Marie Louise Fischer
Wildes Blut Inhaltsangabe Drei vom Temperament völlig verschiedene Brüder entdecken die erste Li...
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Marie Louise Fischer
Wildes Blut Inhaltsangabe Drei vom Temperament völlig verschiedene Brüder entdecken die erste Liebe. Jens verliebt sich in die 10 Jahre ältere Claudia und zieht überstürzt mit ihr zusammen, nur um von Zuhause fort gehen zu können. Doch mit der Zeit wächst Claudias Eifersucht, denn die Enttäuschung über ihren letzten Mann sitzt tief. Jochen dagegen verliebt sich in seine Schulkameradin Sibylle, die das spielerische Miteinander anfangs noch nicht von wahrer Begierde trennen kann. Die beiden Verliebten müssen viele Hindernisse überwinden, denn als Jochen die attraktive Gitte kennen lernt, scheint Sibylle vergessen zu sein. Jan kann seine älteren Brüder gar nicht verstehen, für ihn ist Liebe nur eine Zeitverschwendung. Er macht sich lieber einen Spaß daraus, die Mädchen mit seinen Streichen zu ärgern. Doch dann läuft ihm ein Mädchen über den Weg, das auch ihm den Kopf verdreht.
Genehmigte Sonderausgabe für Serges Medien GmbH, Köln
Copyright © 1998 by Oesch Verlag, Zürich Printed in Germany
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F
ast im gleichen Augenblick, als das Pausenzeichen ertönte, öffne ten sich die Klassentüren, und die Schüler und Schülerinnen des ›Geschwister-Scholl-Realgymnasiums‹ hasteten, rannten, stol perten und drängten die Gänge entlang und die breite Treppe hinunter dem Schulhof zu. Die sechste Klasse versuchte, in dem allgemeinen Durcheinander beisammen zu bleiben, ließ sich Zeit, hielt sich dicht beim Geländer. »Eigentlich komisch, daß Susi so plötzlich abgegangen ist«, ließ sich Jochen Körner mit erhobener Stimme vernehmen, »ich verstehe nicht …« Es gelang ihm nicht, den Lärm der trappelnden Füße, des Lachens und Schreiens zu durchdringen, der in dem hohen Treppenhaus wi derhallte. Es war der erste Tag nach den Sommerferien, und besonders die jüngeren Jahrgänge revoltierten noch gegen die strenge Ordnung des Schulbetriebes wie wilde Pferde gegen den ungewohnten Sattel. »Was hast du gesagt, Jochen?« brüllte sein Freund Artur Holm zu rück. »Wegen Susi! Ich meine …« »Sprich lauter! Ich verstehe immer nur Bahnhof!« Mit einem Achselzucken gab Jochen es auf. Er war ein schlanker, noch nicht ausgewachsener Junge mit einem gutgeschnittenen Gesicht, das ausgesprochen sympathisch gewirkt hätte, wenn er nicht so mürrisch dreingeblickt hätte. Seine blauen Au gen sahen düster in die Welt, die festen, vollen Lippen waren zusam mengepresst, die Stirn in Falten gelegt. Selbst das braune, leicht lockige Haar schien aus Protest zu Berge zu stehen. Jochen Körners Haut war immer, selbst in der sonnenlosesten Zeit, leicht gebräunt, nun, nach 1
den Ferien, tief braun gebrannt. Das weiche Haar fiel ihm, wenn er es gebürstet und gekämmt hatte, vorne in die Stirn, hinten bis in den Nacken – jetzt aber stand es, wie gesagt, ungebärdig wie eine Löwen mähne nach allen Seiten. Sibylle Sandner, die dicht hinter ihm ging, spürte den heftigen Wunsch, ihn noch mehr zu zerzausen und nachher wieder zurecht zu striegeln – aber das war einer dieser Wünsche, die man niemals aus sprach, und sie errötete, als wenn die anderen ihre Gedanken erraten könnten. Aber niemand achtete auf sie. Sie hatten jetzt das Schultor erreicht, hüpften die Freitreppe hinun ter, und im gleichen Augenblick, als Jochen Körner die kleine Lilo aus der zweiten Klasse mit wehenden Zöpfen heranrasen sah, hielt er un willkürlich Ausschau nach seinem jüngeren Bruder. Und da kam er auch schon angerannt, Jan mit den kohlschwarzen Haaren und den schrägen, schmalen Augen, in denen tausend Kobol de tanzten. Er war so besessen von dieser Verfolgungsjagd, daß er sei nen Bruder gar nicht bemerkte. Der Abstand zwischen ihm und seiner Mitschülerin verringerte sich, und es war durchaus abzusehen, wann es ihm gelingen würde, Lilos Zöpfe zu packen und das Mädchen zu rückzureißen, dessen Gesicht schon hochrot angelaufen war vor An strengung und Angst – da griff Jochen ein. Genau im richtigen Moment stellte er seinem kleinen Bruder ein Bein, packte ihn, noch ehe er hinschlagen konnte, im Nacken, schüt telte ihn wie einen jungen Hund. Jan versuchte, nach ihm zu treten und zu schlagen, gab es aber, als sich Jochens Griff daraufhin nur schmerzhaft verstärkte, bald auf, ließ Arme und Beine baumeln wie eine Gliederpuppe. »Du verdammter kleiner Idiot«, schimpfte Jochen, »fällt dir nichts Besseres ein, als die Mädchen zu ärgern!? Bildest dir wohl ein, das wäre eine Heldentat, wie! Wenn du dabei erwischt wirst, kannst du pausen los Strafarbeiten machen … du saudummes Ungeheuer, du!« Mit ei nem Stoß, der ihn fast zu Fall brachte, schob er den Jungen von sich. Lilo, die erst nach einer Weile gemerkt hatte, daß sie nicht mehr ver folgt wurde, stand jetzt, immer noch nach Luft japsend, mit ein paar 2
Freundinnen beisammen und fühlte sich nun, da ihr so unverhofft Hilfe gekommen war, sehr stark. Weit davon entfernt, das Kriegsbeil zu begraben, lachte sie Jan unverhohlen aus, und als er, wütend und beschämt, mit hocherhobenem Kopf an der Mädchengruppe vorbei marschierte, streckten ihm alle wie auf Kommando die Zunge heraus. Jan machte einen Sprung auf sie zu, und sie stoben schreiend ausein ander. Aber ihm war die Lust zu einem neuen Spiel vergangen. Er be gann sein Butterbrot auszupacken, beschnüffelte es kritisch, klappte es auf und wieder zu, bevor er den ersten kräftigen Biss tat. Ohne sich weiter um die Kleinen zu kümmern, schlenderte Jochen Körner seinen Mitschülern nach. Artur Holm und Peter Hesse hatten sich auf die kleine Mauer ge schwungen, die einen Teil des Schulhofes zum Sportplatz hin abgrenz te. Aber sie rutschten sofort beiseite, als Jochen ankam, machten ihm Platz. Sibylle Sandner hatte sich auf den Rand einer Laubkarre gesetzt, Anita Klemme stand neben ihr. Die anderen hatten sich verlaufen, nur die Clique der fünf war zusammen geblieben. »Ich wußte, daß Susi nicht wiederkommen würde«, sagte Anita ge rade, als Jochen dazukam, und malte mit dem Absatz Kreise in den Kies. »Nun halt mal die Luft an!« Peter verdrehte seine porzellanblauen Augen. »Du bist wohl unter die Hellseher gegangen, wie?« Anita war ein zierliches Mädchen mit milchweißer Haut, rotblon dem Haar und grasgrünen Augen. Sie sah reizend aus in dem engen blauen Leinenrock, dem ärmellosen rosa Pullover, aber sie war sich dessen durchaus nicht bewußt, hielt sich eher für hässlich und litt un ter ihrer inneren Unsicherheit. Auch jetzt traten ihr bei Peters groben, aber durchaus nicht böse ge meinten Worten sofort die Tränen in die Augen, und sie lief puterrot an. Sie wollte sich umdrehen und weglaufen, aber Sibylle hielt sie beim Handgelenk fest. »Ich habe es auch gewußt«, sagte sie. »So, auf einmal?« spottete Artur. »Dann seid doch so nett und erklärt uns mal, warum sie's denn aufgesteckt hat!« 3
Sibylle warf ihr blondes schulterlanges Haar mit einer raschen, ein wenig hochmütigen und für sie sehr charakteristischen Bewegung in den Nacken. »Das würdet ihr doch nicht verstehen!« »Ach nee! Haltet ihr euch für so viel klüger als uns?« Jetzt mischte sich auch Jochen ein. »Lass sie doch«, sagte er, »die ma chen sich ja bloß wichtig. Die haben keinen blauen Dunst, sonst wür den sie schon reden.« Sibylle richtete ihre klaren grauen Augen fest auf sein Gesicht. »So, denkste!« »Genau!« Jochen stieß seine beiden Freunde an. »Kommt, haun wir ab.« Er schnellte von der Mauer. »Es ist … ich würde es euch ja gern sagen«, versicherte Anita hastig, »nur … ich hab's Susi versprochen, es ist ein Geheimnis.« »Schon kapiert«, sagte Jochen, »behalt's für dich.« »Aber wieso denn?« rief Artur. »Entweder sind wir eine Clique oder nicht! Ein Geheimnis … so weit kommt das noch! 'raus mit der Spra che, oder ihr könnt mal sehen, wer euch die Matheaufgaben macht.« »Ich glaube«, sagte Sibylle lächelnd, »die bringe ich schon noch ohne eure Hilfe fertig!« Doch als sie sah, daß die drei Jungen sich tatsächlich in Bewegung setzten, fügte sie hinzu: »Lauft nicht weg, wir sagen's ja schon! Das ist ja alles Quatsch: Geheimnis und so. In ein paar Mona ten merkt's doch jeder.« Jochen blieb stehen, wandte sich ruckartig um. »Was?« »Daß Susi ein Kind bekommt!« platzte Anita heraus. Ein Schweigen entstand, ein Schweigen, das wie ein tiefes Atemholen war. Die jungen Leute wagten einander plötzlich nicht mehr anzusehen. »Du spinnst ja«, sagte Artur endlich unsicher. »Sei nicht blöd!« Jochen stieß den Freund an. »So was denkt sich doch keiner aus!« Artur fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung durch sein kurz ge schnittenes aschblondes Haar. Er war einer der Besten in der Klas se, galt als Ausbund von Intelligenz. Aber jetzt war er so verdattert, daß sein Gesichtsausdruck geradezu töricht wirkte. »Susi?« stotterte er. »Aber … ich kann mir nicht vorstellen! Könnt ihr denn? Ausgerechnet 4
Susi, sie war doch immer so … so … na eben, wer hätte denn an so et was gedacht!« »Sie war sechzehn«, erklärte Sibylle sachlich, »ein Jahr älter als wir …« »Na und?« rief Peter. »Ist das etwa eine Erklärung?« »Ich versteh' ja auch nicht, wie sie sich auf so was einlassen konnte«, sagte Anita hilflos. »Das Ganze ist eine ausgemachte Schweinerei«, erklärte Artur, gera dezu wütend vor Verlegenheit. »So? Findest du?« fragte Sibylle spitz. »Von Liebe hast du wohl noch nie was gehört?« »Liebe, was hat denn Liebe …« Artur unterbrach sich mitten im Satz, weil er sich bewußt wurde, daß er im Begriff stand, etwas sehr Dum mes zu sagen. »Natürlich, es hat schon mit Liebe zu tun, nur … also, ich find's idiotisch!« »Wenn ihr so viel wisst«, sagte Jochen, steckte die Hände in die Ho sentaschen und wippte auf den Fußballen, »dann werdet ihr uns wohl auch sagen können, wer der Vater ist?« »Bloß keine Bange, von euch bestimmt keiner«, entschlüpfte es Ani ta – und sie hätte sich im gleichen Moment ohrfeigen können. Sie wuß te selber nicht, warum sie manchmal solche Sachen sagte, mit denen sie die anderen, an deren Sympathie ihr doch so viel gelegen war, ge gen sich aufbrachte. »Es war irgend so ein Kerl, den sie beim Tanzen kennen gelernt hat«, sagte Sibylle schnell, um den Fehler der Freundin gutzumachen, »er hat ihr anscheinend das Blaue vom Himmel herunter geschwindelt. Je denfalls war Susi sicher, es wäre die große Liebe. Bis er erfuhr, daß was unterwegs war. Da hat er sich schleunigst aus dem Staub gemacht.« »So eine Gemeinheit!« rief Peter. »Kann man wohl sagen«, stimmte Jochen zu. »Ich finde«, sagte Artur, »wenn ein Mädchen schon so blöd ist, dann hat es nichts Besseres verdient, als …« »Nein«, rief Sibylle, »da muß ich dir doch entschieden widerspre chen …« 5
Jetzt, da der Bann gebrochen war, hätten sie noch stundenlang über dieses explosive Thema weiter diskutieren können. Aber allzu früh kündigte die Glocke das Ende der Pause an. »Hört mal«, sagte Sibylle, »ich mache euch einen Vorschlag! Wollen wir nicht heute nach der Schule wieder mal ins Wäldchen fahren? Die Haselnüsse müssen reif sein, und Brombeeren soll's dieses Jahr auch jede Menge geben …« Die Jungen waren sofort einverstanden. Sie verabredeten mit Sibyl le, daß sie sich um punkt fünf bei der Gastwirtschaft ›Hasenecke‹ mit den Rädern treffen wollten. Anita stand dabei, biss die Zähne krampfhaft zusammen, daß ihre Haut sich über den Wangenmuskeln straffte. Sie wäre zu gerne mitge kommen und wartete, daß jemand sie aufforderte. Aber die vier dach ten nicht daran, und wie immer brachte sie nicht den Mut auf, einfach zu sagen: »Ich komme mit!« Sie fühlte sich wieder einmal ausgeschlossen und trottete mit hän gendem Kopf hinter den anderen her auf das große graue Schulgebäu de zu.
*
Bei Körners wurde, mit Rücksicht auf die beiden berufstätigen Män ner in der Familie, den Vater, Abteilungsleiter bei ›Schultze & Sohn‹, und Jens, den Ältesten, Schaufensterdekorateur im Warenhaus ›Kar mann‹, mittags schon vor ein Uhr gegessen. Wenn Jochen gegen zwei Uhr als letzter nach Hause kam, waren die anderen schon wieder ge gangen. Jochen aß dann in der Küche, was die Mutter ihm vom Mit tagessen zurückgestellt und aufgewärmt hatte. »Na, wie war's in der Schule?« fragte Frau Körner, während sie ihm die Suppe auftrug. Sie hatte das gleiche braune, volle Haar wie Jochen. Die gleichen tiefblauen, nachdenklichen Augen und verstand es, sogar jetzt, in der Küchenschürze, eine ausgesprochen elegante Figur zu ma chen. Niemand hätte ihr angesehen, daß sie den Haushalt allein be sorgte und von früh bis spät für ihre vier Männer tätig war. 6
»Wie immer«, erwiderte Jochen kurz angebunden und tunkte seinen Löffel in die Suppe. »Nichts Besonderes?« Blitzschnell tauchte in Jochen der Gedanke an Susi auf und das, was die anderen Mädchen über sie erzählt hatten – aber darüber hätte er mit jedem anderen Menschen gesprochen, nur nicht mit seiner Mut ter. »Nö«, sagte er, ohne aufzublicken. »Warum machst du denn ein so sorgenvolles Gesicht?« »Tu ich das? Keine Ahnung.« »Doch«, sagte Frau Körner sehr entschieden, »guck nur mal in den Spiegel!« »Das kommt dir bloß so vor. Man kann doch schließlich nicht im mer grinsen wie ein Pfeifenkopf.« Frau Körner seufzte tief. Immer wieder nahm sie sich vor, mit Jochen in einen herzlichen Kontakt zu kommen, wie es früher einmal ganz selbstverständlich gewesen war. Aber stets stieß er sie zurück. Sie fühl te sich schon entmutigt, wollte aber trotzdem nicht aufgeben. »Vielleicht liegt es auch bloß an deinen Haaren«, sagte sie, »die wach sen dir ja schon in die Augen. Du solltest wirklich mal zum Friseur ge hen, jetzt, wo das neue Schuljahr beginnt.« Jochen schwieg, löffelte seine Suppe, zog sich die Zeitung heran und las über den Teller hinweg die Schlagzeilen. Frau Körner zog ihm die Zeitung so heftig weg, daß die Suppe über schwappte. »Beim Essen wird nicht gelesen«, sagte sie scharf. Jochen schnitt eine Grimasse, sagte aber immer noch nichts. »Warum redest du nicht mit mir?« fragte Frau Körner aufgebracht. »Schließlich bin ich kein Dienstmädchen, das für dich putzt und kocht … ich bin deine Mutter!« Jetzt war es an Jochen, zu seufzen – wenn er etwas hasste, dann wa ren es solche Szenen. »Klar bist du das«, sagte er ergeben, »also gut, unterhalten wir uns … worüber?« Frau Körner wechselte die Teller, setzte ihm Gemüse vor, ein Stück 7
Fleisch und die Kartoffeln, die sie ihm aufgebraten hatte. »Stell dir vor«, sagte sie, »Jens darf diesen Herbst ganz allein die Schaufenster von ›Karmann‹ gestalten. Sein Meister ist plötzlich erkrankt, und da bietet sich ihm die Chance. Was sagst du dazu?« »Na, prima«, erklärte Jochen großmütig und sehr erleichtert darüber, daß sich das Interesse seinem älteren Bruder zugewandt hatte. Sollte sie doch über Jens, ihren Lieblingssohn, reden, solange sie mochte. Ihn störte das nicht. Er war froh, wenn er heute nur selber nicht Rede und Antwort stehen brauchte.
*
Jens Körner ging leicht in die Knie, um sich besser in dem kleinen Spie gel betrachten zu können, der an der Innenseite des schmalen Schran kes angebracht war, in dem er sein Arbeitszeug und den Mantel im Kaufhaus ›Karmann‹ aufzubewahren pflegte. Er bürstete sein blondes Haar mit zwei Handbürsten nach hinten – links, rechts, links, rechts, links –, bürstete die Tolle über der Stirne hoch. Er legte die Bürsten in das flache obere Fach, zog seinen wei ßen Kittel aus, zupfte sich die elegante Krawatte – hellblaue Seide mit hauchzarten rosa Streifen – zurecht. Er fuhr sich mit der Hand über das Kinn, um die Rasur zu prüfen, bleckte seinem Spiegelbild die star ken weißen Zähne. Nein, es war nichts an ihm auszusetzen, er sah ta dellos aus. Und dennoch konnte er das Gefühl kribbelnder Nervosität nicht ab streifen. Wenn er nur an die Begegnung dachte, die ihm jetzt bevor stand, spürte er seine Handflächen feucht werden. »Verdammt noch mal«, sagte er halblaut zu sich, »nimm dich zusam men, du Kaffer! Die alte Dame wird dich schon nicht fressen!« Tatsache war, daß er mächtigen Respekt vor Frau Miller hatte, die er bisher nur dem Namen nach kannte. Frau Miller war Werbegrafike rin, sie gehörte nicht zum Personal des Kaufhauses ›Karmann‹, son dern galt als freie Mitarbeiterin. Ihre Aufgabe war es, die Anzeigen in den Tageszeitungen und im Regionalfernsehen zu gestalten, und sie 8
arbeitete in dieser Funktion sehr eng mit den Schaufensterdekorateu ren zusammen. Der erkrankte Meister hatte immer sehr geheimnisvoll getan, wenn er auf sie zu sprechen kam. Wenn er einen Entwurf seiner Gesellen be trachtete, pflegte er sich hinter dem Ohr zu kratzen und zu sagen: »Na ja, recht passabel … aber ob Frau Miller damit einverstanden ist?« Und manchmal gab er auch einen Entwurf zurück und erklärte: »Sie wissen ja, mir gefällt's, aber Frau Miller meint …« Schon oft hatte Jens darauf gebrannt, dieser arroganten Frau Miller mal gehörig Bescheid zu sagen, aber nie hatte sich eine Gelegenheit er geben, überhaupt mit ihr zu sprechen. Heute nun endlich war es so weit, er sollte seine Entwürfe für die Winterdekoration – diese war, wie die Konfektion, der Jahreszeit immer um einen Sprung voraus – mit ihr durchsprechen und abstimmen. Aber merkwürdigerweise fühlte er sich bei weitem nicht so stark, wie er gedacht hatte. Als er durch die Hintertür des Kaufhauses auf die Straße trat, bedau erte er wieder einmal mehr, noch kein Auto zu besitzen. Sein Selbstge fühl wäre höchstwahrscheinlich gestiegen, wenn er am Steuer eines ei genen Wagens hätte vorfahren können. Aber er war erst zwanzig und konnte kein größeres Geschäft ohne Einwilligung seines Vaters täti gen, und Herr Körner bestand darauf, daß er mindestens die Hälfte der Kaufsumme zusammengespart hatte, bevor er einen Vertrag un terschrieb. Na, vielleicht hat der alte Herr sogar recht, dachte Jens, es ist schon gemein, wenn man eine Karre kaputt fährt, die einem noch nicht mal gehört. Dann kann man sich nachher dumm und dämlich zahlen, und zwar für nichts und wieder nichts. Aber schade ist es doch. Gerade heute! Er nahm den Omnibus Nr. 7, mit dem er selber täglich zwischen der elterlichen Wohnung in der Parkstadt und seinem Arbeitsplatz hin und her zu fahren pflegte. Nur stieg er eine Station später aus, denn Frau Miller wohnte im Hochhaus inmitten der Grünanlagen – dem einzigen Hochhaus der Kreisstadt. Als er auf die Türschilder sah, stellte er fest, daß er selbst mit ei 9
nem Rolls-Royce keinen Eindruck hätte machen können. Die Grafike rin wohnte im 17. dem obersten Stock, dem so genannten Penthaus – unmöglich, daß sie von dort oben aus beobachtete, wie er eintraf, ganz davon abgesehen, daß sie sich bestimmt nicht im geringsten dafür in teressierte. Ich werde mich ganz kühl und gelassen geben, nahm Jens sich vor, während er im Fahrstuhl nach oben sauste, mich wird die alte Dame nicht einschüchtern. Schließlich bin ich doch kein kleiner Junge mehr, was kann die mir schon wollen! Der Lift hielt, die Tür schob sich auf, und einigermaßen verblüfft stellte er fest, daß er nicht etwa, wie er erwartet hatte, auf einem Flur gelandet war, sondern inmitten einer riesigen Wohndiele stand – dicker maisgelber Teppich, breite, niedrige Couches mit Bergen von farblich wunderbar aufeinander abgestimmten Kissen, hinter den rie sigen Fenstern ringsum blauer Himmel. Das war der überwältigende erste Eindruck, den Jens Körner hatte, es war ihm, als wenn er in eine Zauberwelt eingetreten wäre, die hoch über Raum und Zeit schwebte. Dann erst sah er das Mädchen. Sie hatte hinter einem Zeichenbrett gesessen, jetzt kam sie auf ihn zu, sehr schmal, sehr anmutig in eng anliegenden Hosen, die sich über den Schuhen weiteten, einer weißen, hochgeschlossenen Bluse, deren Rüschen die Zerbrechlichkeit ihrer Handgelenke betonte. Schwarze Haare fielen ihr lose und glänzend bis auf die Schultern, die grünen Augen standen schräg über ausgepräg ten Backenknochen, die Wangen waren hohl wie bei einem Manne quin, der breite, großzügig geschnittene Mund mit einem apfelsinen roten Stift nachgezogen. Die Tochter? dachte Jens. Eine Nichte? Oder eine Freundin? »Guten Tag«, sagte das dunkelhaarige Mädchen sehr distanziert, mit leicht hochgezogenen Augenbrauen. »Ich … ich möchte zu Frau Miller«, platzte Jens heraus und wurde sich unbehaglich bewußt, daß er fast stotterte. »Aha. Dann kommen Sie wohl vom Kaufhaus ›Karmann‹?« fragte sie mit gleichmütiger Stimme. 10
»Ja, ich … ich wollte die Dekoration mit ihr abstimmen«, sagte er und preßte die Mappe mit den Entwürfen unwillkürlich fester an sich. »Fein«, sagte das Mädchen, »dann nehmen Sie Platz …« Mit einer weit ausladenden Handbewegung fügte sie hinzu: »Wo es Ihnen gera de paßt! Möchten Sie etwas trinken? Kaffee? Tee? Einen Cognac? Oder einen Whisky?« »Ist Frau Miller denn nicht da?« fragte Jens und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich dachte, sie erwarte mich um diese Zeit!« Jetzt, zum ersten Mal, lächelte das Mädchen, ein Lächeln, bei dem sie die Mundwinkel herabzog, was ihr den Ausdruck einer seltsam schmerzerfüllten Belustigung gab. »Aber ich bin Frau Miller«, erklär te sie. Jens Körner konnte sie nur anstarren. Alle seine guten Vorsätze ver mochten nicht zu verhindern, daß er sich in diesem Augenblick wie ein ausgemachter Trottel vorkam. »Sie sind …« stammelte er, »aber nein, Sie machen Witze!« Frau Miller lachte jetzt, und die Bitterkeit um ihre Mundwinkel lö ste sich. »Sie haben wohl eine strenge Person reiferen Jahrgangs erwar tet, wie?« »Der Meister tat immer so … ganz ehrlich, ich wußte nicht … also, jetzt werden Sie mich bestimmt für einen albernen Einfaltspinsel halten!« »Aber woher denn! Wenn Sie es darauf angelegt hätten, sich bei mir beliebt zu machen, hätten Sie's nicht besser einfädeln können. Es schmei chelt einer Frau immer, wenn man sie für jünger hält als sie ist!« »Aber Sie sind jung«, sagte Jens impulsiv, »und ich kann mir nicht vorstellen …« Er stockte mitten im Satz. Sie stand jetzt dicht vor ihm, schaute mit ihren schrägen grünen Au gen von unten zu ihm auf – sie war einen guten halben Kopf kleiner als er. »Was?« fragte sie. »Sprechen Sie ruhig weiter! Sie werden ja schon gemerkt haben, ich beiße nicht!« »Daß Sie je verheiratet waren!« sagte er. Kaum daß er es ausgesprochen hatte, wünschte er es zurückzuneh men, denn ihr glattes bräunliches Gesicht hatte sich schlagartig verdü stert. Alle Fröhlichkeit war daraus verschwunden. 11
»Doch, ich war es«, sagte sie beherrscht, »aber das ist ein Kapitel mei nes Lebens, an das ich nicht gerne erinnert werden möchte!« Er war verwirrt, und es tat ihm heftig leid, sie betrübt zu haben. »Ent schuldigen Sie, ich …« »Sie konnten es ja nicht wissen«, sagte sie großmütig, »machen Sie sich nichts draus, ich bin ärgere Dinge gewohnt. Aber ich glaube, auf diesen Schreck hin haben wir beide einen Whisky verdient …« Ohne seine Zustimmung abzuwarten, ging sie zur Hausbar, die in den mächtigen Pfeiler inmitten des Zimmers gleich neben dem Auf zug eingelassen war. In diesem Pfeiler war außerdem an der anderen Seite eine Garderobe untergebracht, sonst gab es in dem ganzen rie sigen Raum nur eine einzige Stellwand, die den Wohnraum anschei nend von Bad und Küche, vielleicht auch von dem Schlafzimmer ab schnitt – falls es eines gab. Jens hielt es durchaus für möglich, daß Frau Miller auf einer der Couches zu übernachten pflegte. Er sah auf ihren geraden Rücken, während sie an der Hausbar han tierte, sah die anmutigen Bewegungen ihrer schmalen braunen Hände, die die Eiswürfel in die Gläser klirren ließen, und sein Herz zog sich zusammen in einem seltsamen, nie geahnten Gefühl. Dann wandte sie sich zu ihm um, kam, die Gläser balancierend, auf ihn zu. Er nahm ihr das Glas ab, das sie ihm reichte, die goldgelbe Flüssigkeit schwappte, während sie anstießen. »Cheerio!« sagte sie freundlich. »Auf gute Zusammenarbeit!« Er nahm einen kräftigen Schluck. Der Whisky, sehr stark und nur mit dem Eiswürfel verdünnt, löste seine Verkrampfung. Es war ihm, als wenn sein Herz plötzlich mit doppelter Kraft arbeitete. »Ich glaube, ich habe mich noch nicht vorgestellt«, sagte er, »ich hei ße Jens, Jens Körner!« In ihren grünen Augen funkelten nahe der Pupille goldene Lichter. »Und ich heiße Claudia!« sagte sie. »Claudia …« Er ließ den Klang dieses Namens gleichsam auf der Zunge zerschmelzen. »Claudia, Sie sind die wunderbarste Frau, die mir je begegnet ist!« Sie nippte an ihrem Whisky, betrachtete ihn über den Rand ihres 12
Glases hinweg. »Ich warne Sie, Jens«, sagte sie sehr ernst, »verlieben Sie sich nicht in mich, das würde Ihnen Schmerzen bringen.« »Die Warnung kommt zu spät«, erklärte er mit dem neuen starken Selbstgefühl, das ihn plötzlich ganz und gar ausfüllte. Sie lächelte nicht. »Schade um Sie, Jens … Sie sind ein so netter Jun ge!« Er stellte sein Glas aus der Hand, trat einen Schritt näher auf sie zu. »Ich bin ein Mann, Claudia!« »Ja«, sagte sie ruhig, »Sie sind ein Mann. Und eben deshalb passe ich nicht zu Ihnen. Ich habe Angst vor den Männern, Jens … und ich bin viel zu alt, mein Herz noch einmal in Gefahr zu bringen.« »Aber Claudia, das ist doch …« »Bitte, nehmen Sie's zur Kenntnis, Jens, wenn Sie Wert darauf legen, daß wir gute Freunde bleiben. Ich bin nicht bereit, mit Ihnen darüber zu diskutieren.« Sie setzte sich auf einen niedrigen, mit Stierfell über zogenen Party-Hocker. »Zeigen Sie mir jetzt, bitte Ihre Entwürfe«, ver langte sie sachlich. Er ging sofort auf ihren Ton ein. »Wie Sie wünschen, Frau Miller!« Aber während er die Mappe vor ihr aufschlug, dachte er: Nie, nie wer de ich es aufgeben! Keine Macht der Welt kann mich davon abbrin gen! Und es war ihm, als wenn sein Leben endlich ein Ziel bekommen hätte. Als Jochen Körner am Nachmittag beim Gasthof ›Haseneck‹ eintraf, einem alten Haus mit tiefgezogenem Dach und schattigem Biergarten, war von seinen Freunden weit und breit nichts zu sehen. Er fuhr ein paar Mal um das Haus herum, klingelte spielerisch und brachte damit den Kettenhund zum Rasen. Er stieg ab, hob eine der grünen, stach ligen Kastanienhülsen auf, brach sie auseinander – die Kastanie drin nen war noch nicht reif, sie war winzig und kläglich weiß. Jochen warf sie mitten in eine Schar Hühner, die laut gackernd auseinander sto ben. 13
Dann sah er Sibylle. Sie kam mit Schwung angeradelt. Ihr blondes, schulterlanges Haar, das sie mit einem blauen Band aus der Stirne zu rückgebunden hatte, wehte wie eine Fahne hinter ihr her. Sie trug Blue jeans und einen Baumwollpullover. Jochen hatte sie schon Hunderte von Malen so heranradeln se hen, er kannte Sibylle ja fast schon aus der Kindergartenzeit her – aber heute schien sie ihm verändert, er wußte selber nicht, woran das lag. Vielleicht, weil ihm die Sache mit Susi immer noch durch den Kopf ging? Und weil er sich unwillkürlich vorstellen mußte, ob es möglich war, daß auch Sibylle so etwas täte? Er warf das braunlockige Haar mit einem Ruck aus der Stirn zu rück, als wenn er diese verbotenen und quälenden Gedanken damit abschütteln könnte. »Hei, Jochen!« rief Sibylle, betätigte den Rücktritt, um ihre Fahrt zu stoppen, sprang von ihrem Rad. »Na, da bist du ja endlich!« sagte er mürrisch. »Sei froh, daß ich überhaupt gekommen bin! Meine Mutti war wie der mal sauer … na, du kennst sie ja. Und Artur kann überhaupt nicht kommen, das heißt, er will nicht! Der hat 'nen Vortrag im Radio ent deckt, der ihm interessanter ist …« »So 'ne Flasche«, sagte Jochen, aber er spürte einen seltsamen klei nen Schmerz in der Magengrube, den er noch nie gekannt hatte – oder doch, wenn die Mutter Jens anstrahlte und der Vater sich mit Jan be fasste und er selber unbeachtet danebenstand. Wieso ist Sibylle erst zu Artur gefahren? dachte er, aber er sprach diese Frage nicht aus, aus Angst, sich lächerlich zu machen – so lächer lich, wie er sich selber vorkam. »Und Peter?« fragte er statt dessen. »Keine Ahnung!« sagte Sibylle. »Wie spät ist es denn? Fünf nach … also, da könnte er schon noch kommen.« Sie standen bei ihren Rädern im Schatten der mächtigen Kastanie, deren Äste weit über die Mauer des Wirtsgartens herausragten und ein Stück der staubigen Landstraße überdachten. Merkwürdigerweise 14
wußten sie nichts zu reden und fühlten sich irgendwie fremd, verlegen und gleichzeitig seltsam erregt. »Ist nicht«, sagte endlich Sibylle, »es wäre blöd, länger zu warten.« »Ja, wahrscheinlich«, bestätigte er zögernd. »Wollen wir?« fragte sie. Er hatte die volle Unterlippe vorgeschoben, wirkte finsterer denn je. »Oder hast du keine Lust?« fragte sie. Er zögerte mit der Antwort. »Dann lass es«, sagte sie, »fahre ich eben allein … Tschüß!« Sie stieg auf ihr Rad, radelte, ohne sich umzudrehen davon. Ihr Haar flatter te im Winde. Die leere Blechkanne, die sie über die Fahrradstange ge hängt hatte, schepperte. Er blieb unentschlossen stehen, bis er sie nur noch als winzig klei ne Figur sah, deren helles Haar sich leuchtend vom Waldrand abhob. Dann hielt er es nicht länger aus, schwang sich auf sein Fahrrad, ped alte hinter ihr her. Er fand ihr Rad. Es lag abgeschlossen zwischen den Büschen. Er leg te sein eigenes Rad dazu, drang durch das Unterholz in den Wald. An dieser Stelle gab es keinen Weg, aber Jochen kannte sich gut aus. Als Kinder waren sie immer hier durchgebrochen, sie hatten es ihren ›Ge heimpfad‹ genannt. Nach dem hellen Sonnenlicht draußen schien es unter den Bäumen ganz dämmrig. Das dunkelgrüne üppige Moos schluckte die Schrit te. Nur wenn der Fuß auf braune, früh verwelkte Blätter trat, raschel te es. Plötzlich überfiel Jochen eine nie gekannte, beklemmende Angst. Er legte beide Hände vor den Mund und schrie aus Leibeskräften: »Sibyl le! Sibylle! Wo bist du?« Er hielt den Atem an und lauschte. Das grüne, geheimnisvolle Dun kel des Waldes war plötzlich wie erfüllt von unzähligen wispernden Stimmen. Er hatte das Gefühl, belauert zu werden. Da! Hinter diesem dichten Busch, bewegte sich da nicht etwas? Alles, was Jochen je von Überfällen auf einsame Frauen gelesen und gehört hatte, schoß ihm in Sekundenschnelle durch den Kopf. Er bück 15
te sich, hob einen abgebrochenen, dürren Ast auf, sprang mit einem Satz auf den Busch zu und – hörte hinter sich ein vergnügtes Mäd chenlachen. Er fuhr herum und sah Sibylle, die sich, die Hände auf den Magen gepresst, vor Lachen bog. Einen Atemzug lang empfand er nichts als Erleichterung, überwäl tigende, grenzenlose Erleichterung – Sibylle lebte noch, sie stand vor ihm, es war ihr nichts passiert! – aber gleich darauf schlug seine Stim mung um. Das Blut stieg ihm zu Kopf, er fühlte sich blamiert. Sibylle sah, wie sein Gesicht sich verfinsterte, aber sie konnte ein fach nicht aufhören zu lachen. »O Gott, ist das komisch!« stammelte sie. »Wenn du bloß wüsstest … nein, so etwas! Ich kann schon nicht mehr!« Sie bekam schon Seitenstiche vor lauter Lachen. Jochen kochte vor Zorn. »Du dämliche Ziege!« Er hob die Hand, in der er noch immer den riesigen Ast hielt, als wenn er auf sie einschla gen wollte. Sie wich zurück. Ihr Lachen erstarb. »Jochen, bist du verrückt gewor den?« Das jähe Entsetzen in ihren Augen beschäftigte ihn. »Du glaubst wohl, mit mir kannst du's machen?« knurrte er. Mit einer weit ausho lenden Handbewegung warf er den Ast in die Baumkronen hinein, wo er anprallte, beinahe hängen blieb und dann doch wieder herunter schlug. »Aber, Jochen, ich …« Sibylle holte tief Atem. »Was ist dir bloß in die Krone gefahren? Seit wann kannst du keinen Spaß mehr verstehen?« Er hatte sich schon soweit beruhigt, daß er begriff, wie recht sie hat te. Sich zu verstecken und dann einander zu erschrecken, das gehörte doch zu ihren urältesten Spielen. Er verstand gar nicht, wieso er noch einmal darauf hereinfallen konnte, noch weniger, daß er sich so um sie gesorgt hatte. »Blöde Späße«, sagte er achselzuckend und stapfte vorwärts. Sie war mit wenigen Schritten bei ihm, zupfte ihn am Ärmel. »Sei mir nicht böse, Jochen, ich hab's wirklich nicht so gemeint!« Ihre Berührung irritierte ihn. Verdammt, merkte sie denn überhaupt 16
nicht, daß heute alles anders war? Mit einer heftigen Bewegung riß er sich los. Und natürlich verstand sie es falsch. »Entschuldige schon«, sagte sie und warf ihr langes blondes Haar mit einem Ruck in den Nacken, »ich wußte ja nicht, daß du die beleidigte Leberwurst spielen willst.« Schweigend drangen sie tiefer und tiefer in den Wald. Sibylle im mer einen halben Schritt hinter Jochen. Aber obwohl er sie nicht se hen konnte, war er sich ihrer Gegenwart doch geradezu körperlich be wußt. Er hätte gerne etwas gesagt, um dieses gespannte Schweigen zu durchbrechen. Aber ihm fiel beim besten Willen nichts ein, keine bei läufige, harmlose Bemerkung. Sein Mund war wie ausgedörrt. Nach einer Weile hörten sie Stimmen, junge Stimmen, Gelächter. Er blieb stehen, sie sahen sich an, und ohne daß sie ein Wort mitein ander gesprochen hätten, war die alte gute Kameradschaft zwischen ihnen wieder da. »Los!« sagte er. »Denen werden wir's zeigen!« Lautlos wie die Indianer auf dem Kriegspfad pirschten sie jetzt vor an. Sibylle hielt ihre Blechkanne fest gegen die Brust gepresst, damit sie nicht schepperte. Sie schlugen einen großen Bogen und näherten sich von seitwärts dem Platz, von dem her das Gelächter und die Stimmen jetzt immer näher und näher herüberklangen. Dann schlug Jochen die Zweige des Unterholzes beiseite, und sie blickten wie durch ein Fenster auf die kleine Lichtung. Es wimmelte von Kindern, zehn-, zwölf-, dreizehnjährige Jungen und Mädchen. »Verflixt und zugenäht«, rief Sibylle unterdrückt, »ausgerechnet auf unserem guten alten Brombeerenplatz!« »Sollen wir ihnen einen Schrecken einjagen?« schlug Jochen vor. Sie rümpfte die kleine Nase. »Sinnlos. Das sind zu viele. Und ich mag mich nicht mit kleinen Kindern herumbalgen.« Er ließ die Zweige zurückschlagen. »Was nun?« »Wir können es woanders versuchen …« sagte sie zögernd, verbes serte sich dann aber sofort. »Ach, Quatsch! Wir sind einfach zu alt für so was.« 17
Er sah sie an, sein fester roter Mund war spöttisch geschürzt. »Na, von wem war denn der Vorschlag?« »Von mir«, gab sie unumwunden zu, »aber man kann sich doch auch mal irren, oder? Immerhin haben wir beide ja was daraus gelernt, nämlich daß wir nicht mehr jung genug für solche Späße sind. Das ist doch auch was.« Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt, stöberte mit der Schuhspitze in einem kleinen Haufen faulig welker Blätter, die noch vom vorigen Herbst zurückgeblieben waren. »Eine ziemlich umständ liche Methode … aber immerhin!« »Sei bloß nicht so schulmeisterisch! Auf diese Weise sind wir zu 'ner Art Ausflug gekommen. Und jetzt gehen wir ins ›Haseneck‹ und trin ken 'ne Cola, einverstanden?« »Ich bin ziemlich blank«, sagte er, ohne sie anzusehen. Sie stellte fest, daß seine Wimpern lang und dicht waren – eigentlich viel zu hübsch für einen Jungen. Überhaupt, er gefiel ihr, alles an ihm sagte ihr zu: das braune Haar, das ihm weich in Stirn und Nacken fiel, die geschmeidige Figur, die bräunliche glatte Haut, und die Augen, die von einem leuchtenden Blau waren, auch wenn sie noch so mürrisch blickten. Wenn sie bloß gewußt hätte, was in ihm vorging! »Macht nichts«, sagte sie rasch, »ich kann mir gerade noch eine lei sten. Wir trinken sie dann zusammen.« Sie spürte, daß ihm diese Einladung unangenehm war, und um je den Protest von vornherein zu ersticken, tippte sie ihm ganz rasch mit dem ausgestreckten Zeigefinger gegen die Brust, rief: »Du bist!« – und jagte im gleichen Moment auch schon los, in langen Sätzen über knor rige Wurzeln, abgebrochene Äste, über Gräben hinweg und um klei ne Büsche herum. Er rannte hinter ihr her. Die Bewegung und die Anstrengung ta ten ihnen gut. Sibylle war eine ausgezeichnete Sportlerin, aber er lief schneller. Er war oft so nahe bei ihr, daß er nur die Hand hätte aus strecken brauchen, um sie bei ihrem blonden wehenden Haarschopf zu fassen. Aber er tat es nicht, denn gerade so, wie es jetzt war, machte es ihm Spaß – sie immer voraus, ihre gertenschlanke Gestalt dicht vor 18
ihm, die schmalen Hüften in den eng anliegenden Bluejeans, der gera de Rücken in dem knallroten Baumwollpullover. Sie lief kreuz und quer, und er hielt sich absichtlich immer ein we nig zurück. Sie lachten und schrien bei dieser wilden Verfolgungs jagd, die in Wahrheit doch nur Spiel und Schein war – und dann ge schah es. Mit einem Aufschrei stürzte Sibylle zu Boden. Jochen war so nahe hinter ihr gewesen, daß er Mühe hatte, rechtzei tig genug zu stoppen, um nicht über sie zu fallen. Er schlug ihr kräftig auf den Rücken. »Jetzt hab' ich dich … gibst du auf?« Sie richtete sich auf, ihr Gesicht war von Schmerz verzerrt, in ihren klaren grauen Augen standen Tränen. »Wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben«, sagte sie kläglich, »mich hat's erwischt.« Sie umspannte mit beiden Händen den linken Knöchel. »Fuß verstaucht, oder so et was Ähnliches.« Er stand wie verdonnert, wußte nichts zu sagen. Zu jäh war der Um schwung von Ausgelassenheit zu Niedergeschlagenheit erfolgt. »Steh nicht da wie ein Ölgötz, sondern hilf mir doch!« sagte sie und streckte beide Arme nach ihm aus. Er rührte sich immer noch nicht, sah sie nur an. »Na, mach schon«, sagte sie ungeduldig, »worauf wartest du noch? Der Boden ist ganz feucht!« Er beugte sich zu ihr herab, packte sie unter den Schultern. Sie legte sofort beide Arme um seinen Hals, zog sich an ihm hoch. Er spürte ih ren jungen, elastischen Leib an seinem eigenen Körper, durch den das Blut in starken, heftigen Stößen brauste. Sie sah ihn an. »Danke«, sagte sie unbefangen, »das wäre geschafft!« Ihre Lippen, ihre feuchten, halb geöffneten Lippen waren dicht vor ihm. Eine wilde Kraft brach in ihm auf, eine Kraft, deren er sich in die ser Sekunde zum ersten Mal bewußt wurde, wollte ihn drängen, sie an sich zu reißen, sie zu küssen, sie vom Boden hochzuheben und fortzu tragen – er konnte kein Wort hervorbringen, so gewaltig war die An strengung, diese wilde, unbändige Kraft zu beherrschen. Sie lächelte ihm ins Gesicht. »Du kannst mich jetzt loslassen«, sag 19
te sie arglos, »ich brauche dich jetzt nicht mehr. Wenn du mir einen Stock gibst …« Er gab sie so überraschend frei, daß sie, die sich bis jetzt, vielleicht ohne es selber zu merken an ihn geschmiegt hatte, beinahe zu Boden gefallen wäre. »Such dir deinen verdammten Stock selber!« brüllte er, wandte sich um und jagte davon. »Jochen!« schrie sie. »Jochen!« Aber er kam nicht zurück, drehte sich nicht einmal mehr um. »Jochen!« rief sie noch einmal. Dann gab sie es auf. Sie hüpfte auf ihrem gesunden Bein durch Moos und Blätter, hob einen kräftigen Ast auf, mit dem sie sich stützen konn te. »So ein blöder Büffel«, murmelte sie vor sich hin, »so ein dämlicher Flegel!« Aber tief im Herzen spürte sie, daß sie etwas falsch gemacht hat te, doch sie konnte bei allem Nachdenken nicht herausbringen, was es war.
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Am nächsten Tag ging Sibylle mit dem festen Vorsatz in die Schule, Jo chen zu zeigen, wie böse sie auf ihn war. Sie war fest entschlossen, ihn zappeln zu lassen und ihm höchstens erst dann zu verzeihen, wenn er sie formell um Entschuldigung bitten würde. Aber Jochen nahm gar keinen Anlauf dazu. Im Gegenteil, er über sah Sibylle einfach, behandelte sie, als wenn sie Luft wäre. Sibylle wuß te gar nicht, wie ihr geschah. Da Jochen seit jeher tonangebend in der Clique gewesen war, wand ten sich auch Artur und Peter von den Mädchen ab. Jochen brauch te gar nicht viel dazu zu tun, und möglicherweise war es nicht einmal seine Absicht – er verwickelte seine Freunde in ausgesprochene Män nergespräche, von denen die Mädchen nichts verstanden, nahm sie auf dem Schulhof beiseite, und Sibylle und Anita waren einfach isoliert. 20
Anita, die auf diese Weise völlig unschuldig in die Spannung zwi schen Sibylle und Jochen hereingerissen wurde, war den Tränen nahe. »Warum sind sie bloß so gemein zu mir?« rief sie verzweifelt. »Was habe ich denen denn getan?« Auf ihrem milchweißen Gesicht began nen sich rote, hektische Flecken abzuzeichnen. »Nicht das geringste«, sagte Sibylle und legte freundschaftlich den Arm um ihre Schultern, »komm, beruhige dich doch!« Aber Anita, die wie alle innerlich unsicheren Menschen jedes Ärger nis und jeden Widerstand gleich persönlich nahm, ließ sich nicht be schwichtigen. »Sie haben sich nie etwas aus mir gemacht«, sagte sie an klagend, »ich weiß es ganz genau, immer haben sie mich nur deinet wegen geduldet! Ist es denn meine Schuld, daß ich nicht so hübsch bin wie du?« »Erstens bist du hübsch«, sagte Sibylle, »das habe ich dir schon so oft gesagt, daß es anfängt, mich zu langweilen … und zweitens sollte es dir eigentlich möglich sein, zu bemerken, daß die Jungen mich und nicht dich schneiden.« »Dich!?« rief Anita maßlos erstaunt. »Du sagst es.« »Aber warum denn? Was hast du ihnen getan?« »Genauso wenig wie du«, sagte Sibylle und erzählte der Freundin den Zwischenfall im Wald – natürlich von ihrer eigenen Warte aus, denn was in Jochen vorgegangen war, konnte sie ja nicht ahnen. »Ja, dann!« rief Anita, die glaubte, alles zu verstehen. »Dann ist es Jo chen einfach peinlich, mit dir zusammenzusein, weil er ein schlechtes Gewissen hat!« »Glaubst du?« fragte Sibylle skeptisch. »Aber bestimmt! Es war doch gemein von ihm, dich mit dem ver stauchten Fuß mitten im Wald stehen zu lassen …« Sie raufte sich mit der Hand die roten Haare. »Komisch übrigens. Das paßt gar nicht zu Jochen. Hör mal, verheimlichst du mir etwas? Wahrscheinlich hast du ihn zuerst geärgert?« »Das habe ich dir ja erzählt. Gleich zu Anfang, als er mich suchte. Aber das war da doch schon so lange her, und …« 21
So rätselten die beiden Mädchen herum, um eine Erklärung für Jochens abweisendes Verhalten zu finden, und kamen doch keinen Schritt weiter. Nach der Schule schlenderten Sibylle und Anita allein zur Bushalte stelle, zum ersten Mal seit langem ohne Begleitung der Jungen. Sibylle hinkte noch ein bißchen. »Geh doch einfach hin und frag ihn, was er hat«, schlug Anita vor. »Das kann ich nicht«, erklärte Sibylle entschieden. Anita biss sich auf die Lippen. »Dann lass mich doch mal … ich könnte doch …« Ihre Stimme zitterte, aber sie sah der Freundin gera de in die Augen. Sibylle überlegte. In gewisser Hinsicht war Anitas Angebot verlok kend. Vielleicht würde sie es wirklich schaffen, Jochen zu versöhnen, ohne daß sie, Sibylle, sich selber eine Blöße geben mußte. »Was wür dest du ihm denn sagen?« fragte sie zögernd. Anita zuckte die schmalen Schultern. »Ach, nur so … irgendwas! Daß es dir leid tut, zum Beispiel …« Als sie sah, wie sich der Aus druck von Sibylles Augen veränderte, berichtigte sie sich sofort: »oder ich werde ihn einfach fragen, was er gegen dich hat!« Sibylle sah sie nachdenklich an, und Anita wurde purpurrot unter diesem Blick und schlug die Augen nieder. In dieser Sekunde wur de Sibylle klar, was sie schon seit einiger Zeit geahnt hatte: Anita war mindestens so sehr an Jochen interessiert wie sie selber. Sie hatte eine scharfe Abwehr schon auf der Zunge, aber sie be herrschte sich gerade noch. Unter keinen Umständen wollte sie sich in dieser ohnehin verfahrenen Situation auch noch mit der überemp findlichen Anita verfeinden. »Nein«, sagte sie deshalb nur, »ich glaube nicht, daß das einen Zweck hat.« »Aber ich könnte es doch versuchen«, sagte Anita hartnäckig. Sibylle beugte sich vor, so daß ihre Augen sehr nahe vor Anitas Ge sicht waren. »Wenn du das tust«, sagte sie drohend, »ist es aus mit uns beiden! Ein für allemal, ich verbiete dir, dich in meine Angelegenhei ten einzumischen, verstanden?!« »Ich hab's nur gut meinen wollen«, murmelte Anita. 22
Der Omnibus Nr. 7 stoppte an der Haltestelle, Sibylle drängte sich mit den anderen Schülern und Schülerinnen, die in die gleiche Rich tung fuhren, hinein. »Tschau, bis morgen!« rief sie, möglichst laut und unbekümmert, damit auch die Jungen sie hörten, und schwenkte ihre Schulmappe über den Kopf. Anita lief ihr nach, stand jetzt dicht am Rand der Traube, die in das Innere des Wagens drängte. »Dann schreib ihm … schreib einen Brief!« rief sie. Sibylle schüttelte heftig den Kopf, tippte sich unmissverständlich ge gen die Stirn. – Diese Anita ist wirklich nicht mehr zu retten, dachte sie, wenn man die ließe, würde sie es in der ganzen Stadt herumposau nen, daß ich mit Jochen verkracht bin und wieder guten Wind machen möchte! Einen Brief schreiben, so etwas Blödes! Im letzten Augenblick schob sich auch Artur auf die mittlere Platt form, aber Sibylle schenkte ihm nicht mal einen Blick. Sie war er leichtert, als die Türen sich zuschoben und der Omnibus endlich ab fuhr.
*
Herr Körner hatte die Woche über nur wenig Zeit für seine Familie. Es kam öfter vor, als es seiner Frau lieb war, daß er abends Überstun den machte oder Geschäftsfreunde ausführen mußte. Außerdem ging er regelmäßig jeden Donnerstag zum Kegeln. Das war, wie er immer behauptete, seine einzige wirkliche Entspannung, und die ließ er sich weder von seinem Chef noch von seiner Frau nehmen. Aber sonntags war Herr Körner zu Hause und erwartete auch dann, daß seine ganze Familie sich um ihn scharte. Er zeigte nicht das ge ringste Verständnis, wenn seine heranwachsenden Söhne diesen ein zigen freien Tag zu ihrem eigenen Vergnügen beanspruchen wollten. Tatsächlich begann sogar der kleine Jan schon, die gemeinsamen Fa milienunternehmungen langweilig zu finden, wenn er das auch noch nicht laut zu äußern wagte wie die älteren Brüder. Frau Körner zitter te vor jedem Sonntag und zerbrach sich den Kopf, wie sie die Wünsche 23
und Interessen ihrer so verschieden alten und so verschieden gearteten Männer unter einen Hut bringen sollte. Jedoch an diesem Sonntag, dem ersten zu Beginn des neuen Schul jahres, ging alles so glatt wie selten. Die Körners saßen zusammen bei einem späten, dafür um so üppi geren Frühstück. Durch die Fenster strahlte ein seidig blauer Himmel über den Bäumen der Parkstadt herein, deren Blätter sich schon gelb und rot und braun zu färben begannen. »Wie wäre es, wenn wir zum Autobahnsee fahren würden?« schlug Herr Körner vor. Jochen mimte sofort Begeisterung. Im Grunde war es ihm egal, wo und wie er den Tag verbrachte. Hauptsache, er konnte sicher sein, Si bylle nicht zu begegnen. Warum also nicht den Eltern die Freude ma chen und Jens helfen – denn Jens hatte heute etwas Besonderes vor, und Jochen hatte versprochen, die Aufmerksamkeit des Vaters von ihm abzulenken. Herr Körner war zufrieden, die Mutter strahlte, und niemand nahm Anstoß daran, daß Jens, der älteste, mit leidgeprüfter Miene erklärte, sich diesem Familienunternehmen nicht anschließen zu können, da er sich, leider, leider, Arbeit mit nach Hause habe nehmen müssen. Diese Behauptung klang um so glaubhafter, als alle wußten, daß sein Meister erkrankt war und jetzt mehr Verantwortung als sonst auf den breiten Schultern des jungen Mannes ruhte. »Das verstehe ich natürlich«, sagte Herr Körner in kollegialem Ton, »und ich muß ganz ehrlich sagen, ich freue mich, daß du eine so groß artige Arbeitsauffassung hast, Jens!« Er räusperte sich, fügte hinzu: »Wenn du dich damals etwas mehr bemüht hättest, als du noch auf der Schule warst …« Die Tatsache, daß Jens nach einem sehr elenden Zeugnis ohne Abitur von der Schule abgegangen war, saß wie ein Dorn in Herrn Körners Bewußtsein, und er ließ sich keine Gelegenheit entgehen, Jens an diese Enttäuschung, die er dem Vater bereitet hatte, zu er innern. Jens lächelte leicht verkrampft. »Wahrscheinlich fehlte mir damals 24
noch die nötige Reife«, sagte er und zwinkerte, als der Vater für einen Augenblick wegsah, seinen Brüdern verschwörerisch zu. Jochen grinste zurück und zwickte Jan rasch und kräftig, damit er nicht laut zu lachen anfing, rasch in den Arm. »Au!« schrie der Kleine empört. »Was fällt dir ein?« »Habe ich dir weh getan?« fragte Jochen heuchlerisch. »Entschuldi ge, bitte, es war nicht meine Absicht …« Er beugte sich zu Jan herab, flüsterte ihm ins Ohr: »Benimm dich! Ich spiele auch nachher mit dir Wasserball!« »Was flüstert ihr da?« fragte Herr Körner ungehalten. »Jochen hat mir nur versprochen, daß er mit mir Wasserball spielen will!« trompetete Jan. »Ach so«, meinte der Vater, »aber das hätte er doch auch laut sagen können!« Jetzt, da der Entschluß zur Ausfahrt gefaßt war, hatte die Gemütlich keit ein Ende. Frau Körner sprang auf und machte sich daran, die Ba desachen zusammenzusuchen. Jan hüpfte vor Aufregung, und Jochen beeilte sich, fertig zu essen. Trotzdem verging noch eine gute halbe Stunde, bis es endlich soweit war, daß alle die Wohnung verlassen konnten. »Wir kommen erst gegen Abend wieder, Jens, du kannst also in Ruhe arbeiten«, sagte Herr Körner. »Wenn ich fertig bin, werde ich wahrscheinlich ein bißchen spazie renlaufen«, bemerkte Jens so nebenbei. »Ja, tu das«, sagte Frau Körner und küßte ihren Großen zärtlich auf beide Wangen, »und paß auf dich auf, ja?« Jochen hakte sich bei ihr ein und zog sie mit sich fort. »Komm schon, Mutti, Jens ist doch kein Säugling mehr!« »Wenn er das wäre, brauchte ich mir nur halb so viel Gedanken um ihn zu machen!« entfuhr es Frau Körner. Sie schlug sich auf den Mund, blickte sich erschrocken um. Aber der Vater war schon weit voraus, er hatte diese Bemerkung, die verriet, daß sie durchaus nicht annahm, Jens würde den ganzen Sonn tag über seinen Entwürfen verbringen, zum Glück gar nicht gehört. 25
Jens blickte zum Fenster hinaus, beobachtete, wie der Vater die Ba detasche im Kofferraum seines Autos verfrachtete, wie die Brüder hin ten hineinkletterten, die Mutter – sehr sorgsam, um ihr bunt geblüm tes Kleid nicht zu zerknittern – vorne neben dem Fahrersitz einstieg. Sie winkten alle noch einmal zu ihm hinauf, und er winkte zurück, und dann fuhren sie endlich los, und das letzte, was Jens sah, war das weiße Taschentuch, das Jan wie eine Fahne zum offenen Wagenfenster herausflattern ließ. Und dann war er endlich allein. Jens raste zum Telefon, hatte den Hörer schon in der Hand, als er es sich anders überlegte – nein, so ging es nicht. Wenn er Claudia Miller anrief, würde es ihr ein leichtes sein, ihn abzuwimmeln. Er mußte sel ber und in Lebensgröße vor ihr auftauchen, sonst hatte er überhaupt keine Chance. Er ging in das verlassene Elternschlafzimmer hinüber, trat an den Toilettentisch seiner Mutter und betrachtete sich im Spiegel, überlegte hin und her, ob er sich umziehen sollte oder nicht. Endlich entschloß er sich, so zu bleiben, wie er war – der hellblaue Freizeitanzug stand ihm gut zu dem sonnengebräunten Gesicht, den blauen Augen und den starken weißen Zähnen. Der saloppe Anzug würde seinem Auf tritt etwas Zufälliges, nicht allzu Feierliches geben. Im Bad bürstete sich Jens das volle Haar mit zwei Bürsten nach hin ten – links, rechts, links, rechts, links – und kämmte dann die Tolle über der Stirne hoch. Er holte aus dem hintersten Winkel seines Klei derschrankes die Cellophanpackung, in der eine einzige wunderbare Orchidee lag – er hatte sie am Tag zuvor mit großer Aufmerksamkeit für Claudia Miller ausgesucht. Jens steckte sein Portemonnaie ein, schloß die Wohnung ab, sprang die Treppe hinunter und ging schnell und zielstrebig auf den Mittel punkt der Parkstadt, das Hochhaus zu. Mit dem Lift sauste er zum Penthaus nach oben, hatte plötzlich Herz klopfen vor Angst, daß ihre Wohnung abgeschlossen sein, daß sie aus geflogen oder etwa gar Besuch haben könnte. Aber dann stand er wie bei seinem ersten, geschäftsmäßigen Besuch wieder mitten in ihrem herrlichen großen Raum, der alles zugleich war: Diele, Wohn-, Ess26
und Arbeitszimmer, und der dennoch in keiner Weise beengend wirk te. Man fühlte sich hier oben auf atemberaubende Weise dem Him mel nahe. Claudia Miller hatte diesmal ein Kleid an, ein maisgelbes, ganz schlicht geschnittenes Kleid, dessen Mini-Rock ihre schlanken brau nen Beine bis weit über die Knie freigab. Ihr schwarzes glänzendes Haar umgab ihr hohlwangiges Gesicht wie ein dunkler Rahmen. Ohne die Spur eines Lächelns sah sie ihn an. Jens fühlte sich plötzlich sehr gehemmt, streckte ihr die Cellophan packung mit einer Geste entgegen, deren Kindlichkeit ihm selber pei nigend bewußt wurde. »Ein kleiner Sonntagsgruß«, sagte er, »seien Sie mir nicht böse, Frau Miller!« – Er hatte sich so fest vorgenommen, sie Claudia zu nennen, aber jetzt kam ihm diese vertraute Anrede einfach nicht über die Lippen. Er war erleichtert, als sie ihm die Orchidee abnahm. »Danke«, sag te sie trocken. Sie standen einander gegenüber und sahen sich an, und er fühlte sich so verlegen, daß er sich am liebsten umgedreht hätte und zum Aufzug zurück geflüchtet wäre. Aber die starke Anziehungskraft, die von ihr ausströmte, bannte ihn auf der Stelle. »Ein herrlicher Tag, nicht wahr?« sagte er endlich und kam sich sel ber sehr blöd vor. »Ja«, sagte sie nur. »Man müßte irgendwas unternehmen«, fuhr er fort, »ins Freie fah ren oder so … ich meine nur, wenn Sie nichts Besseres vorhaben!« Plötzlich erschien ein Funkeln in ihren Augen, das fast wie ein Lä cheln war, während ihr Mund ganz ernst blieb. »Haben Sie denn ein Auto?« »Nein, noch nicht, aber ich könnte …« »Ich fahre einen Alfa Romeo!« sagte sie sehr überlegen. Plötzlich fühlte er sich sicher. »Wunderbar!« rief er unbekümmert. »Ich wäre immer schon gerne mal mit einem Alfa Romeo gefahren!« Er trat auf sie zu. »Nun machen Sie nicht so ein Gesicht, Claudia! Soll ich Ihnen denn vormachen, es störe mich, daß Sie einen tollen Wagen 27
fahren? Daß Sie eine herrliche Wohnung haben? Daß Sie jede Menge Geld verdienen? Nein, erwarten Sie nicht, daß ich so verlogen bin. Es imponiert mir … Sie imponieren mir, Claudia!« Er hatte sich ordent lich in Feuer geredet, jetzt trat er so dicht an sie heran, als wenn er sie im nächsten Augenblick in die Arme nehmen wollte. Aber sie wich vor ihm zurück. »Auch, daß ich älter bin als Sie, Jens?« »Was macht das schon!« »Ihnen vielleicht nichts, aber mir.« Sie holte tief Atem. »Ich bin kein kleines Mädchen mehr, ich bin 30 Jahre alt!« Er war auf eine solche Eröffnung gefaßt gewesen, wenn er auch nie mals gedacht hätte, daß sie schon so alt sein könnte – Zehn Jahre älter als ich! schoß es ihm durch den Kopf. Aber immerhin gelang es ihm, ein unbefangenes Gesicht zu machen. »Ich traue nur meinen Augen«, sagte er, »und meine Augen zeigen Sie mir, wie Sie wirklich sind, Clau dia … jung und schön!« Er packte sie bei den Schultern. »Ich liebe Sie, Claudia, glauben Sie mir doch … ich habe Sie von der ersten Sekun de an geliebt!« Sie machte keinen Versuch, sich loszureißen, sie ließ es geschehen, daß Jens sie sehr eng an sich zog. Aber in ihren geheimnisvollen grünen Augen stand unverhohlener Spott. »Was für ein Kindskopf Sie doch sind«, sagte sie mit lächelndem Gleichmut. Seine Arme sanken herab. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie belästigt habe!« Sie lachte, und trotz seiner Verärgerung wurde es Jens bewußt, daß dies das erstemal war, daß er sie lachen hörte. Es war ein dunkles, ein wenig trauriges Lachen, das wunderbar zu ihrem nachtschwarzen Haar und den hohlen Wangen paßte. Mit einer versöhnlichen Geste legte sie ihre Hand auf seinen Arm. »Sie müssen noch viel lernen, Jens … zum Beispiel, daß keine Frau der Welt beleidigt sein könnte, wenn sie sich begehrt fühlt. Sie haben mir eine große Freude gemacht.« »Sprechen Sie nicht so mit mir«, sagte er, »ich bin kein kleiner Junge mehr, und Sie sind nicht meine Lehrerin!« 28
Sie wich keinen Schritt vor ihm zurück. »Sie scheinen sich außeror dentlich in der Rolle des zornigen jungen Mannes zu gefallen«, sagte sie belustigt, »und ich muß zugeben, sie steht Ihnen wirklich. Nur … Sie sollten sich ein dankbareres Publikum dazu suchen.« »Ich spiele kein Theater!« Sie nahm die Orchidee, die er ihr mitgebracht hatte, aus dem Cello phanbehälter, den sie mit Schwung in den Papierkorb warf. »Nehmen Sie doch nicht alles so wörtlich, das ist auch so ein Fehler der Jugend. Was ich sagen wollte, war doch nur das … Sie sind wirklich ein netter Junge, Sie sehen glänzend aus, ich bin sicher, daß alle Mädchen hinter Ihnen her sind … warum wollen Sie ihre eindrucksvollen Gaben aus gerechnet an mich verschwenden?« Sie drehte spielerisch die Orchidee zwischen ihren schlanken braunen Fingern. »Sie werden mich nicht dazu bringen, daß ich es noch einmal wie derhole«, erwiderte er. Sie hob ein wenig die Augenbrauen. »Schade!« »Leben Sie wohl, Frau Miller«, sagte er mit harter Betonung und ver beugte sich leicht. Sie rührte sich nicht von der Stelle, beobachtete ihn, wie er sich um drehte, auf den Lift zuging – sehr elastisch und sehr jung in seinem ele ganten, hellblauen Freizeitanzug, der blonden, sorgfältig hochgebür steten Tolle. Sie wartete, bis er ein wenig unsicher stehen blieb. »Sie müssen auf den obersten Knopf drücken, wenn Sie den Lift her auflocken wollen«, sagte sie dann, »das heißt natürlich nur, falls Sie Ihr Angebot nicht aufrechthalten …« Er fuhr herum, sah sie an. »Sie hatten mir doch angeboten, mich spazierenzufahren«, sag te sie, »oder sollte ich mich da geirrt haben? Das Wetter ist immer noch gleich schön, und meine Autoschlüssel liegen da vorn auf dem Schreibtisch, es wäre nett …« Sie kam nicht dazu, den Satz zu been den. Mit zwei gewaltigen Schritten war er bei ihr, riß sie in die Arme. Diesmal hatte er sie überrumpelt. Es gelang ihr gerade noch, ihr Ge sicht abzuwenden, so daß die wilden Küsse sie auf die Wange, den 29
Hals, die Stirn trafen – nur nicht auf den Mund, nach dem er sich sehnte, und den sie ihm standhaft verweigerte. »Oh, Claudia«, stammelte er, »Claudia … du bist … ich kann nicht … du …« Eine Weile ließ sie ihn gewähren, dann bog sie den Oberkörper zu rück, hielt ihn mit dem ausgestreckten Arm von sich ab. »Jens«, sagte sie, »bitte, sei vernünftig! Wenn du mich jetzt nicht sofort loslässt, ist unsere Freundschaft beendet, noch ehe sie begonnen hat!« Nicht so sehr ihre Worte als der Ton ihrer Stimme war es, der ihn zur Besinnung brachte. Er gab sie frei, und sie lief zum Schreibtisch, kam aber, die Autoschlüssel in der Luft schwenkend, gleich wieder zurück. »Hier, nimm sie, du alberner großer Kerl! Mein Alfa Romeo befin det sich unten in der Hausgarage, mein Name steht dran, der Schlüs sel ist dabei … also los, verschwinde, damit ich mich hübsch machen kann!« Von allem, was sie sagte, nahm er kaum etwas in sich auf als nur die Erkenntnis, daß sie ihn duzte, ihn wie einen guten Freund behandel te. Er war so überwältigt, daß ihm gar nicht einfiel, was er jetzt hätte sagen sollen – nichts Geistreiches jedenfalls, und er wollte ihr doch so gerne imponieren. Sie holte den Lift herauf, öffnete die Türe, schubste ihn hinein und gab ihm – genau in der Sekunde, bevor sich die Türe zuschob – einen hastigen Kuss auf die Nasenspitze. Das letzte, was er von ihr sah, war ihr rabenschwarzes Haar, als sie den Kopf zurückzog, und dann war alles vorbei, er sauste im Lift nach unten, und das einzige, was ihm von ihr geblieben war, war der Schlüs selbund, den er krampfhaft festhielt, bis er merkte, daß ihm die schar fen Kanten des Metalls in die Handflächen schnitten. Jens Körner fühlte sich glücklich und unglücklich zugleich – hatte er sie nun beeindruckt, oder spielte sie nur mit ihm? Er bildete sich eini ges auf seine meist leicht gewonnenen Erfahrungen mit Mädchen ein. Aber bei Claudia Miller kannte er sich wirklich nicht aus, und das war es, gestand er sich selber, was ihn so an ihr reizte. 30
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Für Sibylle Sandner wurde es ein trauriger Sonntag. Sie wohnte in der Helmholtzstraße, ziemlich weit weg von der Park stadt. Aber in früheren Zeiten war trotzdem kaum ein Feiertag ver gangen, ohne daß sie nicht irgendwann und irgendwo mit Jochen Kör ner zusammengekommen wäre. Haupttreffpunkt: die Holmsche Vil la an der Ecke. Artur Holm wohnte mit seinen Eltern in diesem ziemlich altmodi schen, dafür aber sehr geräumigen Kasten, und da Artur der sehr ver wöhnte einzige Sohn war, gab es fast nichts, was er nicht hatte. Er be saß ein Tischtennis, jede Menge Federballschläger und Bälle, ein Kro kett, Bocciakugeln, und vor allem stand der Swimmingpool in dem riesigen, ein wenig verwilderten Garten ihm und seinen Freunden so zusagen allein zur Verfügung. War schlechtes Wetter, konnte man sich in einem großen Bastel- und Spielzimmer im Keller aufhalten. Kein Wunder, daß an freien Nachmittagen immer einige junge Leu te aus der Klasse oder der Nachbarschaft dort zu finden waren, obwohl Artur selber eher ein Eigenbrötler war und sich um seine Gäste durch aus nicht kümmerte. Außer um Jochen, denn Jochen war sein bester Freund. Die beiden Jungen pflegten sehr ausgiebige Gespräche mitein ander zu führen, bei denen sich Sibylle meist rasch zu langweilen be gann. Aber zwischen ihnen herrschte oft auch eine so wortlose Über einstimmung. Es kostete sie Überwindung, überhaupt bei Holms zu klingeln. – »Ach was«, mußte sie sich selber gut zureden, »hab dich doch nicht so! Schließlich bist du mit Artur ja nicht verkracht, und sonst hast du doch auch nichts dabei gefunden, hier aufzukreuzen!« – Wenn ihr nicht so viel daran gelegen hätte, mit Jochen Körner wieder ins reine zu kom men, hätte sie es sicher nicht getan. Artur öffnete ihr, gab sich ganz wie immer – nicht unfreundlich, aber auch durchaus nicht freundlich. »Na, dann komm!« sagte er, knall 31
te das schmiedeiserne Gartentor ins Schloß und marschierte dann so rasch auf das Haus zu, daß er mit wenigen Schritten an ihrer Seite war und sie nur mit Mühe verhindern konnte, daß er sie überholte und ab hängte. Sie hätte liebend gerne nach Jochen gefragt, aber sie wollte sich keine Blöße geben. »Wer ist denn sonst noch da?« fragte sie so beiläufig wie möglich und wagte nicht, ihn anzusehen. »Och, 'ne ganze Menge«, war die mehr als nichts sagende Antwort. Sie hatte sich, um Jochen zu imponieren, besonders schick gemacht, trug ein schneeweißes Leinenkleid, das ihre samtige braungebrannte Haut und das schimmernde Blond ihres Haares ausgezeichnet zur Gel tung brachte. So weit, so gut, aber der Rock war nicht nur sehr kurz, sondern auch sehr eng geschnitten, und so machte ihr das rasche Ge hen Schwierigkeiten. Außerdem drückten sich die Blockabsätze ihrer hochmodernen weißen Schuhe tief in den weichen Gartenboden, und vor allem kam sie sich albern vor, so auf fein gemacht vor ihren al ten Freunden zu erscheinen. Hätte ihr Artur wenigstens einen bewun dernden Blick geschenkt – aber nein, er beachtete sie nicht mehr als die Schnecke, die da vor ihnen über den Weg kroch. Eher weniger, denn er stoppte doch ganz kurz und machte dann einen besonders großen Schritt, um der Schnecke nichts zu tun, während er von Sibylle in Ge danken offensichtlich kilometerweit entfernt war. »Fabelhaftes Wetter, wie?« sagte sie, um das Gespräch irgendwie in Gang zu bringen. »Kann man wohl sagen«, bestätigte er, sah aber dabei stur geradeaus und hatte die Stirn in Falten gelegt, als wenn er über ein schwieriges Problem nachgrübelte. Sie hatte erwartet, daß er sie hinter die Villa in den Garten führen würde, aber er ging um das Haus herum und machte Anstalten, die schmale Treppe hinabzusteigen, die von außen direkt in den Keller und den Bastelraum führte. »Was?« rief sie impulsiv. »Ihr steckt doch wohl nicht da drinnen?« »Borussia Dortmund gegen 1860 München«, sagte er kurz angebun den. 32
Sibylle begriff, daß er und die anderen die Fernübertragung eines Fußballspieles miterleben wollten. »Aber, na hör mal … bei dem Wet ter ist es doch draußen viel schöner.« »Du kannst ja draußen bleiben«, sagte er, und weil ihm plötzlich be wußt wurde, daß er sich reichlich unhöflich benahm, fügte er ein biß chen netter hinzu: »Später kommen wir dann auch 'rauf.« »Sehr gnädig«, sagte Sibylle, leicht gereizt, »wahrscheinlich werde ich tun, was du sagst. Aber erst will ich die Boys doch mal begrüßen.« Darauf zuckte Artur nur wortlos die Achseln und stapfte voraus. Si bylle folgte ihm, sehr darauf bedacht, mit ihrem weißen Kleid nicht am Geländer oder, weiter unten, an der Kellerwand entlang zu streifen. Es war alles sauber, aber sowohl das Geländer wie die Wände zeigten eine Neigung, ihre Farbe abzublättern, an den Metallteilen schimmerte so gar hier und da der Rost durch. Artur und Sibylle gingen hintereinander den ziemlich düsteren Gang entlang. Die Tür zum Bastelzimmer stand halb offen. Die Stim me des Ansagers verkündete, daß in Kürze zum Fußballplatz umge schaltet werde. Ziemlich unvermittelt besann sich Artur auf seine Gastgeberrolle, hielt Sibylle die Türe auf und ließ sie vor sich eintreten, und ihr Herz klopfte in diesem Augenblick so laut vor Aufregung, daß sie geradezu fürchtete, er könnte es hören. »Es ist Sibylle«, sagte Artur. »Hei!« grüßte Sibylle. Ihr Blick glitt über die Jungen, die auf Stühlen, Kissen und Kisten vor dem Fernsehapparat hockten. Ein paar drehten sich um und nick ten ihr zu, einige hielten nicht einmal das für nötig. Sie hatten nicht das geringste gegen Sibylle, sie waren einfach völ lig uninteressiert und wahrscheinlich der Überzeugung, daß sie hier, ganz unter sich, die guten Manieren ruhig unter den Tisch fallen las sen durften, die man ihnen zu Hause mühsam anerzogen hatte. Sibylle kränkte das überhaupt nicht. Die Jungen waren meist jünger als sie selber, 13, 14 Jahre alt, und sie interessierte sich so wenig für sie wie umgekehrt. 33
Sie nahm nur eines wahr: Jochen Körner war nicht unter ihnen, und im gleichen Augenblick fiel das Barometer ihrer Erwartungen auf den Nullpunkt. »Na, ich glaube, ich gehe doch lieber nach oben«, sagte sie, »hier ist's mir zu duster!« Niemand äußerte einen Ton des Bedauerns oder machte Anstalten, sie aufzuhalten. Als sie, reichlich entmutigt, durch den Gang und zu rück ging, hörte sie die Übergangsmusik abbrechen, und die Stimme des Ansagers dröhnte: »Meine Damen und Herren, endlich, endlich ist der große Tag gekommen! Herrlicher Sonnenschein liegt über dem Fußballstadion, in dem bis zu dieser Stunde fünfzigtausend Menschen Platz gefunden haben, während weitere tausend …« Erst als sie wieder oben im Garten stand, war sie außer Reichweite des Lautsprechers. Eine ganze Weile noch trieb sie sich um die Villa herum, immer das große Gartentor im Auge behaltend, um ihn ja nicht zu versäumen, und kam sich dabei reichlich blöd vor. Dann, ganz plötzlich, war sie fest überzeugt, daß Jochen sich im Au genblick in der italienischen Eisdiele aufhalten müßte, und sie mach te sich davon, ohne Artur auch nur Lebewohl zu sagen, jagte die Stra ße entlang, stürzte atemlos in die Eisdiele hinein – Jochen Körner war nicht da. Statt dessen ein paar Figuren, die sie kannte. Um nicht aufzufallen, mußte sie sich ein Eis kaufen und ein bißchen mit den Jungen herumalbern. Sie atmete auf, als es ihr endlich gelun gen war, sich davonzumachen. Sie schlenderte zur Milchbar, aber diesmal war sie vorsichtiger, ging nicht hinein, sondern stellte durch das Schaufenster fest, wer drin war – niemand, den sie kannte, vor allem nicht Jochen. Sibylle ging zur Helmholtzstraße zurück, beobachtete von der ande ren Straßenseite aus die Holmsche Villa. Ohne Ergebnis. Nach einer guten halben Stunde kam ein kleiner Junge herausge rannt, den sie im ersten Augenblick für Jan, Jochens jüngeren Bruder hielt. Er überquerte die Straße, und sie mußte erkennen, daß sie sich geirrt hatte. 34
Trotzdem rief sie ihm zu: »He, du! Warte mal!« »Keine Zeit«, rief der Kleine und sauste weiter. Aber es gelang ihr, ihm den Weg abzuschneiden. »Ich will doch bloß wissen … hast du Jochen gesehen? Jochen Körner?« »Nee, warum?« »Ich frag' ja bloß. War er im Keller?« »Nee, der nicht!« und fort war er. Inzwischen ging es auf sechs Uhr zu, und Sibylle kam auf den Ge danken, sich auf den Weg zum ›Capitol‹ zu machen, dem Stammkino der Klasse. Die zweite Vorstellung mußte bald beginnen, und vielleicht traf sie Jochen dort. Sie kam gerade zurecht, als die Zuschauer, meist junge Leute, sich zur Kasse und zum Eingang drängten. Es wurde ein knallharter We stern gegeben. Sibylle tat so, als wenn sie sich nur die Fotos in den Schaukästen an sehen wollte, konnte aber auf diese Weise in dem spiegelnden Glas den Eingang ganz gut überschauen. Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter und fuhr so unver mittelt herum, daß sie Peter Hesse, der jetzt vor ihr stand, heftig auf den Fuß trat. »Verd…«, sagte er, »was soll das?« »Entschuldige«, stotterte sie, »ich …« Sie schluckte das Ende ihres begonnenen Satzes. Schließlich konnte sie ihm ja nicht gut mitteilen, daß sie gehofft hatte, seinen Freund Jochen vor sich zu sehen. »Kann ja passieren«, sagte der gnädig, weil er ihre Verwirrung missdeutete. »Du hast mich richtig erschreckt«, sagte sie. »Kommst du mit 'rein?« Sie schüttelte ihre blonden langen Haare. »Kein Geld mehr.« Er zögerte fast unmerklich. »Ich lade dich ein«, sagte er dann mit Überwindung. »Nett von dir«, wehrte sie ab, »ich will dich nicht berauben.« Und als sie merkte, daß er sich so nicht abwimmeln lassen würde, fügte sie rasch hinzu: »Außerdem kenn' ich die Kiste.« 35
»Na dann … wir können ja auch was anderes unternehmen«, schlug Peter vor. Sibylle war nahe daran, Peters Einladung anzunehmen. Sie hätte nur zu gerne diesen verfahrenen Sonntag wenigstens mit einem netten Ab schluß gekrönt. Außerdem würde es Jochen nur recht geschehen, wenn sie mit einem anderen zusammen war. Es war ja alles seine Schuld, wa rum ließ er sie so links liegen. Sie öffnete schon den Mund, um sich einverstanden zu erklären, aber dann, im letzten Augenblick, überlegte sie es sich doch anders. Bestimmt würde Jochen schon morgen erfahren, daß sie mit Peter zu sammen gewesen war, sie gingen ja nun einmal alle in eine Klasse. Jo chen würde sich darüber kränken, das hätte sie ihm ja ohne weiteres gegönnt, aber er bekäme es bestimmt in den falschen Hals, und dann wäre alles noch verfahrener. Tatsache war: Es lag ihr einfach nichts an Peter, dafür aber um so mehr an Jochen. »Ist nicht«, sagte sie, »ich muß nach Hause. Sieh dir den Film allein an … lohnt sich, sage ich dir!« Sie trennten sich, und als Sibylle sich auf den Heimweg machte – nicht, weil sie wirklich schon nach Hause gemusst hätte, sondern ein fach deswegen, weil sie nicht wußte, was sie mit sich anfangen sollte – fühlte sie sich ein bißchen besser. Wenn schon nicht Jochen, so hatte ihr doch wenigstens Peter Auf merksamkeit geschenkt. Eine völlige Niete war sie also nicht. Aber das war nur ein schwacher Trost, denn daran hatte sie eigent lich sowieso nie gezweifelt. Sie mußte sich unbedingt etwas einfallen lassen, um sich mit Jochen zu versöhnen.
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Am nächsten Tag, dem Montag, war in der Schule alles wie immer. Jo chen Körner kümmerte sich überhaupt nicht um Sibylle, und die ande ren Jungen der Clique hielten zu ihm, obwohl er es durchaus nicht dar auf anlegte, Sibylle zu isolieren. Er hatte einen sehr erholsamen Sonntag mit seinen Eltern und sei 36
nem jüngeren Bruder am Autobahnsee verbracht, viel geschwommen und sich ausgetobt und fühlte sich glänzend. Sibylle hatte eine sehr schlechte Nacht hinter sich, und das war ihr anzusehen. Sie war blass unter der braunen Haut, hatte Schatten unter den Augen, aber das stand ihr nicht schlecht. Es gab ihrer jungen, noch etwas robusten Schönheit einen Schimmer von Durchgeistigung. Peter Hesse hätte sich während der großen Pause nur zu gerne auf ihre Seite geschlagen. Aber er wagte es nicht. Er hatte Angst, die an deren würden ihn für einen Weiberknecht halten, wenn er sich jetzt zu Sibylle und der unvermeidlichen Anita gesellte – früher waren sie ja immer eine ganze Gruppe gewesen, da hatte das anders gewirkt. Er blieb also bei Jochen und Artur, schielte nur hin und wieder zu Sibyl le hinüber. Die nächste Stunde war Mathematik. Als Jochen sein Mathematikbuch aus der Schultasche ziehen wollte, bemerkte er einen zartrosa Umschlag, der zwischen den Heften steck te. Er zog ihn heraus, noch völlig ahnungslos, sah, daß er verschlossen war, seinen Namen trug und keinen Absender. Dr. Jordan, der Mathe-Lehrer, war gerade dabei, eine geometrische Figur an die Wandtafel zu zeichnen und wandte der Klasse den Rük ken zu. Jochen legte das aufgeschlagene Buch auf die Bank, sah sich, den Brief in der Hand, um, und – sein Blick traf auf Sibylle, die aus weit aufgerissenen Augen zu ihm herüber sah. Er begriff und errötete – und weil er spürte, daß er errötete, wurde er wütend und errötete noch mehr. Sibylle wagte ein zaghaftes Lächeln zu ihm herüber, und dieses Lächeln brachte ihn geradezu zum Ko chen. Womöglich legte sie seine Verwirrung als Schwäche aus, mach te sich über ihn lustig. »Körner, nun sag uns mal … was habe ich da gezeichnet?« fragte Dr. Jordan von der Wandtafel her. Der Lehrer mußte seine Frage zweimal wiederholen, bis Jochen be griff, daß er gemeint war. Sein Hintermann boxte ihn in den Rücken, da fuhr er hoch, starrte verstört auf die Tafel. 37
»Also los! Wir warten!« drängte Dr. Jordan unerbittlich. Aber Jochen war mit seinen Gedanken so weit fort, daß er sich un möglich auf das einfache Problem konzentrieren konnte. Dabei war Mathematik sein Lieblingsfach, das ihm bisher noch nie Schwierigkei ten gemacht hatte. »Na, was ist mit dir? Was hast du?« fragte Dr. Jordan ganz verdutzt. »Entschuldigen Sie, bitte, Herr Doktor, ich …« stammelte Jochen ver stört, »ich war nicht ganz bei der Sache.« »Das scheint mir auch so. Setz dich … nein, danke, ich brauche dei ne Antwort nicht mehr, du hast uns lange genug aufgehalten! Holm, weißt du es?« »Ein Kegel, Herr Doktor!« rief Artur wie aus der Pistole geschos sen – die ganze Klasse hatte inzwischen Zeit gehabt, im Mathematikbuch nachzulesen. »Und was für ein Kegel?« »Ein stumpfer Kegel!« Der Unterricht ging weiter, ohne daß Jochen sich beteiligte. Er konn te seine Aufmerksamkeit nicht von dem länglichen zartrosa Umschlag losreißen, auf den Sibylle mit ihrer hübschen, schwungvollen Hand schrift seinen Namen gesetzt hatte. Was mochte dieser Brief enthalten? Und warum schrieb sie ihm überhaupt? Jochen hatte sich gezwungen, zu vergessen, was neulich im Wald ge schehen war – aber jetzt, in dieser Sekunde, mitten in der Klasse, wur de das Erlebnis für ihn wieder so deutlich, daß sein Herz heftig zu schlagen begann. Er spürte diese wilde, unheimliche Kraft in sich auf brechen, die ihn schon einmal so verwirrt hatte, damals, als er Sibyl les jungen, warmen Körper in den Armen hielt. Wie war es möglich, daß dieses Stück Papier, sein Name, von ihrer Hand geschrieben, ihn so aufwühlen konnte? Er starrte auf den Umschlag, der vor ihm in dem aufgeschlagenen Buch lag, und wagte nicht, ihn auch nur mit den Fingerspitzen zu be rühren, als wenn er fürchten müßte, sich daran zu verbrennen. Erst als es atemlos still in der Klasse wurde, merkte er, daß etwas Be 38
sonderes, etwas Bedrohliches im Gange war. Er hob den Blick und – sah geradewegs auf Dr. Jordans leicht vorgewölbten Bauch, über den sich die graue, sorgsam geknöpfte Weste spannte. Der Mathematikleh rer stand dicht vor ihm. Jochen reagierte, fast ohne zu denken – er schlug das Mathematikbuch zu. Aber Dr. Jordan war schneller. Er hatte den rosa Umschlag ge schnappt, noch ehe die beiden Hälften aufeinander klappten, drehte ihn jetzt mit spitzen Fingern, für die ganze Klasse sichtbar, um und um, hielt ihn mit übertrieben weit ausgestrecktem Arm vor die Augen, als wenn es ihm schwer fiele, die Aufschrift zu entziffern. Jochens Erregung verebbte schlagartig. Er fühlte sich ernüchtert, entkräftet, entnervt, wagte nicht rechts noch links zu blicken. Die Klasse blieb weiterhin atemlos still, die Schülerinnen und Schü ler senkten, je nach Veranlagung und Laune, die Köpfe unter Dr. Jor dans prüfendem Blick oder zwangen sich, ihm fest in die Augen zu se hen. Dennoch war es für den Lehrer kein Kunststück, die Schreiberin des Briefes herauszufinden. Sibylle gehörte zwar durchaus zu jenen Mädchen, die über ein Re pertoire von Unschuldsblicken, strahlendem Lächeln und kindlicher Ahnungslosigkeit verfügte, mit denen sie es unter normalen Umstän den verstand, bei den Lehrerinnen, vor allem aber bei den Lehrern, den Eindruck eines braven, artigen Mädchens zu erwecken – aber dies hier war zuviel. Bei der Vorstellung, Dr. Jordan könnte ihren Brief öffnen und lesen, was sie Jochen geschrieben hatte – all diese mühsamen Worte, dieses tastende Werben, die verzweifelten Versuche, seine Freundschaft zu rück und ein neues Interesse daran zu gewinnen –, wurde es Sibylle ge radezu übel vor Entsetzen. Zum ersten Mal in ihrem Leben begriff sie, daß eine Situation so peinlich für ein Mädchen werden konnte, daß es überhaupt keinen anderen Ausweg gab, als in Ohnmacht zu fallen – aber sie war so gesund und kräftig, daß ihr auch diese Möglichkeit zur Flucht verschlossen blieb. So saß sie da, starrte Dr. Jordan an wie ein hypnotisiertes Kanin 39
chen und konnte nur denken: Wenn er den Umschlag aufreißt, schreie ich! – Und wußte doch, daß sie selbst dann keinen Ton herausbrächte. Jetzt stand Jochen auf. »Herr Doktor«, sagte er und wunderte sich sel ber, daß er fähig war, so viel Festigkeit in seine Stimme zu legen, »das ist ein Privatbrief. Bitte, geben Sie ihn mir zurück!« Dr. Jordan sah Jochen in die tiefblauen Augen, die jetzt fast schwarz in ihrem leidenschaftlichen Ernst wirkten. Er zuckte die Schultern, sagte mit erstaunlich gleichgültiger Stimme: »Sehr schlechte Ange wohnheit, Privatpost mit in die Schule zu nehmen, Körner … hoffe sehr, daß das nicht wieder vorkommt.« Und gab ihm den Brief zurück. Die Spannung in der Klasse löste sich in einem unterdrückten Ge lächter. Sibylle spürte, daß ihr plötzlich die Tränen über die Wangen liefen, unaufhaltsam. Sie legte die Hände vor das Gesicht, aber die Trä nen tropften ihr durch die Finger. »Danke«, sagte Jochen heiser, und fühlte sich gleichzeitig unendlich beschämt und unendlich erleichtert. Das Pausenzeichen ertönte. Dr. Jordan gab noch die Aufgaben für die nächste Stunde, einer der Jungen riß die Türe zum Flur auf, die ganze Klasse begann fast gleich zeitig zu sprechen, zu lachen, zu schreien. Sibylle putzte sich die Nase mit einem Taschentuch, das ihre Bank nachbarin ihr geliehen hatte, tupfte sich die Tränen ab. Sie hob den Kopf, blickte zu Jochen hinüber, schenkte ihm ein zitterndes Lächeln. Aber Jochen sah ihr Lächeln nicht. Er stand auf, den Umschlag in der Hand, ging zum Papierkorb, zerriss den ungelesenen Brief in zahl lose winzige Schnipsel, die er in den Papierkorb fallen ließ – er tat es langsam, sehr bedächtig, fast mit Genuss. Dann schritt er, ohne Sibylle auch nur eines Blickes zu würdigen, auf seinen Platz zurück, setzte sich. Sibylle war es, als wenn er ihr einen Schlag mitten ins Gesicht gege ben hätte. Sie stürzte auf Jochen zu, mit glühenden Wangen und erho benen Fäusten. In ihren klaren Augen funkelten noch die eben vergos senen Tränen. 40
»Das«, schrie sie, »werde ich dir nie verzeihen!« Sie war so außer sich, daß es ihr ganz egal war, was für einen Ein druck sie bei den anderen mit diesem Ausbruch erweckte – ihr war al les egal, außer dem Gefühl der Enttäuschung und Erniedrigung, das sie völlig überwältigt hatte. »Na, wenn schon«, sagte Jochen, äußerlich ganz ungerührt, »das werde ich überleben.« Ein Zug von männlicher Härte prägte sich in seinem gutgeschnittenen Gesicht aus. »Du bist gemein«, fauchte Sibylle. »Ach, wie gemein du bist!« »Und du bist eine blöde sentimentale Ziege«, warf er ihr an den Kopf. Sie war nahe daran, ihm ins Gesicht zu schlagen, aber die kühle, ab schätzende Art, mit der er sie aus zusammengekniffenen Augen be trachtete, nahm ihr den Mut. »Achtung, Dr. Brecht kommt!« rief der Junge an der Tür. Die Schülerinnen und Schüler nahmen rasch ihre Plätze wieder ein, standen auf. Nur Sibylle nicht. Sie rannte den Seitengang entlang, vorbei an dem verblüfften Dr. Brecht, der gerade das Klassenzimmer betrat, hinaus auf den Flur. »Nanu«, sagte der Lehrer und rückte an seiner Brille, »was ist denn in Sibylle gefahren?« »Ihr ist schlecht, Herr Doktor«, erklärte Anita, ohne mit der Wim per zu zucken. »Ach so! Dann solltest du ihr doch wohl besser nachgehen und dich um sie kümmern«, sagte Dr. Brecht. Das war Anita gar nicht recht. Sie verließ sehr zögernd die Klasse – nicht, weil sie bedauerte, einen Teil des Unterrichts zu versäumen, son dern weil ihr vollkommen klar war, daß Sibylle keinen Trost von ihr annehmen würde. So wartete sie einfach draußen vor der Türe, bis Sibylle aus dem Waschraum zurückkam. »Besser?« fragte sie. »Danke«, erwiderte Sibylle kurz. Sie trug den Kopf hoch, hatte ihr blondes schulterlanges Haar sorgfältig gekämmt, Gesicht und Augen 41
mit kaltem Wasser gekühlt. Die Türklinke schon in der Hand, zögerte sie einen Augenblick lang: »Wie sehe ich aus?« »Es läßt sich mit Fassung tragen«, meinte Anita nicht eben trost reich. »Na dann«, sagte Sibylle entschlossen, warf das schimmernde Haar zurück, öffnete die Türe. Mit einem gekonnten Lächeln stolzierte sie durch die Klasse, ent schuldigte sich bei Dr. Brecht, setzte sich auf ihren Stuhl und gab sich völlig unbefangen. Sie beachtete Jochen nicht mehr, und er sah durch sie hindurch, und dabei blieb es von nun an – fast zwei lange, unendlich lange Monate.
