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STEPHANIE KALLOS
Wetterleuchten
Roman
btb
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Inhaltsverzeichnis Cover Widmung Prolog TEIL I - Projekt Tornadotrümmer Kapitel 1 - Der Bürgermeister ignoriert die Regeln Kapitel 2 - Gott sei Dank Freitag für die Professorin und den Wetteransager Kapitel 3 - Die Jung frau deutet die Zeichen Kapitel 4 - Der Mythos Schutz Kapitel 5 - Verkündigung durchs Telefon Kapitel 6 - Verdeckte Einfahrt Kapitel 7 - Avocadoküche Kapitel 8 - Mehrstimmiger Gesang auf Walisisch Kapitel 9 - Das Rad im Loch und das Loch im Boden Kapitel 10 - Schwesterstadt Kapitel 11 - Wenn die Krähe fliegt TEIL II - Die Mutterpflanze Kapitel 12 - Werben um Wales Kapitel 13 - Schlundlöcher können selbstinduziert sein Kapitel 14 - Totenstellung Kapitel 15 - Kummerspeck Kapitel 16 - Die Geschwindigkeit des Betens Kapitel 17 - Zaunkönige im Winter Kapitel 18 - Geheime Weihnachtsmänner Kapitel 19 - Der Wächter verlässt seinen Posten Kapitel 20 - Die Jungfrau zweifelt an ihrer Berufung Kapitel 21 - Wetteransager begegnet der Coriolis-Kraft Kapitel 22 - Die Witwe findet ihre Geschichte TEIL III - Eier-Feiertage 3
Kapitel 23 - Auszeit für den Missetäter Kapitel 24 - Expatriierte unterwegs Kapitel 25 - Das letzte Artefakt Kapitel 26 - Bar Mitzva Kapitel 27 - Kunstverständnis, die Zweite Kapitel 28 - Die Rückkehr der Little Miss Emlyn Springs Kapitel 29 - Liebestaumel, 1978 Kapitel 30 - Nachwehen EPILOG Danksagung Copyright
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Jeder in Emlyn Springs, Nebraska, kennt die Geschichte von Hope Jones. Die Ehefrau des einzigen Arztes im Ort wurde 1978 von einem gewaltigen Tornado in die Lüfte entführt, um nie mehr zurückzukehren. Ihre drei Kinder haben diesen Verlust nie verwunden. Auch als Erwachsene finden sie nicht wirklich Halt im Leben. Die Älteste ist zwar Professorin geworden, leidet aber an Heißhungerattacken. Ihr Bruder hat es zu mittelmäßigem Ruhm als Wetteransager beim lokalen Fernsehsender gebracht. Und das Nesthäkchen Bonnie frönt einem ungewöhnlichen Hobby: Sie sammelt Müll. Als ihr Vater durch einen Blitzschlag ums Leben kommt, müssen sich alle drei dem Drama ihrer Kindheit aufs Neue stellen.
STEPHANIE KALLOS war zwanzig Jahre lang als Theaterschauspielerin und Lehrerin tätig, bevor sie zu schreiben begann. Ihre Kurzgeschichten wurden für den »Raymond Carver Award« und für den »Pushcart Prize« nominiert. »Wetterleuchten« ist ihr zweiter Roman. Sie lebt gemeinsam mit ihrem Mann und den beiden Söhnen in Seattle. STEPHANIE KALLOS BEI BTB: Die Porzellansammlerin. Roman (73473)
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Für meine Eltern Gregory William Kallos 1. August 1927 - 8. Januar 2005 und Doris »Dorrie« Arlene Dorn Kallos 16. Oktober 1931 - 6. Januar 2006 und meinen Freund Michael Thomas Maschinot 8. November 1957 - 22. Juni 2007
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Prolog Es ist sehr schwer zu erklären, was die Toten eigentlich wollen. Nicht wieder lebendig sein, um Gottes willen, bestimmt nicht: ein Passagier, eingesperrt in das verunstaltende Vehikel Körper, diesen engen Einsitzer mit seinen strukturellen Mängeln und der sauschlechten Leistung, der mit seinen abgenutzten, oft defekten, nicht ersetzbaren Teilen ständig versagt. Selbst seine sinnlichen Ekstasen reizen die Toten nicht, nicht mehr. Symphonischer Sex, Lerchengesang, die Stille, die auf einen Schneesturm über der Prärie folgt, ein von Blitzen aufgerissener Himmel, die Handvoll russischer Genies aus dem 19. Jahrhundert, insbesondere Rachmaninoff, und ganz besonders seineRhapsodie über ein Thema von Paganini, Doris Days Whatever will be will be, Auberginen, Avocados, Spargel, Mais, der Geruch nach warmen Buntstiften und dem Atem eines eben gestillten Babys, der entblößte flaumige Nacken eines Kindes, Glühwürmchen, die Füße von Säuglingen. All dies könnten angenehme Erinnerungen sein, wenn die Toten imstande wären zurückzuschauen. Aber das sind sie nicht. Zeit spielt für sie keine Rolle. Wie kleine Kinder existieren sie ausschließlich im Jetzt. Sie sind gesegnet mit der Fähigkeit, sich vollkommen von dem fesseln zu lassen, was direkt vor ihnen liegt. Kein Wunder, dass die Lebenden sie zur Verzweiflung bringen. Die Lebenden - jämmerlich besessen, überwiegend jedenfalls, von Kalendern, Terminen, Liefer- und Verfallsdaten, geschätzten Abfahrts- und Ankunftszeiten, von Maßen, Quoten, Statistiken, den Blick stets auf den Raum hinter dem Raum gerichtet, in dem sie sich gerade befinden - verströmen diese so genannte Energie, die die Toten zur Raserei treibt, sie so nervös macht, dass sie aus der Haut fahren würden, wenn sie eine hätten. Die Lebenden sind wie Brummkreisel, getrieben von dem Bedürfnis nach Buße oder Rache oder Vermeidung, von Schuldge7
fühl, Scham, Furcht, Wut, Reue, Unsicherheit, Eifersucht, ganz egal, denn alles leitet sich aus derselben Pseudo-PsychoBuchstabensuppe her, und, oh Gott, hier ist schon wieder ein Bestseller aus dem Selbsthilfebücherregal, obwohl sie eigentlich bis auf die Sonnenuhren nur alle Zeitmessgeräte zertrümmern, ein Kreuzworträtsel lösen, ihre Handrücken studieren, das Ein und Aus ihres Atems wahrnehmen, ihr Essen trinken und ihr Wasser kauen, sich entspannen müssten. Das wäre ein großer Fortschritt in der Evolution der Spezies, und die Toten wären sehr dankbar dafür. Hier also schon mal eins: Sie möchten ungestört sein. Noch etwas, das ihnen missfällt. Sie wollen nicht, dass Gebäude nach ihnen benannt werden. Sie wollen nicht Teil des Schulunterrichts sein. Sie verabscheuen es, Thema von Biografien, Reportagen, dümmlichen Fernsehfilmen zu werden. Besonders hassen sie staatlich finanzierte Kunst: Gedenktafeln, Statuen. Im Großen und Ganzen sind die Toten schüchtern. Man stelle sich vor, wie sie sich fühlen, wenn sie sich in Bronze gegossen sehen, zur Schau gestellt für die Ewigkeit! Und dann ist da noch das Theater. Die Demütigung zu erfahren, dass die eigenen Nöte Stoff von Legenden geworden sind und jeden Sommer überall auf der Welt auf den Bühnen von Gemeindesälen von schlechten Schauspielern in gestelzten Dialogen immer wieder falsch dargestellt werden! Ein Alptraum. Die Toten ärgern sich nicht immer über die Lebenden. Ihnen ist klar, dass die Lebenden es gut meinen, weil sie glauben, sie ehren die Toten, wenn sie für sie, über sie sprechen. Wenn sie ihrer auf solche Weise gedenken. Das Problem ist, dass die Lebenden ständig versuchen, die Toten zu interpretieren, aber das ist vollkommen unnötig. Die Toten sind nicht Gott. Sie brauchen keine Vermittler. Die Toten können für sich selbst sprechen, schönen Dank. Und das tun sie auch. Dauernd.
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Traurige Tatsache ist, dass den Toten noch keine durchweg erfolgreiche Methode eingefallen ist, ihre Botschaft an den Mann zu bringen. Glaubt mir: Sie haben es versucht. Man nehme zum Beispiel die Jones-Kinder. Sie haben den größten Teil ihres Lebens darauf gewartet, dass ihre Mutter herunterkommt. Etwas anderes zu tun, glauben sie, wäre Verrat. Andere Dinge sind heruntergekommen: der kaputte SteinwayFlügel, unsterblich gemacht durch ein Foto in National Geographic, der angeknabberte Bleistift, der ausgerechnet in den Stamm einer Bleistiftzeder geschleudert wurde, der rote Karren, der sich zur Hälfte in den Boden rammte, während der Griff und zwei Räder hilflos im nachfolgenden Wind hin und her schwangen. All diese Gegenstände kamen zurück auf die Erde, nachdem sie in einem unvorstellbaren Tanz umhergewirbelt worden waren, sicherlich so wundersam, dass er ihnen vielleicht sogar ein Bewusstsein verlieh, die Kraft, Geschichten zu erzählen, zumindest einander. Aber nicht ihnen, den Kindern, die den Höhenflug und die Rückkehr dieser Objekte nicht miterlebt hatten. Sie flogen in die Luft und kamen wieder herunter, nur ihre Mutter nicht. Die Wendung warten, bis der Groschen fällt, hat eine besondere Bedeutung für sie; mehr als alles andere scheint sie ihren Lebenslauf zu kennzeichnen, ihren beruflichen Werdegang, ihr Schicksal. Zwar sind Zeugnisse und Hinweise in anderer Form aufgetaucht, doch die wurden entweder nicht beachtet oder falsch gedeutet. Das Geschenk von Gebeinen ist ein großer Trost für die Lebenden - etwas anderes stellt sie kaum zufrieden -, und diese Kinder müssen ohne diesen Trost auskommen. Sie vermuten allmählich, dass sie nicht normal sind, geboren aus nichts. Mythologische Wesen. Monstrositäten der Natur ohne mütterliche Herkunft. Vielleicht haben sie die Welt auf anderen Wegen betreten, wurden von einer Biene als Pollen auf der Ve9
randatreppe abgelegt, ganz zufällig, und haben sich Stück für Stück zu etwas annähernd Menschlichem entwickelt, das aber jedem verdächtig ist, der genau hinschaut. Vielleicht sind sie aus Asche und dem Schlamm nach einem Gewitter entstanden oder aus den Tiefen eines Regentropfens, eines Löffels voll Kuchenteig. Oder sie sind aus einer der Flaschen mit Jod, Mercurochrom oder Hustensaft geklettert, die ganz unten in der Arzttasche ihres Vaters liegen. All diese Möglichkeiten scheinen ebenso plausibel wie der Gedanke, dass der Körper einer Frau sie geboren hat. Ihrer Mutter. Wie die meisten Geschwister unterscheiden sie sich in mancher Hinsicht, sind sich aber in anderer sehr ähnlich. Alle drei verzichten auf die Benutzung von Haartrocknern. Sie geben übermäßig viel Geld für Schuhe aus. Keiner von ihnen hat je Der Zauberer von Oz gesehen. Allen dreien fehlt jeder Sinn für Humor. Ihre Mutter ist in die Luft geflogen und nie wieder heruntergekommen. Wenn sie bloß einen anderen Namen gehabt hätte, denken sie oft. Die Toten wollen einfach, dass sie aufhören zu warten.
