlich gekennzeichneten Punkten um die Wette liefen. Diese Art des Rennens war für bescheidenere Bedingungen geeignet und förderte die Entwicklung eines eher robusten, stämmigen und ruhigeren Tieres, das Rinder treiben, einen Wagen ziehen, pflügen oder vor einen Buggy gespannt werden konnte und trotzdem die Fähigkeit besaß, von heute auf morgen ein hartes, schnelles Rennen zu laufen. Chase und die McCrorys versuchten diese neue Zucht der Shorthorses oder Quarterhorses, wie sie oft genannt werden, zu verfeinern und leistungsfähiger zu machen, ohne aber die Vielseitigkeit dieser Pferde zu opfern, die sie so beliebt machten. Gold Deck und Bonnie Lass waren Musterbeispiele für diese neue Zucht, und sie sollten sich nicht nur untereinander, sondern auch mit anderen Pferde messen und ihre Eigenschaften so oft wie möglich und zu unterschiedlichsten Bedingungen immer wieder unter Beweis stellen. Nur dann konnte eine gute Zuchtentscheidung über die Blutlinien dieser Pferde getroffen werden – und anderer –, die eingekreuzt würden, um Schwachpunkte auszubügeln, die sich mit der Zeit eingeschlichen hatten.
Maddies Versuch, die heimische Rennszene zu beherrschen und ihn davon abzuhalten, gegen sie oder einen anderen Züchter anzutreten, war einfach gewissenlos. Er hatte das gleiche Recht wie sie, an jedem Rennen teilzunehmen, um die Qualität seiner Pferde und seines speziellen Zuchtprogramms unter Beweis zu stellen. Er konnte doch nicht nach Hause gehen und Bück erklären, von nun an würde er die hiesigen Rennen an die McCrorys abtreten. Zum Teufel noch mal, er hatte ja gerade damit begonnen, den Ruf der Cumberlands zu begründen! Und er würde sich selbst in den Fuß schießen, wenn er nicht jede Gelegenheit nutzte, Bonnie Lass laufen zu lassen. Wenn er seine preisgekrönte Stute schließlich aus dem Rennen zog, sollten die Leute Schlange stehen, um ihre Fohlen zu kaufen in der Hoffnung, daß ihre Nachkommen ihre Geschwindigkeit, Kondition und Vielseitigkeit geerbt hatten. Sie war zwar sein bestes Pferd, aber im Stall standen noch weitere gute Stuten, die ebenfalls einen vielversprechenden Nachwuchs zur Welt bringen würden. Es wurde Zeit, daß er sich darauf einstellte, die jüngsten Jahrgänge an Bonnie Lasses Seite in die Rennwelt einzuführen. Maddie McCrory hatte nur sich die Schuld zuzuschreiben und keinem anderen, daß ihr das Wasser bis zum Halse stand. Sie brachte nicht die Voraussetzung mit, fünftausend Dollar einzusetzen, wenn sie diese Summe im Fall einer Niederlage nicht verschmerzen konnte. Es wäre so, als ob sie die Farm der Familie oder den gesamten Pferdebestand einschließlich Gold Deck bei einem Rennen einsetzte; jeder, der lange genug in diesem Metier zu Hause war, würde ihr sagen, daß sie einen gewaltigen Fehler beging. Wußte ihr Vater, was sie tat? Oder war Big Mike McCrory bereits so sehr dem Trank ergeben, daß er die Schwierigkeiten, die seiner Familie ins Haus standen, nicht wahrnahm? Chase nahm an, daß Maddies Pa entweder nichts davon ahnte oder gleichgültig zusah, wie seine Familie einer Katastrophe entgegensteuerte. Wie dem auch sei, Chase mußte zuerst seine und Bucks Interessen wahrnehmen; morgen würde er nach Salina reiten und ein Telegramm nach Abilene schicken, um sich nach dem Rennen zu erkundigen. Wenn es, wie er vermutete, noch für eine wei- tere Meldung offen war, würde er Bonnie Lass eintragen. Er hatte sich bereits nach einem weiteren Rennen umgesehen, bei dem er das große Geld einstreichen konnte. Täglich
entdeckte er auf seiner Farm Dinge, die er verbessern wollte. Wenn er gewinnen sollte, und davon war er überzeugt, hätte er Maddie McCrory genau da, wo er sie haben wollte: Sie schuldete ihm eine riesige Summe. Dann mußte sie ihm das Feld verkaufen und ihm so viele Decksprünge gewähren, wie er haben wollte. Sie wäre vielleicht sogar gezwungen, ihm Gold Deck abzutreten oder, aber das verhüte Gott, die Farm selbst. Er wollte diese verdammte Farm nicht und den Hengst auch nicht, aber das Feld kam ihm gut zupaß sowie eine unbegrenzte Zahl von Decksprüngen. Natürlich würde sie ihn dann am liebsten zum Teufel wünschen, was die Zwillinge und Little Mike wahrscheinlich auch tun würden sowie Big Mike, wenn er nüchtern genug war, um die Sachlage zu begreifen. Und die Indianerin, Pawnee Mary, käme vielleicht, um sich seinen Skalp zu holen. Aber was ging es ihn an, wenn sie schlecht von ihm dachten? Er konnte sie nicht vor ihren eigenen Fehlern retten. Er war für ihre augenblickliche finanzielle Misere nicht verantwortlich. Besser, daß er von ihrer Niederlage profitierte als ein anderer. Zumindest würde er versuchen, ihren Stolz nicht zu verletzen und ihnen ein Auskommen zu sichern; wenn ein anderer das Rennen gewann, dann kämen die McCrorys nicht so gut davon. Es würde sie ihre Farm kosten, das stand fest. Er rief sich noch einmal ernsthaft ins Gedächtnis, daß er persönlich nichts mit ihnen zu tun haben wollte. Nur seinem Bruder gegenüber war er zur Loyalität verpflichtet. Seine wachsende Zuneigung zu einer widerborstigen, schnippischen, hochnäsigen kleinen Jungfer durfte weder sein Denken noch seine geschäftlichen Entscheidungen beeinflussen. Maddie McCrory hatte sowieso viel zuviel Extragepäck dabei: zwei aufmüpfige Schwestern, einen melancholischen Bruder, einen trunksüchtigen Vater und eine verfemte Indianerin als ihre beste Freundin. Ein Mann mußte ja einen Dachschaden haben, wenn er sie ein zweites Mal ansah. Heute abend hatte er sich blendend unterhalten, jedenfalls solange, bis Maddie einen Streit mit ihm begann und sich von einem kuscheligen Kätzchen in eine fauchende Wildkatze verwandelte. Aber ein unterhaltsamer Abend durfte auf keinen Fall all seine Zukunftspläne über den Haufen werfen. In einigen Tagen würde er wieder zur Farm der McCrorys reiten und den Deckstand zu Ende bauen, wie er es versprochen hatte. Und damit
hätte die Angelegenheit ein Ende gefunden. Er schuldete ihnen nichts. Er mußte sein Leben führen und die McCrorys ihr Leben. Er würde gegen sie im Rennen antreten, sie schlagen und ihren letzten Dollar einstreichen, wenn sie dumm genug waren, ihn zu verwetten. Das war das mindeste, was er seinem Bruder schuldig war. Chase wunderte sich, wieso Bonnie Lass stehengeblieben war, bis er merkte, daß sie ihn brav bis zu seinem eigenen Vorgarten getragen hatte und jetzt geduldig darauf wartete, daß er abstieg. Zum zweiten Mal war er in Gedanken so sehr mit Maddie McCrory beschäftigt, daß er vergessen hatte, wo er war und was er wollte. Nie mehr! schwor er sich. Es paßte ihm nicht, was mit ihm geschah. So durfte es auf keinen Fall weitergehen. Vor allem durfte er nicht eine Sekunde mehr davon schwelgen, wie es gewesen war, sie zu küssen und den schlanken, aber süß gerundeten Körper an sich zu pressen. Die bloße Erinnerung an diesen aufregenden Augenblick verschaffte ihm eine Erektion so groß wie Gold Decks. Angewidert sprang er von seinem Pferd. Erst jetzt bemerkte er, daß das Haus nicht beleuchtet war. Wahrscheinlich schlief Bück schon. Rasch nahm er Bonnie Lass Sattel und Zaumzeug ab, hing es über das Verandageländer und schickte sie zu den anderen Pferden auf die Koppel hinaus. Dann ging er ins Haus. Unwillkürlich ging er auf das Zimmer seines Bruders zu. Er wollte ihn aufwecken und ihm die Neuigkeit berichten, daß sie fünftausend Dollar gewinnen könnten. Er brauchte Bucks Ermutigung, er mußte sein Gesicht sehen, die wilden Augen, das Silberhaar, damit er sich wieder wachrief, was wirklich wichtig war; damit er sich wieder davon überzeugte, daß er das Richtige tat. Wenn er zwi- schen Maddie und Bück wählen müßte, so käme es nicht zu dieser Wahl, denn er mußte sich für Bück entscheiden. »Bück, wach auf, alter Junge.« Chase stieß die teilweise geschlossene Tür zu Bucks Schlafzimmer auf und blickte hinein. Das Licht des Neumonds schien über das leere Bett. Weder die Quiltdecke noch das Kopfkissen waren zerknautscht. Nichts im Zimmer war benutzt worden, es sah aus wie tagsüber, so, wie es ein ordnungsliebender Mensch verlassen hatte. »Bück! Wo, zum Teufel, steckst du?« Im Handumdrehen stellte Chase
fest, daß das Haus leer war. Von Panik getrieben, rannte er in die Scheune und zu den Stallungen. Bück war nirgendwo zu finden, und Chase kehrte wieder ins Haus zurück. Er würde warten müssen, bis sein Bruder auftauchte. Im dunkeln – oder auch am hellichten Tag –, er hatte nicht die leiseste Ahnung, wo er ihn suchen sollte. »Wußte ich’s doch! Ich hätte heute abend nicht zu ihnen gehen sollen«, murmelte er, als er eine Lampe anzündete. »Ich hätte hier bleiben sollen, wo ich hingehöre.« Er stellte sich seinen Bruder vor, wie er allein zu abend aß, lustlos und griesgrämig, weil Chase nicht zu Hause geblieben war. Chase wußte, wie er im umgekehrten Fall reagieren würde; er hätte es Bück übelgenommen, daß er allein ausging, und hätte sich ohne ihn amüsiert. Bück war wahrscheinlich verschwunden, um ihm eine Lektion zu erteilen. Er hatte sich zu einem einsamen Spaziergang im Mondschein aufgemacht und versuchte seinen Kummer loszuwerden. Chase hoffte, daß Bück nicht in Schwierigkeiten geraten war oder etwas Dummes ange stellt hatte. Ihm fiel ein, daß er vergessen hatte, bei den Pferden nachzusehen, ob sie vollzählig vorhanden waren. Mit wenigen Schritten war er beim Korral und sah nach. Keines der Pferde fehlte, was hieß, daß Bück zu Fuß unterwegs war. Chase machte sich Vorwürfe wegen des Verschwindens seines Bruders und ging bedrückt ins Haus zurück. Daß ein Abend so traurig enden mußte, der so vielversprechend begonnen hatte. Obwohl sein Gewissen ihn plagte, als er wegritt und Bück allein ließ, hatte er sich auf den Abend gefreut. Seine glühende Vorfreude hatte sich zu Asche verwandelt, und er würde den Rest der langen Nacht mit quälenden Selbstvorwürfen verbringen. Beim Frühstück, das auf den Abend mit Chase folgte, erteilte Maddie ihrer Schwester Carrie eine gehörige Abreibung, weil sie das bevorstehende Rennen erwähnt hatte. »Denkst du denn nicht nach, bevor du den Mund aufmachst, Carrie? Wenn Mr. Cumberland nun nach Abilene reitet und Bonnie Lass als unseren Gegner aufbietet? Wenn sich kein Dritter meldet, dürfte es ein leichter Sieg für uns werden, aber wenn wir es wieder mit seiner Stute zu tun haben. »Tja, wir haben keine fünftausend Dollar, die wir verlieren können, ge-
nausowenig, wie wir zweitausend hatten. Das könnte uns den letzten Rest geben. Man hätte doch meinen können, daß dir diese Tatsache in den Sinn gekommen wäre, bevor du wie ein dummes Präriehühnchen vor einem Coyoten herumgackerst.« Carries Unterlippe zitterte, und die Augen weiteten sich bestürzt. »Oh, Maddie, es tut mir leid, ich wußte nicht…« »Das weiß ich, darum erkläre ich es dir jetzt. Es ist auch nicht nur deine Schuld. Ich bedaure, daß ich Mr. Cumberland zum Abendessen eingeladen habe. Ich hatte ihn zu überreden versucht, nicht gegen uns zu rennen, aber das lehnte er ab. Damit wird er zu unserem gefährlichsten Kontrahenten in der Region. Im Umkreis von Meilen gibt es kein anderes Pferd, das wir so fürchten müssen wie seine Stute. Ich hatte gehofft, wir könnten sie einfach übergehen, aber jetzt wird sie uns leider bei jedem Rennen begegnen. Von jetzt an werde ich jede Herausforderung ablehnen müssen, bei der mehr als zwei Pferde laufen. Etwas anderes dürfen wir nicht riskieren.« Little Mike schluckte den letzten Bissen Brot herunter und schob seinen Stuhl vom Tisch zurück, an dem er, Maddie, Carrie und Zoe saßen. Pa hatte sich noch nicht gezeigt, und Pawnee Mary hatte sich verspätet. Normalerweise kam sie – wenn sie es versprochen hatte – um diese Zeit ins Haus. »Ich hoffe, Mr. Cumberland reitet nach Abilene und läßt sich für das Rennen aufstellen, Maddie«, erklärte ihr Bruder kämpferisch. »Auf diese Weise können wir ihn schlagen und aller Welt zeigen, daß wir das bessere Pferd haben.« »Wieso glaubst du, Gold Deck könne Bonnie Lass diesmal schlagen, wenn er es letztes Mal nicht geschafft hat? Diese Stute ist schnell und in bester Form. Ich begreife immer noch nicht, wie sie so leicht siegen konnte… abgesehen davon ärgert mich unsere Niederlage gewaltig. Natürlich hat Mr. Cumberland, dieser schlaue Fuchs, sie absichtlich in schlechtem Zustand präsentiert. Und ich bin darauf hereingefallen. Sie sah furchtbar elend aus und benahm sich, als ob dies ihr normaler Zustand sei.« »Pa hätte es auch nicht anders gemacht«, warf Little Mike ein. »Nur brauchst du dir bei diesem Rennen keine Gedanken zu machen, Maddie. Wenn Mr. Cumberland Bonnie Lass aufbietet, werden wir weder unser
Geld noch unsere Farm verlieren. Dieses Mal werde ich Gold Deck reiten und…« Maddie sprang auf. »Du glaubst, wir haben meinetwegen gegen Bonnie Lass verloren? Ich habe ihn in letzter Zeit vielleicht nicht oft geritten, aber ich war der erste Reiter, den Pa auf seinen Rücken gesetzt hat. Hast du das vergessen? Gold Deck würde alles für mich tun. Ich war nervös, ja, das muß ich zugeben, aber ich habe meine Sache trotzdem gut gemacht. Wir waren einfach nicht so schnell wie seine Stute, das ist alles. Wenn ich sie mir vor dem Rennen genauer angesehen hätte und Mr. Cumberland nicht so hinterlistig gewesen wäre, hätten wir seine Herausforderung niemals angenommen. Das hätte ich nicht riskiert.« Trotzig biß Little Mike die Zähne zusammen, eine Mimik, die Maddie an Pa in jüngeren Jahren erinnerte oder sogar an ihre Mutter, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. »Ich kann dazu nur eins sagen: Wenn ich mich an diesem Tag nicht verletzt hätte, dann hätten wir gewonnen, Maddie. Und ich glaube, daß wir gewinnen können, wenn wir die Gelegenheit haben sollten, gegen Bonnie Lass zu laufen. Gold Deck hatte nicht damit gerechnet, daß du ihn reitest. Er war einfach zu überrascht und hat nicht sein Bestes gegeben wie sonst immer.« »Das kann ich nicht beurteilen, aber eins weiß ich: Gold Deck ist noch nicht so gut in Form wie Bonnie Lass. Aber dieses Problem können wir mit Sicherheit lösen, und wir werden es lösen!« Maddie blickte ihren kampfesmutigen Bruder voller Stolz an. »Falls sich Mr. Cumberland entschließen sollte, doch noch nach Abilene zu reiten, dann nimmst du Gold Deck lieber gleich von Tag zu Tag zur Vorbereitung etwas härter ran. Dieses Mal muß der Hengst in Hochform sein. Habe ich dein Wort, daß du an keinem einzigen Tag das Training ausläßt, von heute an bis zum Rennen nächsten Monat?« »Du willst, daß ich ihn auch an den Tagen reite, wenn er eine Stute deckt?« Little Mike erwiderte ihren Blick mit innerlicher Stärke, die sie vorher noch nie bemerkt hatte, und Maddie wurde plötzlich bewußt, daß er sich eines Tages völlig über sie hinwegsetzen würde und das tat, was er für richtig hielt. Diese Vorstellung gefiel ihr und erschreckte sie zugleich.
»Also… wenn du fürchtest, wir verlangen zuviel von ihm und schwächen ihn, dann kannst du das Training an diesen Tagen ausfallen lassen, aber nur dann. Die Entscheidung liegt aber letztendlich bei dir… Ich möchte nur nicht, daß du nachlässig bist und deine Pflichten vergißt, zum Beispiel Pferde striegeln und den Stall ausmisten.« Sie wußte, daß sie das Falsche gesagt hatte, kaum daß ihr die Worte über die Lippen gekommen waren. Little Mike erhob sich vom Tisch, marschierte hinaus und schlug die Tür krachend hinter sich zu. Maddie wunderte sich, daß die Tür immer noch in den Angeln hing, obwohl in letzter Zeit viel Schindluder mit ihr getrieben wurde. Sie setzte sich wieder an den Tisch und verwünschte sich, weil sie ihren Bruder gemaßregelt hatte. Sie verstand, warum er sich manchmal zurückziehen mußte; er war einfach überfordert. Wenn der Druck zu groß wurde, ging er zum Angeln an den Fluß oder er ritt in die Stadt, doch wenn er zurückkam, ging er mit doppelter Kraft und Begeisterung als zuvor an die Arbeit. Damit zeigte er ihr auf seine Art, daß es ihm leid tat, sie einen Tag im Stich gelassen zu haben. Würde sie jemals lernen, taktvoll und einfühlsam zu sein? Ihre Mutter hatte mit einem einzigen Heben der Augenbraue soviel erreichen können, aber wenn Maddie es versuchte, schien es nie zu funktionieren. Auch nicht, wenn sie eine Gardinenpredigt hielt. Es schien ihr nichts anderes zu gelingen, als den Trotz der Geschwister zu wecken. Dabei brauchte sie Little Mikes Hilfe so sehr! Ohne ihn könnte sie die Farm nicht bewirtschaften. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, standen Carrie und Zoe auf und räumten das Frühstücksgeschirr ab. Auch ihre Gesichter waren angespannt und spiegelten die Miß Stimmung des Morgens wider. Maddie wünschte, sie hätte zu keinem ein Wort gesagt. Sie hatte nur erreicht, daß sich Carrie und Little Mike Vorwürfe wegen etwas machten, das sie nicht ändern konnten. Oh, und wo blieb Mary heute morgen? Die Gegenwart der stillen Indianerin hatte immer etwas Beruhigendes. Wenn Maddie darüber nachdachte, womit Mary fertig werden mußte – mit der Ablehnung und Ächtung der Einheimischen und deren verleumderischen, bösen Klatschgeschichten, mit dem Verlust ihres indianischen Erbes –, dann konnte sie ihre eigenen Nöte besser abwägen.
Mary hielt sich nicht lange bei den Ungerechtigkeiten des Lebens auf. Statt dessen freute sie sich über kleine Dinge – über eine Schüssel selbstgepflückter Blaubeeren, ein Stück Kleinwild, das ihr in die Falle gegangen war und einen schmackhaften Eintopf abgeben würde, über Präriekartoffeln, die sie ausgegraben hatte, über den Balg eines Wildtieres, den sie gegerbt und zu etwas Nützlichem und Schönem verarbeitet hatte. Und wie stolz war sie auf ihren Garten, dessen kargen Prärieboden sie riesige Sonnenblumen abtrotzte! Heute werde ich mehr wie Mary sein, beschloß Maddie. Meine Sorgen sollen von mir abgleiten wie Regentropfen an einem Gefieder, und Frieden wird in meine Seele einkehren. Der erste Punkt der unangenehmen Arbeiten, die heute auf der Tagesliste standen, war das Ausleeren von Pa’s Whiskeyflaschen, die sie gestern im Hühnerhaus versteckt hatte. Mit diesem Ziel vor Augen stand Maddie vom Tisch auf und ging mit energischen Schritten zur Tür hinaus. Der Morgen war frisch und klar und versöhnte sie mit ihren Sorgen und Gewissensbissen. Tief sog sie die wohltuende Luft ein, bevor sie auf den Hühnerstall zusteuerte. Sie würde die Flaschen zum Misthaufen hinter dem Stall tragen und sie dort ausleeren, bevor Pa ihr Tun bemerkte. Wenn er dann einen Wirbel machte oder darauf bestand, in die Stadt zu fahren, würde sie ihn begleiten, damit er seinen Vorrat nicht auffüllen konnte. Manchmal hatte sie versucht, Little Mike oder einen der Zwillinge als Begleiter mitzuschicken, aber trotz ihrer Vorsichtsmaßnahmen war es Pa stets geglückt, die jüngeren McCrorys zu überlisten. Dieses Mal würde Maddie dafür sorgen, daß es nicht dazu kam. Sie war eisenhart. Keinen Whiskey. Keine Debatten. Keinen Streit. Keine Freiheiten mehr, bei denen er sie hinterging. Als sie beim Hühnerhaus ankam, befand sich das Federvieh bereits in größter Aufregung. Gackernd und flügelschlagend liefen die Hühner wild durcheinander, als ob Meister Reinecke sich bei ihnen eingenistet hätte. Der Hahn, ein großer, wichtigtuerischer Kerl mit rotem Kamm und bunten, langen Schwanzfedern, eilte halb laufend, halb fliegend zu ihren Röcken, wie er es immer tat, wenn sie Eier statt Whiskeyflaschen einsammelte. »Verschwinde!« Wieder hatte Maddie den Besen vergessen, um ihn
fortzuscheuchen. Das einzige, was der Hahn respektierte, war der Besen – und eine der größeren Hennen, die sich weder durch den Hahn noch durch den Besen einschüchtern ließ. Aus diesem Grund hatten die Zwillinge sie Big Mama getauft. Big Mama war der Schrecken des Hühnerhofes. Die Küken stieben in alle Richtungen davon, als Maddie sie aus dem Hühnerstall scheuchte und hineinging. In einem Haufen von Federn und Kot saß ihr Vater am Boden und grinste sie an. Mit dem Arm drückte er eine Flasche an die Brust. »Ha! Dachtest wohl, du kannst sie vor mir verstecken, was? Ja! Aber da hab’ ich mein altes Hirn in Bewegung gesetzt und mir gesagt: also, in welchem Versteck, würde Maddie sich fragen, würde der Alte nicht nach den Flaschen suchen? Tja, Maddielein, und heute morgen, bevor es hell wurde, kam mir die Erleuchtung – im Hühnerstall!« Großer Gott! Dann saß er schon seit Tagesanbruch hier und trank Whiskey? Offensichtlich. Whiskeydunst erfüllte die dunkle Enge. Die Augen des Vaters hatten wieder ›diesen‹ Ausdruck. Er grinste spitzbübisch wie ein kleiner Junge, der erwischt wurde, als er Äpfel im Garten stibitzen wollte oder einen frischgebackenen Kuchen, der auf dem Küchenfensterbrett zum Abkühlen stand. »Warum bist du hierher gekommen, Maddie? Wolltest sie ausgießen, hm? Mir den einzigen Trost rauben, der mir noch in diesem Leben geblieben ist? Aber ich bin dir zuvorgekommen. Ich hab’ sie eigenhändig ausgeschüttet… in meine Gurgel.« »Alle, Pa? Du hast alle drei Flaschen ausgetrunken?« Maddie sank neben ihm auf die Knie. Hühnerkot klebte an seiner Kleidung, an den Händen und der Flasche, die er umklammert hielt… Er stank zum Himmel, aber das war die geringste Sorge. Wenn er die drei Flaschen tatsächlich ausgetrunken hatte, dann würde er im Sarg landen. »Drei Flaschen? Hast du drei gesagt?« Ihr Vater kniff die Augen zusammen und sah sich im Hühnerstall um. »Ich dachte, es wären nur zwei… oder vielleicht vier. Du weißt ja, so gut sehen kann ich nicht mehr. Manchmal verdoppeln sich die Dinge, wenn ich sie ansehe. Muß das
dumme Licht sein, das mir da einen Streich spielt.« Maddie nahm ihm die Flasche aus dem Arm; sie war leicht genug, um leer zu sein. In Hopewell wie in vielen anderen kleinen Städten in Kansas sprachen die Leute bereits über ein Gesetz, das den Verkauf von Whiskey im ganzen Staat verbieten sollte und damit auch die Schließung sämtlicher Saloons zur Folge haben würde. In Dodge City und Abilene, den großen Rinderstädten, hatten sich Rowdytum und Gesetzlosigkeit so breitgemacht, daß das Alkoholverbot, die Prohibition, das einzige Mittel zu sein schien, um Gesetz und Ordnung wieder herzustellen. Maddie konnte es damit nicht schnell genug gehen. Sie hoffte, daß der neue Präsident, Rutherford B. Hayes, dazu beitragen würde, die Dinge zu beschleunigen. Seine Frau Lucy, die, wie man wußte, den Konsum alkoholischer Getränke verabscheute, hatte geschworen, während der Amtszeit ihres Mannes auf Empfängen und Partys nur Limonade oder Wasser zu servieren. Wenn das stimmte, dann war Lucy Hayes eine verwandte Seele… Was würde Limonaden-Lucy jetzt in Maddies Situation tun? Maddie stellte die Flasche ab und packte ihren Vater bei den Schultern. »Kannst du aufstehen, Pa? Du mußt jetzt ins Haus gehen und dich waschen.« »Mich waschen? Wozu? Bekommen wir heute wieder Besuch?« »Nein, Pa, aber du siehst schrecklich aus…« Mit einer abwinkenden Handbewegung versuchte sie alles auszudrücken. »Es ist entsetzlich. Daß du so tief sinken kannst! Ich fasse es nicht, daß du hier im Hühnerstall sitzt und dich bis zur Bewußtlosigkeit besäufst.« Mit überraschender Kraft packte er sie bei der Hand und sah sie aus blutunterlaufenen Augen an. »Sag’s nicht deiner Mutter, Maddielein! Das bleibt unter uns… du behältst das für dich, ja? Erzähl auch deinem Bruder und deinen Schwestern nichts davon. Ich will nicht, daß sie mich so sehen. Ich bin ihr Pa, und sie müssen Achtung vor mir haben.« Wie sollen sie Achtung vor dir haben, wenn du sie nicht mehr vor dir selbst hast? Wenn Ma noch hier wäre, würde sie dieser Trinkerei ein Ende machen. In Maddies Kopf wirbelte es von Vorwürfen, aber sie schwieg. Pa würde
sich an nichts mehr erinnern, nicht in diesem Zustand. »Stütz dich auf mich, Pa, ich helf dir auf dem Weg ins Haus. Wir machen dich sauber, und dann bekommst du dein Frühstück. Du brauchst einen heißen Kaffee. Der wird dich wieder zur Vernunft bringen.« »Ich will kein Frühstück. Auch keinen Kaffee. Will hier nur ein Weilchen sitzen bleiben.« Pa wehrte sich gegen Maddies Versuche, ihn wieder auf die Beine zu stellen. Er legte sich zurück und lehnte den Kopf auf einen Strohhaufen, auf dem ein wunderschönes braunes Ei lag. Wenn die Henne zurückkam, um es zu verteidigen, dann könnte sie ihm leicht die Augen auspicken, während er seinen Rausch ausschlief, vor allem, wenn die Henne Big Mama war. Welche Möglichkeiten hatte sie? Sie würde Little Mike und die Mädchen bitten müssen, ihr zu helfen. Dieses Mal gab es keinen Chase Cumberland, der ihren Vater zum Bett tragen konnte. Sie wußte, was Chase ihr raten würde, aber sie konnte Pa doch nicht hier bewußtlos im Stall liegen las- sen, auch wenn er es verdient hatte. Wie immer gab sie sich für diesen Vorfall die Schuld; sie hätte den Whiskey gestern abend nicht hier verstecken dürfen. Was würde sie dafür geben, wenn sie diesen Hühnerstall hinter sich lassen könnte, um an einem anderen Ort ein neues Leben zu beginnen! In den Armen eines Mannes, der sie liebte, der für sie da war und der sein Lebtag lang nie einen Tropfen Whiskey anrühren würde. Bei dem sie ihre Worte nicht auf die Goldwaage legen und gegen ihre herrische Natur ankämpfen mußte, bei dem sie so sein konnte, wie sie war. Aber diesen Ort gab es wahrscheinlich nicht auf der großen weiten Welt, und vielleicht würde sie sich langweilen, wenn es keine Schwierigkeiten zu überwinden gab. Aber all das hier hätte sie am liebsten abgeschüttelt. Daß sie den langsamen Verfall ihres Vaters mit ansehen mußte, war eine Last, die sie nicht erwartet hatte, und sie konnte nichts anderes tun, als untätig zuzusehen. Am schlimmsten war es für sie, ihren eigenen, angeborenen Optimismus dahinschwinden zu sehen. Noch immer betrachtete sie jeden Tag als ein Geschenk, aber von Mal zu Mal wurde es schwieriger. Vor allem, wenn sie ihren Vater betrunken und mit Federn und Kot beschmiert im Hühnerstall fand! Mit zusammengekniffenen Augen hielt Maddie die
Tränen zurück und lachte. Lachen war das einzige, was ihr noch geblieben war. Sollte es eines Tages so weit kommen, daß sie die Komik einer Situation nicht mehr erfaßte, dann konnte sie sich gleich mit einer Flasche Whiskey neben Pa setzen. Pa hörte sie lachen, öffnete ein Auge und blinzelte zu ihr herüber. »Was ist denn so komisch, mein Mädchen?« »Du, Pa!« antwortete sie. »Wenn du dich nur sehen könntest…« Du würdest dich in Grund und Boden schämen. Er nickte zufrieden. »Es tut so gut, dich lachen zu hören. Das Beste, was ich seit langem gehört habe.« Ihr Lachen wich einem Schluchzen. Chase Cumberland hatte sie letzten Abend zum Lachen gebracht, bevor er sie zornig machte. Das war echtes Lachen gewesen, echte Fröhlichkeit. Das hier nicht. Das war der verzweifelte Versuch, das Beste aus einer furchtbaren Situation zu machen, der sie so gern entflohen wäre. Steh auf und tu etwas, Maddie. Tu etwas, bevor du den Verstand verlierst. Sie fühlte sich so alt wie ihr Vater, als sie hinausging, um ihren Bruder und die Schwestern zu holen, damit sie ihr halfen, Pa ins Haus zu schaffen. Eine Woche verging, bevor Chase den Mut fand, sich in Gedanken damit zu befassen, zu den McCrorys zu gehen und den Deckstand zu Ende zu bauen. Er hatte gezögert, weil er nicht damit herausrücken wollte, daß er sich für das große Rennen in Abilene eingetragen hatte. Als das Telegramm aus Salina mit der Bestätigung eintraf, daß er noch am Rennen teilnehmen konnte, war Chase sofort und ohne eine Pause einzulegen den weiten Weg nach Abilene geritten. Dort war Lazarus Gratiot nur zu glücklich gewesen, die Abmachung mit einem Handschlag zu besiegeln, daß Bonnie Lass gegen Gold Deck und seinen Hengst One-Eyed Jack antrat. Natürlich hatte sich Chase den Hengs t vorher genauestens betrachtet und war zu dem Schluß gekommen, daß Gratiot einer dieser jämmerlichen Angeber war, der glaubte, daß er jedes Pferd zum Sieg peitschen konnte. Offensichtlich hatte er mit dieser Methode einige Rennen gewonnen und hielt sich jetzt für unbesiegbar. Chase war sich seiner völlig sicher; allein die Vorstellung freute ihn, Gratiot in einer Staubfahne hinter sich zu lassen. Um das Ganze zu versüßen, hatte er auf einem daiming race bestanden,
was bedeutete, daß der Sieger die Option erhielt, das Pferd des Verlierers zu kaufen. Maddie hatte er aus dieser Absprache herausgelassen; sie betraf nur ihn und Gratiot. Chase beabsichtigte, den armen mißhandelten Hengst zu kaufen, wenn Bonnie Lass gewann. Im Grund genommen wollte er das Pferd nicht. Er wollte dem Tier nur weitere Mißhandlungen ersparen. Er konnte es nicht ertragen, wenn Pferde geschlagen wurden. Mit einer teerähnlichen Paste hatte Gratiot versucht, die Narben des Hengstes zu überstreichen, die Chase trotzdem unter dem ungebürsteten schwarzen Fell entdeckt hatte. Einige davon waren noch ziemlich frisch. Es überraschte ihn, daß Maddie Gratiots kosmetische Nachbehandlung entgangen war. Vielleicht war sie nicht nahe genug an das Pferd herangegangen oder wollte es Chase gegenüber nicht erwähnen. Wie auch immer, Chase fürchtete sich davor, ihr mitzuteilen, daß sie sich wieder als Gegner auf der Rennbahn begegnen würden. Er hatte sich ausgerechnet, daß eine Woche ausgereicht haben müßte, um diese Neuigkeit über einen Dritten erfahren zu haben. Außerdem wollte er Bück nicht gleich wieder allein lassen. Bück hatte seit jenem Abend, an dem Chase bei den McCrorys zum Essen war, ein merkwürdiges Verhalten gezeigt. Am nächsten Morgen war er bei Sonnenaufgang heimgekehrt, hatte Chase mit heiterer Gelassenheit zugenickt und war für einige Stunden zu Bett gegangen. Er hatte Chase weder gesagt, wo er gewesen war, noch sich dafür entschuldigt, daß Chase die ganze Nacht in Sorge um den Bruder verbracht hatte. Außerdem hatte er sich geweigert, Chase Auskunft über seinen Verbleib zu geben. Bereits am darauffolgenden Morgen hatte Chase beobachtet, wie sein Bruder sich wieder in der Dämmerung ins Haus schlich. Es lag auf der Hand, daß Bück etwas vorhatte. Die McCrorys waren die nächsten Nachbarn, und Hopewell war zu weit entfernt, als daß ein Mann in einer Nacht den Weg zu Fuß schaffen würde… Wo ging Bück also hin? Und warum schien er plötzlich so glücklich und zufrieden mit seinem Los zu sein? Gestern hatte Chase ihn sogar beim Pfeifen ertappt. Das sah Bück ganz und gar nicht ähnlich; Chase hatte nicht einmal gewußt, daß sein Bruder pfeifen konnte. Bück war sofort verstummt, als er Chase sah, trotzdem war Bucks Schritt leichter geworden. Seine düstere Stimmung hatte sich aufgehellt, und er
lächelte oft, was er jährelang kaum mehr getan hatte. All diese Veränderungen konnten der Tatsache zugeschrieben werden, daß sie endlich wieder ein Zuhause gefunden hatten, aber Chase hegte den Verdacht, daß mehr dahintersteckte. Wenn er es nicht besser wüßte, würde er meinen, Bück hätte eine Freundin gefunden. Die einzige weibliche Person in der nächsten Nachbarschaft war Maddie, aber Chase konnte sich Maddie und seinen Bruder als Paar nicht vorstellen. Er konnte sich Maddie mit keinem Mann vorstellen – oder, um genauer zu sein, er wollte sich so etwas nicht vorstellen. Der Gedanke, daß Maddie mit einem anderen Mann scherzte und lachte, oder schlimmer, ihn küßte und von ihm geküßt wurde, brachte seine Magenwände zum Brennen, als ob er eine Speise gegessen hätte, die seit drei Tagen in der Sonne stand. Um dieses unangenehme Gefühl loszuwerden, versuchte er, sich Maddie nicht mit einem anderen Mann vorzustellen. Nur weil er sie nicht wollte, bedeutete das noch lange nicht, daß er bereit war, sie einem anderen zu überlassen, vor allem nicht seinem Bruder. Bück war nicht der richtige Mann für Maddie, obwohl Chase schwer ins Schwitzen geriet, wenn er sich den Typ Mann vorstellen sollte, der zu ihr paßte. Über eine halbe Woche lang hatte er sich einzureden versucht, daß sie eigentlich nichts Besonderes sei, daß sie ihm nichts als ÄRGER machte! Trotzdem wollte er sie unbedingt wiedersehen - schließlich mußte der Deckstand irgendwann einmal fertiggestellt werden. Ja, und dann hatte er Little Mike fest versprochen, daß er deswegen so bald wie möglich kommen würde – und ein Versprechen brach er nie. Gleich nach dem Frühstück an einem warmen, sonnigen Morgen sattelte Chase widerwillig Bonnie Lass und machte sich auf den Weg zu den McCrorys. Es war ein selten schöner Vormittag, raschelnd strich der Wind durch das hohe Gras. Chase ritt an bunt getüpfelten Flecken von Präriephlox, Verbenen und Kreuzkraut vorbei. Es freute ihn, daß die Pflanzen nicht verwelkt und abgestorben waren, obwohl es in den letzten Wochen nicht geregnet hatte. Aufgescheuchte Heuschrecken sprangen um Bonnie Lasses Hufe, und er erinnerte sich wieder an die Plage vor einigen Jahren. Er konnte es sich kaum vorstellen, daß es vom Himmel Heuschrecken regnete, aber er wußte, daß es so gewesen war, da die Leute von Hopewell
immer noch davon sprachen. In jenem „Jahr war es auch sehr trocken gewesen, im Sommer 1874, und die Heuschrecken waren Anfang August eingefallen. Wenn das Land wieder unter dieser Plage zu leiden hätte, dann wären all seine Pläne zunichte geworden. Ohne Weidegras als Zusatzfutter für seine Pferde und die Rinder, die er noch anschaffen wollte, konnten er und Bück aufgeben und wieder weiterziehen. Trotz der Heuschrecken, der Wirbelstürme, eisigen Blizzards im Winter und der zunehmenden Verwendung von Stacheldraht zum Einzäunen der Weideflächen hoffte er zu überleben und den Herausforderungen dieses Staates gewachsen zu sein, denn das Herz hatte er bereits an Kansas verloren. An einem Tag wie heute war Kansas wunderschön. Der ständige Wind und die endlose Weite des Himmels zogen ihn in ihren Bann – mehr als Texas. Chase glaubte, daß er sich hier, solange Bück versteckt blieb, mit den Elementen und Widrigkeiten des Lebens messen konnte und seinen Mann stehen würde. Er ritt an Kalksteinhügeln vorbei und überlegte, ob Maddies Vater die Steine hier herausgebrochen hatte, um sie für den Bau seines Hauses zu verwenden. Wenn ja, dann war es eine mörderische Plackerei. Damals mußte Big Mike ein starker, zielstrebiger junger Mann gewesen sein, der sein Haus mitsamt Nebengebäuden aus reinem Kalkstein erbaute. Im nachhinein bewunderte Chase diesen Entschluß und gewann dem Senior der McCrorys einigen Respekt ab. Der Mann hatte auch seine Pferde gekannt. Chase hatte am Aussehen der meisten Tiere Gefallen gefunden, die er bis jetzt auf der McCrory-Farm gesehen hatte; es war einfach verdammt schade, daß Big Mike dem Alkohol verfallen war. Als er merkte, daß er Mitleid für diesen Mann empfand, wappnete sich Chase bewußt dagegen. Er hielt sich vor Augen, daß er weder Mitleid, Bedauern noch Achtung für diese Familie ins Spiel bringen durfte, nicht einmal die Tatsache, daß er die McCrorys mochte. Seine heutige Aufgabe bestand einzig und allein darin, den Deckstand fertig zu bauen und Little Mike dessen Anwendung zu zeigen, um dann wieder so schnell wie möglich den Heimritt anzutreten. Wie man ihn auch empfangen mochte, er würde Abstand halten und sich nicht in die Hoffnungen, Träume und Nöte
der McCrorys hineinziehen lassen. Little Mike war der erste, der ihn entdeckte, als er auf das Haus zu ritt. »Chase! Ich meine, Mr. Cumberland. Kommen Sie, um das Gestell zu Ende zu bauen?« Der junge Mann war über alle Maßen erfreut, ihn zu sehen. Er lachte zwar nicht, aber die grünblauen Augen leuchteten begeistert auf unter dem breitkrempigen alten Hut. »Für dich bin ich Chase, Mike, gleichgültig, wie mich deine Schwestern nennen. Und ja, ich bin hier, um den Deckstand fertig zu bauen.« Chase saß ab und warf einen kurzen Blick auf die vordere Veranda. »Sie haben Maddie und die Zwillinge leider verpaßt. Gleich heute morgen sind sie mit dem buckboard zum Einkaufen in die Stadt gefahren. Sie haben sie unterwegs nicht gesehen, oder?« »Ich hab nicht den Fahrweg genommen, sondern bin quer durch die Prärie geritten.« Chase unterdrückte seine Enttäuschung; eigentlich sollte er froh sein, Maddie nicht anzutreffen. Für alle Beteiligten wäre es besser, wenn er sie nie wiedersehen würde. »Ein Glück, daß deine Schwestern heute weg sind. Da stört uns keiner bei der Arbeit.« Little Mike nickte begeistert. »Irgendwie hatte ich ge ahnt, daß Sie heute vorbeikommen würden. Ich bin schon zeitig aufgestanden und habe das meiste erledigt für den Fall, daß Sie kommen.« »Du hast es geahnt? Das ist merkwürdig, denn ich habe heute erst beim Frühstück beschlossen, zu euch zu reiten. Eigentlich wollte ich heute mit den Jährlingen arbeiten, aber dann fiel mir ein, wie dringend ihr den Deckstand gebrauchen könntet. Tja, und dann machte ich mir Vorwürfe, daß ich nicht schon eher zu euch geritten bin.« »Das ist richtig. Vier Stuten warten hier bereits darauf, daß sie gedeckt werden – sobald ihre Zeit kommt. Ich glaube zwar nicht, daß es heute bei einer von ihnen soweit sein wird. Deswegen habe ich auch Maddie gesagt, daß sie heute in aller Ruhe mit dem buckboard Vorräte kaufen kann. Mit Gold Deck habe ich bereits heute früh trainiert. Also habe ich für den Rest des Tages frei.« Little Mike erwähnte kein Wort von Chases Teilnahme am Rennen in
Abilene. Also wußte Maddie noch nichts davon. Chase war gleichzeitig erleichtert und auch verärgert. Hoffentlich wurde er mit diesem verdammten Deckstand fertig, bevor sie nach Hause kam. »Also, dann wollen wir uns gleich an die Arbeit machen«, drängte er. »Es wird eine Überraschung für meine Schwestern sein, wenn sie bei ihrer Rückkehr den fertigen Deckstand sehen«, fügte Little Mike treuherzig hinzu. Chase fragte nicht, wo Big Mike war, und Little Mike schwieg sich über seinen Vater aus. Außerdem war sich Chase nicht sicher, ob er es wissen wollte. Vor allem wollte er nicht wissen, ob Big Mike wieder zu einer Sauftour aufgebrochen war. Das war nicht sein Problem, rief er sich wieder ins Gedächtnis zurück. Deswegen würde er sich nicht den Kopf zerbrechen. Aber trotz all seiner Vorsätze machte sich Chase um die Familie McCrory große Sorgen, wobei Big Mikes Trinkgewohnheiten nur einen Teil davon ausmachten. Die größte Sorge war Maddie selbst. Würde er sie heute sehen – oder würde er sie nicht sehen? Wenn ja, sollte er dann erwähnen, daß er sich zu diesem verdammten Rennen eingetragen hatte?
ELF Zeitiger als Maddie beabsichtigt hatte, verließ sie mit den Schwestern Grovers Gemischtwarenladen und bugsierte sie samt der Einkäufe zu ihrem buckboard. Sie hatte gerade einen schweren Sack Bohnen aufgeladen, als sie Horace Brownley aus der Bank heraustreten sah. Ein Passant hielt ihn an. Während die beiden Männer auf der Straße miteinander sprachen, handelte Maddie rasch und umsichtig. Sie verfrachtete Schwestern wie Tüten und Päckchen so schnell in den buckboard, daß Zoe sich beschwerte. »Maddie, hetz mich nicht so. In meinem Kopf dreht sich alles bei dieser Hitze.« »Husch! Setz dein Hütchen auf. Schau ja nicht zu Mr. Brownley hinüber. Wenn er dich entdeckt, tu so, als würdest du ihn nicht wiedererkennen. Wir
müssen verschwinden, bevor er uns sieht.« »Ich glaube, es ist zu spät, Maddie«, wisperte Carrie. »Er hat uns schon erspäht, dich jedenfalls. Er kommt auf uns zu.« »Maddie! Miss McCrory. Warten Sie, meine Liebe!« rief Horace. Aber Maddie ließ bereits die Peitsche über Shovels breiten Rücken knallen und gackerte wie eine brütende Henne. Shovel trabte langsam an und beschwerte sich schnaubend über Maddies hastigen Aufbruch. »Na, wird’s bald, oder soll ich dir Beine machen?« drohte Maddie. Bei diesem Ton legten sich Shovels Ohren an. Er fiel in einen leichten Galopp, so daß der Boden unter seinen großen Füßen bebte und der buckboard in den Fugen knarzte und stöhnte, als ob er jeden Augenblick auseinanderbrechen würde. Aber der brave Shovel ließ Horace Brownley weit hinter sich, woran Maddie so dringlich gelegen war. »Wehe, du schaust zurück, Zoe!« warnte sie die Schwester, als sie Anstalten machte, sich umzudrehen. »Wenn du zurücksiehst, weiß er ganz genau, daß wir vor ihm aus reißen.« »Das weiß er doch sowieso. Du bist nicht gerade sehr feinfühlig… oder diplomatisch, Maddie.« »Das kümmert mich nicht. Ich hatte gehofft, wir würden Howard heute nicht begegnen. Wenn uns das Mehl nicht ausgegangen wäre, hätte ich mir den Weg in die Stadt gespart. Als ich Howard das letzte Mal sah, erklärte ich ihm, ich wäre ein paar Wochen sehr beschäftigt und hätte keine Zeit für ihn. Jetzt wird er verstimmt sein, daß ich ihn nicht in der Bank besucht habe, während ich hier war.« »Natürlich wird er verärgert sein. Er macht dir den Hof, und du behandelst ihn wie einen alten, verflohten Hund.« Carries Stimme klang aufgebracht und übellaunig. »Nicht so schnell, ja? Sonst fahren wir noch über ein Loch und landen kopfüber auf der Straße.« Maddie befand, daß sie sich weit genug von der Stadt entfernt hatten und nun langsamer fahren konnten. Horace konnte nicht sehr lange laufen, dann blieb ihm die Luft weg; mittlerweile dürfte er die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit erreicht haben. Sie widerstand dem Drang, über die Schulter zurückzublicken, um zu sehen, wie weit er gekommen war. Besser, wenn er der Meinung war, sie hätte ihn weder gesehen noch gehört.
Sie zog die Zügel an, aber Shovel, angespornt durch die Aufregung seiner Herrin, achtete nicht darauf. Seine Hufe stampften zweimal so schnell wie sonst auf dem staubigen Weg voran. Er lief so geschwind, als ob man ein Feuer unter seinem Schwanz angezündet hätte. »Du lieber Himmel!« rief Maddie aus. »Ich glaube, Shovel möchte Rennpferd werden! Er hält sich wohl für ein Quarter horse und will seinen Kontrahenten nicht an sich vorbeilassen, ohne zu wissen, daß es nur sein Schatten ist.« Zoe mußte lachen. »Du hast auf das falsche Pferd ge setzt, Maddie. Du hättest fünftausend auf den alten Shovel setzen sollen anstatt auf Gold Deck. Auch Gold Deck könnte uns nicht schneller nach Hause fahren.« »Warten wir’s ab, Mädchen. Mal sehen, wie lange Shovel dieses Tempo durchhalten kann.« Sie kamen in Rekordzeit zu Hause an, ungefähr um die Mitte des Nachmittags, und nicht wie üblich am frühen Abend. Erst jetzt wechselte der mit schäumendem Schweiß bedeckte, schwer schnaubende Shovel in eine langsame Gangart über. Als sie vor dem Haus hielten, hieß Maddie die Mädchen aussteigen. Die Arme voll mit Tüten bepackt, trotteten sie die Stufen zur Veranda hinauf, während sie den kleinen Wagen wendete und zum Stall fuhr. Maddie bog gerade in dem Moment um die Ecke, als Little Mike eine der zu deckenden Stuten zu dem hölzernen Gestell führte, mit dessen Bau Chase vor einer Woche begonnen hatte. Die Rampe war jetzt fertig, und Chase stand daneben. »Führ sie rein und binde sie fest«, wies er Little Mike an. »Anschließend holst du Gold Deck, und dann werde ich dir zeigen, wie das Ganze funktioniert.« Bei dem Geräusch des heranfahrenden buckboard blickte er auf. Die Sonne zauberte goldene Sprenkel in die bernsteinfarbenen Augen. Maddie mußte tief durchatmen. Ein jedes Mal, wenn sie Chase sah, fühlte sie sich verwirrt. Aufregung breitete sich in ihrer Magengrube aus, die In- nenflächen der Hände wurden feucht, der Atem beschleunigte sich. Seine lässige Haltung – mit verschränkten Armen lehnte er am Gestell – forderte ihre Aufmerksamkeit geradezu heraus. Mein Gott, was sah der Kerl gut aus!
Einfach unverschämt gut, was nicht unbedingt zu seinem Vorteil gereichte. Und ihrem auch nicht. Wie neulich hatte er das Hemd abgelegt, nur daß er heute ein rotes Baumwolltuch um den Hals gebunden hatte. Dazu trug er eine dunkle Hose und wie immer den schwarzen Stetson. Der Hut saß hinten am Kopf, als ob er ihn zurückgeschoben hätte, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. »Guten Tag, Maddie. Sie kommen genau zur richtigen Zeit. Wir wollen gerade Ihren neuen Deckstand ausprobieren.« Es erschien ihr doch ein wenig zu ungehobelt, wenn sie ihn jetzt aufforderte, sie mit Miss McCrory anzureden. Nachdem er offensichtlich mehrere Stunden mit Little Mike verbracht hatte, um den Bau des Gestells zu vollenden. Dennoch war Maddie nicht geneigt, allzu freundlich zu sein. »Guten Tag, Sir«, gab sie kühl zurück. Es fiel ihr schwer, den Blick auf die hölzerne Konstruktion zu richten und nicht auf Chases nackte Brust und die muskelbepackten Arme. Nur zu gut erinnerte sie sich daran, wie es war, an seinem muskulösen Oberkörper zu lehnen. Ob er jetzt auch daran dachte? Sie wagte es, ihn ein zweites Mal anzusehen, und merkte, daß er sie forschend betrachtete. Ein heißes Prickeln überzog auf einmal ihre Haut. Als sich beider Augen für einen Moment trafen, war sie überzeugt, daß er an ihrem Gesicht ablesen konnte, wie gern sie an seinen Kuß zurückdachte und an seine Umarmung. Wieder war ihr Körper vollkommen auf ihn eingestellt, bereit, in Flammen aufzugehen. Reiß dich zusammen, Maddie! Du benimmst dich wie eine dumme Gans. Um Haltung kämpfend, richtete Maddie ihre volle Aufmerksamkeit auf den Deckstand. Es war ein ziemlich enges Ding aus dicken Holzbrettern, die das darin stehende Pferd von drei Seiten umschlossen. Befand sich die Stute erst einmal in diesem Bretterkanal, konnte sie sich nicht mehr auf der Hinterhand umdrehen, um dem Hengst zu entkommen, wenn er sie bestieg. Die Konstruktion war lang genug, um auch den Hengst daran zu hindern, das gleiche zu tun. Die Stute hatte also keine Möglichkeit, den Hengst abzuwehren, wenn er sie bestieg, dachte Maddie im stillen. Als Little Mike aus dem vorderen Ende des Gestells herauskletterte,
bückte sich Chase, hob einen kräftigen Balken hoch und fügte ihn hinter dem Schwanz der Stute in den Deckstand ein, so daß sie vollkommen eingegrenzt war. Der Balken paßte genau in die Beuge oberhalb ihrer Sprunggelenke. Sie würde also sofort den Widerstand spüren, wenn sie ein Bein oder beide heben wollte, um mit den Hufen auszukeilen. Doch war der Balken tief genug angebracht, so daß der Hengst zu seinem Ziel kommen konnte. Nicht an diese Beengtheit gewohnt, bewegte sich die Stute unruhig hin und her, schwang den Kopf herum und blickte zu ihnen. »Sieh noch einmal nach, ob sie auch kurz genug angebunden ist, damit sie nicht nach hinten ausweichen kann«, riet Chase, und Little Mike zog eilig die schlaff durchhängenden Zügel an. Maddie zog die Bremse des buckboards, ließ die Zügel auf den Sitz fallen und kletterte hinab. »Ich kann ihr nicht zum Vorwurf machen, daß sie das nicht mag. Sie kann sich in diesem Gestell ja weder vorwärts noch rückwärts bewegen.« Chase verzog den Mund zu einem lässigen Grinsen, das zu allem Übel auch noch erstaunlich sinnlich wirkte. »Das ist die Idee, die dahintersteckt. Oh, wenn sie einen Mordsaufruhr veranstaltet, könnte sie das ganze Ding demolieren, aber wir haben es aus stabilen Brettern gezimmert, so daß es hoffentlich standhalten wird. Wichtig dabei ist, daß sie den Hengst nicht verletzen kann, wenn er zu ihr geführt wird. Wenn sie sich allzu heftig weigert, wissen wir, daß sie noch nicht soweit ist. Little Mike kann sie dann einfach herausführen und noch ein oder zwei Tage abwarten. Aber dieser Deckstand hat noch einen weiteren Vorteil. Hat sich der Hengst erst einmal daran gewöhnt, geht er sofort hinein und erledigt seine Aufgabe, ohne groß hin und her zu springen, oder die Stute im falschen Winkel zu besteigen. Das erschreckt die Stuten manchmal, vor allem, wenn sie zum ersten Mal besprungen werden.« »Und das allerbeste… man kann es allein, ohne einen Helfer durchführen«, fügte Little Mike strahlend hinzu. »Ich kann eine Stute in den Deckstand stellen und ihr Gold Deck zuführen, ohne daß eins der Pferde – oder ich – zu Schaden kommen!« »Vergiß nicht, daß die Gefahr, verletzt zu werden, immer besteht, wenn
du nicht vorsichtig bist«, ermähnte ihn Chase. »Als ich meinen ersten Deckstand gebaut hatte und ihn ausprobieren wollte, haben Stute und Hengst ihn mit den Hufen kurz und klein geschlagen und um ein Haar sich und mich dabei umgebracht. Du mußt dir Zeit nehmen und sicher sein, daß die Stute bereit ist, bevor du den Hengst in den Stand läßt. Übereile nie etwas.« Maddie war aufgefallen, daß er vermieden hatte, den Ort zu erwähnen, an dem dieses Malheur passiert war. Vielleicht seines Bruders wegen. Chase schien nur ungern von seiner Vergangenheit zu sprechen, aber er hatte nicht die geringsten Hemmungen, ausführlich über die Einzelheiten beim Decken zu sprechen. Ohne auf Maddies Anwesenheit zu achten, hielt er Little Mike noch einmal die Anzeichen vor Augen, welche die Bereitschaft der Stuten zeigten: ihre Willigkeit, in der Hocke vor dem Hengst zu urinieren, das Heben des Schwanzes sowie das Zusammenziehen der weiblichen Teile, was er ›Blinken‹ nannte. »Ja, ich habe sogar beobachtet, daß sie dem Hengst das Hinterteil hinhalten, damit er sie bespringt«, erzählte er mit einem Seitenblick auf Maddie. Maddie tat so, als höre sie nicht hin. Sie war herzlich froh, daß diese Zeichen bei den Menschen viel subtiler waren; es wäre unerträglich, wenn Chase aufgrund rein körperlicher Reaktionen ähnlich wie bei einer Stute erkannte, daß sie ihn attraktiv fand. Auf keinen Fall durfte er wissen, welche Gefühle er in ihrem Inneren auslöste. »Was sagen Sie zu dem Deckstand, Maddie?« fragte Chase, als Little Mike im Stall verschwand, um den Hengst zu holen. Unwillkürlich platzte Maddie mit der Wahrheit heraus. »Das ist eine fabelhafte Erfindung, aber ich bin froh, daß ich keine Stute bin. Das arme Tier kann weder ja noch nein sagen, wenn es um so etwas Entscheidendes wie Paarung und Trächtigkeit geht.« »Sie sind dagegen? Ich kenne Leute, die der Stute Fuß fesseln anlegen, damit sie nicht ausschlägt, aber Sie werden sehen, daß der Deckstand den gleichen Zweck erfüllt. Die Stute scheuert sich auch nicht an den Stricken der Fuß fesseln wund, was ja oft genug geschieht.« Die Stute nutzte gerade diesen Augenblick, um sich mit einem lauten, ängstlichen Wiehern zu beklagen.
»Nein, ich. ich finde es unfair, daß sie den Hengst kaum sehen und nicht einmal entscheiden kann, ob sie sich mit ihm paaren möchte.« »Aber das ist ja das Geniale am Deckstand. Die beiden haben die Gelegenheit, sich zuerst kennenzulernen, und können in diesem Deckstand das Ganze sicher und unversehrt über die Bühne bringen.« »Sie sagten, Little Mike sollte sich vorher gründlich vergewissern, ob die Stute den Hengst nicht abschlägt. Aber Sie hatten nicht erwähnt, daß sie sich vorher kennenlernen dürfen.« Chase stieß einen übertrieben lauten Seufzer aus. »Also, Pferde sind keine Menschen, Maddie. Machen Sie keine Romanze daraus. Meinen Sie, der Hengst müsse um die Stute freien? Ihr Blumen bringen und Komplimente ins Ohr flüstern? Er könnte ihr höchstens Karotten anbieten oder einen schönen saftigen Apfel und ihr sagen, daß ihre Mähne wie Seide glänze und daß er es gern habe, wenn ihre Schwanzhaare im Wind um seine Nase wehen.« Schon wieder machte er sich lustig; der Schalk blitzte in seinen Augen, und der Mund verzog sich zu dem ange deuteten Lächeln, das ihr bereits so vertraut geworden war. »Ganz richtig«, stimmte sie zu. »Aber sie müßte auch die Chance haben, ein Nein zu wiehern, wenn es dazu kommt, es… es tatsächlich zu tun.« «Zu tun?« fragte er gedehnt. »Sie wissen, was ich meine«, gab sie verwirrt zurück. »Ich glaube schon«, antwortete er mit leiser, kehliger Stimme, die sie wie eine Liebkosung umfing. »Aber Sie würden mir eine Freude machen, wenn Sie den Akt beschrieben. Ausführlich in allen Einzelheiten. Je ausführlicher, desto besser.« Sein verführerischer Tonfall rief Bilder in ihr hervor, die Maddie erröten ließen. Als er es bemerkte, wurde sein Grinsen breiter. Oh, was war er doch für ein entsetzlich eingebildeter Kerl! Er legte den Kopf zur Seite und wartete auf ihre Antwort. Gott sei Dank tauchte Little Mike mit Gold Deck aus dem Stall auf, und die Vorführung über die sichere Handhabung des Deckstandes konnte fortgesetzt werden. »Führ Gold Deck jetzt zur Stute, so daß sich die beiden Nase an Nase beschnüffeln können. Deine Schwester ist der Meinung, man sollte ihnen
eine Zeit der Werbung einräumen, bevor sie sich ernsthaft binden.« Die Stute wieherte, schlug mit dem Schwanz und versuchte zurückzuweichen, als sich der Hengst ihr näherte. Trotz ihrer abweisenden Haltung war der Hengst sofort erregt. Normalerweise empfand Maddie nichts Unanständiges oder Peinliches bei dem Vorspiel. Es war ein wichtiger Bestandteil des Paarungsvorganges, aber heute wäre sie am liebsten im Erdboden versunken, als sie Chases amüsierten Blick sah. »Er ist jedenfalls bereit«, bemerkte Chase seelenruhig. Little Mike grinste und nickte. »Ja, und wie«, gab er fachmännisch zum besten. »Aber ich glaube nicht, daß sie auch bereit ist. Wenn sie könnte, würde sie ihn mit einem Schlag ins Jenseits befördern.« Maddie fürchtete, die Knie würden ihr zittern, wenn es sich die Stute anders überlegte und ›blinkte‹. Sie konnte sich vorstellen, welche Kommentare Chase dazu auf Lager hatte. Glücklicherweise zeigte die Stute nicht die geringsten Anzeichen, die auf eine Bereitschaft ihrerseits deuten ließen. »Dann kannst du ihn wieder in den Stall bringen, Mike. Heute geht nichts.« »Es würde schon was gehen, wenn man Gold Deck nur ließe. Er ist ganz wild drauf.« Little Mike mußte den Hengst wegziehen. Gold Deck dachte nicht daran, seine neue Eroberung so einfach zurückzulassen, und wieherte in verzweifeltem Protest. »Immer die Entscheidung der Frau.« Chase machte diese Bemerkung, als er zur Stute ging und sie losband. »In meinen Augen ist das nicht fair, aber es ist nicht an mir, die Vorgänge in der Natur in Frage zu stellen.« Maddie traute sich eine passende Erwiderung nicht zu. Wie konnte sie auf eine derartige Frage eine Antwort geben? »Vielen Dank, daß Sie den Deckstand für uns gebaut haben«, sagte sie statt dessen. »Ich habe gesehen, wie nützlich er sein wird.« Über den Pferderücken hinweg begegneten sich ihre Blicke. »Heißt das, ich werde wieder zum Abendessen eingeladen?« »Wenn Sie nicht zuviel erwarten, können Sie heute dableiben«, hörte sie sich zu ihrer Überraschung sagen. »Mary ist nicht da, also gibt es nur etwas Einfaches.«
»Wunderbar. Ich bin nicht anspruchsvoll. Im Augenblick bin ich so hungrig, daß ich alles essen würde, was man mir vorsetzt. Einen Teller gebratener Schlangen, eine Schale Würmer. Was Sie haben, Miss McCrory.« Maddie verkniff sich ein Lachen. »Ich werde mich bemühen, mit meinen bescheidenen Mitteln ein ausreichendes und zufriedenstellendes Mahl zu bereiten.« »Alles, was dieses gastfreundliche Haus zu bieten hat, dürfte befriedigend seia. höchst befriedigend.« Maddie zeigte mit keiner Miene, daß sie die Doppeldeutigkeit begriffen hatte; jedes Wort, das Chase sprach, jeder Blick, den er ihr zuwarf, enthielt eine Anspielung. Alles belegte er mit sexuellen Andeutungen – so schien es ihr wenigstens. »Dann entschuldigen Sie mich jetzt bitte, wenn ich mich um das Abendessen kümmere.« »Wird Ihr Vater uns heute abend Gesellschaft leisten?« Vorsichtig führte Chase die Stute rückwärts aus dem Deckstand heraus. »Ich weiß es nicht. Er fühlte sich heute morgen nicht besonders wohl, als ich in die Stadt gefahren bin. Warum fragen Sie?« »Aus keinem besonderen Grund. Ich wollte ihm nur von dem Deckstand berichten und ihm vielleicht vorführen, wie er funktioniert.« »Ich bezweifle, daß es ihn interessiert, aber Sie können es ja versuchen, vorausgesetzt, daß er mit uns ißt.« »Vielleicht sollten Sie es versuchen, Maddie, und darauf bestehen, daß er seinen Allerwertesten erhebt und sich die Sache ansieht.« »Wenn es ihm bessergeht, ja. Das hatte ich vorgehabt, auch ohne Ihren unhöflichen Vorschlag.« Verärgert wandte sich Maddie zum Gehen. Abgesehen von den Auswirkungen, die er auf ihre Sinne hatte, brachte er es fertig, sie ernsthaft zu erzürnen. »Warten Sie, Maddie… Ich wollte Sie nicht verärgern, aber irgendwie läuft es bei mir immer darauf hinaus, nicht wahr? Schließen wir einen Waffenstillstand, wenigstens für heute abend. Mein Ehrenwort, ich werde nichts sagen, was Sie in Harnisch bringen könnte. Jedenfalls werde ich es
versuchen.« Maddie zögerte, aber seine Entschuldigung klang aufrichtig. »Also schön. Und was soll ich versprechen? Wenn wir eine gegenseitige Abmachung treffen wollen, muß es eine Revanche geben.« Wieder blitzten die bernsteinfarbenen Augen schalkhaft auf. »Oh, nichts einfacher als das. Sie versprechen mir, daß ich Sie wieder küssen darf. Wenn ich bis nach dem Essen durchhalte und Sie die Stirn nicht ein einziges Mal in Falten gelegt und mich nicht ein einziges Mal feindselig mit ihren schönen blauen Augen angesehen haben, dann habe ich einen Gutenachtkuß gewonnen. Ich schwöre, daß ich Ihnen nicht wieder vorschreiben werde, wie Sie mit Ihrem Vater umzugehen haben oder mit Ihren Geschwistern, obwohl ich Ihnen vielleicht einige gute Tips für die Ausbildung von Rennpferden geben könnte.« »Sie maßen sich an, einer McCrory Ratschläge im Umgang mit Pferden zu erteilen?« Wieder blitzten Maddies Augen erzürnt auf, bis sie begriff, daß er sie abermals auf den Arm genommen hatte. Er konnte es wohl nicht lassen, sie zu hänseln! Und wie eine dumme Gans fiel sie jedesmal darauf herein und nahm ihm die kleinste Kritik oder Einmischung übel. Es dürfte einfach sein, seinen Kuß zu vermeiden. wenn sie es tatsächlich wollte. »Auch wenn ich Ihnen einige Tricks beibringen könnte, so kann ich gewiß auch von Ihnen lernen«, versicherte er treuherzig. »Aber das geht nur, wenn ich mich nicht wieder wie ein eingebildeter Arsch benehme… oh, Verzeihung, ich meinte Esel.« Wieder mußte Maddie unwillkürlich lachen. Wie charmant und entgegenkommend konnte er doch sein, wenn er es wollte! Aber um den Gutenachtkuß würde er sich sehr bemühen müssen. Sie hatte den letzten Kuß nicht vergessen und sein unseliges Ende. Wenn es ihm nur um einen Kuß ging – in der Stadt gab es genügend Frauen, die ihm zu Willen wären. Hopewell konnte sich, was Leichtlebigkeit anbetraf, nicht mit Abilene oder Dodge City messen, aber im Ruby Garter gab es angeblich genügend Frauen, die mit ihren Küssen freizügig umgingen, und nicht nur mit den Küssen. Sie stellte sich vor, daß Lily Tolliver mehr als glücklich wäre, einen
attraktiven Mann wie Chase Cumberland in ihrem Etablissement zu begrüßen, wenn nicht auch in ihrem Bett. Aber Chase war hier und plänkelte mit ihr herum, als ob er die Gesellschaft eines schlichten, altjüngferlichen Mädchens der wunderschönen, eleganten, in feine Seide gekleideten Königin vom Ruby Garter in Hopewell vorzöge. »Sie haben großes Glück«, erklärte sie. »Beinahe hätten Sie verloren, bevor ich unserer Abmachung zustimmte. In Sekundenschnelle ist es Ihnen gelungen, Ihre Schlappe wiedergutzumachen. Aber bis zum Abendessen liegt noch eine hübsche Strecke vor Ihnen, Mr. Cumberland. Und ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß Sie Ihre Zunge lange genug im Zaum halten können, um die Wette zu gewin- nen.« »Dann kennen Sie mich schlecht, Miss McCrory. Ich gehe nie eine Wette ein, die ich verlieren könnte.« »Diesen Charakterzug habe ich bei Ihnen bereits bemerkt, aber ich weiß nicht so recht, ob er bewundernswert ist.« »Wie sollte sich ein Mann Ihrem Wunsch entsprechend verhalten? Haben Sie eine Vorliebe für schwache Zauderer? Bevorzugen Sie Männer, die Sie wie eine Marionette führen können? Manche Frauen mögen solche Männer.« Er hatte sie festgenagelt – und er wußte es. Der Whiskey hatte ihren Vater, den stärksten Mann, den sie kannte, in einen torkelnden, zitternden, verantwortungslosen alten Trottel verwandelt, der nur noch daran dachte, wie er sich den nächsten Drink beschaffen konnte. »Nein, starke Männer ziehe ich den schwachen vor, aber ich möchte auch einen Mann, der zum Einlenken bereit ist und versucht, den Standpunkt anderer zu verstehen. Nur ein wirklich selbstsicherer Mann gibt zu, daß er einem Irrtum unterlegen ist. Ich weiß, Sie können es sich schwer vorstellen, aber mein Vater war so vor dem Tod meiner Mutter. Zu schade, daß Sie ihn damals nicht gekannt haben; Sie hätten einiges von ihm lernen können.« Chases Blick blieb unbewegt. »Bedauerlich, daß ich ihm damals nicht begegnet bin, aber wie ich Ihnen zuvor schon sagte, ich weiß ein oder zwei Dinge über Männer, die zuviel trinken. Mein Bruder hätte den Weg Ihres Vaters gehen können, was immer noch möglich ist, würde ich sagen. Nur weiß er, daß ich nicht mitspiele. Sie können es grausam nennen, wenn Sie
wollen, aber das habe ich ihm klargemacht: Er hat nur eine Wahl, mich oder den Whiskey.« »Das kann ich mit meinem Vater nicht machen. Er ist nicht mein Bruder. Er hat mir das Leben gegeben und mich aufgezogen. Und nun ist er an der Reihe… Hilfe zu beanspruchen.« Aus Furcht, zu viel gesagt oder enthüllt zu haben, verstummte Maddie. Warum drehte sich ihre Unterhaltung so oft um Pa oder kam wieder auf ihn zurück? Es schien fast, als stünde Pa zwischen ihnen – eine Meinungsverschiedenheit, die sich nicht aus der Welt schaffen ließ. Auch wenn sie sich über alle anderen Dinge einig wären, ihren Vater würden sie nicht mit gleichen Augen betrachten. Chase hielt die Stute noch immer und streichelte jetzt gedankenverloren ihren Hals. »Ich verstehe die Besorgnis um Ehren Vater, Maddie, nur haben auch Sie eigene Bedürfnisse. Warum gestehen Sie das nicht ein? Ihre ganze Familie hat Bedürfnisse. Sie lassen zu, daß seine Bedürfnisse die der Familie verschlingen. Vielleicht erkennen Sie das nicht, aber als Außenstehender sehe ich es. Sie sind ja jetzt schon besorgt, wie Ihr Vater sich heute abend benehmen wird und ob er sie in Verlegenheit bringt oder nicht. Sie haben etwas Besseres verdient.« Maddie senkte den Blick. Um Chase nicht anschauen zu müssen, untersuchte sie die Vorderfüße der Stute und entdeckte, daß das Tier leicht Xbeinig war. Wenn sie mit hoher Geschwindigkeit rannte, konnte sie sich mit ihren eigenen Hufen verletzen. Sie würde nicht zum Rennpferd taugen und könnte diesen Fehler möglicherweise an ihre Fohlen weitergeben. Sollte sie den Besitzer darauf auf- merksam machen? Würde der Mann diesen Hinweis besser zu schätzen wissen als sie Chases Bemerkungen über ihren Vater? »Pa wird sich heute abend wahrscheinlich nicht gut benehmen«, räumte sie ein. »Aber ich möchte es auf jeden Fall versuchen, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Seit drei Tagen hat er keinen Whiskey mehr bekommen. Wenn ihm der Whiskey ausgeht, ist er krank, elend und verzweifelt, bis er eine Möglichkeit ersonnen hat, um seine Vorräte aufzufüllen, und dabei ist er zu allem fähig. Ich habe ihn heute morgen nur ungern allein gelassen, aber ich mußte in der Stadt Besorgungen machen. Er war zu elend, um zu klagen. Ich fürchte nur, wir werden ein großes Lamento zu hören bekommen, wenn er herausfindet, daß ich nicht eine einzige Flasche Schnaps mitgebracht
habe, obwohl er mich inständig darum gebeten hatte.« »Sie haben das Richtige getan, Maddie. Denken Sie daran. Sie haben das Richtige getan.« Sie verspürte den unsinnigen Drang, sich in Chases Arme zu werfen und sich wieder auszuheulen. Aber sie mußte ein Essen vorbereiten, die Einkäufe verstauen, wenn die Zwillinge es nicht bereits getan hatten, das Haus in Ordnung bringen, bevor Chase es betrat, und sich mit ihrem Vater auseinandersetzen. Tausend alltägliche Aufgaben schrien nach Erledigung. Den Luxus, einem spontanen, verrückten Einfall nachzugeben, konnte sie sich nicht leisten. Die Pflicht rief wie immer. Es würde wohl nie die Zeit kommen, wenn sie ihre eigenen Wünsche, Vorstellungen und Bedürfnisse vor denen der anderen an die erste Stelle setzen könnte. »Kommen Sie ins Haus, wenn Sie hier fertig sind. Ich werde mich mit dem Essen beeilen.« Chase ging mit der Stute auf den Stall zu. »Kein Grund zur Eile«, rief er ihr über die Schulter zu. »Ich dachte, wenn ich schon hier bin, kann ich Ihrem Bruder helfen, die Schuppentür zu reparieren, die gleich aus den Angeln fallen wird. Die Arbeit ist zu schwer für ihn. Allein kann er sie nicht einhängen.« »Nein, lassen Sie das. Ich möchte Ihnen nicht ver…« Sie verstummte mitten im Satz, bevor ihr das Wort »verpflichtet« über die Lippen kam. Aber was bezweckte sie damit? Sie war Chase Cumberland bereits verpflichtet. Zum Glück hatte er sie nicht mehr verstanden, denn auf dem Weg zum Stall war er mit der Stute nicht stehengeblieben. »Sie haben also eine Spezialrampe gebaut, damit das Decken leichter vonstatten geht, wie?« Mit flatternder Hand legte Pa den Löffel beiseite und äugte zu Chase hinüber. Maddie strich Honig auf ein Stück Maisbrot und dankte Gott im Himmel, daß Pa heute abend mit ihnen am Tisch saß. Zum Glück konnte sie ihn davon überzeugen, daß die Nudelsuppe, die sie hastig zubereitet hatte, genau das Richtige war, um ihn wieder zu Kräften bringen. Er hatte nicht einmal getobt, als sie ihm keine ›Medizin‹ mitgebracht hatte. Er hatte nur
gefragt: »Brauche wohl nicht anzunehmen, daß du mir was aus der Stadt mitgebracht hast, wie?« »Mehl«, hatte sie obenhin geantwortet. »Und Zucker und Bohnen. Auch einen kleinen Schinken. Ich dachte, zum Abendessen werde ich Maisbrot und Nudelsuppe machen. Gemüse werde ich auch mitkochen, dazu gibt es dann noch Salat…« Mehr konnte sie in dieser kurzen Zeit nicht auf den Tisch bringen. Eigentlich hatte sie erwartet, Chase und Little Mike würden sich über das fehlende Fleisch beschweren. Bis jetzt hatte es keiner zur Sprache gebracht. Wie eine Herde hungriger Heuschrecken waren sie über das Essen hergefallen. Chase senkte die Kaffeetasse und blickte ihren Vater aufmerksam an. Als Maddie ihm zum ersten Mal bei Tisch gegenüber gesessen hatte, war sie seiner sinnlichen Ausstrahlung gänzlich ausgesetzt gewesen. Seltsamerweise hatte sich dann ein Gefühl der Zufriedenheit bei ihr eingeschlichen, als sie ihm beim Essen zusah und sich dann vorstellte, wie es sein würde, wenn er ihr bei jeder Mahlzeit gegenübersäße. Genau dieses Gefühl überfiel sie jetzt. Seine Gegenwart schien das Zimmer zu füllen und durchdrang das ganze Haus mit seinem Zauber. Sie betrachtete seine Hände. Sie waren männlich, sonnengebräunt und kräftig. Er hatte sie auf den Tisch gelegt, während er über die Antwort nach- dachte. Er hatte lange, bewegliche Finger, die sich mit ungewöhnlicher Anmut bewegten. Bei Männerhänden hatte sie vorher nie darauf geachtet. Seine Hände konnten sanft sein, aber auch kraftvoll zupacken, dachte sie. Unwillkürlich stellte sie sich seine Hände auf ihrem Körper vor. Sofort raste das Blut durch ihre Adern, erhitzte ihr Fleisch und erweckte Sehnsucht nach. »Ich hatte gehofft, Sie würden herauskommen und es sich ansehen«, sagte Chase, »und mir sagen, was Sie davon halten. Bei jedem Deckstand, den ich baue – bis jetzt waren es einschließlich diesem hier vier Stück –, nehme ich Verbesserungen vor. Ich mache ihn schmaler oder höher oder stabiler, so, wie es mir notwendig erscheint.« »Hab1 nie einen benutzt. Hab’ auch nie von einem Züchter gehört, der einen hat.« Pa nahm wieder seinen Löffel auf, aber die Hand zitterte so sehr, daß er
ihn in die Suppe fallen ließ. Die Suppe spritzte auf die hölzerne Tischplatte und bildete eine Pfütze. Maddie erhob sich rasch, um ein Wischtuch zu holen. Da es ein zwangloser Anlaß war, hatte sie Ma’s festliches Linnen im Schrank gelassen. Das Tischtuch, das sie aufgelegt hatte, als Chase zum ersten Mal zum Essen kam, war zwar gewaschen, aber noch nicht gebügelt. Carrie und Zoe bügelten nur ungern mit dem schweren alten Flacheisen, und Maddie war zu beschäftigt, um es selbst zu tun oder nach langem Zureden eine ihrer Schwestern endlich dazu zu bewegen. »Verstehe nicht, wieso Sie da überhaupt meine Meinung hören wollen«, fuhr ihr Vater fort. »Ich bin zu alt, um etwas zu ändern, was ich mein Leben lang getan habe. Wenn Little Mike es unbedingt benutzen möchte, bitte sehr. Er kann alles ausprobieren, was er will.« Chase lehnte sich im Stuhl zurück. »Ich möchte Ihre Meinung hören, weil Sie mehr Pferde gezüchtet haben, als ich jemals züchten werde. Normalerweise lasse ich meine Stuten auf der Farm des Hengstbesitzers und hole sie wieder ab, wenn alles passiert ist. Ich selbst hatte einmal einen Hengst besessen und versuchte, ihn zum Stehen zu bringen. Aber die Sache war mir zu gefährlich und unberechenbar. Der alte Schwerenöter brach aus jeder Box aus, in die ich ihn verfrachtet hatte. Wenn er eine Stute sah, wollte er sofort zu ihr.« »Klingt in meinen Ohren ganz natürlich«, meinte Pa glucksend. Er hob die Ellbogen, als Maddie den Tisch abwischte. Sie bot ihm an, noch etwas Suppe zu bringen, aber er schüttelte den Kopf. »Kann nichts mehr essen, Maddie. Hat aber gut geschmeckt. Hätte aber noch besser geschmeckt mit der passenden Beigabe.« Er zwinkerte Chase von Mann zu Mann zu, um herauszufinden, ob Chase seinen Wunsch nach einem Glas Whiskey teilte. Chase ging aber nicht darauf ein und bemühte sich hartnäckig, den alten McCrory weiter ins Gespräch zu ziehen und für die Unternehmungen der Familie zu interessieren. »Haben Sie Ihren Stuten beim Decken schon einmal Fuß fesseln angelegt?« fragte er jetzt. »Sie wissen ja, man legt eine Schlinge um jedes Hinterbein und bindet dann die Seilenden am Hals der Stute fest, so daß
ein Gegenzug entsteht, wenn sie ausschlagen oder bocken will.« »Nee.« Pa schüttelte den Kopf. »So was Dämliches habe ich nie gemacht. Die Stute könnte sich viel zu leicht verletzen. Aber eins hab’ ich immer gemacht… sie genau beobachtet. Nie hab’ ich einen Hengst zur Stute gebracht, wenn ich nicht hundertprozentig wußte, daß sie bereit war. Hatte dadurch auch kaum Schwierigkeiten mit dem Hengst. Und dann hab’ ich noch eins getan. ich hab’ immer einen kurzen Hickorystock in der Hand gehalten, und wenn der Hengst ungezogen wurde, hab’ ich ihm eins damit übergezogen. Er hat sehr schnell kapiert, daß er eine Stute bespringen konnte, wenn ich den Stock in der Hand hatte, und wenn nicht, dann ging er an diesem Tag leer aus. Und jedesmal, wenn er diesen alten Stock sah, schnaubte er furchtbar und ließ…« »Pa!« rief Maddie entrüstet, da sie ahnte, was er als nächstes sagen würde. »Das ist kein Tischgespräch. Vor allem nicht vor den Mädchen.« Chase und ihr Vater grinsten. Die Mädchen seufzten und schüttelten den Kopf. »Wir haben doch Augen im Kopf, Maddie. Mittlerweile wissen wir, welcher Körperteil bei einem Hengst zu sehen ist, wenn er eine Stute haben will«, erklärte Zoe vorlaut. »Schließlich war ich es, die die Stute festhalten mußte, als Little Mike mit dem Hengst kam! Wißt ihr das nicht mehr?« fügte Carrie hinzu. »Ja, das ist auch der Grund, warum uns Mr. Cumberland den Deckstand gebaut hat. Aber ich bin immer noch der Meinung, daß dies nicht das geeignete Tischgespräch ist.« »Was ist eigentlich aus diesem Hickorystock geworden?« Chase wandte sich Little Mike zu, der wie gewöhnlich nicht sehr gesprächig war und heute besonders verdrossen und in sich gekehrt zu sein schien. »Du gebrauchst ihn doch jetzt nicht mehr, oder, Mike?« »Der Stock hängt noch an einem Haken im Stall. Ich erinnere mich, daß Pa ihn immer in der Hand hielt, aber warum, wußte ich nicht. Er hat es mir nie gesagt, und ich kann nicht auf den Gedanken, ihn zu fragen. Als ich das Züchten übernommen habe, dachte ich, daß es mir zuviel würde… Gold Deck halten und den Stock. Übrigens habe ich nie erlebt, daß Pa ein Pferd geschlagen hat. Er hat immer gesagt, sie würden dadurch bösartig werden.«
»Schlagen und schlagen ist zweierlei. du kannst es tun, um dem Pferd eine Lektion zu erteilen oder um des Schiagens willen. Du mußt den Unterschied wissen.« Pa schob seinen Stuhl zurück. »Das viele Gequatsche macht mich müde. Ich glaub’, ich geh’ jetzt zu Bett.« »Ich wußte auch nichts von dem Stock.« Maddie flitzte um den Tisch herum, um ihrem Vater beim Aufstehen zu helfen. »Hätten wir nur über den Zweck des Stocks Be scheid gewußt, dann hätten wir ihn die ganze Zeit benutzen können, um Gold Deck in Schach zu halten. Pa, das hättest du uns sagen sollen.« »Ich hätte einen Haufen Dinge tun sollen, glaube ich. Aber jetzt ist es zu spät.« Pa erhob sich taumelnd. Auf Maddies Arm gestützt, stand er einen Augenblick aufrecht da. »Ich bin zu alt, um noch Pferde zu züchten«, murmelte er. »Zu alt, um noch zu irgend etwas nutze zu sein.« »Das ist nicht wahr, Pa. Der Hickorystock ist das beste Beispiel dafür, daß du uns hättest helfen können. Ich erinnere mich noch, wie du unsere Pferde für die Rennen ausgebildet hast, aber ich wußte nie, wie du es gemacht hast. Du hieltest nur die Peitsche hoch, und das Pferd wußte, daß es jetzt angaloppieren mußte. Hast du sie gesenkt, dann hörte es zu laufen auf. Nie hast du die Peitsche benutzt, um ein Pferd zu schlagen oder zu strafen.« »Das war lange her, mein Maddielein… knge, lange her.« »Aber ich erinnere mich noch daran! Du könntest uns zeigen, wie du es gemacht hast. Das ist doch auch in deinem Sinn, nicht wahr, Little Mike?« »Er will nicht. Wir interessieren ihn einen Dreck.« Little Mike sprang vom Stuhl auf. »Den alten Säufer brauchen wir sowieso nicht.« Mit langen Schritten durchquerte der Bruder das Zimmer und schlug die Haustür laut knallend hinter sich zu. »Mike!« Maddie war entsetzt, aber wegen des Vaters konnte sie ihrem Bruder nicht nachrennen, um ihn zu ermahnen oder zu trösten. »Laß ihn in Ruhe«, krächzte Pa mit leiser Stimme. »Er hat recht. Ich bin ein alter Saufkopf, und ihr alle braucht mich nicht mehr. Ich hätte eurer Mutter gleich in ihr Grab nachfolgen sollen. Zum Teufel noch mal, warum hab’ ich das nicht gleich getan? War wohl zu feige dazu. Sie war die treibende Kraft in meinem Leben. Aber dann hat sie mich im Stich gelas-
sen. Was konnte ich dann tun? Was, zum Teufel, konnte ich dann tun?« Die blauen Augen suchten den Blick seiner Tochter, aber Maddie konnte nichts Tröstendes sagen. Nichts konnte seinen Schmerz lindern, nicht, wenn er tatsächlich der Überzeugung war, daß ein Leben ohne seine Frau nicht mehr lebenswert war. »Bett«, murmelte er. »Bring’ mich ins Bett, Maddie. Vielleicht kann ich im Schlaf gehen. Wenn Gott wirklich gnädig wäre, dann ließe er mich nicht mehr aufwachen. Darum bete ich jeden Abend. Wenn die Morgendämmerung kommt, möchte ich nicht mehr da sein.« »Pa, das ist doch nicht dein Ernst.« Der Vater blieb ihr die Antwort schuldig. Niemand sagte ein Wort. Da kein Wunder geschehen würde, blieb Maddie nichts anderes übrig, als ihm den Arm reichen. Schlurfend verließ er mit ihrer Hilfe das Zimmer.