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Ende Oktober hatte das ›Geschwister-Scholl-Realgymasium‹ Wander tag. Dr. Brecht, der Klassenlehrer der Sechsten – er unterrichtete Deutsch und Geschichte –, entschloß sich, mit seiner Schar nach Schloß Kleeheim hinaus zu fahren. – Er hatte schon seit langem vorgehabt, sie ein mal durch das wunderschöne Rokoko-Schloss zu führen. Am Abend zuvor gab es das übliche Hangen und Bangen: Wird sich das Wetter halten? Die Jungen schlossen Wetten ab, und die Mädchen diskutierten eifrig darüber, was sie anziehen wollten, falls es, all ihren Hoffnungen zum Trotz, am Wandertag doch regnen würde. Aber am nächsten Morgen war der Himmel wie all die Tage und Wochen zuvor. Die Klasse traf sich am Bahnhof. Man fuhr mit dem Personenzug fünf Stationen vor die Stadt. Von der Bahnstation aus marschierten sie durch die herbstlich bunten Wälder – die Mädchen immer nahe bei Dr. Brecht, während die Jungen sich ganz bewußt zurückhielten und in Gruppen auflösten. Nach zwei Stunden war das Schloss erreicht, alle hätten jetzt am lieb sten Pause gemacht, aber Dr. Brecht war unerbittlich – er schleifte sie alle erst noch durch sämtliche Zimmer des Schlosses und dann über 42
die breite geschwungene Freitreppe, die auf einer riesigen Terrasse en dete, ins Freie. Jetzt endlich kam die Erlaubnis zum Rasten. Die Klasse verteilte sich in dem wunderbaren alten Park mit den weiten Rasenflächen, den prächtigen Baumgruppen und den beschnittenen Hecken. Um einen Brunnen waren im Rondell steinerne Bänke gruppiert. Jochen Körner, Peter Hesse und Artur Holm belegten eine mit Be schlag – Sibylle Sandner und ihre Freundin Anita und die anderen Mädchen nahmen auf einer anderen Bank schräg gegenüber Platz. Die Mädchen tauschten, als wenn sie sich der Anwesenheit der Jun gen durchaus nicht bewußt wären, ziemlich hochgestochene kunstge schichtliche Bemerkungen aus, die Jungen blödelten miteinander. Alle aber machten sich mit gutem Appetit über die mitgebrachten Brote und Getränke her. Sie waren mit ihrer Mahlzeit noch nicht halb fertig, als eine ande re Jungengruppe heranschlenderte – große Jungen, fast schon ausge wachsene Männer, offensichtlich Schüler einer oberen Klasse. »Die sind vom Gymnasium«, erklärte Artur mit vollem Mund, »den einen, den großen Blonden da, den kenne ich … er heißt Helmut Kämpf!« »Na, wenn schon«, sagte Jochen mit gespieltem Gleichmut, während sich seine Muskeln schon spannten – er war darauf gefaßt, daß die an deren versuchen würden, sie zu vertreiben, und er wollte es ihnen auf alle Fälle so schwer wie möglich machen. Er war bereit, um den Platz zu kämpfen. »Noch Platz für uns, Jungen?« fragte einer der Großen. »Drüben«, erwiderte Jochen und zeigte auf eine andere Steinbank, die allerdings tief im Schatten lag. »Fein. Dann haut ab!« sagte Helmut Kämpf grinsend. Jochen und Peter setzten sich nur noch fester hin, aber Artur schob den Rest seines letzten Brotes in den Mund und erhob sich. »Hallo, Helmut«, sagte er friedfertig, »von mir aus kannst du, ich bin so schon fertig!« Aber die Bereitwilligkeit, mit der er seinen Platz geräumt hatte, ver 43
darb den Großen die Freude am Spiel – vielleicht auch die Tatsache, daß Helmut Kämpf in Artur den Sohn eines Geschäftsfreundes seines Vaters erkannte. »Tag, Artur«, sagte er lässig, »kommt, Freunde, seien wir kinder freundlich, lassen wir den Kleinen ihren Platz an der Sonne. Schließ lich müssen sie ja noch wachsen.« Er legte Artur die Hand auf die Schulter, schob ihn mit sich. »Angeberbande«, knurrte Peter Hesse. Jochen nahm einen Schluck aus der Thermosflasche. »Du sagst es!« »Gehören die Bienen zu euch?« fragte Helmut Kämpf. »Klar«, erwiderte Artur prompt, »die sind aus unserer Klasse.« Helmut schnalzte. »Nicht übel.« »Na, es geht«, sagte Artur. »Habt ihr auch so 'nen Fußmarsch hin ter euch?« Aber Helmut Kämpf ließ sich nicht ablenken. »Tatsächlich, tolle Bie nen«, sagte er, »besonders die Blonde da wäre genau meine Kragenwei te … willst du uns nicht bekanntmachen, Artur? Das heißt natürlich, vorausgesetzt, du hast keine älteren Rechte.« Er bot Artur eine Ziga rette an. »Ach wo!« Artur griff zu. »Die interessieren mich überhaupt nicht … wenn du jeden Tag mit denen zusammen wärst, tätest du das auch nicht.« Er ließ sich von Helmut Kämpf Feuer geben, rauchte ein biß chen ungeschickt, weil er es nicht gewohnt war. »Also?« fragte Helmut. »Die Blonde heißt Sibylle Sandner.« Helmut erhob sich, schlenderte zu den Mädchen hinüber, sagte mit einer knappen Verbeugung: »Meine Damen, darf ich mich vorstel len … mein Name ist Helmut Kämpf.« Sibylle lächelte ihm von unten herauf zu. »Wie ich heiße, das wissen Sie ja schon …« Helmut stieß den Rauch durch die Nase. »Oho! Sie haben uns be lauscht?« »Es war nicht zu überhören …« Sie machte ihn mit Anita und den anderen Mädchen bekannt. 44
»Darf ich Ihnen ein bißchen Gesellschaft leisten?« »Aber ja, das wäre nett«, sagte Sibylle bereitwillig und rutschte beisei te, so daß Helmut Kämpf sich zwischen sie und Anita drücken konnte. »Wissen Sie, unsere Jungen sind leider ziemliche Langweiler!« Sie sah ihn mit großem Augenaufschlag an. Er legte ungeniert seinen Arm um ihre Schulter. »Habe ich bereits bemerkt!« »Ich höre, ihr seid zu Fuß gekommen?« fragte er endlich – das steife Sie hatten beide schon nach kurzer Zeit fallengelassen. »Das war eine ganz schöne Anstrengung«, sagte Anita. »Kann ich mir vorstellen … paß mal auf, Mädchen, ich habe eine Idee!« »Ja?« »Fahr doch einfach mit uns zurück. Wir sind mit 'nem Bus gekom men, steht auf der anderen Seite vom Schloss und führt uns direkt in die Stadt zum Hauptplatz.« »Schön wäre es ja«, sagte Sibylle, »aber ich fürchte, das wird unserem Alten nicht passen!« »Wenn es weiter nichts ist … stell dich einfach krank!« Helmut Kämpf warf den Zigarettenstummel in den Kies, drückte die Glut mit dem Absatz aus. Er stand auf, zog Sibylle an der Hand hoch. »Komm! Schla gen wir uns in die Büsche, wir müssen uns einen genauen Schlacht plan zurechtlegen.« Sibylle ließ sich ziehen, lachend, mit wehendem Haar, und es sah aus, als wenn sie Helmut tatsächlich in die verschlungenen Heckengänge des Parks folgen wollte – und gerade das war mehr, als Jochen ertra gen konnte. Mit einem Satz war er auf den Beinen, stürzte sich auf Sibylle, riß sie von Helmut los. »Au!« schrie sie mit gespielter Empörung. »Was fällt dir ein?« Er packte sie im Nacken, schüttelte sie hin und her. »Dir verdamm tes Biest werde ich es schon noch geben!« brüllte er. »Das könnte dir so passen, dich mit dem ersten besten dahergelaufenen Jungen zu ver drücken! Dir werde ich es zeigen … du!« 45
Helmut Kämpf, einigermaßen verdutzt, war drauf und dran, sich auf Jochen zu werfen – aber dann dachte er an seinen neuen hellgrau en Anzug, das weiße Hemd, die gute Krawatte –, nein, es lohnte sich wirklich nicht, sich das alles wegen eines albernen Teenagers zu ver sauen. Er zog sich achselzuckend und in guter Haltung zurück. Statt dessen preschte, völlig überraschend sogar für sich selber, Artur Holm vor. »Jochen!« schrie er. »Bist du wahnsinnig geworden?! Lass Si bylle los … was fällt dir ein?!« Seine Worte hatten Erfolg, schneller, als er erwartet hatte. Jochen gab Sibylle frei und stürzte sich auf Artur. Jochen und Artur prügelten sich nach allen Regeln der Kunst. Die Mädchen schrien und sprangen auf, die Jungen bildeten einen dich ten Kreis um die Kämpfenden, die erst voneinander abließen, als Dr. Brechts Trillerpfeife ertönte. Beide waren arg zerschunden. Knie, Unterarme und Hände waren durch die scharfen Kiessteinchen zerschrammt, Jochen blutete aus der Nase, und Arturs linkes Auge war angeschwollen. Sibylle vergaß ihre bisher krampfhaft bewahrte Zurückhaltung. »Mein Gott, Jochen!« schrie sie. »Wie siehst du aus! Du blutest! Es tut weh, ja? Komm, wasch dich ab, kühl dein Gesicht … hier hast du mein Taschentuch!« Sie packte ihn beim Arm und zog ihn zu dem alten, halb überwu cherten Sandsteinbrunnen, der inmitten des Rondells stand und aus dessen einer Röhre noch ein dünner Wasserstrahl schoß. Jochen, ei nigermaßen verstört und verwirrt, halb betäubt von den Schlägen, die er an den Kopf bekommen hatte, dachte nicht daran, Sibylle zurück zustoßen. »Geht ihr schon vor!« rief sie den anderen zu, als die Trillerpfeife zum zweiten Mal ertönte. »Wir kommen nach. Erzählt Dr. Brecht ir gendwas, damit er nicht auf uns wartet … los, macht doch schon, es ist ja nicht nötig, daß er hierher kommt!« Die anderen schoben ab, nur Artur blieb zurück, starrte fassungs los auf Sibylle und Jochen, die so taten, als wenn es nie eine Spur von Feindschaft zwischen ihnen gegeben hätte. Sein verschwollenes Auge 46
schmerzte mehr und mehr, morgen würde es bestimmt blau wie ein Veilchen sein – und wofür das alles? Für Sibylle, die er vor Jochens Wut hatte retten wollen und die jetzt noch nicht einmal Dankeschön sagte. »Man könnte meinen, daß ich der Angreifer gewesen wäre«, sagte er verbittert. »Klar, warst du ja auch«, parierte Sibylle sofort, »wozu mußt du dich einmischen? Jochen hätte mir schon nichts getan.« »Verdammt noch mal!« schrie Artur. »Jetzt hört aber doch alles auf!« Artur sah Jochen an. »Findest du auch, daß ich schuld bin?« »Keine Ahnung«, sagte Jochen, »wen interessiert denn das schon.« Artur hielt sein Taschentuch unter den kalten Wasserstrahl, sah zu, wie Sibylle und Jochen sich langsam, ohne auf ihn zu warten, entfern ten – damit nicht genug, sie gingen Hand in Hand wie ein verliebtes Paar. Er spürte Schmerz und Eifersucht in sich aufsteigen – merkwürdig, er war nicht wütend auf Jochen, der ihn doch eigentlich verraten hatte, er war nur zornig auf Sibylle, denn sie, nur sie war an allem schuld.
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Sibylle und Jochen hielten sich auf dem Heimweg abseits von den an deren. Sie gingen Hand in Hand, eine Weile eingehakt, und einmal legte er auch den Arm um ihre Schulter. Sie sprachen wenig, aber beide waren vollkommen glücklich – viel leicht waren sie auch so schweigsam, weil sie instinktiv fürchteten, ein unbedachtes Wort könnte ihre kaum gewonnene Harmonie wieder zerstören. Sibylle spürte nicht mehr, daß ihre Füße weh taten, sie hätte ewig so weitergehen können. – Jetzt, dachte sie, jetzt gleich muß er mir doch sagen, daß er mich liebt! Jetzt wird er mich doch bitten, mit ihm zu ge hen. »Müde?« fragte er. 47
Sie schüttelte den Kopf, daß ihr helles blondes Haar flog. »Sonst hätte ich dich getragen.« »Das kannst du ja gar nicht«, sagte sie impulsiv. »Aber ja doch. Soll ich es dir beweisen?« Er machte Anstalten, sie auf die Arme zu nehmen. Aber diesmal wich sie vor ihm zurück. »Bloß nicht«, sagte sie, »wenn sich nun jemand umdreht … und Artur kommt auch noch hinter uns.« »Na, wenn schon«, sagte er. »Was macht denn das?« Sie zuckte die Schultern. »Eigentlich nichts, nur … na eben, wir könnten Ärger kriegen.« Eine ganze Weile liefen sie wieder schweigend weiter. Sie war nahe daran, ihn zu fragen: Machst du dir eigentlich etwas aus mir? Nein, wies sie sich selber zurecht, das würde blöd wirken. Ob sie ihm lieber sagen sollte, wie gut er ihr gefiel? Wie sehr sie unter der Spannung der letzten Wochen gelitten hatte? »Wir wollen uns nie wieder streiten, ja?« sagte sie aus ihren Gedan ken heraus. »Bestimmt nicht«, bestätigte er. »Warst du auch so … unglücklich?« Er grinste. »Nur nicht übertreiben.« Sie schnappte sofort ein. »Soll das heißen, daß du dir überhaupt nichts daraus gemacht hast?« »Na, angenehm war es nicht …«, gab er zu. »Aber du hast doch eben gesagt …« Er fiel ihr ins Wort. »Na, wer hat denn nun eben groß verkündet, daß wir uns nie mehr zanken wollen? Und wer fängt jetzt schon wieder an, Krawall zu machen?« »Oh, Jochen, ich …« Sein hübsches Gesicht mit den tiefblauen Augen, dem weichen brau nen Haar, das ihm lose in die glatte Stirn fiel, dieses geliebte Gesicht, von dem sie Tag und Nacht geträumt hatte, war dicht vor ihr – und plötzlich konnte und wollte sie sich nicht länger beherrschen. Sie warf beide Arme um seinen Hals, drückte ihm einen raschen Kuss auf die Lippen. Dann riß sie sich los und rannte den anderen nach. 48
Als Jochen sich von seiner Verblüffung erholt hatte, wollte er hinter ihr herlaufen, aber da hatte sie schon Anita erreicht, hängte sich bei ihr ein. Er spürte ein heißes, nie gekanntes Glücksgefühl durch seinen Kör per jagen, blieb stehen und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Er merkte gar nicht, daß Artur ihn eingeholt hatte. »Na ja«, sagte der Freund, »ich kann das ja verstehen. Aber wenn du unbedingt so was anfangen willst, dann doch lieber nicht in der Klas se. Du wirst sehen, dabei kommt nur ein heilloser Kuddelmuddel her aus.« »Aber gar nicht«, sagte Jochen, »hast du eine Ahnung!« »Doch«, beharrte Artur, »habe ich.« Er legte ihm versöhnend die Hand auf die Schulter. »Ich meine es doch nur gut mit dir. Lass die Fin ger von dem Mädchen … die will dich ja bloß auf die Palme bringen.« Doch Jochen schüttelte mit einer heftigen Bewegung seine Hand ab. »Ach, rutsch mir doch den Buckel herunter«, sagte er grob – und spür te gleichzeitig, daß er nur deswegen so böse reagierte, weil Artur seine geheimsten Befürchtungen ausgesprochen hatte. Artur hatte die Lippen fest aufeinander gepresst, blickte an ihm vor bei. »Das ist doch alles Quatsch, Boy«, sagte er, »was ist denn schon ge schehen? Gar nichts. Und es geschieht auch nichts, verlass dich drauf.« Als Arturs Gesicht sich immer noch nicht aufhellte, fügte er hinzu: »Entschuldige schon, ich kann bloß nicht vertragen, wenn du so her umunkst!« Er gab Artur einen freundschaftlichen Puff zwischen die Rippen. »Wir beide werden uns doch nicht wegen so einer Zimtzicke in die Haare geraten, oder?« – Aber noch während er es aussprach, wurde ihm bewußt, daß er damit Sibylle und seine eigenen Gefühle verriet, und Arturs erleichtertes Lächeln bereitete ihm keine Genugtuung.
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Als Jochen Körner am späten Nachmittag von der Omnibushaltestelle zu dem modernen Haus in der Parkstadt ging, in dessen 5. Stock seine Eltern und Geschwister lebten, lief ihm sein kleiner Bruder Jan entge gen. Er trug einen bunten Drachen unter dem Arm geklemmt. »Tag, Jochen!« Der große Bruder brummte nur etwas Unverständliches. Er war voll ausgelastet mit seinen eigenen Problemen und nahm kaum Kenntnis von der Anwesenheit Jans. »Du, hör mal …« Der Kleine zupfte ihn am Ärmel. Jochen ging weiter. »Nun hör doch mal!« schrie Jan ganz verzweifelt. »Mir ist etwas pas siert!« »'ne schlechte Note?« fragte Jochen, immer noch völlig abwesend. »Wenn es nur das wäre! Jochen, Mensch, du, du mußt mir helfen! Ich sitze in einer furchtbaren Klemme!« Jetzt, zum ersten Mal, blickte Jochen den kleinen Bruder ganz be wußt an und sah, daß der Blick der schmalen, schrägen Augen, in de nen sonst tausend Kobolde tanzten, tatsächlich ganz verstört war. »Nanu«, fragte er erstaunt, »wo brennt's denn, Kleiner?« Jan fuhr sich verzweifelt mit der gespreizten Hand durch das zer zauste kohlschwarze Haar. »Ich hab's nicht mit Absicht getan«, sagte er, »ganz bestimmt nicht, das heißt, ich hab's mir nicht richtig vorher überlegt, und jetzt …« Er schluckte, kämpfte heftig mit den aufsteigen den Tränen. Jochen packte ihn beim Arm, nahm ihn beiseite. »Du hältst ja den ganzen Verkehr auf, Kleiner, willst du, daß die Leute auch noch über dich stolpern? Jetzt gehen wir erst mal nach oben, und dann erzählst du mir alles in Ruhe …« »Aber ich kann doch nicht mehr nach Hause!« rief Jan gepresst. »Nicht mehr …? Also hör auf, du hast ja einen ausgewachsenen Vo gel.« »Bestimmt nicht, wenn du erst weißt … bitte, bitte, hilf mir, Jo chen!« »Aber zuerst muß ich doch überhaupt wissen, worum es geht.« 50
»Das sollst du ja auch«, sagte Jan, »aber nicht hier … und auch nicht in der Wohnung … komm mit in den Keller, da sind wir ungestört.« Jochen ließ sich von dem kleinen Bruder mitzerren, konnte aller dings die Bemerkung nicht unterdrücken, daß er den ganzen Tag un terwegs gewesen sei und einen Mordshunger habe. Aber Jan hörte ihm gar nicht zu. Er lief in das Haus hinein, öffnete die Türe zum Keller und zog Jochen mit sich. Es war Jochen, der das Licht anknipste und die Türe hinter ihnen schloß. »Nun mal los«, sagte er, »mach's nicht so feierlich … also, was ist passiert?« Jan zögerte. Dann zog er wortlos seinen Drachen vor, hielt ihn Jo chen unter die Nase. Der begriff erst gar nicht, was das sollte, bis sein Blick auf den Dra chenschwanz fiel – einen langen, mit bunten Papierschleifen ge schmückten Schwanz, der – Jochen traute seinen Augen nicht! – in ei nem regelrechten Zopf, einem dicken blonden Mädchenzopf mit einer knallblauen Schleife endete. »Nein«, sagte er, »nein, das ist doch wohl nicht möglich!« »Doch!« rief Jan mit tränenerstickter Stimme. »Das ist es ja eben! Jetzt weißt du, warum …« »Auf keinen Fall nehme ich dir ab, daß du das nicht mit Absicht ge tan hast!« sagte Jochen mit Nachdruck. »Du hast den Zopf doch regel recht abgeschnitten, so was kann doch nicht aus Versehen passieren, gib es zu!« »Ich … wenn du bloß wüsstest, Jochen! Sie hat mich so geärgert!« »Wer?« »Lilo natürlich … Lilo Hesse!« Das hätte ich mir denken können, dachte Jochen, natürlich Peters Schwester! Die beiden liegen sich doch seit eh und je in den Haaren! »Du kleiner Idiot«, sagte er laut, »was hast du dir bloß dabei gedacht? Vater geht doch mit Herrn Hesse in den Kegelklub!« »Ich weiß!« schrie Jan, »als wenn ich das nicht wüsste!« »Ein bißchen leiser, wenn ich bitten darf, du hast wirklich keinen Grund, so herumzubrüllen!« mahnte Jochen. »Ich an deiner Stelle wür 51
de jetzt ganz klein und still und bescheiden sein.« Aber gerechterweise dachte er, daß Jan eben doch erst zwölf Jahre alt war, ein richtiges Kind noch, und blitzschnell durchzuckte ihn die Erinnerung an die eigenen Dummheiten, die er selber in diesem Alter angestellt hatte. Jan konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Jetzt weinte er wirk lich. Nichts von seiner üblichen Keckheit war mehr übrig geblieben. Er war nichts als ein kleines erbarmungswürdiges Häufchen Elend. »Sie hat mich so geärgert«, schluchzte er, »diese blöde eingebilde te Gans! Ihr Drachen ist höher gestiegen als meiner … na, Kunst stück, ihren hat ja auch Peter gemacht, und bei meinem hat mir nie mand geholfen … aber angegeben hat sie, angegeben, ich sage dir! Da bei gehört's sich doch überhaupt nicht für ein Mädchen, Drachen stei gen zu lassen, findest du nicht auch?« Jochen wurde sich plötzlich der Komik der Situation bewußt und unterdrückte nur mit Mühe ein Lächeln. »Na, ich weiß nicht«, sagte er, »im Zeitalter der Gleichberechtigung …« »Sie hat sich widerlich benommen, einfach widerlich! Lustig hat sie sich über mich gemacht, vor allen anderen.« Jan versuchte, sie nach zuahmen, piepste mit albern quäkender Stimme: »Dein Drachen wak kelt ja, da mußt du dich nicht wundern, daß er nicht hochkommt! Du mußt den Schwanz besser belasten!« Jan schnaufte. »Und immer so weiter, Jochen, und die anderen haben drum herum gestanden und über mich gelacht … und dann habe ich die Schere genommen … die hatte ich zufällig bei mir, weil ich dachte, daß ich vielleicht noch etwas ausbessern müßte … und habe ihr den einen Zopf abgeschnitten …« »Und Lilo?« fragte Jochen. »Was hat die daraufhin gemacht?« »Das ist es ja eben! Sie hat mir die Schere aus der Hand gerissen und sich den zweiten Zopf auch abgeschnitten! Und dann hat sie geschrien: ›Glaub nur nicht, daß ich mich ärgere, ich bin ja froh, daß ich die blö den Zöpfe los bin … aber du bist schuld daran, du allein! Du wirst schon sehen, was meine Mutter macht, wenn ich ihr das erzähle!‹« Jochen Körner sah seinen kleinen Bruder nachdenklich an, der da so mit seinem Drachen mit dem komischen Schwanz aus Mädchenhaa ren vor ihm stand, wie kindlich waren Jans Sorgen, verglichen mit den 52
Problemen, mit denen er selber sich herumschlug! Und doch, er sah die Angst in Jans Augen, die nackte Verzweiflung. »Nun reg dich mal nicht so auf«, sagte er etwas herablassend, »was soll denn schon passieren!?« »Aber verstehst du denn nicht!« Jans Stimme schnappte vor Auf regung über. »Lilo wird's ihrer Mutter sagen, und Frau Hesse wird es Vater sagen, und … und … vielleicht wird Frau Hesse sogar zur Schule laufen und mich anschwärzen, und dann werde ich gefeuert, und …« Jochen fuhr mit der Hand in Jans kräftiges kohlschwarzes Haar, schüttelte ihn leicht. »Herrje, nun nimm dich doch zusammen! Wenn du jetzt wieder anfängst zu plärren, lasse ich dich einfach stehen!« Aber Jan war außerstande, seine Tränen zurückzuhalten, so sehr er sich auch bemühte. Er klammerte sich an Jochen, sah mit seinem trä nenüberströmten Gesichtchen, das vor lauter Kummer ganz zusam mengeschrumpft schien, zu ihm auf und schrie: »Du mußt mir helfen, Jochen … du mußt!« Jochen war nahe daran, ihn von sich zu stoßen. Aber ganz plötzlich erinnerte er sich wieder an eine andere Szene, in einem anderen Haus, zu einer anderen Zeit. Sie hatte nicht auf der Kellertreppe stattgefun den, sondern in einem Schuppen, und doch, wie ähnlich war die Situa tion gewesen. Damals hatten sie noch nicht in der Parkstadt gewohnt, und er, Jochen, war so alt gewesen wie Jan heute war, genauso alt und genauso verzweifelt. Und dabei war es um etwas viel Harmloseres gegangen als um einen abgeschnittenen Zopf – um eine eingeschlagene Fensterscheibe! Aber damals hatte er sich genauso beschwörend an seinen älteren Bruder Jens gewandt, und Jens hatte geholfen – wie, daran konnte er sich nicht mehr erinnern, aber das Gefühl war ihm noch ganz gegenwärtig, das er nach dem Gespräch im Schuppen gehabt hatte, dieses herrliche Ge fühl von Geborgenheit und Vertrauen, weil der große Bruder verspro chen hatte, die Angelegenheit zu regeln. »Wie stellst du dir denn vor, daß ich dir helfen kann?« fragte Jochen, milder gestimmt. 53
Jan klammerte sich noch immer an ihn. »Du mußt sie verhauen!« »Wen?« fragte Jochen, ehrlich verdutzt, denn auf diese Idee wäre er niemals gekommen. »Lilo natürlich! Verpass ihr eine, daß ihr Hören und Sehen vergeht … dann wird sie nicht wagen, zu ihrer Mutter zu laufen und zu petzen!« Jochen runzelte die Stirn. »Aber, Jan, man kann doch ein kleines Mädchen nicht verhauen!« »Die schon! Die ist überhaupt nicht so zart, und … na ja, wie du dir vorstellst. Ich krieg sie nicht mehr unter, aber du … vor dir hat sie Angst! Du mußt sie verbläuen!« Jochen schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Mach' ich nicht. Außerdem würde es auch nichts nützen.« »Du brauchst es ja nicht selber zu tun«, schrie Jan, »wenn du so ko misch bist! Sag es einfach Peter … Peter ist doch dein Freund! Der ohr feigt seine Schwester bei jeder Gelegenheit, da kann er es auch einmal für mich tun!« »Mir scheint«, sagte Jochen und klopfte seinem Bruder gegen die Stirn, »daß jemand dir ins Gehirn gespuckt und nachher vergessen hat, umzurühren. Wenn man einen Quatsch gemacht hat, dann macht man ihn doch nicht dadurch ungeschehen, daß man einen neuen Quatsch draufsetzt …« »Aber was soll ich denn sonst tun?« schrie Jan dazwischen. »Mich erst mal anhören, Kleiner.« Jochen löste Jans Fäuste von seiner Jacke, packte ihn von hinten um die Handgelenke und stieß ihn vor sich her die Kellertreppe hinauf. »Jetzt gibt es nur noch eines … das Rad der Geschichte herumzuwerfen, wie Dr. Brecht zu sagen pflegt. Du machst jetzt eine Wendung um 180 Grad …« »Aber wie denn?« Jochen stieß mit dem Fuß die Kellertüre auf. »… indem du dich bei Hesses entschuldigst!« »Nie!« schrie Jan. Er versuchte, sich loszureißen, aber Jochens Griff war eisern. Jan schlug nach hinten aus wie ein wildes Füllen, ohne daß es ihm gelang, Jochens Schienbeine zu treffen. Er erreichte lediglich, daß das Papier 54
seines Drachens zerriss. Jochen verdrehte ihm die Arme, bis er in die Knie sank. »Aua! Du tust mir ja weh! Lass los, du Feigling!« rief Jan schmerzer füllt und ließ den Drachen fahren. »Ich denke ja nicht dran! Erst wenn du versprichst, alles zu tun, was ich dir sage …« »Kommt nicht in Frage … au weh! Ja, ja, ich tu's!« Jochen ließ seinen kleinen Bruder so plötzlich los, daß der beinahe auf die Nase gefallen wäre. Jan rieb sich stöhnend die schmerzenden Gelenke. »Das war Erpres sung … so 'ne Gemeinheit!« »Nötigung meinst du wohl«, sagte Jochen ungerührt, »du verwech selst mal wieder die Begriffe. Erpressung ist was ganz anderes.« »Egal! Jedenfalls, du hast mich gezwungen, und deshalb … also, was ich gesagt habe, gilt nicht!« Jan brachte sich mit Blitzesschnelle hinter dem Treppengeländer in Sicherheit. Jochen zog sich seinen Kragen zurecht, fuhr sich glättend mit der Hand durch das braune weiche Haar, das durch die tätliche Auseinan dersetzung mit seinem Bruder leicht zerzaust war. »Na, bitte«, sagte er, »von mir aus. Mach was du willst … aber frag mich bloß nicht mehr um Rat.« Er trat an den Lift, drückte auf den Rufknopf. Von der Straße herein kam eine Mitbewohnerin des Hauses, eine junge Frau mit einer großen Tasche, stellte sich wartend neben Jochen. Aus Gründen, die den beiden Körners selber unerklärlich waren, ko stete sie es Überwindung, zu grüßen, und da sie beide spürten, daß sie es jetzt eigentlich gemusst hätten, wurden sie beide rot. Jochen sah bei seite, und Jan nahm rasch seinen Drachen wieder auf, hüpfte einige Treppenstufen hoch. Der Lift kam, Jochen öffnete die Türe, ließ die junge Frau zuerst hin ein – er wußte durchaus, was sich gehörte, es fiel ihm nur oft schwer, das auch auszuführen. Als er selber hineinschlüpfen wollte, fühlte er sich wieder an der Jacke gezupft. »Bitte«, sagte Jan, »bitte …« »Also, was ist?« fragte die Frau ungeduldig. 55
Jochen stieg wieder aus. »Jetzt langt's mir aber«, sagte er gereizt, »was ist denn nun schon wieder, du verdammter kleiner Idiot?« »Meinst du wirklich, daß ich mich entschuldigen sollte?« »Klar, Kleiner. Sonst hätte ich es dir doch gar nicht vorgeschlagen.« »Würdest du … mitkommen?« Jochen zögerte. Ihm war dieser Bittgang mindestens so unangenehm wie dem Bruder. Aber es mußte wohl sein. Er war der ältere, er konnte Jan doch nicht einfach im Stich und seinem Schicksal überlassen. »Na, schön«, sagte er, »dann gehen wir!« Er legte Jan die Hand auf die Schulter, mit einem zugleich beschützenden wie zwingenden Griff, und sie marschierten auf die Straße zurück.
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Hesses wohnten in einem Mietshaus in der Parkstadt, das dem, in dem Körners lebten, in jeder Beziehung entsprach – nur lag es ein Stück weiter von der Bushaltestelle entfernt und näher dem Park, der der modernen Vorstadt den Namen gegeben hatte. Es herrschte jetzt ein ziemliches Treiben auf den sonst so stillen Straßen, weil Männer und Frauen von ihren Arbeitsplätzen heimkehrten. Jochen und Jan kamen schnell voran, wobei sie eine besondere Tech nik entwickelten, mit der sie sich durchschlängelten. Selbst Jan hatte es sehr eilig, er stürmte voran, den Drachen gegen die Brust gepresst. Es war ihm klar, daß eine Entschuldigung nur dann einen Zweck hat te, wenn sie nicht zu spät kam – falls Frau Hesse sich schon mit seinem Vater oder der Schule in Verbindung gesetzt hatte, war nichts mehr zu machen. Die Brüder nahmen sich nicht einmal die Zeit, mit dem Aufzug hin aufzufahren, sie jagten mit langen Schritten, immer zwei Stufen über springend, über die Treppe zum zweiten Stock hinauf, und Jan hielt in seiner Aufregung den Finger viel zu lange auf den Klingelknopf. Jochen riß ihm schließlich die Hand zurück. »Bist du denn wahnsin nig?! Du kannst doch nicht klingeln wie ein Verrückter!« Die Tür wurde aufgerissen, und Frau Hesse erschien. »Ach so, ihr 56
seid es nur«, sagte sie halb enttäuscht und halb erleichtert, als sie die beiden Jungen erkannte. »Peter kann aber jetzt nicht kommen, wir es sen gleich zu Abend.« Sie war hübsch zurechtgemacht, trug eine klei ne Schürze vor ihr dunkelgraues elegantes Kleid gebunden – offen sichtlich war sie dabei gewesen, die letzten Vorbereitungen in der Kü che zu treffen. Die Jungen standen etwas verlegen da, Jan versteckte seinen Drachen hinter dem Rücken, stieß seinen älteren Bruder an, und der entschloß sich endlich zu reden. »Wir wollten nicht zu Peter«, sagte er, »wir sind gekommen … na, Sie können es sich ja wohl denken!« »Nein«, sagte Frau Hesse ganz erstaunt. Jan zupfte Jochen am Ärmel. »Sie weiß nichts«, flüsterte er ihm zu, »hau'n wir lieber ab!« Aber Jochen dachte nicht daran, im letzten Moment zu kneifen. »Dürfen wir wohl einen Augenblick 'reinkommen?« fragte er. »Aber sicher, nur … wie gesagt, wir essen gleich.« Frau Hesse öffnete die Tür weiter und trat zurück. Jochen gab seinem kleinen Bruder einen Knuff in den Rücken, so daß er, ob er wollte oder nicht, in die kleine Diele stolperte. »Wir möchten mit Ihnen sprechen, Frau Hesse«, sagte Jochen und ließ sich die Anstrengung nicht anmerken, die es ihn kostete, seine Schüchternheit zu überwinden, »es ist nämlich so …« Plötzlich fiel ihm etwas ein, und er unterbrach sich mitten im Satz: »Ist Lilo schon zu Hause?« Frau Hesse beantwortete diese Frage nicht, sondern sagte erregt: »Hat sie etwa noch etwas angestellt?! Dieses fürchterliche Mädchen … nein, wirklich, ich weiß nicht, womit ich so ein Kind verdient habe! Wisst ihr, wie sie nach Hause kam? Ohne Zöpfe! Ihr wunderschönes langes Haar hat sie sich abgeschnitten … ihr könnt euch nicht vorstel len, wie sie jetzt aussieht! Grauenhaft!« Jochen hatte seinem Bruder wieder die Hand in den Nacken gelegt. Jetzt verstärkte er seinen Griff unbarmherzig, bis der Kleine sich zu re den bequemte. »Sie hat's nicht selber getan«, sagte Jan endlich, »lass mich los, Jo 57
chen, ich erzähle schon alles! Sie hat mich geärgert, und da … ich bin's gewesen …« Und er hielt Frau Hesse seinen Drachen mit dem ange bundenen Mädchenzopf vor die Nase, der jedes weitere Wort der Er klärung überflüssig machte. Seltsamerweise wurde Frau Hesse nicht böse, sondern sie strahlte ge radezu auf. »Du warst das also?« rief sie. »Oh, dieses dumme, dum me Ding, warum hat sie mir das denn nicht gesagt!« Sie lief zu einer der Türen, rüttelte an der Klinke. »Lilo, Liebling, mein kleiner Schatz, komm heraus … Mutti weiß alles! Du brauchst keine Angst mehr zu haben!« Jochen trat von hinten an Frau Hesse heran. »Jan tut es ehrlich leid«, sagte er, »er wird so etwas nicht wieder machen … wenn Sie es wün schen, werde ich ihn tüchtig verprügeln! Aber bitte, sagen Sie's unse rem Vater nicht … und melden Sie es auch nicht der Schule!« »Schon gut, schon gut«, sagte Frau Hesse zerstreut, »mit euch Jungen hat man eben bloß Ärger.« Sie hatte die Augen nicht von der Tür gelas sen. »Lilo, mach endlich auf! Du kriegst auch das Geld für den Friseur von mir, du darfst dir eine hübsche Frisur schneiden lassen …« »Los, komm, das geht in Ordnung!« sagte Jochen und wollte den kleinen Bruder aus der Wohnung ziehen. Aber diesmal war es Jan, der sich weigerte zu gehen. Er stand wie an genagelt und starrte auf die Türe, an der Frau Hesse rüttelte. Jetzt ging sie auf, und Lilo erschien – sehr würdevoll trotz der verweinten Au gen und des ungleichmäßig geschnittenen blonden Haares, mit dem sie aussah wie ein gerupfter Vogel. »Du wünschst, mich zu sprechen, Mutti?« fragte sie in ihrer alleraf figsten Art. Frau Hesse nahm sie in die Arme. »Es tut mir so leid, Liebling … ich möchte dich um Entschuldigung bitten! Ich hatte ja nicht gewußt, wa rum hast du mir nicht gesagt …« Lilo schmiegte sich an die Brust der Mutter, die sich zu ihr herabge beugt hatte, blickte über deren Schulter hinweg und – streckte Jan die Zunge heraus. Jan bekam einen feuerroten Kopf, drehte sich um, wollte aus der 58
Wohnung rasen und prallte dabei gegen Jochen, der ihn am Kragen packte. Jochen rettete die Situation. »Entschuldigen Sie, bitte, wir sind sehr froh, daß alles in Ordnung ist«, murmelte er, »guten Abend!« Und er zog sich mit Jan und dem Drachen zurück. Die Brüder rasten nebeneinander her die Treppe hinunter und über die Straßen, und erst nach einer ganzen Weile wurden sie langsamer, blieben endlich stehen und sahen sich an. »Verstehst du das?« fragte Jan atemlos. »Mir droht sie, sie wird mich verpetzen, und dann erzählt sie gar nichts, und wenn ich komme, um mich zu entschuldigen, streckt sie mir die Zunge heraus! Kannst du mir erklären, was das soll?« Jochen schüttelte den Kopf. »Nein, weiß ich auch nicht. Aber mach dir nichts draus. Mädchen sind eben so. Ich glaube, sie legen es drauf an, daß man sie nicht versteht.« »Sie wollen sich bloß interessant machen, meinst du?« fragte Jan un gläubig. »Ja. Vielleicht. Oder auch nicht. Ich weiß es wirklich nicht, Kleiner. Die Weiber sind eben kompliziert … kompliziert und verdreht.« »Ich werde mich überhaupt nicht mehr um sie kümmern«, schwor sich Jan, »überhaupt nicht mehr. Ich werde Lilo nicht mehr angucken, und wenn sie wo aufkreuzt, bin ich schon verschwunden. Ja, so werd' ich's machen. Die können mir in Zukunft doch mal den Buckel 'run ter rutschen.« Jochen sagte nichts, aber er beneidete seinen kleinen Bruder. Wie einfach sah für Jan die Welt doch aus – wie einfach war sie für ihn selber noch vor kurzem gewesen. Aber alles war anders geworden. Er konnte die Mädchen jetzt einfach nicht mehr links liegen lassen, und schon gar nicht die eine, die einzige, die ihm etwas bedeutete. Er spürte die Sehnsucht nach Sibylle wie einen scharfen Schmerz, der immer da war und an den man sich doch nicht gewöhnen konnte.
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Auch Jens Körner, obwohl er doch erheblich älter war als seine beiden Brüder, hatte in letzter Zeit feststellen müssen, daß er entschieden we niger von den Frauen verstand, als er selber bisher geglaubt hatte. Seine Leidenschaft für die aparte, schöne Claudia Miller war gewach sen. Jede Minute, die er nicht mit ihr teilte, schien ihm verlorene Zeit, und doch – er war bei ihr keinen Schritt weiter gekommen. Sie war reizend zu ihm, kameradschaftlich und ein bißchen iro nisch, versicherte immer wieder, wie gern auch sie mit ihm zusammen war. Aber wenn er sie in die Arme nehmen, wenn er auch nur von sei nen Gefühlen sprechen wollte, entzog sie sich ihm so geschickt, daß er nicht einmal eine Gelegenheit hatte, zornig oder beleidigt zu sein. Außer zu ein paar Küssen – flüchtigen Küssen, die nichts gaben und noch weniger versprachen – war es zu nichts zwischen ihnen gekom men. Claudia empfing ihn nicht einmal mehr in ihrer Wohnung. Wenn er sich durch das Haustelefon meldete, bat sie ihn, unten in der Halle zu warten, und wenn er ohne Ankündigung nach oben fuhr, landete er vor der verschlossenen Türe. Claudia Miller verstand es meistens so einzurichten, daß sie sich an neutralen Orten trafen, in Tanzbars und eleganten Restaurants. Sie hatte eine Vorliebe für Theaterbesuche und Kunstausstellungen und Konzerte, und sie mochte es, wenn Jens sie dabei begleitete, und Jens tat in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft so viel für seine Bildung wie nie zuvor. Das gefiel ihm. Es imponierte ihm, daß Claudia nicht wie eines der Mädchen war, die er bisher gekannt hatte. Man konnte über alles mit ihr reden, wirklich ernsthafte Gespräche mit ihr führen, und man hat te dabei das Gefühl, selber sehr kluge Gedanken zu entwickeln und trotzdem noch etwas dabei zu lernen. Aber das allein genügte Jens nicht, je länger er Claudia Miller kann te, desto weniger. »Ich komme noch einen Sprung zu dir hinauf«, sagte er eines Nachts, als er sie nach Hause brachte. Sie waren zusammen im Theater und nachher noch tanzen gewesen. Ein Taxi hatte sie zum Hochhaus gebracht. Jetzt standen sie sich in der 60
Haustüre gegenüber. Claudia hatte einen kleinen Schwips, und er war sicher, diesmal etwas zu erreichen. Aber sie lachte nur. »Aber, was fällt dir ein? Weißt du, wieviel Uhr es ist?« Sie schwankte etwas, lehnte sich flüchtig an ihn. »Das ist mir völlig egal«, sagte er hart. »Mir aber nicht!« Ihr hohlwangiges Gesicht mit den schrägstehen den grünen Augen wurde sehr ernst. »Ich habe mir meine Erfolge im Beruf mühsam genug erkämpft, Jens … Mühsamer, als ein Mann sich das überhaupt vorstellen kann. Ich denke nicht daran, deinetwegen et was zu gefährden.« Ihre Beschwipstheit war wie weggewischt. Vielleicht, dachte er, war sie überhaupt nie angeheitert gewesen und hat mir nur etwas vorgemacht. »Du denkst überhaupt nicht daran, meinetwegen etwas zu tun«, sagte er laut. Sie unterdrückte ein Gähnen, hielt sich die Hand vor den Mund. »Gute Nacht, Jens! Merkst du nicht auch, daß es zu spät ist, einen Streit heraufzubeschwören? Morgen, wenn du willst …« »Du weißt genau, daß ich nicht mit dir streiten will …« Sie fiel ihm ins Wort. »Natürlich nicht, du willst mir nur Vorwürfe machen!« Sie wandte sich zur Türe. Er packte sie bei den Schultern, riß sie zu sich herum. »Claudia, Lieb ling, begreifst du denn nicht … ich halte es nicht länger so aus!« Er wollte sie küssen. Aber sie wandte blitzschnell ihr Gesicht zur Seite. »Ich mag keine be trunkenen Männer.« Er zuckte zusammen wie unter einem Schlag, ließ sie los. »Danke«, sagte sie kühl, »gute Nacht, Jens!« Er sah ihr zu, wie sie den Schlüssel in die Haustür steckte. »Claudia«, sagte er gepresst, »wenn du mich jetzt so stehen läßt … ich schwöre dir, dann ist es aus zwischen uns. Für immer.« Sie lächelte ihm über die Schulter zurück zu. »Fein, daß du mir das so ehrlich sagst. Das macht mich doppelt froh darüber, daß es noch gar nicht angefangen hat.« »Claudia!« Sie hatte die Tür geöffnet. »Schlaf dich erst einmal aus, Jens«, sagte 61
sie mit jener Mütterlichkeit, die ihn mehr als alles andere an ihr reizte, »morgen sieht dann alles anders aus!« Sie verschwand im Haus, noch ehe er zu einer Antwort ansetzen konnte. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß. Jens blieb in einem seltsamen Zustand zurück: zornig, gedemütigt, tief gekränkt und dennoch brennend vor Sehnsucht und Liebe. Eine ganze Weile stand er da, ohne sich zu rühren, sah das Licht im Trep penhaus durch die gläserne Wand auf die Straße fallen, sah es wieder verlöschen, wußte, daß sie jetzt in ihrer Wohnung war, die Tür zum Lift hinter sich abschloss, die Pumps von den Füßen streifte, sich aus zuziehen begann. Er biss die Zähne so fest zusammen, daß sie knirschten. »Verdammt«, stieß er halblaut hervor, »verdammt, verdammt!« Jens zündete sich eine Zigarette an, marschierte in die Nacht hin ein. Er war entschlossen, sich ein Mädchen zu suchen, eine, irgendeine, egal wie sie aussah, egal wie sie roch und was sie dachte – nur unkom pliziert mußte sie sein, unkompliziert und willig, mitzumachen. Er malte sich aus, was er mit ihr tun und wie sehr er Claudia Mil ler dadurch verletzen würde. Seine Begierde war voller Hass und voller Rachsucht, und sie peitschte ihn immer wieder auf. Aber dann, nach einer Weile, drehte er sich um, und sah von ferne das Licht von Claudias Penthaus oben in die Nacht hinein strahlen. Es war ein warmes, mildes Licht, und es zog ihn auf seltsame Weise an. Er ging zurück, ohne es selber zu merken. Es war ihm plötzlich un möglich, Claudia zu betrügen, obwohl er ihr keine Treue versprochen hatte. Aber er gestand sich ein, wie stark er gefühlsmäßig an diese jun ge Frau gebunden war. Es ist schon zu spät, versuchte er sich einzureden, viel zu spät. Was für einen Zweck soll das haben, sich die Nacht um die Ohren zu schla gen. Höchste Zeit, daß ich ins Bett komme. Er wäre sich ein wenig kläglich vorgekommen, wenn in dieser Stun de nicht gleichzeitig sein Entschluß gereift wäre, Claudia Miller nie wieder zu sehen. 62
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Die Clique traf sich am nächsten Sonntag bei Artur Holm. Es war für die Jahreszeit außergewöhnlich warm. Die Jungen und Mädchen der 6. Klasse hatten sich nicht extra verabredet, aber es war ganz selbstver ständlich, daß sie alle kamen, nicht nur Jochen Körner und Peter Hes se, sondern auch die beiden Mädchen Sibylle und Anita. Alle freuten sich, wieder einmal beisammen zu sein – alle außer Ar tur, dessen Misstrauen den Mädchen gegenüber eher noch gewachsen war, der es aber nicht wagte, das zuzugeben, weil er sich überhaupt scheute, eine eigene Meinung zu vertreten. Er hatte von jeher geglaubt, sich nur dadurch in der Clique halten zu können, daß er alles mit machte, und so unterdrückte er auch diesmal seine Ablehnung und seinen Missmut. Er half seinen Freunden, die Jüngeren, die zum Fernsehen gekom men waren, aus dem Spielkeller und dem Garten zu vertreiben. Das gab ein großes Hallo, die Kleinen waren nicht bereit, sich das so ohne weiteres gefallen zu lassen. Sie setzten sich tapfer zur Wehr, und da sie in der Überzahl waren, zog sich der Kampf eine Weile hin. Sibylle und Anita feuerten ihre Freunde an, beschworen sie im gleichen Atemzug aufzuhören, kurzum, es war ein Riesenspaß. Danach wuschen sich die Jungen, ließen sich von den Mädchen das zerzauste Haar kämmen und als Sieger bewundern. Sie waren unter sich, die Schlacht war gewonnen, ein langer, ungestörter Nachmittag lag vor ihnen – was nun? Merkwürdig, früher hatten sie sich nie gelangweilt, es war ihnen im mer vorgekommen, als wenn sie viel zu wenig Zeit hätten, jede Minute war kostbar und erfüllt gewesen. Aber heute wußten sie einfach nichts mit sich anzufangen. Peter Hesse schlug verschiedene Spiele und Unternehmungen vor, aber er stieß bei allem, was er sagte, nur auf mäßiges Interesse. Jochen ertappte sich dabei, daß er unentwegt Sibylle ansah – wie 63
hübsch sie aussah in ihrem leuchtendblauen Minikleid, das ihre lan gen schlanken Beine so vorteilhaft zur Geltung brachte und dessen kräftige Farbe einen wunderbaren Hintergrund für ihre goldbraune Haut und das leuchtendblonde Haar bot! Jochen sah sie an, und alle seine Gedanken kreisten um sie, und er hatte nur den einen Wunsch: mit ihr allein zu sein. Sibylle selber beachtete ihn anscheinend gar nicht. Sie lag wie hin gegossen auf dem Rand des Schwimmbeckens, plauderte mit Anita, scherzte mit Peter, versuchte Artur aus der Reserve zu locken. Aber tatsächlich kreisten auch ihre Gedanken unentwegt nur um Jochen. Sie mußte an sich halten, nicht zu ihm hinzugehen, ihm nicht das wei che braune Haar aus der Stirn zu streichen. Sie spürte den intensiven Blick seiner tiefblauen Augen auf ihrer Haut, auch ohne daß sie ihn an sah, und der Schauer, der sie überrieselte, war süß und wunderbar. Jochen und Sibylle merkten gar nicht, daß sie es waren, die den an deren den Tag verdarben, und wenn man es ihnen gesagt hätte, wären sie wahrscheinlich sehr beleidigt gewesen. Sibylle richtete sich auf, umschlang ihre Knie mit den Armen, heu chelte Interesse an der allgemeinen Beratung. Jochen stocherte mit dem Fuß in einem kleinen Haufen zusammengekehrten Herbstlaubes herum. Er stutzte, als er mit der Spitze gegen einen kleinen Ball stieß, hob ihn auf und warf ihn zu Sibylle hinüber. Das war harmlos genug, und dennoch wurde Sibylle rot. Sie fing den Ball auf, sprang auf die Beine, warf ihn ein paar Mal spielerisch in die Luft, bis er ihr anscheinend entglitt und im hohen Bogen in die Büsche an der hinteren Mauer des großen Gartens flog. »Ich hol' ihn dir!« rief Jochen und rannte hinterher. »Kommt nicht in Frage«, rief Sibylle, »das war meine Schuld!« Und sie folgte ihm. Peter Hesse überschaute die Situation. Er hielt Anita fest, die den beiden nachlaufen wollte, sagte zu Artur: »Kümmere du dich drum! Schließlich ist es dein Ball!« Anita wand sich unter seinem Griff. »Lass mich los«, sagte sie ärger lich, »was fällt dir ein?!« 64
Er lachte. »Sieh mal an, ich wußte gar nicht, daß du so eine süße klei ne Kratzbürste sein kannst!« Er genoß es, wie sie in seinen Armen zap pelte, beobachtete, wie sich die Seide ihres hellen Kleides über dem fe sten kleinen Busen spannte. Anitas rotes Haar loderte, ihre Haut war rosig überhaucht. »Du bist gemein!« schrie sie. »Artur, hilf mir doch!« Noch vor wenigen Tagen hätte Artur das bedenkenlos getan. Aber seit er von Sibylle statt Dank nur Gleichgültigkeit geerntet hatte, hat te er sich geändert. »Stell dich nicht so an«, sagte er achselzuckend, wandte sich ab, schlenderte in den Hintergrund des Gartens. Peter konnte der Versuchung nicht länger widerstehen. Er ließ Ani tas Handgelenke los, legte seine Pranke auf ihre Brust und – hatte im nächsten Moment eine Ohrfeige bekommen. »Du Ferkel!« schrie Anita aufgebracht, und ihre grünen Augen schos sen Blitze. »Was fällt dir ein?« Er wollte sie festhalten, aber da hatte sie schon einen Krokettschläger geschnappt, schwang ihn wie eine Keule hoch über ihrem Kopf. »Untersteh dich!« schrie sie. Er trat vorsichtshalber einen Schritt zurück. »Na, entschuldige schon«, sagte er, »deine eigene Schuld, wenn du keinen Spaß verste hen kannst!« Sibylle und Jochen hatten nichts von dieser Auseinandersetzung ge hört. Sie suchten im Gebüsch nach dem verschwundenen Ball, oder besser gesagt, sie taten so, denn sie waren in Wahrheit gar nicht fähig, ihre Gedanken auf irgend etwas zu konzentrieren, das außerhalb ih rer selbst lag. »Ich hab' ihn!« rief Sibylle, und sie glaubte es in diesem Moment wirklich, aber dann sah sie, daß sie sich geirrt hatte. »Es war nichts!« Aber da stand Jochen schon neben ihr. »Wo?« Sie richtete sich auf und drehte sich zu ihm um. Die Büsche rings um hatten noch genügend Laub, um sie vor den Blicken der anderen zu schützen. Sie sank hingebungsvoll in seine Arme, und er zog sie ganz fest an sich. Ihre Lippen fanden sich zu dem ersten Kuss. 65
Es war ein leidenschaftlicher, kurzer, dabei doch ungeschickter und unsicherer Kuss, aber für Jochen und Sibylle bedeutete er so viel, daß buchstäblich für Sekunden die Welt für sie versank. Sie merkten nicht, daß Artur die Zweige auseinander bog und mit ten in der Bewegung innehielt, als er seinen besten Freund in inniger Umarmung mit einem Mädchen entdeckte. Artur wollte rufen, aber er brachte nur ein Krächzen heraus. Doch dieser kleine heisere Laut genügte, um die beiden Liebenden auseinander fahren zu lassen. »Oh!« Sibylle wurde glühend rot, strich sich mit einer zerstreuten Geste das helle blonde Haar aus der Stirne. Aber ihre klaren Augen glänzten, und ihr verlegenes Lächeln hatte zugleich etwas Triumphierendes – so schien es Artur wenigstens – und in diesem Augenblick hasste er sie von ganzem Herzen. Jochen machte einen Schritt auf ihn zu, einen Schritt, der ihn von Si bylle entfernte. »He, Artur!« Aber Artur ließ die Zweige wieder zusammengleiten, verschwand so still, wie er gekommen war. Jochen folgte ihm mit ein paar heftigen Sätzen, indem er sich mit Gewalt einen Weg durch die Büsche bahn te. Sibylle wollte ihn zurückhalten, aber es gelang ihr nicht mehr, ihn zu fassen. Jochen holte den Freund ein, als er sich an einer windgeschützten Ecke eine Zigarette anzündete. »Gib mir auch eine!« bat er, nur um et was zu sagen, denn tatsächlich machte er sich aus dem Rauchen nicht das geringste. Artur hielt ihm wortlos sein zerknülltes Päckchen hin, gab ihm Feu er. Sein Mund war verkniffen, er blickte starr an Jochen vorbei. »Hör mal …« Jochen mußte husten, der Rauch kratzte ihn im Hals, »ich wollte nur sagen … nicht, daß du dir was Falsches denkst!« »Ich denke mir gar nichts …«, sagte Artur mit Überwindung. »Na also!« rief Jochen erleichtert. Doch Artur war noch nicht fertig. »… ich bin bloß nicht blind«, fuhr er fort, »ich weiß, was ich gesehen habe.« Jochen warf seine angerauchte Zigarette auf den Weg, trat sie mit 66
dem Absatz aus. »Na, was denn schon! Ich habe Sibylle geküsst … na und?! Findest du es nicht selber blöd, daraus eine solche Staatsaktion zu machen?« Artur zuckte die Achseln. »Ich habe ja gar nichts gesagt.« »Stimmt. Aber dein Gesicht müsstest du sehen! Hör bloß auf, den Tugendbold zu spielen!« Artur nahm seine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger und zog daran. »Von mir aus kannst du mit jedem Mädchen herumknut schen, so oft und so lange es dir passt. Ich sehe bloß nicht ein, warum das ausgerechnet in unserem Garten passieren muß.« Jochen trat einen Schritt zurück und verbeugte sich tief mit über der Brust gekreuzten Armen. »Verzeihung, edler Fürst, ich ahnte ja nicht, daß ich hier auf heiligem Boden stehe!« »Lass die Witze«, sagte Artur, wütend, weil er selber merkte, daß er im Begriff stand, sich schwer lächerlich zu machen, »du weißt genau, wie ich es meine. Es ist nur wegen meiner Mutter, die …« Unter Jochens Blick geriet er ins Stottern, gab es auf, den Satz zu Ende zu bringen. Es war nur zu bekannt, daß Frau Holm den Garten und den Spiel keller vollkommen den jungen Leuten überließ und daß man, wenn man sie sehen und begrüßen wollte, schon an der Vordertüre klingeln und ins Haus gehen mußte. »Warum gibst du nicht der Einfachheit halber zu, daß du eifersüch tig bist?« fragte Jochen. »Ich kann es bloß nicht mit ansehen, wie du dich von so einer blöden Gans an der Nase herumziehen läßt.« Jochen hatte schon den Mund geöffnet, um Sibylle zu verteidigen, unterließ es dann aber doch. Er spürte nur zu gut, was in Artur vor ging. Der Freund dachte gar nicht schlecht von Sibylle, sondern er kränkte sich nur maßlos darüber, daß sie offensichtlich eine Rolle in Jochens Leben zu spielen begann, die ihn ausschaltete. Artur und er waren Freunde, seit sie auf das ›Geschwister-Scholl-Realgymnasium‹ gingen, und nie hatten Mädchen bisher für sie eine Bedeutung gehabt. Jetzt fürchtete Artur, daß Sibylle sich zwischen ihn und Jochen schie ben könnte. 67
»Reg dich nur nicht auf«, sagte Jochen versöhnlich, »vielleicht ist's gerade umgekehrt.« »Was?« »Na, vielleicht bin ich der, der sie an der Nase herumzieht.« Er leg te seine Hand auf Arturs Arm. »Komm, alter Junge, mach ein anderes Gesicht! Wenn Sibylle es wirklich darauf angelegt hat, sich wichtig zu machen, dann freut sie sich nur, wenn sie sieht, wie du dich ärgerst.« Artur schwieg, zog verbissen an seinem Zigarettenstummel, der ihm fast die Fingerspitzen verbrannte. »Für was hältst du mich denn?« fragte Jochen. »Glaubst du etwa, ich werde jetzt anfangen, mit Puppen zu spielen?« Artur konnte nicht anders, bei dieser Vorstellung mußte er grinsen. Jochen schlug ihm erleichtert auf den Rücken. »Na, siehst du! Los, hauch deinen Glimmstengel aus und komm mit. Die anderen glauben sonst noch, hier sei eine Verschwörung im Gange.« Er wartete, bis Artur seine Zigarette ausgedrückt hatte, dann hakte er sich bei ihm ein, und gemeinsam schlenderten sie zu Sibylle, Peter und Anita, die ziemlich verloren in der Gegend standen.
Ohne daß sie es miteinander verabredet hatten, richteten Jochen und Sibylle es so ein, daß sie bei Anbruch der Dunkelheit gemeinsam den Garten der Holmschen Villa verließen. Daran war nichts Besonderes, es war auch früher schon mehr als einmal vorgekommen. Die anderen konnten sich meist schlecht trennen und hockten noch lange im Kel ler vor dem Fernsehgerät. Neu war nur heute, daß Anita als erste gegangen war, was sie sonst nie tat, und nur Peter Hesse wußte warum. Sie mochte, nachdem er ihr gegenüber frech geworden war, einfach nicht mehr mit ihm zu sammen sein. Und neu war auch, daß Sibylle und Jochen sich nicht wie sonst gleich vor der Gartentür trennten, weil er nach rechts in Richtung der Bu shaltestelle mußte und sie nach links, wo sie wohnte. Ganz selbstver 68
ständlich begleitete er sie heute nach Hause. Sie gingen nebeneinan der her, mit hängenden Armen, ohne sich zu berühren, und waren sich doch der körperlichen Nähe des anderen in jeder Faser bewußt. Es war mit hereinbrechender Dunkelheit kühl geworden. Die Stra ßenlaternen brannten noch nicht, aber aus einzelnen Fenstern leuchte ten Lampen und warfen goldgelbe Bahnen in die blaue Dämmerung. »Was hat Artur über mich gesagt?« fragte Sibylle, den Blick gerade aus gerichtet. Er tat erstaunt. »Über dich? Nicht daß ich wüsste.« »Ach, tu doch nicht so! Allen ist es aufgefallen, wie ihr zusammen gegluckt habt, nachdem … du weißt schon, als er … ich meine, als wir …« Sie wagte nicht, ihn direkt an den Kuss zu erinnern, weil sie nicht sicher war, wie er es aufnehmen würde. »Wir haben über alles mögliche gesprochen«, sagte er. »Was hat er über mich gesagt?« fragte sie hartnäckig. »Nichts, wenn ich dir doch sage … du kannst einem wirklich den letzten Nerv töten!« »Aber nachher warst du ganz verändert.« »Wie denn?« fragte er. »Kühl«, sagte sie, »kühl und gleichgültig.« »Das bildest du dir nur ein. Ich war ganz wie immer.« »Nein. Du warst fremd.« Er blieb stehen, wandte sich ihr zu. Ihr blondes Haar leuchtete im ungewissen Licht eines fernen Scheines, ihre Augen wirkten sehr dun kel, geheimnisvoll glänzend. »Was willst du eigentlich von mir hören?« fragte er. »Kannst du dir das nicht denken?« erwiderte sie und trat einen hal ben Schritt zurück, so daß der Schatten eines Torweges sie fast ver schluckte. »Nein.« »Wirklich nicht?« Ihre Stimme klang lockend. »Nein«, wiederholte er und kam sich ziemlich blöd dabei vor – aber er hatte nun einmal angefangen nein zu sagen, und wußte nicht, wie er umschwenken sollte. 69
Sie konnte sich nicht länger zurückhalten. »Warum hast du mich denn vorhin geküsst?« Er scharrte mit den Füßen. »Nur so.« Sie schnappte hörbar nach Luft. »Danke«, sagte sie eisig, »dann wüs ste ich nicht, worüber wir uns noch zu unterhalten hätten!« Sie schlüpf te an ihm vorbei und lief davon, mühsam einen Rest von Würde wah rend. »Sibylle!« Er raste hinter ihr her, hatte sie mit wenigen Sätzen einge holt, packte sie beim Arm. »Lass mich!« fauchte sie und versuchte, sich loszureißen. »Sibylle, so hab ich das doch nicht gemeint!« »Aber du hast es gesagt … mir mitten ins Gesicht hast du gesagt, daß ich dir nichts bedeute. Deutlicher konntest du ja wohl nicht wer den, du … du Flegel, du … gemeiner Kerl!« Sie ballte die freie Hand zur Faust, drehte sich um, holte aus. Er konnte gerade noch ihr Handgelenk abfangen. »Sibylle«, sagte er hilflos, »das ist doch alles gar nicht wahr, du weißt sehr gut, daß es nicht wahr ist! Zum Kuckuck, warum mußt du denn bloß alles zerreden?! Ich … erwartest du denn wirklich, daß ich meine Gefühle seziere?« »Nein!« schrie sie ihm ins Gesicht. »Nur daß du es sagst! Sag's doch, Jochen … sag's doch endlich!« Er ließ sie los. »Klar habe ich dich gerne …« Sie trat dicht auf ihn zu, daß er den herben Duft ihres Haares in der Nase spürte. »Mehr nicht?« »Ich habe dich sehr, sehr gerne, Sibylle … schön, von mir aus … ich hab' dich lieb! Aber wenn du dir einbildest, daß du daraufhin so ein Affentheater mit mir veranstalten …« Er kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen, denn sie verschloss ihm die Lippen mit einem Kuss, legte ihm die Hände um den Hals und zog ihn sanft in den Schatten eines Hauses zurück. Diesmal küsste er sie länger und schon viel sicherer, sie küssten sich wieder und wieder, und er sah, daß sie die Augen geschlossen hielt. Ihre dichten, gebogenen Wimpern hoben sich dunkel von der zarten Haut ihrer Wangen ab, die in dem ungewissen Licht sehr hell wirkte. 70
Dann, als sie sich endlich voneinander lösten, schlug sie die Augen auf. »Glücklich?« Er sagte ja, aber er war es nicht. Diese leidenschaftlichen Küsse, die ihr so viel bedeuteten, hatten ihn nur aufgestachelt, und seine Sehn sucht nach Erfüllung, sein Begehren war so stark, daß es ihn geradezu körperlich schmerzte, sich beherrschen zu müssen. »Ich auch«, flüsterte sie, »oh, ich auch … wir wollen immer zusam menbleiben, Jochen, willst du?« »Ich könnte mir ein Leben ohne dich gar nicht mehr vorstellen«, sag te er spröde, und diesmal meinte er es ehrlich. Sie schmiegte sich an ihn und bot ihm die Lippen zum Kuss.
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Jens war seinem Vorsatz treu geblieben. Er hatte sich nicht mehr mit Claudia Miller in Verbindung gesetzt. Weder hatte er sie angerufen, noch war er zu ihrem Penthaus hinaufgefahren, und da inzwischen auch sein Meister wieder gesund war, hatte sich nicht einmal ein be ruflicher Kontakt ergeben. Der Meister hatte wieder alle Besprechungen mit der Werbegrafike rin persönlich übernommen. Vielleicht hätte er Jens mitgenommen, wenn der junge Mann darum gebeten hätte, denn er hielt große Stücke auf ihn. Aber Jens verzichtete ganz bewußt auf diese Möglichkeit. Es fiel ihm schwer, ohne Claudia auszukommen, es fiel ihm ver dammt schwer. Manchmal wachte er nachts auf und konnte nicht wie der einschlafen, wenn er an sie dachte. Aber er biss die Zähne zusam men und hielt durch. Er traf sich mit seinen Freundinnen von früher, machte sogar zwei neue Eroberungen, und es war ganz lustig, bei den jungen Dingern den Schwerenöter zu spielen. Er hatte es von jeher leicht bei den Mädchen. Jens wußte, wie er es anpacken mußte, er hatte geradezu eine Wissen schaft daraus gemacht. Er benutzte nicht, wie die meisten Männer, bei jedem Mädchen die gleiche Masche. Nein, er hatte es meist schon nach den ersten tastenden Sätzen her 71
aus, was bei der einen zog und was sie kalt ließ. Er konnte variieren. Mal war er der große lustige Draufgänger, mal gab er sich wahnsin nig leidenschaftlich, dann wieder zuverlässig und bieder. Er spielte den einsamen Unverstandenen genauso brillant wie den von den Frauen Verwöhnten, der es gar nicht nötig hat, sich zu bemühen. Irgendwie brachte er jedes Mädchen herum. Immer begann er mit Komplimenten, ließ ein bißchen was springen, ging zu wohlberech neten Zärtlichkeiten über, bis die Mädchen in seinen Armen schwach wurden und nicht länger widerstehen konnten. Ja, er schaffte es immer. Das Ärgerliche war bloß, daß es ihm, seit er Claudia Miller kennen gelernt hatte, keinen Spaß mehr machte. All die leichten Eroberungen schienen ihm langweilig, einfach deshalb, weil ihn die Mädchen an sich nicht mehr interessierten. – Wer von ihnen konnte sich auch nur entfernt mit Claudia Miller vergleichen! Es kam vor, daß Jens Körner, statt die Schwäche der Mädchen auszu nutzen, sie einfach stehenließ, wenn es soweit war – er wußte, daß er sie damit furchtbar kränkte, aber es war ihm egal. Er wollte doch nur die eine, und zum ersten Mal erfuhr er am eigenen Leibe, daß es in der Liebe keinen Ersatz gibt. Sein Leben wurde zu einem einzigen großen Warten auf Claudia. Wenn er abends zu Bett ging, dachte er: »Morgen!« und wenn er in der Frühe aufstand, hoffte er: »Heute … heute werde ich sie wieder se hen!« Aber er war nicht bereit, den ersten Schritt zu tun, sagte sich verbis sen: Ich werde sie am ausgestreckten Arm verhungern lassen, bis sie kirre geworden ist! – Doch ganz allmählich verlor er die Hoffnung, daß das je geschehen würde. Sie kam zu ihm, als er am wenigsten, genauer gesagt, als er über haupt nicht an sie dachte. Er war dabei, die Dekoration eines Schaufensters von ›Karmann‹ in Ordnung zu bringen. Verschiedene Kleidungsstücke – Skipullover und Anoraks – waren aus dem Schaufenster fortgekauft worden, was, wenn es mal geschah, ihn immer wieder mit einem gewissen Stolz auf seinen guten Geschmack erfüllte. Es bewies, daß er tatsächlich die schönsten 72
Sachen für die Dekoration gewählt hatte – dafür nahm er gerne die Extraarbeit auf sich, die Puppen neu einzukleiden. Er pfiff vor sich hin, als er einem Puppenherrn sehr fesch, ganz läs sig auf einen Skistock gestützt – einen knallblauen Schal um den Hals schlang. Hier drinnen im Schaufenster war eine herrliche Winterlandschaft aufgebaut, künstlicher Schnee lag zentimeterdick, ein Puppenjunge hatte einen dicken Schneeball in der Hand, als wenn er ihn gleich wer fen wollte, und der Prospekt im Hintergrund zeigte einen strahlend blauen Himmel über schneeigen Bergen. Jens mochte das. Er liebte diese künstliche Welt, in der alles so ma kellos war – er konnte sich fast einbilden, daß das gleißendhelle Licht, das auf ihn herabstrahlte, tatsächlich die Wintersonne wäre. Dabei regnete es in Wirklichkeit. Der Himmel draußen hing tief und grau über der Stadt, der Regen peitschte in schrägen Bahnen gegen die riesigen Scheiben. Jens schaute gar nicht hin, das hätte ihn einfach aus der Stimmung gebracht. Er wußte, daß manchmal Leute stehen blieben, um herein zu starren und ihn bei seiner Arbeit zu bestaunen. Aber das kümmer te ihn überhaupt nicht. Er tat immer, als wenn er sich absolut unbeob achtet fühlte, und so kam es ihm auch vor. Nicht gerade, daß er sich in der Nase gebohrt oder irgendwo gekratzt hätte, während er in dem hell erleuchteten und unverhangenen Fenster arbeitete, aber davon abgese hen war er vollkommen mit seiner Tätigkeit beschäftigt. Er drehte sich nicht einmal um, als gegen die Scheibe geklopft wur de. Diese Lausejungen, dachte er, den Gefallen werde ich denen nicht tun! – Und dann wartete er auf das zweite Klopfen, aber das kam nicht, und die Stille in seinem Rücken alarmierte ihn mehr, als ein Geräusch es vermocht hätte, und dann drehte er sich um und sah – Claudia Mil ler. Sie blickte ihn aus großen Augen an, und ihr Gesicht war aparter und hohlwangiger denn je. Der Regen lief von ihrem glänzenden Hut und dem schwarzen Lackregenmantel, und er lief die Schaufenster scheibe herab, daß es aussah, als wenn sie weinte. Aber natürlich wein 73
te sie nicht, doch sie hatte den verlangenden Ausdruck eines hungri gen Kindes – überhaupt hatte sie für Jens noch nie so jung ausgesehen wie in diesem kurzen, eng gegürteten Mantel und den langen Beinen, die so schlank, fast dünn, aus den Stiefeln emporragten. Er wollte es ihr noch schwerer machen und versuchte ernst zu blei ben, aber er spürte, wie die Freude in seinen Augen aufleuchtete und konnte nichts dagegen tun. Sie sah es und lächelte zaghaft, und er muß te ihr Lächeln erwidern, obwohl er eigentlich nicht wollte. Sie nahm die rechte Hand aus der Manteltasche und begann mit dem Zeigefinger Buchstaben auf die Scheibe zu malen. Zuerst begriff er gar nichts, aber dann schrieb sie in Spiegelschrift, und er konnte es lesen: »Milchbar«. Sie schob den schwarzglänzenden Ärmel zurück und zeigte ihm ihre Armbanduhr, und er verstand, daß sie es ihm überließ, die Zeit zu be stimmen. Er hielt ihr seine Armbanduhr hin und drehte den großen Zeiger zehn Minuten vor und hielt, damit sie ihn nur ja richtig verstand, alle zehn Finger gegen die große Scheibe, die sich sehr kalt und nass an fühlte. Sie nickte, lächelte und verschwand, und plötzlich war er nahe daran zu glauben, daß er sich diese Begegnung nur eingebildet habe. Aber noch immer waren die Spuren ihres Zeigefingers auf der Schei be, und er drehte sich um und schlüpfte durch das kleine Türchen in die große Halle des Kaufhauses. Er ging eilig mit wehendem wei ßem Kittel auf die Angestelltengarderobe zu. Niemand achtete auf ihn, denn die Anwesenheit eines Dekorateurs war ja nichts Ungewöhnli ches und, daß er in Eile war, auch nicht. Im Vorraum der Garderobe traf er auf ein paar Verkäuferinnen, die schon vor den Spiegeln standen und sich für den Geschäftsschluss schön machten. Sie warteten darauf, daß er mit ihnen scherzte wie sonst, aber er kümmerte sich gar nicht um sie – nicht einmal Sofia Lo ren oder Elke Sommer hätten ihn jetzt auch nur für eine Sekunde ab lenken können. Er schloß seinen schmalen Spind auf, riß den Regenmantel heraus, schlüpfte hinein, so wie er war – nicht einmal den weißen Kittel dar unter zog er aus – und hastete zum Hintereingang. 74
Natürlich durfte er sich eigentlich während der Arbeitszeit nicht so ohne weiteres verdrücken, ohne auch nur dem Meister Bescheid gesagt zu haben. Aber er rechnete damit, daß niemand es bemerken würde, und notfalls wollte er behaupten, sich nur ganz rasch ein paar Zigaret ten besorgt zu haben. Erst auf der Straße begann er sich den Mantel zuzuknöpfen, schlug den Kragen hoch, stemmte die Schultern vor. Schon nach wenigen Schritten spürte er, wie der Regen ihm bis auf die Kopfhaut drang, aber das machte ihm nichts aus. Er trug nie einen Hut – Hüte standen ihm nicht, meinte er –, und er benutzte auch keinen Schirm, weil er das unmännlich fand. Seine Mutter versuchte ihn immer wieder zum Schirmtragen zu be wegen, und hatte ihm bei allen möglichen Gelegenheiten alle nur mög lichen Schirme geschenkt. Es gab kaum einen Schirm, den er nicht schon besessen hätte, vom praktischen sportlichen Taschenschirm bis zum hocheleganten Stockschirm. Er tat immer riesig erfreut, wenn er einen bekam, denn er mochte seine Mutter nicht kränken, aber dann verlor er ihn so rasch wie möglich. Einen hatte er, kaum fünf Minu ten, nachdem er ihn geschenkt bekommen hatte, im Bus vergessen und nie wieder bekommen – das war absoluter Rekord gewesen. Aber nicht immer ging es so fix. Einen würde er wohl nie vergessen, der war ganz besonders langlebig und zäh gewesen, Jens hatte fast einen Mo nat gebraucht, um ihn endgültig loszuwerden. Aber irgendwann hatte es dann doch geklappt, wie immer. Es kam ihm komisch vor, in die Milchbar zu gehen. Früher, als er noch jünger gewesen war, als Schüler und auch als Lehrling, war er wer weiß wie oft dort gewesen, aber nun fühlte er sich eigentlich zu er wachsen dazu. Als er die Tür aufstieß, schlug ihm ein Schwall warmer verbrauchter Luft entgegen, dazu die ganze Geräuschkulisse jugendlicher Betrieb samkeit – es klang fast wie in einem Klassenzimmer, wenn der Lehrer noch nicht gekommen ist. Jens sah sich suchend um, und da pflanzte sich ein kleines Mäd chen vor ihm auf, das heißt, klein war sie eigentlich nicht, eher lang 75
und dünn. Aber sehr jung, ein richtiges Kind noch, trotz der schicken Kurzhaarfrisur. »Tag Jens«, sagte sie und klemmte ihre Schulmappe auf den Rücken. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor, aber er konnte sie nicht unter bringen. »Hallo«, sagte er ziemlich unbeteiligt und spähte über die vie len Köpfe hinweg nach Claudia. Das kleine Mädchen ließ sich nicht einschüchtern. »Jetzt sag bloß, daß du nicht weißt, wer ich bin.« »Müßte ich das wissen?« »Aber klar. Du hast mich im Kinderwagen herumgeschubst. Sagt je denfalls meine Mutter.« Er kniff die Augen zusammen, und plötzlich ging ihm ein Licht auf. »Du willst doch nicht etwa behaupten, daß du Lilo Hesse bist?« »Genau das. Warum wundert dich das so?« »Du kommst mir verändert vor, ja, jetzt weiß ich's … du hattest doch immer langes Haar? Zöpfe? Oder Pferdeschwanz?« »Der Bart ist ab, und ich finde, es steht mir besser so.« »Ja, ganz nett«, sagte er mit onkelhafter Anerkennung. »Spendierst du mir einen Shake, Jens?« fragte sie hoffnungsvoll – sie wollte nicht daran denken, aber sie spürte förmlich die Blicke ihrer Freundinnen im Rücken, und der Wunsch, ihnen zu imponieren, war fast so stark wie der, länger mit Jens zusammen zu sein. »Ein andermal«, sagte er, »jetzt …« Er entdeckte Claudia an einem kleinen Tisch ganz nahe der Musikbox, winkte ihr zu. »… jetzt bin ich verabredet, weißt du.« Er sah die Enttäuschung auf ihrem Gesicht, fuhr mit der Hand in die Manteltasche, holte eine Mark heraus, gab sie ihr. »Da, genehmige dir einen auf meine Kosten!« Ehe sie noch ein weiteres Wort sagen konnte, war er schon davon. Sie stand da, das Geldstück in der Hand, wußte nicht, ob sie erfreut oder beschämt sein sollte, zog es dann aber vor, das Beste aus der Begeg nung zu machen. Sie drehte sich um, ging zu ihren Kameradinnen, die an der Bar hockten, zurück. »Er hat mich eingeladen«, sagte sie triumphierend, »und wir haben uns verabredet …« 76
Die anderen stürzten mit Fragen auf sie ein und warfen immer wie der neugierige Blicke zu Jens und Claudia hinüber. Sie konnten sie von ihren hohen Sitzen aus genau beobachten. Aber die beiden ahnten nichts davon. Sie hätten nicht einmal im Traum daran gedacht, daß irgend jemand sich in diesem großen Raum voll Halbwüchsiger für sie interessieren könnte. Jens hatte Lilo Hesse vergessen, kaum daß er ihr den Rücken zugewandt hatte. »Ich habe nur ein paar Minuten Zeit«, sagte er, als er ihr gegenüber Platz nahm. Das Tischchen war so klein, und sie saßen so gedrängt, daß ihre Knie sich berührten. »Mußt du noch einmal ins Kaufhaus?« fragte sie. »Oder sagst du das nur, um mich zu ärgern?« »Ich würde es niemals übers Herz bringen, dich zu ärgern.« Sie nahm ihren Regenhut ab, ihr schwarzes Haar flutete darunter hervor, legte sich wie eine Wolke um ihr schmales Gesicht. »Warum hast du in den letzten Wochen nichts von dir hören lassen? Ich bin fast verrückt geworden.« »Ich wäre verrückt geworden«, sagte er, »wenn es so weitergegangen wäre.« »Warum seid ihr Männer bloß immer so … warum könnt ihr nicht …« »Weil wir Männer sind!« Sie mußte die ganze Zeit laut sprechen, weil neben ihnen aus der Mu sikbox ›Monday, monday …‹ ertönte. Das Lied hatte gar nichts mit ih rem Gespräch zu tun, aber es war ihnen beiden, als wenn es dazu ge hörte. Sie wußten, daß sie niemals mehr ›Monday, monday‹ würden hören können, ohne an dieses Gespräch zu denken, auch in hundert Jahren nicht. »Wir sind erwachsen«, sagte er, »wir sind frei. Warum sollten wir nicht so leben, wie wir wollen? Warum wollen wir uns nicht lieben? Du willst es doch auch, sonst wärst du nicht gekommen. Ich habe dir Zeit genug gelassen, alles zu überlegen.« Sie bewegte unruhig ihre Hände auf der weißen Tischplatte. »Ich war so allein«, sagte sie leise. 77
Aber die Musik überdröhnte es, und er verstand sie nicht. »Ich komme heute zu dir, zwischen neun und zehn«, sagte er, »ein verstanden?« »Jens …«, sie hob die Stimme, »ich habe eine schwere Enttäuschung hinter mir …« »Höchste Zeit, daß du etwas Schöneres erlebst!« Er beugte sich vor, nahm ihre unruhigen Hände, drückte sie. »Ich werde dich nicht ent täuschen, Claudia … ich liebe dich, ganz ehrlich. Wenn du willst … ich heirate dich auf der Stelle.« Sie zwinkerte mit den dichten dunklen Wimpern, um die Tränen zurückzuhalten, die ihr in die Augen stiegen. »Kindskopf«, sagte sie mit einem kleinen, verzerrten Lächeln, »ach, entschuldige, bitte …« Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, »ich bin eine zu alber ne Person …« »Claudia, du bist wundervoll!« Er nahm ihr Gesicht in beide Hän de, küßte sie auf die Lippen, ganz zart. »Bis heute Abend und … vergiß nicht, daß ich dich liebe!« Sie sah ihm nach, wie er sich zur Tür drängte, groß und breitschult rig mit dem blonden regennassen Haar. Der weiße Kittel guckte ein Stückchen unter dem Regenmantel hervor, aber das machte nichts, bei ihm machte das nichts. Sie wäre jetzt liebend gerne mit sich und ihren Gedanken allein ge wesen. Aber gerade da kam die Serviererin und stellte das Glas Milch vor ihr auf den Tisch. Sie mußte zahlen, und sie mußte anstandshalber wenigstens einen Schluck trinken, und sie wollte jetzt nicht gleich ge hen, damit es nicht so aussah, als wenn sie ihm nachliefe – nicht ein mal vor sich selber wollte sie diesen Eindruck haben. Und doch spürte sie tief in ihrem Herzen, daß sie für ihn ans Ende der Welt gelaufen wäre …
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In dieser Nacht kam Jens Körner erst sehr spät nach Hause, genau er gesagt, der nächste Morgen war schon angebrochen, als er seinen Schlüssel in die Wohnungstüre steckte und behutsam umdrehte. Er bemühte sich, sehr leise zu sein, um nur ja niemanden zu wecken, aber wie es eben so geht, bei solchen Heimlichkeiten läuft meistens et was schief, so auch diesmal. Jens kannte sich sehr genau in der elterli chen Wohnung aus, er hätte sich auch mit verbundenen Augen darin zurechtgefunden, aber was er nicht wußte, war, daß Jochen sein Fahr rad mit nach oben genommen hatte. Die Garage, in der er es sonst ab zustellen pflegte, wurde ausgeweißt, und er hatte es nicht die ganze Nacht im Freien stehen lassen wollen, weil das Schloß nicht mehr ganz in Ordnung war. So stand es in der kleinen Diele, rechts an der Wand neben der Woh nungstüre, wo es an sich wenig störte, wenn man Bescheid wußte. Aber Jens, der kein Licht machen wollte, stieß natürlich prompt dage gen. Mit einem fürchterlichen Krach fiel das Fahrrad um, und beinahe wäre Jens selber noch darüber gestolpert. Vor Schrecken stand er einen Augenblick wie erstarrt. Er lausch te mit angehaltenem Atem, aber in der ganzen Wohnung rührte sich nichts. Doch diese Stille beruhigte ihn keineswegs. Er wußte, daß zu mindest der Vater, der einen leichten Schlaf hatte, wach geworden sein mußte. Schließlich knipste er nun doch das Deckenlicht an, stellte das Fahr rad wieder auf, schlüpfte in sein Zimmer. Er legte sich angezogen auf sein Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und dachte an Clau dia. Das Leuchtzifferblatt seines Weckers zeigte, daß es kurz vor sechs Uhr war. Es hatte keinen Zweck, jetzt nochmals einzuschlafen, und außerdem fühlte er sich auch gar nicht müde, eher überwach und er regt, als wenn er prickelnden Champagner getrunken hätte. Claudia, geliebte Claudia! Noch nie hatte ihn eine Frau so glücklich gemacht. Er schloß die Augen, um sich ihr Bild so besser vorstellen zu können, suchte ihre geschmeidigen Bewegungen, jede ihrer wunderbaren Zärt 79
lichkeiten in das Gedächtnis zurückzurufen – und dann war er, ohne es selber zu merken, doch eingeschlafen. Eine knappe Stunde später schellten die Wecker, und es begann sich in der Wohnung zu regen. Nur Jens merkte nichts davon, er schlief tief und traumlos. Die Mutter hatte Mühe, ihn zu wecken. Sie klopfte wiederholt an die Türe, aber darauf reagierte er gar nicht. Sie merkte, daß er nicht abge schlossen hatte, trat ein und sah ihn auf seinem Bett liegen – von Kopf bis Fuß angezogen, nur die Schuhe hatte er abgestreift. Sie rüttelte ihn kräftig, bekam ihn auch glücklich wach. Aber sie war so bestürzt über das, was sie gesehen hatte, daß sie es sofort ih rem Mann erzählte, obwohl ihr das schon fünf Minuten später leid tat, denn Herr Körner regte sich gleich furchtbar auf. Aber sie konn te das, was sie gesagt hatte, nicht zurücknehmen, und es nützte auch nichts, ihm gut zuzureden – beim Frühstück kam es dann zu dem un vermeidlichen Krach. Herr Körner war sich immerhin bewußt, daß er in seinem ältesten Sohn einen erwachsenen, nahezu großjährigen jungen Mann vor sich hatte und keinen kleinen Jungen mehr, den er einfach hätte zurecht stauchen können. Aber gerade diese Erkenntnis trug nicht dazu bei, seinen Groll zu mildern, sondern reizte noch seinen Zorn. Mit grim migem Gesicht saß er an dem sonst so friedlichen Familientisch, und die anderen waren wortkarg und duckten sich unwillkürlich wie un ter einer Gewitterwolke. Jochen rutschte das Messer vom Tellerrand, glitt ab, fiel zu Boden – er und der kleine Jan bückten sich gleichzeitig, stießen unter dem Tisch mit den Köpfen zusammen, schrien: »Au!« und fuhren wieder hoch. Herr Körner rührte sich nicht, starrte düster, mit zusammengezoge nen Augenbrauen vor sich hin. Die Mutter schenkte Jens eine zweite Tasse Kaffee ein – niemand hätte zu sagen gewußt, wer dabei zitterte, sie selber, denn sie war ziem lich aufgeregt, oder Jens, der ihr seine Tasse entgegenhielt. Jeden falls klappte es nicht ganz, der braune Strahl traf auf die Untertasse, schwappte von dort auf das weiße Tischtuch. 80
»Oh, das macht nichts«, sagte Frau Körner mit einem nervösen Lä cheln, »es ist gar nichts dabei! Ich wollte die Decke sowieso heute wech seln!« Sie tupfte eine Serviette auf den braunen Fleck. »Findest du nicht, daß es an Jens wäre, sich zu entschuldigen?« frag te Herr Körner mit drohend sanfter Stimme. »Aber warum denn?« erwiderte seine Frau hastig. »Der Junge kann doch gar nichts dafür!« »Genau genommen wahrscheinlich nicht«, bestätigte Herr Körner, »nicht er, sondern der Alkohol … die durchbummelten Nächte sind daran schuld, daß er die Gewalt über sich verloren hat. Aber immer hin wäre er wohl alt genug, um zu wissen …« Herr Körner sprach nicht zu, er sprach über Jens, und er tat das in ei ner Art, als wenn er sich dessen Anwesenheit gar nicht bewußt wäre. Und Jens, der wußte, daß sein Vater auf diese Weise seiner Verach tung Ausdruck geben wollte, preßte die Lippen zusammen und pre digte sich innerlich: Lass dich nicht reizen, Jens, halt die Klappe! Du kennst den Alten, er will dich nur reizen. Sei einfach still und mach ihm einen Strich durch die Rechnung! Aber trotz aller guten Vorsätze kam der Moment, wo er es nicht län ger aushielt, nämlich als sein Vater sagte: »Man kann keinem Men schen einen Vorwurf machen, daß ihm die Denkarbeit nicht liegt. Es ist durchaus ehrenvoll, sich redlich durch Schweiß und seiner Hände Arbeit zu ernähren … aber wenn man, da schon der Kopf nicht viel wert ist, auch noch den Körper ruiniert …« »Vater!« rief Jens dazwischen. Herr Körner unterbrach sich mitten im Satz und blickte seinen Sohn über die Länge des Tisches hinweg erstaunt an, und auch Jochen und Jan hoben unwillkürlich die Köpfe und starrten auf ihren großen Bru der. »Man braucht kein Dummkopf zu sein«, sagte Jens mit schneiden der Stimme, »auch wenn man auf der Schule nicht der Beste war. Vie le große Männer haben auf der Schule versagt …« »Mag sein«, sagte Herr Körner, »aber sie sind nicht groß geworden, weil sie auf der Schule versagt haben, sondern obwohl …« Mit erhobe 81
ner Stimme wiederholte er: »Obwohl, Jens! Schreib dir das hinter die Ohren.« »Ich finde es einfach unanständig«, sagte Jens, »daß du mir das heu te noch bei jeder Gelegenheit vorwirfst. Es sind schon Jahre her, seit ich von der Schule bin, und ich habe inzwischen bewiesen, daß ich auf an derem Gebiet etwas leisten kann.« Herr Körner hob die Augenbrauen. »Auf anderem Gebiet?« fragte er, den Verständnislosen spielend. »Meinst du damit deine weidlich be kannten nächtlichen Ausschweifungen!?« Aha, dachte Jochen und begann, sich sein zweites Brötchen zu strei chen, jetzt sind sie also endlich beim Thema. Jens zog sich in die Verteidigung zurück. »Ich weiß gar nicht, was das soll.« »Nun, dann darf ich deinem Gedächtnis wohl nachhelfen. Es ging auf sechs Uhr zu, als du heute nach Hause kamst … willst du das etwa leugnen?« »Nein Vater, aber das besagt doch nicht, daß ich …« »Was besagt es dann?« donnerte Herr Körner los und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Tassen tanzten und seine Frau erschrok ken die Kaffeekanne festhielt. »Daß ich in netter Gesellschaft war«, erklärte Jens und sah seinem Vater gerade in die Augen. »Und warum bist du denn nicht dort geblieben?« brüllte Herr Kör ner. »Warum bist du überhaupt noch nach Hause gekommen? Warum bist du nicht in der netten Gesellschaft geblieben, in der es dir so ge fiel?« Frau Körner versuchte zu vermitteln. »Aber, Justus«, sagte sie, »nun reg dich doch nicht so auf! Jens ist da, es tut ihm leid … bestimmt wird so etwas nicht mehr vorkommen, nicht wahr, Junge?« Sie legte bittend ihre Hand auf seinen Arm. »Es tut mir leid, daß ich überhaupt den Mund aufgemacht habe«, er klärte Jens ehrlich, aber nicht eben diplomatisch. Herr Körner holte tief Luft, sagte dann mit beherrschter Stimme – was weit gefährlicher klang als wenn er schrie: »Du bildest dir wohl 82
ein, du wärest deinen Eltern keine Rechenschaft mehr schuldig, nur weil du endlich soweit bist, daß du Kostgeld abliefern kannst … aber ich sage dir, du hast zu gehorchen, und du hast dich anständig zu be nehmen, solange du unter meinem Dach lebst! Und wenn du dreißig Jahre alt wärst … ich bin der Herr im Hause, nur ich! Hast du das ver standen?« Jens schwieg und zerkrümelte ein Brötchen auf seinem Teller. »Und wenn dir das nicht paßt«, sagte Herr Körner, »dann kannst du ausziehen. Jederzeit. Ich werde dich nicht hindern. Du bist alt genug, um auf eigenen Beinen zu stehen.« Jens war nahe daran zu sagen: Bitte, von mir aus. Dann gehe ich eben! – Er hatte diesen Satz schon im Geist geformt – wie gerne hätte er ihn ausgesprochen! Aber sein Verstand, von dem sein Vater so wenig hielt, siegte über sein Gefühl. Von zu Hause ausziehen, das hätte bedeutet, ein möblier tes Zimmer zu nehmen, täglich in der Kantine zu essen, die Schuhe selber zum Besohlen geben, sich selber die Flecken aus den Anzügen zu machen oder irgendeine unfreundliche Witwe darum zu bitten – vor allem hätte es ganz sicher bedeutet, daß ihm als Taschengeld höch stens ein Drittel des Betrages bleiben würde, den er jetzt zur Verfü gung hatte. »Es tut mir leid, Vater, daß es gestern Abend so spät geworden ist«, sagte er zähneknirschend, »ich werde mich bemühen, daß es nicht wieder vorkommt.« »Das will ich aber auch hoffen!« Herr Körners Erleichterung darüber, seinen großen Sohn in die Knie gezwungen zu haben, war so gewaltig, daß es ihm schwer fiel, den kalten Ton in der Stimme zu bewahren. Je des Mal, wenn es zu einem Zusammenstoß mit seinem Ältesten kam, fürchtete er um seine Autorität, fürchtete, den kürzeren zu ziehen. »Nur um deinetwillen bin ich ja besorgt, daß du auf dich acht gibst und nicht verluderst«, sagte er fast herzlich, »nur um deinetwillen und deiner Brüder wegen, die doch kein schlechtes Beispiel an dir haben sollen.« »Ja, ich weiß, Vater«, sagte Jens und faltete die Serviette zusammen. 83
»Erlaubst du, daß ich schon aufstehe? Ich möchte nicht zu spät ins Ge schäft kommen!« Er stand auf, gab seiner Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und verließ überstürzt den Raum. Er hatte das Gefühl, es einfach nicht länger aushalten zu können. Wenn er auch nur eine Minute länger blie be, würde er im nächsten Moment die Beherrschung verlieren. Aber als er aus der Haustüre trat, war der ganze Familienkrach für ihn schon vergessen, seine Gedanken eilten zu Claudia. Zarte, vereinzelte Schneeflocken sanken sachte vom Himmel. Er blickte auf. Die Wolken hingen tief, aber die Luft begann sich schon zu erwärmen – sicher würde es tagsüber wieder regnen. Und dennoch, diese ersten Schneeflocken waren ein Beweis dafür, daß es Winter ge worden war. Jens dachte an Weihnachten, er träumte von den Bergen, vom blauen Himmel, vom glitzernden Schnee, sah sich und Claudia Miller abends an einem flackernden Kaminfeuer sitzen, wenn draußen die Flocken vom Himmel fielen. Claudia! Wie er sie liebte! Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er zum ersten Mal dieses Gefühl für ein Mädchen empfand. Liebe – bisher hatte er sie für ein Märchen gehalten, ein Märchen für Kinder und sentimentale Frauen, das nichts, aber auch gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Und jetzt hatte es ihn selber überfallen. Er erschauerte.
