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Wyst ist der einzige Trabant des Sternes Dwan im riesigen, von mehr als drei Billionen Menschen bewohnten Sternhaufen Alastor und trägt von den dreißigtausend besiedelten Welten die Registriernummer 1716. Doch Wyst ist in ganz Alastor als ein begehrenswertes Utopia bekannt, und zahllose Menschen zieht es dorthin. Nach einer Reihe von Bürgerkriegen wurde in Arrabus auf Wyst der Egalismus ausgerufen. Seit hundert Jahren schon leben die Menschen in absoluter Gleichheit, haben die Arbeit auf ein Minimum reduziert, teilen sich alle Güter und leben in schrankenloser sexueller Freiheit. Jantiff Ravenstroke aus Frayness auf dem Planeten Zeck, Alastor 503, ist nicht aus diesem Grund nach Wyst gekommen. Er ist Maler, und das Licht des weißen Sternes Dwan ist für seine Reinheit berühmt, weil es die Farben so zeigt, wie sie wirklich sind, und in ihrer ganzen Pracht erstrahlen läßt. Aber Jantiff Ravenstroke erfährt auch schmerzlich, was es mit dem »Utopia« wirklich auf sich hat. Seine Bewohner sind nur dort tolerant, wo es um ihren Vorteil geht, ansonsten sind sie geizig, habgierig, skrupellos. Sie betrügen, bestehlen und berauben ihn und trachten ihm schließlich nach dem Leben. Und sie sind in ihrer Maßlosigkeit dabei, ihr Utopia restlos zu demontieren. Jack (eig. John Holbrook) Vance, amerikanischer Krimi- und SF-Autor wurde 1916 in San Francisco geboren, studierte an der Universität von Kalifornien, fuhr jahrelang zur See, arbeitete in verschiedenen Berufen und spielte in einer Jazzband Trompete, bis er sich Mitte der vierziger Jahre entschloß, freier Schriftsteller zu werden. Mit seinem Roman »The Dying Earth« (»Die sterbende Erde«, HEYNE-BUCH Nr. 3606) gelang ihm 1950 der Durchbruch. Heute lebt der weltweit bekannte und sowohl mit dem NEBULA- als auch dem HUGO GERNSBACK AWARD ausgezeichnete Autor mit seiner Familie in Oakland.
Von demselben Autor erschienen außerdem in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Start ins Unendliche · Band 3111 Jäger im Weltall · Band 3139 Die Mordmaschine · Band 3141 Der Dämonenprinz · Band 3143 Emphyrio · Band 3261 Der Mann ohne Gesicht · Band 3448 Der Kampf um Durdane · Band 3463 Die Asutra · Band 3480 Trullion: Alastor 2262 · Band 3563 Marune: Alastor 933 · Band 3580 Die sterbende Erde · Band 3606 Der graue Prinz · Band 3652 Showboot-Welt · Band 3724 Maske: Thaery · Band 3742
JACK VANCE
WYST: ALASTOR 1716 Science Fiction-Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
HEYNE-BUCH Nr. 3816 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe WYST: ALASTOR 1716 Deutsche Übersetzung von Lore Strassl Das Umschlagbild schuf Franz Berthold Die Illustrationen im Text zeichnete Hubert Schweizer
Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1978 by Jack Vance Copyright © 1981 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München Printed in Germany 1981 Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs & Schütz, München Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3-453-30718-6
1 Alastor, ein Kugelhaufen von dreißigtausend Sonnen, unzähligen verglühten Himmelskörpern und einer Vielfalt von Asteroiden und interstellarem Treibgut, befindet sich am inneren Rand der Galaxis, zwischen dem Unseligen Nichts vor und der Nonestikkluft hinter ihm, und dem Gaeanischen Territorium als funkelnder Sternenschleier an einer Seite. Aus welchem Winkel sich auch der Reisende ihm nähert, es bietet sich ihm auf jeden Fall ein atemberaubender Anblick: Konstellationen in glitzerndem Weiß, Blau und Rot; leuchtende Nebel, da und dort durchbrochen und anderswo von schwarzen Staubstürmen überlagert; vorüberziehende Sternenströme; Wirbel und malerische Spritzer phosphoreszierenden Gases. Sollte man den Alastorhaufen als Teil des Gaeanischen Territoriums betrachten? Die Menschen, die auf den Welten dieses Gebietes leben, denken selten darüber nach und halten sich tatsächlich weder für Gaeaner noch für Alastorianer. Fragt man den typischen Einwohner nach seiner Herkunft, wird er höchstwahrscheinlich seine Heimatwelt oder noch eher den örtlichen Bezirk angeben, als wäre dieser kleine Flekken so ungewöhnlich, etwas so Besonderes und Einmaliges, daß sein Ruf sich über die ganze Galaxis verbreitet haben müßte. Doch jeglicher Lokalpatriotismus verschwindet vor dem Ruhm und der Größe des Connat, der den Alastorsternhaufen von seinem Palast Lusz auf der Welt Numenes aus regiert. Dieser Palast ist im ganzen Universum, wo Menschen leben, berühmt. Fünf ge-
waltige Säulen erheben sich von fünf kleinen Inseln und bilden dreihundert Meter über dem Meer einen Kreuzbogen. Sie tragen zuunterst eine Reihe von Promenadendecks, dann ein Stockwerk mit Verwaltungsbüros, Festhallen und dem Zentrum des alastorianischen Kommunikationssystems. Darüber findet sich der Ring der Welten, danach folgen weitere Ämter und Suiten für hochgestellte Besucher und schließlich, dreitausend Meter über dem Meer, die Privatgemächer des Connat. Die höchsten Türme ragen in die Wolken und manchmal noch durch sie hindurch. Wenn die Sonnenstrahlen sich auf seinen schillernden Mauern spiegeln, bietet Lusz einen einmaligen Anblick, und so manche bezeichnen dieses Bauwerk als das bewunderungswürdigste Artefakt, das die menschliche Rasse je schuf. Hoch oben in seinem Horst lebt der Connat ohne jeglichen Prunk. Für öffentliche Auftritte kleidet er sich in eine strenge schwarze Uniform mit schwarzem Helm, um den Eindruck unnachgiebiger Autorität zu erwecken. Nur so kannten seine Untertanen ihn. Zu weniger förmlichen Anlässen – allein in seinem Horst, als inkognito Reisender in den fernen Winkeln des Sternhaufens – war er ein viel umgänglicherer Mann, von alltäglichem Aussehen, der sich nur durch seine unaufdringliche Tüchtigkeit hervorhob. Sein Arbeitszimmer in Lusz befand sich in der obersten Etage seines Horstes: ein Kuppelgemach, das ihm eine Aussicht in alle Richtungen bot. Das Mobiliar war aus massivem dunklen Holz: zwei weichgepolsterte Sessel, ein Schreibtisch, ein offener Schrank mit unzähligen Souvenirs, Fotografien, Kuriositäten und dergleichen, darunter auch ein Globus
der Alten Erde. An einer Seite des Schreibtischs zeigte ein Schirm eine Karte des Haufens. Dreitausend funkelnde Lichter in verschiedenen Farben* zeigten die bewohnten Welten an. In dieses Arbeitszimmer zog der Connat sich am liebsten zurück, wenn er ungestört nachdenken oder auch nur seine Ruhe haben wollte. Jetzt war es Abend. Pflaumenfarbiges Zwielicht herrschte in dem Kuppelraum. Der Connat schaute hinaus auf den westlichen Himmel und erfreute sich des Abendrots und des Aufgangs der ersten Sterne. Ein deutlich hörbares Geräusch, wie Wasser, das in ein Becken tropft, brach die Stille. »Esclavade?« fragte der Connat, ohne sich umzudrehen. »Eine Abordnung von vier Personen ist von Arrabus auf Wyst eingetroffen«, erwiderte eine Stimme. »Sie nennen sich die ›Wisperer‹ und ersuchen Euch um eine Unterredung, wenn Ihr Euch die Zeit dazu nehmen könnt.« Der Connat wandte seinen Blick nicht von dem Abendrot. Er dachte kurz nach, dann sagte er: »Ich werde sie in einer Stunde empfangen. Bringen Sie sie in den Schwarzen Salon und sorgen Sie für die passende Erfrischung.« *
Die Farben dienen als Schlüssel für die örtlichen Verhältnisse. Je nach Schaltung kann der Connat die verschiedenen Interessensgebiete wählen. In der Ausgangsstellung auf Allgemeines ist der Connat imstande, mit einem Blick die Gesamtsituation von drei Billionen Bürgern zu erfassen. Berührt er eines dieser Lichter, leuchten Name und Nummer der Welt auf einem Schirm auf. Drückt er stärker darauf, fallen Karten aus einem Schlitz, die über die neuesten und wichtigsten Gegebenheiten auf dieser Welt informieren. Spricht er eine Zahl, dann blitzt die damit gemeinte Welt kurz auf, und wieder spuckt der Schlitz Karten aus.
»Jawohl, Euer Gnaden.« Jetzt erst drehte der Connat sich vom Fenster um und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »1716«, sagte er. Drei Karten fielen aus einem Schlitz in die Auffangschale. Die erste trug ein zwei Wochen zurückliegendes Datum und war die Kopie eines in Waunisse, einer arrabinischen Stadt, aufgegebenen Schreibens. Sir, meine bisherigen Berichte in dieser Sache sind unter den am Ende dieses Schreibens angegebenen Schlüsseln zu finden. Um mich kurz zu fassen: Arrabus wird in Bälde seine Hundertjahrfeier zu Ehren des hundertjährigen Bestehens des sogenannten ›Egalitären Manifests‹ begehen. Dieses Manifest, wie Sie wissen, sieht eine Vereinigung aller Menschen, zumindest jedoch aller Arrabiner, in absoluter Gleichheit vor, in einer Gesellschaft frei von Arbeit, Not und Zwang. Die Verwirklichung dieser Ideale ging nicht ohne gewisse Verschiebungen ab. Darf ich in dieser Beziehung auf meine früheren Berichte verweisen? Die Wisperer, der vierköpfige Exekutivausschuß, halten die gegenwärtige Situation für bedenklich. Sie sind der Überzeugung, daß bestimmte fundamentale Änderungen unbedingt erforderlich sind. Anläßlich des Jahrhunderttests werden sie ein Programm zur Revitalisierung der arrabinischen Wirtschaft bekanntgeben, das von der Bevölkerung voraussichtlich nicht gut aufgenommen werden wird, denn die Arrabiner, wie alle anderen auch, erhoffen sich eine Verbesserung und nicht Beschränkung ihres Lebensstandards. Gegenwärtig sind lediglich dreizehn Arbeitsstunden pro Kopf und Woche
Pflicht, und zwar ist die Arbeit mehr oder weniger leichte Routine. Trotzdem erwarten die Arrabiner eine Herabsenkung dieser Arbeitszeit. Um die Notwendigkeit für eine Veränderung zu erklären, werden die Wisperer nach Lusz reisen. Sie beabsichtigen, mit Ihnen auf einer realistischen Basis zu verhandeln, und hoffen, daß Sie die Hundertjahrfeier besuchen werden, um öffentlich Ihr Einverständnis zu dem neuen Programm zu geben und möglicherweise auch wirtschaftliche Unterstützung zu gewähren. Ich habe mich diesbezüglich mit den Wisperern in Waunisse unterhalten. Sie werden morgen nach Uncibal zurückkehren und unmittelbar nach Numenes aufbrechen. Nach meiner Meinung ist ihre Beurteilung der Situation durchaus realistisch. Es wäre zu begrüßen, wenn sie ein geneigtes Ohr bei Ihnen fänden. Bonamico Connatischer Kursar in Uncibal, Arrabus Der Connat las die Karte sehr sorgfältig, dann legte er sie ab und griff nach der zweiten, die ebenfalls von Waunisse kam und einen Tag später als die erste abgesandt war. An den Connat in Lusz: Grüße von den Wisperern von Arrabus. Wir werden in Kürze in Lusz eintreffen, wo wir hoffen, uns mit Ihnen über Angelegenheiten von großer Tragweite und Dringlichkeit unterhalten zu dürfen. Gleichzeitig möchten wir Ihnen auch unsere Einladung zu unserem Jahrhunderttest übermitteln, das wir zu Ehren des hundertjährigen Bestehens unserer egalitären
Gesellschaft feiern. Es gibt in dieser Hinsicht viel zu sagen, und wir werden Ihnen unsere Überlegungen betreffs der nächsten hundert Jahre darlegen, genau wie die Änderungen, die unweigerlich gemacht werden müssen. Wir erbitten Ihren Rat und Ihre konstruktive Unterstützung. Mit größtem Respekt die Wisperer von Arrabus Der Connat hatte beide Schreiben schon einmal gelesen und war mit ihrem Inhalt vertraut. Die dritte Botschaft, nach diesen beiden angekommen, war ihm noch neu. Connat in Lusz: Von der alastorianischen Zentralität in Uncibal, Arrabus. Es ist meine Pflicht, Ihnen von einer ungewöhnlichen und beunruhigenden Angelegenheit Mitteilung zu machen. Ein gewisser Jantiff Ravensroke erschien in der Zentralität mit einer Information von größter Dringlichkeit, wie er angab. Kursar Bonamico ist abwesend, und ich sehe nur eine Möglichkeit, Sie zu bitten, sofort einen Untersuchungsbeamten zu schicken, um die Hintergründe einer höchstwahrscheinlich ernsten Angelegenheit zu eruieren. Clode Morre, Sekretär Alastorianische Zentralität Uncibal Noch während der Connat über dieser Nachricht grübelte, fiel eine vierte in die Auffangschale.
An den Connat in Lusz: Zu meiner größten Sorge und Bestürzung spitzen die Dinge sich hier in jeder Beziehung zu. Besonders fürchte ich für den bedauernswerten Jantiff Ravensroke, der sich in schrecklicher Gefahr befindet. Wenn nicht sofort jemand einschreitet, wird es ihn den Kopf kosten. Man bezichtigt ihn eines abscheulichen Verbrechens, aber er ist ganz sicher unschuldig wie ein Lamm. Sekretär Morre wurde ermordet und Kursar Bonamico ist nicht auffindbar, deshalb riet ich Jantiff, ungeachtet des beschwerlichen und langen Weges, sich in die südlichen Schrekkenslande zurückzuziehen. Ich schicke diese Nachricht voll Verzweiflung und kann nur hoffen, daß bereits Hilfe unterwegs ist. Aleida Gluster, Sekretärin Alastorianische Zentralität Uncibal Der Connat starrte reglos und mit gerunzelter Stirn auf diese vierte Karte. Einen Augenblick später stieg er eine hölzerne Wendeltreppe zum nächsten Stockwerk hinunter. Eine Tür glitt vor ihm auf. Er fuhr mit dem Lift abwärts zum Ring der Welten und auf einem der wie Speichen verlaufenden Rollgänge, die für seine persönliche Benutzung reserviert waren, zur Abteilung 1716. Im Vestibül waren auf einer Tafel die allgemeinen Daten über Wyst aufgeführt. Wyst, der einzige Planet des weißen Sternes Dwan, war klein, kühl, kompakt und hatte eine Bevölkerungszahl von über drei Milliarden. Der Connat betrat den Hauptraum. In der Mitte schwebte eine Kugel mit einem Durchmesser von zwei Metern; eine Miniaturabbildung Wysts, bei der
allerdings das physiographische Relief der Klarheit wegen um ein Zehnfaches vergrößert war. Der Connat berührte den Globus, und er begann sich unter seiner Hand zu drehen. Die einander gegenüberliegenden Kontinente Trembal und Tremora schoben sich vor seine Augen. Der Connat hielt die Kugel an. Die Kontinente erstreckten sich siebentausend Kilometer entlang der Flanke Wysts vom Nordgolf zum Seufzermeer im Süden und ähnelten in etwa einer in der Mitte etwas zu dick geratenen Sanduhr. Am Äquator, beziehungsweise dem schmalsten Teil des Stundenglases, waren die Kontinente durch die Salamansee geteilt, eine ehemalige, jetzt überspülte Schlucht mit einer durchschnittlichen Breite von hundertfünfzig Kilometer. Die Landzunge zwischen der See und den flankierenden Steilwänden im Norden und Süden, nie breiter als fünfzig Kilometer, war das Land Arrabus. Im Süden lagen seine Städte Uncibal und Serce und im Norden Propunce und Waunisse. Jedes der beiden Paare wuchs allmählich zusammen. Genaugenommen war ganz Arrabus ein einziges städtisches Siedlungsgebiet. Nördlich und südlich davon breiteten sich die sogenannten »Schreckenslande« aus, die früher einmal zivilisierte Gegenden gewesen waren, doch jetzt nur noch eine Wildnis unter düsteren Baumkronen darstellten. Der Connat drehte den Globus auf die andere Halbkugel und studierte flüchtig die beiden Inselkontinente Zumer und Pombal an der gegenüberliegenden Äquatorseite. Das Terrain der beiden war nicht sonderlich einladend: schroffe Felsen wechselten mit eisigem Sumpfgebiet ab. Beide waren nur dünn besiedelt.
Nun wandte der Connat dem Globus den Rücken und betrachtete die Schaufiguren. Zuvorderst stand ein Paar Arrabiner, sowohl Mann als Frau gleichermaßen in buntgemustertem Kittel, Shorts und Sandalen aus Synthetikmaterial. Ihr Haar war zu festeingerollten Locken gekämmt und über der Stirn zu Fransen geschnitten, zweifellos eine Frisur, die Raum für Individualität gewährte. Ihr Gesichtsausdruck war vergnügt und ein wenig spitzbübisch, wie bei Kindern, die dabei sind, etwas anzustellen. Ihr Teint war blaß bis leicht bräunlich, und ihr ethnischer Typus schien gemischt zu sein. Neben ihnen standen Paare aus Pombal und Zumer von auffallenden Charakteristiken. Sie waren hochgewachsen, von kräftigem Knochenbau. Sie hatten eine lange krumme Nase, breite Backenknochen und ein eckiges Kinn. Sie trugen gefütterte Steppkleidung mit Kupferornamenten, dazu Stiefel und krempenlose Hüte aus Knautschleder. An der Wand dahinter war ein zumerischer Schunkreiter auf seinem schreckeinflößenden Reittier* abgebildet, beide für den Sport ausgerüstet, der als Schunkerie bekannt ist. Etwas abseits von den anderen Figuren kauerte die Abbildung einer Frau mittleren Alters in einem Kapuzengewand mit gelben, orangefarbenen und schwarzen Längsstreifen. Ihre Fingernägel glitzerten, als wären sie vergoldet. Auf dem Schild darunter stand: Schreckenslandhexe. *
Schunk: eine in den Pombalsümpfen beheimatete monströse Kreatur, die für ihre Übellaunigkeit und unberechenbare Wildheit bekannt ist. Obgleich die Zumerer die besten Schunkreiter sind, ist es ihnen noch nicht geglückt, die Schunk in Zumer zu züchten. In den Arenen von Arrabus gehört Schunkerie neben Hussade zu den beliebtesten Unterhaltungsarten.
Am Register überflog der Connat eine kurze Zusammenfassung der arrabinischen Geschichte*, mit der er nur in groben Zügen vertraut war. Während er las, nickte er bedächtig, als bestätige der Text seine Meinung. Er verließ das Register und studierte drei große Fotografien an der Wand. Die erste, eine Luftaufnahme von Uncibal, war wie ein geometrisches Muster mit den unzähligen Reihen von vielfarbigen Häuserblocks bis zum Horizont. Das zweite Bild stellte das Innere des Stadions vom 32. Bezirk dar. Die Zuschauer saßen auf den Rängen ringsum. In der Mitte des Feldes ritten zwei Schunk aufeinander zu. Die dritte Aufnahme zeigte einen Blick über eine der großen arrabinischen Gleitstraßen: eine Rollbahn von mehr als dreißig Metern Breite, die sich bis in die dunstige Ferne erstreckte, und auf der die Menschen dicht gedrängt standen oder sich bewegten. Der Connat bestaunte diese Bilder. Menschenmengen von diesem Ausmaß hatte er selbst nie erlebt, aber auf diesen Aufnahmen wirkten sie unwahrscheinlich echt. Er blätterte eine Akte mit den Berichten des Kursars** von Wyst durch und las einen, der jetzt zehn Jahre alt war. Arrabus ist das heftig pochende Herz von Wyst. Trotz gegenteiliger Gerüchte funktioniert Arrabus durchaus; Arrabus ist wirklich; Arrabus ist tatsächlich ein erstaunliches Modell. Wer das bezweifelt, braucht nur nach Wyst zu kommen und sich selbst zu überzeugen. Immigranten sind jedoch keineswegs mehr eine will* Siehe Glossar 1 ** Kursar: der örtliche Beauftragte des Connat, der sein Amt gewöhnlich in einer als »alastorianische Zentralität« bezeichneten Enklave hat.
kommene Bereicherung der überfüllten Städte. Doch wer mit einem dicken Fell ausgestattet ist, mag ruhig, ob auf die Dauer oder zeitweilig, an diesem phantastischen sozialen Experiment teilnehmen, das Nahrung und Unterkunft wie die Luft als das natürliche Recht für jeden Menschen betrachtet. Der Neuankömmling wird sich plötzlich von allen Sorgen befreit finden. Er braucht lediglich pro Woche zwei kurze Perioden »placken«, dazu kommen zwei Stunden »Instandhaltung« in seinem Wohnblock. Er wird sofort in einer Gesellschaft aufgenommen, die sich der Selbstbefriedigung, dem Vergnügen und der Frivolität widmet. Er wird tanzen, singen, sich am Klatsch beteiligen, unzählige Liebschaften eingehen und endlos auf den »Menschenflüssen« dahingleiten, ohne irgendein Ziel, und unzählige Stunden mit der Lieblingsbeschäftigung der Arrabiner verbringen: dem »Menschenschauen«. Er wird sein Frühstück, Mittag- und Abendessen aus sättigendem »Atz« und nahrhaftem »Söff« zu sich nehmen und dazu ein Schälchen »Wabbli«, um »die Lücken zu füllen«, wie es so schön heißt. Wenn er klug ist, wird er sich mit diesem Speiseplan abfinden, ja dieses ungewöhnliche Menü wird ihm sogar schmecken, denn es gibt in Arrabus nichts anderes zu essen. »Labrung« oder natürliche Nahrungsmittel sind so gut wie unbekannt in diesem Land. Das Problem, für drei Milliarden Menschen »Labrung« zu züchten, zu verteilen und zuzubereiten, übersteigt die Möglichkeit jener, die resolut die Arbeit aus ihrem Leben verbannt haben. Hin und wieder spricht einer voll Verlangen von »Labrung«, aber niemand ist von ihrem Mangel ernsthaft betroffen. Redet einer zuviel vom Essen – etwas, das auch ein Besucher unterlassen sollte –, schimpft man ihn
»Praßnick«. Soviel über die Gourmandise in Arrabus – es gibt sie nicht. Doch, noch etwas: alkoholische Getränke werden von keiner der öffentlichen Versorgungsstellen hergestellt. Disselberg, der eine schwache Leber hatte und weder Wein, Bier noch Spirituosen trank, erklärte sie als »unnötige Vergeudung«. Trotzdem wird jeden Tag, auf jedem Stockwerk jedes Blocks irgend jemand einen Krug oder auch mehr »Stilli« aus übriggebliebenem »Atz« brauen. Dann holte der Connat einen zweiten Bericht heraus und las: Der Besucher Wysts rechnet von vornherein mit Überraschungen, ja Schocks, aber die Wirklichkeit übersteigt jegliche Erwartung. Er sieht die endlosen Häuserblocks, die sich streng nach dem Gesetz der Perspektive bis zum Horizont ausbreiten. Er steht auf einer Überführung und beobachtet die unter ihm dahinströmenden, dreißig Meter breiten »Menschenflüsse« mit der Menge, die sich darauf drängt. Er besucht Disjerferact im Schlammgebiet von Uncibal, eine Art Vergnügungspark, zu dem auch Todeshäuser gehören. Hier kann jeder, dem danach ist, Reden halten und dann unter dem Applaus der Zuschauer oder zufälliger Passanten Selbstmord begehen. Er beobachtet einen Zug von Schunk, die schicksalsschwer dem Stadion entgegenstapfen. Er fragt sich, ist etwas von all dem wirklich wahr oder überhaupt möglich? Er blinzelt, und alles ist wie zuvor. Trotzdem fällt es ihm nach wie vor schwer, das alles zu glauben. Vielleicht verläßt er die Grenzen von Arrabus, um durch die dunstigen Wälder im Norden und Süden zu wandern, durch die sogenannten »Schreckenslande«.
Kaum hat er die felsigen Hänge erstiegen, findet er sich in einer völlig anderen Welt, die offenbar nur existiert, um den Arrabinern vor Augen zu halten, wie gut es ihnen doch geht. Es fällt schwer, sich vorzustellen, daß diese trostlosen Öden noch vor tausend Jahren die reichen Ländereien von Prinzen und Herzögen waren. Bäume überwuchern jegliche Spur ihrer früheren Pracht. Wyst ist eine kleine Welt, nur achttausend Kilometer im Durchmesser. Schon eine kurze Reise führt einen weit über den Horizont. Begibt man sich südlich über die Schreckenslande hinaus, erreicht man die Küste des Seufzermeers, ein Land von völlig anderem Charakter. Allein schon der Anblick des opaleszierenden Lichtes von Dwan, das sich in den kalten grauen Wellen widerspiegelt, ist die Reise wert. Doch der Besucher Wysts verläßt kaum je die Städte von Arrabus, obgleich die ungeheure Menschenmenge dort bald auf sein Gemüt drücken und er eine Art psychischer Klaustrophobie empfinden wird. Ein Mensch von Sensibilität wird sich der Anwesenheit von etwas Düsterem, Tieferem bewußt. Voll Faszination sieht er sich um und spürt, wie ihm ein kalter Schauder den Rücken hinabläuft. Das gleiche Gefühl bemächtigt sich seiner, wie es schon der Urmensch kannte, wenn er in eine finstere Höhle spähte, von der er sicher war, daß sie ein furchterregendes Tier behauste. Der Connat lächelte über den etwas theatralischen Stil dieses Berichts. Er sah nach und fand heraus, daß er von Bonamico stammte, dem gegenwärtigen Kursar, einem etwas emotionellen Mann. Aber wer konnte schon wissen? Er, der Connat, hatte Wyst noch nicht besucht. Vielleicht würde er die unter-
schwelligen Befürchtungen Bonamicos teilen? Er warf noch einen Blick auf eine kurze Notiz, die ebenfalls von Bonamico unterzeichnet war. Zumer und Pombal, die kleinen Kontinente, sind gebirgig und die meiste Zeit des Jahres von Schnee und Eis bedeckt. Erwähnenswert sind sie lediglich ihrer reizbaren Schunk wegen und ihrer nicht weniger launenhaften und mürrischen Züchter. Die Zeit drängte. In wenigen Minuten mußte der Connat die Wisperer empfangen. Er warf einen letzten Blick auf den Globus und gab ihm einen leichten Schub. Er würde sich jetzt tagelang drehen, bis der Luftwiderstand ihn anhielt. Der Connat kehrte in seinen Horst zurück. Er begab sich direkt in sein Ankleidezimmer und gab sich das Aussehen, das er den Menschen des Sternhaufens gegenüber als am wirksamsten erachtete. Erst trug er ein wenig Hauttöner auf, um die Knochenstruktur von Kinn und Schläfen hervorzuheben; dann träufelte er ein paar Tropfen in die Augen, um sie dunkler und eindringlicher wirken zu lassen; danach preßte er künstliches Knorpelgewebe auf seinen Nasenrücken, um dem Profil mehr Schärfe zu verleihen. Schließlich schlüpfte er in einen schwarzen Anzug, dem die beiden Silberknöpfe auf den Schulterklappen kaum etwas von seiner Strenge nahmen, und stülpte sich einen helmartigen Hut aus schwarzem Tuch über sein kurzgeschnittenes Haar. Dann drückte er auf einen Knopf, und auf der gegenüberliegenden Zimmerwand erschien sein holographisches Bild: ein hagerer, düsterer Mann von un-
bestimmbarem Alter, von dem Kraft und Autorität auszugehen schienen. Weder zufrieden noch unzufrieden musterte er sein Bild. Er war nun, sozusagen, für seine Arbeit gekleidet, in der Uniform seiner Stellung. Esclavades ruhige Stimme klang aus einem unsichtbaren Lautsprecher. »Die Wisperer sind im Schwarzen Salon eingetroffen, Euer Gnaden.« »Danke.« Der Connat trat in den anschließenden Raum: ein genaues Ebenbild des Schwarzen Salons mitsamt den Wisperern: drei Männer und eine Frau im frivolen Stil der gegenwärtigen Mode in Arrabus gekleidet. Der Connat studierte die Abbilder genauestens. Das tat er bei fast jeder Abordnung, um die Besucher, die mit einer sorgfältig geplanten Strategie ihre Ziele zu erreichen hofften, ein wenig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Innere Unruhe, Steifheit, Grimm, Selbstsicherheit, Verzweiflung, fatalistische Ruhe, all das hatte der Connat nach einem kurzen Blick zu erkennen gelernt, genau wie die allgemeine Gemütsverfassung einer Delegation. Nach Meinung des Connats war dies eine besonders disparate Gruppe, trotz der Uniformität ihrer Kleidung. Jeder von ihnen verriet einen anderen psychologischen Aspekt, was gewöhnlich auf Uneinigkeit hinwies oder gar gegenseitige Abneigung. Im Falle der Wisperer, die durch einen, nahezu dem Zufall überlassenen Prozeß gewählt worden waren, mochte jedoch ein Mangel an Zusammenhalt ohne größere Bedeutung sein, folgerte der Connat. Der älteste der Gruppe, ein grauhaariger Mann, nicht sonderlich groß, erschien auf den ersten Blick als der unbedeutendste der vier. Er hatte es sich in
seinem Sessel nicht gerade bequem gemacht. Er saß mit gespreizten Beinen, die Ellbogen in merkwürdigem Winkel abgebogen, den Kopf schief, den Hals verdreht. Er war hager und sehnig und hatte ein langnasiges, listiges Fuchsgesicht. Mit atemloser, verdrießlicher Stimme sagte er: »... solche Höhe macht mich nervös. Selbst hier zwischen den vier Wänden muß ich ständig daran denken, daß der Erdboden tief, tief unten liegt. Wir hätten auf einer Besprechung im Parterre bestehen sollen.« »Nicht Erde liegt darunter, sondern Wasser«, brummte ein anderer Wisperer, ein kompakter Mann mit mürrischer Miene. Sein schwarzes Haar, das in langen Korkenzieherlocken herabhing, machte der üblichen arrabinischen Pufflockenfrisur kein Zugeständnis. Von der Gruppe schien er der resoluteste zu sein. Der dritte der Männer sagte: »Wenn der Connat diesen Stockwerken sein Leben anvertraut, brauchst du wirklich nicht um dein viel weniger kostbares zu bangen. Es ist hier sicher.« »Ich kenne keine Angst!« behauptete der ältere Mann jetzt. »Bin ich vielleicht nicht zur Tribüne hochgeklettert? Flog ich nicht in der Seescheibe und im Raumschiff?« »Das stimmt«, beruhigte ihn der dritte. »Dein Mut ist bekannt.« Dieser Mann war etwas jünger als die beiden anderen und beachtlich gutaussehend, mit einer schmalen geraden Nase und freundlicher Miene. Er saß neben der vierten der Gruppe, einer Frau mit Vollmondgesicht, bleicher, grobporiger Haut und ekkigem, selbstbewußtem Kinn. Esclavade betrat den Raum. »Der Connat wird Ih-
nen in Kürze seine Aufmerksamkeit schenken. Vielleicht möchten Sie inzwischen eine Kleinigkeit zu sich nehmen?« Er deutete auf die hintere Wand, und unmittelbar darauf glitt ein Büfett in den Salon. »Bitte, bedienen Sie sich. Sie werden feststellen, daß wir auf Ihren Geschmack eingegangen sind.« Nur der Connat bemerkte, daß Esclavades Mundwinkel ein wenig zuckte. Esclavade verließ den Raum wieder. Der etwas krumme alte Wisperer sprang eilig auf die Füße. »Schauen wir mal, was man uns vorgesetzt hat.« Er schlurfte zum Büfett. »Eh? Eh? Was soll das? Atz und Söff! Kann der Connat sich denn nicht ein wenig Labrung für unsere Mägen leisten?« Mit ruhiger Stimme sagte die Frau: »Gewiß hält er es für aufmerksam, seinen Gästen Speisen anzubieten, die ihnen vertraut sind.« Der gutaussehende Mann lachte spöttisch. »Der Connat ist wohl kaum von egalitärer Überzeugung. Er ist die Elite der Elite. Vermutlich hat das etwas zu bedeuten.« Der kompakte Mann trat ans Büfett und legte sich eine Scheibe Atz auf den Teller. »Ich esse es zu Hause«, murmelte er. »Ich werde es auch hier essen und mir nicht weiter den Kopf darüber zerbrechen.« Der Krumme goß sich einen Becher voll mit zähfließender Flüssigkeit. Er kostete sie und verzog das Gesicht. »Der Söff ist nicht besonders gut.« Lächelnd setzte der Connat sich auf einen schweren Holzstuhl. Er drückte auf einen Knopf, und schon erschien sein Abbild im Schwarzen Salon. Die Wisperer fuhren herum. Die beiden Männer am Büfett stellten ihre Teller und Becher ab. Der Gutaussehende
wollte sich erheben, doch dann entschied er sich dagegen und blieb sitzen. Esclavade betrat den Schwarzen Salon und wandte sich an das Abbild. »Euer Gnaden, diese Delegation sind die Wisperer der arrabinischen Nation auf Wyst. Aus Waunisse, Lady Fausgard.« Dann deutete er auf den kompakten Mann. »Von Uncibal, Gentleman Orgold.« Danach auf den gutaussehenden. »Von Serce, Gentleman Lemiste.« Und schließlich auf den krummen: »Von Propunce, Gentleman Delfin.« »Ich heiße Sie in Lusz willkommen«, begrüßte sie der Connat. »Sie werden bemerken, daß mein Bild eine holographische Projektion ist. Das ist meine übliche Vorsichtsmaßnahme, durch die von vornherein Unvorhergesehenes vermieden werden kann.« Fausgard sagte ein wenig kühl: »Ich nehme an, daß Sie als Alleinherrscher und Elite der Elite in ständiger Furcht vor Attentaten leben müssen.« »Es ist keine eingebildete Gefahr. Ich empfange Hunderte von Menschen jeder Art und jedes Geisteszustandes. Es gibt darunter immer wieder einige, die sich als Irre herausstellen und mich für einen grausamen und überflüssigen Tyrannen halten. Ich muß mich in hohem Maße der Technik bedienen, um ihren mörderischen, wenn auch idealistischen Anschlägen zu entgehen.« Fausgard schüttelte, durchaus nicht überzeugt, den Kopf. Der Connat dachte, das ist eine Frau, die ihre einmal gefaßte Meinung nicht ändert. Sie sagte gerade: »Als Herr über mehrere Billionen Menschen müssen Sie doch einsehen, daß Sie eine Stellung mit unnatürlichen Privilegien bekleiden.« Sie ist auch von etwas zänkischem Wesen, dachte
der Connat. Laut sagte er: »Selbstverständlich ist mir das bewußt, aber diese Tatsache wird durch ihre absolute Bedeutungslosigkeit aufgewogen.« »Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht.« »Das Konzept ist komplex und doch einfach. Ich bin ich, und aufgrund von Umständen, die außerhalb meiner Kontrolle liegen, bin ich Connat. Wäre ich ein anderer, wäre ich nicht Connat, das ist unbestreitbar. Genauso klar ist, daß, wenn ich es nicht wäre, es einen anderen Connat gäbe. Er, genau wie ich, würde über die Einmaligkeit seiner Stellung nachgrübeln. Sie sehen also, für mich als Connat gibt es im Grunde genommen nicht mehr Privilegien denn für Sie als Wisperer Fausgard.« Die Frau lachte ein wenig unsicher. Sie wollte antworten, aber Lemiste kam ihr in seiner gewinnenden Art zuvor. »Sir, wir sind nicht hier, um Ihre Person zu analysieren, genausowenig wie Ihren Status oder schicksalsbedingte Umstände. Tatsächlich verneinen wir als pragmatische Egalitaristen das Schicksal als etwas Übernatürliches oder Unerklärliches. Unsere Mission ist anderer Art.« »Sprechen Sie.« »Arrabus ist jetzt bereits seit hundert Jahren eine egalitäre Nation. Wir sind einmalig im Haufen, vielleicht sogar im gesamten Gaeanischen Territorium. Bald schon feiern wir die ersten hundert Jahre unseres erfolgreichen Bestrebens.« Der Connat dachte erstaunt: Ihre Einstellung ist anders, als ich erwartet hatte. Das beweist wieder einmal, daß man keine voreiligen Schlüsse ziehen soll. Er sagte: »Ich weiß natürlich von Ihrem Fest und danke für Ihre freundliche Einladung. Ich werde se-
hen, ob sich mein Kommen ermöglichen läßt.« Lemiste fuhr schnell, aber etwas abgehackt fort: »Wie Sie wissen, schufen wir eine aufgeklärte Gesellschaft, die auf absoluter Egalität aufgebaut ist und sich der individuellen Erfüllung widmet. Es liegt uns natürlich viel daran, daß unsere Errungenschaften allgemein bekannt werden, nicht allein, um Lob zu ernten, sondern auch, um davon zu profitieren, deshalb unsere Einladung. Aber lassen Sie mich erklären. Auf den ersten Blick gesehen, wäre die Anwesenheit des Connat bei einer egalitären Feier wohl paradox, eben gegen die verfolgten egalitären Prinzipien. Wir hoffen jedoch, daß Sie, falls Sie sich zur Teilnahme entschließen können, Ihre elitäre Rolle eine Weile ablegen und während der Dauer des Festes einer von uns werden – in einem unserer Wohnblocks leben, auf unseren Menschenflüssen fahren und an unseren öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen. Dadurch könnten Sie unsere Gesellschaftsordnung aus unmittelbarer Sicht kennenlernen.« Nach einem Augenblick nachdenklichen Schweigens sagte der Connat: »Das ist ein interessanter Vorschlag. Er verdient ernsthafte Überlegung. Haben Sie sich erfrischt? Ich hätte Ihnen natürlich etwas Ausgefalleneres vorsetzen lassen können, aber aufgrund Ihrer Prinzipien nahm ich davon Abstand.« Delfin, der sich bisher, wenn auch sichtlich nervös, zurückgehalten hatte, platzte nun doch heraus: »Unsere Prinzipien sind durchaus ernsthaft. Daher unser Kommen: um sie zu fördern und gleichzeitig vor schädlichen Folgen zu schützen. Überall im Sternhaufen leben Schmarotzer in unermeßlicher Zahl. Sie betrachten Arrabus als einen Wohlfahrtsstaat, wo sie
sich in Scharen niederlassen und von den guten Dingen leben können, die wir durch Opfer und Mühe ermöglichten. Und das ist durch das Immigrationsgesetz legalisiert. Wir möchten die Einwanderungen stoppen, doch das Recht der Freien Lebensraumwahl verhindert es. Wir verlangen deshalb...« Hastig unterbrach ihn Fausgard: »Richtiger gesagt, wir ersuchen...« Delfin fuchtelte mit den Armen in der Luft. »Verlangen, ersuchen, es läuft schließlich auf dasselbe hinaus. Wir möchten, erstens, einen Immigrationsstopp; zweitens, finanzielle Unterstützung, um die Horden zu füttern, die sich bereits bei uns eingenistet haben; und drittens, neue Maschinen, um die abgenutzten zu ersetzen, die durch die Versorgung der Schmarotzer überlastet wurden.« Delfin war sichtlich nicht sehr beliebt bei seinen Mitwisperern. Sie beeilten sich augenblicklich, sich von Delfins unverschämten Worten zu distanzieren. Mit nörgelnder Stimme sagte Fausgard: »Nun, Delfin, wir möchten den Connat nicht mit einer Tirade belästigen.« Delfin blickte sie mit schiefem Grinsen an. »Ah, Tirade, eh? Wenn man von Wölfen spricht, kann man nicht Mäuse beschreiben. Der Connat schätzt Offenheit. Warum also nur mit geziertem Lächeln hiersitzen und in die Hosen schei... Ja, ja, ich halte schon meinen Mund.« Er blinzelte den Connat an und brummte: »Ich warne Sie. Sie wird eine Stunde brauchen, um im Grund genommen nur das zu wiederholen, was ich Ihnen in zwanzig Sekunden sagte.« Fausgard ignorierte ihn. »Sir, der Wisperer Lemiste sprach bereits von unserer Hundertjahrfeier. Sie ist
der Hauptgrund unseres Besuchs. Aber andere Probleme, auf die der Wisperer Delfin hinwies, bestehen ebenfalls, und es wäre günstig, die Gelegenheit zu nutzen und auch auf sie einzugehen.« »Durchaus«, forderte der Connat sie auf. »Es ist meine Aufgabe, Schwierigkeiten zu beheben, wenn es richtig, möglich und nach alastorianischem Recht gestattet ist.« Delfin konnte sich nicht zurückhalten. »Ein einziges Wort genügt: Immigranten! Tausend die Woche. Affen und Echsen, weltfremde Ästheten, Faulpelze, Taugenichtse, die nur Weiber und Labrung im Sinn haben. Wir dürfen sie nicht abweisen! Ist das etwa nicht absurd?« Lemiste warf mildernd ein: »Wisperer Delfin übertreibt ein wenig. Viele der Immigranten sind ehrbare Idealisten. Aber es stimmt natürlich, ein gewisser Prozentsatz sind reine Schmarotzer.« Delfin ließ sich das Wort nicht nehmen. »Selbst wenn sie alle Heilige wären, müßte dieser Strom eingedämmt werden. Ob Sie es mir glauben oder nicht, ein Immigrant verweigerte mir den Zutritt in mein eigenes Apartment!« »Das ist vielleicht der unterbewußte Grund für Wisperer Delfins Heftigkeit«, murmelte Fausgard. »Wenn man uns so hört, könnte man uns für eine Schar Gänse halten«, ergriff Orgold hörbar verärgert zum erstenmal das Wort. Der Connat überlegte laut. »Tausend pro Woche ist bei einer Bevölkerung von drei Milliarden kein hoher Prozentsatz.« Orgold erwiderte in sachlichem Ton, der den Connat weit mehr beeindruckte als sein überlegenes Äu-
ßeres. »Unsere Fabriken sind überlastet. Wie die Dinge im Augenblick stehen, benötigen wir achtzehn neue Stördschanlagen...« Lemiste warf erklärend ein: »›Stördsch‹ ist Rohnahrungsmittelmasse.« »... Abflüsse, Tanks, Speisezuführungen und weitere Wohnblocks. Die damit verbundene Arbeit ist ungeheuerlich. Die Arrabiner sind jedoch nicht gewillt, ihr ganzes Leben mit Arbeit zuzubringen. Also müssen unbedingt Schritte unternommen werden. Als erstes, wenn auch durchaus nicht als Wichtigstes – und vielleicht nur, um Delfin zu besänftigen –, sollte der Immigrationszustrom eingedämmt werden.« »Das ist schwierig«, erwiderte der Connat. »Das Grundgesetz garantiert die freie Wahl des Lebensraums.« Delfin schrie: »Im ganzen Haufen beneidet man uns unserer Egalität wegen. Da jedoch nicht ganz Alastor nach Arrabus kommen kann, muß der Egalitarismus über den gesamten Sternhaufen verbreitet werden. Das ist Ihre vordringlichste Aufgabe!« Das ernste Gesicht des Connat verriet die Spur eines Lächelns. »Ich muß Ihre Ideen sorgfältig studieren. Im Augenblick entgeht mir ihre Logik.« Delfin brummte etwas vor sich hin, dann drehte er sich mürrisch auf seinem Stuhl. »Die Logik liegt in den Füßen der Immigranten«, knurrte er über die Schulter. »In ihrer endlosen Zahl zertrampeln sie Arrabus!« »Bei nur tausend die Woche? Zehnmal so viele Arrabiner begehen Selbstmord.« »Das beweist überhaupt nichts.« Der Connat zuckte gleichmütig die Achseln und
musterte unbeeindruckt die kleine Gruppe. Seltsam, dachte er, daß Orgold, Lemiste und Fausgard, obgleich sie sich für Delfins Meinung nicht interessieren, doch zulassen, daß er ihren Sprecher macht und absurde Forderungen stellt, die sie alle in ein schiefes Licht setzen. Lemiste war offenbar der einsichtigste unter ihnen. Er lächelte ein wenig abfällig und sagte: »Bei den Wisperern hat jeder seine eigenen festen Ansichten, und wir können uns nicht immer auf eine Art einigen, wie wir unsere Probleme lösen könnten.« »Ja, selbst was die Probleme als solche betrifft, sind wir nicht immer der gleichen Meinung«, warf Fausgard ein. Lemiste achtete nicht auf sie. »Kurz gesagt, unsere Produktionsanlagen sind veraltet. Wir brauchen neue Maschinen, um mit weniger Aufwand mehr herzustellen.« »Sie möchten demnach einen Zuschuß?« »Wenn er laufend gewährt werden könnte, würde das zweifellos helfen.« »Weshalb versuchen Sie nicht, die Landstriche im Norden und Süden zu roden und wieder fruchtbar zu machen? Sie versorgten früher einmal die gesamte Bevölkerung.« Lemiste schüttelte zweifelnd den Kopf. »Die Arrabiner sind Städter. Wir verstehen nichts von Landwirtschaft.« Der Connat erhob sich. »Ich werde Sachverständige nach Arrabus schicken. Sie werden Ihre Situation analysieren und Vorschläge unterbreiten.« Fausgard verlor die Beherrschung. »Wir wollen keinen Untersuchungsausschuß und sogenannte Experten. Sie werden nur sagen: ›Tun Sie dies! Tun Sie
das!‹ Und alle konteregalitär. Wir wollen niemanden, der uns etwas vorschreibt. Wir sind nicht gewillt, was wir erreicht haben, aufzugeben!« »Ich werde mich höchstpersönlich der Sache annehmen«, versprach der Connat. Orgolds scheinbare Gleichgültigkeit schwand. »Dann kommen Sie nach Wyst?« »Vergessen Sie nicht«, rief Lemiste erfreut, »Sie sind zur Hundertjahrfeier eingeladen!« »Wie ich schon sagte, ich werde sehen, was ich tun kann. Doch nun etwas anderes. Ich bemerkte, daß die Ihnen vorgesetzte Stärkung keinen besonderen Anklang fand. Vielleicht ziehen Sie ungewöhnlichere Speisen vor? Ich möchte, daß Sie sich als meine Gäste betrachten. Auf dem Promenadendeck gibt es Hunderte ausgezeichneter Restaurants. Bitte essen Sie dort, wo es Ihnen Spaß macht, und weisen Sie die Geschäftsführung an, die Rechnung an mich zu schicken.« »Vielen Dank«, sagte Fausgard. »Das ist sehr großzügig.« Der Connat wandte sich zum Gehen, dann hielt er inne, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen. »Übrigens, wer ist Jantiff Ravensroke?« Die Wisperer blickten ihn wie erstarrt an. Lemiste sagte schließlich: »Jantiff Ravensroke? Ich habe diesen Namen noch nie gehört.« »Ich genausowenig«, brummte Delfin mit finsterer Miene. Fausgard schüttelte benommen den Kopf, und Orgold schaute lediglich, scheinbar ungerührt, auf einen Punkt oberhalb des Connat Kopf. »Wer ist dieser ›Jantiff‹?« erkundigte sich Lemiste jetzt.
»Ein Mann, der sich schriftlich mit mir in Verbindung setzte. Es ist nicht wichtig. Wenn ich nach Arrabus komme, werde ich ihn aufsuchen. Einen angenehmen Abend.« Sein Abbild bewegte sich in die Schatten an der Seite des Salons und verschwamm. In seinem Ankleidezimmer nahm der Connat den Stoffhelm ab. »Esclavade?« »Euer Gnaden?« »Was halten Sie von den Wisperern?« »Eine ungewöhnliche Gruppe. Mir fiel ein leichtes Zittern in Fausgards und Lemistes Stimmen auf. Orgolds Selbstbeherrschung läßt nichts durchdringen. Delfin fehlt es an jeglicher Zurückhaltung. Der Name ›Jantiff Ravensroke‹ ist ihnen vermutlich durchaus nicht unbekannt.« »Das Ganze ist mir ein Rätsel«, murmelte der Connat nachdenklich. »Zweifellos sind sie nicht den weiten Weg von Wyst gekommen, nur um mit einer Reihe von unmöglichen Ansinnen an mich heranzutreten, die ihren ursprünglichen Absichten widersprechen.« »Da muß ich Euch beipflichten, Euer Gnaden. Aus irgendeinem Grund haben sie ihre Meinung geändert.« »Ob es wohl etwas mit Jantiff Ravensroke zu tun hat?«
2 Jantiff Ravensroke wuchs in wohlsituierten Verhältnissen in Frayness auf Zeck, Alastor 503 auf. Sein Vater, Lile Ravensroke, arbeitete an der Eichung kalibrierter Mikrometer im Institut für Molekularstruktur. Seine Mutter hatte eine Halbtagsstellung als technischer Analysator für die Firma OrionInstrumentebau. Zwei Schwestern, Ferfan und Juille, spezialisierten sich, auf eine Subphase der Kondapterie* die eine, und auf das Schnitzen von Vertäuungspfählen** die andere. Auf der Vorakademie studierte Jantiff – ein großer, magerer junger Mann, Farbenlehre und begriffliche Psychologie. Auf der Universität schrieb er sich für die Geschichte der kreativen Abbildung ein, gegen den Willen seiner Familie. Sein Vater wies ihn immer wieder darauf hin, daß er sich einer Spezialisierung nicht auf die Dauer entziehen könnte. Sein Enthusiasmus für die Künste war zweifellos sehr unterhaltend, würde jedoch schließlich zur Frivolität, ja gar Unverantwortlichkeit führen. Jantiff hörte mit angemessener Aufmerksamkeit zu, doch bald darauf stieß er auf ein altes Lehrbuch über *
Aus dem Gaeanischen Kondaptriol: die Wissenschaft des Informationsmanagements, zu der auch das beschränktere Gebiet der Kybernetik gehört. ** Zeck ist eine Welt mit Hunderttausenden von Inseln, die über Hunderte von Meeren, Buchten und Kanälen verstreut sind. Der einzige Kontinent ist von Flüssen und Seen durchzogen. Viele Familien wohnen in Hausbooten und besitzen gewöhnlich auch einen Seesegler. Vertäuungspfähle sind kunstvoll geschnitzt und gelten als Status- oder Berufssymbole.
Landschaftsmalerei in dem er las, daß lediglich mit natürlich gewonnenen Farben natürliche Objekte richtig abgebildet werden könnten, und auch, daß synthetische Substanzen, da sie unnatürlich und unecht waren, den Künstler unbewußt beeinflußten und so unweigerlich sein Werk verfälschten. Jantiff fand dieses Argument überzeugend. Er begann Umbra und Ocker, Rinden, Wurzeln, Beeren, Drüsen von Fischen und Sekrete von Nagetieren zu sammeln, zu behandeln und zu mischen, während seine Familie ihm amüsiert dabei zusah. Wieder sah Lile Ravensroke sich gezwungen, etwas gegen Jantiffs Unbeständigkeit zu unternehmen. Er ging die Sache diplomatisch an. »Du bist doch gewiß nicht bereit, dein Leben in Armut zu verbringen?« fragte er. Jantiff, der von sanftem Wesen, bemerkenswerter Naivität und hin und wieder geistesabwesend war, erwiderte ohne Zögern: »Natürlich nicht! Dazu weiß ich die guten Dinge des Lebens zu sehr zu schätzen.« Mit ruhiger Stimme fuhr Lile Ravensroke daraufhin fort: »Ich nehme an, daß du nicht beabsichtigst, dir diese guten Dinge durch Betrügereien oder sonstige Verbrechen zu erschwindeln, sondern daß du sie dir durch deiner Hände Arbeit verdienen willst?« »Das letztere, selbstverständlich«, erwiderte Jantiff ein wenig verwirrt. »Das brauchst du doch gar nicht zu fragen.« »Wie erwartest du dann, Nutzen aus deiner Ausbildung zu ziehen, wenn du dich ständig mit anderem beschäftigst? Du mußt dich auf eine Sache konzentrieren. Nur als Spezialist kannst du soviel Geld verdienen, daß du deinen gewohnten Lebensstandard
aufrechtzuerhalten vermagst.« Etwas verlegen gestand Jantiff, daß ihm noch keine Spezialisierung untergekommen sei, die ihm interessant genug erschien und ihn auch ein ganzes Leben lang zufriedenstellen würde. Lile Ravensroke erwiderte, es sei seines Wissens von den höheren Mächten nicht bestimmt, daß eine Arbeit zufriedenstellend oder interessant sein müßte. Laut pflichtete Jantiff seinem Vater zwar bei, aber insgeheim klammerte er sich an die Hoffnung, daß er aus seiner Neigung vielleicht doch eines Tages Kapital schlagen könnte. Jantiff beendete das Semester ohne größere Auszeichnung, und nun lagen die Sommerferien vor ihm. Während dieser viel zu kurzen Monate mußte er sich entscheiden, wie seine weitere Zukunft aussehen sollte. Er konnte sich entweder für ein spezialisiertes Studium einschreiben, oder sich vielleicht um eine Ausbildung als technischer Zeichner bemühen. Es sah jedenfalls ganz so aus, als müsse er von der unbeschwerten, unbekümmerten Jugend endgültig Abschied nehmen. Geistesabwesend und schlechtester Laune blätterte er in dem alten Lehrbuch über Landschaftsmalerei und stieß dabei zufällig auf einen bestimmten Abschnitt, der sein Interesse und ein unerklärliches Verlangen in ihm weckte. Für manche Künstler wird die Darstellung von Landschaften zu einer lebenslangen, lohnenden Beschäftigung. Es gibt viele bemerkenswerte Vorbilder. Keinesfalls darf jedoch vergessen werden, daß die Abbildung nicht nur die Szenerie selbst widerspiegelt, sondern auch die persönliche Einstellung des Künstlers zu ihr. Noch ein Aspekt dieser Kunst sollte erwähnt werden:
das Sonnenlicht. Es ist von Welt zu Welt verschieden und reicht von einem düsteren roten Glühen zu einem blendenden purpurweißen Schein. Jeder dieser verschiedenen Lichttöne bedingt eine andere subjektiv-objektive Einstellung. Reisen, vor allem transplanetare, sind eine große Hilfe für den bildenden Künstler. Er lernt die Dinge objektiv zu sehen und er verliert unnütze Illusionen. Es gibt eine Welt, wo das Zusammenspiel von Sonne und Atmosphäre ein unvorstellbares wundervolles Licht erzeugt, wo alles in seiner wahren und richtigen Farbe prangt. Diese beneidenswerte Welt ist Wyst, Alastor 1716, die von ihrer Sonne, dem weißen Stern Dwan, verwöhnt wird. Juille und Ferfan beschlossen, Jantiff von seinen seltsamen Anwandlungen zu kurieren. Sie glaubten, Schüchternheit sei sein ganzes Problem, und brachten ihn deshalb mit Mädchen zusammen, die sich nicht so leicht abweisen ließen, sich aber schließlich doch wieder von ihm zurückzogen, da er sie entweder langweilte, verwirrte, oder sie sich in seiner Gegenwart unsicher fühlten. Jantiff sah mit seinem schwarzen Haar, den blaugrünen Augen und dem gutgeschnittenen schmalen Gesicht recht gut aus. Er war auch absolut nicht schüchtern, wie seine Schwestern dachten, aber er legte keinen Wert auf seichte Unterhaltung, und er glaubte, gewiß nicht zu Unrecht, daß es ihm nur Unverständnis oder gar Spott einbringen würde, spräche er von seinen ungewöhnlichen Sehnsüchten. Um die Teilnahme an einer Party, bei der seine Schwestern ihn unbedingt dabeihaben wollten, zu
vermeiden, zog er sich auf das Hausboot der Familie zurück, das an einer Mole in der Scherbensee lag. Aus Angst, seine Schwestern könnten ihn dort aufspüren und zurückholen, löste er sofort die Vertäuung und fuhr über die Fallasbucht zu den Untiefen, wo er im Schilf den Anker auswarf. Endlich Einsamkeit und Ruhe, dachte Jantiff. Er brühte sich eine Kanne Tee auf und machte es sich in einem Liegesessel auf dem Vorderdeck bequem, wo er den Untergang der orangefarbenen Sonne Mur beobachtete. Eine sanfte Spätnachmittagsbrise kräuselte das Wasser, und die letzten Sonnenstrahlen spiegelten sich millionenfach zwischen dem schlanken schwarzen Schilf. Jantiff entspannte sich. Der weite stille Himmel, das orangefarbene Glitzern im Wasser waren Balsam für seine von Unsicherheit gequälte Seele. Könnte er nur den Frieden dieses Augenblicks für immer einfangen! Traurig schüttelte er den Kopf. Leben und Zeit waren unerbittlich. Auch diese tröstenden Momente mußten vergehen. Eine Fotografie wäre unzulänglich, und Farbe und Pinsel könnten nie diese Stimmung, diese Weite, dieses Glitzern und Glühen wiedergeben. Ja, hier wurde ihm sein Sehnen so richtig bewußt. Es drängte ihn danach, dieses magische Band zwischen der Wirklichkeit und dem Unwirklichen, das, was er sah und spürte, in den Griff zu bekommen. Er wünschte sich, in die Geheimnisse der Dinge eindringen zu können, und dieses Wissen zu nutzen, wenn ihm danach war. Diese »Geheimnisse der Dinge« waren durchaus nicht etwas unbedingt Tiefsinniges oder Subtiles. Sie lagen lediglich ein wenig unter der Oberfläche und blieben dem gleichgültigen Betrachter verborgen. Sie waren etwas, wie die
gegenwärtige Stimmung: der Sonnenuntergang, das Boot im Schilf und – das war vielleicht am bedeutsamsten – die einsame Gestalt auf dem Deck. In Gedanken stellte Jantiff sich die Szene als Bild vor und ging sogar so weit, die Farben auszuwählen... Seufzend schüttelte er den Kopf. Verrückt, auch nur daran zu denken! Selbst wenn es ihm gelänge, ein solches Gemälde zu schaffen und die Stimmung einzufangen, was konnte er schon damit tun? Es an die Wand hängen? Absurd! Der ständige Anblick würde die Wirkung genauso schnell aufheben wie die eines zu oft wiederholten Witzes. Die Sonne verschwand ganz. Wasserfalter flatterten im Schilf. Von der See war etwas zu hören, das wie ruhige Stimmen bei gesetzter Unterhaltung klang. Jantiff konzentrierte sich darauf. Ein Prickeln zog sich über seine Haut. Niemand vermochte diese Seestimmen zu erklären. Wenn jemand sich, und war es noch so verstohlen, in einem Boot näherte, verstummten sie sofort. Und was sie sagten, war nie zu verstehen, immer lag es eine Spur außerhalb des Erfaßbaren. Diese Seestimmen hatten Jantiff immer gefesselt. Einmal hatte er sie aufgenommen, doch als er sie abspielte, klangen sie noch ferner und unverständlicher. Sie müssen eine geheimnisvolle Bedeutung haben, dachte er. Er strengte die Ohren noch mehr an. Wenn er sie nur verstehen könnte, ein Wort wenigstens, um zumindest zu erraten, worum es ging. Als würden sie sich des Lauschers bewußt, schwiegen die Stimmen nun, und die Nacht senkte sich auf das Wasser. Jantiff ging in die Kabine. Er stärkte sich an Brot, kaltem Braten und Bier, dann kehrte er an Deck zurück. Sterne begannen am Himmel zu glitzern. Still
blickte Jantiff zum Firmament empor. Er träumte von fernen Welten und nannte die Sterne, die er kannte, bei Namen und überlegte, wie die anderen wohl heißen mochten.* Das Leben hatte so viel zu bieten, so viel, das man sehen und wissen und spüren sollte! Doch ein Leben genügte dafür gar nicht... Wieder drangen sanfte Stimmen über das Wasser. Jantiff stellte sich bleiche Gestalten vor, die in der Dunkelheit schwebten oder schwammen und die Sterne beobachteten. Wieder ging er in die Kabine, um sich noch eine Kanne Tee zu machen. Jemand hatte ein Exemplar des Transvoyers auf dem Tisch liegen lassen. Jantiff blätterte hindurch. Eine Schlagzeile lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich: DIE ARRABINISCHE HUNDERTJAHRFEIER Eine bemerkenswerte Ära sozialer Neuerung auf dem Planeten Wyst, Alastor 1716 Interessiert las Jantiff den Artikel. Ihr Transvoyer-Korrespondent besuchte Uncibal, die große Stadt an der See. Er fand eine dynamische Gesellschaft, von neuartigen philosophischen Energien angetrieben. Das bereits erreichte Ziel der Arrabiner ist, dem Menschen ein Leben in Muße und Sorglosigkeit zu bie*
Den Menschen im Alastorhaufen sind die Sterne nah und vertraut. Schon als Kinder lernen sie »Astronomie« (Sternenbenennung). Jemand mit einem guten Gedächtnis kann auf tausend Sterne deuten und ihren Namen sagen, und über jeden weiß er etwas zu berichten. Vor noch gar nicht so langer Zeit waren diese »Sternennenner« hochgeachtet und überall gern gesehen.
ten. Und wie schafften sie dieses Wunder? Durch eine drastische Revision traditioneller Vorrechte. Zu sagen, es gäbe weder Arbeit noch Streß, würde die arrabinischen Leistungen, die immer noch stiegen, nur schmälern. Die Arrabiner bereiten sich nun auf ihre Hundertjahrfeier vor. Ihr Korrespondent wird über die faszinierenden Details berichten. Jantiff las den Artikel mit mehr als dem üblichen Interesse. Wyst wird von dem weißen Stern Dwan verwöhnt... Wie war es formuliert gewesen?... wo alles in seiner wahren und richtigen Farbe prangt... Er legte die Zeitung zur Seite und ging wieder hinauf aufs Deck. Die Sterne waren inzwischen ein wenig über das Firmament gewandert. Die Konstellation, die hier als »Schamizade« bekannt war, war im Osten aufgegangen und spiegelte sich in der See. Jantiff betrachtete den Himmel und fragte sich, welcher Stern wohl der Dwan sein mochte. Er kehrte schnell in die Kabine zurück und schlug im Alastor-Sternenatlas nach. Demnach war der Dwan eine kleine weiße Sonne im Sternbild der Schildkröte, ganz am Rand des Rückenschilds.* Jantiff stieg zum Oberdeck des Hausboots hoch und studierte den Himmel. Dort im Norden, unter dem Stator hing die Schildkröte. Ja, und da glitzerte bleich der Dwan. Vielleicht war es nur Einbildung, *
Zweifellos ist es nicht notwendig, darauf hinzuweisen, daß die Konstellationen von jeder Welt des Sternhaufens anders aussehen. Verständlicherweise hat auch jede Welt ihren eigenen Namen dafür. Ausnahmen sind lediglich die Sternbilder Fiamifer, der Kristallaal, Koons Loch und das Lebewohl. Unter dieser Bezeichnung sind sie im gesamten Haufen bekannt.
aber Jantiff glaubte wirklich, daß der Stern trotz seiner Blässe in allen Farben schillerte. Was Jantiff über Wyst gelesen hatte, wäre vielleicht nicht von länger anhaltendem Interesse für ihn gewesen, hätte er nicht am nächsten Tag die Aufforderung des Zentralen Raumtransport-Systems zu einem Wettbewerb gesehen. Es ging um eine graphische Darstellung Zecks. Wer die Schönheiten dieser Welt am besten zur Geltung brachte, würde als ersten Preis eine Reise innerhalb des Sternhaufens gewinnen – sein Ziel durfte er selbst wählen, und zusätzlich bekam er noch dreihundert Ozol Taschengeld. Sofort stellte Jantiff seine Staffelei auf, richtete die Farben her und malte aus dem Gedächtnis das Fleckchen mit dem Schilf in der Scherbensee, und das Hausboot, das dort vor Anker lag. Er hatte nicht viel Zeit, und so arbeitete er voll Eifer. Wenige Minuten, bevor die festgesetzte Frist ablief, lieferte er das Bild ab. Drei Tage später erhielt er – und es überraschte ihn nicht einmal – die Mitteilung, daß er den ersten Preis gewonnen hatte. Jantiff wartete bis zum Abend, ehe er seiner Familie die freudige Neuigkeit mitteilte. Sie staunten sowohl darüber, daß seine Kleckserei, wie sie es nannten, etwas einbrachte, als auch, daß er sich nach fremden Welten sehnte. Jantiff versuchte, seine Motive zu erklären. »Ich fühle mich selbstverständlich zu Hause nicht unglücklich«, sagte er. »Wie wäre das auch möglich? Aber irgend etwas läßt mir keine Ruhe. Ich habe noch nicht zu mir selbst gefunden. Immer noch verfolgt mich die Überzeugung, daß gerade außer Sichtweite, vielleicht nur um die Ecke herum, etwas Wundervolles, Einmaliges auf mich wartet – wenn
ich ihm nur nachgehen würde!« Seine Mutter rümpfte die Nase. »Flausen hast du im Kopf!« Sein Vater fragte betrübt: »Hast du denn gar keinen Ehrgeiz, ein normales, gewinnbringendes Leben zu führen? Keine Schlösser im Mond, sondern ehrliche Arbeit und ein glückliches Zuhause?« »Ich weiß ja selbst noch nicht, was ich wirklich will. Das ist es eben. Vielleicht hilft es mir, eine Weile von hier wegzukommen und ein bißchen etwas vom Sternenhaufen kennenzulernen. Dann finde ich möglicherweise die innere Ruhe für ein gesetztes bürgerliches Leben.« Seine Mutter rief besorgt: »Wer weiß, ob du dann nicht auf einer fremden Welt bleibst und dort Karriere machst. Dann sehen wir dich vielleicht nie wieder!« Jantiff lachte ein wenig gezwungen. »Ideen hast du! Das ist durchaus nicht meine Absicht. Ich möchte nur zu mir selbst finden und sehen, wie andere Menschen leben, um mich entscheiden zu können, wie ich selbst gern leben möchte.« »Als ich noch jung war«, sagte Lile Ravensroke ernst, »hatte ich ähnliche Ambitionen. Aber, ob richtig oder falsch, ich überwand sie. Und jetzt bin ich überzeugt, daß es so am besten war. Es gibt nichts dort draußen, was hier nicht genausogut oder noch besser und schöner wäre.« »Du wirst dort nirgends Sauergraspastete oder Brunts oder Schusching bekommen, wie Mutter sie macht!« rief Ferfan. »Damit werde ich mich wohl abfinden müssen. Wer weiß, vielleicht schmecken mir die exotischen
Speisen sogar?« »Puhh!« Juille schüttelte sich. »Wenn ich nur daran denke, dreht es mir den Magen um.« Eine Weile schwiegen sie alle. Schließlich sagte Jantiffs Vater: »Wenn du dich bereits entschlossen hast zu gehen, werden auch unsere Bedenken dich nicht zurückhalten können.« »Es ist wirklich das Beste so«, erwiderte Jantiff mit belegter Stimme. »Wenn ich dann zurückkomme und den Reisestaub abschüttle, werde ich wissen, was ich will, und du wirst stolz auf mich sein können.« »Aber, Janty, wir sind doch auch jetzt schon stolz auf dich«, sagte Ferfan, doch es klang nicht sehr überzeugend. »Wohin willst du denn reisen, und was beabsichtigst du zu tun?« fragte Juille. Mit übertriebener Lebhaftigkeit erwiderte Jantiff: »Wohin ich reisen werde? Nun, hierhin und dorthin, überallhin! Und was ich tun werde? Alles, was sich mir bietet, damit ich Erfahrungen sammeln kann. Ich werde in den Karfunkelminen auf Arkady schürfen; ich werde den Connat in Lusz besuchen; vielleicht sehe ich mir auch Arrabus an und bleibe ein paar Wochen bei diesem emanzipierten Völkchen.« »Emanzipiertes Völkchen!« erwiderte Lile Ravensroke heftig. »Ein Haufen Tunichtgute und Faulenzer wäre zutreffender!« »Nun, sie selbst nennen sich eben emanzipiert. Sie arbeiten nur dreizehn Stunden pro Woche, und das scheint ihnen recht gut zu bekommen.« »Du wirst dich in Arrabus niederlassen, dich emanzipieren, und dann werden wir dich nie wiedersehen!« jammerte Juille.
»Schwesterherz«, beruhigte Jantiff sie. »Diese Gefahr besteht ganz sicher nicht.« »Dann besuche Wyst lieber nicht! Im Transvoyer steht, daß Menschen von überallher dorthin reisen und das Land nie wieder verlassen.« Ferfan, die insgeheim selbst von Weltreisen träumte, sagte fast schon sehnsüchtig: »Wenn es ein so wundervolles Land ist, sollten wir vielleicht alle dorthin fahren.« Ihr Vater lachte humorlos. »Ich kann mir diese Zeitvergeudung nicht leisten.«
3 Als Jantiff in einer regnerischen Nacht in Uncibal ankam, erinnerte er sich an einen Artikel in der Alastorianischen Gazette: Im Lauf der Jahre lernt der erfahrene Reisende es, sich nicht nach dem ersten Eindruck ein Bild zu machen, denn unwillkürlich vergleicht man den neuen Ort mit bekannten Plätzen, und so kommt es häufig zu Voreingenommenheiten. An diesem trostlosen Abend fehlte dem Uncibaler Raumhafen jegliche anheimelnde oder auch nur malerische Eigenschaft. Jantiff fragte sich, weshalb ein System, das seit einem Jahrhundert unzählige Arrabiner zufriedenstellte, nicht auch dem Reisenden ein wenig Bequemlichkeit bot. Zweihundertfünfzig Passagiere stiegen aus dem Raumschiff und standen allein in der Dunkelheit, etwa einen halben Kilometer von einer Reihe blauer Lichter entfernt, die vermutlich zum Raumhafengebäude gehörten. Seufzend und brummelnd stapften die Passagiere durch die Pfützen im schadhaften Asphalt des Raumhafengeländes.* Jantiff schritt ein wenig abseits der Gruppe von Reisenden dahin. Er genoß die ihm völlig neue Berührung mit fremdem Boden. Der Wind trug einen schweren, säuerlichen Geruch von Uncibal herbei. Er schien Jantiff auf seltsame Weise vertraut, aber *
Siehe Glossar 2
merkwürdigerweise verstärkte gerade das für ihn die Fremdheit dieser Welt Wyst. Im Raumhafengebäude begrüßte eine Lautsprecherstimme die Neuankömmlinge: Willkommen in Arrabus. Wir unterscheiden drei Arten von Besuchern: erstens: solche, die geschäftlich hierherkommen, und Touristen, die nur kurze Zeit bleiben; zweitens: Besucher, die weniger als ein Jahr zu bleiben beabsichtigen; und drittens: Immigranten. Bitte stellen Sie sich vor den entsprechenden, deutlich gekennzeichneten Eingängen an. Achtung: die Einfuhr von Nahrungsmitteln ist verboten. Aller Proviant muß am Schalter abgegeben werden. Willkommen in Arrabus. Wir unterscheiden drei Arten von Besuchern... Jantiff drängte sich durch die Menge. Offenbar warteten noch mehrere hundert Menschen von einem früheren Schiff in der Ankunftshalle. Endlich entdeckte er die Reihe, die vor einem mit Nummer 2 gekennzeichneten Torbogen stand. Sie schlängelte sich auf verwirrende Weise durch die ganze Halle. Er schloß sich ihr an. Die meisten Ankommenden, stellte er fest, beabsichtigten, hier seßhaft zu werden. Die Reihe 3 war um ein Vielfaches so lang wie seine. Zu Nummer 1 dagegen gehörten nur ein paar Personen. Schritt um langsamen Schritt kam Jantiff voran. Am Ende seiner Reihe befanden sich acht Schalter, doch nur zwei davon waren besetzt. Ein korpulenter Mann hinter Jantiff glaubte, die Sache ein wenig beschleunigen zu können, indem er seinen dicken Bauch gegen Jantiffs Rücken drückte. Als Jantiff, um der ihm unangenehmen Berührung auszuweichen, näher an
seinen Vordermann trat, drückte der Fette sich noch dichter heran. Jantiffs Vordermann schaute über die Schulter zurück und sagte ungehalten: »Wirklich, mein Herr, ich bin genauso interessiert daran wie Sie, ans Ende dieser Reise zu gelangen, aber Ihr Drängen bringt uns auch nicht schneller vorwärts.« Jantiff konnte sein Benehmen nicht erklären, ohne den Dicken zu beleidigen, der nun so dicht hinter ihm stand, daß sein Atem seine Wange streifte. Als der Mann vor ihm einen Schritt weiterkam, blieb Jantiff trotz des Schiebens des Fetten entschlossen stehen. Endlich erreichte Jantiff den Schalter, wo er seinen Landeschein vorwies. Die Schalterbeamtin, eine junge Frau mit gewaltigen blonden Lockenpuffs über den Ohren, schob ihn zur Seite. »Das ist unvorschriftsmäßig. Wo ist Ihre grüne Karte?« Jantiff suchte in seinen Taschen. »Ich habe offenbar keine grüne Karte bekommen.« »Dann müssen Sie zum Schiff zurückkehren und sie sich geben lassen.« Jantiff bemerkte, daß der Dicke genau wie er einen weißen Schein in der Hand hielt. In seiner Verzweiflung sagte er: »Dieser Mann hier hat auch keine grüne Karte.« »Das ändert dennoch nichts an der Sache. Ich darf Sie ohne die vorgeschriebenen Dokumente nicht durchlassen.« »Aber das war alles, was man mir aushändigte, es muß doch sicherlich genügen.« »Bitte, mein Herr! Sie halten nur alles auf.« Bedrückt starrte Jantiff auf das Dokument in seiner Hand. »Aber es steht doch hier: Lande- und Einreiseerlaubnis.«
Die Frau warf nun doch einen Blick darauf und schnalzte mit der Zunge. Sie trat an den zweiten Schalter und unterhielt sich mit dem jungen Mann dahinter, der nach dem Fon griff. Schließlich kam das blonde Mädchen zurück. »Es handelt sich um ein neues Formular, das erst im vergangenen Monat eingeführt wurde. Ich habe schon seit einem Jahr nicht mehr hier geplackt. Hm, ich schickte alle vor Ihnen zum Schiff zurück... Ihren Fragebogen, bitte... Nein, den blauen Bogen.« Jantiff brachte das Blatt zum Vorschein. Es war ein reichlich kompliziertes Formular, das er jedoch sorgfältig ausgefüllt hatte. »Hm... Jantiff Ravensroke... Frayness auf Zeck. Beruf: Technisch-graphischer Experte... Grund des Besuchs: Neugier!« Sie blickte Jantiff mit erhobenen Brauen an. »Neugier? Worauf?« »Oh, ich möchte das arrabinische Gesellschaftssystem studieren«, sagte Jantiff schnell. »Dann hätten Sie ›Studium‹ schreiben müssen.« »Ich ändere es.« »Nein, auf dem Dokument dürfen keine Änderungen vorgenommen werden. Sie müssen ein neues Formular ausfüllen. In der Vorhalle sind Tische, dort finden Sie Schreibzeug und Formulare. So war es jedenfalls vor einem Jahr.« »Warten Sie!« rief Jantiff. »Nach ›Neugier‹ füge ich ganz einfach hinzu: ›auf das arrabinische Gesellschaftssystem‹. Dafür ist genügend Platz und es ist keine Änderung.« »Meinetwegen. Aber eigentlich ist es nicht zulässig.« Hastig machte Jantiff die Eintragung, und die Frau
griff nach dem Genehmigungsstempel. Da ertönte ein Gong. Sie ließ den Stempel wieder sinken, erhob sich und ging zum Ende der Schalterzelle, wo sie sich einen Umhang über die Schultern warf. Ein junger Bursche trat ein. Er wirkte noch sehr knabenhaft mit seinen Pausbacken. Seine Lider waren geschwollen, als hätte er zu wenig geschlafen. »Hier bin ich«, sagte er zu dem blonden Mädchen. »Ein wenig später, als ich dachte. Ich bin nämlich eben erst von einer Stilliparty in Serce zurückgekommen und direkt hierhergeeilt. Aber es ist günstiger, wenn ich meinen Kater beim Placken auskuriere, als während meiner Freizeit, richtig?« »Du bist zu beneiden. Morgen bin ich auf niedrig. Bei meinem Pech werde ich vermutlich Toilettensäuberung ziehen, oder ich muß die Laufbänder schmieren.« »Ich hatte vorige Woche eine Schuhmachermaschine gezogen. Es war eigentlich recht lustig, nachdem ich gelernt hatte, welche Hebel zu bedienen waren. Aber als ich halbwegs durch war, spielte die Schaltung verrückt. Die Schuhe kamen alle mit erhöhtem Zehenteil heraus. Ich habe sie trotzdem weitergeschickt. Wer weiß, vielleicht macht es Mode? Denk nur, ich werde möglicherweise berühmt!« »Kann ich mir nicht vorstellen. Wer will schon Schuhe mit erhöhten Zehen tragen?« »Na ja, irgend jemand wird sie wohl tragen müssen. Sie sind schon in der Verteilung.« Der Dicke rief über Jantiffs Schulter. »Geht es denn nicht weiter? Wir sind alle müde und möchten auch noch eine Kleinigkeit essen.« Das Mädchen und der junge Mann starrten ihn
beide sichtlich verständnislos an. Die Blonde nahm schließlich ihre Handtasche. »So, ich verziehe mich jetzt ins Bett. Ich bin heute sogar zum Kopulieren zu müde.« »Das kenne ich... Nun, ich fürchte, ich muß mir jetzt wohl meinen Atz verdienen.« Er trat an den Schalter und nahm Jantiffs Papiere in die Hand. »Schauen wir mal... Als erstes brauchen Sie Ihre grüne Karte.« »Ich habe keine grüne Karte.« »Keine grüne Karte? Dann, mein Freund, müssen Sie sich eben eine besorgen. Soviel weiß ich zumindest. Latschen Sie mal schön zum Schiff zurück. Der Zahlmeister stellt Ihnen bestimmt eine aus.« »Dieser weiße Schein wird nun anstelle der grünen Karte ausgegeben.« »Oh, machen sie es jetzt so? Mir kann es recht sein. Also, was noch? Ah ja, der blaue Fragebogen. Damit will ich mich gar nicht aufhalten. Sie wollen also Wohnraum zugewiesen bekommen? Haben Sie sich schon eine Vorstellung gemacht, wo Sie leben möchten?« »Nein, eigentlich nicht. Was würden Sie vorschlagen?« »Uncibal, natürlich. Ah, hier ist ein recht gemütliches Apartment.« Er drückte Jantiff eine kleine Metallscheibe in die Hand. »Gehen Sie zu Block 17–882 und weisen Sie das dem Portier vor.« Er hob den Stempel und drückte ihn auf Jantiffs Papiere. »Das wär's, mein Freund. Ich wünsche Ihnen viel Spaß im Bett, eine gute Verdauung Ihres Atzes und eine zusagende Auslosung aus der Plackereitrommel.« »Vielen Dank. Könnte ich die Nacht eventuell im
Raumhafenhotel verbringen? Oder muß ich gleich zu Block 17-was-immer marschieren?« »Nein, nein. Übernachten Sie ruhig im Travellers Inn, wenn Sie ausreichend Ozol* haben. Die Menschenflüsse sind heute nacht ziemlich naß. Es wäre eine ungünstige Zeit, nach einem fremden Block zu suchen.« Das Travellers Inn, ein uraltes, zusammengeschachteltes Gebäude mit Dutzenden von Flügeln und Anbauten, stand dem Raumhafenausgang direkt gegenüber. Jantiff betrat das Foyer und erklärte dem Empfangschef, daß er gern ein Zimmer hätte. Der Mann händigte ihm einen Schlüssel aus. »Das macht sieben Ozol, mein Herr.« Jantiff blinzelte erstaunt. »Sieben Ozol? Für ein Einbettzimmer? Für nur eine Nacht?« »Das stimmt, mein Herr.« Zögernd bezahlte Jantiff. Sein Unwille wuchs, als er das Zimmer sah. In Frayness würde eine Unterkunft wie diese niemandem zugemutet. Sie war, seines Erachtens, nicht einmal einen einzigen Ozol wert. Kopfschüttelnd stieg Jantiff die Treppe wieder hinunter und ließ sich an einem der Betontische mit emaillierten Platten im Restaurant nieder. Sofort stellte ein Placker ein zugedecktes Tablett vor ihn. »Nicht so schnell«, wehrte Jantiff ab. »Ich möchte erst einmal die Speisekarte studieren.« »So etwas gibt es hier nicht, mein Freund. Sie können Atz, Söff und dazu ein Schälchen Wabbli haben, um die Lücken zu füllen, sozusagen. Das Essen ist hier für alle gleich.« *
Ozol: Währungseinheit, vergleichbar mit der gaeanischen SAE, die nach dem Stundenwert eines ungelernten Arbeiters unter Standardbedingungen berechnet wird.