ZWÖLF Als Maddie ihren Vater zu Bett gebracht hatte und wieder in das vordere Zimmer zurückkehrte, räumten die Zwillinge schweigend den Abendbrottisch ab. Von Chase oder Little Mike war nichts zu sehen. »Wo ist Mr. Cumberland?« Carrie zeigte mit dem Kinn zur vorderen Veranda. »Er sagte, wir sollen dir Bescheid geben, daß er hinausgegangen sei. Ich glaube, er wollte nach Little Mike sehen.« Hastig eilte Maddie zur Vordertür hinaus, ging um das Haus herum und entdeckte endlich Little Mike und Chase. Sie standen in der Nähe des Hühnerstalls und unterhielten sich. Die untergehende Sonne hatte den Himmel rotgolden gefärbt. Die Silhouette des Mannes und des Jungen hoben sich wie ein Scherenschnitt von dem prächtigen Hintergrund ab. Maddie konnte die Gesichter der beiden nicht erkennen, aber als sie sich ihnen näherte, blickte Little Mike in ihre Richtung und ging eilig zum Stall. Er zeigte ihr damit deutlich, daß er ihr aus dem Weg gehen wollte. Maddie hätte ihm folgen können, aber Chase verstellte ihr den Weg. »Lassen Sie ihn ein Weilchen allein, Maddie. Er wird es überwinden. Ich
habe vorhin mit ihm darüber gesprochen. Er hat sich über den Hickorystock geärgert, weiter nichts. Er meint, wenn Ihr Pa sich die Mühe gemacht hätte, ihm beizubringen, wie man ihn bei Gold Deck einsetzt, dann wäre der Deckstand nicht nötig gewesen.« »Vermutlich hat er recht. Aber ich kann mich noch gut erinnern, daß Little Mike sich mit großem Aufwand gegen die Bemühungen seines Vaters wehrte, ihm einige grundlegende Dinge beizubringen. Das war noch vor Ma’s Tod. Und als Little Mike dann Pa’s Rat brauchte und soviel wie möglich wissen wollte, war Vater dazu nicht mehr in der Lage… Trotzdem, der Deckstand ist eine gute Sache, da er den Hengst vor einer aggressiven Stute schützt. Beim Hickorystock wäre das nicht der Fall.« »Das weiß Little Mike. Er will es nicht zugeben; im Grunde genommen bewegt ihn nur das, was mit Ihrem Vater passiert ist. Dafür gibt er dem Hickorystock die Schuld. Er wird nicht damit fertig, daß sich sein Vater so hängen läßt. Sich einen Sündenbock zu suchen ist natürlich kein Ausweg. Jedenfalls mußten sich die Gefühle Ihres Bruders auf irgendeine Art Bahn brechen.« Maddie seufzte. »Sie haben sicherlich recht, Chase. Little Mike war nie sehr gesprächig, aber in letzter Zeit ist er immer mehr zum Eigenbrötler geworden. Er brütet vor sich hin und schweigt sich aus. Er kommt nicht darüber hinweg, daß Pa ihn im Stich gelassen hat. Little Mike zieht sich zurück wie Pa nach dem Tod meiner Mutter, nur daß Little Mike nicht zur Flasche gegriffen hat. Wenigstens bis jetzt noch nicht. Ich kann nur beten, daß er das nicht tut, wenn er älter ist.« »Behandeln Sie ihn wie einen Mann, Maddie, nicht wie einen kleinen Jungen oder, noch schlimmer, wie den kleinen Bruder, dann kommt er aus diesem ganzen Schlamassel heraus. Nörgeln Sie vor allem nicht an ihm herum. Junge Männer hassen das.« Maddie reckte die Schultern und warf eine lange Strähne ihres roten Haares nach hinten. »Vorsicht, Mr. Cumberland, Sie laufen Gefahr, Ihre Wette zu verlieren. Keine Frau hört gern, wenn man ihr sagt, sie nörgle. Manche könnten sogar Anstoß an diesem Vorwurf nehmen.« »Verzeihung… und danke für die Warnung. Ich glaube, mehr gibt es dazu
nicht zu sagen. Kommen Sie, gehen wir noch ein Stückchen spazieren, Maddie. Der Abend ist ungewöhnlich schön. Bevor ich gehen muß, können wir zusehen, wie die Sonne untergeht und die ersten Sterne am Himmel aufleuchten.« »Einverstanden.« Maddie nahm den Arm, den er ihr anbot, und legte die Finger sanft auf den abgewetzten Stoff seines Ärmels. Zum Abendessen hatte Chase sein Hemd wieder angezogen, aber sie konnte noch die Wärme der sonnenbeschienenen Haut spüren. Ein Schauder durchlief sie. Es mußte erst dunkel sein, bevor sie ihm erlaubte, sie zu küssen – und er durfte ihr bis zu diesem Kuß weder Vorhaltungen noch Vorschriften manchen. Sie schlenderten auf den Bach zu, der durch das Feld floß, das Chase kaufen wollte. Die Hitze des Tages war gewichen, trotzdem zog sie das gurgelnde Wasser an, das Kühlung und Erfrischung versprach. Eine Weile sprach keiner von ihnen. Maddie erfreute sich der Gesellschaft ihres Gastes und der schwindenden Schönheit des Tages. Sie war überzeugt, daß Chase das kontroverse Gesprächsthema Big Mike vermeiden würde, aber dann überraschte er sie. »Um noch einmal auf Ihren Vater zu sprechen zu kommen, Maddie. Ich möchte mich entschuldigen, weil ich der Meinung war, er hätte mittlerweile seinen Kummer besser in den Griff bekommen müssen. Nachdem ich ihn aber beim Abendessen beobachtet habe, verstehe ich besser, warum er trinkt.« Dieses Eingeständnis verblüffte sie. »Tatsächlich? « Chase nickte. »Heute abend wurde mir klar, daß Ihr Vater seinen Kummer nicht vortäuscht und daß er ihn nicht als Vorwand zum Trinken benutzt. Es spielt keine Rolle, wieviel Zeit seit dem Tod Ihrer Mutter vergangen ist, sie fehlt ihm, und er kann sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Heute abend sah er einen Moment so… so verloren aus. Ich glaube, ich habe noch nie einen Mann gesehen, der so verloren wirkte.« »Dann ist es Ihnen also nicht entgangen. diese schreckliche Verzweiflung. Wenn er nüchtern ist, merkt man es noch viel mehr.« »Sein Elend ist mir noch nie so zu Bewußtsein gekommen. Beinahe hätte ich mich erboten, in die Stadt zu reiten und Whiskey für ihn zu besorgen. Oder ich wäre auch bereit gewesen, ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen,
wie ich es für ein leidendes Pferd oder einen Hund tun würde.« Maddie umfaßte seinen Arm fester. »Dann verstehen Sie, wie schwer es ist, streng mit ihm zu sein!« Chase drehte sich zu ihr. »Ja, das weiß ich jetzt, Maddie. Vorher nicht, aber jetzt weiß ich es.« »Oh, Chase!« Jede Schicklichkeit über Bord werfend, schlang sie die Arme um ihn und herzte ihn. »Sie wissen ja nicht, wie froh ich bin, daß es jemanden gibt, der mich versteht. Am schlimmsten war es, wenn er mir hoch und heilig versicherte, er habe keine Schwierigkeiten mit dem Trinken und könne jederzeit damit aufhören. Aber warum solle er darauf verzichten? fragte er mich immer. Wenn er nicht mehr trinke, dann bleibe ihm nichts, um den Schmerz zu betäuben. Er spricht über seinen Schmerz, als wäre er körperlich. Vielleicht ist er das auch. Ich weiß nur, daß er die Qualen der Verdammten erleidet und daß der Alkohol die einzige Möglichkeit ist, ihnen zu entfliehen, wenn auch nur für kurze Zeit.« »Auch wenn er unrecht handelt, irgendwie ergibt es einen Sinn.« Chase hielt sie fest und strich tröstend über ihren Rücken. »Das ist das Erschreckende daran; bei ihm erscheint es auf seltsame Weise sinnvoll.« »Genau. Ich weiß, ich sollte nicht auf ihn hören. Und doch. manchmal, wenn ich sehe, wie unglücklich er ist… wie verloren. wie allein und voller Angst…« »Dann möchten Sie nachgeben und alles tun, was sein Leben erträglicher macht.« Er lehnte sich ein wenig von ihr zurück, nahm ihr Gesicht in die Hände und blickte ihr in die Augen. »Das ist das Heimtückische an der Verzweiflung, Maddie. Sie schluckt nicht nur ihr Opfer; sie vergiftet jeden, der mit ihr in Berührung kommt. Sie läßt uns jegliche Hoffnung verlieren und saugt unsere Kräfte auf. Bald können wir uns nicht mehr wehren; können nicht mehr beweisen, wie unrecht der andere hat. Verzweiflung zieht uns hinab wie Treibsand. Bevor wir es gewahr werden, halten auch wir das Leben nicht mehr lebenswert.« »Sie mußten auch mit der Verzweiflung leben.« Maddie konnte ihren Blick nicht von Chase reißen. Zum ersten Mal, seitdem sie sich kannten, hatte sie das Gefühl, daß ein
wahrhafter Austausch zwischen ihnen stattfand, nicht nur auf körperlicher Ebene. »Sie beschreiben es so gut. Haben Sie das alles durch Ihren Bruder erfahren?« Chase ließ die Hände auf ihre Schultern sinken. Sein warmer Atem bewegte ihr Haar, als er die Lippen auf ihre Schläfe preßte. »Ja, Bück hat mich gelehrt, was Verzweiflung ist. Jahrelang hat er dagegen angekämpft. Es gab Zeiten, da glaubte ich, er würde nie in ein geordnetes Leben zurückfinden. Er war auch so tief gesunken wie Ihr Pa, aber irgendwie gelang es ihm, wie ein Phönix aus der Asche zu steigen. Im Augenblick ist er so glücklich, wie ich ihn noch nie erlebt habe.« »Dann besteht vielleicht doch noch Hoffnung für meinen Vater. Ich klammere mich daran. Manchmal denke ich, er ist alles, was ich habe.« »Maddie…« Chases Lippen strichen ihre Wangen entlang. Er rieb sein Kinn gegen das ihre. Die kurzen Bartstoppeln kratzten auf ihrer empfindlichen Haut. »Maddie, und der Kuß? Mir ist so, als habe ich ein Leben lang darauf gewartet.« Ein kleiner, ergebungsvoller Seufzer entschlüpfte ihr. Sie erwog nicht einmal, ihn zu verweigern; auch sie hatte ein Leben lang gewartet. Dir Leben lang hatte sie auf Chase Cumberland gewartet, einen Mann, der nicht nur ihr Blut erhitzte, sondern ihr auch Trost gab. Sie streckte sich ihm entgegen und bot ihm die Lippen zum Kuß. Er küßte sie, als ob es sein Recht wäre, als ob er sie besäße und nicht nur diesen Kuß beanspruche. Seine Arme legten sich um ihre Taille, seine Hände auf ihre Hüften. Er zog sie an sich, und ihrer beider Körper tauchten in den Strudel berauschender Gefühle. Begierig spürte sie ihn wieder, seinen Geschmack, wie er sich anfühlte, wie seine Härte sich an ihren weichen Körper anpaßte. Seine Umarmung war wundersam vertraut, doch blieb der Mann selbst voller Geheimnisse. Eine ungeahnte Überraschung! Der Kuß übertraf all ihre Erwartungen. Es war schöner und aufregender als beim ersten Mal. Er ließ ihr keine Zeit zum Luftholen, Denken oder Protestieren. Ein Kuß ging in den anderen über… in den nächsten. bis sie sich atemlos an ihn schmiegte. Und er küßte sie weiter, streichelte sie und ließ sie seine drän-
gende Glut spüren und fachte ihr Begehren an. Augenblicke seligen Schwebens vergingen, als sie sich der Leidenschaft seiner Küsse hingab. Als er den Arm hob und ihre Brust mit einer Hand umspannte, schien ihr Herz in seine Handfläche zu springen. Seine Berührung erregte sie wahnsinnig. Mit dem Daumen strich er über ihre Knospe. Sie konnte einen leisen Aufschrei nicht unterdrücken. Er trank den Laut von ihren Lippen und hielt sie fest. Sein großer Körper war plötzlich regungslos. Die Hand lag auf ihrer Brust und ließ ihr Zeit, sich an die neue, verwirrend intime Berührung zu gewöhnen. Gleichzeitig spürte sie die pulsierende Bewegung seines Geschlechts, das sich an sie preßte; wenn sie eine Stute wäre, würde sie jetzt gewiß für ihn zur Einladung »blinken«. Und so ähnlich reagierte sie auch. Sie lehnte sich an ihn und spreizte ein wenig die Beine, um ihn anzunehmen. Dann wurde ihr bewußt, was sie tat. Entsetzt zog sie sich zurück. »Chase… du… wir… müssen damit aufhören«, brachte sie endlich mühsam heraus. »Warum müssen wir?« beschwerte er sich mit heiserer Stimme. »Wenn du es willst und ich es will, dann kann es doch nur recht sein, Maddie. Die Regeln anderer brauchen für uns nicht zu gelten.« »Aber… es könnte uns jemand sehen.« »Nein. Es ist schon dunkel.« »Jeden Moment können meine Schwestern kommen.« »Deine Schwestern sind alt genug, um sich diskret zurückzuziehen. Sie haben genug Verstand, um dich allein zu lassen, wenn du mit mir zusammen bist.« »Aber ich gebe ihnen kein gutes Beispiel. Ich dürfte hier draußen gar nicht mit dir allein sein und schon gar nicht das tun, was wir beide machen. Wohin führt das Ganze?« Er seufzte schwer, als ob ihn die Frage aus dem Konzept gebracht hätte. Einen Augenblick später zog sich seine Hand von ihrer Brust zurück, und sein warmer Körper löste sich von ihr. »Das mußt du noch fragen?« Es klang vorwurfsvoll und bedauernd. Es war jetzt zu dunkel geworden, um seinen Gesichtsausdruck zu erkennen. Es schien ihm zu widerstreben, ihr in die Augen zu blicken. »Ich habe diese Frage nicht gestellt, um dich
in Verlegenheit zu bringen«, sagte sie. »Keine Sorge, Chase. Ich verlange nichts, nur weil du mich geküßt hast und… und liebkost hast. Schließlich habe ich dich dazu ermutigt. Ich wollte es. Aber ich finde, wir sollten jetzt aufhören und überlegen, ob wir… damit fortfahren möchten, im Hinblick darauf, wozu es möglicherweise führen könnte.« »Möchtest du, daß es zu etwas führt, Maddie?« Sein Tonfall hatte eine gewissen Schärfe. Ja, o ja! jubelte ihre innere Stimme. »Ich. ich. ich weiß nicht«, antwortete sie ausweichend. »Wir beide haben so viel zu bedenken. Keiner von uns ist frei, um… um sich auf einen anderen einzulassen. Es gibt so vieles zu berücksichtigen.« »Da kann ich dir nicht widersprechen.« Maddie nahm an, daß sie ihn verärgert hatte. Seine Stimme war kalt und schneidend geworden. »Ich, zum Beispiel…. nun, das wirst du früher oder später herausfinden. Ich habe das Rennen zwischen dir und Lazarus Gratiot zu berücksichtigen.« Überrascht, daß er von diesem Rennen sprach, fragte Maddie sich, woher er den Namen ihres Gegners kannte. In seiner Gegenwart hatte sie ihn nicht erwähnt. Soweit sie sich erinnerte, hatte sie alles vermieden, was das Rennen zur Sprache bringen konnte, nachdem ihre Schwester un- vorsichtigerweise einige Bemerkungen darüber gemacht hatte. »Was ist mit dem Rennen?« Chase holte tief Luft und kam dann mit der Sprache heraus. »Es findet nicht mehr allein zwischen dir und Gratiot statt. Ich habe Bonnie Lass gegen euch beide aufgeboten.« Maddies Herz drohte stehenzubleiben. »Was?… Hinter meinem Rücken hast du Gratiot überredet, dich teilnehmen zu lassen?« »Das Rennen war noch offen, Maddie. Gratiot sagte, du hättest einem dritten Teilnehmer zugestimmt. Nur willst du nicht, daß ich derjenige bin.« »Nein!« schrie sie aufgebracht. »Obwohl du weißt, daß ich nicht ein zweites Mal gegen dich antreten will, hast du dich mir zum Trotz hinter meinem Rücken eingetragen. Hast du überhaupt fünftausend Dollar?« »Und du?« entgegnete er schlagfertig. »Ich muß an diesem Rennen teilnehmen, Maddie. Geschäft ist Geschäft, davon lebe ich nun einmal. Du kannst es als Hinterlist bezeichnen, wenn du willst, aber wie nennst du dann dein eigenes Versäumnis, mich davon zu unterrichten, daß dieses
Rennen noch für einen dritten Teilnehmer offen war?« »Selbstschutz«, erwiderte sie kurz angebunden. Ihr Zorn wuchs von Sekunde zu Sekunde. »Ich hätte nie gedacht, daß du mir derart in den Rücken fällst. Kein Wunder, daß du nicht zustimmen wolltest, nicht mehr gegen mich anzutreten. Du hattest die ganze Zeit vor, mich in einen weiteren Wettbewerb zu locken, zweifellos in der Hoffnung, wieder den Sieg über mich davonzutragen.« »Das war nie meine Absicht. Aber als ich von dem Rennen hörte, habe ich mich natürlich erkundigt. Wärst du gegen ein Drei-Pferde-Rennen gewesen, dann hättest du von Anfang an darauf bestehen müssen, daß es auf zwei begrenzt wird.« »Das habe ich ja versucht, aber Gratiot war nicht einverstanden! Und die Chance, soviel Geld zu gewinnen, wollte ich mir nicht entgehen lassen.« »Merkwürdig, der gleiche Gedanke ging mir auch sofort durch den Kopf. So eine Gelegenheit kommt so bald nicht wieder, sagte ich mir.« »Darum bist du heute also gekommen, um den Deckstand fertig zu bauen. Du willst dein schlechtes Gewissen beruhigen!« »Ich brauche kein schlechtes Gewissen zu haben. Es war mein Recht, an diesem Rennen teilzunehmen, und dieses Recht habe ich wahrgenommen. Und darüber hinaus habe ich dir jetzt davon berichtet. Du hast keinen Grund, gehässig zu sein. Du regst dich grundlos auf, Maddie.« »Ich hätte keinen Grund, sagst du? Du tauchst völlig unerwartet auf, baust uns einen Deckstand, machst dich bei meinem Bruder und meinen Schwestern lieb Kind, erteilst mir ungebetene Ratschläge zur Lösung meiner Probleme und versuchst mich zu… und verführst mich, während du insgeheim planst, dir die Farm meiner Familie unter den Nagel zu reißen. Wenn ich gegen deine bö- sen kleinen Machenschaften protestiere, sagst du, ich hätte keinen Grund dazu. Hätte ich dich auch noch zu diesem Rennen auffordern sollen? Wäre das vielleicht das richtige gewesen?« »Das hätte jedenfalls Fairneß gezeigt, so wie ich sie von einem Mann erwartet hätte. Ich hätte wissen müssen, daß du wie eine Frau reagierst – und mir außerdem vorwirfst, ich wolle mir heimlich deine Farm ergattern und, was dem Faß den Boden ausschlägt, ich hätte versucht, dich zu verführen. Glaub mir, Maddie, wenn ich dich verführen will, merkst du es. Dann lasse ich es nicht bei ein paar unschuldigen Küssen und Zärtlichkeiten
bewenden.« Plötzlich wurde Maddie bewußt, wie töricht und unglaublich naiv sie gewesen war. Mit offenen Augen war sie in die Sache hineingelaufen. Chase Cumberland hatte von Anfang an klargemacht, was er wollte. Er wollte ihr Land und zudem seine Stuten von ihrem Hengst decken lassen. Die ganze Zeit hatte er nur dieses Ziel im Auge, nur hatte sie es vorgezogen, ihn für weniger rücksichtslos und raffgierig zu halten, als sie anfänglich vermutet hatte. Sie hatte ihm geglaubt, hatte sich von ihm betören lassen. Sie hatte gemeint, sie hätten so vieles gemeinsam. In einem kleinen, geheimen Winkel ihres Herzens hatte sie die Hoffnung genährt, daß sie in ihm einen Mann gefunden hatte, den sie liebgewinnen konnte, einer mit rauhen Kanten, aber ein Mann, den sie achten und dem sie vertrauen konnte. Ein Mann, mit dem sie ihre Hoffnungen und Träume für die Zukunft teilen konnte, dessen Zuneigung zu ihr stetig wuchs, wie auch er ihr immer mehr bedeutete. Bis zu diesem Moment hatte sie ihre Gefühle keinem eingestanden, schon gar nicht sich selbst, aber jetzt, da ihr alles entglitt, stand ihr deutlich vor Augen, was sie verlor. Chase Cumberland hatte sich genau als der Mann erwie sen, den sie von Anfang an in ihm gesehen hatte: Ein verschlagener Wolf, der nur danach strebte, seine eigenen selbstsüchtigen Ziele zu erreichen. Solange er das bekam, was er wollte, störte es ihn nicht, wenn jemand verletzt auf der Strecke zurückblieb. »Du… du hinterlistiger Schuft.« Sie verachtete sich ihrer zitternden Stimme wegen, aber es war sinnlos, dagegen anzugehen. »Gott sei Dank habe ich jetzt entdeckt, was du bist, und nicht erst später.« »Was soll das schon wieder bedeuten?« »Es bedeutet, ich bin froh, daß wir heute abend nicht weitergegangen sind, bevor ich dahintergekommen wäre, zu welcher Sorte Mann du in Wirklichkeit gehörst.« »Ich bin auch jetzt der gleiche Mann, der ich vor fünf Minuten war. Nie habe ich mich als jemand anders darge stellt oder versucht, jemand zu sein, der ich nicht bin. Wenn du so große Angst vor einer Niederlage hast, dann geh doch zu Gratiot und zieh deine Meldung vom Rennen zurück. Vielleicht läßt er dich gehen. Du verstehst dich ja ausnehmend gut darauf, die Sympathie eines Mannes zu gewinnen. Werf
dich doch weinend an seine Brust. Vielleicht kannst du ihn dadurch erweichen. Oder lade ihn zum Abendessen ein. Oder klimpere mit deinen Wimpern. Du kennst doch alle Tricks!« »Eine Unverschämtheit!« Maddie hob die Hand, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen, aber er packte sie beim Handgelenk und hielt ihren Arm zwischen ihnen fest. »Für mich bist du kein unbeschriebenes Blatt mehr, Maddie, aber Lazarus Gratiot hat dich erst kennengelernt. Er ist deinen weiblichen Listen nicht gewachsen. Ich wette, er wird nach deiner Pfeife tanzen. Aber wenn er mich fragt, was ich von dir halte, dann muß ich ihm reinen Wein einschenken: Kleine Mädchen, die sich in der Welt der Männer behaupten wollen, sollten nicht bevorzugt werden. Sie verdienen das, was sie bekommen.« »Laß mich los!« Maddie befreite sich von seinem Griff. Sie wollte kein einziges Wort mehr hören. Sie konnte seinen Spott keine weitere Sekunde mehr ertragen. »Geh nach Hause, Chase!« giftete sie ihn an. »Und laß dich hier nie wieder blicken. Ich will dich nie mehr wiedersehen!« »Du wirst mich am Renntag sehen, ob es dir paßt oder nicht. Es sei denn, du entschließt dich auszusteigen.« »Ich werde niemals aussteigen. Ich kann es nicht, und das weißt du, weil ich damit den Einsatz als Bußgeld verwirkt habe. Das wußtest du, als du dich für das Rennen gemeldet hast. Und du wußtest, daß ich es gewinnen konnte, solange du nicht daran teilnehmen würdest. Nun, du hast deine Entscheidung getroffen. Ich hoffe nur, du kannst damit leben.« Sie raffte die Röcke, drehte sich um und rannte davon. Sie glaubte, noch sein »Verdammt!« gehört zu haben, wandte sich aber nicht mehr um. Sie lief, als ob man ein Rudel hungriger Wölfe auf sie gehetzt hätte. Aber in Wirklichkeit gab es nur einen Wolf, und der hatte sie bereits tödlich verwundet. Chase sah Maddie nach, wie sie mit wehendem Haar und fliegenden Röcken ins Haus floh, und verfluchte sich, daß er ihr von dem Rennen berichtet hatte… nicht jedoch, daß er daran teilnehmen würde. Maddie unterlag einem riesigen Irrtum, dessen war er sich jetzt noch sicherer als zuvor. Sie erwartete von ihm, daß er seine Ziele opferte, nur weil sie nicht
in ihre persönlichen Pläne paßten. Er hatte ihr nur davon erzählt, weil ihm klar wurde, wie aufgebracht sie wäre, wenn sie es erst am Start erführe -aber das war nun auch so passiert. Heute abend hätte er seine Teilnahme am Rennen jedenfalls nicht zur Sprache bringen sollen. Er hätte sich Zeit lassen sollen, um es ihr bei einer günstigen Gelegenheit schonend beizubringen, anstatt damit herauszuplatzen. Aber auf welche Weise hätte er es ihr sagen sollen? Sie wäre keinen Deut glücklicher, wenn er sie untertänigst um Verzeihung bat, daß er es gewagt hatte, sie herauszufordern. Ihre Reaktion war der beste Beweis dafür, daß Frauen bei Pferderennen nichts zu suchen hatten. Dieser Sport bot keinen Platz für Launen und Gefühle. Es war eine rein männliche Domäne. Warum hatte man Frauen die Teilnahme nicht untersagt? Wahrscheinlich weil es so wenige gab, die daran teilnahmen. Die meisten hatten genug Verstand, um es besser zu wissen. Chase wartete taktvoll ab, bis Maddie im Haus verschwunden war, um sein Pferd zu holen. Um einer weiteren Auseinandersetzung aus dem Wege zu gehen, sattelte er Bonnie Lass schnell und leise und ritt davon. Auf dem Heimweg hatte er es nicht eilig und überließ die Stute ihrem eigenen Tempo. Bonnie Lass ließ sich Zeit, und er hatte Muße, um über vieles nachzudenken. und je mehr er nachdachte, desto schlechter fühlte er sich. Immer wieder versicherte er sich, daß er nichts Falsches getan hatte; Maddies Erwartungen waren vollkommen unrealistisch. Aber irgendwie gelang es ihm nicht, sein Herz davon zu überzeugen, daß er richtig gehandelt hatte. Die McCrorys brauchten das Geld ebenso dringend wie er. Verdammt, sie hatten es vielleicht nötiger als er – aber dann hätten sie ihm das Feld verkaufen können. Der Grund für sein Schuldgefühl, so beschloß er endlich, war sein Benehmen Maddie gegenüber. Bei jeder möglichen Gelegenheit hatte er sie in den Arm genommen und geküßt. Indem er sie als Frau behandelte und nicht als Kontrahenten, hatte er den Charakter ihrer Beziehung verzerrt. Sie hatte sich von Gegnerschaft zugunsten von. ja… zugunsten von was?… verschoben. Maddie selbst wollte dazu keine Erklärung geben. Und darum mußte er ihr von dem Rennen berichten. Sie war so ver-
dammt wankelmütig gewesen, sagte weder hü noch hott. Sie wollte ihm einfach nicht sagen, was sie für ihn empfand. Das hatte ihn so in Harnisch gebracht, und dann fiel ihm plötzlich das Rennen ein. Aber das spielte auch keine Rolle. Wenn sie es nicht heute abend von ihm gehört hätte, würde sie sich am Tag des Rennens doppelt darüber aufregen. Als er zu Hause ankam, hatte Chase sich halb davon überzeugt, daß er Maddie eine Rechtfertigung schuldig war, weil er ihre Gefühle verletzt hatte. Es war auf keinen Fall seine Absicht gewesen, sie zu kränken. Sie war wütend, ja, aber sie war auch verletzt… und er hatte es getan. Er würde das Rennen nicht absagen, um seine Scharte wieder auszuwetzen, aber er würde sich wenigstens entschuldigen und versuchen, ihr seinen Standpunkt klarzumachen. Sie konnten doch trotzdem Freunde bleiben, oder? Zum Teufel, nein! Das konnten sie eben nicht. Chase saß niedergeschlagen ab. Im Licht des aufsteigenden Mondes nahm er Bonnie Lasses Sattel ab und führte sie auf die Koppel. Er ging langsam auf das Haus zu, als ein leises Geräusch an seine Ohren drang. Er verharrte und lauschte. Der Nachtwind kam sanft vom Fluß herüber, und er bemühte sich, die Nachricht, die er zu ihm trug, zu enträtseln. Ja! Da war es wieder. Das leise Geräusch, das vom Fluß herkam, wie das entfernte Lachen einer Frau. Der Solomon lag nicht weit hinter der Grenze seines Anwesens, aber bis jetzt hatte er das Gewässer noch nicht in Augenschein genommen. Die Arbeit auf der Ranch nahm seine ganze Zeit in Anspruch. Jetzt war er neugierig geworden. Was hatte eine Frau zu dieser Nachtzeit am Fluß zu tun? In der Nähe gab es, soviel er wußte, keine menschliche Behausung außer einem verlassenen, windschiefen Häuschen. Als er die Farm besichtigte, war es ihm im Vorbeireiten aufgefallen. Er war nicht hineingegangen, aber seinem Äußeren nach hatte seit Jahren niemand mehr einen Fuß über die Schwelle gesetzt. Rankende Beerensträucher hatte das kleine Haus beinahe verschluckt. Chase fragte sich, was Bück wohl tun würde. Der warme Schein der Lampe erleuchtete das Fenster, das zum Hof blickte, aber die Haustür war verschlossen. Eigentlich sollte er seinem Bruder Bescheid sagen, daß er zurück war, bevor er diesem Lachen am Fluß nachspürte –
wenn er sich nicht verhört hatte. Er beschleunigte den Schritt, eilte die Treppen hinauf und betrat das Haus. Bück war nicht da. In der Scheune war er auch nicht. Plötzlich war Chase klar, wo er seinen Bruder finden könnte. Es war Zeit, das Geheimnis um Bucks nächtlichen Verbleib zu lüften! Das Lachen in der Ferne hatte zweifellos etwas mit seinem Verschwinden zu tun. Chase suchte eine dreiviertel Stunde lang, fand aber nicht das, was er suchte. Als er am Ufer entlangging, entdeckte er das alte Häuschen, aber keine Menschenseele. Erst als er weiter flußabwärts ging, hörte er wieder das Lachen der Frau und ihre leise gemurmelte Aufforderung. »Komm mit, Silberhaar. Wasser nicht kalt. Siehst du? Fühlt sich warm an.« Chase ließ sich auf Hände und Knie fallen und kroch durch das Gebüsch weiter, bis an den Saum des Wassers. Hinter wilden Pflaumenbüschen verborgen, bot sich ihm ein erstaunlicher Anblick. In dem im Mondlicht glitzernden Wasser rummelte sich sein großer, nackter Bruder mit einer ebenfalls nackten Frau. Die Frau spritzte Bück mit Wasser voll, warf das lange glänzende Haar zurück, lachte und ging ins tiefere Wasser, als wolle sie Bück weiter hinein locken. Mit einem breiten Grinsen folgte ihr Bück. Eine Wasserschlacht begann, wobei sich Bück wie die Frau eifrig mit Wasser bespritzten. Im Mondlicht glitzerten die Tropfen hell und leuchtend wie Diamanten auf und überschatteten die Übermütigen. Dann tauchte die Frau in das Wasser ein und kam dicht am Ufer an die Oberfläche. Sie stellte sich auf. Das Wasser rann über die Rundungen ihres vollen Busens und ihre Hüften hinab. Sie warf den Kopf zurück und lachte wieder, während silbernes Licht sich über ihr zum Himmel gewandtes Gesicht ergoß. In diesem Augenblick erkannte sie Chase. Sein Bruder hatte ein Stelldichein am Fluß mit Pawnee Mary! Als Chase die beiden völlig verblüfft anstarrte, jagte Bück hinter Mary her und packte sie bei den Haaren. Spielerisch zog er sie an sich. Für einen Sekundenbruchteil konnte Chase den Gesichtsausdruck seines Bruder erkennen. Bück wirkte wie verzaubert und Mary auch. Weltver- gessen blickten sich die zwei in die Augen. Langsam, mit sanfter Gebärde, wie er sich sonst nur Tieren gegenüber verhielt, legte Bück die Arme um Marys leuchtenden Körper. Er beugte sich zu ihr, dann trafen sich ihre Lippen zu
einem langen, leidenschaftlichen Kuß. So leise wie möglich zog sich Chase aus dem Gebüsch zurück und machte sich auf den Heimweg. Noch nie hatte er Bück so glücklich und sorglos gesehen, ja, er konnte sich nicht erinnern, ihn seit ihrer Kinderzeit jemals so ausgelassen gesehen zu haben. Mit ihrem festen, kräftigen Körperbau war Mary die passende Frau für Bück – nur daß sie Indianerin war. Aber zum Teufel damit! Beide waren Aus gestoßene. Warum sollten sie nicht die Freuden genießen, die ihnen vergönnt waren? Von ganzem Herzen stimmte Chase ihrer heimlichen Liebe zu. Gleichzeitig aber verspürte er den Stachel der Eifersucht. Er versuchte sich vorzustellen, wie er selbst in den Fluten des Flusses mit einer Frau herumtollte, aber das einzige weibliche Wesen, das vor seinem inneren Auge erschien, war Maddie McCrory. Wie gerne würde er das rote Haar im Wasser sehen, glitzernd im Mondlicht mit diamantenen Tropfen, ihren biegsamen nackten Körper, der wie Silber aufleuchtete. Bedauerlicherweise würde er diesen Anblick niemals zu Gesicht bekommen, da sie ihn niemals wiedersehen wollte. Aber jetzt war es zu spät, um eine Wendung herbeizuführen. Die einzige Zuflucht, die ihm blieb, war der Sieg beim Rennen in Abilene und der Kauf des Feldes, für das er den McCrorys einen Wahnsinnspreis bezahlen würde. Das war wirklich das einzige, was ihm noch blieb. Als er zu Hause ankam, fiel Chase sofort auf sein Bett, ohne die Stiefel auszuziehen. Die Hände hinter dem Nacken verschränkt, lag er lange schlaflos da und dachte über Bück und Mary nach… und wünschte sich insgeheim, er und Maddie hätten an ihrer Stelle im Fluß gebadet. Ungefähr eine Stunde vor dem Morgengrauen kam Bück auf Zehenspitzen in das Zimmer. Chase stelle sich schlafend. Bevor Bück nicht den Mut aufbrachte, ihm von Mary zu erzählen, würde Chase kein Sterbenswörtchen darüber von sich geben. Bück mußte beschließen, was die Zukunft für ihn und die Indianerin bereithielt. So sehr sich Chase darüber freute, daß sein Bruder eine Frau gefunden hatte, so konnte er sich nur schwerlich vorstellen, daß die beiden ihre Liebe offiziell durch eine Eheschließung besiegelten. Wenn die Gesellschaft einen Mann wie Bück oder eine Frau wie Mary nicht akzep-
tierte, wie sollte sie dann die beiden als Paar anerkennen? Einige Augenblicke der Leidenschaft im Fluß wären vielleicht alles, was sie jemals haben würden. Als die ersten Strahlen der Morgensonne sein Zimmer erhellten, gab es Chase schließlich auf, die Probleme seines Bruders oder die eigenen zu lösen. Er rollte sich aus dem Bett und ging zum Stall, um Bonnie Lass zu satteln. Von jetzt an bis zum Rennen wollte er am frühen Vormittag mit der Stute arbeiten, bevor es zu heiß wurde. Er würde sie zu dem ebenen Gelände gleich neben dem Feld der McCrorys führen und sie galoppieren lassen, um ihre Lungen, die Muskeln und ihr Durchhaltevermögen zu stärken. Wahr scheinlich bedurfte sie nicht dieses strengen Trainings, aber er wollte kein Risiko eingehen. Er mußte dieses Rennen gewinnen. Eine halbe Stunde später bemerkte Chase, daß er nicht allein war, der mit seinem Pferd im Morgentau arbeitete. Gold Deck war auch schon unterwegs. Die schlanke Gestalt aber, die auf dem Rücken des Hengstes saß, war Maddie, nicht Little Mike. Das Gesicht war vor Anstrengung gerötet. Sie riß das große rotbraune Pferd herum, als sie Chase entdeckte, und galoppierte davon. Als ihm bewußt wurde, daß sie weder die Absicht hatte, mit ihm zu sprechen, noch seine Gegenwart in irgendeiner Form zur Kenntnis zu nehmen, fand Chase ein diebisches Vergnügen daran, die unsichtbare Grenzlinie zu überschreiten, die seinen Besitz von dem ihren trennte. Er war überzeugt, damit ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und das geschah auch. Am Ende des Feldes wendete sie und galoppierte zurück. Chase tat so, als würde er sie nicht bemerken, bis sie zehn Fuß vor ihm zum Stehen kam. Um abzukühlen, mußte Bonnie Lass nach ihrem Training weiterbewegt werden. Chase ließ sie gleichmäßig gehen, obwohl sie sich sofort für den Neuankömmling interessierte, die Ohren aufstellte und leise schnaubte. »Wissen Sie überhaupt, was Sie da machen?« herrschte Maddie ihn an und ritt im Schritt neben ihm her. Gold Deck beäugte Bonnie Lass, bog vornehm den Nacken und machte einige tänzelnde Schritte, bis Maddie ihn energisch daran erinnerte, daß er unter dem Sattel ging und sie daher erwarten konnte, daß er das andere
Geschlecht ignorierte. Chase ließ sich mit der Antwort Zeit. Er betrachtete Maddie von oben bis unten und genoß insgeheim die Röte, die sich auf ihren Wangen breitgemacht hatte. Sie war ihm gegenüber nicht mehr unempfänglich, genauso wie die beiden Pferde. Wie gewöhnlich hatte ihre Kleidung weder etwas Weibliches, geschweige denn Verführerisches an sich. Aber wie immer trieb es ihn dazu, sie zu verführen. Heute trug sie eine von Little Mikes Hosen, die von einem dicken, um die Taille geschlungenen Bindfaden gehalten wurde, ein altes Hemd, das weit genug war, um ihrem Vater zu passen, ein Paar häßliche, viel zu große braune Stiefel und einen schwarzen Filzhut, dessen Krempe vorne nach oben gebogen war. Rote Locken ergossen sich über ihre Schultern, und ein Schmutzfleck zierte ihre Nase. Den grimmigen Gesichtsausdruck ausgenommen, sah sie in Chases Augen atemberaubend schön und reizvoll aus, wie eine windzerzauste Sonnenblume aus Kansas, die ihm besser gefiel als eine sorgfältig gepflegte Gartenrose. Irgendwie erfüllte ihr Anblick sein Herz jedesmal mit Freude. »Ich mache genau das, was Sie tun«, gab er endlich zur Antwort. »Ich arbeite mit meinem Pferd, damit es für das Rennen im nächsten Monat fit ist.« »Ich meine, was haben Sie auf meinem Land zu suchen?« Zorn flackerte in Maddies strahlend blauen Augen auf – Augen, die er mit glühender Leidenschaft füllen wollte. »Leugnen Sie nicht, daß Sie nicht wußten, daß es unser Land ist; dies ist genau der Grund, den Sie kaufen wollen.« »Ja, wirklich, ein schönes Feld«, sagte er und zog die Worte genüßlich in die Länge. »Steht sogar ein Baum darauf. Und an einem Ende fließt sogar ein Bach hindurch. Ich dachte, ich würde am Rand entlang reiten – guter, flacher Boden, um ein Pferd galoppieren zu lassen. Bonnie Lass weiß es zu schätzen.« »Verschwinden Sie von meinem Grund und Boden«, stieß Maddie durch die Zähne hervor. »Wenn Sie mich derart anfauchen, sehen Sie wie ein Wiesel aus.« »Es ist mir egal, wie ich aussehe! Ich dulde nicht, daß Sie mein Land betreten! Sie gehören nicht hierher.«
»Für uns beide ist genügend Platz vorhanden«, erklärte er. »Abgesehen davon tue ich nichts anderes, als mein Pferd abzukühlen. Mir scheint, daß Sie das auch gebrauchen könnten, denn Gold Deck ist sehr erhitzt. Sie sollten ihn nicht überanstrengen.« »Hören Sie auf, mir unerwünschte Ratschläge zu erteilen! Ich dachte, ich hätte Ihnen gestern abend deutlich genug zu verstehen gegeben, daß ich Sie nicht wiedersehen möchte – warum sind Sie also hier?« »Ich hatte gehofft, ich könnte Sie umstimmen. Das war wohl ein Irrtum. Hassen Sie mich wirklich, Maddie? Sagen Sie mir, daß es nicht der Fall ist.« »Sie haben nicht die leiseste Ahnung, wie sehr ich Sie verabscheue, Chase Cumberland. Wenn Sie das nächste Mal unbefugt unser Land betreten, werden Sie es wissen, denn ab heute werde ich einen sechsschüssigen Revolver bei mir tragen.« »Eine Drohung, Maddie?« »Nein, ein Versprechen. Ich werde auf Sie schießen, wenn Sie die Grenze ncich einmal übertreten.« Chase hielt es für das beste, ihren giftigen Ausbruch zu übergehen. »Wie geht es Ihrem Vater heute morgen? Und Little Mike und den Mädchen?« »Wir alle verabscheuen Sie. Ihr Anblick ist uns unerträglich. Würden Sie jetzt bitte unser Land verlassen?« »Ja, da Sie mich endlich höflich dazu auffordern.« Chase drückte die Stiefel in Bonnie Lasses Seite. Gehorsam machte das Pferd einige Seitwärtsschritte. »Ist das weit genug?« »Die Hölle wäre nicht weit genug. Guten Tag, Mr. Cumberland.« »Was soll das, Maddie, warten Sie. Sie können doch wenigstens mit mir reden.« Aber sie wollte nicht eine Sekunde länger warten. Sie wendete das Pferd und stob davon. Um ein Haar hätte sie Little Mike umgerannt, der ihnen über das Feld entgegenkam und nicht sehr glücklich aussah. »Verdammt noch mal, Maddie, paß doch auf!« brüllte der Junge und sprang zur Seite. Maddie riß das Pferd heftig am Zügel, daß es in der Hinterhand einknick-
te. »Was willst du, Mike? Warum bist du hierher gekommen?« »Weil es mein Job ist, Gold Deck in Kondition zu bringen. Was hast du auf ihm zu suchen? Sogar Pa sagt, du solltest absitzen und mir das Training überlassen.« Maddie stieg auf der Stelle von Gold Deck ab und übergab dem Bruder ohne ein Wort der Entschuldigung oder Erklärung die Zügel. Dann stapfte sie wutschnaubend davon. Chase konnte sich an allen fünf Fingern abzählen, warum sie Gold Deck heute morgen geritten hatte. Sie war in Sorge, möglicherweise sogar in Angst. Gold Deck mußte in Höchstform sein, um Bonnie Lass zu schlagen. Mit nagenden Schuldgefühlen machte sich Chase auf den Heimweg.
DREIZEHN Drei Tage vergingen. An jedem dieser Tage arbeitete Chase mit Bonnie Lass in der Nähe des Feldes. Er sah weder Maddie noch Little Mike, noch Gold Deck. Am vierten Tag regnete es. Der Regen kam völlig unerwartet, da es seit langer Zeit trocken gewesen war. Es regnete den ganzen Tag, und Chase blieb mit Bück im Haus. An seinem Bruder beobachtete er deutliche Anzeichen der Langeweile und Ruhelosigkeit, die er selbst spürte. Am fünften Tag stand die Sonne wieder am Himmel, und am frühen Nachmittag war Bück bereits verschwunden. Chase konnte ihn nirgends finden, es sei denn, er suchte ihn in dem kleinen windschiefen Haus am Fluß. Er dachte an die Arbeiten, die sein Bruder nicht erledigt hatte, aber er konnte ihm nicht böse sein. Er verstand den sehnsüchtigen Wunsch seines Bruders, Mary wiederzusehen. Ihm selbst erging es mit Maddie ja nicht viel besser. Jetzt, nachdem der Himmel seine Schleusen wieder ge schlössen hatte, war Bück wie ausgewechselt. Er strahlte Frohsinn und gute Laune aus, während Chase die Rolle des Schweigsamen und Mürrischen übernommen hatte, der mit sich und der Welt unzufrieden war. Seine Stimmung besserte sich auch nicht, wenn er sich vorstellte, wie glücklich Bück vielleicht gerade in diesem Moment
war. Er fühlte sich mit einemmal einsam und niedergeschlagen, daß er es nicht eine Sekunde länger in dem leeren Haus aushallen konnte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, ritt er zu den McCrorys hinüber, um mit Maddie ein versöhnliches Gespräch zu führen. Vielleicht schoß sie auf ihn, wenn er auftauchte, aber im Augenblick wäre ihm sogar eine Kugel in der Haut recht, wenn er sie nur sehen konnte. Unterwegs überlegte er sich schlagkräftige Argumente, die er zu seiner Verteidigung anführen wollte. Die Tatsache, daß sie Gegner bei einem Pferderennen waren, reichte nicht aus, um sie zu Feinden zu machen. Wenn Maddie ein Mann wäre, würde sie die Dinge nicht so persönlich nehmen. Männern war es möglich, ihre Kräfte auf den verschiedensten Gebieten zu messen und trotzdem Freunde zu bleiben. Natürlich, wenn Maddie ein Mann wäre, würde er jetzt nicht zu ihr reiten und er würde sich nicht darum scheren, wenn ihre Freundschaft zerbrach. und gewiß würde er keine Sekunde damit verschwenden, sie sich in seinen Armen oder, noch besser, in seinem Bett vorzustellen. Als er am Haus der McCrorys angelangt war, sah er Pferd und Buggy im Hof stehen und fragte sich, wer der Besucher sei. Als er keinen der McCrorys in der Nähe des Hauses entdeckte, band er Bonnie Lass am Verandageländer fest, eilte die Treppen hinauf und klopfte an der Haustür. Zoe öffnete die Tür. »Oh, Mr. Cumberland!« Sie war überrascht, als sie ihn sah, und blickte kurz über ihre Schulter nach hinten, wahrscheinlich zu jemandem, der sich im Haus aufhielt. »Ich möchte deine Schwester sprechen«, erklärte Chase. »Könntest du ihr sagen, daß ich hier bin?« »Carrie oder Maddie?« Obwohl sie genau wußte, wen er meinte, schlug sie die dicht bewimperten Augenlider in gespielter Unschuld auf und nieder. »Hol Maddie, oder ich gehe selbst zu ihr«, verlangte Chase drohend. »Geht nicht. Maddie hat keine Zeit.« »Warum? Ich muß mit ihr sprechen.« »Bedaure, aber sie hat bereits Herrenbesuch. Sein Pferd und sein Buggy stehen draußen im Hof.«
Das Mädchen wirkte unangenehm selbstgefällig, als sie ihm diese überraschende Mitteilung machte, und Chase mußte an sich halten, um ihr nicht den Hals umzudrehen. »Ich möchte deine Schwester trotzdem sprechen.« »Ich bezweifle, daß Maddie Sie sehen möchte.« Chase setzte seinen Stiefel über die Türschwelle, damit sie ihm die Tür nicht vor der Nase zuschlagen konnte. »Entweder sagst du ihr, daß ich hier bin, oder ich komme herein. Sofort.« »Du lieber Himmel, Zoe, wer ist denn da?« Als Chase Maddies Stimme erkannte, warf er Zoe einen vernichtenden Blick zu, der sie davor warnte, die Wahrheit zu sagen. »Es ist Mister Im-Gras-lauernde-Schlange persönlich, Maddie«, zwitscherte Zoe. »Ich sagte ihm bereits, daß du ihn nicht zu sehen wünschst.« Maddie erschien plötzlich hinter ihrer Schwester. »Ich kümmere mich um ihn, Zoe. Sei bitte so lieb und schenke unserem Gast noch eine Tasse Kaffee ein. Unterhalte ihn so lange, bis ich diesen unterwünschten Eindringling losgeworden bin.« Chase nahm seinen Hut ab, was er fast nie tat, aber sie schien es nicht zu beeindrucken. Abgesehen von ihrem verärgerten Gesichtsausdruck sah sie umwerfend schön aus – und weiblich. Überraschenderweise auffallend weiblich. Sie trug ein weißes, duftiges Etwas mit großen Puffärmeln über einem dunkelfarbenen Rock, der ihre schmale Taille und die Rundung ihrer Hüften betonte. Das Haar war oben auf dem Kopf aufgetürmt und wurde mit einem Schildkrötenkamm zusammengehalten. Es juckte Chase in den Fingern. Am liebsten hätte er ihn herausgezogen und die leuchtend roten Kaskaden über ihre Schultern fallen lassen, so wie er es gerne an ihr sah. Zu allem Übel zitterten ihm die Hände, weil er den dringenden Wunsch verspürte, ihre schmale Taille zu umfassen sie schwungvoll zu einem besitzergreifenden Kuß an sich zu reißen. Traurig, aber wahr, sein Erscheinen schien in ihr keine Gefühle dieser Art wachzurufen. »Guten Abend kann ich zu Ihnen leider nicht sagen, Sir. Unglücklicherweise…« Sie hob den Kopf, als ob sie in der Luft einen unangenehmen
Geruch verspüre, »…ist dieser Teil des Abends verdorben.« Chase lächelte mühsam. »Weil ich gekommen bin? Oder, wenn ich das hoffen darf, wegen Ihres anderen Besuchers?« »Weil Sie gekommen sind, und das wissen Sie.« Maddie ging auf die Veranda hinaus und zog die Tür hinter sich zu, so daß Chase nicht in das Innere des Hauses hineinsehen konnte. »Ich wünsche, daß Sie jetzt gehen und mich nicht weiter belästigen.« »Hey«, sagte er und hielt den Hut schützend vor sich, um die Schläge abzuwehren, die sie ihm vielleicht verpassen würde. »Ich bin nur vorbeikommen, um Sie zu einem kleinen Spaziergang einzuladen. Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten. Ich muß mit Ihnen reden, Maddie.« »Unmöglich. Ich habe einen Gast.« »Wer ist es?« »Das geht Sie nichts an.« »Und ob es mich etwas angeht. Wer ist der Mann, Maddie?« »Sprechen Sie bitte nicht so laut. Ich möchte nicht, daß sich auf meiner Veranda eine peinliche Szene abspielt.« Er senkte die Stimme. »Dann sagen Sie mir bitte, wer dieser Gast ist.« »Horace Brownley, Bankdirektor und erlauchter Bürgermeister von Hopewell. Aber trotzdem ist es für Sie ohne Belang, mit wem ich heute diesen Abend verbringen möchte.« Chase verbarg sein Erschrecken hinter einer spöttischen Bemerkung. »Ein Bankdirektor, wie? Und obendrein noch Bürgermeister? Ts, ts. Stell sich einer das vor! Was gefällt Ihnen an ihm am besten, seine Küsse oder sein Geld? Oder das Talent, Stimmen für seine Wiederwahl zu gewinnen?« »Wenn Sie mich fragen, am meisten an ihm gefällt mir, daß er nicht Chase Cumberland ist. Bitte gehen Sie jetzt, Chase. Machen Sie die Sache nicht noch peinlicher, als sie es bereits ist.« »Ich dränge mich nicht auf, wenn ich nicht erwünscht bin, Maddie. Im Gegensatz zu gewissen Hengsten, die ich Ihnen aufzählen könnte, weiß ich mich einer jungen Stute gegenüber zu benehmen, vor allem, wenn mir an ihr gelegen ist.« »Gut zu wissen. Aber diese bestimmte Stute ist nicht an Ihnen interessiert. Wenn nötig, hole ich den Hickorystock aus der Scheune und zeige Ihnen,
daß ich es ernst meine, wenn ich sage, Sie sollen mich in Ruhe lassen.« »Gewaltanwendung ist nicht nötig. Ich habe nur einen Wunsch. Beantworten Sie mir eine Frage, und ich gehe auf der Stelle.« Maddie wippte ungeduldig mit dem Fuß. »Fragen Sie.« »Bringt Mister Horace Geldbeutel- undMächtig Sie zum Schmelzen, wenn er Sie in den Armen hält und küßt? Haben Sie ihn schon geküßt?« »Das sind zwei Fragen, und ich weigere mich, auch nur eine von beiden zu beantworten.« »Aber in meinen Armen schmelzen Sie wie Wachs, Maddie. Aus diesem Grund bin ich heute abend gekommen. Denn das, was wir füreinander empfinden, wenn wir zusammen sind – und wenn wir uns küssen –, ist viel wichtiger als jedes Pferderennen.« Hoffnung schimmerte plötzlich auf ihrem Gesicht. »Heißt das, Sie haben Ihre Teilnahme am Rennen abge sagt?« »Nein«, gestand er ein, und ihr Gesicht verdunkelte sich. »Dann haben wir uns nichts mehr zu sagen. Gute Nacht, Mr. Cumberland.« »Maddie…« Er war entschlossen, Sie zur Vernunft zu bringen. Gleichgültig, wie das Rennen verlief, seine Gefühle für sie – und wie er hoffte, ihre Gefühle für ihn – würden unverändert bleiben. Je eher sie das begriff, desto besser. »Maddie?« ertönte eine Männerstimme, die weder Maddies Vater noch ihrem Bruder gehörte. »Meine Liebe, wer ist da draußen?« Meine Liebe? Chase gefiel das ganz und gar nicht. »Niemand, Horace. Jedenfalls niemand Wichtiges«, antwortete Maddie. »Nur ein Nachbar, der ein… ein verirrtes Schwein sucht. Er will gerade gehen. Ich komme gleich.« »Ein verirrtes Schwein… Niemand Wichtiges?« Chase beugte sich zu ihr, aber sie legte die Handfläche auf seine Brust und schob ihn mit aller Kraft von sich. »Verschwinde, Chase! Es ist mir Ernst damit. Wenn es sein muß, hole ich Pa’s Colt.« »Und wie geht es heute Ihrem Vater? Wie denkt Horace über ihn? Was noch wichtiger ist, was hält Ihr Vater von Horace?«
»Verlassen Sie auf der Stelle diese Veranda!« »Also gut. Ich gehe. Aber ich werde nicht wiederkommen, um mich zu entschuldigen. Das nächste Mal werden Sie zu mir kommen müssen.« »Niemals werde ich zu Ihnen kommen. Was wir miteinander hatten. vielleicht miteinander gehabt hatten, ist vorbei, Chase. Kommen Sie nie wieder hierher.« Maddie machte auf dem Absatz kehrt, riß die Tür auf und verschwand im Inneren des Hauses. Chase stand einen Augenblick regungslos da, kochend vor Wut. Dann stürmte er die Verandatreppe hinunter, schritt weitausholend zu seinem Pferd, setzte den Fuß in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel. In der Mitte des Hofes aber änderte er seine Meinung. Er würde nicht eher gehen, bis er sich seinen Rivalen genauestens angesehen hatte. Er stieg wieder ab, führte Bonnie Lass zum Stall und brachte sie in einer leeren Box unter. Dann ging er in den Hühnerstall, versetzte einer dicken fetten Henne einen Fußtritt, als sie nach seinem Stiefel picken wollte, und ging hinein. Vom Hauseingang aus konnte man ihn nicht sehen, aber von hier aus hatte er einen ausgezeichneten Blick auf den Buggy und das Pferd, das vor dem Verandageländer angebunden war. Er brauchte nicht lange zu warten. Knapp eine halbe Stunde später verließen Maddie und ein stadtfein herausgeputzter Herr das Haus. Der Mann war klein und untersetzt und mit einem Bauch, der auf jahrelanges Sitzen am Schreibtisch – und nicht im Sattel – schließen ließ. Keine Konkurrenz, sagte Chase sich. Maddie konnte keinen Gefallen an diesem geckenhaften Städter finden, auch wenn er Bürgermeister und Bankier war. Nicht seine tatkräftige Maddie, die furchtlose, mutige Reiterin, die rittlings auf dem Pferderücken saß und im Rennen gegen Männer anzutreten wagte. Nichtsdestotrotz begleitete sie den geckenhaften Fettwanst zu seinem Gefährt und hatte nichts einzuwenden, als sich die fleischige weiße Hand dieses Kerls um ihre Taille legte. In diesem Augenblick blieb Horace Brownley stehen und drehte sich zu ihr. Mit einem Finger schob er seine Brille über die Nase und umfaßte Maddies schmale Taille mit beiden Händen. Chase hörte, wie Maddie sagte: »Horace, wir können vom Haus aus
gesehen werden.« »Wenn deine Geschwister uns nachspionieren«, erwiderte Horace, »dann sollten sie sich lieber gleich daran gewöhnen, daß ich meine Zuneigung zu dir auch öffentlich zum Ausdruck bringe, meine Liebe. Hast du ihnen noch nicht von uns erzählt, meine Liebe?« »Ahm, nein… hm… das heißt, natürlich wissen sie von deinem Interesse, aber…« »Aber papperlapapp, meine Liebe! Du mußt deine Familie über unsere Absichten aufklären. Vor allem deinen Vater. Das heißt, wenn du ihn in einem nüchternen Moment erwischen solltest…« »Horace, was meinen Vater anbetrifft…« »In diesem kostbaren Augenblick möchte ich jetzt nicht über deinen Vater sprechen, meine Liebe. Jetzt, wo ich mir… dies wünsche.« Er duckte den Kopf und drückte Maddie einen Kuß auf die Wange. Natürlich hatte er auf den Mund gezielt, aber Maddie wandte rechtzeitig den Kopf zur Seite. »Horace, bitte…« »Unsinn, meine Liebe. Ich möchte einen Kuß, bevor ich gehe. Ich habe dich so lange nicht gesehen, daß ich es kaum aushallen kann. Du mußt dir einfach mehr Zeit für mich gönnen. Ich weiß, wieviel Arbeit in diesen Monaten vor dir liegt, aber du wirst dir doch sicherlich für das Picknick mit mir am Vierten Juli Zeit nehmen können. Ich weiß ja nicht einmal, was du bis jetzt getan hast und womit du die Zeit verbracht hast, die du mit mir verbringen solltest…« Ein anschwellendes Dröhnen brauste durch Chases Kopf. Wut von ungeahnter Heftigkeit durchfuhr ihn. Er wollte gerade aus seinem Versteck stürzen und Horace Brownley anspringen, als Maddie einen Schritt zurücktrat. Brownleys Hände auf ihren Hüften hinderten sie zwar daran, sich weiter von ihm zu entfernen, aber sie machte zumindest Anstalten, einen gewissen Abstand zwischen sich und ihn zu bringen. »Es gibt einfach soviel zu tun, Horace. Die Zucht ist noch in vollem Gang, und dazu kommen die Vorbereitungen für unser nächstes Rennen. Abgesehen davon muß ich wirklich hierbleiben und meinen Vater im Auge
behalten. Den Mädchen und Little Mike habe ich bereits erklärt, daß wir zu den Feiern nicht in die Stadt fahren können, denn der Vierte Juli bietet den besten Vorwand für meinen Vater, um zu.« »Und wann findet dein nächstes Rennen statt, meine Liebe?« unterbrach sie Horace unhöflich. »Mitte Juli. Am Samstag, dem vierzehnten«, antwortete Maddie. »Sei unbesorgt. Es ist… es ist nur ein… ein kleines Rennen.« Ein kleines Rennen? Chase wunderte sich, warum sie log und warum sie es diesem feisten Gecken gestattete, sie zu berühren. Wie weit hatte sich Maddie mit Horace Brownley eingelassen? Welches Recht hatte dieser Mann, darauf zu bestehen, daß Maddie sich frei nahm, um das Picknick am Vierten Juli in seiner Gesellschaft zu verbringen? Die Situation warf eine Menge Zweifel auf. Viele Fragen warteten auf eine Antwort. Aber Chase wußte nicht, wie er reagieren sollte. Am liebsten wäre er auf den Hof gestürmt und hätte Horace Brownley erdrosselt, aber solange Maddie die Gegenwart dieses Menschen bereitwillig ertrug und sie mit seinem vertrauten Gehabe einverstanden war, konnte Chase seinem Impuls nicht folgen. Er mußte danebenstehen und zusehen und innerlich tausend Tode sterben. »Die Züchterei. und jetzt auch noch die Rennsaison können für mich nicht schnell genug vorbei sein«, sagte Horace. »Maddie, mein Süßes, mein Wunsch, jede wache Stunde in deiner Gegenwart zu verbringen, wird immer stärker. Du kannst nicht wissen, wie sehr ich leide. In letzter Zeit denke ich an nichts anderes als… als… Oh, Maddie, ich muß dich haben!« Bei diesen Worten schnappte Horace nach Maddie und preßte seinen Mund auf ihre Lippen. Sie wehrte sich, aber er hielt sie fest und drängte ihr sein Becken wie ein liebestoller Hengst entgegen. Chase sprang aus dem Hühnerstall. Er wußte nicht, wie er eingreifen sollte, nur daß er Horace Brownley wie ein widerlicher Parasit vom Erdboden verschwinden mußte. In Sekundenschnelle war er über ihm. Mit den Fingern fuhr er unter Horaces Hemdkragen, schleifte ihn von Maddie fort, hob die Faust und schlug mit aller Kraft zu, die er aufbieten konnte. Horace segelte durch die Luft und landete krachend am Buggy. Das Pferd bäumte sich auf und riß sich vom Verandageländer los.