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Jochen hatte überhaupt nicht weiter darüber nachgedacht, wo sein gro ßer Bruder sich in der Nacht herumgetrieben hatte. Es war nicht das erste Mal, daß Jens sehr spät nach Hause kam, wenn es auch noch nie mals so spät geworden war wie heute. Aber es war nichts Besonde res dabei, glaubte er. Daß der Vater sich darüber aufregte, das war im Grunde genommen ja auch nur ganz natürlich. Nein, Jochen machte sich gar keine Gedanken über Jens, und sei ne Neugier wurde erst geweckt, als Jan sich am Nachmittag zu ihm 84
an den Schreibtisch schlängelte – die beiden hatten ein gemeinsames Zimmer, wenn auch Jan die Schulaufgaben meist im Raum von Jens machte, der ja nachmittags sowieso nicht da war. »Du, Jochen«, sagte Jan, »hilfst du mir bei der Mathe? Wir haben da so Textaufgaben, die haben es in sich …« »Textaufgaben!« sagte Jochen verächtlich. »Seid ihr immer noch da bei?« Jan schob ihm das aufgeschlagene Heft hin. »Da, lies bloß mal! In ei ner Eisengießerei arbeiten 26 Männer an …« Jochen wischte das Heft beiseite. »Hör auf, das interessiert mich über haupt nicht. Mach das mal ruhig allein. Du bist doch der Musterschü ler, heißt es immer.« »Stimmt gar nicht! Bloß … ich gebe mir Mühe mit dem Lernen …« »Sehr gut. Dann mach weiter so.« Eine kleine Pause entstand, während Jochen seinen Globus drehte, als wenn ihm überhaupt nicht bewußt wäre, daß sein kleiner Bruder immer noch an seinem Schreibtisch lehnte. »Du, Jochen«, sagte Jan, »hilfst du mir, wenn ich dir erzähle, wo Jens heute Nacht gewesen ist?« Seine schwarzen Augen glitzerten. Jochen gab dem Globus einen Stoß, so daß er wie verrückt um seine eigene Achse kreiste. »Interessiert mich überhaupt nicht.« »Na, bitte. Das braucht man ja nur zu wissen«, erklärte Jan hochtra bend. Er riß Jochen das Mathematikheft fort, wandte sich ab und stol zierte hocherhobenen Hauptes zur Türe. »Jan!« Der Kleine hatte die Klinke schon in der Hand, aber die Art, wie er auf diesen Anruf reagierte, zeigte deutlich genug, wie stark er damit gerechnet hatte – dennoch drehte er sich nicht um. »Sonst noch was?« fragte er. »Woher willst du überhaupt wissen, wo Jens war?« fragte Jochen. »Von Lilo Hesse«, erklärte Jan prompt. »Von Lilo? Also, jetzt mach aber mal 'nen Punkt! Du willst mir doch nicht etwa weismachen …« Jan fiel ihm ins Wort. »Wenn du mir nicht glaubst, brauchen wir gar 85
nicht erst darüber zu reden. Du entschuldigst mich jetzt wohl. Ich habe zu arbeiten.« Jochen mußte lachen. Er konnte nichts dafür, aber er fand es immer furchtbar komisch, wenn Jan diese Platte auflegte, und er konnte sein Lachen nicht zurückhalten, obwohl er genau wußte, daß er den Jünge ren damit verletzte. »Komm schon her«, sagte er versöhnlich, als Jan einen roten Kopf bekam, »du platzt ja noch, wenn du deine Neuigkeit nicht loswirst … huste es heraus! Ich werde mich inzwischen mit deiner Aufgabe befas sen.« Von einer Sekunde zur anderen ließ Jan seine aufgesetzte Würde fah ren. Wie der Blitz war er wieder beim Schreibtisch, knallte Jochen das aufgeschlagene Heft auf die Platte und schwang sich selber auf die Leh ne eines reichlich mitgenommenen alten Sessels. »Jens hat 'ne Freun din!« platzte er heraus. »Na und was weiter?« Jochen hatte sich einen Zettel genommen und machte sich daran, Jans Aufgabe durchzurechnen. »Das ist bei ihm doch ein Dauerzustand.« »Ach so, du meinst diese Geschichten mit den kleinen Mädchen«, sagte Jan im Ton eines uralten erfahrenen Mannes, »das war doch nur Geplänkel. Aber diesmal ist's ernst.« »Woher weißt du das?« »Jens würde sich doch bestimmt nicht mit 'ner alten Dame einlassen, wenn es ihm nicht ernst wäre.« Jochen ließ seinen Kugelschreiber sinken und starrte den kleinen Bruder an. »Mit einer … was sagst du da?« »Du hast mich ganz richtig verstanden. Er hat sich in so ein altes Haus verknallt. Miller heißt sie, Frau Miller … geschieden ist sie auch noch. Sie wohnt übrigens hier bei uns in der Parkstadt, im Hoch haus … fährt 'nen tollen Alfa Romeo, eigentlich müsstest du den doch schon mal gesehen haben …« Jan beugte sich vor und runzelte die Stirn. »Ob's ihm um die Karre geht? Sag mal ehrlich, Jochen, würdest du mit so 'ner Alten …?« Jochen hatte das Gefühl, daß das Gespräch in seltsame Bahnen ab 86
zugleiten drohte. Mit seinen Freunden führte er zwar manchmal recht offene Reden, aber in Jans Gegenwart machte ihn das verlegen. »Was du so unter alt verstehst«, sagte er, »wahrscheinlich sind ja auch die Bienen aus meiner Klasse … Sibylle, Anita, Annemarie … in deinen Augen alte Tanten.« »Frau Miller ist alt«, sagte Jan mit Nachdruck, »ganz objektiv be trachtet. Ich wette, sie könnte meine Mutter sein.« »Du meinst … sie ist so alt wie Mutter?« Jochens Augen wurden groß. Jan rutschte auf der Sessellehne hin und her. »Nicht ganz, oder sa gen wir … sie ist besser erhalten, verstehst du? Immer hübsch zurecht gemacht, aufpoliert, manikürt und so weiter und so fort … so eine wie man in den Illustrierten sieht. Du, wollen wir mal hingehen?« »Wir? Du hast ja 'nen Vogel.« Jan grinste. »Das wäre doch was! Du, Jochen, lass uns doch mal. Wir können doch so tun, als wenn wir …« Er kratzte sich am Kinn. »… na, sagen wir, als wenn wir etwas sammeln würden, für irgendei nen Wohltätigkeitsverein. Dabei können wir sie uns ganz genau anse hen und also irgendwas muß doch an ihr dran sein, sonst würde Jens doch nicht …« »Sei still«, sagte Jochen, heftiger als er es beabsichtigt hatte, denn er fühlte, wie er bei den Vorstellungen, die Jans altkluges Gerede in ihm wachriefen, gegen seinen Willen in einen Erregungszustand geriet, der ihm mehr als lästig war. »Ich dachte, du wolltest es hören.« »Ich kann nicht arbeiten, wenn du unentwegt quatschst.« Jochen fuhr sich mit allen fünf Fingern durch seine Haare. »Und außerdem ist das doch alles Mumpitz. Bestell deiner Lilo einen schönen Gruß von mir und sag ihr, daß sie spinnt.« Er kritzelte auf seinem Zettel herum, obwohl er von der Lösung noch genauso weit entfernt war wie am An fang – er konnte sich einfach nicht konzentrieren. »Aber sie war doch dabei, als Jan sich mit Frau Miller verabredet hat … und sie kennt jemanden, der hat Jens heute früh aus dem Hoch haus kommen sehen!« 87
»Er kann ja bei jemand ganz anderem gewesen sein«, behauptete Jo chen und spürte selber, wie unglaubhaft das klang. »Bei wem denn?« rief Jan. »Nun sag mir bloß, bei wem? Jetzt möchte ich es aber ganz genau wissen. Also heraus damit!« »Schrei nicht wie ein Reiher! Verdammt, ich habe wirklich genug von deinem Geschwätz!« Jochen sprang auf, trat ans Fenster, riß bei de Flügel weit auf – der Schwall frischer Winterluft, der ins Zimmer drang, tat ihm gut. Er atmete tief durch, einmal, zweimal, dreimal, fühlte sich erleich tert, als seine Erregung abklang. Jan drängte sich neben ihn. »Es wird schneien«, sagte er und schnup perte wie ein Kaninchen, »es riecht direkt schon nach Schnee!« »Schön wär's ja!« Jochen legte dem kleinen Bruder die Hand auf die Schulter. »Du«, sagte er, »ob das mit dieser Frau Miller nun stimmt oder nicht …« »Ich hätte es dir ja nicht erzählt, wenn ich nicht sicher wäre!« Jochen ließ sich nicht unterbrechen. »Sag nichts den Eltern«, mahnte er, »du weißt, die regen sich immer so leicht auf … und zieh auch Jens nicht damit auf! Er ist manchmal so empfindlich.« »Ich bin doch nicht unklug«, sagte Jan sehr männlich, »machst du mir meine Aufgaben oder nicht?« Jochen fuhr seinem Bruder spielerisch in die schwarzen Locken. »Doch, Kleiner, jetzt mache ich sie dir!«
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Eigentlich hatten sie alle zusammen in die Tanzschule gehen wol len – Sibylle, Anita, Peter, Jochen und Artur. Aber seit Sibylle und Jo chen miteinander zerstritten, noch mehr, seit sie nicht länger verber gen konnten, daß sie ineinander verliebt waren, war die Clique ausein ander gefallen. Plötzlich erklärten Peter und Artur, sie dächten nicht mehr daran, mitzumachen – Artur behauptete, er habe keine Zeit, und Peter erklär te, er habe keine Lust. 88
Jochen hätte sich am liebsten den Freunden angeschlossen. Ihn hatte die Idee mit der Tanzstunde nie gereizt, tatsächlich fühlte er sich unbe holfen, wenn er nur daran dachte, und hatte Angst, sich auf dem glat ten Parkett lächerlich zu machen. Aber Sibylle ließ nicht locker. »Wenn du nicht mitmachst, habe ich auch keine Lust«, schmollte sie, und dann drohte sie wieder: »Wenn du so bist, muß ich mir eben einen anderen Tanzpartner suchen!« Jochen war diesem massiven Angriff nicht gewachsen und gab schließlich nach, denn auch zu Hause war man unbedingt für die Tanzstunde. »Ein junger Mann muß tanzen können«, sagte Frau Körner. Und als Jochen sich nicht verkneifen konnte. »Wozu?« zu fragen, er hielt er die Antwort: »Um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können!« Nun hatte Jochen keine rechte Vorstellung davon, was das gesell schaftliche Leben war, und was er davon wußte, reizte ihn durchaus nicht – aber er meldete sich dann doch in der ›Tanzschule Krafft‹ an, und als es somit entschieden war, begann er sogar, sich ein bißchen zu freuen. Immerhin bot die Tanzstunde ja eine Möglichkeit, mit Sibylle zu sammen zu sein, sie in die Arme zu nehmen, sie abends nach Hause zu bringen. Jochen war verliebt genug, um für diese Vergünstigungen weit größere Strapazen auf sich zu nehmen, als sie der Tanzkursus tat sächlich mit sich bringen konnte. Die Vorbereitungen waren lästig, aber auch aufregend. Jochen kam sich selber ganz fremd vor, als er sich im Spiegel sah: Der korrekte dun kelgraue Anzug machte ihn älter als die saloppe Sportkleidung, die er normalerweise bevorzugte. Das weiße Hemd bildete einen hübschen Kontrast zu seiner bräunlichen Haut, die Farbe der Krawatte – die Mutter hatte sie ausgesucht – harmonierte genau mit dem tiefen Blau seiner Augen. Frau Körner hatte auch darauf bestanden, daß Jochen zum Friseur ging, und sein Haar wirkte, gut geschnitten, wenn auch durchaus nicht kurz, jetzt männlicher. 89
Jochen betrachtete noch einmal mit einer komischen Grimasse seine ungewöhnlich sauberen, übermäßig gefeilten Fingernägel, dann sah er wieder in den Spiegel. Er gefiel sich, aber er mochte es nicht zugeben, und gleichzeitig hatte er auch das unangenehme Gefühl, auf andere vielleicht idiotisch zu wirken. Zudem kam er sich in dem korrekten Anzug irgendwie eingezwängt vor – er war den hohen, fest geschlos senen Kragen nicht gewohnt und auch nicht die gestärkten Manschet ten, die ein Stück aus dem Ärmel hervorsahen. Frau Körner bewunderte ihren Jungen, Jan tanzte um seinen älteren Bruder herum und stieß schrille Schreie aus wie ein Indianer auf dem Kriegspfad. Zum Glück sah der Vater kaum von seiner Zeitung auf, als Jochen sich verabschiedete, und Jens war wieder einmal nicht nach Hause gekommen. Jochen war froh, als er nach vielen, sich immer wiederholenden Er mahnungen – »Hast du auch ein sauberes Taschentuch? Fummle nicht am Kragen herum, wenn dir nun das Knöpfchen platzt! Hast du auch Kleingeld mit?« – endlich die Wohnung verlassen konnte. Er fuhr mit dem Omnibus in die Stadt, stellte, als er das Haus, in dem die ›Tanzschule Krafft‹ ihre Kurse abhielt, erreichte, mit Entset zen fest, daß er gute zehn Minuten zu früh da war. Am liebsten wäre er noch ein paar Mal um den Block gelaufen, so unangenehm war es ihm, womöglich der erste zu sein. Aber es war schneidend kalt, und er hatte schon feststellen müssen, daß er noch et was vergessen hatte – seine Handschuhe. So trat er also ein, marschierte die breite gerade Treppe hinauf und – entdeckte, daß schon andere es noch eiliger gehabt hatten als er. Er zählte sieben, acht, neun Jungen, die in der Nähe der Garderobe her umstanden, und drei Mädchen – zwei Freundinnen, die übertrieben angeregt miteinander plauderten, und eine ziemlich Verschüchterte ganz allein. Sibylle war natürlich noch nicht da. Jochen konnte sich nicht entschließen, seinen Mantel auszuziehen. Er hatte schon festgestellt, daß er mindestens eine Stufe eleganter an gezogen war als die anderen Jungen. 90
Wenn Sibylle bloß nicht lacht! dachte er. Wenn sie das tut, drehe ich mich auf dem Absatz um und verschwinde! Dann kann sie sich jeman den suchen, der an meiner Stelle den dressierten Affen für sie macht! In seinem sportlichen Dufflecoat kam er sich immerhin noch eini germaßen normal vor. Das Warten dauerte endlos. Paare trafen sich und schlenderten in den Saal. Gruppen von Mädchen drängten sich kichernd, Jungen mit hochroten Ohren, und als Sibylle endlich kam, sah Jochen ausgerech net einmal nicht zur Treppe. Sie pirschte sich von hinten an ihn heran, zog rasch ihren Mantel aus, legte ihm die Hände vor die Augen. »Rate mal!« »Sibylle!« Er fuhr herum. Sie strahlte ihn an, und er hatte das Gefühl, sie noch nie so schön ge sehen zu haben wie in diesem Augenblick. Sie trug ein leuchtend blau es Kleid mit einem weiten, schwingenden Rock, hatte ihr schulterlan ges Haar hochgesteckt, und das leichte Make-up ließ ihre klaren Au gen noch größer, ihren Mund noch verlockender, ihre Haut noch rei ner erscheinen. Jochen war froh, von ganzem Herzen froh, daß er sich so fein gemacht hatte, denn er spürte, daß er so zu ihr paßte. Aber er kam nicht auf die Idee, ihr ein Kompliment zu machen. Er nahm ihr den Mantel ab, zog seinen Dufflecoat aus, brachte beides in der Garderobe unter. Dann betraten sie nebeneinander den Saal. Es war für beide eine Enttäuschung, daß sie nicht nebeneinander sitzen durften. Aber Herr Krafft, ein sehr eleganter Herr mit weißen Schläfen, dirigierte die Mädchen auf die rechte, die jungen Herren auf die linke Seite des Raumes, wo entlang der Wände Stuhlreihen für sie aufgestellt waren. Dann ging der Unterricht los. Herr Krafft begann mit launigen Ein leitungsworten, dann folgte eine Menge Theorie, und es dauerte end los, bis Herr Krafft in die Hände klatschte, zum Zeichen, daß die Jun gen jetzt ihre Partnerinnen auffordern sollten. »Wir üben jetzt erst einmal nur die Schritte«, sagte er, »ohne Mu sik … Die Paare stellen sich bitte im Kreis auf … ja, so …« Jochen ging quer durch den Saal auf Sibylle zu, ziemlich schnell, aber 91
ohne sich zu beeilen. Er war vollkommen sicher, daß sie gleich mitein ander tanzen würden – aber er kam nicht einmal dazu, sich vor ihr zu verbeugen. Ein anderer Junge war schneller. Den Bruchteil einer Sekunde sah Jochen buchstäblich rot. Der Rücken des Jungen, der sich Sibylle zugewandt, verbeugte, Si bylles rasches Lächeln – das alles verschwamm für ihn in einem roten durchsichtigen Nebel. Er mußte die Augen schließen und tief Atem holen, und als er wie der klar sah, war Sibylle mit ihrem Partner schon auf die Tanzfläche enteilt. Auch Anita, in deren Richtung er sich unwillkürlich hilfesuchend wandte, war schon aufgefordert. Überhaupt saß nur noch ein einziges Mädchen in der langen Stuhlreihe, die eben noch dicht besetzt gewe sen war, ein auffallend mageres Mädchen mit eckigem Kinn, schlech ter Haut und mausgrauem Haar. Sie lächelte Jochen zaghaft und tief errötend an. Aber Jochen stand wie angeleimt, völlig überrumpelt, unfähig, einen Entschluß zu fassen. Wieder klatschte Herr Krafft, der Tanzstundenleiter, in die Hände. »Na, wird's bald, junger Mann«, sagte er ungeduldig, »oder warten Sie auf eine schriftliche Einladung?« Erst als die anderen lachten – unnatürlich laut, um die eigene Ner vosität zu verbergen – begriff Jochen, daß er mit dieser Bemerkung ge meint war. Er preßte die Lippen zusammen, tat das einzige, was ihm zu tun übrig blieb: wandte sich dem Mauerblümchen zu, das schon auf sprang, bevor er bei ihm war. Er verbeugte sich steif, und sie marschierten hintereinander in den Kreis der anderen. – Verdammt, dachte Jochen, warum lass' ich mir das bieten!? Warum bin ich nicht einfach abgehauen? Wofür mache ich dieses Affentheater überhaupt mit?! »Schrecklich heiß hier, wie?« flüsterte seine Partnerin ihm zu. »Kann man wohl sagen«, erwiderte er mürrisch. Er ärgerte sich, daß er nicht nett zu diesem Mädchen sein konn 92
te, das ja nicht dafür verantwortlich war, daß er bei Sibylle nicht zum Zuge gekommen war, und das auch bestimmt nichts dafür konnte, daß es nicht hübscher aussah. Sicher hat sie innere Werte, versuchte er sich einzureden, aber er war sich im gleichen Augenblick darüber klar, daß ihm der Charak ter seiner Partnerin völlig gleichgültig war und daß er wahrschein lich genauso wütend gewesen wäre, wenn man ihm die jüngste Miss Germany zugeschustert hätte. Es machte ihn einfach rasend, daß Si bylle und der Jüngling, der ihm zuvorgekommen war, sich anschei nend blendend amüsierten. Am liebsten wäre er quer über die Tanz fläche auf seinen Rivalen zugegangen und hätte ihm einen Kinnha ken verpasst. Aber von alledem ahnte Jochens Tänzerin natürlich nichts. Hatte sie es gewußt, wäre sie nur halb so unglücklich gewesen. So aber haderte sie im Geiste mit ihrer Mutter, die ihr zugeredet hatte, die Tanzstunde zu besuchen, und da sie beide, Jochen und das Mädchen, nicht bei der Sache waren, fielen ihre ersten Schritte entsprechend hölzern und un geschickt aus. Jochen war so wütend, daß er überhaupt keine Anstalten mehr mach te, Sibylle aufzufordern. Wahllos verbeugte er sich, wenn Herr Krafft das Zeichen gab, mal vor diesem, mal vor jenem Mädchen. Aber so gleichgültig er sich stellte, konnte er es doch niemals unterlassen, aus den Augenwinkeln heraus nach Sibylle zu schielen, die sich vollkom men unbekümmert gab. Er selber brachte nicht einmal die Andeutung eines Lächelns zustande. Dann, endlich, war Pause. Jochen drängte sich mit den anderen in den Vorraum hinaus. Er war drauf und dran, zur Garderobe zu stür zen und sich seinen Dufflecoat zu holen. Am liebsten wäre er auf und davon gegangen und nie mehr zurückgekommen. Nur der Gedanke daran, daß er die Hälfte der Kosten für den Tanzkurs schon im voraus hatte bezahlen müssen, hielt ihn von diesem letzten Schritt ab. Er stellte sich in die hinterste Ecke, starrte mit verbissenem Gesicht vor sich hin. Wie gerne hätte er jetzt eine Zigarette gehabt! Er mach te sich zwar normalerweise durchaus nichts aus dem Rauchen, aber in 93
dieser Situation, so glaubte er, hätte ihm eine Zigarette doch den An schein männlicher Überlegenheit gegeben. Er zuckte nicht mit der Wimper, als Sibylle auf ihn zugewirbelt kam – zauberhafter denn je in ihrem leuchtendblauen Kleid mit dem schwingenden Rock, den strahlenden Augen und den von Bewegung und Aufregung leicht geröteten Wangen. »Jochen«, rief sie, »hier bist du also! Warum versteckst du dich denn? Ich habe schon die ganze Zeit nach dir gesucht!« Er hatte nicht vorgehabt, auch nur ein einziges Wort zu reden, aber ihr Angriff forderte ihn zur Verteidigung heraus. »Von Verstecken kann keine Rede sein«, erklärte er brummig. »Na, immerhin, leicht zu finden warst du wirklich nicht, du hättest ruhig auf mich warten können.« Er funkelte sie zornig an. »Ich … auf dich?! Du hast wirklich eine Stirn, das muß man schon sagen!« Sie schien seine schlechte Laune erst jetzt zu bemerken. »Aber, Jo chen, was ist denn los mit dir?« fragte sie. »Wenn du mich so anguckst, kriege ich ja direkt das große Zittern.« Ihr munterer Ton, weit entfernt, ihm das Komische der Situation zum Bewußtsein zu bringen, reizte ihn noch mehr. Eine rote Blutwel le stieg in sein bräunliches, ebenmäßiges Gesicht, seine Augen wurden schwarz. »Ich hätte gute Lust, dir links und rechts eine 'runterzuhau en«, sagte er scharf. »Aber, Jochen, was habe ich denn getan? Bildest du dir etwa ein, es war meine Schuld, daß wir nicht zusammenkamen? Mir war das ge nau so unlieb wie dir …« »Ach nee! So sahst du aber gar nicht aus!« Sie legte ihre schmale weiße Hand auf seinen Arm. »Jochen, bitte, nimm doch Vernunft an! Wir sind hier nicht im Kindergarten, wo sich jeder in die Ecke stellen kann und bocken. Dies ist ein Tanzkurs, und das bedeutet, daß man sich höflich und nett benehmen muß … jedem anderen Teilnehmer gegenüber, ob es einem nun paßt oder nicht.« Er schüttelte ihre Hand mit einer heftigen Bewegung ab. »Spar dir den Schmus. Ich weiß jetzt, woran ich bin mit dir, und basta.« 94
Sibylle sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an. »Du glaubst doch nicht etwa, daß ich dich nicht mehr lieb habe? Glaubst du das?« Ein paar Mädchen, die in der Nähe in einer Gruppe beieinander standen und sich bisher damit amüsiert hatten, alle anderen durchzu hecheln, wandten sich neugierig zu Jochen und Sibylle hin um. »Schrei doch nicht so!« sagte er ärgerlich. »Und warum nicht?« rief sie herausfordernd. »Von mir aus können alle wissen, wie ich zu dir stehe … alle! Soll ich es laut verkünden, ja, willst du? Vielleicht wirst du es mir dann endlich glauben!« »Sei um Himmels willen ruhig«, sagte er verlegen. »Erst wenn du mir glaubst …« »Ja, ja, schon gut!« Ihre Beteuerungen waren eine köstliche Medizin für Jochens verwundetes Herz, doch er konnte es nicht über sich bringen, ihr zu zeigen, wie erleichtert er war, das wäre gegen sein Gefühl von männ licher Würde gegangen. Statt dessen gab er sich alle Mühe, eine schlechte Laune vorzutäuschen, die er tatsächlich gar nicht mehr empfand. »Ich will doch mit dir tanzen«, sagte sie heftig, »nur mit dir, Jochen! Sonst würde mir die ganze Tanzstunde doch überhaupt keinen Spaß machen … wenn du nur wüsstest, was die anderen für Stiesel sind! Wir müssen uns was ausdenken, ganz rasch, irgendwas, damit uns kei ner mehr in die Quere kommt.« »Du brauchst ja nur abzulehnen …«, schlug Jochen vor. »Nein«, sagte sie entschieden, »das geht nicht … das würde sich ein fach nicht gehören! Wir müssen es so einrichten, daß du immer der er ste bist!« »Und wie soll ich das machen? Soll ich mir Spikes anziehen, damit ich besser starten kann?« Sie ließ sich nicht beirren. »Wir müssen dafür sorgen, daß wir Stüh le bekommen, die einander direkt gegenüberliegen. Dann hast du den kürzesten Weg zu mir … und dann müßte es schon wirklich mit dem Teufel zugehen, wenn jemand dir zuvorkommen sollte.« Sie nahm ihn bei der Hand, zog ihn mit sich auf die weit geöffne te Tür zum Tanzsaal hin. »Schnell, je eher wir drin sind, desto leich ter geht es!« 95
Und diesmal klappte es wirklich. Obwohl Jochen so tat, als wenn er sich gar nicht bemühte, gelang es ihm doch, den Stuhl genau gegen über Sibylle in Beschlag zu nehmen, und als Herr Krafft diesmal das Zeichen zum Beginn gab, war er tatsächlich der erste bei ihr. »Endlich hat's geklappt«, flüsterte sie ihm strahlend zu. Er sagte nichts, aber er empfand um so deutlicher das Glück ihrer Nähe. Es ging ihm merkwürdig, alles schien auf einmal verwandelt. Er sah nicht mehr, daß das Parkett verkratzt, die Tapete an manchen Stel len schäbig geworden war, und es wurde ihm auch nicht bewußt, daß die Tanzschüler sich steif, unbeholfen und unsicher bewegten. Er fühl te sich leicht und schwebend, glücklich wie in einem Märchen.
*
Jens Körner lag lang ausgestreckt auf dem Rücken, so entspannt, daß er sich fast körperlos fühlte. Durch das riesige Fenster des Penthauses, dessen Vorhänge nicht zugezogen waren, blickte er geradewegs in den klaren Winterhimmel hinauf, an dem die Sterne schimmerten und funkelten. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er die unendliche Tiefe dieses Himmels – etwas, das er schon seit langem theoretisch ge wußt hatte, wurde ihm plötzlich lebendig. Claudia lag dicht neben ihm auf der überbreiten Couch zwischen den zerwühlten Kissen, den Kopf an seine Brust geschmiegt. Er hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt, aber tatsächlich war er sich ihrer Gegenwart nur undeutlich bewußt. Jetzt, da sein Körper Erfüllung gefunden hatte, fühlte sich seine See le so frei und schwerelos wie nie zuvor. Sein Geist arbeitete klar und scharf. Es war ihm, als wenn er weit über sich selber und über Claudia hinausgewachsen wäre. Sie bedeutete ihm nichts mehr, genauso wenig wie er sich vorstellen konnte, daß ihm je wieder Hunger, Durst oder Müdigkeit zusetzen würden. Er wurde in die Wirklichkeit zurückgerissen, als Claudia sich an sei ner Seite halb aufrichtete und sich über ihn beugte. Ihr langes schwar zes Haar fiel wie eine dunkle Wolke über sein Gesicht. Zärtlich be 96
rührten ihre Lippen seine Nasenspitze, seine Wangen, sein Kinn, sei nen Mund. »Woran denkst du?« fragte sie spielerisch. Das war eine dieser Fragen, die er hasste, weil sie in einen Bereich seines Wesens einzudringen versuchten, in den er niemandem Ein blick gewähren wollte, nicht einmal in dieser Minute nahezu vollkom menen Glücks. »An dich, Claudia«, antwortete er und spürte, daß er mit dieser Lüge die Verzauberung zerstörte, die ihn umfangen gehal ten hatte. »Wie lieb von dir!« Sie drehte eine ihrer dunklen Locken um den Zei gefinger, kitzelte ihn damit wie mit einem Pinsel. »So bin ich nun mal«, sagte er, »frag meine Mutter … ich war schon ein bemerkenswert liebes Kind.« »Das glaube ich dir aufs Wort.« »Wieviel Uhr ist es?« Sie griff über hin hinweg, knipste die Stehlampe an, angelte nach sei ner Armbanduhr. »Zehn Minuten vor zwölf.« Er nahm ihr die Uhr aus der Hand. »Dann muß ich gehen.« »Mußt du wirklich?« »Ja.« »Aber … ich könnte dir doch wenigstens einen Kaffee machen«, schlug sie vor. Er löste sich aus ihren Armen. »Lieb von dir, aber unnötig.« Er schwang die nackten Füße auf den dicken maisgelben Teppich, stand auf. Sie blieb liegen, sah ihm zu, das Kinn in die Hand gestützt, wie er sich im Halbdunkel rasch und geschickt anzog. »Du hast wohl ziemlich viel Angst vor deinen Eltern«, fragte sie, »wie?« »Nein«, erwiderte er ruhig, »ich will nur keinen Ärger haben.« »Du bist erwachsen«, sagte sie, »was können sie dir schon tun?« Sie wußte selber, daß ihr Benehmen unvernünftig war, aber es reizte sie stets bis zum äußersten, wenn sie spürte, wie er ihr nach jeder Liebes stunde sofort wieder entglitt. Ganz unerträglich war ihr seine sachli che Art, mit der er so rasch wieder den Übergang zum Alltag fand. 97
Aber er ließ sich nicht herausfordern. »Ich wohne bei meinen Eltern, das weißt du«, erklärte er gelassen und stopfte sich die Krawatte in die Hosentasche. Sie ließ nicht locker. »Hast du noch nie daran gedacht, auszuzie hen?« »Häufig genug.« »Also dann …« Er unterbrach sie. »Hör mal, Claudia, das ist doch alles Quatsch, das weißt du so gut wie ich. Ich muß ja froh und dankbar sein, daß ich bei meinen Eltern wohnen kann. Dadurch spare ich 'ne Menge und habe es bequemer als irgendwo anders.« »Ja«, sagte sie spöttisch, »wenn nur nichts deine Bequemlichkeit stört, das ist die Hauptsache.« »Sei doch nicht so albern. Mir ist es genauso gräßlich, daß wir uns immer so rasch trennen müssen, wie dir. Was glaubst du, was ich drum geben würde, mal wieder eine ganze Nacht bei dir zu verbringen …« Sie richtete sich auf, zog die Beine an sich, saß jetzt im Schneidersitz. »Das könntest du haben, wenn du nur wolltest.« Sie sah so kindlich aus in dieser Haltung mit den übergroßen Augen, den mageren Schultern, die unter dem weißen Batistnachthemd zum Vorschein kamen, dem nachtschwarzen Haar, das zerzaust von ihrem Kopf abstand, daß er lächeln mußte. »Warum bleibst du nicht bei mir?« drängte sie. »Du kannst hier woh nen, es ist Platz genug … solange du willst …« Er schüttelte den Kopf. »Solange du willst, meinst du wohl!« »Nein«, beteuerte sie heftig, »für immer!« Er bückte sich, schlüpfte in seine Schuhe – als er sich aufrichtete, wirkte sein Gesicht rot und verbissen. Aber er hatte seine Stimme ganz in der Gewalt, als er leichthin sagte: »Ich hab's nicht gern, wenn du et was daherredest, was du nicht ernsthaft meinst, Baby!« Er klemmte sich sein Jackett unter den Arm und wandte sich in Richtung Bad. »Als wenn ich dir nicht schon hundertmal gesagt hätte …!« rief sie, unterbrach sich erst, als ihr klar wurde, daß er entschlossen schien, sie gar nicht weiter zu beachten. 98
Sie glitt von der Couch, griff sich ihren Morgenrock aus leuchtend roter Seide, lief ihm nach. Sie trug keine Pantoffeln, ihre Füße waren schmal und so gepflegt wie ihre Hände, die Zehennägel lackiert. »Warum läufst du einfach fort?« rief sie klagend. »Warum hörst du dir nicht wenigstens an, was ich dir zu sagen habe?« Jens hatte den Kopf schon unter den scharfen kalten Strahl am Waschbecken gesteckt. Prustend kam er wieder hoch, schüttelte das Wasser aus den Ohren. Sie reichte ihm ein weiches, grünes Frottiertuch. Er trocknete sich das Gesicht ab, fuhr sich mit dem Tuch rubbelnd über das dichte blon de Haar. Bei jeder Bewegung zeichneten sich die geschmeidigen Mus keln seines Oberkörpers unter dem dünnen weißen Hemd ab, und Claudia spürte, wie ein überwältigendes Gefühl ihr fast die Kehle ab schnürte. Ist es denn möglich? dachte sie. Sollte er mir so viel bedeuten? Nein, es ist keine Liebe, es kann nicht Liebe sein. Er ist ja viel zu jung für mich. Er warf das Frottiertuch zerknüllt auf den Rand der Badewanne. »Darf ich deine Bürste benutzen?« »Aber natürlich, Jens, was für eine Frage! Du kannst dir alles neh men, was mir gehört!« Er begann mit Hingabe seine Tolle zu bürsten. »Sehr großzügig von dir«, sagte er mit deutlichem Spott. »Sei nicht so«, flehte sie, »bitte, sei nicht so! Du weißt, wie weh du mir tust, wenn du so bist! Wie kannst du nur so gemein sein!« »Ich liebe dich«, sagte er beherrscht, »ich hoffe, das genügt dir als Er klärung.« Sie wußte, daß alles, was sie darauf sagen konnte, falsch gewesen und verlogen geklungen hätte und suchte vergeblich nach den passenden Worten. »Und ich«, fuhr er, jetzt mit spürbarer Erbitterung, fort, »bin nur ein Spielzeug für dich!« »Jens, wie kannst du so etwas sagen!« »Weil es die Wahrheit ist.« Er drehte sich brüsk zu ihr um. »Nein, es 99
nützt dir nichts, wenn du jetzt Tränen in deine Augen zauberst … dein ganzes Theater zieht bei mir nicht. Es wäre so leicht für dich, mir dei ne Liebe zu beweisen, wenn du nur wolltest …« Er packte sie bei den Oberarmen. »Jens«, sagte sie unglücklich, »lass mich los, du tust mir ja weh!« Aber er dachte nicht daran, seinen Griff zu lockern. »Heirate mich, Claudia!« forderte er. »Oder wenigstens … versprich mir, daß du mich heiraten wirst; sobald ich großjährig bin! Versprich es mir, und ich schwöre dir, du wirst es nie bereuen!« »Es geht nicht, Jens«, sagte sie matt. Er ließ sie so plötzlich los, daß sie fast das Gleichgewicht verloren hätte. »Dann erzähl mir auch nie mehr, daß du mich liebst«, sagte er hart, »spar dir deine Märchen für einen anderen Dummkopf. Du willst nicht mehr als ein loses Verhältnis … na schön, von mir aus. Auch das hat seine Reize.« »Jens«, sagte sie flehend, »verstehst du denn nicht … ich bin ein ge branntes Kind. Ich habe schon eine Ehe hinter mir, ich habe am eige nen Leib erlebt, wie eine große Liebe im täglichen Einerlei der Gewöh nung fad und schal wurde, bis schließlich nichts mehr von ihr übrig blieb … nicht einmal Hass! Als Henry und ich uns trennten …« Er fiel ihr ins Wort. »Du machst einen großen Fehler, mein liebes Kind!« »Ich!?« »Jawohl, du! Indem du mich dauernd mit Henry oder sonst einem Vorgänger von mir vergleichst …« »Aber, Jens, wie kannst du so etwas sagen? Wann kommt es denn schon mal vor, daß ich den Namen Henry überhaupt in den Mund nehme?« Er zog sein Jackett über. »Stimmt, du schluckst ihn meist herunter. Aber das ändert nichts daran, daß du dauernd an ihn denkst … ja, du belauerst jede meiner Reaktionen und versuchst herauszubekommen, ob ich genauso bin wie die anderen.« Sie war sich bewußt, daß diese Behauptung durchaus nicht aus der Luft gegriffen war, und das Entsetzen darüber, sich durchschaut zu 100
fühlen, zitterte in ihrer Stimme, als sie sich verteidigte: »Das ist nicht wahr, Jens, das ist einfach nicht wahr!« Zu ihrer Überraschung merkte sie, daß er gar nicht wirklich böse war, er konnte sogar wieder lächeln. »Um so besser, Liebling«, sagte er, »es wäre nämlich sehr wenig schmeichelhaft für mich gewesen!« Tat sächlich fühlte er sich jetzt, nachdem es ihm gelungen war, seine Ge liebte nahezu in einen Zustand panischer Verzweiflung zu bringen, mit sich und der Welt zufrieden. Auf diese Weise glaubte er, sich und Clau dia bewiesen zu haben, daß er eben doch kein Spielzeug für sie war. »Wann kommst du wieder?« fragte sie. »Morgen?« »Wird kaum möglich sein …« Die Enttäuschung, die sich deutlich in ihrem großäugigen, hohlwangigen Gesicht spiegelte, freute ihn, aber er war immerhin anständig genug, fast im gleichen Atemzug hinzuzu fügen: »Wie wäre es, wenn wir übers Wochenende etwas miteinander unternehmen würden?« »Fortfahren, meinst du?« »Warum nicht? Es sieht so aus, als wenn wir bis zum Samstag präch tiges Wintersportwetter hätten.« Sie wäre gerne bereit gewesen, noch ausgiebig über diesen Vorschlag zu sprechen, aber er hatte es jetzt wirklich eilig, und so einigten sie sich darauf, am nächsten Tag miteinander zu telefonieren. Noch einmal küssten sie sich innig zum Abschied, und als er dann im Lift hinuntersauste, fühlte er sich großartig. Es war ihm, als wenn er, seit er Claudia Miller kannte, um Jahre erwachsener geworden wäre. Sie war kein dummes kleines Mädchen mehr, sondern eine Frau, die etwas von der Liebe und dem Leben verstand. Sie stellte Ansprüche, hätte sich nie mals mit dem ersten besten eingelassen – und doch stand es in seiner Kraft, sie immer wieder schwach und glücklich zu machen. Eigentlich, dachte er, sollte mir das doch genügen. Warum, zum Kuk kuck, muß ich sie jedes Mal wieder quälen? Liegt das an mir? Aber ich war keiner anderen gegenüber so. Oder an ihr? Er wußte auf diese Frage keine Antwort, spürte nur undeutlich, daß diese Liebe ohne die Qual, die sie sich gegenseitig bereiteten, nicht denkbar gewesen wäre. 101
*
Jan Körner hatte den Plan, sich die Freundin seines großen Bruders einmal ganz aus der Nähe anzusehen, durchaus nicht aufgegeben. Seit er ihn einmal, damals noch mehr spielerisch, Jochen gegenüber er wähnt hatte, hatte er immer wieder darüber nachdenken müssen. In zwischen war es fast zu einer fixen Idee für ihn geworden. Die Sache an sich war ganz einfach. Er brauchte nur unter irgendeinem Vorwand bei Claudia Miller zu klingeln – das Dumme war nur, daß das Penthaus, in dem sie wohnte, durch eine Sprechanlage mit der Eingangs halle verbunden war. Also mußte man, wenn man wirklich hinaufgelan gen wollte, sich schon etwas ausdenken, was Hand und Fuß hatte. Um Einfälle war Jan nun durchaus nicht verlegen, und er probte sie im Geiste hintereinander oder jeden einzeln für sich selber durch. Aber keiner war wirklich narrensicher, und vor allem mußte Jan sich eingestehen, daß es ihm einfach an Mut fehlte, sich ganz allein in ein solch unerhörtes Abenteuer zu stürzen. Er versuchte, seine Freunde für das Vorhaben zu gewinnen. Aber da mit hatte er keinen Erfolg. Die Kameraden verstanden einfach nicht, was er sich davon versprach, zu einer unbekannten Frau in die Woh nung zu dringen, nur um sie sich einmal ganz genau anzuschauen. Sie hielten ihn mehr oder weniger für verrückt. Jan nahm ihnen das nicht weiter übel. Er konnte sich ja selber nicht ganz genau erklären, warum es ihn so reizte – wahrscheinlich nur des halb, weil er das, was Claudia Miller und Jens verband, nicht verstehen konnte, es für ihn unvorstellbar war, so ganz und gar in die Welt der Erwachsenen gehörte, zu der er keinen Zutritt hatte. Schließlich fiel ihm nichts Besseres ein, als Lilo Hesse, seine geschwore ne Feindin, einzuweihen. Die beiden pflegten nach Schulschluss mit dem gleichen Omnibus in die Parkstadt zurückzufahren, ohne sich jedoch ge wöhnlich umeinander zu kümmern. Jetzt aber richtete es Jan so ein, daß er neben seiner Mitschülerin auf der hinteren Plattform zu stehen kam. 102
»Du«, sagte er und stieß sie mit dem Ellbogen vertraulich in die Rip pen, »rat mal, was ich Sonntag vorhabe?« Lilo warf den Kopf mit dem kurz geschnittenen, leicht gelockten blonden Haar in den Nacken. »Interessiert mich überhaupt nicht«, gab sie schnippisch zurück. Sie trug einen dicken dunkelblauen Wintermantel, dessen Kapuze sie jetzt abgestreift hatte, hielt sich an der glänzenden Stange fest, die Schulmappe zwischen die Füße ge klemmt. Jan war so leicht nicht zu entmutigen. »Ich gehe zu Frau Miller!« er klärte er. Lilo warf ihm einen kurzen überraschten Blick zu, und etwas in dem triumphierenden Funkeln seiner kohlschwarzen Augen verriet ihr, daß er sie nicht nur aufziehen wollte. »Hat sie dich etwa eingeladen?« fragte sie. »Woher denn. Ich gehe so hin.« »Pah!« sagte Lilo. »Du traust dich ja nicht!« »Und ob ich mich traue!« »Glaub' ich dir nicht!« »Weil du dich selber so etwas nicht trauen würdest«, sagte Jan, glück lich, daß Lilo sich so ohne weiteres zu dem Punkt hatte führen lassen, an den er sie bringen wollte. Lilo fiel auch prompt darauf hinein. »Ich bin nicht so feige wie du!« Jan entschloß sich, die Katze aus dem Sack zu lassen. »Na dann … machst du mit?« Lilo hob hochmütig die dünnen, farblosen Augenbrauen, aber ihr Gesichtchen errötete vor Freude – daß Jan offensichtlich auf ihre Un terstützung angewiesen war, war mehr als schmeichelhaft. »Wie hast du dir das vorgestellt?« fragte sie langsam. Er legte verschwörerisch den Zeigefinger auf die Lippen. »Später.« Sie verließen den Omnibus eine Haltestelle früher als gewöhnlich, um alle Einzelheiten in Ruhe und ohne Zeugen miteinander durchzu sprechen. »Ich habe mir gedacht, wir gehen mit einer Liste für irgendeinen Zweck zu ihr«, sagte Jan. 103
»Aber wenn sie uns nun etwas gibt«, gab Lilo zu bedenken, »das wäre doch Betrug!« »Wir machen eben eine ganz verrückte Sammlung, ich habe mir schon was ausgedacht … ›Für geistig unterentwickelte Schulkinder‹! Klingt doch richtig schön, nicht wahr? Wenn sie es merkt, sagen wir, es war nur Spaß, und wenn sie uns etwas gibt, können wir das Geld mit gutem Gewissen behalten.« Lilo war wider Willen beeindruckt, sie mußte lachen. »Du, das ist wahrhaftig die Masche!« »Sonntag fährt mein großer Bruder zum Wintersport«, berichtete Jan, »da ist sie bestimmt allein, das ist die Gelegenheit!« »Und was sollen wir anziehen?« »So 'ne Frage! Man sieht doch wieder, daß du nur ein Mädchen bist! Was ganz Gewöhnliches natürlich.« »Aber es ist doch Sonntag«, gab Lilo zu bedenken. »Dann eben … ganz gewöhnliches Sonntagszeug …« Sie redeten und redeten und planten miteinander, und als sie sich voneinander verabschiedeten, hatten sie fast das Gefühl, gute Freun de zu sein.
Jens zog tatsächlich am Freitag Abend mit gepackten Koffern und Ski ern in einem Taxi ab – allerdings fuhr er nur ein paar Straßen weiter und stieg am Hochhaus wieder aus. Ursprünglich hatten Jens und Claudia zwar den Plan gehabt, übers Wochenende zu verreisen – allerdings gemeinsam, was Jan überhaupt nicht eingefallen war –, dann aber hatten sie es sich anders überlegt und beschlossen, in Claudias Wohnung zusammen zu bleiben. Es war sehr kalt, die Wintersportmöglichkeiten waren schlecht, und wo hät ten sie es angenehmer haben können? Tatsächlich genossen beide das ungestörte Zusammensein aus vollen Zügen, liebten, stritten und versöhnten sich ausgiebig. Jens saß am Sonntagmorgen gewaschen, rasiert, in Hemd und Ho 104
sen am Couchtisch, den Claudia zum Frühstück gedeckt hatte, als es an der Wohnungstür klingelte, schrill und lang angezogen und gleich darauf noch einmal, gerade als sie mit dem Kaffeetablett in das große Zimmer trat. »Es klingelt«, sagte Jens zu allem Überfluss. »Habe ich gehört«, antwortete Claudia und goss Kaffee ein – sie trug einen sehr eleganten Hausanzug aus pfauenblauer Seide und sah hohl wangiger und aparter aus denn je. »Willst du nicht etwas unternehmen?« »Die Sprechanlage ist kaputt. Wahrscheinlich eingefroren.« Es klingelte wieder. »Dann lass doch den Lift 'raufkommen«, schlug er vor. »Aber ich habe doch keine Ahnung, wer es sein könnte!« »Das werden wir ja dann sehen!« Sie blickten sich an, und Claudia begriff, daß ihr nichts anderes übrig blieb, als zu tun, was er sagte – sonst würde er sich nicht ausreden las sen, daß der unerwartete Besuch ein Freund von ihr sei, oder jemand, vor dem sie sich Jens wegen schämte. Sie ging zur Türe, drückte auf den Fahrstuhlknopf, wartete. Jens lehnte sich auf der Couch zurück, mimte Gelassenheit. Das rote Licht auf der Skala des Liftes leuchtete auf, sprang höher und höher. Claudia fuhr sich mit beiden Händen in ihr Haar, nahm ein Band aus der Tasche ihres Hausanzuges, schob es sich über den Kopf, schüt telte sich das Haar wieder zurecht. »Er kommt«, sagte sie. »Wer?« fragte Jens sofort – obwohl er sich alle Mühe gab, entspannt zu wirken, verriet diese rasche Frage nur allzu deutlich, wie es um ihn stand. »Du weißt genau, wie ich es meine … er oder sie«, erklärte sie und begann ärgerlich zu werden, »du tust ja gerade so, als wenn du mich ertappt hättest.« Er goss sich Kaffee ein, biss sich in die Unterlippe, als er feststellen mußte, daß seine Hände zitterten. »Wie schön, wenn man ein reines Gewissen hat«, sagte er sarkastisch. 105
Sie stand hoch aufgerichtet, starrte auf den Aufzug. »Manchmal«, sagte sie, »kannst du richtig gemein sein!« »Nur manchmal?« fragte er. Es blieb ihr erlassen, darauf eine Antwort auszudenken. Der Lift blieb in der Höhe des Penthauses stehen, die Türen wichen automatisch zur Seite und – zwei Kinder kamen heraus. Jan Körner und Lilo Hesse. Jan hatte eine mit weißem und rotem Papier beklebte Marmeladendose in der Hand, Lilo trug einen blauen Schnellhefter unter dem Arm. »Entschuldigen Sie, gnädige Frau, wir kommen vom …«, begann Jan zungenfertig. Aber dann entdeckte er seinen Bruder Jens am Frühstückstisch und verstummte mitten im Satz. Jens blickte den Kleinen Unheil verkündend an. »Hallo Jan«, sagte er mit seiner tiefen, sehr männlichen Stimme. »Ich sehe wohl nicht recht. Würdest du mir, bitte, erklären …« Aber Jan hatte sich schon wieder gefasst. Mit einem einzigen wilden Satz rückwärts flüchtete er sich in die Kabine des Lifts, schrie: »Los, Lilo, mach schon!« Seine Kameradin rührte sich nicht von der Stelle. Er drückte innen auf den Knopf. Die Türen schlossen sich. Die Kabine sauste in die Tie fe, und Jan schickte als Dank dafür, daß er noch einmal davongekom men war, ein Stoßgebet zum Himmel. Lilo hatte sich nicht einmal nach dem entgleitenden Aufzug umge schaut. Sie lächelte unverfroren, ging an Claudia vorbei auf den Früh stückstisch zu. »Tag Jens«, sagte sie, »wie geht's?« Er hatte grob werden wollen, aber sie sah so reizend aus in dem bra ven dunkelblauen Sonntagswintermantel, der roten Zipfelmütze auf dem blonden Haar, das ihr in frechen Fransen tief in die Stirn fiel, daß er einfach nicht anders konnte, als ihr Lächeln zu erwidern. »Blen dend, Baby … und dir?« Sie rümpfte ein bißchen die Nase, sagte altklug: »Den Umständen entsprechend, weißt du …« Claudia wurde es zu bunt. »Würdest du mir, bitte, sagen, wer du bist und was du hier willst?« fragte sie scharf. 106
Lilo schenkte der jungen Frau einen gekonnt unschuldsvollen Au genaufschlag. »Oh, das tut mir leid! Ich nahm an … Sie und Jens ken nen sich doch so gut … er hätte Ihnen bestimmt schon von mir er zählt!« »Jetzt wirst du unverschämt«, sagte Jens, aber er lachte – er fand es zu komisch, wie sich dieses kleine Mädchen, ein richtiges Kind noch, als Frau und Rivalin der reifen schönen Claudia aufspielte. »Wie alt bist du eigentlich?« fragte er. »Zwölf schätze ich, du gehst mit Jan in die glei che Klasse …« »Ich werde in diesem Monat dreizehn«, erklärte Lilo mit Würde. »Ungeheuerlich«, sagte Jens und lachte noch mehr, »einfach über wältigend!« Claudia Miller hätte nicht zu sagen gewußt, was sie an dieser Situa tion so gereizt machte. Aber die Fröhlichkeit ihres Freundes ging ihr auf die Nerven, sie fand sie völlig unangebracht – und diesem klei nen Mädchen mit dem verlogenen Unschuldsblick hätte sie mit Won ne eine Ohrfeige verpasst. »Darf ich endlich erfahren«, sagte sie und merkte mit Schrecken, wie schrill ihre Stimme klang, räusperte sich und wiederholte eine ganze Tonlage tiefer: »Darf ich endlich erfahren, was du hier willst?« Lilo schlenkerte den blauen Schnellhefter hin und her. »Ach, eigent lich wollten wir sammeln … aber Jan ist ja so ein Feigling! Als er Jens gesehen hat, hat er es mit der Angst gekriegt.« »Der Kleine war mein Bruder«, fügte Jens erklärend hinzu. Claudia vergrub die langen, rosa lackierten Fingernägel in die Hand fläche, daß es schmerzte. »Aber sammeln kannst du auch ohne ihn … wieviel haben denn die anderen gezahlt?« Lilo schlug den Schnellhefter auf, als wenn sie es nicht genau wüsste, was sie und Jan dort mühsam mit verstellter Unterschrift eingetragen hatten. »Fünf Mark«, sagte sie. »Gut. Die kriegst du auch von mir. Aber dann verschwinde!« »Natürlich«, sagte Lilo strahlend, »ich will Sie doch nicht aufhalten, Frau Miller. Du wolltest gerade anfangen zu frühstücken Jens, nicht wahr? Lass dich bloß nicht von mir stören.« Sie schlug den Schnellhef 107
ter auf, trug mit wichtigem Ernst den Namen Claudia Millers in eine Spalte, dahinter den Betrag, den sie spenden wollte. »Hier, bitte, unter schreiben Sie …«, sagte sie und schob Claudia die Liste hin. Claudia hatte inzwischen ein Fünfmarkstück aus ihrem Portemon naie genommen, drückte es Lilo in die Hand. »Da, nimm nur … un terschreiben ist doch nicht nötig!« »Bitte«, sagte Lilo ernsthaft und reichte ihr den Kugelschreiber, »es muß alles seine Richtigkeit haben.« Claudia unterschrieb, ohne hinzusehen. Sie hatte nur den einen Wunsch, das Mädchen draußen zu haben und wieder mit Jens allein zu sein. »Danke«, sagte Lilo mit einem Knicks, »vielen Dank … und ent schuldigen Sie nochmals die Störung!« Sie ging zum Lift. »Willst du nicht von mir auch was haben?« fragte Jens. »Nein, danke … es ist eine Haussammlung, weißt du, wir klappern nur die Wohnungen ab.« Sie hatte auf den Rufknopf gedrückt, nahm aber den Zeigefinger nicht herunter. Claudia hatte sich Jens gegenüber in einem der Kugelsessel niederge lassen, steckte zwei Weißbrotscheiben in den Toaster, goss sich Kaffee ein. »Was für eine Sammlung ist das eigentlich?« fragte sie. »Ich habe nirgendwo etwas davon gelesen …« »Schon möglich«, sagte Lilo. Sie wartete, bis der Lift oben ankam und die Türen aufsprangen. »Es handelt sich um eine Sammlung zu gunsten geistig zurückgebliebener Schulkinder«, sagte sie dann ganz ernsthaft und lachte erst, als sie in der Kabine stand. Sie hatte keine Gelegenheit mehr, die verdutzten Gesichter der bei den zu sehen, denn die Türen schnappten schon wieder zu, der Lift sank hinab. Jens sah Claudia mit halb offenem Mund und gerunzelter Stirn an, dann brach er in ein schallendes Gelächter aus. »Was hast du?« fragte sie nervös. »Ich begreife durchaus nicht, was du so komisch findest …« Irritiert strich sie sich über das Gesicht. »Habe ich einen Fleck auf der Wange?« »Aber Claudia!« Jetzt brüllte er vor Lachen. »Ich lache doch nicht 108
über dich, sondern … o je, die haben uns fein angeschmiert …« Er bog sich. »Ist dir denn wirklich nichts aufgefallen?! Sammlung zugun sten geistig zurückgebliebener Schulkinder … also das ist eine Unver schämtheit!« Sie errötete, weil sie sich ärgerte, daß sie es nicht selber gemerkt hat te. »Du meinst …?! Ich habe gar nicht richtig hingehört …« »Damit haben die doch gerechnet! Na, warte, Jan, lass mich nur erst wieder nach Hause kommen …« Die beiden braun gerösteten Weißbrotscheiben sprangen aus dem Toaster. Jens nahm sie heraus, Claudia steckte neue hinein. »Aber du kannst ihm nichts tun«, sagte Claudia, »wir müssen ja froh sein, wenn er nichts zu Hause erzählt. Ich finde die ganze Sache doch ziemlich peinlich, weißt du …« »Ach, nicht die Bohne«, sagte er unbekümmert, »Jan petzt nicht. Das tut keiner meiner Brüder. Wir haben immer wie Pech und Schwefel zusammengehalten, weißt du.« Er legte ein Stück Butter auf den hei ßen Toast. »Dieses Mädchen schien dich sehr gut zu kennen«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Lilo Hesse? Ihr großer Bruder geht mit Jochen in die Klasse und deshalb …« Er hob die Augenbrauen, blickte sie aus weit aufgerisse nen Augen an. »Sag mal, du bist doch nicht etwa eifersüchtig? Warst du deshalb so unfreundlich zu der Kleinen? Ich hatte mich schon ge wundert … ja, natürlich, das ist es! Du bist eifersüchtig, Claudia, eifer süchtig auf ein Kind!« »Ein Kind«, wiederholte sie mit Bitterkeit, »das in drei Jahren hei ratsfähig ist, dann bist du dreiundzwanzig und ich …« Sie schluckte. »Dieses Kind steht dir im Alter näher als ich, Jens!« Er stand auf, ging zu ihr hinüber, kniete vor ihr nieder und nahm sie in die Arme. »Claudia«, sagte er, »Claudia, was sind das für Ideen! Für mich gibt es keine andere Frau als dich … du kannst doch aus unserer Liebe kein Rechenexempel machen!« Und er küßte die Tränen fort, die an ihren langen, schön gebogenen Wimpern glitzerten. 109
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Jan hatte unten, in der Vorhalle des Hochhauses, auf Lilo gewartet – immer die Türe des Lifts im Auge, immer auf dem Sprung zu fliehen. Aber als Lilo dann wirklich ausstieg, gelang es ihm, sich den An schein größter männlicher Gelassenheit zu geben. »Na, endlich«, sagte er, »haben sie dich festgehalten?« »Wo denkst du hin«, gab sie schnippisch zurück. »Du hast doch nichts ausgequatscht?« fragte er mißtrauisch. Sie warf den Kopf mit dem kurz geschnittenen blonden Haar so hef tig in den Nacken, daß ihre rote Zipfelmütze schief rutschte. »Im Ge genteil, ich habe kassiert!« »Was hast du?« Er starrte sie an wie ein Weltwunder. »Ich habe getan, wozu du zu feige warst … ich habe dieser Dame Geld abgeknöpft!« Sie öffnete die Hand mit dem roten Fausthand schuh, zeigte Jan das blitzende Fünfmarkstück. »Da staunst du, was?« Als sie sah, daß Jan blass wurde, daß er, anstatt zu lachen, die Stirne verzog, fügte sie großmütig hinzu: »Wir teilen natürlich!« »Nein!« schrie er und schlug auf Lilos ausgestreckte Hand, so daß das Geldstück davonflog und klirrend über den steinernen Boden roll te. »Behalte den Dreck! Ich brauche nichts von dir!« »Aber, Jan«, sagte sie ganz bestürzt, »was ist denn in dich gefah ren?!« »Verdammt!« Seine Stimme schnappte über. »Lass mich doch in Ruhe!« Er warf die leere Büchse dem Geldstück nach, wandte sich ab und stürzte davon. Lilo sah ihm mit gerunzelter Stirn nach, weit davon entfernt, zu be greifen, daß er sich durch ihre Überlegenheit und Kaltblütigkeit bla miert fühlte, anstatt sich über den Spaß mit dem Geld zu freuen. »Idiot«, sagte sie laut und vernehmlich. Dann bückte sie sich und begann, nach dem Geld zu suchen. 110
Jan hatte sich fest vorgenommen, keiner Menschenseele etwas von die sem Reinfall zu verraten. Aber auf die Dauer hielt er das doch nicht durch. Ein paar Wochen später sah er alles schon in einem anderen, für ihn viel günstigeren Licht. Und eines Tages erzählte er Jochen das Erlebnis, allerdings ein bißchen anders, als es sich in Wirklichkeit ab gespielt hatte, wo er ja keineswegs der Held gewesen war. Aber Jochen hörte gar nicht recht zu. Er war vollauf mit seinen eige nen Problemen beschäftigt, und das Tun und Treiben des großen Bru ders interessierte ihn im Moment überhaupt nicht. Er fühlte sich Jan so himmelhoch überlegen, wie es nur ein Halberwachsener einem Kind gegenüber sein kann. Jochen machte gerade eine sehr aufregende, schwierige, beglückende und doch immer wieder niederschmetternde Zeit durch. Er war in Si bylle verliebt wie nie zuvor – er war geradezu besessen von dieser Ver liebtheit. Ihr Bild – das schmale Gesicht mit den klaren Augen, das blonde schulterlange Haar, die schlanke und doch sehr weibliche Figur – die ses zauberhafte Bild schob sich immer wieder zwischen ihn und das, was er eigentlich hätte tun sollen. Es fiel ihm auf eine nie gekannte Weise schwer, sich in der Schule oder bei den Schulaufgaben zu kon zentrieren. Wenn er abends im Bett lag, mußte er an Sibylle denken, sobald er die Augen schloß, und die Erinnerung und die Sehnsucht be unruhigte ihn so sehr, daß er, auch wenn er todmüde war, oft stunden lang keinen Schlaf finden konnte. Die Folge war ein deutliches Nach lassen seiner Schulleistungen, schlechte Noten vor allem in den Fä chern, in denen er auch vorher nicht besonders gut gewesen war, be sonders in den Sprachen. Wenn er mit ihr zusammen war, gab es für ihn Sekunden vollkom menen Glücks – aber eben höchstens immer nur für Sekunden. Die Tanzstunden mit ihr waren kein reiner Genuss, denn immer hatte er das Gefühl, sie verteidigen zu müssen. Er fürchtete dauernd, daß ihm ein anderer Junge bei der Aufforderung zum Tanz zuvorkommen oder sie – was er noch mehr hasste – mitten drin abklatschen könnte. So sehr er sich jedes Mal auf die nächste Tanzstunde freute, so heftig 111
sehnte er, sobald sie begonnen hatte, ihr Ende herbei. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Sibylle später nach Hause zu begleiten. Aber auch der Gang durch die winterlich kalte Nacht, eng aneinanderge schmiegt und eingehakt, die kurzen Pausen im Schatten der Hausein gänge, in denen sie sich küssten, brachten ihm mehr Qual als Befrie digung. Ihre hingebungsvollen Küsse, ihr schlanker elastischer Kör per in seinen Armen, der Duft ihres Haares, gemischt mit dem herben Eau de Cologne, das sie benutzte, das alles regte ihn so auf, daß ihm manchmal so war, als müßte er gleich den Verstand verlieren. Sein Wunsch, sie ganz zu besitzen – diesen Wunsch, den er kaum vor sich selber in seinen geheimsten Gedanken auszusprechen wag te – wurde dann so stark, daß er ihn wie einen körperlichen Schmerz empfand. Einmal, als sie dicht aneinandergedrängt in der Tür des Hauses stan den, in dem Sibylle wohnte, konnte er ein Stöhnen nicht unterdrük ken. »Was hast du?« fragte sie, ganz erstaunt. »Nichts, gar nichts«, sagte er rau. »Aber du hast doch eben gestöhnt … oder? Ich habe mich doch nicht verhört«, sagte sie arglos. Er ließ sie los, in seinem Mund war ein Geschmack von Blut. »Na und?« sagte er heftig. »Ich habe gestöhnt. Na schön, du sollst recht ha ben. Also, was ist weiter dabei?« »Aber Jochen!« Er konnte ihr Gesicht in der Dunkelheit mehr ahnen als sehen, hör te aber an ihrer Stimme, daß sie lächelte. »Bist du denn nicht glücklich, Jochen?« »Bist du es?« fragte er zurück. »Sehr«, beteuerte sie, »ich finde es wundervoll!« »Was?« »Das Leben … die Tanzstunde … daß wir uns gefunden haben … alles!« Er zog tief die schneidende Kälte der Winterluft ein. »Haben wir uns denn wirklich gefunden, Sibylle?« 112
»Aber natürlich, oder …« Sie wurde plötzlich mißtrauisch. »Gefällt dir eine andere besser als ich? Anita vielleicht? Es ist mir schon aufge fallen, daß du in letzter Zeit viel netter zu ihr bist als früher.« Er sah sich, ohne zu begreifen, wie das geschehen konnte, in die Ver teidigung gedrängt. »So ein Blödsinn. Sie tut mir einfach leid, das ist alles.« »Und warum, wenn ich fragen darf?« »Sibylle«, sagte er, »hör auf mit Anita! Ich interessiere mich nicht für Anita, und sie hat nichts mit uns beiden zu tun.« »Warum bist du dann so komisch?« fragte sie. »Wirklich, manchmal bist du sehr komisch, Jochen. Ich habe direkt das Gefühl …« Sie zö gerte weiterzusprechen, sagte dann aber doch: »daß du mit mir Schluß machen willst!« Sie erwartete seinen Protest, aber er sagte nicht sofort etwas, und es entstand eine kleine Pause, die sich wie eine gläserne Wand zwischen ihnen aufrichtete. »Manchmal denke ich«, sagte er endlich, »es wäre vielleicht wirk lich besser.« »Du liebst mich also nicht mehr!« Es sollte wie eine sachliche Fest stellung klingen, kam aber dann doch ganz anders heraus. Er fuhr sich mit beiden Händen in sein weiches braunes Haar, sag te verzweifelt: »Herrje, Sibylle! Warum seid ihr Mädchen nur so ganz und gar von allen guten Geistern verlassen?! Begreifst du denn wirk lich nicht …« »Was? Was soll ich denn begreifen?« »Daß mich das Ganze verrückt macht!« »Jochen«, sagte sie, »vielleicht bin ich wirklich doof … tut mir leid, wenn das so sein sollte. Aber ich kapiere nichts. Würdest du wohl so freundlich sein und dich verständlicher ausdrücken?« Er zögerte, aber die Dunkelheit und ihr sachlicher Ton machten ihm Mut. »Ich bin ein Mann«, sagte er, »und für mich ist das alles kein Spaß. Diese Knutschereien reizen mich auf, ohne mich zu befriedigen. Hast du jetzt verstanden? Oder möchtest du eine Zeichnung dazu ha ben?« 113
»Du … du küsst mich nicht gerne?« fragte sie. »Doch, Sibylle, doch!« Er schrie es fast heraus. »Ich küsse dich ger ne, ich halte dich gerne in meinen Armen … aber auf die Dauer kann mir das nicht genügen. Ich weiß, was du mir jetzt sagen wirst … daß ich wie alle anderen bin, daß wir noch zu jung für so was sind, daß du Angst vor einem Baby hast … glaub mir, Sibylle, das weiß ich ja alles, du kannst dir deinen Atem sparen. Ich weiß, daß es ganz und gar un vernünftig ist und daß ich es dir nicht antun darf …« Er klopfte sich mit der Faust gegen die Stirn. »Aber mit dem Wissen allein ist es nicht getan … es gibt etwas anderes, das manchmal stärker in mir wird … vor dem ich Angst habe, Sibylle, regelrecht Angst!« Als es heraus war, fühlte er sich plötzlich besser. Sie brauchte Zeit, um das, was er ihr da bekannt hatte, zu verarbei ten. »Ich bin dir nicht böse, Jochen«, sagte sie leise, »nur ein bißchen traurig, weißt du. Ich war so glücklich …« »Ich doch auch«, behauptete er. »Du liebst mich also noch!?« »Aber sicher, Sibylle … aber nun sag mir mal, hast du denn kein Wort verstanden? Wenn ich dich nicht liebte, brauchte ich das doch al les nicht durchzumachen.« Sie stellte sich auf die Zehen, küsste ihn zart. »Du machst gar nichts durch, Jochen, das bildest du dir alles nur ein. Du liebst mich, und ich liebe dich, das ist die Hauptsache … eines Tages wird alles so werden, wie du es jetzt ersehnst, und dann werden wir beide zusammen dar über lachen, wie verrückt wir früher einmal gewesen sind.« »Kann schon sein«, gab er zu. »Na, siehst du! Dann küss mich noch einmal … ich muß ins Haus! Ich wette, meine Mutter wartet schon neben der Wohnungstüre!« Sie küsste ihn zart, löste sich dann rasch aus seinen Armen, ver schwand im Haustor. Die Straße war plötzlich sehr leer ohne sie, die nächtliche Kälte spürbar. Jochen schlug den Kragen seines Dufflecoats hoch, wandte sich ab. Wahrscheinlich verstehen die Mädchen das gar nicht, dachte er, man darf es ihnen also nicht übel nehmen. Trotzdem bin ich froh, daß ich 114
mit Sibylle darüber gesprochen habe. Es ist besser, sie weiß Bescheid, wenn mal etwas passiert … Und er träumte sich, wider sein besseres Wissen und Gewissen Si tuationen zurecht, in denen etwas hätte passieren können. Situationen, die es im täglichen Leben für ihn und Sibylle nicht gab, denn sie hat ten keinen Ort auf der Welt, an dem sie miteinander hätten ungestört allein sein können.
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Nun war es aber beileibe nicht so, daß Sibylle und Jochen nur in der gemeinsamen Tanzstunde zusammen waren und alle vierzehn Tage sonntags beim Tanztee – worüber noch zu reden sein wird –, sondern sie begegneten sich täglich in der Schule, und das machte die Dinge für Jochen nicht leichter. Nachdem die Clique auseinander gefallen war, bestand nur noch die Freundschaft zwischen Sibylle und Anita – eine typische Mädchenfreundschaft mit Eifersüchteleien und viel intimen Bekenntnissen, und eine ziemlich nüchterne Kameradschaft zwischen Artur und Peter. Jochen stand genau zwischen diesen Parteien, mit Sibylle in Liebe, mit Artur in Freundschaft verbunden, wobei jede Möglichkeit ent schwunden war, die beiden Gruppen wieder einander näher zu brin gen. Statt dessen versuchte Sibylle mit allen Mitteln, Jochen enger und immer enger an sich zu fesseln; Artur bemühte sich mit Gewalt, Jo chen aus den Fängen Sibylles zu lösen. Noch schwieriger wurde die Situation dadurch, daß Jochen selber unfähig war, sich zu entscheiden. War er mit Sibylle beisammen, so wuchs mit jeder Viertelstunde sein Bedürfnis nach einem Gespräch mit den alten Freunden. Früher, als sie noch nicht verliebt gewesen wa ren, hatten Sibylle und er über alles mögliche miteinander reden kön nen, sie hatten Gott und die Welt durchgehechelt, Probleme aufgestellt und sie zu lösen versucht, kurzum, sie hatten sich nicht eine Sekunde miteinander gelangweilt. Seit sie sich aber liebten, war es wie verhext. Welche Frage auch Jo 115
chen immer anschneiden mochte, sehr bald landeten sie wieder beim Thema Liebe. Für Sibylle ging dieser Gesprächsstoff nie aus, sie konnte sich stundenlang darüber verbreiten. Auch wenn sie die gleichen Fra gen zum hundertsten Mal stellte, ihr waren sie immer neu: »Wann hast du zuerst gemerkt, daß du mich liebst?« – »Denkst du auch an mich, wenn wir nicht zusammen sind?« – »Kannst du dir vorstellen, daß ei nes Tages Schluß sein soll?« – »Ist es nicht Quatsch, wenn Dr. Vollmer behauptet, daß die erste Liebe nur selten zur Ehe führt? Du hast doch auch das Gefühl, daß wir füreinander bestimmt sind?« – und so weiter und so fort bis ins Unendliche. Nach einer Weile überkam Jochen stets ein ähnlicher Widerwille, wie einen Menschen, der eine wahnsinnige Lust auf Sahnetorte gehabt und sich nun damit voll gestopft hat, bis sie ihm wirklich gründlich über ist. Er begann sich nach den sachlichen Unterhaltungen mit sei nen Freunden zu sehnen. War er dann aber wieder mit Artur und Peter zusammen, bereit, Si bylles Zorn die Stirn zu bieten, die das gar nicht gerne sah, so wurde er auch hier enttäuscht. Die Freunde von früher erschienen ihm kin disch, ihre Späße abgeschmackt, ihr ständiges Gerede von der Schule, von Gangsterfilmen und Fußball einfach langweilig. Nie sehnte er sich mehr nach Sibylle als wenn er mit Artur und Peter zusammen war. Er geriet ins Träumen, und sobald die beiden anderen das merkten, be gannen sie ihn aufzuziehen – sie ließen höchst alberne Bemerkungen über Sibylle, die Mädchen im allgemeinen und die Liebe, oder was sie darunter verstanden, im besonderen vom Stapel – und sie brachten ihn damit so auf die Palme, daß er mehr als einmal nahe daran war, eine Prügelei vom Zaune zu brechen. Ja, das war wirklich ein schwieriger Winter für Jochen, und er wurde noch schwieriger dadurch, daß er selber trotz aller Männ lichkeit eben doch kein fertiger Mann war, sondern in mancher Be ziehung empfindsam und empfindlich wie ein Mädchen. Er litt dar unter, daß er hin und wieder errötete – was ihm gar nicht schlecht stand, weil es seiner bräunlichen Haut nur eben einen Ton Wär me gab – und daß seine Stimme, wenn auch glücklicherweise sel 116
ten genug, hin und wieder überschnappte, und er konnte nichts da gegen tun. Seit dem Mittelball des Tanzkurses, der Ende Januar stattgefunden hatte – Sibylle hatte ein zauberhaftes Kleid in Rosa mit Perlensticke rei getragen, Anita war aparterweise in schwarz erschienen, einer Far be, die zu ihrem roten Schopf prächtig stand –, durften sie an den für ihren Kurs vierzehntägig stattfindenden Tanztees bei Kraffts teilneh men. Diese Tanztees wurden in den gleichen Räumen des großen alten Hauses abgehalten wie die Tanzstunden, nur waren in einem der Säle runde kleine Tische aufgestellt, um die sich die Stühle gruppierten, die sonst die Wände entlang standen. Es gab Kuchen und Gebäck, es wur de Tee geboten – daher der Name Tanztee – und verschiedene andere alkoholfreie Getränke. Die Mädchen versuchten, sich noch hübscher zu machen als in den gewöhnlichen Tanzstunden; Herr Krafft unter richtete nicht, sondern beaufsichtigte. Aber getanzt wurde nur, was sie schon gelernt hatten, und die Musik kam von den gleichen, schon alt vertrauten Bändern her. Jochen wäre mit Sibylle viel lieber mal zu einem Beat-Nachmittag ge gangen oder in irgendein richtiges Lokal. Aber Sibylle gefiel das kor rekte Tanzen, wie es bei Kraffts gelehrt wurde. »Nützen wir es doch aus, solange es geht«, sagte sie, »ich habe keine Lust, mich von dir ohne Not in irgendeinen brummvollen Tanzschup pen schleppen zu lassen. Hier haben wir wenigstens Platz, können un sere Figuren üben.« Jochen blieb nichts anderes übrig, als nachzugeben. Tatsächlich war sein Taschengeld durch die tanzstundenbedingten Extraausgaben die ses Winters besonders beschränkt. Er hätte nicht einmal die Möglich keit gehabt, Sibylle anderswohin einzuladen, also konnte er ihr auch nicht seinen Willen aufzwingen. Außerdem fand er selber diese Tanztees so übel nicht, wenn ihm das piekfeine Getue, das hier herrschte, auch einigermaßen albern vor kam. Sibylle und Anita verstanden es fast immer, einen Tisch zu beschlag 117
nahmen, von dem aus sie eine gute Übersicht hatten. Sie liebten es, in den Tanzpausen über die Anwesenden zu lästern, ohne dabei Rück sicht auf Jochen zu nehmen, dem das immer einigermaßen peinlich war. Anitas Tanzstundenkavalier, ein schmalbrüstiger, bebrillter Junge namens Hinz, keineswegs attraktiv, dafür aber intelligent, pflegte es mit Humor zu nehmen. Er grinste, feuerte die beiden Mädchen, sobald ihre Betrachtungen zu erlahmen drohten, mit einer gepfefferten Be merkung an, zwinkerte Jochen vergnügt über den Tisch hinweg zu. Er war es auch, der eines Tages das Auftauchen Karl-Heinz Scheiners zuerst bemerkte. »Sieh einer an, wer kommt denn da? Der Matador … der Stolz dieses Etablissements!« »Wo?« fragten die beiden Mädchen wie aus einem Munde. »Augen auf, er spricht gerade mit dem Meister!« Alle blickten zu Herrn Krafft hin, auch Jochen, und sie sahen einen stämmigen jungen Mann, etwa so alt wie Jens, aber einen ganzen Kopf kleiner, mit schwach rötlichem Haar und fahler Gesichtshaut. Sie hat ten alle schon von Karl-Heinz Scheiner gehört, der schon fast ein Profi zu nennen war, manches Turnier gewonnen und sogar einmal bei den deutschen Meisterschaften gestartet war. »Na, den habe ich mir aber wesentlich attraktiver vorgestellt«, mein te Sibylle ehrlich. »Sag ihm das nicht«, riet Hinz feixend, »das würde ihn kränken!« Alle lachten, denn keiner zog auch nur die Möglichkeit in Betracht, daß es je zu einem Gespräch zwischen Sibylle und Karl-Heinz Schei ner kommen könnte. Und genau in diesem Augenblick wandte der junge Mann sich um, blickte suchend über die Schülerinnen und Schüler hinweg, deren Ge schwätz schlagartig verstummt war, und kam dann geradewegs über das glänzende Parkett auf den Tisch zu, an dem Anita und Hinz, Si bylle und Jochen saßen. Karl-Heinz Scheiner verbeugte sich vor Sibylle, als die ersten Klänge eines Cha-Cha-Cha ertönten. »Darf ich bitten?« Sibylle zögerte eine Sekunde, sah Jochen an. »Ich weiß nicht …«, sag 118
te sie unsicher, aber es war ihr anzusehen, daß sie darauf brannte, mit dem anderen zu tanzen. Sie hatte sich, bevor Jochen noch etwas sagen konnte, schon halb er hoben. Aber Karl-Heinz Scheiner hatte ihren fragenden Blick zu ihrem Part ner hin bemerkt und verbeugte sich jetzt noch einmal, sehr korrekt, vor Jochen. »Sie gestatten doch?« Was blieb Jochen übrig, als ja zu sagen, wenn er sich nicht lächerlich machen wollte? Ihm fiel jedenfalls nichts anderes ein, und er knurr te etwas, was Sibylle und Scheiner ohne weiteres als Zustimmung aus legten. Sie rauschten ab, sehr geschmeidig und sehr selbstverständlich, und Jochen hatte buchstäblich das Nachsehen. »Ein hübsches Paar«, sagte Anita, die sich die Gelegenheit nicht ent gehen lassen konnte, ein bißchen zu hetzen. »Besonders von hinten«, sagte Hinz mit einem breiten Grinsen, »von vorne stört das Gesicht des Heinis.« Jochen hörte nichts von alledem. Er war vollauf damit beschäftigt, sein inneres Gleichgewicht zurückzugewinnen. »Komm, tanz mal mit mir, dann wird Sibylle sich ärgern«, sagte Ani ta. Aber Jochen schüttelte nur stumm den Kopf. Er fühlte sich wie ge lähmt, war fest überzeugt, nicht einmal einen Fuß vor den anderen setzen, geschweige denn tanzen zu können. Anita war dergleichen Zurückweisungen mehr als gewöhnt, den noch überzog sich ihre milchweiße Haut unter dem leuchtenden Haar schopf mit dunkelroter Glut. Hinz rettete die Situation, indem er sie mit zur Tanzfläche schleppte. Jochen blieb allein zurück. Für ihn dauerte es eine Ewigkeit, bis end lich die drei Tänze um waren und das Parkett sich wieder leerte. Er hatte sich alles mögliche ausgedacht, was er Sibylle jetzt sagen würde und war zum Schluß zu der Überzeugung gekommen, das beste wür de sein, einfach so zu tun, als wäre gar nichts geschehen. Aber Sibylle kam gar nicht an den Tisch zurück, jedenfalls noch 119
nicht. Sie blieb mit Karl-Heinz Scheiner in einer der hohen Fensterni schen stehen, und die beiden redeten und redeten. Jochen konnte ein fach nicht mehr hinsehen, er starrte in sein Glas. Und auch Anita und Hinz fiel nichts mehr ein, was die Situation hätte entspannen können. Herr Krafft stellte das Tonband wieder an, und jetzt kam ein Fox trott an die Reihe. Darauf schienen Sibylle und Scheiner nur gewartet zu haben, denn schon waren sie wieder auf der Tanzfläche. Jochen biss die Zähne zusammen. Er hätte vor Wut und Schmerz schreien mögen. In diesem Augenblick verfluchte er sämtliche Frauen der ganzen Welt. Dann verzog sich der rote Nebel vor seinen Augen. Er sah wieder klar. Ganz objektiv und kühl stellte er fest, daß Sibylle und Karl-Heinz Scheiner wirklich ein schönes Paar waren. Sie schien in seinen Armen geradezu über das Parkett zu schweben – ja, Scheiner tanzte ganz an ders mit ihr, als er es je würde fertigbringen können. Und wie Sibylle zu ihm aufstrahlte! Nein, es hatte keinen Sinn, sie eifersüchtig machen zu wollen oder um sie zu kämpfen. Scheiner war kein Rivale, den man ausstechen konnte. Jochen schob seinen Stuhl zurück und marschierte sehr gerade und mit hocherhobenem Kopf zur Tür. Er hatte dabei das Gefühl, daß sich sämtliche Blicke in seinen Rücken bohrten. Aber er sah sich nicht um. Er holte seinen Dufflecoat aus der Garderobe, schlüpfte hinein und ging die breite, gerade Treppe hinunter zur Haustür. Er sah Scheiners Auto sofort. Was konnte dieser Affe schon anderes fahren als ein knallrotes Sportkabriolett! Jochen wußte, daß es albern, daß es kindisch, daß es verrückt war. Aber er konnte nichts dagegen tun. Sein Wunsch, sich zu rächen, sich zur Wehr zu setzen, war so überwältigend, daß er sich einfach bücken mußte, um vom Vorderreifen die Radkappe abzunehmen. Mit dem Stift an der Rückseite drehte er das Ventil heraus, und da es beim er sten Mal so gut gegangen war, machte er gleich weiter. Er gab sich erst zufrieden, als er aus sämtlichen vier Reifen die Luft 120
herausgelassen hatte und der elegante Sportwagen in sich zusammen gesunken dastand wie eine müde alte Ente. Danach fühlte er sich besser. Erst als er an der Bushaltestelle ankam, wurde ihm bewußt, wie leicht man ihn hätte erwischen können. Aber als er es tat, hatte er nicht dar an gedacht, und es wäre ihm auch ganz gleichgültig gewesen. Seine ehemals sorgfältig gefeilten und sauber gebürsteten Fingernä gel waren schwarz und abgebrochen. Er versteckte die Hände tief in den Hosentaschen.
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Als Jochen nach Hause kam, brannte im Wohnzimmer Licht. Sein Bruder Jens saß vor dem Fernsehgerät. Das war ungewöhnlich, aber Jochen fiel es nicht weiter auf. Tatsache war, Jens hatte sich gerade wieder einmal mit Claudia Mil ler zerstritten und war vom Kaufhaus direkt nach Hause gefahren, um ihr seine Unabhängigkeit zu beweisen. Aber er hatte die Türe zu der kleinen Diele hin offengelassen, um nur ja nicht das Telefon zu über hören. So kam es, daß er sofort aufmerksam wurde, als Jochen sich so leise wie möglich in die Wohnung zu schleichen versuchte. »He!« rief er. »Was ist denn los?!« Jochen zögerte. Dann trat er aber doch ins Zimmer. »Nichts Beson deres.« »Ich dachte, du wärst wieder mal auf deinem Heidideldumdei«, sag te Jens. »War ich auch«, gab Jochen zu und, um Jens abzulenken, fragte er im gleichen Atemzug: »Wo sind die Eltern?« »Im Theater, was du eigentlich wissen solltest, und Jan liegt im Bett und schmökert wahrscheinlich noch … das nur, um deiner nächsten Frage zuvorzukommen.« Jens stand auf, schaltete das Fernsehgerät aus, knipste die Deckenbeleuchtung an. »Was ist los mit dir? Schlecht gelaunt?« Jochen schüttelte befriedigt den Kopf. 121
»Also Ärger mit den Mädchen«, stellte Jens fest, »nimm's nicht zu tragisch, Junge. Das bleibt keinem von uns erspart.« Er sah Jochens blasses, verbissenes Gesicht. »Du brauchst mir nichts zu erzählen, wenn du nicht willst … aber wie wäre es, wenn wir beide uns jetzt mal einen Whisky genehmigten? Ich habe eine Flasche in meinem Zimmer.« Jochen machte sich eigentlich gar nichts aus Whisky, aber er woll te es nicht zugeben, um nicht unmännlich zu wirken. Außerdem hat te er das Gefühl, daß eine Aussprache mit dem älteren Bruder gerade das sein würde, was er jetzt brauchte. »Gute Idee«, sagte er deshalb so gleichgültig wie möglich. »Na, fein, dann hol schon Eis aus der Küche, ich werde …« Jens kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, denn gerade jetzt klingelte das Te lefon. Die beiden jungen Männer standen da und sahen sich an, und Jo chen spürte, wie die lächerliche Hoffnung ihn überwältigte, daß es Si bylle war, die anrief und sich entschuldigen wollte. »Geh du 'ran«, sagte Jens, »und wenn es für mich ist … ich meine, wenn es ein Mädchen ist, dann sagst du, ich sei nicht da und du wüs stest auch nicht, wo ich mich aufhielte … verstanden?« »Gerade noch.« Jochen ging in die Diele hinaus, und Jens folgte ihm auf dem Fuß. Jo chen nahm den Hörer ab und meldete sich – am anderen Ende der Lei tung blieb es stumm. »Na, was ist?« fragte Jens ungeduldig. »Meldet sich niemand.« Jens nahm ihm den Hörer aus der Hand. »Hier Jens Körner …« Ohne es zu wollen, hörte auch Jochen die weibliche Stimme quäken. »Ach, du bist's, Claudia?« fragte Jens. »Warum rufst du denn an? Ich wollte gerade ausgehen … was heißt hier, erst jetzt? Es ist doch erst halb zehn, früher ist sowieso nirgends was los … mit irgend jeman dem. Ja, selbstverständlich, warum sollte ich allein bleiben? Na schön, gut, wenn du meinst, dann bin ich ein Ekel … nein, nein, ich wider spreche dir gar nicht, du wirst schon recht haben … ganz ehrlich, ich 122
bewundere dich, wie du es so lange mit mir ausgehalten hast …« Dann schwieg Jens eine ganze Weile und lauschte gespannt. Jochen konnte zwar nicht verstehen, was Claudia Miller sagte, es kam ihm aber trotzdem so vor, als wenn er sich in das Privatleben sei nes Bruders hineindrängte. Er riß sich los, verzog sich in die Küche und machte sich am Eisschrank zu schaffen – obwohl er jetzt schon ziemlich sicher war, daß aus der Whiskystunde nichts werden wür de. Dann kam Jens in die Küche, schon im Mantel. »Tut mir leid, Klei ner, aber ich muß noch mal auf einen Sprung fort …« Jochen goss Selterswasser in das Glas, in das er schon zwei Eiswürfel getan hatte. »Dann viel Spaß«, sagte er. »Werde mein Möglichstes tun.« Schon in der Türe blieb Jens noch einmal stehen. »Die Whisky-Flasche ist in meinem Zimmer«, sagte er, »ganz hinten im Kleiderschrank, bedien' dich nur selber. Und … wenn mal wirklich etwas schief gehen sollte, dann sprich mit mir. Ich will dir nicht dreinreden, das wirklich nicht. Aber ich habe einfach schon ein bißchen mehr Erfahrung.« »Ja, ich weiß«, sagte Jochen, »das ist sehr nett von dir.« Wenige Sekunden später hörte er die Wohnungstüre hinter Jens zu fallen und fühlte sich auf einmal furchtbar allein.