Jantiff hob das Tuch vom Tablett. Es enthüllte vier kleine gebackene braune Laibe, einen Krug mit weißlicher Flüssigkeit und ein Schüsselchen mit etwas gallertartigem Gelben. Jantiff kostete den »Atz«. Er war von mildem, durchaus nicht unangenehmem Geschmack. Der »Söff« war herb und zog ihm den Gaumen ein wenig zusammen, während es sich bei dem Wabbli um eine ganz normale Geleespeise handelte. Als Jantiff sein frugales Mahl beendet hatte, brachte der Placker ihm die Rechnung. »Bitte bezahlen Sie an der Kasse am Ausgang.« Jantiff starrte stirnrunzelnd auf den Papierstreifen. »Zwei Ozol! Kann das stimmen?« »Das ist jedenfalls der Preis, der im Travellers Inn verlangt wird«, versicherte ihm der Mann. Der Baderaum von gewaltigen Ausmaßen stand beiden Geschlechtern gleichermaßen zur Verfügung. Der Egalitarismus hatte auch mit persönlichem Schamgefühl aufgeräumt. Mit rotem Kopf benutzte Jantiff die Dusche und fragte sich, was seine Mutter wohl sagen würde. Dann zog er sich hastig in sein Zimmer zurück. Am Morgen, nach Wysts kurzer Nacht, kroch er aus dem Bett und stellte fest, daß der Dwan schon hoch am Himmel stand. Mit großen Augen blickte er durch das Fenster auf die Stadt. Er bewunderte das Farbenspiel des Lichtes auf den Wohnblocks und den Menschenflüssen. Jeder der Blocks war von einer anderen Farbe, und diese Farben – vielleicht auch nur, weil er es so erwartete – waren besonders rein und prächtig, als wären sie frisch aufgetragen. Jantiff kleidete sich an, stieg die Treppe hinunter und ließ sich vom Empfangschef beschreiben, wie er
zu Block 17–882 kommen konnte. Er machte einen Bogen um das Restaurant mit seinem 2-OzolFrühstück und begab sich auf den Menschenfluß: eine stark frequentierte Rollstraße, die in der Mitte schneller und am Rand langsamer dahinglitt. Das Dwanlicht verschönte die Stadt zu beiden Seiten auf eine Weise, die Jantiff äußerst beeindruckend fand und die seine Stimmung ungemein hob. Der Menschenfluß bog nach rechts ab. Die Häuserblocks zu beiden Seiten erstreckten sich bis zum Horizont und wurden dort zu winzigen Pünktchen. Gleitstraßen mündeten überall ein. Jantiff hätte früher nie gedacht, daß es solche Menschenmassen geben könnte. Es war ein grandioser Anblick! Die Stadt Uncibal allein müßte schon als eines der Wunder des Gaeanischen Territoriums betrachtet werden! Im rechten Winkel zu seinem strömte ein weiterer Menschenfluß dahin, und zwei Boulevards zogen in entgegengesetzten Richtungen. Jantiff sah Männer und Frauen ohne Ende, die mit befremdend ruhigen Gesichtern dahinglitten. Sein Menschenfluß beschrieb eine neue Kurve und mündete in einen weiteren, noch breiteren. Jantiff begann auf die überhängenden Beschilderungen zu achten. Er bog auf eine langsamere Zuführung ab und stieg vor einem verwitterten, rosagetünchten Block, etwa sechzig Meter lang und dreiundzwanzig Stockwerke hoch, ab. Das war 17–882, sein zukünftiges Zuhause. Jantiff betrachtete die Fassade eingehender. Die Farbe blätterte stellenweise ab, so daß das Gebäude, obwohl völlig in Rosa gehalten, ein gesprenkeltes Aussehen hatte. Jantiff fand das viel anheimelnder als
das makellose Blau des anschließenden Blocks, und er freute sich, daß er hier eingeteilt worden war. Wie alle anderen hatte auch dieses Gebäude keine Fenster, ja überhaupt keine Öffnungen außer der Eingangstür. Über die Brüstungen ringsum hingen grüne Pflanzen vom Dachgarten. Durch die Eingangstür schob sich in beide Richtungen ein ständiger Strom von Männern, Frauen und ein paar Kindern, alle ähnlich, doch für Jantiffs Geschmack ein wenig zu grellbunt gekleidet. Alle schienen sie vergnügt zu sein. Sie lachten und unterhielten sich fröhlich, und ihr Gang war beschwingt. Bei ihrem Anblick besserte Jantiffs Laune sich noch mehr, und alle Befürchtungen schwanden. Er trat in das Foyer und an den Schalter, wo er dem Portier, einem rundlichen Mann mit hellem lockigen Haar, das über den Ohren zu weichen Puffs frisiert war, seine Scheibe vorwies. Das vorher fröhliche Gesicht verzog sich verdrießlich. »Mein armer Magen! Schon wieder ein Immigrant!« »Nein, nein!« versicherte ihm Jantiff würdevoll. »Ich bin nur ein Besucher.« »Welchen Unterschied macht das schon. Das ist eine Tasse Wasser mehr in einem ohnedies vollen Eimer. Warum bemühen Sie sich nicht um eine egalitäre Gesellschaft auf Ihrer eigenen Welt?« »Die Menschen auf Zeck sind von dieser Idee nicht angetan«, erwiderte Jantiff höflich. »Weder auf Zeck, noch sonstwo in diesem elitären Haufen! Es ist uns unmöglich, immer mehr von diesen Taugenichtsen von überallher aufzunehmen. Unsere Maschinen sind alt, sie schaffen es bald nicht mehr. Und was ist dann, wenn es keinen Stördsch und keinen Wump mehr gibt? Dann müssen wir alle
am Hungertuch nagen.« Jantiffs Gesicht wurde besorgt. »Wandern denn wirklich so viele Menschen hier ein?« »Mindestens tausend jede Woche!« »Aber gewiß verlassen doch auch viele Wyst.« »Nicht genug! Nur sechshundert oder im besten Fall siebenhundert. Aber davon werden unsere Maschinen auch nicht besser.« Er händigte Jantiff einen Schlüssel aus. »Ihr Wohngenosse wird Ihnen den Wumper zeigen und Sie mit den Bestimmungen vertraut machen. Heute nachmittag wird Ihnen der Plakkereiplan zugestellt.« »Ich hätte lieber ein Einzimmerapartment, wenn das möglich wäre«, sagte Jantiff. »Sie haben ein Einzimmerapartment«, versicherte ihm der Portier. »Es ist mit zwei Betten ausgestattet. Wenn die Bevölkerung so weitersteigt, werden wir auf Hängematten umsteigen müssen. Neunzehnte Etage, Apartment D-18. Ich werde hinaufrufen und Bescheid geben, daß Sie kommen.« Mit dem Lift fuhr Jantiff in den neunzehnten Stock. Er fand Korridor D und schließlich Apartment 18. Er zögerte, überlegte, ob er klopfen sollte, dann entschied er sich dagegen, denn unter den Umständen war dies genauso sein Apartment wie das desjenigen, der bereits darin wohnte. Er drückte den Schlüssel auf die Einlaßscheibe. Die Tür glitt zur Seite und offenbarte ein Zimmer mit zwei niedrigen Couches, einem Tisch, mehreren Wandschränken und einem Bildschirm. Ein schwarz-beige gemusterter Teppich lag auf dem Boden, von der Zimmerdecke hing etwa ein Dutzend runde Lampen aus Drahtgestell und farbigem ÖIpapier. Auf einer der Couches saßen ein
Mann und eine Frau, beide bedeutend älter als Jantiff. Jantiff trat näher. Er kam sich ein bißchen komisch vor. »Ich bin Jantiff Ravensroke«, stellte er sich vor, »und wurde diesem Apartment zugeteilt.« Der Mann und die Frau lächelten höflich und sprangen auf die Füße. (Später, wenn Jantiff an seinen Besuch in Uncibal zurückdachte, erinnerte er sich immer beeindruckt an die gepflegten Manieren, mit denen die Arrabiner sich und den anderen das Leben erleichterten.) Der Mann war groß und elegant, mit einer schmalen geraden Nase und feurigen Augen. Er trug sein schwarzes Haar in glänzenden Ohrpuffs und sorgfältig gelegten Wellen über der Stirn. Er schien der aufgeschlossenere von den beiden zu sein. Er begrüßte Jantiff herzlich und schien die Besorgnisse des Portiers nicht zu teilen. »Willkommen in Arrabus, Jantiff. Willkommen im Altrosa, wie wir unseren Block nennen, und in diesem großartigen Apartment.« »Oh, vielen Dank«, sagte Jantiff erleichtert. Dieser freundliche und zweifellos intelligente Mann war ganz offenbar sein Zimmergenosse. Er fühlte sich gleich bedeutend wohler. »Gestatten Sie mir, uns bekannt zu machen. Diese charmante Dame ist die wundersame Skorlet, eine ungemein tüchtige Frau, und ich bin Esteban.« Mit rauchiger Stimme und schneller Sprechweise sagte Skorlet: »Sie scheinen mir ordentlich und angenehm zu sein. Ich bin sicher, daß wir keine Schwierigkeiten miteinander haben werden. Bitte pfeifen Sie in der Wohnung nicht, und fragen Sie mich nicht öfter als einmal über meine Arbeit aus. Und rülpsen Sie nicht laut. Ich vertrage rülpsende Männer nicht.«
Nur mit Mühe täuschte Jantiff Gleichmut vor. Hier war eine Situation, mit der er nicht gerechnet hatte. Mit unterdrückter Verzweiflung sagte er: »Ich werde Ihre Ratschläge beherzigen.« So unauffällig wie möglich musterte er Skorlet. Er hielt sie für introvertiert, möglicherweise ein wenig überempfindlich. Sie war fast so groß wie er und hatte ungewöhnlich kräftige Arme und Beine. Ihr Gesicht war rund und blaß, nicht irgendwie bemerkenswert, wenn man von den scharfen Augen unter den buschigen schwarzen Brauen absah. Ihre Ohrpuffs waren nur angedeutet, den Rest des schwarzen Haares trug sie in einer hochgesteckten Lockenpracht. Sie war weder hübsch noch häßlich. Ein so angenehmer Zimmergefährte wie Esteban würde sie jedoch zweifellos nicht sein. »Ich hoffe, Sie werden nichts an mir auszusetzen finden.« »Sicher nicht. Sie scheinen mir ein recht netter Junge zu sein. Esteban, leihe drei Krüge aus dem Wumper aus. Ich habe ein wenig Stilli*, um die Gelegenheit würdig zu begießen. Ich hoffe doch, daß Sie etwas Labrung eingeschmuggelt haben?« »Oh, das tut mir leid«, bedauerte Jantiff. »Auf diese Idee bin ich gar nicht gekommen.« Esteban kam der Bitte Skorlets nach. Sie selbst kramte in einem Schrank und brachte einen Kanister zum Vorschein. »Bitte halten Sie mich nicht für unmutual.** Ich bin nur ganz einfach nicht zu überzeu*
Stilli: das verbotene arrabinische alkoholhaltige Getränk, eine Art Starkbier aus übriggebliebenem bzw. aufgespartem Atz, denaturierter Glukose und manchmal einer Beigabe von Teerkapseln vom Dachgarten. ** Mutualität: Bezeichnung für die allgemeinen arrabinischen Umgangsformen, die sich nicht aus äußerem Zwang, Abstraktion oder Tradition ergeben, sondern aus einer Interessenmutualität.
gen, daß hin und wieder ein Schluck Stilli Arrabus zerstören wird. Sie sind sicher, daß Sie nicht wenigstens ein ganz winziges bißchen Labrung in Ihrem Gepäck haben?« »Ich besitze außer dieser Tasche überhaupt kein Gepäck.« »Wie schade. Essiggurken und Pfefferwurst würden den Geschmack des Stillis noch erhöhen. Während wir warten, zeige ich Ihnen Ihr Bett.« Jantiff folgte ihr in eine kleine quadratische Kammer, in der zwei Kleiderschränke, zwei Regale, ein Tisch – im Augenblick mit Skorlets Habseligkeiten belegt – und zwei Betten, durch einen dünnen Vorhang getrennt, standen. Skorlet schob das Zeug auf dem Tisch auf eine Hälfte und deutete auf die andere. »Für Sie«, sagte sie. »Und das ist Ihr Bett.« Ihr Daumen wies darauf. »Während meiner Plackerei steht Ihnen das Apartment allein zur Verfügung, falls Sie jemanden einladen möchten. Umgekehrt, also während Sie placken, gilt das natürlich für mich ebenfalls. Es wird bestimmt alles gutgehen, wenn wir nicht gerade immer zur gleichen Zeit placken müssen. Aber das ist ziemlich unwahrscheinlich.« »Ich verstehe«, murmelte Jantiff. Esteban kehrte mit drei blauen Glaskrügen zurück. Skorlet füllte sie bis zum Rand. »Auf die Hundertjahrfeier!« toastete sie. »Hoffen wir, daß der Connat seine Pflicht tut!« Jantiff schluckte die trübe Flüssigkeit. Es fiel ihm schwer, das Gesicht bei dem Nachgeschmack nicht zu verziehen, der ihn an tote Mäuse und alte Matratzen erinnerte. »Bravo, bravo!« lobte Esteban. »Sie haben den rich-
tigen Zug für den Stilli.« »Er schmeckt gut«, log Jantiff. »Wann ist denn die Jahrhundertfeier eigentlich?« »Bald schon, in wenigen Monaten. Es soll ein ganz tolles Fest werden mit freien Spielen, auf den Menschenflüssen wird getanzt werden und sicher gibt es Stilli noch und noch. Ich werde mir einen ordentlichen Vorrat anlegen. Esteban, kannst du mir nicht ein Dutzend Kanister organisieren?« »Ich fürchte, nein, meine Liebe. Ich habe die Vitaminplackerei leider nur ein einziges Mal gezogen, und da ließ mich der Mutual keine Sekunde aus den Augen. Ich hatte Glück, daß ich zwei mitgehen lassen konnte.« »Dann müssen wir ohne Stilli auskommen.« »Können Sie denn nicht Plastikbeutel nehmen?« fragte Jantiff. »Die Behälter müssen doch nicht unbedingt steif sein, oder?« Esteban schüttelte betrübt den Kopf. »Das ist schon so oft versucht worden, aber unsere Plastikbeutel sind nicht dicht.« »Der alte Sarp hat einen Kanister, aber er ist zu knickrig, ihn zu benutzen. Vielleicht kann Kedidah ihm den abluchsen. Dann hätten wir wenigstens drei. Also, dann brauchen wir nur noch Atz.« »Ich trete meinen vom Mittagessen ab«, sagte Esteban. »Ich ebenfalls, wenn er gebraucht wird«, versicherte ihr Jantiff. Skorlet blickte ihn anerkennend an. »Das ist die richtige Einstellung«, lobte sie. »Wer sagt denn, daß die Immigranten alle Blutsauger sind? Unser Jantiff jedenfalls ist keiner.«
Esteban murmelte nachdenklich: »Ich kenne einen Burschen in der Purpurvendetta, der Stördsch aus dem Rohr abzapft und daraus einen umwerfenden Stilli braut. Vielleicht gelingt es mir, an ein oder zwei Eimer Stördsch zu gelangen. Es wäre einen Versuch wert.« »Was ist denn ›Stördsch‹?« erkundigte sich Jantiff. »Stördsch ist Rohnahrungsmittelmasse. Es wird von der Fabrik direkt in die Küchen geleitet, wo es auf wundersame Weise zu Atz, Söff und Wabbli wird. Weshalb, also, sollte man keinen anständigen Stilli daraus brauen können?« Skorlet füllte die drei Krüge, jeden gleichmäßig, etwa zur Hälfte nach. »Noch einen Toast auf das Hundertjahrfest! Möge der Connat alle, die unbedingt nach Arrabus immigrieren wollen, erst einmal dazu einsetzen, Essiggurken und Pfefferwurst herzustellen und sie dann nach Uncibal zu schicken!« »Und mögen die Propuncer der zehn Tage alten Atz zu kauen kriegen!« »Ein wenig davon sollte aber auch für den Connat aufgehoben werden! Schließlich muß er doch erleben, was Egalitarismus ist!« »Oh, er wird sicher Labrung im Travellers Inn speisen, daran zweifle ich gar nicht.« »Kommt denn der Connat tatsächlich zur Feier?« fragte Jantiff. Skorlet zuckte die Achseln. »Die Wisperer werden nach Lusz reisen, um ihn höchstpersönlich einzuladen. Aber wer kann schon wissen, ob er die Einladung auch annimmt?« »Er wird nicht kommen«, sagte Esteban überzeugt. »Er würde sich ja völlig fehl am Platz fühlen, wenn
alle die Egalität hochleben lassen und dazu noch ›Egalitarismus für den ganzen Sternhaufen!‹ brüllen.« »Und ›Niedrige Plackerei für den Connat genauso wie für alle anderen auch!‹« »Richtig! Was könnte er da schon sagen?« »Oh, etwas wie: ›Meine teuren Untertanen. Ich bin zutiefst enttäuscht, daß ihr keinen roten Teppich entlang des Uncibalstroms für mich ausgelegt habt. Es ist nicht sehr bekannt, und ich spreche auch nirgends darüber, außer jetzt hier in Arrabus, aber ich bin durch und durch ein Tschwig.* Ich verlange, daß man mir eine große Platte mit der besten Labrung auftischt.‹« Halb amüsiert und halb entrüstet protestierte Jantiff: »Nein, nein, Sie tun ihm Unrecht! Er führt ein sehr spartanisches Leben.« Skorlet rümpfte die Nase. »Das ist doch alles bloß Propaganda! Wer weiß denn schon, wie der Connat wirklich ist?« Esteban leerte seinen gläsernen Krug und blickte überlegend auf die Kanne. »Wir wissen alle, daß der Connat sich häufig aus Lusz entfernt. Ich habe gehört – nun, ich muß zugeben, daß es nur Gerüchte sind, aber wo Rauch ist, da ist auch Feuer –, daß immer genau zur Zeit seiner Abwesenheit Bosko Boskowitz** seine Raubzüge macht. Das wurde übrigens genau nachgeprüft. Die Zeitspanne stimmt tatsächlich jedesmal genau überein.« *
Jemand, der einem Laster verfallen ist, das jedoch nur auf Wyst als solches erachtet wird: nämlich der Vorliebe für gutes Essen. ** Ein berüchtigter Starmenter, der unzähliger Schandtaten bezichtigt wird. Siehe auch Glossar 3.
»Wie interessant!« rief Skorlet. »Soll Bosko Boskowitz nicht irgendwo auf einem der Starments einen prächtigen Palast haben, in dem er sich von wunderschönen Kindern bedienen läßt, die alles tun müssen, was er ihnen befiehlt?« »So ist es wohl! Und ist es nicht merkwürdig, daß die Whelm Bosko Boskowitz nie erwischen?« »Mehr als merkwürdig!« brummte Skorlet. »Deshalb bin ich auch für Egalität im ganzen Haufen.« »Ich glaube kein Wort davon«, sagte Jantiff abweisend. Skorlet lachte ein wenig bitter. »Sie sind noch so jung und naiv.« »Ich glaube, Sie täuschen sich in mir, was letzteres betrifft, sogar ganz sicher.« »Es spielt ja auch keine Rolle.« Skorlet schaute in den Kanister. »Es hat keinen Sinn, den Rest aufzuheben.« »Richtig«, pflichtete Esteban ihr bei. »Der Rest ist immer am stärksten, weil der Alkohol sich am Boden absetzt.« Skorlet griff nach dem Behälter, doch dann setzte sie ihn wieder ab. »Zu dumm, jetzt haben wir keine Zeit mehr. Der Gong! Also los, auf zum Wump! Und danach – wie wär's, wenn wir unserem neuen Freund die Stadt zeigten?« »Mit Vergnügen«, versicherte Esteban. »Ich bin nie einem kleinen Spaziergang abgeneigt. Es ist ein herrlicher Tag nach dem Regen. Was ist mit Tanzel? Wir könnten sie unterwegs abholen.« »Ja, natürlich. Das arme Ding. Ich habe sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Ich werde sie sofort anrufen.« Sie stellte sich an den Schirm, aber sie drückte die Knöpfe vergebens. »Er funktioniert im-
mer noch nicht«, beschwerte sie sich. »Verdammtes Ding! Dabei mußten wir schon zweimal um Reparatur bitten.« Jetzt trat Jantiff an den Schirm. Er drückte auf die Knöpfe und lauschte. Dann löste er die Halterung und klappte den Schirm herunter. Skorlet und Esteban schauten ihm über die Schultern. »Verstehen Sie denn etwas davon?« »Nicht sehr viel. Als Kinder lernten wir zwar die Grundbegriffe über die Schaltkreise, aber danach beschäftigte ich mich nicht mehr damit. Aber das hier ist ja ein äußerst unkompliziertes Gerät, das noch dazu von selbst anzeigt, wenn irgend etwas ausfällt... Hm... Das hier funktioniert alles einwandfrei. Ah, da! Sehen Sie, der Filter war nicht richtig eingerastet. So... Versuchen Sie es jetzt.« Skorlet drückte auf die Knöpfe. Der Schirm leuchtete auf. Bitter sagte sie: »Der Bursche, den sie zum Reparieren geschickt haben, studierte die Anleitungen mindestens zwei Stunden lang, aber gefunden hat er den Fehler nicht.« »Na ja«, brummte Esteban achselzuckend. »Er war vermutlich jemand wie ich bei besserer Plackerei.« Skorlet murmelte verärgert etwas vor sich hin. Das Gesicht einer Frau erschien auf dem Schirm. »Tanzel, bitte.« Gleich darauf blickte ihnen ein etwa neun- oder zehnjähriges Mädchen entgegen. »Oh, hallo, Mutter! Hallo, Vater!« »Wir holen dich in etwa einer Stunde zu einem Spaziergang ab. Hast du Lust?« »O ja! Ich warte an der Tür.« »Gut! Also, in einer Stunde.«
Die beiden drehten sich zum Gehen um. Jantiff zögerte noch. »Ich möchte erst meine Tasche im Schrank verstauen. Sie braucht ja schließlich nicht im Weg herumzustehen, daß wir beim Heimkommen darüber stolpern.« Esteban klopfte Jantiff auf die Schulter. »Ich glaube, da hast du ein Juwel von einem Zimmergenossen, Skorlet.« »Ich werde sicher mit ihm auskommen.« Als sie den Korridor entlangschritten, fragte Jantiff: »Wohin ist denn Ihr letzter Zimmergefährte verzogen?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Skorlet achselzukkend. »Sie ging eines Tages aus und kehrte nicht mehr zurück.« »Ist das nicht ungewöhnlich?« »Ja, eigentlich schon. Aber man weiß ja nie, was in einem anderen vorgeht. Hier ist der Wumper.« Die drei betraten einen langen, breiten Saal, in dem sich Tische und Bänke aneinanderreihten, und der schon von einem großen Teil der sich miteinander unterhaltenden Bewohner des neunzehnten Stocks gefüllt war. Ein Placker gab ihre Apartmentnummer in einen Computer ein. Die drei nahmen sich zugedeckte Tabletts aus einem Schubfach und setzten sich an einen Tisch. Auf dem Tablett befand sich genau das gleiche, das Jantiff in der vergangenen Nacht im Travellers Inn vorgesetzt bekommen hatte. Skorlet legte einen Laib Atz zur Seite. »Für unseren nächsten Stilli«, sagte sie. Mit übertriebenem Bedauern tat Esteban es ihr gleich. »Stilli ist jedes Opfer wert.« »Hier ist mein Beitrag.« Jantiff schob Skorlet einen
Laib Atz zu. »Ich bestehe darauf, mich beteiligen zu dürfen.« Skorlet steckte die drei Laibe in ihre Tasche. »Ich bringe sie ins Apartment, und wir tun alle, als hätten wir sie gegessen.« Esteban sprang auf. »Eine sehr gute Idee, aber gestatte, daß ich es tue. Ich nehme dir diesen Gang gern ab.« »Aber das ist wirklich nicht nötig«, wehrte Skorlet ab. »Es sind doch nur ein paar Schritte.« Esteban lachte. »Dann gehen wir eben beide, wenn du so dickköpfig bist.« Jantiff starrte verwirrt von Skorlet auf Esteban. »Ist diese Art von Höflichkeit hier üblich? Wenn ja, komme ich selbstverständlich ebenfalls mit.« Esteban seufzte und schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Skorlet setzt nur gern ihren Kopf durch... Keiner von uns wird gehen.« Skorlet zuckte die Achseln. »Wie du willst.« »Wir werden sicher auch mit einem Laib Atz weniger nicht hungern. Ich zumindest nicht. Wir bringen das Zeug in die Wohnung, ehe wir spazierengehen.« »Ja, natürlich«, pflichtete Esteban Jantiff bei. »So ist es am fairsten.« Jantiff bewunderte Estebans Manieren. »Red nicht so viel und iß den Wump«, brummte Skorlet. Schweigend nahmen sie ihr Mahl ein. Jantiff musterte interessiert die anderen Bewohner seines Stockwerks. Keiner erwies sich irgendwie als reserviert. Jeder schien jeden zu kennen. Man grüßte einander freundlich, machte Scherze, zog einander auf und unterhielt sich über den ganzen Saal hinweg
über alles mögliche. Ein schlankes Mädchen mit seidigem honigfarbenen Haar blieb neben Skorlet stehen und flüsterte ihr, mit einem koketten Blick auf Jantiff, etwas ins Ohr. Skorlet lachte ein wenig abfällig. »Ach, verschwinde! Es ist doch alles Unsinn!« Das Mädchen setzte sich an einen Tisch in der Nähe zu Freunden. Jantiff fand sie, mit ihrer schlanken und doch an den richtigen Stellen wohlgerundeten Figur, dem hübschen und ein wenig kessen Gesicht, ungemein anziehend, aber er schwieg. Skorlet bemerkte sein Interesse. »Das ist Kedidah. Der alte Sandpfeifer neben ihr ist Sarp, ihr Zimmergefährte. Er versucht ein dutzendmal am Tag zu kopulieren, das macht ihn zu einem recht unangenehmen Mitbewohner, schließlich geht man seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen gewöhnlich außer Haus nach. Sie hat übrigens gerade vorgeschlagen, Sie gegen Sarp einzutauschen, aber das kommt überhaupt nicht in Frage. Esteban ist jederzeit gern bereit, wenn ich in der richtigen Stimmung bin, was allerdings nicht so oft ist, wie es vielleicht sein sollte.« Jantiff, der seinen Wabbli löffelte, enthielt sich jeglichen Kommentars. Nachdem sie den Speisesaal verlassen hatten, hielten sie kurz am Apartment an, und Skorlet trug die drei Laibe Atz hinein, dann wandte sie sich an den offenbar zaudernden Jantiff. »Nun, wollen wir gehen?« »Ich überlege gerade, ob ich meine Kamera mitnehmen soll. Meine Familie möchte, daß ich von allem möglichst viele Aufnahmen mache.« »Warten Sie damit, bis Sie sich besser hier auskennen«, riet Esteban. »Dann können Sie wirklich aufregende Bilder schießen. Und inzwischen werden Sie
auch gelernt haben, sich gegen die Allgegenwärtige Luchserei zu schützen.« »›Luchserei‹? Was ist das?« »Diebstahl, unverblümt gesagt. Arrabus wimmelt nur so von Dieben. Wußten Sie das nicht?« Jantiff schüttelte verneinend den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie in einem egalitären Staat jemand auch nur die Neigung haben sollte zu stehlen.« Esteban lachte. »Luchserei sorgt für Egalität. Es ist eine ziemlich direkte Abhilfe gegen jene, die mehr zusammentragen als der Durchschnitt. In Arrabus sollte jeder in etwa das gleiche besitzen.« »Ich sehe den Sinn darin nicht«, brummte Jantiff, aber weder Esteban noch Skorlet schienen interessiert daran zu sein, dieses Thema weiter zu erörtern. Die drei traten auf einen Menschenfluß und fuhren einen knappen Kilometer zu dem Bezirk, wo die Krippen und Kinderheime waren. Tanzel wartete bereits an der Eingangstür. Sie war ein hübsches, schmales Ding mit Skorlets rundlicher Gesichtsform, aber den feingeschnittenen Zügen Estebans und einer unverkennbaren Intelligenz. Sie begrüßte Skorlet und Esteban mit etwas verhaltener Zärtlichkeit und Jantiff mit offensichtlicher Neugier. Nachdem sie ihn eine Weile heimlich gemustert hatte, sagte sie: »Also wirklich, du siehst gar nicht anders aus als wir auch.« »Was hast du denn erwartet?« fragte er lächelnd. »Oh – wie ein Kannibale oder ein Ausbeuter, oder vielleicht eines ihrer Opfer.« »Wie kommst du denn darauf?« fragte Jantiff. »Auf Zeck käme gar niemand auf die Idee, einen anderen auszubeuten, also gibt es dort auch keine Opfer der Ausbeuterei.«
»Aber warum bist du dann nach Arrabus gekommen?« »Das ist eine gute Frage«, sagte Jantiff ernst. »Ich bin mir gar nicht so sicher, ob ich mir das selbst beantworten könnte. Zu Hause drang immer zuviel auf mich ein, daß ich nie genau wußte, was ich eigentlich suchte. Ich mußte ganz einfach weg, um zu mir zu finden.« Mit leichtem Lächeln waren Esteban und Skorlet dieser Unterhaltung gefolgt. »Und was ist, wenn Sie zu sich gefunden haben?« fragte Esteban leichthin. »Das weiß ich eben noch nicht. Ich möchte etwas Großes und Schönes schaffen, etwas, das wirklich aus mir kommt... Ich möchte damit auf die Rätsel des Lebens hinweisen. Das heißt nicht, daß ich versuchen werde, sie zu lösen, das täte ich nicht, selbst wenn ich es könnte. Es würde mich nur freuen, wenn ich den Menschen, die sich dafür interessieren oder vielleicht sogar den gleichgültigen, ihre Vielfältigkeit und ihre Wunder weisen könnte... Ich fürchte, ich drücke mich nicht sehr verständlich aus.« Mit kühler Stimme sagte Skorlet: »Sie erklären es schon richtig, aber trotzdem wird es niemand ganz verstehen.« Tanzel, die mit gerunzelter Stirn zugehört hatte, sagte: »Doch, ich verstehe schon ein wenig von dem, was er meint, denn auch ich denke über diese Rätsel nach. Beispielsweise, weshalb bin ich ich und nicht jemand anderer?« »Du wirst dir dein Gehirn verrenken, wenn du dir darüber Gedanken machst.« Ernst sagte Esteban zu ihr: »Vergiß nicht, meine
Liebe, daß Jantiff kein Egalist ist wie wir. Er möchte etwas Ungewöhnliches, Individualistisches schaffen.« »In gewisser Weise, ja«, gestand Jantiff und wünschte sich, er hätte dieses Thema nicht angeschnitten. »Aber es ist doch eher so: ich bin mit gewissen Fähigkeiten geboren. Wenn ich sie nicht nutze und vervollkommne, betrüge ich mich selbst um etwas vielleicht Einmaliges, und mein Leben wäre nicht wert, gelebt zu werden.« »Hm«, murmelte Tanzel altklug. »Wenn jeder so wäre wie du, würde die Welt zu einem ziemlich aufregenden Ort.« Jantiff lachte verlegen. »Das hast du nicht zu befürchten. Offenbar gibt es nicht viele wie mich.« Tanzel zuckte gleichgültig die Achseln, und Jantiff war froh, dieses Thema fallenlassen zu können. Schon wenige Minuten später änderte sich die Laune der Kleinen. Sie zupfte Jantiff am Ärmel und deutete geradeaus. »Dort ist der Uncibalstrom. Ich schaue so gern von der Brücke auf ihn hinunter. O bitte, kommt doch alle mit!« Tanzel rannte zu dem Laufband, das zur Aussichtsbrücke führte. Die anderen folgten etwas gesetzter, bis sie alle am Geländer lehnten und zu dem sogenannten Uncibalstrom hinunterschauten: es handelte sich bei ihm um zwei, je hundert Meter breite Gleitstraßen, auf der die Arrabiner sich dicht an dicht drängten. Tanzel sagte aufgeregt zu Jantiff: »Wenn man lange genug hier oben stehenbleibt, kann man alle Menschen auf der Welt sehen!« »Das stimmt natürlich nicht«, warf Skorlet brüsk ein, als wäre sie nicht mit Tanzels kindlicher Phantasie einverstanden.
Unter ihnen glitten die Arrabiner dahin – Menschen jeglichen Alters, mit ruhigen, zufriedenen Gesichtern, verklärt manche, als bestaunten sie die Wunder ringsum, ohne die Menge überhaupt zu sehen. Nur hin und wieder hob einer die Augen zu den Neugierigen auf der Brücke. Die meisten beachteten sie überhaupt nicht. Esteban begann unruhig zu werden. Er richtete sich auf, schlug mit einer Hand auf das Geländer und schaute nachdenklich zum Himmel hoch. »Ich verabschiede mich jetzt wohl besser. Meine Freundin Hester wartet bestimmt schon auf mich.« Skorlets schwarze Augen funkelten. »Es besteht wirklich kein Grund zur Eile.« »Nun, aber...« »Welchen Weg nimmst du?« »Oh – am Fluß entlang.« »Dann begleiten wir dich bis zu Hesters Block. Sie wohnt doch im Tesserakt, oder?« Würde und Höflichkeit kämpften mit seiner Verärgerung, als Esteban sagte: »Also, wollen wir gehen?« Eine Rampe führte zur Rollstraße. Sie drängten sich unter die Menge und wurden westwärts getragen. Als sie auf die schnelleren Bahnen wechselten, fiel Jantiff etwas Merkwürdiges auf. Blickte er über die Schulter nach rechts, blieben die Gesichter in seiner unmittelbaren Nähe zurück und begannen schnell zu verschwimmen. Schaute er dagegen über die linke Schulter, schienen die Menschen wie aus dem Nichts herbeizueilen, erreichten und überholten ihn, bis sie schnell in die Ferne verschwanden. Aus einem Grund, den er sich nicht genau erklären konnte, beunruhigte ihn das, und ein Schwindelgefühl erfaßte
ihn. Hastig schaute er geradeaus und starrte auf die vorbeisausenden Häuserblocks, in allen nur vorstellbaren Schattierungen: Rot-, Braun- und Gelbtöne; Grün in jeder Mischung; moosfarbig, geflecktes GrünWeiß, fahles Blaugrün, tiefes Grünschwarz, verwaschenes Rot und oranges Purpur, und alle hoben sich durch das Dwanlicht irgendwie klar und rein hervor. Jantiff begann sich für diese Farben zu interessieren. Zweifellos übte jede einen symbolischen Einfluß auf die aus, die mit ihnen lebten. Pfirsichfarben mit wäßrigem Braun – wer mochte diese Tönung wohl ausgewählt haben? Nach welchen Richtlinien war hier vorgegangen worden? Lavendel-weiß, alle möglichen Blautöne, Giftgrün – und so weiter und so weiter. Jede Farbe zweifellos von jenen, denen sie vertraut war, liebgewonnen... Tanzel zupfte an seinem Ellbogen. Jantiff drehte sich um und sah Esteban eilig zur Rechten davongleiten. »Ihm ist gerade eingefallen, daß er eine dringende Verabredung hat«, erklärte Tanzel Jantiff mit ernstem Gesicht. »Er bat mich, ihn bei dir zu entschuldigen.« Skorlets Gesicht war vor Ärger gerötet. Auch sie trat auf das schnellere Band. »Ich habe etwas zu erledigen«, rief sie über die Schulter zurück. »Bis später!« Schon war sie in der Menge verschwunden, und Jantiff blieb allein mit Tanzel zurück. Er schüttelte verwirrt den Kopf und schaute die Kleine an. »Wohin eilen sie so plötzlich?« »Ich weiß es nicht. Aber kümmern wir uns nicht darum. Ich könnte unentwegt auf dem Uncibalstrom fahren.« »Sollten wir nicht vielleicht lieber umkehren? Kennst du dich aus?«
»Natürlich. Wir brauchen nur auf den Disselbergfluß umsteigen und dann die Hundertzwölfte überqueren.« »Fein. Dann machst du den Führer. Mir reicht das Promenieren für heute eigentlich. Seltsam, daß Esteban und Skorlet uns einfach so plötzlich verlassen haben.« »So was bin ich von ihnen gewöhnt«, sagte Tanzel. »Wenn du wirklich schon zurück willst, nehmen wir den nächsten Fluß in die Gegenrichtung.« Verstohlen betrachtete Jantiff Tanzel. Ein niedliches und angenehmes Geschöpf, dachte er. Er fragte sie, ob sie gern in die Schule ginge. Tanzel zuckte die Achseln. »Ich müßte sonst placken, also lerne ich lieber rechnen, lesen und Ontologie. Nächstes Jahr darf ich persönliche Dynamik nehmen, das macht viel mehr Spaß. Da lernen wir den eigenen Ausdruck und Dramatik. Bist du in die Schule gegangen?« »Ja, natürlich. Sechzehn lange Jahre.« »Was hast du gelernt?« »Oh, alles mögliche, was man bei uns in der Schule eben so lehrt.« »Und dann hast du mit dem Placken angefangen?« »Nein, noch nicht. Ich weiß immer noch nicht, was ich wirklich tun möchte.« »Ihr lebt in keiner Weise egalistisch, oder?« »Nicht wie ihr hier. Jeder arbeitet viel mehr und schwerer. Doch fast allen macht ihre Arbeit auch Spaß.« »Aber dir nicht.« Jantiff lachte verlegen. »Ich bin durchaus bereit, hart zu arbeiten, nur habe ich mich eben noch nicht für etwas Bestimmtes entschieden. Meine Schwester Ferfan schnitzt Vertäuungspfähle. Vielleicht tue ich
irgendwann etwas Ähnliches.« Tanzel nickte. »Wir sollten uns wieder einmal miteinander unterhalten. Dort ist mein Kinderheim. Ich muß hier abbiegen. Dein Block ist geradeaus, das Altrosa auf der linken Seite. Leb wohl!« Jantiff fuhr auf dem Menschenfluß weiter, bis er den Block vor sich sah, den er jetzt wohl als sein Zuhause betrachten mußte: Altrosa! Er betrat ihn, fuhr zum neunzehnten Stock hoch und schlenderte durch den Korridor zu seinem Apartment. Er öffnete die Tür und rief taktvoll: »Ich bin's, Jantiff.« Nichts rührte sich. Das Apartment war leer. Jantiff schloß die Tür hinter sich. Einen Augenblick lang überlegte er, was er denn jetzt tun sollte. Bis zum Abendessen waren es noch zwei Stunden, dann gab es wieder Atz, Söff und Wabbli. Jantiff schnitt eine Grimasse. Die Kugeln aus Papier und Draht, die von der Decke hingen und die er auf den ersten Blick für Lampen gehalten hatte – was sie nicht waren –, lenkten seine Aufmerksamkeit auf sich. Ihre Funktion war ihm absolut nicht klar. Das Papier war grün und dünn, der Draht war zweifellos für etwas anderes gedacht gewesen. Vielleicht hatte Skorlet beabsichtigt, mit diesem Zeug das Apartment zu verschönern? Wenn ja, war es ziemlich schludrig gemacht.* Na ja, solange es ihr gefiel! Es ging ihn schließlich nichts an. *
Später stellte Jantiff fest, daß viele Arrabiner ihre Wohnungen auf recht ungewöhnliche, ja bizarre Weise schmückten. Jahrelang stahlen sie alle möglichen Materialien zusammen und verbrachten viel Zeit und Mühe damit, irgend etwas Ausgefallenes zu schaffen. Solche Apartments wurden gewöhnlich als unegalistisch erachtet und ihre Bewohner häufig mit Spott bedacht.
Er schaute in das Schlafzimmer und betrachtete die beiden Betten und den etwas ungenügenden Trennvorhang. Jantiff fragte sich, was seine Mutter dazu wohl sagen würde. Erfreut wäre sie darüber sicher nicht. Na ja, schließlich war er auf Reisen gegangen, um andere Länder und andere Sitten kennenzulernen. Trotzdem, wenn die Dinge hier als so selbstverständlich angesehen wurden, hätte er eigentlich die junge Frau vorgezogen – wie hieß sie doch gleich? Kedidah? –, die ihm im Speisesaal so angenehm aufgefallen war. Er beschloß, seine Reisetasche auszupacken. Er ging an den Wandschrank, in den er sie gestellt hatte. Verärgert starrte er auf sie hinunter. Das Schloß war aufgebrochen, der Überschlag nicht richtig geschlossen. Jantiff öffnete sie und überflog ihren Inhalt. Seine paar Kleidungsstücke waren offensichtlich nicht interessant gewesen, nur sein zweites Paar Schuhe aus feinem grauen Lantil. Sie fehlten ebenso wie sein Zeichenblock, seine Farben, seine Kamera, sein Rekorder und Dutzende kleinerer Dinge. Jantiff schlurfte zum Wohnzimmer und ließ sich mit hängenden Schultern in einen Sessel fallen. Ein paar Minuten später betrat Skorlet das Apartment. Sie war offenbar schlechtester Laune. Ihre schwarzen Augen funkelten, und Falten zogen sich über ihre Stirn. Ihre Stimme schien zu knistern, als sie den Mund öffnete. »Wie lange sind Sie schon hier?« »Fünf oder zehn Minuten.« »Die Querstraße, der Kindergoffluß ist in Reparatur«, knurrte sie verbittert. »Ich mußte eineinhalb Kilometer zu Fuß gehen.« »Während wir weg waren, hat jemand meine Rei-
setasche aufgebrochen und mir so gut wie alles, außer meiner Kleidung, gestohlen.« Diese Neuigkeit schien Skorlet an den Rand der Selbstbeherrschung zu treiben. »Was erwarten Sie denn?« rief sie mit unangenehm schriller Stimme. »Das hier ist schließlich ein egalistisches Land, weshalb sollten Sie mehr haben als andere?« »Ich fürchte, ich wurde überegalisiert«, sagte Jantiff trocken. »Ich habe jetzt nämlich weniger als andere.« »Das sind Probleme, mit denen Sie sich abfinden müssen«, brummte Skorlet und marschierte ins Schlafzimmer. Ein paar Tage später schrieb Jantiff seiner Familie: Meine liebe Mutter, lieber Vater, liebe Schwestern, ich befinde mich jetzt in einer der bemerkenswertesten Nationen des Alastor-Sternhaufens, in Arrabus auf Wyst. Mir wurde Wohnraum in einem 2-Zimmer-Apartment zugewiesen, in dem außer mir eine gutaussehende Frau lebt, die sehr strenge Ansichten hat, was den Egalitarismus betrifft. Offenbar ist sie nicht ganz mit mir einverstanden, aber sie benimmt sich trotzdem höflich und ist hin und wieder sogar hilfsbereit. Sie heißt Skorlet. Gewiß wundert Ihr Euch über dieses bei uns ungewöhnliche Arrangement, aber hier ist es absolut normal. Der Egalitarismus erkennt keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern an. Jeder ist jedem in jeder Beziehung gleich. Sexuelle Unterschiede hervorzuheben wird als »Sexivation« betrachtet. Betont ein Mädchen, beispielsweise durch auffällige Kleidung ihre Reize, machte sie sich der Sexivation, eines ernsten Vergehens schuldig. Die Apartments waren ursprünglich für zusammen-
gehörige Paare gedacht, doch das wurde schließlich als »sexivationistisch« verpönt. Seither nimmt man die Wohnraumzuweisungen aufs Geratewohl vor, obwohl natürlich hin und wieder untereinander getauscht wird. Wer nach Arrabus kommt, muß alle Vorurteile begraben. Ich habe bereits gelernt, daß man sich als Fremder nicht von scheinbaren Ähnlichkeiten mit von zu Hause Gewöhntem täuschen lassen darf. HIER IST ALLES ANDERS, ALS MAN ANNIMMT! Stellt Euch das vor! Und denkt an all die Welten im Haufen und im gesamten Gaeanischen Territorium, und im Erdischen und Primarchischen! Denkt an diese Billionen von Menschen, und jeder anders! Ein erschreckender Gedanke, fürwahr! Trotzdem bin ich von Arrabus sehr beeindruckt. Das System funktioniert, niemand möchte es anders haben. Die Arrabiner scheinen glücklich und zufrieden oder zumindest passiv zu sein. Am höchsten schätzen sie ihre Freizeit und verzichten für sie gern auf persönliches Eigentum, gutes Essen und ein gewisses Maß an persönlicher Freiheit. Keiner hat eine besondere Bildung genossen und niemand spezialisiert sich auf ein bestimmtes Fachgebiet. Instandhaltungsarbeiten und Reparaturen werden von jenen ausgeführt, die eben gerade dazu eingeteilt sind, oder in schwierigen Fällen von Vertragsfirmen aus den Schreckenslanden. (Das sind die Provinzen im Norden und Süden von Arrabus. Es handelt sich hierbei nicht um besondere Nationen. Ich bezweifle, daß sie überhaupt eine richtige Regierung haben. Doch bis jetzt weiß ich noch nicht viel über sie.) Ich konnte leider noch nicht ernsthaft arbeiten, denn man hat mir meine Sachen gestohlen. Skorlet hält das für völlig normal und versteht meine Verzweiflung nicht. Sie spottet über meinen »Antiegalismus«. So ist
es eben hier. Wie ich schon erwähnte, die Arrabiner sind ein ungewöhnliches Völkchen, das nur durch etwas Besonderes zu essen in Aufregung versetzt werden kann – also nicht durch ihren üblichen »Wump«, sondern natürliche Nahrungsmittel. Ein Bekannter namens Esteban erzählte von ein paar Lastern, die so ungewöhnlich und abstoßend sind, daß ich lieber gar nicht davon schreiben will. Der Block, in dem ich wohne, heißt ganz einfach »Altrosa«, aufgrund seiner Farbe. Jeder Block, wenn auch in der Bauweise absolut identisch, ist nach Meinung seiner Bewohner völlig anders als alle anderen, und sie bezeichnen sie als: »langweilig«, »frivol«, »wimmelnd von listigen Luchsen«, »guten Wump verteilend«, »schlechten Wump austeilend«, »zu viele Streichespieler beherbergend«, »sexivationistisch« und so weiter. Jeder Block hat seine eigene Geschichte, seine Lieder und seinen besonderen Dialekt. »Altrosa« wird als bequemlich und ein wenig nachlässig betrachtet, eine Beschreibung, die ja auch auf mich zutrifft. Ah, Ihr wollt sicher wissen, was »Luchse« sind? Das sind Diebe! Mir wurde bereits die Aufmerksamkeit eines Luchses zuteil, der sich unter anderem leider auch für meine Kamera interessierte, deshalb kann ich Euch bedauerlicherweise keine Fotografien schicken. Ich kann nur von Glück sagen, daß ich meine sämtlichen Ozol bei mir trug. Bitte schickt mir umgehend neue Farben, Pinsel, Stifte und einen großen Zeichenblock. Fefan kennt sich aus, sie weiß genau, was ich brauche. Schickt das Zeug aber bitte eingeschrieben oder versichert. Mit normaler Post könnte es leicht passieren, daß es »egalisiert« wird.
Später. Ich habe meine erste Periode »Plackerei« hinter mir, und zwar in einer Exportfabrik. Für eine Periode bekommt man »Treibung«, das sind zehn Scheiben für jede gearbeitete Stunde. Meine wöchentliche Treibung beträgt hundertdreißig Scheiben, von denen zweiundachtzig sofort an den Block für Unterkunft und Verpflegung gezahlt werden müssen. Der Rest ist von keinem großen Nutzen, da es hier nicht viel zu kaufen gibt, außer Kleidung, Schuhe, Karten für das Stadion, und im Disjerferact gerösteten Seetang. In manchen Läden am Raumhafen bekommt man Importware: Werkzeuge, Spielsachen, wenn man Glück hat einmal etwas »Labrung«, also natürliche Nahrung, aber das alles zu unverschämt hohen Preisen, in Scheiben, selbstverständlich, die im Wechselkurs mit dem Ozol kaum einen Wert haben – etwa fünfhundert Scheiben für einen Ozol. Das ist natürlich absurd. Andererseits aber vielleicht doch nicht. Denn wer könnte schon etwas mit Scheiben anfangen? Es gibt ja nichts dafür zu kaufen. Trotzdem ist diese Art zu leben, so seltsam sie einem auch vorkommen mag, gar kein so schlechtes System. Ich nehme an, daß jeglicher Lebensstil im Grund genommen ein Austausch von verschiedenen Arten von Freiheit ist. Ja, natürlich gibt es verschiedene Arten von Freiheit und manchmal bedeutet die eine das Fehlen einer anderen. Auf jeden Fall habe ich hier eine Menge Eindrücke und gute Ideen für Bilder gesammelt, die Ihr ja allerdings nicht ernst nehmt. Das Licht hier ist absolut malerisch, ein trügerisches, blasses Licht, das sich überall in farbigen Rändern zu brechen scheint. Ich habe Euch noch viel zu erzählen, aber ich werde es für den nächsten Brief aufsparen. Ich bitte Euch, mir lieber keine »Labrung« zu schicken, es wäre – nun, um
ehrlich zu sein, ich weiß nicht, was geschehen würde, aber ich möchte es auch nicht wissen. Immigranten und Besucher sind hier nicht sonderlich beliebt, trotzdem hat sich mein Ruf als »Reparierer« schon weit verbreitet. Ist das nicht ein Witz? Ich verstehe schließlich nur, was ich in der Schule und zu Hause gelernt habe. Trotzdem kommt jeder, dessen Bildschirm nicht richtig funktioniert, zu mir gerannt. Ja, völlig Fremde treten an mich heran! Und wenn ich ihnen den Gefallen tue, glaubt Ihr vielleicht, daß sie mir dafür dankbar sind? Laut sagen sie zwar ›danke‹, aber ihr Gesichtsausdruck wirkt dann immer so – so komisch! Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Ist es Verachtung? Abscheu? Antipathie? Und das nur, weil ich ein bißchen Geschick für etwas habe, das ihnen offenbar schwerfällt. Jedenfalls habe ich beschlossen, von jetzt ab nichts mehr umsonst zu tun. Als Gegenleistung werde ich Scheiben verlangen oder daß der, der mir meine Zeit stiehlt, an meiner Stelle plackt. Dann werden sie zwar die Nase rümpfen und vielleicht schimpfen, aber sie werden mich wenigstens respektieren. Folgendes, glaube ich, ließe sich gut abbilden: Die Wohnblöcke von Uncibal in den Farben, die für die Arrabiner soviel Bedeutung haben. Der Blick über den Uncibalstrom von einer Aussichtsbrücke aus, mit dieser heranbrausenden See von gleichmütigen Gesichtern. Die Spiele, die Schunkkämpfe, eine arrabinische Version von Hussade.* Disjerferact, der Vergnügungspark entlang der Schlammebenen. Doch davon später. *
Hussade: Siehe Glossar 4
Nur noch ein Wort über die Weise, wie hier Hussade gespielt wird. Ich hoffe, daß es keinen von Euch schokkiert. Das Spiel selbst läuft nach den üblichen Regeln über die Bühne, aber die Sheirl des besiegten Teams muß etwas sehr Erniedrigendes über sich ergehen lassen. Sie wird entblößt und zu einer abstoßenden Holzfigur auf einen großen Holzkarren gehoben. Diese bewegliche Statue wird durch Fernsteuerung so bedient, daß sie unnatürlichen Verkehr mit der Sheirl betreibt. Und das unterlegene Team muß den Karren rund um das Stadion ziehen. Ich werde nie verstehen, daß sich überhaupt Freiwillige als Sheirl melden. Schließlich muß sich jede doch bewußt sein, daß ihr Team früher oder später einmal verliert. Aber offenbar schreckt das keine ab. Entweder sind sie sehr tapfer oder sehr dumm, oder vielleicht ist es ein dunkler Trieb in ihnen, den diese öffentliche Entwürdigung reizt. Doch genug von diesem Thema. Ich glaube, ich habe erwähnt, daß mir die Kamera gestohlen wurde, deshalb kann ich leider keine Bilder beilegen. Ja, ich wüßte nicht einmal, ob es hier in Uncibal eine Stelle gibt, die Abzüge von der Matrix machen könnte. Mehr in meinem nächsten Brief. In Liebe Euer Jantiff
4 Eines Morgens kam Esteban mit einem Freund in Jantiffs Wohnung. »Das, mein lieber Janty Ravensroke«, sagte er, »ist Olin, ein angenehmer Bursche, trotz seiner Tonne von einem Bauch. Sie ist lediglich Beweis für seinen gesunden Schlaf und sein gutes Gewissen, das zumindest versichert mir Olin immer wieder. Er besitzt keinen heimlichen Speiseschrank mit Labrung.« Jantiff nickte höflich und erwiderte die Vorstellung mit einem kleinen Scherz. »Aber bitte halten Sie mich nun nicht für schuldbeladen, weil ich schlank bin.« Olin und Esteban brachen in herzhaftes Gelächter aus. Esteban sagte: »Olins Bildschirm leidet unter einem merkwürdigen Phänomen. Er spuckt rote Feuerschwaden, selbst bei den amüsantesten Übertragungen. Verständlicherweise ist Olin verzweifelt. Ich tröstete ihn und machte ihm Mut. ›Mein Freund Jantiff ist zeckischer Techniker, dem nichts mehr Spaß macht, als Geräte zu reparieren‹, versicherte ich ihm.« Jantiff bemühte sich um einen leichten Ton. »Ja, ich verstehe ein bißchen was davon. Wie wäre es, wenn ich Unterricht in kleineren Reparaturen erteilte, sagen wir, um fünfzig Scheiben pro Stunde und Teilnehmer? Jeder, Sie und Olin ebenfalls, kann dann alles lernen, was ich selbst weiß und es praktisch anwenden, indem er nicht nur seine eigenen Sachen repariert, sondern auch seinen Freunden hilft.« Olins Lächeln wirkte ein wenig unsicher. Estebans Brauen hoben sich erstaunt. »Mein lieber Junge!« rief er. »Das meinen Sie doch nicht im Ernst?«
»Aber natürlich. Jeder profitiert davon. Ich verdiene ein paar Scheiben extra und brauche nicht ständig herumzulaufen, anderen einen Gefallen zu tun. Und Sie, Ihrerseits, lernen etwas Nützliches dazu.« Einen Moment lang war Esteban sprachlos. Dann sagte er mit einem gezwungenen Lächeln. »Aber Jantiff, lieber naiver Jantiff! Ich will gar nichts Nützliches lernen! Das würde eine Bereitschaft zur Arbeit voraussetzen. Für zivilisierte Menschen ist Arbeit eine unnatürliche Beschäftigung!« »Nun, Arbeit ist also keine Tugend in sich selbst und auch unerwünscht, außer bei anderen«, murmelte Jantiff. »Arbeit ist die notwendige Funktion von Maschinen«, erklärte Esteban. »Sollen sie sich nützlich machen! Sollen Computer und Automaten denken und placken. Das Leben ist so kurz, weshalb sollte auch nur eine Sekunde davon vergeudet werden?« »Ja, ja, im Prinzip vielleicht richtig«, sagte Jantiff. »Aber in der Praxis haben sowohl Sie als auch Olin bereits zwei oder drei Stunden damit verschwendet, daß Sie Olins Schirm betrachteten, sich über den Fehler aufregten, Pläne schmiedeten und schließlich zu mir kamen. Angenommen, ich erkläre mich bereit, mir das Ding anzusehen, dann müßten Sie und Olin mit mir zu Olins Apartment zurückkehren und Sie würden mir bei der Reparatur zusehen. Das wären etwa vier Stunden pro Personen, also acht Stunden insgesamt, von meiner Zeit gar nicht zu sprechen, während Olin die Reparatur selbst in zehn Minuten hätte vornehmen können. Ist das etwa nicht ein Fall, wo Fähigkeit Zeit spart?« Esteban schüttelte mit ernstem Gesicht den Kopf.
»Jantiff, über alles andere sind Sie ein Meister der Spitzfindigkeit. Wir hier in Arrabus sind der Ansicht, daß diese ›Fähigkeit‹ eine dem glücklichmachenden* Leben entgegengesetzte Einstellung voraussetzt.« »Dem muß ich beipflichten«, warf Olin ein. »Sie würden also lieber auf die Benutzung Ihres Schirmes verzichten, als ihn selbst zu reparieren?« Wieder hoben sich Estebans Brauen, und seine Miene drückte Abscheu aus. »Das ist doch selbstverständlich. Ihre praktische Veranlagung ist ein Schritt rückwärts. Vielleicht sollte ich auch erwähnen, daß Ihr vorgeschlagener Unterricht als Ausbeutung ausgelegt werden könnte und zweifellos die Aufmerksamkeit der Monitoren auf sich lenken würde.« »Das hatte ich nicht bedacht«, gestand Jantiff. »Nun, in aller Offenheit, diese kleinen Gefälligkeiten rauben mir zuviel meiner Zeit und verhindern die Glücklichmachung meines Lebens. Wenn Olin meine nächste Plackschicht für mich übernimmt, richte ich seinen Schirm.« Olin und Esteban tauschten amüsierte Blicke. Beide zuckten die Achseln und verließen das Apartment. Für Jantiff kam ein Paket aus Zeck mit Farben, Pinseln, Stiften, Papier und Mal- und Zeichenblöcken. Jantiff machte sich sofort an die Arbeit, den Bildern, die seine Vorstellung beschäftigten, Form zu geben. Skorlet sah ihm manchmal dabei zu, aber sie stellte nie Fragen, und ließ sich auch zu keiner Bemerkung darüber herab. Und Jantiff machte sich nicht die Mü*
Ein im arrabinischen Dialekt etwas willkürlich benutztes Wort, das soviel wie ein bequemes, luxuriöses, gutorganisiertes Leben bedeutet.
he, sie um ihre Meinung zu fragen. Eines Tages gelang es dem Mädchen, das Jantiff bereits am ersten Tag bewundert hatte, sich im Speisesaal ihm gegenüber zwischen die anderen zu zwängen. Mit einem strahlenden Lächeln zeigte sie mit einem Finger auf Jantiff und sagte: »Verraten Sie mir bitte etwas. Jedesmal, wenn ich zum Wumpen komme, starren Sie mich erst von einer, dann der anderen Seite an. Weshalb machen Sie das? Bin ich denn so übermäßig attraktiv und ungewöhnlich schön?« Jantiff grinste verlegen. »Nun, ich finde Sie jedenfalls übermäßig attraktiv und ungewöhnlich schön.« »Pssst!« Das Mädchen blickte kokett nach links und rechts. »Schon jetzt hält man mich für einen Sexivationisten. Ihre Blicke werden dieses Urteil über mich nur noch bestätigen!« »Nun, wie dem auch sei, meine Blicke werden immer wieder zu Ihnen schweifen, dagegen kann ich nicht an. Und das ist die reine Wahrheit.« »Doch alles, was Sie tun, ist, mich anzuschauen. Wie seltsam! Aber Sie sind ja auch Immigrant.« »Nein, nur Besucher. Ich hoffe, daß mein etwas plumpes Benehmen Sie nicht belästigt hat.« »Nicht im geringsten. Ich finde Sie sehr sympathisch. Wenn Sie möchten, können wir kopulieren. Vielleicht kann ich etwas Neues, Amüsantes bei Ihnen lernen. Nein, nicht jetzt. Niedrige Plackerei wartet auf mich, verdammt. Ein andermal, wenn Sie Lust haben.« »Ja, nun... ja«, murmelte Jantiff. »Darauf läuft es wohl hinaus. Sie heißen Kedidah, wenn ich mich nicht irre.« »Woher wissen Sie das?«
»Skorlet sagte es mir.« Kedidah verzog das Gesicht. »Skorlet kann mich nicht ausstehen. Sie sagt, ich sei kokett und ein abgefeimter Sexivationist, wie ich schon erwähnte.« »Ich verstehe nicht. Wieso?« »Oh, ich weiß es selbst nicht so genau. Es macht mir Spaß, die Blicke anderer auf mich zu ziehen und zu flirten. Ich frisiere mein Haar, wie es mir gerade Spaß macht. Ich mag es, wenn ich Männern gefalle, und aus Frauen mache ich mir nichts.« »Das ist doch kein Verbrechen.« »Nein? Dann fragen Sie mal Skorlet.« »Skorlets Meinung interessiert mich nicht. Um ehrlich zu sein, ich finde sie zu streng. Übrigens, mein Name ist Jantiff Ravensroke.« »Welch ungewöhnlicher Name! Zweifellos sind Sie ein eingefleischter Elitarist. Wie kommen Sie mit dem Egalitarismus zurecht?« »Oh, ganz gut. Doch ich muß gestehen, daß manche der arrabinischen Gebräuche mich immer noch ein wenig verwirren.« »Das ist kein Wunder. Wir sind ein ziemlich kompliziertes Volk, vielleicht gerade, um unseren Egalismus zu kompensieren.« »Das ist möglich. Möchten Sie gern einmal andere Welten besuchen?« »Natürlich, außer ich müßte dann die ganze Zeit schwer arbeiten. In diesem Fall zöge ich es vor, hierzubleiben, wo das Leben fröhlich ist. Ich habe Freunde und Clubs und Spiele. Ich gebe mich nie düsteren Stimmungen hin, weil ich nur ans Vergnügen denke. Da fällt mir ein, an einem der nächsten Tage machen wir eine Forage. Sie sind herzlich eingeladen, mitzu-
kommen, wenn Sie Lust haben.« »Was ist eine ›Forage‹?« »Eine Expedition in die Wildnis. Wir fahren zu den Bergen hoch und marodieren dann südwärts in die Schreckenslande. Diesmal geht's zum Pamatratal, wo wir ein paar geheime Plätze kennen. Wir hoffen, dort an ausgezeichnete Labrung heranzukommen. Aber selbst wenn wir in dieser Beziehung kein Glück haben, ist es doch eine vergnügliche Abwechslung.« »Ich würde mich Ihnen gern anschließen, wenn ich nicht gerade zum Placken eingeteilt bin.« »Wir brechen Twistag morgen gleich nach dem Wump auf und kehren Fyrtag abend oder Dwantag morgen zurück.« »Das würde mir gut passen.« »Wunderbar. Wir treffen uns hier. Bringen Sie einen Umhang oder etwas Ähnliches mit, denn wir werden voraussichtlich im Freien schlafen. Mit ein bißchen Glück stoßen wir auf alle möglichen köstlichen Dinge.« Früh am Twistagmorgen, kaum daß der Speisesaal öffnete, nahm Jantiff sein Frühstück zu sich. Auf Skorlets Rat trug er einen Rucksack, in dem er eine Decke, ein Handtuch, Kleidung zum Wechseln und ein paar aufgesparte Laibe Atz verstaut hatte. Skorlet hatte sehr von oben herab von dieser Forage gesprochen, ja, mit einer Spur von Spott. »Sie werden im Nebel naß werden, sich an den Dornen die Haut aufkratzen, die ganze Nacht hindurch rennen, bis Sie völlig erschöpft sind, und wenn Sie Glück haben, können Sie sich an einem Feuer wärmen, aber nur, wenn jemand daran gedacht hat, Streichhölzer mit-
zunehmen. Ja, aber gehen Sie nur mit, streifen Sie durch die Wälder und weichen Sie den Menschenfallen aus und wer weiß was noch. Vielleicht finden Sie sogar eine Beere und kommen an ein Stück gegrilltes Fleisch. Wohin wollen Sie denn?« »Kedidah erwähnte einen geheimen Platz im Pamatratal.« »Pah! Was weiß sie schon von geheimen Plätzen oder überhaupt von etwas? Esteban plant ein richtiges Labrungsfest. Es soll bald stattfinden. Sparen Sie sich Ihren Appetit bis dahin.« »Ich habe bereits zugesagt, mich Kedidahs Gruppe anzuschließen.« Skorlet zuckte die Achseln und rümpfte die Nase. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Hier, nehmen Sie die Streichhölzer mit, und seien Sie auf alles vorbereitet. Essen Sie ja kein Krötenkraut, sonst wird man Sie in Uncibal nie wiedersehen. Was Kedidah betrifft, sie hatte noch nie mit irgend etwas recht. Und ich habe gehört, daß sie sich nicht wäscht. Wer mit ihr kopuliert, weiß nie, was er sich holt.« Jantiff murmelte etwas Unverständliches und beschäftigte sich mit seiner Skizze. Skorlet schaute über seine Schulter. »Wer sind diese Leute?« »Das sind die Wisperer. Sie empfangen eine Abordnung von Unternehmern in Serce.« Skorlet blickte ihn erstaunt an. »Aber Sie waren doch noch nie in Serce.« »Ich benutzte ein Bild aus der Konzept. Haben Sie es denn nicht gesehen?« »Niemand sieht in der Konzept etwas anderes als Hussade-Ankündigungen.« Sie studierte eine zweite Skizze: ein Blick auf den Uncibalstrom. Sie schüttelte
vor Abscheu den Kopf. »All diese Gesichter, jedes so peinlich genau! Es gefällt mir nicht!« »Sehen Sie es sich mal richtig an«, forderte Jantiff sie auf. »Erkennen Sie jemanden?« Nach kurzem Betrachten sagte Skorlet: »Ja, natürlich! Das ist Esteban! Und soll ich das sein? Sehr geschickt. Sie haben ein erstaunliches Talent!« Sie hob eine weitere Skizze auf. »Was ist das? Der Speisesaal! Wieder die vielen Gesichter. Sie sehen so leer aus.« Sie schaute Jantiff forschend an. »Was wollen Sie damit aussagen?« »Arrabiner sehen immer irgendwie gleichmütig aus«, beeilte er sich zu erklären. »Finden Sie nicht auch?« »Gleichmütig? Wie kommen Sie nur darauf? Wir sind leidenschaftlich, idealistisch, kühn – wenn wir die Gelegenheit haben –, anpassungsfähig, heftig. All das, ja. Aber gleichmütig? Nie und nimmer!« »Sie haben zweifellos recht«, gestand Jantiff ihr zu. »Irgendwie ist es mir eben nicht gelungen, den richtigen Ausdruck einzufangen.« Skorlet wandte sich ab, dann rief sie über die Schulter zurück. »Können Sie vielleicht ein wenig von Ihrer blauen Farbe entbehren? Ich möchte gern Symbole auf meine Kultkugeln machen.« Jantiff schaute zuerst zu den Bällen aus Papier und Draht hoch, von denen jeder etwa dreißig Zentimeter im Durchmesser war, dann auf den groben Pinsel, den Skorlet gewöhnlich benutzte, und schließlich mit erhobenen Brauen auf die kleine Tube blauer Ölfarbe. »Also wirklich, Skorlet, ich verstehe Sie nicht. Können Sie denn nicht normale Wandfarbe oder Tinte oder etwas Ähnliches verwenden?«
Skorlets Gesicht lief rot an. »Und wie soll ich an Wandfarbe herankommen? Oder an Tinte? Ich bin in dieser Beziehung völlig unerfahren. Dieses Zeug ist schließlich nicht für jeden zu bekommen, und ich hatte noch nie eine Plackerei, wo ich so etwas hätte luchsen können.« »Ich glaube, an Schalter 5 des Gebietsladens habe ich Tinte zum Verkauf gesehen«, sagte Jantiff vorsichtig. »Vielleicht...« Skorlet machte eine heftige Geste, die Ablehnung und Ärger ausdrückte. »Für hundert Scheiben das Gramm? Ihr Fremden seid doch alle gleich! Alle verwöhnt durch euren Reichtum und dazu herzlos und egoistisch.« »Also gut«, brummte Jantiff nachgiebig. »Dann nehmen Sie eben die Ölfarbe, wenn Sie sie unbedingt haben müssen. Ich benutze eine andere Farbe.« Aber Skorlet stolzierte bereits gekränkt davon und zum Spiegel, wo sie ihre Ohrgehänge wechselte. Jantiff seufzte tief, ehe er sich wieder seiner Malerei zuwandte. Die Ausflügler, acht Männer und fünf Frauen, trafen sich im Foyer des Altrosa. Jantiffs Rucksack erregte sofort freundlichen Spott. »Ha, glaubt Jantiff denn, daß wir eine Reise an den Rand unternehmen?« »Jantiff, teurer Freund, wir wollen nur eine kleine Forage machen und nicht auswandern.« »Jantiff ist Optimist! Er nimmt Teller und Beutel und Körbe mit, damit er seine Labrung heimschaffen kann!« »Pah, ich bringe meine auch mit nach Hause, aber im Bauch!« Ein junger Mann namens Garrace, untersetzt und
blond, blickte Jantiff an. »Sagen Sie uns doch ehrlich, was nehmen Sie da alles mit?« Jantiff grinste ein wenig verlegen. »Eigentlich nichts Besonderes. Etwas zum Umziehen, ein paar Laibe Atz, meinen Skizzenblock und, wenn Sie es unbedingt wissen wollen, eine kleine Rolle Klopapier.« »Der gute alte Jantiff! Er ist zumindest ehrlich!« »Also, dann machen wir uns auf den Weg, mit Toilettenpapier und allem.« Die Gruppe stieg auf den Menschenfluß, bog in den Uncibalstrom ein, auf dem sie eine Stunde lang westwärts glitt, ehe sie auf einen Nebenfluß überwechselte, der sie südwärts in die Berge trug. Jantiff hatte schon zu Hause die Karte studiert und bemühte sich jetzt, ein paar Landschaftsmerkmale zu identifizieren. Er deutete auf einen gewaltigen Granitpfeiler, der fast geradeaus vor ihnen lag. »Das müßte der Einsame Zeuge sein, habe ich recht?« »Stimmt ganz genau«, erwiderte Thworn, ein aufgeschlossener junger Mann mit rötlichem Haar. »Dahinter und seitlich ist der Nahwald und ein wenig Labrung, wenn wir Glück haben. Sehen Sie die Lükke? Das ist das Hebronstor. Dort hindurch kommen wir direkt ins Pamatratal, unser Ziel.« »Ich glaube, daß wir im Mittelwald, in Richtung Fruberg eher etwas finden würden«, warf ein düster aussehender Bursche namens Uwser ein. »Ein paar Bekannte versuchten vor zwei oder drei Monaten ihr Glück im Pamatratal und kamen hungrig zurück.« »Unsinn«, sagte Thworn abweisend. »Ich kann die Faßbeeren bis hierher riechen. Denk lieber an die Fruberger: sie sind eine barbarische Bande von Steinschleuderern!«
»Die Leute im Tal sind auch nicht viel besser«, gab Sunover, ein Mädchen, fast so groß wie Jantiff, aber von bedeutend größerem Umfang, zu bedenken. »Sie sind fett und stinken, und es macht mir keinen Spaß, mit ihnen zu kopulieren.« »Du brauchst ihnen ja nur davonzulaufen.« Uwser grinste. »Hast du denn keine Phantasie?« »Essen, kopulieren und davonlaufen«, zählte Garrace auf. »Die drei wichtigsten Dinge in Sunovers Leben.« Auch er grinste. Erstaunt fragte Jantiff das Mädchen: »Weshalb entweder kopulieren oder davonrennen, wenn Sie es nicht wollen?« Sunover würdigte ihn keiner Antwort. Kedidah tätschelte Jantiffs Wange. »Beides ist gut für die Seele, mein Junge, und manchmal auch für das körperliche Wohlbefinden.« Ein wenig beunruhigt sagte Jantiff: »Ich möchte gern wissen, was man von mir erwartet. Soll ich kopulieren oder laufen? Wie soll ich das im vorhinein wissen? Und wo finden wir die Labrung?« »Es kommt alles immer gleichzeitig auf einen zu.« Wieder grinste Garrace. »Es ergibt sich von selbst«, erklärte Thworn ein wenig von oben herab. »Sie brauchen sich jetzt noch keine Gedanken darüber zu machen.« Jantiff zuckte die Achseln und widmete seine Aufmerksamkeit einer Reihe von Fabrikgebäuden, auf die der größte Teil der Leute auf dem Menschenfluß zuzuströmen schien. Auf seine Frage hin erklärte ihm Garrace, daß hier die Hormone, die für den arrabinischen Export eine so große Rolle spielten, extrahiert, raffiniert und zur Ausfuhr verpackt wurden. »Auch
Sie werden bald dorthin beordert werden«, brummte er. »Das ist unser aller Schicksal. Hinein in die Labors wie Roboter, dann auf die Fließbahre zur Operation. Sie melken Ihre Drüsen, zapfen Ihr Blut ab und Ihr Rückenmark und machen überhaupt, was ihnen gerade einfällt mit Ihren intimsten Körperteilen. Keine Angst, auch Sie werden drankommen.« Jantiff hatte nichts von diesem Aspekt des Lebens in Arrabus gewußt. Er runzelte die Stirn, als er die braunen Gebäude betrachtete. »Und wie lange dauert das alles?« »Zwei Tage, und weitere zwei oder drei ist man völlig fertig. Aber was nutzt's? Wir müssen exportieren, um die Vertragsfirmen bezahlen zu können. Und was sind schon zwei Tage pro Jahr, wenn es zum Nutzen des Egalitarismus ist?« Der Menschenfluß endete an einer Haltestelle, wo die Gruppe in einen alten Autobus kletterte. Bedrohlich schaukelnd und ächzend schleppte das Fahrzeug sich einen Weg bergauf, zwischen blauem Krebskraut dahin und schwarzen Dendriten, die mit giftigen scharlachroten Samenkugeln übersät waren. Nach einer einstündigen Fahrzeit hielt der Bus am schmalen Bergpaß, dem Hebronstor, an. »Endstation, alles aussteigen!« rief Thworn. »Nun müssen wir auf Schusters Rappen dahinziehen – wie die Abenteurer alter Zeiten.« Die Gruppe folgte einem sich durch stark nach Harz duftenden Eschen dahinschlängelnden Pfad bergabwärts. Unter ihnen erstreckte sich das Pamatratal und jenseits davon die Schreckenslande unter ihrem Leichentuch aus rauchfarbigen Wäldern. Garrace blickte über die Schulter zurück. »He, Jan-
tiff, setzen Sie Ihre Beine in Bewegung! Sie müssen schon Schritt halten mit uns. Was machen Sie überhaupt?« »Ich skizziere den Baum. Schauen Sie sich doch nur die Äste an! Sie sehen aus wie tanzende Mänaden!« »Keine Zeit für Skizzen!« rief Thworn zurück. »Wir haben noch gut zehn bis fünfzehn Kilometer zu marschieren.« Widerwillig steckte Jantiff seinen Zeichenblock ein und rannte den anderen nach. Der Pfad führte auf eine Wiese und teilte sich zu einem halben Dutzend weiterer Pfade, die in alle Richtungen führten. Hier stieß die Gruppe auf einen Trupp anderer Foragers. »Hallo!« rief Uwser ihnen zu. »Aus welchem Haus sind Sie?« »Wir sind Abenteurer aus Bumbleville in Zwozwanzig.« »Das liegt eine ganz schöne Strecke von uns entfernt. Wir sind alle Altrosaer von Siebzehn – mit Ausnahme von Woble und Vich, die in dem berüchtigten Weißen Palast hausen. Was haben Sie bisher gefunden?« »Nichts Nennenswertes. Wir hörten von einem gigantischen Bitternußbaums aber wir konnten ihn einfach nicht finden. Wir aßen ein paar Süßhopfen und wagten uns in einen Obstgarten, aber die Einheimischen jagten uns davon. Was suchen Sie?« »Labrung, gleich welcher Art. Und wir sind eine entschlossene Gruppe. Wir wandern wahrscheinlich noch zehn oder fünfzehn Kilometer weiter, ehe wir mit unserer Forage beginnen.« »Viel Glück!« Thworn führte die Altrosaer südwärts auf einem
Pfad, der sie ziemlich schnell in einen dunklen Muskatwald brachte. Die Luft hier in der Düsternis war feucht und kühl und roch stark nach verfaulenden Pflanzen. »Haltet alle Ausschau nach Bitternüssen!« rief Thworn, »und denkt daran, daß irgendwo hier in der Gegend ein wilder Pflaumenbaum sein soll.« Nach einer Weile erreichten sie eine Gabelung, ohne auf Nüsse oder Pflaumen gestoßen zu sein. Thworn zögerte. »Ich kann mich an diese Gabelung gar nicht erinnern... Ob wir wohl den falschen Weg genommen haben? Nun ja, es spielt keine große Rolle, die Labrung muß hier irgendwo sein! Also auf! Wir nehmen die rechte Abzweigung.« Ernaly, ein zerbrechlich wirkendes Mädchen mit etwas geziertem Wesen, sagte jammernd: »Wie weit müssen wir denn noch? So scharf bin ich auf das Wandern auch nicht gerade, vor allem, wenn du dir des Weges nicht sicher bist.« »Mein Kind«, sagte Thworn streng, »wir haben keine andere Wahl als zu wandern. Wir befinden uns mitten im Wald, wo es nichts zu essen gibt außer Baumrinde.« »Bitte, erwähnt das Essen lieber nicht«, bat Rehilmus, ein blondes Mädchen mit Kätzchengesicht, kleinen Füßen und üppiger Figur, die sie stark betonte, daß man schon fast von Sexivation sprechen konnte. »Ich bin schon jetzt am Verhungern!« Befehlend schwang Thworn die Arme. »Hier wird nicht gejammert! Weiter geht es, auf Suche nach Labrung.« Die Gruppe nahm den rechten Pfad. Er wand sich mühsam durch die Muskatbäume, deren Äste immer tiefer zu hängen schienen. Kedidah, die mit Jantiff am
Ende der Gruppe dahinstapfte, murmelte: »Thworn weiß genausowenig wie ich, wohin der Weg führt.« »Was suchen wir denn eigentlich?« fragte Jantiff. »Die Waldfarmen sind die reichsten im ganzen Schreckensland, weil sie an die Angenehme Zone grenzen. Die Farmer sind ganz verrückt auf Kopulation. Sie geben ganze Körbe voll Labrung nur für ein bißchen Zärtlichkeit. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie großzügig sie sein sollen: Sie schenken Brathähnchen, gebratenes Pökelfleisch, eingelegte Batracher, Körbe voll Obst! Und das alles für eine schnelle Kopulation.« »Es scheint mir zu schön, um wahr zu sein.« Kedidah lachte. »Ja, natürlich müssen sich alle fair verhalten. Es ist schon häufig vorgekommen, daß die Männer alles aufessen, während die Mädchen mit den Farmern kopulieren, und dann herrscht verständlicherweise die schlechteste Stimmung auf dem Heimweg.« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Jantiff. »Aber ich glaube nicht, daß Sunover, beispielsweise, sich so etwas gefallen ließe.« »Das glaube ich auch nicht. Oh, schau! Thworn hat etwas entdeckt!« Auf Thworns Signal hin schlich die Gruppe schweigend und auf Zehenspitzen zu ihm und spähte wie er hinaus auf ein kleines Gehöft. Zu einer Seite davon graste ein halbes Dutzend Kühe auf einer Weide, auf der anderen wuchsen Reihe um Reihe von Bantock und Mehlbüschen, und daneben an hohen Spalieren Faßbeeren. In der Mitte stand ein vielfach angestükkeltes Haus aus Holz und getrocknetem Lehm. Garrace deutete: »Schaut – dort drüben! Lyssum-
trauben! Ist jemand in der Nähe?« »Niemand zu sehen«, murmelte Uwser. »Schaut nur, die Hühner schlafen!« »Ich bin dafür, kühn vorzugehen«, sagte Garrace. »Sie sind bestimmt alle im Haus und genießen ihre Mittagslabrung, während wir hier mit hungrigen Mägen herumstehen. Ich nehme die unausgesprochene Einladung an.« Er trat aus dem Wald und näherte sich den Lyssumreben. Colcho, Hasken, Vich, Thworn und die anderen folgten ihm. Jantiff blieb nachdenklich zurück. Plötzlich stieß Garrace einen Schrei aus, als der Boden unter seinen Füßen nachgab und er vor den Augen der anderen verschwand. Unsicher blieben sie stehen, dann schlichen sie vorsichtig weiter, um zu Garrace hinunterzustarren, der sich verzweifelt aus den Zweigen zu arbeiten versuchte, mit denen die Grube bedeckt gewesen war, und die nun völlig durchweicht waren. »Holt mich heraus!« brüllte er. »Steht nicht so herum und stiert mich an!« »Es besteht kein Grund, ausfallend zu werden«, tadelte Thworn. »Streck deine Hand hoch!« Er zog daran und zerrte Garrace wieder auf festen Boden. »So eine Gemeinheit!« rief Rehilmus. »Du hättest ernsthaft verletzt werden können.« »Abbekommen habe ich jedenfalls etwas«, brummte Garrace. »Ich stecke voll Dornen und stinke nach dem Abfall, den sie offenbar seit Jahren in die Grube schütten. Aber das hat mir noch lange nicht den Appetit auf die Trauben geraubt!« »Bitte, sei vorsichtig!« mahnte Maudel, ein weiteres der Mädchen. »Die Menschen hier sind offensichtlich recht unfreundlich.«
»Und das bin ich jetzt auch!« Garrace machte sich weiter auf den Weg zu den Lyssumreben, doch er tastete erst vorsichtig jeden Schritt vor sich ab. Nach kurzem Zögern folgten ihm die anderen. Etwa zwanzig Meter vor den Trauben stolperte er und wäre fast gefallen. Er blickte auf den Boden vor sich. »Ein Draht!« Zwei Männer, eine dicke Frau und zwei Kinder kamen aus dem Bauernhaus. Sie griffen nach Knüppeln, und einer der Jungen öffnete eine Klappe an der Seitenwand des Hauses. Vier schwarze Delpen von der Schnapperart kamen herausgeschossen. Wütend bellend und geifernd stürmten sie, gefolgt von den Menschen mit Knüppeln; auf die Foragers zu. Die machten sofort auf dem Absatz kehrt und ergriffen die Flucht, angeführt von Jantiff, der die Wiese noch kaum betreten hatte. Der langsamste des Trupps war der freundliche Colcho, der noch dazu das Mißgeschick hatte, zu fallen. Sofort waren die Delpen um ihn, aber die Bauersleute pfiffen sie zurück und hetzten sie den anderen Flüchtlingen nach, während sie selbst mit den Knüppeln über den armen Colcho herfielen und ihn verprügelten, bis es ihm endlich gelang, sich loszureißen. Schneller als je zuvor in seinem Leben rannte er und erreichte schließlich die relative Sicherheit des Waldes. Die Delpen sprangen Rehilmus und Ernaly an und hätten sie möglicherweise schlimm zugerichtet, wenn es Thworn und Jantiff nicht gelungen wäre, sie mit abgerissenen dürren Ästen zu vertreiben. Die Gruppe kehrte den Weg zurück, den sie gekommen war. Als sie die Gabelung erreichten, stellten sie fest, daß Colcho fehlte. Offenbar war er in eine
andere Richtung geflohen. Alle riefen: »Colcho! Colcho! Wo bist du?« Doch Colcho antwortete nicht. Aber keiner hatte rechte Lust, umzukehren und nach ihm zu suchen. »Er hätte bei der Gruppe bleiben sollen«, brummte Uwser. »Wie denn?« fragte Kedidah. »Die Bauern haben ihn verdroschen, er hatte Glück, daß er ihnen überhaupt entkommen konnte.« »Armer Colcho«, seufzte Maudel. »Armer Colcho?« rief Garrace wütend. »Und was ist mit mir? Ich bin zerschunden, ich wette, in meiner Haut stecken immer noch Dornen, und ich stinke von dem gräßlichen Zeug in der Abfallgrube. Ich muß wirklich etwas dagegen unternehmen.« »Dort unten ist ein Bach, geh dich einmal waschen«, schlug Thworn vor. »Dann fühlst du dich gleich viel besser.« »Bestimmt nicht, wenn ich dann wieder in das gleiche Gewand schlüpfen muß.« »Jantiff hat Sachen zum Wechseln mitgebracht. Du hast in etwa seine Größe, und ich bin sicher, daß er sie dir leihen wird. Das tun Sie doch, Jantiff, oder? Im Altrosa ist es einer für alle und alle für einen!« Nur widerwillig rückte Jantiff mit seinen Sachen heraus, und Garrace verschwand damit, um im Bach zu baden. Kedidah wandte sich an Thworn. »Was jetzt? Hast du auch nur die geringste Ahnung, wo wir sind?« »Natürlich. Wir nehmen nun die linke statt der rechten Abzweigung. Es war mir nur entfallen, aber jetzt kenne ich mich wieder aus.« Verärgert stöhnte Rehilmus: »Jetzt wäre es aber Zeit für Wump. Ich bin wirklich am Verhungern und kann keinen weiteren Schritt mehr machen.«
»Wir haben alle Hunger«, brummte Hasken. »Da bist du nicht allein.« »O doch!« widersprach Rehilmus. »Niemand kann so hungrig sein wie ich, denn ohne etwas zu essen bin ich zu absolut nichts fähig.« »Oh, zum Teufel!« fluchte Thworn wütend. »Jantiff, geben Sie ihr ein Stück Atz, damit sie uns nicht zusammenklappt.« »Ich habe auch Hunger!« jammerte Ernaly. »Mach nicht so ein Gesicht, ich teile den Atz mit dir«, versprach ihr Rehilmus. Jantiff holte seine vier Laibe Atz heraus und legte sie auf einen Baumstumpf. »Das ist alles, was ich habe. Verteilt sie, wie ihr wollt.« Rehilmus und Ernaly nahmen sich je einen Laib; Thworn und Uwser teilten sich den dritten, Kedidah und Sunover den vierten. Garrace kehrte von seinem Bad im Bach zurück. »Fühlst du dich jetzt besser?« fragte ihn Rehilmus bester Laune. »Ein wenig schon, aber ich wollte, Jantiffs Sachen wären eine Nummer größer. Doch jedenfalls ist es angenehmer als in dem stinkigen Zeug.« Er hielt es in sichtlichem Ekel in Armlängen von sich. »Ich nehme es nicht mit. Am besten, ich lasse es gleich hier.« »Du wirst doch nicht die guten Sachen einfach wegwerfen!« rügte Thworn. »Jantiff hat noch genügend Platz in seinem Rucksack. Steck alles hinein.« »Das wäre natürlich eine gute Lösung«, sagte Garrace erfreut. Er drehte sich zu Jantiff um. »Macht es Ihnen auch nichts aus?« »Nein«, erwiderte Jantiff düster und nicht gerade wahrheitsgetreu.