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TEIL I Projekt Tornadotrümmer Menschen, die meinen, Friedhöfe seien friedlich, haben wahrscheinlich keine Antenne für das machtvolle Rauschen der Stimmen, die sich dort tummeln. Ich glaube nicht, dass alle Friedhofsbesuche fruchtbar sein können, denn es gibt keinen Grund dafür, dass die Seele, sobald sie sich des Körpers entledigt hat, dessen Überreste heimsuchen sollte. Meiner Überzeugung nach machen sich einige Seelen schlichtweg aus Takt und Bequemlichkeit von Zeit zu Zeit die Mühe, an einem normalen Treffpunkt anwesend zu sein. RODGER KAMENETZ Terra Infirma: A Memoir of my Mother’s Life in Mine
1 Der Bürgermeister ignoriert die Regeln Für jemanden, der genau hier in den regennassen Niederungen der großen Ebenen des Mittleren Westens geboren und aufgewachsen ist, zeigt Llwellyn Jones - Bürgermeister und mutmaßliches Oberhaupt von Emlyn Springs, Nebraska - einen traurigen Mangel an gesundem Menschenverstand. Alvina Closs, genannt Viney, seit zwanzig Jahren seine Freundin und Bettgefährtin, ist verblüfft.
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»Kannst du nicht eine Stunde warten?«, fragt sie. »Du schaffst immer noch neun Löcher - vielleicht sogar achtzehn -, wenn der Sturm vorbei ist.« »Ich habe mir die Abschlagszeit reservieren lassen«, antwortet er. »Ich werde erwartet.« »Wir leben nicht in Miami!«, kontert Alvina. »Es ist doch nicht so, dass hier die Leute zum Spielen Schlange stehen. Warum wartest du nicht?« »Ich gehe jetzt, Viney«, sagt er. Einfach so. Ohne Erklärung. Ohne Kompromiss. »Du und dein verdammtes Golf.« Er wirft ihr einen ruhigen, unaufgeregten Blick zu. »Bis zum frühen Abend bin ich zurück«, sagt er. Dann dreht er sich um und geht die Treppe hinauf in Richtung Schlafzimmer, aufrecht und gemessenen Schrittes. Wenn er glaubt, ich folge ihm, sagt sich Viney mit zusammengebissenen Zähnen, hat er sich geschnitten. Viele andere teilen Vineys Erregung. Die kleinsten und am wenigsten zivilisierten Bewohner des Orts sind am verstörtesten: Die Babys, alle, auch die gefügigen, verwirren ihre Mütter mit untypisch aufgebrachtem Verhalten. Man hat sie gefüttert und ihnen die Windeln gewechselt und sie ein Bäuerchen machen lassen und ihnen vorgesungen und sie herumgetragen, und trotzdem sind sie außer sich, fest entschlossen, zu schreien und auf ihr Mittagsschläfchen zu pfeifen. Missmutige Kleinkinder kriegen ebenfalls einen Koller und kreischen im Gleichklang. Überall in der Stadt sind die Haustiere nervös und ungebärdig - sie flattern herum, jaulen, fauchen, beißen, reißen an Spitzengardinen und zerfetzen gute Lederschuhe, obwohl sie das sonst nie tun. Pubertierende Mädchen streiten mit ihren Müttern, blasen Trübsal vor dem Fernseher oder verlieren sich hinter lautstark zugeknallten Türen auf Polyesterbettdecken in Tagträumen. Männliche Teenager mustern mit Entsetzen ihren schlechten Teint. Nachmittägliche Verabredungen gehen schief, Nasen kribbeln ohne Unterlass. Tischler fluchen und messen nach, schneiden neu zu, fluchen 12
wieder, messen wieder nach. In der Villa der Williams’ vergreift sich Miss Hazels vielversprechendste Klavierschülerin um einen Ton, der Hazel im Salon zusammenschrecken lässt. In der Küche krümmt sich ihre jüngere Schwester Wauneeta ebenfalls. Blind Tom erlebt in der Pianoklinik im Stadtzentrum einen unvermittelten Anfall von Ohrensausen, als er mit einem milchgetränkten Wattebausch über ein fleckiges Stück Elfenbein streicht, das er letzte Woche bei Hallam am Straßenrand gefunden hat. Die betagten Einwohner des Altersheims St. David neben dem ehemaligen Eisenbahndepot werden von Verdauungsproblemen geplagt; keiner von ihnen, nicht einmal Mr. Eustace Craven, dessen Gedärme sich seit achtundneunzig Jahren pünktlich wie ein Uhrwerk entleeren, hat an diesem Tag ordentlichen Stuhlgang. Und im Wohnzimmer des Hauses, das seit einem Vierteljahrhundert Llwellyn Jones’ eigentlicher Wohnsitz ist, kehrt Viney dem Bürgermeister den Rücken und stellt sich an das Panoramafenster - die Arme verschränkt, der Mund verkniffen, die Stirn in Falten, mit einer Miene, die niemand außer ihrer besten Freundin an ihr kennt. Viney schaut selten finster drein. Sie macht jeden Morgen fünf Minuten Gesichtsgymnastik und bemüht sich, stets Contenance (ein Wort, das sie wieKontinenz ausspricht) zu wahren, entspannt und gelassen zu bleiben. Die Zeit muss kein Feind sein. Man braucht kein Vermögen für Facelifts und Cremes auszugeben. Alvina Closs ist vierundsiebzig, fast fünfundsiebzig, aber sie sieht mindestens zehn Jahre jünger aus. Vielleicht sogar fünfzehn. Prüfend betrachtet sie die aufgeblähten Wolken, die von Süden aufziehen. Das Babydeckenblau des Himmels wird dunkler, grauer. Sie hört, wie Llwellyn im Schlafzimmer herumpoltert, Kommodenschubladen öffnet und schließt. Er wird wohl seine Shorts suchen. Viney kann sich um nichts in der Welt vorstellen, was in ihn gefahren ist. Der Bürgermeister ist sonst so umgänglich, ein Mus-
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ter an Kompromissbereitschaft. Das ist einer der Gründe dafür, dass sie schon so lange zusammen sind. Vineys verstorbener Mann Waldo hatte viele gute Eigenschaften, doch Flexibilität gehörte nicht dazu. Ihre ganze Ehe hindurch liebten sie sich in derselben Position, und Waldo verlangte zu jeder Mahlzeit rotes Fleisch in irgendeiner Form. Zu Thanksgiving würgte er eine Scheibe Truthahn herunter, aber das war’s dann auch schon. Huhn? »Dreckige Vögel« nannte er sie, obwohl ihn das nicht davon abhielt, an acht Tagen in der Woche in Butter gebratene Eier zu essen. Fisch? Nicht dran zu denken, nicht einmal, wenn seine Freunde aus dem Big Blue River frischen Barsch mitbrachten. Bei Waldo hieß es Fleisch, Fleisch, Fleisch, und deshalb - das steht für Viney fest - starb er mit nur 32 Jahren an einem schweren Herzinfarkt und hinterließ sie als junge Witwe mit vier Kindern. Er hatte einen wunderschönen Körper. Sie ist immer noch böse auf ihn. Das Fenster muss geputzt werden. Es hat seit Tagen nicht geregnet - obwohl Vineys älteste Tochter meinte, oben in Omaha habe es gestern genieselt. Der Boden ist ausgedörrt, der Wind erbarmungslos. Alles ist von Staub bedeckt. Viney greift nach der Zeitung von gestern und ihrer Sprühflasche mit Wasser und Cola und macht sich ans Werk. Das Panoramafenster ist relativ neu. Waldo hat es 1962 eingebaut, nicht lange bevor er auf dem Parkplatz des Surf’n’Turf zusammenbrach, wo sie hingefahren waren, um ihren fünfzehnten Hochzeitstag zu feiern. Waldo war ein geschickter Handwerker, das zeichnete ihn aus. Ständig modernisierte und verschönerte er das Haus, als er noch lebte. Immer die Leiter rauf und runter, immer am Hämmern, Schleppen, Sägen, Bohren. All diese tröstlichen maskulinen Geräusche! Alvina Closs ist länger Witwe, als sie verheiratet war. Sie ist länger Ehebrecherin, als sie Ehefrau war. Ganz sicher wäre sie vertrocknet da unten, verkümmert - auch geistig und seelisch -, wären nicht Llwellyn Dewey Jones und Hope gewesen. 14
Welly kommt wieder herunter und geht zur Küchentür hinaus, die er nicht gerade zuknallt, aber mit so viel Schwung ins Schloss wirft, dass die Türharfe lautstark klimpert. Was ist bloß los mit ihm? Viney hört, wie er draußen im Hof seine Schuhe aneinanderschlägt, um die Erde zwischen den Spikes zu entfernen. Sie stellt sich große Brocken Lehm vor, die in den Garten geschleudert werden und sich dann in einer elliptischen Umlaufbahn anordnen, mit Welly im Zentrum: ein kleiner, wütender Gott in karierten Socken, der ein neues Sonnensystem ins Leben ruft, in dem die Oberfläche jedes Planeten ein riesiger, makellos gepflegter Golfplatz ist. Viney wendet sich wieder dem Fensterputzen zu. Sie macht ein paar Nasen-Lippen-Übungen und wartet darauf, dass Welly zurückkommt. Bestimmt fährt er nicht, ohne sich mit ihr zu vertragen. Vineys Haus ist eins der ältesten der Stadt, es zählt zu den schönsten und elegantesten, ein weiß getünchtes zweigeschossiges Gebäude aus dem Jahr 1910, das ihr Urgroßvater ihren Großeltern zur Hochzeit geschenkt hat. Ihre Mutter, ihre Tanten und Onkel sind hier geboren, ebenso Viney, ebenso Vineys vier Kinder. Sie behält ihr Haus, und Welly behält seins, obwohl sie seit der Zweihundertjahrfeier der Nation miteinander schlafen. Das geschieht zum Teil, um den Schein zu wahren - aber auch, weil das Haus Alvina Closs das Gefühl von persönlicher und historischer Kontinuität gibt. Eigentlich hat sie sich nie einen Deut darum geschert, was die Leute von ihr und Llwellyn und ihrer ungewöhnlichen Beziehung denken, und sie bedauert es immer noch zutiefst, dass Welly und die Kinder nicht hier eingezogen sind, nachdem Hope in die Luft geflogen war. Aber das ist ein heikles Thema und eine ganz andere Geschichte. Welly befindet sich jetzt in dem Garagenanbau - den auch Waldo beigesteuert hat - und öffnet mit der Fernbedienung von 15