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Am nächsten Morgen in der Schule sah Jochen durch Sibylle hindurch, als wenn sie Luft wäre. Aber er konnte natürlich nicht verhindern, daß sie sich in der Pause an ihn hing. Bei seinen Freunden Artur und Pe ter fand er keine Hilfe, denn sie hatten es sich seit langem angewöhnt, das Paar allein zu lassen. »Du hast dich gestern einfach unmöglich benommen!« sagte Sibyl le. Sie hielt ihn am Ärmel fest, als er sich abwenden wollte. »Einfach unmöglich«, wiederholte sie, »ich habe mich ja deinetwe gen geradezu schämen müssen! Lächerlich hast du mich gemacht vor 123
aller Welt. Was in drei Kuckucksnamen ist dir denn eigentlich einge fallen, einfach wegzugehen und mich allein zu lassen?« Er sah sie an, wie sie da vor ihm stand, mit blitzenden Augen, die Wangen vor Kälte und Erregung gerötet, und das helle blonde Haar stand fast wie ein Heiligenschein um ihr schmales Gesicht. Es wurde ihm schmerzlich bewußt, wie hübsch sie war, und daß er sie, trotz al lem, immer noch sehr lieb hatte. »Nun, ich nehme an«, sagte er, »du bist nicht allein nach Hause ge gangen!« »O doch«, sagte sie und stampfte mit dem Fuß auf, »und wenn du platzt … ganz allein.« Nach einer winzigen Pause fügte sie hinzu: »Karl-Heinz Scheiner hätte mich bestimmt gebracht, wenn nicht je mand die Luft aus seinen Reifen gelassen hätte.« Jochen konnte sich die Situation direkt vorstellen – Scheiner, wie er Sibylle mit großer Geste zu seinem Auto führte, und dann dieser Rein fall mit den luftleeren Reifen. »Wie ärgerlich«, sagte er, bemüht gleichgültig, aber irgend etwas an seinem Tonfall verriet ihn. »Das bist doch nicht etwa du gewesen?« fragte Sibylle mißtrauisch. »Traust du mir das zu?« »Dir? Alles«, sagte sie, »buchstäblich alles. Dein Benehmen war so unerhört …« Er fiel ihr ins Wort. »Wie wäre es«, sagte er, »wenn wir zur Abwechs lung auch mal von deinem Benehmen reden würden?« Sie zuckte die Achseln. »Bitte, von mir aus, jederzeit. Was war denn schon dabei, daß ich mit Karl-Heinz Scheiner getanzt habe? Bitte, was war dabei?! Du hast es ja selber erlaubt! Ein Wort von dir und ich hät te verzichtet!« Er hob die Augenbrauen. »Tatsächlich? Wie edel von dir. Und ich hätte es mir dann die nächsten 50 Jahre anhören müssen.« »Nein«, sagte sie kalt, »das glaube ich nicht. Ich kann mir nicht vor stellen, daß wir die nächsten 50 Jahre zusammenbleiben werden.« Er hatte es erwartet, aber es traf ihn doch. »Soll das heißen, du willst Schluß machen?« fragte er. 124
»Ich will mich einfach nicht länger von dir tyrannisieren lassen!« rief sie aufgebracht. »Das heißt auf gut deutsch: Du willst mit diesem Affen Scheiner ge hen!« »Nein! Erstens ist er kein Affe, und zweitens … ich will nicht mit ihm gehen, ich will nur mit ihm tanzen … tanzen«, wiederholte sie je den Buchstaben einzeln, »sperr die Ohren auf, sonst muß ich glauben, du verstehst mich absichtlich falsch.« Sie warf die Hände hoch. »Oh, Junge, wenn du wüsstest, was für ein Gefühl das ist, mit jemandem zu tanzen, der es wirklich kann … mit so einer Kanone wie Karl-Heinz! Es ist … traumhaft! Ach, Jochen, wenn du mich wirklich liebtest, wür dest du es mir gönnen.« Weit entfernt, ihn zu beruhigen, hatte ihn ihr Begeisterungsausbruch tief verletzt. »Klar, gönne ich es dir«, sagte er stur, »tanz nur mit dei nem Karl-Heinzchen, von mir aus stundenlang …« »Ja, das werde ich auch«, sagte sie, »und zwar dreimal die Woche! Weißt du, was Karl-Heinz sagt? Daß ich ein ausgesprochenes Talent bin … da staunst du, was? Er will mich für den Turniertanz ausbilden …« »Na, und wenn schon«, sagte Jochen, »wozu erzählst du mir das denn alles? Mich brauchst du doch nicht um Erlaubnis zu bitten, und inter essieren tut es mich auch nicht … nicht die Bohne. Also werde glück lich, wenn du kannst!« Er wandte sich ab und schritt auf das Schulge bäude zu. »Das kann und das werde ich«, rief Sibylle ihm nach, »worauf du dich verlassen kannst! Aber daß es so weit mit uns gekommen ist, dar an bist du schuld … nur du allein! Du mit deiner verdammten Eifer sucht und Engstirnigkeit, du … du widerlicher Kerl du!«
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Jochen nahm sich fest vor, nie wieder zur Tanzstunde zu gehen. Jetzt, wo er nicht mehr mit Sibylle tanzen konnte, hätte es für ihn die reinste Qual bedeutet. Bestimmt würden alle merken, was passiert war und ihn zu allem Überfluss noch auslachen. 125
Aber natürlich konnte er zu Hause nicht einfach sagen, daß er den Tanzkurs nicht weiter mitmachen wollte. Damit wäre er bei seiner Mutter schön angekommen, und außerdem – man hätte eine Erklä rung von ihm verlangt. Doch wie konnte er erklären, daß ihn das Ende seiner Freundschaft mit Sibylle so mitgenommen hatte, wo die Eltern überhaupt nie etwas von dieser Freundschaft erfahren hatten? Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich am nächsten Dienstag umzuziehen und das Haus zu verlassen, als wenn er zur Tanzstunde gehen wollte und dann endlos durch die winterlichen Straßen zu lau fen, denn er war gerade wieder einmal knapp bei Kasse. Es war Mitte Februar, die größte Kälte war gebrochen, und obwohl die Bäume und Büsche in den Vorgärten und Anlagen noch kahl wa ren, und obwohl noch nirgends ein Vogel sang, lag etwas wie ein Hauch Frühling in der Luft. Aber das machte Jochens Stimmung nicht besser. Diese Vorahnung des fernen Frühlings genügte, um das Blut in seinen Adern zum Kochen zu bringen und seine Sehnsucht nach Sibylle ins Unermessliche zu steigern. Jetzt erst, da er sie verloren hatte, wurde ihm klar, wieviel sie für ihn gewesen war. Aber er hatte sie verloren, und er glaubte auch ganz genau zu wissen warum. Dieses Ende ihrer Freundschaft war unver meidlich gewesen. Was hatte er ihr denn bieten können? Nichts, gar nichts. Wenn er sie einmal eingeladen hatte, dann hatte sie sich zwei mal dafür revanchiert. Es war ihm unangenehm gewesen, aber er hat te es in Kauf nehmen müssen, denn er hatte weniger Taschengeld ge habt als sie, die verwöhnte einzige Tochter. Es war ein Wunder, daß sie sich überhaupt etwas aus ihm gemacht hatte. Was war er denn? Ein Schuljunge, nichts weiter. Ja, wäre er so alt wie dieser dämliche Karl-Heinz Scheiner, so reich – Scheiner war der Sohn eines sehr vermögenden Fotokaufmanns –, würde er einen so tollen Wagen fahren, dann, ja dann hätte er sich nicht so leicht aus booten lassen. Und doch, Jochen wollte den Kampf nicht so einfach aufgeben, bevor er ihn richtig begonnen hatte. Es mußte doch einfach eine Möglichkeit geben, irgend etwas zu unternehmen – vielleicht sollte er sich wirklich 126
einmal ausführlich mit seinem Bruder Jens unterhalten, der hatte doch so viel Glück bei Mädchen. Jens würde bestimmt wissen, was in solch einer Situation zu tun war. So wandte sich Jochen also, nachdem er gute drei Stunden sinnlos herumgerannt war, wieder nach Hause. Die Eltern wollten gerade zu Bett gehen, als er die Wohnung betrat. »Reichlich spät«, sagte Herr Körner mit einem Blick auf die Arm banduhr, »hast wohl anschließend noch ein bißchen gebummelt?« »Nein«, sagte Jochen und dachte: »Wenn du wüsstest!« »Wie war es denn?« fragte die Mutter. »Nun erzähle doch mal, Jo chen!« »Wie immer!« »Was heißt denn das? Ihr habt doch bestimmt wieder etwas Neues dazugelernt.« »Diesmal nicht«, behauptete Jochen, und er war sehr froh, als er sich endlich in sein Zimmer zurückziehen konnte. Er wusch sich, zog sich den Schlafanzug an, klemmte sich ein Buch unter den Arm und lauschte an der Türe. Er wollte sicher sein, daß sei ne Eltern schon ins Bett gegangen waren, wenn er sich in das Zimmer von Jens hinüberschlich. »Schon zurück?« hörte er eine helle Jungenstimme hinter sich und fuhr herum. Jan, der mit ihm das Zimmer teilte, war trotz all seiner Vorsicht mun ter geworden und, wie es seine Art war, sogleich hellwach. Er saß auf recht im Bett, die Beine unter der Decke zum Türkensitz übereinan der geschlagen und starrte Jochen aus seinen dunkel glänzenden Au gen höchst interessiert an. Das kohlschwarze Haar stand ihm um den Kopf wie das zerzauste Gefieder eines Raben. »Du solltest längst schlafen«, sagte Jochen. »Habe ich ja. Aber du hast mich geweckt.« »Tut mir aufrichtig leid.« Jochen trat an das Bett von Jan. »Aber leg dich jetzt wieder schön hin und schlaf weiter.« »Bin schon gar nicht mehr müde«, versicherte Jan. »Du Affe«, sagte Jochen ärgerlich. 127
Jetzt konnte er nicht mehr zu Jens hinüber, er mußte warten, bis Jan eingeschlafen war oder ihn einweihen, denn der Kleine hätte es sonst fertig gebracht, ohne weiteres dieses Thema am nächsten Morgen an zuschneiden. Jochen sprang ins Bett, löschte das Licht, zog sich die Decke über den Kopf. Nur noch der Mondschein erhellte jetzt das schmale Zimmer. »Warum warst du nicht in der Tanzstunde?« fragte Jan. Jochen fuhr hoch, starrte seinen Bruder an. »Was?« »Schrei nicht so«, mahnte Jan überlegen, »die Eltern werden sonst noch wach.« Jochen schnappte nach Luft. »Wie kommst du darauf, daß ich nicht in der Tanzstunde war?« »Köpfchen«, erklärte Jan, sehr zufrieden mit sich selber. »Habe ich an deinem Hemd gesehen. Sonst war es immer durchgeschwitzt und heute nicht.« Jochen war platt. Im ersten Augenblick wußte er darauf nichts zu er widern. Und im zweiten Augenblick hatte er keine Lust mehr dazu. Er zog es vor, sich in Schweigen zu hüllen, hoffte, durch diese Taktik Jan so weit zu bringen, daß er das Interesse an ihm verlor. Er hatte Erfolg damit. Jan versuchte es noch ein paar Mal. »Du brauchst gar nicht so zu tun«, sagte er, »ich weiß genau, daß du noch nicht schläfst!« – Und: »Also los, erzähl schon, ich sage es niemandem weiter!« Und: »Herrje, was bist du für ein Spielverderber! Direkt ekelhaft!« Aber als nicht das schwächste Echo von Jochens Bett herüberkam, gab er es schließlich auf. Jochen hörte, wie der Kleine sich ausstreckte, unter der Decke zusammenkuschelte. Nicht viel später verrieten seine regelmäßigen Atemzüge, daß er eingeschlafen war. Aber Jochen traute dem Frieden noch nicht recht. Er blieb ganz still liegen, lauschte in die Dunkelheit hinein. Erst als er hörte, wie die Wohnungstüre aufgeschlossen wurde, stand er auf, schlich barfuss und auf Zehenspitzen zur Türe. Als er in die kleine Diele trat, sah er, daß Licht aus der Küche fiel. Er tapste hinein. Jens war gerade dabei, sich eine Milchflasche aus 128
dem Eisschrank zu angeln. Er hatte gute Nerven. Er erschrak nicht im geringsten, als Jochen unvermutet auftauchte. »Hallo«, sagte er nur, drückte die Eisschranktüre ins Schloß, ließ die kalte Milch in ein gro ßes Glas schäumen. »Magst du auch 'nen Schluck?« »Ich muß mit dir sprechen, Jens«, sagte Jochen, der zu der Überzeu gung gekommen war, daß es das beste war, sich sozusagen mit einem Kopfsprung ins Gespräch zu stürzen. »Nur zu!« Jens hob das Glas an die Lippen, legte den Kopf in den Nacken, trank. Jochen war es, als könnte er den Weg der Milch verfolgen, die durch den Hals des Bruders in den Magen hinabgluckerte. Er wartete, bis Jens das Glas wieder abgesetzt hatte. »Ah, das hat gut getan«, sagte Jens, »aber jetzt 'raus mit der Sprache. Was gibt's? Hast du Schwierigkeiten?« »Wie man's nimmt«, begann Jochen zögernd und trat von einem Fuß auf den anderen, denn der Küchenboden war reichlich kalt. »Ich … ich brauche einen Rat. Wie kann ich den Eltern klarmachen, daß ich nicht mehr in die Tanzstunde will?« Jens legte die Stirn in Falten. »Hast du schon voll bezahlt?« »Ja.« »Dann werden sie natürlich toben. Grauenhafte Geldverschwendung und so, riesige Opfer, die sie für uns gebracht haben, und so weiter und so fort. Du kennst das ja alles.« Er ließ das Milchglas auf dem Küchen tisch kreisen. »Und irgendwie haben sie ja auch recht.« Jochen zog sich einen Küchenstuhl zwischen die Beine, setzte sich, rieb die kalten Füße aneinander. »Meinst du denn, mir täte es nicht sel ber leid um das schöne Geld? Ich könnte wahnsinnig werden, wenn ich nur daran denke.« »Dann sehe ich eigentlich nicht ein, warum du diesem Tanzstunden fritzen das Geld schenken willst.« Es war alles viel komplizierter, als Jochen gedacht hatte. »Jens«, sagte er, »verstehst du denn nicht. Ich kann nicht mehr hingehen. Das Gan ze ist mir verleidet.« »Hast du dich etwa daneben benommen?« 129
»Unsinn. So ein Büffel bin ich nun doch nicht. Ich weiß schließlich, was sich gehört.« »Aber dann …« Jens sagte es so gedehnt, daß es wie eine Frage klang. »Du kennst doch Sibylle Sandner«, platzte Jochen heraus, »… nein du kennst sie natürlich nicht. Sie wohnt ganz woanders, aber sie geht mit mir in die gleiche Klasse. Sie ist …« Jochen unterbrach sich, »… also um genauer zu sein, sie war mein Mädchen. Und jetzt auf einmal kommt da so ein Stiesel her … Karl-Heinz Scheiner …« »Den, den kenne ich«, sagte Jens, »ich war mal mit ihm im gleichen Klub. Grässlicher Angeber, das. Stinkt vor Geld und vor Komplexen.« »Das solltest du Sibylle erzählen«, sagte Jochen bitter, »er will sie … angeblich … als Partnerin fürs Turniertanzen haben, und sie war so fort Feuer und Flamme.« Er starrte düster auf die spiegelblanke Kunst stoffplatte des Küchentisches. »Aber ich glaube nicht, daß es wegen des Tanzens ist. Er ist eben älter als ich, erfahrener … und er hat Geld, fährt einen todschicken Sportwagen. So was imponiert den Mädchen.« »Kann schon sein.« Jens schüttete den Rest Milch in sein Glas, trank es leer, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Wenn du meinen Rat dazu hören willst, Junge … lass sie sausen. Du weißt ja: Mädchen und Straßenbahnen soll man nicht hinterherlaufen.« »Das brauchst du mir nicht zu sagen. Für mich ist diese Kanaille erledigt … einfach gestorben, wenn du verstehst, was ich meine. Ich würde sie nicht mehr mit der Feuerzange anrühren. Selbst wenn sie mich auf den Knien darum bitten würde.« »Dann«, sagte Jens und stellte die leere Milchflasche und das Glas in den Spültisch, »dann verstehe ich aber beim besten Willen nicht, wa rum du nicht mehr in die Tanzstunde willst?« »Weil ich ihren Anblick nicht mehr ertragen kann.« Jens drehte sich zu dem Bruder um. »Nun mach aber mal 'nen Punkt, Kleiner! Irre ich mich oder hast du mir nicht eben erzählt, daß sie in deine Klasse geht? Also mußt du sie sowieso täglich sehen …« »Schlimm genug«, knurrte Jochen, »aber das ist was anderes.« »Blödsinn, da ist überhaupt kein Unterschied. Soll ich dir mal was 130
sagen? Aber ehrlich? Du bist immer noch verliebt in diese Dame … wi dersprich mir nicht, ich kenne mich da aus. Und wenn es so ist, dann wäre es ganz verkehrt, sich in den Schmollwinkel zurückzuziehen. Du mußt kämpfen, Jochen!« Jochens Wangen hatten sich gerötet. »Wie denn?« sagte er wütend. »Ich hab' kein Auto und kein Geld, ich bin kein Meistertänzer …« »Aber du bist du! Herrje, Jochen, du wirst dich doch nicht ausgerech net von Scheiner, dieser Flasche, an die Wand drücken lassen? Weißt du, warum der sich überhaupt an deine Sibylle herangemacht hat? Weil er einen Kopf zu klein ist, und das nicht nur äußerlich. Mädchen, die rein altersmäßig wirklich für ihn in Frage kämen, denen kann er nicht imponieren. Also geht er auf die grünen Gänse aus … entschul dige schon, aber von meiner Warte aus gesehen ist deine Sibylle nichts anderes …« »Ich habe mich auch schon gewundert«, sagte Jochen nachdenklich. »Na, siehste! Glaub mir doch, Junge, Flasche bleibt Flasche, auch mit 'ner goldenen Binde um den Bauch. Lass dich nicht einschüchtern, geh weiter in die Tanzstunde und lass deine Sibylle am besten mal 'ne Zeit links liegen. Soll sie sich ruhig ärgern. Es sind ja genug andere hübsche Mädchen da.« Jochen stand auf. »Du hast recht, Jens«, sagte er, »verdammt noch mal, du hast recht! Bin ich froh, daß ich mit dir gesprochen habe. Du, ich werde dir das nie vergessen.« Jens knuffte den jüngeren Bruder freundschaftlich in den Rücken. »Ehrensache, Junge. Und wenn du wieder mal was auf dem Herzen hast, du weißt ja … Jens Körner, Parkstadt, gibt kostenlosen Rat in al len Lebenslagen!«
*
Jochen platzte fast vor Tatendrang, als er das nächste Mal die Krafft sche Tanzschule betrat – ein bißchen später als gewöhnlich, und das mit voller Absicht. Sibylle sollte sich die Augen nach ihm ausschauen. Er hatte sich zu Hause genau einstudiert, wie er an ihr vorbeigehen 131
würde, als wenn sie Luft für ihn wäre – so mit einem leichten, verächt lichen Zucken der Augenbrauen, aber sonst ganz unbewegt. Doch es kam anders, ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte. Sibylle war nicht in der Tanzstunde. Er konnte es einfach nicht glau ben. Er blickte sich um, anfangs noch so unauffällig wie möglich, spä ter konnte er seine Unruhe nicht länger verbergen. Die jungen Leute strömten in den Tanzsaal, und Sibylle war immer noch nicht erschienen. Als Herr Krafft das Startzeichen für die Jungen gab, die Mädchen aufzufordern, zeigte es sich, daß die Paare vollständig waren, kein ein ziger Junge blieb übrig. Das konnte nur bedeuten: Sibylle hatte sich rechtzeitig abgemeldet, und Herr Krafft hatte ein Mädchen aus einem anderen Kurs einspringen lassen. Das war ein neuer Schlag für Jochen, der sich das erste beste Mäd chen gegriffen hatte und es auf die Tanzfläche führte. – Sie hat es also gewußt, dachte er, sie hat überhaupt nicht vorgehabt, zu kommen. Aber sie hat es nicht für nötig gefunden, mir wenigstens anstandshalber ein Wort darüber zu sagen. Dieser Vorwurf war unlogisch, aber Jochen war viel zu wütend und enttäuscht, als daß er klar und vernünftig hätte denken können. Tat sächlich sprach er ja seit Tagen nicht mehr mit Sibylle – wieso hätte sie sich also für ihr Fernbleiben entschuldigen sollen? Und er war es ge wesen, der die vorige Tanzstunde versäumt hatte, ohne auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, wie Sibylle das wohl auf nehmen würde. Jochen verfluchte Sibylle, Karl-Heinz Scheiner, er verfluchte Jens, der ihm den Rat gegeben hatte, den Tanzkurs weiter zu besuchen, und er verfluchte sich selber. Aber er tanzte weiter, denn – weglaufen, nein, das wollte er unter keinen Umständen noch einmal. Aber er machte es seiner Partnerin ungeheuer schwer, eine Unterhaltung mit ihm in Gang zu bringen, denn er war mit seinen Gedanken weit weg, und sei ne Antworten waren so schroff und einsilbig, daß sie jedes begonnene Gespräch schon im Keim erstickten. In der Pause tauchte Anita neben ihm auf. Sie sah sehr hübsch aus in 132
ihrem einfachen blauen Kleid mit großem weißen Kragen und weißen Manschetten. Ihre von Natur hellen Wimpern waren schwarz getuscht, ihr Mund nachgezogen, ihr helles Gesicht, das sonst ziemlich farblos unter ihrem leuchtendroten Schopf wirkte, schien jetzt markanter. »Hei, Jochen«, sagte sie, bemüht, sich unbefangen zu geben, »magst du mal?« Und sie hielt ihm die Colaflasche mit dem Strohhalm hin. Jochen hatte tatsächlich Durst, nur aus schlechter Laune lehnte er ab, und es tat ihm gleich darauf schon leid. Anita, überempfindlich wie immer, errötete. »Hast du Sibylle ge sucht?« fragte sie. »Nein.« »Hat sie dir gesagt, daß sie nicht mehr kommen wird?« Jochen runzelte die Stirn. »Wieso bildest du dir ein, daß mich das in teressieren würde?« »Ich dachte eben. Ihr beide wart doch …« Anita unterbrach sich. »Um Himmels willen, mach doch nicht so ein Gesicht, Jochen! Schließ lich … was ist schon dabei, daß Sibylle jetzt mit diesem Scheiner geht? Ist doch keine Schande für dich, spricht höchstens gegen sie.« Sie saug te scheinbar ganz hingegeben an ihrem Strohhalm, blinzelte aber von hinten her zu ihm auf. Er wollte nicht fragen, aber er tat es doch: »Bist du sicher, daß sie … ich meine, Sibylle und Scheiner …« »Aber klar«, sagte Anita, die auf diese Frage nur gewartet hatte, tri umphierend, »weißt du das denn nicht? Sie hat ja die Tanzstunde auf gegeben, weil er sie jetzt persönlich trainieren will! Das hat sie gesagt, wortwörtlich … persönlich trainieren! Da kann man sich allerhand drunter vorstellen, wie?« Jochen wußte selber nicht, woher er das Gefühl hatte, Sibylle vertei digen zu müssen. »Sie ist nicht so«, sagte er. Anita stimmte sofort zu. »Natürlich nicht, ich habe ja bloß einen Witz gemacht.« Sie blieb neben ihm, als die Pause beendet war, stellte die Colafla sche im Vorbeigehen an der Garderobe ab, drängte sich neben ihn in den Saal. 133
»Tanz doch auch mal mit mir«, bat sie. »Du hast doch Hinz!« »Ach der«, sagte Anita wegwerfend, »der ist ja so furchtbar unmusi kalisch, und rhythmisches Gefühl hat er auch keines, tritt einem dau ernd auf die Zehen. Ich weiß natürlich, daß das keine Charakterfra ge ist, aber angenehm ist es doch nicht.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ich würde furchtbar gerne mal mit einem guten Partner tan zen …« Wider Willen fühlte sich Jochen geschmeichelt. »Bin ich doch gar nicht«, knurrte er. »Aber sicher! Man braucht dir doch nur zuzusehen … und außer dem hat Sibylle es mir erzählt.« Jochen hatte eigentlich nicht vorgehabt, mit Anita zu tanzen, er hat te das unbestimmte Gefühl, daß das die Dinge nur noch komplizieren würde. Aber dann forderte er sie doch auf. Es hatte ihm gut getan, aus ihrem Munde zu hören, daß er ein guter Tänzer sei. Diese Behauptung und ihr spürbares Interesse an ihm heilten sein leicht angeschlagenes Selbstbewußtsein. Anita ließ sich wunderbar führen, besser als Sibylle, bei der sich Jo chen immer ein bißchen herumdirigiert gefühlt hatte. Anbetend sah sie zu ihm auf. »Du tanzt himmlisch, Jochen«, flüster te sie. Es klang so ehrlich, und Jochen hatte keinen Grund, an ihren Wor ten zu zweifeln. Er erinnerte sich gut genug, daß auch Sibylle, bevor Karl-Heinz Scheiner aufgetaucht war, nichts an ihm auszusetzen ge habt hatte. Also ist es doch nur sein Geld, dachte er, und sein Auto und die gan ze Angeberei, verdammt noch mal. Er brachte es trotzdem nicht fertig, mit Anita zu reden, er mußte dauernd an Sibylle denken. Aber Anita machte das nichts aus. Sie war glücklich, daß sie überhaupt in seinen Armen liegen durfte. Nichts Schöneres hatte ihr passieren können, als daß Jochen und Sibylle sich zerstritten hatten. Wie lange schon hatte sie auf eine solche Chance ge wartet! 134
Jochen war es angenehm, daß Anita ihn nicht, wie die anderen Mäd chen, in ein Gespräch zu ziehen suchte. Er forderte sie noch ein paar Mal auf, und Anita fühlte sich wie im siebten Himmel. Als die Tanzstunde zu Ende war, verließ sie, als wenn das die größte Selbstverständlichkeit wäre, mit ihm zusammen das Haus. Ein Stück gingen sie nebeneinander her, dann blieb Jochen stehen. Anita spürte, daß er sich von ihr verabschieden wollte, und sie kam ihm zuvor. »Du mußt zur Bushaltestelle, nicht wahr?« sagte sie. »Wenn du nichts dagegen hast, werde ich dich ein Stück begleiten.« Jochen kam gar nicht auf den Gedanken, sie kurzerhand nach Hause zu schicken. Er ließ sich ihre Begleitung einfach gefallen. Er fühlte sich nicht so allein, wenn sie bei ihm war und ließ es auch zu, daß sie ihre Hand durch die Beugung seines Armes schob. Schweigend gingen sie nebeneinander her. Anita bemühte sich, mit Jochens längeren Beinen Schritt zu halten. Sie sagte nichts, aber nach einer Weile merkte er, daß von ihrer kleinen Hand, die auf seinem Arm lag, eine unwahrscheinliche Wärme ausging, die durch seinen ganzen Körper strahlte. »Mir ist kalt«, sagte sie merkwürdigerweise im gleichen Augenblick, als er diese Feststellung machte. Und dann schlüpfte ihre kleine Hand in die Tasche seines Duffle coats, und er spürte, wie ihre Finger nach ihm tasteten. Ihm wurde heiß und heißer. Das ist doch nicht möglich, dachte er, ich liebe Anita doch nicht. Ich kenne sie schon so lange, und ich habe mir nie etwas aus ihr gemacht. Was ist bloß in mich gefahren? Aber er brachte nicht die Kraft auf, seine Hand aus der Manteltasche zu nehmen und damit dem Spiel ihrer Finger zu entziehen. Der Bus war noch nicht zu sehen. Der heftige Vorfrühlingswind feg te um die Ecke. Sie zogen sich in einen Hauseingang zurück, standen einander gegenüber, dicht aneinandergeschmiegt. Anitas Haar leuch tete im ungewissen Licht der abendlichen Straße, ihre Augen, ihre Lip pen – diese halb geöffneten Lippen, die so nahe und so lockend vor ihm waren. 135
Sie war schön, sie war begehrenswert – das begehrenswerteste Mäd chen, das er je gekannt hatte, so schien es ihm in diesem Augenblick. Er begriff sich selber nicht, konnte nicht mehr verstehen, daß er sich bisher nie um sie gekümmert hatte. Er beugte sich zu ihr herab, sein Mund fand ihre Lippen, die ihm nichts versagten. Sie küssten sich lange, zärtlich und voller Leidenschaft. »Ich bin so glücklich«, flüsterte sie dann, »oh, Jochen, wenn du wüs stest, wie lange ich dich schon liebe!« Er hatte sie sehr gut verstanden, aber er wollte es nochmals hören. »Du liebst mich?« »Ja, ja!« Sie drängte sich gegen ihn, das sehnsüchtige Gesicht mit den geschlossenen Augen zu ihm erhoben. Er küsste sie wieder, und dann tat er etwas, das er bei Sibylle nie ge wagt hätte – er öffnete die obersten Knöpfe ihres Mantels, fuhr mit der Hand hinein. Sie hielt ganz still, machte nicht den geringsten Versuch der Abwehr. Sie schreckten erst auseinander, als eine ganze Horde junger Men schen, ausgelassen und übermütig, auf die Haltestelle zugerannt kam. »Verdammt«, sagte Jochen und drehte sich um. Anita knöpfte rasch ihren Mantel wieder zu. Und dann kam der Bus. »Bis morgen«, sagte Jochen. Er schenkte ihr ein gezwungenes Lä cheln, lief davon und sprang auf. Er spürte, wie sehr sie darauf wartete, daß er ihr noch einmal zu winkte. Aber er tat es nicht, blickte starr geradeaus. Er fühlte sich auf einmal unsagbar ernüchtert. Wie hatte das nur passieren können? Er liebte Anita nicht, hatte sie nie geliebt – was war ihm nur eingefallen, sie zu küssen? Wie hatte er nur so gemein sein können, ihre Schwäche auszunutzen! Er wuß te sehr gut, daß er, wenn es die Situation erlaubt hätte, noch viel wei ter gegangen wäre. Es wurde ihm bewußt, daß sein Gewissen und sein Verstand in die sen Minuten einfach ausgesetzt hatten, daß eine fremde, eine dämoni sche Macht von ihm Besitz ergriffen hatte. 136
Je weiter er sich von Anita entfernte, desto deutlicher wurde Sibylles Bild wieder in seinem Herzen und desto schäbiger kam er sich vor. Nie wieder, schwor er sich, so etwas darf nie wieder passieren! – Und er war fest entschlossen, Anita am nächsten Morgen so kameradschaft lich zu behandeln wie immer. Aber Anita machte ihm das nicht leicht. Sie wartete, die Mappe unter dem Arm, vor dem Schultor auf ihn. Jochen sah sie schon, als er um die Ecke bog. Ihr rotes Haar leuchtete über das Gewimmel der anderen hinweg. Sie trug Skihosen und Ano rak, eine Kleidung, die zwar von den Lehrkräften des ›Geschwister Scholl-Realgymnasiums‹ nicht gern gesehen, während der kalten Jah reszeit aber immerhin geduldet wurde. Anita sah sehr reizend aus, wie sie da auf den Stufen stand und nach ihm Ausschau hielt, und doch hätte Jochen am liebsten einen riesenweiten Bogen gemacht, nur um sie nicht zu treffen. Aber das war un möglich. Es gab nur einen einzigen Aufgang in die Schule, und den hielt sie besetzt. So versuchte er, sich mit gesenkten Augen, so rasch wie möglich an ihr vorbeizudrücken. Aber natürlich erwischte sie ihn doch. »Hei, Jochen!« rief sie und drängte sich an seine Seite. »Morgen«, knurrte er. Er ärgerte sich über sich selber und seine ei gene Unfreundlichkeit, denn er war sich darüber klar, eine solche Be handlung hatte sie nicht verdient. Aber er wußte sich nicht anders zu helfen, ihr glückliches, verliebtes Gesicht verstärkte noch sein Schuld gefühl ihr gegenüber. »Ist was passiert?« fragte sie sofort erschrocken. »Nicht das geringste.« »Aber dann … warum bist du so komisch?« »Damit du was zu lachen hast«, sagte er heftig und rannte davon – ja er setzte sich tatsächlich in Trab und raste so schnell die letzten Stufen der Treppe hinauf, daß sie, die auf diesen Endspurt nicht gefaßt gewe sen war, ihm nicht folgen konnte. In der Klasse angekommen, warf er die Mappe auf seinen Platz und stürzte zum Fenster, wo Artur, Peter und noch ein paar andere Jungen 137
miteinander diskutierten. Er spürte Anitas fragenden Blick auf sich ge richtet, aber er übersah sie völlig, mischte sich mit übertriebenem Ei fer in die Unterhaltung der Kameraden. Als das Glockenzeichen zum Schulbeginn ertönte, atmete er auf. Gleich darauf betrat Dr. Jordan die Klasse. In der ersten großen Pause richtete Jochen es so ein, daß er sich im mer genau zwischen Artur und Peter hielt. Er merkte, daß Anita gera dezu darauf brannte, eine Aussprache mit ihm herbeizuführen. Aber er gab ihr keine Gelegenheit. Trotzdem wagte Anita noch einen letzten Vorstoß. Sie schnitt den drei Jungen den Weg ab, zwang sich zu einem zittrigen Lächeln und sagte: »Jochen, könnte ich dich wohl einen Augenblick sprechen?« Ihre Hartnäckigkeit ärgerte ihn – plötzlich erschien es ihm, als wenn sie die Alleinschuldige in dieser Affäre wäre. »Immerzu«, sagte er böse, »nur 'raus mit der Sprache.« Anita sah von Artur zu Peter. »Aber, Jochen, ich kann doch nicht …« »Wenn wir stören«, sagte Artur sofort, »das braucht ihr uns nicht zweimal sagen. Wir sind schon fort …« Er und Peter wandten sich zum Gehen. Aber Jochen faßte die beiden Freunde bei den Armen, hielt sie fest. »Aber keineswegs, wieso denn? Merkt ihr denn nicht, daß die Karot te …« – Karotte war Anitas Spitzname, auf den sie seit jeher mehr als sauer zu reagieren pflegte – »… daß die Karotte«, sagte Jochen, »ein bißchen plemplem ist? Könnt ihr euch vorstellen, was ich für ein Ge heimnis mit ihr haben sollte?« Anita wurde glutrot, Artur und Peter, immer bereit, ein Mädchen aufzuziehen, lachten bereitwillig. »Ha, ha«, sagte Peter, »tu bloß nicht so harmlos, Jochen. Ich glaube manchmal, du parfümierst dich mit Baldrian, daß dir die Katzen so nachlaufen.« »Du willst also … nicht mit mir sprechen?« fragte Anita und be kämpfte mit aller Tapferkeit die Tränen, die ihr schon im Hals würg ten. 138
»Ich wüsste nicht, worüber«, sagte Jochen und kam sich schuftiger vor denn je. »Danke!« Anitas Stimme klang gebrochen, sie drehte sich um, stol perte hocherhobenen Kopfes davon. Ihre Augen waren blind vor Trä nen, und sie sehnte eine Ohnmacht herbei – nur eine Ohnmacht konn te sie von diesem unerträglichen Schmerz und dieser unsagbaren De mütigung erlösen. Aber nichts geschah, gar nichts. Ihr Kopf blieb ganz wach, während sich ihr Herz vor Qual wand. Die Jungen sahen ihr nach, sahen, wie Sibylle zu Anita lief, ihr den Arm um die Schultern legte, sie wegführte. »Eigentlich ein süßer Käfer«, sagte Peter neidvoll, »warum warst du so ekelhaft zu ihr?« »Jochen hat eben ganz andere Chancen«, sagte Artur. Plötzlich konnte Jochen die harmlose Flachserei seiner Freunde nicht mehr ertragen. »Ach, lasst mich doch in Ruhe!« sagte er wild, riß sich los und jagte mit großen Schritten davon. »Der ist ja total übergeschnappt«, sagte Artur erschüttert. »Was willst du denn … die Liebe, die Liebe ist eine Himmelsmacht«, sang Peter. Als Jochen nach der zweiten Pause in die Klasse zurückkam, fand er zwischen den Seiten seines Geschichtsbuches einen Brief – eigent lich war es nur die herausgerissene Seite eines Ringheftes, gefaltet und zusammengeklebt. »Für Jochen Körner«, stand darauf, und Jochen er kannte sofort die Schrift Sibylles, die gleichmäßigen runden Buchsta ben. Er erinnerte sich sofort an jene Szene, die jetzt schon Monate zu rücklag, als er auch einen Brief von Sibylle gefunden und ihn kalther zig zerrissen hatte. Bestimmt hätte es großartig gewirkt, wenn er es auch diesmal getan hätte. Aber er brachte nicht mehr die Kraft dazu auf. Er war nicht mehr der unerfahrene Junge von damals, er war tief in seine Gefühle für Sibylle verstrickt. Er spürte, daß er errötete, wagte nicht, Sibylle anzusehen, hoffte in ständig, daß auch sie in diesem Augenblick nicht zu ihm herüber 139
schaute und – blätterte einfach um, so, als ob er den Brief gar nicht entdeckt hätte. Aber bis zum Schulschluss brannte das zusammengefaltete Blatt in seiner Tasche. Auch auf der Heimfahrt konnte er es noch nicht lesen, denn Peter fuhr mit ihm im selben Bus. Jochen fühlte sich erleichtert, als er endlich aussteigen und nach Hau se laufen konnte – aber er stieg nicht zur elterlichen Wohnung hinauf, sondern verdrückte sich durch die Tür zum Keller, knipste Licht an, postierte sich auf einer alten Kiste, Jans Lieblingssitz, die seit Jahr und Tag im Kellergang stand. Dann öffnete er die Mappe, das Geschichts buch, blätterte darin, bis er den Brief fand. Sekundenlang wog er ihn in der Hand, ehe er ihn öffnete. Was wür de er enthalten? Er konnte die Hoffnung nicht niederkämpfen, daß Si bylle ihn um Entschuldigung bat – Entschuldigung dafür, ihn wegen dieses Karl-Heinz Scheiners versetzt zu haben. Vielleicht hatte sie erst jetzt, da sie Grund hatte, auf ihn, Jochen, eifersüchtig zu sein, erkannt, wie sehr sie ihn liebte – ja er war bereit, ihr zu verzeihen, wenn sie ihm nur versprach, Scheiner aufzugeben. Er riß den Klebestreifen auf, faltete das Blatt auseinander. Die Mit teilung, die Sibylle ihm hatte zukommen lassen, war so nichts sagend wie nur möglich. »Ich werde heute Nachmittag beim Beethoven-Denkmal im Stadt park auf dich warten. Punkt fünf Uhr, Sibylle.« Auf Jochen wirkte es wie eine Verheißung. Er war entschlossen, Si bylle zu treffen.
*
Jetzt, Ende Februar, war es um fünf Uhr nachmittags noch hell. Nur das schwache Blau des Himmels begann sich zu vertiefen, die Kontu ren der kahlen Bäume im Park wurden weicher. Als Jochen, die Hände in den Taschen, mit hochgezogenen Schul tern, über die stillen Wege schlenderte, entdeckte er, daß viele Sträu cher schon winzige hellgrüne Knospen zeigten. Er hatte Zeit genug, 140
darüber nachzudenken, denn er war zehn Minuten zu früh zur Ver abredung gekommen. Die Luft war spürbar wärmer geworden, nicht mehr lange, dann würde es wirklich Frühling sein. In gleichmäßigem Tempo lief Jochen wieder und wieder um das Beethoven-Denkmal herum, das auf einem hohen Sockel stand, inmit ten eines Rosenbeetes, das jetzt noch mit Tannenzweigen abgedeckt war. Einmal blieb er stehen und versuchte, die verwitterte Inschrift zu entziffern. Die Zeit verging unendlich langsam. Und dann erschien Sibylle. Sie kam auf das Denkmal zu, nicht ein mal besonders schnell, und im gleichen Augenblick, als Jochen sie ent deckte, begann ihm auch schon das Blut in den Ohren zu sausen. Sie erschien ihm so schön wie selten. Sibylle trug ein blaues Winterkostüm mit Pelzbesatz. Der kniefreie Rock gab ihre schlanken Beine in Strümpfen frei, die ebenfalls blau, nur einen Ton heller als das Kostüm waren. Auf dem blonden Haar, das sie heute hochgesteckt hatte, saß ein keckes Pelzmützchen. Sie lächelte nicht, als er ihr entgegen kam, sah ihn nur ernst und durchdringend aus ihren klaren Augen an. »Ich muß mit dir über Ani ta sprechen«, sagte sie. »Über Anita?« Die Enttäuschung traf ihn wie ein Schlag auf die Brust. »Selbstverständlich. Was hattest du denn gedacht?« Er holte tief Atem. »Also, wenn ich das gedacht hätte, hättest du lan ge auf mich warten können.« »Das glaube ich nicht«, sagte sie ruhig, »du wärst auf jeden Fall ge kommen.« Jochen zuckte die Achseln. »Na schön, du sollst recht haben. Ich bin nun mal von Natur aus neugierig. Aber wenn du nur über Anita mit mir reden willst, kann ich auch genauso gut wieder gehen.« Er wand te sich ab. Sibylle legte ihre Hand auf seinen Arm, hielt ihn zurück. »Nicht, be vor ich mit dir gesprochen habe, Jochen!« Ihre Berührung elektrisierte ihn. Er blieb stehen, ohne sich zu rüh ren, nur von dem einen Wunsch besessen, ihre Hand nicht von seinem Arm zu verscheuchen. 141
Aber es half nichts. Sie ließ ihn los, als sie spürte, daß er bleiben wür de. »Du hast Anita geküsst«, sagte sie vorwurfsvoll. »Na und? Bildest du dir ein, du hättest ein Recht, mir darüber Vor würfe zu machen?« Seine tiefblauen Augen wirkten jetzt fast schwarz vor Erregung. »Ich habe mir einmal eingebildet«, sagte sie langsam, »dir etwas zu bedeuten. Aber anscheinend habe ich mich darin geirrt.« »Das geschieht mir recht«, sagte er wild, »das hätte ich mir denken können! Erst betrügst du mich mit diesem … dieser Flasche Schei ner …« »Karl-Heinz ist keine Flasche«, schrie sie, »und ich habe dich nicht betrogen!« Sie stampfte mit ihrem kleinen weißen Stiefel auf. »Was denn sonst?« brüllte er zurück. »Er trainiert mich als seine Partnerin …« »Ha, ha, ha!« lachte er. »Da kannst du soviel hahahahen wie du willst, es stimmt doch! Was kann ich dafür, wenn ihr Jungen so eine schmutzige Phantasie habt!« »Würdet ihr euch anständiger benehmen, würden wir auch besser von euch denken!« »Darauf habe ich gewartet!« Ihre klaren Augen funkelten ihn an. »Jetzt wirst du mir gleich noch erzählen, daß nicht du Anita, sondern daß Anita dich geküsst hat!« »Sie hat mich herausgefordert, wenn du es genau wissen willst!« gab er wütend zurück. »Eine feine Entschuldigung! Jetzt kann ich bloß noch lachen … die böse, böse Anita hat den braven Jochen herausgefordert, und der lie be kleine Junge hat sich nicht wehren können … nicht wahr, so war es doch?« spottete sie. »Das wolltest du mir doch gewiß erzählen?« Sie stand dicht vor ihm, und plötzlich überfiel ihn der unwidersteh liche Drang, sie zu ohrfeigen oder – sie zu küssen. Er ballte die Fäuste in den Taschen, um sich zurückzuhalten. »Fest steht jedenfalls«, sag te er mit einer Stimme, die fremd in seinen eigenen Ohren klang, »ich mache mir nicht das geringste aus Anita …« »Und trotzdem hast du sie geküsst?! Um so schlimmer. Sag, schämst 142
du dich denn gar nicht, du mußt doch seit langem wissen, wie gern dich Anita hat … ich finde es schuftig, einfach schuftig, das auszunüt zen!« »Na schön, ganz wie du meinst. Dann bin ich eben schuftig.« Es war ihm, als wenn ihn alle Kraft verlassen hätte. Er war all dieser Wirren und dieses Streitens unendlich müde. »Nein, Jochen«, sagte sie, und ihre Stimme klang plötzlich sehr sanft, »das bist du nicht. Ich kenne dich besser. Oh, warum musstest du das Anita und mir antun?« »Dir? Ich hatte ja keine Ahnung, daß dich das überhaupt interessie ren würde.« Im Park gingen die Lichter an. Sie lächelte zu ihm auf, Tränen schimmerten in ihren Augen. »Doch Jochen, das tut es. Bitte, erkläre Anita alles!« »Und du?« fragte er. »wirst du dich dann von Scheiner trennen?« »Es gibt ja nichts, was mich mit Karl-Heinz verbindet …« »Dann lass ihn sausen, komm wieder in die Tanzstunde zurück.« »Aber ich habe ihm doch versprochen …« »Ja oder nein, Sibylle«, sagte er, »ich frage dich zum letzten Mal.« »Ich lasse mich nicht tyrannisieren!« schrie sie. »Also … nein?« Er wartete darauf, daß sie ihm widersprechen wür de. Aber sie schwieg. Da drehte er sich um und ging. Er fühlte sich so elend, daß er am liebsten geweint hätte. Aber nicht einmal das durfte er, er war ja ein Mann.
*
Von diesem Tage an wurde alles anders. Zwischen Sibylle und Jochen war es endgültig aus, sie gingen anein ander vorbei, ohne sich zu beachten, sprachen nur noch das Nötigste miteinander. Anita und Jochen versöhnten sich wieder. Jochen hatte es nicht dar 143
auf angelegt, aber es war ihm nicht wichtig genug, um sich zu wider setzen. Seit er Sibylle endgültig verloren hatte, war ihm nichts mehr wichtig, nicht einmal mehr die Schule. Er gewann Anita nicht lieb, aber er begann sich an sie zu gewöhnen. Sie richtete sich ganz nach seinen Wünschen – »Sie fraß ihm aus der Hand«, wie Artur und Peter zu behaupten pflegten. Nie wieder wagte sie es, sich irgendwelche Vertraulichkeiten herauszunehmen, sich zwischen ihn und seine Freunde zu drängen. In der Schule gab sie sich äußerst zurückhal tend – aber wenn er sie brauchte, war sie immer und sogleich da. Manchmal brachte sie ihn von der Tanzstunde zur Bushaltestelle, und dann schmusten sie immer noch miteinander. Aber wenn er Lust hatte, allein zu sein, ließ sie ihn seiner Wege ziehen. Er liebte sie nicht, aber er mochte sie gern. Er hätte sich wahrschein lich sogar ganz zufrieden mit dieser Freundschaft gefühlt, wenn ihn nicht das Bewußtsein störte, daß sie zuviel, viel zuviel für ihn emp fand. Sie nahm seine Kälte, jeden Anflug von schlechter Laune bei ihm so furchtbar tragisch. »Ich bin es doch gar nicht wert, daß du dich meinetwegen so auf regst«, sagte er oft, »mach doch um Himmels willen nicht so ein Thea ter aus jeder Kleinigkeit!« Aber Anita war zwar imstande, sich nach außen hin zusammenzu nehmen, nicht aber, ihre Gefühle zu ändern. So kam es, daß Jochen sich immer unbehaglicher zu fühlen begann. Er atmete auf, als nach dem Abschlussball die Tanzstundenzeit, die ihm eine so große Enttäuschung gebracht hatte, endgültig vorbei war. Aber das änderte nichts daran, daß er Sibylle und Anita Tag für Tag begegnete. Ganz schlimm war es für ihn, wenn die beiden Mädchen in einer Ecke standen und miteinander tuschelten – immer dann hatte er das Gefühl, daß sie über ihn herzogen. Nein, das alles war unerträglich – mit anzusehen, wie Sibylle immer erwachsener und selbstbewusster und hübscher wurde, wie sie sich mehr und mehr ihm und der ganzen Klasse entfremdete. Tag und Nacht zergrübelte er sich den Kopf darüber, wie er seine Si tuation ändern konnte, und schließlich kam er zu einem Entschluß. 144
Kurz nach Ostern fragte er beim gemeinsamen Abendessen mit der Familie – nur Jens war wieder einmal nicht erschienen, er war bei sei ner Claudia – »Vater, hast du nachher einen Moment Zeit für mich?« Herr Körner sah seinen Sohn über den Tisch weg an. »Raus mit der Sprache, Jochen, ich freß' dich schon nicht … brauchst du Geld?« »Nein«, sagte Jochen. Er zögerte einen Atemzug lang, verkündete dann: »Na gut, von mir aus kann es jeder hören … ich will Schluß mit der Schule machen, Vater!« Seiner Ankündigung folgte absolutes Schweigen am Familientisch. Einen glücklichen Augenblick lang dachte Jochen: Hoppla, das geht ja viel leichter, als ich gedacht hatte! Aber dann stellte sich heraus, daß dieses atemlose Schweigen nur die Stille vor dem Sturm gewesen war. Alle auf einmal fielen sie mit Fra gen und Beschwörungen über ihn her, der Vater, die Mutter und auch der kleine Jan. »Bist du verrückt geworden?« – »Wie kannst du nur!« – »Was ist in dich gefahren, Jochen!« – »Also, daraus wird nichts, Junge!« – »Bei dir piept's wohl!« riefen sie alle gleichzeitig, so aufgeregt und durcheinan der, daß Jochen kaum ein einzelnes Wort verstehen konnte. Doch das war auch nicht nötig, der Sinn des Protestes war unmis sverständlich: Alle waren dagegen, daß er die Schule verließ. Nun hatte Jochen sich vorher viele Vernunftgründe zurechtgelegt, mit denen er hoffen konnte, den Vater zu überzeugen. Aber jetzt, in der allgemeinen Aufregung, war alles wie weggewischt. Er sprang auf, stieß seinen Stuhl zurück und schrie: »Ihr versteht mich nicht!« »Nicht dieser Ton!« sagte Herr Körner schneidend. »Setz dich, Jun ge!« Aber Jochen dachte im Augenblick gar nicht daran, er war einfach unfähig, zu gehorchen. Bockbeinig blieb er stehen. »Du sollst dich setzen«, donnerte Herr Körner, »noch bin ich hier der Herr im Hause, und es hat zu geschehen, was ich dir sage! Wenn dir das nicht paßt, kannst du ja gehen und deine Sachen zusammenpak ken … wir werden dich bestimmt nicht vermissen!« 145
Jochen war blass geworden bis an die Lippen. »Das weiß ich«, stieß er tonlos hervor, »oh, das weiß ich!« er drehte sich um und wollte aus dem Zimmer stürzen. »Hier geblieben!« brüllte Herr Körner. Jochen dachte nicht daran, diesem Befehl seines Vaters nachzukom men, aber ein unvorhergesehenes Hindernis hielt ihn auf – Jan hatte ihm ein Bein gestellt, ob nun absichtlich oder aus Versehen sollte nie mals ganz geklärt werden –, und Jochen stolperte darüber und fiel der Länge nach hin. Als er sich wieder aufrappelte, war seine Wut verraucht. Er fühlte sich gedemütigt und niedergeschlagen. Frau Körner stand auf, strich ihm die Haare aus der Stirn. »Hast du dir weh getan, mein Junge? Was machst du aber auch für Sachen! Komm setz dich wieder, sei brav … Vater hat ja ganz recht, wenn er sich aufregt. Du warst doch immer gut in der Schule … natürlich nicht gerade glänzend, aber doch immer gutes Mittelmaß … was ist dir nur auf einmal in den Sinn gekommen, alles hinzuwerfen und …« Das Schrillen des Telefons unterbrach ihren Satz. Jan sprang auf, rannte wie ein Wiesel in die Diele, nahm den Hörer ab, meldete sich. »Für dich, Jochen«, schrie er dann ins Wohnzimmer hinein, »deine Freundin!« Sibylle! schoß es Jochen durch den Kopf, und dieser unerwartete An ruf war für ihn wie ein Zeichen des Himmels. Er stürzte in die Diele, riß Jan den Hörer aus der Hand. »Ja …?« sag te er erwartungsvoll. Aber es war nicht Sibylle, es war nur Anita, und die Enttäuschung traf ihn wie ein Schlag. »Du, Jochen«, sagte Anita munter, »stell dir vor, meine Eltern ha ben mir erlaubt, zu meinem 17. Geburtstag eine Party zu geben, und da wollte ich dich fragen …« Er fiel ihr ins Wort. »Hat das nicht Zeit bis morgen?« fragte er un wirsch. Ihre Stimme klang verändert, war plötzlich ganz klein geworden, als sie sagte: »Ich dachte, du würdest dich freuen …« 146
»Ja, ja, ja! Ich könnte an die Decke springen vor Begeisterung! Bist du jetzt zufrieden?« »Aber, Jochen, ich …«, stotterte sie ganz verstört. »Was habe ich dir denn getan?« »Du sollst mich nicht anrufen, verdammt noch mal, wie oft soll ich dir das noch sagen! Es ist geradezu ekelhaft, wie du mir nachläufst! Merkst du denn nicht, wie sich alle schon über dich lustig machen?« rief er und knallte den Hörer auf die Gabel. Es hatte ihm eine gewisse Erleichterung bereitet, mit Anita herum zuschreien, aber nun fühlte er sich noch elender als vorher. Er war sich bewußt, wie schäbig es war, ausgerechnet seine Wut an Anita auszu lassen, die ihm nicht das geringste getan hatte. Schließlich war es nicht ihre Schuld, daß sie ihn gern hatte und er sich nichts aus ihr machte. Herr Körner war zu ihm in die Diele herausgekommen, jetzt stand er dicht vor ihm. »Diese Anrufe von deinen Freundinnen hier in der Wohnung passen mir auch nicht, Jochen!« »Mir genauso wenig, das hast du ja wohl gehört!« Es war der aufsässige Ton, der Herrn Körner aufregte. Die Hand rutschte ihm buchstäblich aus und knallte auf Jochens Wange. Eine Sekunde lang starrten Vater und Sohn sich sprachlos an. Der Abdruck von Herrn Körners fünf Fingern war deutlich in Jochens blassem Gesicht zu sehen. »Mich prügeln«, rief Jochen mit überschnappender Stimme, »auf mich einschlagen, das ist alles, was ihr könnt!« Und er drehte sich um, rannte in sein Zimmer, knallte die Türe hinter sich zu und warf sich quer über das Bett. Bäuchlings lag er da, das Gesicht in den Armen vergraben, die Zäh ne zusammengebissen. Er hätte laut schreien mögen vor Verzweiflung, es war ihm, als wenn sein ganzer Körper von einem wilden Krampf ge schüttelt würde. Und dann plötzlich spürte er, wie seine Augen nass wurden und die Tränen über die Wangen rollten, bis sie in dem zerknautschten Kopf kissen versickerten. Er schämte sich seiner Tränen – wie lange war es her, daß er zum letz 147
ten Mal geweint hatte, und er war doch schließlich kein kleiner Junge mehr! Aber er konnte sie einfach nicht unterdrücken. Er weinte hem mungslos und hätte am liebsten laut geschluchzt, nur weil er fürchtete, daß jeden Augenblick die Tür geöffnet werden könnte und seine Mut ter oder – noch schlimmer! – Jan ins Zimmer kommen konnte, ver sagte er sich das. Die Verständnislosigkeit seiner Familie war nur der Anlass zu sei nem Ausbruch. Er nahm es ihnen nicht einmal übel, daß sie ihn nicht verstanden, denn schließlich, woher sollten sie wissen, was in ihm vor ging? Nein, er weinte nicht wegen der Ohrfeige des Vaters, sondern sein Schmerz war viel tiefer. Er weinte um Sibylle, er weinte, weil er sie ver loren hatte, weinte wegen der Niederlage, die ihm dieser Karl-Heinz Scheiner bereitet hatte und, seltsam genug, es war ihm, als wenn seine Tränen diesen Schmerz, der sich wie ein Stachel tief in sein Herz ge bohrt hatte, fortschwemmten. Seine Tränen flossen spärlicher und spärlicher, und endlich versieg ten sie ganz. Blaue Dämmerung fiel ins Zimmer, füllte den kleinen Raum bis in den letzten Winkel. Aus dem Abend wurde samtschwar ze Nacht, und ohne es selber zu merken, glitt Jochen in das Land der Träume hinüber, angezogen wie er war, das Gesicht in das tränennas se Kopfkissen gepresst.
Er erwachte davon, daß sich eine Hand auf seine Schulter legte, fuhr hoch. Im Schein der Nachttischlampe sah er das männliche, gut ge schnittene Gesicht seines Bruders Jens vor sich, auf dessen blonder Tolle sich das schwache Licht fing. »Pssst!« machte Jens. »Der Kleine schläft schon.« Im ersten Augenblick konnte sich Jochen überhaupt nicht erinnern, was los war. »Na … und?« fragte er verwirrt. »Komm mit in die Küche! Ich habe uns einen Whisky zurechtge macht.« 148
Jochen erhob sich, und jetzt erst merkte er, daß er vollständig an gezogen war, sah, daß sein Bett nicht einmal aufgeschlagen war, und blitzartig fiel ihm alles wieder ein. Mit gesenktem Kopf drückte er sich an Jens vorbei. »Warte«, mur melte er, »ich gehe bloß mal eben ins Bad.« Alle in der Wohnung schienen schon zu schlafen, selbst Jan war, ohne daß Jochen etwas davon gemerkt hatte, ins Bett gekrochen. Im Badezimmer knipste Jochen die Deckenbeleuchtung an, mußte die Augen zusammenkneifen, als das helle Licht aufblendete. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war Mitternacht vorbei – für Jens die übliche Zeit heimzukommen, aber wieso kam er darauf, ihn mitten in der Nacht zu wecken? Die Antwort war nahe liegend: Die Eltern hatten mit Jens gespro chen und ihn vorgeschickt. Jochen war nicht böse darüber. – Na, immerhin taktvoll von den al ten Herrschaften, sich nicht selber auf mich zu stürzen! dachte er. Er drehte den Kaltwasserhahn im Waschbecken voll auf, steckte sei nen Kopf unter die Leitung und tilgte unter dem strömenden Wasser auch die letzten Spuren der Tränen von seinen Wangen. Danach rich tete er sich auf und betrachtete sich prüfend im Spiegel – nein, man sah ihm nicht an, daß er geheult hatte, seine tiefblauen Augen blickten klar, das Weiße war nicht mehr gerötet. Er nahm ein Frottiertuch, rubbelte sich Haar und Gesicht trocken, fuhr mit der Bürste über seine weiche braune Mähne, warf das Tuch achtlos auf die Stange zurück, knipste das Licht aus und trat in die Diele. Der Lichtschein aus der Küche bildete eine helle Bahn. Jens saß auf dem Küchentisch, die Füße auf einem Stuhl, drehte ein Glas Whisky leicht in der Hand. Als Jochen eintrat, schob er ihm das andere hin. »Cheerio!« Jochen mußte grinsen und wunderte sich über sich selber, daß ihm danach zumute war. »Na, immerhin komme ich auf diese Weise doch noch an den längst versprochenen Whisky«, sagte er, »Cheerio!« Er nahm einen Schluck, fühlte sich erfrischt. Jens hatte reichlich Wasser und Eis hineingetan. 149
»Für einen Selbstmordkandidaten«, sagte Jens, »scheinst du mir aber reichlich munter zu sein!« Jochen hob die Brauen, seine Augen wurden riesengroß. »Selbst mord? Wer spricht denn von so was?« »Nicht so direkt«, sagte Jens, »aber immerhin … die Eltern hatten Angst, du könntest dir was antun.« Er klopfte sich eine Zigarette aus einem Päckchen. »Du mußt ihnen eine bühnenreife Szene geliefert ha ben.« Er hielt Jochen sein Päckchen hin. Aber der schüttelte den Kopf. »Danke nein. Und von Szene kann auch keine Rede sein … wenn jemand Theater gemacht hat, dann wa ren es die anderen. Ich habe schlicht und einfach erklärt, daß ich von der Schule abgehen will. Du hättest mal sehen müssen, was da los war. Vater hat mir sogar eine geknallt. Ein zwingenderes Argument ist ihm im Augenblick anscheinend nicht eingefallen.« Jens zündete sich eine Zigarette an, streckte den rechten Arm aus, öffnete den Küchenschrank, holte ein Glastellerchen heraus und setz te es, als Aschenbecherersatz, auf sein Knie. »Er macht sich Vorwürfe deswegen«, sagte er, »es tut ihm riesig leid, wie du dir sicher vorstellen kannst. Er ist ja an sich gar nicht so.« Jochen begann sich immer sicherer zu fühlen. »Hat man dich beauf tragt, mir das zu eröffnen?« »Nicht direkt.« Jens schnippte die Asche seiner Zigarette ab. »Ich soll dir auf den Zahn fühlen … warum, inwiefern und weswegen, du ver stehst schon.« Jochen zuckte die Achseln. »Ich habe keine Lust mehr«, sagte er, »das ist alles.« »Nicht sehr einleuchtend«, erwiderte Jens vorsichtig, ohne den Bruder anzusehen, »paßt nicht zu dir, möchte ich sagen.« Er ließ den Whisky im Glas kreisen. »Hast du schlechte Noten bekommen? Nimm's nicht persönlich, bitte, ich muß dich das einfach fragen.« »Auch«, sagte Jochen, »aber das ist nicht das Wesentliche … Herr gott noch mal, wieso tust ausgerechnet du so, als wenn du mich nicht verstehen könntest? Du hast ja schließlich die Schule auch nicht been det!« 150
Jetzt grinste Jens. »Stimmt auffallend. Aber was den Grund betrifft, muß ich, scheint's, dein Gedächtnis auffrischen … ich bin hängen ge blieben und hatte verständlicherweise keine Lust, zu wiederholen. Mit drei Ungenügend wäre das ja auch nicht gerade spaßig gewesen. Aber du … du hast doch bisher immer ganz gut gestanden.« »Ja schon …« sagte Jochen zögernd. Er fühlte sich auf einmal in die Enge gedrängt. »Mach mir doch nichts vor, alter Junge«, sagte Jens, »komm, huste es heraus, sag die Wahrheit. Die Eltern brauchen ja gar nichts davon zu erfahren. Ich kann dir doch nur helfen, wenn ich weiß, worum es sich dreht.« Jochen nagte an seiner Oberlippe. »Steckt ein Mädchen dahinter?« fragte Jens aufs Geratewohl. Die Röte, die in Jochens Wangen schoß, verriet ihn deutlicher, als ein Geständnis es vermocht hätte. Jens stieß einen lang gezogenen Pfiff durch die Zähne. »Sieh mal ei ner an! Hätte ich es mir doch denken sollen! Diese Sibylle … sie heißt doch Sibylle, oder irre ich mich …? diese Sibylle scheint ja ein ganz großes Miststück zu sein.« »Ist sie nicht«, erklärte Jochen, aber es klang nicht gerade sehr über zeugend. »Aber ihretwegen spielst du doch verrückt … oder?« Jochen begann, sein Glas in der Hand, mit langen Schritten in der kleinen Küche auf und ab zu gehen – vom Spültisch zur Türe und wie der zurück. »Es ist einfach so«, sagte er, »wenn man kein Geld hat, hat man bei den Mädchen einfach keine Chance. Eigentlich solltest du das doch am besten wissen. Ich nehme es ihnen gar nicht übel. Ohne Geld keine Musik … das ist nun mal so!« Jens stützte den Ellenbogen auf sein Knie, das Kinn in der Hand, und seine Augen verfolgten seinen jüngeren Bruder bei dem unruhi gen Auf und Ab. »In diesem Punkt«, sagte er, »möchte ich dir nicht einmal widersprechen …« »Na also …« »… aber bist du sicher, daß das mit den Mädchen jetzt unbedingt 151
schon sein muß? Lass dir doch Zeit Junge, die Liebe läuft dir nicht da von.« »Aber Sibylle!« antwortete Jochen prompt. »Wenn ich nicht bald et was unternehme, habe ich sie für immer verloren.« »Und du bildest dir wirklich ein, du kannst sie mit Geld halten?« »Ich weiß es nicht«, gestand Jochen, »ich weiß nur, daß ich es ver suchen muß. Ich muß etwas unternehmen, sonst werde ich bestimmt noch verrückt.« »Und wenn es nicht klappt«, gab Jens zu bedenken, »dann hast du die Schule einfach hingeschmissen wegen nichts und wieder nichts …« Jochen warf den Kopf in den Nacken. »Na, wenn schon«, sagte er, »wenn das alles ist. Mir wirst du nicht weismachen, daß du jemals der vielbesungenen sorglosen Schulzeit nachgeweint hast.« »Hab' ich«, erklärte Jens mit Nachdruck, »du wirst lachen … aber das habe ich, mehr als einmal sogar. Du ahnst ja nicht, wie gut du es noch hast, jetzt, ehe du in den verfluchten Existenzkampf eingespannt wirst. Denk nur einmal an die Ferien! Nie wieder wirst du so viel Ur laub und so viel Freizeit haben, da kannst du Gift drauf nehmen. Er zähl mir jetzt nichts von Schulaufgaben und Vorbereitungsarbeiten, ich kenne mich aus. Das alles kann man sich einteilen, wie man es sel ber will … aber wenn du erst einmal im Beruf steckst, dann hast du deine Freiheit verloren. Dann geht alles nach Kommando des Chefs … und das wird immer so bleiben, verlass dich drauf.« Jochen blieb vor dem Bruder stehen. »Ich dachte immer, du fühltest dich wohl im Kaufhaus Karmann?« »Lenk nicht ab, bitte! Es geht hier nur um dich, um niemand ande ren! Was hast du überhaupt vor, wenn dir der Vater erlauben würde, von der Schule zu gehen?« »Ich werde mir einen Job suchen, bei dem ich so schnell und so viel verdiene wie irgend möglich.« So kompliziert hatte Jens sich das Gespräch nicht vorgestellt, er wischte sich erschöpft über die Stirn. »Junge, Junge, du bist ja vollkom men vernagelt.« 152
Jochen sah ihm herausfordernd in die Augen. »Ich weiß nur, was ich will.« »Na schön, ich nehme es zur Kenntnis. Mehr kann ich wohl im Au genblick nicht tun.« Er gähnte unverhohlen, leerte sein Glas. »Beenden wir die Sitzung, Junge … ich bin hundemüde.« Jochen hätte zwar noch stundenlang weiter diskutieren können, er fühlte sich frisch und munter wie selten. Aber er wußte, daß das doch nichts eingebracht hätte. Er mußte den Vater überzeugen, nicht Jens. Also folgte er dem Beispiel seines Bruders, trank sein Glas aus, stell te es in den Spülstein und verzog sich, nach einem kurzen, aber herzli chen Gute-Nacht-Gruß in sein Zimmer.
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Jochen knipste seine Nachttischlampe an, zog sich so lautlos wie mög lich aus, um Jan nicht zu stören. »Nein, nein«, murmelte der Kleine, »nicht … geh weg … lass mich in Ruhe!« Jochen beugte sich über ihn, stellte fest, daß er die Augen fest ge schlossen hatte. Aber er warf den Kopf hin und her, seine Hände be wegten sich unruhig auf der Decke. Offensichtlich hatte er im Schlaf gesprochen. Wie kindlich Jan aussah mit den roten Wangen, den vom Schlaf zer zausten, schwarzen Locken, der trotzig vorgeschobenen Unterlippe! Jochen seufzte. Beneidenswert, dachte er, glückliches Kerlchen! Du kennst noch keine Sorgen! Und er steckte behutsam das braune Bein des Bruders wieder unter die Bettdecke. Er ahnte nicht, daß Jan sein Leben durchaus nicht so unproblema tisch fand. Der Kleine hatte Sorgen genug. Es kostete ihn wachsen de Anstrengung, Noten nach Hause zu bringen, die die Eltern zufrie den stellten, und gleichzeitig vor seinen Kameraden den Anschein zu vermeiden, daß er ein Streber war, denn das wäre so ungefähr das schlimmste gewesen, was ihm hätte geschehen können. Damit nicht genug, mußte er sich dauernd bemühen, sich den Mäd 153
chen der Klasse, besonders Lilo Hesse gegenüber, durchzusetzen und das war nun wirklich nicht einfach. Lilo hatte so eine Art, so etwas Schnippisches, Anmaßendes, das ihn immer wieder aus der Fassung brachte. Die Erinnerung daran verfolgte ihn sogar bis in den Schlaf. Gerade jetzt träumte er, daß Lilo Hesse Lehrerin geworden war. Sie stand vor ihm auf dem Katheder, eine große schwarze Brille auf der Nase und stauchte ihn zusammen, der ziemlich klein und hässlich vor ihr stand. »Du Lümmel!« schrie sie und knallte das Klassenbuch auf das Kathe der. »Du Flegel! Stell dich in die Ecke! Sofort!« Und er wußte im Traum, daß sie gar keine wirkliche Lehrerin, son dern nur ein kleines Mädchen war, und doch kam er gegen sie nicht auf. »Nein«, wimmerte er, »bitte nicht … lass mich!« Aber Lilo war unerbittlich. Sie beugte ihr schmales Gesicht mit der riesigen Brille tiefer und tiefer zu ihm herab, streckte die Hand aus und krallte sie in seine Schulter. »Nein!« schrie Jan entsetzt und fuhr kerzengerade in seinem Bett hoch, riß die Augen auf. Statt Lilo sah er seinen Bruder Jochen vor sich, der ihn wach gerüt telt hatte. »Mach dir nichts draus«, sagte Jochen lächelnd, »du hast nur schlecht geträumt!« »Geträumt?« Jan schüttelte sich. Er hatte Lilos Gesicht so deutlich gesehen, daß er sich nur schlecht vorstellen konnte, daß alles nur ein Traum gewesen sein sollte. Jochen ging zum Schalter, knipste das Deckenlicht an. »Da siehst du«, sagte er, »alles in Ordnung.« Jan atmete auf. »So was Dummes«, sagte er und ließ sich wieder in seine Kissen zurücksinken, »schlaf gut, Alter!« Jochen knipste das Licht wieder aus. »Nein«, sagte er, »heute bist du dran!« Beide lachten ein bißchen über den alten, hundertmal benutzten Witz. 154
»Ich dank dir auch, Jochen«, sagte Jan, dem es im Dunkeln leichter fiel, sich zu bedanken. »Gern geschehen«, murmelte Jochen. Sie lagen ganz still, jeder lauschte auf die Atemzüge des anderen, und beide waren überzeugt, nicht so rasch wieder einschlafen zu können. Aber es dauerte nicht lange, dann schliefen sie doch, den tiefen, gesun den Schlaf der Jugend.
*
Anita machte es Jochen nicht schwer, sie wieder zu versöhnen. Sie ahn te nicht, daß es ein Fehler von ihr war, ihm immer wieder so entgegen zukommen – aber wahrscheinlich hätte sie sich nicht ändern können, auch wenn sie es gewußt hätte. Ihr bedeutete Jochen zuviel, einfach alles, und selbst wenn sie sich einmal zwang, die Eingeschnappte zu spielen, merkte Jochen doch immer gleich, daß es nur Theater war. Den ganzen Morgen in der Schule wartete sie darauf, daß Jochen zu ihr käme und sich entschuldigte oder zumindest sein grobes Beneh men erklärte. Aber er tat ihr erst auf dem Heimweg den Gefallen. Er ließ einen Omnibus und Peter Hesse sausen und schlenderte zu ihr, die in eine andere Richtung ging, heran. »Hallo, Anita …« Nein, sie konnte sich nicht verstellen, sie war so froh, daß er zu ihr kam, ihr ganzes Gesicht leuchtete auf. »Oh Jochen …« »Tut mir leid wegen gestern«, bekannte er widerwillig, »ich hatte Är ger zu Hause, weißt du …« Sie atmete tief durch. »Das hatte ich mir gleich gedacht!« »Kluges Kind«, knurrte er. »Es war dumm von mir, dich anzurufen«, sagte sie, »ich weiß doch, das hast du nicht gerne.« »Na, hoffentlich merkst du es dir endlich mal.« »Bestimmt«, versprach sie und legte zaghaft ihre Hand auf seinen Arm. »Du bist mir doch nicht mehr böse?« Ihre Art reizte ihn wahnsinnig, und am liebsten hätte er ihr ins Ge 155
sicht geschrien. Aber andererseits tat sie ihm leid, und er wollte sich nicht wieder ihr gegenüber ins Unrecht setzen. Außerdem, sie war der einzige Mensch, der zu ihm hielt und sich wenigstens bemühte, ihn zu verstehen – wer blieb ihm außer ihr denn noch? »Sei nicht albern«, sagte er, »es war mein Fehler.« »O nein!« Ihr milchweißes Gesicht rötete sich vor Eifer. »Ich war schuld, ich weiß …« Er hielt sich beide Ohren zu. »Hör auf damit!« Sie senkte den Kopf. »Ganz wie du willst.« Er sah sie von der Seite an. Sie sah reizend aus in dem kurzen wei ßen Rock und der leuchtendblauen Jacke im Matrosenstil. Sie hatte ein klares Profil mit einer wohlgerundeten Stirn, einer kurzen geraden Nase und einem gutgeschnittenen Mund. Er hatte irgendwo gelesen, daß manche Männer rotes Haar fabelhaft fanden – ihm gefiel es zwar nicht, aber er konnte sich vorstellen, daß jemand, der auf so etwas flog, bestimmt von Anita beeindruckt gewesen wäre. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte die Erkenntnis in ihm auf, daß es nur ihre eigene, mädchenhafte Unsicherheit war, die ihn und die meisten Jungen an ihr störte – wenn sie erst einmal den Mut fin den würde, sich zu sich selber zu bekennen, würde sie womöglich rie sige Erfolge haben. Aber, wie gesagt, es war nur ein kurzes Aufblitzen in Jochen, dann sah er Anita wieder so, wie sie jetzt war: ein rothaariges, x-beiniges Schulmädchen, und keineswegs die spätere Schönheit, die in ihr steck te. »Was wolltest du überhaupt von mir?« fragte er nicht besonders freundlich. »Ach, es war bloß wegen meiner Geburtstagsparty. Ich war so froh, daß mir meine Eltern endlich gestattet haben …« »Das hättest du mir doch auch heute morgen sagen können!« »Sicher.« Anita errötete heftig. Obwohl sie alles für Jochen getan, ihm alles verziehen hatte, berührte seine Gleichgültigkeit sie doch im mer wieder empfindlich. »Ich hätte es dir auch überhaupt nicht zu sa gen brauchen, da es dich doch nicht interessiert.« 156
Wenn sie wild wurde, gefiel sie ihm besser, und er renkte sofort ein. »Aber mich interessiert es doch … wirklich!« »Dann hör mal zu, es gibt dabei nämlich ein Problem …« Anita warf die Aktentasche von ihrem linken zum rechten Arm. »Wen soll ich einladen? Versteh mich richtig, nette Mädchen kenne ich natürlich wie Sand am Meer. Das Problem sind die Jungen …« »Artur und Peter«, schlug Jochen vor. »Uninteressant«, sagte Anita mit ungewohnter Entschiedenheit, »die können ja nicht mal tanzen, also nützen sie nichts.« »Dann lad deinen Freund Hinz ein …« »Daran habe ich auch schon gedacht«, bekannte Anita, »aber seit der Tanzstunde habe ich keinen Kontakt mehr mit ihm. Würde das nicht komisch wirken …?« »Wenn du mir die Adresse gibst, könnte ich die Einladung überneh men.« erklärte Jochen sich bereit. Anita strahlte auf. »Oh, wirklich? Das wäre riesig nett von dir. Dann habe ich also schon dich und Hinz und Herbert, das ist ein Junge aus der Nachbarschaft …« »Genügt denn das noch nicht?« »Nein. Es soll eine richtig große Party werden. Du, Jochen …« Ani ta stockte. »Ja …?« fragte er. »Könntest du nicht deinen großen Bruder bitten, mitzumachen?« Obwohl Jochen fest überzeugt war, sich nichts aus Anita zu machen, spürte er doch einen feinen scharfen Stich in der Herzgegend – war es Eifersucht? Oder war es nur verletzte Eitelkeit? »Der gefällt dir wohl, wie?« fragte er. Anita war ehrlich erstaunt. »Wie kommst du denn darauf? Ich ken ne ihn ja gar nicht … ich habe mir bloß gedacht, er müßte tanzen kön nen. Wenn nicht, kommt er sowieso nicht in Frage …« »Doch«, sagte Jochen langsam, »tanzen kann er.« »Wunderbar! Meinst du, daß du ihn dazu kriegen kannst, mitzuma chen?« »Käme auf einen Versuch an!« 157
Anita trat vor ihn. »Ach, bitte, ja, Jochen, versuch's doch mal! Sag ihm, daß allerhand geboten wird … nicht nur Limonade, es soll ganz groß gefeiert werden. Wie alt ist er?« »Zwanzig Jahre.« »Genau richtig. Du mußt ihn dazu kriegen, Jochen, ich brauche un bedingt einen attraktiven Partner für Sibylle!« Er hatte das sonderbare Gefühl, als wenn ihm die Luft abgeschnürt würde. »Für Sibylle?« fragte er töricht. »Was dachtest du denn?! Ich muß sie doch unbedingt einladen, schließlich ist sie meine beste Freundin. Deshalb wäre es wunder bar …« Sie unterbrach sich. »Oder fändest du es richtiger, wenn ich sie zusammen mit Karl-Heinz Scheiner einlüde?« Jochen antwortete nicht, preßte die Lippen zusammen. Als Anita ihm einen Seitenblick zuwarf, sah sie, daß er sehr blass unter der braunen Haut geworden war. Seine blauen Augen glänzten dunkel und gefährlich. »Bitte, Jochen«, sagte sie erschrocken, »ich habe dich nicht ärgern wollen! Du mußt mir glauben … ich dachte nur …« Mit einer ausdrucksvollen Geste schnitt er ihr das Wort ab. »Schon gut. Wir brauchen nicht mehr darüber zu reden.« Eine Weile schlen derten sie schweigend nebeneinander her, dann blieb er stehen. »Also dann … tschau! Ich muß nach Hause!« Er wandte sich ab und trollte sich zur Bushaltestelle zurück. »Jochen!« rief sie ihm nach. »Ja …?« Sie legte die Hände wie ein Sprachrohr vor den Mund. »Du bringst Jens also mit? Ich kann mich drauf verlassen?« »Ich rede mit ihm und geb' dir dann Bescheid!«
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Es war nicht schwer, Jens zum Mitmachen zu bewegen. Gerade in die sen Wochen, wo Jochen in ständigem Kampf mit seinen Eltern stand, fühlte Jens sich dem jüngeren Bruder besonders verbunden – er erin 158
nerte sich nur zu gut daran, daß er selber vor einigen Jahren eine ge nauso schwere Zeit hatte durchstehen müssen. Aber als er Claudia, lachend und völlig arglos, von der Party erzähl te, zu der er eingeladen war, stieß er auf unerwarteten Widerstand. »Das ist doch nicht dein Ernst«, sagte sie mit ihrer tiefen, immer ein wenig heiseren Stimme, »du willst doch wohl nicht wirklich zu einem solchen Kinderfest?« Er grinste. »Kinderfest ist gut. Ich nenn's Bambini-Party …« »Weich mir nicht aus!« fauchte sie. Er sah sie ganz verblüfft an. »Was hast du denn?« Sie hatte ihm gegenüber auf dem Dachgarten ihres Penthauses geses sen. Es war eine warme samtblaue Frühlingsnacht. Unter ihnen glit zerten und leuchteten die Lichter der Stadt, über ihnen zitterten und flimmerten die Sterne. Jetzt richtete sie sich auf, geschmeidig wie eine Raubkatze in ihrem enganliegenden Hausanzug aus goldglänzendem Stoff. »Ich will es nicht«, sagte sie leidenschaftlich, »ich könnte es einfach nicht ertra gen …« Sie stockte. »Was?« fragte er. »Daß du dich lächerlich machst!« stieß sie hervor. »Hoppla«, sagte er gemütlich, »immer mit der Ruhe. Überleg dir vor her, was du sagst … dann kommst du vielleicht darauf, daß du ganz entschieden Quatsch redest.« Sie schwang die langen, schlanken Beine über den Rand der Couch, stellte die Füße in den goldenen Pantöffelchen nebeneinander auf den Boden. »Nein«, behauptete sie mit Nachdruck, »ich weiß genau, was ich sage. Es muß lächerlich wirken, wenn ein erwachsener Mensch wie du sich unter lauter Halbwüchsige mischt!« Er zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich gemütlich in dem be quemen hypermodernen Sessel zurück, stieß den Rauch durch die Nase. »Na, wenn schon«, sagte er, »außer mir und den Halbwüchsigen, wie du sie zu nennen beliebst, merkt's ja keiner.« »Doch«, schrie sie aufgebracht, »ich!« Sie riß ihm die Zigarette aus der Hand. 159
»Nanu!« Er setzte sich kerzengerade auf. »Es gab eine Zeit«, sagte sie wütend, »wo du dir nie erlaubt hättest, dir eine Zigarette anzuzünden, ohne mir zuvor eine anzubieten … aber anscheinend hältst du es nicht einmal mehr für nötig, auch nur die oberflächlichsten Formen der Höflichkeit mir gegenüber zu wah ren!« Sie nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette, stieß den Rauch mit geradezu angreiferischer Heftigkeit wieder aus. Er fuhr sich mit der Hand durch seine gepflegte blonde Tolle. »Zum Teufel«, sagte er, »jetzt versteh' ich gar nichts mehr … was hat denn die Bambini-Party mit den Zigaretten zu tun!« »Als wenn du das nicht genau wüsstest!« »Wirklich nicht! Mein großes Ehrenwort!« Sie hob das feste kleine Kinn, atmete tief und zitternd. »Es passt eben alles zusammen«, sagte sie, »die Art, wie du mich in letzter Zeit behan delst … und dann deine Idee, auf diese … diese Party zu gehen!« »Nun, erst einmal stammt diese Idee nicht von mir, sondern von meinem Bruder Jochen …« »Du hast es ihm eingegeben! Von sich aus wäre er doch niemals dar auf gekommen!« Jens zuckte die Achseln. »Bitte. Wenn du es besser weißt. Nimm im merhin an, der Einfall wäre von mir gewesen … nimm an, ich hätte einfach Lust gehabt, mich mal unter das junge Volk zu mischen. Ich kann nicht einsehen, was daran so verbrecherisch sein soll.« Mit einem Satz stand sie auf beiden Füßen. »Sei doch wenigstens ehrlich! Red nicht dauernd um den heißen Brei herum! Bildest du dir denn ein, ich hätte nicht längst gemerkt, daß du mich satt hast?« Ihre schrägen Augen im dem aparten hohlwangigen Gesicht sprüh ten Blitze, das dunkle Haar umgab ihren Kopf wie eine Gewitterwol ke. Jens wußte, daß es falsch war, aber er mußte lachen. »Komm, komm«, sagte er besänftigend, »beruhige dich … nimm Vernunft an!« »Ich hasse dich!« schrie sie. »Wie kannst du es wagen, mich so zu be handeln … nur weil ich dir gestattet habe …« »Danke«, sagte er kalt, »das war wirklich eine übergroße Gnade.« 160
Allmählich wurde auch er wütend, obwohl er keinen Augenblick ver gaß, daß dieser Streit eigentlich vollkommen sinnlos und aus einem törichten Anlass vom Zaune gebrochen war. »Danke. Ich werde nie mals aufhören in der Schuld der hohen Frau zu stehen, weil sie die Güte hatte, sich zu mir armen Sterblichen herabzulassen …« Mit einer wilden Bewegung drückte sie die Zigarette aus. »Hör auf damit!« schrie sie. »Hör auf! Wie kannst du nur so gemein sein!« Sie schluchzte auf, warf sich an seine Brust. »Oh, Jens, ich bin so unglück lich …« Er konnte nicht so schnell auf einen anderen Ton eingehen. »Mir scheint eher, daß du ganz schön verrückt bist«, sagte er kalt. Sie schlang die Hände um seinen Nacken, sah aus tränennassen Au gen zu ihm auf. »Ich bin schrecklich, Jens, ich weiß es … aber du mußt mir glauben, früher war ich nie so … nie! Ich habe nicht einmal ge ahnt, daß ich so sein könnte! … es kommt alles nur daher, weil ich dich so sehr liebe.« Jens stand stocksteif. Er war froh, daß sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Was hätte er noch vor wenigen Monaten, als er sich ihrer noch nicht ganz sicher gefühlt hatte, um ein solches Bekenntnis gegeben. Aber jetzt erfüllte ihre übertriebene Leidenschaft ihn geradezu mit Unbehagen. Er mußte sich zwingen, ihr beruhigend über den Rücken zu streicheln. »Dann muß ich dir doch raten, mich ein bißchen weniger zu lieben«, sagte er. »Wie könnte ich das?« rief sie verzweifelt. Er wurde hin und her gerissen zwischen den widerstrebendsten Empfindungen. Ihre Liebe, so lästig sie ihm auch zu werden begann, diese Liebe einer attraktiven und reifen jungen Frau, schmeichel te doch gleichzeitig sehr stark seiner männlichen Eitelkeit. »Versuch's nur mal.« »Ich schäme mich so«, schluchzte sie, »ich könnte mich selber ohr feigen … dir diese so blöde Szene zu machen … wegen nichts und wie der nichts …« Er strich ihr das nachtschwarze Haar hinter die Ohren zurück. 161
»Wenn du es wenigstens einsiehst!« Seine Lippen berührten zart ihre Schläfen. »Ich weiß, daß es falsch ist«, rief sie verzweifelt, »ich weiß es ganz ge nau, aber es ist … ich bin einfach nicht Herr meiner Sinne, wenn es um dich geht! Wenn ich doch nur sicher sein könnte, daß du mich wenig stens ein bißchen liebst!« Fast mechanisch gab er die Antwort, die sie erwartete: »Mehr als das, Claudia, viel mehr!« Sie hatte sofort wieder Oberwasser. »Dann wirst du auch um mei netwillen auf die Party verzichten …« Als sie den Zorn und die Ent täuschung in seinen Augen las, schlug sie sich selber auf den Mund. »Nein, nein, Jens, hör nicht hin! Natürlich sollst du zu dieser Party ge hen, wenn du es versprochen hast. Warum denn nicht? Es ist ja nichts dabei!« »Ganz bestimmt nicht, Liebling«, bestätigte er, mühsam beherrscht. Ihre Lippen verzogen sich zu einem gekünstelten Lächeln. »Du, Jens, jetzt habe ich überhaupt die Lösung … ich werde dich begleiten! Wird das nicht ein Spaß?« »Nein«, sagte er hart, »ganz im Gegenteil. Dadurch würde ich mich nämlich wirklich lächerlich machen … Jens Körner in Begleitung sei ner Erzieherin!« er lachte böse auf. Sie löste sich aus seinen Armen, trat zwei Schritte zurück. »Du schämst dich meiner«, sagte sie tonlos. »Unsinn!« erwiderte er betroffen. »Es ist dir peinlich, dich mit mir unter jungen Menschen blicken zu lassen«, beharrte sie. »Lüg nicht. Du hast es mir nur zu deutlich ge zeigt.« Er seufzte übertrieben laut, zuckte die Schultern, schlenderte durch die breite Glastüre in das Innere des Hauses. Mit wenigen Schritten hatte sie ihn eingeholt, packte ihn beim Arm. »Wo willst du hin?« »Claudia!« Er sah auf sie herunter. »Es hat doch keinen Zweck mehr …« »Willst du mich … verlassen!?« 162
»Wenigstens für heute. Morgen, wenn du ruhiger geworden bist, können wir noch einmal über alles reden.« »Ich bin ruhig!« rief sie, und ihre langen, schlanken Finger mit den schmalen leuchtendroten Nägeln krallten sich in seine Jacke. »Ich bin ganz ruhig. Bitte, weiche mir nicht aus … erkläre mir, warum ich dich nicht auf diese Party begleiten kann!« Er seufzte wieder. »Weil du nicht eingeladen bist.« »Aber es ist doch keine so offizielle Angelegenheit, du konntest mich bestimmt mitnehmen, wenn du nur wolltest.« »Und«, fragte er, »hast du dir schon einmal überlegt, warum sie mich überhaupt hinzuziehen? Um einen Tänzer mehr zu haben. Das ist der einzige Grund. Wenn du mitkommst, würde ich mich selbstverständ lich um dich kümmern … ja, ja, ich weiß, du legst keinen Wert dar auf … aber dann würdest du eben einen anderen Jungen in Beschlag nehmen, es käme auf das gleiche heraus.« »Dann könntest du ja genauso gut fortbleiben«, sagte sie mit einem Lächeln, das gleichzeitig verschlagen und rührend wirkte. »Ja, das könnte ich«, sagte er heftig, »aber ich will es nicht … ver stehst du? Ich will es nicht. Ich will mich nicht von dir einsperren, mich nicht von deiner Eifersucht tyrannisieren lassen … ich habe es satt, einfach satt!« Mit einer unerwartet wütenden Bewegung stieß er sie zur Seite, so daß sie halb über die überbreite Couch fiel, und eilte zum Aufzug. Er war innerlich ganz darauf gefaßt, daß sie ihn zurückholen würde, drehte sich, als der Lift kam, sogar noch einmal verstohlen zu ihr um. Aber sie lag quer über der Couch, so wie er sie hingeschleudert hat te, den Kopf in den Armen, und rührte sich nicht. Es drängte ihn, zu ihr zurückzugehen, sie zu trösten und zu versöh nen. Aber er tat es nicht. Er spürte deutlich: Wenn er auch diesmal wieder nachgab, würde er immer und für alle Zeiten der Unterlegene bleiben. Er stieg, als die Türen sich automatisch öffneten, in den Lift, drück te auf den Knopf, der den Abwärtsmechanismus in Bewegung setzte. Als die Kabine mit ihm in die Tiefe sauste, fühlte er sich frei und stark wie seit langem nicht mehr. 163
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Jochen war inzwischen soweit, daß er am liebsten alles hingeworfen hätte. Die Schule, in der er täglich Sibylle begegnete, die durch ihn hin durchsah wie durch Glas, und Anita, die ihm nachlief wie ein Hünd chen, widerte ihn an. Der Lehrstoff schien ihm farblos und weltfremd, er interessierte ihn überhaupt nicht mehr. Lustlos machte er gerade noch die allernötigsten Schulaufgaben, war während des Unterrichts weit fort mit seinen Gedanken, gab, zur Rede gestellt, unverschämte Antworten. Zu Hause war es eher noch schlimmer. Die ganze Familie ging ihm auf die Nerven. Von den Eltern fühlte er sich völlig unverstanden, und mit Jan, der ihn einfach um des Spaßes willen immer wieder aufzog, stand er dauernd auf Kriegsfuß. Selbst gegen Jens schirmte er sich ab. Die Überlegenheit des älteren Bruders ärgerte ihn irrsinnig, dieses be tonte: »Das kenne ich alles, habe ich selber auch schon durchgemacht! Das geht jedem Jungen früher oder später so.« Aber Jochen legte gar keinen Wert auf den Trost, daß er in absehba rer Zeit über seine jetzigen Schwierigkeiten lachen würde. Noch we niger wollte er wahrhaben, daß die Probleme, die ihm so schwer zu schaffen machten, nichts waren als eine ganz gewöhnliche Pubertäts krise. Da war es noch besser, unverstanden zu sein, denn das gab ihm das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, anders als die anderen, und wenn dieses Anderssein auch nur in einem größeren Unglücklichsein be stand. Ja, unglücklich war er wirklich, ganz gleich, ob diese Misere nun aus seinem Charakter, seiner Situation oder auch nur seinem Alter ent sprang. Jochen Körner war tief unglücklich. Am liebsten wäre er auf und davon gelaufen, per Anhalter oder zu Fuß, wie, das wäre ihm ganz egal gewesen, nur fort, weit fort! Er verstand die Gammler, über die sein Vater so schimpfte und über 164
die die Brüder ihre Späße machten, oh, er verstand sie nur zu gut. Er bewunderte sie. Das war doch wirklich eine Tat, dieser ganzen verlo genen bürgerlichen Gesellschaft den Rücken zu kehren, auf alle Mo ralpredigten einfach zu pfeifen, sich nicht mehr unterzuordnen, nicht mehr zu gehorchen, sich nicht schikanieren zu lassen und auch andere nicht zu schikanieren – einfach nichts zu tun als zu leben. Oft, wenn er nachts wach lag, träumte er davon, zu den Gammlern zu gehen, und ihm hätte auch nicht der Mut zu einem solchen Ent schluß gefehlt – was konnte ihm denn schon passieren, als daß er von der Polizei aufgegriffen und zurückgebracht würde, und dann hätte er eine wunderbare Zeit gehabt, die ihm niemand mehr nehmen könn te. Nein, er fürchtete sich nicht, weder vor Hunger, Durst noch vor Schmutz. Etwas anderes hielt ihn zurück: Sibylle. Er glaubte mit Sicherheit zu wissen, daß er Sibylle als Gammler nicht imponieren konnte, auch nicht, wenn er ihr Postkarten von allen Ek ken der Welt schicken würde – wobei er noch nicht einmal wußte, ob das Verschicken von Ansichtspostkarten nicht auch eine bürgerliche Gewohnheit war, die er als Gammler ablegen müßte. Matrose, ja, das wäre schon eher etwas gewesen! Die Welt umfahren und später als Kapitän mit goldenen Tressen zurückkommen! Aber leider für ihn, Jochen, käme diese Laufbahn nicht in Frage, selbst wenn er die väterliche Erlaubnis dazu erhalten hätte, denn er wußte aus trau rigen Erfahrungen von Karussells und Schiffsschaukeln her, daß er an einer verdächtigen und verhängnisvollen Neigung zur Seekrankheit litt. Also blieb nichts anderes übrig, als dazubleiben und den Kampf durchzustehen, und im Grunde wollte Jochen auch gerade das, denn er war doch reif genug, einzusehen, daß alles andere Flucht gewesen wäre. Die Abenteuer in der Ferne spielten sich nur in seinen Träumen ab. Im Wachsein war er felsenfest entschlossen, sein Schicksal zu mei stern. Zwar war er seinem Vater gegenüber kaum einen Schritt weiterge kommen, aber er hatte ihm auch nicht nachgegeben. Er bot ihm im mer wieder die Stirn. 165
Die Wohnzimmerlampe wackelte unter diesen ständig sich wieder holenden Auseinandersetzungen. Die Mutter pflegte sich schleunigst in die Küche zu verziehen, wenn sie merkte, daß es wieder losging, und Jan postierte sich in der Nähe der Türe, um sich nur ja nichts entgegen zu lassen und sich doch, sobald es allzu brenzlig wurde, jederzeit zu rückziehen zu können. »Aber ich will nicht mehr in die Schule gehen, ich will einfach nicht mehr«, pflegte Jochen starrköpfig zu behaupten. Worauf Herr Körner schrie: »Du bist ein grüner, unreifer Junge, du hast überhaupt nichts zu wollen!« »Du kannst mich nicht zwingen, zu lernen!« »Und ob ich das kann! Ich bin dein Vater, und ich habe zu bestim men, was du tust und läßt, bis du volljährig bist.« »Dann versuch's doch mal!« schrie Jochen. »Ich bin gespannt, wie du das anstellst!« »Indem ich dir ein paar hinter die Ohren gebe, dein Taschengeld sperre … ja, das werde ich tun! Dir geht es viel zu gut, nur darum kommst du auf solch hirnverbrannte Gedanken!« »Taschengeld!« konterte Jochen. »Wenn ich das schon höre! Die paar Mark … was kann ich mir dafür kaufen?! Ein ›Bravo‹ und einmal ins Kino, und schon bin ich wieder blank für eine Woche!« Herr Körner schnappte nach Luft. »Wenn dieses ganze Theater nur den Zweck haben soll, daß ich dein Taschengeld erhöhe, dann hast du dich geschnitten«, brüllte er, »als ich so alt war wie du …« »Da war alles anders, das kann ich schon singen!« schrie Jochen zu rück. »Du erzählst uns ja immer, wie sportlich du damals warst, fleißig und bescheiden … du sagst uns doch immer, daß ihr ganz anders wart als wir heute! Und deshalb …« »Keinen Pfennig kriegst du mehr, keinen Pfennig! Soll ich dir mal vorrechnen, was ich verdiene? Und was mich der Haushalt kostet und eure Kleidung und …« »Aber ich will ja gar kein Geld von dir!« Jochens Stimme schnappte über. »Ich will dir nicht länger auf der Tasche liegen, darum geht es ja gerade! Gib mir doch die Chance, selber etwas zu verdienen …« 166
»Nein, nicht um den Preis, daß einer meiner Söhne Hilfsarbeiter wird!« »Wer spricht denn davon?« rief Jochen – der tatsächlich längere Zeit durchaus mit dem Gedanken gespielt hatte, eine ungelernte, möglichst hochbezahlte Arbeit anzunehmen. »Ich verlange ja nur, daß ich von der Schule fort darf … von mir aus steck mich dann in eine Lehre.« »Kommt gar nicht in Frage.« Soweit waren die Dinge also gediehen, und Jochen mußte sich dar über klar sein, daß er mit seinem Wunsch, einen möglichst einträgli chen Job zu übernehmen, bei seinem Vater auf Granit beißen würde. Er mußte sich eine Lehre suchen. Und er setzte seine Erkenntnis in die Tat um. Zum Arbeitsamt trau te er sich zwar nicht, weil er befürchtete, daß man ihn dort sofort aus quetschen würde, warum er nicht mit seinem Vater oder wenigstens seiner Mutter kam. Aber er studierte eifrig die Anzeigen in den Sams tagsausgaben der Tageszeitungen. Alles das, was ihn auf Anhieb ansprach – ›Abwechslungsreiche Rei setätigkeit‹ – ›Tatkräftiger junger Mann gesucht‹ – ›800,- DM Ver dienst‹ – verbot sich für ihn von selber. Aber dann fand er etwas, was ihm zusagte: »Ein bedeutendes Werk der Feinmechanik sucht Lehrlin ge, Mittlere Reife nicht Bedingung, aber erwünscht.« Das, dachte er, wäre das Richtige für ihn. Am Montagnachmittag fuhr er gleich nach dem Essen mit dem Bus hin. Das hochmoderne Bürogebäude, die hellen Fabrikhallen imponierten ihm sehr. Er hatte nur die eine Angst, zu spät zu kommen und die ausgeschriebene Stel lung schon besetzt zu finden. Aber dann, im Gespräch mit dem Leiter der Personalabteilung, stellte sich heraus, daß das Werk jährlich nicht etwa einen oder zwei, sondern mindestens dreißig einzustellen pflegte. Eine Sekretärin führte ihn dann, zeigte ihm die Arbeitsräume. Büros und Werkhal len wetteiferten miteinander an Sauberkeit. Die überwiegende Mehr heit der Arbeiter und Angestellten waren junge Mädchen und Frau en, die in weißen Kitteln steckten wie ihre männlichen Kollegen. Al les wirkte hygienisch, aufgeräumt, modern – und doch überkam Jo 167
chen immer stärker das Gefühl, daß er sich hier nicht wohlfühlen konnte. Er hätte diesen Eindruck nicht in Worte fassen können, aber all diese fleißig arbeitenden Menschen kamen ihm irgendwie vor wie dressierte weiße Mäuse, die unentwegt ein Rad drehten. Nein, hier waren weder Individualismus noch Originalität gefragt. Wenn er sich hierher ver pflichtete, würde er die Unfreiheit der Schule gegen eine noch wesent lich strengere Disziplin vertauschen. Verdrossen fuhr Jochen wieder nach Hause, warf die Formulare, die man ihm mitgegeben hatte unterwegs zusammengeknüllt in einen Pa pierkorb.
