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In der Reihe WARHAMMER 40 000 sind im WILHELM HEYNE VERLAG erschienen: William King: Wolfskrieger William King: ...
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In der Reihe WARHAMMER 40 000 sind im WILHELM HEYNE VERLAG erschienen: William King: Wolfskrieger William King: Ragnars Mission William King: Der graue Jäger William King: Runenpriester William King: Wolfsschwert Graham McNeill: Nachtjäger Dan Abnett: Geisterkrieger Dan Abnett: Mächte des Chaos Dan Abnett: Nekropolis Dan Abnett: Ehrengarde Dan Abnett: Die Feuer von Tanith Dan Abnett: Tödliche Mission Dan Abnett: Das Attentat Dan Abnett: Der Verräter Dan Abnett: Das letzte Kommando Graham McNeill: Die Krieger von Ultramar Ben Counter: Seelentrinker Dan Abnett: Der doppelte Adler Ben Counter: Der blutende Kelch Graham McNeill: Toter Himmel, schwarze Sonne Ben Counter: Blutrote Tränen Dan Abnett: Eisenhorn – Xenos C. S. Goto: Kriegstrommeln Ben Counter: Der Ordenskrieg Dan Abnett: Eisenhorn – Malleus C. S. Goto: Kriegsbeute Dan Abnett: Der Kreuzzug
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DAN ABNETT
Eisenhorn: Xenos Roman Deutsche Erstausgabe
Scanned and edit by
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
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Titel der englischen Originalausgabe EISENHORN: XENOS Deutsche Übersetzung von Christian Jentzsch
Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.
Deutsche Erstausgabe 2/08 Redaktion: Catherine Beck Copyright © 2001 by Games Workshop Ltd. Erstausgabe by Black Library/Games Workshop Ltd. Warhammer® und Games Workshop Ltd.® sind eingetragene Warenzeichen. Umschlagbild: Adrian Smith/Games Workshop Ltd. Copyright © 2008 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Games Workshop Ltd., lizenziert an: Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH http://www.heyne.de Printed in Germany 2008 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-453-523661-1
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AUF BEFEHL SEINER HEILIGSTEN MAJESTÄT DES GOTT-IMPERATORS VON TERRA BESCHLAGNAHMTE DOSSIERS DER INQUISITION NUR FÜR BEFUGTES PERSONAL AKTE 112:67B:AA6:Xad Bitte Zugangsberechtigung eingeben > ••••••••••••• Wird verifiziert Vielen Dank, Inquisitor. Sie dürfen fortfahren.
WÖRTLICHE NIEDERSCHRIFT EINES 6
AUFGEZEICHNETEN BILD-DOKUMENTS ORT: MAGINOR DATUM: 239.M41 AUS SERVITOR-AUFZEICHNUNGSMODUL GEBORGEN NIEDERGESCHRIEBEN VON GELEHRTER ELEDIX, ORDO HERETICUS DATENBANK-FAKULTÄT DER INQUISITION FIBOS SECUNDUS, 240.M41
[Statisches Rauschen geht über in] Dunkelheit. Entfernte Laute menschlicher Schmerzen. Ein Lichtblitz [mögl. Laserfeuer?]. Laufgeräusche. Bildquelle bewegt sich, sucht, wackelt. Ein paar Steinmauern in Nahaufnahme. Noch ein Blitz, heller, näher. Ein Schmerzensschrei [Quelle unbekannt]. Ein extrem heller Blitz [Bildverlust]. [Bild für 2 Minuten 38 Sekunden unkenntlich; Hintergrundlärm.] Ein Mann [Subjekt (i)] in langen Gewändern ruft etwas, während er nah an der Bildquelle vorbeigeht [Wortlaut nicht auszumachen]. Umgebung, dunkles Gestein [mögl. Tunnel? Krypta?]. (i)s Identität ist unbekannt [nur Teilaufnahme vom Gesicht]. Bildquelle hängt sich hinter (i)
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und beobachtet, während (i) einen Energiehammer aus einer Oberschenkelschlaufe unter dem Gewand hervorholt. Nahaufnahme von (i)s Händen, wie sie den Schaft umklammern. Der Siegelring eines Inquisitors ist deutlich zu sehen. (i) dreht sich um [Gesicht bleibt im Schatten]. (i) spricht. STIMME (i): Los! Los, im Namen von allem, was heilig ist! Vorwärts und [Worte nicht rekonstruierbar] verfluchten Ungeheuer den Tod! Weitere Lichtblitze, jetzt eindeutig als nahe Laser-Einschläge zu erkennen. Bildquellenfilter blenden nicht ab [Überbelichtung]. [Überbelichtung dauert 0 Minuten 14 Sekunden, danach langsame Rückkehr des Kontrasts.] Bildquelle passiert den hohen Steineingang einer größeren Kammer. Graues Gestein, roh behauen. Bildquelle schwenkt. Leichen im Eingang und zusammengebrochen auf Innentreppe. Massive Wunden, Verstümmlungen. Steine nass von Blut. STIMME IM OFF [(i)]: Wo bist du? Wo bist du? Zeig dich! Bildquelle rückt näher. Zwei menschliche Gestalten gehen daran vorbei nach links, verschwommen [Standbild zeigt, dass eine [Subjekt (ii)] männlich ist, etwa 40 Jahre alt, stämmig, Rüstung der Imperialen Garde [keine Insignien oder Dienstnummer], zahlreiche Gesichtsnarben [alt], mit einem schweren Karabiner mit Munitionsgurt bewaffnet; die andere [Subjekt (iii)] ist eine Frau, etwa 25 Jahre alt, schlank, Haut blau gefärbt, Tätowierungen und hautenge Rüstung einer Initiantin des Morituri-Todeskults, mit einer Energieklinge [etwa 45 cm Länge] bewaffnet. 8
Verschwommene Gestalten (ii) und (iii) passieren Bildquelle. Bildquelle schwenkt herum und verharrt bei Seitenansicht von (ii) und (iii), die in ein blutiges Handgemenge mit Widersachern auf tieferen Treppenstufen verwickelt sind. Widersacher sind eine heterogene Mischung: sechs Menschen mit chirurgischen/bionischen Implantaten, zwei Mutanten, drei Angriffsservitoren [siehe beiliegende Akte zu baulichen Einzelheiten]. (ii) schießt mit schwerem Karabiner [Tonspur verzerrt]. Zwei menschliche Widersacher zerfetzt [Rauch lässt Bild teilweise undeutlich werden]. (iii) trennt Mutant den Kopf ab, springt rückwärts [Annahme des Niederschreibenden – Bildquelle zu langsam, um zu folgen] und spießt menschlichen Widersacher auf. Bildquelle bewegt sich nach unten [Bild ruckelig]. STIMME IM OFF: Maneesha! Nach links! Nach l… Bildquelle erfasst teilweise, wie (iii) wiederholt von Energiefeuer getroffen wird. (iii) zuckt, explodiert. Bildquelle wird von Blutnebel besprüht [Bild trübt sich]. [Bild wird klargewischt.] (ii) brüllt, eilt vorwärts und aus dem Bild und schießt dabei mit seinem schweren Karabiner. Jäher Kreuzfeuer-Lasereffekt [Laserstrahlen blenden BildquellenOptik]. [Verschiedene Lärmquellen, einiges Geschrei.]
unverständliche
Stimmen,
[Bild kehrt zurück.] (i) ist genau vor der Bildquelle und stürmt in eine ausgedehnte rechteckige Kammer, die von grünen chemischen Lampen erleuchtet ist [Gesicht wird 0,3 Sekunden beleuchtet]. Subjekt (i) eindeutig als Inquisitor Hetris Lugenbrau identifiziert. 9
LUGENBRAU: Quixos! Quixos! Ich habe alles dem Schwert und dem reinigenden Feuer übergeben! Jetzt du, Ungeheuer! Jetzt du, Bastard! STIMME [nicht identifiziert]: Ich bin hier, Lugenbrau. Kharnagar wartet. Lugenbrau (i) bewegt sich aus dem Bild. Bildquelle schwenkt. Bild ruckelig. Körperteile liegen verteilt auf Kammerboden [Zusammensetzung identifiziert Subjekt (ii) als eine der neun Leichen]. Stärkere Detonation(en) in der Nähe. Bild wackelt, Bildquelle kippt zur Seite. [Bildausfall für Hintergrundlärm.]
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Minute
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Sekunden.
Starker
[Bild kehrt zurück.] Lugenbrau teilweise auf der linken Seite zu sehen, ist in Kampf verwickelt. Nachglühen von Energiehammerschlägen bleibt mehrere Sekunden ins Bild gebrannt [Bild undeutlich]. Bildquelle wird ganz auf Lugenbrau gerichtet. Lugenbrau in grimmigen Nahkampf mit unbekanntem Feind verwickelt. Bewegungen zu schnell für Bildquelle, nicht erfassbar. Verschwommene menschliche Gestalten [Identität unbekannt, mögl. Truppen von Widersachern] kommen von rechts. Köpfe menschlicher Gestalten explodieren. Gestalten gehen zu Boden. [Überbelichtung. Bildquelle fällt aus. Dauer unbekannt.] [Bild kehrt zurück, gestört.] Verwackelte Aufnahmen von Boden und Wand. Bildschärfe wird justiert. Bildquelle erfasst Lugenbrau und Widersacher im Kampf [Rauchschwaden beeinträchtigen Sicht]. Kampf wie zuvor zu hektisch für Erfassung durch Bildquelle. Starker Hintergrundlärm. Leuchtende Linie [mutmaßlich Klingenwaffe] spießt Lugenbrau auf. Bild wackelt 10
[einige Bilder unbrauchbar]. Lugenbrau opfert sich [Bild brennt aus]. [Pause/leeres Bild von unbestimmter Dauer.] [Bild kehrt zurück.] Nahaufnahme von Gesicht, das in Bildquelle schaut. Identität unbekannt [Subjekt (iv)]. (iv) ist gut aussehend, wie gemeißelt, und lächelt. Der Blick ist leer. STIMME: (iv): Hallo, kleines Ding. Ich bin Cherubael. Lichtblitz. Schrei [stammt mutmaßlich von Bildquelle]. [Bild erlischt. Aufzeichnung endet.]
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EINS Eine kalte Ankunft. Tod in den Schlummergewölben. Einige puritanische Reflexionen.
uf der Jagd nach dem Schwerverbrecher Murdin Eyclone A kam ich im Schlummer des Jahres 240.M41 des Imperialen siderischen Kalenders nach Hubris. Der Schlummer dauerte elf Monate von Hubris’ neunundzwanzigmonatigem Mondjahr, und das einzige Lebenszeichen waren die Hüter mit ihren Leuchtstäben und Thermomänteln, die in den Revieren der Hibernationsgruften Streife gingen. In jenen düsteren Gewölben aus Basalt und Keramit schliefen die Edlen von Hubris, träumten in Krypten aus Eis und warteten so auf die Schmelze, der mittleren Jahreszeit zwischen Schlummer und Vitale. Sogar die Luft war eisig. Reif verkrustete die Gruften, und das einförmige Land war von einer dicken Eisschicht überzogen. Am Himmel funkelten die Sternbilder in der kuriosen beständigen Nacht. Einer davon war Hubris’ Sonne, die jetzt sehr weit entfernt war. Zu Beginn der Schmelze würde sich Hubris wieder in die warme Umarmung seiner Sonne drehen. Dann würde sie zu einer flammenden Kugel anwachsen. Jetzt war sie nur ein Lichtfunke. Als mein Kanonenboot auf dem Landekreuz von Gruftspitze aufsetzte, hatte ich bereits einen Thermoanzug mit interner 13
Heizung und mehrere Schichten gefütterte Schlechtwetterkleidung angezogen, aber dennoch durchfuhr mich jetzt die gefährliche Kälte. Meine Augen tränten, und die Tränen gefroren auf meinen Wimpern und Wangen. Ich erinnerte mich an die Einzelheiten der kulturellen Einweisung, die mein Gelehrter für mich vorbereitet hatte, und ließ zitternd mein Frostvisier herunter, da warme Luft unter der Plastikmaske zu zirkulieren begann. Hüter, durch astropathische Rufe auf meine Landung aufmerksam gemacht, erwarteten mich an der Basis des Landekreuzes. Ihre Leuchtstäbe neigten sich zur Ehrenbezeugung in der eisigen Nacht, und die Luft dampfte in der Hitze, die aus ihren Mänteln entwich. Ich nickte ihnen zu und zeigte dem Anführer mein Amtssiegel. Ein Eiswagen wartete, ein zwanzig Meter langer Pfeil auf Kufen und dornengespickten Ketten. Er brachte mich weg vom Landekreuz, und ich ließ die blinkenden Signallichter und die gezähnte Dolchform meines Kanonenboots in der ewigen Winternacht hinter mir zurück. Die Dornenketten wirbelten Reifwolken hinter uns auf. Vor uns war die Landschaft trotz der Lampen schwarz und undurchdringlich. Ich fuhr mit Lores Vibben und drei Hütern in einer Kabine, die nur vom bernsteinfarbenen Schein des Armaturenbretts erleuchtet war. Heizöffnungen in den Ledersitzen atmeten warme, abgestandene Luft aus. Ein Hüter reichte Vibben eine Datentafel. Sie betrachtete sie oberflächlich und reichte sie dann an mich weiter. Mir ging auf, dass mein Frostvisier noch unten war. Ich hob es und suchte dann in meinen Taschen nach meiner Brille. Mit einem Lächeln holte Vibben sie aus den Schichten ihrer eigenen gefütterten Kleidung. Ich nickte dankend, setzte sie auf und fing an zu lesen.
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Ich rief gerade die letzte Textseite auf, als der Eiswagen hielt. »Prozessional Zwo-Zwölf«, verkündete einer der Hüter. Wir stiegen aus und schoben unser Visier wieder herab. Juwelen aus Reifflocken umflatterten uns in der Schwärze und funkelten, wenn sie durch die Scheinwerferstrahlen des Eiswagens flogen. Ich habe von bitterer Kälte gehört. Wenn der Imperator mir gnädig ist, muss ich sie nie wieder spüren. Beißend, lähmend und tatsächlich bitter auf der Zunge. Jedes Gelenk in meinem Körper protestierte und ächzte. Meine Hände und mein Verstand waren taub. Das war nicht gut. Prozessional Zwo-Zwölf war eine Hibernationsgruft am Westende der großen Imperialen Allee. Es beherbergte zwölftausendeinhundertzweiundvierzig Mitglieder der herrschenden Elite von Hubris. Wir näherten uns dem großen Monument mit in der eisigen Dunkelheit knirschenden Schritten. Ich blieb stehen. »Wo sind die Hüter der Gruft?« »Sie machen ihre Runde«, wurde mir gesagt. Ich warf einen Blick auf Vibben und schüttelte den Kopf. Sie schob eine Hand in ihre pelzgesäumten Gewänder. »Obwohl sie wissen, dass wir kommen?«, hakte ich bei dem Hüter nach. »Obwohl sie wissen, dass wir erwarten, sie zu treffen?« »Ich sehe nach«, sagte der Hüter, der auch die Datentafel herumgereicht hatte. Er ging die Treppe empor, und das Phosphorlicht auf seinem Stab wackelte. Die anderen beiden schienen sich unbehaglich zu fühlen. Ich gab Vibben einen Wink, damit wir dem Führer gemeinsam folgten. Wir fanden ihn auf einer niedrigen Terrasse, wo er auf die daliegenden Leichen von vier Hütern starrte, deren Leuchtstäbe rings um sie gerade knisternd erloschen.
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»W-wie?«, stammelte er. »Bleiben Sie zurück«, sagte Vibben und zog ihre Waffe. Die winzige bernsteinfarbene Geladen-Rune leuchtete in der Dunkelheit. Ich zog meine Klinge und schaltete die Energie ein. Sie summte. Der Südeingang der Gruft war offen. Goldene Lichtstrahlen fielen nach draußen. All meine Befürchtungen bestätigten sich schlagartig. Wir traten ein, wobei Vibben ihre Waffe herumwandern ließ und den Raum sicherte. Der Korridor war schmal und hoch und von chemischen Lichtkugeln erleuchtet. Eindringender Reif setzte sich langsam auf den polierten Basaltwänden ab. Ein paar Meter weiter lag ein weiterer Hüter in einer gefrierenden Blutlache. Wir schritten über ihn hinweg. Auf beiden Seiten öffneten sich Gänge, die zu den Hibernationsplätzen führten. In jeder Richtung reihenweise Eisbetten, die die geglätteten Basaltkammern ausfüllten. Es war wie ein Marsch durch das größte Leichenschauhaus des Imperiums. Vibben wandte sich lautlos nach rechts, und ich ging nach links. Ich gebe zu, ich war mittlerweile aufgeregt, erpicht darauf, eine Sache zu beenden und abzuschließen, die sechs Jahre angedauert hatte. Eyclone hatte sich mir sechs volle Jahre entzogen! Jeden Tag studierte ich seine Methoden, und jede Nacht träumte ich von ihm. Jetzt konnte ich ihn riechen. Ich schob mein Visier hoch. Wasser tropfte vom Dach. Tauwasser. Es wurde wärmer hier drinnen. Einige der undeutlichen Gestalten rührten sich in ihren Eisbetten. Zu früh! Viel zu früh! Eyclones erster Mann griff mich von Westen an, als ich eine Kreuzung im Korridor erreichte. Ich fuhr mit 16
dem Energieschwert in der Hand herum und durchtrennte seinen Hals, bevor seine Eisaxt traf. Der zweite kam von Süden, der dritte von Osten. Und dann mehr. Mehr. Alles verschwamm. Beim Kämpfen hörte ich heftiges Geschrei aus den Gewölben rechts von mir. Vibben war in Schwierigkeiten. Ich konnte sie über Kom in unseren Kapuzen hören: »Eisenhorn! Eisenhorn!« Ich fuhr herum und schlug zu. Meine Gegner trugen allesamt Wärmemäntel und Eiswerkzeuge, die gefährliche Waffen darstellten. Ihre Augen waren dunkel und abweisend. Sie waren zwar schnell, hatten aber etwas an sich, das auf gedankenloses Handeln schließen ließ, wie auf Befehl. Das Energieschwert, eine antike und elegante Waffe, vom Profos von Inx persönlich gesegnet, wirbelte in meiner Hand. Mit fünf abrupten Manövern machte ich Leichen aus ihnen und hinterließ ihren Blutnebel in der Luft. »Eisenhorn!« Ich fuhr herum und rannte. Ich platschte mit schwerem Tritt durch einen Korridor voller Schmelzwasser. Mehr Gebrüll voraus. Ein erstickter Schrei. Ich fand Vibben bäuchlings auf einem Kühlrohr, von ihrem gefrorenen Blut an das Unter-Null-Plastek geklebt. Acht Diener Eyclones lagen leblos um sie herum. Ihre Waffe war gerade außer Reichweite ihrer suchenden Hand, die verbrauchte Energiezelle aus dem Griff ausgeworfen. Ich bin zweiundvierzig Standardjahre alt, nach imperialen Maßstäben in der Blüte meiner Jahre, jung nach denen der Inquisition. Mein Leben lang habe ich in dem Ruf gestanden, kalt und gefühllos zu sein. Einige haben mich herzlos, rücksichtslos, sogar grausam genannt.
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Das bin ich nicht. Ich bin nicht unfähig zu emotionalen Reaktionen und Mitgefühl. Aber ich besitze – und meine Vorgesetzten sehen darin meine vielleicht größte Tugend – eine außerordentliche Willenskraft. In meiner gesamten Laufbahn hat es mir sehr viel genützt, mich darauf zu stützen und mich damit gegen alles zu wappnen, was mir diese elende Galaxis entgegenschleudern kann. Schmerzen, Furcht oder Kummer zu empfinden wäre ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann. Lores Vibben hatte fünfeinhalb Jahre an meiner Seite gedient. In dieser Zeitspanne hatte sie mir zwei Mal das Leben gerettet. Sie betrachtete sich als meinen Adjutant und Leibwächter, aber in Wahrheit war sie mehr eine Kameradin und Kampfgefährtin. Ursprünglich hatte ich sie wegen ihrer Kampffähigkeiten und brutalen Vitalität aus den KlanElendsvierteln von Tornish rekrutiert, aber später hatte ich auch ihren scharfen Verstand, unterkühlten Humor und klaren Kopf schätzen gelernt. Ich starrte einen Moment auf ihren Leichnam. Ich glaube, ich könnte ihren Namen geflüstert haben. Ich schaltete mein Energieschwert aus, schob es zurück in die Scheide und zog mich in den Schatten auf der anderen Seite der Hibernationsgalerie zurück. Ich hörte nichts außer dem zunehmend beharrlicheren Tropfen des Tauwassers. Ich zog meine Handfeuerwaffe aus dem Lederhalfter unter der linken Armbeuge, überprüfte das Magazin und öffnete eine KomVerbindung. Eyclone überwachte zweifellos den KomVerkehr in und um Prozessional Zwo-Zwölf, also benutzte ich Glossia, eine informelle verbale Verschlüsselung, die nur mir selbst und meinen unmittelbaren Kollegen bekannt war. Die meisten Inquisitoren entwickeln ihre eigene Privatsprache für vertrauliche Gespräche, und manche sind komplizierter als andere. Glossia, deren Grundlage ich vor zehn Jahren entwickelt hatte, 18
war einigermaßen komplex und hatte sich im Laufe ihrer Benutzung organisch entwickelt. »Dorn wünscht Aegis, räuberische Bestien unten.« »Aegis, aufgehend, die Farben des Alls«, antwortete Betancore sofort und korrekt. »Rosendorn, im Überfluss, durch Flamme Licht Halbmond.« Eine kurze Pause. »Durch Flamme Licht Halbmond? Bestätigen.« »Bestätigt.« »Scharf Delphus Pfad! Schema Elfenbein!« »Schema abgelehnt. Schema Feuerprobe.« »Aegis, aufgehend.« Die Verbindung brach ab. Er war unterwegs. Die Nachricht von Vibbens Tod hatte ihn so hart getroffen, wie ich erwartet hatte. Ich ging davon aus, dass dies seine Leistung nicht beeinträchtigen würde. Midas Betancore war ein heißblütiger, ungestümer Mann, was mit ein Grund dafür war, warum ich ihn mochte. Und benutzte. Ich trat mit erhobener Waffe wieder aus dem Schatten. Es handelte sich um eine Flottenpistole vom Typ Scipio, matt verchromt und mit Elfenbeinziselierungen im Griff. Sie fühlte sich beruhigend schwer in meiner Hand an. Zehn Patronen, jede ein dicker, stumpfer Hammer, befanden sich im GriffMagazin. Vier weitere solcher Magazine lagen in meiner Hüfttasche. Ich habe vergessen, woher ich die Scipio habe. Sie gehört mir schon seit einigen Jahren. Eines Nachts, vor drei Jahren, hatte Vibben die Platten mit ihren abgenutzten, maschinell eingestanzten Gravuren des Imperiumsadlers und des Flottenleitspruchs im Keramitgriff herausgelöst und durch Elfenbeinplatten ersetzt, die sie selbst zugeschnitten und graviert hatte. Eine allgemein übliche Praxis auf Tornish, hatte sie mich informiert, als sie mir die Waffe am nächsten Tag zurückgab. 19
Die Elfenbeinschnitzerei wirkte primitiv und zeigte auf jeder Seite einen schlecht ausgeführten menschlichen Schädel mit einer darum gewickelten Dornenrose, die aus einer Augenhöhle wuchs und stilisierte Blutstropfen vergoss. Sie hatte rote Edelsteinsplitter eingearbeitet, um ihren Charakter hervorzuheben. Unter dem Schädel war mein Name in unbeholfener Schrift eingeritzt. Ich hatte gelacht. Es hatte Zeiten gegeben, als es mir beinahe zu peinlich gewesen war, die dergestalt bandengezeichnete Waffe im Kampf zu ziehen. Doch nun, da sie tot war, ging mir auf, welche Ehre mir durch ihre hingebungsvolle Arbeit erwiesen worden war. Ich gab mir selbst ein Versprechen: Ich würde Eyclone mit dieser Waffe töten. Als ergebenes Mitglied seiner hohen Majestät des GottImperators Inquisition neigt sich meine Philosophie derjenigen der Amalathianer zu. Der übrigen Galaxis mögen die Mitglieder unseres Ordens alle gleich erscheinen: ein Inquisitor ist ein Inquisitor, ein Wesen der Furcht und Strafverfolgung. Es überrascht viele, dass wir innerlich durch widerstreitende Ideologien gespalten sind. Ich weiß, dass es Vibben überrascht hat. Ich habe einen ganzen langen Nachmittag mit dem Versuch verbracht, ihr die Unterschiede zu erklären. Es ist mir nicht gelungen. Um es ganz simpel auszudrücken: Manche Inquisitoren sind Puritaner und manche Radikale. Puritaner glauben und vertreten die traditionelle Stellung der Inquisition, indem sie daran arbeiten, unsere galaktische Gemeinschaft von allen kriminellen und böswilligen Elementen zu säubern: vom Triumvirat des Bösen – Nichtmensch, Mutant und Dämon. Alles, was der reinen Herrschaft der Menschheit, den Predigten des Ministoriums und dem Buchstaben des Imperiumsgesetzes zuwiderläuft, 20
ist Gegenstand der Aufmerksamkeit eines puritanischen Inquisitors. Hart, traditionsbewusst, gnadenlos … das ist der puritanische Weg. Radikale glauben, dass alle Methoden erlaubt sind, wenn sie die inquisitorische Aufgabe erfüllen. Manche, ist mir zu Ohren gekommen, setzen tatsächlich verbotene Hilfsmittel wie den Warpraum selbst als Waffen gegen die Feinde der Menschheit ein. Ich habe die Argumente oft genug gehört. Sie entsetzen mich. Der radikale Glaube ist ketzerisch. Ich bin ein Puritaner aus Berufung und ein Amalathianer aus freien Stücken. Die unbedingte Striktheit der monodominanten Philosophie lockt mich oft, aber ihr haftet herzlich wenig Raffinesse an, also ist sie nichts für mich. Wir Amalathianer haben unseren Namen von der Konklave auf dem Berg Amalath. Unser Anspruch besteht darin, den Status quo des Imperiums zu erhalten, und wir sind bemüht, alle Personen und Organisationen zu identifizieren und zu zerstören, die die Macht des Imperiums von außen oder innen destabilisieren könnten. Wir glauben an Kraft durch Einheit. Wandel ist der größte Feind. Wir glauben, der Gott-Imperator hat einen göttlichen Plan, und wir arbeiten daran, das Imperium stabil zu erhalten, bis dieser Plan bekannt wird. Wir missbilligen Fraktionen und interne Streitigkeiten … Tatsächlich ist es eine manchmal schmerzliche Ironie, dass unsere Überzeugungen uns zu einer Fraktion innerhalb der politischen Helix der Inquisition machen. Wir sind das standhafte Rückgrat des Imperiums, seine Antikörper, und bekämpfen Krankheit, Wahnsinn, Verletzung und Invasion. Ich kann mir keine bessere Art zu dienen vorstellen, keine bessere Art, Inquisitor zu sein.
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Das also bin ich, Gregor Eisenhorn, Inquisitor, Puritaner, Amalathianer, zweiundvierzig Standardjahre alt, Inquisitor seit achtzehn Jahren. Ich bin hochgewachsen und breit in den Schultern, stark, resolut. Ich habe bereits von meiner Willenskraft erzählt, und Sie werden mein Geschick mit einer Klinge zur Kenntnis genommen haben. Was gibt es noch zu sagen? Bin ich glatt rasiert? Ja! Meine Augen sind dunkel, mein Haar noch dunkler und dicht. Diese Dinge bedeuten wenig. Begleiten Sie mich und lassen Sie sich zeigen, wie ich Eyclone tötete.
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ZWEI Die Toten erwachen. Betancores Temperament. Erläuterungen von Aemos.
ch blieb im Schatten, als ich mich so lautlos durch die große IGruft bewegte, wie ich konnte. Ein furchtbares Geräusch hallte durch die tauenden Gewölbe von Prozessional ZwoZwölf. Fäuste und Handflächen, die gegen Sargdeckel schlugen. Heulen. Gurgeln. Die Schläfer erwachten, die kalten Leiber wund von der Hibernationskrankheit, und waren in ihren Särgen gefangen. Keine Ehrengarde ausgebildeter Kryo-Ingenieure wartete, um sie herauszuholen und ihre Organe mit wärmenden Bioflüssigkeiten zu waschen, ihnen stimulierende Mittel zu injizieren oder die gelähmten Glieder zu massieren. Dank Eyclones Bemühungen wurden zwölftausendeinhundertzweiundvierzig Mitglieder der herrschenden Klasse dieses Planeten viel zu früh in der bitteren Jahreszeit Schlummer geweckt, und zwar ohne die notwendige medizinische Aufsicht. Ich zweifelte nicht daran, dass sie alle in wenigen Minuten erstickt sein würden. Mein Verstand ging noch einmal die Einzelheiten durch, die mein Gelehrter für mich vorbereitet hatte. Es gab einen zentralen Kontrollraum, wo ich die Eisbettschlösser öffnen und sie zumindest alle befreien konnte. 23
Aber wozu? Ohne die Wiederbelebungstrupps würden sie alle sterben. Und wenn ich den Kontrollraum suchte, würde Eyclone Zeit zur Flucht haben. In Glossia unterrichtete ich Betancore von dieser Zwickmühle und sagte ihm, er solle die Hüter alarmieren. Nach einer Pause informierte er mich, dass Entsatztruppen unterwegs seien. Aber warum? Die Frage war immer noch nicht beantwortet. Warum tat Eyclone das? Massenmord war nichts Ungewöhnliches für einen Anhänger des Chaos. Aber er musste einen Sinn neben und außer dem Töten an sich haben. Darüber dachte ich nach, während ich einen Flur tief im Westflügel des Prozessionals durchquerte. Hektische Schlaggeräusche drangen aus allen Betten ringsumher, und eine stechende Mischung aus Eiswasser und Bioflüssigkeit sprudelte aus den Ablaufhähnen und über den Boden. Ein Schuss ertönte. Ein Laserschuss. Er verfehlte mich um weniger als eine Handbreit und bohrte sich durch die Kopfplatte eines Eisbetts hinter mir. Sofort hörte das hektische Hämmern in dem Bett auf, und das Wasser, das aus ihm ablief, färbte sich rosa. Ich schoss mit der Scipio durch das Gewölbe, und der Lärm des Schusses ließ mich zusammenfahren. Zwei weitere Laserstrahlen zuckten mir entgegen. Ich nahm Deckung hinter einem steinernen Schott und leerte ein Magazin in die Galerie, wobei die leeren Hülsen in der Luft rauchten, als sie beim Nachladen ausgeworfen wurden. Heißer Korditdampf wehte mir entgegen. Ich schwang zurück in Deckung und wechselte das Magazin. Noch ein paar Laserstrahlen schossen an mir vorbei, dann ertönte eine Stimme. »Eisenhorn? Gregor, sind Sie das?« 24
Eyclone, ich erkannte seine dünne Stimme sofort. Ich antwortete nicht. »Sie sind tot, wissen Sie das, Gregor? Tot wie alle anderen hier. Tot, tot, tot. Kommen Sie raus und machen Sie's kurz.« Er war gut, das muss ich ihm lassen. Meine Beine zuckten tatsächlich und machten Anstalten, mich aus meiner Deckung ins Freie zu befördern. Eyclone war in einem Dutzend besiedelter Systeme für seine geistigen Kräfte und den hypnotischen Tonfall berühmt. Wie wäre es ihm sonst gelungen, diese dunkeläugigen Narren dazu zu bringen, ihm zu Willen zu sein? Aber ich habe ähnliche Fähigkeiten. Und ich habe sie weit entwickelt. Es gibt Zeiten, da muss man Tricks des Geistes oder der Stimme vorsichtig einsetzen, um das Ziel hervorzulocken. Und es gibt Zeiten, in denen man sie benutzt wie einen Karabiner aus nächster Nähe. Es war an der Zeit für Letzteres. Ich stellte mich auf den richtigen Tonfall ein, sammelte mich und brüllte: »Zeigen Sie sich zuerst!« Eyclone gehorchte nicht. Das erwartete ich auch nicht von ihm. Wie ich hatte er Jahre des Widerstandstrainings hinter sich. Aber seine beiden Henkersknechte waren leichte Beute. Der erste trat gleich mitten in den Korridor der Galerie und ließ scheppernd seine Laserwaffe fallen. Die Scipio bohrte ihm ein Loch mitten in die Stirn und fegte ihm das Hirn in einem grotesken rosa Nebel aus dem Hinterkopf. Der andere stolperte ebenfalls hervor, erkannte seinen Fehler und fing an zu schießen. Einer seiner Laserstrahlen versengte den Ärmel meiner Jacke. Ich drückte ab, und die Scipio bockte und fauchte in meinem festen Griff. Das Geschoss drang unter der Nase in seinen Kopf ein, zersplitterte an den Zähnen des Oberkiefers und 25
sprengte ihm den Schädel weg. Er schwankte und fiel, während tote Finger immer wieder das Lasergewehr abfeuerten und die Stirnplatten der Hibernationskammern ringsumher zerstrahlten. Stinkendes Wasser, Bioflüssigkeit und Plastikfragmente strömten aus, und einige Schreie wurden lauter. Ich hörte Schritte neben dem Geschrei. Eyclone floh. Ich folgte ihm, rannte durch die Gewölbe und an Galerie um Galerie vorbei. Das Geschrei, das Hämmern ... Gott-Imperator helfe mir, das werde ich nie vergessen. Tausende Seelen, die aufwachten und einem qualvollen Tod ins Angesicht schauten. Eyclone sollte verflucht sein. Zur Hölle und zurück. In der dritten Galerie sah ich ihn, da er parallel zu mir lief. Er sah mich ebenfalls. Er fuhr herum und schoss. Ich sprang geduckt zurück, und sein Laserstrahl zischte an mir vorbei. Ein flüchtiger Blick war alles, was ich von ihm erhaschte: ein kleiner, drahtiger Mann in einem braunen Thermomantel mit ordentlich gestutztem Kinnbart, in dessen Augen Böswilligkeit funkelte. Ich schoss zurück, doch er lief bereits wieder. Ich folgte ihm, erblickte ihn in der nächsten Galerie und schoss wieder. In der nächsten Galerie: nichts. Ich wartete und legte meine äußerste Kleiderschicht ab. Es wurde warm und feucht in Prozessional Zwo-Zwölf. Als eine weitere Minute verstrich und immer noch nichts von ihm zu sehen war, schlich ich mit erhobener Pistole langsam die Galerie entlang zu seiner letzten Position. Ich war zehn Schritte weit gekommen, als er aus seiner Deckung schwang und das Feuer auf mich eröffnete. An dieser Stelle wäre ich bereits gestorben, hätten nicht die unberechenbaren Götter des Schicksals und des Zufalls ihre Hände im Spiel gehabt. 26
In dem Augenblick, als Eyclone schoss, gaben mehrere Kryoröhren endlich nach, und heulende, nackte, mit Blasen übersäte Menschen taumelten in den Korridor, streckten vereiste Klauenhände aus, jammerten und übergaben sich, blind und vom Eis verbrannt. Eyclones Schüsse zerfetzten drei von ihnen und verstümmelten den vierten entsetzlich. Wären sie nicht gewesen, hätten die Laserstrahlen mich erledigt. Schritte, eilige. Er floh weiter. Ich folgte ihm durch die Galerie und übersprang die erschossenen Schläfer, die mich unabsichtlich gerettet hatten. Der verwundete Mensch war eine Frau mittleren Alters, die verstümmelt und nackt im Schmelzwasser lag. Sie tastete nach meinem Bein und flehte um Erlösung. Eyclones Laserstrahl hatte ihr den Bauch aufgeschlitzt. Ich zögerte. Ein gnädiger Kopfschuss würde ihr alles ersparen. Aber ich konnte nicht. Nachdem sie erwacht waren, würde die Hierarchie von Hubris einen Gnadenschuss nicht verstehen. Ich würde hier Jahre festsitzen und mit meinem Fall alle Instanzen ihrer Gerichte durchlaufen müssen. Ich schüttelte ihren verzweifelten Griff ab und ging weiter. Halten Sie mich für schwach, makelbehaftet? Hassen Sie mich, weil ich meine Rolle als Inquisitor über die Bedürfnisse eines gequälten Wesens stellte? Wenn Sie das tun, pflichte ich Ihnen bei. Ich denke immer noch an diese Frau und hasse die Tatsache, dass ich sie einem langsamen Tod überlassen habe. Aber wenn Sie mich hassen, weiß ich eines über Sie ... Sie sind kein Inquisitor. Ihnen fehlt die moralische Stärke. Ich hätte sie erledigen können, und meine Seele hätte vielleicht Erleichterung gefunden. Aber das hätte meine Arbeit beendet. Und ich denke immer an die vielen Tausend ... vielleicht Millionen ... die ohne meine Taten einen schlimmeren Tod sterben würden. Ist das Arroganz? 27
Vielleicht ... und vielleicht ist Arroganz daher eine Tugend der Inquisition. Ich würde mit Freuden ein gequältes Leben ignorieren, wenn ich dafür hundert oder tausend mehr retten könnte ... Die Menschheit muss leiden, damit die Menschheit überleben kann. So einfach ist das. Fragen Sie Aemos. Er weiß Bescheid. Trotzdem träume ich von ihr und ihren blutigen Qualen. Haben Sie wenigstens dafür Mitleid mit mir. Ich lief weiter durch die Gewölbe der Gruft, und nach weiteren ein oder zwei Galerien ging es nicht mehr richtig vorwärts. Hunderte Schläfer hatten sich mittlerweile befreit und wuselten in hektischer blinder Qual umher. Ich wich allen aus, so gut ich konnte, hielt mich von tastenden Händen fern und schritt über einige hinweg, die hilflos zuckend am Boden lagen. Die Geräuschkulisse ihres kollektiven Heulens und Wimmerns war fast unerträglich. Ein heißer Gestank nach Verwesung und Bio-Abfall lag in der Luft. Mehrmals musste ich mich von Händen losreißen, die mich festhielten.Groteskerweise machte es das Grauen leichter, Eyclone zu verfolgen. Alle paar Schritte lag ein weiterer Schläfer tot oder im Sterben da, von Mördern auf verzweifelter Flucht eiskalt niedergeschossen. Ich fand eine aufgebrochene Wartungstür am Ende der nächsten Reihe und betrat ein tiefes Treppenhaus, das sich durch das ganze Bauwerk zog. Chemische Lichtkugeln in Wandhalterungen beleuchteten den Weg. Von weit oben drangen Schüsse zu mir, und ich erklomm die Treppe, die Pistole erhoben und im Anschlag und auf jede Biegung des Treppenhauses gerichtet, wie Vibben es mir beigebracht hatte. Eine Plakette an der Wand verriet mir, dass ich die achte Etage erreicht hatte: Ich konnte Maschinenlärm hören, industriell und schwer. Hinter einer weiteren aufgebrochenen Wartungstür lagen die Laufstege zu den 28
nächsten Galerien und eine Seitenzugangsluke aus gebürstetem grauen Adamit, die von den aufgestempelten Runen als Zugang zu den kryogenischen Hauptgeneratoren identifiziert wurden. Aus der Luke drangen Rauch und Lärm. Der Kryo-Generatorenraum war riesig, seine Decke reichte bis in die pyramidenförmige Spitze von Prozessional ZwoZwölf. Die tuckernde Ausrüstung darin war alt und ausgedehnt. Die mir im Eiswagen überreichte Datentafel besagte, die Kryo-Generatoren der Hibernationsgruften auf Hubris seien ursprünglich für die Archenflotte konstruiert worden, mit der die ersten Kolonisten zu dieser Welt geflogen waren. Bei der Ankunft hatte man sie aus den riesigen Archen geschnitten und dann die Steingruften darum errichtet. Eine technomagische Bruderschaft, die von den Ingenieuren der Archenflotte abstammte, hatte die KryoGeneratoren über viele tausend Jahre hinweg gewartet. Dieser Kryo-Generator war sechzig Meter hoch und bestand aus Gusseisen und in mattem Bleigrau lackiertem Kupfer. In der Höhe wuchsen ihm Verästelungen in Form von Rohren und Wärmetauschern, die sich mit den Abzugsöffnungen in der Decke vermischten. Die heiße Luft in dem Raum vibrierte im Lärm seines Betriebs. Qualm und Dampf wallten hindurch, und ich war kaum durch die Luke getreten, als mir auf Stirn und Rücken der Schweiß ausbrach. Ich sah mich um und bemerkte sofort, wo mehrere Wartungsluken aufgestemmt worden waren. Die rote Farbe wies überall da Kratzer und Einkerbungen auf, wo ein Brecheisen angesetzt worden war und viele hundert Jahre heiliger Salben und lexmechanischer Sigillen Siegel zerstört hatte, die von den Technomagi aufgetragen und gewartet worden waren. Ich lugte durch die offenen Abdeckungen und sah viele Reihen Kupferspulen, vibrierende Gestelle und Rahmen, die nass von schwarzen Schmiermitteln waren, rußige Ganglien aus isolierten elektrischen Leitungen und tropfende 29
ummantelte Eisenrohre. Federklemmen mit zubeißenden Metallzähnen waren an einigen der Spulen befestigt, und von diesen Klemmen führten Drähte zu einem kleinen und offensichtlich neuen Keramitkasten, der am Lukenrahmen befestigt war. Eine digitale Runenanzeige auf dem Kasten blinkte bernsteinfarben. Hier hatten Eyclones Männer künstlich den Wiederbelebungsvorgang eingeleitet. Das bedeutete, er hatte entweder einheimische Technomagi rekrutiert oder Experten mitgebracht. So oder so deutete dies auf beträchtliche Mittel hin. Ich ging weiter und kletterte eine Leiter zu einer erhöhten Metallgitterplattform empor. Noch etwas anderes war hier, eine rechteckige Truhe, deren längere Kante eineinhalb Meter maß. Sie ruhte auf vier klauenartigen Füßen und hatte in den Seiten eingelassene Tragegriffe. Der Deckel war offen, und Dutzende Kabel und Schnüre hingen heraus und verbanden sie mit den elektromechanischen Eingeweiden des KryoGenerators, die unter einer weiteren aufgestemmten Luke freilagen. Ich schaute in die Truhe, wurde aber nicht schlau aus dem, was ich darin sah: Schaltkreise und komplexe mechanische Elemente, die durch Kabelbündel miteinander verbunden waren. Und es gab eine Stelle, eine gepolsterte Vertiefung im Herzen der Truhe, die eindeutig darauf wartete, etwas von der Größe einer geballten Faust aufzunehmen. Lose Kabelenden und Stöpsel waren mit Klebeband fixiert, um jederzeit verbunden werden zu können. Aber eine Schlüsselkomponente dieser mysteriösen Vorrichtung fehlte ganz eindeutig.
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Im Ohr summte mein Kom. Es war Betancore. Ich konnte ihn über den Generatoren lärm kaum verstehen, während er rasch auf Glossia Bericht erstattete. »Aegis, Himmel Auftrieb, dreimal-siebenfach, eine Krone mit Sternen. Berüchtigter Engel ohne Titel, an Dorn um acht. Schema?« Ich dachte nach. Ich war nicht in der Stimmung, noch mehr Risiken einzugehen. »Dorn, Schema Falke.« »Schema Falke bestätigt«, sagte er mit Wonne. Ich nahm eine Bewegung im Augenwinkel wahr, ungefähr eine halbe Sekunde, nachdem ich die Verbindung mit Betancore unterbrochen hatte: einer von Eyclones schwarzäugigen Männern, der mit einer älteren Laserpistole in der Hand durch die Hauptschleuse gelaufen kam. Sein erster Schuss, ein blendender Ball aus rosa Licht, schmolz mit einem explosiven Bersten das Metallgeländer der Plattform, auf der ich stand. Der zweite und dritte zischten über mich hinweg, da ich mich zu Boden warf, und prallten mit sengendem Knistern von den gusseisernen Wänden des Kryo-Generators ab. Ich erwiderte das Feuer, auf dem Bauch liegend, aber der Winkel war schlecht. Zwei weitere Laserschüsse kamen mir entgegen, und einer schnitt seitlich in die Umrandung der Plattform und bohrte eine Furche durch das Gitter. Der Schütze hatte beinahe den Fuß der Leiter erreicht. Ein zweiter Schütze drang in die Kammer ein, der dem ersten hinterherrief. Er hatte ein starkes Autogewehr in den Händen. Als er mich sah, riss er es in die Höhe, aber der Schusswinkel zu ihm war viel besser, und ich fällte ihn rasch mit zwei Schüssen in den Oberkörper. Der andere war jetzt fast unter mir und gab einen Schuss ab, der neben meinem rechten Fuß sauber durch das Gitter schlug. 31
Ich zögerte nicht. Ich sprang auf und über das Geländer und fiel direkt auf ihn. Wir krachten auf den Boden, und die Wucht des Aufpralls schlug mir die Scipio aus der Hand, obwohl ich mich bemühte, sie festzuhalten. Der Mann plapperte mir irgendeinen verrückten Unsinn ins Gesicht und hatte sich vorne an meiner Jacke festgekrallt. Ich hatte ihn bei der Kehle und am Gelenk seiner Waffenhand, das ich wegdrehte. Er schoss damit zwei Mal in die Decke über uns. »Genug!«, befahl ich, indem ich meinen Tonfall so modulierte, dass mein Wille betont wurde, während der Befehl in sein Bewusstsein sickerte. »Fallen lassen!« Er tat es, so eingeschüchtert, als sei er überrascht. Psionikertricks verblüffen oft jene, auf die sie Wirkung zeigen. Während er zögerte, verpasste ich ihm einen Schlag, der gut saß, und ließ ihn bewusstlos am Boden liegen. Als ich mich bückte, um meine Scipio aufzuheben, meldete sich Betancore wieder über Kom. »Aegis, Schema Falke, berüchtigter Engel gefallen.« »Dorn bestätigt. Schema Schmelztiegel wiederaufnehmen.« Ich machte mich wieder an die Verfolgung des Flüchtigen. Eyclone schaffte es in die oberen Gewölbe und nach draußen auf eine Landeplattform, die in die schräg abfallende Seite von Prozessional Zwo-Zwölf eingebaut war. Der Wind war heftig. Eyclone hatte acht Mitglieder seines Kults bei sich, und sie erwarteten eine Landefähre, die sie in Sicherheit bringen würde. Sie konnten nicht wissen, dass dank Betancore ihr Fluchtgefährt in einem tiefen Einschlagkrater im Permafrost ungefähr acht Kilometer weiter nördlich brannte. Was mit heulenden, nach unten gerichteten Schubdüsen aus der stürmischen Nacht über der Landeplattform auftauchte, war mein Kanonenboot. 32
Vierhundertfünfzig Tonnen Panzerlegierung, achtzig Meter vom Bug bis zum Heck, die Landestützen noch ausgefahren wie Spinnenbeine, erhob es sich auf den blauglühenden Schubstrahlen. Scheinwerferlampen unter der Hakennase wurden eingeschaltet und tauchten das Deck und die Kultisten in grellweißes Licht. Einige von ihnen gerieten in Panik und schossen darauf. Mehr brauchte Betancore nicht. Sein Blut war in Wallung, sein Verstand leer bis auf die Tatsache, dass Vibben tot war. Die Geschütztürme in den Enden der Stummelflügel drehten sich und bestrichen die Plattform mit vernichtendem Feuer. Gestein zersplitterte. Leiber wurden zerfetzt. Intelligenter als seine Männer, war Eyclone beim Auftauchen des Kanonenboots von der Plattform zur Luke gerannt. Und dort stieß er auf mich. Er öffnete schockiert den Mund, und ich rammte die Mündung von Vibbens Pistole hinein. Ich bin sicher, er wollte etwas Wichtiges sagen. Es interessierte mich nicht. Ich rammte ihm die Waffe so fest in den Mund, dass ihm der Abzugsbügel die Vorderzähne aus dem Unterkiefer brach. Er griff nach etwas in seinem Gürtel. Ich schoss. Nachdem die Kugel seinen Schädel geleert und obendrein zerschmettert hatte, blieb ihr noch so viel Energie, über das Deck zu fliegen und von der gepanzerten Nase dicht unter dem Kanzelfenster des dort schwebenden Kanonenboots abzuprallen. »Verzeihung«, sagte ich. »Kein Problem«, gab Betancore knisternd über Kom zurück.
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»Äußerst bestürzend!«, sagte Aemos. Das war seine am häufigsten benutzte Redewendung. Er stand vornübergebeugt und schaute in die Truhe auf der Plattform des KryoGeneratorraums. Ab und zu griff er hinein, um etwas zu bewegen, oder bückte sich tiefer, um etwas besser zu erkennen. Gesten wie diese entlockten der schweren augmetischen Brille auf seiner Hakennase ein leises Surren, da sie automatisch nachfokussierte. Ich stand seitlich hinter ihm und wartete, während ich auf seinen alten, kahlen Hinterkopf starrte. Die Haut war leberfleckig und dünn, und der Hinterkopf wurde von einer schmalen Sichel weißer Haare eingerahmt. Uber Aemos war mein Gelehrter und ältester Gefährte. Er war im ersten Monat meiner Laufbahn bei der Inquisition in meine Dienste getreten, ein Vermächtnis von Inquisitor Hapshant, der zu diesem Zeitpunkt unter Hirnwürmern litt und im Sterben lag. Aemos war zweihundertachtundsiebzig Standardjahre alt und hatte seine Dienste vor mir bereits drei anderen Inquisitoren zur Verfügung gestellt. Er lebte nur noch dank signifikanter bionischer Eingriffe in Verdauungstrakt, Leber, Nieren, Hüfte und linkem Bein. In Hapshants Diensten war er von einem Karabiner verwundet worden. Die Chirurgen hatten dann fortgeschrittenen und bis dahin nicht diagnostizierten Unterleibskrebs bei ihm festgestellt. Wäre er nicht angeschossen worden, wäre er binnen weniger Wochen gestorben. Dank der Wunde war die Krankheit entdeckt und sein Körper mit Plastek, Keramit und Stahlprothesen geheilt worden. Aemos bezeichnete diese Tortur als sein »Glücksleiden« und trug immer noch die verformte Karabinerkugel, die ihn beinahe das Leben gekostet und es ihm dadurch mit Sicherheit gerettet hatte, an einer Kette um den mageren Hals. »Aemos?« 34
Er erhob sich steif mit einem Surren der Bionik und drehte sich zu mir um, wobei er sein bodenlanges grünes, besticktes Gewand ausschüttelte. Das alte Gesicht wurde von seiner augmetischen Brille beherrscht. Manchmal erinnerte er mich an ein kurioses Insekt mit vorquellenden Augen und schmalen, verkniffenen Mundwerkzeugen. »Ein Verschlüssler von einzigartiger Bauweise. Ein Reihenprozessor, in seiner Anlage den Gedankenimpulseinheiten sehr ähnlich, die von den heiligen Adeptus Mechanicus benutzt werden, um die Verbindung zwischen dem menschlichen Gehirn und der Gott-Maschine herzustellen.« »Du hast so etwas schon gesehen?«, fragte ich ein wenig verblüfft. »Ein Mal, auf meinen Reisen. Im Vorbeigehen. Ich will nicht so tun, als hätte ich mehr als ein oberflächliches Wissen darüber. Aber ich bin sicher, die Adeptus Mechanicus wären an dieser Vorrichtung interessiert. Sie könnte illegale Technologie oder aus einem Apparat hervorgegangen sein, der ihnen gestohlen wurde. So oder so würden sie sie beschlagnahmen.« »So oder so werden sie nichts davon erfahren. Dies ist inquisitorisches Beweismaterial.« »Ganz recht«, stimmte er zu. Von unten drangen Geräusche zu uns herauf. Grufthüter und Technomagi der Kryo-Generator-Bruderschaft machten sich in der Kammer zu schaffen und an das gigantische und meiner Ansicht nach vergebliche Unterfangen, die Schläfer aus Prozessional Zwo-Zwölf zu retten. Die gesamte Gruft wimmelte vor Aktivität, und das fürchterliche Geschrei war noch nicht verstummt. Aemos beobachtete die Arbeiten mit regem Interesse und machte sich Notizen auf einer am Handgelenk festgeschnallten Datentafel. Im Alter von zweiundvierzig hatte er sich mit dem Meme-Virus angesteckt, 35
das seine Hirnfunktionen dauerhaft verändert hatte, was ihn dazu trieb, Informationen zu sammeln - Informationen jedweder Art -, wann immer er Gelegenheit dazu fand. Er war pathologisch gezwungen, Wissen zu sammeln, ein Datensüchtiger. Das machte ihn zu einem unangenehmen, leicht ablenkbaren Gefährten und zu einem perfekten Gelehrten, wie vier Inquisitoren herausgefunden hatten. »Kaltgenietete Stahlzylinder«, sann er mit Blick auf die Wärmetauscher. »Soll das Belastbarkeit bei Temperaturwechseln schaffen, oder war es einfach vorteilhaft in der Herstellung? Außerdem, in welchem Bereich finden die Temperaturwechsel statt, wenn man bedenkt ...« »Aemos, bitte.« »Hm?« Er wandte sich mir zu und erinnerte sich daran, dass ich auch noch da war. »Die Truhe?« »In der Tat. Ich bitte um Verzeihung. Ein Reihenprozessor ... habe ich das schon gesagt?« »Ja. Was verarbeitet er? Daten?« »Das habe ich zuerst gedacht, dann habe ich einen mentalen oder Mental-Übertragungsvorgang in Betracht gezogen. Doch nun, da ich sie studiert habe, glaube ich beides nicht mehr.« Ich zeigte auf die Truhe. »Was fehlt?« »Ach, das ist Ihnen auch aufgefallen? Das ist äußerst bestürzend. Natürlich bin ich noch nicht ganz sicher, aber es ist etwas Eckiges von ungewöhnlicher Form mit eigener Energiequelle.« »Sind Sie sicher?« »Es gibt keine Kabelstecker, die für eine Verbindung vorgesehen wären, nur Eingänge. Und die Stecker haben etwas Seltsames an sich. Alles sehr eigenartig.« »Xenos?« 36
»Nein ... menschlich, aber eben eigenartig, ungewöhnlich, handgemacht.« »Ja, aber wofür?«, fragte Betancore, der die Leiter hochgeklettert war und sich jetzt zu uns gesellte. Er schaute mürrisch drein, und seine dunklen Locken rahmten ein dunkelhäutiges, schlankes Gesicht ein, das normalerweise einen lebendigen Ausdruck voll freundlichem Übermut hatte. »Ich muss weitere Untersuchungen vornehmen, Midas«, sagte Aemos, indem er sich wieder über die Truhe beugte. Betancore starrte in meine Richtung. Er war so groß wie ich, aber schmaler gebaut. Stiefel, Hose und Uniformjacke waren aus weichem schwarzem Leder mit rotem Besatz, die alte Uniform eines glavianischen Piloten-Jägers, und darüber trug er wie immer eine kurze Jacke aus kirschroter Seide mit schillernden Stickmustern. Seine Handschuhe waren aus leichtem Bllekleder, und die Hände darin schienen immer beunruhigend nah bei den gebogenen Griffen der Nadelpistolen zu schweben, die in einem Hüfthalfter steckten. »Es hat lange gedauert, bis Sie gekommen sind«, begann ich. »Ich musste das Boot zurück zum Landekreuz bringen. Es hieß, sie würden die Plattform hier für Notversorgungsflüge brauchen. Ich musste zurücklaufen. Dann habe ich mich um Lores gekümmert.« »Sie ist gut gestorben, Betancore.« »Vielleicht. Ist das überhaupt möglich?«, fügte er hinzu. Ich gab keine Antwort. Ich wusste, wie schlimm seine Anfälle von schlechter Laune werden konnten. Ich wusste auch, dass er in Lores Vibben verliebt gewesen war oder zumindest beschlossen hatte, in sie verliebt zu sein. Mir war klar, dass es mit Betancore schwierig werden würde, bevor sich die Situation wieder entspannen konnte.
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»Wo ist dieser Fremdweltler? Dieser Eisenhorn?« Die gebieterische Stimme hallte aus der Kammer zu uns herauf. Ich schaute nach unten. Ein Mann hatte in Begleitung von vier Hütern in Thermomänteln den Kryo-Generatorraum betreten, die ihre Leuchtstäbe in die Höhe hielten. Er war hochgewachsen und hatte blasse Haut und ergrauendes Haar, obwohl seine hochmütige Haltung von Selbstbeherrschung und Arroganz kündete. Er trug einen dekorativen zeremoniellen Thermomantel von leuchtend gelber Farbe. Ich wusste nicht, wer er war, aber für mich sah er nach Ärger aus. Aemos und Betancore beobachteten ihn ebenfalls. »Irgendeine Idee, wer das ist?«, fragte ich Aemos. »Tja, wissen Sie, die gelbe Farbe des Mantels symbolisiert ebenso wie die Leuchtstäbe der Hüter die Rückkehr der Sonne und somit Wärme und Licht. Es weist auf einen hochrangigen Beamten des Schlummer-Aufsichtskomitees hin.« »So viel war mir auch klar«, murmelte ich. »Oh, er heißt Nissemay Carpel und ist der Hohe Hüter, also sollten Sie ihn auch so anreden. Er ist hier geboren, in der Vitale 235, also vor fünfzig Standardjahren, und ist der Sohn ...« »Genug! Ich wusste, am Ende würde es dazu kommen.« Ich ging zum Geländer und schaute nach unten. »Ich bin Eisenhorn.« Er starrte zu mir empor, und kaum verhohlene Wut ließ die Adern an seinem Hals hervortreten. »Stellen Sie ihn unter Arrest«, sagte er zu seinen Männern.
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DREI Nissemay Carpel. Ein Licht in endloser Dunkelheit. Der Pontius.
warf Betancore einen vielsagenden Blick zu, der ihn IzurchRuhe aufforderte, ging dann gelassen an ihm vorbei, glitt am Leiterrahmen hinunter und näherte mich Carpel. Die Hüter umringten mich, wahrten aber eine gewisse Distanz. »Hoher Hüter«, nickte ich. Er fixierte mich mit einem steten, aber wachsamen Blick und leckte sich Speichel von den dünnen Lippen. »Sie werden in Haft genommen, bis ...« »Nein«, erwiderte ich. »Ich bin ein Inquisitor des Gott-Imperators der Menschheit, Ordo Xenos. Ich werde jede Untersuchung unterstützen, die Sie hier anordnen, vollständig und vorbehaltlos, aber Sie werden und können mich nicht in Haft nehmen. Haben Sie verstanden?« »Ein ... Inquisitor?« »Haben Sie verstanden?«, wiederholte ich. Ich setzte meine Willenskraft nicht ein, noch nicht. Ich würde es tun, wenn ich musste. Aber ich vertraute darauf, dass er so viel Verstand besaß, mich zuerst anzuhören. Er konnte mich in eine unangenehme Lage bringen, aber ich vermochte seine unerträglich zu machen. Er schien ein wenig weicher zu werden. Wie ich es mir gedacht hatte, beruhte ein Teil seiner Wut auf einem 39
Schock ob dieses Vorfalls, dem Schock, dass so viele Edelleute des Planeten unter seiner Obhut gelitten hatten. Er suchte jemanden, dem er die Schuld geben konnte. Jetzt musste er das mit der Vorstellung verbinden, dass er es mit einem Mitglied der gefürchtetsten Organisation des Imperiums zu tun hatte. »Tausende sind tot«, begann er mit einem Zittern in der Stimme. »Diese Entweihung ...die Hochgeborenen von Hubris, geschändet von einem ... von einem ...« »Von einem Mörder, einem Anhänger der Finsternis, einem Mann, der dank mir jetzt tot unter einer Plastikplane auf der oberen Landeplattform liegt. Ich beklage den großen Verlust, den Hubris heute Nacht erlitten hat, Hoher Hüter, und ich wünschte, ich hätte ihn verhindern können. Aber wenn ich überhaupt nicht hier gewesen wäre und Alarm geschlagen hätte ... stellen Sie sich die Tragödie vor, mit der Sie es dann zu tun hätten.« Ich ließ das wirken. »Nicht nur dieses Prozessional, sondern alle Hibernationsgruften ... wer weiß, was Eyclone noch angerichtet hätte? Wer weiß, was er insgesamt vorhatte?« »Eyclone, der Schwerverbrecher?« »Er hat das getan, Hoher Hüter.« »Sie werden mich über den gesamten Vorfall ins Bild setzen.« »Lassen Sie mich einen Bericht anfertigen, den ich Ihnen dann bringen werde. Sie könnten auch ein paar Antworten für mich haben. Ich setze mich in ein paar Stunden für einen Termin mit Ihnen in Verbindung. Ich glaube, im Moment haben Sie reichlich zu tun.« Wir gingen nach draußen. Betancore überreichte den Unterhütern eine offizielle Liste der Beweise, die sie für meine Untersuchung einzulagern hatten. Die Liste umfasste die Truhe sowie die Leichen von Eyclone und seinen 40
Männern. Diese Dinge waren damit von jeder Untersuchung ausgenommen, bis ich mit ihnen fertig war. Der Pistolenschütze, den ich im Kryo-Generatorraum überwältigt hatte, der einzige Überlebende, würde inhaftiert und von mir verhört werden. Betancore machte den Unterhütern all diese Dinge ausgiebigst klar. Wir nahmen Vibben mit. Aemos war zu gebrechlich, also kümmerten Betancore und ich uns um die in Plastek gehüllte Gestalt auf der Bahre. Wir verließen Prozessional Zwo-Zwölf durch den Haupteingang, traten in die beißende Kälte der beständigen Nacht und trugen Vibben an den zahlreichen Reihen der Leichen vorbei, welche die Hüter draußen auf den gefrorenen Boden legten, zu einem wartenden Eiswagen. Meine Truppe und ich waren sofort nach unserem Eintreffen im System auf Hubris gelandet, so dringlich war unsere Jagd. Jetzt sah es so aus, als würden wir mindestens eine Woche hier bleiben, und länger, wenn sich Carpel als schwierig erwies. Während wir im Eiswagen zum Landekreuz zurückfuhren, ließ ich Aemos alle Vereinbarungen für unseren Aufenthalt treffen. Im Schlummer auf Hubris, wenn sich neunundneunzig Prozent der Bevölkerung in der Hibernation befindet, bleibt nur eine Einrichtung aktiv. Die Hüter und Technomagi stehen die lange, bittere Finsternis an einem Ort namens Sonnenkuppel durch. Fünfzig Kilometer von der riesigen Schlummerebene entfernt, wo die Hibernationsgruften in Reihen stehen, kauert die Sonnenkuppel wie eine dunkelgraue Blase in der anhaltenden Winternacht. Sie beherbergt neunundfünfzigtausend Personen, nur eine Kleinstadt verglichen mit den riesigen leeren Städten, die hinter dem Horizont darauf warten, 41
dass die Schmelze ihre Bevölkerung zurückbringt. Ich starrte auf die Sonnenkuppel, während das Kanonenboot uns durch die Eisstürme hinbrachte. Kleine rote Markierungslichter blinkten auf der Kuppeloberfläche und den Masten, die am Scheitelpunkt in die Höhe ragten. Betancore flog schweigend, konzentriert. Er hatte seine engen Handschuhe abgestreift, so dass die komplizierten glavianischen Schaltkreise, die in seinen Handflächen und Fingerspitzen wie silberne Intarsien aussahen, über den Steuerknüppel direkt mit den Systemen des Bootes interagieren konnten. Aemos saß in einer Heckkabine und grübelte über Manuskripten und Datentafeln. Zwei unabhängige Vielzweck-Servitoren warteten in der Besatzungskabine auf Anweisungen. Das Schiff hatte insgesamt fünf. Zwei waren gliederlose Kampfeinheiten, die direkt mit den Geschützen verbunden waren, und der andere, der Ingenieur-Servitor, ein hochklassiges Modell, das wir Uclid nennen, ließ nicht von seinen Pflichten im Maschinenraum ab. Lowink, mein Astropath, schlummerte in seiner Kammer, mit Kom- und Bildsystemen verbunden und in Erwartung einer Sendung. Vibben lag verhüllt auf der Koje in ihrer Kabine. Betancore schwenkte das Boot zur Kuppel herum. Nach einem Austausch von Telemetriedaten öffnete sich eine breite Druckschleuse in der Seite der Kuppel. Das durch sie nach draußen fallende Licht war beinahe unerträglich hell. Betancore schaltete den Blendschutz für die Kanzel ein und flog uns in die Landebucht. Von innen war die riesige Kuppel verspiegelt. Eine Plasmaeffekt-Sonnenkugel brannte hoch oben -unter dem Dach der Kuppel und hüllte die Stadt in gleißend weißes Licht. Die eigentliche Stadt, die sich unter uns ausbreitete, schien aus Glas zu bestehen. Wir setzten in der ausgedehnten Bucht auf, einer zwanzig 42
Hektar messenden Metallplattform oberhalb der Stadt. Die Oberfläche der Plattform leuchtete im Widerschein der Sonne fast weiß. Schwere Servitoren machten sich daran, uns mit einem Landesilo abseits der Hauptlandefläche zu vertäuen, wo Wartungsservitoren kamen, um Treibstoffschläuche anzuschließen, und mit den grundlegenden Wartungsarbeiten begannen. Betancore wollte nicht, dass sein Kanonenboot von irgendwem oder irgendetwas berührt wurde, also befahl er Modo und Milquit, unseren beiden unabhängigen Servitoren, diese Aufgaben zu übernehmen, und schickte die einheimischen Servitoren weg. Ich hörte sie auf dem Rumpf, da ihre Servos surrten und ihre Hydraulik zischte, während sie untereinander oder mit Uclid im Maschinenraum maschinencodierte Datenimpulse austauschten. Aemos erbot sich, Unterbringungen in der eigentlichen Stadt für uns zu finden, aber ich entschied, dass wir nicht mehr als einen Liegeplatz brauchten. Das Kanonenboot war groß genug und bot uns alles, was wir im Zuge unseres Aufenthalts brauchten. Wir verbrachten oft Wochen oder sogar Monate an Bord des Schiffs. Ich ging zu Lowinks kleiner Kabine unter dem Kanzeldeck und weckte ihn. Er war noch nicht lange bei mir: Mein voriger Astropath war vor sechs Wochen bei dem Versuch getötet worden, einen Warpcode zu über setzen. Lowink war ein junger Mann mit einer fleischigen, ungesunden Körperfülle, die an einer dürren Skelettgestalt hing. Sein Körper ließ bereits die für das anstrengende Leben eines Psionikers typischen Verfallserscheinungen erkennen. Fettige Implantatstöpsel überzogen seinen rasierten Schädel und säumten die Unterarme wie kurze Stacheln. Als er zur Tür kam, war zu erkennen, dass aus einigen dieser Stöpsel Drähte ragten, die alle mit Pergamentschildchen beschriftet waren und zum Hauptkommunikationskasten über seiner Wiege führten. Tausende Kabel hingen in seiner 43
winzigen Kabine herum, aber er wusste instinktiv, wozu jedes diente, und konnte bei Bedarf umgehend Umstöpselungen vornehmen. Es roch nach Schweiß und Räucherwerk. »Meister«, sagte er. Sein Mund war ein feuchter rosa Schlitz, und er hatte ein träges Auge mit einem hängenden Lid, was ihm einen Anflug von Überlegenheit verlieh, der seine tatsächliche Zaghaftigkeit Lügen strafte. »Schicken Sie bitte eine Nachricht für mich, Lowink. Zur Hoheit Akwitane.« Die Hoheit war ein Freihändler, den wir in Dienst genommen hatten, um das Kanonenboot und uns selbst nach Hubris zu bringen. Das Gefährt wartete jetzt in der Umlaufbahn auf uns und war bereit, uns auch weiterhin durch den Warpraum zu befördern. »Richten Sie Handelsmeister Golkwin Grüße von mir aus und sagen Sie ihm, dass wir einstweilen hier bleiben. Er kann sich auf den Weg machen, es hat keinen Sinn, dass er wartet. Wir könnten noch eine Woche oder länger hier festsitzen. In der üblichen Form, höflich. Sagen Sie ihm, ich danke ihm für seine Dienste und hoffe, dass wir uns irgendwann einmal wiedersehen.« Lowink nickte. »Sofort.« »Dann habe ich noch einige andere Aufgaben für Sie. Nehmen Sie Kontakt zur Astropathischen Enklave hier auf Hubris auf und fordern Sie eine vollständige Aufzeichnung des interstellaren Kom-Verkehrs in den letzten sechs Wochen an. Außerdem alle Aufzeichnungen von ungenehmigten Sendungen, also von Personen, die eigene Astropathen benutzt haben. Was immer sie verfügbar machen können. Und eine kleine Drohung, dass die Daten von einem Inquisitor verlangt werden, kann nicht schaden. Sie wollen gewiss nicht Gegenstand einer eingehenderen Untersuchung seitens der Inquisition werden, weil sie Informationen zurückgehalten haben.« Er nickte wieder. 44
»Wünschen Sie eine Auto-Seance?« »Noch nicht, aber irgendwann schon. Ich lasse Ihnen Zeit, sich vorzubereiten.« »Ist das alles, Meister?« Ich wandte mich zum Gehen. »Ja, Lowink.« »Meister ...« Er zögerte kurz. »Stimmt es, dass Vibben tot ist?« »Ja, Lowink.« »Ah. Ich fand es ziemlich ruhig.« Er schloss die Tür. Die Bemerkung war nicht so abgebrüht, wie sie klang. Ich wusste, was er meinte, obwohl meine eigenen psionischen Fähigkeiten verglichen mit seinen gering und unterentwickelt waren. Lores Vibben war eine latente Psionikerin, und solange sie bei uns war, hatte es ein beständiges Hintergrundgeräusch gegeben, das ihr junger, eifriger Geist unbewusst ausgestrahlt hatte. Ich traf Betancore draußen, wo er im Schatten eines der Stummelflügel des Kanonenboots stand. Er starrte auf den Boden und rauchte ein Lho-Stäbchen. Ich hielt nichts von Narkotika, ließ ihn aber gewähren. Er hatte in den letzten Jahren mit Erfolg entzogen: Bei unserer ersten Begegnung hatte er noch Obscura konsumiert. »Verdammt hell hier«, murmelte er, während er in das grässliche Gleißen blinzelte. »Eine typische Überreaktion. Sie haben elf Monate, in denen es stockdunkel ist, also leuchten sie ihr Habitat übermäßig aus.« »Haben sie einen Nachtzyklus?« »Ich glaube nicht.« „Kein Wunder, dass sie so durcheinander sind. Extremes Licht, extreme Dunkelheit, extreme Geisteshaltungen. Ihre inneren Uhren und natürlichen Rhythmen müssen alle vollkommen hinüber sein.« Ich nickte. 45
Draußen hatte mich die Vorstellung gepackt, dass die Nacht niemals enden würde. jetzt hatte ich dasselbe Gefühl in Bezug auf die ständige Mittagssonne. In seiner Einweisung hatte Aemos gesagt, die Welt werde Hubris genannt, weil die ursprünglichen Kolonisten nach dem siebzig Standardjahre langen Flug in ihren Archen hierher festgestellt hätten, dass die ursprünglichen Messungen falsch gewesen seien. Anstelle einer regulären Umlaufbahn folgte die Welt, die sie sich zur Besiedlung ausgesucht hatten, diesem extremen Muster aus Finsternis und Licht. Sie hatten sie trotzdem besiedelt, sich dabei die Kälteschlafmethoden zunutze und zu einem Bestandteil ihrer Kultur gemacht, die sie hierher gebracht hatten. In meinen Augen ein Fehler. Doch ich war nicht hier, um Kulturkritik zu üben. »Irgendwas bemerkt?«, fragte ich Betancore. Er beschrieb eine beiläufige Geste, welche die Landeplattform umschloss. »Sie bekommen nicht viele Besucher in dieser Jahreszeit. Der Handel ist praktisch zum Erliegen gekommen, die Welt steht mehr oder weniger still.« »Was der Grund dafür ist, dass Eyclone sie als verwundbar betrachtet hat.« »Ja. Die meisten Schiffe hier sind einheimisch und transatmosphärisch. Manche sind für die Hüter, die anderen schlicht und einfach für die Zeit des Schlummers stillgelegt. Ich mache drei Schiffe außer unserem aus, die keine einheimischen sind. Zwei Handelsschiffe und ein privater Kutter.« »Hören Sie sich um. Sehen Sie zu, ob sie herausfinden können, wem sie gehören und was sie hier wollen.« »Wird gemacht.« »Eyclones Pinasse, die Sie abgeschossen haben. Kam die von hier?« Er zog an seinem Stäbchen und schüttelte den Kopf. 46
»Entweder aus der Umlaufbahn oder von einem privaten Ort. Lowink hat ihren Kom-Verkehr mit Eyclone aufgeschnappt.« »Ich werde mir die Aufzeichnungen ansehen. Aber es könnte aus dem Orbit gekommen sein? Eyclone könnte also ein warptüchtiges Schiff dort oben haben?« »Keine Sorge, daran habe ich bereits gedacht. Wenn es dort eines gegeben hat, ist es jetzt verschwunden, und es hat keine Signale gesendet.« »Ich wüsste gerne, wie der Schweinehund hierher gekommen ist und wie er wieder verschwinden wollte.« »Ich finde es heraus«, sagte Betancore, während er den Stummel des Stäbchens mit dem Absatz zertrat. Er meinte es ernst. »Was ist mit Vibben?«, fragte er. »Wissen Sie, welche Wünsche sie hatte? Mir gegenüber hat sie nie etwas erwähnt. Wollte sie, dass ihre sterblichen Überreste zur Beerdigung nach Tornish geschickt werden?« »Das würden Sie tun?« »Wenn sie das gewollt hat. Hat sie?« »Ich weiß es nicht, Eisenhorn. Mit mir hat sie auch nie darüber gesprochen.« »Dann sehen Sie sich ihre Hinterlassenschaften an, stellen Sie fest, ob sie ein Testament oder Anweisungen hinterlassen hat. Könnten Sie das machen?« »Das würde ich sehr gern tun«, sagte er. Mittlerweile war ich müde. Ich verbrachte eine weitere Stunde mit Aemos in dessen beengter, mit Datentafeln vollgestopfter Kabine und bereitete den Bericht für Carpel vor. Ich umriss die grundlegenden Einzelheiten, ließ aber alles weg, von dem ich das Gefühl hatte, er brauche es nicht zu wissen. Ich rechtfertigte meine Handlungsweise. Ich ließ Aemos die hiesigen Gesetze studieren, um mich auf den Fall vorzubereiten, dass Carpel eine Anklage erhob. Ich machte mir seinetwegen nicht über Gebühr Sorgen, 47
und in Wahrheit war ich gegen örtliche Gesetzgebung gefeit, aber ich wollte mich dennoch vergewissern. Ein Amalathianer ist stolz darauf, mit den Strukturen der imperialen Gesellschaft zu arbeiten, und nicht über oder außerhalb von ihnen. Oder durch sie, wie es ein Monodominanter tun könnte. Ich wollte Carpel und die hohen Beamten auf Hubris auf meiner Seite haben, damit sie mir bei meinen Untersuchungen behilflich sein würden. Als mein Bericht fertig war, zog ich mich in meine Kabine zurück. Ich blieb vor Vibbens Tür stehen, ging hinein und legte ihr die Scipio zwischen die Hände auf die Brust, um sie dann sanft wieder zuzudecken. Es war ihre, und sie hatte ihre Arbeit getan. Sie hatte es verdient, mit ihr zur Ruhe gebettet zu werden. Zum ersten Mal seit sechs Jahren träumte ich nicht von Eyclone. Ich träumte von einer blendenden Dunkelheit, dann von einem Licht, das nicht verschwinden wollte. Das Licht hatte etwas Finsteres an sich. Unsinn, das war mir klar, aber so empfand ich es. Wie eine Offenbarung, die tatsächlich eine viel grimmigere, tiefgründigere Wahrheit beinhaltete. Es gab Lichtexplosionen wie Blitze am Rande meines Traumhorizonts. Ich sah einen gut aussehenden Mann mit leerem Blick, nicht so einem leeren Blick, wie ihn Eyclones Sklaven hatten, sondern ausdruckslos wie eine immense sternlose Weite. Er lächelte mich an. Zu diesem Zeitpunkt meines Lebens hatte ich keine Ahnung, wer er war. Am Mittag des nächsten Tages suchte ich Carpel auf. In der Sonnenkuppel war immer Mittag, aber in diesem Fall auch der Uhr nach. Mittlerweile hatten Lowink, Aemos und Betancore neue Informationen für mich aufgetan. Ich rasierte mich und legte schwarzes Leinen mit hohen Stiefeln und einer formellen Jacke aus brauner Schuppenhaut an. 48
Am Hals trug ich meine inquisitorische Rosette. Ich hatte die Absicht, Carpel zu zeigen, dass ich es ernst meinte. Aemos und ich fuhren mit einem Kabinenaufzug von der Landeplattform nach unten und wurden von gelb berobten Hütern in Empfang genommen. Trotz des grellen weißen Lichts, in das alles getaucht war, trugen sie brennende Leuchtstäbe. Wir warfen kurze harte Schatten auf den trockenen Beton des Platzes, den wir zu einer offenen Limousine überquerten. Es war ein massiges Gefährt mit verchromtem Grill und Wimpeln auf der Haube, die das Wappen von Hubris trugen. Hinter der mittig angebrachten Fahrerkabine warteten vier gepolsterte Lederbänke. Wir surrten auf acht dicken Rädern durch die Straßen, die breit waren und, unnötig zu sagen, hell. Auf beiden Seiten reckten sich verglaste Gebäude zur flammenden Plasmasonne empor wie Blumen auf der Suche nach Licht. Auf jeder Straße standen in Abständen von etwa dreißig Metern chemische Lampen auf verzierten Pfählen und mühten sich, dem Gleißen ihr eigenes Licht beizusteuern. Der Verkehr war spärlich, und insgesamt waren nicht mehr als ein paar tausend Fußgänger auf den Straßen. Mir fiel auf, dass die meisten gelbe Seidenschärpen trugen und jeder Laternenpfahl mit Girlanden aus gelben Blumen geschmückt war. »Die Blumen?«, fragte ich. »Aus den hydroponischen Gewächshäusern in Ostkuppel Sieben«, antwortete einer der Hüter. »Was zeigen sie an?« »Trauer.« »Wie die Schärpen«, flüsterte Aemos mir zu. »Die Ereignisse von letzter Nacht sind eine riesige Tragödie für diese Welt. Gelb ist ihre heilige Farbe. Ich glaube, ihre lokale Religion ist ein Sonnenglaube.« »Die Sonne als Imperator?« 49
»Das kommt oft genug vor. Hier extrem, aus offensichtlichen. Gründen.« Das Aufsichtsamt war eine Glaszinne in der Nähe des Stadtzentrums, deren obere Fassade von einer Sonnenscheibe mit dem doppelköpfigen Imperiumsadler darauf geschmückt war. Nicht weit entfernt standen die hiesige Kapelle der Ekklesiarchie und mehrere Gebäude des Imperialen Administratums. Es belustigte mich, dass sie alle aus schwarzem Stein waren und praktisch fensterlos. Die hier stationierten Imperiumsdiener hatten offenbar ebenso wenig Freude an. dem permanenten Licht wie ich. Wir betraten das Amt durch einen. gläsernen Säulengang und wurden in den Hauptsaal geführt. Darin wimmelte es von Menschen, die meisten davon Hüter in gelben Gewändern, einige hiesige Beamte und Technomagi sowie ein paar Angestellte und Servitoren. Der Saal selbst hatte die Ausmaße einer imperialen Kapelle, bestand aber aus gelbem Buntglas in einem schwarzen Gusseisenrahmen. Überall fielen goldene Lichtstrahlen von oben durch das Glas. Der Teppich war riesig und schwarz, und in seiner Mitte war eine Sonnenscheibe gewebt. »Inquisitor Eisenhorn!«, verkündete einer der mich eskortierenden Hüter durch den Lautsprecher. Im Saal wurde es still, und alle wandten sich uns zu und beobachteten, wie wir uns näherten. Der Hohe Hüter Carpel saß auf einem schwebenden Thron mit goldenen Verzierungen. Ein brennendes chemisches Licht war über der Kopflehne angebracht. Er schwebte mir durch die sich teilende Menge entgegen. »Hoher Hüter«, sagte ich mit einem pflichtschuldigen Nicken. »Sie sind alle tot«, informierte er mich. »Alle zwölftausendeinhundertzweiundvierzig. Prozessional Zwo-Zwölf. Keiner hat überlebt.« »Hubris hat mein aufrichtiges Mitgefühl, Hoher Hüter.« 50
Der Saal explodierte in einem Pandämonium. Stimmen kreischten und schrien und krakeelten. »Ihr Mitgefühl? Ihr verdammtes Mitgefühl?«, überschrie Carpel das Gebrüll. »Ein Großteil unserer herrschenden Elite ist in einer Nacht gestorben, und wir haben zum Trost Ihr Mitgefühl?« »Mehr habe ich nicht anzubieten, Hoher Hüter.« Ich spürte, wie Aemos neben mir zitterte und sich ziellos Notizen über Gebräuche, Kleidung und Sprachformen auf seiner Handgelenksdatentafel machte ... über irgendetwas, um sich von der Konfrontation abzulenken. »Das ist wohl kaum gut genug!«, fauchte ein junger Mann in der Nähe. Er war ein hiesiger Adeliger, durchaus jung und stark, aber seine Haut hatte eine schreckliche, verschwitzte Blässe, und Hüter stützten ihn, da er nach vorn stolperte. »Wer sind Sie?«, fragte ich. »Vernal Maypell, Erblord der Dallowen-Kantone!« Falls er mit einem Kniefall meinerseits gerechnet hatte, wurde er enttäuscht. »Wegen der Schwere der Ereignisse haben wir einige unserer Hochgeborenen früher aus ihrem Schlummer geweckt«, sagte Carpel. »Lehnsherr Maypells Bruder und zwei seiner Frauen sind in Prozessional Zwo-Zwölf gestorben.« Also war die Blässe auf die Wiederbelebung zurückzuführen. Ich bemerkte, dass etwa fünfzig oder mehr der Anwesenden ähnlich krank und verbraucht aussahen. Ich wandte mich an Maypell. »Lehensherr. Ich wiederhole, ich spreche Ihnen mein Beileid aus.« Maypell explodierte vor Wut. »Ihre Arroganz erstaunt mich, Fremdweltler. Sie bringen dieses Ungeheuer auf unsere Welt, kämpfen sich mit ihm durch unsere heiligsten Heiligtümer und tragen mit ihm einen Privatkrieg aus, bei dem unsere besten ...« 51
»Warten Sie!« Ich setzte meine Willenskraft ein. Es war mir egal. Maypell hielt wie betäubt inne, und in dem riesigen Saal wurde es still. »Ich bin hergekommen, um Sie zu retten und Eyclones Pläne zu durchkreuzen. Ohne meine Bemühungen und die meiner Gefährten hätte er durchaus mehr als eine Hibernationsgruft zerstören können. Ich habe keines Ihrer Gesetze gebrochen. Ich habe darauf geachtet, bei meiner Arbeit ihre Kodizes zu beachten. Wie meinen Sie das, ich habe dieses Ungeheuer hergebracht?« »Wir haben Erkundigungen angestellt«, antwortete eine ältere Edelfrau in der Nähe. Wie Maypell litt sie unter den Wiederbelebungsnachwirkungen und saß gebeugt auf einer Bahre, die von Servitor-Sklaven getragen wurde. »Welche Erkundigungen, Madam?« »Über diese lange Fehde mit dem Mörder Eyclone. Fünf Jahre dauert sie jetzt an, nicht wahr?« »Sechs, Madam.« »Also sechs. Sie haben ihn hierher gejagt. Ihn getrieben. Ihn hergebracht, wie Lehensherr Maypell sagte.« »Wie?« »Wir haben kein Fremdweltschiff außer Ihrem in den letzten zwanzig Tagen registriert, Eisenhorn«, sagte Carpel, während er eine Datentafel betrachtete. »Die Hoheit Akwitane. Das Schiff muss ihn ebenso hergebracht haben wie Sie, um Ihren Krieg hier zu beenden und unser Leben zu verdammen. Haben Sie Hubris ausgewählt, weil es eine ruhige Welt ist, abgelegen, wo Sie Ihre Fehde ungestört in der langen Nacht würden beenden können?« Jetzt war ich wütend. Ich konzentrierte mich, um meine Wut zu beherrschen. »Aemos!«
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Der Gelehrte murmelte neben mir: »... und welche Silikatfarben benutzen sie in ihren Buntglasmanufakturen? Ist das Bauwerk gepanzert? Die Streben sind ihrem Stil nach frühimperiale Gotik, aber ...« »Aemos! Der Bericht!« Er fuhr zusammen und gab mir eine Datentafel aus seiner Ledermappe. »Lesen Sie das, Carpel. Lesen Sie es gründlich.« Ich hielt ihm die Datentafel hin - dann zog ich sie wieder weg, als er gerade danach griff. »Oder sollte ich sie den hier Versammelten laut vorlesen? Sollte ich erklären, warum ich in letzter Minute hier eingetroffen bin, nachdem ich erfahren hatte, dass Eyclone nach Hubris unterwegs ist? Dass ich das durch astropathische Entschlüsselung einer codierten Nachricht erfahren habe, die Eyclone vor zwei Monaten geschickt hat? Durch eine Entschlüsselung, die meinen Astropathen bei seinen Bemühungen getötet hat?« »Inquisitor, ich ...«, begann Carpel. Ich hielt die Datentafel in die Höhe, so dass alle sie sehen konnten, und drückte auf den Knopf, der die Worte über den Schirm laufen ließ. »Und was ist damit? Ein Beweis, dass Eyclone bereits seit einem Jahr etwas gegen ihre Welt plante? Und das hier, letzte Nacht ermittelt - dass ein nicht registriertes Raumschiff vor drei Tagen in ihre Umlaufbahn geflogen ist und sie gleich wieder verlassen hat, um Eyclone abzusetzen, und zwar unbemerkt von Ihrer Raumüberwachung und den Aufsicht habenden ›Wächtern‹? Was ist mit dem Strom astropathischer Kommunikation, den Ihre hiesige Enklave bemerkt hat, ohne sich die Mühe zu machen, ihren Ursprung zu ermitteln oder sie zu übersetzen?« Ich warf Carpel die Tafel in den Schoß. Hunderte Augenpaare starrten mich in schockierter Stille an. 53
»Sie waren. anfällig. Er hat das ausgenutzt. Geben Sie mir keine Schuld, außer dafür, dass ich zu spät gekommen bin, um ihn aufzuhalten. Wie ich schon sagte, Sie haben mein aufrichtiges Beileid. Und wenn Sie das nächste Mal einen Inquisitor des Imperiums zur Rede stellen«, fügte ich hinzu, »sollten Sie etwas mehr Respekt aufbringen. Ich entschuldige eine Menge, weil ich den Verlust ermessen kann, den Sie gerade erlitten haben. Aber meine Geduld ist nicht grenzenlos ... im Gegensatz zu meiner Autorität.« Ich wandte mich an Carpel. »Können wir jetzt reden, Hoher Hüter? Privat, wie ich es meiner Ansicht nach erbeten habe?« Wir folgten Carpels schwebendem Thron in einen Seitenflügel und ließen einen Saal voller schockiert murmelnder Stimmen hinter uns zurück. Nur einer seiner Männer begleitete uns, ein hochgewachsener blonder Bursche in einer dunkelbraunen Uniform, die ich nicht kannte. Ein Leibwächter, nahm ich an. Carpel stellte seinen Thron auf dem Teppich ab und hob einen Fernbedienungsstab, der die Verglasung im Raum ein wenig tönte. Endlich akzeptable Lichtverhältnisse. Allein dieser Tatsache entnahm ich, dass Carpel mich ernst nahm. Er bedeutete mir, ihm. gegenüber Platz zu nehmen. Aemos hielt sich im Schatten hinter mir. Der Mann in Braun stand beobachtend am Fenster. »Was passiert jetzt?«, fragte Carpel. »Ich erwarte Ihre volle Kooperation, wenn ich meine Untersuchung ausdehne.« »Aber die Angelegenheit ist erledigt«, sagte der Mann in Braun. Ich hielt den Blick auf Carpel gerichtet. »Ich will Ihre Zustimmung für meine Fortsetzung und Ihre 54
volle Unterstützung. Eyclone mag tot sein, aber er war nur die Spitze einer langen und immer noch gefährlichen Waffe.« »Wovon reden Sie?«, schnauzte der Mann in Braun. Ich sah ihn immer noch nicht an. Den Blick auf Carpel gerichtet, sagte ich: »Wenn er noch ein Wort sagt, ohne dass ich weiß, wer er ist, werfe ich ihn aus dem Fenster. Und ich werde es vorher nicht öffnen.« »Das ist Züchtiger Fischig von den Adeptus Arbites. Ich wollte ihn dabeihaben.« Jetzt betrachtete ich den. Mann in Braun. Er war ein stämmiger Rohling mit einem Ring glänzend rosa Narbengewebe unter einem milchigen Auge. Mit seiner sauberen Haut und dem blonden Haar hatte ich ihn für einen jungen Mann gehalten, doch nun, da ich ihn betrachtete, sah ich, dass er mindestens mein Alter hatte. »Züchtiger«, nickte ich. »Inquisitor«, erwiderte er. »Meine Frage ist noch unbeantwortet.« Ich lehnte mich zurück. »Murdin Eyclone war ein Vermittler. Ein brillanter, verschlagener Mann, einer der gefährlichsten, die ich je gejagt habe. Manchmal bereitet man dem Bösen ein Ende, wenn man sein Jagdwild aufspürt. Ich bin sicher, damit haben Sie Erfahrung.« »Sie haben ihn einen >Vermittler< genannt.« »Darin bestand seine Gefahr. Er glaubte, er könnte seinen obszönen Herren am besten dienen, indem er seine beträchtlichen Fähigkeiten Kulten und Sekten anbot, die sie brauchten. Er selbst war unabhängig von ihnen. Er hat sich immer bemüht, die großen. Pläne anderer in die Tat umzusetzen. Hier auf Hubris hat er die Pläne eines anderen ausgeführt. Jetzt ist er tot und der Plan vereitelt. Dafür können wir dankbar sein. Aber meine Aufgabe ist noch nicht erledigt. Ich muss von Eyclone, seinen Männern und jedem von ihm hinterlassenen Hinweis zurückschließen und mich 55
vorarbeiten zu der größeren, geheimen Finsternis, in deren Diensten er stand.« »Und dafür wollen Sie Kooperation von den Bewohnern von Hubris?«, fragte Carpel. »Von den Bewohnern, den Behörden, Ihnen ... von allen. Dies ist das Werk des Imperators. Scheuen Sie davor zurück?« »Nein, Herr Inquisitor, das tue ich nicht!«, schnauzte Carpel. »Ausgezeichnet.« Carpel warf mir ein goldenes Sonnenabzeichen zu. Es war schwer und alt und prangte auf einem Fetzen schwarzen Leders. »Das hier verleiht Ihnen Autorität. Meine Autorität. Erledigen Sie Ihre Arbeit gründlich und schnell. Als Gegenleistung verlange ich zwei Dinge.« »Und die wären?« »Sie berichten mir Ihre Erkenntnisse. Und Sie gestatten dem Züchtiger, Sie zu begleiten.« »Ich arbeite auf meine Art ...« »Fischig kann hier in der Sonnenkuppel Türen öffnen, die sogar vor meinem Abzeichen versperrt blieben. Betrachten Sie ihn als einheimischen Führer.« Und als deine Augen und Ohren, dachte ich. Aber mir war auch klar, dass er unter einem immensen Druck seitens des Adels stand, also sagte ich: »Ich wäre dankbar für seine Hilfe.« »Wo zuerst?«, fragte Fischig, der mit hungriger Miene sofort zur Sache kam. Sie sind auf Blut aus, ging mir auf. Sie wollen jemanden für die Tode bestrafen, jemanden, von dem sie behaupten können, dass sie ihn gefangen oder zumindest bei seiner Gefangennahme geholfen haben. Sie wollen an allen etwaigen Erfolgen meinerseits teilhaben, damit sie einigermaßen gut aussehen, wenn der Rest der Bevölkerung in ein paar Monaten erwacht und von dieser Katastrophe erfährt. 56
Ich konnte es ihnen nicht verdenken. »Zuerst«, sagte ich, »ins Leichenschauhaus.« Eyclone sah aus, als schlafe er. Sein Kopf steckte in einer beinahe komischen Plastekhaube zur Umschließung der Wunde, die ich ihm zugefügt hatte. Vom Plastek eingerahmt, wirkte sein Gesicht mit nur einem kleinen Bluterguss um die Lippen friedlich. Er lag auf einer Steinplatte in der Kälte des Leichenschauhauses unter der Arbites-Leichenhalle Eins. Seine Kameraden lagen auf nummerierten Platten rings um ihn, zumindest jene, die man mehr oder weniger intakt geborgen hatte. An der Rückwand standen gekennzeichnete Behälter mit hauptsächlich verflüssigtem Material, die Überreste jener, die Betancore mit den Bordgeschützen des Kanonenboots niedergemäht hatte. Das unterirdische Gewölbe war in kaltes blaues Licht getaucht, und reifbedeckte Zirkulatoren pumpten frostige Luft direkt aus der Eiswüste draußen hinein. Fischig hatte uns für den Besuch mit Thermomänteln ausgestattet. Was ich sah, beeindruckte mich: sowohl die pflichtbewusste Sorgfalt und Aufmerksamkeit, die man beim Einsammeln und Lagern der Leichen an den Tag gelegt hatte, als auch die Tatsache, dass niemand sie meinen Anweisungen gemäß angerührt hatte. Derartige Befehle lassen sich leicht erteilen, aber ich kann die Gelegenheiten nicht mehr zählen, bei denen übereifrige Todespriester oder Chirurgen vor meinem Eintreffen mit der Autopsie begonnen haben. Der Leichenbeschauer war eine hagere Frau Mitte sechzig namens Tutrone. Sie trug einen roten Plastekkittel über einem alten, fadenscheinigen Thermomantel. Beschauerin Tutrone hatte ein bionisches Implantat in einer Augenhöhle und Klingen und Knochensägen aus funkelndem chirurgischen Stahl in die rechte Hand eingebaut. 57
»Ich habe getan, was Sie angeordnet haben«, sagte sie, als sie uns die Wendeltreppe hinunter in das kalte Gewölbe führte. »Aber es ist vorschriftswidrig. Die Verordnungen besagen, dass ich mit meiner Untersuchung, zumindest mit der einleitenden, so schnell wie möglich beginnen muss.« »Ich danke Ihnen für Ihre Gewissenhaftigkeit, Beschauerin. Ich werde nicht lange brauchen. Dann können Sie den Vorschriften entsprechen.« Ich streifte mir sterile Handschuhe über, während ich durch die Reihen der Toten schritt - es waren fast zwanzig - und Aemos meine Beobachtungen diktierte. Den Männern konnte ich praktisch keine Erkenntnisse abgewinnen. Bei einigen legten Körperbau und Hautfarbe nah, dass sie Fremdweltler waren, aber sie hatten keine Papiere bei sich, keine chirurgischen Identifikationsmerkmale und auch sonst nichts, was Aufschluss über ihre Herkunft oder Identität hätte geben können. Sogar ihre Kleidung war nichtssagend ... alle Schilder und Etiketten waren herausgeschnitten oder weggesengt worden. Ich konnte mit einer forensischen Untersuchung beginnen, um die Herkunft der Kleidung zu ermitteln, aber das wäre eine massive Vergeudung von Hilfsmitteln gewesen. An zweien von ihnen entdeckte ich frische Narben, die darauf hindeuteten, dass subkutane Identifikationsmarken chirurgisch entfernt worden waren. Das Einsetzen von Identifikationsmarken war keine hiesige Praxis, also deutete dies auf eine Fremdwelt hin. Aber auf welche? Derartige Vorrichtungen fanden auf hunderten von Imperiumswelten Verwendung, und ihre Platzierung und Verwendung war ziemlich standardisiert. Ich hatte selbst ein paar Jahre eine getragen, als Kind, bevor mich die Schwarzen Schiffe ausgewählt und abgeholt hatten. Einer der Toten hatte eine seltsame Vernarbung an den Unterarmen, nicht tief, aber gründlich, eine Verbrennung der Epidermis. 58
»Jemand hat eine Lötlampe benutzt, um Banden-Tätowierungen zu entfernen«, sagte Aemos. Er hatte recht. Wiederum war es ein quälend unvollständiger Fund. Ich betrachtete Eyclone, bei dem meine größten Hoffnungen lagen. Mit Hilfe der Beschauerin schnitt ich seine Kleidung weg, die genauso anonym war wie die seiner Kumpane. Wir drehten seinen nackten Leichnam auf der Suche nach ... nun ja, irgendwas. »Da!«, sagte Fischig, indem er sich vorbeugte. Ein Brandmal über der linken Hinterbacke. »Der Seraphim von Laoacus. Ein altes Chaos-Mal. Das hat sich Eyclone vor zwanzig Jahren zu Ehren seiner damaligen Meister machen lassen. Es gehört zu einem früheren Kult, einem früheren Auftraggeber, und hat mit unserem Fall nichts zu tun.« Fischig schaute mich neugierig an. »Sie kennen seine nackte Haut so genau?« »Ich habe meine Quellen«, erwiderte ich. Ich wollte nicht die Geschichte erzählen müssen. Eemanda, eine meiner ersten Gefährtinnen, brillant, wunderschön und kühn. Sie hatte dieses Detail für mich herausgefunden. Sie saß jetzt seit fünf Jahren in einer Anstalt. In dem letzten von mir empfangenen Bericht hieß es, sie nage ihre eigenen Finger ab. »Aber er zeichnet sich?«, fügte Fischig hinzu. »Wenn er ,,ich mit einem neuen Kult verbündet, trägt er dessen Zeichen, um seine Zugehörigkeit zu demonstrieren?« Ein guter Einwand, das musste ich ihm lassen. Wir schauten nach. Bei mindestens sechs Lasernarben an seinem Körper schien es sich um ehemalige Kult-Markierungen zu handeln, die nach Trennung der jeweiligen Verbindung wieder beseitigt worden waren. Hinter dem linken Ohr war eine silberne Intarsie in Gestalt der Buboe Chaotica eingearbeitet. »Das hier?«, fragte Tutrone, während sie die Haare mit ihren 59
Fingerklingen wegscherte. »Alt, wie zuvor.« Ich trat einen Schritt zurück und überlegte angestrengt. Als ich ihn getötet hatte, war seine Hand zu seinem Gürtel gewandert, jedenfalls war es mir so vorgekommen. »Seine Habseligkeiten?« Sie lagen auf einem Metalltablett in der Nähe. Seine Laserpistole, eine kompakte Kom-Vorrichtung, ein Kästchen mit Perlmutt-Intarsien, das sechs Obscura-Röhrchen und einen Anzünder enthielt, eine Geldtafel, Reservemagazine für die Waffe, einen Plastekschlüssel. Und den Gürtel. Mit vier zugeknöpften Beuteln. Ich öffnete sie einen nach dem anderen: ein paar hiesige Münzen. Ein Miniatur-Lasermesser. Drei kalorienreiche Nährstoffriegel. Ein Zahnstocher aus Stahl. Mehr Obscura, diesmal in einer Injektionsspritze. Eine kleine Datentafel. Wonach hatte er im Augenblick des Todes gegriffen? Nach dem Messer? Zu langsam und klein, um sich eines Mannes zu erwehren, der einem eine Flottenpistole in den Mund rammt. Andererseits war er verzweifelt gewesen. Aber er hatte nicht nach seiner gehalfterten Laserpistole gegriffen. Vielleicht nach der Datentafel? Ich nahm sie und aktivierte sie, aber man brauchte einen Codeschlüssel, um sich Zugang zu verschaffen. Auf der Tafel mochten sich alle möglichen Geheimnisse befinden ... aber warum würde jemand im Angesicht des sicheren Todes nach einer Datentafel greifen? »Einstichmale im Unterarm«, stellte Tutrone fest, die ihre Untersuchung fortsetzte. Kaum überraschend angesichts der Obscura-Funde bei ihm. »Keine Ringe? Keine Armbänder? Ohrringe? Hautstecker?« »Nichts.« 60
Ich zog eine Plastiktüte aus einem Spender auf dem chirurgischen Wägelchen und packte seine Habseligkeiten ein. »Sie unterschreiben doch dafür, oder?«, fragte Tutrone, die dabei aufsah. »Natürlich.« »Sie haben ihn gehasst, nicht wahr?«, sagte Fischig plötzlich. »Was?« Er lehnte sich gegen eine Platte und verschränkte die Arme. »Er war ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, und Sie wussten, dass sein Kopf voller Geheimnisse ist, aber Sie haben ihn mit Ihrer Waffe geleert. Ich habe keine Gewissensbisse, was das Töten anbelangt, aber ich weiß, wann ich eine Spur unbrauchbar mache. War es Wut?« »Ich bin Inquisitor. Ich werde nicht wütend.« »Was dann?« Mir reichte sein abfälliger Tonfall. »Sie wissen nicht, wie gefährlich dieser Mann ist. Ich wollte kein Risiko eingehen.« »Für mich sieht er durchaus ungefährlich aus«, grinste Fischig mit einem Blick auf den Leichnam. »Hier ist etwas!«, rief Tutrone. Wir traten näher heran. Sie arbeitete an seiner linken Hand, behutsam, mit ihren feinsten Sonden und Skalpellen, und ihre augmetischen Finger tanzten wie die einer Näherin. »Am Zeigefinger der linken Hand. Ein ungewöhnlicher Leichenfleck und eine Schwellung.« Sie ließ einen kleinen Abtaster darüber wandern. »Der Nagel ist aus Keramit. Künstlich. Ein Implantat.« »Was ist darin?« »Unbekannt. Keine klare Anzeige. Vielleicht ein ... ah, da ist er ja ... ein Riegel unter dem Nagel. Man braucht etwas sehr Kleines, um ihn zu betätigen.« Sie änderte die Einstellungen ihrer bionischen Finger und ließ eine sehr dünne Metallsonde herausgleiten, so dünn wie ... 61
... ein Zahnstocher. »Zurück! Sofort zurück!«, rief ich. Es war zu spät. Tutrone hatte den Riegel geöffnet. Der falsche Nagel sprang zurück, und etwas flog aus der Höhlung in der Fingerspitze. Ein silberner Wurm wie eine dünne Halskette blitzte durch die Luft. »Wo ist er hin?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich, indem ich Tutrone und Aemos hinter mich schob. »Haben Sie ihn gesehen?«, fragte ich Fischig. »Da drüben«, sagte er, indem er eine kurzläufige glänzend schwarze Autopistole unter dem Thermomantel hervorholte. Ich griff nach meiner eigenen Waffe, dann fiel mir wieder ein, dass ich sie Vibben zurückgegeben hatte. Ich schnappte mir ein Knochenmesser vom Wägelchen. Der Wurm schlängelte wieder ins Licht. Er war jetzt einen Meter lang und mehrere Zentimeter dick. Welche üble Zauberei diese Ausdehnung hervorgerufen hatte, wollte ich gar nicht wissen. Er bestand aus segmentiertem Metall, und der Kopf war ein augenloser Kegel mit einem zischenden Maulspalt voller messerscharfer Zähne. Tutrone schrie auf, als er uns entgegenflog. Ich stieß sie nach unten, und das Ding peitschte über uns hinweg und traf einen Leichnam auf einer Platte in der Nähe. Ein furchtbares Saugen und Knacken ertönte, und der Wurm verschwand durch ein ausgefranstes Loch in den Rumpf des Leichnams. Der Leichnam vibrierte und barst und versprühte dabei einen widerlichen Dunstnebel. Der Wurm jagte heraus und verschwand über den Boden. Mittlerweile hatte Fischig das Feuer eröffnet und fegte den geborstenen Leichnam von seiner Platte. Der Wurm war längst verschwunden. »Berührungsaktiver Mechanismus«, murmelte Aemos vor sich hin, 62
»sehr diskret, wahrscheinlich von Xenos hergestellt, eine Schutzwaffe mit einem Massenveränderungssystem, das sich bei Kontakt mit Luft und/oder Freilassung ausdehnt, jagt nach Geräuschen ...« »Dann seien Sie still!«, sagte ich. Ich postierte ihn und Tutrone an der Wand hinter uns. Fischig und ich bewegten uns mit bereitgehaltenen Waffen parallel durch die Reihen der Tischplatten. Er tauchte wieder auf. Als ich ihn sah, hatte er mich beinahe erreicht und beförderte sich auf seinem metallischen Schwanz durch die Luft. Im Bruchteil eines Augenblicks überlegte ich, dass Eyclone diesen Tod für mich gewollt hatte. Dies hatte er auf der Landeplattform von Prozessional Zwo-Zwölf gegen mich einsetzen wollen. Die Wut gab mir die Kraft zur Selbstbehauptung. Ich stach zu, und die lange Klinge bohrte sich durch die klaffenden Zähne in den Schlund des Wurms. Der Aufprall schleuderte mich zurück. Ich stellte fest, dass ich das ganze schwere, zwei Meter lange Ding auf dem Messer aufgespießt hatte, auf dem es jetzt wie eine Peitsche hin und her zuckte. Schüsse krachten an mir vorbei. Fischig versuchte den Wurm zu treffen. »Sie bringen mich um, Sie Idiot!« »Halten Sie ihn fest!« Mit einem metallischen Kreischen kaute der Wurm sich Klinge und Griff entlang zu meiner Hand vor. Tutrone tauchte hinter mir auf, und gemeinsam zwangen wir die starke, sich windende Bestie auf eine Tischplatte. Sie aktivierte eine Knochensäge an ihrer augmetischen Hand und schnitt ihm mit dem schrillen Kreischen sich rasch drehender Klingen durch den Hals. Der Leib peitschte weiter. Sie packte ihn und warf ihn in ein Säurebecken, das normalerweise für Bioabfälle reserviert war. Der zischende Kopf und das Messer, an dem er immer noch kaute, folgten rasch hinterher. 63
Wir vier starrten auf die sich auflösenden Überreste des Wurms. Ich drehte mich zu Beschauerin Tutrone und Fischig um. »Ich weiß, wen von Ihnen beiden ich in einem Kampf lieber an. meiner Seite hätte«, murmelte ich. Tutrone lachte. Fischig nicht. »Was war das?«, fragte mich Aemos, als wir in Fischigs Dienstfahrzeug durch die Straßen zum Hauptquartier der Arbites rasten. »Sie haben mehr erraten, als ich weiß«, erwiderte ich. »Ganz gewiss ein Geschenk seiner Herren und Meister.« »Welche Meister stellen so ein Ding her?« »Mächtige Meister, Aemos. Von der übelsten Sorte.« Unsere Besprechung in den unwirtlichen Räumlichkeiten der Arbites war kurz. Auf mein Ersuchen hatte Ficschig Magus Palastemes hinzugezogen, den ranghöchsten der Kryo-Generator-Technomagi. Er warf einen Blick auf die Truhe im Beweismittelraum und sagte: »Ich habe keine Ahnung, was das ist.« »Danke. Das wäre dann alles«, sagte ich. Ich wandte mich an Fischig. »Lassen Sie das sofort zu meinem Schiff schicken.« »Das ist ein Beweismittel des Staates ...«, begann er. »Für wen arbeiten Sie, Fischig?« »Für den Imperator.« »Dann tun Sie so, als sei ich er, und Sie liegen gar nicht so weit daneben. Machen Sie es.« Hadam Bonz erwartete uns im Verhörzimmer. Er war nackt, doch Fischig versicherte mir, dass man in seiner Kleidung nichts von Bedeutung gefunden habe. Bonz war der Kultist, den ich in der Kryo-Generatorkammer ausgeschaltet hatte, der einzige von Eyclones Männern, der die Nacht überlebt hatte. 64
Sein Mund war von meinem Schlag geschwollen. Mit Ausnahme seines Namens hatte er nichts gestanden. Fischig, Aemos und ich betraten das Zimmer, einen tristen Steinkasten. Bonz war an einen Metallstuhl gekettet und wirkte verängstigt. Das sollte er auch sein, überlegte ich. »Erzählen Sie mir von Murdin Eyclone«, sagte ich. »Von wem?« Die Dunkelheit war aus seinen Augen gewichen, Eyclones Bann gebrochen. Er war bedrückt und verwirrt. »Dann schildern Sie mir Ihre letzte Erinnerung.« »Ich war auf Thracian Primaris. Das ist meine Heimat. Dort war ich Schauermann im Hafen. Ich weiß noch, dass ich mit einem Freund in eine Bar gegangen bin. Das ist alles.« »Der Freund?« »Ein Hafenmeister namens Wyn Eddon. Wir haben uns betrunken, glaube ich.« »Hat Eddon den Namen Eyclone erwähnt?« »Nein. Hören Sie, wo bin ich? Diese Schweine wollen es mir nicht sagen. Was soll ich angestellt haben?« Ich lächelte. »Zum Beispiel haben Sie versucht, mich zu töten.« »Sie?« »Ich bin ein Inquisitor des Imperiums.« Daraufhin ließ ihn das Entsetzen die Herrschaft über seine Körperfunktionen verlieren. Er fing an zu flehen und zu betteln und erzählte uns alle möglichen Schandtaten, von denen keine wirklich von Bedeutung war. Ich wusste praktisch von Anfang an, dass er nutzlos war. Nur ein hypnotisierter Sklave, wegen seiner Muskeln ausgewählt, der nichts wusste. Aber wir verbrachten trotzdem zwei Stunden mit ihm. Fischig drehte langsam eine Wandanzeige neben der Tür, die zunehmende Mengen der eiskalten Luft von außerhalb der Sonnenkuppel hereinließ. 65
In unseren Thermomänteln stellten wir unsere Fragen immer und immer wieder. Als Bonz' Haut am Metallstuhl festklebte, wussten wir, dass nichts mehr zu holen war. »Wärmt ihn auf und füttert ihn gut«, sagte Fischig zu seinen Männern, als wir die Zelle verließen. »Wir richten ihn im Morgengrauen hin.« Ich fragte ihn nicht, ob er damit einen bestimmten Zeitpunkt im nächsten Zyklus oder das echte Morgengrauen in sechs Monaten zu Beginn der Schmelze meinte. Es war mir auch ziemlich egal. Fischig überließ uns eine Weile uns selbst, und ich aß mit Aemos in einem öffentlichen Bistro praktisch direkt unter der Sonnenkuppel zu Mittag. Das Essen war sauer, aus gefriergetrockneten Zutaten aufbereitet, aber wenigstens war es heiß. Reihen von Springbrunnen produzierten Wasserwände am Rande des Bistros, so dass das Licht der Sonnenkugel Regenbögen erzeugte, die Tische und Gänge überzogen. An diesem ernsten Trauertag waren keine weiteren Gäste anwesend. Aemos war guter Dinge. Er redete emsig und stellte Verbindungen her, die ich nicht einmal ansatzweise gesehen hatte. Ungeachtet all seiner Fehler besaß er einen überragenden Verstand. In jeder Stunde, die ich mit ihm verbrachte, lernte ich mehr Techniken. Er gabelte Fisch und Reis auf und sah seine Datentafel durch. »Werfen wir einen Blick auf die Sendeverzögerung, die Lowink in den Botschaften entdeckt hat, die Eyclone gesendet und empfangen hat, solange er auf diesem Planeten war.« »Sie sind alle codiert. Lowink hat sie noch nicht entschlüsselt.« »Ja, ja, aber sehen Sie sich die Verzögerung an. Diese hier ... acht Sekunden ... die stammt von einem Schiff in der 66
Umlaufbahn ... und der Zeitpunkt an sich liegt innerhalb der Periode, in der Eyclones mysteriöses Raumschiff unseres Wissens nach hier war. Aber die hier ... bei unserem Kampf mit ihm letzte Nacht. Eine Verzögerung von zwölfeinhalb Minuten. Die kommt aus einem anderen System.« Ich beendete meinen Versuch, einen Fleischklumpen aufzuweichen, der wie eine Schnecke aussah, und schaute auf die Tafel. Ich hatte noch nie auf die verschwommene Seitenleiste geachtet, die alle astropathischen Botschaften umrahmt. »Zwölfeinhalb? Sind Sie sicher?« »Ich habe es von Lowink überprüfen lassen.« »Dann gibt uns das einen Bezugsrahmen?« Er lächelte erfreut, weil ich erfreut war. »Drei Welten kommen infrage, alle zwischen elf und fünfzehn Minuten Verzögerung von hier. Thracian Primaris, Kobalt II und Gudrun.« Thracian Primaris war keine Überraschung. Das war unser letzter Anlaufhafen gewesen, unsere letzte Sichtung Eyclones. Und soweit wir vom erbärmlichen Bonz wussten, auch der Ort, wo er einige oder alle seine Diener rekrutiert hatte. »Kobalt ist ein Nichts. Ich habe das überprüft. Nur eine imperiale Wachstation. Aber Gudrun ...« »Eine bedeutende Handelswelt. Alte Kultur, alte Familien ...« »Alte Gifte«, vollendete er das Sprichwort mit einem Lachen. Ich tupfte mir mit einer Serviette den Mund ab. »Können wir uns noch mehr vergewissern?« »Lowink geht der Sache für mich auf den Grund. Sobald wir die Verschlüsselung geknackt haben ... ich meine nicht die Verschlüsselung für die Botschaft, ich meine nur die Kopfzeilen des eigentlichen Textes ... wissen wir Bescheid.« »Gudrun ...«, grübelte ich. Mein Kom summte. Es war Betancore. 67
»Haben Sie schon mal von etwas gehört, das Pontius genannt wird?« »Nein. Warum?« »Ich auch nicht, aber Lowink knackt einige der alten Aufzeichnungen. In den Wochen vor Eyclones Ankunft hat jemand abseits der zulässigen Leitungen Botschaften an einen Ort in der Sonnenkuppel geschickt. Darin wird die Lieferung des >Pontius< erwähnt. Alles sehr vage und indirekt.« »Haben wir den Empfangsort?« »Warum würden Sie uns sonst beschäftigen? Schmelzeblick 12011 auf der Westseite der Kuppel, dem hochpreisigen Viertel. Das Revier der Aristokratie.« »Irgendwelche Namen?« »Nein, in dieser Hinsicht waren sie sehr zurückhaltend und ausweichend.« »Wir klemmen uns dahinter.« Aemos und ich erhoben uns vom Tisch. Als wir uns umdrehten, stand Fischig vor uns. Er trug jetzt eine vollständige Flak-Rüstung der Arbites mit Panzer und Visierhelm. Ich muss zugeben, die Wirkung war beeindruckend. »Wollten Sie ohne mich irgendwohin, Inquisitor?« »Tatsächlich wollten wir zu Ihnen. Bringen Sie uns nach Schmelzeblick.«
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VIER Rasche Fahrt durch die Sonnenkuppel. Schmelzeblick 12011. Saemon Crotes wird befragt.