Thworn stand auf. »Alle ausgeruht? Also, dann brechen wir wieder auf.« Die Foragers machten sich auf den Weg, mit Thworn wieder als Führer voraus. Plötzlich hob er die Faust, das Zeichen der Begeisterung, und drehte sich zu den anderen um. »Das ist der richtige Pfad! Ich kenne die Felsblöcke dort. Labrung voraus! Ich rieche sie bis hierher!« »Wie weit noch?« fragte Rehilmus. »Ich muß gestehen, mir tun meine Füße verdammt weh.« »Geduld, Geduld. Ein paar Kilometer nur, über den Kamm dort. Das ist mein geheimes Plätzchen. Ich muß euch deshalb ersuchen zu schwören, daß niemand ihn verrät.« »Aber gern, was immer du verlangst. Hauptsache, du führst uns zu Labrung.« »Also, dann kommt schon! Nicht so lahmarschig!« Von Hoffnung beschwingt, zog die Gruppe weiter. Sie sangen sogar ein paar fröhliche Lieder über legendäre Forages, üppige Labrung und kühlen Most. Die Gegend wurde freundlicher, als sie den Hang emporstiegen. Vom Kamm aus hatten sie eine herrliche Aussicht nach Süden: weite Wälder lagen unter ihnen, durch die sich ein breiter Fluß wand, und darüber erstreckte sich ein ungewöhnlicher Himmel von tiefem Violett am Horizont, perlweiß und mit hellen, grauen und schwarzen Wolken gesprenkelt, wo er ihnen näher war. Jantiff blieb stehen, um sich dieses Bild einzuprägen. Er griff sogar nach dem Zeichenblock, um eine flüchtige Skizze zu machen, doch als seine Finger dabei mit Garraces feuchten Sachen in Berührung kamen, gab er den Gedanken auf. Die anderen waren inzwischen schon weiter ge-
gangen. Jantiff beeilte sich, sie wieder einzuholen. Als sie den Hang hinunterstiegen, drängten die Bäume sich immer enger an den Pfad. Thworn drehte sich um und warnte alle: »Von jetzt an absolute Stille und Vorsicht. Ich möchte keinen Laut mehr von euch hören.« Sunover, die an ihm vorbeispähte, brummte: »Ich sehe überhaupt nichts Ungewöhnliches. Bist du sicher, daß wir auf dem richtigen Weg sind?« »Absolut sicher. Wir befinden uns bereits am Rand des Pamatratals, wo die besten Zitroquats wachsen und es im Fluß nur so von Flachfischen wimmelt, die gekocht einfach himmlisch schmecken. Das ist natürlich ein wenig weiter südlich, aber die ersten Farmen liegen direkt unter uns, deshalb die Vorsicht. Jantiff, was in aller Welt beäugen Sie denn da schon wieder wie ein Mondkalb?« »Nichts besonderes, nur die Flechten auf diesem alten Baumstamm. Schauen Sie, wie herrlich sich das Orange von dem Schwarz und Braun abhebt!« »Ja, hübsch und malerisch, aber wir dürfen keine Zeit mit poetischer Verzückung verschwenden. Also, weiter! Aber vorsichtig!« Die Foragers bewegten sich in absolutem Schweigen: einen Kilometer, zwei Kilometer. Wieder wurde Rehilmus unruhig und wollte offensichtlich zu jammern beginnen, aber Thworn bedeutete ihr wütend, sich zusammenzureißen. Kurz darauf ließ er die Gruppe anhalten. »Schaut dort hinunter, aber laßt euch ja nicht sehen!« »Seid auf der Hut!« mahnte Uwser. »Paßt auf Stolperdrähte, Gruben, elektrische Zäune und dergleichen auf.«
Als auch Jantiff durch die Bäume spähte, sah er ein weiteres Gehöft, das sich nicht sehr vom ersten unterschied, auf das sie gestoßen waren. Thworn, Garrace, Uwser und die anderen besprachen sich und deuteten hierhin und dorthin. Dann bewaffneten sich alle mit dicken Ästen als Prügel, nur für den Fall, daß man wieder Delpen auf sie hetzte. Thworn sagte: »Wir werden dort hinuntersteigen, wo vermutlich am wenigsten Stolperdrähte zu erwarten sind. Dann lauft zum Hühnerhaus hinter dem Hauptgebäude. So, und jetzt duckt euch und haltet euch dicht am Boden. Viel Glück und gute Labrung!« Er duckte sich zu fast seiner halben Größe und rannte in seltsam schaukelndem Gang dahin. Die anderen folgten. Wie zuvor war Garrace der Verwegenste. Er schlich in den Gemüsegarten, riß Karotten aus und stopfte sie sich gleichzeitig in Mund und Taschen. Woble, Vich und Sunover beschäftigten sich bei den Faßbeerbüschen, aber die waren sichtlich erst vor kurzem abgeerntet und nur wenige Beeren dabei übersehen worden. Thworn machte sich geradewegs zum Hühnerhof auf. Irgendeiner rannte gegen einen Stolperdraht. Eine Glocke schepperte auf dem Hausdach, und sofort wurde die Haustür aufgerissen und ein alter Mann, eine alte Frau und ein kleiner Junge stürmten heraus. Der Alte hob einen Stock auf und griff Garrace, Maudel und Hasken an, die in seinen Rettichbeeten standen. Sie warfen ihn zu Boden und gleich danach die Frau. Der Junge rannte ins Haus zurück und kam mit einem Beil wieder. Mit funkelnden Augen stürzte er sich auf die Foragers. Thworn brüllte: »Alle fort von hier! Sofort!«
Die drei im Gemüsegarten rissen schnell noch ein paar Rettiche und Karotten aus, ehe sie den Weg zurückkehrten, den sie gekommen waren. Thworn und Uwser zeigten triumphierend ein Paar ziemlich magere Hennen, deren Hälse sie bereits umgedreht hatten. Der Trupp blieb keuchend am Hang stehen. »Wir hätten nicht gleich davonlaufen sollen«, sagte Rehilmus. »Ich sah ein Prachtstück von Melone.« »Nicht mit dieser scheppernden Alarmglocke! Seien wir froh, daß wir mit heiler Haut und ein wenig Labrung davongekommen sind, ehe Verstärkung eintrifft. Folgt mir! Hier entlang.« Auf einer Lichtung neben einem Bach hielt die Gruppe an. Thworn und Uwser rupften die Hennen und nahmen sie aus, während Garrace Feuer machte. Dann spießten sie die Hühner auf und drehten sie über dem Feuer. Kedidah blickte sich um. »Wo ist Jantiff?« Niemand schien sonderlich interessiert zu sein. »Offenbar hat er sich verirrt«, meinte Rehilmus. Garrace blickte den Weg zurück. »Nirgends zu sehen. Vermutlich ist er irgendwo dort unten und himmelt einen alten Baumstumpf an.« »Um so besser, dann haben wir mehr zu essen«, sagte Thworn. Die Forager begannen ihr opulentes Mahl. »Ah! Das schmeckt großartig!« Garrace wischte sich die Lippen ab. »Das sollten wir öfter machen.« »Ja«, seufzte Rehilmus zufrieden. »Wirf mir ein paar gelbe Rüben her, sie schmecken wunderbar.« »Selbst der Connat speist nicht besser!« meinte Sunover.
»Nur schade, daß wir nicht mehr haben.« Wieder seufzte Rehilmus. »Ich könnte stundenlang ohne aufzuhören essen.« Thworn erhob sich nur widerwillig. »Wir machen uns besser auf den Rückweg. Es ist eine ziemlich große Strecke über die Berge.«
5 Am nächsten Morgen, als Kedidah den Speisesaal betrat, entdeckte sie Jantiff, der allein in einer Ecke saß. Sie marschierte quer durch den Raum und ließ sich neben ihn auf einen Stuhl fallen. »Was war los mit dir, gestern? Du hast den ganzen Spaß versäumt.« »Möglich. Aber ich stellte fest, daß ich keinen Hunger hatte.« »Ah, komm schon, Jantiff! Du kannst mir nichts weismachen. Du bist verärgert und schmollst.« »Nein, nicht wirklich. Es liegt mir nur nicht, von anderen zu stehlen.« »So ein Unsinn!« sagte Kedidah ein wenig von oben herab. »Diese Farmer haben mehr als genug, warum sollen sie nicht ein bißchen mit uns teilen?« »Bei drei Milliarden Menschen bliebe wohl kaum etwas zum Teilen.« »Vielleicht nicht.« Sie griff nach seiner Hand. »Ich muß sagen, du hast dich gestern verdammt anständig benommen. Das gefiel mir.« Jantiff errötete. »Ist das wahr?« »Natürlich.« »Ich – ich habe nachgedacht«, sagte Jantiff stokkend. »Worüber?« »Der alte Mann in deiner Wohnung... Wie heißt er doch?« »Sarp.« »Ja. Ich frage mich, ob er nicht vielleicht das Apartment mit mir tauschen würde. Dann könnten wir zwei ständig beisammen sein.«
Kedidah lachte. »Der alte Sarp denkt gar nicht daran auszuziehen. Und außerdem macht es gar keinen Spaß, wenn Liebespaare ständig beisammenwohnen und auch die schlechten Launen des anderen erdulden müssen. Stimmt das nicht?« »Oh, ich weiß nicht. Wenn man jemanden mag, möchte man soviel wie möglich mit ihm oder ihr zusammensein.« »Nun, ich mag dich und ich werde so oft wie möglich mit dir zusammensein.« »Aber das ist nicht genug!« »Du darfst nicht vergessen, daß ich schließlich auch noch andere Freunde habe, und sie alle möchten, daß ich mich auch ihnen widme.« Jantiff wollte etwas sagen, aber dann hielt er es doch für besser, seinen Mund zu halten. Kedidah griff nach seiner Skizzenmappe. »Was hast du denn da? Bilder? Oh, bitte, darf ich sie mir ansehen?« »Ja, natürlich.« Kedidah betrachtete die Zeichnungen. »Jantiff, wie aufregend!« rief sie erfreut. »Ich erkenne dieses Bild. Es ist unsere Foraging-Gruppe auf dem Weg. Das ist Thworn, und hier ist Garrace und – das bin ich! Jantiff! Sehe ich wirklich so aus? So steif und bleich und erschrocken, als hätte ich ein Gespenst gesehen? Oh, antworte lieber nicht, es würde mich nur kränken. Wenn du nur ein hübsches Bild von mir malen würdest! Eines, das ich an die Wand hängen könnte.« Sie legte die Skizze zurück und griff nach der nächsten. »Sunover – Uwser – Rehilmus – wir alle! Und das ganz am Ende – das bist du!« Skorlet und Esteban kamen in den Speisesaal, und mit ihnen der kleine, ständig seine Laune wechselnde
Kobold – ihre Tochter Tanzel. Kedidah rief ihnen zu: »Kommen Sie her und schauen Sie sich Jantiffs großartige Bilder an! Hier ist unser Foraging-Trupp auf dem Waldweg! Es sieht so täuschend natürlich aus, daß man meint, man könnte das Harz riechen!« Esteban betrachtete die Skizze mit einem nachsichtigen Lächeln. »Sie scheinen nicht gerade unter der Labrung zusammengebrochen zu sein.« »Wie wäre das auch möglich! Das ist am Morgen, und wir sind auf dem Bild erst auf dem Weg in den Süden. Und glauben Sie nicht, daß wir nichts ergattert haben. Wir speisten hervorragend, wir alle! Brathühner, Salat aus frischen Gemüsen, massenhaft Obst – es war alles einfach köstlich!« »Oh!« rief Tanzel. »Ich wollte, ich wäre dabei gewesen.« »Keine Übertreibung, bitte«, sagte Esteban. »Ich war selbst auch schon mehrmals auf Forage.« »Kommen Sie doch das nächstemal mit«, forderte Kedidah ihn würdevoll auf, »und überzeugen Sie sich selbst, was wir alles an Labrung finden.« »Da fällt mir ein«, sagte Jantiff nachdenklich, »ist Colcho eigentlich nach Hause gekommen?« Keiner machte sich die Mühe zu antworten. »Ich bin so scharf auf Labrung wie jeder andere auch«, sagte Esteban, »aber ich halte es für einfacher, Scheiben dafür zu geben und die Zigeuner das Ganze arrangieren zu lassen. Ich plane übrigens gerade so etwas. Machen Sie doch mit, wenn Sie Lust haben. Natürlich müssen Sie Ihren Anteil bezahlen.« »Wieviel? Es klingt interessant!« »Fünfhundert Scheiben, inklusive den Flug ins Schreckensland.«
Kedidah zupfte sichtlich erschrocken an ihren goldbraunen Ohrpuffs. »Halten Sie mich vielleicht für einen Unternehmer? Woher sollte ich eine solche Summe nehmen?« »Ich habe auch keine fünfhundert Scheiben«, sagte Tanzel traurig. Skorlet warf einen scharfen Blick auf Esteban, dann auf Jantiff. »Keine Angst, Kleines. Du darfst natürlich mit.« Esteban achtete nicht auf sie. Er blätterte durch Jantiffs Skizzen. »Sehr gut... Etwas zu viele Gesichter auf diesem... Ah, hier kenne ich jemanden!« Kedidah schaute auf. »Das bin ich, und das ist Sarp in unserem Wohnzimmer. Jantiff, wann hast du denn das gezeichnet?« »Vor ein paar Tagen. Oh, Skorlet, würden Sie mit Kedidah das Apartment tauschen?« »Weshalb, in aller Welt?« rief Skorlet leicht amüsiert. »Ich möchte gern mit ihr zusammenwohnen.« »Und ich sollte die Wohnung mit diesem ständig vor sich hin murmelnden verrückten Alten teilen? Kommt gar nicht in Frage!« »Man soll nie mit jemandem zusammenleben, den man mag. Wenn die erste Zeit der jungen Liebe vorbei ist, fällt man sich nur auf die Nerven!« sagte Esteban wohlmeinend. »Es wäre nicht vernünftig, zu oft mit der gleichen Person zu kopulieren«, warf Kedidah ein. »Ich persönlich halte nichts von Kopulation«, sagte Tanzel. »Ich finde sie langweilig.« Esteban betrachtete eine weitere Skizze. »Nanu, wen haben wir denn hier?«
Tanzel streckte aufgeregt den Finger aus. »Das bist ja du, und das ist Skorlet und das der alte Sarp. Aber den breitschultrigen Mann kenne ich nicht.« Esteban lachte. »Nun, so ganz trifft es wohl nicht zu. Ich sehe zwar eine Ähnlichkeit, aber nur, weil Jantiff alle Gesichter mit dem völlig gleichen Ausdruck zeichnet.« »Durchaus nicht«, widersprach Jantiff. »Ein Gesicht ist das Symbol – das graphische Abbild – einer Persönlichkeit. Überlegen Sie doch! Geschriebenes gibt das gesprochene Wort wieder. Abgebildete Züge zeigen die Persönlichkeit. Ich zeichne Gesichter gewöhnlich entspannt, um ihre Aussage richtig zu treffen.« »Das ist mir zu hoch.« Esteban seufzte. »Aber nein. Denken Sie einmal nach! Ich zeichne beispielsweise zwei Männer, die über einen Witz lachen. Der eine ist ein unangenehmer Zeitgenosse, der andere freundlich und gutmütig. Wenn die Züge ruhen, zeigt sich die Persönlichkeit.« Esteban hob eine Hand. »Genug! Ich erkläre mich geschlagen. Aber ich bin der letzte, der abstreitet, daß Sie eine großartige Begabung für so etwas haben.« »Das ist nicht nur Begabung«, sagte Jantiff, »ich arbeitete auch Jahre lang daran, so weit zu kommen.« Tanzel sagte altklug: »Ist es nicht Elitarismus, wenn jemand versucht, etwas besser zu machen als jeder andere?« »Theoretisch, ja«, erwiderte Skorlet, »aber Jantiff ist ein Altrosaer und ganz sicher kein Elitarist.« Esteban lachte. »Wißt ihr noch weitere Verbrechen, die wir auf Jantiffs Haupt häufen können?« Tanzel überlegte kurz. »Er ist ein Monopolist, der
seine Zeit hortet, statt sie mit mir zu verbringen, dabei mag ich ihn so sehr.« Skorlet rümpfte die Nase. »Jantiffs Zurückhaltung ist in Wirklichkeit durchtriebene Sexivation, die sogar schon die arme Tanzel anzieht.« »Er ist auch ein Ausbeuter, denn er will Kedidah allein für sich beanspruchen.« Jantiff öffnete den Mund, um sich empört zur Wehr zu setzen, aber er fand keine Worte. Kedidah tätschelte ihn auf die Schulter. »Mach dir keine Gedanken, Tanzel, ich mag ihn auch, und heute kann er mich ganz für sich beanspruchen, wenn es ihm Spaß macht, denn ich will zu den Spielen gehen und ihn mitnehmen.« »Sie interessieren mich auch«, gestand Esteban. »Dieser große neue Schunk kämpft gegen den schekkigen Wewark. Beides sind furchterregende Bestien.« »Möglich. Aber ich bin verrückt nach Kizzo im zweiten Spiel. Er reitet auf dem blauen Jamouli, und er ist so schrecklich galant, daß ich ihn einfach anhimmeln muß.« Esteban hob die Brauen. »Er ist für meinen Geschmack zu aufdringlich mit seinen übertrieben guten Manieren. Auch sein Kniestil gefällt mir nicht. Aber zugegeben, er ist tapfer wie sonst keiner, und verglichen mit ihm sind der arme Lamar und Kelchaff Transusen.« »Oje«, seufzte Skorlet. »Ich bin zum Placken eingeteilt und kann leider nicht mitkommen.« »Es ist ohnehin besser, du sparst deine Scheiben für die Zigeuner auf«, sagte Esteban. »Das heißt, wenn du überhaupt Lust hast, am Fest teilzunehmen.« »Hm. Ich muß an meinen Kugeln arbeiten. Wenn
ich nur wüßte, woher ich weitere Farbe bekommen könnte.« Sie blickte Jantiff nachdenklich an. Hastig sagte er: »Ich kann beim besten Willen nicht mehr entbehren. Ich habe nur noch sehr wenig von allem.« »Was ist mit Ihnen?« fragte Esteban Jantiff. »Machen Sie bei dem Labrungsfest mit?« Jantiff zögerte. »Ich war erst beim Foraging, und ich bin mir nicht sicher, ob es mir viel Spaß machen würde.« »Mein lieber Junge, das ist durchaus nicht das gleiche! Haben Sie Ozol?« »Ein paar. Gut verwahrt, natürlich.« »Dann können Sie sich das Labrungsfest doch leisten. Ich reserviere einen Platz für Sie.« »Oh – nun ja. Wo und wann soll dieses Fest denn stattfinden?« »Wann? Sobald ich die nötigen Vorbereitungen getroffen habe. Alles muß genau geplant sein. Und wo? Draußen in den Schreckenslanden, wo wir auch die Landschaft genießen können. Ich habe mich mit dem Unternehmer Shubart befreundet. Er stellt uns seinen Luftwagen zur Verfügung.« Jantiff lachte spöttisch. »Wer ist denn nun der Ausbeuter, der Monopolist, der elitäre Kapitalist und alles andere. Wo bleibt da die Egalität?« Esteban erwiderte höflich, aber leicht gereizt: »Egalität ist gut und schön, und ich bin auch dafür. Aber weshalb die Wahrheit verleugnen? Jeder möchte das Beste aus seinem Leben machen. Wenn ich die Chance hätte, würde ich Unternehmer werden. Vielleicht schaffe ich es sogar noch.« »Sie haben sich die falsche Zeit ausgesucht«, warf Kedidah ein. »Haben Sie die Konzept gelesen? Die
Wisperer sind der Ansicht, daß die Unternehmer zuviel kosten und daß Änderungen unbedingt erforderlich sind. Vielleicht wird es bald keine Unternehmer mehr geben.« »Lächerlich!« rief Skorlet abfällig. »Wer würde dann die Arbeit machen?« »Keine Ahnung.« Kedidah zuckte die Achseln. »Ich bin weder Wisperer noch Unternehmer.« »Ich frage meinen Freund Shubart«, sagte Esteban. »Er ist bestimmt informiert.« »Ich verstehe nicht!« sagte Tanzel kläglich. »Ich dachte immer, Unternehmer seien ausschließlich dumme Fremde, vulgär und gemein, und nur dazu gut, die unangenehme Arbeit für uns zu tun. Und so jemand möchtest du sein?« Esteban lachte. »Ich wäre ein sehr netter Unternehmer, so höflich und klug wie jetzt auch.« Kedidah sprang auf. »Komm, Jantiff! Wir müssen gehen, wenn wir noch gute Plätze bekommen wollen. Und nimm ein paar Scheiben mehr mit, in dieser Woche bin ich völlig abgebrannt.« Am Spätnachmittag kehrte Jantiff über den Disselbergfluß zurück. Der Schunk-Wettkampf* hatte alle seine Erwartungen übertroffen. In seinem Kopf wirbelte es noch von all dem Erlebten. Die Menschenmenge, sogar schon lange vor dem Beginn der Spiele, war ungeheuerlich gewesen. Alle Menschenflüsse waren überfüllt. Jantiff hatte die erwartungsvollen Gesichter bemerkt, die feuchtglänzenden Augen, die vor Aufregung zitternden Lippen, *
Eine sehr schwache Übersetzung des arrabinischen Wortes, das etwa soviel wie »Gegenüberstellung schicksalhaften Ruhmes« bedeutet.
wenn sie sich unterhielten oder lachten. Das waren nicht dieselben Menschen, die sonst gelassen auf dem Uncibalstrom promenierten! Das Stadion war von gewaltigen Ausmaßen. Galerie um Galerie. Reihe um Reihe, mit Sitz an Sitz hob es sich in ungeheuerliche Höhe, daß es ringsum schier den Himmel verbarg und die obersten Zuschauer nur als verschwommenes Ganzes zu erkennen waren. Das Flüstern der Stimmen klang wie das Summen Tausender von Bienenschwärmen, das je nach der durch den Spielstand hervorgerufenen Aufregung an Lautstärke wuchs oder leiser wurde. Jantiff fand die Feierlichkeiten, die dem Spielbeginn vorhergingen, recht langweilig, und er hätte darauf verzichten können: eine ganze Stunde lang marschierten die Mitglieder der Musikkapellen in ihren purpurfarbenen und braunen Uniformen zur Begleitung von Blashörnern, dumpfen Baßresonatoren und riesigen Tschinellen durch das Stadion. Endlich schwangen acht Tore auf; acht Männer, aufrecht und mit feierlichen Mienen, fuhren auf motorbetriebenen Podesten heraus. Rund um das Stadion rollten diese Plattformen auf ihren luftgefüllten Rädern, und die Männer darauf blickten unbewegt immer geradeaus, als hingen sie nur ihren eigenen, schicksalsschweren Gedanken nach und es gäbe die Zuschauer überhaupt nicht, und genauso verschwanden sie nach der Umrundung auch wieder durch die acht Tore. Das Summen der Stimmen hob und senkte sich mit der Gefühlsbewegung einer Menschenmasse aus einer halben Million Köpfe. Jantiff fragte sich, welches psychologische Gesetz wohl für ein solches Phänomen galt.
Abrupt, einem Einfluß gehorchend, den Jantiff weder sehen noch hören konnte, verstummte das Summen, und eine atemberaubende Stille senkte sich über das Stadion. Die Ost- und Westtore glitten zur Seite. Aus jedem der beiden Tore torkelte ein Schunk. Ein wütendes Brummen drang aus ihrer Kehle, sie trampelten heftig auf den Grasboden, dann bäumten sie sich neun Meter hoch auf, als wollten sie die unbewegten, stummen Reiter abwerfen, die auf ihren Schultern standen. Und so begann das Turnier. Die riesigen Schunk stürmten aufeinander zu und stießen mit unvorstellbarer Wucht zusammen. Die Haltung ihrer Reiter war einfach unglaublich, obgleich Jantiff es doch mit eigenen Augen sah. Immer wieder wichen sie elegant den riesigen Pranken des gegnerischen Schunks aus, und wenn ihr eigener zu Boden ging, sprangen sie ab, bis er sich erhob, dann kletterten sie scheinbar mühelos wieder auf seine Schultern. Jantiff staunte nur so. »Es ist ein wahres Wunder, daß ihnen nichts passiert!« wandte er sich an Kedidah. »Oh, manchmal finden zwei oder gar drei bei den Kämpfen den Tod. Heute haben sie eben Glück.« Jantiff schüttelte leicht den Kopf und warf dem Mädchen einen kurzen Seitenblick zu. Galt der bedauernde Ton ihrer Stimme den zermalmten Reitern oder der Tatsache, daß heute noch keinem etwas zugestoßen war? »Sie trainieren viele Jahre«, erklärte Kedidah, als sie das Stadion verließen. »Sie leben mit den Tieren zusammen, ertragen ihren Gestank und den Krach, den sie machen, und dulden ihre Berührung. Dann kom-
men sie mit ihnen nach Arrabus und erhoffen sich, an zehn Wettkämpfen teilnehmen und sie überleben zu können, um dann mit dem Vermögen, das sie sich dadurch errungen haben, nach Zumer zurückzukehren.« Danach schwieg Kedidah und wirkte geistesabwesend. Als sie sich dem Nebenfluß näherten, der in den Disselberg mündete, sagte sie abrupt: »Hier verlasse ich dich, Janty. Ich habe eine Verabredung, die ich unbedingt einhalten muß.« »Ich dachte, wir könnten den Abend gemeinsam verbringen, in deinem Apartment vielleicht...«, murmelte Jantiff enttäuscht. Kedidah schüttelte lächelnd den Kopf. »Unmöglich, Janty. Entschuldige mich bitte, ich muß mich beeilen.« »Aber ich wollte mich doch über meinen Einzug bei dir unterhalten.« »Nein, nein, nein! Schlag dir das aus dem Kopf! Ich sehe dich morgen zum Frühstück im Speisesaal.« Zutiefst gekränkt kehrte Jantiff ins Altrosa zurück. Seine Stimmung besserte sich nicht, als er sah, daß Skorlet ihre Kultkugeln mit den letzten Resten seiner blauen, schwarzen, dunkelgrünen und braunen Ölfarben betupfte. Jantiff starrte sie wie vor den Kopf geschlagen an. »Was erlauben Sie sich eigentlich! Also wirklich, Skorlet! Das ist eine Unverschämtheit sondergleichen!« Skorlet warf ihm einen Blick zu, aus dem er eine Verzweiflung las, wie sie ihm noch nie zuvor bei ihr aufgefallen war. Sie wandte sich wortlos wieder ihrer Arbeit zu. Dann nach kurzer Weile, als sie die Spra-
che wiedergefunden hatte, knirschte sie zwischen den Zähnen: »Es ist nicht fair, daß Sie alles haben und ich nichts.« »Aber was habe ich denn schon?« heulte Jantiff fast. »Ich habe nichts! Sie haben mir ja alles weggenommen! Mein ganzes Braun, Schwarz, Grün und Blau! Mir bleiben nur noch ein paar Rottöne, Orange, Ocker und Gelb – nein, mein Gelb haben Sie mir auch weggenommen!« »Hören Sie mir zu, Jantiff. Ich brauche Scheiben, um Tanzel zum Labrungsfest mitnehmen zu können. Sie ist überhaupt noch nicht herumgekommen, hat nichts außer der Stadt gesehen und noch nie in ihrem ganzen Leben Labrung auch nur gekostet. Es stört mich nicht, daß ich deswegen alle Ihre Farben benutzen mußte. Sie sind so reich und können immer wieder Ersatz dafür bekommen, und ich muß einfach diese verdammten Kultkugeln fertig bekommen.« »Weshalb bezahlt Esteban denn nicht für Tanzel? Ihm scheint es nie an Scheiben zu mangeln.« Skorlet lachte bitter. »Esteban ist viel zu egoistisch, als daß er auch nur eine Scheibe für einen anderen ausgeben würde. Er hätte wirklich irgendwo in den Schlechtwelten leben sollen, wo er ein Kapitalist sein könnte und ein Ausbeuter. Ganz sicher ist er kein Egalist. Sie können sich ja gar nicht vorstellen, welche wilden Pläne ihm im Kopf umgehen!« Überrascht von Skorlets Heftigkeit ließ Jantiff sich in seinen Sessel fallen. Die Frau betupfte weiter ihre seltsamen Kugeln. Wütend knurrte Jantiff: »Wozu sind diese Dinger überhaupt gut, an die Sie meine kostbaren Farben verschwenden?« »Wozu sie gut sind? Das weiß ich selbst nicht. Ich
bringe sie zum Disjerferact, dort zahlt man mir gute Scheiben dafür. Das ist alles, was mich interessiert. Und jetzt brauche ich noch ein wenig Orange – Jantiff, es nutzt Ihnen nichts, ein solches Gesicht zu machen!« »Hier nehmen Sie, was ich noch habe. Aber das ist das letzte Mal! Von jetzt an werde ich alles einsperren!« »Jantiff, Sie sind sehr kleinlich!« »Und Sie sehr großzügig – mit anderer Leute Eigentum!« »Hüten Sie Ihre Zunge, Jantiff! Sie haben kein Recht, mich zu beleidigen! So, und jetzt schalten Sie bitte den Schirm ein. Die Wisperer halten eine wichtige Ansprache, die ich mir anhören möchte.« »Pah!« brummte Jantiff abfällig. »Ist ja doch immer das gleiche.« Trotzdem, auf Skorlets durchdringenden Blick hin, erhob er sich und tat wie geheißen. Jantiff schrieb nach Hause: Meine Lieben, zuerst meine unvermeidliche Bitte. Ich möchte ja wirklich nicht lästig werden, aber die Umstände hier sind gegen mich. Bitte schickt mir ein weiteres Sortiment an Öl- und Wasserfarben, diesmal doppelt soviel. Sie sind hier nicht zu bekommen, genausowenig wie sonst etwas. Trotzdem geht das Leben weiter. Das Essen ist natürlich absolut eintönig, jeder ist geradezu versessen auf »Labrung«. Ein paar Freunde planen ein »Zigeunerbankett«, was immer das auch ist. Man hat mich dazu eingeladen, und ich werde vermutlich teilnehmen, schon deshalb, um wenigstens ein paar Stunden nichts von Atz und Söff zu wissen.
Ich fürchte, ich entwickle eine gespaltene Persönlichkeit. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht in einem Traumland lebe, wo weiß schwarz ist, aber schwarz nicht weiß, denn das wäre zu einfach, sondern etwas absolut Absurdes wie, sagen wir, zehn tote Hundshaie oder der Geruch von Levkojen. Dabei war Arrabus einmal eine völlig normale industrialisierte Nation. Ist das der unabwendbare Ablauf? Die Gedanken folgen einander mit erschreckender Logik. Das Leben ist kurz, weshalb also auch nur eine Sekunde mit undankbarer Plackerei verschwenden? Dafür gibt es die Technologie! Sie muß verbessert und weiter ausgebreitet werden, um die Plakkerei abzuschaffen oder wenigstens auf ein Minimum zu reduzieren. Laßt die Maschinen arbeiten! Das süße Nichtstun, ein Leben nur zum Vergnügen, das ist das Ziel! Schön und gut, wenn die Maschinen tatsächlich alles allein tun könnten. Aber sie schaffen es nicht, sich selbst instand zu halten und zu reparieren, und es gibt noch vieles, das eine Maschine eben nicht tun kann. Also muß jeder Arrabiner placken: saure dreizehn Stunden jede Woche! Dann sind die Maschinen so gemein und gehen kaputt! Was bedeutet, daß Vertragsfirmen aus Blale und Froke und anderen Orten hinter den Schrekkenslanden eingespannt werden müssen. Unnötig zu sagen, daß sie gutes Geld für ihre Dienste verlangen. Wenn ich mich nicht täusche, verschlingt das das Gesamteinkommen des arrabinischen Staates. Natürlich würde es die Kosten ungemein senken, würden Techniker und Mechaniker aus den Reihen der Arrabiner ausgebildet. Aber für die Egalisten bedeutet Spezialisierung der erste Schritt zum Elitarismus. Zweifellos haben sie recht. Doch niemand bedenkt auch nur, daß die Unternehmer Elitaristen reinsten Wassers sind. Sie werden
stinkreich durch ihre Ausbeutung der Arrabiner – das heißt, wenn Ausbeutung das richtige Wort wäre. Ich schrieb: »Niemand bedenkt auch nur...« Doch das stimmt nicht ganz. Vor ein paar Tagen hörte ich eine öffentliche Ansprache der Wisperer. Ich machte ein paar Skizzen vor dem Schirm von ihnen, eine davon lege ich bei. Die Wisperer werden durch einen rein willkürlichen Prozeß ausgewählt. Auf jeder Etage jedes Blockes wird einer durch das Los zum Monitor bestimmt. Die dreiundzwanzig Monitoren wählen, ebenfalls durch Auslosung, einen Blockleiter. Von den Blockleitern jedes Bezirks wird dann ein Abgeordneter gewählt, natürlich ebenfalls durch das Los. Jede der vier großen Stadtsektionen – Uncibal, Propunce, Waunisse und Serce – wird durch seinen Abgeordneten-Ausschuß vertreten. Durch das Los wird aus jeder dieser Sektionen ein Wisperer ernannt. Von diesen Wisperern erwartet man, daß sie ihre Autorität auf behutsame, egalistische Weise ausüben, deshalb auch der Titel »Wisperer«, der sich aus einer scherzhaften Bemerkung entwickelte, wie ich hörte. Nun, auf jeden Fall traten die Wisperer im Fernsehen auf. Sie wählten unverfängliche Worte und huldigten pflichtgemäß der Idee des Egalitarismus. Aber es klang nicht sehr überzeugend, und ihre Rede wirkte durchaus nicht optimistisch. Selbst ich verstand die Andeutungen, dabei sind meine Ohren in dieser Hinsicht bei weitem nicht so scharf wie die der Arrabiner. Die Wisperin Fausgard las Statistiken vor, ohne jeglichen Kommentar, aber jeder begriff, daß das wirtschaftliche Gefüge beängstigend schwankt, daß der Ausfall lebenswichtiger Maschinen alle Reparaturmöglichkeiten übersteigt und eine Neuanschaffung finanziell undenkbar ist. Jeder konnte daraus seine eigenen Schlüsse ziehen. Die Wisperer ga-
ben bekannt, daß sie beabsichtigten, in Kürze den Connat in Lusz zu besuchen, um ihm die Situation darzulegen. Das waren natürlich Dinge, die die Arrabiner gar nicht gern vernahmen und automatisch ablehnten. Ich habe inzwischen schon gehört, daß man den Wisperern unterschiebt, sie wollen nur nach Numenes fliegen, um sich dort ein paar gute Tage zu machen, was ja im Grund genommen verständlich wäre, denn die Wisperer leben in den gleichen Apartments und ernähren sich von demselben Atz, Söff und Wabbli wie alle anderen auch, nur daß sie nicht zum Placken eingeteilt werden. Während des Jahrhundertfests beabsichtigen sie eine weitere Ansprache zu halten. Vermutlich erklären sie dann, daß keine Firmen mehr unter Vertrag genommen werden. Das stört die Arrabiner an und für sich nicht im geringsten, denn sie wissen, daß die Unternehmer ein luxuriöses Leben auf ihren hochherrschaftlichen Landsitzen führen, und sie betrachten sie, insgeheim voll Neid, als Elitaristen. Noch ein paar interessante, aber weniger wichtige Dinge, die ich herausgefunden habe: Blale, am Südrand der »Schreckenslande«, wird von einer äquatorialen Strömung erwärmt und ist deshalb bei weitem nicht so kalt, wie seine nördliche Lage annehmen läßt. Man darf nicht vergessen, daß Wyst eine sehr kleine Welt ist. Die Leute, die westlich von Blale in Froke wohnen, nennt man Froken. Nomaden durchstreifen die Wälder der Schreckenslande. Manche bezeichnet man als »Zigeuner«, andere als »Hexen«. Weshalb, konnte ich bisher nicht ergründen. Die Zigeuner sind den Arrabinern geographisch näher als die Hexen. Sie veranstalten – zu einem hohen Preis natürlich – Labrungsfeste für die Arrabiner, die es sich leisten können. Ach ja, weil ich gera-
de daran denke, die Arrabiner haben nicht das geringste Interesse an Musik. Kein einziger spielt ein Instrument, vermutlich, weil das nach ihrer Ansicht Plackerei bedingte. Ja, Arrabus ist ein wahrlich seltsames Land! Schockierend, beunruhigend, ohne Komfort, hungrig, aber faszinierend! Ich werde nie müde, die gewaltigen Menschenmassen zu beobachten. Wo man auch hinsieht, überall Menschen! Ihre gewaltige Zahl allein ist schon großartig, und ich finde es einfach wunderbar, über dem Uncibalstrom zu stehen und auf all die Gesichter hinunterzusehen. Stellt Euch ein Gesicht vor! Irgendein Gesicht! Große Nase, kleine Ohren, runde Augen, langes Kinn – was immer auch, früher oder später wird man ihm auf dem Uncibalstrom begegnen! Und Ihr dürft nicht denken, daß diese gewaltige Zahl vielleicht eintönig oder uniform wirkt. Ganz im Gegenteil. Jeder Arrabiner bemüht sich, verzweifelt fast, mit persönlichen Tricks und Eigenheiten, seine Individualität zu bewahren. Eine unzulängliche Lebensweise, zweifellos. Aber ist nicht das ganze Leben unzulänglich? Die Arrabiner wenden ohne Aufsehen geboren, und wenn sie gestorben sind, erinnert sich kein einziger mehr an sie. Sie leisten nichts wirklich Wesentliches im Leben. Tatsächlich, darauf komme ich jetzt gerade erst, ist das einzige Allgemeingut, das sie produzieren, die Muße! Aber genug für heute. Ich werde bald wieder schreiben. In herzlicher Zuneigung Euer Jantiff Jantiff hatte die Farbenreste, die ihm noch verblieben waren, weggesperrt. Notgedrungenermaßen betrachtete Skorlet also ihre Kultkugeln als fertiggestellt und
band sie zu Sechsertrauben zusammen. Jantiffs Herumsucherei lenkte schließlich ihre Aufmerksamkeit auf ihn. Sie blickte von ihrer Arbeit hoch und fragte verärgert: »Weshalb, bei aller Perversität, müssen Sie wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln in der ganzen Wohnung herumlaufen? Setzen Sie sich endlich irgendwo ruhig hin!« Mit betonter Würde entgegnete Jantiff: »Vor ein paar Tagen machte ich ein paar Skizzen von den Wisperern. Ich wollte meiner Familie davon ein oder zwei beilegen, aber sie sind verschwunden. Ich vermute allmählich Luchserei.« Skorlet lachte barsch. »Wenn es so wäre, sollten Sie sich geschmeichelt fühlen.« »Ich bin lediglich verärgert.« »Sie machen soviel dummes Getue wegen nichts! Zeichnen Sie doch eine neue Skizze oder schicken Sie Ihrer Familie andere. Das Ganze ist doch völlig unwichtig, und Sie können sich nicht vorstellen, wie Sie mich dadurch von meiner Arbeit abhalten.« »Verzeihen Sie«, sagte Jantiff. »Ich werde Ihren Vorschlag aufgreifen und andere Skizzen mitschikken. Aber bitte vergessen Sie nicht, dem Luchs meine Komplimente auszudrücken.« Skorlet zuckte lediglich die Achseln und beendete ihre Arbeit. »So, Jantiff, helfen Sie mir jetzt, die Kugeln zu Estebans Apartment zu tragen. Er kennt den Händler, der am meisten dafür bezahlt.« Jantiff öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Skorlet ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. »Also wirklich, Jantiff! Sie verblüffen mich immer mehr! Sie haben in Ihrem Leben jeden nur möglichen Luxus genossen, aber Sie wollen nichts dazu tun, daß die
arme Tanzel auch einmal einen Bissen Labrung zu kosten bekommt!« »Das ist nicht wahr!« rief Jantiff wütend. »Ich habe sie erst vor ein paar Tagen ins Disjerferact eingeladen und ihr dort alle Pogetts*, Wasserpüffe und Aallaibe gekauft, die sie nur essen konnte.« »Das steht jetzt nicht zur Debatte. Also helfen Sie mir schon, ich verlange ja schließlich nichts Unmögliches von Ihnen.« Mürrisch ließ Jantiff zu, daß Skorlet ihn mit Kultkugeln belud. Den Rest nahm sie selbst in die Arme, und so machten sie sich auf den Weg durch die Korridore zu Estebans Apartment. Auf Skorlets Fußtritte gegen die Tür hin öffnete er sie einen Spalt und schaute heraus. Über den Anblick ihrer Kugeln schien er nicht sehr erfreut. »So viele?« rief er. »Ja, so viele! Ich habe sie gemacht, und du kannst sie verscheppern. Und bring mir soviel alten Draht mit, wie du nur erluchsen kannst.« »Es ist aber wirklich eine Zumutung...« Skorlet versuchte, ihrem Ärger durch ein wütendes Herumfuchteln Luft zu machen, wurde daran jedoch von den Kugeln gehindert, so konnte sie nur die Ellbogen ein wenig bewegen. »Du und Jantiff! Ihr seid beide unerträglich! Ich beabsichtige an dem Fest teilzunehmen, und Tanzel kommt mit! Wenn du nicht für sie bezahlen willst, bleibt dir nichts anderes übrig, als mir mit den Kugeln zu helfen!« Esteban stöhnte verärgert. »Unerhört, was du alles von mir verlangst! Aber, zum Teufel, was sein muß, *
Geschnetzelte, um einen Spieß gewundene Algen, die in Öl herausgebacken werden.
muß sein. Also, zählen wir sie.« Während die beiden sich damit beschäftigten, setzte Jantiff sich auf die Couch, die Esteban selbst gepolstert und mit einem dicken, kostbaren Stoff mit einem symmetrischen Muster in Orange, Braun und Schwarz bezogen hatte. Das übrige Mobiliar bewies einen nicht minder guten Geschmack und offenbar Beziehungen. Auf einem Beistelltischchen entdeckte Jantiff eine ihm sehr vertraute Kamera. Er hob sie auf, betrachtete sie genauer, dann steckte er sie wortlos ein. Skorlet und Esteban waren mit dem Zählen fertig. »Kibner ist durchaus nicht die Großzügigkeit in Person, wie du zu glauben scheinst«, sagte Esteban. »Er wird zumindest dreißig Prozent des Erlöses für sich behalten.« Skorlet stieß einen Wutschrei aus. »Das ist Wucher! Denk doch nur an all das Luchsen, die Arbeit, die Unannehmlichkeiten, die ich mit dem Zeug hatte! Zehn Prozent sind mehr als genug!« Esteban schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich fange mit fünf an und versuche ihn so niederzudrücken, wie ich nur kann.« »Ja, sei standhaft! Du mußt Kibner auch die Wertbegriffe klarmachen. Er scheint sich einzubilden, daß wir davon nichts verstehen.« »Kriechender Elitarismus!« mahnte Esteban sie scherzhaft. »Unterdrück diese Tendenz!« »Ja, natürlich«, versprach ihm Skorlet sarkastisch. »Kommen Sie, Jantiff. Es ist schon fast Zeit zum Abendwump.« Estebans Blick fiel auf das Tischchen, hielt an, wanderte durch das ganze Zimmer, ehe er wieder zu
dem Tisch zurückkehrte. Dann wandte Esteban sich an Jantiff. »Einen Moment! Hier wird Luchserei betrieben, und ich beabsichtige nicht, davon betroffen zu werden.« »Wovon redest du da?« fauchte Skorlet. »Du besitzt ja nichts, was das Luchsen wert wäre.« »Und was ist mit meiner Kamera? Rücken Sie damit heraus, Jantiff. Sie saßen auf der Couch, und ich sah sogar, wie Sie auf den Tisch griffen.« »Das ist aber sehr peinlich«, sagte Jantiff. »Zweifellos. Die Kamera ist fort. Haben Sie sie?« »Ich habe meine eigene Kamera, die ich von Zeck mitbrachte. Ihre habe ich überhaupt nicht gesehen.« Esteban machte einen drohenden Schritt auf Jantiff zu und streckte dabei die Hand aus. »Kein Luchsen hier. Sie nahmen meine Kamera, geben Sie sie zurück!« »Nein, das ist ohne alle Zweifel meine eigene Kamera.« »Sie gehört mir! Sie lag auf dem Tisch und ich sah, wie Sie sie einsteckten.« »Können Sie sie identifizieren?« »Natürlich, ganz genau. Ich kann sogar die Bilder auf der Matrix beschreiben.« Er zögerte und fügte hinzu: »Wenn ich mich dazu herabließe.« »Auf meiner ist neben der Seriennummer der Name Jantiff Ravensroke in verschlungenen Altmischbuchstaben eingraviert. Und bei Ihrer?« Esteban starrte Jantiff mit runden, wutfunkelnden Augen an. Heiser sagte er: »Ich weiß nicht, was neben der Seriennummer eingraviert ist.« Jantiff schrieb etwas in schwunghafter Schrift auf ein Stück Papier. »Das ist Altmisch. Wollen Sie es mit
der Gravierung auf meiner Kamera vergleichen?« Esteban stieß etwas Unverständliches aus und drehte sich um. Jantiff und Skorlet verließen das Apartment. Als sie den Korridor entlanggingen, sagte Skorlet: »Das war sowohl kindisch als auch unnötig! Was versprechen Sie sich davon, wenn Sie Esteban verärgern?« Jantiff blieb verblüfft stehen und starrte sie an. Skorlet schritt, ohne auch nur eine Sekunde anzuhalten, weiter. Jantiff rannte ihr nach. »Das meinen Sie doch nicht im Ernst?« »Natürlich.« »Aber ich habe mir doch lediglich mein Eigentum zurückgeholt, das er mir gestohlen hat! Das ist doch das einzig Richtige!« »Sie könnten zumindest das Wort ›luchsen‹ verwenden, es ist bedeutend höflicher.« »Ich war ohnehin mehr als höflich zu Esteban, unter diesen Umständen.« »Nein, nicht wirklich. Sie wissen schließlich, wie stolz er ist.« »Hmmm. Ich verstehe nicht, wie ein Arrabiner überhaupt stolz sein kann.« Skorlet drehte sich um und gab Jantiff wütend eine Ohrfeige. Jantiff machte einen Schritt zurück, dann zuckte er die Achseln. Schweigend kehrten sie in ihr Apartment zurück. Skorlet riß die Tür auf und marschierte in das Wohnzimmer. Übertrieben sanft schloß Jantiff die Tür hinter sich. Jetzt wirbelte Skorlet herum und stellte sich vor ihn hin. Jantiff wich zurück, doch Skorlet wirkte zerknirscht. Mit zitternder Stimme sagte sie: »Ich hätte
Sie nicht schlagen dürfen. Bitte verzeihen Sie mir.« »Ich habe es heraufbeschworen«, murmelte Jantiff. »Ich hätte nichts über die Arrabiner sagen dürfen.« »Sprechen wir nicht mehr davon. Wir sind beide müde und haben unsere Sorgen. Wissen Sie was, gehen wir ins Bett und kopulieren, um unseren Gleichmut wiederzugewinnen. Ich muß mich ganz einfach entspannen.« »Ein unerwarteter Vorschlag – aber meinetwegen, wenn Sie wollen.« Als Jantiff in Kedidahs Apartment trat, fand er nur Sarp vor. Mürrisch erklärte der Alte, daß das Mädchen bald zurück sein würde, »... mit viel Lärm, Durcheinander und unruhigem Hin- und Hergetrippel. Es ist wirklich nicht erfreulich, eine Wohnung mit ihr zu teilen.« »Wie unangenehm für Sie«, sagte Jantiff. »Weshalb tauschen Sie nicht einfach mit irgend jemandem?« »Leichter gesagt als getan! Wer würde sich schon freiwillig mit einem solch flatterhaften Ding belasten! Glauben Sie, daß sie jemals hinter sich aufräumt? Nie! Es gelingt ihr mit den geringsten Mitteln, die unerträglichste Unordnung zu schaffen!« »Also meine Wohnungsgenossin ist mir ein wenig zu ruhig«, sagte Jantiff. »Man merkt kaum, daß es sie überhaupt gibt. Und sie ist geradezu pedantisch ordentlich. Vielleicht ließe ich mich überreden, mit Ihnen zu tauschen.« Sarp legte den Kopf schräg und blinzelte Jantiff zweifelnd an. »Und wer ist dieses Musterexemplar an Ordentlichkeit und Ruhe?« »Sie heißt Skorlet.«
Sarp lachte höhnisch. »Skorlet! Ordentlich? Mit ihrer ständigen Kultkugel-Bastelei? Und ruhig? Sie ist nicht nur geschwätzig, sondern mischt sich auch in alles ein und ist außerdem unerträglich herrschsüchtig. Sie hat dem armen Wisslim so lange das Leben zur Hölle gemacht, bis er nicht nur das Stockwerk gewechselt hat, sondern ganz aus Altrosa ausgezogen ist! Sie müssen mich schon für einen ganz großen Trottel halten!« »Sie sehen sie nur nicht richtig. Sie ist wirklich von sanftem Charakter. Hören Sie, ich gebe Ihnen sogar noch etwas drauf.« »Zum Beispiel?« »Nun, ich male Ihr Porträt in mehreren Farben.« »Ha! Dort drüben hängt der Spiegel, was brauche ich mehr?« »Ah – hier ist ein wertvoller Schreiber, den ich von Zeck mitgebracht habe: ein wahres Wunder der Technik. Er entzieht der Luft Wasser und Nitrogen, daraus macht er eine weiche Tinte, die sich unlöschbar in das Papier brennt. Er versagt nie und hält ein ganzes Leben lang.« »Ich schreibe nur sehr wenig. Was hätten Sie sonst noch zu bieten?« »Ich besitze nicht viel mehr. Wie wär's mit einem Medaillon aus Jade und Silber für Ihre Mütze?« »Ich bin nicht eitel. Ich würde es doch nur draußen in den Lehmebenen für eine Mundvoll Labrung eintauschen. Was hätte ich also gewonnen? Guter alter Atz mit Söff und Wabbli, das genügt mir.« »Ich dachte, Kedidah fiele Ihnen so sehr auf die Nerven.« »Verglichen mit Skorlet ist sie ein wahrer Engel an
Barmherzigkeit. Ein bißchen laut und vergnüngungssüchtig, das läßt sich nicht verheimlichen. Und jetzt hat sie sich auch noch mit Garch Darskin von den Ephtaloten eingelassen... Ah, da kommt sie gerade.« Die Tür schwang auf, und Kedidah kam mit drei muskulösen jungen Männern hereingestürmt. »Lieber, guter Sarp!« rief sie. »Ich wußte doch, daß du zu Hause bist! Hol deine Kanne mit Stilli und schenk uns allen einen Schluck ein. Garch war beim Training, und ich bin erschöpft, allein vom Zusehen.« »Der Stilli ist alle«, brummte Sarp. »Du hast ihn gestern ausgetrunken.« Jetzt erst bemerkte Kedidah Jantiff. »Ah, hier ist ein hilfsbereiter, freundlicher Kamerad. Komm, Jantiff, hol deine Stillikanne! Hussade ist anstrengend und wir brauchen alle dringend einen aufmunternden Schluck.« »Tut mir leid«, sagte Jantiff steif. »Ich kann leider nicht damit aushelfen.« »Ich hätte es eigentlich wissen müssen! Garch, Kirso, Rambleman, das ist Janty Ravensroke von Zeck. Janty, das hier sind die Besten der Ephtaloten, des siegreichsten Teams auf Wyst!« »Ich fühle mich geehrt, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Jantiff förmlich. »Jantiff ist ungemein talentiert«, erklärte Kedidah. »Er macht die faszinierendsten Bilder. Komm, Jantiff zeichne uns!« Jantiff schüttelte verlegen den Kopf. »Wirklich, Kedidah, so einfach, wie du glaubst, ist das auch wieder nicht. Außerdem habe ich meinen Zeichenblock nicht bei mir.« »Du bist nur zu bescheiden. Laß dich nicht lange bitten, Janty, mal was Vergnügliches, Lustiges! Da
hast du ja deinen Schreiber, und irgendwo, hm, aber wo, irgendwo finden wir auch ein Stück Papier... Hier, benutz die Rückseite dieses Formulars.« Zögernd griff Jantiff danach. »Was soll ich zeichnen?« »Was dir Spaß macht. Mich, Garch, oder auch den alten Sarp.« »Vergessen Sie mich«, brummte Sarp. »Ich gehe jetzt sowieso aus. Ich habe eine Verabredung mit Esteban, er hat irgendeinen mysteriösen Vorschlag, den er mir unterbreiten möchte.« »Ah, es handelt sich vermutlich nur um sein Labrungsfest. Ich würde sofort mitkommen, wenn ich die Scheiben hätte. Also, Jantiff, fang schon an. Mal Rambleman, er ist der Auffälligste von uns. Sieh dir seine Nase an! Sieh sieht aus wie ein Ankerarm: rein Nordpombal!« Mit steifen Fingern machte Jantiff sich ans Werk. Die anderen sahen ihm eine kurze Weile zu, dann unterhielten sie sich miteinander und beachteten ihn überhaupt nicht mehr. Verärgert erhob Jantiff sich und verließ das Apartment. Niemand schien es auch nur zu bemerken. Meine Lieben, allerherzlichsten Dank für die Farben. Ich werde sie wie meinen Augapfel hüten. Meine letzten luchste Skorlet, um Symbole auf ihre Kultkugeln zu malen. Sie hoffte, sie für eine größere Summe zu verkaufen, aber jetzt ist sie der Meinung, daß Kibner, der Standhändler vom Disjerferact, sie betrogen hat. Sie ist schrecklich verärgert, deshalb bewege ich mich mit größter Zurückhaltung in der Wohnung. Irgendwie scheint sie jetzt immer geistes-
abwesend und distanziert zu sein. Ich verstehe nicht, weshalb. Irgend etwas hängt in der Luft. Ist es das Labrungsfest? Es ist ein großes Ereignis, sowohl für sie als auch Tanzel. Ich will gar nicht behaupten, daß ich Skorlet verstehe, aber irgendwie drängt sich mir der Eindruck auf, daß sie verstört und beunruhigt ist. Tanzel ist ein reizendes kleines Persönchen. Ich fuhr mit ihr zum Disjerferact und gab einen halben Ozol für Delikatessen, wie geröstete Seealgen und saure Aallaibchen, für sie aus. Die Händler im Disjerferact sind alle keine Arrabiner und ein ungewöhnliches Mischmasch verschiedenster Charaktere. Das Disjerferact bedeckt eine ziemlich große Fläche und es gibt dort Tausende von ihnen, wer weiß, von woher sie alle kommen. Da sind Glücksspieler, Trödler, Taschen- und Marionettenspieler, Clowns, Bühnenzauberer, Jongleure, Musikanten, Akrobaten, Wahrsager, und natürlich die unzähligen Händler mit was immer auch dort an Eßbarem zu haben ist. Disjerferact ist eine Art pathetischer Jahrmarkt, schmutzig, anrüchig, aber faszinierend und ein Durcheinander von Farben und Lärm. Am ungewöhnlichsten und höchstwahrscheinlich einzigartig im ganzen Gaeanischen Territorium sind die Pavillons des Friedens. Zu ihnen kommen die Arrabiner, die sterben möchten. Die Besitzer dieser verschiedensten Häuser überbieten sich mit ihren Angeboten, um ihre Dienste so schmackhaft wie nur möglich zu machen. Zur Zeit gibt es dort fünf. Der billigste »Friedenspavillon« bietet ein Podium auf einem drei Meter hohen Zylinder. Der Kunde steigt auf dieses Podium und hält eine Abschiedsrede, manchmal aus dem Stegreif, manchmal monatelang geübt. Diese Abschiedsreden finden gewöhnlich großen Anklang, und es fehlt nie an einer aufmerksamen Zuhörerschaft, die applau-
diert oder mitfühlende Äußerungen von sich gibt. Hin und wieder kommt es auch vor, daß der Redner mit seiner Einstellung oder seinen Bemerkungen auf keine Gegenliebe stößt, dann buht man ihn aus. Während der Todeskandidat spricht, senkt sich von oben eine dicke Pelzdecke herab, die ihn schließlich einhüllt und seine Worte zum Verstummen bringt. Einer der sich dort aufhaltenden Gaeaner von einer der Heimwelten hat eine große Zahl dieser Abschiedsreden aufgenommen und sie veröffentlicht, und zwar unter dem Titel: EHE ICH VERGESSE. Ganz in der Nähe davon ist das Haus der Ruhe. Wer seinem Leben ein Ende machen möchte, betritt – nachdem er eine bestimmte Summe bezahlt hat – einen Irrgarten aus Prismen. Er wandert durch die Gänge in einem goldenen Schein, während seine Freunde ihn von außen beobachten. Seine Gestalt verliert sich zwischen den Spiegelungen, und dann wird er nicht mehr gesehen. Im nächsten Pavillon schwimmt der »Duftende Nachen« in einem Kanal. Der zum Sterben Bereite steigt ein und streckt sich auf einer weichen Liege aus. Er wird mit kunstvollen Papierblumen in großer Zahl geschmückt, dann läßt man ihn aus einem Kelch trinken und schiebt schließlich das Boot an, daß es in einen Tunnel treibt, aus dem ätherische Musik erklingt. Nach einer Weile kehrt der Nachen sauber und leer zurück. Was im Tunnel geschieht, ist ungewiß. Die Dienstleistungen, die die »glückliche Endstation« bietet, sind heiterer Natur. Der zum letzten Schritt Entschlossene kommt mit all seinen vergnügten Kumpanen. In einem luxuriös ausgestatteten Saal ist eine Tafel gedeckt, die alles bietet, was die Brieftasche des Kandidaten
sich leisten kann. Alle essen, trinken, erinnern sich gemeinsam schöner Zeiten, tauschen Höflichkeiten und Komplimente aus, bis die Lichter im Saal allmählich erlöschen. Dann verabschieden sich die Freunde, verlassen den Saal, woraufhin es völlig dunkel wird. Manchmal ändert der Todeskandidat seinen Entschluß und kehrt mit seinen Freunden in die Welt der Lebenden zurück. Es kam auch hin und wieder schon vor, daß die Abschiedsfeier allzu feuchtfröhlich ausfiel und es zu Irrtümern kam. Der Kandidat kriecht in seinem Zustand auf Händen und Knien davon, und seine Freunde bleiben betrunken am Tisch sitzen, während die Lichter erlöschen. Der fünfte Pavillon ist eine Art Spielbank. Fünf Teilnehmer setzen eine vereinbarte Summe und nehmen auf eisernen Stühlen Platz, die von eins bis fünf numeriert sind. Die Zuschauer bezahlen Eintritt und dürfen Wetten abschließen. Ein Roulett, allerdings nur mit den Zahlen eins bis fünf, wird gedreht. Es hält bei einer Ziffer an. Derjenige auf dem Stuhl mit dieser Nummer gewinnt den fünffachen Einsatz. Die anderen vier verschwinden durch eine Falltür und werden nie wieder gesehen. Man erzählt sich eine Geschichte – ob sie der Wahrheit entspricht, weiß ich nicht – von einem verzweifelten Mann namens Bastwick. Er setzte nur zwanzig Scheiben und ließ sich auf dem Stuhl mit der Nummer 2 nieder. Er gewann und blieb, nun da sein Einsatz hundert Scheiben waren. Auch bei der nächsten Runde gewann die Zwei, und Bastwick hatte jetzt fünfhundert Scheiben. Noch einmal blieb er sitzen. Und wieder hielt das Roulett bei der Zwei an. Nun hatte Bastwick fünfundzwanzighundert Scheiben gewonnen. Er verlor die Nerven und verließ den Pavillon mit seinem Geld. Stuhl
2 gewann noch zweimal hintereinander. Wäre Bastwick geblieben, hätte er 62500 Scheiben einstreichen können. Ich besuchte die Pavillons mit Tanzel, die sich recht gut auskennt. Mein ganzes Wissen in dieser Beziehung stammt übrigens von ihr. Ich fragte sie, was mit den Leichen geschieht, und erfuhr mehr, als mir lieb ist! Die Toten werden zerkleinert und mit den Abfällen und üblichen Resten in die Müllschlucker gespült. Dieser Abfall, den man »verbrauchten Stördsch« nennt, wird in die zentrale Nahrungsfabrik geleitet, zusammen mit dem »verbrauchten Stördsch« von überallher aus der Stadt. Hier wird er verarbeitet, verfeinert und angereichert und als normaler »Stördsch« zurück zu all den Wohnblocks geleitet. In den Blockküchen werden aus dem Stördsch die üblichen nahrhaften Atz, Söff und Wabbli. Weil ich gerade dieses Thema angeschnitten habe, möchte ich Euch noch von einem seltsamen Vorfall erzählen. Es war an einem Morgen vergangene Woche, Skorlet und ich befanden uns auf dem Dachgarten, als eine Leiche hinter einem der Fingerkapselbüsche entdeckt wurde. Der Mann war ganz offensichtlich ermordet – in die Kehle gestochen – worden. Die Leute auf dem Dach standen neugierig herum, Skorlet und ich nicht ausgenommen, bis schließlich der Blockleiter eintraf. Er zerrte die Leiche zum Müllschlucker – und das war alles. Natürlich war ich sehr erstaunt darüber. Ich erwähnte zu Skorlet, daß auf Zeck niemand den Ermordeten auch nur berühren dürfte, ehe die Polizei alle Spuren gesichert hatte. Skorlet bedachte mich mit ihrem üblichen Hohn. »Wir sind eine egalitäre Nation. Wir brauchen keine Polizei. Wir haben unsere Mutuellen, die uns beraten und Ver-
rückte einsperren.« »Offenbar gibt es aber nicht genügend Mutuelle«, sagte ich. »Der Mann ist schließlich ermordet worden!« Skorlet wurde ärgerlich. »Das war nur Tango, ein Aufschneider und Betrüger! Er war dafür berüchtigt, seine Plackerei mit anderen zu tauschen, ohne je Zeit zu finden, seine Verpflichtung auch einzuhalten. Kein Mensch wird ihn vermissen.« »Soll das heißen, daß überhaupt keine Untersuchung eingeleitet wird?« »Nichts, außer jemand erstattet Anzeige beim Blockleiter.« »Das ist doch gar nicht nötig. Er war es doch persönlich, der die Leiche weggeschafft hat.« »Na und? Er kann schließlich nicht bei sich selbst Anzeige erstatten, oder? Denken Sie doch logisch!« »Das tue ich. Unter uns ist ein Mörder, vielleicht sogar auf unserer Etage!« »Schon möglich, aber wer will schon Anzeige erstatten? Täte es einer, wäre der Blockleiter gezwungen, alle zu vernehmen, und es gäbe nur Aufregung und unangenehme Aufdeckungen. Und wozu das alles?« »So wurde der arme Tango also ermordet, und keiner denkt sich etwas dabei!« »Was heißt da, der ›arme Tango‹! Er war ein unmöglicher Mensch, der alle nur verärgerte.« Ich verfolgte dieses Thema nicht weiter. Ich nehme an, daß jede Gesellschaft sich irgendwelcher Mittel bedient, sich unliebsamer Elemente zu entledigen. Wie geschildert, wird es offenbar in einem egalitären System gehandhabt. Es gibt noch so viel mehr zu berichten, daß ich einfach kein Ende finde. Die öffentlichen Unterhaltungen sind
zahlreich. Ich habe an einer »Schunkerei« teilgenommen, die wahrhaft unvorstellbar ist. Auch Hussade ist hier sehr beliebt. Eine Bekannte von mir ist mit einigen der Ephtaloten – ein Team von Port Cass an der Nordküste Zumers – befreundet. Die Arrabiner selbst spielen nicht Hussade. Alle Teilnehmer stammen aus anderen Gegenden Wysts oder auch von anderen Welten. Ich habe gehört, daß die Spiele hier viel aufregender sind... Jemand klopfte an der Tür. Jantiff legte den Brief zur Seite und öffnete. Kedidah stand auf dem Korridor. »Hallo, Jantiff, darf ich reinkommen?« Jantiff ließ sie vorbei. Kedidah stolzierte in das Zimmer. Sie widmete Jantiff einen Blick scherzhaften Vorwurfs. »Wo warst du die ganze Zeit? Ich habe dich seit einer Woche nicht mehr gesehen! Nicht einmal im Speisesaal traf ich dich.« »Ich bin immer später zum Wumpen gegangen«, murmelte Jantiff. »Nun, ich habe dich jedenfalls vermißt. Wenn man sich an einen Menschen gewöhnt hat, hat er kein Recht, sich einfach vor einem zu verstecken.« »Du schienst mir ziemlich mit deinen Ephtaloten beschäftigt zu sein«, sagte Jantiff. »O ja! Sind sie nicht wundervoll? Ich liebe und bewundere Hussade. Sie spielen übrigens heute. Ich hatte eine Freikarte, aber irgendwie muß ich sie wohl verlegt haben. Möchtest du nicht gehen?« »Lieber nicht. Ich bin ziemlich beschäftigt...« »Komm, Janty, sei nicht so zu mir. Ich glaube, du bist eifersüchtig. Wie kann man nur auf ein ganzes Hussade-Team eifersüchtig sein!« »Oh, das ist ganz leicht. Es gibt gleich neun Mann,
mit denen man rechnen muß, die Ersatzspieler gar nicht inbegriffen, und dazu die Sheirl.« »Das ist doch idiotisch! Schließlich kann man jemanden nicht teilen oder es ihm beziehungsweise ihr übelnehmen, wenn sie sehr beschäftigt ist.« »Das kommt ganz darauf an, womit sie beschäftigt ist«, brummte Jantiff. Kedidah lachte nur. »Also, kommst du nun mit mir zum Hussade? Bitte, Janty!« Jantiff seufzte resigniert. »Wann willst du denn gehen?« »Jetzt gleich – ja, sofort, sonst kommen wir zu spät. Als ich meine Freikarte nicht finden konnte, war ich schon ganz verzweifelt, bis du mir einfielst. Ach ja, ich fürchte, du mußt meinen Eintritt bezahlen. Ich habe keine einzige Scheibe.« Jantiff drehte sich zu ihr um. Seine Lippen zitterten vor wortloser Entrüstung. Als er jedoch ihr lächelndes Gesicht sah, zuckte er nur verärgert die Achseln. »Ich verstehe dich einfach nicht.« »Ich verstehe dich nicht, Janty, also sind wir quitt. Und was wäre schon, wenn wir einander verstünden? Was hätten wir davon? Es ist besser so. Also, beeil dich, oder wir kommen zu spät.« Jantiff kehrte zu seinem Brief zurück. ... als anderswo. Durch einen seltsamen Zufall habe ich gerade meine Bekannte zum Hussade begleitet. Die Ephtaloten spielten gegen ein Team – die Dangsgot Braven – von den Caradas Inseln. Ich bin noch ganz mitgenommen. Hus-
sade in Uncibal ist durchaus nicht wie Hussade in Frayness. Das Stadion ist riesig und trotzdem überfüllt. In der Nähe sieht man natürlich Gesichter und hört einzelne Worte, aber auf der gegenüberliegenden Seite erscheint alles nur wie eine zusammenhängende Masse. Das Spiel ist wie üblich, allerdings mit einigen lokalen Änderungen, die mir absolut nicht gefielen. Die Eingangszeremonien sind imposant, ausgeklügelt und furchtbar langgezogen, aber hier hat ja jeder mehr als genug Zeit. Die Spieler paradieren in prächtigen Kostümen und werden einer nach dem anderen vorgestellt. Wie ich schon erwähnte, keiner ist Arrabiner. Jeder führt eine Reihe ritueller Bewegungen durch, dann zieht er sich zurück. Die beiden Sheirls erscheinen plötzlich an beiden Enden des Spielfeldes und steigen zu ihren Tempeln hoch, während zwei Orchester »Ruhm den jungfräulichen Sheirls« spielen. Gleichzeitig wird eine hölzerne Abbildung auf das Feld gebracht: eine vier Meter hohe Darstellung des Karkuns* Claubus. Die Sheirl bemühen sich offensichtlich, dieses Abbild zu ignorieren. Den Grund dafür werdet Ihr in Kürze erfahren. Ein drittes Orchester spielt dröhnend »Karkun-Musik«, in Antiphon zu dem »Ruhm«. Ich beobachtete die Menschen in meiner Nähe. Sie waren alle nervös und unruhig und zuckten bei den Diskordanzen zusammen, doch sie erwarteten alle aufgeregt das kommende Drama. Die Sheirls stehen zu diesem Zeitpunkt ruhig in ihren Tempeln, eingehüllt von Dwanlicht und einem wundervollen psychischen Schleier. Jede scheint die Verkörperung aller Schönheit, aller Grazie zu sein. Doch zweifellos geht je*
Karkuns sind in der alastorianischen Mythologie ein Stamm dämonischer Wesen, denen man Menschenhaß und unersättliche Lüste zuschreibt.
der der beiden aufgeregt die Frage durch den Kopf: Wird mir der Ruhm zuteil? Wird man mich dem Claubus aussetzen? Es wird so lange gespielt, bis eines der Teams keine Auslöse mehr bezahlen kann. Seine Sheirl wird daraufhin von dem Claubus auf eine höchst abstoßende und unnatürliche Weise geschändet, und zwar während das geschlagene Team, begleitet von schmetternder Musik, die beiden auf einem Karren rund um die Arena ziehen muß. Den Siegern wird inzwischen ein großartiges Mahl aus echter Labrung aufgetischt. Die Zuschauer werden so angeblich einer Katharsis unterzogen und von ihren Spannungen befreit. Die entwürdigte Sheirl hat für immer und alle Zeit ihre Schönheit und Selbstachtung verloren. Sie wird zur Ausgestoßenen und ist in ihrer Verzweiflung zu allem fähig. Wie Ihr seht, ist Hussade in Uncibal keine vergnügliche Unterhaltung wie sonstwo, sondern ein grimmiges Schauspiel: ein gewaltiges, öffentliches Ritual. Unter diesen Umständen ist es wirklich erstaunlich, daß die Teams nie Schwierigkeiten haben, attraktive Sheirls zu finden. Offenbar werden die Mädchen von der Gefahr angezogen wie Motten vom Licht. Die Arrabiner sind überhaupt alle recht merkwürdig, sie spielen gern mit den morbidesten Möglichkeiten. Bei den Schunkturnieren sind beispielsweise die Absperrungen sehr niedrig, und es passiert häufig, daß die Schunks in ihrer Wildheit darüber stürmen, mitten unter die Zuschauer. Dutzende finden dabei den Tod. Aber macht man das nächstemal die Barrieren höher, oder bleiben die vordersten Plätze leer? Durchaus nicht! Auf diese Weise nehmen die Zuschauer bei diesen Riten um Leben oder Tod wirklich an der Gefahr teil. Unnötig zu erwähnen, daß natürlich keiner damit rech-
net, zu Tode getrampelt zu werden, genausowenig, wie die Sheirls auch nur daran denken, daß sie es sein könnten, die entwürdigt werden. Es ist alles reine Egozentrik: der Mythos des über das Geschick triumphierenden Ichs! Ich bin der Meinung, je mehr die Menschen urbanisiert werden, desto individualistischer werden sie, und nicht umgekehrt. So gesehen übersteigt die Menschenmenge auf dem Uncibalstrom jegliche Vorstellung. Denkt doch nur! Reihe um Reihe von Gesichtern – jedes der Mittelpunkt eines eigenen, unabhängigen Universums. Damit will ich jetzt meinen Brief beenden. Ich wollte, ich könnte Euch meine weiteren Pläne mitteilen, aber um ganz ehrlich zu sein, ich habe noch keine. Ich werde von Faszination und Abscheu für diesen ungewöhnlichen Ort hin und her gerissen. Jetzt muß ich placken gehen. Ich habe Schichten mit einem gewissen Arsmer von einem Apartment auf meinem Korridor getauscht. Diese Woche bin ich deshalb übermäßig beschäftigt. Trotzdem ist es nach Zeckschem Begriff gewiß ein Idyll an Muße. Voll Liebe für Euch alle, Euer zur Zeit unberechenbarer Jantiff
6 Jantiff wurde sich immer mehr des veränderten Benehmens Skorlets bewußt. Er hatte sie nie für ruhig oder gleichmütig gehalten, doch jetzt übertrieb sie ihre wechselnden Launen von gereizter Schweigsamkeit und einer seltsam nervösen Fröhlichkeit. Zweimal überraschte Jantiff sie in einem offenbar verstohlenen Gespräch mit Esteban, das sie bei seinem Nahen sofort abbrachen. Einmal kam er dazu, als sie unruhig im Apartment auf und ab stiefelte und ihre Hände schüttelte, als wären sie naß. Das war etwas ganz Neues. Jantiff konnte sich nicht zurückhalten, sie zu fragen: »Was ist denn jetzt los?« Skorlet hielt im Schritt inne und drehte sich leeren Blickes zu ihm um, dann sprudelte sie heraus: »Es ist Esteban und sein verfluchtes Labrungsfest. Tanzel ist schon ganz krank vor Aufregung, und Esteban verlangt volle Vorauszahlung. Aber ich habe die Scheiben nicht.« »Warum bezahlt denn nicht er für seine Tochter?« »Hah! Sie sollten Esteban doch inzwischen kennen! Er ist absolut herzlos, wenn es um Geld geht.«* Jantiff sah den möglichen Ausgang dieses Gesprächs voraus. Er schüttelte mitfühlend den Kopf und versuchte, sich ins Schlafzimmer zurückzuziehen. Skorlet griff nach seinem Arm. Jantiffs Befürchtungen stellten sich als begründet heraus. Mit kehliger Stimme sagte Skorlet. *
Vaterschaft bei den Arrabinern ist immer zweifelhaft. Doch selbst, wenn sie anerkannte Tatsache ist, sind keinerlei Verpflichtungen damit verbunden.
»Jantiff, ich habe hundert Scheiben, aber ich brauche noch fünfhundert für das Labrungsfest. Können Sie sie mir nicht leihen? Ich revanchiere mich, indem ich etwas Nettes für Sie tue.« Jantiff zuckte zusammen. »Ich wüßte nicht, was Sie im Augenblick Nettes für mich tun könnten.« »Aber Jantiff, für Sie ist es nur ein Ozol oder auch zwei. Sie haben doch eine ganze Menge.« »Was ich habe, brauche ich, um nach Hause zurückzukommen.« »Sie sagten mir doch selbst, daß Sie Ihr Ticket für die Rückfahrt schon haben.« »Das Ticket wohl. Aber ich möchte mich auch unterwegs noch ein wenig umsehen, und das kann ich nicht, wenn ich mein Geld für Estebans Labrungsfest vergeude.« »Aber Sie vergeuden doch auch Geld für sich selbst, um daran teilzunehmen.« »Genau wie meine kostbaren Farben für Ihre Kultkugel verschwendet wurden!« »Müssen Sie denn immer so kleinlich sein!« brauste Skorlet jetzt wütend auf. »Sie sind ja so erbärmlich, daß man sich überhaupt nicht mit Ihnen abgeben sollte. Seien Sie nur froh, daß ich Esteban davon überzeugen konnte!« »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, sagte Jantiff steif. »Es geht Esteban überhaupt nichts an, ob ich erbärmlich oder kleinlich, oder sonstwas bin.« Skorlet öffnete den Mund, doch dann unterdrückte sie ihre Antwort und sagte lediglich. »Ich werde kein Wort mehr über dieses Thema fallen lassen.« »Sehr gut«, erwiderte Jantiff eisig. »Es ist nicht nö-
tig, Themen gleich welcher Art mehr zur Sprache zu bringen.« Skorlets Gesicht verzog sich höhnisch. »O wirklich? Ich dachte, Sie wollten zu dieser Slang* Kedidah ziehen.« »Ich zog es in Betracht«, sagte Jantiff gemessen. »Doch offenbar ist es nicht möglich. Ich habe mich bereits damit abgefunden.« »Aber es ist möglich, wenn ich Ihnen helfe.« »Oh? Und wie wollen Sie dieses Wunder bewirken?« »Bitte, Jantiff, zweifeln Sie nicht jede meiner Bemerkungen an. Was ich mir in den Kopf setze, erreiche ich auch, das dürfen Sie mir glauben. Der alte Sarp wird hier einziehen, wenn Tanzel hin und wieder mit ihm kopuliert. Und da sie so scharf auf das Fest ist, wird sie es auch tun.« Jantiff drehte sich voll Abscheu um. »Mit so etwas will ich nichts zu tun haben!« Skorlet starrte ihn mit erstaunt hochgezogenen Brauen an. »Und weshalb nicht? Auf diese Weise bekommt jeder, was er will. Weshalb gefällt Ihnen das nicht?« Jantiff setzte zu einer abfälligen Bemerkung an, doch Skorlet würde sie nicht einmal verstehen. Er seufzte. »Zuerst möchte ich mit Kedidah darüber sprechen. Schließlich...« »Nein! Kedidah spielt in dieser Beziehung überhaupt keine Rolle. Sie ist so mit ihrem Hussade-Team beschäftigt, daß es ihr völlig gleichgültig ist, ob Sie hier oder dort wohnen.« *
Ein haarloses Nagetier, lang und schmal, das nach Belieben die verschiedensten unangenehmen Geruchsstoffe absondern kann.