innen das Tor. Vielleicht kommt er doch nicht noch einmal herein, um sich zu verabschieden. Ganz plötzlich schießt Viney der Ausdruck »friable« Erde durch den Kopf. Wo hat sie ihn gehört? Was bedeutet er? Sie muss ihn nachschlagen. 1966 hat Viney die Familienbibel auf dem Lesepult durch eine dicke Ausgabe von Webster’s International Collegiate Dictionary ersetzt. Es ist Ehrensache für sie, jeden Tag ein neues Wort zu lernen und es dann im Gespräch zu verwenden. Geistig mobil zu bleiben ist wichtig, wenn man alt wird. Es gibt keinen Grund dafür, dass ein Mensch aufhören sollte zu lernen. Gestern lautete das Wort »sangfroid«. Und dann erinnert sie sich: Eine ihrer Enkelinnen - sie hat Schwierigkeiten, schwanger zu werden - hat ihr neulich erzählt, dass bei ihr ein friabler Uterusdiagnostiziert wurde. Viney war über dreißig Jahre lang als staatlich geprüfte Krankenschwester tätig und hat immer noch ein reges Interesse an Medizin; trotzdem war ihr dieser Ausdruck unbekannt. Sie brachte es nicht übers Herz zu fragen, was er bedeutete, und das war auch gut so: Friabel, liest sie. Mürbe. Morsch. Krümelig. Wie um alles in der Welt kann eine Gebärmutter krümeln? Viney schaut auf. Llwellyn ist aus der Garage gefahren und lädt jetzt seine Schläger in den Kofferraum des Marquis. Er fährt also ohne ein Wort. Sein Gesicht - normalerweise so freundlich und anziehend - hat einen mürrischen Ausdruck, das Ergebnis ihrer Kabbelei, vermutet sie. Zu Anfang war der Sex mit ihm sehr gut, wahrscheinlich, weil etwas Verbotenes im Spiel war, obwohl ihr Ehebruch von Llwellyns Frau Hope absolut gebilligt - ja mehr als das, geradezu gefördert - worden war. Viney und Welly schlafen nach wie vor miteinander, mindestens einmal im Monat, nach dem Mittagessen. Welly ist jemand, der improvisieren kann, der flexibel ist, es schafft, sich treiben zu lassen. Natürlich haben sie ihre festen Gewohnheiten, doch im 16
Großen und Ganzen ist ihr gemeinsames Leben von Freizügigkeit, gelegentlichen Abenteuern und Entdeckungsfreude geprägt im Bett wie auch außerhalb. Seit 1980 achtet Viney darauf, dass sie sich ovo-lacto-vegetarisch ernähren - dabei stützt sie sich hauptsächlich auf Dr. Walkers Täglich frische Salate erhalten Ihre Gesundheit und Frische Frucht- und Gemüsesäfte -, und schreibt dieser Entscheidung ihre körperliche Gesundheit, ihre geistige Beweglichkeit und ihr aktives Liebesleben zu. Viney malt sich aus, wie sie beide noch mit 100 bei einem Glas RoteBete-Saft in angeregte Gespräche vertieft sein werden. Dr. Walker selbst ist über 110 Jahre alt geworden. Bisher hat niemand herausgefunden, warum der Mensch überhaupt sterben muss. Vor vielen Jahren, als sie durch die Eingangstür von McKeevers Bestattungsinstitut stürmte und, das Personal ignorierend, das sie drängte, doch vernünftig zu sein (»Das Gesetz kann mich mal!« rief sie), in den Kellerraum stürzte, um noch vor der Einbalsamierung Waldos sterbliche Überreste - ein seltsames Wort in diesem Kontext, Überreste, denn zu diesem Zeitpunkt existierte Wally noch in voller Gänze - in Augenschein zu nehmen, bemerkte sie unter dem Laken, ungefähr in der Mitte, eine Erhebung, etwa so groß wie ein Zeltpflock. »Was ist das?«, fragte sie, obwohl sie eine gewisse Vermutung hatte. Sie dachte daran, dass dies ihr fünfzehnter Hochzeitstag war, dass ihr Mann tot war und dass sie beim Sex nie oben gelegen hatte. Malwyn McKeever stellte sich so hin, dass sie Waldos untere Regionen nicht mehr sehen konnte. »Das ist ein Reflex«, sagte er, eindeutig peinlich berührt von der Frage. »Ein weit verbreiteter Post-mortem-Reflex.« »Wie passend«, murmelte Viney. Sie hatte aufgehört zu weinen und fing an, den Sog einer ungestümen, wütenden Trauer zu verspüren. Damals war sie jung und dumm genug zu glauben, ihr sei das Schlimmste auf der Welt widerfahren. Sie hatte keine Ahnung. 17
Sie hätte gern erfahren, was Einbalsamierer mit einem Postmortem-Steifen anstellen - der Gedanke brachte sie beinahe zum Lachen -, aber Mals Gesicht war rosa wie ein halb durchgebratenes Steak. Also suchte sie einen Sarg aus, unterschrieb die Papiere und verabschiedete sich (während sie sich schwor, nie wieder einen Blick auf sie zu werfen) von den erigierten Überresten ihres schönen toten Ehemanns. In einer Million Jahren hätte sie Waldo nicht dazu bewegen können, täglich Möhren-Ingwersaft zu trinken oder sich im Fernsehen ein Bildungsprogramm anzuschauen. Sie und Welly dagegen haben sich erst gestern Abend auf PBS eine dieser naturwissenschaftlichen Sendungen über Stammzellenforschung und einen ganz neuen Zweig der Wissenschaft angesehen, der sich regenerative Medizin nennt. Es gibt mittlerweile Ärzte, die glauben, dass Leute mit Rückenmarksverletzungen wieder laufen können. Sie entnehmen zum Beispiel Zellen aus Nasen und implantieren sie in das Rückenmark von Menschen, die sich die Wirbelsäule gebrochen haben oder an einer anderen Beschädigung des Nervensystems leiden. Und siehe da, die Zellen fangen an, sich zu regenerieren. Leute, die vorher nicht einmal mehr mit der großen Zehe wackeln konnten, haben begonnen, den ganzen Fuß zu bewegen. Das Verfahren wurde sogar am Herzen eines Jungen erprobt, dessen idiotischer Freund mit einer Nagelpistole herumgespielt und ihn damit in die linke Herzkammer geschossen hatte. Niemand hatte geglaubt, dass es möglich wäre, Herzgewebe zu regenerieren, aber die Ärzte schafften es! Viney versuchte, Welly in ein Gespräch über die Sendung zu verwickeln, als sie sich zum Schlafengehen fertig machten, doch aus irgendeinem Grund war er ungewöhnlich ruhig (vielleicht nahm ihn das Thema angesichts ihrer gemeinsamen Erfahrung mit einem Menschen im Rollstuhl zu sehr mit), deshalb drängte sie ihn nicht. Obwohl sie das Band nie offiziell geknüpft haben, sind sie sich in allen Aspekten, auf die es ankommt, verbunden - durch die Ri18
tuale des täglichen Lebens, Zuverlässigkeit, Höflichkeit und das Gefühl dafür, wann man reden und wann man schweigen sollte. Der Wert, den man heutzutage auf Ehrlichkeit legt, ist Vineys Meinung nach übertrieben. Mit einem anderen Menschen zu leben ist an sich schon ein gewagtes Unterfangen, auch ohne dass man ständig dies und jenes und jedes letzte Detail problematisieren muss. Soweit sie das beurteilen kann, ist dieser Wahn, sich dauernd auszutauschen und seine Gefühle mitzuteilen, durchaus kein Segen für die Institution Ehe. Da braucht man sich nur die Statistik anzuschauen. Vineys eigene Kinder sind gute Beispiele für den Stand der Dinge: eins geschieden, eins getrennt, eins in der Eheberatung. Von Wellys Kindern hat überhaupt keins je geheiratet. Viney hat sie stets bedauert - und Welly selbst, so ohne Enkel -, aber vielleicht ist es am besten so. Das Zusammenleben ist nichts für die Zartbesaiteten. Es tut Viney leid, dass sie barsch gewesen ist. Sie hätte keinen Aufstand machen, ihn nicht so bedrängen sollen. Es ist eine von diesen Männergeschichten, eine Sache des Stolzes, und jetzt kann sie ihn nicht mehr aufhalten. Sie sieht, wie er den Kofferraum zuknallt und um den Wagen herum zur Fahrertür geht. Er könnte neue Golfschuhe gebrauchen. Diese hier hat sie ihm vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt, und er hat sie wirklich oft getragen. Wind kommt auf. Das Glockenspiel aus Bambus erzittert, der Windkreisel im Rosenbeet dreht sich wie verrückt. Welly lässt den Motor an. Eine Wolke von Auspuffgas zerteilt sich sofort. Es ist August!, denkt Viney plötzlich. Daran liegt es, das erklärt alles. Die Jones’ werden Ende August immer übellaunig. Verdammt, das trifft auf den ganzen Ort zu, denn schließlich ist das, was sie erlebt haben, auch uns anderen zugestoßen. Wellys Kinder spüren es sicher auch - Bonnie, nur ein paar Blocks entfernt, Larken und Gaelan oben in Lincoln. Die Ärmsten. Keiner von ihnen ist glücklich, keiner hat bisher so richtig seinen Platz gefunden. Viney betrachtet die Fotos von Llwellyns 19
und Hopes Sprösslingen, die auf dem Kaminsims in vorderster Reihe neben den Bildern ihrer eigenen Kinder stehen. In einem Anfall von Mitgefühl und Reue stößt Viney rasch die Fliegengittertür auf und eilt an den Bordstein, um zum Abschied zu winken, aber es ist zu spät. Welly biegt bereits in die Bridge Street ein. Er sieht sie nicht mehr. Viney seufzt. Der Mann liebt es einfach, auf Bälle einzudreschen. Komisch. Er ist nicht einmal besonders geschickt darin. Sie wirft einen abschätzenden Blick auf die sich im Südwesten türmenden Wolken, dann auf das Thermometer an der Garage und reckt die Nase in die Luft. Der Wind ist jetzt stark und wird kühler. Er verdrängt die stickige Schwüle, die in den letzten Tagen über der Stadt gelegen hat. Viney geht ins Haus. Sie zieht Leggings und ein T-Shirt an, um ihre Übungen zu machen; danach wird sie überlegen, was es zum Abendessen geben soll. Vielleicht trifft er im Club Alan oder Glen und trinkt ein Glas mit ihnen. Wahrscheinlich macht er das. Er wird nicht spielen, wenn er weiß, dass gleich ein Gewitter kommt. Viney schiebt »Yoga für Junggebliebene« in den Videorecorder und drückt auf PLAY. Während das FBI sie daran erinnert, welche Strafen auf Videopiraterie stehen, entrollt sie ihre Matte, lässt sich in den Lotussitz nieder und schließt die Augen. Heute ist Freitag. Es wird gelbe Paprikafilets und diesen neuen Teriyaki-Reis mit Gemüse geben, dazu einen Salat aus Dr. Walkers Kochbuch und einen Cocktail, gemixt aus frischen Limonen, Selleriesaft und Mineralwasser. Die Musik setzt ein. Die gleichmäßig ruhige Stimme des Yogalehrers - absolut sangfroid - fordert sie auf, sie möge sich entspannen, entspannen. Atmen. Und zum Nachtisch werden sie sich eine große Portion von der fettfreien Eiscreme genehmigen, die Welly so gern isst.