ie reichsten Hubriter unterhielten Winterpaläste im D Westteil der Sonnenkuppel. Züchtiger Fischig zufolge »genossen sie sowohl Licht als auch Dunkel«, als sei dies ein unerhörter Luxus. Sie schauten nach innen in die erleuchtete Kuppel und hatten Blenden, die geöffnet werden konnten, um die dunkle Winterwüste zu betrachten. Aemos mutmaßte, es sei etwas Spirituelles. Fischig schaltete das dem Gelände folgende Leitsystem aus, während wir durch die Straßen glitten, und sein schwerer Schweber erhob sich hoch über den Verkehr und die Gebäude. Wir flogen enge Kurven zwischen Glastürmen und sausten nach Westen. Ich glaube, er gab an. Auf dem hinteren Sitz unter dem Überrollbügel hielt sich Aemos krampfhaft fest und schloss die Augen mit einem leisen Ächzen. Ich fuhr vorne mit dem gerüsteten Fischig und sah ein wölfisches Grinsen unter dem Visier seines Arbites-Helms hervorblitzen. Der Schweber war ein normales Imperiumsmodell, mattbraun lackiert und trug das Sonnensymbol und die Streifen und Registriernummer der hiesigen Arbites. Er war gepanzert und daher schwerfällig in den Kurven. Der Antigrav hatte Mühe, uns in der Luft zu halten. 69
Direkt vor meinem Sitz war ein schweres Boltgewehr auf dem Rumpf montiert. Ich schaute mich um und erblickte ein abgeschlossenes Fach mit Schrotflinten hinter den Rücksitzen. »Geben Sie mir eine von denen!«, überbrüllte ich das Rauschen des Windes und das Dröhnen der Turbinen. »Was?« »Ich brauche eine Waffe!« Fischig nickte und tippte einen Sicherheitscode in den auf seinem klobigen Steuerknüppel angebrachten Ziffemblock ein. Das Fach mit den Schrotflinten öffnete sich. »Nehmen Sie eine!« Aemos reichte sie mir, und ich lud sie mit Patronen. Schmelzeblick erhob sich vor uns, eine Terrasse mit luxuriösen Bauwerken aus Kristallglas und Stahlbeton, die tief in die Rundung der eigentlichen Kuppel eingelassen waren. Wir flogen tief über abgestufte Gärten hinweg, so dass Farne und Wedel in unserem Fallwind zitterten. Dann schaltete Fischig die Turbinen auf Leerlauf, und wir landeten auf einem ausgedehnten Verandadeck in Höhe der achten Etage. Er sprang hinaus und lud seine Schrotflinte durch. Ich folgte ihm. »Bleiben Sie hier«, sagte ich zu Aemos. Ich brauchte es ihm nicht zwei Mal sagen. »Welche Nummer?«, fragte Fischig. »12011.« Wir schlichen über das breite gewölbte Deck und kletterten über Trenngeländer und Rankengitter aus Kletterpflanzen. 12011 hatte eine Glasfront: breite Schiebetüren und Fenster aus verspiegelten Glasplatten. Fischig hob warnend eine Hand und holte eine Münze aus der Tasche. Er warf sie auf die Terrasse, und sie wurde von neun verschiedenen Laserstrahlen atomisiert. 70
Er schaltete sein Kom ein. »Züchtiger Fischig an Arbites-Zentrale, kommen.« »Wir hören, Züchtiger.« »Verschaffen Sie sich Zugang zur Kuppelzentrale, und schalten Sie die automatischen Abwehrvorrichtungen von Schmelzeblick 12011 aus. Umgehend.« Eine Pause. »Abschaltung genehmigt.« Er machte Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. Ich hielt ihn auf und warf selbst eine Münze. Sie prallte zwei Mal auf die Basaltterrasse und rollte dann aus. »Ich gehe gern auf Nummer sicher«, sagte ich. Wir schmiegten uns beiderseits des Hauptfensters an die Wand. Fischig probierte den Schieber, doch er war verschlossen. Er trat zurück, offenbar in der Absicht, das Fenster einzuschießen. »Das ist Armaplex«, sagte ich, indem ich mit den Knöcheln auf das Material klopfte. »Seien Sie nicht dumm.« Ich holte den Plastikbeutel mit Eyclones Habseligkeiten aus meiner Jacke und suchte das kompakte Lasermesser. Bevor ich es fand, ertastete ich den Plastekschlüssel. Kaum Aussichten, aber drauf geschissen, wie Inquisitor Hapshant immer zu sagen pflegte. Ich schob den Schlüssel ins Schloss, und das Fenster glitt auf motorisierten Schienen beiseite. Wir warteten beide. Parfümierte Luft und leichte Orchestermusik wehten an uns vorbei nach draußen. »Adeptus Arbites! Geben Sie sich zu erkennen!«, brüllte Fischig, dessen Stimme durch seinen Helmlautsprecher verstärkt wurde. Das taten sie. 71
Schnellfeuer, schweres Kaliber, fegte das Terrassengeländer weg, enthauptete Topfpflanzen und Zwergbäume, stutzte Blumenbeete und kappte den Antennenmast des Decks. »Ganz wie ihr wollt!«, bellte Fischig, dann hechtete er durch das Fenster, während er seine Schrotflinte beständig abfeuerte und durchlud. Das Krachen der Schüsse war ohrenbetäubend. An einem Abflussrohr kletterte ich zum Balkon in der ersten Etage empor, wobei die Schrotflinte an ihrem Haltegurt von meinen Schultern baumelte. Unter mir ertönte das Krachen eines heftigen Schusswechsels. Ich stieg durch eine mit einem Gazevorhang bedeckte Öffnung in die Hauptschlafräume ein. In dem mit rotem Samt ausgeschlagenen Raum war es übermäßig warm und dunkel, und aus verborgenen Lautsprechern tönte beruhigende Hintergrundmusik. Das Bett war in Unordnung. In einer Ecke stand auf einer vergoldeten Anrichte ein tragbares Kom-Gerät. Ich schlich vorwärts und studierte die Sendeliste. Fischigs Chaos grollte unten durch den Flur wie ein entferntes Gewitter. Die junge Frau kam aus einem Nebenraum, einem Badezimmer, würde ich meinen, und schrie auf, als sie mich sah. Sie war nackt und tauchte in die Deckung des Bettzeugs. Die Mündung meiner Schrotflinte folgte ihr. »Wer ist hier?« Sie wimmerte und schüttelte den Kopf. »Inquisition«, zischte ich. »Wer ist hier?« Sie fing an zu schluchzen und schüttelte wiederum den Kopf. »Bleiben Sie unten. Kriechen Sie unter das Bett, wenn Sie können.« Im angrenzenden Raum hörte ich ein Pfeifen. Eine Stimme rief einen Namen. »Nicht antworten«, sagte ich zu der weinenden Frau. Ich ging langsam zur Nebenraumtür. Licht fiel hindurch. 72
Eine Dampfwolke quoll heraus und ein Geruch nach Badeölen. Das Pfeifen hatte aufgehört. Er war auf der Hut, das muss ich ihm lassen. Er kam nicht mit blitzender Waffenmündung heraus gestürmt. Ich stieß die Tür mit der Mündung meiner Waffe an, und fünf Hochgeschwindigkeitskugeln schlugen Löcher in das Tür Holz. Ich warf mich bäuchlings auf den Boden und gab drei Schüsse durch den Türspalt ab. »Inquisition! Legen Sie die Waffe nieder!« Zwei weitere Schüsse durchschlugen die Tür. Ich kroch rückwärts von der Tür weg und stand auf, die Waffe locker in den Händen. »Kommen Sie raus«, sagte ich unter Einsatz meiner Willenskraft. Ein großer, tätowierter nackter Mann stolperte aus dem Badezimmer, das Gesicht halb rasiert und halb mit Seifenschaum bedeckt. In einer Hand hielt er immer noch eine Tronsvasse-Autopistole. »Legen Sie die Waffe weg«, befahl ich. Er zögerte, als habe mein Wille keine Kraft. Ein konditionierter Geist, nahm ich an. Ich würde kein Risiko eingehen. Die Autopistole hob sich mir entgegen, als ich ihm mit der Schrotflinte das halb rasierte Gesicht wegblies und er zurück ins Badezimmer gefegt wurde. Die Frau kauerte immer noch nackt und zitternd am Ende des Bettes. Ich war überrascht, dass sie bei meinem Befehl nicht ebenfalls ihre Deckung verlassen hatte. Ich fuhr zu ihr herum. »Wie heißen Sie?« »Lise B.« »Den vollen Namen!«, schnauzte ich. Ich konzentrierte mich nicht speziell auf sie, aber sie hatte etwas an sich. Eine Ausstrahlung. Einen Tonfall. 73
»Alizebeth Bequin! Freudenmädchen! Ich habe in den vergangenen vier Schlummern hier in der Sonnenkuppel gearbeitet!« »Warum sind Sie hier?« »Sie haben im Voraus bezahlt! Wollten eine Feier! Ach, Imperator ...« Ihre Stimme verlor sich, und sie brach auf dem Bett zusammen. »Ziehen Sie sich an. Bleiben Sie hier. Ich will später mit Ihnen reden.« Ich ging zur Tür und schaute hinaus in den unbeleuchteten Flur. Unten, eine Treppe tiefer, flackerten Mündungsblitze und ertönten Schreie. Als er meine Gestalt in der Tür sah, kam ein Mann auf mich zugerannt. »Wylk! Wylk! Sie haben uns gefunden! Sie haben ...« Einen Moment, bevor ihm aufging, dass ich nicht Wylk war, verpasste ich ihm einen Stoß mit dem Kolben meiner Waffe. Er fiel schlaff zu Boden. Zwei Kugeln schlugen neben mir in den Türrahrnen, und ich wich wieder ins Zimmer zurück. Schüsse durchschlugen die Wand über dem Kopfende des Bettes. Bequin schrie auf und wälzte sich herunter. Ich erwiderte das Feuer und sprengte zwei weitere große Löcher in die Tür. Zwei Männer platzten in das Zimmer, die Augen weit aufgerissen und voller Verzweiflung. Beide trugen leichte Hauskleidung. Einer hatte eine Laserpistole, der andere ein Autogewehr. Ich fällte den mit der Laserpistole mit einem direkten Treffer, der ihn vor die Wand schleuderte. Der Mann mit dem Autogewehr eröffnete das Feuer. Seine Schüsse kappten einen der Bettpfosten. Ich warf mich in Deckung, als das Schnellfeuer den Teppich zerfetzte, Spiegel zerschmetterte und Möbel demolierte. 74
Mich umher wälzend suchte ich hektisch Deckung. Mein Möchtegern-Mörder fiel bäuchlings aufs Bett. Die junge Frau zog ein langes Schnappmesser aus seinem Nacken. »Ich habe Ihnen das Leben gerettet«, sagte sie zu mir. »Das macht es besser für mich, richtig?« Ich befahl der jungen Frau, im Schlafzimmer zu bleiben und sich nicht von der Stelle zu rühren, und nach der Art ihres Nickens war ich ziemlich sicher, dass sie gehorchen würde. Ich betrat den düsteren Flur. In der Etage darunter war mittlerweile alles ruhig. »Fischig?«, sendete ich über Kom. »Kommen Sie runter«, knisterte seine Antwort. Eine Wendeltreppe führte nach unten in einen großen Wohnbereich. Dichte Rauchschwaden trieben durch die von uns geöffneten Terrassentüren nach draußen. Das harte Tageslicht der Sonnenkuppel fiel herein und erzeugte Leitersprossen aus Licht in dem wallenden Dunst. Die gegenüberliegende Wand des Zimmers war eine große segmentierte Blende. Geöffnet würde sich dahinter ein Blick auf die Eiswüsten jenseits der Kuppel bieten. Ein Geschosshagel hatte die teuren Möbel und den Zimmerschmuck ruiniert. Fünf Leichen lagen verdreht in verschiedenen Stellungen am Boden. Fischig hatte sein Visier hochgeschoben und hievte gerade einen sechsten Mann auf einen hochlehnigen Stuhl. Der an der rechten Schulter verwundete Mann jammerte und schluchzte. Fischig fesselte ihn mit Handschellen an den Stuhl. »Oben?«, fragte Fischig mich, ohne sich zu mir umzudrehen. »Alles klar«, meldete ich. Ich ging durch den Raum, betrachtete die Toten und untersuchte Gegenstände, die verstreut auf Tischen, Kommoden und Sekretären lagen. »Ich kenne einige dieser Männer«, fügte der Züchtiger unaufgefordert hinzu. 75
»Die beiden am Fenster. Einheimische, Hilfsarbeiter. Beide haben eine lange Vorstrafenliste für Kleinstvergehen.« »Angeworbene Muskeln.« »Das scheint die Gewohnheit Ihres Mannes zu sein. Die anderen sind Fremdweltler.« »Sie haben Papiere gefunden?« »Nein, es ist nur eine Ahnung. Keiner hat einen Ausweis oder Marken dabei, und ich habe nirgendwo ein Versteck gefunden.« »Was ist mit diesem hier?« Ich ging zu dem Gefangenen, den er an den Stuhl gefesselt hatte. Der Mann hustete und jaulte und verdrehte die Augen. Wenn er nicht über unnatürliche Kraftverstärker wie Drogen oder verstärkte Augmetik verfügte, war dieser Kerl kein angeworbener Mann fürs Grobe. Er war älter und schmaler gebaut, und seine Bartstoppeln waren grau meliert. »Den haben Sie absichtlich nicht getötet, richtig?«, fragte ich Fischig. Er lächelte dünn, als freue er sich, dass es mir aufgefallen war. »Ich ... ich habe Rechte!«, fauchte der Mann plötzlich. »Sie befinden sich im Gewahrsam der Inquisition«, sag te ich freimütig. »Sie haben nicht die geringsten Rechte.« Er verstummte. »Fremdweltler«, sagte Fischig. Ich hob eine Augenbraue. »Sein Akzent«, erklärte Fischig. Ich hätte ihn niemals herausgehört. Das war einer der Gründe, warum ich auf einheimische Hilfe zurückgriff, wann immer sich die Möglichkeit bot, sogar auf einen potenziellen Unruheherd wie den Züchtiger. Meine Arbeit führt mich von Welt zu Welt, von Kultur zu Kultur. Geringfügige Differenzen des Dialekts oder ungewöhnliche umgangssprachliche Wendungen entgehen mir regelmäßig. Aber Fischig hatte sie sofort gehört. Und es klang plausibel. Wenn dies der Anführer und kein an geworbener Schläger war, also einer von Eyclones auserwählten Unterführern, 76
dann sprach vieles dafür, dass er ein Fremdweltler war. »Ihr Name?«, fragte ich. »Ich antworte nicht.« »Dann lasse ich Ihre Wunde eine Zeit lang nicht behandeln.« Er schüttelte den Kopf. Die Wunde war schlimm., und er litt offensichtlich unter erheblichen Schmerzen, aber er sperrte sich. Das machte mich noch sicherer, dass er ein Unterführer war. Er zitterte und jammerte nicht mehr. Er hatte auf irgendeine mentale Konditionierung umgeschaltet, die ihm zweifellos von Eyclone beigebracht worden war. »Mentale Tricks werden Ihnen nicht helfen«, sagte ich. »Ich bin darin viel besser als Sie.« »Fick dich selbst.« Aus Höflichkeit wandte ich mich zu Fischig um. »Wappnen Sie sich.« Er trat zurück. »Nennen Sie Ihren Namen«, sagte ich unter Einsatz meiner Willenskraft. Der Mann auf dem Stuhl verkrampfte sich. »Saemon Crotes!«, keuchte er. »Godwyn Fischig«, entfuhr es dem Züchtiger unfreiwillig. Er errötete, entfernte sich und beschäftigte sich mit der Durchsuchung der Räumlichkeiten. »Nun gut, Saemon Crotes, woher stammen Sie?« Ich setzte jetzt keine Willenskraft mehr ein. Meiner Erfahrung nach ist nur ein Hieb nötig, um mentale Abwehrschranken zu durchbrechen. »Thracian Primaris.« „Was waren Sie dort von Beruf?« »Ich war Handelsemissär für die Sinesias-Handelsgilde.« Ich kannte den Namen. Die Sinesias-Gilde war eine der größten Handelsgesellschaften im ganzen Sektor. Sie hatte Besitzungen auf über hundert Planeten und Verbindungen zum Imperiumsadel. Außerdem hatte sie, wie Betancore mich an diesem Morgen 77
informiert hatte, eine Handelsbarkasse an der Landeplattform der Sonnenkuppel liegen. »Und welche Arbeit hat sie nach Hubris geführt?« »Dieselbe ... als Handelsemissär.« »Im Schlummer?« »Handel findet immer statt. Langzeitverträge mit den Behörden auf dieser Welt, die der persönlichen Betreuung bedürfen.« »Und wenn ich Ihre Gilde kontaktiere, wird sie das bestätigen?« »Natürlich.« Ich trat hinter ihn. »Was hat Sie also hierher geführt? In diese privaten Gemächer?« »Ich war Gast.« »Von wem?« »Namber Wylk. Das ist ein einheimischer Händler. Er hat mich zu einem Mittschlummerfest eingeladen.« »Als Besitzer dieses Gebäudes ist Namber Wylk eingetragen«, warf Fischig ein. »Ein Händler, wie er behauptet. Keine Vorstrafen. Ich kenne ihn nicht.« »Was ist mit Eyclone?«, fragte ich Crotes, während ich mich herunterbeugte und ihm in die Augen starrte. Ich sah ein Kräuseln der Furcht darin. »Mit wem?« »Mit Ihrem eigentlichen Auftraggeber. Murdin Eyclone. Lassen Sie mich nicht noch einmal fragen.« »Ich kenne keinen Eyclone!« Seinem Tonfall haftete etwas Aufrichtiges an. Möglicherweise hat er Eyclone unter diesem Namen tatsächlich nicht gekannt. Ich zog einen Stuhl heran und setzte mich ihm gegenüber. »Ihre Geschichte hat ein paar ziemlich dicke Löcher. Man findet Sie hier in Gesellschaft von Wiederholungstätern, die wir mit einer planetenweiten Verschwörung in Verbindung bringen können. Man wird Mordanklagen 78
erheben - eine ganze Menge sogar. Wir können diese Unterhaltung unter sehr viel intimeren und weitreichenderen Umständen fortsetzen, oder Sie geben mir einen Grund, Sie etwas mehr zu mögen, indem Sie mir jetzt ein paar Einzelheiten nennen.« »Ich ... weiß nicht, was ich Ihnen sagen könnte ...« »Was Sie wissen. Über den Pontius vielleicht?« Ein düsterer, bestürzter Ausdruck huschte über sein Gesicht. Sein Kiefer arbeitete einen Moment und versuchte Worte zu formen. Er zitterte. Dann ertönte ein flüssiges plop, und sein Kopf fiel nach vorn. »Thron des Lichts!«, rief Fischig. »Verdammt«, fauchte ich und bückte mich, um Crotes' schlaffen Schädel anzuheben. Er war tot. Eyclone hatte Sicherungen in die Konditionierung eingebaut, die bei bestimmten Themen durchbrannten. Der Pontius war offenbar so ein Thema. »Ein Schlaganfall. Künstlich hervorgerufen.« »Also wissen wir nichts?« »Wir wissen eine ganze Menge! Haben Sie denn nicht zugehört? Zum Beispiel wissen wir, dass der Pontius das kostbarste Geheimnis ist, das sie schützen.« »Dann erzählen Sie mir mal was darüber.« Ich wollte gerade damit anfangen, zumindest ausweichend, als die Blende an der Wand gegenüber, die diese Räumlichkeiten vor dem extremen Klima außerhalb der Kuppel schützte, herausgesprengt wurde. Verborgene Ladungen wurden gleichzeitig gezündet. Die Metallblende dehnte sich nach außen in die eisige Dunkelheit aus. Die Druckwelle schleuderte Fischig und mich zu Boden. Eine Millisekunde später wurden die Kristallsplitter des zerschmetterten Portals von der Wirbelsturmkraft der Schlummerwinde draußen wieder zu uns zurückgefegt - als Hagelsturm mit einer Milliarde Messer scharfer Körner. 79
FÜNF Verwischte Spuren. Die Glaws von Gudrun. Unwillkommene Begleiter.
er Knall war ohrenbetäubend, aber ich hatte die D Geistesgegenwart, Fischig zu packen und mich mit ihm durch die Terrassentüren nach draußen zu wälzen, während die Notblende aus ihrem Schlitz in der Holzdecke herunterrasselte. Wir lagen keuchend und halb blind auf der Terrasse, und das harte Licht und die Wärme der Sonnenkuppel tauten unsere kältegeschockten Leiber auf. Alarmsirenen und Warnglocken ertönten überall im Schmelzeblick-Wohnbereich. Einheiten der Arbites waren bereits unterwegs. Wir standen auf. Unsere Kleidung und schlichtes Glück hatten uns vor den schlimmsten Auswirkungen des Glassturms geschützt, obwohl ich eine Schramme in der linken Wange hatte, die genäht werden musste, während bei Fischig ein langer Glassplitter zwischen den Rüstungsgelenken im Oberschenkel steckte. Abgesehen davon hatten wir nur ein paar Kratzer abbekommen. »Schlichtes Pech?«, fragte er, obwohl er wusste, dass es keines war. »Die Ladungen wurden von demselben Impuls gesprengt, der auch Crotes getötet hat.« 80
Er schaute weg und richtete den Verschluss eines seiner Panzerhandschuhe, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Sein Gesicht hatte eine schmutzig grüne Farbe, in erster Linie infolge des Schocks. Aber ich glaube, er bekam jetzt langsam eine Vorstellung von den Mitteln und Fähigkeiten der Leute, gegen die wir arbeiteten. Ihr entsetzliches Verbrechen in Prozessional Zwo-Zwölf hatte das ganze Ausmaß ihrer Schlechtigkeit demonstriert, aber er hatte es nicht direkt miterlebt. Jetzt wurde er Zeuge der Vorgehensweise der fanatischen Diener einer finsteren Sache, die ohne Zögern bis zum Tod kämpften. Und er hatte gesehen, wie brutal sie ihre Spuren verwischten, indem sie Mentalwaffen und hirngezündete Sprengfallen einsetzten, was von beträchtlichen Mitteln und beängstigender Raffinesse kündete. Arbites-Trupps rückten in das Gebäude vor und sicherten, während lokale Medizi-Servitoren unsere Wunden versorgten. Die Räumtrupps brachten die zitternde Frau, Bequin, nach draußen. Sie war in Decken gehüllt, und ihr Gesicht war vor Kälte blau angelaufen. Sie wurde meinen Anweisungen gemäß und unter meinem Siegel in Haft genommen. Ihr war zu kalt, um sich darüber zu beklagen. In Thermomäntel gehüllt, gingen Fischig und ich wieder hinein. Es würde noch zwei oder drei Stunden dauern, bis die Reparaturmannschaften die gesprengte Außenblende ersetzt haben würden. Aus dem harten Licht auf der Terrasse schritten wir durch drei hastig angebrachte Isolationsvorhänge in das düstere blaue Dämmerlicht der Wohnung. Die Wand gegenüber war verschwunden, und wir schauten direkt in die klare, gläserne Nacht von Hubris, eine glänzend graue Landschaft aus klar umrissenen Schatten und reflektiertem Licht, die sich vom Rand der Sonnenkuppel endlos nach außen erstreckte. Wieder war ich der eisigen Kälte des Schlummers ausgesetzt, und mein Blut schmerzte. 81
Der Hauptraum, in dem wir Crotes verhört hatten, war eine verwüstete Höhle, rußgeschwärzt -und mit Glassplittern übersät. Harte Reifschichten bedeckten Möbel und verzerrten die Gesichter der Toten. Von dem zerfetzenden Glassturm vergossenes Blut war in der Dunkelheit wie Rubine verkrustet.Wir ließen die rauchig weißen Strahlen unserer Taschenlampen umherwandern. Ich glaubte nicht, dass wir jetzt viel finden würden. Vieles sprach dafür, dass alle wichtigen Dokumente durch dasselbe Signal, das Crotes getötet und die Blende gesprengt hatte, verbrannt oder gelöscht worden waren. Und es war außerdem wahrscheinlich, dass diese Leute alle wirklich wichtigen Informationen intern bei sich trugen, als GedächtnisEngramm oder Memo-Codes, also auf Wegen, die normalerweise den höchsten Diensträngen des diplomatischen Korps, dem Administratum und bedeutenden Handelsdelegationen vorbehalten waren. Das lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf Crotes' Arbeitgeber, die Sinesias-Gilde. »Der Name ist in diesem Subsektor durchaus gebräuchlich«, sagte Aemos im behaglichen Dämmerlicht des Kanonenbootes zu mir, das noch auf seinem Ankerplatz lag. Er hatte Nachforschungen bezüglich des Namens »Pontius« angestellt. »Ich habe über eine halbe Million Bürger mit diesem Vornamen gefunden, weitere zweihunderttausend mit ihm als Mittelnamen und dazu weitere vierzig- oder fünfzigtausend Schreibvarianten.« Er hielt mir eine Datentafel hin. Ich wischte sie beiseite und benutzte einen Handspiegel, um mir die Metallschmetterlingsstiche der Naht meiner Wangenwunde anzusehen. »Und als Eigenname für Einrichtungen?« 82
»Ich habe über neuntausend Einträge dafür«, seufzte er. Er begann sie von einer Liste auf seiner Tafel vorzulesen. »Die Pontius-Swellwin-Jugendakademie, das PontiusPraxitelles-Übersetzungsbüro, die Pontius-Gyvant-RopusFinanzierungsgesellschaft, das Pontius-Spiegel-Hospital für Mikrochi...« »Das reicht.« Ich setzte mich vor den Verschlüssler und tippte Namensgruppen ein. Flackernde Runen flitzten und jagten über die Bildtafel. Textauszüge wurden deutlicher. Ich durchforschte sie mit dem Finger auf der Bildlaufleiste. »Pontius Glaw«, sagte ich. Er blinzelte und sah mich an. Die Andeutung eines gelehrtenhaften Lächelns huschte über sein Gesicht. »Steht nicht auf meiner Liste.« »Weil er tot ist?« »Weil er tot ist.« Aemos kam zu mir und schaute über meine Schulter auf den Schirm. »Aber es ergibt durchaus Sinn.« Das tat es. Eine Art Unlogik, die einen Hauch Wahrheit in sich barg. Die Art von Wahrheitskörnchen, für die ein Inquisitor nach ein paar Jahren eine Nase entwickelt. Die Glaw-Familie war altes Blut, eine bedeutende Adelsdynastie, die in diesem Subsektor seit beinahe einem Millennium eine Hauptrolle spielte. Der primäre Familienbesitz befand sich auf Gudrun, einer Welt, die uns in diesem Zusammenhang bereits begegnet war. Haus Glaw war außerdem ein bedeutender Anteilseigner und Investor der Sinesias-Handelsgilde, hatte mir der Entschlüssler soeben verraten. »Pontius Glaw ...«, murmelte ich. Pontius Glaw war seit über zweihundert Jahren tot. Als siebter Sohn von Oberon Glaw, einem der großen Patriarchen der Familie, hatte er das Schicksal der meisten jüngeren Geschwister insofern geteilt, als er kaum etwas geerbt hatte, 83
nachdem sich seine älteren Brüder bedient hatten. Der älteste, ein weiterer Oberon, war Hausherr geworden, der zweitälteste Sohn hatte die Kontrolle über den Aktienbesitz übernommen. Der dritte hatte sich den Oberbefehl über die Hausmiliz gesichert. Der vierte und fünfte hatten politisch vorteilhafte Ehen geschlossen und waren auf höchster Ebene ins Administratum eingestiegen ... und so weiter. Ich erinnerte mich noch an einige Einzelheiten aus Pontius Glaws Biografie, die für Inquisitor-Aspiranten Pflichtlektüre war. Pontius war ein Dilettant geworden und hatte sein Leben, seine Tatkraft, sein Charisma und seinen gebildeten Intellekt mit unwürdigen Dingen vergeudet. Er hatte einen beträchtlichen Teil seines persönlichen Vermögens verspielt und es dann mit den Einkünften aus Sklavenhandel und Grubenkämpfen neu aufgebaut. Durch sein Leben zog sich eine Linie rücksichtsloser Brutalität. Und dann, nachdem er die vierzig überschritten und seine Gesundheit durch viele Jahre des Missbrauchs ruiniert hatte, schlug er einen sehr viel dunkleren Weg ein. Man hat immer den Verdacht gehabt, diese Wendung sei durch ein zufälliges Ereignis herbeigeführt worden: ein Artefakt oder Dokument, das ihm in die Hände fiel, vielleicht der seltsame Glaube eines oder mehrerer barbarischer Grubenkämpfer, die er versklavt hatte. Mein Instinkt verriet mir, dass die Neigung dazu schon immer in ihm gewesen sein musste und er nur nach einer Gelegenheit gesucht hatte, ihr freien Lauf zu lassen. Es ist dokumentiert, dass er ein lebenslanger Sammler seltener und oftmals verbotener Bücher war. An welchem Punkt mochte sein Appetit auf liederliche und esoterische Pornografie ins Ketzerische und Blasphemische übergegangen sein? Pontius Glaw wurde zu einem Jünger des Chaos, zu einem Anhänger der verabscheuungswürdigsten und obszönsten Kräfte, die diese Galaxis heimsuchen. Er gründete einen Kult und beging über einen Zeitraum 84
von fünfzehn Jahren unaussprechliche und zunehmend dreistere Taten des Bösen. Schließlich wurde er mit seinem Kult auf Lamsarrote getötet, und zwar im Zuge einer inquisitorischen Säuberungsaktion unter Führung des großen Absalom Angevin. Haus Glaw hatte sich daran beteiligt, da es verzweifelt darauf bedacht war, sich von seinen Verbrechen zu distanzieren. Wahrscheinlich hat nur dies allein den Untergang der gesamten Familie verhindert. Ein Ungeheuer, ein berüchtigtes Ungeheuer. Und tot, wie Aemos so rasch festgestellt hatte. Seit mehr als zwei Jahrhunderten tot. Aber der Name und der Zusammenhang der Tatsachen schienen zu offenkundig zu sein, um sie zu ignorieren. Ich ging in die Kanzel und setzte mich zu Betancore. »Wir brauchen ein Raumschiff. Nach Gudrun.« »Ich kümmere mich darum. Es könnte ein, zwei Tage dauern.« »So schnell wie möglich.« Ich schickte dem Hohen Hüter Carpel eine Nachricht, in der ich ihn über einige, wenn auch nicht alle Ergebnisse meiner Ermittlungen informierte und ihm mitteilte, ich werde Hubris in Kürze verlassen und meine Ermittlungen auf Gudrun fortsetzen. Ich war mit der Lektüre der geheimen FallAufzeichnungen von Inquisitor Angevin beschäftigt, als zwei Arbites Bequin zu mir ins Kanonenboot brachten. Ich hatte Befehl gegeben, sie meiner Obhut zu übergeben. Sie stand in der Mannschaftskabine und starrte mit gerunzelter Stirn und in Handschellen in die Düsternis. Sie trug ein geschmackloses Kleid und einen leichten Mantel, aber trotz der billigen Kleidung und ihres Unbehagens war ihre Schönheit nicht zu übersehen. Gute Knochen, ein voller 85
Mund, eindringliche Augen und langes dunkles Haar. Doch auf der anderen Seite war sie auch von einer Aura umgeben, von diesem Tonfall, den ich schon zuvor entdeckt hatte. Trotz ihrer offenkundigen körperlichen Reize war etwas beinahe Abstoßendes an ihr. Es war eigenartig, aber ich war überzeugt, den Grund dafür zu kennen. Sie sah sich um, als ich die Mannschaftskabine betrat, und ihre Miene verriet eine Mischung aus Furcht und Empörung. »Ich habe Ihnen geholfen!«, fauchte sie. »Das haben Sie. Obwohl ich weder um Ihre Hilfe gebeten habe noch welche brauchte.« Sie verzog das Gesicht. Die Aura war jetzt stärker, ein unangenehmes Gefühl, das in mir das Bedürfnis weckte, sie aus dem Boot zu jagen und nichts mehr mit ihr zu tun zu haben. »Die Arbites sagen, sie werden mich wegen Mord und Verschwörung unter Anklage stellen.« »Die Arbites suchen verzweifelt Schuldige, denen sie die Verbrechen anhängen können. Sie sind auf unglückliche Weise in diese Dinge verwickelt, wenn auch meiner Ansicht nach nicht vorsätzlich.« »Verdammt richtig!«, knurrte sie. »Das hat mich ruiniert, mein Leben hier! Und gerade, als ich wieder auf die Beine kam ...« »Ihr Leben war schwierig?« Sie fixierte mich mit einem höhnischen Blick, der meine Intelligenz in Zweifel zog. Ich bin ein Freudenmädchen, ein Objekt, schien er zu sagen, die Niedrigste der Niedrigen was glauben Sie, wie schwer mein Leben war? Ich trat vor und nahm ihr die Handschellen der Arbites ab. Sie rieb sich die Handgelenke und musterte mich überrascht. »Setzen Sie sich«, sagte ich. Ich benutzte meine Willenskraft. Sie sah mich wieder an, als frage sie sich, was der komische Tonfall solle, und nahm dann gelassen auf einer gepolsterten 86
Lederbank an der Rückwand der Mannschaftskabine Platz. »Ich kann dafür sorgen, dass die Anklagen fallen gelassen werden«, sagte ich zu ihr. »Ich habe diese Autorität. Tatsächlich ist meine Autorität der einzige Grund, warum Sie bisher weder angeklagt noch verhört wurden.« »Warum sollten Sie so etwas tun?« »Ich dachte, Sie glauben, ich schulde Ihnen was?« »Spielt keine Rolle, was ich glaube.« Ihr Gesicht hatte etwas Mürrisches, als sie mich von oben bis unten betrachtete. Ich stellte fest, dass ich neugierig wurde. Objektiv gesehen, betrachtete ich eine junge Frau, deren Aussehen und lebhafter Geist sie unbestreitbar begehrenswert machten. Und doch wollte ich ... sie beinahe anschreien, sie wegjagen, dafür sorgen, dass sie mir aus den Augen ging. Ich hatte eine vollkommen ungerechtfertigte und instinktive Abneigung gegen sie. »Selbst wenn ich nicht angeklagt werde, kann ich hier nicht mehr weitermachen. Sie würden mich aufspüren. Ich wäre als mögliche Unruhestifterin abgestempelt. Das wäre das Ende meiner Arbeit. Ich muss wieder weiterziehen und neu anfangen.« Sie starrte zu Boden und murmelte einen Fluch. »Und gerade, als ich wieder auf die Beine kam!« »Weiterziehen? Sie stammen nicht von Hubris?« »Von dieser elenden Jauchegrube?« „Woher dann?« »Ich bin vor vier Jahren von Thracian Primaris hierher gekommen.« „Sind Sie auf Thracian geboren?« Sie schüttelte den Kopf. »Bonaventure.« Das war einen halben Sektor entfernt. »Wie sind Sie von Bonaventure nach Thracian gekommen?«
»Durch dies und das. Hier und da. Ich bin viel unterwegs gewesen. Hab's nie lange an einem Ort ausgehalten.« 87
»Weil die Dinge schwierig werden?« Wieder der höhnische Blick. »Stimmt genau. Hier habe ich es länger ausgehalten als überall sonst. Jetzt ist es damit auch vorbei.« »Stehen Sie auf«, schnauzte ich plötzlich unter Einsatz meiner Willenskraft.Sie stutzte und sah mich achselzuckend an. »Entscheiden Sie sich.« Sie erhob sich. »Ich will Ihnen einige Fragen zu den Männern in Schmelzeblick 12011 stellen, die Ihre Dienste in Anspruch genommen haben.« »Das dachte ich mir.« »Wenn Sie hilfsbereit antworten, kann ich Ihnen einen Handel vorschlagen.« »Was für einen Handel?« »Ich kann Sie nach Gudrun bringen. Ihnen die Möglichkeit eines Neuanfangs geben. Oder ich kann Ihnen eine Stellung anbieten, wenn Sie Interesse haben.« Sie lächelte belustigt. Es war der erste positive Ausdruck, den ich an ihr sah. Er machte sie noch schöner, aber deswegen wurde meine Abneigung nicht geringer. »Eine Stellung? Sie hätten eine Stellung für mich? Ein Inquisitor würde mich anstellen?« »Das ist korrekt. Es ginge um gewisse Dienste, die Sie leisten könnten.« Sie machte zwei behände Schritte auf mich zu und legte mir beide Hände flach auf die Brust. »Ich verstehe«, sagte sie. »Sogar große böse Inquisitoren haben Bedürfnisse, wie? Das geht schon in Ordnung.« »Sie missverstehen mich«, erwiderte ich, indem ich mich so höflich von ihr löste, wie ich konnte. Der körperliche Kontakt mit ihr verstärkte das unnatürliche Gefühl der Abneigung noch. »Die Dienste, die mir vorschweben, werden Ihnen neu sein. 88
Sie gehören nicht zu der Sorte Arbeit, die Sie gewöhnt sind. Haben Sie trotzdem noch Interesse?« Sie legte den Kopf ein wenig schief und betrachtete mich. »Sie sind schon komisch. Sind alle Inquisitoren wie Sie?« »Nein.« Ich befahl dem Servitor, Modo, sie mit Erfrischungen zu versorgen, und ließ sie in der Mannschaftskabine zurück. Betancore stand im Schatten vor der Tür und betrachtete sie anerkennend. »Sie ist ein hübscher Anblick«, murmelte er mir zu, als könne mir das entgangen sein. »Haben Sie Vibben so schnell vergessen?« Er fuhr betroffen zu mir herum. »Das war ein Tiefschlag, Eisenhorn. Ich habe nur eine Bemerkung gemacht.« »Sie wird Ihnen weniger gefallen, wenn Sie sie kennenlernen. Sie ist eine Unberührbare.« »Ernsthaft?« »Ernsthaft. Psionisch leer. Es ist eine natürliche Fähigkeit, und ich habe ihre Grenzen noch nicht erkundet. Es fällt mir schon schwer genug, mich mit ihr in einem Raum aufzuhalten.« »Und dabei sieht sie so gut aus«, seufzte Betancore mit einem neuerlichen Blick auf sie. »Sie kann uns nützlich sein. Wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllt, stelle ich sie an.« Er nickte. Unberührbare sind selten und lassen sich praktisch nicht künstlich erzeugen. Sie haben eine negative Ausstrahlung im Warpraum, die sie praktisch immun gegen psionische Kräfte macht, was sie wiederum zu starken AntiPsioniker-Waffen macht. Die Nebenwirkung ihrer psionischen Leere ist die unangenehme Störung, die sie begleitet, die Wellen der Furcht und Abneigung, die sie in jenen wachrufen, denen sie begegnen. 89
Kein Wunder, dass ihr Leben schwierig gewesen war und sie keine Freunde hatte. »Neuigkeiten?«, fragte ich Betancore. »Ich habe Kontakt mit einem schnellen Händler namens Essene aufgenommen. Kapitän ist ein gewisser Tobius Maxilla. Handelt mit kleineren Mengen von Luxusgütern. In zwei Tagen trifft er hier ein, um eine Sendung erlesene Weine von Hesperus zu liefern, dann fliegt er weiter nach Gudrun. Gegen eine Gebühr schafft er in seinem Laderaum Platz für unser Boot.« »Gute Arbeit. Also sind wir wann auf Gudrun?« »In zwei Wochen.« Die nächste Stunde verbrachte ich damit, Bequin zu verhören, aber wie ich vermutet hatte, wusste sie herzlich wenig über die Männer. Wir brachten sie in einer kleinen Kabine neben Betancores Quartier unter. Es war kaum mehr als eine Kiste, und Nilquit musste dort gelagerte Ausrüstungsstapel entfernen, um sie auszuräumen, aber sie schien damit zufrieden zu sein. Als ich sie fragte, ob sie irgendwelche Habseligkeiten besitze, die sie aus der Sonnenkuppel abholen wolle, schüttelte sie lediglich den Kopf. Ich ging mit Aemos weitere Daten durch, als Fischig eintraf. Er trug seine braune Uniform und zwei geräumige Seesäcke auf den Schultern, die er mit deklamatorischem Krach aufs Deck fallen ließ, nachdem er an Bord gekommen war. »Welchem Umstand verdanke ich diesen Besuch, Züchtiger?«, fragte ich. Er zeigte mir eine Tafel mit Carpels offiziellem Siegel. »Der Hohe Hüter erteilt Ihnen die Erlaubnis, den Planeten zur Fortsetzung Ihrer Ermittlungen zu verlassen. Diesbezüglich ...« Ich warf einen Blick auf die Tafel und seufzte. »... begleite ich Sie«, sagte er. 90
SECHS Weissagung durch Auto-Seance. Ein Traum. Umstieg auf die Essene.
ch gab eine offizielle Beschwerde im Büro des Hohen IHüters zu Protokoll, aber das war nur Schau. Carpel konnte mir ernsthafte Probleme bereiten, wenn ich versuchte, den Planeten ohne seinen Agenten zu verlassen. Natürlich hätte ich das tun können. Ich konnte diesbezüglich tun, was mir beliebte. Aber Carpel vermochte mich aufzuhalten, und ich wusste nicht, wie viel Kooperation ich von den Honoratioren und Administrationen auf Hubris später noch brauchen würde, falls diese Untersuchung zu einer Gerichtsverhandlung führte. Außerdem wusste Carpel, dass ich nach Gudrun fliegen würde, und konnte Fischig als Vertreter der Arbites zwecks einer eigenständigen Untersuchung dorthin schicken. Alles in allem wollte ich Züchtiger Fischig lieber dort haben, wo ich ihn sehen konnte. Am Nachmittag vor unserer geplanten Abreise ließ ich Lowink eine Auto-Seance vorbereiten. Ich bezweifelte zwar, dass wir gegenwärtig mehr herausfinden konnten, aber ich wollte nichts unversucht lassen. Wie üblich benutzten wir mein Quartier, schlossen die Kabinentür und gaben Betancore strikte Anweisung, jedwede Störung zu verhindern. 91
Ich saß auf einem hochlehnigen Armsessel und verbrachte eine Viertelstunde damit, mich in einen Zustand der Halbtrance zu versetzen. Dies war eine alte Technik, eine der ersten, die man mir beigebracht hatte, als die Lehrer der Inquisition meine Fähigkeiten entdeckt hatten. Auf einem gedeckten Tisch zwischen uns breitete Lowink die wesentlichen Beweismaterialien aus: einiges von Eyclones Habseligkeiten, ein paar andere Gegenstände aus Schmelzeblick 12011 und etwas aus dem Prozessional. Außerdem hatten wir die mysteriöse Truhe aus dem KryoGeneratorraum. Schließlich war ich bereit, und Lowink öffnete seinen Geist für den Warpraum und filterte dessen chaotischen Einfluss durch seine trainierte mentale Architektur. Dieser transitorische Augenblick war immer ein Schock, und ich schauderte. Die Temperatur im Raum sank spürbar, und eine Glasschale auf einer Anrichte bekam einen Sprung. Lowink murmelte und verdrehte die Augen, wobei er leicht zuckte und zitterte. Ich schloss die Augen, obwohl ich meine Kabine immer noch sehen konnte. Was ich sah, war eine Visualisierung unserer Umgebung, die von Lowink astropathisch im Immaterium selbst erzeugt wurde. Alles leuchtete hellblau von innen, und Festes wurde durchsichtig. Die Dimensionen der Kabine veränderten sich ein wenig, streckten und wölbten sich, als hätten sie Schwierigkeiten, den Zusammenhalt zu wahren. Ich nahm der Reihe nach jeden Gegenstand auf dem Tisch in die Hand, wobei Lowinks Projektion ihre psychometrischen Eigenschaften verstärkte, und öffnete meine geistigen Fähigkeiten für die Signaturen und Resonanzen, die sie in den Warpraum trugen. Die meisten waren matt und stumpf und ohne eine Spur von Resonanz. Einige hatten rauchige Fasern von Auren an sich, Überbleibsel eines flüchtigen Kontakts mit menschlichen Händen und menschlichem Verstand. 92
In Eyclones Kom-Gerät summte ein unverständliches Geistergejaule, gab aber nichts Konkretes preis. Eyclones Pistole stach meine Hand wie ein Skorpion, als ich sie berührte - und Lowink und ich keuchten simultan. Ich hatte einen kurzen Nachgeschmack des Todes erlebt und beschloss, sie nicht wieder zu berühren. Seine Datentafel, die Aemos noch nicht hatte öffnen können, troff von einer klebrigen, beinahe gelatineartigen Aura. Die Dicke dieses psychischen Rückstands kündete von den komplizierten Denkprozessen und Daten, die darin eingebettet waren. Sie gab ebenfalls nichts preis, und meine Frustration nahm zu. Lowink verstärkte meine Bemühungen, und schließlich stieß ich auf das geflüsterte Wort oder den Namen »Daesumnor«. Der letzte Gegenstand war die Truhe. Sie hallte von flackernden Warpspurbändern nach. Unser Kontakt mit ihr war wegen der erschöpfenden Kraft ihrer Aura notwendigerweise kurz. Wir sondierten und öffneten etwas, wobei es sich um drei Ebenen psychometrischer Aktivität zu handeln schien. Eine war scharf und hart und schmeckte metallisch. Lowink behauptete, dies sei ein Überbleibsel des Intellekts oder der Intellekte, welche die Truhe erschaffen hatten. Eine unbestreitbar brillante, aber auch böswillige Ausstrahlung. Darunter lag eine kältere, kleinere, dichtere pochende Spur wie ein lichtloser kollabierter Stern, die im Herzen des Maschinenkerns der Truhe eingesperrt zu sein schien. Beide wurden von psychischen Restqualen der Toten von Prozessional Zwo-Zwölf umflattert wie von Vögeln. Ihr flehentlicher psychischer Lärm hallte durch unsere Gedanken und raubte uns emotionale Kraft. Die toten Seelen des Prozessionals hatten ihre psychischen Fingerabdrücke auf dieser Vorrichtung hinterlassen, die das Werkzeug des Mordes an ihnen gewesen war. 93
Wir wollten uns gerade zurückziehen und die Seance beenden, als die kalte, entfernte, dichte Spur an die Oberfläche quoll. Zunächst war ich neugierig, dann bestürzt über die sich sammelnde Kraft und Schnelligkeit. Sie erfüllte meinen Kopf mit einem übelkeiterregenden, unerträglichen Hungergefühl. Hunger, Durst, Appetit, Verlangen ... Es brach aus den Tiefen der Truhe hervor, heulend und schmachtend, ein finsteres Ding, das durch die anderen Restenergien fegte. Ich erhaschte einen Blick auf seine Böswilligkeit und spürte sein verzehrendes Verlangen. Lowink unterbrach die Verbindung. Er sackte keuchend in sich zusammen, und seine Haut war mit den stigmatischen Blutflecken einer astropathischen Prophezeiung übersät, die viel zu weit gegangen war. Ich spürte es ebenfalls. Mein Verstand kam mir kalt vor, kälter noch als der Schlummer draußen. Es schien sehr lange zu dauern, bis meine Gedanken wieder frei flossen, als taue Wasser langsam in einer zugefrorenen Leitung. Ich stand auf und goss mir ein Glas Amasec ein. Dann, gleichsam als Nachgedanke, schenkte ich Lowink auch eins ein. Keiner von uns beendete diese Seancen mit einem guten Gefühl, aber diesmal war es erheblich schlimmer als sonst. »Da war Gefahr«, sagte Lowink schließlich heiser. »Ganz schlimme Gefahr. In dieser Truhe.« »Ich habe sie auch gespürt.« »Aber die ganze Seance war irgendwie ungehörig, Meister. Wie durch irgendetwas abgelenkt und verdorben ...« Ich seufzte. Ich wusste, was er gespürt hatte. »Das kann ich erklären. Die junge Frau, die wir an Bord genommen haben, ist eine Unberührbare.« Lowink schauderte. »Halten Sie sie von mir fern.«
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Ich gab das Wort »Daesumnor« an Aemos weiter, für den Fall, dass es ihm bei seiner Arbeit an der Datentafel helfen würde, und ruhte mich dann in meiner Kabine aus. Lowink war in seine winzige Kabine unter dem Kanzeldeck zurückgekehrt. Ich ging davon aus, dass er eine ganze Weile zu nichts zu gebrauchen sein würde. Ich sammelte die Beweisstücke ein, verpackte sie wieder und schloss alles in den Tresor des Bootes bis auf die Truhe, die zu groß war und nicht hineinpasste. Wir verstauten sie in Plane gehüllt und mit Ketten verschlossen in einem achteren Spind. Als ich sie aufhob, um sie nach hinten zu bringen, spürte ich ein Nachwirken ihrer Aura, als hätten wir etwas geweckt, einen Instinkt oder etwas Ähnliches. Ich ging davon aus, dass dies eine Einbildung meines gereizten Verstandes war, der Überstunden machte, aber ich konnte die Aufgabe erst ausführen, als ich mir ein Paar Arbeitshandschuhe übergestreift hatte. Kurz danach kam Betancore zu mir. Er war Vibbens Habseligkeiten durchgegangen und hatte kein Testament oder sonstige Anweisungen gefunden. Wir brauchten ihre Kabine jetzt, um Fischig unterzubringen, also verstauten wir ihre Sachen in einem Stauraum unter den Sitzen in der Mannschaftskabine und trugen ihren verhüllten Leichnam ins Krankenrevier. Als wir es verließen, schloss ich die Tür ab. »Was wollen Sie mit ihr machen?«, fragte Betancore. »Wir haben keine Zeit mehr, noch eine Bestattung zu organisieren.« »Sie hat einmal gesagt, sie sei mit mir gegangen, um zu sehen, wie die Sterne sind. Und genau da werden wir sie zur letzten Ruhe betten.« Dann schlief ich, trotz meiner Erschöpfung unruhig. Als der Schlaf kam, waren die Träume kalt und unwirtlich. Mörderisch schwarze, hinterrücks erleuchtete 95
Wolken jagten über Himmel, die ich nicht kannte, und flackerten in zuckenden Blitzen. Dunkle Bäume und noch dunklere hohe Mauern ragten an den Rändern der Traumwelt empor. Ich spürte den Enstinkt, den Hunger aus der Truhe, an irgendeinem blinden Fleck lauern, den zu finden meine Augen sich weigerten. Aasvögel, eine ganze Schar davon, stieß aus den obersten Regionen des Himmels herab und nahm alle Farbe mit, so dass die Traumwelt grau wurde. Vollkommen grau bis auf einen roten Fleck, der in der farblosen Erde vor mir funkelte. Bei jedem Schritt, den ich in seine Richtung machte, wich er zurück. Ich lief los. Er folgte weiterhin der Traumlogik und wich zurück. Schließlich hielt ich nach Luft schnappend an. Der rote Fleck war verschwunden. Ich spürte den Hunger wieder, aber jetzt war er in mir, krallte sich in meinen Bauch und erfüllte meinen Schlund mit Begierde. Die wallenden Wolken am Himmel erstarrten plötzlich zur Bewegungslosigkeit, sogar die Blitze verharrten in gezackten, grell leuchtenden Linien. Eine Stimme sprach meinen Namen. Ich glaubte, es sei Vibben, doch als ich mich umdrehte, war da nichts bis auf die Andeutung der Anwesenheit von etwas, die jetzt wie Rauch verwehte. Ich erwachte. Der Uhr nach hatte ich nur ein paar Stunden geschlafen. Meine Kehle war wund und mein Mund trocken. Ich trank zwei Gläser Wasser und fiel dann wieder ins Bett. Mein Kopf schmerzte, aber mein Geist hörte nicht auf, ruhelos umherzuirren. Danach schlief ich überhaupt nicht mehr. Vier Stunden später summte das Kom. Es war Betancore. »Die Essene hat soeben die Umlaufbahn erreicht«, sagte er. »Wir können aufbrechen, wann immer Sie wollen.«
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Die Essene lag schräg über der umgestülpten Schale von Hubris, und ihre Silhouette zeichnete sich vor den Sternen ab. Wir hatten die strahlende Helligkeit der Sonnenkuppel verlassen und waren direkt in einen Schneesturm geflogen. Der Rumpf des Kanonenboots hatte heftig vibriert, als Betancore uns aus den Klauen seiner heftigen eisigen Winde flog, bis wir ihn hinter uns hatten und über einem Ozean aus eisigem Dampf trieben. Der Schneesturm war wie ein weißer Kontinent unter uns, dann fiel er unter uns weg, bis wir seine Gezeiten und Böen und Strömungen und die ausgedehnten zentrifugalen Muster seiner titanischen Gewalten sehen konnten. »Da«, hatte Betancore mit einem Kopfnicken zu den Bullaugen im Bug gesagt. Auf neunzig Kilometer, immer noch im Aufstieg durch die dünner werdende Atmosphäre begriffen, hatte er Sichtkontakt hergestellt. Ich hatte noch ein paar Augenblicke länger gebraucht, um das Schiff zu finden. Ein dunkler Fleck, der den perlmuttartig leuchtenden Rand der Planetenscheibe unterbrach. Nach einer weiteren Minute war daraus ein dreidimensionales, solides Objekt geworden. Wieder eine Minute später konnte ich die auf der Oberfläche funkelnden Positionslichter erkennen. Und dann füllte das Schiff unsere Bullaugen aus. Es ähnelte einem kolossalen Turm, den man aus seinem irdischen Fundament gerissen und in die Leere gepflanzt hatte. »Eine Schönheit«, murmelte Betancore, der solche Dinge zu schätzen wusste. Seine Intarsienhände huschten über die Fluginstrumente, und wir näherten uns den korrekten Annäherungsvektoren. Das Kanonenboot und der gewaltige Frachter wechselten automatisch Telemetriedaten. 97
Datenkolonnen rauschten nur so über die Bildtafeln des Flugdecks. »Ein Frachtklipper nach dem klassischen Isolde-Vorbild, von den Depotwerften auf Ur-Haven oder Tancred. Majestätisch ...«, murmelte Aemos vor sich hin, während er seine müßigen Beobachtungen wieder auf seiner Handgelenkstafel notierte. Die Essene war meiner Schätzung nach drei Kilometer lang und an ihrer breitesten Stelle volle siebenhundert Meter tief. Die Nase war ein langer schlanker Kegel wie die Spitze einer Kathedrale und bestand aus überlappenden gotischen Rundungen, die in Stacheln und Kreuzblumen aus Bronze ausliefen. Hinter der beblätterten Front verdickte sich der eckige Rumpf zu stämmigen Streben aus rostroten Panzerplatten, die mit Rippen aus dunklem Stahl vernietet waren. Krenelierte Türme wölbten sich aus dem Rückenhöcker. Hundertmetermasten stachen aus dem Rumpf wie Hauer, und aus den Flanken und der Unterseite sprossen andere, kürzere Mastengebilde, auf denen Leitlampen blinkten. Der rückwärtige Teil des Giganten teilte sich in vier hitzegeschwärzte Kegel, von denen jeder groß genug war, um ein Dutzend Kanonenboote auf einmal zu verschlingen. Betancore schwenkte herein und flog dann an der Schiffsflanke entlang Richtung Heck. Für uns sah es so aus, als rolle der große Frachter herum und richte sich horizontal aus. Ein leuchtender Punkt löste sich von der Essene und setzte sich vor uns, während ultrahelle rote und grüne Lampen Signale blinkten: eine Lotsendrohne, um uns einzuweisen. Betancore folgte der Drohne und schwang nach backbord, wie ihre Lichter anordneten. Wir glitten säuberlich zwischen zwei Masten durch, überquerten den geriffelten Bauch und glichen dann unsere Fahrt dem Frachter an, 98
bis wir in relativer Bewegungslosigkeit unter einer rechteckigen Luke im Bauch schwebten, die von schwarzgelben Dreieckssymbolen eingerahmt war. Die Luke war eine aus einer Reihe von sechsen im Rumpfbauch, aber diese war als einzige geöffnet. Ein feuriger oranger Schein fiel auf uns. Betancore wechselte ein paar knappe Bemerkungen mit Uclid im Maschinenraum, dann ließ er das Boot sachte und behutsam durch die gähnende Schleuse steigen. Ich beobachtete die Ränder der Schleuse - zwei Meter dick und stellenweise so zerkratzt, dass das nackte Metall durchschien -, die alarmierend nah an uns vorbeiglitten. Es folgte eine Reihe sanfter Rucke, begleitet von mechanischen Schlägen gegen die Außenhülle des Bootes. Die Kanzel wurde in bernsteinfarbenes Licht getaucht. Ich blickte auf und in den Schein hinaus, sah aber wenig, nur die Andeutung dunkler Gerüste und Hebekräne. Noch ein Ruck. Betancore legte eine Reihe von Schaltern um, und ein Heulen war zu vernehmen, als Energiezufuhren und Autosysteme heruntergefahren wurden. Er rückte vom Steuerdeck ab und zog seine Handschuhe aus. Er grinste mich an. »Sie brauchen nicht so besorgt dreinzuschauen«, spottete er. In Wahrheit beunruhigen mich Dinge sehr, über die ich keine Kontrolle habe. Zwar verfüge ich über rudimentäre Pilotenfähigkeiten und komme mit einer atmosphärischen Flugmaschine zurecht, aber ich bin kein Pilot und ganz gewiss keiner mit Midas' glavianischen Qualitäten. Deshalb habe ich ihn angestellt, und deshalb sieht es bei ihm so leicht aus. Aber manchmal verrät meine Miene die Bestürzung, die ich empfinde, wenn etwas meine Fähigkeiten übersteigt. Außerdem war ich müde.
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Aber ich wusste, ich würde nicht schlafen können, selbst wenn ich es versuchte, und außerdem musste ich mich ohnehin um einige Dinge kümmern. Aemos, Bequin und Lowink würden einstweilen auf dem Boot bleiben. Kaum war die Rumpfschleuse geschlossen und wieder Luft in den Laderaum der Essene gepumpt worden, öffnete ich die Hauptschleuse des Kanonenboots und verließ ihn mit Fischig und Betancore. Der Laderaum war an unserer Anlegestelle kuppelförmig und riesig. Ich hielt mir vor Augen, dass es nur einer von sechsen in diesem Schiff war. Wände und Deck hatten eine ölige schwarze Oberfläche, und an der Decke angebrachte Reihen von Natriumlampen erfüllten den Laderaum mit einem orange getönten Licht. Wir waren von den skelettartigen Gestalten der Kräne und Staplern umgeben, sämtlich abgeschaltet und leblos. Verpackungsmaterial lag überall auf dem Boden. Der Kutter schwebte über der versiegelten Bodenschleuse im geölten Wiegegriff von Andockkolben und hydraulischen Klammern. Wir durchquerten den Laderaum mit auf dem Metalldeck hallenden Schritten. Es war eisig, da sich noch Spuren der Weltraumkälte hielten. Betancore trug seinen üblichen glavianischen Pilotenanzug und die grelle Jacke. Er war guter Dinge und pfiff tonlos vor sich hin. Fischig war ungerührt und strahlte in seiner braunen Arbites-Uniform Befehlsgewalt aus. Er hatte sein Amtszeichen, die goldene Sonnenscheibe, auf der Brust seiner Jacke befestigt. Ich trug einen nüchternen dunklen Anzug aus grauer Wolle, schwarze Stiefel und Handschuhe und einen langen marineblauen Ledermantel mit hohem Kragen. Ich hatte mir eine Karabinerpistole aus dem Waffenspind geholt, die ich in einem Halfter unter der linken Achsel trug. Meine Inquisitions-Rosette befand sich in einer 100
zugeknöpften Tasche. Anders als Fischig hatte ich nicht das Bedürfnis, Autorität zur Schau zu stellen. Eine Luke öffnete sich unterstützt von Servos, und aus einem Niedergang fiel Licht. Eine Gestalt trat in den Laderaum, um uns zu begrüßen. »Willkommen auf der Essene, Inquisitor«, sagte Tobius Maxilla.