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Die Stellung, die Jochen suchte, fand er zwei Tage später, und zwar ganz durch Zufall – ein Grund mehr für ihn, einen eindeutigen Wink des Himmels darin zu sehen. Er hatte Anita, die nur noch in Gedanken und in der Vorfreude für ihre Geburtstagsparty lebte, von der Schule ein Stück begleitet. Das er gab sich ganz von selbst, einfach daher, daß sie so viel zu reden und zu fragen hatte, und daß es ihn selber keineswegs nach Hause drängte, wo der Vater nur darauf wartete, ihn zu bearbeiten. So kam es, daß er ein ganzes Stück weiter als gewöhnlich an ihrer Seite blieb und auch an der Großgarage und Kraftfahrzeugwerkstät te vorbeikam, die auf dem Heimweg lag. Das eine der beiden eisernen Tore der Einfahrt war geschlossen, und daran hing ein Pappschild, auf das mit großen, ungelenken Buchstaben gemalt stand: »Lehrling ge sucht.« Noch vor einem halben Jahr hätte Jochen dieses Plakat wahrschein lich übersehen, aber jetzt verhielt er unwillkürlich den Schritt, blieb wie angewurzelt stehen. Anita war schon ein paar Meter voraus, ehe sie merkte, daß er ihr nicht folgte. Sie drehte sich um. »Komm doch!« »Nnnnein …«, sagte er nachdenklich. 168
»Mußt du nach Hause? Dann begleite ich dich zum Bus zurück.« »Nicht nötig. Wir sehen uns ja morgen.« »Aber, Jochen …«, begann sie, verstummte, als er sich einfach um drehte und ging. Obwohl sie allerlei Grobheiten von ihm gewohnt war, kränkte sie sich immer wieder, so auch jetzt – aber fast genauso schnell fand sie auch eine Entschuldigung für ihn. Jochen ging mit betont raschen Schritten geradeaus. Erst an der nächsten Ecke blieb er stehen und wandte sich um. Er atmete auf, als Anita verschwunden war. Er rannte bis zur Garage zurück. Schon in dem von den Brandmauern umschlossenen, grau ausbe tonierten Hof stieg ihm jener seltsame Geruch in die Nüstern, eine Mischung von Öl, Schmutz, Benzin und Schweiß, der für ihn etwas Abenteuerliches, Männliches und ungeheuer Anziehendes hatte. Als er in die Halle kam, in der sich Männer in blauen Overalls an und unter verschiedenen Autos zu schaffen machten, verstärkte sich die ser Geruch noch, er wurde so stark, daß er Jochen ganz benommen machte. Er kam sich selbst in seiner hellgrauen Sommerhose mit dem schnee weißen, am Hals offenen Hemd, die Schulmappe unter dem Arm, selt sam fehl am Platze vor, und es kostete ihn Überwindung, sein An liegen vorzubringen. Erst als er merkte, daß er schon neugierig ange starrt wurde, fragte er einen jungen Mann, dessen weißblonder Schopf unter einem Motor herausschaute, nach dem Meister. »Was?« wiederholte der und wischte sich mit der schwarzen Hand, in der er einen großen schweren Schraubenschlüssel hielt, über die Nase, so daß eine zusätzliche Dreckspur auf seinem ohnehin alles andre als sauberen Gesicht entstand. »Ich möchte den Meister sprechen«, wiederholte Jochen mit fester Stimme. »Swihalek?« »Wenn der Meister so heißt …« »Was willst du denn von ihm?« Jochen hatte schon die Antwort auf diese Frage auf der Zunge, als 169
ihm gerade noch rechtzeitig einfiel, daß der junge Mann nicht das ge ringste Recht hatte, ihn zu verhören. »Geht dich das was an?« fragte er frech zurück. »Nee …« »Dann ist es ja gut!« Jochen schritt hocherhobenen Hauptes auf eine schmale Tür im Hintergrund des Raumes zu, aber er fühlte sich durch aus nicht so mutig, wie er tat. Er hatte ein unbehagliches Gefühl zwischen den Schulterblättern, als wenn ihn jeden Augenblick der Schraubenschlüssel von hinten treffen könnte. Aber nichts dergleichen geschah. Er erreichte ungehindert die Türe und stellte, als er sie geöffnet hatte, erleichtert fest, daß Glück oder Instinkt ihn richtig geführt hatten: Ein untersetzter Mann mit einer spiegelnden Glatze, die von einem grauen Haarkranz umgeben war, saß über einem dicken Kontobuch. Er trug keinen Overall, sondern ei nen Anzug im Fischgrätenmuster – er hätte ein Buchhalter sein kön nen, aber seinem Umfang nach tippte Jochen darauf, den Meister vor sich zu haben. Und er hatte sich nicht getäuscht. Er brachte sein Sprüchlein vor, und Meister Swihalek hörte ihn auf merksam an. »Mittlere Reife«, sagte er dann, »gar nicht schlecht … ob wohl, man muß es in den Fingern haben, wenn man ein tüchtiger Me chaniker werden will.« »Ich bin ziemlich geschickt«, erklärte Jochen wahrheitsgemäß. Meister Swihalek musterte den schmalen Jungen von oben bis unten, und Jochen war es, als wenn er förmlich seine Gedanken lesen könnte: Na ja, wenn es zu nichts anderem reicht, zum Auskehren und ein paar Handreichungen wird es allemale noch langen, glaube ich. »Na ja«, sagte der Meister tatsächlich laut, »dann hätte ich schon Lust, es mit dir zu probieren. Ich gebe dir einen Vertrag. Aber natür lich muß dein Vater unterschreiben.« »Ich weiß«, sagte Jochen, und nach einem tiefen Atemzug fügte er hinzu: »Würden Sie … könnten Sie mir die Stelle freihalten, bis …« »Bis wann?« »Bis ich die Unterschrift von meinem Vater bringe.« 170
Die Hängebacken des Meisters begannen zu wabbeln, als er grinste. »Hauptsache, du machst sie nicht selber, Junge!«
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Fest entschlossen, sich auf jeden Fall durchzusetzen, bereit mit allen Mitteln zu kämpfen, so trat Jochen an diesem Abend vor seinen Va ter hin – und war fast enttäuscht, als der erwartete Kampf nicht statt fand. Herr Körner sagte überraschend: »Gut, einverstanden. Du sollst dei nen Willen haben.« Er setzte sich hin, unterschrieb den Lehrvertrag. »Aber komm nur nicht später zu mir und beklag dich. Du bist erwach sen genug, um zu wissen, was du willst … und auch die Konsequen zen zu tragen.« »Danke, Vater«, sagte Jochen und zwang sich zu lächeln – aber es war ihm nicht danach zumute. Eine ungewohnte Bitterkeit stieg in ihm auf, die ihm die Freude an dem schwer errungenen Sieg verdarb, eine böse Vorahnung, sich etwas aufgeladen zu haben, was er nur schwer wür de tragen können. Herr Körner sah ihn an und begriff, was in ihm vorging. Er mach te sich Vorwürfe. Warum hatte er unterschrieben? Weil er der ewigen Auseinandersetzungen müde war, weil er wünschte, daß wieder Frie de in seiner Familie einziehen sollte. Aber auch, weil er sicher war, daß das Leben ein härterer Lehrmeister sein würde, als er es selber seinem Sohn je sein könnte – aber würde Jochen dem gewachsen sein? »Soll ich den Vertrag zerreißen?« fragte er. »Überleg es dir gut, Jo chen, noch ist es Zeit …« Aber Jochen dachte an Sibylle. Er hob den Kopf und blickte seinem Vater gerade in die Augen. »Nein!« Herr Körner zog die Hand zurück, die er schon nach dem unter schriebenen Lehrvertrag ausgestreckt hatte. »Na bitte«, sagte er, »du mußt es ja wissen.« Er wandte sich ab, beugte sich nieder, um den Fern sehapparat anzustellen. 171
Jochen blieb zögernd stehen, irgend etwas würgte ihn in der Kehle. »Vielen Dank auch, Vati«, sagte er mühsam. »Ich bin nicht sicher«, erwiderte Herr Körner, »ob du mir wirklich Dank schuldest. Vielleicht hätte ich unnachgiebiger sein sollen … aber, nun ja … ich mag es nicht, wenn meine Söhne mich hassen!« Er lächel te ein wenig verzagt. Und da tat Jochen etwas, was ihm schon seit langem nicht mehr in den Sinn gekommen war: Er lief zu seinem Vater hin, küßte ihn auf die Wange. Dann drehte er sich um und rannte aus dem Zimmer. Herr Körner sah ihm mit einem schweren Seufzer nach.
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Jochen sprach mit keinem Außenstehenden über die große Wendung, die sein Leben nehmen sollte – weder mit Artur, noch mit Peter, und schon gar nicht mit Anita. In der Tatsache, daß er nun bald Geld ver dienen und aufhören würde, ein Schuljunge zu sein, sah er den ein zigen Trumpf, Sibylle zurückzugewinnen – und er war entschlossen, diesen Trumpf so wirkungsvoll wie möglich auszuspielen. Sein anfängliches Unbehagen hatte sich in nichts aufgelöst, und jetzt war es nicht mehr er, dessen Ungebärdigkeit den Familienfrieden stör te, sondern Jens, der seiner schlechten Laune immer wieder freien Lauf ließ. Claudia Miller hatte nach jener heftigen und, wie er jetzt selber ein sah, völlig unnötigen Auseinandersetzung nichts mehr von sich hö ren lassen, und er vermißte sie sehr. Er stellte mit Schrecken fest, daß die Freiheit, nach der er sich in Claudias Gegenwart so oft gesehnt hat te, nichts bedeutete, mehr noch, er wußte nichts mehr mit sich anzu fangen. Die Freunde von früher schienen ihm jetzt beinahe geistig zurückge blieben, die Mädchen völlig uninteressant, und jeden Abend zu Hause im Kreis der Familie zu sitzen, das war ja wohl das allerletzte. An seinem Arbeitsplatz im Kaufhaus ›Karmann‹ mußte er ständig auf Draht sein, da hatte er weder Zeit noch Gelegenheit, seinen trü 172
ben Gedanken nachzuhängen. So ließ er denn, weil er irgendein Ven til brauchte, seine schlechte Laune zu Hause an den Eltern und an den Brüdern aus – und verachtete sich selber, weil er klar erkannte, wie un reif und kläglich diese Haltung war. Aber er wurde einfach nicht mit sich selber fertig. Als Jochen am Nachmittag von Anitas Geburtstag – es war ein Sams tag, und die Party sollte früh beginnen, weil Anitas Eltern bei aller Großzügigkeit verhindern wollten, daß sie bis in die Nacht hinein dau ern würde – in das Zimmer von Jens kam, lag der große Bruder ohne Schuhe und mit offenem Hemd auf dem Bett ausgestreckt und las. Jochen war längst umgezogen. Er trug seinen guten schwarzen An zug, den er aus Anlass der Tanzstundenbälle bekommen hatte – Anita hatte ihm diesen Tip gegeben, weil sie wußte, daß ihre Eltern sehr viel Wert auf äußere Formen legten. Er war ganz erstaunt, Jens so gleich gültig und unvorbereitet zu finden. »Was ist denn?« sagte er. »Hast du vergessen, daß wir heute …« »Ach, lass mich doch in Ruhe«, erwiderte Jens bösartig. »Du willst also nicht mit?« »Habe ich niemals im Ernst vorgehabt.« Jochen trat vor den Spiegel, zog sich seine Smokingschleife zurecht. »Na, weißt du«, sagte er unwillig, »das hättest du mir aber auch früher sagen können.« Jens war einigermaßen überrascht. Er hatte erwartet, daß der jünge re Bruder bitten und betteln würde. Aber nichts dergleichen geschah. Jochen beugte sich über ihn, gab ihm einen brüderlichen Knuff ge gen die Schultern und sagte: »Na dann, Alter, mach's gut. Ich hau' jetzt ab …« Die halb angelehnte Tür wurde von außen aufgerissen, und Jan platz te in das Zimmer – seine schwarzen Locken waren zerwuschelt, sei ne Augen funkelten vor Unternehmungslust. »Du, Jochen«, schrie er, »wenn Jens nicht will, dann nimm mich doch mit!« Die beiden lachten. »Du spinnst ja wohl«, sagte Jochen und zog ihm die Ohren lang. »Aber überhaupt nicht«, rief Jan eifrig, »es fehlt euch doch ein Junge, 173
das ist der Grund, warum ihr Jens dabeihaben wollt, und da kann ich doch genauso …« Er hatte so rasch geredet, daß ihm die Luft ausging. »Kannst du denn tanzen?« fragte Jochen ernsthaft. »Nnnnein«, mußte Jan zugeben. »Aber«, fügte er eilig hinzu, »das bißchen Hüpfen kann doch nicht schwer sein, ich werde es einfach ver suchen … oder ich kann auch das Tonband bedienen oder was ihr da habt …« Jens war dankbar dafür, daß Jan ihm ungewollt Gelegenheit gab, sei nen Standpunkt zu ändern. »Na, dann werde ich doch lieber«, sagte er und schwang seine Füße auf den Boden, »entschuldige schon, aber du scheinst mir doch noch nicht ganz der geeignete Ersatzmann!« »Och«, sagte Jan enttäuscht. »Du willst also doch mit?« fragte Jochen. »Dann mußt du dich aber beeilen.« Jens zog die Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammen und starrte ihn prüfend an. »Sag mal, mir scheint, du legst gar keinen ge steigerten Wert darauf, daß ich dich begleite?« Jochen errötete leicht und wich dem Blick seines Bruders aus. »Dann hätte ich dich ja gar nicht aufgefordert«, behauptete er. Jens legte ihm die Hand auf die Schulter. »Keine Angst, ich werde dich nicht bei deinem Mädchen ausstechen …« Er grinste. »Diese Si bylle gehört einem Jahrgang an, der mir entschieden nicht liegt.« »Aber vielleicht liegst du ihr«, entschlüpfte es Jan. Jens war dabei, sich sein Hemd über den Kopf zu ziehen. »Hör mal, Kleiner«, sagte er, »du mischst dich da in Sachen, die dich nichts an gehen und von denen du auch noch nichts verstehst … zumindest nichts verstehen solltest.« Er warf das Hemd auf das Bett, trat an den Waschtisch und steckte den elektrischen Rasierapparat ein. »Manch mal habe ich das Gefühl, es ist höchste Zeit«, brüllte er über das Ge räusch des Apparates hinweg, »daß dir jemand eine Lehre verpasst, die du …« Die weiteren Worte konnte er sich schenken, denn Jan hatte es für richtig gehalten, sich heimlich, still und leise zu entfernen. Jochen lachte. Er war auf einmal ehrlich froh, daß Jens mitkam. Be 174
stimmt würde ein so erwachsener und selbstsicherer Bruder sein eige nes Ansehen heben. »Du kannst ruhig mal mit Sibylle tanzen«, sagte er großzügig, »ich wäre dir sogar sehr dankbar, wenn du ihr auf den Zahn fühlen würdest. Aber du mußt mir nachher ehrlich sagen, was du von ihr hältst …« »Aber ja doch«, versprach Jens, »Ehrensache …«
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Anitas Eltern waren zwar nicht reich in dem Sinne, daß sie ein großes Vermögen gehabt hätten, aber ihr Vater verdiente als Generalvertreter eines Markenartikels sehr gut, so daß sich die kleine Familie – Anita war die einzige Tochter – einigen Luxus erlauben konnte. Sie bewohnten eine große elegante Wohnung in der vorneh men und ruhigen Kastanienallee, und als Jochen klingelte, wurde ihm und Jens wenig später von einer Hausangestellten in schwar zem Kleid, weißem Schürzchen und Häubchen geöffnet, die ihnen, wenn auch ohne besondere Freundlichkeit, die Mäntel abnahm. Sie war eine knochige, energische Person namens Alma, die gewöhnlich Anitas zarter, stets ein wenig kränkelnden Mutter die Haushaltsfüh rung abnahm. Das alles hatte Anita Jochen bei Gelegenheit erzählt, ohne daß er recht hingehört hatte. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Er kannte alles – die geräumige Garderobe und den bunt ausgekachelten Waschraum für Gäste, die Diele mit dem riesigen offenen Kamin, in die Alma sie jetzt führte, aus Anitas Erzählungen, ohne je da gewesen zu sein. Ob wohl er neugierig genug war, das alles in Wirklichkeit zu betrachten, wagte er nicht, sich richtig umzusehen, weil ihm das ungehörig vor kam, während Jens offen und interessiert die Räumlichkeiten in Au genschein nahm. Vor dem Kamin wurden sie von der errötenden Anita in Empfang genommen, die in einem silbern schimmernden Kleid sehr, sehr gut aussah, und zu ihren Eltern geführt. Im Gegensatz zu der sehr blas sen, sehr schmalen, nervös und zaghaft wirkenden Mutter war der Va 175
ter ein kräftiger lebendiger Mann von überströmender Vitalität, des sen schallende Stimme die große Diele erfüllte. Jochen und Jens bekamen beide zu spüren, daß sie sichtlich Gnade in den Augen dieses so gegensätzlichen Paares gefunden hatten, und wurden von Anita in den nächsten Raum geschleust, wo sich schon eine Menge anderes junges Volk tummelte. Man knabberte Erdnüsse und Crackers, schlürfte Getränke alkoho lischer und nichtalkoholischer Art, schielte begehrlich zu dem kalten Büfett hinüber, das auf einem langen weißgedeckten Tisch ungemein verlockend aufgebaut war. Eine echte Stimmung wollte nicht in Gang kommen, obwohl sich der Raum – er war durch eine weit geöffnete Schiebetüre mit dem Nebenzimmer verbunden, in dem die Teppiche aufgerollt waren – mehr und mehr füllte. Jochen sprach mit diesem und jenem, machte Jens bekannt, hielt da bei aber die Eingangstüre unentwegt im Auge. Er wartete auf Sibylle. Sie kam so ziemlich als letzte, in einem gerade geschnittenen hell blauen Leinenkleid, nicht halb so elegant wie Anita – und doch, wie schön war sie in Jochens Augen! Das ärmellose Kleid gab ihre schlan ken Arme mit der glatten bräunlichen Haut frei, aus dem großen run den Ausschnitt stieg der schlanke Hals mit dem stolzen kleinen Kopf. Sibylles Gesicht wirkte klar und unbefangen. Sie hatte kaum Make-up aufgelegt, und ihr einziger wirklicher Schmuck war das blonde schim mernde Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel. Sie hatte nicht einmal Strümpfe angezogen, aber sie konnte ihre schlanken braunen Beine auch so sehen lassen. »Ist sie das?« flüsterte Jens seinem Bruder zu. Jochen sah ihn ganz verdutzt an. »Woher weißt du …?« Jens grinste. »Es steht dir im Gesicht geschrieben.« Anita klatschte in die Hände. »Ich glaube, jetzt sind wir alle versam melt«, rief sie, »wollen wir nicht tanzen?« Sie wartete keine Antwort ab, lief ins Nebenzimmer, stellte den Plattenspieler an. Jochen trat auf Sibylle zu, noch ehe der erste Ton erklang. »Wollen wir?« »Bitte«, sagte sie ziemlich kühl. 176
Anita hatte, zum Anwärmen, einen ziemlich wilden Twist gewählt, und so kam es, daß sich für Jochen die ersehnte Gelegenheit für ein Gespräch noch nicht ergab. Erst bei der nächsten Platte, einem Blues, konnte er sie einhaken. »Ich wundere mich, daß du ganz allein hier bist …« »Findest du?« fragte sie mit gespieltem Erstaunen. »Ich sehe hier eine ganze Menge Figuren.« »Daß du allein gekommen bist, meine ich …« »Auch nicht. Mich hat Gisela Nolte abgeholt … du brauchst dich gar nicht umzusehen, die kennst du doch nicht. Ist eine alte Freundin von Anita und mir.« Jochen ließ nicht locker. »… ohne Karl-Heinz Scheiner!« »Das wundert dich?« gab sie ziemlich hochnäsig zurück. »Karl-Heinz und ich sind privat kaum je zusammen gewesen …« »Hört, hört!« warf er spöttisch ein. Aber sie ließ sich nicht unterbrechen. »… und in letzter Zeit habe ich ihn überhaupt nicht mehr gesehen.« Er wagte es kaum, seinen Ohren zu trauen. »Ich dachte, ihr wolltet zusammen trainieren. Das hast du doch damals gesagt.« »Stimmt auffallend, das hatten wir vor. Aber daraus ist dann doch nichts geworden.« »Hat er ein anderes Mädchen gefunden?« Sie hob den Kopf, sah ihm gerade in die Augen. »Glaubst du das im Ernst?« »Nein«, gab er zu, »du gehörst nicht zu denen, die man stehenläßt.« Sie konnte ein geschmeicheltes Lächeln nicht unterdrücken. »Sagen wir lieber … Karl-Heinz Scheiner gehört nicht zu den Männern, von denen ich mich stehen lassen würde.« »Aber dann?« Sie zuckte die samthäutige Schulter. »Ach, weißt du, ich bin einfach darauf gekommen, daß Tanzen kein Spaß mehr ist, wenn man es so ernsthaft betreibt.« Er zog sie enger an sich. »Ich bin froh darüber«, flüsterte er, »sehr froh …« Er spürte ihr weiches blondes Haar an seiner Wange, sein 177
Atem ging rascher, und es war ihm, als begänne das Blut in seinen Adern schneller zu kreisen. Sie löste sich von ihm, ging auf Abstand. »Es tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muß, Jochen«, sagte sie sehr ernst, »aber das ändert nichts zwischen uns beiden.« Er wurde vor Erregung blass, seine blauen Augen bekamen einen schwarzen, metallischen Glanz. »Doch«, sagte er, »es wird sich alles ändern, ich bin ganz sicher! Ich … habe über alles nachgedacht, Sibyl le, und ich bin dir jetzt nicht mehr böse …« »Wie reizend von dir«, sagte sie mit mühsamem Spott. »Wirklich nicht, es hat etwas länger bei mir gebraucht, aber ich … ich verstehe jetzt alles!« »Um so besser für dich. Dann wirst du wohl einsehen, daß es keinen Zweck mit uns beiden hat.« »So wie es war, Sibylle, wirklich nicht. Aber … ich bin jetzt kein Schuljunge mehr! Ich habe mich entschlossen, mit der mittleren Rei fe abzugehen …« »Soll ich dir dazu gratulieren oder dich bemitleiden?« Jochen blieb mitten im Tanz stehen, so daß sie fast gestolpert wäre. »Du sollst begreifen, daß ich es nur deinetwegen getan habe!« »Meinetwegen?« Sie rief es so laut, daß neugierige Blicke zu ihnen her überflogen. »Du mußt verrückt sein, wenn du so etwas behauptest!« »Und doch ist es wahr!« Er packte sie beim Arm, schob und zerr te sie auf die offene Balkontüre zu, an der sie eben vorbeigetanzt wa ren. »Ich habe eine Stellung angenommen, damit ich dir etwas bieten kann …!« »Wenn das so ist«, erwiderte sie beherrscht, »solltest du das schleu nigst wieder rückgängig machen!« »Aber wieso denn, ich denke nicht daran!« »Warte nur erst mal, was ich dir zu sagen habe! Wenn du ein biß chen vernünftiger wärst, würde es dir nicht im Traum einfallen, ein fach Pläne über meinen Kopf hinweg zu machen … also sei jetzt still, lass mich erst mal reden!« Sie legte ihm den Finger auf den Mund. »Ich bleibe nämlich gar nicht hier, ich gehe auch weg von der Schule …« 178
Er war so sprachlos, daß er im ersten Augenblick keine Worte fand. »Aber nicht deinetwegen, bestimmt nicht«, sagte sie, »ich bin ein fach keine solche Leuchte, daß sich eine wissenschaftliche Laufbahn für mich lohnen würde, und wenn doch alles darauf hinausläuft, daß ich eines Tages im Büro lande, dann kann ich mir ja auch den Umweg über das Abitur ersparen.« Es würgte ihn in der Kehle. »Aber das«, sagte er mühsam, »hindert uns doch nicht daran, uns trotzdem zu sehen.« »O doch«, sagte sie, »ich habe dir doch schon einmal gesagt … ich bleibe nicht hier. Ich gehe in den Schwarzwald auf eine erstklassige hö here Handelsschule. Meine Mutter hat mich schon angemeldet.« »Nein!« stieß er hervor. Sie stand vor ihm, kaum einen halben Meter von ihm entfernt. Ihr blondes Haar schimmerte in dem goldenen Lichtschein, der aus dem Zimmer fiel, ihre Augen leuchteten geheimnisvoll – sie war ihm noch nie so schön und begehrenswert erschienen. »Bitte«, flehte er, »sag ab … meinetwegen! Sibylle …« Sie schüttelte den Kopf, daß ihre Haare flogen. »Unmöglich!« »Sibylle … du kannst doch nicht alles vergessen haben!« Er riß sie in die Arme, wollte sie küssen – aber ein doppelter Schmerz ernüchter te ihn jäh. Sie hatte ihn gegen das Schienbein getreten und ihm gleichzeitig eine Ohrfeige verpasst. »Tut mir leid«, sagte sie, »aber wie hätte ich mich anders wehren sol len? Erkundige dich das nächste Mal, wenn du ein Mädchen küssen willst, ob es auch erwünscht ist!« Und sie stolzierte an ihm vorbei in den Tanzraum zurück. Er folgte ihr erst fünf Minuten später, als ein anderes Paar auf den Balkon hinaustrat, und noch immer hatte er das beschämende Gefühl, daß seine Wange von Sibylles Schlag brannte.
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Anita, die zwischen den anderen herumgeflattert war, um sich Gewis sheit zu verschaffen, daß es auch niemandem an irgend etwas fehlte, kam auf ihn zu. »Oh, Jochen, wo warst du denn? Wollen wir mitein ander tanzen?« »Später«, murmelte er mit abgewandtem Gesicht und bahnte sich seinen Weg zur Garderobe. Er verschwand im Waschraum, kühlte sein Gesicht, vergewisserte sich, als er wieder herauskam, daß die Luft rein war, griff sich seinen Mantel und ging. Für ihn war die Party aus.
Jens hatte seinen Bruder in die Diele hinausstürmen sehen, aber er hat te sich nichts dabei gedacht, und es dauerte noch eine ganze Weile, bis er begriff, daß Jochen endgültig gegangen war. Inzwischen beobachtete er mit der Überheblichkeit seiner fortge schrittenen Jahre die jungen Leute ringsum. Tatsächlich waren sie ja im Durchschnitt nur drei oder vier Jahre jünger, dennoch kam er sich ihnen gegenüber wie ein uralter, erfahrener Mann vor. Er begriff beim besten Willen nicht, wie Anitas Eltern – diese Greise – es wagen konn ten, sich unter die Gäste ihrer Tochter zu mischen. Doch sie taten es. Ihr Vater schwenkte Sibylle herum, ungeschickt und tapsig zugleich, und ihre Mutter plauderte mit einem schmalen blonden Jungen – mütterlich!? Oder versuchte sie sogar einen Flirt? Bei alledem war es kein Wunder, daß keine richtige Stimmung auf kommen wollte. Die jungen Leute fühlten sich durch die Anwesenheit der Eltern, mehr noch wahrscheinlich durch die guten Manieren und die missbilligenden Blicke der Hausangestellten gestört. Sie stürzten sich zwar wie die ausgehungerten Wölfe auf das köstli che kalte Büfett, als Anitas Mutter das Zeichen dazu gab, aber sie ver tilgten es mit wahrer Zerstörungswut, ohne auch nur die leiseste Spur von Heiterkeit und Gelöstheit. Anita war überhaupt nicht mehr zu sehen, und, als sie zurückkam – von all den appetitlichen Schnittchen, Salaten, Cremes und Puddings 180
war inzwischen nicht mehr viel übrig geblieben –, hatte sie verwein te Augen. Dann wurde wieder getanzt, und jetzt endlich entschloß sich Jens, ei nes der Mädchen aufzufordern – nicht Sibylle, deren gute Laune offen sichtlich nicht echt war, auch nicht Anita, die ihre Enttäuschung nicht verbergen konnte. Nein, er entschied sich für ein mageres, blasses Ding mit einem glatten dunklen Pagenkopf, die, wie er aufgeschnappt hat te, Gisela Nolte hieß. Gisela war im Gegensatz zu den anderen Mädchen überhaupt nicht geschminkt, sie hatte nicht einmal Lippenstift oder Wimperntusche benutzt und wirkte dementsprechend unscheinbar. Sie trug ein ge punktetes Kleid, das um ihre magere Figur schlotterte. Es war hochge schlossen und mit einem braven weißen Krägelchen geschmückt. Jens durchschaute mit einem Blick, daß Gisela nicht zu den Mädchen gehörte, die sich nach eigenem Geschmack anziehen durften, sondern daß sie das tragen mußte, was die Eltern vorschrieben: »Entweder du ziehst das gepunktete Kleidchen an, oder du bleibst überhaupt zu Hau se! Als ich so alt war wie du …!« – Arme Gisela! Ihre Freunde und Freundinnen schienen für diese Zwangslage kein Verständnis zu haben. Die Jungen beachteten Gisela überhaupt nicht, und die Mädchen kamen nur hin und wieder zu ihr, um ihr mit glü henden Wangen etwas anzuvertrauen – Gisela war die einzige, die not gedrungen Interesse für ihre Erlebnisse zeigte. Sie schien sich gar nichts zuzutrauen, hatte sich völlig mit ihrer Si tuation als Mauerblümchen abgefunden. Selbst als die anderen sich ungehemmt auf das prächtig aufgebaute kalte Büfett stürzten, knab berte sie nur ein bißchen herum – nicht, weil sie keinen Appetit ge habt hätte, sondern einfach, weil ihr niemand etwas anbot, weil sie nicht genug Ellenbogenkraft besaß, um sich nach vorne durchzu drängen. Jetzt, als die meisten wieder auf der Tanzfläche waren, strich sie mit einem Pappteller in der Hand um das Büfett herum, das aussah, als wenn die Vandalen darin gehaust hätten. Sie versuchte, sich aus den Resten eine kleine Mahlzeit zusammenzustellen – natürlich war das 181
beste längst weg, und übrig geblieben nur, was die anderen nicht so sehr geschätzt hatten. Jens drückte seine Zigarette aus und trat auf sie zu. »Darf ich bit ten …« Sie war so überrascht, daß der Teller in ihrer Hand zu zittern be gann und der Kartoffelsalat fast auf den Teppich geglitten wäre – ge rade noch im letzten Moment gelang es ihr, ihn wieder auszubalancie ren. »Ich … aber …«, stotterte sie. Jens nahm ihr den Teller aus der Hand, stellte ihn fort. »Na, kom men Sie schon!« »Ich …«, gestand sie, töricht verlegen, »… also, eigentlich kann ich gar nicht tanzen!« Er sah sie mit gespieltem Ernst an. »Woher wissen Sie das?« »Nun … ich … ich habe es nicht gelernt.« »Aber Sie haben doch schon mal getanzt?« »Nein, ich … ich sage Ihnen doch, ich kann's nicht und …« Gisela wollte wieder nach dem halb gefüllten Pappteller greifen. Jens fiel ihr in den Arm. »Niemand weiß, ob er tanzen kann oder nicht, bevor er es versucht hat«, dozierte er. »Also kommen Sie! Wir werden es jetzt miteinander ausprobieren.« Er nahm sie bei der Hand und führte sie ins Nebenzimmer zu der improvisierten Tanzfläche. Aus dem Plattenspieler erklang ein Mambo, und Anita und ihre Gä ste verrenkten sich dabei mit heißem Bemühen die Glieder. Aber fast jeder schien eine eigene Vorstellung darüber zu haben, wie ein Mam bo getanzt wird. »Sehen Sie sich das an, Gisela«, sagte Jens lehrhaft, »und Sie haben ei nen Begriff davon, was man heutzutage außerhalb der Tanzstunde un ter Tanzen versteht … jeder hüpft auf seine Weise! Deshalb erste Re gel für Anfänger: Fürchte nicht, dich zu blamieren. So schlecht kannst du gar nicht tanzen, daß du nicht hinterher den anderen noch erklären könntest, deine Art sei die einzig richtige gewesen!« Gisela lachte und wirkte auf einmal beinahe hübsch. »Na, sehen Sie, so gefallen Sie mir schon besser!« Er zog sie mit sich 182
zum Plattenspieler, wählte unter den Stößen von Platten einen zah men Foxtrott aus und kümmerte sich darum, daß er als nächster auf gelegt wurde. »Sie brauchen gar nichts zu tun, als sich von mir führen zu lassen … wie bei einem Spaziergang! Und natürlich locker lassen … wie beim Küssen!« Gisela wurde rot bis an die Wurzeln ihres glatten dunklen Haares, und Jens dachte belustigt und ein bißchen gerührt: Geküsst hat sie an scheinend auch noch nicht! Zuerst ging es schlecht. Gisela war furchtbar verkrampft. Aber Jens tat das einzig Richtige: Er lobte sie trotzdem. »Na, sehen Sie, es geht ja wunderbar«, sagte er. »Merken Sie es jetzt selber? Es ist gar nichts dabei.« »Ich … finden Sie aber nicht, daß ich viel zu steif bin?« »Ach was. Es kommt ja nicht auf die sportliche Tüchtigkeit an, son dern einzig und allein, daß man ein Gefühl für den Rhythmus hat … und das haben Sie!« Und tatsächlich, unter der sicheren und gekonnten Führung ihres Partners und unter seinen anfeuernden Worten vergaß Gisela ihre Scheu, ihre Verkrampfung löste sich – und plötzlich stellte sie zu ihrer eigenen Verblüffung fest, daß sie sich leicht und ganz beschwingt be wegte. »Das klappt ja herrlich!« rief sie begeistert. Er mußte über ihren Eifer lächeln. »Ja«, sagte er, »ganz prächtig!« Sie wäre am liebsten gar nicht mehr von der Tanzfläche weggegan gen. Aber er hatte einen anderen Vorschlag. »Wir sollten die Tapeten wechseln … Finden Sie nicht auch, daß es hier langweilig ist?« Sie sah sich um, als wenn sie aus einem Traum erwachte. »Langwei lig?« wiederholte sie ganz erstaunt. »Ich habe mich in meinem Leben noch nie so gut amüsiert!« »Mir geht's gerade so«, behauptete er, »aber mit Ihnen … nicht mit diesem langweiligen Volk hier. Deshalb schlage ich vor: Wir holen un sere Mäntel und gehen.« 183
»Aber … das wäre unhöflich«, protestierte sie. »Na, schön, wenn Sie ein so gut erzogenes kleines Mädchen sind, dann machen wir es eben anders: Wir werden uns ganz offiziell ver abschieden. Sie werden sagen, daß Sie schon nach Hause müssen, und ich werde Sie begleiten.« Gisela zögerte noch. »Und wohin wollen wir dann?« »In den ›Papagei‹«, sagte Jens. Das gab den Ausschlag. Der ›Papagei‹ war die eleganteste Tanzbar in der Stadt, für Gisela und ihre Altersgenossinnen ein verschlossenes Paradies. Nichts konnte sie jetzt mehr zurückhalten, Jens zu begleiten, und sie belog Anita und ihre Eltern mit einer Selbstsicherheit und Zungenfer tigkeit, die sie sich selber nie zugetraut hätte. Als Jens dann auch noch ein Taxi herbeiwinkte, fühlte sie sich wie im siebten Himmel.
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Gisela war sicher, daß sie diesen Abend niemals vergessen würde. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich umworben und als Frau be handelt – und dazu noch von einem so gut aussehenden und überlege nen Mann, so wie es Jochens großer Bruder war. Aber auch für Jens selber wurde der Abend zu einem wirklichen Er lebnis. Wie anders war es, mit Gisela auszugehen, die alles mit jungen frischen, begeisterungsfähigen Augen sah, als mit Claudia! Er wußte genau, daß Claudia die Band im ›Papagei‹ mittelmäßig ge funden haben würde – er tat es ja selber im Grunde auch –, das Steak, das er bestellt hatte, fade und das Publikum spießig. Aber für Gisela war alles überwältigend: die schwarze gläserne Tanzfläche, die Band in ihren eleganten roten Jacken, die Flasche Sekt, die Jens spendierte, die schummrige Beleuchtung. Sie war einfach hingerissen, und ihre Begei sterung steckte Jens an. Nur mit Rücksicht auf sie drängte er kurz nach Mitternacht zum Aufbruch. »Ich fürchte, wir müssen jetzt gehen … du bekommst sonst 184
Ärger zu Hause, Gisela!« – Sie waren inzwischen längst beim Du ange langt, und er wußte das meiste über ihre liebevollen und sehr besorg ten Eltern. »Das macht nichts«, erwiderte sie lachend, »Ärger bekomme ich so und so! Ich wette, sie haben inzwischen schon bei Anita angerufen.« »Ein Grund mehr für dich, sofort nach Hause zu gehen.« Er zahlte diskret wie ein Kavalier, aber er las in Giselas Augen, daß sie ahnte, ein wie teurer Abend das für ihn gewesen war und daß sie ihm dafür dankte und ihn bewunderte – finanzielle Großzügigkeit wäre wohl das letzte gewesen, womit er der tüchtigen Claudia hätte imponieren können. Dann schlenderten sie Arm in Arm durch die nächtlichen Straßen. Es war eine warme Sommernacht, rund und gelb stand der Mond am Himmel – eine Nacht wie geschaffen für Verliebte. Jens blickte auf Gisela herab, auf ihr pikantes, noch fast kindliches Profil unter dem schwarzen Pagenkopf. Es rührte ihn, wie sie sich be mühte, mit seinen langen Beinen Schritt zu halten. Sie summte einen Schlager vor sich hin, einen langsamen Walzer, zu dem sie Wange an Wange getanzt hatten: »Nie hast du gefragt, ob ich dich liebe …«, brach plötzlich ab. »Oh, Jens, wie schade, daß wir schon nach Hause gehen müssen. Ich hätte die ganze Nacht mit dir durch tanzen können!« »Ich auch«, sagte er lächelnd, »aber weißt du … immer, wenn es am schönsten ist, soll man Schluß machen.« Sie warf ihm einen schrägen, überraschend koketten Blick zu: »Im mer?« »Hat dir das deine Mutter nie gesagt?« »Ach, Mutti«, erklärte sie wegwerfend, »wenn ich auf all das hören wollte, was sie mir sagt. Dann müßte ich ja glauben, daß alle Jungen so 'ne Art reißende Wölfe wären.« Sie lachte übermütig auf. »O je, wenn sie wüsste, daß ich mit einem wildfremden Mann unterwegs bin! Eine Vergewaltigung wäre das mindeste, was sie befürchten würde.« Ihn überkam ein unbehagliches Gefühl, gerade so, als wenn er wirk lich nichts Gutes mit ihr vorgehabt hätte, was aber tatsächlich durchaus 185
nicht der Fall gewesen war. »So ganz unrecht hat deine Mutter nicht. Jun ge hübsche Mädchen wie du können gar nicht vorsichtig genug sein.« Aber sie lachte wieder nur unbekümmert. »Das sagst ausgerechnet du mir? So ein Blech. Wenn ich nicht mit dir gegangen wäre, hätte ich diesen einmaligen, wunderbaren, unvergesslichen Abend nie erlebt!« Sie blieb stehen, sah ihn an – ihre dunklen Augen leuchteten geheim nisvoll, ihr Lächeln war voller Verlockung. Er wußte, daß es falsch war, und doch konnte er nicht anders, als auf ihr Spiel eingehen. »Du hast also gar keine Angst?« fragte er. »Vor dir nicht!« Ihm fiel etwas ein, womit er sie ernüchtern konnte: »Und wenn ich dir jetzt sagte: Komm mit mir nach Hause, lass uns noch eine Tasse Kaffee zusammen trinken?« Das Licht in ihren Augen erlosch. »Jetzt?« fragte sie erschrocken. »Mitten in der Nacht?« Nun lachte er. »Also doch«, sagte er. »Ich hätte mich auch gewun dert, wenn es anders gewesen wäre.« Er zog ihre Hand wieder unter seinem Ellenbogen durch, schritt weiter. »Ich …«, stotterte sie, »bitte versteh mich nicht falsch, Jens … ich würde wirklich mit zu dir kommen! Bloß, es ist doch jetzt schon so spät, und wenn ich um diese Zeit Kaffee trinke, kann ich hinterher kein Auge zu tun …« »Halt den Schnabel«, sagte er freundschaftlich, »du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du hast völlig normal reagiert. Es war bloß al bern von dir, eine skrupellose Sexbombe spielen zu wollen!« »Das habe ich nicht getan!« protestierte sie empört. »Wenn du das nicht wolltest, dann sei in Zukunft vorsichtiger mit dem, was du daherredest«, sagte er und kam sich sehr überlegen, fast väterlich dabei vor. Ihre kleine kalte Hand schlüpfte in seine. »Sei mir nicht mehr böse, Jens«, bat sie. Seine kräftigen warmen Finger schlossen sich um ihre Hand. »Un sinn, bin ich ja gar nicht. Ganz im Gegenteil, ich finde dich nach wie vor sehr süß.« 186
Mehr nicht? hätte sie beinahe gefragt, aber sie biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Lippen. Sie hatte schon einen Fehler gemacht. Jens sollte nur ja nicht denken, daß sie sich ihm an den Hals warf. »Danke«, sagte sie beherrscht, »sehr schmeichelhaft!« Eine ganze Weile gingen sie schweigend und rasch nebeneinander her. Giselas Gedanken kreisten nur um Jens: Ob er sich wirklich etwas aus ihr machte? Aber sonst wäre er doch nicht mit ihr von der Party fortgegangen. Warum gerade mit ihr? Sie wurde doch sonst nie beson ders beachtet. Aber heute Abend fühlte sie sich ganz anders, selbstsi cher, erwachsen. Ob das vom Sekt kam? – Ach, am liebsten wäre sie nie, nie mehr nach Hause gegangen. Die ganze Nacht hätte sie so schwei gend an der Seite von Jens laufen mögen. Woran er jetzt wohl dachte? Aber das sollte sie nie erfahren. »Da vorne wohne ich«, sagte sie, »in dem Haus neben dem Eck haus … dritter Stock! Gott sei Dank, es brennt kein Licht mehr. Meine Eltern sind schlafen gegangen.« »Freut mich für dich«, sagte er trocken. In den letzten Minuten war etwas Seltsames in ihm vorgegangen. Er hatte plötzlich Sehnsucht nach Claudia bekommen. So viel Sehnsucht wie in den ganzen letzten Wochen nicht mehr. Sie blieb stehen. »Du brauchst mich nicht länger zu begleiten«, sagte sie, »ich meine, es ist besser, wir trennen uns jetzt schon …« »Für den Fall, daß dein Vater oder deine Mutter hinter der Gardi ne lauert?« Sie zog ihn aus dem Lichtkreis einer Laterne. »So ungefähr.« Er schlang die Arme um sie, zog sie an sich, schnupperte den jun gen Duft ihrer Haut, ihres Haares, hätte sie gerne geküsst und spürte auch, daß sie darauf wartete. Aber irgend etwas hielt ihn zurück. Ge wissensskrupel? Wie kam er denn dazu? Er versuchte, sich an die Zahl der Mädchen zu erinnern, die er schon geküsst hatte, ohne sich das ge ringste dabei zu denken. Aber dies hier war etwas anderes. Gisela er wartete zuviel von ihm, und sie bedeutete ihm zu wenig. Bestimmt war sie noch nie geküsst worden, und er wollte nicht der erste sein – der er ste Mann, der sie enttäuschte. 187
»Gute Nacht, Kleines«, sagte er, und seine Lippen berührten flüchtig ihre Stirn, ihre Schläfen. Überraschend preßte sie ihren Mund auf seine Lippen, riß sich los und rannte davon. Er blieb stehen, sah ihr nach, bis sie im Schatten des Haustors ver schwand. Dann machte er sich auf den Heimweg. Verrücktes kleines Ding, dachte er nicht ohne Zärtlichkeit und – hatte sie fünf Minuten später fast vollständig vergessen.
Zwei Straßen weiter erwischte Jens ein Taxi, und als er vor dem Hoch haus in der Parkstraße ausstieg, war es kurz vor ein Uhr nachts. Er entlohnte den Fahrer, schritt auf das Haus zu. Er hatte noch immer die beiden Schlüssel – den einen für die Eingangstür, die nachts verschlos sen war, den anderen für den Lift, der geradewegs in Claudias Woh nung führte. Aber er wollte sie nicht überrumpeln. Er klingelte in der Halle nach oben, wartete, bis ihre Stimme aus dem Lautsprecher ertönte – durch aus nicht verschlafen, sondern überraschend wach, als wenn sie seinen späten Besuch geradezu erwartet hätte. »Guten Abend, Claudia«, sagte er, »hier ist Jens … darf ich hinauf kommen?« Eine atemlose Stille entstand. Jäh zuckte Jens der Verdacht durch den Kopf: Sie ist nicht allein. Sie hat schon Ersatz für mich gefunden – deshalb, nur deshalb ist sie um diese Zeit noch so munter! Und deshalb weiß sie jetzt nicht, was sie antworten soll! – Die Eifersucht, die ihn überfiel, war so schmerzlich, daß er die Zähne aufeinander beißen mußte, um nicht laut aufzustöh nen. »Wenn es dir allerdings nicht passt …« sagte er mühsam. »Doch«, sagte sie, und ihre Stimme klang unnatürlich gelassen, »wa rum nicht. Komm nur herauf.« Das Klicken im Lautsprecher verriet ihm, daß sie oben den Hörer aufgelegt hatte. 188
Während er im Lift nach oben sauste, legte er sich Wort für Wort zu recht, was er ihr sagen wollte. Aber dann wurde alles ganz anders. Als die Türen sich öffneten, stand sie vor ihm – drei Schritte von dem Lift entfernt – und sah ihn aus ihren grünen, hungrigen Augen an. Sie trug ein sehr braves, wunderschönes Nachthemd, das am Hals und den langen Ärmeln zusammengekraust war und weich und fließend bis auf den Boden fiel. Das nachtdunkle Haar bauschte sich wie eine Wolke um ihr hohlwangiges Gesicht. Sie war abgeschminkt, und wirkte blass. »Claudia«, war alles, was er hervorbringen konnte. Leidenschaft und Zärtlichkeit übermannten ihn so, daß es jedes wei tere Wort in seiner Kehle, jeden Gedanken in seinem Gehirn erstick te. »Claudia!« Sie hob die Hände, und mit zwei Schritten war er bei ihr, riß sie an sich. »Wie gut, daß du da bist«, flüsterte sie dicht an seinem Ohr. Da hob er sie hoch und trug sie auf seinen Armen zu der riesigen Couch, die schon für die Nacht gerichtet war.
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Am nächsten Morgen war bei Körners dicke Luft. Jens erschien nicht am Frühstückstisch, und als Frau Körner in sein Zimmer trat, um ihn zu wecken, mußte sie feststellen, daß sein Bett unberührt, er also of fensichtlich die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen war. Sie war sehr blass, als sie sich wieder an ihren Platz setzte. »Also, ich verstehe das wirklich nicht«, jammerte sie, »einfach wegzubleiben, ohne eine Entschuldigung, ohne ein Wort der Erklärung … das sieht Jens doch gar nicht ähnlich. Er ist doch so ein rücksichtsvoller Junge. Wenn ihm bloß nichts zugestoßen ist!« Die drei Männer – der Vater, Jochen und Jan – vermieden es, sie an zusehen. Jeder von ihnen dachte sich sein Teil. »Jochen«, sagte Frau Körner, »du hast doch Jens gestern mit zu dieser Party genommen! Nun mach doch gefälligst mal den Mund auf und erzähle, was da passiert ist!« 189
»Gar nichts«, sagte Jochen und kaute lustlos an seinem Brötchen. Herr Körner ließ kurz seine Zeitung sinken, hinter die er sich ver schanzt hatte. »Das ist keine Antwort, Junge!« »Aber wenn ich euch doch sage … es war wirklich nichts los, über haupt nichts.« Er spülte den Bissen, der zäh wie Kleister in seinem Mund klebte, mit einem Schluck Kaffee herunter. »Also, hör mal«, sagte Frau Körner, »schließlich war es doch eine Party, irgend etwas muß los gewesen sein! Gab es vielleicht … starke Sachen zu trinken?« »Ach wo«, sagte Jochen. »Wann bist du denn nach Hause gekommen?« fragte Herr Körner hinter seiner Zeitung hervor. »Ich war um zehn Uhr zurück. Ihr saßet noch beim Fernsehen. Ich wollte euch nicht stören und bin gleich zu Bett gegangen.« »Und Jens? Ist er mit dir gegangen?« »Nö«, sagte Jochen, »ich bin schon gegen acht dort fort. Es war stink langweilig. Ich war nachher noch im Kino.« Frau Körner stellte die Kaffeetasse, die sie in der Hand gehalten hat te, klirrend auf den Unterteller zurück. »Du hast also Jens … einfach dort allein gelassen?« »Aber, Mutti«, sagte Jochen, »findest du etwa, ich hätte auf Jens auf passen sollen? Das ist doch lachhaft!« Jan tätschelte beruhigend den Arm seiner Mutter. »Reg dich bloß nicht auf, Marie …«, erklärte er gönnerhaft, »Jens ist ein großer, großer Junge, der kann schon auf sich selber aufpassen.« »Sprich nicht in diesem Ton mit deiner Mutter!« sagte Herr Körner scharf. Jan verzog sein Lausbubengesicht zu einer komischen kleinen Gri masse, die Herr Körner zum Glück nicht sah, weil er sich wieder hinter seine Zeitung zurückgezogen hatte. »Ich meine doch nur«, sagte Jan, »es besteht wirklich kein Grund, sich wegen Jens Sorgen zu machen.« »Weißt du etwas?« fragte Frau Körner, plötzlich hellhörig geworden. Jan konnte sich nicht verkneifen, den Erfahrenen zu spielen. »Nun ja«, erklärte er großartig, »man hat so seine Quellen.« 190
Frau Körner packte ihn erregt beim Arm. »Was weißt du, Jan? Sag es mir, ich will es unbedingt wissen … sofort!« Jan rutschte unbehaglich hin und her. Nur zu gerne hätte er sein Wis sen ausgepackt. Aber der Ehrenkodex der drei Brüder, die stillschwei gende Übereinkunft, die jedwede Streiche erlaubte, es aber strengstens verbot, Erwachsene in ihre Privatangelegenheiten hineinzuziehen, machte es ihm unmöglich. Vielleicht hätte er geredet, wenn er mit der Mutter allein gewesen wäre. Aber er spürte den finsteren Blick Jochens auf sich gerichtet und wagte es einfach nicht, in Gegenwart seines Bru ders sein Wissen auszuplaudern. Frau Körner schüttelte ihn unbarmherzig. »Du sollst reden, habe ich gesagt! Willst du denn, daß deine Mutter sich Sorgen macht, während du …« Jan produzierte schleunigst Tränen, klagte mit schwimmenden Au gen: »Aber Mutti, du tust mir ja weh!« Ganz unerwartet kam Herr Körner ihm zu Hilfe. »Lass den Jungen! Merkst du denn nicht, daß er gar nichts weiß? Er hat nur so daherge redet!« Diese Erklärung wirkte auf Jan geradezu ehrenrührig. Er hatte schon den Mund geöffnet, um zu protestieren, als ihn unter dem Tisch ein wohlgezielter Tritt Jochens gegen das Schienbein traf. Er unterdrückte einen Schmerzensschrei, und der Mund klappte wieder zu. »Komm, Kleiner«, drängte Jochen, »höchste Zeit, daß wir losschie ben …« Er war schon halb aufgestanden, als sein Vater ihn zurück hielt. Herr Körner war dieser plötzliche Aufbruch verdächtig vorgekom men, und ein Blick auf seine Armbanduhr bestätigte ihm, daß es kei neswegs so spät war, wie Jochen tat. »Moment mal«, rief er, »wo wollt ihr hin?« »In die Kirche«, erklärte Jochen prompt. Aber das schien Herrn Körner noch verdächtiger. »Weißt du etwa auch etwas?« »Nicht direkt«, sagte Jochen ausweichend. »Ich wünsche eine klare Antwort«, donnerte Herr Körner. 191
»Also gut. Ich habe so Verschiedenes läuten hören. Aber wirklich wissen tue ich nichts.« »Und was hast du läuten hören, wenn ich fragen darf?« »Darüber solltest du wohl lieber selber mit Jens reden!« Jochen blick te seinen Vater fast herausfordernd, die Augenbrauen zusammengezo gen, von oben herab an. »Da hast du wahrscheinlich recht«, erwiderte Herr Körner gelas sen, »nur eine Frage: weisen deine Informationen auch auf eine gewis se Dame hin?« »Ja«, sagte Jochen widerwillig. »Eine Dame älteren Jahrgangs?« Jochen schwieg. Er überlegte, wie er sich am besten aus der Affäre ziehen konnte, ohne den Vater zu kränken und Jens zu verraten. Aber Jans verräterisches Grinsen enthob ihn einer Antwort. »Danke«, sagte Herr Körner, »das genügt.« Jochen ging um den Tisch herum, packte seinen jüngeren Bruder beim Kragen, zog ihn hoch und zerrte ihn zur Türe. »Was für eine Dame? Älteren Jahrgangs? Von was sprecht ihr?« rief Frau Körner. »Ich verstehe kein Wort!« »Auf Wiedersehen«, sagte Jochen. »Bis heute Mittag«, sagte Jan und verdrehte sich den Hals, um noch möglichst viel von dem bevorstehenden Drama mitzubekommen. Aber da hatte Jochen ihn schon in die kleine Diele hinausgezogen und hatte die Türe hinter ihnen geschlossen. »Glaubst du, daß Jens wirklich wieder bei dieser Frau Miller war?« fragte Jan aufgeregt. »Und daß Vater es weiß? Wird er ihn 'rauswerfen? Und was wird Mutti dazu sagen?« »Warten wir's ab«, sagte Jochen lakonisch, warf noch einen kurzen kritischen Blick in den Garderobenspiegel, zog den Taschenkamm durch sein Haar und verließ, ohne sich weiter um den kleinen Bruder zu kümmern, die Wohnung. Ihn interessierte es wirklich nicht, wie es mit Jens weitergehen würde. Er hatte andere Sorgen. Noch immer hatte er nicht ganz verdaut, was Si bylle ihm gestern Abend auf Anitas Geburtstagsparty eröffnet hatte. 192
Damit waren alle Pläne, die er sich für die Zukunft gemacht hatte, zusammengestürzt. Er konnte es einfach nicht fassen. Erst jetzt, während er mit großen Schritten die Straße entlang mar schierte, wurde es ihm klar, daß nun sein eigener Abgang von der Schu le völlig sinnlos geworden war. Es nützte nichts mehr, Geld zu verdie nen. Sibylle war so und so für ihn verloren. Und er brauchte auch nicht mehr zu befürchten, sie tagtäglich vor sich zu sehen. Wenn sie erst in ihrem Handelsschulinternat im Schwarzwald lebte, war sie so weit von ihm entfernt, daß sie geradeso hätte auf dem Mond hausen können. Wäre es unter diesen Umständen nicht das Vernünftigste, mit dem Vater zu sprechen? Ihn um Hilfe zu bitten, den Lehrvertrag wieder rückgängig zu machen? Gewiß, Vertrag war Vertrag, aber irgendeine Möglichkeit würde sich doch bestimmt finden lassen. Er wußte, der Vater kannte sich in solchen Dingen aus. Sibylle hatte es gar nicht imponiert, daß er von der Schule abging – also, warum sollte er es dann überhaupt tun? Fast hatte er sich schon zu einem Entschluß durchgerungen, aber dann stellte er sich das Gesicht seines Vaters vor, wenn er es ihm sa gen würde. Genau das habe ich erwartet, würde der Vater denken, und selbst wenn er es nicht laut ausspräche – es gehörte zu seinen guten Seiten, daß er manchmal ungeheuer taktvoll sein konnte – es wäre demüti gend genug, daß er es überhaupt dachte. Nein, nein, er konnte sich solch einen Rückzug nicht erlauben. Das wäre eine Blamage für ihn geworden, die ihm die liebe Familie sein ganzes späteres Leben vorhalten würde. Und außerdem – was fesselte ihn denn noch an der Schule? Die ganze Lernerei hing ihm doch zum Halse heraus. Als er sich aus der Sichtweite der elterlichen Wohnung entfernt hat te, begann er langsamer zu gehen und stieß mit der Schuhspitze nach denklich Steinchen vor sich her. So traf ihn Peter Hesse, dem es ebenfalls gelungen war, dem sonntäg lichen Familienleben zu entwischen. »Na, wie war's gestern auf der Party?« fragte er. 193
»Ziemlich öde«, erklärte Jochen. »Das hätte ich dir vorher sagen können!« sagte Peter, aber, nach ei nem Blick auf Jochens finsteres Gesicht, fügte er begütigend hinzu: »Immerhin warst du besser dran als ich. Ich habe den ganzen Abend über diesem verdammten Referat für Geo gehockt! Menschenskind, du kannst wirklich glücklich sein, daß du die Schule jetzt bald für im mer hinter dir hast!« »Das bin ich auch«, erklärte Jochen mit fester Stimme, und er glaub te es selber.
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Niemand stellte Jens zur Rede, als er am frühen Sonntagabend nach Hause kam. Er hatte keine Gelegenheit, die Erklärungen, die er sich ausgedacht hatte, vorzubringen. Vater und Mutter schienen nicht ein mal eine Entschuldigung von ihm zu erwarten. Er war darüber erleichtert, wenn es ihm auch andererseits ein biß chen unheimlich war. Der Vater war ganz wie immer, aber die Mut ter sah ihn manchmal so sonderbar an, und sie hatte auch so eine ko mische Art, ihn zu behandeln – als wenn er krank oder geistesgestört wäre. Als er später in der Diele auf Jochen trat, der gerade aus dem Bad kam, hielt er ihn fest. »Du, was ist eigentlich los?« fragte er. »Wieso?« »Die Alten benehmen sich so merkwürdig!« Jochen fuhr sich ein bißchen verlegen mit der Hand durch das Haar. »Ich glaube, sie wissen Bescheid.« »Hast du ihnen was gesagt? Oder Jan?« »Bestimmt nicht«, erklärte Jochen rasch, »Vater wußte es von ganz alleine. Jedenfalls«, fügte er hinzu, »hatte ich den Eindruck, daß er mit Mutter über dich sprechen wollte.« Jens kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. »Na, ja«, sagte er, »da kann man nichts machen! Vielleicht ist es sogar besser so.« Jochen sah den großen Bruder an und beneidete ihn von Herzen – 194
darum, daß er so selbstbewusst und überlegen war, daß er nun schon bald einundzwanzig sein würde. Was hätte er nicht darum gegeben, mit ihm tauschen zu können. »Sicher«, sagte er und verzog sich in sein Zimmer. Tatsächlich fühlte sich Jens selber momentan ziemlich beneidens wert. Er war darauf gekommen, daß er Claudia liebte, und jetzt, da zwischen ihnen beiden wieder alles im Lot war, gab es für ihn eigent lich keine Probleme mehr. Außer einem: Er hätte Claudia liebend gerne vom Fleck weg gehei ratet, egal, ob das seinen Eltern nun paßte oder nicht und was die Leu te darüber sagten. Wenn er erst mündig war, konnte er ja machen, was er wollte, und dann sollten ihm alle Meckerer den Buckel herunterrut schen. Aber Claudia weigerte sich. Warum, das begriff Jens gar nicht recht. Immerzu sprach sie von dem Altersunterschied zwischen ihnen. Als ob der überhaupt eine Rolle spielte. Doch richtig unglücklich machte ihn Claudias Weigerung nicht. So viel Erfahrung hatte er schon, daß er wußte: Alle Mädchen haben so ihre Mucken. Am besten, man kümmerte sich gar nicht darum. Ei nes Tages würde sie schon weich werden und mit allem einverstan den sein. An die kleine Gisela dachte Jens in den nächsten Tagen überhaupt nicht mehr. Deshalb war er höchst erstaunt, als er Ende der Woche bei ›Karmann‹ ans Telefon gerufen wurde und Gisela sich meldete. Sekun denlang wußte er nicht einmal, wen er mit diesem Namen in Verbin dung bringen sollte. »Ach ja, du bist's«, sagte er dann, »na, wie geht's dir denn, Kleines?« – Und er fragte sich ernsthaft, was ihr wohl eingefallen war, ihn aus hei terem Himmel anzurufen. Gisela, die eine schreckliche Woche hinter sich hatte, in der sie Tag für Tag auf Jens gewartet hatte, bemühte sich, ihre Stimme in der Ge walt zu behalten. »Wie geht es dir?« fragte sie zaghaft. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Du, Jens, können wir uns nicht mal wieder sehen?« 195
»Also weißt du, ganz ehrlich, ich habe mengenweise zu tun. Sonst hätte ich mich ja auch schon längst selber wieder gemeldet.« Gisela ließ nicht locker. »Und … heute Abend?« »Gibt's bei uns zu Hause 'ne Familienfeier!« log er aus dem Stegreif. In Wirklichkeit hatte er vor, mit Claudia ins Theater zu gehen. »Ich möchte dich bloß wieder sehen, und wenn es für fünf Minuten ist«, bat Gisela, »könntest du nicht wenigstens auf einen Sprung in die Eisdiele kommen?« Ihr Flehen rührte ihn. »Na, schön«, sagte er, »weil du es bist … sagen wir um sechs Uhr.« Kaum hatte er eingehängt, tat es ihm schon leid, daß er überhaupt eine Verabredung getroffen hatte. Das war doch sinnlos. Er hätte sie sofort abwimmeln sollen. Er überlegte, ob er sie einfach vergeblich warten lassen sollte. Aber dann brachte er es doch nicht übers Herz. Und außerdem – bestimmt riefe sie dann noch einmal an, und dann würde alles wieder von vorn beginnen. Nein, besser war es, noch heute endgültig Klarheit zu schaffen.
Gisela saß schon in der kleinen Eisdiele, als er kam. Es war wieder einmal gequetscht voll, und er winkte ihr, herauszukommen. Er blieb, während sie drinnen zahlte, auf der Straße stehen, zündete sich eine Zigarette an, drehte sich auch nicht um, als er ihre Hand auf seinem Arm fühlte. »Jens, ich bin ja so froh …«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Also … was gibt's? Du weißt, ich habe wenig Zeit.« Sie trat vor ihn hin, und jetzt mußte er sie ansehen. Sie wirkte noch jünger, als er sie in Erinnerung gehabt hatte, rührend kindlich mit den weit geöffneten, flehenden Augen, dem blassen, bebenden Mund, und er kam sich wie ein Schuft vor, daß er ihr weh tun mußte, und ver fluchte sie gleichzeitig, daß sie ihm das nicht ersparte. »Meine Eltern«, sagte sie, »neulich abends … sie waren doch noch wach …« 196
»Dein Pech«, sagte er. »Ach, es war gar nicht so schlimm, ich meine … sie haben mich nicht verprügelt oder so etwas. Sie wollten bloß alles wissen, und Mutti hat ein bißchen geweint. Sie war schrecklich besorgt.« Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette, stieß den Rauch durch die Nase. »Na, ich nehme an, daß es dir gelungen ist, sie zu be ruhigen.« »Ja«, sagte Gisela, »es war … ziemlich schwierig. Aber zum Schluß haben sie mir geglaubt.« »Fein.« Er warf einen ungeduldigen Blick auf seine Uhr. »Nur«, sagte sie, »jetzt möchten sie dich gerne kennenlernen.« Er hob die blonden Augenbrauen. »Wozu?« fragte er ehrlich ver blüfft. »Nun … einfach, weil … verstehst du das denn nicht?« Sie lächelte gequält. Er glaubte zu begreifen, aber was ihm dämmerte, war so wenig ange nehm, daß es ihm einen wahren Schauer den Rücken herunter jagte: – Einladung bei Giselas Eltern, förmliches Gespräch, allgemeines Un behagen, plötzlich sind Mutter und Tochter verschwunden, der Herr Papa räuspert sich, bevor er fragt: Junger Mann, ich nehme doch an, Sie haben ernste Absichten? »Oh, nein«, sagte Jens impulsiv, »das nicht … nicht mit mir. Ich den ke gar nicht daran.« »Aber meine Eltern wollen dich doch nur kennenlernen«, sagte sie hilflos, völlig unfähig zu begreifen, was ihm einen solchen Schrecken einjagte, »sie kennen alle meine Freundinnen und Freunde, und es würde sie einfach beruhigen …« »Kein Grund zur Beunruhigung. Bestimmt wird es genauso tröst lich auf sie wirken, wenn du ihnen erklärst, daß zwischen uns nichts ist und daß du mich nie wieder sehen wirst.« Röte schoß ihr wie eine jähe Stichflamme über das Gesicht. »Was habe ich falsch gemacht, Jens?« »Nichts … gar nichts.« »Bist du böse, weil ich nicht mit zu dir gekommen bin?« 197
Er warf seine brennende Zigarette zu Boden, trat sie fast wütend aus. »Verdammt, was unterstellst du mir da? Ich habe das niemals ernsthaft gewollt … es war doch nur ein Spaß …« Sie preßte die Handflächen gegeneinander. »Aber … irgendwie muß ich dich doch enttäuscht haben! Bitte, Jens, bitte, sag mir, was es war! Ich schwöre dir, ich werde mich bessern … ich werde alles tun, was du willst …« Sie redete verzweifelt weiter und merkte nicht, daß er ihr gar nicht zuhörte. Der Blick seiner hellen Augen ging durch sie hindurch. So et was Albernes, dachte er, hätte ich mit diesem hysterischen Ding doch niemals etwas angefangen. Die hat sich scheint's eingebildet, ich liebe sie, bloß weil ich mal einen Abend mit ihr zusammen war! Du lieber Himmel, die Mädchen werden immer verrückter. »Nein«, sagte er energisch, »es hat überhaupt nichts mit dir zu tun, schlag dir das aus dem Kopf. Du hast dich vollkommen richtig benom men. Es ist nur … ich bin verlobt … verstehst du? Ich werde heiraten, sobald ich einundzwanzig bin, und deshalb …« Von einer Sekunde zur anderen wurde sie erschreckend blass, er fürchtete schon, sie würde in Ohnmacht fallen. Aber Gisela machte nicht schlapp. Sie ballte die Hände zu Fäusten, drehte sich plötzlich um und rannte davon. Jens blieb stehen, ohne sich zu rühren, und sah ihr nach, wie sie sich durch das Menschengewühl drängte, das jetzt, zur Zeit des Geschäfts schlusses, die Straßen der Innenstadt fast verstopfte. Er war über ihren unvermittelten Abgang eher erleichtert als schockiert. Verrücktes Ding, dachte er, hat man je so was erlebt! Dann verschwand sie völlig in der Menschenmenge und damit auch endgültig aus seinem Leben. Er verschwendete nie mehr auch nur ei nen Gedanken an diese für ihn völlig unwesentliche Episode und soll te nie erfahren, daß das Mädchen Jahre brauchte, um die erste, riesen große Enttäuschung seines Lebens zu überwinden.
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Die Sommerferien und damit der Schluß des Schuljahres näherten sich mit Riesenschritten. Jochen Körner begriff es nicht, wieso die Zeit in diesem Jahr so schnell verging wie nie. Er erinnerte sich noch gut, daß früher jeder Tag, der ihn noch von den heissersehnten Ferien ge trennt hatte, wie ein unübersehbarer Berg vor ihm gelegen hatte. Aber diesmal war alles anders. Lag es daran, daß das Ende der Schulzeit einen tiefen Einschnitt in sein Leben bedeuten würde? Daß er jeden Tag der Sorglosigkeit unbewußt ge noß? Oder waren die Stunden zu kurz, die Lücken, die in den vergange nen Monaten entstanden waren, noch aufzuholen und die Zensuren zu verbessern? Denn das versuchte Jochen mit aller Kraft. Jetzt, da es ent schieden war, daß er wirklich mit der Mittleren Reife die Schule verlassen würde, wollte er wenigstens ein gutes Abgangszeugnis mitnehmen. Er bekam es, wenn er es auch nicht ganz den eigenen Leistungen, sondern dem Verständnis Dr. Brechts, seines Klassenlehrers, zu ver danken hatte. »Ich sehe den Triumph in deinen Augen schimmern, Körner«, sagte er, als die Zeugnisse ausgeteilt wurden, »ich hoffe aber, du bist klug ge nug, dir nicht allzu viel auf dein hervorragendes Zeugnis einzubilden. Hätten wir nur die Leistungen des vergangenen Jahres honoriert, wäre es erheblich schlechter geworden. Aber wir hielten es für richtiger, dei ne früheren guten Leistungen und die Anstrengungen der letzten Wo chen zu berücksichtigen.« »Danke, Herr Doktor«, sagte Jochen, und er ärgerte sich über sich selber, daß er keine besseren Worte fand, um das auszudrücken, was er jetzt tatsächlich fühlte. Der Klassenlehrer reichte ihm die Hand. »Dann bleibt mir nichts an deres mehr, als dir im Namen des Lehrerkollegiums Glück für deinen ferneren Lebensweg zu wünschen, Körner. Mach's gut, Junge …« »Danke, Herr Doktor«, sagte Jochen wieder und kam sich wie ein Idiot vor. Der Klassenlehrer wandte sich ab, rückte seine Brille zurecht. »Im übrigen meine ich, daß es ein Jammer um dich ist. Du hättest etwas er reichen können, wenn du der Schule treu geblieben wärest …« 199
In diesem Augenblick war es Jochen, als wenn sich etwas wie ein Reif von seinem Herzen löste. Er trat einen Schritt vor und aus der Bank heraus, sein Mund öffnete sich schon, um zu sagen: Es tut mir selber leid, aber vielleicht kann man es noch rückgängig machen! – Er wuß te, daß Dr. Brecht alles daran setzen würde, ihn aus dem Lehrvertrag zu lösen, und wenn er selber zu Meister Swihalek gehen und mit ihm reden müßte. Aber Jochen kam nicht dazu, das entscheidende Wort zu sprechen, denn ausgerechnet in diesem Augenblick fragte Sibylle keck: »Um mich tut es Ihnen wohl nicht sehr leid, Herr Doktor?« Der Klassenlehrer wandte sich ihr zu, räusperte sich. »Das möchte ich nicht so ohne weiteres behaupten«, erklärte er todernst, »immer hin warst du mir … und wahrscheinlich nicht nur mir … eine tägliche Augenweide, und ich erinnere mich, daß deine Antworten des öfteren Anlass zu allgemeiner Erheiterung gegeben haben …« Die Klasse lachte. Sibylle wurde ein bißchen rot, lachte aber tapfer mit. Dr. Brecht reichte ihr die Hand. »Doch, auch du wirst uns fehlen, Sandner … wir waren eine Menge Jahre zusammen, nicht wahr? Ver giß uns nicht ganz. Schreib mal, wie es dir geht.« Natürlich hätte Jochen auch noch nach der Stunde zu Dr. Brecht ge hen können. Aber da war sein Schwung schon verflogen. Er war seiner Sache nicht mehr sicher. Plötzlich sah er sich mit Sibylles Augen – das heißt, er glaubte sich so zu sehen, wie Sibylle ihn sah, die es tatsächlich nur vernünftig gefun den hätte, wenn er sich entschlossen hätte, weiter zur Schule zu gehen. Aber er glaubte, sie müßte ihn dann für einen Umfaller halten und auch den letzten Rest von Achtung vor ihm verlieren. So packte er die Hefte und Bücher zusammen – zum letzten Mal – und schob mit den anderen aus dem Klassenzimmer. Anita hielt sich nach einem Blick in sein Gesicht zurück. Sie kann te den Freund inzwischen gut genug, um zu wissen, wann er nicht an sprechbar war. Aber Sibylle, die vorausgeeilt war, sich lebhaft und vergnügt nach al 200
len Seiten verabschiedete, blieb, als sie die Straße erreicht hatte, stehen. »Hei, Jochen«, sagte sie, »ich hab' noch was für dich …« Sie hielt ihm einen Zettel hin. Er sah von ihrer Hand zu dem lebendigen jungen Gesicht unter dem schimmernden blonden Haar, und seine Miene wurde womöglich noch eine Spur finsterer. Er machte keine Anstalten, ihr den Zettel ab zunehmen. »Meine Adresse«, sagte sie lächelnd, »vielleicht könnten wir uns doch mal schreiben!« Seine Brauen waren düster über den schönen tiefblauen Augen zu sammengezogen. »Wozu?« »Aber Jochen! Damit wir in Kontakt bleiben …« »Danke«, sagte er kalt, »kein Interesse.« Er wandte sich ab und ging, spürte ihren verstörten Blick in sei nem Rücken. – Jetzt wird ihr wohl das verdammte Grinsen vergan gen sein, dachte er und fühlte sich sekundenlang großartig. Endlich hatte er ihr's heimgezahlt, endlich hatte er es sie merken lassen, daß er kein kleiner Junge mehr war, den man nach Belieben schikanieren durfte! – Damit wir in Kontakt bleiben! – Er lachte höhnisch auf. Blö de Ziege. Als wenn ich darauf noch Wert legte, nach allem, was du mir angetan hast! Aber noch bevor er die Bushaltestelle erreicht hatte, war sein Tri umphgefühl schon verraucht. Gerade das, was Sibylle ihm vorgeschla gen hatte, war doch auch sein stärkster Wunsch gewesen. Warum bloß hatte er sie so abfahren lassen? Wahrscheinlich hatte ihr doch ihr Be nehmen bei der Party nachträglich leid getan, so leicht war es ihr be stimmt nicht gefallen, den ersten Schritt zu tun. Er drehte sich um, wollte zu ihr zurück. Doch gerade in diesem Augenblick sah er sie auf den Sportwagen ei nes Abiturienten zugehen, der mit ironischer Höflichkeit die Wagen türe vor ihr aufriss. Sie lachte ihn an, stieg ein. Mit einem Satz schwang sich der junge Mann neben sie ans Steuer. Der kleine Wagen schoß los. Sibylles schulterlanges Haar wehte hinter ihr her wie eine schimmern de Fahne. 201
»Verdammt«, sagte Jochen halblaut, »verdammt, verdammt!« – Und in diesem Augenblick entschloß er sich, Sibylle für alle Zeiten aus sei nem Herzen zu streichen.
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In den vergangenen Jahren waren Körners stets zusammen verreist. Aber diesmal war es anders. Jochen, der eine knappe Woche nach Schulschluss seine Lehre in der Autoreparaturwerkstätte antreten mußte, konnte nicht mit, und Jens, der seinen Urlaub im September zusammen mit Claudia verbringen wollte, hatte keine Lust, die Fami lie zu begleiten. So verreisten die Eltern zusammen mit Jan, und die beiden älteren Brüder blieben allein in der Wohnung zurück – selbst verständlich mit vielen, vielen Mahnungen und guten Ratschlägen von Frau Körner bedacht. Besonders für Jochen war es ein erhebendes Gefühl, einige Wochen lang gänzlich ohne elterliche Aufsicht zu sein. Er kam sich sehr er wachsen vor, wenn er den Schlüssel ins Wohnungstürschloß steckte und schon wußte, daß niemand ihn fragen würde, woher er kam, oder ihm Vorwürfe machen konnte, daß es so spät geworden war. Nur schade, daß er gar keine Gelegenheit hatte, die ungewohnte Frei heit auszunutzen. Denn die meisten seiner Klassenkameraden – auch Anita und Sibylle – waren ans Meer oder in die Berge gefahren. Nur Pe ter Hesse, der eine Ferienarbeit angenommen hatte, war noch greifbar. Natürlich machte es Spaß, mit ihm zusammen die Küche auf den Kopf zu stellen oder sich in den sonst den Eltern vorbehaltenen Sesseln herumzu flegeln. Aber das waren doch immerhin recht kindliche Vergnügungen. Und an jenem Morgen, als er sich zum ersten Mal auf den Weg zur Arbeit machte, fehlte ihm die Mutter regelrecht. Er hatte schon um sechs Uhr aufstehen müssen, und keine Mutter war da, die ihm Kaffee kochte, den Frühstückstisch deckte, Mitnehmbrote zusteckte – kein Vater, der ihm gut gemeinte, wenn auch unnötige Ratschläge gab, kein Jan, der blöde Witze machte und ihn heimlich bewunderte. Jochen kam sich recht verlassen vor an diesem Morgen. Jens, der die Abwe 202
senheit der Eltern benutzte, um bei Claudia zu übernachten, war wie der einmal nicht nach Hause gekommen. Zu allem Überfluss war es ein regnerischer Tag, und als Jochen zur Bushaltestelle trabte – eine ganze Stunde früher als gewohnt –, fühlte er sich ziemlich erbärmlich. Es waren nicht die gleichen Menschen wie sonst, die sich mit Jochen in den Bus drängten. Kein Schulkind war weit und breit zu sehen, für sie war es ja noch viel zu früh, auch wenn keine Ferien gewesen wären. Statt dessen sah sich Jochen von Män nern umgeben, Männern mit müden, grauen Gesichtern, die sich ner vös über die Wangen fuhren, um festzustellen, ob sie auch anständig rasiert waren, oder hinter der vorgehaltenen Hand gähnten. Das war also die Welt der Erwachsenen, die Welt der Freiheit, nach der er sich so oft gesehnt hatte! Auch Meister Swihaleks Gesicht war grau und fahl, als Jochen sich bei ihm meldete, und auch er gähnte – aber ohne die Hand vor den Mund zu halten. Auf diese Weise hatte Jochen zum ersten Mal Gele genheit, einen tiefen Einblick in seinen Rachen und die mit Gold ge flickten Zähne zu tun. »Pünktlich, mein Junge«, sagte er, »bravo, das lobe ich mir!« Seine Hängebacken waren mit grauen und weißen Stoppeln bedeckt, und Jochen brauchte nicht viel Scharfsinn dazu, den Schluß zu ziehen, daß er die Nacht auf dem schmalen Sofa in der gläsernen Kabine ver bracht hatte. »Hast du alles dabei?« fragte der Meister. »Overall? Handtuch? Seife? Was zu essen? Und auch was zu trinken?« »Ich habe mir ein paar Brote gemacht«, sagte Jochen und wünsch te, Meister Swihalek würde sich abgewöhnen, ihn zu duzen. »Daß ich auch was zu trinken brauche, wußte ich nicht.« »Na, das wirst du bald merken. Arbeit macht durstig, Junge. Bring dir morgen 'ne Thermosflasche mit Tee mit, ungesüßt womöglich. Ans Biertrinken …« Er stieß mit dem Fuß gegen ein paar leere Flaschen, die klappernd über den Hof rollten. »Ans Biertrinken gewöhnst du dich ganz von selber noch früh genug.« »Ja, Meister.« 203
»So, dann zieh dich mal um. Danach räumst du erst mal hier auf … das Geschirr brauchst du nur zusammenzustellen, das spült nachher meine Tochter Klara.« Es hob Jochens Laune nicht gerade, als er einen Blick in die gläser ne Aufsichtskabine hineinwarf. Auf der Couch lagen zerwühlte Dek ken und Kissen, auf dem Schreibtisch standen übervolle Aschenbecher und schmutziges Geschirr herum, der Boden war grau und unsauber von Fußtritten. Aber: »Ja, Meister«, sagte er fügsam. »Umkleiden kannst du dich dort hinten, Junge …« Jochen wandte sich schon auf die Türe mit der Aufschrift ›Privat‹ zu, als der Meister ihn zurückhielt. »Und noch etwas! Wenn du einen guten Rat von mir hören willst … lass dir die Haare schneiden!« Jochen hob den Kopf und sah Meister Swihalek gerade in die Augen. »Ich war vor ein paar Tagen beim Friseur!« »Ach so! Das, was du da trägst … diese Mähne … soll wohl eine Fri sur sein?« Jochens Lippen wurden schmal, die Haut über den Wangenknochen spannte sich. »Ja, Meister.« »Das gefällt mir nicht, Junge, das gefällt mir ganz und gar nicht. Also … morgen erscheinst du anders.« Jochen war kein Rowdy. Er war, im Gegenteil, ein von Natur eher friedfertiger Junge. Aber jetzt gab es zwei Gründe, die ihn davon ab hielten, sich widerspruchslos zu fügen. Er hatte das Gefühl, daß der Meister, wenn er jetzt nachgab, nie mehr einen Mann, sondern immer nur einen dummen kleinen Jungen in ihm sehen würde. Und dann: Er liebte sein braunes weiches Haar und verwendete viel Sorgfalt auf seine Pflege. Eigentlich war sein Haar das einzige, was ihm überhaupt an sich selber gefiel, und sich die Lok ken abzuschneiden, wäre ihm geradezu wie eine Selbstverstümmelung vorgekommen. Deshalb straffte er unwillkürlich die Schultern, seine blauen Augen wurden so dunkel, daß sie fast schwarz wirkten, als er sagte: »Nein, Meister.« 204
Herr Swihalek hielt sich die Hand hinter das Ohr. »Was hast du da gesagt? Ich habe wohl nicht richtig gehört!« »Ich habe nein gesagt«, wiederholte Jochen mit fester Stimme. »Du willst also nicht gehorchen?« Meister Swihalek trat einen Schritt näher auf ihn zu, und sein schlechter Atem schlug Jochen entgegen. »Ich werde Ihnen gerne in allem gehorchen, was meine Arbeit be trifft, Meister«, sagte er und wich keinen Zentimeter breit zurück, »aber wie ich mein Haar trage, das ist meine Privatsache.« »So? Das bildest du dir also ein?« fragte Meister Swihalek immer noch drohend – aber man merkte doch, daß er schon ein wenig aus dem Konzept gebracht war. »Ja«, sagte Jochen und warf mit einem Ruck seinen Kopf in den Nak ken. Den Bruchteil einer Sekunde lang sah es so aus, als wenn Meister Swihalek einen Wutanfall bekommen würde. Seine glänzende Glatze lief rot an, seine Hängebacken zitterten, aber dann entschloß er sich, die Sache mit einer wegwerfenden Bemerkung auf sich beruhen zu lassen. »Wie du willst, mein Junge. Aber du wirst schon noch darauf kom men, daß ich es nur gut mit dir gemeint habe. Meine Leute kennen in solchen Dingen keinen Spaß.« Er fuhr sich mit der Hand übers Ge sicht. »Na geh schon, Junge! Los, worauf wartest du denn noch?« Und Jochen verzog sich, um sich umzuziehen, und ihm war dabei teils stolz wegen der gewonnenen Schlacht, teils bänglich im Gedan ken an die bevorstehenden Reibereien zumute.