Maddie schrie auf. Es endete schnell. Horace lag am Boden, schnappte nach Luft und suchte tastend nach seiner Brille, die zerbrochen neben ihm lag. Maddie gelang es irgendwie, das Pferd am Zügel zu packen. Chase selbst stand mit geballten Fäusten und gebleckten Zähnen über der lächerlichen Gestalt. Es fehlte nicht viel, und er hätte den Mann, so wie er am Boden lag, umgebracht. »Steh auf, du Dreckskerl, damit ich noch einmal zuschlagen kann. Mit dir bin ich noch lange nicht fertig.« »Chase! Bitte, tun Sie ihm nicht noch mehr weh! Oh, Horace, bist du verletzt?« Maddie warf Chase die Zügel zu und beugte sich über Horace Brownley. »Mein Gott, er hat deine Brille zerbrochen!« »Und höchstwahrscheinlich meine Nase!« Schnaufend und keuchend, mit einer Hand die Nase haltend, kam Horace wieder auf die Beine. In den Taschen suchte er nach einem Tuch, fand eins und wischte das Blut von der geplatzten Lippe. Dann warf er Chase einen zornigen Blick zu. »Sind Sie wahnsinnig? Beinahe hätten Sie mich umgebracht! Wer sind Sie, und wo kommen Sie her? Warum haben Sie mich grundlos angegriffen?« Immer noch im Griff der Eifersucht, legte Chase die Worte nicht auf die Goldwaage. »Sollten Sie noch einmal Hand an Miss McCrory legen, dann breche ich Ihnen das Genick und nicht nur die Nase und die Brille.« Bei dieser Drohung weiteten sich Horace Brownleys Augen. Fragend wandte er sich Maddie zu. »Wer ist dieser Verrückte? Er hat gedroht, mich umzubringen, obwohl ich ziemlich sicher bin, daß wir uns noch nie begegnet sind.« »Ch…Chase Cumberland«, antwortete Maddie. »Er ist der Mann, dessen Pferd Gold Deck besiegt hat. Du mußt ihn doch in der Bank gesehen haben, als er die zweitausend Dollar abhob.« Chase antwortete statt seiner. »Die fette Kröte hat sein Büro nicht verlassen. Ein Angestellter von ihm hat mir das Geld ausgezahlt, nachdem er mich eine halbe Stunde warten ließ.« »Schließlich mußte das Geld abgezählt werden!« verteidigte sich Horace und fuhr dann fort: »Sir, in welcher Beziehung stehen Sie zu Miss McCrory, wenn ich mir diese kühne Frage erlauben darf?« »Horace, eine Beziehung zu Mr. Cumberland existiert nicht«, log Maddie rasch. »Ich weiß nicht, welcher Teufel diesen Herrn geritten hat, dich vor meinem Haus
anzugreifen!« »Ich habe Ihre Tugend verteidigt«, zischte Chase. »Es sei denn, Sie lassen sich gerne von diesem… diesem… Fettmops betatschen.« »Das verbitte ich mir! Und was geht es Sie überhaupt an, was Maddie und ich füreinander empfinden?« Horace schwenkte sein blutiges Taschentuch. »Ich warte, Sir. Für diese Beleidigung verlange ich eine Erklärung. Sie haben mir die Brille zerbrochen und mir die Nase blutig geschla- gen.« »Die Lippe«, verbesserte ihn Chase. »Ich habe Ihnen leider nur die Lippe aufgeschlagen. und nicht den Schädel.« »Sie sind tatsächlich wahnsinnig, Sir. Ich werde Sheriff Smith von diesem Vorfall so bald wie möglich in Kenntnis setzen und Anzeige gegen Sie erstatten. Es wird Ihnen noch leid tun.« »Nein! O nein, Horace… bitte«, bat Maddie. »Das Ganze ist nur ein unseliges Mißverständnis. Mr. Cumberland glaubte offensichtlich, du würdest… ahm… meinem guten Ruf schaden. Er hatte nicht die Absicht, dich wirklich zu verletzen.« »Zum Teufel, das wollte ich«, murmelte Chase, durch die Erwähnung des Sheriffs etwas zahmer geworden. Verfügte Hopewell auch über einen Town Marshall? In manchen Städten gab es beides. »Er hat Glück, daß ich ihm nicht mehr getan habe. Sollte er wieder zudringlich werden, kommt er nicht so glimpflich davon.« »Seien Sie still!« Maddies Augen glühten wie Stahl, als sie ihm einen drohenden Blick zuwarf. »Sie machen die Sache nicht besser.« Sie wirbelte zu Horace Brownley herum und strich besänftigend über seinen Ärmel. »Wirklich, Horace, es besteht kein Grund, Sheriff Smith hinzuzuziehen. Es wäre mir furchtbar peinlich, wenn diese Sache die Runde machte.« »Na, schön, meine Liebe. Wahrscheinlich hast du auch recht. Aber ich bestehe auf einer sofortigen Entschuldigung.« »Eine Entschuldigung!« Chase explodierte. »Sie bekommen Ihre Entschuldigung, wenn es Goldnuggets vom Himmel regnet.« »Sie… Sie blutrünstiger Mörder! Ein gemeiner Nichtsnutz sind Sie! Wenn Sie sich nicht auf der Stelle entschuldigen, dann wird mein Freund Moses, der Sheriff, der auf meine Empfehlung in sein Amt gewählt wurde, Ihnen gehörig…« »Aufhören!« schrie Maddie plötzlich und stampfte mit dem Fuß auf. »Ihr werdet euch beide entschuldigen. Wenn ihr euch weigert, werde ich mit
keinem von euch je wieder sprechen. Ja, ich werde mich weigern, euch auch nur anzusehen. Das Ganze ist einfach lächerlich.« »Maddie, ich werde dir diese Frage noch einmal stellen«, verkündete Horace mit zitterndem Unterkiefer. »Was bedeutet dir dieser Herr?« »Er bedeutet mir nichts. Weniger als nichts.« Wieder traf ihn dieser furchterregende Blick, so daß Chase es nicht wagte, ihr zu widersprechen. Er konnte es nicht, zumindest nicht, wenn sie ihn mit dem Blick zu erdolchen schien. »Und was bedeutet Ihnen. dieser Herr?« fragte Chase mit einer Ruhe, die seine wahren Gefühle Lügen strafte. »Horace ist… ein Freund«, erklärte sie. »Sie hatten kein Recht, ihn anzugreifen.« »Als Freund zwingt man sich einer wehrlosen Frau nicht auf«, berichtigte Chase. »Aber wenn Sie seine tolpatschigen Annäherungsversuche tatsächlich begrüßen, dann werde ich natürlich um Entschuldigung bitten.« »Also gut, ich entschuldige mich auch!« erklärte Horace. »Obwohl nur der Herr im Himmel weiß, warum ich das tue, wenn er sich wie ein Verbrecher aufführt, der hinter die Gitter des Bezirksgefängnisses gehört.« »Ich nehme eure Entschuldigungen an.« Maddies Gesicht war steif wie ein Fischbeinkorsett. Nur die Augen verrieten den inneren Aufruhr. »Und jetzt schlage ich vor, daß ihr beide geht.« »Ich gehe erst, nachdem er gegangen ist«, ließ Chase sie seelenruhig wissen. »Soll er als erster gehen, dann werde ich mit Freuden von hier verschwinden.« »Dieser Mann ist eindeutig verrückt«, sagte Horace. »Es ist gefährlich, jemanden wie ihn frei herumlaufen zu lassen. Er ist wie ein Hund mit Geifer vor dem Maul. Man sollte ihn einsperren oder erschießen.« »Wenn das eine Drohung ist, dann können wir gleich die Waffen ziehen«, knurrte Chase in dem Wissen, daß dieser Quälgeist feige genug war, um in letzter Minute zu kuschen. Und so war es auch. »Nein, neia. ich gehe jetzt. Um dir, meine Liebe, noch mehr Kummer zu ersparen, werde ich sofort abfahren. Tue ich es nicht, so wird dieser Verrückte uns beiden noch gefährlich werden.« »Danke, Horace. Das ist sehr rücksichtsvoll von dir. Hoffentlich ist die
Nase nicht gebrochen und deine Sicht reicht aus, um den Heimweg in die Stadt zu finden.« Maddie lächelte ihn verzerrt an, aber auf ihrem Gesicht war immerhin ein Lächeln zu erkennen. Wenn sie aber Chase anblickte, gefror es zu einer Grimasse. Chase stand regungslos da, während Horace die zerbrochene Brille einsteckte und in den Buggy stieg. Erst nachdem er Maddie mit der Peitsche zugewunken und Chase einen bösen Blick zugeworfen hatte, seinem Pferd zuschnalzte und aus dem Hof fuhr, bewegte sich Chase wie der. Er trat vor Maddie und sagte: »Wenn Sie das nächste Mal wie ein Flittchen behandelt werden möchten, geben Sie mir rechtzeitig Bescheid; dann werde ich zu Ihrer Rettung nicht einen Finger krümmen.« »Sie haben sich abscheulich benommen. Eine Unverschämtheit, mir nachzuspionieren! Wie können Sie es wagen, einem Gast von mir aufzulauern und ihn auf meinem Hof vor meinen Augen anzufallen?« »Sie wollten also tatsächlich, daß dieser Kerl Sie berührte? Ich kann es nicht glauben, Maddie. Wenn Sie so dringend einen Mann brauchen, dann finden Sie doch weiß Gott etwas Besseres. Nicht, daß ich mich anbiete.« Chase war zutiefst verletzt und schlug zurück. Er konnte einfach nicht begreifen, daß Maddie diesen Fettkloß Horace Brownley ihm vorziehen sollte, doch bestritt sie das nicht. Sie hatte Horace in dem Glauben gelassen, er hätte eine Chance bei ihr – und ihm, Chase, eine Abfuhr erteilt. Ihre Ablehnung hatte ihn schwer getroffen. Jetzt wünschte er, nicht aus Eifersucht gehandelt zu haben; es paßte nicht zu ihm, einen Mann zu schlagen, der sich nicht wehren konnte. Da Brownley nicht in der Lage war, die Sache in einem ehrlichen Faustkampf von Mann zu Mann auszutragen, konnte er nur damit drohen, den Sheriff zu rufen. Maddie blickte Chase von der Seite an. Seine sarkastische Bemerkung hatte ihren Augen einen argwöhnischen Ausdruck verliehen, aber trotzdem schien sie entschlossen, Abstand zu ihm zu halten, was ihn noch mehr schmerzte. »Mir ist es gleichgültig, was Sie von mir denken«, sagte sie. »Oder von Mr. Brownley. Ich brauche Mr. Brownleys Freundschaft. Abgesehen davon
ist er mir um vieles mehr zum Freund geworden als Sie. Ich habe mit Schwierigkeiten zu kämpfen, von denen Sie keine Ahnung haben, und Horace hat mir seine Hilfe bereitwillig angeboten, was ich weder von Ihnen noch einem anderen Menschen behaupten kann…« »Sie meinen finanzielle Schwierigkeiten. Sie brauchen Geld. Streckt er Ihnen die fünftausend Dollar für das Rennen vor? Oder sollte ich fragen, ob Sie ihn dazu veranlassen möchten?« »Das geht Sie nichts an, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Nase nicht in Angelegenheiten steckten, die Sie…« Just in diesem Augenblick ging die Haustür auf, und zu beider Überraschung trat Big Mike heraus. »Was ist denn hier draußen los? Mit deinem Geschrei weckst du ja Tote auf, Maddie. Deine Geschwister überlegen schon, was man dagegen tun kann. Aber da schaff ich doch lieber gleich selbst Abhilfe. Entweder du löst deine Probleme leise, oder du suchst dir für deine Auseinandersetzung einen anderen Ort.« »Wie ist Ihr Befinden heute abend, Mr. McCrory?« beeilte sich Chase ihm zuzurufen. »Es scheint Ihnen besser zu gehen als bei unserer letzten Begegnung.« »Was?« Big Mike blinzelte zu ihm hinüber. »Kenne ich Sie, junger Mann? Sie kommen mir bekannt vor, aber…« »Chase Cumberland. Sie erinnern sich doch noch an mich, oder? Ich bin ein Freund – ein ehemaliger Freund – von Maddie.« »Oh. Ja, mir geht es ganz gut, ich kann nicht klagen. Leider habe ich in letzter Zeit einen Riesendurst, nur mag Maddie es nicht, wenn ich meinen Durst hinter ihrem Rücken stille. Aber ich tue sowieso, was ich will.« Er winkte mit der Hand und kchte in sich hinein. »Ja, Sir… ich weiß, wie ich meinen Willen durchsetze. Man kann sich sein Lebtag lang doch nicht von einer Frau herumkommandieren lassen, mein Sohn. Nur eine durfte über mich bestimmen, und das war Maddies Ma… aber sie war etwas Besonderes. Ja, Sir, sie war wirklich etwas Besonderes. Und jetzt, da sie gegangen ist, brauche ich keinem mehr Rede und Antwort zu stehen.« Unverständliches vor sich hin nuschelnd, schlurfte er ins Haus zurück und ließ Maddie und Chase allein.
»Sie möchten, daß ich jetzt gehe, ja?« fragte Chase nach einer Weile und unterbrach die peinliche Stille. Maddie nickte. Sie vermied es, ihn anzusehen oder auch nur ein Wort an ihn zu richten. »Dann gehe ich. Aber das, was ich vorhin sagte, habe ich ernst gemeint, Maddie. Das nächste Mal müssen Sie zu mir kommen. Aber erst, wenn Sie zu dem Eingeständnis bereit sind, daß unsere Beziehung viel wichtiger ist als ein Pferderennen. Und viel wichtiger als alles, was zwischen Ihnen und Horace Brownley besteht.« »Ich werde nicht kommen. Sie werden mich nicht wiedersehen, Chase.« Trotzdem wollte sie ihn nicht ansehen. Sie hielt den Kopf gesenkt, murmelte die Worte in Richtung Füße. Chase wurde das Herz schwer. Am liebsten hätte er ihr den Schildkrötenkamm aus dem Haar gezogen, sie gepackt und geküßt, nur um ihr den Unterschied zwischen seinem und Brownleys Kuß zu zeigen. Beinahe hätte er seine Meldung zum Rennen zurückgezogen, wenn das ihr Wunsch war. Beinahe hätte er ihr die fünftausend Dollar angeboten, wenn ihr das Geld so viel bedeutete. Aber dann tat er nichts dergleichen. »Wenn Sie es nicht anders wollen, Maddie.« »Sie wollen es so«, widersprach sie trotzig. »Ja, wahrscheinlich ist alles meine Schuld«, stimmte er zu. »Dann sehen wir uns am Renntag wieder.« Er ließ sie stehen und ging zu seinem Pferd. Es gelang ihm, zum Hof hinauszureiten, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen, um zu sehen, ob sie ihm nachblickte. Der Vierte Juli verging ruhig. Die ganze Familie McCrory verbrachte den Tag zu Hause, obwohl sich die Mädchen bitter beschwerten und Little Mike gerne bei den mit kleinen Preisen dotierten Pferderennen zugesehen hätte, die vor dem Feuerwerk stattfanden. Maddie hielt an ihrem Beschluß fest, daß der Vierte Juli für einen Stadtbesuch mit Pa ungeeignet sei. Hatte ihr Vater erst einmal festgestellt, daß es sich um einen besonderen Festtag handelte – den er früher immer mit einigen Drinks nach den Rennen feierte –, würde es schwer sein, ihn zurückzuhalten. Irgendwo würde er eine
Flasche oder sogar ein Faß finden; seine alten Saufkumpane würden ihn an einem Tag wie dem Vierten Juli nicht vom Trinken abhalten. Pa war zwar in letzter Zeit nicht glücklicher gewesen, aber er war zumindest nüchtern, und Maddie wollte ihn auf keinen Fall einer erneuten Versuchung aussetzen. Eine Woche nach dem unseligen Zusammenstoß zwischen Chase und Horace Brownley fuhr Maddie noch einmal in die Stadt, um Kaffee zu kaufen, eines der Dinge, die sie beim letzten Einkauf zu besorgen vergaß, da sie Hopewell überstürzt verlassen hatten. Sie fürchtete den Stadtbesuch, denn heute mußte sie in die Bank gehen und Horace begrüßen, um ihm zumindest Bescheid zu geben, daß sie in der Stadt war. Aber als erstes ging sie in den Kaufladen und sah sich verschiedene Ballen wunderschöner Stoffe an, die gerade eingetroffen waren. Sie konnte es sich nicht leisten, einige Meter Stoff zu kaufen. Das Betrachten aber machte ihr Vergnügen. Da sie die Mädchen dieses Mal nicht begleitet hatten, konnte sie nach Herzenslust herumstöbern, ohne die Kommentare ihrer Schwestern zu fürchten. Sie prüfte gerade einen blauen Stoff von der gleichen Farbe wie ihr neues Häubchen, als Mrs. Grover an ihre Seite kam und ihre normalerweise schrille laute Stimme senkte. »Maddie, meine Liebe, wie geht es Ihnen?« Mrs. Grover hatte etwas von einer kleinen grauen Maus und war ein gefürchtetes Klatschmaul. Würde Maddie jetzt etwas Interessantes berichten, dann wüßte es innerhalb weniger Stunden die ganze Stadt. Also war Maddie auf der Hut. »Es geht mir gut, Mrs. Grover. Ich bin nur hier, um Einkäufe zu machen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich mir Ihre bildschönen neuen Stoffe ansehe.« »Oh, natürlich, sehen Sie sich alles in Ruhe an, aber bitte befühlen Sie die Stoffe nicht, wenn Sie sie nicht kaufen wollen. Die Kunden verlieren nämlich das Interesse, wenn das Material abgegriffen aussieht. Diese schmerzliche Erfahrung habe ich leider mit den Jahren machen müssen.« Maddie zog die Hand von dem schönen blauen Stoff zurück. »Ich glaube, dann sollte ich gar nichts anfassen« »Das wäre vielleicht das beste… Möchten Sie eine Tasse Tee, bevor Sie gehen, meine Liebe?« Maddie erstarrte. Dieses Angebot hatte ihr Mrs.
Grover noch nie gemacht; abgesehen davon war nicht mehr sehr viel von ihrer früheren Freundlichkeit übriggeblieben, nachdem sich die finanzielle Situation der Familie verschlechtert hatte. »Tee, Mrs. Grover?« »Mein Liebe, Sie müssen sich unbedingt zu mir setzen und mir alles über Ihren neuen Nachbarn berichten. Soweit ich gehört habe, ist dieser Mann verrückt. Ich meine, unberechenbar und gewalttätig. Wie kommt Ihre arme Familie damit aus? Abseits da draußen in der-Einsamkeit mit einem Verrückten als Nachbarn?« Maddie war um eine Antwort verlegen. Hatte jemand Bück Cumberland zu Gesicht bekommen, Chases Bruder? Wenn das der Fall war, breitete sich jetzt der Klatsch aus, den Chase in Hopewell gefürchtet hatte? »Wer soll dieser Verrückte sein, Mrs. Grover? Soviel ich weiß, haben wir keine verrückten Nachbarn.« »Chase Cumberland, natürlich. Der Mann, der die Farm des alten Parker gekauft hat. Bürgermeister Brownley erzählt jedem, wie Mr. Cumberland sich aus heiterem Himmel auf ihn gestürzt hätte. Dabei hätte er ihm seine Brille zerbrochen und um ein Haar auch seine Nase, und dann hätte er ihm auch noch gedroht, ihn umzubringenl. Horace hat sogar dem Sheriff von diesem Überfall erzählt.« »Er hat es dem Sheriff gesagt?« »Ganz richtig, aber er hat gemeint, er würde keine Anzeige erstatten – dieses Mal nicht. Sollte es wieder passieren, sorgt er dafür, daß der Verrückte hinter Gitter kommt. Er wollte den Sheriff nur davon in Kenntnis setzen, welches Gesindel sich in dieser Gegend ansiedelt. Bevor wir es merken, könnte Hopewell genauso schlimm wie Abilene oder Dodge City werden. Wir können doch nicht Leute wie so einen in unsere Stadt lassen, finden Sie nicht auch, Maddie?… Hat Mr. Cumberland Sie oder Ihre Familie belästigt? Mr. Brownley sagte, dieser Cumberland hätte sich auf Ihrem Hof herumgetrieben, bevor es passierte. Passen Sie lieber gut auf, Maddie. Sie müssen an Ihre beiden hübschen jungen Schwestern denken. Dieser Mann ist zu allem fähig. Was hatte er überhaupt auf Ihrer Ranch zu suchen? Wenn dieser Mann tatsächlich verrückt ist, dann ist er gefährlich. Wahrscheinlich hat er herumgeschnüffelt.
Wollte einen Blick auf die Unterröcke Ihrer Schwestern werfen, das wette ich. Wo gehen Sie hin, Maddie? Wollten Sie hier nicht einkaufen?« »Jetzt nicht, Mrs. Grover. Ich muß Bürgermeister Brownley in einer dringenden Angelegenheit aufsuchen.« »Aber meine Liebe, vergessen Sie Ihren Schirm nicht. Es sieht nach Regen aus.« Mrs. Grover lief Maddie mit dem Schirm in der Hand nach. Der Himmel hatte sich bereits am Morgen mit grauen Wolken überzogen, so daß Maddie zur Sicherheit einen Schirm mitgenommen hatte. Maddie packte den Schirm und eilte zur Tür des Kaufladens hinaus. Von da rannte sie den ganzen Weg bis zur Bank.
VIERZEHN Wutentbrannt marschierte Maddie in das Gebäude der Spar- und Darlehenskasse von Hopewell, eilte grußlos an dem überraschten Bankangestellten vorbei, der in der Eingangshalle der Bank einen Kunden erwartete, und ging schnurstracks auf Horace Brownleys Privatbüro zu. Ohne anzuklopfen, riß sie die Tür auf und rauschte hinein. Über die Störung verärgert, zog Horace die Stirn in Falten, blickte aber nicht von dem Papierberg an seinem Schreibtisch auf. »Elwood, wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, daß ich nicht gestört werden möchte, wenn…« »Ich bin nicht Elwood.« Horaces Kopf schnellte in die Höhe. Als er Maddie sah, sprang er auf die Füße, lief um den Schreibtisch herum und breitete die Arme aus. »Maddie, meine Liebste!« Argwöhnend, daß er sie wieder an sich reißen und küssen würde, handelte Maddie impulsiv. Sie hob den Schirm und versetzte ihm einen Schlag auf den schütteren Kopf. Horace fiel nach hinten und blickte sie erstaunt und bekümmert an. Sie aber fühlte sich einfach himmlisch. Horace Brownley einen kräftigen Schlag mit dem Schirm versetzt zu haben, erschien ihr mit einemmal als eine höchst zufriedenstellende Tat. »Warum hast du mich geschlagen? Was ist los? Ich habe doch nichts getan, was dich veranlassen könnte, den Schirm auf meinem Kopf zu
zerbrechen.« Maddie blickte auf den Schirm. Er war tatsächlich gebrochen oder zumindest ernsthaft verbogen. Zu schade. Es war ein Schirm ihrer Mutter, und sie bedauerte, ihn ruiniert zu haben, aber nicht, daß sie Horace Brownley damit gehörig auf den Schädel geschlagen hatte. »Wie kannst du es wagen, abscheuliche Gerüchte über meinen Nachbarn Chase Cumberland zu verbreiten? Du bist sogar zum Sheriff gegangen, obwohl du mir versprochen hattest, es nicht zu tun. Ich hatte gehofft, dieser peinliche Vorfall würde unter uns bleiben, aber jetzt erfahre ich, daß du die ganze Stadt davon unterrichtet, den Namen meiner Familie in den Schmutz gezogen und den guten Ruf eines Mannes beschmutzt hast, und obendrein machst du mich auch noch lächerlich.« »Ich habe kein Wort davon erwähnt, daß ich dich geküßt habe, als er sich auf mich stürzte!« protestierte Horace. »Ich wollte die Leute nur warnen und ihnen sagen, daß wir einen Verrückten unter uns haben. Meine Mitbürger werde ich doch wohl warnen dürfen, oder etwa nicht? Ich bin der Bürgermeister, vergiß das bitte nicht, und Chase Cumberland ist ein gewalttätiger, unberechenbarer Hitzkopf, der in einer anständigen, gesetzestreuen Gemeinde nichts zu suchen hat. Wir wollen nicht, daß sich unsere Stadt zu einem verwilderten, gesetzlosen Ort wie Abilene oder Dodge City entwickelt, wo die Bewohner fürchten, bei hellem Tageslicht auf die Straße zu gehen.« »Oh, du lieber Himmel! Er hat dich doch nur auf die Nase geschlagen.« »Auf den Mund«, berichtigte Horace, «… und er hat meine Brille zerbrochen.« »Seiner Ansicht nach hatte Mr. Cumberland guten Grund dazu, aber du hast es unterlassen, die anderen darüber aufzuklären, warum er dich geschlagen hat. Und seine Drohungen waren nicht ernst gemeint; er hatte sie vor Wut ausgesprochen.« »Er hatte nicht das Recht, Hand an mich zu legen! Es war nichts Unrechtes dabei, meine Zukünftige zu küssen. Sollte es Mr. Cumberland jemals wagen, einen weiteren Bürger von Hopewell zu überfallen, wird er verhaftet und der Stadt verwiesen. Sheriff Smith hat versprochen, den Mann im
Auge zu behalten und im Wiederholungsfall rigoros durchzugreifen. Wagt es Chase Cumberland, einem Bürger gegenüber gewalttätig zu werden, wird Moses ihn sofort festnehmen. Ich bin nun einmal eine der führenden Persönlichkeiten dieser Stadt, Maddie, eine Säule der Gemeinde, wenn ich das so sagen darf. In meiner Eigenschaft als Bürgermeister muß ich alles tun, was in meinen Kräften steht, um Hopewell vor dem Schicksal zu bewahren, das so viele Rinderstädte in Kansas ereilt hat. Und das gelingt nur, indem man jeden Unruhestifter rechtzeitig abschiebt, bevor er Unheil anrichten kann.« »Das ist mir alles bekannt, Horace. Ich schätze dein… dein entschlossenes Eingreifen und deinen Bürgerstolz. Aber ich kann nicht zulassen, daß du einen unbedeutenden Vorfall zu einer großen Affäre machst und dabei den guten Namen eines Mannes in den Schmutz ziehst. Die Wahrheit ist, daß Chase Cumberland meine Ehre verteidigt hat. Das macht ihn nicht zu einem verbrecherischen oder unerwünschten Halunken. Du hast ihm großes Unrecht getan.« »Weil er mir großes Unrecht zugefügt hat.« Die Oberlippe abtastend, als ob sie noch dick angeschwollen wäre, was nicht der Fall war, ging Horace zu seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch zurück und ließ sich mit einem lauten Schmerzensseufzer auf das Polster fallen, als ob ihn die vielen erlittenen Verletzungen über Gebühr geschwächt hätten. »Er hätte mich umbringen können! Außerdem bin ich halb blind, bis die neuen Gläser, die ich in Dodge City bestellt habe, geliefert werden. Und die Schwellung an der Lippe ist ein Makel, der meiner Erscheinung und meiner Position abträglich ist. Die Schmerzen und Beschwerden, die mir Mr. Cumberland zugefügt hat, sollen uns zu ständiger Wachsamkeit ermahnen, wenn unsere Stadt sicher und sauber bleiben soll.« Maddie lehnte sich über den Schreibtisch. »Du bist zu weit gegangen, Horace. Ich bin sehr enttäuscht von dir. Verzeih, daß ich dich mit meinem Schirm geschlagen habe, aber einen kurzen Augenblick war ich furchtbar wütend, und wenn ich es recht bedenke, bin ich es immer noch.« »Wenn du dich augenblicklich in dieser Stimmung befindest, dann solltest du vielleicht einmal gründlich darüber nachdenken, was du mir alles verdankst. Wenn ich nicht so großzügig gewesen wäre, hätte die Bank die Hypotheken für die Farm deiner Familie schon längst gekündigt. Ich habe euch am Leben erhalten,
Maddie; das war nicht die Bank. Ich war es, Horace Brownley. Deine Sicherheiten reichten nicht aus, um dir ein weiteres Darlehen zu gewähren, also habe ich dir die zweitausend Dollar aus meinen persönlichen Mitteln vorgestreckt. Vergiß nicht, es ist mein Geld, dem du das Dach über deinem Kopf verdankst. Bei unserer Bank ist es die Regel, Hypotheken auf Grund und Boden bei ausstehenden Tilgungen sofort zu kündigen. Um den Vertrag zu erfüllen, den ich eigenhändig aufgesetzt habe, mußte ich deine Hypothekenzahlungen übernehmen, und auch hier verwende ich wieder meine eigenen Mittel und nicht die der Bank.« »Das… das wußte ich nicht.« Maddie richtete sich kerzengerade auf und versuchte den dicken, schmerzenden Kloß in der Kehle hinunterzuschlucken. Plötzlich fühlte sie sich krank und elend. Nie hätte sie sich träumen lassen, daß sie persönlich in Horaces Schuld stand. Bisher war sie stets der Meinung gewesen, sie verdanke ihr Überleben der Spar- und Darlehenskasse von Hopewell. Sie hatte angenommen, Horace habe seine Position bei der Bank genutzt, um ihr zu helfen, daß aber die Bank letztendlich ihr Retter gewesen war. Die Erkenntnis, daß dem nicht so war, bedeutete ein schwerer Schlag für sie. In seinem großen Sessel kam ihr Horace wie eine dicke haarige Spinne vor, die in der Mitte des Netzes auf ihr Opfer lauerte. Auch wenn sie das Rennen in Abilene gewann und die Schulden bis auf. den letzten Cent zurückzahlte, sie würde sich ihm gegenüber trotzdem verpflichtet fühlen. Diese Verpflichtung konnte sie nur einlösen, wenn sie ihn heiratete. Die vertraute Last der Sorge und Mutlosigkeit senkte sich wieder schwer auf Maddies Schultern. »Ich. ich bin dir sehr dankbar für alles, was du für mich und meine Familie getan hast. Es war mir einfach nur peinlich, als Mrs. Grover sich im Kaufladen über mein Privatleben aus ließ. Du weißt, was für ein Klatschmaul sie ist. Wenn sie es nicht bereits getan hat, wird sie die Geschichte in der ganzen Stadt verbreiten.« »Ja, ja, meine Liebe. Gewiß, das ist sie«, stimmte Horace zu. Ein zweites Mal erhob er sich, ging um den Schreibtisch herum, ergriff Maddies Hände und hielt sie fest. Der verbogene Schirm piekte ihn in den Bauch, was ihn aber nicht zu stören schien. »Und du hast recht, über Klatschge schichten besorgt zu sein. Der Ruf meiner zukünftigen Frau muß über jeden Zweifel erhaben sein. Nicht einmal der Hauch eines Skandals darf an unserem
Namen haften, Maddie, denn wenn wir heiraten, wirst auch du zu den ersten Bürgern der Stadt gehören. Man wird von dir erwarten, daß du an politischen und sozialen Veranstaltungen der Gemeinde teilnimmst. Ich muß sie alle besuchen, und du wirst an meiner Seite sein. Ist dir das bewußt?« »Neia. nicht ganz. Und ich bin nicht sicher, ob ich dem gewachsen bin. Vielleicht solltest du deinen Heiratsantrag noch einmal überdenken, Horace. Ich bin mir weiß Gott nicht klar darüber, ob ich das richtige Mädchen, ich meine, die richtige Frau für dich bin. Du brauchst jemanden, der sich in der Öffentlichkeit gewandter bewegt als ich. Was Politik oder gesellschaftliche Verpflichtungen angeht, so bin ich vollkommen unerfahren und wenig unterhaltsam. Ich.« »Unsinn. Ich stehe zu meinem Antrag, liebste Maddie. Habe ich dir das mittlerweile nicht klar zu verstehen gegeben? Eine andere Frau könnte ich mir an meiner Seite nicht vorstellen. Abgesehen davon.«, fuhr er kichernd fort, »… sind wir finanziell hoffnungslos miteinander verstrickt, so daß wir heiraten müssen, um alles ins reine zu bringen. Wie würdest du überhaupt ohne mich auskom- men?« ]a, wie? Verlor sie das große Rennen in Abilene, wäre Horace dann auch bereit, diese Schulden zu übernehmen? Vermutlich würde er anfangs verärgert sein, dann aber die Farm übernehmen, um sie versteigern zu lassen und mit dem Erlös ihre Schulden begleichen. Er würde darauf bestehen, daß die Pferde abgeschafft werden. Wie sollten sie ohne die Farm unterhalten werden? Und nur der Himmel wußte, was mit ihrer Familie geschehen würde. Sie wagte nicht einmal, daran zu denken. Die Schüchterne spielend, lächelte sie ihn zaghaft an – ein Getue, das sie verabscheute – und entfloh Brownleys Nähe, ohne einen schlabberigen Kuß ertragen zu müssen. Hilfestellung dabei leistete ihr Elwood, der Bankangestellte, der Horace Brownley zu einer dringenden geschäftlichen Besprechung abholen wollte. Maddie trat aus dem Bankgebäude, überquerte die staubige, ungepflasterte Straße und begegnete ausgerechnet dem Menschen, dessen Ruf sie gerade so tatkräftig verteidigt hatte. »Chase!« Als sie die hochgewachsene Gestalt erkannte, die mit gesenktem Kopf auf sie zukam, in Eile und nicht des Weges achtend, blieb Maddie wie angewurzelt mitten auf der Straße
stehen. Er blickte auf und konnte gerade noch einem Zusammenstoß mit ihr entgehen. »Maddie… was für eine Überraschung. Sicherlich sind Sie nicht in die Stadt gekommen, um mich zu treffen.« Sein Blick heftete sich auf das Haus, das sie gerade verlassen hatte. »Hatten Sie ein nettes Plauderstündchen mit Ihrem alten Freund Horace?« Bei dem Ton seiner Stimme hätte man denken können, er spräche von einer Spezies besonders ekliger Würmer, zu der er Maddie als Musterexemplar zählte. »Es war furchtbar. Wir sprachen über den bösartigen Klatsch, den Horace über Sie verbreitet hat. Von jetzt an müssen Sie sehr vorsichtig sein, Chase. Wegen des Vorfalls zwischen Ihnen und Horace ist die ganze Stadt auf Sie aufmerksam geworden, und jeder Ihrer Schritte wird kritisch beobachtet werden. Sollten Sie einem Bürger auch nur laut widersprechen.« »Cumberland!« brüllte plötzlich ein Mann. Maddie sah Sheriff Smith vom Stadtgefängnis auf sie zukommen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Der große, vierschrötige Moses Smith mit seinem blitzenden Sheriffstern an der Lederweste stolzierte breitbeinig wie ein riesiger Bär auf sie zu. Wann immer er in seiner Eigenschaft als Sheriff unterwegs war, bewegte er sich in dieser Gangart, da er eine übertrieben hohe Meinung von seiner Wichtigkeit hatte. Neben Maddie stehend, blickte Chase den Herankommenden unter der tiefgezogenen Hutkrempe seines schwarzen Stetsons mit unverschämten Blicken an. »Der Sheriff, nehme ich an.« Maddie nickte. »Oh, Chase, seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie sagen! Ein falsches Wort, und Moses sperrt Sie ein, bis er Ihnen einen Verbrechen anlastet, für das er Sie hängen kann. Unser Sheriff nimmt seine Stellung lächerlich ernst. Er war immer schon eifersüchtig auf seine Konkur- renz in Abilene und Dodge City. In diesen Städten wird wöchentlich einer erschossen oder erhängt, und die Gesetzeshüter gelten dort als besonders unnachsichtig. Hier in Hopewell verläuft das Leben zum Glück sehr ruhig, und daher ist Moses ein Niemand.« »Danke für die Warnung.« Etwas lauter fügte Chase hinzu: »Guten Tag, Sheriff. Schönes Wetter heute.« »Hmpf«, grunzte Moses. »Für mich sieht es nach Regen aus. Mir brau-
chen Sie nicht mit der schleimigen Tour zu kommen, Cumberland. Ich weiß, was für einer Sie sind. Ich hab’ alles über Sie erfahren. Zu schade, daß Sie keinen Revolver bei sich tragen, sonst hätte ich Sie auf der Stelle einbuchten können.« »Gleich am ersten Tag, als ich in Hopewell einritt, habe ich das Schild gesehen, welches das Tragen von Waffen in der Stadt verbietet, Sheriff«, antwortete Chase. »Auch wenn ich es nicht gelesen hätte, würden Sie mich nie mit einem Revolver oder einem Gewehr antreffen. Ich finde, ein Mann sollte keine Waffe tragen, wenn er nicht die Ab sieht hat, sie zu benutzen.« »Und was für einer ist Mr. Cumberland Ihrer Meinung nach, Sheriff Smith?« Maddie stellte sich aufrecht vor den Sheriff hin und betrachtete ihn verächtlich mit übertriebener Liebenswürdigkeit. »Nun… ahm… ich sage ja nicht, daß er mit dem Schießeisen schnell bei der Hand ist, aber ich hab’ gehört, was er auf Ihrer Farm getrieben hat, Miss McCrory… ahm… Ma’am.« In Gegenwart von Frauen brachte Sheriff Smith kaum einen zusammenhängenden Satz heraus. Das hatte Maddie bereits festgestellt. Männern gegenüber stand er seinen Mann, bei Frauen aber war er eher schüchtern. Vielleicht lag es daran, daß er nicht verheiratet war, obwohl er Alice Neff, einer liebenswerten älteren Witwe, hartnäckig den Hof machte, wenn auch bis jetzt mit wenig Erfolg. Maddie konnte Alices Zögern gut verstehen; eine Heirat mit dem schwerfälligen, ehrgeizigen Sheriff hieße soviel wie in eine Bärenhöhle zu geraten und zu hoffen, daß der Bär nicht mit der Pranke zuschlägt. »Oh, Sie haben gehört, daß Mr. Cumberland bei uns war, um uns beim Bau eines Deckstandes zu helfen?« fragte sie den Sheriff mit kokettem Wimpernschlag. »Und daß er bei dieser Gelegenheit auch unsere Schuppentür repariert hat? Die Klatschbasen der Stadt haben Ihnen also erzählt, daß er seit seinem Einzug der beste Nachbar ist, den man sich wünschen kann?« »Also… nein, davon habe ich nichts gehört, Miss McCrory. Horace drüben von der Bank hat mir erzählt, daß dieser Bursche hier ihn zusammengeschlagen und seine Brille zerbrochen hat, und so etwas kann ich nicht dulden. Jetzt, da wir die Gegend gerade von den Rothäuten gesäubert
haben, zum Großteil jedenfalls, lasse ich nicht zu, daß sich weißes Gesindel ausbreitet.« »Der Vorfall, auf den Sie hier anspielen, war ein unglückliches Mißverständnis, Sheriff Smith«, erklärte Maddie. »Mr. Cumberland war der Meinung, Mr. Brownley wolle eine ruchlose Tat begehen.« »Ruch…los?« wiederholte Moses. »Was ist denn damit gemeint?« »Das bedeutet soviel wie böse. Aus diesem Grund hat Mr. Cumberknd Mr. Brownley geschlagen. Er dachte, er hätte Böses im Sinn.« »Sehr richtig«, setzte Chase hinzu und nahm Maddies Stichwort auf. »Manchmal haben die bestangezogenen Männer die schlechtesten Motive. Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen? Sie können einem Mann nicht trauen, nur weil er einen Anzug trägt.« »Sicher. Das weiß ich«, polterte Moses. »Aber er ist der Bürgermeister und der Bankdirektor. Er muß sich doch kleiden wie ein… wie ein…« »Wie einer vom Bestattungsinstitut«, fügte Chase augenzwinkernd hinzu, und Maddie sog die Wangen ein, um nicht loszulachen. »Hmpf. In Hopewell haben wir so etwas nicht. Ist noch nicht groß genug dafür. Aber wenn man durch Hopewell die Eisenbahntrasse legen sollte, wie es sich jeder wünscht, dann sind wir eines Tages wer.« »Zweifellos. Als neuer Einwohner der Gemeinde ist es mir eine Ehre, Sie zu begrüßen, Sheriff Smith.« Mit einer geschmeidigen Bewegung streckte Chase ihm die Hand entgegen. Wohl oder übel mußte der Sheriff den Gruß erwidern, auch wenn er nicht von Chases Unschuld überzeugt war. »Darf ich Sie zu einem Drink drüben im Ruby Garter einladen, Sheriff Smith? Wir könnten dann besser miteinander bekannt werden«, schlug Chase vor. »Also… ich weiß nicht.« Sheriff Smith kratzte sich unentschlossen am Nacken. »Normalerweise trinke ich nicht, wenn ich im Dienst bin, und das bin ich meistens. Einen Marshall kann sich die Stadt nicht leisten, daher ist hier in dem Augenblick, in dem ich den Leuten den Rücken drehe, die Hölle los.« »Ich glaube, Ihre Mitbürger dürften Verständnis dafür haben, wenn Sie sich ab und zu einmal eine kleine Pause gönnen«, redete Chase ihm zu.
Seine Freundlichkeit dem Sheriff gegenüber überraschte Maddie. »Ich war gerade auf dem Weg zum Saloon, um mir einen Whiskey zu genehmigen, bevor ich mich auf den Heimweg mache, und ich würde mich freuen, wenn Sie mir Gesellschaft leisten.« »Es heißt, der Whiskey sei ein Gebräu des Teufels, meine Herren, und das kann ich persönlich nur bestätigen.« Maddie blickte Chase forschend an. Sein beflissenes Verhalten dem Sheriff gegenüber hatte sie plötzlich wieder an Chases erstaunliche Doppelzüngigkeit erinnert. Offensichtlich brauchte er ihre Hilfe nicht, um den Sheriff davon zu überzeugen, daß er weder verrückt noch gewalttätig war; es gelang ihm recht gut allein, Moses für sich einzunehmen. Natürlich mußte er seinen Bruder schützen, aber Maddie gefiel die Art nicht, wie er sich bei Moses einschmeichelte, um ihn um den Finger zu wickeln. Sie bedauerte es, ihm geholfen zu haben, vor allem, nachdem sie sich geschworen hatte, nichts mehr mit ihm zu tun haben zu wollen. Sie hoffte, Chase würde ihre Warnung nicht als Zeichen auffassen, daß sie ihre Meinung ihm gegenüber geändert hatte. Ab heute war er Luft für sie. Mit ihrer Zeit wußte sie Besseres anzufangen. Die Vorbereitungen für das Rennen zum Beispiel. Chase Cumberland, das war ihr jetzt klargeworden, konnte gut auf sich selbst aufpassen. »Da Sie jetzt beide auf dem Weg zum Saloon sind, meine Herren, darf ich mich verabschieden«, erklärte sie. »Einen schönen Tag noch, Miss McCrory.« Sheriff Smith tippte dabei an seinen Hut, während Chase nickte. »Auf Wiedersehen, Maddie. Hoffentlich kommen Sie noch trocken nach Hause. Ihr Schirm sieht mir nicht danach aus, als ob er Sie vor Regen schützen könnte.« Er wies auf den verbogenen Schirm mit einer fragend hochgezogenen Braue. »Sie wären überrascht, wie schützend ein Regenschirm sein kann«, erwiderte sie. »Regen oder nicht Regen.« Die beiden Männer blickten Maddie verdutzt nach, als sie ohne eine weitere Erklärung auf dem Absatz kehrtmachte. Maddie war jetzt mehr denn je davon überzeugt, daß man Chase Cumberland einfach nicht über
den Weg trauen konnte. Chase trank nicht nur ein, sondern zwei Glas Whiskey mit dem Sheriff. Je länger er sich mit Moses Smith unterhielt, desto weniger mochte er ihn. Dieser Mann war ein großer, dummer Ochse und unmäßig stolz darauf, daß er in seiner Jugend mitgeholfen hatte, die Indianer der Gegend zusammenzutreiben und in Reservate zu schicken. Als Folge seines unermüdlichen Einsatzes bei dieser ›Räumungsaktion‹ hatte er seine Stellung als Sheriff bekommen und sah es jetzt als eine heilige Pflicht an, ›die Stadt sauberzuhalten‹. Damit meinte er, daß jeder, der seinen Vorstellungen eines anständigen Bürgers nicht entsprach, aus Hopewell und der Umgebung ausgewiesen wurde. Dazu zählten die Indianer und jeder, der einen Tropfen indianisches Blut hatte, jeder, der verdächtig aussah oder handelte, der eine fremde Religion predigte, einen fremden Akzent hatte oder Schafe statt Rinder, Pferde, Schweine oder Geflügel züchtete; einschließlich eines jeden Menschen, den Horace Brownley nicht leiden konnte. »War ein großer Fehler von Ihnen, dem guten Horace eine zu verpassen, Cumberland«, unterbreitete er Chase bei seinem vierten Whiskey, während Chase noch bei seinem zweiten war. »Wenn Sie länger hier bei uns bleiben wollen, dann kommen Sie mit Horace Brownley lieber so schnell wie möglich ins reine, denn früher oder später werden Sie ihn brauchen. Nicht nur, weil er unser Bürgermeister ist. Die Spar- und Darlehenskasse von Hopewell ist die einzige Bank im ganzen Bezirk, nicht einmal in Dodge City gibt es eine. Meilenweit gibt es sonst keine Bank mehr, bei der sich die Leute Geld leihen können.« Darum erlaubte Maddie ihm diese Freiheiten! Bei dieser Erkenntnis verzog sich Chases Gesicht zu einer grimmigen Grimasse. Sein Verdacht hatte sich bestätigt. Sie mußte ihm Geld schulden. Wahrscheinlich hatte Brownley die zweitausend Dollar vorgestreckt, die sie an ihn verloren hatte, und die fünftausend Dollar für das nächste Rennen würden aus der gleichen Quelle fließen. Sie hatte sich tatsächlich an den Höchstbietenden verkauft. Natürlich tat sie das nur für ihre Familie, das verstand er; sie aber verstand nicht, daß er nicht anders handeln konnte, weil er sich für Bück verantwortlich fühlte.
Mit Moses im Saloon zu sitzen und Whiskey zu trinken machte ihm genausowenig Spaß wie wahrscheinlich Maddie ein Kuß von Horace Brownley. Leider waren sie beide in der gleichen Lage: jeder von ihnen mußte Familienangehörige schützen, die von ihnen abhängig waren. Es ist alles zu unserem Besten, tröstete er sich. Maddie brauchte ihn nicht, aber Bück. Just in diesem Augenblick könnte ein Steckbrief mit Bucks Beschreibung und einer Zeichnung, die ihm in groben Zügen ähnlich war, im Büro des Sheriffs ausgehängt werden. Wollte er Sheriff Moses Smith davon abhalten, auf seiner Farm herumzuschnüffeln, mußte er ihn überzeugen, daß er nichts zu verbergen hatte. In keiner Weise durfte er den Verdacht des Mannes erregen. Er war so vorsichtig gewesen, Bucks Spuren zu verwischen; wenn er sich mit diesem Dummkopf anfreunden konnte, brauchte er wegen Bück nichts zu befürchten. »Danke für den guten Rat, Moses… Noch ein Glas Whiskey?« Chase fing einen Blick von Lily Tolliver auf, die ihn und den Sheriff mit Habichtaugen beobachtet hatte, kaum daß sie den Saloon betreten hatten. Er hob die Hand, um ihr ein Zeichen zu geben. »Ich besorg’ uns noch eine Flasche.« »Neia. Vier ist mein Limit, Cumberland. Würde als Sheriff ein schönes Bild abgeben, wenn ich die Straße entlang torkele… wie Big Mike McCrory. Wenn Alice Neff rauskriegt, daß ich auch nur einen Fuß in den Saloon gesetzt habe, dann spricht sie eine Woche lang nicht mehr mit mir.« Chase senkte die Hand. Lily blickte ihn enttäuscht an. »Sie und diese Mrs. Neff haben eine Beziehung miteinander?« Moses nickte. »Die berühmte Frage habe ich ihr schon vor Wochen gestellt, aber bis jetzt läßt sie mich immer noch zappeln. Meint, es wäre zu früh nach der Beerdigung ihres Mannes, um wieder ans Heiraten zu denken. Aber ich finde, zwei Jahre Trauer reichen doch aus, oder?« »Das würde ich auch sagen, aber ich war noch nie verheiratet oder verliebt…« Maddie war die Ausnahme. »… also kann ich nicht viel dazu sagen. Big Mike McCrory betrauert seine Frau noch immer. Wer kann Alice Neff vorschreiben, wie lange sie um ihren Mann trauert?« »Ja, aber sie trinkt nicht wie Big Mike. Ehrlich gesagt, sie ist strikt gegen das Trinken. Ich
dürfte nicht einmal hier sitzen.« »Na, na… Sie werden sich doch nicht von einer Frau herumkommandieren lassen, Moses. Wenn das einmal einreißt, dann wird sie einem bald vorschreiben, was man zu tun und zu lassen hat.« »Richtig. Sie haben verdammt recht, Cumberland.« Moses knallte das Glas auf den Tresen. »Gut, ich möchte noch einen. Und danach vielleicht noch einen.« Chase nickte Lily zu, der vollbusigen Saloonbesitzerin, die sie immer noch mit Alderaugen beobachtete. Sie lächelte ihn mit blitzenden Zähnen an und hielt eine Flasche hoch. Er nickte. Einen Augenblick später tänzelte sie zu ihnen herüber und verbreitete dabei eine Wolke blumigen Duftes, vor dem Chase sich am liebsten die Nase zugehalten hätte. »Jungs, ihr seid heute aber ganz schön durstig«, schnurrte sie mit tiefer, kehliger Stimme und stellte die Flasche ab. »Kann ich noch etwas für die Herren tun?« »Sie brauchen niemanden zu rufen, Lily«, beeilte sich Moses zu sagen. »Hab1 kein Bedarf an einer Saloonhure. Meine Ziele sind höher gesteckt.« »Moses, Sie kränken mich sehr.« Schmollend verzog Lily die roten Lippen. »Seien Sie froh, daß ich Ihnen nicht das Geschäft verbiete, aber jeder hier ist der Meinung, eine Rinderstadt müsse auch einen Saloon haben. Die Cowboys würden ihre Herden nicht hier verkaufen, wenn sie hinterher nicht einen anständigen Schluck zu sich nehmen könnten. Zum Donnerwetter, schließlich gibt es in Abilene und Dodge City einen Saloon neben dem anderen auf beiden Seiten der Hauptstraße.« »Sehen Sie! Hopewell braucht mich, vergessen Sie das nicht, Moses.« Lily Tolliver schwenkte ihr Becken zur Seite und legte eine Hand darauf. »Wenn es mich nicht gäbe, dann wäre diese Stadt mausetot, und das sagen Sie sich auch.« »Dann wäre Hopewell ruhig, nicht tot«, warf Moses ein. »In der Stadt würde es friedlich, ruhig und ordentlich zugehen, bis auf die gelegentlichen Rennen, die ein wenig Wirbel machen.« »Da wir gerade von Pferderennen sprechen«, sagte Lily, und das geschminkte Gesicht leuchtete auf. »Ich hab’ von dem großen Rennen in Abilene gehört und daß Sie mitmachen. Stimmt das, Mr. Cumberland?«
»Ich werde nicht nur mitreiten, sondern auch gewinnen«, verbesserte Chase sie. »Sollten Sie also ein paar Dollar übrig haben, dann könnten Sie das Geld auf meine Stute Bonnie Lass setzen.« »Oh, ich werde darüber nachdenken. Ich habe mir auch schon überlegt, ob ich zum Rennen nicht eine Wagenladung Leute nach Abilene bringe. Soweit ich gehört habe, wird halb Hopewell zusehen, zumindest diejenigen, die davon wissen. An diesem Nachmittag wird es in der Stadt sowieso keinen Umsatz geben, also könnte ich auch mitkommen.« »Ich glaube, ich habe auch von dem Rennen gehört«, beeilte sich Moses zu sagen und schenkte sich noch ein volles Glas Whiskey ein. »Ja, heute morgen hab’ ich einen Mann gesehen, der einen Handzettel ausgehängt hat.« »Einen Handzettel?« fragte Chase stimrunzelnd. Handzettel oder Plakate interessierten ihn normalerweise wenig, es sei denn, sie hatten etwas mit ihm oder seinem Bruder zu tun, und dann bedeuteten sie stets Ärger. »Kann mich aber nicht mehr genau erinnern, was da alles drauf stand.« Moses trank die Hälfte des Glases mit einem Schluck aus und leckte sich die Lippen, bevor er fortfuhr. »Vielleicht fällt es Ihnen doch noch ein«, ermutigte ihn Chase. »O ja. Jetzt erinnere ich mich wieder. Da stand etwas von dem großen Kansas-Champion Gold Deck, der gegen zwei Pferde antritt. Das eine gehört Lazarus Gratiot aus Abilene und das andere dem Verrückten aus Hopewell.« »Der Verrückte aus Hopewell? Mein Name oder der Name meiner Stute wurden nicht erwähnt?« Moses Smith schüttelte den Kopf. »Nicht daß ich wüßte. Sie wurden nur als der Verrückte von Hopewell bezeichnet.« »Ich habe auch schon von dem Verrückten von Hopewell gehört«, mischte sich Lily ein. »So nennt Sie hier jeder, Cumberland, gleich nachdem Sie diesem Schlitzohr Horace Brownley eine geknallt hatten.« »Sprechen Sie mir ja nicht schlecht von unserem Horace.« Der Sheriff lallte bereits ein wenig, und seine Augen verschwammen. Nur mit Mühe gelang es ihm, sie einen Moment auf Lily zu fixieren. »Horace Brownley ist ein Schlitzohr, wenn Sie mich fragen«, beharrte Lily. »Und obendrein hartherzig und rücksichtslos. Oh, bei wichtigen Leuten ist er die Freund-
lichkeit in Person, aber sobald jemand auch nur einen Tag mit seinen Hypotheken- oder Darlehenszahlungen in Verzug ge- rät, umkreist Horace Brownley ihn wie ein gieriger Hühnergeier, der das verdorbene Fleisch riecht.« »Ach, zum Teufel, das ist sein Job. Er ist Bankier«, verteidigte ihn Moses. »Er hat dieses Gerede über einen Verrückten in Umlauf gesetzt.« Chase schob seinen Stuhl zurück. »Mich erstaunt nur, daß sich diese Geschichte so schnell verbreitet hat.« »Ha!« Lily lachte auf. »Hören Sie erst jetzt davon, Cumberland? Wenn hier einer im Osten der Stadt pupst, dann weiß es in Sekundenschnelle fast jeder im Westen. In unserer kleinen Stadt verbreitet sich eine pikante Klatschge schichte schneller als Flöhe im Bett einer Hure.« »Sie haben ein ganz schön freches Mundwerk, meine Gute«, murmelte Sheriff Moses. »Wenn Ihnen meine Redeweise zu blumig ist, Sheriff, dann gehen Sie lieber zu Ihrer Witwe Neff. Ich habe mich daran gewöhnt, nachdem ich jahrelang Männern zuhöre, die einen über den Durst getrunken haben.« Chase mußte über die Frau lachen, auch wenn es ihm gar nicht gefiel, als der Verrückte von Hopewell abgestempelt zu werden. Aber immer noch besser er als sein Bruder. Plötzlich zog es ihn nach Hause, mit seinen Bohnen und dem Speck, den er in der Stadt eingekauft hatte. Das Gespräch über Handzettel und Plakate hatte ihn unruhig gemacht, vielleicht auch die Stunde mit dem Sheriff am Tresen des Saloons. Was auch der Grund sein mochte, er wollte gehen und sich auf den Heimweg machen. Für heute hatte er alles erledigt; wenn er die Flasche Whiskey Moses Smith überließ, dann würde sich der Mann bestimmt an seine Großzügigkeit erinnern und ihm beim nächsten Mal weniger feindselig begegnen. Und er würde hoffentlich der Farm fernbleiben. Er stand auf und kramte in der Tasche nach Geld, um den Whiskey zu bezahlen, aber Lily Tolliver winkte ab. »Nein, die Rechnung geht auf mich, Cumberland. Insgeheim rechne ich natürlich damit, daß Sie Ihren nächsten Rennsieg hier in meinem Saloon feiern. Das hat Big Mike immer nach einem Sieg getan und jeden im Ruby Garter freigehalten.« »Und deswegen versorgen Sie ihn die ganze Zeit heimlich mit Whiskey?« fragte Chase. »Damit er seinen Vorrat auffüllen kann?«
Lily hob das Kinn. Die braunen Augen blitzten ihn an. »Ja, aber damit ist jetzt Schluß. Bei mir hat er keinen Kredit mehr, und das habe ich auch seiner Tochter gesagt. Sie hat nicht mehr das schnellste Pferd im Umkreis, also kann sie auch nicht mehr die Zeche zahlen, die ihr Pa hier bei mir anschreiben läßt. Ein paarmal mußte ich ihn schon rausschmeißen, weil er kein Geld dabeihatte. Aber sollten Sie Kredit brauchen, dann sagen Sie es mir nur, Mr. Verrückter von Hopewell.« »Trotzdem vielen Dank.« Chase legte ein paar Münzen auf den Tresen. »Aber ich halte weder viel von Krediten noch davon, meine Siege im Saloon zu feiern.« Lily nahm die Münzen und ließ sie in den tiefen Aus schnitt ihres roten Kleides gleiten, der ungebührlich viel weiße Haut zeigte. »Ganz wie Sie wollen.« »Hoffentlich sehe ich Sie beide beim Rennen wieder.« Chase ging zur Schwingtür des Saloons. »Cumberland!« posaunte der Sheriff. »Warten Sie einen Moment.« Chase blieb stehen und blickte zu dem Mann hin, der über die Flasche gebeugt saß, die er gerade bezahlt hatte. »Sheriff?« »Glauben Sie ja nicht, daß ich Sie nicht mehr im Auge behalten würde, nur weil Sie mich auf ein paar Whiskeys eingeladen haben. Könnte ja sein, daß Sie tatsächlich ein Verrückter sind.« »Könnte sein, Moses. Die Möglichkeit besteht immer.« Chase tippte an seine Hutkrempe, verbeugte sich leicht vor dem Sheriff und schlenderte aus dem Saloon. »Hmpf!« hörte er Moses grunzen, und Lily Tolliver lachte amüsiert. »Wenn Cumberland ein Verrückter ist, dann ein verdammt gutaussehender«, witzelte sie. »Bisher dachte ich immer, Verrückte sehen wild und unheimlich aus.« Wie Bück. Chase ging die Straße zum Mietstall entlang, wo er das Pferd und den kleinen gelederten Wagen gelassen hatte, den er in der Stadt gekauft hatte, falls er eine Rolle Stacheldraht mitnehmen wollte, um den rückwärtigen Teil zum Schutz vor unerwünschten Eindringlingen einzuzäunen. Plötzlich
entdeckte er einen Mann, der weiter hinten in der Straße Plakate annagelte. Weiße Zettel hingen jetzt an jedem Pfosten zu beiden Seiten der Hauptstraße der Stadt. Während der einen Stunde, die er im Saloon verbracht hatte, waren sie aufgehängt worden. Da das Rennen bereits in einer Woche stattfand, war es nur natürlich, daß man jetzt in vollem Umfang dafür warb. Trotzdem hätte er am liebsten jeden Zettel einzeln abgerissen, auch wenn die Chancen neunzig zu zehn standen, daß sie sich auf das Rennen und nicht auf Bück bezogen. Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Er nahm sich die Zeit, das erstbeste Plakat zu lesen. Es kündete tatsächlich das Rennen an, genauso, wie es Moses Smith berichtet hatte. Weder sein Name noch der von Bonnie Lass wurden erwähnt. Er hieß nur der Verrückte von Hopewell, und das in fetten Blockbuchstaben. Der Name McCrory war ebenfalls fett gedruckt. Lazarus Gratiot hingegen wurde nur mit kleinen dünnen Buchstaben bedacht. Es schien, als handle es sich bei diesem Rennen in erster Linie um eine Revanche zwischen Bonnie Lass und Gold Deck. Schließlich war es das auch. One-Eyed Jack hatte keine Chance gegen die beiden Favoriten, und Lazarus Gratiot schien der einzige zu sein, der davon nichts wußte. Chase riß das Plakat ab, um es Bück zu Hause zu zeigen. Sein Bruder würde laut auflachen, daß zur Abwechslung Chase einmal der Verrückte war… Noch eine Woche. Nur noch eine Woche blieb ihm bis zum Rennen. Eigentlich durfte er nicht einmal eine Stunde in der Stadt verbringen, wenn ein so wichtiges Rennen bevorstand. Es überraschte ihn, daß Maddie die weite Fahrt nach Hopewell unter- nommen hatte; wahrscheinlich hatte sie es für nötig gehalten, Horace Brownley einen Besuch in der Bank abzustatten. Zu seinem Kummer sagte ihm das mehr, als er wissen wollte. Wie weit würde Maddie gehen, um ihre Familie vor dem Ruin zu retten? Wieviel Liebe und Treue leuchtete jedesmal in ihren Augen auf, wenn sie ihre Geschwister oder ihren Vater anblickte oder auch nur von ihnen sprach. Chase zweifelte nicht daran, daß sie so weit wie nötig gehen würde. Und das bedeutete, daß sie alles tun würde. Sie würde sich opfern, ohne Rücksicht darauf, was es sie schließlich persönlich kostete.
Er verstand ihre Unbeirrbarkeit, denn er selbst würde alles dafür geben, fast alles, wenn sie ihn so ansehen würde wie ihre Geschwister, wenn sie ihn wenigstens halb so lieben würde und ihm eine kleine Portion ihrer Treue schenkte. Horace Brownley verdiente Maddie McCrory nicht, aber wenn Maddie beabsichtigte, sich an diesen Mann zu verschwenden, um ihre Familie zu retten, dann konnte er nichts dagegen tun. Weder hatte er Brownleys Einfluß noch dessen Geld, und abgesehen davon gehörte Bück seine Treue.
FÜNFZEHN In der Nacht war ein milder warmer Regen niedergegangen. Am darauffolgenden Tag begegneten sich Chase und Maddie erneut, aber diesmal war sie fest entschlossen, nicht ein Wort mit ihm zu wechseln. Er arbeitete mit Bonnie Lass in der Nähe des McCrory-Feldes. Little Mike ritt auf Gold Deck, während Maddie auf einem hübschen jungen Hengst saß, unverkennbar ein Abkömmling seines berühmten Vaters. Ohne Chase auch nur eines Blickes zu würdigen, ließ Maddie das rotbraune Fohlen alle Gangarten laufen. Sie war so in ihre Arbeit vertieft, daß sie weder Chase noch ihre Umgebung wahrzunehmen schien und meilenweit von dem Geschehen um sie entfernt war. Das Gras war mittlerweile in die Höhe geschossen. Ein Teil der Wiese war abgemäht und das Heu geerntet worden. Der ersehnte Regen hatte den Boden aufgeweicht und an manchen Stellen glitschig gemacht. Am besten liefen die Pferde auf dem Stück, das sich an Chases Grundstücks- grenze erstreckte. Maddie hielt die Grenzlinie genau ein, und als das junge Pferd ermüdete, machte sie kehrt, um es nach Hause auf die Koppel zu bringen. Chases Nerven waren zum Zerreißen gespannt, als er allein mit Little Mike zurückblieb. »Schöner Bursche, den deine Schwester da reitet«, rief Chase dem jungen Mann zu. Auch wenn Maddie ihm die kalte Schulter zeigte, mochte er ihren Bruder. Er mochte Little Mike sogar sehr. Ohne die geringste Spur von Unfreundlichkeit nickte Little Mike ihm zu. »Wir nennen ihn Red, weil er roter ist als sein Daddy. Ich weiß nicht, ob er so schnell sein wird, weil seine Mutter nicht gerade der beste Sprinter war.«
»Gold Deck sieht im Augenblick wirklich gut aus.« Chase ritt mit Bonnie Lass näher an den Hengst heran und ließ sie neben ihm gehen. Die Stute wieherte leise, so wie beim letzten Mal, als sie Gold Deck gesehen hatte, und Gold Deck tat es ihr gleich. Bonnie Lass war erst vor kurzem rossig gewesen, und Gold Deck schien es zu wissen. Dieses Mal beugte er weder den Nacken noch tänzelte er nervös neben ihr, sondern ging gelassen weiter. »Er ist gut in Form«, sagte Little Mike und warf Chase einen langen Blick von der Seite zu. »Ich habe hart mit ihm gearbeitet, und ich glaube, dieses Mal werden Sie uns nicht so leicht schlagen können. Jetzt sind wir für Sie gerüstet.« Chase erwähnte nicht, daß er ebenfalls hart mit Bonnie Lass trainiert hatte. Statt dessen nutzte er die Gelegenheit, seinen Rivalen genauer unter die Lupe zu nehmen. Gold Deck hatte abgespeckt. Die Muskeln der Hinterhand zeichneten sich deutlicher ab. Als Chase zum Trainingsplatz gekommen war, hatte Little Mike das Pferd mehrere Runden scharf galoppieren lassen, und jetzt schwitzte es trotz der Anstrengung kaum. Sein rötliches Fell leuchtete golden auf. Der Glanz auf Gold Decks Fell zeugte von bester Gesundheit, Pflege und Zufriedenheit. Er war zum Rennpferd geboren – ein wunderbares Gebilde aus verschiedenen Körperteilen, deren Zusammenspiel einem bestimmten Ziel diente: ein kurzer Sprint in atemberaubender Geschwindigkeit. Chase vertraute auf seine Stute, mußte aber zugeben, daß das Wort Sieger überall auf Gold Deck geschrieben stand. »Du könntest recht haben, Mike. Es wird nicht so einfach sein, deinen Hengst zu besiegen. Bonnie Lass und ich sind aber nicht bereit, so schnell klein beizugeben.« »Meine Schwester ist ernstlich böse auf Sie, weil Sie sich als dritter zu dem Rennen gemeldet haben.« »Und wie steht es mit dir? Wie denkst du darüber?« Little Mike zuckte mit den Schultern. »Ich würde sagen, wir züchten in erster Linie Quarter horses, um sie so oft wie möglich ins Rennen zu schicken. Natürlich erwarten wir von ihnen als Nutz- und Arbeitstiere noch viel mehr als das, aber ich würde kein Rennen absagen, nur weil eine Frau meine Teilnahme nicht wünscht. Auch wenn Maddie meine Schwester ist,
so sind wir uns nicht in allem einig. Ein Mann sollte sich bei seinen Entscheidungen sowieso nicht von einer Frau beeinflussen lassen; er sollte das tun, was er für richtig hält.« Chase mußte unwillkürlich lachen, da der Vater des Jungen vor kurzem beinahe das gleiche gesagt hatte. Das erinnerte ihn an das Dilemma des Sheriffs und an sein eigenes. »Warte noch ein paar Jahre ab, dann änderst du vielleicht deine Meinung. Vor allem, wenn dir die Frau gefällt, die dich beeinflußt. Irgendwie sehen Frauen die Dinge immer anders, und der Mann muß entscheiden, ob er mitspielt oder nicht.« Little Mike schüttelte den Kopf, als ob er Frauen lästig fände. »Maddie war wegen dieses Rennens natürlich aufgebracht, und sie ist es noch immer. Aber ob Sie sich fünftausend Dollar so einfach durch die Lappen gehen lassen, ist Ihre Sache, nicht Maddies. Sie haben ein Recht darauf.« »Danke. Ich wußte, daß du in diesem Punkt vernünftiger bist als deine Schwester. Obwohl ich nicht gedacht hätte, daß du so sehr von deinem Sieg überzeugt bist.« »Das bin ich, weil ich weiß, daß ich das beste Pferd habe«, erklärte Little Mike ruhig, und Chase bekam einen Vorgeschmack von dem selbstbewußten jungen Mann, zu dem er sich bald mausern würde. »Maddie bildet sich ein, sie wäre die einzige, die sich um die Familie sorgt oder sich eine bessere Zukunft für sie erträumt. Aber das stimmt nicht. Ich habe meine eigenen Träume, und beim Rennen am kommenden Samstag werde ich alles daransetzen, daß sie in Erfüllung gehen.« Chase nahm die Zügel in eine Hand und reichte Little Mike die andere. »Was auch geschieht, ich hoffe, daß wir auch danach Freunde bleiben, Mike.« Little Mike drückte ihm wie ein Mann die Hand, fest und selbstsicher. »Ja, das werden wir… ich glaube, ich muß jetzt nach Hause reiten, sonst tobt Maddie.« »Ja, glaube ich auch.« Chase verspürte plötzlich ein verdächtiges Würgen im Hals. Hätte er außer Bück noch einen jüngeren Bruder, dann würde er ihn sich so wie Little Mike wünschen. Der Junge hatte Schneid, einen gesunden Menschenverstand und war bereits reifer, als Maddie wahrhaben wollte.
Chase und Bück waren den ganzen Tag auf der Farm beschäftigt. Am frühen Abend kehrten die beiden Männer verschwitzt, müde und hungrig ins Haus zurück. Bück aß kaum etwas und stellte nach dem Abendbrot einen großen Wasserkessel auf den Herd. »Warum machst du das?« wollte Chase wissen, da ihn die emsige Geschäftigkeit des Bruders störte. Bück bedeutete ihm, daß er sich rasieren und waschen wolle. »Hast du heute abend noch etwas vor, Bück?« Bück grinste nur. Chase fand, daß es an der Zeit war, mit seinem Bruder ein ernstes Wort zu sprechen. Für zwei erwachsene Menschen machte es wenig Sinn, so zu tun, als ob nichts Außergewöhnliches geschehen wäre. Bück erledigte zwar seinen Teil der Arbeit, aber in letzter Zeit war es öfter vorgekommen, daß die Beendigung einiger Dinge Chase überlassen wurde, weil Bück es so eilig hatte, Mary zu besuchen. »Du sagst mir nicht, wohin du gehst, großer Bruder, und wen du besuchst. Nun aber raus damit. Möchtest du, daß Pawnee Mary bei uns einzieht – oder hast du vor, bei ihr zu wohnen? Ich bin der Meinung, daß dieses nächtliche Umherschleichen ein Ende haben muß. Du bist einfach zu müde, um all deinen Pflichten nachzukommen, und ich habe es langsam satt, da weiterzuarbeiten, wo du aufgehört hast.« Bucks Unterkiefer fiel herunter, als Chase Marys Namen erwähnte, aber kaum hatte Chase zu Ende gesprochen, bedeutete er ihm durch Zeichen: Ich erledige hier meinen Teil der Arbeit und noch mehr. »Ich behaupte ja nicht, daß du die Arbeit liegenläßt. Aber du könntest mehr Schlaf gebrauchen. An manchen Tagen siehst du erschöpft und ausgelaugt aus, großer Bruder, so wie ein Deckhengst, der zu viele Stuten besprungen hat und dazwischen keine Ruhepause einlegt, um wieder zu Kräften zu kommen. Na komm schon, gib es zu. Deine Nächte sind wirklich interessant geworden, stimmt’s?« Bück nickte, und das Grinsen kehrte wieder zurück. Du hättest nichts dagegen, wenn ich bei Mary einziehen würde? Er achtete darauf, jedes Wort deutlich zu formen, damit Chase neben der Zeichensprache auch von seinen Lippen lesen konnte.
»Nein«, sagte Chase. »Aber wäre es dir nicht lieber, wenn sie bei uns wohnen würde?« Bück schüttelte energisch den Kopf. Zu eng. Mary würde hier nicht gerne mit uns beiden zusammen wohnen. Ich zierte lieber zu ihr. »Kann man überhaupt in diesem alten, windschiefen Haus leben?« Dem Äußeren nach zu urteilen, mußte Chase annehmen, daß es auch im Inneren unbewohnbar war. Es ist netter, als du denkst. Der einzige Mangel ist das leckende Dach. Aber ich werde diesen Schaden beheben, sobald ich Zeit dazu habe. »Ich helfe dir gerne dabei«, erbot sich Chase. »Warum hast du mir nicht schon früher davon erzählt? Wie lange wolltest du noch mit der Eröffnung warten, daß du eine Freundin gefunden hast? Ich weiß es nämlich schon seit einiger Zeit. Ich habe euch beide beobachtet, als ihr nachts im Fluß gebadet habt.« Bück sah betrübt aus. Ich wollte dich nicht kränken. Du solltest nicht denken, ich würde nicht zu schätzen wissen, was du für mich getan hast. Bück breitete die Arme aus, als ob er das Haus umfassen wolle. Ich möchte nicht aufgeben, was wir hier haben; Mary möchte ich auch haben. Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, wir beide können eine Frau an unserer Seite gebrauchen. »Zum Teufel, da stimme ich dir zu!« Chase lachte seinen Bruder an. »Aber ich glaube, der Glückspilz von uns beiden bist du. Weißt du, jahrelang habe ich mir Gedanken darüber gemacht, daß ich eines Tages heiraten könnte, dich aber nicht im Stich lassen möchte. Und jetzt gehen dir diese Gedanken durch den Kopf! Seltsam, wie sich die Dinge ändern. Ich freue mich sehr für dich, Bück, aber ich muß zugeben, daß ich verdammt eifersüchtig war, als ich euch beide vergnügt im Fluß plantschen sah. Wie kommt es, daß du von heute auf morgen so glücklich bist?« Wenn ich das wüßte! Als ich Mary das erste Mal gesehen habe, wußte ich auf der Stelle, daß sie meine Frau werden würde; sie ist für mich wie geschaffen. Bei ihr brauche ich kein Wort zu sprechen; sie scheint schon vorher zu wissen, was ich denke. Es hört sich verrückt an, aber es stimmt. Chase fragte sich, wie sich Bück mit Mary verständigte. Die indianische Zeichensprache war begrenzt. Mary konnte die zusätzlichen Zeichen nicht
so schnell gelernt haben, die Chase und sein Bruder entwickelt hatten. Auch konnte sie das Lippenlesen nicht so leicht beherrschen, denn Chase hatte Jahre dazu gebraucht. Ihrer heutigen Verständigungsmethode waren viele Lehrjahre vorausgegangen. »Es ist wirklich erstaunlich, daß ihr beide euch überhaupt verständigen könnt«, bemerkte Chase. »Du hast wirklich Glück, Bück. Ich wünschte, ich käme nur halb so gut mit der Frau zurecht, die ich haben möchte.« Du bist in Mary McCrory verknallt, richtig? Die Frage brachte Chase aus der Fassung. Er hatte nie davon gesprochen, nicht einmal daran gedacht. Vor allem hatte er sich eins nie eingestanden: er liebte Mary. Die Wahrheit traf ihn jetzt wie ein Donnerschlag. Nein, er war nicht in sie verknallt. Er liebte sie. Er liebte ihren Mut, ihre Tapferkeit, ihren kämpferischen Geist, liebte sie wegen der Geduld und Zärtlichkeit, die sie ihrem Vater zuteil werden ließ, auch wenn es Big Mike nicht verdiente. Er liebte die selbstverständliche Bereitschaft, mit der sie für ihre Geschwister kochte und putzte und immer für sie da war, sie mit Lob und Tadel erzog und alles, was in ihren Kräften stand, für sie tat. Er liebte ihr wildes, knallrotes Haar, die frechen Sommersprossen, die blitzenden Augen, den süßen, vollen Mund, liebte und begehrte ihren biegsamen Leib. Ja, verdammt noch mal, er liebte sie! Aber allem Anschein nach liebte sie ihn nicht… es war also müßig, weiter darüber zu sprechen. Er hob nur die Schultern. »Ich weiß nicht, wie ich das, was zwischen uns ist oder nicht ist, bezeichnen soll. Liebe kann es jedenfalls nicht sein, denn sie will nichts mit mir zu tun haben. In letzter Zeit fühle ich mich meistens miserabel, wenn ich sie sehe.« Tut mir leid, sagte Bück. Ich dachte, da sie über mich Bescheid weiß und mit Mary befreundet ist und weil du immer einen ganz besonderen Ausdruck in den Augen hast, wenn du von ihr sprichst –, könnte sie die richtige Frau für dich sein. Dann wären wir beide glücklich. »Tja. Sie ist nicht die Richtige für mich. Um ehrlich zu sein, sie kann mich nicht ausstehen. Auch wenn ihr an mir liegen würde, ihre Familie wäre im Weg. Sie bedeutet ihr alles, und sie braucht sie noch, zumindest,
bis ihr Bruder ein wenig älter ist und die Schwestern soweit sind, um das Haus zu verlassen, wenn sie heiraten. Ich weiß nicht, was aus ihrem Vater werden wird; wenn er so weitermacht, wird er nicht mehr lange leben. Auch wenn sie mich liebte und heiraten wollte, müßten wir noch lange warten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Maddie von zu Hause weggeht, wenn ihre Familie noch mit so vielen Schwierigkeiten zu kämpfen hat.« Zu schade. Bück seufzte mitfühlend. »Verdammt, ich brauch’ dir nicht leid zu tun. Laß dich in deinem Glück nicht stören, Bude! Nach den vielen schweren Jahren hast du es verdient. Ich wünsche dir und Mary von Herzen alles Gute.« Bück kam näher und klatschte Chase auf die Schulter. Nachdem ich jetzt deinen Segen habe, werde ich Mary sagen, daß sie unsere Hochzeit vorbereiten kann. »Deine Hochzeit? Wie willst du ohne einen Geistlichen heiraten?« Mary sagt, wir können ohne kirchlichen Segen heiraten. Wir machen unsere eigene Zeremonie. Wir werden einige Bräuche der Weißen und einige der Indianer befolgen. Zur Hochzeit möchte ich ihr ein Pferd schenken. Dabei dachte ich an die junge Stute, die ich zugeritten habe. Gib sie mir, und ich werde mich irgendwie revanchieren. »Die Pferde gehören nicht mir; sie gehören uns. Such dir das Pferd aus, das du möchtest, solange es nicht Bonnie Lass ist! Natürlich erwarte ich, daß du nach der Hochzeit und den Flitterwochen deine Arbeit wieder wie üblich aufnimmst.« Bück nickte. Sein Gesicht wurde plötzlich ernst. Mehr denn je möchte ich, daß unsere Pläne mit der Farm und der Zucht Erfolg haben, Chase. Mary und ich werden vielleicht Kinder bekommen. Dann brauchte ich deine Hilfe, wenn sie zur Schule gehen. Einverstanden? Chase stieß einen langen Pfiff aus. »Ihr habt also bereits Pläne gemacht, hm? Natürlich werde ich dir helfen, wenn du mich brauchst. Ich weiß zwar nicht, wie wir das den Leuten erklären wollen, aber vielleicht können wir sagen, es wären Waisen, die plötzlich vor meiner Haustür standen. Ich könnte auch ihr lange verloren geglaubter Onkel sein oder was weiß ich; ihr Onkel werde ich auf jeden Fall sein… einen Moment. Bei euch ist doch noch nichts unterwegs, oder?«
Bucks Grinsen erhellte das ganze Gesicht. Nicht daß ich wüßte. Das heißt nicht, daß wir es nicht versucht hätten. Vergiß aber nicht, daß Mary kein leichtes Mädchen ist! Außerdem ist sie der Meinung, ich stünde auf der gleichen Stufe wie ein… wie ein Gott. Ich habe ihr schon so oft gesagt, ich bin kein Gott, aber sie will mir nicht glauben. »Dann hast du es ja gar nicht so einfach, Bruderherz. Soll ich rübergehen und es ihr sagen? Einem unbefangenen Dritten schenkt sie vielleicht eher Glauben.« Sie würde dir auch nicht glauben. »Dann sag ihr, daß ich sie grüßen lasse und stolz bin, daß sie meine Schwägerin wird.« Bück umarmte seinen Bruder wie ein mächtiger Bär und schlug ihm dann wieder auf die Schulter, dieses Mal so fest, daß es schmerzte. Danke, kleiner Bruder, sagte er und trat zurück. Die wilden Augen waren sanft wie die eines neugeborenen Fohlens, und das Gesicht strahlte vor Freude, wie Chase es noch nie an ihm gesehen hatte, auch nicht vor dem Unglück. Chase konnte nur zur Antwort nicken. Er gönnte seinem Bruder alles, aber trotzdem fiel es ihm schwer, nicht neidisch zu sein. Wenn Bück, der unter den Männern ein Außenseiter war, eine Frau fand, die er liebte und heiraten wollte, dann müßte doch er selbst diese verhältnismäßig einfache Aufgabe mit Leichtigkeit lösen können. Warum war es bei ihm so verdammt schwierig? Seit Jahren hatte er sich immer gesagt, Liebe habe in seinem Leben keinen Platz noch wolle er sie; wenn er ein sicheres Zuhause für seinen Bruder fand, dann wäre dies genug. Nachdem ihm jetzt mehr in den Schoß gefallen war, als er zu hoffen wagte, fühlte er sich traurig und einsam. Sehnsüchtig wünschte er sich das, was sein Bruder gefunden hatte: eine Frau, mit der er eins war, geistig, körperlich und seelisch. Maddie war die Frau, die er sich wünschte; aber es war offensichtlich, daß sie ihn ablehnte. Er hatte seine Chancen vertan, als er sich zu diesem verdammten Rennen meldete. Das Schlimme daran war, daß er immer noch meinte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, wenn er am Rennen teilnahm. Was, zum Teufel, sollte er tun?