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Nicht nur die Lebenden sind verstört. Auch die Toten - besonders die Väter - machen sich Sorgen über das Verhalten des Bürgermeisters. Da fährt er, denken sie, wirbelt Staub auf mit diesem Benzinfresser, ist wild entschlossen, sich seinem Lieblingsfreiluftsport zu widmen, obwohl jeder Trottel sehen kann, dass er riskiert, von einem Gewitter erwischt zu werden, und das zur schlimmstmöglichen Tageszeit. Idiot. Die toten Väter von Emlyn Springs sind ausgesprochen häuslich. Sie schätzen das ewige Einerlei. Sie klammern sich an ihre Särge. Dass sie so fest verwurzelt sind, liegt nicht nur daran, dass sie in diese Landschaft gebettet wurden. Bei den Farmern ist es eine Sache der Gewohnheit. Sie haben ihr Leben knietief in Löss, Quellwasser und Mist verbracht, Abflusskanäle angelegt, Feldfrüchte gepflanzt, gedüngt und geerntet. Den Boden und die Launen des Provinzhimmels aufmerksam im Auge zu behalten war immer wichtig für sie. Davon abzulassen war zwar möglich, aber höchstens für ein paar Stunden und nur aus den dringendsten Gründen: zweimal im Jahr wohl bestimmt eine Fahrt in die Stadt für den Kirchgang, ein Ausflug nach Beatrice, um eine neue Triebwelle für den Traktor abzuholen, oder nach Branson, Missouri, um reisende Zauberer, Löwenbändiger und christliche Gesangsgruppen zu sehen oder anderen kulturellen Veranstaltungen beizuwohnen, von der Mutter ihrer Kinder ausgewählt, bei denen ihre Anwesenheit, mochte sie auch ungern gewährt werden, unerlässlich war. Immer schwarz im Gesicht und an den Händen, von Schmutzkrümeln verätzt, wie sehr sie auch schrubbten, sog ihr Körper im Laufe der Zeit - und die meisten von ihnen lebten lange - so viel Erde auf, dass ihre Haut allmählich eine Schicht entwickelte, die nur noch zur Hälfte Haut, zur anderen jedoch Erde war. Für die Farmer war der Übergang zum Begrabensein ein kaum wahrnehmbarer. 21
Aber auch die Nicht-Farmer sind vollkommen zufrieden damit, an Ort und Stelle zu bleiben. Die Landschaft in diesem Teil Nebraskas mag nicht spektakulär sein, doch es ist ihre Heimat. Wenn du gehst, wirst du weinen, haben sie schon immer gesagt, aber nicht jeder hört auf sie. Der zwingendste Grund für ihre ständige Anwesenheit ist jedoch folgender: Die Toten werden oft als jemand benötigt, den man mangels einer besseren Bezeichnung als Außenfeldspieler bezeichnen könnte, wenn sie nämlich die rastlosen Seelen einfangen, die widerwillig, mit rüder, schrecklicher Unvorhersehbarkeit gestorben sind (Opfer von Autounfällen, Schießereien, Naturkatastrophen und dergleichen) und sie nach Hause bringen. Das kommt nicht häufig vor in Emlyn Springs, aber die toten Väter sind stolz darauf, sich für diese Fälle bereitzuhalten. In der Zwischenzeit frönen sie keineswegs der Muße. Ganz im Gegenteil. Etliche von ihnen sind Plein-air-Maler. In die Landschaft versenkt, haben sie eine neue Wertschätzung für sie entwickelt. Ihr Verständnis für Farben ist tiefer und feiner ausgeprägt; schließlich liefern sie selbst zumindest einige davon: das satte Burgunderrot der Hirsesamen, das unheimlich leuchtende Grün aufkeimender Sojabohnen. Viele befassen sich mit wissenschaftlichen Experimenten. Andere sind Linguisten. Ihre Tätigkeiten Steckenpferde zu nennen wäre irreführend. Die toten Väter von Emlyn Springs sind keine Dilettanten. Sie arbeiten lange und hart. Emsig tüfteln sie an Formeln und Gleichungen und machen sich dann an das langwierige, einsame Geschäft des Beweisens. Das macht sie sehr glücklich. Glücklich bis in alle Ewigkeit. Lernen Sie einige von ihnen kennen. Beobachten Sie sie bei der Arbeit. Gehen Sie behutsam vor. Mr. Merle Funk, Farmer (1874-1930), beschäftigt sich mit den feinen Unterschieden in der Physiologie von Heuschrecken. Waldo Closs, Versicherungskaufmann (1930-1962), studiert das fra22
gile Nervensystem des vierblättrigen Kleeblatts. Obediah Purdy, Apotheker und Radsportenthusiast (1826-1899), transkribiert die Dialekt-Varianten der Bienensprache. Und der führende Landschaftsmaler ist Dr. Gerallt Williams (1902-2000), Hausarzt und Möbeltischler. Was die Fauna betrifft, konzentrieren sie sich jetzt ausschließlich auf einheimische Vögel. Von Rindern und Schweinen wollen sie nichts mehr wissen, von Hühnern haben sie die Nase voll. Ezra »der Eierkönig« Krivosha (1888-1982) - der Emlyn Springs dadurch bekannt machte, dass er es zur Welthauptstadt der ausgefallensten Eiersorten erklärte - schert sich keinen Deut mehr um das Innenleben exotischer Legehennen, sondern ist fasziniert von den sozialen Interaktionen der Schneegänse. Und Fritz Bybee, Esq., zeichnet seit seinem Tod vor hundert Jahren die Genealogie einer einzigen Familie von buntschnäbeligen Tauchern auf. Andere tote Väter untersuchen die Auswirkungen des Wetters auf den Bauch der Landschaft von Nebraska - und des Weiteren auf alle Überreste, die dort beerdigt sind: Mr. Roy Klump, Inhaber von Roys Dachdeckerei (1930-1998), dokumentiert die je nach Größe unterschiedlichen Schallwellen von Hagelkörnern und ihren Effekt auf den Post-mortem-Haarwuchs. Myron Mutter (1898-1982), Pastor, studiert, wie elektrischer Strom, der vor einem Gewitter durch die Erde schießt, das Gehör beeinträchtigt. Und Mr. Ellis Cockeram, Fußpfleger und Chorleiter (19031979), ersinnt eine Methode zur Messung von Wind in Tornadostärke, indem er die entsprechend wachsende Empfindsamkeit seines vierten Mittelfußknochens links beobachtet. Die Toten wissen ebenso sicher wie die Lebenden, wann ein Gewitter heraufzieht, und zwar frühzeitig - nicht, weil sie in den Himmel schauen, sondern aufgrund einer besonderen chemischen Veränderung der Erde sowie einiger damit einhergehender Reaktionen ihres Skeletts. (Mr. Cockerams Zehen sind zum Glück nicht betroffen.) Ihre weicheren Überreste werden immer säure-
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haltiger, und die Regenwürmer, die süßere Kost bevorzugen, kriechen anderswo hin. Tote Väter verlangen nicht viel: Einsamkeit und Frieden und Ruhe vor den Gefühlsregungen der Lebenden. Demonstrative Trauer begeistert sie nicht. Leichtsinn können sie nicht ertragen. Und nichts ärgert sie mehr als halsstarrige Dummheit. Ergo verdient Llwellyn Jones, soweit es sie betrifft, was auf ihn zukommen mag, weil er die Sicherheitsregeln bei einem Gewitter derartig unbesonnen missachtet, Regeln, die jeder Einzelne von ihnen im Schlaf aufzählen kann. Und jetzt ist der Bürgermeister am Country Club, parkt seinen 89er Marquis neben Bud Humphries’ 84er F-150, schultert seine Tasche und begibt sich schnurstracks zum ersten Abschlag. Was zum Teufel denkt er sich dabei? Die Motive für menschliches Verhalten zu entschlüsseln ist das Fachgebiet toter Mütter. Im Unterschied zu ihren männlichen Gegenstücken (diesen Brummbären, die sich die fleischlosen Beine in den Bauch stehen und mit schulmeisterlicher Wichtigtuerei Befehle bellen) gehen tote Mütter - ah! - auf Reisen. Zu ihrer Verteidigung würden sie erklären, das Reisen sei erforderlich für ihr Studium der kulturübergreifenden Verhaltenspsychologie. In Wahrheit tun sie es jedoch hauptsächlich deshalb, weil sie gewichtsempfindlich sind. Unter der Erde spüren tote Mütter jeden Schritt jedes menschlichen Wesens überall auf der Welt. So ähnlich erging es ihnen, als sie schwanger waren. Ihre Kinder tobten in ihnen herum wie eine Horde schelmischer Elfen und Kobolde. Zappelig waren sie. Prickelnd fühlten sie sich an, wenn sie schneller wurden, wie Sprudel im Bauch. So gaben sie ihre Anwesenheit bekannt. Leichtfüßig. Aber jetzt - diese Schwere! Aus dem Trippeln kleiner Schritte ist das unaufhörliche Gepolter von Steinen geworden. Die toten Mütter unterbrechen ihre Reisen, wenn etwas Bedeutsames bevorsteht, etwas, das zum Beispiel ein lebendes Kind 24