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Doch die nächsten Tage und Wochen verliefen sehr viel friedlicher, als er befürchtet hatte. Die Leute Meister Swihaleks waren zwar tatsäch lich raue Gesellen. Sie machten reichlich Späße über sein langes Haar, aber genauso viel Anlass zum Spott gab ihnen die Tatsache, daß er auf einer höheren Schule gewesen war. Manchmal mußten auch seine schmalen Hände herhalten, seine langen dichten Wimpern – kurzum, sie hätten immer etwas gefunden, sich über ihn lustig zu machen. 205
Jochen tat das Vernünftigste, was er tun konnte. Er ließ alles über sich ergehen, gab sich so, als ob es ihm nicht viel aus machte, obwohl er innerlich oft vor Wut und Empörung geradezu zitterte. Aber immerhin, es war nicht das schlimmste, wenn sie ihn aufs Korn nahmen. Viel abstoßender war für ihn die Art, wie sie über Mädchen und Frauen redeten. Es war, als würden sie sich nur für anatomische Einzelheiten und biologische Vorgänge interessieren, und jeder ver suchte, den häßlichen Wortschatz des anderen noch zu übertreffen. Wie Tiere kamen sie Jochen manchmal vor, nein, schlimmer als Tie re, denn kein bißchen Unschuld oder Natürlichkeit war in ihnen, nur Gier und Dumpfheit und Prahlerei. Am schlimmsten trieb es der älteste der Gesellen, ein blonder Hühne namens Karl, den die anderen Charly nannten. Er hatte es bald heraus bekommen, daß Jochen dergleichen Redereien zuwider und schwer er träglich waren. Deshalb legte er es geradezu darauf an, in seiner Ge genwart die schmutzigsten Witze und Redensarten zu gebrauchen. Jochen hätte ihm gar zu gerne schon mehr als einmal etwas um die Ohren geschlagen – aber es wäre glatter Wahnsinn gewesen, gegen Charly anzugehen, der einen guten Kopf größer und einen knappen Zentner schwerer war als er selber. So blieb ihm nichts übrig, als die Zähne zusammenzubeißen und sich zu bemühen, an etwas ganz anderes zu denken – die einzige Me thode, mit der er es verhindern konnte, rot zu werden. Zu allem Unglück ließ Charly, der anscheinend sogar mehr zu sa gen hatte als Meister Swihalek selber, ihn in den ersten Wochen über haupt nur Arbeiten verrichten, die eine ungelernte Hilfskraft genau so gut hätte ausführen können: fegen, putzen, entrosten, ölen, Fenster scheiben wischen. Es dauerte unendlich lange, bis er die erste Schrau be anziehen, die erste Motorhaube öffnen durfte. Natürlich erzählte er zu Hause – die Eltern und Jan waren längst wieder zurückgekommen – nicht ein Wort von all den unerwarteten Schwierig keiten, die er hatte. Auch wenn er Artur oder Peter Hesse zufällig einmal traf, tat er groß, und die Kameraden glaubten ihm. Sie beneideten ihn, weil sie nicht ahnten, was er wirklich durchzustehen hatte. 206
Sein einziger Trost in dieser Zeit war Anita. Sie allein hielt wirklich zu ihm, und durch diese Tatsache gewann sie einen ganz neuen Wert für ihn. Dreimal hatte sie ihm aus den Ferien geschrieben, und gleich an dem Tag, an dem sie zurückgekommen war, rief sie ihn an, und sie trafen eine Verabredung. Von da an sahen sie sich fast täglich. Anita durfte nur zwischen sechs und acht Uhr abends von zu Hause fort – vorher mußte sie ihre Schul arbeiten machen –, und daß sie in die Dämmerung hinein unten blieb, erlaubten ihre Eltern nicht. Aber diese beiden Stunden genügten ihnen. Sie unternahmen nicht viel, sondern gingen meist nur spazieren, redeten, redeten und redeten miteinander. Vor Anita konnte Jochen auch seine Schwächen und sei ne Schwierigkeiten zugeben, er brauchte ihr nichts vorzumachen, denn sie bewunderte ihn rückhaltlos. Ihr konnte er auch alles mitteilen, was ihm so tagsüber durch den Kopf ging, und sie hörte ihm immer mit Aufmerksamkeit zu – in diesem Herbst hatte er das Gefühl, daß sei ne Neigung zu Sibylle nur Leidenschaft und Verblendung gewesen war, und daß er im Grunde nur Anita wirklich liebte. Sie spürte es und war glücklich. Aber eines Abends kam sie verstört und mit verweinten Augen zu ih rem Treffpunkt am Michaelsplatz, der ziemlich genau zwischen Mei ster Swihaleks Werkstatt und der Wohnung ihrer Eltern lag. Er hatte schon zehn Minuten gewartet, und zwar ungeduldig – gerade an die sem Tag war es ihm gelungen, zum ersten Mal selbständig einen Mo torschaden zu finden, und er war ziemlich stolz auf sich. Er platzte bei nahe vor Erwartung, ihr alles zu erzählen. Deshalb fiel es ihm im ersten Augenblick auch gar nicht auf, daß et was nicht stimmte. Wenn er aufmerksamer gewesen wäre, hätte er es an ihrer Art zu gehen gesehen und daran, daß sie nur ein ärmello ses Sommerkleid trug, ohne Jacke und ohne Mantel, obwohl es zum Abend hin schon herbstlich kühl war. »Na endlich«, sagte er und warf einen Blick auf seine Armbanduhr, »komm!« 207
»Jochen!« sagte sie – und wie sie es sagte, war so alarmierend, daß er erschrak. Es hatte wie ein Schrei eines Ertrinkenden geklungen. »Was ist denn?« fragte er und packte sie bei den Schultern. »Wir können hier nicht reden, wir müssen weg!« »Aber warum denn?« »Ich … meine Eltern haben mir verboten …« stammelte sie, und dann konnte sie nicht mehr, die Tränen rannen ihr die Wangen hin unter. Er begriff gar nichts, aber er faßte sie bei der Hand, rannte mit ihr in eine Nebenstraße und in einen Hofeingang hinein. Er nahm sie in die Arme, klopfte ihr sanft auf den Rücken. »Nun hör schon auf … was ist denn los?« Aber sie konnte beim besten Willen kein Wort hervorbringen, das krampfhafte Schluchzen, das ihren Körper schüttelte, war zu stark. Schließlich schwieg er, streichelte sie nur und wartete geduldig. Im Hinterhaus gingen die Lichter an, eines nach dem anderen. Es klapperte bei den Mülltonnen, wahrscheinlich machte sich eine Kat ze da zu schaffen. Jochen sah eine Frau, die in ihrer hell erleuchteten Küche im zweiten Stock wirtschaftete. Er konnte deutlich alle ihre Bewegungen beobach ten. Jetzt nahm sie etwas aus dem Schrank, jetzt bückte sie sich, jetzt strich sie sich über das Haar. Er hatte das seltsame Gefühl, ein Verfem ter zu sein, ein Ausgestoßener der Gesellschaft auf der Flucht. Die Dü sterkeit des Hinterhofes, der Straßenlärm, der in einiger Entfernung vorbeibrauste, das schluchzende Mädchen in seinen Armen, das alles verstärkte noch diesen schrecklichen Wachtraum. Er konnte es nicht länger ertragen, schüttelte Anita hin und her. »Na los, red schon!« drängte er. »Was ist? So schlimm kann es doch nicht sein! Du tust gerade so, als wenn …«, er stockte, denn ihm fiel kein passender Vergleich ein. Sie holte tief und zitternd Atem. »Jochen, es ist … es ist furcht bar …« »Was?« »Wir dürfen uns nicht mehr wieder sehen.« 208
Es dauerte eine Weile, bis er den Sinn dieser Eröffnung verstanden hatte. Sie war zu überraschend gekommen, nicht eine Sekunde hatte er an dergleichen gedacht. Als er es endlich begriffen hatte, ließ er sie los und schob sie ein Stück von sich weg. »Warum?« knurrte er. Ein Lichtschein fiel aus einem der Hoffenster auf Anitas Haar und ließ es golden aufleuchten. Ihr Gesicht blieb im Dunkel. »Meine El tern … haben es verboten …« »Aber warum, zum Teufel, warum?! Sie wußten doch von unserer Freundschaft; du hast mir immer erzählt, sie wüssten davon! Warum dann auf einmal? Wir haben doch nichts Unrechtes getan!« »Du darfst nicht so mit mir schimpfen«, flehte sie, »ich kann doch nichts dafür, Jochen … bitte, nicht!« Erst als er nichts mehr sagte, nur, die Hände in den Taschen, die Mappe unter den Arm geklemmt, be wegungslos dastand, setzte sie zaghaft hinzu: »Es ist, weil … sie haben nicht gewußt, daß du von der Schule weg bist …« »Na und? Was hat denn das mit uns beiden zu tun?« Anita würgte jedes Wort mühsam heraus. »Gegen eine Freundschaft mit einem Oberschüler, sagen sie, hätten sie nichts gehabt, aber ein Schlosserlehrling … ja, ich weiß natürlich, daß du Kraftfahrzeugme chaniker lernst, aber das ist für meine Eltern das gleiche … also deswe gen wollen sie nicht, weil, na eben … sie möchten nicht, daß ihre Toch ter die Frau eines … na, du weißt schon … wird.« Niemals hatte Jochen daran gedacht, daß irgend jemand ihn für we niger wert halten könnte, nur weil er die Schule vorzeitig verlassen hat te. Deshalb traf ihn diese Eröffnung völlig unvorbereitet wie ein tücki scher Schlag ins Genick. Er straffte die Schultern, bohrte seine Hände noch tiefer in die Taschen. In diesem Augenblick wurde er sich plötz lich bewußt, daß sie nicht mehr weich und gepflegt wie in der Schul zeit waren, sondern voller Schwielen und Blasen, mit schwarzen Ris sen und Schmutz unter den Nägeln, der nicht weichen wollte. »Habe ich jemals davon gesprochen, daß ich dich heiraten möchte?« fragte er bösartig – er war so verletzt, daß er einfach das Bedürfnis hatte, um sich zu schlagen. 209
»Nein, natürlich nicht, Jochen …« »Sehr gut. Dann sind wir uns über diesen Punkt wenigstens einig. Aber ich möchte es doch noch einmal klarstellen: Nicht ich habe mich um dich bemüht, sondern du bist mir nachgelaufen!« Anita wußte, daß das stimmte, aber niemals hätte sie erwartet, daß er es ihr so direkt ins Gesicht sagen würde. »Das ist nicht wahr!« rief sie empört. »Oh, doch«, sagte er kalt, »wenn du also nichts mehr von mir wis sen willst, nur weil ich mir mein Geld durch ehrliche Arbeit verdie nen will, anstatt die Schulbank zu drücken … wunderbar. Glaub nur nicht, daß mich das trifft. Ich bin ja froh, wenn ich dich endlich los habe.« »Jochen!« »Also … leb wohl! Und schönen Gruß an deine verehrten Eltern … sag ihnen, sie brauchen sich keine Sorgen mehr zu machen!« Er drehte sich um, ging auf das Tor zur Straße zu. Anita war mit zwei wilden Sätzen bei ihm, packte ihn beim Arm. »Geh nicht, Jochen«, flehte sie, »geh nicht so! Du weißt doch genau, daß ich … daß ich ganz anders denke als meine Eltern. Mir ist es doch egal, was du tust und wer du bist … ich liebe dich doch, Jochen!« »Das hättest du deinen Eltern sagen sollen, nicht mir!« »Das habe ich doch getan, aber … ach, Jochen, wenn sie drauf kom men, daß wir uns trotz allem noch treffen, wollen sie mich in ein Inter nat stecken! Damit wäre uns doch auch nicht geholfen! Ich … ich bin so unglücklich, Jochen.« Sie weinte. Aber ihre Tränen rührten ihn nicht. – Und ich hatte geglaubt, dachte er, du wärest das einzige Mädchen, das wirklich durch dick und dünn zu mir hält! – »Schon gut«, sagte er laut, »ich habe durchaus verstan den.« Doch sie ließ ihn nicht los. »Wir brauchen uns nicht für immer zu trennen, Jochen, nur für … ein paar Monate, höchstens ein Viertel jahr! Bis dahin haben meine Eltern vergessen und …« »Danke«, sagte er kalt, »zu gnädig von dir. Aber wenn du dich un serer Freundschaft schämst, hat's keinen Sinn mehr.« Er packte ihr 210
Handgelenk so unsanft, daß sie ihren Zugriff lösen mußte, stieß sie von sich und ging. Er ging mit großen Schritten auf die Straße hinaus, weiter und wei ter, ohne sich nur ein einziges Mal umzusehen. Und allmählich ver ebbte der Schmerz, und mehr und mehr begann ein Gefühl der Befrei ung ihn zu erfüllen. Er gestand sich ein, daß er Anita nie wirklich ge liebt hatte und daß es besser war, daß es zu einer Trennung gekommen war, bevor er sich allzu sehr an sie gewöhnt hatte.
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Wenige Tage später schickte Charly, der bärenstarke Geselle, Jochen nach oben in die Wohnung des Meisters, um ihm einen Kostenvoran schlag zur Prüfung zu bringen. Swihalek hatte wieder einmal Nacht dienst gehabt und sich zurückgezogen. Es war gegen neun Uhr, als Jochen, den Kostenvoranschlag für eine ziemlich umständliche Reparatur in der Hand schwenkend, die schmale gewundene Treppe nach oben lief und an der Privatwohnung des Meisters klingelte. Nach kurzer Zeit öffnete ihm Klara, die Tochter des Meisters. Er kannte sie vom Sehen und vom Grüßen, und natürlich von den schmut zigen Bemerkungen her, die die anderen über sie machten. Sie war ein großes, gut gewachsenes Mädchen von ungefähr zwanzig Jahren, im mer ein bißchen zu stark geschminkt – schon am frühen Vormittag pflegte sie balkendicke Lidstriche und violette Lidschatten zu tragen – ihr Haar, das sie sehr hoch toupiert trug, war von einem Blond, das nicht natürlich sein konnte. Aber an diesem Morgen war sie frisch gewaschen, ihr Gesicht glänz te geradezu vor Sauberkeit, und das allzu blonde Haar hatte sich zu lu stigen Löckchen gerollt. Sie sah um Jahre jünger und wesentlich appe titlicher aus als sonst. »Ach, du bist's«, sagte sie, »komm nur herein!« Sie öffnete die Türe weit, ging voraus in die Küche, und jetzt erst, in dem hellen Licht, das durch die Türe des Küchenbalkons hereinfiel, 211
sah Jochen, daß sie nur einen weißen Bademantel anhatte, unter dem sie offensichtlich nichts weiter trug. Klara setzte sich auf das Küchensofa, schlug die langen, kräftigen Beine übereinander, so daß ihr lose gegürteter Bademantel unten weit auseinander fiel. »Nett, daß du auch mal zu uns 'rauf kommst«, sagte sie lächelnd. »Du bist doch der Jochen Körner, nicht wahr?« Jochen schluckte. »Ja, aber …« Sie bog den Kopf zurück, lachte. »Bist du's nun oder bist du's nicht? Ich hoffe, da brauchst du nicht extra drüber nachzudenken.« »Klar bin ich's …« »Na also, setz dich doch zu mir!« Eine mächtige, nie gekannte Kraft brach in Jochen auf, trieb ihn in ihre Nähe – aber noch war die Stimme der Vernunft wach, die ihn zu rückhielt. Er stand unentschlossen da, und es war an seinem offenen Gesicht abzulesen, wie es in ihm kämpfte. »Nur keine Bange, Junge«, sagte Klara und lachte wieder, »ich beiße schon nicht!« »Ich wollte eigentlich nur zum Meister«, sagte Jochen, »ihm dies hier …« Er blickte auf den Kostenvoranschlag, stellte mit Schrecken fest, daß er ihn in seiner Erregung zerknüllt hatte, »… ihm dies hier bringen.« Sie nahm ihm das Blatt Papier aus der Hand, glättete es, legte es vor sich auf den Küchentisch. »Der Vater schläft.« »Ja, aber … dann …« »Am besten wartest du ein bißchen hier. Vielleicht wird er bald wie der aufwachen.« »Ich weiß nicht, Charly hat gesagt …« »Ach, lass den doch warten«, sagte Klara wegwerfend, »seit wann mußt du denn nach Charlys Pfeife tanzen? Komm, setz dich, trink eine Tasse Kaffee mit mir. Das kann dir niemand verbieten.« Hin- und hergerissen zwischen seinen widerstreitenden Gefühlen nahm Jochen auf dem Küchensofa Platz, aber so, daß zwischen ihm und Klara ein erheblicher Zwischenraum blieb. 212
Sie schenkte ihm Kaffee ein, schob ihm die Tasse hin. Sie beweg te sich geschmeidig und ließ – wie Jochen glaubte – ohne es selber zu merken, dabei den Ansatz ihres festen runden Busens sehen. »Milch?« fragte sie. »Zucker?« Er konnte nur stumm nicken, war ganz benommen. »Du«, sagte sie, »ich bin wirklich froh, daß du mal 'raufgekommen bist. Mit dir wollte ich mich immer schon mal unterhalten. Als mir Vater von dir erzählte, habe ich mir gedacht: Endlich mal ein richtiger Kerl! Donnerwetter, der hat es meinem Alten aber gegeben.« »Ich weiß gar nicht, was du meinst!« Jochen rührte und rührte, zwang sich krampfhaft, in seine Tasse zu gucken, um das verlockende Mädchen neben ihm nicht ansehen zu müssen. Sie gab ihm einen kleinen Stoß in die Rippen. »Ach, tu doch nicht so! Du weißt doch ganz genau, was ich meine! Als du dich geweigert hast, dir deine Haare abschneiden zu lassen.« »Ja, so, das …«, sagte er scheinbar ungerührt, aber die Anerkennung, die aus ihren Worten sprach, tat ihm wohl. Sie spann das Garn noch ein bißchen weiter aus. »Ich war ganz weg«, behauptete sie, »also ehrlich … noch nie hat jemand so mit Vater zu sprechen gewagt. Die anderen da unten, auch der große Charly, das sind doch nur Zuckerbubis. Kein Mumm in den Knochen, sag' ich im mer. Aber du … lass doch mal fühlen, ob du schon Muskeln hast!« Unwillkürlich ballte er die Faust, um seine Bizeps anschwellen zu lassen. Sie legte die Hand auf seinen Arm, sagte aber fast gleichzeitig: »So spüre ich nichts!« Und ehe er sich recht versah, begann sie mit flinken Fingern seinen Overall aufzuknöpfen. Er wollte sich wehren, sie zurückstoßen, fürchtete aber, sich lächer lich zu machen, und dann – in Wirklichkeit wollte er ja das gleiche wie sie, schon von dem Moment an, da er in die Küche getreten war und gesehen hatte, daß sie nichts trug, außer ihrem locker gegürteten Ba demantel. Er packte sie bei den Armen, drückte sie auf das Küchenso fa zurück. 213
Sie leistete keinen Widerstand, flüsterte nur, mit geschlossenen Au gen: »O je, bist du stark!« Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte noch ein letztes Bedenken in ihm auf. »Und dein Vater?« »Schläft wie ein Bär!« Jetzt gab es nichts mehr, was ihn zurückhalten konnte.
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Seltsamerweise waren Jochens Gefühle nachher sehr gemischt. Er empfand eine riesige Erleichterung und auch einen wilden Stolz dar auf, daß er nun endlich ein wirklicher Mann war, erfahren zu haben, was er bisher nur geahnt und was er sich weder aus Büchern noch aus den schmutzigen Reden der Gesellen recht hatte vorstellen können. Aber neben diesem Hochgefühl war gleichzeitig eine Ernüchterung in ihm, die er sich nicht erklären konnte. Klara, die ihm eben noch als das schönste, kühnste und erstrebenswerteste Mädchen erschienen war, hatte urplötzlich jeden Reiz für ihn verloren. Er sah, daß ihr Haar dunkel nachzuwachsen begann, daß ihre Haut auf der Stirn nicht ganz rein, daß ihre Nase breit und gewöhnlich war. Als sie sich an ihn schmiegen und ihn küssen wollte, war ihm diese Zärtlichkeit lästig, ja geradezu widerwärtig, und er mußte an sich hal ten, es sie nicht merken zu lassen. »Siehst du, ich hab's doch gewußt«, sagte sie arglos, »du bist ein tol ler Kerl!« »Mach den Bademantel zu«, mahnte er, »wenn nun jemand 'rein kommt!« Sie zog eine Grimasse. »Davor hast du vorhin aber keine Angst gehabt.« Er löste sich aus ihrer Umarmung, stand auf. »Doch«, sagte er, »und wie! Ich möchte so etwas nicht noch einmal erleben!« »Wirklich nicht?« Sie lachte. Ganz plötzlich erschien sie ihm wieder begehrenswert. »Nicht in die ser Situation«, sagte er. Sie zog sich den Gürtel ihres Bademantels fester, strich sich mit bei 214
den Händen das allzu blonde Haar zurück. »Ich weiß gar nicht, was du hast … die Wohnungstüre ist zu, und Vater pennt. Günstiger kann's gar nicht sein.« »Habt ihr hier irgendwo einen Spiegel?« »Über dem Waschbecken.« Es war ein kleiner Spiegel, den Meister Swihalek zum Rasieren zu benutzen pflegte, wenn seine Tochter das Bad für sich in Beschlag ge nommen hatte. Er genügte für Jochen gerade, sich das Haar davor zu kämmen, nach verräterischen Spuren in seinem Gesicht zu suchen – vergebens, er sah ganz aus wie immer. Sie beobachtete ihn dabei belustigt. »Alles in Ordnung, Liebling … willst du mir nicht einen Kuss zum Abschied geben?« Als er sie küßte, fühlte er erneut eine gewaltige Welle des Begehrens auf sich zukommen, und er riß sich von ihr los, als wenn er sich ver brannt hätte.
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Unten in der Werkstatt war die Arbeit inzwischen fortgeschritten, sonst war alles wie immer. Oder doch nicht – die Gesellen, die ihn meist kaum zu beachten pflegten, blickten alle wie auf Kommando in seine Richtung und sahen ihn an, als er durch die weißlackierte Eisen türe hereinkam. »Na, Kleiner, war's schön?« fragte Knut, ein schlaksiger und ziemlich farbloser junger Mann. Und dann brachen sie alle in ein wieherndes Gelächter aus, und so gar der Chauffeur, der die Reparatur eines Mercedes abwartete, lach te mit. Jochen holte tief Luft, versuchte, sich nicht aus der Fassung bringen zu lassen, aber er konnte nicht verhindern, daß er rot wurde. Ohne nach rechts und links zu sehen, ging er auf Charly zu. »Der Meister hat sich hingelegt«, erklärte er, »aber …« »Du hast die Zeit genutzt und inzwischen Klara hingelegt, wie?« rief Knut – und wieder lachten alle auf eine hässliche und gemeine Art. 215
Jochen fuhr herum und ging mit geballten Fäusten auf Knut los. »Kein Wort über Klara!« brüllte er. »He, du hast wohl Angst, dein Engelchen könnte sich die Flügel drek kig machen?« rief der dicke Otto, ein anderer der Gesellen, und hielt sich den Bauch vor Lachen. »Sei still«, brüllte Jochen. »Seid alle beide sogleich still!« Aber gerade das war es, was die Gesellen auf keinen Fall wollten. Mit niederträchtigen Worten machten sie sich über Klara, über Jochen und über das Erlebnis, das die beiden miteinander gehabt hatten, lustig. Jo chen kam gar nicht dazu, darüber nachzudenken, woher sie das alles so genau wußten. Er sah rot und – schlug zu. Seine geballte Faust traf Otto mitten ins Gesicht. Fast im gleichen Augenblick war Knut über ihm. Unter normalen Umständen hätte der einige Jahre ältere Geselle Jochen leicht überwäl tigt, aber die Wut gab dem Jungen Riesenkräfte. Er packte Knut und schleuderte ihn quer durch die Werkstätte gegen einen hübschen, blau lackierten Oldtimer, der beim Anprall Knuts in allen Fugen krachte. Otto, noch ganz benommen, wischte sich mit der Hand das Blut von der Nase, taumelte auf Jochen zu – der stand, die Fäuste erhoben, ab wehrbereit. Möglicherweise wäre er Sieger geblieben, wenn nicht Eberhard, der dritte der Gesellen, durch sein Eingreifen den Kampf entschieden hät te. Er kam von hinten auf Jochen zu und schlug ihn, gerade als er sich umdrehte, um ihn abzuwehren, mit der Faust unter das Kinn. Jochen boxte zurück, aber er war angeschlagen. Als sich jetzt Otto und Eberhard gleichzeitig auf ihn stürzten, war es aus. Es hätte gar nicht Knuts bedurft, der, als die Schlacht schon entschieden war, un bedingt noch ein paar Fußtritte anbringen mußte, wahrscheinlich nur, um sein eigenes Selbstbewußtsein wieder zu stärken. Der riesige Charly war es, der dem Kampf ein Ende machte – aber das hörte Jochen schon nicht mehr. Er hatte unter den unbarmherzi gen Hieben das Bewußtsein verloren. Charly packte ihn beim Kragen des Overalls und schleifte ihn in den Waschraum. Der Chauffeur war ziemlich blass geworden. »Na, das sind ja feine 216
Sitten«, sagte er und überlegte ernsthaft, ob er nicht die Polizei ver ständigen sollte. Aber unter den Blicken der drei rauflustigen Gesellen, die gerade erst auf den Geschmack gekommen waren, verstummte er rasch. Er bückte sich, hob eine schwere Kardanwelle vom betonierten Boden, schwang sie spielerisch in der Hand – worauf die Angriffslust der Gesellen so fort in sich zusammensank.
Inzwischen überschüttete Charly in den Waschräumen Jochen mit Wasser, massierte ihm das Genick, verarztete ihm mit Hilfe einer klei nen Werkapotheke ein Loch am Kinn und eine Wunde an der Schlä fe. Er machte es rasch und geschickt, so daß schon alles vorüber war, als Jochen aufwachte. »Na, endlich«, sagte Charly gutmütig, »ich dachte schon, du wolltest abkratzen.« Jochen bewegte benommen seinen Kopf mit dem triefendnassen Haar. »Verdammt«, sagte er, »was war denn los?« »Sie haben dich fertig gemacht«, erklärte Charly gleichmütig. Jochen zog sich taumelnd am Waschbecken hoch, Charly half ihm dabei. Jochen sah sein verpflastertes Gesicht im Spiegel, stellte fest, daß sein linkes Auge sich zu allem Überfluss zu verfärben begann. Lang sam und dann immer schneller kam die Erinnerung zurück. »Diese Hunde«, stöhnte er, »die gemeinen Kerle …« Charly grinste unbekümmert. »Das kommt davon, wenn man kei nen Spaß verstehen kann.« Jochen begann sich sein nasses Haar mit dem Rollenhandtuch abzu trocknen. »Es gibt Grenzen«, sagte er, »da hört der Spaß entschieden auf. Wer gibt euch das Recht, über ein harmloses Mädchen …« Charly fiel ihm ins Wort. »So harmlos ist Klara nun auch wieder nicht. Bildest du dir denn etwa ein, der Verführungsakt, den du heute erlebt hast, sei der erste gewesen?« Jochen ließ das Handtuch sinken, starrte Charly an – ein hässlicher 217
Verdacht stieg in ihm auf. »Hören Sie auf«, sagte er, »bitte, hören Sie auf!« Aber Charly ließ sich nicht mehr bremsen, er fuhr mitleidlos fort: »So wie mit dir … oder wenigstens so ähnlich … hat sie es mit uns al len gemacht. Das ist eine fleischfressende Pflanze, deine Klara.« Als Jochen schwankte, packte er ihn bei der Schulter. »Hast dir wohl ge dacht, du wärest der einzige, was?« »Ich konnte doch nicht wissen …« »Klar, konntest du nicht. Aber mach dir nichts draus. Jetzt weißt du Bescheid.« »Haben Sie mich … absichtlich da 'rauf geschickt?« »Sicher«, sagte Charly, »das war ja der Spaß. Und außerdem … wa rum solltest du nicht auch mal was erleben?« Jochen beleckte sich die aufgeplatzte Lippe. Ihm war ganz elend. »Klara ist gar nicht so übel«, sagte Charly, »sie tut, was ihr Spaß macht … und warum sollte sie nicht? Die meisten Mädchen sind so, bloß machen sie vorher ein Mordstheater. – Rühr mich nicht an, ich kann und ich darf nicht, und ich will nicht, und das gehört sich nicht! Aber wenn sie einen lange genug verrückt gemacht haben, dann spie len sie doch mit. Warum also nicht gleich so?« »Es gibt aber doch auch«, sagte Jochen mühsam, »anständige Mäd chen!« »So? Gibt's die? Habe persönlich noch keins kennen gelernt«, sag te Charly. »Aber ich!« protestierte Jochen, und dachte an Sibylle. Charly klopfte ihm väterlich auf den Rücken. »Solange man es nicht drauf anlegt, bleiben die meisten anständig, da hast du recht … jeden falls eine Zeitlang. Bis es ihnen zu langweilig wird.« Jochen konnte dergleichen Reden immer noch schwer ertragen. Er schüttelte Charlys Hand ab. Der Geselle schmunzelte. »Nanu? Mir scheint, du hast immer noch nicht die Nase voll? Willst du es auch mal mit mir probieren?« Jochen sah Charly gerade in die Augen. »Ich bin nicht so schwach, wie ich aussehe«, sagte er mit Nachdruck, »wenn sie mich nicht zu 218
dreien überfallen hätten, wäre es ihnen bestimmt nicht gelungen, mich fertig zu machen. Aber so … drei gegen einen, das ist eine Feigheit und eine Gemeinheit noch dazu.« »Immer noch besser für dich, als wenn ich dir die Lehre verpasst hät te«, erklärte Charly seelenruhig, »das wäre dir noch schlechter bekom men. Wo ich hinhaue, da wächst kein Gras mehr. Ich hab' schon mal wegen so was im Gefängnis gesessen. Seitdem lasse ich die Finger da von.« Jochen beugte sich unter den Wasserhahnkran, fing den Strahl mit dem Mund auf, spuckte Wasser und Blut aus. »Du hast dich wacker geschlagen, Junge«, sagte Charly, »hätte ich gar nicht von dir erwartet. Sei froh, daß du es hinter dir hast. Einmal muß te es so und so passieren, anders geht's nicht. Lass dich anschaun … mach den Mund auf. Sitzen die Zähne noch fest?« »Ich glaube schon.« »Na, dann hast du entschieden Glück gehabt. Jetzt bist du ein Mann, einer von uns … war das die Sache nicht wert? Weißt du was, von heu te an kannst du du zu mir sagen, und wenn noch einmal einer was will … verlass dich auf Charly, der bläst sie in die Flucht.« Jochen mußte lächeln, und er wunderte sich, daß er nach allem noch lächeln konnte. »Danke, Charly«, sagte er, »das ist nett von dir.« Charly legte seinen Arm um die Schultern des Jüngeren. »Na, dann wollen wir mal wieder«, sagte er. Und im besten Einvernehmen gingen sie zusammen in die Werk stätte zurück. Dem Chauffeur fiel die Kardanwelle aus der Hand, als er Jochen, zwar geschunden, aber durchaus vergnügt wieder sah.
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Als Meister Swihalek kurz nach Mittag herunterkam, verlor er kein Wort über Jochens Zustand, obwohl der wirklich nicht mehr zu über sehen war. Sein linkes Auge war so verschwollen, daß er es nicht mehr aufbekam, und dazu dunkelblau angelaufen. Aber Herr Swihalek hielt 219
es nicht für nötig, irgendwelche Fragen deswegen zu stellen. Wahr scheinlich gönnte er seinem Lehrling die Prügel, die er ihm selber nicht zu verpassen gewagt hatte, von Herzen. Aber in der Familie Körner war natürlich einiges fällig, als Jochen nach Hause kam. Der Vater fragte, die Mutter jammerte, und Jan um tanzte den älteren Bruder in wahrer Heldenverehrung. Doch Jochen blieb wortkarg. Er wollte seine Kollegen nicht herein reißen – eine Beschwerde des Vaters bei Swihalek hätte, darüber war Jochen sich klar, verheerende Folgen für ihn gehabt – und schon gar nicht wollte er erklären, worum es gegangen war. »Kleine Auseinandersetzung gehabt!« – Mehr war nicht aus ihm her auszubekommen. »Hat der andere wenigstens auch was abgekriegt?« wollte Jan aufge regt wissen. »Hast du ihn zu Brei geschlagen?« »Es waren drei«, sagte Jochen kurz angebunden. Das verschlug sogar Jan die Sprache. Jens war noch nicht zu Hause, und um allen weiteren Fragen und Er mahnungen auszuweichen, verzog sich Jochen gleich nach dem Essen ins Bett. Ruhe hatte er auch tatsächlich nötig, denn nachdem der erste Schock nachgelassen hatte, taten ihm alle Glieder weh. Er war ehrlich dankbar, als die Mutter noch einmal leise in das Zimmer kam, ihm ein Glas Wasser und zwei schmerzstillende Tabletten brachte. »Mein armer Junge«, sagte sie und strich ihm zärtlich durch das wei che braune Haar. Er lächelte schief. »Halb so wild, Mutti.« »Willst du mir nicht erzählen, wie es passiert ist?« Frau Körner hatte sich auf den Bettrand gesetzt. Nur die Nachttisch lampe brannte. Es war so gemütlich und still hier, und als sie ihn strei chelte, fühlte er sich mit einem Male wieder wie ein kleiner Junge, der es ganz selbstverständlich fand, bei jedem Schmerz und jedem Un glück heulend zu seiner Mutter zu laufen und sich trösten zu lassen. Frau Körner spürte, daß er weich wurde. »Mir kannst du doch alles sagen, ich verspreche dir auch … ich rede mit keinem Menschen dar über.« 220
Jochen beobachtete die Mutter aus halb geschlossenen Augen. Wie gerne hätte er ihr alles gesagt, wie liebend gerne sich irgendeinem Menschen gegenüber alles von der Seele gesprochen! »Du hast noch nie Geheimnisse vor mir gehabt«, drängte Frau Kör ner sanft. Ja, das stimmte. Bisher hatte er der Mutter alles anvertrauen können. Er hatte ihr sogar nachträglich von seiner unglücklichen Liebe zu Si bylle erzählt. Er hatte ihr, wenigstens andeutungsweise, berichtet, wie es mit Anita gegangen war. Aber über Klara und über das, was in Swihaleks Wohnküche gesche hen war, konnte er einfach nicht reden. Das war gänzlich unmöglich. Und mit Klara hatte doch alles angefangen. Unwillkürlich öffnete Jochen weit sein gesundes Auge. Hieß das er wachsen sein? Nicht mehr mit der Mutter über alles reden können? Keinen Menschen mehr haben, dem man alles anvertrauen kann? »Ach«, sagte er, »der Krach war schon lange fällig. Die anderen ha ben mich dauernd aufgezogen. Weil ich vom Gymnasium komme. Und wegen meiner Frisur. Na, und da habe ich eben mal 'reingehau en.« Er grinste. »Du siehst, wie es mir bekommen ist.« Die Darstellung war erlogen oder, besser gesagt, sie enthielt nur die halbe Wahrheit. Jochen fühlte sich danach nicht ein bißchen leichter. Aber Frau Körner, die keine Ahnung von den wirklichen Zusammen hängen hatte, war ohne weiteres bereit, ihm zu glauben. »Soll Vater nicht doch mal mit deinem Meister sprechen?« fragte sie besorgt. »Wenn die Burschen dort so grob und so grausam sind, dann …« Er fiel ihr ins Wort. »Mutti«, mahnte er, »du hast mir versprochen, mit niemandem darüber zu reden. Auch mit Vater nicht.« »Aber wenn sie dich noch mal so zurichten …« »Das werden sie nicht. Der Krach war fällig, sagte ich dir doch. Jetzt ist es passiert, und das hat die Luft gereinigt.« Er berührte scheu die Hand seiner Mutter. »Mach dir keine Sorgen um mich, bitte nicht. Es ist wirklich nicht nötig.« Es war, als wenn Frau Körner noch etwas sagen wollte, aber dann gab 221
sie sich doch mit Jochens Erklärung zufrieden. Sie stand auf, beugte sich noch einmal über ihn, gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Schlaf gut, mein Junge.« »Gute Nacht, Mutti«, erwiderte Jochen. Er war fest überzeugt, daß er nicht schlafen könne, nach all dem Aufregenden, was er heute erlebt hatte. Aber nicht lange, nachdem Frau Körner das Zimmer verlassen hatte, schlief er dann trotzdem ein. Es war ihm gar nicht bewußt geworden, wie müde er tatsächlich war. Als Jan ins Zimmer kam, um in das andere Bett zu schlüpfen, schlief Jochen längst. Jan stand lange vor ihm, betrachtete nachdenklich sei nen Heldenbruder und hoffte im geheimen, ihn nur durch seine inten siven Blicke wecken zu können – ihn zu berühren oder gar zu rütteln, wagte er denn doch nicht. Aber Jochen schlief tief und fest, und er spürte nicht das geringste von Jans Bewunderung und Neid. Wenn ich erst so groß wäre wie Jochen, dachte Jan, so stark! Dann brauchte ich mir von niemandem mehr was gefallen zu lassen. Auch nicht von den blöden Mädchen, dann würde ich sie alle verhauen und verachten, ja, verachten! Und mit der festen Gewissheit, daß auch er von Tag zu Tag an Alter und Kraft zunahm, kletterte er in sein Bett, zog sich die Decke bis ans Kinn und träumte von all den Abenteuern, die ihm im wirklichen Le ben niemals zustießen.
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Frau Körner hielt ihr Versprechen nicht, sie konnte es einfach nicht halten. Sie war zu besorgt um Jochen, und so erzählte sie alles, was er ihr anvertraut hatte, seinem Vater. Sie wartete nur gerade so lange, bis Jan sich verabschiedet hatte. Doch Herr Körner war ein besonnener Mann. »Nein«, sagte er, »ich glaube nicht, daß es richtig wäre, da in irgendeiner Form einzugreifen. Nicht, solange Jochen selber es nicht will.« »Aber wir können doch nicht zulassen, daß sie ihn uns totschlagen!« 222
»So weit wird es gewiß nicht kommen.« Herr Körner zerdrückte sei ne ausgerauchte Zigarre im Aschenbecher. »Die Männer dort sind raue Burschen, ich habe Jochen seinerzeit gewarnt. Aber Verbrecher sind sie doch nicht.« »Woher willst du das wissen?!« rief Frau Körner. »Also, zumindest verlange ich von dir, daß du mit Herrn Swihalek sprichst, ganz freund schaftlich, versteht sich …« Herr Körner lachte. »Jetzt mach aber mal einen Punkt, wie stellst du dir das vor? So was wäre doch ganz und gar unmöglich. Gerade so gut könntest du zu meinem Chef gehen und dich darüber beschweren, daß Schulze von der Buchhaltung gegen mich intrigiert … das tut er übri gens auch. Aber das ist für mich kein Grund, mich beim Chef zu be klagen, und du als Außenstehende kannst es erst recht nicht. Du wür dest mich dadurch nur lächerlich machen … und dasselbe würde Jo chen passieren, wenn ich mich an Herrn Swihalek wenden würde!« Frau Körner rang, ohne es selber zu merken, die Hände. »Aber … was sollen wir denn dann tun?« »Abwarten, meine Liebe. Das ist in solchen Fällen immer das klüg ste.« »Deine Ruhe möchte ich haben«, sagte Frau Körner erbittert, »an scheinend ist es dir ganz gleichgültig, was aus unseren Söhnen wird. Du läßt es zu, daß man Jochen brutal zusammenschlägt, und was Jens betrifft …« »Aha«, sagte Herr Körner, »da wären wir mal wieder beim The ma …« Er erhob sich aus seinem Sessel, um damit zum Ausdruck zu geben, daß er dieses Gespräch für völlig überflüssig hielt und als been det ansehen wollte. Aber so leicht war Frau Körner nicht mundtot zu machen. »Ist doch wahr«, sagte sie, »ich verstehe dich langsam wirklich nicht mehr. Wie du es so einfach zulassen kannst, daß er von dieser Bestie missbraucht wird …« »Na, na, na, das sind aber harte Worte! Jens ist kein Kind mehr, er ist fast großjährig, und er weiß genau, was er will … von missbrauchen kann also keine Rede sein. Und außerdem, zu deiner Beruhigung, ich 223
habe mich über Frau Miller erkundigt. Sie ist eine schuldlos geschie dene, durchaus anständige Frau … den einzigen Flecken auf ihrem Ruf verdankt sie den Besuchen unseres Sohnes.« Frau Körner ärgerte sich, daß ihr Mann es sogar fertig brachte zu la chen. »Wenn du die Dinge so siehst«, sagte sie spitz, »dann kann man dir ja nur gratulieren … dann wird es ja ganz in deinem Sinne sein, eine geschiedene Frau zur Schwiegertochter zu bekommen. Die paar Jährchen … mehr als zehn waren es ja wohl nicht … die sie älter ist, machen dir dann wohl auch nichts aus.« Jetzt wurde Herr Körner doch ärgerlich. Er riß das Fenster, um das Zimmer zu lüften, mit einem ganz unnötig heftigen Ruck auf. »Rede keinen Unsinn«, sagte er, »Jens denkt gar nicht daran, sie zu heira ten …« »Und woher weißt du das, bitte?« fragte Frau Körner. »Weil mein Sohn kein Idiot ist!« »Sehr interessant. Also fallen deiner Meinung nach nur Idioten raf finierten Frauenzimmern zum Opfer … habe ich dich richtig verstan den?« »Oh, ja«, sagte Herr Körner, »richtig verstanden hast du mich. Aber das hindert dich natürlich nicht daran, mir das Wort im Munde zu verdrehen …« »Habe ich das getan?« fragte Frau Körner mit einem gekünstelten Lä cheln. »Dann entschuldige, bitte. Es war nicht meine Absicht.« »Was, zum Donnerwetter, ist dann deine Absicht?« Sie trat auf ihn zu, legte beschwörend ihre Hand auf seinen Arm. »Dir klarzumachen, daß wir nicht einfach tatenlos zusehen dürfen, wie Jens in sein Unglück rennt. Wir müssen ihn warnen, ihm die Au gen öffnen …« Herr Körner hatte sich wieder gefaßt. »Nein«, sagte er energisch, »das wäre genau das Verkehrteste, was wir tun können. Wenn wir uns ge gen diese Frau Miller stellen, dann ist das die sicherste Methode, Jens in ihre Arme zu treiben.« »Aber da ist er ja schon! Glaubst du, ich wüsste nicht, wo er jeden Abend bis tief in die Nacht hinein steckt. Bei dieser Frau Miller. Und 224
du weißt es genauso gut wie ich und rührst keinen Finger, um es zu verhindern.« Herr Körner trat dicht vor sie. »Was soll ich denn tun?« fragte er gequält. »Ihm den Umgang mit seiner Freundin verbieten? Dazu ist er zu alt. Er nimmt von mir keine Befehle mehr entgegen. Ihm mit Enterbung drohen, wie es die Väter wahrscheinlich in deinen Lieb lingsromanen tun würden? Wir haben nichts zu vererben. Frau Mil ler schlecht machen? Da würde er mir mit Recht entgegenhalten, daß er sie besser kennt als wir. Also was? Mach mir gefälligst einen Vor schlag.« »Ich meine«, sagte Frau Körner mit einem tiefen Atemzug, »du soll test mit ihm reden. Einfach reden. Dann wirst du ja sehen …« Herr Körner fiel ihr ins Wort. »Nein«, sagte er energisch, »davon halte ich nichts, meine Liebe. Da wir diese Beziehung weder verbieten noch gutheißen können, ist es das beste, so zu tun, als wenn wir nichts davon wüssten. Das allerbeste, glaube mir. Ein einziges falsches Wort von uns könnte verheerende Folgen haben.« Frau Körner war keineswegs überzeugt. Sie zuckte die Achseln, wandte sich ab, begann die Aschenbecher zusammenzuschütten. »Und was ist schon weiter dabei?« fragte ihr Mann. »Ja, wenn er sie heiraten würde, das wäre natürlich eine Katastrophe. Aber so? Ist es nicht besser, er ist mit einer klugen, erfahrenen Frau zusammen, als daß er sich mit so einem grünen Ding herumtreibt, das garantiert über kurz oder lang ankäme und behaupten würde, ein Kind von ihm zu erwarten?« »Und wer sagt dir, daß diese Frau Miller das nicht tun wird?« Herr Körner blitzte seine Frau zornig an. »Also … jetzt langt's mir aber, jetzt habe ich endgültig genug. Von mir aus … sprich mit Jens, wenn du deinen Mund nicht halten kannst. Schlag meine Warnungen in den Wind. Aber beklag dich nicht darüber, wenn es schief geht … wenn du durch dein Eingreifen genau das Gegenteil von dem erreichst, was du vorhast. Junge Männer in diesem Alter reagieren nun einmal überempfindlich auf alle Bevormundungsversuche.« Frau Körner hielt es jetzt doch für richtiger einzulenken. »Aber ich 225
würde doch nie etwas tun, wovon ich weiß, daß du es so ganz und gar nicht gutheißt«, behauptete sie, »gerade deshalb rede ich ja mit dir dar über. Um deine Ansicht zu erfahren. Und um dich zu überzeugen.« Er öffnete sich den Kragenknopf. »Jetzt kennst du also meinen Stand punkt.« »Ja«, sagte sie scheinheilig, »und ich beuge mich deinem Willen.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, half ihm die Krawatte lockern. Er klopfte ihr zärtlich auf den Rücken. »Ich wußte es ja, daß du mein kluges Mädchen bist«, sagte er sehr zufrieden mit sich selber. Jochen wich in den nächsten Tagen ganz bewußt jeder neuen Begeg nung mit Klara Swihalek aus. Er wollte sie nicht mehr wieder sehen. Aber er konnte nicht verhindern, daß die Erinnerung an das, was er mit ihr erlebt hatte, ihn immer wieder überfiel und aufs neue erregte. Sie kam manchmal unter irgendeinem Vorwand in die Reparatur werkstatt herunter, und ihr Auftritt wurde jedes Mal von lauten »Ahs« und »Ohs« der Gesellen, von schrillen Pfiffen und anzüglichen Bemer kungen begleitet, die immer dann besonders unverfroren waren, wenn der Meister nicht in der Nähe war. Nur Jochen senkte den Kopf, preß te die Lippen fest zusammen und merkte gar nicht, daß sie versuchte, ihm ein Zeichen zu geben. Eines Morgens kommandierte der Meister Jochen in die Wohnung hinauf. Er sollte Klara, die angeblich Hausputz machen wollte, beim Möbelrücken helfen. Jochen stand einen Augenblick ganz verdattert – bei der Vorstel lung, daß er nun Klara ganz allein gegenüberstehen sollte, fühlte er sich mehr als unbehaglich. Meister Swihalek verstand ihn falsch. »Du bist dir wohl zu gut, um auch mal was nebenbei anzugreifen«, sagte er, »aber bei mir kommst du damit nicht durch. Ich halte nichts von diesen neumodischen Flau sen. Als ich noch Lehrling war, da wurde wirklich was verlangt, ich mußte …« Jochen, der aus zahlreichen anderen Erinnerungsbildern des Mei 226
sters so genau wußte, wie dessen Lehrlingszeit verlaufen war, daß er es hätte singen können, fiel ihm ins Wort. »Ich gehe schon, Meister!« »Darum möchte ich aber auch gebeten haben.« Jochen hörte den Meister noch brummen, als er auf die eiserne Tür mit der Aufschrift ›Privat‹ zulief. »Na, dann viel Spaß, Kleiner!« rief Charly hinter ihm her. Die anderen Gesellen wieherten vor Lachen. Jochen wunderte sich einmal mehr, daß der Meister nicht das ge ringste von dem schlechten Ruf, in dem seine Tochter Klara stand, zu bemerken schien. Während er die schmale Treppe hinaufstieg, legte er sich zurecht, wie er sich Klara gegenüber verhalten wollte – eisig und ablehnend, das würde wohl das richtigste und auch das einfachste sein. Er wollte sich gar nicht erst auf eine Auseinandersetzung einlassen, ihr keine Gele genheit für erlogene Erklärungen geben. Aber als sie dann die Wohnungstür aufriss und ihm – kaum einen halben Meter von ihm entfernt – gegenüber stand, wurde ihm bewußt, daß ihm die Rolle des eisenharten und kalten Burschen sehr wenig lag. Er spürte mit beschämendem Entsetzen, daß er über und über rot wurde. »Endlich!« rief Klara unbefangen, zog die Türe hinter ihm ins Schloß und wollte sich in seine Arme werfen. Aber er brachte gerade noch die Kraft auf, ihrer Umarmung auszu weichen. »Wo sind die Möbel?« fragte er. Ihre Augen wurden ganz rund vor Staunen. »Was für Möbel?« »Aber der Meister sagte doch …« Klara ließ ihn nicht aussprechen. Sie lachte herzlich. »Und das hast du geglaubt, Jochen? Ich hatte Sehnsucht nach dir, das ist alles.« Er hatte einen süßlichen Geschmack wie von Blut im Mund. »Dann kann ich ja wohl wieder gehen«, sagte er erzwungen. Aber sie war mit einem Schritt zwischen ihm und der Tür. »Halt, was fällt dir ein?« »Lass mich gehen«, verlangte er, aber er wagte es nicht, sie anzuse hen. 227
Klara sah ganz besonders appetitlich aus. Sie hatte sich als Hausfrau verkleidet, trug einen strahlend blauen Kittel, der ihre gut geformten, kräftigen Knie freigab und sich über der Brust spannte, hatte ein knall rotes Tuch um ihr blondes Haar gebunden. Ihre Zähne schimmerten weiß und feucht zwischen den roten Lippen, ihre Augen blitzten vor Erregung und auch – was Jochen allerdings, da er sie nicht so genau in Augenschein zu nehmen wagte – entging, vor Belustigung. »Jetzt weiß ich, woher der Wind weht«, rief sie, »diese dämlichen Kerle unten haben dir was ins Ohr geflüstert! Hätte ich es mir doch denken können. Du hast dich meinetwegen geschlagen.« »War schön dumm von mir«, murmelte er und strich sich unwillkür lich über sein Kinn, wo nur noch ein schmale rote Narbe verriet, daß dort eine klaffende Wunde gewesen war. »Ich finde es fabelhaft«, sagte sie, »daß du es gewagt hast, es mit allen aufzunehmen. Diese gemeinen Feiglinge prügeln ja immer nur, wenn sie zu mehreren sind.« »Die haben aber auch ganz schön was abbekommen«, sagte er. »Glaub' ich dir auf's Wort«, sagte Klara begeistert. Eine Weile standen sie sich schweigend gegenüber. Dann merkte Klara, daß sie so nicht weiterkam und änderte die Taktik. Sie gab die Türe frei. »Also schön«, sagte sie, »dann lauf. Ich versteh' schon. Du willst nicht noch einmal eine Rauferei riskieren.« »Aber«, sagte er verwirrt, »darum geht's doch gar nicht! Du bildest dir doch wohl nicht ein, ich hätte vor denen da unten Angst?« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Kommt mir aber bald so vor.« »Überhaupt nicht.« »Also … was ist dann?« »Du weißt genau, was ist!« stieß er heftig hervor. »Du hast mit jedem von denen …« Sie fiel ihm ins Wort. »Und das glaubst du? Herrje, für so blöd hätte ich dich wirklich nicht gehalten. Ausgerechnet die! Die wären ja glück lich, wenn sie mir bloß den kleinen Finger küssen dürften!« Sie trat 228
dicht auf ihn zu, und der Geruch ihres jungen Körpers gemischt mit einem scharfen Deodorant stieg ihm in die Nase. Er glaubte ihr kein Wort, und dennoch – sein Begehren war stärker als seine Verachtung. Er riß sie in seine Arme, und seine Leidenschaft wurde so übermächtig, daß all seine Bedenken in einer roten Wolke versanken. Frau Körner trug sich schon lange mit dem Plan, sich einmal mit Clau dia Miller, der Freundin ihres Sohnes Jens, auszusprechen. Aber es ge hörte schon ein bißchen Mut dazu, etwas zu tun, von dem sie genau wußte, daß es einigermaßen gewagt war und daß ihr Mann es niemals billigen würde. Er hatte zwar nichts dagegen gesagt, aber nur deshalb, weil er selber auf diese Idee gar nicht gekommen war. Und Frau Kör ner hatte sich wohl gehütet, darüber mit ihm zu sprechen, weil sie sich darüber klar war, daß er es nicht gutheißen würde. Aber wer sagte denn, daß er nun unbedingt recht und sie unrecht haben mußte? Schließlich kannte sie ihre Söhne doch besser als er. Sie hatte sie ja aufgezogen, während er den ganzen Tag im Büro und auch abends oft nicht ansprechbar gewesen war. Nein, sie konnte nicht einsehen, daß es richtig sein sollte, die Din ge einfach so laufen zu lassen. Niemand hatte das Recht, von ihr zu verlangen, daß sie mit offenen Augen und tatenlos zusehen sollte, wie Jens, ihr Lieblingssohn, in sein Unglück rannte. So rief Frau Körner, nach einigen inneren Kämpfen, eines Nachmit tags, als sie allein in ihrer Wohnung war, Claudia Miller an. Claudia meldete sich sofort. Ihre tiefe, ein wenig rauhe Stimme ent sprach genau den Vorstellungen, die Frau Körner sich von dieser Frau gemacht hatte – für sie war es die Stimme einer gewissenlosen Verfüh rerin. Sie holte tief Atem, versuchte, sich unbefangen zu geben. »Hier spricht Frau Körner …« sagte sie mit gekünstelter Munterkeit. Am anderen Ende der Leitung blieb es ganz still. »Die Mutter von Jens«, setzte Frau Körner hinzu. 229
»Ja, ich weiß«, sagte Claudia gepresst. »Mein Anruf«, erklärte Frau Körner, »scheint Sie einigermaßen zu überraschen. Aber ich habe schon seit langem das Gefühl, daß wir bei de über manches miteinander zu reden hätten.« »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« »Ah, wirklich nicht?« »Nein«, sagte Claudia sehr nachdrücklich. Dieser unerwartete Widerstand reizte Frau Körner nur noch mehr. »Schade«, sagte sie, »dann muß ich wohl Jens bitten, Sie mir vorzustel len.« Claudia wußte, wie sehr Jens Auseinandersetzungen oder gar Fa milienszenen hasste. Sie war drauf und dran nachzugeben. Aber ihr Instinkt sagte ihr, daß sie dadurch die Schwierigkeiten nicht vermin dern, sondern nur vermehren würde. »Tun Sie, bitte, was Sie für richtig halten«, sagte sie deshalb be herrscht. Frau Körner gingen die Nerven durch. »Das werde ich auch, worauf Sie sich verlassen können!« schrie sie. Ehe sie noch weiterreden konnte, drückte Claudia auf die Gabel. Lange saß sie unbeweglich, den Hörer in der Hand. Dann wählte sie die Num mer des Kaufhauses ›Karmann‹, verlangte Jens Körner zu sprechen. Es dauerte eine ganze Weile, bis man den jungen Dekorateur an den Apparat gerufen hatte. »Ach, du bist es«, sagte er, eher unwillig als erfreut, nachdem Claudia sich gemeldet hatte, »bitte, mach's kurz, ich bin gerade dabei …« Claudia fiel ihm ins Wort. »Entschuldige, daß ich dich störe«, sagte sie, »aber der Zwischenfall schien mir doch wesentlich genug, ihn dir sofort mitzuteilen …« »Was für ein Zwischenfall? Wovon, zum Kuckuck, sprichst du?« »Deine Mutter hat mich eben angerufen. Sie wollte sich mit mir aus sprechen, über dich natürlich. Als ich ablehnte, drohte sie mir, sich an dich zu wenden …« »Aber wieso denn? Was will sie überhaupt? Wie kommt sie dazu? Ich verstehe nicht …« 230
»Ich noch viel weniger«, sagte Claudia, »du müsstest doch eigent lich deine Mutter besser kennen als ich. Übrigens, damit kein Missver ständnis entsteht … ich habe dich nicht angerufen, damit du irgend etwas unternimmst, sondern nur, damit du vorbereitet, damit du ge warnt bist.« »Danke«, sagte er, plötzlich ein wenig kleinlaut, »das war sehr nett von dir …« »Also, bis nachher Jens … Lass dich nicht länger aufhalten.« »Halt!« rief er, weil er den Eindruck hatte, daß sie schon einhängen wollte. »Nur noch eine einzige Frage … Claudia, würdest du etwas da gegen haben, wenn ich von meinen Eltern wegziehe?« Sie verstand ihn sofort richtig, und gerade deshalb zögerte sie mit der Antwort. »Du kannst dich jederzeit hier einquartieren«, sagte sie dann, »es wäre mir sogar angenehm, wenn diese nächtlichen Aufbrü che bald ein Ende hätten.« »Danke, Claudia«, sagte er erleichtert, »du bist ein fabelhafter Kerl … also entschuldige, so habe ich es nicht gemeint … eine wunderbare Frau, wollte ich sagen. Du kannst mir schon mal ein Plätzchen in dei nem Schrank freimachen. Wahrscheinlich komme ich schon heute Abend mit Sack und Pack an.«
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Frau Körner ahnte nichts Gutes, als Jens früher als gewöhnlich, vor dem Vater und vor Jochen, nach Hause kam. Sie fürchtete sofort, daß er es absichtlich so eingerichtet hatte, um sie zur Rede zu stellen. Aber sie besaß Selbstbeherrschung genug, um sich nichts anmerken zu las sen. »Ah, da bist du ja schon«, tat sie vergnügt, »wenn du Hunger hast, kannst du dir ein Brot nehmen. Mit dem Abendessen wird es noch dauern, ich erwarte die anderen erst in einer halben Stunde.« »Und ich«, sagte der kleine Jan, der seiner Mutter in der Küche mit einem Buch Gesellschaft leistete, »zähle ich überhaupt nicht?« »Aber ja doch«, sagte Frau Körner und strich ihm rasch über 231
die schwarzen Locken, »ich sprach natürlich nur von Vater und Jo chen …« »Es ist besser, Jan, du gehst jetzt in dein Zimmer«, sagte Jens hart. »Warum denn?« protestierte die Mutter sofort. »Er stört mich ja überhaupt nicht …« »Aber mich«, erklärte Jens. Er packte seinen kleinen Bruder im Nak ken, zerrte ihn hoch. Jan quietschte. »Sei doch nicht so roh!« schalt Frau Körner. »Nur aus Fürsorge«, behauptete Jens, »ich möchte nicht, daß das empfindsame Gemüt des Kleinen durch die bevorstehende Auseinan dersetzung verletzt wird.« »Was für eine …«, begann Frau Körner, dann aber, unter dem Blick ihres großen Jungen, stockte sie mitten im Satz. »Du siehst, Jan, deine Mutter ist sich mit mir darin einig, daß es Zeit für dich ist, hier zu verschwinden«, sagte Jens. Er klappte das aufge schlagene Buch zu, nahm es vom Küchentisch, steckte es Jan unter den Arm. »So, und jetzt hau ab, aber schleunigst … oder willst du es dar auf ankommen lassen, daß ich dir Beine mache?« Jan verzog sich brummend und widerwillig in Richtung Küchentü re. Er hatte natürlich geahnt, daß etwas in der Luft lag, und wäre nur zu gerne Zeuge des kommenden Ereignisses geworden. Aber so frech er sonst auch war, gegen den großen Bruder wagte er doch nicht län ger aufzumucken. Jens ging das alles noch viel zu langsam. Er bugsierte ihn mit ei nem nicht eben sanften Stoß in die kleine Diele hinaus, zog die Türe fest hinter ihm ins Schloß. »Also«, sagte er hart, »kommen wir zur Sa che …« »Jens«, sagte Frau Körner, krampfhaft bemüht, ihre Nervosität zu überwinden, »du bist jetzt sehr aufgeregt! Wäre es nicht besser, wir würden später … vielleicht morgen …« Jens riß die Türe auf, warf einen Blick hinaus und vergewisserte sich, daß Jan vollkommen von der Bildfläche verschwunden war. Mit einem Ruck zog er sie wieder ins Schloß. »Nein«, sagte er energisch, »jetzt«. Er 232
wandte sich seiner Mutter zu, seine hellen Augen brannten wie blaue Flammen. »Was wolltest du Claudia Miller sagen?« Frau Körner fühlte sich sehr, sehr unbehaglich. »Nichts Besonderes«, behauptete sie, »was stellst du dir denn vor? Ich wollte … ja eigentlich wollte ich sie nur einmal kennenlernen. Sieh mal, ich weiß natürlich, daß ihr beide schon eine ganze Weile befreundet seid … Vater übri gens auch … ja, und da dachte ich mir: Höchste Zeit, daß du dir diese Frau mal persönlich ansiehst!« Sie sah Jens mit weit aufgerissenen Au gen, ohne zu blinzeln, an, wie alle Menschen, die etwas zu verbergen haben und unbedingt den Anschein erwecken wollen, daß sie nichts als die Wahrheit sagen. Jens ging auf ihr Spiel ein. »Wenn das so ist, Mutter«, sagte er bedäch tig, »besteht wahrhaftig kein Grund für eine Auseinandersetzung …« »Siehst du!« triumphierte sie. »Was habe ich dir gesagt!« Aber er ließ sich nicht unterbrechen, »… dann werde ich Claudia, sa gen wir, für nächsten Sonntag zu uns einladen. Einverstanden?« Frau Körner wußte nur zu gut, daß eine solche Einladung mehr oder minder bedeuten würde, daß die Familie bereit war, Claudia als Schwiegertochter und Schwägerin anzuerkennen – eine etwa dreißig jährige, geschiedene Frau, zehn Jahre älter als Jens! Nein, das kam na türlich gar nicht in Frage. »An eine offizielle Einladung«, sagte sie vorsichtig, »hatte ich eigent lich nicht gedacht.« »Dann wirst du mir sicher dankbar sein, wenn ich dich auf diese, ei gentlich recht nahe liegende Idee gebracht habe.« »Ja, natürlich, nur … ich werde …«, stotterte Frau Körner. Sie hat te eigentlich sagen wollen: … mit Vater darüber sprechen! – Doch ge rade noch rechtzeitig fiel ihr ein, daß ihr auch dieser Ausweg verbaut war. Sie wagte nicht einmal daran zu denken, wie ihr Mann es aufneh men würde, wenn er erfuhr, was für einen eigenmächtigen und ver hängnisvollen Schritt sie unternommen hatte. »Jens«, bat sie, »bitte, sei doch vernünftig!« »Ich habe durchaus nicht den Eindruck, mich bisher wie ein Narr be nommen zu haben«, erwiderte er kalt. 233
»Du weißt doch genau«, sagte Frau Körner flehend, »daß wir diese Frau Miller unmöglich in unsere Familie aufnehmen können! Du hast doch bestimmt niemals daran gedacht, sie zu heiraten!« »Du wirst lachen … doch, das habe ich«, erklärte er mit steinerner Miene, »und ich wäre längst verheiratet, wenn ich volljährig wäre. Aber in ein paar Monaten ist es ja soweit, und deshalb wäre es ganz gut, wenn ihr alle euch schon jetzt innerlich darauf einstellen würdet.« »Nein!« Frau Körner schrie es fast. »Nein, Jens, das kannst du nicht tun! Diese Frau … sie ist doch viel zu alt für dich! Sie hat dich ver führt … sie nützt dich aus …« Er fiel ihr ins Wort. »Danke, das war genau das, was ich wissen woll te. Ich habe zwar nie einen Augenblick an deiner Einstellung gezwei felt, wollte dir aber nicht unrecht tun.« Er drehte sich um, ging zur Türe. »Jens!« Frau Körner lief ihm nach. »Wo willst du hin?« »Auf den Boden hinauf, Koffer holen. Ich darf mir doch einen oder zwei von euch ausleihen? Ihr bekommt sie mit Sicherheit nach dem Umzug zurück.« »Das kannst du nicht tun, Jens, ich bitte dich! Du kannst mich doch nicht in eine solche Situation bringen! Was soll ich denn Vater sa gen?« Diese Frage war rein rhetorisch gemeint, aber Jens beantwortete sie dennoch: »Am besten die volle Wahrheit.« »Nein, bitte, bleib … bleib bei uns, Jens! Hast du es denn nicht immer gut zu Hause gehabt? Habe ich nicht alles für dich getan? Bleib wenig stens, bis du volljährig bist …« Seine Züge entspannten sich. »Ich tät's ja gerne, Mutter. Oder glaubst du, ich wäre verbohrt und undankbar? Aber wie stehe ich denn vor Claudia da, wenn ich jetzt klein beigebe? Ich kann doch nicht von dir verlangen, daß du dich bei ihr entschuldigst …« Er ließ das Ende des Satzes wie eine halbe Frage in der Luft schweben. Aber Frau Körner antwortete nicht, sie preßte die Lippen zusam men. »Na, siehst du«, sagte er, »also muß ich fort. Es hilft nun mal nichts. 234
Wir müssen die Suppe auslöffeln, die du uns eingebrockt hast. Außer dem, was verlierst du schon an mir? Ich bin die letzte Zeit ja doch nur zum Schlafen nach Hause gekommen …« »Darum geht es ja nicht, Jens«, klagte Frau Körner, »es ist ja nur … deinetwegen! Ich habe solche Angst, daß du bei dieser Frau hängen bleibst.« Als sie den Ausdruck seines Gesichtes sah, beeilte sie sich hin zuzufügen: »Sie kann ja ganz reizend sein, das will ich dir glauben! Aber … eine Frau, die schon eine verkorkste Ehe hinter sich hat … und dazu zehn Jahre älter ist! Das kann nicht gut gehen, Jens, denk doch nur mal nach!« Er hatte eine heftige Antwort schon auf der Zunge, aber er schluckte sie, weil er spürte, daß ihre Tränen echt waren – und er hatte sie doch trotz allem sehr, sehr lieb. »Nimm's nicht so tragisch, altes Mädchen«, sagte er und nahm sie in die Arme, »noch bin ich ja nicht verheiratet, warten wir's erst mal ab.« Aber schon während er es sagte, wußte er, daß er damit eigentlich ei nen Verrat an Claudia beging. »Sie will mich nämlich gar nicht heira ten, weißt du«, fügte er erklärend hinzu, »ich bin ihr noch zu grün.« Frau Körner löste sich aus seiner Umarmung. »Fall darauf nur ja nicht herein, Junge«, sagte sie heftig, »dich nicht heiraten wollen? Da kann ich ja nur lachen. Die Frau, die dich nicht haben will, die müßte erst geboren werden.« »Obwohl ich kein Abitur habe?« fragte er und wußte selber nicht, wie er auf diese Frage kam, die doch eigentlich gar nichts mit dem Pro blem zu tun hatte. »Wie kommst du darauf?« fragte sie erstaunt. »Natürlich waren wir damals etwas enttäuscht, das kannst du uns nicht verdenken, aber …« »Schon gut, Mutter!« Er nahm sie noch einmal in die Arme, küsste sie auf beide Wangen und riß sich fast im gleichen Augenblick los. »Ich hab's eilig!« Er öffnete die Türe und rief »Jan!« Der kleine Bruder tauchte so blitzschnell auf, daß deutlich wurde, wie sehr er auf ein Zeichen gewartet hatte. »Du kannst mir beim Packen helfen«, sagte Jens, »ich verreise. Für längere Zeit.« 235
»Kann ich dann dein Zimmer kriegen?« fragte Jan mit dem unbe kümmerten Egoismus seiner Jugend. »Ich glaube, das steht doch eher Jochen zu«, sagte Jens, »aber du kannst von mir aus mit Vater darüber reden!« »Au fein, das mache ich!« rief Jan begeistert. »Und was soll ich jetzt zuerst tun?« »Räum schon mal meine Hemden aus dem Schrank«, befahl Jens. »Ich hole inzwischen die Koffer!« Jan stürzte sich sofort an die Arbeit, beseligt von der Aussicht, nun endlich bald ein eigenes Zimmer zu bekommen. Die Packerei erwies sich als nicht weiter schwierig, weil die beiden Brüder einfach alles, was nicht niet- und nagelfest war, in die Koffer stopften. Frau Körner half ihnen nicht, sie unternahm aber auch keinen Ver such mehr, Jens aufzuhalten. Sie hatte begriffen, daß sie, wenn ihr Mann Jens nicht mehr antraf, jede beliebige Erklärung abgeben konn te, und das war ihr entschieden lieber, als sich zu ihrem Vorgehen be kennen zu müssen. So vollzog sich der Auszug von Jens Körner aus der elterlichen Woh nung so rasch und undramatisch, wie es keiner der Beteiligten je für möglich gehalten hätte.
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Es wurde Frühling, und das Verhältnis zwischen Klara und Jochen hat te sich eingespielt. Es war den beiden zur Gewohnheit geworden, daß er jede Gelegenheit benützte, sie in der Wohnung aufzusuchen, wenn er wußte, daß Meister Swihalek nicht da war. Zu ihr zu kommen, wenn ihr Vater im Nebenzimmer schlief, wagte er allerdings nicht mehr. Die Gesellen hatten aufgehört, ihn zu verspotten. Sie verstanden es sehr gut, daß Jochen sich eine so einladend dargebotene Gelegenheit nicht entgehen ließ. Sie hätten es ja selber auch nicht anders gemacht. Außerdem war nur zu offensichtlich, daß das, was Jochen für Klara empfand, alles andere als eine romantische Liebe war. Das körperli che Begehren, das Jochen zu ihr trieb, paßte nur zu gut in die Vorstel 236
lung, die sie selber sich von den Beziehungen der Geschlechter unter einander machten. Es stimmte. Jochen liebte Klara nicht. Er wußte nichts mit ihr zu reden, hatte nicht einmal das Bedürfnis dazu. Er schenkte ihr we der Vertrauen noch Bewunderung. Er empfand nichts als eine ge wisse Dankbarkeit für sie, weil sie es ihm so leicht machte und an dererseits auch nichts von ihm erwartete, was er ihr nicht hätte ge ben können. Abends oder außerhalb der Wohnung trafen sie sich nie. Ohne ein Wort darüber miteinander zu verlieren, wußten sie beide, daß sie kein Bedürfnis danach hatten. Klara hatte Jochen gerne, wenn sie mit ihm allein war – in der Öffentlichkeit hätte sie sich seiner geschämt. So gut er aussah – er war im letzten halben Jahr gewachsen, hatte brei tere Schultern, einen kräftigeren Körper bekommen, mußte sich jetzt schon täglich rasieren –, für Klara war er eben doch nur ein Junge. Und Jochen wäre es genauso peinlich gewesen, sich mit der aufgedon nerten Klara irgendwo sehen zu lassen, die in voller Kriegsbemalung immer noch älter wirkte, als sie wirklich war. So gingen sie, abgesehen von den flüchtigen, aber intensiven Minu ten der Gemeinsamkeit, jeder seine eigenen Wege und fragten auch nicht danach, was der andere trieb. Jochen war in der ersten Zeit der ungewohnten körperlichen Arbeit abends so erschlagen gewesen, daß er froh war, wenn er im Bett lag. Aber allmählich gewöhnte sich sein Körper an die Umstellung. Jochen wurde wieder unternehmungslustiger. Den Kontakt mit den Schulkameraden hatte er so gut wie vollstän dig verloren, seit Anita mit ihm gebrochen hatte. Ein-, zweimal war er noch zufällig auf Peter Hesse getroffen. Sie hatten auch miteinander gesprochen, aber die Worte, die sie wechselten, hatten die Kluft, die zwischen ihnen entstanden war, nicht überbrückt, sondern noch er weitert. Sie spürten deutlich, daß sie in verschiedenen Welten lebten und sich nichts mehr zu sagen hatten. Die gemeinsamen Interessen waren auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Aus diesem Grund ging Jochen auch nicht auf Arturs Aufforderung 237
ein, der mehrmals anrief und ein Treffen vorschlug. Er wollte sich und dem Freund eine Enttäuschung ersparen. Es war ihm ganz angenehm, sich frei zu fühlen, frei und wild wie ein einsamer Wolf. Er durchstreifte die Stadt, suchte Lokale auf, die er früher nie gekannt hatte, stieß manchmal auf Sympathie, häufiger auf Ablehnung, die ihn jedoch nicht störte. Er fühlte sich stark genug, es mit jedem anderen Jungen aufzunehmen, und gerade das Gefühl der inneren Sicherheit hielt die anderen davon ab, ihn tatsächlich heraus zufordern. Am wohlsten fühlte er sich im ›Big Apple‹, einem Beatschuppen im Osten der Stadt. Hier gab es nur junge Leute, und die meisten waren wie er selber unter zwanzig. Auch die Mitglieder der Beat-Band waren jung, tagsüber übten sie wohl einen gewöhnlichen Beruf aus. Kellner oder Kellnerinnen gab es nicht. Man holte sich sein Getränk vorne an der Theke, wo ein dicker Wirt einschenkte und seine Frau und seine Tochter unentwegt Gläser spülten. Coca und Limo wurden nur in Fla schen, höchstens mit einem Strohhalm ausgegeben. Jochen tanzte mal mit diesem Mädchen und mal mit jenem. Die Partnerin war ihm eigentlich ganz gleichgültig, es kam ihm nur auf die rhythmische Bewegung an sich an. Niemals lud er ein Mädchen zu einem Glas ein oder dachte daran, sie nach Hause zu bringen. Aber eines Abends fragte ihn seine Partnerin ganz unverblümt, als er sich gerade wieder von ihr trennen wollte: »Willst du nicht mit an unseren Tisch kommen?« Erst jetzt sah er sie richtig an. Sie erinnerte ihn irgendwie an Sibyl le, obwohl sie eigentlich ganz anders aussah. Sie hatte schwarzes, in der Mitte gescheiteltes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, und eine bräunliche Haut – aber ihre Augen, helle, kluge, ein ganz klein wenig spöttische Augen, glichen denen von Sibylle. »Ich heiße Jenny«, sagte sie ungeduldig, »na, also, was ist?« Jochen reckte den Hals, um nach dem Tisch hinübersehen zu kön nen, zu dem Jenny ihn lotsen wollte. Es war ein kleiner Tisch, an dem dichtgedrängt zwei Burschen und zwei Mädchen saßen, die ihm auf den ersten Blick gefielen. 238
Sie waren modisch gekleidet, aber nicht übertrieben, einer der Jun gen trug eine Beatlefrisur, der andere das Haar halblang, so ähnlich wie Jochen selber. Die Mädchen waren beide hübsch. »Von mir aus«, sagte Jochen achselzuckend. Jenny nahm ihn bei der Hand und zerrte ihn zu den anderen hin. »Das ist Mecki«, sagte sie und zeigte auf den mit der Beat-Mähne, »das Rolf … meine Freundin Uli … und Gitte!« Jochen schüttelte die Hände, die man ihm reichte. Uli trug einen braunen, kurz geschnittenen Pagenkopf im Courrèges-Stil, Gitte hat te ihr langes blondes Haar auf dem Hinterkopf zusammengebunden. Sie war Jochen schon während des Tanzes aufgefallen, weil ihre Mäh ne, sobald sie in Bewegung war, wie eine Fahne hinter ihr herzuflat tern pflegte. »Na, und wie heißt du?« fragte Jenny. Jochen stellte sich vor, setzte sich zu den anderen. Aber er hatte keine Gelegenheit, sich auszuruhen – was er auch gar nicht vorhatte –, kaum daß ein paar allgemeine Sätze gewechselt wor den waren, schleppte ihn ein anderes Mädchen, diesmal Uli, auf die Tanzfläche. Es war nur zu deutlich, daß man ihn überhaupt nur deshalb geka pert hatte, weil ein Tänzer in der Clique fehlte. Aber das kränkte Jo chen nicht weiter. Ihm gefielen die jungen Leute, und es war ein ange nehmes Gefühl, irgendwo dazu zu gehören. Sie trafen sich von nun an öfter. Meist im ›Big Apple‹. Manchmal gingen sie auch zusammen ins Kino, mit Vorliebe in Filme, in denen sie Spektakel machen konnten. Erst nach und nach bekam Jochen heraus, daß die beiden Jungen Lehrlinge waren wie er selbst. Mecki arbeitete als Bäcker, wobei er zu seinem Leidwesen in der Backstube seine prächtige Mähne immer erst mit einem Haarnetz zusammenbinden und dann unter einer weißen Mütze verbergen mußte. Aber das war ihm die Sache wert. Rolf hatte eine Banklehre begonnen. Uli war Friseuse, Jenny lernte Näherin, und Gitte arbeitete im Haushalt. Aber, wie gesagt, das erfuhr Jochen alles erst nach einiger Zeit. Sei 239
ne neuen Freunde versuchten zwar nichts zu verbergen, aber sie hat ten kein Interesse an privaten Bekenntnissen. Sie führten auch so gut wie nie ernsthafte oder vernünftige Gespräche miteinander, sondern blödelten einfach nur. Und Jochen, der durch seine Arbeit und die Be rufsschule vorläufig noch stark beansprucht war – ganz abgesehen da von, daß er einen Fahrkurs besuchte, um den Führerschein zu ma chen –, wollte gar keine engeren oder interessanteren Beziehungen, für ihn war die Hauptsache: Er war nicht mehr allein.
*
Anfang Mai trafen verschiedene Ereignisse in Jochens Leben zusam men: Er machte seinen Führerschein, konnte durch Meister Swihalek ein gebrauchtes Motorrad erstehen und – bekam einen Brief von Si bylle. Auf den Führerschein Klasse IV den einzigen, den er jetzt mit seinen 17 Jahren benutzen konnte, hatte er schon seit Jahren hingearbeitet, ge nauso wie auf das Motorrad. Diese Errungenschaften bedeuteten also, obwohl er mächtig stolz darauf war, doch keine Überraschung. Aber daß Sibylle ihm schrieb, warf ihn einfach um. Er war es nicht gewohnt, Post zu bekommen – wer wollte ihm denn schon schreiben? Und ausgerechnet ein Brief von Sibylle! Er schloß sich in seinem Zimmer ein – dem gemütlichen kleinen Raum, der ehemals Jens gehört hatte –, um ihn in Ruhe zu lesen. Si bylle schrieb, daß sie in den Osterferien zu Hause gewesen war und ge hofft hatte, ihn zu treffen oder doch wenigstens etwas von ihm zu hö ren. »Ich habe oft an Dich gedacht«, schrieb sie, »und es kommt mir jetzt so vor, als wenn wir beide – aber ganz besonders ich – uns wie richti ge Kindsköpfe benommen hätten. Worüber haben wir uns eigentlich zerstritten? Das alles scheint mir jetzt so albern und unwesentlich. Wir haben uns die schöne Zeit, die wir miteinander hätten genießen kön nen, selber verdorben. Komisch, daß man zu solchen Einsichten im mer erst dann kommt, wenn es zu spät ist. 240
Ja, die schönen alten Zeiten! Was habe ich oft über die Schulaufgaben geschimpft, die sie uns auf der alten Penne aufgebrummt haben! Und dabei wird hier in Calw …« Und dann folgte ein ausführlicher Bericht all dessen, was sie in der höheren Handelsschule lernen mußte und wie sie im dortigen Internat lebten. »Mädchen und Knaben streng getrennt, selbst Du hättest kei nen Grund, eifersüchtig zu sein …« Jochen las Sibylles Brief zweimal, ja, sogar dreimal. Er freute sich ehrlich, er war entschlossen, ihr zu antworten. Er setzte sich sogar an seinen Schreibtisch, nahm den Kugelschreiber zur Hand, schrieb das Datum rechts oben auf die Seite eines Blocks, den er gewöhnlich für die Berufsschule benutzte. »Liebe Sibylle …« Aber was weiter? War die Anrede überhaupt so gut? »Liebe Sibyl le …«, das klang fad, entsprach durchaus nicht seinen Gefühlen. Doch was empfand er denn überhaupt noch für sie? Selbst wenn er die Augen schloß, konnte er sich Sibylle nicht mehr ganz klar vorstel len. »Liebe Sibylle«, schrieb er, »bitte schick mir doch mal ein Foto von Dir!« Aber nein, das klang zu blöd! Ritsch, ratsch riß Jochen den kaum begonnenen Brief durch und warf die Fetzen in den Papierkorb. Ich muß das erst mal überschlafen, dachte er, morgen … ja, morgen fällt mir bestimmt was Besseres ein! Er steckte Sibylles Brief in die Innentasche seines Jacketts und stand auf, verließ, nach einem letzten, flüchtigen Blick in den Spiegel sein Zimmer. Er hatte es heute besonders eilig, wollte er doch seinen neu erstande nen ›fahrbaren Untersatz‹ den Freunden vorführen.
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Jochen erregte mit seinem Motorrad das erwartete Aufsehen. Mecki und Rolf taten zwar so, als wenn sie durchaus nicht beeindruckt wä ren. Rolf hielt sich, die Hände in den Taschen, mit einem überhebli chen Lächeln um den Mund etwas abseits. Mecki bückte sich, fingerte an der Maschine herum und suchte, ob er etwas auszusetzen fand. »Scheint einige Jährchen auf dem Buckel zu haben«, sagte er, »sieh mal hier, die Schraube ist verrostet … wenn du die nicht ersetzt …« »Wieviel Hubraum hat denn das Ding überhaupt?« fragte Rolf. »Zweihundertfünfzig? Lohnt sich eigentlich gar nicht. Wollen wir wet ten, daß ich mit meinem Fahrrad genauso schnell vorwärts komme?« Aber Jochen merkte deutlich, daß aus all dieser Miesmacherei nur der pure Neid sprach. Er lachte. Die Mädchen reagierten anders. »Schick«, sagten sie, »pfundig!« – »Also wirklich – ganz große Klasse!« Jede einzelne von ihnen wäre am liebsten sofort mit ihm losgebraust. Jochen bremste ab. Er konnte schließlich nicht alle drei auf einmal spazieren fahren, und er wollte auch die Freunde nicht noch mehr ver ärgern. Er versuchte, seinen Triumph hinter aufgesetzter Grobheit zu ver bergen. »Hört auf mit dem Theater«, sagte er, »ihr tut ja grade so, als wenn's ein Jaguar wäre.« Aber er konnte sich nicht verkneifen, hinzu zufügen: »Übrigens habe ich vor, mir im Herbst, wenn ich 18 bin, ein Auto zuzulegen.« »Irgend so 'ne alte Karre«, sagte Rolf prompt. »Nee, da warte ich doch lieber, bis ich mir was Rassiges anschaffen kann«, behauptete Mecki. Jochen lachte. »Das schaffst du erst, wenn du Opa bist.« Sie zogen mehr oder minder einträchtig in den ›Big Apple‹, und die Jungen drehten heute ganz besonders auf, um die Scharte auszuwet zen, die Jochen mit seinem Motorrad ihrem Ansehen geschlagen hat te. Jochen fühlte sich großartig, sie waren alle ganz besonders vergnügt und ausgelassen. Als sie gegen zehn Uhr den Beatschuppen verließen, schlug er vor: »Einen von euch könnte ich nach Hause bringen …« 242
»Mich!« rief Jenny sofort. »Ich wohne am weitesten draußen, da lohnt es sich wenigstens!« Jochen war sich selbst nicht recht darüber klar, ob er einen Jungen oder ein Mädchen hatte mitnehmen wollen. Aber Jennys Erklärung entschied den Fall. Sie war ungewöhnlich energisch und verstand sich darauf, ihre Wünsche durchzusetzen. Die anderen wußten schon, daß gegen ihre Entschlossenheit kein Kraut gewachsen war, und fügten sich ohne weiteres. »Schade«, sagte Uli nur. Und Gitte: »Aber das nächste Mal bin ich dran, ja?« Rolf und Mecki taten so, als wenn ihnen gar nichts an einer Probe fahrt läge. Der Abschied war kurz und schmerzlos. Jochen holte sein Motorrad, ließ es an. Jenny klemmte sich hinter ihn, umschlang ihn fest mit bei den Armen, und los ging die Fahrt. Jochen holte aus der Maschine heraus, was herauszuholen war. Das war allerdings nicht gerade viel. Dennoch genoß er die Geschwindig keit, den Fahrtwind, der ihm durch die Haare strich, die Wärme des schlanken Mädchenkörpers, der sich gegen seinen Rücken preßte. »Gefällt's dir?« schrie er ihr zu. »Fab!« rief sie zurück – wobei es unklar war, ob sie ihn verstanden hatte oder nur von sich aus ihrer Begeisterung Ausdruck geben woll te. Als er aus den bekannten Straßen heraus war, mußte er langsamer fahren, damit sie Gelegenheit hatte, ihm zu zeigen, wie er zu ihr nach Hause fand. Die Straßen hier draußen wurden immer schlechter be leuchtet, es waren eigentlich gar keine Straßen mehr, sondern nur noch Fahrbahnen mit vereinzelten Häusern und Schuppen, Lagerhäusern und Schrebergärten dazwischen. Das Haus, in dem Jenny mit ihren Eltern wohnte, lag sehr einsam in der Nähe eines Schienengeleises. »Stop!« rief sie, »da drüben ist es!« »Es brennt aber kein Licht«, sagte er skeptisch. »Meine Eltern sind wahrscheinlich ins Wirtshaus gegangen«, erklär 243
te Jenny, »das liegt jenseits der Bahnlinie, man sieht es von hier aus nicht.« Jochen sah sich um. »Verdammt einsame Gegend. Und da traust du dich nachts heraus?« Jenny lachte unbekümmert. »Nur keine Bange, mir passiert schon nichts. Ich fahre bis zur Endstation vom Fünfer-Bus. Und dann …« Sie senkte die Stimme, als wenn sie ihm ein Geheimnis verriete. »Ich habe immer eine Plastikdose mit Pfeffer bei mir …« »Wozu?« fragte er erstaunt. »Als Waffe natürlich. Du hast keine Ahnung, wie weh das tut, wenn man das Zeug in die Augen kriegt. Das wirft den stärksten Mann um.« Sie waren jetzt abgestiegen, schoben das Rad zwischen sich. Die Stra ße war zu Ende. Nur noch ein furchiger Weg führte zu dem Haus. Er dachte daran, daß er sich nicht auskannte und daß es nicht sehr reiz voll sein würde, das Motorrad nachher allein wieder zurückzuschie ben. Er blieb stehen. »Also dann«, sagte er. »Schönen Dank fürs Nachhause-Bringen.« »Ich glaube, ich bleibe stehen und warte, bis du drinnen Licht machst, damit ich weiß, daß alles in Ordnung ist.« Sie stand dicht vor ihm. Hier draußen, fast auf freiem Feld, hatten die Sterne einen ganz anderen Glanz als über der Stadt. Jennys Augen, die ihn von Anfang an an Sibylle erinnert hatten, schimmerten ge heimnisvoll im Mondlicht. »Willst du nicht lieber mit 'rein kommen?« fragte sie. Da er unschlüssig war, was er darauf antworten sollte, schwieg er. »Du brauchst keine Angst zu haben, meine Eltern kommen vor Mit ternacht nicht heim«, sagte Jenny, »wenn die Karten spielen, finden sie nie ein Ende.« Jochen wußte nicht: war Jenny so naiv, daß sie sich wirklich nichts dabei dachte, einen Jungen nachts mit in die Wohnung zu nehmen, oder war sie so leichtsinnig, daß sie es darauf anlegte, mit ihm allein zu sein? 244
Er war sich darüber klar, daß er, ganz gleich, was sie jetzt von ih rem Zusammensein erwartete, bei ihr zum Ziel kommen würde, und er spürte, wie sein Blut bei dem bloßen Gedanken an ein Abenteuer in seinen Adern zu brausen begann. Aber irgend etwas hielt ihn zurück. War es Sibylles Brief, den er im mer noch bei sich trug? War es sein Gewissen? Sein Bedürfnis nach Selbstachtung? Er wollte Jennys Naivität so wenig ausnutzen wie ihre mögliche Verdorbenheit. »Ich muß morgen früh 'raus«, sagte er. Ihre Zähne glänzten, als sie lächelte. »Sooo früh?« Sie legte ihre Arme um seinen Hals. Er küßte sie, weil er spürte, daß sie es erwartete. Dann packte er ihre Handgelenke, löste ihre Arme. »Gute Nacht, Jenny«, sagte er, »bis bald!« Er drehte das Motorrad um und schob es in Richtung der Straße zu rück. Erst als er die Fahrbahn erreicht hatte, wandte er sich noch ein mal um. Mit Erleichterung stellte er fest, daß in dem einsamen Haus am Bahndamm die Lichter angegangen waren. Er schwang sich auf sein Motorrad und brauste in Richtung Parkstadt zurück. Das Bewußtsein, sich selbst besiegt zu haben, erfüllte ihn mit männ lichem Stolz.
Als Jochen drei Tage später die Clique wieder traf, merkte er sofort, daß die anderen sich ihm gegenüber anders benahmen als sonst. Aber er wollte es zuerst nicht wahrhaben, er redete sich ein, daß er überemp findlich sei. Aber dann gingen die Jungen zu direkten Sticheleien über. »Na, wie geht's denn Muttis bravem Bubi heute?« fragte Mecki. »Hat er auch schön sein Fläschchen ausgetrunken?« Die Mädchen kicherten, als wenn Mecki den Witz des Jahrhunderts gemacht hätte. 245
»Und sein Spinati gegessen?« fragte Rolf. Noch immer hatte Jochen keine Ahnung, worauf das Ganze eigent lich hinaus sollte. »Bei euch piept's wohl«, sagte er. »Aber nicht doch, wir sind nur besorgt um dich«, behauptete Rolf mit scheinheiligem Gesicht. »Dazu besteht wahrhaftig kein Grund«, sagte Jochen. Er hatte die Brauen zusammengezogen, und seine Augen hatten sich verdunkelt. »Er meint, weil er einen Führerschein hat, ist er sicher im Verkehr«, sagte Mecki und wieherte. »Und dabei hat er keine Ahnung, der Arme«, sagte Jenny mit schein heiligem Gesicht, »er weiß noch gar nicht, wie man's macht!« Die Jungen brüllten. Jenny wandte sich an die beiden anderen Mädchen. »Meint ihr nicht auch, es wird höchste Zeit, daß man es ihm beibringt?!« »Aber die Mutti hat's ihm doch verboten!« grölte Mecki. Jetzt erst begriff Jochen, worauf die anderen anspielten – aber er merkte zu seiner eigenen Überraschung, daß er nicht einmal rot wur de. »Tut mir leid, wenn ich dich enttäuscht habe, Jenny«, sagte er eisig. »Enttäuscht? Du hast es ja nicht einmal versucht!« rief Jenny mit schriller Stimme. In diesem Augenblick fand Jochen sie geradezu ekelhaft. »Ich mache mir nun einmal nichts aus Mädchen, die sich einem an den Hals wer fen«, erklärte er, »wenn schon, dann treffe ich selber die Wahl. Ich las se mich nicht überrumpeln.« Jetzt war es Jenny, deren Gesicht rot anlief. »Das ist unverschämt!« »Finde ich nicht. Du gibst doch selber zu, daß du mich in eure Woh nung locken wolltest. Aber gerade das hat mir nicht gepaßt. Wenn ich was will, melde ich mich schon selber.« »Wenn du kannst!« rief Mecki. Jochen wandte sich ihm zu. »Ach, halt doch die Klappe, du Ange ber«, sagte er verächtlich. Mecki ging sofort in Boxstellung. »Sag das noch mal, du!« »Jederzeit!« Die Auseinandersetzung hatte auf der Straße vor dem ›Big Apple‹ 246
stattgefunden. Die jungen Leute, die ursprünglich in das Lokal hinein wollten, bildeten sofort einen Kreis um die Gruppe. Jochen hatte nicht die geringste Lust, sich zu prügeln. Aber er hat te auch keine Angst. Charly hatte ihm inzwischen einige Schläge und Griffe beigebracht, mit denen er sich durchaus zur Wehr setzen konn te. Außerdem war er durch die körperliche Arbeit sehr viel kräftiger geworden als früher. »Feigling!« rief Mecki und fuchtelte ihm mit den Fäusten vor der Nase herum. Jochen wich keinen Schritt zurück. »Lass doch den Quatsch«, sag te er. Wahrscheinlich hätte Mecki doch von seinem Angriff abgesehen, denn Jochens sichere Haltung schüchterte ihn ein. Aber er und Rolf hatten sich erheblich über Jochens Motorrad geärgert, deshalb kam ihnen die Gelegenheit gerade recht, ihm eins auszuwischen. Zudem mochte sich Mecki auch nicht vor all den unerwarteten Zuschauern eine Blöße geben. »Los, knall ihm eins vor den Ballon!« schrie Rolf, der sich selber wohlweislich im schützenden Hintergrund hielt. Mecki schlug zu – aber Jochen war darauf gefaßt gewesen. Er zog blitzschnell seinen Kopf zur Seite, so daß Meckis Hieb ins Leere traf. Dann schlug Jochen mit der geschlossenen Faust unter Meckis Kinn spitze. Er traf haargenau, und lautlos sank der lange Bäckerlehrling zu Boden. Ein Aufstöhnen der Bewunderung ging durch die Zuschauer. Jochen war von der Härte dieses Treffers einigermaßen konsterniert. Er beugte sich besorgt über Mecki, wollte ihm den Kragen aufknöp fen. Da stieß ihn ein unbekannter Junge an, flüsterte: »Hau ab, du! Der Wirt hat die Polizei alarmiert! Sieh zu, daß du verschwindest, sonst kriegst du Scherereien.« Jochen schnappte sich sein Motorrad, schob es eilig in die Seitenstra ße und ließ es erst an, als er außer Sichtweite war. Er hatte kaum ein Triumphgefühl empfunden, als Mecki so rasch 247
zu Boden ging. Jetzt war er nur noch wütend: wütend über das alber ne Benehmen der Clique und darüber, daß er sich womöglich selbst in eine sehr schiefe Situation gebracht hatte. Aber als das Martinshorn der Polizei ertönte, war er schon in siche rer Entfernung. Er hatte sich in den Verkehr in der Hauptstraße ein gereiht. Er verbrachte einige unruhige Tage, an denen er mit sich kämpfte, ob es nicht besser wäre, den Eltern alles zu erzählen, ehe sie es von der Polizei erfuhren. Nachts schreckte er ein paar Mal aus dem Schlaf, er wachte schweißüberströmt.
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Dann kam der Augenblick, da konnte es Jochen nicht länger aushal ten, er mußte sich einem Menschen anvertrauen. Aber wem? Er konn te sich nach wie vor nicht überwinden, sich an die Eltern zu wenden. Jens wohnte schon seit langem bei Claudia Miller. Jan war zu klein, als daß er sich Rat und Trost von ihm erhoffen konnte. So blieb nur Klara Swihalek, die immer gut aufgelegte, unkomplizierte Klara. Jochen klammerte sich an die Hoffnung, daß sie ihn verstehen würde. Gewöhnlich ging er nur dann in die Wohnung über der Werkstätte, wenn sie ihm einen Wink gegeben hatte. Ein Augenzwinkern von ihr, eine leichte Kopfbewegung, wenn sie durch die Werkstätte ging, ge nügte, um sich bei Jochen verständlich zu machen. Aber diesmal, gerade jetzt, da er sie brauchte, ließ sie sich überhaupt nicht unten blicken, obwohl Jochen unentwegt Ausschau nach ihr hielt. Schließlich, gegen vier Uhr nachmittags, entschloß er sich, auf eige ne Faust nach oben zu gehen. Meister Swihalek und Knut waren gera de fortgefahren, um einen Unfallwagen an der alten Landstraße aus dem Graben zu ziehen. Jochen nahm die Gelegenheit wahr und lief nach oben. Er klingelte einmal kurz, einmal lang, einmal kurz an der Wohnungstüre, ihr ver abredetes Zeichen. 248
Doch nichts rührte sich drinnen. Keine Sekunde hatte Jochen damit gerechnet, daß Klara nicht da sein könnte. Die Enttäuschung, die ihn packte, war maßlos. Er konnte es einfach nicht fassen, klingelte wieder und wieder. Da! Tauschte er sich, oder waren von drinnen Schritte zu vernehmen? Jochen klingelte noch einmal, und endlich, als er es kaum noch zu hof fen wagte, wurde die Türe von innen geöffnet. Klara stand vor ihm. Sie trug einen geblümten Morgenrock – jetzt, am hellen Nachmit tag! – den sie lässig über der Brust zusammenhielt. Ihr Gesichtsaus druck war mürrisch. Trockene Tusche war von ihren langen Wim pern, die wie Fliegenbeine wirkten, abgebröckelt. »Was willst du?« fragte sie abweisend. »Ich wollte gerade ein bißchen schlafen …« Sie hielt die freie Hand vor den Mund, gähnte ostentativ. Die Erklärung klang glaubhaft genug. Es hätte sich ja tatsächlich um ein verspätetes Mittagsschläfchen handeln können, wenn – ja, wenn Klaras Lippenstift nicht verschmiert gewesen wäre und wenn sie nicht so krampfhaft versucht hätte, die Tür zuzuhalten. Jochen wurde mißtrauisch, aber noch weigerte er sich, die Wahrheit zu erkennen. »Lass mich 'rein«, sagte er, »ich will dir etwas erzählen!« Aber sie gab die Türe nicht frei. »Morgen Junge … morgen!« »Warum nicht jetzt?« rief er und drängte vor. »Weil ich es nicht will!« widersetzte sich Klara aufgebracht. Aber da hatte er sie schon zurückgestoßen und stand in dem halb dunklen Flur, gerade in dem Augenblick, als ein schlanker, schwarz haariger Mann aus der Schlafzimmertüre trat, der sich im Gehen das Hemd in die Hose steckte. Jetzt endlich begriff Jochen, er mußte begreifen. Er ballte die Fäuste, grub die Nägel in die Handflächen, bis die Knöchel weiß hervortraten, um nicht die Beherrschung zu verlieren. »Ach, so ist das also«, sagte er gepresst. Klara öffnete den Mund, um sich zu verteidigen. Aber selbst ihr woll te in dieser Situation nichts Rechtes einfallen. Sie wechselte einen hilf losen Blick mit dem langen Mann, der den Mund zu einem schiefen Grinsen verzog. 249
Jochen drehte sich um und ging. Irgend etwas schmerzte. War es sein Herz? Er war doch so sicher ge wesen, Klara nicht zu lieben, und er hatte fast von Anfang an gewußt, daß sie nichts taugte. Warum tat es dann trotzdem so weh? Vielleicht war es nur die ge kränkte Eitelkeit – aber nein, noch etwas anderes spielte mit, ein Ge fühl, über das sich Jochen selbst keine Rechenschaft ablegen konnte. Es war die schreckliche Ernüchterung darüber, daß die Mädchen an ders waren, als er sie bisher gesehen hatte. Er hatte bisher unwillkürlich alle Mädchen nach seiner Mutter beurteilt, deren Fehler und Schwä chen er zwar ziemlich klar sah, aber von der er genau wußte, daß sie zu einer wirklichen Schlechtigkeit niemals fähig sein würde. Jetzt erkannte er, daß dieses Bild, das er sich gemacht hatte, nicht mehr stimmte, nie gestimmt hatte. Er war trotz all seiner Erfahrungen ein gutgläubiges Kind gewesen. Als er in die Werkstätte zurückkam, sah er die Blicke der anderen auf sich gerichtet. War es Zufall? Oder wußten sie, was eben passiert war? »Na, wie war's, Sonnyboy?« fragte Charly gutmütig. »Ziemlich kurzes Vergnügen heute, wie?« stichelte Otto. Da tat Jochen etwas, was er bisher immer vermieden hatte. Er erwi derte die Flachsereien der Kollegen mit einem sehr saftigen und sehr unanständigen Fluch, und er genoß es, als die anderen anerkennend lachten.