Pawnee Mary, die Silberhaars Kommen in der nächsten Stunde erwartete, stellte die Axt ab, mit der sie Feuerholz im schwindenden Abendlicht gespalten hatte. Einen Augenblick strich sie mit den Händen über ihren flachen Bauch; ein neues Leben hatte dort Wurzeln geschlagen und wuchs jetzt heran. Sie stellte sich Silberhaars Freude vor, wenn sie ihm von ihrem Geheimnis berichtete. Sie schloß die Augen und lächelte. Ihre weibliche Blutung setzte immer pünktlich mit dem Mondzyklus ein. Aber dieses Mal war sie ausgeblieben. Sie war seit neun Tagen überfällig. Dies und das zarte Anschwellen ihrer Brüste sowie die Übelkeit, die sie am Morgen plagte, hatten sie schließlich davon überzeugt, daß sie ein Kind erwartete. Und heute wollte sie es Silberhaar sagen. In Eile verließ Mary ihren Platz vor dem Haus und ging zu einer seichten Stelle am Fluß, die von ihrem Häuschen nicht weit entfernt war. Bevor Silberhaar kam, wollte sie ein Bad nehmen und den Schweiß des Tages abspülen. Manchmal wurden sie von der Leidenschaft so plötzlich gepackt, daß sie sich nicht einmal die Zeit nahmen, etwas zu essen oder sich zu waschen, bevor sie einander in die Arme fielen. Das Abendessen hatte sie vorbereitet, denn sie wollte nicht nach Essen riechen wie so viele in der Stadt, die höchstens einmal im Jahr badeten. Schnell schlüpfte Mary aus den Kleidern und ließ sie als Häufchen am Ufer zurück. Dann watete sie in das kühle Wasser. Sie tauchte unter, löste den langen Zopf, schüttelte die schwarze Mähne und strich mit den Fingern langsam darüber. Das Wasser tat dem erhitzten Körper gut, daß sie beschloß, im Fluß zu bleiben. Silberhaar würde sie hier suchen und dann vielleicht auch ein Bad an diesem heißen Sommerabend genießen. Sie schwamm weiter vom Ufer weg, drehte sich um und ließ sich am Rücken treiben. Träge blickte sie in die aufgehenden Sterne und sann darüber nach, wie wunderbar ihr Leben geworden war, nachdem sie Silberhaar gefunden hatte. Bevor sie sich begegnet waren, glaubte sie, allein leben zu müssen. Sie hatte sich nicht vorgestellt, daß ihr dieses Glück beschieden sein könnte, auch hatte sie nicht geträumt, daß ein weißer Mann ihr Freund und Geliebter würde… und die Mitte ihres Daseins. Silberhaar würde vor Freude außer sich sein, wenn er hörte, daß ihre Liebe ein neues Leben gezeugt hatte. Sein Wunsch Kinder zu haben – und zu
heiraten – hatte sie erstaunt; es schien ihn nicht im geringsten zu stören, daß sie Indianerin war, aber wenn sie bedachte, daß auch er das Gefühl des Ausgestoßenseins und der Einsamkeit gekannt hatte, war es vielleicht doch nicht so überraschend. Er hatte gelernt, die Menschen nach ihrem Herzen zu beurteilen, und in ihrem Herzen hatte er nichts als Liebe und Aufnahme gefunden. Vielleicht sollte sie ihm erst von dem Baby erzählen, wenn sie verheiratet waren; die Nachricht wäre ein wunderschönes Geschenk, mit dem sie diesen Anlaß feiern könnten. Wie gerne wollte sie ihm etwas Besonderes schenken! Ein schöneres Geschenk als eine Tochter oder einen Sohn gab es nicht. Während sie sich vom Wasser treiben ließ und über die Zukunft nachsann, die jetzt so strahlend und vielversprechend vor ihr lag, drang plötzlich ein fremdes Geräusch an ihr Ohr und machte ihrer frohen Stimmung und der Vorfreude auf Silberhaars Auftauchen am Fluß ein jähes Ende. Mit einer möglichen Gefahr rechnend, setzte Mary die Füße auf den Grund und kauerte sich im Wasser zusammen. Hastig breitete sie das dunkle Haar über sich aus, um die hellen Schultern und das Gesicht zu verdecken. Erneut lauschte sie angestrengt, und wieder hörte sie ein Geräusch. Das Schnauben eines Pferdes, das nicht hierhergehörte. Diesmal war das Geräusch viel näher. Es wurde von dumpfem Hufgetrappel und leisem Stimmengemurmel begleitet. Männer ritten am Flußufer entlang. Einen Augenblick später tauchten zwei schwarze Umrisse aus dem Gestrüpp und den wilden Pflaumenbüschen auf. Die Männer stiegen ab und ließen die Pferde aus dem Fluß trinken, nicht weit von der Stelle entfernt, an der Mary die Kleider abgelegt hatte. Sie hoffte, sie würden ihre Sachen nicht bemerken, und zuckte zusammen, als ein überraschter Schrei ertönte. »Key! Sieh dir das an!« »Was?« »Ein Weiberkleid. Mein Pferd wäre beinahe drauf getreten. Glaubst du, es gehört vielleicht dieser Hure, der wir heute einen Besuch abstatten wollten? Verdammt will ich sein, wenn das nicht ihr Kleid ist. Ah! Hier sind auch ein Paar Mokassins!« »Das bedeutet, daß sie hier ganz in der Nähe sein muß. Der Kerl aus dem
Saloon in Hopewell hatte dann doch nicht so unrecht. Hat doch behauptet, hier draußen haust eine Rothaut in einer alten Hütte, und das ist der Beweis!« Die Stimme des ersten Mannes war hoch und dünn. Die zweite Stimme war lauter, tief und guttural. Mary verhielt sich regungslos im Wasser und versuchte die beiden Gestalten deutlicher auszumachen. Zu ihrem Entsetzen waren beide kräftig gebaut. Der eine war groß, der andere untersetzt und klein. »Charlie, hast du die Whiskeyflasche dabei, die wir gekauft haben? Raus damit, aber zack! Ich schlage vor, wir binden die Pferde an und genehmigen uns einen Schluck, während wir warten, daß die Hure auftaucht und ihre Kleider holt. Wenn sie sich ausgezogen hat und im Fluß schwimmt, wird sie uns bald sehen und rauskommen, um sich ein paar Münzen zu verdienen.« »Wenn sie nicht in der Stimmung ist, haben wir Pech gehabt. Rothäute sind wetterwendisch. Vielleicht sollten wir die Pferde verstecken, damit sie sie nicht vom Fluß aus sieht. Dann kommen wir wieder hierher zurück und warten mucksmäuschenstill, bis sie rauskommt. So können wir sie überraschen.« »Nee, wir brauchen ihr nur unser Geld zu zeigen. Mann, die Rothäute in dieser Gegend krepieren vor Hunger; für ein paar Münzen tun sie fast alles. Was soll’s. Eine Squaw hat nicht die Moral einer weißen Frau. Vielleicht ist die Schlampe auch heiß und macht es umsonst! Haha! Und ich wette, wenn wir fertig sind, wird sie uns bitten, daß wir das nächste Mal wiederkommen, wenn wir in der Nähe sind.« Schrilles Gelächter folgte auf diese Bemerkung und sagte Mary, daß der Mann wahrscheinlich angetrunken war. »Anscheinend brauchst du wohl kaum den Whiskey, Daniel. In der Stadt hast du schon genug getrunken, sonst würdest du nicht so einen dämlichen Quatsch erzählen. Wir wissen nicht einmal, ob sie wirklich eine Nutte ist. Der Bursche im Saloon hat immerhin zugegeben, daß er es bei ihr noch nicht probiert hat. Könnte sein, daß wir sie zwingen müssen.« »Das läßt sich leicht feststellen. Fragen wir sie… Key, Indianerfrau! Versteckst du dich da draußen im Fluß? Hab’ keine Angst. Wir sind nur
zwei einsame Cowboys, die heute abend ein bißchen Spaß haben wollen. Darum haben wir uns aus der Stadt auf den Weg zu dir gemacht, und wir werden nicht eher abziehen, bis du mit uns gesprochen hast. Vielleicht zeigst du dich auch, Süße. Wenn du willig bist und hübsch, dann sollst du es nicht bereuen.« »Du Idiot. Die wird doch nicht aus dem Wasser steigen, dich mit einem stürmischen, nassen Kuß begrüßen und sich dann mit dir ans Ufer fallen lassen!« »Warum nicht? Wie ich schon gesagt habe, ich werde ihr zuerst mein Geld zeigen. Warf s ab.« »Vielleicht sollten wir lieber zur Hütte gehen und dort auf sie warten. Irgendwann muß sie ja mal nach Hause gehen; wenn sie kommt, sind wir schon da. Wir können es uns da gemütlich machen. Und wenn sie nicht kommt, dann trinken wir unseren Whiskey aus und essen den leckeren Eintopf, der auf dem Herd steht. Und anschließend schlafen wir uns aus.« »Soll ich dir was sagen, Charlie? Deine Fantasie treibt schlimme Blüten. Aber wahrscheinlich hast du recht. Es ist wirklich bequemer, im Haus auf sie zu warten als am Flußufer. Außerdem hab’ ich einen Bärenhunger, und der Eintopf auf dem Herd roch wirklich gut.« »Ich wußte doch, daß bei dir ein Appetit den anderen ablöst.« »Das heißt nicht, daß ich aufgebe; ich schiebe meinen Spaß nur ein Weilchen hinaus… Key, Süße! Wir gehen zum Haus zurück und warten dort auf dich, und deine Kleider lassen wir hier, wo wir sie gefunden haben. Spar dir aber die Mühe, sie wieder anzuziehen; denn die müssen wir dir gleich wieder runterreißen, wenn du kommst.« »Oh, damit hast du ihr jetzt den Rest gegeben, Daniel. Nun kommt sie aus diesem verdammten Fluß überhaupt nicht mehr raus.« »Natürlich kommt sie raus. Indianerfrauen mögen es hart. Je härter, desto besser.« »Woher weißt du das? Hast du schon mal ‘ne Squaw gehabt?« »Nee, aber vom Hörensagen. Ich erzähl’s dir, wenn wir im Haus sind.« Die Männer bestiegen wieder ihre Pferde. Dann entfernten sich die
schwarzen Gestalten vom Flußufer. Mary wartete noch eine Weile ab, bis sie wirklich weg waren, dann hastete sie zum Ufer und zu ihren Kleidern. Sie mußte Silberhaar abpassen und ihn davon abhalten, ins Haus zu gehen, vorausgesetzt, daß er nicht bereits dort war. Sie schickte ein stummes Gebet zu Tirawa, daß er ihn aufhalten möge und verhinderte, daß er diesen Männern begegnete. Sicherlich waren die beiden bewaffnet, während Bück zu ihr stets zu Fuß und ohne Gewehr oder Revolver kam. Plötzlich wurde ihr bewußt, wie sorglos und selbstvergessen sie und Silberhaar geworden waren. Sie glaubten, sie hätten an diesem abgelegenen Ort nichts zu befürchten. Normalerweise hatte sie stets ein Messer bei sich. Aber heute abend hatte sie an keine Gefahr gedacht; sie freute sich nur darauf, Silberhaar von ihrer Schwangerschaft zu berichten. Das Messer hatte sie benutzt, um das Fleisch für den Eintopf kleinzuschneiden, und ließ es am Küchentisch zurück. Die Axt lehnte am Holzstapel. Oh, wenn sie doch jetzt eins von beiden in der Hand hielte! Schwungvoll warf sie das nasse Haar über eine Schulter und schlüpfte in die Mokassins. Dann bückte sie sich, um das Kleid aufzuheben. In diesem Moment legte sich ein Männerarm um ihre Taille und hob sie hoch. »Charlie, schnell, komm her, ich hab’ sie! Wußte ich’s doch, daß sie aus dem Wasser kommt, sobald sie glaubt, wir sind verschwunden. Verdammt, die ist aber quicklebendig!« Sich windend und um sich schlagend, versuchte Mary sich zu befreien. Panik ergriff sie, aber sie versuchte bei Verstand zu bleiben und nicht zu schreien. Wenn sie schrie und Silberhaar sie hörte, würde er ihr zu Hilfe eilen, und das war das letzte, was sie wollte, da sie letztendlich begriffen hatte, wie sehr er eine Entdeckung fürchtete. Es gelang Mary, ihrem Peiniger einen Ellbogen in den Magen zu rammen. Er ließ sie los. Aber bevor sie diesen Moment der Schwäche nutzen konnte, stand der andere Mann, der große und starke, vor ihr, packte sie bei den Handgelenken und hielt sie so fest, daß sie Angst hatte, er würde ihr die Knochen brechen. Der erste Mann, Daniel, kam sofort wieder zu sich und packte sie wieder bei der Taille. »Charlie!
Hast du dir die Kleine angesehen? Oder hier mal hingefühlt?« Seine harten, rauhen Hände betatschten Marys Körper an intimen Stellen. Ihr blieb keine andere Wahl, als es zitternd und mit zusammengebissenen Zähnen zu erdulden. Sie wollte nicht schreien und Silberhaar um Hilfe rufen. Auf irgendeine Weise mußte sie den Kerlen mit eigener Kraft entkommen. »Diese Rothaut ist ein Vollweib, Charlie. Komm, wir bringen sie ins Haus, da können wir die Tür zumachen, und keiner wird ihre Schreie hören.« »Warum schreit sie jetzt nicht? Zum Teufel, nicht einen Ton hat sie von sich gegeben! Wenn du mich fragst, so finde ich das irgendwie merkwürdig.« »Die schreit nicht, weil sie weiß, daß ihr hier draußen keiner zu Hilfe kommt… Hab’ ich nicht recht, Süße?« Daniel drückte ihre rechte Brust zusammen. Vor Schmerz biß sich Mary auf die Oberlippe. Oh, wo war Silberhaar? Sie wollte nicht, daß er kam. Sie wollte ihn nicht der Gefahr aussetzen. Gleichzeitig aber sehnte sie sich nach seinem Schutz und Trost. Sie war diesen Männern unterlegen. Sie würden sie schänden, sie verletzen, nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. Sie fühlte sich bereits jetzt vergewaltigt. Sie wußte, daß sie sich noch elender fühlen würde, bevor sie mit ihr fertig waren. Ein neuer Schrecken verfolgte sie. Das Kind! Hoffentlich verlor sie in dieser Nacht nicht das Kind! Bei dem Gedanken, sie könnte ihr Kind verlieren, wurde sie der plötzlich aufsteigenden Hysterie nicht mehr Herr. Um des Kindes willen mußte sie kämpfen. Auch wenn sie und ihre Frucht Schaden erleiden sollten, sie mußte sich wehren. Sie warf den Kopf zurück, stieß einen hohen, ohrenbetäubenden Laut aus, den Kriegsschrei der Pawnees, den sie selbst nie gehört hatte. Er brach aus der Tiefe ihrer Seele hervor, mit der schattenhaften Erinnerung an gewonnene Kriege, Skalps, erbeutete Pferde, Gefangene und Sieges- tänze vor lodernden Flammen. Die Zeit ihrer Ahnen war gekommen und gegangen, aber jetzt war ihre Zeit da. So wie ihre Ahnen gekämpft haben, um ihre Familien und Kinder
zu schützen, so mußte sie jetzt um das Leben ihres ungeborenen Kindes kämpfen. Eine Hand schlug ihr auf den Mund, so heftig, daß ihre Oberlippe aufplatzte. »Was, zum Teufel, war das für ein Schrei, Charlie? Halt sie fest! Halt sie fest, sonst entwischt sie uns oder bringt uns womöglich noch um. Scheint, daß sie nicht kampflos aufgeben will.« Ein Fausthieb bohrte sich in Marys Bauch. Sie fiel nach vorn und schnappte nach Luft. Die Männer packten sie jetzt bei ihren Händen und Füßen und schleiften sie zum Haus. Mary ließ nicht locker. Mit äußerster Willensanstrengung kämpfte sie gegen jeden Schritt an, den die Männer auf das Haus zugingen. Sie kämpfte wie ein wildes Tier, halb wahnsinnig vom Gestank der Jäger. Die Männer rochen nach Schweiß und Whiskey und aufsteigender Lust. Sie verspürte einen heftigen Brechreiz, den der widerliche Geruch der Männer, aber auch der Schlag auf den Leib ausgelöst haben konnte. Kurz vor dem Haus mußte sie sich übergeben. Die Männer lachten, packten sie bei den Haaren und zerrten sie weiter. Mary gelang es, einem ihrer Peiniger eine Kratzwunde am Arm beizubringen, was ihr einen zweiten Hieb auf den Bauch einbrachte. Diesmal breitete sich eine Welle stechender Schmerzen über ihren Körper aus. Sie schrie. Die Männer lachten lauter. Sie zogen sie ins Haus und warfen sie auf die Bettstatt, die mit Tierfellen ausgekleidet zu einem gemütlichen Schlafplatz für sie und Silberhaar geworden war. Einer der Männer hielt sie fest, während der andere die Lampe am Tisch anzündete. »Ich will die Hure sehen«, sagte er . »Halt sie einen Augenblick, Charlie, damit ich sie sehen kann.« »Verdammt noch mal, beeil dich!« brüllte Charlie und schlug wieder zu, damit sie ruhig blieb. »Ich sehe nicht ein, wieso ich auf dich warten soll.« Er zog Marys Beine auseinander, so daß sie zwischen seinen Knien lag, und begann ihre Brüste zu kneten. Mary wand sich vor Qualen. Ein furchtbarer Krampf breitete sich in ihrem Unterleib aus. Vor Schmerzen bäumte sie sich auf und stöhnte wie ein waidwundes Tier. Charlie grölte und fiel auf sie, stellte sich aber gleich wieder auf, um sich seiner Hose zu entledigen. Als Charlie über ihr stand, kam Daniel bereits nackt ans Bett und hielt ihr die Hände fest. Halb ohnmächtig vor Schmerz und müde von
ihr die Hände fest. Halb ohnmächtig vor Schmerz und müde von dem Ringen hatte Mary beinahe aufgegeben. Aber dann erblickte sie Silberhaar in der Tür. Seine Augen blitzten in einem wilden blauen Licht auf, die Muskeln zuckten am Unterkiefer. In den erhobenen Händen hielt er die Axt vom Holzstoß. Ein neuer Schmerz schien ihren Leib zu durchschneiden. Mary schrie verzweifelt auf. Als Silberhaar zuschlug, ergoß es sich warm und naß zwischen ihren Schenkeln.
SECHZEHN Chase hatte noch nie etwas so Wunderbares geträumt. Irgendwann, zur Mitte des Traumes hin, als es gerade am schönsten war, wurde ihm bewußt, daß es sich nur um einen Traum handelte. Das alles war ja gar nicht möglich. Weder kuschelte sich Maddie an ihn, noch hielt sie ihn fest und bat ihn, sie nie mehr loszulassen. Sie sagte auch nicht: »Ich begehre dich so sehr, Chase. Ich brauche dich. Ich folge dir, wohin du willst – ich tue alles, was du willst. Ich möchte nur, daß du mich festhältst. Nimm mich, ich möchte dein sein, Liebling.« Das ist ein Trick, dachte Chase belustigt. Da will mich jemand hereinlegen. Aber er nahm Maddie in die Arme und blickte ihr lächelnd in die glänzenden blauen Augen. Inständig betete er, daß er nicht träumte und daß er nicht das Opfer eines gemeinen Scherzes wäre. Er hoffte, Maddie sei wirklich hier in seinem Bett, in seinen Armen. Um sie zu lieben, brauchte er sich nur noch ein wenig zu ihr hinabzubeugen, und schon könnte er damit anfangen, sie zu küssen. Gerade als sich ihre Lippen begegneten, war ein lautes Klopfen zu hören und zerstörte diesen Augenblick vollkommener Seligkeit. Sogar in seinen Träumen konnte er ihrer verdammten Familie nicht entkommen! Das war bestimmt eine der Schwestern oder ihr Bruder oder der betrunkene Vater. Teufel noch mal, selbst Gold Deck schenkte sie mehr Beachtung als ihm. Außerdem verlor sie dem Hengst gegenüber niemals die Geduld… In der Hoffnung, daß es von selbst aufhören würde, beschloß er, nicht auf das
Klopfen zu achten. Aber das tat es nicht. Widerwillig öffnete Chase die Augen und merkte, daß er das Klopfen nicht geträumt hatte. Jemand schlug mit aller Kraft an seine Tür, und es hörte sich ganz so an, als habe derjenige nicht vor, damit aufzuhören. Er griff nach der Hose, die er beim Ausziehen neben dem Bett auf den Boden geworfen hatte. Er mühte sich ab, sie im Dunkeln anzuziehen, stieß sich den großen Zeh und den Ellbogen und beschloß schließlich, das Licht anzumachen, bevor er sich noch ernsthaft verletzte. Geblendet blinzelte er, ging auf die Tür zu und wollte sie gerade offnen, als er es sich anders überlegte. »Wer ist da? Reden Sie, sonst öffne ich diese verdammte Tür nicht.« »Machen Sie auf. Hier ist der Sheriff, Cumberland. Beeilen Sie sich, sonst öffnen die Jungs und ich die Tür mit Gewalt.« Der Mann schien das allen Ernstes zu beabsichtigen. Was sollte der Unsinn? Wer waren die ›Jungs‹? Niemand öffnete ohne guten Grund mitten in der Nacht gewaltsam eine Tür. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, welchen Grund sie haben könnten. Er schloß auf, trat hinaus vor die Tür und hielt die Lampe hoch, um zu sehen, wer da stand. Die Lampe hätte er im Zimmer lassen können. Der kleine Garten vor dem Haus war hell erleuchtet, da die Besucher Fackeln mitgebracht hatten. Nun blickte er ein halbes Dutzend Männer an, die auf ihren Pferden saßen. Die meisten kannte er aus der Stadt. Alle blickten ihn mit todernster Mine an wie wichtigtuerische Richter. Moses Smith warf ihm ein heuchlerisches Lächeln zu, als habe er gerade einen Klumpen reines Gold gefunden. Der Sheriff hielt ein Papier in die Höhe und deutete darauf. Zuerst dachte Chase, es handele sich um eines dieser Plakate, die das Pferderennen ankündigten. Doch dann sah er, daß die Zeichnung eines Gesichts darauf abgebildet war; es war Bucks Gesicht. Darüber stand in großen, schwarzen Lettern: GESUCHT: TOT ODER LEBENDIG. »Sind Sie das, Cumberland?« fragte Moses. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Chase das Abbild seines
Bruders. »Nein. Sieht mir nicht ähnlich. Ich habe diesen Mann noch nie gesehen, Sheriff. Schließlich schaue ich jeden Morgen beim Rasieren in den Spiegel, da müßte ich eigentlich wissen, wie ich aussehe.« »Pah! Ich finde, er sieht Ihnen ganz schön ähnlich. Und lesen Sie mal die Beschreibung, die klingt durchaus nach Ihnen.« »Was steht da? Ich bin gerade aufgestanden und nicht in der Stimmung zum Lesen.« »Dort steht, daß Sie – oder wer auch immer das ist – unten in Texas wegen Mordes gesucht werden.« »Ich war noch nie in Texas. Ich bin schließlich in Mis souri geboren.« »Wieso reden Sie dann wie ein Texaner?« »Das würde ich auch gern wissen. Vielleicht ist es Zufall. Wo haben Sie den Steckbrief denn überhaupt her?« »Heute sind ein paar Kopfgeldjäger in der Stadt aufgetaucht und haben welche mitgebracht. Die suchten nach Ihnen.« »Nein, nicht nach mir. Sie meinen den auf dem Steckbrief.« Moses blickte Chase wütend an. »Na gut. Sie jagen dem Kerl schon seit Jahren nach. Überall haben sie ihn gesucht. Und in jeder Stadt fragen sie, ob jemand einen weißhaarigen Kerl namens Bück Courtland gesehen hat.« »Nun, Sheriff, das sollte doch wohl genügen, um Sie davon zu überzeugen, daß es sich nicht um mich handelt. Mein Haar ist nicht weiß, und ich heiße Chase Cumberland, nicht Bück Courtland.« »Vielleicht haben Sie sich die Haare gefärbt… Ach, das ist ja ganz nebensächlich. Es gibt da ein paar Übereinstimmungen, die mich stutzig machen.« »Was denn, zum Beispiel?« »Zum Beispiel die Tatsache, daß Bück einen Bruder namens Chase hat. In Texas haben die Brüder gemeinsam Rennpferde gezüchtet. Sie besaßen eine besondere Vorliebe für Stuten. Sie hatten ein paar sehr gute Pferde, unter anderem auch Bonnie Scotlands.« »Es gibt viele Männer, die Rennpferde züchten. Bonnie Scotland ist eine beliebte Rasse. Meine Stute, Bonnie Lass, stammt auch von dieser Rasse ab. Aber dies allein reicht nicht, um mich des Mordes zu überführen. Wenn Sie wirklich meinen, daß mein Haar weiß ist, können Sie es gerne genau
untersuchen. Ja, kommen Sie doch herein, dann können Sie selbst sehen, daß außer mir niemand im Haus ist.« »Das könnte ich schon tun. Aber wenn ich es mir recht überlege, dann lasse ich lieber die Jungs das Haus und das Grundstück durchsuchen, während ich Sie im Auge behalte.« »Bitte schön.« Mit der freien Hand machte Chase eine einladende Geste. Drei Männer saßen ab, banden die Pferde an dem dafür vorgesehenen Pfosten fest und verteilten sich, um die Farm zu durchsuchen. Einer von ihnen lief die Treppe hinauf und reichte Chase seine Fackel, bevor er ins Haus ging. Chase hatte den Mann schon einmal in der Stadt gesehen und zwar an dem Tag, als er mit Maddie zum Pferderennen gegangen war. Aber er konnte sich nicht an seinen Namen erinnern. Anscheinend hatte man ihn zum Hilfssheriff ernannt, denn auf seiner Brust prangte ein silberner Stern, der allerdings etwas kleiner war als der, den Moses trug. Vor der Tür blieb der Hilfssheriff einen Augenblick stehen und warf Chase einen wütenden Blick zu. »Ich habe zwei Monatsgehälter verloren, als ich auf den Hengst der McCrorys gesetzt habe und Sie ihn geschlagen haben, Cumberland«, stieß er durch die Zähne hervor. »Würde Ihnen recht geschehen, wenn wir Beweise finden, um Sie gleich heute nacht ins Gefängnis zu stecken. Ich hätte nichts dagegen, wenn man Sie des Mordes anklagt, Sie schuldig spricht und zum Tod verurteilt. Teufel noch mal, ich würde sogar den Strick für Sie besorgen.« Der Sheriff räusperte sich hörbar. »Machen Sie schon, Buford. Durchsuchen Sie das Haus. Sonst steigt womöglich noch jemand durch das Küchenfenster und macht sich aus dem Staub. Die anderen reiten auf die andere Seite und sichern den Hintereingang ab, damit uns keiner entgeht.« Fast hätte Chase vor Abscheu einen lauten Seufzer aus gestoßen. Wenn Bück sich tatsächlich heute nacht bei ihm versteckt hätte, wäre er inzwischen längst weg. Das zeigte wieder einmal, daß der Sheriff nichts von seiner Arbeit verstand. Das freute Chase – aber andererseits empfand er Verachtung und machte sich Sorgen. Wenn der Sheriff Bück tatsächlich fassen sollte, würde er sich sicher nicht die Mühe machen, den Anschuldigungen gegen ihn auf den Grund zu gehen. Er würde einfach annehmen, daß Bück schuldig sei, und ihn hängen.
»Putzen Sie sich die Schuhe ab, bevor Sie mein Haus betreten, Buford«, rief Chase mit beleidigendem Tonfall in der Stimme. »Ich möchte keinen Schmutz auf meinem Fußboden.« Zum Dank schleuderte ihm der Mann ein Schimpfwort an dem Kopf und stürmte an ihm vorbei ins Haus. Chase wußte, daß es unklug war, sich Feinde zu machen. Aber es mißfiel ihm zutiefst, daß ein Mann sein Haus durchsuchte, der ihm den Verlust beim Pferderennen immer noch nachtrug. Bei genauerer Betrachtung schien jeder Mann hier einen tiefen Groll gegen ihn zu hegen. Chase wurde plötzlich klar, daß die Männer ihn als Außenseiter betrachteten, der in ihre Stadt gekommen war, einen der ihren besiegt hatte und ihnen ihr Geld weggenommen hatte -das Geld, mit dem er diese Farm gekauft hatte. Innerhalb kurzer Zeit kehrte Buford zurück. »Dort ist niemand, Sheriff«, verkündete er wichtigtuerisch. »Aber er hat zwei Schlafzimmer. Dabei braucht er ja für sich nur eins. Kommt mir sehr merkwürdig vor, daß er in der Kammer mit dem kleineren Bett geschlafen hat. Warum sollte jemand, der alleine lebt, sich solche Umstände machen?« »Das kann ich Ihnen sagen«, erwiderte Chase und überlegte in Windeseile. »Das große Zimmer habe ich für den Tag vorbereitet, an dem ich meine Braut heimführen werde. Deshalb wird es geschont. Auf dem Bett liegt sogar ein schöner Quilt. Haben Sie den nicht gesehen, Buford? Meine Kleider und meine Ausrüstung sind in beiden Räumen untergebracht, aber ich habe vor, alles ordentlich aufzuräumen, bevor meine Frau einzieht.« Der Sheriff sah ihn abfällig an. »Hab1 nicht gehört, daß Sie bald heiraten, Cumberland. Wer ist denn die Glückliche? Kommt sie hier aus der Gegend?« Chase versuchte sich zu konzentrieren und sich etwas Glaubwürdiges einfallen zu lassen. Er hatte die Idee mit der Braut zunächst für sehr klug gehalten, aber nur kamen ihm Zweifel. Es kam ihm so vor, als sei es ganz gleich, was er tat, ihm würde nicht die richtige Antwort einfallen. »Hm… nun, ich habe noch nicht um ihre Hand angehalten, Sheriff, aber ich möchte es bald tun. Ich bin sicher, daß sie ja sagen wird.« »Wer ist es denn?« fragte Moses und stieß Chase mit dem Lauf seines Revolvers in den Magen.
Chase war der Revolver vorher gar nicht aufgefallen. »Maddie McCrory«, platzte er heraus. »Ich möchte Maddie McCrory bitten, mich zu heiraten.« »Pah! Bei der haben Sie keine Chance, Cumberland. Die wird Sie niemals heiraten.« »Warum denn nicht? Ich kann ihr doch ein sehr schönes Zuhause bieten.« »Yeah, aber sie ist schon einem anderen versprochen. Und der kann ihr zehnmal mehr bieten als Sie.« »Wollen Sie damit sagen, daß Maddie mit Horace Brownley verlobt ist?« Moses wippte auf den Fersen hin und her und grinste triumphierend. »Das hat Horace mir gesagt. Sie brauchen nur noch den Tag für die Hochzeit festzulegen und die Einladungen zu verschicken.« »Das…. das habe ich nicht gewußt.« Chase erinnerte sich an seine Vermutungen. Aber die Wahrheit traf ihn nun doch sehr hart, besonders, da Maddie nicht den Anstand besessen hatte, ihn über ihre Absichten zu unterrichten. An dem Abend, als es zu der Prügelei mit Horace kam, hatte sie abgestritten, mit dem beleibten Bankier mehr als nur befreundet zu sein. »Miss McCrory hat Sie vielleicht verteidigt, weil Sie ihr Nachbar sind. Aber als Ehemann hat sie sich den Bürgermeister unserer Stadt ausgesucht«, sagte Moses. »Der lebt schon viel länger hier als Sie und hat uns noch nie bei einem Pferderennen unser Geld abgeknöpft.« Der Sheriff und die anderen Männer hatten sich also doch wegen des Sieges über Gold Deck gegen ihn verschworen. »Vielleicht hat Horace Ihnen kein Geld weggenommen, aber Maddies Vater hat es verdammt noch mal getan – und das wird Maddie auch tun, wenn sie kann. Kein Mensch, der Rennpferde züchtet, tut es, um zu verlieren. Wir alle wollen gewinnen, und von den Leuten, die so töricht sind, gegen uns zu wetten, sammeln wir ein, was wir können -und soviel wir können.« »Meinen Sie etwa, daß Sie Maddie auch in Abilene wieder schlagen werden?« Moses lachte. »Kann schon sein, daß Sie es tun, Cumberland – wenn Sie noch so lange am Leben bleiben. Kann auch sein, daß sie sich deswe-
gen nie mit Ihnen verloben wird. Sie verliert nicht gern. Außerdem ist ein Mädchen wie Maddie viel zu stolz, einen dahergelaufenen Taugenichts zu heiraten, selbst wenn der ein schnelles Pferd besitzt.« »Sieht ganz so aus, als könnten Sie gleich ins große Zimmer einziehen und ihre Stiefel unter dem Bett abstellen«, höhnte Buford. »Es ist doch sinnlos, es für ein Mädchen aufzuheben, das seine Wahl bereits getroffen hat und sich nicht für Sie entschieden hat.« Chase war nun endgültig der Geduldsfaden gerissen. »Runter von meinem Grundstück. Und wagen Sie es ja nicht, hier noch einmal ohne Beweise aufzutauchen. Sie haben doch nichts vorzuweisen außer ein paar böswilligen Unterstellungen.« »Los Jungs, aufsitzen«, rief der Sheriff. »In der Scheune habt ihr auch nichts gefunden, oder?« »Gar nichts, Moses«, antwortete einer von ihnen. »Vielleicht sollten wir zurück in die Stadt reiten und die Kopfgeldjäger fragen, was sie uns noch über den Mörder, die sen Bück Courtland, sagen können.« »Vielleicht sollten wir das wirklich«, stimmte Moses zu. »Aber als ich sie das letzte Mal sah, ritten sie gerade aus der Stadt – und zwar in diese Richtung. Deshalb dachte ich, daß wir sie hier finden würden. Als ich euch alle endlich zusammengetrommelt hatte, waren sie längst fort. Haben Sie die Kopfgeldjäger nicht gesehen, Cumberland?« »Nein, aber wenn sie es wagen, mein Grundstück zu betreten, werden ich sie erschießen müssen. Für mich sind Kopfgeldjäger noch niederträchtiger als Schlangen. Oder Bankiers. Oder Politiker. Oder eigentlich auch Sheriff s.« Inzwischen war es Chase gleich, daß er nun seine Feinde beleidigte. Für ihn war plötzlich eine Welt zusammengebrochen. Alles, was er hier aufgebaut hatte, schien im Nu zu zerrinnen. Alles, wovon er geträumt hatte, alle seine Hoffnungen hatten sich in Nichts aufgelöst. Maddie war mit Horace Brownley verlobt und würde ihn heiraten. Kopfgeldjäger waren Bück dicht auf den Fersen. Er und Bück mußten verschwinden; wenn sie das nicht taten, würden die Kopfgeldjäger ihn irgendwann findea. Lieber Gott, warum ausgerechnet jetzt? Gerade jetzt, wo Bück ein klein wenig Glück gefunden hatte, mußte der ganze Alp träum von neuem beginnen.
»Wenn Sie eine Schießerei anfangen, knüpfen wir Sie auf, ganz gleich, ob jemand unbefugt ihr Land betreten hat oder nicht, Cumberland. Ich bin gar nicht sicher, ob wir dann überhaupt eine Gerichtsverhandlung brauchen. Der Bezirksrichter verirrt sich nicht so oft in diese Gegend. Deshalb sind Horace und ich für Recht und Ordnung in dieser Stadt verantwortlich. Er ist unser Friedens- richter, wenn wir einen brauchen, und wir beide ziehen es vor, die Sache selbst zu erledigen und einen Unruhestifter hängen. So einer nimmt ja doch nur Platz im Gefängnis weg.« »Warum überrascht mich das nicht im geringsten?« fragte Chase gedehnt. »Ich weiß, was Sie wollen, Moses -Sie möchten so berühmt werden wie Wild Bill Hickok oder Wyatt Earp.« Moses Smith nickte. »Da liegen Sie richtig, Cumberland. Und die beiden sind nicht meine einzigen Konkurrenten. In Dodge City gibt es auch noch den jungen Bat Masterson. Aber selbst wenn ich niemals berühmt werde, so steht jedenfalls die ganze Stadt hinter mir. Habe ich recht, Junge?« »Sie sagen’s, Moses«, stimmte ihm ein dürrer Mann mit hartem Blick und Schnauzbart zu. »Wir wollen Ihnen alle dabei helfen, aus Hopewell die sicherste Stadt von Kansas zu machen.« »Ich werde versuchen, daran zu denken.« Chase biß so fest die Zähne aufeinander, bis ihm der Kiefer schmerzte. Es schien so, als gäbe es auf dieser Welt keinen Ort, an dem Bück und er vor solchen kleingeistigen, ehrgeizigen Spießern sicher waren. Diese Männer und ihre Frauen trachteten nur danach, ihre Interessen zu verteidigen. Sie fürchteten und verachteten jeden Fremden. Zur Hölle mit ihnen allen! Maddie McCrory eingeschlossen. Besonders Maddie McCrory. Chase stand vor seinem Haus und sah zu, wie die Männer fortritten. Er wartete so lange, bis auf seinem Grund und Boden wieder Ruhe eingekehrt war und man nichts mehr hörte außer den Nachttieren und dem Wind, der in Kansas ohne Unterlaß blies. Dann brachte er die Lampe zurück ins Haus und begann die Dinge zusammenzusuchen, die er brauchen würde. Oder genauer gesagt, die Dinge, die Bück und Mary brauchen würden. Da hatte er plötzlich einen neuen, gewagten Einfall: Wie wäre es, wenn Bück und Mary flohen, während er in Kansas blieb, um die Kopfgeldjäger abzulenken?… Bück mußte so schnell wie möglich von hier fort, aber ständig auf der Flucht zu sein machte Chase ganz krank. Dieses Mal wollte
er sich erheben und sich wehren. Außerdem fand in knapp einer Woche das Rennen statt. Er würde es gewinnen können, wenn er hierbliebe. Er würde seinem Bruder und Mary ein paar schnelle Pferde geben, so viel Lebensmittel, wie sie tragen konnten, und jeden Cent, den er besaß. Er würde ihnen nahelegen, weiter nach Westen zu reiten, in das Land der Indianer. Dort sollten sie ein neues Leben beginnen. Es gab immer noch wilde, unberührte Orte, wo Indianer lebten und die letzten, noch übriggebliebenen Büffel grasten. Es war ihm und Bück nicht gelungen, sich gemeinsam eine Existenz aufzubauen. Vielleicht würden Bück und Mary mehr Glück haben, wenn sie dorthin reisten, wohin der Wind und das Schicksal sie trieben. Er selbst wollte in Kansas bleiben. Er hatte hier Wurzeln geschlagen und würde sich verdammt noch mal weder von Kopfgeldjägern noch geldgierigen Leuten aus der Stadt oder gar von Maddie McCrory vertreiben lassen. Dieses Mal weigerte er sich, sein Land aufzugeben und sich die Zukunft wegnehmen zu lassen. Bück hatte jetzt Mary; er brauchte Chase nicht mehr. Und für Mary gab es keinen Grund, in einer Gegend zu bleiben, in der man Indianer verachtete. Es war wirklich das beste, wenn sie gemeinsam fortgingen und ihr Glück im Westen oder sogar im Norden versuchten. Je länger Chase darüber nachdachte, um so aufregender fand er seinen Einfall. Er arbeitete wie besessen, häufte Vorräte auf, suchte Schlafdecken, Kleidung für Bück, Geld und ein Gewehr zusammen. Dann sattelte er ein paar ihrer besten Stuten, belud sie und machte sich auf den Weg zu Marys Haus. Als er dort ankam, dämmerte es bereits, aber es war immer noch zu dunkel, um ohne Laterne zu sehen. Chase hatte eine mitgebracht und hielt sie hoch, während er an die geschlossene Tür der Hütte klopfte. Niemand schien ihn zu hören, aber er wollte nicht noch mehr Lärm machen. Wenn man bedachte, daß lauernde Kopfgeldjäger in der Nähe sein konnten, war es schon riskant genug, mit der Lampe zu leuchten. Zum Glück war er auf dem Weg hierher niemandem begegnet; wenn Bück und Mary schnell genug ritten, konnten sie fort sein, bevor die Sonne allzu hoch am Himmel stand.
»Bück!« Chase rüttelte an der Tür. Zu seiner Überraschung war sie nicht verschlossen. Er hielt die Laterne hoch und ging hinein. Ihm bot sich ein fürchterlicher Anblick. Zwei nackte Männer lagen regungslos da und streckten alle viere von sich. Der eine lag auf dem gestampften Lehmboden zu seinen Füßen, der andere auf der Pritsche in der Ecke. Sie hatten Augen und Mund weit aufgerissen, und ihre Gesichter waren zu furchterregenden Grimassen erstarrt. Alles war voller Blut; Chase stand in einer Pfütze von Blut. An den Wänden, den Möbeln, auf dem Boden, dem Tisch, den Tellern, überall waren hellrote Flecken, überall war das Blut hingespritzt. Chase brauchte nicht lange zu überlegen, wie die beiden Männer umgekommen waren; direkt aus dem bloßen Bauch des größeren ragte ein Axt. Er mußte sich zusammenreißen, um sich nicht zu übergeben und schreiend aus dem Haus zu laufen. Er konnte nicht fortgehen, ohne Bück und Mary zu suchen. Er holte tief Luft und stellte schnell fest, daß außer den beiden Toten niemand im Haus war. Von seinem Bruder und Pawnee Mary keine Spur. Mit wild klopfendem Herzen und aufgewühltem Magen stellte Chase die Laterne auf den blutbespritzten Tisch. Der Gedanke war ihm verhaßt, aber er mußte die beiden Männer oder wenigstens ihre Kleidung untersuchen. Er erkannte sie nicht, nahm aber an, daß es sich um die Kopfgeldjäger handeln mußte, von denen der Sheriff gesprochen hatte. Bevor er dieses Haus verließ, mußte er sich Gewißheit verschaffen. Darum bemüht, die Leichen nicht anzusehen, durchsuchte Chase die Hosentaschen der beiden Toten. Er fand, was er befürchtet hatte: die Steckbriefe mit Bucks Bild. Die Taschen der Männer waren voll davon. Er faltete einen auseinander und blickte in das Gesicht seines Bruders. Dort stand die grausame Nachricht. GESUCHT: TOT ODER LEBENDIG. Die Männer waren wahrscheinlich aus Texas gekommen. Die hartnäckigsten Verfolger, die ihn und Bück quer durch mehrere Bundesstaaten verfolgt hatten, kamen aus Texas. Dies bedeutete, daß Luke Madison noch nicht aufgegeben hatte. Er las weiter und entdeckte, daß Luke die Belohnung, das Kopfgeld für Bucks Leben, nun auf die runde Summe von zehntausend Dollar erhöht
hatte. Dies war mehr als genug Anreiz für brutale, faule Männer – den Abschaum der Menschheit –, sich auf die Jagd nach dem Gesuchten zu machen. Chase zerknüllte das Papier in seiner Hand. Bück ist kein Mörder, sagte er sich. Aber wenn er kein Mörder war, wer hatte dann diese beiden Männer umgebracht? Wer hatte sie mit der Axt in Stücke gehackt und dieses blutige Gemetzel angerichtet? Einer der Männer war sogar… kastriert worden. Chase wurde schlecht. Er blickte hinab auf den Kerl am Boden und sah, daß er in der einen Hand ein Bowiemesser und in der anderen eine Pistole mit Elfenbeingriff hielt. Er hatte anscheinend versucht, sich mit allen Mitteln zu wehren. Die lange, silberne Klinge des Messers war blutverschmiert. Vorsichtig löste Chase die Waffe aus der Umklammerung der bereits steifen Finger und hielt das Messer ins Licht. Bück besaß ein ähnliches Messer mit einem holzgeschnitzten Griff. Der Griff dieses Messers war entweder aus Hörn oder Knochen. Diese Tatsache bewies, daß es sich nicht um Bucks Messer handelte… aber wessen Blut klebte dann an der Klinge? Bucks? Oder vielleicht Marys? Chase lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er blickte an sich hinab und sah, daß seine Hände, die Hose, sogar sein Hemd und seine Stiefel mit Blut getränkt waren. Das war beim Durchsuchen der Toten geschehen; es war schwer, sich in der Hütte auch nur umzudrehen, ohne sich mit Blut zu beschmieren. Bück und Mary mußten hier gewesen sein – oder jemand anderes. Rote Fußabdrücke führten aus dem Haus hinaus. Er untersuchte die Spuren und erkannte die Abdrücke von ein Paar Stiefeln und die unverwechselbaren Ab drücke nackter Füße. Die Abdrücke der bloßen Füße waren kleiner und zierlicher als die Stiefelabdrücke. »Wenn es hell wird, muß ich nachsehen, wohin die Spuren führen«, sagte Chase laut und erschrak beim Klang seiner eigenen Stimme. In diesem Augenblick hörte er noch mehr Stimmen. Männliche Stimmen und das Geräusch von Pferdehufen. Er löschte das Licht und lauschte aufmerksam. »Key, Horace! Sieht so aus, als hätten wir die Kopfgeldjäger gefunden.
Sieh mal! Die haben ihre Pferde vor der Hütte von Pawnee Mary angebunden. Kann mir denken, womit sie die Nacht verbracht haben, ha?« Man hörte Gelächter. Chase erkannte die Stimme. Das war Buford, der neue Hilfssheriff. Chase wünschte, er hätte die Tür zu dem schäbigen Häuschen geschlossen, als er es betrat. Er wünschte, er könnte sich erinnern, ob es ein Fenster gab, das groß genug war, damit er hinausklettern konnte. Er wünschte, er hätte die Pferde nicht direkt vor dem Haus angebunden, wo sie jeder sehen konnte. Und er wünschte, er wäre nicht hierher gekommen – oder hätte sich zumindest vor der Ankunft des Sheriffs und seiner Männer aus dem Staub gemacht. An jedem anderen Ort auf dieser Erde wäre er jetzt lieber gewesen als hier. Im Haus war es dunkel, nur das Licht der Fackeln von draußen erhellte die Hütte ein wenig. Chase stolperte umher und suchte ein Versteck. Er konnte nicht zur Vordertür hinausrennen; sie würden ihn sofort sehen. Die Hütte hatte aber keinen anderen Ausgang. Er stieß sich an Gegenständen, rutschte beinahe auf dem blutnassen Boden aus und fand schließlich einen hohen Wandschrank aus Holz. Verzweifelt riß er Kleidungsstücke und andere Dinge heraus, warf sie auf den Boden und zwängte sich hinein. Gerade als er die Schranktür halbwegs geschlossen hatte, kam jemand mit einer Fackel in die Hütte. »Teufel noch mal, Moses, schau dir das an!« Das war wieder Buford. Dieser Kerl war wirklich verdammt neugierig. Schwere Schritte waren auf dem knarzenden Holzfußboden zu hören. Einen Augenblick später hörte Chase den schroffen Tonfall des Sheriffs. Bei dem Geräusch stellten sich ihm die Nackenhaare auf. »Das sind die Kopfgeldjäger. Die hat jemand schlimmer zugerichtet als ‘ne verdammte Wildsau. Aber wo ist den diese indianische Hure, Pawnee Mary? Meinst du, die wäre imstande, so etwas zu tun?… Verdammt noch mal, ich wußte es. Ich hätte früher mal hier vorbeischauen sollen, hätte den Gerüchten mehr Gehör schenken und sie wegjagen sollen.« »Keine Frau hätte das hier tun können, Moses«, meinte Buford. »Selbst ‘ne Indianerin nicht.
Himmel, sieh nur, dem hier wurde der Arm abgehackt und der hat keine… hm… Eier mehr.« Er hat recht, dachte Chase trübsinnig. Keine Frau hätte sich gegen zwei Männer wehren und sie so zurichten können. Es war ganz klar, was geschehen war; Bück mußte in die Hütte zurückgekehrt sein und die beiden Männer dabei überrascht haben, wie sie Mary etwas antaten. Dann war er wohl mit der Axt auf sie losgegangen. »Was für ein Gemetzel«, murmelte der Sheriff. »Sag den anderen, daß sie reinkommen sollen. Wir müssen die Leichen in die Stadt bringen und die ganze verdammte Hütte durchsuchen. Wir müssen herausfinden, wer das getan hat.« Chase hörte, wie Buford an dem Schrank vorbeiging, in dem er sich versteckt hielt. »Verdammt noch mal! Wir hätten uns Gummizeug anziehen sollen. Da versaut man sich ja alles. Was für eine Drecksarbeit.« Chase faßte plötzlich einen Entschluß. Jetzt oder nie. Statt zu warten, bis sie ihn zusammengekauert im Schrank finden würden, wollte er lieber versuchen wegzurennen. Er hörte, wie sich Bufords Schritte wieder entfernten und er hinausging. Er stürzte aus dem Schrank und rannte Richtung Tür, während Moses gerade in die andere Richtung schaute. Aber er kam nur bis zur Eingangstür, wo er mit Buford zusammenprallte, der gerade zum Sheriff zurücklief. Chase verlor das Gleichgewicht, rutschte auf dem glitschigen Boden aus und fiel hin. Er schlug mit dem Kopf gegen den Türpfosten. Buford stürzte sich sofort auf ihn, und Moses stolperte durch die Hütte und fuchtelte mit seinem Revolver umher. Innerhalb von wenigen Augenblicken war Chase von Männern umzingelt, die ihre Waffen auf ihn gerichtet hatten. »Soso. Sieht ganz so aus, als hätten wir den Mörder auch schon gefunden, Jungs. Sozusagen auf frischer Tat ertappt, am Schauplatz des Verbrechens.« Moses stieß mit seinem Stiefel an Chases Bein. »Sie sind ja völlig mit Blut rerschmiert, Cumberland. Was ist denn geschehen? Haben Sie die Kopfgeldjäger überrascht, als die sich mit Ihrer Squaw vergnügten?« Chase antwortete nicht. Er konnte nichts sagen. Er setzte sich auf, doch alles drehte sich. Lichter tanzten vor seinen Augen, und er fürchtete, ohnmächtig zu werden. Er konnte nicht klar denken.
Aber er hielt es für das beste, den Mund zu halten, um weder sich noch seinen Bruder zu belasten. Sollte der Sheriff doch seine Schlüsse ziehen. »Eine Squaw ist es nicht wert, daß man um sie kämpft, Cumberland. Also haben Sie die Kopfgeldjäger vielleicht nur abgemurkst, um sie loszuwerden. Mußten Sie denn so ein verdammtes Blutbad anrichten? Auf dem Steckbrief stand, Sie seien ein gefährlicher Mann, aber das geht doch wohl ein bißchen zu weit. Die Männer mit einer Axt zu zerhacken und zu verstümmeln, so etwas tut doch nur ein Wahnsinniger. Horace Brownley hatte recht. Sie sind eine Bedrohung für die Gesellschaft. Je eher wir Sie hängen, desto besser für alle Leute hier in Hopewell.« Die Männer murmelten zustimmend, aber Chase blieb weiter stumm. Er weigerte sich sogar, sie überhaupt anzusehen, und starrte statt dessen hinaus auf den Fluß. In der Ferne wurde es hell am Horizont. Sie stellten ihn auf die Füße, fesselten ihm die Hände auf den Rücken und warfen ihn die Stufen vor der Eingangstür hinunter. Chase landete auf den Knien. Orientierungslos kniete er auf dem Boden, während jemand ihm eine Schlinge über den Kopf warf und sie festzog. Einen panischen Augenblick lang dachte Chase, sie würden ihn hier und jetzt aufknüpfen. In Gedanken jagte er Bück und Mary nach. Sie waren die einzigen Menschen auf der Welt, die ihm jetzt noch etwas bedeuteten. Der Sheriff hielt ihn für Bück. Wenn er also an diesem Morgen sterben würde, wäre Bück endlich frei. Die Kopfgeldjäger würden ihn nicht mehr verfolgen. Was Maddie anging… sie würde eben diesen verdammten Bankier heiraten und so mehr Geld und Macht erlangen, als sie jemals brauchte. Aber ach, er bereute es zutiefst, ihr niemals gesagt zu haben, daß er sie liebte. Nie hatte er sie umarmt und sie mit der ganzen Leidenschaft seines Körpers und der Sehnsucht seines Herzens geliebt. Es tat ihm leid um all die Dinge, die er in seinem Leben verpaßt und erst durch Maddie schätzen gelernt hatte: die Liebe und Ergebenheit einer Frau. Ihre Zärtlichkeit, ihr Lachen. Die Wärme im Herzen einer Familie und die gegenseitige Verantwortung füreinander. Kinder zu bekommen. Sie aufwachsen und reifen zu sehen. Sie zu lehren und darüber nachzudenken,
was sie einmal werden würden. Alt zu werden an der Seite der Frau, die man liebte. Chase schloß die Augen, biß die Zähne zusammen und wartete auf das Ende. Jemand riß an dem Strick. »Stehen Sie auf, Cumberland«, brüllte Moses. »Wird zwar langsam gehen, aber sie laufen zu Fuß zurück in die Stadt. Abschaum wie Sie gehört nicht auf ein Pferd. Teufel noch mal, Sie sind noch nicht mal zum Hängen gut. Ich wünschte, wir könnten Sie abschlachten, so wie Sie es mit den zwei armen Kerlen in der Hütte gemacht haben. Aber wir müssen das hier wohl richtig machen – sie erst mal in die Stadt und vor Gericht bringen. Dann können wir sie an der großen Eiche aufknüpfen, damit jeder Mensch aus diesem Landkreis sehen kann, welchen Preis man für solche Gemeinheiten zahlen muß.« »Ich bin dafür, ihn gleich zu hängen«, sagte Buford. Mehrere Männer murmelten zustimmend. »Nun, Sie haben hier aber nichts zu sagen. Ich bestimme, was getan wird«, erwiderte Moses barsch. »Zuerst kommt die Gerichtsverhandlung, und dann wird er gehängt. So wird’s gemacht und nicht anders.«
SIEBZEHN Alle außer Pa hatten gefrühstückt. Maddie räumte den Tisch ab und hoffte, daß Pawnee Mary heute kommen würde, um ihr bei den Vorbereitungen für die bevorstehende Abreise nach Abilene zu helfen. Plötzlich hörte sie Stimmen auf der Veranda und sah Zoes Verehrer Nathan Wheeler, als sie einen Blick aus dem Fenster warf. Er sprach mit Zoe und fuchtelte aufgeregt mit den Armen. Maddie lächelte beim Anblick des begeisterten Jungen. Sie beschloß, die beiden ein paar Minuten allein zu lassen, damit sie sich ungestört unterhalten konnten. Nathan war bestimmt gekommen, um die Stute seiner Familie abzuho len, bei der Gold Deck für Nachwuchs sorgen würde. Wenn die Stute dann nicht mehr bei ihnen war, würde der junge Mann keine Ausrede mehr dafür haben, daß er soviel Zeit bei den McCrorys verbrachte. Dann
würden sich keine Gelegenheiten mehr ergeben, Zoe so oft zu besuchen. Die Wheelers bauten Mais an und züchteten Rinder, Schweine und Pferde. Für den Fall, daß Zoe eines Tages Nathan heiratete, würde sie ein geschäftiges, aber ange nehmes Leben führen. Ihre Kinder würden bestimmt genauso braunäugige Blondschöpfe werden wie ihr Vater und beim Reden gestenreich die Hände gebrauchen. Maddie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Arbeit und beeilte sich, fertig zu werden, um so schnell wie möglich in die Scheune zu können. Auf dem Tisch ließ sie etwas zu essen für den Vater stehen, warf einen Blick in sein Zimmer, um zu sehen, ob er wach war, und schloß die Tür wieder, als sie sah, daß er noch schlief. Gestern hatte sie ihn dabei erwischt, wie er versucht hatte, ein Jährlingsfohlen in die Stadt zu bringen. Es handelte sich um eines ihrer vielversprechendsten Rennpferde. Er stritt alles ab, aber offensichtlich hatte er beabsichtigt, das Fohlen zu verkaufen, um Geld für Whiskey zu bekommen. Davon einmal abgesehen, hatte er sich in letzter Zeit recht anständig benommen. Er war nicht betrunken gewesen, was ihr sehr gefiel. Trotzdem sorgte sie sich immer noch um seinen recht verwirrten Geisteszustand. Tagsüber schlief er stundenlang, ging früh zu Bett und stand morgens spät auf – und weigerte sich immer noch, am täglichen Familienleben teilzunehmen. Meistens saß er einfach nur da, starrte ins Leere und redete irgendwelchen Unsinn. Oft konnte er sich nicht an die einfachsten Dinge erinnern, wie zum Beispiel, wo er seinen Hut hingelegt hatte oder was er zur letzten Mahlzeit zu sich genommen hatte. In letzter Zeit bat Maddie immer eines der Mädchen, ihm Gesellschaft zu leisten, wenn sie das Haus verließ. Zoe und Carrie mißfiel diese Aufgabe sehr, da sie sich in ihrer Freiheit beschränkt fühlten. Aber Maddie konnte es nicht zulassen, daß ihr Vater für längere Zeit allein blieb. Seine Hilflosigkeit schien noch größer geworden zu sein, und er ähnelte eher einem mürrischen Kind als einem erwachsenen Mann. »Mary, Mary, was ist nur los mit dir in letzter Zeit? Ich brauche dich heute wirklich, wenn wir hier morgen rechtzeitig abfahren wollen«, murmelte Maddie vor sich hin, während sie die schmutzige Bettwäsche zusammentrug. Wie sollte sie das nur alles schaffen?
In den letzten Wochen hatte sich Pawnee Mary nur einmal hier blicken lassen. Sie hatte sich irgendwie verändert – und zwar so stark, daß Maddie sich nicht traute, die Freundin zu fragen, woran es lag. Mary ging viel leichtfüßiger – sie strahlte über das ganze Gesicht, aber sie sprach nicht viel und gab auch keine Erklärung für die langen Abwesenheiten. Maddie wußte nicht, wie sie dieses Verhalten deuten sollte. Herumschnüffeln war ihr verhaßt, und sie vertraute darauf, daß Mary sie bald aufklären würde. Sie war nämlich doch recht neugierig. Mit einem Haufen Laken in den Armen ging Maddie zur Tür. Sie hatte den Waschtrog bereits in den Garten gebracht. Sie wollte gerade hinausgehen, als die Tür aufflog und Zoe ins Haus rannte. »Oh, Maddie! Ich muß dir sagen, was Nathan mir gerade erzählt hat. Du wirst es nicht glauben; Chase – ich meine Mr. Cumberland – ist heute morgen verhaftet worden. Jetzt sitzt er im Gefängnis. Er soll zwei Männer ermordet haben. Maddie, die zwei Männer waren Kopfgeldjäger! Mr. Cumberland hat in Texas jemanden umgebracht. Die Männer waren hinter ihm her, weil er dort unten steckbrieflich gesucht wird. Da er jetzt hier in Kansas zwei Männer ermordet hat – er hat sie mit einer Axt zu Tode gehackt –, werden sie ihn hier hängen, statt ihn nach Texas zurückzubringen.« Die Laken in Maddies Armen glitten langsam zu Boden; einen Augenblick starrte sie ihre Schwester mit offenem Mund an. »Ihn hängen? Sie werden Chase Cumberland wegen Mordes hängen?« Hinter Zoe erschien Nathan Wheeler im Türrahmen. »Es stimmt, Miss McCrory. Sheriff Smith kam gestern nacht zu uns und hat Pa gebeten, im Suchtrupp mitzureiten. Sie sind zu Mr. Cumberland, um ihn zu befragen. Sieht so aus, als wollte der Sheriff nicht allein dorthin reiten – es ist schließlich nicht ungefährlich, einem Mörder gegenüberzutreten. Mr. Cumberland behauptete, daß er den Mann in Texas nicht umgebracht habe. Sheriff Smith mußte ihn mangels Beweisen gehen lassen. Er hatte nur den Steckbrief, den die zwei Kopfgeldjäger gestern in die Stadt gebracht haben. Deshalb haben sie dann die Kopfgeldjäger gesucht, um mehr Einzelheiten herauszubekommen. Stellen Sie sich vor, der Suchtrupp ist fast die ganze Nacht umhergeritten – aber schließlich haben sie die beiden ge- funden.« »W-wen haben sie gefunden?« fragte Maddie. »Die Kopfgeldjäger?«
Nathan nickte. Eine blonde Locke fiel ihm in die Stirn. »Ja, Ma’am. Sie waren schrecklich zugerichtet. Das ganze Haus war voller Blut.« »Wessen Haus?« rief Maddie atemlos. Sie befürchtete das Schlimmste. »Pawnee Marys Haus.« Nathan warf Zoe einen Blick zu. »Ich habe Zoe immer gesagt, daß ich es für einen Fehler halte, sich mit einer Indianerin anzufreunden. Die scheinen Ärger geradezu anzuziehen. Mary wohnt in einem schäbigen Haus, unten am Fluß und…« »Ich kenne das Haus, Nathan«, unterbrach ihn Maddie, obwohl sie nicht gewußt hatte, daß Mary dort wohnte. »Mary ist meine Freundin. Sag also lieber nichts Schlechtes über sie.« »Aber Miss McCrory, die Leute sagen, sie sei ein… ein…« Wieder blickte er Zoe an und flüsterte das Wort. «… eine beschmutzte Taube. Sie…. unterhält… Männer in ihrem Haus. Dort haben sie die Leichen gefunden.« »Wenn sie die Leichen in Marys Haus gefunden haben, wieso beschuldigen sie dann Mr. Cumberland?« »Nun, weil… weil…« Nathan schien es in Zoes Anwesenheit nicht sagen zu wollen, deshalb sagte Zoe es an seiner Statt. »Maddie, er war von oben bis unten mit Blut beschmiert und hatte sich in einem Schrank versteckt.« Maddie war ihr Leben lang noch nie in Ohnmacht gefallen, aber jetzt fürchtete sie, das Bewußtsein zu verlieren. Ihr war heiß und kalt zugleich. Ihr Herz klopfte wie wild, und sie bekam kaum noch Luft. Zoe hielt ihren Arm. »Maddie, ist dir nicht gut? Setz dich lieber hin.« »Ja, vielleicht wäre das besser.« Maddie ging zum Schaukelstuhl und ließ sich darauf nieder. Sie lehnte den Kopf zurück, schloß die Augen und versuchte, diese verwirrenden Gedanken in ihrem Kopf zu ordnen. Chase – ein Mörder? Das schien unmöglich Es war unmöglich. Er würde niemals so etwas tun. Dessen war sie sich sicher. »Sie haben ihn im Schrank gefunden?« Sie war ganz heiser, und ihre Stimme klang angestrengt, als ob sie gleich weinen würde. »Über… und über mit Blut bedeckt«, wiederholte Zoe. »Oh, Maddie, es tut mir so leid!« Das Mädchen sank neben Maddie auf die Knie und nahm ihre Hand. »Ich weiß, daß du Mr. Cumberland mochtest. Mir ging es
genauso. Und Carrie auch. Ich bin ebensosehr verstört wie du. Ich fand ihn so attraktiv und so nett – und jetzt stellt sich heraus, daß er ein Mörder ist! Das ist wirklich schwer zu glauben, nicht wahr?« Maddie schüttelte den Kopf. »Es ist mir gleich, was die Leute sagen. Ich glaube es nicht.« »Es kann aber niemand anderes gewesen sein, Miss McCrory«, bekräftigte Nathan. »Er – Mr. Cumberland – hat es noch nicht einmal abgestritten. Und Pa meinte, er sah verdammt schuldig aus. Fast hätten sie ihn gleich dort aufgehängt, aber der Sheriff besteht auf einer Gerichtsverhandlung. Es wäre unrecht, ihn ohne Verhandlung aufzuknüpfen.« »Wana. wann wird die Gerichtsverhandlung stattfinden?« »Ich weiß es nicht, aber bald. Alle möchten, daß sie noch vor dem Rennen in Abilene stattfindet. Sie wissen schon, das Rennen zwischen Ihrem Hengst und Mr. Cumberlands Stute und diesem Pferd namens One-Eyed Jack. Einige Leute haben schon gesetzt, und viele andere wollten es bald tun, aber jetzt weiß kein Mensch, was geschehen wird. Sieht nicht so aus, als würde es Mr. Cumberland schaffen, an dem Rennen teilzunehmen.« »Zum Teufel mit dem Rennen.« Empört stand Maddie auf. »Können denn die Menschen an nichts anderes denken als an ein Pferderennen? Hier geht es um das Leben eines Mannes, und das einzige, was die Leute beschäftigt, ist die Frage, ob er es schaffen wird, an diesem Wochenende am Pferderennen teilzunehmen.« »Wenn er sein Recht verwirkt, verliert er zweitausend-fünfhundert Dollar«, erklärte Zoe ganz praktisch denkend. »Wenn man ihn natürlich bis dahin gehängt hat, ist das auch einerlei. Werden sie ihm das Geld für die Farm wegnehmen? Oder werden sie die Pferde verkaufen, um die Schulden zurückzuzahlen?« »Zoe, halt den Mund!« Maddie lief aufgebracht im Zimmer hin und her. »Das wichtigste ist es erst einmal, daran zu denken, daß Chase diese zwei Morde nicht begangen hat – und auch den unten in Texas nicht.« »Woher wollen Sie das wissen, Miss McCrory?« Nathan sah ganz verwirrt aus. »Pa sagt, er war’s.
Daran bestehe kein Zweifel.« »Ich weiß es einfach, das ist alles. Er könnte so etwas nicht tun.« Maddie blieb stehen. Sie erinnerte sich daran, wie Chase ihren betrunkenen Vater nach Hause getragen hatte… wie er den Deckstand gebaut hatte…mit ihr gelacht und geredet, sie geneckt und geküßt hatte. Kaltblütige Mörder waren nicht so zärtlich und ihren Mitmenschen gegenüber so mitfühlend. Sie erinnerte sich an den zärtlichen Blick in Chases Augen, als er über seinen Bruder Bück gesprochen hatte. Bück! Bück hatte vielleicht diese Morde begangen, aber nicht Chase. Als sie Bück an jenem Tag in der Scheue entdeckt hatte, war sie zu Tode erschrocken. Bück strahlte Gefahr und Gewalt aus. Selbst Chase gab zu, daß sein Bruder nicht gut mit anderen Menschen zurechtkam. Plötzlich war sie sich sicher, daß Chase seinen Bruder beschützte, ja sogar verheimlichte, daß es Bück überhaupt gab. »Nathan, was genau stand auf dem Steckbrief? Du weißt schon, ich meine den Steckbrief, aufgrund dessen sie Mr. Cumberland wegen Mordes suchten.« »Warten Sie einen Augenblick.« Nathan kramte in seinen Taschen herum. »Ich habe einen dabei. Pa hat gestern nachmittag welche mit nach Hause gebracht, um sie Ma zu zeigen. Es gefällt ihm nicht, daß Ma allein in die Stadt geht. Pa meint, es sei zu gefährlich. Um das zu beweisen, hat er die Steckbriefe mitgebracht.« Nathan holte ein zerknittertes Stück Papier heraus. Es sah ähnlich aus wie die Handzettel, auf denen Maddie Gold Decks Teilnahme an einem Pferderennen ankündigen ließ, außer daß das Papier etwas dicker war. Mit zitternden Händen nahm Maddie es und faltete es auseinander. Schnell überflog sie den Inhalt. Sie hatte recht! Die Kopfgeldjäger waren hinter Bück hergewesen. Auf dem Steckbrief stand es ganz eindeutig: der Mann hatte weißes Haar. Allerdings wurde nicht erwähnt, daß er nicht sprechen konnte. Chase wurde ebenfalls beschrieben und als Nachname wurde Courtland, nicht Cumberland angegeben. Maddie sah, daß viele Wörter falsch geschrieben waren. Derjenige, der
den Steckbrief gedruckt hatte, war entweder ungebildet oder einfach nachlässig. Aber andererseits gab es viele, die weder gut lesen noch schreiben konnten. Cowboys hielten es für Zeitverschwendung, lesen und schreiben zu lernen, weil solche Tätigkeiten weder beim Reiten noch beim Viehtreiben von Nutzen waren. Maddie studierte die Zeichnung. Sie mußte zugeben, daß sie Chase ähnlich sah. Wenn sie Bück nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde auch sie annehmen müssen, daß es sich um Chase handelte. Sie verübelte es weder Sheriff Smith noch Nathans Vater, voreilige Schlüsse gezogen zu haben. Sie kannten Bück nicht und hatten deshalb angenommen, daß Chase der Verbrecher war. »Zoe, ich gehe in die Stadt. Paß auf Pa auf, bis ich zurück bin. Little Mike trainiert mit Gold Deck. Ich weiß nicht, wo Carrie ist, aber du mußt beiden erklären, was passiert ist.« »Was hast du vor, Maddie?« »Ich gehe zum Sheriff und erzähle ihm von Mr. Cumberlands Bruder. Er ist derjenige, der in Texas gesucht wird, nicht Chase. Und er könnte auch die Kopfgeldjäger umgebracht haben.« »Aber was ist mit Mary? Nathans Vater sagt, man hätte sie nicht gefunden. Sie war nicht in der Hütte, wo man die Leichen fand.« »Ich habe keine Ahnung, Zoe, und ich möchte auch keine Vermutungen anstellen. Aber auch darüber werde ich mit dem Sheriff reden. Wir müssen Mary suchen. Sie… sie könnte irgendwo liegen, verletzt, angeschossen, und Mr. Cumberlands Bruder ebenso. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Kopfgeldjäger sich so einfach abschlachten ließen, die haben sich bestimmt gewehrt. Hat sich der Sheriff nicht gefragt, warum Mr. Cumberland nicht verletzt war?… Das hat er nicht, oder?« Nathan wurde rot. »Soviel ich weiß, nicht, Miss McCrory. Ich weiß nur, was Pa uns gesagt hat: Mr. Cumberland überraschte die Kopfgeldjäger, als diese Pawnee Mary gerade etwas… Schreckliches antaten. Aber wegen ihr hat er nicht gekämpft, sie ist nur eine Indianerin. Er hat die beiden Männer wahrscheinlich getötet, um zu verhindern, daß sie ihn nach Texas bringen und dort hängen lassen.
Falls Mr. Cumberland einen Bruder hat, wie Sie sagen, dann weiß weder mein Pa noch der Sheriff etwas davon.« »Genau. Außerdem, wenn du genau nachdenkst, Nathan, dann mußt du zugeben, daß die Situation höchst merkwürdig ist. Wie kann ein Mann es schaffen, allein zwei Männer zu Tode zu hacken und das Ganze ohne einen Kratzer zu überleben?« »Aber er war voller Blut und hatte sich im Schrank versteckt, Miss McCrory. Es sieht doch wirklich so aus, als habe er dieses Verbrechen begangen. Nur das in Texas vielleicht nicht.« »Das reicht. Ich muß gehen. Oh, hat dein Pa gesagt, wann der Bezirksrichter in die Stadt kommen wird? Man kann Mr. Cumberland nicht den Prozeß machen, bevor er eintrifft.« »Dazu hat er nichts gesagt, Ma’am. Genau genommen hat er den Bezirksrichter überhaupt nicht erwähnt. Aber ich habe gehört, wie er zu Ma sagte, daß Mr. Brownley befugt sei, als Friedensrichter zu amtieren, wenn es nötig sein sollte. Da er Bürgermeister ist, kann er Mr. Cumberland verurteilen.« »Aber doch bestimmt nicht in einem Mordfall! Horace darf kleinere Fälle übernehmen, ja sicher wenn jemand betrunken ist, sich unsittlich benimmt oder sich weigert, seine Waffe im Gefängnis abzugeben, während er in der Stadt ist. Aber einen Mord? Das glaube ich nicht, Nathan. Bestimmt nicht. Und ganz besonders dann nicht, wenn ich aussage, daß er Mr. Cumberland nicht ausstehen kann. Er könnte also niemals einen fairen Prozeß gewährleisten.« »Oh, Maddie! Das hört sich aber wirklich nicht gut an für Mr. Cumberland. Wenn du in der Stadt ankommst, haben sie ihn vielleicht schon gehängt!« »Beruhige dich, Zoe. So schnell geht das nicht. Nicht in Hopewell. Hol mir doch bitte die blaue Haube. In diesem Fall muß ich wirklich alle Register weiblicher Verführungskunst ziehen.« Maddie trug ihr blaues Häubchen, aber gleichzeitig ritt sie Gold Deck im Männersattel, weil es so am schnellsten ging. Als sie das Haus verließ, war Little Mike vom Training mit dem Hengst zurückgekehrt, und das Pferd war immer noch gesattelt. Maddie raffte einfach ihre Röcke und saß trotz
der Protestrufe von Little Mike auf. »Zoe wird dir alles erklären«, sagte sie ihrem Bruder und galoppierte in die Stadt. Als sie dort ankam, ging sie direkt zum Bezirksgefängnis, das in einer Nebenstraße gleich bei der Main Street lag. Eine Menschenmenge stand davor, so daß Maddie ein Stück weiter die Straße hinunter absaß. Sie band die Zügel an einem Pfosten fest und ging zu Fuß Richtung Gefängnis. Auf halbem Weg dorthin begegnete ihr Horace Brownley. Er packte sie am Arm und führte sie außer Hörweite der anderen Leute zur Seite, die vor dem Gebäude umherliefen und laut schimpften. »Wo willst du hin, Maddie? Weißt du schon, was passiert ist? Dieser Wahnsinnige, den du immer verteidigst, ist heute nacht – oder besser gesagt, heute morgen – auf frischer Tat ertappt worden. Ich muß sagen, es überrascht mich nicht im geringsten, daß er ein kaltblütiger Mörder ist. In Texas hat er einen Mann umgebracht und zwei hier in Kansas.« Maddie wünschte, sie hätte ihr Sonnenschirmchen mitgebracht, um Horace eins überzuziehen. Sie beschloß spontan, zuerst mit dem Sheriff zu reden und sich erst später mit Horace auseinanderzusetzen. »Die Dinge sind nicht immer, was sie scheinen, Horace. Geh mir bitte aus dem Weg. Ich muß Moses etwas sehr Wichtiges mitteilen.« »Das kannst du genausogut mir erzählen, Maddie.« Horace blähte die Brust auf und warf ihr einen Blick zu, der ihr zeigen sollte, wie wichtig er sei. »Ich werde wahr scheinlich die Gerichtsverhandlung leiten – und zwar bald. Möglicherweise morgen oder übermorgen. Wir möchten Chase Cumberland vor Samstag hängen, damit alle noch auf das Rennen in Abilene gehen können. Was das Rennen angeht, Maddie… Wann wirst du mir die Einzelheiten mitteilen? Du hast gesagt, es sei ein kleines Rennen, aber ich habe eine Ankündigung gelesen, in der steht, daß du fünftausend Dollar gesetzt hast… Maddie, das ist ein Vermögen. Wenn du nicht gewinnst, verlierst du alles. So einen großen Verlust kann ich nicht decken – nun, vielleicht doch, aber ich werde es nicht tun. Das darfst du nicht von mir erwarten.« »Horace, im Augenblick ist mir das Rennen vollkommen gleichgültig. Ich bin hier, um das Leben eines unschuldigen Mannes zu retten. Und du wagst es auch noch, mich aufzuhalten. Du dürftest die Verhandlung eigentlich
nicht leiten. Du müßtest selbst von dieser Aufgabe zurücktreten, da du Vorurteile gegen Chase hast.« »Ich – und Vorurteile? Maddie, der Mann ist wahnsinnig. Er stellt eine Gefahr für die Gesellschaft dar. Ich bin sicher, auch du erkennst jetzt seine wahre Natur.« »Ist Pawnee Mary gefunden worden? Hat sich wenigstens jemand auf die Suche nach ihr gemacht? Bevor es zu einer Gerichtsverhandlung kommt und jemand gehängt wird, sollten wir alle Seiten anhören. Wir müssen Mary aussagen lassen. Immerhin sind die zwei Männer in ihrem Haus getötet worden.« »Um Himmels willen, Maddie! Die Frau ist doch bloß ‘ne Indianerin. Wen kümmert es, was sie zu sagen hat oder was mit ihr geschehen ist? Wir brauchen ihre Aussage nicht, um Chase Cumberland des Mordes schuldig zu sprechen. Die Beweise sind überwältigend. In diesem Augenblick bereitet Elwood gerade das Eröffnungsplädoyer der Anklage vor.« »Elwood, dein Angestellter?« »Hast du es vergessen? Er vertritt die Stadt vor Gericht, und im Fall gegen Mr. Cumberland wird er Anklage erheben.« »Aber wie steht es eigentlich mit einem Verteidiger für Mr. Cumberland? Gibt es denn in der Stadt noch einen Anwalt?« »Hopewell ist zu klein, um noch einen weiteren Anwalt zu haben, Maddie. Wir haben das Glück, eine Bank, einen Bürgermeister und eine Bürgerversammlung zu haben – sowie einen Sheriff und das Gefängnis, vor dem wir stehen.« »Mr. Cumberland wird also keinen Anwalt bekommen?« »Natürlich kann er das, wenn er darauf besteht. Obwohl wir wahrscheinlich einen aus Abilene holen müßten. Der Kerl würde es gar nicht rechtzeitig hierher schaffen.« »Das ist ja unglaublich!« rief Maddie empört. »In eurer Eile, Chase zu hängen, stellt ihr das Rechtssystem völlig auf den Kopf!« Horaces Griff um Maddies Arm wurde fester. »An deiner Stelle, mein Liebes, würde ich meine Zeit nicht damit verschwenden, mir um Chase Cumberland Sorgen zu machen. In diesem Fall ist alles klar: er ist der Mörder. Sein Schicksal ist beschlossen, und ich werde mich persönlich
darum kümmern, daß er so bald wie möglich hängt. Ich schlage vor, daß du dir lieber Gedanken um das bevorstehende Rennen in Abilene machst.« »Wenn Chases Stute nicht am Rennen teilnimmt, könnte auch ich beschließen, meine Teilnahme zurückzuziehen«, erklärte Maddie, vor Wut ganz unvorsichtig. »Das wäre höchst unklug«, warnte sie Horace. »Wenn du verlierst – oder das Rennen absagst –, brauchst du nicht mehr mit finanzieller Unterstützung von meiner Seite zu rechnen. Wenn ich darüber nachdenke, wie nachlässig du mit Geld umgehst, bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich dich heiraten möchte.« »Eine Heirat mit dir steht für mich völlig außer Frage, Horace. Schuldig oder nicht schuldig, der Wahnsinnige von Hopewell ist mir viel sympathischer als du. Ihm würde ich mich jederzeit lieber hingeben als dir.« Horaces Gesicht schwoll an wie das einer Kröte. Er wurde dunkelrot und bekam keine Luft mehr. »Für diese Beleidigung wirst du mir büßen, Maddie – du und deine ganze Familie! Du wirst den Tag verfluchen, an dem du Chase Cumberland den Vorzug gabst.« »Das einzige, was ich bereue, ist, daß ich nicht früher gemerkt habe, was für ein Mann du bist – und was für ein Mann er ist. Er hat diese Kopfgeldjäger nicht umgebracht, aber ich weiß, warum er jeden in diesem Glauben lassen will. Und ich werde ihn vor dem Strang retten.« »Du kannst es ja versuchen, aber du wirst es nicht schaffen. Die Leute in Hopewell hören auf ihren Bankier und ihren Bürgermeister, Maddie, nicht auf eine starrsinnige alte Jungfer, deren Vater ein Säufer ist und deren einziger Verdienst es ist, wie ein Mann zu reiten. Du brauchst mich; ich brauche dich nicht. Wie gesagt, du wirst diesen Tag für immer bereuen.« »Mach, was du willst, Horace. Es ist mir gleich.« Mit fliegenden Röcken drehte Maddie sich um und ließ diesen verabscheuungswürdigen Mann stehen. Doch tief in ihrem Innern war es ihr nicht gleichgültig. Trotz ihrer tapferen Worte hatte sie große Angst um ihre Familie. Aber sie würde Horace Brownley nicht zeigen, wie sehr sie sich vor ihm fürchtete… und sie würde nicht zulassen, daß ein Unschuldiger starb, nicht einmal, um ihren Vater,
die Schwestern, den Bruder oder sich selbst zu retten. Chase Cumberland hatte Fehler, aber er war kein Mörder. Wenn überhaupt, so war er der fürsorglichste, treueste, aufopferndste Mann, dem sie je begegnet war. Offensichtlich war er bereit, für seinen Bruder zu sterben; aber sie war nicht gewillt, das zuzulassen. Wenn Bück diese Morde tatsächlich begangen hatte, so mußte er für seine Sünden bezahlen, nicht Chase. Auf jeden Fall wollte sie herausfinden, was letzte Nacht in der Hütte geschehen war, bevor sie zuließ, daß einer der beiden gehängt wurde. Chase lag auf der schmalen Pritsche in der dunklen Zelle. Durch das vergitterte Fenster schien etwas Tageslicht und zeichnete ein Viereck auf den Boden. Die Zelle war kaum größer als der Deckstand, den er für die McCrorys gebaut hatte, und sie war bar jeglicher Annehmlichkeiten, von der Pritsche und einem Eimer einmal abgesehen. Der Eimer sollte wohl zum Verrichten der Notdurft dienen. Er war durstig und fühlte sich schmutzig und elend. Das Blut an seinen Händen, seinen Stiefeln und seinen Kleidern war inzwischen getrocknet. Er war sich sicher, daß er so schlecht aussah, wie er sich fühlte. Moses Smith hatte seine bescheidenen Wünsche – ein Glas Wasser zum Trinken und eine Schüssel Wasser zum Waschen – abgelehnt. Davon abgesehen hatte er nicht viel gesagt. Er wartete auf die Gelegenheit, seine Sicht des Falls darzulegen. Von Zeit zu Zeit kam Moses oder ein anderer Mann den schmalen Gang entlang, an dessen Ende sich die Zelle befand. Sie warfen ihm listige, böse Blicke zu, schüttelten über sein Aussehen den Kopf und gingen wieder fort, ohne ein Wort zu sagen. Ab und zu konnte er laute Stimmen hören, die voller Wut und Anschuldigungen zu sein schienen. Manchmal kamen sie aus dem Dienstraum des Sheriffs, der sich an der Vorderseite des Gefängnisses befand, und manchmal kamen sie von draußen. Chase konnte nicht aus dem Fenster blicken, weil es zu hoch war. Aber er hörte oft Ausdrücke wie ›Sofortjustiz‹ und daß Hängen für einen Schurken wie ihn eine zu milde Strafe sei. Wenigstens hatte er wegen seines Bruder nicht lügen müssen, da ihn keiner gefragt hatte, was seiner Ansicht
nach in der Hütte geschehen war. Sie nahmen ganz einfach an, daß er schuldig war. Er hatte vor, sich selbst zu verteidigen und Notwehr als Grund dafür anzugeben, warum er die beiden Kopfgeldjäger getötet hatte. Schließlich hatte einer von beiden ein Messer und eine Pistole in den Händen gehalten. Aber er selbst war ja nicht verletzt. Es würde schwierig werden, den Leuten zu erzählen, er habe die Männer getötet, um Marys Leben oder sein eigenes zu retten. Die Leute würden ohnehin nur glauben, was sie glauben wollten; während der vielen Jahre, die er nun schon mit Bück auf der Flucht war, hatte er immer wieder diese Erfahrung gemacht. Er hoffte nur, daß Bück und Mary sich weiterhin versteckten oder flüchteten, je nachdem, wozu sie sich entschieden hatten. Solange keiner der beiden auftauchte und seine Geschichte widerlegte, würde er einen Anwalt ablehnen und seine Verteidigung selbst übernehmen. Das schien ihm das Beste. Wenn sie ihn am Ende hängen sollten, dann sei es eben so. Er wollte noch nicht sterben, aber so wie bisher wollte er auch nicht weiterleben. Jetzt hatte er die Gelegenheit, ein für allemal reinen Tisch zu machen und ein normales Leben zu führen – oder zu sterben. Angenommen, man würde ihn in Kansas freisprechen, dann würde er nach Texas geschickt, um wegen des Mordes an Clint vor Gericht zu kommen, da man ihn ja für Bück hielt. Wenn das geschehen sollte, würde er Luke Madison und allen anderen in Texas sagen, daß Bück tot sei. Sobald sie sahen, daß er nicht Bück war, würden sie ihn freilassen, dachte Chase. Dann wurde er noch einmal versuchen, sich an einem anderen Ort eine neue Existenz aufzubauen. Wenn er noch eine Chance bekommen sollte, würde er sich so weit wie nur möglich von Kansas entfernt niederlassen. Sobald er diesen Bundesstaat verlassen hatte, würde er niemals hierher zurückkehren. Maddie und Horace zusammen zu sehen, das waren keine schöne Aussicht und schien ihm weder Ruhe noch Glück zu versprechen. Chase lag auf der Pritsche und hörte den Stimmen der wütenden Leute zu. Die Stimme einer Frau durchschnitt das Gemurmel, das aus dem Vorzimmer des Sheriffs drang. »Ich verlange, daß Sie Chase Cumberland auf der Stelle gehen lassen,
Sheriff. Er ist nicht der Mann, den Sie suchen. Er ist nicht der Mann, der unten in Texas wegen Mordes gesucht wird.« Nein, nicht Maddie. Was wollte sie hier? Lieber Gott, nein. Laß sie nichts über Bück sagen. Chase rollte sich von der Pritsche herunter. Er hoffte, in der Zellenecke, die dem Büro des Sheriffs am nächsten war, besser hören zu können. »Das ist uns völlig gleich, Miss McCrory. Er hat hier in Kansas zwei Morde begangen, also wird er auch hier in Kansas hängen.« »Sie verstehen nicht, Sheriff. Ich glaube, daß Chase versucht, seinen Bruder, Bück Cumberland oder Courtland – zu schützen. Er ist der Mann, der die beiden Kopfgeldjäger getötet haben könnte. Wenn ich Ihnen etwas über Bück erzählt habe, werden Sie verstehen, warum ich das denke.« Chase zog sich einen seiner blutverkrusteten Stiefel aus und schlug damit gegen die Gitterstäbe. »Sheriff, hören Sie nicht auf sie. Ich gebe alles zu. Ich habe die zwei Männer umgebracht. Sheriff! Kommen Sie sofort hierher!« Aber es war Buford, der erschien. »Haben Sie endlich die Sprache wiedergefunden, was? Bis jetzt waren Sie ja ziemlich schweigsam.« »Holen Sie den Sheriff.« »Geht nicht. Der Sheriff hat zu tun.« »Wenn er mein Geständnis hören will, sollte er lieber herkommen. Ich bin auch bereit, alles zuzugeben. Aber wenn er mich warten läßt, könnte ich es mir anders überlegen.« »Das werde ich ihm sagen. Warten Sie. Sieht so aus, als käme er gerade. Miss McCrory ist auch dabei.« »Miss McCrory weiß in drei Teufels Namen nicht, wo von sie spricht. Hören Sie nicht auf sie. Mir müssen Sie zuhören, ich war dabei. Ich weiß also genau, was geschehen ist.« »Hier entlang, Miss McCrory«, hörte Chase den Sheriff murmeln. »Bitte wiederholen Sie Ihre Aussage noch einmal vor dem Gefangenen. Ich möchte sehen, wie er darauf reagiert.« Als Maddie und Sheriff Smith aus dem düsteren Gang traten, hatte Chase
nur Augen für Maddie. Er saugte ihren Anblick geradezu auf. Sie erfrischte ihn wie ein Schluck Wasser aus einem klaren Bach in der Hitze des Hochsommers. Noch nie waren ihm ihre Augen so blau, ihr Mund so verletzlich und ihr Kinn so entschlossen vorgekommen. Maddie war hier, um für ihn zu kämpfen. Der Gedanke, daß Maddie genug für ihn empfand, um ihn retten zu wollen, wärmte Chase wie tausend Sonnenstrahlen, die bis in die dunklen, kalten Winkel seines Herzens vordrangen. Aber während er sich über ihre Anwesenheit freute, dachte er auch schon darüber nach, wie er ihre Aussage widerlegen könnte. Er wollte sie töricht aus sehen lassen. Um seinetwillen war sie bereit, Bück zu verraten. Aber um Bucks Leben zu retten, mußte er den Sheriff davon überzeugen, daß sie sich getäuscht hatte.