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SIEBEN Beim Kapitän der Essene. Ein Abschied. Überprüfung.
axilla war ein erfahrener Händler, der mit der Essene M schon seit fünfzig Jahren auf den Schifffahrtslinien zwischen Thracian Primaris und den Großen Ufern verkehrte. Er erzählte mir, dass er seine Laufbahn mit Massenkonsumgütern begonnen und sich dann auf exotische Waren spezialisiert habe, als die großen Gilden begonnen hätten, den Großhandelsmarkt zu beherrschen. »Die Essene ist flink, ein schneller Frachter. Es bringt mehr ein, wenn ich Luxusgüter als Expressware transportiere, auch wenn die Laderäume nicht ausgelastet sind.« »Befahren Sie diese Route regelmäßig?« »In den letzten Jahrzehnten. Es hat mit den Jahreszeiten zu tun. Sameter, Hesperus, Thracian, Hubris, Gudrun und manchmal auch Messina. Wenn der Schlummer auf Hubris endet, gibt es hier sehr viel mehr zu tun.« Wir saßen in seiner luxuriösen Audienzsuite und tranken erlesenen Amasec aus großen Kristallschwenkern. Maxilla protzte, aber das war akzeptabel. Er hatte ein Schiff und einen Ruf und war auf beide stolz. »Also kennen Sie diese Routen gut?«, warf Fischig ein. 102
Maxilla lächelte. Er war ein sehniger Mann unbestimmten Alters und trug einen langen roten Samtrock mit weiten Manschetten und dazu eine extravagante schwarze Spitzenkrawatte. Sein Lächeln zeigte Zähne mit Perlmutteinlagen. Gepränge war unter Schiffskapitänen allgemein verbreitet, das gehörte mit zum Angeben. Vergessen Sie Familienstammbäume und blaues Blut, hatte mir einer mal erzählt, der neue Adel des Imperiums findet sich in den Stammbäumen der Raumschiffe. Schiffskapitäne waren die eigentliche Aristokratie des Imperiums. Jedenfalls schien Maxilla das zu glauben. Sein Gesicht war weiß gepudert, und er trug einen Saphir als Schönheitsfleck auf der Wange. Seine imposante zwiegehörnte Perücke war aus Silberfäden gesponnen. Schwere Siegelringe klirrten am Glas seines Schwenkers, als er ihn hob. »Ja, Züchtiger, ich kenne sie gut.« »Ich glaube nicht, dass wir schon damit anfangen müssen, Kapitän Maxilla zu verhören, Fischig«, sagte ich offen. Betancore schnaubte, und Maxilla gluckste. Fischig starrte finster in seinen Amasec. Ein Servitor, dessen Rumpf- und Kopfgehäuse so gestaltet war, dass sie der Galionsfigur eines antiken Schiffs ähnelten, einer vollbusigen Dame mit vergoldeten Schlangen im Haar, summte über den teuren Selgioniteppich und bot uns Tabletts mit Delikatessen an. Aus Höflichkeit nahm ich eine. Es war eine Scheibe perfekten Ketelfisches, genau richtig sautiert und in ein beinahe durchsichtiges Teigblatt gewickelt. Betancore griff mehrfach zu. »Sie sind ein Glavianer?«, fragte Maxilla Betancore. Prompt gingen die beiden dazu über, die Vorzüge des berühmten glavianischen Langbugs zu erörtern. Ich verlor das Interesse und sah mich in der Suite um. Zwischen dem ganzen Zierrat fanden sich auch eine Reihe 103
unschätzbar wertvoller Porträts aus der Sameterschule, Marmorbüsten planetarer Herrscher, eine Lichtskulptur von Jokaero, antike Waffen und ausgestellte feierliche Spiegelrüstungen von Vitria. Aemos würde sich hier wohlfühlen, überlegte ich. Die Reise dauerte über eine Woche, und ich würde dafür sorgen, dass er Gelegenheit bekam, sich alles anzusehen. »Kennen Sie Gudrun?«, fragte Maxilla mich. Ich schüttelte den Kopf. »Das wird mein erster Besuch. Ich bin erst seit etwa einem Jahr in diesem Subsektor.« »Ein netter Planet, obwohl es dort ziemlich lebhaft zugeht. Dort ist gerade ein einmonatiges Fest zur Feier der Gründung eines neuen Garde-Regiments im Gange. Wenn Sie die Zeit finden, empfehle ich einen Besuch der Imperiumsakademie der Schönen Künste und der Gildenmuseen in Dorsay.« »Es könnte sein, dass ich ziemlich beschäftigt bin.« Er zuckte die Achseln. »Ich nehme mir immer die Zeit für Dinge neben der Arbeit, Inquisitor. Aber ich weiß, dass Ihr Beruf ein wenig anstrengender ist als meiner.« Ich versuchte ihn einzuschätzen, war aber bisher noch nicht weit damit gekommen. Er hatte sich bereit erklärt, uns mitzunehmen, und zwar für eine bescheidene Gebühr in Anbetracht dessen, was er hätte verlangen können. Ich hatte ihn bereits mit einem Imperiumswechsel bezahlt. Die meisten Schiffskapitäne nahmen nicht gern Inquisitoren an Bord und ließen sich den Dienst in der Regel teuer bezahlen. Wollte Maxilla sich mit dem Ordos gutstellen? War er einfach nur ein großzügiger Mann? Oder hatte er etwas zu verbergen? Das fragte ich mich. In Wahrheit war es mir egal. Die andere Möglichkeit war, dass er vielleicht davon ausging, dies berechtige ihn zum Einfordern eines zukünftigen Gefallens. Wenn dem so war, irrte er sich. 104
Die Essene verließ Hubris später am Tag, vollzog den Wechsel ins Immaterium mühelos und flog mit hoher Geschwindigkeit Richtung Gudrun. Maxilla stellte uns allen Luxuskabinen auf seinem Schiff zur Verfügung, aber wir verbrachten die meiste Zeit auf dem Kanonenboot und arbeiteten. Betancore und die Servitoren überholten das Schiff. Lowink schlief. Fischig, Aemos und ich arbeiteten uns durch den Papierkram hinsichtlich des Beweismaterials und erörterten eine Theorie nach der anderen. Ich enthielt Fischig das Wenige, was ich über den Pontius wusste, immer noch vor, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis er die Verbindung selbst herstellte. Bequin blieb für sich. Sie hatte sich eine Garnitur Drillich aus einem Arbeitsspind geborgt, und ab und zu sah ich sie im Schiff, wo sie Bücher las, die sie sich aus meiner persönlichen Bibliothek lieh. In erster Linie Poesie und einige historische und philosophische Werke. Mir machte es nichts aus. Es sorgte dafür, dass wir nicht viel miteinander zu tun hatten. Am dritten Tag der Fahrt traf ich Maxilla wieder, und wir spazierten gemeinsam über das obere Promenadendeck. Es schien ihm Spaß zu machen, mir von Herkunft und Geschichte der ormulugerahmten Gemälde zu erzählen, die dort ausgestellt waren. Wir sahen den einen oder anderen Servitor bei der Arbeit, aber bisher hatte ich noch kein einziges lebendes Besatzungsmitglied zu Gesicht bekommen. »Ihr Freund, Fischig ... das ist ein wenig subtiler Mann«, sagte er schließlich. »Er ist kein Freund. Und, ja, er ist wenig subtil. Hat er Ihnen wieder Fragen gestellt?« »Gestern habe ich ihn kurz auf dem Vordeck gesehen. Er hat mich gefragt, ob ich einen Mann namens Eyclone kenne. Er hat mir sogar ein Bild gezeigt.« 105
»Und was haben Sie geantwortet?« Er zeigte mir seine Perlmuttzähne. »Wer führt jetzt das Verhör?« »Verzeihen Sie meine Ungeduld.« Die Spitzenmanschette seines Ärmels wehte, als er schwungvoll abwinkte. »Ach, vergessen Sie's! Fragen Sie einfach! Stellen Sie Ihre Fragen in den Raum, damit wir die Atmosphäre reinigen können!« »Nun gut. Was haben Sie zu ihm gesagt?« »Dass ich ihn nicht kenne.« Ich nickte. »Danke für Ihre Aufrichtigkeit.« »Aber ich habe gelogen.« Ich drehte mich um und sah Maxilla scharf an. Er lächelte immer noch. Ich hatte plötzlich die entsetzliche Vorstellung, dass wir alle in eine Falle gelaufen waren, und ich sehnte mich sehr danach, eine Waffe zu tragen. »Keine Sorge. Ich habe ihn belogen, weil er ein arroganter Zwerg ist. Aber Ihnen erzähle ich die Wahrheit. Ich würde mich niemals der imperialen Inquisition in den Weg stellen wollen.« »Eine weise Philosophie.« Maxilla ließ sich auf einem Satinsofa nieder und glättete die Vorderseite seiner Jacke. »Ich war zuletzt vor zwei Monaten auf Thracian Primaris. Es gab Gerede über eine Fracht, und ich hatte ein paar Besprechungen. Das Übliche. Und an dieser Stelle kommt dieser Eyclone ins Spiel. So hat er sich natürlich nicht genannt. Ich habe den Namen vergessen, den er benutzt hat. Aber er war es. Hatte noch ein paar andere bei sich, einen mürrischen Haufen. Einer hieß Crotes und war Handelsemissär. Er versuchte mir weiszumachen, Ihr Mann handele im Auftrag der Sinesias-Gilde, aber das war Unsinn, obwohl Crotes die Papiere hatte.« »Was wollte er?« 106
»Er wollte eine Leerfahrt nach Gudrun machen, dort eine Fracht abholen und sie nach Hubris bringen.« »Die Art der Fracht?« »So weit sind wir nicht gekommen. Ich habe abgelehnt. Es war lächerlich. Er bot eine anständige Bezahlung, aber ich wusste, dass ich mit meiner regulären Arbeit das Zehnfache verdienen konnte.« »Er hat Ihnen auch keinen Kontaktnamen auf Gudrun genannt?« »Mein lieber Inquisitor, ich führe nur ein Schiff und bin kein Detektiv.« »Wissen Sie, wer den Auftrag schließlich übernommen hat?« »Ich weiß, wer ihn nicht angenommen hat.« Er beugte sich vor. »Ich halte zufällig den Dialog mit anderen Schiffskapitänen aufrecht. Anscheinend haben ihn mehrere von uns abgewiesen, und die meisten aus demselben Grund.« »Und der wäre?« »Er sah nach Ärger aus.« Am fünften Tag hatten sich meine Schlafgewohnheiten wieder normalisiert. Tatsächlich zu sehr normalisiert, da Eyclone wieder durch meine Träume schlich. Im Schlaf kam er zu mir, höhnisch und drohend. Ich erinnere mich an keine Einzelheiten, nur an das Nachbild seines grinsenden Gesichts, jedes Mal, wenn ich erwachte. Im Rückblick war Eyclone zwar ganz gewiss in meinen Träumen, aber ich glaube nicht, dass es sein grinsendes Gesicht war, an das ich mich erinnerte. Die Essene kehrte wieder in den Realraum zurück und flog am Morgen des achten Tages früher als geplant ins GudrunSystem ein. Maxilla hatte damit geprahlt, sein Schiff sei unter optimalen Bedingungen sehr schnell, und er hatte nicht übertrieben. Ich hatte mit ihm vereinbart, dass er das Immaterium in den 107
Außenbezirken des Systems verließ, abseits der beanspruchten Handelsrouten, denen die meisten Ankömmlinge im System folgten. Er hatte vorbehaltlos zugestimmt. Die Verzögerung war nur kurz. »Wer war sie?«, fragte Bequin mich, als wir auf dem Aussichtsdeck standen und Vibbens fahlem, in Tücher gehülltem Leichnam hinterherstarrten, während er sich langsam überschlagend von der Essene entfernte. »Ein Freund. Ein Kamerad«, erwiderte ich. »Wollte sie so gehen?«, fragte sie. »Ich glaube nicht, dass sie überhaupt gehen wollte«, sagte ich. Aemos und Betancore standen in der Nähe und schauten ernst durch das dicke Bullauge. Aemos' Miene war unergründlich. Betancores dunkles Gesicht war hager und trug einen Ausdruck der Qual. Lowink war ebenso wenig bei uns wie Fischig. Doch als ich mich umdrehte, sah ich Maxilla respektvoll hinten auf dem Aussichtsdeck stehen. Er trug einen langen Trauerrock aus schwarzer Seide und eine kurze Perücke mit schwarzen Bändern. Er trat vor, als er mich schauen sah. »Ich hoffe, ich störe nicht. Meine Empfehlungen an Ihren gefallenen Gefährten.« Ich nickte dankend. Er hätte sich nicht zu bemühen brauchen, aber es schien angemessen zu sein, dass ein Schiffskapitän bei einer Raumbestattung anwesend war. »ich weiß nicht genau, wie diese Dinge offiziell geregelt werden, Maxilla«, sagte ich, »aber ich glaube, sie hätte darum gebeten. Ich habe das Imperiale Credo gesprochen und die Grabrede gehalten.« »Dann haben Sie es genau richtig gemacht. Wenn es angemessen ist ...?« Er winkte einen seiner vergoldeten Galionsfigur-Servitoren vorwärts, der ein Serviertablett mit Gläsern und einen Dekanter brachte. 108
»Es ist Tradition, einen Trinkspruch auf die Verschiedenen auszubringen. « Wir nahmen alle ein Glas. »Lores Vibben«, sagte ich. Etwa eine Minute Schweigen folgte, dann gingen wir langsam auseinander. Ich sagte Maxilla, wir könnten jetzt mit dem Anflug auf Gudrun beginnen, und er schätzte, es werde zwei Stunden dauern, das innere System zu erreichen. Bei meiner Rückkehr ins Kanonenboot stellte ich fest, dass ich neben Bequin ging. Sie trug immer noch das alte Arbeitszeug, das sie requiriert hatte, obwohl es ihre Schönheit noch zu betonen anstatt zu schmälern schien. »Wir sind fast da«, sagte sie. »In der Tat.« »Welche Aufgaben werde ich haben?« Ich musste ihr noch erklären, was sie war und warum ich sie angeworben hatte. Unterwegs war mehr als genug Zeit gewesen, aber ich hatte es wohl vor mir hergeschoben. Ich hatte die Zeit gefunden, Aemos den Zierrat in Maxillas Prunkgemächern zu zeigen und Königsmord mit Betancore zu spielen. Ich wünschte, ich hätte meine Abneigung dagegen, auch nur in ihrer Nähe zu sein, einfach ablegen können. Ich ging mit ihr aufs Promenadendeck und fing an zu erklären. Ich weiß nicht, welche Reaktion ich von ihr erwartet hatte. Als sie es schlecht aufnahm und sich aufregte, zeigte ich kaum beherrschte Verärgerung. Ich wusste, dass es ihre Natur war, die mich so reagieren ließ, und kämpfte darum, das Mitgefühl aufzubringen, das sie verdiente. Sie saß weinend auf einem Stuhl, der mit changierender Seide bezogen war, unter einem der riesigen Gemälde. Eine Jagdszene von Adeligen, die auf vollblütigen Ursadons ritten. Ab und zu äußerte sie einen Fluch oder ein geschluchztes 109
Wort der Klage. Es war klar, dass sie sich nicht darüber aufregte, dass ich sie anwerben wollte. Es war lediglich das fundamentale Wissen, dass sie ... abnormal war. Ein freundloses, ungeliebtes Leben des Leids und der harten Schläge hatte plötzlich eine Erklärung gefunden, und diese Erklärung war ihr eigenes Wesen. Ich glaube, sie hatte immer auf eine stoische Art der Galaxis insgesamt die Schuld an ihren Problemen gegeben. Jetzt hatte ich ihr diese emotionale Krücke praktisch weggetreten. Ich verfluchte mich dafür, die Konsequenzen nicht richtig durchdacht zu haben. Ich hatte sie ihrer Selbstachtung beraubt und des wenigen Selbstvertrauens, das sie noch besaß. Ich hatte ihr lebenslanges Bemühen, Trost, Liebe und Anerkennung zu finden, als hohle, selbstzerstörerische, selbstverleugnende Vergeblichkeit entlarvt. Ich versuchte über die Arbeit zu reden, die sie für mich verrichten konnte. Sie war nicht sonderlich interessiert. Am Ende zog ich mir einen Stuhl heran und setzte mich neben sie, während sie die schmerzliche Wahrheit zu verarbeiten suchte. Dort saß ich, als ich ein Kom-Signal empfing. Es war Maxilla. »Ich frage mich, ob Sie wohl zu mir auf die Brücke kommen könnten, Inquisitor? Ich benötige Ihre Hilfe.« Die Brücke der Essene war eine geräumige Kuppelkammer mit einem Boden und Säulen aus schwarzrotem Marmor. Silberne Servitoren, makellos und verschnörkelt wie Skulpturen, standen vor in den Boden eingelassenen Konsolen, und ihre zierlichen verzahnten Arme bearbeiteten ganze Reihen von Armaturen, die in Instrumentenbrettern aus poliertem Mahagoni eingelassen waren. Die Luft war kühl und unbewegt, und das einzige Geräusch war das leise Summen und Surren der arbeitenden Maschinen. 110
Maxilla, der immer noch seine Trauergewänder trug, saß auf einem riesigen Lederthron und überschaute den ganzen Raum von einem Marmorpodest. Segmentierte Glieder, die aus der Rückenlehne des Throns ragten, hielten ihm Bildtafeln und Konsolen in bequemer Reichweite, aber seine Aufmerksamkeit war auf den massiven Hauptbeobachtungsschirm gerichtet, der den vorderen Teil der Brücke beherrschte. Ich schritt vom Eingang zu ihm. Jeder Servitor trug eine Maske aus punziertem Gold, die ein menschliches Gesicht von klassischer Perfektion zeigte. »Inquisitor«, sagte Maxilla, indem er sich erhob. »Ihre Mannschaft besteht gänzlich aus Servitoren«, stellte ich fest. »Ja«, sagte er geistesabwesend. »Sie sind zuverlässiger als das reine Fleisch.« Ich enthielt mich einer weiteren Bemerkung. Maxillas Beziehung zur Essene erinnerte mich an die Art, wie die Adeptus Mechanicus ihre Gott-Maschinen verehren. Der ständige Umgang mit diesen uralten Instrumenten hat sie von der natürlichen Unterlegenheit der menschlichen Spezies überzeugt. Ich folgte seinem Blick und betrachtete den Schirm. Gudruns leuchtende Kugel lag vor uns, ein cremiger Wirbel aus Wolken, die mit den limettengrünen Phantomflecken der großen Wälder unter der klimatischen Decke durchsetzt waren. Scharen schwarzer Schiffe sprenkelten das All zwischen uns und dem Planeten. Es handelte sich um große Gruppen von Schiffen in der Umlaufbahn, ging mir auf. Schlachtschiffe vor Anker, ganze Züge großer Frachter, Geleitzüge von Handelsschiffen, die unter Aufsicht von Schleppern hereinströmten. Ich hatte selten eine derartige Fülle orbitaler Aktivitäten erlebt. »Gibt es ein Problem?«, fragte ich ihn. Er sah mich mit so etwas wie Beklommenheit an. 111
»Ich habe alle nötigen Maßnahmen ergriffen und mich über eine Handelsroute genähert. Der Kontrollturm von Gudrun hat mir eine Ankerboje in der Umlaufbahn zugewiesen. Alle relevanten Daten sind in Ordnung, meine Zölle und Gebühren bezahlt. Aber man hat mich gerad davon in Kenntnis gesetzt, dass ein Inspektionstrupp an Bord kommt.« »Ist das ungewöhnlich?« »Es ist zehn Jahre her, dass jemand in Bezug auf mein Schiff auch nur so etwas angedeutet hat.« »Erklärung?« »Sie sagen: Sicherheit. Ich sagte Ihnen, dass ein Gründungsfest im Gange ist. Sie können erhebliche Teile der Schlachtflotte Scarus auf Station sehen. Ich glaube, das Militär ist jetzt gerade hier übervorsichtig.« »Sie haben meine Hilfe erwähnt.« »Der Inspektionstrupp ist unterwegs. Ich dachte, es könnte hilfreich sein, wenn sie von einem Kapitän und einem imperialen Inquisitor in Empfang genommen werden.« »Ich kann keine Strippen ziehen, Maxilla.« Er lachte humorlos und schaute mich direkt an. »Natürlich können Sie! Aber darum geht es gar nicht. Wenn ein Inquisitor anwesend ist, werden sie die Essene mit mehr Respekt behandeln. Ich will nicht, dass sie gedankenlos das Schiff durchwühlen.« Ich überlegte kurz. Das roch nach dem Gefallen, von dem ich glaubte, er könnte ihn irgendwann einholen wollen. Schlimmer noch - es roch nach einer Ungebührlichkeit seinerseits. »Ich bin damit einverstanden, um der Ordnung willen anwesend zu sein, vorausgesetzt, Sie können mir versichern, dass Sie nichts zu verbergen haben.« »Inquisitor Eisenhorn, ich ...« »Sparen Sie sich Ihre Empörung für die Inspektion, Maxilla. Ihre Zusicherung ist alles, was ich brauche. Wenn ich Ihnen helfe und dabei feststelle, dass Sie schmutzige Geheimnisse 112
oder illegale Fracht an Bord haben, müssen Sie sich um sehr viel mehr Gedanken machen als um die Imperiumsflotte.« Ein Ausdruck großer Enttäuschung lag auf seinem Gesicht. Entweder war er ein hervorragender Schauspieler, oder ich hatte wirklich seine Gefühle verletzt. »Ich habe nichts zu verbergen«, zischte er. »Ich habe Sie geschätzt, und wir sind auf dieser Fahrt ... zwar nicht Freunde geworden, aber doch gute Bekannte. Ich habe Ihnen Gastfreundschaft erwiesen und freiwillig Informationen gegeben. Es kränkt mich, dass Sie mich trotzdem verdächtigen.« »Verdächtigungen sind mein Beruf, Maxilla. Wenn ich Ihnen unrecht getan habe, bitte ich um Entschuldigung.« »Nichts zu verbergen!«, wiederholte er wohl für sich und führte mich von der Brücke. Eine Pinasse der Flotte, matt grau und mit tiefem Rumpf, kam längsseits der gewaltigen Essene und klammerte sich an die vordere Steuerbord-Luftschleuse. Maxilla und ich waren mit Fischig und zwei der primären Servitoren - spektakulären Kreationen aus goldenen und silbernen Maschinenteilen - des Schiffs dort, um sie in Empfang zu nehmen. Ich hatte Fischig auf der Grundlage der Überlegung hinzugeholt, wenn der Anblick eines Inquisitors half, könnte der eines Arbites-Züchtigers auch nicht schaden. Betancore wurde angewiesen, dafür zu sorgen, dass alle anderen auf dem Kanonenboot blieben. Die Schlösser öffneten sich, und die Schleuse schwang unter Entwicklung von Dampfströmen auf. Ein Dutzend große Gestalten traten durch den Dunst. Sie trugen alle die schwarzgraue Rüstung der Flottensicherheit mit Wappen und Sektorsymbol der Schlachtflotte Scarus auf der Brust und goldenen Litzen an den Epauletten. Alle trugen gegossene Keramithelme mit heruntergelassenem Visier samt Atemmaske. 113
Sie waren mit kompakten, kurzen Autogewehren bewaffnet. Der Anführer trat vor, und seine Männer gruppierten sich hinter ihm. Sie bildeten keine ordentliche Formation. Lasch, dachte ich, da ihnen die übliche zackige Disziplin der berüchtigten Abteilung der Flottensicherheit fehlte. Diese Männer waren gelangweilt und taten Dienst nach Vorschrift. Sie wollten diese Formalität auch möglichst rasch hinter sich bringen. »Tobius Maxilla«, blaffte der Anführer, dessen Stimme durch die Maske verzerrt und Kom-verstärkt war. »Ich bin Maxilla«, sagte der Schiffskapitän und trat vor. »Man hat Sie davon in Kenntnis gesetzt, dass eine Inspektion Ihres Schiffes ansteht. Händigen Sie mir die Besatzungslisten und das Ladungsverzeichnis aus. Man erwartet Ihre volle Kooperation.« Maxilla nickte, und einer der Servitoren bewegte sich auf lautlosen Ketten vorwärts und reichte dem Anführer der Sicherheitsabteilung eine Datentafel mit dem relevanten Material. Er beachtete sie nicht. »Wünschen Sie von sich aus eine Aussage zu machen, bevor die Inspektion beginnt? Es wird leichter für Sie, wenn Sie Kontrabande selbst ausweisen.« Ich beobachtete den Wortwechsel. Es waren zwölf Mann, kaum ausreichend, um ein Schiff von der Größe der Essene zu durchsuchen. Wo waren ihre Servitoren, ihre AbtasterEinheiten, ihre Brecheisen, Vielzweckschlüssel und WärmeDetektoren? Meinem Aussehen konnten sie nicht entnehmen, wer ich war, aber warum hatten sie sich nicht zur Anwesenheit eines Arbites geäußert? Meine Kom-Frequenz war auf die des Kanonenboots eingestellt. Ich sagte nichts, drückte aber drei Mal auf die Sendetaste. Betancore würde dieses nonverbale Glossia-Signal verstehen. »Sie haben sich noch nicht ausgewiesen«, sagte ich. 114
Der führende Sicherheitsmann wandte sich mir zu. Ich sah nur mein Spiegelbild in seinem getönten Visier. »Was?« »Sie haben sich nicht ausgewiesen oder Ihren Durchsuchungsbefehl vorgezeigt. Der ist für solche Inspektionen erforderlich.« »Wir gehören zur Flottensicherheit ...«, begann er wütend, während er einen Schritt in meine Richtung machte. Seine Männer blieben zurück. »Sie könnten irgendjemand sein.« Ich zückte meine Inquisitions-Rosette. »Ich bin Gregor Eisenhorn, Imperialer Inquisitor. Wir machen das hier korrekt oder gar nicht.« »Sie sind Eisenhorn?«, sagte er. In seiner Stimme lag keinerlei Überraschung. Eine Winzigkeit, aber auffällig genug für mich, um es zu bemerken. Die Warnung lag mir bereits auf der Zunge, als ihre Waffen hochkamen.
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ACHT Ein Dutzend Mörder. Der Prokurator. Getreidehändler von Hesperus.
axilla stieß einen Ruf der Ungläubigkeit aus. Der M Anführer der Sicherheitsabteilung und zwei seiner Männer eröffneten das Feuer. Ihre kompakten Autogewehre waren für Kämpfe an Bord von Schiffen und bei Schwerelosigkeit konzipiert: Waffen mit niedriger Mündungsgeschwindigkeit und geringem Rückstoß, die stumpfe Geschosse abfeuerten, welche einen Schiffsrumpf nicht durchschlagen konnten. Aber sie waren mehr als fähig, einen Menschen zu zerfetzen. Ich warf mich zur Seite, als die ersten Schüsse vom Deck abprallten oder hässliche Dellen im Metall der Wand hinterließen. Augenblicke später herrschte völliges Chaos. Alle Sicherheitsleute schossen, einige auf Halbautomatik. Rauch erfüllte die Luft, und die Schleusenkammer flackerte im Mündungsfeuer der Gewehre. Einer von Maxillas Servitoren wurde enthauptet und dann in Fetzen geschossen, als er sich zu den Angreifern umwandte. Der andere versuchte Maxilla abzuschirmen, aber weitere Treffer zerfetzten Ketten und Rumpf. Zwei Schüsse fegten durch meinen wehenden Mantel, aber ich schaffte es zum Türrahmen hinter uns. Ich riss meine Pistole aus dem Halfter. 116
Fischig hatte ebenfalls seine Waffe gezogen und feuerte, während er zur Tür zurückwich. Er fällte einen der Angreifer mit einer Salve, die den Mann in einem Blutnebel durch die Luft schleuderte. Dann wurde Fischig von einem Treffer in den Bauch von den Beinen geholt. Zusammengekrümmt fiel er in die Ecke der Kammer und blieb dort still liegen. Maxilla brüllte und hob die rechte Hand. Ein Strahl aus sengendem Licht zuckte aus einem der Siegelringe, und der nächste Angreifer explodierte, den Rumpf bis auf den versengten Knochen und die zerfetzte Rüstung verbrannt. Als die rauchende Ruine auf die Deckplatten krachte, erwischte der Mann dahinter Maxilla mit einer Salve, die ihn rückwärts durch die Glastüren einer Kammer mit Raumanzügen fegte. Der Rest griff meine Stellung an. Ich schoss und zerschmetterte dem ersten Soldaten das Visier. Er fiel aufs Gesicht. Meine auf Unauffälligkeit ausgelegte Waffe hatte ein Magazin mit vier Schuss, und ich hatte ein Reservemagazin in der Manteltasche. Sieben Schüsse blieben für neun Gegner. Die Pistole hatte aber zumindest reichlich Durchschlagskraft. Die Magazine enthielten nur vier Patronen, weil es großkalibrige, feste Munition von der Größe meines Daumens war. Der kurze dicke Lauf meiner Waffe bellte erneut, und der nächste Angreifer kippte seitlich weg. Ich wich dicht an die Wand geschmiegt durch den Gang zurück. Der Zugang zur Luftschleuse war ein breiter, von Kabeln gesäumter Korridor, achteckig an Kreuzungen und nur von Deckenlampen beleuchtet. Die langsamen summenden Geschosse der Angreifer zischten mir hinterher. Ich erwiderte das Feuer, verfehlte mein Ziel jedoch. Eine Salve zerstörte ein Energierelais in der Wand neben mir in einem Funkenschauer. 117
Ich tauchte in den Schatten weg und spürte den Handgriff einer Klappe im Rücken. Ich drehte mich um, zog sie heraus und warf mich hindurch, während die Korridorwand von einem Geschosshagel getroffen wurde. Auf der anderen Seite der Klappe fand ich einen schmalen Wartungstunnel für die Hauptandockmechanismen der Luftschleuse. Der Boden war ein Metallgitter, und die engen Wände waren von einem Netz aus Kabeln und dickeren Hydraulikschläuchen bedeckt. An seinem Ende führte eine nackte Metallleiter durch eine Bodenluke oder nach oben in einen Wartungsschacht. Es blieb keine Zeit, sich nach oben oder unten zu wenden. Der erste Soldat schob sich durch die Klappe und hob seine Waffe. Ich feuerte durch den Tunnel und sprengte seinen Brustharnisch in Stücke, dann sprang ich vom Bodengitter in die Bodenluke. Fünf Meter tiefer prallte ich auf eine Gitterplattform. Hier unten brannte nur rotes Notlicht. Die Visiere der Soldaten verfügten über Lichtverstärker. Ich befand mich jetzt im Bauch der riesigen Andockklammer und kroch zwischen riesigen geschmierten Kolben und Hydraulikstößeln von der Größe ausgewachsener Blaufichten umher. Gase strömten aus, und Schmiermittel tropfte von baumelnden Kettengliedern herab. Das Wummern schwerer Kompressoren und Atmosphärenregulatoren ließ die Luft vibrieren. Ich ging in Deckung. Alle vier roten Lichter im Griff der Pistole brannten. Ich warf das Plastekmagazin aus und legte ein frisches ein. Vier grüne Lampen leuchteten anstelle der roten auf. Aus dem Leiterschacht drang Lärm. Von oben indirekt beleuchtet, kamen zwei klobige, dunkle Gestalten die Leiter herunter. Ihre Visiere hatten auch Wärmesensoren. Das war in dem 118
Augenblick klar, als beide anfingen, auf meine Stellung zu schießen. Ich vergrub mich hinter einem Kolben, bis eine Kugel von dem öligen Metall abprallte, meine rechte Schulter traf und mich vorwärts auf das Deck schleuderte. Mein Gesicht schlug auf das Gitter, und der Schnitt in meiner Wange öffnete sich wieder, da mehrere der Schmetterlingsklammern herausplatzten, die das Zusammenwachsen der Wundränder unterstützten. Weitere Schüsse prallten gegen die spärliche Metalldeckung. Ein anderer Querschläger traf meine Stiefelspitze, der nächste meinen Arm, so dass meine Hand gegen die Wand hinter mir schlug. Der Aufprall sprengte mir die Waffe aus der Hand. Sie fiel auf den Boden und landete genau außer Reichweite, wo mich die vier grünen Lichter verspotteten. Mittlerweile waren sie mindestens zu dritt und bewegten sich durch den engen Raum zwischen den Maschinen, während sie Feuerstöße auf mich abgaben. Ich kroch auf Händen und Knien weiter und hinter einen horizontalen Klammerkolben. Kugeln schlugen hinter und über mir gegen die Wand. Ich erwog, meine Willenskraft einzusetzen, aber ich hatte keine Möglichkeit, Blickkontakt herzustellen und einen komplizierteren geistigen Trick zu versuchen. Am hinteren Ende der massiven Klammer fand ich Deckung bei den Arretiersperren und riesigen kinetischen Dämpfern, die den Anprall eines anderen Schiffs gegen die Andockarme mildern. Von einer kleinen Armaturenzeile an der Wand zwischen den Dämpfern drang Licht. Über der Armaturenleiste war eine Hartplastekhaube angebracht wie bei einer öffentlichen Kom-Zelle, und ein Blick zeigte mir, dass es ein Testlauf-Terminal zur Wartung der Andockanlage war. Ich drückte versuchsweise auf mehrere Symbole, aber auf der 'deinen Bildtafel erschien die Meldung Terminal nicht aktiv. Automatische Sicherheitsmaßnahmen waren in Kraft, 119
weil ein Schiff - die Pinasse der Flottensicherheit - in der Andockklammer und mit der Luftschleuse auf dem Deck darüber verbunden war. Ich hörte Geräusche über den Hintergrundlärm. Der erste Soldat kletterte die Seite der Klammer herunter und folgte meinem Weg zu den Dämpfern. Ich zückte meine Inquisitions-Rosette. Sie ist ein Amtsabzeichen und außerdem noch sehr viel mehr. Ein Druck meines Daumens ließ den Mikro-MultifunktionsSchlüssel aus seiner Versenkung gleiten, und ich schob ihn in die Buchse des Terminals. Er stellte Kontakt her. Der Schirm wurde leer. Meine Rosette war bis zur Magenta-Stufe autorisiert. Ich betete, dass Maxilla sein Schiff nicht vollständig mit persönlichen Verschlüsselungen gesichert hatte. Der Schirm blinkte wieder. Ich tippte einen Lösebefehl ein. »Andock-Anlage in aktiver Benutzung«, erwiderte der Schirm in stumpfen grünen Buchstaben. Ich drückte auf »nicht beachten«. Mit einem tosenden Knirschen löste sich die Andockklammer. Dämpfer röhrten. Dampf entwich explosionsartig. Alarmsirenen fingen an zu jaulen. Ein gequälter Schrei ertönte, als der Soldat hinter mir von der zehn Tonnen schweren ausfahrenden Kolbenmanschette erfasst und von der Hüfte abwärts zerquetscht wurde. Vom Deck über uns drang explosionsartiges Krachen und das Kreischen berstenden Metalls, das ich wegen des mechanischen Getöses im Klammerraum kaum hören konnte. Als das Seufzen und Zischen der gewaltigen Kolben verhallte und die Absonderung der Gase nur noch in sporadischen Wolken erfolgte, glitt ich hinter den Dämpfern hervor. Die gesamte Architektur der Kammer hatte sich verändert, da die massive Andock-Maschinerie von aktiv auf inaktiv gewechselt hatte. 120
Zwei Soldaten waren zerquetscht worden, ein anderer lag tot unter einem Ventil, von einem Strahl ultraheißen Dampfes in seiner Rüstung gekocht. Ich hob das Autogewehr eines der Toten auf und ging zurück. Meiner Zählung nach waren immer noch vier der Angreifer unterwegs und aktiv. Ich ging durch den Wartungstunnel zurück und stieg in den Korridor. Warnlichter blinkten überall, und gedämpfte Alarmsirenen ertönten. Links von mir tauchte plötzlich eine Gestalt auf. Ich fuhr herum. Es war Betancore. Er schaute an mir vorbei und hatte einen seiner eleganten Nadler auf mich gerichtet. Er schoss zwei Mal. Ein schrilles Summen hallte in meinen Ohren - und ein Soldat am anderen Ende des Korridors taumelte aus einer Deckung. Ein weiterer Schuss, und der Mann ging zu Boden. »Ich bin sofort nach dem Signal gekommen«, sagte Betancore. »Wie viele haben Sie erwischt?« »Bis jetzt vier.« »Darm sind wir wahrscheinlich fertig. Aber bleiben Sie auf der Hut.« Ich lächelte im Stillen. Midas Betancore zu sagen, er solle auf der Hut bleiben, war so, als sage man einem Hund, er solle behaart bleiben. »Sie sehen ziemlich derangiert aus«, sagte er zu mir. »Was ist passiert?« Aus der neuerlich aufgeplatzten Wunde lief mir Blut ins Gesicht. Ich bewegte mich nach den oberflächlichen Treffern in Schulter und Arm ein wenig unbeholfen und war von dem Andockmeachnismus vollkommen mit Maschinenöl verschmiert. »Das war keine Inspektion. Sie haben mich gesucht.« »Flottensicherheit?« 121
»Das glaube ich nicht. Ihnen fehlte die Präzision, und sie kannten die normale Vorgehensweise nicht.« »Aber sie hatten die Ausrüstung und die Waffen -eine Pinasse der Flotte. Der Imperator verdamme sie!« »Genau das beunruhigt mich.« Wir gingen zur Luftschleuse zurück. Eine Notjalousie war heruntergefahren, um das Leck zu versiegeln, als mein improvisiertes Ablegemanöver die Pinasse von der Seite der Essene abgerissen hatte. Durch Bullaugen konnte ich ihren grauen Rumpf neben uns sehen. Mit einem ihrer Andockfühler war sie immer noch mit den Klammern verbunden, obwohl sie ziemlich verbogen waren. Ihre Luftschleuse war nach der Trennung explodiert, und zumindest das Passagierabteil war dem Vakuum ausgesetzt. Wenn die Mannschaft überlebt hätte, würde sie sich im Bug befinden, obwohl sie vermutlich hilflos war. Funkelnde Trümmer, Metallfetzen und abgetrennte Innenteile hingen draußen in der Leere. Ich sah nach Fischig. Er lebte. Seine Arbites-Uniform war stark gepanzert, aber die Treffer auf kurze Entfernung hatten ihm innere Verletzungen zugefügt. Er war bewusstlos, und aus seinem Mundwinkel sickerte Blut. Betancore fand Maxilla hinter den zerschmetterten Glastüren der Kammer mit den Raumanzügen. Er war über den Boden gekrochen und hatte sich gegen ein Gestell mit Harnischen gelehnt. Von der Brust abwärts waren seine Kleider zerfetzt, und seine Beine waren verschwunden. Aber von der Brust abwärts war er auch nicht menschlich. »Also werden Ihnen meine ... nackten Tatsachen doch noch offenbart, Inquisitor ...«, sagte er, wobei er ein Lächeln zuwege brachte. Ich konnte mir vorstellen, dass er starke Schmerzen hatte oder zumindest im Schockzustand war. Um den aufwändigen bionischen Unterkörper zu beherrschen, musste er über komplizierte neurale Verbindungen verfügen. 122
»Was kann ich tun, um Ihnen zu helfen, Tobius?« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe bereits Servitoren gerufen, um mir zu helfen. Ich werde schnell wieder auf den Beinen sein.« Es gab viele Fragen, die ich ihm stellen wollte. War seine Bionik das Ergebnis alter Verletzungen, Krankheiten, hohen Alters? Oder war sie, wie mein Gefühl mir sagte, freiwilliger Natur? Ich behielt die Fragen für mich. Sie waren privat und gehörten nicht zu meiner Untersuchung. »Ich brauche Zugang zu Ihrer astropathischen Verbindung. Ich muss Kontakt mit der Schlachtflottenführung aufnehmen und den Abschluss dieser Angelegenheit beschleunigen. Diese Männer waren keine Sicherheitsabordnung der Flotte.« »Ich weise die Brücke an, Ihnen den erforderlichen Zugang zu ermöglichen. Vielleicht möchten Sie die Inspektions anordnung aus meinem Kommunikationslogbuch kopieren.« Das würde helfen. Ich glaubte nicht, dass das Oberkommando der Schlachtflotte Scarus dies klaglos hinnehmen würde. Ich hatte zur Hälfte recht, aber eben nur zur Hälfte. Binnen einer halben Stunde stand ich von aufmerksamen Servitoren umgeben auf der Brücke der Essene und meldete der Schlachtflottenführung den Vorfall über vertrauliche astropathische Verbindung. Kurze Zeit später stand ich im Kom-Dialog mit Adjutanten des Stabsbüros von Admiral Lorpal Spatian, der darum bat, die Essene auf ihrer Ankerposition zu sichern und auf die Ankunft eines Sicherheitstrupps und eines Abgesandten des Schlachtflotten-Prokurators zu warten. Die Vorstellung, herumzusitzen und auf das Eintreffen von noch mehr Soldaten zu warten, war nicht besonders angenehm. 123
»Deserteure, Inquisitor«, sagte Prokurator Olm Madorthene zwei Stunden später zu mir. Er war ein schmächtiger Mann mit kurzen grauen Haaren und einem alten augmetischen Implantat unter dem linken Ohr. Er trug die Uniform der Disziplinierungseinheit der Schlachtflotte, eine gestärkte weiße Jacke mit hohem Kragen, rote Handschuhe, gebügelte schwarze Reithose und hohe schwarze Lackstiefel. Madorthene war vom Moment seines Eintreffens höflich gewesen, als er vor mir salutiert und dabei seine weiße Mütze mit den goldenen Litzen respektvoll unter den Arm geklemmt hatte. Seine Abteilung von Soldaten war genau wie diejenigen gekleidet, die auf die Essene gekommen waren, um uns zu töten, aber mir fiel sofort ihre größere Disziplin und exaktere Formation auf. »Deserteure?« Madorthene wirkte unbehaglich. Ganz eindeutig missfielen ihm Verstrickungen mit einem Inquisitor. »Aus den Reihen der Garde. Sie wissen ja, dass auf Gudrun gerade eine Gründung stattfindet. Auf Befehl des Marschalls werden siebenhundertfünfzigtausend Mann in die Imperiale Garde überführt und bilden das Fünfzigste Gudruniter Infanterieregiment. Wegen des Umfangs der Gründung und der Tatsache, dass es das fünfzigste Regiment von dieser illustren Welt ist, finden eine planetenumspannende Feier und damit verbundene zeremonielle militärische Ereignisse statt.« »Und diese Männer sind desertiert?« Madorthene zog mich behutsam auf die Seite, während seine Männer die Leichen der Angreifer aus der Umgebung der Luftschleuse abtransportierten und in Leichensäcken verstauten. Ich hatte Betancore beauftragt, über sie zu wachen. »Wir hatten Schwierigkeiten«, gestand er leise.
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»Die Aushebung war eigentlich für fünfhunderttausend Mann gedacht, aber der Marschall hat die Zahl eine Woche vor der Gründung erhöht - er bereitet einen Kreuzzug in den ophidischen Subsektor vor -, ja, und viele wurden sehr kurzfristig eingezogen. Ganz unter uns, die Feierlichkeiten sind zum Teil ein Versuch, die Aufmerksamkeit von dieser Angelegenheit abzulenken. Es hat einige Unruhen in Kasernen im Gründungsareal gegeben und auch Desertionen. Wir hatten alle Hände voll zu tun.« »Das kann ich mir vorstellen. Wissen Sie ganz sicher, dass diese Männer Deserteure aus der Garde sind?« Er nickte und reichte mir eine Datentafel. Darauf fand sich eine Liste von zwölf Namen, die mit Biografien und unscharfen Holo-Porträts verbunden waren. »Sie haben sich gestern aus Gründungskaserne 74 bei Dorsay abgesetzt, sich Uniformen und Waffen aus dem Depot am Raumhafen gestohlen und dann eine Pinasse gekapert. Niemand ist auf die Idee gekommen, eine Abteilung der Flottensicherheit anzuhalten.« »Und niemand hat nach Flugnummer und Autorisierung gefragt?« »Bedauerlicherweise war die Pinasse bereits mit einem Flugplan und Transpondercodes versehen, die sie auf ihren Ankerplatz in der Flotte bringen sollte. Andernfalls wären sie längst aufgeflogen. Sie waren ganz eindeutig auf der Suche nach einem nichtmilitärischen Raumschiff wie diesem.« »Waren das regulär Eingezogene? Infanteristen?« »ja.« »Wer konnte die Pinasse fliegen?« »Der Anführer«, entnahm er der Tafel, »ein gewisser Jonno Lingaart, war ein qualifizierter Raumpilot. Hat auf den Fähren gearbeitet. Wie ich schon sagte, eine bedauerliche Kombination von Faktoren.«
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Ich würde es nicht dabei belassen. Madorthene log nicht, davon war ich überzeugt. Aber die Informationen, die er mir präsentierte, waren voller Lücken und Ungereimtheiten. »Was ist mit der Inspektions-Anordnung?« »Die kam von der Pinasse. Absolut inoffiziell. Sie haben Ihr Schiff gesehen und improvisiert. Wir haben die Anordnung zum Kom-Log der Pinasse zurückverfolgt.« »Nein«, sagte ich. Er wich einen Schritt zurück, als er die Wut spürte, die in mir wuchs. »Inquisitor?« »Ich habe mir das Kom-Log der Essene angesehen. Es verrät mir nicht den Ursprung des Signals, zeigt aber, dass die Inspektions-Anordnung über astropathische Verbindung kam, nicht über Kom. In der Pinasse gab es keinen Astropathen.« »Das ist ...« »Es handelt sich um dieselbe astropathische Verbindung, die der Essene ihren Ankerplatz zugewiesen hat. Man kann die Anordnung also als durchaus authentisch bezeichnen. Und diese Männer haben mich gesucht. Mich, Prokurator. Um mich zu töten. Sie kannten meinen Namen.« Er wurde blass und schien nicht in der Lage, eine Antwort zu finden. Ich wandte mich von ihm ab. »Ich weiß nicht, wer diese Männer sind - sie könnten durchaus Rekruten der Garde gewesen sein. Aber jemand hat ihnen den Auftrag erteilt, mich zu finden, jemand, der sie gedeckt und ihnen Ausrüstung und Transportmittel zur Verfügung gestellt und ihrem Vorgehen gegen dieses Schiff einen legalen Anstrich verpasst hat. Jemand entweder aus dieser Schlachtflotte oder mit einem unglaublichen Zugang zu ihren Verfahrensweisen. Keine andere Erklärung passt.«
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»Sie reden von ... einer Verschwörung.« »Hinterhältiges Verhalten ist mir nicht fremd, Madorthene. Und mich bringen auch Anschläge auf mein Leben nicht sonderlich aus der Fassung. Ich habe Feinde. Ich rechne mit solchen Dingen. Dies zeigt mir, dass meine Feinde noch mächtiger sind, als ich vermutet hatte.« »Mylord, ich ...« »Wie ist Ihr Rang, Prokurator?« »Ich bin Stufe eins, magentaautorisiert, und mein Rang entspricht dem eines Flottenkommodore. Ich bin Lordprokurator Humbolt direkt unterstellt.« Das konnte ich seinen Schulterabzeichen entnehmen, aber ich hatte es von ihm selbst hören wollen. »Natürlich. Ihr Vorgesetzter hätte eine derart delikate Angelegenheit keinem Unterprokurator anvertraut. Und er wollte mir gegenüber auch nicht respektlos sein. Ich gehe davon aus, dass die Angelegenheit insgesamt immer noch streng vertraulich behandelt wird?« »Gewiss, Inquisitor, selbstverständlich! Der Lordprokurator hat erkannt, wie ... heikel die Angelegenheit ist. Außerdem werden alle Nachrichten über den Vorfall auf Befehl des Marschalls unterdrückt, um keine weiteren Unruhen aufkommen zu lassen. Die Einzelheiten dieses Vorfalls sind nur mir selbst und meinem Trupp hier bekannt, dazu dem Lordprokurator und dessen ranghöchsten Adjutanten.« »Dann möchte ich, dass das auch so bleibt. Ich möchte meine Feinde so lange wie möglich glauben machen, dass ihr Attentatsversuch erfolgreich war. Kann ich mich auf Ihre Kooperation verlassen, Prokurator?« »Natürlich, Inquisitor.« »Sie werden dem Lordprokurator eine verschlüsselte Botschaft von mir überbringen. Sie wird ihn über die Lage und meine Erfordernisse in Kenntnis setzen. Außerdem werde ich Ihnen eine geheime Kom-Verbindung nennen, 127
über die Sie mit mir in Kontakt treten können, wenn weitere Informationen zur Verfügung stehen. Egal welche Informationen, Madorthene, wie unerheblich sie auch zu sein scheinen.« Er nickte wieder. Ich sparte mir den Zusatz, dass ich mir ihn selbst, die ranghöchsten Adjutanten sowie den Lordprokurator persönlich mit dem Zorn Rogal Dorns vorknöpfen würde, sollte es zu einem Vertrauensbruch kommen. Das konnte er sich denken. Nachdem Madorthene und sein Trupp die Essene verlassen hatten, ging ich zu Betancore. »Was nun?«, fragte er. »Was ist es für ein Gefühl, tot zu sein, Midas?« Wir verließen die Essene um Mitternacht an Bord unseres Kanonenbootes. Fischig, der mittlerweile bei Bewusstsein war, blieb auf Maxillas Schiff, wo er sich im spektakulär eingerichteten Auto-Lazarett der Essene von seinen Wunden erholen würde. Maxilla hatte sich bereit erklärt, mit der Essene zunächst vor Anker zu bleiben. Ich hatte Vorkehrungen getroffen, dass man ihm seinen Verdienstausfall ersetzen würde. Ich hatte das Gefühl, ein zuverlässiges Schiff zu benötigen, über das ich kurzfristig verfügen konnte, und außerdem würde ein plötzlicher Aufbruch der Essene auch der Glaubwürdigkeit unserer Geschichte schaden - schließlich besagte die, dass wir alle tot waren. Ich besprach alles mit Maxilla auf der Brücke. Er saß auf seinem Kommandothron und schlürfte Amasec, während Rekonstruktionsservitoren peinlichst genau seinen Unterkörper wiederherstellten. »Es tut mir leid, dass Sie jetzt so in die Sache verwickelt sind, Tobius.« »Mir nicht«, sagte er. 128
»Das war seit langer Zeit meine interessanteste Fahrt.« »Sie sind bereit zu bleiben, bis ich Sie davon entbinde?« »Sie zahlen gut, Inquisitor!«, lachte er daraufhin. »Tat-sächlich ist es mir ein Vergnügen, Ihnen zu helfen, dem Imperator zu dienen. Außerdem braucht dieser Trottel Fischig bessere Pflege, als er sie in der schmuddeligen Krankenstation Ihres Bootes bekommen kann, und ich kann Ihnen versichern, dass ich nirgendwohin fahre, bevor er mein Schiff sicher verlassen hat.« Ich verließ die Brücke, beinahe verzaubert von Maxillas Großzügigkeit. Es mochte viele Gründe geben, warum er mir so bereitwillig half - und Furcht vor der Inquisition der wichtigste , aber in Wahrheit war ich sicher, dass er es tat, weil er das Vergnügen wiederentdeckt hatte, sich mit anderen Menschen auszutauschen. Es fand Ausdruck in seinem Eifer zu reden, seine Kunstschätze zu zeigen, zu helfen, entgegenzukommen ... Er war zu lange allein in Gesellschaft von Maschinen gewesen. Betancore änderte die Transpondercodes des Kanonenbootes, als wir den Laderaum der Essene verließen. Wir hatten eine Reihe alternativer Identifikationsnummern im Speicher des Entschlüsslers. In den letzten Monaten und bei unserem Aufenthalt auf Hubris waren wir als offizieller Transporter der Inquisition unterwegs gewesen und hatten keinen Versuch unternommen, unsere Identität zu verbergen. Jetzt waren wir eine Handelsdelegation von Sameter, die sich auf genetisch verändertes Getreide spezialisiert hatte und hoffte, Gudruns Adelige für unproblematisches, schädlingsunempfindliches Getreide interessieren zu können, nun, da die Regimentsgründung Arbeitskräfte gekostet hatte. Betancore nahm Verbindung mit dem Kontrollturm Gudruns auf, identifizierte uns und erbat Kursdaten sowie 129
Landeerlaubnis in Dorsay, der nördlichen Hauptstadt. Sie entsprachen unseren Bitten ohne Zögern. Wir waren nur einer von vielen gierigen Händlern, die zum Fest gekommen waren. Wir sanken durch die verschiedenen und zahlreichen Elemente der Schlachtflotte Scarus abwärts, die hoch vor Anker lagen: Reihen grotesker, dickbäuchiger Truppentransporter, gewaltige Zerstörer mit nach vorn ragenden Bugrammen und stolzen Adler-Emblemen, riesige Schlachtschiffe, die kalten, grauen Riesen des Alls, die vor Waffen starrten, stachelige Fregatten, lang und schnittig und grausam wie Holzwespen, dazu Jägerstaffeln, die Patrouillendienst flogen. Im postorbitalen Raum wimmelte es von Transportern, Schleppern, Versorgungsbooten, Handelskuttern und skelettartigen Ladeplattformen. An Steuerbord warteten die gemischten Reihen der Händler, die schweren Frachter, die schlanken Expressklipper, die supermassiven Gildenschiffe und die Freihändler. Irgendwo dort draußen ankerte auch die Essene. Die Nacht war erfüllt vom Blinken der Bojenlichter, die Staffelung und Ebenen der Ankerplätze beschrieben, ein Sternenhimmel, der die echten Konstellationen auslöschte. Betancore brachte uns sicher durch den Verkehr in die kristallklare Ionosphäre und in den schillernden Bereich der höchsten Wolkenschichten. Wir überflogen auf dem Weg nach Dorsay die Trennlinie zwischen Tag und Nacht, während sich der Planet unter uns drehte. Dort graute gerade ein neuer Tag des Gründungsfestes.
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NEUN In Dorsay. Marktkräfte. Auf der Verfolgung von Tanokbrey.
orsay erwachte nicht. Es war die ganze Nacht D aufgeblieben. Lautsprecher in den alten Straßen, Alleen und Kanälen sendeten martialische Motive, und überall flatterten Wimpel und Banner. Ich hatte Aemos' zusammenfassende Beschreibung des Planeten überflogen: Gudrun, Hauptplanet des helicanischen Subsektors im Segmentum Obscurus. Seit dreieinhalbtausend Jahren von Menschen besiedelt, feudal regiert von mächtigen Adelshäusern, deren Arm und Macht sich auf drei Dutzend weitere Welten im helicanischen Subsektor erstreckte. Thracian Primaris, jene riesige aufgeblähte Drehscheibe der Industrie und des Handels, war die am stärksten bevölkerte und produktivste Welt in der Region, aber Gudrun war ihr kulturelles und administratives Herz. Und man schätzte allgemein, dass sich das Gesamtvermögen der Adelshäuser mit dem kommerziellen Produktionswert der thracischen Makropolen messen konnte. Aus der Höhe unseres Überflugs betrachtet, leuchtete Dorsay im Morgengrauen weiß. Es lag an der Küste, an einer Lagune, wo der gewaltige Fluss Drunner ins Meer mündete. Durch die Bullaugen des Kanonenboots konnten wir die weißen Flecken von Segelbooten im Lagunenbecken sehen. 131
Jenseits der riesigen weißen Ausdehnung der Stadt konnte ich massive Lattenzäune und primitive Bauten auf den welligen grünen Hügeln und Klippen ausmachen, provisorische Kasernen für das gegründete Regiment. Betancore ging auf dem Giova-Landefeld herunter, Dorsays Raumhafen. Es befand sich auf einer langen, schmalen Insel in der Lagune gegenüber der Stadt, und da der Platz knapp war, wurden kleinere Schiffe wie unseres mit massiven Aufzügen in ein honigwabenartiges Labyrinth aus Liegeplätzen abgesenkt, das man in das poröse Lavagestein im Herzen der Insel gebohrt hatte. Lowink blieb im Boot. Midas, Aemos, Bequin und ich bereiteten uns darauf vor, nach Dorsay zu gehen. Wir legten schlichte, anonyme Kleidung an: dunkelblaue Gewänder für Aemos, einfache schwarze Anzüge aus hochwertigem Stoff und lange Ledermäntel für Betancore und mich selbst sowie ein langes Kleid aus porzellanblauem Crepe mit einem Schal aus cremefarbener Spitze für Alizebeth Bequin. Betancore hatte sich mit einigem Widerstreben in Vibbens Hinterlassenschaft nach passender Kleidung für Bequin umgetan. Ihr schien es nichts auszumachen, dass ihre ehemalige Besitzerin tot war. Unter den in der frühmorgendlichen Brise flatternden roten Markisen waren die Molen der Insel voller Passagiere, die darauf warteten, zum Festland übergesetzt zu werden. Wir mischten uns zwischen Gruppen von Händlern, Würdenträgern auf Besuch und Flottenbesatzungen auf Landurlaub. Straßenmusikanten und Hausierer drängten sich dem hilflosen Publikum auf. Schließlich mieteten wir eines der Gravboote an den Molen. Es war ein speerspitzenförmiger Schweber mit einem glänzend violetten Rumpf, offen und mit Platz für sechs Personen, wobei der Bootslenker hoch im Heck über den klobigen Antigrav-Generatoren thronte. 132
Das Boot brachte uns über die Lagune und hielt sich dabei zwei Meter über dem aufgewühlten, scheckigen Wasser. Dorsay erhob sich vor uns. Nun, da wir auf gleicher Höhe mit der Stadt waren, konnten wir ermessen, wie majestätisch und hochaufragend sie war. Sie erhob sich auf Stelzen aus dem Wasser, die aus riesigen Basaltsäulen waren, und die Gebäude bestanden aus riesenhaften Steinblöcken, deren Fassaden gekälkt und deren flache Dächer mit grünspanüberzogenen Kupferpfannen gedeckt waren. Gargyle gähnten an den Enden der Regenrinnen oder wickelten sich um Traufen. Die oberen Etagen hatten Balkone mit Geländern aus angelaufenem Kupfer. Viele Balkone hatten außerdem Überdachungen. Steinerne Brückenbögen und Metalltreppen verbanden benachbarte Gebäude, manchmal sogar direkt über die mit Wasser gefüllten Straßen hinweg. An den Kanalseiten bildeten steinerne Stege einen Übergang für Fußgänger auf Wasserniveau. Und davon gab es viele. Es wimmelte von Bewegung, Farben und Lärm. Als wir in den Bereich der eigentlichen Stadt gelangten, wurde unsere Fahrt über die Kanäle von anderen Gravbooten, Wasserbussen, Privatjachten und Motorbooten aufgehalten. Über uns, im Bereich des Flugverkehrs, summten Schweber und Atmosphärenflieger umher. Wohin wir auch blickten, waren Banner, welche die Schlachtflotte Scarus und die Garderegimenter Gudruns feierten, vor allem das 50. Infanterie. Aemos führte wie üblich Selbstgespräche und notierte sich eine Beschreibung der Bestandteile Dorsays auf seiner Handgelenkstafel, da sein Wissenshunger immer noch ungestillt war. Ich beobachtete ihn eine Weile, die nervösen Bewegungen, seine jungenhafte Freude über neue Einzelheiten, das zwanghaftbesessene Klopfen auf die Tafel. 133
Die Tastatur der ramponierten alten Tafel war vollkommen abgenutzt, die Runen darauf schon vor langer Zeit verblasst. Midas Betancore war wachsam und auf der Hut wie immer. Er saß vorne im Gravboot und sog wie Aemos die Einzelheiten auf. Aber die Einzelheiten, die er sich merkte, würden weitaus sachdienlicher und unmittelbar nützlicher sein als die meines alten Gelehrten. Bequin lehnte sich lediglich zurück und lächelte, da der Fahrtwind ihren Schal flattern ließ. Ich bezweifelte, dass sie mit eigenen Mitteln je den Weg hierher gefunden hätte. Gudrun war das Epizentrum der Kultur in diesem SubSektor, die große strahlende Welt, von der sie immer geträumt hatte. Ich ließ ihr ihren Spaß. Später wartete noch genug harte Arbeit. Wir nahmen eine Suite im Regent-Hotel von Dorsay. Ich hielt es für angebracht, eine Operationsbasis auf dem Festland zu haben. Betancore bohrte Löcher in die Türrahmen und brachte zusätzliche Arretierbolzen mit eingebauten Blitzgeräten an. Außerdem verdrahteten wir die Innentüren. Die Hausservitoren bekamen strikte Anweisung, die Suite in unserer Abwesenheit nicht zu betreten. Ich stand auf dem massiven gekälkten Balkon unter einer Markise aus verblichener violetter Leinwand und hörte mir den Marsch der Adeptes an, der verzerrt aus den Lautsprechern in der Straße dröhnte. Der Kanal unter mir war vom Verkehr verstopft. Ich sah ein mit betrunkenen Gardisten überladenes Gravboot, die alle ihre neue rotgoldene Uniform trugen. Männer des 50. Gudrunische Infanterie, die den Tod durch Ertrinken riskierten, während sie die letzten Stunden auf ihrer Heimatwelt genossen. In ein paar Tagen würden sie auf einen Truppentransporter 134
verladen und in wer weiß was für einen grauenhaften Subsektor verfrachtet. Einer von ihnen fiel in den Kanal, als sie an Land torkelten. Seine Kameraden fischten ihn aus dem Wasser und tauften ihn mit dem Inhalt einer Schnapsflasche. Aemos gesellte sich zu mir und zeigte mir eine Karte auf einer Datentafel. »Die Sinesias-Handelsgilde«, sagte er. »Ihr Hauptsitz ist fünf Straßen entfernt.« Der Sinesias-Gilde gehörten einige der imposantesten Besitzungen im kommerziellen Bezirk von Dorsay. Ein Teil des Großen Kanals floss sogar durch den gläsernen Säulengang der Hauptgebäude, so dass Händler auf Besuch in ihrem Gravboot hineinfahren und im Schutz einer gefliesten und mit Teppich ausgelegten Empfangsmole aussteigen konnten. Unser Gravboot brachte uns hinein, und wir stiegen aus zwischen Gruppen hochgewachsener, hagerer Händler von Messina in wallenden Gewändern und Kaufleuten von Sameter mit lächerlich schweren Hüten und Schleiern sowie fettleibigen Bankiers aus den Makropolen Thracias. »Ihr Name und Ansinnen hier, Sire, Madam?«, fragte ein Kämmerer der Gilde, während er sich uns näherte. Er troff von Zierrat in seinen Gewändern aus Goldbrokat, die jeder Bedienstete der Gilde hier trug. Augmetische Implantate prangten anstelle seiner Ohren an Ort und Stelle, und er hielt eine Datentafel samt Griffel in den Händen. »Ich heiße Farchaval und bin ein Kaufmann von Hesperus. Dies ist Lady Farchaval. Wir sind gekommen, um Verträge über Getreidelieferungen mit den hohen Häusern dieser Welt abzuschließen, und man hat uns gesagt, dass die Sinesias-Gilde uns bei der Vermittlung des Geschäfts behilflich sein würde.« 135
»Haben Sie einen Ansprechpartner in der Gilde, Sire?« »Selbstverständlich. Mein Kontaktmann ist Saemon Grotes.« »Crotes?« Der Kämmerer stutzte. »Ach, Gregor, ich langweile mich so«, verkündete Bequin plötzlich. »Das dauert alles so lange und ist so öde. Ich will wieder auf den Kanälen fahren. Warum können wir nicht wieder zurückfahren und mit diesen hilfsbereiten Leuten von der Mensurae-Gilde verhandeln?« »Später, meine Teuerste«, sagte ich, entzückt und auch ein wenig überrumpelt von ihrer Improvisation. »Sie haben bereits ... eine andere Gilde besucht?«, fragte der Kämmerer rasch. »Die waren sehr nett. Man hat mir dort Soliantee serviert«, gurrte Bequin. »Lassen Sie sich von mir führen«, sagte der Kämmerer sofort. »Saemon Crotes ist selbstverständlich einer unserer am meisten geschätzten Emissäre. Ich arrangiere umgehend eine Audienz für Sie. In der Zwischenzeit entspannen Sie sich bitte in dieser Suite. Ich lasse Ihnen sofort Soliantee bringen.« »Und Nafarplätzchen?«, hakte Bequin nach. »Aber gewiss doch, Madam.« Er rauschte davon und schloss die Doppeltür des luxuriösen Wartezimmers hinter sich. Bequin sah mich an und kicherte. Ich muss gestehen, dass ich laut lachte. »Was ist in Sie gefahren?« »Sie sagten, wir sind vermögende Kaufleute, die das Beste erwarten. Ich habe mir nur mein Gehalt verdient.« »Nur weiter so«, sagte ich. Wir schauten uns in dem Raum um. Zehn Meter hohe, spitzenverhangene Fenster schauten auf den Großen Kanal hinaus, aber sie waren schalldicht, um den Lärm abzuhalten. Kostbare Wandteppiche schmückten die Wände zwischen Ölgemälden der Sameter-Schule, die Maxilla liebend gern besessen hätte. 136
Ein polierter Servitor brachte kurz danach ein Tablett mit Erfrischungen. Er setzte es auf einem Beistelltischchen mit Marmorplatte ab und entfernte sich wieder. »Soliantee!«, quiekte Bequin, als sie den Deckel eines Porzellankännchens hob. »Und Nafarplätzchen! «, fügte sie mit einem Lächeln durch die Krümel ihres ersten hinzu. Sie goss mir eine Tasse ein, und ich stellte mich neben den Kamin, während ich sie trank, und warf mich in eine angemessen hochmütige Pose. Der Gildenvertreter flog einen Moment später förmlich durch die Doppeltür herein. Er war ein kleiner Mann mit stacheligen Haaren, fließenden Gewändern und viel zu viel Schmuck. Das Brandzeichen der Sinesias-Gilde prangte stolz auf seiner Stirn. Er war, zeigte das Brandzeichen an, Eigentum. Er hieß Macheles. »Sire Farchaval! Madam! Hätte ich von Ihrem Besuch gewusst, hätte ich Termine abgesagt, um Sie in Empfang zu nehmen. Verzeihen Sie meine Säumigkeit!« »Ich verzeihe sie«, sagte ich. »Aber ich fürchte, Lady Farchaval könnte sehr schnell die Geduld verlieren.« Bequin gähnte auf dieses Stichwort hin. »Oh, das ist nicht gut! Gar nicht gut!« Macheles klatschte in die Hände, und Servitoren glitten in den Raum. »Bringt der Dame, was immer sie wünscht!«, sagte Macheles zu ihnen. »Äh ... Vorderblätter?«, sagte sie. »Sofort!«, befahl Macheles. »Und einen Teller mit Birritrüffeln? In Wein sautiert?« Ich zuckte zusammen. »Sogleich! Sogleich!«, beeilte sich Macheles zu versichern und scheuchte die Servitoren aus dem Raum. Ich trat vor und stellte meine Tasse ab. »Ich will gleich zur Sache kommen, mein Herr. Ich vertrete Getreidehändler auf 137
Hesperus, ein bedeutendes Getreide-Kartell.« Ich reichte ihm meine Holo-Vollmachten. Natürlich waren sie gefälscht. Betancore und Aemos hatten sie zusammengestellt und sich dabei Aemos' umfassendes Wissen im Allgemeinen und sein persönliches Wissen über Hesperus - das er aus seinen Gesprächen mit Maxilla bezogen hatte - im Besonderen zunutze gemacht. Macheles schien jedenfalls mehr als beeindruckt von ihnen zu sein. »Über welche ... Größenordnung von Kartell reden wir, Sire?« »Der gesamte Westkontinent.« »Und Sie bieten an?« Ich holte ein Proberöhrchen aus meiner Tasche. »Eine genetisch veränderte und extrem pflegeleichte Getreidesorte, die von vielen Ihrer Landbesitzer hier auch nach der schlagartigen Verringerung der vorhandenen Arbeitskräfte noch zu bewältigen wäre. Sie ist tatsächlich fast so etwas wie ein kleines Wunder.« Die Servitoren tauchten wieder auf und lieferten Bequins Delikatessen. Während sie die weichfleischigen Trüffel aß, sagte sie: »Die anderen Gilden bieten für dieses Produkt, Herr. Ich hoffe doch, die Sinesias-Gilde lässt die Gelegenheit nicht aus.« Macheles schüttelte das Proberöhrchen und betrachtete es. »Ist das«, fragte er beinahe flüsternd, »Xenos-entwickelt?« »Wäre das ein Problem?«, stellte ich die Gegenfrage. »Nein, Sire! Nicht offiziell. Die Inquisition ist natürlich sehr streng in diesen Dingen. Aber genau aus diesem Grund bieten wir die Möglichkeit dieser extrem vertraulichen Gespräche. Das gesamte Gildenhaus ist gegen Spürvorrichtungen, Horchstrahlen und Kom-Diebstahl geschützt.« 138
»Das freut mich zu hören. Also wäre ein Xenos-entwickeltes Getreide nicht schwer zu vermarkten?« »Natürlich nicht. Sichere Getreideerträge sind ein kollektives Interesse. Vor allem solche, wo die Sicherheit durch nichtmenschliche Technologie gewährleistet ist.« »Gut«, log ich. »Aber ich will den besten Preis erzielen. Saemon sagte, ich sollte zuerst mit Haus Glaw reden.« »Saemon?« »Saemon Crotes. Der Emissär der Sinesias-Gilde, mit dem ich auf Hesperus zu tun hatte.« »Richtig! Soll ich einen Gesprächstermin mit Haus Glaw für Sie vereinbaren?« »Ich glaube, das sagte ich gerade, oder nicht?« Zwanzig Minuten später legten wir von der Mole vor der Sinesias-Gilde ab. Bequin leckte sich immer noch die Lippen nach dem Genuss der Birritrüffel. Sobald unser Boot abgelegt hatte, fing der in meine Manschette eingenähte Kom-Empfänger an zu zirpen. »Eisenhorn.« Es war Lowink. »Ich habe gerade eine Nachricht von Tobius Maxilla erhalten. Soll ich sie weiterleiten?« »Nur eine Zusammenfassung, Lowink.« »Er sagt, das Schiff, das Eyclones Fahrt von Gudrun nach Hubris übernommen hat, liegt hier vor Anker. Er sagt, er hätte sich etwas umgehört. Es ist der Freihändler Scaveleur. Der Kapitän, ein gewisser Effries Tanokbrey, befindet sich bereits auf Gudrun.« »Antworten Sie Maxilla und danken Sie ihm für seine Bemühungen, Lowink«, sagte ich. Die Identität von Eyclones geheimnisvollem Raumschiff war mir jetzt bekannt. Wir aßen in einer Taverne mit Blick auf die Carnodonbrücke zu Mittag, als Macheles Sire Farchaval eine private 139
Textbotschaft via Kom-Drohne schickte. Die Drohne, eine flache Metalleinheit von der Größe einer kleinen Zitrusfrucht, summte auf die Speiseterrasse wie ein Polleninsekt und flog in Kopfhöhe von Tisch zu Tisch, bis sie mich gefunden hatte. Dann verharrte sie in der Luft, summte und projizierte ihre holografische Fracht auf die Wandung meines Kristallglases: das Wappen der Sinesias-Gilde, gefolgt von einem förmlichen und unterwürfigen Text, der Sire Farchaval und seine Begleitung am folgenden Nachmittag zu einer Besprechung im Glaw-Anwesen einlud. Um vier sollten wir uns mit Macheles im Gildenhaus treffen, wo ein Transportmittel für uns bereitstehen würde. Die Drohne fuhr fort, ihre Botschaft zu projizieren, bis ich den Strahl mit einer Handbewegung unterbrach und eine rasche verbale Bestätigung formulierte, die aufgezeichnet wurde. Dergestalt entlassen, flog sie mit ihrer Antwort davon. »Wie hat sie uns gefunden?«, fragte Bequin. »Mit Hilfe einer Pheromonspur«, erwiderte Aemos. »Die Hauptsysteme des Gildenhauses haben Sie beide bei Ihrem Besuch diesbezüglich sondiert, und dann hat sie einfach so lange nach Ihnen gesucht, bis ihre Sensoren die Entsprechung zur Aufzeichnung in ihrem Speicher gefunden hatten.« Kom-Drohnen-Nachrichten waren auf höher technisierten Welten des Imperiums wie Gudrun allgemein verbreitet. Ich hatte eine Idee. »Sie sagen, die Gilde schien keinerlei Problem damit zu haben, mit Xenos-Material zu handeln?«, sagte Betancore, während er sein Weinglas hob, um einen Schluck zu trinken. Ich nickte. »Wir konzentrieren uns einstweilen auf Haus Glaw. Dort liegen unsere Hauptinteressen. Aber die Sinesias-Gilde vergesse ich auch nicht. Wenn wir fertig sind, wird die Inquisition ihre Geschäftspraktiken einer genauen 140
Durchleuchtung unterziehen.« Bequin schaute auf die wunderbar verzierte Brücke, die sich über den Drunner spannte. »Was sind das für Wesen?«, fragte sie. Die steinernen Statuen großer vierbeiniger Raubtiere schmückten jeden Pfeiler der alten Überführung. Die Tiere waren groß und von kompakter Statur, hatten buschige Schwänze und lange Schnauzen, die vor Reißzähnen starrten. »Carnodone«, sagte Aemos wiederum entzückt, sein immenses Wissen teilen zu können. »Das Wappentier Gudruns. Man findet sie hier vielerorts auf Wappen und Emblemen. Sie symbolisieren die noble Autorität der Welt. Mittlerweile sind sie natürlich ziemlich selten geworden. Bis zur fast völligen Ausrottung gejagt. Ich glaube, dass heutzutage nur noch einige wenige wild in der Tundra des Nordens leben.« »Wir haben einen Tag zur Verfügung«, sagte ich und unterbrach die Unterhaltung dadurch. »Nutzen wir ihn aus. Finden wir diesen Schiffskapitän Tanokbrey.« Betancore hob die Augenbrauen und wollte mir gerade sagen, wie schwierig das sein würde, bis ich ihm meine Idee erläuterte. Wir benutzten ein klerikales Amt an einem Nebenarm des Ooskinkanals und bezahlten für eine Kom-DrohnenBotschaft. Ich hielt sie schlicht, eine kurze Anfrage an den Kapitän des Freihändlers Scaveleur bezüglich der Möglichkeit einer Passage zu einer anderen Welt. Der Kleriker, der mich bediente, nahm Text und Bezahlung kommentarlos entgegen und lud die Botschaft in eine der drei Dutzend Kom-Drohnen, die untätig auf einem Gestell hinter seinem Platz lagen. Dann suchte er in seinen Dateien und fand schließlich die Pheromonspur für Tanokbrey, die der Schiffskapitän der Stadtverwaltung bei der Einwanderung hinterlassen hatte, und installierte sie ebenfalls. 141
Die ausgewählte Drohne erhob sich surrend und flog aus dem Büro. Draußen auf der Straße startete Betancore den Motor des Flugrads, das er gemietet hatte, und folgte der Drohne. Wir hatten gute Aussichten, dass sie uns zu unserem Mann führen würde. Wenn sie Betancore abhängte, hatten wir allen Grund zu hoffen, dass Tanokbrey zu uns kommen würde. Schließlich war er ein Geschäftsmann, der nach Verdienstmöglichkeiten Ausschau hielt. Aemos, Bequin und ich folgten in einem öffentlichen Gravboot, indem wir Kom-Kontakt mit Betancore hielten. Der Verkehr auf den Kanälen war dichter denn je, und es wimmelte von hiesigen Arbites und Sicherheitstrupps der Flotte. Später am Nachmittag sollte ein großer Festumzug stattfinden, und der vorgesehene Weg wurde gerade dafür vorbereitet. Auf den Brücken und Gehwegen sammelten sich bereits Zuschauermengen. Überall flatterten Banner und Girlanden mit guten Wünschen. Betancore wartete auf uns auf einem Gehweg im Tersegold-Viertel, einem Teil Dorsays, der für seine Tavernen und Clubs bekannt war. Ich ließ Aemos und Bequin im Boot zurück. »Da drinnen«, sagte er, indem er auf ein altes Etablissement mit gerundeter Front zeigte. »Ich bin ihr hinein gefolgt. Sie hat ihre Botschaft am fünften Tisch von links abgeliefert. Tanokbrey ist der große Mann in der rosaroten Jacke. Meiner Zählung nach hat er zwei Männer bei sich.« »Bleiben Sie zurück und halten Sie sich bereit«, sagte ich. Die Taverne war dunkel und voll. Musik und Licht pulsierten unter der niedrigen Decke, und es roch nach Schweiß, Rauch, Hopfen und den unverwechselbaren Obscura-Dünsten. Meine Kom-Drohne kam bei meinem Eintreten durch die Tür. 142
Sie verharrte, lieferte ihre Antwort ab und flog dann weiter. Ein knapper Text setzte mich davon in Kenntnis, dass die Scaveleur nicht zur Vermietung stehe. Ich zwängte mich durch die dicht gedrängte Kundschaft und machte schließlich Tanokbrey aus. Seine rosarote Jacke war aus feinster Seide, und die krausen schwarzen Haare waren mit Bändern zusammengebunden. Er hatte ein schroffes, ausnehmend abstoßendes Gesicht. Seine Trinkkumpane waren zwei normale Besatzungsmitglieder in beschlagener hautenger Ledermontur. »Kapitän Tanokbrey?« Er wandte langsam den Kopf in meine Richtung und sagte nichts. Seine Begleiter fixierten mich grimmig. »Vielleicht können wir uns privat unterhalten?«, schlug ich vor. »Vielleicht können Sie sich verpissen.« Ich setzte mich dennoch. Seine Männer schien mein Tun zu überraschen, und sie versteiften sich. Tanokbrey brauchte nur zu nicken, ging mir auf. »Lassen Sie mich mit einer leichten Frage anfangen«, begann ich. »Fangen Sie damit an, dass Sie sich verpissen«, erwiderte er. Er fixierte mich jetzt mit zynischem Blick. Ohne den Augenkontakt zu unterbrechen, nahm ich zur Kenntnis, dass seine linke Hand in der Jackentasche steckte. »Sie wirken ein wenig ängstlich. Wie kommt das?« Keine Antwort. Seine Männer rutschten nervös auf ihren Stühlen hin und her. »Haben Sie etwas zu verbergen?« »Ich genehmige mir in aller Ruhe was zu trinken. Ich will nicht gestört werden. Und jetzt scheren Sie sich weg.« »Wie unfreundlich. Nun, wenn diese Herren uns keine Unterhaltung unter vier Augen ermöglichen, muss ich so weitermachen. Ich hoffe sehr, ich bringe Sie nicht in 143
Verlegenheit.« »Wer zur Hölle sind Sie?« Jetzt war ich es, der nicht antwortete. Meine Augen ließen seine nicht mehr los. »Sie sind mit Ihren Ankergebühren im Rückstand«, sagte ich schließlich. »Das ist gelogen!« Das war es, und dasselbe galt für meine nächste Bemerkung. Es spielte keine Rolle. Ihr Zweck war, ihn zu verunsichern. »Und Ihr Ladungsverzeichnis ist unvollständig. Gudrun könnte Ihr Schiff beschlagnahmen wollen, bis die Unregelmäßigkeiten aufgeklärt sind.« »Verlogener Hund ...« »Es ist ganz einfach. Sie haben eine Fahrt nach Hubris gemacht, die nicht angegeben wurde, und auch das Ladungsverzeichnis wurde nicht ausgefüllt. Wie soll man da die Einfuhrzölle berechnen?« Sein Stuhl schrappte ein, zwei Zentimeter rückwärts über den Boden. »Warum waren Sie auf Hubris?« »Das war ich nicht! Wer sagt, dass ich dort war?« »Das können Sie sich aussuchen. Saemon Crotes. Namber Wylk.« »Nie gehört. Sie haben den falschen Mann, Sie elender Hund. Jetzt verpissen Sie sich!« »Dann Murdin Eyclone. Was ist mit ihm? Hat er sie angeheuert?« Das entlockte ihm schließlich das Nicken. Eine kaum wahrnehmbare Kopfbewegung. Der Matrose neben mir sprang von seinem Stuhl auf, und ein kompakter Schockstab sprang aus dem Ärmel in seine Hand. »Fallen lassen.« Ich bezwang ihn mit Willenskraft, ohne die Worte richtig auszusprechen. Der Stab sprühte Funken, als er auf die Tischplatte fiel. 144
Eine Sekunde später hatte ich ihn in der Hand. Ich zog ihn seinem Besitzer durchs Gesicht und fegte ihn seitlich vom Stuhl. Dann fuhr ich herum, zerschmetterte dem anderen Matrosen das linke Ohr und beförderte ihn der Länge nach auf den Boden. Ich setzte mich wieder und wandte mich mit dem Stab in der Hand Tanokbrey zu. Sein Gesicht war grau, und in seinen Augen stand Panik. »Eyclone. Erzählen Sie mir von ihm.« Sein linker Arm fuhr in seine Jacke, und ich rammte ihm den Stab in die Schulter. Ich merkte sofort, dass er unglücklicherweise eine Rüstung unter der Seide trug. Er taumelte unter dem Stoß, doch sein Arm kam dennoch hoch, mit einer kurzläufigen Laserpistole in der Hand. Ich schleuderte ihm den Tisch entgegen, und der Schuss ging vorbei und durchbohrte den Rücken eines Mannes in der Nähe. Das Opfer fiel zu Boden und riss dabei noch einen Tisch um. Der Schuss und der anschließende Tumult hatte die Aufmerksamkeit der gesamten Taverne geweckt. Geschrei und Konfusion griffen um sich. Ich schenkte dem keinerlei Beachtung. Tanokbrey schoss wieder, direkt durch den umgestürzten Tisch, und ich hechtete zur Seite und prallte mit wimmelnden Leibern zusammen. Der Freihändler war auf den Beinen, schlug und trat sich durch die Menge zum Ausgang. Ich sah Betancore, aber die Masse der Leiber hinderte ihn daran, Tanokbrey den Weg zu versperren. »Aus dem Weg!«, brüllte ich, und die Menge teilte sich wie eine Luftschleuse. Tanokbrey war draußen auf dem Gehweg und lief zum Kai am Ende der Straße. Er drehte sich um und schoss. Fußgänger schrien und flohen. Jemand wurde in den Kanal gestoßen. 145
Tanokbrey sprang in ein Gravboot, schoss den protestierenden Taxifahrer nieder, stieß den Leichnam vom Steuersitz und folgte dem Kanal. Betancores Flugrad stand aufgebockt links von mir. Ich ließ den Motor an und machte mich an die Verfolgung. »Warten Sie!«, hörte ich Betancore rufen. Keine Zeit. Tanokbreys Flucht verursachte ein Chaos auf der gesamten Länge des vollen Kanals. Er fuhr sein Boot rücksichtslos in den dichten Verkehr und zwang andere Boote zum Ausweichen. Die goldenen Ziermuster auf dem. schwarzen Rumpf waren von einem Dutzend leichterer Zusammenstöße bereits zerkratzt und verbeult. Die Leute am Ufer und auf dem Wasser brüllten ihn an, während er sich seinen Weg durch sie bahnte. Als er auf einen größeren Hauptkanal stieß, versuchte er seinen Vorsprung zu vergrößern, indem er noch einmal beschleunigte. Ein schnelles Kurierboot, das ihm entgegenkam, wich im letzten Moment aus und prallte mit großer Wucht gegen die Kaimauer. Es überschlug sich mehrfach, der Rumpf aufgerissen, während der Fahrer durch die Luft geschleudert wurde. Ich fädelte das Flugrad in Tanokbreys Kielwasser durch den gestörten Verkehr. Ich wollte an Höhe gewinnen, um mehr Tempo aus der Maschine herauszuholen, ohne einen Zusammenstoß befürchten zu müssen. Aber die Antigrav-Einheit des Vehikels war mit einem Begrenzer ausgerüstet, der es ihm unmöglich machte, höher als drei Meter zu steigen. Ich hatte keine Zeit, nach dem Begrenzer zu suchen oder mir zu überlegen, wie ich ihn umgehen konnte, da ich das Luftrad, zwischen anderen Gravbooten, schwer im aufgewühlten Wasser liegenden Bussen und anderen dahinflitzenden Flugrädern durchlenkte. 146
Voraus hörte ich die entfernte Musik von Militärkapellen. Tanokbrey raste an einer Kreuzung in den Großen Kanal und direkt in die nachmittägliche Parade. Ein sich langsam bewegender Strom aus Booten, Militärbarken und Schwebereskorten füllte die gesamte Breite der Wasserstraße aus. Die Boote waren voller jubelnder Gardisten und Offiziere, dröhnender Regimentskapellen und Würdenträger der Schlachtflotte. Die Luft glitzerte und funkelte von unzähligen Wimpeln und Bannern, Kompanie-Standarten, Imperiumsadlern und Carnodonen. Eine Barke trug die massive goldene Statue eines Carnodons, an die sich jubelnde Gardisten klammerten. Girlanden flatterten an den Läufen vieler tausend blank polierter Lasergewehre. Die Gehwege und Brücken des Großen Kanals waren gerammelt voll von jubelnden Zivilisten. Tanokbreys Boot prallte seitlich gegen eine Truppenbarke, und wütendes Gebrüll und zornige Rufe hallten ihm entgegen, als er zu wenden versuchte. Die Menge am Ufer deckte ihn mit Obst, Steinen und anderen Wurfgeschossen ein. Mit an die zornigen Soldaten gerichteten wüsten Flüchen lenkte er sein Boot um das Heck der Barke in dem Bemühen, sich einen Weg quer über den Kanal zu erzwingen. Ich holte jetzt rapide auf, während ich mich gleichzeitig bemühte, mir nicht die Missbilligung der Meute zuzuziehen. Hupen und Sirenen der Paradenboote hallten ihm entgegen, als er sie schnitt. Ein Soldat von einer der Barken sprang auf sein Boot, um ihn buchstäblich aus dem Verkehr zu ziehen, und Tanokbrey trat ihn ins Wasser, bevor er richtig Halt fand. Das machte die Stimmung noch unangenehmer. Der Lärm der Buhrufe und des empörten Geschreis war immens. Die Parade geriet in Unordnung, und viele Dutzend wütende Gardisten 147
drängten sich an der Reling ihrer Barken und versuchten ihn zu erreichen. Er übersteuerte, um ihren greifenden Armen zu entkommen, und rammte ein Floß mit einer Kompaniekapelle. Mehrere Musiker wurden durch den Anprall von den Beinen geholt, und die stolze Imperiumshymne, die sie gespielt hatten, verwandelte sich in eine Kakophonie falscher Noten und Rhythmen. Erzürnte Soldaten in einem kleineren Boot setzten sich neben ihn und brachten seines gefährlich ins Schaukeln, als sie es zu entern versuchten. Er zog seine Laserpistole. Sein letzter Fehler. Ich bremste ab und landete am Kanalufer. Jetzt hatte es keinen Sinn mehr, die Verfolgung fortzusetzen. Tanokbrey schoss zwei Mal in die Menge. Dann eröffneten zwanzig oder noch mehr frisch ausgegebene Lasergewehre auf einer benachbarten Barke das Feuer und schossen ihn und das gestohlene Boot in Stücke. Die Antriebseinheit explodierte und verteilte Rumpftrümmer über das aufgewühlte Wasser. Eine schwarze Rauchwolke erhob sich über die Banner. Die jungen Rekruten des 50. Gudrunische Infanterie hatten den ersten Abschuss ihrer militärischen Laufbahn erzielt.
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ZEHN Ein Konflikt der Zuständigkeiten. Haus Glaw. Schleichende Geheimnisse.