Jantiff blickte zur Decke hoch. Welchen Sinn hatte es, mit Skorlet zu streiten? Ihre und seine Ansichten waren unvereinbar. Er wollte keine neue Tirade mehr heraufbeschwören. Aber Skorlet brauchte dazu gar keinen weiteren Anlaß. »Um ehrlich zu sein, Jantiff, ich werde nur allzu froh sein, wenn Sie hier weg sind. Sie und Ihr Getue! Lächerliche Skizzen, die überall herumhängen, um uns auf Ihr Talent aufmerksam zu machen. Sie werden sich nie von Ihrem Elitarismus befreien können! Aber wir sind hier in Arrabus, Jantiff! Sie können nur hier sein, weil wir Sie dulden!« »Von wegen!« brauste Jantiff auf. »Ich habe sämtliche erforderlichen Gebühren bezahlt und placke genau wie alle anderen auch.« Skorlets rundes Gesicht nahm einen verschlagenen Ausdruck an. »Diese Skizzen – sie sind sehr merkwürdig! All diese endlosen Gesichter. Ich frage mich... Weshalb zeichnen Sie sie? Wonach oder nach wem suchen Sie? Ich verlange, daß Sie mir die Wahrheit sagen!« »Ich zeichne Gesichter, weil es mir Spaß macht. Und jetzt, wenn ich nicht zu spät zum Placken kommen will...« »Und jetzt: pah! Geben Sir mir das Geld, und ich kümmere mich um das Nötige.« »Kommt gar nicht in Frage! Keine Bezahlung, ehe der Umzug nicht arrangiert ist. Außerdem besitze ich nicht so viele Scheiben. Ich muß erst Ozol am Raumhafen umtauschen.« Skorlet starrte ihn grimmig an. »Hauptsache, ich kann Esteban eine feste Zusage machen. Ich treffe mich in wenigen Minuten mit ihm.«
»Sagen Sie ihm zu, was Ihnen Spaß macht.« Skorlet marschierte aus dem Apartment. Jantiff schlüpfte in seinen Arbeitsanzug und fuhr zur Straße hinunter, als er sich plötzlich erinnerte, daß er ja mit Arsmer getauscht und der heute für ihn die Plackerei übernommen hatte. Er schüttelte über sich selbst den Kopf und fuhr mit dem Lift wieder hoch. Im Schlafzimmer zog er Stiefel und Overall aus und räumte alles in den Schrank. In diesem Augenblick wurde die Wohnungstür geöffnet, und mehrere Personen kamen herein. Schwere Schritte näherten sich dem Schlafzimmer. Jemand stieß die Tür auf, schaute hinein, bemerkte Jantiff am Schrank jedoch nicht. »Er ist nicht da«, sagte eine Stimme, die Jantiff als Estebans erkannte. »Er ist zum Placken«, erklärte Skorlet. »Setzt euch. Ich sehe nach, ob der Stilli schon trinkbar ist.« »Meinetwegen brauchst du dir die Mühe nicht zu machen«, brummte eine rauhe Stimme, die Jantiff fremd war. »Ich kann das Zeug nicht ausstehen.« »Du kannst leicht reden«, brummte Sarp mürrisch. »Du mit all deinen Weinen und Fruchtgärern.« »Warte ab, bald wirst du wie er reden«, rief Esteban überschwenglich. »Zwei Monate noch...« »Du bist entweder ein Genie oder wahnsinnig«, sagte die fremde Stimme. »Benutz lieber das Wort ›hellseherisch‹«, wandte Esteban sich an ihn. »Hingen nicht alle großen Ereignisse der Vergangenheit von weitsichtigen Menschen ab. Aus einer müßigen Idee wird ein unfehlbarer Plan, der ein ganzes Reich zum Einsturz bringt! Und Jantiffs kleine Skizze brachte mich auf diese wirklich einmalige Idee.«
»Einmalig?« sagte die fremde Stimme ein wenig spöttisch. »Wir wollen jetzt alles Negative vergessen!« rief Esteban. »Es wäre uns nur ein Hemmnis. Nur durch Kühnheit können wir siegen!« »Wir dürfen trotzdem nichts überstürzen. Ich sehe hundert Möglichkeiten, die uns zum Verhängnis werden könnten.« »Nun gut. Wir werden sie der Reihe nach in Betracht ziehen und dann einen weiten Bogen um sie machen. Skorlet, wo bleibt der Stilli? Sei großzügig, ja?« »Auch bei mir nicht knausern«, bat Sarp. Jantiff setzte sich auf sein Bett. Er hüstelte laut, um auf sich aufmerksam zu machen. Aber niemand hörte es, da Esteban im gleichen Moment einen Toast aussprach: »Auf unseren Erfolg!« »Ich bin immer noch nicht ganz auf deine Frequenz eingestimmt«, brummte der Fremde. »Mir erscheint die Ausführung deiner Idee nach wie vor unvorstellbar, unwahrscheinlich, ja unmöglich.« »Durchaus nicht«, versicherte Esteban wohlgelaunt. »Teile meinen Plan in mehrere Abschnitte. Jeder ist die Einfachheit selbst. Vor allem in deinem Fall. Wie könntest du etwas anderes tun?« Der Fremde brummte widerwillig: »Irgendwie hast du recht. Laß mich die Skizze noch mal sehen... Ja, es ist kaum zu glauben.« Spöttisch sagte Skorlet: »Vielleicht sollten wir auf Jantiff anstoßen?« »Genau«, pflichtete Esteban ihr bei. »Wir müssen, was Jantiff betrifft, sehr vorsichtig vorgehen.« Jantiff streckte sich auf dem Bett aus und überlegte,
ob er sich nicht lieber darunter verkriechen sollte. »Er ist nur Teil des Grundproblems«, sagte die fremde Stimme. »Kurz, wie verhindern wir, erkannt zu werden?« »Gerade da bist du unentbehrlich«, erklärte Esteban. Sarp lachte krächzend. »Wenn es danach geht, ist jeder von uns vieren unentbehrlich.« »Stimmt«, pflichtete Esteban ihm bei. »Wenn wir alle profitieren wollen, muß jeder einzelne seine Sache richtig machen.« »Etwas steht jedenfalls fest«, warf Skorlet ein. »Wenn wir einmal den ersten Schritt getan haben, gibt es kein Zurück mehr.« Jantiff fiel auf, daß Skorlets jetzt so kühle und feste Stimme sich sehr von der keifenden während ihres Streites unterschied. »Zurück zu unserem Grundproblem«, sagte die rauhe fremde Stimme. »Deine Abwesenheit von Altrosa wird zweifellos auffallen.« »Wir sind eben in andere Blocks umgezogen.« »Schön und gut, bis jemand auf den Schirm schaut und sagt: ›Aber das ist ja Sarp! Und ich werd' verrückt, das ist Skorlet! Und Esteban!‹« »Darüber habe ich lange nachgedacht«, versicherte ihm Esteban. »Das Problem ist nicht unüberwindlich. So groß ist unser Bekanntenkreis nun ja auch wieder nicht.« »Hast du den Lautesten Bombah* vergessen? Die Wisperer wollen ihn zur Jahrhundertfeier einladen.« *
Bombah: arrabinisches Slangwort für Fremdweltler, gewöhnlich für Touristen gebraucht.
»Er wird zwar eingeladen, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er tatsächlich kommen wird.« »Das kann man nie wissen«, gab die fremde Stimme zu bedenken. »Es ist schon Unvorstellbareres Wirklichkeit geworden. Ich bestehe darauf, daß wir nichts dem Zufall überlassen.« »Natürlich nicht. Ich habe es mir genau überlegt. Wenn er tatsächlich kommt, wird er doch zweifellos den Affenbaum* besteigen. Richtig?« »Möglich, aber nicht sicher.« »Nun, entweder tut er es, oder er tut es nicht.« »Eine andere Möglichkeit gibt es ja auch nicht.« »Wenn dir jemand eine Tüte voll Poggets schenkte und du weißt, daß eines darunter vergiftet ist, was würdest du tun?« »Die ganze Tüte wegwerfen, natürlich.« »Das wäre eine Möglichkeit. Aber du verlörst dadurch auch all die guten Poggets.« »Hmmm... Darüber unterhalten wir uns ein andermal. Wollt ihr immer noch das Labrungsfest halten?« »Selbstverständlich!« sagte Skorlet fest. »Ich habe es Tanzel versprochen, weshalb sollte ich sie enttäuschen?« »Wir fallen dadurch nur unnötig auf.« »Nicht unbedingt. Labrungsfeste sind nicht so selten.« »Trotzdem! Ich halte es für besser, es zu verschieben. Es gibt auch in Zukunft noch Gelegenheiten dafür.« »Ich traue der Zukunft nicht so recht. Sie ist wie ei*
Die Rednertribüne auf dem Feld der Stimmen.
ne Münze, die man dreht. Sie kann auf die eine oder andere Seite fallen.« »Nun, macht, was ihr wollt. So wichtig ist die Sache nicht.« Aus irgendeinem Grund beschloß Skorlet, ins Schlafzimmer zu gehen. Sie trat an ihren Schrank und entdeckte Jantiff, als sie sich umdrehte. Sie stieß einen undefinierbaren, krächzenden Laut aus. Dann fragte sie. »Was machen Sie hier?« Jantiff täuschte vor, eben erst aufzuwachen. »Ja? Was? O hallo, Skorlet. Ist es schon Zeit für Wump?« »Ich dachte, Sie seien beim Placken?« »Arsmer übernahm heute für mich. Wieso? Irgendwelche Probleme? Haben Sie Gäste eingeladen?« Jantiff setzte sich auf und schwang die Beine auf den Boden. Im Wohnzimmer hörte man Stimmengemurmel und das Öffnen und Schließen der Apartmenttür. Esteban kam ins Schlafzimmer. »O hallo, Jantiff. Haben wir Sie gestört?« »Nein, ich habe fest geschlafen.« Jantiff blickte innerlich beunruhigt zu Esteban hoch. Er stand auf. Esteban trat zur Seite und ließ ihn vorbei, als er ins Wohnzimmer ging, das jetzt leer war. Estebans Stimme klang sanft hinter ihm. »Skorlet sagte, Sie würden ihr das Geld für das Labrungsfest vorstrecken?« »Ja. Ich habe mich dazu überreden lassen.« »Wann kann ich die Scheiben haben? Tut mir leid, wenn ich dränge, aber ich muß meinen Verpflichtungen nachkommen.« »Genügt morgen?« »Ja, natürlich. Also, dann bis morgen.« Esteban warf Skorlet einen bedeutungsvollen Blick
zu und verließ das Apartment. Skorlet folgte ihm auf den Gang. Jantiff betrachtete die Skizzen, die er an die Wand geheftet hatte. Keine davon erschien ihm sonderlich inspirierend. Sehr seltsam! Skorlet kam zurück. Schnell wandte Jantiff sich von den Bildern ab. Skorlet trat an den Tisch und ordnete den Krimskrams darauf. Mit einer Stimme, die gleichmütig klingen sollte, sagte sie: »Also Esteban hat vielleicht manchmal Einfälle! Aber ich nehme ihn nicht ernst. Vor allem nicht nach einem oder zwei Glas Stilli, denn da geht seine Phantasie mit ihm durch. Ich weiß nicht, ob Sie gehört haben, was er sich diesmal ausgedacht...« Sie blickte ihn von der Seite mit fragend gehobenen Brauen an. »Tut mir leid. Ich habe wie ein Toter geschlafen«, versicherte ihr Jantiff eilig. »Ich wußte nicht einmal, daß er hier war.« Skorlet nickte. »Sie können sich nicht vorstellen, welche Intrigen und Komplotte ich mir im Lauf der Jahre anhören mußte. Natürlich war alles nur Blödsinn.« »Oh? Was ist mit dem Labrungsfest? Dann wird wohl daraus auch nichts?« Skorlet lachte voll bitterem Humor. »Doch, dafür sorge schon ich! Ich würde sogar vorschlagen, daß Sie jetzt Ihr Geld wechseln, dann arrangiere ich Sarps Umzug.«
7 Jantiff verließ das Altrosa und ging langsam zum Menschenfluß. Es war ein kühler, klarer Tag. Der Dwan stand am Himmel und glitzerte wie eine geschmolzene Perle. Ausnahmsweise achtete Jantiff jedoch einmal nicht auf seinen herrlichen Farbeffekt. Er stieg auf den Zubringer zum Uncibalstrom und von dort auf den Ostfluß zum Raumhafen. Seltsam, sehr seltsam, das Ganze. Was konnte es denn nur bedeuten? Gewiß nichts Gutes. Etwa eineinhalb Kilometer vor dem Raumhafen zweigte ein Seitenfluß nordwärts ab, der an der Zentralität vorbei zum Feld der Stimmen führte. Fast ohne zu überlegen nahm Jantiff ihn und fuhr zur Zentralität, einem Gebäude aus schwarzem Stein am Ende eines mit rosa Porphyr gepflasterten und mit einer Doppelreihe von Limonenbäumen bepflanzten Hofes. Jantiff überquerte den Hof und trat durch einen Luftvorhang ins Foyer. Hinter einem Schalter saß ein schlanker dunkelhaariger junger Mann. Sowohl nach seiner Frisur als auch seinen guten Manieren zu schließen, war er kein Arrabiner. Er fragte Jantiff höflich: »Womit kann ich Ihnen behilflich sein, mein Herr?« »Ich möchte gern kurz den Kursar sprechen. Dürfte ich bitte seinen Namen erfahren?« »Er heißt Bonamico, und ich glaube, er ist im Moment frei. Dürfte ich Sie um Ihren Namen ersuchen?« »Ich bin Jantiff Ravensroke auf Frayness auf Zeck.« »Wenn Sie mir bitte folgen würden.« Der junge Mann drückte auf einen Knopf und
sprach ins Intercom: »Der ehrenwerte Jantiff Ravensroke von Zeck möchte Sie gern sprechen, Sir.« »Gut, Clode. Führen Sie ihn bitte zu mir.« Clode brachte Jantiff quer durch das Foyer. Eine Tür glitt vor ihnen auf. Sie traten in ein Arbeitszimmer mit weißen Holzpaneelen und einem grünen Teppich. Auf einem wuchtigen Schreibtisch in der Zimmermitte lag eine Unmenge verschiedenartiger Dinge: Bücher, Karten, Fotografien, polierte Holzwürfel, ein kleiner Hologrammschirm, eine Kristallkugel, etwa fünfzehn Zentimeter im Durchmesser, die offenbar als Uhr diente. Der Kursar, ein gedrungener Mann mit groben, aber sympathischen Zügen und kurzgeschnittenem Haar, lehnte gegen den Tisch. Clode übernahm die formelle Vorstellung: »Kursar Bonamico, das ist der ehrenwerte Jantiff Ravensroke.« »Danke, Clode.« Dann wandte der Kursar sich an Jantiff. »Bitte nehmen Sie doch Platz. Trinken Sie eine Tasse Tee mit mir?« »Sehr gern. Zu gütig von Ihnen.« »Clode, kümmern Sie sich bitte darum.« Und dann zu Jantiff: »Wie kann ich Ihnen behilflich sein? Sie sind erst seit kurzem hier, nicht wahr?« »Ja. Aber woher wissen Sie das?« »Ihre Schuhe verraten es.« Der Kursar lächelte schwach. »Sie sind von bedeutend besserer Qualität als die, die man sonst in Arrabus sieht.« »Ach so.« Jantiff umklammerte die Armlehnen seines Sessels und beugte sich ein wenig vor. »Was ich Ihnen sagen möchte, ist so merkwürdig, daß ich nicht recht weiß, wie ich anfangen soll. Vielleicht sollte ich erwähnen, daß ich in Frayness auf Zeck dimensionales Zeichnen und Bilderkomposition studierte und
mir so eine gewisse Geschicklichkeit im Abbilden aneignete. Seit meiner Ankunft hier machte ich Dutzende von Skizzen: von den Leuten auf den Menschenflüssen und in meinem Block, dem Altrosa. Ich wohne in 17–882.« Der Kursar nickte. »Bitte fahren Sie fort.« »Ich teile mein Apartment mit einer gewissen Skorlet. Heute kam einer ihrer Freunde mit einem Bekannten namens Sarp und einem vierten Mann, den ich nicht kannte, in die Wohnung. Sie waren sich meiner Anwesenheit im Schlafzimmer nicht bewußt und führten ein Gespräch, das ich beim besten Willen nicht überhören konnte.« So gut es ihm möglich war, wiederholte Jantiff diese Unterhaltung. »Schließlich betrat Skorlet das Schlafzimmer und sah mich im Bett liegen, was sie offensichtlich sehr beunruhigte. Sarp und der vierte verließen sofort leise die Wohnung. Mir kommt diese Sache nicht recht geheuer vor.« Jantiff nippte an dem Tee, den Clode inzwischen serviert hatte. Der Kursar überlegte kurz. »Sie haben keine Ahnung, wer dieser vierte gewesen sein mochte?« »Nicht die geringste. Ich sah einen Rücken durch den Türspalt, als er die Wohnung verließ. Er war ziemlich groß und breitschultrig und hatte schwarzes Haar.« Der Kursar zuckte die Achseln. »Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. Der Tenor des Gesprächs läßt auf mehr als einen dummen Streich schließen.« »Das war auch mein Eindruck.« »Aber es wurde keine Gesetzwidrigkeit begangen. Ich kann leider in meiner Kapazität als connatischer Vertreter nur aufgrund dieses Gesprächs, das viel-
leicht lediglich dummes Gerede gewesen ist, nichts unternehmen. Wie Sie bestimmt selbst bemerkt haben, sind die Arrabiner etwas extravagant.« Jantiff runzelte unzufrieden die Stirn. »Könnten Sie denn keine Erkundigungen einziehen? Oder eine Untersuchung einleiten?« »Wie? Die Zentralität hier ist sehr beschränkt. Wir sind nicht mehr als eine Enklave auf fremdem Boden. Mein ganzes Personal besteht aus Clode und Aleida. Gewiß, sie sind alles andere als überlastet, aber keiner von ihnen eignet sich als Geheimagent, genausowenig wie ich selbst. Es gibt auch keine arrabinische Polizei, mit der wir zusammenarbeiten könnten.« »Aber es muß doch etwas unternommen werden!« »Da pflichte ich Ihnen bei. Doch zuerst müssen wir ein paar Fakten sammeln. Versuchen Sie herauszufinden, wer der vierte Mann gewesen ist. Wäre das möglich?« »Vielleicht«, sagte Jantiff widerstrebend. »Esteban hat ein Labrungsfest organisiert, und dieser Mann beabsichtigt offenbar, daran teilzunehmen.« »Sehr gut. Sehen Sie zu, daß Sie seinen Namen erfahren, und passen Sie auf, was vorgeht. Wenn sie mehr als nur große Reden schwingen, kann ich eingreifen.« »Das ist, als warte man auf den Regen, ehe man das Dach flickt.« Der Kursar lächelte. »Der Regen verrät einem zumindest, wo die undichten Stellen sind. Morgen fahre ich nach Waunisse, zu einer Besprechung mit den Wisperern. Ich werde ihnen erzählen, was Sie mir berichteten, dann können sie die nötigen Schritte unternehmen. Sie sind eine aufgeschlossene Gruppe und
werden die Sache bestimmt nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. Was Sie betrifft, versuchen Sie bitte, mehr zu erfahren.« Jantiff versprach es ihm düster. Er trank seinen Tee aus und verließ die Zentralität. Der Menschenfluß brachte ihn zum Raumhafen. Mit dem bohrenden Gefühl, eine Chance verpaßt zu haben, blickte Jantiff zum Zentralitätsgebäude zurück. Aber was hätte er sonst noch sagen oder tun können? Und unter diesen Umständen, was hätte der Kursar sagen oder tun können? In der Wechselstube des Raumhafens tauschte er fünf Ozol in Scheiben um und kehrte zum Altrosa zurück. Seine Gedanken wanderten zu Kedidah. Sie würde sich über seinen Umzug gewiß freuen. Sarp war schließlich kein sehr angenehmer Mitbewohner. Trotzdem, dachte Jantiff, eigentlich hatte sie sich sehr bestimmt gegen einen Wohnungswechsel ausgesprochen. Aber vermutlich doch nicht in allem Ernst, sagte er sich. Als er im Altrosa ankam, war Skorlet nicht zu Hause. Jantiff packte seine Sachen. Endlich tat sich etwas Angenehmes. Kedidah! Wundervolle, verspielte, liebenswerte Kedidah! Wie überrascht sie sein würde! Doch plötzlich war Jantiff sich gar nicht mehr so sicher. Eine Zukunft ohne Kedidah schien ihm dunkel und einsam, aber – und weshalb es leugnen? – eine Zukunft mit ihr unmöglich! Trotzdem, sie würden schon einen gemeinsamen Weg finden. Natürlich würden sie Uncibal verlassen, aber wohin sollten sie ziehen? Er konnte sich Kedidah mit ihrer Rückhaltlosigkeit, nun, beispielsweise in Frayness nicht vorstellen. Das wären Gegensätze! Aber Kedidah müßte sich
eben beherrschen lernen... Allein der Gedanke daran ließ Jantiff den Kopf schütteln. Er lief im Wohnzimmer auf und ab, drei Schritte vor, drei Schritte zurück. Abrupt blieb er stehen. Der Würfel war gefallen. Er schaute zur Tür: Sarp kam, er mußte gehen. Vielleicht erwies sich alles zum Besten. Kedidah mochte ihn, dessen war er sicher. Zweifellos würden sie sich schon irgendwie vertragen... Die Tür schwang auf. Skorlet trat ein. Sie blieb stehen und starrte ihn finster an. »Alles arrangiert. Haben Sie gepackt?« »Nun ja. Aber ich habe es mir überlegt, Skorlet, ich glaube, ich werde gar nicht ausziehen.« »Was?« schrie Skorlet. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!« »Ich habe mir überlegt, vielleicht...« »Es ist mir egal, was Sie sich überlegt haben! Ich habe alles in die Wege geleitet, und Sie verschwinden jetzt! Ich will Sie hier nicht mehr sehen!« »Bitte, Skorlet! Seien Sie vernünftig! Was Sie wollen, ist nicht ausschlaggebend.« »O doch!« Skorlet schob wie ein Stier den Kopf vor und machte einen Schritt in die Wohnung. Jantiff seinerseits wich einen Schritt zurück. »Ganz ehrlich, Jantiff, Sie fallen mir auf die Nerven! Ständig spionieren Sie herum, lauschen an den Wänden, spähen um die Ecken!« Jantiff versuchte zu protestieren, aber Skorlet achtete gar nicht auf ihn. »Also wirklich, Jantiff, mir reicht es! Ich habe genug von Ihrem unmöglichen Benehmen, ihren lächerlichen Bildern, Ihrer Exzentrik! Sie können nicht einmal kopulieren, ohne ihre Finger zu zählen! Ja, ziehen Sie nur zu dieser... dieser
Schrick*. Dann haben sich zwei gefunden! Wenn Sie Voyeur sind, werden Sie genug zu sehen bekommen. Ha! Sie ist ziemlich unermüdlich. Unzählige Male habe ich Ephtaloten völlig erschöpft davonschlurfen sehen. Vielleicht läßt sie sich zwischendurch auch einmal herab...« »Hören Sie auf!« brüllte Jantiff. »Ich ziehe aus, schon um mir Ihre Tiraden nicht mehr anhören zu müssen!« »Dann geben Sie mir das Geld. Neunhundertzwanzig Scheiben.« »Neunhundertzwanzig!« japste Jantiff. »Sie sagten doch fünfhundert!« »Ich mußte schließlich drei Reservierungen machen: für Sie, mich und Tanzel. Pro Person dreihundert Scheiben, zuzüglich zwanzig für Eventualitäten.« »Aber Sie sagten, Sie hätten selbst hundert Scheiben!« »Ich beabsichtige nicht, sie auszugeben! So und jetzt her mit dem Geld!« Sie stellte sich ganz dicht vor ihn. Jantiff starrte fasziniert in ihr rundes Gesicht. Die Erregung hatte es tiefrot gefärbt, und es sah aus, als würden die winzigen Äderchen jeden Augenblick platzen. Er schauderte, wie hatte er nur je mit ihr ins Bett gehen können? »Das Geld!« Benommen zählte Jantiff neunhundertzwanzig Scheiben ab und gab sie ihr. Sie streckte ihm eine gelbe Karte entgegen. »Das ist für Ihre Teilnahme. Und jetzt ziehen Sie aus oder nicht, mir ist es völlig egal!« *
Nicht übersetzbar.
Die Tür glitt auf. Sarp steckte den Kopf ins Zimmer. »Ist das mein neues Zuhause? Gut. Ein Apartment ist wie das andere. Zeig mir mein Bett.« Jantiff nahm schweigend seine Sachen und verließ die Wohnung. Als Kedidah eine Stunde später heimkam, räumte er gerade seine Farben und Pinsel in eines der Regale im Wohnzimmer. Geistesabwesend fiel dem Mädchen nicht auf, was er tat. »Hallo, Janty. Schön, dich zu sehen. Aber du mußt wieder verschwinden, ich habe heute absolut keine Zeit.« »Kedidah, wir haben viel Zeit. Ich habe es durchgesetzt!« »Großartig. Wie?« »Ich habe Skorlet Geld gegeben, und sie nimmt jetzt den alten Sarp bei sich auf. Endlich wohnen wir zwei beisammen!« Kedidah stemmte steif die Hände in die Hüften, die Daumen starr ausgestreckt. Sie starrte ihn entsetzt an. »Jantiff, welch idiotischer Einfall. Ich weiß nicht, was ich sagen soll!« »Sag: ›Jantiff, wie wunderbar!‹« »Durchaus nicht. Wie kann es wunderbar sein, wenn meine Teamkameraden hier sind und du uns mit finsterer Miene aus der Ecke anstierst, während wir kopulieren? Das verdirbt mir den ganzen Spaß!« Jantiff sperrte wortlos den Mund auf. Schließlich stammelte er: »Sagtest... sagtest du ›meine Teamkameraden‹?« »Allerdings. Ich bin die neue Ephtalotensheirl. Es ist einfach wundervoll! Ich bin schon ganz aufgeregt. Wir machen in den Ausscheidungsspielen mit und wir werden siegen. Ich spüre es tief im Innern, und dann gibt es nur noch herrliche, vergnügte Zeiten!«
Jantiff setzte sich schwer in einen Sessel. »Wer war ihre letzte Sheirl?« »Erwähn sie lieber überhaupt nicht, diese Katrape!* Sie war eine Unglücksbringerin. Ihr Pech steckte alle an. Das mußten die Ephtaloten selbst zugeben. Mach nicht ein so abfälliges Gesicht, Jantiff, du darfst mir schon glauben.« »Kedidah, meine Liebe, hör mir zu. Aber ernsthaft!« Jantiff sprang auf, rannte durchs Zimmer zu ihr und griff nach ihrer Hand. »Bitte, mach nicht ihre Sheirl! Was hast du denn davon? Überleg doch! Wir beide werden unser Leben gemeinsam gestalten und sehr glücklich sein. Gib die Ephtaloten auf! Sag ihnen ab! Dann machen wir Pläne für unsere gemeinsame Zukunft!« Kedidah tätschelte Jantiffs Wange, dann schlug sie ihm heftig ins Gesicht. »Wann gehst du placken?« »Ich habe mein Soll für diese Woche erfüllt.« »Wie dumm für dich. Ich habe nämlich heute abend einige Freunde zu Gast, und da wirst du im Wege sein.« Ein kurzes Schweigen setzte ein. Dann sagte Jantiff. »Du brauchst mich nur wissen zu lassen, wann du die Wohnung für dich benötigst, dann ziehe ich mich zurück, und du kannst dich aufführen, wie du willst.« »Manchmal glaube ich wirklich, daß ich dich aus tiefster Seele verachte, Jantiff Ravensroke. Und verlange nicht von mir, daß ich den Türcode deinetwegen ändere, ich werde es nämlich nicht tun!« Jantiff biß sich auf die Zunge und stürmte aus dem *
Häßliches Schimpfwort, das soviel wie »widerwärtige, stinkende und vulgäre Schlampe« bedeutet.
Zimmer, dem Apartment, dem Altrosa und hinein in den Spätnachmittag. Auf dem Uncibalstrom fuhr er bis zur Marchoury-Abzweigung. Mit gesenktem Kopf stemmte er sich dem heftigen Wind entgegen und bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg durch die dichte Menge, ohne darauf zu achten, wie grob seine Manieren waren. Die wütenden Flüche, mit denen man ihn bedachte, mißachtete er. Schließlich prallte er so heftig mit einer fetten Frau in einem grell orangeroten Kostüm zusammen, daß sie schwer auf das Laufband fiel. Sie hob den Kopf und verdammte ihn mit den ordinärsten Schimpfwörtern. Jantiff eilte hastig davon, während die Dicke sich mühsam erhob. Niemand dachte auch nur daran, ihr aufzuhelfen, dazu waren alle viel zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Niemand beachtete Jantiff oder kritisierte ihn gar. Melancholisch verglich Jantiff das Leben mit diesem Vorfall: gelassen gleitet man, in seine Gedanken vertieft, auf dem Uncibalstrom, stolz auf seine neue orangefarbene Kleidung, und im nächsten Augenblick wirft einen rohe Gewalt kopfüber auf den Boden und unter die Füße der Vorübereilenden. Ruhiger setzte Jantiff seinen Weg fort. Nach dem Sturz der fetten Frau war seine Wut verraucht. Nachdenklich betrachtete er den Strom der auf dem Nebenband entgegenkommenden Menschen. Welch seltsame Geschöpfe sie waren! Aber nicht nur sie, sondern alle Bewohner des Gaeanischen Territoriums. Sorgfältiger studierte er jetzt die Gesichter, als könnten sie ihm einen Hinweis auf die tiefsten Geheimnisse der Existenz geben. Jedes Gesicht war gleich und doch so verschieden voneinander, genau wie eine Schneeflocke der anderen gleicht und doch
so völlig anders ist. Jantiff stellte sich vor, er kenne jedes dieser Gesichter so gut, als hätte er es schon hundert Male gesehen. Dieser mürrische alte Mann dort mochte sehr wohl Sarp sein! Die große dünne Frau mit dem stolz erhobenen Kopf könnte leicht Gougade sein, die auf dem sechzehnten Stock im Altrosa wohnte. Und Jantiff dachte amüsiert, daß ihm ein Doppelgänger entgegenkommen mochte, der ihm in jeder Einzelheit glich. Welche Art von Mensch würde dieser andere Jantiff, diese arrabinische Version seines eigenen traurigen Ichs sein? Doch diese Vorstellung verlor schnell jegliches Interesse für ihn, und Jantiff kehrte zu Unmittelbarerem zurück. Es gab bedauerlicherweise nur wenige Möglichkeiten für ihn, doch zum Glück gehörte sein sofortiger Abflug dazu. Es bestand ohnedies kein Zweifel, daß er genug der Beleidigungen und Tiraden erduldet hatte, von Atz, Söff und Wabbli ganz zu schweigen. Ein plötzlicher Anfall von Abscheu bemächtigte sich seiner, ein Abscheu, der zum größten Teil gegen ihn selbst gerichtet war. War er denn wirklich eine so jämmerliche Kreatur? Jantiff, schäm dich! Kein Selbstmitleid! Was ist mit all deinen großartigen Plänen? Sie hängen ganz allein von dir selbst ab. Willst du sie einfach von dir werfen, nur weil man dich kränkte? Und als ob sie ihm Mut machen wollte, lugte die untergehende Sonne hinter einem dünnen Wolkenschleier hervor und hüllte sich in einen herrlichen Strahlenkranz, dessen prächtige Farben Jantiff gleich das Herz höher schlagen ließen. Die Arrabiner mochten beschränkt, undurchschaubar und unbegreiflich für ihn sein, aber der Dwan leuchtete klar und rein wie das Licht über dem mythischen Himmel
der Götter. Jantiff atmete tief ein. Er würde sich von jetzt an nur noch völlig in seine Arbeit vertiefen. Er würde so starr und stur wie die Arrabiner sein und für keinen mehr menschliches Mitgefühl zeigen. Höflichkeit, ja. Förmliche Rücksichtnahme, ja. Wärme, nein. Zuneigung, nein. Was Kedidah betraf, sollte sie doch Sheirl für vier Teams gleichzeitig machen, wenn sie wollte, seinen Segen hatte sie. Skorlet? Esteban? Was immer auch ihr gemeines Komplott war, er konnte nur hoffen, daß es sie um Kopf und Kragen bringen würde. Und die gelbe Karte und das Labrungsfest? Zur Gruppe mochte vielleicht ein breitschultriger schwarzhaariger Mann mit rauher Stimme gehören. Zweifellos wäre es immer noch angebracht, seine Identität zu erfahren und sie Bonamico mitzuteilen. Und warum sollte er auch nicht an dem Labrungsfest teilnehmen? Schließlich hatte er ja bereits dafür bezahlt, und Esteban würde ihm das Geld ganz sicher nicht rückerstatten. Also, so sollte es von nun an sein! Von jetzt ab war das einzige und wichtigste für Jantiff Ravensroke nur Jantiff Ravensroke und nichts und niemand anderes. Vielleicht sollte er nochmals das Apartment wechseln und mit dem Problem ein für allemal Schluß machen? Und Kedidah verlassen? Unwillkürlich zögerte er. Reizende, törichte Kedidah! Faszinierende Kedidah! Sie hatte ihn ganz schön durcheinandergebracht! Es bestand schließlich immerhin noch die Möglichkeit, daß sie ihre Meinung änderte. Der Teufel hole sie! Weshalb sollte er sich ihretwegen auch nur den geringsten Unbequemlichkeiten aussetzen? Er hatte das gleiche Recht auf das Apartment wie sie, und er gedachte nicht mehr, es
sich schmälern zu lassen. Vielleicht würde ihr sogar seine Gleichgültigkeit auffallen und sie sich möglicherweise gerade deshalb wieder für ihn interessieren? Das wäre durchaus vorstellbar. Jantiff bog in eine weitere Abzweigung ein und wurde von dem neuen Fluß nordwärts getragen. Am Rand vom Disjerferact kaufte er sich ein Dutzend Wasserpuffe, und so gestärkt kehrte er ins Altrosa zurück. Mit sorgloser Kühnheit verschaffte er sich Einlaß in seine neue Wohnung. Kedidah war nicht zu Hause. Jemand hatte etwas mit Kreide in Riesenlettern an die Wand gekritzelt: MORGEN SPIEL! EPHTALOTEN GEGEN DIE SKORNISCHEN BRAGANDER! ÜBUNGSSPIEL HEUTE NACHMITTAG! MORGEN SIEG! EPHTALOTEN ÜBER ALLES! Jantiff las die Zeilen mit verächtlich verzogenen Lippen, dann machte er sich daran, seine Habe in den wenigen Fleckchen des Apartments unterzubringen, wo Kedidah sich nicht breitgemacht hatte. Spät am nächsten Nachmittag brachte Kedidah eine begeisterte Gruppe von Teamkameraden, Freunden und Gratulanten mit nach Hause. Sie rannte durchs Wohnzimmer und zauste Jantiffs Haar. »Janty, wir haben gewonnen! Und du mit deinem Unken!« »Ich weiß«, sagte Jantiff. »Ich habe mir das Spiel angesehen.« »Weshalb freust du dich dann nicht mit uns? Hur-
ra! Hurra! Die Ephtaloten sind die Besten! Jantiff, du kannst zur Party mitkommen! Es gibt noch und noch Stilli. Dann wirst du auch deinen Ärger vergessen.« »Ich bin nicht verärgert«, erklärte Jantiff ihr kühl. »Bedauerlicherweise habe ich jedoch zu tun und kann nicht mitkommen.« »Oh, sei doch nicht so! Ich möchte, daß du die Ephtaloten mit ihrer gloriosen, glückbringenden Sheirl zeichnest!« »Ein andermal«, brummte Jantiff. »Bei einer Party wäre das ohnehin unmöglich.« »Du hast recht. Also, dann morgen oder übermorgen. Doch jetzt – schenkt ein! Etwas großzügiger, Scrive! Auf die Ephtaloten!« Der Lärm wurde Jantiff zuviel. Er verließ das Apartment und stieg zum Dachgarten hoch, wo er sich grübelnd unter einem hohen Busch niederließ. Als er nach einer Stunde zurückkehrte, war die Wohnung leer, aber in einem chaotischen Zustand. Die Sessel waren umgekippt, Steinkrüge lagen zerbrochen auf dem Boden, und jemand hatte Stilli in seinem Bett verschüttet. Er wurde sich Kedidahs Rückkehr nur vage bewußt und ignorierte die Geräusche hinter dem Vorhang auf ihrer Seite. Am Morgen war es Kedidah speiübel. Jantiff lag unbewegt in seinem Bett, während sie wimmerte und stöhnte. Schließlich rief sie kläglich. »Jantiff, bist du wach?« »Natürlich.« »Mir geht es ganz entsetzlich schlecht. Ich glaube, ich kann mich nicht einmal bewegen.« »Oh?«
»Ja, wirklich, Jantiff. Mir tut jeder einzelne Knochen weh. Ich weiß nicht, was mit mir geschehen ist.« »Ich schon.« »Jantiff, ich habe Plackerei, aber ich kann ganz einfach nicht aufstehen. Du wirst doch mit mir tauschen, nicht wahr?« »Kommt gar nicht in Frage.« »Jantiff bitte, sag doch nicht nein. Es ist ein absoluter Notfall. Ich schaffe es einfach nicht. Sei doch lieb zu mir, Janty.« »Ich bin gern lieb zu dir, aber ich werde deine Plackerei nicht übernehmen. Erstens würdest du gar nicht daran denken, einmal für mich zu placken, und zweitens bin ich heute selbst eingeteilt.« »Es ist zum Kotzen, ohhh! Dann werde ich wohl aufstehen müssen. Ich weiß nicht, wie ich es fertigbringen soll. Mein Kopf ist wie ein Riesengong. Au!!!« Während der nächsten beiden Tage verließ Kedidah das Apartment schon früh am Morgen und kehrte erst spät am Abend zurück, so daß Jantiff sie kaum zu Gesicht bekam. Am dritten Tag blieb sie zu Hause, aber das bevorstehende Spiel der Ephtaloten gegen die Favoriten Vergaz Khaldraves schien ihr schwer im Magen zu liegen. Als Jantiff bemerkte, daß sie ja ihre Verbindung mit dem Team abbrechen könnte, starrte sie ihn groß an. »Das kannst du doch nicht im Ernst meinen! Wir brauchen nur noch die Khaldraves zu schlagen, dann sind wir im Semifinale. Danach kommt das Endspiel und dann...« »Das sind aber viele ›und dann‹!« »Aber wir können gar nicht verlieren, Janty. Ist dir denn nicht klar, daß ich ihnen Glück bringe? Das sagen alle! Wenn wir erst gewonnen haben, sind wir
groß heraus! Wir können uns mit Labrung mästen, und mit der Plackerei ist für immer Schluß!« »Sehr schön. Aber möchtest du nicht einmal andere Orte, andere Welten besuchen?« »Wo ich nach der Pfeife der Plutokraten tanzen und acht Tage pro Woche placken müßte? Nein, so ein Leben mag ich mir nicht einmal vorstellen! Es muß ja grauenvoll sein!« »Durchaus nicht. Viele Menschen im Sternhaufen leben so.« »Ich ziehe den Egalismus vor. Der ist für alle einfacher.« »Im Grund genommen tust du es aber gar nicht. Du möchtest gefeiert werden und siegen, damit du Labrung bekommst – die anderswo selbstverständlich ist – und nicht mehr placken mußt. Das ist Elitarismus!« »Nein, das stimmt nicht. Es ist, weil ich Kedidah bin und weil wir gewinnen werden! Du kannst es nennen, wie du willst, aber nicht Elitarismus.« Jantiff lächelte traurig. »Ich werde die Arrabiner nie verstehen.« »Weil du unlogisch bist! Du verstehst ja nicht einmal die einfachsten Dinge. Und den ganzen Tag spielst du mit diesen lächerlichen Farben herum. Ah ja, da fällt mir ein, wann willst du eigentlich unser Bild malen, wie du es versprochen hast?« »Ich weiß nicht. Ich bin mir gar nicht so sicher...« »Also heute geht es nicht, da haben wir Training. Morgen ist das Spiel. Übermorgen geht es auch nicht, denn da müssen wir uns von der Siegesfeier erholen. Du mußt eben warten, Jantiff!« Jantiff seufzte. »Wir vergessen es am besten.«
»Ja, das dürfte das vernünftigste sein. Statt dessen kannst du einen Riesenwandposter malen. Überschrift: DIE SIEGREICHEN EPHTALOTEN. Und darunter oder ringsherum malst du Titanen und zukkende Blitze – alles in Orange und Rot und grellem Grün. Bitte, tu das, Janty. Wir wären begeistert davon.« »Aber, wirklich, Kedidah...« »Du willst also nicht? Eine so winzige Gefälligkeit?« »Na, dann besorg die Farben und das Papier. Ich beabsichtige nicht, meine eigenen für etwas so Geschmackloses zu verschwenden.« Kedidah japste vor Entrüstung. »Du bist unmöglich, Jantiff! Du geizt mit solch wertlosem Kram!« »Für mich ist es weder wertlos noch Kram. Ich habe die Farben von Zeck geschickt bekommen.« »Ach, Jantiff, ich habe keine Lust, mich mit dir herumzustreiten.« Jantiff nahm seine würdevollste Haltung an und verließ wortlos das Apartment. Im Foyer im Erdgeschoß traf er Skorlet. Sie begrüßte ihn mit falscher Herzlichkeit. »Läuft Ihnen nicht schon das Wasser im Mund zusammen? Für das Labrungsfest ist bereits alles arrangiert.« Sie warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. »Ich nehme doch an, daß Sie auch bestimmt kommen werden?« Jantiff gefiel ihr Benehmen nicht. »Natürlich. Weshalb nicht? Schließlich habe ich ja dafür bezahlt.« »Sehr gut. Wir brechen übermorgen schon sehr früh auf.« Jantiff überschlug Tag und Datum. »Das paßt mir gut. Wie viele Personen nehmen daran teil?«
»Genau ein Dutzend. Mehr passen nicht in den Luftwagen.« »Ein Luftwagen? Wie konnte Esteban denn so etwas organisieren?« »Sie dürfen Esteban nie unterschätzen. Er landet immer auf den Füßen.« »Das Gefühl habe ich auch«, sagte Jantiff kühl. Skorlet wurde plötzlich wieder übertrieben fröhlich. »Ach ja, das ist sehr wichtig: nehmen Sie Ihre Kamera mit. Die Zigeuner sind ein farbenprächtiges Völkchen und interessant. Sie wollen sich doch sicher nichts entgehen lassen.« »Es ist bloß etwas, das ich herumschleppen muß.« »Nun, es würde Ihnen jedenfalls ganz bestimmt leid tun, wenn Sie keine Aufnahmen machen könnten. Und Tanzel möchte gern eine Fotografie als Erinnerung. Diesen Wunsch können Sie ihr doch nicht abschlagen, oder?« »Na, meinetwegen.« »Gut. Wir treffen uns dann hier im Foyer, gleich nach dem Wump.« Jantiff sah ihr nach, als sie zum Lift ging. Skorlet wollte offensichtlich ein Andenken an dieses große Ereignis und erwartete, daß Jantiff sie damit versorgte. Nun, sie würde sich vergebens darauf freuen. Jantiff ging hinaus auf die Loggia und setzte sich auf eine Bank. Kurz darauf trat Kedidah aus dem Foyer. Sie blieb stehen, räkelte sich genußvoll und streckte die Arme dem Dwan entgegen, dann machte sie sich beschwingt und bester Laune auf den Weg. Als Jantiff sie in der Menge untertauchen sah, erhob er sich und kehrte in die Wohnung zurück. Kedidah hatte ihre typische Unordnung hinterlassen. Jantiff
räumte auf, so gut er konnte, dann legte er sich grübelnd auf das Bett. Zweifellos war jetzt die Zeit, Uncibal zu verlassen... Skorlets Benehmen in bezug auf die Kamera war recht eigenartig gewesen. Nie zuvor hatte sie sich für Fotografieren oder Fotografien interessiert... Er erwachte erst, als Kedidah mit einer Gruppe stolzgeschwellter Ephtaloten heimkam, die sich mit heiseren Stimmen mit Taktikvorschlägen für das morgige Spiel übertönten. Jantiff legte sich auf die andere Seite und steckte den Kopf unter die Dekke. Aber es half nichts, die Burschen waren zu laut. Schließlich stand er wieder auf und stieg auf den Dachgarten, wo er bis zum Abendwump sitzenblieb. Glühend vor freudiger Aufregung kam Kedidah in den Speisesaal. Sie verzehrte hastig Atz, Söff und Wabbli und zog sich schnell wieder zurück. Als Jantiff in die Wohnung zurückkam, schlief sie bereits, ohne sich die Mühe gemacht zu haben, den Vorhang vor das Bett zu ziehen. Wie unschuldig sie aussieht, dachte Jantiff. Er drehte sich traurig um, zog sich aus und stieg ins Bett. Morgen würden die gefährlichen Khaldraves gegen die Ephtaloten und ihre glorreiche Sheirl in den Kampf ziehen. Am Spätnachmittag des nächsten Tages kehrte Jantiff ins Altrosa zurück. Der Tag war warm gewesen, selbst jetzt schien die Luft noch schwer zu sein. Schwarze Wolken zogen über den Himmel der am westlichen Horizont wie Fischschuppen glitzerte. Jantiff schnitt eine Grimasse. War seine Phantasie viel, viel zu lebhaft, oder hing wirklich ein faulig süßer, ekelerregender Geruch in der Luft? Schaudernd unterdrückte er diesen Gedanken. Welche gräßlichen
Tricks einem die Einbildung spielen konnte! Er zwang sich zu realeren Gedanken und fuhr hinauf zum Apartment. Vor der Tür blieb er in seltsam starrer Haltung stehen: den Kopf gesenkt, die Hand dem Schloß entgegengestreckt. Er schüttelte sich, öffnete die Tür und betrat das leere Apartment. Es war düster und still im Zimmer. Jantiff schloß die Tür hinter sich, ging quer durch das Wohnzimmer und setzte sich in seinen Sessel. Eine Stunde verging. Leise Schritte erklangen auf dem Korridor. Die Tür glitt auf. Kedidah trat ein. Jantiff beobachtete sie schweigend. Schwerfällig steif wie eine alte Frau schleppte sie sich zu ihrem Sessel und setzte sich starr nieder. Jantiff studierte reglos ihr Gesicht. Ihre Wangenknochen schimmerten bleich durch die dünne Haut. Ihre Mundwinkeln hingen herab. Kedidah blickte Jantiff genauso unbewegt an wie er sie. Mit sanfter Stimme sagte sie: »Wir haben verloren.« »Ich weiß«, erwiderte Jantiff. »Ich habe mir das Spiel angesehen.« Kedidahs Gesichtsausdruck veränderte sich um eine winzige Spur. Mit der gleichen sanften Stimme fragte sie: »Hast du gesehen, was sie mit mir gemacht haben?« »Allerdings.« Kedidah beobachtete ihn mit seltsam verzerrtem Lächeln, schwieg jedoch. Tonlos murmelte Jantiff: »Wenn du es in aller Öffentlichkeit erdulden mußtest, wollte ich zumindest so tapfer sein, zuzusehen.« Kedidah drehte sich um und starrte auf die Wand.
Minuten vergingen. Ein Gong erschallte auf dem Korridor. »Zehn Minuten bis Wump«, sagte Jantiff. »Dusch dich und zieh dich um, dann wirst du dich besser fühlen. Dann kommst du mit mir.« »Ich habe keinen Hunger.« Jantiff fiel nichts ein, was er hätte sagen können. Als der Gong zum zweitenmal dröhnte, erhob er sich. »Kommst du jetzt mit?« »Nein.« Jantiff ging in den Speisesaal. Skorlet, die kurz darauf ankam, setzte sich ihm gegenüber. Sie tat, als suche sie den Raum ab. »Wo ist Kedidah? Ist sie denn nicht gekommen?« »Nein.« »Die Ephtaloten verloren heute.« Skorlet bedachte Jantiff mit einem bissigen Lächeln. »Sie haben ganz ordentliche Prügel eingesteckt.« »Ich habe das Spiel gesehen.« Skorlet nickte. »Ich werde nie verstehen, wie eine Frau sich in eine solche Situation bringen kann! Es ist eine absolut unnatürliche Zurschaustellung! Und wenn dann ihr Team verliert, wird es erst grotesk. Es kann doch niemand behaupten, daß nicht volle Absicht dahintersteckt! Das ist doch kriminelle Sexivation, wie sie im Buche steht. Ich begreife nicht, daß sie nicht verboten wird.« »Die Stadien sind immer überfüllt.« Skorlet schnaubte abfällig. »Das mag sein. Die Ephtaloten und Khaldraves und all die anderen Teams von außerhalb verhöhnen uns in unseren Stadien. Weshalb bringen Sie denn nicht ihre eigenen Sheirls mit? Aber nein, dazu sind sie sich zu gut! Es macht ihnen Freude, uns zum Antiegalitarismus zu
verleiten. Das ist doch im Grund genommen Sexivation, oder nicht?« »Ich habe noch nie darüber nachgedacht«, sagte Jantiff teilnahmslos. Skorlet war mit dieser Antwort nicht zufrieden. »Weil Sie selbst kein echter Egalist sind.« Jantiff hatte keine Lust, darauf etwas zu antworten. Skorlet wurde wieder einmal übertrieben herzlich. »Lassen Sie sich davon die Laune nicht verderben. Denken Sie an morgen! An das Labrungsfest! Da können Sie dann den ganzen Tag so antiegalitär sein, wie es Ihnen nur Spaß macht, und niemand wird Sie daran hindern oder Ihnen die Freude nehmen.« Jantiff suchte nach Worten, Skorlet zu erklären, daß ihre Begeisterung für das Fest bedeutend größer war als seine eigene. Als ihm keine einfielen, sagte er, was er wirklich dachte: »Ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob ich überhaupt mitkomme.« Skorlet hob die schwarzen Brauen und starrte ihn durchdringend an. »Was? Nachdem Sie die vielen Scheiben bezahlt haben? Natürlich kommen Sie auch mit!« »Ich bin nicht in der Stimmung dafür.« »Aber Sie haben es doch versprochen!« platzte Skorlet jetzt heraus. »Tanzel erwartet fest, daß Sie Aufnahmen machen. Und ich auch. Und Esteban ebenfalls. Wir verlassen uns auf Sie!« Jantiff brummte irgend etwas, das dagegen sprach, aber Skorlet weigerte sich, sein Nein gelten zu lassen. »Sie kommen also ganz bestimmt!« »Ich möchte nicht...« Skorlet beugte sich unheildrohend vor. Jantiff unterbrach sich abrupt. Er entsann sich des Gesprächs mit dem Kursar. »Nun,
wenn Sie so sehr darauf bestehen, dann komme ich eben mit.« Skorlet entspannte sich und lehnte sich zurück. »Wir brechen sofort nach dem Wump auf. Also treiben Sie sich nicht irgendwo herum. Und vergessen Sie ja nicht, Ihre Kamera mitzubringen!« Jantiff fiel keine Antwort ein, die ihm seine Selbstachtung gerettet hätte. Hastig schluckte er den Rest seines Söffs hinunter, dann stand er auf und verließ schnell den Speisesaal, während Skorlets Blick sich geradezu in seinen Rücken brannte. Er bemühte sich, leise zu sein, als er das Apartment betrat. Das Wohnzimmer war leer. Er warf einen Blick ins Schlafzimmer. Die Vorhänge waren vor Kedidahs Bett gezogen. Ein wenig unsicher blieb Jantiff an der Tür stehen, dann setzte er sich in seinen Sessel und starrte, wie eine Weile zuvor Kedidah, die Wand an. Am Morgen erwachte Jantiff verhältnismäßig früh. Kedidah rührte sich nicht hinter dem Vorhang. Jantiff zog sich leise an und ging in den Speisesaal. Skorlet kam kurz nach ihm und blieb in angeberischer Haltung an der Tür stehen – mit gespreizten Beinen, zurückgeworfenem Kopf und glitzernden Augen. Als sie Jantiff entdeckt hatte, stolzierte sie auf ihn zu. Angewidert hob er die Augen zur Decke. Weshalb mußte sie sich nur so in Pose werfen? Skorlet ignorierte oder bemerkte seine Ablehnung nicht und schwang sich auf den Stuhl neben ihm. Jantiff warf ihr einen ergrimmten Blick aus dem Augenwinkel zu. Sie hatte sich offensichtlich in übermäßiger Eile angekleidet und sich vermutlich nicht einmal die Mühe
gemacht, sich zu waschen. Als sie sich näherbeugte, um an Jantiffs Ärmel zu zupfen, schlug ihm ihr Achselgeruch entgegen. Jantiff zuckte nasenrümpfend zurück, doch auch diesmal nahm sie, entweder aus Abgebrühtheit oder Unaufmerksamkeit, nicht davon Notiz. »Heute ist der große Tag! Essen Sie Ihren Atz nicht, heben Sie ihn für Stilli auf, dann haben Sie um so mehr Appetit auf die Labrung.« Jantiff schaute zweifelnd auf sein Tablett. Als entsinne sie sich plötzlich, griff Skorlet nach den Atzlaiben. »Ach, Sie verstehen ja nicht, Stilli zu brauen. Ich kümmere mich darum.« Jantiff versuchte, sich die Laibe zurückzuholen, doch Skorlet schob sie hastig in ihre Tasche. »Aber ich habe jetzt Hunger!« rief Jantiff entrüstet. »Labrung erwartet uns! Beherzigen Sie meinen Rat. Stopfen Sie sich jetzt nicht mit diesem Atz voll!« Jantiff rückte schnell sein Söff und Wabbli aus Skorlets Reichweite. »Alles schön und gut«, knurrte er. »Aber vielleicht schmeckt mir die Labrung gar nicht.« »Ah, da brauchen Sie keine Angst haben! Die Zigeuner sind großartige Köche. Besseres Essen als ihres bekommen Sie nirgendwo im ganzen Sternhaufen. Erster Gang: Pastetchen mit gewürzter Fleischfüllung, Fischwürstchen, Pfefferpfannkuchen und Borlocken. Zweiter Gang: Auflauf aus Morcheln, Knoblauch und Tittikamm. Der dritte Gang: Waldgemüse mit Muskatsoße und gerösteten Brotwürfeln. Vierter Gang: Über Holzkohle gegrilltes Fleisch mit Zwiebel und Kohlrüben. Fünfter Gang: Törtchen in Blumensirup. Und dazu Houlsbeimwawein, soviel man will. Na, was sagen Sie dazu?«
»Ein sehr beeindruckendes Menü. Ich muß gestehen, ich bin mehr als erstaunt – wo bekommen sie denn alle Zutaten her?« Skorlet machte eine weitausholende Geste. »Von hier und dort. Wen interessiert das schon, solange es gut schmeckt?« »Zweifellos stehlen sie den Bauern Vieh für diesen Zweck.« Skorlet runzelte finster die Stirn. »Also wirklich, Jantiff, was versprechen Sie sich von Ihren Bedenken? Solange das Fleisch zart und saftig ist, kann es Ihnen doch gleich sein, woher es kommt.« »Wie Sie meinen«, Jantiff erhob sich. Skorlet blickte ihn erstaunt an. »Was haben Sie denn jetzt vor?« »Ich muß schnell noch in mein Apartment, um mit Kedidah zu sprechen.« »Beeilen Sie sich. Wir brechen gleich auf. Ich warte unten auf Sie. Und vergessen Sie ja Ihre Kamera nicht.« Mit absichtlich langsamen Schritten spazierte Jantiff zu seiner Wohnung zurück. Die Vorhänge waren immer noch vor Kedidahs Bett gezogen. Sie wird auch noch ihr Frühstück versäumen, dachte Jantiff, außer sie beeilt sich. »Zeit, aufzustehen!« rief er. »Kedidah, bist du wach?« Keine Antwort. Jantiff zog die Bettvorhänge zurück. Kedidah war nicht da. Jantiff starrte auf das leere Bett. Hatte er sie irgendwo auf dem Korridor verfehlt? Nahm sie vielleicht gerade ein Bad? Aber weshalb hatte sie die Vorhänge zugezogen gelassen? Eine schreckliche Ahnung machte sich in ihm breit. Er schaute in ihren Schrank. Ihr neuestes Kostüm und ihre Lieblingssan-
dalen waren verschwunden. Aus der Schublade, in der sie ihr Geld aufbewahrte, fehlten die Scheiben. Er rannte aus dem Apartment, fuhr zum Foyer hinunter und rannte ins Freie, ohne auf Skorlets heiseres Rufen zu achten. Auf den Menschenflüssen bahnte er sich rücksichtslos einen Weg durch die Menge, ignorierte die Flüche der Verärgerten und hielt nur Ausschau nach glänzendem goldbraunen Haar. Im Disjerferact angekommen, rannte er zu den Pavillons des Friedens, bezahlte seinen Eintritt und sah sich um. Auf dem Abschiedspodest las ein rothaariger Mann eine Ode vor einem kleinen Zuhörerkreis. Kedidah war nirgends zu sehen, aber sie würde zweifellos ohnedies kaum in der Stimmung für irgendeine Art von Rede sein. Was war mit der Wohlduftenden Reise? Jantiff warf einen Blick in das blumenbesäte Atrium. Sechs Personen warteten schweigend auf ihren Nachen, doch Kedidah war nicht darunter. Danach eilte er zum Haus der Ruhe und spähte in der Arkade in die goldenen Prismen. Hin und wieder sah er ein flatterndes Kleid, eine tastende Hand, und plötzlich einen flüchtigen Blick auf ein vertrautes, teures Profil. Jantiff klopfte verzweifelt an das Glas. »Kedidah!« brüllte er. Die Prismen bewegten sich. Gerade als das Gesicht sich ihm zuwandte, begann es in einem goldenen Schimmer zu verschwimmen. Jantiff schrie noch lauter, doch Kedidah tauchte nicht mehr auf. »Sie ist nicht mehr«, sagte eine Stimme verdrossen. »Kommen Sie jetzt endlich. Wir warten alle auf Sie.« Als Jantiff sich umdrehte, sah er Skorlet. »Ich bin mir nicht sicher«, murmelte er. »Es sah aus wie sie, aber...«
»Das läßt sich leicht feststellen. Kommen Sie mit zum Empfang.« Sie faßte Jantiff am Ellbogen und führte ihn zum Anmeldeschalter. »Hat sich heute jemand vom Altrosa bei Ihnen eingetragen? Das ist 17–882.« Der junge Mann am Schalter studierte eine Liste. »Ja, von Apartment D6.« »Sie war hier«, wandte Skorlet sich an Jantiff. »Aber sie lebt bereits nicht mehr.« »Arme Kedidah!« »Ja, es ist traurig, aber wir haben keine Zeit, uns der Trauer hinzugeben. Haben Sie Ihre Kamera?« »Sie ist noch in der Wohnung.« »Schrecklich mit Ihnen! Sie hätten aber auch wirklich daran denken können! Alle sind schon furchtbar ungeduldig!« Jantiff folgte Skorlet schweigend zum Eingang, wo Esteban wartete. »Kedidah ging durch die Prismen«, sagte Skorlet. »Wie bedauerlich«, murmelte Esteban. »Es schmerzt mich, das zu hören, sie war immer so fröhlich. Aber jetzt müssen wir zusehen, daß wir weiterkommen. Der Tag vergeht viel zu schnell. Wo ist Tanzel?« »Ich ließ sie im Altrosa zurück. Wir müssen ohnehin noch einmal zurück, auf dem Norddeck.« Jantiff und Skorlet kehrten zum Altrosa zurück. Jantiff fühlte sich merkwürdig beschwingt. Ich bin fast glücklich, sagte er sich. Wie ist das nur möglich, nun, da meine geliebte Kedidah nicht mehr lebt? Vielleicht liegt es daran, daß sie nie wirklich mir gehörte und auch niemals ganz mein geworden wäre. Jetzt bin ich frei von ihr. Ich werde an diesem Lab-
rungsfest teilnehmen und die vierte Person identifizieren, und dann verlasse ich Arrabus auf Nimmerwiedersehen... Komisch, daß Skorlet so auf der Kamera besteht! Wirklich sehr, sehr merkwürdig! Was steckt dahinter? »Ich hole Tanzel und Sie Ihre Kamera«, sagte Skorlet im Foyer. »Dann treffen wir uns wieder hier.« »Müssen Sie ständig andere herumkommandieren?« »Regen Sie sich nicht immer gleich auf. Beeilen Sie sich lieber, wenn Sie schon wissen, daß die anderen nur auf Sie warten!« Jantiff fuhr mit dem Lift hoch, betrat das Apartment, öffnete die safeartige Truhe und holte die Kamera heraus. Er betrachtete sie nachdenklich, dann nahm er die Matrix, die sich darin befand, heraus, ersetzte sie durch eine neue und gab die alte in die Truhe, die er daraufhin wieder verschloß. Skorlets erster Blick, als er im Foyer ankam, galt der Kamera. Sie nickte zufrieden. »Also, auf geht's!« »Beeilt euch!« rief Tanzel. Sie rannte rückwärts zur Tür, um sich zu vergewissern, daß die beiden ihr auch wirklich schnell genug folgten. »Der Flugwagen wird sonst ohne uns abbrausen!« Skorlet lachte grimmig. »Keine Angst. Esteban wird ganz sicher auf uns warten. Wir sind schließlich für den Erfolg des Labrungsfests sehr wichtig.« »Beeilt euch trotzdem!« Sie fuhren auf dem Uncibalstrom zur verabredeten Kreuzung. Mit fast ehrfurchtsvoller Stimme sagte Tanzel: »Denkt doch mal an all diese Millionen um Millionen Menschen – und wir sind die einzigen unterwegs zu einem Labrungsfest! Ist das nicht wunderbar?«
»Es ist antiegalitär, so zu denken«, rügte Skorlet sie. »Du solltest eher sagen: ›Heute sind wir mit einem Labrungsfest an der Reihe.‹« Tanzel lachte spitzbübisch. »Wie du willst, solange wir zum Labrungsfest fahren und niemand anderer.« Skorlet ignorierte ihre Bemerkung. Jantiff amüsierte sich heimlich über Tanzel. Auf gewisse Weise erinnerte sie ihn an Kedidah, obgleich ihr Haar viel kürzer, dunkler und gelockter war. Auch Kedidah war vergnügt und leichtfertig und ungekünstelt gewesen... Jantiff blinzelte ein paar Tränen zurück und blickte zum Himmel hoch, wo vereinzelte Zirruswölkchen über den strahlenden Dwanhimmel zogen. Irgendwo dort oben in diesem Leuchten schwebte Kedidahs Seele dahin. So jedenfalls glaubte es die Wahre Quincux Sekte, der sein Vater und seine Mutter angehörten. Wie schön, wenn auch er daran glauben könnte! Er studierte die Wolken und hoffte auf ein winziges Zeichen, doch er sah lediglich die schillernde Perlmuttfarbe, für die Wyst berühmt war. »Was starren Sie denn in die Luft?« fragte Skorlet barsch. »Ich sehe mir die Wolken an«, erwiderte Jantiff ruhig. Skorlet betrachtete den Himmel ebenfalls, aber sie sah nichts Ungewöhnliches. Doch glücklicherweise schwieg sie. »Da ist die Tumbflußkreuzung!« rief Tanzel über die Schulter. »Ich sehe Esteban und all die anderen auf dem Norddeck!« Jantiff erinnerte sich an seinen Auftrag. Er musterte Estebans Begleiter eingehend. Außer ihm waren es noch acht Personen, vier Männer und vier Frauen.
Jantiff erkannte nur Sarp. Keiner hatte so breite Schultern wie der Mann, dessen Rücken Jantiff im Apartment gesehen hatte. Esteban verschwendete keine Zeit, die einzelnen miteinander bekannt zu machen. Die Gruppe setzte sich sofort westwärts auf dem Uncibalstrom in Bewegung. Nachdem er keinen breitschultrigen schwarzhaarigen Mann unter der Gruppe entdeckt hatte, wurde Jantiff apathisch. Er hielt sich ein wenig hinter den anderen zurück, ja er überlegte sogar, ob er nicht einfach umkehren und zum Altrosa zurückfahren sollte, unauffällig natürlich. Aber was dann? Nur die leere Wohnung erwartete ihn. Nein, der Gedanke behagte ihm nicht. Skorlet und Esteban hatten sich ein wenig von den anderen abgesondert. Sie steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich mit ernsten Gesichtern. Hin und wieder blickte sie verstohlen über die Schulter. Jantiff war überzeugt, daß sie über ihn sprachen. Ein ungutes Gefühl bemächtigte sich seiner. Vielleicht befand er sich gar nicht unter Freunden? Er riß sich aus seiner Teilnahmslosigkeit und musterte die anderen der Gruppe. Keiner hatte ihm sonderlich Beachtung geschenkt, außer Sarp, der hin und wieder einen schadenfrohen Blick auf ihn warf. Vermutlich hing es mit Kedidahs Freitod zusammen. Jantiff seufzte und entschloß sich fatalistisch, doch bei dem Fest mitzumachen. Der Tag hatte ja schließlich erst begonnen, und vielleicht konnte er doch noch etwas in Erfahrung bringen. Am Großen Südtor bog die Gruppe links ab durch den 92. Bezirk und schließlich aus der Stadt hinaus auf eine schlammige Öde, die mit Salzgras, Lumpensack und Kletten überwuchert war. Außer zwei klei-
nen Jungen, die Drachen steigen ließen, befand sich keine Menschenseele weit und breit. Der hier nur noch schmale Fluß führte sie einen Hang aufwärts. Uncibal sah von hier wie Bauklötze aus, deren Farben durch die Entfernung verschwommen wirkten. Als der Fluß zum Außenpostamt abbog, war die Stadt überhaupt nicht mehr zu sehen. In der Ferne entdeckte Jantiff am Fuß der Berge eine Reihe langer, niedriger Gebäude. Fast gleichzeitig wurde ihm ein brummendes, summendes Dröhnen bewußt, das sich beim Näherkommen der Gruppe in hundert verschiedene Geräusche aufteilte: Hämmern, Kreischen von Sägen, Feilen, Pfeifen, das Rattern von Eisenrädern, dumpfes Krachen, Schleifvibrationen und Schrillen. Ein hoher spitzer Eisenzaun verlief quer über die Ebene und bog scharf parallel zum Menschenfluß ab. Offenbar war der Zaun elektrisch geladen, denn in unregelmäßigen Abständen zuckten blauweiße Blitze davon auf. Hinter dem Zaun sah man Gruppen von Männern und Frauen sich über Transportbänder beugen, die mit Steinen beladen waren. Jantiff machte einen schnellen Schritt vorwärts und fragte Sarp: »Was geht dort drüben vor sich?« Sarp folgte seiner deutenden Hand. »Das, Jantiff, ist der Hort für böse Kinder«, sagte er abfällig. »Oder genauer gesagt, das Uncibaler Straflager, dem wir beide bisher glücklicherweise entgangen sind. Doch seien Sie sich nie zu sicher, wie leicht könnten die Mutuellen Ihnen Sexivation beweisen.« Jantiff starrte sie ungläubig an. »Diese Menschen sind alle Sexivationisten?« »Nein, natürlich nicht. Sie sind Kriminelle aller Arten, Arbeitsscheue, Tunichtgute, Prahler und son-
stige Gesetzesbrecher.« Jantiff betrachtete die Gefangenen näher und konnte sich eines höhnischen Lächelns nicht enthalten. »Die Mörder läßt man hier laufen, dafür sperrt man die Prahler und Sexivationisten ein!« »Aber das ist doch verständlich!« rief Sarp. »Wir haben zahllose Menschen, die man ruhig ermorden kann, aber nur einen Egalismus, den man nicht in Gefahr bringen darf. Also verschwenden Sie nicht Ihr Mitleid an diese Burschen. Sie haben alle unsere Gesellschaftsordnung beschmutzt, dafür dürfen sie jetzt Erze für das Metallurgische Syndikat sortieren.« Skorlet schaute über die Schulter. »Das ist wieder mal typisch Jantiff, voll Mitleid, aber immer für die Deviationisten«, sagte sie böse. »Ja, Jantiff, so ergeht es diesen Leuten in Arrabus: Doppelplackerei, keinen Stilli, und dazu werden sie noch dreimal im Jahr angezapft. Kein schönes Leben, nicht wahr?« »Was geht es mich an?« entgegnete Jantiff steif. »Ich bin kein Arrabiner.« »Oh? Ich dachte, Sie seien nach Wyst gekommen, um unsere egalistischen Errungenschaften zu genießen«, sagte Skorlet süß. Jantiff zuckte lediglich die Achseln und wandte sich wieder Sarp zu. »Und was ist dieses Metallurgische Syndikat?« »Es untersteht den fünf Oberunternehmern*, und *
Nach der Weltanschauung der Arrabiner sind die Unternehmer, ihre Techniker und Mechaniker eine Kaste interplanetaren Pöbels, außerhalb jeglicher egalistischer Wertschätzung. Die Arrabiner stellen sich die Unternehmer gern als Arbeitsmeister vor, die sich darum drängen, den noblen Egalisten zu dienen und die sich ihres minderen Status' bewußt sind. Deshalb hört man das Wort »Submission« häufig in bezug auf Unternehmer.
hier lernen die Deviationisten wahrlich den Egalismus.« Sarp kicherte hämisch. »Gestatten Sie mir, diese hohen Lehrer aufzuzählen: Commers, Großritter des Ostwalds. Shubart, Großritter von Blale. Farus, Großritter von Lammerland. Durlak, Großritter von Froke. Malvesar, Großritter von Luess. Das sind fünf gute Plutokraten, trotz Submission. Und Shubart, der die Mutuellen unter Vertrag hat, ist der abgefeimteste von ihnen allen.« »Also wirklich«, sagte Esteban scharf. »Du hast keinen Grund, Shubart zu beleidigen, der immerhin so freundlich ist, uns zum Ao-Wiesengrund zu fliegen. Ohne ihn müßten wir die Bumbuster** nehmen.« Ein Mann namens Dobbo rief scherzhaft über die Schulter: »Was haben Sie gegen die Bumbuster? Gibt es eine bessere Weise, die Landschaft kennenzulernen?« »Und wenn Sie einschlafen, finden Sie sich plötzlich in Blale wieder«, erwiderte Esteban heftig. »Nein, danke, ich fliege schon lieber mit dem Flibbit, und ich lege Wert darauf, daß Unternehmer Shubart die verdiente Hochachtung nicht versagt wird.« Sarp, dem es sichtlich größtes Vergnügen machte, Esteban herauszufordern, ließ sich nicht einschüchtern. »Ich fliege mit Shubarts Flibbit und nehme ihm nichts übel. Er wohnt in einem riesigen Landhaus in Balad, weshalb sollte er sich nicht ›Großritter‹ nennen und mit höchstmöglichem Pomp leben?« »Ich würde es genauso machen«, sagte Dobbo. »Vorausgesetzt natürlich, man gäbe mir die Gelegenheit dazu. Selbstverständlich bin ich egalitär und ha** Bumbuster: Omnibus.