ACHTZEHN Als Maddie Chase erblickte, krampfte sich ihr Herz zusammen. Er sah noch schlimmer aus, als sie erwartet hatte. Es stimmte, was Nathan gesagt hatte: er war von Kopf bis Fuß mit Blut beschmiert. An seinen Händen, seinen Kleidern, den Stiefeln und sogar in seinem Haar klebte getrocknetes Blut! Fast wäre sie von ihrem Entschluß abgekommen – bis sie in seine Augen blickte. Er sah sie an wie ein in die Enge getriebener Wolf: gefangen, aber immer noch stolz und kampfbereit. Bereit zurückzuschlagen, wenn sich ihm die Gelegenheit bot. Chase würde sich niemals geschlagen geben. Mutig würde er dem Tod entgegengehen. es sei denn, sie rettete ihn, indem sie die Wahrheit über seinen Bruder verkündete. »Cumberland!« bellte der Sheriff, als sie vor Chases Zelle angelangt waren. »Miss McCrory hat mir gesagt, Sie hätte einen Bruder, der dort draußen auf Ihrer Farm lebt. Ein Kerl mit weißem Haar und ‘nem verrückten Blick. Er sei stumm, seit er vor ein paar Jahren vom Blitz getroffen wurde. Sie hat gesagt, er sei der Mann auf dem Steckbrief, nicht Sie, wie ich annahm. Stimmt das?« Chases Blick war die ganze Zeit auf Maddies Gesicht gerichtet. Er schüttelte langsam den Kopf.
»Nein, Sheriff. Das stimmt nicht. Bück existiert nicht. Ich habe ihn erfunden, um mir in Texas das Gesetz vom Leib zu halten. Ich habe mir Bück ausgedacht, um mich selbst zu schützen -und um Miss McCrory davon abzuhalten, in meinem Haus herumzuschnüffeln. Ich gebe es nur ungern zu, aber Sie hatten mit Ihrem Verdacht doch recht.« »Unsinn. Ich habe deinen Bruder gesehen«, sagte Maddie bestimmt. »In deiner Scheune.« »Ich war es, den du gesehen hast.« Wie üblich sah Chase dabei sehr überzeugend aus. Er zuckte noch nicht einmal mit der Wimper, als er diese Lüge aussprach. »Es war dunkel in der Scheune, und du hattest ohnehin große Angst. Also ließ ich dich in dem Glauben, ich sei der verrückte Bruder. Mit dieser Geschichte bin ich in den letzten Jahren sehr gut gefahren, wenn jemand allzu neugierig wurde.« »Wie aber erklärst du dann das silberweiße Haar? Der Mann, den ich in der Scheune sah, hatte weißes Haar wie ein sehr viel älterer Mann – und seine Augen sahen auch ganz anders aus.« Chase klang weiterhin völlig vernünftig. »Ich hatte einmal eine Stute mit silberweißem Schweif. Als sie starb, machte ich mir daraus eine Perücke. Was die Augen angeht, ist dir wohl die Fantasie durchgegangen. Es wäre schon ziemlich schwierig, meine Augenfarbe zu ändern.« »Ich weiß, was ich gesehen habe, Chase. Du warst das jedenfalls nicht. Du versuchst bloß, Bück zu schützen. Sheriff, auf den Steckbriefen ist von zwei Courtland-Brüdern die Rede, von Chase und Bück. Die Behörden in Texas können sich in dieser Hinsicht nicht täuschen.« »Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte der Sheriff. »Haben Sie denn dafür eine Erklärung, Cumberland?« Chase blickte zur Decke; er schien angestrengt nachzudenken. Schließlich seufzte er und sagte: »Na gut, ich gebe es zu. Bück war mein Bruder, aber er lebt nicht mehr. Seit zwei Jahren schon. Ich habe ihn nur auferstehen lassen, um Maddie fernzuhalten.« Maddie hätte am liebsten laut aufgeschrien. Wie konnte er nur so starrköpfig sein? »Sheriff, Chases verrückt aussehender Bruder ist sehr wohl
noch am Leben. Ich habe ihn mit meinen eigenen Augen gesehen. Bück ist sehr merkwürdig – anders als die meisten Leute – und möglicherweise sogar gefährlich. Er hat silberweißes Haar, wie es auf den Steckbriefen steht. Seine Augen sind sehr hell, und er spricht kein Wort. Chase hat mir gesagt, daß Bück überall, wohin er geht, Aufsehen erregt und Arger bekommt. Als die Cumberland-Brüder – oder besser gesagt, die CourtlandBruder hierher zogen, beschlossen sie zu verheimlichen, daß es Bück überhaupt gab. Und jetzt versucht Chase, ihn zu schützen. Für seinen Bruder würde er alles tun. Ja, er würde sogar ein Verbrechen zugeben, das er nicht begangen hat.« »Aber dieses hier hat er zweifellos begangen, das ist klar«, gab der Sheriff zurück. »Sehen Sie ihn doch an. Er ist von Kopf bis Fuß mit dem Blut seiner Opfer bedeckt.« »Wenn die Männer wirklich so schlimm zugerichtet waren, wie alle sagen, dann konnte man unmöglich durch die Hütte gehen, ohne sich selbst mit Blut zu beschmieren«, erwiderte Maddie. »Vielleicht war Chase nur dort, um seinen Bruder zu suchen. Sie sind dann wenig später dort aufgetaucht. Vielleicht versteckte er sich im Schrank, weil er hoffte, daß Sie ihn dort nicht finden würden. Sheriff, wenn Sie Chase Cumberland für den Mord an den Kopfgeldjägern hängen, dann wird sein Bruder ungeschoren davonkommen. Und wer weiß? Vielleicht bringt Bück noch mehr Menschen um. Sie werden erst merken, daß sie den Falschen gehängt haben, wenn es zu spät ist.« Chase umklammerte die Gitterstäbe seiner Zelle und rief mit verzerrtem Gesicht: »Hören Sie nicht auf Sie, Sheriff! Sie weiß nicht, wovon sie redet. Bück ist tot, wie ich gesagt habe. Als Sie mir den Steckbrief brachten und fragten, ob ich diesen Mann kenne und ich alles abstritt und behauptete, den Mann vorher nie gesehen zu haben, da log ich. Der Mann auf dem Steckbrief war mein Bruder. Aber ich sah keinen Sinn darin, dies zuzugeben. Jetzt ist er ohnehin fort. Er ist gestorben, an Grippe. Ich mußte ihn draußen in der Prärie begraben.« »Sheriff, jetzt lügt er.« Maddie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Chase wütend an. »Sie können es in seinen Augen sehen, er ist dabei, sich eine unglaubliche Geschichte für uns auszudenken.« Moses blickte von Maddie zu Chase und zurück zu Maddie. Unent-
schlossen runzelte er die Stirn, »vielleicht haben Sie recht, Miss McCrory. Vielleicht hat er die beiden Kopfgeldjäger doch nicht umgebracht und sein Bruder war’s. Aber vielleicht hat er sie getötet, um seinen Bruder zu schützen und die Kopfgeldjäger daran zu hindern, seinen Bruder zurück nach Texas zu bringen, wo sie ihn wegen Mordes hängen würden. Dann haben wir es hier gleich mit zwei Mördern zu tun.« »Einen. Sie haben einen Mörder, und der bin ich«, rief Chase. Moses Smith ging näher an die Gitterstäbe der Zelle. »Haben Sie irgendeinen Beweis dafür, daß Ihr Bruder tot ist?« »Ich hab’s Ihnen gesagt: ich mußte ihn in der Prärie begraben, irgendwo westlich von hier. Sie wissen ja, wie groß die Prärie ist. Da könnten Sie jahrelang suchen, ohne ihn zu finden.« »Also haben wir nur Ihr Wort. Ist es nicht so, Cumberland?« »Ja, so ist es, Sheriff. Ich habe die beiden Kopfgeldjäger getötet und gebe es hiermit zu. Aber ich habe in Notwehr gehandelt. Sie wollten Pawnee Mary und mich umbringen. Wenn ich sie nicht zuerst umgebracht hätte, dann hätten Sie statt der zwei Männer die Leichen von Mary und mir gefunden.« »Das ist also Ihre Version der Geschichte – Notwehr«, höhnte Moses. »Das hätte ich mir denken können.« »Das kommt noch dazu, Sheriff«, rief Maddie. »Hat überhaupt jemand nach Mary gesucht? Sie könnte uns doch bestimmt einiges erklären. Die Morde sind immerhin in ihrem Haus geschehen.« »Ich höre nicht drauf, was ‘ne Indianerhure zum Tod von zwei weißen Männer zu sagen hat, und das wird auch sonst niemand aus dieser Stadt«, sagte der Sheriff. »Pawnee Mary ist keine Hure. Ich kenne sie gut, Sheriff. Sie arbeitet für meine Familie. Ich würde meine Hand für sie ins Feuer legen.« »Tut mir leid, wenn ich so direkt sein muß, Miss McCrory, aber die beiden Kopfgeldjäger waren drauf und dran, Sex mit jemandem zu haben. Teufel noch mal, die waren doch splitternackt. Wenn sie nicht hinter Mary her waren, hinter wem dann?« »Sie wollten Mary vergewaltigen, Sheriff«, warf Chase ein. »Ich hörte sie schreien und lief ins Haus, um sie zu retten. Ich war unbewaffnet, deshalb nahm ich die Axt vom Feuerholzstapel. Ich wollte die Männer
nicht umbringen, aber als ich die Hütte betrat, zog der eine ein Messer und einen Revolver. Ich mußte um mein Leben kämpfen – und um Marys.« »Haha. Das ist ja eine schöne Geschichte, Cumberland. Die beiden Männer sind tot, während Sie noch nicht mal einen Kratzer abbekommen haben. Ich bin sicher, Sie haben die Waffen hinterher dort hingelegt, damit Sie uns was von Notwehr erzählen können. Damit lassen sich vielleicht andere Leute an der Nase herumführen, aber ich nicht. Ihr größter Fehler war es, sich im Schrank zu ver- stecken. Nur jemand, der schuldig ist, würde vor Recht und Gesetz fliehen.« »Ich habe mich versteckt, weil ich nicht wußte, wer da kommen würde. Es hätten schließlich zwei weitere Männer sein können, die eine unschuldige Frau vergewaltigen wollten.« »Sie ist keine unschuldige Frau, sondern eine Hure. Sie können mich mit ihren aalglatten Argumenten nicht mehr überzeugen, Cumberland. Den Richter und die Geschworenen bestimmt auch nicht. Wir haben Sie auf frischer Tat ertappt, und ich habe fest vor, Sie dafür den vollen Preis bezahlen zu lassen.« »Sheriff«, unterbrach ihn Maddie. »Wir müssen dieses sinnlose Streiten beenden; damit ist niemandem geholfen. Könnte ich bitte kurz mit Mr. Cumberland alleine reden? Und könnten Sie jemand bitten, Wasser und frische Kleidung für ihn herzubringen? Es ist ja barbarisch, einen Gefangenen so zu behandeln.« »Barbarisch ist, was er diesen Männern angetan hat, Miss McCrory. Warum möchten Sie mit so einem brutalen Mann allein sein? Das schickt sich nicht für eine Dame.« »Ich möchte mit ihm über seine Verteidigung sprechen. Schließlich steht ihm ein Verteidiger zu, nicht wahr?« »Ich werde mich selbst verteidigen«, sagte Chase. »Ich brauche keine Hilfe.« »Chase, das kannst du nicht! Du hast keine Chance… Wirklich, ich bestehe darauf, Sheriff Smith. Jemand muß vernünftig mit diesem Mann reden, und da Sie bereits beschlossen haben, daß er schuldig ist, sind Sie dafür nicht die geeignete Person. Geben Sie mir ein paar Minuten allein mit ihm. Es besteht keiner-
lei Gefahr, das versichere ich Ihnen.« »Es gefällt mir nicht, Sie mit ihm allein zu lassen«, erwiderte der Sheriff starrsinnig. »Sheriff, Sie sind ja gleich dort am anderen Ende des Ganges, und er steckt hinter Schloß und Riegel. Was soll denn da schon passieren? Außerdem haben Sie bestimmt eine ganze Menge für die Verhandlung vorzubereiten. Sollten Sie sich nicht mit dem Bezirksrichter in Verbindung setzen? Ein so wichtiger Fall sollte vor einen unabhängigen Richter gebracht werden. Die Leute hier aus der Stadt sind dafür ungeeignet und Horace Brownley ganz besonders.« »Brownley?« Etwas flackerte in Chases Augen. »Brownley wird die Verhandlung leiten?« Zum ersten Mal, seit Maddie das Gefängnis betreten hatte, sah Chase besorgt aus. Erstaunt zog er die Brauen hoch, und sie sah einen Anflug von Angst in seinem Gesicht. Moses nickte zufrieden. »Wir haben nicht vor, noch einen ganzen Monat oder sogar zwei zu warten, bis der Bezirksrichter hier auftaucht. Er war letzte Woche hier, aber da gab es keine Fälle für ihn. Da er in anderen Städten soviel zu tun hat, meinte er, er würde wahrscheinlich erst übernächsten Monat wieder zu uns kommen. Teufel noch mal, ich werde gar nicht versuchen, ihn zu erreichen. Das würde zu lange dauern, weil ich nicht weiß, wo er gerade ist. Ich werde auf keinen Fall so lange warten und Sie hier von vorne bis hinten bedienen, bis wir ihn finden oder bis er wieder in die Stadt kommt. Dafür habe ich in meinem Gefängnis keinen Platz.« »Sheriff, wenn Mr. Cumberland ein faires Verfahren haben soll, dann müssen Sie sich mit dem Bezirksrichter in Verbindung setzen oder warten, bis er wieder herkommt.« »Geht nicht. Werde ich nicht.« Entschlossen schob der Sheriff das Kinn vor. »Das werden die Leute nicht dulden. Es gibt bereits viele, die verlangen, daß wir Cumberland ohne Verhandlung hängen. Je länger er im Gefängnis sitzt, desto schlimmer wird das Gerede werden. Wenn wir diese Sache nicht bis spätestens Samstag abgeschlossen haben, werden es die Leute weit und breit erfahren, und dann könnte es für uns wirklich gefähr-
lich werden.« »Sie meinen wohl wegen des Rennens«, sagte Maddie. Moses nickte. »Wir können es uns nicht leisten, daß sich auch noch ganz Abilene über die Sache aufregt. Der Ärger hier in Hopewell genügt uns.« »Was geht die Leute aus Abilene dieser Fall an?« wollte Maddie wissen. »Meinen Sie etwa die Tatsache, daß Sie einen der Teilnehmer hängen, bevor er bei dem Rennen mitmachen konnte?« »Nein, es geht um die Brutalität dieses Verbrechens. Ich werde nicht riskieren, einen Lynchmob am Hals zu haben. Wenn wir es tun, dann auch richtig. Ganz legal. Wenn ich jemand hängen lasse, dann können die Leute sicher sein, daß es richtig gemacht wird.« »Sie können nur nicht sicher sein, daß Sie tatsächlich den Schuldigen hängen«, gab Maddie zurück. »Was sind Sie nur für ein Mann, Sheriff Smith. Sie haben gar kein Interesse daran, die Wahrheit herauszufinden. Ihnen ist nur wichtig, vor aller Welt gut dazustehen.« »Es geht mir nur um das Wohl der Stadt, Ma’am. Das ist meine einzige Sorge.« »Gib endlich nach, Maddie.« Chases Augen brannten in seinem schweißnassen, unrasierten Gesicht. »Nein, das werde ich nicht. Sheriff Smith, wenn Sie nicht dafür Sorge tragen, daß Chase ein faires Verfahren bekommt, werde ich in ganz Hopewell, Salina und Abilene Handzettel verteilen und jedem von diesem Justizirrtum berichten. Wenn die Leute am Samstag zum Rennen kommen, werde ich ihnen meine Meinung über Ihre Unfähigkeit bei der Behandlung dieses Falles sagen. Ich werde Sie des Amtsmißbrauchs anklagen, ich werde…« »Zum Teufel, Miss McCrory, ich weiß ja noch nicht einmal, was das Wort Amtsmißbrauch bedeutet! Ich versuche nur, meine Pflicht zu tun. Ich habe diesen Mann gefunden, als er sich in einem Schrank versteckte, in einer Hütte voller Blut und mit zwei Leichen; er kann von mir aus so lange behaupten, daß es Notwehr war, bis es im Juli Schnee gibt. Aber in Wahrheit ist er noch am Leben, und die beiden anderen sind tot. Es kann niemand anders gewesen sein. Keiner sonst hatte einen Grund, es zu tun. Für
mich ist alles klar. Cumberland ist schuldig, es sei denn, sein mysteriöser Bruder tritt in Erscheinung und gibt alles zu.« »Sheriff, in Kansas hat es im Juli durchaus schon ge schneit«, erwiderte Maddie schnippisch. »Lassen Sie mich wenigstens allein mit Chase reden. Holen Sie etwas Wasser und bringen Sie ihm saubere Kleidung und auch eine warme Mahlzeit. Hat er überhaupt etwas zu essen und zu trinken bekommen, seit er hier ist?« Chase weigerte sich zu antworten; er starrte Maddie an und hoffte, daß sie fortgehen und ihn in Ruhe lassen würde. Aber der Sheriff schüttelte zähneknirschend den Kopf. »Wer kümmert sich normalerweise um die Versorgung der Gefangenen?« Maddie blieb hartnäckig. »Alice Neff«, antwortete der Sheriff. Als Maddie erstaunt die Brauen hochzog, beeilte sich Moses, ihr eine Erklärung zu geben. »Seit ihr Mann gestorben ist, hatte sie keine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sich um die Gefangenen zu kümmern bringt nicht sehr viel ein, weil ich normalerweise keine Gefangenen habe. Aber es ist besser als gar nichts.« »Das kann ich mir vorstellen.« Maddie hatte angenommen, Alice Neff lebe von der Mietzins, den sie für das kleine Zimmer bekam, das sie in ihrem winzigen Haus vermietete. Sie hatte dorthin ziehen müssen, als sie die Farm ihres Mannes verlor. Die arme Frau war wahrscheinlich ganz froh, sich um jemanden kümmern zu können, selbst wenn es Moses war. »Gehen Sie bitte zu ihr und bitten Sie sie darum, Mr. Cumberland etwas zu essen zu machen und sich um seine sonstigen Bedürfnisse zu kümmern.« Sheriff Smith knirschte sichtlich mit den Zähnen. Zuerst dachte Maddie, er würde ablehnen, aber dann gab er plötzlich nach. »Nun gut, Miss McCrory. Sie haben gewonnen -aber nur hinsichtlich der Versorgung des Gefangenen. Denken Sie ja nicht, daß ich die Verhandlung verlegen werde, nur weil Sie es wünschen. Das werde ich nämlich nicht tun.« »Danke, Sheriff. So wie ich Alice kenne, wird sie bestimmt auch der
Meinung sein, daß Gefangene menschlich behandelt werden sollten, ganz gleich, was man ihnen vorwirft.« »Haha! Sie denkt bestimmt nicht, daß wir auf den Bezirksrichter warten müssen, um einen Mann zu hängen, von dem wir bereits wissen, daß er des Mordes schuldig ist.« »Entschuldigen Sie, Sheriff, genau das wissen wir eben noch nicht. Das müssen Sie erst einmal beweisen.« »Notwehr«, murmelte Chase. »Es war Notwehr, nicht kaltblütiger Mord.« »Das behaupten Sie, Cumberland. Ich habe da meine Zweifel… Ich bin gleich zurück.« Moses deutete mit dem Finger auf Maddie. »Wenn der Gefangene Sie irgendwie belästigt, rufen Sie Buford. Er ist mein Hilfssheriff, bis diese Sache ausgestanden ist. Er ist gleich vorne im Vor- zimmer.« Maddie hätte ihn gerne gefragt, wie ein Mann hinter Gittern sie hätte belästigen sollen, aber sie beschloß, ihn nicht weiter zu reizen. Sie hatte wenigstens etwas erreicht. Während der Sheriff den Gang zurücklief, bereitete sie sich innerlich auf den Kampf mit Chase vor. Ihn würde sie nicht so leicht beeinflussen können wie den Sheriff. Aber sie hatte nicht vor, das Gefängnis zu verlassen, bevor er zugab, daß er einen Bruder hatte und daß dieser möglicherweise in die Morde an den Kopfgeldjägern verwickelt war. Als sie sich ihm zuwandte, verlor sie angesichts seines kühlen Gesichtsausdrucks und seiner maskenhaften Gleichgültigkeit allen Mut. »Du hättest nicht kommen dürfen, Maddie«, waren die ersten Worte, die sie vernahm. »Du brauchst nicht für mich zu kämpfen.« »Wenn du nicht bereit bist, für dich selbst zu kämpfen, dann muß ich es tun – oder ein anderer.« »Ich habe die beiden Männer in Notwehr umgebracht«, wiederholte er, als ob sich die Worte durch ständiges Wie derholen in die Wahrheit verwandeln könnten. »Das glaube ich nicht, Chase. Ich werde es niemals glauben.« Maddie preßte sich gegen die Gitterstäbe und umklammerte sie, wie Chase es vorhin getan hatte. »Ich werde nicht zulassen, daß du für ein Verbrechen bezahlst, das möglicherweise dein Bruder begangen hat.« Chase machte rasch einen Schritt zurück, als habe er Angst, ihr nahe zu sein. »Mein
Bruder ist tot.« »Lüge mich nicht an, Chase. Du kannst den Sheriff belügen, die ganze Stadt, den Richter – wen auch immer. Aber lüge mich bitte nicht an.« »Und warum nicht?« schleuderte er ihr entgegen. »Du hast dich für Horace entschieden, nicht für mich. Ich bin dir nichts schuldig. Ich brauche deine Hilfe nicht, und ich wünschte, du würdest fortgehen und mich meinem Schicksal überlassen, wie es auch immer aussehen mag.« Seine Worte versetzten ihr Stiche wie ein Dolch, aber sie ließ sich nicht verletzen. »Chase, du hast einmal gesagt, daß ich beim nächsten Mal auf dich zukommen müßte und daß ich nicht eher kommen sollte, bis ich zugeben würde, daß es zwischen uns beiden etwas Wichtigeres gibt als Pferderennen. Und auch etwas Wichtigeres als zwischen mir und Horace… Nun, hier bin ich. Es ist vielleicht ein wenig spät, aber ich habe Zeit gebraucht, um herauszufinden, was uns in Wahrheit verbindet.« »Nichts«, preßte Chase hervor. »Gar nichts. Wir haben uns ein paarmal geküßt. Wir haben ein paarmal zusammen gelacht. Wir haben gegeneinander gekämpft. Wir haben gestritten. Wir haben uns getrennt. Das ist alles.« Maddie klammerte sich an die Gitterstäbe und suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. Sich vor Chase zu entblößen – ihn um Verzeihung zu bitten und ihm die Hand zu reichen – war das Schwierigste, was sie je in ihrem Leben getan hatte. »Das ist nicht wahr, und das weißt du«, flüsterte sie. »Da gibt es viel, viel mehr. Wenn ich mit dir zusammen bin, dann… dann fühle ich Dinge, die ich noch nie empfunden habe. Ich träume Dinge, die ich noch nie geträumt habe. Ich. ich möchte dich berühren, dich küssen und von dir berührt und geküßt werden.« »Nun, wenn ich mit dir zusammen bin, möchte ich dein Haar öffnen und dir die Kleider vom Leib reißen«, erwiderte Chase grob. »Das beweist doch gar nichts. Nur daß wir Mann und Frau sind und einander begehren.« Maddies Wangen brannten, als er die wunderbaren Gefühle, die er in ihr hervorrief, auf diese grobe Art beschrieb. Aber sie spürte, daß er sie damit nur von ihrem Ziel ablenken wollte – so schnell würde sie nicht aufgeben und davonlaufen. »Zwischen uns gibt es nicht nur Begierde«, widersprach sie zärtlich. »Ich.
ich bewundere dich. Du kannst zärtlich sein und stark. Die Liebe zu deinem Bruder ist anrührend und lobenswert. Ich habe entdeckt, daß wir sehr viel gemeinsam haben: die Liebe zu unserer Familie und auch unsere Leidenschaft für Pferde und für das Land. Du gibt vor, so unabhängig, sogar grausam zu sein, aber deine Taten sprechen eine andere Sprache, Chase. Du bist nicht der Wolf, der du zu sein vorgibst.« »Ein Schoßhund bin ich auch nicht. Mach nicht mehr aus mir, als ich bin.« Chase lehnte einen Arm gegen die Gitterstäbe, wandte das Gesicht von ihr ab und vergrub es in seiner Armbeuge. »Du darfst solche Dinge jetzt nicht sagen, Maddie«, stöhnte er. »Mache es mir nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist.« »Chase, ich muß diese Dinge sagen. Ich verstehe jetzt meine Gefühle. Ich weiß jetzt, warum ich so glücklich bin, wenn wir zusammen sind, und so unglücklich, wenn wir uns nicht sehen. Du bedeutest mir mehr, als es jedes Pferderennen jemals könnte. Das Gefühl, das zwischen uns herangewachsen ist – man nennt es Liebe, Chase. Ich liebe dich. Und ich denke – ich hoffe –, du liebst mich auch.« »Maddie… «Er sah sie an, und sie war erstaunt und tiefbewegt, Tränen in seinen Augen zu sehen. »Wir hatten eine Chance und haben sie irgendwie verpaßt. Vielleicht in einem anderen Leben.« Er streckte eine Hand nach ihr aus und streichelte ihr die Wange. »Ich wünschte, es wäre nicht so… aber begreifst du denn nicht? Für uns hat sich nichts geändert. In Wahrheit ist alles noch schlimmer geworden. Du bist immer noch für die gleichen Dinge verantwortlich und ich auch. Es gibt keine Hoffnung für uns, keine Zukunft. Das Leben ist wie ein großes Kartenspiel. Wir haben keine andere Wahl, als mit den Karten zu spielen, die uns ausgeteilt wurden.« »Chase, ich habe Horace gesagt, daß ich ihn niemals heiraten werde. Ganz gleich, was geschieht, ich werde es niemals tun. Ich habe alles versucht, um meine Familie zu versorgen und die Farm zu behalten, aber einen Mann zu heiraten, den ich nicht liebe, das tue ich nicht. Nicht, nachdem ich entdeckt habe, was Liebe ist. Oh, Chase! Für dich würde ich alles tun, alles! Ich würde alles aufgeben, die Wettrennen, die Pferde, die
Farm, meine Familie, was immer du willst. Was immer du brauchst. Ich werde für dich da sein, Chase…« Tränen liefen über Maddies Wangen. Jetzt weinte auch sie. Sie wurde von Gefühlen mitgerissen, denen sie nicht länger widerstehen konnte. Sie hatte sich selbst immer für einen starken Menschen gehalten, jemanden, der seinen Zielen verpflichtet war. Plötzlich wurde ihr klar, wie hilfsbedürftig und schwach sie wirklich war. Sie durstete nach Liebe wie ein ausgedörrtes Kornfeld nach Wasser. Sie begehrte Chases Liebe und spürte, daß sie ohne seine Liebe sterben würde. Ohne ihn hatte ihr Leben keinen Sinn. »Maddie, ich würde niemals von dir verlangen, deine Familie zu verlassen.« Chase wischte ihr mit dem Daumen die Tränen weg. »Einer der Gründe, warum ich dich so liebe, ist die Art, wie du Menschen beschützt, die dir etwas bedeuten – und ich gehöre anscheinend auch dazu.« »Aber du bist doch genauso!« erwiderte sie mit Nachdruck. »Chase, ist das dein Ernst? Liebst du mich wirklich?« Er senkte den Kopf. »Das tue ich, so wahr mir Gott helfe.« Das Geständnis schien aus den Tiefen seiner Seele zu dringen, so als habe er nie vorgehabt, es preiszugeben. »Dann sag mir die Wahrheit, mir zuliebe, Chase! Ich frage dich nicht, um deinen Bruder anzuklagen. Ich bitte dich nur inständig, mir die Wahrheit zu sagen!« Er hob den Kopf, um ihr in die Augen zu schauen. »Maddie, du hast gerade gesagt, daß du mich liebst. Wenn das wahr ist, dann bitte mich nicht darum, meinen Bruder zu verraten. Versuche nicht, mich zu hintergehen. Wenn es mir möglich ist, werde ich mich selbst retten. Ich bin nicht sehr erpicht darauf, daß man mich hängt, das kannst du mir glauben.« »Sie werden dir niemals abnehmen, daß es Notwehr war.« »Dann muß ich dran glauben, denn ich werde nicht zulassen, daß sie Bück hängen.« »Chase, bitte…« »Nein! Er hat meinetwegen schon genug gelitten, Maddie. Ich werde nicht zulassen, daß er noch mehr leiden muß. Was damals in Texas vorgefallen ist, war ein Unfall; Bück wollte niemanden umbringen. Aber weil die
Familie des Getöteten sehr reich ist, haben sie Kopfgeldjäger angeheuert, die Bück nun schon seit Jahren unerbittlich verfolgen. Wir dachten, daß wir hier in Kansas endlich einen sicheren Ort gefunden hätten. Offensichtlich haben wir uns getäuscht. Ich kann nur hoffen, daß Bück und Mary längst aus der Gegend verschwunden sind.« »Bück und Mary?« »Du wußtest noch nicht, daß sie ein Paar sind? Bück wollte Mary heiraten. Irgendwie sind sie sich begegnet und .haben sich verliebt. Sie sind wie füreinander geschaffen. Gestern nacht wollte er zu ihr gehen, und mit einer kleinen, feierlichen Zeremonie wollten sie den Bund fürs Leben schließen. Ich glaube, daß Bück die Kopfgeldjäger überrascht hat, als sie gerade dabei waren, Mary zu vergewaltigen. Das wäre mehr als genug, um ihn… ihn dazu zu bringen, sie zu töten. Aber wenn du dem Sheriff erzählst, was ich gerade gesagt habe, dann werde ich alles abstreiten.« »Oh, Chase. Ich habe ja solche Angst um die beiden! Trotzdem kann ich nicht zulassen, daß du dich für deinen Bruder opferst.« »Maddie, du kannst mich nicht daran hindern.« Maddie schlug in ihrer Verzweiflung gegen die Gitterstäbe. »Aber du kannst nicht zulassen, daß sie dich hängen, Chase! Das darfst du nicht!« Chase griff durch die Gitterstäbe und packte ihre Handgelenke. »Doch, das kann ich und das werde ich, Maddie. Bück kann sich nicht verteidigen und den Geschworenen sagen, was geschehen ist. Die brauchten ihn doch nur anzusehen, und schon würden sie einen Strick holen. Er gehört zu den Menschen, die die Leute gerne hassen. Vertraue mir. Ich lebe seit Jahren mit diesem Problem. Ich habe bessere Chancen, die Geschworenen von meiner Unschuld zu überzeugen.« »Nicht, wenn Horace Brownley den Vorsitz führt und die Leute aus dieser Stadt die Geschworenen sind. Vielleicht werden einige bereit sein, dir zuzuhören, aber die meisten werden sich weigern. Sie mißtrauen Außenseitern, und nicht wenige haben Geld verloren, weil sie gewettet haben, daß Gold Deck deine Stute im Rennen besiegen würde. Auch das lasten sie dir an.« »Ich weiß, wie sie über das Rennen denken«, erwiderte Chase grimmig. »Und ich fürchte, die ganze Stadt hat Lust, jemanden hängen zu sehen.
Aber ich kann nicht anders. Die Sache ist mir entglitten. Und auch du wirst nichts tun können, Maddie…« »Aber…« »Lassen Sie sie los, Cumberland! Verdammt, ich wußte es. Wir hätten Sie nicht mit ihm allein lassen sollen, Miss McCrory.« Sheriff Smith lief den Gang entlang auf sie zu. »Lassen Sie sie los, habe ich gesagt.« Während der Sheriff nach seinem Revolver suchte, ließ Chase sie los. Maddie drehte sich um und sah den Sheriff wütend an. »Er hat mir nichts getan, Sheriff. Wir haben uns nur unterhalten.« »Ich glaube Ihnen kein Wort. Ich weiß doch, was ich gesehen habe. Ich hätte sie gleich aus der Stadt jagen sollen, Cumberland, als Horace mich vor Ihnen gewarnt hat. Sie sind gerissen und gefährlich. Man kann Ihnen nicht vertrauen. Versuchen Sie nicht, ihn zu decken, Miss McCrory; er hat sie gepackt, als sie nicht hinsahen. Und dann hat er sie gegen Ihren Willen festgehalten.« »Sheriff, das ist doch lächerlich. Es ist nichts dergleichen geschehen.« »Buford! Holen Sie die Fußfesseln. Wir müssen den Gefangenen anketten, damit er nicht mehr durch die Gitterstäbe greifen kann. Alice soll im Vorzimmer bleiben, bis wir soweit sind.« »Sheriff Smith, Sie hören mir ja gar nicht zu. Sie ziehen schon wieder voreilige, törichte Schlüsse.« »Tut mir leid, Miss McCrory, Sie müssen jetzt gehen. Mehr Zeit kann ich Ihnen mit ihm nicht geben.« »Ich bin noch nicht fertig. Ich.« »Kommen Sie, Ma’am.« Moses packte sie am Ellbogen und zog sie den Gang entlang hinter sich her. Maddie hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, sich von Chase zu verabschieden. Sie versuchte stehenzubleiben, aber Moses hielt sie fest. Fast hätte sie ihm eine Szene gemacht. Sie erhaschte einen letzten Anblick von Chase, der aussah, als wolle er Sheriff Smith dafür umbringen, daß er Maddie angefaßt hatte. Sie wußte, daß ihr nur ein kurzer Augenblick blieb und bedeutete ihm stumm: Ich liebe dich. Dann wurde sie auch schon in das Vorzimmer gefegt, wo sie fast mit Alice Neff zusammengestoßen wäre, die mit einem Becken dampfenden
Wassers und ein paar Handtüchern auf dem Arm dastand. Während Buford mit ein Paar schweren, eisernen Fußfesseln an ihnen vorbeihastete, schüttelte Alice Neff den Kopf. »Maddie, Liebes, alles in Ordnung? Dieser Mörder hat dir doch hoffentlich nichts getan?« Alice war zierlich und trug ein blau-weiß kariertes Kleid und einen Strohhut. Sie hatte dünnes, graublondes Haar und eine sehr direkte, lebhafte Art, die Maddie normalerweise sehr mochte. Aber heute gelang es ihr kaum, höflich zu Alice zu sein. Dank Moses war Alice anscheinend bereits von Chases Schuld überzeugt. Oder vielleicht war das auch Horaces Verdienst. der gerne Lügen und Anschuldigungen verbreitete. »Chase Cumberland ist weder ein Mörder noch ein Wahnsinniger, Alice. Sie sollten nicht alles glauben, was Moses Ihnen erzählt.« »O nein, Liebes… Moses hat ein gutes Herz, er ist halt ein wenig stürmisch, also glaube ich eh nur die Hälfte von dem, was er sagt.« Alice beugte sich ein wenig vor und flüsterte: »Ist Mr. Cumberland so blutrünstig, wie behauptet wird?« Sie erinnerte Maddie an einen neugierigen, kleinen Spatz. »Wenn er das ist, warum hat Moses Sie dann mit ihm allein gelassen? Gnade mir Gott, ich erzitterte bei dem Gedanken, daß wir hier in Hopewell einen richtigen Mörder unter uns haben. Wenn das so weitergeht, wird es hier bald so schlimm wie in Dodge City.« »Haben Sie mir denn nicht zugehört, Alice? Ich sagte eben, Mr. Cumberland ist weder ein Mörder noch ein Wahnsinniger.« »Oh, mich brauchen Sie nicht zu überzeugen, Liebes. Ich habe Sie klar und deutlich verstanden. Ich persönlich bin der Meinung, daß ein Mann so lange unschuldig ist, bis man das Gegenteil beweist. Leider stehen dort draußen eine Menge Menschen, die behaupten, er sei ein blutrünstiger Mörder.« »Wie können die Leute es wagen, ohne Gerichtsverhandlung ein Urteil über ihn zu fällen? Sie haben ihn noch gar nicht angehört – und Pawnee Mary auch nicht.« »Aber Pawnee Mary ist eine beschmutzte Taube, Liebes. Zumindest habe ich das gehört. Wenn das wahr ist, dann haben diese Männer nur gekauft, was sie ohnehin zum Verkauf anbietet. Dafür haben sie aber nicht den Tod
verdient.« »Das waren Kopfgeldjäger, Alice. Die waren selbst keine unschuldigen Männer.« »Vielleicht haben Sie recht, aber ich finde nicht, daß man sie deswegen mit der Axt zerhacken durfte. Sie sollen ganz fürchterlich zugerichtet worden sein. Wer auch immer das getan hat, muß bestraft werden, das ist klar.« »Alice, ich kann Ihnen jetzt nicht die ganze Geschichte erzählen, aber ich versichere Ihnen: Chase Cumberland ist unschuldig. Im Augenblick muß ich versuchen, einen Zeugen zu finden, der das beweisen kann.« »Ach Herrje! Einen Zeugen, sagen Sie?« »Ja. Lassen Sie nicht zu, daß sie ihn hängen, bis ich zurück bin, Alice. Wehren Sie sich gegen Moses und bestehen Sie darauf, daß Chase Cumberland ein faires Verfahren bekommt.« »Oh, das werde ich, Liebes. Ich hoffte, sie würden ihn heute nachmittag vor Gericht bringen. Aber Moses meint, die Verhandlung könne erst morgen nachmittag oder übermorgen früh stattfinden. Das Urteil soll dann sofort vollstreckt werden. Je länger sie warten, desto aufgebrachter werden die Leute. Sie sollten die Menge dort draußen einmal hören; sie wird jeden Augenblick lauter und größer. Die wollten mich mit dem Wasser gar nicht durchlassen. Sie finden, daß der Gefangene so bleiben soll, das Blut sei ein Beweis dafür, daß er der Mörder sei.« Maddie dachte an die verdammten Flecken auf Chases Kleidung und Stiefeln. Egal, was vor Gericht gesagt würde, es hätte weniger Wirkung als diese gräßlichen Indizien. »Er braucht frische Sachen zum Anziehen, wenn die Verhandlung auch nur im geringsten fair sein soll, Alice. Aber ich habe keine Zeit, welche für ihn zu besorgen. Könnten Sie mir diesen Gefallen tun?« »Warum nicht? Ich denke schon, daß ich das kann. Von meinem Mann habe ich immer noch eine ganze Truhe voller Sachen – ich konnte mich nie davon trennen. Ich kann Ihnen natürlich nicht versprechen, daß sie passen.« »Das ist nicht wichtig. Wenn Sie sich nur darum kümmern könnten, daß Mr. Cumberland halbwegs ordentlich aussieht, wäre das schon eine sehr
große Hilfe.« »Ich freue mich immer, wenn ich helfen kann, Maddie, aber ich fürchte, Moses wird diese Einmischung nicht gefallen.« »Es ist doch sicher wichtiger, das Leben eines Unschuldigen zu retten, als es Moses recht zu machen.« »Natürlich, Liebes. Sie haben recht. Außerdem bin ich immer noch dabei, mir eine Meinung über Moses zu bilden. Es gibt nicht viele Männer, die einer alten Witwe wie mir einen Heiratsantrag machen würden, also neige ich wohl irgendwie dazu, ihm seine… Fehler nachzusehen. Natürlich nur, solange er mich nicht herumkommandiert.« »Ich wünsche Ihnen alles Glück dieser Welt, Alice – ob nun mit oder ohne Moses. Nur bitte, helfen Sie mir jetzt. Ich kann außer Ihnen niemanden darum bitten.« »Dann beeilen Sie sich jetzt, Liebes. Tun Sie, was immer Sie tun müssen. Ich werde mich hier um alles kümmern. Ich sollte mich lieber beeilen und dem Gefangenen – Ihrem Mr. Cumberland – das Wasser bringen, bevor es kalt wird.« »Vielen Dank, Alice. Vielen herzlichen Dank.« Maddie eilte zur Eingangstür des Gefängnisses und war von dem Gedanken an ›ihren Mr. Cumberland‹ ganz beflügelt. Er war wirklich der ihre, und sie würde alles tun, was in ihrer Macht stand, um ihn zu retten. Beim Anblick der bösen Gesichter, die sie dort draußen erwarteten, war Maddies Zuversicht im Nu verflogen. Das waren ihre Freunde, ihre Nachbarn, aber sie sahen nicht im geringsten freundlich aus. »Was haben Sie da drinnen gemacht, Maddie?« wollte Mrs. Grover wissen. »Haben Sie gesehen, wie Cumberland von oben bis unten voller Blut war?« höhnte Jake Bussel. »Das beweist, daß er sie umgebracht hat, wenn Sie mich fragen. Echt schade, ich mochte den Kerl eigentlich ganz gerne.« Amos Pardy, Silas Grover und Jefferson Potts stellten sich wie eine Wand vor sie. Mr. Potts drückte die Brust heraus und hängte seine Daumen in die Hosenträger, als ob er ihr eine wichtige Mitteilung machen müßte. »Wenn wir mit ihm fertig sind, wird der Schurke Sie bei keinem Pferderennen mehr
schlagen, Miss McCrory. Tatsache ist, daß er am Samstag nicht am Rennen teilnehmen wird. Darum kümmern sich die Jungs und ich.« »Bitte überstürzen Sie nichts, tun Sie nichts Unüberlegtes, Mr. Potts«, flehte Maddie ihn an. »Ich bitte Sie alle: Gehen Sie nach Hause und lassen Sie den Gefangenen in Ruhe. Wir kennen noch nicht die ganze Wahrheit über diese schrecklichen Morde. Verurteilen Sie diesen Mann nicht, bis wir alles wissen.« »Wovon reden Sie, Miss McCrory?« fragte Hiram Garret und blies ihr seinen übelriechenden Atem ins Gesicht. »Was brauchen wir denn sonst noch zu wissen? Der Mann wurde auf frischer Tat ertappt, seine Hände waren rot vor Blut. Horace Brownley sagt, daß er schuldig ist. Horace Brownley wußte das schon lange, bevor wir es kapiert haben.« »Lassen Sie mich bitte durch.« Maddie bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge. »Bleiben Sie nicht für die Verhandlung und die Hinrichtung?« Das war wieder Mrs. Grover, aber Maddie blieb nicht stehen. »Es wird keine Hinrichtung geben«, rief sie und ging rasch weiter.
NEUNZEHN Auf dem Weg nach Hause überlegte Maddie sich einen Plan. Sie mußte Mary und Bück finden. Ohne deren Aus sage würde es unmöglich sein zu erfahren, was in der Hütte geschehen war. Ohne sie würde es ihr niemals gelingen, Chases Unschuld zu beweisen. Sie brauchte unbedingt einen Zeugen, der vor Gericht aussagen würde, und trotz ihres Rufes war es das beste, wenn Mary diese Zeugin war. Bück konnte ja nicht sprechen – und außerdem wurde er in Texas wegen Mordes gesucht. Deswegen mußte er sich weiterhin verstecken. Er sollte vielleicht sogar ganz aus der Gegend fliehen. Wenn sie keinen von beiden finden würde, hatte Chase kaum eine Chance, dem Strang zu entgehen. Maddie zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß die Leute aus der
Stadt ihn lieber schuldig sprachen, als die Geschichte über seinen Bruder zu glauben. Und solange Chase darauf bestand, die Morde begangen zu haben, mußten sie nur ent scheiden, ob er es aus Notwehr getan hatte oder nicht. Maddie befürchtete, daß ihre Nachbarn in dieser Frage ebenso skeptisch waren wie der Sheriff. Sie wollten von einem Fremden in ihrer Mitte einfach nur das Schlimmste annehmen, den sie obendrein für einen Wahnsinnigen hielten. Es war sogar möglich, daß ein Lynchmob in das Gefängnis einbrach und Chase hängte, bevor sie ihm überhaupt helfen konnte. Die tapfere, kleine Alice war ihre einzige Hoffnung. Sie war der einzige Mensch, der das verhindern konnte. Weil Moses ihr den Hof machte, war es sogar möglich, daß er auf sie hörte – wenn sie sich tatsächlich für Chase einsetzte, wie Maddie hoffte. Und wenn Horace Brownley Moses nicht dazu überredete, Chase den Hitzköpfen des Ortes zu überlassen. Als Maddie nach Hause kam, schwirrten die vielen, beängstigenden Gedanken nur so durch ihren Kopf. Die Sonne war bereits untergegangen; in einer Stunde würde es dunkel sein und damit noch schwerer, wenn nicht unmöglich werden, die Suche nach Bück und Mary zu beginnen. Maddie gefiel diese Verspätung überhaupt nicht, aber sie sah ein, daß sie bis zum nächsten Morgen warten mußte. Als sie bei der Scheune vom Pferd stieg, begegnete ihr Little Mike. Ein kurzer Blick in sein Gesicht verriet Maddie, daß ihr Bruder wütend war. »Wo warst du, Maddie? Gold Deck sieht ja völlig erschöpft aus. Wie soll er es schaffen, morgen den ganzen Weg nach Abilene zu reiten und dann auch noch für das Rennen am Samstag in Form sein? Ich hatte ihn heute morgen ganz schön hart rangenommen, da hätte er sich den Rest den Tages ausruhen sollen.« »Mike, hör auf, mir Vorhaltungen zu machen. Hat Zoe dir denn nichts erzählt?« Maddie führte den Hengst in den Stall, und Little Mike stampfte wütend hinter ihr her. »Nein. Was ist denn? Ich war so wütend, daß du mit Gold Deck fortgaloppiert bist, daß ich gar nicht ins Haus bin und den ganzen Tag auf der Jagd war. Ich bin gerade erst zurückgekommen und habe noch keinen Menschen gesehen – weder Zoe noch Carrie oder Pa.«
Während Maddie dem müden Pferd das Zaumzeug abnahm und es fest abrieb, erzählte sie Mike von dem Doppelmord. Gott sei Dank war er der gleichen Meinung wie sie. »Chase würde so etwas niemals tun, Maddie, das kann ich mir nicht vorstellen. Besonders solch schreckliche Dinge, nie würde er einem Mann was abschneiden.« »Ich weiß«, seufzte Maddie und fütterte den Hengst. »Ich bin ganz deiner Meinung. Aber wenn ich Mary nicht finde, damit sie vor Gericht aussagt, steht zu befürchten, daß sie ihn hängen.« »Teufel noch mal, Maddie, das kannst du wirklich nicht zulassen.« »Nein, das kann ich nicht. Und ich werde es nicht zulassen. Nicht, wenn ich etwas dagegen unternehmen kann. Gleich morgen früh werde ich aufbrechen und Mary und Bück suchen. Du wirst dich dann hier um alles kümmern müssen.« Sie gingen aus dem Stall und machten sich auf den Weg ins Haus. Es war bereits dunkel, aber Maddie konnte sehen, wie besorgt Little Mike war. »Aber… aber was wird aus dem Rennen? Es scheint in einem solchen Augenblick nicht wichtig, aber was sollen wir machen?« »Ich bin heute abend zu müde, um über das Rennen nachzudenken. Ich denke jedoch, wir müssen unsere Teilnahme absagen.« »Maddie, das geht nicht! Wir müssen diesem Menschen viel Geld zahlen. Wie heißt er noch…?« »Lazarus Gratiot.« »Dem müssen wir die Hälfte des Einsatzes zahlen. Soviel Bargeld besitzen wir ja gar nicht.« Wieder seufzte Maddie. »Nein, soviel haben wir nicht. Wir werden alles verlieren – die Farm, die Pferde, das Haus… einfach alles. Sie werden uns alles abnehmen, um die Schulden zu decken. Uns wird fast nichts übrig bleiben.« Am Fuß der Eingangstreppe blieb sie stehen. »Ich möchte uns nicht ins Unglück stürizen. Ich habe lange darum gekämpft, dies zu verhindern. Aber jetzt muß ich Chase helfen. Sein Leben steht auf den Spiel. Das geht jetzt vor.« »Aber ich könnte mit dem Wagen fahren und die Mädchen, Pa und Gold Deck nach Abilene mitnehmen. Wir könnten es auch ohne dich schaffen,
Maddie.« »Mike, du bist erst vierzehn. Ich weiß, daß du dich für einen Mann hältst – das bist du ja auch fast schon. Aber der Weg nach Abilene ist weit. Die Reise ist beschwerlich, und es gibt so vieles, worum du dich kümmern müßtest. Die Verantwortung ist einfach zu groß für dich.« »Ich kann es schaffen. Ich werde damit genausogut fertig wie du und besser, als Pa es jemals getan hat. Außerdem bin ich fast fünfzehn.« »Aber Pa wird dir keine große Hilfe sein und die Mädchen auch nicht. Wenn du Probleme mit dem Wagen oder den Pferden bekommst, wird niemand dir helfen können. Oh, Mike, bist du dir sicher? Hast du denn schon alles vorbereitet?« Betreten schüttelte Mike den Kopf. »Nein, aber ich bleibe die ganze Nacht auf und erledige das. Ich werde die Radachsen schmieren, das Sattelzeug ölen und Gold Deck putzen, bis er glänzt…« Maddie wußte, daß es keine andere Lösung gab, und lenkte ein. »Die Mädchen müssen genug Proviant für mehrere Tage vorbereiten. Sie haben bestimmt noch nichts getan und gewartet, daß ich nach Hause komme. Auch sie werden die halbe Nacht beschäftigt sein.« »Mach dir keine Sorgen, Maddie. Du mußt dich um gar nichts kümmern. Überlaß das alles mir, Carrie und Zoe.« Little Mike blickte sie so ernst an, daß sie es nicht übers Herz brachte, ihn daran zu erinnern, daß man sich in der Vergangenheit nicht immer auf ihn, Carrie und Zoe hatte verlassen können. Es war ja schon mit den ganz alltäglichen Aufgaben schwierig genug, und hier ging es um etwas ganz und gar, Außergewöhnliches. »Ich habe keine andere Wahl, als es euch dreien zu überlassen. Du bist unsere einzige Hoffnung, die fünftausend Dollar zu gewinnen.« Maddie und Little Mike gingen ins Haus, wo sich die Mädchen auf Maddie stürzten und sie baten, ihnen alles zu erzählen. Sie erklärte ihnen die ganze Situation und auch, was sie morgen früh tun müsse. Die Mädchen waren einverstanden, die Verantwortung für das Rennen mit Little Mike zu teilen. Wie Maddie befürchtet hatte, war noch nichts für die Reise vorbereitet Ihre ganze Familie hatte darauf gewartet, daß sie die Aufgaben verteilte. Nur Pa nicht.
Pa war bereits zu Bett gegangen, und Maddie wußte, daß er sich gar nicht daran erinnern konnte, daß sie zum Rennen nach Abilene mußten. Es war ihm auch völlig egal. Würde es ihren Geschwistern gelingen, ihn davon abzuhalten, durch die Saloons dieser wilden, gesetzlosen Stadt zu ziehen? Wenn er sich auf eine Sauftour begab, mußten sie eben sehen, wie sie damit am besten fertig wurden. In dieser Nacht bekam dann auch nur Pa als einziger genug Schlaf. Etwa drei Stunden vor Sonnenaufgang dachte Maddie daran aufzugeben und ihren Geschwistern zu sagen, sie sollten zu Bett gehen. Aber wenn sie die Abreise um einen Tag verschoben, würde sich Gold Deck vor dem Rennen nicht ausreichend von der Reise erholen können. Aber die Verspätung war nicht zu verhindern. Sie brauchten bestimmt noch einen Tag, um alles vorzubereiten. »Bist du fertig im Stall?« fragte Maddie, als Mike ins Haus kam, um etwas zu holen. »Fast«, antwortete er stolz. »Eine Stunde nach Sonnenaufgang sollten wir abfahrbereit sein.« Erleichtert atmete Maddie auf; so weit, so gut. »Ich bin froh, daß wir hier drinnen fast fertig sind«, brummelte Carrie. »Wenn ich nicht bald ins Bett komme, dann fliege ich auf dem Weg nach Abilene bestimmt vom Wagen, weil mir dauernd die Augen zufallen.« »Wir alle brauchen Schlaf«, pflichtete Maddie ihr bei. Aber da kam ihr ein verwirrender Gedanke: Wer würde sich um die restlichen Pferde, um die Kühe, die Hühner und die Katze kümmern, während sie fort waren? Während der Rennen, die nicht in Hopewell stattfanden, hatte sich seit Mamas Tod immer Pawnee Mary um alles gekümmert – aber auf Marys Hilfe konnten sie dieses Mal nicht zählen. Maddie dachte darüber nach und fand nur eine mögliche Lösung. »Carrie und Zoe, ich habe es mir anders überlegt. Eine von euch beiden muß hierbleiben und sich um alles kümmern, während Mike mit der anderen zum Rennen fährt. Pa sollte auch hierbleiben. In Abilene würdet ihr mit ihm ohnehin nur Schwierigkeitenbekommen.« »Oh, Maddie!« riefen die beiden Mädchen.
»Ich möchte aber zum Pferderennen«, bettelte Zoe. »Ich auch«, rief Carrie und zog eine Schnute. Dann dachte sie einen Augenblick nach und fügte hinzu: »Nun, eigentlich hätte ich nichts dagegen hierzubleiben, wenn ich in die Stadt darf und du mir erlaubst, Mr. Cumberlands Gerichtsverhandlung anzusehen.« »Das ist nicht gerecht«, warf Zoe sofort ein. »Ich möchte auch die Verhandlung sehen. Warum bleiben wir nicht beide hier, und Mike fährt allein nach Abilene?« »Keine von euch wird zu diesem gräßlichen Verfahren gehen«, gab Maddie ihnen streng zu verstehen. »Es reicht, wenn ich die Familie vertrete. Mädchen, holt den Besen. Wir losen aus, wer hier bleibt und wer Little Mike begleitet. Wir können ihn doch nicht allein lassen. Er braucht jemand, der ihm hilft.« Zähneknirschend gehorchten die Mädchen. Mit zwei Strohhalmen losten sie aus. Carrie würde Mike nach Abilene begleiten, und Zoe würde zu Hause bleiben. Trotzdem war es Maddie nicht recht, daß die beiden Kinder so lange allein unterwegs sein würden. Sie erinnerte sich an mehrere Reisen, bei denen Pa mit unvorhersehbaren Widrigkeiten hatte kämpfen müssen – ein über die Ufer getretener Fluß, der überquert werden mußte, ein plötzlicher Hagelsturm, sogar ein Wirbelsturm und eine überraschende Begegnung mit einer Büffelherde. Jetzt gab es zwar fast keine Büffel mehr, aber dafür grasten jetzt rie sige Rinderherden in der Prärie. Wenn sie in eine Rinderherde geraten sollten, war es möglich, daß die Tiere in Panik ausbrachen, die Pferde verletzten und den Wagen umstürzten. Zu dieser Jahreszeit war es durchaus möglich, daß sie einer großen Herde mit mehreren tausend Rindern begegneten. Wie konnte sie einem vierzehnjährigen Jungen und einem dreizehnjährigen Mädchen erlauben, eine so gefährliche Reise zu unternehmen? Als ob er ihre Gedanken erraten hätte, sagte Little Mike: »Male dir nicht immer gleich das Schlimmste aus, Maddie. Zoe und ich schaffen das schon. Bei Sonnenaufgang machen wir uns auf den Weg, und bei Sonnenuntergang werden wir in Abilene ankommen. Wenn es Schwierigkeiten gibt, kampieren wir einfach und fahren am nächsten Morgen weiter.« »Hoffentlich geschieht kein Unglück.«
»Uns wird schon nichts passieren«, erwiderte ihr Bruder mit der Unbekümmertheit der Jugend. »Das hoffe ich.« Maddie drehte sich weg, um ihre Angst zu verbergen. »Beeilt euch. Laßt uns hier fertig werden, damit wir alle wenigstens ein paar Stunden Schlaf bekommen. Ich muß los, sobald es hell wird.« »Wo willst du denn nach Mary und dem Bruder von Mr. Cumberland suchen?« fragte Zoe. Das war eine gute Frage. Maddie hatte keinen blassen Schimmer. »Ich warte auf einen Einfall«, gab sie zu. »Die ganze Nacht denke ich schon darüber nach. Ich werde wohl bei Marys Haus anfangen.« »Du willst alleine dorthin?« Carrie hatte die Frage gestellt, aber Zoe und Mike sahen genauso entsetzt aus. »Ich glaube, sie haben die Leichen inzwischen weggebracht«, erklärte Maddie trocken. »Aber Maddie«, rief Zoe. »Dort ist es bestimmt sehr unheimlich.« Maddie zuckte die Achseln. »Das kann ich nicht ändern. Ich weiß nicht, wo ich sonst mit der Suche beginnen soll. Ich muß dorthin, um nach Hinweisen zu suchen, die mir vielleicht verraten, wohin Bück und Mary geflüchtet sein könnten.« »Du bist sehr mutig«, flüsterte Carrie. »Ich würde es nicht wagen, auch nur in die Nähe eines Ortes zu gehen, an dem vor kurzem zwei Menschen ermordet wurden.« »Es ist seltsam, aber ich fühle mich nicht mutig, nur verzweifelt. Und jetzt laßt uns endlich unsere Vorbereitungen beenden.« Bald danach waren sie fertig und legten sich für ein paar Stunden ins Bett. Es schien, als sei Maddie gerade erst eingeschlafen, als Little Mike sie wach rüttelte. »Maddie, Maddie! Wach auf. Mit Gold Deck stimmt etwas nicht. Ich bin raus in den Stall, um ihn zu füttern. Er schwitzt, stampft wie wild mit den Hufen und verdreht ständig den Kopf, als wollte er sich in die Flanken beißen.« Maddie sprang aus dem Bett. Einen Augenblick lang konnte sie nicht klar denken. »Wie spät ist es?«
»Es dämmert schon.« »Verdammt. Ich komme gleich raus. Laß mich nur schnell etwas anziehen.« Während sie sich die Kleider überwarf, die sie gestern nacht bereitgelegt hatte, suchte Maddie verzweifelt nach einer Krankheit, die ein Pferd ohne Vorwarnung bekommen konnte. Little Mike ging in den Stall zurück, kam aber nur wenige Augenblicke später zurück. »Maddie, er wälzt sich im Stroh hin und her! Ich schaffe es nicht, ihn wieder aufzurichten.« Jetzt war Maddie klar, was geschehen war. »Hört sich nach einer Kolik an.« Sie riß die Tür auf und folgte ihrem Bruder hinaus. Das reine Entsetzen war in seinen Augen zu lesen. »Was sollen wir bloß tun, Maddie? Ich mußte noch nie ein Pferd mit einer Kolik behandeln, und ich weiß nicht mehr, was Pa in solchen Fällen früher gemacht hat.« Sie hatten .schon lange kein Pferd mehr wegen einer Kolik behandeln müssen, und auch Maddie wußte nicht genau, was man dagegen tun konnte. Vage erinnerte sie sich daran, wie ihr Vater einen besonderen Brei für eine Stute zubereitet hatte, die damals einen Fohlen bekommen sollte. Stundenlang hatte er das Pferd umhergeführt, ihr den Bauch massiert und sie am Hinlegen gehindert… Aber das hatte nicht gereicht. Die Stute hatte vorzeitig Wehen bekommen und ein Fohlen zur Welt gebracht, das nach wenigen Minuten starb. Die ganze Nacht hatte sich die Stute vor Schmerzen gewälzt. Als abzusehen war, daß die Stute es nicht schaffen würde, schickte Pa Maddie aus dem Stall. Sie suchte Zuflucht in Ma’s Armen, als sie den Schuß hörte, der die Leiden der Stute beendete. Noch viele Tage später war sie untröstlich und weinte bitterlich. Der Name der Stute war Daisy gewesen, und Maddie hatte darauf bestanden, das kleine, leblose Fohlen Daisys Darling zu nennen. Etwa hundert Meter vom Stall entfernt wurden sie zusammen begraben. Maddie erzitterte, als sie an das tragische Ende der Stute dachte, und überlegte, welche Folgen die Kolik für Gold Deck haben mochte. Bedeute-
te dies das Ende ihres wunderschönen Hengstes? War er schon sein letztes Rennen gelaufen? Sie eilte hinaus in den Stall zu Little Mike und sah, daß Gold Deck wieder auf den Hufen stand. Aber er ließ den Kopf hängen und sah einfach elend aus. Man konnte den Schmerz in seinen warmen braunen Augen sehen, die Maddie sonst immer so wach, lebhaft und stolz anblickten, als ob Gold Deck seinen Wert kannte und sich darüber freute. Er hatte das Futter nicht angerührt, das er sonst morgens immer mit großer Freude fraß. Maddie kam in seine Box und strich sanft über seine feuchten, glänzenden Flanken. Little Mike hat den Hengst wirklich wunderbar herausgeputzt. Es schien verrückt, daß so ein gesund aus sehendes Tier krank sein konnte. Sie kniete sich hin und legte ein Ohr an den Bauch des Pferdes. Bei normaler Verdauung machten die Gedärme eines Pferdes laute, gurgelnde Geräusche. Das hatte Pa ihr beigebracht. Wenn kein Geräusch zu hören war, bedeutete dies, daß das Pferd krank war. Gold Decks Bauch hörte sich verdächtig ruhig an. »Mike, hast du ihm gestern abend oder heute morgen irgend etwas Ungewöhnliches zu fressen gegeben?« Mike schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Ich bin doch nicht blöd, Maddie. Wenn ich seine Ernährung umstellen wollte, würde ich es doch nicht jetzt vor dem großen Rennen tun.« Maddie untersuchte das Heu, das zu den Hufen des Hengstes lag. Es stammte von dem Land, das Chase hatte kaufen wollen. Es schien völlig in Ordnung – genauso wie die Maiskörner in seiner Krippe. Pa hatte sie oft ermahnt, wie wichtig es sei, daß die Körner auf keinen Fall schimmlig waren. »Verschimmeltes Futter kann ein Pferd schneller krank machen als alles andere«, harte er ihr oft gesagt. Sie konnte sich nicht vorstellen, was schiefgelaufen sein konnte – bis sie ein Stück Maiskolben im Stroh liegen sah. »Was macht dieser Maiskolben hier?« »Welcher Maiskolben?« Mike sah ihn und nahm ihn in die Hand. Während er ihn betrachtete, schien ihm ein Licht aufzugehen. »Ich habe Gold Deck gestern mit trockenen Maiskolben abgerieben, damit er schön glänzt.
Du glaubst doch nicht etwa…« Er blickte in die benachbarte Box, wo ein leerer Eimer auf einer alten Kiste stand. »O nein!« »Was?« fragte Maddie. »Hier stand ein Eimer voller alter, ausgelöster Maiskolben. Jetzt sind sie alle weg. Gold Deck muß sich über die Trennwand gebeugt und sie heute nacht gefressen haben.« Maddie kämpfte gegen das Verlangen, ihren Bruder anzuschreien und für seine Dummheit und Nachlässigkeit zu schimpfen. Sein Gesichtsausdruck half ihr, sich zusammenzureißen. Er wußte, was er getan hatte, und haßte sich dafür selbst schon genug. »Ich habe ihn so gut wie umgebracht, Maddie! Er wird sterben, nicht wahr?« »Ich weiß es nicht, Mike. Leg ihm das Halfter an, führ ihn hinaus und gehe mit ihm umher. Was auch immer geschieht, halte ihn in Bewegung. Laß nicht zu, daß er sich hinlegt und herumrollt. Versuche das um jeden Preis zu verhindern.« »Wohin gehst du? Laß mich nicht mit ihm allein, Maddie. Ich. ich bin ja so ein verdammter Idiot. Du kannst mir nicht vertrauen.« »Natürlich kann ich das. Du hast einen Fehler gemacht, das ist alles. Ich werde Pa holen. Er ist der einzige, der Gold Deck jetzt retten kann. Ich hole Pa, und dann gehe ich. Ich muß schließlich Pawnee Mary und den Bruder von Chase finden.« Tränen glänzten in den Augen ihres Bruders, aber er nickte und legte Gold Deck das Halfter an. Maddie rannte aus dem Stall, hastete die Stufen hinauf und eilte ins Haus. Sie verschwendete keine Zeit damit, an der Tür zum Zimmer ihres Vaters anzuklopfen. Sie öffnete die Tür und versuchte, ihren Vater wach zu rütteln. Er öffnete ein Auge und blickte sie überrascht an. »Maddie? Was ist los? Du siehst aus, als hättest du gerade einen Grashüpfer verschluckt.« »Es geht nicht um mich, Pa. Es geht um Gold Deck. Er hat eine Kolik, zumindest glaube ich das. Er hat einen Eimer voll alter Maiskolben gefres-
sen. Pa, ich brauche deine Hilfe, um ihn zu retten.« »Maiskolben, was? Warum hast du ihn damit gefüttert? Ein wenig Mais ist ja nicht schlecht, aber gleich die ganzen Kolben.« »Wir haben das nicht mit Absicht getan, Pa. Es war ein Versehen. Aber jetzt ist er krank, und ich muß fort. Littfe Mike weiß nicht, was er tun soll… Steh auf, Pa. Du mußt uns helfen.« Ihr Vater setzte sich auf und hielt sich mit einer Hand den Kopf. »Ich. ich weiß nicht, ob ich das kann, Maddie. Mir ist so… schwindelig. Ich weiß nicht, ob ich mich überhaupt an irgend etwas erinnern kann.« »Du mußt dich erinnern. Komm schon, Pa, ich werde dir helfen, dich anzuziehen.« Nach einer Weile, als er schon halb angezogen war, setzte sich ihr Vater auf den Bettrand. »Hör auf, mich zu hetzen, Maddie. Meine alten Knochen können einfach nicht schneller. Und denken kann ich auch noch nicht. Wenn ich natürlich ‘nen kleinen Schluck bekäme… weiß du. nur einen klitzekleinen, dann ginge es mir gleich besser. Dann könnte ich mich vielleicht dran erinnern, was man bei einer Kolik machen muß.« Maddie faßte ihn bei den Schultern und sagte laut und deutlich: »Es gibt keinen Whiskey in diesem Haus, Pa. Weit und breit gibt es keinen. Vergiß das Trinken, und tu einmal etwas für deine Familie. Wir brauchen dich, Pa. Gold Deck braucht deine Hilfe. Wenn du ihm nicht hilfst, wird er sterben. Und wenn er stirbt, weil du dich nicht zusammenreißen kannst, dann werde ich dir das niemals verzeihen. Ich werde dieses Haus verlassen, ohne mich umzublicken. Dann sehen wir uns nie mehr wieder.« »Maddie, mein Liebes… Was sagst du da? Warum redest du so mit deinem alten Vater, der dich doch so liebt?« Zum ersten Mal seit vielen Tagen – seit Wochen, ja vielleicht seit Monaten – schenkte er Maddie seine ganze Aufmerksamkeit. Endlich hörte er ihr zu. »Pa, du bist ein schwacher, alter Mann geworden, der von seinen Kindern abhängig ist. Ein hilfloser Alkoholiker. Seit Ma gestorben ist, hast du aufgehört zu leben – zu kämpfen, uns zu helfen. Ich kann nicht mehr untätig zusehen, wie du langsam vor dich hinstirbst. Ich möchte endlich in
vollen Zügen leben, darum geht es doch. Man muß kämpfen und sein Bestes geben. Man muß jeden Tag ausschöpfen. Du darfst nicht einfach so… aufgeben. Du mußt weiterkämpfen, jeden Tag, solange du lebst…« »Ich versuche es, Maddie.« Erstaunt und verletzt blickte er sie an. Einen Augenblick lang schämte Maddie sich, ihm diese Dinge gesagt zu haben. Doch dann wurde ihr bewußt, daß er es schon wieder tat – er wollte, daß sie sich für seine Fehler schuldig fühlte. »Nein, Pa«, verbesserte sie ihn sanft. »Du versuchst gar nichts. Du versuchst nur zu flüchten, indem du trinkst, schläfst, schmollst… Aber wir brauchen dich trotzdem. Wir brauchen deine Hilfe, hier und jetzt. Little Mike steht dort draußen und wartet auf dich. Er führt Gold Deck herum und weiß einfach nicht, was er noch für ihn tun soll. Du mußt hinausgehen und ihm helfen. Sei sein Lehrer. Benimm dich wie sein Vater. Ich kann das nicht tun, Pa. Dafür bist du verantwortlich, nicht ich. Ich muß mich um so viele andere Dinge kümmern.« Maddie beugte sich herab und küßte ihren Vater auf die unrasierte Wange. »Ich liebe dich, Pa, aber ich muß jetzt gehen. Was auch immer geschieht, es hängt jetzt von dir ab.« »Maddie…«, sagte er zögernd, aber sie wirbelte bereits herum und lief aus dem Zimmer. »Maddie!« hörte sie ihn rufen, ohne weiter darauf zu achten. Chase brauchte sie jetzt. Vielleicht war es nicht richtig, was sie da tat, aber sie hatte keine andere Wahl. Ihre Familie würde eben lernen müssen, ohne sie auszukommen. Zoe begegnete ihr im Flur, als sie gerade aus dem Haus stürmen wollte. Das Mädchen stand im Nachthemd vor ihr und hatte die Kaffeekanne in der Hand. »Maddie? Ich wollte dir einen Kaffee machen, bevor du gehst. Einen guten, starken Kaffee, der dich wach halten wird.« »Danke, liebe Zoe, aber ich habe keine Zeit. Mach welchen für die anderen. Pa kann gewiß einen gebrauchen.« »Pa? Schläft der denn nicht?« »Nein, er zieht sich gerade an. Gold Deck hat eine Kolik, und Pa wird ihm helfen, wieder gesund zu werden.«
»Pa?« fragte Zoe ungläubig. »Ja, Pa. Du kümmerst dich um das Haus, Zoe. Ich komme so schnell zurück, wie es geht.«
ZWANZIG Als Maddie bei Pawnee Marys Haus anlangte, blies ein starker Wind, der die Sträucher der Wildpflaumen entlang des Flusses zu Boden drückte. Trotz der wild wachsenden Pflanzen und der wuchernden Weinreben erkannte sie diesen Ort wieder. Vor vielen Jahren, als Maddie noch ein Kind war, hatte sie oft die Familie besucht, die das kleine Haus einst gebaut hatte. Die Coys hatten einen Tochter, die Emily hieß und etwa so alt war wie Maddie. Zusammen pflückten die beiden Mädchen Pflaumen und Beeren, aus denen ihre Mütter Marmelade und Gelee kochten. Seit die Coys fortgegangen waren, hatte Maddie den Ort gemieden, weil die verlassene Hütte ein Sinnbild für die gescheiterten Träume und Hoffnungen dieser Familie waren. Nach einer Reihe von Unglücksfällen und dem Tod eines Kindes, das an Cholera starb, gaben die Coys auf und zogen an einen anderen Ort – zurück nach Osten, glaubte Maddie. Hier hat Pawnee Mary also die ganze Zeit über gelebt, dachte Maddie und saß von ihrem Pferd ab. Der Wind machte ein unheimliches, pfeifendes Geräusch, und plötzlich hatte Maddie Angst, in der Hütte nach Hinweisen zu suchen. Sie band das Pferd an einem Pflaumenbusch in einiger Entfernung fest und ging zögernd auf das alte Haus zu. Dunkle Flecken bedeckten den Bereich unter dem Vordach und die Stufen, die zum Eingang hinaufführten. Die Tür war mit Brettern zugenagelt, die es unmöglich machten, die Hütte zu betreten. Folglich blieb ihr nichts anderes übrig, als die äußere Umgebung zu erforschen. Das beruhigte sie ein wenig. Maddie untersuchte alles sehr sorgfältig. Sie sah, daß an einigen Stellen das Gras niedergetrampelt und viele Hufabdrücke in der weichen Erde waren. Unweit des Hauses fand sie weitere Blutspuren; wenn die Männer im Haus gestorben waren, wie alle behaupteten, warum war dann hier draußen so viel Blut…? Warum führte eine Blutspur vom Haus weg!