ange nach Mitternacht versuchte ich in meinem L Schlafgemach im Regent-Hotel Schlaf zu finden. Bequin und Aemos hatten sich schon vor Stunden in ihre Schlafkammern zurückgezogen. Vom Kanal reflektiertes Licht bildete ein silbriges Spiel auf der Decke meiner im Dämmerlicht liegenden Kammer. »Aegis, Rosendorne!«, klopfte Betancores Kom-Flüstern plötzlich an mein Ohr. »Rosendorne, entblättern.« »Gespenster, invasiv, Spiralranke.« Ich war bereits aufgestanden und in Hose und Stiefel geglitten und zog mir den Ledermantel über den nackten Oberkörper. Ich ging mit gezogenem Energieschwert in den Salon der Suite. Das Licht war aus, aber auch hier flimmerten Kanalreflexionen und schufen ein unstetes Dämmerlicht. Betancore stand an der anderen Wand, einen Nadler in jeder Hand. Er nickte zur Haupttür. Sie waren gut, und sie waren sehr leise, aber wir konnten beide verstohlene Bewegungen vor den Türfugen und dem Hintergrund des beleuchteten Hotelkorridors erkennen. Eine sanfte Vibration der Klinke verriet mir, 149
dass jemand das Schloss aufbrach. Betancore und ich schmiegten uns beiderseits der Tür an die Wand. Wir schlossen. die Augen und hielten uns die Ohren zu. Jedes Aufbrechen der Tür würde die Ladungen zünden, und wir wollten weder erblinden noch taub werden. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Keine Blitzladungen krachten. Unsere Besucher hatten die Sicherheitsmaßnahmen entdeckt und neutralisiert. Sie waren sogar noch besser, als ich ursprünglich gedacht hatte. Eine schlanke Teleskoprute schob sich geschmeidig durch den Spalt. Ein optischer Sensor am Ende wurde langsam herumgeschwenkt und suchte den Raum ab. Mit einem Betancore geltenden Nicken trat ich vor, ergriff die Rute und zog mit aller Kraft. Im gleichen Moment aktivierte sich mein Energieschwert. Eine Gestalt krachte gegen die Tür, von meinem heftigen Ruck an der Beobachtungsrute vorwärts gerissen, und taumelte in den Salon. Ich sprang auf ihn, doch trotz seiner Überraschung wand er sich mit einem Fluch beiseite und schlug zu. Ich hatte den vagen Eindruck von einem hochgewachsenen, stämmig gebauten Mann in hautengem Leder. Wir wälzten uns miteinander ringend umher und stürzten ein Sofa und einen Kerzenständer um. Mein Gegner hielt das Handgelenk meines Schwertarms fest umklammert. Also schlug ich ihm mit der linken Hand auf die Kehle. Er brach würgend auf dem Boden zusammen. Ich erhob mich und hörte eine kraftvolle Stimme sagen: »Legen Sie sofort die Waffen nieder.« Eine kleine, krumme Gestalt stand in der offenen Tür. Betancore hatte seine beiden Nadler darauf gerichtet, ließ sie aber gegen seinen Willen sinken. Die Gestalt hatte Willenskraft eingesetzt. Ich wischte das Kribbeln weg, doch für Midas war es zu viel. 150
Die Nadler fielen auf den Teppich. »Jetzt Sie«, sagte die Gestalt, indem die Silhouette sich mir zuwandte. »Schalten Sie die Energieklinge ab.« Ich hatte selten Gelegenheit, die Wirkung psionischer Manipulation zu spüren. Die Technik unterschied sich von derjenigen, die ich benutzte, und die Willenskraft war unverkennbar sehr stark. Ich wappnete mich gegen die grässliche Belastung eines direkten telepathischen Kampfes. »Sie wehren sich?«, sagte die Gestalt. Eine Klinge aus mentaler Energie stach in meinen Schädel und ließ mich zurücktaumeln. Ich wusste sofort, dass ich dieser Kraft nichts entgegenzusetzen hatte. Dies war ein alter, mächtiger und geübter Verstand. Ein zweiter Schmerz bohrte sich in den ersten. Der Mann, den ich zu Boden gestreckt hatte, war jetzt auf den Knien. Noch ein Psioniker. Stärker als der erste, so schien es, doch weniger beherrscht und technisch schwächer. Sein Angriff brannte sich in meinen Schädel, und ich stieß einen Schmerzensschrei aus, aber ich parierte ihn, während ich zurückstolperte, und lenkte seinen eifrig bohrenden Geist mit einem verzweifelten, ungerichteten Schlag ab. Die brodelnden psionischen Energien ließen die Fenster klirren und Möbel vibrieren. Gläser zersprangen, und Betancore fiel winselnd zu Boden. Die gebeugte Gestalt trat weiter vor und zwang mich mit einem neuerlichen mentalen Angriff in die Knie. Ich spürte, wie mir das Blut aus der Nase lief. Mein Blickfeld verschwamm. Mein Griff um das Schwertheft blieb fest. Es endete abrupt. Durch den Tumult geweckt, platzten Aemos und Bequin in den Raum. Bequin schrie. Ihre psionische Leere, die abrupt auf den telepathischen Mahlstrom eindrang, blies diese Energien so plötzlich aus wie ein Vakuum ein loderndes Feuer. 151
Die gebeugte Gestalt schrie auf und stolperte überrascht. Ich stürzte nach vorn, packte sie und schleuderte sie durch den Salon. Es war ein Mann, und er wirkte zerbrechlich, war aber überraschend schwer für so wenig Masse. Betancore hob seine Waffen auf und machte Licht. Der Mann, den ich durch die Tür gezogen hatte, war noch jugendlich, massig gebaut, und hatte einen langen, rasierten Schädel und einen schlitzartigen Mund. Er lag halb bewusstlos am Fenster. Er trug eine hautenge Lederrüstung mit Ausrüstungsharnischen. Bequin erleichterte ihn um seine gehalfterte Schusswaffe. Der andere Mann, die gebeugte Gestalt, erhob sich langsam und unter Schmerzen, da seine alten Gelenke protestierend knackten. Er trug lange dunkle Gewänder. Die dünnen Hände steckten in schwarzen Satinhandschuhen. Eine ganze Reihe protziger Ringe ragten aus den Falten des Gewandes. Er schlug die Kapuze zurück. Er war sehr alt, und sein verwittertes Gesicht war von Falten übersät wie der Stein einer Frucht. Seine Kehle, am Halsausschnitt des Gewandes entblößt, verriet Spuren augmetischer Arbeit, die unzweifelhaft seinen vom Alter gebeugten Körper einhüllten. Seine tief in den Höhlen liegenden Augen funkelten mich mit kalter Wut an. »Sie haben einen Fehler gemacht«, sagte er keuchend. »Einen fatalen, würde ich meinen.« Er zückte ein klobiges Amulett und hielt es in die Höhe. Die Sigille darauf war unverkennbar. »Ich bin Inquisitor Commodus Voke.« Ich lächelte. »Guten Abend, Bruder«, sagte ich. Commodus Voke starrte ein paar Augenblicke auf meine Rosette und wandte dann den Blick ab. Ich konnte das Pochen seiner Wut psionisch spüren. 152
»Wir haben einen ... einen Konflikt der Zuständigkeiten«, brachte er schließlich hervor, während er seine Gewänder glättete. Sein Assistent, der jetzt wieder auf den Beinen war, stand in einer Ecke und starrte mich verdrossen an. »Dann lassen Sie ihn uns lösen«, bot ich an. »Erklären Sie mir, warum Sie mitten in der Nacht in meine Suite eindringen.« »Meine Arbeit hat mich vor acht Monaten nach Gudrun geführt. Eine laufende Untersuchung, sehr komplex. Ich war auf einen Freihändler aufmerksam geworden, auf einen gewissen Effries Tanokbrey. Ich hatte begonnen, mein Netz um ihn festzuziehen, als er verängstigt und in die Flucht geschlagen wurde, wo er schließlich zu Tode kam. Ein paar schlichte Nachforschungen ergaben dann, dass ein Getreidehändler namens Farchaval bei diesem Vorfall irgendwie die Hände im Spiel hatte.« »Farchaval ist meine Tarnung hier auf Gudrun.« »Sie halten es für passend, zu schauspielern und Ihr wahres Wesen zu verbergen?«, fragte er spöttisch. »Wir haben alle unsere Methoden, Inquisitor«, erwiderte ich. Ich war dem großen Commodus Voke noch nie begegnet, aber sein Ruf eilte ihm voraus. Ein widerborstiger Puritaner in seiner Ethik, der beinahe die harte Linie der Monodominanten vertrat, wenn man von der Tatsache seiner bemerkenswerten psionischen Fähigkeiten absah. Ich glaube, so etwas wie eine Thorianische Doktrin passte zu seinen Überzeugungen. Er hatte vor dreihundert Jahren als Novize unter dem großen Absalom Angevin gedient und seitdem eine Schlüsselrolle in einigen der gründlichsten und erbarmungslosesten Säuberungen in der Geschichte des Sektors gespielt. Seine Methoden waren offen und direkt. Verstohlenheit, Kooperation und List waren ihm zuwider. Er nutzte die ganze Kraft seines Amtes und die dadurch erzeugte Furcht, 153
ging, wohin es ihm beliebte, und verlangte alles von jedem, um seine Ziele zu erreichen. Meiner Erfahrung nach verschließt die plumpe, Entsetzen einflößende Methode ebenso viele Türen, wie sie einschlägt. Offen gesagt überraschte es mich nicht, zu erfahren, dass er sich bereits volle acht Monate auf diesem Planeten aufhielt. Er sah mich an wie etwas, in das er beinahe gerade getreten wäre. »Es weckt Unbehagen in mir, wenn ich sehe, dass Inquisitoren den weichen, listigen Wegen der Radikalen folgen. In dieser Richtung lauert die Ketzerei, Eisenhorn.« Das ließ mich zusammenfahren. Ich betrachte mich, wie ich geschildert habe, als sehr puritanisch. Ich folge auf meine Art selbst einer standhaften, harten Linie, die aber so flexibel ist, dass man seine Aufgaben erfüllen kann. Und Voke bezeichnete mich als Radikalen! In diesem Augenblick kam ich mir neben ihm wie ein extremer, gefährlicher Horusianer vor, wie ein verschlagener, Ränke schmiedender Neo-Unabhängiger. Ich versuchte mich darüber hinwegzusetzen. »Wir müssen mehr Informationen teilen, Inquisitor. Ich wage eine Vermutung und behaupte, Ihre Untersuchung hat etwas mit der Glaw-Familie zu tun.« Voke sagte nichts und zeigte auch keine Reaktion, aber ich spürte, wie sich sein Assistent hinter mir mental verkrampfte. »Unsere Arbeit kommt sich in der Tat ins Gehege«, fuhr ich fort. »Ich bin ebenfalls an Haus Glaw interessiert.« In kurzen, simplen Sätzen schilderte ich Eyclones Aktivitäten auf Hubris und zog die Verbindung zu Glaw und Gudrun über den mysteriösen Pontius. Ich hatte sein Interesse geweckt. »Pontius ist nur ein Name, Eisenhorn. Pontius Glaw ist andererseits lange tot. Ich habe unter dem ehrwürdigen Angevin in der 154
Säuberung gedient, die ihn vernichtet hat. Ich habe seinen Leichnam gesehen.« »Aber Sie sind trotzdem hier und untersuchen die Glaws.« Er atmete langsam aus, als treffe er eine Entscheidung. »Nach Pontius Glaws Auslöschung hat Haus Glaw große Anstrengungen unternommen, um sich von seiner Ketzerei zu distanzieren. Doch Angevin, seine unsterbliche Seele ruhe in Frieden, hatte immer den Verdacht, dass der Makel tiefer reichte und die Familie nicht frei von Verderbnis war. Es ist ein altes Haus und mächtig. Es ist schwierig, in seinen Geheimnissen zu wühlen. Aber in den letzten zweihundert Jahren habe ich die Glaws von Zeit zu Zeit begutachtet. Vor fünfzehn Monaten habe ich bei der Verfolgung eines Hexenzirkels auf Sader VII Spuren entdeckt, die darauf hindeuteten, dass dieser besondere Zirkel und mehrere andere kleine Gruppierungen kollektiv von einem praktisch unsichtbaren Stammkult geführt wurden - einem Kult von großer Macht und großem Maßstab, alt und verborgen, der sich über viele Welten erstreckte. Einige Spuren führten nach Gudrun. Dass Gudrun die alte Heimat der Glaws ist, konnte ich nicht als Zufall abtun.« »Jetzt kommen wir voran«, sagte ich, indem ich mich auf einen hochlehnigen Stuhl setzte und ein Hemd anzog, das Bequin mir aus meinem Gemach brachte. Aemos schenkte sechs Gläser Amasec aus einer Karaffe auf der Kommode ein. Voke nahm sein Glas, als es ihm angeboten wurde, und setzte sich mir gegenüber. Er nippte gedankenverloren. Sein Assistent lehnte das von Aemos angebotene Glas ab und blieb stehen. »Setzen Sie sich, Heldane!«, sagte Voke. »Hier gibt es einiges in Erfahrung zu bringen.« Der Assistent nahm ein Glas und setzte sich in die Ecke. 155
»Ich bin einer Kabale auf der Spur, die von einem berüchtigten Organisator geführt wird«, fuhr ich fort, »einer Kabale, die entschlossen war, ein abscheuliches Verbrechen zu verüben. Die Spur führt nach Gudrun und zu den Glaws. Bei Ihnen ist es dasselbe mit einer anderen Ketzerzelle ...« »Tatsächlich sind es drei andere«, korrigierte er mich. »Dann also drei anderen. Und Sie sehen die Silhouette einer sehr viel größeren Organisation. Den Tatsachen nach sieht es so aus, als näherten wir uns demselben Übel von verschiedenen Seiten.« Er leckte sich mit einer winzigen blässlichen Zunge die Lippen und nickte. »Seit ich auf Gudrun bin, habe ich zwei Ketzerzellen ausfindig gemacht und ausgemerzt. Ich bin einigermaßen sicher, was die Aktivitäten von neun anderen anbelangt, davon allein drei hier in Dorsay. Ich habe ihnen gestattet, weiter zu schwären, weil ich sie beobachte. Seit Monaten waren sie damit beschäftigt, irgendein Ereignis vorzubereiten. Dann, vor ein paar Wochen, änderte sich ihr Verhalten. Das muss ungefähr zur Zeit Ihrer Konfrontation auf Hubris gewesen sein.« »Eyclones Unternehmen war ebenfalls groß und beinhaltete ausgedehnte Vorbereitungen. Aber im letzten Moment ist entweder etwas schiefgegangen, oder es hat eine plötzliche Planänderung gegeben. Ich habe ihn zwar besiegt und vernichtet, aber tatsächlich wurden seine Pläne von der Tatsache durchkreuzt, dass der Pon tius nicht eingetroffen ist. Was hat Ihre Arbeit über Haus Glaw in Erfahrung gebracht?« »Ich habe Haus Glaw in drei Monaten zwei Mal besucht. Beide Male haben sie keine Mühe gescheut, mir alle Fragen zu beantworten, und mir auch gestattet, ihr Anwesen zu durchsuchen und ihre Akten einzusehen. Ich habe nichts gefunden.« »Ich fürchte, das könnte daran liegen, dass sie wussten, dass sie es mit einem Inquisitor zu tun haben. 156
Morgen hat Sire Farchaval eine geschäftliche Besprechung mit den Glaws in ihrem Anwesen.« Er dachte darüber nach. »Die Inquisition hat die Pflicht, gegen die Erzfeinde der Menschheit fest zusammenzuhalten. Im Geiste der Zusammenarbeit werde ich abwarten, was Ihre dubiosen Methoden zutage fördern. Herzlich wenig, könnte ich mir vorstellen.« »Im Geiste der Kooperation, Voke, werde ich Ihnen alles mitteilen, was ich erfahre.« »Sie werden mehr tun als das. Die Glaws kennen mich, nicht aber alle meine Schüler. Heldane wird Sie begleiten.« »Das glaube ich kaum.« »Ich bestehe darauf. Ich lasse mir nicht Jahre meiner Arbeit von jemandem wie Ihnen ruinieren, der sich rücksichtslos einmischt. Ich verlange, dass mein eigener Beobachter dabei ist, sonst endet meine Kooperation an dieser Stelle.« Er hatte mich in der Zwickmühle und wusste es. Eine Weigerung würde in seinen Augen nur meine radikale, sorglose Herangehensweise bestätigen. Und ich hatte nicht den Wunsch, Grabenlinien zwischen mir und einem anderen Inquisitor zu ziehen, vor allem keinem so mächtigen und einflussreichen wie Commodus Voke. »Dann tut er besser genau das, was ich ihm sage«, sagte ich. Am nächsten Nachmittag brachen wir um vier Uhr zum Anwesen der Glaws auf. Wiederum wie wohlhabende, aber nicht protzige Kaufleute gekleidet, wurden Bequin und ich von Aemos, Betancore und Heldane - Vokes Mann begleitet. Heldane, sah ich zu meiner Freude, hatte einigermaßen passende zivile Kleidung angelegt. Er und Betancore würden sich als unsere Leibwächter ausgeben, und Aemos nahm als Gen-Biologe teil. 157
Macheles und vier andere luxuriös gekleidete Emissäre der Sinesias-Gilde erwarteten uns im Gildenhaus. Ein Atmosphärenflieger war vorbereitet worden. Der Flieger, ein polierter Pfeil mit dem Gildenwappen, verließ die Landeplattform auf dem Dach des Gildenhauses. und erhob sich geschmeidig in den bewölkten Himmel. Es war, informierte Macheles uns, ein zweistündiger Flug. Ein Gildenemissär machte mit Erfrischungstabletts die Runde durch die prunkvoll eingerichtete Kabine. Macheles erklärte uns den Programmablauf: zunächst ein offizielles Abendessen mit den Vertretern des Hauses Glaw, eine Übernachtung und dann am folgenden Morgen eine Besichtigung des Anwesens. Danach Verhandlungen, falls beide Seiten noch interessiert waren. Wir flogen nach Westen, landeinwärts, und ließen das unfreundliche Küstenwetter hinter uns. Schließlich flogen wir über eine sonnenbeschienene Landschaft aus welligen Weiden, niedrigen Hügeln und beforsteten Wäldern. Die silberne Schlangenlinie des Drunner funkelte unter uns. Ab und zu gab es kleine Siedlungen, Bauerndörfer, eine kompakte Marktstadt mit einer hohen Zinne der Ekklesiarchie. Hin und wieder sahen wir weit entfernt eine andere Flugmaschine. Ein dunkler Gebirgszug füllte langsam den westlichen Horizont aus. Der Abend entfärbte die Wolken. Die Region vor dem Gebirge hob sich in Klippen und Landspitzen, eine majestätischere, wildere Landschaft, die in tiefen Tälern und auf Böschungen dicht bewaldet war. Macheles prahlte bereits, wir flögen über Glaw-Besitz. Das eigentliche Anwesen tauchte einige Minuten später in den sich allmählich verdunkelnden Hügeln auf: ein dreistöckiges Haupthaus im neogotischen Stil, das beherrschend auf einer Klippe stand und mit hundert 158
Fensteraugen auf ein tiefes Tal schaute. Der gekälkte Stein leuchtete weißlich im Dämmerlicht. An das Hauptgebäude grenzten mehrere Flügel, die offenbar zu unterschiedlichen Zeiten gebaut worden waren. Einer führte zu Stallungen und einem anderen immensen steinernen Gebäude am Waldrand, und ich nahm an, dass es das Bedienstetenhaus war. Der andere Flügel führte zum Ende der Klippe und wurde von einer Kuppel beherrscht, die in der untergehenden Sonne golden leuchtete. Das Anwesen war riesig und zweifellos ein Labyrinth. Man hätte die Bevölkerung einer kleinen Stadt darin unterbringen können. Wir landeten auf einem ausgedehnten steinernen Hof hinter dem Haus. Am Ende des Hofs befanden sich drei andere Flugmaschinen in Hangars mit gut ausgerüsteten Wartungsbuchten, die wie umgebaute Kutschenhäuser aussahen. Wir stiegen aus. Es war kühl, und eine abendliche Brise brachte ein paar Tropfen Regen mit. Der Wind seufzte in den Bäumen hinter dem Haus. Schwere Wolkenbänke prangten am Abendhimmel über den hoch aufragenden Bergen. Bedienstete in dunkelgrüner Livree kamen zu uns geeilt, nahmen unser Gepäck und spannten große Schirme mit langem Griff auf, um uns vor dem Nieselregen zu bewahren. Eine Reihe uniformierter Wächter aus dem Gefolge des Hauses Glaw flankierte den Hof. Hochmütig und selbstsicher in ihren langen smaragdgrünen Sturmmänteln und Silberhelmen mit Federbusch, sahen die Wächter für meine Augen wie erfahrene Veteranen aus. Die Bediensteten führten uns und die Gildenemissäre in ein Atrium mit einem schwarzweiß gefliesten Boden und einem hellen, silbrigen Ton in der Beleuchtung. Viele Dutzend Kristalllüster hingen an der hohen Kuppeldecke. Mehr Wächter flankierten die Eingänge. Die Glaw-Miliz war offenkundig sehr zahlreich. 159
»Willkommen im Haus der Glaws«, sagte eine Frauenstimme. Sie näherte sich uns, eine gut gebaute Frau von guter, hoher Abstammung, und ihr gepudertes Gesicht trug den Ausdruck stolzer Sorglosigkeit aller Aristokraten. Sie trug ein majestätisches schwarzes Kleid, bodenlang und ab der Hüfte weit geschnitten, mit silbernen Stickereien und einen großen Zweispitz aus schwarzem Geflecht und eingearbeiteten Perlen, der unter dem Kinn mit einem breiten schwarzen Band gebunden war. Macheles und die Emissäre verneigten sich feierlich, während wir fünf uns mit einem konservativeren Nicken begnügten. »Lady Fabrina Glaw«, verkündete Macheles. Sie näherte sich, und grün livrierte Bedienstete bildeten ein menschliches Kielwasser hinter ihr. »Lady«, sagte ich. »Sire Farchaval. Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen.« Sie machte eine kurze Führung durch das Haupthaus. Ich habe selten so viele extravagante Dinge und Reichtümer außerhalb eines imperialen Hofs gesehen - oder außerhalb von Tobius Maxillas Prunkgemächern. Schlanke Jagdhunde begleiteten uns. Sie zeigte uns eine Reihe antiker Gemälde, hauptsächlich Porträts in Öl, aber auch einige exquisite hololithische Arbeiten sowie lebendige Psi-Bild-Miniaturen. Ihre illustre Familie ... Onkel, Großväter, Vettern, Matriarchinnen, Kriegsherren. Ich sah Vernal Glaw in der Gala-Uniform der Hausmiliz. Orchese Glaw, wie er das Königshaus von Sameter unterhielt. Lutine und Gyves Glaw, Brüder auf der Jagd. Den großen Oberon persönlich, im Gewand eines Imperiumskommandanten und mit einer Hand auf einem antiken Globus von Gudrun. 160
Die Emissäre gaben angemessene Lautäußerungen der Bewunderung von sich. Fabrina selbst wirkte, als folge sie einer Prozedur. Sie spielte die Gastgeberin. Schließlich waren wir nur Getreidehändler. Dies war eine Pflichtveranstaltung. Eine Notwendigkeit. Ich sah, wie Aemos sich verstohlen Notizen machte. Ich stellte ebenfalls Beobachtungen an und merkte mir insbesondere die Geografie des Hauses. In einem langen Flur war der Steinboden mit den ziemlich abgenutzten Fellen von drei Carnodonen bedeckt. Ihre Mäuler mit den gewaltigen Hauern und die böswilligen Augen waren zu einer Grimasse der Wut erstarrt. Auch in diesem traurigen Zustand sprachen Kraft und Größe der Kreaturen für sich. »Wir haben sie gejagt, aber jetzt gibt es nicht mehr viele«, sagte Fabrina Glaw beiläufig, als sie mein Interesse sah. »Alte Zeiten, längst vergangen. Damals war das Leben feudaler. Heute schaut Haus Glaw ausschließlich auf die Zukunft.« Beim Essen in der riesigen Banketthalle gesellten sich Urisel Glaw, seines Zeichens Kommandant der Hausmiliz, und sein ältester Bruder Oberon zu uns, der gegenwärtige Lord Glaw. Doch das Essen fand nicht ausschließlich zu unseren Ehren statt. Ein Vetter der Glaw-Familie und sein Gefolge waren von einer Fremdwelt zu Besuch gekommen. Außerdem waren noch mehrere andere Handelsdelegationen und ein wohlhabender Schiffskapitän namens Gorgone Locke anwesend. Ich war nicht überrascht. Getreidehändler auf Besuch rechtfertigten kaum ein förmliches Bankett, auch wenn sie in Begleitung der prestigeträchtigen Sinesias-Gilde waren. Es war angemessen, dass man uns durch unseren Einschluss in ein größeres Ereignis ehrte. Zweifellos sollten wir beeindruckt werden. 161
Ich ging mit Bequin und Aemos. Hier war kein Platz für Bedienstete und Leibwächter, also waren Betancore und Heldane zu unserer Suite gebracht worden, wo ihnen Essen serviert wurde. Das passte mir gut. Im Saal waren fünf lange Tafeln aufgebaut, die überquollen von gebratenem Fleisch, Obst und unzähligen Delikatessen. Aufmerksame Leibdiener und Servierpersonal waren überall und boten Teller an oder füllten Gläser nach. Streng wirkende Mitglieder der Hausmiliz in grüner brokatgeschmückter Gala-Uniform und poliertem Silberhelm standen in jeder Ecke des Saals. Wir saßen am dritten Tisch bei einer Abordnung von Viehhändlern aus Gallinate, einer Stadt in Gudruns Südkontinent. Unser Status war ausreichend für die Gesellschaft von Lady Fabrina, Hauptmann Terronce von der Hausmiliz und einem gesprächigen Mann namens Kowitz, der einer der offiziellen Einkäufer des Hauses Glaw war. Lord Oberon und sein Bruder Urisel hatten den Vorsitz am Kopftisch bei ihrem zu Besuch weilenden Vetter, Schiffskapitän Locke und einem älteren Ekklesiarchen namens Dazzo. Kowitz erzählte mir bereitwillig, dass Ekklesiarch Dazzo einem Missionarsorden von der Subsektor-Randwelt Damask angehörte, den Haus Glaw finanziell unterstützte. Tatsächlich war es schwierig, Kowitz den Mund zu stopfen. Während die Diener sein Glas nachfüllten, redete er weiter und identifizierte die anderen Gruppen von Gästen. Haus Glaw hatte Interessen auf Welten im gesamten Subsektor, und regelmäßige Bankette wie dieses schmierten die Räder und hielten die Dinge in Bewegung. Schließlich gelang es mir, Kowitz an Aemos abzuwimmeln, den einzigen Mann, der in der Lage war, ihn in einem Redewettstreit zu schlagen. Die beiden 162
begannen sofort ein kompliziertes Gespräch über das Handelsgleichgewicht im Subsektor. Ich behielt den Kopftisch im Auge. Urisel Glaw, ein aufgeblähter, stämmiger Mann in einer juwelenbesetzten, zeremoniellen Kampfgewandung, schenkte Gorgone Locke reichlich Aufmerksamkeit. Ich beobachtete Urisel genau. Der Mann hatte etwas an sich, nicht zuletzt die Tatsache, dass sein breites, rundes Gesicht und die glatten, eingegelten Haare ihm eine unheimliche Ähnlichkeit mit seinem berüchtigten Vorfahr Pontius gaben. Er trank reichlich und lachte feucht und ausgiebig über die Witze des Schiffskapitäns. Seine fetten, starken Finger zupften ständig am geflochtenen Kragen der Uniformjacke, um seinem dicken Hals Luft zu verschaffen. Lord Oberon war ein hochgewachsener, schlankerer Mann mit vorstehenden, klippenartigen Wangenknochen über einem gegabelten Kinnbart. Die Familienmerkmale der Glaws traten in seiner Physiognomie offenkundig zutage, aber er war majestätischer und distinguierter, und ihm fehlte die liederliche Mattigkeit seines jüngeren Bruders. Lord Glaw verbrachte den Abend damit, sich angeregt mit seinem Vetter zu unterhalten, einem aufgeblasenen jungen Kretin mit einem schrillen Lachen und großspurigen höfischen Manieren. Doch sein wirkliches Interesse schien dem stillen Ekklesiarchen Dazzo zu gelten. Ich sah mir auch den Schiffskapitän an. Gorgone Locke war ein grobknochiger Riese mit zusammengekniffenen, tief in den Höhlen liegenden Augen. Er hatte lange rote Haare, zusammengebunden und mit Perlen geschmückt, und sein vorspringendes Kinn War mit silbernen Stoppeln bedeckt. Ich fragte mich, Was sein Schiff und sein Anliegen war. Ich würde Maxilla kontaktieren und Erkundigungen einholen lassen. 163
Das Bankett dauerte bis nach Mitternacht. Sobald es die Höflichkeit gestattete, zogen wir uns in unsere Gemächer zurück. Die Glaws hatten uns eine Zimmersuite im Westflügel gegeben. Draußen hatte der Wind aufgefrischt und seufzte klagend durch die alten Schornsteine und offenen Kamine. Regen prasselte gegen die Fenster, und Türen und Fenster knarrten mit den Böen. Heldane war allein im Wohnzimmer der Suite, als wir zurückkamen. Er hatte mehrere Datentafeln zum Lesen auf einem Tisch geöffnet und blickte auf, als wir eintraten. »Nun?«, fragte ich ihn. Er und Betancore hatten den Flügel in unserer Abwesenheit durchkämmt. Er zeigte mir das Resultat. Die meisten Räume waren mit Abhörvorrichtungen und KomDieben sowie ein paar Bildsensoren verdrahtet, und es gab eine komplizierte Infrastruktur von Alarmeinrichtungen. Heldane hatte ein kleines Störgerät in unserer Suite zum Einsatz gebracht, um die Spionage-Einrichtungen unwirksam zu machen. »Vergleiche«, sagte er, indem er mir zwei Diagramme auf einer Datentafel zeigte. »Die grünen Flächen sind die Bereiche der Gebäude, zu denen mein Meister bei seinen Besuchen Zugang hatte.« Voke hatte mir die Berichte seiner Inspektionen bereitwillig zur Verfügung gestellt. »Darüber liegen in Rot die Ergebnisse der Durchsuchung, die ich heute Abend mit Ihrem Mann vorgenommen habe.« Es gab erhebliche Diskrepanzen. Voke mochte jede Tür geöffnet haben, vor der er gestanden hatte, aber das Diagramm zeigte Geisterbereiche, in denen er nicht gewesen war, weil er nicht gewusst hatte, dass es sie gab. »Das hier sind Keller?«, fragte ich. 164
»Auf jeden Fall unterirdische Räume«, sagte Heldane. Er hatte eine weiche, kränkliche Stimme, die aus seinem schlitzartigen Mund zu sickern schien. »Die an die Weinkeller angrenzen.« Die Vorhänge blähten sich, als sich ein Außenfenster öffnete. Betancore, dessen hautenger schwarzer Kapuzenanzug nass vom Regen war, stieg ein. Er zog seine Greifhandschuhe und stiefel aus und schnallte seinen Ausrüstungsharnisch ab. »Was haben Sie entdeckt?« Tropfnass und ausgekühlt, nahm er das Glas Schnaps, das Bequin ihm brachte, und zeigte mir die Ergebnisse seiner Abtaster. »Auf dem Dach wimmelt es von Alarmvorrichtungen. Ich habe mich nicht getraut, weiter vorzudringen, nicht einmal mit meinen Störgeräten und Sensoren. Unter dem Ostflügel gibt es Räume, von denen Inquisitor Voke nichts weiß. Ein Tunnelnetz scheint sie mit dem Westflügel unter dem Hof zu verbinden.« Ich verbrachte noch ein paar Minuten damit, die Einzelheiten zu betrachten, und ging dann in mein Zimmer, um mich umzuziehen. Ich legte einen hautengen Kapuzenanzug aus einer mattschwarzen Plastekfaser und geschmeidige Handschuhe an. Dann schnallte ich mir einen Koppel um und füllte dessen Beutel mit einem kompakten Fernglas, einem Bund Vielzweckschlüssel, einem Klappmesser, zwei Spulen Monofaserdraht, einer dünnen Taschenlampe, zwei Störeinheiten sowie einem Abtaster. Ich befestigte den Ohrhörer meines Korns unter der Kapuze, verstaute eine Pistole im Brusthalfter und zwei Reservemagazine in einer Oberschenkeltasche und ließ meine inquisitorische Rosette in meine Hüfttasche gleiten. Dies war ein Unternehmen, bei dem ich Entdeckung riskierte. Die Rosette war mein Ass, das ich im Notfall ausspielen würde. 165
Ich ging ins Wohnzimmer zurück und streifte die Handschuhe und Greifstiefel über, die Betancore benutzt hatte. »Wenn ich in einer Stunde nicht zurück bin, ist es an der Zeit, sich Sorgen zu machen«, sagte ich zu ihnen. Draußen erwarteten mich Dunkelheit, Regen und Wind. Die Außenmauer des großen Hauses war nass und alt und der Kalk stellenweise bröckelig. Ich musste bei jeder Bewegung ausgiebig prüfen, ob die überlappenden Zähne der Greifpolster an Händen und Füßen sicheren Halt gefunden hatten. Ich tastete mich an der Seite des Hauses voran, bis ich mich an einer Traufe festhalten konnte. Ich hatte Betancores Datentafel an meinem linken Unterarm befestigt, um mich rasch orientieren zu können. Der winzige, matt beleuchtete Schirm zeigte mir ein dreidimensionales Modell des Gebäudes, und ein in die Tafel eingebauter Trägheitsfinder bewegte den Kartenausschnitt, so dass meine aktuelle Position immer Mittelpunkt der Karte war. Über das Prasseln des Regens hörte ich zwei Eta gen unter mir Füße im Kies knirschen. Ich klammerte mich an den Ziegeln fest und schaltete die Tafel aus, damit mich das Leuchten des Bildschirms nicht verraten konnte. Zwei Angehörige der Hausmiliz in Schlechtwetterumhängen gingen im Schein des durch die Fenster im Erdgeschoss fallenden Lichts an mir vorbei. Sie stellten sich in einem Eingang unter, und kurz darauf sah ich das Aufleuchten eines Anzünders oder Streichholzes. Schließlich drang der süßliche Geruch von Obscura zu mir nach oben. Sie standen beinahe direkt unter mir, und ich wagte nicht, mich zu rühren. Ich wartete. Meine Gelenke wurden langsam taub von der Kälte und der gebeugten Stellung, die einzunehmen ich gezwungen war, 166
um mich auf der Traufe zu halten. Der Regen wurde noch stärker, und der Wind fegte durch die Kronen der unsichtbaren Bäume des Waldes hinter dem Haus. Ich hörte die Männer murmeln und gelegentlich kurz lachen. So ging es nicht. Ich verlor Zeit und das Gefühl in den Beinen. Ich konzentrierte mich, atmete ein paarmal ein und aus, um mich zu sammeln, und griff mit meiner Willenskraft nach ihnen. Ich fand ihren Geist, zwei warme Spuren in der Kälte unter mir. Sie waren weich und verschwommen, da ihre Reaktionen zweifellos durch die betäubende Wirkung des Obscura beeinträchtigt waren. Ein nicht besonders geeigneter Geisteszustand, um ihnen etwas einzuflüstern, aber anfällig für Paranoia. Ich spielte sanft mit ihren Ängsten. Binnen Sekunden verließen sie die Deckung des Eingangs, wobei sie sich lebhaft miteinander unterhielten, und eilten im Laufschritt über den Hof. Erleichtert kletterte ich die Mauer hinunter und stützte mich auf einen vorragenden Fenstersims, während ich an dem Abflussrohr nach Schellen suchte, die meinen Füßen Halt geben konnten. Am Boden angelangt, huschte ich in den Schatten des Westflügels und weiter über den Hof. Betancores vorsichtiger Erkundungsausflug hatte Laserfallen rings um das Wächterhaus am Tor ausgemacht und weitere am Rand der angrenzenden Beete bis zum Springbrunnen Im Hof. Ich konnte sie zwar nicht sehen, aber sie waren präzise auf der Tafel vermerkt, und ich schritt einfach aber jede hinweg, bis auf die letzte, die in Hüfthöhe verlief und unter der ich mich durchduckte. Mein Ziel waren die Flughangars auf der anderen Seite des rückwärtigen Hofs. Die Erkundung hatte dort 167
einen Einstiegspunkt in das Kellernetz ausfindig gemacht. Betancore hatte noch andere entdeckt, aber die befanden sich sämtlich in privaten Bereichen des Hauses oder in denen der Bediensteten wie der Spülküche, dem Kühlraum und der Fleischkammer. Die Rolltore der Hangars waren geschlossen, die Lichter darin ausgeschaltet. Ich kletterte die Steinmauer empor und auf das flache Ziegeldach. Auf der Spitze jedes Hangardachs befand sich der Metallkasten eines Abzugs für das Entweichen der Abgase. Mit meinem Klappmesser stemmte ich eine mit Luftschlitzen versehene Abdeckleiste aus Metall beiseite und glitt mit den Füßen voran in den Schacht. Das kurze Metallrohr des Schachts war unter mir offen, und ich schaute auf das Dach einer abgestellten Flugmaschine. Ein kurzer Sprung, und ich stand geduckt auf dem Dach der Maschine im dunklen Hangar. Ich stieg von der Maschine herunter und trat hinter sie. Eine kleine Luke in der Wand führte in eine Werkstatt, die sich hinten zu einem Ersatzteillager verbreiterte. Der Betonboden war voller Ölflecken, und ich musste mich sehr vorsichtig in der Dunkelheit bewegen, um nicht gegen Hindernisse wie Drehbänke, Werkzeugkarren und herabhängende Flaschenzugketten zu stoßen. Ich warf einen Blick auf meine Datentafel. Der Zugang befand sich am Ende des Ersatzteillagers. Diese Tür nahm sich sehr viel ernster. Ein einbruchssicheres Keramitschloss, eine Alarmanlage und ein Tastenfeld für das Eintippen von Zugangscodes. Ich seufzte, obwohl ich nicht damit gerechnet hatte, dass es leicht sein würde. Ich würde ein Störgerät am Riegel anbringen müssen, um keinen Alarm auszulösen. Dann mussten die Abtaster ihre Arbeit tun und einen gültigen Zugangscode finden. Zehn Minuten Arbeit, wenn ich Glück hatte. Stunden, wenn nicht. 168
Ich zog meine Greifhandschuhe aus, damit ich die Werkzeuge leichter handhaben konnte, und stutzte dann. Mir kam eine Idee. Mein Mentor, der mächtige Hapshant, hatte selbst nicht über psionische Fähigkeiten verfügt. Ein Monodominanter, wie er im Buche stand, möge der Imperator ihn lieben. Aber er hatte fest an Bauchgefühl und Instinkt geglaubt. Er hatte zu mir gesagt, ein Diener des Imperators könne Schlimmeres tun, als auf eine Eingebung vertrauen. Seiner Ansicht nach waren derartige Gefühle vom Imperator geschickt. Ich tippte das Wort »daesumnor« ein. Das Schloss drehte sich, und die Tür schnappte auf. Eine saubere, warme, gut belüftete Treppe bedeutend neueren Fertigungsdatums als das Haupthaus brachte mich ins Kellersystem. Alle drei Meter hing eine vergitterte Lampe an der Wand. Der Karte und meiner Schätzung nach befand ich mich zehn Meter tief unter der Erde, und zwar unter dem Ostflügel. Ich schob meine Kapuze zurück, um besser hören zu können. »Daesumnor« öffnete noch eine Luke, und ich betrat einen langen Korridor mit Lukentüren in einer Seite. Eine stand offen, und ich konnte Stimmen hören und Rauch riechen. Ich schlich weiter und spähte vorsichtig um die offene Lukentür. »... binnen zwei Wochen unter Dach und Fach sein«, sagte eine Stimme. »Das haben Sie schon vor einem Monat gesagt!«, schnaubte eine andere. »Was ist los, versuchen Sie eine höhere Bezahlung herauszuschlagen?« Der Raum war eine Art Salon oder Arbeitszimmer. Bücher und Datentafeln waren mit archivartiger Präzision in Holzregalen an der Wand gestapelt. Weiches Licht kam von Hängelampen und außerdem von einer Reihe versiegelter 169
Schatullen mit Glasdeckel vor der Regalwand. Sie erinnerten mich an die schützenden Verwahrungseinheiten, die in imperialen Bibliotheken zum Einsatz kamen, um alte, wertvolle Texte auszustellen. Der Raum war mit Teppich ausgelegt, und als ich vorsichtig um die Tür lugte, sah ich vier Männer auf thronartigen Armsesseln um einen niedrigen Tisch sitzen. Einer kehrte mir den Rücken zu, aber seiner Jacke nach, die über die Armlehne fiel, war ich sicher, dass es sich um Urisel Glaw handelte. Ihm gegenüber saß der Schiffskapitän, Gorgone Locke. Die anderen beiden kannte ich nicht, hatte aber das Gefühl, dass sie am Bankett teilgenommen hatten. Alle hatten gefüllte Gläser vor sich stehen, und einer der unbekannten Männer rauchte Obscura durch eine Wasserpfeife. Verschiedene Gegenstände lagen zwischen ihnen auf dem Tisch, einige in Samt eingewickelt, andere ausgepackt und offen sichtbar. Sie sahen aus wie Steintafeln, wie alte Artefakte. »Ich versuche nur die Verzögerung zu erklären, Glaw«, sagte Locke. »Der Umgang mit ihrer Kultur ist auch unter günstigsten Bedingungen schwierig.« »Deswegen bezahlen wir Sie ja«, sagte Glaw mit einem spöttischen Lachen. Er beugte sich vor und spielte mit einer der Tafeln. »Aber wir können uns keine weiteren Verzögerungen leisten. Wir haben eine Menge in diese Angelegenheit investiert. Zeit, Geld, Ressourcen. Es bedeutet den Aufschub oder sogar die Aufgabe anderer Unternehmungen, von denen uns einige sehr am Herzen liegen.« »Sie werden nicht enttäuscht, Lord«, sagte der Mann mit der Wasserpfeife. Er trug schlichte schwarze Kleidung, war von schmächtiger Gestalt und kahl, dazu hatte er wässrigblaue Augen. »Die archäoxenologische Herkunft dieser Gegenstände 170
spricht für sich selbst. Die Saruthi meinen ihr Angebot ernst.« Urisel setzte zu einer Antwort an und erhob sich. Ich huschte an der Türöffnung vorbei und in Deckung und schlich rasch weiter durch den Korridor. Eyclones Code öffnete auch die Tür am dortigen Ende, und ich schlich durch ein ausgedehntes kreisrundes Gewölbe. Zwei normale Türluken führten nach links und rechts. Voraus befand sich ein größerer Torbogen, der durch ein Kraftfeld anstelle einer Tür geschützt war. Ich versteckte mich neben dieser Öffnung, als jemand von innen das Kraftfeld ausschaltete. Eine Gestalt trat hinaus und drehte sich um, um das Kraftfeld wieder einzuschalten. Es war Kowitz. Ich nahm ihn von hinten: Ein Arm legte sich um seinen Hals, um ihn am Schreien zu hindern, der andere nagelte seinen rechten Arm fest. Er gurgelte und wehrte sich. Ich wirbelte ihn herum und stieß seinen Kopf wuchtig vor den Türrahmen. Kowitz erschlaffte. Ich schleifte ihn durch den offenen Durchgang. Ein Hebel an der Innenwand schaltete das Feld wieder ein. Die Kammer war länglich und hatte eine niedrige Decke. Die klimatisierte Luft war trocken. Mir ging auf, dass es sich um eine Art Kapelle handelte. Ein steingefliestes, rechteckiges Mittelschiff führte zu etwas, das mir wie ein Altar vorkam. Ansonsten war der Raum leer und hatte nicht einmal Bankreihen oder Sitze. Licht fiel aus Lampen in Vertiefungen im Dach. Ich ließ Kowitz auf dem Boden liegen, ging durch die Kapelle und sah mir den Altar genauer an. Er war zwei Meter hoch, schwarz und aus einem einzigen Obsidianblock gemeißelt. Der glänzende Stein schien von innen zu leuchten. Obenauf lag ein juwelenbesetztes Gebetskästchen von ungefähr dreißig Zentimetern Kantenlänge. 171
Ich hob den Deckel vorsichtig mit der Klinge meines Messers an. Das Kästchen war mit Samt ausgeschlagen, auf dem eine verzierte Kugel lag. Sie sah aus wie ein Klumpen Quarz von der Größe einer geballten Faust, durch den sich goldene Kreise und komplex verschlungene Drähte zogen, wie ein übergroßer ungeschliffener Edelstein in einer bizarren Fassung. Ich fuhr herum, als ich ein Geräusch hinter mir hörte. Kowitz, dem das Blut aus seiner verbeulten Stirn tropfte, stand vor mir und hatte eine Laserpistole auf mich gerichtet. Das Gesicht war blass, seine Miene verriet Wut und Verwirrung. »Komm weg von dem Pontius, du Abschaum«, sagte er.
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ELF Enthüllungen. Der edle Sport. Befriedung 505.
ies war nicht der rechte Ort, um sich fangen zu lassen. D Ich zapfte meine Konzentrationsreserven an und landete ohne körperliche Bewegung einen Schlag sauber zwischen die Augen. Ein psionischer Hieb wie dieser, vor allem auf diese geringe Entfernung und mit klarer Sicht auf das Ziel, hätte ihn fällen müssen wie ein Treffer mit dem Vorschlaghammer. Kowitz blinzelte nicht einmal. »Ich will mich nicht wiederholen müssen«, sagte er, indem er die Waffe hob, so dass sie auf meinen Kopf zeigte. Der Raum war psionisch abgeschirmt, er musste es sein. Entweder das, oder irgendetwas saugte psionische Energien auf. »Es gab ein Missverständnis, Kowitz«, sagte ich. »Ich War spazieren und muss eine falsche Abzweigung genommen haben.« Das war mehr als lahm, aber ich wollte seinen Verstand beschäftigen. »Das glaube ich kaum«, zischte er. Er tastete mit der freien Hand hinter sich, um die Steuerleiste für den Eingang zu finden. Darauf war ein Alarmknopf. Ich wartete. Jeden Moment würde er unwillkürlich nach hinten blicken, um sich zu orientieren. 173
Als die Geste kam, warf ich mich vorwärts und nach unten und zog meine Autopistole. Er fuhr mit einem Aufschrei wieder herum und schoss, aber er zielte zu hoch, und der Schuss traf die Rückwand. Aus liegender Haltung traf ich ihn mit zwei Schüssen ins linke Schlüsselbein und schleuderte ihn rückwärts gegen das Kraftfeld, das bei dem Aufprall knisterte. Kowitz brach auf dem Boden zusammen, und Blut sammelte sich um ihn. Ich erreichte die Steuerleiste an der Tür. Eine bernsteinfarbene Rune blinkte. Kowitz war es noch gelungen, auf etwas zu drücken. Ich schaltete das Kraftfeld aus. Vielmehr versuchte ich es. Nichts. Ich tippte »daesumnor« ein. Nichts. Mir ging auf, dass ich in Schwierigkeiten war. Ich nahm an, dass Kowitz einen Alarm ausgelöst hatte, der alles außer Kraft setzte. Das hinderte mich daran, die Tür zu öffnen. Urisel Glaw und mehrere Angehörige seiner Hausmiliz tauchten draußen vor dem flimmernden Kraftfeld auf. Ich sah, wie sie zu mir hereinlugten und etwas riefen. Ich wich von der Tür zurück und hob Kowitz' Laserpistole auf. Wenn sich die Tür öffnete, würde ich beide Waffen benutzen und jeden ausschalten, der hineinzukommen versuchte. Dann rauschte etwas Psionisches, Finsteres und ungeheuer Mächtiges von irgendwo hinter mir in meinen Geist, und ich verlor das Bewusstsein. Ein Gesicht starrte auf mich nieder, als ich zu mir kam. Ein hübsches Gesicht mit leerem Blick. Das Gesicht sagte etwas. Dann entzündete es sich und schmolz davon, 174
und mir ging auf, dass es nur ein Traum war. Und ich erwachte in einer Welt, die aus Schmerz bestand. »Genug. Bringen Sie ihn nicht um«, sagte eine Stimme. Eine andere Stimme lachte, und ich spürte ein Beben akuter Qual durch Kopf, Brust und Bauch wandern. »Genug, habe ich gesagt! Locke!« Ein milder, enttäuschter Fluch. Die Qualen legten sich und ließen Taubheit und pochenden Hintergrundschmerz zurück. Ich lag auf dem Boden, Arme und Beine gespreizt und mit Handschellen an ein massives Holzkreuz gefesselt. Sie hatten mir Ausrüstung, Koppel, Kapuze, Ohrstecker und alles andere abgenommen mit Ausnahme des Beinteils meines Anzugs und der Stiefel. Lippen, Mund, Kinn und Hals waren mit etwas verklebt, das nur geronnenes Blut sein konnte, und frisches Blut tropfte mir immer noch aus der Nase. Ich öffnete die Augen. Eine fleischige Faust hielt mir meine inquisitorische Rosette vors Gesicht. »Erkennen Sie das, Eisenhorn?« Ich spie Blut. »Dachten Sie, Sie könnten sich bei uns einschleichen, dann diese Plakette zücken und uns allen damit furchtbare Angst einjagen?« Urisel Glaw nahm die Rosette weg und starrte mir ins Gesicht. »Das funktioniert nicht bei Haus Glaw. Wir fürchten Ihresgleichen nicht.« »Dann sind Sie ... wirklich sehr dumm«, sagte ich. Er hieb mir den Handballen gegen die Stirn, so dass mein Hinterkopf gegen das Holzkreuz knallte. »Glauben Sie, Ihre Freunde werden Ihnen helfen? Wir haben sie alle zusammengetrieben. Sie sind da drüben ein paar Zellen weiter.« 175
»Das war mein völliger Ernst«, sagte ich. »Andere wissen, dass ich hier bin. Und Sie wollen sich nicht mit einem Diener der Inquisition anlegen, auch wenn er noch so sehr Ihrer Gnade ausgeliefert zu sein scheint.« Glaw hockte sich vor mich, die Hände zusammengelegt, so dass die Spitzen nach oben zeigten. »Keine Sorge, ich unterschätze die Inquisition nicht. Ich habe nur keine Angst vor ihr. Also, es gibt da ein paar Fragen, auf die ich gern Antworten hätte ...« Er stand auf und trat zurück. Ich sah das schmutzige Gestein der Zelle, in der wir uns befanden, eine Türluke mit Doppelschloss in einer Ecke am Ende einer Steintreppe. Lord Oberon Glaw und der Obscura-Pfeifenraucher aus dem Bibliothekszimmer standen am Fuß der Treppe und schauten aufmerksam zu. Der Schiffskapitän, Gorgone Locke, hockte rittlings auf einer schmutzigen Holzbank in der Nähe. Er trug einen merkwürdigen Apparat an der rechten Hand, einen Handschuh aus gegliedertem Metall, der in einem Finger mit einem nadelartigen Stachel endete. »Sie sehen das falsch, Glaw. Sie sind es, der die Antworten geben wird.« Urisel Glaw nickte Locke zu, der aufstand, zu mir ging und den Nadelhandschuh hin und her bewegte. »Das ist eine Neuralgeißel der Strousii. Unser Freund Kapitän Locke ist ein Experte für ihre Anwendung. Wir waren entzückt, als er sich freiwillig gemeldet hat, dieses Verhör zu führen.« Locke packte mich mit seiner freien Hand an der Kehle, riss meinen Kopf in die Höhe, und seine behandschuhte Faust verschwand irgendwo unterhalb meines Blickfelds. Eine Sekunde später zerfetzten kalte Lanzen des Schmerzes meine Lunge und mein Herz, und meine Luftröhre verfiel in krampfhafte Zuckungen. Ich fing an zu würgen.
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»Ein gebildeter Mann wie Sie weiß alles über Druckpunkte«, sagte Locke im Konversationston. »Die Strousii auch. Aber sie tun mehr, als sie nur zu reizen sie brennen sie gerne aus. Dieser Griff zum Beispiel, der Sie würgt. Er lähmt auch Ihre Atmung und stoppt Ihren Herzschlag.« Ich konnte ihn kaum verstehen. Blut rauschte in meinen Ohren, und explosive Licht- und Farbmuster raubten mir die Sicht. Er zog den Handschuh zurück. Schmerzen und Würgen hörten auf. »Genauso kann ich Ihr Herz anhalten. Ihr Gehirn platzen lassen. Sie blenden. Also spielen Sie mit.« Mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, lächelte ich und sagte ihm, seine Schwester habe meine Fähigkeiten im Bett ganz besonders über seine gelobt. Der Handschuh packte mein Gesicht, und Nadeln stachen in meine Wangen. Ich verlor wieder für einen Moment das Bewusstsein. Schmerzen quollen förmlich durch mein Gesicht. »Seht ihn euch an! Seht ihn euch an! Wo ist dein arrogantes Grinsen jetzt, du kleines Dreckschwein?« Ich antwortete nicht. Locke beugte sich vor, so dass seine Stirn meine berührte und ich nur noch seine Augen sehen konnte. »Nadelwerk«, fauchte er, und sein widerlicher, nach Obscura stinkender Atem flutete in meinen nach Luft schnappenden Mund. »Ich habe gerade ein paar Stiche in dein Gesicht gesetzt. Du wirst nie wieder grinsen.« Ich erwog ihm zu sagen, dass ich nicht viel sah, worüber ich hätte lachen können, doch ich tat es nicht. Stattdessen ruckte ich vorwärts und biss in seinen Mund. Sein Schrei, durch unseren Kontakt übermittelt, ließ meinen Kiefer erzittern. Blut spritzte. Fäuste schlugen wiederholt und 177
verzweifelt gegen meinen Kopf und Hals. Seine langen roten Haare lösten sich, und die perlengeschmückten Enden peitschten um meinen Kopf. Schließlich riss er sich brüllend los. Ich würgte einen Mund voll Blut und ein ordentliches Stück seiner fleischigen Unterlippe aus. Seine freie Hand legte sich auf seinen zerfetzten Mund. Locke stolperte erzürnt zurück und warf sich dann auf mich. Er trat mir wuchtig in Bauch und Hüfte und schlug mir so heftig auf die Wange, dass er mir damit beinahe das Genick brach. Dann spürte ich Nadeln auf der linken Seite zwischen den Rippen, und atemlose Qual hüllte mich ein. Locke schrie mir Obszönitäten ins Gesicht. Wieder ließ mich der Schmerz das Bewusstsein verlieren. Ich kam in einer Woge peinigenden Unbehagens und keuchenden Atemholens wieder zu mir, da Urisel Locke von mir wegriss und durch die Zelle schleuderte. »Ich will ihn lebend!«, bellte Urisel. »Sehen Sie doch, was er getan hat!«, beklagte Locke sich mühsam verständlich durch Blut und zerfetzte Lippen. »Sie hätten vorsichtiger sein müssen«, sagte Oberon Glaw, der jetzt vortrat. Er beugte sich herunter, um mich eingehend zu betrachten, und ich starrte zurück in sein hochmütiges löwenartiges Gesicht, bärtig, kraftvoll und gebieterisch. »Er ist schon halb tot«, sagte Oberon mit einiger Verärgerung. »Ich habe euch Narren doch gesagt, dass ich Antworten will.« »Fragen Sie mich doch selbst«, keuchte ich. Lord Oberon hob die Augenbrauen und starrte mich an. »Was hat Sie in mein Haus geführt, Inquisitor?« »Der Pontius«, erwiderte ich. Das war ein Wagnis, und ich hatte nicht viel Hoffnung, aber es bestand immer die Möglichkeit, dass dieses Wort automatisch zum Tod führen würde, wie bei Saemon Crotes in der Sonnenkuppel auf 178
Hubris. Wie ich erwartet hatte, geschah dies nicht. »Sie kommen von Hubris?« »Ich habe dort Eyclones Arbeit ein Ende gesetzt.« »Sie wurde ohnehin abgebrochen.« Lord Oberon trat zurück. »Was ist der Pontius?«, fragte ich, während ich versuchte, meine Willenskraft zu bündeln, und scheiterte. Die Schmerzen in meinem Körper waren überwältigend. »Wenn Sie es nicht wissen, werde ich es Ihnen kaum sagen«, antwortete Oberon Glaw. Er wandte sich an Urisel, Locke und den Pfeifenraucher. »Ich glaube nicht, dass er etwas über die eigentliche Angelegenheit weiß. Aber ich will sichergehen. Kann man Ihnen noch zutrauen, dass Sie tüchtig arbeiten, Locke?« Locke nickte. Er näherte sich mir wieder mit dem Handschuh und stach mir hinter dem Ohr eine Nadel in den Kopf. Mein Schädel wurde taub. Es wurde praktisch unmöglich, sich zu konzentrieren. »Meine Nadel sticht direkt in die Hirnfurche ihres Hinterhaupt-Scheitellappens«, gurrte Locke mir ins Ohr, »und beeinflusst direkt Ihr Wahrheitszentrum. Sie können nicht mehr lügen, auch wenn Sie noch so wollen. Was wissen Sie über die eigentliche Angelegenheit?« »Nichts ...«, stammelte ich. Er wackelte mit der Nadel, und Schmerzen loderten durch meinen Kopf. »Wie heißen Sie?« »Gregor Eisenhorn.« »Wo sind Sie geboren?« »DeKeres Welt.« »Ihre erste sexuelle Eroberung?« »Ich war sechzehn, ein Mädchen in der Schola ...«
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»Ihre dunkelste Furcht?« »Der Mann mit dem leeren Blick!« Das Letzte platzte förmlich aus mir heraus. Alle Antworten waren wahr und unwillkürlich erfolgt, aber die letzte überraschte sogar mich. Locke war noch nicht fertig. Er drehte die Nadel und bohrte mir die anderen in den Nacken, so dass mein Körper gelähmt wurde und Eis durch meine Adern lief. »Was wissen Sie über die eigentliche Angelegenheit?« »Nichts!« Ohne es zu wollen, fing ich vor Schmerzen an zu weinen. Gorgone Locke setzte das Verhör vier Stunden fort ... vier Stunden, von denen ich weiß. Abgesehen davon erinnere ich mich an nichts. Ich erwachte und fand mich auf einem kalten Betonboden wieder. Anhaltende Schmerzen und Erschöpfung erfüllten jedes Atom meines Wesens. Ich konnte mich kaum bewegen. Zu dieser Zeit in meinem Leben hatte ich noch nie derart extreme Schmerzen und Verzweiflung verspürt. Ich hatte mich noch nie dem Tod so nah gefühlt. »Liegen Sie still, Gregor ... Sie sind bei Freunden ...« Diese Stimme. Aemos. Ich schlug die Augen auf. Uber Aemos, mein vertrauter Gelehrter, schaute mich mit einer Schwermütigkeit an, die nicht einmal seine augmetischen Augen verbergen konnten. Sein Gesicht war zerschlagen, das Gewand zerrissen. »Liegen Sie still, alter Freund«, drängte er. »Sie kennen mich, Aemos«, sagte ich und richtete mich langsam auf. Es war eine ziemliche Aufgabe. Verschiedene Muskelgruppen verweigerten schlicht den Dienst, und ich war kurz davor, mich zu übergeben. Ich schaute mich mit verquollenen Augen um.
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Ich lag auf dem Boden einer runden Betonzelle. Auf einer Seite war eine Lukentür, auf der gegenüberliegenden ein vergitterter Ausgang. Aemos kauerte neben mir, und Alizebeth Bequin, deren Kleid zerrissen und schmutzig war, hockte neben ihm und betrachtete mich mit aufrichtiger Besorgnis. Auf der anderen Seite der Zelle stand Heldane mit verschränkten Armen, und hinter ihm kauerte der Gildenemissär Macheles mit den vier anderen Männern der Sinesias-Gilde, die uns begleitet hatten. Alle sahen blass und hohläugig aus, als hätten sie geweint. Von Betancore war nichts zu sehen. Aemos sah meinen Blick und sagte: »Aegis unstofflich vor der Flut«, in perfektem Glossia. Was bedeutete, dass Betancore irgendwie dem Überfall entgangen war, in dessen Verlauf alle meine anderen Begleiter eingekerkert worden waren. Eine ganz kleine gute Nachricht. Ich erhob mich, in erster Linie dank meiner Entschlossenheit und der Hilfe von Aemos und Bequin. Ich war immer noch bis auf das Beinkleid und die Stiefel nackt, und Rumpf, Nacken, Arme und Kopf waren mit meinem Blut verklebt und blau angelaufenen Mikro-Einstichen übersät. Gorgone Locke war gründlich gewesen. Gorgone Locke würde büßen. »Was wissen Sie?«, fragte ich sie, als ich wieder zu Atem gekommen war. »Wir sind so gut wie tot«, sagte Heldane offen. »Kein Wunder, dass mein Meister diese Art von Arbeit euch selbstmörderischen Radikalen überlässt. Ich wünschte nur, ich hätte mich nicht einverstanden erklärt, Sie zu begleiten.« »Vielen Dank für diese Bemerkung, Heldane. Hat viel leicht jemand etwas weniger Leitartikelhaftes zu sagen?« Aemos lächelte. »Wir befinden uns in einer Kerker zelle unter dem Westflügel, weiter auf der Rückseite 181
und beinahe unter dem Wald. Sie sind in unser Quartier geplatzt, nachdem Sie drei Stunden weg waren, und haben uns mit vorgehaltener Waffe abgeführt. Ich habe mir den Weg hierher gemerkt und mit Midas` Karte verglichen, also bin ich ziemlich sicher, was unseren Standort anbelangt.« »Was haben sie nur mit Ihnen angestellt?«, fragte Bequin, während sie die Wunden in meiner Brust mit einem Stück Stoff abtupfte, das sie von ihrem Kleid abgerissen hatte. Ich zuckte zusammen, und mir ging auf, warum ihr Kleid so zerrissen war. Sie hatte während meiner Bewusstlosigkeit meine Wunden versorgt. Ein Haufen zerrissener und blutgetränkter Stoffstreifen in der Nähe zeugten von ihrer Hingabe. »Vor einer Stunde sind sie gekommen und haben Sie hier bei uns abgeladen. Sie haben nichts gesagt«, fügte Heldane hinzu. »Sind Sie wirklich ein Inquisitor, Sire Farchaval?«, fragte Macheles, indem er vortrat. »Ja, das bin ich. Mein Name ist Eisenhorn.« Macheles fing an zu schluchzen, und die anderen Emissäre fielen ein. »Wir sind tot. Sie haben uns mit in den Tod gerissen!« Ich hatte durchaus Mitleid mit ihnen. Die Sinesias-Gilde war bis ins Mark verkommen, und diese Männer waren korrupt, aber sie befanden sich nur in dieser schwierigen Lage, weil ich sie getäuscht hatte. »Halten Sie den Mund!«, sagte Heldane zu ihnen. Er wandte sich an mich und holte ein winziges Etwas aus der Manschette seines Anzugs. Eine kleine rote Kapsel. »Was ist das?« »Admylladox in einer Dosierung von zehn Gramm. Sie sehen aus, als könnten Sie es brauchen.« »Ich nehme keine Drogen«, sagte ich. 182
Er drückte sie mir in die Hand. »Admylladox ist ein Schmerzmittel und klärt den Verstand. Mir ist völlig egal, ob Sie Drogen nehmen oder nicht, aber ich will, dass Sie das hier intus haben, wenn sich dieses Gitter öffnet.« Ich schaute auf das Gitter. »Warum?« »Waren Sie noch nie bei einem Grubenkampf?«, sagte er. Die Glaws hatten aus mir herausgeholt, was sie konnten. Jetzt wollten sie meinen Tod. Meinen und den meiner Begleiter. Und das bedeutete Sport. Als sich das Tor öffnete, musste draußen gerade der Morgen grauen. Blasses graues Licht fiel in die Zelle und wich beinahe sofort einer harten, grellen künstlichen Beleuchtung. Gerüstete Milizen des Hauses Glaw platzten in unsere Zelle und trieben uns mit Energieschilden und Psi-Peitschen nach draußen. Wir standen im Freien und blinzelten ins Licht, als sich das Tor hinter uns schloss. Ich schaute mich um. Ein großes rundes Amphitheater mit einem hohen Kuppeldach, zweifellos die goldene Kuppel, die wir beim Anflug gesehen hatten. Der Boden der Grube bestand aus feuchtem Moos und Erde, und Flechten kletterten an den Seiten der zehn Meter hohen Steinmauern empor. Oberhalb der Mauern saßen Haus Glaw und seine Gäste auf steilen Terrassen und Johlten auf uns herab. Ich sah Urisel Glaw, Lord Oberon, Locke, Lady Fabrina, den Ekklesiarch Dazzo und den Pfeife rauchenden Mann. Terronce, der Hauptmann der der beim Bankett an unserem Tisch gesessen hatte, führte eine Ehrengarde von beinahe vierzig Mann an. 183
Alle trugen grüne Rüstung, Silberhelm mit Federbusch und ein Autogewehr. Über zweihundert johlende Mitglieder der Glaws, Hauspersonal, Milizen und Diener bildeten den Rest der Zuschauer im Theater. Sie waren die ganze Nacht aufgeblieben und hatten getrunken und sich sonstigen Vergnügungen hingegeben, die nötig waren, um sie bis zum Morgengrauen in hyperaktive, blutdürstige Hyänen zu verwandeln. Ich ignorierte den Lärm und sah mich in der Arena um. An verschiedenen Stellen wuchsen Bäume, und es gab auch ein paar kahle, niedrige Felsen, die der Arena so etwas wie ein Landschaftsgefühl verliehen. Nicht weit entfernt stand ein Gestell mit rostigen Waffen. Macheles und seine Kollegen waren bereits dorthin geeilt und hatten sich stumpfe Kurzschwerter und zahnlose Lanzen genommen. Ich ging ebenfalls hin und nahm mir einen Dolch mit Korbgriff und eine seltsam gekrümmte Sense mit einer gezähnten Innenklinge. Ich wog die Waffen in den Händen. Heldane hatte sich einen Dolch und eine Axt mit langem Schaft genommen, Bequin einen Weidenschild und ein Messer. Aemos zuckte die Achseln und nahm nichts. Das Johlen und Pfeifen um uns schwoll an. Dann verstummte es, und ein Chor von Seufzern stieg aus dem Publikum auf. Das Carnodon maß sechs Meter von der Nasenspitze bis zum peitschenden Schwanzende. Neunhundert Kilo Muskeln, Sehnen, gestreiftes Fell und Sägezähne. Es tauchte hinter uns hinter einer der Baumgruppen auf und schleifte eine schwere Kette an einem Stachelkragen hinter sich her, als es zum Sprung beschleunigte und Macheles zu Boden riss. Der Emissär der Sinesias-Gilde schrie, während er zerfleischt wurde. Er schrie und kreischte viel länger, als dies angesichts 184
der davonfliegenden Körperteile möglich erschien, die das Carnodon abriss. Es muss meine entsetzte Einbildung gewesen sein, aber für mich hörte das Schreien erst auf, als er nur noch ein abgenagter Brustkorb im Moos war, der von dem riesigen Raubtier geschüttelt wurde. Die anderen Emissäre schrien und liefen davon. Einer fiel in Ohnmacht. »Wir sind tot«, sagte Heldane noch einmal und hob seine Waffen. Ich schluckte die Kapsel, die er mir gegeben hatte. Danach ging es mir nicht sehr viel besser. Das große aufgerissene Maul des Carnodons troff von Blut, und seine Kette klirrte, als es sich auf die anderen Emissäre stürzte. Bequin schrie auf. Ein zweites Carnodon sprang aus seinem Bau. Es war etwas größer als das erste, fiel mir auf. Es sprang direkt auf mich zu. Ich stolperte und hechtete nach rechts, und die Katze schlug die Krallen ins Moos, um den Sprung abzubremsen, kam zu weit und warf sich herum. Seine hinterherschleifende Kette fegte über meinen Kopf. Die Tiere gaben ein tiefes Grollen von sich, das aus ihren voluminösen Kehlen barst und die Luft erzittern ließ. Das größere Carnodon ging wieder auf mich los, als ich mich gerade wieder aufgerappelt hatte, und ich sprang zurück. Heldane kam von der Seite angelaufen, da die Aufmerksamkeit des Raubtiers auf mich gerichtet war, und hieb ihm die Axtklinge in die Flanke. Das Carnodon gab ein ersticktes Zischen von sich, peitschte herum und schleuderte Vokes Mann durch die Arena, dessen Oberkörper parallele Kratzspuren aufwies. ich sprang beiseite und brachte ein paar der verkrüppelten Bäume zwischen mich und das Carnodon. Das erste Carnodon hatte einen weiteren Emissär gerissen. Die Aufprallwucht und die verheerenden Wunden brachten 185
den Mann rasch zum Schweigen, und er gab keinen Laut von sich, als sein schlaffer Körper zerfetzt und zerbissen wurde. Die Tiere waren hungrig, das war an ihren vorstehenden Rippen unschwer zu erkennen. Also ein Faktor zu unserem Vorteil ... wenn die Carnodone ein Opfer erlegt hatten, waren sie in erster Linie daran interessiert, es zu verschlingen. Die langen Ketten fesselten sie an Pfählen im Boden und gestatteten ihnen freie Bewegung in der ganzen Grube. Die Ketten waren ganz offensichtlich sorgfältig abgemessen, um sie daran zu hindern, aus der Grube und in die Menge zu springen. Mit peitschendem Schwanz tigerte das größere Carnodon am Rand der Arena entlang, und seine dunklen, tief liegenden Augen musterten die Menschen in Reichweite. Bequin hatte sich mit Aemos in eine Ecke zurückgezogen und benutzte ihren brüchigen Schild und eine Mauerstrebe als Deckung für sie beide, aber die erbarmungslose Menge bewarf sie mit Münzen und Flaschen und Nahrungsmittelresten, um sie in die Mitte der Arena zu treiben. Sie wollten etwas sehen. Sie wollten Blut. Das kreisende Carnodon nieste, so dass Dampfwolken und Speichel aus seinem tropfenden Maul explodierten, drehte sich um und rannte auf Bequin und Aemos los. Schon der Anprall seiner Masse würde sie töten, davon war ich überzeugt. Ich rannte aus meiner Deckung seitlich auf es zu, um es abzufangen, und die Menge johlte und stampfte mit den Füßen. Es unterbrach seinen Ansturm, als es mich sah, und machte Anstalten herumzufahren, als ich mit der Sense zuschlug. Die alte Klinge rasierte verfilztes Fell vom Schulterblatt und hinterließ eine lange rote Schramme auf den Rippen. Eine Pfote zuckte vor, und ich sprang bereits zurück und schwang die Sense erneut in der Hoffnung, wenigstens die riesige Pfote zu treffen, 186
denn seine Reichweite war sehr viel größer als meine. Dann warf sich das Carnodon brüllend vorwärts. Ich ließ mich einfach auf den Rücken fallen und beraubte es damit der Möglichkeit, mich zu Boden zu schleudern und mir die Knochen zu brechen. Dann war es über mir, und eine Pfote zerkratzte meine Brust und zerquetschte sie mir dann beinahe, als sich ihr Gewicht auf mich legte, um mich festzuhalten. Der Kopf schoss nach unten, weit aufgerissen, um mir den Kopf abzubeißen. Ich stieß blind und hektisch mit meiner Waffe zu und trat nach oben in die weichere, anfälligere Bauchseite. Das Gewicht der Pfote verschwand abrupt. Das Carnodon zuckte weg von mir und gab ein entsetzliches leises Heulen von sich. Der Dolch war nicht mehr in meiner Hand. Der Knauf ragte aus dem Kinn der Bestie. Die Klinge hatte das Maul fixiert und festgeklemmt. Das Carnodon hackte mit der Pfote nach der Waffe und versuchte sie herauszubekommen. Es schüttelte seinen massiven Kopf wie ein Pferd, das sich von einer Fliege belästigt fühlte. Ich stand auf. Blut lief aus den frischen Schrammen in meiner Brust. Heldane lief plötzlich durch mein Blickfeld. Seine zerfetzte Jacke wehte ihm hinterher. Seine Axt sauste auf den breiten Rücken des Raubtiers nieder und durchtrennte das Rückgrat mit lautem Krachen. Krampfhafte Zuckungen überliefen das Carnodon, das wild um sich schlug und krallte und sich auf dem Boden wälzte. Heldane ließ die Axt noch einmal heruntersausen und traf den Schädel. Die Zuschauer ließen die Arena mit ihrem Geheul erbeben. Wurfgeschosse regneten auf uns nieder. Heldane drehte sich zu mir um und sah mich mit einem mörderischen Grinsen des Triumphs an. Dann traf ihn die Masse des anderen Carnodons von hinten und warf ihn flach aufs Gesicht. 187
Es war fertig mit den Emissären und hatte alle getötet bis auf den einen, der ohnmächtig geworden war und immer noch dort lag, wo er hingefallen war. Es fiel über den hilflosen Heldane her, riss ihm die Kopfhaut auf und fetzte ihm das Fleisch vom Rücken. Mit einem gutturalen Aufschrei rannte ich auf die Bestie los, traf sie mit meiner Sense hinter einem Ohr und zog. Die gebogene Klinge hakte sich ein, und es gelang mir, den Kopf für einen Augenblick zurückzureißen. Dann traf mich eine gut gezielte Flasche seitlich am Kopf und warf mich um. Ich verlor die Sense. Die Bestie fuhr herum und ließ Heldane als verstümmeltes Wrack mit dem Gesicht nach unten auf dem blutigen Boden liegen. Ich wich zurück und trat nach ihr. »Eisenhorn!«, rief Bequin, die von der anderen Seite angelaufen kam. Sie warf ihr Messer über den Rücken der Kreatur, und ich fing es sauber auf. Von ihrem Schrei überrascht, fuhr die Bestie wieder herum, hieb nach ihr, zerfetzte den Weidenschild und schleuderte sie zu Boden. Ich sprang auf den Rücken des Carnodons und stieß ihm das Messer wiederholt in den Nacken. Die Klinge schien kaum durch das dicke Fell zu dringen. Es wand sich und versuchte mich abzuschütteln. Ich sah die Sense in der Kopfhaut hinter dem Ohr hängen, packte sie und hakte die Klinge unter den Stachelkragen. Das Carnodon war jetzt tobsüchtig und zerrte wild an seiner Kette. Ich stieß den Dolch durch ein Glied und in sein Schulterblatt und hebelte die Waffe dann mit aller Kraft herum, die ich aufbringen konnte. Das Kettenglied bog sich auf. Die Kette teilte sich. Das Carnodon lief ein paar Schritte, brüllte und machte einen Satz. Mühelos sprang es die Seite der Grube empor und in die kreischende Menge. Ich hielt mich immer noch 188
krampfhaft am Griff der Sense fest und wurde mitgerissen. Bei der Landung auf den Sitzen wurde ich davon geschleudert und flog in das panisch flüchtende Publikum. Die Bestie lief Amok. Sie stürzte sich auf die Menge und schleuderte schlaffe, verstümmelte Gestalten und Blutfontänen in die Luft. Das allgemeine Pandämonium ließ die Kuppel erbeben. Ich stand auf und stieß die Leute weg, die bei ihren Fluchtbemühungen über mich stolperten und fielen. Schüsse hallten durch das Amphitheater. Auf den höheren Tribünen sah ich Milizen nach unten laufen und auf das Carnodon schießen, während sich Terronce und andere Männer durch einen Seitenausgang in Sicherheit brachten. Die Schüsse der Miliz trafen Leute in der Menge. Ich sprang über die Lehnen mehrerer Sitze und schlug zwei Diener nieder, die nach mir griffen. In der Sitzreihe über mir kamen zwei Milizen angelaufen und hoben ihr Autogewehr, um auf die in der Menge wütende Bestie zu schießen. Den einen fällte ich mit einer durch Wut und Adrenalin angefachten psionischen Lanze und riss ihm die Waffe aus den Händen. Bevor sein Kamerad darauf reagieren konnte, hatte ich ihn mit einem kurzen Feuerstoß über das Geländer und in die Grube befördert. Ich schaute auf die Sitze, wo die Glaws und ihre Gäste gesessen hatten. Lord Glaw, Locke und der Pfeifenraucher waren bereits verschwunden, und die Milizen trugen gerade Lady Fabrina und den Ekklesiarch weg. Aber Urisel Glaw war noch da und brüllte seinen Männern über den blutigen Tumult Befehle zu. Er sah mich. »Die Inquisition wird keine Gnade zeigen«, rief ich ihm zu, obwohl ich bezweifelte, dass er mich hören konnte.
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Urisel starrte einen Moment zu mir herab, brüllte dann noch ein paar mit Flüchen gespickte Befehle und richtete seine Aufmerksamkeit dann auf das Carnodon. Es hatte die Plätze der Gemeinen mittlerweile hinter sich gelassen und schlitzte gerade einem Angehörigen der Miliz den Bauch auf. In dem gestreiften Fell waren zahlreiche blutende Schusswunden zu erkennen. Urisel schnappte sich ein Jagdgewehr, das einer der Männer ihm geholt hatte. Er zielte sorgfältig auf das Carnodon und schoss. Die gewaltige Waffe krachte, und der massige Leib der Kreatur kippte mit aufgesprengter Brust einfach um. Die fallende Masse zerquetschte einer Miliz die Beine. Die Menge flüchtete weiter, aber der Aufruhr legte sich ein wenig, so dass mir auffiel, dass eine Reihe von Glocken läuteten. Metallglocken, die elektrisch ausgelöst wurden. Tiefer in dem gewaltigen Anwesen ertönten andere Alarme. Urisel senkte sein Gewehr und bedeutete einigen seiner Männer herauszufinden, was es mit dem Alarm auf sich habe. Jene in der Menge, die nicht kopflos vor Angst oder zu berauscht waren, schauten sich ängstlich um. Entfernte, unerklärliche Geräusche waren zu hören. Ich machte mir deswegen keine großen Gedanken. Urisel zielte erneut, diesmal auf mich. Ich hechtete zur Seite, und ein paar Holzsitze explodierten. Ich raffte mich wieder auf. Urisel lud seine großkalibrige Jagdflinte nach, und Terronce stürmte gefolgt von anderen Männern zu mir nach unten. Terronce schoss. Ich zielte hoch und sprengte seinen Kopf und den Federbuschhelm mit einem weiteren Feuerstoß. Urisel hatte seine Waffe geladen und machte Anstalten zu schießen. Er legte die Jagdflinte an und fand mich in der Menge.
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Von irgendwo hinter mir kam eine Serie knisternder Schüsse. Drei der Milizen am Grubengeländer zuckten und fielen, und Urisel Glaw wurde zurückgeschleudert. Sein Jagdgewehr krachte, als es in die Kuppeldecke feuerte. Die Menge wurde sofort wieder hektisch, und die restlichen Soldaten orientierten sich weiter nach oben und hielten nach diesem neuen Schützen Ausschau. Ich drehte mich um und sah ihn sofort. Midas Betancore kauerte auf der Schräge einer Markise über den Grubentribünen auf der anderen Seite der Arena. Seine Nadler, einer in jeder Hand, spien erneut Feuer und beharkten die vorderen Tribünen mit tödlichen Schüssen. Mitglieder des Haushalts und mehrere Milizen fielen. Ein Wächter kippte über das Geländer in die Grube. Weiter vorn am unteren Geländer ging die Panik der Menge, sich vor dem Gemetzel in Sicherheit zu bringen, jetzt in eine wilde unkontrollierte Flucht über. Das Geländer brach, und ein halbes Dutzend Pagen und Küchenpersonal fiel in die Grube. Einer klammerte sich noch einen Moment am gebrochenen Geländer fest, bevor er abrutschte und fiel. Die verbliebenen Milizen hatten Midas jetzt entdeckt und schossen mit ihren Autogewehren auf die gekachelte Markise. Kachelfetzen und Staub explodierten förmlich, doch Midas war bereits unterwegs und eilte sicheren Fußes über das Terrakottavordach. Er halfterte seine Waffen, glitt daran herunter, hielt sich mit beiden Händen am Ende fest und führte einen meisterhaften Schwung aus, der ihn auf die sich leerenden Tribünen beförderte. Die Waffen der Milizen folgten ihm wild feuernd und mähten nur einzelne Leute aus der schreienden Menge nieder. Ich rannte zum Geländer. »Deckung! Deckung!«, rief ich zu Bequin und Aemos herunter. Sie waren damit beschäftigt, Heldanes blutige Gestalt in die relative Sicherheit der Grubenmauer zu schleifen. 191
Ich lief zum Leichnam eines Wächters in der Nähe und schnappte mir noch ein paar Magazine aus dessen Koppel. Ein paar Schüsse peitschten in meine Richtung, aber die meisten waren über die Grube hinweg auf Midas gezielt. Ich nahm Deckung hinter einigen Sitzen und Opfern des Carnodons und eröffnete meinerseits das Feuer auf die Tribünen, indem ich kurze Feuerstöße auf die Milizen abgab. Ihr Gegenfeuer riss Holzsplitter und Fleischfetzen aus meiner improvisierten Deckung. Midas war wieder in Bewegung, und seine Nadler knisterten. Die Alarmglocken läuteten immer noch, und jetzt hörte ich neben ihnen und dem Lärm der fliehenden Menge auch Schüsse und das donnernde Krachen von Explosionen. Die Arena hatte sich jetzt bis auf die letzte Handvoll Hausmilizen geleert, die sich mit dem gut gedeckten Midas ein Feuergefecht lieferten. Die explosiven Kampfgeräusche aus der Umgebung wurden immer lauter. Ich erreichte die Sitzreihe, wo die Hausherren gesessen hatten. Die Glaws und ihre Gäste waren längst verschwunden. Urisels Jagdgewehr lag auf dem Boden, und auf dem Sitz war Blut. Midas hatte ihn mit seinen Nadlern zumindest gestreift. Ich lief am Ende der Sitzreihe vorbei und ins Treppenhaus, das Autogewehr im einhändigen Hüftanschlag. Die Leichen zweier im Gedränge totgetrampelter Bediensteter lagen verdreht auf dem Boden. Urisel Glaw war mit seiner stark blutenden Schulterwunde nicht weit gekommen. Er hörte mich kommen, taumelte herum und schoss mit einer kleinen Automatikpistole durch den düsteren Tunnel. Dann verschwand er aus meinem Blickfeld. Den Gewehrkolben unter den Arm geklemmt, tastete ich mich in der Dunkelheit des feuchten Steintunnels voran.
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Eine Öffnung zur Linken führte in ein Treppenhaus zu den Kerkerzellen. Rechts befand sich eine Lukentür, die Zugang zum Haupthaus gewährte. Ich stieß die Tür mit dem Lauf des Autogewehrs auf. Urisel kam heulend aus dem Treppenhaus zu den Kerkerzellen und sprang mich von hinten an. Ich prallte mit dem Gesicht voran gegen den Türrahmen, und aus dem Autogewehr lösten sich drei Schüsse, als es meiner Hand entrissen wurde. Ohne auch nur zu versuchen, mich umzudrehen, beugte ich mich nach vorn und griff hinter mich. Ich bekam Uniformstoff zu fassen und riss Urisel Glaw herum und gegen die Wand. Er schrie auf. Ich verpasste ihm einen Schwinger mit der Linken, der ihn zurücktaumeln ließ, dann eine Rechte, die ihm die Zähne einschlug. Er umklammerte mich mit beiden Armen, und wir stolperten ein paar Schritte zurück, bevor ich mich dagegenstemmte, ihm die Beine wegtrat und ihm die Faustknöchel ins Brustbein rammte. Der Kampfgeist schien ihn verlassen zu haben. Ich nahm ihn in einen Würgegriff und knallte seinen Schädel gegen die Tunnelwand. »Für dich gibt es keine Erlösung, Sünder«, spie ich in sein blutiges Gesicht. »Und auch nicht für dein erbärmliches Haus! Nutz deinen letzten Atem klug und verrate mir, was du weißt, sonst lehrt die Inquisition dich Schmerzen, die Gorgone Locke erst noch ersinnen müsste.« »Du ...«, gurgelte er durch Blut, Speichel und Zahnsplitter, »du kannst dir nicht mal in Ansätzen das Elend vorstellen, das Haus Glaw über das Imperium bringen wird. Unsere Macht ist zu groß. Wir stürzen den verfluchten Imperator von seinem goldenen Thron und lassen ihn im Staub kriechen und Exkremente essen. Die Welten des Imperiums werden vor Oberon und dem Pontius verbrennen. Gelobt sei die Macht der Großen Finsternis von Slaanesh ...« 193
Sein ketzerisches Gewäsch ließ mich kalt, aber bei der Erwähnung der Dämonen-Blasphemie drehte sich mir der Magen um, und mir wurde kalt ums Herz. Ich schlug ihn nieder und sah mich nach etwas um, mit dem ich ihm Hände und Füße fesseln konnte. Jenseits des Tunnels erbebte das Glaw-Anwesen, als befinde es sich mitten in einem Kriegsgebiet. Midas Betancore tauchte in der Einmündung des Tunnels auf und sah, wie ich Urisel Glaw mit Markisenschnur an ein Heizungsrohr fesselte. Er halfterte seine Nadler und kam zu mir. Ich hörte, wie er sein Korn einschaltete und seine Position meldete. Eine knappe Antwort kam knisternd zurück. »Was geht hier eigentlich vor?«, fragte ich ihn. »Ein Landeunternehmen der Schlachtflotte Scarus«, erwiderte er selbstzufrieden. Er war draußen gewesen, als Glaws Männer gekommen waren, um Aemos, Bequin und Heldane festzunehmen. Mittlerweile war ich zwei Stunden überfällig gewesen, und er hatte sich auf die Suche nach mir gemacht. Die Miliz war im gesamten Anwesen ausgeschwärmt und hatte ihn gesucht, aber Midas gehörte zu der Sorte, die man nur fand, wenn sie es wollte. Er war den Suchtrupps ausgewichen, in den Kommunikations-Anbau des Hauses eingebrochen und hatte einen kurzen, aber erschöpfenden Bericht verschlüsselt direkt an Commodus Voke in Dorsay abgeschickt. Vokes Reaktion war unmittelbar und autoritär ausgefallen. Die Glaw-Familie hielt einen Diener der imperialen Inquisition und dessen Partner gewaltsam fest. Mehr hatte Voke nicht gebraucht. Seine Forderungen, die keine Weigerung zuließen, waren förmlich über die Köpfe von Flottenadmiral Spatia und dessen Stab hinweggefegt und direkt an den Marschall 194
persönlich gerichtet worden. Der Marschall hatte binnen einer halben Stunde eine Abteilung der Flottensicherheit mobilisiert und Vokes Kommando unterstellt. Als Inquisitor weiß ich, dass ich das Recht und die Befugnis habe, derartige unterstützende Aktionen selbst zu verlangen, sogar von einem Marschall. Und ich habe es bei einigen wenigen Gelegenheiten sogar getan. Aber ich war dennoch beeindruckt von dem Respekt und der Furcht, die der alte Inquisitor bei Männern von derart hohem Rang wachrief. Eine souveräne Aktion wie diese war charakteristisch für Voke, charakteristisch für seine massiven, wuchtigen Methoden. Er hatte nur einen geringfügigen Anlass gesucht, um mit dem sprichwörtlichen Zorn von Macharius über Haus Glaw zu kommen, und ich hatte ihm den Anlass geliefert. Zumindest meine Gefangennahme. Ein Teil von mir war sicher, diese Zurschaustellung von Einfluss und Autorität war Commodus Vokes Art, sich als Alphamännchen zu etablieren, inquisitorisch gesprochen. Mir war es egal. In Wahrheit war ich froh darüber. Das Blutvergießen in der Arena hätte uns vielleicht den Ausbruch gebracht, aber ohne die Aktion hätten wir niemals vom Anwesen der Glaws und den Fängen der Miliz entfliehen können. Das Unternehmen trug den Codenamen »Befriedung 505«, wobei 505 die topografische Referenz für Haus Glaw war. Die Truppen waren vor dem Morgengrauen in vier gepanzerten Landungsbooten gekommen und hatten sich dicht über dem welligen Gelände der Klippen gehalten, um nicht von dem mehr als empfindlichen Sensorsystem des Hauses Glaw erfasst zu werden. Die Schiffe hielten sich hinter den benachbarten Hügeln verborgen, als die Sonne aufging, also etwa zu der Zeit, als wir in der Zelle dahinsiechten, um einem Stoßtrupp der Flottensicherheit Gelegenheit zu geben, 195
zu Fuß vorauszueilen und auf elektronischem Weg Löcher in die Abwehrvorrichtungen des Anwesens zu schneiden. Mittlerweile waren sie in Reichweite von Betancores persönlichem Korn gewesen, und er hatte ihnen logistische Informationen und die aktuelle militärische Disposition der Hausmiliz zukommen lassen. Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als das erste Carnodon aus seiner Grube gesprungen war, waren die Landungsboote hinter einem langen Waldstück hervorgekommen und in Richtung Haus geflogen. Die Verteidigung von Stalinvast, eine Leichte Fregatte, die von Admiral Spatian auf Befehl des Marschalls Anweisung bekommen hatte, in einen geosynchronen Orbit über Ziel / Glaw /505 zu schwenken, hatte die Hangars hinter dem Hof mit punktgenauen Salven ihrer Bordgeschütze vernichtet. Zwei Landungsboote hatten Rauch- und Splittergranaten verschossen und waren vor dem Haupthaus gelandet, was alle Fensterscheiben sprengte. Vierzig schwarz gerüstete Soldaten der Flottensicherheit hatten dann eine Kampflandung gemacht und waren auf das Haupthaus vorgerückt. Völlig überrumpelt, hatten siebzig Männer der Hausmiliz dennoch versucht, den Angriff abzuwehren. Die anderen beiden Landungsboote waren hinter dem Haus gelandet und hatten ihre Truppen auf einem Hof abgesetzt, der immer noch durch die brennenden Trümmer der Hangars erleuchtet wurde. Binnen drei Minuten war ein Feuergefecht in den Korridoren und Sälen von Haus Glaw im Gange gewesen. Mittlerweile hatten alle Alarmsirenen und -glocken kräftig geheult und geläutet. Haus Glaw hatte annähernd vierhundert kampffähige Männer in seinem Gefolge, ganz abgesehen von weiteren neunhundert Bediensteten und Angestellten, von denen viele zu den Waffen griffen. 196
Die Glaw-Miliz bestand durchweg aus gut ausgebildeten Männern, Veteranen, die gerüstet waren und grüne antiballistische Kleidung und silberne Helme trugen und mit Autogewehren und schweren Karabinern sowie Granaten bewaffnet waren. Nach den gängigen Maßstäben eine Armee. Ich kenne mehr als einen Befehlshaber in der Imperialen Garde, der mit Truppen dieser Zahl und Stärke Städte und sogar ganze Planeten eingenommen hat. Und sie hatten den Vorteil, auf Heimatgelände zu kämpfen. Sie kannten sich aus und wussten um die Stärken und Schwächen des Anwesens. Die Flottensicherheit nahm sie auseinander. Die Elite der Schlachtflotte Scarus, mit mattschwarzen Gewehren und eiserner Disziplin bewaffnet, eroberte und säuberte das große Haus Zimmer für Zimmer. Einige Widerstandsnester waren zäh. Die Soldaten verloren drei Männer in einem Feuergefecht auf geringste Entfernung im Küchenbereich. Ein Selbstmordattentat von zwei mit Granaten beladenen Glaw-Milizen sprengte weitere vier und zwanzig Meter vom Ende des Ostflügels in die Luft. Zweiundzwanzig Minuten nach Beginn des Angriffs hatte die Miliz knapp dreihundert Männer verloren. Zahlreiche Mitglieder des Haushalts und unbedeutende Dienstgrade flohen in den Wald und die Täler hinter dem Haus. Einigen wenigen gelang die Flucht. Die meisten wurden zusammengetrieben und über dreißig vom sich immer enger zusammenziehenden Ring der Imperialen Garde um das Anwesen getötet. Diese Männer, insgesamt zweitausend, waren Rekruten von der Gründung, gudrunische Infanterie, die man aus ihren Kasernen gescheucht und landeinwärts verschifft hatte, auf dass sie einen Vorgeschmack in Bezug auf Überraschungskämpfe bekamen, bevor sie ihre Heimatwelt verließen.
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Der blutige Widerstand der Glaw-Miliz hatte in erster Linie den Sinn, ihren Adeligen Zeit zur Flucht zu verschaffen. Der nicht von Gudrun stammende Vetter und sein Gefolge wurden von der gudrunischen Infanterie auf dem Weg hinter dem Haus festgenommen und dann massakriert, als sie versuchten, sich den Weg freizuschießen. Andere Händler und Gäste des Banketts ergaben sich den vorrückenden Truppen. Mehrere raumtüchtige Schiffe starteten aus geheimen Hangars im Wald hinter dem Haus. Eines wurde von einem Soldaten mit einem Raketenwerfer aus der Luft geholt. Weitere zwei kamen fünf Kilometer weit durch das Tal, bevor sie von der wachsamen Verteidigung von Stalinvast eingeäschert wurden. Ein anderes, ein schnelles und schwer gepanzertes Modell, wich dem Beschuss aus und flog nach Westen. Die Verteidigung von Stalinvast schickte drei Jäger hinterher, und schließlich schossen sie es nach einer längeren Verfolgung über dem offenen Meer ab. Nur Wochen forensischer Arbeit mochten enthüllen, wer sich an Bord dieser Schiffe befunden hatte, und es gab keine Garantie, dass sich überhaupt etwas ergeben würde. Vieles sprach für Lord Glaw, Lady Fabrina, Gorgone Locke, Dazzo den Ekklesiarch und den namenlosen Pfeifenraucher. Jedenfalls war keine von diesen Personen unter dem leidenden Abschaum, der von der Garde und der Flottensicherheit zusammengetrieben wurde. Neunzig Minuten nach dem Beginn von »Befriedung 505« wurde das Unternehmen von Major Joam Joakells von der Flottensicherheit als »abgeschlossen« gemeldet. Erst dann traf die Flugmaschine mit Commodus Voke ein.
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ZWÖLF In den Ruinen des großen Hauses. Gemurmel. Erhebung.
s war Mittag, aber das nächtliche Unwetter hatte nicht E nachgelassen, und der Regen wusch die Farbe aus dem Himmel und löschte die brennenden Abschnitte des GlawAnwesens, das eine schreckliche geschwärzte Ruine auf dem Hügel war — die Fenster ausgebrannt, die Dächer halb gedeckte Träger —, aus der grauweißer Rauch aufstieg. Ich saß im Hof, an den Radschützer eines imperialen Truppentransporters gelehnt, und trank ab und zu einen Schluck aus einem Kristalldekanter mit Amasec. Mein Kopf war geneigt. Ich brauchte medizinische Hilfe und Schmerzmittel, einen Aufmunterer, ein gutes Essen, Hirnchirurgie für die vielen hundert Wunden, die Locke mir zugefügt hatte, ein Bad, saubere Kleidung ... Mehr als alles andere brauchte ich ein Bett. Truppen marschierten vorbei, und ihre Stiefel knirschten im Gleichschritt auf dem nassen Stein. Befehle klangen hin und her. Ab und zu flog ein Kampfschiff über uns hinweg und brachte mit seinen Nachbrennern mein Trommelfell zum Vibrieren. Mir schwamm der Kopf. Bruchstücke sammelten sich in meinem Unterbewusstsein und fügten sich zusammen, um dann überzulaufen. Jedes Mal schüttelte ich mich wach. 199
Der Mann mit dem leeren Blick war da, in meinem Hinterkopf. Ich wollte nicht an ihn denken und sah hier keinen Platz für ihn, doch sein Bild hielt sich. Einmal war ich sicher, dass er auf der anderen Seite des Hofs vor mir stand, an der Tür zur Spülküche, und mich anlächelte. Ich blinzelte ihn fort. Ich war immer noch mit Schweiß, Blut und Dreck verklebt. Schmerzen und Müdigkeit hingen wie ein Schleier an mir. Ein Korporal der Flottensicherheit hatte unsere beschlagnahmten Habseligkeiten aus Urisel Glaws Suite geholt, und ich hatte ein Hemd und meinen durchgeknöpften Ledermantel angezogen. Der Soldat hatte mir meine inquisitorische Rosette gereicht, und die hielt ich nun wie ein Totem. Eifrige Männer der 50. Gudrunischen Infanterie scheuchten Personal des Hauses Glaw über den Hof. Die Gefangenen hatten die Hände hinter den Köpfen verschränkt, und einige weinten. Jemand glitt neben mir auf die kalten Fliesen und lehnte sich an die ölige Kette des Truppentransporters. »Lange Nacht«, sagte Midas. Ich reichte ihm den Dekanter, und er trank ausgiebig. »Wo ist Aemos? Das Mädchen?« »Den Gelehrten habe ich herumlaufen und sich Notizen machen sehen. Alizebeth bin ich nicht mehr begegnet, seit wir sie aus der Grube befreit haben.« Ich nickte. »Sie sind halb tot, Gregor. Lassen Sie mich einen Flieger rufen, der Sie nach Dorsay bringt.« »Wir sind hier noch nicht fertig«, sagte ich. Prokurator Madorthene salutierte beim Näherkommen vor mir. Er trug jetzt nicht mehr seine gestärkte weiße Uniform. In der kohlschwarzen Rüstung der Flottensicherheit sah er größer und gebieterischer aus. »Wir haben versucht, die Leichen zu identifizieren«, sagte er. 200
»Oberon Glaw?« »Keine Spur.« »Gorgone Locke? Der Kirchenmann Dazzo?« Er schüttelte den Kopf. Mit einem Seufzer bot ich ihm den Dekanter an. Zu meiner Überraschung nahm er ihn, setzte sich zu uns und trank einen Schluck. »Wahrscheinlich sind sie alle in dem Schiff verglüht, das zu fliehen versucht hat«, sagte er. »Aber ich muss Ihnen eins sagen: Vor dem Abschuss der beiden Boote im Tal hat die Verteidigung von Stalinvast eine Abtastung vorgenommen und ist sicher, keine Lebenszeichen festgestellt zu haben.« »Köder«, sagte Betancore. »Der Glavianer hat recht, würde ich sagen«, fuhr er fort. Dann zuckte er die Achseln. »Aber gute Panzerung kann ein Signal auch verschlucken. Vielleicht erfahren wir es nie.« »Wir erfahren es, Madorthene«, versprach ich ihm. Er trank noch einen Schluck aus dem Dekanter, reichte ihn mir zurück und erhob sich, um seine Rüstung abzustauben. »Ich bin froh, dass die Flottensicherheit Ihnen hier dienlich sein konnte, Inquisitor Eisenhorn. Ich hoffe, es hat Ihr Vertrauen in die Schlachtflotte wiederhergestellt.« Ich sah zu ihm hoch und nickte schwach. »Ich bin beeindruckt, dass Sie sich der Sache persönlich angenommen haben, Prokurator.« »Machen Sie Witze? Nach allem, was auf der Essene passiert ist, hätte der Admiral meinen Kopf gefordert!« Er ging. Ich mochte ihn. Ein ehrlicher Mann, der im Mahlstrom der widerstreitenden Interessen des Schlachtflottenkommandos und der Inquisition sein Bestes tat. In späteren Jahren sollte ich Olm Madorthenes Ehrlichkeit und Diskretion noch unendlich schätzen lernen. 201
Eine gebrechlich wirkende Gestalt kam über den Hof und blieb vor mir stehen. »Wessen Methoden scheinen jetzt klüger zu sein?«, fragte Commodus Voke mit einem spöttischen Grinsen. »Sagen Sie's mir«, erwiderte ich und stand auf. Voke hatte einen fast fünfzig Personen umfassenden Stab mitgebracht, alle schwarz gewandet, viele mit augmetischen Implantaten. Sie holten jeden Fetzen eines Beweises aus dem Anwesen, den sie finden konnten. Kisten mit Papieren, Büchern, Datentafeln, Artefakten und Bildtafeln wurden nach draußen zu den wartenden Transportern geschleppt. Ich war nicht in der Stimmung zu streiten. Schmerzen und Erschöpfung bewirkten, dass mir der Kopf schwirrte. Sollte Voke sein riesiges Gefolge und seine Mittel nutzen und die langwierige Arbeit der Beweissicherung durchführen. »Vieles ist gelöscht, unbrauchbar gemacht worden oder verbrannt«, meldete ein sauertöpfisch dreinschauender Gelehrter namens Klysis Voke, als ich mit meinem Inquisitionskollegen in das zerstörte Haupthaus ging. »Vieles vom Rest ist verschlüsselt.« Wir gingen weiter in die Kellerräume, und ich führte Voke in die Kammer hinter dem Kraftfeld, wo Glaw mich erwischt hatte. Kowitz' Blut verschmierte immer noch den Boden. Das Artefakt war vom Altar verschwunden. »Er hat es als den Pontius bezeichnet«, sagte ich zu Voke. Der Raum schien nicht mehr psionisch abgeschirmt zu sein, also legte die Logik nah, dass die Psi-Effekte vom Pontius selbst erzeugt worden waren. Ebenso wie der mentale Angriff, der mich gefällt hatte, dessen war ich sicher. Ich lehnte mich an die Kammerwand und erzählte Voke geduldig die wesentlichen Dinge, die ich erfahren hatte.