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Jens Körner hatte längst seinen 21. Geburtstag hinter sich. Er hätte Claudia Miller jetzt, wenn sie einverstanden gewesen wäre, ohne ir gendwelche Schwierigkeiten heiraten können. Aber er sprach nicht mehr davon. Seit er bei Claudia wohnte, hatte sich etwas in ihrem Verhältnis zu einander geändert. In ihrer Liebe herrschte nicht mehr die ständige Hochspannung, unter der sie beide gelitten und die sie doch, ohne es 250
selber zu wissen, auch genossen hatten. Ihre Beziehung war ruhiger, selbstverständlicher, alltäglicher geworden – und seit Jens volljährig war, und auch nicht mehr die leiseste Gefahr für ihre Liebe am Hori zont drohte, war diese Entwicklung noch deutlicher geworden. Jens fühlte sich wohl bei Claudia. Er genoß alle Annehmlichkeiten, die ihm das Zusammenleben mit ihr bot. Er schätzte sie als Mensch, bewunderte ihre Intelligenz ebenso wie ihre aparte Schönheit. Aber es drängte ihn nicht, sie fest und für immer an sich zu binden, weil er nicht mehr davor zitterte, sie plötzlich zu verlieren. Da sie bisher immer alle seine Heiratsanträge entschieden abgelehnt hatte, war er überzeugt, daß sie mit der Lösung ihrer Probleme genau so zufrieden war und sein mußte wie er selber – mehr noch, denn er hatte doch durch die Trennung von seiner Familie ein wirkliches Op fer gebracht. Deshalb dachte er sich nicht das geringste dabei, als sie eines Tages beim Abendessen unvermittelt fragte: »Wie lange kennen wir uns nun eigentlich schon, Jens?« Er lächelte unbefangen. »Keine Ahnung. Habe die Tage nicht ge zählt. Du?« »Es sind mehr als Tage«, sagte sie, »im Herbst werden es zwei Jahre.« »Sieh mal einer an«, sagte er unbekümmert, »wer hätte das ge dacht.« Sie ging nicht auf seinen fröhlichen Ton ein. »Kannst du denn nicht einen Augenblick ernst sein?« fragte sie gereizt. Er war ehrlich erstaunt. »Claudia«, sagte er, »was ist denn mit dir? So kenne ich dich ja gar nicht!« Er ließ Messer und Gabel sinken und sah sie an. Ihre schrägstehenden grünen Augen hatten einen gequälten Aus druck, sie fuhr sich mit einer verzweifelten Geste durch die Wolke ih res nachtschwarzen Haares. »Du kennst mich eben überhaupt nicht!« Er lehnte sich in dem bequemen Kugelsessel zurück, kreuzte die Arme über der Brust. »Doch«, sagte er, »ziemlich gut sogar. Aber wenn du das Bedürfnis hast, mir eine Szene zu machen … nur zu! Leg los. Ich will dich an deinem Glück nicht hindern.« 251
»Bildest du dir denn ein, es macht mich glücklich, dein Phlegma zu beobachten?« »Sehr gut«, sagte er mit Kennermiene, »jedenfalls für den Anfang. Nur weiter so, Fräulein, Sie sind schon engagiert.« Claudia sprang auf. »Du bist wirklich unausstehlich!« Er stand auf, nahm sie in die Arme, zog sie an seine Brust. »Komm, komm, Liebling, was ist denn nur?« sagte er fast väterlich. »Sag's mir, sag's mir vernünftig! Wir wollen uns doch nicht wegen nichts und wie der nichts streiten!« Als sie schwieg, fragte er tastend: »Geh ich dir auf die Nerven? Wäre es dir lieber, wenn ich auszöge?« Mit einer einzigen wilden Bewegung riß Claudia sich los. »Das ist es also, was du vorhast!« schrie sie ihm ins Gesicht. Er war ehrlich verblüfft. »Also … da hört doch alles auf …« »Tu nicht so scheinheilig! Glaubst du etwa, ich hätte nicht schon längst gemerkt, daß du nur auf eine passende Gelegenheit gewartet hast, mich im Stich zu lassen? Du langweilst dich mit mir. Gib's doch zu! Ich bin dir gleichgültig geworden, und …« »Aber, Claudia, davon kann doch keine Rede sein!« »Du hast es doch selbst gesagt … du hast mir gerade eben vorge schlagen …« Ihre Stimme erstickte in aufsteigenden Tränen. »Weil ich das Gefühl habe, daß du nicht mehr glücklich mit mir bist«, sagte er sehr beherrscht. »Und da bist du sofort bereit, mich aufzugeben?« Er hob die Hände, ließ sie mit einer resignierenden Geste wieder fal len. »Was denn sonst? Schließlich … wir sind ja nicht verheiratet.« Sie zog ein Taschentuch aus dem weiten Ärmel ihres eleganten dun kelgrünen Samtanzuges, putzte sich die Nase. »Ja, das sind wir schließ lich wirklich nicht.« »Na, siehst du«, sagte er arglos, »also kannst du in jeder Sekunde si cher sein, daß ich freiwillig mit dir zusammenlebe.« Sie sah ihn an. Ihre Augen waren immer noch tränennass. »Kann ich das wirklich, Jens?« »Aber ja, was für eine Frage!« Wieder wollte er sie in die Arme neh men, aber sie wich vor ihm zurück. »Du hast es gar nicht nötig, so ein 252
Theater zu machen. Daß ich bei dir bin, beweist doch, daß ich dich lie be … auch wenn ich es nicht dreimal am Tag ausdrücklich sage. Wenn ich dich nicht mehr liebte …« Er steckte mitten im Satz, biss sich auf die Zunge. Doch sie erriet ohne Mühe, was er hatte sagen wollen. »… wärest du nicht mehr hier, nicht wahr?« »Was für Albernheiten«, sagte er ärgerlich, »ich weiß gar nicht, was das für Gespräche sein sollen! Wenn … wenn … wenn! Wenn meine Großmutter Räder hätte, wäre sie ein Motorrad! Ich bin hier bei dir, und ich liebe dich, ganz ohne Wenn und Aber!« Er stand vor ihr, breitbeinig und selbstsicher, in einem seiner gelieb ten Freizeitanzüge, die die Schmalheit seiner Hüften und die Breite seiner Schultern betonten. Schlank und jung stieg sein brauner Hals aus dem offenen Kragen, sein blonder Schopf schimmerte im Licht der Stehlampe wie Platin – er war nicht eigentlich hübsch, dazu war sein Gesicht zu kantig und zu männlich, die Nase zu kräftig, der Mund zu breit. Aber er war ein wirklicher Mann und sah blendend aus, und mit einem heftigen scharfen Stich mitten ins Herz hinein empfand Clau dia, daß sie ihn liebte und sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstel len konnte. »Du darfst mich nie verlassen, Jens«, sagte sie mit ihrer tiefen Stim me, die noch rauer als sonst wurde vor unterdrückter Erregung, »ver sprich mir das … nie!« »Aber, Liebling, davon kann doch gar keine Rede sein«, sagte er und spürte selber, wie wenig überzeugend dieses halbe Geständnis klang. »Ich liebe dich so, Jens«, brach es aus ihr heraus, »ich könnte es nicht ertragen!« Sie war schön in diesem Augenblick, schöner denn je. Der grüne Samtanzug umschmeichelte ihren fast jungenhaft schlanken, elasti schen Körper, der breite Spitzenkragen paßte gut zu ihrem aparten Ge sicht mit den hohlen Wangen und den grünen, hungrigen Augen. Jens war sich dieser Schönheit wohl bewußt, und dennoch – er fühl te sich mit einem Male beklommen. Ohne sich selber darüber klar zu sein, bedrückte ihn die Erkenntnis, daß ihre Liebe stärker geworden 253
war als seine Gefühle ihr gegenüber. Solange sie sich ihm innerlich immer wieder entzogen hatte, war er von ihr fasziniert gewesen. Jetzt fühlte er sich in die Enge getrieben. »Ich liebe dich doch auch«, sagte er unbehaglich und – statt sie in die Arme zu nehmen – zündete er sich eine Zigarette an. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Du bist genau wie alle ande ren.« Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine steile Falte. »Clau dia«, sagte er scharf, »was erwartest du eigentlich von mir?« – Und wußte sofort, daß diese Frage gefährlich gewesen war. »Wenn du das nicht von selber weißt«, sagte sie. Er konnte das nicht auf sich beruhen lassen, versuchte aber, es ins Scherzhafte zu ziehen. »Mir scheint«, sagte er gezwungen, »ich habe dir allzu lange keinen Heiratsantrag mehr gemacht.« »Genau«, sagte sie, »du hast in dem Moment damit aufgehört, als du fürchten musstest, daß ich vielleicht ja sagen könnte.« »Claudia!« protestierte er und wußte doch, daß ein Fünkchen Wahr heit in dieser Anklage war. »Entschuldige«, sagte sie, »ich weiß, es ist nicht angenehm, die Wahr heit zu hören. Aber ich habe das Gefühl, daß ich allmählich an all die sen Lügen ersticke!« Sie griff sich mit der Hand zum Hals. »Ich habe dich nie belogen …« »Nein, nein, das hast du nicht! Aber wir leben ja in der Lüge! Spürst du das denn nicht? Unsere Beziehung zueinander ist zu einer einzigen großen Lüge geworden! Glaub nicht, daß es mir leicht fällt, das zu sa gen, aber ich habe keine Wahl: Wenn du mich nicht mehr liebst, dann geh!« Jens war nahe daran, ihrer Aufforderung nachzukommen. Er wuß te, daß ein scharfer, schmerzlicher Schnitt vielleicht die beste aller Lö sungen gewesen wäre. Aber er war noch nicht soweit, diesen Schritt zu vollziehen. Er brachte einfach die Kraft dazu nicht auf. »Und wie wäre es«, fragte er mit einem schiefen Lächeln, »wenn wir uns statt dessen verloben würden?« Claudia strahlte auf. Ihr schmales, hohlwangiges Gesicht wurde auf 254
einmal mädchenhaft jung. »Verloben?« rief sie. »Richtig verloben? Mit einer Anzeige in der Zeitung und allem Drum und Dran?« So hatte er es zwar nicht gemeint, aber er spürte, daß es zu spät war, jetzt Einwendungen zu machen. »Selbstverständlich«, sagte er, »wenn du willst, machen wir eine richtige Feier daraus.« Sie flog ihm an den Hals, umschlang ihn ganz fest, flüsterte: »Ich bin ja so froh, Jens … lach mich bitte nicht aus! Ich bin unwahrscheinlich froh!« Wenn sie in dieser Sekunde sein Gesicht hätte sehen können, hätte sie erkannt, daß ihm alles andere näher stand als Lachen. Er war etwa in der gleichen Stimmung wie ein Tiger, der ein Kitzlein hat reißen wollen, und plötzlich spüren muß, daß er in eine Falle geraten ist. Jetzt hat's mich erwischt! dachte Jens, oh, verdammt noch mal! Aber er umschlang sie zärtlich, so daß sie nichts von seinem Missbehagen ahnen konnte.
Jochen traf sich nicht wieder mit Klara Swihalek. Die Tochter des Meisters unternahm zwar noch einige Versuche, ihn zurückzuerobern, aber er reagierte eiskalt. Ihr Lächeln, ihr Au genzwinkern, ihre Zurufe, die sie sich anfangs noch erlaubte, wenn sie durch die Werkstatt ging, prallten an ihm ab. Er hatte gar keine Mühe, sich zu beherrschen. Seit er sie zusammen mit diesem anderen Mann gesehen hatte, war es einfach für ihn aus. Er schämte sich seines Abenteuers mit Klara ge nau so sehr, wie er sich damals, als er noch jünger gewesen war, nur mit Erröten an die dunklen Gedanken und Sehnsüchte der Nacht hat te erinnern können. Aber er schrieb auch nicht an Sibylle. Einige Tage lang hatte ihm ihr Brief in der Tasche über dem Herzen geradezu gebrannt. Immer wie der hatte er sich vorgenommen, ihr zu antworten. Aber immer war ir gend etwas dazwischengekommen, und dann hatte er das Gefühl, daß jede Antwort zu spät käme. 255
Die Wahrheit war, daß er einfach nicht wußte, was er ihr schrei ben sollte. Alles, was sie selber ihm in ihrem Brief von dem Handels schulinternat erzählt hatte, das sie besuchte, interessierte ihn im Grun de nicht. Sibylle lebte in einer ihm fremden Welt, einer Welt, der er sich längst entwachsen glaubte. Und konnte er ihr denn schreiben, was er mit Klara, mit Anita, mit der Clique Rolf, Mecki und den Mädchen erlebt hatte? Würde sie das denn verstehen? Erkläre mal einem Reh, was ein Walfisch ist, dachte Jochen resi gniert, als er sich endlich entschloß, Sibylles Brief unbeantwortet zu zerreißen. Es fiel ihm nicht ganz leicht, aber auf keinen Fall wollte er riskieren, daß er in fremde Hände geriet. Sein ganzes Leben hatte sich in den letzten Wochen wieder einmal sozusagen um 180 Grad gedreht. Er kam auch nicht mehr mit der Cli que zusammen, und durch die hässliche Auseinandersetzung mit sei nen früheren Kameraden war ihm auch der Beat-Schuppen verleidet. Aber das machte ihm nicht viel aus. Es war Sommer geworden, und er hatte sein Motorrad, dazu kam die Berufsschule und der neue Fahr kurs, den er begonnen hatte – nein, Langeweile gab es für ihn wirk lich nicht. Eines Nachmittags im Juni war er nach der Arbeit in ein Freibad draußen vor der Stadt gefahren, um sich abzukühlen. Es war ein drük kendheißer Tag gewesen. Die Luft stand ganz unbeweglich wie eine gläserne Glocke über dem Land. An den mächtigen Ulmen, die das Schwimmbad umgaben, rührte sich nicht ein Blättchen. Jochen empfand, wie sonderbar das alles war. Die Menschen im Frei bad schrien genauso laut wie sonst – und trotzdem klang es anders, gedämpft, ja fast erstickt. Er blieb mindestens zwanzig Minuten un unterbrochen im Wasser, kraulte, schwamm auf dem Rücken, starrte zum Himmel empor. Als er die anthrazitgraue Wolkenwand sah, die sich im Westen hochschob, eine noch ganz niedrige und dennoch ge fährlich wirkende Wolkenwand mit einem prächtigen schwefelgelben Saum, wußte er Bescheid. Er stieg sofort aus dem Wasser, das lau und kaum erfrischend gewesen 256
war, lief in den Umkleideraum und zog sich an. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was für ein panisches Durcheinander im Bad entstehen wür de, wenn das Gewitter losbrach. Er wollte auf alle Fälle früher fort sein. Noch einige andere außer ihm hatten diese gute Idee gehabt. Schon herrschte auf dem Parkplatz Andrang. Aber immerhin hatte Jochen innerhalb von fünf Minuten seine Maschine auf die Landstraße ge bracht, brauste in Richtung Stadt zurück. Er trug weiße Kniehosen, Tennisschuhe, ein buntes offenes Hemd. Seinen Anorak hatte er auf den Gepäckträger gebunden, und er genoß es, wie der Fahrtwind ihm Brust und Gesicht kühlte, ihm fast wie mit zärtlichen Fingern durch das weiche braune Haar fuhr. Die Wolkenwand war inzwischen immer höher und höher hinaufge rückt, als wenn sie den ganzen Himmel und die untergehende Sonne verschlingen wollte, und Jochen stellte sich mit Belustigung die Auf regung vor, die jetzt wohl schon im Freibad herrschte und der er so glücklich entronnen war. Kurz vor der Stadt sah er an der Bushaltestelle einen richtigen klei nen Menschenauflauf stehen. Der Bus kam, noch ehe Jochen die Hal testelle erreichte. Aber er hielt nicht, fuhr weiter – offensichtlich war er schon voll besetzt. Die Leute gaben ihre Enttäuschung und ihren Un mut laut kund. Jochen grinste und fühlte sich auf seinem fahrbaren Untersatz mäch tig überlegen. »Jochen, Jochen!« schrie eine helle Mädchenstimme. »Halt, warte doch! Bitte!« Unwillkürlich trat er auf die Bremse, und geriet fast ins Wanken vor Überraschung, als er Gitte erkannte. Sie trug ihr langes blondes Haar zu einem dicken Zopf geflochten und sah in einem geblümten Kleid sehr reizend aus. Aber Jochen hatte nicht die geringste Lust, über sie etwa wieder mit der Clique in Berührung zu kommen, deshalb wollte er gleich wieder Gas geben. Doch sie klammerte sich an seinem Arm fest, so daß sie fast mitge rissen worden wäre. »Nimm mich mit, Jochen«, flehte sie, »bitte?« 257
Er mußte bremsen, ob er wollte oder nicht. »Bist du allein?« fragte er nicht eben freundlich. »Ganz allein«, versicherte sie hastig und – als wenn ihr seine Beden ken jetzt erst klar würden, setzte sie hinzu: »Mit den anderen bin ich längst auseinander! Seit damals, du weißt schon … da wollte ich auch nichts mehr von ihnen wissen.« »Na schön«, sagte er mit unbewegtem Gesicht, »steig auf! Wohin soll's denn gehen?« »Bloß in die Stadt hinein!« Aber so weit kamen sie nicht, denn sie waren kaum fünfzig Meter ge fahren, als die ersten schweren Tropfen fielen. Am Anfang war es noch angenehm, eine Erfrischung nach der Schwüle des Tages, aber dann fielen die Tropfen schneller und schneller, scharf wie Peitschenhiebe. Als Jochen rechter Hand das Verwaltungsgebäude einer Fabrik sah, unter dessen riesigem Vordach sich schon andere Ausflügler Schutz ge sucht hatten, brachte er auch Gitte, sich und das Motorrad in Sicher heit. Atemlos, dicht aneinandergedrängt, beobachteten sie, wie die schwar zen Wolken aufrissen, wie die grellen Blitze zur Erde zuckten, lausch ten sie dem Rollen des Donners. Es war wie ein gewaltiges Schauspiel, eindrucksvoller noch, denn das, was sie sahen, war ja kein künstliches Feuerwerk, sondern ein Naturereignis. Diese Blitze, die da zur Erde zuckten, konnten Feuer schlagen. Jochen spürte, wie Gitte am ganzen Leibe zitterte, und es störte ihn gar nicht, daß sie sich an ihn klammerte. Er fühlte sich sehr wohl in der Rolle des männlichen Beschützers. »Oh, Jochen«, stöhnte Gitte zwischen zwei Donnerschlägen, »ich habe solche Angst … ogottogottogott, das ist ja furchtbar!« »Ob es nicht eine Möglichkeit gibt, die elektrische Energie der Blitze nutzbar zu machen«, überlegte Jochen halblaut. Wieder einmal überkam ihn, wie schon öfters in der allerletzten Zeit, das Gefühl, zu wenig zu wissen, und er nagte nachdenklich an seiner Unterlippe. So rasch das Gewitter gekommen war, so schnell war es auch vor 258
über. Jochen und Gitte lösten sich als erste aus der Menschenmenge, machten sich auf die Fahrt stadteinwärts, als noch die letzten Tropfen fielen. Die blaue Dämmerung wurde schwarz, als die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos aufflammten. Während der Fahrt hatten sie kaum Gelegenheit, miteinander zu re den, und Jochen war sehr froh darüber. Es wollte ihm beim besten Willen kein Thema einfallen, das Gitte hätte interessieren können. Aber ihren warmen Atem im Nacken, ihren festen jungen Körper hin ter sich zu fühlen, war ihm durchaus nicht unangenehm. »Wo wohnst du?« schrie er ihr zu, als sie den Stadtpark erreichten. »Gleich da vorne … Beethovenstraße!« rief sie zurück. Ihm fiel die Adresse schon wieder von selber ein. Er wußte, daß sie als Hausangestellte bei der Familie eines Tierarztes arbeitete, den Jens und er früher mit ihrem Hund mehr als einmal hatten aufsuchen müssen. Er hielt genau vor dem Haus mit dem Arztschild. Gitte stieg ab, zog den Anorak aus, den Jochen ihr geliehen hatte. »Schönen Dank auch fürs Mitnehmen«, sagte sie, »war ein wahres Glück, daß ich dich getroffen habe!« Sie wollte ihm den Anorak zu rückgeben. Aber er schüttelte den Kopf. »Mach ihn am Gepäckträger fest!« Er beobachtete über die Schulter, wie sie es machte. Noch bis zu die sem Augenblick hatte er vor, sich zu verabschieden und nach Hause zu fahren. Aber da fiel ihm ein, was er mit Jenny erlebt hatte. Nicht noch einmal wollte er es dazu kommen lassen, daß die Mädchen über ihn lachten. »Wohnst du bei der Familie?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ganz oben. Unterm Dach.« »Separater Eingang?« »Ja, schon …«, sagte sie zögernd und beobachtete ihn durch die dich ten blonden Wimpern. »Dann ist nur die Frage, wo ich meine Kutsche stehen lassen kann. Habt ihr einen Hof oder so etwas?« Sie wies mit dem Kinn auf die Einfahrt. »Aber es geht nicht«, sagte sie gleichzeitig, »Frau Doktor hat mir verboten …« 259
Er war mit dem Motorrad schon losgeschoben. »Sie braucht doch nichts zu merken«, sagte er. »Trotzdem, ich …«, begann sie unbestimmt. Jochen spürte genau, daß sie geradezu enttäuscht gewesen wäre, wenn er sie nicht nach oben begleitet hätte. – Komisch sind die Mäd chen – dachte er, wenn sie so sind, warum tun sie dann immer so an ders? Entweder man will, oder man will nicht. Was soll dann das gan ze Theater? »In Ordnung«, sagte er, »nur keine Bange, ich werde ganz leise sein.« Gitte zögerte immer noch – anstandshalber, wie Jochen dachte. »Ich weiß wirklich nicht, du … lieber nicht!« »Wenn du mich fragst … lieber doch! Ich habe dir einen Gefallen ge tan und dich nach Hause gebracht, da kannst du mir jetzt doch auch einen Gefallen tun!« Daraufhin gab sie nach, und Jochen wunderte sich, daß ein so billi ges Argument so überzeugend hatte wirken können. »Man wird so alt wie eine Kuh und lernt immer noch dazu«, brumm te er, als er ihr vom Hof her die Hintertreppe hinauf folgte. »Was sagst du?« fragte sie und drehte sich nach ihm um. »Och, nichts Besonderes.« Jochen war sich selbst nicht klar darüber, wie sehr er Gittes Bereit willigkeit im Grunde als störend empfand. Wenn er nicht Angst ge habt hätte, das Gesicht zu verlieren, wäre er auf halber Treppe umge kehrt und hätte sich verdrückt. Er wußte, dies würde auch nur wieder ein billiges Abenteuer werden – ein Abenteuer, das sich ihm aufdräng te, ohne daß er es gesucht hatte. Aber als er dann in Gittes Mansardenzimmer stand, löste sich seine innere Abwehr. Der kleine Raum mit den schrägen Wänden war ge mütlich eingerichtet, sauber und ordentlich. Auf der Kommode unter dem Spiegel stand ein dicker Strauß bunter Feldblumen. Das Bett, das in einer Nische wie in einem Alkoven stand, war schon zur Nacht ge richtet, die Decke zurückgeschlagen. Das Zimmer strahlte eine durch und durch weibliche Atmosphäre aus, die ihn erregte. 260
Jochen pfiff durch die Zähne. »Nett hast du's hier.« »Wenigstens ein Zimmer für mich«, sagte sie, »zu Hause …« Aber sie sprach den angefangenen Satz nicht zu Ende, weil sie merkte, daß es ganz unangebracht war, gerade jetzt von ihrer Familie zu sprechen. Jochen fragte auch nicht danach. »Dein Kleid ist ganz nass gewor den«, sagte er, »willst du es nicht ausziehen?« Sie blickte an sich herab. Der Anorak hatte Bluse und Oberteil ih res Kleides geschützt, aber der Saum klatschte nass gegen ihre nackten Beine. »Wenn du meinst …«, sagte sie zögernd. »Unbedingt«, entschied er, ging zur Türe, holte den Schlüssel herein, steckte ihn von innen in das Schloß und drehte ihn um. Das Wasser des Gewitterregens gluckste in der Dachrinne.
*
Als Jochen eine knappe Stunde später gehen wollte, war Gitte ganz ver ändert. Nichts mehr von ihrer zögernden Ängstlichkeit, ihrer schwei genden Zurückhaltung war zu spüren. Sie redete fast fieberhaft drauf los, erzählte tausend Dinge durcheinander, und Jochen begriff gar nicht, wie sie sich in der kurzen Zeit so hatte verändern können. Er unterbrach sie. »Das kannst du mir ein andermal erzählen, Git te!« »Wann?« fragte sie sofort. Er war vor den Spiegel getreten, fuhr sich mit ihrem Kamm durch das Haar. »Ich lasse wieder von mir hören.« Sie trat vor ihn hin, umklammerte ihn. »Jochen«, sagte sie verzwei felt, »du liebst mich nicht!« »So ein Unsinn«, erwiderte er unbehaglich und versuchte, sich los zumachen. »Dann sag mir, daß du mich lieb hast! Nur ein einziges Mal!« »Wozu?« »Weil ich es so gerne von dir hören möchte! Ach, Jochen, wenn du auch bist wie die anderen …« Sie wurde rot, biss sich auf die Lippen. Welche anderen? hätte Jochen jetzt beinahe gefragt. Du scheinst ja 261
eine Menge Erfahrungen zu haben! – Aber er sprach seine Gedanken nicht aus. Er wollte Gitte nicht beleidigen, er wollte nur fort von ihr, so rasch wie möglich. »Bestimmt nicht«, sagte er mit einem gezwungenen Grinsen, »ich war immer schon ein Wunderkind …« »Ach, Jochen, wie du darüber nur spaßen kannst!« »Immer noch besser als zu weinen, findest du nicht?« Er tätschelte ihr die Wange. »Ich lasse wieder von mir hören, bestimmt. Dein Dok tor steht doch im Telefonbuch. Nein, du brauchst mich nicht nach un ten zu begleiten … ich finde den Weg schon …« Sie hängte sich an ihn, und er spürte, daß sie jetzt einen Kuss von ihm erwartete. Aber alles in ihm sträubte sich dagegen, sie zu küssen – warum nur? – Es war doch noch gar nicht lange her, da war sie ihm durchaus begehrenswert erschienen. »Tschau, Gitte«, sagte er und löste sich aus ihrem Griff, »bis bald dann!« Er wußte, daß sie ihm, über das Geländer gebeugt, nachschaute, als er die Treppe hinunterlief. Aber er blickte nicht hoch und winkte auch nicht zurück.
*
Der nächste Tag war ein Samstag. Jochen schlief sich erst einmal gründlich aus, machte dann seine Aufgaben für die Berufsschule – auf dem Küchenbalkon, denn es war herrliches Wetter. Nach dem Essen ging er in den Hof hinunter und begann einmal mehr, sein Motorrad auseinander zunehmen, zu ölen, auf Hochglanz zu polieren, wieder zusammenzusetzen, und es machte ihm Spaß. Der Hof, in dem er sich so beschäftigte, war kein gewöhnlicher Hin terhof, sondern eher ein Garten mit Rasenflächen, Sandkästen und Klettergerüsten für die Kinder, zu dem jeder Einwohner des ganzen Blockes Zutritt hatte. Mädchen lagen in Bikinis auf dem Rasen, lie ßen sich die Sonne auf die Nasen und den Bauch scheinen, Frauen handarbeiteten im Schatten der großen Buche, um die der Häuser 262
block sozusagen herumgebaut war. Natürlich gab es auch Männer, die ihre Autos wuschen, Jungen, die sich mit ihren Fahrrädern be schäftigten, und dazwischen einen Haufen spielender und schreien der Kinder. Jochen war ganz mit sich und seinem Motorrad beschäftigt. Er pfiff vor sich hin, achtete auf nichts und niemanden, und seine verschlosse ne Miene schreckte die Mädchen ab, die gerne sein Interesse auf sich gelenkt hätten und nur nicht wußten, wie sie es anfangen sollten. Es dauerte eine ganze Weile, bis er merkte, daß auch Jan heruntergekom men war und sich zu ihm gesellt hatte. Jan lehnte, die Hände in den Hosentaschen, an der Hausmauer und betrachtete Jochens Bemühungen um sein geliebtes Motorrad mit denkbar mürrischem Gesicht. Er hatte die Oberlippe zwischen die Zähne gezogen, und seine schwarzen, sonst so lebhaften Augen wirk ten geradezu stumpf vor Missmut. »Na?« warf Jochen ermunternd hin, weil er glaubte, daß der Jüngere etwas auf dem Herzen hatte. Aber Jan gab keinen Ton von sich. Jochen betrachtete ihn verstohlen. Es wurde ihm bewußt, daß Jan im letzten halben Jahr ein beträchtliches Stück in die Höhe geschos sen war – kein Wunder, schließlich war er inzwischen schon vierzehn geworden. Er trug sehr kurze knallrote Shorts, aus der seine braunen mageren Beine überlang hervor staken, darüber ein weißes Baumwoll hemd, unter dem sich die Schultern spannten. »Nichts Besonderes vor heute?« fragte Jochen tastend. Jan zuckte nur die Schultern. Jochen spürte, wie ihm der schweigende Missmut seines Bruders auf die Nerven zu gehen begann. »Warum gehst du nicht mal zu Lilo Hes se?« fragte er aufs Geratewohl, weil ihm gerade eingefallen war, daß er die beiden in letzter Zeit öfters miteinander gesehen hatte. »Ausgerechnet!« stieß Jan zwischen den Zähnen hervor. »Habt ihr euch gezankt?« »Pah!« Jochen gab es auf. Er kam zu dem Schluß, daß es besser war, sich gar 263
nicht mehr um den Bruder zu kümmern und beugte sich wieder über sein Motorrad. Aber dann begann Jan ganz von selber zu sprechen. Er konnte seinen Ärger schließlich doch nicht für sich behalten. »Diese dämliche Ziege«, sagte er verächtlich, »die ganze Woche haben wir davon geredet, daß wir heute zusammen schwimmen gehen wollen. Und jetzt, vorhin, war ich bei ihr, um sie abzuholen und … was glaubst du, was sie mir gesagt hat? Daß sie leider nicht kann.« Jochen richtete sich auf, wischte die Hände an einem Stück Putzlap pen ab. »Das ist doch immerhin möglich«, sagte er langsam. »Ach was!« schrie Jan erbost. »Sie muß nicht etwa mit ihren Eltern weg oder so etwas … nein! Sie hat mich noch gebeten, bei ihr zu blei ben, ihr Gesellschaft zu leisten … so eine blöde Ziege! Gesellschaft lei sten, wo ich mich schon so aufs Schwimmen gefreut hatte! Das tut sie alles nur, um mich zu ärgern … oder sich wichtig zu machen, was weiß ich!« »Es könnte aber auch einen anderen Grund haben«, sagte Jochen vorsichtig. »Was für einen?« schrie Jan. Jochen sagte es ihm. Jan bekam einen puterroten Kopf. »Das … habe ich nicht gewußt«, stotterte er. »Woher solltest du auch?« gab Jochen gelassen zurück. »Das lernt man ja nicht in der Schule.« »Verdammt«, sagte Jan, immer noch ganz verstört, »ich meine: Vie len Dank auch. War nett, daß du mir das gesagt hast.« »War doch selbstverständlich.« Jochen betrachtete liebevoll sein Mo torrad, dessen verchromte Teile nur so schimmerten und blitzten. »Ich gehe jetzt jedenfalls schwimmen«, sagte er, »wenn du willst, nehme ich dich mit.« Die erwartete Begeisterung blieb aus. Jochens Angebot bildete für Jan eine erhebliche Verlockung. Der gro ße Bruder hatte ihn bisher erst einmal auf seinem Motorrad mitgenom men, und Jan hatte es ganz herrlich gefunden. Die Sonne strahlte vom 264
Himmel, es war gerade der richtige Tag zum Schwimmen – und mit dem Motorrad würden sie unabhängig sein und weit hinausfahren kön nen, vielleicht sogar einen stillen See finden, der nicht so überfüllt war. Dennoch sagte Jan, und die Überwindung, die es ihn kostete, war deutlich zu spüren: »Ein andermal gerne.« Jochen hob die Augenbrauen. »Nanu?« Jan wand sich vor Verlegenheit. »Weißt du … nach dem, was du mir erzählt hast … ich gehe doch lieber noch auf einen Sprung zu Lilo. Ich habe mich vorhin ziemlich ekelhaft benommen, und ich möchte nicht …« Er brach ab. »Ach, du weißt schon!« »Nur zu«, sagte Jochen, »ich halte dich nicht.« »Und du bist mir auch nicht böse?« »Woher denn. Jeder muß tun, was er nicht lassen kann. Und da du anscheinend das Zeug hast, dich zu einem Kavalier alter Schule zu ent wickeln …« »Idiot!« sagte Jan und rannte davon. Jochen blickte ihm lächelnd nach. Er war durchaus nicht traurig dar über, daß Jan nicht mitkam. Es gab im jetzigen Stadium seines Lebens nichts, was er mehr schätzte als seine Freiheit.
Es war nicht Frau Körners Art, ihre Söhne über Gebühr zu kontrollie ren. Nie wäre ihr eingefallen, beim Putzen in den Schreibtischladen zu stöbern oder gar Briefe, die an einen ihrer Jungen oder auch an ihren Mann gerichtet waren, zu öffnen. Daß sie Sibylles zweiten Brief dennoch aufmachte, lag einfach dar an, daß sie nicht richtig auf den Umschlag geschaut hatte. Ein Zufall, mehr nicht – und doch hielt sie jetzt Sibylles Brief in Händen und las unwillkürlich die ersten Zeilen. Als sie begriff, daß das Schreiben, das sie in Händen hielt, nicht an sie selber, sondern an Jochen gerichtet war, erschrak sie ehrlich. Die Tatsache, daß sie den Brief unbefugt geöffnet hatte, war ihr furchtbar peinlich. 265
Sie hatte wohl gemerkt, daß sie das Vertrauen ihrer Söhne in letzter Zeit immer mehr verloren hatte, ohne daß sie auch nur ahnte, woran das liegen konnte. Und jetzt auch das noch! Früher, noch vor einem Jahr, hätte sie Jochen einfach den geöffneten Brief gegeben und ehrlich erklärt: »Tut mir leid, das ist mir passiert!« Aber dazu fehlte ihr jetzt der Mut. Sie drehte den Umschlag in den Händen, betrachtete ihn von hinten und vorne – nein, es bestand keine Möglichkeit, ihn einfach wieder zuzukleben, unordentlich aufgerissen, wie er war. Was sollte sie tun? Sollte sie den Bogen in einen anderen Umschlag stecken? Sie las den Poststempel: »Calw«. Zu allem Unglück kannte sie dort keinen Menschen, der den neuen Umschlag für sie hätte einwerfen können. Das war bitter. Also was nun? Nach langem Hinundher-Überlegen kam Frau Körner zu dem Schluß, daß sie den Brief erst einmal lesen mußte, um festzustellen, wie wichtig er für Jochen sein mochte. Sie las mit zusammengepressten Lippen und einem beklommenen Gefühl in der Herzgegend, denn sie wußte, daß das, was sie tat, nicht ganz richtig war. Und doch, sie sah keinen anderen Weg. Dann stieß sie auf den Satz, den Sibylle am Ende der ersten Seite ge schrieben hatte: »Natürlich war ich in den Pfingstferien wieder zu Hau se, und ich war drauf und dran, Dich anzurufen. Warum ich es dann doch nicht getan habe? Weil Du meinen ersten Brief damals nicht be antwortet hast, und ich bin es nach wie vor nicht gewohnt, einem Jun gen nachzulaufen.« Das genügte Frau Körner. Dumme Gans, dachte sie, warum bom bardiert sie Jochen dann mit Briefen? – Und ritsch, ratsch, riß sie das Schreiben in kleine Stücke, den Umschlag dazu, fegte die Fetzen mit der flachen Hand zusammen und warf sie durch den Müllschlucker. Sie vergewisserte sich, daß kein verräterischer Schnipsel hängen ge blieben war. Erst dann wagte sie aufzuatmen. Sie war ganz sicher, daß Jochen niemals merken würde, daß dieser Brief ihn nicht erreicht hat te. 266
Und damit hatte sie recht. Jochen erfuhr nichts von diesem Brief und nichts von der wichtigen Mitteilung, die ihm Sibylle darin hatte machen wollen. Und Sibylle zog einen endgültigen Schluss-Strich un ter das Kapitel Jochen, als sie auch auf dieses Lebenszeichen hin keine Nachricht von ihm bekam.
*
Um die Wahrheit zu sagen: Es ist absolut nicht sicher, ob Jochen auf diesen zweiten Brief von Sibylle geantwortet haben würde, wenn er ihn ordnungsgemäß bekommen hätte. Er machte augenblicklich eine der schwierigsten Zeiten seines Lebens durch. In seiner Lehre bei Meister Swihalek ging alles in Ordnung. Auch den Anforderungen der Berufsschule kam er jetzt leicht nach, fast zu leicht. Die Schwierigkeiten lagen auf anderem Gebiet. Das Erlebnis mit Gitte hatte ihm den Rest gegeben. Er hatte sie in zwischen nicht wieder gesehen und hatte auch nicht das geringste Be dürfnis danach. Aber er hatte andere Eroberungen gemacht. Er nahm die Mädchen, wie sie kamen, und wenn eine nein sagte, so ließ er sie stehen – nicht eigentlich deshalb, weil sie sich weigerte, son dern weil er sich nicht genug für sie interessierte, um sich um sie zu be mühen. Jochen war nicht mehr anständig, und er war nicht mehr schüch tern. Er war hart und rau geworden wie seine älteren Kollegen in Mei ster Swihaleks Werkstatt. Aber er war nicht glücklich dabei, war es ganz und gar nicht. Er gab sich selber keine Rechenschaft darüber, aber es war doch so; je mehr er die Achtung vor den Mädchen verlor, desto weniger achtete er auch sich selbst. Die allzu leicht errungenen Erfolge ließen einen Geschmack von Bitterkeit bei ihm zurück, ja von Ekel. Es war, als wenn sich seine Persönlichkeit gespalten hätte. Der eine Jochen beteiligte sich an den rüden Spaßen der Kameraden, wandte sämtliche Tricks an, um eine neue Bekanntschaft herumzukriegen, ge noß gewissenlos, was ihm geboten wurde – und der andere Jochen sah 267
dabei zu, beobachtete das ganze Treiben und grübelte unentwegt: Ist das das Leben? Gibt es nichts anderes? Wohin wird das führen? Jochen war, anerkannt von den Männern, angehimmelt von den Mädchen, oft der Verzweiflung nahe. Obwohl er ständig unter Men schen, meist sogar unter jungen Menschen, war und dort eine große Rolle spielte, fühlte er sich doch auf seltsame Weise isoliert und such te vergebens nach einem Weg, der ihn aus der inneren Vereinsamung herausführen könnte.
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Eines Abends, es war ein Freitag, kam Jochen ziemlich spät nach Hau se. Die Glocke der modernen Kirche in der Parkstadt schlug Mitter nacht, als er leise die Wohnungstüre aufschloss und sich auf Zehen spitzen ins Bad schlich. Die Eltern stellten ihm zwar keinen Termin mehr, wann er zu Hau se sein mußte, denn sie wußten, daß Jochen während der Arbeitswo che von selber daran dachte, morgens nicht übermüdet aufstehen zu müssen. Jochen bemühte sich nicht aus schlechtem Gewissen, so leise wie möglich zu sein, sondern einfach deshalb, weil er niemanden stö ren wollte. Er atmete auf, als er – schon im Unterzeug – die Türe seines Zim mers hinter sich schloß und das Licht anknipste. Er legte seinen An zug über einen Stuhl, wollte sich den Schlafanzug aus seinem Bett neh men, als er – Jan entdeckte. Der kleine Bruder lag tief atmend auf seinem, Jochens, Bett zusam mengerollt, den Arm über den zerzausten schwarzen Locken, ein fei nes Lächeln um den Mund. Jochen überlegte einen Augenblick. Dann schlüpfte er in seinen Schlafanzug, beugte sich über Jan, wollte ihn auf die Arme nehmen und in sein eigenes Zimmer hinübertragen. Aber kaum hatte er ihn hochgehoben, als Jan die Augen aufschlug. »Na endlich«, sagte er, »da bist du ja!« Jochen stellte den Bruder auf die Beine – er schämte sich ein wenig 268
seiner Zärtlichkeit. »Wenn du wach bist«, sagte er betont grob, »kannst du wohl auch alleine laufen.« Jan taumelte, rieb sich mit beiden Fäusten die Augen. »Wie spät ist es?« »Höchste Zeit für dich, in die Klappe zu kommen.« Jan riß mühsam die Lider auf. »Aber … ich wollte doch mit dir spre chen!« Jochen nahm ihn bei den Schultern, schob ihn sanft zur Türe. »Mor gen Kleiner … morgen!« Jan stemmte sich gegen den Griff des Bruders, drehte sich um. »Nein es ist wichtig«, sagte er, und im gleichen Atemzug fügte er hinzu: »Jens war hier!« Jochen zog seine Hand zurück. »Jens?« wiederholte er erstaunt. »Was wollte er denn?« »Sie haben mich hinausgeschickt«, erklärte Jan, »ich durfte nicht da beisein, aber … in Anbetracht der besonders wichtigen Umstände … habe ich an der Türe gelauscht.« Jochen lachte. »So komisch ist das gar nicht«, sagte Jan, »ein blödsinniges Gefühl, wenn man dauernd davor zittern muß, erwischt zu werden. Wäre doch sehr peinlich gewesen!« Jochen sprang mit einem Satz ins Bett, warf die Beine hoch und ließ sich mit Krach auf die Matratze fallen. »Also los … mach's nicht so fei erlich, berichte!« Jan schob Jochens Anzug beiseite, nahm auf dem Stuhl Platz. »Jens will sich verloben«, sagte er. »Mit wem?« Jochen setzte sich kerzengerade in seinem Bett auf. »Doch nicht etwa mit dieser Claudia Miller?« »Kennst du sie denn?« »Nein … aber du!« »Stimmt«, sagte Jan zögernd, »und eigentlich ist sie ganz nett. Davon abgesehen natürlich, daß sie uralt ist.« »Wie alt?« fragte Jochen. »Lilo Hesse schätzt sie auf Mitte dreißig, und Mädchen wissen so was meist besser.« 269
Jochen kaute an seiner Unterlippe. »Das ist schon ein dicker Otto«, sagte er. »Klar, und deshalb sind die Eltern ja auch vollkommen gegen die Verbindung. Ich habe es deutlich gehört, wie Vater gesagt hat …« Jan kopierte die tiefe Stimme Herrn Körners: »›Ich bin durchaus bereit, dir zu glauben, daß diese Frau Miller eine hochachtbare Person ist, aber bedenke doch, Jens, der Altersunterschied! Nein, mein Junge, ich bin ganz sicher, daß eine solche Bindung nie und nimmer gut ausgehen kann!‹ Und Mutter hat dazwischen gerufen …« Diesmal piepste Jan in den höchsten Tönen: »›Und geschieden ist sie auch noch!‹« »Und Jens?« fragte Jochen. »Was hat der dazu gesagt?« »Er hat es erst mit Diplomatie versucht, aber als er merkte, daß damit nichts zu erreichen war, ist er natürlich wütend geworden! – ›Das war mein letzter Versuch‹, hat er gebrüllt, ›ihr wisst genau, ich brauche eure Einwilligung gar nicht, und um eure Billigung schere ich mich einen Dreck!‹ – Ich konnte mich gerade noch hinter den Garderobenständer flüchten, denn da kam er aus dem Wohnzimmer gebraust, hat die Tür hinter sich ins Schloß geschmettert, und weg war er!« »Verdammt«, sagte Jochen. Eine Weile saßen sie regungslos, starrten beide vor sich hin, ließen sich den Fall durch den Kopf gehen. Endlich sagte Jochen: »Ob wir … wir beide, meine ich … ihn nicht mal besuchen sollten?« »Genau«, sagte Jan, der sich längst einen Plan zurechtgelegt hatte, »und zwar zur Verlobungsfeier.« Jochen runzelte die Stirn. »Als Vertreter der Familie?« »So ähnlich. Die Schwierigkeit ist nur … die Verlobung soll nächsten Samstag stattfinden, und ich muß doch sicher mit den Eltern übers Wochenende fort.« »Das wäre das wenigste«, sagte Jochen, »wir können irgend etwas vortäuschen … am besten eine Schüleraufführung oder so, damit Mutter dir auch den schwarzen Anzug ausbürstet, und so weiter … und wenn ich dann verspreche, auf dich aufzupassen …« 270
»Blendend«, sagte Jan anerkennend. »Aber wir dürfen Jens nicht überfallen«, gab Jochen zu bedenken, »vielleicht will er uns gar nicht dabeihaben …« »Ausgeschlossen«, warf Jan dazwischen. »Man kann nie wissen«, sagte Jochen, »vielleicht verschieben sie die gan ze Verlobung überhaupt. Auf jeden Fall müssen wir ihn vorher anrufen.« »Das tust du doch?« fragte Jan hoffnungsvoll. »Wann?« »Morgen früh«, entschied Jochen, »vom Postamt aus. Aber jetzt ver zieh dich, hörst du? Vergiß nicht, du hast morgen Schule.« Jan seufzte tief. »Ja, leider«, sagte er, »immer die Kleinen. Während ihr ausgewachsenen Männer übers Wochenende faulenzt, muß unser einer …« Er stand auf, reckte sich. »Ich bin gar nicht sicher, daß ich das noch lange mitmache … also, gute Nacht, Alter.« Und so würdevoll, wie es auf bloßen Füßen möglich war, marschier te er zur Türe.
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Tatsächlich war Jens mit dem Vorschlag seiner Brüder nicht nur ein verstanden, sondern er war ehrlich erfreut darüber. Es war ihm sehr peinlich gewesen, Claudia Miller zu erklären, daß seine Eltern unnach giebig geblieben waren und eine Verbindung zwischen ihnen nach wie vor ablehnten. Claudia war sehr enttäuscht gewesen. Sie fürchtete mit Recht, daß jedem der anderen Gäste das Fernbleiben der Familie Körner auffal len mußte – Claudia selber hatte keine nahe Verwandtschaft, und so waren eigentlich nur einige Damen und Herren, die zur Leitung des Kaufhauses ›Karmann‹ gehörten, eingeladen. Aber jetzt, durch die Zusage der Brüder, sah alles anders aus. Jens war sicher, daß ihm ein Vorwand einfallen würde, durch den er das Fernbleiben der Eltern erklären konnte – unvorhergesehener Krank heitsfall in der Familie etwa –, zur Not konnte er ja auch selber ein Glückwunschtelegramm im Namen seiner Eltern an sich und Clau dia aufgeben. 271
Zwar hielt er selber die ganze offizielle Verlobung für eine durchaus blödsinnige Idee, eine altmodische, längst überholte Formsache. Aber das wagte er Claudia gegenüber nicht auszusprechen, weil er fürchte te, sie könnte sagen: »Du hast recht, Jens! Heiraten wir sofort!« – Und gerade diese allerletzte Entscheidung versuchte er solange wie möglich aufzuschieben. Also lud er Jochen und Jan begeistert ein – auch ein wenig gerührt über die brüderliche Treue – und schlug ihnen großzügig vor, Mäd chen mitzubringen. »Wir veranstalten kein großes Essen«, sagte er, »und auf die üblichen Reden können wir auch verzichten. Es gibt ein kaltes Büfett und 'ne Menge zu trinken, und nachher wird getanzt.« Jochen kannte genug Mädchen, und einige von ihnen waren durch aus ansehnlich genug, daß er sie, ohne sich zu blamieren, bei der Verlobung seines Bruders hätte vorstellen können. Aber er entschloß sich dennoch, es nicht zu tun. Und zwar aus einem sehr einfachen Grunde. Er fürchtete, daß seine eventuelle Begleiterin aus der Tat sache, daß er sie mit zu einer Familienfeier nahm, voreilige Schlüs se ziehen würde. Er hatte durchaus nicht vor, sich an irgendein Mäd chen zu binden. Aber Jan sah die Dinge ganz anders an. »Fab!« rief er. »Da nehme ich Lilo Hesse mit!« »Ich weiß nicht recht«, sagte Jochen zögernd, »Hesses kennen unse re Eltern und … wenn deine Lilo den Mund nicht hält, kann alles auf fliegen!« »Da kennst du Lilo schlecht«, behauptete Jan im Brustton der Über zeugung, »wenn's drauf ankommt, kann die schweigen wie ein Grab. Die ist ein ganz prima Kumpel.« »Du mußt's ja wissen«, sagte Jochen, aber es klang nicht sehr über zeugt. Ihm gefiel Jans Vorschlag gar nicht, aber anderseits sah er sich auch nicht zum Erzieher und ungebetenen Ratgeber seines jüngeren Bruders berufen. Noch lag eine ziemlich aufregende Woche vor den beiden, aber mit List und Tücke gelang es ihnen, die Eltern zu täuschen. Die Version 272
von der Schüleraufführung kam gut an, um so mehr, da Lilo Hesse zu Hause genau das gleiche erzählt hatte. Schon am Freitagabend fuhren die Eltern fort, natürlich hatten sie es vorher nicht an guten Ermahnungen fehlen lassen, und Jochen hatte versprochen, gut auf Jan aufzupassen. »Nur keine Bange«, hatte er gesagt, »ich werde sogar mitgehen und mir die Aufführung ansehen und nachher dafür sorgen, daß Jan un verzüglich ins Bett kommt!« – Und er mußte innerlich bei dem Ge danken grinsen, daß man statt Aufführung nur das Wort Verlobung einzusetzen brauchte, und schon stimmte alles. Die Brüder setzten am Samstagnachmittag das Bad unter Wasser, so gründlich schrubbten sie sich. Jan behauptete sogar, sich rasieren zu müssen, aber Jochen lachte ihn aus, und sie gerieten in eine ausgelas sene Balgerei um den Rasierapparat. Sie verloren dadurch viel Zeit und waren noch nicht fertig, die Wohnung einigermaßen wieder aufzuräu men, als es klingelte. Jan, in langer schwarzer Hose, weißem Oberhemd und grauer Kra watte, betätigte den Drücker und öffnete die Wohnungstür. Lilo Hes se tauchte vor ihm auf, sehr attraktiv in einem leuchtendroten Kleid, dessen breiter Kragen mit goldenen Sternchen verziert war. Der Rock ließ ihre langen, schlanken braunen Beine bis weit über die Knie frei, dazu trug sie einen offenen weißen Mantel, an den Füßen goldene San dalen. »Nanu«, sagte Jan, »wir wollten dich doch abholen!« Lilo verzog keine Miene. »Ich hab's mir anders überlegt«, sagte sie. »Warum?« »Darum. Lass mich mal ins Bad.« Sie schob Jan beiseite, ging gerade wegs auf die halboffene Badezimmertüre zu – alle Wohnungen in der Parkstadt waren ähnlich unterteilt, so daß Lilo sich ohne weiteres aus kannte. Jochen band sich gerade vor dem Spiegel die Krawatte. »Donnerwetter«, sagte Lilo mit sachlicher Anerkennung, »gut siehst du aus!« Jochen sandte ein schiefes Grinsen in den Spiegel. »Du hast dich auch 273
einigermaßen herausgemausert!« Er drehte sich um, musterte ihre Fi gur, deren weibliche Formen sich schon auszuprägen begannen, von oben bis unten, pfiff durch die Zähne. Lilo wurde ein wenig rot unter diesem Blick. Aber sie zuckte verächt lich die Achseln. »Ein Benehmen hast du wie die Axt im Walde.« Jochen hustete affektiert. »Oh, entschuldigen Sie, bitte, gnädiges Fräulein! Ich würde es außerordentlich bedauern, falls ich mich im Ton vergriffen haben sollte!« »Spar dir den Unsinn«, sagte sie kühl, »wann bist du endlich vor dem Spiegel fertig?« »Willst du etwa hier herein?« »Kluger Junge«, sagte sie kess, »du hast es erfasst.« »Von mir aus«, sagte er, »ich kann genauso gut in meinem Zimmer weitermachen.« Er verzog sich, und Lilo schloß die Türe hinter ihm ab. Sie musterte sich lange nachdenklich im Spiegel, bevor sie ihre Wim pern vorsichtig mit Tusche zu bearbeiten begann. Sie strichelte die Au genbrauen dunkler, legte einen Hauch von hellem Lidschatten über die Augen. Auf Make-up konnte sie verzichten, denn ihre Haut war klar, ihr Gesicht gleichmäßig braungebrannt. Aber sie zog die etwas schma len Lippen mit einem Stift nach, dessen Farbe genau mit dem warmen Rot ihres Kleides harmonierte. Nachher gefiel sie sich großartig. Mit der Selbstsicherheit einer Schönheitskönigin trat sie in die kleine Diele hinaus, bereit, die Huldi gung ihrer Verehrer entgegen zu nehmen. Aber bei Jochen und Jan hatte sie keinen Erfolg. »Pfui Kuckuck, warum hast du dich so bekleckst?« rief Jan. Und Jochen lachte laut. »Du siehst aus wie ein Mädchen mit ange knabbertem Ruf«, sagte er, »wie alt bist du eigentlich?« »Alt genug, um zu wissen, was ich tue!« knallte Lilo ihm an den Kopf. »Sie ist fünfzehn«, sagte Jan, der sich von seinem Schrecken immer noch nicht erholt hatte. »Stimmt!« triumphierte Lilo. »Ein gutes halbes Jahr älter als du!« 274
»Im Moment kommst du mir vor wie meine eigene Großmutter«, erklärte Jan. Ihm war diese veränderte, diese plötzlich so erwachse ne Lilo tatsächlich unheimlich – nichts mehr war übrig geblieben von dem verlässlichen Kumpel, mit dem er sich so oft gerauft hatte, der Ka meradin seiner Streiche, dem Mädchen, das er kannte. Jochen ahnte, was in seinem Bruder vorging. »Mach dir nichts draus«, sagte er, »die Mädchen sind nun mal so. Kommt, gehen wir, Kinder! Lasst uns das Fest genießen!«
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Bis sie zu dem Hochhaus kamen, hatten Lilo Hesse, Jan und Jochen noch munter und lautstark miteinander geschwatzt. Aber als sie im Lift nach oben fuhren, verstummte ihr Gespräch. Alle drei fühlten sich seltsam beklommen, wußten sich nichts mehr zu sagen. Ihre Befangenheit hielt auch später noch eine ganze Weile an. Der Anblick des festlich geschmückten Raumes, der eleganten und sehr er wachsenen kleinen Gesellschaft, die dort versammelt war, beeindruck te die jungen Leute. Die Erkenntnis, daß sie vergessen hatten, Blumen zu besorgen, trug nicht gerade dazu bei, ihre Stimmung zu lockern. Alle drei, besonders aber Jan und Jochen, fühlten sich tödlich verle gen. Jens tat alles, um ihnen das Gefühl der Beklemmung zu nehmen. Er stellte sie mit ein paar heiteren Bemerkungen den anderen Gästen vor. Auch Claudia begrüßte ihre künftigen Schwäger liebenswürdig – aber als Lilo ihr die Hand gab, erstarrte sie zur Eissäule. Sie erwiderte den Händedruck des jungen Mädchens nur flüchtig, ihr Lächeln über haupt nicht. Jochen und Jan gewannen beide den Eindruck, daß es keine sehr gute Idee gewesen war, Lilo mitzubringen. Aber dem jungen Mädchen selber schien die ablehnende Haltung der Gastgeberin durchaus nichts auszumachen, im Gegenteil, ihre Stimmung hob sich schlagartig. Sie hakte sich bei Jochen und Jan ein, zog sie zum kalten Büfett. Aber es entging ihr nicht, daß Claudia Miller ihren Verlobten beiseite nahm. 275
»Warum hast du dieses Gör eingeladen?« fragte Claudia scharf. »Habe ich gar nicht«, verteidigte Jens sich lässig, »ich habe den Jun gen nur erlaubt, sich ein Mädchen mitzubringen. Schließlich konn te ich ihnen ja nicht gut zumuten, nachher mit einer von den alten Schachteln zu tanzen!« Er machte eine Kopfbewegung zum Dachgar ten hin, von wo einige Damen den Ausblick über die abendliche Stadt genossen. »Diese alten Schachteln«, fauchte Claudia, »sind zufällig meine Freundinnen!« »Ich weiß«, sagte Jens begütigend, »für dich und auch für mich sind sie ja durchaus der richtige Umgang, aber doch nicht für die Boys!« Wahrscheinlich wäre der Streit noch weitergegangen, wenn nicht ein Abteilungsleiter von ›Karmann‹ zu dem jungen Paar hingetreten wäre und Claudia angesprochen hätte – so mußte sie sich denn wohl oder übel zu einem strahlenden Lächeln zwingen, das nicht im geringsten ihrer wahren Laune entsprach. Es hatte an diesem Tag schon eine Auseinandersetzung mit Jens ge geben, noch bevor die Gäste kamen – ein Krach wegen nichts und wie der nichts, der sie trotzdem sehr mitgenommen hatte. Sie hatte Kopf schmerzen davon bekommen und sich sehr elend gefühlt. Um die Schatten unter den Augen und den leidenden Zug um den Mund zu kaschieren, hatte sie mehr Make-up aufgelegt als üblich. Das Resul tat war, daß sie um Jahre älter aussah als sonst. Ihr schmales Gesicht mit den hohlen Wangen hatte etwas Maskenhaftes, Starres bekom men. Das weiße Kleid aus schwerer Seide, das sie sich extra für diesen Tag hatte anfertigen lassen, paßte nicht mehr zu ihrer Stimmung, und das Gefühl, falsch gewählt zu haben, trug noch dazu bei, ihre Unsi cherheit zu verstärken. Kurzum sie war zu Beginn dieses lang ersehn ten Festes schon soweit, daß sie nichts sehnlicher wünschte, als daß al les bald vorüber wäre. Lilo, Jan und Jochen jedoch begannen, nachdem sie das erste Glas Sekt getrunken hatten, Spaß an der Sache zu bekommen. Sie wurden locker und aufgeschlossen, ganz und gar bereit, den ungewöhnlichen Abend zu genießen. 276
Natürlich wurden doch einige Reden gehalten. Aber sie langweilten sich nicht dabei, denn von ihrem Platz hinter dem auf einem schnee weiß gedeckten Tisch aufgebauten Büfett konnten sie alles hören und beobachten, ohne selber ins Sichtfeld zu geraten. Sie amüsierten sich mit unterdrückten Zwischenbemerkungen, boshaften Beobachtungen und entsprechendem Gekicher. Als Claudia das Zeichen zum Plündern des Büfetts gab, waren sie ganz vorne – sie hatten sich schon vorher einen genauen Schlachtplan zurechtgelegt, was sie auf ihre Teller laden wollten, und so gelang es ih nen, die besten Happen zu erwischen. Niemand nahm ihnen das übel. Die anderen Gäste beneideten sie eher um ihren gesunden Appetit und ihre glückliche Veranlagung, die ihnen noch erlaubte, alles in sich hinein zu stopfen, ohne um ihre Fi gur fürchten zu müssen. Jens lud ihnen allen dreien eigenhändig noch einmal auf. Dann schaltete er die Stereoanlage ein, die er selber installiert hatte und die sein ganzer Stolz war. Von einer Sekunde zur anderen war der riesige Raum so plastisch von den Klängen des Orchesters Ray Conniff erfüllt, als wenn die Band tatsächlich in nächster Nähe musizierte. Jo chen half Jens den großen Teppich zusammenrollen, und dann konn te getanzt werden. Jan stieß Lilo in die Seite. »Los! Wollen wir?« Sie sah ihn spielerisch über das Glas Sekt hinweg an, das sie in der Hand hielt. »Was?« »Tanzen natürlich!« »Kannst du es denn?« »Wir können es ja mal versuchen.« Sie schüttelte den Kopf, ihre kurz geschnittenen blonden Locken flo gen. »No. Als Kaninchen bin ich mir zu schade.« Sie stellte ab, trat auf Jochen zu, der mit einem Gesicht, von dem man nicht recht sagen konnte, ob es verträumt oder nur gelangweilt war, am Rande der Tanz fläche lehnte. »Bitte!« sagte sie und sah ihn aus weit geöffneten Augen flehend an. Er war nahe daran, ihr eine Abfuhr zu erteilen, sagte dann aber 277
doch: »Von mir aus!« Er löste sich von der Wand, führte sie auf die kleine Tanzfläche. Lilo stellte sich dafür, daß sie bisher nur mit ihren Freundinnen und ohne rechte Anleitung geübt hatte, gar nicht mal ungeschickt an. »Nicht verkrampfen«, mahnte Jochen ein paar Mal, »lass dich ein fach führen … ja, so ist's recht! Und wenn du dann noch ein wenig auf den Rhythmus achtest –« Er wollte mit ihr auf den Dachgarten hinaus tanzen, was schon andere Paare vor ihm getan hatten. Aber damit war sie nicht einverstanden, sie hielt ihn zurück. »Was ist los?« fragte er. »Ach, nichts … ich erkälte mich so leicht«, sagte sie ausweichend. Er gab nach, und sie wurde sofort wieder sehr lebhaft, ja sie fing gera dezu an, auf Teufel komm raus mit ihm zu flirten. Jochen hatte Mitleid mit Jan, der mit herabgezogenen Mundwinkeln auf einem der hyper modernen Sessel hockte und aus lauter Verzweiflung Hände voll Salz mandeln in sich hineinschaufelte. Aber Jochen wäre kein Mann gewe sen, wenn ihm nicht Lilos offensichtliche Anbetung doch geschmei chelt hätte. Sie sah wirklich sehr reizend aus, und sie hatte eine Art, den Kopf in den Nacken zu werfen, so daß man ihr Lachen durch ihre Kehle glucksen sah, was geradezu ansteckend wirkte. Jochen geriet mehr und mehr in Feuer, aber er ließ es sich nicht an merken. Er hatte herausgefunden, daß Zurückhaltung die beste Taktik war, um Eindruck auf ein Mädchen zu machen. Gerade wollte er sich dann doch zu einem Kompliment hinreißen lassen, als er sah, daß Lilos Augen über seine Schulter hinweg jemand anderen suchten. Er richtete es so ein, daß sie sich drehten, und er stell te fest, daß nur Jens es gewesen sein konnte, dem Lilos Aufmerksam keit gegolten hatte. Die Augen der Brüder trafen sich, und beide ver standen das Signal. Jochen gab Lilo an Jens weiter. »Kümmere du dich mal einen Augen blick um die Kleine!« Dann ging er zu Jan, zog ihn hoch. »Komm, wir hauen ab.« Jan hatte ein bißchen zuviel getrunken, er stand nicht mehr ganz si cher auf den Beinen. »Diese Kanaille«, murmelte er. 278
Jochen schob ihn so unauffällig wie möglich zum Lift. »Mach dir nichts draus«, sagte er, »so sind sie alle.« Niemand kümmerte sich um ihren Abgang.
Am Montag nach jenem denkwürdigen Verlobungsfest tauchte das Mädchen Gitte in der Werkstatt des Meisters Swihalek auf. Jochen war alles andere als erfreut darüber. Er hatte Gitte seit mehr als zwei Mo naten nicht mehr gesehen und hatte auch kein Bedürfnis, noch einmal an diese kurze Freundschaft anzuknüpfen. Er war ziemlich barsch zu ihr, aber sie machte es so dringend, daß er sich nicht gut weigern konn te, sie nach der Arbeitszeit am Stadtpark zu treffen. Nachher war seine Laune nicht gerade besser, denn Gittes Auftritt hatte die Gesellen dazu bewogen, ihn weidlich mit seiner ungewoll ten Eroberung aufzuziehen. Gitte war auch nicht so hübsch, wie er sie in Erinnerung gehabt hatte. Ihr Gesicht war leicht verquollen, die Au gen gerötet. »Na, was gibt's?« fragte er. »Aber, bitte, mach's kurz … ich hab' noch was vor!« Gittes Lippen zitterten, sie brachte kein Wort heraus. »Los!« drängte er. »Stell dich nicht so an!« Sie holte tief Atem, brachte mühsam hervor: »Jochen … ich bekom me ein Kind von dir!« Gittes Eröffnung kam für Jochen so überraschend, daß er sekunden lang erst einmal überhaupt nicht begriff. »Nein!« stieß er dann hervor. »Nein! Das ist doch nicht möglich!« »Aber ich bin ganz sicher!« Gitte brach in ein jämmerliches Schluch zen aus. »Ich war schon beim Arzt, und er hat einen Test gemacht … und … und … mein Vater schlägt mich tot, wenn er es erfährt …« Jochen schossen in diesem Augenblick verschiedene Überlegungen gleichzeitig durch den Kopf. – Sie kann nicht verlangen, daß ich sie heirate, dachte er, wir kennen uns ja kaum! Nur das eine Mal … ver dammt, wie konnte das bloß passieren! Aber ich bin ja noch nicht voll 279
jährig, und überhaupt … jetzt ist es Essig mit dem Auto, das ich mir zulegen wollte, jetzt muß ich berappen … Doch dann schämte er sich selber all dieser egoistischen Gedan ken. »Hör auf zu heulen«, sagte er, »lass uns mal in Ruhe überlegen …« Aber er konnte nicht weitersprechen, panische Angst vor dem Unbe kannten, das da auf ihn losstürmte, schnürte ihm die Kehle zu. »Du hast gut reden«, schluchzte sie, »was macht's dir schon aus. Aber ich muß es ausbaden.« »Ich lass dich nicht im Stich«, erklärte er mannhaft. Ihre Tränen versiegten überraschend schnell. »Oh, Jochen«, sagte sie, »ich wußte es ja. Du bist ein anständiger Junge … du hilfst mir, nicht wahr?« Sie wollte sich an ihn lehnen. Doch er wich vor ihr zurück, ihre Berührung war ihm unangenehm, er wußte selber nicht, warum. »Sicher doch«, sagte er. »Vielleicht …«, begann sie hoffnungsvoll, und unterbrach sich dann selber. »Wie alt bist du eigentlich?« »Ich werde achtzehn.« »Es ist ja nur«, sagte sie, »wegen des Kindes. Es muß doch einen Na men haben … und einen Vater, es kann ja nichts dafür …« Wieder drohten aufsteigende Tränen ihre Stimme zu ersticken. »Ich helfe dir schon«, sagte er und merkte dabei, wie lahm das klang. »Was willst du tun?« fragte sie sofort. Er hatte das unangenehme Gefühl, daß sie ihn festnageln wollte. »Das kann ich doch jetzt noch nicht sagen.« »Aber … irgendeinen Plan mußt du doch haben!« »Jetzt hör mal«, sagte er, »genau vor fünf Minuten habe ich zum er sten Mal erfahren, daß du ein Kind von mir erwartest. Ich habe das ja noch nicht einmal richtig verdaut … wie kannst du da von mir einen fixfertigen Plan verlangen?« »Aber irgend etwas muß doch geschehen!« »Wird auch, worauf du dich verlassen kannst. Nur … ich brauche Zeit. Ich muß mir die Sache doch erst einmal durch den Kopf gehen lassen.« 280
»Du liebst mich eben nicht«, sagte sie vorwurfsvoll. Beinahe hätte er wahrheitsmäßig, aber herzlos erwidert: »Das habe ich auch nie getan und behauptet!« – Aber er hielt sich im letzten Mo ment zurück. »Mach keine Tragödie daraus«, sagte er. »Für mich ist es eine!« »Weiß es schon jemand … außer dem Arzt und mir?« Sie schüttelte den Kopf. »Aber meine Chefin«, sagte sie, »Frau Dok tor … ich glaube, die ahnt etwas!« »Wie kommst du darauf?« »Weil sie mich manchmal so komisch ansieht.« »Das bildest du dir wahrscheinlich nur ein«, sagte er tröstend, »und außerdem … selbst wenn sie es wüsste … kündigen darf sie dir jetzt erst recht nicht!« »Aber sie wird es sofort meinen Eltern sagen!« »Einmal müssen sie es ja doch erfahren«, sagte Jochen. Diese sehr sachlich vorgebrachte Bemerkung löste bei Gitte einen neuen Tränenstrom aus. »Mein Vater schlägt mich tot«, schluchzte sie, »er setzt mich auf die Straße … er steckt mich ins Erziehungs heim …« Jochen konnte nicht umhin zu denken, daß jede dieser drei Maß nahmen die zwei anderen zwangsläufig ausschließen mußte, aber er spürte wohl, daß Gittes Verzweiflung ganz echt war, trotz des Unsinns, den sie redete. »Jetzt reg dich bloß nicht so auf«, sagte er, »das führt doch zu nichts.« Er hob die Hand, um ihr über das Haar zu streichen, zuckte aber im letzten Moment doch wieder zurück. »Jetzt werde ich erst mal mit mei nen Eltern reden!« Sie wandte ihm das tränennasse Gesicht zu. »Nicht, Jochen«, flehte sie, »bitte nicht!« »Aber ich muß doch«, sagte er. »Ich bin noch nicht mündig, und … ohne Erlaubnis meiner Eltern kann ich gar nichts für dich tun!« Es war ein schöner Spätsommernachmittag. Außer ihnen flanierten zahlreiche andere Paare durch den kleinen Park. Alte Damen saßen noch auf den Bänken und nutzten die letzten Sonnenstrahlen aus. Jo 281
chen fühlte, daß manch neugieriger Blick ihn und das weinende Mäd chen streifte. Er wollte dem Beisammensein so schnell wie möglich ein Ende machen. »Treffen wir uns morgen wieder … um die gleiche Zeit, an der glei chen Stelle. Dann kann ich dir schon mehr sagen.« »Morgen kann ich erst abends«, sagte sie, »nicht vor acht Uhr.« »Gut. Dann also um acht.« Er wandte sich schon halb ab. »Und mach dich nicht verrückt bis dahin. Es wird uns schon was einfallen.« Er schenkte ihr ein gequältes Lächeln, bevor er sich davonmachte. Aber er hatte erst wenige Schritte getan, als sie ihn noch einmal zu rückrief. »Jochen!« »Ja?« sagte er unwillig und blieb stehen. Sie kam ganz dicht an ihn heran. »Komm bloß nicht auf die Idee, dich zu drücken«, sagte sie, »das könnte dir schlecht bekommen!« In ihren Augen funkelte ein böses, verzweifeltes Licht.
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Jochen wußte, daß es längst Abendbrotzeit war und die Familie ihn zu Hause erwartete. Aber er war viel zu aufgeregt, um jetzt schon sei nem Vater gegenübertreten zu können. Ihm war förmlich schlecht von all dem Unerwarteten, das in der letzten halben Stunde auf ihn einge stürmt war. Gitte erwartete ein Kind, ein Kind von ihm! Diese Nachricht, die anfangs nur Entsetzen und instinktive Ableh nung in ihm ausgelöst hatte, veränderte jetzt ihren Sinn für ihn. Ein Kind, dachte er, ich habe ein Kind gezeugt! Ein Kind aus Fleisch und Blut, ein Kind aus meinem Fleisch und Blut! Das war ein seltsamer, fast unvorstellbarer Gedanke. Es war Jochen, als wenn er in diesem Augenblick zum ersten Mal wirklich und voll und ganz begriff, was es bedeutete, ein Mann zu sein – das hatte kaum noch etwas mit dem zu tun, auf die Mädchen Eindruck zu machen, sie herumzukriegen, sich mit der eigenen Skrupellosigkeit zu brüsten, wie er es von den älteren Kollegen gelernt hatte. 282
Nein, ein Mann zu sein, das war mehr, viel mehr. Es bedeutete, die Fähigkeit und die Kraft zu besitzen, Leben zu zeugen – das war etwas ganz Ungeheuerliches, das spürte er selber, und es überschritt den Ho rizont seines bisherigen Denkens bei weitem. Das Kind, das Gitte zur Welt brächte, würde sein Kind sein, ein Teil von ihm, er war für es verantwortlich – ja, auch für Gitte. Denn ob wohl er sie nicht liebte, so war sie jetzt doch die Frau, die sein Kind un ter dem Herzen trug. Voller Überraschung fühlte Jochen, daß diese neue und große Ver antwortung ihn nicht niederdrückte, sondern eine nie gekannte Kraft in ihm erweckte. Ja, er würde es durchstehen, er würde Gitte und sein Kind schützen, und wenn sich Tod und Teufel gegen ihn verschwören sollten. Sein Verstand begann plötzlich hellwach und gleichsam wie ge schmiert zu arbeiten. Jetzt durfte er nichts falsch machen. Jedes ver kehrte Wort konnte womöglich den Vater gegen ihn und Gitte auf bringen. Er mußte es klug anfangen, sehr klug. Jochen wurde klar, daß es besser war, sich vor der entscheidenden Aussprache einen Rat zu holen – den Rat eines erfahrenen Mannes. Er kurvte mit seinem Motorrad um den Häuserblock, in dem die Woh nung seiner Eltern lag, herum und wieder zurück auf das Hochhaus zu. Er war entschlossen, Jens aufzusuchen. Er dachte gar nicht daran, daß sein Besuch ungelegen kommen oder Jens gar nicht zu Hause sein könnte – er setzte alles auf eine Karte. Und er hatte Glück. Jens war zu Hause, und er war sogar allein. Beim Nachhausekommen hatte er einen Zettel von Claudia gefunden, auf dem sie ihm mitteilte, daß sie zum Friseur gegangen war. Als es läu tete, hatte er es sich gerade bei einem Glas Whisky und der Tageszei tung bequem gemacht und wieder einmal gegen das Gefühl ankämp fen müssen, daß er im Begriff stand, ein richtiger Pantoffelheld zu wer den. Er war durchaus nicht unangenehm überrascht, als er die Stimme Jochens vernahm, der sich am Haustor meldete und dann heraufkam. Er erwartete, daß Jochen ihm eine Nachricht von Lilo bringen würde, 283
mit der er sich auf der Verlobungsfeier verabredet hatte. Als er aber Jo chens Gesicht sah, begriff er sofort, daß etwas Ernstes vorgefallen sein mußte. »Was ist los?« fragte er erschrocken. »Doch nichts … mit den El tern?« Jochen schüttelte den Kopf. »Na, Gott sei Dank, ich dachte schon … komm, setz dich, mach's dir bequem.« Jochen sah sich unwillkürlich suchend um. »Wo ist …?« Jens verstand sofort. »Beim Friseur.« »Das ist gut«, sagte Jochen erleichtert, »ich meine … ich habe natür lich nichts gegen deine Verlobte, aber … also, was ich dir sagen muß, möchte ich lieber unter vier Augen besprechen.« »Dann schieß los … ohne lange Vorrede! Ich weiß nicht, wann sie wieder kommt.« Jens dirigierte Jochen zu einem Sessel hin. »Setz dich … willst du auch einen Whisky?« »Danke. Bloß einen Schluck Wasser.« Jens goss ihm ein Glas ein. »Also … was hast du auf dem Herzen? Ärger im Beruf? Oder mit den Mädchen?« »Ich bekomme«, erklärte Jochen mit Überwindung, »ich meine … ein Mädchen bekommt ein Kind von mir.« Jens erwiderte eine ganze Weile gar nichts. Sein Gesicht blieb voll kommen ausdruckslos. »Von … dieser Sibylle?« fragte er dann. Jochen wurde rot, und er ärgerte sich darüber. »Sibylle? Nein. Daß du dich an die überhaupt noch erinnerst. Sie ist seit einem Jahr auf ei nem Handelsschulinternat. Ich stehe überhaupt nicht mehr in Verbin dung mit ihr.« »Dann hast du jetzt also eine andere Freundin.« »Freundin«, sagte Jochen langsam, »das wäre zuviel gesagt …« Jens drehte sein Glas in der Hand, so daß die Eiswürfel klirrten. »Nun untertreibe mal nicht, Junge«, sagte er, »von nichts und wieder nichts bekommt man ja kein Kind.« »Ich war einmal mit ihr zusammen«, sagte Jochen schwach. 284
»Wann?« fragte Jens wie aus der Pistole geschossen. »Vor … etwa zwei Monaten.« Jens atmete hörbar auf. »Na so, ja dann, ich glaube, wir wollen erst mal versuchen, das genaue Datum zu klären.« »Warum?« »Es könnte immerhin von Wichtigkeit sein.« »Ich verstehe nicht …« »Schadet nichts«, sagte Jens, »ich werde dir das später alles erklären. Jetzt überleg mal erst … wann war es genau?« Es dauerte einige Minuten, Jens zog seinen Kalender zu Rate, dann hatten sie den Samstag festgestellt, an dem Jochen Gitte begegnet war, es war der 7. Juni gewesen, auch Jens konnte sich an das ebenso plötz liche wie heftige Gewitter erinnern, das an diesem Tage über der Stadt losgebrochen war. »Also an diesem 7. Juni hast du sie also kennen gelernt …« »Nein«, sagte Jochen, und dann erzählte er wahrheitsgemäß alles ge nau, wie es sich abgespielt hatte. Jens kritzelte auf die Notizblätter seines Taschenkalenders. »War sie noch Jungfrau?« fragte er, ohne aufzusehen. Jochen fuhr hoch. »Weshalb fragst du das?« »Ich möchte es einfach wissen. Es kann wichtig sein.« Er sah Jochen prüfend an. »Also sie war es nicht … um so besser für dich.« Er steck te den Kalender wieder ein. »Weißt du was, am besten bringst du mir das Mädchen mal her …« »Warum?« »Ich möchte ihr gerne auf den Zahn fühlen. Bitte, krieg das jetzt nicht gleich in den falschen Hals, aber ich habe verdammt den Ein druck, daß man dich hereinlegen will … gut, schön, ich gebe zu, ich kann mich auch irren. Aber davon möchte ich mich erst überzeugen.« »Du meinst, sie kriegt am Ende gar kein Kind?« fragte Jochen und verstand selbst nicht, wieso es ihm bei diesem Gedanken, der ihn doch eigentlich hätte unendlich erleichtern müssen, flau ums Herz wurde. Jens wich einer direkten Antwort aus. »Lass mich erst einmal mit der Kleinen reden, dann sage ich dir Bescheid …« Als er merkte, daß Jo 285
chen zögerte, fügte er hinzu: »Falls sie mich überzeugen kann, daß die Geschichte stimmt und du wirklich Pech gehabt hast, verspreche ich dir … verspreche ich euch beiden meine volle Unterstützung, Hand darauf.« Er gab Jochen Zeit, über diesen Vorschlag nachzudenken, sag te dann: »Also … abgemacht?« »Ja«, sagte Jochen und war plötzlich sehr glücklich, daß er Jens ins Vertrauen gezogen hatte. »Du bist wirklich fab.« Jens grinste schief. »Kunststück. Anderen zu helfen, wenn sie in der Patsche sitzen, ist gar nicht so schwer. Aber wenn man sein eigenes Le ben zurechtbiegen will … erst da hört der Spaß auf!« Als Jochen eine Frage stellen wollte, winkte er ab: »Lass nur, Junge, du hast im Augen blick selber Sorgen genug. Willst du jetzt nicht doch einen Whisky?« Doch in diesem Augenblick hörten sie den Lift herauffahren, und Jochen sprang auf, um sich zu verabschieden. Sie hatten gerade noch Zeit, auszumachen, daß Jochen gleich am nächsten Tage gegen halb neun Uhr in Begleitung von Gitte aufkreuzen würde, als Claudia ein trat. Sie begrüßte Jochen mit zerstreuter Freundlichkeit, machte je doch keine Anstalten, ihn zurückzuhalten.
Jochen verbrachte eine einigermaßen schlaflose Nacht und mußte sich am nächsten Tag mächtig zusammennehmen, um während der Arbeit nicht einen Fehler nach dem anderen zu machen. Gute zehn Minuten vor der verabredeten Zeit traf er beim Beethovendenkmal im Stadt park ein. Dennoch wartete Gitte schon auf ihn. Er entdeckte sie, bevor sie ihn sah, und hatte Gelegenheit, sie zu be obachten. Sie hatte sich extra brav angezogen, wahrscheinlich, um bei ihrem ersten Auftritt vor seinen Eltern einen guten Eindruck zu ma chen. Der Rock ihres Sommerkleides reichte bis an die Waden, das schöne blonde Haar hatte sie geflochten und hochgesteckt. Sie war so gut wie gar nicht geschminkt. Trotzdem fand Jochen, daß sie eher einen komischen als einen wür digen Eindruck machte. Sie sah aus, als wenn sie sich für eine Thea 286
teraufführung verkleidet hätte, und ihm gefiel das nicht. Nur ihr jun ges Gesicht wirkte durchaus nicht komisch, es hatte einen verbissenen Ausdruck. Jochen kam von der Seite her auf sie zu, und Gitte fuhr zusammen, als er sie ansprach. »Herrjeh, hast du mich erschreckt!« »Du hast mich doch erwartet«, gab er zurück. »Das schon, aber … ich war mit meinen Gedanken woanders.« »Das habe ich gemerkt. Also komm, gehen wir!« »Zu deinen Eltern?« fragte sie erwartungsvoll. »Vielleicht«, sagte er ausweichend, »später …« Ihr Gesicht nahm sofort wieder den verbissenen Ausdruck an. »Aber du hast doch mit ihnen gesprochen?« »Noch nicht«, mußte er zugeben. Sie verlor die Nerven. »Du hast es mir versprochen!« schrie sie ihn an. Er ärgerte sich so über sie, daß er sie am liebsten auf der Stelle ste hengelassen hätte. Aber er dachte an das Kind, das schließlich nicht für das Benehmen seiner Mutter verantwortlich zu machen war, und nahm sich zusammen. »Jetzt fahren wir erst einmal zu meinem Bruder«, sagte er, »ihm habe ich alles erzählt …« Sie ließ ihn nicht ausreden. »Warum?« »Weil er uns bestimmt helfen kann.« »Aber dein Bruder geht mich überhaupt nichts an! Ich will mit dei nen Eltern sprechen.« Er zwang sich zur Geduld – er hatte schon mal irgendwo gelesen, daß Frauen in diesem Zustand leicht hysterisch werden. »Das sollst du ja auch, Gitte, nachher. Trotzdem ist es wichtig, daß du erst mit mei nem Bruder redest! Jens ist schon einundzwanzig, und wenn er uns hilft …« »Wie kann er das denn?« fragte sie, mißtrauisch geworden. »Nun, vielleicht …« Jochen bemühte sich, eine glaubhafte Erklärung zu finden. »Er könnte uns bei der Beschaffung einer Wohnung behilf lich sein«, sagte er schließlich. 287
Das wirkte. »Das heißt … du willst mich also heiraten?« fragte Git te sofort. »Ja«, sagte er. »So bald wie möglich. Wenn sie mich jetzt nicht lassen, dann bestimmt später. Sobald ich es kann.« »Du bist ein feiner Kerl«, sagte sie mit veränderter Stimme, »nicht wie …« Sie stockte. »Was wolltest du sagen?« »Nicht jeder Junge hätte sich in deiner Situation so anständig be nommen.« Sie hakte sich bei ihm ein. »Also los, gehen wir! Wo erwar tet uns dein Bruder?« »In seiner Wohnung. Ich hoffe, du verträgst noch eine Fahrt auf dem Motorrad? Wenn nämlich nicht, müßte ich die Kiste irgendwo unter stellen, und wir müßten mit dem Bus fahren.« »Ach was, das wird schon gehen.« Jochen war froh, daß er während der Fahrt nicht mit Gitte zu spre chen brauchte. Sie kam ihm so fremd vor. Hatte er sie nie richtig ge kannt? Oder hatte sie sich erst jetzt so verändert? Ihm war, als wenn et was Feindliches von ihr ausginge, das ihn geradezu abstieß. Als er sein Motorrad auf dem Parkplatz vor dem Hochhaus abstell te, überlegte er, ob er ihr nicht eigentlich etwas davon sagen sollte, daß Jens ihrer ganzen Geschichte ungläubig gegenüberstand. Er war sich seiner Verantwortung ihr gegenüber wohl bewußt und hatte durchaus das Gefühl, sie warnen zu müssen. Er unterließ es nur, weil er Angst hatte, daß sie dann etwas Unberechenbares tun würde – sich weigern, mit Jens zu sprechen, einfach davonlaufen, sich vielleicht sogar etwas antun. Außerdem hatte er großes Vertrauen zu seinem älteren Bru der – Jens würde das schon richtig machen.