Maddie folgte der Spur und entdeckte, daß sie entlang des Flusses verlief. Unter einem Pflaumenbusch fand sie einen großen, rötlich-braunen Fleck. Er sah so aus, als habe jemand dort gelegen, um sich auszuruhen und sich dann weiterzuschleppen. Am Flußufer fand sie verschiedene Fußabdrücke, von denen einige zum Haus und andere vom Haus weg führten. und dann sah sie einen einzelnen Mokassin. Sie nahm ihn in die Hand und erkannte das Perlenmuster auf dem Schuh; er gehörte eindeutig Mary. Die Erde in diesem Bereich war voller Fußabdrücke, und etwas weiter weg fand sie ein paar Kleidungstücke. Anscheinend war Mary zum Fluß gegangen, um ein Bad zu nehmen, und war dann überrascht worden – von wem? Von den Kopfgeldjägern? Maddie versuchte zu rekonstruieren, was wohl geschehen sein mochte. Doch dann wurde ihr klar, daß sie damit nur ihre Zeit verschwendete. Weder Bück noch Mary waren hier, und sie war ihrem Ziel, sie zu finden, kein Stückchen näher gekommen. Sie drehte um und ging zum Haus zurück. Sie ging langsam und untersuchte weiterhin das blutbefleckte Gras. Wer auch immer die Männer umge- bracht hatte, mußte selbst schwer verwundet worden sein. Auf ihrer Flucht harten diese Personen eine deutliche Spur hinterlassen; wenn sie wissen wollte, was aus ihnen geworden war, brauchte sie nur dieser Spur zu folgen. Das tat sie auch, aber nach etwa zehn Minuten verschwand die Spur. Entmutigt fragte Maddie sich, wohin Bück und Mary wohl gegangen sein mochten, besonders, wenn einer von ihnen schwer verletzt war. Sofort wußte sie die Antwort – sie würden bei Chase Zuflucht suchen! Sie brauchten Lebensmittel, Geld und schnelle Pferde zum Fliehen. Es bestand kein Zweifel, sie würden Chase um Hilfe bitten. Maddie holte ihr Pferd, stieg auf und ritt zu Chases Farm, die gar nicht so weit von der Hütte und dem Fluß entfernt war, als sie zunächst angenommen hatte. Sie näherte sich dem Haus, als sie einen weiteren großen Blutfleck auf dem Boden sah. Dort hatte jemand offensichtlich haltgemacht, um sich auszuruhen. Jetzt kehrte auch ihre Angst zurück. Sie blickte sich um. Eine Gruppe von Pferden graste friedlich in einem Korral, und Bonnie Lass fraß geschäftig einen Haufen Heu, den ihr jemand hingelegt hatte. Die Wassertröge waren randvoll. Maddie schimpfte mit sich, daß sie nicht ein einziges
Mal daran gedacht hatte, Chases Tiere zu versorgen, aber jemand anderes hatte es bereits getan. Sie saß ab und band ihr Pferd am Pfosten vor dem Haus fest. Dann stieg sie die Stufen zur Eingangstür hinauf. Sie klopfte an. Als niemand öffnete, ging sie hinein und rief leise. »Mary? Bist du hier?« Innerhalb weniger Augenblicke wußte Maddie, daß niemand im Haus war. Sie ging hinaus und widmete ihre Aufmerksamkeit den Wirtschaftsgebäuden. Sie erinnerte sich an den Tag, als ihr Bück im Stall begegnet war, und so ging sie schnell auf die Scheune zu aus Angst, sie könnte es sich anders überlegen. Sie betrat die Scheune. Es war stockdunkel. Der Wind pfiff durch das alte Gebäude und ächzte in den Balken. Sie hielt den Atem an und ging langsam den Hauptgang entlang. Hinter ihr knarzte etwas. Sie wirbelte herum und erwartete, von Angesicht zu Angesicht mit Chases Bruder zu stehen. Aber wer dort stand und sie beobachtete, war Pawnee Mary. Aber das war nicht die sanfte, heitere Frau, die Maddie kannte. Mary hielt angriffsbereit eine Mistgabel in Händen, und ihr Gesichtsausdruck war so stolz und streng, daß Maddie dachte, sie sei von allen guten Geistern verlassen. »Mary?« rief sie zögernd. »Ich bin’s nur – und ich bin alleine hier.« Pawnee Mary ließ langsam die Mistgabel sinken. Sie seufzte und schien ein wenig zu schwanken. Maddie reichte ihr die Hand, um sie zu stützen. Sie sah die verschmutzten, blutbefleckten Kleider und das schweißnasse Gesicht der Frau. Mary trug einen Rock, dessen Saum zerrissen war, und ein Oberteil mit Lederfransen, das schon bessere Tage gesehen hatte. Sie war barfuß, und ihr Haar, das normalerweise ordentlich gekämmt und geflochten war, hing wie eine wilde Mähne über ihre Schultern. Sie sah aus wie eine Frau, die einen Krieg überlebt hatte – und sich dabei ernsthafte Verletzungen zugezogen hatte. Ein merkwürdiger Gedanke ging Maddie durch den Kopf; hatte Mary vielleicht die beiden Kopfgeldjäger umgebracht? »Mary, was ist geschehen? Ich habe dich und Bück überall gesucht. Ist er hier?« Maddie drehte sich ein wenig und versuchte, sich in der dunklen Scheune umzusehen. Aber die Indianerin stellte sich ihr rasch in den Weg, als wolle
sie verhindern, daß Maddie das Gebäude durchsuchte. Maddie legte die Hand auf den Arm ihrer Freundin. »Mary, ich bin gekommen, um dir zu helfen. Willst du mir nicht erzählen, was geschehen ist? Ich muß es unbedingt wissen.« »Zwei Männer«, sagte Mary schließlich. »Mich suchen. Ich schwimmen in Fluß, mich finden. Schleppen mich in Haus. Werfen mich auf Bett. Dann Silberhaar kommen.« »Silberhaar? Meinst du Bück?« Mary nickte, und plötzlich füllten sich ihre dunklen Augen mit Tränen. »Männer schlagen mein Bauch. Ich verlieren Baby.« Schützend legte sie die Hand auf ihren Bauch. »Silberhaar noch nicht einmal wissen, Baby in mir wachsen. Aber er sehr böse auf weiße Männer, die mir weh tun. Er tapferer Krieger. Kämpfen mit Axt von Feuerholz. Männer wehren sich. Ziehen Messer und Pistole. Schießen auf Silberhaar.« »O nein! Ist er schwer verletzt? Haben sie ihn getötet?« »Noch nicht tot, aber Schuß in Bauch. Als ich sehen, er verwundet, ich denken, er tot. Und ich – wie sagen du -durchdrehea.« Mary deutete auf ihren Kopf. »Wie Rinder, wenn schlechtes Kraut gefressen und Menschen angreifen. Ich nehmen Axt. Nehmen Messer. Sie bestrafen für schlechte Dinge. Ich töten Männer, weil sie Baby und Silberhaar töten. Ich sie fast skalpieren. Aber dann ich sehen, Silberhaar noch leben. Ich aufhören.« Maddie sah die schrecklichen Ereignisse geradezu bildhaft vor sich. »Was geschah dann?« »Silberhaar viel bluten. Ich viel bluten. Boden voller Blut. Ich versuchen, Blut zu stoppen und Silberhaar aus Haus schleppen, bevor Weiße kommen. Wir verstecken bei Fluß, dann wollen Sohn des Wolfes suchen. Wir warten. Silberhaar viel leiden, aber Sohn des Wolfes nicht kommen. Ich wollen Silberhaar weit weg von hier bringen, aber er zu schwach für Reise. Muß ausruhen. Muß gesund werden. Wieder stark werden. Dann ich ihn mitnehmen. Meine Leute finden. Wenn er leben, ich ihm neues, besseres Leben geben.« »Oh, Mary! Laß mich zu ihm. Ich muß euch beiden erzählen, was ge-
schehen ist.« Maddie versuchte, die Frau sanft beiseite zu schieben, aber Pawnee Mary ließ sie nicht durch. »Nein. Besser du nicht sehen. Dann du nicht müssen lügen, wenn Weiße nach Silberhaar fragen.« Mary runzelte die Stirn und preßte die Lippen fest aufeinander. »Du gute Frau. Immer Wahrheit sagen. Andere wissen, wenn du lügen.« »Mary, hör mich an. Die Männer, die du umgebracht hast, waren Kopfgeldjäger. Sie kamen nach Kansas, um Bück – Silberhaar – zu finden und ihn nach Texas zu bringen, wo er wegen Mordes gesucht wird. Der Sheriff kam hierher, um Chase zu verhören. Sie hatten Steckbriefe mitgebracht. Chase ritt zu deinem Haus, um seinen Bruder zu warnen. Er fand die Kopfgeldjäger in ihrem Blut. Während er dort war, kam der Sheriff mit seinem Suchtrupp. Chase versteckte sich in einem Schrank, aber sie fingen ihn, als er versuchte, zu fliehen. Alle denken, er sei der Mörder, und sie wollen ihn so bald wie möglich hängen. Du mußt mit mir in die Stadt zurückkommen und ihnen erzählen, was wirklich passiert ist.« Marys Züge wurden hart. Jeglicher Anflug von Wärme wich plötzlich aus ihren Augen. »Nein. Männer mich und Silberhaar hängen. Ich weiße Männer töten. Silberhaar helfen. Er anders aussehen. Anders handeln. Nicht sprechen können, nicht erklären können. Deshalb sie ihn hassen. Er weiße Männer aus Texas nicht mit Absicht töten. Es war Unfall. Aber niemand zuhören. Niemand wissen wollen. Wenn wir ergeben uns, sie uns dann hängen und lachen dabei.« »Aber sie werden Chase hängen, wenn du nicht die Wahrheit sagst! Ich werde bei dir sein, Mary. Ich werde sie zwingen, dir zuzuhören. Manche werden dir vielleicht nicht glauben, aber die meisten Menschen in Hopewell sind anständig und gerecht. Sie werden dich nicht verurteilen, weil du dich gewehrt hast. Du hast ja nur dich und Bück verteidigt… Hör zu, Bück braucht nicht mitzukommen. Er kann hierbleiben. Wir werden uns weigern zu verraten, wo er ist. Aber
wenn du nicht damit einverstanden bist, vor Gericht auszusagen, wird Chase ganz sicher gehängt werden.« Mary runzelte noch immer die Stirn und senkte den Blick. Sie schien unentschlossen. »Wir haben keine andere Wahl«, fügte Maddie hinzu. »Was für ein Leben werdet du und Bück führen, wenn Chase für ein Verbrechen gehängt wird, das er nicht begangen hat? Wie werdet ihr euch fühlen, wenn er für euch die Schuld auf sich genommen hat?… Übrigens, ich denke, daß du wissen solltest, daß Chase zugegeben hat, die beiden Männer umgebracht zu haben. Er tut sein Bestes, um Bück zu beschützen. Er hat behauptet, es sei Notwehr gewesen, aber keiner glaubt ihm. Im Gegensatz zu dir und Bück ist er nicht verletzt, er kann also nicht beweisen, daß die Männer ihn angegriffen haben. Im Augenblick wollen die braven Bürger von Hopewell noch nicht einmal auf den Bezirksrichter warten, damit dieser das Verfahren leitet. Horace Brownley wird den Richter spielen, und er hat guten Grund, Chase zu hassen. Du kannst nicht nein sagen, Mary… das geht nicht. Es wäre nicht recht, und du würdest es dir selbst nie verzeihen.« Mary hob den Kopf. Feuer leuchtete in ihren dunklen Augen. »Ich sollen Weißen vergeben, was sie Indianern oder Silberhaar angetan?« »Das ist eine berechtigte Frage, wenn man bedenkt, was sie den Indianern und Chases Bruder angetan haben, aber ich kann sie dir nicht beantworten. Bitte, Mary… Begleite mich nach Hopewell; ohne dich hat Chase keine Chance.« Mary zögerte immer noch. Ihr Gesicht war ausdruckslos, aber der Kampf in ihrem Innern spiegelte sich in ihren Augen wider. Schließlich seufzte sie. »Gut, ich kommen. Zuerst ich sagen Silberhaar. Ich tun das für ihn. Ich ihn gut kennen. Er nicht wollen, daß sein Bruder sterben.« Mary drehte sich um und ging leise in die hintere Ecke der Scheune. Maddie folgte ihr. Chases Bruder lag auf ein paar Strohballen in einer leeren Pferdebox. Er bewegte sich, als die beiden näher kamen, und hob zitternd eine Hand. Die große Indianerin sank neben ihm auf die Knie, nahm seine Hand und drückte sie wortlos an ihre Wange. Sie blickten
einander in die Augen. In der Ruhe dieses Augenblicks voller Zärtlichkeit hatte Maddie Gelegenheit, Bück anzusehen. Was sie sah, ließ sie innerlich zusammenfahren. Sein eingefallenes Gesicht war fast so weiß wie sein Haar, und seine Züge verrieten, wie erschöpft und wie leidend er war. Er hatte kein Hemd an und war unterhalb des Brustkorbs mehrfach verbunden. Der Verband war blutgetränkt, aber das Blut sah nicht frisch aus. Es gab also Grund zu hoffen, daß er sich wieder erholen würde. Seine Arme und sein Oberkörper waren mit frisch genähten Schnitten übersät, und ein durchdringender Geruch ging von dem Verband aus, der seine linke Schulter bedeckte. Diese anderen Wunden schienen kleiner und nicht lebensbedrohlich zu sein. Die Wunde in seinem Bauch war es, die Maddie am meisten Sorgen bereiteten. »Silberhaar«, flüsterte Pawnee Mary. »Ich müssen dich für kurze Zeit allein lassen. Bis ich zurückkommen, du müssen schlafen und wieder stark werden.« Bück schüttelte den Kopf. Mit Handzeichen verständigte er sich mit Mary, und Maddie wartete mehr oder weniger geduldig auf eine Erklärung. »Nein, Silberhaar!« rief Mary. »Du zu schwach. Lieber hier bleiben.« Es folgten weitere Gesten. »Was sagt er?« fragte Maddie. »Er uns hören. Er wissen, was geschehen. Auch in die Stadt wollen.« »Mary, das geht nicht. Ich wünschte, es wäre möglich. Aber jetzt, da ich ihn gesehen habe, bezweifle ich, daß er stark genug ist, den Transport zu überleben. Außerdem würde ihn der Sheriff wahrscheinlich wegen des Mordes in Texas verhaften.« »Bleiben hier, Silberhaar. Ausruhen«, bat Mary. Aber Bück versuchte sich aufzusetzen und biß die Zähne zusammen, weil ihm die Bewegung große Schmerzen bereitete. Mary hob den Kopf und blickte Maddie an. »Er sich weigern zu bleiben. Sagen, er gehen. Nicht Bruder für ihn hängen lassen.« »Aber…« Maddie wollte ihr widersprechen, aber Mary bestand darauf. »Kein Sinn zu streiten. Silberhaar ohnehin auf Tod warten. Aber er Unrecht haben. Gehen oder
bleiben, ich ihn nicht sterben lassen.« »Wenn wir ihn in die Stadt mitnehmen, können wir wenigstens in Salina oder Lincoln einen Arzt für ihn holen«, erklärte Maddie, die ihre Meinung ebenfalls geändert hatte. Zu ihrer Überraschung reagierte Mary wütend auf ihren Vorschlag. »Nein! Weiße Medizinmänner Silberhaar nicht berühren dürfen. Sonst er sicher sterben. Ich einzige, die ihn retten können. Ich alte indianische Medizin benutzen.« »Er darf doch sicher ein wenig Laudanum gegen die Schmerzen bekommen«, warf Maddie ein. Pawnee Marys Blick verengte sich. »Laudanum. Ich haben davon gehört. Vielleicht ein paar Tropfen – aber sonst nichts. Indianische Medizin besser. Ich nicht vertrauen weiße Medizin.« Maddie dachte über den Transport nach. Bück konnte auf keinen Fall reiten. »Wir müssen ihn auf Chases Pritschenwagen in die Stadt bringen. Wir können Decken, Quilts und Kissen aus dem Haus holen, damit er ein bequemes Lager hat.« »Gute Idee«, stimmte Mary ihr zu. Sie machten sich an die Arbeit. Nur die Auswahl des Pferdes, das den Wagen ziehen sollte, war ein Problem. Maddie führte ihr eigenes Pferd in den Stall und brachte ihm Heu und Wasser. Es war nicht zum Wagenziehen dressiert. Aber das erste Pferd, das sie aus dem Korral führte, weigerte sich, still zu stehen und sich ein Halfter anlegen zu lassen. Das zweite schlug aus, als sie es anschirrte. »Mary, frage Bück, welches Pferd zum Fahren geeignet ist. Wenn wir so weitermachen, brauchen wir den ganzen Tag, um eines auszusuchen, und verletzen uns dabei womöglich noch.« Mary ging in den Stall zu Bück und kam wenige Augenblicke später zurück. »Er sagen, kleine braune Stute mit weißen Socken nehmen. Stute fast alles ziehen.« Maddie holte das angegebene Pferd aus dem Korral, schirrte es ohne Probleme an und half Mary, Bück auf den Wagen zu legen. Mary setzte sich neben Bück und bettete seinen Kopf auf ihren Schoß, während Maddie sich auf den Kutschbock setzte. Sie nahm die Zügel und trieb die kleine
Stute an. Gehorsam trabte die kleine Braune los, und schon ging es Richtung Stadt. Die Sonne brannte, aber der anhaltende Wind verhinderte, daß es allzu unangenehm wurde. Maddie versuchte den Schlaglöchern auszuweichen, so gut es ging. Wenn sie aus Versehen in eines hineingeriet, knirschte Bück vor Schmerzen mit den Zähnen und klammerte sich verzweifelt an den Seitenborden des Wagens fest. Seine außergewöhnliche Tapferkeit angesichts solcher Schmerzen rührte Maddie zutiefst. Sie bemühte sich, vor Mary nicht in Tränen auszubrechen, da diese ihre eigenen Gefühle ebenso stark unterdrückte, wie Bück es versuchte. Auf halbem Weg in die Stadt machte Maddie in der Ferne einen leichten Einspänner aus. Es war einer von der Sorte, die man in der Stadt für kurze Fahrten mieten konnte. Der junge Mann auf dem Kutschbock kam ihr irgendwie bekannt vor, aber erst, als er fast auf gleicher Höhe mit ihnen war, erkannt Maddie den Jungen. Es war Peter Johnson, der Laufbursche aus der Bank. Einer von Horaces Angestellten, der mit Elwood zusammenarbeitete. Normalerweise fegte Peter nur den Boden und erledigte kleine Botengänge. Sobald er Maddie sah, riß Peter an den Zügeln, als ob das friedliche, alte Pferd, das seinen Einspänner zog, ein temperamentvoller Hengst wäre, der ihm gerade durchgehen wollte. »Miss McCrory!« rief er. »Ich wollte gerade zu Ihnen. Ich habe wichtige Unterlagen für Sie.« »Unterlagen?« Maddie konnte sich nicht vorstellen, worum es ging. »Ich habe keine Zeit, mir irgendwelche Papiere anzusehen. Was ist los in der Stadt? Weißt du etwas?« »In der Stadt?« Peter blickte unter der Hutkrempe hervor, die er tief ins Gesicht gezogen hatte, um sich vor der Sonne zu schützen. »Haben sie mit dem Verfahren gegen Mr. Cumberland begonnen?« In diesem Augenblick sah Peter, daß Pawnee Mary auf der Ladefläche des Pritschenwagens saß. Er riß die Augen auf und blickte sie an, als befürchte er, daß sie ihn jeden Augenblick anfallen würde. »Die GGerichtsverhandlung wird heute nachmittag stattfinden. Ich. ich hoffe, rechtzeitig zur Hinrichtung zurück in der Stadt zu sein.« »Es wird keine Hinrichtung geben«, belehrte Maddie ihn trocken. »Es tut mir bid, Peter, aber ich habe keine Zeit zu verlieren. Ich muß weiter.«
»Aber Miss McCrory – warten Sie! Mr. Brownley hat mir aufgetragen, Ihnen diese Papiere auszuhändigen. Er – Mr. Brownley – verlangt die sofortige Rückzahlung des p-per-sönlichen Darlehens, das er Ihnen gewährt hat, und die Bank fordert die überfälligen Hy- Hypothekenrückzahlun- gen plus Zinsen. Sie haben drei Tage, um Ihre gesamten Schulden zu begleichen. Ansonsten wird die Bank eine Zwangsvollstreckung beantragen und Ihren gesamten Besitz inklusive Land, Pferden und Möbeln bbeschlagnah-men und… und…« Das Stottern des Jungen verriet, wie sehr er sich vor Mary fürchtete, aber auch wie unangenehm es ihm war, solche Nachrichten überbringen zu müssen. Wirklich schade, daß er die Drecksarbeit für Horace tun mußte. Normalerweise war das Elwoods Aufgabe. Aber Elwood, dieser mausgraue, kleine Angestellte, hatte an diesem Tag wichtigere Dinge zu tun. »Danke für die Nachricht, Peter.« Sie nahm die Peitsche, die zu ihren Füßen lag, und trieb die kleine Braune an, die sofort in einen raschen Trab verfiel. Maddie hatte genug gehört; sie wußte bereits, was Horace Brownley tun würde, wenn sie ihm das Geld, das sie ihm schuldete, nicht innerhalb von drei Tagen zurückzahlte. Ihre Familie würde völlig mittellos sein und ohne ein Dach über dem Kopf dastehen. Da sie nicht umdrehen und nach Hause fahren konnte, weigerte Maddie sich, darüber nachzudenken. Gold Decks Gesundheit und die Frage, ob er an dem Rennen in Abilene teilnehmen konnte oder nicht, lag nicht in ihren Händen. So Gott wollte, hatte ihr Vater sich zusammengerissen und den Hengst erfolgreich von seiner Kolik kuriert. Irgendwie würden sie es schaffen, an dem Rennen teilzunehmen und zu gewinnen. Sie betete schlicht, daß sie rechtzeitig in Hopewell ankommen würde, um zu verhindern, daß Chase gehängt wurde. Allein daraufkam es an. Den Rest des Weges fuhr Maddie in einem halsbrecherischen Tempo. Als sie auf die Hauptstraße einbog, war deutlich zu erkennen, daß die Verhandlung bereits begonnen hatte. Weder auf der Promenade noch in den Geschäften und kleinen Läden war auch nur eine einzige Menschenseele zu sehen. Aber dafür drängte sich eine Menschenmenge vor dem Saloon, und viele Leute hatten Kisten herangeschleppt, um einen Blick in das Gebäude erhäschen zu können. Pferde, Kutschen und Einspänner säumten
die Straße zu beiden Seiten. Man hätte meinen können, daß es heute ein Pferderennen geben würde. Anscheinend waren Leute von weit hergereist, um bei dem Verfahren dabeizusein. Maddie hätte sich denken können, daß die Verhandlung im Ruby Garter abgehalten werden würde; in Hopewell gab es noch kein Gericht, und der Saloon war das größte Gebäude in der Gemeinde. Ganz in der Nähe stand die große Eiche, das Wahrzeichen der Stadt. Während Maddie den Blick über die Blätter gleiten ließ, gefror ihr plötzlich das Blut in den Adern. Über einen der kräftigsten Äste hatte jemand bereits einen dicken Strick geworfen, an dessen Ende eine Schlinge baumelte. Die braven Bürger von Hopewell und Umgebung waren sich des Urteils so sicher, daß sie bereits alles für die Hinrichtung vorbereitet hatten. Wenn Maddie sich recht erinnerte, hatte es in Hopewell bisher nur eine Hinrichtung gegeben. Damals war sie noch ein kleines Kind gewesen und Little Mike ein Säugling. Pa war mit der ganzen Familie in die Stadt gefahren, um sie sich anzusehen. Er hielt es für seine Bürgerpflicht, die Gesetzeshüter seiner Stadt durch seine Anwesenheit zu unterstützen. Noch Wochen später verfolgten Maddie die Bilder des zuckenden Körpers. In ihren Alpträumen sah sie, wie der Mann am Strick baumelte. Deshalb war sie fest entschlossen zu verhindern, daß ihre jüngeren Geschwister einem so brutalen Ereignis zusahen. Wenn sie jetzt an den Mann dachte, den die Leute hängen wollten, begann ihr Herz zu rasen, und ihre Hände wurden feucht. In ihren Ohren rauschte es, und ihre Knie wurde weich. Sie stellte sich vor, wie Chase sich fühlen mußte – er war von allen Seiten von Leuten umringt, die ihn hängen sehen wollten. Da gewann sie neuen Mut, und noch dazu spürte sie ganz stark, wie sehr sie ihn liebte und bewunderte. Es raubte ihr den Atem. Nach Hopewell verirrte sich nur ab und zu ein Wanderprediger, aber plötzlich erinnerte Maddie sich ganz genau an eine Predigt, die sie eines Sommers hören durfte: Kein Mann empfindet mehr Liebe als derjenige, der bereit ist, sein Leben für seinen Bruder zu opfern. Chase war bereit, für seinen Bruder Bück zu sterben, und diese Tatsache bündelte alle Gefühle, die Maddie für ihn empfand. Sie war sich jetzt ganz sicher. Wie wäre es auch möglich gewesen, Chase nicht zu lieben?
Keiner seiner Fehler zählte auch nur im geringsten, wenn man sie gegen seinen guten Kern aufwog. Maddie wußte, daß sie ihn über alles liebte. Sie war verzweifelt und befand sich in einem Zustand, den sie niemals für möglich gehalten hatte. Und wenn sie ein Gewehr brauch- te, um gegen die ganze Stadt zu kämpfen, sie würde nicht zulassen, daß er starb. Sie fuhr die Gasse neben dem Saloon hinab und wandte sich an Mary. »Warte hier, ich gehe hinein. Hab’ keine Angst. Wir gewinnen diesen Kampf.« Mary blickte sie zweifelnd an. Die Last der Verantwortung für sie alle wog schwer auf Maddies Schultern. Doch jetzt begrüßte sie dieses Gefühl. Ihr ganzes bisheriges Leben hatte nur dazu gedient, sie auf diesen entscheiden den Augenblick vorzubereiten. Sie hatte sich nie davor gedrückt, Verantwortung zu tragen, und jetzt wußte sie auch, warum das so war. Sie hatte für diese entscheidende Stunde geübt, in der alles, was sie liebte, was ihr etwas bedeutete, von ihrer Fähigkeit abhing, diese Last zu tragen und nicht unter ihr zusammenzubrechen. Maddie stieg vom Wagen herunter, drückte die Brust heraus und schob das Kinn vor. Entschlossen ging sie auf den Eingang des Saloons zu. Sie mußte sich einen Weg durch die Menge bahnen und trat dabei einigen auf die Füße, aber schließlich erreichte sie den Eingang des Gebäudes. Als sie drinnen war, genügte ihr ein Blick, um die Situation zu erfassen. Man hatte die Tische weggeräumt, in der Mitte einen Gang frei gelassen und rechts und links davon Stuhle für die Zuschauer aufgestellt. Jetzt lief sie schnurstracks diesen Gang entlang. Ob ihrer Unverschämtheit ging ein Raunen durch die Menge, aber Maddie achtete nicht auf die geflüsterten Bemerkungen. Ihr Ziel war eine Tischreihe, die man in der Nähe der Bar aufgestellt hatte. Dort saß Horace Brownley, eingerahmt von anderen führenden Bürgern der Stadt – Mr. Grover, dem Händler, Jake Bussel, dem Schmied, Bartholomew Parks, dem Grundbesitzer mit dem meisten Land in der Gegend, mehrere Stadtratsmitglieder und überraschenderweise auch Lily Tolliver. Sie sah sehr zufrieden darüber aus, dem Verfahren beizusitzen, das in ihrem Saloon stattfand. Moses Smith saß in der Nähe des Gefangenen. Chase selbst trug Fesseln an Händen und Füßen und war noch dazu an seinen Stuhl gefesselt. Maddie wurde wütend, als sie diese Demütigungen sah, aber sie versuchte sich auf
ihr Ziel zu konzentrieren und sich von nichts ablenken zu lassen. Mit gesenktem Kopf bat Horace Brownley um Ruhe. Er hatte sie noch nicht gesehen. Er blickte auf einen Stapel Unterlagen, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Wie üblich hatte er sich für seine Rolle als Autoritätsperson gekleidet und hob sich stark von den Menschen ab, die ihn umgaben. Nur Elwood, der etwas seitlich stand, trug einen ähnlichen Anzug wie sein Arbeitgeber. »Bürgermeister Brownley«, rief sie und blieb erst stehen, als sie vor ihm stand. »Wie können Sie es wagen, diesem Verfahren vorzusitzen, wenn Sie und der Angeklagte verfeindet sind? Ich habe es Ihnen bereits gesagt, dieser Fall muß vor den Bezirksrichter, und wenn Sie sich weigern ihn abzugeben, dann wird die Stadtratsversammlung darüber abstimmen.« Horace hob den Kopf und starrte Maddie mit hervorquellenden Augen an. »Wie können Sie es wagen, diese Verhandlung zu stören, Miss McCrory? Die Stadtratsversammlung hat bereits beschlossen, diese Verhandlung unter meinem Vorsitz abzuhalten. Wenn Sie dies bezweifeln, dann fragen Sie die Stadträte doch. Sie sind alle anwesend.« »Ach ja? Aber haben Sie ihnen denn erzählt, daß Sie und der Angeklagte verfeindet sind?« »Das ist nicht von Bedeutung. Sie wissen alle, daß ich ein gerechter Mann bin«, brüstete Horace sich schamlos. »Haben Sie denn nichts Besseres zu tun, als hier hereinzuplatzen und meine Integrität anzuzweifeln? Sie sollten sich lieber auf den Weg nach Abilene machen, wenn Sie über- morgen am Rennen teilnehmen wollen.« »Nichts könnte wichtiger sein, als das Leben eines unschuldigen Mannes zu retten«, erklärte Maddie. »Unschuldig, ha! Der Angeklagte hat seine Schuld bereits vor der ganzen Stadt zugegeben. Wir müssen jetzt nur noch entscheiden, ob er in Notwehr gehandelt hat oder nicht. Setzen Sie sich bitte, damit der Vertreter der Stadt mit seiner Rede fortfahren kann.« Jemand schob einen Stuhl in Maddies Richtung, aber sie achtete nicht darauf. »Bürgermeister Brownley…« Sie konnte sich nicht überwinden, Horace ›Euer Ehren‹ zu nennen, weil er für sie keinerlei Ehre besaß. »Dieses Verfahren ist eine Farce, und ich bestehe darauf, angehört zu werden, bevor Sie damit fortfahren.«
Wieder ging ein Raunen durch die Menge, und die Stimmen wehten wie ein Wind hinter Maddie durch den Raum. Horace schlug mit seinem Hämmerchen auf den Tisch und wurde ganz rot dabei. »Sheriff, entfernen Sie diese lästige Frau. Sie behindert das Verfahren und geht damit allen auf die Nerven.« Moses Smith stand schwerfällig von seinem Stuhl auf, aber Jake Bussel hob die Hand. »Warten Sie doch bitte mal ein Minütchen. Ich kenne Miss McCrory und ihre Familie wirklich gut, und das tun die meisten Leute hier im Saloon. Wenn sie was sagen möchte, dann hat sie auch das Recht, es zu tun, denke ich.« Zu Maddies großer Dankbarkeit stimmten mehrere Zuschauer ihm zu. »Laßt sie reden. Wir wollen hören, was sie zu sagen hat.« Horaces Gesicht schwoll an vor Wut, aber er nickte kurz. »Fassen Sie sich kurz, Miss McCrory. Sie verschwenden die wertvolle Zeit dieses Gerichts.« Maddie war sich nicht sicher, wo die Geschworenen saßen, aber sie drehte sich mechanisch um und blickte ihre Mitbürger an. Ohne deren Unterstützung würde sie nichts ausrichten können, das wußte sie. Aber noch bevor sie den Mund geöffnet hatte, sprach Chase plötzlich. »Maddie…«, sagte er mit leiser Stimme. Es schien, als drückte er ihr Herz ganz fest in seiner Hand. Maddie warf ihm einen Blick zu; fast hätte er sie ins Verderben gestürzt. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, sie und Chase befänden sich allein in diesem Raum. Niemand und nichts anderes waren von Bedeutung. Sein dunkles, müdes Gesicht und seine lebhaften, bernsteinfarbenen Augen sagten mehr aus, als bloße Worte es jemals tun konnten. In seinem Blick las sie inständiges Bitten und Liebe, die mit einer Entschlossenheit gepaart waren, die es mit der ihren hätte aufnehmen können. Mit einem einzigen kurzen Augenaufschlag war es ihm gelungen, ihr mitzuteilen, daß er sie liebte, ihre Beweggründe verstand, aber nicht wollte, daß sie ihn verteidigte. »Maddie, tu es nicht«, war alles, was er sagte. »Ich muß«, antwortete sie und blickte weg. Sie wandte sich wieder der wartenden Menge zu und begann ihre Sicht der Dinge darzulegen. »Es gibt sehr viele Dinge, die Sie noch nicht über Chase Cumberland, den Angeklagten, wissen. zunächst einmal, er hat einen Bruder.«
Sie brauchte nicht lange, um die ganze Situation zu erklären. Sie begann mit Bucks Tragödie und dem angeblichen Mord in Texas. Während Maddie sprach, herrschte angespannte Stille im Saal. Aller Augen waren auf sie gerichtet und keiner wagte zu atmen, geschweige denn, sich zu bewegen. »Chase und Bück Courtland kamen nachHopewell, um den Vorurteilen zu entfliehen, die ihnen überall begegneten, und ihren Traum Wirklichkeit werden zu lassen – sie wollten Quarter horses züchten und mit ihnen Rennen bestreiten. Wie Sie alle wissen, hat ihre Stute unseren Hengst im letzten Rennen geschlagen. Ihre Pferde sind feinster Abstammung. In einigen Jahren werden Chase und Bück erfolgreiche, herausragende Bürger dieser Gegend werden – Menschen, die wir schätzen und auf die wir stolz sein können.« »Außer daß einer oder beide einen Mord begangen haben«, warf Horace ein. »Sie verzerren die Tatsachen, Bürgermeister Brownley«, gab Maddie zurück. »Wie ich bereits sagte, nimmt Chase die Schuld für diese Morde auf sich, weil er seinen Bruder schützen will… seinen behinderten Bruder. Was in dem kleinen Haus am Fluß geschah, kann am besten von jemandem erklärt werden, der dabei war. Wir kennen sie alle, es ist Pawnee Mary. Sie und Bück sind aus freien Stücken hierhergekommen und warten draußen in einem Wagen. Sie sind bereit, den Hergang des Verbrechens aus ihrer Sicht zu schildern.« Der Menge stockte der Atem, als handelte es sich um eine einzige Person. Es wurden Ausrufe laut, und viele Menschen liefen hinaus. Horace schlug wieder mit dem Hämmerchen auf den Tisch. Als es endlich wieder ruhig wurde, deutete er mit dem Finger auf Maddie. »Sie erwarten, daß dieses Gericht der Aussage einer Rothaut Glauben schenkt, die noch dazu eine Hure ist?« »Sie ist tatsächlich eine Indianerin, aber daß sie eine Hure ist, muß noch bewiesen werden. Wie dem auch sei, sie ist ein Mensch, Horace, genau wie Sie und ich. Sie ist eine Frau, die von zwei rohen Männern auf ihr Bett gezerrt und vergewaltigt wurde. Weil sie so brutal behandelt wurde, verlor sie das Kind, das sie unter dem Herzen trug. Bück überraschte die Angreifer, bevor es zu spät war. Aber die Männer wehrten sich, zerschnitten ihm den Arm und schössen ihm in den Bauch. Mary erhob sich und kämpfte weiter. Zum Glück gewann sie – sonst wären die
zwei Leichen, die in der Hütte gefunden wurden, Mary und Bück… Aber warum erzähle ich Ihnen das alles, wenn Mary es genausogut tun kann?« »Wir haben sie!« rief ein Mann. »Wir haben die Indianerin. Ein paar Männer besorgen eine Trage, damit wir den weißhaarigen Kerl reinbringen können.« »Lassen Sie sie augenblicklich los!« rief Maddie, als mehrere Männer Mary in den Saloon schubsten. Widerwillig taten sie es. Marys Gesichtsausdruck versetzte Maddie einen Stich ins Herz. Sie sagte ihr damit: »ich habe es doch gewußte Aber dann verschwand der Blick, und ihr Gesicht glich einer steinernen Maske. »Brownley!« Hilflos rüttelte Chase an seinen Fesseln. »Wenn mein Bruder ernstlich verwundet ist, verlange ich, daß Sie in die nächste Stadt telegraphieren und einen Arzt kommen lassen, der ihn behandeln kann.« »Wir entscheiden, was getan wird, Cumberland«, erwiderte Horace gereizt. »Im Augenblick gefallen mir diese Störungen im Gerichtssaal überhaupt nicht… Komm her, Mädchen, und erzähl uns deine Geschichte.« Mit der Würde einer fremdländischen Prinzessin lief Mary langsam den Mittelgang hinunter. Sie blieb erst stehen, als sie Maddies Tisch erreicht hatte, und stellte sich neben sie. Maddie griff Marys Hand und drückte sie, um ihrer Freundin Mut zu machen. »Ich haben ihnen schon gesagt, was geschehen ist, Mary«, sagte sie leise. »Du brauchst meine Aussage nur zu bestätigen.« »Holt einen Stuhl für sie«, befahl Horace. »Elwood kann sie befragen, wie die anderen Zeugen auch. Miss McCrory, treten sie zurück. Sie haben gesagt, was sie sagen wollten. Jetzt ist sie an der Reihe.« Maddie wich zur Seite. Jemand brachte einen Schemel für Mary und stellte ihn neben Chase. Die ganze Zeit über blickte Mary keinen Menschen an. Sie setzte sich und schaute vor sich ins Leere. Elwood setzte sich seine Brille auf die spitze Nase und drückte Mary ein Buch in die Hand. »Wir sollten sie lieber vereidigen, Mr. Brownley, damit wir auch sicher sind, daß sie die Wahrheit sagt.« »Sie Dummkopf! Den Rothäuten ist die Bibel doch nicht heilig. Wir können nicht sicher sein, daß sie die Wahrheit sagt, es sei denn, wir halten ihr die Füße übers Feuer.«
Maddie drehte sich empört um. Sie funkelte Horace böse an, aber er schien sich nicht im geringsten für das zu schämen, was er gesagt hatte. »Ich meine ja nicht, daß wir ihr ein Leid zufügen sollten; trotzdem, jeder weiß, daß man den Indianern nicht trauen kann. Es sei denn, man foltert sie – und manchmal hilft noch nicht einmal das.« »Und woher wollen Sie das wissen, Horace?« fragte Maddie. »Würde mich nicht wundern, wenn er selbst schon einmal solche Folterungen vorgenommen hätte«, murmelte Chase. »Ruhe im Saal!« brüllte Horace und hämmerte auf den Tisch. »Elwood, beginnen Sie mit der Befragung.«
EINUNDZWANZIG »Haben Sie die beiden Männer umgebracht, Ma’am?« Das war Elwoods erste Frage. Marys Antwort war ein kurzes Nicken. »Haben Sie dann… hm… dem einen Opfer die… äh… männlichen Geschlechtsteile abgeschnitten?« Ein weiteres Nicken. »Ma’am, warum haben Sie das getan? Wenn der Kerl bereits tot war, warum mußten Sie ihn dann noch verstümmeln?« Maddie konnte erkennen, daß die Menge darauf brannte, die Antwort zu erfahren – besonders die Männer, die einen Großteil der Zuschauer ausmachten. Alle blickten finster drein, als hätte Mary sich des kaltblütigen Mordes schuldig gemacht. »Mann, den ich schneiden, mich zwingen, mit ihm zu paaren.« Feuer brannte in Marys Augen. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. »Als ich kämpfen, er mich schlagen hier. Baby töten, das in mir wachsen. Auch versuchen, Silberhaar zu töten.« »Wer, zum Teufel, ist Silberhaar?« fragte Elwood erstaunt. Maddie konnte den Mund nicht halten. »So nennt sie Bück Cumberland, ich meine Courtland, den Bruder von Chase.« Horace hämmerte auf den Tisch. »Lassen Sie die Zeugin gefälligst selbst antworten.«
»Silberhaar auf dem Boden liegen und viel bluten. Ich denken, er tot«, erklärte Mary tonlos. »Es ist recht, wenn ich Mörder entehren. Also ich sie schneiden. Sie auch skalpieren wollen.« Als sie das sagte, ging ein wütendes Raunen durch die Menge, dem Horace aber nicht Einhalt gebot. Mary mußte die Stimme erheben, damit man sie hörte. »Ich sie nicht skalpieren, weil Silberhaar sich bewegen und ich sehen, er leben. Also ich vergessen böse Männer und versuchen, ihn zu retten.« »Verstehe.« Elwood hielt inne. »Sie geben also zu, die beiden Männer zu Tode gehackt zu haben?« »Ich froh, daß ich sie töten«, antwortete Mary. »Wenn ich nicht sie töten, sie mich töten. Ich nie schaffen, wenn sie nicht denken, ich schwache Frau. Sie nicht mit Angriff rechnen. Wut mir Kraft geben.« »Scheint so, als würde hier der falsche Mann angeklagt, Herr Richter«, verkündete Elwood fröhlich. »Statt dieses weißen Mannes sollten wir die Rothaut hier des Mordes bezichtigen.« Er schaute in Chases Richtung, und die Menge jubelte ihm zu. »Befreit Cumberland. Die Rothaut war’s. Verdammt, sie gibt’s sogar zu.« Maddie verlor den Mut, als sie spürte, wie der alte Haß gegen die Indianer den Raum erfüllte. Im Kampf um das Land hatten die Menschen viele Verwandte verloren und haßten die Indianer immer noch dafür. Es war, wie sie befürchtet hatte: jetzt bestand die Gefahr, daß man Pawnee Mary für die angeblichen Morde hängte. »Wartet einen Augenblick!« rief Maddie. »Bitte wartet doch mal.« »Ruhe!« brüllte Horace. »Ich bitte um Ruhe!« Da ihr niemand zuhörte, kletterte Maddie auf den Stuhl, den man ihr vorhin gebracht hatte. »Bitte!« rief sie. »So hört mir doch zu. Ich habe euch noch mehr zu sagen.« Aber die Menge beruhigte sich erst wieder, als Moses seinen Revolver zog und einen Schuß in die Decke abfeuerte. Der Putz fiel von der Decke auf Chases Kopf, aber endlich gaben die Zuschauer wieder Ruhe. »Laßt Miss McCrory sprechen«, verlangte die kleine Alice Neff und bahnte sich einen Weg durch die Menge. »Sie hat die Squaw und den
armen Mann mitgebracht, den sie jetzt hereintragen. Wenn hier jemand weiß, was los ist, dann ist es Maddie. Moses, Bürgermeister Brownley, lassen Sie sie jetzt reden, oder ich werde mächtig böse. Ehrlich gesagt, wenn mir ein paar Männer an die Wäsche wollten und ich dabei mein Kind verlöre, würde ich nicht zögern, ihnen was abzuschneiden. Und ich glaube, viele andere Frauen denken genauso.« »Ja, gut gesprochen, Alice«, hörte man eine andere Frau rufen. »Laßt Maddie reden. Ich will wissen, was sie zu sagen hat.« »Gut!« brummte Horace. »Ich sehe schon, Sie haben sich gleich Unterstützung mitgebracht, Miss McCrory. Also gut, reden Sie. Aber dies ist das letzte Mal, daß ich eine Unterbrechung des Verfahrens dulde… Moses, ich ermächtige Sie hiermit, jeden zu erschießen, der das Verfahren stört.« Moses blies Rauch aus seinem Colt und legte ihn gut sichtbar vor sich auf den Tisch. Maddie sah, daß alle sie erwartungsvoll anstarrten, aber sie wartete, bis man Bück hereingetragen hatte. Man hatte ihn auf eine hölzerne Pritsche gelegt, und ein paar Männer stellten ihn jetzt neben ihr ab. Bück öffnete die Augen und blinzelte ein wenig, als versuchte er, etwas zu erkennen. Dann gab er auf und schloß wieder die Augen. Pawnee Mary stand sofort auf und kniete sich neben ihn auf den Boden. Sanft strich sie ihm über die Stirn und murmelte beruhigende Wort in ihrer Sprache, was nicht wenige Bemerkungen im Publikum hervorrief. Maddie wurde plötzlich nervös; es hing jetzt alles von ihrer Fähigkeit ab, die Menge für sich zu gewinnen. Sie sah Chase an und erhoffte sich von ihm einen ermutigenden Blick. Er nickte und lächelte unmerklich. Sie konnte ihn fast hören: Gib jetzt nicht auf. Du schaffst es, Maddie. Zeig’s ihnen. Die Nervosität verschwand, und an ihrer Statt spürte sie Kraft, die wie eine Quelle in ihr sprudelte. Unerschrocken wandte sie sich an ihre Freunde und Nachbarn. »Ladies und Gentlemen, verehrte Bürger von Hopewell. Wie viele von euch wissen, starb letztes Jahr meine Mutter. Meine Familie machte schwere Zeiten durch, und wir hatten… Schwierigkeiten. Es gab einen Menschen, der fest täglich bei uns war und mir geholfen hat. Das ist Pawnee Mary. Ich kenne sie inzwischen sehr gut.
Kein Mensch kann mir weismachen, daß sie eine kaltblütige Mörderin sein soll; sie hatte gute Gründe, diese Männer zu töten. Schmerz, Trauer und Verzweiflung haben sie dazu getrieben. Wenn sie mir angetan hätten, was sie Bück und Mary antaten, hätte ich mich auch gewehrt. Vielleicht hätte ich damit nicht soviel Erfolg gehabt wie sie, aber ich hätte mein Bestes gegeben, um sie aufzuhalten.« »Sie ist nur eine Rothaut und eine Hure noch dazu«, murmelte Horace. »Sie hat zwei weiße Männer getötet und verstümmelt. Das ist für mich Grund genug, sie zu hängen.« »Für Sie!« rief Maddie aufgebracht. »Und wer sind Sie denn überhaupt, Horace? Sie halten sich für einen besseren Menschen als die anderen Leute in dieser Stadt. Aber das sind Sie nicht. Sie sind genauso geldgierig, herzlos und verlogen wie die zwei Kopfgeldjäger. Die haben ihre überlegene Körperkraft gebraucht, um zu erreichen, was sie wollten. Sie mißbrauchen Ihre Machtposition, um Ihre Ziele zu erreichen. Offen gesagt, ich sehe kaum einen Unterschied zwischen Ihnen und den beiden.« »Das ist nicht wahr!« rief Horace. Seine fetten Wangen zitterten vor Wut. »Es ist wahr, und Sie wissen es!« Maddie wandte sich wieder an die Menge. »Wenn Mary eine… eine beschmutzte Taube ist, dann müssen viele der anwesenden Männer sie schon einmal für ihre Dienste bezahlt haben. Es gibt einen ganz einfachen Weg, dies herauszufinden. Meine Herren, wenn Sie – oder ein anderer Mann, den Sie persönlich kennen – Mary für Liebesdienste bezahlt haben, dann heben Sie die Hand und geben Sie es zu. Jetzt haben Sie die Gelegenheit, Mary für immer als Hure zu brandmarken.« »Jetzt hören Sie mal zu, Miss McCrory«, sagte Lily Tolliver plötzlich. »Nur weil ein Mädchen für seinen Lebensunterhalt arbeiten muß, ist es noch lange keine Mörderin. Ich kenne ein paar beschmutzte Tauben persönlich, und von denen hat keine je einen Mann umgebracht. Ich bin natürlich nicht sicher, ob ein Kerl, der nicht bezahlt, mit heiler Haut davon kommen würde.« Die Menge brach in schallendes Gelächter aus, so daß Maddie sie ein weiteres Mal herausforderte: »Will denn niemand zugeben, daß er Pawnee Mary für Liebesdienste
bezahlt hat?« Keiner meldete sich, aber einige schauten schuldbewußt aus der Wäsche, als habe diese Frage bei ihnen einen wunden Punkt getroffen. Maddie fragte sich, was wohl geschehen wäre, wenn sie Lily oder deren Mädchen in ihre Frage mit eingeschlossen hätte. »Dann nehme ich wohl an, wir können mit Sicherheit sagen, daß sie keine Hure ist. Dennoch ist sie Indianerin. Für ihre Abstammung kann sie nichts. Sollten wir sie trotzdem für die Sünden ihres Volkes bestrafen? Wenn das der Fall sein sollte, folgt daraus logischerweise, daß auch wir für die Dinge bestraft werden sollten, die wir den Indianern angetan haben.« Viele Zuschauer sahen nachdenklich aus und nickten. Horace stand auf. »Maddie McCrory, Sie verdrehen die Tatsachen. Vor diesem Gericht hat Gefühlsduselei keinen Platz. Diese… diese Frau hat die Kopfgeldjäger wahrscheinlich dazu angestiftet, sie anzugreifen. Als sie dann bekam, was sie verdiente, verwandelte sie sich in ein Tier, in eine typische Wilde. Wir können uns in dieser Stadt nicht sicher fühlen, wenn Kreaturen wie sie frei herumlaufen.« »Sie doppelzüngiger Lügner!« zischte Maddie. »Sie tun so, als wären sie ein Grundpfeiler dieser Gemeinde, aber…« »Ich bin ein Grundpfeiler dieser Gemeinde.« »Sie sind ein blutsaugender Parasit, das sind Sie. Immer fetter werden Sie und nutzen die Einwohner dieser Stadt bis aufs Blut aus.« »Nur weil Sie nicht in der Lage sind, Ihre Schulden zurückzuzahlen und mir persönlich eine große Summe schulden…« »Oh, hören Sie auf, Horace! Nur weil ich mich weigere, Sie zu heiraten, fordern Sie das gesamte Geld zurück, das ich Ihnen schulde, und drohen meine ganze Familie in die Prärie hinauszuschicken. Sie haben bewiesen, wer Sie sind, als Sie heute morgen Ihren Laufburschen zu mir schickten. Durch ihn ließen Sie mir mitteilen, daß ich drei Tage Zeit hätte, drei Tage, um das Geld zurückzuzahlen. Selbst wenn unser Hengst das Rennen in Abilene gewinnt, wird es schwierig werden, das Preisgeld zu kassieren und es Ihnen innerhalb von drei Tagen zurückzuzahlen.« »Ich werde für ihre Schulden aufkommen«, unterbrach sie Chase. »Sobald Sie mich freilassen, werde ich dafür sorgen, daß Sie Ihr verdammtes
Geld bekommen, Brownley, bis auf den letzten Cent. Wenn ich das Geld nicht auftreiben kann, können Sie meine Farm haben.« »Aber was er da mit Maddie macht, hat er auch mit mir getan!« rief Alice Neff und trat aus der Menge. »Mein Mann war noch nicht einmal unter der Erde, als Horace Brownley bei mir erschien und mir zwei Tage gab, unsere Schulden zu begleichen. Ich bat ihn um ein wenig Zeit, weil ich das Geld nicht so schnell auftreiben konnte. Da schickte er mir den Gerichtsvollzieher auf den Hals und nahm mir die Farm weg.« »Alice! Das hast du mir nie gesagt«, brummte Moses laut wie ein schlafender Bär, der plötzlich geweckt worden war. »Wegen Horace hast du also die Farm verloren und mußtest in die Stadt ziehen?« Alice Neff warf ihrem Verehrer einen angewiderten Blick zu. »Du hast mich nie gefragt, was passiert ist, Moses, aber jetzt weißt du Bescheid. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe mich immer gefragt, warum ausgerechnet Horace ein Freund von dir ist.« »Mr. Brownley hat das gleiche mit mir gemacht«, rief eine andere Frau aus der Menge. »Mir hat er gesagt, wenn ich nur ein wenig netter zu ihm wäre, dann würde mir auch die Bank mehr Zeit mit der Rückzahlung lassen« »Und was hast du da gemacht, Maud?« fragte jemand. »Na, ich habe die Büchse rausgeholt und ihm gesagt, daß ich ihm die Eier wegschieße, wenn er weiterhin seine Macht mißbraucht, um unter meinen Rock zu kommen.« »Das reicht!« Horace hämmerte auf den Tisch und wurde von Minute zu Minute röter. »Das hat überhaupt nichts mit diesem Fall zu tun.« »O doch!« wandte Maddie ein. »Ich glaube, es wurde gerade bewiesen, daß ein Mensch nicht immer der ist, der er zu sein scheint. Ja, Äußerlichkeiten können täuschen. Seit Jahren halten die Menschen in dieser Stadt Sie für einen anständigen Menschen, während sie von Pawnee Mary nur das Schlimmste befürchten. Dabei hätten sie genau das Gegenteil tun sollen. Bück Courtland, Chases Bruder, hatte unter den gleichen Vorurteilen zu leiden wie Mary. Wenn ein Mensch anders aussieht oder sich anders verhält als andere Menschen, wird er verwundbar und übervorteilt. Ich glaube, reiche Leute meinen, ihnen gehöre die Welt und daß sie uns antun
können, was sie wollen. Aber wir werden ihnen das Gegenteil beweisen, nicht wahr?« Maddie betrachtete die Gesichter der Zuschauer prüfend und sah, daß sie auf ihrer Seite standen. »Diese Kopfgeldjäger sind hergekommen, um Blutgeld zu verdienen. Das war ihr Recht. Aber für das, was sie Mary antaten, bekamen sie ihre gerechte Strafe. Laßt Chase und Mary frei, keiner ist eines Verbrechens schuldig.« Jubel brach aus, und die Menge rief: »Sie hat recht! Laßt sie beide frei.« Im folgenden Durcheinander erhob Moses sich von seinem Platz, krempelte sein Hosenbein hoch und holte seinen zweiten Revolver hervor. Als er ihn hochhielt, verstummte die Menge. Zuerst räusperte er sich und ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Ich bin auch der Meinung, daß wir Cumberland und die Indianerin hier nicht länger gefangenhalten sollten. Aber damit es mit rechten Dingen zugeht, müssen wir darüber abstimmen. Wenn der Bezirksrichter in die Stadt kommt, muß ich ihm erklären können, was hier passiert ist. Ich möchte nicht, daß er mir Fragen stellt, die ich nicht beantworten kann – zum Beispiel, wenn er das Abstimmungsergebnis wissen will.« »Du hast ganz recht, Moses.« Alice rückte näher zu ihm heran. »Also laßt uns abstimmen und die Sache ein für allemal beenden.« Moses strahlte über so viel Lob von Alice. »Gut, bringen wir’s hinter uns. Alle, die der Meinung sind, daß wir Cumberland und die Indianerin freilassen sollten, heben die Hand.« Wie ein Wald ragten die Hände der Menge in den Saloon. Nur Horace, Lily Tolliver und Bück gesellten sich nicht zu den anderen. Da half Mary Bück ebenfalls, die Hand zu heben. Lily klimperte mit den Wimpern, legte eine Hand auf ihren bebenden Busen und hob langsam die andere. Mit einem Freudenschrei sprang Maddie vom Schemel und umarmte zuerst Chase und dann Mary, während die Menge applaudierte, johlte und pfiff. Berauscht vom Erfolg hätte Maddie am liebsten gleichzeitig gelacht und geweint. »Das kann ich nicht dulden!« protestierte Horace, als es ein bißchen ruhiger wurde. »Nur die Geschworenen dürfen ihre Stimme abgeben. Aber nicht nur das, auch andere Regeln sind nicht befolgt worden. Ich leite dieses
Verfahren, nicht Sie, Moses. Sie haben ihre Kompetenzen über- schritten und aus diesem Verfahren eine Farce gemacht.« Mit einem flüchtigen Blick zu Alice holte Moses tief Luft und blähte seine Brust auf. »In Hopewell geschieht, was die Bürger beschlossen haben, Horace. Du kannst hier nicht allein entscheiden. Du hast mir zwar geholfen, Sheriff zu werden, aber jetzt liegt es an mir, wenn ich diesen Posten behalten möchte. Dieses Verfahren ist legaler als so manches andere, dessen Zeuge ich war. Das kann ich beschwören.« »Das wird dir noch leid tun«, drohte Horace. »Nein, das wird es nicht. Ich habe keine Farm, die du mir wegnehmen kannst. Spar dir deine Drohungen also für glücklose Frauen… Und wenn er Ihnen noch einmal zu nahe kommen sollte, meine Damen, dann lassen Sie es mich wissen, und ich mache ihm eigenhändig Beine.« »Ja, gib’s ihm, Moses!« Alice blickte ihren strammen Verehrer bewundernd an. »Himmel noch mal, ich habe dich noch nie so entschlossen gesehen.« »Sheriff, könnten Sie Mr. Cumberland jetzt bitte freilassen?« bat Maddie den stolzen Gesetzeshüter. Moses nickte und machte sich sogleich daran, Chase die Fesseln abzunehmen. Maddie kniete neben Mary nieder, die sich plötzlich sehr besorgt über Bück beugte. »Schau«, flüsterte Mary. »Silberhaar wieder bluten. Schlimm bluten.« Erschreckt sah Maddie, daß frisches Blut durch Bucks Verband trat und daß sein Gesicht noch fahler als vorher war, soweit das noch irgendwie möglich war. Chase kam zwischen den beiden Frauen durch. »Mein Gott, er stirbt vor unseren Augen… Bück! Bück, kannst du mich hören?« Bück öffnete die Augen. Er schien nicht zu wissen, wo er war, und offensichtlich erkannte er auch die Menschen nicht, die sich besorgt über ihn beugten. »Müssen ihn rausbringen«, rief Mary. »Er Hilfe brauchen. Ich versuchen, Blutung zu stoppen.« »Aber wohin sollen wir ihn bringen?« Maddie griff Chases Arm. »Der Transport in die Stadt ist der Grund für diese neuen Blutungen. Wir wollten ihn nicht mitnehmen, aber er bestand darauf.« Alice klopfte Maddie auf die Schulter. »Mein Haus ist nicht weit von hier. Ihr könnt dort bleiben, solange ihr wollt. Bringt ihn dort hin. Ich habe
alles, was ihr braucht, und ich kann solange bei Freunden unterkommen.« »Muß Medizinpflanzen finden«, murmelte Mary. »Heilpflanzen für Silberhaar.« »Nun, ich weiß nicht, ob ich habe, was Sie suchen. Aber letztes Jahr habe ich einen kleinen Kräutergarten angepflanzt, weil ich dachte, ein paar Heilkräuter könnten in einer Stadt ganz nützlich sein, in der es noch keinen Arzt und keine Apotheke gibt. Sie können alles nehmen, wenn Sie meinen, daß es ihm guttut.« »Männer, helft mir, diesen Mann hinauszutragen«, bat Chase. »Maddie, Mary, tretet zurück.« Jake Bussel und einige andere beeilten sich, ihm zu helfen, aber plötzlich griff Moses ein. »Wohin bringt ihr ihn?« »In mein Haus, Moses«, erklärte Alice. »Ich habe es ihnen überlassen. Siehst du es denn nicht? Der Mann verblutet noch vor unseren Augen.« »Wir sollten ihn ins Gefängnis bringen. Wenn er überlebt, müssen wir ihn nach Texas ausliefern, wo er steckbrieflich wegen Mordes gesucht wird. Er muß sich dort vor Gericht verantworten.« »Er hat keinen Mord begangen«, sagte Chase. »Miss McCrory hat doch bereits erklärt, was in Texas geschehen ist. Clint Madisons Tod war ein Unfall; Bück wollte ihn nicht töten.« »Es ist weder Ihre noch meine Aufgabe, das zu beurteilen, Cumberland. Das müssen die unten in Texas entscheiden.« »Sie möchten ja nur die Belohnung einstecken«, beschuldigte Maddie ihn. »Sehen Sie sich diesen Mann doch an; er hat schon genug gelitten, für das, was er getan hat. Er erleidet jetzt entsetzliche Qualen. Er kann nicht sprechen, um sich zu verteidigen. Lassen Sie die Vergangenheit ruhen. Außer der Belohnung gibt es keinen Grund für Sie, ihn nach Texas zurückzuschicken. Damit ist niemandem hier geholfen. Bitte. Haben Sie ein wenig Mitleid.« »Maddie hat recht«, pflichtete Alice ihr bei. »Moses, laß den armen Mann lieber in Frieden leben oder sterben.« Überraschenderweise wurde Moses aber nur noch dickköpfiger. »Nein, Liebling, in diesem Fall kann ich nicht einfach wegsehen. Ich tue das nicht für die Belohnung, ich tue es, weil es meine Pflicht ist. Was wäre ich denn
für ein Gesetzeshüter, wenn ich einen gesuchten Mörder nicht nach Texas zurückschicken würde?« »Aber Sie haben doch für Mary Verständnis gehabt«, erklärte Maddie verzweifelt. »Warum nicht auch für Bück?« »Weil es etwas anderes ist. In diesem Fall ist es nicht meine Aufgabe, etwas zu entscheiden, in diesem Fall muß ich nur dafür sorgen, daß man ihn zurück nach Texas bringt. Dazu bin ich fest entschlossen. Vorausgesetzt natürlich, daß er überlebt.« »Nun, in seinem Zustand besteht jedenfalls keine Fluchtgefahr. Also können wir ihn genausogut zu Alice bringen«, erklärte Maddie. »Wenn wir uns nicht bald um ihn kümmern, wird er sterben, während wir uns unterhalten.« »Moses?« Alice berührte den Arm des Sheriffs. »Laß sie zu mir nach Hause gehen, wenigstens für diese Nacht – bis er über den Berg ist.« »Na gut«, erwiderte Moses schließlich. »Er darf zu dir nach Hause, Alice, aber sobald es ihm bessergeht, kommt er ins Gefängnis. Und sobald er auf einem Pferd sitzen kann, muß er zurück nach Texas. Ich komme morgen früh vorbei, und wenn er dann noch am Leben ist, nehmen wir ihn mit.« »Du bist ein starrköpfiger Mann, Moses«, klagte Alice. »Schade, daß ich das entdecken mußte, als ich gerade anfing, dich zu mögen. Jetzt muß ich noch einmal über das nachdenken, was du mich gefragt hast.« Auf dem grobschlächtigen Gesicht des Sheriffs war Sorge zu lesen, aber er schob trotzig das Kinn vor. »Man darf mich nicht über Gebühr strapazieren, Frau. Ich muß tun, was ich für richtig halte.« Maddie hätte fast wieder von der Belohnung angefangen, aber ein Blick von Chase ließ sie verstummen. Außerdem spürte sie, daß Moses Smith tatsächlich darum bemüht war, seine Integrität zu bewahren. Unter der Oberfläche war Moses vielleicht sogar wirklich ein ehrenwerter Mann des Gesetzes. Wenn das der Fall war, wollte sie seiner Legendenbildung nicht im Weg stehen. Am frühen Abend war Bück endlich in Alice Neffs Gästezimmer untergebracht, und Pawnee Mary, die alles unternommen hatte, um die Blutungen zu stillen, hielt mit einer Tasse Tee in der Hand neben ihm Wache. In
der Tasse befand sich eine stark riechende Mischung aus Pflanzen und Krautern, die Bück Schluck für Schluck trinken sollte. Auf einem Tischchen neben ihr stand ein einfaches Mahl bestehend aus Brot, Speck, Kaffee und einer Schale Maisbrei, den Alice zubereitet hatte, bevor sie fortging. Hilflos wachten auch Maddie und Chase über Bück. Sie wußten nicht, wie sie ihm helfen sollten. In Bucks Gesicht war wieder etwas Farbe zurückgekehrt, und die Blutungen hatten aufgehört. Aber Maddie wußte, daß die Gefahr noch nicht vorüber war. Sie konnte die Anwesenheit des Todes beinahe spüren. Er schien nur darauf zu warten, daß ihre Wachsamkeit nachließ, um Bück mitzunehmen. »Oh, Mary«, seufzte Maddie. »Was denkst du, wird er es schaffen?« Marys Fähigkeiten hatten Maddie sehr beeindruckt; sie verstand nicht viel von dem, was die Indianerin getan hatte, aber es war klar, daß sie wußte, was sie tat. Von den Krautern, die in Alices Garten wuchsen, hatte sie fast alle erkannt. Die zwei, die sie nicht kannte, stammten Alice zufolge ohnehin nicht aus der Gegend. Trotzdem hatte Mary Alice über den Nutzen der Heilpflanzen sorgfältig befragt und sie um Ableger gebeten, die sie später in ihrem eigenen Garten anpflanzen würde. Alice hatte ihr versichert, daß sie welche haben könne. Jetzt schien Mary gründlich nachzudenken, bevor sie Maddie eine Antwort gab. Schließlich zuckte sie einfach mit den Schultern. »Tirawa bestimmen.« »Tirawa? Meinst du Gott?« fragte Maddie. »Himmelbewohner«, bestätigte Mary. »Tirawa ihr Gott nennen. Wenn Silberhaar morgen früh leben, dann gesund werden. Heute nacht um sein Leben kämpfen.« »Dann schafft er es. Bück ist ein Kämpfer.« Chase hatte eine Hand auf den Fuß seines Bruders gelegt. »Das war er schon immer, auch vor seinem Unfall. Jedesmal, wenn wir einen wilden Hengst zuzureiten hatten, ließ ich mir Zeit, den Sattel aus der Kammer zu holen. Bück konnte es gar nicht abwarten und rannte, den seinen zu holen. Er schaffte es nicht nur, das Tier zu satteln, nein, er arbeitete so lange mit ihm, bis sich die Bestie in das sanfteste, zahmste Pferd der Welt verwandelt hatte. Er hörte einfach nicht auf, bis er den Kampf gewonnen hatte.«
Pawnee Mary lächelte, und in ihren Augen lag ein warmer Glanz. »Wenn er aufwachen, ich sagen Silberhaar, er den Morgen satteln. Dieser Kampf nicht anders. Er nicht aufgeben dürfen.« Den Morgen satteln, dachte Maddie. Wie merkwürdig sie Bucks Kampf umschrieben hatte. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie wandte sich ab, bevor Mary sie sehen konnte. Sie betete, daß Bück überlebte. Aber wenn er es tatsächlich schaffte, war sein Kampf noch nicht vorüber. Moses würde ihn zurück nach Texas bringen, seine Feinde würden ihn vor Gericht zerren und hängen… Armer Bück! Und arme Mary. Diese beiden Außenseiter verdienten es wirklich, endlich das bißchen Glück zu genießen, das sie gefunden hatten. Aber das würde die Welt nicht zulassen. Von Traurigkeit und Müdigkeit überwältigt, ging Maddie leise aus dem Zimmer. »Ruf mich, wenn du mich brauchst, Mary«, sagte sie, während sie kurz im Türrahmen stehenblieb. »Ich… ich muß mich ein wenig ausruhen.« Chase folgte Maddie aus dem Zimmer, schloß die Tür und hielt Maddies Arm fest. »Maddie? Geht es dir nicht gut? Du bist ganz blaß.« Eine Träne rollte über ihre Wange. »Oh, Chase, ich hoffe nur, daß für die beiden alles gut wird. Sie haben so viel durchgemacht – und haben noch so viel vor sich. Etwas anderes wäre nicht gerecht.« Chase nahm sie in die Arme. Sie drückte sich an seine Brust, wollte gehalten, beschützt und überzeugt werden, daß er endlich in Sicherheit war. Er war hier bei ihr und nicht auf dem Weg zur Schlinge, die von der großen Eiche herunterbaumelte. Das sollte ihr genügen, aber trotzdem war sie innerlich völlig durcheinander. Jetzt, da sie nicht länger stark sein mußte, hatte sie plötzlich keine Kraft mehr. Ihre Knie waren ganz weich und zitterten. Sie brauchte dringend Trost. Chase drückte sie fest gegen seinen harten Körper und küßte zärtlich ihren Nacken. »Wenn es einen Menschen gibt, der ihn retten kann, dann ist es Pawnee Mary«, flüsterte er. »Was dann passiert… ich weiß es nicht. Die Madisons haben sehr viel Macht. Wenn Bück zurück nach Texas muß, werden sie ihn hängen, fürchte ich – aber ich weiß wirklich nicht, wie ich
das verhindern soll. Ich würde heute nacht mit ihm fliehen, aber Bück ist einfach zu schwach. Wenn wir es versuchen, würde er ganz sicher sterben… Außerdem wären wir dann wieder auf der Flucht. Die Kopfgeldjäger würden uns weiter verfolgen; solange auf seinen Kopf eine Belohnung ausgesetzt ist, solange wird man ihn jagen.« »Ist denn Sterben der einzige Ausweg für ihn?« klagte Maddie. »Ich fürchte, so ist es, Liebling… Verdammt! Aber ich wünschte, es gäbe einen Ausweg für ihn und Mary.« Eng umschlungen weinten sie gemeinsam. Maddie spürte, wie Chase von lautlosen Weinkrämpfen geschüttelt wurde, während sie sich als Frau erlauben durfte, den Tränen freien Lauf zu lassen. Wieder einmal durchnäßte sie sein Hemd. Aber inmitten all ihrer Klagen tröstete sie der Gedanke, daß sie und Chase zusammen waren und diese Last teilen durften, während Bück und Mary für immer getrennt zu werden drohten. Viele Gedanken schwirrten Maddie durch den Kopf. Doch dann begann sie zu überlegen, wie verhindert werden könnte, daß Bück nach Texas zurückmußte, wenn er die kommende Nacht überstand. Sie hörte auf zu weinen und begann gründlich nachzudenken. Einige Augenblicke später löste sie sich sanft von Chase. Mit dem Daumen strich Chase ihr die Tränen von den Wangen. Sein Gesicht sah so verzweifelt aus, daß Maddie fast wieder zu weinen begonnen hätte. Sie berührte sein Kinn, ihre Liebe zu ihm war so überwältigend, daß sie es nicht in Worte fassen konnte. Aber sie wagte es nicht, jetzt an Liebe zu denken – nicht, solange es noch so viel zu entscheiden und zu planen gab. Später – wenn dieses Problem gelöst war – würde sie nur noch an ihre Gefühle für Chase denken, das versprach sie sich. »Was ist, Maddie? Ich sehe es dir an, du hast eine Idee, wie wir Bück retten können.« Sie war erstaunt. Wie konnte er ihre Gedanken so schnell lesen? »Sie… sie ist bestimmt sehr töricht. Ich… ich kann mir nicht vorstellen, daß sie überhaupt funktionieren könnte.« »Was ist es denn?« Der Hoffnungsfunke in seinen Augen machte es ihr
nur noch schwerer, ihm zu antworten. Er würde nichts unversucht lassen, selbst wenn ihr Vorschlag nicht durchführbar war. »Bitte freue dich nicht zu früh, Chase. Ich habe dir ge sagt, ich glaube nicht, daß meine Idee wirklich funktionieren könnte.« »Liebe Frau, du treibst mich noch in den Wahnsinn! Sag es mir oder… oder ich küsse dich bis zur Besinnungslo sigkeit.« Diese Drohung gefiel ihr so gut, daß sie kurz überlegte, es darauf ankommen zu lassen. »Nun…« Er packte und schüttelte sie sanft. »Heraus mit der Sprache, Maddie McCrory. Ich werde dir schon sagen, ob deine Idee gut oder schlecht ist.« »Nun, wir könnten doch so tun, als sei Bück gestorben, selbst wenn er nicht stirbt. Und dann… begraben wir einen leeren Sarg, während Bück sich an einem sicheren Ort erholt. Wenn es ihm wieder bessergeht, können er und Mary fortgehen und gemeinsam ein neues Leben anfangen.« Chase starrte sie einen Augenblick lang an, als habe sie den Verstand verloren. Aber dann lächelte er – ganz langsam. Sein Lächeln war wie die Dämmerung nach einer langen Nacht voller Donner, Blitz und Regen. »Es könnte funktionieren. Wir könnten dafür sorgen, daß es klappt. Die Idee ist ausgezeichnet – so gut, daß ich am liebsten selber darauf gekommen wäre.« »Nun, bist du aber nicht. Und wenn es klappt, erwarte ich, daß du mir in alle Ewigkeit dankbar bist.« »Aber wie schaffen wir Bück hier raus? Und woher bekommen wir einen Sarg?« Chase war in Gedanken schon bei den Einzelheiten, während Maddie sich noch über sein Lob freute. »Jake. Jake Bussel. Er hat den Sarg für Mutter gemacht. In seiner Schmiede hat er einen Vorrat Fichtenholz. Den Deckel für ihren Sarg hatte er mit einer geschmiedeten Eisenverzierung versehen. Kein Mensch hatte je etwas so Schönes gesehen. Pa war sehr stolz, daß Ma in einer so hübschen Kiste, wie er sagte, beigesetzt wurde. Leider brauchten wir Monate, um die Raten abzuzahlen.« Wichtiges war – etwas, worauf Maddie ihr ganzes Leben gewartet hatte. Maddie bekam plötzlich keine Luft mehr und hatte Mühe, ihre Aufregung zu zügeln. »Was ist?« fragte sie.