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»Eyclones Mission auf Hubris, die mit dem Pontius zu tun hatte, war ihnen ganz eindeutig wichtig, aber Oberon Glaw hat mir gesagt, sie hätten das Unternehmen abgebrochen ... weil etwas noch Wichtigeres ins Spiel gekommen sei. Das haben sie als die eigentliche Angelegenheit bezeichnet.« »Das würde erklären, warum Ihr Feind Eyclone im Stich gelassen wurde«, sann er. »Nach all den Vorbereitungen haben die Glaws ihm den Pontius nicht wie versprochen geliefert.« »Das passt. Dazzo und dieser Kapitän Locke waren eindeutig tief in diese eigentliche Angelegenheit verwickelt. Wir brauchen mehr Fakten darüber. Ich bin sicher, die Arbeit, um die es ging, hatte etwas mit archäoxenologischem Material zu tun. Sie haben die Saruthi erwähnt. « »Eine Xenos-Spezies außerhalb des Subsektors«, sagte Vokes Gelehrter. »Über sie ist wenig bekannt, und der Kontakt ist verboten. Es sind einige Untersuchungen der Inquisition in Bezug auf sie im Gange, aber ihr Raumsektor ist nicht kartografiert. Sie bleiben für sich, und daher haben dringendere Angelegenheiten eine Aufschiebung der Untersuchungen erforderlich gemacht.« »Aber ein Freihändler wie Locke könnte durchaus Kontakt zu ihnen aufgenommen haben.« Klysis und Voke nickten. »Das erfordert weitere Nachforschungen«, sagte Voke. »Ordo Xenos muss mit der Begutachtung der Saruthi beginnen. Aber einstweilen ist der Fall abgeschlossen.« »Wie begründen Sie das?«, fragte ich mit einem verächtlichen Lachen. Voke fixierte mich mit seinen Knopfaugen. »Haus Glaw ist zerschlagen, seine Hauptangehörigen und Mitverschwörer sind tot. Mit ihnen sind alle Gegenstände verschwunden, die für die Sache von Bedeutung sind. Was immer sie geplant haben, hat sich erledigt.« 203
Ich unternahm nicht einmal den Versuch, mit dem alten Mann zu streiten. Voke war seiner Fakten sicher. Sein Hauptfehler, meiner Ansicht nach. Natürlich irrte er sich. Der erste Hinweis kam zehn Tage später. Ich war mit meinen Kollegen nach Dorsay zurückgekehrt und hatte einige Zeit in der Obhut des Imperialen Hospizes am Großen Kanal verbracht, wo meine zahlreichen Wunden und Verletzungen behandelt wurden. Die meisten Schnitte und Schrammen waren oberflächlich und würden mit der Zeit heilen. Lockes Arbeit an mir hatte tiefere Spuren hinterlassen. Ich hatte massive Nervenschäden erlitten, von denen einige nie heilen würden. Augmetiker aus dem Officio Medicalis der Schlachtflotte wandten Mikrochirurgie an zerfaserten Nerventransmittern in Wirbelsäule, Thorax, Hirnstamm und Kehle an. Sie implantierten an über sechzig Stellen künstliche Nervenfasern und Ganglien. Meine Geschmacksnerven hatten an Empfindungsvermögen eingebüßt, und die Reflexe auf der linken Körperhälfte hatten stark gelitten. Mit meinem Gesicht konnten sie nichts machen. Die neuralen Systeme dort waren vollkommen gegeißelt worden. Locke hatte sein Versprechen gehalten. Ich würde nie wieder lachen und auch über nicht mehr viel Mienenspiel verfügen. Mein Gesicht war jetzt nicht viel mehr als eine Maske aus Haut. Aemos besuchte mich jeden Tag und brachte mir immer mehr Datentafeln und alte Bücher in mein Privatzimmer im Hospiz. Er hatte eine Arbeitsbeziehung zu Vokes Gelehrten entwickelt (Klysis war nur einer von siebzehn, die Commodus Voke beschäftigte) und sichtete die Daten, wie sie ihm gegeben wurden. Wir suchten Informationen hinsichtlich der Verbündeten der Glaws, fanden aber herzlich wenig, obwohl Vokes Gelehrtentruppe hart arbeitete. Locke war eine schatten hafte, beinahe mythische Gestalt, 204
sein Name und sein Ruf waren im gesamten helicanischen Subsektor bekannt, aber über seine Herkunft, Laufbahn und Partner ließ sich nichts herausfinden, nicht einmal der Name seines Schiffs war bekannt. Dazzo blieb ebenfalls ein unbeschriebenes Blatt. Die Ekklesiarchie hatte keinerlei Unterlagen über einen Kirchenmann dieses Namens. Doch ich erinnerte mich, was Kowitz mir beim Bankett gesagt hatte: dass Dazzo Verbindungen zu einem von den Glaws unterstützten Missionarsorden auf der Randwelt Damask hatte. Damask war ein realer Ort, ein rauer Planet an der Grenze des helicanischen Subsektors, eine von hundert wertlosen und selten besuchten Welten. Astrogeografisch lag er nur ein paar Monatsreisen randwärts der nicht kartografierten Regionen der mysteriösen Saruthi. Lowink begleitete Aemos auf einem seiner Besuche, sobald ich wieder stark genug war, und siebte ein Bild des Pfeifenrauchers aus meinen Gedanken, das er psychometrisch auf einer Bildplatte realisierte. Das Bild, ein wenig verschwommen, war gut genug, und es wurde kopiert und machte die Runde durch alle Zweige der Untersuchungsbehörden. Doch niemand konnte ihn identifizieren. Lowink holte mit derselben Methode auch ein Bild des Pontius aus mir heraus. Er stellte alle, die ihn sahen, vor Rätsel, nur Aemos nicht, der sofort bestätigte, das seltsame Artefakt habe genau die richtige Größe und die Maße, um in die Höhlung in Eyclones Truhe zu passen, die wir in Prozessional Zwo-Zwölf sichergestellt hatten. Wie von uns vermutet, hatte Eyclone im Eisgrab auf Hubris genau darauf gewartet. »Urisel Glaw hat von Pontius geredet, als sei er noch am Leben«, sagte ich zu Aemos. »Etwas mit großer psionischer Kraft hat mich in der Kammer des Pontius niedergestreckt. Könnte er in irgendeinem Sinn noch leben, 205
irgendein Teil von ihm, vielleicht seine psionische Essenz, und in diesem Artefakt stecken?« Aemos nickte. »Es übersteigt nicht die besten Imperiumstechnologien, ein Bewusstsein nach massivem körperlichen Schaden oder sogar Tod zu erhalten. Aber können diese Technologien in Reichweite einer Familie liegen, auch wenn sie so mächtig ist wie die Glaws ...?« »Sie haben mir gesagt, dass dieses Artefakt durchaus Ähnlichkeit mit einem der Mysterien der Adeptus Mechanicus hat.« »Das habe ich«, sann er. »Das ist äußerst bestürzend. Könnte das üble Verbrechen auf Hubris den Sinn gehabt haben, Lebensenergien in das Artefakt einzuleiten? Um dem Pontius einen massiven Energieschub zu verleihen?« Am dritten Morgen besuchte mich Fischig. Seine eigenen Wunden waren verheilt, und es schien ihn zu ärgern, die Episode im Haus der Glaws versäumt zu haben. Er brachte eine unschätzbar wertvolle antike Tafel mit, eine Sammlung inspiratorischer Verse, von Juris Sathascine komponiert, dem Kurator-Beichtvater eines der Generäle von Macharius. Es war ein Geschenk von Maxilla, aus dessen Privatsammlung. Die durch die ganze Aufregung um die Glaws aufgehaltene Regimentsgründung nahm ihren Fortgang. Die neuen imperialen Gardisten wurden zu ihren Truppentransportern in der Flotte im Orbit verschifft, und die letzten Zeremonien wurden abgehalten. Der Marschall war nun erpicht darauf, seine Expedition in den unruhigen ophidianischen Subsektor zu beginnen, und der Ansicht, auf diese unbedeutende lokale Angelegenheit sei nun genug Zeit und Energie aufgewendet worden. Am zehnten Tag sah es nicht mehr nach einer unbedeutenden lokalen Angelegenheit aus. Über astropathi 206
sehe Verbindung wurden Nachrichten über Zwischenfälle im gesamten Subsektor empfangen: eine Reihe von Bombenattentaten auf Thracian Primaris, die Kaperung und Zerstörung eines Passagierschiffs auf dem Weg nach Hesperus und eine durch ein Virusgift dezimierte Makropole auf Messina. An diesem Abend entzündete sich für kurze Zeit ein heller Stern am Himmel über Dorsay. Die Ultima Victrix, ein Panzerschiff von vierhunderttausend Tonnen, war vor Anker explodiert. Der Feuerball hatte weitere vier Schiffe in seiner unmittelbaren Umgebung beschädigt. Eine Stunde später wurde offensichtlich, dass der Zwischenfall sehr viel schlimmere Ausmaße angenommen hatte. Wie, war noch nicht völlig klar, nicht einmal dem Nachrichtendienst der Schlachtflotte, aber die Explosion war von einigen Teilen der Flotte fälschlicherweise als Feindangriff interpretiert worden. Ein Fregattengeschwader unter Befehl eines Kapitäns namens Estrum hatte Schritte unternommen, den Angriff abzuwehren, und mehrere Zerstörer der Vorhut hatten sie für Eindringlinge gehalten und das Feuer eröffnet. Siebenundzwanzig grässliche Minuten lang führte die Schlachtflotte Scarus Krieg gegen sich selbst durch die Ankerplätze von Flottenschiffen und Truppentransportern. Sechs Schiffe gingen verloren. Schließlich, und anscheinend ungeachtet aller gegenteiligen Befehle, brach Estrum ab und wechselte mit einer mobilen Gruppe von fünfzehn Schiffen in den Warpraum, um »dem Feind« zuvorzukommen. Admiral Spatian machte sich mit einer Flotte von acht Schweren Kreuzern an die Verfolgung. Die verbliebenen Flottenelemente bemühten sich, die Ordnung wiederherzustellen und mit der mutwilligen Zerstörung fertig zu werden. Der Marschall hatte, wie ich erfuhr, einen derart extremen Wutanfall, dass er von seinem privaten Leibarzt unter 207
Beruhigungsmittel gestellt werden musste. »Das passiert nicht einfach so«, sagte Betancore. Wir saßen in meinem Privatzimmer vor den hohen Fenstern und schauten nach draußen auf die Stadt. Die Nacht wurde vom geisterhaften Flackern der Energien und Explosionen erhellt, und ein Feuerball stürzte vom Himmel herab wie eine Sternschnuppe. »Imperiale Schlachtflotten gehören zu den geordnetsten und diszipliniertesten Organisationen im All. So eine Konfusion passiert nicht einfach.« »Wie Deserteure nicht einfach ein Schiff kapern und Uniformen stehlen und den Namen des Mannes kennen, dessen Schiff sie zufällig entern, meinen Sie? Unser unsichtbarer Feind macht seinen Einfluss geltend. Voke hat von einem übergeordneten Kult gesprochen, der viele kleine Zellen und Kabalen koordiniert. Er war der Ansicht, die Glaws seien die Köpfe hinter dieser Verschwörung. Ich bin nicht so sicher. Es könnte auch noch eine höhere Autorität am Werk sein.« Urisel Glaw wurde in der Imperialen Basilika gefangen gehalten. Er hatte seit seiner Gefangennahme viele Stunden intensiver Verhöre und Folterungen erlebt. Und er hatte nichts verraten. In jener Nacht ging ich zu ihm. Voke und seine VerhörExperten waren noch bei der Arbeit, mittlerweile mit einem Gefühl der Dringlichkeit. Sie hielten ihn in etwas fest, dass man nur als Verlies bezeichnen kann, neunzig Meter unter der massiven grauen Steinfestung. Alle anderen Personen, die bei der Aktion gegen Haus Glaw in Gefangenschaft geraten waren, wurden ebenfalls hier festgehalten. Um sie alle verhören zu können, hatte Voke hiesige Arbites verpflichtet, Soldaten aus Gudruns stehendem Heer sowie Beamte des Ministorums. Sie arbeiteten mit seinem eigenen umfangreichen Stab 208
zusammen. Nach der Landung meiner Flugmaschine wurde ich von einem hochgewachsenen grauhaarigen Mann in einem langen kastanienfarbenen Mantel, begleitet von zwei bewaffneten Servitoren, in Empfang genommen. Ich erkannte ihn sofort. Inquisitor Titus Endor und ich waren im gleichen Alter und hatten beide unter Hapshant gelernt. »Sie haben sich erholt, Gregor?«, fragte er, als er mir die Hand schüttelte. »Gut genug, um meine Arbeit fortzusetzen. Ich habe nicht damit gerechnet, Sie hier zu treffen, Titus.« »Vokes Berichte über den Fall Glaw haben unser Officio in diesem Subsektor äußerst beunruhigt. Lordinquisitor Rorken hat die Notwendigkeit einer vollständigen Aufklärung gesehen. Vokes Unfähigkeit, auch nur das Geringste aus Urisel Glaw herauszuholen, hat ihn verärgert. Ich wurde zu seiner Unterstützung herbeordert. Und nicht nur ich. Schongard ist auch hier, und Molitor ist unterwegs.« Ich seufzte. Mit Endor, einem Amalathianer wie ich, konnte ich zusammenarbeiten, obwohl es ein Sprichwort über zu viele Inquisitoren gibt. Schongard war ein fanatischer Monodominanter und meiner Ansicht nach eine Bürde, und Konrad Molitor war ein Radikaler der Art, die nach meinem Dafürhalten in unserem Orden nichts verloren hatte. »Das ist ungewöhnlich«, sagte ich. »Das liegt an den Verbindungen«, erwiderte Endor. »Durch Ihre und Vokes Arbeit hier ist ein gewaltiges Mosaik ans Licht gekommen, das viele Dutzend separate Fälle und Untersuchungen verbindet. Vor zwei Wochen habe ich einen Ketzer auf Mariam verbrannt und in seinen Habseligkeiten Dokumente gefunden, die ihn mit den Glaws verbinden. Schongard verfolgt blasphemische Texte, die seiner Ansicht nach mit der Fracht von Händlern der Sinesias-Gilde in den Subsektor gelangt 209
sind. Molitor ... tja, wer weiß, was er gerade macht, aber zweifellos gibt es eine Verbindung.« »Manchmal«, sagte ich, »glaube ich, dass wir gegeneinander arbeiten. Die Sache hier kommt ans Licht, und siehe da! Wir halten alle Puzzleteile desselben Rätsels in der Hand. Wie hätten wir diesen Feind und seine Strukturen vor ein, zwei Monaten auseinandernehmen können, wenn wir unsere Informationen ausgetauscht hätten?« Endor lachte. »Ziehen Sie die Arbeitsmethoden der hochgelobten Inquisition in Zweifel, Gregor? Arbeitsmethoden, die sich über Jahrhunderte bewährt haben? Ziehen Sie etwa die Motive unserer Berufskollegen in Zweifel?« Ich wusste, er scherzte, doch ich blieb ernst. »Ich beklage ein System, in dem wir nicht einmal einander vertrauen.« Wir gingen mit unserer Eskorte zum Zellenblock hinunter. »Was ist mit Glaw?« »Verrät nichts«, sagte Endor. »Was er bisher ertragen hat, hätte die meisten Männer zerbrochen oder wenigstens dazu gebracht, um ihren Tod zu flehen oder zu versuchen, sich das Leben zu nehmen. Er harrt aus, beinahe guter Dinge, beinahe arrogant, als rechne er damit zu überleben.« »Und er hat recht. Wir unterzeichnen niemals sein Todesurteil, solange er noch Geheimnisse hat.« Vokes Männer beschäftigten sich gerade mit Glaw in einer widerlich stinkenden, rot angemalten Zelle. Glaw war eine Ruine, die durch Kenntnisse am Leben gehalten wurde, die dem Geschick seiner Folter entsprachen. Dem Verstand eines Ketzers Antworten zu entlocken ist die größte Verpflichtung eines Inquisitors, und ich selbst schrecke vor keinem Mittel zurück, aber auf diese 210
Art war es nutzlos. Hätte ich das Sagen gehabt, wäre die körperliche Folter bereits vor Tagen eingestellt worden. Ein Blick verriet, dass Urisel Glaw entschlossen war, nicht zu reden. Ich hätte ihn in Ruhe gelassen, vielleicht sogar mehrere Wochen. Trotz seiner Qualen verriet unsere beständige Aufmerksamkeit unsere Verzweiflung, und das gab ihm die nötige Kraft, die Folter zu ertragen. Schweigen und Isolation hätten ihn gebrochen. Inquisitor Schongard trat von dem Tisch zurück, an den Glaw geschnallt war, und streifte besudelte Gummihandschuhe ab. Er war ein breiter Mann mit dünnen braunen Haaren und einer gruseligen Maske aus schwarzem Metall, die chirurgisch auf seinem Gesicht befestigt war. Niemand wusste, ob diese Maske eine ernste Entstellung verbarg oder einfach nur eine Marotte war. Dunkle, ungesunde, blutunterlaufene Augen betrachteten Endor und mich durch die eckigen Sehschlitze in dem Metall. »Brüder«, flüsterte er. Seine belegte Stimme hielt beständig einen leisen, unterdrückten Tonfall. »Sein Widerstand ist der mannhafteste, den ich je erlebt habe. Voke und ich stimmen überein, dass etwas Monumentales mit seinem Verstand angestellt worden sein muss, das ihm ermöglicht, die Qualen zu verdrängen. Psionische Sonden sind ausprobiert worden, doch ihnen war kein Erfolg beschieden.« »Vielleicht sollten wir einen Spezialisten beim Astropathicus anfordern«, sagte Voke hinter mir. »Ich glaube nicht, dass es eine Gedankensperre gibt«, sagte ich. »Man würde Spuren der Konditionierung sehen. Sehr wahrscheinlich würde er uns mittlerweile längst anflehen aufzuhören, weil er dann wüsste, dass er unsere Fragen gar nicht beantworten kann.« »Unsinn«, flüsterte Schongard. 211
»Kein nackter Verstand konnte das hier ertragen.« »Ich frage mich manchmal ob meine Kollegen überhaupt etwas über die Menschliche Natur wissen«, sagte ich milde. »Dieser Mann ist ein Schurke. Er ist ein Aristokrat. Er hat in die Finsternis geschaut, die wir so fürchten, und er weiß, wie es ist, Macht zu haben. Das Versprechen dessen, was für ihn und seine Mitverschwörer auf den Spiel steht, reicht aus, um ihn zu wappnen.« Ich ging zum Tisch und schaute in Glaws lidlose Augen. Blutblasen platzten auf seinen zerfaserten Lippen, als er mich anlechelte. »Er hat den Strutz von Welten und die Auslöschung von Milliarden versprochen. Er hat damit geprahlt. Was die Glaws wollen ist so groß, dass nichts von alldem eine Rolle spielt. Ist es nicht so Urisel?« Er gurgelte. »Das hier ist nur eine Mühsal«, sagte ich, während ich mich voller Abscheu vom Ketzer abwante. »Er hält aus, weil er weiß, dass die Sache es wert ist.« Voke schaubte. »Was könnte das sein?« »Für mich klingt Eisenhorn überzeugend« sagte Endor. »Glaw wird seine Geheimnisse nicht preisgeben, was wir ihm auch antun, denn diese Geheimnisse werde ihn dafür tausendfach entschädigen.« Schongard schüttelte zweifelhaft den Kopf. »Ich stimme Bruder Voke zu. Welche Belohnung könnte es wert sein, der Fürsorge der besten Fleischschmiede der Inquisition zu wiederstehen?« Ich antwortete nicht, aber ich hatte eine Vorstellung von ihrem Maßstab. Und der Gedanke daran ließ meine Seele gefrieren. Falls ich noch irgedwelche Zweifel daran gehabt haben sollte, dass die Autorität der Glaws überlebt hatte, wurden sie im Laufe der nächsten Woche endgültig zerstreut. 212
Eine Serie von Sabotage-Anschlägen mit Gift, Sprengstoff und psionischen Mitteln suchte die Welten des Subsektors heim, als würden alle geheimen, dunklen Zellen, die sich dort verbargen, gleichzeitig aktiv und riskierten mit ihrer Arbeit gegen die örtliche Bevölkerung die Entdeckung, wie von einer beherrschenden Macht gelenkt. Lord Glaw und seine Komplizen waren entweder dem Tod entronnen oder nur Teil einer unsichtbaren Herrscherelite, die jetzt alle verborgenen Kabalen auf zwei Dutzend Welten zur Revolte trieb. »Es gibt noch eine mögliche Erklärung«, sagte Titus Endor zu mir, als wir zur Messe in der Imperiumskathedrale von Dorsay gingen. »Trotz ihrer Macht und ihres Einflusses standen die Glaws vielleicht nicht an der Spitze der Verschwörerpyramide. Sie könnten noch andere über sich haben.« Das war möglich, aber ich hatte Glaws Arroganz selbst erlebt. Die Glaws beugten sich keinem anderen Herrn. Jedenfalls keinem menschlichen. Mittlerweile waren die Unruhen auch auf Gudrun ausgebrochen. Eine Serie von Bombenanschlägen hatte eine Stadt im Süden verwüstet, und eine Agrar-Siedlung im Westen war durch ein Nervengift in der Wasserversorgung ausgelöscht worden. Die Schlachtflotte Scarus hatte sich immer noch nicht von dem Schlag gegen sich selbst erholt, und Admiral Spatian war mit leeren Händen von seiner Mission zurückgekehrt, die panische Flotte wieder einzusammeln. Kapitän Estrums mobile Gruppe war ganz einfach verschwunden. Ich hatte Botschaften mit Madorthene gewechselt, der mir berichtet hatte, niemand im Oberkommando der Schlachtflotte zweifle jetzt noch daran, dass die Zerstörung der Ultima Victrix und das anschließende Chaos etwas anderes als Sabotage gewesen sein könne. Der Zugriff des Feindes reichte sogar in die Schlachtflotte selbst hinein. 213
Dann erhoben sich zwei riesige Makropolen auf Thracian Primaris in offener Revolte. Tausende von Arbeitern, die der Verderbnis des Chaos anheimgefallen waren, zogen sengend, plündernd und tötend durch die Straßen. Sie stellten die obszönen Abzeichen des Chaos offen zur Schau. Die Kreuzzugspläne des Marschalls für den ophidianischen Subsektor waren auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Schlachtflotte Scarus lichtete den Anker und begab sich mit Volldampf nach Thracian, um den dortigen Aufstand zu unterdrücken. Doch das war nur der erste. Zu offenen Revolten kam es außerdem in den Vororten der Hauptstadt von Sameter, und ein Tag später brach auf Hesperus ein Bürgerkrieg aus. In beiden Fällen war der Makel des Chaos verantwortlich. Diese elende, schockierende Periode wird in imperialen Geschichtsbüchern als Helicanisches Schisma bezeichnet. Sie dauerte acht Monate, und Millionen starben auf jenen drei Welten in regelrechten Kriegen, von den vielen hundert weniger schweren Vorfällen auf anderen Planeten, darunter auch Gudrun, ganz zu schweigen. Der Marschall bekam seinen heiligen Kreuzzug, obwohl ich sicher bin, dass er kaum erwartet haben dürfte, ihn gegen Teile der Bevölkerung seines eigenen Subsektors führen zu müssen. Die Behörden und sogar meine ehrwürdigen Kollegen schienen über diesen beispiellosen Ausbruch so schockiert zu sein, dass sie wie gelähmt wirkten. Der Erzfeind der Menschheit ging oft offen und brutal vor, aber dies schien sich der Logik zu widersetzen. Warum hatten sich die Kulte nach vermutlich Jahrhunderten vorsichtiger, geheimer Etablierung nun alle erhoben und sich dadurch dem Zorn des imperialen Militärs ausgesetzt? Ich glaubte, die Antwort sei die »eigentliche Angelegenheit«.
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Urisel Glaws fast hämischer Widerstand gegen unsere Methoden überzeugte mich. Der Erzfeind verfolgte einen derart monströsen Plan, dass er bereit war, alle seine geheimen Kräfte im gesamten Subsektor zu opfern, um das Imperium dadurch zu beschäftigen. Ich glaubte mit aller Überzeugung, dass es besser für die Planeten sein würde, zu verbrennen, als die »eigentliche Angelegenheit« verwirklicht zu sehen. Und aus diesem Grund flog ich nach Damask.
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DREIZEHN Damask. Nordqualm. Sanctum.
Unter
einem bleiernen, rostigen Himmel folgten die Ballbaumwälder dem Wind. Sie sahen aus wie große Herden eines knollenförmigen Viehzeugs, die über die welligen Geröllhalden wogten, und die dabei von ihnen erzeugten Klappergeräusche klangen wie Hufschläge. Aber es waren Bäume. Pustelartige, mit Wedeln bestückte Kugeln aus Zellulose, angefüllt mit Gasen, die leichter als Luft waren und durch Zersetzungsprozesse tief in ihnen erzeugt wurden. Sie trieben im Wind und zogen schwere Wurzelsysteme hinter sich her. Hin und wieder ließ der beim Zusammenstoß zweier Ballbäume entstehende Druck Gas mit einem ächzenden Seufzen durch faserige Schließmuskel entweichen. Gaswolken trieben über der Baumherde. Ich kletterte auf ein niedriges Plateau, wo der bläuliche Kies und Granit mit gelblichen Flechten überzogen war. Ein paar vereinzelte Ballbäume, kleine, nicht ausgewachsene Gebilde, huschten über die flache Spitze der Erhebung. Mitten auf dem Plateau stand ein Markierungspfeiler aus Beton und erinnerte an den ursprünglichen Landeplatz der ersten Siedler, die nach Damask gekommen waren. Die Elemente hatten die Inschrift beinahe geglättet. 216
Neben dem Pfeiler stehend, drehte ich mich langsam um und betrachtete die Landschaft. Schwarze Granithügel im Westen, dichte Ballbaumwälder in dem breiten Flusstal im Norden, viele Kilometer Dornenwald im Osten bis nah zu unserem Landeplatz und grummelnde, feuergedeckte Vulkane im Süden, weit entfernt, die den Himmel mit Fäden aus schwefelbraunem Rauch verrußten. Wolken kleiner Luftgraser kreisten über den Wäldern und bereiteten sich auf die Nachtruhe vor. Ein mürrischer, vernarbter Mond ging auf, stark verzerrt durch die dichte, bernsteinfarbene Atmosphäre. »Eisenhorn«, rief Midas über Korn. Ich ging über den Abhang des Plateaus zurück und knöpfte dabei meinen Ledermantel zum Schutz vor der Abendbrise zu. Midas und Fischig warteten bei dem Wagen, den sie in den letzten beiden Stunden aus dem Laderaum des Kanonenboots geholt und wieder zusammengebaut hatten. Es handelte sich um ein altes, unbewaffnetes Modell und war seit drei Jahren nicht mehr benutzt worden. Midas schloss eine Motorhaube. »Dann haben Sie ihn also zum Laufen bekommen«, sagte ich. Midas zuckte die Achseln. »Das Ding ist ein Schrotthaufen. Ich musste Uclid holen und neue Relais einbauen lassen. Alle möglichen Kabel waren schadhaft.« Fischig schien besonders wenig beeindruckt von dem Fahrzeug zu sein. Ich hatte nur selten Verwendung dafür. Auf den meisten Welten standen einheimische Transportmittel zur Verfügung. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Damask so ... wenig bevölkert war. Die Unterlagen besagten, dass es mindestens fünf Koloniesiedlungen gab, aber aus der Umlaufbahn war nichts von ihnen zu sehen gewesen, und wir hatten auch keine Antwort auf unsere Kom-Anfragen und astropathischen 217
Botschaften bekommen. War die Bevölkerung von Damask in den letzten fünf Jahren seit Erstellung der Unterlagen gestorben? Wir hatten Aemos, Bequin und Lowink im Boot gelassen, das in einem breiten Flussbecken gelandet war. Wir hatten es sorgsam mit Tarnnetzen abgedeckt. Midas hatte einen Landeplatz in Fahrzeugreichweite einiger Siedlungen gewählt, aber eben doch so weit entfernt, dass wir bei der Landung von diesen Orten nicht gesehen werden konnten. Tobius Maxilla erwartete unsere Rückkehr an Bord der Essene, die in der Umlaufbahn vor Anker lag. Midas startete den Motor des Fahrzeugs, der mit Fehlzündungen zum Leben erwachte, und wir fuhren über Land vom getarnten Boot in Richtung der letzten eingetragenen Position der nächsten menschlichen Siedlung. Gestrüpp flitzte um den Wagen herum, und wir fuhren durch Ödland, wo verwurzelte Bäume mit Gasballons gespickte Äste in die Höhe reckten, so dass sich die ganze Pflanze gegen Erde und Schwerkraft zu stemmen schien. Graser kleine, fledermausartige Säugetiere mit Membranflügeln flatterten umher. Größere Gleiter, immense kopflose Kreaturen, die praktisch nur aus Flügelspannweite und einem spitz zulaufenden Schwanz bestanden, ließen sich hoch über uns von den Aufwinden tragen. Die Landschaft war zerklüftet und hatte den bläulichen Schimmer von Granit. Die Luft war dunkel und giftig, und von Zeit zu Zeit benutzten wir Atemmasken. Wir folgten dem schaumigen, brackigen Flusswasser zwanzig Kilometer und verließen dann die breiten Flussufer, um über felsige Böschungen und durch Wüsten zu fahren, die aus den Elementen zerschmetterten Granitformationen entstanden waren, und dann durch Farndickichte und Meere aus Flechten, die im böigen
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Wind zitterten. Der hässliche Mond stieg höher, obwohl es noch genug Tageslicht gab. An einer Stelle musste Midas den Wagen anhalten, als eine Gruppe viel größerer Graser vom Motorenlärm aufgescheucht wurde und quer über unseren Weg rannte. Das waren taubengraue Riesen mit steilen buckligen Rücken, baumstammartigen Schnauzen und langen, keilförmigen Beinen, die in riesigen Fußballen endeten. Die Beine schienen viel zu lang und schlank zu sein, um so viel Gewicht zu tragen, doch ich vermutete, dass wie bei der hiesigen Flora die aufgeblähten Leiber der Tiere Gasblasen enthielten, die für zusätzliche Entlastung sorgten. Sie schnaubten und polterten durch das Farndickicht davon. Der Wagen war abgesoffen. Midas stieg aus und schimpfte ein paar Minuten auf die Propeller der Turbine ein, bis der Mechanismus wieder zum Leben erwachte. Fischig und ich vertraten uns in dieser Zeit die Beine. Er kletterte auf einen Felsen vulkanischen Ursprungs und zupfte an den Halteriemen seiner Atemmaske herum, während er die heißen blauen Streifen eines Meteorgewitters durch den düsteren Himmel am Westhorizont rasen sah. Ich starrte auf die Farndickichte. Luftgraser zirpten und flitzten in den raschelnden Blättern umher. Der Wind hatte sich verändert, und eine Waldherde aus Ballbäumen rauschte quiekend und säuselnd durch die Farne, während der Wind die Kugeln mit ihren Wurzelsystemen durch die festgewachsenen Pflanzen trieb. Wir fuhren zehn Kilometer weiter und erreichten ein Tal, dessen Boden allmählich in dicke sedimentäre Erde überging, die schwarz und feucht war. Die Vegetation war hier üppiger und gummiartiger: knollenförmige Schlangenlocken und leuchtende stachelige Sumpflilien, Bärlapp, Schachtelhalme, zerzaustes Frauenhaar, luftige Palmfarne, die mit epiphytischen Bromelien behangen waren, 219
und Stränge bodendeckender Gnetophyta. Wolken winziger Insekten wallten in den feuchteren Regionen und entlang kleiner Wasserläufe, und große hornissenartige Jäger mit schillernden Flügeln summten durch die klamme Luft wie juwelengeschmückte Dolche. »Da«, sagte Fischig, der scharfe Augen hatte. Wir hielten an und stiegen aus. Eine verschlammte Fläche neben dem Weg war einmal ein bestelltes Feld gewesen, und die verrosteten Kadaver zweier Bodenbearbeitungsmaschinen lagen halb begraben in dem schlammigen Boden. Ein Stück weiter passierten wir einen aus Granit gehauenen Markierungsstein. »Gillans Acker« stand in Niedergotisch darauf. Wir hatten die Siedlung passiert, bevor wir es überhaupt merkten, und kehrten um. Sie bestand nur noch aus den Stümpfen einiger Mauern, die mit dünnen Ranken und wild wuchernden Gnetophyten überwachsen waren. Vor fünf Jahren war dies eine achthundert Seelen zählende Gemeinde gewesen. Die Abtaster zeigten, dass Metallteile von Maschinen unter der Erde begraben waren. Fischig fand die Markierung unter klebrigen Palmwedeln verborgen am Nordende der Siedlung. Sie war aus einheimischem Faserholz gestaltet, ein geschnitztes Symbol, unverkennbar eines der schmutzigen und entnervenden Zeichen des Chaos. »Eine Warnung? Eine Aussage?«, fragte sich Fischig laut. »Verbrennen Sie das Ding sofort«, sagte ich. Das Korn summte. Es war Maxilla aus dem Orbit. »Ich habe die Landschaft wie gewünscht abgetastet, Inquisitor«, meldete er. »Die Atmosphäre behindert meine Messungen zwar, aber ich komme zurecht. Ich habe gerade die vulkanische Region südlich von Ihnen untersucht. 220
Es ist schwer zu sagen, weil die Vulkane aktiv sind, aber ich glaube, es gibt dort Anzeichen für Bauwerke und arbeitende Maschinen.« Er kopierte die Stelle ins Navigationssystem des Wagens. Weitere siebzig Kilometer entfernt, ungefähr auf der Position einer anderen auf unseren Karten angezeigten Siedlung. »Das ist ziemlich weit, und es wird langsam dunkel«, sagte Midas. »Fahren wir zum Boot zurück. Im Morgengrauen fahren wir nach Süden.« In der Nacht, als wir schliefen, näherte sich etwas dem getarnten Kanonenboot und ließ die Bewegungssensoren ansprechen. Wir gingen bewaffnet nach draußen, um nach den Eindringlingen zu suchen, doch es gab keine Spur. Und auch keine von den treibenden Ballbäumen. Im Morgengrauen fuhren wir nach Süden. Die vulkanische Region, deren rauchende Gipfel vor uns aufragten, war dicht mit Farnen und Dornengestrüpp bewachsen. Außerdem war es heiß, da erhitzte Gase aus den vulkanischen Spalten im Boden drangen. Nach einer halben Stunde in den schwefelhaltigen Farnwäldern waren wir durchgeschwitzt und benutzten die Atemmasken praktisch ständig. Unter dem Gipfel eines der größten Kegel machten die schwachen Abtaster des Wagens Spuren von Aktivität aus, als wir eine lange Böschung aus ausgetrocknetem Fels emporfuhren. Fischig, Midas und ich stiegen aus und kletterten einen Granitfelsen empor, um uns die Sache mit unseren Ferngläsern anzusehen. Im Schatten des Kegels befand sich eine große Siedlung ... verwitterte Bauwerke aus altem Stein und Holz, die meisten Ruinen, dazu Fertighabitate neueren Datums 221
aus Keramit. Unter Dächern aus Planen standen Maschinen, Generatoren und andere schwere Systeme, die arbeiteten. Hohe, eckige Schirme aus verstärkten Flakbrettern waren auf Gerüsten errichtet worden, um den Ort vor dem Ascheregen abzuschirmen. Drei Wagen und zwei schwere Laster parkten vor den Haupthabitaten. Ein paar Gestalten bewegten sich in der Siedlung, doch die Entfernung war zu groß für einen klaren Blick auf sie. »Bei der letzten Abtastung gab es keine Anzeichen für aktiven Vulkanismus in dieser Gegend«, erinnerte mich Midas, indem er eine Feststellung wiederholte, die Aemos bei unserer Ankunft hier getroffen hatte. »Sehen Sie dort«, sagte ich, indem ich auf einen Teil der Siedlung zeigte, der in die Böschung des größten Kegels ragte. »Diese alten Gebäude sind teilweise unter verfestigter Asche begraben. Die ursprüngliche Siedlung ist vor der Aktivität errichtet worden.« Midas holte eine Kartentafel aus der Tasche und blätterte durch den Index. »Nordqualm«, sagte er. »Eines der Siedlungshabitate, eine Minenstadt. « Wir sahen fünfzehn, zwanzig Minuten zu, lange genug, um den Boden beben zu spüren und einen Strom weißglühenden flüssigen Feuers aus einem der Kegel sprudeln zu sehen. In der Siedlung ertönten Alarmsirenen, die jedoch rasch wieder verstummten. Ein Regen aus heißen Ascheflocken und glühenden Funken ging auf die Siedlung nieder und legte sich wie schwarzer Schnee auf die Flakbrettschirme. »Warum arbeiten sie hier unter der ständigen Drohung eines Ausbruchs weiter?«, knurrte Fischig. »Sehen wir uns die Sache aus der Nähe an«, schlug ich vor. Wir tarnten den Wagen mit Blattwerk und marschierten 222
durch das bewaldete Tal. Der Boden zwischen der Farnen und den harten, trockenen Dornenbäumen war dicht mit Pilzen bewachsen, von denen einige leuchtende Farben hatten und glänzten. Obwohl wir vorsichtig waren, ließ sich nicht vermeiden, dass wir immer wieder Sporen und Soredien aufwirbelten. Ich trug meinen durchgeknöpften schwarzen Mantel, Fischig seine braune Rüstung, den Helm in den Gürtel eingehakt, und Midas seine normale Kluft, obwohl seine rote Jacke einer kurzen dunkelblauen Arbeitsjacke gewichen war. Wir hielten uns im Schatten des Waldes. Ich wusste immer noch nicht genau, warum Fischig mitgekommen war. Nach Gudrun schien der ihm von Oberaufseher Carpel erteilte Auftrag erfüllt zu sein, doch er hatte sich geweigert, nach Hubris zurückzukehren. Anscheinend vertraute er meinem Instinkt, die Sache sei noch längst nicht erledigt. Wir überquerten ein niedriges Bachbett, in dem heißes, stinkendes Wasser dampfte, das aus den Spalten blubberte, und erreichten schließlich den Nordrand der Siedlung. Das Vibrieren der Generatoren war jetzt klar auszumachen, und auch das entfernte Grollen von Gesteinsbohrern. Wachen in khakifarbenem Drillich unter stacheligen und geschwärzten Segmenten von Metallrüstung wanderten vor einer Erdschanze auf und ab, die am Waldrand errichtet worden war, und führten dabei große Cygnidenbullen an Ketten bei sich. Die hundeartigen Tiere waren fleischige Bestien mit hängender Zunge und Geifer um den Bart. Die Wächter, die an ihren Ketten zogen, trugen neue kurze Lasergewehre an Schulterriemen. Ihre Gesichter waren unter schweren schwarzen Atemmasken verborgen. Arbeitstrupps, manche bis auf ihr Beinkleid nackt, mühten sich, die glühende Asche auf den Flakbrettschirmen mit Schläuchen und Eimerketten zu löschen. Midas zeigte uns, wo der Siedlungsrand von 223
Bewegungsmeldern und Sprengminen gesichert war. Alles war deaktiviert worden. Das beständige Beben der Erde machte diese Vorrichtungen als Verteidigungsanlagen sinnlos. Aber die Aura, die ich seit unserer Annäherung spürte, war unverkennbar. Nordqualm lag vollständig unter einem psionischen Schleier. Ich holte mein Fernglas heraus und ließ es über die Siedlung wandern. Mehr Wachen, viel mehr, und viele Dutzend dreckverschmierte Arbeiter vor dem Eingang eines besonders großen Fertigschuppens. Mehrere Vorarbeiter waren zwischen den sich ausruhenden Arbeitsgruppen unterwegs, die kurze Gespräche führten und sich Notizen auf Datentafeln machten. Acht Arbeiter kamen mit langen, bahrenartigen Tragen mit hohen Seiten aus dem Schuppen, die mit durchsichtiger Plastekfolie bedeckt waren. Ich erhöhte den Vergrößerungsfaktor des Fernglases und holte die Gesichter der Vorarbeiter näher heran. Ich kannte keinen von ihnen. Sie waren allesamt mürrische, gelehrtenhafte Männer in grauen, wasserabweisenden Arbeitseinteilern. Plötzlich durchquerte etwas Großes mein Gesichtsfeld. Bis ich reagiert und die Vergrößerung entsprechend zurückgeschraubt hatte, war es im Arbeitsschuppen außer Sicht. Ich hatte einen kurzen Eindruck von hellem, beinahe grellem Metall und einem schimmernden fließenden Gewand gewonnen. »Was war das?«, zischte ich. Midas sah mich an und senkte sein Fernglas, und ich sah tatsächlich Furcht in seinem Gesicht. Fischig machte ebenfalls einen äußerst bestürzten Eindruck. »Ein Riese, ein gehörnter Riese in juwelenbesetztem Metall«, sagte Midas. »Er ist aus dem Fertighab links gekommen und direkt in den Schuppen gegangen. Gott-Imperator, war der groß!« Fischig stimmte mit einem Kopfnicken zu. 224
»Ein Ungeheuer«, sagte er. Die Kegel grollten wieder, und ein Regen brennender Asche flog auf die Siedlung nieder. Wir wichen zwischen die Dornbäume zurück. Die Aktivität der Wachen schien zuzunehmen. »Rosendorn«, sendete mein Korn. »Es passt gerade nicht«, zischte ich. Es war Maxilla. Er sendete noch ein letztes Wort und schaltete dann ab. »Sanctum.« »Sanctum« war ein Glossia-Codewort, das ich Maxilla genannt hatte, bevor wir von Bord der Essene gegangen waren. Ich wollte ihn in der Umlaufbahn haben, wo er uns Deckung geben und mit Abtasterdaten versorgen konnte, wusste aber, dass er sich würde zurückziehen müssen, sobald andere Schiffe in das System eindrangen. »Sanctum« bedeutete, dass er ein oder mehrere Schiffe geortet hatte, die aus dem Immaterium in den Realraum zurückgekehrt waren, und sich in einen Orbit hinter der Sonne des Planeten zurückzog. Was bedeutete, dass wir hier auf dem Planeten auf uns allein gestellt waren. Midas zupfte an meinem Ärmel und zeigte auf die Siedlung. Der Riese war wieder aufgetaucht und stand deutlich sichtbar im Schuppeneingang. Er war weit über zwei Meter groß, in einen Mantel gehüllt, der aus Rauch und Seide zu bestehen schien, und seine kunstvoll verzierte Rüstung und der gehörnte Helm waren eine schockierende Mischung aus punziertem Gold, ätzendem Gelb, glänzendem Violett und dem Rot frischen, mit Sauerstoff angereicherten Blutes. In seiner alten Rüstung sah das Ungeheuer aus, als stehe es schon seit tausend Jahren reglos an dieser Stelle. Ein einziger Blick darauf weckte Grauen und Abscheu, unwillkürliche Angstgefühle, die ich kaum unterdrücken konnte. Ein Space Marine, einer von den verderbten und verdammten Astartes. Ein Chaos Marine. 225
VIERZEHN Eine Geschichte der Unterdrückung. Deserteure. Rückkehr zu den brennenden Bergen.
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» ir waren nicht untätig«, sagte Bequin mit einem Grinsen, als wir ins Kanonenboot zurückkehrten. Es war Mittag, und das Flussbecken war mit Herden aneinanderstoßender Ballbäume gefüllt, die der Wind von den Geröllhalden hierher geweht hatte. Sie trieben über die Kiesel am Ufer, bis ihre herabhängenden Wurzeln ins Wasser tauchten. Bequin trug Arbeitsdrillich, eine Atemmaske um den Hals und eine Autopistole. Während Midas und Fischig den Wagen unter den Netzen verstauten, führte sie mich in die Mannschaftskabine und zeigte mit der Waffe in die Richtung eines dünnen, verdreckten Mannes, der mit Handschellen an eine Halteschlaufe für Frachtgüter gefesselt war. Sein Haar war verfilzt, die Kleider eine Sammlung geflickter Lumpen und steif von verklebtem Schlamm. Er betrachtete mich mit verstörtem Blick durch einen zotteligen nassen Pony. »Es waren drei, vielleicht sogar mehr«, sagte Bequin. »Sie wollten einen Blick auf uns werfen und haben die Ballbäume als Deckung benutzt. Die anderen beiden sind geflohen, aber diesen habe ich mir geschnappt.« »Wie?«, fragte ich. 226
Sie bedachte mich mit diesem Blick, der mir sagte, ich solle endlich aufhören, sie zu unterschätzen. »Unsere Eindringlinge von letzter Nacht?«, überlegte ich laut. Bequin zuckte die Achseln. Ich ging zu dem Gefangenen. »Wie heißen Sie?« »Er redet nicht viel«, erläuterte Bequin. Ich sagte ihr, sie solle sich entfernen. »Name?«, fragte ich noch einmal. Nichts. Ich hielt inne, sammelte meinen Geist und schickte dann eine sanfte Sonde in die schattigen Nischen seines Schädels. »Tymas Rhizor«, stammelte er. Gut. Noch ein sanfter Stoß gegen seinen langsam nachgebenden Verstand. Die Schichten der Furcht und Vorsicht waren beinahe greifbar. »Aus Gillan Sien Acker, Gottesland.« Ich wechselte auf Sprache, jetzt ohne den psionischen Druck. »Gillans Acker? Sie meinen Gillans Acker?« »Seggt Se Gillan Sien Acker?« »Gillans Acker?« Er nickte. »So is et.« »Protogotisch mit generationsbedingten winzigen Veränderungen«, sagte Aemos, der näher trat. »Damask wurde vor etwas über fünfhundert Jahren kolonisiert und war für einen relativ langen Zeitraum isoliert. Die Bevölkerung hat sich vielleicht nicht vermehrt, aber die Sprache hat sich zu älteren Formen zurückgebildet.« »Also ist dieser Mann sehr wahrscheinlich ein Eingeborener, ein Siedler?« Aemos nickte. Ich sah, dass der Blick unseres Gefangenen zwischen Aemos und mir hin und her irrte, da er versuchte, unserer Unterhaltung zu folgen. »Sie sind hier geboren, auf Damask?« Er runzelte die Stirn. 227
»Hier geboren?« »Ick bün ut Gillan Sien Acker. War Gottesland vor den Werken.« Ich drehte mich zu Aemos um. Das würde eine Ewigkeit dauern. »Ich kann das übernehmen«, sagte Aemos. »Was soll ich ihn fragen?« »Fragen Sie ihn, was mit Gillans Acker passiert ist.« »Seggen Se mol, wat wöör met Gillan Sien Acker?« Seine Geschichte war schmerzlich simpel und von der Unwissenheit eines Mannes bestimmt, der wie die anderen Siedler über Generationen den kargen Boden einer einsamen Randwelt bewirtschaftet hatte. Die Familien, wie er sie nannte, wahrscheinlich die Stammes-. gruppen der ursprünglichen Siedler, bearbeiteten das Land so lange, wie sein Gedächtnis und das der Ältesten zurückreichte. Es gab fünf landwirtschaftliche Gemeinden und zwei Steinbrüche oder Bergwerke, die Baumaterial und fossile Brennstoffe im Tausch gegen landwirtschaftliche Erzeugnisse förderten. Es waren gläubige Leute, der Pflege von »Gottesland« verschrieben, obwohl kein Zweifel bestand, dass sie mit »Gott« den Gott-Imperator meinten. Noch vor vier Jahren, also nach der letzten Vermessung, von der unsere Unterlagen stammten, hatten über neuntausend Siedler in den Gemeinden von Damask gewohnt. Dann war die Mission gekommen. Rhizor schätzte, dass dies drei Jahre her war. Ein Schiff hatte einen kleinen Orden von Ekklesiarchen von Messina gebracht. Sie hatten die Absicht, hier eine Zuflucht anzulegen und die diesbezüglich vernachlässigten Siedler spirituell zu erziehen. Insgesamt waren es dreißig Priester gewesen. Er erkannte den Namen Dazzo wieder. »Erzpriester Dazzo«, nannte er ihn. Andere Fremdweltler waren ebenfalls gekommen, keine Priester wie Dazzo und dessen Brüder, sondern Männer, die mit ihnen zusammenarbeiteten. Nach der Art, wie er sie beschrieb, 228
tippte ich auf Landvermesser oder Bergbauingenieure. Sie hatten ihre Aufmerksamkeit auf die Steinbrüche in Nordqualm gerichtet. Nach etwa einem Jahr hatten die Aktivitäten zugenommen. Mehr Schiffe kamen und gingen. Siedler, in erster Linie starke Männer, wurden in den landwirtschaftlichen Gemeinden rekrutiert, um in den Minen zu arbeiten, oft mit brutalen Mitteln. Die Ekklesiarchen schienen sich nicht daran zu stören. Als ihre Bevölkerung immer mehr abnahm, gingen die Siedlungen einfach ein. Sie bekamen keine Hilfe, um zu überleben. Eine Krankheit, wahrscheinlich ein Fremdweltimport, tötete viele. Dann begann die vulkanische Aktivität, plötzlich und ohne Vorwarnung. Die verbliebenen Bewohner der Siedlungen wurden zusammengetrieben und in den Gruben zum Dienst gepresst, als sei nun dringende Eile bei irgendetwas geboten. Rhizor und viele wie er arbeiteten bis zum Umfallen, bis ihnen später die Flucht gelang, um dann wie Tiere in den Dornwäldern zu leben. Also war Dazzo mit seinem Orden nach Damask gekommen, hatte die Bevölkerung als Zwangsarbeiter rekrutiert und war nun fest entschlossen, irgendwas aus dem Gebiet um Nordqualm auszugraben. Mir kam es sehr wahrscheinlich vor, dass die vulkanischen Aktivitäten auf unvorsichtigen Bergbau zurückzuführen waren. Ich tastete mich wieder in seinen Geist vor ... er zitterte vor Furcht, als er die geistige Berührung spürte ... und zeigte ihm ein Bild von Dazzo. Er bestätigte nur zu bereitwillig dessen Identität. Dann Locke, ein weiteres Gesicht, das er kannte und mit kaum verhohlenem Hass betrachtete. Locke war Anführer der Männer gewesen, welche die Siedler zur Zwangsarbeit gezwungen hatten. Seine Grausamkeit hatte bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich zeigte ihm die Gesichter von Urisel und Oberon Glaw, die ihm beide unbekannt waren. Schließlich übermittelte ich ihm ein Bild des Pfeifenrauchers. 229
»Malahite«, verkündete er, da er ihn sofort erkannte. Laut Rhizor war der Obscurasüchtige mit den wässrigblauen Augen Girolamo Malahite, der Anführer der Landvermesser und Ingenieure. Fischig, der sich im Laufe der Unterhaltung zu uns gesellt hatte, fragte nach der Faserholzmarkierung, die wir in Gillans Acker gefunden hatten. Rhizors Gesicht verzerrte sich vor Kummer. Das war das Kennzeichen für das Massengrab, wo die Fremdweltler alle verscharrt hatten, die Widerstand leisteten. Midas rief mich in die Kanzel. Ich sagte Aemos, er solle Rhizor etwas zu essen geben und ihn dann weiter befragen. Midas saß auf dem ledernen Pilotensitz und hatte reichlich Endlospapier auf dem Schoß, das die elektrische Presse ausspie. »Kein Wunder, dass Maxilla sich versteckt hat«, sagte er zur Begrüßung. »Schauen Sie her.« Das Papier war eine Wiedergabe des astropathischen Verkehrs und des Kom-Verkehrs, den Midas von den Schiffen im Orbit aufgeschnappt hatte. Er folgte mit einem Finger den Kolonnen aus Text und Ziffern. »Da oben sind mindestens zwölf Schiffe, wenn nicht mehr. Die genaue Zahl lässt sich nur schwer ermitteln. Das hier könnten zum Beispiel zwei Schiffe im Dialog sein oder ein Schiff, das seine Botschaft wiederholt.« »Verschlüsselt?« »Das ist das Interessante daran. Alles in ganz normalem Flottencode, in Textcept.« »Der ist tatsächlich allgemein bekannt.« Er nickte. »Und sehen Sie mal hier, das Frage- und Antwortmuster hier deutet auf ein Großkampfschiff hin, das sich überzeugt, ob die Bestandteile seiner Flotte alle im Realraum eingetroffen sind. Eine typisch imperiale Struktur. Militär ... eins von unseren.« 230
»Eine freundlich gesinnte Flotte.« »Vielleicht nicht freundlich. Beachten Sie die Signatur hier ... der Befehl kommt von Estrum.« »Der vermisste Kapitän.« »Der vermisste Kapitän ... vielleicht doch nicht so vermisst. Vielleicht ... desertiert. Der ganze Zwischenfall im Orbit um Gudrun, die irrtümliche Feindidentifikation, die >Panik< ... könnte ein Vorwand gewesen sein, sich mit ihm treu ergebenen Schiffen abzusetzen.« »Aber er sendet immer noch im normalen Flottencode des Imperiums.« »Wenn nur die Offiziere von der Täuschung wissen, wird er keinen Wert darauf legen, die Mannschaften aufmerksam zu machen.« Eine Stunde später löste sich ein großes Landungsboot mit Jagdschutz aus der Flotte und kam herunter. Der Transporter setzte in Nordqualm auf, und die Jäger umkreisten das Gebiet zwei Mal, bevor sie zu ihrem Mutterschiff zurückkehrten. Im Kanonenboot hörten wir das donnernde Grollen ihres Triebwerkslärms über das Plateau und durch die Täler rollen. Midas schaltete die Systeme des Bootes auf minimale Leistung, so dass sie uns nicht zufällig orten konnten. Aemos redete den größten Teil des Nachmittags mit Rhizor, der ruhiger zu sein schien und bereit war, zu helfen, nachdem er etwas zu essen bekommen hatte. Als es dunkel wurde und sich der Abend näherte, kam Aemos zu mir. »Wenn Sie heimlich dort eindringen wollen, kann der Mann Ihnen vielleicht helfen.« »Nur weiter.« »Er kennt die Minen und die Grabungsstätten. Er hat dort eine ganze Weile gearbeitet. Ich habe ausführlich mit ihm geredet, und er scheint ganz sicher zu sein, dass er Sie in ein Stollennetz führen kann, das mit den Grabungsstätten 231
verbunden ist.« Wir brachen nach Einbruch der Dunkelheit mit dem Wagen auf. Fischig fuhr und orientierte sich mit Hilfe des Geländeabtasters, da die Scheinwerfer aus blieben Dadurch kamen wir langsamer voran, aber auch diskreter. Ich saß neben ihm, und Bequin saß hinten bei Rhizor. Es hatte eine Debatte darüber gegeben, wer von uns gehen sollte, aber die endgültige Auswahl hatte ich getroffen. Der Wagen bot höchstens vier Personen Platz, und obwohl Midas der beste Kämpfer in unserer Gruppe war, meiner Ansicht sogar noch besser als der Züchtiger, wollte ich ihn im Boot am Ruder wissen, um rasch reagieren zu können. Außerdem verfügte Bequin über Fähigkeiten, die ich für das Unternehmen für unerlässlich hielt. Die Fahrt in die Region von Nordqualm dauerte lange, und wir trafen erst in der zweiten Hälfte der Nacht dort ein. Wolken verbargen den Mond und die Sterne, und Licht spendeten lediglich die Flammen in den Vulkanbergen, welche die niedrigen Wolken von unten in einen sich ständig verändernden roten Dunst hüllten. Die Luft war von schwefligem Rauch geschwängert. Wir versteckten den Wagen in einer Senke, markierten seine Position und marschierten nach Westen um die Ausläufer des Gebiets, die »Flammenberge«, wie Rhizor sie nannte. Nachtkreaturen zwitscherten und flöteten in der Dunkelheit. Etwas Größeres heulte in weiterer Ferne. Wir arbeiteten uns durch das Dornengestrüpp und machten schließlich die harsche künstliche Beleuchtung aus, in der die gesamte Siedlung lag. Die Vulkane grollten. Es dauerte ein wenig, bis Rhizor gefunden hatte, was er suchte: eine Reihe kleiner flacher Teiche, die halb mit geothermal erhitztem Wasser gefüllt waren. Die sirupartigen Wasseroberflächen brodelten und blubberten, und es 232
wimmelte von Insekten, die von der Hitze angelockt wurden. Rhizor watete vorsichtig in den größten Teich und arbeitete sich um einen massiven Felsen herum, der mit leuchtend orangen Flechten bedeckt war. Dahinter, durch Dornengestrüpp und Palmwedel verborgen, war eine schmale Höhlung. Dies, sagte er, soweit ich ihn verstehen konnte, sei der Weg, auf dem er der Zwangsarbeit entkommen sei. Wir überprüften Waffen und Ausrüstung und bereiteten uns auf den Einstieg vor. Ich hatte den Waffenspind auf dem Kanonenboot geöffnet und uns mit so viel Feuerkraft ausgestattet, wie wir einigermaßen bequem tragen konnten. Ich hatte mein Energieschwert, eine Autopistole im Achselhalfter unter dem Mantel und ein Lasergewehr mit einer unter dem Lauf befestigten Taschenlampe. Der Rucksack auf meinem Rücken enthielt andere Ausrüstungsgegenstände. Bequin hatte ihre Autopistole behalten und dazu ein Messer mit flacher Klinge mitgenommen. Auch sie hatte eine Taschenlampe. Ich hatte Fischig einen alten, aber gut gepflegten schweren Karabiner gegeben, der ihm sehr zu gefallen schien. Er hatte seine Arbites-Pistole und einen Rucksack mit Reservetrommeln für den Karabiner bei sich. Rhizor hatte jede Waffe abgelehnt. Ich war sicher, dass er uns ohnehin verlassen würde, sobald wir sicher auf Kurs lagen. Die Höhle war so schmal, dass wir hintereinander eintreten mussten. Ich ging voran, Rhizor gleich hinter mir, dann Bequin und Fischig als Letzter. Es war ungemein heiß in der schmalen Felspassage, und die Schwefeldämpfe zwangen uns, Atemmasken zu tragen. Rhizor hatte keine, band sich aber ein Stück Stoff vor Nase und Mund. So hatten es die Sklaven immer bei der Arbeit im Bergwerk gehalten. Der Gang wand sich hin und her und stieg eine Weile an, als er sich in die Berge schlängelte. Stellenweise war er so steil, dass wir den zerklüfteten Boden des Stollens hochklettern 233
mussten. Zwei Mal mussten wir unsere Rucksäcke abnehmen, um uns durch enge Abschnitte zu zwängen. Nach einer Stunde spürte ich langsam das bedrückende Pochen des psionischen Schleiers, der Nordqualm einhüllte. Als wir ihn durchdrangen, lauschte ich auf das Jaulen von Alarmsirenen oder Aktivitäten, hörte jedoch nichts. Zwar wusste sie es nicht, aber Bequin tat bereits ihre Arbeit, indem sie einen toten Fleck schuf, der uns das unbemerkte Eindringen gestattete. Ich sorgte dafür, dass sich niemand zu weit von ihr entfernte. Die Lavakanäle wimmelten von Lebensformen, die sich an die Existenz in der heißen, chemikalienreichen Brühe angepasst hatten: blinde, krötenartige Jäger, transparente Käfer, albinotische Mollusken und Spinnen, die wie aus Weißgold geschmiedet aussahen. Ein dicker weißer Tausendfüßler, so lang wie mein Arm, kroch an einer Weggabelung über den heißen Fels. Alle paar Minuten bebte die Erde. Lockeres Gestein und Staub rieselten von der Decke herunter, und warme, stinkende Gase wehten durch die gewundenen Felskavernen. Der Gang verbreiterte sich und wies Zeichen der Bearbeitung auf. Dornholzstempel sützten die Decke, und Markierungstafeln mit Kreidezahlen darauf waren an jeden sechsten Stempel genagelt. Rhizor versuchte zu erklären, wo wir waren. Er tat sein Bestes, und ich bekam heraus, dass wir uns in einem Teil der Mine befanden, der zunächst bearbeitet und später aufgegeben worden war. Er sagte noch andere Dinge, die ich jedoch nicht verstand. Er führte uns ans Ende einer Grabstelle, in einen niedrigen, abgestützten Tunnel, und ich leuchtete mit der Taschenlampe in eine Höhlung, die in den lockeren Kies und das Geröll gegraben worden war. Bequin kniete nieder und fegte Kies vom Boden. Sie legte alte Platten aus einer matten metallischen Substanz frei, die mir unbekannt war. Die Fliesen waren perfekt zusammengefügt, 234
obwohl sie alle die Form unregelmäßiger Achtecke hatten. Sie waren seltsam asymmetrisch, und einige Enden wirkten überlang. Aber sie passten nahtlos zusammen. Wir hatten nicht einmal den Ansatz einer Erklärung dafür, und das Muster, das sie bildeten, erzeugte intensives Unbehagen. Im hinteren Bereich der Grabung waren alte Steinmetzarbeiten freigelegt worden. Ich war kein Experte, aber der Stein, ein hartes, blasses Material, auf dem Sprenkel von Glimmererde funkelten, sah nicht einheimisch aus. Es gab Spuren, die nahelegten, dass Teile davon mit Gesteinsbohrern und Laserschneidern ausgelöst und abtransportiert worden waren. »Das hier ist alt«, sagte Fischig. Er fuhr mit der Hand über die gespaltene Steinfassade. »Aber der Schaden ist neu.« »Die Radgräber«, sagte Alizebeth Bequin plötzlich. Ich sah sie an. »Auf Bonaventure«, erklärte sie, während sie sich an ihre Geburtswelt erinnerte, »gibt es berühmte alte Stätten in den Bergen im Westen, die von einer Rasse vor der Menschheit angelegt worden sind. Sie sind in konzentrischen Kreisen angelegt, wie Räder. Als Kind war ich mal dort. Irgendwann waren sie einmal verziert gewesen, nehme ich an, aber die Oberflächen waren weggeschnitten worden. Von späteren Händen geplündert. Das erinnert mich an das hier.« »Viele machen ein Gewerbe aus archäologischer Plünderung«, sagte Fischig. »Und wenn es sich um Artefakte von Xenos handelt, ist die Strafe hoch.« Ich hatte gehört, wie Glaw und seine Verbündeten archäoxenologisches Material erwähnt hatten. Wenn dies so eine Stätte war, die auf irgendeine Weise mit den bislang noch mysteriösen Saruthi zu tun hatte, würde es erklären, warum sie trotz der Vulkane weiter daran arbeiteten. Was hatten sie von hier mitgenommen? 235
Was bedeutete es ihnen? Was bedeutete es den Saruthi? Wir gingen zum Hauptstollen zurück und passierten dabei drei weitere aufgegebene Grabstellen. In allen hatten sich Spuren alter Steinmetzarbeiten gefunden, und alle waren wie die erste geplündert worden. Wir kamen zum Ende des Stollens. Eine Metallleiter führte durch ein Gerüst nach oben zu einer Öffnung im Gestein, die zehn Meter höher lag. Wir kletterten hinauf und in einen anderen Stollen und hörten sofort den Lärm von Gesteinsbohrern. Die Luft war hier besser, und wir konnten unsere Atemmasken absetzen. Kalte Luft, von der Oberfläche, nahm ich an, wehte durch den Tunnel. Mit äußerster Vorsicht tasteten wir uns weiter vor, wobei wir die Einmündung einer gigantischen Kaverne passierten, bei der es sich wahrscheinlich früher einmal um ein Magmabecken gehandelt hatte. Die Wände waren poliert und von der Hitze glasiert. Tief geduckt schauten wir hinein und sahen Arbeitstrupps, Männer und Frauen, zweifellos Rhizors Landsleute, Korbketten bilden, um Gesteinstrümmer von der Arbeitsfläche wegzuräumen. Es gab mindestens ein Dutzend der bestialischen Wächter in ihrer schwarzen Stachelrüstung. Einer marschierte die Reihe der Arbeiter ab und teilte mit einer Elektropeitsche Arbeitsansporne aus. Ich lugte etwas angestrengter hinein und versuchte aus der Hauptarbeitsstätte schlau zu werden. Zwei Damasker arbeiteten mit Gesteinsbohrern und trugen die Kruste einer Wand ab, unter der bereits ein ausgedehntes Stück einer alten Wandfassade zum Vorschein gekommen war. Andere Sklaven, die meisten von ihnen Frauen, arbeiteten mit kleinen Meißeln, Ahlen und Pinseln an der freigelegten Fassade und legten Steinmetzarbeiten von kompliziertem Muster frei. Eine Kette aus Rufen pflanzte sich durch die Reihe der Wächter fort, und wir verbargen uns im Tunnelschatten. 236
Vor uns näherte sich unsteter Lampenschein, und schließlich tauchte eine Gruppe Männer in dem Tunnel auf, der von der Kaverne an die Oberfläche führte. Drei waren Wächter, zwei grau verschleierte Vorarbeiter mit Datentafeln. Die anderen waren Gorgone Locke und der Pfeifenraucher Girolamo Malahite. Wie ich geargwöhnt hatte, waren Mitglieder der Glaw Kabale Haus Glaw lebend entkommen. Estrums desertierte Flotte hatte zweifellos eine Rolle bei ihrer Rettung gespielt. Locke trug ein Ledergewand mit eingewobenen Panzerungsleisten. An seinem Mund war immer noch die Wunde zu sehen, die ich ihm dort zugefügt hatte. Er schien schlechte Laune zu haben. Malahite war so schwarz gekleidet, wie ich ihn zuvor gesehen hatte. Er stand da, studierte Datentafeln und beriet sich mit den Leitern der Grabung und dem Anführer der Wächtertruppe, bevor er ging und sich die freigelegte Wand mit archäoxenologischem Material ansah. Die Sklavenarbeiter schraken vor ihm zurück und machten ihm eiligst Platz. Er wechselte ein paar Worte mit den Männern rings um sich, und der Anführer der Wächter eilte davon und kam mit einer klobigen Steinsäge zurück. Hinter dem Werkzeug schleiften Kabel und Schläuche her, die zu einer Dose in der Einmündung der Höhle führten, worüber die Verbindung zu den Systemen der Energie- und Wasserversorgung hergestellt wurde, die von dort zu den Generatoren im Tunnel und den Pumpen an der Oberfläche führte. Die Säge erwachte jaulend zum Leben, und Wasser wurde auf das Sägeblatt gepumpt, um es sauber und kühl zu halten. Der Anführer der Wächter machte einen vorsichtigen Einschnitt in den Fels, wobei sich der jaulton der Säge veränderte, als das Blatt fasste. Sekunden später hatte er ein Stück aus den Meißeleien in der Wand herausgeschnitten. 237
Soweit ich sehen konnte, waren die Gravuren auf einzelnen Steinblöcken, und er schnitt die bearbeitete Oberfläche von den Blöcken herunter. Er trennte zwei weitere ab, und sie wurden ehrerbietig an Malahite weitergegeben, der sie betrachtete und dann weiterreichte. Dann wurden sie in Plastek geschlagen und in Holzkisten verpackt. Die abgeschnittenen Stücke hatten große Ähnlichkeit mit den alten Steintafeln, die ich in dem privaten Arbeitszimmer unter Haus Glaw gesehen hatte. Es gab einen lauten Knall. Der Anführer der Wächter hatte eine weitere Tafel abgeschnitten, aber sie war in Einzelteile zerbrochen. Er ließ die Säge fallen und sammelte die Bruchstücke hektisch auf, während diejenigen rings um ihn fluchten und schrien. Locke kam hinzu. Er verpasste dem Mann einen harten Tritt und stieß ihn zu Boden, dann trat er den Liegenden wiederholt, der sein Gesicht abzuschirmen versuchte und um Gnade flehte. Malahite sammelte die Bruchstücke auf. »Dir wurde gesagt, du sollst vorsichtig sein, du unnützer Hund!«, fauchte Locke. »Der Schaden kann repariert werden«, sagte Malahite zu dem Schiffskapitän. »Ich kann die Einzelteile wieder verbinden.« Locke hörte nicht zu. Er trat den Mann noch einmal, dann zerrte er ihn hoch und schleuderte ihn vor die Wand. Er fuhr fort, ihn zu verfluchen und zu verwünschen, und der Mann wimmerte und stammelte Entschuldigungen.
Locke wandte sich von dem ramponierten Mann ab. Dann hob er die immer noch jaulende Säge auf und zerstückelte den Anführer der Wächter. Es war unmenschlich. Die gequälten Schreie hallten durch die Kaverne. Alle Sklaven jammerten und ächzten, und sogar 238
die Wächter schauten voller Unbehagen weg. Locke kniete sich mit mörderischer Häme in seine Tätigkeit und deckte sich dabei mit Blut ein. Dann warf er die rauchende Säge auf den Boden und drehte sich zu einem Wächter um. Er zeigte auf die Säge. »Sorg dafür, dass du es besser machst«, fauchte er. Mit großem Widerstreben hob der Wächter die Säge auf und machte sich an die Arbeit. Locke, Malahite und ihre Gruppe gingen nach weiteren zehn Minuten gefolgt von einem Arbeitstrupp, der die Holzkisten mit den abgeschnittenen Tafeln transportierte. Wir warteten ein paar Minuten und folgten ihnen dann durch den Tunnel. Voraus war Tageslicht, spärlich und dünn. Der Tunnel mündete in einen der großen Fertigschuppen, die ich bei der Beobachtung der Stätte gesehen hatte. Arbeiter, die gerade Pause hatten, wuselten herum, und überall marschierten Wächter und die grau gewandeten Vorarbeiter auf und ab. In dem schlecht beleuchteten Schuppen waren Grabausrüstung und Werkzeuge gestapelt. Fischig fand eine Tür in der Rückwand des Schuppens hinter Ausrüstungskisten und brach das Schloss auf. Wir konnten durch diese Hintertür den Schuppen verlassen und in die Siedlung eindringen, ohne das Risiko eingehen zu müssen, es durch den Haupteingang zu versuchen und dabei gesehen zu werden. Wir befanden uns nun in einer Hintergasse von Nordqualm und hatten die vulkanischen Hänge im Rücken. Wir waren von verrottenden und leer stehenden Häusern umgeben, und der Wind wehte Ruß und Ascheflocken umher. Wir blieben dicht bei den Mauern und versteckten uns, wenn jemand kam. Hinter dem nächsten Ruinengewirr befand sich ein geräumter Bereich, der teilweise mit Flakbrettschirmen überdacht war, um die Asche abzuhalten. Zwei Landungsboote standen auf dem versengten Boden: ein großer imperialer 239
Flottentransporter und eine kleine ältere Landefähre. Der Rumpf der Fähre war mit einer dicken Ascheschicht bedeckt. Gestalten bewegten sich in der Nähe der Einstiegsrampen beider Schiffe. Wächter und Arbeiter brachten Holztragen mit den ausgegrabenen Artefakten in den geräumigen Laderaum des Flottentransporters. Ich sah Locke und Malahite mit mehreren Vorarbeitern und drei Schlachtflottenoffizieren in Schiffsdrillich in der Nähe stehen. Einer, ein hagerer Mann mit fliehendem Kinn und vorquellenden Augen, trug die Insignien und Abzeichen eines Schiffskapitäns. Unser Deserteur, Estrum. Ekklesiarch Dazzo kam gerade aus einem Gebäude in der Nähe und ging zu ihnen, wobei er den Saum seiner prächtigen Robe hob, um sie aus der Asche zu halten. Plötzlich hallte Geschrei über den Platz. Eine wütende menschliche Stimme, der ein tieferes, brutaleres Geräusch folgte, bei dem sich mir die Nackenhaare sträubten. Lord Oberon Glaw, in Mantel und Rüstung gehüllt, kam aus dem Gebäude gestürmt, das Dazzo kurz vor ihm verlassen hatte, und schritt über den Hof. Einen Moment später folgte ihm fluchend und tobend die riesige, grässliche, klobige Gestalt des Chaos Marine. Glaw fuhr herum und stellte sich dem riesigen Ungeheuer, um den Streit mit voller Lautstärke wiederaufzunehmen. Trotz seiner Größe sah der Lord des Hauses Glaw neben der grell gerüsteten Blasphemie wie ein Zwerg aus. Der Verräter-Marine hatte seinen Helm abgesetzt. Sein Gesicht war eine weiße, gepuderte, leblose Maske des Hasses mit Spuren von Goldstaub und violetter Schminke rings um die eingesunkenen Augen und einem trockenen, lippenlosen Mund voller Zähne mit Perlmuttintarsien. Das nur vage menschliche Gesicht schien auf den Schädel genäht worden zu sein, dessen entblößte Teile aus bearbeitetem Gold bestanden. Ein furchtbarer Gestank nach 240
süßlichem Parfüm und organischem Verfall ging von ihm aus. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie viel Mut - oder Wahnsinn - es bedurfte, um sich einem Chaos Marine in einem heftigen Streit zu stellen. Der Wind wehte von uns weg, und wir konnten nur das heftige Fauchen der Stimmen und nicht die eigentlichen Worte hören. Dazzo und Malahite gingen rasch zu Glaw, und die meisten anderen anwesenden Wächter und Arbeiter wichen zurück und duckten sich unwillkürlich. Die Windrichtung veränderte sich ein wenig. »... mir nicht länger widersetzen, du menschlicher Abschaum!« Plötzlich war die grässliche Stimme des Verräter-Marine zu hören. »Du wirst mir Respekt erweisen, Mandragore! Respekt!«, brüllte Glaw zurück. Seine Stimme war kräftig, wirkte aber verglichen mit dem Gebrüll des Chaoskriegers dünn. Der Marine brüllte etwas anderes, das mit den Worten endete: »... töte euch alle und bringe die Arbeit selbst zu Ende! Meine Herren warten, und sie erwarten die perfekte Erledigung dieser Aufgabe! Sie werden nicht ihre Zeit vergeuden, weil du Ungeziefer trödelst und zauderst!« »Du wirst dich an unseren Pakt halten! Du wirst unsere Vereinbarung einhalten!« Mir ging auf, dass ich wie hypnotisiert war. Während ich auf die monströse, tobende Gestalt und das Grauen starrte, dass sie vermittelte, hatte mein Blick zu lange auf den obszönen Runengravuren in den Gelenken der Rüstung und den irrsinnigen Sigillen auf dem Brustharnisch verweilt. Ich war wie in Trance, gefangen von den goldenen Ketten, die seine grell bemalte Rüstung schmückten, von den Edelsteinen und erlesenen Filigranarbeiten auf dem Brustharnisch, der durchscheinenden Seide seines Umhangs und den Worten, den fremdartigen, widernatürlichen Wörtern, die in seine Gestalt geritzt waren und in denen 241
Geheimnisse zuckten und brodelten, die älter als die Zeit waren ... Geheimnisse, Versprechungen, Lügen ... Ich zwang mich, nicht hinzusehen. Seelenzerstörender Wahnsinn lag in den Malen und Zeichen des Chaos, wenn man zu lange hinschaute. Mandragore kreischte vor Wut und hob eine gewaltige Faust, deren Panzerhandschuh mit rostigen Klingen gespickt war, um Lord Glaw zu zerschmettern. Der Schlag kam nicht. Ich fuhr zusammen wie unter einem Schlag, als ein Stoß psionischer Energie über den Platz fegte. Mandragore trat einen Schritt zurück. Dazzo ging auf ihn zu. Kleiner als Glaw und Locke, wirkte Dazzo neben dem Ungeheuer noch unbedeutender, aber bei jedem seiner Schritte wich der Chaos Marine zurück. Er sprach nicht, aber ich hörte seine Stimme in meinem Kopf. Die Ausstrahlung und die Worte selbst waren so widerlich, dass ich Mühe hatte, mich nicht zu übergeben. »Mandragore, Sohn des Fulgrim, Anhänger Slaaneshs, Kämpe der Emperor 's Children, Töter der Lebenden, Schänder der Toten, Hüter der Geheimnisse - deine Anwesenheit hier ehrt uns, und wir feiern unseren Pakt mit deinesgleichen ... aber du wirst uns keinen Schaden zufügen. Heb nie wieder die Hand gegen uns. Nie wieder.«
Dazzo war einfach der stärkste Psioniker, dem ich je begegnet war. Allein mit seinem Geist hatte er einen der übelsten Verräter niedergerungen, einen dem verderbten Dienst am Chaos verschworenen Space Marine. Mandragore wandte sich ab und schritt über den Platz. Ich sah jetzt, wie Lord Glaw nach dieser Konfrontation förmlich in sich zusammensackte, da sein Mut und seine Kraft verbraucht waren. Viele der anwesenden Arbeiter weinten, und zwei Wächter übergaben sich. 242
Zitternd drehte ich mich zu meinen Kameraden um. Fischig war aschfahl und zitterte, seine Augen waren geschlossen. Rhizor hatte sich auf dem aschebedeckten, matschigen Boden mit dem Rücken an einer Mauer zusammengekrümmt. Bequin war verschwunden.
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FÜNFZEHN Exponiert inmitten des Feindes. Ein ungleicher Krieg. Flucht.
ir blieb nur ein Augenblick für die Erkenntnis: Wohin M Bequin auch verschwunden sein mochte, wir befanden uns jetzt außerhalb ihrer Aura der Unberührbarkeit und waren daher exponiert. Ich hörte einen Schrei, einen erstickten Warnruf des alten Ekklesiarchen, der sofort von Sirenengeheul begleitet wurde. Auf dem Landeplatz rannten Wächter auf uns zu. Dazzo wies direkt auf die Ruinen, die uns verbargen. Locke zog eine Laserpistole unter seinem Gewand hervor. Wütende Stimmen, das heisere Bellen der Cygniden. »Fischig!«, rief ich. »Fischig! Bewegen Sie sich, oder wir sind tot!« Er blinzelte, immer noch bleich, als kenne er seinen eigenen Namen nicht. Ich verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. »Bewegung, Züchtiger!«, brüllte ich. Der erste Wächter hatte die Ruinen erreicht, und einer trat eine vernagelte Tür ein. Ich sah sein glotzendes Gesicht durch ein schmutziges schwarzes Visier starren. Er hob sein Lasergewehr. Ich riss das Gewehr hoch und deckte ihn und die Tür mit einem Hagel aus Laserstrahlen ein. 244
Stein- und Holztrümmer flogen unter den zahlreichen Einschlägen in alle Richtungen. Laserschüsse zischten durch die Löcher im Gestein und trafen die Außenmauer. Fischigs schwerer Karabiner erwachte zum Leben. Er ließ den Strom der Leuchtspurgeschosse über die dunklen Höhlungen der Ruine links von uns wandern und zerfetzte zwei weitere Wächter, die sich gerade gewaltsam Zutritt verschafften. Mehr Wächter, rechts von mir, feuerten ihre Waffen ab. Mein Laserkarabiner war auf Dauerfeuer geschaltet und gab ein beständiges schrilles Jaulen von sich, da ich den schmalen Eingang unter Beschuss nahm und weitere drei fällte. Immer noch schießend, wich Fischig in die Tiefen der Ruine zurück. »Kommen Sie!«, knurrte er. Ich wich mit ihm zurück, während unsere Waffen ein Gewitter aus explosivem Metall und Energiestrahlen bildeten, das sich durch die Ruinenmauern fortpflanzte, Trümmer versprengte und Aschestaub sowie explodierende Leiber verspritzte. Rhizor, der vor Grauen außer sich war, lag noch auf dem Boden. Ich packte ihn am Kragen seiner Lumpen und schleifte ihn hinter uns her. Er wehrte sich verzweifelt gegen mich. Eine große Gestalt sprang durch eine Fensteröffnung in der Wand, durch die wir die Vorgänge auf dem Platz beobachtet hatten. Es war Locke. Er rollte sich bei der Landung ab, und seine Laserpistole spie Feuer. Ein Schuss streifte meine linke Schulter. Weitere drei trafen Rhizor in den Rücken, der gegen mich geschleudert wurde und mich zu Boden stieß. Fischig sah Locke und schwang herum, ohne den Finger vom Abzug zu nehmen. Der rasch kreisende Mechanismus der schweren Waffe erzeugte ein hohes, 245
knirschendes, metallisches Geräusch neben dem frenetischen Krachen der Schüsse. Die spärliche Deckung um Locke löste sich auf, und er schrie, als er sich hinter einen Mauerabschnitt warf. In der Bewegung schoss er, und Fischig grunzte vor Schmerzen, als ihn ein Laserstrahl in der Seite traf. »Eisenhorn! Du Bastard!«, bellte Locke. Ich wälzte mich unter Rhizors Leichnam hervor, traurig darüber, dass der zerlumpte Sklave so einen hohen Preis dafür hatte zahlen müssen, einem Inquisitor zu helfen. Noch ein Verbrechen auf Gorgone Lockes Schultern. Ich verfluchte den Namen des Kapitäns, zog eine Granate aus meinem Rucksack und warf sie in Lockes Richtung. Dann rannten Fischig und ich so schnell wir konnten durch die Hintertür der verräucherten Ruine nach draußen. Die Granate sprengte die Rückseite des Gebäudes. Ich hoffte beim Imperator, dass sie Locke jedes Glied einzeln vom Rumpf gerissen hatte. Hustend und speiend, landeten Fischig und ich in einem Graben, der hinter den Gebäuderuinen von Nordqualm und den neueren Fertigbauten verlief. Über uns befanden sich die großen, schrägen Flakbrettschirme gegen die Asche. Laserstrahlen schlugen in die Schirme und zischten durch den düsteren Graben. Zwanzig Meter entfernt sprangen Wächter hinein, und mit ihnen kamen tollwütig heulende Cygniden. Fischig richtete mit seiner zweiten Munitionstrommel ein Massaker an und pulverisierte Wächter und Hunde gleichermaßen. Wir eilten in die andere Richtung, wobei er sich mühte, eine frische Trommel einzulegen. Wächter schossen durch die Ruinen auf uns und sprengten Brocken aus dem schwelenden Gestein. Wir rannten weiter, von heftigen Salven verfolgt. Der Graben lief in einem kleinen Hof aus, wo ein Laster stand. 246
Wir lieferten uns einen Schusswechsel mit drei Wächtern, die um eine Ecke in den Hof bogen, und fällten sie, doch ein vierter tauchte auf und ließ drei Cygniden von der Kette. Bellend kamen sie über den Hof gerannt. Einen tötete ich mit meinem Karabiner, aber der Laster blockierte mein Schussfeld auf die anderen. Das große Fahrzeug schaukelte, als einer der Cygniden darauf sprang. Einen Moment später tauchte er auf dem Dach auf und sprang uns entgegen. Ich jagte ihm einen Laserstrahl durch den Schädel, als er landete und sein muskelbepackter Leib mich nur knapp verfehlte. Der andere kam unter dem Laster durch, das Fell mit Achsschmiere verklebt, und sprang Fischig an. Er warf ihn um, und sein gewaltiger Kiefer schloss sich um Fischigs gepanzerten Unterarm. Ich zog mein Energieschwert und stieß ihm die knisternde Klinge in den Leib. Mehr Schüsse, die in den Laster schlugen. »Stehen Sie auf!«, rief ich Fischig zu, während ich die Last des toten Hundes von ihm wälzte. Das gesamte Lager war uns jetzt auf den Fersen, während wir zur Rückseite eines Fertigschuppens rannten und die Tür aufbrachen. Es war ein Lagerschuppen mit Ersatzklingen für Gesteinsbohrer, Kabelrollen, Lampenbatterien und allen möglichen Bergbau-Gerätschaften. Wir bewegten uns geduckt zwischen den Kistenreihen, während wir draußen Schüsse und eilige Schritte hörten. Ich blieb stehen, wechselte das Magazin meines Karabiners aus und schaltete dann mein Korn ein. »Dorn wünscht Aegis, verzückte Bestien unten.« »Aegis, geht auf, die Farben des Alls«, lautete die sofortige Antwort. »Klinge Delphus Bahn«, befahl ich. »Schema Elfenbein!« 247
»Schema bestätigt. In sechs. Aegis, geht auf.« Wächter stürmten den hinteren Teil des Schuppens, und Fischig fegte sie mit einer wilden Salve durch die dünnen Wände wieder nach draußen. Ich schaute mich um und sah einen Stapel schwarzer Metallkästen auf einer Palette in der Ecke des Schuppens. Die Papieretiketten waren alt und verblasst, aber ich stemmte den Deckel eines Kastens auf und fand meinen Verdacht hinsichtlich ihres Inhalts bestätigt. »Machen Sie sich bereit zur Flucht«, sagte ich, als ich meine zweite Granate scharf machte. »Ach, Scheiße!«, sagte Fischig, als er sah, was ich tat. Er war bereits halb aus der Tür, als ich die Granate oben auf die Kisten legte. Wir stürmten schießend nach draußen und wurden von einem Dutzend oder mehr Wächter empfangen, die uns suchten. Die meisten waren Grubenwächter in den hässlichen schwarzen Rüstungen, aber drei gehörten in ihrem schwarzen Drillich zur Flottensicherheit, zweifellos Teil der Abordnung des desertierten Kapitäns. Wir schossen, während wir rannten. Die Zündzeit der Granate war auf zehn Sekunden eingestellt. Die Tatsache, dass wir mitten durch sie liefen, überrumpelte sie. Keiner von ihnen konnte einen sauberen Treffer setzen. Fischig und ich hechteten über eine bröckelnde Mauer, die einmal Nordqualms Marktplatz umgeben hatte. Die Granate ging hoch. Und mit ihr die Palette mit Sprengstoff, auf der sie gelegen hatte. Die Druckwelle brachte jede Mauer im Umkreis von dreißig Metern zum Einsturz. Die Aufwärtskraft der Explosion, die einen lodernden Feuerball vor sich hertrieb, hob den ganzen Fertigschuppen zwanzig Meter in die Luft und ließ die zerfetzten Überreste des Bauwerks auf die benachbarten Dächer prasseln. Metallstücke, Funken und Fetzen brennender Flakbretter 248
regneten auf Fischig und mich herunter. Plötzlieh herrschte eine benommene Stille, die nur vom Heulen der Alarmsirenen, den Rufen der Verwundeten und verzweifeltem Geschrei gestört wurde. Die Luft wurde durch Aschestaub vernebelt. Wir setzten die Atemmaske auf und stolperten weiter durch die Düsternis. Ich verspürte einen stechenden Schmerz im Kopf. Tief, heimtückisch, brennend. Dazzo ließ seinen erschreckend starken Geist ausgreifen und suchte uns. Wir stolperten weiter durch den Rauch und den Weg zwischen zwei Fertigschuppen entlang, deren Fenster von der Druckwelle eingeschlagen worden waren. Die Schmerzen wurden immer stärker. »Eisenhorn. Du kannst dich nicht verstecken. Zeig dich.« Ich keuchte, als die Schmerzen noch zunahmen. Plötzlich wurde es besser. »Fischig! Hier rein!« Ich schob ihn in ein altes Steingebäude. Ich nahm an, dass es in Nordqualms eher ländlicherer Hochzeit einmal ein Waschhaus gewesen war. Bequin kauerte in einer Ecke, verdreckt, in Tränen aufgelöst. Der Anblick des Emperor's Child Mandragore hatte sie in blinder Panik flüchten lassen. Wie ich hatte sie den Fehler gemacht, auf die Runen und Zeichen seiner widerlichen, blendenden Rüstung zu starren. Anders als ich hatte sie nicht die Vernunft besessen wegzuschauen. Sie konnte nicht sprechen. Sie nahm kaum unsere Anwesenheit zur Kenntnis. Aber wir waren wieder innerhalb ihrer Aura der Unberührbarkeit und für den Moment vor Dazzos Zugriff sicher. »Was nun?«, fragte Fischig. »Sie werden sich schnell genug neu formieren.« »Midas kommt. Wir müssen zum Landeplatz zurück. Das ist hier die einzige Stelle, die groß genug für ihn ist, um das Boot aufzusetzen.« 249
Fischig sah mich an, als sei ich wahnsinnig. »Er kommt hierher geflogen? Sie werden ihn töten! Und selbst wenn er uns aufnimmt, wird die Flotte Abfangjäger starten. Sie starten sie in dem Augenblick, in dem er abhebt!« »Es wird heikel«, räumte ich ein. Wir schleiften Bequin mit uns und verließen das verfallene Waschhaus. Draußen war die Siedlung immer noch in die Asche gehüllt, die von der Explosion aufgewirbelt worden war. Der Schein heftiger Feuer war durch den Rauch zu sehen. Stimmen brüllten Befehle, und Cygniden bellten. Ich hörte auch ein tieferes, wütenderes Gebell. Ich hatte das unangenehme Gefühl, dass es der Chaos Marine war. »Dorn betreut Aegis, Hauptplatzbereich«, sendete ich über Korn. »Aegis, Hauptplatz in drei, Himmel fällt.« Also waren sie bereits hinter ihm her. Die Flotte hatte Jäger auf das Boot angesetzt. Wir rannten jetzt. Der Rauch verzog sich langsam. Ein Trupp Wächter eilte an uns vorbei, und wir waren zur Umkehr gezwungen. Die nächste Straße war durch Wächter verstopft. »Durch die Häuser!«, sagte Fischig. Wir befanden uns hinter einem Fertigbau, einem der neusten und größten, die Dazzos unheilige Mission errichtet hatte. Es gab keine Tür, aber wir kletterten auf das niedrige Dach, zogen Bequin hoch und drangen durch ein Oberlicht ein. Der Raum, in dem wir landeten, war mit Teppich ausgelegt und möbliert, ein Büro oder privater Arbeitsraum für einen der obersten Vorarbeiter. Ich sah Regale mit Datentafeln und Stapel von Karten und Speicherplatten. Mehrere große Reisekoffer waren in einer Ecke gestapelt, darauf lagen ein Mantel und zwei Jacken. Einer der Neuankömmlinge aus der Fähre hatte die Sachen hier abgestellt und war noch nicht dazu gekommen, sie aus zupacken. 250
»Weiter!«, zischte Fischig, der bereits die Tür überprüfte, die aus dem Büro in das übrige Gebäude führte. »Warten Sie!«, sagte ich. Ich durchtrennte die Vorhängeschlösser an den Koffern mit meinem Energieschwert und schlug die Deckel zurück. Im ersten waren Kleidung, Datentafeln, ein eingepacktes Lasergewehr, verziert und mit dem eingeprägten Namen Oberon. Andere Besitztümer. »Kommen Sie!«, wiederholte Fischig hektisch. »Aegis, Hauptplatz in zwo«, knisterte das Kom. »Eisenhorn? Was haben Sie vor?«, wollte Fischig wissen. »Das sind Glaws Sachen?«, sagte ich suchend. »Na und? Was suchen Sie?« »Ich weiß nicht.« Ich widmete mich dem zweiten Koffer. Mehr Kleidung, ein paar krude und unschöne religiöse Gegenstände. Fischig griff nach meiner Schulter. »Mit Verlaub, Inquisitor, aber das bedeutet, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für eine Durchsuchung ist!« »Wir müssen von hier verschwinden, wir müssen schleunigst von hier verschwinden«, murmelte Bequin, deren Blick bei jedem Geräusch von draußen hin und her huschte. »Es muss etwas geben ... einen Hinweis, eine Hilfe ... etwas, das wir benutzen können, wenn wir hier raus kommen ...« »Wir können schon von Glück sagen, wenn wir unsere nackte Haut retten! « »Ja!« Ich starrte ihn an. »Ja, das können wir - aber wenn wir es schaffen, wollen wir doch unseren Kampf gegen Glaw fortsetzen, oder nicht?« Er reckte verzweifelt die Arme. »Bitte ... bitte ...«, murmelte Bequin.
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»Aegis, Hauptplatz in eins«, knisterte es im Korn. Der dritte Koffer. Ein eingewickelter Satz chirurgischer Werkzeuge aus rostfreiem Stahl, deren Zweck ich mir nicht ausmalen wollte. Ein kleines Spiel mit Würfeln und Spielsteinen in einer Pappschachtel. Kleider, noch mehr verdammte Kleider! In die etwas Festes eingewickelt war. Ich holte es heraus. »Zufrieden?«, fragte Fischig. Ich hätte gelächelt, wenn Locke nicht dafür gesorgt hätte, dass ich es nicht mehr konnte. »Raus hier!«, sagte ich. An das Prunkgemach schloss sich eine Art Vorzimmer an. Auf dem Gitterboden standen mehr Koffer und in Plastek gehüllte Holzkästen. »Denken Sie nicht mal daran!«, schnauzte Fischig, als er den Blick sah, mit dem ich die Koffer musterte. »Aegis, am Platz!« Das Kom-Signal wurde vom tosenden Lärm einer schnell und niedrig über uns hinwegrasenden Flugmaschine teilweise übertönt. Das Knattern von Autokanonen und zischende Lasergewehre waren zu hören. Ich stürmte voran durch das Vorzimmer und eine Tür, die sich zum Landeplatz öffnete. Gestalten liefen umher, hauptsächlich Sklavenwächter und Marinesoldaten, die zum Himmel schauten und auf den Kutter schossen, der sich über ihnen in eine enge Kurve legte. Auf der anderen Seite des Platzes neben der heruntergelassenen Rampe des Flottentransporters stand Malahite, sah uns und stieß einen Warnruf aus. Die Männer fuhren herum und schossen auf uns. Dann sah ich Mandragore auf der rechten Seite des Platzes, der mit einem bösartigen Geheul auf uns los stürmte. »Zurück! Wieder rein!«, rief ich, und wir drei stolper ten zurück in das Habitat. 252
Die Außenwand des Gebäudes konnte die Chaosbestie ebenso wenig aufhalten wie die Tür. Mit Keramit und Stahl beschlagene Fäuste rissen das leichtgewichtige Metall auseinander, verdrehten Adamitträger und durchlöcherten Plastekverkleidungen wie Papier. Mandragores bellendes Geheul eilte ihm voran und erschütterte uns bis ins Mark. Bequin schrie. Das schändlich falsch benannte Emperor's Child explodierte förmlich durch die Endwand des Vorraums, die Perlmuttzähne gefletscht, während sein verstärkter Rumpf Lärm erzeugte. Das Boltgewehr in seiner Faust war riesig. »Keinen Schritt näher!«, rief ich. Mit einer Hand hielt ich die scharfe Granate in die Höhe, damit er sie sehen konnte. Er lachte, ein tiefes, donnerndes Glucksen der Verachtung. »Ich meine es ernst«, fügte ich hinzu und trat vor die Kiste neben meinen Füßen. Sie war mit den in Plastek gehüllten Tafeln aus dem Bergwerk gefüllt. »Ein-Sekunden-Zünder. Noch ein Schritt, und das hier fliegt alles in die Luft.« Er blieb stehen. Lord Glaw und mehrere Wächter kamen hinter ihm durch das Loch in der Wand. »Um Chaos willen, tu, was er sagt!«, blaffte Glaw. Mit einem Knurren senkte Mandragore sein Boltgewehr. »Zurück, Glaw! Ziehen Sie sich zurück, und nehmen Sie die anderen mit!« »Sie können nicht hoffen zu entkommen, Inquisitor«, sagte Glaw. »Zurück!« Glaw winkte seine Männer zurück und folgte ihnen hinaus. Mandragore zog sich sehr langsam und mit einem grollenden Zischen zurück. 253
»Nehmen Sie die Kiste!«, sagte ich zu Fischig. Er warf sich den Karabiner über die Schulter und tat wie ihm geheißen. Wir tasteten uns in das verräucherte Tageslicht vor. Fischig und ich gingen Seite an Seite, und ich hielt die Granate über der Kiste, die er trug. Bequin kauerte hinter uns. Im Hof befahl Glaw seinen Männern den Rückzug. Es waren über vierzig: Wächter, Marinesoldaten, Vorarbeiter. Ich sah Dazzo, Malahite und den desertierten Kapitän Estrum unter ihnen. Mandragore wich nicht so weit zurück wie die anderen. Er blieb auf unserer rechten Seite, und sein schimmernder Umhang flatterte über seiner funkelnden Rüstung im Wind. Aus seiner Kehle drang weiterhin ein Knurren. »Midas«, sprach ich ins Korn, »landen Sie mit geöffneter Luke.« »Verstanden«, erwiderte er. »Drei Abfangjäger der Flotte sind im Anflug. Eintreffen in drei.« Das Kanonenboot tauchte über dem Platz auf und warf einen riesigen Schatten, während seine Schubdüsen Aschewolken aufwirbelten. Als es auf den klobigen hydraulischen Landekufen zur Ruhe kam, heulte die Frachtrampe unter der Kanzel und senkte sich herab. Langsam drehten wir uns um, bis das Boot und die Rampe hinter uns waren. Der versammelte Feind beobachtete uns eindringlich und mit angelegten Waffen. »Ein Patt, Inquisitor«, sagte Glaw. »Sagen Sie Ihren Männern, sie sollen die Waffen herunternehmen. Auch die, die ich nicht sehen kann. Denken Sie nicht mal daran, mich zu erschießen. Midas richten Sie die Waffen unter den Tragflächen auf mich und den Züchtiger. Wenn uns irgendetwas zustößt, eröffnen Sie das Feuer.« »Bestätigt.« 254
Die mächtigen Kanonen unter den Tragflächen schwenkten herum, bis sie auf uns gerichtet waren. »Schießen Sie auf uns, und die Kiste war einmal.« »Die Waffen runter!«, rief Glaw, und die Soldaten gehorchten. »Jetzt ziehen Sie die Abfangjäger ab. Schicken Sie sie zu ihrem Träger zurück.« »Ich ...« »Sofort!« Glaw wandte sich Estrum zu, der in ein Kom sprach. »Die Abfangjäger haben Ihren Anflug abgebrochen«, sagte Midas zu mir. »Sie kehren um.« »Sehr gut«, sagte ich zu Glaw. »Was nun?«, fragte er. In der Tat, was nun? Für den Augenblick hatten wir die Oberhand: Sie wagten nicht, auf uns zu schießen oder uns anzugreifen, und Bequin blockierte Dazzo und alle anderen Psioniker, die sie vielleicht noch hatten. »Eine Antwort oder zwei«, schlug ich vor. »Eisenhorn!«, zischte Fischig. »Eine Antwort?«, lachte Glaw. Einige seiner Männer lachten mit ihm, und Mandragore grollte etwas wie ein Kichern. Mir fiel auf, dass Dazzo und Malahite keinen sonderlich belustigten Eindruck machten. »Dieses Material ist archäoxenologisch und stammt von einer alten Stätte der Saruthi«, sagte ich, indem ich mit der freien Hand eine der uralten, asymmetrischen Tafeln aus der Kiste nahm, die Fischig hielt. »Es hat ganz offensichtlich großen Wert für Sie, weil es Wert für die Saruthi hat. Sie bergen das Material für die Saruthi im Tausch wofür?« »Ich werde Ihnen nicht das Geringste verraten«, sagte Glaw. »Ich werde mich nicht einmal zu Ihren Mutmaßungen äußern.« 255
Ich zuckte die Achseln. »Es war einen Versuch wert.« »Meine Frage bleibt«, sagte Glaw. »Was nun?« »Wir verschwinden. Unbehelligt.« »Dann verschwinden Sie«, sagte er mit einer nachlässigen, verächtlichen Handbewegung. »Stellen Sie die Kiste ab und gehen Sie.« »Nur diese Kiste hindert Sie daran, uns auszulöschen. Sie begleitet uns, als Versicherung.« »Nein!«, rief Dazzo und trat vor. »Das ist unannehmbar! Wir würden sie für immer verlieren!« Er sah Glaw an. »Dieser Mann ist unser Blutfeind. Wir würden die Artefakte niemals wiederbekommen. Selbst wenn wir freies Geleit zusicherten, würde er sich nicht an die Abmachung halten und die Kiste irgendwo für uns zurücklassen.« »Natürlich nicht«, sagte ich. »Wie Sie sich an keine Abmachung mit mir halten würden. Es ist eine traurige, aber wahre Tatsache, dass es zwischen uns keine Vereinbarung auf Grundlage der Ehre geben kann. Und deswegen kommt die Kiste mit mir. Sie ist unsere einzige Sicherheit.« »Wir sind nicht hier, um dir Sicherheit zu bieten, Fleischblase«, sagte Mandragore mit sonorer Stimme. »Nur Tod. Und wenn du Pech hast, Tod und Schmerzen.« »Ihn sollten Sie aus den Verhandlungen heraushalten«, sagte ich mit einem Nicken in Mandragores Rich tung. »Wir gehen mit der Kiste, weil Sie uns sonst vernichten.« »Nein«, sagte Glaw. Er trat vor und zog ein Lasergewehr unter dem Mantel hervor. »Sie stolpern über Ihre eigene glatte Logik, Inquisitor. Wenn wir ohnehin unsere Artefakte verlieren, dann lieber hier und mit Ihrem Tod als Trost. Wenn Sie versuchen, mit der Kiste zu fliehen, schießen wir sofort, ungeachtet der Konsequenzen. Stellen Sie sie ab, dann gebe ich Ihnen zehn 256
Herzschläge, um zu verschwinden.« Ich spürte, dass es keine leere Drohung war. Sie würden sich nicht auf alles einlassen, um ihre Kostbarkeiten zu schützen. Und sie waren keine Dummköpfe. Sie wussten, dass ich ihnen diese Gegenstände niemals zurückgeben würde. Zehn Herzschläge. Wenn wir versuchten, mit der Kiste an Bord zu gehen, würden sie sofort schießen. Wenn wir sie abstellten ... würden sie auch schießen, aber vielleicht etwas zögerlicher, aus Furcht, die Kiste zu treffen. Und die Geschütze des Kanonenboots waren ein Vorteil für uns. »Gehen Sie die Rampe empor«, flüsterte ich Bequin und Fischig zu. »Werfen Sie die Kiste herunter, wenn ich es sage.« »Sind Sie sicher?« »Tun Sie, was ich sage. Midas?« »Antrieb klar, Geschütze klar.« »Jetzt!« Die Kiste krachte in den Staub. Der Antrieb des Kanonenboots heulte auf. Sie warteten keine zehn Herzschläge. Wir drei standen auf der Rampe, die sich unter uns schloss, und das Boot hob ab. Schüsse trafen den Rumpf. Die Geschütze des Bootes hämmerten. Das Kanonenboot legte sich in eine abrupte Kurve, und wir fielen zu Boden, als sich das Deck neigte. Fischig schrie auf und fiel halb von der Rampe, so dass seine Beine aus der sich langsam schließenden Lukenöffnung ragten. Ich packte ihn und zog ihn hinein, bevor seine Beine von der Rampe abgetrennt oder vom Feind getroffen werden konnten. Wir waren weg. Dem Winkel des Decks und der Vibration des Schiffsrumpfes entnahm ich, dass Midas mit Vollschub beschleunigte und tief blieb, so dass die Landschaft uns vor Beschuss vom Boden abschirmte. Alarmlampen leuchteten in der Mannschaftsbucht auf und wiesen auf Schäden hin. »Schnallen Sie sich an!«, rief ich Aemos zu, 257
der sich zu erheben versuchte, um uns zu helfen. »Fischig, helfen Sie Bequin, die Gurte anzulegen! Und schnallen Sie sich auch an!« Der Züchtiger zog das verängstigte Mädchen über das Deck und auf einen Sitz. Ich kroch vorwärts, durch den Niedergang und dann in die Kanzel. Midas zog am Steuerknüppel und brachte uns höher, Die fleckige Landschaft von Damask huschte an uns vorbei. Ich ließ mich auf den Sitz neben ihm fallen. »Wie nah?« »Die Jäger sind wieder da und fliegen direkten Abfangkurs. Die Höhe spricht für sie.« »Wie nah?« »Sechs Minuten bis zum Abfangen. Verdammt!« »Was?« Er zeigte auf den Haupttaktikschirm. Hinter den kleineren hellen Markierungen bewegten sich größere Formen auf der dreidimensionalen magnetischen Karte der Magnetosphäre des Planeten. »Die Flotte setzt sich auch in Bewegung. Die Großkampfschiffe. Und das sind zwei Jägerstaffeln, die gerade gestartet wurden. Sie wollen nicht, dass wir entkommen, oder?«, fügte er hinzu. »Mit unserem Wissen?« »Sie werden uns nicht lebend aus dem System entkommen lassen, oder?« »Midas, ich glaube, das habe ich Ihnen schon beantwortet. « Er grinste, und seine weißen Zähne bildeten im Dämmerlicht der Kanzel einen scharfen Kontrast zu seiner dunklen Haut. »Dann werden wir reichlich Spaß haben«, entschied er. Seine nackten Hände, auf denen die eingearbeiteten glavianischen Bio-Schaltkreise funkelten, huschten über die Armaturen und veränderten unseren Kurs. »Vorschläge?«, fragte ich. »Ein paar. Lassen Sie mich die Daten begutachten.« »Was?« 258
»Vertrauen Sie mir, Gregor, wenn wir auch nur einen Funken Hoffnung haben, lebend aus dem Damask-System zu entkommen, dann durch Geschick und Raffinesse. Halten Sie den Mund und lassen Sie mich ihre Geschwindigkeit und Abfangvektoren berechnen.« »Wir haben Schaden durch den Beschuss genommen«, beharrte ich. Diese Hoffnungslosigkeit ergriff wieder Besitz von mir, das Gefühl, keine Möglichkeit zu haben, die Situation zu beeinflussen. »Geringfügig, nur geringfügig«, sagte er geistesabwesend. »Die Servitoren kümmern sich darum.« Er änderte den Kurs. Dem Schirm entnahm ich, dass uns das auf einen flankierenden Kurs zu den verfolgenden Bestandteilen der Flotte brachte und drastisch die Zeit verringerte, bis wir in Schussweite kamen. »Was tun Sie?« »Mit der Wahrscheinlichkeit spielen. Ich gehe sicher.« Die helle Kugel von Damask kippte unter uns weg, und wir rasten mit Vollschub an den höchsten Orbitpunkten vorbei in den planetaren Raum. »Sehen Sie?«, sagte er. Ein weiteres Licht war vor uns auf dem Taktikschirm aufgetaucht. »Normale Disposition einer imperialen Schlachtflotte. Auf der anderen Seite einer Zielwelt wird immer ein Patrouillenschiff stationiert. Hätten wir unseren Kurs gehalten, wären wir ihm direkt vor die Geschütze geflogen.« In der Leere jenseits der Kanzel blitzten Lichter auf. Das Patrouillenschiff, eine mittelschwere Fregatte, versuchte uns dennoch abzufangen und feuerte aus allen Rohren. »Sie hat Jäger gestartet«, meldete Midas in einem singenden Tonfall. »In Reichweite in zwei. Verfolger kommen in Reichweite in vier.« So sachlich. Ich warf einen Blick auf die Energieanzeigen. Alle 259
Schubdüsen des Kanonenboots arbeiteten im roten Bereich. »Midas ...« »Lehnen Sie sich zurück. Da ist er.« »Da ist wer?« Der kleine Mond füllte plötzlich unser vorderes Bullauge aus, als wir darauf zu schwenkten. So klein sah er gar nicht aus. Er sah aus, als würden wir ihn jeden Augenblick rammen. Ich stieß einen Fluch aus. »Entspannen Sie sich, verflucht!«, riet er mir und fügte dann hinzu: »Jäger in Reichweite in eins.« Wir stürzten mit Vollschub dem pockennarbigen limettengrünen Fels entgegen, der unser Blickfeld ausfüllte. Die Buggeschütze blitzten. Sechs Abfangjäger aus den Elitestaffeln der Schlachtflotte Scarus waren uns dicht auf den Fersen.