be nichts gegen ein kleines Maß an Plackerei. Aber wenn man mir etwas gibt, dann nehme ich es auch.« »Dobbo nimmt sogar, wenn niemand gibt«, warf Ailas sarkastisch ein. »Wenn er sich einen Titel zulegt, müßte er folgendermaßen lauten: Großritter der Luchserei.« »Oho!« rief Dobbo. »Sie haben eine sehr böse Zunge! Aber ich gebe zu, ich würde alles benutzen, einschließlich dieses Titels.« Der Menschenfluß führte an den Sortierbändern vorbei, dann bog er um Gießerei und Fabrikgebäude und glitt an den Halden und Rampen entlang, an letzteren wurde gerade Roherz abgeladen, und an ein paar Reparaturwerkstätten. Der Menschenfluß teilte sich hier. Esteban führte seine Gruppe zur Endstation des einen Armes vor dem Gebäudekomplex der Verwaltung, und um die Seite herum zu einer Landeplattform mit etwa einem Dutzend Fahrzeugen. Esteban betrat das Transportbüro. Nach wenigen Minuten kam er zurück und dirigierte die Gruppe auf einen alten, eingebeulten Transporter zu. »Alles an Bord zum Labrungsfest!« rief er. »Mit besten Empfehlungen des Unternehmers Shubart, der zufällig ein alter Bekannter von mir ist.« »Wenn du schon auf so gutem Fuß mit ihm stehst«, rief Sarp mürrisch, »weshalb überredest du ihn dann nicht, uns eine Kosmeraß oder einen Dacysäbel zur Verfügung zu stellen?« »Beschwerden werden heute nicht angenommen«, rief Esteban zurück. »Dieser Flibbit ist zwar keine Luxusausführung, aber immerhin komfortabler als ein Bumbuster. Ah, und hier kommt unser Pilot.« Ein kräftiger Mann mit finsteren, ein wenig hän-
genden Zügen, breiten Schultern und schwarzem Haar trat aus dem Verwaltungsgebäude. Jantiff beugte sich vor. War vielleicht das der vierte der Kabale? Unmöglich war es nicht, obwohl ihm dieser Mann eher dicklich als massiv vorkam, im Gegensatz zu dem, dessen Rücken er gesehen hatte. Esteban wandte sich an die Gruppe. »Teilnehmer am Labrungsfest, gestattet mir, euch mit dem ehrenwerten Buwechluter, Faktotum und unentbehrliche Hilfskraft des Unternehmers Shubart, bekannt zu machen. Der Name, den er selbst vorzieht, ist Butsch. Er hat sich freundlicherweise bereit erklärt, uns an unseren Bestimmungsort zu fliegen.« Vor Aufregung ganz aus dem Häuschen, schrie Tanzel: »Ein dreifaches Hoch für den ehrenwerten Butsch! Hoch! Hoch! Hoch!« Esteban warf die Arme in scherzhaftem Tadel hoch. »Nicht zuviel der Huldigung. Butsch ist sehr empfänglich dafür, und wir möchten ja schließlich nicht, daß er eingebildet wird.« Jantiff spitzte die Ohren, als Butsch etwas nicht unbedingt Freundliches vor sich hin brummte. Er studierte seine Züge. Er hatte schmale Augen mit schweren Lidern, schwammige Wangen und wulstige, schmollende Lippen über einem faltigen, zurückweichenden Kinn. Butsch war nicht gerade ein von sich einnehmender Bursche, obgleich er zweifellos eine gewisse tierische Vitalität ausströmte. Er murmelte Esteban etwas zu, das die anderen nicht hören konnten, und schwang sich in den Pilotensitz. »Alles an Bord!« rief Esteban erneut. »Beeilt euch, wir haben bereits eine Stunde Verspätung.« Die Labrungsfestteilnehmer kletterten in den
Transporter und ließen sich nieder. Esteban beugte sich über Butsch und gab ihm Anweisungen. Jantiff studierte Butsch Hinterkopf. Er war sich jetzt sicher, daß der Bursche nicht der vierte der Verschwörung war. Esteban setzte sich unmittelbar hinter den Piloten, der mit fast herablassender Vertrautheit die Kontrollen bediente. Der Transporter hob sich in die Luft und flog südwärts über die Berge. Im Sitz hinter Jantiff unterhielt sich eine Frau namens Cadra mit Ailas, offenbar über Esteban. »Dieser Flug verschönt das Labrungsfest noch über alle Maßen. Plötzlich ist der ermüdende Alltag vergessen. Als Organisator ist Esteban unschlagbar.« »Stimmt«, pflichtete Ailas ihr bedauernd bei. »Ich wollte, ich wüßte, wie er es macht.« »Das ist doch kein Geheimnis«, erwiderte Cadra. »Man braucht nur eine Kombination von Hartnäckigkeit, Einfallsreichtum, Charme, Überredungskunst und Sinn für Zeiteinteilung.« »Um eine noch stärkere Wirkung zu erzielen, füge man Prahlerei und eine Dosis Unverschämtheit hinzu«, warf ein Mann namens Descart ein. Rismo, eine ziemlich große, nicht gerade mit Schönheit gesegnete Frau, sagte ein wenig sarkastisch: »Und was ist mit einem Schuß Glück? Zählt das denn gar nicht?« Cadra kicherte. »Das Wichtigste ist jedenfalls, daß Esteban mit dem Unternehmer Shubart gut bekannt ist!« »Ah, man darf die kleineren Dinge, die Einzelheiten, nicht unterschätzen«, widersprach Ailas. »Esteban hat zweifellos das gewisse Etwas. Draußen in den Schreckenslanden würde er es ganz sicher zu einem
Spitzenunternehmer bringen.« »Oder zu etwas noch Höherem!« »Oder er würde sich als Starmenter einen Namen machen«, meinte Rismo. »Ich kann ihn mir gut vorstellen, wie er in einer weißen Uniform mit goldenem Helm herumstolziert und gewaltige Knüttel an seiner Seite trägt!« »Esteban! Kommen Sie, hören Sie sich das an! Wir überlegen, was Sie in Ihren früheren Inkarnationen gewesen sein mochten!« Esteban kam nach hinten. »Wirklich? Und welcher Schmach setzen Sie mich nun aus?« »O nichts, was für Sie persönlich schmachvoll wäre«, versicherte ihm Cadra. »Wir halten Sie lediglich für ein Muster an Antiegalitarismus.« »Solange Sie mir nicht Gemeinheiten unterschieben«, sagte Esteban lächelnd. »Heute sind wir alle antiegalitär!« erklärte Ailas großspurig. »Wir wollen uns so richtig unserer Laster erfreuen!« »Einen Toast darauf!« rief ein Mann namens Peder. »Esteban, wo ist der Stilli?« »Wir haben keinen an Bord«, erwiderte Esteban kurz. »Zügeln Sie Ihren Durst, bis wir in Galsma sind. Die Zigeuner haben ein ganzes Faß Houlsbeimawein für uns bereitgestellt.« Cadra erkundigte sich schelmisch: »Kennt jemand das Lied, ›Antiegalisten essen Brathähnchen, Arrabiner müssen mit den Federn vorliebnehmen‹?« »Ich kenne es«, antwortete Skorlet. »Aber ich beabsichtige nicht, es zu singen.« »Ach, kommen Sie! Seien Sie nicht so! Ausgerechnet heute!«
»Ich kenne das Lied«, rief Tanzel vergnügt. »Wir singen es im Hort. Es geht so.« Mit ernster Stimme begann sie zu singen. Alle fielen ein, außer Jantiff, der das Lied weder kannte, noch in der Laune war zu singen. Die Landschaft glitt unter ihnen dahin: die Südhänge des Berges, Wälder und Hochmoore, dann Täler, die in einem Hügelland verliefen. Der mächtige Strom Dasme, der so glatt wie ein Aal war, wand sich durch das Gebiet. An einer seiner Biegungen im Südosten tauchte ein Dorf mit etwa hundert kleinen Häusern auf, und der Transporter begann tiefer zu gehen. Jantiff nahm zuerst an, daß das Dorf ihr Ziel sei, doch der Flibbit flog noch etwa dreißig Kilometer weiter: über eine Marsch, die mit Schilf überwuchert war, einen Wald aus grauen und roten Spinnenbeinen, einen trägen Nebenfluß der Großen Dasme, dann über einen weiteren Wald und schließlich hinunter auf eine Lichtung, von der Rauchfahnen aufstiegen. »Wir sind da!« erklärte Esteban. »Noch eine kleine Vorsichtsmaßnahme, die vermutlich bei so erfahrenen Labrungsfestteilnehmern wie Ihnen unnötig ist zu erwähnen. Aber für die neuen dürften meine Worte doch angebracht sein. Tanzel, paß vor allem du gut auf! Die Zigeuner sind ein merkwürdiges Volk, gewiß auf ihre Weise recht nett, aber sie haben ungewöhnliche Sitten und sind alles andere als egalitär. Als Arrabiner bedeuten wir ihnen so gut wie nichts. Trinkt nicht zuviel Wein, schon allein aus dem Grund, um nicht den Appetit an der Labrung zu verlieren. Und natürlich – das müßte eigentlich wirklich nicht gesagt werden – entfernt euch nicht allein von der Gruppe – aus unbekannten Gründen!«
Unbekannte Gründe? Eine seltsame Bezeichnung, dachte Jantiff. Wenn die »Gründe unbekannt« waren, weshalb hatte dann jedes Gesicht einen auffallend leeren Ausdruck angenommen? Er beschloß; bei nächster Gelegenheit Sarp näher zu befragen. Inzwischen, ob aus bekannten oder unbekannten Gründen, würde er jedenfalls Estebans Warnung beachten. Die Zigeuner erwarteten sie am Rand der Lichtung neben einer Reihe von Klapptischen. Jantiff sah als erstes prachtvolle Kostüme in Ocker, Weinrot, Blau und Grün gestreift. Bei näherem Hinsehen erkannte er vier Männer in bauschigen Kniehosen und drei Frauen in knöchellangen Gewändern. Es waren lebhafte, schlanke, dunkelhaarige Menschen von olivbrauner Hautfarbe, mit schmaler, gerader Nase und leicht schrägen Augen unter buschigen Brauen. Ein gutaussehendes Völkchen, dachte Jantiff, aber auf unerklärliche Weise irgendwie abstoßend. Und wieder einmal überlegte er mit leichtem Unbehagen, warum man ihn unbedingt bei diesem Labrungsfest dabeihaben wollte. Weshalb war ihm das gerade jetzt wieder eingefallen? Lag es an dem Gesichtsausdruck der Zigeuner, mit dem sie die Arrabiner heimlich betrachteten? Dem aufmerksamen Beobachter mußte auffallen, daß sie selbst hinter ihrem gleichgültigem Blick ihre Verachtung nicht ganz verbergen konnten. Jantiff fragte sich, ob er überhaupt etwas von dem Zigeuneressen zu sich nehmen sollte. Zweifellos setzten sie den Arrabinern ohne besondere Beachtung der Hygiene alles mögliche, eben gerade Eßbare vor. Er brachte ein trockenes Grinsen über seine Skrupel fertig. Schließlich hatte er selbst Ration um Ration des arrabinischen Wump vertilgt, der aus Stördsch hergestellt
war, ohne auch nur die Miene zu verziehen. Festen Schrittes folgte er jetzt den anderen Teilnehmern über die Lichtung. Trotz Estebans Warnung eilten alle sofort zu dem Faß, wo die jüngste Zigeunerin Wein in hölzernen Krügen verteilte. Jantiff näherte sich ebenfalls dem Faß, doch das Gedränge dort war ihm zuviel, und er drehte sich wieder um. Neugierig betrachtete er die Vorbereitungen. Auf dem langen Tisch standen Töpfe, Terrinen und Schüsseln, aus denen Düfte aufstiegen, die selbst ihm, trotz aller Bedenken, das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Neben dem Tisch brannten dicke Scheite unter einem metallenen Gittergrill. Esteban und der älteste Zigeuner schritten die Tafel ab. Esteban hielt eine Liste in der Hand, die er mit dem Gebotenen verglich. Offensichtlich war alles zu seiner Zufriedenheit ausgefallen. Die beiden drehten sich am Ende des Tisches um und schauten auf die Gruppe um das Weinfaß. Esteban sagte irgend etwas mit ernstem Gesicht. Tanzel zupfte Jantiff am Ärmel! »Bitte, Jantiff, besorge mir einen Krug Wein. Jedesmal, wenn ich an der Reihe wäre, schiebt sich jemand vor.« »Ich werde mein möglichstes tun«, versprach Jantiff ihr, »obgleich es mir nicht besser gegangen ist als dir. Diese Gruppe von Egalisten scheint mir ungewöhnlich durstig zu sein.« Es gelang ihm tatsächlich, zu zwei Krügen mit Wein zu kommen. Einen reichte er Tanzel. »Trink nicht zu schnell, sonst steigt er dir in den Kopf, und du hast dann keine Lust mehr zu essen.« »Diese Gefahr besteht bestimmt nicht«, versicherte
das Mädchen ihm lachend und kostete den Wein. »Schmeckt ja großartig.« Jantiff nippte vorsichtig. Der Wein war herb und leicht mit würziger Blume. »Er läßt sich trinken.« Tanzel nahm einen zweiten Schluck. »Macht das nicht Spaß? Weshalb kann man nicht jeden Tag ein Labrungsfest machen? Alles riecht so gut! Und ich habe einen solchen Hunger!« »Du wirst dich vermutlich überessen und dir den Magen verderben«, warnte Jantiff. »Na und?« Tanzel leerte ihren Krug und streckte ihn Jantiff entgegen. »Bitte...« »Nicht sofort. Warte ein paar Minuten, dann möchtest du vielleicht gar keinen mehr.« »Oh, ich will bestimmt noch mehr, aber es besteht ja wirklich keine Eile. Ich möchte wissen, worüber Esteban sich unterhält. Er schaut ständig zu uns herüber.« Jantiff drehte den Kopf, doch inzwischen hatten Esteban und der Zigeuner ihr Gespräch beendet. Esteban schloß sich der Gruppe an. »Die Vorspeise wird in fünf Minuten serviert. Ich bin mit dem Hetman zu einem Einvernehmen gekommen. Er garantiert uns Entgegenkommen und Bewegungsfreiheit. Jeder ist sicher vor Belästigung, solange er sich nicht allzuweit von der Lichtung entfernt. Der Wein ist von bester Qualität, genau wie ich ihn bestellte. Ihr braucht nach seinem Genuß weder Übelkeit, noch Kopfschmerzen oder Magenbeschwerden zu befürchten. Trotzdem ersuche ich euch noch einmal zu Mäßigkeit.« »Ja, aber nicht übertriebene Mäßigkeit!« rief Dobbo. »Sonst würden wir uns nur selbst um das Beste be-
trügen. Auch Mäßigkeit muß in Maßen gehalten werden.« Esteban, der offensichtlich jetzt bester Laune war, machte eine allesumfassende Geste. »Nun, wie immer auch. Vergnügt euch und genießt jeder auf seine Weise. Das ist der Leitspruch für heute.« »Wir trinken auf Esteban und noch viele künftige Labrungsfeste!« rief Cadra. »Und zur Hölle mit allen Spielverderbern.« Esteban dankte lächelnd für den Toast, dann deutete er auf die Tafel. »Und nun wollen wir uns der Vorspeise erfreuen. Nehmt euch nicht den ganzen Hunger damit, das Fleisch wird soeben auf den Grill gelegt.« Und wieder hielt Jantiff sich zurück, als die Gruppe sich um den Tisch drängte. Sein ganzes Leben lang vergaß Jantiff dieses Labrungsfest nicht mehr. Die Erinnerung erfüllte ihn immer mit einem merkwürdigen Gefühl, das ihm die Kehle zuschnürte und das in wirbelnden Sinneseindrücken kam: die farbenprächtigen Kostüme der Zigeuner, die so sehr mit den bleichen Gesichtern der Arrabiner kontrastierten; die Flammen, die zu den Fleischscheiben auf dem Grill hochzüngelten; der lange Tisch, der sich unter den Töpfen und Schüsseln fast bog; die Teilnehmer am Fest selbst – in Jantiffs Erinnerung wurden sie zu Karikaturen der Völlerei, während die Zigeuner im Hintergrund blieben und sich unauffällig wie Schatten bewegten. Er roch die Düfte wieder: den säuerlichen der Essiggurken und Sweet Pickles, den süßen der Papayas, und den würzigen des brutzelnden Fleisches. Und immer wieder
sah er die Gesichter: Skorlet, deren Gefühle überströmten; Tanzel, die so empfänglich sowohl für Freude als auch Schmerz war; Sarp mit sarkastischer Miene; Butsch, grob und nach Schweiß stinkend; Esteban... Doch nirgends war der vierte Mann der Kabale zu sehen, und so verlor Jantiff den Eifer, der ihn eigentlich erst hierhergebracht hatte. Tanzel trug ihren Krug und einen gehäuften Teller zu der Bank, auf der er saß. »Jantiff! Du hast dir ja gar nichts zu essen geben lassen!« »Ich hole es nach, wenn das Gedränge ein wenig nachläßt.« »Du mußt unbedingt die sauren Gurken probieren. Hier, versuch mal! Schmecken sie nicht wunderbar? Mein Mund zieht sich richtig zusammen.« »Ja, sie schmecken gut.« »Dann beeil dich lieber, sonst ist nichts mehr übrig.« »Es ist mir im Grund genommen egal.« »Jantiff, du bist wirklich ein merkwürdiger Mensch! Entschuldige mich bitte, während ich esse.« Endlich ging Jantiff doch an den Tisch. Er belegte sich einen Teller und nahm den Krug Wein entgegen, den ihm die junge Zigeunerin mit dem gleichmütigen Gesicht am Faß füllte. Als er zu der Bank zurückkam, stellte er fest, daß Tanzels Teller bereits leer war. »Du hast ja einen unheimlichen Appetit!« sagte er kopfschüttelnd. »Was glaubst du denn? Ich habe zwei Tage gehungert. Ich werde mir gleich nachholen. Vielleicht einen dieser himmlischen Pfefferpfannkuchen? Oder Borlocken? Oder meinst du, ich sollte lieber warten, bis das Fleisch verteilt wird?«
»Wenn ich du wäre, würde ich darauf warten«, riet ihr Jantiff. »Dann kannst du später von dem nachfassen, was dir am besten schmeckt.« »Ich glaube, du hast recht. O Jantiff, ist das nicht aufregend? Ich wollte, das Labrungsfest würde nie enden! Jantiff, hörst du mir überhaupt zu?« »Doch, doch, natürlich.« Jantiff war tatsächlich durch einen recht merkwürdigen Vorfall abgelenkt gewesen. Esteban stand mit dem Zigeunerhetman an der Seite der Lichtung und deutete mit dem Krug. Beide drehten sich um und schauten in Jantiffs Richtung. Jantiff tat, als bemerke er es nicht, aber irgendwie war ihm nicht wohl in seiner Haut. Jemand war herbeigekommen. Jantiff schaute auf und sah Skorlet. »Nun Jantiff, wie gefällt Ihnen das Labrungsfest?« »Gut, mir schmecken diese kleinen Würstchen – aber ich möchte lieber nicht darüber nachdenken, woraus sie gemacht wurden.« Skorlet lachte rauh und gleichzeitig schrill. »Weshalb sich Gedanken machen? Wenn es schmeckt, soll man es genießen. Denken Sie daran, es geht schließlich doch alles den gleichen Weg.« »Ja, Sie haben zweifellos recht.« »Essen Sie sich satt, Jantiff!« Skorlet kehrte an den Tisch zurück und füllte ihren Teller ein drittes Mal. Jantiff beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Ihm gefiel ihr Benehmen nicht. Jetzt sah er Esteban über die Wiese auf sie zukommen. Er legte die Lippen dicht an ihr Ohr und stellte ihr offensichtlich eine Frage. Skorlet, die den Mund voll hatte, zuckte die Achseln, und schließlich gelang es ihr, ein paar Worte zu murmeln. Esteban nickte zufrieden. Er machte ei-
nen Bogen um die anderen und näherte sich Jantiff. »Nun, wie geht es Ihnen? Schmeckt's?« »Ja«, erwiderte Jantiff kurz. »Mich interessiert nur«, sagte Tanzel, »wann wir wieder hierherkommen dürfen.« »Ah, wir wollen doch nicht zu Praßnicks werden, die an nichts anderes mehr als an Essen denken.« »Natürlich nicht, aber...« Esteban lachte und tätschelte ihren Kopf. »Keine Angst, wir machen schon wieder einmal Pläne. Also gefällt es dir?« »Es ist einfach wundervoll!« »Laß noch ein bißchen Platz in deinem Magen. Es gibt in Kürze weitere Gerichte.« Er schaute Jantiff an. »Haben Sie schon Aufnahmen gemacht?« »Noch nicht.« »Mein teurer Jantiff! Die Festtafel mit all den guten Speisen! Sie haben sie nicht fotografiert?« »Nein, leider nicht.« »Und unsere farbenprächtigen Gastgeber? Ihre beeindruckenden Gesichter, die scheinbar so unbewegt sind? Ihre prächtigen Kostüme und die spitzen Stiefel? Wenn Sie keine Lust haben, so gestatten Sie bitte mir, Ihre Kamera zu benutzen.« Jantiff zögerte. »Ich – ich weiß nicht recht. Nein, ich glaube, besser nicht. Sie könnten sie möglicherweise verlegen.« »Aber keinesfalls! Vergessen Sie die unbedeutende Episode, sie war lediglich eine Unbesonnenheit. Die Kamera ist bei mir gut aufgehoben, das dürfen Sie mir glauben.« Zögernd holte Jantiff den Apparat hervor. »Vielen Dank. Ich nehme an, auf der Matrix ist
noch genügend Platz?« »Machen Sie so viele Aufnahmen, wie es Ihnen beliebt. Ich habe eine neue Matrix eingelegt.« Esteban erstarrte. Seine Finger um die Kamera verkrampften sich. »Was ist mit der anderen Matrix?« »Sie war fast voll. Ich wollte das Risiko nicht eingehen, sie zu verlegen.« Esteban verharrte einen Augenblick stumm, ehe er zwischen den Lippen hervorpreßte. »Wo ist die alte Matrix? Haben Sie sie bei sich?« Erstaunt über die Heftigkeit der Frage runzelte Jantiff die Stirn. Er bemerkte, daß Estebans Augen wütend funkelten. »Weshalb wollen Sie das wissen?« erkundigte sich Jantiff kalt. »Ich verstehe Ihr merkwürdiges Interesse daran nicht.« Esteban versuchte vergeblich, die Wut zumindest aus seiner Stimme herauszuhalten. »Weil sich auf dieser Matrix auch Aufnahmen von mir befinden, wie Sie wohl wissen dürften.« »Oh, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Der Matrix kann nichts passieren.« Esteban gewann die Haltung zurück. »Dann ist ja alles gut. Weshalb trinken Sie nicht? Es ist echter Houlsbeimawein, das Beste vom Besten.« »Ich werde mir noch holen.« »Ja, tun Sie das!« Esteban stolzierte davon. Ein paar Minuten später sah Jantiff ihn sich erst mit Skorlet, dann mit Sarp unterhalten. Sie sprechen über mich und die Matrix, dachte Jantiff. Estebans Aufnahmen waren zweifellos der Grund, aus dem Skorlet ihn der Kamera wegen so bedrängt hatte. Aber warum waren diese Fotografien so wichtig? Plötzlich glaubte Jantiff es zu wissen. Auf
der Matrix waren höchstwahrscheinlich Aufnahmen des vierten Mannes. Jantiff schüttelte den Kopf über sich. Weshalb hatte er nie daran gedacht, die Matrix zu untersuchen, nachdem er sich die Kamera von Esteban zurückgeholt hatte? Wie dumm von ihm! Aber zu dem Zeitpunkt gab es ja eigentlich auch keinen besonderen Grund dafür. Estebans Privatleben und seine Geschäfte gingen ihn nichts an und interessierten ihn nicht. Doch jetzt war es natürlich anders. Nur gut, daß er die Matrix in seine Truhe gesperrt hatte. Doch da schlich sich ein schrecklicher Gedanke ein. Sarp kannte ja den Code des Verschlusses, da er sie zuvor benutzt hatte, und er, Jantiff, war gar nicht auf die Idee gekommen, den Code zu verändern. Er mußte sich sofort nach seiner Rückkehr darum kümmern! Die Zigeuner nahmen das Fleisch vom Grill und legten es auf lange Holzplatten. Eine der Frauen goß eine Soße darüber; eine andere legte krustige Brotlaibe auf den Tisch; eine dritte brachte eine Riesenschüssel Salat herbei. Dann kehrten sie alle in den Schatten des Waldes zurück. »Kommt an den Tisch!« rief Esteban. »Speist, wie ihr noch nie zuvor gespeist habt! Ausnahmsweise sind wir heute einmal alle Praßnicks.« Die Arrabiner drängten sich um die Tafelt und Jantiff ließ sich auch diesmal Zeit. Eine halbe Stunde später hatten die einzelnen sich bis zum Bersten voll und müde ins Gras gelegt. Esteban raffte sich auf, mit schläfriger Stimme zu rufen: »Vergeßt nicht, die Nachspeise kommt erst: weiße Törtchen in Blumensirup! Gebt noch nicht auf!«
»Gnade, Esteban!« krächzte einer der Gruppe. »Ich bekomme keinen Bissen mehr hinunter!« Ein anderer spöttelte: »Was, das ist dann schon der letzte Gang?« »Serviert mir meine Ration Atz!« »Mit Wabbli, um die Lücken zu füllen!« Die Zigeuner verteilten Schüsselchen mit der Nachspeise und dazu Verbenentee. Dann machten sie sich daran, alles zusammenzupacken. Tanzel flüsterte Jantiff zu. »Ich muß ganz dringend mal verschwinden.« »Dann tu es doch, um Himmels willen.« Tanzel verzog das Gesicht. »Dieser Mensch, Butsch, ist ziemlich aufdringlich. Ich möchte nicht allein gehen, denn ganz bestimmt würde er mir folgen.« »Glaubst du das wirklich?« »Ja, er läßt kein Auge von mir.« Jantiff sah sich auf der Lichtung um und bemerkte, daß Butschs Blick tatsächlich mit mehr als üblichem Interesse an Tanzel hing. »Also gut, dann komme ich mit.« Tanzel ging auf den Waldrand zu. Sofort erhob Butsch sich, wenn auch ein wenig schwerfällig, aber als er sah, daß Jantiff ihr folgte, ließ er sich mürrisch wieder ins Gras fallen. Jantiff holte Tanzel im Schatten der mächtigen Ulmen ein. »Nur noch ein Stückchen«, bat Tanzel, und bald darauf: »Warte bitte hier. Ich bin gleich zurück.« Sie verschwand im Unterholz. Jantiff setzte sich auf einen Baumstumpf und betrachtete die Bäume. Die Geräusche von der Lichtung drangen nur noch stark gedämpft bis hierher. Vereinzelte Dwanstrahlen filterten durch die Baumkronen und warfen goldene
Kringel auf den Boden. Wie weit schienen doch die großen Städte Arrabus' zu sein! Jantiff dachte über sein Leben und Uncibal nach und die Menschen, die er dort kennengelernt hatte, hauptsächlich Altrosaer. Arme stolze Kedidah, die verwirrt und gedemütigt in den Tod gegangen war! Und Tanzel: wie stellte sie sich ihre Zukunft vor? Er blickte über die Schulter und erwartete sie jeden Augenblick zurück. Aber nichts rührte sich. Jantiff faßte sich in Geduld. Drei Minuten vergingen. Jantiff wurde unruhig und sprang auf die Füße. Sie müßte doch zweifellos bereits zurück sein! »Tanzel!« rief er. Keine Antwort. Seltsam. Jantiff stapfte ins Unterholz, sah sich rechts und links um. »Tanzel! Wo bist du denn?« Er sah eine frische Spur im Gras, die vielleicht ein Fußabdruck sein mochte, und in der Nähe in den feuchten Flechten eine Reihe paralleler Kratzspuren. Was konnten sie bedeuten? Verwirrt blieb er stehen. Er blickte schnell über die Schulter, dann benetzte er die trockenen Lippen und rief noch mal nach dem Mädchen, aber seine Stimme war nicht viel mehr als ein vorsichtiges, rauhes Krächzen. Auch jetzt kam keine Antwort. Entweder hatte Tanzel sich verirrt oder war auf einem anderen Weg zum Labrungsfest zurückgekehrt. Jantiff folgte seinen eigenen Spuren und kam so wieder an die Lichtung. Unterwegs sah er sich immer wieder nach Tanzel um und rief ihren Namen. Die Zigeuner waren inzwischen mit all ihren Gerätschaften aufgebrochen. Tanzel war nirgendwo zu sehen.
Esteban bemerkte Jantiff. Sein Kinn sackte sichtlich erschrocken, oder auch verärgert, hinab. Jantiff rief ihm zu. »Tanzel ist in den Wald gegangen. Ich kann sie nirgends finden!« Skorlet kam sofort herbeigelaufen. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Ihr Gesicht war weiß und verzerrt. »Was ist? Was ist? Wo ist Tanzel?« »Sie ist in den Wald gegangen. Sie mußte...«, stammelte Jantiff erschrocken über Skorlets Gesicht. »Ich habe sie gesucht und ihren Namen gerufen, aber – sie ist weg!« Skorlet stieß einen grauenvollen Schrei aus. »Die Zigeuner haben sie mitgenommen! Oh, sie haben sie! Dieses furchtbare Labrungsfest! Und jetzt wird es gleich noch einmal eines geben!« Esteban packte sie am Ellbogen und quetschte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Nimm dich zusammen!« »Wir haben Tanzel gegessen!« heulte Skorlet. »Wo ist der Unterschied? Heute? Morgen?« Sie hob ihr Gesicht zum Himmel und heulte so wild und durchdringend auf, daß Jantiff die Knie zitterten. Estebans Gesicht war ganz grau. Er schüttelte Skorlet an den Schultern. »Komm mit! Wir können sie am Fluß noch abfangen!« Er drehte sich um und brüllte den anderen zu: »Die Zigeuner haben Tanzel! Alle ihnen nach! Zum Fluß, wo wir ihr Boot aufhalten können!« Die Arrabiner liefen hinter Esteban und Skorlet her. Jantiff folgte ihnen ein paar Schritte, aber sein Magen begehrte auf. Halb bewußtlos ließ er sich auf die Knie fallen und übergab sich immer wieder. Jemand in der Nähe krächzte gespenstische Laute
von zwei abwechselnden Tönen. Es dauerte eine Weile, bis Jantiff bewußt wurde, daß er selbst sie ausstieß. Er kroch ein paar Meter über dunkle Flechten, dann ließ er sich mit dem Gesicht voraus auf den Boden fallen. Sein Magen begann sich ein wenig zu beruhigen. Er hatte einen gräßlichen, säuerlich-öligen Geschmack im Mund. Er dachte an die Soße, die über das Fleisch gegossen worden war. Wieder verkrampfte sich sein Magen, und obwohl er schon leer sein mußte, übergab er sich ein weiteres Mal. Mühsam kam er schließlich wieder auf die Beine und schleppte sich zum Pfad zurück. Aus der Ferne war Rufen und Schreien zu hören, aber er achtete nicht darauf. Durch eine Lücke im Buschwerk sah er den Fluß. Er taumelte zum Ufer, spülte sich den Mund aus und badete den Kopf im Wasser, ehe er sich an ein Stück angeschwemmtes Treibholz lehnte. Die Festteilnehmer kehrten, sich mit düsterer Miene unterhaltend, zurück. Jantiff stand schwerfällig auf, aber als er sich zum Weg aufmachte, hörte er erst Skorlets Stimme, dann Estebans Bariton. Sie waren vom Pfad abgezweigt und kamen geradewegs auf ihn zu. Jantiff blieb erschrocken stehen. Er wollte den beiden nicht unbedingt hier an diesem einsamen Fleckchen allein begegnen. Schnell kroch er hinter einen dichtbelaubten Busch. Esteban und Skorlet gingen an ihm vorbei zum Ufer, wo sie den Fluß auf und ab schauten. »Sie sind nirgendwo in Sicht«, krächzte Esteban. »Inzwischen haben sie vermutlich schon fast Aotho erreicht.«
»Ich verstehe es nicht.« Skorlets Stimme zitterte. »Weshalb haben sie dich hereingelegt? Warum dieses falsche Spiel?« Esteban zögerte. »Es kann sich nur um ein Mißverständnis, ein schreckliches Versehen gehandelt haben. Die beiden saßen nebeneinander. Ich sprach mit dem Hetman und erklärte ihm meine Wünsche. Er blickte sich um und fragte, zweifelnd fast, wie es mir schien: ›Diese junge Kreatur?‹ Ich dachte natürlich überhaupt nicht an Tanzel und versicherte ihm: ›Ja, genau.‹ Also nahm der Hetman die jüngere der beiden. Das sind die bitteren Tatsachen. Ich werde sie aus meinen Gedanken verstreichen, und das mußt auch du!« Eine Weile schwieg Skorlet. Dann sagte sie mit rauher, gepreßter Stimme. »Und was machen wir jetzt – mit ihm?« »Zuerst müssen wir einmal die Matrix haben. Um das weitere kümmere ich mich schon.« »Du mußt dich beeilen«, mahnte Skorlet tonlos. »Es ist alles absolut unter Kontrolle. Uns bleiben noch drei Tage.« Skorlet blickte über den Fluß. »Armes kleines Ding, so lieb und fröhlich. Ich ertrage es nicht, an sie zu denken. Aber die Gedanken lassen sich nicht unterdrücken.« »Du mußt dich zusammennehmen«, warnte Esteban, doch auch seine Stimme klang zittrig und gepreßt. »Wir dürfen uns nicht ablenken lassen. Zuviel steht auf dem Spiel.« »Ja, viel zuviel! Manchmal glaube ich, ich müßte darunter zusammenbrechen.« »Also wirklich! Du siehst Gespenster! Die Sache könnte nicht einfacher sein.«
»Es sind keine dummen Ängste! Der Connat ist auch kein Gespenst, sondern nur allzu real.« »Der Connat sitzt in seinem Turm in Lusz und grübelt und träumt. Wenn er nach Arrabus kommt, wird sich herausstellen, daß er so sterblich ist wie jeder andere auch.« »Esteban, sprich nicht davon!« »Die Worte müssen gesprochen werden, die Gedanken gedacht, die Pläne geplant, die Taten getan werden.« Wieder starrte Skorlet stumm über das Wasser. Esteban drehte sich um. »Denk nicht mehr an sie. Komm!« »Der verdammte Fremde lebt, und mein kleiner Liebling ist tot!« »Komm!« drängte Esteban erneut. Die beiden kehrten zum Pfad zurück. Jantiff folgte ihnen nach einer Weile völlig benommen.
8 Die Stimmung der Festteilnehmer, als sie nach Uncibal zurückkehrten, war das Gegenteil von der, mit der sie gekommen waren. Von ein paar gemurmelten Worten abgesehen, fuhr die Gruppe in drückendem Schweigen. Skorlet und Esteban saßen hochaufgerichtet und mit düsteren Gesichtern, ohne nach rechts oder links zu schauen. Jantiff beobachtete sie mit heimlicher Faszination. Noch jetzt rann ihm ein Schauder über den Rücken, wenn er an ihr Gespräch dachte. Sie hatten also beabsichtigt gehabt, ihn von den Zigeunern verschleppen und schlachten zu lassen. Bei den Verwaltungsgebäuden des Unternehmers angekommen, begab Esteban sich mit Butsch ins Innere. Jantiff nahm die Gelegenheit wahr, sich eilig davonzustehlen. Er sprang auf den Menschenfluß und ließ sich nach Norden tragen. Um schneller voranzukommen, half er mit eiligen Schritten nach. Alle paar Minuten blickte er über die Schulter zurück, obgleich ihm bestimmt noch niemand dicht auf den Fersen sein konnte. Er lachte nervös und gestand sich ein, daß er entsetzliche Angst hatte. Durch reinen Zufall war er über etwas Schreckliches gestolpert, und nun war sein Leben dadurch in Gefahr – daran hatte Esteban keinen Zweifel gelassen. Am großen Südtor bog Jantiff nach Osten ab. Er lief weiter mit schnellen Schritten und bahnte sich rücksichtslos einen Weg durch die Menge, bis er endlich vor dem Altrosa ankam. Er hastete durch das Foyer in den Lift. Sein vertrauter süßlicher Geruch kam ihm bereits fremd vor,
er schien ihm schon nicht mehr Teil seines Lebens zu sein. Im neunzehnten Stock hastete er den Korridor entlang zu seinem Apartment. Mit heftig pochendem Herzen blieb er im Wohnzimmer stehen und bemühte sich, wieder klare Gedanken zu fassen. Er sah sich im Zimmer um. Auf Kedidahs Habseligkeiten lag bereits eine hauchdünne Staubschicht. Wie fern sie ihm schon war! In einer Woche würde sie aus der Erinnerung verschwunden sein: so war es in Uncibal. Jantiff trat an seine Truhe und öffnete sie. Er verstaute seine Ozol, seinen Familienanhänger, seine Farben, Pinsel, Stifte, Zeichenblätter und einen Notizblock in seinem Reisebeutel. Dann steckte er sein Flugticket, seine persönlichen Papiere und Scheiben in eine Brusttasche. Die Matrix wog er in der Hand und blickte auf die Tür. Eile kämpfte mit Neugier. Er hatte doch gewiß noch ein paar Minuten, ehe die Festteilnehmer Uncibal erreichten. Er nahm die neue Matrix aus der Kamera, gab die alte hinein, schaltete den Knopf auf Projektion und richtete die Kamera auf die Wand. Er sah die Häuserblocks von Uncibal perspektivisch kleiner werden, die Menschenmenge auf dem Uncibalstrom, die Lehmebene und das Disjerferact; dann das Altrosa: die verblichene Fassade, das Foyer, den Dachgarten; Gesichter: die Wisperer bei ihrer Ansprache, Skorlet mit Tanzel und Esteban, Skorlet allein, Kedidah mit Sarp, Kedidah im Speisesaal, eine lachende und eine nachdenkliche Kedidah. Und dann die Bilder, die Esteban aufgenommen hatte, als die Kamera sich zeitweilig in seinem Besitz befunden hatte: Personen, die Jantiff bekannt und andere, die ihm fremd waren; eine Reihe von Auf-
nahmen eines breitschultrigen, dunkelhaarigen Mannes in dunklem Hemd, etwas hellerer Hose, schwarzen Stiefeln, einer Schirmmütze. Das war der vierte! Jantiff studierte das Gesicht. Die Züge waren grob und wirkten kompromißlos. Die ein wenig zusammengekniffenen Augen unter schwarzen Brauen verrieten Schläue. Irgendwo und noch gar nicht so lange her hatte Jantiff dieses oder ein sehr ähnliches Gesicht gesehen. Er runzelte die Stirn. Könnte es sein... Er fuhr herum, als jemand die Tür zu öffnen versuchte. Als es ihm nicht gelang, klopfte er scharf daran. Jantiff schaltete sofort den Projektor aus. Er holte die Matrix aus der Kamera, zögerte und schob sie in seine Hosentasche. Wieder klopfte es heftig an der Tür. »Machen Sie auf!« rief Esteban drohend. Jantiff erschrak. Wie war Esteban so schnell hierhergelangt? »Ich weiß, daß Sie in der Wohnung sind. Der Portier sagte es mir. Öffnen Sie!« Jantiff trat näher an die Tür. »Ich bin müde«, rief er. »Lassen Sie mich in Ruhe. Wir sprechen uns morgen.« »Ich möchte Sie sofort sehen. Es ist wichtig!« »Aber nicht für mich!« »O doch! Sogar sehr wichtig!« Die Worte klangen drohend, fand Jantiff. Mit heiserer Stimme erkundigte er sich: »Was ist denn so wichtig?« »Machen Sie auf!« »Nicht jetzt. Ich bin gerade dabei, mich schlafen zu legen.« »Also gut, wenn Sie nicht wollen.« Jantiff drückte ein Ohr an die Tür. Zehn Sekunden vergingen, zwanzig. Er hörte dumpf die sich entfer-
nenden Schritte. Einen letzten Blick warf Jantiff als Lebewohl über die Schulter auf das Zimmer mit seinen Erinnerungen. Dann hob er seine Reisetasche und die Kamera auf, öffnete vorsichtig die Tür und spähte hinaus auf den Korridor. Er war leer. Leise schloß er die Tür hinter sich und schritt auf den Lift zu. Voll Grauen dachte er, daß er dabei an Apartment D-18 vorbei mußte, in dem jetzt Sarp mit Skorlet wohnte. Aber die Tür zu D-18 war glücklicherweise geschlossen. Auf den Zehenspitzen eilte Jantiff daran vorbei. Da öffnete sich die Tür. Esteban und Sarp traten heraus. Esteban drehte sich dem Zimmer zu und sagte noch etwas zu Skorlet, aber Sarp entdeckte Jantiff. Er zupfte an Estebans Ellbogen. Esteban wirbelte herum. »Jantiff! Warten Sie! Kommen Sie zurück!« Jantiff dachte gar nicht daran. Er raste zum Lift und drückte auf den Knopf. Die Tür schloß sich unmittelbar vor Estebans verzerrtem Gesicht. Er hielt etwas in der Hand, das metallisch glitzerte. Mit klopfendem Herzen fuhr Jantiff zum Parterre, rannte durch das Foyer hinaus zum Eingang und auf den Menschenfluß. Sarp und Esteban traten aus dem Altrosa. Sie schauten nach rechts und links, und als sie Jantiff entdeckten, rannten sie ihm nach. Rücksichtslos und ohne sich um die empörten Mitfahrer zu kümmern, sprang er auf den Streifen mit der Höchstgeschwindigkeit, mit Beutel und Kamera verkrampft in der Hand. Esteban war fast so schnell wie er, dagegen
blieb Sarp sichtlich zurück. Die Klinge in Estebans Hand war unübersehbar. Jantiff konnte es kaum glauben, aber es hatte tatsächlich den Anschein, als beabsichtigte Esteban, ihn in aller Öffentlichkeit zu ermorden. Das war doch unmöglich! Die Menschen hier würden ihm helfen! Sie würden Esteban zurückhalten! Würden sie es wirklich? Während Jantiff verzweifelt weitereilte und hin und wieder einen Blick riskierte, sah er links und rechts nur gleichgültige oder über seine Eile verärgerte Mienen. Esteban, der sich noch rücksichtsloser als er einen Weg durch die Menge bahnte, kam immer näher. Jantiff sah seine funkelnden Augen, seinen entschlossenen Gesichtsausdruck. Und da hatte er ihn auch bereits erreicht und hob das Messer. Jantiff packte eine große Frau mit scharfgeschnittenen Zügen und stieß sie gegen Esteban. Wütend griff sie nach Jantiff und entriß ihm seinen Reisebeutel. Aber sein Leben war ihm wichtiger. Er überließ ihr den Beutel und die Kamera und floh weiter, mit dem unerbittlichen Esteban dicht auf den Fersen. Auf der Kreuzung gewann Jantiff einen kurzen Vorsprung, verlor ihn in der drängenden Menge jedoch bedauerlicherweise schnell wieder. Zweimal kam Esteban ihm so nahe, daß er mit der Klinge ausholen konnte. Die Menschen zwischen ihnen schrien angstvoll auf und versuchten auszuweichen. Jantiff gelang es jedesmal, der Klinge zu entgehen, einmal, indem er Esteban wieder jemanden entgegenstieß, einen Mann diesmal, so daß beide fielen und Jantiff einen Vorsprung von zehn Meter gewann. Aber irgend jemand, ob beabsichtigt oder nicht, stellte ihm ein Bein, und Jantiff fiel auf das Laufband. Und schon
hatte Esteban ihn wieder erreicht. Während die Menschen ringsum neugierig zusahen und auf den Ausgang des Kampfes warteten, stieß Jantiff Esteban den Fuß in die Genitalien und rollte eilig zur Seite. Als er auf die Füße kam, stieß er eine kleine, heftig schreiende Frau gegen Esteban, der über sie stürzte. Die Klinge entglitt seiner Hand. Jantiff bückte sich danach, aber die Frau schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, und Esteban erreichte das Messer vor ihm. Jantiff heulte fast vor Verzweiflung und floh hastig weiter. Esteban ermüdete. »Luchser! Luchser!« brüllte er. »Haltet den Luchser!« Die Menschen drehten sich um, und als sie Jantiff sahen, wichen sie ihm aus. Estebans Brüllen war demnach zu seinem Vorteil, und er gewann einen beachtlichen Vorsprung – woraufhin Esteban zu schreien aufhörte. Kurz voraus mündete ein Nebenfluß ein. Jantiff rannte darauf zu, als beabsichtige er abzubiegen. Ehe er ihn jedoch erreichte, versteckte er sich hinter den eng zusammengedrängten Menschen und blieb auf dem Uncibalstrom, während Esteban sich hatte täuschen lassen und auf den Nebenfluß abgebogen war, wo er sein Opfer verlor. Bei der nächsten Kreuzung wechselte Jantiff auf eine andere Bahn über und fuhr ostwärts zurück. Er hielt nach allen Seiten scharf Ausschau, aber es sah nicht so aus, als würde er noch verfolgt. Sein Reisebeutel mit all seinen Ozol war weg, ebenso die Kamera. Jantiff fletschte vor Wut die Zähne. Er verfluchte Esteban mit sämtlichen Schimpfwörtern, die ihm einfielen, und schwor ihm bittere Rache. Welch ein furchtbarer Tag! Von jetzt an würde alles anders werden.
Wo der Uncibalstrom den Bogen zum Raumhafen machte, fuhr Jantiff zur Alastor-Zentralität weiter. Er atmete erleichtert auf, als er durch das schwarzgoldene Tor und die Vorhalle trat. Der junge Mann Clode im Schwarz-Beige des connatischen Dienstes erhob sich hinter seinem Schreibtisch. »Ich bin Jantiff Ravensroke von Zeck!« rief Jantiff ihm entgegen. »Ich muß sofort mit dem Kursar sprechen.« »Es tut mir leid, mein Herr«, bedauerte Clode. »Das ist im Augenblick leider nicht möglich.« Jantiff starrte ihn entsetzt an. »Unmöglich? Weshalb?« »Der Kursar hält sich zur Zeit nicht in Uncibal auf.« Jantiff konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Er schaute über die Schulter. Der Hof war leer. »Wo ist er? Wann wird er zurückkommen?« »Er ist in Waunisse, wo er die Wisperer berät, ehe sie nach Numenes aufbrechen. Er kehrt am Aenstag mit den Wisperern an Bord der Seescheibe zurück.« »Aenstag! Noch drei Tage! Was soll ich bis dahin machen? Ich habe ein gefährliches Komplott gegen den Connat aufgedeckt!« Clode blickte Jantiff unentschlossen an. »Wenn das der Fall ist, muß der Kursar so schnell wie möglich davon in Kenntnis gesetzt werden.« »Wenn ich bis Aenstag noch am Leben bin. Ich weiß nicht, wo ich hin soll.« »Was ist mit Ihrem Apartment?« »Ich bin dort nicht sicher. Dürfte ich nicht vielleicht hierbleiben?« »Die Räume sind versperrt. Ich kann Sie deshalb leider nicht hineinlassen.«
Jantiff warf erneut einen Blick über die Schulter. »Wo soll ich nur hin?« »Ich könnte Ihnen lediglich das Travellers Inn empfehlen.« »Aber ich habe keine Ozol mehr! Man hat mir mein Gepäck entrissen!« »Sie brauchen Ihre Rechnung nicht vor Aenstag zu bezahlen. Der Kursar wird Ihnen ganz sicher etwas Geld vorstrecken.« Jantiff nickte düster. Er überlegte, dann holte er die Matrix aus der Tasche. »Bitte geben Sie mir ein Blatt Papier.« Clode schob ihm einen Bogen nebst Schreibstift zu. Jantiff schrieb: Das ist die Matrix aus meiner Kamera. Gewisse dieser Bilder deuten auf ein Komplott hin. Möglicherweise befindet der Connat persönlich sich in Gefahr. Die Verschwörer wohnen im Altrosa, Block 17–882. Sie heißen Esteban, Skorlet und Sarp. Außerdem gibt es noch einen vierten, der mir nicht bekannt ist. Ich werde am Aenstag zurückkommen falls man mich bis dahin nicht bereits ermordet hat. Jantiff Ravensroke Frayness, Zeck Jantiff wickelte das Papier um die Matrix und gab Clode dieses Päckchen. »Passen Sie gut darauf auf«, bat er. »Und händigen Sie es dem Kursar zum erstmöglichen Zeitpunkt aus. Falls ich...« – hier zitterte seine Stimme ein wenig – »... getötet werde, kümmern Sie sich bitte darum.« »Selbstverständlich, Sir. Ich werde mein Bestes tun.«
»Nun muß ich gehen, ehe jemand auf die Idee kommt, mich hier zu suchen. Bitte verraten Sie niemandem, wo ich mich aufhalte.« Clode lächelte ein wenig gequält. »Selbstverständlich nicht.« Jantiff drehte sich um. Nur widerstrebend verließ er die relative Sicherheit der Zentralität. Aber es nutzte nichts. Er mußte sich bis Aenstag im Travellers Inn einquartieren, dann würde schon alles gut werden. Im Schatten des Eingangstors blieb er stehen und sah sich um. Er entdeckte Esteban sofort, der kaum fünfzig Meter entfernt entschlossen auf die Zentralität zukam. Jantiff hielt erschrocken den Atem an. Schnell kehrte er in den Hof zurück. Er drückte sich dicht an die Wand und wartete. Er hörte Estebans Schritte und sah ihn kurz darauf an ihm vorbei über den Hof marschieren. Hastig rannte Jantiff wieder hinaus durch das Tor und auf den Menschenfluß zu. »He, Jantiff!« brüllte Esteban wütend. Als Jantiff auf den Fluß stieg, blickte er über die Schulter. Er sah, daß Esteban am Tor stehengeblieben war und sich offenbar nicht entscheiden konnte, ob er ihn weiterverfolgen oder in die Zentralität gehen sollte. Jantiff fragte sich, was geschehen wäre, wenn der Kursar sich im Haus befunden hätte. Schnell sprang er auf das Band mit der höchsten Geschwindigkeit. Ein letzter Blick zurück verriet ihm, daß Esteban noch immer am Tor stand, dann verlor er ihn aus den Augen. Im Travellers Inn trug er sich als Arlo Jorum von
Pharis, Alastor 458, ein. Ohne Fragen zu stellen, wies der Angestellte am Empfang ihm ein Zimmer zu. Jantiff nahm ein Bad, ehe er sich völlig erschöpft und mit schmerzenden Muskeln auf dem Bett ausstreckte. Er schloß die Augen. Die drei Tage bis Aenstag würden am schnellsten vergehen, wenn er viel schlief. Tief atmete er mehrmals ein und aus. Das Travellers Inn bot ihm zumindest Sicherheit. Falls Esteban daran dachte, ihn hier zu belästigen, brauchte er, Jantiff lediglich die Mutuellen* zu verständigen, die hier im Hotel Dienst taten. Jantiff öffnete die Lider, blinzelte, verzog das Gesicht und schloß sie erneut. Bilder des schrecklichen Tages zogen vor seinem inneren Auge vorbei. Er wand sich auf dem Bett. Sein Magen begann zu knurren. Jantiff setzte sich auf. Er brauchte etwas zu essen. Widerwillig zog er sich an und ging hinunter in die Cafeteria, wo er sich eine Mahlzeit aus Atz, Söff und einem Schälchen Wabbli bestellte, die er sich auf die Zimmerrechnung setzen ließ. Der öffentliche Rundfunk, der bisher seichte Musik gebracht hatte, gab eine Meldung durch: ACHTUNG! ACHTUNG! Ein abscheulicher Mord wurde soeben der Uncibaler Mutualität gemeldet. Der Attentäter ist ein gewisser Jantiff Ravensroke, ein Besucher auf Zeit, Heimatplanet Zeck. Er ist ein frühreifer junger Mann, hochgewachsen, schlank, mit unbestimmt *
Mutualität: Eine unter Vertrag stehende, nichtarrabinische Polizeitruppe von geringer Zahl, unauffällig, aber sehr tüchtig, die direkt dem Abgeordnetenkomitee untersteht.
frisiertem dunklen Haar. Er hat ein schmales Gesicht, eine lange Nase und auffallend grüne Augen. Die Mutuellen ersuchen dringend die Bevölkerung, diesen Mann festzuhalten, damit er der gerechten Strafe nach eingehender Untersuchung nicht entgehen kann. Die Fahndung nach ihm läuft auf höchsten Touren. Egalisten, haltet die Augen offen und Ausschau nach diesem gemeingefährlichen Fremden! Jantiff sprang auf. Er zitterte vor Empörung. Mit weichen Beinen schritt er zu dem Türbogen, der zum Foyer führte. Am Empfang standen zwei Männer in niedrigen schwarzen Hüten und unterhielten sich mit dem Angestellten, der schließlich nervös auf den Lift deutete. Die beiden Männer schritten darauf zu. Sobald sie darin verschwunden waren, trat Jantiff hinaus ins Foyer, schlich unbemerkt an der Wand entlang zur Ausgangstür und stürzte hinaus in die Nacht.
9 Disjerferact, der Vergnügungspark entlang der Lehmebene, hatte Jantiff schon stets mit seinen Gegensätzen und Paradoxa interessiert. Disjerferact! Farbenfroh und fröhlich, laut und improvisiert, ein wertloses Einkaufsparadies für ebenso wertlose Scheiben, wo doch nicht mehr als der Traum eines Traumes erreicht wurde. Im Lichte Dwans und aus einer fernen Perspektive boten die dunkelroten Papierpavillons, die hohen blauen Zelte, die zahllosen Girlanden, Wimpel und Windrädchen ein phantastisches Panorama. Des Nachts flackerten unzählige Fackeln in der vom Meer her wehenden Brise. Die dadurch ruhelos zuckenden, tanzenden, hüpfenden Schatten erweckten den Eindruck eines wilden Festes, das genauso unecht war wie alles andere im Disjerferact. Aber gerade dieser Wirrwarr, dieses Getümmel, bot Jantiff eine einigermaßen sichere Zuflucht, denn wer im Disjerferact kümmerte sich schon um etwas anderes als sein eigenes Vergnügen? Drei Tage lang drückte Jantiff sich in versteckten Winkeln und schmalen Hintergäßchen herum und wagte sich nie heraus, ohne zuerst nach allen Seiten Ausschau nach den schwarzen niedrigen Hüten der Mutuellen gehalten zu haben – und nach Esteban. Tagsüber verkroch er sich in einem schmalen Zwischenraum zwischen einem Essiggurkenverkäufer und der öffentlichen Latrine. Des Nachts wagte er sich mit einem angeklebten Schnurrbart aus seinem eigenen Haar und einem Kopftuch nach Art der Carabbas-Insulaner hervor. Seine Scheiben – die weni-
gen, die ihm nach der Vorauszahlung der Labrungsfestkosten geblieben waren – tauschte er widerwillig gegen Poggets und gebackene Algen um. Tagsüber schlief er, so gut es ging und soweit ihn nicht die Rufe der Händler, die Trompete des Puffwurmverkäufers, das Kreischen der Akrobatenkinder, der Holzschuhtanz in einem Zelt und ähnliche aufdringliche Laute wachhielten. Früh am Aenstagmorgen riß eine öffentliche Bekanntmachung, die aus Megaphonen schallte, Jantiff aus benommenem Schlaf. ACHTUNG! ACHTUNG! Heute brechen die Wisperer zu ihrem Flug nach Numenes auf. Wie bereits in verschiedenen Erklärungen bekanntgegeben, beabsichtigen sie die Durchführung eines kühnen Programms der Neuerungen. Ihr Wahlspruch ist: EIN LEBENSFÄHIGER EGALISMUS MUSS SOWOHL DEN BEDÜRFNISSEN DER ALLGEMEINHEIT ALS AUCH DEM STREBEN DES EINZELNEN RECHNUNG TRAGEN UND DEM MENSCHLICHEN GENIE RAUM LASSEN. Sie begeben sich nach Lusz, um die Hilfe des Connats für ihren neuen Plan zu erbitten. Eure moralische Unterstützung wird ihnen Kraft geben – darum kommt heute alle in die Öffentliche Zone. Die Wisperer verlassen Waunisse an Bord der SEESCHEIBE und werden mittags etwa um zwölf Uhr hier ankommen, um von der Rednertribüne zu euch zu sprechen. Jantiff hörte apathisch zu, während die Megaphone die Bekanntmachung ein zweites und drittes Mal wiederholten. Als die Echos erstarben, erfüllte eine
unnatürliche Stille das Disjerferact, bis der übliche Jahrmarktslärm wieder einsetzte. Jantiff erhob sich auf die Knie. Er spähte aus seinem Spalt nach links und rechts. Als er nichts Verdächtiges bemerkte, stieg er hinaus, um sich unter die Menschenmenge zu mischen. An einem Erfrischungsstand kaufte er sich für eine Scheibe gebackenen Seetang. Er lehnte sich gegen eine Wand und verschlang heißhungrig die knusprigen, wenn auch fad schmekkenden Stränge. Weil er nichts Besseres zu tun hatte, spazierte er ostwärts zur Öffentlichen Zone, bzw. dem ›Feld der Stimmen‹, wie sie auch genannt wurde. Der Kursar kam mit den Wisperern an Bord der Seescheibe zurück. Er würde sich gewiß nicht in die Zentralität begeben, ehe die Wisperer nach Numenes abflogen, also blieb Jantiff genügend Zeit, sich die Rede der Volksvertreter vielleicht aus nächster Nähe anzuhören. Er überquerte Disjerferact und die Lehmebene dahinter, dann die Whery-Slough-Brücke und erreichte schließlich die Öffentliche Zone, ein Gebiet, etwa eineinhalb Kilometer lang und fast ebenso breit. In regelmäßigen Abständen standen Masten mit Vierfachmegaphonen und großen Ziffern, um sich besser auf dem Gelände zurechtzufinden. Dicht am Ostrand erhob sich die hohe Rednertribüne – eine kreisrunde Plattform unter einem Glasschirm. Dahinter begannen die narbigen Start- und Landeplätze des Raumhafens. Noch während Jantiff sich auf der Brücke befand, strömten Tausende in die Öffentliche Zone und drängten sich rund um die Rednerbühne. Jantiff ärgerte sich, daß er nicht näher als höchstens hundert
Meter herankam. Aus dieser Entfernung konnte er die Wisperer nicht so genau studieren, wie er es gern getan hätte. Als der Dwan im Zenit stand, spuckte der Uncibalstrom immer größere Menschenmassen aus, die sich über das Feld der Stimmen verteilten, bis sie dichtgedrängt standen. Wer jetzt noch vom Uncibalstrom kam, konnte nicht absteigen. Er mußte die Schleife weiter- und dann dorthin zurückfahren, wo er hergekommen war. Ein säuerlich-süßer Geruch stieg von der Menschenmenge auf und wurde von der Brise fortgetragen. Jantiff erinnerte sich seines ersten Eindrucks von Arrabus, als er aus dem Raumschiff gestiegen war. Zumindest konnte er jetzt diesen Geruch identifizieren, der damals Verwirrung und eine Spur Ekel in ihm hervorgerufen hatte. Er bemühte sich, zu schätzen, wie viele Menschen sich hier rings um ihn befanden. Gewiß waren es eine Million oder mehr... Plötzlich bemächtigte sich seiner ein Anflug von Klaustrophobie. Er war von allen Seiten eingeengt, konnte sich nicht bewegen. Angenommen, irgend etwas versetzte diese Million von Wesen in Panik? Jantiff stellte sich vor, wie sie übereinander hinwegströmten, einander zertrampelten... eine erwartungsvolle Stille setzte mit einemmal ein, als die Seescheibe sich über dem Wasser näherte. Das Luftfahrzeug flog über den Raumhafen, beschrieb eine Spirale und landete neben der Öffentlichen Zone. Die Tür öffnete sich, ein Steward trat heraus. Ihm folgten die vier Wisperer: drei Männer und eine Frau in Talaren. Ohne auf die Menge zu achten, verschwanden sie auf dem Untergrundlaufband. Zwei Minuten vergingen. Auf dem Feld hoben sich die Gesichter bereits der
Rednertribüne entgegen. Die Wisperer erschienen. Einen Augenblick lang schauten sie schweigend auf die Köpfe der Menschenmasse herab. Vier kleine Gestalten waren es, die im Schatten des gläsernen Schirmes kaum zu erkennen waren. Jantiff bemühte sich, nach dem Fernsehbild, das er gesehen hatte, festzustellen, wer wer war. Die Frau war Fausgard, die Männer waren Orgold, Lemiste und Delfin. Einer der Männer sprach – wer, war von unten nicht zu erkennen –, und tausend Vierfachmegaphone verbreiteten seine Worte. »Die Wisperer sind zutiefst beglückt über die Anwesenheit einer so großen Menge Uncibaler. Eure Anteilnahme verleiht uns Kraft und Mut, die wir für unsere Vorsprache beim Connat benötigen werden. Die Macht der egalitären Doktrin wird allen Widerwärtigkeiten trotzen. Große Ereignisse stehen uns bevor. Bei unserer Jahrhundertfeier können wir auf zehn Jahrzehnte des Erfolgs zurückblicken. Ein neues Jahrhundert liegt vor uns und weitere werden ruhmvoll folgen und jedes wird unseren optimalen Lebensstandard aufs neue bestätigen. Der Egalitarismus wird sich über den ganzen Sternhaufen und das gesamte Gaeanische Territorium verbreiten. So ist es vorherbestimmt, wenn ihr es so wollt. Wollt ihr es?« Der Wisperer machte eine Pause. Ein gleichgültiges, ja unentschlossenes Murmeln der Zustimmung erhob sich allmählich von der Menschenmenge. Jantiff war ein wenig verwirrt. Der Tenor der Rede war nicht im Einklang mit der Ankündigung, die er erst vor ein paar Stunden im Disjerferact gehört hatte. »Und so soll es denn sein!« erklärte der Wisperer, und seine Worte dröhnten aus tausend Vierfachme-
gaphonen. »Es wird keine Umkehr, kein Zaudern geben. Egalitarismus für immer! Die großen Feinde der Menschheit sind Überdruß und Plackerei! Wir haben ihre uralte Tyrannei gebrochen. Überlassen wir den Unternehmern das Placken für ihren Unterhalt. Der Egalitarismus wird die totale Emanzipation der Menschheit sichern! Und nun werden die Wisperer sich nach Numenes begeben, im Namen aller Egalitaristen. Wir werden dem Connat unser Manifest unterbreiten und mit ihm unsere drei wichtigsten Anliegen erörtern. Erstens: Schluß mit der Einwanderung! Mögen die, die uns beneiden, auf ihren eigenen Welten den Egalismus einführen. Zweitens: Wir Arrabiner sind ein friedliebendes Volk. Wir fürchten keinen Angriff, wir beabsichtigen keine Aggression. Weshalb müssen wir dann für den Schutz des Connat Subsidien bezahlen? Wir benötigen weder seinen Rat, noch die Unterstützung seiner Streitkräfte und auch nicht die Beaufsichtigung seiner Bürokraten. Wir werden deshalb fordern, daß unsere Jahressteuern herabgesetzt, bzw. daß wir ganz von ihnen entbunden werden. Drittens: Unsere Exportgüter werden schlecht bezahlt, während wir horrende Forderungen für Importartikel zu begleichen haben. Im Grund genommen kommen wir dadurch für die unfähigen Systeme anderer Welten auf. Seid versichert: eure Wisperer werden dafür sorgen, daß ein gerechterer Wechselkurs von Ozol und Scheibe erreicht wird. Wir werden einen Kurs 1:1 verlangen. Ist eine Stunde unserer Arbeit nicht genausoviel wert wie die Arbeitsstunde, sagen wir, eines milchgesichtigen Schwindlers auf Zeck?«
Jantiffs Kopf zuckte zurück. Er runzelte die Stirn. Diese Bemerkung war sowohl absurd als auch unpassend. Die Megaphone dröhnten weiter. »Unsere Jahrhundertfeier ist nah. Wenn wir in Lusz sind, werden wir den Connat dazu einladen, damit er unsere großen Errungenschaften gebührend bewundern kann. Sagt er ab, hat nur er zu verlieren, nicht wir. Auf jeden Fall werden wir euch bei einer baldigen Zusammenkunft aller arrabinischen Egalitaristen Bericht erstatten. Wir fliegen jetzt nach Numenes ab. Wünscht uns Glück!« Die Wisperer hoben grüßend die Arme. Die Menge erwiderte ihren Gruß mit einem höflichen Rufen. Die Wisperer traten von der Tribüne zurück und schwanden außer Sicht. Wenige Minuten später sah man sie aus dem Tunnel kommen und in einen wartenden Wagen steigen, der sie zum Raumschiff Eldantro brachte. Die Menge verließ das Feld ohne Eile. Jantiff aber war ungeduldig und bemühte sich, sich einen Weg durch die Massen zu bahnen, trotzdem brauchte er gute zwei Stunden, ehe er schweißüberströmt, erschöpft und schlechtester Laune den Uncibalstrom erreicht hatte. Er fuhr direkt zur Alastor-Zentralität. Diesmal saß nicht Clode hinter dem Schreibtisch, sondern eine große, stattliche Frau mit gewaltigem Busen und strengen Zügen. Sie trug eine weiße Bluse und einen nüchternen Kleiderrock aus grauem Köper. Ihr Haar war hochgekämmt und mit einer hübschen Silberklammer zusammengehalten. Genau wie bei Clode erkannte man sofort, daß sie keinesfalls von Arrabus stammte. »Kann ich Ihnen behilflich sein, mein
Herr?« fragte sie höflich. »Ich muß unbedingt sofort den Kursar sprechen«, sagte Jantiff und warf, was nun bereits zur Gewohnheit bei ihm geworden war, einen schnellen Blick über die Schulter. »Es handelt sich um eine äußerst dringende Angelegenheit.« Die Frau musterte Jantiff zumindest fünf Sekunden lang, und jetzt erst wurde ihm bewußt, in welchem Zustand er und seine Kleidung sich befanden. Hörbar weniger höflich erklärte sie ihm: »Der Kursar ist nicht in seinem Büro. Er kam noch nicht von Waunisse zurück.« Jantiff ließ vor Enttäuschung die Schultern hängen. »Ich erwartete ihn heute«, sagte er kläglich. »Er sollte mit den Wisperern zurückkommen. Ist Clode hier?« Wieder musterte die Frau Jantiff eindringlich, daß er unter ihrem Blick ganz klein wurde. »Clode ist nicht hier«, erwiderte sie schließlich. »Ich bin Aleida Gluster, Beamtin im connatischen Dienst. Wenn Sie etwas Geschäftliches mit Clode zu erledigen hatten, kann ich Ihnen gewiß ebenfalls helfen.« »Ich ließ ein Päckchen bei ihm zurück mit einer Fotomatrix, die ich ihn bat, dem Kursar sofort nach dessen Rückkehr auszuhändigen. Ich wollte mich nur erkundigen, ob es gut aufgehoben ist.« »Es ist leider kein solches Päckchen hier im Amt. Und ich bedauere, Ihnen sagen zu müssen, daß Clode Morre tot ist.« Jantiff starrte sie entsetzt an. »Tot?« Er blinzelte. »Wie ist das passiert? Und wann?« »Vor drei Tagen. Er wurde von einem Meuchelmörder angegriffen und durch einen Messerstich in die Kehle getötet. Es ist sehr tragisch für uns.«
Mit heiserer Stimme erkundigte sich Jantiff. »Wurde der Mörder bereits gefaßt?« »Nein, aber man hat ihn als einen gewissen Jantiff Ravensroke von Zeck identifiziert.« Mühsam gelang es Jantiff zu fragen: »Und das Päckchen, das ich abgab, ist verschwunden?« »Es ist zweifellos nicht im Büro.« »Wurde der Kursar unterrichtet?« »Selbstverständlich. Ich verständigte ihn telefonisch in der Waunisser Zentralität.« »Bitte rufen Sie doch noch einmal an. Wenn der Kursar dort erreichbar ist, muß ich unbedingt mit ihm sprechen. Ich versichere Ihnen, es ist eine Sache auf Leben und Tod.« »Und unter welchem Namen soll ich Sie melden?« Jantiff versuchte, mit einer schwachen Geste diese Frage als unwichtig abzutun. »Mein Name ist wirklich von keiner großen Bedeutung.« »Ihr Name ist ganz im Gegenteil sehr wichtig«, versicherte ihm Aleida. »Ist er vielleicht Jantiff Ravensroke?« Jantiff wurde unter dem forschenden Blick immer kleiner. Schließlich nickte er resignierend. »Ja, ich bin Jantiff Ravensroke, aber ich bin kein Mörder.« Aleida warf ihm erneut einen Blick zu, den Jantiff nicht zu deuten wußte, dann griff sie nach dem Telefon. »Hier ist Aleida von der Uncibaler Zentralität. Dürfte ich mit Kursar Bonamico sprechen?« Eine Stimme antwortete: »Kursar Bonamico ist nach Uncibal zurückgekehrt. Er flog in Begleitung der Wisperer in der Seescheibe.« »Merkwürdig. Er ist noch nicht ins Büro gekommen.«
»Offenbar wurde er irgendwo aufgehalten.« »Ja, sicher. Vielen Dank.« Aleida Gluster wandte sich wieder an Jantiff. »Wenn Sie nicht der Mörder sind, weshalb behaupten die Mutuellen es dann?« »Sie täuschen sich. Ich kenne den Mörder. Er hat gute Beziehungen zu dem Unternehmer Shubart, der die Mutuellen unter Vertrag hat. Ich möchte dem Kursar so schnell wie möglich alle Tatsachen unterbreiten.« »Verständlich.« Aleida blickte hoch und durch die Fenster in den Hof. »Die Mutuellen kommen gerade hierher. Sie können sie von den Tatsachen unterrichten.« Jantiff blickte furchterfüllt über die Schulter und sah zwei Männer mit schwarzen Hüten stolzen Schrittes über den Hof kommen. »Nein, Sie werden mich mitnehmen und töten! Was ich dem Kursar zu sagen habe, ist ungemein wichtig, und sie möchten nicht, daß er es erfährt.« Aleida nickte grimmig. »Treten Sie in das innere Büro, schnell!« Jantiff rannte in das Zimmer des Kursars und schloß hastig die Tür hinter sich. Dann drückte er ein Ohr dagegen. Er hörte gedämpfte Schritte, und gleich darauf Aleidas Stimme: »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« Ein resonanter Bariton erklärte: »Wir haben den Auftrag, einen gewissen Jantiff Ravensroke festzunehmen. Befindet er sich im Gebäude?« »Sie sind die Mutuellen«, sagte Aleida kurz. »Sie müssen die Tatsachen selbst feststellen.« »Die Tatsachen sind folgende: seit drei Tagen überwachen wir bereits dieses Haus, um zu verhin-
dern, daß der Attentäter einen zweiten Mord versucht – möglicherweise an Ihnen. Vor fünf Minuten sah man Jantiff Ravensroke die Zentralität betreten. Bitte rufen sie ihn, dann nehmen wir ihn in Schutzhaft.« Aleida Gluster sagte mit eisiger Stimme: »Jantiff Ravensroke wurde des Mordes beschuldigt, das stimmt. Das Opfer war Clode Morre, Beamter im connatischen Dienst, und das Verbrechen wurde auf dem exterritorialen Boden der Alastor-Zentralität verübt. Die Aufklärung dieser Untat und die Bestrafung liegt demnach außerhalb des Verantwortungsbereichs der Mutuellen.« Nach einer Pause von zehn Sekunden war wieder der Bariton zu hören. »Wir haben unsere Befehle. Wir müssen unsere Pflicht tun und das Gebäude durchsuchen.« »Sie werden nichts dergleichen tun«, sagte Aleida Gluster. »Bei Ihrer ersten verdächtigen Bewegung drücke ich auf zwei Knöpfe. Der erste wird Ihre Auslöschung durch Robotsensoren herbeiführen, der zweite ruft die Whelme.« Der Bariton schwieg. Jantiff vernahm die zögernden, sich zurückziehenden Schritte. Die Tür schwang auf. Aleida blickte herein. »Schnell, bringen Sie sich in Sicherheit, das ist Ihre einzige Chance. Die Burschen sind im Augenblick verwirrt und kehren zu ihren Vorgesetzten zurück, um Bericht zu erstatten. Dann werden sie erfahren, daß ich die Exterritorialität selbst verletzte, als ich den Mord an Clode meldete.« »Aber wohin soll ich denn gehen? Wenn ich irgendwie an Bord eines Raumschiffs gelangen könnte!
Ich habe mein Flugticket...« »Die Mutuellen werden ganz sicher den Raumhafen überwachen. Gehen Sie in den Süden! In Balad ist ebenfalls eine Art Raumhafen. Fliegen Sie von dort ab.« Jantiff verzog das Gesicht. »Balad ist Tausende von Kilometern von hier entfernt.« »Das wohl. Aber wenn Sie in Uncibal bleiben, wird man Sie ganz sicher festnehmen. Verlassen Sie das Haus jetzt durch den Hinterausgang. Und wenn Sie in Balad angekommen sind, rufen Sie bitte die Zentralität an.« Jantiff war gegangen. Aleida Gluster schüttelte empört und wütend den Kopf und setzte eine Botschaft auf: An den Connat in Lusz: Zu meiner größten Sorge und Bestürzung spitzen die Dinge sich hier in jeder Beziehung zu. Besonders fürchte ich für den bedauernswerten Jantiff Ravensroke, der sich in schrecklicher Gefahr befindet. Wenn nicht sofort jemand einschreitet, wird es ihn den Kopf kosten. Man bezichtigt ihn eines abscheulichen Verbrechens, aber er ist ganz sicher unschuldig wie ein Lamm. Sekretär Morre wurde ermordet und Kursar Bonamico ist nicht auffindbar, deshalb riet ich Jantiff, ungeachtet des beschwerlichen und langen Weges, sich in die südlichen Schrekkenslande zurückzuziehen. Ich schicke diese Nachricht voll Verzweiflung und kann nur hoffen, daß bereits Hilfe unterwegs ist. Aleida Gluster, Sekretärin Alastorianische Zentralität Uncibal
10 Mit hängenden Schultern und bedrückter Miene fuhr Jantiff den Uncibalstrom westwärts: weg vom Raumhafen, weg von der Alastorianischen Zentralität, weg für immer von dem Altrosa mit seinen unangenehmen Erinnerungen, wo all seine Schwierigkeiten angefangen hatten. Bilder wirbelten bruchstückhaft durch sein Gehirn, angeregt durch seinen Grimm und seine Bedenken, allein bei der Vorstellung, daß er die Schreckenslande bereisen mußte. Wie weit war es bis Balad? Tausend Kilometer? Zweitausend? Dreitausend? Auf jeden Fall eine ungeheure Entfernung durch Waldgebiete, überwucherte Ruinen und breite, träge Flüsse, die im Dwanschein wie Quecksilber glitzerten... Eine vage Erinnerung erwachte in Jantiff: die Erwähnung eines Omnibusses, der vom Metallurgischen Syndikat abfuhr. Jemand hatte einen Witz gemacht, daß man, falls man einschlief, erst wieder in Balad erwachen würde. Das mußte doch soviel bedeuten, daß es eine Busverbindung nach Balad gab. Allerdings kostete eine Beförderung auf Wyst sehr viel, wenn man mit Scheiben dafür bezahlen mußte, und Jantiff waren nur noch wenige geblieben. Widerstrebend dachte er an sein Familienamulett: ein aus Rosenquarz geschnitzter Anhänger an einem Armband. Vielleicht konnte er dafür eine Fahrkarte nach Balad erstehen? Also fuhr Jantiff durch den Spätnachmittag, die Dämmerung und schließlich die Nacht. Am Großen Südtor bog er ab und nahm dieselbe Route, die sie für das Labrungsfest genommen hatten. Wie lange das
bereits zurückzuliegen schien, dabei waren erst vier Tage vergangen! Jantiff verkrampfte sich allein bei der Erinnerung daran der Magen. Südwärts glitt er auf dem Menschenstrom dahin, hinaus zum Stadtrand. Die Wolken hingen tief, und so war die Nacht feucht und dunkel. Kalte Nebelschwaden wehten durch die Straßen des 92. Bezirks, und die Lichter darüber wurden zu gespenstischen Leuchtkugeln. Nur wenige Menschen waren zu dieser Zeit unterwegs, und dort, wo der Fluß die Stadt verließ, war Jantiff nahezu der einzige darauf. Der Menschenfluß führte einen langen Hang hinauf. Uncibal dahinter und darunter wurde zu einem Band verschwommenen Lichtes, das sich weit von rechts nach links ausbreitete. Dann erreichte der Fluß das Außenpostental, und Uncibal war verschwunden. Voraus tauchten die Lichter des Metallurgischen Syndikats auf. Der Zaun verlief schließlich parallel zu dem Menschenfluß. In der Dunkelheit wirkten die Blitze, die am elektrischen Gitter entlangzuckten, noch viel gefährlicher als bei Tag. Gewaltige Erz- und Schlackenhalden hoben sich gegen die Lichter ab. Ein Fluglaster lud krachend Erz in eine Lore. Jantiff sah mit plötzlichem Interesse zu. Vermutlich würde der Laster leer in die Minen zurückkehren, und diese Minen befanden sich in Blale, am Südrand der Schreckenslande. Das wäre ein schnelles und billiges Transportmittel, wenn er sich seiner bedienen konnte. Jantiff stieg vom Menschenfluß. Der Laster setzte den Rest seiner Ladung jetzt an einer anderen Stelle ab. Nun befand sich zwar kein Zaun mehr zwischen ihnen, aber dafür war das Gelände taghell erleuchtet. Man würde ihn zweifellos
entdecken, wenn er sich dem Laster aus Richtung des Menschenflusses näherte. Jantiff kehrte zum Fluß zurück und fuhr etwa hundert Meter über den beleuchteten Platz hinaus. Dann stieg er ab und stapfte durch ein dunkles, feuchtes Terrain, von dem ein unangenehm ätzender Geruch aufstieg. Jantiff fluchte leise vor sich hin. Endlich hatte er die sichthemmende Halde hinter sich. Der Boden wurde fester, aber leider mußte er feststellen, daß der Laster soeben aufbrach und in der Nacht verschwand. Verzweifelt blickte er ihm nach. Er fröstelte in der kalten Brise und fühlte sich verlassener als je zuvor in seinem Leben, als triebe er allein durch die endlose Schwärze des Alls. Schließlich straffte er die Schultern. Es hatte keinen Sinn, reglos in der Kälte herumzustehen, auch wenn ihm nichts Besseres einfiel. Da streiften Lichter über den Himmel: noch ein Fluglaster! Er landete neben einem Kippwagen. Der Pilot lehnte sich aus dem Fenster, um die Weisungen des Lorenfahrers entgegenzunehmen. Ratternd polterte die Ladung in den kleinen Wagen. Jantiff machte sich bereit. Der Fluglaster glitt weiter zu einer Lore neben der Schlackenhalde. Schlacke donnerte eine Rutsche hinunter auf den Laster. Jantiff rannte, was er konnte. Er kletterte auf einen waagrechten Flansch am Fuß der Transportbehälter, doch er suchte vergebens nach einem sicheren Griff. Hier gab es nur senkrechte Flansche, die ihm lediglich Halt bieten würden, solange der Laster nicht startete. Mit Müh und Not kletterte er hoch und schwang sich in den Erzbehälter, in den ausgerechnet
jetzt Schlacke herabschoß. Wie in einem Veitstanz hüpfte Jantiff herum, um zu verhindern, daß er unter ihr verschüttet wurde. Der Pilot drehte den Kopf. Jantiff warf sich flach auf die Schlacke. Hatte der Mann ihn gesehen? Nein, offenbar nicht. Der beladene Laster erhob sich in die Luft und glitt durch die Finsternis. Jantiff atmete erleichtert auf. Arrabus gehörte der Vergangenheit an! Der Laster flog zwei oder drei Kilometer, dann wurde er langsamer und schien auf der Stelle zu schweben. Jantiff hob erstaunt den Kopf. Was war los? Ein Licht aus dem Pilotenhaus erhellte die Ladefläche. Der Pilot kletterte aus seinem Abteil und schritt eine schmale Rampe nach hinten. Mit barscher Stimme rief er zu Jantiff hinunter: »Heraus mit der Sprache, Bursche! Was hast du vor?« Jantiff kroch über die Schlacke, so gut es ging, bis er sich endlich erheben konnte, dann blickte er zu der drohenden Gestalt hoch. Ihm gefiel gar nicht, was er sah. Der Pilot war ein ausgesprochen häßlicher Mann. Sein rundes bleiches Gesicht steckte scheinbar ohne Hals auf einem tonnenförmigen Rumpf. Die Augen standen ungewöhnlich weit auseinander. Die winzige Knopfnase schien viel zu klein zu sein, ihre Funktion für einen so gewaltigen Körper erfüllen zu können. Mit noch barscherer Stimme wiederholte der Kerl: »Was hat du vor? Hast du die Warnungen nicht gelesen? So leicht entgehen uns keine entflohenen Sträflinge!« »Ich bin kein Sträfling!« versicherte ihm Jantiff. »Ich möchte nur aus Uncibal heraus und durch die Schreckenslande nach Blale kommen.« Der Pilot musterte ihn spöttisch. Zweifellos glaubte
er ihm kein Wort. »Was willst du denn in Blale? Du brauchst dir nicht einzubilden, daß es da kostenlosen Wump gibt. Dort muß jeder für seinen Unterhalt arbeiten.« »Ich bin kein Arrabiner«, erklärte ihm Jantiff hastig. »Ich bin nicht einmal ein Immigrant, lediglich ein Besucher hier. Ich wollte Wyst kennenlernen, weil ich dachte, es würde mir gefallen, doch nun habe ich keinen anderen Wunsch, als es so schnell wie möglich zu verlassen.« »Nun, ich will dir glauben, daß du kein Sträfling bist, denn dann wärst du klüger gewesen, als auf den Erzlaster zu klettern. Die wissen nämlich, was da passiert. Kannst du dir vorstellen, wie es dir ergangen wäre, wenn ich nicht Mitleid mit dir empfunden hätte?« »Nein«, erwiderte Jantiff eingeschüchtert. »Ich führe doch nichts Böses im Sinn.« Von oben herab zählte der Pilot auf. »Als erstes: um über das Daffeltaugebirge zu kommen, steige ich fünf Kilometer hoch. Dort oben ist die Luft unerträglich kalt, und die Wolken sind zu Eisschollen erstarrt. Du würdest also erfrieren und sterben. Nein, nein, widersprich mir nicht, ich habe selbst gesehen, wie es einmal passiert ist. Zweitens: wohin, glaubst du, bringe ich diese Schlacke? Zu der Frau des Unternehmers, damit sie sie zu einer Tiara verarbeiten läßt? Ganz und gar nicht! Ich fliege über den Nemansee, wo Unternehmer Shubart seine Rampen baut. Ich kippe die Behälter, dann rutscht die Schlacke – und deine zu Eis erstarrte Leiche ebenfalls – eineinhalb Kilometer in die Tiefe und hinein in das schwarze Wasser. Na, was sagst du dazu?«
»Ich hatte nicht die geringste Ahnung«, gestand Jantiff kläglich. »Ich hätte bestimmt eine andere Beförderungsart gewählt, wenn ich es gewußt hätte.« Der Pilot schüttelte den Kopf. »Also, ein Sträfling bist du nicht, das ist klar.« Die Stimme des Mannes wurde ein wenig sanfter. »Nun, du hast Glück. Ich fliege dich nach Blale – wenn du mir hundert Ozol dafür bezahlst. Wenn nicht, kannst du ja dein Glück in den Eiswolken und im Nemansee versuchen.« Jantiff wurde bleich. »Die Arrabiner stahlen mir alles, was ich besaß. Ich habe nichts mehr außer ein paar Scheiben.« Der Pilot starrte ihn einen endlosen schlimmen Augenblick lang an. »Was hast du denn in dem Beutel an deinem Gürtel?« Jantiff öffnete ihn und zeigte ihm den Inhalt. »Fünfzig Scheiben und ein paar geröstete Algen.« Der Pilot grunzte etwas vor sich hin, dann sagte er. »Das hilft mir auch nichts.« Er drehte sich um und marschierte zu seinem Abteil zurück. Jantiff stolperte und rutschte nur tiefer in die lose Schlacke, als er ihm nachzulaufen versuchte. »Ich besitze im Augenblick nichts, aber mein Vater wird für mich bezahlen, das versichere ich Ihnen.« Der Pilot drehte sich noch einmal um und betrachtete die Behälter übertrieben genau. »Ich sehe niemanden. Wo ist dein Vater? Er möge sich zeigen und bezahlen.« »Er ist nicht hier. Er lebt in Frayness auf Zeck.« »Zeck? Weshalb hast du das nicht gleich gesagt?« Der Pilot griff herab und zerrte Jantiff auf die Planke. »Ich bin ein Gatzwanger von Kandaspe, das ist gar nicht weit von Zeck entfernt. Die Arrabiner? Sie sind
alles Irre und schlampig obendrein. Rein in das Pilotenhaus mit dir. Ich staune, daß ein Elitarist sich in einer solchen Notlage befindet.« Jantiff folgte dem vierschrötigen Mann ins Pilotenabteil. »Nimm Platz dort auf der Bank. Ich wollte gerade einen Bissen zu mir nehmen. Darf ich dir was anbieten, oder ziehst du deine Algen vor?« »Ich nehme Ihre Einladung mit Vergnügen an«, dankte Jantiff. »Ich fürchte, meine Algen sind nicht mehr die frischesten.« Der Pilot breitete Brot, Fleisch und Essiggurken aus und stellte einen Krug daneben. Dann bedeutete er Jantiff, sich zu bedienen. »Du hast Glück gehabt, daß du dich auf meinem Laster versteckt hast und nicht auf einem von bestimmten Leuten, die ich nennen könnte. Ich heiße übrigens Lemiel Swarkop. Du mußt wissen, daß ich die Arrabiner verabscheue und jeden fortbringe, der von hier verschwinden will, ob er nun entflohener Sträfling ist oder nicht. Es gibt da einen gewissen Butsch, er ist jetzt Unternehmer Shubarts Privatchauffeur und -pilot, war aber früher ebenfalls Lasterfahrer. Er ist nur zu hübschen Mädchen nett, aber selbst da wechselt ständig seine Gunst, wenn man seinen Worten Glauben schenken darf.« Jantiff beschloß seine Bekanntschaft mit Butsch nicht zu erwähnen. »Ich bin sowohl Ihnen als auch Cassadense* dankbar.« »Was immer auch«, brummte Swarkop, »die Schreckenslande sind keine Gegend für jemanden *
Siehe Glossar 5
wie dich. Etwas wie Recht und Ordnung gibt es hier nicht. Jeder ist auf sich selbst gestellt und muß entweder kämpfen, sich verstecken oder davonlaufen, außer man ist bereit, mehr als das übliche Maß einzustecken.« »Ich möchte nichts anderes, als Wyst verlassen«, sagte Jantiff. »Nur aus diesem Grunde will ich zum Balader Raumhafen.« »Da wirst du aber lange auf deine Heimkehr warten müssen.« Jantiff erschrak sichtlich. »Wieso?« »Der großartige Raumhafen von Balad ist nicht mehr als ein primitives Landefeld am Meer. Etwa einmal im Monat landet ein Frachter mit allen möglichen Gütern für die Stadt und den Unternehmer Shubart. Du müßtest schon verdammt viel Glück haben, wenn du ein Schiff fändest, das dich nach Zeck bringt.« Jantiff versuchte diese Worte zu verdauen. Schließlich fragte er: »Aber wie kann ich denn sonst nach Zeck zurückkehren?« Swarkop starrte ihn erstaunt an. »Vom Uncibaler Raumhafen natürlich, wo jeden Tag zumindest ein Schiff startet.« »Stimmt«, sagte Jantiff tonlos. »Diese Möglichkeit besteht. Ich müßte sie in Betracht ziehen.« Der Laster glitt durch die Nacht. Jantiff döste vor Erschöpfung kurz ein. Swarkop hatte es sich auf einem breiten Sitz bequem gemacht und begann lautstark zu schnarchen. Jantiff schreckte hoch. Er schaute durch die Frontscheibe, aber außer Dunkelheit unten und den Sternen des Alastorhaufens oben war nichts zu sehen. Seitlich tauchte nach einer Weile ein flak-
kerndes Licht auf und blieb zurück. Wer mochte sich in dieser finsteren Wildnis herumtreiben? Weshalb brannte ihr Licht noch so spät? Waren es Zigeuner? Vagabunden? Jemand, der sich im Wald verirrt hatte? Das Licht verschwand allmählich. Jantiff streckte sich ebenfalls auf einer Bank aus und versuchte zu schlafen. Schließlich schlummerte er auch ein und wachte erst Stunden später von Swarkops schweren Schritten auf. Jantiff blinzelte, stöhnte ein wenig und setzte sich auf. Swarkop wusch sich das Gesicht in einem kleinen Becken und schnaubte und prustete wie ein Flußpferd. Ein trübes graues Licht verlieh den Gegenständen im Pilotenhaus Form. Dwan war noch nicht aufgegangen und der Himmel von einem flekkigen stumpfen Grau. Unten breiteten sich die Wälder, nur von vereinzelten Lichtungen unterbrochen, bis zu einer Bergkette im Süden aus. Swarkop stellte eine große Tasse Tee vor Jantiff hin. Er spähte hinunter in die Tiefe. »Ein unfreundlicher Morgen! Die Wolken sind klamm wie tote Fische, und der Sych ist der düsterste Wald, den es gibt. Nur Wilde und Hexen hausen dort!« Er hob die Hand und machte eine Reihe merkwürdiger Bewegungen. Swarkop sagte schwer: »Wenn ein kluger Mann an einem fremden Ort leben muß, so richtet er sich nach den Sitten und Gebräuchen dieses Ortes, wenn auch nur als vernünftige Vorsichtsmaßnahme. Die Wilden von Sych machen jeden Morgen diese Zeichen und sind überzeugt, daß sie sie schützen. Weshalb sollte ich daran zweifeln oder auf sie hinabschauen, wenn sie vielleicht doch einen praktischen Sinn haben?« »Das ist eine sehr vernünftige Einstellung.«
Swarkop goß Tee nach. »Der Sych ist Hüter tausender Geheimnisse. Vor langer Zeit war dies hier eine überaus fruchtbare Gegend. Kannst du dir das vorstellen? Jetzt sind die einst prunkvollen Paläste zerfallen und ihre Ruinen von Unkraut überwuchert.« Jantiff starrte ehrfürchtig in die Tiefe. »Es ist fast unglaublich!« »Unternehmer Shubart zweifelt nicht daran. Er beabsichtigt, die Wälder zu roden und das Land neu zu erschließen. Er will Farmen und kleinere Höfe bauen, Dörfer und Städte, und dann erhebt er sich selbst zum König der Schreckenslande. O ja, er hat etwas für Pomp übrig, der gute Shubart, das darfst du mir glauben.« »Ein ungemein ehrgeiziger Plan! Da hat er sich aber etwas vorgenommen.« »Ehrgeizig und kostspielig. Aber Shubart melkt einen goldenen Strom aus den arrabinischen Eutern, also fehlt es ihm nicht an Ozols. O sicher, ich fliege seine Laster und führe seine Befehle aus und eines Tages bin ich Vicomte Swarkop. Butsch wird sich ganz sicher zum Herzog ernennen lassen, aber das ist mir egal, solange er in seinem eigenen Gebiet bleibt. Doch das liegt noch in weiter Zukunft.« Swarkop deutete in den Südosten. »Das dort ist der Nemansee, wo Unternehmer Shubart seinen Deich baut, da muß ich mich leider von dir trennen.« Jantiff hatte bereits gehofft, ganz bis an sein Ziel gebracht zu werden. Er fragte verzweifelt. »Wie weit ist es denn noch bis Balad?« »Etwa achtzig Kilometer, das ist zu schaffen.« Swarkop stellte eine Platte mit Brot und Fleisch vor
Jantiff. »Iß und stärk dich noch richtig, ehe du dich auf den Marsch machst. Und bitte sprich nicht über mich in Balad. Der Unternehmer würde sonst von meinem Altruismus erfahren, und ich wäre möglicherweise meinen zukünftigen Titel gleich wieder los.« »Nein, ich werde selbstverständlich schweigen, wenn Sie es möchten.« Jantiff begann zu essen. Es würde vielleicht lange dauern, bis er wieder etwas bekam. »Besteht keine Möglichkeit, vielleicht doch mit einem Frachter von Balad fortzukommen?« fragte er dann ohne große Hoffnung. »Ich fürchte, nein. Frachtschiffe nehmen keine Passagiere an Bord, denn die Gefahr ist zu groß, daß Starmenter sich als Touristen ausgeben, den Kapitän und die Mannschaft ermorden und sich dann mit ihrer Beute ins All verziehen. Überall in der Primarchie* kann man Frachtschiffe für eine Million Ozol verkaufen, ohne daß groß Fragen gestellt werden. Und das ist natürlich allen Reedereien bekannt. Ich würde vorschlagen, daß du Balad als Raumhafen aus deinen Plänen streichst.« Jantiff starrte hinunter auf den düsteren Wald, den er zu Fuß durchqueren mußte, und noch dazu ohne viel Aussicht auf Erfolg, wenn Swarkop recht hatte. In Balad würde er seinem Ziel, einen Flug nach Hause zu bekommen, ferner sein denn je. Aber was hatte er für eine Wahl. »Dürfte ich Sie vielleicht bitten, dem Kursar in Uncibal eine Botschaft für mich zu über*
Die Primarchie ist ein kleinerer Sternhaufen, der früher von einem Primarchen regiert wurde und auf dessen Welten jetzt Chaos und ständige Kriege herrschen. Eine bedeutende Aufgabe der connatischen Whelme ist der Schutz gegen Über- und Einfälle durch die Primarchie.
mitteln? Es handelt sich um eine Sache von größter Wichtigkeit.« Swarkop starrte ihn an, als hätte er nicht richtig gehört. »Du verlangst von mir, daß ich diesen grauenvollen Menschenfluß nach Uncibal nehme? Mein lieber Freund, nicht um hundert Ozol! Du mußt deine Nachricht schon telefonisch durchgeben, wie andere es auch tun.« Jantiff beeilte sich, ihm beizupflichten. »Ja, das ist freilich das Beste. Ich hatte nur nicht daran gedacht.« Er schaute Swarkop zu, als er den Fluglaster zur Landung auf dem Nemansee ansetzte. Der See war eine Wildnis aus schwarzem Wasser und nirgends breiter als drei bis fünf Kilometer. Der Laster hielt an, und Swarkop zog an einem Hebel. Schlacke rutschte über das gegenwärtige Ende des Deiches, der schon fast halb über den See führte. »Shubarts Plan ist es, eine Straße von Balad durch den Sych zum Nemansee zu bauen und von dort zur Quelle des Buglasflusses, dann durch den Dankwald. Möglicherweise auch durch die Daffeltauberge. Ja, ich glaube das eher, denn ich habe sechs große Ladungen mit Sprengstoff zur Uncibaler Anlage gebracht. Die genügen, das ganze Zadegebirge in die Luft zu jagen und eine neue Schlucht für den Dinklinfluß zu schaffen.« »Das ist ja ein kolossales Vorhaben.« »Das kann man wohl sagen, und ich blicke auch nicht so recht durch. Aber schließlich bin ich nur Lemiel Swarkop, ein niedriges Rad am Wagen, während Shubart Großritter und Unternehmer ist.« Swarkop setzte den Laster auf der künstlichen Landzunge auf. Er öffnete die Tür des Pilotenhauses
und lehnte sich hinaus, um sich umzusehen. Die Luft war kalt und unbewegt. Der Nemansee schimmerte wie ein schwarzer Spiegel. »Es wird ein schöner Tag werden«, erklärte er Jantiff mit einer Begeisterung, die sich jedoch nicht auf den Angesprochenen übertrug. »Durch den Sych im Regen zu marschieren ist nicht gerade angenehm. Also, viel Glück, Kumpel. Die achtzig Kilometer müßtest du in zwei Tagen mit Leichtigkeit schaffen, außer du wirst aufgehalten.« Jantiff horchte mißtrauisch auf. »Weshalb sollte ich aufgehalten werden?« Swarkop hob die Schultern. »Nun, ich könnte Tausende von Möglichkeiten aufzählen und doch der Wirklichkeit nicht nahe kommen. Es liegt alles in Giamparas Hand*.« »Gibt es irgendwo unterwegs eine Herberge, wo ich die Nacht verbringen könnte?« Swarkop deutete auf das Ufer. »Siehst du diesen Milchsteintrümmerhaufen? Das war einmal ein großes Hotel, als die Lords und Ladies noch zu ihrem Vergnügen in silbernen Schiffen mit Segeln aus Samt auf dem See fuhren. Damals gab es Unterkünfte aller Art, die ganze Straße entlang bis nach Balad. Jetzt findet sich nur eine einzige Reparaturhütte unmittelbar hinter der Gantklamm. Aber man kann sie bloß auf eigenes Risiko benutzen.« »Risiko?« rief Jantiff. »Welcher Art?« »Die Männer vom Straßendienst stellen manchmal Fallen für die Hexen auf, um sie zu erschrecken. Dafür *
Swarkops Erwähnung von Giampara war nur eine scherzhaft gemeinte Phrase. Hätte er daran geglaubt, würde er zweifellos Corë mit den Vier Busen angerufen haben, die seine Heimatwelt Kandaspe beschützt. Jantiff erkannte es, aber es beruhigte ihn trotzdem nicht sonderlich.
revanchieren sich die Hexen mit Halluzinationen, die sie in der Hütte zurücklassen, u m ihrerseits die Arbeiter zu erschrecken. Zünde in den vier Ecken ein Feuer gegen den Gaunch an und leg dich genau in der Mitte nieder, dann bist du bis zum Morgen sicher. Aber sorg dafür, daß die Flammen immer hoch züngeln.« »Was ist ein Gaunch?« fragte Jantiff und starrte mit ungutem Gefühl auf den Waldrand. »Eine oft gestellte, doch nie beantwortete Frage. Die Hexen wissen, was ein Gaunch ist, aber sie schweigen, sie reden nicht einmal untereinander über ihn.« Swarkop runzelte die Stirn. »Ich würde dir raten, gar nicht darüber nachzudenken. Du wirst erfahren, was ein Gaunch ist wenn du ihm gegenüberstehst, und wenn du ihn gar nicht kennenlernst, sollte er dich auch nicht interessieren. Feuer, sagt man, sei Schutz gegen ihn, vor allem, wenn es hoch genug flackert, daß diese Kreatur es nicht wagt, darüber zu steigen. Mehr weiß ich auch nicht.« Swarkop wickelte ein, was er an Proviant noch übrig hatte, und drückte Jantiff das Päckchen in die Hand. »Du wirst unterwegs Pflaumen, Kakajous und Honigknöpfe finden. Aber stiehl ja nicht auch nur eine einzige Kohlrübe von den Bauern, sonst halten sie dich für eine Hexe und jagen dich mit ihren Wurgels. Und noch einmal: Viel Glück!« Swarkop schloß die Tür des Pilotenhauses. Der Laster hob ab und flog über den See. Jantiff schaute ihm nach, bis er in der Ferne verschwunden war, dann erst drehte er sich um und studierte den Waldrand, aber sah nichts als dunkle Bäume und noch dunklere Schatten. Er straffte die Schultern und machte sich auf den Weg nach Balad.