»Ich glaube, wir sollten… auch unseren Morgen satteln, Maddie, solange wir noch Zeit dazu haben.« »Was meinst du damit?« Maddie wollte, daß er es aus sprach. Sie mußte es aus seinem Mund hören, ganz besonders, wenn es das war, worauf sie hoffte. »Maddie, ich liebe dich. Ich kann ohne dich nicht leben Ganz gleich, was heute nacht geschieht oder morgen, oder übermorgen, ganz gleich, welche Hindernisse sich uns in den Weg stellen könnten – möchtest du meine Frau werden?« »Ja!« rief Maddie aus, nahm ihn stürmisch in die Arme und hätte ihn fast umgeworfen. »Maddie, bist du dir sicher? Dir werden nicht plötzlich zehn gute Gründe einfallen, warum wir damit warten sollten…« »Nein!« rief sie. »Ich weiß jetzt, was wirklich zählt, Chase. Wir müssen unsere tiefsten Gefühle zulassen und jeden Tag genießen, den wir miteinander haben, bevor es zu spät ist. Ich möchte dich gar nicht heiraten; ich möchte dein sein, so schnell es geht.« Sie spürte, wie Chase erstarrte. »Was?« rief er mit heiserer Stimme. »Was hast du gesagt?« Sie machte einen Schritt zurück und blickte in sein erstauntes Gesicht. »Chase, laß uns für Bück alles vorbereiten. Laß uns alles erledigen, was zu tun ist, und Mary helfen, falls sie Hilfe benötigt. Aber wenn wir dann noch Zeit haben…« Sie blickte in Richtung des zweiten Schlafzimmers, wo Alice Neff gewöhnlich ihre Logiergäste unterbrachte. »Ich habe nicht vor, die heutige Nacht allein zu verbringen, Chase… und es gibt nur noch ein Bett. Mir ist gleich, was irgend jemand denkt oder sagt. Ab heute möchte ich mit dir Zusammensein – und zwar in jeder Hinsicht.« »Mein Gott…«, murmelte Chase bewundernd. »Wenn du dich einmal entschieden hast, hält dich aber auch gar nichts zurück, nicht wahr?« Sie lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein, mein Geliebter. Wenn ich beschlossen habe, den Morgen zu satteln, dann… sattle ich den Morgen.« »Mein Gott«, stotterte er noch einmal. Dann senkte er den Kopf und küßte sie auf den Mund. Und da wußte Maddie, daß sie den ersten Sonnen-
strahl gesehen hatte – daß sie ihn gesattelt hatte, ihn zähmen und für immer behalten würde.
ZWEIUNDZWANZIG »Tut mir aufrichtig leid, daß es der Weißhaarige wahrscheinlich nicht schaffen wird. Ist vielleicht besser so, Maddie. Er hat nicht gerade eine rosige Zukunft vor sich«, sagte Jake Bussel. »Pawnee Mary hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, Jake, aber… einen Schuß in den Bauch überlebt kaum einer.« »Es überrascht mich sowieso, daß er so lange durchgehalten hat, aber bei dieser Hitze tun Sie gut daran, rechtzeitig Vorbereitungen für seine Beerdigung zu treffen. Wenn er heute nacht ins Gras beißt, muß er so schnell wie möglich unter die Erde. Dauert auch ein Weilchen, bis der Sarg fertig ist, auch wenn es nur ein schlichter Kiefernsarg ist.« Jake wischte sich den Schweiß mit einem feuchten, schmutzigen Leinentuch ab und schielte im Dämmerlicht zu Maddie herüber. Die Sonne war bereits untergegangen, und der Abend hatte Kühlung gebracht. Die Schmiede aber, in der Jake gearbeitete hatte, als Maddie ihn fand, erinnerte an das Fegefeuer. Sie fragte sich, wie er das aus hielt. Jake trug kein Hemd. Die mächtige behaarte Brust und der Bauch glänzten in dem rötlichen Licht, als ob sie in Öl getaucht worden wären. Maddie hatte sich immer gewundert, warum Jake nie geheiratet oder Interesse an Frauen gezeigt hatte, jetzt glaubte sie es aber zu wissen. Die Arbeit in seinem Beruf war schmutzig, und der Mann roch immer nach Pferden und Schweiß. Er brauchte eine besondere Frau, die darüber hinwegsah und die rauhe, aber herzensgute Seele des Schmieds schätzte, der fast sein ganzes Leben lang neben einem brennenden Feuer verbracht hatte. »Will Cumberland einen verzierten Sarg, so wie ich es bei Ihrer Ma gemacht habe?« fragte Jake. Maddie dachte einen Moment nach. Das wäre eine Ausgabe, mit der Chase nicht gerechnet hatte, aber je aufwendiger der Sarg war, desto eher würden die Leute Bucks Tod für glaubhaft halten; kein Mensch würde gutes Geld für einen falschen Sarg ausgeben. Sollte es aber
zu einer echten Beerdigung kommen, dann würde Chase vielleicht die kleinen Extras zu schätzen wissen, wenn er seinen Bruder zu Grabe trug. »Vielleicht ein wenig einfacher als bei meiner Mutter«, schlug sie vor. »Ich glaube, Chase würde es gefallen.« »Also, ich dachte nicht an Blumen, auch nicht an etwas zu Weibliches«, murmelte Jake. »Ich dachte, vielleicht… ein Vogel. Ein Vogel mit ausgebreiteten Schwingen, als ob er davonflöge.« Maddie lächelte. Jake Bussels Sinn für Feinheiten überraschte sie immer wieder. Von seinem Aussehen und seiner Tätigkeit her würde man das nicht erwarten. »Nein, kein Vogel… aber vielleicht… ein Hufeisen. Bück hatte eine besondere Hand für Pferde.« »Ein Hufeisen?« Jake konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. »Zum Teufel, Maddie, jeden Tag mache ich Hufeisen. Ich hatte auf einen Auftrag gehofft, der mich herausfordert.« Maddie stellte sich Jake vor, wie er die ganze Nacht am Sarg bastelte und fand, daß er eine Herausforderung verdient habe. »Dann entscheiden Sie, Jake. Ich weiß, daß ich Ihnen vertrauen kann. Wenn wir Glück haben, werden wir den Sarg vielleicht gar nicht brauchen, dann wäre es bes- ser, sie fertigen etwas, das auch Ihrem nächsten Kunden gefällt.« Jake hob die mächtigen Schultern. »Damit haben Sie recht. Einen Sarg braucht jeder einmal. Darum habe ich auch noch dieses Geschäft hinzugenommen, das gibt immer Arbeit.« »Danke, Jake. Sie sind uns immer ein sehr guter Freund gewesen. Sie haben bei unseren Rennen mitgeholfen, sämtliche Schmiedearbeiten erledigt und die Fesselköpfe unserer Pferde beschnitten.« Jake lief rot an wie sein Feuer. »Wozu hat man Freunde, wenn man sich nicht untereinander hilft? Ich habe Ihren Pa und Ihre Ma immer gemocht, und ich werde auch für Ihren Bruder da sein, wenn er die Farm übernimmt. Und ich werde immer Ihr Freund sein, Maddie, auch wenn Sie diesen Chase heiraten, der Sie beim Rennen geschlagen hat.« brannte vor Verlegenheit. »Wieso… wieso wissen Sie, Maddies Gesicht daß Chase mir einen Heiratsantrag gemacht hat?« Jakes Mund verzog sich, dann brach er in schallendes Gelächter aus. »Ha, ich wußte, daß Sie eines Tages in seinen Armen landen werden, gleich nachdem ich euch beide bei dem Rennen gesehen habe. Na, bei euch sind
die Funken vielleicht geflogen, wie bei mir in der Schmiede, wenn der Hammer auf den Amboß schlägt.« »Aber das werden wir nicht tun!« widersprach Maddie. Als Jake jedoch weiterlachte, wurde Maddie nachdenklich. Ja, die Funken waren geflogen. Das stimmte. Als sie das erste Mal in Chases Wolfsaugen geblickt hatte, wußte sie, daß sie verloren war; aber eigensinnig, wie sie war, hatte es lange gedauert, bis sie es zugab. »Also… ich glaube, ich muß jetzt gehen, außerdem will ich Sie nicht länger von Ihrer Arbeit abhalten«, erklärte sie und zupfte ihren Rock zurecht. »Ich werde mich auch um die Totengräber kümmern«, erbot er sich. »Was ist mit dem großen Rennen? Ist Gold Deck schon in Abilene?« Das Rennen. Den ganzen Tag hatte Maddie nicht daran gedacht. Auch nicht an Gold Deck, ihren Vater, die Schwestern oder Little Mike. Ihr ganzes Denken war damit beschäftigt gewesen, Chase und seinen Bruder zu retten. Die Sorgen, die sie sich wegen des Rennens gemacht hatte, erschienen ihr wie ein ferner Traum, und die Person, die einen siegreichen Ausgang für lebenswichtig gehalten hatte, war ihr fremd geworden. Es war schließlich nur ein Rennen, und wenn ihre Familie alles verlor, was sie besaß, dann mußte sie eben noch einmal von vorn anfangen. Was auch geschehen mochte, sie würde Pa und ihren Geschwistern helfen, so gut sie konnte, aber nie wieder würde sie ihre eigenen Hoffnungen und Träume opfern, damit die eines anderen wahr wurden. Die letzten Tage hatten sie verändert. Sie hatte andere Prioritäten gesetzt. Die Liebe zu ihrer Familie war geblieben, aber sie liebte auch Chase. Die Zeit war endlich gekommen, ihre Verantwortungen aufzuteilen und ihr eigenes Leben zu leben. Wenn jedes Mitglied ihrer Familie einsprang und etwas mehr tat, dann blieb für sie weniger Arbeit übrig, und jeder käme trotzdem gut zurecht. »Jake, ich habe keine Ahnung, ob Gold Deck und Little Mike in Abilene angekommen sind oder nicht. Als ich heute morgen das Haus verließ, hatte Gold Deck eine Kolik. Ich habe meinem Vater gesagt, er müsse sich darum kümmern. Wenn sich der Hengst erholt, dann bringen ihn Little Mike und Carrie nach Abilene und lassen ihn das Rennen laufen. Wenn nicht…«
Maddie schüttelte den Kopf. »Ich kann nichts machen. Ich mußte heute in der Stadt sein.« »Sie werden die Hälfte des Einsatzes als Bußgeld zahlen müssen, und wenn Brownley alles zurückverlangt, was Sie ihm schulden… tja, Kindchen, dann könnte Ihre Familie alles verlieren.« »Ganz richtig, Jake. Das könnten wir, und das werden wir wahrscheinlich auch.« »Und was ist mit Cumberland? Auch wenn er morgen früh sofort die Stadt verläßt, kommt er wohl kaum rechtzeitig in Abilene an, um mit seiner Stute pünktlich zum Rennen anzutreten, außerdem wäre sie vom langen Weg total erledigt. Ich fresse einen Besen, wenn der nicht ‘nen Riesenhaufen Bares verliert.« »Im Licht der vergangenen Tage glaube ich nicht, daß ihn das kümmert, Jake. Haben Sie nicht gehört, daß er angeboten hat, für die Schulden meiner Familie aufzukommen? Ich werde es nicht zulassen, aber er sagte, er würde seine Farm anstelle der unsrigen übergeben, um Horace zufriedenzustellen. Ich glaube, nach einem Tag wie dem heutigen verlieren Besitztümer an Bedeutung.« »Das hat er nicht angeboten, weil der Strick auf ihn wartet, Maddie. Er hat es getan, weil er Sie liebt.« Maddies Wangen wurden wieder heiß. »Also, dann… ich geb’ Ihnen morgen Bescheid, ob wir den Sarg brauchen, Jake.« »Viel Glück, Maddie. Eine Portion Glück könnten Sie jetzt gut gebrauchen.« Wieder in Alice Neffs Haus zurückgekehrt, eilte Maddie zu Chase und Pawnee Mary an Bucks Bett. »Es ist alles vorbereitet«, flüsterte sie Chase zu. »Wie geht es Bück?« Chases Bruder schien zu schlafen, aber vielleicht hatte er auch das Bewußtsein verloren. Maddie konnte es nicht sagen. Jedenfalls war sein Gesicht nicht mehr so wächsern blaß. Die Haut um die Wangenknochen war leicht gerötet, und die blaue Färbung der Lippen war Gott sei Dank verschwunden. Chase winkte sie aus dem Zimmer. Bevor er ihr folgte, legte er ein Hand auf Marys Schulter. »Mary, wenn sich etwas ändert, dann schrei, und ich komme sofort.«
Marys Augen ließen keine Sekunde von Bucks Gesicht ab, aber sie ruckte. »Er brauchen Ruhe. Ich glauben, ihm gehen besser. Morgen früh werden wir wissen.« »Vorher bin ich längst wieder zurück, und dann kannst du dich ausruhen.« »Nein, besser du schlafen und ich die ganze Nacht wachen, falls er noch mehr Medizin brauchen. Wenn ihm schlechter gehen, ich dich holen.« »Du machst, was du für richtig hältst.« Chase drückte leicht Marys Schulter, verließ das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Im Wohnraum lief Maddie in Chases wartende Arme. »Er sieht so viel besser aus; ich habe das Gefühl, daß er am Leben bleibt, Chase.« »Ich weiß es nicht. Hoffentlich.« Chase zog sie eng an sich heran. »Er ist einmal kurz aufgewacht und hat mir voll ins Gesicht gesehen, mich aber nicht erkannt.« »Hat er Mary erkannt?« »Ich bin mir nicht sicher. Ich denke schon. Als er sie ansah, zuckte es in seinen Augen. Ich weiß nicht, was sie ihm verabreicht, aber er ist sofort wieder eingeschlafen.« »Ich bin so froh. Alice hatte Mary Laudanum gegen Bucks Schmerzen angeboten, aber Mary wollte unbedingt zuerst ihre eigenen Heilmittel anwenden « »Wenn er durchkommt, dann ist es ein Wunder, das allein Mary vollbracht hat.« »Und Tirawa, der Himmelsbewohner.« Chase hob Maddies Kinn und schaute ihr in die Augen. »Im Moment können wir nichts mehr tun, Maddie. Mary ruft uns, wenn bei Bück eine Veränderung eingetreten ist, also haben wir beide einige Stunden für uns. Wie könnten wir sie deiner Meinung nach am besten nutzen?« Maddie mußte lächeln. Er gab ihr die Gelegenheit, auf ihren vorherigen Vorschlag einzugehen, doch das Feuer in seinen Augen sagte ihr, daß er anderes erhoffte. Sie blickte auf den dunklen Türeingang und auf das unbenutzte Bett. Niemand hatte Einwände erhoben, daß zwei unverheiratete Frauen ein Haus mit zwei unverheirateten Männern teilten. Wahrscheinlich
nahmen sie an, Bucks Zustand würde ein unsittliches Verhalten ausschließen, hatten aber nicht mit ihrer eigenen Bereitschaft gerechnet, mit Chase allein zusein. »Es kann Monate dauern, bis ein Geistlicher in die Stadt kommt«, sagte sie. »Bei ihnen ist es wie bei den Richtern, die von Ort zu Ort ziehen und ihre Gerichtstage abhalten. Solange Hopewell noch nicht groß und wohlhabend genug ist, um eine Kirche und ein Gerichtsgebäude zu erbauen, müssen die Leute auf Rechtsprechung und Verheiratung warten… Aber ich glaube nicht, daß ich es solange aushallen kann, bis ich das Bett mir dir teile.« »Dann wollen wir unser Gelübde jetzt ablegen. Wenn sich dann endlich der Geistliche einstellt, kann er unseren Bund bekräftigen. Mein Wort ist bindend, mit oder ohne kirchlichen Segen.« »Meines auch«, pflichtete Maddie ihm bei. »Also gut, ich fange an.« Sie zögerte einen Augenblick, ging den Text im Kopf durch und versuchte ihren hastigen Atem zu beruhigen. Die Worte mußten richtig sein. Sie mußten alles aus drücken, was in ihrem Herzen war. Einmal gesagt, konnte sie nichts mehr zurücknehmen. Sie verpflichteten sie ein Leben lang. Vertrauensvoll blickte Maddie in Chases Augen und sprach: »Ich, Madeline Elizabeth McCrory, nehme dich, Chase Ezekiel Cumberland, auch Courtland genannt, zum Ehemann und gelobe, dich zu lieben und zu ehren, zu halten und zu schützen, vom heutigen Tag an, im Guten wie im Schlechten, in Krankheit und in Gesundheit, bis der Tod uns scheidet… So. Habe ich es richtig gemacht?« Chase grinste. »Da fragst du mich? Hörte sich ausgezeichnet an… nur hast du den Teil mit dem Gehorchen vergessen.« »Das habe ich nicht vergessen; ich habe es absichtlich weggelassen, und dabei bleibt es auch. Es sei denn, du möchtest, daß ich noch so etwas hinzufüge wie: ›Ich verspreche, stets deine Wünsche zu beachten, so wie du versprichst, die meinen zu berücksichtigen.‹« »Du bist knallhart, junge Dame. Aber ich gehe darauf ein, vorausgesetzt, du fügst noch etwas hinzu, das du vergessen hast.« »Bitte? Ich habe nichts mehr vergessen.«
»O doch. Du hast die Stelle ausgelassen, die da heißt, mich mit deinem Körper zu ehren. Das halte ich für wirklich wichtig.« Maddie sprudelte vor Freude über. Sie glaubte, sie müsse zerspringen. »Das kann ich jetzt vorbehaltlos geloben… Mit meinem Körper werde ich dich ehren, bis der Tod uns scheidet.« »Das gleiche gilt für mich«, fügte Chase schnell hinzu und beugte sich herab, um sie zu küssen. »Nein!« rief sie und schob ihn weg. »Du mußt den vollständigen Text selbst sprechen.« Chase stieß einen übertriebenen Seufzer aus, grinste und sprach ihn. »Ich, Chase Ezekiel Cumberland, auch Courtland genannt, nehme dich, Madeline Elizabeth McCrory, auch Maddie genannt, zu meiner durch das Gesetz angetrauten Ehefrau…« Irgendwie schaffte Chase den Rest des Gelöbnisses und fügte am Schluß deutlich hinzu: »… und gelobe, dich mit meinem Körper zu ehren und mit dir all meine irdischen Güter zu teilen.« Da rannen Maddie bereits die Tränen die Wangen hinunter und tropften ihr ungehindert auf den Busen. »Oh, Chase«, wisperte sie. »Ich liebe dich so. Ich werde dir gegenüber immer wahrhaftig sein, dich lieben und dich ehren…« »Das höre ich gern«, sagte er fröhlich. Dann senkte er die Stimme und blickte sie lange und innig an, so daß sich ihre Zehen kringelten. »Genau das empfinde ich für dich, mein Liebes.« Er nahm sie bei der Hand und führte sie in das dämmrige Zimmer auf das wartende Bett zu. Er schloß die Tür zum Wohnraum, stellte sich vor seine Angetraute und hob die Hände zu ihrem Haar. Maddie konnte ihn nicht deutlich sehen, aber sie merkte, daß er ihr die Nadeln aus dem Haar zog, bis es ihr um die Schultern fiel. Allmählich paßten sich die Augen an das Dämmerlicht an. Das Licht der Sterne, das durch das offene Fenster neben dem Bett schien, erhellte Chases Gesicht und Umrisse. Sie lehnte sich an ihn und seufzte selig, als er mit den Fingern durch ihr Haar strich. »Ich liebe dein rotes Haar«, murmelte er. »Es paßt vollkommen zu dir, und ich hoffe, alle unsere Kinder erben es.« »Dann soll ich es nicht mit Buttermilch abdämpfen?« fragte sie träumerisch, als sie eine merkwürdige Trägheit durchströmte. »Wenn du das tust, versohle ich dir den Hintern! Und deine Sommersprossen liebe ich auch, und heute abend werde ich jede einzeln küssen.« »Oh, du lieber Himmel!« stieß sie leise aus. Die Sommersprossen saßen
an den unwahrscheinlichsten Stellen. »Ich bezweifle, daß du sie alle findest.« »Ich werde sie finden! Dann ziehen wir jetzt die Kleider aus, damit ich mit dem Suchen anfangen kann.« In Sekundenschnelle hatte er sie bis auf das letzte Stückchen Stoff entkleidet, das sie auf dem Leibe trug. Als sie zum Bett ging, legte er seine eigenen Kleider ab. »Du lieber Himmel!« wiederholte sie und betrachtete Chases Körper in all seiner männlichen Pracht. Nie hätte sie geträumt, daß ein nackter Mann so schön sein konnte. Männer schienen immer rauhe, behaarte Kerle zu sein, die wegen ihrer Größe, ihrer Kraft und eindrucksvollen Muskeln bewundernswert waren. Aber sie hatte nie eine Verbindung zwischen Mann und Schönheit herge- stellt. Das heißt, nicht bis zu diesem Augenblick. Er vermittelte diesem Wort einen neuen Inhalt, wie er im Mond licht vor ihr stand und ihre am Bett liegende Gestalt in sich aufnahm. »Mein Gott, bist du schön«, sagte er und stahl ihr die Worte, bevor sie sie aussprechen konnte. »So wie ich mir dich vorgestellt habe… weiche Rundungen und einladende Mulden.« Er ist fast zu schön, um wirklich zu sein, dachte sie atemlos und streckte die Arme nach ihm aus. Er kam zu ihr aufs Bett und legte sich neben sie. Auf einen Ellbogen gestützt, beugte er sich über sie. »Maddie, du hast doch keine Angst, oder? Jetzt, nachdem du mich gesehen hast, meine ich. Du hast… keine Zweifel?« Sie nahm an, daß er von dem Teil spräche, das in sie hineingehen würde. Sie war weder ängstlich noch abgestoßen, wie seine vorsichtige Frage andeutete, sie war ungeheuer neugierig und sogar fasziniert. Die untere Hälfte seines Körpers mußte unbedingt erkundet werden. Sie streckte die Hand aus und umfaßte kühn das in Frage kommende Teil. Er sprang beinahe vom Bett. Anscheinend hatte er nicht erwartet, daß sie ihn anfassen würde. Enttäuscht ließ sie los. »Hätte ich das nicht tun sollen?« flüsterte sie. »Ich wollte doch nur wissen, was du… wie es sich anfühlt.« »Maddie…« sagte er und schnappte nach Luft, als ob er nicht genug davon bekäme. »Es ist vollkommen unwichtig, was richtig oder falsch ist;
zwischen Menschen, die sich lieben, gibt es so etwas nicht. Fühle dich frei, alles zu tun, worauf du Lust hast.« Er nahm ihre Hand und führte sie wieder dorthin zurück, wo sie gewesen war. »Nur zu. Berühre mich, wenn du möchtest. Ich bin jetzt für dich bereit… denke ich.« Wieder legte Maddie die Finger um ihn. So stark! So mächtig! Genau wie bei einem Hengst. Das war der Mann, Spender neuen Lebens, der Samengeber, der die Zukunft des Universums in seinen Lenden trug. Es erregte sie, ihn zu betasten, und sie setzte ihre Erkundungen eifrig fort. Er verhielt sich vollkommen ruhig und ließ es zu, obwohl sein schwerer Atem auf einen auferlegten Zwang schließen ließ. Spielerisch nahm sie seine Hoden in die Hand und bestaunte Kühle und Gewicht. Erst als er plötzlich laut aufstöhnte, erkannte sie, daß ihr Tun für ihn vielleicht nicht so angenehm war. »Tut es weh?« fragte sie besorgt und strich an seiner Erregung entlang. »Es ist so hart und geschwollen.« »Nein«, gelang es ihm ein wenig erstickt zu sagen. »Aber Maddie, jetzt mußt du aufhören; mehr kann ich nicht mehr aushallen.« »Warum?« fragte sie. Alles, was Maddie über die Paarung wußte, hatte sie bei den Pferden gesehen. Was zwischen Menschen vor sich ging, war immer noch ein Geheimnis. Oh, worauf es ankam, hatte sie begriffen, aber die Einzelheiten waren ihr entgangen, und sie wollte doch unbedingt, daß Chase diese Nacht unvergeßlich blieb – ihre Hochzeitsnacht. Plötzlich, ungestüm wie ein Hengst, stieß er ihre Hand beiseite und rollte sich auf sie. »Maddie, Schluß damit! Reize mich nicht weiter. Weib, ich brenne für dich! Weißt du das nicht? Gleich bin ich auf dir. Ich werde nicht warten können, und du bist noch nicht einmal bereit für mich.« »Aber das bin ich doch, Chase. Ich liege splitternackt auf dem Bett. Natürlich bin ich für dich bereit. Ich will, daß du dich auf mich legst und… und mich zu deiner Frau machst.« Er stieß einen Stoßseufzer aus. »Liebling, du hast nicht die geringste Ahnung, wovon ich spreche. Zuerst muß ich… muß ich bestimmte Dinge mit dir machen, damit du für
mich bereit wirst. Dein Körper muß auf mich vorbereitet werden.« »Du meinst, damit ich… dir zuzwinkere? Oder was man eben als Frau tut, um seine Paarungsbereitschaft zu signalisieren?« »Großer Gott!« seufzte er. »Ja. So etwas in der Richtung.« »Aber was soll ich tun?« »Nichts. Nur liegen bleiben, Maddie… und fühlen. Mehr sollst du nicht tun.« »Gern, Chase.« Sie lag still und wartete, daß er etwas unternahm. Nach einer Weile geschah das auch. Er küßte sie. Langsam. Zärtlich. Dann mit steigender Glut. Mit der Zunge umspielte er ihre Lippen und lud sie ein, den Mund zu öffnen. Ein sonderbares, aber herrliches Gefühl breitete sich in ihrem Unterleib aus. Seine Hand fand ihre Brüste, und was er damit tat, fühlte sich ebenfalls wunderbar an… Oh, alles war wunderbar! Die Küsse, das Berühren, das Streicheln. Sie öffnete sich ihm wie eine Blume, die ihre Blütenblätter in der Sonne entfaltet. Ihr Körper antwortete auf unvorstellbare Weise. Sein Mund wanderte von ihren Händen zu ihren Brüsten. Sie wölbte sich ihm in plötzlich heißem Sehnen entgegen. Während sich sein Mund wild auf ihren Brüsten ausließ, streichelten die Hände ihre Schenkel. Die Finger glitten zwischen sie. Er berührte ihre Weiblichkeit, glitt tastend in sie hinein. Sie wehrte sich überrascht. »Ist ja gut. Ist ja gut, Liebling«, murmelte er. »Es ist nichts«, versicherte sie ihm. »Es ist nur… Ich fühle mich so…« »Sag mir, was du magst«, flüsterte er. »Sag mir, was sich für dich schön anfühlt.« »Das«, antwortete sie schlicht, als er einen Finger vor und zurück bewegte. »Und das auch…« Sie mochte alles, was er tat! »Liebling, ich möchte dich hier unten küssen, dich schmecken.« »Chase… o nein!« schrie sie, als er es trotz ihres Protests tat. Dann war sie verloren. Der Verstand entfloh, nur noch das Fühlen blieb. Köstliche Gefühle. Wundersames Vergnügen. Wachsendes Sehnen. Aufbrechende Erregung.
Sie wollte… sie brauchte… Verzweiflung machte sich in ihr breit. Chase glitt nach oben. Sein Mund legte sich auf den ihren. Sie krallte sich an seinem Rücken fest… sie wollte etwas… wollte… wartete. Und dann gab er es ihr. Mit einem kräftigen Stoß war er in ihr. Schnell und scharf. Der Schmerz raubte ihr den Atem. Sie schrie auf, und er besänftigte sie mit Küssen. Sie blinzelte die Tränen weg, klammerte sich an ihn. Er füllte sie vollständig. Er war groß, riesengroß. Er hatte sie auseinandergerissen… Großer Gott, was würde jetzt geschehen? »Es ist alles gut«, sagte er. »Nicht weinen. Es wird nie wieder weh tun.« »Kein Wunder, daß die Stuten ausschlagen«, meinte sie kläglich. »Ich würde auch auskeilen, wenn ich es könnte.« »Seht«, murmelte er. Sie konnte sein Lächeln fühlen. Seine Lippen an ihren Schläfen bewegten sich nach oben. Das war nicht fair. Ihm hatte es nicht weh getan, aber ihr. »Gleich werde ich alles wiedergutmachen, glaube mir.« »Wie denn?« »Abwarten. Ich liebe dich, Maddie. Ich würde dir niemals Schmerzen zufügen. Das weißt du doch?« »Du hast mir bereits weh getan.« »Nur dieses eine Mal. Ich schwöre es. Ab jetzt wirst du Heben, was ich mit dir mache.« »Beweise es. Ich warte immer noch.« Er ließ ein kehliges Lachen hören. »Das ist meine unerschrockene Maddie. Die süßeste, aufregendste Frau der Welt.« Jetzt bewegte er sich gegen sie. In ihr. Am Anfang tat es noch weh. Dann plötzlich nicht mehr. Er hob sich von ihr, stützte sich auf die Ellbogen und entlastete sie von seinem Gewicht. Dann bewegte er sich langsam und tief in sie hinein und wieder zurück. In seinem Rhythmus. Es fühlte sich wieder gut an. Sie fühlte sich immer wunderbarer. Sie hob die Hüften vom Bett und kam seinen Stößen mit kleinen Bewegungen entgegen. »So ist es gut«, lobte er sie. »Das machst du fabelhaft. Weiter, Maddie. Du schaffst es.« Was denn? fragte sie sich. Und dann wußte sie es. Es setzte wieder ein,
dieser köstliche Druck. Diese süße Sehnsucht nach Erlösung. Die sich steigernde Erregung. Das Gefühl, zu wachsen, sich auszudehnen, sich auszubreiten und eins zu werden mit Chase. O Gott! Er bewegte sich härter und schneller. Auch sie wurde härter und schneller. Gemeinsam strebten sie nach dem Höhepunkt… und gemeinsam glitten sie darüber hinweg. Oh, das war zu viel! Das war traumhaft! Kein Wunder, daß Stuten manchmal den Hengst bedrängten! Sie wollten noch einmal besprungen werden. »Chase…«, murmelte sie. »Oh, Chase…« »Was meinst du?« fragte er. Seine Stimme war heiser; der Atem kam noch stoßweise. »So muß es im Himmel sein, meinst du nicht auch?« »Wenn nicht, dann müßte es so sein, Liebes. Der Himmel könnte nichts Besseres bieten.« »War es auch so, wenn du es mit… anderen Frauen gemacht hast?« Er erstarrte über ihr, aber sie erlaubte nicht, daß er sich zurückzog. »Sage es mir, Chase. Ich muß es wissen.« Er lehnte sich zurück, strich ihr über das Haar und blickte sie an. »Ich schwöre, Maddie, was wir gerade gemeinsam gefühlt haben, stellt alles andere, was ich mit Frauen erlebt habe, in den Schatten. Ich würde lügen, wenn ich sagte, ich hätte noch nie mit einer Frau geschlafen, aber diese Frauen hatten nichts mit dir gemeinsam. Und mir lag nichts an ihnen, nicht so, wie mir an dir gelegen ist. Also ist alles ganz anders. Alles frisch und neu… und heilend.« »Dann vergebe ich dir für immer, daß du andere Frauen hattest, Chase. Ich könnte den Gedanken einfach nicht ertragen, daß du das mit einer anderen geteilt hast.« »Das geschieht nicht mit jedem Menschen«, erklärte er. »Das können nur zwei Menschen erfahren, die sich wahrhaft lieben und den Rest ihres Lebens miteinander verbringen wollen.« »Chase«, flüsterte sie. Auch ihre Stimme war heiser geworden. »Wir wollen es noch einmal machen.« »Schon? Maddie, Liebes, ich weiß nicht, ob ich kann. Ich brauche ein
wenig Zeit, um…« »Doch, du kannst«, drängte sie und schmiegte sich eng an ihn. Unwillkürlich stöhnte er auf. »Maddie, du bist unersättlich…« »Ja«, stimmte sie zu. »Ich habe lange darauf gewartet, Chase, und einmal dachte ich schon, es würde mir nie zuteil werden.« »Nun hast du es bekommen, Liebes, so viel du davon vertragen kannst.« Er stieß wieder zu, und sie fühlte, wie er anschwoll und größer in ihr wurde. Sie schlang Arme und Beine um ihn und ergab sich dem Zauber, den nur Chase vollbringen konnte. Beim zweiten Mal war es noch schöner als zuvor, weil sie diesmal wußte, was sie wollte. Sie holte es für sich, und vor allem, sie gab es ihm. Eine ganze Weile, später war Maddie tief eingeschlafen. Ihre Träume füllten sich mit Frieden und Seligkeit, wie sie es bisher nicht gekannt hatte. Wie in einem Kokon in Wärme und Glück eingesponnen, wollte sie nie wieder aufwachen. Mit Chase an ihrer Seite, noch in ihr, hatten sich ihre Träume erfüllt. Sie wünschte sich nichts weiter vom Leben, als diesen neu gefundenen Zauber zu genießen. Aber das sollte nicht sein. Ein pochendes Geräusch weckte sie, und sie schreckte hoch und stieß Chase dabei unbeabsichtigt mit dem Ellbogen in die Seite. Dann erst nahm sie wahr, daß jemand an die geschlossene Zimmertür klopfte. Chase sprang aus dem Bett. »Ich komme, Mary!« rief er. »Ich bin gleich da.« In der Dunkelheit suchte er die Hose, fluchte, als er sie nicht schnell genug finden konnte, riß Maddie das Bettuch vom Leib, wickelte es um die Hüfte, überlegte es sich anders und zog sich schließlich doch die Hose an. »Bück.« Mehr sagte er nicht. »Ich hab ihr gesagt, sie soll mich rufen, wenn sich sein Zustand verschlechtert.« Er öffnete die Tür und eilte hinaus. Maddie suchte ihre eigenen Kleider zusammen. Furchtbare Schuldgefühle und Vorahnungen ergriffen sie. Während sie sich schönen Träumen hingab, hatte Bück vielleicht seinen letzten Atemzug getan. Hastig schlüpfte sie in so viele Kleidungsstücke wie möglich, um einigermaßen schicklich auszusehen. Sie kämmte sich nicht. Barfuß stürzte sie aus dem Zimmer. Der Morgen war noch nicht hereingebrochen. Dunkelheit lag noch auf
dem Haus. Das einzige Licht drang aus dem Zimmer, in dem der sterbende Bück lag. Maddie war überzeugt, daß er sterben würde, wenn er nicht bereits tot war. Mit klopfendem Herzen betrat sie das Zimmer. Chase und Mary saßen zu beiden Seiten des Bettes und strahlten Bück an, der schwach zurücklächelte. »Wie ich sehe, bist du noch unter uns, großer Bruder«, sagte Chase unendlich erleichtert. »Und du weißt auch, wer ich bin.« Bück nickte und blickte Chase ins Gesicht. Mit einer Grimasse hob er die Hand und deutete auf seinen Bauch. »Ich weiß. Tut höllisch weh«, meinte Chase mitfühlend. Bück nickte abermals. »Du siehst schon viel besser aus. Mary hat dir das Leben gerettet.« Bück suchte Marys Hand. Als er sie gefunden hatte, verschlangen sich ihre Finger ineinander. Er seufzte tief und schloß wieder die Augen. Mary beugte sich vor und küßte seine Fingerknöchel. Dann entzog sie ihm sanft die Hand und winkte Maddie und Chase aus dem Zimmer. »Er wird am Leben bleiben?« platzte Maddie heraus, sobald Mary die Tür runter ihnen geschlossen hatte. Mary nickte. Erschöpft sank sie im vorderen Zimmer auf einen Stuhl. »Tirawa lächelt uns zu. Silberhaar noch am Leben. Bald Morgendämmerung. Er mir sagen, er wollen sehen Sohn von Wolf. Darum ich dich wecken.« »Wie gut, daß du das gemacht hast«, meinte Chase. »Es wird Zeit, daß wir unseren Plan durchführen.« »Welchen Plan?« Marys Kopf hob sich. Die Nasenflügel bebten. »Silberhaar schwach. Wenn sich bewegen, er vielleicht sterben.« Chase und Maddie blickten sich an. Sie erkannte plötzlich, daß sie Mary in ihren Plan hätten einweihen sollen. Wieso hatte sie nicht daran gedacht! schalt sich Maddie. Gestern nacht hing Bucks Leben noch am seidenen Faden. Jetzt, nachdem er überleben würde, mußte Mary Kraft schöpfen und ein wenig zu Ruhe kommen, »Mary, hör mich an, bevor du eine Entscheidung triffst«, erklärte Maddie. »Wir… wir wollen so tun, als ob Bück
gestorben wäre.« »Was?« Verblüfft zog Mary die Stirn in Falten. »So könnt ihr beide gemeinsam fliehen, und Bück wird nie wieder verfolgt werden.« Marys Augen leuchteten auf, und ihre Müdigkeit schien wie weggeblasen. Ein strahlendes Lächeln lag auf ihren Lippen. »Sag mir, was ich tun soll. Ich alles machen.« Maddie nickte Chase zu. »Du erklärst es ihr, während ich meine Schuhe suche. Und dann holst du am besten gleich den Sarg.«
DREIUNDZWANZIG Der Sarg beanspruchte beinahe das halbe Wohnzimmer in Alice Neffs kleinem Haus. Er stand auf den Sitzen zweier Holzstühle in der Mitte des Zimmers und erfüllte den Raum mit dem Duft frisch gesägter Pinienbretter. Maddie beobachtete nervös, wie Chase sich bei Jake Bussel für die gute Arbeit bedankte und versprach, ihn sobald wie möglich zu entlohnen. »Lassen Sie sich ruhig Zeit, Cumberland. Ihr Wort ist mir gut genug. Und ehrlich gesagt, es hat mir Spaß gemacht, das Pferd auf den Sargdeckel zu schnitzen.« »Es ist ein sehr schöner Sarg«, versicherte Maddie dem breitschultrigen Schmied. Sie war froh, daß Bück nicht im Sarg liegen mußte, aber sie hatte ein schlechtes Gewissen, daß sie dem wackren Mann etwas vorgemacht hatten, vor allem, nachdem er sich so viel Mühe gegeben hatte. »Mit der Darstellung des Pferdes haben Sie sich selbst übertroffen, Jake.« Auf dem Sargdeckel, den Jake abgenommen und an eine Wand gelehnt hatte, befand sich die kunstvolle Abbildung eines galoppierenden Pferdes – Sinnbild der Freiheit –, als ob Tod und Flucht gleichzusetzen wären. Maddie war sehr beeindruckt. »Mein Bruder hätte Ihr Können sehr zu schätzen gewußt«, bemerkte Chase und betrachtete den Sargdeckel eingehender. »Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, daß Sie sich für ihn etwas Besonderes einfallen ließen.«
»Es war mir eine Freude«, sagte Jake knapp. Zu Maddie gewandt, fragte er: »Kann ich Ihnen helfen, den Leichnam in den Sarg zu legen?« Maddie schüttelte schnell den Kopf. »Nein. Wir… wir müssen ihn noch waschen und anziehen, Jake. Wir drei kommen dann schon damit zurecht.« »Oh, das hab’ ich vergessen. Pawnee Mary ist doch noch hier, oder?« Jake wies mit dem Kinn auf die geschlossene Schlafzimmertür. »Ja. Mary hatte Chases Bruder ins Herz geschlossen. Sie hoffte, sie könne ihn wieder gesund pflegen, und jetzt nimmt es sie sehr mit, daß es ihr nicht gelungen ist. Sie… äh… wollte einen Augenblick mit ihm allein sein; Indianer trauern auf ihre Weise.« »Sagen Sie ihr, daß es mir wirklich leid tut, daß er gestorben ist«, murmelte Jake und blickte verlegen auf seine Stiefelspitzen. »Ihretwegen, meine ich. Der Mann selbst hat wahrscheinlich die bessere Lösung gefunden.« »Ich werde es ihr ausrichten, Jake. Danke.« Eine peinliche Stille hatte sich ausgebreitet, als sie regungslos dastanden und sich gegenseitig betrachteten. Maddie hoffte nur, daß Jake keinen Verdacht schöpfte. Dann räusperte sich der Schmied. Es hörte sich an, als ob jemand aus nächster Nähe ein Schuß abgefeuert hätte, und Maddie fuhr erschrocken zusammen. »Ahm… Wann soll ich wiederkommen und Ihnen helfen, den Sarg zum Friedhof zu tragen? Ich hatte schon zwei Männer gebeten, das Grab zu schaufeln, die aber nicht im Dunkeln an die Arbeit wollten. Jetzt, da die Sonne aufgeht, macht es ihnen nichts aus, da draußen auf dem Totenacker allein zu sein.« »Das gibt uns ein paar Stunden«, erklärte Chase ihm. »Dann dürften wir mit allem fertig sein. Wenn der Sheriff nicht heute vormittag kommt, werde ich zu ihm rüber gehen und ihn von Bucks Tod in Kenntnis setzen. Sobald der Kaufladen öffnet, wird Maddie für Bück ein paar Anziehsachen für die Bestattung kaufen. Was er am Leib trägt, ist nicht mehr in Ordnung, meint sie.« Maddie nickte. »Dein Bruder muß anständig gekleidet sein. Wenigstens mit einem neuen Hemd. Das ist das mindeste, was wir für ihn tun können, Chase.«
»Ich bin wirklich froh, daß du hier bist, Maddie, und dich um diese Sachen kümmerst.« Chase seufzte. »Wenn ich alles allein erledigen müßte, bekäme Bück nicht annähernd eine so schöne Beerdigung.« »Ja. Die Frauen wissen, was bei einem Trauerfall zu tun ist«, pflichtete ihm Jake Bussel bei. »Haben Sie eine Bibel zum Vorlesen?« »Ja, Alice hat eine«, meinte Maddie. »Ich muß jetzt nur ein paar Stellen heraussuchen, die ich vorlesen werde.« »Dann haben Sie ja alles im Griff. Wenn Sie Hilfe brauchen, um für die Trauergäste einen kleinen Imbiß vorzubereiten, dann könnte ich Ihnen vielleicht ein paar Frauen schicken und…« Jake, der sich in seiner Hilfsbereitschaft überschlug, merkte natürlich nicht, daß alle nur darauf warteten, daß er sich endlich verabschiedete. Maddie winkte ab. »Oh, Mary und ich werden uns um alles kümmern. Trauergäste erwarten wir nicht, da hier außer uns dreien niemand Bück näher gekannt hat.« »Traurig«, fand Jake kopfschüttelnd. »Wirklich traurig. Tja, dann treffen wir uns in ungefähr zwei Stunden wieder hier.« Maddie atmete erleichtert auf, als Jake Bussel endlich zur Haustür hinausging. Kurz vor dem Morgengrauen hatten sie Bück in das Kühlhaus im Garten gebracht. Seitdem wurde sie das Gefühl nicht los, sie müsse aus der Haut fahren. Dieses Doppelspiel ging ihr gegen den Strich, vor allem, wenn es sich um einen treuen Freund wie Jake handelte. Sobald er gegangen war, öffnete sie die Schlafzimmertür. »Er ist endlich weg, Mary. Wir machen uns gleich an die Arbeit, bevor noch jemand auftaucht.« Sie wollten den Sarg mit großen schweren Steinen füllen und in Teile eines Bettuches einwickeln, damit sie nicht klapperten. Maddie hatte bereits ein altes Laken zerschnitten, nachdem sie einen Stapel großer Steine hinter dem Kühlhaus entdeckt und während der Dunkelheit hereingetragen hatte. Bis jetzt war alles planmäßig verlaufen, die Feuerprobe aber mußten sie noch bestehen, wenn der Sheriff erschien. Ungefähr eine Stunde Zeit blieb ihnen noch, und wenn Chase Glück hatte, gelang es ihm, Moses abzupassen, bevor er zu Alice Neffs Häuschen
kam. Nachdem Chase seinen Gang zum Gefängnis und zum Kaufladen gemacht hatte, müßte sich die Nachricht von Bucks Tod in der Stadt verbreitet haben, überlegte Maddie. Bevor aber die Leute kamen, um ihnen ihr Beileid auszusprechen, mußte der Sarg zugenagelt sein. Schließlich könnte jemand auf die Idee kommen, sich den Toten anzusehen. Das mußte verhindert werden. Maddie hatte Angst, daß Moses auf der Öffnung des Sarges bestehen könnte. Da er ziemlich mißtrauisch war, konnte er ihnen Schwierigkeiten machen. Chase hatte einen Plan ausgeheckt, um Moses abzulenken, aber Maddie war nicht sicher, ob es auch klappte. Erst wenn der Sarg auf dem Friedhof begraben war, konnten sie beruhigt sein. Aber trotzdem konnte dann noch alles mögliche geschehen, um Bucks Flucht zu vereiteln. Schnell füllten sie den Sarg mit den stoffumwickelten Steinen und waren beinahe fertig, als es an der Haustür klopfte. »Verdammt!« fluchte Chase. »Der Sheriff kommt zu früh. Und der Kaufladen ist noch geschlossen. Mist! Jake war bestimmt bei Moses und hat ihm Bescheid gesagt. Schnell. Wir legen den Deckel auf den Sarg, bevor du an die Tür gehst, Maddie.« Kaum hatten sie den Sarg verschlossen, als die Tür aufging und Alice Neff den Kopf hereinsteckte. »Schon jemand auf? Ich hab’ frischgebackenes Brot gebracht und… Du meine Güte!« Mit einem großen Korb, über den ein kariertes Tuch gedeckt war, trat Alice in das Wohnzimmer. »Der Arme hat es nicht geschafft. Ein Jammer. Aber das hatte ich mir schon gedacht. Schüsse in den Bauch sind meistens tödlich.« Maddie eilte auf die ältere Frau zu, um den Korb entgegenzunehmen. »Er ist in der Nacht gestorben, Alice. Wir… ehm… wir haben ihn gerade in den Sarg gelegt, den Jake vorhin gebracht hat.« Chase stützte beide Hände auf den Sargdeckel und nahm eine gramgebeugte Haltung ein, während Maddie die Augen schloß, den Kopf neigte und einen klagenden Laut von sich gab. Alice verdrehte die Augen nach oben, während Maddie den Korb mit dem duftenden Brot zum Tisch trug,
der zur Seite geschoben worden war, um für den Sarg Platz zu schaffen. »Vielen Dank für das Brot«, flüsterte Maddie und wandte sich Alice zu. »Wie lieb von Ihnen, so früh am Morgen an uns zu denken.« »Dieses ewige Gejammer kostet einen noch den letzten Nerv«, gestand Alice und trat näher zu Maddie heran »Habt ihr was Passendes, in dem ihr den armen Kerl beerdigen könnt?« Die Frage ließ Maddie verstummen, da sie dachte, die Antwort verstünde sich von selbst. »In was beerdigen? In diesem Sarg, natürlich. Jake hat ihn für den Notfall gezimmert. Und der ist ja nun eingetreten.« »Nein, ich meine, was zieht ihr ihm an? Soviel ich weiß, hatte er nicht einmal ein Hemd an.« »Ein… nein, ganz richtig. Sobald der Laden geöffnet hat, wird Chase etwas für ihn kaufen«, antwortete Maddie flüsternd. »Oh, das ist nicht nötig«, widersprach Alice. »Ich habe doch noch alles von meinem verstorbenen Mann. In der Truhe in meinem Schlafzimmer ist noch ein nagelneues Hemd von ihm. Ich hatte es extra für ihn genäht, aber er starb, bevor er es anziehen konnte, und für Moses’ Wampe ist es nicht weit genug. Ich hole es rasch und helfe Ihnen dann beim Anziehen.« Sie schob sich an Maddie vorbei. »Der arme Mann muß doch wenigstens für sein eigenes Begräbnis anständig angezogen sein. Aber warum hat Chase dann schon den Deckel auf den Sarg gelegt? Sagen Sie ihm, er möchte ihn abnehmen, während ich das Hemd hole. Brauchen Sie auch eine frische Hose? Vielleicht finde ich in der Truhe noch eine. Ich werfe nur ungern Sachen weg, die man noch gebrauchen kann.« Maddie zuckte hilflos mit den Achseln und warf Chase einen verzweifelten Blick zu, dann folgte sie Alice ins Schlafzimmer. Sie mußte sich schnell etwas einfallen lassen. Chases Gesichtsausdruck ließ ebenfalls nicht auf eine brillante Eingebung schließen. Alice war zu früh gekommen und hatte sie mitten in ihren Vorbereitungen überrascht. Während Alice in der Truhe herumkramte, nagte Maddie unentschlossen an der Unterlippe. Der rettenden Einfall war immer noch nicht gekommen, als Alice strahlend ein schneeweißes Hemd in Höhe hob und krähte: »Hier ist es! Und es ist auch noch schön bestickt. Damit werden Sie einverstan-
den sein, Maddie. Passen müßte es ihm. Wenn nicht, dann läßt es sich schnell ändern… Maddie, Liebes, was haben Sie denn?« Maddie folgte einem plötzlichen Geistesblitz. »Alice, ich muß Ihnen etwas sagen.« Mit wenigen Worten erklärte sie ihr, was sie vorhatten. Alice lauschte mit offenem Mund. Als Maddie geendet hatte, schnappte sie nach Luft, schüttelte den Kopf und machte ihn wieder zu. Maddie schickte ein Stoßgebet gen Himmel. Hoffentlich hatte sie das Richtige getan! Gespannt wartete sie auf Alices Reaktion. »Ich glaube, ich verstehe, warum Sie das tun, Maddie McCrory, aber meinen Sie, daß man einen so schwerkranken Mann wie Mr. Cumberlands Bruder ausgerechnet in diesem erbärmlichen Kühlhaus verstecken sollte?« »Sie… Sie meinen, wir sollten ihn woanders verstecken?« »Es wird mindestens einige Tage dauern, bevor man ihn transportieren kann, außerdem kann er nicht so lange auf dem feuchten Steinfußboden liegen. Heut nacht werden wir ihn heimlich ins Haus zurückbringen. Da kann ich ihn mit Mary ordentlich pflegen, bis er wieder zu Kräften kommt. Dann können Sie ihn in die Prärie hinausbringen, in den großen Wagen, mit dem Ihr Pa immer zu den Rennen gefahren ist. Dort kann er sich dann, wie Sie geplant haben, in Ruhe erholen.« Maddie war so erleichtert, daß sie beinahe in Tränen ausgebrochen wäre. »Oh, Alice, vielen Dank! Ich hatte solche Angst, daß Sie dagegen sind, und jetzt stehen Sie hier und bieten uns Ihre Hilfe an.« »Ich dachte, ich hätte gestern deutlich gezeigt, auf welcher Seite ich stehe. Dieser arme Mann hat genug gelitten für das, was er in Texas getan oder nicht getan hat. Moses muß seine Amtspflicht erfüllen, das heißt aber nicht, daß ich ihm alles nachplappern muß. Ich bin stolz auf ihn, daß er seinen Standpunkt vertritt, aber ich mache mir nun mal meine eigenen Gedanken darüber, was richtig oder nicht richtig ist, und so bin ich vielleicht der Helfer, den Sie brauchen, um die ganze Sache durchzuziehen.« »Oh, Alice, Sie sind wundervoll!« Maddie umarmte die zierliche Frau, aber Alice wehrte ab, als ob ihr Angebot selbstverständlich wäre. »Sagen
Sie jetzt der Indianerin, daß sie mit dem furchtbaren Gejammer aufhören soll oder daß sie es sich zumindest für Moses aufspart. Wenn er kommt, kann sie ihn damit beeindrucken.« Eine Stunde später tauchte der Sheriff tatsächlich auf. Chase wollte gerade das Haus verlassen, um ihm entgegenzugehen, aber kaum hatte er die Haustür geöffnet, stand Moses keuchend und prustend auf den Stufen, ausgerechnet in Begleitung von Horace Brownley! »Wir kommen, um den Gefangenen abzuholen«, verkündete Moses gespreizt. »Ich habe den Behörden in Texas bereits telegraphisch mitgeteilt, daß ich Bück Cumberland verhaftet habe, und sie kabelten zurück, daß ich ihn nicht aus den Augen lassen soll, weil er so glitschig ist wie ein eingefetteter Eber im Wettkampf beim Schweinefangen.« Horace Brownley zupfte an seiner Amtskette und blickte Maddie an, die hinter Chase getreten war. »Als Bürgermeister und stellvertretender Friedensrichter möchte ich sicherstellen, daß der Gefangene unmittelbar ins Gefängnis gebracht wird. Wir können ihn in Hopewell nicht frei herumlaufen lassen. Außerdem habe ich Moses gesagt, daß es meine Aufgabe ist, die ausgesetzte Belohnung im Namen der Stadt entgegenzunehmen. Moses tut schließlich nur seine Pflicht. Das Geld steht ihm daher nicht zu.« Chases Augen tasteten die beiden von oben bis unten und von unten nach oben ab, als ob sie faulige Eier wären, die seine Atemluft verpesteten. »Bedaure, aber Sie kommen zu spät, meine Herrn. Mein Bruder ist heute nacht verstorben.« Horace und Moses tauschten erstaunte Blicke aus. »Er ist uns so einfach weggestorben?« fragte Moses, als ob er es nicht ganz glauben würde. »Hören Sie nicht, wie Pawnee Mary weint?« Maddie nickte zur offenen Tür hin. »Die arme Frau ist außer sich vor Kummer.« Wie auf ein Stichwort durchschnitt Marys Wehklagen die Morgenstille; es hörte sich an wie bei einer Katze, deren Schwanz unter einen Schaukelstuhl geraten war, nur noch schauerlicher. Moses’ Gesicht rötete sich; auch Brownleys feiste Wangen färbten sich lebhaft rot. Horace drehte sich zu Moses und stieß ihm mit dem Ellbogen in die Seite. »Sehen Sie sich lieber die Leiche an, um sicher zu sein, daß der Mann
tatsächlich tot ist.« »Aber Horace…«, ließ sich Maddie vernehmen, während Moses versuchte, an Chase vorbei ins Haus zu gehen. »Lassen Sie mich rein, Cumberland«, befahl der Sheriff. »Ich muß den Toten begutachten und seine Identität bestätigen« Chase wich nicht von der Stelle. »Sheriff, wir haben den Sarg bereits zugenagelt. Wenn ich Sie wäre, würde ich ihn nicht öffnen.« »Zum Teufel noch mal, warum nicht? Sie wollen mir doch nicht weismachen, er wäre an irgendeiner ansteckenden Krankheit gestorben, hm? Der Mann hatte einen Bauchschuß, also liegt es auf der Hand, daß er daran gestorben ist, aber ich muß mich selbst davon überzeugen.« »Nein, Sheriff, ich will Ihnen hier nichts vormachen.« Chase blickte ihn ruhig an. »Eigentlich wollte ich den Sarg erst zunageln, nachdem Sie hier waren. Ich wollte gerade aus dem Haus gehen, um Sie zu holen, aber Pawnee Mary hat ein furchtbares Theater gemacht, also mußte ich den Sarg sofort und für immer schließen. Während meiner Abwesenheit wollte sie den Leichnam meines Bruders aus dem Sarg holen, um ihn auf Indianerart zu begraben. In Häute gewickelt sollte er draußen in der Prärie auf einer Plattform aus Holz bestattet werden.« »Ist das wahr?« fragte Moses mißtrauisch. Maddie merkte ihm an, daß er die Geschichte nur zur Hälfte glaubte. »Ja, ich hab’ gehört, daß die Rothäute seltsame Beerdigungsriten hätten. Und das scheint mir der Beweis dafür zu sein, oder?« »Lächerlich!« Horace machte eine abwertende Handbewegung in Richtung Maddie und Chase. »Haltet ihr uns für Narren? Wir rühren uns hier nicht eher vom Fleck, bis wir die Leiche des toten Mannes gesehen haben.« »Dann seien Sie meine Gäste«, erwiderte Chase entgegenkommend und trat einen Schritt zur Seite. Ich hoffe nur, Sie haben ein Brecheisen dabei.« Wieder war ein lautes Wehgeschrei aus dem Hausinneren zu hören. »Hör auf, Mary. Hör damit auf!« schrie Alice. »Mr. Cumberland! Maddie! Kommen Sie schnell! Mary hat sich zur Hälfte das Haar abgeschnitten, und jetzt versucht sie, den Sargdeckel zu öffnen!«
Alle rasten in das Wohnzimmer, wo Mary wie eine Furie tobte, daß sogar Maddie erschrak. Ein großes Messer schwingend, hatte sich Mary lange Haarbüschel abge schnitten. Verstreut lag das schwarze Haar auf dem Boden. Wie eine Wahnsinnige versuchte sie nun, den Sargdeckel zu öffnen, während Alice sie daran nach Kräften hinderte. »Mary, Schätzchen, das kannst du nicht machen! Es ist nicht recht. Bück ist ein weißer Mann, und er sollte nach Sitte der Weißen beerdigt werden, nicht nach heidnischen Indianerbräuchen.« Alice wandte sich Moses zu. »Moses, halt sie bitte fest! Sie will den Sarg aufmachen, und wenn es ihr gelingt… Puh, die Leiche fing schon zu riechen an.« Moses packte die wild zappelnde Pawnee Mary und zog sie vom Sarg weg. »Jemand muß ihr das Messer abnehmen!« rief er, und Chase kam der Aufforderung rasch nach. »Und jetzt reißt du dich zusammen, meine Gute! Hast du verstanden?« Mary hörte sofort auf, sich zu wehren. Nach Luft schnappend trat Moses einen großen Schritt von ihr zurück. »So ist es schon besser. Was, zum Teufel, ist in dich gefahren? Das hier ist kein Indianerreservat, sondern eine Stadt der Weißen, und wir beerdigen die Toten nach unseren eigenen Gebräuchen.« »Hah!« schnaubte Pawnee Mary wütend. »Silberhaar mein Mann. Er nach meiner Art bestattet werden. Ich ihn in die Prärie hinaus bringen und Plattform bauen. Silberhaar bestatten, wo sein Geist frei aufsteigen kann.« »Sein Bruder möchte ihn aber auf seine Art begraben«, erklärte Moses ihr. »Auf dem Friedhof Boot Prärie«, ergänzte Chase. »Das Grab ist bereits ausgeschaufelt, und wir haben vor, ihn noch heute vormittag zu beerdigen. Das habe ich dir aber schon gesagt, Mary… Bitte, sei einverstanden. Es wird eine schöne Feier.« »Kasten aufmachen«, beharrte Mary. »Mir Körper geben. Wenn mich nicht lassen in Prärie hinaus, ich bauen Plattform in Baum. Ihn dort ablegen.« »Baum? Welcher Baum?« krächzte Horace Brownley. »Hier gibt es keine Bäume, nur unsere alte knorrige Eiche.« »Ich ihn dann dort hinbringen«, sagte Mary eisern. »Bessere Beerdi-
gungsstätte als dunkles Loch in Erde. Wenn Fleisch verwest, ich nehmen Knochen mit und verstecken.« »Man kann doch eine Leiche nicht mitten in der Stadt auf einem Baum deponieren und warten, bis sie verwest!« Bei dieser Vorstellung geriet Horace Brownley außer sich. Zu Alice gewandt, fragte er: »Ist das wahr? Die Leiche beginnt bereits zu… zu verwesen?« Alice nickte mit grimmigem Gesicht, aber in den Augen der zierlichen Frau entdeckte Maddie ein kleines Zwinkern. Alice genoß die Situation in vollen Zügen. Sie trat näher an Horace Brownley heran und flüsterte ihm ins Ohr. »Es ist schlimm, Bürgermeister, wirklich schlimm. Ich wollte nicht, daß mein Haus… Sie verstehen… verseucht wird, daher habe ich Mr. Cumberland keine Ruhe gelassen, bis er den Sarg für immer zugenagelt hat.« Alice wirbelte herum und stellte sich vor Moses. »Wenn du nachprüfen willst, ob da eine Leiche drin ist, Moses, dann brauchst du nur mich zu fragen. Ich hab’ mitgeholfen, Bück ein sauberes Hemd anzuziehen. War furchtbar mühsam, denn er war schon steif und ließ sich kaum bewegen, und der Gestank hat einen krank gemacht. Ent schuldigen Sie, Chase, aber die zerfetzten Eingeweide haben die Verwesung anscheinend beschleunigt. Wenn ihr diesen Sarg öffnen wollt, dann bitte draußen auf der Veranda, denn mein Wohnzimmer möchte ich nicht… wie ich schon gesagt hab’… mit diesen, diesen Gasen verseuchen…« Chase blickte Moses an. »Sheriff? Wenn Sie noch auf der Öffnung des Sarges bestehen, dann können wir ihn ja mit Ihnen, Mr. Brownley, auf die Veranda tragen. Müßte zu schaffen sein.« »Ja«, rief Pawnee Mary. »Ich helfen mit. Sie machen Kasten auf und geben mir Körper. Geruch mich nicht stören.« »Nein!« platzte Horace Brownley heraus. »Ich verbiete es. Ich verbiete es ein für allemal. Dieser Sarg wird nicht geöffnet. Außerdem ordne ich an, daß er so schnell wie möglich unter die Erde kommt. Heidnische Riten sind nicht erlaubt. Hast du mich verstanden, Pawnee Mary? Und wenn du Ärger machst, weil Mr. Cumberland seinen Bruder auf seine Art beerdigt, dann lasse ich dich ins Gefängnis werfen.« »Einen Moment, Horace.« Moses hob eine Hand. »Sie haben nicht zu
bestimmen, ob jemand ins Gefängnis kommt oder nicht. Das ist meine Aufgabe. Ich könnte sie einsperren, weil sie ein Begräbnis stört, aber wenn ich das tue, dann ist es meine Entscheidung und nicht die Ihre.« »Ja, selbstverständlich. Ich meinte nur… das heißt…« »Sie mögen Bürgermeister und Bankier sein, aber ich bin der Sheriff«, fügte Moses hinzu, und Alice Neff zollte ihm mit einem strahlenden Lächeln Beifall. »Nicht nötig, mich in Gefängnis stecken«, sagte Pawnee Mary. »Ihr mich nicht haben wollen, ich jetzt gehen. Ab schütteln Staub von dieser Stadt von meinen Mokassins für immer. Ihr nie mehr sehen mein Gesicht.« »Oh, Mary, bitte, versteh’ es doch«, bat Maddie. »Wir wollen nicht, daß du von hier weggehst; wir wollen doch nur…« »Doch, das wollen wir«, unterbrach sie Horace Brownley. »Es ist das beste, wenn du verschwindest. In Hopewell bist du ein unerwünschtes Element.« »Sie auch, Horace!« gab Alice bissig zurück und schien mit ihrer Geduld am Ende zu sein. »Tatsache ist, daß Hopewell Sie auch nicht braucht. Ich hab’ mit den Leuten gesprochen und werde meine Umfrage fortsetzen. Wir spielen mit dem Gedanken, eine eigene Bank zu gründen. Ihre Dienste brauchen wir dann nicht mehr.« »Das können Sie nicht machen. Ich bin auch noch Bürgermeister. Haben Sie das vergessen?« Alice schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht ganz. Aber dagegen werden wir auch etwas unternehmen, bei der nächsten Wahl. Jake Bussel könnte vielleicht gewonnen werden, für Ihr Amt zu kandidieren, und wenn er es ablehnt, dann hätte ich noch einige andere fähige Männer im Sinn, einschließlich Mr. Cumberland hier.« »So interessant das alles auch ist, Alice«, mischte sich Chase ein, »… wir haben eine Beerdigung vor uns. Mary, ich hoffe, du nimmst daran teil, denn mein Bruder hatte dich aufrichtig gem.« »Gut. Ich bleiben«, stimmte Mary widerwillig zu. »Aber nach Beerdigung ich diesen Ort für immer verlassen. Ich gehen weit weg… Mir jetzt Messer zurückgeben. Ich nicht wieder versuchen, Kasten zu öffnen.«
Moses war sofort mißtrauisch. »Wenn du den Sarg nicht öffnen willst, wozu brauchst du dann das Messer? Chase, geben Sie es ihr nicht.« »Damit ich abschneiden kann kleinen Finger«, antwortete Mary. »Alte Indianersitte. Finger abschneiden, trauern um lieben Toten.« Aller Augen starrten sie an. Maddie gratulierte Mary im stillen zu ihren schauspielerischen Fähigkeiten, hoffte aber gleichzeitig, daß die indianischen Sitten und Gebräuche ein so barbarisches Ritual ausschlössen. Horace Brownley zwinkerte wie eine Eule; nur der bullige Moses Smith war geistesgegenwärtig genug, um sofort dagegen zu protestieren. »Das Messer bekommst du erst nach der Beerdigung, und wenn ich dich beim Fingerabschneiden erwische, nehme ich dir das Messer für immer weg. Cumberland? Geben Sie mir das Messer.« Chase reichte es ihm schweigend. Auch ihn hatte Marys Vorstellung beeindruckt. »Du mich nicht kriegen, weißer Mann«, erwiderte Mary verächtlich. »Wenn ich es tun, ich sein weit, weit weg von hier.« Bei diesem Versprechen bekam sogar Maddie eine Gänsehaut. »Na also!« trumpfte Horace Brownley auf. »Da die Angelegenheit offensichtlich geklärt ist, werde ich mich wieder in meine Bank begeben. Aber bevor ich gehe, Miss McCrory, muß ich Sie darauf hinweisen, daß die Frist für Sie und Ihre Familie abläuft. Das Geld, das Sie mir schulden, wird morgen fällig.« »Dann darf ich Sie daran erinnern, daß morgen Sonntag ist«, bemerkte Maddie kühl. »Hat die Bank jetzt auch sonntags geöffnet?« Horace zog die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf. »Das Wochenende habe ich anscheinend ganz vergessen. Dann ist es am Montag fällig… Nein, Augenblick. Die Bank wird am Montag, Dienstag und Mittwoch wegen Renovierungsarbeiten geschlossen bleiben. Das Dach ist undicht und muß neu gedeckt werden.« »Gut, dann gibt mir das mehr Zeit. Vielleicht habe ich Ihr Geld am Donnerstag bereit.« »Das hast du«, versprach Chase mit zornbebender Stimme. »Dafür werde ich sorgen.« Es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um mit Chase darüber zu spre-
chen, und Maddie beließ es dabei, außerdem wurde eine weitere Debatte darüber durch Alice Neffs Bemerkung unterbrochen. »Horace Brownley, Ihre Überheblichkeit ist auch ein Grund für meine Kampagne, Sie abzusetzen. Nicht nur mich haben Sie so schmählich behandelt, sondern auch andere, und wir alle haben jetzt genug davon.« »Das ist rein geschäftlich«, warf Horace Brownley mit gerötetem Gesicht ein. »Und ich habe die Verpflichtung, die Geschäfte meiner Bank mit größter Gewissenhaftigkeit zu führen.« »Und wir haben das Recht, unsere Bankgeschäfte an anderer Stelle abzuwickeln, wenn uns Ihr Gebaren nicht paßt… Aber die Schlacht kann warten, würde ich sagen. Moses, wirst du mich zu der Beerdigung begleiten?« Moses grinste von einem Ohr zum anderen. »Selbstverständlich, meine liebe Alice. Ich wäre stolz und glücklich, dich überallhin zu begleiten.« »Im Augenblick nur zum Friedhof.« »Und ich begleite dich zum Telegraphenamt, wenn du der Behörde in Texas durchgibst, daß Bück Courtland das Zeitliche gesegnet hat.« »Was?« Eine steile Falte stand auf Moses’ Stirn. »Oh, natürlich. Ich glaube, das muß ich noch machen. Dort wird man über diese Nachricht nicht begeistert sein. Dem hätten sie zu gern den Prozeß gemacht. Anscheinend hat die Familie Madison dort einen großen Einfluß.« Maddie beobachtete die wechselnden Stimmungen auf Chases Gesicht. Wie gerne hätte sie ihn jetzt umarmt und geküßt! Bucks Alptraum, ständig auf der Flucht sein zu müssen, hatte nun endlich ein Ende gefunden; sie brauchten jetzt nur diesen leeren Sarg zu begraben und aufzupassen, daß keiner die Wahrheit erfuhr. Horace Brownley und der Sheriff räumten das Feld. Maddie, Chase, Pawnee Mary und Alice genossen einen Augenblick lang ihren Triumph. Doch es gab noch viel zu tun. Mary und Alice eilten zum Kühlhaus, um nach Bück zu sehen, während sich Maddie um den Imbiß kümmerte und Chase den leichten, vierrädrigen Wagen holte, um den Sarg zum Friedhof zu überführen. Eine Stunde später wurde die Trauerfeier für Bück abgehalten. Erstaun-
lich viele Einwohner der Stadt hatten sich in Alice Neffs Häuschen eingefunden. Während der Bibellesung wurde Maddie plötzlich bewußt, daß die Menschen nicht nur ihretwegen gekommen waren, sondern auch, um Chase und Alice und vielleicht auch Pawnee Mary ihre Anteilnahme zu bekunden. Hochzeiten und Beerdigungen brachten die Menschen einander näher als alles andere, sinnierte sie, ausgenommen ein Pferderennen vielleicht oder das beliebte Scheunentanzfest in Kansas. Sie blickte in die Runde der stillen, andächtigen Gesichter. Die Grovers waren da und Jake, Jefferson Potts, Amos Pardy, Hiram Garret und auch Lily Tolliver, die zwei Mädchen aus ihrem Saloon mitgebracht hatte. Moses stand neben Alice, die sich bei ihm untergehakt hatte. Horace Brownley und sein Bürogehilfe Elwood waren nicht erschienen, und Maddie wünschte sich, sie würde keinen von beiden jemals wiedersehen. Sie schloß die Augen und lauschte Chases ruhiger Stimme, als er vom Guten Hirten vorlas, der für seine Schafe sorgte. Etwas über Pferde wäre passender gewesen, aber sie hatte in der Bibel weder eine Stelle über Pferdezüchter noch über Pferderennen gefunden. Chase schloß das Buch und sagte: »Ich glaube, dies ist ein geeigneter Augenblick, um Ihnen aus dem Leben meines Bruders zu erzählen. Ich habe keine Erfahrung mit Trauerfeiern und bin mir über deren Abfolge nicht sicher, aber ich kann Ihnen von Bück erzählen oder dem Mann, den Pawnee Mary Silberhaar nannte.« Er zählte einige Erlebnisse aus ihrer Jugend auf, als Bück ihn auf dem Weg zum Erwachsenwerden geführt hatte und der dann mit Bucks tragischem Unfall endete. »Mein Bruder wußte nicht, daß sich sein Leben von Grund auf verändern würde – nicht zum Guten –, als er bei dem Unwetter ausritt, um mir beim Eintreiben der Rinder zu helfen.« Chase fing Maddies Blick auf. »Aber hätte er es gewußt, würde er es trotzdem getan haben; solch ein Mensch und Bruder war er. Aber das Bemerkenswerteste war, daß er mir danach niemals den Vorwurf gemacht hatte, daß ich unbedingt allein in das Unwetter hinausmußte. Nie ließ er seinen Kummer, seine Wut oder Enttäuschung darüber an mir aus. Ich kann nur hoffen und beten, daß er jetzt an einem glücklicheren Ort ist – und daß sein Glück ewig währen
wird.« Maddies Augen füllten sich mit Tränen, als auch sie für Bucks und Marys zukünftiges Glück betete. »A…men«, sagte Lily Tolliver mit lauter Stimme, und alle anderen schlössen sich ihr an. Als es Zeit war, den Sarg zu seiner letzten Stätte zu bringen, beaufsichtigte Jake Bus sei das Aufladen auf den vierrädrigen Buckboard, dann fragte er Chase und Maddie, ob sie mit ihm auf dem Kutschbock sitzen oder lieber zu Fuß hinterhergehen wollten. Chase entschied sich für letzteres. Hand in Hand mit Maddie führte er die kleine Prozessbn der Trauernden an. Mary ging neben ihnen, den Kopf hocherhoben, das Gesicht wie immer undurchdringlich. Als sie an dem frisch ausgeschaufelten Grab auf dem kleinen Geviert mit den Holzkreuzen und anderen schlichten Markierungen ankamen, lehnte Mary es ab, sich an das Grab zu stellen. Immer noch ihre Rolle spielend, stand sie abseits und starrte trotzig in die Prärie und in das flimmernde Sonnenlicht hinaus. Chase las noch eine Stelle aus der Bibel vor, diesmal über das Wandern aus dem Tal der Finsternis. Dann half er den Totengräbern und Jake Bussel, den Sarg in die Grube hinabzulassen. Er warf Erde auf die Abbildung des galoppierenden Pferdes und nickte Maddie zu, daß sie die anderen anhielt, es ihm gleichzutun. Die ganze Prozedur dauerte kaum eine dreiviertel Stunde, und bald war alles wieder in das Häuschen zurückgekehrt und stärkte sich an dem kleinen Imbiß und den Erfrischungen, die Maddie und Alice vorbereitet hatten. Jetzt merkte Maddie, daß Pawnee Mary unbemerkt zum Kühlhaus entschlüpft war. Langsam löste sich auch die Schar der Trauergäste auf, aber nicht bevor einige das Rennen erwähnten, das für den nächsten Tag festgesetzt war. Abilene war zu weit entfernt, um pünktlich zum Rennen einzutreffen, und Maddie hatte es längst aufgegeben, sich darüber Gedanken zu machen. Sie hatte keine Ahnung, ob ihre Familie es geschafft hatte. Sie würde es erst erfahren, wenn sie mit dem Buckboard oder einem Pferd aus dem Mietstall zu Hause eintraf.
Endlich war auch der letzte Gast gegangen. Alice packte die Reste eines Schinkens ein, den die Grovers aus dem Kaufladen mitgebracht hatten. »Ich werde das hier ins Kühlhaus bringen, damit es nicht verdirbt«, erklärte sie Maddie augenzwinkernd. Chase trat ihr in den Weg. »Oh, kann ich Ihnen den Weg nicht abnehmen?« »Nein. Es wäre doch außergewöhnlich, wenn Sie das machen würden. Aber ich nehme an, Sie beide haben noch viel zu besprechen. Ich werde schon eine Arbeit finden, um mich nützlich zu machen, solange ich da draußen bin. Jeder Vorwand, um mich im Kühlhaus zu besuchen, muß bis zur Dunkelheit aufgeschoben werden. Sie wissen, was ich meine.« Chase nickte. »Sie haben recht, Alice… aber Sie geben mir doch Bescheid, wie sich die Dinge da draußen entwickeln, nicht wahr?« »Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf, Chase. Mary ist bei Ihrem Bruder, und da bleibt sie auch, bis wir ihn ins Haus zurückbringen können. In ein paar Tagen dürfte er transportfähig sein, wenn Sie also noch einiges erledigen müssen, bevor es soweit ist, dann tun Sie es jetzt.« Die kleine zierliche Person eilte zur Tür, und Maddie, froh, mit Chase allein zu sein, wartete noch eine Sekunde ab, bevor sie sich in seine Arme warf.