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SECHZEHN Leerenduell. Betancores letztes Mittel. Spuren.
er Mond wurde Obol genannt und war der kleinste und D innerste von Damasks vierzehn Satelliten. Er war ein verbeulter, unregelmäßiger Klumpen aus Nickel, Zink und Selen mit einem Durchmesser von sechshundert Kilometern an der dicksten Stelle. Ohne Atmosphäre und mit Kratern und Höhlungen überzogen, leuchtete er grünlich im Schein der Sonne, und die zerklüfteten Geländemerkmale und Krater wurden reliefartig hervorgehoben. Ich zwang meine Gedanken zur Ruhe und meinen Puls zur Verlangsamung. Die alten mentalen Fähigkeiten, die Hapshant mir antrainiert hatte. Ich konzentrierte mich auf die Daten Obols, die ich auf den Schirm geholt hatte - Nickel, Zink, Selen, der kleinste Mond von vierzehn — nicht, weil ich es wissen wollte, sondern weil die Fakten als Psychopomp dienen würden, kleine Fetische aus Details, um meinen Verstand zu beschäftigen und von der Gefahr abzulenken. Ich blickte von der leuchtenden Textzeile auf. Ein gezackter Krater, groß genug, um Dorsay samt seiner Lagune zu verschlingen, tat sich vor uns auf. »Wappnen Sie sich«, sagte Midas zu uns. 261
Nur einen Kilometer über dem Krater führte er sein Manöver aus. Mittlerweile waren wir im Bereich der geringen Anziehung von Obol und stürzten mit Vollschub darauf zu. Eine Landung kam nicht mehr infrage, ebenso wenig wie ein konventionelles Ausweichmanöver. Doch Midas hatte schon als Jugendlicher Schiffe geflogen und die Pilotenakademien von Glavia absolviert. Mit seinen eingearbeiteten Schaltkreisen verstand er die Nuancen des Fliegens, der wirkenden Kräfte und des Manövrierens besser als ich und besser als die meisten professionellen Piloten des Imperiums. Außerdem hatte er das Kanonenboot einigen Belastungsproben unterzogen und wusste daher genau, was er dem Schiff zumuten konnte und was nicht. Die größte Sorge bereitete mir die Frage, was er damit zu erreichen hoffte. Er nahm den Schub weg, feuerte alle Landedüsen und zog die Nase herum, so dass die Flugbahn des Bootes in eine Spirale überging. Mein Blickfeld verschwamm, und ich wurde in meinem Gurtgeschirr herumgeworfen. Das Trudeln wirkte unkontrolliert. Aber es war genau bemessen und perfekt. Während uns die Landedüsen aus der Vertikalen holten, flatterten wir wie ein Blatt und nutzten die Korkenzieherbewegung, um den Abwärtsschwung des Schiffes zu bremsen. Neunzig Meter vor dem Staub des Kraterbodens begradigte sich unsere Flugbahn, und wir schwangen herum, als Midas den Hauptantrieb wieder zuschaltete. Unter uns sprang der Boden förmlich weg von uns, da wir in einem brutalen Ruck kletterten, um es über den Kraterrand zu schaffen. Auf der taktischen Anzeige sah ich, dass alle sechs Jäger auf sechs Minuten hinter uns zurückgefallen waren. Keiner wollte das Manöver kopieren. Sie gingen auf konventionelleren Flugbahnen tiefer. 262
Midas schmiegte sich dicht an die Oberfläche des Mondes, führte uns um Klippen und Vorsprünge, in tiefe trockene Täler, in die keine Sonne fiel, und über weite staubige Ebenen, in die noch nie ein Fuß gesetzt worden war. An einer Stelle flogen wir zwischen zwei massiven Wänden aus geriffelten Klippen durch. »Sie teilen sich«, sagte Midas, während er das Schiff nach backbord schwenkte. Das taten sie. Vier Jäger gingen in hartnäckiger Verfolgung tiefer und jagten uns im Tiefflug über der Mondoberfläche. Die anderen beiden hatten sich gelöst und flogen im Gegenuhrzeigersinn um die dunkle Seite Obols. »Kontakt?« »Wir treffen sie frontal in acht Minuten«, sagte Midas. Er lächelte. Er flog eine enge Steuerbordkurve und zog das Boot in eine Schlucht, die der topografische Schirm nur ganz kurz angezeigt hatte. Dann bremste er auf eine scheinbar gemächliche Geschwindigkeit ab und flog um eine Spitzkuppe, die im harten Sonnenlicht grün und gelb schimmerte. »Was haben Sie vor?« »Warten Sie ... warten Sie ...« Der taktische Schirm zeigte, dass unsere vier Verfolger an der Schlucht vorbeigeflogen waren. »In so geringer Höhe über dem Boden werden sie einen Moment brauchen, bis ihnen aufgeht, dass wir nicht mehr vor ihnen sind.« »Was nun?« Er schaltete die Triebwerke ein und zog aus der Schlucht hoch und hinter den Jägern her. »Aus der Maus wird die Katze«, sagte er. Binnen Sekunden war ein heller Bildschirm zwischen den Waffenkontrollen mit roten Fadenkreuzen bedeckt. 263
Vor uns, in einer Landschaft aus riesigen Felsen und hoch aufragenden Klippen, die in bestürzendem Tempo vorbeihuschten, sah ich den Schein von Nachbrennern. »Nummer eins«, sagte Midas, während er die Tragflächengeschütze abfeuerte. Der Triebwerksschein weit voraus flammte auf und verwandelte sich dann in einen expandierenden Ball aus brennenden Gasen, die in ungleichmäßigen Strömen an uns vorbeirasten. Ich wurde in meinen Sitz gepresst, als wir schmerzhaft abrupt in ein weiteres Tal einbogen. Einen Kilometer voraus war ein weiteres Blitzen von Sonnenlicht auf Metall zu sehen. »Nummer zwei«, sagte Midas. Die Anzeigen der Autolader blinkten rot, als Trommeln sich leerten. Der Blitz wurde heller und dann sehr viel heller, als er herumwirbelte und gegen die Talwand prallte. Ein blendendes Leuchten explodierte rechts von uns, und die Kanzel erbebte. Alarmsirenen heulten. »Kluger Junge, zu nah«, sagte Midas, indem er am Steuerknüppel riss, um einer Klippe auszuweichen. Einer der Jäger hatte unsere Finte durchschaut, gewendet und sich hinter uns gesetzt. »Wo ist der andere? Wo ist der andere?«, murmelte Midas. Wir hatten die Feuerkraft auf unserer Seite, die Feuerkraft und Midas. Die Jäger waren Blitzstrahlen, klein, schnell und wendig, weniger als ein Viertel so groß wie wir. Trotz allem war das Kanonenboot seinem Wesen nach ein Transportschiff, auch wenn sein stärkerer Antrieb, die Waffensysteme und die Vertikalschubfähigkeiten es zu einem formidablen Kampfschiff bei Nahkämpfen über Gelände wie diesem machten. Etwas traf uns, und wir sackten schwindelerregend durch, Midas fluchte und zog uns in einer engen Kurve wieder hoch. 264
Ein Imperiumsjäger flog als silbriger Schemen durch unser Gesichtsfeld. Midas legte uns in die nächste Kurve und folgte ihm. Der Jäger ging tiefer und flog nur noch nach den Instrumenten im Schatten der kalten Schluchten. Die Geschützsensoren fanden seine Hitzespur. Midas schoss auf den Jäger. Er verfehlte. Er versuchte es mit einem Looping, um zu wenden. Midas schoss erneut. Noch ein Fehlschuss. Er kam direkt auf uns zu. Ich konnte die Leuchtspur munition seiner Geschütze sehen, die uns entgegen raste. Frontal aufeinander zu, in einer steilen, tiefen Schlucht. Kein Raum für Manöver. Kein Raum für Fehler. »Mach's gut«, sagte Midas und drückte auf den Feuer knopf. Eine Explosion erleuchtete die tiefe Schlucht, und wir flogen direkt durch die Flammen. »Reicht es Ihnen schon?«, fragte mich Midas. Ich antwortete nicht. Ich war zu beschäftigt damit, mich an den Armlehnen festzukrallen. »Mir schon«, sagte er. »Zeit für Phase zwei. Hinter uns ist noch ein Jäger, und die beiden von der anderen Seite erreichen uns in neunzig Sekunden. Zeit für etwas Theater. Uclid?« Der leitende Servitor trällerte eine Antwort. Wir gingen in einen steilen Sturzflug. Eine Anzeige verriet mir, dass wir einen Kondensstreifen aus Triebwerksgasen hinter uns herzogen. »Schaden?«, fragte ich. »Täuschungsmanöver«, sagte er zu mir. Der dunkle Boden der Schlucht raste uns entgegen. »Abwerfen, Uclid«, befahl Midas. Es gab einen Krach und einen Knall. Das Boot erbebte. Hinter uns leuchtete etwas auf. 265
»Was war das?« »Zwei Tonnen Ersatzteile, Müll und entbehrlicher Proviant. Und alle Granaten aus Ihrem Waffenvorrat.« Er legte das Boot in eine enge Kurve, und wir rasten in eine dunkle Höhlung, eine breite, tiefe Kaverne im Boden der Schlucht. Dach und Wände schienen gefährlich nah zu sein. Sechshundert Meter tief in der Höhle wandte Midas das Boot nach links und verringerte den Schub, während die Scheinwerfer die Dunkelheit durchdrangen und ihr Licht von den zerklüfteten Felsen reflektiert wurde. Hundert Meter tiefer setzten wir auf den Landestützen auf. Midas schaltete Antrieb und Licht und auch alles andere bis auf die elementare Lebenserhaltung ab. »Keiner macht ein Geräusch«, sagte er. Das Warten dauerte sechsundsechzig Stunden und war weder behaglich noch angenehm. Wir trugen Thermomäntel und saßen im Dunkeln herum, während über uns die Flotte der Ketzer Obol und das All in dessen Umgebung nach Spuren von uns absuchte. In den ersten zehn Stunden registrierten unsere passiven Sensoren acht Mal Schiffsbewegungen und Abtastungen der Schlucht, in der wir unsere Zerstörung vorgetäuscht hatten. Die Täuschung war anscheinend überzeugend ausgefallen. Aber wir ließen uns Zeit. Wir konnten nicht wissen, wie beharrlich sie sein würden, oder wie geduldig. Midas hielt es für wahrscheinlich, dass sie uns denselben Streich zu spielen versuchten und einfach abwarteten, bis wir uns durch Bewegung oder ein Signal verrieten. Nach vierzig Stunden war Lowink ziemlich sicher, astropathischen Verkehr gehört zu haben, der auf das Abrücken der Flotte hindeutete, und kurz darauf erfolgte ein Beben im Gefüge des unergründlichen Immateriums. 266
Aber wir warteten weiter. Warteten auf das eine, was für mich überzeugend sein würde. Und kurz nach dem Ende der sechsundsechzigsten Stunde kam es. Ein astropathisches Signal in Glossia: »Nunc dimittis.« Wir lösten uns aus der Dunkelheit von Obol und flogen ins Sternenlicht. Alle im Schiff, ich selbst eingeschlossen, das gebe ich freimütig zu, redeten plötzlich zu laut und zu viel, während wir uns bewegten und im hellen Licht der Kanzel sowie in der Wärme der wieder arbeitenden Heizung aalten. Die stumme Warterei in Kälte und Dunkelheit war wie eine Strafe gewesen. Die Esserie flog langsam und majestätisch unserem Treffpunkt entgegen. Als die Flotte der Ketzer das System verlassen hatte, war Maxilla aus seinem Versteck in der Korona der Sonne gekommen und hatte sein Signal gesandt. Sobald wir angelegt hatten, ging ich gleich zur Brücke, wo Maxilla mich wie einen Bruder begrüßte. »Sind alle am Leben?«, fragte er. »Heil und gesund, obwohl es knapp war.« »Es tut mir leid, dass ich Sie im Stich lassen musste, aber Sie haben die Größe dieser Schlachtflotte selbst gesehen.« Ich nickte. »Ich hoffe, Sie können mir sagen, wohin sie geflogen ist.« »Natürlich«, erwiderte er. Seine Astronavigatoren waren nicht untätig gewesen. Ihr Leiter kam aus dem Annex an der Seite der Brückenkuppel und summte über den schwarzroten Marmorboden zu uns. Wie seine gesamte Mannschaft war er im Prinzip mechanisch. Seine organische, menschliche Komponente - ich vermutete, nicht mehr als das Gehirn und ein paar Schlüsselorgane - wurde physikalisch wie biologisch von 267
einem polierten silbernen Servitor in der Gestalt eines Greifen getragen, dessen Drachenhals zurückgezogen war, so dass seine Schnabelvisage auf uns herabstarrte. Er schwebte auf Antigravplatten, die in seine Adlerschwingen eingebaut waren. Er blieb vor uns stehen und projizierte eine holografische Karte aus dem geöffneten Schnabel. Die Sternkarte war komplex und für das ungeschulte Auge unverständlich, aber ich konnte einige Einzelheiten ausmachen. »Die Navigatoren haben das Warp-Kielwasser der abfliegenden Flotte analysiert und eine Reihe algorithmischer Berechnungen durchgeführt. Die Ketzer verlassen den helicanischen Subsektor und sogar den Imperiumsbereich und fliegen in die verbotenen Sternengebiete einer Art, die Saruthi genannt wird.« »Das hatte ich mir gedacht. Aber das ist ein ziemlich großer Raumsektor, über ein Dutzend Systeme. Wir brauchen genauere Daten.« »Hier«, sagte Maxilla, indem er mit behandschuhter Hand auf einen Punkt auf der flimmernden dreidimensionalen Karte zeigte. »Die Karten bezeichnen das System als KCX-1288. Unter optimalen Bedingungen ist es dreißig Flugwochen von hier entfernt.« »Und wie hoch ist der Fehlerquotient bei dieser Berechnung?« »Nicht größer als null-komma-null-sechs. Das WarpKielwasser der Flotte war ziemlich beträchtlich. Natürlich könnten sie ihre Reise unterbrechen und den Kurs ändern, aber wir halten nach Veränderungen in ihrem Kielwasser Ausschau. Natürlich«, fügte er hinzu, »werden sie annehmen, dass wir ihnen folgen. Selbst wenn sie Sie für tot halten, werden sie wissen, dass Sie mit einem Raumschiff hergekommen sein müssen. Mit einem, das sie nicht gefunden haben.« 268
Der Gedanke war mir auch schon gekommen. Glaw und seine Mitverschwörer mussten zumindest jetzt mit Verfolgung oder wenigstens damit rechnen, dass jemand die Behörden von ihrem Verbleib und ihrem Ziel in Kenntnis setzen würde. Sie würden nun auf ihre Wachsamkeit, ihre beträchtliche massierte Feuerkraft und ihren Vorsprung bauen. Lowink war bereits dabei, ein Not-Kommunique vorzubereiten, das wir nach Gudrun und zum InquisitionsHauptquartier versenden würden. »Was wissen Sie über die Saruthi und ihr Gebiet?« »Nichts«, sagte er. »Ich war noch nie dort.« Ich hielt das für eine sonderbar kurze Antwort für einen Mann, der gewöhnlich so gesprächig war. »Also«, sagte er schließlich, »haben wir abgesehen von unserem Wissen, wohin sie fliegen, noch andere Vorteile auf unserer Seite?« »Das haben wir.« Meiner Manteltasche entnahm ich den Gegenstand, der sich dort befand, seitdem ich ihn aus Glaws Koffer in Nordqualm genommen hatte. Maxilla betrachtete ihn mit freimütiger Verblüffung. »Dies«, sagte ich, »ist der Pontius.« Wir benutzten einen großen, leeren Laderaum in den Tiefen der Essene. Einige von Maxillas Servitoren installierten Beleuchtung und Energieversorgung. Meine eigenen Servitoren - Modo und Nilquit - trugen die klauenfüßige Truhe herein und stellten sie auf den kalten Stahlboden. Ich stand da und schaute zu, die Hände wegen der Kälte in der Kammer tief in den Manteltaschen vergraben. Aemos hatte sich über die Truhe gebeugt und damit begonnen, mit Nilquits Hilfe Kabel anzuschließen. Ich warf einen Blick auf Bequin. Sie stand neben Fischig, in einen dicken roten Umhang und einen grauen Schal gehüllt, und hatte eine Miene grimmigen Widerwillens 269
aufgesetzt. Zuerst war alles ein Spaß gewesen, ein Spiel, sogar im Angesicht der Gefahr im Haus der Glaws. Doch Damask hatte die Situation für sie verändert. Das Ungeheuer Mandragore. Sie wusste, dass es kein Spiel mehr war. Sie hatte Dinge gesehen, die viele - vielleicht sogar die meisten Bürger des Imperiums niemals zu sehen bekommen. Die meisten Leute verbringen ihr Leben auf sicheren Welten, weit weg von der Berührung des Krieges und des Grauens, und die Obszönitäten, die dort draußen in den dunkelsten Teilen der Leere lauern, sind Mythen oder Gerüchte ... wenn überhaupt. Doch nun wusste sie Bescheid. Vielleicht hatte sich ihre Einstellung geändert. Vielleicht wollte sie gar nicht mehr hier sein. Vielleicht bereute sie jetzt, so willig auf das Angebot eingegangen zu sein, das ich ihr gemacht hatte. Ich fragte sie nicht danach. Sie würde es mir sagen, wenn sie musste. Jetzt waren wir alle viel zu tief in die Sache verwickelt. »Eisenhorn?« Aemos streckte die Hände aus, und ich legte die kühle, harte Kugel des Pontius hinein. Mit beinahe priesterlicher Sorgfalt fügte er sie in die Truhe ein. Ich befahl allen bis auf Bequin und Aemos, den Laderaum zu verlassen. Fischig schloss die Tür hinter sich. Aemos sah mich an, und ich nickte zustimmend. Er stellte die letzten Verbindungen her und wich dann so eilig von der Truhe zurück, wie sein Alter und seine augmetischen Gliedmaßen es ihm gestatteten. Zuerst ... nichts. Kleine Statuslampen blinkten am Rand der Truhe - Eyclones Truhe - und das Drahtgeflecht leuchtete. Dann spürte ich eine Veränderung des Luftdrucks. Bequin sah mich scharf an, da sie es auch spürte. Die Metallwände des Laderaums fingen an zu schwitzen. Perlen kondensierter Flüssigkeit bildeten sich und rannen die Wände hinunter. 270
Ein leises Knistern war zu hören, als werde Papier von Flammen verzehrt. Es breitete sich aus, wurde lauter. Reif bildete sich auf der Truhe, auf dem Boden rings um sie und breitete sich über das Deck des Laderaums aus, die Wände empor und über die Decke. Nach weniger als zehn Sekunden war der gesamte Laderaum mit einer funkelnden Schicht Raureif bedeckt. Unser Atem bildete Dampfwolken in der Luft, und wir wischten uns Eisstaub aus den Kleidern und Augenwimpern. »Pontius Glaw«, sagte ich. Es kam keine Antwort, aber nach ein, zwei Augenblicken drang ein animalisches Grunzen und Bellen aus den in die Truhe eingebauten Lautsprechern. »Glaw«, wiederholte ich. »Was ...«, sagte eine künstliche Stimme. Bequin versteifte sich. »Warum bin ich geweckt worden?« »Was ist Ihre letzte Erinnerung, Glaw?« »Versprechungen ... Versprechungen ...«, sagte die Stimme, die kam und ging, als treibe sie vom Mikrofon weg und dann wieder hin. »Wo ist Urisel?« »Welche Versprechungen wurden Ihnen denn gemacht, Glaw?« »Leben ...«, murmelte die Stimme. »Wo ist Urisel?« Ein Unterton lag in der Stimme, Ärger oder Ungeduld. »Wo ist er?« Ich wollte eine andere Frage formulieren, doch plötzlich gab es ein jähes Aufblitzen von Aktivität, ein Knistern elektronischer Synapsen, die über die kristalline Oberfläche der Kugel feuerten. Es war ein mentaler Schlag mit starken psionischen Kräften gewesen. Wäre Bequin nicht hier gewesen, um sie zu neutralisieren, wären Aemos und ich jetzt zweifellos tot. 271
»Wie unbeherrscht ...«, sagte ich. Ich ging einen Schritt auf die Truhe zu. »Ich bin Eisenhorn, Inquisitor des Imperiums. Sie sind mein Gefangener, und Sie er freuen sich nur kognitiver Funktion, weil ich es zulasse. Sie werden meine Fragen beantworten.« »Das ... werde ... ich ... nicht.« Ich zuckte die Achseln. »Aemos, schalten Sie diese Bedrohung aus und bereiten Sie alles für ihre Desintegration vor!« »Warten Sie! Warten Sie!«, flehte die Stimme trotz ihrer an sich ausdruckslosen Künstlichkeit. Ich kniete mich vor die Truhe. »Ich weiß, dass Ihr Leben und Intellekt in dieser Vorrichtung bewahrt wurden, Pontius Glaw. Ich weiß, dass Sie zwei Jahrhunderte in diesem körperlosen Zustand verzweifelt darauf gewartet haben, wiederhergestellt zu werden. Das hat Ihre Familie Ihnen versprochen, war es nicht so?« »Urisel hat es versprochen ... er sagte, es werde so sein ... die Mittel würden vorbereitet ...« »Um den Adel auf Hubris zu opfern, so dass Ihnen dessen Lebensenergien durch diese Truhe zugeführt werden könnten. Um Ihnen die Macht zu geben, einen Körper für sich zu gestalten.« »Er hat es versprochen!« Die Betonung lag auf dem letzten Wort, stark und gequält. »Urisel und die anderen haben Sie im Stich gelassen, Pontius. Sie haben das Hubris-Projekt in letzter Minute zugunsten von etwas anderem aufgegeben. Sie befinden sich jetzt alle im Gewahrsam der Inquisition.« »Neeeeeeiiiiiin ...« Das Wort ging in ein Zischen über, das sich langsam verlor. »Das würden sie nicht tun ...« »Ich bin davon überzeugt, dass sie es nicht getan hätten ... wenn es nicht etwas so Wichtiges, so Unverzichtbares war, dass sie keine andere Wahl hatten. Sie wissen, was das gewesen ist, nicht wahr?« Stille. 272
»Was wäre ihnen wichtiger als Sie, Pontius Glaw?« Stille. »Pontius?« »Sie sind nicht festgenommen worden.« »Was? Wer?« »Meine Brüder. Meine Verwandten ... Wenn Sie sie hätten, würden Sie mir nicht diese Fragen stellen. Sie sind frei, und Sie sind verzweifelt.« »Ganz und gar nicht. Sie wissen, wie das ist ... so viele Lügen, so viele widersprüchliche Geschichten. Ihre erbärmliche Familie versucht sich im Tausch für die Freiheit gegenseitig zu verkaufen. Ich bin zu Ihnen gekommen, um die Wahrheit zu hören.« »Nein. Glaubhaft, aber nein.« »Sie wissen, was es ist, Pontius.« »Nein.« »Sie wissen es. Man hat Sie von Zeit zu Zeit aufgeweckt, um Sie auf dem Laufenden zu halten. Ihre Verwandten haben Sie aus dem Nichts geweckt, das Sie in dieser Kugel umgibt. Unter Haus Glaw zum Beispiel, in dieser Kapelle, die man für Sie errichtet hat. Ich habe Sie dort gesehen. Sie haben mich mit Ihren Kräften bezwungen.« »Und ich würde es wieder tun«, sagte er, während erneut feurige Spuren über die goldenen Fasern und verwobenen Schaltkreise huschten, in die der quarzartige Klumpen gehüllt war. »Sie wissen, was es ist. Sie haben es Ihnen gesagt.« »Nein.« Ich griff nach unten, nach einem Kabelbündel. »Sie lügen«, sagte ich und zog die Kabel heraus. Ein kurzes Ächzen hallte aus den Lautsprechern und verlor sich dann. Die Lichter auf der Truhe erloschen. Lufttemperatur und druck stiegen wieder. Der Reif löste sich auf. »Das war nicht viel«, sagte Bequin. »Wir fangen gerade erst an«, erwiderte ich. »Wir haben dreißig Wochen Zeit.« 273
SIEBZEHN Diskurse. Spekulationen über ein asymmetrisches Thema. Verrat.
Jeden Tag ging ich mit Bequin und Aemos in den
Laderaum, wo wir die Prozedur wiederholten. In den nächsten Tagen verweigerte er jegliche Antwort. Nach etwa einer Woche begann er uns zu verspotten und zu reizen und überschüttete uns mit Drohungen und Obszönitäten. Alle paar Tage versuchte er es mit einem psionischen Schlag, der jedes Mal von Bequins Aura der Unberührbarkeit neutralisiert wurde. Und die ganze Zeit raste die Essene durch das Immaterium zu der entfernten Sterngruppe. In der vierten Woche änderte ich die Taktik und diskutierte mit ihm über jedes Thema, das mir in den Sinn kam. Ich stellte keine einzige Frage bezüglich der »eigentlichen Angelegenheit«. In den ersten paar Tagen weigerte er sich, darauf anzuspringen, doch ich blieb freundlich und begrüßte ihn geduldig bei jeder Sitzung. Schließlich begannen die Diskurse: über astrale Navigation, ekklesiastische Musik, Architektur, stellare Demografie, antike Waffen, erlesene Weine ... Er konnte nicht anders. Die Isolation seines Zustands weckte in ihm die Begierde nach solchen Kontakten mit der 274
wirklichen, lebendigen Welt. Er sehnte sich danach, wieder zu schmecken, zu lesen, zu sehen und zu leben. Nach zwei Wochen brauchte er keine Ermunterung mehr zum Reden. Ich war kein Freund, und er war immer noch wachsam und darauf aus, mich bei jeder Gelegenheit zu beleidigen, aber er begrüßte unsere Gespräche ganz eindeutig. Als ich voller Absicht einen Tag ausließ, beklagte er sich mürrisch, als sei er gekränkt oder im Stich gelassen worden. Ich für meinen Teil hatte Gelegenheit zu erkennen, wie gefährlich Glaw war. Sein Geist war brillant: charmant, witzig, prägnant und außerordentlich kenntnisreich. Es war ein Vergnügen, sich mit ihm zu unterhalten und von ihm zu lernen. Es war eine heilsame Mahnung, dass auch ein Verstand höchster Qualität vom Chaos geraubt werden kann. Selbst die Größten unter uns, die klügsten Köpfe, die Kultiviertesten und Belesensten, niemand ist gefeit. An einem Tag in der zehnten Woche ging ich mit Bequin in die Kammer, und wir weckten ihn. Doch mich beschlich ein seltsames Gefühl. »Was ist das?«, fragte ich. Es kam mir so vor, als stehe die Truhe nicht am gleichen Platz wie sonst. »Waren Sie hier drinnen, Aemos?«, fragte ich. »Vielleicht zu einer Routine-Überprüfung?« »Nein«, versicherte er mir. Der Laderaum wurde selbstverständlich nach jeder Sitzung abgeschlossen. »Dann bilde ich es mir ein«, entschied ich. Unsere Diskurse nahmen ihren Fortgang, angenehm, und zwar jeden Morgen etwa eine Stunde. Wir diskutierten oft über Imperiumspolitik und Ethik, Themenbereiche, in denen er erstaunlich belesen war. Er irrte niemals ab, gestattete sich niemals, einen Glauben oder eine Vorstellung zu äußern, die den Lehren des Imperiums zuwidergelaufen wäre, als sei ihm klar, dass solch ein Eingeständnis zum sofortigen 275
Abbruch unserer Beziehungen führen müsse. Gelegentlich gab ich ihm Gelegenheit, dies zu tun, durch Gesprächseröffnungen, die ihm die Möglichkeit gaben, die Wege des Gott-Imperators und die Herrschaft Terras zu kritisieren oder herabzuwürdigen. Er widerstand, obwohl ich manchmal spürte, dass er sich verzweifelt danach sehnte, seine eigenen, gegensätzlichen Überzeugungen zu äußern. Doch sein Bedürfnis nach sozialer Interaktion war stärker – er wollte nicht riskieren, unsere Unterhaltungen zu verlieren. Er konnte ganze Kapitel und Verse aus imperialen Texten, Philosophien, Poesie und ekklesiastischen Überlieferungen zitieren. Seine Gelehrsamkeit konnte sich mit derjenigen von Aemos messen. Doch wie er sich jeglicher ketzerischer Äußerung enthielt, so enthielt er sich auch jeder Loyalitätsbekundung dem goldenen Thron gegenüber. Er führte unsere Unterhaltungen auf eine objektive, unbeteiligte Art. Er versuchte nicht, sich zu verstellen und den loyalen Bürger zu spielen. Ich anerkannte, dass dies ein Maß seines Respekts vor mir war. Er beleidigte meine Intelligenz nicht durch Lügen. Noch öfter als über Politik und Ethik redeten wir über Geschichte. Auch auf diesem Gebiet war sein Wissen gewaltig, aber da war auch zum ersten Mal ein Eifer, ein Hunger. Er fragte niemals direkt danach, aber es war klar, dass er sich nach Einzelheiten zu den Ereignissen sehnte, die in den zweihundertzwölf Jahren seit seinem Tod stattgefunden hatten. Seine Familie hatte ihm ganz eindeutig wenig erzählt. Er machte andeutende Bemerkungen, um mir Antworten zu entlocken. Ich gab ihm einige und schilderte manchmal sogar größere Ereignisse, politische Veränderungen und Errungenschaften des Imperiums. Ich hatte schon von Anfang an beschlossen, imperiale Niederlagen oder Verluste nicht zu erwähnen, um ihm nichts zu geben, woran er sich er freuen konnte. 276
Das Bild, welches ich für Pontius zeichnete, war das eines Imperiums, das stärker und gesünder war als je zuvor. Dennoch entzückte es ihn. Kostbare Blicke auf eine Galaxis, von der er schon lange getrennt war. Der Rest der langen Flugzeit wurde mit Vorbereitungen und Studien verbracht, täglichen Waffenübungen und Kampftraining. Fischig leitete jeden Nachmittag Nahkampfübungen und machte sich daran, Bequins natürliche Gewandtheit und Schnelligkeit zu schulen. Ich stemmte Gewichte in einem improvisierten Kraftraum und lief jeden Tag zig Kilometer durch die leeren Hallen und Gänge der Essene. Langsam erreichte ich wieder Topform. Auch mein Gehirn trainierte ich eisern. Ich folgte diszipliniert einem Plan für geistige Übungen, für die ich ab und zu Lowinks Hilfe brauchte. Aemos und ich studierten intensiv. Wir arbeiteten uns durch alle Archivdaten, die wir zur Hand hatten, um Informationen über die Saruthi zu sammeln. Unser Wissen vergrößerte sich nur unwesentlich. Die Ausdehnung ihres Territoriums war bekannt, aber darüber hinaus praktisch nichts. In den letzten zweitausend Jahren hatte es nur eine Handvoll offiziell verzeichneter Kontakte gegeben. Ich fragte mich, wie viel die Freihändler über sie wussten, die über die Grenzen des Imperiums hinausflogen, Männer wie Gorgone Locke. Mit einiger Sicherheit wussten wir nur, dass die Saruthi eine alte Xenos-Kultur waren — abgeschottet, verschwiegen und außerhalb der Grenzen des Imperiums liegend. Sie waren technisch einfallsreich, reif und etabliert. Wir wussten nichts über ihre Kultur, Überzeugungen, Sprache ... nicht einmal über ihr Aussehen. »Wir können zumindest schließen, dass sie religiöse Überzeugungen und Werte haben«, sagte Aemos zu mir. 277
»Oder wenigstens stehen gewisse Relikte aus ihrer Vergangenheit bei ihnen aus Gründen der Symbolik oder Heiligkeit in hohem Ansehen. Unsere Feinde haben dieses Material auf Damask nur ausgegraben, weil sie wissen, dass es von hohem Wert für die Saruthi ist.« »Heilige Gegenstände? Ikonen?« Er zuckte die Achseln. »Oder Geister der Vorfahren - oder einfach das Bestreben, kulturelles Material aus ihrer Vergangenheit wiederzufinden und zu sich nach Hause zu holen.« »Und wir wissen, dass ihr Territorium früher einmal größer war. Es hat sich bis Damask erstreckt, auch wenn das nur ein weit entfernter Außenposten war«, sagte Lowink. Wir saßen an einem intarsienverzierten Tisch in einem von Maxillas Prunkgemächern, dessen polierte Oberfläche von offenen Büchern, Schriften, Datentafeln und Aufzeichnungsplatten überquoll. »Und Bonaventure«, sagte ich. »Die Radgräber. Bequin hat gesagt, die Stätte in Nordqualm habe sie an die Radgräber auf ihrer Heimatwelt erinnert.« »Vielleicht«, sagte Aemos. »Aber ich bin kein archäoxenologischer Experte. Die Radgräber auf Bonaventure sind in allen Texten, die ich über sie finde, klassifiziert als ‚von unbekannter Xenos-Art erbaut‘. Sie sind nur eine von vielen hundert Fundstätten unidentifizierter Herkunft im helicanischen Subsektor. Alles Spuren einer lange verschwundenen oder zumindest lange geschrumpften Saruthi-Zivilisation ... oder die Überreste irgendwelcher frühen Spezies, die in diesem Teil des Alls beheimatet waren, lange bevor der Mensch hierhergekommen ist.« Ich legte eine Datentafel beiseite und nahm einen Gegenstand, der im Zentrum des Tisches lag und in Filz eingewickelt war. Es handelte sich um die eine der alten Tafeln, die mit uns von Damask geflohen war. 278
Ich hatte sie während des Patts aus der Kiste genommen und sie noch in der Hand gehalten, als wir uns in das Boot geworfen hatten. Wie die in der Flammenbergmine ausgegrabenen Tafeln bestand sie aus einem harten, blassen Material, auf dem Glimmererde funkelte, die, wie wir uns alle einig waren, auf Damask nicht heimisch war. Und sie war achteckig, aber unregelmäßig, mit zwei besonders langen Kanten. Die Rückseite, die Schnittfläche der Säge, war versengt. Die Vorderseite zeigte ein BasreliefSymbol, die Sigille eines fünfzackigen Sterns. Aber auch dieser war unregelmäßig. Die Strahlen des Sterns waren ungleich lang und standen in verschiedenen Winkeln zueinander. »Äußerst bestürzend«, sagte Aemos, nachdem er das Symbol zum zigsten Mal betrachtet hatte. »Symmetrie -zumindest grundlegende Symmetrie - ist praktisch eine Konstante in der Galaxis. Alle Spezies - sogar die öbszönsten Xenos-Arten wie die Tyraniden - haben eine gewisse Ordnung.« »Mit den Winkeln stimmt etwas nicht«, stimmte Lowink zu, während er seine ungesunde, mit Buchsen übersäte Stirn runzelte. Ich wusste, was er meinte. Es war so, als sei die Winkelsumme in dem Sternsymbol größer als 360 Grad, obwohl das natürlich undenkbar war. »Wer war hier drinnen?«, fragte ich zu Beginn meiner nächsten Sitzung mit dem Pontius. Ich sah mich in der reifbedeckten Kammer um. Bequin zuckte die Achseln und blies in die Hände. Aemos schaute ebenfalls verwirrt drein. »Die Truhe ist wieder bewegt worden. Nur ein wenig. Wer war hier?« »Niemand«, sagte der Pontius mit seiner künstlichen tonlosen Stimme. »Die Frage war nicht an Sie gerichtet, Pontius. Denn ich bezweifle, dass Sie mir die Wahrheit sagen würden.« 279
»Sie kränken mich, Gregor«, antwortete er leise. »Sind Sie sicher, dass Sie es sich nicht einbilden?«, sagte Aemos. »Sie haben schon einmal gesagt ...« »Vielleicht.« Ich verzog das Gesicht. »Ich habe nur das Gefühl, dass ... etwas verändert wurde.« An den meisten Abenden auf der langen Reise aß ich mit Maxilla zu Abend, manchmal in Gesellschaft der anderen, manchmal allein. Eines Abends in der fünfundzwanzigsten Woche saßen nur Maxilla und ich am Tisch, als die vergoldeten Servitoren unser Abendessen brachten. »Tobius«, sagte ich schließlich, »erzählen Sie mir von den Saruthi.« Er stutzte und legte seine mit Essen beladene Gabel auf den Teller. »Was soll ich Ihnen erzählen?« »Warum Sie behauptet haben, nichts über sie zu wissen, als ich Ihnen gesagt habe, dass wir in ihr Gebiet fliegen.« »Weil solche Gegenden verboten sind. Weil Sie ein Inquisitor sind, und vor jemandem wie Ihnen darf man keine derartigen Übertretungen zugeben.« Ich spielte mit dem Rand meines halb geleerten Glases. »Sie haben mir bis jetzt bereitwillig und großzügig geholfen, Tobius. Ich war zunächst argwöhnisch, was Ihre Motive angeht, etwas, wofür ich mich entschuldigt habe. Ich sehe jetzt, dass Sie so erpicht darauf sind wie ich selbst, dem Imperator der Menschheit zu dienen. Es bekümmert mich, dass Sie jetzt Informationen zurückhalten wollen.« Er bleckte seine perlmuttverzierten Zähne und tupfte sich mit einer Ecke seiner Serviette die Lippen ab. »Ich bin mehr als bekümmert deswegen, Gregor. Es plagt mich, es ist eine Gewissenskrise.« »Dann ist es Zeit, darüber zu sprechen.« Ich füllte unsere Gläser mit Wein aus dem Dekanter nach. »Das Wissen des Imperiums über die Saruthi ist spärlich und, 280
wie Sie sagen, verboten. Ich bin mir der Tatsache mehr als bewusst, dass Freihändler sehr viel mehr über die Systeme außerhalb unseres Territoriums und deren Spezies wissen als wir. Sie sind kein Freihändler, aber Sie gehören zur Handelselite. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Sie nie auf Informationen hinsichtlich dieser Xenos-Art gestoßen sind.« Er seufzte. »Als junger Mann, vor über neunzig Jahren, war ich im Gebiet der Saruthi. Ich war Besatzungsmitglied an Bord eines Freihändlers, der Promethean. Kapitän war Vaden Awl, lange tot, würde ich meinen. Das war ein echter Freihändler. Er war sicher, ein Handelsabkommen mit diesen Unbekannten treffen oder sie zumindest ihrer Schätze berauben zu können.« »Und hat er?« »Nein. Vergessen Sie nicht, dass ich ein einfaches Besatzungsmitglied war. Ich habe die Eingeweide des Schiffs nie verlassen und nie einen Fuß auf irgendeine Welt gesetzt. Ich weiß nur, dass die Fahrt elend lange gedauert hat. Die höheren Mannschaftsdienstgrade waren sehr wortkarg. Sie haben, wie ich sie verstanden habe, sehr lange gebraucht, um die Saruthi überhaupt zu finden, und dann waren sie nicht sehr entgegenkommend. Der Dritte Offizier, ein Mann, den ich einigermaßen gut kannte, hat mir anvertraut, die Saruthi würden Awls Handelsemissären Streiche spielen, sich vor ihnen verstecken, sie quälen.« »Inwiefern quälen?« »Ihre Welten waren unheimlich, entwaffnend - etwas stimmte nicht mit den Winkeln, sagte der Offizier.« »Mit den Winkeln?« Er lachte säuerlich und zuckte die Achseln. »Als seien ihre Dimensionen mit etwas Krankem infiziert. Nach einem Jahr kehrten wir mit leeren Händen zurück. Viele aus der Mannschaft quittierten den Dienst und verließen die 281
Promethean nach unserer Rückkehr, vor allem als Awl, der mittlerweile ein kranker und gehetzter Mann war, verkündete, er wolle zurückfahren und es noch einmal versuchen. Ich habe auch den Dienst quittiert, aber nur, weil ich die Vorstellung nicht ertragen konnte, noch ein Jahr unter Deck zu sein.« »Und Awl?« »Er ist zurückgefahren. Jedenfalls nehme ich das an. Ein paar Jahre später hörte ich, sein Schiff sei im Bereich der BorealisWeiten von abtrünnigen Eldar gekapert worden. Das ist eigentlich alles. Vielleicht sehen Sie, warum ich so unwillig war, Ihnen diese Dinge zu erzählen ... weil es nichts Nützliches zu erzählen gibt. Ich hätte mich nur selbst belastet, wenn ich zugegeben hätte, dass ich dort war.« Ich nickte. »Enthalten Sie mir in Zukunft keine Informationen vor.« »Das werde ich nicht.« »Und falls Ihnen noch etwas einfällt ...« »Sage ich es Ihnen sofort.« »Tobius.« Ich hielt kurz inne. »Sie sagen, die Fahrt der Promethean war lang und fruchtlos und die Besatzungsmitglieder wären von den Wesen gequält worden, denen sie schließlich begegneten. Haben Sie keine Bedenken gegen eine Rückkehr dorthin?« »Natürlich.« Er lächelte dünn. »Aber ich bin verpflichtet, Ihnen als Mittelsmann des Imperators zu helfen, und das werde ich fraglos tun. Außerdem ist ein Teil von mir auch neugierig.« »Neugierig?« »Ich will diese Saruthi mit eigenen Augen sehen.« Ich sollte die Träume erwähnen. Sie störten mich auf der Fahrt nicht über Gebühr, aber alle paar Tage kehrten sie wieder. Ich träumte selten konkret von dem gut aussehenden Mann mit dem leeren Blick, 282
aber er lauerte verhohlen in anderen Träumen als Zuschauer, der nur beobachtete und niemals redete. Die Lichtblitze begleiteten ihn und kamen mit jedem Traum näher. Am Schiffsmorgen des dritten Tages der neunundzwanzigsten Woche erhob ich mich leise, verließ mein Quartier und ging zu dem Laderaum, in dem sich der Pontius befand. Es war gut vier Stunden vor der Zeit, zu der normalerweise unser tägliches Gespräch stattfand. Ich stieg in einen Wartungsschacht, der zu dem Lagerraum führte, und folgte ihm bis zu einem Ventilationsgitter, auf dessen anderer Seite sich der Laderaum befand. Das Gitter war reifbedeckt. Unten kauerte eine Gestalt vor der Truhe, in Gewänder gehüllt. Für die Beleuchtung sorgte eine Taschenlampe - die Deckenlampen waren nicht an. Pontius war wach. Das verriet mir der Reif, und ich sah auch die winzigen Blitze der feuernden Synapsen und hörte das leise Zischen seiner Stimme. »Erzählen Sie mir von den Grenzkriegen, die Sie letztes Mal erwähnt haben. Die Imperiumsverluste waren hoch, sagten Sie?« »Ich erzähle Ihnen viel, und Sie erzählen mir dafür kaum etwas«, erwiderte die Gestalt. »Unsere Vereinbarung war eine andere. Ich sagte, ich würde Ihnen insgeheim helfen, wenn Sie mir helfen. Macht, Pontius, Informationen. Wenn ich als Ihr Emissär auftreten soll, brauche ich einen Vertrauensbeweis. Wie kann ich Ihren Verbündeten Ihren Willen verkünden, wenn ich nichts über die ‚eigentliche Angelegenheit‘ weiß?« Eine Pause. »Worum geht es?«, fragte die Gestalt. 283
»Was steht auf dem Spiel, welche Sache von großem Wert?« Wieder eine Pause. »Sie sollten gehen, bevor man Sie entdeckt. Eisenhorn wird misstrauisch.« »Sagen Sie es mir, Pontius. Wir sind fast da, nur noch ein paar Tage. Sagen Sie es mir, damit ich Ihnen helfen kann.« »Ich ... sage es Ihnen. Das Nekroteuch. Dahinter sind wir her, Alizebeth.«
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ACHTZEHN
KCX-1288 im Licht des Feder-Sterns. In die Wunde. Die Verkehrtheit.
m ersten Tag der einunddreißigsten Woche, weniger als A einen Tag über Maxillas Schätzung, kehrte die Essene tief im Innern des Systems mit der Bezeichnung KCX1288 in den Realraum zurück. Fast sofort waren wir in Gefahr. Der Stern war ein riesiger, aufgeblähter, pulsierender Feuerball, der seine letzten paar Millionen Lebensjahre herauskotzte. Verzerrt und nicht mehr kugelförmig, leuchtete er in einem böswilligen rosa Feuer unter einer abkühlenden Kruste aus schwarzen Fetzen, die wie Fäulnis auf seiner körnigen Haut aussahen. Feuerstürme wirbelten und tobten über seine vergrößerte Oberfläche und spien Ströme stellarer Materie in das System. Eine immense Säule aus abgesonderten Gasen und Materie schraubte sich beinahe ein Lichtjahr weit von dem ungeheuren Stern weg. Sie sah aus wie eine gewaltige leuchtende Feder, die in den weichen Ball der Sonne getaucht war. Vom Moment unserer Ankunft am Auftauchpunkt heulten Sirenen und Alarmvorrichtungen auf der Brücke. Die extreme Strahlung war praktisch urmessbar, und wir bebten und schaukelten durch Wellen sengender Sternentrümmer. 285
Das ganze System war voll von treibenden radioaktiven Zonen, Aschewolken, magnetischen Anomalien sowie Lichtreflexen und den dafür verantwortlichen Materiesplittern. Unsere Schirme arbeiteten auf Höchstleistung, und wir nahmen bereits Schaden. Maxilla sagte nichts, runzelte aber voller Konzentration die Stirn, als er das bebende Schiff durch das trügerische Gebiet mit seinen wechselnden Gravitationsfeldern und radioaktiven Strömungen navigierte. »Es bricht auseinander«, sagte Aemos ehrfürchtig, während er auf den Hauptprojektionsschirm und die hektisch darauf abrollenden Daten starrte. »Das ganze verdammte System befindet sich in einem Zustand des Kollapses.« »Irgendeine Spur von ihnen?«, rief ich Maxilla zu. »Wir müssten ihnen eigentlich dicht auf den Fersen sein. Sie waren einen halben Tag vor uns, mehr nicht. Verdammte Interferenzen. Warten Sie ...« »Was?« Er sagte etwas, dass ich in dem allgemeinen Lärm nicht verstand. »Noch einmal, bitte!« Maxilla schaltete die heulenden Sirenen aus. Das Beben und Schaudern hielt an, und jetzt hörten wir auch das Ächzen und Knarren des unter starker Belastung stehenden Rumpfes der Essene. Er zeigte auf die Bildplatte, die einen Überblick über die Sensor-Operationen der Essene lieferte. »Ich schnappe ihre Antriebssignale und ihre gravitationale Verdrängung auf, aber unter diesen Umständen ist es wirklich schwierig, die Daten akkurat auszuwerten. Da ...« Er tippte mit behandschuhtem Finger auf die Platte. »Das ist zweifelsfrei ein Antriebssignal, aber wie interpretieren Sie es?« Ich schüttelte den Kopf. Damit kannte ich mich nicht aus. 286
»Sie haben sich geteilt«, sagte Midas mit einem Blick über unsere Schultern. »Der Hauptteil hat sich zurückfallen lassen, sich vielleicht in eine sichere Entfernung vom System zurückgezogen, und eine kleinere Gruppe ist weitergeflogen. Vielleicht fünf Schiffe, höchstens sechs.« »So sehe ich das auch«, stimmte Maxilla zu. »Sie haben die Flotte geteilt. Ich nehme an, sie wollten nicht riskieren, ihre größten Schiffe in diesen Mahlstrom zu schicken.« »Ich kann verstehen, warum nicht«, murmelte Bequin mit einem Blick auf das brodelnde Chaos auf der Hauptanzeige. »Vergessen Sie alle, die sich zurückgezogen haben. Folgen Sie der kleinen Gruppe ins System«, sagte ich. »Ich würde raten ...«, begann Maxilla. »Tun Sie's! « Mit Hilfe seiner navigatorischen Servitoren korrigierte er die Flugbahn der Essene und folgte dem Kielwasser der kleineren Gruppe tiefer in das System. »Da! Da, sehen Sie!«, rief Maxilla plötzlich, während er sich an einem Hilfsbildschirm zu schaffen machte, um das Bild zu vergrößern. Es war weit weg, aber wir konnten die geborstene Hülle eines Imperiumskreuzers in einem Halo sich langsam zerstreuender Energie treiben sehen. »Eindeutig eins von Estrums Schiffen. Von Meteoren durchlöchert. Sie sind in Schwierigkeiten gekommen, kaum dass sie weitergeflogen sind.« Die Essene erbebte wieder. »Was ist mit uns?«, fragte ich. Maxilla beriet sich mit Betancore. Das Schiff erbebte besonders heftig, und die Hauptbeleuchtung fiel für einen Moment aus. »Wir brauchen Schutz«, sagte Maxilla ganz offen zu mir. 287
Soweit es die überlasteten und überforderten Sensoren der Essene feststellen konnten, gab es fünfzehn Planeten in dem System und dazu Millionen Bruchstücke von Planetoiden, größtenteils Aschebrocken aus verbrauchtem Gestein und verpuffender Energie. Das Kielwasser unseres Jagdwilds führte direkt zum drittgrößten, einer der inneren Welten. Es war ein schäbiger, ruinierter, halb zerschmetterter Ball mit Restschichten einer wirbelnden blauen Atmosphäre. Krater bedeckten seine nördliche Hemisphäre, und einige Einschläge waren so gewaltig gewesen, dass sie die Kruste aufgebrochen und den flüssigen roten Kern darunter zum Vorschein gebracht hatten. Der Planet sah wie ein aufgeplatzter Schädel mit grässlichen Wunden aus. Vor unseren Augen erblühten Lichtpunkte auf der Oberfläche, da Meteore einschlugen und Kontinente einäscherten. Wir fuhren durch das zuckende Gewebe des Alls, vorbei an Monden aus Blut und gestreiften Staubwolken. Eine riesige Wand stellaren Feuers griff zu uns aus, brachte das Schiff vom Kurs ab und schleuderte silberne Klumpen aus Eis und Gestein gegen unsere Schirme. »Wahnsinn!«, rief Fischig. »Sie hätten nicht herkommen dürfen! Das ist unser aller Untergang!« Maxilla sah mich an, als hoffe er, ich werde dem Züchtiger recht geben und das Unternehmen um der Essene willen abbrechen. »Sie sind sicher, was ihre Spuren angeht?« Maxillas Hände krampften sich um die Steuerung, als er schluckte und nickte. »Bringen Sie uns dorthin und in den Schutz, den uns die Planetenmasse geben kann. Sehen wir uns wenigstens ihre Leichen an, bevor wir abfliegen.« Der Sinkflug dauerte zwanzig Minuten, von denen keine ruhig verlief. Ich wollte die Zeit nutzen, um Lowink oder Maxillas 288
Astropathen nach der Einsatzflotte fragen zu lassen, die sich auf meine Anweisung vor dreißig Wochen auf den Weg hierher gemacht hatte, um sich mit uns zu treffen. Doch das war unmöglich. Die stellaren Verzerrungen machten Astrotelepathie undenkbar. Ich fluchte. Wir gingen steil herunter und flogen zur dunklen Seite des verwundeten Planeten. Feurige Blumen verzehrten mit Kratern übersäte Landmassen in der Dunkelheit unter uns, Ammoniakstürme tobten in ozeanischem Ausmaß. Selbst hier, wo der Planet zwischen uns und der sich aufblähenden Sonne stand, war die Fahrt rau und unruhig. Einen Moment sahen wir im Vorbeifliegen eine weitere Schiffsruine, noch ein zerstörtes Schiff aus Estrums Flotte. Eine Todeswelt. Ein Todessystem. »Unsere Feinde müssen einen Fehler gemacht haben«, sagte Aemos, der sich an einer Konsole festhielt, um sichereren Stand zu haben. »Die Saruthi können nicht hier sein. Wenn sie überhaupt je in diesem System gelebt haben, müssen sie es längst verlassen haben.« »Aber«, konterte ich, »die Vorhut der Ketzerflotte fliegt mit großer Entschlossenheit weiter.« Die Essene ging noch tiefer und rückte näher an den Planeten heran, als sie dies normalerweise getan hätte. Nur Fetzen der Atmosphäre waren noch verblieben, und Maxilla klebte an der zerklüfteten Oberfläche, kaum zehn Kilometer über dem nackten Fels. Schwärme von Sternschnuppen regneten an uns vorbei. »Was ist das?«, fragte ich. Maxilla justierte seine Sensoren und die Auflösung der Anzeige. Vor uns gähnte eine riesige Wunde in der Planetenkruste, tausend Kilometer breit. Ein klippenartiger Wulst aus hochgedrücktem Gestein mit einer riesigen Höhlung darunter. 289
»Die Sensoren können es nicht auflösen. Ist das Meteorschaden?« »Vielleicht von einem schrägen Einschlag«, sagte Aemos. »Sind sie daran vorbeigeflogen oder hinein?«, fragte ich. »Hinein?«, blaffte Maxilla ungläubig. »Hinein! Sind sie hineingeflogen?« Aemos beugte sich über den Servitor an der Sensor-Station. »Das Antriebskielwasser verschwindet hier. Entweder sind sie an dieser Stelle alle zusammen verdampft worden oder tatsächlich hineingeflogen.« Ich sah Maxilla an. Die Essene bockte wieder, da sie durch ein Gravitationsfeld flog, und die Brückenlichter erloschen zum zweiten Mal für kurze Zeit. »Dies ist ein Sternenschiff«, sagte er leise, »und nicht für eine Landung auf einem Planeten gebaut.« »Das weiß ich«, erwiderte ich. »Aber das gilt auch für die anderen Schiffe. Sie verfügen über mehr Informationen als wir ... und sie sind hineingeflogen.« Kopfschüttelnd steuerte Maxilla die Essene der riesigen Wunde entgegen. Die Höhlung war dunkel und unseren Sensoren zufolge grenzenlos, obwohl die Sensoren meiner Ansicht nach jetzt praktisch nutzlos waren. Ein matter roter Schein durchdrang die Finsternis tief unter uns. Das heftige Beben hatte aufgehört, aber der Rumpf ächzte und protestierte immer noch über die gravitationale Beanspruchung. Wir hatten den jähen Eindruck, durch irgendein Bauwerk zu fliegen, dann durch noch eins und noch eins. Die Anzeige enthüllte ein viertes, bevor wir darunter herflogen: einen eckigen Reifen oder Bogen mit einem Durchmesser von achtzig Kilometern. Dahinter folgten noch mehr und ragten dann um uns auf, als wir weiterflogen, als flögen wir mitten durch einen gigantischen Brustkorb. 290
»Sie sind achteckig«, sagte Aemos. »Und unregelmäßig«, fügte ich hinzu. Keine zwei Rippenbögen waren gleich, aber allen war grundsätzlich dieselbe Form und der Mangel an Symmetrie gemeinsam - die Form, die wir mittlerweile sofort mit den Saruthi assoziierten. »Die können nicht natürlich sein«, sagte Maxilla. Wir flogen weiter unter den gigantischen Bögen durch, ein Dutzend, dann noch eins. »Lichtquellen voraus«, verkündete ein Servitor. Ein mattes grünes Leuchten erhob sich weit voraus in der Allee der achteckigen Bögen wie Nebel. »Fliegen wir weiter?«, fragte Maxilla. Ich nickte. »Schicken Sie eine Markierungsdrohne an die Oberfläche zurück.« Einen Moment später zeigte die Heckanzeige eine kleine Servitordrohne, die mit blinkenden Positionslampen durch den riesigen Kanal zur Oberfläche zurückkehrte. Wir flogen durch den letzten Bogen. Wieder erbebte das Schiff. Dann flogen wir in ein gleichmäßiges, fahles grünes Licht. Es schien kein Dach, keine Decke für das zu geben, wo wir uns befanden, obwohl wir unzweifelhaft in der Planetenhöhlung waren. Nur dunstiges grünes Licht und unter uns ein Teppich aus Wolken. Alle Turbulenzen hörten auf. Die Atmosphäre an diesem Ort - die Logik hatte Mühe, uns daran zu erinnern, dass wir uns in einer Planetenkruste befanden - war dünn und untätig, ein vage ammoniakhaltiger Dunst. Keiner von uns konnte sich die Quelle des durchdringenden Leuchtens oder die Tatsache erklären, dass die Essene in der gelassenen Ruhe bequem vor Gravanker lag. Wie Maxilla festgestellt hatte, 291
war sie kein Atmosphärenschiff, und es hätte unmög lich sein müssen, es so nah an einem Planetenkörper ohne ernsthafte Belastungsschäden zu stabilisieren. Ihren Systemregistern nach ging es der Essene blendend, nachdem sie die stellaren Stürme von KXC-1288 überstanden und sich in diesen sicheren Hafen gerettet hatte. Abgesehen von unbedeutenden Prallschäden waren nur zwei Systeme des Schiffs ausgefallen. Die Sensoren waren blind und empfingen nur seltsame tote Echos. Und jedes Chronometer an Bord des Schiffes hatte ange halten bis auf zwei, die rückwärts liefen. Betancore und Maxilla studierten die unvollständigen Signale, die von den Sensoren empfangen wurden, und kamen zu dem Schluss, dass sich unter uns, unter der Wolkenbank, Land befand. Wir schätzten, dass es sechs Kilometer bis nach unten waren, obwohl sich das in diesem vagen Dunst kaum mit Bestimmtheit sagen ließ. Wenn Glaws Ketzer hier waren, hatten sie keine Spuren hinterlassen. Aber da unsere Sensoren so seltsam gestört waren, konnte ihre Vorhut auch auf der anderen Seite der Wolken vor Anker liegen. Kurz danach flogen wir bereits mit dem Kanonenboot von der Essene zur Wolkenbank. Wir alle hatten gepanzerte Vakuumanzüge aus Maxillas Spinden angezogen. Lowink, Fischig, Aemos und ich schlurften in der Mannschaftskabine umher, um uns an die schwere Panzerung und das klobige Futter der Anzüge zu gewöhnen. Bequin war bei Betancore in der Kanzel und sah ihm dabei zu, wie er uns herunterbrachte. Die beiden trugen ebenfalls geborgte Vakuumanzüge, und sie hatte sich die Haare hochgesteckt, damit sie der Helmversiegelung nicht in die Quere kamen. »Gute Jagd, Inquisitor«, ertönte Maxillas Stimme knisternd im Korn. 292
»Er wird dort unten sein, oder?«, fragte Bequin, und ich wusste, dass sie sich auf Mandragore bezog. »Sehr wahrscheinlich. Er ... und das, worum es bei dieser Sache geht.« »Na, Sie haben ja gehört, was der Pontius gesagt hat«, erwiderte sie. Wie hätte ich es nicht hören können? Das Nekroteuch. Man hört so ein Wort nicht und vergisst es dann. Sie hatte Wochen gebraucht, um das Vertrauen unseres körperlosen Gefangenen zu gewinnen, indem sie die Rolle der unzufriedenen Verräterin spielte. Ich war nicht sicher gewesen, ob sie dem gewachsen sein würde, aber sie hatte diese Herausforderung mit großer Geduld und einem fein abgewogenen Maß Darstellungskunst gemeistert. Es war ein Risiko gewesen, sie allein zu Pontius gehen zu lassen. Sie hatte mir versichert, sie könne es schaffen, und sie hatte sich nicht geirrt. Das Nekroteuch. Wenn Pontius Glaw die Wahrheit sagte, war das Unternehmen jetzt von noch größerer Dringlichkeit. Ich hatte mich gefragt, was so kostbar, so bedeutend sein konnte, dass es unsere Feinde derartig elektrisierte und sie zum Eingehen solcher Risiken veranlasste. Ich hatte meine Antwort. Die Legende besagte, die letzte existierende Kopie dieses verabscheuungswürdigen Werks sei bereits vor Millennien zerstört worden, doch in uralten Zeiten sei den Saruthi eine Kopie in die Hände gefallen. Und jetzt schienen sie bereit zu sein, diese Kopie Glaws Ketzern zu verkaufen. Wir stießen durch die Wolken und sahen das Land unter uns, eine weite, wellige Fläche aus Staub, die zu einem Meer führte. Flüssigkeit schäumte und brach sich an einer bogenförmigen Küstenlinie von hundert Kilometern Länge. Wegen des Lichts, das durch die dunstigen 293
Wolken fiel, hatte alles einen Grünstich. Allem haftete eine neblige Weichheit an, ein Mangel spitzer oder scharfer Formen. Es wirkte endlos, tonlos, langsam. Damit ging ein Gefühl der Ruhe und des Ätherischen einher, das beruhigend und zugleich entnervend war. Sogar das Schwappen des Meeres wirkte träge. Es erinnerte mich an eine Küste in Tralito auf Caelun Zwo, wo ich einen Sommer verbracht und mich von den Verletzungen vieler Jahre erholt hatte. Endlose Meilen Glimmererde-Dünen, das träge Meer, die milde, dunstige Luft. »Wie groß?«, fragte ich Midas. »Was?«, fragte er. »Dieser ... Ort?« Er zeigte auf die Instrumente. »Kann ich nicht sagen. Hundert Kilometer, zweihundert ... dreihundert ... tausend.« »Sie müssen doch irgendetwas haben!« Er drehte sich mit einem Lächeln zu mir um, in dem Besorgnis lag. »Die Systeme sagen, er ist endlos. Was natürlich unmöglich ist. Also glaube ich, dass die Instrumente nicht funktionieren. Jedenfalls traue ich ihnen nicht.« »Womit fliegen Sie dann?« »Mit den Augen — oder dem Bauch. Was Sie beruhigender finden.« Wir folgten der allmählichen Rundung der endlosen Bucht ungefähr zehn Minuten. Schließlich traten Einzelheiten hervor, welche die einförmige Anonymität durchbrachen. Eine Reihe von Bögen, achteckig, ragten in einigen hundert Metern Entfernung vom Ufer parallel zum Wasser aus dem Sand. Alle durchmaßen ungefähr fünfzig Meter und waren bis auf die Größe in allen Dingen Zwillinge der Bögen, durch die Maxilla die Essene geflogen hatte. Sie erstreckten sich, soweit unser Auge in dem grünen Dunst reichte. »Bringen Sie uns runter.« 294
Wir landeten das Kanonenboot auf dem weichen Staubsand einen halben Kilometer vorn Ufer entfernt, schlossen unsere Helme und gingen nach draußen. Die Helligkeit war größer, als ich erwartet hatte - die Bullaugen des Bootes waren getönt -, und wir ließen ein Braunglas-Filtervisier herunter, um uns vor dem grellen Licht zu schützen. Ich hasse Vakuum-Anzüge. Das beengte und erstickende Gefühl, die schwerfälligen Bewegungen, das Geräusch meines Atmens in den Ohren, das sporadische Klicken des Interkoms. Der Anzug sperrte alle Geräusche aus, bis auf das Knirschen meiner Füße im feinen trockenen Sand. Wir gingen in breiterer Formation zum Wasser. Alle bis auf Aemos waren bewaffnet. Es sah wie ein Meer aus. Grünes Wasser mit weißen Schaumkronen auf den Wellen. »Flüssiges Ammoniak«, sagte Aemos, dessen Stimme leise knisternd aus dem Korn drang. Es hatte etwas Seltsames an sich. »Sehen Sie es?«, fragte er mich. »Was?« »Die Wellen bewegen sich vom Strand weg.« Ich schaute noch einmal hin. Es war so offensichtlich. Es war mir entgangen. Die Flüssigkeit brandete nicht an und brach, sie sog sich vorn Strand weg und wälzte sich dann wieder in sich zurück. Es war gruselig. So simpel. So falsch. Meine Zuversicht schwand. Ich wollte den klaustrophobischen Anzug ausziehen und schreien. Und das hätte ich auch getan, wären die roten Warnlichter des Atmosphärenlesers nicht gewesen, der in die klobige linke Manschette meines Anzugs eingebaut war. Was hatte Maxilla noch gesagt? Die Saruthi hatten die Männer von der Promethean gequält? Für einen Moment wusste ich nicht, ob das unnatürliche Verhalten des Meeres 295
ihr Werk war - wie konnte es? Aber ich begriff, welche heimtückische, bestürzende Qual ihnen bereitet worden sein mochte. Fischig und Betancore hatten sich dem ersten Bogen genähert. Ich schaute hin und sah, wie klein sie neben dem asymmetrischen Bauwerk waren. Das nächste in der Reihe war dreihundert Meter entfernt, und sie schienen in gleichmäßigen Abständen voneinander zu stehen. Jeder Bogen war, soviel ich sehen konnte, auf andere Art unregelmäßig, obwohl Größe und Proportionen identisch waren. Bequin kniete am Ufer und wischte mit dem Handschuh vorsichtig den Sand weg. Sie hatte das bisher vielleicht bestürzendste Detail entdeckt. Unter dem Sand, ein paar Zentimeter tiefer, war der Boden gefliest. Mit schachbrettartigen, unregelmäßigen achteckigen Fliesen wie die, welche sie auf dem Boden der Mine in Nordqualm gefunden hatte. Wieder fügten sie sich unmöglicherweise trotz ihrer Form perfekt zusammen. Sie wischte immer mehr Sand fort. »Hören Sie auf damit«, sagte ich. »Unserer geistigen Gesundheit zuliebe. Ich glaube nicht, dass es den Versuch wert ist, zu ergründen, ob sie den gesamten Strand gefliest haben.« »Kann das alles hier ... künstlich sein?«, fragte sie. »Unmöglich«, sagte Aemos. »Vielleicht sind die Fliesen und die Bögen Teil eines alten Bauwerks, das schon lange verlassen ist und seitdem überflutet und mit diesem Staub bedeckt wurde, weil ... weil ...« Er klang ganz und gar nicht überzeugend. Ich ging zu Fischig und Betancore, und gemeinsam starrten wir zum ersten Bogen empor. Er bestand aus dem merkwürdigen unbekannten Metall, das wir auf Damask gesehen hatten. »Was wissen wir?«, fragte Fischig. 296
»Ich hasse es, das Offensichtliche kundzutun«, sagte Aemos vom Strand her, »aber die letzte Reihe dieser Bögen hat einen Weg gebildet, der die Essene hierher geführt hat. Sollten wir davon ausgehen, dass dies hier demselben Zweck dient?« Ich trat vor und durch den hoch aufragenden ersten Bogen. »Vorwärts«, sagte ich. Wir gingen vielleicht zwanzig Minuten. Geschätzt. Sämtliche Chronometer waren ausgefallen. Nach den ersten paar Minuten hörten wir ein entferntes, sich wiederholendes Krachen. Einen tiefen Donnerschlag, der von irgendwo jenseits des Meeres herüber hallte. Jedenfalls schien es so. Der Donner ertönte etwa jede halbe Minute. Es gab lange Intervalle der Stille, und immer wenn wir glaubten, wir hätten den letzten gehört, kam ein neuer. Wie das Knirschen unserer eigenen Schritte konnten wir die Donnerschläge durch die Anzüge hören, obwohl unsere Kom-Anlagen ausgeschaltet waren. Ich rief Maxilla über Korn: »Können Sie das hören?« Es knisterte, doch ich bekam keine direkte Antwort. Dann ertönte plötzlich Maxillas Stimme: »... wie Sie befehlen, Gregor, aber es wird nicht leicht. Bitte wiederholen ... was sagten Sie über Fischig?« »Maxilla! Bitte wiederholen!«, begann ich, aber seine Stimme knisterte weiter, viel zu laut und unzusammenhängend. Es war keine Antwort. Ich schnappte nur seine Stimme auf. Ich spürte, wie es mich kalt überlief. Mehr Knistern. »Sagen Sie Alizebeth, ich bin ganz ihrer Ansicht! Ha!« Im Korn herrschte plötzlich Stille. Ich wandte mich den anderen zu. Ihre bleichen Gesichter starrten wie Geister durch die getönten braunen Visiere. »Was ... war das?«, murmelte ich. 297
»Ein Echo?«, flüsterte Aemos. »Irgendeine Übertragungsanomalie, verursacht durch die Atmosphäre und ...« »Es war kein Gespräch, das ich je geführt habe.« Ein weiterer Donnerschlag hallte über den trockenen, sanft beleuchteten Strand. Nach von mir geschätzten zwanzig Minuten passierten wir plötzlich den letzten Bogen. Wir blieben alle stehen. Vor uns stieg das Land steiler an, zu Hügeln und niedrigen Kämmen. Das Gelände war dort dunkler, unwirtlich. Die allgemeine Helligkeit hatte abgenommen, und der Himmel hatte eine dunkelgrüne Farbe, die über den Bergen in Schwarz überging. »Da ... da waren mehr in der Reihe!«, rief Fischig. »Mehr Bögen!« Er hatte recht. Der achteckige Säulengang war verschwunden, als wir den letzten Bogen passiert hatten. Ich ging wieder zurück in der Annahme, auf der anderen Seite würden die Bögen wieder auftauchen. Sie taten es nicht. Die Donnerschläge hielten an. Wir setzten uns in Richtung Hügel in Bewegung. Statisches Rauschen und Knistern drang aus unseren Kom-Einheiten. »Sendungen«, sagte Lowink. Er spielte an seinem Frequenzwähler herum. »Ich kann sie nicht richtig einstellen, aber es ist ein Gespräch. Militärisch. Hin und her.« Vielleicht unser Jagdwild. »Sehen Sie doch!«, sagte Betancore, indem er hinter uns zeigte. Jenseits der Küste und der zurückweichenden Linie der Bögen hingen drei ominöse dunkle Formen unter den Wolken über dem Meer. Zwei imperiale Fregatten und ein alter Händler lagen vor Gravanker. »Warum haben wir sie nicht gesehen, als wir sie passiert haben?« 298
»Ich habe keine Ahnung, Midas. Ich bin keiner Sache mehr sicher.« Als ich mich zum Rest der Gruppe umwandte, sah ich, dass Aemos seine Helmversiegelung löste. »Aemos!« »Beruhigen Sie sich«, sagte er, während er seinen alten, runzligen Kopf entblößte. Mit dem breiten Verschlusskragen des Anzugs um sich sah er wie eine Schildkröte aus, die ihren knorrigen Kopf aus dem Panzer streckte. Er hob den linken Arm und zeigte mir den Atmosphärenleser. Die Lichter waren grün. »Für Menschen perfekte Atmosphäre«, sagte er. »Etwas kalt und steril, aber perfekt.« Wir setzten alle den Helm ab. Die kühle Luft zwickte mein Gesicht, aber es war gut, den Vakuum-Anzug loszuwerden. Die Luft hatte keinen Geruch, überhaupt keinen. Sie roch weder nach Salz, noch nach Ammoniak oder Staub. Wir halfen einander dabei, die Helme am Schulteraufsatz zu befestigen. Die Donnerschläge waren jetzt dumpfer und weiter entfernt, da es die Resonanz der hohlen Helme nicht mehr gab. Wir konnten die Schritte der anderen hören, das Atmen, das Saugen und Schwappen des Meeres. Plötzlich roch ich auch Bequins Parfüm. Es war beruhigend. Ich führte die Gruppe weiter, und wir erklommen langsam das ansteigende Land. Vom Helm befreit, ging mir jetzt langsam auf, dass unser schwerfälliges Vorankommen nicht nur an den schweren Anzügen lag. Irgendwie war es schwierig, Tiefe und Entfernungen zu schätzen. Ab und zu stolperten wir. Mit diesem ganzen Ort stimmte etwas Grundlegendes nicht. Wir stießen sehr plötzlich auf sie. Das jähe Aufkommen von Kom-Verkehr war unsere einzige Warnung. Aus unseren Lautsprechern platzten die Stimmen förmlich heraus. »Lauft! Aufschließen! Abteilung zwo!« 299
»Wo sind Sie? Wo sind Sie?« »Decken Sie die linke Seite! Das ist ein Befehl! Decken Sie die linke Seite!« »Sie sind hinter mir! Sie sind hinter mir, und ich ... Ein wüstes statisches Knistern. Auf der dunklen Anhöhe vor uns sahen wir plötzlich Soldaten auf uns zukommen. Imperiale Garde in rotgoldener Kampfrüstung. Gudrunische Infanterie. »Deckung!«, befahl ich, und wir warfen uns im Schutz der Dünen zu Boden und machten unsere Waffen bereit. Es waren sechzig oder noch mehr, die den Hang hinuntergelaufen kamen. Sie waren auf der Flucht, ungeordnet. Ein Offizier in ihrer Mitte fuchtelte mit den Armen und schrie, aber sie ignorierten ihn. Viele hatten Helm oder Gewehr verloren. Eine Sekunde später kamen ihre Verfolger über die Anhöhe und fielen von hinten über sie her. Drei schwarze gepanzerte Schweber in den Farben der Flottensicherheit und eine nachfolgende Linie von dreißig Soldaten in ihrer unverkennbaren schwarzen Rüstung, die geordnet und diszipliniert in aufgefächerter Linie marschierten, schossen den fliehenden Rekruten in den Rücken. Die Schweber beharkten den Hang mit ihren Bordwaffen. Die Schüsse schleuderten Staubfontänen und die verstümmelten Leiber von Menschen in die Luft. Eine Sekunde später fegten die Schweber scheinbar in Kopfhöhe über uns hinweg und viel zu weit bis über das Ammoniakmeer, um sich dann für einen neuen Anflug in eine enge Kurve zu legen. Einige von den Gudrunern schossen zurück, und ich sah einen Soldat stolpern und fallen. Doch es gab keine Koordination, keine Kontrolle. »Was jetzt? Bleiben wir versteckt?«, keuchte Bequin. »Sie werden uns ohnehin bald entdecken«, sagte Fischig, indem er die Munitionszuführung für seinen schweren Karabiner öffnete. 300
Das Kräfteverhältnis war entsetzlich, und seit dem Vorfall auf der Essene hatte ich eine morbide Abneigung gegen die schwarz gekleideten Soldaten. Trotzdem ... Ich zog meine schwere Autopistole und warf sie Aemos zu, dann löste ich mein Lasergewehr aus den Halterungen an meinem Rucksack. Bequin zückte ebenfalls ihre Waffen, zwei Laserpistolen. Lowink und Midas hatten ihre Waffen ein Lasergewehr beziehungsweise ein glavianisches Nadlergewehr - bereits im Anschlag. »Kümmern Sie sich um die Soldaten«, sagte ich zu Fischig, Lowink und Bequin. »Tun Sie, was Sie können, Aemos. Midas, um die Schweber kümmern wir uns.« Wie krochen bäuchlings vorwärts durch die Dünen und kamen dann schießend hoch. Fischigs schwerer Karabiner beharkte den Kamm und wirbelte Staub auf, bevor er sich eingeschossen hatte und drei der schwarzen Soldaten massakrierte. Lowinks Lasergewehr knisterte, und Aemos feuerte zögernd mit der Laserpistole. Bequin war erstaunlich. Sie hatte die dreißig Wochen Fahrzeit gut genutzt, und Midas hatte sie offensichtlich gut ausgebildet. Eine Laserpistole in jeder Hand, stieß sie so etwas wie einen Kriegsruf aus und gab sorgfältig gezielte Schüsse ab, die zwei weitere Soldaten fällten. Der unbarmherzige Vormarsch der Soldaten geriet ins Stocken, als den Männern aufging, dass sich die Lage plötzlich verändert hatte. Die versprengten Gudruner verhielten ebenfalls, und einige von ihnen, darunter auch der Offizier, drehten sich um und nahmen den Kampf gegen ihre Verfolger auf. Darauf hatte ich gebaut. Wir konnten sie nicht ganz allein bekämpfen. Ich hatte darauf vertraut, dass unsere jähe Einmischung die Gardisten mit neuem Mut und 301
Kampfgeist erfüllen würde. Trotzdem flüchteten viele weiter. Ein heftiges Feuergefecht entbrannte auf dem Hang zwischen den ins Stocken geratenen Soldaten und den Gudrunern unter ihnen, die sich zum Kampf stellten. Lowink, Fischig, Aemos und Bequin rückten vor, um sie zu unterstützen. Die Schweber kehrten zurück und beharkten den Strand mit Patronen. Betancore sank auf ein Knie, hob seine exotische Waffe und schoss. Der lange Lauf pulsierte und gab ein. Geräusch wie ein geflüstertes Kreischen von sich. Explosive Splitter fegten durch den nächsten Schweber, der auf uns zuraste, und sprengten ihn in der Luft auseinander. Brennende Wrackteile fielen in den Sand. Ich verfolgte den zweiten mit meinem Lasergewehr. Er drehte sich uns entgegen, und die Wende machte ihn langsam. Meine Schüsse verfehlten ihn oder wurden von seiner Panzerung abgelenkt. Als die schwere Bordkanone losging und Staubfontänen in den Sand stanzte, schoss ich dem Piloten durch das Visier. Immer noch schießend, sackte die Maschine plötzlich durch und krachte fünfzig Meter hinter mir auf den Strand. Der Schweber prallte ab, barst, schlug wieder auf und landete in einer Gischt aus Trümmern in den Wellen, die tausende von Spritzern aufwirbelte. Der dritte Schweber legte sich in die Kurve und setzte zu einem neuen Anflug an, bei dem er sechs fliehende Gudruner tötete, die in dem Sand leichte Ziele darstellten. Midas hatte seine Waffe auf ihn gerichtet und schoss, als er vorbeiflog, ohne zu treffen. Er schoss noch einmal und traf das sich entfernende Heck. Der Schweber flog einfach weiter. Immer geradeaus. Aufs Meer. Ich hatte keine Ahnung, was Midas getroffen hatte die Besatzung, die Steuerung -, aber er flog einfach immer 302
weiter und weiter, bis nichts mehr von ihm zu sehen war. Wir eilten den Hang empor und befanden uns kurz darauf zwischen den Gudrunern. Sie waren allesamt verdreckt und zerzaust, keiner älter als fünfundzwanzig. Als sie uns und den Schaden sahen, den wir angerichtet hatten, jubelten sie, vielleicht weil sie sich einbildeten, wir seien Teil einer größeren Rettungstruppe. Unter dem Kamm brachen die letzten Soldaten zusammen. Fischig stürmte ihnen mit jaulendem Karabiner entgegen, und ein Dutzend Gudruner folgten ihm, erpicht darauf, sich gegen ihre Peiniger zu wenden. Der Kampf auf dem Kamm dauerte weitere zwei Minuten. Fischig verlor zwei der Gudruner in seiner Begleitung, sorgte aber dafür, dass kein einziger von den Soldaten überlebte. Die Gesetzeshüterschaft, kann ich mich erinnern gedacht zu haben, hatte dem Militär in Gestalt von Züchtiger Fischig einen ausgezeichneten Soldaten weggeschnappt. Ich ging zu dem Offizier der Gudruner, da seine Männer vor Erschöpfung und Erleichterung zusammen brachen. Manche weinten. Alle sahen verängstigt aus. Rauch trieb in der windstillen Luft vom Kamm herunter. Der Offizier, ein Sergeant, war nicht älter als seine Männer. Er hatte versucht, sich einen Bart wachsen zu lassen, aber seine Gesichtsbehaarung gab das nicht her. Er salutierte schon vor mir, noch bevor ich ihm mein Amtssiegel gezeigt hatte. Dann fiel er auf die Knie. »Stehen Sie auf.« Er tat es. »Inquisitor Eisenhorn. Und Sie sind ...?« »Sergeant Enil Jeruss, zweites Bataillon, 50. Gudrunische Infanterie. Herr Inquisitor, ist die Flotte hier? Haben sie uns gefunden?« Ich hob die Hand, um ihn zu beruhigen. »Setzen Sie mich ins Bild, kurz und knapp.« »Wir wollten nichts damit zu tun haben. Wir wurden an Bord 303
der Fregatte Exaltiert gebracht, wo wir auf unsere Einschiffung warteten. Als das Schiff den Ankerplatz über Gudrun verließ, sagte der Kapitän uns, Gudrun sei gefallen und wir würden uns zurückziehen und neu formieren.« »Der Kapitän?« »Kapitän Estrum, Herr Inquisitor.« »Und dann?« »Dreißig Wochen Flugzeit hierher. Im Augenblick unserer Ankunft wussten wir, dass irgendwas nicht stimmte. Wir protestierten und wollten wissen, was passiert sei. Sie nannten es Pflichtversäumnis und ließen Dutzende an die Wand stellen. Man stellte uns vor die Wahl, den Befehlen zu gehorchen oder zu sterben.« »Keine große Wahl.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Inquisitor. Deswegen habe ich versucht, mich mit den Männern abzusetzen. Wir sind geflohen, sobald wir drinnen und sie beschäftigt waren. Sie sind uns gefolgt, um uns zur Strecke zu bringen.« »Drinnen? Wo?« Er zeigte auf den Kamm. »In der Finsternis.« »Erzählen Sie mir, was Sie gesehen haben«, sagte ich.
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NEUNZEHN Jeruss erstattet seinen Bericht. Auf dem Plateau. Die eigentliche Angelegenheit.