betrifft oder den Ehepartner. Bei diesen Gelegenheiten werden sie von überall her zurückbeordert, ob sie nun auf der anderen Seite des Bundesstaates oder des Ozeans sind. Und sie kommen bereitwillig, ohne Groll. Jetzt gerade wird eine von ihnen heimgerufen: Aneira Hope Jones (1940-1978). Sie ist zu Besuch in der Stadt Pwllheli auf der Halbinsel Llyn in Nordwales. Hope reist vielleicht weiter und bleibt länger fort, als es bei den toten Müttern von Emlyn Springs üblich ist, aber schließlich war sie schon immer anders. So viel weiß Hope: Ihre Anwesenheit wird gewünscht, und so macht sie sich auf den Weg in das Land, mit dem und mit dessen Bewohnern sie einst ein Fleisch war. Llwellyn Jones schlägt ab. Die Toten passen gut auf. Regel Nummer eins!, bellt Merle Funk. Stell dich nie unter einen hohen Baum! Ein Blitz erhellt den Himmel. Die toten Väter fangen an zu zählen: Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden … Llwellyn ist auf dem Rough. Hope erscheint - ihr unerwartetes Auftauchen wird von ihren Gefährten kaum bemerkt - und schaut gemeinsam mit ihnen zu. Regel Nummer zwei!, mischt sich Fritz Bybee ein. Achte darauf, dass du nicht über deine Umgebung aufragst! Er hat mit Sicherheit schon besser gespielt, sinniert Roy Klump. Früher hat er mich an diesem Loch jedes Mal besiegt. Llwellyns Schlag mit dem Wedge - in den Teich - fällt mit dem nächsten Donner zusammen, als befehligte er die Elemente. Die Luft in den Wolken etwas weiter südwestlich gerät in Bewegung. Feuchtigkeit wird von der Erde in sie aufgesogen. Llwellyn steht knietief im Wasser. Regel Nummer drei!, rufen die Väter im Chor. Du darfst nie vom Boot aus angeln oder dich auf einen Hügel oder ein offenes Feld stellen! 25
Und Ellis Cockeram fügt hinzu: Durch Blitzschlag sterben mehr Menschen als durch alle anderen Unwetter! Ein Tunnel aus stark abgekühlter Luft entsteht, der sich in die Vertikale aufrichtet. Llwellyn erklimmt den Hügel zum Grün. Er versenkt den Ball. Mehr Donner. Die toten Mütter schließen sich den Vätern an: eine Sekunde, zwei Sekunden … Llwellyn hebt seinen Ball auf und läuft zum fünften Abschlag, dem höchsten Punkt des Golfplatzes von Emlyn Springs. Von hier aus kann er meilenweit in alle Richtungen sehen - bis zum Grund und Boden seiner Familie, längst von ihr verlassen, nicht verkauft, sondern in tüchtigere und weniger mutlose Hände übergeben. Er sieht den Friedhof, wo ein Zenotaph die Stelle markiert, an der seine Frau Hope begraben wäre, wenn er sie gefunden hätte. Im Norden leben seine beiden älteren Kinder in sicherer Entfernung, hofft er, außerhalb der Gefahrenzone. Er bildet sich ein, seine jüngste Tochter Bonnie auf einer der Nebenstraßen zu sehen, wo sie auf die ungestüme Art und Weise, die sie seit ihrer Kindheit an sich hat, in die Pedale ihres Fahrrads tritt. Aber nein. Was auch immer ihre Geschwister über Bonnie denken mögen, sie ist ein kluger Kopf und würde nie bei solchem Wetter radeln gehen. Also los. Das Tee in den Boden stecken. Haltung annehmen. Was hat der Blödmann vor?, fragt sich Alvinas toter Ehemann Waldo. Regel Nummer vier!, warnt Pastor Myron Mutter verzweifelt. Halt dich von metallenen Gegenständen fern! Bürgermeister Jones - dessen Vorname eine Buchstabenfolge enthält, die sich im Englischen nicht aussprechen lässt, weil dabei vom Gaumen her Luft ausgestoßen werden muss - atmet den Anblick seiner Heimat ein, und dann … Llwellyn …, flüstert Hope und haucht die doppelten Ls auf die walisische Weise, so dass sie wie eine verhaltene Brise klingen. 26
Er schaut nach unten, bereitet sich vor, reglos wie Granit. Plötzlich schwingt er die Arme: Sein Schläger schießt in die Höhe - kraftvoll, theatralisch, zielstrebig - und dann nach unten, kracht gegen den Ball, während erneut Donner tost, zieht durch, beschreibt einen Halbkreis durch den Raum und erstarrt vorübergehend, lange genug, um eine gerade senkrechte Linie zu bilden, einen perfekten Leiter zwischen Erde und Himmel, und dann folgen ein Knall und ein Zischen und ein Schwert aus Licht. Der Flug des Balls überdauert die lebendige Kraft hinter ihm, mit wunderbarer Leichtigkeit saust er himmelwärts. Und noch nachdem zehn Millionen Volt das verblüffte Herz des Bürgermeisters zum Stillstand gebracht haben, segelt er weiter hinauf, verschwindet in den aufgewühlten Wolken, rast dem Hagel entgegen, der jetzt anfängt niederzuprasseln. In der Cocktail-Lounge des Clubhauses - von der man eine gute Aussicht auf das fünfte Loch hat - herrscht kurze Verwirrung bei den Freunden des Bürgermeisters. Sie erkennen nicht, dass das einzelne Hagelkorn, das sich wundersamerweise über die Schwerkraft hinwegzusetzen scheint, in Wirklichkeit ein ganz gewöhnlicher genarbter Golfball Modell Titleist 100 ist. Als sie den Ball aus den Augen verlieren, richten sie ihre Blicke wieder zur Erde und landen auf der reglosen Gestalt von Llwellyn Dewey Jones (1934-2003), Arzt, Bariton, viermaliger Bürgermeister von Emlyn Springs, Nebraska und jetzt toter Vater. Hagel knüppelt auf das Dach des Clubhauses ein. Bud Humphries, Barkeeper des Country Clubs, Stadtratsvorsitzender und ehrenamtlicher Sanitäter, schnappt sich den Defibrillator und rennt nach draußen. Hagel trommelt ihm auf die Schultern; sie werden ihm morgen und noch Wochen später wehtun. Diese Schmerzen wird er mit mehrfachen Anwendungen einer Muskelsalbe bekämpfen, die er in der einzigen Apotheke des Ortes, bei Lloyd’s Drugs, kaufen wird. Jetzt in der Bar anwesend ist auch Owen Lloyd, Apotheker und Kriegsveteran, er stößt in der Hek27
tik, mit der er von seinem Barhocker aufspringt, um die Feuerwehr anzurufen, sein Martiniglas um. Die beiden anderen Männer im Clubhaus, Alan Everett Jones (kein Verwandter) und Glen Rhys Thomas, lassen ihre Erdnüsse und Biergläser stehen und folgen Bud ins Freie, obwohl das Gewitter immer noch gefährlich nahe über ihnen ist. Sie gehen, weil sie Männer aus Llwellyns Generation sind, wenige an der Zahl, Männer, die blieben, während ihre Söhne und Töchter in alle vier Himmelsrichtungen in größere Ortschaften und noch größere Städte gezogen sind. Sie erreichen ihren Freund. Bud führt eine Reanimation durch, weil er weiß, dass der Bürgermeister gegangen und trotzdem noch da ist und deshalb ihrer größten Anstrengungen bedarf. Llwellyn hätte für jeden von ihnen dasselbe getan. Sie alle könnten eine Geschichte darüber erzählen, wie sie miterlebt haben, dass er sich mit dem Körper einer armen Seele abmühte, die praktisch schon im Jenseits war - und dann seinen Gesichtsausdruck sahen, als er den letzten Schritt nicht mehr hinauszögern konnte. Owen Lloyd hat sein Telefonat beendet und eilt nach draußen so schnell er das mit einem gesunden Bein und einer Prothese kann. Er hat daran gedacht, eine Decke mitzunehmen. Diese lebenden Männer, lauter Väter, decken ihren Freund zu, wachen über ihn im prasselnden Hagel, im strömenden Regen. Da stehen sie: Wartende, Zeugen. Vom Ort her ertönt die Feuerwehrsirene. Die Männer der freiwilligen Feuerwehr, die sie seit Jahren kennen, mit Vornamen, Mittelnamen und Nachnamen, sind unterwegs. Das Gewitter schwächt sich ab, zieht weiter. Die Luft wird kühler. Bud hört auf mit seinen Wiederbelebungsversuchen. Sie können Llwellyn ebenso gut ins Haus tragen. Die Babys schlummern mit tränenfleckigen Gesichtern ein, so erschöpft, dass sie ihre müden Mütter vielleicht sogar mit einer durchgeschlafenen Nacht beglücken werden. Aus den Körpern der heranwachsenden Mädchen, die noch nicht Mütter sind, quillt Blut. Ein Sohn der Stadt niest, ein anderer hat einen Orgasmus. 28
Ein Teenager drückt sich einen Pickel aus. Ein Zehennagel fällt ab. Der Tischler passt das Brett ein. In Miss Hazel Williams’ Salon schlägt die Klavierschülerin ein korrektes H an. Im St. David hat Eustace Craven endlich Stuhlgang. Die Toten seufzen und schauen dorthin, wo Llwellyn begraben werden wird, gleich da drüben, neben der nicht belegten Parzelle, die für seine Frau reserviert ist. Zenotaphen sind eine solche Verschwendung von Grund und Boden. Der Regen durchtränkt die Erde. Kühl und reinigend ist er eine große Erleichterung für alle Betroffenen. Die Toten gehen zurück an die Arbeit. Sie haben Hopes Anwesenheit kaum registriert, deshalb fällt nur wenigen auf, dass sie bereits - wieder einmal verschwunden ist. Und über dem Gelände, das seit einem guten Jahrhundert im Besitz von Llwellyn Dewey Jones’ Familie ist, schweben drei Vögel, alle in Nebraska heimisch, aber unterschiedlichen Gattungen angehörig, auf einem kalten Abwind zur Erde hinunter. Nach einem raschen Wortwechsel - zu kurz, als dass die ornithologisch interessierten toten Väter ihn übersetzen könnten - fliegen sie in verschiedene Richtungen davon. Keiner bemerkt Llwellyns Titleist 100, der auf einer Seite einen halbmondförmigen Einschnitt aufweist und aussieht wie eine teilweise geschälte exotische Frucht. Er schwingt sich immer höher in den Himmel, bis er verschwindet. Er kommt nicht herunter.