VIERUNDZWANZIG Chase vergrub die Nase in Maddies rotem Haar und atmete seinen sonnenwarmen Duft ein. Sie roch nach Sommer, nach Frau, nach allen guten Dingen, die man zum Leben brauchte, das heißt, die er zu seinem Leben brauchte. Würde er jemals genug von ihr bekommen? Jemals satt werden? Die halbe Nacht hatte er sie geliebt, aber er begehrte sie bereits wieder. Jetzt. Es war die reinste Folter, daß er sie jetzt nicht haben konnte, nicht, wenn Alice, Mary und Bück draußen im Kühlhaus waren. Vorbereitungen mußten getroffen und die Geschehnisse des Vormittags verdaut werden. Er konnte es immer noch nicht fassen, daß sie davongekommen waren, daß
Bück, frei war. Aber wenn es dabei bleiben sollte, mußten sie auf der Hut sein und jeden unvorhergesehenen Zwischenfall bedenken und wie sie damit fertig würden. Nein, die Zeit zum Feiern war noch nicht gekommen. Aber einige kostbare Augenblicke lang könnte er die geliebte Frau in den Armen halten, sich dem Traum hingeben, daß sie nur ihre gemeinsame Zukunft zu planen hatten, daß nichts anderes zählte, weder Bück noch Brownleys Drohung. Auch nicht der Gedanke daran, daß die ganze Familie McCrory in wenigen Tagen völlig mittellos sein könnte. Oder er, wenn er Maddie die versprochene Hilfe zukommen ließ. Er hatte den Ausdruck ihrer Augen gesehen. Jedesmal, wenn er ihr seine Hilfe anbot, blitzten sie wütend auf. Sie würde sich mit Händen und Füßen wehren, um ihn nicht in die finanziellen Probleme ihrer Familie hineinzuziehen. Das würde auch eines der Themen sein, über das sie spre- chen mußten. Er hatte alles durchkalkuliert – fast alles. Er brauchte nur noch ihre Zustimmung. »Es ging doch alles überraschend gut, hm?« murmelte er in ihr Haar. »Obwohl es einige Momente gab, in denen ich nicht mehr zwischen Theater und Wirklichkeit unterscheiden konnte und beinahe geglaubt hätte, ich würde meinen Bruder tatsächlich beerdigen.« Sie nickte an seiner Schulter und hob den Kopf, um ihn lächelnd anzusehen. »Aber er lebt, Chase! Wir haben sie alle an der Nase herumgeführt, und Mary und Bück haben jetzt die Chance, glücklich zu werden.« »Ja, mein Liebling, aber mehr als eine Chance ist es nicht. Noch viele Steine liegen auf ihrem Weg. Bucks Gene sung, zum Beispiel. Er lebt, Gott sei Dank, aber es wird noch eine Weile dauern, bis er wieder zu Kräften kommt, und das ist die erste Hürde.« »Ach was! Er hat Mary, die ihm zur Seite steht. Nur darauf kommt es an.« »Kommt es nur darauf an, daß wir einander haben?« Er umfaßte ihre Schulter, um ihr durch eine Berührung nahe zu sein. Am liebsten hätte er sie jetzt geküßt, aber das wagte er nicht. Sie nickte. »Etwas anderes zählt doch nicht, oder?« »Nein, Maddie, etwas anderes zählt nicht. Allmählich hatte ich meine Zweifel, daß du in diesem Punkt auch so denkst wie ich. Darüber bin ich froh. Du hast also nichts dagegen, wenn ich für deine Schulden bei Horace Brownley aufkomme. Viel wird nicht mehr für uns übrigbleiben, aber gemeinsam werden wir es schaffen.«
Die blauen Augen verdunkelten sich plötzlich, und das Kinn reckte sich eigensinnig nach oben. »Nein, Chase. Ich werde nicht zulassen, daß du für die Schulden meiner Familie aufkommst. Das ist unser Problem… ich meine, das Problem der McCrory s. Entweder lösen wir es selbst, oder wir tragen die Konsequenzen.« »Unsinn. Deine Farm ist besser als meine. Zum Teufel, sie ist viel größer, und die Gebäude sind aus Kalkstein. Es ist doch nur sinnvoll, wenn ich meine Farm Brownley überschreibe und bei dir lebe, bis wir auf eigenen Füßen stehen können. Horace bekommt die Pferde nicht; wir lassen sie in allen Rennen laufen und verkaufen die Fohlen meiner Stuten oder reiten sie zum Rennen zu. Damit sollte es uns doch gelingen, eine eigene Farm zu kaufen. Dann ist auch Little Mike soweit, um alles zu übernehmen.« »Chase, ich sagte nein! Das wäre nicht fair. Das ist ein zu großes Opfer für dich. Wolltest du deinem Bruder nicht helfen? Geld, Vorräte, Pferde? Das wird deine Mittel noch mehr erschöpfen. Nein, ich kann es nicht zulassen. Tut mir leid, aber es geht nicht.« »Maddie…« Chase packte sie fester bei den Schultern, damit sie ihm zuhöre. »Wäre es dir lieber, wenn Brownley, der Fettwanst, deine Farm bekommt und ihr alle bei mir einzieht? Ich lasse deine Familie doch nicht draußen in der Prärie zelten oder ein schäbiges, altes Hause beziehen!« »Ich… ich weiß nicht, Chase.« Sie senkte die Augenlider, und er merkte, wie es in ihr arbeitete. Er fragte sich, ob sie sich den Ansprüchen, die ihre Familie an sie stellte, entziehen könnte. Wahrscheinlich nicht. Dann gab es nur eine Lösung. Sie mußte seine Hilfe akzeptieren und wieder den Platz in der Familie einnehmen, den sie bisher innehatte. Schlug sie seine Hilfe aus, ginge sie das Risiko ein, die Familie zu verlieren. Sie würde und konnte nicht zulassen, daß ihr Vater und ihre Geschwister sich ohne sie durchkämpften, dessen war er sich sicher. Und darum betete er sie an! Sie war zum Lieben geboren; sie war auf dieser Welt, um denen zu helfen, die sie brauchten. Das Schwierige daran war, daß er sie am meisten brauchte! Jetzt mußte sie erst einmal begreifen, daß die Wahl zwischen ihm und ihrer Familie nicht zur Debatte stand; sie konnte beides haben, wenn sie sein Geld annahm. Er mußte ihr verständlich machen, daß es nur zu seinem
Vorteil war, wenn er ihr half. »Ich glaube, wir müssen noch eingehender darüber reden… und nachdenken. Wir sind beide müde. Ich muß in der Stadt bleiben, um Bück heute nacht ins Haus zu bringen und Mary und Alice abzulösen. Geh nach Hause, Maddie, und schlaf dich aus. Außerdem ist es besser so. Die Leute würden nur neugierig werden. Daß ich hierbleibe, läßt sich noch begründen, aber von dir erwartet man, daß du es eilig hast, nach Hause zu kommen. Schließlich willst du ja hören, was sich inzwischen ereignet hat.« »Ich muß gehen«, gab sie kleinlaut zu und blickte ihn an. »Das brauchst du dir doch nicht zu wünschen! Ich liebe dich auf immer und ewig, und wir haben noch das ganze Leben vor uns.« Chase traute dem Frieden nicht. Ein Fragezeichen nach dem anderen tauchte auf. Er machte sich Sorgen. Maddie war eigensinnig genug, um zu dem Schluß zu kommen, sie müsse seine Hufe ablehnen und ihrer Familie in der Krise beistehen und darüber hinaus bei weiteren Schwierigkeiten, die den McCrorys in Zukunft noch bevorstanden. Er konnte es riechen. Wahrscheinlich würde es Jahre dauern, bis er sie für sich allein hatte, und wenn alles schiefging, bekam er sie nie. Wie versprochen, machte Maddie auf ihrem Heimweg bei Chases Farm halt und sah nach den Pferden. Es war spätnachmittags geworden, als sie mit dem gemieteten Pferd den ausgetretenen Weg zum McCrory-Anwesen entlang ritt. Eine merkwürdige Mutlosigkeit überfiel sie, je näher sie ihrem Elternhaus kam. Schuldgefühle und Ängste machten ihr das Herz schwer. Jetzt, nachdem sie Chase nicht mehr an ihrer Seite wußte und die drohende Gefahr von ihm abgewendet war, konnte sie nur schwer begreifen, daß sie so schnell bereit gewesen war, ihre Familie zu verlassen, um ein eigenes Leben zu beginnen. Wie konnte sie ihren Pa und ihre Geschwister nur so lange allein lassen? Ernsthaft ging sie mit sich zu Gericht. Sie war jetzt im wahrsten Sinn des Wortes eine Frau, und alles war anders geworden. Sie hatte das Recht auf eine eigene Familie. Schließlich konnte sie schon ein Kind unter dem Herzen tragen! Wenn dem so war, dann war sie für dieses ungeborene Leben verantwortlich und schuldete ihm ihre uneingeschränkte Liebe wie
auch allen Kindern, die sie eines Tages empfangen würde. Sie war nicht mehr die kleine Tochter, die den Zuspruch der Eltern suchte. Auch brauchte sie sich nicht mehr die Schuld für alles zu geben, was schiefgelaufen war. Vielleicht war sie auch vorbelastet, weil sie die Älteste war, aber irgendwie hatte sie schon immer versucht, Familienangelegenheiten selbstständig zu regeln oder wieder ins reine zu bringen. Vielleicht hatte auch die bestürzende Erfahrung, den Tod der Mutter zu erleben, ihr Verantwortungsbewußtsein gestärkt. In der Nacht, in der Ma im Sterben lag, hatte sie sich zu Maddie gedreht, ihre Hand gestreichelt und sie mit schwacher Stimme gebeten: »Sorge jetzt an meiner Stelle für deinen Pa. Sorge auch für Little Mike, Carrie und Zoe. Auf dich konnte ich mich immer verlassen; und jetzt brauche ich dich, glaube ich, mehr denn je.« Maddie hatte nicht überschauen können, was sie da versprochen hatte. Sie hatte eifrig genickt, um ihre Mutter zu beruhigen. Nun wurde ihr bewußt, daß die Sterbende ihr ein schweres Vermächtnis hinterlassen hatte. Die Bereitschaft, aufopfernd Verantwortung zu übernehmen, konnte nur von Frau zu Frau übertragen werden. Frauen hatten das seit Urzeiten füreinander getan. Die Bande des Blutes, die Familie und deren Zusammenhalt wurde in erster Linie von Frauen erhalten. Maddie begriff und akzeptierte, daß sie selbst ein unerläßliches Glied in dieser Kette war. Wenn sie die Bande der Familie McCrory nicht zusammenhielt, würde die Kette zerreißen… aber hieß das, daß sie Chase nicht haben konnte? Sie rebellierte gegen diese beunruhigende Vorstellung. Es mußte ihr doch gelingen, ihn zum Teil dieser Kette zu machen, damit sie sich verfestigte und nicht zerriß… Sie wußte nicht, wie sie diese Aufgabe lösen sollte. Es gab keine Vorbilder dafür. Es war Chase gegenüber nicht fair, wenn sie zuließ, daß er ihretwegen ein so großes Opfer brachte. Wie furchtbar, daß es so weit mit den McCrorys gekommen war! Sie wünschte, sie könnte ihm eine gesunde und starke Familie bieten, die seine Bewunderung verdiente und nicht sein Mitleid… Wenn er die McCrorys nur schon in ihrer Glanzzeit erlebt hätte, auf dem Gipfel ihres Erfolges! Sie gestand es sich nur ungern ein, aber ihre Familie war nicht vollkommen. Sie hatte Fehler. Und sie war weder stark noch clever oder rück-
sichtslos genug, um sich ohne sie durchzuschlagen. Ihre Geschwister würden eines Tages erwachsen werden und fähig sein, selbständig zu leben, aber irgendwie würden sie ihrer immer bedürfen. Wahr scheinlich würde sie niemals das Gefühl der Verantwortung für sie abschütteln können. Würde es ihr jemals gelingen, ihren Wunsch, Chase den ersten Platz in ihrem Leben einzuräumen, mit den Verpflichtungen der Familie gegenüber zu verbinden? Sie konnte nicht in Frieden mit sich leben, wenn sie ihre halb erwachsenen Geschwister und ihren Vater im Stich ließ. Gleichzeitig konnte sie es nicht verantworten, Chase diese Last aufzubürden. In diesen Gedanken versunken, ritt Maddie langsam auf das Haus zu. Alles war ruhig, sogar der Wind hatte sich gelegt. Das Blätterrascheln in den Baumwipfeln war verstummt. Die ungewohnte Stille war unheimlich. Das Haus sah im Licht der hereinbrechenden Dämmerung leer aus und schien von seinen Bewohnern verlassen. Mit wachsender Unruhe ritt Maddie zu den Ställen. Die im Hühnerhof herumpickenden Hennen und Küken waren das einzige Lebenszeichen. Vergeblich suchte sie nach dem großen Reisewagen. Der Wagen war für die Fahrt nach Abilene vorbereitet worden. Little Mike hatte ausreichend Vorräte eingepackt und sogar die Achsen geschmiert. Aber jetzt war er verschwunden. Maddie glitt aus dem Sattel und führte das Pferd eilig in die Scheune. Gold Decks Stall war leer, auch der von Shovel und Hoe. Anscheinend waren sie nach Abilene unterwegs! Rasch nahm sie dem Leihpferd Sattel- und Zaumzeug ab, führte es in einen leeren Stall, rieb es schnell ab und versorgte es mit Wasser und Futter. Dann rannte sie zum Haus. Jede zweite Stufe überspringend rief sie laut: »Zoe? Pa? Seid ihr da?… Wo seid ihr denn?« Keiner antwortete. Voller Sorge stürmte sie durch das stille Haus, aber sie entdeckte keine Menschenseele. Sie dachte an die restlichen Pferde, an die Fohlen und die Stuten, die zum Decken hier waren. Wieder stürmte sie zur Scheune. Waren alle verschwunden und hatten sie die Tiere sich selbst überlassen? Da die Pferde nicht im Stall waren, mußten sie auf der Weide sein. Um diese Jahreszeit hatten sie genügend Gras zum Fressen, und Wasser war natürlich auch vorhanden. Trotzdem wäre Maddie nie damit einverstanden gewesen, daß man die
Tiere unbeaufsichtigt ließ. Die Kuh mußte gemolken werden, und die Pferde wurden unruhig, wenn man sie nicht ein bis zwei- mal am Tag besuchte. Außerdem konnten sie sich verletzen oder gestohlen werden. Maddie wurde plötzlich wütend. Das war das beste Beispiel dafür! Man konnte sie eben nicht eine Stunde allein lassen! Es war ihnen eben nicht zuzutrauen, daß sie einmal ohne sie zurechtkamen. Als sie aufgebracht aus der Scheune stapfte, machte sie in der Ferne eine Gestalt aus, die im Dämmerlicht auf sie zukam. Ein junger Mann, der ein Pferd führte. Little Mike war es aber nicht. Die Augen zukneifend versuchte sie, ihn besser zu erkennen. Das Rätsel löste sich erst, als er beinahe vor ihr stand. »Guten Abend, Miss McCrory.« Nathan Wheeler, Zoes Verehrer. »Nathan! Was machst du denn hier? Wo ist Zoe und mein Vater?« Nathan trat von einem Fuß auf den anderen und sah etwas befangen aus. »Sie… ehm… sie sind nicht da. Sie sind mit Little Mike und Carrie nach Abilene gefahren. Zoe hat mich gebeten, mich hier solange um alles zu kümmern, und jetzt wollte ich die Stute gerade in den Stall bringen, um einen Schnitt an der Fessel zu verbinden.« »Gold Deck hat sich von seiner Kolik erholt?« »Aber ja. Ihr Pa hat ihn wieder auf die Beine gekriegt, und als Little Mike sagte, daß er nach Abilene fährt, wollte ihr Pa unbedingt dabeisein, falls Gold Deck unterwegs noch eine Kolik bekommen sollte oder andere Probleme auftreten.« In Abilene wankte Pa wahrscheinlich bereits von einem Saloon zum anderen. »Warum ist Zoe nicht hiergeblieben, um auf das Vieh und das Haus aufzupassen?« »Sie hielt es für besser mitzufahren, um Ihren Pa im Auge zu behalten, falls es in Abilene Schwierigkeiten gibt.« »Und du warst gerade zufällig hier, so daß sie dich bitten konnte, ihre Arbeit zu übernehmen?« Wenigstens hatten sie sich darum gekümmert, daß jemand nach den Tieren sah.
Nathan grinste ein wenig dümmlich. »Ich wollte sie eigentlich abholen und fragen, ob sie mit mir in die Stadt reiten möchte, um bei der Gerichtsverhandlung und beim Aufknüpfen dabeizusein. Wurde Mr. Cumberland gehängt?« »Nein, glücklicherweise nicht, aber das ist eine lange Geschichte, Nathan. Während wir das Pferd versorgen, werde ich dir alles erzählen.« Als Nathan die Schnittwunde am Fesselgelenk der Stute auswusch und verband, brachte Maddie ihn auf den neuesten Stand der Dinge. Der junge Mann bedauerte sehr, daß er das alles verpaßt hatte, und war noch betrübter, als er hörte, daß Chases Bruder an seinen Verletzungen gestorben war und daß er jetzt unter der Erde lag, bevor Nathan ihn ausgiebig in Augenschein nehmen konnte. »Zoe sagte mir, daß er weißes Haar hätte und weiße Augenbrauen, und wilde Augen, die einem angst machten. Mann, wahrscheinlich hat der ausgesehen wie Gott beim Jüngsten Gericht.« »Zoe hat ihn nie zu Gesicht bekommen. Sie hat nur von ihm gehört. Jedenfalls ist Bück jetzt tot und begraben, und die ganze Sache ist vorbei. Darum bin ich nach Hause gekommen… Du kannst jetzt auch gehen, Nathan. Zoe wird erst in zwei oder drei Tagen zurückkommen. Ich glaube nicht, daß sie sich sofort nach dem Rennen auf den Heimweg machen; alles hängt davon ab, wie es Gold Deck geht.« »Kann ich in ein paar Tagen wieder vorbeikommen?« Nathan führte die Stute in eine leere Box neben dem Pferd aus dem Mietstall. »Ich möchte doch wissen, wer das Rennen gewonnen hat.« »Selbstverständlich. Du kannst jederzeit kommen. Ich danke dir sehr, daß du dagewesen bist und nach dem Rechten geschaut hast. Diese Verletzung hätte eitern können, und das wäre schlimm gewesen.« »Oh, für Zoe würde ich alles tun! Einfach alles… Das heißt, ich meine…« Nathan schluckte schwer, und der Adamsapfel hüpfte auf und ab. Nathan war anscheinend peinlich, daß er Maddie Gefühle enthüllt hatte, von denen sie besser nichts wissen sollte. »Zoe wird bald vierzehn, Nathan, aber das ist noch sehr jung. Du selbst bist auch nicht viel älter.« »Ich bin älter als Little Mike! Nächste Woche werde ich sechzehn.«
»Du und Zoe, ihr seid noch zu jung füreinander. Warte noch ein paar Jahre. Zoe wird ja noch da sein. Dann braucht es dich nicht in Verlegenheit zu bringen, wenn du bekennst, was du für sie empfindest, das heißt, wenn es dann noch so ist.« »Ja, Ma’am!« Nathan strahlte Maddie an. Er schien über alle Maßen selig zu sein, daß sie ihm kein Hausverbot erteilt hatte. »Also, dann mache ich mich jetzt lieber auf den Heimweg.« »Das würde ich auch sagen, denn es wird gleich dunkel werden.« Nachdem Nathan fort war, ging Maddie ins Haus, zündete eine Lampe an, fütterte die Katze mit einer Untertasse Milch und begab sich erschöpft in ihr Schlafzimmer. Sie war hungrig, aber zu müde, um etwas zu kochen. Sie wollte nichts als schlafen, am liebsten natürlich eng an Chase geschmiegt. Er fehlte ihr entsetzlich. Aber er hatte seine Verpflichtungen und sie die ihren. Sie wußte nicht, wann sie das Bett wieder mit ihm teilen würde – wenn überhaupt. Der Gedanke machte sie niedergeschlagen. Stunden wollte sie mit ihm allein verbringen. Nein, nicht nur Stunden, sondern Tage, Wochen, Monate und Jahre. Nur ihm sollte ihr Denken und Tun gelten. Mit ihrer Liebe wo Ute sie ihn überschütten. Inständig wünschte sie sich, daß nichts zwischen sie trat und sie trennte. Sie haderte mit ihrem Schicksal. Als Cob auf ihr Bett sprang, sich ein bequemes Plätzchen aussuchte und sich schnurrend zu einer weichen Fellkugel zusammenrollte, empfand sie dies als willkommenen Trost. Sie wünschte sich Chase an ihrer Seite, aber statt seiner lag Cob in ihrem Bett kein gutes Vorzeichen, dachte sie und gähnte. Sofort fiel sie in einen tiefen gesunden Schlaf und träumte selig von Chase, der sich über sie beugte, sie küßte, Zärtlichkeiten murmelte und sie an der Hüfte berührte. Ihr Körper pochte vor plötzlichem heißem Sehnen nach ihm. Sie streckte die Arme nach ihm aus und seufzte seinen Namen. »Ja, ich bin es«, flüsterte er und glitt neben sie ins Bett. »Ich konnte nicht ohne dich sein, Maddie. Bück geht es gut. Mary ist bei ihm, und Alice ist auch da. Und da dachte ich, Teufel noch mal, was soll’s! Ich gehöre zu meiner Frau. Ich weigere mich einfach, noch eine Nacht getrennt von ihr zu verbringen.« »Nein, nichts soll uns trennen«, stimmte Maddie schlaftrunken zu. Dann
riß sie die Augen auf. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie einen warmen, lebendigen Mann in den Armen hielt. Es war keine Illusion, kein Traum. »Chase! Was machst du hier? Du sollst doch in Hopewell bei deinem Bruder sein.« Er rutschte näher an sie heran und küßte sie auf die Nasenspitze. »Ich habe es dir gerade erklärt. Bück ist bei Alice. Zwei Frauen kümmern sich um ihn; er braucht mich nicht. Bevor ich ging, habe ich ihm noch mal eingebleut, daß er ja nicht sterben soll, und er sagte, er denke nicht daran. Also habe ich mir ein Pferd aus dem Mietstall geholt und bin sofort hierher geritten. Ich hatte nicht er- wartet, daß du allein bist. Ich hab’ mich im Haus umgesehen, außer dir ist kein Mensch da. Wo sind die anderen?« »Sie sind alle nach Abilene gefahren. Es ist niemand hier, nur wir zwei, Chase.« »Herrlich. Das bedeutet, daß ich dich ganz allein für mich habe. Ich gehöre zu dir, Maddie. Ich möchte immer bei dir sein, ganz gleich, wo du bist und was du tust. Ich werde immer an deiner Seite sein. Finde dich damit ab, mein Liebling. Von jetzt an lasse ich dich nicht mehr aus den Augen, und das werde ich auch deiner Familie verkünden, sobald ich sie zu Gesicht bekomme.« »Oh, Chase!« Maddie brach prompt in Tränen aus, zu denen sich ein glückliches Lachen gesellte. Dann schmiegte sie sich fest an ihn. Wieder einmal hatte er ihre Zweifel, Befürchtungen und Sorgen gebannt. Wie sollte sie das alles ihrer Familie erklären, und wie würde sie seine Erklärung aufnehmen? Sie wußte es nicht. Aber wenn Chase vorhatte, ihr Bett zu teilen, ihre Sorgen und ihr Leben, dann konnte ihn keiner fortschicken. Seine Nähe gab ihr Stärke, Mut und die Entschlossenheit, die sie so dringend gebraucht hatte – bis jetzt. »Oh, Chase!« wiederholte sie und umarmte ihn noch inniger. »Das sagst du ziemlich oft, findest du nicht? Gefällt mir, wie du es aussprichst: ‘Oh, Chase!’« äffte er sie nach. »Aber ich hätte gern noch etwas mehr Leidenschaft darin. Mehr… Erregung. Mehr Hingabe.« »Oh, Chase!« stieß sie seufzend aus, als eine Hand ihre Brust umfaßte und die andere zwischen ihre Schenkel wanderte. »Ja, so ist es schon viel besser«, lobte er sie. »Sag es nur ein wenig langsamer… gedehnter. Warte einen Moment…« Er schob die Katze vom Bett. Cob miaute entrüstet. »Keiner außer mir
darf in dieses Bett.« Er wandte sich wieder Maddie zu und knabberte an ihrem Ohr. »Also, wo waren wir stehengeblieben?« »Du wolltest mir beibringen, daß ich deinen Namen mit einem langen, glücklichen Seufzer aussprechen soll.« »O ja… aber ich glaube, zuerst muß ich dich zum Seufzen bringen.« »Damit dürftest du keine Schwierigkeiten haben.« Sein Mund senkte sich zu ihr und bedeckte ihre Lippen. Er küßte sie drängend und leidenschaftlich, daß sie nicht atmen, geschweige denn seufzen konnte. Wenn sie nicht schon gelegen hätte, wäre sie zu einem geistlosen Häufchen an seinen Füßen zusammengesunken. Und dann war er es, der seufzte, als er den Kopf hob. »Maddie, mein Maddie-Mädchen, wie hast du mir gefehlt! Ich mußte heute nacht kommen. Wir gehören zusammen. Versprich mir, daß sich zwischen uns nichts ändern wird, daß weder deine Familie noch die damit verbundenen Probleme uns trennen werden.« »Woher wußtest du, daß ich mir darüber Gedanken gemacht habe?« »Weil ich dich kenne. Ich weiß, wie du denkst. Wir werden eine Lösung finden, mein Liebling. Wir können alles tun, wenn wir uns bemühen. Aber wir kommen zuerst, das gilt für jetzt und immer. Alles andere ist zweitrangig. Einverstanden?« Das bedeutete jetzt oder nie, und Maddie wußte es. Vor diesem Mann hatte sie bereits ihr Gelöbnis abgelegt, aber dann hatte sie ihn verlassen, war nach Hause geritten und hatte um ihre Zukunft gebangt. Zweifel nagten an ihr, drangen in die Seele ein. Sie wußte immer noch nicht, wie die Zukunft für sie aussehen würde, aber Chase hatte mehr verdient als nur Halbherzigkeit. Er verdiente ihren vollen Einsatz, alles, was sie zu geben hatte. »Maddie«, flüsterte er. »Ich warte.« »Gut. Einverstanden«, wisperte sie. »Wir kommen zuerst.« »Und wenn es keine andere Möglichkeit gibt, dann erlaubst du, daß ich deiner Familie finanziell helfe…« »Oh, aber ich kann trotzdem nicht…« Er erstickte ihren Einwand mit einem Kuß, der so tief und berauschend war, daß Maddie glaubte, kopfüber von einer Klippe in das Dunkel der
Sinne einzutauchen, in dem die Freuden des Fleisches sie verschlingen würden. »Doch, du kannst«, knurrte er, als sich ihre Lippen lösten. Atemlos packte sie ihn bei den Schultern. Bebend vor Sehnen und Begehren zog sie ihn wieder zu sich herunter. »Ich werde alles tun, was du sagst. Nur höre nicht auf, mich zu lieben, Chase… Hör nie, nie auf, mich zu lieben.« Bevor die Leidenschaft sie davontrug, brachte Maddie noch einen vernünftigen Gedanken zustande: Zwischen Mann und Frau gab es die verschiedensten Arten der Hingabe – die des Geistes, des Körpers und der Gefühle. Manchmal mochte es gut sein, wenn man nur einen Teil von sich gab. Aber plötzlich ereilte es einen, so wie es ihnen geschah. Sie waren keine getrennten Wesen mehr, keine Einzelkämpfer gegen das Unrecht der Welt; sie waren eine neue Einheit geworden, die ihre Kräfte verband und sie zielstrebig in die Zukunft gehen ließ. Großer Gort, wie liebte sie Chase Cumberland! Sie genossen drei Tage und drei Nächte ungestörten Glücks in himmlischer Zweisamkeit. Außer einigen Kurzbesuchen in der Stadt, um nach Bück zu sehen, und Aufenthalten auf seiner eigenen Farm, um sich um seine Pferde zu kümmern, blieb Chase bei Maddie. Wenn er wegreiten mußte, begleitete Maddie ihn ein Stück des Weges und wartete sehnsüchtig auf seine Rückkehr. Die wenigen ein, zwei Stunden, die sie getrennt waren, erschienen ihnen wie eine Ewigkeit, und kaum waren sie wieder vereint, fielen sie sich glückselig in die Arme. Bück ging es von Tag zu Tag besser. Dank Marys aufopferungsvoller Pflege schritt seine Genesung schnell voran. Sobald der Reisewagen, den die McCrorys für die Rennen benutzten, wieder zur Verfügung stand, wollte Chase seinen Bruder aus Alice Neffs Haus bringen. Am vierten Tag machte Maddie sich Sorgen; wo steckte ihre Familie so lange? Sie müßte längst wieder zu Hause sein, doch auch dieser Tag verstrich ohne ein Lebenszeichen von Pa und den Geschwistern. Nathan Wheeler kam sogar vorbei, und Maddie mußte den enttäuschten Jungen wieder nach Hause schicken.
»Wo können sie nur sein?« rätselte sie, als sie neben Chase auf der Veranda stehend in die Dunkelheit blickte und dem nächtlichen Konzert der Insekten lauschte. »Ich hatte sie heute zurückerwartet.« »Vielleicht wurden sie in Abilene aufgehalten. Nun mach dir mal keine Sorgen.« »Morgen will Horace sein Geld haben«, sagte sie. »Morgen ist Donnerstag.« Er legte die Arme um sie und küßte ihren Nacken. »Trotz Liebe und Leidenschaft habe ich keineswegs vergessen, was morgen auf dem Programm steht, mein Liebling. Morgen reite ich in die Stadt und suche Horace Brownley auf.« »Reite nicht zu früh nach Hopewell. Vielleicht kommen sie doch noch rechtzeitig zur Bank und haben, so Gott will, den Gewinn dabei.« »Wahrscheinlich werden sie mit Lazarus Gratiot im Schlepptau auftauchen. Der will sich bestimmt das Strafgeld von mir holen. Ich habe ihm telegraphiert, daß er das Geld so bald wie möglich bekommt, aber wahrscheinlich traut er mir nicht.« »Oh, das hatte ich ganz vergessen! Das sind ja zusätzliche Ausgaben für dich. Chase, dir wird nichts mehr übrigbleiben!« »Falsch. Ich habe dich«, entgegnete er strahlend. »Und das ist nicht mit Gold zu bezahlen!« »Aber…« »Kein Aber. Laß dir keine grauen Haar wachsen. Der Wert meiner Farm dürfte als Sicherheit ausreichen. Wir schaffen es, mein Liebling.« Er küßte sie auf die Nase. »Wir wollen uns den schönen Abend doch nicht mit unnützen Sorgen verderben.« »Du hast recht. Du hast immer recht. Es ist müßig, darüber zu reden « Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn zurück. »Es gibt wirklich Wichtigeres. Du bist am Leben, Bück ist am Leben, und wir haben eine wunderschöne Zeit miteinander verbracht. Ich habe also keinen Grund, mich zu beklagen. Irgendwie werden wir auch die höchsten Hürden nehmen.« »So ist es brav. Das will ich hören. Komm, gehen wir ins Bett.« Er faßte ihre Hand und führte sie ins Haus, aber sie gelangten nur bis zur Tür des
vorderen Zimmers, als sie sich mit Küssen bedeckten und gegenseitig entkleideten. Sie waren beide nackt, als sie zum Bett kamen. Nöte und Sorgen hatten in ihrem Kopf keinen Platz mehr. Der Gedanke an Chase und ihre Liebe verbannten alle anderen Gedanken. Und so verbrachten sie ihre letzte gemeinsame Nacht im siebten Himmel. Chase war zur Scheune hinausgegangen, und Maddie schälte Kartoffeln für das Mittagessen, als sie das Knarren von Wagenrädern und Pferdeschnauben vernahm. Kaum hatte sie die Geräusche erkannt, hörte sie auch schon die fröhlichen Rufe der Zwillinge. »Maddie! Maddie, wo bist du? Oh, hoffentlich bist du daheim. Wir haben eine Riesenüberraschung für dich! Oh… Mr. Cumberland!« Nach einer kleinen Atempause folgte ein ausgelassenes Gequietsche und Gekreische. »Oh, dem Himmel sei Dank! Dann wurden Sie doch nicht gehängt!« Mehrere Stimmen ertönten gleichzeitig. Maddie ließ sich einen Augenblick Zeit, um sich die Hände an der Schürze abzuwischen, bevor sie hinausging. Sie konnte kaum erwarten, was die Geschwister ihr zu erzählen hatten, ob es nun gute oder schlechte Neuigkeiten waren. Das fröhliche Stimmengewirr draußen stimmte sie zuversichtlich, aber sie wollte sich nicht zu früh freuen, um dann nicht enttäuscht zu werden. Sie strich eine Haarsträhne zurück und zwang sich, gelassen zu bleiben. Ruhig und langsam ging sie zur Haustür, öffnete sie und trat auf die Veranda hinaus. Pa sah sie als ersten. Er kletterte aus dem Wagen, drehte sich sofort um und reichte hilfreich seine Hand einer ihr völlig unbekannten Dame, die nun ihrerseits ausstieg und sich neben ihren Pa stellte. Was im Himmel…? Little Mike grinste. Carrie und Zoe hopsten vor Aufregung hin und her, und Pa… Pa sah überraschend wohl aus. Die Frau – eine kleine, rundliche, ältere Person mit einem hübschen Gesicht und schwarzem Haar mit silbernen Strähnen – lugte unter ihrem Häubchen hervor, lächelte scheu und blickte sich aufmerksam um, als ob sie besonderes Interesse an der Farm habe. Wer war das? Irgendwie kam sie Maddie bekannt vor, aber sie konnte
sich nicht erinnern, wo sie die Frau schon einmal gesehen hatte. Little Mike sprang mit erhobenem Kopf und leuchtenden Augen zur Veranda hinauf. »Deine Sorgen sind vorbei, große Schwester«, verkündete er großartig. »Wir haben dieses verdammte Rennen mit links gewonnen. War wie ein Spaziergang auf der Main Street.« »Du hast…? Du hast gesiegt? Mike, das ist ja wunderbar! Aber was war mit Gold Decks Kolik? Wie hast du ihn so schnell wieder auf die Beine gebracht?« »Oh, Pa hat mir einige Tricks gezeigt, nachdem sie ihm zum Glück wieder eingefallen sind. Ich hab’ ihm gesagt, wenn er sich nicht mehr daran erinnert, könnte ich ihm das nie verzeihen. Dann hab’ ich ihn richtig angebrüllt, einen Mordswirbel hab’ ich gemacht, und endlich hat er mir einmal zugehört. Irgendwie bin ich bei ihm durchgekommen. Jedenfalls konnte er sich wieder an sein Mittelchen erinnern, und im Handumdrehen war Gold Deck wieder munter… Dann ging’s ab nach Abilene, alle Mann hoch. Und dann haben wir das Rennen gewonnen, ohne dich.« »Aber… aber das ist ja fabelhaft, Mike. Ich bin so stolz auf dich. Horace Brownley will das Geld heute haben, du bist also gerade rechtzeitig gekommen. Aber Mike…«Maddie senkte die Stimme. »Wer ist denn diese Dame neben Pa?« »Oh, du meinst Agatha? Nun… ahm… vielleicht erklärt Pa dir das lieber. Ihretwegen kommen wir etwas später nach Hause.« Gerade in diesem Augenblick stürmten Carrie und Zoe die Stufen zur Veranda hinauf, umarmten und küßten Maddie und redeten gleichzeitig auf sie ein. »Maddie, ist das nicht wunderbar? Wir haben das Rennen gewonnen! Und Mr. Cumberland lebt noch und muß nicht im Gefängnis sitzen. Wie ist es seinem Bruder ergangen? Oh, bitte, erzähl schnell. Na los, Maddie, raus damit.« »Gleich, Kinder. Alles schön der Reihe nach. Laßt mich zuerst unseren Besuch begrüßen.« Maddie befreite sich liebevoll aus den Armen der Zwillinge und ging auf ihren Vater und die unbekannte Frau zu. »Pa?« Ihr Vater sah tatsächlich wohl aus. So gut hatte er seit Mutters Tod nicht mehr ausgesehen. Die Verwandlung war erstaunlich. Verschwunden war
die benommene, desorientierte Haltung. Ein neuer Glanz war in seine Augen getreten. Sein Gang federte wieder. Er hatte der kleinen, rundlichen Dame zwar galant vom Sitz heruntergeholfen, ihre Hand aber nicht mehr freigegeben. »Pa? Möchtest du mich nicht vorstellen?« Maddie trat einen Schritt näher und streckte die Hand zur Begrüßung aus. »Wie bitte? Oh, Maddie, Schätzchen, selbstverständlich. Verzeih.« Pa strahlte über das ganze Gesicht. »Das hier ist Agatha«, verkündete er stolz. »Agatha McCrory, meine neue Frau und deine neue Ma.«
FÜNFUNDZWANZIG Alles schien sich um sie zu drehen. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie schwankte ein wenig. Geistesgegenwärtig packte Chase sie am Arm und hielt sie fest. Ohne ihn wäre sie vermutlich einfach umgekippt. »Zum Donnerwetter noch mal, Maddie! Du tust ja so, als würde die Welt untergehen«, polterte ihr Vater. »Agatha ist doch keine Fremde für dich. Du erinnerst dich sicher an Aggie, oder? Früher hast du immer mit ihrer Tochter Emily gespielt. Sie haben in diesem windschiefen Häuschen unten am Fluß gewohnt. Später sind sie dann in die Gegend von Abilene gezogen, wo Tom eine Anstellung in einem kleinen Laden bekam…« »Tom starb ungefähr zur gleichen Zeit wie eure Mutter«, fuhr Agatha fort. »Emily ist schon lange verheiratet und lebt mit ihrem Mann in Oregon. Bitte entschuldige, Maddie, daß wir dich so vor vollendete Tatsachen stellen. Ich habe ja versucht, deinen Vater zu bremsen, aber da war nichts zu machen. Er meinte, in unserem Alter könne man nichts mehr aufschieben.« Maddie hatte sich wieder in den Griff bekommen. »Es… es tut mir leid, daß ich dich nicht gleich erkannt habe.« »Macht nichts. Früher war ich eine Bohnenstange, doch inzwischen habe ich etliche Pfunde zugelegt. Sehr zu meinem Leidwesen.« »Sie sieht besser aus denn je, findest du nicht?« stellte Pa kurzum fest.
»In Abilene ging ich nichtsahnend die Straße entlang, als ich sie plötzlich sah. Wie vom Donner gerührt stand ich da und traute meinen Augen nicht. Nach all den Jahren traf ich sie plötzlich in Abilene wieder! Also fragte ich sie, ob sie nicht mit zu unserem Wagen mitkommen wolle. Und so redeten wir bis in die Nacht, tauschten Erinnerungen aus und sprachen über alles, was uns gerade durch den Kopf ging.« »Glaub mir, Maddie, während Michaels und meiner Ehe war nie etwas zwischen uns«, versicherte Agatha. »Aber nach zwei Tagen war uns beiden klar, daß wir füreinander bestimmt sind und daß uns das Schicksal zusammengeführt hat.« »Für mich gab es keinen Grund, die Hochzeit auch nur einen Tag hinauszuschieben. Zum Glück fanden wir einen Geistlichen in Abilene, der uns gleich nach dem Rennen getraut hat. Ich sage dir, Maddie, das war vielleicht ein fröhliches Fest, schließlich harten wir doppelten Grund zum Feiern!« »Und wie hast du gefeiert, Pa?« Maddies Stimme hatte einen gefährlichen Unterton bekommen. Sie war überzeugt, daß er wieder über den Durst getrunken hatte, obwohl er nicht danach aussah. »Wir harten einen prächtigen Festtagsschmaus. Beinahe hätte ich halb Abilene dazu eingeladen, aber die Kinder haben es mir ausgeredet. Mit dem Geld sollten unsere Schulden bezahlt werden, was ich im Überschwang ganz vergessen hatte.« »Ja, wir brauchen jeden Cent, Pa«, bestätigte Maddie ernst. »Um noch einmal auf die Feier zurückzukommen… hast du dich, ehm… auch gut benommen?« »Gut benommen? Was für eine Frage!« Agatha blickte erstaunt in die Runde. »Wie soll ich das verstehen, Maddie? Dein Vater war der Anstand in Person. Natürlich wollte ich nicht, daß er den Whiskey auch nur anschaut. Schließlich bin ich die Vorsitzende des Frauenbundes in Abilene, der dem Alkohol den Kampf angesagt hat. Es ist unser Ziel, die Saloons in Abilene zu schließen, um endlich wieder Ordnung in dieses wilde Nest zu bringen. Ich bin voller Zuversicht, daß wir in Kürze ein Alkoholverbot für ganz Kansas durchsetzen werden. Dein Vater wird mich dabei tatkräftig unterstützen. Nicht wahr, Michael, mein Liebster?«
»Das hat er versprochen?« Maddie glaubte sich verhört zu haben, während Chase mühsam ein Lachen unterdrückte. Pa wirkte leicht verärgert. »Aber selbstverständlich. Was glaubst du denn? Ich hab’ aus meinen Fehlern gelernt. Dank Agatha bin ich ein anderer Mensch geworden. In Hopewell will sie eine Abstinenzler-Liga ins Leben rufen, und ich werde die Präsidentschaft übernehmen.« »Den Vorsitz, Liebster. Du wirst Vorsitzender und den männlichen Wesen in Hopewell ein Loblied auf die Nüchternheit singen, bis auch der letzte Trinker bekehrt ist.« »Da staunst du, was, Maddie?« Stolz blickte er seine älteste Tochter an. »Dein Pa ist letztendlich doch kein Taugenichts. Außerdem habe ich große Pläne mit Little Mike geschmiedet. Wir haben Gold Deck noch für drei weitere Rennen gemeldet, und im nächsten Jahr werden die Stuten bei ihm Schlange stehen. Er wird so mit dem Decken ausgelastet sein, daß er nicht mehr zum Rennen kommt. Mike hat ungefähr ein Dutzend Stuten für ihn ausgesucht, für nächstes Jahr… Stimmtl s, mein Sohn?« Little Mike trat zwischen sie. »Ja, ganz richtig. Und Pa hat gesagt, ich soll mir das beste Pferd unter den Zweijährigen aussuchen und es für das nächste Rennen trainieren. Ich hab’ schon ein bestimmtes Pferd im Auge. Wird das schnellste weit und breit werden. Hat das Zeug dazu. Chase, ich möchte aber, daß Sie es sich zuerst ansehen. Ich möchte Ihre und Pa’s Meinung hören, bevor ich mich dafür entscheide.« »Was Little Mike sich auch aussucht, es findet unbesehen meine Zustimmung«, erklärte Pa. »Der Junge hat einen guten Blick für Pferde – und reiten kann er auch. Du hättest ihn bei diesem Rennen sehen sollen, Maddie. Die McCrorys können stolz auf ihn sein.« »O ja, das können wir«, sagte Maddie und strahlte ihren Bruder an. »Nur zu gern wäre ich dabeigewesen, aber hier hat sich auch einiges ereignet.« »Erzähle uns alles, bitte, Maddie«, quietschte Zoe vor Aufregung. »Ich sterbe vor Neugier. Ist Nathan aufgekreuzt? Jedenfalls hatte er fest versprochen, er würde hier nach dem rechten sehen, solange wir fort waren.« »Ja, er war hier«, sagte Maddie ernst. »Er ist wirklich ein anständiger, zuverlässiger junger Mann, Zoe. Gratuliere.«
»Zoe ist nicht die einzige mit einem Verehrer«, ließ Carrie verlauten. »Ich habe den bestaussehenden Mann in Abilene kennengelernt. Er heißt Andrew und wird mich bald besuchen.« »Na, immer schön langsam mit den jungen Pferden«, mischte Agatha sich schmunzelnd ein. »Noch seid ihr nicht im heiratsfähigen Alter. Eure Mutter und ich hatten in diesen Dingen die gleichen Ansichten, vor allem, was das Heiraten anbetrifft. Überstürzt nur nichts!« »Wir sind beinahe vierzehn«, protestierten die Zwillinge energisch. »Da kann man doch schon heiraten!« Zoe reckte eigensinnig das Kinn vor. »Im August haben wir Geburtstag, eine Woche nach Little Mike.« »Wartet ab, nach dem fünfzehnten oder sechzehnten Geburtstag könnt ihr immer noch heiraten«, warf Agatha ein. »Darin stimmst du mir doch zu, Michael?« Seit Ewigkeiten hatte Maddie nicht mehr gehört, daß jemand ihren Pa Michael nannte. Er tat so, als sei es das Selbstverständlichste der Welt und nickte zustimmend. »Ganz wie du meinst, Aggie. Wenn du sagst, daß sie warten sollen, bis sie fünfzehn oder sechzehn sind, dann werden sie eben so lange warten.« Maddie lauschte verwundert. Sie konnte nicht glauben, was sie soeben vernommen hatte. Chase zwickte sie belustigt in den Arm und lachte. Maddie hingegen brachte nur ein wehmütiges Lächeln zustande. Sie war froh und betrübt zugleich. Ihre Familie schien sie nicht mehr zu brauchen. Wie es aussah, kamen sie bestens ohne sie zurecht. Ein merkwürdiges Gefühl, und sie wußte nicht so recht, wie sie damit umgehen sollte. »Laßt uns doch ins Haus gehen«, beeilte sie sich zu sagen. »Ich war gerade dabei, das Essen vorzubereiten. Ihr seid doch sicher ziemlich hungrig. Wir wollen zuerst zusammen essen, und danach erzähle ich euch alles, was ihr wissen wollt, einverstanden?« »Maddie, hast du Horace Brownley vergessen?« Chase fühlte sich verpflichtet, sie daran zu erinnern. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie hatte es tatsächlich vergessen! »Maddie, das kann ich doch übernehmen«, erbot sich Little Mike sofort. »Schließlich habe ich gewonnen, das heißt, mit Pa’s Unterstützung, natürlich. Dann sollte ich mit dem Geld auch unsere Schulden begleichen.«
»Bist du sicher, daß es dir nicht zuviel wird, Mike? Du mußt müde sein.« »Ich reite nach Hopewell.« Mike bestand darauf. »Die Farm ist meine Zukunft, und da kann ich mich gleich damit vertraut machen, Steuern und Hypotheken zu bezahlen. Auf dem Heimweg haben Pa, Aggie und ich alles gründlich besprochen. Beide sind einverstanden.« »Ja«, sagte Pa schlicht und fügte dann nach einer Pause hinzu: »Ich wäre froh, wenn Little Mike die Farm übernehmen würde. Er ist reifer, als du denkst. Ich werde ihm helfen, wo ich kann, aber er wird für alles verantwortlich sein. Aggie und ich sind einfach zu alt, um uns noch einmal mit diesen Dingen zu beschäftigen. Und um ehrlich zu sein, ich möchte die Zeit, die uns noch bleibt, auf andere Art nutzen.« Zufrieden und glücklich blickte er seine neue Ehefrau an, die ihm daraufhin vor aller Augen einen herzhaften Kuß gab. »Ich kann es immer noch nicht fassen, daß wir uns nach so langer Zeit gefunden haben. Mir kommt es wie ein Wunder vor, Michael. Ein seltenes Geschenk, wenn man in unserem Alter noch jemanden findet, den man lieben kann, zu dem man sich hingezogen fühlt. Ich hoffe, deine Kinder freuen sich mit uns.« »Das will ich wohl meinen«, verkündete Pa lautstark. »Ich war nicht gerade in Hochform, als mir Aggie begegnete.« »Selbstverständlich freuen wir uns.« Maddie umarmte Agatha herzlich. »Wir werden an eurem Glück teilhaben.« »Also bis später«, erklärte Little Mike bestimmt. »Hebt mir etwas vom Abendessen auf. Ich habe einen Riesenhunger. Der gute One-Eyed Jack sollte lieber aufpassen, daß ich mir nicht ein Stück vom ihm abbeiße.« »One-Eyed Jack?« fragte Maddie verwundert. »Den habe ich mit nach Hause gebracht, Maddie. Er steht mit Gold Deck hinter dem Wagen. Lazarus Gratiot war so über seine Niederlage erbost, daß er mir das Pferd umsonst überlassen hat. Das Pferd tat mir leid, und da habe ich es mitgenommen. Du hast doch hoffentlich nichts dagegen, Maddie?« »Nein, im Gegenteil.« Maddie war ob der vielen Veränderungen immer noch verwirrt. »Ganz im Gegenteil.« Nach dem Abendessen saßen Maddie, Chase, Big Mike und Agatha noch
gemütlich bei einer Tasse Kaffee am Tisch, während die Mädchen abräumten. Als sich Zoe und Carrie wieder zu den Erwachsenen setzten, bat Maddie Chase, mit der Geschichte von Bück und Mary zu beginnen. Maddie war sehr gespannt, ob er ihnen reinen Wein einschenken würde, vor allem, daß Bück noch lebte und bei Alice versteckt wurde. Zu ihrer Freude ließ Chase nichts aus und vertraute Pa und Agatha die Wahrheit an, auch wenn er sie ernsthaft ermahnte, darüber Stillschweigen zu bewahren. Die Zwillinge mußten ihm ihr Ehrenwort darauf geben. Am liebsten hätte Zoe bei nächster Gelegenheit Nathan darüber berichtet, aber versprochen war versprochen. »Je weniger Leute davon wissen, desto größer ist die Chance, daß Sheriff Smith nichts davon erfährt.« Pa überlegte sofort, wie er Bück und Mary bei der Flucht helfen konnte. »Wenn den beiden mit dem großen Wagen geholfen ist, dann können sie ihn gerne haben.« Maddies Herz hüpfte vor Freude, als sie Pa’s Worte vernahm. Sie wußte, daß Chase für ihre Familie alles tun würde. Jetzt konnten sich die McCrorys als ebenbürtig erweisen. Einen kurzen Augenblick lang dachte Chase nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, so ein großer Wagen wäre zu auffällig. Dort, wo sie hinwollen, kommt man auf dem Rücken eines Pferdes besser voran.« »Wo wollen sie hin?« fragte Agatha. »Das wissen sie selbst noch nicht genau. Vermutlich nach Westen oder in den Norden. Auf jeden Fall so weit wie möglich weg von jeder Zivilisation. Sie wollen sich auch von den Indianern fernhalten. Die Zukunft der meisten Stämme steht in den Sternen. Gut sieht es jedenfalls nicht aus.« »Ganz gleich, wo sie sich niederlassen, sie werden glücklich sein«, fügte Maddie hinzu. Chase nahm ihre Hand und lächelte sie an. Pa und Agatha blickten die beiden verwundert an. »Na, was soll denn das? Habt ihr uns etwas verschwiegen?« fragte er polternd und deutete auf die verschlungen Hände. »Was hat es damit auf sich?« Maddie seufzte erleichtert auf. Pa hatte sich seit Abilene zum Guten verändert. Aggie hatte ihm neuen Lebensmut gegeben, hatte ihn seine
Schwächen vergessen lassen und ihn beinahe zu dem gemacht, der er einmal gewesen war. Während des Essens hatte er nicht ein einziges Mal den Wunsch nach einem Drink geäußert. Vielleicht brauchte er den Alkohol nicht mehr? Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er wieder mit Appetit gegessen und angeregt an der Unterhaltung teilgenommen. Er wirkte wie jemand, der aus einem langen Schlaf erwacht war. »Pa«, verkündete sie strahlend, »Chase und ich, wir… wir lieben einander.« »Und wir haben geheiratet«, fügte Chase ernst hinzu. »In eurer Abwesenheit haben wir den Bund der Ehe geschlossen.« »Waaas?« kreischten die Zwillinge und umlagerten Maddie wie zwei gierige Hyänen. »Wann habt ihr geheiratet? Was hast du angehabt? Warum habt ihr nicht auf uns gewartet?« Maddie rutschte unruhig auf dem Stuhl herum und blickte Chase hilfesuchend an. Tja, das war etwas schwierig. Wie sollte sie das ihrer Familie erklären? Wenn man es genau nahm, waren sie nicht verheiratet. »Welcher Pfarrer hat euch getraut?« fragte Pa und stellte dabei die Kaffeetasse geräuschvoll ab. Chase war die Ruhe selbst. Bei Maddie aber zog sich der Magen zusammen. »Es gab keinen Geistlichen in Hopewell. Maddie und ich haben unser Gelöbnis ohne kirchlichen Segen abgelegt. Und Ihre Tochter wird heute abend mit mir nach Hause gehen.« Diesmal riefen fünf Stimmen im Chor, einschließlich Maddie: »Wie bitte?« Chase drückte Maddies Hand, als ob er ihr Mut machen wollte. »Ich sagte, Maddie wird mich heute abend auf meine Ranch begleiten. Sie ist meine Frau, und ich bin ihr Ehemann. Wo ich hingehe, da geht auch sie hin.« Maddie schluckte heftig und errötete leicht. »Das ist richtig. Ich gehöre fortan zu Chase. Wie ich gesehen habe, kommt ihr alle auch ohne mich gut zurecht. Ihr braucht mich nicht mehr. Ihr könnt sehr gut auf euch selbst aufpassen, und Aggie wird euch dabei helfen. Es wird höchste Zeit, daß ich mein eigenes Leben lebe.« Es war plötzlich mucksmäuschenstill. Maddie glaubte ihr Herz klopfen zu hören. Chase blickte ein wenig besorgt in die Runde, um zu sehen, ob es
irgendwelche Einwände gab. Aber dem schien nicht so zu sein. Dann lächelte er, um die gespannte Lage ein wenig aufzulockern. »Sollte hier ein Geistlicher auftauchen, dann lassen wir uns sofort von ihm trauen. Aber wir sind verheiratet, in jeder Hinsicht. Und falls es einer von euch wissen möchte: Ja, ich habe mit Maddie geschlafen.« »Chase! Mußt du das erzählen?« »Ja, Maddie. Wir sind nicht mehr zwei. Wir sind eins. So, wie es nur Mann und Frau sein können.« »In Ordnung«, sagte ihr Vater. »Oh, Maddie!« jubelten die Zwillinge. »Das ist ja wundervoll«, meinte Agatha überschwenglich. »Findest du nicht auch, Michael? Ihnen scheint es so ähnlich wie uns ergangen zu sein. Liebe auf den ersten Blick!« »Ja, aber…«, setzte Pa an, als Aggie besänftigend ihre Hand auf die seine legte. »Unseren Segen habt ihr, nicht wahr, Michael? Aber jetzt müssen wir Hochzeitsvorbereitungen für euch treffen! Pfarrer Smucker, der uns getraut hat, wird in nächster Zeit nach Hopewell kommen, irgendwann im August. Da können wir alles nachholen… und euch ein herrliches Fest ausrichten.« »Ja, mit gebratenem Hühnchen!« frohlockte Zoe. »O ja! Mit Schokoladentörtchen, Obstkuchen und Wassermelonen!« fügte Carrie begeistert hinzu. »Und gebutterten Maiskolben«, sagte Aggie. »Der Mais dürfte um diese Zeit bereits reif sein.« »Maddie, auf jeden Fall brauchst du etwas Neues zum Anziehen. Hach! Ich kann es kaum erwarten, so freue ich mich schon«, platzte Carrie heraus. »Jetzt aber langsam. Wir brauchen keine so aufwendige Hochzeit zu feiern«, wandte Maddie ein und dachte an die Kosten. »Wie Chase schon sagte, wir sind so gut wie verheiratet.« »Hmpf!« knurrte ihr Vater, »du bist eine echte McCrory, also bekommst du eine Hochzeit mit allem Drum und Dran. Verstanden?« »Ich könnte mir vorstellen, daß ganz Hopewell dabeisein möchte«, meinte Aggie. »Dann werden sie auch alle eingeladen. Jeder hier kennt dich. Also, Maddie, gib dir einen Ruck!«
»Wir brauchen unbedingt eine Tanzkapelle!« rief Zoe aufgeregt. »Juhu! Dann werde ich mit Nathan tanzen!« »Oh, das ist ungerecht«, schmollte Carrie. »Mein Verehrer wohnt in Abilene. Wenn wir die Leute unterhalten wollen, dann müssen wir ein Pferderennen veranstalten und keinen Tanz.« Plötzlich war es wieder ganz ruhig am Tisch. Dann leuchteten Pa’s Augen auf, und er wandte sich seinem frischgebackenen Schwiegersohn zu. »Na, hast du ein anständiges Pferd im Stall, mein Junge?« »Was soll die Frage, Pa? Weißt du das nicht mehr? Seine Stute hat Gold Deck besiegt«, entrüstete sich Maddie. Big Mike zog die Stirn in Falten, als krame er in alten Erinnerungen. »Ich weiß es nicht mehr genau, Maddie. Aber ich hab’ den Eindruck, eine Zeitlang war ich ziemlich weggetreten.« Sie wußte sehr genau, wovon er sprach. »Soso, dann hat dein Pferd unserem Gold Deck schon eine Niederlage beigebracht?« »Das ist richtig, Sir«, antwortete Chase. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob es ihr ein zweites Mal gelingt.« »Wollen wir wetten? Natürlich nicht um Geld, wir sind ja jetzt eine Familie.« »Pa…« Maddie schüttelte den Kopf. »Und wenn wir um das erste Fohlen wetten, das sie von Gold Deck bekommt?« »Hmmmmm. Interessantes Angebot. Was kann ich dir anbieten? Meine Tochter ist ja schon dein.« »Ein Feld«, sagte Chase, ohne zu zögern. »Ein ganz bestimmtes Feld, auf dem ein Baum wächst und durch das ein kleiner Bach fließt. Und als Zugabe so viele Decksprünge von Gold Deck, wie ich will.« »Chase!« Maddie war geradezu außer sich vor Entrüstung. »Hmmmmm…«, meinte Pa nachdenklich. »Maddie, du hast seine Stute gesehen. Ist das ein faires Angebot?« »Pa, jetzt hör mir gut zu Es geht um meine Hochzeit, nicht um ein Pferderennen! Aber du kannst ohne Bedenken auf sein Angebot eingehen. Es ist fair. Bonnie Lass ist die prächtigste Stute von ganz Kansas, auch könnte sie
jedes Pferd in Texas und den umliegenden Staaten schlagen. Sie ist hochkarätig.« »Die Wette gilt!« jubelte ihr Vater. »An eurem Hochzeitstag veranstalten wir ein Pferderennen.« Maddie wußte, daß man sie eingeseift hatte. Pa und Chase grinsten über beide Ohren. »Mach dir mal keine Sorgen, Maddie«, sagte Agatha besänftigend. »Es wird eine schöne Hochzeit, die einer McCrory würdig ist.« Einen Monat später, am Morgen ihres Hochzeitstages, ritten Maddie und Chase in die Prärie hinaus, um Pawnee Mary und Bück zu besuchen. Am heutigen Tag gab es noch ein zusätzliches Ereignis. Bück und Mary würden aufbrechen und sich weit, weit weg von Kansas ein neues Leben aufbauen. Es war ein herrlicher, frischer Morgen, und die Sonne stand noch tief, aber Maddie trug bereits das blaue Häubchen, um geschützt zu sein, wenn die Sonne höher stieg. Chase neckte sie deswegen und meinte, weil sie so hübsch darin aussähe, könne sie es gleich zur Hochzeit auf behalten. »Das hättest du wohl gerne«, gab Maddie schelmisch zurück. »Die Zwillinge flechten mir einen Kranz aus Blumen, den werde ich auch noch aufsetzen. Du mußt aber in Zukunft nicht auf mein blaues Häubchen verzichten. Aggie hat mir ein Kleid in der gleichen Farbe genäht. Zu besonderen Anlässen werde ich beides tragen.« »Blau steht dir besonders gut.« Er schmunzelte. »So wie Braun, Grau, Violett, Gelb und Grün; am besten aber steht dir das Evaskostüm.« Sie sah ihn von der Seite an und wußte, daß es nicht gelogen war. Er hatte es wirklich am liebsten, wenn sie nichts anhatte. Den halben Tag lief sie sowieso nackt herum. Wenn sie ein Kleid trug, war Chase sofort zur Stelle, um es ihr wieder auszuziehen. Warum sollte sie ihm diese unnötige Mühe machen? Sie lebten jetzt schon einen Monat zusammen. Außer den Familienangehörigen wußte das keiner. Jeder in der Stadt war der Meinung, sie würde bei ihrem Vater wohnen und nach der Hochzeit zu Chase auf die Ranch ziehen. Bück und Mary erwarteten die beiden schon sehnsüchtig am Wagen. Chase wollte den Wagen wieder zur Ranch zurückfahren, sobald die beiden aufgebrochen waren. Maddie saß ab, lief auf Mary zu und schlang
die Arme um sie. Die hochgewachsene, kräftige Indianerin drückte sie fest an sich. »Ich dich sehr vermissen«, sagte sie, legte die Hände auf Maddies Hüften und schob sie ein wenig von sich fort. »Silberhaar dich auch vermissen.« »Ich weiß.« Maddie versuchte, die Tränen zurückzuhalten. »Es fällt mir schwer, euch beiden Lebewohl zu sagen. Es wäre zu schön, wenn ihr bei uns bleiben könntet.« »Wir jetzt gehen«, erklärte Mary mit fester Stimme. »Dort weit draußen…« – mit einer ausholenden Geste zeigte sie nach Westen – »… wir Glück und Frieden für immer finden.« »Ja. Habt ihr alles, was ihr braucht?« Mary nickte kurz und deutete auf die bepackten Pferde, die Chase am Vortag gebracht hatte. Sie nahmen ein halbes Dutzend Pferde mit: zwei zum Reiten, drei Stuten als Packpferde, mit denen sie später für Nachwuchs sorgen konnten, und ein vielversprechendes junges Fohlen. Chase unterhielt sich mit Bück in der Zeichensprache, während Maddie Marys Vorbereitungen für die lange Reise begutachtete. Eine der Stuten zog nach Indianerart einen Travois, einen Schlepper aus zwei mit einem Netz verbundenen Balken, auf dem sich der Proviant befand. »Wenn Silberhaar schwach werden, er sich darauf ausruhen«, flüsterte Mary. »Er denken, er wieder stark wie früher, aber nicht wahr.« Maddie war erstaunt, daß Bück so weit genesen war, um die anstrengende Reise anzutreten. Aber er sah wohl aus und schien wieder einigermaßen bei Kräften zu sein. Nur wenn er sich bewegte, bemerkte man eine gewisse Steifheit. Unter seinem Hemd zeichnete sich noch der Verband ab. Mary bestand darauf, daß er ihn trug, bis die Wunde vollständig geheilt war. Glücklicherweise waren keine lebenswichtigen Organe verletzt worden, aber wäre Mary nicht gewesen, hätte er nicht überlebt. Wie ein mächtiger Bär umarmte Bück seinen Bruder noch ein letztes Mal. Beide hatten Tränen in den Augen. Auch Maddie konnte ihrer Rührung nicht verbergen. Nur Mary bewahrte ihre Würde und ließ sich nichts anmerken. »Wir uns wiedersehen«, versicherte Mary. »Irgendwann, irgendwo. Wenn nicht in diesem Leben, dann Tirawa uns zusammenführen in ewi-
gen Jagdgründen.« »Oh, Mary. Ich bete, daß ihr ein glückliches, langes und ausgefülltes Leben habt.« »Ich dir das und Sohn von Wolf auch wünschen. Lebe wohl, meine Schwester. Ich immer an dich denken.« Eine letzte Umarmung. Ein letztes Wort zum Abschied. Mary half Bück auf eines der Pferde. Beim Aufsitzen verzog er schmerzhaft das Gesicht, doch als er fest im Sattel saß, schien er sich wohl zu fühlen. Ja, es schien, als sei er auf dem Pferderücken groß geworden. Im Gegenlicht der Sonne erinnerte er an einen launischen Gott, der zu einem Besuch auf Erden weilte. Bück blickte Chase in die Augen und hob wie zum Salut die Hand an die Augenbraue. Chase tat es ihm gleich. Jetzt saß Mary auf, nahm die Zügel der restlichen Pferde in die Hand, lächelte Maddie zu, wendete ihr Pferd mit leichtem Schenkeldruck und ritt mit Bück an der Seite in die Prärie hinaus. Die Zurückgebliebenen warteten, bis die Umrisse der beiden langsam mit der Prärie verschmolzen und am Horizont verschwanden. Maddies Tränenfluß war versiegt, statt dessen hatte sie eine merkwürdige Melancholie erfaßt. Sie hatte gewußt, daß dieser Tag kommen würde, und nun konnte sie sich nicht damit abfinden. Vermutlich würde es kein Wiedersehen geben, nicht in diesem Leben, wie Mary sagte. Chase verlor einen Bruder und sie eine treue Freundin. »Es ist, wie es ist. Wir werden die beiden wohl kaum wiedersehen. Aber wir haben uns. Und wir werden heute heiraten.« »Und zum Pferderennen gehen«, meinte sie schmollend. »Und was findest du aufregender?« »Da fragst du noch? Das kann doch nicht dein Ernst sein!« »Doch, natürlich. Los, sag es mir!« »Na, das Pferderennen, selbstverständlich.« Chase lachte herzlich und versuchte sie dabei in die Arme zu nehmen. Maddie schrie auf und rannte ungestüm davon, aber er war ihr dicht auf den Fersen. Sie liefen übermütig hin und her, bis sich Maddie erschöpft von Chase einfangen ließ, worauf er ihr mit Inbrunst seine Liebe und Treue versicherte und schwor, daß es sein
sehnlichster Wunsch sei, sie heute zu heiraten. Das Ganze dauerte so lange, daß sie beinahe zu spät zu ihrer eigenen Hochzeit kamen. Maddie und Chase wiederholten unter der großen Eiche in Hopewell ihr Versprechen. Unter den Anwesenden befanden sich gute Freunde und Nachbarn, die Vollzählige Familie McCrory natürlich und etliche Gratulanten. Sie hatten sich diesen Platz ausgesucht, da er nicht weit von den HopewellBahnen entfernt war, wo das Rennen anschließend ausgetragen werden sollte. Außerdem spendeten die dichtbelaubten Zweige des knorrigen Baumes Schatten. Trotzdem war es Maddie und Chase in ihrer Festtagskleidung warm geworden. »Sie dürfen die Braut jetzt küssen«, sagte Pfarrer Smucker salbungsvoll. Zur Freude der Zuschauer beugte Chase seine junge Frau stürmisch nach hinten, so daß sie auf seinem Arm zu liegen kam, und küßte sie leidenschaftlich. Dann begaben sich alle an die große Tafel, die sich vor aufgetürmten Köstlichkeiten und Erfrischungsgetränken bog. Ein paar Männer nahmen Chase sofort in Beschlag, so daß Maddie ihnen auf zwei Tellern etwas zum Essen holte. Sie ließ sich auf einer Quiltdecke nieder, die am Boden ausgebreitet war. Genüßlich knabberte sie an einer Hühnerkeule und blickte zufrieden in die Runde. Es gab eine Menge Gesichter, die sie noch nie gesehen hatte, Fremde, die sicherlich nur wegen des Rennens gekommen waren. Chase und Pa hatten noch ein paar weitere Wetten abge schlössen und sich darauf geeinigt, daß der Sieger für die Kosten des Hochzeitsmahls aufkommen sollte. Ganz Hopewell war versammelt, nur einer fehlte: Horace Brownley. Von ihrem Platz aus konnte Maddie deutlich das Schild ›Geschlossen‹ im Fenster der Bank lesen, wie in so vielen anderen Läden auch. Nur ein kleiner Kaufmannsladen hatte noch geöffnet für den Fall, daß einer der Fremden etwas kaufen wollte. Alle anderen Ladenbesitzer hatten geschlossen, um zum Pferderennen zu gehen. Maddie überlegte kurz, wo Horace Brownley wohl sein mochte, wurde aber durch Alice abgelenkt, die ebenfalls auf dem Quilt Platz nahm. »Wie ich sehe, hat dich dein frisch angetrauter Ehemann bereits verlassen«, bemerkte sie schalkhaft und machte es sich neben Maddie bequem. »Ich hoffe, ich störe nicht? Moses hat alle Hände voll zu tun. Er möchte
nicht, daß es Schlägereien gibt. Sie wissen ja, wie die Männer sind, wenn es um Pferde und Geld geht. Da gibt schnell ein Wort das andere, und irgendein dummer Hitzkopf kann sich dann nicht zusammenreißen.« »Ich freue mich, daß Sie sich zu mir gesetzt haben, Alice.« Maddie beugte sich zu Alice vor und flüsterte: »Mary und Bück sind heute morgen weggeritten. Wir haben uns von ihnen ausgiebig verabschiedet und sind deswegen ein wenig zu spät gekommen.« Es stimmte zwar nicht ganz, aber Maddie wollte Alice den wahren Grund dafür nicht nennen. »Ach so. Die meisten Leute hier glaubten, ihr hättet es euch anders überlegt. Aber mir war klar, daß ihr einen guten Grund für die Verspätung hattet, und so war es ja auch. Ich bin froh, daß sich die beiden auf den Weg gemacht haben. Nun brauche ich Moses nichts mehr vorzumachen.« »Haben Sie nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe, Alice. Ohne Sie hätten wir es niemals geschafft.« »Das war doch selbstverständlich. Trotzdem hoffe ich, daß ich Moses nie wieder belügen muß. Wir wollen übrigens im Oktober heiraten.« »Im Oktober? Das sind ja wunderbare Neuigkeiten.« »Vorher geht’s leider nicht. Pfarrer Smucker kommt erst im Oktober wieder nach Hopewell. Aber das macht nichts, ich muß mir sowieso noch mein Hochzeitskleid nähen, und das geht nicht von heute auf morgen. Hoffentlich wird unsere Hochzeit so schön wie eure. Auf das Pferderennen könnte ich allerdings verzichten.« Maddie mußte lachen. »Das kann ich gut verstehen, dann schwirren nicht so viele Menschen herum, die man nicht kennt. Viele Gesichter habe ich noch nie zuvor gesehen. Zwei Personen sind zum Glück nicht aufgetaucht, obwohl ich sie eigentlich erwartet hatte.« Alice runzelte die Stirn. »Sprechen Sie vielleicht von Horace Brownley?« »Ja, und von dem jungen Elwood.« »Höchstwahrscheinlich werden Sie die beiden nie wiedersehen. Es ist Ihnen vielleicht entgangen, aber die Bankgeschäfte laufen hier nicht besonders gut. Brownley und Elwood haben vor, eine Bank in Lincoln aufzumachen.«
»Aber… aber wir brauchen hier eine Bank, Alice. Ich bin zwar heilfroh, daß Horace Brownley die Stadt verläßt, aber für Hopewell wäre es doch ein Verlust, wenn die Bank schließen sollte.« »Da hab’ ich mir schon meine Gedanken gemacht.« Alice zwinkerte bedeutungsvoll und nahm sich ein Stück Wassermelone. »Es ist immer wieder erstaunlich, was man sich alles einfallen läßt, wenn Not am Mann ist. Ich hab’ im Osten noch Verwandte, und denen hab’ ich geschrieben, daß wir hier in Hopewell einen tüchtigen Bankier brauchten. Und siehe da, mein Neffe ist in dieser Branche tätig und hat Lust, sich diesen Teil des Landes einmal genauer anzusehen. Ich hab’ ihn bereits zu meiner Hochzeit eingeladen und bin gespannt, wie es ihm bei uns gefällt. Möglicherweise ist es genau das, was er sucht.« »Alice, Sie besitzen ja ungeahnte Fähigkeiten! Weiß Moses von Ihren Plänen?« »Natürlich nicht, und ich werde auch aufpassen, daß er nichts davon erfährt.« Alice biß herzhaft in die saftige Frucht und seufzte dann: »Hach, das ist die süßeste Melone, die ich je gegessen habe.« Die Pferde standen bereits in Position und warteten auf das Startzeichen. Chase saß ruhig und entspannt auf Bonnie Lass, die sich schon auf das Rennen zu freuen schien. Little Mike war ein wenig aufgeregt, denn schließlich hatte Gold Deck eine tiefe Scharte auszuwetzen. Der wundervolle Hengst zeigte keine Anzeichen von Nervosität. Er blickte ruhig in die Runde, als sei ein Rennen etwas Alltägliches für ihn. Maddie wünschte sich, sie wäre so gelassen wie Chase oder Gold Deck. Sie wußte ja nicht einmal, wem sie die Daumen drücken sollte. Früher hatte sie Gold Deck aus Leibeskräften angefeuert, aber als Chases Ehefrau hatte sie nichts dagegen, wenn Bonnie Lass siegen würde, oder doch? Sie war verwirrt. Das in Aussicht gestellte Feld konnten sie sehr gut gebrauchen. Außerdem wäre es ein Opfer, das erstgeborene Fohlen von Bonnie Lass abzugeben. Der Wetteinsatz war aber nicht das eigentliche Problem. Wenn sie nur wüßte, zu wem sie halten sollte! »Es wird furchtbar! Ich kann mir das Rennen nicht ansehen. Das bringe ich nicht über mich.«
Maddie schüttelte den Kopf. Sie schloß die Augen und machte sie erst wieder auf, als sie von Carrie und Zoe in die Rippen geknufft wurde. »Für wen bist du, Maddie?« fragte Carrie. »Drück mal lieber Bonnie Lass die Daumen, sonst ist Chase eingeschnappt«, schlug Zoe in weiser Voraussicht vor. »Aber Maddie kann doch die Stute nicht anfeuern! Pa und Little Mike würden einen Monat lang nicht mehr mir ihr reden«, warf Carrie ein. Maddie drehte der Bahn den Rücken. So kam sie nicht in Versuchung, auch nur einen Blick auf Reiter und Pferde zu werfen. »Ich werde keinen anfeuern. Ich hoffe, es geht unentschieden aus.« »Fertig?« fragte Little Mike. »Los!« antwortete Chase. Die Menge tobte. Die Hufe donnerten an Maddie vorbei. Sie hörte die Zurufe von Pa, Agatha und den Zwillingen. »Gold Deck führt um Nasenlänge!« schrie Zoe. »Jetzt sind sie gleichauf… ah, Gold Deck zieht wieder an! Jaaa! Er hat gewonnen!« Es war so schnell vorbei, wie es begonnen harte, aber das war so bei Rennen über eine Distanz von einer Viertelmeile. Einmal geblinzelt, und schon war alles vorüber. Maddie schwankte ein wenig. Sie bemühte sich, ihre Enttäuschung nicht zu zeigen. Tränen trübten ihren Blick. Armer Chase! Nun wußte sie, zu wem sie hielt. Zu ihrem Ehemann. Sie fühlte mit ihm und konnte nicht mit ansehen, wie er verlor und dabei litt. Um sie herum Geschrei und Jubel. Carrie und Zoe führten einen wilden Freudentanz auf. Maddie hatte nur eins im Sinn. Sie mußte so schnell wie möglich zu Chase, um ihn tröstend in die Arme zu nehmen. Mühsam bahnte sie sich einen Weg durch die Menge. Da sah sie die beiden. Seite an Seite, mit einem unverschämten Grinsen auf dem Gesicht, trabten sie auf der Bahn zurück. Chase schien nicht im mindesten enttäuscht zu sein, wie sie es sich vorgestellt hatte. Er wirkte eher heiter. »Zur Hölle damit!« Er lachte herzlich und gab Little Mike einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken. »Diesmal warst du schneller! Nur gut, daß es in der Familie bleibt, sonst wäre ich ziemlich geknickt!«
Dann entdeckte er Maddie, ritt zu ihr, beugte sich hinunter und küßte sie leidenschaftlich auf den Mund. Als er sich wieder aufrichtete, sah er den Tränenschleier in ihren Augen. »Hey!« sagte er, »gelten die mir?« Sie nickte zaghaft. »Ja. Diesmal wollte ich, daß du gewinnst.« »Liebling, ich habe gewonnen, als ich geheiratet habe.« Er schlang einen Arm um sie und hob sie vor sich auf das Pferd. Plötzlich tauchten Pa und Aggie vor ihnen auf. »Na, jetzt wissen wir ja, wer das beste Pferd im Stall hat«, erklärte Pa lauthals. Maddie hätte ihm am liebsten einen Stoß in die Rippen versetzt. Dann zog Pa ein zusammengerolltes Papier aus der Tasche. »Was ist das?« fragte Chase. »Die Besitzurkunde für das Feld mit dem Baum und dem Bach«, verkündete Pa stolz. »Mein Hochzeitsgeschenk für euch beide. Und das erste Fohlen von Bonnie Lass gehört uns gemeinsam. Und dann noch etwas. Die Rennsaison ist für mich ein für allemal beendet. Meine Nerven halten das einfach nicht mehr aus.« »Meine auch nicht«, ließ sich Agatha etwas außer Atem vernehmen. »Mein Ehrenwort, ich habe beide Pferde angefeuert.« »Es sind auch die besten Pferde weit und breit«, sagte Pa. »Ich bin nur froh, daß du mein Schwiegersohn und Partner bist und nicht mein Gegner.« »Das gleiche gilt für mich«, antwortete Chase. »Das galt vom ersten Tag an. Das habe ich Maddie klarzumachen versucht, aber ich mußte sie erst heiraten, um sie davon zu überzeugen.« »Das wußte ich nicht!« Maddie wirbelte zu ihm herum und blickte ihn in gespieltem Erstaunen an. Chase ergaunerte sich geschickt einen Kuß. Die Menge lachte, und dann klatschten alle. »Ich glaube, wir brauchen Zweisamkeit«, sagte er nur für ihre Ohren bestimmt und ließ Bonnie Lass angaloppieren. »Auf Wiedersehen! Es wird Zeit, daß ich meine Frau nach Hause bringe…« Nach Hause, dachte Maddie. Mit Chase fühlte sie sich überall zu Hause. Er hatte immer noch fest einen Arm um ihre Taille geschlungen, als sie aus der Stadt galoppierten in die Prärie von Kansas. Während des Heimritts dachte Maddie an ihre gemeinsame Zukunft,
deren Startlinie sie gerade überschritten hatten. Was für ein wunderbarer, glückseliger Weg lag vor ihnen!
NACHWORT DER AUTORIN Hopewell, Kansas, werden Sie auf keiner Landkarte finden. Es ist ein fiktiver Ort, der zu dieser Zeit in Kansas mit vielen Kbinstädten gleichzusetzen ist. Hoffentlich ist es mir gelungen, die Atmosphäre jener Zeit einzufangen und Ihnen eine kleine Vorstellung von der Geschichte der Quarterhorse-Zucht zu geben. Ihren Anfang nahm sie mit Match-Rennen, als die Farmer in diesem Land Pferde züchteten, um das beinahe ideale Tier zu erhalten, das man vor den Pflug spannte, mit dem man unter der Woche die Rinder hütete und das außerdem noch am Wochenende bei einem Rennen lief. Die Stammväter dieser Rasse, wie zum Beispiel Bonnie Scottland, waren Vollblütler. Die Vollblütler entwickelten sich in eine Richtung, während das Short horse oder Quarter horse einen anderen Weg nahm, zum Segen der ganzen Pferdewelt. Heute zählt das amerikanische Quarter horse zu der größten, vielseitigsten und beliebtesten Rasse auf unserem Globus. Fragen Sie jeden, der ein solches Pferd besitzt, und Sie werden eine endlos lange Lobrede hören – zu Recht. Wie jeder Pferdeliebhaber weiß, ist das Pferd gleichbedeutend mit Inspiration, Fortbewegung, Kameradschaft und beispielloser Schönheit, Anmut und Kraft, Eigenschaften, die der Menschheit auf so mannigfache Art geschenkt wurden. Außerdem sind sie eine unerschöpfliche Quelle für Geschichten. Ich hoffe, dieses Buch hat Ihnen Freude gemacht, und Sie sind auf die nächste Geschichte neugierig geworden.
ENDE