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» ch weiß nicht einmal, auf welcher Welt wir sind«, sagte Sergeant Jeruss. »Das haben sie uns nicht gesagt. Aber die Fahrt hierher war ziemlich holperig.« »Sie hat keinen Namen, soweit ich weiß. Fahren Sie fort.« »Sie haben uns an diesem Strand antreten lassen, weil wir eine Eskorte für die Hauptgruppe bilden sollten.« »Wie viele Männer?« »Über hundert Soldaten der Flottensicherheit und vielleicht dreihundert von uns Gardisten.« »Fahrzeuge?« »Schweber, wie Sie gesehen haben, und zwei schwerere Truppentransporter für einige Kisten Fracht und die Hauptgruppe.« »Was wissen Sie darüber?« Jeruss zuckte die Achseln. »Über die Fracht, nichts. In der Hauptgruppe waren der Kapitän und Lord Glaw von Gudrun. Das ist ein ehrwürdiger Aristokrat von meiner Heimatwelt.« »Ich kenne ihn. Wer noch?« »Noch ein paar andere: ein Händler, ein Ekklesiarch und ein riesiger Krieger, den sie von uns regulären Truppen fernzuhalten versucht haben.« Zweifellos Mandragore. Und Dazzo und Locke. Der Kern von Oberon Glaws Kabale. 305
»Was dann?« Jeruss zeigte die Hänge empor auf das dunkle, bedrohlich wirkende Hochland. »Wir sind dorthin marschiert. Ich hatte den Eindruck, dass sie wussten, wohin sie gehen. Die Dinge veränderten sich, als wir weiter hineingingen. Es wurde dunkler und wärmer. Und es war schwierig, den Weg zu finden, als ob ...« »Als ob?« »Wir konnten die Entfernungen nicht richtig schätzen. Manchmal war es so, als wateten wir durch heißes Wachs, und manchmal konnten wir uns kaum bremsen. Einige der Männer gerieten in Panik. Wir fanden Polygone wie die am Strand.« Das war sein Wort für die reifenartigen Bögen. »Es gab ganze Reihen von ihnen, Spaliere, die sich ins Hochland zogen. Sie waren so irregulär, dass sie den Verstand verstörten. Sie schienen zu variieren, sich zu verändern.« »Was meinen Sie mit ‚irregulär‘?« »Ich war auf keiner Offiziersschule, Herr Inquisitor, aber ich bin gebildet. Ich kenne mich mit den Grundbegriffen der Geometrie aus. Die Winkelsumme der Polygone stimmte nicht, aber sie waren trotzdem da.« Mit einem Frösteln erinnerte ich mich an Maxillas Erwähnung »ungesunder« Winkel und dachte auch an die Markierung auf der Fliese, die ich von Damask mitgenommen hatte. »Wir folgten einigen dieser Reihen und gingen dabei gelegentlich auch durch Polygone. Der Ekklesiarch und der Händler schienen uns zu führen. Und da war auch noch ein anderer Mann, der Typ Techpriester.« »Schmächtige Statur? Blaue Augen?« »ja.« »Er heißt Malahite. War er an der Führung beteiligt?« 306
»Ja, bei mehreren Gelegenheiten haben sie ihn um Rat gefragt. Schließlich erreichten wir ein Plateau. Einen großen, erhöhten freien Platz, von zerklüfteten Felsen umgeben. Das Plateau war künstlich, mit glatten Steinplatten gefliest, die ...« Er versuchte mit Zeigefingern und Daumen eine Form zu zeigen, gab aber achselzuckend auf. »Mehr unmögliche Polygone?« Er lachte nervös. »Ja. Das Plateau war riesig. Wir warteten dort, die Männer außen um den Platz gruppiert, die Hauptgruppe und Fahrzeuge im Zentrum.« »Und dann?« »Wir warteten, scheinbar Stunden, aber das ließ sich nicht genau sagen, weil unsere Chronometer alle stehen geblieben waren. Dann gab es eine Art Streit. Lord Glaw stritt sich mit einigen der anderen. Ich betrachtete dies als Gelegenheit. Ich gab den Männern das Zeichen, sich bereitzumachen. Fast neunzig von uns, die gewillt waren, es darauf ankommen zu lassen und zu fliehen. Alle Augen waren auf den lauten Streit gerichtet. Der große Krieger - der Gott-Imperator helfe mir! schrie mittlerweile auch. Ich glaube, der Klang seiner Stimme gab für uns den Ausschlag. Wir schlichen uns in Zweier- und Dreiergruppen aus den hinteren Reihen an den Seiten des Plateaus davon und liefen den Weg zurück, den wir gekommen waren.« »Und sie haben Ihre Flucht entdeckt?« »Letzten Endes. Und haben uns verfolgt. Den Rest wissen Sie.« Ich wartete ein paar Augenblicke, bis er sich gefasst und seine Männer um sich versammelt hatte. Es waren noch ungefähr dreißig Gudruner übrig, alle verängstigt, und hinzu kamen drei oder vier Verwundete. Aemos tat für sie, was er konnte. Ich erhob mich und sprach zu allen. »Mit Ihrem Widerstand gegen Ihre Offiziere und Anführer haben Sie dem Imperator gedient. 307
Die Männer, die Sie hergebracht haben, sind imperiale Ketzer, und ihr Vorhaben ist kriminell. Der Zweck meines Hierseins besteht darin, sie aufzuhalten. Ich habe die Absicht, mich sofort an diese Arbeit zu begeben. Ich kann nicht für die Sicherheit derjenigen bürgen, die mir folgen, aber ich betrachte es als Ehrenbezeugung vor dem Imperator persönlich, dass Sie es tun. Er braucht jetzt unsere Dienste hier. Wenn Sie den Eid ernst nehmen, den Sie dem Imperium beim Eintritt in die Garde geleistet haben, werden Sie nicht zögern. Es gibt keine wichtigere Schlacht, in der Sie vielleicht Ihr Leben geben könnten.« Verstörte, verängstigte Gesichter starrten mich an. Es gab zustimmendes Gemurmel, aber dies waren junge, unerfahrene Männer, manche nicht mehr als Jungen, die ins tiefe Wasser des Wahnsinns geworfen worden waren. »Wappnen Sie sich und machen Sie sich klar, dass der Imperator bei dieser Sache mit Ihnen und für Sie ist. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass die Zukunft in unseren Händen liegt.« Mehr Zustimmung jetzt. Diese Männer waren keine Feiglinge. Sie brauchten nur ein Ziel und das Gefühl, für eine gute Sache zu kämpfen. Ich flüsterte Fischig etwas zu, und er trat sofort vor und stimmte das imperiale Credo an und das Lied der Zugehörigkeit, Hymnen, die jedes Kind im Imperium kannte. Die Gudruner fielen kraftvoll ein. Dadurch zentrierten sie ihre Entschlossenheit. Dennoch, die Donnerschläge hallten weiterhin über den Strand. Mit Betancores Hilfe nahm ich den Gefallenen Waffen und Ausrüstung ab. Es gab genug Waffen, um wirklich jeden Mann mit einem Lasergewehr auszurüsten. Außerdem konnten wir drei intakte Uniformen der Flottensicherheit zusammenstellen, indem wir die unbeschädigten Komponenten zusammenlegten. 308
Ich zog meinen klobigen Vakuum-Anzug aus und legte die polierte schwarze Kampfrüstung eines Soldaten der Flottensicherheit an. Midas versuchte es ebenfalls, aber er war zu schmächtig für die schwere Rüstung. Die Soldaten der Flottensicherheit waren durch die Bank große, kräftige Männer. Stattdessen zogen wir Fischig die Uniform an und wählten, um sie nicht zu vergeuden, einen stämmigen Gudruner aus Jeruss' Gruppe, einen Korporal namens Twane als Träger für die dritte Uniform aus. »Welchen Kom-Kanal benutzen die Gudruner?«, fragte ich Jeruss, während ich das Helmkom richtete. »Beta-phi-beta.« »Und von den Männern, die Sie auf dem Plateau zurückgelassen haben, wie viele würden sich wohl noch auf unsere Seite stellen?« »Alle Gudruner, würde ich sagen. Mit Sicherheit Sergeant Creddons Einheit.« »Ihre Aufgabe wird darin bestehen, sie für uns zu gewinnen und zu uns zu rufen, wenn wir reingehen. Ich gebe das Zeichen.« Er nickte. Wir ließen die Verwundeten am Strand, wo wir es ihnen so behaglich wie möglich einrichteten, und rückten dann ins dunkle Hochland vor. Wie Jeruss berichtet hatte, wurde es rasch dunkler und wärmer. Die schwarze Rüstung, die ich jetzt trug, hatte ein eingebautes Kühlsystem, aber das schien nicht zu helfen. Und die Verkehrtheit wirkte immer noch auf uns. An manchen Stellen war es schwierig, beim Laufen nicht zu stolpern. Wir erreichten den ersten Bogen, und Jeruss führte uns hindurch, obwohl wir dem Weg auch selbst ohne Schwierigkeiten hätten folgen können. Schritte und die Kettenspuren schwerer Fahrzeuge hatten tiefe Abdrücke 309
und Furchen im weichen, staubigen Boden hinterlassen. Wir marschierten ein paar Hügel empor, die mit dem düsteren Himmel darüber finster und wenig einladend aussahen. Es gab viele Bogenreihen, von denen sich manche überlappten. Wir verloren die Orientierung. Gelegentlich hatte es den Anschein, dass wir, wenn wir durch einen Bogen gingen, aus einem in einer ganz anderen Reihe wieder auftauchten. Die Spuren hörten niemals auf und waren nicht einmal unterbrochen, aber wir schienen zwischen einer Reihe von Bögen und einer anderen hin und her zu wechseln. Und die Winkel in den Bögen waren - wie Jeruss gesagt hatte geometrisch unkorrekt. »Ich glaube«, sagte Aemos leise zu mir, während wir weitergingen, »der Mangel an Symmetrie findet sich in jedem Detail und jeder Dimension.« »Was bedeutet?« »In den dreien, die wir sehen können, und in der vierten Zeit. Die Dimensionen sind gedehnt und verzerrt. Vielleicht zufällig. Vielleicht, um uns zu quälen. Vielleicht aus einem anderen Grund. Aber ich glaube, das ist die Ursache dafür, dass alles so verdreht und falsch ist.« Schließlich erreichten wir den Ort, den Jeruss das Plateau genannt hatte. Es war ein Hügel mit flacher Kuppe und einem Durchmesser von fast einem Kilometer, und er war mit achteckigen Steinplatten gefliest, die jeder Logik spotteten. Die Seiten fielen zum staubigen Boden ab, und der Platz war vollständig von zerklüfteten braunen Gipfeln und Klippen umgeben. Der Himmel über uns war dunkel und mit Sternen gesprenkelt. Auf unserer Seite des Plateaus saßen mehrere hundert Mann im Halbkreis und warteten. Ich konnte ihre Anspannung spüren. Mehr als die Hälfte von ihnen waren Gudruner. Die anderen waren Soldaten. Kleinere Gruppen standen in geordneten Reihen weiter zur Mitte des Plateaus hin und 310
begleiteten die beiden Truppentransporter der Flotte, in denen Gestalten saßen, und zwei leere Schweber. Kisten waren aus den Transportern gepackt und auf dem gefliesten Boden gestapelt worden. Auf der anderen Seite des Plateaus führte eine Reihe von Bögen in die umliegenden Felsen. Wir blieben in Deckung, beobachteten und warteten. Nach einer Zeitperiode unbestimmbarer Länge gab es Bewegung auf der anderen Seite, und Gestalten kamen aus den Bögen. Selbst auf diese Entfernung konnte ich erkennen, dass es sich um Dazzo und Malachite sowie eine Eskorte von vier Marinesoldaten handelte. Sie kamen forsch heraus und gaben der Hauptgruppe bei den Fahrzeugen Zeichen. Die Männer des Halbkreises erhoben sich. Andere Silhouetten traten jetzt durch die Bögen. Zuerst waren sie unmöglich zu definieren: graue, reflektierende Gestalten, die keine menschliche Form oder erkennbare Bewegung hatten. Ich holte mein Fernglas heraus, richtete es auf sie und justierte behutsam die Vergrößerung. Und sah zum ersten Mal die Saruthi. Es waren insgesamt neun, soweit ich es feststellen konnte. Sie erinnerten mich an Arachniden oder Krustentiere, aber kein Vergleich war tatsächlich passend. Von ihren flachen grauen Leibern gingen fünf tragende Glieder aus, die so mit Gelenken versehen waren, dass das Hauptgelenk des Mittelgliedes über den horizontalen Rumpf ragte. In der Anordnung der Gliedmaßen lag keine Symmetrie, auch nicht in der Art ihrer Bewegung. Ihr huschender Schritt war ungleichmäßig und ohne Rhythmus oder Wiederholung. Ihnen beim Gehen zuzusehen hatte schon etwas Bestürzendes. Jedes Glied endete in einem Zirkel aus poliertem Silber, einer Metallstelze, 311
in den Fingern am Ende jedes Glieds, was sie einen guten Meter über den Boden erhob. Die Metallenden der Stelzen erzeugten auf den harten Fliesen ein klickendes Klopfgeräusch, das ich trotz der Entfernung hören konnte. Ihre Köpfe waren abgeflachte Formen, die auf dicken, knochenlosen Säulen aus dem oberen Ende des Rumpfs ragten. Der Schädel war länglich und wies keine offensichtliche Mundöffnung und auch keine Augen auf, obwohl mehrere sich blähende Öffnungen wie Nüstern in ihren Schnauzen zu erkennen waren. Auch der Anordnung dieser Öffnungen lag keinerlei Symmetrie zugrunde, auch nicht der Schädelform, und der Hals wuchs nicht aus der Mitte des Rückens. Sie waren hassenswerte, widerliche Biester. Jede Kreatur hatte die doppelte Masse eines Menschen und glänzende graue Haut. Schreie und Laute der Beunruhigung ertönten von einigen der wartenden Männer. Mehrere drehten sich um und flohen heulend vom Plateau. Die neun Saruthi klickten sich aus dem Bogen ins Freie und schwärmten aus, bis sie einen Halbkreis vor Dazzo und Malahite bildeten. Ich sah Oberon Glaw, Gorgone Locke, Estrum und die monströse Gestalt Mandragores aus den Fahrzeugen steigen, um sich ihren Genossen anzuschließen. Ich bekenne, dass ich mittlerweile ebensolche Angst hatte wie jene bei mir. Ich habe Grauen gesehen, und das Grauen an sich schreckt mich nicht. Noch hatten diese Wesen etwas Grauenhaftes an sich. Sie waren fremdartig, ja, und als Puritaner war das für mich alarmierend. Aber objektiv gesehen waren sie beeindruckende, bemerkenswerte Kreaturen: selbstsicher, beinahe majestätisch. Meine Furcht entsprang einem tieferen Instinkt. Wie auch dieser Welt, die wir betreten hatten, haftete ihnen eine Verkehrtheit an, ihrer Gestalt, ihren Bewegungen, ihrer Konstruktion. 312
Jedes schlurfende Glied, jeder schwankende Kopf verriet ein unheiliges Wesen. Ich hätte bis dahin nicht geglaubt, wie beruhigend Symmetrie sein kann und wie bestürzend ihr Fehlen. Sie waren entstellte Wesen, denen jedes zivilisierte Gefühl für Eleganz, jedes menschliche Verständnis von Ästhetik fehlte. Ihre Leiber und Glieder waren so unregelmäßig, dass sie gar keinen Sinn mehr zu ergeben schienen, als fügten sich wie bei den Fliesen und Bögen die Winkel nicht korrekt zusammen. Und die Furcht überwältigte mich. Ich sah mich zu meinen Gefährten um und erblickte all das auch in ihren Gesichtern: Furcht, Abscheu, Unglaube. Aemos rettete mein Leben und meine geistige Gesundheit. Er, und er allein, starrte staunend auf die Saruthi, ein perplexes Lächeln intellektuellen Entzückens in dem alten Gesicht. »Äußerst bestürzend«, hörte ich ihn murmeln. Dieses schlichte Detail ließ mich lachen. Meine Zuversicht kehrte zurück, und mit ihr meine Entschlossenheit. Ich winkte Fischig und den Soldaten Twane zu mir und vergewisserte mich dann, dass Bequin, Midas und Jeruss sich ausreichend im Griff hatten, um das Kommando übernehmen zu können. Jeruss und Twane brauchten einiges gutes Zureden. Bequin war bereits vorbereitet und hatte ihre Waffen gezogen. Mandragores Anblick hatte ihre Willenskraft zusätzlich beflügelt. »Warten Sie auf mein Zeichen«, sagte ich zu Midas. Zu Fischig sagte ich: »Haben Sie ein Auge auf unseren Freund hier«, womit ich Twane meinte. Wir drei schlichen aus unserer Deckung und näherten uns dem Rand des Plateaus. Die Männer waren alle auf den Beinen und murmelten beunruhigt, während sie das Treffen beobachteten, das in der Mitte der Plattform stattfand. Offiziere der Flottensicherheit schalten 313
die Gudruner und hielten sie bei der Stange, aber es war ziemlich offensichtlich, dass auch ihnen unbehaglich war. Wir kamen den Hang empor und tauchten in die beobachtende Menge ein. Die Gudruner machten Platz – drei weitere Unterdrücker der Flottensicherheit mit heruntergeklapptem Visier und tief umgeschnallten Waffen. Wir kamen fast bis in die erste Reihe der Menge. Ein Soldat neben mir knurrte: »Dafür habe ich mich nicht verpflichtet!«, während er die zweihundert Meter entfernten Saruthi anstarrte. »Reißen Sie sich zusammen!«, schnauzte ich ihn an, und er sah mich scharf an. »Das ist nicht richtig!«, murmelte er. »Das werden wir sehen, oder?«, sagte ich, indem ich den Schaft meines Lasergewehrs tätschelte. »Wenn Estrum und diese anderen uns in einen Albtraum geführt haben, werden sie sehen, wie die Soldaten der Schlachtflotte Scarus sich wehren können!« Er nickte und machte seine eigene Waffe bereit. Twane, Fischig und ich schoben uns wieder vorwärts. Niemand schenkte uns auch nur die geringste Beachtung. Tatsächlich bewegten sich jetzt viele Soldaten nach vorne und flankierten die Fahrzeuge. Ich schaute wieder auf das Treffen in der Mitte. Oberon Glaw, dessen lange Gewänder von erhobenen Armen herabfielen, begrüßte die Saruthi mit Worten, die ich nicht hören konnte. Das dauerte eine ganze Weile an. Schließlich drehte er sich halb um und zeigte auf die wartenden Kisten. Seine Stimme erreichte mich. »Und in gutem Glauben haben wir die Ware wie vereinbart mitgebracht.« Locke ging von der Gruppe zurück. »Helfen Sie mir!«, befahl er den Marinesoldaten rings um sich. Ich trat sofort vor, und Fischig folgte meinem Beispiel. Eine Sekunde später waren 314
wir Teil eines Trupps von über einem Dutzend Soldaten und trugen die ersten Kisten vorwärts. Ich war direkt neben Locke, und meine schwarz behandschuhten Hände umklammerten den Tragegriff gleich neben seinen schwieligen Fäusten. Wir stellten die Kisten vor den Saruthi ab und zogen uns ein paar Schritte zurück. Locke blieb und öffnete einen Kistendeckel, als einer der Saruthi vorwärts klickte. Ich sah sie jetzt auch aus der Nähe. Das machte es nicht besser. Ihre graue Haut war mit gewundenen Poren bedeckt, und die Nüstern an den Schnauzen blähten sich und zogen sich zusammen. Ich sah, dass jedes ihrer Glieder in etwas endete, das auf eine schauderhafte Art einer grauhäutigen menschlichen Hand ähnelte und die Querstrebe einer silbernen Stelze hielt. Der Saruthi, der vorgetreten war, stellte zwei seiner Stelzen auf die Fliesen und griff mit den freien Fingern in die offene Kiste. Er tastete einen Moment darin herum und zog die Hand dann leer wieder heraus. Sein augenloser Schädel schwankte ein wenig auf dem Hals. Dann hob er seine freien Hände verschränkt in die Höhe, wie ein Mensch es vielleicht in einer Geste des Sieges tun würde. Die langen Gummigelenkfinger jeder Hand - und ich kann nicht mit Sicherheit sagen, wie viele Finger jede Hand hatte und ob die Anzahl an allen gleich war -drehten und wendeten sich umeinander und bildeten eine Form. Ein Gesicht. Ein menschliches Gesicht. Augen, eine Nase, ein breiter Mund. Perfekt, unmöglich, beängstigend. Das erhobene Abbild eines Gesichts schien uns zu be trachten. Dann bewegte sich der Mund. »Dein Ubereinkommen hast du mit Wahrheit gemacht, Wesen Mensch.« In der Menge hinter mir herrschte jetzt alarmierte Stille. Die Stimme war matt und tonlos, ohne jeden Ausdruck, 315
aber der Fingermund meisterte die Sprache mit schrecklicher Präzision. »Dann gilt der Handel?«, stammelte Glaw. Die Hände teilten sich, und das Gesicht verschwand Das Wesen hob seine Stelzen wieder auf und klickte zurück. Seine Artgenossen bewegten sich ebenfalls, weg von dem Bogen. Mehr Kreaturen kamen, mehr Saruthi. Es schienen vier zu sein, mit ganz ähnlichen Körperformen, aber sie waren aufgebläht und missgestaltet. Ihre runzelige Haut war weiß und kränklich und von Flecken gezeichnet, die wie eine Krankheit aussahen. Anstelle von Stelzen trugen sie schwere Metallhufen, die durch Drähte miteinander verbunden waren und wie Fußfesseln wirkten. Diese blassen, jämmerlichen Dinger - Sklaven der Saruthi, hatte ich keinen Zweifel ächzten bei jeder Bewegung und gaben ein widerliches Winseln von sich. Die wartenden Saruthi stießen sie mit den Spitzen ihrer Stelzen an, als sie an ihnen vorbei auf das Plateau polterten. Die vier Sklavenwesen trugen gemeinsam eine trapezförmige Truhe aus schwarzem Metall zwischen sich auf dem Rücken, die in unregelmäßigen Abständen mit warzenähnlichen Auswüchsen gespickt war. Sie blieben stehen und sanken auf den Bauch. Dazzo und Malahite traten vor und näherten sich den Truhenträgern. Ein Saruthi mit Stelzen klickte um sie herum und neben sie, streckte einen seiner langen Zirkel aus und drückte mit der Spitze auf einen der Auswüchse. Die Truhe öffnete sich an unsichtbaren Scharnieren wie die Blätter einer missgestalteten Blume. Ich glaube, ich hatte damit gerechnet, dass Licht herausscheinen oder auf andere Art Macht zur Schau gestellt würde. Nichts dergleichen geschah. Malahite trat zwischen die knienden Glieder der Sklavenwesen und streckte die Hand aus, doch Dazzo stieß ihn mit einem Fluch und 316
einem psionischen Schlag weg, der ihn auf den Boden schleuderte. Die Saruthi reagierten darauf mit Stelzenklicken auf der Stelle. Nun griff Dazzo in die Truhe. Er holte ein winziges Rechteck heraus, nicht größer als das Magazin eines Boltgewehrs, und starrte es an, während er es in seinen zitternden Händen hielt. Ein Buch. Altes Pergament in einem Umschlag aus schwarzem Saruthimetall, mit einer Haspe geschlossen. »Nun, Ekklesiarch?«, knurrte Glaw. »Wir brauchen die Bestätigung.« Dazzo öffnete die Haspe und schlug die erste Seite auf. »Die eigentliche Angelegenheit gehört uns«, stammelte er und sank auf die Knie. Das Nekroteuch. Sie hatten das Nekroteuch. Jetzt oder nie, dachte ich.
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ZWANZIG Mein Verbündeter, Verwirrung. Mandragores Zorn. Gegen Oberon.
ch brüllte: I»Passt auf! Sie greifen an!«, und warf mich auf zwei Soldaten neben mir. Als wir in einem unbeholfenen strampelnden Haufen zu Boden gingen, gab ich obendrein noch einen Schuss mit dem Lasergewehr ab. Die Anspannung der Menschen, die sich um das Plateau versammelt hatten, war extrem. Die Saruthi hatten ihre Vorrichtungen und die Umgebung absichtlich so eingesetzt, um die Spannung zu fördern, vielleicht in der Absicht, die Menschen, mit denen sie es zu tun bekamen, zu schwächen und einzuschüchtern. Falls das so war, hatten sie ihre Sache zu gut gemacht. Gudruner und Soldaten gleichermaßen standen kurz vor dem Durchdrehen, da Geist und Seele durch diesen Ort und ihre Erlebnisse erschüttert worden waren. Ein Warnruf und ein paar Schüsse, mehr war nicht nötig, um die Anspannung explodieren zu lassen. Überall um mich brüllten plötzlich Männer und knisterten Waffen. Die Glaw und Estrum immer noch treu ergebenen Soldaten gingen von einem Angriff auf ihre hochgeborenen Anführer aus, rückten vor und schossen auf die Saruthi. Andere zauderten verwirrt und setzten sich gegen jene um sie herum zur Wehr. 318
Die Gudruner am Rand des Plateaus richteten die Gewehre auf ihre Unterdrücker oder schossen auf die Fahrzeuge. Vorn Rande des Plateaus führten Midas und Bequin unsere Nachhut im Sturmangriff mit blitzenden Waffen heran. Binnen einer Sekunde war die Luft erfüllt von Gebrüll und Geschrei, Gewehrfeuer und Laserstrahlen. Totale Konfusion herrschte. Ich konnte Jeruss im Korn hören, wie er seine Kameraden rief und sie aufforderte, sich gegen das Flottenpersonal zu wenden. Im Kanal der Flottensicherheit überschlugen sich Befehle und Gegenbefehle, Wutgeschrei und gebrüllte Flüche. Ich hörte Oberon Glaw lautstark nach Ordnung rufen und hinter allem das jaulende Heulen von Mandragore. »Fischig! Twane! Sorgen Sie für Verwirrung! Gehen Sie zum Ziel!« Wie ich getarnt, machten sich die beiden auf den Vormarsch. Das Chaos war zu dicht und wogend, um verschiedene Seiten ausmachen zu können. Gardisten kämpften gegen Flottensoldaten oder gegeneinander, und Schüsse zuckten wild in alle Richtungen. Ich schoss einen Soldat nieder, der an mir vorbeilief, und dann noch einen, als der sich daraufhin bestürzt zu mir umdrehte. Hinter ihnen sah ich die hochgewachsene Gestalt des desertierten Kapitäns Estrum, der mich durch den mittlerweile entstandenen Rauch ungläubig anstarrte. Seine Augen schienen ihm mehr denn je aus dem Kopf zu quellen. »Was zum Teufel machen Sie da, Soldat?«, blaffte er, wobei sein starker Adamsapfel heftig auf und ab sprang. »Die Weihen der heiligen Inquisition ausführen«, sagte ich und schoss ihm durch den Kopf. Die Saruthi befanden sich mittlerweile in einem Zustand großer Aufregung. Ich kann nicht wissen, welche Gefühle in ihnen tobten, wenn sie überhaupt welche hatten. 319
Aber sie reagierten, als seien sie entsetzt über die Wendung der Ereignisse, bestürzt und erschüttert. Laserstrahlen von Soldaten, die davon überzeugt waren, die Saruthi seien die Angreifer, trafen zwei von ihnen. Einer platzte auf und brach in einer sich rasch ausweitenden Lache grauen Seims und Knorpeln zusammen. Der andere verlor ein Glied und schleppte sich mit seinen verbliebenen Stelzen zu den Bögen. Über den Tumult der Schießerei und Stimmen fingen die Saruthi an zu heulen. Ob dies eine Drohung war, eine Warnung, ein Ausdruck der Bestürzung oder sogar ein Rückzugsbefehl, konnte ich nicht sagen. Sie klickten wie verrückt, und ihr fremdartiges Kreischen ließ die Luft erbeben. Zwei klickten plötzlich vorwärts und auf die verblüffte Soldateneskorte zu. Elektrisch blaue Entladungen umknisterten die schwankenden Köpfe der Saruthi, dann spien sie Strahlen eisig heller Energie auf ihre Angreifer. Zwei Soldaten verdampften, da ihre Körper einfach in sengenden Lichtblitzen verglühten. Ich erblickte Mandragore. Die Bestie hatte bereits einen Soldaten getötet, um so das Buschfeuer einzudämmen, doch nun, da die Saruthi auf sie geschossen hatten, schien das die Soldaten zu bestätigen, die daraufhin ihre Bemühungen verdoppelten. Ein Saruthi-Strahl traf Mandragores Arm, und der Chaos Marine schien daraufhin vor Wut zu explodieren. Er griff die Saruthi selbst an, indem er eine gewaltige Kettenaxt schwang. Ich hoffte, sie würden ihn töten. Ich schob mich durch ein Gedränge aus Leibern und kam auf der anderen Seite der geparkten Fahrzeuge heraus. Vor mir sah ich Dazzo, der immer noch wie in Trance bei den grässlich weißen Sklavenwesen kniete. Die unheilige Trophäe befand sich in seinen Händen. Ich rannte zu ihm. 320
Fischig, der seinen Helm verloren hatte, tauchte neben mir auf. Seine geborgte schwarze Rüstung war blutverschmiert. »Twane!«, blaffte er über die Schulter, und der getarnte Gudruner tauchte auf und kam aus der Hüfte schießend hinter uns hergelaufen. Mittlerweile explodierten Granaten inmitten der sinnlosen Kämpfe. Leichen und Splitter von achteckigen Fliesen wurden in die Luft geschleudert. Einer der Truppentransporter stand in Flammen. Wir drei waren der »eigentlichen Angelegenheit« definitiv am nächsten. Ein Saruthi kam angestürmt und fegte die verängstigten Sklavenwesen mit seinen Stelzen beiseite, da es zu Dazzo wollte. Mit einem gewaltigen Stelzenhieb schlug er den Knienden nieder, so dass Dazzo das Nekroteuch aus der Hand fiel. Malahite, der auf Händen und Knien neben den Sklavenwesen kauerte, stieß einen Schrei aus und hechtete dem Buch hinterher. Der Saruthi fuhr herum, um ihn daran zu hindern, als Fischig und Twane ihn mit Laserschüssen zerfetzten. Klebrige graue Flüssigkeit klatschte über die schachbrettartigen Fliesen. Ein anderer Saruthi, um dessen Schädel elektrische Energie knisterte, griff die Mörder seines Artgenossen an. Twane zuckte und explodierte in einem Regen aus Materieklümpchen. Neben ihm wurde Fischig von der blendenden Explosion umgeworfen, seine Rüstung aufgerissen. Mir blieb keine Zeit, ihm zu helfen. Das Buch an sich gedrückt, rannte Malahite bereits über das Plateau und weg von dem brutalen Scharmützel. Ich trennte ihm mit einem Schuss das linke Bein unter dem Knie ab, und er fiel aufs Gesicht. Als ich ihn erreichte, kroch er blutverschmiert vorwärts und streckte die Hand nach dem auf dem Boden liegenden Buch aus. 321
»Lassen Sie das!«, schnauzte ich, indem ich meinen Helm abnahm und meine Waffe einhändig auf ihn richtete. Er sah mein Gesicht und fluchte. Ich kniete nieder und hob das kleine Buch auf. Noch durch die Panzerhandschuhe konnte ich dessen Hitze spüren. Eine Sekunde, eine lange, hypnotisierte Sekunde lang war das Buch alles, was ich kannte. Ich verstand, warum Dazzo so lange auf den Knien geblieben war, nachdem er es ergriffen hatte. Der Inhalt des Buches, diese alte, überlieferte Kunde, war irgendwie lebendig, regte sich, zappelte und rief mich. Rief mich bei meinem Namen. Es kannte mich. Es winkte mir zu, flüsterte mir zu, es zu öffnen und seine Wunder zu erleben. Mir kam nicht einmal der Gedanke, mich zu widersetzen. Was es mir zeigte, war so staunenswert, so erhaben, so wunderschön ... die Sterne, und hinter den Sternen die Mechanismen der Realität, das komplizierte und ach so perfekt funktionierende Wirken einer transzendenten Naturkraft, die wir fehlgeleitet und abwertend Chaos nannten. Ich öffnete die drahtähnliche Haspe, die das Buch geschlossen hielt ... Abrupt brach eine rohe, widerliche psionische Kraft in meinen Geist ein und brach den Bann. Ich wandte mich ab, um den Blick von dem geöffneten Buch abzuwenden. Diese halbe Drehung reichte gerade aus, um mir das Leben zu retten. Ein monumentaler Hieb auf die Schulter fällte mich. Als ich zu Boden ging, entfiel das Buch meiner sehnenden Hand. Die Fliesen unter mir schwammen von Blut. Meinem Blut. Ich wälzte mich herum, als der nächste Hieb kam. Die kreischenden Zähne der Kettenaxt verfehlten mich um Haaresbreite und zerschmetterten die blutigen Fliesen. Mandragore, das uneheliche Kind des Imperators. 322
Ich kroch in blinder Panik rückwärts. Der stinkende ChaosKrieger war direkt vor mir, seine grelle Rüstung war mit menschlichem Blut und dem Seim der Saruthi bespritzt. Meine benommene halbe Drehung im letzten Moment hatte seinem ersten Hieb die Wirkung genommen, aber dennoch war die Rückenplatte meiner Flottenrüstung zerfetzt. Der linke Schulterschutz war vollkommen abgerissen. Die Wunde in der Schulter klaffte tief. Blut spritzte durch zerfetztes Fleisch und Keramit und lief meinen linken Arm hinunter. Als ich rückwärts kroch, rutschten meine Hände auf den blutigen Achtecken aus. Ich schlug mit meinem Geist zu. Ich war seinen furchterregenden psionischen Fähigkeiten nicht gewachsen, aber es reichte, um ihn aus dem Rhythmus zu bringen. Die kreischende Kettenklinge der Axt sauste über meinen sich duckenden Kopf hinweg. Mein gefallenes Gewehr war außer Reichweite, und ich bezweifelte ohnehin, dass ich dem Ungeheuer damit auch nur einen Kratzer hätte zufügen können. Sein bellendes Gesicht, dessen aufgenähte Haut sich um die klaffenden Kiefer des Schädels spannte - mehr sah ich nicht. Mein linker Arm war taub und nutzlos. Ich stieß mich auf die Beine und zog mein Schwert aus dem Koppel. Es ist eine erlesene Waffe der alten Art. Es hat keine stoffliche Klinge wie andere, krudere Modelle, die ich gesehen habe. Es ist ein Heft, zwanzig Zentimeter lang mit Intarsien und Silberdraht umwickelt, das eine Fusionszelle umschließt, die eine einen Meter lange Klinge aus kohärentem Licht erzeugt. Der Profos von Inx hat sie für mich persönlich gesegnet, um »unseren Bruder Eisenhorn immer vor der Brut der Verdammnis zu beschützen«. Jetzt betete ich, dass er seinen Atem nicht vergeudet hatte. 323
Ich aktivierte die Klinge und lenkte damit den nächsten Axthieb ab. Funken und Metallsplitter flogen, und die gewaltige Kraft der Bestie hätte mir die Waffe beinahe aus der Hand geschlagen. Ich sprang ein, zwei Schritte vor dem nächsten pfeifenden Hieb zurück. Mir schwamm der Kopf. Lag es am Blutverlust, oder waren das die Nachwirkungen des verführerischen Buchs? Mandragore war jetzt weißglühend vor Wut. Ich erwies mich als ärgerlich schwer zu töten - für einen Normalsterblichen. Ich hatte das schreckliche Gefühl, dass es nicht so bleiben würde. Er stürmte wieder auf mich los, ragte plötzlich vor mir auf, und es gelang mir, die Wucht seines Hiebs mit der Kettenaxt abzulenken. Doch er riss sofort das Ende des langen Schafts der Waffe herum, traf damit meine Brust und schleuderte mich durch die Luft. Ich verlor tatsächlich den Boden unter den Füßen und flog ein paar Meter. Ich landete schwer auf meiner verletzten Schulter. Die Schmerzen lähmten mich für eine Sekunde. Mehr brauchte er nicht. Mit zwei Schritten über die blutverschmierten Fliesen hatte er mich erreicht, und die Axt hob sich in die Luft, während sein Heulen schriller wurde. Mit einer rudernden Bewegung trat ich das Nekroteuch zu ihm. Es traf die Spitze eines großen Stiefels. »Vergiss nicht, weswegen du gekommen bist, du Abscheulichkeit!«, keuchte ich. Mandragore, Sohn Fulgrims, Anhänger Slaaneshs, Kämpe der Emperor's Children, Töter der Lebenden, Schänder der Toten, Hüter der Geheimnisse, stutzte. Mit einem hustenden Lachen bückte er sich nach dem Buch, ohne mich aus seinen seelenlosen Augen zu lassen. »Dein Rat ist gut, Inquisitor, für ... einen ...« 324
Seine Finger hatten sich um das Nekroteuch geschlossen, und in den metallbeschlagenen Fingern wirkte es winzig. Seine Stimme verlor sich. Der Ausdruck des Triumphs wich aus seinem scheußlichen Gesicht, und die Wut verblasste. Der Blutdurst erlosch. Seine Hautmaske hing schlaff an den Nähten. Das Licht in den blutunterlaufenen Augen wurde matter. Das Nekroteuch tauchte in jede Faser des verderbten Wesens ein und raubte ihm jedes Gefühl für die Außenwelt. Ich erhob mich schwankend, vergewisserte mich noch einmal meines Griffs um das Energieschwert und trennte ihm den Kopf von den Schultern. Bevor der sich drehende Schädel auch nur den Boden erreicht hatte, entzündete er sich und tropfte weißglühendes flüssiges Feuer auf die Fliesen. Der Feuerball schlug auf, rollte ein Stück und verzehrte sich selbst in einem heftigen, schmutzigen Feuer, das sehr schnell nur noch schwarze Knochenscherben in einem schwelenden schwarzen Brandfleck zurückließ. Der Leib blieb stehen und brannte dabei von innen, wobei widerlich grüne Flammenzungen aus der Halsöffnung loderten. Eine Säule aus schmutzigem schwarzem Rauch erhob sich in die unbewegte Luft. Die grellen Gewänder und der Umhang fingen rasch Feuer, und dichte Flammen hüllten die kopflose Metallruine ein. Im letzten Augenblick schlug ich Mandragore die Hand mit der leuchtenden Schwertklinge ab, und das Nekroteuch darin entfiel ihr und den Flammen. Ich hatte das Gefühl, als flehe es mich an, es wieder aufzuheben und mich wieder in die Wunder zu vertiefen, die es enthielt. Welche Wunder. Ich bückte mich, hin- und hergerissen. Das Ding musste eigentlich zerstört werden, aber es enthielt solche Geheimnisse! Konnten nicht die Inquisitoren und das Imperium als Ganzes von seinen absoluten 325
Wahrheiten profitieren? Hatte ich überhaupt das Recht, etwas so Kostbares zu zerstören? Der puritanische Teil in mir hatte keinen Zweifel. Aber ein anderer Teil verabscheute die Vorstellung, es zu vergeuden. Wissen ist doch Wissen, oder? Böses rührt daher, wie Wissen benutzt wird. Und welches Wissen hier war ... Vielleicht konnte ich eine Entscheidung treffen, wenn ich ein, zwei Seiten las. Ich schüttelte den Kopf, um die heimtückischen Gedanken abzuschütteln. Der Kampflärm drang wieder an mein Bewusstsein. Ich schaute wieder auf das Plateau, an Mandragores aufrechten, brennenden Rumpf und den am Boden liegenden Leichnam Malahites vorbei. Es wurde nur noch an wenigen Stellen gekämpft, und die große geflieste Plattform war mit Toten und Trümmern übersät. Beide Transporter standen in Flammen. Die Saruthi waren verschwunden und hatten sogar ihre Leichen mitgenommen. Ich hatte den Eindruck, dass die Gudruner die Soldaten der Flottensicherheit durch ihre schiere Anzahl überwältigt hatten. Wenige Gestalten standen noch, und ich konnte keinen meiner Gefährten sehen. Oberon Glaw kam auf mich zu, den hochherrschaftlichen Umhang zerrissen, das Gesicht blutig und eine Laserpistole in der rechten Hand. »Lassen Sie die Waffe fallen, Glaw. Es ist vorbei.« »Für Sie, ja.« Er hob die Waffe. Ein Munitionskanister auf einem der brennenden Transporter entzündete sich und sprengte das gepanzerte Fahrzeug in einer erstaunlichen Explosion auseinander. Bruchstücke von Panzerplatten und Ketten sausten wie Geschosse durch die Luft. Ein Stück vom Getriebe durchbohrte Lord Glaws Hinterkopf. Er fiel lautlos zu Boden. Ich hob ein Stück rauchende Panzerung auf und schaufelte das Nekroteuch damit auf. Ich würde mir 326
keine der sanften Verlockungen mehr anhören. Ich ließ das Buch von der improvisierten Schaufel in Mandragores aufrechten Leichnam gleiten, so dass es durch den offenen Hals der brennenden Rüstung in den Glutofen des Rumpfes fiel. Die Flammen wurden rot, dann noch dunkler. Die Hitze wurde intensiver. Etwas ohne Mund schrie. Ich humpelte von dem Scheiterhaufen weg. Malahite lebte noch und war bei Bewusstsein. Er rief mit heiserer Stimme: »Locke, bitte! Bitte!« Ein Stück entfernt hob einer der Flottenschweber ab. Gorgone Locke saß an den Kontrollen, Dazzo war auf dem Sitz neben ihm zusammengebrochen. Augenblicke später war der beschleunigende Schweber über den zerklüfteten Gipfeln verschwunden und auf dem Weg zu dem endlosen Strand. Midas, Bequin, Aemos und Lowink hatten die Tortur und die Schlacht überlebt, obwohl alle kleinere Verletzungen erlitten hatten. Zwei Dutzend Gudruner hatten ebenfalls überlebt, darunter auch Jeruss. Aemos wollte sich meine Wunde ansehen, aber ich hatte sie abgebunden, um die Blutung zu stillen, und wollte keine Zeit mehr verlieren. »Ich glaube, es wäre klug, von hier zu verschwinden«, sagte ich. Fischig lag auf einer improvisierten Bahre. Die SaruthiWaffe, der Twane zum Opfer gefallen war, hatte ihn einen Arm und die Hälfte seines Gesichts gekostet. Gnädigerweise war er bewusstlos. Zwei Gudruner trugen ihn. »Es schmerzt mich, das zu sagen, aber den nehmen wir auch mit«, sagte ich zu Midas und Jeruss, indem ich auf den zusammengebrochenen Malahite zeigte. »Sind Sie sicher?«, fragte Betancore. 327
»Die Inquisition wird seinen Verstand plündern wollen. « Unsere ramponierte Gruppe verließ das dunkle Hochland und kehrte zum dunstigen Strand zurück. Die Donnerschläge waren lauter geworden und kamen öfter, und der Himmel verdunkelte sich. »Es ist so«, sagte Aemos ominös, »als würde dieser Ort seinem Ende entgegengehen.« »Wir wollen nicht mehr hier sein, wenn das passiert«, sagte ich. Vom Strand aus konnten wir sehen, dass die beiden imperialen Fregatten und der Händler nicht mehr da waren. Ein Wind, der viel Ammoniak mit sich brachte, frischte auf. Die Vakuum-Anzüge von Midas und Lowink waren noch völlig intakt, und sie eilten voraus, um das Kanonenboot zu holen. Mein Kom knisterte. Plötzlich ertönte Maxillas Stimme. »Eisenhorn? Um des Imperators willen, sind Sie da? Drei Schiffe sind gerade an mir vorbeigeflogen! Die Bedingungen verschlechtern sich. Ich kann nicht mehr sehr viel länger hier bleiben. Antworten Sie! Bitte antworten Sie!« »Maxilla! Hier spricht Eisenhorn! Können Sie mich hören? Sie müssen kommen und uns abholen. Wir sind verwundet ... Fischig und mehrere andere. Diese ganze Welt bricht vielleicht zusammen. Wiederhole: Sie müssen die Essene zu uns fliegen und uns abholen!« Einen Moment oder zwei lang kam nur Knistern. Dann seine Antwort. »Wie Sie befehlen, Gregor, aber es wird nicht leicht. Bitte wiederholen: Was sagten Sie über Fischig?« »Er ist verwundet, Maxilla! Kommen Sie und holen Sie uns!« »Beeilen Sie sich!«, rief Bequin über meine Schulter. »Wir wollen nicht länger hier bleiben!« 328
Mehr Knistern. »Sagen Sie Alizebeth, ich bin ganz ihrer Ansicht! Ha!« Die Echos, Verzögerungen und Verlagerungen holten sich selbst ein. Die Verkehrtheit korrigierte sich, und das, dachte ich mit einer gewissen Ironie, machte die Lage für uns nicht besser.
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EINUNDZWANZIG Eine Versammlung Hochgestellter. Lord Rorken überlegt. Malahites Geheimnisse.
wei Tage später, an Bord der Essene und vor den Z trügerischen Weiten des Systems KCX-1288 vor Anker, trafen wir uns mit der imperialen Einsatzflotte, die von Gudrun aus hierher gestartet war. Wir hatten die Flucht von der Welt des Plateaus in weniger als zwei Stunden geschafft. Wie von Aemos vorausgesagt, schien sich der Ort um uns aufzulösen, als sei das scheinbar zeitlose Gefilde des Meeres, des Strandes und des Hochlands nur ein geniales Konstrukt gewesen, ein von den Saruthi geschaffener Raum für das Treffen mit ihren menschlichen »Gästen«. Während wir mit dem Kanonenboot zur wartenden Essene zurückflogen, war das dunstige Licht matter geworden, und der Atmosphärendruck sank. Wir wurden von Turbulenzen belästigt, und die natürliche Gravitation machte ihren Einfluss wieder spürbar. Die unmögliche Kaverne hatte mit ihrer Auflösung begonnen. Als Maxilla die Essene schließlich so schnell, wie er sich traute, durch den dunklen Korridor der Bögen flog, war der innerste Raum, in dem das Treffen mit den Saruthi stattgefunden hatte, nur noch ein dunkler Mahlstrom aus Ammoniak und Arsendämpfen. Unsere Chronometer und Horologien hatten wieder richtig funktioniert. 330
Wir ließen den geborstenen Planeten hinter uns, stellten uns den Gravitationsstürmen und flogen in die Randbereiche des Systems. Vierzig Minuten nach Verlassen der Kaverne konnten unsere Sensoren keine Spur mehr von der »Wunde« entdecken, als sei sie kollabiert oder überhaupt niemals dort gewesen. Wie die Saruthi kamen und gingen, konnte ich mir nicht vorstellen, und Aemos war keine große Hilfe. Wir hatten keine Anzeichen für andere Schiffe oder andere Austrittspunkte aus der Planetenkruste entdeckt. »Leben Sie im Inneren des Planeten?«, fragte ich Aemos, während wir auf der Aussichtsplattform standen und uns den hinter uns zurückweichenden Stern durch getönte Bullaugen ansahen. »Ich glaube nicht. Die Technologien übersteigen mein Begriffsvermögen, aber ich habe den Eindruck, dass sie durch diese Bögen von einer anderen Welt auf das Plateau gekommen sein könnten, und zwar an einen Ort, den sie speziell für diese Begegnung konstruiert haben.« Solch eine Vorstellung überstieg mein Begriffsvermögen. Aemos redete von interstellarer Teleportation. Außerhalb des Systems hatten wir kaum Spuren der Ketzerflotte entdeckt. Soweit Maxilla dem Warp- und Antriebs-Kielwasser entnehmen konnte, waren die drei Schiffe, die zweifellos Locke und Dazzo an Bord hatten, zu ihrer Begleitflotte zurückgekehrt und sofort ins Immaterium eingetaucht. Andere Warp-Indikatoren informierten uns, dass die sich nähernde Schlachtflotte keine zwei Tage mehr entfernt war. Wir gingen vor Gravanker, leckten unsere Wunden und warteten. Dreißig Wochen zuvor, als wir Damask verlassen hatten, hatte ich mein Hilfe-Ersuchen astropathisch über Lowink nach Gudrun übermittelt. Ich hatte die Situation 331
so ausführlich wie möglich dargestellt und gehofft, der Marschall werde eine Flotte schicken, um mich militärisch zu unterstützen. Ich verlangte nicht, wie es Leute wie Commodus Voke taten. Ich war sicher, Dringlichkeit und Bedeutung meiner Nachricht würden für sich sprechen. Elf Schiffe in Schlachtformation tauchten vor uns aus dem Immaterium auf, sechs Fregatten in der Vorhut mit Jagdschutz in Formation. Hinter dieser Speerspitze befanden sich die Schlachtschiffe Vulpecula und St. Scythus, jedes dreimal so groß wie die Fregatten und ein waffenstarrender Oger von einem Schiff. Die Nachhut bildete ein ominöses Kreuzer-Trio, schwarze Schiffe der Inquisition. Dies war keine militärische Expedition. Dies war eine Einsatzflotte der Inquisition. Wir wechselten Begrüßungen, identifizierten uns und wurden von einer Ehrengarde aus Jägern in die Mitte der Flotte eskortiert. Fähren setzten unsere Verwundeten, darunter auch der immer noch bewusstlose Fischig, und den Gefangenen Malahite zur medizinischen Versorgung an Bord der St. Scythus über. Eine Stunde später wechselte ich auf Ersuchen Admiral Spatians ebenfalls mit einer Fähre auf das Schlachtschiff. Man erwartete meinen Bericht. Mein linker Arm war verbunden und befand sich fest in einer chirurgischen Schlinge. Ich trug eine schwarze Uniform und meinen geknöpften Ledermantel. Meine Rosette haftete am Kragen. Aemos begleitete mich, in nüchterne grüne Gewänder gehüllt. Im hallenden Gewölbe des Andockschleusenraums der St. Scythus warteten Prokurator Olm Madorthene und ein Sturmtrupp der Flotte, um uns in Empfang zu nehmen. Madorthene trug die beeindruckende weiße Gala-Uniform, in der ich ihn zuerst gesehen hatte, und die blaue Rüstung 332
der Soldaten war reichlich mit Goldlitzen und Festschmuck verziert. Madorthene begrüßte mich mit einem Salut, und wir gingen als Gruppe zu den Aufzügen, die uns zu den Kommandoebenen des Schiffes bringen würden. »Was machen die Aufstände?«, fragte ich. »Die Lage ist unter Kontrolle, Inquisitor. Wir haben gehört, dass der Marschall das helicanische Schisma für beendet und beseitigt erklärt hat, obwohl auf Thracian immer noch Befriedungskriege toben.« »Verluste?« »Beträchtliche. Hauptsächlich unter der Bevölkerung und den Einrichtungen der betroffenen Welten, obwohl einige Einheiten der Flotte und der Garde ebenfalls gelitten haben. Lord Glaws Verrat ist das Imperium teuer zu stehen gekommen.« »Lord Glaws Verrat hat ihn selbst das Leben gekostet. Sein Leichnam verfault auf einer namenlosen Welt im System hinter uns.« Er nickte. »Ihr Meister wird zufrieden sein.« Lordinquisitor Phlebas Alessandro Rorken saß auf einem Marmorthron am anderen Ende eines kapellenartigen Audienzsaals zwei Decks unter der Hauptbrücke der St. Scythus. Ich war ihm zuvor zwei Mal begegnet, fühlte mich deswegen aber nicht selbstsicherer. Er trug schlichte rote Gewänder über schwarzer Kleidung, Handschuhe und keinen anderen Schmuck außer einem goldenen Amtssiegelring. Die asketische Schlichtheit der Kleidung schien seine Autorität zu unterstreichen. Sein aristokratischer Schädel war bis auf einen gegabelten Kinnbart rasiert. In den Augen, tiefliegend und weise, funkelte Intelligenz. Er war von seinem Gefolge umgeben. Zehn inquisitorische 333
Novizen, im Range eines Verhörers oder niedriger, hielten Banner in die Höhe, geheiligte Verbrennungswaffen, Schatullen mit Schriften und Tafeln, funkelnde Folterwerkzeuge auf roten Satinkissen und geöffnete Gesangbücher. Flankiert wurden sie von vier Leibwächtern in roten Umhängen mit beidhändig zu führenden Breitschwertern, die sie steif aufrecht vor dem Gesicht in die Höhe hielten. Die Rüstung war schmuckvoll, und die Vollvisiere waren in Form und Bemalung vier apostolischen Heiligen nachempfunden: Olios, Jerido, Manezzer und Kadmon. Die Masken waren flach und ausdruckslos und fast naiv, von Darstellungen alter Manuskripte genau übernommen. Eine Schar dunkel berobte Gelehrte wartete in der Nähe, und ein Dutzend Cherubim-Servitoren in der Gestalt untersetzter Dreijähriger mit goldenen Locken und den gehässigen Gesichtern von Gargylen kreisten auf antigravunterstützten goldenen Schwingen herum und schalten und spotteten. »Treten Sie näher, Eisenhorn«, sagte Lord Rorken, dessen leise Stimme mühelos durch den Saal drang. »Treten Sie alle näher.« Bei diesen Worten traten andere Gestalten aus Vorzimmern an den Seiten des Saals und nahmen ihre Plätze ein. Einer war Admiral Spatian, ein alter, skelettdürrer Riese in weißer Gala-Uniform in Begleitung mehrerer seiner höchsten Offiziere. Die anderen waren Inquisitoren. Titus Endor in seinem kastanienfarbenen Mantel, ohne Begleitung bis auf eine gebeugte Gelehrte. Er bedachte mich mit einem aufmunternden Nicken, als ich vorbeiging. Commodus Voke, runzlig und schlurfend, wurde von einem hochgewachsenen Mann in Schwarz auf seinen Platz geholfen. Der Kopf des Mannes war kahl, abgesehen von einigen wenigen kränklich aussehenden Büscheln. Kopfhaut, Hals und Gesicht waren voller Narbengewebe von Wunden und Operationen. Es war Heldane. Seine Begegnung mit dem Carnodon hatte sein 334
Aussehen nicht verbessert. Wie Endor nickte mir auch Voke zu, aber in dem Nicken lag nichts Freundschaftliches. Neben ihm Inquisitor Schongard, untersetzt und vierschrötig, das Gesicht bis auf die geröteten Augen vollständig unter der schwarzen Metallmaske verborgen. Er nahm seinen Platz ein und wurde von zwei schlanken, geschmeidigen Frauen flankiert, ihrem Aussehen nach zu urteilen Mitglieder eines Todeskults, beide beinahe nackt bis auf extreme Körperkunst, Stachelhauben und Harnischen voller Klingen. Schongard gegenüber saß Konrad Molitor, ein ultraradikales Mitglied des Ordos, dem ich wenig Liebe oder Respekt entgegenbrachte. Molitor war ein körperlich fitter, athletischer Mann, der von Kopf bis Fuß in einer hautengen schwarzgelb karierten Rüstung steckte. Um den Rumpf hatte er einen Kürass aus poliertem Silber geschnallt. Sein schwarzes Haar war kurz und in Form einer Tonsur geschnitten, und er verströmte die Aura eines Kriegermönchs aus dem Ersten Kreuzzug. Hinter ihm standen drei berobte und Kapuze tragende Akoluthen. Einer trug Molitors schmuckvolles Energieschwert, der zweite einen silbernen Kelch und eine ebensolche Patene, der dritte ein Reliquienkästchen und ein dampfendes Weihrauchfässchen. Molitors Schüler waren hellgelb gekleidet, und sein Blick wich keinen Moment von mir. Der Letzte, der seinen Platz einnahm, und zwar zu Lord Rorkens Rechter, war ein Riese in schwarzer Servo-Rüstung, ein Space Marine vom Orden der Todeswacht, der hingebungsvollen Einheit des Ordo Xenos. Die Todeswacht war einer der Marine-Orden, die ausschließlich für die Inquisition gegründet worden waren, und sogar nach den Maßstäben der gesegneten Adeptus Astartes obskur und geheim. Bei meiner Annäherung setzte der Krieger den Helm ab und auf sein gerüstetes Knie, wodurch er ein blasses Gesicht mit eckigen Kiefern und kurzen grauen Haaren 335
enthüllte. Der dünne Mund war zu einem grimmigen Strich verzogen. Servitoren brachten mir einen Stuhl, und ich nahm meinen Platz gegenüber dem Lordinquisitor ein. Aemos blieb, zur Abwechslung einmal stumm, an meiner Seite stehen. »Wir haben Ihren Vorbericht gelesen, Bruder Eisenhorn. Sehr abenteuerlich. Und von großer Bedeutung.« Lord Rorken ließ sich das letzte Wort förmlich auf der Zunge zergehen. »Sie haben Glaws Ketzerflotte zu dieser vom Imperator verlassenen Welt verfolgt, in der sicheren Annahme, dass sie mit einer Xenos-Art Handel treiben wollten. Dieser Handel, so schrieben Sie, drehe sich um einen Gegenstand, dessen bloße Natur die Sicherheit und Heiligkeit unserer Gesellschaft bedrohen würde.« »Das war eine korrekte Einschätzung, Bruder Lord.« »Wir kennen Sie von jeher als ernst und aufrichtig, Bruder. Wir haben Ihre Worte nicht angezweifelt. Schließlich, sind wir nicht in ... ungewöhnlicher Stärke hier?« Er deutete um sich, und es gab ein wenig Gelächter, das meiste davon gezwungen, das meiste davon von Voke und Molitor. »Und worum handelte es sich bei diesem Gegenstand?« »Die Saruthi besaßen die Kopie eines profanen und verbotenen Werks, das wir unter dem Namen Nekroteuch kennen.« Die Reaktion war unmittelbar. Stimmen erhoben sich voller Überraschung, Beunruhigung und Unglauben. Ich hörte Voke, Molitor und Schongard alle Fragen oder Spott rufen. Die versammelten Gefolgsleute, Novizen und Akoluthen um uns flüsterten oder schwatzten hektisch durcheinander. Die Cherubime jammerten und flatterten hinter Lord Rorkens Thron, um sich zu verstecken. Rorken selbst musterte mich zweifelnd. Ich sah, dass sogar der grimmige Space Marine den 336
Inquisitor fragend ansah. Lord Rorken hob die Hand, und die Unruhe legte sich. »Ist das bestätigt, Bruder Eisenhorn?« »Lord, das ist es. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen und das Böse darin gespürt. Es war das Nekroteuch. Soweit ich erfahren habe, sind die Saruthi schon vor vielen tausend Jahren auf eine verschollene Kopie gestoßen, und nachdem die Glaw-Kabale kürzlich Verbindung zu ihnen aufgenommen hatte, waren sie einverstanden, es für gewisse Artefakte ihrer eigenen Kultur einzutauschen.« »Lächerlich!«, fauchte Commodus Voke. »Das Nekroteuch ist ein Mythos, noch dazu ein erbärmlicher! Dieser verkommene Xenos-Abschaum hat als Köder für die leichtgläubigen Ketzer eine Fälschung produziert!« Ich wandte mich an Voke und wiederholte: »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen und das Böse darin gespürt. Es war das Nekroteuch.« Admiral Spatian wandte sich an Lord Rorken. »Das Ding, dieses Buch - ist es so wertvoll, dass diese Ketzer den gesamten Subsektor ins Schisma stürzen würden, um dadurch ihre Beschaffungsversuche zu unterstützen?« »Es ist unbezahlbar!«, warf Molitor vom anderen Ende des Saals ein. »Von unschätzbarem Wert! Wenn die Legenden darüber auch nur zu einem Bruchteil stimmen, enthält es Wissen, das unser Verständnis übersteigt! Sie würden nicht zögern, Welten zu verbrennen, um es zu bekommen, oder ihre gesamten Mittel zu opfern, um sich die Macht zu verschaffen, die sie damit erringen würden.« »Es war von Anfang an offensichtlich«, sagte Endor leise, »dass der Einsatz in dieser Angelegenheit erstaunlich hoch sein musste. Bruder Gregors Neuigkeiten schockieren mich zwar, aber ich bin nicht überrascht. Nur eine so mächtige Ikone wie das Nekroteuch konnte so 337
viel Blutvergießen in Gang setzen.« »Aber das Nekroteuch! So ein Unding!«, zischte Schongard. »Hatten die Ketzer Erfolg, Inquisitor Eisenhorn?«, fragte der Space Marine plötzlich, indem er mich direkt anstarrte. »Nein, Bruder Hauptmann, das hatten sie nicht. Es war sehr knapp, aber es ist uns gelungen, ihren Kontakt mit den Saruthi zu sabotieren. Die Xenos wurden vertrieben, und der größte Teil der Vorhut der Ketzer, darunter auch Lord Glaw und ein seiner Sache verbundenes blasphemisches Emperor's Child, wurden getötet.« »Ich habe in Ihrem Bericht von diesem Mandragore gelesen«, sagte der Marine. »Seine Anwesenheit war ausschlaggebend für unsere Entscheidung, dass meine Einheit diese Streitmacht begleitet.« »Die Emperor's Children, Terra verdamme ihre Seelen, wollten das Buch ganz eindeutig für sich selbst. Sie hatten Mandragore geschickt, um Glaw bei seinen Bemühungen zu helfen. Dass Wesen wie sie die Sache ernst genommen haben, bestätigt die Wahrheit meiner Worte, glaube ich?« Der edle Marine nickte. »Und Mandragore ist tot, sagen Sie?« »Ich selbst habe ihn getötet.« Der Krieger der Todeswacht lehnte sich ein wenig zurück, und seine Brauen hoben sich leicht vor Überraschung. »Einige Ketzer sind Ihrer Säuberung entkommen?«, fragte Schongard. »Zwei Schlüsselverschwörer, Bruder. Der Händler, Gorgone Locke, der meiner Ansicht nach den ursprünglichen Kontakt zwischen den Saruthi und Glaws Kabale hergestellt hat. Und ein Ekklesiarch namens Dazzo, den ich als die spirituelle Antriebskraft hinter diesem Unternehmen betrachte. Sie sind geflohen, haben sich den wartenden Elementen ihrer Flotte angeschlossen und sind dann ins Immaterium eingetaucht und verschwunden.« 338
»Mit welchem Ziel?«, fragte Spatian. »Das wird noch berechnet, Admiral.« »Und wie viele Schiffe? Dieser verfluchte Verräter Estrum ist mit fünfzehn desertiert.« »Er hat mindestens zwei Fregatten in dem System verloren. Ein ungewöhnliches Handelsschiff, das, wie ich glaube, Locke gehört, ist noch bei ihnen.« »Haben sie den Schwanz eingezogen und sind besiegt geflohen, oder haben sie noch weitere Pläne?«, fragte Lord Rorken. »Ich muss weitere Nachforschungen anstellen, bevor ich die Frage beantworten kann, Lord.« Spatian erhob sich und wandte sich an den Lordinquisitor. »Selbst wenn sie nur fliehen, können wir ihnen nicht gestatten zu entkommen. Sie müssen aufgespürt und ausgelöscht werden. Bitte um Erlaubnis, Vorkehrungen für die Verfolgung zu treffen.« »Erlaubnis gewährt, Admiral.« Dann ergriff Molitor das Wort. »Niemand hat unserem heroischen Bruder Eisenhorn die wichtigste Frage überhaupt gestellt«, sagte er, wobei er das Wort »heroisch« auf eine Weise betonte, die nicht schmeichelhaft war. »Was ist mit dem Nekroteuch passiert?« Ich drehte mich zu ihm um. »Ich habe getan, was jeder von uns hier getan hätte, Bruder Molitor. Ich habe es verbrannt.« Aufruhr folgte. Molitor war auf den Beinen und beschuldigte mich mit der vollen Kraft seiner rauen Stimme praktisch der Ketzerei. Schongard unterstützte die Anschuldigung, während Endor und Voke sie nieder schrien. Die Gefolgsleute heulten und stritten untereinander. Der Hauptmann der Todeswacht und ich selbst schwiegen. Lord Rorken erhob sich. »Genug!« 339
Er wandte sich an den finster dreinschauenden Molitor. »Erläutern Sie Ihren Einwand, Bruder Molitor, schnell und einfach.« Molitor nickte und leckte sich die Lippen, wobei seine gelben Augen im Saal umherhuschten. »Eisenhorn hat für seinen Akt des Vandalismus unseren strengsten Tadel verdient! Das Nekroteuch mag ein übles und geächtetes Werk sein, aber wir sind die Inquisition, Lord. Mit welchem Recht hat er es einfach zerstört? Solch ein Gegenstand hätte beschlagnahmt und unseren besten Gelehrten zum Studium gebracht werden müssen! Es einfach so auszulöschen, raubt uns Wissen, Weisheit und Geheimnisse von unvorstellbarem Ausmaß! Der Inhalt des Nekroteuch hätte uns Einsicht in den Erzfeind der Menschheit geben können, unschätzbare Einsicht! Wie hätte es uns stärken und für diesen unablässigen Kampf wappnen können? Eisenhorn hat das eigentliche Herz unserer heiligen Inquisition entehrt!« »Bruder Schongard?« »Lord, ich bin derselben Ansicht. Es war eine verzweifelte und vorschnelle Tat von Eisenhorn. Bei vorsichtiger Handhabung hätte das Nekroteuch uns mit allem möglichen vorteilhaften Wissen versorgen können. Seine arkanen Geheimnisse wären eine Waffe gegen den Feind gewesen. Ich mag seinen rigorosen Bemühungen applaudieren, die Pläne von Glaw und dessen Mitverschwörern durchkreuzt zu haben, aber diese Auslöschung okkulten Wissens kann ich nicht gutheißen.« »Bruder Voke? Was ist Ih...«, begann Lord Rorken, aber ich fiel ihm ins Wort. »Ist das hier ein Gericht, Lord? Stehe ich unter Anklage?« »Nein, Bruder, das tun Sie nicht. Aber das Ausmaß Ihrer Handlungen muss analysiert und beurteilt werden. Bruder Voke?« Voke erhob sich. 340
»Eisenhorn hat das Richtige getan. Das Nekroteuch war eine Widernatürlichkeit. Es wäre Ketzerei gewesen, seine Existenz weiterhin zu gestatten!« »Bruder Endor?« Titus erhob sich nicht. Er drehte sich auf seinem Platz und schaute Konrad Molitor durch den Saal an. »Gregor Eisenhorn hat meine volle Unterstützung. Nach Ihrer Klage, Molitor, frage ich mich, was für einer Art Mann ich zuhöre. Gewiss einem Radikalen. Einem Inquisitor? Da habe ich meine Zweifel.« Molitor sprang wieder auf und tobte: »Sie Bauer! Sie Hurensohn von einem Bastard-Bauern! Wie können Sie es wagen?« »Ganz leicht«, erwiderte Endor, indem er sich zurücklehnte und die Arme verschränkte. »Und Sie, Schongard, sind nicht besser. Schande über Sie! Was glauben Sie, welche Geheimnisse wir in Erfahrung bringen können, vielleicht abgesehen davon, wie wir unseren Verstand vergiften und uns unserer geistigen Gesundheit berauben können? Das Nekroteuch wurde schon vor unserer Gründung verboten. Wir müssen nicht wissen, was darin steht, um. dieses Verbot zu akzeptieren! Wir brauchen nur das kostbare Wissen, dass es zerstört werden sollte, ungelesen und sofort. Sagen Sie, müssen Sie sich Uhlrens Pocken selbst zuziehen, um zu wissen, dass sie tödlich sind?« Darüber lächelte Lord Rorken. Er wandte sich an den Space Marine. »Bruder Hauptmann Cynewolf?« Der Hauptmann zuckte bescheiden die Achseln. »Ich befehlige Kriegstrupps mit der Aufgabe, Xenos, Mutanten und Ketzer auszurotten, Lord. Die Ethik der Gelehrtenschaft und des Buch-Lernens überlasse ich den Gelehrten. Aber wenn Sie mich fragen, ich hätte es ohne eine Sekunde des Nachdenkens verbrannt.« Ein längeres Schweigen folgte. Manchmal war ich beinahe froh darüber, dass man mir ein 341
Lächeln nicht mehr ansehen konnte. Lord Rorken lehnte sich zurück. »Die Einwände meiner Brüder sind zur Kenntnis genommen. Ich selbst lobe Eisenhorn. Angesichts der extremen Situation hat er die beste Entscheidung getroffen.« »Vielen Dank, Mylord.« »Ziehen wir uns jetzt zurück und überdenken diese Angelegenheit. In vier Stunden will ich Vorschläge hören, wie wir in dieser Sache weiter verfahren sollen.« »Was nun?«, fragte Titus Endor, als wir in seiner privaten Suite an Bord der St. Scythus saßen. Ein weiblicher Servitor brachte uns Gläser mit Amasec, der in Nalholzfässern gereift war. »Die Überlebenden müssen zur Strecke gebracht werden«, sagte ich. »Dazzo und der Rest der Ketzerflotte. Sie mögen um ihre Trophäe gebracht worden sein, und sie mögen jetzt auf der Flucht sein. Vielleicht fliehen sie Jahre. Aber sie haben die Mittel einer Schlachtflotte zu ihrer Verfügung und werden sie nutzen. Ich werde empfehlen, sie zu jagen und diese traurige Angelegenheit ein für alle Mal zu beenden.« Aemos betrat den Saal, verbeugte sich respektvoll vor Endor und reichte mir eine Datentafel. »Die Astronavigatoren des Admirals haben den Kurs der Ketzerflotte berechnet. Er entspricht der Schätzung, die Maxilla mir soeben geschickt hat.« Ich sah mir die Daten an. »Haben Sie eine Karte, Titus?« Er nickte und schaltete eine Cogitator-Einheit mit verglaster Oberfläche ein. Sie leuchtete auf, und er tippte die Codes von der Tafel ein. »Aha ... sie fliegen nicht zurück ins Territorium des Imperiums. Nicht weiter überraschend. Auch nicht zu den gesetzlosen Weiten der Halosterne.« »Ihr Kurs führt sie hierher: 56-Izar. Zehn Wochen entfernt.« 342
»Im Saruthi-Gebiet.« »Direkt im Herzen des Saruthi-Gebiets.« Lordinquisitor Rorken nickte ernst. »Wie Sie sagen, Bruder, diese Angelegenheit könnte weniger beendet sein, als wir dachten.« »Sie können nicht hoffen, die Saruthi als Verbündete zu gewinnen, oder glauben, dass sie ihnen Zuflucht gewähren. Das Bündnis zwischen Glaws Truppen und den Xenos war gelinde gesagt zerbrechlich und angespannt, und der Frieden, der zwischen ihnen geherrscht hat, wurde durch den Ausbruch der Gewalt beendet. Dazzo muss einen anderen Grund haben, dorthin zu fliegen.« Lord Rorken marschierte in seinem Prunkgemach brütend auf und ab und spielte dabei mit seinem Amtssiegelring, der über dem Handschuh saß. Seine Schar Cherubime hockte voller Unbehagen auf den Rückenlehnen von Armsesseln und Sofas, die in dem Raum verteilt waren. Ihre Gargylköpfe ruckten hin und her, da sie mich genau beobachteten, während ich dastand und auf eine Antwort wartete. »Meine Phantasie geht mit mir durch, Eisenhorn«, sagte er schließlich. »Ich habe die Absicht, den Archäoxenologen Malahite direkt zu verhören. Ich bin sicher, er kann uns mit zusätzlichen Informationen versorgen. Und ich bin auch sicher, dass ihm die Fähigkeit zum Widerstand fehlt, wie sie sein aristokratischer Herr und Meister Urisel an den Tag gelegt hat.« Rorken blieb stehen und klatschte laut in die Hände. Erschrocken flatterten die Cherubime in die Luft und krakeelten dann unter der hohen Decke. »Wir fliegen sofort nach 56-Izar«, sagte Lord Rorken, der ihr Gekrächze ignorierte. »Unterrichten Sie mich umgehend von Ihren Entdeckungen.«
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Die Flottensicherheit hatte Girolamo Malahite im sicheren Flügel des Schiffslazaretts eingesperrt. Die Wunde die ich ihm zugefügt hatte, war behandelt worden, aber man hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihn mit einem prothetischen Glied zu versorgen. Ich freute mich darauf, ihm seine Geheimnisse zu entreißen. Ich ging durch das kalt erleuchtete Lazarett und sah nach Fischig. Er war immer noch bewusstlos, obwohl mir ein Arzt sagte, sein Zustand sei stabil. Der Züchtiger lag unter einem Plastekzelt, angeschlossen an Lebenserhaltungssysteme und gurgelnde Pumpen, und sein verwundeter Leib war unter den Verbänden, Knochenklammern und salbenden Amuletten kaum zu sehen. Vom Lazarett ging ich durch einen unbeheizten Niedergang, zeigte den diensthabenden Wachen meinen Ausweis und betrat den verbotenen Sicherheitsflügel. Ich war am zweiten Kontrollpunkt, am Eingang zum düsteren Zellenblock selbst, als ich aus einer Zelle da hinter Schreien hörte. Ich drängte mich an den Wachen vorbei und erreichte mit ihnen im Kielwasser die schmierige Eisenjalousie der Zelle. »Aufmachen«, blaffte ich, und einer der Wächter fummelte mit seinem Ring elektronischer Schlüssel herum. »Schnell, Mann!« Die Zellenjalousie surrte auf und rastete in ihrer Halterung ein. Konrad Molitor und drei seiner Kapuze tragenden Akoluthen wandten sich zu mir um, empört über die Störung. Ihre gummibehandschuhten Hände waren nass von rosa Schaum. Hinter ihnen lag Girolamo Malahite wimmernd auf einem horizontalen Metallkäfig, der mit Ketten an der Decke aufgehängt war. Er war nackt, und beinahe jeder Zentimeter seiner Haut war ihm vom Leib gezogen worden. 344
»Holen Sie Ärzte und Chirurgen. Und rufen Sie Lord Rorken. Sofort«, sagte ich zu den Zellenwärtern. »Hätten Sie die Güte zu erklären, was Sie hier tun?«, sagte ich zu Molitor. Er hätte es, glaube ich, vorgezogen, mir nicht zu antworten, und sein Trio von Gefolgsleuten sah entschlossen aus, gegen mich zu kämpfen und mich aus der Zelle zu werfen. Aber die Mündung meiner Autopistole drückte sich gegen Konrad Molitors schwitzende Stirn, und keiner von ihnen wagte sich zu rühren. »Ich führe ein Verhör mit dem Gefangenen ...«, begann er. »Malahite ist mein Gefangener.« »Er befindet sich im Gewahrsam der Inquisition, Bruder Eisenhorn ...« »Er ist mein Gefangener, Molitor! Die Verfahrensregeln der Inquisition gewähren mir das Recht, ihn zuerst zu verhören!« Molitor versuchte zurückzuweichen, aber ich hielt den Druck der Waffe gegen seinen Schädel aufrecht. Die Wut in seinen Augen ob dieser Behandlung war nicht zu übersehen, aber er beherrschte sie, da ihm aufging, dass eine Provokation alles war, was mir noch fehlte. »Ich, ich habe mir Sorgen um Ihre Gesundheit gemacht, Bruder«, begann er in dem Versuch, mich zu beschwichtigen. »Ihre Wunden, Ihre Erschöpfung. Malahite musste schleunigst verhört werden, und ich dachte, ich könnte Ihnen Ihre Last etwas erleichtern, indem ich das Verhör durchführte ...«
»Durchführte? Sie haben ihn fast umgebracht! Ich glaube Ihre Ausrede keinen Augenblick, Molitor. Wenn Sie wirklich die Absicht gehabt hätten, mir zu helfen, hätten Sie mich um Erlaubnis gebeten. Sie wollten seine Geheimnisse für sich.« »Eine verdammte Lüge!«, fauchte er. 345
Ich spannte die Pistole mit dem Daumen. In der Enge der Eisenzelle war das Klicken laut und bedrohlich. »Tatsächlich? Dann sagen Sie mir, was Sie bisher erfahren haben.« Er zögerte. »Er ist hartnäckig. Wir haben wenig aus ihm herausgeholt.« Stiefel polterten draußen den Zellengang entlang, und die Wärter kehrten mit zwei grün gewandeten Flottenchirurgen und einem Quartett von Sanitätern zurück. »Thron Terras!«, rief einer der Chirurgen, als er den entstellten Mann auf dem Gestell sah. »Tun Sie, was Sie können, Doktor. Stabilisieren Sie ihn.« Die Ärzte machten sich eiligst an die Arbeit, riefen nach Instrumenten, Apparaten und kalten Umschlägen. Malahite wimmerte wieder. »Einem imperialen Inquisitor mit dem Tod zu drohen ist ein Kapitalverbrechen«, sagte einer der Kapuze tragenden Akoluthen, indem er einen Schritt näher kam. »Lord Rorken wird nicht sehr erfreut sein«, sagte ein anderer. »Stecken Sie die Waffe weg, dann wird unser Herr kooperieren«, fügte der dritte hinzu. »Sagen Sie Ihren Speichelleckern, sie sollen still sein«, sagte ich zu Molitor. »Bitte, Inquisitor Eisenhorn«, tönte die Stimme des dritten Akoluthen wieder leise aus dem Schatten seiner Kapuze. »Dies ist ein bedauerlicher Irrtum. Wir werden Wiedergutmachung leisten. Stecken Sie die Waffe weg.« Die Stimme war seltsam selbstsicher und stellte überraschende Autorität zur Schau, indem sie für Molitor sprach. Aber nicht mehr, als Aemos oder Midas es für mich im umgekehrten Fall getan hätten. »Nehmen Sie Ihre Assistenten und verschwinden Sie, Molitor. Wir setzen das fort, sobald ich mit Lord Rorken gesprochen habe.« 346
Die vier gingen rasch, und ich halfterte meine Waffe. Der Chefarzt kam kopfschüttelnd zu mir. »Der Mann ist tot, Herr Inquisitor.« Auf Lord Rorkens Ersuchen stellte uns der höchste Ekklesiarch des Kriegsschiffs eine große Kapelle mittschiffs zur Verfügung. Ich glaube, die Kurie an Bord des Schiffes war beeindruckt von der Wut des Lordinquisitors. Wir hatten nur wenig Zeit, den durch diesen Vorfall angerichteten Schaden zu reparieren, obwohl die Ärzte Malahites beklagenswerten Leichnam in ein Stasenfeld versetzt hatten. Lord Rorken wollte die Sache selbst durchführen, erkannte aber, dass ihm die Pflicht gebot, mir zuerst die Gelegenheit zu geben. Mir diese zu verwehren hätte Molitors Beleidigung noch verschlimmert, auch wenn Rorken der Lordinquisitor war. Ich sagte Rorken, ich begrüße die Aufgabe, und fügte hinzu, meine Kenntnisse in Bezug auf den ganzen Fall mache mich zum besten Kandidaten. Wir versammelten uns in der Kapelle. Es war ein langer Saal mit spitz zulaufenden Säulen und einem Mosaikboden. Buntglasfenster mit Darstellungen der Triumphe des Imperators wurden durch den Strudel des Immateriums von draußen erleuchtet. Der Saal bebte in den Vibrationen des arbeitenden Antriebs der St. Scythus. Die Bankreihen und erhöhten Nischen auf einer Seite füllten sich mit inquisitorischem Personal und Ekklesiarchen. Alle meine »Brüder« waren anwesend, sogar Molitor, von dem ich wusste, dass er einfach nicht würde fernbleiben können. Ich ging mit Lowink durch das Kirchenschiff zu dem erhöhten Sockel, wo Malahite in seiner Stase lag. 347
Astropathen, insgesamt fast dreißig, die aus dem ganzen Schiff und der inquisitorischen Belegschaft abgezogen worden waren, hatten sich dahinter versammelt. Kapuze tragend, missgestaltet, manche im Rollstuhl sitzend oder von mürrischen Servitoren auf Bahren getragen, zischten und murmelten sie untereinander. Lowink wies sie ein. Er schien diesen Augenblick zu genießen -schließlich war er den normalerweise ranghöheren Astropathen überlegen. Lowink hatte nicht die Kraft, dieses Ritual allein zu bewältigen. Seine Mittel waren nur für die simpelsten psychometrischen Prüfungen ausreichend. Aber seine Kenntnisse meiner Fähigkeiten und Praktiken machten ihn wesentlich für die Koordination ihrer Bemühungen. Ich betrachtete Malahite, gehäutet und jämmerlich in der schimmernden Hülle der Stase. Groteskerweise erinnerte er mich an den Gott-Imperator persönlich, der für alle Ewigkeit in dem großen Stasenfeld des goldenen Throns ruhte und bis zum Ende der Zeit vor dem Tod bewahrt wurde, den Horus ihm zu bescheren versucht hatte. Lowink nickte mir zu. Der astropathische Chor war bereit. Ich schaute mich um und fand Endors Gesicht in der Versammlung. Er hatte sich in Molitors Nähe gesetzt und mir versprochen, das Schwein eingehend für mich zu beobachten. Schongard saß weiter hinten und distanzierte sich damit von der Übertretung seines radikalen Gesinnungsgenossen. Ich sah Bruder Hauptmann Cynewolf und zwei seiner Ehrfurcht gebietenden Kameraden hinter dem Altarschirm Platz nehmen. Alle trugen vollständige Rüstung und Boltgewehre. Sie waren nicht zur Schau hier. Sie waren als Sicherheit hier. »Beginnen Sie, Bruder«, sagte Lord Rorken von seinem erhöhten Platz. 348
Der Chor begann damit, die Falten des Warpraums mit seiner wachsenden Verehrung auseinanderzublättern. Psionische Kälte sickerte in das Gewölbe, und einige in der Versammlung stöhnten, entweder aus Furcht oder in unfreiwilliger empathischer Vibration. Commodus Voke, dem Heldane beim Aufstehen von seinem Sitz behilflich war, trat vor, um mir zu helfen. Als Zugeständnis an Lord Rorken, weil er mir diese Ehre gestattete, hatte ich mich bereit erklärt, den InquisitorVeteranen an der Auto-Seance an meiner Seite teilnehmen zu lassen. Schließlich war das Risiko nicht unbeträchtlich. Zwei Geister waren besser als einer, und tatsächlich würde es gut sein, die mentale Kraft des alten Reptils nah bei der Hand zu haben. »Heben Sie das Stasenfeld auf«, sagte ich. Das Ächzen der Astropathen wurde lauter. Als das durchsichtige Feld erlosch, streckten Voke und ich unsere nackten Finger aus und berührten das hautlose Gesicht. Der Schleier des Warpraums zog sich zurück. Ich schaute eine Rauchsäule entlang, geisterhaft weiß, die sich um mich zusammenzog. In meinen Ohren waren die peinigenden Schreie der Unendlichkeit und der Milliarden, Milliarden Seelen darin. Blaues Licht, von Gewitterfeuern durchzogen. Ein Geräusch, bei dem sich seismisches Rumpeln und die ätherischen Choräle lange verfallener Tempel vermischten. Ein Geruch nach Holzrauch, Räucherwerk, Salzwasser, Blut ... Eine kosmische Leere, so massiv und ewig, dass mein Geist taub wurde, als ich hindurchraste. Sie war einen Augenblick später verschwunden, gerade schnell genug, um mir von ihrem bloßen Ausmaß nicht meine geistige Gesundheit rauben zu lassen. 349
Noch ein Augenblick. Rotes Flackern. Kollidierende Galaxien, die Feuer fingen. Seelen wie Kometen, die durch das Immaterium rasen. Stimmen von Gott-Ungeheuern, deren Rufe hinter der dürftigen Kulisse des Alls hervordringen. Augenblick. Ozeanische Schwärze. Noch ein Fetzen eines Chorals. Augenblick. Stellare Kinderkrippen voller embryonaler Sonnen. Augenblick. Kaltes Licht, Äonen alt. Augenblick. »Gregor?« Ich schaute mich um und sah Commodus Voke. Zuerst hatte ich seine Stimme nicht erkannt. Sie schien weicher geworden zu sein, als habe ihn das Ergebnis bescheidener gemacht. Wir standen auf einem Hang aus grünem Schiefer unter zwei Sonnen, die enorme Hitze ausstrahlten. Vertrocknete Berge säumten den Horizont und ragten wie Festungen in die Höhe. Wir gingen über den hallenden Schiefer dem Geräusch des Baggers entgegen. Eine uralte Maschine, deren Kolben glitschig von Öl waren, wühlte mit ihren Schaufelgliedern die Seite einer Felswand auf. Sie sonderte Dampf und Rauch durch den Abluftschlot aus und spie über ein Förderband Felsgestein auf glitzernde Abraumhalden. Wir gingen daran vorbei und auch an anderen Baggern, die in der Wand arbeiteten, wo kleinere Servitoren Bruchstücke aus den freigelegten Schichten bürsteten und polierten und behutsam auf Tabletts legten. 350
Malahite stand da und beobachtete sie bei der Arbeit. Er war hier jünger, beinahe jugendlich, sonnengebräunt und fit von den Sonnen und der Arbeit. Er trug eine kurze Hose und ein weites Hemd, und seine Haut war mit Staub bedeckt. »Ich dachte mir, dass Sie kommen würden«, sagte er. »Werden Sie kooperieren?«, fragte ich ihn. »Ich habe wenig Zeit zum Reden«, sagte er, während er sich bückte, um die Gegenstände zu untersuchen, die ein Servitor soeben auf ein Tablett gelegt hatte. »Es gibt viel zu tun. Noch eine Menge zu entdecken, bevor in einer Woche oder so der Regen kommt.« Er wusste, wer wir waren, konnte sich aber immer noch nicht ganz von der Realität um sich lösen. »Es ist reichlich Zeit zum Reden.« Malahite richtete sich auf. »Wahrscheinlich haben Sie recht. Wissen Sie, wo das hier ist?« »Nein.« Er stutzte kurz. »Eine Randwelt. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, habe ich den Namen selbst vergessen. Hier bin ich am glücklichsten, glaube ich. Hier fängt alles .für mich an. Meine erste große Entdeckung, die Ausgrabung, mit der ich mir als Archäoxenologe einen Namen gemacht habe.« »Wir würden gern über spätere Ereignisse reden«, sagte Voke. Malahite nickte. Band sein Halstuch los und wischte sich den Schweiß von den Wangen. »Aber hier beginnt es. Man wird mich für diese Funde feiern, in hohen Kreisen hochleben lassen. Das edle und berühmte Haus Glaw wird mich einladen, mit ihnen zu speisen und mir das Angebot machen, als Schürfer in seine Dienste zu treten. Urisel Glaw persönlich wird mich anwerben und mir für die Anstellung ein lukratives Gehalt anbieten.« »Und wohin wird das führen?«, fragte ich. 351
»Erzählen Sie uns von den Saruthi.« Er fuhr auf und wandte sich ab. »Warum? Was können Sie mir anbieten? Nichts! Sie haben mich vernichtet!« »Wir haben Mittel und Wege, Malahite. Wir können die Sache leichter für Sie machen. Haus Glaw hat Sie zu einem unvorstellbaren Schicksal verurteilt.« Er suchte meinen Blick und musterte mich eindringlich. »Sie können mich retten? Sogar jetzt noch?« »ja.« Er hielt kurz inne und hob dann eines der Tabletts auf. Es war plötzlich mit Bruchstücken der auf Damask gefundenen achteckigen Fliesen gefüllt. »Sie hatten ein Imperium, müssen Sie wissen«, sagte er, indem er die Splitter durchsuchte und uns einige zeigte. Die Stücke hatten keine Bedeutung. »Die Geschichte ist hier, piktografisch aufgezeichnet. Aber unsere Augen können es nicht lesen. Die Saruthi haben weder Augen noch Ohren. Geruch und Tastsinn, die Kombination der beiden ist ihr Hauptsinn. Sie können die Aromen der Realität entdecken, sogar jene des dimensionalen Raumes. Die Winkel der Zeit.« »Wie?« Er zuckte die Achseln. »Das Nekroteuch. Es hat sie verändert. Ihr Imperium war klein, nicht mehr als vierzig Welten und sehr alt, als das Buch in ihren Besitz gelangte. Von Menschen dorthin gebracht, die in den allerersten Tagen auf der Flucht waren vor der Verfolgung Terras. Dank ihres auf Geschmack beruhenden Sinnesapparates holten sie mehr aus dem Nekroteuch, als ein simples menschliches Auge herauslesen konnte. Von jenem ersten Geschmack an raste die profunde Kunde des Nekroteuch wie ein Lauffeuer durch ihre Kultur, wie ein Krankheitserreger, verwandelte und verdrehte sie und gab ihnen große Macht. Das führte zu Krieg und Bürgerkrieg, 352
wodurch ihr Imperium zusammenbrach. Welten blieben zurück, ausgebrannt oder verlassen, und ihr Territorium entwickelte sich zu dem kleinen Bruchstück zurück, das wir heute kennen.« »Sie sind verderbt? Als Rasse, meine ich?«, fragte Voke. Malahite nickte. »Oh, für sie gibt es keine Rettung, Inquisitor. Sie sind genau die Sorte Xenos-Abschaum, die zu fürchten und zu verachten Leute wie Sie uns lehren. Ich bin in meiner Laufbahn mehreren nichtmenschlichen Rassen begegnet und habe festgestellt, dass die meisten den Hass nicht verdienen, den die Inquisition und die Kirche allem entgegenbringen, was nicht menschlich ist. Sie sind engstirnige Dummköpfe. Sie würden alles töten, nur weil es anders ist als Sie. Aber in diesem Fall haben Sie recht. Die Seuche des Nekroteuch hat die Saruthi überwältigt. Es spielt keine Rolle, dass sie Xenos sind, sie sind eine Chaos-Brut.« Er schauderte, als frische ein kühler Wind auf, aber die Sonnen brannten weiterhin erbarmungslos auf uns nieder. »Was haben sie für Hilfsmittel und militärische Fähigkeiten?« »Ich habe keine Ahnung«, sagte er mit einem weiteren Schauder. »Sie haben ihre Raumschiffstechnologie bereits vor Jahrhunderten aufgegeben. Sie brauchten sie nicht mehr. Wie ich schon sagte, das Nekroteuch hat ihre sensorischen Fähigkeiten verzerrt. Sie entwickelten die Fähigkeit, die Winkel des Raums und der Zeit zu verzerren und sich durch die Dimensionen zu bewegen. Von Welt zu Welt. Sie haben die Kunst gemeistert, Räume in vier Dimensionen zu konstruieren, Umgebungen zu erschaffen, die nur zu bestimmten Zeitpunkten existieren.« »Wie die, wo der Handel stattfinden sollte.« »Ja. KCX-1288 war einmal Teil ihres Imperiums, ist aber im Zuge ihres Bürgerkriegs verwüstet worden. Sie haben es für das Treffen ausgewählt, weil es weit weg von ihren 353
Hauptbevölkerungszentren ist. Die Tetralandschaft darin haben sie speziell für uns angelegt.« »Tetralandschaft?« »Verzeihen Sie. Den Ausdruck habe ich geprägt. Ich dachte, ich könnte ihn eines Tages in einer gelehrten Schrift verwenden. Eine maßgeschneiderte vierdimensionale Umgebung. In diesem besonderen Fall mit einem für Menschen zuträglichen Klima versehen. Wir waren ihre Gäste, müssen Sie wissen.« »Wie ist der Handel zustande gekommen?« »Locke, der Freihändler. Er war ein Gefolgsmann des Hauses Glaw, schon seit Jahren. Ein Söldner, der auf Geheiß der Glaws zwischen den Sternen fuhr. Er hat sich ins Territorium der Saruthi gewagt und schließlich den Kontakt hergestellt. Dann hat er von der Existenz des Nekroteuch erfahren und wusste, was es seinen Herren wert sein würde.« »Und sie waren einverstanden mit dem Handel?« Ich wurde ungeduldig. Die Zeit musste langsam knapp werden. Er schauderte wieder. »Es ist kalt«, sagte er. »Oder nicht? Es wird kälter.« »Sie waren bereit zu handeln? Kommen Sie, Malahite, wir können Ihnen nicht helfen, wenn Sie uns hinhalten.« »Ja ... ja, sie waren einverstanden. Im Tausch für die Artefakte und Schätze von Welten, die sie aufgegeben und zu denen sie keinen Zugang mehr hatten.« »War ihnen das Nekroteuch denn nicht kostbar?« »Es war mittlerweile in ihrer Seele, in ihrem Geist, in ihrem genetischen Code. Das Buch selbst war nebensächlich.« »Und Sie wurden beauftragt, das Material auszugraben, das die Glaws für den Handel brauchten?« »Natürlich. Man hat mir ungeheure Macht versprochen, wissen Sie ...« Seine Stimme verlor sich. Hinter den fernen Bergen 354
verdunkelte sich der Himmel. Eine stärker werdende Brise verwirbelte losen Schiefer um unsere Füße. »Der Regen?«, sagte er. »Doch nicht so früh schon.« »Konzentrieren Sie sich, Malahite, sonst verlieren Sie sich! Das Nekroteuch wurde zerstört, der Handel verhindert, und Haus Glaw ist zerstört und besiegt! Warum führen Locke und Dazzo also ihre Flotte tiefer in das Gebiet der Saruthi?« »Was ist das?«, fragte er scharf, indem er die Hand hob, um Ruhe zu gebieten. Es war jetzt tatsächlich kälter, und dahinjagende Wolken verdeckten die Sonnen. Ein entferntes trauriges Klagelied war gerade noch hörbar. »Was haben sie vor?«, grollte Voke. Er sah uns an, als seien wir beschränkt. »Den Schaden reparieren, den Sie angerichtet haben! Die hohen und mächtigen Herren der Glaw-Kabale haben selbst Herren, die sie zufriedenstellen müssen! Herren, deren Zorn unvorstellbar ist! Sie müssen sie für den Verlust des Nekroteuch entschädigen!« Ich sah Voke an. »Sie meinen die Emperor's Children?«, fragte ich Malahite. »Natürlich! Die Glaws konnten das nicht allein schaffen, nicht einmal mit ihrer Macht und ihrem Einfluss. Sie haben einen Pakt mit diesem üblen Orden geschlossen: Unterstützung und Sicherheit für die Zusage, das Nekroteuch mit ihnen zu teilen. Und jetzt, wo es nicht mehr da ist, werden die Emperor's Children äußerst verärgert sein.« »Und wie hoffen sie diese Verärgerung zu umgehen und Zugeständnisse zu machen?«, fragte Voke. Wie auch mich beunruhigte ihn der Fleck am Himmel und das Geräusch des Windes. »Durch die Beschaffung eines anderen Nekroteuch« antwortete ich für Malahite, da mir ein Licht aufging. Der Archäoxenologe klatschte in die Hände und lächelte. »Hirnschmalz, endlich! Gerade als ich die Hoffnung für Sie 355
aufgeben wollte. Gut gemacht!« »Es gibt noch eines?«, fragte Voke stammelnd. »Die Saruthi hatten kein Problem damit, die Kopie der Menschen zurückzugeben, weil sie ihre eigene hatten«, sagte ich, während ich mich verfluchte, weil ich das Offensichtliche nicht sofort gesehen hatte. »Wieder gut gemacht! Die haben sie in der Tat, Inquisitor.« Malahite war hämisch und lächelte, obwohl er jetzt eindeutig zitterte und sich nach Wärme sehnte. »Natürlich ist es eine Xenos-Übersetzung, komponiert in ihrer, sagen wir Sprache, aber vielleicht ist Aroma das bessere Wort. Aber das darin enthaltene arkane Wissen ist dasselbe. Dazzo und seine Herren werden das Nekroteuch trotz des Rückschlags bekommen, den Sie ihnen bereitet haben.« Ein Blitz zuckte, und der Wind wirbelte Staub und Schieferpartikel um uns auf. »Unsere Zeit ist um«, rief Voke mir zu. »Wie wahr«, sagte Malahite. »Und jetzt: Ihr Versprechen. Ich habe vollständig kooperiert. Sind Sie Männer, die ihr Wort halten?« »Wir können Sie nicht vor dem Tod retten, Malahite«, sagte Voke zu ihm. »Aber die Abscheulichkeiten, mit denen Sie sich verbündet haben, kommen, um Ihre Seele zu verzehren. Wir können zumindest gnädig sein und Ihren Geist jetzt auslöschen, bevor sie ein treffen.« Malahite grinste, und kleine Schiefersplitter klickten vor seine entblößten Zähne. »Verflucht sei dein Angebot, Commodus Voke. Und verflucht seid ihr beide.« »Bewegen Sie sich, Voke!«, rief ich. Malahite hatte uns einfach beschäftigt und seine Geschichte ausgeschmückt. Er hatte sehr wohl gewusst, dass wir ihm außer einem raschen 356
Ende nicht viel anzubieten hatten. Das interessierte ihn nicht. Er wollte Rache. Das war sein Preis dafür, dass er redete. Er wollte erreichen, dass wir noch da waren, wenn das Ende kam, und mit ihm starben. Die Wüste hinter ihm barst und schleuderte Fels und Staub in einem wirbelnden Trichter in die Höhe. Eine Säule aus Blut explodierte aus dem Boden wie ein Geysir, einen halben Kilometer breit und ein Dutzend hoch. Sie erhob sich wie ein gigantischer Baum, und darin wirbelten mit Pusteln bedeckte Haut, Sehnen, Muskeln, zerfleddertes Gewebe und eine Million glotzende Augen, die alles wie gleißender Schaum überzogen. Zweigartige Fasern aus Knochen und Gewebe peitschten von dem halb flüssigen Giganten heran und rissen Malahite auseinander. Es war das vollständigste, verheerendste Ende, das ich je bei einem Menschen erlebt habe. Aber als es geschah, lächelte er immer noch triumphierend.