11 Der Dwan warf Jantiffs Schatten voraus. Wie in Arrabus schillerte auch hier das Licht, als wäre es mit den verschiedensten Farben getränkt. In diesen mittleren Breiten um Wyst schien das Schillern sogar noch stärker betont zu sein. Jantiff stellte sich vor, wie es wäre, wenn er einen dieser durch das Blätterdach auf dem Boden hervorgerufenen Lichtkringel studierte. Gewiß würde er unzählige Lichtpünktchen wie in Millionen mikroskopisch kleiner Tauftropfen finden... Er erinnerte sich an sein Staunen, als er dieses Licht zum erstenmal gesehen und wie es ihn stimuliert hatte! Doch was hatte er im Grunde genommen davon profitiert? Im Gegenteil, seine Skizzen und Bilder hatten seine Schwierigkeiten hier erst ausgelöst – und es sah ganz so aus, als würden sie alles andere als kleiner! Aber zumindest konnte er von Balad aus den Kursar anrufen, der gewiß für sichere Beförderung zurück nach Uncibal und zum dortigen Raumhaufen sorgen würde. Dieser Gedanke tröstete ihn soweit, daß er jetzt festeren Schrittes dahinmarschierte und sich für die Gegend zu interessieren begann. Was würde er alles erzählen können, wenn er erst wieder auf Zeck war! Der Weg führte bergauf zwischen mächtigen Stammen hindurch und überquerte einen niedrigen Kamm. Voraus lag Wald und noch mehr Wald mit sowohl einheimischen als auch exotischen Bäumen, die von überallher aus dem gesamten Gaeanischen Territorium, ja vielleicht sogar von der alten Erde stammen mochten. Jantiffs Phantasie war geweckt. Er
stellte sich vor, er käme gerade auf dem Alpha-GaeaRaumhafen der Erde an – auf der Erde mit ihren legendären Städten und unvorstellbaren Antiquitäten! Wieviel mochte so ein Flug wohl kosten? Vielleicht zwei- oder dreitausend Ozol? Wie konnte er je zu soviel Geld kommen? Aber nichts war unmöglich. Doch zuerst mußte er einmal sicher auf Zeck zurück sein. Und so, mit seiner ungeheuren Vorstellungskraft als Unterhaltung, legte Jantiff fast unmerklich Kilometer um Kilometer zurück. Als der Dwan im Zenit stand, hielt Jantiff an einem Bach an und stärkte sich an einem Teil des ihm freundlicherweise von Swarkop überlassenen Proviants. Im Augenblick, jedenfalls, war der Wald friedlich und wirkte keineswegs bedrohlich. Wie viele Kilometer hatte er wohl schon zurückgelegt? Fünfzehn oder mindestens... Etwa fünfzig Meter voraus tauchte plötzlich eine Gruppe von acht Personen auf dem Weg auf. Jantiff erstarrte. Er beschloß, ruhig sitzenzubleiben und abzuwarten. Drei der Gruppe waren Frauen in langen Kleidern, drei Männer mit schwarzem Wams über grünen Kniehosen, das siebte war ein Kind, und der achte offenbar ein sehr junger Bursche. Alle waren blond, das Haar des Kindes flachsfarben. Als die acht Jantiff bemerkten, hielten sie an, dann drehten sie sich wortlos um und nahmen den Weg südwärts. Der Jüngling und das Kind bildeten die Nachhut. Jantiff schaute ihnen nach. Hin und wieder blickte das Kind zurück – ob auf Anweisung der Älteren, konnte er nicht erkennen, da der Kleine ebenfalls schwieg. Als sie um eine Kurve bogen, verlor er sie aus den Augen. Jantiff sprang sofort auf und ging vorsichtig zu der
Stelle, wo die Hexen aus dem Wald getreten waren. Ein paar Meter vom Weg entfernt sah er einen schwer mit dicken blauen Früchten beladenen Baum. Aber er hielt sich zurück. Es war ja nicht sicher, ob die Hexen sich davon bedient hatten. Vielleicht waren diese Früchte giftig, wenn roh genossen... Jantiff machte sich wieder mit langen Schritten auf den Weg, und es war ihm gleichgültig, ob er die Hexen einholen würde oder nicht. Sie hatten sich ihm gegenüber nicht feindselig benommen und würden sicher auch vor einem einzelnen Wanderer keine Angst haben. Aber als der Weg endlich gerade verlief und eine weitere Sicht nach vorn ermöglichte, war die Gruppe nirgends zu entdecken. Jantiffs Schritte wurden allmählich kürzer und schwerfälliger, und je weiter der Nachmittag voranschritt, desto mehr schmerzten seine Füße. Als der Dwan tief im Nordwesten stand, wurde das Land voraus steinig und war mit Klüften durchzogen. Von einer steilen Anhöhe oberhalb des Weges schauten zwischen einem Dutzend schwarzer Tzungbäume die Ruinen eines großen Palastes herab. Ein bedrückender Ort, dachte Jantiff. Bestimmt gaben sich hier melancholische Geister ein Stelldichein. In aller Eile, zu der er seine Beine noch bewegen konnte, hastete er daran vorbei und eine Schlucht empor, durch die sich ein schmaler Fluß schlängelte. Das mußte die Gantklamm sein, schloß Jantiff. Sie war dunkel und kalt, er war deshalb froh, als er sie hinter sich und eine Wiese erreicht hatte. Der Dwan berührte schon den Horizont. Jantiff hielt in allen Richtungen nach der Hütte Ausschau, die Swarkop erwähnt hatte, aber er konnte sie nir-
gendwo entdecken. Mit gesenktem Kopf stiefelte er in den letzten Strahlen Dwans weiter. Der Weg führte erneut in einen Wald. Jantiff war überzeugt, daß er die Hütte irgendwie verfehlt hatte. Doch da stieg ihm der Geruch von Rauch in die Nase. Jantiff blieb stehen, ehe er vorsichtig weiterschlich. Nach einer kurzen Weile sah er den Schein eines Feuers etwa fünfzig Meter voraus. Mit größter Wachsamkeit näherte er sich ihm und kam auf eine kleine Wiese. Und da stand die gesuchte Hütte: ein einfaches Blockhaus, etwa dreißig Meter abseits des Weges. Acht Personen saßen um das Feuer: drei Männer verschiedenen Alters, drei Frauen, ebenfalls verschiedenen Alters, ein etwa vier- oder fünfjähriger Junge und ein Mädchen, das sicher noch keine zwanzig Jahre alt war. Das schien die Gruppe zu sein, die er aus dem Wald hatte kommen sehen. Wie war es möglich, daß sie solange schon vor ihm hier angekommen war? Denn dem Feuer und ihrer Haltung nach ruhten sie sich bereits seit mindestens einer Stunde hier aus. Er betrachtete sie aus dem Schatten der Bäume. Sie sahen weder furchterregend noch abstoßend aus, wie man die Hexen beschrieb, im Gegenteil, sie wirkten wie ganz normale Bürger. Jantiff erinnerte sich, daß sie von den Edelleuten abstammten, deren Paläste jetzt als Ruinen überall in den Schreckenslanden verstreut lagen. Alle waren blond, im Ton von Flachsfarben bis zu einem goldenen Hellbraun. Das Mädchen war eigentlich sogar sehr hübsch. Lag es am flackernden Feuerschein? Oder war es eine der Halluzinationen, mit denen sie andere täuschten? Keiner sprach. Alle starrten sie wie in tiefer Medi-
tation in die Flammen. Jantiff trat näher heran. Er wollte laut und herzlich grüßen, brachte jedoch nicht mehr als ein krächzendes »Hallo« heraus. Der kleine Junge drehte sich als einziger zu ihm um. Die anderen beachteten ihn überhaupt nicht. »Hallo!« rief Jantiff erneut und kam noch ein paar Schritte näher. »Darf ich mich zu Ihnen ans Feuer setzen?« Ein paar der Menschen musterten ihn flüchtig, doch keiner antwortete. Da sie sich jedoch nicht feindselig benahmen, betrachtete Jantiff ihr Schweigen als Einladung. Er kniete sich neben das Feuer und wärmte seine Hände. Wieder bemühte er sich, ein Gespräch anzuregen. »Ich bin auf dem Weg nach Balad, wo ich hoffe, Wyst mit einem Raumschiff verlassen zu können. Ich verbrachte ein paar Monate in Uncibal, aber es reichte mir gründlich – zu viele Menschen, zuviel Durcheinander... Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal dort waren...« Jantiff verstummte, keiner schien ihm zuzuhören. Ein merkwürdiges Benehmen, dachte er. Aber wenn sie Schweigen einer Unterhaltung vorzogen, durfte er es ihnen nicht verübeln. Handelte es sich bei ihnen tatsächlich um Hexen, konnte es schließlich ohne weiteres möglich sein, daß sie sich auch ohne Worte zu verständigen vermochten. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Heimlich studierte er die Gruppe. Ihre Kleidung war aus gewebtem Bast, in verschiedenen Grün-, Braun- und Rottönen gefärbt, die sich den Farbnuancen des Waldes anpaßten. Statt Hüten trugen die Männer Tücher, und die Frauen überhaupt keine Kopfbedeckung, ihr Haar
fiel lose über die Ohren. Sowohl Männer als auch Frauen hatten ihre Fingernägel mit einem goldenen Lack bemalt, der im Feuerschein glitzerte. Jantiff bemerkte weder Schmuck, Talismane noch Amulette an ihnen. Falls sie wahrhaftig über geheime Kräfte verfügten, benötigten sie offenbar dergleichen Hilfsmittel nicht. Sie schienen ihr Abendessen bereits beendet zu haben, darauf deutete zumindest ein ausgespülter Kochtopf, der umgekehrt zum Trocknen auf einer Bank lag, und daneben ein Teller mit dem Rest eines dicken Omeletts. Da sie ihm offenbar trotz ihres Schweigens nicht feindlich gesinnt waren, wagte er zu fragen: »Dürfte ich vielleicht den Rest Ihres Omeletts aufessen? Ich bin schrecklich hungrig.« Selbst darauf antwortete keiner, doch sie schienen auch nichts dagegen zu haben, also griff er nach dem Omelettstück und aß es mit gutem Appetit. Als das Feuer herabzubrennen begann, erhob sich das Mädchen, um Holz zu holen. Sie war schlank, und ihre Bewegungen waren anmutig. Jantiff sprang auf und half ihr. Ihm war, als zuckten ihre Lippen in einem leichten Lächeln. Keiner der anderen achtete auf ihn, nur der kleine Junge, der ihn mit ernster Miene beobachtete. Jantiff aß das Omelett auf. Er fragte sich, ob die Gruppe wohl beabsichtigte, in der Hütte zu schlafen. Die Tür war jedenfalls geschlossen. Vielleicht fürchteten sie die Tricks der Straßenarbeiter? Das Feuer glühte warm, die Stille wirkte einschläfernd, und plötzlich fielen Jantiff die Augen zu. Allmählich erwachte Jantiff. Er lag verkrampft und
frierend auf dem Boden. Das Feuer war zur Glut herabgebrannt. Er spähte durch die Dunkelheit. Niemand war zu sehen, die Hexen waren verschwunden. Er setzte sich auf und beugte sich über die Holzkohlen. Regen sprühte ihm ins Gesicht. Schwerfällig und leicht taumelnd erhob er sich. Ein Dach über dem Kopf wäre jetzt sehr angenehm. Ob er sich in die Hütte wagen sollte? Er tapste durch die Dunkelheit, fand die Wand des Blockhauses und tastete sich an ihr entlang zur Tür. Der Riegel ließ sich ohne Schwierigkeiten zurückziehen, und die Tür schwang auf. Jantiff erschrak vor ihrem Knarren, doch niemand außer ihm schien es zu hören. Er lauschte. Kein Geräusch drang aus der Hütte, kein Schnarchen, kein tiefes Atmen eines Schlafenden. Jantiff wollte hineingehen, aber er stellte fest, daß seine Füße sich weigerten. Eine Minute lang blieb er unentschlossen und zitternd stehen, und mit jeder Sekunde schreckte er mehr vor dem Eintreten zurück. Etwas in seinem Unterbewußtsein sagte ihm, daß etwas Grauenvolles in der Hütte lauerte, etwas, das sich sofort auf ihn stürzen würde, wenn er erst einen Fuß hineingesetzt hatte. Er erinnerte sich, daß ihn in seiner Kindheit öfter ein ähnlicher Alptraum gequält hatte. War es eine Vorahnung gewesen? Mit heftig pochendem Herzen stolperte er davon und suchte, dort wo er mit dem Mädchen gewesen war, nach Brennholz. Mit viel Mühe gelang es ihm, das Feuer wieder richtig anzufachen, bis es freundlich loderte und er sich an ihm erwärmen konnte. Er beschloß den Rest der Nacht wach zu bleiben. Er drehte sich zur Hütte um, die jetzt vom Flammenschein beleuchtet war. Nichts war
durch die offene Tür zu sehen. Schnell wandte er die Augen ab. Vielleicht würde sich jemand, etwas, durch seinen Blick belästigt fühlen... Seine Lider wurden schwer, schlossen sich... Ein Knarren machte ihn sofort wieder hellwach. Jemand hatte die Hüttentür wieder geschlossen. Jantiff sprang furchterfüllt auf. Lauf, was die Füße hergeben, riet ihm der Instinkt des wilden Tieres in ihm. Aber wohin sollte er laufen? Kopflos in die Finsternis? Er holte weiteres Holz und legte nach, bis das Feuer hell und hoch brannte. So müde konnte er gar nicht sein, daß er in dieser Nacht noch ein Augen schließen würde. Dann, endlich, das erste Grau des Morgens überzog den Himmel. Die Bäume um die Wiese nahmen Form an. Jantiff stocherte im schwelenden Feuer. Seine Glieder waren steif, und er fühlte sich wie ein Greis. Als er mit ernstem Gesicht aufbrach und südwärts weiter wanderte, warf er noch einen letzten, doch schon gleichgültigen Blick auf die Hütte. Erst im Laufe des Vormittags klarte der Himmel auf, und Dwan kam hervor. Sofort besserte sich Jantiffs Stimmung, und er dachte nicht mehr an die vergangene Nacht. Wo der Weg einen Bach überquerte, wusch er sich und trank von dem klaren Wasser, dazu verzehrte er die Beeren, die er von einem niedrigen Busch gepflückt hatte. Nach einer Rast von zehn Minuten machte er sich wieder auf den Weg. Allmählich veränderte sich das Bild der Gegend. Der Wald lichtete sich und zog sich immer weiter von steinigen Wiesen zurück. Gegen Mittag stieß Jantiff
auf eine Straße, die nach rechts führte, und danach zweigten etwa alle fünfzehnhundert Meter weitere Straßen ab. Jantiff marschierte nun durch ein ödes, steiniges Land, das mit dürren Büschen und Landkorallen übersät war. Links davon erstreckte der Wald sich dunkel und unheimlich weiter bis zum Horizont im Südosten. Gegen Mittnachmittag kam er zu einem verhältnismäßig stattlichen Bauernhof. Ein junger Mann seines Alters kalkte hinter einem Zaun junge Obstbäume. Er richtete sich, als er Jantiffs Schritte hörte, von seiner Arbeit auf und kam an den Zaun, um zu sehen, wer es war. Der Bauer war ein kräftiger Bursche mit schmalem Gesicht, einer langen Nase und glattem schwarzen Haar, das zu drei Büscheln geteilt war, die mit Bändern zusammengehalten wurden. Jantiff grüßte ihn höflich, ohne sich um die Verblüffung des Mannes zu kümmern, und hielt nicht an. Aber den jungen Bauern plagte zweifellos die Neugier. »Hallo!« rief er. »Bleiben Sie doch stehen.« Jantiff drehte sich um. »Meinen Sie mich?« »Wen sonst? Ist außer Ihnen noch jemand hier?« »Ich glaube nicht.« »Na also. Sie sind wohl nicht von hier?« »Stimmt«, antwortete Jantiff kühl. »Ich bin nur zu Besuch auf Wyst. Ich komme von Frayness auf Zeck.« »Kenne ich nicht. Aber bestimmt gibt es Millionen von Welten im Sternhaufen, von denen ich noch nie etwas gehört habe.« »So ist es zweifellos.« »Wie kommt es – ich meine, wieso gehen Sie auf der Sychstraße, die vom Nemansee kommt?«
»Ein Freund nahm mich von Uncibal bis zum Nemansee mit«, erklärte ihm Jantiff. »Von dort aus mußte ich mich zu Fuß auf den Weg machen.« »Was ist mit den Hexen? Haben Sie viele getroffen? Ich hörte, daß erst vor kurzem ein neuer Stamm von Haralumilet hierhergezogen ist.« »Ich stieß auf eine Gruppe Wanderer«, erwiderte Jantiff. »Sie belästigten mich absolut nicht, im Gegenteil, sie waren durchaus höflich.« »Solange sie Ihnen nicht ihr besudeltes Essen* anboten, hatten Sie noch mal Glück.« Jantiff bemühte sich um ein Lächeln. »Ich bin sehr vorsichtig in dieser Beziehung.« »Was machen Sie in dieser Gegend?« Jantiff hatte sich für eine solche Frage bereits eine Antwort überlegt. »Ich bin Student auf Studienreise. Ich wollte gern noch Blale besuchen, ehe ich nach Hause zurückkehre.« Der Bauer verzog skeptisch die Miene. »Sie werden hier nichts finden, was des Studiums wert ist. Wir sind ganz gewöhnliche Leute. Zu Hause hätten Sie Ihre Zeit bestimmt nutzbringender verwenden können.« »Möglich«, erwiderte Jantiff und verneigte sich steif. »Entschuldigen Sie mich, ich möchte sehen, daß ich weiterkomme.« »Wie Sie wollen, solange Sie sich nicht in meinen Obstgarten zu meinen guten Zwetschgen verirren. Und da spielt es auch keine Rolle, ob Sie sie studieren oder nur meditieren wollen. Ich würde jedenfalls an*
Ungenaue Übersetzung. »Uslak« ist »Teufelskot«, das davon abgeleitete Adverb »uslakain« bedeutet soviel wie »unheilig«, »unrein«, »ekelerregend«.
nehmen, daß Sie beabsichtigen, sie zu stehlen, und sofort Stanket auf Sie hetzen.« »Es liegt mir nichts ferner, als mich an Ihrem Obst zu vergreifen«, versicherte ihm Jantiff von oben herab. »Guten Tag.« Er folgte der Straße, die am Obstgarten vorbeiführte, und sah dick mit Früchten behangene Bäume. Ohne zu zögern marschierte er daran vorbei, obgleich ihn offenbar niemand beobachtete. Hier begann das besiedelte Land. Dem Westen zu reihte sich Bauernhof an Bauernhof, mit Getreidefeldern und Obstgärten ringsum. Im Osten drängte der Wald sich hartnäckig südwärts, ohne an Dichte und Düsternis eingebüßt zu haben. Nach einer Weile sah Jantiff eine Zahl einfacher und nicht sehr ansprechender Häuser: die Stadt Balad. Lagerschuppen und Werkstätten rechts davon deuteten darauf hin, daß sich hier der Raumhafen befand, dessen Landefeld jedoch völlig leer war. Jantiff raffte die restlichen Kräfte in seinen Beinen zusammen und marschierte schneller voran. Ein träger Fluß machte hier einen Bogen aus dem Osten, und die Straße führte kurz wieder dicht am Sych entlang. Unwillkürlich schaute Jantiff in den Wald. Er blieb erschrocken mit plötzlich weichen Knien stehen. Kaum zwanzig Meter entfernt, doch überaus gut getarnt durch Licht und Schatten, standen dort, reglos und schweigend wie erstarrte Fabeltiere, drei Männer in schwarzem Wams und bleichgrünen Kniehosen. Jantiffs Herz pochte heftig. Die drei Männer blickten ihn an, möglicherweise aber auch durch ihn hindurch oder über ihn hinweg.
Jantiff stieß den angehaltenen Atem aus. Er war sich nicht sicher, aber er vermeinte, daß die drei zu der Gruppe gehörten, deren Omelett er gegessen hatte. Er hob die Hand zum Gruß. Die Männer beachteten seine Geste nicht, sie blickten weiter auf ihn, durch ihn hindurch oder über ihn hinweg. Müde stapfte Jantiff weiter und kam schließlich über eine alte Eisenbrücke zum Stadtrand. Hier wurde die Straße gut fünfzig Meter breit und verlief quer durch die ganze Stadt. Jantiff blieb stehen und sah sich mit kläglicher Miene um. Balad war noch kleiner und ärmlicher, als er es sich vorgestellt hatte, eigentlich nicht mehr als ein vom Wind gepeitschtes Dünendorf am Seufzermeer. An der Südseite der Hauptstraße drängten sich kleine Läden aneinander. Ihnen gegenüber lag ein Marktplatz, ein heruntergekommenes größeres Gebäude, eine Klinik und Apotheke, eine riesige Scheune, die als Werkstatt für landwirtschaftliche Maschinen benutzt wurde, und zwei Tavernen: Zum Grorer und das Kimbern. Schmale Straßen führten von hier zum Fluß, wo ein halbes Dutzend Fischerboote vertäut war. Kleine primitive Häuschen säumten die Straße und boten einen Blick auf den Fluß, der etwa einen Kilometer unterhalb von Balad zu einem seichten Delta wurde und ins Meer mündete. Ein paar bleiche, schwarzhaarige Kinder spielten auf den Straßen. Fünf oder sechs Wagen und zwei Bodenhüpfer hatten neben dem Grorer geparkt, und eine ähnliche Zahl vor dem Kimbern. Zum Grorer lag näher. Es war ein zweistöckiges Gebäude, die untere Hälfte aus Stein, die obere schwarz, rot und grün gestrichenes Holz, was den
Eindruck aufdringlicher Frivolität erweckte. Jantiff schob die Tür auf und betrat eine Gaststube mit langen Tischen und Bänken. Das Dwanlicht fiel durch hohe, staubige Fenster aus rotgetöntem Glas. Zu dieser Tageszeit saßen nur acht Gäste an den Tischen. Sie tranken Bier aus Tonkrügen und spielten Sanque.* Jantiff schaute in die Küche. Ein korpulenter Mann mit glänzender Glatze und gewaltigem schwarzen Schnurrbart stand mit einem Messer am Tisch und machte sich offenbar gerade daran, einen Fisch auszunehmen. Seiner Miene nach zu schließen, schien ihn etwas verärgert zu haben. Als er Jantiff sah, legte er das Messer nieder und fragte schroff: »Nun, mein Herr? Womit kann ich Ihnen dienen?« Jantiff stammelte verlegen: »Ich... ich bin ein Reisender von einer anderen Welt. Ich benötige Unterkunft und Verpflegung, habe jedoch keine Mittel. Ich würde mich freuen, für meinen Unterhalt für Sie arbeiten zu dürfen.« Die Miene des Wirtes änderte sich. Er lächelte mit übertriebener Herzlichkeit. »Sie haben Glück. Die Magd liegt im Kindbett, der Schankbursche ist krank, vielleicht aus lauter Mitgefühl. Mir mangelt es an vielem, aber nicht an Arbeit. Es gibt eine Menge zu tun. Sie können gleich anfangen. Nehmen Sie als erstes den Fisch aus.«
*
Ein kompliziertes strategisches Spiel auf einem Brett von etwa einem Quadratmeter Größe, mit Festungen, Angreifern und Verteidigern.
12 Fariske, der Wirt, hatte nicht übertrieben – es gab mehr als genug zu tun. Obgleich Fariske von Natur aus eher bequem und nachsichtig war, trieb er Jantiff ständig an. Er mußte fegen, putzen, tranchieren, servieren, Geschirr spülen und Perzeben** schälen und säubern. Jantiff bekam ein kleines Zimmer im ersten Stock, durfte essen und trinken, was und soviel er wollte, und verdiente zwei Ozol den Tag. »Das ist ein sehr großzügiger Lohn«, erklärte ihm Fariske. »Aber nach all der Arbeit, die getan werden muß, sind Sie vielleicht anderer Ansicht.« »Im Augenblick«, versicherte Jantiff, »bin ich sehr zufrieden.« Am Morgen nach seiner Ankunft in Balad begab Jantiff sich zur örtlichen Poststelle und setzte sich mit der Alastorianischen Zentralität in Uncibal in Verbindung – nach den Bestimmungen im Sternhaufen durfte dafür keine Gebühr erhoben werden. Aleida Glusters Gesicht leuchtete auf dem Schirm auf. »Aha!« rief sie sichtlich aufgeregt. »Jantiff Ravensroke! Wo sind Sie?« »Ich folgte Ihrem Rat und bin jetzt in Balad – seit gestern nachmittag.« »Ausgezeichnet! Und sie fliegen bald ab?« »Ich war noch nicht auf dem Raumhafen«, erwiderte Jantiff. »Doch wie ich hörte, ist es voraussicht** Perzeben: Kleine Mollusken, die unter Wasser an den Uferfelsen des Seufzermeers kleben. In Nußöl gebacken sind sie eine einheimische Spezialität.
lich ohnedies zwecklos. Er ist nur für Frachtschiffe, die keine Passagiere an Bord nehmen.« Aleidas Gesicht wurde lang. »Daran hatte ich nicht gedacht.« »Wie dem auch sei«, sagte Jantiff, »ich muß unbedingt mit dem Kursar sprechen. Ist er inzwischen zurückgekehrt?« »Nein! Er hat sich überhaupt nicht gemeldet. Das ist äußerst ungewöhnlich.« Jantiff schnalzte enttäuscht mit der Zunge. »Rufen Sie mich bitte an, wenn er zurück ist! Ich bin in der Taverne Zum Grorer. Die Sache ist wirklich dringend.« »Selbstverständlich werde ich es ihm ausrichten.« »Vielen Dank.« Jantiff verließ die Post und eilte in den Grorer zurück, wo Fariske bereits ungeduldig auf ihn wartete. Die Gäste des Grorers kamen aus allen Bevölkerungsschichten: Bauern und Städter, Dienstpersonal aus der Villa des Großritters Shubart (wie er hier genannt wurde), Arbeiter aus den Lagerhallen, Mechaniker vom Raumhafen, und der Leiter des Raumhafens, ein gewisser Eubanq, höchstpersönlich. Jantiff fand die meisten dieser Leute recht rauh und nicht gerade freundlich, vor allem die Bauern, von denen einer eigensinniger, barscher und grober als der andere war. Sie alle tranken Fariskes Bier und rauchigen Schnaps mit großem Eifer, genau wie sie sich ausgiebig seinem Essen widmeten, doch das Trinken schien sie nicht freier und gelöster zu machen, im Gegenteil, je mehr sie tranken, desto stumpfer und schweigsamer wurden sie. Gewöhnlich achtete Jantiff überhaupt
nicht auf ihre Unterhaltung, doch als er sie zufällig über die Hexen reden hörte, konnte er sich nicht zurückhalten und erkundigte sich: »Weshalb sprechen sie nie? Kann mir das jemand verraten?« Die Bauern grinsten über Jantiffs Unwissenheit. »Gewiß nicht, weil sie es nicht könnten«, erklärte ihm der älteste und freundlichste der Gruppe, ein Mann namens Skorbo. »Mein Bruder fing einmal zwei von ihnen in seiner Scheune ein. Einem gelang es zu entkommen, die zweite, eine Frau, band er an einen Stützbalken und holte die Wahrheit aus ihr heraus, wie, sage ich nicht. Die Hexe gestand, daß sie sehr wohl sprechen könnten, aber es nicht gern täten, weil die Worte zuviel Zauber für normale Umstände enthielten. Sie redeten deshalb nur, wenn sie Zauber wirkten, ›so wie jetzt‹, sagte sie und sang einen Reim oder was immer es war, und Chabby, das ist mein Bruder, spürte, wie das Blut in seinem Kopf zu wallen begann. Da rannte er schnell aus der Scheune. Als er mit seiner Vyer* zurückkam, spazierte die Hexe gerade davon. Er zielte, und ob Sie es glauben oder nicht, die Vyer explodierte und riß ihm die ganze Hand auf.« Ein Bauer, von dem Jantiff wußte, daß er Bodile hieß, schüttelte den Kopf über diese Dummheit Chabs. »Niemand sollte eine Vyer oder irgend etwas Komplexes gegen eine Hexe verwenden. Das Wirksamste gegen sie ist ein Prügel aus einer neun Jahre alten Hawber, der neun Tage in von keiner Menschenhand berührtem Wasser eingeweicht wird.« »Ich habe immer einen Besen aus Stachelweide be*
Eine leichte Jagdwaffe, die auch zur Rattenbekämpfung benutzt wird.
reit«, erklärte einer namens Sansoro, »der hat mich noch nie im Stich gelassen. Außerdem richte ich meine Wurgels ab. Ich habe gehört, daß es einen neuen Hexenkreis im Tintenwald gibt.« »Ich habe gestern ein paar gesehen«, warf Duade ein, ein schlaksiger junger Mann mit langer Adlernase und buschigen Augenbrauen. »Es hat den Anschein, als seien sie nach Wemischwasser unterwegs. Ich stieß meinen Fluch hervor, aber sie dachten gar nicht daran, ihren Schritt zu beschleunigen.« Skorbo leerte seinen Krug und setzte ihn schwer auf. »Der Connat sollte sich mal um sie kümmern. Wir zahlen unsere jährlichen Stiver**, was bekommen wir dafür? Seinen Segen und steigende Preise. Viel lieber würde ich das für die Steuer verschwendete Geld in Bier anlegen. Bursche, noch einen Krug.« »Sofort, mein Herr.« An einem Tisch in der Nähe saß ein korpulenter Mann in rehbraunem Anzug, der in der Farbe zu seinem schütteren Haar paßte. Seine Schultern waren fleischig, aber schmal und hingen über seinen birnenförmigen Rumpf hinunter. Das war Eubanq, der Raumhafenleiter, ein Außenweltler, den der Großritter Shubart auf diesen Posten gesetzt hatte. Er war Stammgast im Grorer und kam jeden Nachmittag, um sein Bier zu trinken, Perzeben zu knabbern und sich dem Sanque für einen Dinket* die Partie hinzugeben. Er spielte mit jedem, der gerade Lust dazu hatte. Er war von freundlichem Wesen, ruhig, humorvoll, seine Lippen waren ständig gespitzt und zuckten hin ** Abfällige Bezeichnung für die vom Connat erhobene Kopfsteuer. * Ein Zehntelozol.
und wieder, als beschäftigten seine Gedanken sich mit guten Witzen. Jetzt rief er hinüber zum anderen Tisch. »Achtet auf eure Worte, wenn ihr über den Connat sprecht. Wie leicht könnte er sich unerkannt zwischen uns aufhalten. Wie wir alle wissen, macht er sich ein Vergnügen daraus, inkognito herumzureisen.« Duade lachte spöttisch. »Es ist wohl schwer vorstellbar, daß er sich ausgerechnet hier herumtreiben würde – außer er ist dieser neue Schankbursche. Aber irgendwie kann ich mir Janx nicht als Connat vorstellen.« Durch einen Aussprachefehler war aus »Jantiff« Janx geworden, und so nannte man ihn nun allgemein in der Taverne. »Nein, Janx ist nicht unser Connat«, versicherte ihm Eubanq lächelnd. »Ich habe Bilder vom Connat gesehen, es besteht keine Ähnlichkeit zwischen ihnen. Gönnt dem Connat doch seine Stiver. Ihr braucht nur zum Himmel hochzuschauen, dann seht ihr die vielen Sterne des Alastorhaufens – die Whelme beschützen sie alle.« »Hier würden sie nur ihre Zeit vergeuden«, brummte Bodile, »denn ganz sicher verirren sich keine Starmenter nach Balad. Hier gibt es nichts für sie zu holen, in meinem Haus bestimmt nicht.« »Großritter Shubart könnte sie durchaus anlocken«, widersprach ihm Skorbo. »Er umgibt sich mit unvorstellbarem Reichtum, wie es ihm ja wohl auch zusteht. Aber deshalb hat er auch Grund, die Starmenter zu fürchten.« Duade brummte. »Wir bezahlen beide die gleiche Stiver! Wen beschützen die Whelme? Shubart? Oder
mich? Eine Gerechtigkeit gibt es selten.« Eubanq lachte. »Trösten Sie sich. Die Whelme sind nicht allmächtig. Vielleicht übersehen sie es, den Großritter zu beschützen, dann sind seine Stiver genauso umsonst ausgegeben wie Ihre, und Sie haben Ihre Gerechtigkeit, wenn Sie das befriedigt. Wer hat Lust zu einem schnellen Sanque?« »Ich nicht«, sagte Duade mißlaunig. »Der Connat nimmt unsere Stiver und Sie unsere Dinkets. Nur Bahevah weiß, wie Sie es immer schaffen. Mit Ihnen spiele ich nicht mehr.« »Ich auch nicht«, stimmte Bodile ein. »Ich weiß eine bessere Verwendung für mein Geld. Bursche, wie lange brauchen die Perzeben noch?« »Nur noch wenige Minuten, mein Herr.« Eubanq wandte sich vom Tisch der Bauern ab, da keiner mit ihm spielen wollte. Als Jantiff ein paar Minuten später zu einer kleinen Verschnaufpause kam, blieb er neben ihm stehen. »Mein Herr, dürfte ich mir die Freiheit herausnehmen, Sie um einen Rat zu bitten?« »Gewiß doch«, versicherte ihm der Raumhafenleiter. »Doch seien Sie gewarnt, kostenloser Rat taugt gewöhnlich nicht viel.« Jantiff ignorierte den kleinen Scherz. »Ich suche Passage nach Frayness auf Zeck, das ist Alastor 503, wie Sie zweifellos wissen. Ist es möglich, einen Flug vom Balader Raumhafen aus zu buchen?« Eubanq schüttelte den Kopf. »Von hier fliegen die Schiffe lediglich nach Hilp und Lambeter, also rund um den Gorgonenrüssel.« »Könnte ich denn nicht von Hilp oder Lambeter auf ein Schiff nach Zeck umsteigen?«
»Gewiß, nur können Sie von hier aus nicht dorthin kommen, da die Schiffe, die von hier abfliegen, Sie nicht mitnehmen dürfen. Fahren Sie doch nach Uncibal und nehmen Sie dort den Schwarzen Pfeil, der bringt Sie direkt nach Zeck.« »Ich kann Uncibal nicht mehr sehen«, murmelte Jantiff. »In diesem Fall, fürchte ich, müssen Sie sich damit abfinden, den Rest Ihres Lebens in Balad zu verbringen.« Jantiff dachte einen Augenblick lang nach. »Ich habe ein Ticket nach Zeck. Könnten Sie mir nicht ein Ticket von Balad direkt nach Frayness ausstellen, damit ich mich an Bord eines Schwarzen Pfeils begeben kann, ohne durch die Formalitäten des Uncibaler Raumhafens gehen zu müssen?« Eubanq musterte ihn scharf. »Das wäre möglich. Doch wie wollen Sie von Balad nach Uncibal kommen?« »Gibt es denn keinen Zubringerflug?« »Jedenfalls keine Linienflüge.« »Angenommen, Sie wollten nach Uncibal, was würden Sie machen?« »Ich würde jemanden mit einem Flibbit bezahlen, mich dorthin zu bringen. Das ist natürlich nicht billig, denn es handelt sich schließlich um eine beachtliche Strecke.« »Wieviel, glauben Sie?« Eubanq zupfte am Kinn. »Es ließe sich vielleicht für hundert Ozol arrangieren, nehme ich an, möglicherweise mehr. Billiger ist es bestimmt nicht.« »Hundert Ozol!« rief Jantiff erschrocken. »Das ist viel Geld!«
Eubanq zuckte die Achseln. »Nicht, wenn man bedenkt, was damit zusammenhängt. Jemand mit einem guten Flibbit läßt sich nicht billig abspeisen – genausowenig wie ich.« »Bursche!« rief jemand am Tisch der Bauern. Jantiff drehte sich um. Hundert Ozol! Welch eine Summe! Bei zwei Ozol pro Tag und ohne auch nur einen Dinket auszugeben, müßte er fünfzig Tage arbeiten. Bis dahin war die Jahrhundertfeier längst vorbei. Zweifellos enthält diese Summe eine beachtliche Provision für Eubanq, dachte Jantiff düster. Nun, entweder mußte der Raumhafenleiter mit dem Preis heruntergehen, oder er, Jantiff, mehr Geld verdienen. Ersteres schien nicht sehr wahrscheinlich zu sein: Eubanqs Geiz war sprichwörtlich im Grorer. Fariske hatte erzählt, daß Eubanq vor Jahren in seinem rehfarbenen Anzug in Balad angekommen war und seither noch nie etwas anderes getragen hatte. Also dann, das zweite: wie konnte er mehr Geld verdienen? Gar nicht leicht, bei der wenigen Freizeit, die Farikse ihm ließ. Diesen Gedanken hing Jantiff nach, während er einen Tisch abräumte. Verstimmt blickte er auf Eubanq, der sich mit einem eben erst angekommenen Gast unterhielt. Jantiff erstarrte. Der Mann war groß und breit, mit stark durchblutetem Gesicht, und, nach Eubanqs unterwürfigem Benehmen zu schließen, von beachtlichem Einfluß hier in Balad. Seine Kleidung, verglichen mit der üblichen hier, war recht pompös. Es handelte sich um einen hellblauen Anzug (nicht ganz sauber) im Uniformstil, schwarze Stiefel, schwarze Brustriemen, einen schwarzen Gürtel und
eine schwarze Bastkappe mit silbernem Federbusch. Er schaute sich jetzt in der Gaststube um und entdeckte Jantiff. »Bursche, bring mir Bier!« »Jawohl, mein Herr.« Mit klopfendem Herzen brachte Jantiff ihm das Gewünschte. Butsch blickte ihm gleichgültig entgegen. Er erkannte ihn offenbar tatsächlich nicht. »Ist das Fariskes altes Dunkelwürz oder Nebranger?« »Es ist sein bestes Dunkelwürz, mein Herr.« Butsch nickte. Vermutlich war ihm Jantiff auf dem Labrungsfest überhaupt nicht aufgefallen. Aber trotzdem hielt Jantiff es für einen weiteren Grund, so schnell wie möglich Balad zu verlassen. Eubanq erhob sich nach einer Weile und verabschiedete sich von Butsch. Jantiff murmelte ihm an der Tür zu: »Ich habe im Augenblick noch keine hundert Ozol, aber ich werde sie mir so schnell wir möglich verdienen.« »Ist mir recht«, versicherte ihm Eubanq. »Ich sehe inzwischen die Flugpläne der Schwarzen Pfeil-Linie durch, dann können wir später Näheres arrangieren.« Jantiff unternahm einen nicht sehr hoffnungsvollen Versuch. »Wenn ich schon eher weg könnte, würde ich Ihnen das Geld sofort nach meiner Ankunft auf Zeck überweisen.« Eubanq lächelte nachsichtig. »Zeck ist weit entfernt von Balad. Manchmal läßt die Erinnerung in solcher Entfernung nach.« »Sie könnten mir vertrauen! Ich habe noch nie in meinem Leben jemanden betrogen.« Der Raumhafenleiter wehrte lachend ab. »Trotzdem und überhaupt! Ich mache meine Geschäfte auf die übliche Art, und das bedeutet Ozol auf die Hand.«
Jantiff zuckte verdrossen die Achseln. »Ich tue, was ich kann. Ach, übrigens, wer ist Ihr Freund dort?« Eubanq drehte sich um. »Das ist der ehrenwerte Buwechluter, besser als Butsch bekannt. Er ist Großritter Shubarts Faktotum. Da Shubart sich zur Zeit nicht auf Wyst aufhält, macht Butsch sich eine schöne Zeit und beglückt uns mit seinen haarsträubenden Anekdoten. Behandeln Sie ihn respektvoll, dann werden Sie keine Schwierigkeiten mit ihm haben.« »Bursche!« rief da Butsch in diesem Augenblick. »Bring mir eine doppelte Portion Perzeben!« »Es tut mir sehr leid, mein Herr, aber die Perzeben sind uns ausgegangen. Es war heute eine ungewöhnlich große Nachfrage danach.« Butsch fluchte etwas in seinen Bart. »Weshalb sorgt Fariske nicht besser vor? Also, dann bringen Sie mir eine Scheibe gutdurchwachsenen Grump und ein halbes Pfund Haggot.« Jantiff beeilte sich, die Bestellung auszuführen. Langsam verging der Abend. Endlich verließen die Gäste die Taverne und suchten ihren Weg durch die neblige Nacht. Jantiff räumte die Tische ab, fegte den Boden und schaltete schließlich die Lichter aus, ehe er sich in sein Zimmer zurückzog. Alles in allem fand Jantiff am Grorer nichts auszusetzen. Wären nicht seine Ungeduld und Fariskes ständig neue Aufträge gewesen, hätte er sich in Balad mit seiner ungewöhnlichen Umgebung und dem feuchten Klima wohl fühlen können. Jeden Morgen weckte ihn Palinka, Fariskes robuste Tochter, dann setzte sie ihm das Frühstück vor, bestehend aus Hafergrütze, Wurst
und Schwarzblättertee. Danach putzte er die Gaststube, holte, was zum Kochen gebraucht wurde, aus dem Vorratskeller, und bereitete die Theke für den Ausschank vor. Von seinem vierten Arbeitstag an mußte er auch noch, bei Sonne und Regen, zwei Eimer mit Perzeben sammeln. Trotz des wechselnden Wetters und des kalten Seufzermeerwassers gefiel Jantiff diese Arbeit bald am besten, denn hier an den Felsen war er fast immer allein und hatte seine Ruhe. Er nahm gewöhnlich den Weg am Dessimostrand entlang, wo halbüberschwemmte Felsensimse mit hübschen kleinen Buchten abwechselten. Auf den Dünen hier wuchsen unzählige verschiedenartige Pflanzen: purpurner Gart, Rätselbüsche, Ingwerfedersträucher, rankende Jilbeeren, die quiekten, wenn man darauf trat. Dazwischen waren immer wieder Fleckchen mit Silicanthus: winzige fünfzackige Sternchen, die aussahen, als bestünden sie aus reifüberzogenem Glas und wären aufs Geratewohl jeweils mit einer anderen von unzähligen verschiedenen Farben betupft worden. Da und dort wiegten und bogen Granatbäume sich im Wind. Ihre knorrigen Äste sahen wie hastende Kräuterweiber aus. Immer wenn Jantiff südwärts über das Meer schaute, erweckte der nahe Horizont in ihm den verblüffenden Eindruck, er stünde hoch in der Luft. An regnerischen Tagen wirkte die Gegend trostlos, und die aufgewühlten Wellen brandeten über die Felsen, so daß Jantiff des öfteren mit leeren Eimern in den Grorer zurückkehren mußte. An schönen Tagen aber glitzerte das Meer im vielfarbenen Dwanlicht, der Gart glühte wie purpurnes Feuer hinter Glas, und der Sand, auf dem Jantiff da-
hinstapfte, schien so frisch zu sein, als wäre er nie zuvor von eines Menschen Fuß betreten worden. Dann atmete Jantiff tief die kühle Salzluft ein, schwang froh seine Eimer und freute sich trotz aller Widerwärtigkeiten seines Lebens. Etwa in der Mitte der Dessimolandzunge reichte ein Arm des Sychs nahe heran, ehe er sich dem Meer zuwandte. Hier entdeckte Jantiff eine im Schatten des Waldes gut verborgene, halb eingefallene Hütte. Das Dach war eingestürzt, eine Wand eingedrückt und der Boden unter dem Schmutz und den Blättern vergraben, die der Wind im Laufe der Jahre hereingeweht hatte. Jantiff stocherte mit einem Stock herum, aber er fand nichts von Interesse. Eines Tages ging Jantiff bis zum Ende der Landspitze: eine massive Zunge aus schwarzem Fels, die ein Dutzend kalter Strudel schützte. Als Jantiff sich hier näher umsah, entdeckte er Unmengen ausgezeichneter Perzeben, einschließlich einer großen Anzahl der besonders begehrten Koronelart. Von da an ging er jeden Tag dorthin. Jedesmal, wenn er an der eingefallenen Hütte vorbeikam, nahm er sich Zeit, einen Stein in die Wand einzupassen oder einen Armvoll des Unrats vom Boden herauszubefördern. Eines sonnigen Morgens spazierte er ganz um die Landzunge herum und kehrte entlang der Küste des Lalussunds nach Balad zurück. Von hier aus hatte er eine gute Aussicht auf Großritter Shubarts Villa, die in einem fast peinlich gepflegten Garten lag. Jantiff blieb stehen, um sie zu bewundern, denn er hatte Wunderdinge über sie gehört. Er sah Butsch sich in einem Liegestuhl sonnen. Gleich darauf kam ein junges Hausmädchen mit einem Tablett voll Erfrischungen
auf ihn zu. Butsch versuchte offenbar eine scherzhafte Einladung, aber das Mädchen wich nervös aus. Butsch griff nach ihr und bekam eine der roten Quasten ihrer Schürze zu fassen. Das junge Ding flehte ihn an loszulassen und begann schließlich zu weinen. Sofort schwand Butschs gute Laune. Er gab dem Mädchen einen heftigen Fußtritt, daß sie stolpernd und schluchzend ins Haus zurückeilte. Impulsiv wollte Jantiff den Kerl zurechtweisen, doch dann überlegte er es sich glücklicherweise noch rechtzeitig und hielt den Mund. Zufällig blickte Butsch in seine Richtung und sah ihn. Sofort sprang er wütend auf. Jantiff war nur froh, daß fünfzig Meter Wasser zwischen ihnen lagen. Hastig nahm er seine Eimer wieder auf und setzte seinen Rückweg fort. Am Abend kam Butsch in den Grorer. Jantiff ging seiner Arbeit nach und bemühte sich, Butschs wütende Blicke zu ignorieren. Schließlich winkte Butsch ihn herbei. »Ja, mein Herr?« »Du hast mir heute nachspioniert. Ich habe gute Lust, deinen Kopf in die Senkgrube zu tauchen.« »Ich spioniere Ihnen nicht nach«, protestierte Jantiff. »Ich kam nur gerade des Weges mit den Perzeben für heute.« »Dann warne ich dich, diesen Weg nicht mehr zu nehmen. Der Großritter liebt keine neugierigen Blikke, und ich genausowenig.« »Möchten Sie etwas bestellen?« fragte Jantiff so würdevoll es ihm gelang. »Das tue ich, wenn es mir Spaß macht!« knurrte Butsch. »Mir ist, als hätte ich deine häßliche Visage schon früher einmal gesehen. Sie hat mir damals
nicht gefallen, und jetzt gefällt sie mir noch weniger. Also hüte dich!« Jantiff ging mit klopfendem Herzen seiner Arbeit nach. Eubanq, der in einer Ecke saß, winkte Jantiff zu. »Was hat es zwischen Ihnen und Butsch gegeben?« Jantiff berichtete den Vorfall und schloß: »Jetzt ist er wütend auf mich.« »Das ist sehr dumm, denn ich wollte, daß Butsch Sie nach Uncibal fliegt, und zwar in einem der Flibbits des Großritters.« Butsch war fast lautlos herangekommen und beugte sich über den Tisch. »Das ist der Kerl, den ich für Sie nach Uncibal bringen sollte?« Ein Grinsen verzerrte sein Gesicht. »Es wird mir ein Vergnügen sein, ihn ohne jegliche Entschädigung in die Luft zu befördern.« Sowohl Jantiff als auch Eubanq schwiegen. Butsch kicherte und verließ die Taverne. »Mit ihm fliege ich ganz sicher nicht nach Uncibal«, sagte Jantiff düster. Eubanq machte eine seiner besänftigenden Gebärden. »Sie dürfen ihn nicht ernst nehmen. Er nimmt gewöhnlich den Mund viel zu voll. Ich habe übrigens den Flugplan studiert. Jetzt brauche ich Ihren Flugschein. Haben Sie ihn bei sich?« »Ja, aber ich gebe ihn nicht gern aus der Hand.« Eubanq schüttelte lächelnd den Kopf. »Ohne ihn ist es mir unmöglich, einen bestimmten Flug zu buchen.« Widerstrebend händigte Jantiff ihm den Schein aus. »Sehr schön. Sie werden Uncibal in drei Wochen an Bord der Jervasia verlassen. Wieviel Geld haben Sie bis jetzt beisammen?«
»Zwanzig Ozol.« Eubanq schüttelte den Kopf. »Das genügt nicht. In drei Wochen können Sie höchstens achtzig Ozols zusammenhaben! Nun, dann fliegen Sie eben erst in sechs Wochen mit der Serenaik. Ich buche also entsprechend.« »Aber bis dahin ist das Jahrhundertfest der Arrabiner bereits vorbei!« »Na und?« Jantiff schwieg einen Augenblick lang. »Ich muß in Uncibal etwas erledigen, aber vor der Feier. Vertrauen Sie mir doch! Sobald ich zu Hause in Zeck bin, schicke ich Ihnen die restlichen zwanzig Ozol. Ich schwöre es Ihnen.« »Ja, natürlich!« sagte Eubanq gelangweilt. »Ich vertraue Ihnen ja, das dürfen Sie mir glauben. Sie meinen es wirklich ernst – im Moment. Aber auf Zeck sind Ihnen vielleicht andere Dinge wichtiger, und Sie vergessen mich. So ist es gewöhnlich. Nein, ich kann nur gegen Bezahlung etwas für Sie tun. Also, soll ich für die Serenaik oder die Jervasia buchen?« »Dann muß es wohl für die Serenaik sein«, sagte Jantiff heiser. »Ich bekomme das Geld ganz einfach nicht früher zusammen. Und denken Sie daran: ich werde unter keinen Umständen mit Butsch fliegen.« »Wie Sie wollen. Ich kann Bulwans Flibbit ausleihen und fliege Sie persönlich. Planen wir also entsprechend.« Jantiff machte sich wieder an die Arbeit. Sechs Wochen kamen ihm entsetzlich lange vor. Was war mit der Hundertjahrfeier? Er mußte unbedingt die Alastorianische Zentralität wieder anrufen und immer wieder, bis der Kursar seinen Argwohn teilte... Aus
dieser Ferne erschien ihm das Ganze selbst unvorstellbar und unglaublich. Ob er sich vielleicht irgendwelchen lebhaften paranoischen Einbildungen hingegeben hatte? Einen Augenblick lang zweifelte er tatsächlich an sich, doch dann sah er alles wieder ganz deutlich. Nein, er hatte sich Estebans Mordversuche nicht nur eingebildet, auch nicht das Gespräch, das er mitangehört hatte, genausowenig wie die Matrix in der Kamera, noch den Mord an Clode Morre. Im Laufe des Abends bemerkte er einen dicklichen jungen Mann mit rosigem Gesicht in der Küche, und kurz ehe sie schlossen, rief Fariske ihn zu sich. »Jantiff, die Dinge haben sich wieder normalisiert. Ich bedauere es sagen zu müssen, aber ich brauche Sie nicht mehr.« Jantiff starrte ihn bestürzt an. Er brauchte eine Weile, bis er stammeln konnte: »Was – was habe ich denn falsch gemacht?« »Absolut nichts. Ich war mit Ihrer Arbeit sehr zufrieden, aber mein Neffe Voris besteht darauf, seinen Job zurückzubekommen. Er ist faul, trinkt fast so viel, wie er den Gästen ausschenkt, trotzdem muß ich ihn dulden, will ich nicht mein Leben lang die Tiraden meiner Schwester hören – und sie hat eine verdammt spitze Zunge! So ist es eben hier in Balad. Sie dürfen selbstverständlich heute noch in Ihrem Zimmer schlafen, doch morgen muß ich Sie bitten, es zu räumen.« Jantiff drehte sich wortlos um und ging voll Verzweiflung seiner Arbeit nach. Vor zwei Stunden hatte ihm eine Wartezeit von sechs Wochen noch Kummer bereitet – jetzt wäre er glücklich gewesen, wenn sich daran nichts geändert hätte! Die Gäste verließen die Taverne. Jantiff räumte
noch auf, dann warf er sich aufs Bett, doch er fand bis in den frühen Morgen keinen Schlaf. Wie üblich weckte Palinka ihn auf. Sie war nie sehr herzlich zu ihm gewesen, heute war sie es noch weniger. »Ich soll dir ein letztesmal Frühstück richten, also beeil dich, ich habe auch noch anderes zu tun.« Jantiff lag eine wütende Antwort auf der Zunge, aber er beherrschte sich. Er murmelte, daß er gleich kommen würde und betrat wenige Minuten später die Küche. Palinka schob ihm den Teller mit der Hafergrütze über den Tisch, stellte klirrend die Tasse mit Tee ab und holte Brot und Marmelade herbei. Jantiff aß lustlos und erregte so Palinkas Ungeduld. »Mach schon, Jantiff, iß endlich! Ich warte nur darauf, daß ich den Tisch abräumen kann.« »Und ich warte auf meinen Lohn!« brauste Jantiff in plötzlicher Wut auf. »Wo ist Fariske? Sobald er mich ausbezahlt hat, werde ich gehen.« »Dann kannst du den ganzen Tag warten. Er ist auf dem Bezirksmarkt.« »Und wo ist mein Geld? Hat er dich nicht beauftragt, es mir zu geben?« Palinka lachte spöttisch. »Für Witze ist es zu früh. Fariske ist extra fort, in der Hoffnung, du würdest darauf vergessen.« »Das wird ihm nichts nützen. Ich beabsichtige, mir jeden verdienten Dinket zu holen!« »Dann komm morgen früh zurück. Und jetzt verschwinde!« Düsterer Stimmung verließ Jantiff den Grorer. Eine Weile blieb er, mit den Händen unter den Jackenrevers und die Schultern gegen den Wind gebeugt, auf
der Straße stehen. Er schaute nach Osten, dann Westen, wo sein Blick auf dem Kimbern hängenblieb. Er verzog das Gesicht. Die Lust an der Arbeit in einer Balader Taverne war ihm gründlich vergangen. Trotzdem zupfte er die Jacke zurecht und stiefelte hinunter zum Kimbern, wo Madame Tchaga, eine kleine dicke Frau mit reizbarem Wesen, bei einer Arbeit war, die Jantiff nur zu gut kennengelernt hatte: sie schrubbte die Gaststube. Jantiff wandte sich vertrauensvoll an sie, aber sie hörte nicht einen Moment mit dem Wischen auf und brummte nur säuerlich: »Die Ozol, die ich einnehme, reichen nicht einmal für mich und die meinen. Ich kann es mir nicht leisten, Sie einzustellen. Versuchen Sie es anderswo, vielleicht beim Großritter. Möglicherweise braucht er jemanden, der ihm die Zehennägel pedikürt.« Jantiff kehrte auf die Straße zurück und dachte über Madame Tchagas Vorschlag nach. Eubanq kam gerade aus einer der Seitenstraßen auf seinem Weg zum Flughafen. Er nickte Jantiff grüßend zu und wäre weitergeeilt, hätte Jantiff ihn nicht aufgehalten. Hier war vielleicht die Lösung zu seinem Problem. »Fariske braucht mich im Grorer nicht mehr«, erklärte Jantiff ihm. »Das ist sicher ganz gut so, denn gewiß können Sie mich bei besserem Lohn im Raumhafen unterbringen.« »Leider nicht«, erwiderte Eubanq. »Ich muß gestehen, es gibt dort kaum genügend für meine feste Belegschaft zu tun.« Seine Verzweiflung ließ Jantiff die Stimme heben. »Aber wie soll ich da die hundert Ozol zusammenbringen?«
»Das weiß ich nicht, das ist Ihr Problem, aber irgendwie werden Sie es schon schaffen müssen. Ich habe Ihren Flugschein bereits nach Uncibal geschickt und auf der Serenaik eine Passage für Sie gebucht.« Jantiff starrte ihn erschrocken an. »Läßt sich das nicht mehr rückgängig machen?« »Zu spät!« »Können Sie mir nicht einen Rat geben? Was ist mit dem Großritter? Wie wäre es, wenn Sie ein gutes Wort für mich bei ihm einlegten?« Eubanq machte sich daran, seinen Weg fortzusetzen. »Der Großritter ist zur Zeit nicht hier. Butsch hält das Fort, wenn er sich nicht gerade mit Dirnen herumtreibt, Hexen jagt oder versucht, die Fässer des Grorers leerzutrinken. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß er bereit wäre, Ihnen zu helfen. Doch bestimmt werden Ihre Probleme sich bald von selbst lösen, zu Ihrer besten Zufriedenheit, hoffe ich. Einen schönen Tag.« Und schon eilte Eubanq weiter. Mit hängenden Schultern schlurfte Jantiff die Straße ostwärts hoch, vorbei am Grorer zum Stadtrand und weiter. Am Meeresufer setzte er sich auf einen flachen Felsen und blickte über die wogenden Wellen. Die frühen Dwanstrahlen sammelten sich in den Wellentälern und spülten mit ihnen wie Quecksilber hin und her. Stumpf starrte Jantiff auf den Horizont und dachte darüber nach, was er tun konnte. Natürlich könnte er nach Uncibal zurückkehren und sich wieder in den Unterschlupf im Disjerferact zurückziehen – aber wie ließen sich die fünfzehnhundert Kilometer Wildnis bewältigen? Angenommen, er stahl einen der Flibbits des Groritters? Und angenommen, Butsch erwischte ihn dabei? Lieber nicht
darüber nachdenken! Seine einzige Hoffnung lag nach wie vor beim Kursar. Das bedeutete, daß er die Alastorianische Zentralität täglich anrufen mußte. Morgen würde er sich seinen Lohn von Fariske holen. Das war zwar keine hohe Summe, aber er würde eine Weile seinen täglichen Unterhalt damit decken können. Wichtiger war im Augenblick jedoch eine Unterkunft. Da fiel ihm etwas ein. Er sprang auf die Füße und marschierte zu der zerfallenen Hütte. Ohne sonderliche Begeisterung musterte er sie eingehend, als ob er sie noch nicht richtig kennen würde! Dann machte er sich daran, sie gründlich zu säubern. Er holte Schößlinge aus dem Wald und flocht daraus eine Matte als Wandersatz. Sie war zwar stabil und elastisch, aber wohl kaum wasserdicht. Auch für das Dach mußte er sich etwas einfallen lassen. Er hatte keineswegs genügend Geld, die Hütte normal zu decken, also blieb ihm nichts übrig, als zu improvisieren. Ein Strohdach war das Nächstliegende, doch selbst dafür müßte er sich in Unkosten stürzen. Er kehrte nach Balad zurück und investierte einen Ozol für ein Seil, ein Messer und einen Laib harten Brotes, damit kehrte er zur Hütte zurück. Es war inzwischen Nachmittag geworden, aber es blieb ihm vor dem Abend noch genug Zeit, etwas zu schaffen. Vom Strand holte er sich mehrere Armvoll Tang, den er zu Bündeln band. Ein Teil davon war alt und verfault und stank entsetzlich. In Kürze war Jantiff durch und durch naß und kalt und mit unangenehmem Schleim bedeckt. Aber er biß die Zähne zusammen und arbeitete weiter, um die Bündel in mehreren Schichten auf dem Dachgerüst zu befestigen. Er war immer noch nicht fertig damit, als der
Dwan unterging. Jantiff machte ein Feuer, wusch sich und seine Sachen im nahen Bach und sammelte, ehe es ganz dunkel wurde, genügend Perzeben für ein Abendmahl. Seine Kleidung hing er in Flammennähe zum Trocknen auf und kauerte sich nackt ans Feuer, verzweifelt bemüht, sich an allen Seiten warmzuhalten. Inzwischen garten die Perzeben in der Schale, und bald konnte er sie, zusammen mit dem Brot, voll Appetit zu sich nehmen. Als die Nacht hereingebrochen war und Dunkelheit Land und Meer verhüllte, legte Jantiff sich auf den Rücken und starrte in den Himmel. Er erkannte die Konstellationen von hier aus nicht, aber sicher waren viele dieser funkelnden Sterne hoch über ihm bekannte Welten, das Zuhause edler Männer und schöner Frauen. Keiner von ihnen konnte auch nur ahnen, daß tief unten, oder vielmehr für sie oben, am Strand des Seufzermeers das unbedeutende Wesen Jantiff Ravensroke saß. Jantiff ließ seine Gedanken umherschweifen und sich mit allem möglichen beschäftigen, und schließlich glaubte er, die Seele dieses merkwürdigen kleinen Planeten Wyst zu erkennen. Auf Wyst war nichts, wie es zu sein schien. Alles war ein wenig schief und verzerrt oder in geheimnisvolles unruhiges Licht getaucht. Gerade dieses letztere traf auch auf die Menschen hier zu. Ganz zweifellos teilten die Menschen das Wesen der Welt, auf der sie geboren waren... Jantiff dachte über Zeck, seine eigene Welt nach, die ihm immer so normal, so alltäglich erschienen war. Ob wohl Besucher sie ebenfalls merkwürdig und ungewöhnlich fanden? Und wenn ja, ob man dann auch ihn, Jantiff, anderswo für merkwürdig und
ungewöhnlich hielt? Höchstwahrscheinlich! Die Flammen brannten zur Glut herab. Etwas steif erhob Jantiff sich. Sein Bett war lediglich ein Haufen Blätter, doch zumindest für heute mußte ihm das genügen. Jantiff machte noch einen kurzen Rundgang, um sich zu vergewissern, daß er allein war, dann verzog er sich in seine Hütte und machte es sich in seinem Laubhaufen so bequem wie nur möglich. Er schlief ziemlich schnell ein. Bei Dwangaufgang kroch er aus den Blättern. Er wusch sich das Gesicht im Bach, aß ein paar Scheiben Brot und einige kalte Perzeben, aber sehr herzhaft war dieses Frühstück nicht. Falls er länger hier blieb, selbst nur eine Woche, mußte er sich zumindest einen Topf, eine Pfanne, eine Tasse, Besteck, Salz, Mehl, Öl und vielleicht ein wenig Tee besorgen – das würde ein ganz ordentliches Loch in seinen Beutel reißen. Aber welche vernünftige Alternative hatte er? Der Schlaf hatte ihm wieder zu klarerem Denken verholfen. Er würde sich hier für eine Weile häuslich niederlassen und in regelmäßigen Abständen die Zentralität anrufen. Früher oder später mußte er doch den Kursar erreichen, möglicherweise schon heute! Jantiff erhob sich, bürstete Blätter und winzige Zweige von seinem Anzug und machte sich auf den Weg nach Balad. Den Grorer betrat er durch den Hintereingang und klopfte an der Küchentür. Palinka öffnete die Tür zur Gaststube und deutete hinein. »Sprich zu Farikse. Dort sitzt er.« Jantiff blieb vor dem Tisch stehen. Fariske blies die Wangen auf, hob die Brauen und schaute zur Seite, als könnte er Jantiff so dazu bringen, wieder zu verschwinden. Jantiff setzte sich ihm gegenüber auf sei-
nen alten Platz, und nun mußte der Wirt wohl von seiner Anwesenheit Kenntnis nehmen. »Oh, guten Morgen, Jantiff«, brummte er. »Guten Morgen. Ich bin nur gekommen, mir mein Geld zu holen.« Fariske seufzte tief. »Kommen Sie in ein paar Tagen wieder. Ich erstand ein paar absolute Notwendigkeiten auf dem Markt und bin nun knapp bei Kasse.« »Und ich noch knapper!« rief Jantiff. »Ich bleibe hier sitzen und werde mich kostenlos bedienen lassen, bis ich meinen Lohn erhalten habe.« »Kein Grund zur Aufregung«, beruhigte ihn Fariske. »Palinka, schenk Jantiff eine Tasse Tee ein.« »Ich habe noch nicht gefrühstückt und würde mich über einen Teller Hafergrütze freuen.« Fariske winkte Palinka herbei. »Bring Jantiff Grütze. Er ist ein guter Bursche und verdient eine Sonderbehandlung. Wieviel schulde ich Ihnen?« »Vierundzwanzig Ozol.« »So viel!« rief Fariske. »Was ist mit dem Bier, das Sie tranken, und was Sie sonst noch zusätzlich zu sich nahmen?« »Ich trank kein Bier und leistete mir auch nichts Zusätzliches, das wissen Sie doch genau.« Widerwillig zog Fariske seine Brieftasche und händigte Jantiff das Geld aus. »Was sein muß, muß sein.« »Danke. Damit wäre die Sache erledigt. Ich nehme an, daß sich seit gestern nichts geändert hat und Sie mich nicht mehr brauchen?« »So ist es leider. Ich muß jedoch gestehen, daß ich es sehr bedauere. Voris leidet an einer Venenentzündung und ist deshalb nicht in der Lage, Perzeben zu sammeln. Das muß nun die arme Palinka machen.«
»Was!« rief das Mädchen wütend. »Höre ich recht? Ich habe hier wohl so wenig zu tun, daß es überhaupt nichts ausmacht, wenn ich Stunden außer Haus bin! Sei doch vernünftig!« »Es handelt sich doch nur um heute«, sagte Fariske beruhigend. »Morgen wird Voris sich vermutlich bereits besser fühlen.« Palinka lachte spöttisch. »Voris ist nie um Ausreden verlegen. Wenn seine Venen geheilt sind, wird ihm einfallen, daß die Theke gewachst werden muß, daß er sich den Magen verdorben hat, daß die Wellen zu heftig gegen die Felsen schlagen! Und dann wird es wieder heißen: ›Palinka! Palinka! Du mußt heute ausnahmsweise Perzeben holen, der arme Voris fühlt sich nicht wohl!‹« Wütend schlug sie eine Pfanne auf den Tisch. »Wenn Jantiff auch seine Eigenheiten hatte, er hat zumindest die Perzeben gesammelt. Voris muß sich an sein Beispiel halten!« Fariske versuchte es mit der Überzeugungskraft reiner Logik. »Was ist schon dabei, ein paar Perzeben zu sammeln? Der Tag hat nur so und so viele Minuten, die vergehen, egal, was man tut.« »In diesem Fall, würde ich sagen, holst du die Perzeben am besten selbst!« Palinka stürmte mit der Pfanne davon. Für sie war dieses Thema ein für allemal erledigt. Fariske zupfte am Kinn, dann schaute er Jantiff an. »Würden Sie mir den Gefallen tun, natürlich nur heute, Perzeben für mich zu sammeln?« Jantiff nippte an seinem Tee. »Am besten, wir unterhalten uns in allen Einzelheiten darüber.« Verärgert sagte Fariske: »Meine Bitte ist wirklich bescheiden, fällt Ihnen da die Antwort so schwer?«
»Durchaus nicht«, versicherte ihm Jantiff. »Vielleicht kommen wir zu einer beide Teile zufriedenstellenden Einigung. Sie wissen, daß ich zur Zeit arbeitslos bin und nichts dagegen habe, mir ein paar Ozol zu verdienen.« Fariske verzog das Gesicht und öffnete den Mund, doch ehe er sprechen konnte, hob Jantiff die Hand. »Wir müssen uns erst einmal über den Wert eines Eimers Perzeben klarwerden. Geschält und gebacken ergeben sie zwanzig Portionen. Sie verlangen einen Dinket pro Portion, das sind demnach zwei Ozol pro Eimer, vier Ozol für zwei Eimer und so weiter. Angenommen, ich liefere Ihnen jeden Tag die benötigten Portionen, geschält und gesäubert für einen Ozol den Eimer? Sie würden dabei immer noch Ihren Profit machen, ohne daß Palinka, Sie selbst oder Voris die Perzeben bei Wind und Wetter sammeln müßten.« Fariske zupfte an seinem Schnurrbart und dachte über diesen Vorschlag nach. Palinka, die am Herd zugehört hatte, kam an den Tisch und stemmte die Hände an die Hüften. »Was überlegst du noch lange? Voris wird sich nie dazu herablassen, Perzeben zu sammeln! Und ich denke gar nicht daran, mir die Beine in dem kalten Wasser zu erfrieren!« »Also gut, Jantiff«, sagte Fariske. »Wir werden es ein paar Tage versuchen. Möchten Sie noch eine Tasse Tee, um auf unsere neue Geschäftsverbindung zu trinken?« »Mit Vergnügen«, erwiderte Jantiff. »Und auch darauf, daß ich mein Geld immer sofort bei Ablieferung der Perzeben bekomme.« »Wofür halten Sie mich!« rief Fariske beleidigt. »Ein Mann ist so gut wie sein Ruf! Glauben Sie, ich
würde ihn wegen ein paar armseliger Muscheln aufs Spiel setzen?« Jantiff zuckte die Achseln. »Wenn wir unser Geschäft auf diese Weise handhaben, kann es zu keinen Unstimmigkeiten kommen.« »Wie Sie meinen. Noch etwas, da es Ihnen offenbar Ernst ist, muß ich auf vier Eimer pro Tag, statt der bisherigen zwei, bestehen.« »Ich wollte etwas Ähnliches selbst vorschlagen«, sagte Jantiff. »Ich brauche Geld und muß deshalb mehr verdienen.« »Sie werden natürlich Ihre Geräte selbst stellen?« »Für die nächsten Tage benötige ich noch Ihre Eimer und die Eisen und Zangen, die Sie in Ihrem Schuppen aufbewahren. Selbstverständlich komme ich für etwaige Schäden daran auf.« Fariske war nicht bereit, ohne weiteres auf diese Sache einzugehen, aber Palinka wurde ungeduldig. »Es ist nicht mehr gerade früh, und du willst doch bestimmt heute abend mit Perzeben aufwarten können, oder nicht? Also laß Jantiff endlich seiner Arbeit nachgehen!« Fariske warf resignierend die Hände in die Luft und stapfte aus der Küche. Jantiff ging in den Schuppen, holte sich die Eimer und das Werkzeug und kehrte zum Strand zurück. Erst tags zuvor hatte er sich einen Felsen gemerkt, der etwa zwanzig Meter vom Ufer entfernt aus dem Wasser ragte, und an dem er noch nie Perzeben gesammelt hatte, weil das Wasser hier zu tief war. Heute baute er sich ein Floß aus abgebrochenen Zweigen und Treibholz, darauf stellte er die Eimer. Dann watete er mit klappernden Zähnen bis zur Brust ins kalte Wasser, ehe er mit dem Floß im
Schlepptau zu dem Felsen schwamm. Seine Erwartungen erfüllten sich reichlich. Die Perzeben klebten dicht an dicht an dem Felsen, und seine Eimer waren im Nu gefüllt. Am Ufer machte er sich ein Feuer, an dem er sich wärmte und Perzeben schälte und säuberte. Der Dwan stand noch nicht einmal im Zenit, als Jantiff seine Ware im Grorer ablieferte. Fariske glaubte seinen Augen nicht trauen zu können. »Als Sie für mich arbeiteten, brauchten Sie fast noch mehr Zeit für nur zwei Eimer ungeschälte Perzeben.« »Die Umstände sind nicht vergleichbar«, sagte Jantiff. »Mir ist übrigens aufgefallen, daß Ihr Schuppen mit kaputten Möbeln und allem anderen Kram vollgestopft ist. Für drei Ozol schaffe ich Ihnen Ordnung und bringe das ganze unnütze Zeug auf die Schutthalde.« Mit heftigen Worten gelang es Fariske, Jantiff auf zwei Ozol herunterzuhandeln. Jantiff machte sich sofort an die Arbeit. Aus dem Zeug, das er zum Schuttabladeplatz bringen sollte, stellte er einige Sachen für sich zur Seite: zwei alte Stühle, einen dreibeinigen Tisch, zwei zerschlissene Matratzen, mehrere Töpfe, Kanister und eingebeulte Pfannen. Sich das aneignen zu können, war eigentlich der Hauptgrund seiner Entrümpelungsaktion gewesen. Hätte er Fariske um diese Sache ersucht, hätte er ganz sicher eine unverschämte Summe dafür verlangt. Äußerst zufrieden berechnete Jantiff seine Einnahmen des Tages: sechs Ozol und eine fast komplette Einrichtung für seine Hütte. Am folgenden Tag machte Jantiff sich schon früh an die Arbeit. Er sammelte, schälte und putzte sieben
Eimer voll Perzeben. Nachdem er die ausgemachte Menge bei Fariske abgeliefert hatte, brachte er die restlichen Perzeben ins Kimbern und verkaufte sie für drei Ozol an Madame Tchaga. Madame Tchaga war für ihre Redseligkeit bekannt. In Ermangelung anderer Zuhörerschaft stellte sie Jantiff eine Schüssel mit Kohlrübensuppe vor und klagte ihm ihr Leid über die so unberechenbaren Gäste, die an allem etwas auszusetzen hätten. Jantiff pflichtete ihr bei, daß es schwer sei, alle zufriedenzustellen, und erwähnte so ganz nebenbei, daß der Erfolg und Wohlstand eines Hotels zu einem großen Teil von einer freundlichen, zuvorkommenden Bedienung abhinge. Auch würde eine schöne Fassade, vielleicht ein Blumenmuster, Gäste anlocken. Und was die Gaststube betraf, so könnte man sie mit Bildern von fröhlichen Menschen sicher einladender gestalten. Madame Tchaga wehrte sofort ab. »Es ist ja schön und gut, über Muster und Bilder zu sprechen, aber es gibt ja niemanden in Balad, der fähig wäre, sie auszuführen.« »Nun, ich muß gestehen, daß ich in dieser Beziehung nicht untalentiert bin«, sagte Jantiff. »Vielleicht fände ich einmal Zeit für einen entsprechenden Auftrag.« Während der nächsten neunzig Minuten stellte Jantiff fest, daß Madame Tchaga bedeutend hartnäkkiger im Aushandeln war als Fariske. Jantiff behielt jedoch eine scheinbar gleichmütige und nicht übermäßig interessierte Haltung bei und erreichte schließlich so einen Vertrag, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Ja, Madame Tchaga streckte ihm sogar
fünf Ozol zum Einkauf des benötigten Materials vor. Jantiff begab sich sofort in den Kaufladen des Orts und erstand verschiedene Farben und Pinsel aller Größen. Auf der Straße sah er einen korpulenten Mann in rehfarbenem Anzug, der gemessenen Schrittes daherspazierte. »Eubanq!« rief Jantiff erfreut. »Ich wollte Sie ohnedies sprechen. Wir können nun zu unserem ursprünglichen Plan zurückkehren.« Eubanq blieb stehen und blickte ihn verwirrt an. »Von welchem Plan reden Sie?« »Erinnern Sie sich nicht? Für hundert Ozol – eine horrende Summe, nebenbei bemerkt! – können Sie mich rechtzeitig zum Raumhafen bringen, damit ich die Serenaik erreiche.« Eubanq nickte nachdenklich. »Die hundert Ozol müssen selbstverständlich im voraus bezahlt werden, das ist Ihnen doch klar?« »Daran soll es nicht scheitern«, sagte Jantiff zuversichtlich. »Ich habe jetzt etwa dreißig Ozol. Mein Vertrag mit Madame Tchaga bringt mir weitere zweiundzwanzig ein, und ich verdiene nun regelmäßig sechs oder sieben Ozol pro Tag.« »Ich freue mich über Ihren neuen Wohlstand«, sagte Eubanq höflich. »Was ist Ihr Geheimnis?« »Absolut kein Geheimnis. Sie könnten das gleiche tun. Ich wate lediglich im Meer herum, bis ich sieben Eimer mit Perzeben gefüllt habe. Die schäle und säubere ich dann und liefere sie an den Grorer und das Kimbern. Möchten Sie nicht vielleicht auch ein oder zwei Eimer?« Eubanq lachte. »Danke, das bißchen, worauf es mich gelüstet, bekomme ich im Grorer fertig gebakken. Aber Sie könnten möglicherweise in Großritter
Shubart einen dankbaren Abnehmer finden. Er ist zurückgekehrt und hat sein Haus voller Gäste. Ich bin überzeugt, daß er sich freuen würde, ihnen Perzeben vorsetzen zu können.« »Eine gute Idee. Dann geht mit der Serenaik wohl alles klar.« Eubanq lächelte ein wenig abwesend wie des öfteren und ging seines Weges. Jantiff blieb stehen, um nachzudenken. Je schneller er die hundert Ozol beisammen hatte, desto besser. Das Geld des Großritters war so gut wie jedes andere. Weshalb nicht den Versuch unternehmen? Jantiff brachte die Farben in Fariskes Schuppen unter, dann spazierte er die Nordküste des Lulassunds entlang zur Villa des Großritters. Schon aus der Ferne fiel ihm die Geschäftigkeit auf, wo das letztemal fast absolute Ruhe geherrscht hatte. Sorgsam darauf bedacht, Butsch nicht in die Arme zu laufen, begab er sich zum Lieferanteneingang. Ein Küchenjunge holte den Chefkoch, der ohne langes Feilschen und Überlegen eine Bestellung für zwei Eimer jeden dritten Tag für die nächsten dreieinhalb Wochen aufgab und noch dazu den doppelten Preis von Jantiffs bisheriger Kundschaft zu bezahlen bereit war. »Der Großritter hat hohe Gäste bis zur Jahrhundertfeier in Uncibal«, erklärte der Koch. »Danach wird es ruhiger hier werden.« »Sie können sich auf mich verlassen«, versicherte ihm Jantiff. Beschwingten Schrittes und bester Laune kehrte Jantiff zur Straße nach Balad zurück. Die hundert Ozol waren in greifbarer Nähe. Er konnte sich bereits auf einen erholsamen Flug nach Hause freuen...