2 Gott sei Dank Freitag für die Professorin und den Wetteransager Heute ist der letzte Tag des Sommersemesters. Die Prüfungen sind vorbei, die Arbeiten benotet. Alles, was zwischen Larken Jones, Bachelor, Master, Doktor und einem zweiwöchigen Urlaub 29
steht, ist ein bisschen Schreibkram und ein Gespräch mit einer ihrer Studentinnen, Misty Ariel Kroeger. Es ist Universitätspolitik, akademisches Scheitern nicht als rüde Überraschung zu präsentieren, schlechte Nachrichten müssen persönlich übermittelt werden. Larken darf keine Mühe scheuen, Versager zu beschwichtigen. »Hallo, Misty. Kommen Sie rein.« Larken sitzt im Souterrain eines der ältesten Gebäude auf dem Campus hinter ihrem Schreibtisch. Ihr Büro ist weder hell noch geräumig. In einer wohlwollenden Beschreibung würden die Wörter prenumbral und klösterlich vorkommen, Wörter, die sie gewohnheitsmäßig benutzt, wenn sie über die Darstellung von Josefs Tischlerwerkstatt auf dem Mérode-Altargemälde spricht, Zehn-Dollar-Wörter, die sie absichtlich verwendet, um bei ihren Studenten im ersten Semester sozusagen die Spreu vom Weizen zu trennen. Der Raum, nur wenig größer als ein begehbarer Schrank, wird lediglich durch ein nach Norden gelegenes Kellerfenster erhellt, aber sie muss ihn mit niemandem teilen. Larken blickt nicht auf, begutachtet vermeintlich die vor ihr aufgereihten Referate und Anwesenheitslisten. Sie bewegt ihren Mund auf eine Weise, die würdevollen Ernst suggeriert, eine kritische Konzentration, die einer klugen, gewichtigen und wohlformulierten Äußerung vorangeht. In Wahrheit versucht sie, die letzten Überreste zweier Erdnussbuttertoffees, die sie fachmännisch in beiden Wangen versteckt hat, schmelzen zu lassen. »Bitte setzen Sie sich.« Larken hat - wie Demosthenes mit seinen Kieseln - gelernt, deutlich zu artikulieren, auch wenn ihr Mund insgeheim alles Mögliche enthält. Ihre Fähigkeit, den Kiefer beim Sprechen nicht zu bewegen, trägt zu der allgemein verbreiteten Meinung bei, sie sei hart und unbeugsam. Larken hört ab und zu, dass Studenten sie General Jones nennen - manche mit offenkundiger Zuneigung, andere mit Beklommenheit oder Verachtung. Abgesehen von dem Beigeschmack nach Asexualität und Militarismus gefällt ihr der Spitzname. 30
Die Studentin, die ihr jetzt gegenübersitzt, ist zierlich und von Natur aus schön, hat sich jedoch entschieden, ihr Aussehen durch übertriebenes Augen-Make-up, filzige, gefärbte Dreadlocks und zahlreiche Piercings zu verunstalten. Sie ist die Art Mädchen, die in eine extreme äußere Erscheinung investiert, statt ihren Intellekt, ihre Kreativität oder ihre Technik zu entwickeln. Mistys künstlerische Arbeiten, die Larken in der Frühjahrsausstellung der Studenten gesehen hat, zeigen die spezielle Mischung aus persönlicher Polemik und schlechter Ausführung, die neuerdings bei den Graduierten immer verbreiteter zu sein scheint: Möchtegern-Frida-Kahlos, Collagen aus banalen Bildern, abgedroschenen Symbolen und subjektiven Einsprengseln, bemühte Versuche um einen primitivistischen Stil, der in Wirklichkeit bloß primitiv ist. Larken hasst dieses Zeug, aber viele ihrer Kollegen im Fachbereich ermutigen anscheinend dazu. »Gibt es etwas, das Sie mir sagen möchten?«, fragt Larken und schaut auf von Mistys Prüfungsaufsätzen und Fragebögen und dem Protokoll ihrer (Nicht-)Anwesenheit im Unterricht. Misty rutscht auf ihrem Stuhl hin und her, sodass er sanft knarrt. »Sie wollen mir wohl mitteilen, dass ich nicht so gut abgeschnitten habe.« Larken schiebt die Zunge hinter einen ihrer Weisheitszähne und stöbert ein kleines Fragment Schokolade auf. »Sie haben den Kurs nicht bestanden, Misty. Das müssten Sie doch wissen.« Misty reißt die Augen auf, ein jämmerlicher Versuch, Entsetzen zu mimen. »Sie machen Witze!« Larken rückt ihre Brille zurecht und sammelt genügend Speichel, um ihren Mund mit einem letzten verwässerten Geschmack von Erdnussbuttertoffees zu überschwemmen. »Sie haben etliche Unterrichtsstunden versäumt. Die Prüfung haben Sie nur mit vier bestanden. Und Ihr Aufsatz …« Larken zeigt auf Mistys Referat auf dem Tisch vor ihr. Er ist in grauenhafter Handschrift verfasst, kaum leserlich, voller Rechtschreibfehler. 31
»Was ist damit?«, fragt Misty trotzig. Larken überlegt, ob es wohl möglich wäre, sich die letzten Erdnussbuttertoffees in den Mund zu stecken; sie sind gleich da unten, in der offenen Schublade rechts, einladend ausgewickelt, in winzige plissierte Mulden geschmiegt. Es wäre leicht. Sie schiebt den Bogen, auf dem die für den Kurs erforderlichen Punkte aufgelistet sind, über den Schreibtisch und deutet mit ihrem Stift darauf, während sie Mistys Verstöße aufzählt. »Sie haben mehrmals unentschuldigt gefehlt, Tests nicht mitgeschrieben … Sie haben keine der angebotenen Möglichkeiten wahrgenommen, trotzdem Punkte zu erwerben oder überschrittene oder verpasste Abgabetermine nachzuholen, obwohl ich Ihnen das zugestanden habe … Sie haben praktisch keine Vereinbarung für den Unterricht eingehalten. Wie kann ich Sie da bestehen lassen?« Larkens Stimme bleibt ruhig. In Fällen wie diesem ist es wichtig, Höflichkeit zu bewahren. »Sie sind im ersten Graduiertenjahr, Misty. Ein solches Betragen würde ich nicht einmal viel jüngeren Semestern gestatten.« »Aber ich brauche diesen Punkt wirklich!« Aber ich brauche diesen Punkt wirklich - in verzweifelt flehendem Ton vorgetragen, wie es Misty gerade demonstriert hat ist der Satz, den Professor Jones fast ebenso oft hört wie Müssen wir das für den Test wissen? »Daran hätten Sie denken sollen, bevor Sie siebenmal nicht zum Unterricht erschienen sind und unannehmbare Arbeiten abgeliefert haben.« Wie vorauszusehen war, fängt Misty an, auf ihrer gepiercten Lippe herumzukauen und ihren stark geschminkten Augen Feuchtigkeit abzuringen. »Ich habe nicht geschwänzt. Es handelte sich um einen Notfall.« Ich hatte Krach mit meinem Freund/meiner Freundin. Ich habe mir das Handgelenk gebrochen. Meine Katze ist gestorben. Ich konnte die Miete nicht zahlen. Meine Eltern haben mich enterbt. Mein Computer ist abgestürzt. 32
Misty schaut himmelwärts, als suchte sie göttlichen Beistand. Dann setzt sie zu einem reich ausgeschmückten Märchen an, in dem es um entfernte Verwandte und unklare lebensbedrohliche Gesundheitszustände geht, Larken wirft einen verstohlenen Blick auf die Uhr über der Tür. Es ist beinahe Mittag. »… also musste ich den ganzen Sommer über jedes Wochenende nach Ogalala zu meiner Cousine, und da braucht man jedes Mal zwei Stunden oder so.« Professor Jones, die kein Flugzeug besteigt, hat im Laufe der Jahre etliche Autofahrten durch Amerika unternommen; zufällig weiß sie, dass man von Lincoln nach Ogalala - selbst auf der Interstate 80, selbst wenn man schneller fährt als erlaubt - mindestens viereinhalb Stunden benötigt. »Wenn Sie mir das erzählt hätten, wäre ich gern zu Zugeständnissen bereit gewesen.« »Aber ich habe mein Referat abgegeben!« Jetzt ist Misty in das nächste Stadium des Protests durchgefallener Studenten eingetreten. Wie Patienten, denen eine tödliche Diagnose gestellt wird, durchlaufen sie eine vorhersehbare Reihe von Phasen: Wut, Leugnen, Feilschen, Akzeptanz usw. »Ich habe mir echt Mühe damit gegeben.« »Misty, es ist noch nicht mal getippt.« »Die Computer in der Bibliothek funktionierten alle nicht, und meine Mitbewohnerin hatte ihren mitgenommen.« Larken liest aus Mistys Aufsatz vor und umkringelt dabei die falsch geschriebenen Wörter. »›Das Mérode-Altergemälde ist ein wichtiges Beispiel für dieDisskriminierung der Frau in der Kunst. Es hat keinen legitiemen Platz in einer postfemnistischen Kunstbetrachrung.‹ Eine solch apodiktische Aussage können Sie nicht machen, ohne sie zu beweisen, ohne sie wissenschaftlich zu untermauern.« Misty wirft Larken einen konsternierten Blick zu. »Apodiktisch?« »Absolut. Radikal. Extrem. Strittig.« »Na ja«, kontert Misty unterwürfig. »Sie stimmt aber.« 33