*
Jens war an diesem Abend nicht allein. Claudia war da, aber sie war im Bad, wusch kleine Wäsche und ließ sich taktvollerweise nicht sehen. Jens komplimentierte die beiden jungen Leute herein, bot ihnen et was zu trinken an. Jochen lehnte ab, aber Gitte ließ sich zu seinem 288
Erstaunen einen grünen, klebrig aussehenden Likör einschenken. Er wollte schon etwas sagen – es schien ihm nicht richtig, daß eine wer dende Mutter Alkohol zu sich nahm. Aber als Jens ihm über Gittes Kopf hinweg einen warnenden Blick zuwarf, hielt er den Mund. Der Likör schien stärker zu sein, als er aussah. Schon nach dem er sten kleinen Schluck stieg Gitte das Blut in die Wangen. Sie wirkte nicht mehr so verkrampft, sondern gelöster, fast so jung wie sie war. Dennoch zog sich das Gespräch schleppend hin. Gitte balancierte auf dem Rande des hypermodernen Sessels, den Jens ihr angeboten hatte, sagte ja und nein und höchstens einmal einen kurzen Satz. Sie war sehr auf der Hut und benahm sich, als fürchtete sie, hereingelegt zu werden. Als Jens sich eine zweite Zigarette anzünden wollte, stellte er fest, daß das Päckchen leer war. »Oh, großer Jammer«, sagte er, »Jochen, würdest du wohl so nett sein und mir 'ne neue Packung holen?« Jochen warf unwillkürlich einen Blick auf die Stelle, wo gestern noch die große Tischdose gestanden hatte. Sie war fort. Er konnte kaum an einen Zufall glauben. Aber Jens ließ ihm gar keine Zeit zu einer Frage oder Widerrede. Er stand auf, nahm Jochen beim Arm, drückte ihm Geld in die Hand, schob ihn zum Lift. »Lauf zur Parkwirtschaft«, sagte er, »du kennst dich ja aus. Aber lass dir nichts anderes andrehen, ich bestehe auf mei ner Sorte. Beeil dich, dann bist du in fünf Minuten wieder zurück …« Aber gleichzeitig und im Gegensatz zu seinen Worten hielt er Jochen seine Armbanduhr vor die Augen und zeigte ihm mit einer kreisen den Bewegung an, daß er sich nicht vor einer Stunde wieder sehenlas sen sollte. »Ich verstehe«, sagte Jochen zögernd, und fügte, als die Lifttüre schon aufsprang, beschwörend hinzu: »Du hast versprochen, uns zu helfen, Jens!« »Werde ich auch, mein großes Ehrenwort«, sagte der Bruder und schob ihn energisch in die Kabine hinein. Jochen beeilte sich, die Zigaretten zu holen, obwohl er gar nicht si cher war, ob sein Bruder sie wirklich brauchte. Dann trabte er wieder 289
zum Hochhaus zurück, postierte sich unten in der Halle. Er wollte auf alle Fälle bereit sein, falls Gitte ihn brauchen sollte – er wäre gar nicht weiter überrascht gewesen, wenn sie plötzlich weinend aus dem Lift ge stürzt wäre. Aber nichts dergleichen geschah. Bewohner und Besucher des Hoch hauses kamen und gingen, niemand kümmerte sich um Jochen, und niemand war darunter, der sein Interesse auch nur für Sekunden ab gelenkt hätte. Nach einer halben Stunde rief er über das Haustelefon nach oben. Jens kam an den Apparat und sagte: »Nein, tut mir leid, heute Abend geht es nicht, Frau Künecke … guten Abend.« Das war unmissverständlich. Jens wollte ihn noch nicht oben ha ben. Jochen wartete mit steigender Ungeduld, bis er es schließlich nicht länger aushielt und noch einmal an den Apparat ging. »Jetzt komme ich«, sagte er, als Jens sich meldete, »ob es dir nun passt oder nicht!« »Aber es passt mir ja, Brüderlein … sogar wunderbar«, sagte Jens ganz vergnügt. Merkwürdigerweise war es in dem riesigen Wohnraum des Pent hauses genau so, wie Jochen es erwartet hatte: ein Aschenbecher vol ler Stummeln verriet, daß Jens sehr wohl noch genügend Zigaretten gehabt hatte. Und daß Gitte völlig aufgelöst wirkte – sogar die blon den Flechten waren ihr halb vom Kopf gerutscht – überraschte Jochen nicht. Sie schluchzte jämmerlich, hatte die Hände vor das Gesicht ge schlagen. »Was hast du ihr getan?« rief Jochen wild und anklagend und stürz te zu Gitte hin. »Hoppla, alter Junge, nun schnapp bloß nicht gleich über«, sagte Jens gemütlich. »Aber du hattest versprochen, uns zu helfen!« »Dir zu helfen«, sagte Jens, »und dir habe ich geholfen. Ich habe dich vor der größten Dummheit deines Lebens bewahrt. Gitte bekommt kein Kind von dir.« »Kein Kind!?« schrie Jochen fassungslos. 290
»Nicht von dir«, erklärte Jens, »darauf lag die Betonung. Sie fürchte te schon, daß etwas nicht in Ordnung war, als sie dich damals traf. Das war auch der Hauptgrund, warum sie dich mit nach oben genommen hat. Mit Mecki … das ist der wahre Vater des Kindes … hatte sie sich nämlich überworfen.« Jochen packte die schluchzende Gitte bei den Schultern, schüttelte sie. »Ist das wahr?« Aber aus Gitte war nichts herauszukriegen. »Du kannst es mir schon glauben. Gitte ist im vierten Monat … na, und wie könnte sie das, wenn du der Vater wärest?« Jochen war es, als wenn ihm der Boden unter den Füßen fortgezo gen würde. All seine Ängste und seine Hoffnungen waren mit einem Schlag hinfällig geworden. Er fühlte, wie ihm die Knie nachgaben, ließ sich auf die breite Couch sinken. Er war unfähig, ein Wort hervorzu bringen. Auch Jens schwieg. Die Stille, die sie förmlich einkapselte, war es dann, die Gitte zum Sprechen brachte. Sie ließ die Hände von den Augen sinken, sah Jo chen an. »Es tut mir leid«, sagte sie stockend, »ich habe dich wirklich gerne gehabt, von Anfang an. Ich … ich hatte keine andere Wahl. Ich mußte doch etwas versuchen, um …« »Schon gut«, sagte Jochen kurz angebunden, aber in seinem Herzen fühlte er eine erlösende Welle von Mitleid aufquellen und gleichzeitig eine unendliche Erleichterung. »Du bist mir … nicht böse?« fragte Gitte zaghaft. Jochen schüttelte den Kopf. Es gab keine Worte, die das hätten aus drücken können, was er tatsächlich empfand. »Keine Seelenergüsse, bitte«, sagte Jens, bewußt grob, denn er woll te auf keinen Fall eine rührselige Stimmung aufkommen lassen. »Ich fahre Gitte jetzt zu ihren Leuten, und du trollst dich nach Hause, Jo chen. Falls du dir nicht lieber einen unter die Nase kippen willst, was ich auch sehr gut verstehen könnte.« Er wandte sich zu Gitte. »Geh ins Bad, Mädchen. Meine Verlobte wird dir helfen, dich wieder menschen 291
ähnlich zu machen. In diesem Zustand möchte ich mich wirklich nir gends mit dir blicken lassen.« Gitte erhob sich langsam und ließ sich von Jens den Weg ins Bad zei gen. »Also, hau schon ab«, sagte Jens zu Jochen und gab ihm einen brü derlichen Rippenstoß, »merkst du denn nicht, daß dein Typ hier nicht mehr verlangt wird!« »Aber ich kann doch Gitte nicht einfach …« »Klar kannst du. Ich werde mit ihren Leuten sprechen. Ihr Chef ist doch der olle Tierdoktor. Dem werde ich klarmachen, daß sie auch eine gewisse Mitverantwortung für Gitte haben … mach dir keine Ge danken, irgendwie wird schon alles ins reine kommen. Und das mit dem Kind … das hat sie sich schließlich selber zuzuschreiben. Du hast ja nachweislich nichts damit zu tun.« »Es hätte doch sein können …« »Ja, es hätte!« Jens packte den Bruder beim Nacken, schüttelte ihn leicht. »Gut, daß du das einsiehst, da brauche ich dir wohl nicht mehr darüber zu sagen. Paß auf, daß du nicht noch mal in so eine Klemme gerätst, ja? Ich kann dir nämlich nicht dafür garantieren, daß es im mer so glimpflich ausgeht.«
*
Erst im Laufe der nächsten Tage stellte Jochen fest, daß er durch das Erlebnis mit Gitte einen richtigen Schock bekommen hatte. Es war zu viel und zu Unerwartetes auf ihn eingestürmt, als daß er das so ohne weiteres hätte verdauen können. Er hatte sich als Vater gefühlt, um dann erkennen zu müssen, daß er wie ein Narr in die Falle eines ver zweifelten Mädchens gegangen war. Er nahm das Gitte nicht übel, nein, nur sich selber. Es wurde ihm mehr und mehr bewußt, daß sein Leben in den letzten Wochen und Monaten keineswegs männlich und in Ordnung gewesen war, wie er es sich eingebildet hatte, sondern leichtfertig, gefährlich, dumm. Kei nes dieser Mädchen, mit denen er sich eingelassen hatte, hatte ihm see 292
lisch auch nur das geringste bedeutet – wie hatte er glauben können, daß ein solches Abenteuer ihm Glück bringen würde? Er hatte sich wie ein Idiot benommen, und er erkannte ganz klar, daß es so auf keinen Fall weitergehen konnte. Und mit dieser Erkenntnis zugleich trat ihm die Erinnerung an Sy bille unheimlich klar wieder vor Augen, und er erkannte, daß sie das einzige Mädchen war, an dem ihm wirklich etwas lag. Die großen Fe rien hatten begonnen, also mußte sie wieder zu Hause sein – falls sie nicht mit ihren Eltern verreist war. Aber, dachte Jochen, ohne Glück soll man nicht auf der Welt sein! Nach Feierabend fuhr er zu dem schon etwas verwitterten Miets haus, in dem Sibylle mit ihren Eltern gewohnt hatte, stellte sein Motor rad ab, wollte an der Haustüre klingeln und – mußte feststellen, daß er diesmal wirklich ausgesprochenes Pech hatte. Das Namensschild ihres Vaters war nicht mehr neben der Haustüre zu finden. Er las die Namen zweimal herauf und herunter. Nein, es gab keinen Georg Sandner mehr. Es dauerte lange, bis er begriff: Sibylle war mit ihren Eltern ausge zogen. Jochen war drauf und dran, trotzdem auf einen der Klingelknöpfe zu drücken – sicher mußte ihm doch jemand im Hause sagen können, wohin die Familie Sandner verzogen war. Aber dann ließ er die Hand wieder sinken. Er hatte keine Lust, auf die unvermeidlichen Fragen hin Rede und Antwort zu stehen. Es war ihm etwas Besseres eingefallen. Sicher mußten doch die alten Klassen kameraden wissen, wo Sibylle geblieben war. Er schwang sich wieder auf sein Motorrad, kurvte die Ecke herum und stoppte vor dem großen Haus in dem wildwuchernden Garten, in dem sein früherer Freund Artur Holm wohnte und wo er sich so oft mit den anderen zusammengefunden und die Zeit vertrieben hatte. Er klingelte an der Gartenpforte – kurz, lang, kurz, lang, kurz, das Zei chen von früher – und wartete. Es dauerte einige Zeit, bis Artur den Weg heruntergerannt war – auch er hatte sich verändert in der Zeit, da Jochen ihn nicht mehr ge 293
sehen hatte. Er war in die Höhe geschossen, wenn auch seine Schul tern schmal geblieben waren. Wangen und Kinn zeigten, daß auch er inzwischen in das Stadium des Rasierens hinübergewechselt war. Er trug eine Brille. Als er Jochen erkannte, winkte er schon von weitem. Er strahlte über das ganze Gesicht, tat aber ansonsten ganz selbstverständlich, als wenn sie erst gestern zuletzt beisammen gewesen wären. »Fein, daß du dich mal wieder sehen läßt, alter Junge.« Er entdeckte das Motorrad. »Ist das deine Kiste? Toll. Hast du sie selber erstanden?« »Mehr oder weniger zusammengebastelt«, sagte Jochen. »Schieb sie in den Garten, da ist sie sicher.« Artur half Jochen, das Motorrad hereinbefördern. »Willst du wieder mal in unsere alte Schwimmpfütze tunken? Oder was führt dich sonst hierher?« Jochen wollte nicht so direkt auf sein Anliegen zu sprechen kommen. »Nichts Besonderes«, sagte er ausweichend, »nur … ich war gerade in der Gegend.« Er beeilte sich, Arturs nächster Frage zuvorzukommen. »Sind noch andere da?« »Nö. Das hat aufgehört. Schon seit einiger Zeit. Ich habe zuviel zu ar beiten, und auf die Dauer ist es sinnlos, den Vergnügungsmeister für die Kleineren zu spielen.« »Recht hast du.« Jochen schlenderte neben Artur auf das Haus zu. »Aber mit Peter Hesse stehst du doch noch gut?« »Einigermaßen«, sagte Artur, »weißt du, der hat jetzt auch schon mit Weibergeschichten angefangen …« »Du nicht?« »Na, ja«, sagte Artur, »glaub nur nicht, daß ich kein menschliches Sehnen habe. Aber ich habe keine Zeit. Du ahnst nicht, was die jetzt in der Schule alles von uns verlangen. Allein in Physik …« Und er begann mit einem langen wissenschaftlichen Vortrag. Jochen lauschte mit steigendem Interesse. Es war ihm zumute wie einem Verdurstenden, der erst merkt, wie ausgedörrt seine Kehle tat sächlich gewesen ist, sobald er den ersten erfrischenden Zug tut. Mitten drin brach Artur ab. »Entschuldige, ich weiß gar nicht, wa rum ich dir das alles erzähle. Das muß dich doch langweilen.« 294
»Aber überhaupt nicht«, beeilte sich Jochen zu versichern, »erklä re mir das mit der elektrischen Spannung noch einmal! Das habe ich nicht ganz verstanden …« »Der Jammer ist … ich eben auch nicht«, gestand Artur, »ob ich mal mein Physikbuch holen soll? Vielleicht kriegen wir es zusammen her aus.« Mit einem fast entschuldigenden Lächeln fügte er hinzu: »Wie in den guten alten Zeiten, weißt du.« Bis zehn Uhr abends hockten die beiden Jungen in dem ehemali gen Hobby-Keller des großen Hauses zusammen, den Artur inzwi schen zu einem Labor und Experimentiersaal umgewandelt hatte. Beide hatten heiße Wangen und merkten gar nicht, wie die Zeit ver ging. »Junge, du bist zu beneiden«, sagte Jochen endlich, »das ist brisant!« »Umgekehrt wird ein Schuh draus«, gab Artur zurück. »Ich habe al len Grund, dich zu beneiden … du bist der große Held! Du verdienst schon, hast sogar eine Maschine, während unsereiner immer noch den Tintenkleckser spielen muß.« »Ich würde auf der Stelle mit dir tauschen«, sagte Jochen impulsiv – danach war er selber am meisten verblüfft, er wußte gar nicht, wie er zu diesem Geständnis gekommen war. »Dann tu's doch«, sagte Artur, »ich meine … du kannst doch jeder zeit wieder auf die Schule zurück. Schließlich … das Jährchen, das du verloren hast …« »Na, ich weiß nicht«, wehrte Jochen ab, »das schmeckt mir doch nicht recht.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Es ist ja auch nicht nur die Zeit, die ich verloren habe, sondern wahrscheinlich habe ich schon die Hälfte von dem vergessen, was ich vorher gelernt habe.« »Das würde dir schon wieder einfallen.« »Vielleicht, vielleicht auch nicht.« »Auf alle Fälle«, sagte Artur, »kannst du jederzeit wieder zu mir kommen, und wir können zusammen experimentieren. Natürlich nur, wenn du magst.« »Und ob«, sagte Jochen und suchte krampfhaft nach einem Über 295
gang, mit dem er das Anliegen vorbringen konnte, dessentwegen er ja eigentlich gekommen war. »Wie geht es denn den anderen aus der Klasse? Sind dieses Jahr alle versetzt worden?« »Zum Glück ja. Bei Peter war's ziemlich knapp. Dafür entwickelt sich Anita allmählich zur Intelligenzbestie. Übrigens, sie ist mit einem Stu denten befreundet, ziemlich rasante Type. Der hilft ihr, glaube ich, ge legentlich.« »Und Sibylle?« fragte Jochen – die eigene Stimme klang ihm fremd in den Ohren, »habt ihr von der mal wieder was gehört?« »Nein«, sagte Artur, »du etwa?« Jochen vermied es, diese Frage zu beantworten. »Ich glaube, ihre El tern sind inzwischen umgezogen«, sagte er. »Ja, kann sein, ich habe so etwas läuten hören«, sagte Artur unbe stimmt. Sie hatten die Lichter in den Kellerräumen gelöscht und gingen jetzt nebeneinander her durch den Garten, der schon in das blaue Licht der Sommernacht gehüllt war. Nur aus einem der Fenster fiel ein helles Rechteck auf den Rasen, der smaragdgrün aufschimmerte. Die Dun kelheit erleichterte Jochen das Sprechen. »Aber Anita müßte doch noch mit ihr in Verbindung stehen.« »Kann schon sein«, sagte Artur gleichmütig. »Könntest du mal mit ihr reden? Aus bestimmten Gründen brauche ich nämlich Sibylles Adresse.« Artur schwieg. »Bitte, tu's mir zuliebe«, drängte Jochen. »Aber ja doch, Ehrensache. Ich überlege nur, wie ich es am besten an fange. Anita darf nicht erfahren, daß du es bist, der mit Sibylle in Ver bindung treten will, du weißt ja … und wenn ich mich auf einmal da für interessiere, könnte es auch komisch aussehen. Aber lass mal, mir wird schon was einfallen. Wann sehe ich dich wieder?« »Wann, glaubst du, wirst du die Adresse haben?« »Ich verspreche dir, daß ich mein Möglichstes tun werde. Ich rufe dich dann auf jeden Fall an. Aber du kannst ruhig vorher noch mal zu mir kommen.« 296
»Na schön … bis morgen Abend!« Und er hatte das Gefühl, seinem Ziel ein gutes Stück näher gekommen zu sein.
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Jens hatte erhebliche Schwierigkeiten, seiner Verabredung, die er aus gerechnet am Abend seiner Verlobung mit Lilo Hesse getroffen hat te, nachzukommen. Damals hatte er den heftigen Wunsch verspürt, das blutjunge Mädchen nicht aus den Augen zu verlieren, und er hat te sich keine weiteren Gedanken darüber gemacht, wie er das bewerk stelligen sollte. Lilo war durchaus nicht allzu bereitwillig auf seinen Wunsch einge gangen. Erst nach langem Hin und Her hatte sie gesagt: »Also dann, von mir aus. Nächsten Mittwoch um fünf Uhr beim Atlas-Kino!« Und er hatte ohne Überlegen erklärt: »Abgemacht, ich werde pünkt lich sein.« An jenem Abend, beschwingt von Alkohol und bezaubert von Lilos junger Natürlichkeit, war ihm alles ganz einfach erschienen. Erst am nächsten Tag, als er wieder nüchtern und ernüchtert war, wurde er sich des Problems bewußt: Wie sollte er es Claudia beibringen, daß er am Mittwoch abend nicht wie sonst gleich vom Geschäft nach Hau se kam? Da Claudia selber in Geschäftsverbindung mit dem Kaufhaus ›Kar mann‹ stand, fielen die nahe liegenden Erklärungen wie Arbeitsbe sprechung, Überstunden und dergleichen natürlich aus. Ein dummer Zufall hätte genügt, um sie darauf zu bringen, daß er sie belogen hat te – und für Jens war die Vorstellung, entdeckt zu werden, wesentlich schlimmer als die Lüge selber. Obwohl er auch die Lüge hasste. Er fand es einfach entwürdigend, dazu gezwungen zu sein. Der Ärger darüber war sehr viel stärker als sein schlechtes Gewissen Claudia gegenüber – was war schon Tadelns wertes an dieser harmlosen Verabredung mit einem halben Kind? – und machte ihn ungenießbar. Jochens Aufkreuzen und sein Appell um Hilfe waren ihm deshalb 297
wie gerufen gekommen. Sie legten ihm die Entschuldigung für Mitt wochabend sozusagen in den Mund. Er behauptete Claudia gegenüber, daß er Gitte versprochen hätte, sie zu ihren Eltern zu bringen und ihr in der unausbleiblichen Auseinandersetzung zur Seite zu stehen. Claudia fand diesen persönlichen Einsatz zwar einigermaßen über trieben, aber da sie nicht hartherzig erscheinen wollte, schluckte sie ih ren Protest. Sie war auch ohne weiteres damit einverstanden, daß Jens ihren schicken roten Sportwagen an diesem Tag für die Fahrt in die Stadt benutzte. Sie küßte ihn am Mittwoch morgen besonders zärtlich, sagte: »Hof fentlich dauert es nicht lange … mach's so kurz wie möglich, mir zu liebe, ja?« Er brauste auf – nicht, weil sie ihm einen Anlass gegeben hätte, son dern weil sein eigenes Gewissen ihm zusetzte: »Bildest du dir etwa ein, mir macht diese blöde Geschichte Spaß?« Sie ließ die Hände sinken, die sie ihm auf die Schultern gelegt hatte. »Aber … davon habe ich doch kein Wort gesagt.« Sie stand dicht vor ihm, und er stellte einmal mehr fest, daß sie sehr gut aussah in ihrem eleganten hellblauen Morgenmantel, das nacht schwarze Haar mit einem breiten Band aus der Stirne gebunden. Auch so, völlig unzurechtgemacht, war sie ein interessanter Typ, und doch – das unbarmherzige Morgenlicht zeigte die ersten winzigen Fältchen um die Augen, die Mundwinkel, auf der Stirn. Jens entdeckte diese ersten Zeichen des Alterns mit mitleidloser Schärfe, und das verbesserte seine Laune erst recht nicht. »Mach mir doch nichts vor«, sagte er, »ich weiß genau, was du denkst …« »Was denn?« fragte sie, ehrlich erstaunt. »Ich habe nicht die geringste Lust, mich schon am frühen Morgen mit dir zu zanken«, erwiderte er kalt, drehte sich um und ging auf den Lift zu. Sie lief ihm nach. »Jens!« »Was denn noch?« »Ich wollte dir nur sagen … wenn ich etwas Falsches gesagt habe, es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid, Jens!« 298
Ihre Großherzigkeit beschämte ihn noch mehr. »Schon gut«, sagte er unwirsch, »alles in Ordnung.« »Du bist mir wirklich nicht böse?« »Dummes Zeug!« Er gab ihr einen flüchtigen, gezwungenen Kuss, atmete auf, als die Türen des Liftes sich hinter ihm schlossen. Er liebte Claudia – ja, er war sicher, daß er sie liebte, und doch be gann sie ihm in letzter Zeit mehr und mehr auf die Nerven zu gehen. Es war ein Fehler gewesen, zu ihr zu ziehen, das wußte er jetzt. Aber er hatte völlig vergessen, daß er selber durch den Krach mit seiner Mut ter diese Situation heraufbeschworen hatte. In seiner Vorstellung hat ten die Dinge sich so abgespielt, daß Claudia sich nicht mit seiner Lie be zufrieden geben konnte, sondern von Anfang an auf eine Ehe hin gearbeitet hatte. Ja, er liebte sie immer noch – aber das Gefühl, daß diese Liebe zur Pflicht geworden war, schnürte ihm manchmal nahezu den Atem ab. Er sehnte sich nach Freiheit.
*
Als Jens am Nachmittag im knallroten, offenen Alfa Romeo um die Ecke des Atlas-Kinos herumkurvte, entdeckte er Lilo Hesse sofort. Sie sah noch jünger aus, als er sie in Erinnerung gehabt hatte, in dem ein fachen blauen Leinenkleid, das sie jetzt trug, völlig ungeschminkt, das blonde, kurz geschnittene Haar leicht zerzaust. Er hielt dicht neben ihr, rief: »Hallo, Fräulein! Steigen Sie ein!« Und stieß mit einer einladenden Handbewegung die andere Türe auf. »Wozu?« fragte sie. Er lachte. »Na, ich denke, wir wollen doch ein bißchen spazieren fah ren.« »Du vielleicht«, gab sie kess zurück, »ich nicht.« »Sei nicht albern«, drängte er, »komm.« Sie rührte sich nicht von der Stelle, schüttelte den Kopf. »Bloß keine Bange«, sagte er, »ich tu dir schon nichts!« »Du bildest dir doch wohl nicht ein, daß ich Angst vor dir hätte, du 299
Spinner?« Sie warf den Kopf in den Nacken in der Art, die für sie cha rakteristisch war, und man sah das Lachen förmlich durch ihre Keh le glucksen. »Was denn sonst?« fragte er zurück. »Du, ich kann hier nicht länger stehenbleiben … Halten verboten!« »Dann such dir einen Parkplatz, ich warte hier auf dich!« Sie warf ei nen Beutel, den sie bisher in der Hand geschwenkt hatte, in den Wa gen hinein. »Nimm das mit … mein Turnzeug! Ich brauche es jetzt ja nicht.« »Was hast du denn vor?« fragte er – noch nie hatte ihn ein Mädchen so aus dem Konzept gebracht. »Ins Kino gehen, natürlich!« Sie wies mit dem Daumen über die Schulter zurück. »Im ›Atlas‹ läuft ein toller Western …« »Na, ich weiß nicht«, sagte er, nicht gerade überzeugt, »ich würde doch lieber spazieren fahren.« »Dann tu's doch«, sagte sie gelassen. »Halt!« Sie beugte sich über die Wagentüre, angelte nach ihrem Turnbeutel. »Das Zeug brauche ich dann wieder.« »Lass nur«, sagte er, »du sollst deinen Willen haben. Ich bin gleich wieder da …« »Fein. Dann löse ich inzwischen die Karten.« Als er den Wagen untergebracht hatte, erwartete sie ihn in der Ein gangshalle. »Die Karten habe ich«, sagte sie, »ich habe zwei Plätze zu eine Mark fünfzig das Stück genommen …« »Du kriegst das Geld gleich wieder«, sagte er und griff in seine Ho sentasche – trotz früherer Ermahnungen seiner Eltern und jetzt Clau dias war er ein entschiedener Gegner von Portemonnaies und trug sein Kleingeld stets lose mit sich herum. Er zog eine Handvoll Geld heraus und hielt sie Lilo hin. Sie nahm sich eine Mark und fünfzig. »Zu wenig«, sagte er, »du bist natürlich eingeladen.« »Große Ehre«, erwiderte sie, »aber danke, nein. So gut kennen wir uns dann doch nicht.« 300
»Bitte, sei nicht albern!« Er fischte jetzt selber das fehlende Geld her aus, wollte es ihr in die Hand drücken. Aber sie wehrte ab. »Kommt nicht in Frage!« Nach einem kurzen Zö gern fügte sie hinzu: »Wenn du mir unbedingt was spendieren willst, dann lieber was Süßes …« Er ließ sich diesen Hinweis nicht zweimal geben, wandte sich dem Verkaufsstand zu, erstand eine riesige Schachtel Pralinen, überreichte sie Lilo mit einer übertriebenen Verbeugung. Aber sie war gar nicht beeindruckt. »Danke«, sagte sie nur, »du scheinst es ja mächtig dicke zu haben.« »Ich verdiene ganz gut.« »Kann ich mir vorstellen.« Sie hatte die Schachtel schon geöffnet, steckte sich eine Weinbrandkirsche in den Mund. »Und hast wenig Ausgaben, wie? Oder zahlst du bei deiner Verlobten etwa Miete?« Jens spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. So eine blanke Un verschämtheit hatte er noch nie erlebt. Er war schon drauf und dran, Lilo eine entsprechende Antwort zu geben. Aber dann begegnete er ihrem Blick, der arglos wie der eines Babys war und in dem nichts als höfliches Interesse lag. »Nein«, sagte er gepresst. »Sehr bequem für dich.« Sie hielt ihm die geöffnete Schachtel hin. »Nimm dir doch … sie sind wirklich sehr gut.« Er war dankbar, daß sie so rasch das Thema gewechselt hatte, froh, als sie endlich im Zuschauerraum saßen und es dunkel wurde. So kom pliziert hatte er sich das Beisammensein mit diesem kleinen Mädchen nicht vorgestellt. Er war nicht mehr ganz sicher, daß es überhaupt eine gute Idee gewesen war, sich mit ihr zu treffen. Aber dann wurde es doch noch sehr lustig, besonders, als der Haupt film endlich begann. Jens war lange Zeit nicht mehr im Kino gewesen. Claudias Fernseh gerät hatte ihn bequem gemacht. Wenn Claudia sich einen Film anse hen wollte, dann paßte es ihm meist nicht, und umgekehrt war es das selbe. Sie waren zweimal im vergangenen Jahr im Lichtspielhaus ge wesen, hatten sich tatsächlich sehr interessante Filme der neuen Welle 301
zu Gemüte geführt, die künstlerisch hoch wertvoll waren und über die sie nachher noch stundenlang hatten sprechen können. Aber das reine Vergnügen war es doch nicht gewesen, sondern – jedenfalls für Jens, der sich das allerdings nicht eingestanden hatte – ziemlich strapaziös. Jetzt sah er, zum ersten Mal seit langer Zeit, wieder mal einen Film nur um der Spannung und des Vergnügens willen, und es machte ihm ungeheuren Spaß. Lilos Begeisterung wirkte ansteckend, auch wenn sie ihn vor lauter Aufregung ziemlich heftig in den Arm kniff. Nur einmal versuchte er, sie an sich zu ziehen, gerade als der Cowboy von dem geliebten Mädchen Abschied nahm. Aber sie hatte auch in diesem Moment nichts für Zärtlichkeiten übrig, schüttelte, ohne auch nur für eine Sekunde den Blick von der Leinwand zu nehmen, seinen Arm einfach ab. Er spürte, daß in dieser Beziehung nichts bei ihr zu machen war und gab es auf. Als sie das Kino verließen, hatten sie beide rote Wangen und glän zende Augen. Sie hängte sich vertrauensvoll bei ihm ein. »Du, das war wirklich toll, was? Wie der von der Brücke auf den fah renden Zug gesprungen ist … mit Pferd! Hast du je schon so etwas ge sehen?« »Ja, ich fand es auch ganz groß«, sagte er und drückte ihren Arm. »Wo gehen wir nun hin? Hast du einen Wunsch?« »Jede Menge!« Lilo lachte. »Aber sie nutzen mir nichts. Papas kleine Tochter muß jetzt schleunigst sehen, daß sie nach Hause kommt.« »Ach, Unsinn«, sagte er, »es ist ja erst sieben vorbei.« »Gerade deshalb«, erwiderte sie, »Zeit zum Abendessen.« »Kannst du nicht zu Hause anrufen und sagen, daß du … na, zum Beispiel, daß du bei einer Freundin wärst?« »Hm«, sagte sie nachdenklich, und er glaubte schon, das Spiel ge wonnen zu haben. Aber dann setzte sie im allerharmlosesten Ton hin zu: »Und hast du dir auch schon einen Schwindel für deine Verlobte ausgedacht?« Er ließ abrupt ihren Arm los. »Tut mir leid, wenn ich dir Unrecht getan habe«, sagte Lilo mit gut 302
gespielter Zerknirschung. »Claudia weiß also, daß wir zusammen sind … dann können wir ja auch zu ihr hinaufgehen!« »Du Biest«, knirschte er, »du verdammtes Biest!« »Fein bist du nicht gerade«, sagte sie unbekümmert, »aber du hast Glück. Männliche Grobheit wirkt auf mich immer faszinierend.« Sie stülpte die Pralinenschachtel, die sie während des Filmes geleert hat ten, in einen Papierkorb. »Dann also, tschüß … vielen Dank für die Pralinés!« Sie reichte ihm die Hand. Er nahm sie, drückte sie mit fast schmerzhaftem Zugriff. »Lass mich dich wenigstens noch nach Hause bringen.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, »in Anbetracht der Um stände dürfte das wohl das beste sein.« Schweigend gingen sie nebeneinanderher zum Parkplatz. »Schönes Wägelchen«, sagte Lilo anerkennend, als sie sich auf den Sitz neben dem Steuer schwang. Aber er war schon so verprellt, daß er nur kurz angebunden antwor tete: »Gehört nicht mir.« »Hatte ich auch nicht angenommen«, gab sie ungerührt zurück. Darauf wußte er nichts mehr zu sagen, tat so, als wäre seine Auf merksamkeit voll und ganz davon in Anspruch genommen, das Auto in den fließenden Verkehr einzuschleusen. »Aber es wird ja bald dir gehören, nicht wahr«, fuhr Lilo im Plauder ton fort. »Ich wüsste nicht wieso«, knurrte er. »Aber ja doch, Jens!« sagte sie heiter. »Wenn du erst verheiratet bist. Dann gehört dir der Alfa Romeo zumindest mit … und das schicke Pent haus! Also, ganz ehrlich, ich finde, du machst eine sehr gute Partie!« Ihm verschlug es die Sprache. Mit heiserer Stimme brachte er heraus: »Du willst doch nicht etwa behaupten, daß ich ein Mitgiftjäger bin?« »Ach, woher denn, Jens«, sagte sie munter, »das würde mir nicht im Traume einfallen. Ich habe bloß einige Tatsachen aufgezählt. Es ist dei ne Schuld, wenn du voreilige Schlüsse daraus ziehst.« »Du bist …« Er holte tief Atem. »Du bist weiß Gott das unverschäm teste Frauenzimmer, das mir je begegnet ist.« 303
Sie schob ihr festes kleines Kinn vor. »Das kommt dir nur so vor, weil du die Frauen nicht kennst, Jens.« Er lachte, aber es klang gar nicht vergnügt. »Nein, wirklich nicht«, behauptete sie. »Du hast keine Schwester, das ist der Jammer. Deshalb läßt du dir von Frauen so leicht etwas vorma chen.« Er trat auf die Bremse. »Was willst du damit sagen?« Sie sah ihn an, und ihr junges Gesicht drückte wieder nichts als blan ke Unschuld aus. »Gar nichts, Jens, nur das, was ich gesagt habe. Ich bin nicht das Orakel von Delphi. Du brauchst also nicht hinter jedem meiner Worte einen doppelten Sinn zu suchen.« Er war wütend auf sie, so aufgebracht, daß er fest entschlossen war, sie vor ihrer Haustüre abzusetzen und ohne Abschied davonzubrau sen – sollte sie doch sehen, wie weit sie ihr unverschämtes Benehmen gebracht hatte. Aber als es dann tatsächlich soweit war und sie mit ihrem Turnbeu tel in der Hand vor ihm stand, fragte er, ohne es eigentlich zu wollen: »Wann sehen wir uns wieder?« Sie lächelte unschuldsvoll. »Wann meinst du denn, daß du dich frei machen kannst?« »Jederzeit!« erwiderte er zornig. »Na, großartig«, sagte sie heiter, »dann werde ich dich anrufen, wenn …« Er fiel ihr ins Wort. »Nein!« »Entschuldige«, sagte sie prompt, »das war dumm von mir. Nein, natürlich, bei aller Liebe und allem Verständnis, so geht es nicht. Wie wäre es dann mit … Sonntagnachmittag? Weißt du, während der Wo che habe ich ziemlich viel zu tun.« Jens überlegte blitzschnell, daß am Sonntagnachmittag bestimmt ein Fußballspiel stattfand, das er Claudia gegenüber als Ausrede vor bringen konnte. »Abgemacht«, sagte er, »um drei Uhr?« »Gut«, sagte sie, »wir treffen uns Ecke Parkwirtschaft. Aber, bitte, ohne Auto. Es wäre deiner Verlobten bestimmt nicht angenehm, wenn sie wüsste, daß du mich darin spazieren fahren würdest.« 304
»Das braucht sie ja nicht zu erfahren.« »Aber ich weiß es«, sagte sie ruhig, »und ich fände es reichlich ge schmacklos.« Sie schenkte ihm ein schmelzendes Lächeln, drehte sich um und ging auf die Haustüre zu. Das habe ich nötig gehabt, dachte Jens verbittert, die nimmt sich wirklich allerhand heraus, diese kleine Bestie! Aber der werd' ich's schon geben. Sie kann am Sonntag warten, bis sie schwarz wird. Aber schon während er aufs Gas trat, daß der Motor aufheulte, wuß te er, daß er die neue Verabredung einhalten würde, koste es, was es wolle.
*
Jochen hatte es sich angewöhnt, jeden Abend zu Artur zu gehen, und von Tag zu Tag schienen ihm die gemeinsamen Arbeitsstunden inter essanter. Gerade die naturwissenschaftlichen Fächer hatten ihm von jeher mehr als alles andere gelegen, und er entdeckte jetzt mit freudi ger Überraschung, wie schnell es ihm tatsächlich gelang, sich wieder einzuarbeiten und die Lücken auszufüllen. Allerdings, darüber war er sich völlig klar – in Sprachen, Geschich te, Geographie würde das entschieden schwieriger sein. Dennoch – ge rade jetzt waren ja die großen Ferien. Wenn er die Lehre an den Nagel hängen und das Geld, das er sich für das Auto erspart hatte, für Nach hilfestunden ausgab, konnte er zu Beginn des Herbstes immerhin so weit sein, daß er die Schule wieder besuchen konnte, wenn auch eine Klasse tiefer als Artur und seine Kameraden von früher. Es war ihm nicht ganz wohl in seiner Haut, als er das Thema zu Hau se aufs Tapet brachte. Aber er fand den Mut dazu in der Erkenntnis, daß jeder Tag, den er jetzt noch in der Werkstätte verbrachte, für seine neuen Pläne verloren war. Also sagte er eines Abends so beiläufig wie möglich – sein Vater hat te gerade den Fernsehapparat abgeschaltet, weil Reklame kam: »All mählich tut's mir direkt leid, daß ich die Schule aufgegeben habe. Ich glaube, das war doch ein entscheidender Fehler.« 305
»Du wirst dich erinnern«, sagte Herr Körner und schlug seine Zei tung auf, »ich hatte dich gewarnt.« »Ja, das stimmt«, sagte Jochen rasch, »und ich ärgere mich heute sel ber, daß ich nicht auf dich gehört habe.« »Tja, das habe ich kommen sehen. Aber jetzt ist aller Ärger sinnlos.« »Vielleicht doch nicht …«, sagte Jochen zaghaft. Aber Herr Körner stellte nicht die erwartete Frage, sondern schien sich in seine Zeitung vertieft zu haben. »Ich war in letzter Zeit öfters mit Artur zusammen«, sagte Jochen, »Artur aus meiner früheren Klasse. Ich habe festgestellt, wenn ich mich richtig auf den Hosenboden setze, könnte ich den Anschluss wie der kriegen.« Herr Körner schwieg noch immer. »Ein Jahr hätte ich natürlich verloren«, sagte Jochen, »aber immer hin, das wäre doch noch besser als … also, ganz ehrlich, Vater, die Leh re bei Meister Swihalek interessiert mich wirklich nicht mehr.« Herr Körner ließ die Zeitung sinken und sah seinen Sohn an. »Vo riges Jahr um diese Zeit«, sagte er ruhig, »hat dich die Schule nicht mehr interessiert … und nächstes Jahr wird es womöglich wieder so weit sein. Dann wirst du dich vielleicht entschlossen haben, Schauspie ler zu werden … oder Schlagersänger … oder Hundezüchter …« »Vater!« »Du hast gar keinen Grund, so empört zu sein. Beobachte dich lieber mal etwas genauer, dann wirst du merken, daß du deine Entschlüsse ziemlich rasch änderst.« »Diesmal«, sagte Jochen mit Nachdruck, »ist es mir wirklich ernst. Jetzt habe ich meine Erfahrungen gemacht. Ich schwöre dir, ich werde durchhalten bis zum Abitur.« »Tut mir leid«, sagte Herr Körner ruhig, »doch, ich glaube dir, daß du es ehrlich meinst. Aber trotzdem. Ich muß von dir verlangen, daß du endlich mal eine Sache fertigmachst …« »Die Schule!« »Nein, zuerst kommt deine Lehre.« »Aber du kannst doch nicht verlangen, daß ich mein ganzes Leben …« 306
»Davon spricht ja niemand. Wenn du deine Lehre hast, kannst du immer noch in Abendkursen dein Abitur nachholen … wenn es dir tatsächlich ernst ist mit dem Lernen. Und wenn du beides geschafft hast, Lehre und Abitur, dann bezahle ich dir dein Studium … nun sage nur nicht, daß das kein großzügiger Vorschlag ist.« Ja, das war er bei Lichte besehen wohl auch, dennoch war Jochen maßlos enttäuscht. Er war sicher gewesen, daß der Vater seinen Um schwung mit Begeisterung aufnehmen würde. Statt dessen hatte er ihm eigentlich nur einen Haufen Bedingungen gestellt. Er suchte bei Artur Verständnis für seinen Kummer. Aber Artur war gar nicht beeindruckt. Er fand den Vorschlag Herrn Körners sehr ver nünftig. Jochen zog es vor, das Thema zu wechseln. »Hast du wenigstens in zwischen herausbekommen, was mit Sibylle geworden ist?« fragte er. Er hatte diese Frage schon mehr als einmal gestellt, ohne je eine be friedigende Antwort darauf bekommen zu haben. Artur zögerte unmerklich mit der Antwort. Dann sagte er: »Doch. Etwas habe ich herausgebracht. Sibylle ist wieder in der Stadt. Sie ar beitet als Sekretärin …« »Wo?« fragte Jochen sofort. »Keine Ahnung«, behauptete Artur. »Aber warum hast du denn nicht …«, begann Jochen. Artur ließ ihn den Satz nicht zu Ende sprechen. »Wie stellst du dir das vor? Ich darf doch Anita nicht merken lassen, wie wichtig es uns ist, Sibylle ausfindig zu machen. Sie wäre dann imstande und führte mich an der Nase herum. Du kennst doch die Mädchen!« »Ja, schon«, mußte Jochen zugeben, »aber …« »Kein Aber! Verlass dich auf mich, ich mache das schon richtig!« Jochen gab sich mit dieser Erklärung zufrieden. Was blieb ihm auch schon anderes übrig. Keine Sekunde kam ihm der Gedanke, daß Ar tur ein doppeltes Spiel treiben könnte. Um der Wahrheit die Ehre zu geben – das wollte Artur eigentlich auch gar nicht. Zwar hatte er die Firma, bei der Sibylle arbeitete, längst in Erfahrung gebracht. Das war durchaus nicht schwer gewesen, er hat 307
te bei Anita nur antippen müssen, und schon hatte sie ihm die Adres se mitgeteilt. Warum Artur sie nicht an Jochen weiterleitete, das hatte einen sehr verständlichen Grund. Jochen war für ihn der einzig wirklich gute Freund seines Lebens, und er hatte sehr darunter gelitten, daß die Ver bindung, als Jochen die Schule verließ, so völlig abgerissen war. Jetzt war er froh und glücklich, daß alles wieder wie früher – nein, sogar noch besser – geworden war, und er fürchtete nichts mehr, als Jochen wieder an Sibylle zu verlieren. Nur deshalb hielt Artur den Freund hin und verschob es von Tag zu Tag, ihm mitzuteilen, wo er Sibylle finden konnte. Aber Jochen gab nicht auf, obwohl er sich allmählich selbst schon al bern vorkam mit seiner ewigen Fragerei. Eines Tages sagte er – ohne wirkliche Absicht, nur um etwas Druck hinter Arturs Bemühungen zu setzen: »Wenn du nicht weiterkommst, werde ich mir doch Anita lieber selber mal vorknöpfen.« »Nur nicht«, wehrte Artur erschrocken ab, »damit würdest du be stimmt alles verderben.« »Ich riskiere es«, erklärte Jochen, »so wichtig ist mir die Angelegen heit nun auch wieder nicht.« »Also«, sagte Artur, »dann lass mir auch Zeit!« Er wechselte rasch das Thema. Aber Jochens Drohung hatte doch wie ein Schreckschuss auf ihn gewirkt. Er begriff, daß er den Freund nicht länger hinhalten konnte und be schloß, auf eigene Faust etwas zu unternehmen. Er entschied sich, Si bylle erst einmal anzusehen, wenn möglich herauszukriegen, ob sie ei nen festen Freund hatte oder gar verlobt war. Mit entsprechenden Tat sachen, so hoffte er, würde er Jochen ein für allemal von seiner alten Liebe heilen können.
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Sibylle Sandner arbeitete in den Sintra-Werken, einer chemischen Fa brik, die sich vor allem mit der Herstellung von Kunststoffen und Fo lien befasste. Die Werke lagen im Norden der Stadt. Die Fabrikationsräume waren in riesigen modernen Zweckbauten untergebracht. Das Verwaltungs gebäude, das mit der Front zur Straße stand, hatte große Fenster, und die Fassade war mit einem Mosaik aus Kunststoffplatten geschmückt, das mit seinen knallbunten Farben das triste Vorstadtgrau belebte. Artur, anders als Jochen, kein glücklicher Besitzer eines fahrbaren Untersatzes, hatte den Omnibus benutzen müssen, um hinauszufah ren. Jetzt lungerte er einigermaßen unsicher zwischen der Haltestel le und der Fabrik herum. Es war ein gewöhnlicher Wochentag, und er hatte sich ausgerechnet, daß zumindest die Sekretärinnen gegen fünf Uhr Betriebsschluss haben müßten. Jetzt kam es ihm plötzlich in den Sinn, daß er sich genauso gut geirrt haben könnte. Da er selber noch Schüler war, hatte er so gut wie keine Ahnung von den Gepflogenhei ten des Berufslebens. Tatsächlich wurde es fünf, ohne daß das geringste geschah. In der Fabrikation war schon um vier Uhr Schichtwechsel gewesen, aber das wußte Artur natürlich nicht. Um fünf nach fünf faßte er sich schließlich ein Herz und schlenderte zu der Toreinfahrt hin, neben der ein Pförtner in einer Art gläsernen Kabine saß und in der Abendzeitung blätterte, die er sehr rasch ver schwinden ließ, als Artur ihn ansprach. »Bitte«, sagte Artur, »können Sie mir wohl sagen, um wieviel Uhr die Sekretärinnen Dienstschluss haben?« »Ganz verschieden. Welche wollen Sie denn sprechen?« »Fräulein Sibylle Sandner.« Der Pförtner runzelte nachdenklich die Stirn. »Sie ist neu«,fügte Artur rasch hinzu. »Ach so. Dann ist sie sicher auch keine Sekretärin, sondern sie arbei tet im Stenosaal.« »Schon möglich«, sagte Artur. »Die Mädels müssen jeden Augenblick kommen …« 309
Und tatsächlich hatte der Pförtner seinen Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als sie auch schon kamen – eine Schar junger Mädchen, in Gruppen zu zweien, dreien und vieren, alle schick und alle gut zu rechtgemacht, lachend und plaudernd und einander auf merkwürdi ge Weise ähnlich. Und doch – Artur erkannte Sibylle sofort wieder, es war ihm, als wenn er sie auch unter Tausenden herausgefunden hätte. In dieser Sekunde, als sie auf die Loge zukam, geschah etwas Merk würdiges mit Artur. Ihm war, als wenn sein Herz einen Schlag lang aussetzte. Er hatte niemals geglaubt, daß es so etwas geben könnte, aber jetzt spürte er es buchstäblich am eigenen Leib – sein Herz setzte aus, um gleich darauf so heftig und laut zu schlagen, daß es ihm in den Ohren dröhnte und er das Gefühl hatte, der Pförtner, neben dem er immer noch stand, müßte es hören. Sibylle war immer schon ein hübsches Mädchen gewesen, aber jetzt – so schien es wenigstens Artur – hatte sie sich zu einer wirk lichen Schönheit entwickelt. Ihr junges Gesicht war schmaler gewor den, und auch ihre Figur hatte an den Hüften und in der Taille einige überflüssige Polster verloren. Artur erinnerte sich nicht, daß ihre hel len Augen so groß und ausdrucksvoll gewesen waren – er war zu uner fahren, um festzustellen, daß ein geschicktes Make-up zumindest mit dazu beigetragen hatte, diese Wirkung zu erzielen. Sie trug ein kleines Kostüm im Chanel-Stil, dessen altrosa Bluse wunderbar mit dem war men Ton ihrer goldbraunen Haut harmonierte. Artur konnte nur dastehen und sie anstarren. Niemals zuvor hatte ein Mädchen einen solchen Eindruck auf ihn gemacht wie die schlan ke, selbstbewusste, erwachsene Sibylle, die da auf ihn zukam und – an ihm vorbeischritt. Denn da Sibylle auf nichts weniger gefaßt war, als ausgerechnet hier und jetzt ihren Klassenkameraden von früher zu treffen, achtete sie gar nicht auf ihn und erkannte ihn auch nicht. Sie unterhielt sich eifrig mit einem dunkellockigen, etwas älteren Mädchen, das zielbewusst auf ein kleines Auto zusteuerte, in dem ein junger Mann wartete. Artur glaubte schon, daß Sibylle mit einsteigen würde. Aber dann 310
trennten sich die beiden, und Sibylle wandte sich der Omnibushalte stelle zu. Inzwischen hatte sich die Schar der Mädchen erheblich ver ringert, denn nicht nur Sibylles dunkellockige Freundin war von ei nem jungen Mann abgeholt worden. Jetzt endlich löste sich Artur aus seiner Erstarrung, setzte sich in Be wegung und spurtete hinter Sibylle her. Er hatte in seiner Aufregung die Entfernung überschätzt, so daß er um ein Haar mit Sibylle zusam mengeprallt wäre. Aber das bewirkte wenigstens, daß sie jetzt auf ihn aufmerksam wurde. Ganz verblüfft sagte sie: »Artur Holm! Ja, ist es denn die Möglich keit? Wie kommst du denn hierher?« So nahe liegend die Antwort auch war, Artur brachte sie nicht her aus. Er geriet ins Stottern. Sibylle half ihm aus der Verlegenheit. – »Na, jedenfalls ist es riesig nett, dich mal wieder zu sehen! Was macht die Penne?« »Alles in Ordnung«, brachte er mühsam heraus. »Ich treffe mich ja noch manchmal mit Anita«, sagte sie, »stimmt's, daß sie sich zu solch einer Leuchte entwickelt hat?« »Das kann man wohl sagen.« »Ich wußte immer schon, daß sie ein As war«, plauderte Sibylle un befangen drauflos. »Bloß früher hat sie sich nie getraut, beim Mündli chen mitzumachen, weil sie immer einen roten Kopf gekriegt hat, so bald sie den Mund aufmachte. Aber jetzt, sagt sie, ist ihr das egal ge worden … ah, da kommt ja mein Bus! Tschau, Artur!« Sibylle lächelte Artur an, wandte sich ab. »Halt!« rief er. Sie fuhr herum. »Was ist denn?« »Ich fahre mit.« »Ach so.« Sibylle lachte. »Deshalb brauchst du mich aber doch nicht so zu erschrecken.« Sie ergatterten im Bus, der hier, nahe der Endstation, noch fast leer war, zwei Plätze dicht gegenüber. Aber Sibylle schien zu finden, daß sie sich jetzt ausgiebig genug mit Artur unterhalten hatte. Sie zog ein Buch aus ihrer Handtasche, schlug es auf. 311
Artur kam sich sehr jung und dumm vor, und das ärgerte ihn um so mehr, als dieses Gefühl ja an sich völlig unberechtigt war. Er war genau so alt wie Sibylle, wenn nicht gar ein paar Monate älter, und sicher war er gescheiter, gebildeter und belesener als sie. Aber das änderte nichts an der Tatsache, daß er nicht wußte, was er mit ihr reden sollte. Zum ersten Mal in seinem Leben kam ihm schmerzlich zum Bewußtsein, daß er überhaupt keine Erfahrung im Umgang mit Mädchen hatte. »Du siehst ganz fabelhaft aus!« stieß er mit Überwindung hervor und bekam rote Ohren, weil auch dieses Kompliment nicht galant, sondern tölpelhaft geklungen hatte. »Danke für die Blumen«, sagte sie und lächelte ihn unbefangen an. Aber obwohl in ihrem Lächeln nicht eine Spur von Spott lag, hatte er das peinigende Gefühl, daß sie sich über ihn lustig machte. »Ich meine es ganz ernst«, sagte er. »Ich finde es rührend, daß du das sagst, zumal wir … ich weiß nicht, wie viele Jahre … die gleiche Schulbank gedrückt haben.« »Du siehst aber nicht mehr wie eine Schülerin aus.« »Das wäre ja auch noch schöner.« Artur zerbrach sich den Kopf nach einem Gesprächsthema. Warum war es bloß so schwer? Mit Jungen konnte er doch laufend reden, und auch mit den Mädchen aus seiner Klasse war er nie in die geringste Verlegenheit geraten. »Siehst du Jochen eigentlich noch einmal hie und da?« fragte sie plötzlich in einem so beiläufigen Ton, daß sie niemanden, der ein biß chen mehr Erfahrung hatte, darüber hätte hinwegtäuschen können, wieviel Wert sie tatsächlich auf die Beantwortung dieser Frage legte. Aber Artur merkte es nicht. Ihm fiel in diesem Moment etwas ande res schwer aufs Herz – warum er nämlich überhaupt Sibylle ausfindig gemacht hatte, nicht seinet-, sondern Jochens wegen. »Nein«, sagte er prompt, »überhaupt nicht.« Er hatte nicht lügen wollen, er hatte gar keine Zeit gehabt, sich die Antwort zurechtzulegen, da war sie schon heraus. Er schämte sich, und doch – selbst wenn er noch eine Gelegenheit gehabt hätte, er hätte die se Lüge nicht zurückgenommen. 312
Sibylle sagte gar nichts darauf. Sie wandte ihre Augen dem Buch zu und gab Artur damit zu verstehen, daß ihr Interesse an einem Ge spräch mit ihm jetzt endgültig erloschen sei. Er war ihr fast dankbar, daß er nicht mehr sprechen mußte, daß er sie ungestört beobachten konnte – ihr schimmerndes blondes Haar, das einen halben Ton dunkler geworden war als früher, die kurze ge rade Nase, die dichten dunklen Wimpern, die einen Hauch von Schat ten über ihre Wangen warfen. Es hätte ihm genügt, so dazusitzen und sie anzusehen. Aber er wuß te, daß er sich damit nicht zufrieden geben durfte. Denn wenn ihm jetzt nichts einfiel, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, dann würde sie an einer der nächsten Haltestellen aussteigen und damit für immer aus seinem Leben verschwinden. »Wollen wir gleich zusammen noch ein Eis essen gehen?« fragte er. Sie murmelte etwas, das wie »nein, danke«, klang, schüttelte ein we nig den Kopf. »Zur Feier unseres Wiedersehens«, sagte er. Sie reagierte gar nicht darauf. »Oder darf ich dich zu einer Tasse Kaffee einladen?« Jetzt sah sie den Bruchteil einer Sekunde hoch. »Tut mir leid, Artur, aber ich muß nach Hause.« »Ausnahmsweise könntest du doch …« »Meine Leute erwarten mich.« »Du kannst doch einfach telefonieren.« »Artur«, sagte sie nachdrücklich und sanftmütig in einem Ton, als wenn sie mit einem begriffsstutzigen Kind spräche, »wenn ich vom Büro nach Hause komme, habe ich acht Stunden geschuftet. Ich bin abgespannt und alles andere als unternehmungslustig. Ich sehne mich nach einer warmen Dusche und nach sonst gar nichts.« Er blieb hartnäckig. »Aber später, wenn du dich geduscht hast …« Ihm fiel etwas anderes ein. »Oder … wir könnten uns ja auch am Samstag abend treffen! Da hast du doch bestimmt Lust, was zu unternehmen?« Jetzt wurde ihr Lächeln wirklich ein wenig spöttisch. »Eine Tasse Kaffee zu trinken?« 313
»Ach, das meine ich doch gar nicht. Wir könnten …« Er stockte, denn es wurde ihm klar, daß er tatsächlich nicht wußte, was er mit Sibylle hätte unternehmen können. Er konnte nicht tanzen, musika lisch war er auch nicht, das Theater hatte Sommerpause, also blieb ei gentlich nur das Kino – und das war bestimmt kein Vorschlag, der in einem Mädchen wie Sibylle Begeisterungsstürme hätte hervorru fen können. »Du kannst mich ja vielleicht mal anrufen«, sagte sie. Sie sagte das ausgesprochen nett, und trotzdem hatte er den Ein druck, daß sie diesen Vorschlag nur machte, weil sie hoffte, ihn am Te lefon leichter abwimmeln zu können. »Wwarum? Wir können doch gleich jetzt was ausmachen«, beharr te er, »und …« Sie klappte ihr Buch zu, stand auf. »Keine Zeit mehr. An der näch sten Haltestelle muß ich aussteigen.« Er sprang auf. »Ich begleite dich noch …« »Nein, bitte nicht«, sagte sie entschieden, »ich muß noch ein paar Einkäufe machen.« »Aber ich kann doch …« »Nein. Du kannst nicht.« Sie reichte ihm ihre feste Hand. »Also dann. Tschau! Bis bald mal!« »Sibylle, bitte, warte doch! Ich habe ja noch nicht einmal deine Adres se!« Er hielt ihre Hand so krampfhaft fest, daß sie sich förmlich losrei ßen mußte. »Frag Anita«, sagte sie, drängte sich energisch zur Mitte – der Omni bus war inzwischen sehr voll geworden –, und er sah nichts mehr von ihr als einen Schimmer ihres blonden Haares. Er starrte ihr nach mit einem Gesicht, das geradezu töricht vor inne rer Bewegung wirkte. Ich liebe sie, dachte er, ist es denn möglich! Ich habe mich in Sibyl le verliebt!
*
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Jens wartete am Sonntagnachmittag vergeblich auf Lilo Hesse. Er hatte sich mit Mühe und Not von Claudia getrennt, die nicht ein sehen wollte, warum sie ihn, wenn er schon plötzlich auf die Idee kam, ein Fußballspiel zu besuchen, nicht begleiten konnte. Es war ihm nichts anderes übrig geblieben, als einen Streit zu inszenieren, und das Be wußtsein, daß sie im Recht und er im Unrecht war, steigerte noch sei nen Zorn auf sie, die es ihm so schwer machte, einen Fehler an ihr zu finden, und auf die ganze vertrackte Situation, in die er geraten war. Und dann stand er an der Ecke Parkwirtschaft und wartete auf Lilo, die nicht kam. Es dauerte mindestens zwanzig Minuten, bis ihm klar wurde, daß sie sich nicht nur verspätet hatte, sondern wirklich nicht kam. Dann war er so wütend auf sich und die Welt, daß er zu nichts ande rem mehr Lust hatte, als in die Wirtschaft hineinzugehen und sich zu betrinken, was er sonst noch nie getan hatte, und er geriet unter dem Einfluß des Alkohols mit einem ihm völlig unbekannten Mann wegen eines völlig belanglosen Missverständnisses in einen Streit und Prü gelei. Nach dem Mittagessen war er fortgegangen, und erst lange nach Mitternacht kehrte er zu Claudia zurück, immer noch betrunken, mit zerrissenem und beschmutztem Anzug und einem blauen Auge. Hätte Claudia ihre Tränen und Vorwürfe nicht heruntergeschluckt und ihn nicht sofort stillschweigend ins Bad und dann ins Bett gesteckt, wäre es womöglich schon in dieser Nacht zum endgültigen Bruch zwischen den beiden gekommen. Aber in diesem Fall bewährte sich Claudias Erfahrung und mütterliche Reife. Am nächsten Morgen wußte Jens nicht mehr recht, was geschehen war, aber er war zerknirscht, zu nichts weniger aufgelegt als zum Strei ten. Dankbar dafür, daß Claudia auch jetzt noch von jedem Vorwurf absah, versöhnte er sich vollkommen mit ihr. Aber noch in der Aus söhnung blieb der Tropfen Bitterkeit zurück, der in der Erkenntnis be stand, daß sie ihm so deutlich moralisch überlegen war. Doch trotz al lem war er froh, in sein warmes Nest zurückgeschlüpft zu sein. Die Freude darüber hielt jedoch nur so lange, wie er seelisch ange 315
schlagen war. Sobald die Folgen des durchzechten Nachmittags ab klangen, sein Auge wieder eine normale Färbung annahm, mußte er immer öfter an Lilo Hesse denken. Warum nur hatte sie ihn stehen lassen? Etwas Ähnliches war Jens Körner seit Jahren nicht mehr passiert, und durch diese Abfuhr hatte Lilo sein Interesse weit stärker geweckt, als sie es durch das bezauberndste Benehmen vermocht hätte. Er be griff es einfach nicht, wie ein kleines Schulmädchen ihn hatte verset zen können. Das war etwas, was über seinen Horizont hinausging und an den Wurzeln seines Selbstbewusstseins nagte. Tagtäglich wartete er darauf, daß er Lilo irgendwo und irgendwann begegnen würde, aber nichts dergleichen geschah. Sie blieb für ihn ver schwunden, und er hatte keine Möglichkeit, sie etwa auf dem Schulweg abzufangen, da er ja zu diesen Zeiten im Kaufhaus ›Karmann‹ arbeitete. Endlich hielt er es nicht länger aus und rief bei Hesses an, und zwar von Claudia Millers Penthaus aus. Er war ausnahmsweise allein zu Hause, denn Claudia hatte zu einem Geschäftsgespräch mit einem Werbeleiter ins Eden-Hotel gemusst. Jens hoffte inständig, daß Lilo selber an den Apparat kommen wür de, und er war drauf und dran, aufzulegen, als ihre Mutter sich melde te. Aber dann kam er sich kindisch vor und nannte seinen Namen. »Jens Körner, wie nett!« sagte Frau Hesse ganz erfreut und setzte, nach einer kaum merklichen Pause, in der ihr eingefallen war, daß Jens mit einer zehn Jahre älteren Frau zusammen lebte, in völlig veränder tem reserviertem Ton hinzu: »Ja, bitte?« »Ich möchte gerne Lilo sprechen«, sagte Jens mit fester Stimme. Frau Hesse zögerte mit der Antwort, und Jens wäre durchaus nicht überrascht gewesen, wenn sie ihm eine glatte Abfuhr erteilt hätte. Statt dessen sagte sie: »Moment mal!« Und wenige Sekunden später war Lilo am Telefon. »Hallo, Jens«, sagte sie, und ihre Stimme klang sehr abwartend und zugleich sehr wach. »Ich habe am Sonntag vergeblich auf dich gewartet«, sagte er sofort. »Ja. Leider. Ich konnte nicht.« 316
»Dann hättest du mir doch wenigstens Bescheid sagen können.« »Wie denn?« gab sie zurück. Diese Gegenfrage war berechtigt. Trotzdem sagte er: »Bei ›Karmann‹ kannst du mich jederzeit erreichen!« »Nicht nach Feierabend«, sagte sie, »und nicht sonntags.« Ihm fiel nichts ein, was er darauf sagen sollte, und auch sie schwieg. Sie entschuldigte sich nicht, wie er erwartet hatte, sie hatte nicht ein mal eine wirkliche Erklärung abgegeben, und sie drängte auch nicht auf ein Wiedersehen. Das brachte ihn völlig aus dem Konzept. »Jedenfalls nett, daß du angerufen hast«, sagte sie in das Schweigen hinein, »ich muß jetzt Schluß machen. Wir essen zu Abend.« »Kannst du nachher nicht noch einen Sprung herunterkommen?« »Wenn du Wert darauf legst …« »Ja«, sagte er, »das tue ich. Sogar großen.« »Na schön, also dann … in einer halben Stunde. In den Anlagen.« Diesmal kam sie wirklich, und sie sah reizend aus. Sie gab sich ganz unbefangen, lustig und vergnügt, und er kam gar nicht dazu, ihr Vor haltungen zu machen. Sein Zorn verrauchte, schien ihm auf einmal sinnlos. Sie gingen Hand in Hand spazieren, während die blaue Dämmerung sich langsam herabsenkte. Sie waren nicht das einzige Paar, das an die sem schönen Sommerabend unterwegs war, und es dauerte eine Weile, bis sie eine freie Bank fanden. Sie setzten sich, und er legte seinen Arm um ihre Schultern. »Ich habe viel an dich gedacht, Lilo«, sagte er zärtlich. Sie lächelte ihm zu, rückte aber ein ganz klein bißchen von ihm fort. »Ich auch an dich, Jens.« »Weißt du, daß du mir immer schon gefallen hast? Schon als du ein ganz kleiner Stöpsel warst?« Sie lachte. »Und du hast mir auch immer schon sehr gut gefallen, Jens … als ich noch ein ganz kleiner Stöpsel war.« »Na dann …«, sagte er und wollte sie küssen. Aber sie wandte blitzschnell ihr Gesicht zur Seite. »Du vergisst, daß du verlobt bist.« 317
»Na wenn schon«, sagte er, »verlobt ist noch lange nicht verheira tet!« »Stimmt. Wenn du verheiratet wärest, säße ich auch gar nicht hier mit dir.« »Lilo«, sagte er und versuchte, sie wieder an sich zu ziehen, »warum machst du dir denn das Leben so schwer? Du hast doch zugegeben, daß du mich magst …« Sie stieß ihn zurück. »Gerade deshalb«, sagte sie energisch. »Hör mal, Lilo«, sagte er, »anscheinend hast du ganz verdrehte Be griffe. Daß ich verlobt bin, bedeutet wirklich nicht, daß ich Claudia Miller auch heiraten werde …« »Warum«, fragte sie unumwunden, »hast du dich dann überhaupt mit ihr verlobt?« »Um ihr eine Freude zu machen …« »Das muß wirklich herrlich für sie sein«, sagte Lilo ernsthaft, »eine Verlobung, von der sie jetzt schon weiß, daß sie nie zu etwas führen wird.« »Aber das weiß sie doch gar nicht!« Lilo legte den Finger an die Nase. »Aha. Sie glaubt also, du wirst sie heiraten … aber du weißt, du wirst es nicht. Habe ich dich jetzt rich tig verstanden?« »Lilo«, sagte er, »verdammt noch mal, was soll das Ganze?« »Ich finde das sehr interessant«, erklärte sie unverfroren, »erzähl mir doch mal, wie machst du das denn, daß sie gar nicht merkt, daß du sie …« Aber sie kam nicht dazu, ihren Satz zu beenden, denn diesmal ge lang es ihm tatsächlich, sie zu überrumpeln. Ehe sie es sich versah, hat te er sie in die Arme genommen und geküsst. Im gleichen Augenblick ertönte ein unterdrückter, keuchender, selt sam schmerzerfüllter Ton ganz in ihrer Nähe, und sie fuhren erschrok ken auseinander. Jan stand vor ihnen, kreidebleich, mit geballten Fäusten, und Au gen so schwarz, daß sie wie Löcher in seinem geisterhaft blassen Ge sicht wirkten. 318
Ehe Lilo und Jens noch recht begriffen, daß er sie schon seit längerer Zeit beobachtet haben mußte, drehte er sich auf dem Absatz um und rannte davon. Mit einem Satz war Lilo auf den Beinen und jagte ihm nach. Jens war so verblüfft, daß er sich erst aufraffte, als er ihr helles Kleid nur noch wie einen Schimmer zwischen den Büschen auftauchen sah. Er machte ein paar Schritte, als wenn er ihnen nachlaufen wollte, dann aber wurde ihm klar, daß der Vorsprung schon zu groß war. Auch hatte er Angst, sich lächerlich zu machen, wenn er hinter den beiden Halbwüchsigen herrannte. So zündete er sich denn eine Zigarette an, schlenderte gemächlich zum Ausgang der Anlagen hin. Aber seine äußere Ruhe täuschte. In nerlich war er so erregt, so ganz und gar mit sich selbst uneins, wie nie zuvor in seinem Leben.
Sicherlich hätte Lilo ihren Klassenkameraden nicht eingeholt, denn er war der schnellere Läufer, wenn er auf den Wegen geblieben wäre und sich nicht wie ein verwundetes Wild in das Gesträuch geschlagen hät te. Aber so passierte es, daß er in ein Loch trat, stolperte und der Län ge nach hinfiel. Lilo begriff erst gar nicht, was passiert war – von einer Sekunde zur anderen war er vor ihren Augen verschwunden. »Jan!« rief sie. »Jan!« Er rührte sich nicht, lag still und steif da, den Kopf mit den zerzau sten schwarzen Locken in den Armen verborgen. Aber Lilo gab nicht auf. Sie ging, nach links und rechts, oben und unten spähend, langsam weiter, und dann sah sie ihn, sein Rücken zuckte, und sie begriff, daß er weinte – instinktiv wußte sie, daß es ihm furchtbar sein würde, von ihr in Tränen aufgelöst überrascht zu werden. Deshalb wartete sie eine Weile, bis sein Schluchzen nachließ, sag te erst dann: »Jan, da bist du ja!« – Als wenn sie ihn gerade erst gefun den hätte. 319
Er rührte sich nicht. »Junge, Junge, du hast mir einen schönen Schreck eingejagt!« sagte sie. »Ich dachte schon, du wärst …« Sie unterbrach sich. »Hast du dir weh getan?« Jan gab immer noch keine Antwort, und sie kniete sich neben ihn zwischen die Büsche, rüttelte ihn leicht. »Sag doch etwas! Du bist doch nicht ohnmächtig!« »Lass mich in Ruhe!« knurrte er wild. »Aber ich muß mit dir sprechen«, sagte Lilo hartnäckig, »du willst doch sicher auch wissen, wie weit ich mit Jens bin …« Er warf sich herum, starrte sie an – aber er sah in der Dämmerung, die inzwischen hereingebrochen war, kaum mehr von ihr als ihr hel les Kleid. Den Ausdruck ihres Gesichtes konnte er beim besten Wil len nicht erkennen. »Mir«, sagte er fassungslos, »mir willst du das erzählen?« »Natürlich, du hast doch ein Recht darauf, Jan. Schließlich war es deine Idee, daß ich versuchen sollte, Jens von dieser Frau Miller loszu eisen … nicht wahr, das hast du doch gewollt? Deshalb hast du mich doch damals mit zur Verlobungsfeier genommen!« Jan verschlug es den Atem. Er wollte protestieren. Aber der Köder, den Lilo ihm vor die Nase hielt, war doch zu verlockend. Wenn er ihn schluckte, konnte er zumindest sein angeschlagenes Selbstbewußtsein wieder aufrichten. Er konnte sich nicht vorstellen, daß Lilo nicht sel ber glaubte, was sie sagte, und wenn sie davon überzeugt war, warum sollte er es dann bestreiten? »Ja, das stimmt«, sagte er zögernd. »Na, siehst du«, sagte sie, »also paß mal auf, jetzt brauche ich deinen Rat …« Und sie zog ihn auf den Weg zurück, klopfte ihm den Anzug ab, lieh ihm sogar ihr Taschentuch, und nachdem er sich kräftig geschnäuzt hatte, war er schon wieder imstande, mit ihr einen ausführlichen Kriegsrat abzuhalten. Zwei Stunden später, es war inzwischen längst vollkommen dun kel geworden, kam Claudia von ihrer Geschäftsbesprechung im Ho 320
tel Eden zurück. Sie parkte ihren Sportwagen in der Tiefgarage des Hochhauses. Lilo kam gerade zurecht, um ihn verschwinden zu sehen. Knapp bevor die automatische Türe sich wieder schloß, schlüpfte sie dem Auto nach und war zur Stelle, als Claudia ausstieg. »Oh, Sie sind allein, Frau Miller?« stammelte sie. »Ich dachte … ich hatte gehofft …« Claudia betrachtete das blutjunge Mädchen, das in seiner Aufregung doppelt reizend wirkte, und sie mußte sich Mühe geben, ihrer Antipa thie nicht die Zügel schießen zu lassen. »Du wolltest wohl Herrn Kör ner sprechen?« fragte sie kühl. »Ja!« stieß Lilo hervor. »Es ist … ich weiß mir keinen anderen Rat … Jan ist nämlich verschwunden!« »Jan?« Claudia schloß die Autotür ab. »Das tut mir leid. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie Herr Körner da helfen könnte.« »Doch, Jens ist der einzige Mensch, der …« Lilo unterbrach sich. »Entschuldigen Sie, daß ich ihn so nenne, aber wir … wir kennen uns ja sozusagen von Kindsbeinen an …« »Ich begreife immer noch nicht, was du von ihm willst.« »Wenn ich nur mit hinauffahren könnte«, sagte Lilo flehend, »sehen, ob er da ist!!« Das war eine Bitte, die Claudia nicht gut abschlagen konnte. »Von mir aus«, sagte sie, aber es klang nicht freundlich. Lilo ließ sich dadurch nicht abschrecken. Sie folgte ihr auf den Fer sen. »Wenn nicht … ich meine, dann kann ich auch nicht … aber im merhin …« murmelte sie geheimnisvoll. Sie hoffte inständig, während sie von der Garage aus im Lift nach oben fuhren, daß Jens tatsächlich zu Hause sein möge. Denn sie hat te erkannt, daß Claudia Miller ein dicker Brocken war, mit dem sie al lein nicht fertigwerden konnte. Sie überlegte krampfhaft, wie sie den Faden weiterspinnen sollte, wenn Jens nicht da war, und fast wollte sie der Mut verlassen. Aber sie hatte Glück. Jens saß in dem riesigen eleganten Wohn raum, die Beine auf dem niedrigen Tisch, ein Glas Wein neben sich, die aufgeschlagene Zeitung vor sich und eine Zigarre auf dem Rand 321
des Aschenbechers – er hatte sich seit neuestem entschlossen, Zigarren zu rauchen, weil er fand, daß das ungeheuer männlich wirkte. Er erhob sich lässig, als er Claudia sah – aber als er Lilo erkannte, die sich an ihr vorbeidrängte, verließ ihn seine Selbstsicherheit. Er wirk te verwirrt, fast verstört, und das entging Claudia selbstverständlich nicht. »Ich habe die Kleine unten aufgegabelt …«, begann sie. Aber Lilo ergriff schon selber das Wort. »Jan ist weg«, sagte sie auf geregt, »ich habe überall nach ihm gesucht … er ist einfach weg, vom Erdboden verschwunden.« »Bestimmt ist er längst zu Hause«, erklärte Jens. »Nein! Da habe ich noch vor einer halben Stunde angerufen!« Lilo än derte den Ton. »Aber wenn du meinst … ruf doch mal selber an …« Jens verzog unwillkürlich das Gesicht, als wenn er in eine saure Zi trone gebissen hätte. Seit vielen Monaten hatte er nicht die geringste Verbindung mehr mit seiner Familie, und es paßte ihm gar nicht, sich ausgerechnet jetzt, in einer so heiklen Angelegenheit wieder zu mel den. Claudia sah von Jens zu Lilo. »Was ist denn eigentlich passiert?« woll te sie wissen. »Völlig unwesentlich«, winkte Jens ab. »Aber, wenn es nicht wichtig wäre …« Lilo fiel ihr ins Wort. »Wir machen uns Sorgen«, sagte sie nachdrück lich, »sehr berechtigte Sorgen um Jan. Wir fürchten … er hat …« Sie machte eine wirkungsvolle kleine Pause … »einen kleinen Schock be kommen«, ergänzte sie dann. »Einen Schock?« fragte Claudia, die gar nichts verstand. »Ja, vielleicht … so ähnlich könnte man es nennen«, gab Jens unbe haglich zu. »Er ist ein sehr empfindsamer Junge«, erklärte Lilo altklug, »und steckt in einer sehr schwierigen Lebensphase … nein, ich glaube zwar nicht, daß er sich etwas angetan hat …« Jens wurde blass um die Nase. »Um Gottes willen, sag doch so et was nicht!« 322
»Ich sagte ja nur, das glaube ich nicht. Aber … er hat schon öfters mal davon gesprochen, auszureißen …« »Aber wohin?« fragte Jens. »Nach Hamburg. Er will versuchen …« »Das ist doch Unsinn«, warf Claudia nüchtern ein. »Du hast ja keine Ahnung, auf was für Ideen Jungen kommen kön nen!« rief Jens. »Denk doch mal vernünftig! Selbst wenn Jan einen solchen Plan ge faßt hat, die Ausführung wäre doch ganz und gar unmöglich. Die Po lizei würde ihn schnappen, und …« Claudia unterbrach sich. »Moment mal, ich glaube, ich weiß, was wir tun! Ja, das ist überhaupt das einzig Vernünftige. Wir rufen jetzt die Polizei an …« Und sie war mit weni gen, raschen Schritten beim Apparat. Aber Lilo war genauso schnell. »Das würde ich nicht tun, Frau Mil ler«, sagte sie und legte die Hand auf die Gabel. Claudia blitzte sie zornig an – sie hatte Lilo ja nie leiden können, jetzt aber ging sie ihr von Sekunde zu Sekunde mehr auf die Nerven. »Und warum nicht, wenn ich fragen darf?« »Der Skandal«, sagte Lilo, »Jan könnte Schwierigkeiten haben deswe gen, womöglich werfen sie ihn aus der Schule.« »Das«, sagte Claudia gereizt, »hätte er sich dann auch nur selber zu zuschreiben!« Lilo warf einen raschen Blick zu Jens hinüber und konstatierte, daß diese lieblose Bemerkung ausgesprochen schlecht auf ihn wirkte. Sie nahm die Hand von der Gabel, sagte mit seltsamer Betonung: »Sie soll ten es trotzdem nicht tun, Frau Miller!« »Danke für deine guten Ratschläge! Aber ich habe doch wohl mehr Erfahrung als du …« »Daran«, sagte Lilo, »zweifle ich nicht!« Claudia ließ sich nicht unterbrechen. »… und weiß, was man in einer solchen Situation unternehmen muß!« Sie hob den Hörer ab und wähl te schon die erste Nummer. »Aber Sie wissen nicht, warum Jan fortgelaufen ist!« spielte Lilo ih ren letzten Trumpf aus. 323
Es dauerte eine Sekunde, bis Claudia begriffen hatte. Dann legte sie den Hörer wieder auf die Gabel, wandte sich langsam Lilo und Jens zu. »Warum?« fragte sie tonlos. »Also … das ist doch wirklich im Augenblick ganz unwesentlich«, sagte Jens, »Jan ist verschwunden, darum geht es …« »Warum?« fragte Claudia noch einmal und sah von Jens zu Lilo. »Es war alles ganz harmlos«, sagte Lilo rasch, »ein Spaß … ein Mis sverständnis … Jens konnte nicht wissen …« »Verdammt noch mal, ja, ich habe sie geküsst!« schrie Jens. »Wenn du mir jetzt daraus einen Strick drehen willst, bitte! Ich habe sie ge küsst, und ich kann kein Kapitalverbrechen darin sehen …« Claudia war sehr blass geworden, ihre Hände umklammerten die Schreibtischplatte. »Sieh mich nicht so an, als wenn ich ein Verbrecher wäre!« schrie Jens. »Was ist schon dabei, wenn ich ein junges Mädchen küsse? Nein, ich habe kein schlechtes Gewissen, nicht das geringste! Ich bin jung, und ich will frei sein … und ich habe deine ewige Bevormundung satt … satt bis hier!« Claudia holte tief und keuchend Atem. »Du bist frei«, sagte sie dann mit beherrschter Stimme, »du kannst gehen, wohin du willst. Ich hal te dich nicht.« Sie streifte ihren Verlobungsring vom Finger, warf ihn ihm vor die Füße. Die Szene verlor ihre Wirkung, weil Lilo sich wieselflink bückte, den Ring aufhob, ihn Jens in die Jackentasche steckte. »Komm«, sagte sie, »ich habe eine Idee, wo Jan sein könnte …« Sie merkte, daß Jens und Claudia sich noch immer wie über einen Abgrund hinweg anstarrten, und verstummte. Jens streifte seinen Ring vom Finger, legte ihn vor Claudia auf den Schreibtisch. »Leb wohl«, sagte er, »es tut mir leid, daß alles so enden mußte.« »Geh«, sagte sie, »geh! Ich kann dich nicht mehr sehen.« »Ich werde mir dann meine Sachen holen …« »Nicht nötig. Du brauchst mir nur deine neue Adresse angeben. Ich werde dir dann alles schicken.« 324
»Danke«, sagte er kalt, wandte sich um und ging. Lilo folgte ihm auf dem Fuß. Als sie allein war, brach Claudia in wildes, verzweifeltes Schluchzen aus. Und doch spürte sie in dieser ersten, bittersten Minute der Ein samkeit, daß sie es erwartet hatte. Sie hatte es gewußt, von Anfang an, daß es eines Tages so kommen würde. Sie hatte ein Glück genossen, das ihr nicht zustand, jetzt mußte sie dafür zahlen.
*
»Wenn ich gewußt hätte«, sagte Lilo heuchlerisch zu Jens, »daß du so viel Schwierigkeiten haben würdest, hätte ich mich bestimmt nicht an dich gewandt …« »Schon gut«, wehrte er ab. »… sondern an Jochen«, ergänzte sie ihren Satz. »Wenn nämlich Jan da ist, wo ich glaube, dann brauchen wir ein Auto, um ihn zu finden. Und du hast ja jetzt keines mehr.« »Weißt du denn, wo Jochen ist?« »Ja, sicher. Seit der eine eigene Klappermühle hat, bastelt er doch je den Abend daran herum …« Lilo behielt recht. Sie fanden Jochen tatsächlich, wie er wieder ein mal eine neue Verbesserung an seinem Wagen ausprobierte, der zwar seine neueste Errungenschaft war, tatsächlich aber ein zehn Jahre al tes Modell. Er war sofort bereit zu helfen, und Lilo erklärte den Brüdern, daß sie einmal zusammen mit Jan in einem alten Gartenhaus am Rande der Stadt gewesen war, das ihrem Großvater gehörte. Damals schon hätte Jan gesagt, daß dies eine wunderbare Station für eine erste Übernach tung wäre, falls er einmal von zu Hause ausreißen wollte. Jens und Jochen ließen sich den Weg beschreiben, lieferten Lilo dann aber zu Hause ab und machten sich allein auf die Fahrt zu den Schre bergärten. Sie fanden alles genauso vor, wie es Lilo mit seltsamer Hell sicht beschrieben hatte – Jan lag auf einem Feldbett, mit alten Säcken 325
zugedeckt und schlief tief und fest. Er wachte nicht einmal auf, als sie ihn ins Auto trugen. Jens und Jochen fassten ihn beide an, Jens am Kopf, Jochen bei den Füßen, als sie ihn später in die elterliche Woh nung transportierten. Herr und Frau Körner hatten sich schon Sorgen um ihren Jüngsten gemacht, und so vollzog sich die Heimkehr von Jens ohne jede Feier lichkeit und sogar fast ohne Verlegenheit. »Du bleibst doch heute Nacht hier, Jens?« fragte Frau Körner. »Ich werde dir das Bett in Jans Zimmer zurechtmachen.« Und so geschah es. Bevor Jens ins Bett ging, knipste er die Nachttischlampe an und warf einen letzten Blick auf Jan – aber erstaunlicherweise schlief der Junge jetzt nicht mehr, sondern sah ihn aus sehr wachen Augen an. »Bleibst du jetzt wieder bei uns, Jens?« fragte er. »Vielleicht. Vielleicht nehme ich mir auch ein möbliertes Zimmer.« »Aber von Frau Miller bist du weg?« »Ja, Jan … und jetzt schlaf gut.« Jens löschte das Licht aus und kletterte in das andere Bett. Aber er schlief nicht, sondern verschränkte die Hände hinter dem Kopf und dachte nach – es gab viel, sehr viel zu überlegen für ihn in dieser Nacht. »Jens …«, sagte Jan. »Schlaf doch!« »Nein, Jens, ich muß dir noch etwas sagen …« Jan holte tief Luft. »Ich trete dir Lilo ab!« Jens richtete sich auf dem Ellenbogen auf. »Was sagst du da?« »Du hast es doch genau verstanden. Ich trete zurück, du kannst Lilo Hesse haben.« »Wenn du dir das früher überlegt hättest, hätten wir die ganze Such aktion nicht zu starten brauchen!« sagte Jens, und er dachte daran, wie anders dann alles für ihn gekommen wäre. »Bist du mir böse deswegen?« fragte Jan. Eine lange Pause entstand. Dann war es Jens, der wieder zu sprechen begann: »Magst du Lilo denn nicht mehr?« 326
»Doch, schon, aber …« »Jetzt sag bloß nicht, daß du aus lauter Edelmut bereit bist, zu ver zichten.« »Nein, das nicht«, bekannte Jan, »sondern … weißt du, sie ist mir zu raffiniert. Sie ist mir immer über gewesen. Ich suche mir lieber eine, die … na ja, der ich gewachsen bin.« Plötzlich ging Jens ein Licht auf, und er wunderte sich, daß er nicht schon früher darauf gekommen war. »Dann war das alles also … Lilos Inszenierung?« »Nein«, sagte Jan, »daß ich euch beim Küssen erwischt habe, war echt …« »Aber das andere?« »Ich hätte nie mitgemacht, wenn ich nicht auch gedacht hätte, daß Frau Miller zu alt für dich sei. Ich wollte so gerne, daß du wieder zu uns kommst, daß du dich mit den Eltern versöhnst … und Lilo sagte, sie sagte …« »Was sagte sie denn?« »Daß du Frau Miller gar nicht richtig lieb hättest, sondern ihr bloß ins Garn gegangen seist, und deshalb …« »Ihr seid mir schon welche!« meinte Jens. Und einen Augenblick lang fürchtete Jan, daß Jens nun furchtbar wütend werden würde. Aber dann hörte er ein seltsames Geräusch, und es dauerte ein paar Sekunden, bis er ausmachte, daß Jens lachte – erst prustete er unterdrückt, dann lachte er laut heraus, und glücklich und erleichtert stimmte Jan in dieses befreiende Gelächter ein.
*
Artur Holm war es wie vielen anderen Menschen gegangen: Er hat te den Kopf geschüttelt, wenn er miterlebt hatte, wie jemand in sei ner Umgebung sich verliebte. Für ihn war Liebe eine Erfindung gewe sen, die sich in Romanen und Filmen zwar gut ausmachte, ins wirkli che Leben aber absolut nicht hineinpasst. Kurzum, er war immer über zeugt gewesen, daß Liebe und Verliebtheit zu zwanzig Prozent aus pri 327
mitiver körperlicher Anziehung, zu achtzig Prozent aber aus Einbil dung bestünde. So kam es, daß er jetzt, da es ihn so völlig unerwartet selber erwischt hatte, völlig jede Fassung verlor. Er glaubte etwas zu erleben, was noch nie ein Mensch vor ihm erlebt hatte, ein Gefühl, das so stark und um werfend war, daß es nur einmal auf der Welt vorkommen konnte. Al les andere, was ihm früher wichtig gewesen war, trat jetzt daneben völ lig in den Hintergrund. Sein Freund Jochen bedeutete ihm nichts mehr, ja er mochte ihn nicht einmal mehr sehen, hatte nur den einen Wunsch, ihn abzuwim meln. Die Schule schien ihm gänzlich unwichtig, und einen englischen Ferienkurs in Oxford zu besuchen, auf den er sich schon ein ganzes Jahr gefreut hatte, lehnte er vollkommen ab. Mit Mühe und Not gelang es ihm, seine Eltern zu überzeugen, daß er keine Verbesserungen sei ner Englischkenntnisse, sondern Nachhilfestunden in Latein brauch te, was auch tatsächlich stimmte. So blieb er also in der Stadt, aber La tein lernte er trotzdem nicht. Er war einfach außerstande, sich auf ir gend etwas, das nicht direkt mit Sibylle zu tun hatte, zu konzentrieren. Es war ein Glück für ihn, daß Ferien waren, denn sonst hätte er sicher eine schlechte Arbeit nach der anderen geschrieben. Er rief Sibylle an, bombardierte sie mit Briefen, er bat sie um ein Wiedersehen – ohne Erfolg. Sibylle war immer gleich bleibend freundlich und nett, lehnte es aber ab, eine Verabredung mit ihm zu treffen. Artur zog daraus den gleichen Fehlschluss wie Jochen; er kam zu der Überzeugung, daß ein Mädchen wie Sibylle eben materielle Ansprü che stellte und ein Schuljunge nur deshalb als Partner nicht für sie in Frage kam. Ja, wenn er mit einem großen Wagen bei ihr hätte vorfahren kön nen! Arturs Vater hatte einen großen Wagen, amerikanisches Modell. Aber Artur durfte nicht fahren, und er hatte auch noch keinen Füh rerschein. »Erst das Abitur«, pflegte Herr Holm zu sagen, »dann kannst du dei 328
nen Führerschein machen, und ich spendiere dir auch einen kleinen Wagen, der für den Universitätsbesuch völlig ausreicht.« Artur war einsichtig genug, zu erwägen, daß auch ein kleines Auto möglicherweise Sibylles Ansprüchen genügt hätte – aber er hatte ja auch das nicht. Also wartete er auf eine Gelegenheit, sich den Wagen des Vaters zu schnappen. Zwei Voraussetzungen mußten dafür gege ben sein: Seine Eltern durften nicht zu Hause sein, und das Auto muß te in der Garage stehen. Es dauerte einige Wochen, bis dieses Ereignis eintrat, und dann faß te Artur die Gelegenheit beim Schopf: Er nahm den Zündschlüssel aus der Schreibtischschublade und fuhr zu Sibylle. Er hatte seinem Vater oft genug auf die Finger geguckt, er wußte, theoretisch, wie man das Auto fahren mußte. Aber natürlich fehlte ihm jede Praxis, und er hatte ein sehr ungutes und unsicheres Gefühl dabei. Wäre es nicht um Sibylle gegangen, hätte er bestimmt aufgege ben. So aber blieb er stur. Zum Glück fand er vor dem Haus, in dem Sibylle jetzt mit ihren El tern wohnte, eine große Parklücke – jedenfalls hielt er den freien Platz dafür, tatsächlich handelte es sich um den Eingang zu der Toreinfahrt, die eigentlich hätte freigehalten werden müssen. Aber das merkte er nicht. Er hupte ein paar Mal in der Hoffnung, daß Sibylle zum Fenster hin ausschauen würde – aber natürlich tat sie das nicht. Dann entschloß er sich, auszusteigen. Er klingelte und ging die Treppe hinauf. Sibylle öffnete ihm in einem schicken schwarzen Kleid, sie sah zau berhafter aus denn je – aber ihr Lächeln erstarb, als sie Artur erkann te. »Hallo, Sibylle«, sagte er, »ich wollte nur fragen … wollen wir nicht ein bißchen zusammen 'rausfahren? Mein Wagen steht unten.« Er hat te sich diese Einleitung lange zuvor zurechtgelegt. »Tut mir leid, Artur …« »Aber ich sage dir doch, mein Auto …« »Fein, daß du ein Auto hast, Artur, gratuliere!« »Also dann … komm doch, Sibylle!« 329
»Artur«, sagte sie, »manchmal glaube ich, bei dir ist eine Schraube locker! Du kannst doch nicht einfach hier hereinplatzen und verlan gen …« »Warum denn nicht?« »Siehst du denn nicht, daß wir Gäste erwarten? Nein, du kannst auch nicht bleiben, Artur, es ist eine reine Familienfeier! Bitte, geh jetzt!« Er war so enttäuscht, daß er sekundenlang unfähig war, noch ein Wort hervorzubringen, aber er rührte sich auch nicht von der Stelle. Sie versuchte, ihm die bittere Pille zu versüßen. »Ein anderes Mal, Artur, ganz bestimmt.« »Aber ich habe doch nur heute«, brachte er mühsam hervor, »der Wagen gehört ja meinem Vater!« »Er wird ihn dir bestimmt auch ein anderes Mal leihen, und außer dem können wir ja auch ohne Auto …« Sie sah den Ausdruck seiner Augen und begriff. »Artur!« rief sie. »Du hast das Auto doch nicht etwa ohne Erlaubnis genommen?« Er sagte nichts. Sie packte ihn bei den Schultern, schüttelte ihn. »Artur, gib es zu, du hast gar keinen Führerschein, nicht wahr? Du darfst nicht …« Aber sie kam nicht mehr dazu, den Satz zu Ende zu sprechen. Denn in diesem Augenblick riß er sich los und rannte die Treppe hinunter. Sibylle war klar, daß sie ihn auf ihren hohen Absätzen unmöglich einholen konnte. Sie stürzte ins Treppenhaus hinaus, beugte sich über das Geländer, schrie: »Haltet ihn! Haltet ihn fest!« Aber bevor die ersten Gäste, ihr Onkel und zwei Vettern, die jetzt heraufkamen, begriffen, um was es sich drehte, war Artur schon an ih nen vorbei auf die Straße gestürzt. »Lauft ihm nach!« rief Sibylle verzweifelt. »Haltet ihn auf! Er hat kei nen Führerschein … er kann gar nicht fahren …« Sie streifte die Schuhe ab und sauste auf Strümpfen die Treppe hin unter, und ihr Onkel und die beiden Vettern liefen mit. Sie kamen ge rade noch zurecht, um zu sehen, wie Artur den schweren amerikani schen Wagen in den laufenden Verkehr hineinlenkte. Sie schrien und gestikulierten, um ihn zum Halten zu bringen. 330
Aber Artur dachte gar nicht daran, dieser Aufforderung zu folgen. Er fühlte sich bis auf die Knochen blamiert und hatte nur den einen Wunsch, fortzukommen, so weit und so schnell wie möglich. Er gab Gas, der Wagen schoß nach vorne. Im Nu hatte er auf achtzig, neun zig, hundert Kilometer Geschwindigkeit beschleunigt. Er warf einen Blick in den Rückspiegel – Sibylle und ihre Verwandten waren längst verschwunden – oder etwa nicht? War das nicht doch Sibylles helles Haar, was er da sah? Er achtete zu spät auf das, was auf der Fahrbahn geschah, daß die Straße einen Bogen machte, während er geradeaus gerast war. Ein Mö belwagen kam ihm entgegen. Er riß das Steuer herum, um wieder auf die rechte Seite zu gelangen – viel zu heftig, sah eine riesige graue Mau er auf sich zukommen, wollte bremsen. Aber sein Fuß erwischte das richtige Pedal nicht, trat immer weiter aufs Gas. In Sekundenschnelle hatte sich die Mauer direkt vor ihm aufgebaut – dann zerplatzte sie in Millionen rotglühende Splitter. Artur wußte nichts mehr von sich und der Welt.
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Er erinnerte sich später nie mehr daran, wie alles gekommen war, und er wußte auch nicht, was weiter mit ihm geschah. Er erlebte weder die polizeiliche Untersuchung, noch seinen Abtransport ins Krankenhaus mit, und auch von der Operation wußte er nur, was man ihm später darüber erzählte – viel später, denn es dauerte mehr als drei Wochen, bis er wieder einigermaßen aufnahmefähig war. Er hatte einen schwe ren Schädelbasisbruch abbekommen und lange Zeit buchstäblich zwi schen Leben und Tod geschwebt. Diese gesundheitlichen Folgen des Unfalls ersparten ihm immerhin die elterliche Strafe, denn da er ohne Führerschein gefahren war, be zahlte die Versicherung nichts. Herr Holm mußte tief in die eigene Ta sche greifen. Es waren nicht nur die Kosten, die der Unfall verursacht hatte, für die er geradestehen mußte, sondern er mußte auch noch ei nen guten Rechtsanwalt bezahlen. Denn zu einem gerichtlichen Nach 331
spiel würde es auch kommen, und seine Eltern wollten Artur auf alle Fälle ersparen, daß sein ganzes Leben durch diesen einmaligen Leicht sinn verpatzt wurde. Die Schule ging wieder an, und Artur lag immer noch in der Klinik. Ja, er durfte nicht einmal für sich arbeiten oder lesen. Schon nach der ge ringsten geistigen Anstrengung begann ihm der Schädel zu brummen. Aber merkwürdigerweise war es fast so, als wenn der schwere Schock, den er mit dem Schädelbasisbruch zugleich erlitten hatte, ihn ein für allemal von seiner Liebe zu Sibylle geheilt hätte. Er war wieder so nüch tern wie eh und je, unfähig, überhaupt noch zu begreifen, daß er eines Mädchens wegen so viel aufs Spiel gesetzt hatte. Sogar als Sibylle ihn eines Tages im Krankenhaus besuchte, empfand er keinerlei Erschütterung bei ihrem Anblick – sie war für ihn ein sehr hübsches, aber sehr, sehr fremdes Mädchen. Ihr tat das nicht weh, im Gegenteil. Sie hatte sich vor diesem unver meidlichen Besuch gefürchtet. Wenn sie sich schon ein bißchen grau sam vorgekommen war, als sie den gesunden Artur so konsequent ab wies – wie sie sich dem schwerkranken Artur gegenüber verhalten soll te, wenn er es wieder versuchte, das war ihr völlig schleierhaft. Aber es ging alles viel leichter, als sie gedacht hatte. Artur, mit einem dicken Verband um den Kopf, schien ganz verändert. Er sprach nur von der Schule, darüber, was er alles versäumte, und daß seine Eltern vorhatten, ihn vielleicht in ein Internat zu geben. Dennoch war Sibylle froh, als die zehn Minuten, die der Arzt ihr zu gestanden hatte, abgelaufen waren. Sie erhob sich. »Alles Gute, Artur … und recht baldige Besserung!« Aber ihm waren die Augen schon wieder zugefallen. Er murmelte etwas, das sie nicht mehr verstehen konnte. Auf Zehenspitzen ging sie zur Türe, öffnete sie und – prallte mit Jochen zusammen. Sie legte den Finger auf die Lippen, flüsterte: »Er schläft!« und zog die Tür hinter sich zu. Sie standen einander gegenüber, Jochen und Sibylle, in dem nüchter nen hellen Gang des Krankenhauses und sahen sich in die Augen, und es war ihnen beiden, als wenn die Zeit, die sie getrennt, die Missver 332
ständnisse, die zwischen ihnen gestanden hatten, jede Bedeutung ver loren hätten. »Ich habe Artur ein bißchen Obst mitgebracht«, sagte Jochen, »das will ich nur auf seinen Nachttisch legen!« Und leise, ganz leise, gingen sie ins Zimmer zurück. Aber Artur hörte sie doch. Er öffnete die Augen, als sie nebenein ander am Fußende standen und auf ihn niedersahen. »Viel Glück, ihr beiden!« sagte er, und dann fielen ihm die Augen wieder zu. »Kann ich dich irgendwohin bringen?« fragte Jochen, als sie wieder draußen waren. »Gerne«, sagte Sibylle, ohne zu zögern. »Nach Hause?« »Wenn du es eilig hast.« »Nein, überhaupt nicht.« Sie setzte sich neben ihn in seine alte Nuckelpinne, und sie fuhren vor die Stadt hinaus, in ein Gartenlokal, das früher einmal Ziel ihrer Schulausflüge gewesen war. Es war Herbst geworden, die Laubbäume standen flammend rot und goldgelb zwischen den dunklen Tannen. Der Himmel war von einem zarten, etwas milchigen Blau. Sibylle und Jochen redeten so unbefangen miteinander, als wenn sie sich erst gestern zum letzten Mal gesehen hätten. Sie tranken in dem Gartenlokal Kaffee, schlenderten dann nebeneinander die Waldwege entlang. Das welke Laub raschelte bei jedem Schritt. »Ich bin sehr froh, daß ich dich wieder gefunden habe«, sagte er und griff nach ihrer Hand. Sie erwiderte seinen Druck. »Ich auch. Und ich möchte dich nie mehr verlieren.« Er blieb stehen und sah sie an. »Ich will dir nichts vormachen, Sibyl le …« Sie erschrak. »Bist du verlobt?« »Nein. Für mich ist nie ein anderes Mädchen ernsthaft in Frage ge kommen als du, das weißt du doch ganz genau. Aber … ich habe vor, mein Abitur nachzumachen und Ingenieur zu werden. Es ist noch ein langer Weg, der vor mir liegt.« 333
Sie legte den Kopf in den Nacken und lächelte zu ihm auf. »Wir wol len ihn gemeinsam gehen, Jochen!« Da nahm er sie in die Arme und küsste sie, und dieser Kuss war mehr als Zärtlichkeit und Leidenschaft – er war ein wortloses Verspre chen.
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