Plötzlich hörte er hinter sich das Surren schneller Räder und sprang hastig zur Seite. Der Wagen, mit Butsch hinter dem Steuer, kam näher und brauste an ihm vorbei. Butschs Augen wirkten verzückt, und seine Lippen waren zu einem breiten Lächeln verzogen. Jantiff kehrte auf die Straße zurück und blickte dem Wagen auf seinem Weg nach Balad nach. Wohin mochte Butsch wohl so voll Erwartung eilen? Nachdenklich stapfte Jantiff weiter. Er begab sich direkt zur Poststelle und rief erneut die Alastorianische Zentralität in Uncibal an. Aleida Glusters Gesicht erschien auf dem Schirm. Ihre vormals vollen und rosigen Wangen wirkten eingefallen und grau. Jantiff dachte, daß sie Sorgen haben mußte oder krank war. »Ich bin es wieder einmal, Jantiff Ravensroke«, sagte er mit um Entschuldigung bittender Stimme. »Ich fürchte, ich falle Ihnen bereits auf die Nerven.« »Durchaus nicht«, erwiderte Aleida Gluster. »Es ist meine Pflicht, Ihnen zu helfen. Sind Sie noch in Balad?« »Ja, und wenigstens augenblicklich scheint alles gutzugehen. Aber ich muß mit dem Kursar sprechen. Ist er inzwischen nach Uncibal zurückgekehrt?« »Nein«, sagte Aleida mit angespannter Stimme. »Immer noch nicht. Das ist allen unverständlich.« Jantiff konnte einen Seufzer nicht unterdrücken. »Aber meine Angelegenheit ist von größter Dringlichkeit.« »Das ist mir aus unseren bisherigen Gesprächen bekannt«, erwiderte Aleida ein wenig zurechtweisend. »Aber ich kann ihn beim besten Willen nicht
herbeizaubern – obwohl ich wünschte, ich könnte es!« »Ich nehme an, Sie haben es noch einmal in Waunisse versucht?« »Natürlich. Aber niemand hat ihn dort mehr gesehen.« »Vielleicht sollten Sie den Connat in Kenntnis setzen.« »Das habe ich ebenfalls bereits getan.« »In diesem Fall kann man wohl nichts anderes tun, als abzuwarten«, sagte Jantiff bedrückt. »Ich kann immer noch über die Taverne Grorer erreicht werden.« »Das sagten Sie bereits.« Jantiff verließ die Post. Das Wetter war umgeschlagen. Gewaltige Wolken wie schwere schwarze Euter bedeckten den Himmel. Große Regentropfen bohrten sich in den sandigen Staub. Jantiff lief geduckt zum Grorer. Er ließ sich selbstbewußt an einem Tisch in der Wirtsstube nieder und bestellte einen Krug Bier von Voris. Fariske blickte durch die offene Küchentür und sah ihn. Mit unheildrohender Miene eilte er herbei. »Jantiff, ich bin sehr verärgert über Sie.« Jantiff blickte erstaunt hoch. »Was habe ich denn getan?« »Sie versorgen auch das Kimbern mit Perzeben. Es muß Ihnen doch klar sein, daß das meine Konkurrenz ist.« »Das Kimbern hat ihre Stammkundschaft genau wie Sie. Würde ich keine Perzeben an sie verkaufen, täte es ein anderer.« »Ja, aber er benutzte nicht meine Eimer, meine Eisen und Zangen dafür.«
Jantiff lachte leichthin. »Das ist doch wirklich von keiner Bedeutung. Davon wird das Werkzeug nicht beschädigt. Ich sortiere immer die besten Koronels für den Grorer aus. Was Ihre Gäste auch sonst auszusetzen haben mögen, sie werden bestimmt voll Zufriedenheit erklären, daß Ihre Perzeben viel besser als die im Kimbern sind. Also weshalb regen Sie sich auf?« »Weil ich mit Ihrer Loyalität gerechnet habe.« »Die ist Ihnen nach wie vor gewiß.« »Aber weshalb haben Sie sich dann bereit erklärt, diese Bruchbude von Kimbern zu bemalen, daß sie aussieht, als wäre sie tipptopp in Ordnung?« »Ich tue das gleiche gern für den Grorer, wenn Sie mich dafür bezahlen.« Fariske seufzte tief. »Daher also weht der Wind. Wieviel bekommen Sie denn von der Madame?« »Nun, die genaue Summe ist selbstverständlich vertraulich. Ich kann jedoch sagen, daß vierzig Ozol für die Arbeit nicht zuviel sind.« Fariske zuckte verblüfft zurück. »Vierzig Ozol? Von der alten Tchaga, die jeden Dinket, den sie sich erspart, in einen um ihren Oberschenkel geschnallten Beutel steckt?« »Vergessen Sie nicht, daß ich ein Fachmann auf diesem Gebiet bin!« »Wie kann ich etwas vergessen, von dem ich nie etwas wußte?« »Nun ja, Sie gaben mir ja kaum Zeit, mich zu räuspern, geschweige denn, Ihnen von meinen Talenten zu erzählen.« »Pah!« Fariske schüttelte den Kopf. »Vierzig Ozol sind eine horrende Summe, nur für ein bißchen tünchen.«
»Was halten Sie von zehn hübschen Bildern, die Sie an die Wand der Gaststube hängen können? Sagen wir, fünf Ozol das Stück? Oder für sechs bekommen Sie sogar Gold- oder Silberverzierung. Da kommt das Kimbern nicht mehr mit.« Fariske unterbreitete vorsichtig einen Gegenvorschlag, und so feilschten sie eine Weile. Inzwischen war Butsch mit einer Gruppe kräftiger junger Männer – Bauernknechte, Fischer, Arbeiter usw. – in die Taverne gekommen. Sie ließen sich an einem langen Tisch nieder und unterhielten sich mit lauter, prahlerischer Stimme. Es war unmöglich, nicht hin und wieder einen Brocken ihres Gesprächs aufzuschnappen, wie: »mit meinen vier Wurgeln durch den Sych...« »... hinaus zum Wemischwasser, wo die Kreaturen sich treffen.« »Vorsicht, Butsch! Vergessen Sie die Gelb nicht!« »Keine Angst, ich passe schon auf.« »Worüber unterhalten die Burschen sich eigentlich?« fragte Jantiff schließlich Fariske. »Sie machen sich zu einer Hexenjagd auf. Butsch ist dafür bekannt, er ist ein ziemlich scharfer Hexenjäger.« »Hexenjagen? Warum denn?« Fariske warf einen Blick über die Schulter auf die Gruppe. »Herchelman pflegt seine Felder wie ein Priester, der Hagebutten zieht. Voriges Jahr stahl ihm jemand ein Scheffel Watteldabs, und jetzt macht er die Hexen dafür verantwortlich. Klaw nahm Hexenessen zu sich und mußte die Kur über sich ergehen lassen. Jetzt nimmt er immer einen großen Prügel mit, wenn er auf Jagd geht. Sittle langweilt sich ganz einfach. Er würde alles tun, was ungewöhnlich ist. Dusselbeck ist stolz auf seine Wurgel und möchte sie ein-
setzen. Butsch ist verrückt nach jungen Hexen. Er verfolgt sie und tut ihnen Gewalt an. Pargo kennt nichts Schöneres, als Hexen umzubringen.« Jantiff warf einen bösen Blick auf die Hexenjäger, die gerade ihre Krüge von dem schwitzenden Voris nachfüllen ließen. »Es scheint mir ein sehr gemeiner und brutaler Sport zu sein.« »Das ist es auch«, versicherte ihm Fariske. »Ich hatte nie Spaß daran. Die Hexen waren immer zu schnell für mich, und ich verirrte mich ständig und landete irgendwo in Sümpfen oder Dickichten. Aber den Hexen macht dieser Sport genausoviel Vergnügen wie den Jägern.« »Das kann ich mir nicht vorstellen.« Fariske legte die Handrücken auf den Tisch. »Warum würden sie sich sonst ausgerechnet in unseren Wäldern herumtreiben? Warum stehlen Sie unsere Watteldabs? Warum halten Sie uns so manche Nacht mit Hexenfeuern und Erscheinungen wach?« »Trotzdem halte ich Hexenjagd für einen menschenunwürdigen Sport.« Fariske sagte abfällig: »Sie sind ein perverses Volk. Ich, jedenfalls, verstehe ihr Benehmen nicht. Aber ich gebe gern zu, daß die Jagden mit mehr Anstand durchgeführt werden sollten. Butschs Handlungsweise ist ausgesprochen vulgär. Ich wundere mich, daß er die Gelb noch nicht bekommen hat. Sie wissen doch, wie sie behandelt werden muß? Butsch geht ein ganz schönes Risiko ein.« Jantiff ging dieses Thema an die Nieren. Er hob den Krug an die Lippen, mußte jedoch feststellen, daß er leer war. Er winkte Voris herbei, aber der war zu sehr mit den Hexenjägern beschäftigt. »Wir sind uns also
einig, was die Bilder und ihr Preis betrifft...« »Ich bezahle zwanzig Ozol für die zehn Stück, keinen Dinket mehr. Und ich bestehe auf mindestens vier Farben und einer zusätzlichen Silberverzierung.« Jantiff stand auf, als beabsichtigte er, die Gaststube zu verlassen. »Ich kann es mir nicht leisten, weiter meine Zeit zu verschwenden. Bei einer künstlerisch ästhetischen Arbeit kann man nicht um einen oder zwei Ozol feilschen.« »Sie sollten nicht vergessen, daß nicht ich, sondern Sie das Vergnügen haben, ein bewundernswertes Werk zu schaffen. Das bedeutet einem Künstler sehr viel, wie man sagt.« Jantiff überhörte diese Bemerkung geflissentlich, und schließlich kamen die beiden doch zu einer Einigung. Fariske spendierte Jantiff einen Krug alter Dankwürze, und die beiden trennten sich in bestem Einvernehmen. Jantiff erreichte seine Hütte, als der Dwan bereits tief im Westen stand und seine bleichen Strahlen schräg über Jantiffs Schultern den Bessimostrand hinabfielen. Der Südwind, der jetzt nur noch in vereinzelten leichten Böen wehte, hatte die Wolken zerfetzt und zum Teil vertrieben. Das Seufzermeer war noch stark aufgewühlt, als erinnere es sich an seine Heftigkeit. Es warf seine Wellen schäumend gegen die Felsen. Jantiff war froh, daß er heute keine Perzeben mehr sammeln mußte. Als er am Wald vorbeikam, blieb er stehen und lauschte dem fernen Heulen von Wurgels, das ihm einen Schauder der Angst über den Rücken jagte. Etwas schwächer waren die Schreie und Rufe von Männern zu hören. Jantiff schüttelte sich und ging mit hängenden Schultern und gesenk-
tem Kopf weiter. Das Heulen der Wurgels wurde einmal lauter, einmal leiser, dann plötzlich hörte es sich an, als käme es von ganz nahe. Jantiff hielt abrupt an und starrte furchterfüllt auf den Sych. Er bemerkte eine Bewegung unter den Bäumen und sah gleich darauf zwei Gestalten durch die Schatten hasten. Jantiff konnte seine Beine kaum noch weiterschleppen. Gleich darauf gellte ein Schrei in seinen Ohren, Wurgels bellten, ein Mensch keuchte vor Angst und Schmerz. Jantiff blieb wie erstarrt mit verzerrtem Gesicht stehen. Schließlich entrang sich ein lautloser Schrei seiner Kehle. Er rannte auf die unmenschlichen Geräusche zu und hielt nur einmal kurz an, um einen Ast aufzuheben, der ihm als Prügel dienen mochte. Ein Bach, der aus dem Sych plätscherte, wurde zu einem Teich. Die Wurgels hetzten hin und zurück über den Bach und planschten in den Teich, um an der Frau zu zerren, die im sumpfigen Grund steckte. Jantiff rannte brüllend um den Teich, um näher an die Frau heranzukommen. Zwei Wurgels hingen an den Schultern der Frau und drückten mit ihrem Gewicht ihr Gesicht unter Wasser. Einer kaute an ihrem Hinterkopf, der andere riß mit den Krallen an ihrem Nacken. Blut färbte das Wasser des Teiches. Die Frau zuckte noch einmal und starb. Jantiffs Magen verkrampfte sich vor Ekel und Wut. Er drehte sich um und torkelte zur Straße zurück. Da heulten die Wurgels erneut auf. Jantiff wirbelte mit erhobenem Stock herum, in der Hoffnung, sie würden ihn angreifen, und er könnte sie erschlagen, aber sie hatten ein zweites Opfer entdeckt. Ein Mädchen mit schreckverzerrtem Gesicht und wehendem blonden Haar rannte
aus dem Sych. Jantiff erkannte sie sofort. Sie war die junge Frau, der er beim Brennholzsammeln geholfen hatte. Vier Wurgels verfolgten sie. Er sah gefletschte Lefzen und lange spitze Fangzähne. Das Mädchen erblickte Jantiff und blieb erschrocken stehen. Die Wurgels sprangen sie an, und sie fiel auf die Knie. Aber schon war Jantiff neben ihr. Er schwang seinen Stock und zerschmetterte dem vordersten Wurgel das Rückgrat. Das Tier blieb mit zuckenden Gliedern liegen. Jantiff hieb dem zweiten Wurgel den Stock über den Schädel, daß das Tier sich überschlug und sich nicht mehr rührte. Die beiden übriggebliebenen heulten auf und zogen sich zurück. Jantiff verfolgte sie, aber er konnte sie nicht erwischen. Jantiff kehrte zu dem heftig keuchenden Mädchen zurück. Ganz aus der Nähe hörte man das Brüllen der Hexenjäger. Man konnte bereits die verschiedenen Stimmen unterscheiden. »Hören Sie mir zu«, sagte Jantiff. »Können Sie mich überhaupt verstehen?« Das Mädchen hob das von Verzweiflung gezeichnete Gesicht, sagte jedoch kein Wort. »Sie müssen aufstehen!« drängte Jantiff. »Die Jäger kommen! Sie müssen sich verstecken! Hören Sie?« Er faßte sie am Arm und zog sie hoch. Plötzlich schoß einer der beiden übriggebliebenen Wurgels herbei. Jantiff zog ihm einen fürchterlichen Hieb über die Schnauze. Heulend rannte das Tier im Kreis und schnappte nach seinem eigenen Hinterteil. Jantiff hieb noch einmal nach ihm. Jetzt erst fiel es tot um. Einen Augenblick lang blieb Jantiff keuchend stehen und lauschte. Die Jäger wußten offenbar nicht, in welcher Richtung sie weitersuchen sollten, das jedenfalls ent-
nahm er ihren Rufen. Er warf den toten Wurgel in den Bach und schickte ihm gleich darauf die Kadaver der ersten beiden nach. Langsam trieben sie aufs Meer zu. Er drehte sich wieder der Hexe zu. »Kommen Sie jetzt, schnell! Erinnern Sie sich an mich? Wir begegneten uns im Wald. Schnell, in diese Richtung! Laufen Sie!« Jantiff zog sie hinter sich her. Sie rannten am Ufer des Baches entlang, dann über die Straße und Felsen zum Meer. Das Mädchen blieb abrupt stehen. Nur mit Gewalt konnte Jantiff sie hinaus in die Brandung ziehen, dann führte er sie stolpernd und taumelnd weiter, bis sie etwa fünfzig Meter vom Ufer entfernt waren. Einen kurzen Augenblick lang machten sie eine Pause. Jantiff starrte besorgt zum Waldrand, während das Mädchen benommen in das schäumende Wasser stierte. Jantiff hob sie auf die Arme und trug sie mehr torkelnd als laufend zu seiner Hütte. Mit einem Bein stieß er seine Behelfstür auf und setzte das Mädchen auf einem der beiden Stühle ab. »Bleiben Sie hier, bis ich zurückkomme«, mahnte er sie. »Ich glaube, das heißt, ich hoffe, daß Sie hier sicher sind. Aber lassen Sie sich nicht sehen und verhalten Sie sich ganz leise.« Die letztere Mahnung war gewiß unnötig, dachte Jantiff, als er den Strand entlangging. Sie hatte schließlich die ganze Zeit keinen Ton von sich gegeben. Jantiff kehrte zu der Stelle zurück, wo der Weg über den Bach führte. Drei Männer kamen gerade aus dem Sych. Die beiden vorderen führten Wurgels an der Leine, der dritte war Butsch. Die Wurgels schnüffelten an der Spur der Hexe und drängten zum Meer.
Butsch entdeckte Jantiff. »He, Sie! Wie immer Sie auch heißen! Wo sind die Hexen, die wir durch den Sych gejagt haben?« »Ich habe nur eine gesehen«, antwortete Jantiff und bemühte sich, seine Stimme devot klingen zu lassen. »Ich hörte die Wurgels, als ich aus der Stadt kam. Die Hexe überquerte dort den Bach und die Wurgels verfolgten sie.« Er deutete auf das Meer, also in die Richtung, in der die Tiere bereits drängten. »Wie sah sie aus?« wollte Butsch wissen. »Ich habe sie kaum gesehen, aber ich glaube, sie war noch sehr jung und behende.« »Dann schnell!« rief Butsch. »Das muß die sein, derentwegen ich die ganze Jagd überhaupt nur veranstaltet habe.« Die Wurgels folgten der Fährte bis ans Wasser. Am Meeresufer blieben sie stehen und heulten erbärmlich. Butsch schaute den Strand auf und ab, dann zum Meer hinaus. Er deutete. »He, dort schwimmt etwas!« »Ein toter Wurgel«, sagte einer der beiden Männer. »Verdammt und verflucht!* Ich glaube, das ist mein Dalbuska!« »Aber wo ist die junge Hexe?« brüllte Butsch. »Ist sie ertrunken? He, Bursche!« wandte er sich erneut an Jantiff. »Was haben Sie gesehen?« »Die Hexe und die Wurgels. Sie rannte hinunter ins Wasser und die Wurgels folgten ihr. Als ich näher herankam, waren sie alle verschwunden.« »Meine braven Wurgels! Pastola verfluche sie! Die verdammten Hexen schwimmen wie Smollocken unter Wasser!« *
Dieser Fluch im Dialekt Blales ist bedeutend stärker: Shauk chutt!
Butsch schob Jantiff zur Seite und kehrte auf die Straße zurück. Die beiden anderen folgten ihm. Jantiff sah ihnen nach, als sie zum Teich stapften und dort die Leiche der anderen Hexe fanden. Nach einer kurzen gedämpften Besprechung riefen sie ihre Wurgels zu sich und kehrten im letzten Lavendelschein des untergehenden Dwan nach Balad zurück. Jantiff rannte zu seiner Hütte. Das Mädchen saß bleich und still, wo er sie verlassen hatte. »Sie sind nun in Sicherheit«, sagte Jantiff. »Haben Sie keine Angst mehr, niemand wird Ihnen hier etwas tun. Sind Sie hungrig?« Das Mädchen rührte sich überhaupt nicht. Sie hat bestimmt einen Schock, dachte Jantiff. Er machte Feuer in seinem selbstgebauten Herd und schob ihren Stuhl näher an das Feuer. »Wärmen Sie sich«, sagte er. »Ich koche uns Suppe. Außerdem gibt es geröstete Perzeben mit Schalotten in Öl.« Das Mädchen starrte in die Flammen. Nach ein paar Minuten streckte sie müde die Arme dem Feuer entgegen. Jantiff, der das Essen vorbereitete, beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Ihr Gesicht, das nun nicht länger vor Angst verzerrt war, wirkte schmal und blaß. Jantiff fragte sich, wie alt sie wohl sein mochte. Gewiß jünger als er selbst, aber ein Kind war sie zweifellos nicht mehr. Ihre Brüste waren klein und fest, ihre Hüften, obgleich zweifellos weiblich, schmal und vermutlich noch unentwickelt. Aber vielleicht ist sie von Natur aus von kleinem Wuchs, dachte Jantiff. Er würzte Suppe und Perzeben und servierte schließlich das beste Mahl, das seine Mittel erlaubten. Das Mädchen zauderte nicht zu essen, aber sie
nahm sich kleine Portionen. Jantiff versuchte mehrmals, ein Gespräch in Gang zu bringen. »Fühlen Sie sich jetzt ein wenig besser?« fragte er. Sie antwortete nicht. »Möchten Sie noch etwas Suppe? Oder ein paar Perzeben? Das hier sind besonders schöne.« Sie antwortete nicht. Als Jantiff ihr etwas nachreichen wollte, schob sie den Teller zur Seite. Sie benimmt sich fast wie eine Taubstumme, dachte er. Aber trotzdem ließ etwas in ihrer Art ihn daran zweifeln. Vielleicht verstand sie seine Sprache nicht? Doch das war es bestimmt nicht. Die Hexen hatten sich ja auch untereinander nicht unterhalten, als er in der Lichtung zu ihnen gestoßen war. »Ich heiße Jantiff Ravensroke. Und Sie?« Sie schwieg. »Also gut, dann muß wohl ich einen Namen für Sie auswählen. Wie gefällt Ihnen ›Kätzchen‹? Oder ›Tickabu‹? Oder ›Blümchen‹? Nein, besser noch ›Jilliam‹*, das würde genau zu Ihnen passen. Aber ich will ja keinen Scherz mit Ihnen machen. Ich nenne Sie ›Glisten‹, das klingt wie Glitzern, nur freundlicher, weicher. Dem Glitzern Ihres leuchtenden Haares wegen und Ihrer goldenen Fingernägel. Also, von nun ab sind Sie für mich Glisten.« Aber Glisten ignorierte ihren neuen Namen. Sie lehnte sich vor, stützte ihre Ellbogen auf die Knie und starrte ins Feuer. Nach einer Weile bemerkte Jantiff, daß sie weinte. »O Kleines«, versuchte er sie zu trösten. »Sie haben *
In den Sagen von Zeck ist Jilliam ein sehr gesprächiges Mädchen, das ein Starmenter raubt, jedoch bald wieder zurückbringt, weil ihm die Ohren von ihrem ständigen Redeschwall schwirren.
Grauenvolles erlebt, aber...« Jantiffs Stimme erstarb. Wie konnte man jemanden trösten, der gerade erst jemanden verloren hatte, seine Mutter vielleicht sogar? Ihre Beherrschung war bewundernswert. Er kniete sich neben sie und tätschelte sanft ihren Kopf. Sie achtete überhaupt nicht auf ihn. Da gab er es auf. Das Feuer brannte allmählich nieder. Jantiff verließ die Hütte, um Holz zu holen und sich ein wenig umzusehen. Als er zurückkehrte, lag Glisten – und so würde er sie auch weiterhin nennen, hatte er beschlossen – mit dem Gesicht nach unten auf dem feuchten Boden. Jantiff beugte sich über sie und trug sie stolpernd zum Bett. Schlaff und mit geschlossenen Augen blieb sie liegen. Jantiff legte drei dicke grüne Scheite auf das Feuer, dann schlüpfte er aus den Stiefeln. Nach kurzem Zögern zog er ihr die Schuhe aus und bemerkte, daß sie auch die Zehennägel golden lackiert hatte. Eine merkwürdige Eitelkeit, dachte er. Vielleicht ein Kasten- oder Statussymbol? Oder auch nur eine traditionelle Zier? Er legte sich neben sie und zog die alte Decke hoch, die er ebenfalls aus Fariskes Schuppen gerettet hatte. Eine lange Weile blieb er wach, bis schließlich das gleichmäßige Atmen des Mädchens verriet, daß es eingeschlafen war.
13 Die ersten Dwanstrahlen spitzten durch Jantiffs provisorisches Fenster. Er stützte sich leicht auf die Ellbogen. Glisten war wach. Sie lag mit offenen Augen neben ihm und starrte an die Decke. »Guten Morgen«, wünschte ihr Jantiff. »Sprechen Sie heute mit mir? – Nun, ich rechnete ohnedies nicht damit... Aber wie dem auch sei, das Leben geht weiter, und ich muß meine Perzeben sammeln. Doch zuerst ein Frühstück.« Jantiff pustete in die noch leicht schwelende Glut, legte trockenes Holz nach. Als es gleichmäßig brannte, kochte er Tee und toastete Brotscheiben. Fünf Minuten sah Glisten ihm apathisch zu, dann, abrupt, als triebe sie jemand dazu an, setzte sie sich auf, schwang die Füße auf den Boden, schlüpfte in ihre Sandalen und verließ – mit einem undeutbaren Blick auf Jantiff – die Hütte. Jantiff seufzte und zuckte die Achseln. Er wandte sich dem Frühstück zu. Glisten hatte offenbar Sehnsucht nach ihren eigenen Leuten. Er konnte ihr lediglich vorübergehend Sicherheit bieten, im Sych war sie bestimmt besser aufgehoben. Trotzdem schmerzte es ein wenig. Glisten hatte ihm etwas gegeben, das ihm bisher gefehlt hatte: das Gefühl, für jemanden zu sorgen, für jemanden verantwortlich zu sein. Ja, vielleicht war es das. Jantiff machte sich seufzend daran, allein zu frühstücken. Da näherten sich Schritte. Die Tür schwang auf, Glisten trat ein. Sie hatte sich gewaschen und ihr Haar in Ordnung gebracht. In ihrem zusammengerafften Rock trug sie etwa ein Dutzend brauner Kap-
seln, die er als die Früchte der Hirtenwinde erkannte. Mit flinken Bewegungen schälte Glisten sie und legte sie in die Pfanne. Jantiff, der sie fünf Minuten später vorsichtig kostete, mußte zugeben, daß sie großartig schmeckten und gut zu dem getoasteten Brot paßten. »Ich sehe, daß du ein sehr geschicktes Mädchen bist«, sagte er. »Jetzt habe ich dich geduzt, stört es dich? Das ›Sie‹ ist so förmlich. Gefällt dir eigentlich der Name ›Glisten‹? Wenn ja, dann nick bitte – oder besser noch, lächle.« Er beobachtete sie, und Glisten verzog das Gesicht zu etwas, das möglicherweise ein Lächeln sein mochte, aber er konnte natürlich nicht sicher sein, daß es eine Antwort auf seine Frage war. Jantiff erhob sich und schaute hinaus auf den finster wirkenden Ozean. »Tja, es hilft nichts. Ich muß Perzeben sammeln, und jetzt brauche ich neun Eimer voll! Ich bemitleide mich schon fast selbst.« Glücklicherweise war der von ihm entdeckte Felsen viele Jahre lang nicht von Menschenhand berührt worden, und die Perzeben hatten sich dicht an dicht angesiedelt. Jantiff arbeitete schnell, um nur rasch wieder ins Trockene zu kommen, und schaffte es in einer Rekordzeit, die neun Eimer zu füllen. Glisten war inzwischen herumspaziert und hatte sich häufig reglos dem Wald zugewandt, als lausche sie auf einen Ruf, der nicht kam. Schließlich schritt sie den Strand hinab. Sie setzte sich auf einen Stein und sah Jantiff bei der Arbeit zu. Als er die Perzeben zu schälen und putzen begann, half sie ihm dabei, ein wenig lustlos zuerst, doch dann mit zunehmender Energie und Geschicklichkeit. Lange vor Mittag konnte Jantiff bereits mit seiner Lieferung aufbrechen. »Ich muß jetzt die Perzeben nach Balad bringen«,
erklärte er Glisten. »Wenn du glaubst, daß du fort mußt, dann mach dir keine Gedanken wegen mir. Kannst und möchtest du jedoch bleiben, bist du mir ein willkommener Gast. Denk aber immer daran, wenn du jemanden kommen siehst, dann versteck dich sofort!« Glisten nickte ernst, und Jantiff machte sich auf den Weg. Im Grorer unterhielt man sich begeistert über die Hexenjagd, die nach allgemeiner Meinung ein großer Erfolg gewesen war. »Zumindest in unserem Teil des Sychs gibt es jetzt keine mehr«, sagte gerade einer. »Cambres hat seine beiden Obstdiebe gefangen und ihnen den Kopf abgeschlagen.« »Dann wird er wohl zufrieden sein.« »Butsch ist schlechtester Laune. Er ist nicht an das Hexlein herangekommen, das er so gern beschlafen hätte. Er schwor, daß sie geradewegs ins Meer hinausgerannt ist und Dusselbergs sündteure Feigwelwurgels in den Tod geführt hat.« »Es ist doch nicht zu glauben!« »Aber jedenfalls haben die Wurgels eine Mutterhexe in Stücke gerissen, wie es sich gehört!« »Jetzt müssen sie sich alle der Behandlung unterziehen.« Das war offenbar ein allen vertrauter Witz, denn jeder lachte. Jantiff verließ die Gaststube. Am Nachmittag begann er mit der Verschönerung des Kimbern. Er arbeitete intensiv und erledigte etwa ein Drittel des Projekts. Möglicherweise hätte er sogar noch mehr geschafft, wenn die Ungeduld, in seine Hütte zurückzukommen, ihn nicht gequält hätte. Am Heimweg besorgte er sich im Laden noch frisches
Brot, Öl, ein Paket Dörrgulasch und ein Päckchen kandierte Datteln. Als er in der Hütte ankam, war Glisten nirgends zu sehen, aber das Feuer brannte, das Bett war gemacht, und es sah ungewöhnlich ordentlich aus. Jantiff hielt nach ihr Ausschau. »Es ist ohnedies besser, viel besser, wenn sie gegangen ist«, murmelte er vor sich hin. »Sie kann ja schließlich nicht allein hierbleiben, wenn ich nach Uncibal aufbreche.« Doch noch während er sich umdrehte, um in die Hütte zurückzukehren, kam Glisten über die Wiese gerannt und schaute immer wieder über die Schulter. Jantiff griff nach seinem Stock, doch was immer sie auch erschreckt hatte, ließ sich nicht sehen. Bei Jantiffs Anblick hörte Glisten zu rennen auf und kam gemessenen Schrittes näher. Sie hatte sich ein Tuch um den Arm geschlungen, das voll von grünen Finbeeren war. Sie achtete nicht auf Jantiff, als bemerke sie ihn überhaupt nicht, und drehte sich wieder wachsam zum Wald um, nachdem sie die Beeren abgelegt hatte. »Ich bin zu Hause«, sagte Jantiff. »Glisten! Sieh mich an!« Zu seiner Überraschung – aber höchstwahrscheinlich rein zufällig – wandte das Hexenmädchen ihm das Gesicht zu und musterte ihn ernst. Halb frustriert, halb im Spaß fragte er sie: »Was geht nur in deinem Kopf vor? Siehst du mich als Individuum oder als Schatten, oder als funkelndes Mondkalb?« Er machte einen Schritt auf sie zu, in der Hoffnung, sie zu irgendeiner Reaktion zu bewegen: sie mochte erschrecken, überrascht sein, verwirrt, irgend etwas. Aber Glisten schien es kaum zu bemerken, und Jantiff
gab sich ein wenig verlegen damit zufrieden, ihr die Schachtel mit den kandierten Datteln zu geben. »Das ist für dich«, sagte er. »Verstehst du mich? Für Glisten! Für die liebe kleine Glisten, die sich weigert, zu Jantiff zu sprechen.« Glisten legte das Päckchen zur Seite und machte sich daran, die Beeren zu säubern. Jantiff sah ihr mit einem Gefühl innerer Zufriedenheit zu. Wie schön dieser Augenblick unter anderen Umständen sein könnte! Aber in einem Monat würde er fort von hier sein, die Hütte würde wieder zerfallen, und Glisten mußte in den Wald zurückkehren. Jantiff, der kunstvoll Arabesken in Rot, Gold, Dunkelblau und Hellgrün auf die Fassade des Kimbern malte, drehte sich gerade zufällig um, als Eubanq leise vorbeischlurfte. Jantiff sprang vom Gerüst hinunter. »Eubanq, mein Guter!« Der Raumhafenmeister blieb sichtlich widerstrebend stehen und schob die Hände in die Taschen seiner rehfarbenen Anzugsjacke. »Ah, Jantiff. Gute Arbeit, das Kimbern ist ja kaum noch wiederzuerkennen. Aber machen Sie nur weiter, ich möchte Sie nicht von der Arbeit aufhalten.« »Das tun Sie auch nicht«, versicherte ihm Jantiff. »Die Arabesken male ich sogar im Schlaf. Aber ich habe eine wichtige Frage an Sie, geschäftlich, sozusagen.« »Ja?« »Ich bezahle Ihnen hundert Ozol, damit Sie mich nach Uncibal fliegen, und zwar rechtzeitig, um die Serenaik zu erreichen, richtig?« »Nun ja«, erwiderte Eubanq vorsichtig. »Wir diskutieren darüber, glaube ich.«
»Hundert Ozol sind eine große Summe, sie schließen natürlich alle Unkosten für diesen Flug ein, da spielt es dann auch keine Rolle, ob eine oder zwei Personen mitfliegen. Ich werde nämlich voraussichtlich jemanden mitnehmen. Ich erwähne es nur, um mögliche Mißverständnisse von vornherein zu vermeiden.« Eubanqs blaue Augen zuckten. Er wich Jantiffs Blick aus. »Um wen handelt es sich denn?« »Das spielt keine Rolle. Im Augenblick ist es ohnedies rein hypothetisch. Ich möchte lediglich Ihre Versicherung, daß es auch in diesem Fall bei hundert Ozol bleibt.« Eubanq dachte nach. Er preßte die wulstigen Lippen zusammen, schließlich schüttelte er den Kopf. »Nein, Jantiff, das ist nicht möglich. In diesem Geschäft müssen gewisse Regeln beachtet werden, sonst geht ja alles drunter und drüber. Ein Passagier, eine Flugkarte, sozusagen. Zwei Passagiere, zwei Flugkarten. So ist es überall.« »Also weitere hundert Ozol?« »Richtig.« »Aber das ist ja unverschämt! Schließlich miete ich den Flibbit, da dürfte es wirklich keine Rolle spielen, wie viele Personen er befördert auch das ist üblich.« »Das ist Ansichtssache. Vergessen Sie nicht, daß ich ja mit allen möglichen Ausgaben zu rechnen habe: die laufenden Unkosten, Instandhaltung. Wertminderung, Zinslast für die Anschaffung...« »Aber das Flugboot gehört Ihnen doch gar nicht!« »Das tut nichts zur Sache. Schließlich möchte ich ja, wie jeder Geschäftsmann, einen Profit aus dieser Sache schlagen.«
»Einen ungeheuren Profit!« rief Jantiff. »Haben Sie denn kein Herz und ein bißchen Erbarmen mit anderen?« Eubanq grinste ungerührt. »Wenig von beidem, gewiß. Wenn Ihnen mein Preis nicht zusagt, weshalb versuchen Sie Ihr Glück dann nicht anderswo? Butsch ließe sich vielleicht überreden, sich des Großritters Dorphy für einen Nachmittag auszuleihen.« »Hm. Ich nehme an, Sie haben inzwischen die Buchungsbestätigung für meine Passage auf der Serenaik bekommen?« »N-nein«, sagte Eubanq. »Noch nicht. Offenbar hat es irgendwo eine Verzögerung gegeben.« »Aber die Zeit drängt.« »Ich tue mein Bestes.« Eubanq winkte ihm noch einmal zu und ging seines Weges. Jantiff setzte seine Arbeit mit heftigen Pinselstrichen fort. Er überschlug, wieviel Geld ihm zur Verfügung stehen würde. Hundert Ozol waren durchaus zusammenzubringen, aber zweihundert? Sosehr er auch rechnete und überlegte, auf mehr als hundertvierzig oder hundertfünfzig konnte er es beim besten Willen nicht bringen. Am Spätnachmittag schnitt und grundierte er im Grorer die Holztafeln, die er für Fariske bemalen würde. Man unterhielt sich immer noch über die Hexenjagd, und Jantiff hörte mit verbissenem Gesicht zu. Jemand hatte offenbar Überlebende gesehen, die in Richtung auf das Waynessgebirge geflohen waren. Aber alle waren überzeugt, daß der Sych nun von dem Pack gesäubert war, und allmählich wandte das Gespräch sich dem bevorstehenden Jahrmarkt zu. Ein wohlbeleibter Fischer schaute Jantiff bei der Arbeit
zu. »Was werden Sie auf diese Holzplatte malen?« erkundigte er sich. »Ich weiß es noch nicht. Landschaften vielleicht.« »Ah, das ist doch langweilig! Sie sollten sich etwas Unterhaltsameres einfallen lassen. Wie wär's mit den Stammkunden, alle in verrückte Kostüme gekleidet?« Jantiff nickte höflich. »Keine schlechte Idee, ich fürchte nur, so mancher wäre nicht damit einverstanden. Außerdem werde ich ja nicht dafür bezahlt, Porträts zu malen.« »Trotzdem könnten Sie mich irgendwo in einer Ihrer Landschaften abbilden, das dürfte doch nicht schwierig sein.« »Es ließe sich machen«, versicherte ihm Jantiff. »Für, sagen wir, zwei Ozol bin ich gern bereit, es zu tun. Vorausgesetzt natürlich, daß Fariske sein Einverständnis dazu gibt.« Der Fischer zog den Kopf ein wie eine erschrockene Schildkröte. »Zwei Ozol? Das ist ja Wahnsinn!« »Durchaus nicht. Schließlich wird Ihr Bild, das Sie in all Ihrer Jovialität zeigt, für immer an der Wand hängen. Das ist fast eine Art von Unsterblichkeit.« »Da haben Sie recht. Also gut, zwei Ozol.« »Ich zahle Ihnen ebenfalls zwei Ozol, wenn Sie mich irgendwo auf Ihren Malereien abbilden!« rief ein anderer. Jantiff hob abwehrend die Hand. »Erst müssen wir mit Fariske sprechen.« Fariske hatte nichts dagegen. »Diese Einnahmen sind natürlich von dem Honorar, das ich Ihnen bezahle, abzuziehen.« »Keinesfalls. Ich gehe mit dem Preis für Sie um keinen Dinket herunter!« erklärte Jantiff fest. »Übri-
gens möchte ich die Hälfte des Honorars sofort haben, damit ich die nötigen Farben kaufen kann.« Fariske protestierte heftig, aber Jantiff blieb eisern und bekam schließlich, was er wollte. Auf dem Heimweg überschlug er noch einmal die Einnahmen, mit denen er rechnen konnte. »Zehn Wandplatten... Fünf Gesichter bringe ich, wenn es sein muß, auf jeder unter. Das sind fünfzig Gesichter für je zwei Ozol, also gute sichere hundert Ozol – und schon sind alle meine Schwierigkeiten behoben!« Wie üblich war Glisten nirgends zu sehen. Offenbar blieb sie nicht gern allein in der Hütte. Aber schon zehn Minuten später kam sie mit einem Bündel haariger Wurzeln an, die später, nachdem sie sie gewaschen und geschabt hatte, ein gutes und nahrhaftes Gemüse abgaben. Jantiff rannte ihr entgegen und nahm ihr das Bündel ab. Er legte seinen Arm um ihre Taille und wirbelte sie im Kreis herum. Als er sie wieder absetzte, küßte er sie auf die Stirn. »Nun, Jungglisten, meine liebliche kleine Zauberin, was sagst du dazu? Das Geld strömt nur so herein! Gesichter auf Fariskes Wandplatten, um zwei Ozol pro Person! Wie würde es dir gefallen, in Frayness auf Zeck zu leben? Es liegt weit von hier entfernt, und es gibt auch keine wilden Wälder wie hier, aber dort können die Ärzte dir helfen, deine Stimme zu finden. Und dort gibt es auch keine Hexenjagden, das versichere ich dir. Außer der Art natürlich, die sich jedes hübsche Hexlein wie du sicher gern gefallen läßt. Na, was meinst du. Verstehst du mich? Fort von Wyst, durch den tiefen Raum nach Zeck? Ich weiß zwar noch nicht, wie ich die Passage für dich aufbringen kann, aber bestimmt
wird der Kursar helfen. Wenn er nur nicht so schwer zu erreichen wäre! Morgen rufe ich wieder an!« Im Augenblick war Jantiff mehr an Glisten als an allem anderen interessiert. Er zog sie zu sich auf den Schoß und blickte sie fester an. »Hör mir zu. Du mußt dich jetzt konzentrieren. Wenn du mich verstehst, dann nick bitte. Verstehst du?« Glisten schien sich über Jantiffs Eifer und Ernst zu amüsieren, obgleich ihre Lippen nur ein ganz klein wenig zuckten. »O du schlimmes Mädchen!« rief Jantiff. »Du bringst mich zur Verzweiflung. Ich möchte dich nach Zeck mitnehmen, und du zeigst keine Spur von Interesse. Willst du denn gar nichts sagen oder mir ein Zeichen geben?« Glisten schien zu begreifen, daß sie Jantiff irgendwie Kummer bereitet hatte. Sie senkte den Kopf und starrte auf den Boden. Jantiff stöhnte. »Also gut, dann nehme ich dich eben einfach mit. Wenn du aber lieber in deinen dunklen feuchten Wald zurückgehen möchtest, dann tu das besser gleich.« Glisten drehte ihm das Gesicht wieder zu. Jantiff beugte sich darüber und küßte sie auf die Lippen. Sie erwiderte seinen Kuß nicht, aber sie wehrte sich auch nicht dagegen. »Ich komme mir ganz komisch vor«, murmelte Jantiff. »Wenn du mir nur das geringste Zeichen geben könntest, daß du mich verstehst.« Und jetzt verzog Glisten zum zweitenmal die Lippen zu einem Hauch von Lächeln. »Aha!« sagte Jantiff. »Vielleicht verstehst du mich doch und möglicherweise nur zu gut!« Glisten wurde unruhig. Jantiff gab sie widerstrebend frei. Er erhob sich. »Also, es ist ausgemacht. Wir
fliegen nach Zeck. Und bitte, verkriech dich nicht im letzten Augenblick irgendwo wie ein scheues Reh.« Ein stürmischer Südwind rüttelte des Nachts an der Hütte. Am Morgen brandete die See mit ungeahnter Wildheit gegen die Felsen, und Jantiff verzweifelte schon fast, weil es unmöglich war, Perzeben zu sammeln. Doch eine Stunde später ließ der Sturm nach. Schwerer, düsterer Regen peitschte die Wellen und beruhigte sie ein wenig. Jantiff zwang sich, ins Wasser zu steigen, aber immer noch waren die Wogen zu heftig und warfen ihn wieder an den Strand zurück. Schließlich machte er sich mit seinen Eimern ostwärts auf den Weg, in der Hoffnung, eine geschützte Stelle zu finden. Am Ende des Isbet-Halses, den das Seufzermeer rechts und der Lulassund links umspülte, fand er ein Fleckchen, wo die Strömung sich um zwei lange Felsenfinger schlang und dazwischen ein tiefes, ruhiges Becken schuf. Die Perzeben hier waren besonders groß und schwer, und es gab viele der so begehrten Koronels unter ihnen. Jedenfalls hatte Jantiff seine Tagesmenge in kurzer Zeit beisammen. Glisten erschien plötzlich aus dem Nichts. Gemeinsam schälten sie seinen Fang und trugen ihn zum Säubern in die Hütte zurück. »Alles fügt sich zum Besten«, sagte Jantiff erfreut. »Ein Sturm vertreibt uns von unserem Felsen und dafür finden wir eine schier unerschöpfliche neue Quelle mit noch viel größeren Perzeben.« Und es hatte fast den Anschein, als nickte Glisten zustimmend. »Oh, wenn du nur reden könntest!« Jantiff seufzte. »Die Leute hier würden es dann gar nicht wagen, dir
etwas anzutun, denn du brauchtest ja nur zum Telefon zu gehen und den Kursar anzurufen... Ah, dieser Kursar! Wo mag er nur sein? Er ist doch dazu verpflichtet, sich der Anliegen anderer anzunehmen, doch er scheint sich in Rauch aufgelöst zu haben!«
14 Jantiff machte die letzten Pinselstriche an der Verschönerung der Kimbern-Fassade, und sogar Madame Tchaga gab zu, daß ihr Jantiffs Werk gefiel und sie zufrieden damit war. Daraufhin begab sich Jantiff in den Grorer und begann dort die Platten zu bemalen. Fast jeder der Stammgäste zahlte bereitwillig zwei Ozol, um sich von Jantiff verewigen zu lassen. Nur Eubanq lehnte ab, sich für so etwas herzugeben. »Ich kaufe mir für zwei Ozol lieber Bier und Perzeben«, erklärte er. »Ich habe kein Verlangen, mich zu sehen, wie ich anderen erscheine.« Jantiff zog ihn zur Seite. »Ich hätte eine weitere hypothetische Frage. Angenommen, mein Bekannter entschlösse sich, Zeck zu besuchen. Wie hoch ist die Passage auf der Serenaik?« »In etwa sechzig oder siebzig Ozol. Wer ist dieser Bekannte!« »Eines der Mädchen hier. Ist ja auch nicht wichtig. Aber ich bin überrascht, daß eine interstellare Reise so viel billiger ist als ein kurzer Flug von hier nach Uncibal.« »Wenn man es recht bedenkt, ist es wohl merkwürdig«, gab Eubanq zu. »Aber was bedeutet Ihnen denn Geld, nun da Sie ein so wohlhabender Perzebenhändler sind.« »Nun, ich werde froh sein, wenn ich Ihnen die zweihundertsiebzig Ozol überhaupt zahlen kann. Ach, übrigens, meine Buchung ist inzwischen sicher bestätigt?«
»Noch... äh... nicht ganz. Ich werde wohl ein ernstes Wort mit den Leuten sprechen müssen.« »Tun Sie das! Oder sollte ich vielleicht lieber selbst anrufen?« »Überlassen Sie es ruhig mir. Beabsichtigen Sie ernstlich, jemanden nach Zeck mitzunehmen?« »Es ist nur so ein Gedanke. Aber gewiß wurde es doch ohne weiteres möglich sein, wenn ich Ihnen die erforderlichen Ozol aushändige?« »Ich sehe keine Schwierigkeiten.« »Nun, ich werde es mir noch überlegen.« Jantiff kehrte zu seinen Platten zurück. Während er arbeitete, hörte er wieder, wie die Gäste sich über das Volksfest unterhielten, das heuer eine Woche vor der arrabinischen Jahrhundertfeier abgehalten wurde. Jantiff witterte plötzlich eine Chance, wie er zu weiterem Geld kommen und so Eubanq bezahlen konnte. An diesem Abend, als sie nebeneinander am Feuer saßen, erklärte er Glisten seinen Plan. »Hunderte von Menschen kommen zu diesem Fest, richtig? Alle werden hungrig sein, alle werden gern Perzeben essen, weshalb also sollten wir sie ihnen nicht bieten. Das ist natürlich viel, viel Arbeit für uns beide, aber überleg mal! Vielleicht haben wir dann genügend Geld für deine Passage nach Zeck! Was hältst du davon?« Jantiff blickte Glisten forschend an, und sie antwortete mit der nun üblichen Spur eines Lächelns. »Du bist so hübsch, wenn du lächelst«, sagte Jantiff ernst. »Wenn ich nur nicht solche Angst hätte, daß ich dich erschrecken und vertreiben würde...« Jantiff arbeitete viele lange Stunden, bis er zwanzig Eimer Perzeben beisammen hatte. Er leerte sie in ei-
nen stillen Teich ganz in der Nähe der Hütte. Am Tag vor dem Volksfest baute er einen Stand in der Nähe des Grorers auf und besorgte sich einen großen Kessel, Öl und Salz. Früh am Morgen des großen Tages lieferte er seine übliche Menge Perzeben an das Kimbern und den Grorer, dann heizte er ein Feuer unter seinem Kessel an und begann seine Perzeben herauszubacken und an die Bauern zu verkaufen, die aus der näheren und ferneren Umgebung herbeiströmten. »Kommt und probiert die frischen Perzeben aus der Tiefe des Meeres! Knusprige Perzeben! Kommt, holt sie euch! Nur einen Dinket pro Portion!« Der Andrang war so groß, daß er seine Ware nur noch in unregelmäßigen Abständen ausrufen konnte. Gegen Mittvormittag blieb Eubanq an seinem Stand stehen. »Na, ich sehe, Jantiff, daß Sie mit Gewalt reich werden wollen.« »Wenn das Geschäft weiter so gut geht, bin ich in der Lage, Ihnen heute oder morgen, sobald ich von Fariske kassiert habe, das Geld zu geben. Und ich warne Sie, ich will die Buchungsbestätigung, die Tikkets und eine schriftliche Erklärung, daß Sie mich rechtzeitig nach Uncibal bringen.« Eubanq grinste. »Peinlichst genaue Vorsichtsmaßnahmen, eh? Trauen Sie mir nicht?« »Haben Sie mir denn getraut, als ich Ihnen vorschlug, die fehlende Summe sofort nach meiner Ankunft auf Zeck an Sie zu überweisen? Bin ich vielleicht weniger vertrauenswürdig als Sie?« »Sie haben mich geschlagen!« Eubanq lachte. »Es wird alles, auf die eine oder andere Weise, geregelt werden. Aber jetzt geben Sie mir erst mal für einen Dinket Perzeben. Sie sehen ja ganz besonders appe-
titlich aus. Wo haben Sie denn diese großartigen Exemplare her?« »Das ist mein Geheimnis.« Jantiff wandte sich a n einen Bauern. »Jawohl, mein Herr, drei Tüten für drei Dinkets.« Dann sagte er zu Eubanq: »Ich bin zufällig auf ein Sims gestoßen, das seit Jahren nicht abgeerntet wurde. Und hier ist Ihre Portion. Einen Dinket, bitte.« Eubanq griff nach der Tüte. Sein Blick fiel auf Jantiffs Hände. Er schien zu erstarren. Nur mit Mühe hob er den Blick zu Jantiffs Gesicht. »Einen Dinket«, wiederholte Jantiff. »Bitte beeilen Sie sich! Andere warten bereits.« »Ja, natürlich«, würgte Eubanq hervor. »Sehr billig für diese Qualität.« Er legte die Münze auf den Stand und drehte sich um. Als ekle es ihn davor, hielt er die Tüte mit Daumen und Zeigefinger weit von sich gestreckt. Jantiff sah ihn mit gerunzelter Stirn nach. Was hatte Eubanq plötzlich? Vor dem Grorer traf Eubanq Butsch. Sie unterhielten sich mit ernster Miene. Jantiff beobachtete sie aus dem Augenwinkel, während er weiter arbeitete. Etwas, das spürte er, lag in der Luft. Butsch wich plötzlich zurück, wirbelte herum und starrte in Jantiffs Richtung. Eubanq griff hastig nach seinem Arm und zog ihn in den Grorer. Das Geschäft ging immer besser. Gegen Mittag war nur noch ein kleiner Rest Perzeben übrig. Jantiff stellte einen Jungen an, ihn kurz zu vertreten, dann steckte er seine Einnahmen ein und beeilte sich, zur Hütte zu kommen, um weitere Perzeben zu holen. Am Strand sah er Eubanq eiligen Schrittes näher kommen. Ein Päckchen baumelte von seiner rechten Hand.
Eubanq machte einen Bogen und verschwand hastig außer Sicht hinter einem Granatbaum. Als er zurückkam, war das Päckchen weg, und er ging auch nicht mehr so schnell. Als sie sich in gleicher Höhe befanden, fragte Jantiff scharf: »Was machen Sie hier? Vor einer Stunde sah ich Sie den Grorer betreten.« »Oh, hin und wieder gehe ich spazieren, um meine Lunge von der Stadtluft zu reinigen. Weshalb sind Sie nicht an Ihrem Stand?« »Ich muß mir neue Perzeben holen.« Jantiff musterte Eubanq mißtrauisch. »Sind Sie an meiner Hütte vorbeigekommen?« »So weit dehnte ich meinen Spaziergang nicht aus... Nun, ich muß zurück.« Jantiff begann zu laufen, bis er zur Hütte kam. Glisten war nirgends zu sehen. Am Ufer standen zwei Eimer, wo sie gearbeitet hatte. Einer der Eimer war halb mit geputzten Perzeben gefüllt. Jantiff lief in die Hütte. Es überraschte ihn nicht, daß Glisten nicht hier war. In der Ecke stand der alte Steintopf, in dem er sein Geld aufbewahrte. Er hob den Deckel, um die heutigen Einnahmen hineinzugeben. Der Topf war leer. Ungläubig starrte er hinein. Dann ließ er die Schultern hängen und trat hinaus in den bleichen Dwanschein. Plötzlich war er völlig ruhig, und er wunderte sich darüber. »Weshalb bin ich nicht schokkiert?« fragte er laut. »Sehr seltsam! Ich müßte doch kochen vor Wut, dabei bin ich völlig ungerührt. Offenbar bin ich über gewöhnliche Gefühle hinaus. Sehr erstaunlich! Eine große Hilfe, würde ich sagen. Ich habe wohl unwillkürlich die richtige Einstellung, mit
einer Katastrophe fertig zu werden, nämlich sie einfach zu ignorieren. Und inzwischen wartet meine Kundschaft auf frische Perzeben. Ich kann ihr doch diese Köstlichkeit nicht vorenthalten, nur weil ich in persönliche Schwierigkeiten geriet, über die ich ja ohnedies bereits hinwegkam. Ja, sehr, sehr merkwürdig. Alles scheint irgendwie so fern, so unwichtig zu sein!« Jantiff fischte seine Perzeben aus dem Teich und kehrte steifbeinig zu seinem Stand zurück, wo er sofort seine Kundschaft wieder selbst bediente. »Perzeben!« rief er aus, wenn er Zeit dazu hatte. »Ganz besondere Köstlichkeiten aus dem Meer! Ich garantiere für beste Qualität! Nur einen Dinket für eine große Portion!« Eubanq kam aus dem Grorer. Er blickte grinsend in Jantiffs Richtung und ging die Straße hoch. Plötzlich drängten sich die Worte aus Jantiffs Lippen. Er war selbst überrascht, sie zu hören. »Eubanq! Hören Sie, Eubanq! Kommen Sie her zu mir!« Eubanq blieb stehen und hob erstaunt die Brauen. »Meinen Sie mich?« »Ja. Bringen Sie mir sofort mein Geld! Wenn nicht, muß ich mich an den Großritter wenden und Anzeige erstatten.« Eubanq blickte lächelnd die Neugierigen an, die stehengeblieben waren. Er sagte ein paar leise Worte zu einem Bauern, der eben mit einer Tüte Perzeben von Jantiffs Stand gekommen war. Der Mann starrte auf die halbleere Tüte, dann stapfte er zurück und bahnte sich einen Weg durch die Menge vor dem Stand. »Zeigen Sie mir Ihre Hände!« forderte er Jantiff scharf auf.
»Was interessieren Sie meine Hände?« Der Bauer und die Kundschaft um seinen Stand starrten auf Jantiffs Fingernägel. Jantiff betrachtete sie ebenfalls und bemerkte einen Hauch des goldenen Glanzes, den er so oft an Glistens Nägeln gesehen und für Lack gehalten hatte. »Die Gelb!« brüllte der Bauer. »Er hat uns alle mit der Gelb angesteckt!« »Nein, nein!« rief Jantiff. »Meine Fingernägel sind lediglich fleckig, weil ich soviel unter Wasser arbeite, um die Perzeben zu sammeln... Oder vielleicht hat mein Gummigutt abgefärbt...« »Nein!« widersprach Eubanq. »Sie haben Hexenessen zu sich genommen, und jetzt haben wir alle von Ihren Perzeben gegessen und uns angesteckt. Alle müssen wir uns jetzt der Behandlung unterziehen. Ich versichere Ihnen, daß keine Summe, die vielleicht den Besitzer gewechselt haben mag, eine Entschädigung dafür sein kann.« Der Bauer stieß wilde Flüche aus. Er stemmte sich gegen den Stand und warf ihn um, als er nach Jantiff zu greifen versuchte, der jedoch zurückwich und schnell die Straße hinunter davonlief. Der Bauer rannte hinterher, gefolgt von einer ganzen Menge ehemaliger Kundschaft. Wo die Straße sich gabelte, nahm Jantiff, um nicht auf der Landzunge in die Falle zu geraten, die linke Abbiegung, die zum Lulassund, nach Lulas und zur Villa des Großritters führte. Seine schreienden und fluchenden Verfolger kamen immer näher. Keuchend stieß Jantiff das prächtige Tor des Lulaslandsitzes auf und hastete schnaufend durch den Garten. Er stolperte über die Veranda und lehnte sich
gegen die Haustür. Seine Verfolger näherten sich bereits dem Tor. Jantiff drehte den gewaltigen Knauf. Die Tür schwang auf, und Jantiff wäre fast gefallen. Er richtete sich auf und sah, daß er in einem riesigen Vorzimmer stand, das mit hellem Holz getäfelt und für Jantiffs Geschmack zu prunkvoll eingerichtet war. Links führten zwei breite Stufen in einen Salon mit grünem Teppich und hohen Fenstern, die nach Norden schauten. Jantiff ging die Stufen hoch und schaute in den Salon. Ein dunkelhaariger Mann mit breiten Schultern unterhielt sich mit zwei Männern und einer Frau. Schüchtern trat Jantiff näher. Die Frau drehte sich um. Er starrte ihr ins Gesicht. »Skorlet!« rief er erstaunt. Skorlet, die zugenommen hatte und vornehm gekleidet war, erstarrte mit offenem Mund, eine Hand halb erhoben. Die anderen drehten sich nun ebenfalls um. Es waren Sarp, Esteban und Unternehmer Shubart, wie er in Uncibal genannt wurde. »Es ist Jantiff Ravensroke!« krächzte Skorlet. Unternehmer Shubart schritt auf Jantiff zu, der sich hastig ins Foyer zurückzog. »Was wollen Sie hier?« fragte Shubart barsch. »Weshalb wurden Sie nicht gemeldet? Sehen Sie denn nicht, daß ich Gäste habe?« »Sir, ich... ich kam in keiner bösen Absicht«, stammelte Jantiff. »Ich werde von einer Menschenmenge verfolgt, und mein Leben ist in Gefahr. Man behauptet, die Perzeben, die ich verkaufte, verursachten eine Krankheit, aber das ist nicht wahr! Zumindest wußte ich nichts davon. Eubanq, der Raumhafenmeister,
stahl mir mein Geld und hetzte sie auf mich. Ich hatte nicht die Absicht, Ihre Gäste zu stören!« Jantiffs Stimme zitterte, als er daran dachte, wer diese Gäste waren. »Ich werde zurückkommen, wenn Sie mehr Zeit haben.« »Warten Sie! Butsch! Wo ist Butsch?« Ein livrierter Diener eilte herbei und sagte leise etwas. Unternehmer Shubart brummte: »Er und seine Wurgels und Hexenmädchen! Verdammt! Weshalb ist er nicht da, wenn ich ihn mal brauche? Bringen Sie diesen Burschen in die Gärtnerhütte und passen Sie auf ihn auf, bis Butsch zurück ist.« »Jawohl, Sir. Kommen Sie, bitte!« Aber Jantiff taumelte rückwärts zu Tür, riß sie auf und rannte hinaus in den Garten. Der Diener lief ihm nach. »He, Mann! Im Namen des Großritters, bleiben Sie stehen!« Jantiff rannte um die Villa herum, und mit einer Schläue der Verzweiflung wartete er an der Ecke. Als der Diener vorbeirannte, streckte er den Fuß aus. Der Mann stürzte! Jantiff hieb ihm eine Gartenstange über, daß er liegenblieb, dann rannte Jantiff um Lulas herum, durch den Küchengarten und hinaus in den Park. Hinter einem Baum blieb er stehen, um Atem zu holen. Jetzt war keine Zeit für komplizierte Pläne. Ich werde direkt zu Eubanqs Haus schleichen, nahm er sich vor, und ihn umbringen, um mir mein Geld zurückzuholen, oder vielleicht kann ich ihn auch zwingen, mir einen Luftwagen zu besorgen. Wenn wir dann hoch über dem Sych sind, werfe ich ihn hinaus und fliege weiter nach Uncibal. Dort ersuche ich um den Schutz des Kursars. Das heißt, falls er
endlich zurück ist. Wenn nicht, muß ich mich wieder im Disjerferact verstecken. Sofort machte er sich auf den Weg nach Balad. Unglücklicherweise ließ ihn seine Begeisterung jegliche Vorsicht außer acht lassen. Er wurde gesehen und erkannt, als er die Flußstraße herabkam. Sofort stürzten finster blickende Menschen sich auf ihn zu. Die Frauen beschimpften ihn, die Männer stießen Drohungen aus. Er wurde gegen eine Wand gedrängt. Verzweifelt schrie er: »Ich habe doch nichts Böses getan! Laßt mich in Ruhe!« Ein Dockarbeiter namens Sabrose, den Jantiff häufig im Grorer bedient hatte, überbrüllte ihn: »Du hast uns alle mit der Gelb angesteckt. Jetzt müssen wir uns behandeln lassen, wenn wir nicht taubstumme Hexen werden wollen. Ist das vielleicht nichts Böses?« »Ich weiß nichts davon! Laßt mich gehen!« Sabrose lachte höhnisch. »Da ganz Balad behandelt werden muß, sollst du der erste sein!« Jantiff wurde zur Hauptstraße vor die Apotheke gezerrt. »Her mit dem Gerät!« brüllte Sabrose. »Hier ist der erste Patient. Wir behandeln ihn billig, ohne die Kopfklopfer!« Das Behandlungsgerät wurde aus der Apotheke gezogen. Der Apotheker, ein gutmütiger alter Mann, den Jantiff weder je in den Tavernen noch an seinem Stand gesehen hatte, gab zwei Tabletten in einen Krug Wasser und hielt ihn Jantiff unter die Nase. »Hier, das wird die Schmerzen dämpfen.« Sabrose schob unwirsch den Krug zur Seite. »Fort mit den Kopfklopfern! Er soll ruhig wissen, was er uns angetan hat!« Jantiffs Finger wurden in metallene Handschuhe
gezwängt, die über den Nägeln offen waren. Sabrose nahm einen hölzernen Hammer und schlug ihn Jantiff über die Fingerspitzen. Jantiff schrie vor Schmerzen auf. »Also dann«, sagte Sabrose. »Wenn die Nägel abfallen, mußt du salpetersaures Silber draufgeben, vielleicht bist du dann geheilt.« »Er kommt zu billig davon!« kreischte eine Frau. »Hier ist mein Freckschlamm! Dreht sein Gesicht herum. Er soll es nur ganz auskosten!« »Genug ist genug!« wehrte Sabrose ab. »Er ist sowieso nicht mehr da.« »Trotzdem! Er hat es verdient. He, da, genau ins Gesicht!« Eine klebrige, ätzende Flüssigkeit ergoß sich über Jantiffs Gesicht. Sie versengte die Haut und raubte ihm die Sicht. Der neue Schmerz brachte ihn wieder zu sich. Er wimmerte und rieb sich die Augen mit blutenden Fingern. Der Apotheker goß ihm einen Schwall Wasser über das Gesicht und wischte ihm die Augen mit einem Tuch aus. Dann drehte er sich zitternd vor Wut zu der Menge um. »Ihr habt ihn über jedes erlaubte Maß bestraft! Er ist nur ein armer, dummer Bursche!« »Durchaus nicht!« rief eine Stimme, die Jantiff als die Eubanqs erkannte. »Er lebte mit einer Hexe zusammen. Ich habe sie selbst in seiner Hütte gesehen. Er hat uns mit voller Absicht mit Hexenfraß vergiftet!« »Eubanq lügt«, stammelte Jantiff. »Eubanq ist ein Dieb!« Aber niemand hörte auf ihn. Jantiff öffnete die Augen einen Spaltbreit. Ein körniger Nebel verschleierte seine Sicht. Er stöhnte vor Schmerz und Angst.
»Ihr habt mich geblendet! Nie wieder werde ich Farben sehen!« »Wo ist diese verdammte Hexe?« rief eine der Frauen. »Erschlagt sie wie die anderen!« »Keine Angst«, beruhigte sie Eubanq. »Butsch hat sich ihrer angenommen.« Jantiff wimmerte jetzt vor hilflosem Leid. Er stolperte auf die Füße und tastete mit den Armen um sich, worüber die Menge sich zuhöchst amüsierte. Sie begannen Jantiff herumzustoßen, zu stupsen und ihm ins Gesicht zu zischen. Schließlich preßte er die Arme an seine Seite und taumelte die Straße hinunter. »Packt ihn!« schrie der Rachsüchtigste. »Bringt ihn zurück, damit wir uns seiner noch richtig annehmen können!« »Laßt ihn gehen!« knurrte ein alter Fischer. »Mir reicht es!« »Was? Nachdem er uns alle die Gelb gegeben hat?« »Und wir uns alle der Behandlung unterziehen müssen?« »Er hat uns das Hexenessen verkauft! Das dürfen wir nicht vergessen!« »Laßt ihn für heute in Ruhe. Morgen werden wir ihn auf ein Floß setzen.« »So ist's richtig. Jantiff! Hörst du? Morgen darfst du eine Seereise in den Süden machen!« Ohne noch auf den Hohn und Spott und die Drohungen zu achten, torkelte Jantiff weiter. Eine Weile folgten ihm noch Kinder und bewarfen ihn lachend mit Steinen, dann wurden sie zurückgerufen, und er konnte ungehindert seinen Weg fortsetzen. Er stolperte weiter zum Strand und den vertrauten Weg entlang. Mit weit aufgerissenen Augen und
höchster Konzentration konnte er gerade ein wenig Helligkeit sehen, doch sonst nichts. Er stapfte schier endlos dahin, aber er fand seine Hütte nicht. Schließlich ließ er sich in den Sand fallen und drehte das Gesicht dem Meer entgegen. Lange saß er reglos und benommen. Seine Finger schmerzten, aber er achtete nicht darauf. Der Schleier vor seinen Augen wurde dichter, als der Dwan unterging und die Nacht sich über den Dessimostrand und das Seufzermeer senkte. Jantiff blieb sitzen, während die Wellen gegen die Felsen schlugen. Der Wind wehte vom Meer her. Zuerst war es nur eine kühle Brise, die Jantiff Gänsehaut verursachte, doch dann peitschte er in heftigen Böen, die durch seine dünne Kleidung drangen. Jantiff sah sich wie in einer Vision: Ein hagerer Bursche kauerte im Sand. Alle Verbindungen mit der Wirklichkeit waren abgebrochen. Es wurde ihm warm, und er fühlte sich wohl. Da wußte er, daß sein Ende nahte. Bilder schoben sich vor sein inneres Auge: Uncibal und das Altrosa; die Menschenmassen auf dem Uncibalstrom; die vier Wisperer auf der Tribüne. Er sah Skorlet und Tanzel, Kedidah und die Ephtaloten; Esteban und Butsch und Unternehmer Shubart. Glisten kam und blieb in Armeslänge vor ihm stehen. Mit festem Blick schaute sie ihm in die Augen. Und Wunder über Wunder! Er hörte sie sprechen! Ihre Stimme war weich und drängend: »Jantiff, du darfst nicht im Dunkeln sitzen! Jantiff, steh auf! Du darfst nicht sterben! Hörst du?« Jantiff schüttelte sich und blinzelte. Tränen flossen ihm über die Wangen. Er dachte an sein freundliches Zuhause in Frayness. Er sah seinen Vater, seine Mut-
ter, seine Schwestern. »Ich will nicht sterben!« sagte er laut. »Ich will heim!« Mit letzter Willenskraft erhob er sich und stolperte den Strand entlang. Durch Zufall stieß er gegen etwas Hartes, das er nach eingehendem Betasten erkannte. Es war ein verkrüppelter Narrenbaum, der etwa fünfzig Meter von seiner Hütte entfernt wuchs. Jetzt mußte er dorthin finden! Vorsichtig tastete er sich weiter, bis er die Hüttenwand berührte. Er trat durch die Tür und schloß sie hinter sich. Stockstill blieb er stehen. Jemand hatte sie erst vor kurzem verlassen, sein Schweißgeruch hing noch in der Luft. Jantiff lauschte mit angehaltenem Atem, aber er hörte nichts. Er war allein in der Hütte. Er schleppte sich noch zum Bett, fiel darauf und schlief sofort ein. Irgend etwas hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Er blieb reglos liegen und öffnete vorsichtig die Lider. Seine geblendeten Augen registrierten ein stumpfes Grau. Es war bereits Tag. Ein säuerlicher Schweißgeruch stieg ihm in die Nase. Er wußte, daß er nicht mehr allein war. Jemand sprach: »Ah, Jantiff, hier bist du also! Ich habe schon vergangene Nacht nach dir gesucht, aber du warst ausgegangen.« Jantiff erkannte Butschs Stimme. Er schwieg. »Ich habe nach deinem Geld gesucht«, sagte Butsch. »Wenn Eubanq nicht übertrieb, mußt du ein beachtliches Sümmchen zusammengescheffelt haben.« »Er hat sich gestern mein ganzes Geld geholt.« Butsch brummte etwas sehr Unfreundliches. »Ist das wahr?«
»Im Augenblick ist es mir zwar gleichgültig, aber Eubanq hat es ganz bestimmt gestohlen.« »Dieser verdammte Schurke!« knurrte Butsch. »Dafür wird er mir bezahlen!« »Wo ist Glisten?« »Das Hexlein? Ha, mach dir keine Sorgen um sie. In fünf Minuten wirst du sowieso von nichts mehr etwas wissen. Ich werde meinen Befehl ausführen, nämlich dir einen feinen Draht um den Hals zu ziehen. Dann kann ich mit Eubanq abrechnen, und danach geht es nach Uncibal, wo ich jede Frau für einen Teller Essensreste haben kann... Heb deinen Kopf ein wenig, Jantiff. Es wird schnell überstanden sein.« »Ich will nicht sterben!« »Hat keinen Sinn, um dein Leben zu winseln. Jantiff muß sterben, hieß es. Also dann – kein Herumschlagen und Zappeln! Halt dich ruhig! Es geht ja schnell.« Jantiff wälzte sich zur Seite. Durch einen unglaublichen Zufall stieß er Butsch, daß der das Gleichgewicht verlor, während er zur Tür hinausrollte. Vom Strand hörte ein höhnisches Rufen: »Der verrückte Jantiff! Dort ist er!« Jantiff hörte Butschs schwere Schritte. Nach dreien blieb er stehen und brummte verärgert: »Wer, in Gasmus Namen, mag das sein? Ein Fremder, ein Außenweltler? Will er sich einmischen? Ich werde es ihm schon zeigen!« Schritte näherten sich. Eine Jungenstimme rief schadenfroh: »Das da auf dem Boden ist der verrückte Jantiff, und der andere ist Konstabler Butsch, der es ihm richtig geben wird. Sie werden schon sehen!«
»Guten Morgen«, sagte eine sympathische Stimme. »Jantiff, Sie scheinen mir in einem bedenklichen Zustand zu sein.« »Man hat mich geblendet und mir alle Finger gebrochen.« Der Junge schrie in wütendem Eifer. »Keine Angst, das war noch nicht alles! Sir, er gab uns allen die Gelb, und er tat sich mit einer Hexe zusammen! Darf ich ihn mit diesem Stock schlagen?« »Auf keinen Fall!« wehrte der Fremde ab. »Du bist etwas zu übereifrig! Jantiff, ich bin aufgrund Ihrer verschiedenen Nachrichten und Anrufe in der Zentralität hier. Ich bin der Ehrenwerte Ryl Shermatz, ein Beauftragter des Connats.« Jantiff setzte sich benommen auf. »Sind Sie der Kursar?« »Nein. Meine Befugnisse überschreiten seine bei weitem.« »Dann fragen Sie doch Butsch, was er mit Glisten gemacht hat. Vielleicht hat er sie umgebracht.« »So ein Unsinn!« protestierte Butsch mit jovialer, allerdings etwas unsicherer Stimme. »Sie haben ja eine merkwürdige Meinung von mir, Jantiff!« »Sie haben sie mit ihren Wurgels gejagt! Wo ist sie jetzt?« »Konstabler Butsch«, sagte Ryl Shermatz, »ich schlage vor, daß Sie Jantiffs Fragen ehrlich beantworten.« »Wie soll ich auf etwas Antwort geben, wovon ich nichts weiß? Und weshalb überhaupt diese Aufregung? Sie war ja schließlich nur eine Hexe.« »Sie sprechen in der Vergangenheitsform«, bemerkte Ryl Shermatz. »Hat das etwas zu bedeuten?«
»Natürlich nicht! Ich gebe zu, daß ich zufällig mit meinen Wurgels hier vorbeikam, da lief sie davon. Aber was interessiert das mich! Und was interessiert es Sie?« »Ich bin, wie ich schon sagte, der Beauftragte des Connats, und es ist meine Pflicht, Mißstände wie diese zu bereinigen.« »Aber es gibt doch gar keine Mißstände! Schauen Sie! Da kommt sie gerade aus dem Sych!« Jantiff kämpfte sich auf die Knie. »Wo? Sagen Sie mir, wo? Ich kann nichts sehen!« Der Junge schrie panikerfüllt auf. Dann war eine merkwürdige Reihe von Geräuschen zu hören: ein Stampfen, ein leichtes Zischen, wie von versprühendem Gas, ein dumpfer Aufschlag, ein Keuchen, ein Scharren, und dann einen Augenblick Stille. Der Junge schluchzte. »Butsch ist tot! Er hat versucht, Sie zu töten! Woher wußten Sie das?« Mit ruhiger Stimme erklärte Ryl Shermatz: »Ich habe ein Gefühl für Gefahr und eine ausgezeichnete Ausbildung, ihr zu begegnen.« »Wer kam aus dem Wald?« rief Jantiff. »War es Glisten?« »Niemand. Butsch versuchte nur einen Trick.« »Aber wo kann sie sein?« »Wir werden unser Bestes tun, sie zu finden. Doch jetzt erzählen Sie mir erst einmal, weshalb Sie soviele dringende Besuche und Anrufe machten.« »Ich werde es Ihnen sagen«, murmelte Jantiff. »Alles werden Sie erfahren, aber es wird viele, viele Stunden dauern...« »Ist schon gut, Jantiff. Kommen Sie, setzen Sie sich auf die Bank. Junge, lauf in die Stadt und hole Brot
und eine kräftige Suppe. Da hast du einen Ozol Botengeld... So, Jantiff, und jetzt berichten Sie, wenn Sie dazu in der Lage sind.«
15 Der Dwan, der bereits auf halbem Weg zum Zenit war, leuchtete hinter vielen Schichten wallenden Nebels. Jantiff lehnte sich auf der Bank gegen die Wand seiner Stein- und Seetanghütte. Ryl Shermatz, ein Mann von mittlerer Größe, mit feingeschnittenen Zügen und kurzem braunen Haar, stand neben ihm, mit einem Fuß auf die Bank gestützt. Er hatte die schwere Leiche um die Hütte herum geschleift. Nur Butschs schwarze Stiefel, die über die Ecke schauten, waren Zeuge ihrer Anwesenheit. Jantiff erzählte ausführlich und lange, bis seine Stimme zum heiseren Krächzen wurde. Ryl Shermatz sagte wenig, er stellte nur hin und wieder eine Frage. Manchmal nickte er, als bestätigten Jantiffs Worte seine eigene Meinung. Zum Schluß sagte Jantiff: »Nur was mit Glisten passiert ist, weiß ich nicht. Gestern nacht träumte ich von ihr, und in meinem Traum konnte sie sprechen. Es war so ungewohnt, sie reden zu hören, daß mir selbst im Traum die Tränen kamen.« Ryl Shermatz blickte hinaus auf das graue Meer. »Ja, Jantiff«, sagte er schließlich. »Es besteht kein Zweifel, daß Sie viel Schlimmes mitgemacht haben. Lassen Sie mich Ihre Ausführungen zusammenfassen. Sie sind der Meinung, daß Esteban, als er Ihre Zeichnung der vier Wisperer betrachtete, die Ähnlichkeit zwischen drei der Wisperer und ihm, Skorlet und Sarp auffiel. Sie glauben, Esteban erkannte sofort die Möglichkeiten, die sich daraus ergaben, und beschäftigte sich, anfangs vielleicht ohne ernste Absicht,
mit Überlegungen, wie sie sich realisieren lassen mochten. Ein vierter wurde für die Kabale benötigt: wer wäre dazu besser geeignet als ein Mann von Reichtum, Macht und persönlichem Interesse an der Sache, kurz gesagt also, ein Unternehmer. Esteban studierte das ausführliche Verzeichnis und entdeckte den Unternehmer Shubart, der für die Rolle wie geschaffen schien. Esteban, Skorlet und Sarp wurden von ihrem Verlangen nach gutem Essen und Luxus getrieben; Dinge, die Shubart im Überfluß hatte, die nun jedoch durch die Wisperer bedroht waren, denn sie beabsichtigten Arrabus unabhängig von den Unternehmern zu machen und hatten dem Connat auch bereits entsprechende Andeutungen gemacht. Außerdem brauchte Shubart größere Mittel, um seinen Plan, die Schreckenslande zu kultivieren, verwirklichen zu können. Er schloß sich deshalb Esteban, Skorlet und Sarp nur zu gern an. Sie dachten sich ein kühnes und sehr einfaches Komplott aus. Sie, Jantiff, glauben nun, daß Skorlet, Esteban, Sarp und Shubart nach Waunisse fuhren und dort in das Luftboot stiegen, mit dem die Wisperer nach Uncibal zurückzukehren beabsichtigten. Unterwegs wurden die Wisperer einschließlich ihrer Begleitung ermordet und ins Meer geworfen. Als die Seescheibe landete, hatten die vier Verschwörer bereits die Identität der Wisperer angenommen. Sie zeigten sich kurz auf der Rednertribüne. Niemand sah sie so nahe, um Argwohn zu schöpfen – außer Ihnen, der Sie ohnedies bereits Mißtrauen hegten. Die neuen Wisperer reisten nach Numenes, wo sie mit dem Connat verhandelten. Sie erschienen ihm
recht merkwürdig: unehrlich, ausweichend und oberflächlich. Ihre Erklärungen klangen wenig überzeugend und widersprachen den Vorschlägen, die die echten Wisperer bereits angedeutet hatten. Der Connat beschloß der Sache auf den Grund zu gehen, um so mehr, da er mehrere dringende Nachrichten, einen gewissen Jantiff Ravensroke betreffend, erhalten hatte. Der Auftrag wurde mir erteilt. Vor zwei Tagen kam ich in Uncibal an. Ich wollte sofort Kursar Bonamico aufsuchen. Ich erfuhr, daß er zu Besprechungen mit den Wisperern nach Waunisse gereist war und mit ihnen im gleichen Luftboot zurückgeflogen war. Er stieg jedoch in Uncibal nicht aus. Es ist mit größter Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß er ermordet und ins Salamanmeer geworfen wurde. Natürlich machte ich mich mit den Mitteilungen vertraut, die Sie telefonisch von Balad durchgaben. Die letzte kam gestern nacht von Balad an. Eine Frauenoder vielmehr eine Mädchenstimme, wie Aleida Gluster meinte, gab sie durch. Sie schien äußerst aufgeregt: ›Kommen Sie schnell nach Balad‹, bat sie. ›Man tut Jantiff Schreckliches an.‹ Das war alles.« »Eine Mädchenstimme?« überlegte Jantiff laut. »Wer könnte das gewesen sein? Glisten kann nicht reden, außer in Träumen... ob Aleida Gluster möglicherweise geschlafen und geträumt hat, wie ich?« »Eine interessante Theorie«, sagte Ryl Shermatz ernst. »Aleida Gluster sprach sich darüber nicht näher aus... So, wir sind jetzt in Balad. Wir werden in den Grorer gehen und uns stärken. Dann wollen wir versuchen, diesem eigenwilligen Volk ein Gefühl für Gerechtigkeit zu geben.«
»Eubanq ist mehr als eigenwillig«, murmelte Jantiff. »Er hat mir mein Geld gestohlen und Butsch auf Glisten aufmerksam gemacht.« »Ich habe Eubanq nicht vergessen«, versicherte ihm Ryl Shermatz. Die beiden Männer betraten den Grorer. Für diese Tageszeit waren erstaunlich viele Gäste in der Wirtsstube, fast doppelt so viele wie gewöhnlich. Fariske eilte herbei. Dicke Schweißtopfen glitzerten auf seiner Stirn. »Hierher, meine Herren«, rief er tapfer, mit übertriebener Jovialität. »Setzen Sie sich. Möchten Sie Bier? Ich kann Ihnen mein altes Dankwürz sehr empfehlen.« Zweifellos hatte der Junge, der Shermatz zu Jantiffs Hütte gebracht hatte, sofort die Neuigkeit herumposaunt. »Ja, bringen Sie uns bitte Bier und etwas zu essen«, erwiderte Shermatz. »Doch zuerst eine Frage. Ist die als Eubanq bekannte Person hier?« Fariske schaute nervös von Tisch zu Tisch. »Nein, er ist augenblicklich nicht hier. Sie werden ihn vermutlich im Raumhafen finden, dessen Leiter er ist.« »Haben Sie die Liebenswürdigkeit, drei vertrauenswürdige Männer aus Ihren Gästen auszuwählen und sie an unseren Tisch zu bitten.« »Vertrauenswürdig? Lassen Sie mich überlegen. Das ist gar nicht so einfach. Ich werde die meiner Meinung nach Besten zu Ihnen schicken. Garfred! Sabrose! Osculot! Kommt hierher!« Die drei schlurften zögernd und mit mehr oder weniger abweisender Miene herbei. Ryl Shermatz musterte sie mit unbewegter Miene. »Ich bin Ryl Shermatz, Beauftragter des Connat. Ich
ernenne Sie hiermit für die Dauer eines Tages zu meinen Gehilfen. Wie ich haben Sie nun die vom Connat übertragenen Machtbefugnisse, um sie nach meiner Anordnung anzuwenden. Haben Sie das verstanden?« Die drei Männer scharrten ein wenig verlegen mit den Füßen und bestätigten es auf ihre Weise. Garfred brummte ein mürrisches Ja; Sabrose nickte zuvorkommend; Osculot machte ein besorgtes Gesicht. Ryl Shermatz fuhr fort. »Sie begeben sich sofort zum Raumhafen, verhaften Eubanq im Namen des Connat und bringen ihn hierher. Gewähren Sie ihm unter keinen Umständen irgendwelche Freiheiten, lassen Sie ihn keine Sekunde aus den Augen und untersuchen Sie ihn nach Waffen. Beeilen Sie sich!« Die drei Männer verließen die Taverne. Ryl Shermatz wandte sich an Fariske, der erwartungsvoll neben dem Tisch stand. »Schicken Sie weitere Männer aus, um alle Einwohner von Balad zu ersuchen, sich auf dem Platz vor dem Grorer zu versammeln. Und dann bringen Sie uns bitte unser Essen.« Jantiff saß in der Dunkelheit seiner geblendeten Augen und lauschte dem Gemurmel der vielen Stimmen in der Gaststube, dem Klirren von Gläsern und Krügen, dem Scharren von Füßen. Eine wohlige Wärme durchflutete ihn, er entspannte sich und überließ alle Sorgen Ryl Shermatz, der im Augenblick leise zu jemandem sprach. Er erhielt jedoch offenbar keine Antwort. Vielleicht spricht er in ein Funkgerät, dachte Jantiff. Kurz darauf schickte Shermatz Voris, den Apotheker zu holen, der auch sofort kam. Shermatz nahm den Apotheker zur Seite. Die beiden sprachen miteinander, dann ging der Apotheker
wieder. »Ich habe eine Behandlungsmethode mit ihm vereinbart«, erklärte Shermatz gleich darauf Jantiff, »die Ihnen einstweilen zumindest einen Teil der Sehkraft zurückgibt. Später werden wir selbstverständlich für eine vollständige Heilung sorgen.« »Ich bin im Augenblick schon für die geringste Besserung dankbar.« Der Apotheker kehrte zurück. Jantiff vernahm gedämpfte Stimmen, während sein Fall besprochen wurde. Schließlich wandte der Apotheker sich direkt an Jantiff. »Es sieht folgendermaßen aus. Die Lauge verursachte eine Art Frostschicht auf den Augen, die lichtundurchlässig ist. Ich werde jetzt eine noch nicht sehr bekannte Behandlung versuchen. Ich trage eine Emulsion auf, die schnell zu einem durchsichtigen Film trocknen wird. Möglicherweise wird es sich als unangenehmes Gefühl erweisen, vielleicht aber auch nicht. Wenn die Unebenheiten ausgeglichen sind, müßte eigentlich das Licht Ihre Netzhaut wieder erreichen. Ich möchte noch erwähnen, daß diese Schicht von mikroskopisch feiner Porösität ist, um dem Sauerstoff Durchlaß zu gewähren. Bitte lehnen Sie sich jetzt zurück, öffnen Sie Ihr rechtes Auge so weit es geht, und bewegen Sie sich nicht... Sehr gut! So, und jetzt das linke. Nicht blinzeln, bitte!« Jantiff spürte etwas Kühles auf seinen Augen und dann ein nicht unangenehmes Zusammenziehen der Augäpfel. Gleichzeitig löste sich der Schleier vor seinen Augen auf, wie Nebel, den der Wind zerreißt. Gegenstände zeichneten sich, einstweilen noch wie durch Wasser hindurch, ab und wurden allmählich schärfer. Plötzlich konnte Jantiff fast mit der gleichen Klarheit sehen wie zuvor.