Larken seufzt. Der Kurs, den Misty nicht bestanden hat - mit dem Spezialthema »Feministische Perspektiven auf die Kunst der Vorrenaissance« -, zieht immer die Unreifen an, die Schrillen. Junge Frauen, die anscheinend denken, dass ihnen ihre demonstrativ modisch-politische Attitüde bei Professor Jones einen Stein im Brett und eine glatte Eins garantiert, während es Larken im Gegenteil hart ankommt, keine ungerecht hohen Maßstäbe an sie anzulegen. Das kompensiert sie dadurch, dass sie in das andere Extrem verfällt, indem sie ihnen jede Chance gibt, ihr Ziel zu erreichen, auch wenn die Situation wie hier hoffnungslos ist. »Okay, Misty, dann erläutern Sie doch bitte Ihre Theorie.« Zielstrebig dreht Larken sich in ihrem Stuhl und beugt sich leicht vor, sodass sie ihren Arm bis in die rechte untere Schreibtischschublade und damit in Reichweite der Erdnussbuttertoffees baumeln lassen kann; die linke Hand führt sie ans Gesicht und schirmt ihren Mund wie mit einer tiefhängenden Markise ab. Während Misty einen Schwall vorhersehbarer postfeministischer Allgemeinplätze abfeuert, zweifellos Plagiate, angelt Larken die Toffees vorsichtig aus ihren Näpfchen. »… eklatant unterwürfige Haltung der Jungfrau!«, schwadroniert Misty, ohne auch nur in Larkens Richtung zu sehen. »Der voyeuristische Blick des Maskulinen! …« Larken ergreift das erste Erdnussbuttertoffee und steckt es sich mit einer fließenden Bewegung in den Mund. Dann stützt sie sich auf beide Hände und lässt es warm und weich werden, genießt, wie die zart gerippten Wülste an den Rändern mit dem glatten oberen Teil und dem Boden kontrastieren. »… Verstümmelung der weiblichen Sexualität…«, fährt Misty leidenschaftlich fort. »Die erzwungene Vereinigung mit einem Mann, der ihr Großvater sein könnte …« Es ist fast, als wären diese jungen Frauen einer Gehirnwäsche unterzogen worden, die sie dazu veranlasst, immer dasselbe von sich zu geben. Larken schnieft, nimmt ein Papiertaschentuch und gibt vor, sich die Nase zu putzen, dann beugt sie sich vor, um es 34
in den Papierkorb zu werfen. Auf dem Weg nach oben greift sie nach dem zweiten Toffee und schiebt es sich in den Mund. Misty lamentiert weiter (wie die Parodie eines schlechten BeatPoeten; fehlen nur noch ein Bassist und ein Bongotrommler), wie absurd es sei, die religiösen Gemälde der flämischen Meister der Vorrenaissance zu studieren - die zufällig Professor Jones’ Spezialgebiet und Mittelpunkt ihres Berufslebens sind. Misty beharrt darauf, dass nur die Postmoderne zähle, das hier spiele keine Rolle für ihre Generation und sich damit zu beschäftigen sei reine Zeit- und Geldverschwendung. Und wer zahle denn schließlich für ihre Ausbildung? Das wüsste ich auch gern, denkt Larken. Sie hat die Schokolade ganz abgelutscht und kostet jetzt die leicht körnige Textur des Erdnussbutterkerns aus. Misty kommt zum Ende. »Also«, sagt sie und schaut mit affektierter Schüchternheit zu Larken auf. Viele von Professor Jones’ Studenten halten sie für lesbisch. Vielleicht ist Misty selbst lesbisch. »Was kann ich tun, um eine bessere Note zu kriegen?« Larken schluckt den Rest des Bonbons herunter und räuspert sich. Eine positive Nebenwirkung ihres Schokoladenkonsums ist die auf Larkens eh schon prägnante Stimme: Irgendetwas an der Kombination aus emulgierten und hydrierten Ölen und Kakao verleiht ihr eine ruhige, raue Resonanz, die sehr eindrucksvoll ist. »Schreiben Sie das Referat um. Tippen Sie es. Gehen Sie ausführlich auf die Punkte ein, die Sie eben vorgetragen haben, schicken Sie es mir bis heute Nachmittag - nicht später als vier - als E-Mail-Anhang - dann ziehe ich in Betracht, Ihnen eine Vier zu geben.« »Was?« Misty wirkt erbost. »Mehr kann ich nicht für Sie tun.« »Dämliche Ziege.« »Wie bitte?«
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Misty steht abrupt auf, mit fliegenden Dreadlocks, jede Vortäuschung von Weinerlichkeit verflogen. Jetzt kommt die Phase der Akzeptanz. »Sie sind eine beschissene FETTE LESBISCHE KUH, und ich hoffe, Sie fallen tot um!« Misty stürmt hinaus, knallt die Bürotür hinter sich zu und denkt zweifellos, sie hätte Professor Jones mit diesem dramatischen Abgang am Boden zerstört zurückgelassen. In Wahrheit ist er ebenso unoriginell wie Mistys Frida-Kahlo-Imitate. Larken verspürt den Impuls, Mistys Aufsatz zusammenzuknüllen und aufzuessen. Stattdessen nimmt sie einen roten Filzstift, zieht einen dicken roten Strich den linken Rand der Seite hinunter, einen weiteren über den Text und einen dritten quer darüber: eine fette, blutende Sechs. Dann greift sie sich eine Handvoll Münzen aus ihrer mittleren Schreibtischschublade und steckt sie in die Tasche. Sie stemmt sich aus ihrem Stuhl hoch und begibt sich zu den Automaten - die sich bequemerweise gleich um die Ecke befinden. Larken sitzt seit achtzehn Jahren in diesem Souterrain, seit sie selbst graduierte Studentin und Tutorin war. Sie könnte jederzeit in ein anderes Büro umziehen, ein geräumigeres und besser beleuchtetes, ein oberirdisches, das ihrem Rang als ordentliche Professorin und Doktor der Geisteswissenschaft gemäß wäre. Man hat es ihr oft genug angeboten. Aber sie zieht den Verbleib hier im Keller vor. Die Nähe der Automaten ist nur ein Grund dafür: Es ist immer kühl (wehe dem Bewohner des Mittleren Westens, der im Sommer keinen Zugang zu einem Untergeschoss aus Beton hat), meistens ruhig (kaum jemand kommt hier herunter außer den Fotografiestudenten, und die sind größtenteils nachtaktiv), und zu alledem sind da auch noch die Jahrzehnte alten gelbschwarzen Schilder, die bei einem Nuklearkrieg Schutz vor radioaktivem Niederschlag garantieren. Wenn Larken Leiterin des Fachbereichs werden sollte - die Annahme, dass man ihr diese akademische Würde bald verleiht, 36
ist keinesfalls abwegig -, wird sie mit Vergnügen nach oben umziehen. Bis dahin bleibt sie hier unten. Larken fängt an, den Automaten mit Münzen zu füttern, wobei sie nach jedem Einwurf innehält, um sich zu vergewissern, dass keiner kommt. Im Laufe der Jahre hat sie sich ihren ganz eigenen Regelkanon zusammengestellt; eine Regel lautet: Es schickt sich nicht für eine ordentliche Professorin, sich beim Kauf von Snacks aus dem Automaten erwischen zu lassen. Während sie noch bemüht ist, sich klarzumachen, worauf sie Appetit hat, hört sie, dass sich jemand nähert. Ruhig tritt sie beiseite zum Getränkeautomaten, nimmt eine weitere Handvoll Kleingeld und wirft es ein, sodass sie, als der Star unter den Fotografiestudenten um die Ecke biegt (»Hi, Professor«, sagt er liebenswürdig - Larken hört es zu gern, wenn er sie mit Professor anspricht), eine Flasche Mineralwasser in der Hand hat, harmlos und kalorienarm wie eine Stange Sellerie. »Hallo, Mr. McNeely.« Drew McNeely ist einer von Larkens wenigen Einser-Studenten. »Noch nicht auf der Flucht aus diesem Gulag?« »Bald, hoffe ich. Muss nur noch ein paar Abzüge machen.« »Sehe ich Sie im nächsten Semester?« »Ich belege Ihren Kurs über die Renaissance des Nordens.« »Dann freue ich mich.« »Machen Sie’s gut, Professor.« Nachdem das letzte Echo von Drews Schritten verhallt und das Souterrain wieder still ist, trifft Larken ihre Auswahl, kehrt in ihr Büro zurück, macht die Tür zu und schließt ab. Sie erwartet keine Besucher mehr, und falls jemand vorbeikommt, wird sie so tun, als wäre sie nicht da. Es ist noch Arbeit zu erledigen, und sie will spätestens um halb zwei verschwinden. Larken legt ein Blatt von einer Küchenrolle auf ihren Schreibtisch. Sie öffnet und leert zwei Tüten Maischips und baut sie auf dem Papiertuch zu einer lockeren Pyramide auf.