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ZWEIUNDZWANZIG Im Maul des Warpraums. Ein Mandat zur Säuberung. 56-Izar.
ie psionisch manifestierte Erinnerung an die Randwelt D und die Grabungsstätte darauf zersplitterte wie ein Bild in einem zerschmetterten Spiegel. Aber die hoch aufragende Dämonengestalt blieb, heulte in der tödlichen Dunkelheit und hetzte den Taifun der Verdammnis auf uns. Ich spürte, wie Voke dem Ding einen mentalen Hieb verpasste, aber es war eine sinnlose Geste, als puste jemand einem nahenden Wirbelsturm ins Angesicht. »Zurück!«, schrie ich, und selbst in meinen Ohren klang meine Stimme verloren und weit weg. Ich sah ihn in die Leere neben mir fallen und nach mir greifen. Ich rief noch einmal seinen Namen und streckte die Hand aus. Er brüllte eine Antwort, die ich nicht verstand. Stattdessen hörte ich Gebrüll, Geschrei und das Krachen von Schüssen. Ich lag schmerzgepeinigt auf dem kalten, gefliesten Boden der Kapelle, mit Blut und Plasma-Rückständen bedeckt, und schnappte in dem Gefühl nach Luft, mein Herz müsse zerspringen. Der Lärm umgab mich jetzt, ohrenbetäubend und klar. 358
Ich wälzte mich herum. Panik sorgte dafür, dass die Kapelle sich leerte. Priester und Novizen, Akoluthen und Gefolgsleute, sie alle flohen jammernd und warfen die Bankreihen um. Lord Rorken war auf den Beinen und aschfahl, und seine ihm ergebene Leibgarde mit ihren Heiligenmasken stürmte mit surrenden Breitschwertern vorwärts, deren Klingen meisterhaft gezeichnete Achten in die Luft schrieben. Ich sah Voke bewusstlos in der Nähe liegen. Wie ich war er mit nichtmenschlichem Seim und dem sabbernden Geifer des Immateriums bedeckt. Ich fand mein Gleichgewicht nicht, und in meinem Kopf hatte sich Mattigkeit ausgebreitet. Ich erbrach Blutklumpen. Ich wusste, dass ich verdammt war. Verdammt vom Warpraum, besudelt und verdorben. Ich war ihm zu lange zu nah gewesen. Die Astropathen taumelten unter hektischem Gekreisch zurück. Einige waren bereits tot, andere zuckten krampfhaft oder bluteten aus Nase und Ohren. Vor meinen Augen explodierten zwei von ihnen wie aufplatzende Blutblasen. Bögen aus Warpenergie blitzten zwischen ihnen auf und verbrannten Gehirne, schmolzen Knochen und verdampften Körperflüssigkeiten. Malahites Leichnam war verschwunden. An seiner Stelle kauerte ein um sich schlagendes, kreischendes Grauen aus Rauch und verfaulenden Knochen auf dem Sockel. Die Astropathen hatten die Verbindung unterbrochen, nachdem sie sie tapfer noch so lange aufrechterhalten hatten, bis Voke und mir die Flucht gelungen war. Doch irgendetwas war mit uns zurückgekehrt. Es hatte keine Gestalt, deutete aber viele an, wie ein Schatten an der Wand oder eine Wolke am Himmel in einem flüchtigen Augenblick flackern und vielen Dingen ähneln kann. In seinen flatternden Gewändern aus Rauch leuchtete Sternenlicht und funkelten Zähne. 359
Der erste von Rorkens Leibwächtern hatte es erreicht und schlug mit seinem Schwert zu. Die scharfe Klinge, in die Segensweihen und Sakramente der Kurie eingraviert waren, fuhr harmlos durch rauchigen, ätherischen Nebel. In Erwiderung des Hiebs wuchs eine lange Kralle aus segmentiertem Knochen wie eine Sense mit menschlichen Zähnen aus der Schneide, schlug zu und durchtrennte seinen Rumpf und die heilige Klinge, die beide zweigeteilt wurden. Ich tastete nach einer Waffe, irgendeiner verdammten Waffe. Eine Kakophonie aus Schüssen hallte. Mit krachenden Boltgewehren rückten die drei Marines der Todeswacht dem Grauen zu Leibe. Ihre schwarzen Rüstungen waren mit psionischem Reif bedeckt. Über den Lautsprecher seines Korns war Cynewolf zu vernehmen, wie er den Feind schalt und seinen Kameraden taktische Anweisungen zurief. Ihre Ordenswaffen krachten weiter im Gleichklang, bis der unablässige Beschuss das Ding aus dem Warpraum in einem krabbelnden, kreischenden Schmier aus Schwärze und knöchernen Gliedmaßen rückwärts drängte. Es fiel vom Podium in die Menge der zurückweichenden Astropathen und zerquetschte die Toten und die Lebenden gleichermaßen. Bruder Hauptmann Cynewolf eilte seinen Kameraden voraus, schneller, als dies für eine derart schwer gepanzerte Gestalt überhaupt möglich zu sein schien. Er warf das leer geschossene Boltgewehr weg, zog sein Kettenschwert und schlug damit auf die sich windende Masse ein, die dadurch in die Beichtstühle gedrängt wurde, die wie Reisig splitterten und brachen. Lord Rorken eilte mit einem silbernen ZeremonienFlammenwerfer an mir vorbei, den er einem seiner Gefolgsmänner entrissen hatte. Der Akoluth rannte ihm nach und mühte sich, 360
den mit goldenen Intarsien geschmückten Brennstofftank hinterherzutragen und mit seinem Meister Schritt zu halten. Rorkens Stimme erhob sich über das Chaos. »Geist aus schädlichem Immaterium, scher dich weg von hier, denn wie der Imperator der Menschheit, mannigfaltig seien seine Segnungen, über mich wacht, so will ich den Schatten des Warpraums nicht fürchten ...« Heiliges Feuer spritzte aus der Waffe des Lordinquisitors und hüllte das Warpwesen ein. Lord Rorken skandierte aus vollem Halse das Ritual des Bannens. Endor zog mich auf die Beine, und wir fielen beide in den Singsang ein. Wir spürten ein Beben, unter dem das gesamte Schiff zu vibrieren schien. Dann blieb nichts mehr von dieser schändlichen Kreatur außer einer Schicht Asche und den Verwüstungen, die sie angerichtet hatte. Als Buße für seine Übertretungen, die zu dieser Invasion aus dem Warpraum geführt hatten, wurde Konrad Molitor mit Säuberung, Reparatur und neuerlicher Weihe der geschändeten Kapelle betraut. Die Arbeit, die von den Erzpriestern der Kurie und den Techno-Adepten des Herrlichen Omnissias beaufsichtigt wurde, nahm die ersten sechs Wochen unseres zehnwöchigen Fluges nach 56-Izar in Anspruch. Molitor nahm seine Pflichten sehr ernst. Er trug ein Büßergewand aus schäbigem Sackleinen und ließ sich zwischen den Zeremonien von seinen Gefolgsleuten mit psionischen Dornen geißeln. Meiner Ansicht nach war er viel zu leicht davongekommen. Ich erholte mich einen Monat lang in einer der Prunk kabinen des Schlachtschiffes von dem physiologischen Trauma der Auto-Seance. 361
Der psychologische Schaden den dieses Ereignis angerichtet hatte, hielt sich noch' Jahre danach. Ich träume immer noch von dem in zahllose Augen gehüllten Geysir aus Blut, der den Himmel ausfüllte. So etwas vergisst man nicht. Es heißt, mit der Zeit schwächten sich Erinnerungen ab, aber das hat diese spezielle Erinnerung nie getan. Sogar heute tröste ich mich noch damit, dass ein Vergessen noch schlimmer gewesen wäre. Das wäre gleichbedeutend mit einem Verdrängen gewesen, und das Verdrängen solcher Visionen öffnet letzten Endes die Pforten zum Wahnsinn. Ich lag oder saß mit Kissen im Rücken den ganzen Monat auf dem breiten Bett der Kabine. Ärzte besuchten mich ebenso regelmäßig wie Angehörige von Lord Rorkens Stab in ihrer Staatsgewandung. Sie prüften meine Verfassung, meinen Geist und meine sich regenerierenden Kräfte. Ich wusste, wonach sie Ausschau hielten. Nach einem Makel des Warpraums. Es gab keinen, davon war ich überzeugt, aber natürlich konnten sie nicht einfach meinem Wort glauben. Wir waren dem Abgrund sehr nah gekommen, Voke und ich, dem Abgrund der unwiderruflichen Verdammnis. Noch ein paar Sekunden länger ... Aemos blieb bei mir und brachte mir Bücher und Datentafeln, um mich zu beschäftigen und abzulenken. Manchmal las er laut vor, Historien, Predigten oder Geschichten. Manchmal spielte er Musikspulen auf dem alten Celiaphon mit dem Schalltrichter und drehte eigenhändig an der Kurbel. Wir lauschten den Orchesterpreludien von Daminias Bartelmew, den erhebenden Sinfonien von Hanz Solveig und den Andachtschören der Klosterschaft von Ongres. Er machte mit Operetten von Guinglas weiter, bis ich ihn anflehte aufzuhören, und mimte die Rolle des Dirigenten, als er das Macharius-Requiem spielte, wobei er mit seinen augmetischen Beinen auf solch eine lächerliche und lebhafte Art umhersprang, dass ich laut lachen musste. 362
»Schön, das zu hören, Gregor«, sagte er, während er den Staub von einer neuen Spule blies, bevor er sie ins Celiaphon einlegte. Ich wollte ihm antworten, aber die scheppernden Kriegshymnen des Mordischen Regimentschors schnitten mir das Wort ab. Midas besuchte mich, und wir spielten Königsmord oder er zupfte seine glavianische Leier. Ich betrachtete diese Vorträge als besonderes Kompliment. Er schleppte die Leier seit Jahren mit sich herum, seit unserer ersten Begegnung, und er hatte trotz meiner Bitten noch nie in meiner Gegenwart gespielt. Er war ein Meister, und seine mit Schaltkreisen bestückten Finger lasen und spielten auf den codierten Saiten ebenso virtuos wie auf seinen Fluginstrumenten. Bei seinem dritten Besuch und nach drei flotten glavianischen Tänzen lehnte er sein Instrument an die Lehne seines Sessels und sagte: »Lowink ist tot.« Ich schloss die Augen und nickte. Damit hatte ich bereits gerechnet. »Aemos wollte es Ihnen mit Rücksicht auf Ihre Verfassung noch nicht sagen, aber ich hielt es für falsch, es Ihnen zu verheimlichen.« »Ist es schnell gegangen?« »Sein Körper hat die Seance und die anschließende Invasion überstanden, aber ohne nennenswerten Verstand. Eine Woche später ist er gestorben. Einfach erloschen.« »Danke, Midas. Es ist besser, dass ich es weiß. Jetzt spielen Sie weiter, damit ich mich in Ihren Melodien verlieren kann.« Seltsamerweise genoss ich Bequins Besuche am meisten. Sie platzte immer herein, räumte um mich her auf, schüttelte den Kopf über den Wasserstand in meinem Krug 363
oder den Kollaps meiner Rückenstütze. Dann las sie mir laut vor, normalerweise aus Büchern und Tafeln, die Aemos zurückgelassen hatte, und oft aus Werken, die er zu meiner Erbauung bereits deklamiert hatte. Sie trug sie besser vor, mit mehr Farbe und Gemüt. Die Stimme, mit der sie Sebastian Thor vortrug, ließ mich so laut lachen, dass mir die Rippen schmerzten. Als sie sich Kerloffs Schilderung der Horuskriege annahm, war ihre Verkörperung des Imperators beinahe ketzerisch. Ich brachte ihr Königsmord bei. Sie verlor die ersten Spiele, wie verzaubert von den Spielfiguren, dem komplizierten Spielbrett und den noch viel komplizierteren Zügen und Strategien. Es sei allzu »taktisch« für sie, verkündete sie. Es gebe keinen »Anreiz«. Also spielten wir um Geld. Dann fand sie sich besser zurecht und gewann. Jedes Mal. Als Midas mich das nächste Mal besuchte, fragte er säuerlich: »Haben Sie dem Mädchen Königsmord beigebracht?« Gegen Ende meiner dritten Genesungswoche traf Bequin bei mir ein und verkündete: »Ich habe Besuch mitgebracht.« Die ruinierte Seite von Godwyn Fischigs Gesicht war mit augmetischen Muskeln und Metall rekonstruiert und mit einer Halbmaske aus weißem Keramit verhüllt worden. Sein verlorener Arm war ebenfalls durch eine starke Metallprothese ersetzt worden. Er trug eine schlichte schwarze Jacke und eine ebensolche Hose. Er setzte sich neben mein Bett und wünschte mir eine rasche Genesung. »Ihr Mut ist nicht vergessen worden, Godwyn«, sagte ich. »Wenn dieses Unternehmen vorbei ist, möchten Sie vielleicht wieder zu Ihren Pflichten auf Hubris zurück kehren, aber ich würde Ihre Anwesenheit in meinem. Stab begrüßen, falls Sie sich zum Bleiben entschließen könnten.« 364
»Nissemay Carpel sei verdammt«, sagte er. »Der Hohe Hüter der Schlummergewölbe mag mich rufen, aber ich weiß, wo ich sein will. Dieses Leben hat einen Sinn. Ich würde gern dabei bleiben.« Fischig blieb Stunden bei mir, nach Schiffszeit bis weit in die Nacht. Wir redeten und scherzten gelegentlich und spielten dann Königsmord, wobei Bequin zuschaute. Zuerst gaben uns seine Probleme, die Figuren mit seinem unvertrauten neuen Arm zu bewegen, reichlich Grund zur Belustigung. Erst als er mich drei Mal hintereinander geschlagen hatte, gab er zu, dass Bequin ihm in ihrer unendlichen Weisheit in den letzten Wochen Unterricht erteilt hatte. Ein oder zwei Tage, bevor ich endlich wieder in der Lage war, meinen Pflichten ohne Erschöpfung nachzugehen, hatte ich noch einen letzten Besucher. Heldane fuhr ihn in einem Rollstuhl in meine Kabine. Voke sah geschrumpft und krank aus. Sprechen konnte er nur mit Hilfe eines Stimmenverstärkers. Ich war sicher, dass er in wenigen Monaten sterben würde. »Sie haben mich gerettet, Eisenhorn«, krächzte er zögerlich durch den Stimmenverstärker. »Die Astropathen haben möglich gemacht, dass wir weiterleben konnten«, korrigierte ich. Voke schüttelte den knorrigen, eingefallenen Kopf. »Nein ... ich war bereits im Reich der Verdammnis versunken, und Sie haben mich zurückgezogen. Ihre Stimme. Ich habe gehört, wie Sie meinen Namen gerufen haben, und das hat gereicht. Ohne das, ohne Ihre Stimme, hätte ich dem Warpraum nachgegeben.« Ich zuckte die Achseln. Was konnte ich darauf erwidern? »Wir sind uns nicht ähnlich, Gregor Eisenhorn«, fuhr er zittrig fort. 365
»Unsere Vorstellungen von der Inquisition sind sehr unterschiedlich. Aber ich ziehe trotzdem den Hut vor Ihrer Hingabe und Tapferkeit. In meinen Augen haben Sie sich bewiesen. Verschiedene Wege, verschiedene Mittel, ist das nicht die wahre Ethik unseres Ordens? Ich werde in Frieden und bald, glaube ich - in dem Wissen sterben, dass Männer wie Sie den Kampf fortsetzen.« Ich fühlte mich geehrt. Was ich auch von seiner Arbeitsweise hielt, ich wusste, dass unsere Absichten in dieselbe Richtung zielten. Mit einer schwachen Geste bedeutete er Heldane vorwärts. Der rohe, beschädigte Kopf des Mannes war nicht hübscher als bei unserer letzten Begegnung. »Ich will, dass Sie Heldane vertrauen. Von all meinen Schülern ist er der beste. Ich habe die Absicht, seine Beförderung zum Hohen Verhörer zu empfehlen, und von dieser Stellung winkt der Rang des Inquisitors. Wenn ich sterbe, nehmen Sie sich um meinetwillen seiner an. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass die Inquisition von seiner Anwesenheit profitieren wird.« Ich versprach Voke, dass ich es tun würde, und das schien Heldane zu freuen. Ich mochte den Mann nicht besonders, aber er hatte sich im Angesicht eines grausamen Todes als unverwüstlich und unbeugsam erwiesen, und es konnte kein Zweifel an seinen Fähigkeiten und seiner Hingabe bestehen. Voke nahm meine Hand in seine verschwitzte Klaue und krächzte: »Danke, Bruder.« Wie sich herausstellte, lebte Commodus Voke noch weitere hundertdrei Jahre. Er erwies sich als beinahe unmöglich zu töten. Als Golesh Constantine Pheppos Heldane schließlich in den Rang des Inquisitors befördert wurde, war es allein Vokes Werk. Die Sünden der Väter, wie man sagt. 366
Drei Wochen vor 56-Izar begannen die Invasionsübungen. Anfänglich sah Admiral Spatians Plan einen Flottenangriff vor, eine simple Auslöschung aller Ziele aus der Umlaufbahn. Doch Lord Rorken und die Todeswacht bestanden auf einer tatsächlichen Invasion der Oberfläche. Die Zerstörung des Nekroteuch der Xenos musste sichergestellt werden, sonst würden wir niemals mit Sicherheit wissen, dass es tatsächlich keine Gefahr mehr war. Erst nach der Erreichung dieses Ziels konnten extremere Bestrafungsmaßnahmen gegen 56-Izar ergriffen werden. Alles, was von meinen Gefährten und den überlebenden Gudrunern hinsichtlich der Tetralandschaften der Saruthi ironischer weise benutzten wir mittlerweile Malahites Bezeichnung - in Erfahrung gebracht werden konnte, wurde im Zuge einer umfassenden und peinlich genauen Serie von Befragungen von den Flottentaktikern und Brytnoth, dem verehrten Bibliothekar und Strategen der Todeswacht, gesammelt und geordnet. Diese Informationen wurden dann von den Cogitatoren der Flotte aufbereitet, um Simulationen zu erstellen mit dem Ziel, die Bodentruppen zu akklimatisieren. Für meine Augen vermittelten die Simulationen nichts von der Verkehrtheit, die wir auf der Welt des Plateaus erlebt hatten. Ich selbst wurde von Brytnoth persönlich und in Begleitung von Olm Madorthene vernommen. Auch ohne seine Rüstung ein kahlköpfiger Riese von einem Mann, war Brytnoth durchaus freundlich und aufmerksam, behandelte mich respektvoll und lauschte meinen Antworten mit aufrichtigem Interesse. Ich versuchte meinen Erinnerungen an das Erlebte verbal gerecht zu werden und schilderte außerdem die Theorien, die Malahite bei jener verhängnisvollen Seance geäußert hatte. Brytnoth scheute den Luxus eines Servitor-Schreibers oder Assistenten und machte sich eigenhändig Notizen, während er zuhörte. Ich beobachtete fasziniert, wie die riesige 367
Pranke des Kriegers den winzigen Griffel fast behutsam über die Notiztafel führte. Bei diesen Sitzungen, die oft Stunden dauerten, saßen wir in meiner Kabine. Bequin brachte regelmäßig Tabletts mit heißem Met oder Kräuteraufgüssen, und Brytnoth spreizte tatsächlich den kleinen Finger ab, wenn er die Porzellantasse am Henkel fasste und hochhob. Für mich war er die Verkörperung des Krieges in Friedenszeiten, gewaltige Kraft, die in vornehmes Benehmen eingebunden war und sich bemühte, einen Ausbruch ihrer selbst zu vermeiden. Wenn er die Tasse hob, den kleinen Finger abgespreizt, zog er immer seine Notizen zu Rate und stellte eine weitere Frage, bevor er trank. Die Tatsache, dass sein kleiner Finger die Größe und Form eines Knüppels der Arbites hatte, war dabei nebensächlich. »Ich versuche herauszufinden, Bruder Inquisitor, ob die Umgebungen der Saruthi-Xenos unsere Truppen behindern oder ihrer optimalen Kampffähigkeiten berauben wird.« »Dessen können Sie gewiss sein, Bruder Bibliothekar.« Ich schenkte mir noch etwas Olocettee aus der silbernen Kanne ein. »Meine Kameraden waren praktisch für die gesamte Dauer des Unternehmens desorientiert, und die Gudruner Infanterie ist mehr an der Umgebung zerbrochen als an allem anderen. Dort herrscht eine Verkehrtheit, die unsere Sinne ziemlich entwaffnet. Einige haben gemutmaßt, dass dieser Effekt von den Saruthi absichtlich erzeugt und benutzt wird, um andere, an drei Dimensionen gewöhnte Wesen aus der Fassung zu bringen, aber die Erklärungen des Verräters Malahite kamen mir sinnvoller vor. Die Verkehrtheit ist das Nebenprodukt der von den Saruthi bevorzugten Umgebung. Wir können davon ausgehen, dass dieser Effekt auf jeder ihrer Heimatwelten die Norm ist.« Brytnoth nickte und machte sich weitere Notizen. 368
»Ich bin sicher, die Erfahrung Ihres Ordens und die besondere sensorische Ausrüstung wird damit fertig«, warf Madorthene ein. »Ich selbst sorge mich um die Garde. Sie wird die Hauptstütze dieser Aktion sein.« »Sie haben alle die vorbereitenden Lehr-Simulationen gesehen«, murmelte Brytnoth. »Mit Verlaub, das habe ich auch, und sie werden den Gegebenheiten, die wir dort vorfinden werden, kaum gerecht.« Ich schaute über den Tisch in Brytnoths Gesicht. Seine zerklüfteten Züge waren eingefallen und farblos, das übliche Merkmal eines Mannes, dessen Kopf den größten Teil seines Lebens in einem Kampfhelm steckte. Seine zusammengekniffenen Augen betrachteten mich mit Interesse. Welche Kriege, welche Siege hatten diese Augen schon erlebt, fragte ich mich. Welche Niederlagen? »Was schlagen Sie vor?«, fragte Brytnoth. »Gefechtsübungen unter widrigsten Umständen«, erwiderte ich. Ich dachte angestrengt nach. »Olm hier weiß, dass ich kein Militär bin, Bruder Bibliothekar, aber das ist mein Eindruck. Die Soldaten sollen überladen üben. Verbinden Sie ihnen bei manchen Übungen die Augen, schränken sie bei anderen ihre Beinfreiheit mit Fußfesseln ein, und verändern Sie die Schwerkraft in den Übungsgewölben. Beschweren Sie die Rucksäcke asymmetrisch und lassen Sie sie seitenverschoben tragen, damit es unangenehm wird. Verändern Sie die Beleuchtung ohne Vorwarnung. Dasselbe gilt für Temperatur und Luftdruck. Machen Sie es ihnen einfach nur schwer. Lassen Sie sie unter extrem schwierigen Bedingungen laufen, Deckung suchen, schießen und nachladen. Lassen Sie alle wesentlichen Kampfprozeduren so ausgiebig üben, dass sie sie überall und unter allen Umständen ausführen können. Wenn sie auf 56-Izar landen, muss das Gefecht das einzige sein, worüber sie sich Gedanken machen. Alles andere sollte instinktiv ablaufen.« Madorthene lächelte zuversichtlich. 369
»Bei den uns zur Verfügung stehenden Infanterie-Einheiten handelt es sich in erster Linie um Soldaten der Flotte und leichte Elitetruppen der Imperialen Garde von Mirepoix, anders als die gudrunischen Rekruten, die Sie zu hüten hatten, Gregor, alles erfahrene Soldaten. Wir lassen sie durch die Reifen springen, bis sie für das Unternehmen gerüstet sind. Sie haben die Kampferfahrung und den Schneid, um es zu schaffen.« »Knausern Sie nicht«, warnte ich Madorthene. »Und diese Rekruten, die Sie erwähnt haben - Sergeant Jeruss und seine Männer. Ich will sie bei mir haben, wenn ich runtergehe.« »Gregor! Wir können Ihnen einen Elite-Trupp von Mirepoix mitgeben, der ...« »Ich will die überlebenden Gudruner.« »Warum?«, fragte Brytnoth. »Sie mögen nicht viel Kampferfahrung haben, aber sie haben in einer Tetralandschaft gekämpft. Das sind die Männer, die ich an meiner Seite haben will.« Madorthene und Brytnoth wechselten einen Blick, und der Prokurator zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen .« »Was die anderen betrifft: Wie ich schon sagte, sparen Sie nicht am Übungsprogramm.« »Auf keinen Fall!«, gluckste er mit gespielter Empörung ob der bloßen Vorstellung. »Die Ausbilder werden die Regimenter so hart rannehmen, dass sie sich nach einer richtigen Schlacht sehnen werden.« »Ich meine es ernst«, sagte ich. »Jeder Mann, der einen Fuß auf 56-Izar setzt - den ehrenwerten Orden der Todeswacht eingeschlossen, möge der Imperator ihn segnen -, muss darauf vorbereitet sein, die Herrschaft über seine Sinne, sein Urteilsvermögen, seine seelische Stärke und sogar seine grundlegenden geistigen Fähigkeiten zu verlieren. Es wird sie schwer treffen, aber auf 370
eine heimtückische, hinterhältige Art. Mir ist vollkommen egal, ob die Männer den Namen ihrer Mutter vergessen oder sich in die Hose machen, aber sie müssen noch wissen, wie man eine Linie hält, schießt und nachlädt, zum Imperator betet und Befehle befolgt.« »Prägnant ausgedrückt«, sagte Brytnoth. »Natürlich werde ich Ihre Vorschläge ein wenig umformulieren, bevor ich sie meinen Schlachtbrüdern vorlege.« »Mir ist völlig egal, was Sie ihnen sagen«, grinste ich, »solange Sie ihnen verheimlichen, von wem die Vorschläge stammen.« »Ihre Anonymität ist gewährleistet.« Er lächelte. Was ein Wunder war. Ich halte mich für einen der ganz wenigen Sterblichen, die einem Bibliothekar der Adeptus Astartes ein Lächeln entlockt haben. Oder auch nur einen Bibliothekar der Adeptus Astartes lächeln gesehen haben. Brytnoth schob Tafel und Griffel beiseite und betrachtete mich mit einiger Neugier. »Mandragore«, sagte er. »Das uneheliche Emperor's Child? Was ist mit ihm?« »Man hat mir berichtet, Sie hätten ihn persönlich getötet. In einem Zweikampf. Das ist eine ziemliche Leistung für jemanden wie Sie - und das ist keinesfalls despektierlich gemeint.« »Ich habe es auch nicht so aufgefasst.« »Wie haben Sie es gemacht?«, fragte er direkt. Ich erzählte es ihm in schlichten Worten. Brytnoth zeigte keine Reaktion, aber Madorthene lauschte wie gebannt. »Bruder Hauptmann Cynewolf wird fasziniert sein«, sagte Brytnoth. »Ich habe ihm versprochen, die Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Er hat darauf gebrannt, Sie danach zu fragen, aber er hat sich nicht getraut.« Wenn das nicht komisch war. Wir bereiteten uns auf den bevorstehenden Krieg vor. Er 371
würde anstrengend und anders als die meisten Feldzüge nicht in zwei Seiten aufgeteilt sein. Ich sah mir die Übungen an und war beeindruckt von den Bemühungen und der Disziplin. Ich hatte sogar das erschreckende Vergnügen, Hauptmann Cynewolfs Kampfgruppe bei einer Jagd durch die Ebenen des Laderaums zu beobachten. Wir waren bereit. So bereit, wie wir nur sein konnten. In der neunten Woche des Fluges gaben Lordinquisitor Rorken und Admiral Spatian eine gemeinsame Erklärung ab, auf offizielle Veranlassung der Ekklesiarchie. Ein Mandat zur Säuberung von 56-Izar, und zwar nach den im Imperiumskodex niedergelegten Richtlinien und Bestimmungen. Damit war das Unternehmen besiegelt. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Wir flogen mit hoher Geschwindigkeit durch den Warpraum, um auf der Saruthi-Welt zu landen und sie, wenn nötig, zu zerstören. In meinen Wochen der Rekonvaleszenz träumte ich wenig. Aber in der letzten Nacht vor unserer Ankunft auf 56-Izar kehrte der gut aussehende Mann mit dem leeren Blick zurück, um durch die Landschaften meiner Träume zu schleichen. Er redete mit mir, aber weder konnte ich seine Worte hören, noch verstand ich seine Absicht. Er führte mich durch die zugigen Säle eines in Trümmern liegenden Palastes und verabschiedete sich dann lautlos in die Traumwildnis dahinter, um mich nackt und bloß in einer Ruine allein zurückzulassen, die über mir schwankte und einstürzte. Auch die Saruthi kamen in meinen Träumen vor. Sie erhoben sich mühelos durch die Ziegeltrümmer des eingestürzten Palastes, indem sie Winkel und Wege fanden, die mir verborgen blieben. Die zahlreichen Nasenlöcher in ihren schwankenden Köpfen blähten sich, als sie meine Witterung aufnahmen. Ihre Schädel funkelten vor Energie ... Ich erwachte schweißgebadet, mehr außerhalb meines breiten 372
Bettes als darin. Meine Kissen lagen verstreut auf dem Boden. Das Korn auf meinem Nachttisch summte. »Inquisitor Eisenhorn?« »Tut mir leid, Sie zu wecken«, sagte Madorthene. »Aber ich dachte, Sie wollten es wissen. Vor sechsundzwanzig Minuten hat die Flotte das Immaterium verlassen. Wir nähern uns dem Invasionsorbit um 56-Izar.«
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DREIUNDZWANZIG Vorstoß der Invasion. Schiefe Winkel. In den Gärten der Saruthi.
er Krieg hatte bereits begonnen. D 56-Izar hing wie eine Perle im All, milchig weiß und strahlend. Lebhafte Blitze und trägere Blüten der Zerstörung erleuchteten von unten seine durchscheinende Wolkendecke. Die Ketzerflotte war zwei Tage vor uns eingetroffen und hatte mit dem Angriff auf den Planeten begonnen. In Gedanken bezeichnete ich sie immer noch als Estrums Flotte, aber natürlich war sie das nicht. Dafür hatte ich persönlich gesorgt. Jetzt war es Lockes Flotte, davon war ich überzeugt. Die dreizehn Schiffe hatten 56-Izar in einem unüblichen, aber wirkungsvollen Invasionsschema angegriffen. Wellen aus Kampfbombern, Abfangjägern und Landungsbooten regneten auf den Planeten nieder, und die Großkampfschiffe in der Umlaufbahn bombardierten die Oberfläche mit ihren kompletten Batterien. Sie hatten unsere Schlachtflotte in dem Augenblick entdeckt, als sie den Warpraum verlassen hatte. Ihre Postenschiffe, die schweren Zerstörer Nebuchadnezzar und Fournier, drehten bei, um ihr Heck zu schützen. Admiral Spatian hielt unsere Schlachtflotte der Umlaufbahn fern und schickte die Fregatten Verteidigung von Stalinvast, 374
Imperators Hammer und Eiserner Wille voran, um den Weg freizumachen. Den Fregatten ließ er die massierten Jägergeschwader der Schlachtflotte folgen und erteilte dem Schlachtschiff Vulpecula den Befehl, sich des feindlichen Flaggschiffs anzunehmen, eines schweren Kreuzers namens Leoncour. Imperators Hammer und Eiserner Wille nahmen die Nebuchadnezzar in die Zange und zerstörten sie nach einem kurzen, aber heftigen Schusswechsel. Die Explosion erleuchtete das All. Die Verteidigung von Stalinvast und die Fournier begannen einen langwierigeren, langsameren Tanz zwischen Kriegsschiffen und krachten schließlich zusammen. Entermannschaften und Einheiten der Flottensicherheit drangen jeweils in das andere Schiff ein. Die aneinandergefesselten Schiffe trieben in tödlicher Umarmung ab. Die Vulpecula raste vorwärts, unterschätzte die Höhe der Leoncour und wurde von drei Breitseiten getroffen. Trümmer ins All absondernd, schwenkte das Imperiumsschlachtschiff herum, hob die Geschütze und deckte die Leoncour so massiv und heftig ein, dass das feindliche Flaggschiff auseinanderbrach und wie eine sterbende Sonne explodierte. Die angeschlagene Vulpecula wendete langsam und machte sich daran, die näher an der Atmosphäre der Zielwelt befindlichen Feindschiffe aus sicherer Entfernung unter Beschuss zu nehmen. Dann beorderte Spatian den Rest seiner Flotte in drei Gruppen nach vorn, deren mittlere und größte von der majestätischen St. Scythus angeführt wurde. Entfernungen verringerten sich. In der näheren Umgebung von 56-Izar wimmelte es von Feuerblumen und dahinrasenden Kometen aus Raketen. Jetzt begann die heftige Hochgeschwindigkeits-Kampfphase der kleineren Schiffe, und Wellen von Abfangjägern und leichten Bombern 375
aus beiden Flotten trafen sich und umschwirrten einander wie konkurrierende Insektenschwärme Die winzigen Lichter wirbelten und tanzten durch das All, schneller und zahlreicher, als das bloße Auge aus_ machen konnte. Sogar die taktischen Anzeigen überwältigten die Sinne: auf Bildtafeln flackerten Tausende von Typenmarkierungen und blitzenden Zeigern, die umherwirbelten, einander überlappten, verschwanden und wieder auftauchten. Die Ketzer hatten eine Pufferzone hinter ihrem Aufmarschgebiet vermint, und Imperators Hammer, die in der Rolle eines Störenfrieds vorpreschte, erlitt schwere Schäden und war gezwungen, den Anflug abzubrechen. Abfangjäger der Ketzer fielen über das leidgeprüfte Schiff her wie Aasfliegen über ein sterbendes Tier. Eiserner Wille flog an Imperators Hammer vorbei und fegte mit ihren speziellen Räumgeräten eine Schneise durch das Minenfeld. Durch sondierende Kraftfeldkegel ausgelöst, explodierten die im All treibenden Minen zu tausenden. Spatians Absicht bestand darin, einen Keil in die breit gefächerte Feindformation zu treiben und wenigstens einige seiner Schiffe in Reichweite der Planetenoberfläche zu bringen. Nach Erreichung dieses Zwischenziels konnte er mit dem Angriff auf den Planeten beginnen, da die Kampfschiffe den Landungsbooten dann Feuerschutz würden geben können. Die St. Scythus sicherte sich als erstes Schiff so eine Position. Ihre Hauptgeschütze machten dem Ketzer-Kreuzer Scutum erbarmungslos den Garaus und zwangen die Trägerfregatte Algols Herrlichkeit zu einem verzweifelten Rückzugsmanöver. Hunderte Landungsboote stießen wie ein Hagelsturm aus dem Schlachtschiff und aus den beiden Fregatten sowie dem schwarzen Inquisitionsschiff herab, die hinter ihm in Stellung geflogen waren. 376
Die meisten der Landungsboote, die mit feuernden Düsen in die wolkige Atmosphäre von 56-Izar rasten, trugen den grauen Anstrich der Imperialen Garde. Aber unter ihnen verteilt befand sich auch eine Handvoll nachtschwarzer Boote des Ordens der Todeswacht. Die Gegeninvasion hatte begonnen. In der ersten Stunde des Krieges gelang es uns, mehr als zwei Drittel unserer hundertzwanzigtausend Mann starken Mirepoixer Leichten Elite-Infanterie auf der Oberfläche von 56-Izar zu landen, beinahe die Hälfte der Panzerbrigaden und alle sechzig Adeptus Astartes der Todeswacht. Sensorabtastungen wiesen 56-Izar als nichtssagende, nicht weiter bemerkenswerte Welt unter ihrem dichten Atmosphärenschleier aus. Riesige flache Kontinente aus anorganischem Schlamm, von kristallinen Höhenzügen durchbrochen und untätigen chemischen Ozeanen umgeben. Die einzigen Anzeichen für höher entwickeltes Leben tatsächlich sogar von jedwedem Leben - waren eine Reihe stadtgroßer, kettenförmig angeordneter Gebilde im Äquatorialgebiet des Hauptkontinents. Natur und Zusammensetzung dieser Bauwerke ließ sich aus der Umlaufbahn nicht ausmachen. Die Ketzer hatten ihre Invasionsbemühungen auf die drei größten Bauwerke konzentriert, und Admiral Spatian zielte auf diese Bereiche, da er davon ausging, dass der Feind keine Zeit mit der Invasion uninteressanter Regionen vergeuden würde. Die Verluste waren hoch. Es wimmelte von feindlichen Abfangjägern, Mikrominen und Boden-Luft-Raketen. All das war ein rein menschlicher Krieg. Es gab überhaupt keine Hinweise auf eine Teilnahme der Saruthi. Nach den Hauptlandungstruppen folgten die inquisitorischen Einheiten, fünf spezialisierte Stoßtrupps, deren Aufgabe darin bestand, 377
dem Militär durch die geschlagene Bresche zu folgen und das Hauptziel in Angriff zu nehmen: die Gefangennahme oder Auslöschung der ketzerischen Verschwörer sowie die Vernichtung jeglichen Nekroteuch-Materials. Ich befehligte einen Stoßtrupp, die vier weiteren wurden von Endor, Schongard, Molitor und Lordinquisitor Rorken persönlich geführt. Voke war zu krank, um einen Trupp zu übernehmen, und sein Vertreter, Heldane, begleitete Endors Trupp. Meine eigene Streitmacht namens Säuberung Zwo bestand aus zwanzig gudrunischen Infanteristen, Bequin, Midas und einem Space Marine der Todeswacht namens Guilar. Jedem Inquisitor war ein Mitglied der Astartes zugeteilt worden. Fischig hatte darum gebeten, mich zu begleiten, aber nach seinen schweren Verletzungen und den anschließenden Operationen war er noch zu schwach, und ich hatte schweren Herzens abgelehnt. Er blieb mit Aemos auf dem Schlachtschiff, der kein Kämpfer war, welche Maßstäbe man auch anlegte. Unser Transportmittel, ein Landungsboot der Imperialen Garde, verließ die St. Scythus direkt hinter Lord Rorkens Trupp namens Säuberung Eins. Den vibrierenden, bebenden Sinkflug zur Oberfläche erlebten wir angeschnallt auf den Antigravsitzen im Mannschaftsraum. Jeruss' Männer sangen beim Sinkflug. Ihre normalen gudrunischen Uniformen waren durch frische Rüstungen aus den Flottenmagazinen verstärkt worden, und neben dem Regimentsabzeichen des 50. Gudrunischen Infanterie hatten sie Embleme der Inquisition auf die Manschetten genäht. Sie waren guter Stimmung, eifrig und entschlossen. Beseelt. Ich glaube, infolge des Vertrauens, das ich ihnen durch die Auswahl erwiesen hatte. Madorthene hatte mir anvertraut, dass sie in dem erschwerten Übungsprogramm beständig überdurchschnittliche Ergebnisse erzielt hatten. 378
Sie scherzten und prahlten und sangen imperiale Hymnen wie Veteranen. Ihre Erlebnisse seit der Gründung in Dorsay hatten ihnen in der Tat eine rasche Feuertaufe beschert. Auch Bequin war durch ihre Erfahrungen in den Monaten seit unserer ersten Begegnung auf Hubris verwandelt worden. Eine harte, ernsthafte Frau war an die Stelle des ein wenig verrückten, egoistischen Freudenmädchens aus der Sonnenkuppel getreten, als habe sie endlich eine Berufung gefunden, die zu ihr passte. Sie hatte sich jedenfalls mit Hingabe und Eifer in ihr neues Leben gestürzt. Ich betrachtete die Veränderungen als eindeutige Verbesserungen. Viele werden zum Dienst an unserem geliebten Imperator berufen, und viele lassen dabei zu wünschen übrig. Trotz aller Torturen hatte sich Alizebeth Bequin bewiesen. Wenn es einen Punkt gab, an dem man ihre Verwandlung festmachen konnte, war es das Plateau. Der Anblick von Mandragores Leichnam hatte ihr die Ängste ausgetrieben. Mit einer schwarzen Rüstung und einem langen schwarzen Samtmantel bekleidet, saß sie auf dem Sitz neben mir und überprüfte sorgfältig ihr Lasergewehr. Der Züchtiger hatte sie gut ausgebildet. Ihre behandschuhten Hände beschrieben rasche, professionelle Bewegungen über der Waffe. Nur der Saum aus schwarzen Federn um den Halsausschnitt des Mantels verriet noch eine Spur des geschminkten, herausgeputzten, schmuckbehangenen Freudenmädchens von einst. Midas saß voller Unbehagen auf meiner anderen Seite. Er war ein lausiger Passagier, und ich wusste, dass er sich nichts sehnlicher wünschte, als anstelle des Flottenpiloten in der Kanzel des Landungsbootes zu sitzen. Er trug seine kirschrote Jacke trotz der Einwände des sauertöpfischen Guilar, der die grelle Farbe als »ungeeignet für den Kampf« betrachtete. Seine Nadler waren gehalftert, und sein langes glavianisches Gewehr lag quer 379
über den Knien. Ich trug eine braune Lederrüstung und meinen durchgeknöpften Mantel für den Angriff, ein Kompromiss zwischen Schutz und Mobilität. Meine Amtssymbole prangten stolz über der Schärpe auf meiner Brust. Bibliothekar Beytnoth hatte mir in einer Geste, die mich ehrte, eine Boltpistole zur persönlichen Verwendung geschickt. Es handelte sich um ein kompaktes handgefertigtes Modell mit einem Gehäuse aus mattgrünem Stahl. Die rechteckigen Magazine wurden in den Handgriff eingeführt, und ich hatte die Waffe mit einem geladen. Acht weitere steckten in den Schlaufen meines Gürtels. Nach acht Minuten heftigen Sinkflugs wurde die Flugkurve flacher, und die Vibrationen ließen nach. Guilar, der neben dem Rampenluk saß, beschrieb das Zeichen des Adlers in der Luft und ließ die Verschlüsse seines Helms einrasten. »Zwanzig Sekunden!«, verkündete der Pilot über Kabinenkom. Wir lösten uns aus den Wolken und flogen mit Höchstgeschwindigkeit in das Feuer und die Dunkelheit des Kriegsgebiets einem der aus der Umlaufbahn identifizierten Stadtbauwerke entgegen. Die Stätte war von einer Reihe gewaltiger Seen oder Staubecken umringt, und die darin enthaltene Flüssigkeit stand in Flammen, die tausende von Metern in die Höhe loderten. Nachtschwarzer Rauch wurde von den Brandherden abgesondert und sperrte das unmittelbare Tageslicht aus, während die Welt unter ihnen durch die brodelnden Flammen und das Kreuzfeuer der Waffen in bernsteinfarbenes Licht getaucht war. Das Landungsboot erbebte, als die Bremsdüsen feuer ten, und wir ruckten trunken herum, bevor wir nieder gingen. Guilar hieb auf einen Schalter in der Wand, und das Rampenluk öffnete sich mit einem Jaulen von Metall auf 380
Metall. Kalte Luft und Rauch wehten in die Kabine. Wir betraten eine weite gleißende Ebene aus weißem Matsch, der unter unseren Sprungstiefeln feucht quatschte. Die Matschebene lag zwischen zwei der brennenden Seen, und wir spürten die Hitze der gewaltigen Feuer im Gesicht. Der nasse Schlamm reflektierte die lodernden Flammen in blendenden Mustern. Die weiße Ebene war mit den brennenden Trümmern eines abgestürzten Landungsbootes und den verkohlten Leichen einiger Mirepoixer gespickt. Über uns zuckten Laserstrahlen durch die Luft. Ein Kilometer voraus waren die vertrauten Formen der reifenartigen Bögen, der »Tetratore«, wie die Techpriester der Flotte sie getauft hatten, einige davon infolge des Angriffs zerstört. Hinter ihnen erhoben sich die perlweißen Flanken eines riesigen Bauwerks: das Zielgebilde, kurvig und segmentiert wie eine gigantische Meeresmuschel und mit vielen tausend winzigen Brandflecken und Lasernarben bedeckt. Wir rückten hinter Guilar vor. Die Luft war mit Treibstoffdämpfen und anderen Gerüchen wie nach Lakritz gesättigt, die ich nicht eindeutig identifizieren konnte. »Säuberung Zwo, bei Kartenmal sieben gelandet«, meldete ich über Korn. »Verstanden, Säuberung Zwo. Säuberung Eins und Säuberung Vier melden sichere Landung und Ausstieg.« Also waren auch Rorkens und Molitors Trupps unten angekommen. Noch nichts von Endor und Schongard. Als wir die ersten zerschmetterten Bögen passierten, zögerte Guilar plötzlich und schüttelte seinen behelmten Kopf. Ich spürte die Verkehrtheit bereits, die heimtückische Verzerrung der Saruthi-Umgebung. Wahrscheinlich wurde der Effekt durch die zerstörten Tetratore noch betont. Diese stummen Vorrichtungen projizierten und erhielten die Tetralandschaften der Saruthi, die jetzt fehlerhaft und 381
unvollständig waren. Die Gudruner bemerkten es ebenfalls, wirkten aber unbeeinträchtigt. »Übernehmen Sie die Spitze!«, sagte ich zu Jeruss, und Guilar sah mich scharf an. »Sie brauchen Zeit, um sich daran zu gewöhnen, Bruder Guilar. Streiten Sie nicht.« Jeruss und drei Gudruner übernahmen die Führung. Selbst sie hatten Schwierigkeiten und torkelten manchmal wie berauscht. Hier waren die Winkel von Zeit und Raum wahrhaftig schief und verzerrt. Hinter uns brüllten Schubdüsen, und unser Landungsboot erhob sich von dem gleißenden Schlamm, während Rampe und Landestützen eingefahren wurden. Seine Höhe betrug kaum sechzig Meter, als es mittschiffs von einer Rakete getroffen wurde, die den Rumpf auseinanderbersten ließ. Die brennende Kanzel wurde durch die Explosion abgesprengt und fiel in einen Feuersee. Metalltrümmer des zerstörten Gefährts hagelten auf den weißen Schlamm herunter. Doch ohne die Gnade des Gott-Imperators hätten wir alle noch an Bord sein können. In einem unsteten Trott erreichten wir das Saruthi-Bauwerk. Die riesige, leuchtende Form hatte die Größe einer imperialen Makropole, und ihr Fundament verschwand unter dem weißen Schlamm. Ich versuchte ein Gefühl für das Gebäude zu entwickeln, schaffte es aber nicht und gab lieber auf, anstatt völlige Desorientierung zu riskieren. Mit seinen polierten Abschnitten und perfekten Rundungen sah es wie ein Ammonit aus, aber meine menschlichen Augen konnten seine wahre Gestalt nicht erfassen. Die Überlappungen und Kanten trafen sich nicht, wie man erwarten würde, was für stark ablenkende optische Täuschungen sorgte, wenn ein Versuch unternommen wurde, ihnen von einem Punkt zum anderen zu folgen. 382
Wir erreichten seinen Fuß. Es gab keine Türen oder Eingänge, und jene, die vor uns gekommen waren, hatten versucht, sich einen Weg durch die glänzende Oberfläche zu sprengen, nur um festzustellen, dass es von innen scheinbar solide war. Ich zog meinen Trupp von der Barriere ab. Wir kehrten um und näherten uns dem Gebäude dann noch einmal durch die Tetratore. Jene in der Nähe des Bauwerks waren alle intakt. Wie ich erwartet hatte, traten wir durch das letzte Tor und befanden uns gleich darauf im Innern des Bauwerks, als seien wir durch dessen perlmuttartig schillernde Wand getreten. Drinnen spendete irgendeine Quelle in den Wänden ein wenig Licht. Es war warm und der Geruch nach Lakritz stechender und intensiver. Der Boden, durchscheinend und ebenfalls perlmuttartig, war konkav und floss förmlich in die Rundung der Wände. Wir gingen weiter, die Waffen im Anschlag. Der Korridor und ich verwende das Wort im weitesten Sinn -schien eine Spirale zu beschreiben wie die Innenform einer großen Muschel oder die Gänge des menschlichen Ohrs, aber zu keinem Zeitpunkt hatten wir ein anderes Gefühl, als aufrecht zu gehen. Die Spirale öffnete sich zu einem hornartigen Kegel und endete in einer großen, beinahe sphärischen Kammer. Ihre wahre Größe ließ sich unmöglich schätzen, ebenso wenig wie sich ihre wahre Form definieren ließ. Es schien sich um eine Art Ziergarten oder sogar eine Art Agrarbetrieb zu handeln. Silberne Gehwege, von irgendeiner unsichtbaren Kraft wie Gravitation in der Schwebe gehalten, verliefen zwischen gerundeten Flüssigkeitsbehältern, die Beete für riesige Palmfarne und andere knollenförmige primitive Pflanzen bildeten. Die fleischigen Gewächse umgaben uns, tropfnass und in Schlingpflanzen und andere rankende Sukkulenten gehüllt. 383
Von unsichtbaren Fassungen über den Beeten hingen Ranken und Stränge blühenden Blattwerks herab. Es gab Insekten, die zwischen den geschwollenen Glockenblüten, Halbmondformen und Säulen der gigantischen Vegetation umherschwirrten. Eines landete auf meinem Arm, und ich erschlug es, wobei ich mit Abscheu registrierte, dass es fünf Beine, drei Flügel und keine Symmetrie besaß. Wir folgten dem silbernen Gehweg. Er führte durch ein Tetrator, und auf einmal befanden wir uns in einer anderen Gartenkammer, die ebenso mit glänzendem Pflanzenleben im Überfluss gefüllt war, das in den Flüssigkeitstanks gedieh. Die größten Gewächse hier drinnen - riesige gelbe Schachtelhalme mit orangen Adern - erhoben sich achtzig oder neunzig Meter über den schwebenden Gehweg. Guilar stieß einen Alarmruf aus, und sein Boltgewehr fing an zu schießen und spie Patronen durch diese zweite Kammer, die wir gerade auf dem silbernen Gehweg durchquerten. Die Patronen sprengten kürbisartige Pflanzen in fasrigen Eruptionen aus Saft und Fetzen von Blättern und Ranken in die Luft. Das Feuer wurde erwidert. Laserstrahlen zischten, und wir hörten das Krachen von Autogewehren. Durch diesen Dschungel im Innern des Bauwerks rückten die Soldaten der Ketzer gegen uns vor.
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VIERUNDZWANZIG Säuberung Zwo kämpft. Eine lautlose Revolution. Dazzos Triumph.
Sie kamen schießend
durch die Gewächse über den silbernen Weg, Menschen in der fleckigen Uniform des 50. Gudrunische Infanterie und der schwarzen Rüstung der Flottensicherheit. Zwei der Gudruner in meinem Trupp stürzten und fielen vom Gehweg, und ihre Leichen verschwanden im öligen Wasser der Tanks tief unten. Aber der größte Teil des feindlichen Beschusses ging daneben. Säuberung Zwo konterte, und Lasergewehre zischten. Ich rückte zur Spitze der Gruppe vor und gab Schüsse mit meiner Boltpistole ab. Auf dem silbernen Gehweg gab es kaum Platz zum Manövrieren und noch weniger Deckung. Meine ersten Schüsse gingen daneben, so weit daneben, dass ich mich fragte, ob mit der Boltpistole alles in Ordnung war. Dann fiel mir die heimtückische Natur der Tetralandschaft der Saruthi ein, und ich korrigierte. Zwei Schüsse, zwei befriedigende Treffer. Bequin und Midas hatten den Trick ebenfalls heraus, und Jeruss' Jungens lernten schnell. Guilar machte eine Menge Lärm mit seinem Boltgewehr, aber ich hatte den Eindruck, dass ihm die Umgebung immer noch größtes Unbehagen bereitete. 385
Es war ein heilsamer Augenblick. Mit anzusehen, wie einer der gottgleichen Krieger, die ich seit dem Tag vor dreißig Jahren, als die White Scars Almanadae eroberten, mit großer Ehrfurcht betrachte, fehlbar wurde. Trotz seiner Kraft und Tapferkeit, seiner übermenschlichen Vitalität und fortschrittlichen Waffen erreichte er nichts, während Yeltun, der jüngste der Gudruner, bereits drei Feinde getötet hatte. War es Arroganz? Übergroßes Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten? »Guilar! Bruder Guilar! Korrigieren Sie Ihr Ziel!« Ich hörte ihn irgendwas von Unverschämtheit fluchen, dann stürmte er vorwärts und sprengte weiter Pflanzen mit seinen Schüssen. »Warum hört der dämliche Hund nicht zu?«, beklagte sich Midas, indem er sein glavianisches Gewehr anlegte und einen Soldaten der Ketzer auf hundert Meter enthauptete. »Vorrücken!«, befahl ich. »Jeruss! Splittergranaten einsetzen!« Jeruss und drei andere warfen Splittergranaten über die Pflanzendickichte. Detonationsblitze sprengten schlammiges Wasser und Pflanzenmaterie aus den Tanks, und Pflanzenfasern und Feuchtigkeit hingen wie ein dichter Nebel in der Luft. Es gab eine abrupte Änderung im Tonfall des feindlichen Feuers. Das Krachen eines Boltgewehrs übertönte das Zischen und Knacken der Laserwaffen. Als mein Blick dem silbernen Gehweg folgte, sah ich, wie Guilar rückwärts taumelte, als sein Brustharnisch von mehreren Boltpatronen getroffen wurde. Mit einem Schrei mehr der Wut denn des Schmerzes fiel er vom Weg und in das blubbernde Wasser des Tanks hinter uns und verschwand. Sein Mörder schob die Fußsoldaten der Ketzer aus dem Weg und kam uns über den Gehweg entgegen. 386
»0 nein!«, rief Bequin. »Bitte, beim Goldenen Thron, nein!« Noch ein Emperor's Child, der Bruder, wenn nicht sogar der Zwilling des üblen Mandragore. Sein schillernder Umhang wehte hinter ihm, und seine mit Stahl beschlagenen Hufe ließen den Weg erbeben. Er brüllte wie ein Auerochsenbulle. Sein Boltgewehr spie Feuer, und der Gudruner neben mir platzte auseinander. Die Emperor 's Children, stillschweigende Förderer dieses Unternehmens, waren hier, um ihre Investitionen zu schützen. Waren sie nach Mandragores Tod ungebeten gekommen? Hatten Dazzo oder Locke sie herbestellt? Ich schoss mit der Boltpistole auf ihn und trug damit zu dem verzweifelten Sperrfeuer bei, das Säuberung Zwo auf ihn richtete, hektisch bemüht, ihn zu stoppen. Die Furcht ließ die Männer den besten Teil ihrer Ausbildung vergessen, und viele ihrer Schüsse gingen daneben. Die wenigen, die seine Rüstung trafen, schien er kaum zu spüren. »Säuberung Zwo! Hier Säuberung Zwo! Die Emperor's Children sind hier!«, brüllte ich in mein Korn. Ich wusste, dass ich jeden Moment sterben würde. Es war unbedingt erforderlich, dass das Flottenkommando von dieser schlimmen Entwicklung erfuhr. Eine schwarze Gestalt schoss aus dem dunklen Wasser in die Höhe und verspritzte dabei Schaum und Schlamm in alle Richtungen. Bruder Guilar rammte den Chaos Marine und riss ihn um, so dass beide strampelnd und um sich schlagend in den angrenzenden Tank fielen. Irgendetwas, wahrscheinlich das Boltgewehr des Ketzers, schoss wiederholt unter Wasser, und die Seite des Tanks unter dem schwebenden Weg wurde in einer reißenden Flut ausströmender Flüssigkeit zerschmettert. Die Brühe floss heraus und durch die Gräben zwischen den Gartenbauwerken ab. Als der Flüssigkeitspegel sank, tauchten die titanischen Kämpfer auf, 387
schwarz vom Schlamm, und wechselten unmenschliche Hiebe zwischen dem Gewirr aus Wurzeln und Zuleitungsrohren auf dem schlammigen Boden des Tanks. In Keramit gehüllte Fäuste hämmerten gegen Panzerplatten. Plaststahlsplitter flogen in alle Richtungen. Die riesigen Pranken des Chaos-Marine griffen nach Guilar und rissen an dessen Visier und Schulterschützern. Guilar drängte ihn zurück, und seine Füße wühlten die niedrige Brühe auf. Sie prallten gegen den Stamm eines Palmfarns. Der Feind klammerte sich fest, bekam Guilar besser zu fassen und rammte einen gezackten Dorn am Panzerhandschuh durch die Versiegelung in der Achselhöhle der Rüstung des Todeswächters. Guilar taumelte, und als er zurückwich, stieß ihn ein heftiger Rückhandschlag zu Boden und riss ihm den Helm vom Kopf. Der Chaos Marine warf sich auf den am Boden liegenden Guilar, riss an dessen Kehle und schmetterte ihm Fäuste wie Felsbrocken ins Gesicht. Das Krachen einer Waffe ertönte, und es gab einen Blitz. Mit zerstörtem Gesicht und von innen brennendem Schädel kippte der Chaos-Abschaum rückwärts in die Brühe. Guilar erhob sich unsicher, das Boltgewehr in der Hand, aus seinen Wunden in Hals und Gesicht blutend.Es war ein formidabler Sieg. Jeruss und seine Männer jubelten und setzten dann ihren Angriff auf die verbliebenen Ketzer fort. Der Feind, dem die Entschlossenheit abhanden gekommen war, zog sich zurück und verschwand im Dickicht der Gärten. Tropfnass kletterte Guilar wieder auf den Weg und sah mich an. »Ich bin froh, dass Sie noch unter uns weilen, Bruder Guilar«, sagte ich. Wir folgten den Wegen weiter durch die Gärten der Saruthi, ohne auf Widerstand zu stoßen. Die toten Feinde, 388
auf die wir unterwegs stießen - in den Tanks treibend oder auf den Wegen liegend - trugen Spuren von Brandzeichen im Gesicht. Chaosmale, die nicht durch Hitze, sondern vielmehr durch Böses in die Haut gebrannt worden waren. Admiral Spatian hatte gehofft, einige der Ketzertruppen, vor allem die gudrunische Infanterie, könnten noch für die Sache des Imperiums zurückgewonnen werden. Wie Jeruss und dessen Männer waren die meisten nur unfreiwillige Opfer von Estrums Verrat, und die Flottentaktiker hatten Siegesmodelle vorgestellt, in denen sich der Großteil von Lockes und Dazzos Bodentruppen gegen sie wandte. Diese Hoffnungen zerstoben. Der Verstand dieser guten Männer war vom Chaos weggebrannt und vergiftet worden. Die Ketzer hatten sich der Loyalität ihrer gestohlenen Armeen versichert. Wir rückten durch die Tetratore weiter vor und durchquerten dabei sechs weitere Gartensphären sowie ausgedehnte, geflieste Höfe und Hallen mit asymmetrischen Säulen, deren Funktion wir nicht einmal erahnen konnten. Zwei Mal lieferten wir uns mit Ketzertruppen ein kurzes Scharmützel, in deren Verlauf wir sie weiter in die verdrehten Räumlichkeiten des Bauwerks zurückdrängten. Öfter hörten wir den Lärm heftiger, kriegerischer Auseinandersetzungen, die in unmittelbarer Nähe stattzufinden schienen, von denen aber nichts zu sehen war. Der Kontakt mit dem Flottenkommando war bruchstückhaft. Säuberung Eins - Lord Rorkens Gruppe -war irgendwo auf zähen Widerstand gestoßen und saß fest, und von Molitors Säuberung Vier hatte man noch gar nichts gehört. Schongards Gruppe, Säuberung Fünf, hatte sich irgendwo in der Tetralandschaft verirrt. In unregelmäßigen Abständen kamen flehentliche Hilferufe von ihnen, klägliches, halb irres Geschwafel über »unmögliche Räume« und »Spiralen des Wahnsinns«. 389
Von Titus Endor hörten wir nichts. Der Hauptkrieg an der Oberfläche tobte immer noch Befehlshaber der Mirepoix-Einheiten meldeten Landgewinne entlang der Feuerseen am Rand der Zielbau werke, von denen eines dem Vernehmen nach implodierte, als sei ihm von innen großer Schaden zugefügt worden. In einem glatten, polierten Gewölbe von beiger Farbe, das keine Decke zu haben schien, stießen wir erstmals auf Saruthi. Sie waren tot, etwa ein Dutzend, die grauen Leiber aufgerissen und verstümmelt, die silbernen Stelzen abgerissen. Hinter dem nächsten Tor befand sich ein Spiralraum, in dem noch hundert mehr lagen. Zwischen den grauen Toten, aus deren fahlen Gliedmaßen Seim tropfte, befanden sich mehrere der weißen Sklavenwesen, die das Nekroteuch auf das Plateau getragen hatten. Sie schienen sich befreit zu haben, da mehrere ihre Drahtfesseln hinter sich herschleiften. Einige hatten silberne Stelzen aufgehoben und stachen damit zögernd und wiederholt in die Leiber ihrer grauhäutigen Herren. Ich fragte mich, ob diese erbärmlichen weißen Dinger wohl eine eigene und von den Saruthi versklavte Rasse waren oder eine bastardisierte Mutantenkaste. Durch die Invasionen waren sie anscheinend befreit worden, und sie schienen sich gegen ihre Herren gewendet und sie abgeschlachtet zu haben. Früher oder später ist das immer der Preis der Sklaverei. Die Sklavenwesen bedrohten uns nicht. Sie schienen die Menschen unter ihnen nicht einmal zu bemerken. Mit stummer, methodischer Entschlossenheit fuhren sie fort, die Leichen der Saruthi zu verstümmeln. In einer anderen Kammer, einer ovalen Schüssel mit Schachbrettfliesen und einer sonderbar warmen Atmosphäre wogten ziellos mehrere hundert Saruthi umher. Manche hatten ihre Stelzen verloren und humpelten, andere lagen in zitternden Haufen da, 390
während die Köpfe hin und her ruckten. Der Gestank nach Lakritz oder was es sonst sein mochte, war hier durchdringend. Vor unseren Augen schlurften weiße Sklavenwesen durch ein anderes Tetrator in die Kammer und machten sich daran, die Saruthi einen nach dem anderen mit ruhigen, methodischen Bewegungen zu verstümmeln und in Stücke zu reißen. Die Saruthi leisteten keinen Widerstand. Der Vorgang wiederholte sich in anderen Kammern und gerundeten Hallen, in denen entweder tote Saruthi lagen oder lebende ziellos umherirrten, bis befreite Sklaven sie fanden und verstümmelten. Selbst jetzt frage ich mich noch, wie diese absonderlichen Szenen wohl zu deuten sind. Hatten die Saruthi einfach aufgegeben, sich in ihr Schicksal gefügt, oder hatte ihnen ein anderer Umstand Lebenswillen und Widerstandsgeist geraubt? Nicht einmal die Techpriester und Xenobiologen hatten eine Antwort darauf. Letzten Endes bleibt nur die Tatsache ihres fremdartigen Wesens, abstrakt, unergründlich und jenseits der Vorstellungskraft des menschlichen Verstandes, es auszuloten. Als wir den Erzpriester Dazzo fanden, war er dem Tode nah Eine Schlacht von titanischen Ausmaßen hatte in der Tetralandschaft stattgefunden, wo er lag. Viele tausend Tote lagen auf dem gefliesten Boden, Mirepoix-Infanterie und Ketzertruppen gleichermaßen. Zu den Gefallenen gehörten auch zwei Emperor's Children und drei Todeswächter. Die Tetralandschaft, bei weitem die größte von allen, die wir in dem Bauwerk gesehen hatten, erstreckte sich bis weit jenseits der Rundung aller menschlicher Dimensionen, und die entstellten Leichname bedeckten den endlosen Boden ins Unendliche. Dazzo lag am Fuß eines asymmetrischen Blocks, der sich wie ein Monolith aus den Fliesen erhob. Sein Leib war durch Schüsse förmlich zerfetzt worden. Heldane saß in der Nähe, mit dem Rücken zu dem 391
großen Block, und bewachte den Priester mit einer Autopistole. Heldanes Rumpf war blutverschmiert, und er atmete schwer. Er sah uns durch das Tetrator kommen und ließ schwach die Waffe sinken. »Was ist hier passiert, Heldane?« »Eine Schlacht«, erwiderte er keuchend. »Wir stießen darauf, als sie bereits in vollem Gange war. Als Inquisitor Endor diesen Schurken hier sah, trieb er uns in den Kampf, um zu ihm zu gelangen. Danach ist alles nur noch ein verschwommenes Chaos.« »Wo ist Endor?«, fragte ich, während ich mich in der Hoffnung umsah, seinen Leichnam nicht unter den Toten zu finden. »Weg ... hinter Locke her.« »In welche Richtung?« Er zeigte schwach auf ein Tetrator auf der anderen Seite des Leichenmeers. »Hat Locke das Nekroteuch? Das Nekroteuch der Saruthi, meine ich?« »Nein«, sagte Heldane. »Aber er hat den Schlüssel.« »Den Schlüssel?« »Dazzo hat ihn irgendwie aus diesem Ding geholt«, sagte er, indem er auf den Steinblock schlug, der ihn stützte. »Einen Sprachschlüssel. Ein Übersetzungswerkzeug. Ohne den Schlüssel ist die Saruthi-Version des Textes für uns unleserlich.« »Wie, im Namen des Imperators, hat er das gemacht?«, fragte Guilar. »Mit seinem Geist«, sagte Heldane. »Spüren Sie denn das Nachbrennen der psionischen Anstrengung nicht?« Ich stellte fest, dass ich es konnte. Der mentale Geschmack eines beinahe ausgebrannten Verstandes. 392
Der erhöhte Block war ganz eindeutig ein weiterer Bestandteil der mysteriösen Saruthi-Technologie, vielleicht das Äquivalent eines imperialen Cogitators, vielleicht etwas bewusster oder sogar lebendiger. Dazzo, von dem ich bereits wusste, dass er über gewaltige psionische Fähigkeiten verfügte, hatte ihn identifiziert, psionisch angegriffen und gezwungen, seine Geheimnisse preiszugeben. Eine außergewöhnliche Verstandesleistung, ein Triumph des Willens. »Ein Polyeder«, fügte Heldane hinzu. »Unregelmäßig, klein und wie aus Perlmutt, so kam er mir vor. Er ist einfach aus dem Block in seine Hände geschwebt. Materialisiert. Ich habe es gesehen, als ich mich zu ihnen durchgekämpft habe. Aber die Anstrengung hat seinen Geist zerstört. Endor hat ihn fast erschossen. Er hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren. « »Woher wissen Sie, dass es dieser ... Schlüssel war?«, fragte Bequin. »Ich habe es in seinem sterbenden Verstand gelesen. Wie ich schon sagte, dort gibt es keinen Widerstand mehr. Überzeugen Sie sich selbst.« Ich ging zu Dazzo und kniete mich neben ihn. Ungleichmäßige Atemzüge pfiffen durch seinen blutverschmierten Mund. Ich drang mit meinem Verstand in seinen ein, schob einige erbärmliche Fasern des Widerstands beiseite und fand Heldanes Geschichte bestätigt. Mit unmenschlicher Willenskraft hatte Dazzo der SaruthiTechnologie den Sprachschlüssel abgerungen und mit ihm den Verwahrungsort des Nekroteuchs der Xenos. Sterbend hatte er beides Locke gegeben, damit dieser die Aufgabe vollenden konnte. »Gregor!«, zischte Midas. Ich drehte mich um. In weiter Ferne, jenseits der Rundung der Tetralandschaft, rückten Ketzer durch das Meer der Toten vor. Sie eröffneten das Feuer auf uns. 393
Guilar und die Gudruner schossen zurück und suchten dabei jede verfügbare Deckung. »Bruder Guilar, Sie müssen diese Hunde auf Abstand halten. « »Wohin gehen Sie, Inquisitor?«, fragte er, während er ein frisches Magazin in sein Boltgewehr rammte. »Hinter Locke und Endor her, um zu tun, was ich kann.«
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FÜNFUNDZWANZIG Xenos-Nekroteuch. Endspiel. Der Mann mit dem leeren Blick.
Wir ließen das Feuergefecht hinter uns und passierten das
Tetrator. Bequin, Midas und ich rannten so schnell wir konnten durch die desorientierenden Spiralen und schuppenförmig angeordneten Segmente des im Untergang begriffenen Saruthi-Bauwerks. Unterwegs meldete ich dem Flottenkommando die Situation, bekam aber keine Antwort und wusste auch nicht, ob sie mich überhaupt empfangen hatten. Dann versuchte ich Titus Endor zu erreichen, aber das Korn war tot. Je schneller wir unterwegs waren, desto verwirrender war das vierdimensionale Labyrinth, aber ich hatte in Dazzos Geist die Erinnerung an den Weg zum Xenos-Nekroteuch gefunden, den dieser dem Block abgerungen hatte, und mir fest eingeprägt. Meiner Schätzung nach - der man kaum trauen konnte näherten wir uns dem Herzen des Bauwerks. Vielleicht nicht dem physikalischen oder geografischen Herzen, aber jenem Teil des Dimensionskonstrukts, das am tiefsten in den verschachtelten Platten aus verzerrter Raumzeit vergraben war. Hier gab es noch mehr Saruthi, die auf ihren silbernen Gliedstützen ohne Sinn und Verstand herumklickten. 395
Die warmen, leuchtenden Gänge und gefliesten Kammern waren von Lakritzgeruch erfüllt. Wir hörten Schreie voraus und Schusslärm. »Titus? Titus! Hier ist Eisenhorn! Können Sie mich hören?« Das Korn erwachte knisternd zum Leben. »Gregor! Um der Liebe des Imperators willen! Ich brauche ...« Die Verbindung wurde wieder unterbrochen. Mehr Schüsse. Wir eilten durch ein Tetrator und mussten praktisch sofort Deckung suchen, da uns Laserstrahlen entgegenschlugen. Die Kammer, die wir betreten hatten, war keineswegs die größte in dem Bauwerk, dafür aber sehr eigentümlich. Sie war dunkel und finster, da ihr der Schein fehlte, den Wände und Boden sonst wo abstrahlten. Das glänzende Material, aus dem der Rest des Bauwerks bestand, war hier grau und zergliedert, als sei es tot. Ein weiterer Block wie der, an den sich Heldane gelehnt hatte, aber um ein Vielfaches größer, erhob sich aus dem aschfarbenen Boden. Er war mit einer öligen, grünlichen Masse verschmiert, die an seinen Flanken herablief und auf dem Boden Lachen bildete. Ein asymmetrischer Sims ragte daraus hervor, gerade oberhalb der Größe eines durchschnittlichen Menschen, und darauf lag ein blauer Oktaeder, der von innen heraus leuchtete. Das Xenos-Nekroteuch. Dazzos Engramm bestätigte es sofort. Die Kammer stank nach seinem Bösen, dem Lakritzgeruch, der hier so durchdringend war, dass wir würgten. Hinter und über der Hauptsäule wuchsen verdrehte Skulpturen aus Metall, Knochen und anderen organischen Stoffen aus den Wänden und dem gerundeten Dach. Bösartig gebogene Haken an schmutzigen Ketten baumelten von diesen Auswüchsen. Dies war kein Werk der Saruthi, sondern ein Hauch des reinen Chaos, 396
vom Nekroteuch herbeigeführt, der das Xenos-Gefüge seines Allerheiligsten infiziert hatte. Kleinere Säulen, unregelmäßig und verschieden, sprossen rund um den Hauptblock aus dem Boden. Zwischen ihnen tobte ein Feuergefecht. Wir drei rannten aus dem ungeschützten Tetrator und fanden Schutz hinter dem nächsten der kleineren Blöcke. Laserstrahlen zischten durch das Gewirr der steinernen Formen, prallten ab und sausten als Querschläger weiter. »Titus!« »Gregor!« Er war zwanzig Meter entfernt, ein Drittel des Wegs in die Kammer, wo er hinter einem Block kauerte und mit seiner Laserpistole auf Gestalten schoss, die dem Ruheplatz des Nekroteuch näher waren. Ich erblickte Locke und acht oder neun Ketzer-Soldaten. Ich wandte mich an Bequin und Midas rechts und links neben mir. »Wählt Eure Ziele«, sagte ich. Wir eröffneten das Feuer zu Endors Unterstützung und streckten mindestens einen der Ketzer nieder. Als diese vor unserem Beschuss zurückwichen, sprang Endor auf und rannte vorwärts. Ein Laserstrahl traf ihn und schleuderte ihn rückwärts gegen eine Steinsäule. Ich rannte selbst los und gab dabei Schüsse aus meiner Boltpistole ab, die ich beidhändig hielt. Ich sprengte Stücke aus den Blöcken vor mir und traf mindestens einen der feindlichen Schützen. Schließlich erreichte ich Endor. Er war in der Brust verwundet worden, und er würde daran sterben, wenn wir ihn nicht rasch wegschaffen und in ärztliche Obhut geben konnten. Ich zog ihn in Deckung und wartete, während Bequin durch die Reihen der Steinblöcke zu mir gelaufen kam. »Drücken, hier!«, sagte ich und zeigte ihr, wo, da meine Hände bereits nass vom Blut meines alten Freundes waren. Sie tat genau, was ich ihr sagte. 397
Ich wurde auf einen donnernden Lärm jenseits der Kammer aufmerksam. Alles bebte. Mehr Donner grollte, und plötzlich barst ein Abschnitt der gerundeten Decke und stürzte in einer Trümmerlawine ein, so dass kaltes Außenlicht durch das Loch hereinfiel. Einen Augenblick später brachen drei weitere Löcher auf, und von draußen hörte ich die gedämpften Hammerschläge eines anhaltenden Bombardements. »Midas!« Er war bereits zu meiner Linken unterwegs und tauschte dabei wegen der Enge sein Nadelgewehr gegen die kompakteren Pistolen ein. Tödliche glavianische Nadeln zischten durch die Luft. Der Boden bebte weiter. Wieder stürzte ein Teil des Dachs ein. Ich ließ Endor in Bequins Obhut zurück und eilte durch das gegnerische Sperrfeuer geduckt von Steinblock zu Steinblock. Midas und ich wechselten auf Helmkom und Glossia. »Dorn führt Aegis, ein finsterer Taifun.« »Aegis folgt, Taifun in drei.« Ich zählte bis drei und spurtete los, während Midas seine Splittergranate nach links warf, bevor er mit beiden Pistolen das Feuer eröffnete. Blitz und Donner der Explosion überdeckten für einen Moment das Bombardement draußen. Ein Ketzer mit rudernden Gliedmaßen wurde in die Höhe geschleudert und prallte leblos von einem Steinblock ab, bevor er auf den Boden fiel. Midas' »Taifun« und die von ihm angerichtete Konfusion gaben mir Deckung und gestattete mir, mich Locke bis auf zehn Meter zu nähern. Ich konnte ihn jedoch nicht mehr sehen. Ich behielt die Boltpistole in der Hand, zog mit der linken das Energieschwert und umrundete den Block. Locke und einer seiner Männer hatten genau diesen Moment 398
gewählt, um nach vorn zu stürmen. Wir verließen unsere Deckung und standen uns plötzlich in der schmalen Lücke zwischen den Steinblöcken von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Mein erster Schuss aus der Boltpistole verfehlte den vorspringenden Locke und sprengte seinem Komplizen den linken Arm von der Schulter. Bevor der heulende Mann richtig auf dem Boden lag, hatte Lockes Laserpistole einen Schuss durch den Muskel meines rechten Arms gejagt. In seiner anderen Hand blitzte ein Dolch mit langer Klinge. Wir prallten aufeinander. Ich versuchte mein Energieschwert herumzureißen, aber es traf etwas, und Locke wich seitlich aus. Der Korb seines Dolchgriffs traf mein Gesicht und warf mich auf den Rücken. Mit einem Grinsen, von dem er wusste, dass ich es nie mehr würde kopieren können, hob er die Laserpistole, um mir einen Kopfschuss zu verpassen. Zwei Tonnen eines Xenos-gemeißelten Steinblocks, von meiner Energieklinge in Hüfthöhe durchschnitten, rammten ihn in den abblätternden Boden. Ich erhob mich. Gorgone Locke lebte noch. Bauch und Hüfte waren von der fallenden Säule zerquetscht worden, und seine Arme waren festgenagelt. Er starrte mich blinzelnd und mit verblüfftem Blick an. »Gorgone Locke, in den Augen der Heiligen Inquisition sind Sie drei Mal verdammt, und zwar durch Taten, Umgang und Glauben«, begann ich den Katechismus der Aufhebung. »N-nein ...«, flüsterte er. Während ich die Anrufung beendete, schnitt ich ihm mit der Schwertspitze das Ketzermal in die Stirn. Als ich zum Ende kam, war er seinen Verletzungen er legen. Die sich langsam auflösende Kammer bebte immer noch. Die Haken schwangen an ihren langen Ketten hin 399
und her. Staub und Trümmerstücke rieselten durch die Risse im Dach und fielen durch die Strahlen aus kaltem Licht. Ich griff nach unten und fand den Perlmuttpolyeder in Lockes blutgetränkter Jacke. Den Schlüssel. Ich ließ ihn in meine Tasche gleiten, während Midas neben mir auftauchte. »Die letzten Ratten sind geflohen«, sagte er, indem er seine Pistolen halfterte. Er schaute nach unten auf den toten Schiffskapitän. »So sterben alle Ketzer, hm?« Ich streckte die Hand aus, um das Xenos-Nekroteuch von dem Sims zu nehmen — und konnte mich plötzlich nicht mehr bewegen. Eine enorme psionische Kraft versetzte mich in vollkommene Starre. »So sterben tatsächlich alle Ketzer«, sagte eine Stimme. »Dreht ihn um, damit er mich sehen kann.« Unfreiwillig schwang ich herum, den Arm immer noch im Zugreifen erhoben. Ich erblickte Midas, ebenfalls starr und gelähmt, die dunklen Züge zu einer Grimasse der Bestürzung eingefroren. Konrad Molitor, mein Inquisitor-Bruder, stand lächelnd vor mir. Seine drei Kapuze tragenden Diener waren bei ihm. »Diese Tapferkeit, Gregor. Diese Hingabe. Ich habe mir schon gedacht, dass Sie die Beute finden würden.« Ich versuchte zu antworten, doch mein Mund weigerte sich, mir zu gehorchen. Speichel blubberte durch meine zusammengebissenen Zähne. Molitor drehte sich zu seinen verhüllten Begleitern um. »Lasst ihn sprechen«, sagte er. Die psionischen Fesseln um meine Stimme erschlafften. Trotzdem fiel mir das Reden schwer. »W-was m-machen Sie hier, Molitor?« »Natürlich das unbezahlbare Nekroteuch bergen. Wir können wirklich nicht zulassen, dass Sie jetzt noch eine Kopie zerstören, oder?« »W-wir?« 400
»Es gibt viele, die glauben, dass der Menschheit durch das Studium dieses Artefakts mehr gedient wäre als durch seine Zerstörung. Ich bin gekommen, um diese Interessen zu vertreten.« »R-Rorken wird es nie zulassen ... d-dafür werden Sie b-brennen ...« »Mein achtenswerter Bruder Lord Rorken wird es nie erfahren. Spüren Sie nicht, wie hier alles bebt? Sehen Sie nicht, wie das Dach langsam einstürzt? Vor zehn Minuten habe ich der Flotte Bescheid gegeben, dass das Primärziel erreicht wurde. Ich habe den Code für Sanctionis Extremis gesendet. Sie glauben, dass das Nekroteuch gefunden und zerstört wurde. Unsere Truppen ziehen sich in aller Eile zurück. Die Flottenbatterien haben damit begonnen, diese Xenos-Bauten einzuebnen. Niemand wird erfahren, dass das Nekroteuch in Sicherheit gebracht wurde. Nicht die Spur eines Beweises wird das Bombardement überstehen. Nicht die Spur eines Beweises ... und auch keine anderslautende Stimme.« Seine gelblichen Augen betrachteten mich. »Wie tapfer von Ihnen, beim Angriff auf 56-Izar Ihr Leben zu geben. Man wird Ihres Namens auf den Ehrentafeln gedenken. Ich versichere Ihnen, dass ich dafür höchstpersönlich sorgen werde.« »Sch-Schwein ...« Ich kämpfte mit allen geistigen Mitteln, um mich zu befreien, doch es war unmöglich. Es war nicht Molitor, der mich in seiner Gewalt hatte. Einer seiner Gefolgsmänner, vielleicht sogar alle drei gemeinsam, waren überragend mächtig. »Hol es für mich«, sagte Molitor zu einem seiner Männer, indem er mit einem Wink seiner karierten Manschette auf das Nekroteuch zeigte. »Wir täten gut daran, rasch zu verschwinden.« Das hämmernde Bombardement war jetzt ein beständiges bebendes Tosen. Die berobte Gestalt trat vor, holte 401
den blauen Oktaeder von dem Sims herunter und umschloss ihn mit eleganten schlanken, langnageligen Fingern. Der Akoluth schien ihn zu studieren und drehte sich dann zu Molitor um. »Es ist unbrauchbar«, sagte er. »Was?« »Unleserlich. In einen undurchdringlichen XenosSprachencode gekleidet.« Molitor geriet ins Stammeln. »Nein! Unmöglich! Knack den Code!« »Ich wollte, ich könnte es. Das übersteigt sogar meine Fähigkeiten.« »Es muss eine Übersetzungshilfe geben!« Der Mann mit dem Nekroteuch drehte sich zu mir um. »Er hat einen Schlüssel. Den einzigen Schlüssel. Er versucht nicht daran zu denken, aber ich sehe ihn in seinen Gedanken. Er ist in seiner Manteltasche.« Das Lächeln kehrte auf Molitors Gesicht zurück. Er kam zu mir und streckte die Hand nach meiner Manteltasche aus. »Verschlagen bis zuletzt, Gregor. Du erbärmlicher Hurensohn.« Ein Laserstrahl trennte ihm die Hand am Gelenk ab. Molitor schrie auf und taumelte zurück, die linke Hand um den Stumpf geklammert. Bequin, das Gesicht zu einer grimmigen Miene er starrt und das Lasergewehr an der Schulter und auf sein Herz gerichtet, tauchte neben mir auf. »Tötet sie! Tötet sie!«, schrie Molitor. Ich spürte, wie sich der Druck des psionischen Schraubstocks verstärkte, um mich zu erledigen. Dann taumelte ich rückwärts, jäh befreit. Die psionische Leere von Bequins Unberührbarkeit schirmte mich nun ab, da sie neben mir war. Der Diener mit dem Nekroteuch wich überrascht einen Schritt zurück. Molitor wurde vor Wut und Schmerzen immer hektischer. Als er sah, dass sein mächtiger Psioniker irgendwie 402
nicht mehr zum Zuge kam, brüllte er: »Albaara! Tharth!« Codewörter. Auslöser. Die beiden Diener, die bei ihm geblieben waren, sprangen vor und warfen dabei ihre Roben ab. Arcoflagellanten. Ketzer, die umherzogen und augmetisch und bionisch verändert waren, um als Mordsklaven zu dienen. Die Codewörter weckten sie aus ihrem beruhigten Zustand der Glückseligkeit und verwandelten sie in manische Tobsüchtige. Ohne ihre Gewänder waren sie widerliche bucklige Geschöpfe, mit kruden Implantaten und heiligen Amuletten versehen. Die Hände waren klauenartige Elektropeitschen, die Augen dumpfe, vorquellende Rundungen unter den Rändern der angeschlagenen Pacificatorhelme, die fest mit ihrem Schädel verbunden waren. Midas, Bequin und ich nahmen sie gemeinsam unter Beschuss, als sie vorstürmten. Der Schaden, den sie erlitten, war immens, aber sie stürmten dennoch weiter, da ihre Körper mit berauschenden Adrenalinflüssigkeiten, Schmerzhemmern und Raserei bewirkenden chemischen Aufputschmitteln vollgepumpt wurden. Sie spürten nicht, was wir ihnen antaten. Einer war nur noch eine Armeslänge von mir entfernt, als mein verzweifelter Hagel aus Boltpatronen ihn schließlich erledigte. Ein Schuss sprengte die gepanzerte Matrix chemischer Spender von der Schulter, so dass Flüssigkeiten in alle Richtungen spritzten. Einen Moment später lag er zuckend vor uns auf dem Boden, da der Schaden ihn seiner Drogenzufuhr beraubt und nichts als Qualen hinterlassen hatte. Der andere spürte die Treffer von Midas' allzu subtilen Nadeln gar nicht. In aller Eile warfen wir uns zur Seite und aus dem Weg. Brüllend und mit seinen Peitschengliedern um sich schlagend, stampfte er Midas hinterher, der nach links und rechts zwischen die Steinsäulen tauchte, um ihn 403
abzuhängen. Nur seine glavianische Gewandtheit und Schnelligkeit bewahrten ihn vor dem immer näher kommenden Zugriff des Arcoflagellanten. Er wusste, dass ihm nur noch Sekunden blieben. Bequin und ich waren in Bewegung, aber tatsächlich hatten wir keine Möglichkeit, ihm zu helfen. Midas zückte seinen Beutel mit Granaten und machte eine scharf, während er zwischen den Säulen umhertanzte und dabei knapp den vernichtenden Hieben der flexiblen Metallpeitschen auswich, die Furchen im Gestein der Blöcke hinterließen. Midas fintierte nach links und warf sich dann direkt auf den Berserker, wobei er ihm die Halteschnur des Granatbeutels um den Hals legte, während er mit dem Kopf voran über seine Schulter hechtete. Die Granaten explodierten in einem gewaltigen Blitz und atomisierten die tobende Menschenbestie. Midas wurde von der Druckwelle erfasst, gegen eine Säule geschleudert und blieb bewusstlos liegen. »Eisenhorn! Eisenhorn!«, heulte Molitor, während er mit seinem noch verbliebenen Diener hinter mir herjagte. Seine Stimme brach vor Schmerzen und Wut. »Bleiben Sie dicht neben mir«, sagte ich zu Bequin, während wir weiter in die Kammer rannten. »Der Psioniker kann mir nichts anhaben, solange ich nah bei Ihnen bin.« Die halbe Decke und ein beträchtlicher Teil der Wand stürzten ein. Eine Sekunde lang stand wallendes oranges Feuer in der Luft. Taub und mit verbrannter Haut waren Bequin und ich einen Moment später wieder auf den Beinen. Die Kammer war jetzt nach oben hin offen, und kaltes weißes Licht fiel durch dichte Qualmwolken herein. »Kommen Sie!« Gemeinsam taumelten wir zur eingestürzten Wand und erklommen den rauchenden 404
Trümmerhaufen aus Stein und anderen von den Saruthi verbauten Materialien. Das Material war geschmolzen und blubberte wie Plastek oder Fleisch. Wir strebten dem Licht entgegen. Wir kamen hoch oben auf der gerundeten oberen Wand des Saruthi-Bauwerks heraus. Es war kalt, und der Wind, der über die segmentierten Kämme des polierten weißen Daches wehte, war frisch und voller Gerüche nach Rauch, Fyzelen und Prometheum. Wir waren schwindelerregend hoch. Die Perlmuttflanken des riesigen Bauwerks wölbten sich einem Boden entgegen, der tief unter uns lag, und die Oberfläche war hart und glatt wie Eis. Bequin glitt aus, und es gelang mir, sie zu packen und festzuhalten, bevor sie die Rundung herabgleiten konnte. Von hier oben, hoch oben am fremdartigen Himmel, konnten wir über die Feuerseen und die riesigen Wolkenbänke schauen, deren Wallen eine Ausdehnung von vielen hundert Kilometern hatte. Wir sahen Scharen von Landungsbooten, die durch den Rauch in die Höhe stiegen und ihren Mutterschiffen in der Umlaufbahn entgegen strebten. Auf den weißen Schlammebenen tief unter uns rannten Imperiumssoldaten zu den wartenden Booten und warfen in ihrer Eile Rucksäcke, Helme und sogar Waffen weg. Panzer und gepanzerte Transporter kämpften sich durch den nassen Schlamm und weiter bis auf die zungenartigen Rampen schwerer Stapler. Granaten und Laserstrahlen zuckten über die Seen und den Schlamm, da die noch verbliebenen Ketzertruppen ungeachtet der allgemeinen Lage weiter kämpften. Lanzen -und Gabeln aus blendender Energie zuckten aus den Wolken herab und zerstörten die Landschaft. Admiral Spatian befolgte Molitors Anweisungen buchstabengetreu und ebnete die gesamte Gegend ein. Alle 405
fünf Inquisitoren, Cynewolf und einige Todeswächter sowie ausgewählte Offiziere der Invasionstruppen hatten die Codewörter bekommen, die das Unheil heraufbeschwören konnten. Molitor hatte unser Schicksal besiegelt. Einmal erteilt, konnte Sanctionis Extremis nicht rückgängig gemacht werden, selbst dann nicht, wenn mein Korn funktioniert hätte, anstatt durch die elektromagnetischen Stoßwellen außer Kraft gesetzt zu werden, die mit jeder Salve aus der Umlaufbahn kamen. Wie der Schlachtplan vorsah, ebnete Spatian den Invasionsbereich systematisch und so schnell wie möglich ein, und das sogar auf Kosten seiner eigenen, auf dem Rückzug befindlichen Bodentruppen. Ein zwanzig Kilometer entferntes Bauwerk der Saruthi starb. Von der Form her an eine Nautilusmuschel erinnernd, waren seine schillernden Rundungen infolge des Beschusses mit blau glühenden Laserstrahlen geborsten und gesplittert. Die Strahlen zuckten schnurgerade durch die Wolken herab, von Schiffen so hoch abgefeuert, dass sie unsichtbar waren, und fegten wie das Jüngste Gericht durch das Bauwerk. Kampfbomberwellen flogen heran und warfen Ladungen ab, die in kräuselnden Explosionsmeeren aufblühten. Lenkraketen, schlank und schnittig wie Haie der Lüfte, jaulten auf der letzten Etappe ihrer ersten und letzten Reise vom Raumschiff zum Ziel über uns hinweg. Das gesamte Bauwerk barst auseinander und explodierte. Ein Blitzgewitter erleuchtete die Hemisphäre. Eine hoch aufragende Säule aus weißem Ascherauch erhob sich und faltete sich zu einer fünfzehn Kilometer durchmessenden torusförmigen Wolke zusammen. Der Anblick war schockierend, überwältigend. Bequin und ich starrten darauf. Ein paar Herzschläge später wiederholte sich der Vorgang hinter uns, vierzig Kilometer entfernt, als ein weiteres Saruthi-Bauwerk ausgelöscht wurde. 406
Das Bauwerk, auf dessen sanft gerundeter Oberfläche wir jetzt standen, würde zweifellos sehr bald dasselbe Schicksal erleiden. Wahrscheinlich wurden die Kanonier-Servitoren der Flotte gerade in diesem Augenblick mit den entsprechenden Koordinaten gefüttert. Wir rannten an der Kante entlang zu einem anderen gerundeten Abschnitt. Der rote Schein von Nachbrennern zeichnete sich vor dem schwarzen Rauch ab, als mehr Landungsboote herunterkamen und den jubelnden und wild gestikulierenden Haufen der Mirepoix Infanterie draußen in der Ebene entgegenflogen. Ich war verblüfft über die selbstlose Courage der Landungsboot-Besatzungen. Spatians Bombardement wartete nicht, bis sie die Männer aufgenommen hatten und wieder gestartet waren. Sie riskierten alles, um zur Oberfläche zu fliegen und so viele Soldaten zu retten, wie sie konnten. »Gregor!«, rief Bequin mir ins Ohr. Ich drehte mich um. Hinter uns waren Molitor und sein Diener durch das Loch im Dach gestiegen. Mit unsicheren Schritten folgten sie uns. Ein Laserstrahl zischte an mir vorbei, küsste die perlmuttartige Oberfläche und hinterließ eine Brandnarbe. »Der Schlüssel, du Hurensohn! Gib mir den Schlüssel!«, brüllte Molitor. Stattdessen gab ich ihm ein volles Magazin Boltpatronen. Die erste Leuchtspurpatrone fetzte Brocken aus dem Gebäudedach. Dann traf ich und sprengte seinen linken Oberschenkel, seinen Bauch und den Hals. Konrad Molitor zuckte und bockte unter den Einschlägen der Patronen und fiel schließlich. Sein verstümmelter Leichnam glitt die Rundung des Daches herunter und verschwand unter Hinterlassung einer verschmierten Blutspur. Sein Diener rückte ungeachtet der Schüsse weiter vor und schälte sich dabei aus seinem Kapuzengewand. 407
Er war darunter nackt. Hochgewachsen, muskulös, mit einem goldenen Schimmer auf der Haut. Das Gesicht war hübsch, und aus dem Schädel sprossen winzige verkümmerte Hörner. Sein Blick war leer. Meine prophetischen Träume waren Fleisch geworden. Entsetzen packte mich und stülpte mein Herz von innen nach außen.
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SECHSUNDZWANZIG Cherubael. Der Abgrund. Exterminatus.
er Mann mit dem leeren Blick - obwohl er in Wahrheit D kein Mann, sondern ein Dämon in Menschengestalt war schritt die schillernde Rundung empor auf mich zu. Der leuchtende Oktaeder des unheiligen Textes der Saruthi lag in einer gewandten Hand. »Ich hätte jetzt bitte gern den Schlüssel, Gregor.« »Was bist du?« »Das ist kein Ort für Vorstellungen.« Mit einer Geste wies er um sich. Strahlen der Vernichtung bohrten sich nicht weit entfernt in die Schlammebene. »Tu mir den Gefallen ...«, brachte ich hervor. »Nun gut. Ich heiße Cherubael. Also, den Schlüssel. Die Uhr tickt.« »Die Uhr tickt ständig«, sagte ich. »Wer hat dich gemacht?« »Mich gemacht?« Der Mann mit dem leeren Blick lächelte mich heuchlerisch an. »Du bist ... ein Dämonenwirt. Ein beschworenes Ding. Sag mir, wer dich gemacht hat und wer dir und Molitor befohlen hat, euch diese Beute zu holen ... dann gebe ich dir den Schlüssel vielleicht.« Er lachte und leckte sich mit einer glänzenden gegabelten Zunge über die Lippen. 409
»Machen wir uns in dieser Hinsicht nichts vor, Gregor. Du wirst mir den Schlüssel geben. Entweder du gibst ihn mir jetzt, oder ich komme zu dir und hole ihn mir. Und breche dir jeden Knochen im Leib. Und schände das Mädchen neben dir. Und breche ihr auch jeden Knochen im Leib. Und schleife dann eure schlaffen Kadaver in die Kammer unter uns, hänge euch an die Haken und brenne eure Schmerzzentren aus, während ich darauf warte, dass dieses Bauwerk durch das Bombardement eingeebnet wird.« Er hielt inne. »Du hast die Wahl.« »Du bist schon seit langem in meinen Träumen. Wie kommt das?«, hakte ich nach. »Du bist begabt, Gregor. Und Zeit ist nicht der Pfeil, für den Menschen sie gern halten. Eine Sekunde im Warpraum würde dir das zeigen. Herrje, eine Sekunde in den vierdimensionalen Habitaten der Saruthi hätte es auch schon beweisen müssen. Deine Träume waren nur Albträume von etwas, das noch passieren musste.« »Wer hat dich gemacht?« Mein Tonfall war beharrlich. Mit seiner Antwort hatte ich am wenigsten gerechnet, und sie machte mich benommen. »Die Heilige Inquisition hat mich gemacht, Gregor. Ein Bruder von dir hat mich gemacht. Und jetzt, zum letzten Mal, gib mir den ...« Der Dämonenwirt fuhr plötzlich herum, als von einer tieferen Stelle des Dachs Stimmen empordrangen. Bruder Hauptmann Cynewolf stieg flankiert von Midas und einem anderen Todeswächter mit der schlaffen Gestalt von Titus Endor auf den Armen durch das Spreng loch. Cynewolf hob sein Sturmgewehr und schoss auf den Mann mit dem leeren Blick. Cherubaels Hand zuckte vor und fing die leuchten den Patronen aus der Luft. 410
»Geh nach Hause, Astartes-Bastard!«, brüllte er Cynewolf über das gerundete Dach entgegen. »Das hier hat nichts mit euch zu tun!« Der Dämonenwirt schritt den Vorsprung entlang, bis er vor mir stand. Ich konnte die winzigen Energiebögen sehen, die über seine leuchtende Haut zuckten. Ich konnte den Gestank seiner Verderbnis riechen. Auge in Auge jetzt. Er streckte die Hand aus, die Innenseite nach oben, die Fingernägel lang und wie Krallen poliert. »Schlau von dir, eine Unberührbare zu finden, um mich auszuschalten.« Er richtete den Blick auf Bequin. »Wie hast du das geschafft?« »Schicksal ist, ebenso wie Zeit, nicht linear, Cherubael. Das müsstest du eigentlich wissen. Ich habe Bequin genauso gefunden, wie deine Träume mich gefunden haben.« Er nickte. »Du gefällst mir, Gregor Eisenhorn. So herausfordernd und anregend - für einen Menschen. Ich wünschte, wir hätten Zeit und Muße für einen Diskurs und dafür, Brot zu brechen ... Aber wir haben keine!«, schnauzte er plötzlich. »Gib mir den Schlüssel!« Ich zog den Polyeder aus der Tasche. Sein Lächeln wurde breiter. Ich ließ das Artefakt auf das seidenglänzende Dach fallen und zermalmte es unter meinem Stiefelabsatz, bevor es wegrutschen konnte. Der Dämonenwirt wich einen Schritt zurück und starrte auf den zermahlenen Staub. Er schaute mich wieder mit leerem Blick an. »Du bist ein Mann von einzigartiger Hingabe, Gregor. Es hätte mir Freude gemacht, dich zu töten, wenn der Tag und die Stunde gekommen wäre. Aber du bist bereits tot. Dieses Bauwerk ist noch zweihundertvierzig Sekunden von der Zerstörung entfernt. Genieße das hier .. .« 411
Er warf mir das Xenos-Nekroteuch zu, und ich fing es mit einer Hand. »Du hast gewonnen. Nimm das als Trost mit ins Nachleben.« Er fing an zu laufen, dem Rand des Daches entgegen, und hechtete dann mit ausgestreckten Armen hinunter. Einen Moment lang hing er in der Luft, dann knickte er den Körper ein, vollführte eine präzise Rolle und verschwand in dem Feuersee unter uns. Ich zog Bequin zu mir, während sich Cynewolf, Midas und der andere Marine näherten. Endor sah tot aus. Ich betete, dass er es war, denn in wenigen Augenblicken würde sich dieser Ort in Feuer auflösen. »Rosendorn von Aegis, oben und ... na, oben, um des Imperators willen! Zur Hölle mit diesem GlossiaSchwachsinn! Bewegt euch!« Mein Kanonenboot schwebte mit weit offener Rampe über dem Dach des Bauwerks. Durch die Kanzel sah ich Fischig am Ruder sitzen und uns anbrüllen. Aemos saß neben ihm. Auf der Brücke der St. Scythus beobachtete ich, wie 56-Izar starb, als wir die Umlaufbahn verließen. Flammenmeere, so groß wie Kontinente, breiteten sich unter seiner milchigen Haut aus. Sanctionis Extremis. Exterminatus. Nach der Feuerflut nun die Virusbomben. Die brodelnden Seuchenstürme. Die nuklearen Gräuel. Bei unserem Abflug war er nur noch Schlacke. Mit der Rasse der Saruthi hat es nie wieder einen Kontakt gegeben. Und das verdorbene, strahlende Licht des Nekroteuch war ein für alle Mal gelöscht.
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EPILOG In Pamophrey.
n Pamophrey ruhten wir uns aus. IVierzig Wochen Fahrt durch das Immaterium hatten unser Gefühl des Sieges abgestumpft. Die Flotte zerstreute sich vor Thracian Primaris, und das Letzte, was ich von Sergeant Jeruss sah, war eine winkende Hand auf der anderen Seite einer verräucherten Bierbar. Ich mietete eine Villa am Sund in Pamophrey. Midas schlief fast den ganzen Tag und vertrieb sich die Nacht mit Königsmordpartien gegen Aemos und Fischig. Bequin badete in der Sonne und schwamm im Meer. Ich saß auf der salzgepeitschten Veranda und wachte über den Strand wie ein Gott, der seine Schöpfungen vergessen hat. Große Anstrengungen warteten noch auf uns. Berichte mussten abgefasst, Befragungen und Abschlussbesprechungen überstanden werden. Lord Rorken hatte ein Untersuchungstribunal bestellt, und der Hohe Senat zu Terra erwartete einen vollständigen Bericht zu der Angelegenheit. Monate des Papierkrams, der Anhörungen und der Beweisaufnahmen lagen vor uns. Die Identität der Kraft hinter Molitor und seinem Dämonenwirt blieb ein Rätsel, und obwohl Lord Rorken ebenso erpicht darauf war wie ich, eine Antwort zu finden, zweifelte ich daran, dass es uns rasch gelingen würde. 413
Die Frage mochte in der langsamen, unflexiblen Bürokratie der Inquisition noch Jahre vor sich hin schmoren. Das würde ich nicht zulassen. Sobald ich für den nächsten Fall frei war, würde ich mich auf die Suche nach Cherubaels Herrn machen. Die Herrschaft der Menschheit hatte dank seiner Ränke dicht vor großen Kalamitäten gestanden. Ich würde die Saruthi nicht vergessen. Sie waren ein Musterbeispiel dafür - wenn man noch eines brauchte -, wie eine ganze hoch entwickelte Kultur vom Chaos verschlungen werden konnte. Seevögel kreisten in der frischen Brise. Die Brecher krachten. Der Mann mit dem leeren Blick spukte immer noch durch meine Träume. Echos oder Vorahnungen? Ich musste wohl einfach abwarten.
Es geht weiter mit Warhammer 40.000 - Abnett, Dan - Eisenhorn Malleus
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