Er blickte sich im Zimmer um. Er sah die ernsten Gesichter von Ryl Shermatz und dem Apotheker. Fariske stand mit seinem Faßbauch an der Theke. Palinka schaute sichtlich verärgert über die Störung ihrer täglichen Routine durch die Küchentür. Und die meisten der Stammgäste saßen mit finsterer oder verdrossener Miene an ihren Tischen. Jantiff schaute dahin und dorthin und staunte über das Wunder des Augenlichts, das er früher geglaubt hatte, voll auszunutzen. Er betrachtete die erdbraunen Schatten in der Stubenecke, den Glanz der Zinnkrüge, die hellen Milchholztische, die blaßlavendelfarbenen Strahlen Dwans, die durch die hohen Fenster fielen. Später einmal, dachte Jantiff, wenn ich die Vergangenheit heraufbeschwöre, werde ich immer voll Dankbarkeit an diesen Augenblick in Balad im Grorer, auf dem Planeten Wyst, denken... Gedämpfte Schritte, Scharren und Stimmengemurmel vor der Taverne rissen ihn aus seinen Gedanken. Ryl Shermatz ging zur Tür. Jantiff richtete sich hoch auf, warf den Kopf zurück, straffte die Schultern und folgte Shermatz unbewußt in der gleichen selbstsicheren Haltung. Eine gewaltige Menge hatte sich vor dem Grorer versammelt, offenbar die gesamte Bevölkerung von Balad, mit Ausnahme von Madame Tchaga, die am Kimbern stand und herüberäugte. Sabrose und Garfred kamen die Straße hoch. Sie hatten Eubanq zwischen sich, und Osculot ging wachsam hinterher. Eubanq trug seinen üblichen rehfarbenen Anzug und dazu einen Hut mit einer über der Stirn zu einem Schnabel geformten Krempe. Seine Miene paßte jedoch gar nicht zu diesem verwegenen Hut. Sein voller Mund wirkte schlaff, seine Wangen eingefallen.
Unwillkürlich erinnerte Jantiff sich an ein Bilderbuch seiner Kindheit. Es hatte darin Illustrationen einer verängstigten braunen Ratte gegeben, die von zwei Bulldoggen-Polizisten zu einem Katzengericht geschleppt worden war. Nach einem kurzen, aber eingehenden Blick auf Eubanq wandte Shermatz sich an die Menge. »Ich bin Ryl Shermatz, Beauftragter des Connat, und in offizieller Mission hier in Balad. Der Connat ist ein sehr großmütiger Mann, der jedem Volk unter seiner Oberhoheit größtmögliche Gedanken- und Handlungsfreiheit zugesteht. Aber er kann und darf keine Mißachtung des Grundgesetzes dulden, wie es hier in Balad der Fall war. Ich beziehe mich dabei auf die Verfolgung gewisser Waldnomaden, die von ihnen fälschlicherweise als Hexen verfemt werden. Diese Verfolgung und Diskriminierung hat auf Anordnung des Connat sofort aufzuhören. Die Infektion, hier als die ›Gelb‹ bekannt, ist eine Pilzkrankheit. Sie kann durch eine bestimmte, im Wasser aufgelöste Pille geheilt werden. Die sogenannten Hexen sind nicht aufgrund der ›Gelb‹ taubstumm, sondern es handelt sich bei ihnen um einen hysterischen Wahn. Organisch sind sie völlig normal, und manchmal im Schock- oder größerem Streßzustand können sie sich zum Sprechen zwingen. Was das Hören betrifft, so nimmt ihr Gehirn Laute unterbewußt auf. Sie selbst wissen nicht, daß sie tatsächlich hören, aber sie empfangen Informationen auf ähnliche Weise, wie ein normaler Mensch Gedankenübertragung aufnehmen mag. Die Zustände hier in Balad sind nicht zufriedenstellend. Der Großritter hat sich selbst zum Bürger-
meister erhoben und übt willkürliche Polizeigewalt durch seinen Konstabler aus. Bei bestimmten Gelegenheiten, wie beispielsweise, als eine unverzeihliche Gewalttätigkeit an der Person des Jantiff Ravensroke ausgeübt wurde, ließ sich die Bürgerschaft zu unverantwortlicher Grausamkeit hinreißen. In Kürze trifft ein Kursar hier ein, der für Ordnung sorgen und sich um eine Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht bemühen wird. Gewisse Personen werden über sein Kommen nicht sehr erfreut sein, vor allem jene, die an der kürzlichen Hexenjagd teilnahmen. Sie können sich auf eine strenge Bestrafung gefaßt machen. Im Augenblick befasse ich mich lediglich mit den an Jantiff Ravensroke begangenen Vergehen. Konstabler Sabrose, schaffen Sie die Frau herbei, die Jantiff blendete.« »Das war Nellick!« »Eure Lordschaft, ich handelte nicht aus Bosheit, das dürfen Sie mir glauben. Ich dachte, ich hätte nur gutes, sauberes Wasser in meinem Eimer. Ich bin eine fröhliche Frau, die gern Scherze macht. Ich goß dem Burschen das Wasser nur ins Gesicht, weil ich hoffte, ich würde damit die Menschen zum Lachen bringen und so die Situation entspannen.« »Jantiff, was sagen Sie dazu?« »Ich erinnere mich sehr gut an ihre Worte. Sie sagte: ›Hier ist mein Freckschlamm. Dreht sein Gesicht herum. Er soll es nur ganz auskosten!‹« »Nun, welche der beiden Versionen entspricht der Wahrheit, Konstabler?« Sabrose brummte: »Ich sage es nicht gern. Ich hielt Jantiff, als sie den Eimer über ihn schüttete. Das Zeug hat auch meine Arme verätzt.«
Jantiff verzog das Gesicht. »Vergeuden Sie Ihre Zeit nicht mit diesen Leuten. Es waren zwanzig oder dreißig, die mich am liebsten noch weiter gemartert hätten. Nur einer war gut zu mir, der Apotheker Grandel. Er wischte mir die Augen aus.« »Gut. Dann beauftrage ich Sie, Grandel, eine Liste aller Leute aufzustellen, die an dieser Untat beteiligt waren, und als Strafe eine bestimmte Summe, die Höhe an ihrer Schuld gemessen, von ihnen einzuziehen. Für diese Frau Nellick schlage ich eine Sühne von fünfhundert Ozol vor.« Grandel fühlte sich sichtlich nicht wohl in seiner Haut. »Ich werde mein Bestes tun«, versprach er, »obgleich das meine Beliebtheit hier nicht heben wird.« »Um der Gerechtigkeit willen muß man das auf sich nehmen«, rief Fariske. »Ich beteiligte mich bei dieser Lynchjustiz an Jantiff nicht, obgleich er mir mit seinem Perzebenverkauf Konkurrenz machte. Ich bin der Meinung, daß strenge Strafen nötig sind, um die Ehre Balads wiederherzustellen. Ich werde Grandel helfen, die Missetäter alle zu identifizieren und keine unangebrachte Milde walten zu lassen. Wenn Grandel dadurch an allgemeiner Beliebtheit verliert, ist er zumindest nicht allein.« »Schön, dann übertrage ich diese Angelegenheit Ihnen beiden. Nun zu etwas anderem.« Er wandte sich an den Raumhafenmeister. »Ihr Name ist Eubanq?« Eubanq nickte lächelnd. »Ja, Sir, so heiße ich.« »Ist das Ihr voller Name?« Eubanq zögerte merklich. »Eubanq ist der Name, unter dem ich hier bekannt bin.«
»Wo sind Sie geboren?« »Das... äh... weiß ich nicht genau. Ich war Vollwaise.« »Das tut mir sehr leid. Wo wuchsen Sie auf?« »Ich habe viele Welten besucht. Ein echtes Zuhause kannte ich nie.« »Der Kursar des Connat wird Ihre Vergangenheit nach seiner Ankunft hier genau überprüfen. Im Augenblick möchte ich mich lediglich mit kürzlichen Vorkommnissen befassen. Erstens besteht der Verdacht, daß Sie Jantiffs Flugschein einlösten und das Geld für sich behielten.« Eubanq überlegte kurz. Offenbar war ihm klar, daß seine Antwort ohne Schwierigkeiten überprüft werden konnte, denn er nickte mit höflicher Miene. »Ich war mir sicher, daß Jantiff das Ticket nie würde benutzen können, und ich wollte natürlich nicht, daß das Geld verlorenging.« »Als Sie dann erfuhren, daß Jantiff genügend Geld erarbeitet hatte, um sich den Flug nach Arrabus leisten zu können, stahlen Sie ihm seine Ersparnisse. Richtig?« »Bestehen Sie von sich aus darauf, oder ist es der Gerechtigkeitssinn des Connat, daß ein Verdächtiger sich aus eigenem Mund diskriminieren muß?« »Eine geschickte Antwort«, sagte Shermatz höflich. »Aber die Sache ist nicht so kompliziert, wie Sie zu glauben scheinen. Jantiffs Aussage läßt über alle Zweifel darauf schließen, daß Sie der Dieb sind. Meine Fragen sollten Ihnen nur die Möglichkeit geben, es abzustreiten. Doch nun zum zweiten. Sie verrieten das Waldmädchen, mit dem Jantiff befreundet war, an Butsch, obgleich Sie genau wußten, was er mit ihr
machen würde. Ihr Motiv war, Jantiff zu vernichten. Der Kursar wird eine Untersuchung einleiten. Wenn Sie Ihre Schuld abstreiten, werden Sie einer Gehirnsondierung unterzogen, um die Wahrheit an den Tag zu bringen. Einstweilen wird Ihr gesamtes Vermögen eingezogen. Sie können sich bereits als Habenichts betrachten, der keinen einzigen Dinket mehr sein eigen nennt.« Eubanqs Kinn sackte hinab, seine Augen wurden feucht. Mit schriller Stimme rief er: »Das geht zu weit! Sie dürfen mir meine Ersparnisse nicht nehmen!« »Ich fürchte, dabei wird es nicht bleiben. Ich glaube nämlich, daß Sie Butsch zum Mord anstifteten. Wenn das bewiesen werden kann, wird der Kursar keine Milde walten lassen.« »Bringen Sie mich nach Lulas. Der Großritter wird für meine Rechtschaffenheit bürgen.« »Der Großritter hält sich augenblicklich nicht in Lulas auf. Er und seine Gäste verließen gestern abend seinen Landsitz. Wie dem auch sei, er wäre auf keinen Fall ein vertrauenswürdiger Bürger. Er steckt vielleicht in tieferen Schwierigkeiten als Sie.« Shermatz bedeutete Garfred und Osculot: »Bringt Eubanq an einen sicheren Ort und vergewissert euch, daß er nicht entkommen kann. Falls es ihm gelingen sollte, steht ihr beide mit je tausend Ozol dafür gerade.« »Also, dann auf, Eubanq!« brummte Osculot. »Wir bringen Sie in meinen Gemüsekeller. Wenn Ihnen eine Flucht von dort glücken sollte, zahle ich sowohl meine als auch Garfreds Strafe!« »Einen Augenblick!« Jantiff blickte Eubanq finster an. »Was ist mit Glisten geschehen? Sagen Sie es mir,
wenn Sie es wissen.« Mit ungerührter Miene erwiderte Eubanq. »Warum fragen Sie mich? Wenden Sie sich doch an Butsch.« »Butsch beantwortet keine Fragen mehr. Er ist tot.« Eubanq drehte sich wortlos um. Die beiden Konstabler marschierten mit ihm die Straße hoch und außer Sichtweite. Ryl Shermatz wandte sich wieder an die Bürger der Stadt. »Der neue Kursar wird in den nächsten drei Tagen hier eintreffen. Bedenken Sie, daß er ein Bevollmächtigter des Connat ist und Sie seinen Anordnungen zu gehorchen haben. Das wäre alles, was ich Ihnen zu sagen habe. Kommen Sie, Jantiff, wir haben in Balad nichts mehr verloren.« »Aber was ist mit Glisten? Ich kann doch nicht fort von hier, ehe ich weiß, was passiert ist.« »Jantiff, wir müssen den betrüblichen Tatsachen gefaßt ins Auge sehen. Glisten ist entweder tot oder in den Wald zurückgekehrt. In beiden Fällen sind wir machtlos.« »Aber wer war dann das Mädchen, das Sie von meiner Bedrängnis informierte?« »Das ist eine weitere Sache, um die der Kursar sich annehmen muß. Doch nun auf nach Arrabus. Wir können hier wirklich nichts mehr tun.«
16 Die beiden Männer fuhren in einem schwarzen Luftwagen nordwärts über den düsteren Sych, den Nemansee und die Schreckenslande. Jantiff hing schweigend seinen trüben Gedanken nach, bis Ryl Shermatz ihn herauszureißen versuchte. »Ich nehme an, daß Ihnen die vergangenen Geschehnisse noch arg zu schaffen machen, und das ist verständlich. Bedauerlicherweise kann ich, gerade aufgrund meiner Stellung, nur eine annähernde Gerechtigkeit herbeiführen. Sie fragen sich: Weshalb werden die Bauern, die ständig Hexen jagen, nicht bestraft, obgleich sie doch vielfache Mörder sind? Nun, in meiner Stellung bin ich dafür verantwortlich, die Dinge wieder ins reine Lot zu bringen, nicht jedoch für die Bestrafung. Ich setze zwei oder drei drastische Exempel und hoffe, damit die anderen zur Vernunft zu bringen. Da kann es natürlich passieren, daß gerade die Schlimmsten am wenigsten betroffen werden. Andererseits kann eine allzu durchgreifende Bestrafung die gesamte Gemeinde zerstören. Und das wäre höchstwahrscheinlich in Balad der Fall gewesen. Im großen und ganzen bin ich jedenfalls zufrieden.« Jantiff schwieg. Ryl Shermatz fuhr fort. »Wie dem auch sei, wir müssen uns nun Arrabus und den falschen Wisperern zuwenden. Ihr Verhalten ist mir rätselhaft. Beabsichtigen sie in völliger Isolation zu leben? Wenn sie an der Jahrhundertfeier teilnehmen, muß doch ihre wahre Identität zumindest ihren alten Bekannten – beispielsweise den Bewohnern des Altrosa – sofort be-
kannt werden.« »Sie verlassen sich vermutlich auf ihre Ähnlichkeit mit den echten Wisperern«, meinte Jantiff. »Ohne eine Vermutung wird niemandem etwas auffallen und keiner Verdacht schöpfen.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Ähnlichkeit so groß ist«, zweifelte Shermatz. »Doch vielleicht haben sie vor, kosmetische Masken zu verwenden und sich Gesichtsoperationen zu unterziehen. Möglicherweise haben sie das inzwischen bereits getan.« »In Lulas waren sie jedenfalls noch so, wie ich sie kannte.« »Gerade das verblüfft mich so! Sie sind doch gewiß keine Dummköpfe! Zweifellos sind ihnen die möglichen Gefahren bewußt, und sie müssen sich darauf vorbereitet haben. In gewisser Weise fasziniert mich das Ganze, denn es ist ein grandioser Plan.« »Wie gedenken Sie die Sache in die Hand zu nehmen?« erkundigte sich Jantiff. »Es gibt zumindest zwei Möglichkeiten. Wir können das Komplott öffentlich aufdecken, was natürlich zu großer Aufregung führen wird. Oder wir können die Sache für die Außenstehenden unbemerkt bereinigen und neue Wisperer wählen lassen. Ich bin mehr für das erstere. Die Arrabiner werden dieses Drama in vollen Zügen genießen – und weshalb sollten wir das diesen im Grund genommenen anständigen, wenn auch naiven Menschen nicht gönnen?« »Wie soll die Inszenierung dieses Dramas vor sich gehen?« »Es wird nicht viel zu inszenieren sein. Die Wisperer haben bereits alles selbst arrangiert. Sie beabsichtigen eine Massenkundgebung, bei der sie einer
Gruppe Auserwählter Rede und Antwort stehen, während die Zuschauer diese Kundgebung über die Bildschirme verfolgen können.« Jantiff überlegte. »Gewiß werden sie wieder von der Rednertribüne aus sprechen, wo sie hoch und weit entfernt sind, so daß keiner sie genau erkennen kann. Und die Kameras dürfen natürlich keine Nahaufnahmen machen.« »Das ist anzunehmen«, pflichtete Shermatz ihm bei. »Aber bei der Entlarvung wird man sie deutlich genug sehen.« Der Luftwagen flog über das Gebirge, und schon lag Uncibal weit ausgedehnt vor ihnen und dahinter die unbewegte Salamansee in der Farbe des Mondsteins. »Wir werden im Travellers Inn übernachten«, sagte Shermatz. »Als elitäres Monument ist es zwar reichlich heruntergekommen, aber etwas Besseres finden wir in Arrabus nicht. Und zweifellos ziehen Sie es doch Ihrem Versteck in Disjerferact vor, oder?« »Ich möchte dieses Versteck zumindest kurz besuchen, aus reiner Sentimentalität«, erwiderte Jantiff. »Meine Hütte am Strand war nicht viel besser... Aber trotzdem war sie mir ein Zuhause. Und wenn ich so recht überlege, war ich glücklich dort. Ich hatte zu essen – und Glisten um mich. Ich hatte Ziele, auch wenn sie sich vielleicht als undurchführbar erwiesen hätten, doch eine Zeitlang glaubte ich, sie wären ganz nah. Ja, da lebte ich wirklich intensiv!« »Und jetzt?« »Jetzt bin ich müde und alt und gleichgültig.« Shermatz lachte. »Das glaubte ich auch von mir so manchesmal. Aber das Leben geht weiter.«
»Ich finde das Leben recht seltsam.« Im Travellers Inn ließ Shermatz sich eine 6-ZimmerSuite geben und verlangte bestes Essen und tadellose Bedienung. Jantiff brummte, daß er aufgrund der Einstellung der Arrabiner seine Erwartungen nicht zu hoch schrauben dürfe. »Wir werden sehen«, sagte Shermatz. »Gewöhnlich stelle ich keine besonderen Ansprüche, aber hier im Travellers Inn kann ich für nichtegalitäre Preise auch nichtegalitären Service und Verpflegung erwarten. Im Gegensatz zu dem üblichen Reisenden bin ich in der Lage, etwas gegen schlechte Bedienung und unzureichendes Essen etc. zu unternehmen. Ich bin sicher, daß Sie eine beachtliche Verbesserung im Vergleich zu Ihren früheren Besuchen hier bemerken werden. Doch jetzt habe ich noch ein paar geschäftliche Dinge zu erledigen und überlasse Sie Ihren eigenen Angelegenheiten.« Jantiff begab sich in sein Zimmer, und tatsächlich bestand ein merklicher Unterschied, schon allein in der Ausstattung, zu denen, die man ihm früher zugewiesen hatte. Er gab sich dem langentbehrten Luxus eines heißen Bades hin, leistete sich neue Kleidung und speiste die besten Gerichte, die zu haben waren. Danach war er zwar hundemüde, aber er hatte noch keine Lust, sich schlafen zu legen. Er spazierte in die Stadt und fuhr mit den Menschenflüssen, wie er es früher so gern getan hatte. War es Zufall, daß er am Altrosa vorbeikam, oder hatte sein Unterbewußtsein ihn hierhergeführt? Nach einem Moment der Unentschlossenheit stieg er vom Fluß und betrat das Gebäude. Die vertrauten Gerüche hingen schwer
in der Luft. Es roch nach Atz, Söff, Wabbli und Stilli, altem Mauerwerk, den Ausdünstungen aller, die das Foyer durchquerten. Erinnerungen wurden in Jantiff wach: Ereignisse, Abenteuer, Emotionen, Gesichter. Er trat an den Empfang, wo ein ihm fremder junger Mann Papiere sortierte. »Wohnt Skorlet noch im Apartment D–8 auf dem neunzehnten Stock?« fragte Jantiff ihn. Der Angestellte überflog ein Register. »Nein, sie ist nach Propunce umgezogen.« Jantiff drehte sich zum Schwarzen Brett um. Ein riesiges Plakat in grellem Gelb, Weiß, Blau und Schwarz erregte sofort seine Aufmerksamkeit. Er trat näher heran und las: GROSSKUNDGEBUNG Heil unserem zweiten Jahrhundert! Möge es die Größe und Errungenschaften des ersten noch übertreffen! Das Jahrhundertfest findet zur Feier der Verbreitung unseres Egalitarismus statt. Von allen Teilen des Sternhaufens treffen Glückwünsche ein, manche aus ehrlicher Bewunderung, andere widerwillig und neiderfüllt. Am nächsten Onastag ist die Großkundgebung! Der Delegiertenausschuß und viele hochgestellte Persönlichkeiten werden an dem Festbankett teilnehmen und sich die überraschenden Konzepte der Wisperer für eine ruhmvolle Zukunft anhören. Der Connat des Alastor-Sternhaufens wird als Gast in Kameradschaft und Egalitarismus mit den Wisperern auf der Rednertribüne erscheinen. Zur Zeit konsultiert er die Wisperer und hört auf ihre weisen Ratschläge.
Während der Großkundgebung wird er sein Programm für eine Erweiterung von Warenaustausch und Dienstleistungen bekanntgeben. Die Arrabiner sollen für brauchbare Ideen und künstlerische Schöpfungen Konsumgüter und Computer bekommen. Während der Großkundgebung am Onastag auf dem Feld der Stimmen werden er und die Wisperer Einzelheiten dieses Austausches besprechen. Nur für Personen mit Sondergenehmigung ist ein Platz auf dem Feld der Stimmen vorgesehen. Alle anderen haben jedoch Gelegenheit, dieses epochale Ereignis auf den Fernsehschirmen in den Versammlungssälen ihres Apartmentstockwerks mitzuerleben. Jantiff las die Bekanntmachung ein zweites und drittes Mal. Seltsam und wunderbar! Er studierte die ins Auge fallende Schrift. In seinem Kopf wirbelten Bruchstücke halbvergessener Information, flüchtiger Gespräche und disparate Ideen, alles durcheinandergeschüttelt wie die Teile eines Puzzles. Kopfschüttelnd wandte er sich vom Plakat ab und verließ das Altrosa. Er fuhr mit dem Zubringer 112 zum Uncibalstrom und mischte sich in die Menschenflut. Ausnahmsweise, mit all den Mutmaßungen und Überlegungen, die ihm durch den Kopf schwirrten, achtete er überhaupt nicht auf die zahllosen Gesichter. Mit einer Miene, die nicht weniger abwesend wirkte als die so vieler von ihnen, kehrte er zum Travellers Inn zurück. In einem seiner Zimmer war ein kaltes Buffet hergerichtet. Er schenkte sich ein Glas Wein ein und setzte sich auf einen Diwan. Aus dem Fenster sah er einen Teil des Raumhafens und dahinter die vielfar-
bigen Lichter im Disjerferact. Mit halb bitterem, halb sehnsüchtigem Lächeln starrte er hinaus. Würde er je seinen Erinnerungen entfliehen können? In allen Einzelheiten zogen sie an seinem inneren Auge vorbei: das Haus der Prismen; Kedidahs entschwindendes Gesicht. Der Geruch gebackener Algen und Poggets schien ihm in die Nase zu steigen. Er hörte das aufdringliche Schrillen der Flöten, das Klingeln der kleinen Glöckchen, die Ausrufe der Marktschreier, Flüche. Er sah die wirbelnden und hüpfenden Lichter der Vergnügungsstätten, die sprudelnden Springbrunnen... Ryl Shermatz trat ein. »Ah, Jantiff, Sie sind gerade rechtzeitig zurückgekommen. Haben Sie diese großartige Auswahl an ›Labrung‹ bereits bemerkt?« »Ja, ich bin erstaunt. Ich ahnte nicht, daß es hier so viele gute Dinge geben könnte.« »Heute sind wir echte Praßnicks! Ich sehe Wein von vier verschiedenen Welten, eine Platte mit köstlichen Braten, Pasteten, Salate, Käse aller Sorten und Konfekt in großer Auswahl. Ein Mahl, wie ich es mir in dieser Richtung nur selten bestelle, das dürfen Sie mir glauben. Doch heute wollen wir schwelgen.« Jantiff gab von allem, was sein Gefallen fand, eine Kostprobe auf seinen Teller, dann setzte er sich zu Shermatz an den Tisch. »Vor einer Stunde besuchte ich das Altrosa, den Block, in dem ich wohnte. Im Foyer sah ich eine erstaunliche Bekanntmachung. Demnach wird der Connat persönlich an der Kundgebung teilnehmen und die neuen Pläne der Wisperer gutheißen.« »Ich sah ein ähnliches Plakat«, sagte Ryl Shermatz. »Ich weiß jedoch genau, daß der Connat nichts der-
gleichen beabsichtigt.« »Dann bin ich ja beruhigt. Aber wie können die Wisperer in aller Öffentlichkeit eine solche Behauptung aufstellen? Wenn der Connat nicht erscheint, werden sie mit lahmen Entschuldigungen aufwarten müssen, und jeder wird sie durchschauen.« »Mich interessiert diese Großkundgebung. In der Zentralität waren noch ein halbes Dutzend Ehrenkarten zu haben. Ich ließ mir zwei davon geben. Wir werden uns dieses erstaunliche Ereignis nicht entgehen lassen.« »Ich verstehe es einfach nicht«, murmelte Jantiff. »Die Wisperer müssen doch wissen, daß der Connat nicht kommen wird. Daraus ist zu schließen, daß sie sich irgend etwas Besonderes einfallen lassen.« »Gut gefolgert, Jantiff. Ich muß gestehen, daß meine Neugier mir keine Ruhe läßt. Ob sie vielleicht soweit gehen, einen falschen Connat vorzuschieben, der in ihrem Sinn spricht?« »Das ist ihnen durchaus zuzutrauen. Aber was versprechen sie sich davon? Wenn der echte Connat in Lusz davon erfährt, wird er sehr verärgert sein.« »Allerdings. Dem Connat imponiert zwar Kühnheit, und er amüsiert sich über Dreistheit, aber in diesem Fall müßte er strenge Maßnahmen ergreifen. Nun, am Onastag wird sich alles ergeben. Wir werden jedenfalls aufmerksam beobachten, ehe wir unser eigenes Programm abziehen.« Jantiff sagte vorsichtig. »Sie verwenden stets die Wörter ›wir‹ und ›unser‹, aber ich muß gestehen, daß ich überhaupt keine Einzelheiten von diesem ›unserem‹ Programm kenne.« Ryl Shermatz grinste. »Unser Plan ist sehr einfach.
Die Wisperer zeigen sich auf der Tribüne. Sie halten ihre Ansprache an die bevorzugten Anwesenden – und über das Fernsehen an alle Arrabiner. Vielleicht erscheint ein angeblicher Connat. Wenn nicht, werden die Wisperer sein Nichterscheinen irgendwie begründen, und wir sehen und hören gespannt zu. Dann, im richtigen Augenblick, werden Whelmkorvetten des Amaraz-Typs in die Atmosphäre tauchen. Sie bleiben um die Rednertribüne herum im Schwebezustand, und einige der Offiziere springen hinüber, um die Wisperer zu verhaften. Danach spricht der Kursar zu den Arrabinern. Er wird die Verbrechen der vermeintlichen Wisperer aufdecken und Arrabus' Bankrott erklären. In einer sehr harten Stellungnahme wird er den Arrabinern klarmachen, daß sie aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen und wieder arbeiten müssen. Er wird ihnen erklären, daß er als Gouverneur mit allen Vollmachten ausgestattet ist, bis eine fähige einheimische Regierung die Verantwortung selbst übernehmen kann. Danach werden die vier Korvetten sich in eine Höhe von etwa dreihundert Metern erheben. Aus jeder wird ein Seil mit einer Henkerschlinge herabgelassen. Die Schlinge wird um den Hals eines jeden Wisperers gelegt. Daraufhin steigen die Korvetten weiter auf, bis sie und die von ihnen herabbaumelnden Wisperer nicht mehr zu sehen sind. Die Sache ist kurz und bündig und doch spektakulär genug, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.« Ryl Shermatz warf Jantiff einen Blick aus dem Augenwinkel zu. »Mißfällt Ihnen dieser Plan?« Jantiff zögerte sekundenlang. Unruhig sah er seinen Gesprächspartner an.
»Das ist es nicht. Ich bin nur irgendwie besorgt, ohne daß ich genau erklären könnte, weshalb.« Shermatz erhob sich und schaute hinaus aufs Disjerferact. »Vielleicht ist Ihnen der Plan zu direkt.« »Es liegt nicht an dem Plan. Mit ihm ist alles in Ordnung. Ich frage mich nur, weshalb die Wisperer so zuversichtlich sind. Was, frage ich mich, wissen sie, das wir nicht wissen?« »Das ist wahrhaftig eine provozierende Überlegung.« Shermatz dachte einen Augenblick lang nach. »Aber ohne die Wisperer selbst zu fragen, wüßte ich nicht, wie wir sie beantworten könnten.« »Ich werde versuchen, meine Gedanken in der richtigen Reihenfolge zu ordnen«, murmelte Jantiff. »Vielleicht komme ich der Sache dann auf den Grund.« »Sie haben mich mit Ihrer Besorgnis angesteckt«, gestand Shermatz. »Nun, heute nacht und morgen haben wir noch Zeit für Überlegungen, übermorgen aber, am Tag der Großkundgebung, müssen wir handeln.«
17 Die Nacht verging, der Dwan hob sich bleich wie eine gefrorene Träne in den Himmel. Der Tag nahm seinen Lauf. Jantiff blieb in ihrer Suite im Travellers Inn. Eine Weile ging er im Salon auf und ab und versuchte, seine Unruhe zu definieren, aber die Gedanken flohen, ehe er sie analysieren konnte. Er bemühte sich, sich mit Papier und Malstift zu entspannen, aber er vermochte sich nicht zu konzentrieren. Er dachte an seine erste Zeit im Altrosa, seine traurige Romanze mit Kedidah, das Labrungsfest, seine anschließende Flucht nach Balad... Sein Gedankenfluß wurde plötzlich zäh und hörte ganz auf. Einen Augenblick lang dachte Jantiff an überhaupt nichts, doch dann ließ er sich mit größter Vorsicht – als öffne er eine Tür, hinter der ein schreckliches Ungeheuer lauern mochte – den Flug über die Schreckenslande und seine Bekanntschaft mit Swarkop durch den Kopf gehen. Nach einer Weile legte er sich unentschlossen auf die Couch nieder. Swarkops Gespräch hatte zwar allerhand angedeutet, aber nichts Bestimmtes ausgesagt. Er würde Shermatz davon erzählen, sollte er daraus machen, was er wollte. Am Nachmittag spazierte er gelangweilt und bedrückt über die Lehmebene zum Disjerferact und besuchte, wie er es sich vorgenommen hatte, seinen alten Unterschlupf. Aus Nostalgie kaufte er sich eine Portion gebackene Algen, die er pflichtschuldigst, da er sie nun schon einmal erstanden hatte, aber ohne Begeisterung verzehrte. Es gab einmal eine Zeit, erinnerte er sich fast traurig, da konnte er nicht genug
von dieser schalen Delikatesse bekommen. Bei Dwanuntergang kehrte er ins Travellers Inn zurück. Ryl Shermatz war nicht da. Jantiff nahm gedankenverloren sein Abendessen zu sich, dann zog er sich in sein Schlafzimmer zurück. Als er am Morgen erwachte, stellte er fest, daß Ryl Shermatz dagewesen und wieder fortgegangen war. Auf dem Frühstückstisch hatte er eine Nachricht für ihn hinterlassen. Guten Morgen, Jantiff! Heute werden wir alle Rätsel lösen, unser Drama zu seinem Höhepunkt bringen und schließlich zu seinem Ende. Ich habe noch sehr viel zu tun und muß leider schon vor Ihrem Erwachen aufbrechen, um den Kursar einzuweihen, deshalb kann ich nicht mit Ihnen frühstükken. Ich habe unsere beiden Ehrenkarten mitgenommen und werde Sie rechts am Hanwaltertor treffen, wo der 14. Zubringer endet, und zwar etwa gegen zehn Uhr. Das ist leider später, als ich gehofft hatte, es ermöglichen zu können, aber ich glaube, daß wir trotzdem noch einen einigermaßen guten Platz finden werden. Lassen Sie sich Ihr Frühstück gut schmecken. Also dann, bis zehn Uhr. Shermatz Jantiff runzelte die Stirn und legte das Blatt Papier zur Seite. Durch das Fenster konnte er bereits die ersten Zuschauer am Feld der Stimmen ankommen sehen. Sie beeilten sich, Plätze so nahe wie möglich an der Rednertribüne zu bekommen. Er drehte sich um und aß sein Frühstück ohne besonderen Appetit. Obwohl es noch viel zu früh war, warf er sich ein
Cape über die Schultern und verließ das Inn. Er schlenderte zum Uncibalstrom, fuhr darauf etwa einen Kilometer weit, dann bog er zum 14. Zubringer ab, der ihn direkt vor dem Hanwaltertor absetzte. Es war noch lange nicht zehn Uhr, also wunderte Jantiff sich auch nicht, daß Shermatz nirgends zu sehen war. Er stellte sich rechts neben das Tor und betrachtete die herbeiströmenden »hochgestellten Persönlichkeiten«, die eingeladen worden waren, um die Wisperer und den Connat vom Feld aus zu sehen und zu hören, und die danach am Bankett teilnehmen durften. Eine merkwürdige Versammlung von »Hochgestellten«, dachte Jantiff. Es handelte sich um Menschen jeden Alters und Typus. Da kam auch gerade ein Mann, der ihm bekannt vorkam. Ihre Augen trafen sich, der Mann blieb stehen und begrüßte ihn. »Sind Sie nicht Jantiff Ravensroke vom Altrosa? Wohnungsgefährte von Skorlet?« »Richtig. Und Sie sind Olin, Estebans Freund. Wo wohnen Sie doch gleich? Im Fodswollow, oder?« Olin verzog das Gesicht. »Schon eine geraume Zeit nicht mehr. Ich bin ins Winklerheim am 560. Zubringer umgezogen, und ich muß schon sagen, ich bin sehr froh über die Veränderung. Ziehen Sie doch zu uns. Wir könnten dort jemanden brauchen, der so geschickt mit den Händen ist wie Sie.« »Ich werde es mir überlegen und Sie einmal besuchen«, sagte Jantiff unverbindlich. »Ja, tun Sie das unbedingt. Mir ist schon oft aufgefallen, wie ein Block den Bewohnern seinen Stempel aufdrücken kann. Das Altrosa erscheint mir immer so angespannt und geradezu kochend von Intrigen. Im Winklerheim sind wir eine ausgelassene kamerad-
schaftliche Bande, das dürfen Sie mir glauben. Nie habe ich je zuvor soviel Stilli fließen sehen. Es ist ein wahres Wunder, daß noch keiner von uns verhungert ist, wo doch der größte Teil des Wumps in die Krüge wandert.« »Im Vergleich dazu ist das Altrosa zweifellos langweilig, wenn man von den Intrigen, die Sie ja erwähnten, absieht. Ah ja, weil wir von Intrigen sprechen, haben Sie Esteban in letzter Zeit gesehen?« »Bestimmt seit einem Monat nicht mehr. Er muß mit irgend etwas beschäftigt sein, das ihm keine Zeit für etwas anderes läßt. Ein sehr tatkräftiger Bursche, dieser Esteban. Was er sich in den Kopf setzt, führt er auch durch.« »Da mögen Sie recht haben. Wie kommt es eigentlich, daß Sie auf das Feld eingeladen sind? Sind Sie eine hochgestellte Persönlichkeit?« »Wohl kaum, das müßten Sie doch wissen. Die Einladung war für mich eine großen Überraschung, aber natürlich keine unangenehme. Schließlich gibt es nach der Ansprache ein Bankett mit Labrung. Trotzdem frage ich mich, wie ich zu dieser Ehre komme, aber vermutlich war es nur ein Versehen. Was ist mit Ihnen? Sie sind doch bestimmt auch keine sogenannte hochgestellte Persönlichkeit, oder?« »Genausowenig wie Sie. Allerdings haben wir eines gemeinsam, wir sind mit Esteban bekannt.« Olin lachte. »Wenn wir dieser Tatsache Labrung verdanken, dann lasse ich Esteban gern hochleben. Ich gehe jetzt hinein, um einen Platz möglichst nahe an den Tischen zu ergattern. Kommen Sie mit?« »Ich muß noch auf einen Freund warten.« »Schade. Ich habe mich jedenfalls gefreut, Sie wie-
derzusehen. Und besuchen Sie mich wirklich im Winklerheim, ja?« »Ganz sicher«, versprach Jantiff nachdenklich. »So bald wie möglich.« Olin wies seine Karte vor und wurde eingelassen. In Jantiffs Kopf fügten die Teilchen des Puzzles sich plötzlich wie von selbst zusammen und bildeten eine Einheit von erschreckendem Ausmaß. Und doch schien etwas nicht ganz zu stimmen. Ganz sicher mußte doch irgendwo ein Fehler in diesem Muster sein. Aber wo? Jantiff zog alle Möglichkeiten in Betracht, aber das Bild blieb in seiner ganzen, so einfachen und doch erschütternden Größe bestehen. Es war schon fast zehn Uhr. Wo blieb Ryl Shermatz? Die »hochgestellten Persönlichkeiten« strömten zu Hunderten herbei! Jantiff studierte ihre Gesichter. Kam Shermatz vielleicht gar nicht? Zehn Uhr. Jantiff starrte die Entgegenkommenden bereits mit finsterem Gesicht an und versuchte Shermatz mit konzentrierter Willenskraft herbeizuschwören. Ohne Erfolg. Jantiff ließ den Kopf hängen. Er schaute über die Schulter durch das Tor und sah, daß das Feld schon fast voll war. Offenbar waren die »hochgestellten Persönlichkeiten« von überallher eingeladen worden – sie und Menschen wie Olin! Aber kein einziger, soviel ihm bisher aufgefallen war, aus dem Altrosa! Diese Überlegung lähmte seine Gedanken, es dauerte Sekunden, bis sie sich zähflüssig wieder in Bewegung setzten. War das der Fehler im Muster? Vielleicht aber auch nicht. Fanfaren erschallten, danach folgte die arrabinische Hymne. Das Zeremoniell begann. Ein paar Nach-
zügler sprangen vom Zubringer und eilten hastig zum Tor. Die Lautsprecher auf dem Feld ertönten: »Ehrenwerte Anwesende! Egalitaristen am Bildschirm! Die Wisperer entbieten euch ihre Grüße. Sie werden in Kürze eintreffen und auf der Tribüne zu euch sprechen. Sie werden euch ihre großen Pläne unterbreiten, trotz aller Widerstände der Reaktionäre. Hörts Arrabiner, und vergeßt es nicht. Feinde des Egalitarismus bekämpfen die Wisperer, und es mag zu schlimmen Ausschreitungen durch diese Opposition kommen. Aber seid tapferen Herzens! Unser Weg führt...« Jantiff rannte auf Shermatz zu, als er ihn vom Menschenfluß steigen sah. »Tut mir leid, Jantiff«, rief Shermatz ihm entgegen. »Ich wurde leider aufgehalten. Aber wir kommen gerade noch zurecht. Gehen wir. Hier ist Ihre Karte.« Jantiffs Zunge war wie angeschwollen, es gelang ihm nur mit Mühe, gebrochene Sätze zu stammeln. »Nein, nein! Zurück! Keine Zeit mehr!« Er packte Shermatz am Arm, um ihn davon abzuhalten, zum Tor zu gehen. Shermatz blickte ihn erstaunt an. »Wir dürfen nicht hierbleiben!« platzte Jantiff heraus. »Hier können wir gar nichts mehr tun. Kommen Sie, wir müssen weg von hier!« Shermatz zögerte nur kurz. »Aber wohin wollen Sie denn?« »Ihr Raumboot ist doch im Hafen. Wir müssen aufsteigen, fort von Uncibal!« »Wie Sie meinen. Aber können Sie es mir denn nicht näher erklären?« »Ja, unterwegs.« Jantiff rannte und warf immer
wieder kurze Sätze über die Schulter. Shermatz, der dicht hinter ihm lief, erschrak. »Ja, klingt logisch... Sogar wahrscheinlich... Dürfen das Risiko nicht eingehen, daß Sie sich nicht täuschen...« Sie stiegen mit dem Raumboot auf. Uncibal mit seinen Reihen an Reihen bunter Blöcke wurde immer kleiner und verschwand allmählich im Dunst. Seitlich davon war noch das Feld zu sehen, dunkel mit den dichtgedrängten »hochgestellten Persönlichkeiten«. Shermatz drückte auf die Teleschirmkontrollen. Eine Stimme erschallte: »... Verzögerung von wenigen Minuten. Die Wisperer sind auf dem Weg. Sie werden euch berichten, mit welcher Erbitterung unsere Feinde uns den Erfolg des Egalitarismus mißgönnen. Sie werden euch Namen nennen und Tatsachen aufzählen... Immer noch verzögert sich die Ankunft der Wisperer. Sie sollten bereits auf der Tribüne sein. Geduldet euch noch ein oder zwei Minuten!« »Wenn die Wisperer doch auf der Bühne erscheinen, habe ich mich getäuscht«, murmelte Jantiff. »Intuitiv halte ich Ihre Schlußfolgerung für richtig«, sagte Shermatz. »Aber ich verstehe immer noch nicht ganz, wie Sie dazu kamen. Sie erwähnten einen gewissen Swarkop und seine Fracht, und auch einen Mann namens Olin. Wie gehört das zusammen? Wo beginnt Ihre Kette logischer Folgerungen?« »Mit der Idee, die wir bereits diskutierten. Die echten Wisperer sind vielen Menschen bekannt, aber auch die falschen. Gewiß es besteht eine große Ähnlichkeit zwischen beiden Gruppen, aber sie sind eben nicht identisch. Die neuen Wisperer müssen deshalb das Risiko, erkannt und aufgedeckt zu werden, so gut es geht verringern.
Olin kam auf das Feld, weil ihm jemand eine Einladung schickte. Wer? Er ist ein Freund Estebans, doch sicherlich keine hochgestellte Persönlichkeit, von denen tatsächlich einige auf dem Feld sind, wie die Delegierten, beispielsweise, die die alten Wisperer persönlich und gut kennen. Ich nehme an, daß alle Bekannten Estebans auf dem Feld zu finden sind, genau wie die von Skorlet und Sarp. Alle erhielten eine Einladung, und bestimmt wunderten sie sich ausnahmslos, weshalb man sie als ›hochgestellte Persönlichkeit‹ erachtete. Ich sah allerdings keinen einzigen aus dem Altrosa, aber sie würden vermutlich durch ein anderes Tor und mit einem anderen Zubringer kommen. Sechs Ehrenkarten wurden an die Alastorianische Zentralität geschickt. Angenommen, der Connat besucht Arrabus. Zweifellos erwecken die Plakate seine Neugier oder seinen Ärger. Ganz sicher hätte er sich den Wisperern auf der Tribüne nicht angeschlossen, sondern inkognito eine der Karten benutzt.« Shermatz nickte. »Glücklicherweise kann ich Ihnen versichern, daß der Connat ganz bestimmt keine der Einladungen benutzte. Aber was ist mit Swarkop?« »Er ist der Flugfrachterpilot, der sechs Ladungen Sprengstoff...« Jantiff hatte das unheimliche Gefühl, daß seine Worte die Katastrophe auslösten. Unter ihnen explodierte das Gelände. Das Feld der Stimmen wurde zu einem weißbrennenden Flammenherd, der schließlich unter einer grauen Rauch- und Staubwolke versank. Weitere weiße Flammenherde mit unmittelbar folgenden Rauch- und Staubwolken schossen an vielen anderen Punkten in Uncibal hervor. Die zurückgebliebenen Krater waren dort, wo einst das
Altrosa und sechs andere Häuserblocks, sowohl als auch das Travellers Inn und die Alastorianische Zentralität gestanden hatten. In den Städten Waunisse, Serce und Propunce erging es insgesamt dreizehn Blocks mit ihren Bewohnern ähnlich. »Ich hatte leider recht!« stöhnte Jantiff. »Ich hatte leider nur allzu recht!« Benommen drückte Shermatz einen Knopf. »Corchione!« »Ja, Sir?« »Das Programm wird nicht durchgeführt. Schicken Sie Lazarettschiffe hinunter.« »Jawohl, Sir.« Mit kaum verständlicher Stimme flüsterte Jantiff: »Ich hätte es schon früher ahnen müssen.« »Sie ahnten es rechtzeitig genug, mir das Leben zu retten, und darüber bin ich sehr froh.« Shermatz blickte über Uncibal, wo der Staub und der Rauch allmählich südwärts abtrieben. »Der Plan ist nun klar. Drei Gruppen von Menschen sollten beseitigt werden: Personen, die die alten Wisperer kannten; Personen, die die falschen Wisperer kannten; und eine verhältnismäßig kleine Gruppe, nämlich entweder der Connat selbst oder seine Beauftragten hier auf Wyst. Aber wir überlebten, und der Plan schlug in diesem Punkt fehl. Das wissen die Wisperer aber nicht. Sie werden sich in Sicherheit wiegen und zum nächsten Schritt ihres Planes übergehen. Haben Sie eine Ahnung, wie sie vorgehen werden?« Jantiff schüttelte müde den Kopf. »Nein, ich bin noch völlig benommen.« »Sie brauchen nun Sündenböcke: nämlich die Fein-
de des Egalitarismus. Wer auf Wyst kennt die Wisperer sonst noch?« »Die Unternehmer. Sie kennen zumindest Shubart.« »Richtig. Innerhalb weniger Stunden werden die Unternehmer verhaftet. Die Wisperer werden bekanntgeben, daß die Verbrecher ein umfassendes Geständnis ablegten und daß der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Alle bisher durch die Unternehmer ausgeführten Arbeiten werden in Zukunft von einer neuen egalitären Organisation übernommen, und die Wisperer teilen das so gewonnene Vermögen unter sich auf. Jeden Augenblick müßten wir die ersten Beschuldigungen hören.« Shermatz schwieg. Stumm blickten beide auf das verwüstete Uncibal, das der Schirm ihnen zeigte. Ein Gong erklang. Auf der Bildscheibe erschienen die vier Wisperer. Ihr Bild war verzerrt, als betrachte man es durch bewegtes Wasser. »Sie wagen es immer noch nicht, sich ganz offen zu zeigen«, bemerkte Shermatz. »Es überlebten zwar bestimmt nicht viele, die sie erkennen könnten, aber einige sind es gewiß. Zweifellos würden auch sie in Kürze verschwinden – auf geheimnisvolle, unauffällige Weise. Wer würde sich schon den Kopf darüber zerbrechen?« Esteban trat einen halben Schritt vor und öffnete den Mund. Seine Stimme schallte in scheinbar unterdrückter Aufregung. »Bürger von Arrabus! Durch eine zufällige Verzögerung von wenigen Minuten überlebten eure Wisperer die Katastrophe. Wir hoffen, auch der Connat überlebte. Er erschien nicht am vereinbarten Treffpunkt, und so wissen wir nichts mit
Bestimmtheit, nehmen aber an und hoffen, daß ihm nichts zugestoßen ist – außer er besuchte das Feld inkognito. Die Attentäter versagten also offenbar in doppelter Hinsicht. Doch wir sind im Augenblick noch nicht vieler Worte fähig. Wir sind alle zutiefst erschüttert über den Verlust so vieler guter Kameraden und nahestehender Freunde. Eines sei euch allerdings schon jetzt versichert: die Ungeheuer, die diese bestialische Tat planten und ausführten, werden sich nicht lange darüber freuen können...« Shermatz drückte wieder auf einen Knopf. »Corchione.« »Ja, Sir?« »Überprüfen Sie, von wo aus diese Aufnahme übertragen wird.« »Ich bin gerade dabei, Sir.« »... Tag des Grauens und der Trauer! Die Delegierten sind alle tot, ermordet! Nur durch eine Fügung des Schicksals, den winzigsten Zufall, entgingen wir dem gleichen Schicksal! Darüber sind unsere Freunde gewiß nicht erfreut, denn nun werden wir sie jagen, sie hetzen, bis wir sie der strafenden Gerechtigkeit zuführen können! Soviel für den Augenblick. Wir müssen uns der Überlebenden der schrecklichen Katastrophe annehmen.« Der Schirm erlosch. »Corchione?« »Die Übertragung kam aus der Uncibaler Sendezentrale. Wir konnten jedoch ihren eigentlichen Ursprung nicht rückverfolgen.« »Schließen und umstellen Sie den Raumhaufen. Niemand darf den Planeten verlassen.« »Jawohl, Sir.« »Schicken Sie ein Team hinunter zur Uncibaler
Zentrale, erkunden Sie den Ursprung der Sendung. Verständigen Sie mich sofort.« »Jawohl, Sir.« »Überwachen Sie den Luftverkehr. Vergewissern Sie sich der Ziele aller Luftboote, die nicht auf dem Boden sind!« »Jawohl, Sir.« Shermatz lehnte sich zurück. Er wandte sich an Jantiff. »Nach den heutigen Vorkommnissen wird Ihnen Ihr Leben vielleicht blaß und ereignislos vorkommen.« »Darüber würde ich mich bestimmt nicht beschweren.« »Ich bin nur noch dank Ihres gesunden Menschenverstands – an dem es mir bedauerlicherweise sehr mangelte – am Leben.« »Ich wollte nur, dieser ›gesunde Menschenverstand‹ hätte eher geschaltet.« »Wie dem auch sei, Vergangenes ist vergangen, die Toten haben es überstanden. Ich lebe und bin dankbar dafür. Darf ich mich nach Ihren Plänen für die Zukunft erkundigen?« »Als erstes möchte ich meine Augen behandeln lassen. Ich fange an, wieder nur noch verschwommen zu sehen. Danach werde ich nach Balad zurückkehren, um herauszufinden, was Glisten zugestoßen ist.« Shermatz schüttelte traurig den Kopf. »Wenn sie tot ist, ist Ihre ganze Mühe vergebens. Wenn sie lebt, wie wollen Sie sie dann in diesen endlosen Wäldern der Schreckenslande finden? Überlassen Sie die Nachforschungen mir, ich habe geschultes Personal dafür.« »Wenn Sie meinen.«
Shermatz wandte sich wieder den Kontrollen zu. »Corchione!« »Sir?« »Schicken Sie die Isirjir Ziaspraide zum Uncibaler Raumhafen, und auch zwei Patrouillenboote. Die Tressian und die Sheer halten sich ganz in der Nähe auf.« »Jawohl, Sir.« Shermatz drehte sich zu Jantiff um. »In Zeiten der Unruhe ist es immer angebracht, Symbole für Sicherheit und Ordnung vorzuweisen. Die Isirjir Ziaspraide ist in diesem Fall genau das Richtige.« »Was werden Sie mit den Wisperern machen?« »Ich bin mir noch nicht schlüssig. Was würden Sie vorschlagen?« Jantiff schüttelte zweifelnd den Kopf. »Sie haben grauenvolle Verbrechen begangen. Keine Strafe scheint mir dafür angemessen. Sie lediglich zu töten, wäre eine Gnade für sie.« »Stimmt. Die Vergeltung müßte der Verruchtheit des Verbrechens entsprechen. Das ist jedoch in diesem Fall völlig unmöglich. Aber etwas muß getan werden. Jantiff, setzen Sie Ihre so fruchtbare Phantasie ein.« »Ich habe keine Erfahrung im Erfinden von Strafmaßnahmen.« »Es ist auch nicht nach meinem Geschmack. Ich sorge lieber für Frieden und Ordnung. Doch allzu oft muß ich strenge Bestrafungen verhängen. Das ist die unangenehme Seite meines Berufs. Wir dürfen uns natürlich nicht von den Wünschen der Missetäter leiten lassen. Fast immer flehen sie um Milde oder gar Straferlaß.«
Ein Summen war zu hören. Shermatz drückte auf einen Knopf. Corchione meldete sich: »Die Originalsendung wurde in einer Jagdhütte aufgenommen. Sie gehört dem Unternehmer Shubart und befindet sich an den oberen Hängen des Prospekts, etwa dreißig Kilometer südlich von Uncibal.« »Schicken Sie einen Trupp aus, um die Wisperer gefangenzunehmen, und bringen Sie sie auf die Ziaspraide.« »Jawohl, Sir.«
18 Die Isirjir Ziaspraide, das Flaggschiff der Thaiatischen* Flotte, ein Raumfahrzeug von beeindruckender Größe, diente weniger als Waffe, denn als politisches Machtmittel. Wo immer die Isirjir Ziaspraide sich zeigte, bewies sie die Größe und Unschlagbarkeit der Whelme. Die gewaltige Hülle mit ihren für praktische Zwekke genutzten Verzierungen war ein Meisterstück naaetischer** Kunst. Aber das Innere war nicht weniger beeindruckend. Der Hauptaufenthaltsraum war dreiunddreißig Meter lang und zwölf Meter breit. Von der Decke, die in einem warmen Lavendelton emailliert war, hingen fünf in vielen Farben schillernde Leuchten. Der Boden war aus einer tiefschwarzen Substanz, völlig stumpf. Rund herum befanden sich weiße Säulen, die schwere Silbermedaillons trugen. In den Zwischenräumen standen die Abbildungen der dreiundzwanzig Göttinnen in purpurnen, grünen und blauen Gewändern. Jantiff, der den Raum zum erstenmal betrat, bestaunte nicht ohne Neid die herrliche Ausführung dieser Kunstwerke, die von Meisterhand geschaffen waren. Sechzig Offiziere der Whelme in weißen, schwarzen und purpurnen Galauniformen folgten ihm in den Raum. Sie stellen sich schweigend an den beiden Längsseiten auf. Ein ferner Laut brach die Stille: ein Trommelschlag, * Nach Thaia, einer der dreiundzwanzig Göttinnen. ** Von Naae: einer Reihe ästhetischer Formeln des Raumzeitalters, die mit der Schönheit und dem Grandeur von Raumschiffen zusammenhängen. Diese Begriffe sind jedoch in ältere Sprachen kaum zu übersetzen.
dann ein zweiter und schließlich weitere in schicksalsschwerer, langsamer Kadenz. Das Trommeln wurde lauter. Der Trommler, nach alter Sitte kostümiert, mit einer schwarzen Maske vor der oberen Gesichtshälfte, marschierte in den Raum. Hinter ihm wurden die Wisperer, jeder von zwei maskierten Wachen flankiert, hereingeführt. Esteban als erster, dann Sarp, nach ihm Skorlet und schließlich Shubart. Hoffnungslosigkeit sprach aus ihren Gesichtern und ohnmächtige Wut. Der Trommler führte den Trupp bis zum Ende des Saales. Dort hörte er zu trommeln auf und trat zur Seite. Die folgende Stille knisterte vor Spannung. Der Kommandeur der Isirjir Ziaspraide stieg auf eine Plattform und setzte sich hinter einen Tisch. Er wandte sich an die Wisperer. »Im Namen des Connat erkläre ich Sie des vielfachen Mordes in noch unbekannter Zahl schuldig.« Sarp klammerte seine Finger ineinander. Die anderen standen reglos. Esteban sprach mit dröhnender Stimme: »Ein Mord, viele Morde, wo liegt da der Unterschied? Pah! Es ist ein und dasselbe Verbrechen.« »Das tut nichts zur Sache. Der Connat gesteht ein, daß er sich Ihretwegen in Verlegenheit befindet. In Ihrem Fall ist der Tod eine fast zu milde Strafe. Nach längerer Beratung entschloß er sich zu folgendem Urteil: Sie werden in schwebenden Kugeln aus durchsichtigem Glas sieben Meter über dem Feld der Stimmen eingesperrt. Jede dieser Kugeln wird einen Durchmesser von sieben Meter haben und mit dem Allernötigsten ausgestattet sein. Eine Woche, nachdem die Arrabiner in allen Einzelheiten über Ihre
Verbrechen aufgeklärt sein werden, bringt man Sie in ein Luftfahrzeug. Genau um Mitternacht wird dieses Luftschiff in eine Höhe von eintausendfünfundzwanzig Kilometer aufsteigen und dort mit einem spektakulären Lichteffekt explodieren. Damit erfahren die Arrabiner, daß Ihre Untaten gerächt sind. So lautet das Urteil. Sie dürfen sich jetzt voneinander verabschieden, denn Sie werden sich erst in einer Woche wiedersehen, und da nur kurz.« Der Kommandeur erhob sich und verließ den Saal. Die vier standen wie erstarrt. Keiner brachte auch nur ein Wort hervor. Der Trommler trat wieder heran, machte eine langsame Kehrtwendung und schlug sein Instrument im gleichen gemessenen, unheilvollen Takt wie bei seinem Kommen. Die Wachen führten die vier durch den Saal zurück. Estebans Blick huschte in alle Richtungen, als überlege er eine Verzweiflungstat! Die Wachen neben ihm achteten nicht darauf. Plötzlich blieb Estebans Blick hängen. Er hielt abrupt an und deutete: »Dort steht Jantiff! Unser schwarzer Dämon! Ihm haben wir unsere Misere zu verdanken!« Skorlet, Sarp und Shubart folgten seinem Blick. Sie starrten Jantiff haßerfüllt an. Er beobachtete sie mit reglosem Gesicht. Die Wachen nahmen die Verurteilten am Arm und führten sie weiter im Tempo des Trommelschlags. Jantiff drehte sich um und sah Shermatz neben sich. »Die Angelegenheit ist erledigt, soweit es Sie und mich betrifft«, sagte Shermatz. »Kommen Sie. Der Kommandeur hat uns komfortable Quartiere zugewiesen, wo wir uns von den Schrecken und den unangenehmen Pflichten erholen können.«
Ein Lift brachte sie zu einem Kuppelgemach. Jantiff wich fast zurück vor dem Luxus, der all seine bisherigen Vorstellungen übertraf. Shermatz konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Das sogenannte Quartier ist vielleicht eine Spur zu prunkvoll. Aber bei Ihrer Anpassungsfähigkeit werden Sie es bestimmt schnell recht bequem finden. Die Aussicht, vor allem, wenn die Ziaspraide ruhig zwischen den Sternen dahinfliegt, ist einmalig.« Die beiden ließen sich auf mit purpurnem Samt überzogenen Couches nieder. Ein Steward kam mit einem Tablett, von dem Jantiff sich einen Kelch nahm, der aus einem riesigen, makellosen Topas geschnitten war. Er nippte an dem Wein und schaute mit großen Augen in die Tiefe des Gefäßes, dann nahm er einen größeren Schluck. »Ich habe noch nie einen so köstlichen Wein getrunken«, gestand er. Shermatz nahm sich einen Kelch mit der gleichen Sorte Wein. »Das ist der Trille Aegis. Sie sehen also, wir, die wir schwer in des Connat Diensten arbeiten, kennen nicht nur unangenehme Pflichten, sondern haben auch unsere Vergünstigungen. Im großen und ganzen ist es kein schlechtes Leben: manchmal angenehm, manchmal rauh, doch nie langweilig.« »Im Augenblick hätte ich gar nichts gegen ein bißchen Langeweile«, sagte Jantiff seufzend. »Ich fühle mich irgendwie leblos. Immer noch quält mich derselbe Gedanke, obwohl ich weiß, daß es sinnlos ist, mich ihm hinzugeben. Aber...« Er schwieg. Shermatz sagte nach einer Weile: »Ich habe einiges in die Wege geleitet. Morgen werden Ihre Augen operiert werden, dann sehen Sie besser als je zuvor. In einer Woche verläßt die Ziaspraide Wyst und
nimmt den Fayarion-Kurs. Zeck liegt nicht weit abseits davon, also wird man Sie direkt vor Ihrer Haustür absetzen. Genauer gesagt, die Ziaspraide wird über Frayness schweben, und eines ihrer Beiboote wird Sie hinunterbringen.« »Das ist doch nicht nötig«, murmelte Jantiff schwach. »Vielleicht nicht, aber Sie ersparen sich die Mühe, vom Raumhafen aus nach Hause laufen zu müssen. Diese Räume hier stehen Ihnen selbstverständlich während des ganzen Fluges zur Verfügung.« »Was ist mit Ihnen? Begleiten Sie mich doch und seien Sie unser Gast in unserem Haus im Wirrweidenhain. Meine Familie wird sich über Ihren Besuch freuen, und ganz gewiß würde es Ihnen auch auf unserem Hausboot gefallen, vor allem, wenn wir im Ried in der Scherbensee anlegen.« »Es ist ein sehr verlockendes Angebot«, versicherte ihm Shermatz. »Aber zu meinem größten Bedauern muß ich in Uncibal bleiben und bei der Zusammensetzung einer neuen Regierung mithelfen. Ich nehme an, daß die Kursare diese Regierung so gut wie unbemerkt leiten werden, möglicherweise noch auf Jahrzehnte hinaus, bis die Arrabiner zu sich gefunden haben. Sie sind jetzt überzeugte Stadtbewohner und im Grund genommen unentschlossen. Jeder lebt trotz der Nähe zu anderen und der drangvollen Enge isoliert. Er ist wirklichkeitsfremd und denkt in Abstraktionen. Er läßt sich von unechten Gefühlen beherrschen. Um nicht seinem elementaren Drang nachzugeben, identifiziert er sich mit seinem Wohnblock. Er verdient wahrhaftig Besseres – genau wie alle anderen auch. Wir werden die Wohnblocks in Arrabus
niederreißen, und die Menschen werden die Schrekkenslande kultivieren und schließlich wieder lebenstüchtig werden.« Jantiff nahm einen tiefen Schluck. »Ich entsinne mich der Bauern von Blale. Sie waren alle berüchtigte Hexenjäger.« Shermatz lachte. »Jantiff, übertreiben Sie nicht. Sie glauben doch nicht, daß diese armen Menschen von einem Extrem ins andere fallen? Gibt es denn auf Zeck keine Bauern? Ganz sicher sind sie doch keine Hexenjäger!« »Das stimmt natürlich. Aber Wyst ist schließlich eine ganz andere Welt.« »So ist es. Alles muß genau abgewogen werden, wenn man im Dienst des Connat steht. Würde eine solche Karriere Sie nicht vielleicht interessieren? Sagen Sie nicht gleich ja oder nein. Nehmen Sie sich Zeit, in Ruhe darüber nachzudenken. Eine Botschaft an mich über den Connat in Lusz wird mich immer erreichen.« Jantiff fand es schwer, Worte zu finden. »Ich... ich danke Ihnen sehr für Ihr freundliches Angebot.« »Ich habe Ihnen zu danken, Jantiff, denn ohne Sie wäre ich jetzt ein Teil des atmosphärischen Staubes.« »Und ohne Sie läge ich blind und tot am Strand des Seufzermeeres.« »Also gut, wir haben uns gegenseitig geholfen. Das ist eine gute Basis für eine dauerhafte Freundschaft. Für Ihre nächste Zukunft ist gesorgt. Morgen werden die Ophtalmologen Ihre Augen wieder in Ordnung bringen. Kurz danach reisen Sie nach Hause. Was die andere Sache betrifft, die Ihnen nicht aus dem Kopf geht, da fürchte ich leider, daß alles zu Ende ist und
Sie sich damit abfinden müssen.« »Ich muß ehrlich sein, es drängt mich immer noch danach, den Sych nach Glisten abzusuchen. Wenn sie tot ist, kann ich es nicht ändern, aber wenn sie Butsch entkam und noch lebt, wandert sie jetzt allein und verlassen und hilflos durch den Wald.« »Ich rechnete mit Ihrer derartigen Einstellung«, gestand Shermatz. »Ich muß Sie nun wohl in einen Plan einweihen, den ich vor Ihnen geheimhielt, weil ich fürchtete, falsche Hoffnungen zu erwecken. Ich schikke noch heute eine Gruppe erfahrener Scouts in den Süden. Sie werden Nachforschungen betreiben und alle Spuren verfolgen und schließlich die Wahrheit herausfinden. Sind Sie damit zufrieden?« »Ja, aber ja! Ich bin Ihnen so dankbar!«
19 Die Isirjir Ziaspraide schwebte über Frayness, und während alle aus den Häusern eilten, um neugierig hochzusehen, fuhr ein Beiboot herab und landete im Wirrweidental, um Jantiff vor seiner Haustür abzusetzen. »Jantiff, was hat das zu bedeuten?« rief sein Vater erschrocken und erfreut zugleich. »Nicht sehr viel«, erwiderte Jantiff. »Ich trete vielleicht in den connatischen Dienst. Aus diesem Grund brachte man mich freundlicherweise nach Hause. Aber ich werde euch alles ausführlich und in Ruhe erzählen. Und glaub mir, ich habe eine ganze Menge zu berichten!« Zwei Monate später meldete der musikalische Gong einen Besucher. Jantiff ging zur Tür und öffnete. Auf der Veranda stand ein schlankes blondes Mädchen. Jantiff blieb die Stimme im Hals stecken. Er konnte nur ausgesprochen töricht, aber glücklich grinsen. »Hallo, Jantiff«, sagte das Mädchen. »Erinnerst du dich an mich? Ich bin Glisten.«
GLOSSAR 1. Wyst ist der einzige Planet der Sonne Dwan, den man das Auge des Kristallaals nennt. Er gehört zum Giampara-Gebiet* an der unteren Seite des AlastorSternhaufens. Wyst ist klein, feucht, kühl und unbedeutend, wenn man von seiner Vergangenheit absieht, die so ungewöhnlich verzweifelt und seltsam ist wie die aller Welten im Sternhaufen. Zumer, Pombal, Trembal und Tremora, die vier Kontinente Wysts, wurden von verschiedenen Bevölkerungsschichten besiedelt. Jeder der Siedlungsräume entwickelte sich isoliert, ohne erwähnenswerte Wechselwirkung, bis zum Großen Hemisphärenkrieg zwischen Trembal und Tremora, der die Gesellschaftsordnung beider Kontinente zerstörte und die Länder in eine Wildnis verwandelte. Trembal und Tremora lagen einander gegenüber, nur durch die schmale Salamansee getrennt, die eine überflutete ehemalige Schlucht darstellte. Der Uferstreifen zwischen Palisaden und Wasser – hauptsächlich Schlickboden und Sumpf – war das Land Arrabus, in dem lediglich ein paar Bauern, Vogelfänger und Fischer lebten. Flüchtlinge von beiden Erdteilen wanderten in Ermangelung eines besseren Gebiets hierher ein. Bei diesen Flüchtlingen handelte es sich *
Der Alastor-Sternhaufen ist in dreiundzwanzig Gebiete unterteilt. Jedes dieser Gebiete wird nominell von je einer der dreiundzwanzig Göttinnen regiert deshalb ist die formelle Bezeichnung für den Connat auch »Gottgemahl der Dreiundzwanzig«. In früheren Zeiten wählte jedes Gebiet eine Jungfrau als Personifizierung seiner Schutzgöttin, mit der der Connat während seiner zeremoniellen Besuche kohabitieren sollte.
zum größten Teil um Angehörige des Landadels, die von Landwirtschaft nichts verstanden und auch nichts damit zu tun haben wollten. Sie erbauten kleinere Fabriken und Werkstätten und wurden innerhalb von drei Generationen die privilegierte Klasse von Arrabus, während die Einheimischen die Arbeiterklasse darstellten. Durch den gewaltigen Bevölkerungsanstieg mußten für den Adel Lebensmittel eingeführt und für die Arbeiterklasse synthetisiert werden. Der Klassenunterschied führte unter der arbeitenden Bevölkerung zu immer größerer Unzufriedenheit. Ein gewisser Ozzo Disselberg veröffentlichte ein Pamphlet, Protokoll des sozialen Rechtes, in dem er nicht nur die allgemeine Unzufriedenheit kodifizierte, sondern noch bedeutend weiterging und Behauptungen aufstellte, die stimmen mochten oder auch nicht, auf jeden Fall aber kaum zu beweisen waren. Er behauptete, daß die arrabinische Industrie absichtlich auf niedrigster Leistung gehalten würde, daß viel zuviel Zeit und Arbeit in veraltete Verzierungen gesteckt würden, um die eigentliche Produktion zu beschränken. Durch diese volksfeindliche Politik, erklärte Disselberg, würde dem Arbeiter der Braten gerade so weit unter die Nase gehalten, daß er zwar Appetit darauf bekam, ihn jedoch nie erreichen konnte. Er behauptete ferner, daß die arrabinische Wirtschaft ohne weiteres die gesamte Bevölkerung mit den Gütern und Dienstleistungen versorgen könnte, in deren Genuß jetzt nur die wenigen Privilegierten kämen, und das noch dazu unter Einsatz von lediglich fünfzig Prozent der jetzt benötigten Arbeitsleistung.
Wie zu erwarten war, stellte der Adel Disselberg als Demagogen hin und widerlegte seine Statistiken mit eigenen. Trotzdem fand das Protokoll weitere Verbreitung und veränderte, ob nun zum Guten oder Bösen, die Einstellung der arbeitenden Bevölkerung. Eines grauen Morgens, an einem Tag, der künftig alljährlich als »Tag der Niedertracht« begangen wurde, fand man Disselberg tot in seinem Bett, offensichtlich das Opfer eines Anschlags. Ulric Caradas* rief sofort zu einer Demonstration auf, die zu Gewalttätigkeiten und schließlich zur Auflösung der alten Regierung führte. Caradas stellte das Erste Egalitäre Manifest auf und erklärte Disselbergs Prinzipien als Landesrecht. Über Nacht wurde Arrabus umgeformt. Die ehemalige privilegierte Klasse reagierte unterschiedlich auf die neue Lage. Einige wanderten zu Welten aus, auf denen sie vorsorglich investiert hatten; andere flüchteten sich in die neue Ordnung; während wieder andere sich nördlich und südlich der Schreckenslande** oder in entfernteren Gebieten wie Blale und Froke niederließen. Dreißig Jahre später hätte Ozzo Disselberg sich als gerächt betrachten können. Die arbeitende Bevölkerung, aufgeputscht durch Caradas und das Egalitäre Manifest, leistete wahre Wunder: Sie hatte ein großartiges System von Rollstraßen für eine unkomplizierte *
Historiker außerhalb von Arrabus sind allgemein der Auffassung, daß Caradas Disselberg während einer ideologischen Auseinandersetzung erwürgte. ** Schreckenslande: Jene Gebiete von Trembal und Tremora im Norden und Süden von Arrabus, die früher einmal zivilisiert waren und jetzt nur noch von Nomaden und einigen wenigen isolierten Bauern bevölkert sind.
Beförderung errichtet; einen Komplex an Nahrungssynthetisierern, um jedem zumindest ein Minimum an Verpflegung zu garantieren; und Reihe an Reihe von Wohnblocks, von denen jeder dreitausend Personen beherbergen konnte. Endlich vermochten die von Plackerei und Not befreiten Arrabiner sich den Genüssen der Freizeit hinzugeben, die bisher nur das Privileg der Oberschicht gewesen waren. 2. Aus Eulengedanken eines peripathetischen Pedanten Arrabus macht dem Besucher kaum Zugeständnisse. Besondere Bequemlichkeit oder gar Luxus kann er hier nicht erwarten. In der Stadt Uncibal gibt es für Besucher und Durchreisende ein einziges Hotel, das alte Travellers Inn am Raumhafen, wo normale Gastlichkeit für den Reisenden nicht viel mehr als eine fromme Hoffnung bleibt. Immigranten erwartet ein noch viel trostloserer Empfang. Sie werden in große graue Baracken abgeschoben, wo sie, zwangsweise geduldig, darauf warten, in einen Wohnblock eingewiesen zu werden. Nach ein paar Mahlzeiten, bestehend aus »Atz«, »Söff« und »Wabbli«, fragen sich so manche: »Kam ich deshalb nach Wyst?« Und viele beeilen sich, in ihre alte Heimat zurückzukehren. Andererseits mag der Besucher, der den Zeitpunkt seiner Abreise von vornherein festgelegt hat, Arrabus berauschend finden. Die Arrabiner sind gesellig, extravertiert und vergnügungsliebend. Ein Besucher kann schnell Freundschaften schließen, und seine neuen Freunde bieten sich ihm gewöhnlich auch gern für erotischen Zeitvertreib an. (Wenn auch vielleicht unnötig, sollte möglicherweise doch darauf hingewiesen werden, daß in einer absolut egalitären Ge-
sellschaft kein Unterschied zwischen den Geschlechtern gemacht wird.) Trotz aller Anregungen durch seine neuen Freunde und ihrer stets fröhlichen Gesellschaft wird der Besucher doch eine überall erkennbare Schäbigkeit bemerken, die von farbiger Tünche kaum kaschiert wird. Die ursprünglichen »Stördsch«-Fabriken wurden nie ersetzt. Es gibt nichts als »Atz«, »Söff« und »Wabbli«, um die Lücken zu füllen, wie es so schön heißt. Die Bevölkerung arbeitet dreizehn Stunden die Woche, abwechselnd »bessere« und »niedrige Plackerei«, aber jeder hofft, die Arbeitszeit auf zehn und schließlich sechs Stunden senken zu können. »Niedrige Plackerei« – alles, was mit Maschinen, Montage, Instandsetzung, Reinemachen oder Erdbewegung zu tun hat – ist unbeliebt. »Bessere Plackerei« – in der Registratur, Buchführung, Kostenberechnung, bei Innen- und Außendekoration und Unterricht – wird bevorzugt. Größere Instandsetzungen und Bauaufträge werden an auswärtige Firmen vergeben. Devisen kommen durch die Ausfuhr von Webwaren, Spielzeug und Drüsenextrakte herein, aber die Produktion ist unzulänglich. Maschinen fallen aus, die Beschäftigten wechseln ständig. Dem »Management« (»bessere Plackerei«, die im Turnus von allen übernommen wird) fehlt, aufgrund dieses Systems, das Durchsetzungsvermögen. Schwierige Arbeiten werden den Vertragsfirmen oder »Unternehmern« überlassen, deren Gebühren die Devisen restlos verschlingen. Die arrabinische Währung ist daher anderswo völlig wertlos. Wie kann eine solche Wirtschaft überhaupt bestehen? Es ist ein Wunder, aber sie tut es, wenn auch ungleichmäßig, schwankend und mit
ständigen Überraschungen und Improvisationen. Ungeachtet dessen genießen die Arrabiner ihr Leben mit Eifer und liebenswürdiger Unbefangenheit. Öffentliche Veranstaltungen sind äußerst populär. Hussade nimmt eine exotische, ja groteske Form an, wo Katharsis Geschicklichkeit übertrifft. »Schunkerei« umfaßt Wettkämpfe, Wettrennen und Spiele mit riesigen, nicht gerade angenehm riechenden Tieren aus Pombal. Die Schunkreiter gaben in letzter Zeit ihrer Unzufriedenheit Ausdruck und verlangen höheren Lohn, den die Arrabiner ihnen jedoch verweigern. Verständlicherweise ist trotz allgemeiner Fröhlichkeit und guter Laune nicht alles positiv in diesem bemerkenswerten Land: Frustration, Ärger und Unannehmlichkeiten gehören zum täglichen Leben, genau wie bizarre Erotik, Diebstähle, Boshaftigkeiten und Belästigungen. Die Arrabiner sind durchaus kein Volk von gefestigtem Charakter. Man sagt, jede Gesellschaft hat ihre eigenen Laster und Verbrechen. Die der Arrabiner entspringen der Übersättigung und sittlicher Verderbtheit. 3. Asteroiden, stellares Treibgut, Planetentrümmer und dergleichen bieten Stützpunkte für Piraten und Plünderer, die selbst die Whelme nicht ausrotten können. Andrei Simic, der gaeanische Philosoph, stellte die These auf, daß der primitive Mensch, der sich über Millionen von Jahren in chronischer Angst, ständigen Entbehrungen und in körperlichem Schmerz entwickelte, sich an diese Umstände gewöhnt hat. Was bedeutet, daß der zivilisierte Mensch hin und wieder Furcht und Grauen empfinden muß, um die Drüsenfunktion anzuregen und so die Ge-
sundheit zu erhalten. Simic hat scherzhaft angeregt, ein Corps von Schreckeinflößern und öffentlichen Furchterregern aufzustellen, dessen Mitglieder den Bürgern mehrmals die Woche Angst und Grauen einjagen sollen, wie es dem nationalen Gesundheitszustand dienlich ist. Unfreundliche Kritiker des Connat behaupten, er praktiziere eine Version des Simicschen Prinzips, da er sich nie wirklich bemühte, die Starmenter ein für allemal auszurotten, eben um zu verhindern, daß die Bevölkerung allzu friedlich und gleichgültig wird. »Er regiert den Sternhaufen, als wäre dieser ein Wildreservat«, schrieb ein Kritiker. »Er erlaubt so und so viele Raubtiere pro Pflanzenfresser, und so und so viele Aasfresser. Dadurch erhält er das Gleichgewicht in seinem Reservat.« Ein Korrespondent des Transvoyers fragte den Connat einmal in der Öffentlichkeit, ob er sich an eine solche Doktrin halte. Der Connat erwiderte lediglich, daß er mit der Theorie vertraut sei. 4. Eine detaillierte Beschreibung von Hussade ist in Trullion: Alastor 2262 (HEYNE TASCHENBUCH Nr. 3563) nachzulesen. Wie die meisten Spiele, wenn nicht alle, ist Hussade ein symbolischer Krieg. Doch im Gegensatz zu den meisten Spielen beschäftigt man sich bei Hussade mit einer Intensität, die den üblichen Spieleifer übersteigt. Bei Hussade sind die Folgen eines Versagens und Unterliegens ungemein einschneidend, also sehr wohl vergleichbar mit denen für die Verlierer eines Krieges. Ein Team, das einen Spielabschnitt oder eine Spielserie verliert, muß Auslöse für die Ehre seiner Sheirl bezahlen. Das Spiel
wird fortgesetzt, bis ein Team in so vielen aufeinanderfolgenden Abschnitten geschlagen wird, daß seine Spielkasse gähnende Leere aufweist. Die Folge davon ist, daß die Sheirl des besiegten Teams sich von den Siegern eine mehr oder weniger demütigende Behandlung gefallen lassen muß. Diese Behandlung richtet sich nach den einheimischen Gebräuchen. Der Verlierer erleidet die Erniedrigung einer Unterwerfung. Hussade wird nie auf indifferente Weise gespielt. Sowohl Zuschauer, Sieger als auch Unterlegene erleben eine totale emotionale Katharsis. Hussade bedingt nicht nur Stärke, sondern auch Geschicklichkeit, Agilität, Mut und sorgfältige Strategie. Im großen ganzen ist Hussade kein rauhes Spiel. Selten kommt es zu Körperverletzungen, abgesehen von unvermeidlichen Schürfwunden und Blutergüssen. 5. Nach den Kanons der alastorianischen Mythologie herrschen dreiundzwanzig Göttinnen über die dreiundzwanzig Bezirke des Sternhaufens. Jede dieser Göttinnen ist eine individuelle Persönlichkeit; jede hat ihre besonderen Eigenheiten. Oft kommt es aufgrund ihrer unterschiedlichen Wesen zu Unstimmigkeiten. Keine der Göttinnen gibt sich damit zufrieden, sich auf ihr eigenes Reich zu beschränken, alle mischen sich ständig in die Angelegenheiten der anderen ein. Stößt ein Mensch auf ungewöhnliche Umstände, schreibt er sie mehr oder weniger ernsthaft dem Einfluß einer Göttin zu. Deshalb dankt Jantiff auch Cassadense, deren Bereich Zeck einschließt. Aus diesem Grund ist sie vermutlich an seinem Wohlergehen interessiert, vor allem, da er das Reich ihrer Hauptrivalin Giampara bereist.