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Dann beginnt sie ein letztes Mal, die Belege für Mistys Leistungen zu überprüfen. Eine Studentin in diesen Zeiten des Quengelns und Streitens durchfallen zu lassen - auch wenn sie keine Stipendiatin ist und eine staatliche Universität besucht - ist eine kühne Tat, und Professor Larken gehört zu den wenigen Fakultätsmitgliedern, die immer noch das Recht dazu für sich in Anspruch nehmen. Da Misty genau der Typ ist, der wahrscheinlich bei der Verwaltung offiziell Beschwerde erhebt, muss Larken sicher sein, dass ihre Entscheidung bestens begründet ist. Ja, befindet sie. Das Mädchen hat wirklich alles getan, um die Sache zu vermasseln. Larken greift sich eine Handvoll Maischips aus dem Haufen und fängt an, die endgültigen Noten all ihrer Studenten noch einmal durchzugehen. Das ist eine mühsame, anstrengende Arbeit - ihre Hörerschaft umfasst gut zweihundert Personen -, aber die wiederholte Hand-zum-Mund-Bewegung, das Mahlen ihrer Kiefer und das stetige Knirschen, das es begleitet, helfen ihr, sich zu konzentrieren. Ab und zu ruht sie ihre Augen aus und erfrischt ihren Geist, indem sie auf die Reproduktion eines flämischen Triptychons schaut, gerahmt und im Originalformat, die ihr gegenüber an der Wand hängt. Es ist ein kleines Werk - erstaunlich klein angesichts seiner Bedeutsamkeit. Zusammen messen die drei Teile des MérodeAltargemäldes nur ungefähr neunzig mal fünfundsechzig Zentimeter. Es wird einem gewissen Robert Campin zugeschrieben, doch die meisten Historiker glauben, dass es im Wesentlichen von einem seiner ungenannten Schüler stammt. Larken hat es zum ersten Mal im Herbst ihres ersten Studienjahrs an der Uni gesehen, und zwar als Dia, projiziert auf die Leinwand eines riesigen Hörsaals, wo sie - in einen Stuhl in der hintersten Reihe gefläzt, Fingernägel kauend und voller Verlangen nach der nächsten Zigarette auf die Uhr starrend - eine von hundert war, die zufällig den Einführungskurs Kunstverständnis 101 als Wahlfach belegt hatten. 38
»Und hier haben wir Die Verkündigung von Robert Campin«, deklamierte Professor Arthur Collins, »eins der radikalsten Kunstwerke, die je geschaffen wurden.« Larken hatte das Gefühl, von einem Blitzschlag in die Brust getroffen zu werden. »Möchte einer von Ihnen eine Vermutung anstellen, warum ich in Bezug auf dieses Gemälde das Wort ›radikal‹ verwendet habe?«, fuhr der Professor fort. Larkens Hand schoss in die Höhe. Andere Hände folgten, aber sie war diejenige, die Arthurs Aufmerksamkeit erregte. Demonstrativ zog er seine berühmten buschigen Brauen zusammen und beschirmte dann seine Augen, als befände er sich auf dem Spielfeld eines von der Sonne beleuchteten Stadions. »Ah!«, rief er. »Eine Stimme von den billigen Plätzen! Miss …?« »Jones«, erwiderte Larken. »Larken Jones.« »Ja, Miss Jones?« »Sie ist nicht in einer Kirche«, wagte sich Larken vor. »Sie hat keinen Heiligenschein oder sowas.« »Sie?«, konterte Arthur mit der eisigen Verachtung, die sein Markenzeichen war, eine Taktik, die Kleinmütigen abzuschrecken. »›Sie‹? Wer?« »Die Jungfrau«, entgegnete Larken, das aufkommende Gekicher ignorierend. »Die in der Mitte. Sie sieht nicht besonders heilig aus. Sie sitzt einfach in einem normalen Zimmer, sowas wie ein Wohnzimmer, und liest in einem Buch.« »Warum ist das bedeutsam?« Larken zögerte, weil ihr klar wurde, dass er nicht von ihr erwartete, nur die Lücken in einem Gedankengang zu füllen, den er bereits im Kopf hatte. »Vielleicht, weil …« Arthur zuckte so theatralisch zusammen, als wäre er körperlich verletzt worden. Dann hielt er die Hand hoch wie ein Verkehrspolizist und sagte: »Leiten Sie Ihre Antworten nie mit ›vielleicht‹ ein, Miss Jones. Und benutzen Sie bitte keine Wendungen wie 39
›sowas‹ oder ›irgendwie‹ oder ›na ja‹.« Seine Imitation eines schwafelnden Studenten rief weiteres Gelächter hervor. »Äußern Sie Ihre Meinung zumindest mit linguistischer Autorität, dann hört man Ihnen lieber zu.« Larken holte tief Luft. »Wenn ein Engel zur Jungfrau Maria kommen kann, während sie in einem Wohnzimmer sitzt, dann können überall Wunder geschehen.« »Und wieso ist das wichtig? Wieso ist es radikal?« »Ich denke …« Wieder krümmte Arthur sich in gespieltem Schmerz. »Dass Sie denken, Miss Jones, setze ich voraus.« Larken blieb beharrlich. »Wenn Gott überall sein kann, wie können dann Kirchen und Priester und …« Larken zögerte beinahe, sie hätte fast solche Leutegesagt. »Wie können Geistliche dann Menschen dazu überreden, ihnen Geld zu geben? Wenn Kirchen nicht notwendig sind, ist auch keine Kollekte notwendig.« Arthur nickte und starrte sie einen Moment lang an - welchem Test er sie auch unterzogen haben mochte, sie hatte ihn bestanden - und sagte: »Gut, Miss Jones. Sehr gut.« Dann wandte er sich dem gesamten Auditorium zu und tat so, als wäre sie wieder in die Anonymität der hinteren Reihen zurückgetreten. Aber Larken ließ sich nicht täuschen, zwischen ihnen war etwas Besonderes vorgefallen. Sie war zur Kenntnis genommen worden. »Allein dadurch, dass er die Verkündigung an die Jungfrau Maria in einer alltäglichen Umgebung präsentiert«, fuhr Arthur fort, »in einem normalen bürgerlichen Haushalt, und sie selbst als reale junge Frau ohne Heiligenschein, tut der Künstler etwas, das weitreichende politische und somit radikaleImplikationen hat …« Und damit begann es: dass Arthur von ihr verlangte, amorphe, ungeordnete Empfindungen in gestaltete Sprache zu übertragen, und sie lehrte, im Dienste klarer und spezifischer Ideen klare und spezifische Worte zu benutzen.
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Auf dem Mérode-Altar sind sechs Figuren zu sehen: Mädchen, Engel, Mönch, Nonne, Wächter, Tischler. Larken hat sie ein halbes Leben lang studiert, Geschichten um sie ersonnen und Fragen über sie gestellt. Jeden Tag tritt eine davon in den Vordergrund ihrer Gedanken und Fantasien und fordert genaueste Betrachtung, während die anderen sich ausblenden. Heute gilt ihre Aufmerksamkeit der Mitteltafel des Triptychons, wo die Jungfrau Maria - zeitlos strahlend jung, mit glattem, fast drallem Gesicht - auf dem Boden eines kleinen, gewöhnlichen Raums sitzt, der Wohnstube eines flämischen Bürgerhauses. Sie liest. Sie trägt ein voluminöses rosarotes Gewand man ahnt, dass der Körper darunter kompakt ist, gut genährt, gepolstert mit Überresten von Babyspeck -, und das Licht zaubert einen Stern auf die zahlreichen Falten des Stoffs. Der Engel ist eben eingetroffen, in seinem Kielwasser, so winzig, dass er nur aus nächster Nähe zu erkennen ist, sieht man den Geist des Christuskindes. Symbolisiert durch eine cherubische, nackte Gestalt, nicht größer als der Zeigefinger der Jungfrau, schultert der Sohn Gottes ein schlichtes Holzkreuz und reitet auf goldenen Lichtfäden, die durch ein rundes Fenster ohne Läden in den Raum fallen, auf das ahnungslose Mädchen zu. Die Kerze ist gerade gelöscht worden. Die Verkündigung steht kurz bevor. Die Jungfrau ist im Begriff, Mutter zu werden. Als Larken ihr Zensurenheft zuklappt, ist sie elektrisiert von Kohlehydraten. Dieses Hoch muss sie, solange es dauert, ausnutzen, um ihre nächste (und letzte) Pflicht zu erledigen: ihre Benotungen bei Chris abliefern, der Sekretärin des Fachbereichs Kunst, deren Büro sich in einem anderen Gebäude befindet. Danach hat sie zwei Wochen frei. Im nächsten Sommer sollte sie wirklich eine Auszeit nehmen und etwas anderes tun als unterrichten. Reisen vielleicht. Nach New York fahren, ein paar Tage in den Cloisters verbringen, wo sie den Mérode-Altar im Original sehen könnte. Sich irgendwie ins Ausland absetzen. Eine Zelle in einem toskanischen Kloster 41
mieten - eine Menge Akademiker tun das -, Tagesausflüge machen und drei Monate hintereinander nur schreiben. Mit einem langsamen Schiff in die Niederlande tuckern. Dann schaufelt Larken systematisch alle leeren Folien und Tüten aus dem Automaten in den Plastikbeutel, der in ihrem Papierkorb steckt. Sie knotet den Beutel zu, sucht ihre Sachen zusammen, macht die Lampen aus und öffnet die Tür einen Spalt weit. Keiner da. Rasch schließt sie die Tür ab und stopft die verräterischen Beweise in den großen anonymen Metallmülleimer, der draußen im Flur steht. Sie steigt in den Aufzug und fährt nach oben. Larken kleidet sich immer in dunkle Farben, heute trägt sie eine weite schwarze Hose und ein kastanienbraunes Rayonhemd, bei dem die drei untersten Knöpfe offen sind. Ihre Sachen sind hübsch - sie bestellt sie online bei Lane Bryant -, doch den größten Teil ihres Budgets für Garderobe und Körperpflege verwendet sie für Kopf und Füße: exzellente Haarschnitte, Designer-Makeup, Schmuck und Schals, teure Schuhe. Sie schreitet flott und mit Entschlossenheit aus (selbst bei einer Bullenhitze wie dieser) und macht dabei möglichst wenig Lärm - Gewohnheiten, die sie sich im Laufe der Zeit bewusst zugelegt hat. Als sie aus dem Fahrstuhl steigt, beginnt Larken sofort zu transpirieren. Hier oben ist es mindestens fünfzehn Grad heißer als unten. Es ist ein altes Gebäude, im Winter erwärmt von einer Dampfheizung, im Sommer gekühlt durch Wunschdenken und Placebos: halb offene Fenster, Deckenventilatoren. Larken geht den schattigen Flur entlang, der sie zu der ihrem Ziel am nächsten gelegenen Tür führt. Zum Glück ist es ein langer Flur, der ihr erlaubt, möglichst lange drinnen zu bleiben. Draußen empfängt sie Luft wie in einer Sauna. Augenblicklich fängt sie an zu schwitzen. Ihre Schenkel reiben aneinander, als sie die Grünfläche überquert. Auf ihrem Weg durch den Skulpturengarten der Universität kommt Larken an zweien ihrer berühmten Ankäufe vorbei: der 42
äußerst rundlichen »Schwimmenden Frau« und der schlankeren, aber immer noch molligen »Frau in der Kiste«. Sie muss an ihre Eltern denken, an einen Wortwechsel, den sie als Heranwachsende unzählige Male gehört hatte: Wie schade!, pflegte Hope oft zu sagen, wenn sie an einer dicken Unbekannten vorübergingen: Sie hat so ein hübsches Gesicht. Und, was hilft’s?, entgegnete Larkens Vater dann verächtlich. Hübsch ist hübsch, Hope. Fett ist fett. Es muss schwer sein für Dad, denkt Larken häufig, zu wissen, dass seine älteste Tochter zwar nicht unbedingt als krankhaft fettleibig gilt, aber defintiv in die weniger präzise Kategorie »Schwabbelarsch« fällt und ganz bestimmt die staatlich festgelegten Kriterien für »übergewichtig« erfüllt: Professor Jones ist einen Meter siebenundfünfzig groß und wiegt achtzig Kilo. Misty Ariel Kroeger muss ihr nicht sagen, dass sie fett ist. Larken steigt die Treppe hinauf, fest entschlossen, ihr Tempo nicht zu verringern. Als sie die Eingangsebene erreicht hat, ist sie völlig durchgeschwitzt und außer Atem. Sie ist zweihundert Schritte gegangen. Ihr Zucker-Hoch schwächt sich bereits ab. Aber Rettung ist zum Greifen nah, gleich um die Ecke, im Sekretariat. Chris, die Sekretärin des Fachbereichs, hat immer Süßigkeiten auf ihrem Schreibtisch. Diese Woche ist es ein Glas mit HersheySchokoladenküssen. Als Larken sieht, dass Chris ihr den Rücken zuwendet, weil sie mit Kopieren beschäftigt ist, greift sie sich eine Handvoll und steckt sie in ein Seitenfach ihrer Büchertasche. »Hi, Chris!«, ruft sie und folgt damit der Strategie des Ladendiebs, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Endlich Wochenende!« »Hi, Larken!«, erwidert Chris über ihre Schulter hinweg. »Das können Sie laut sagen!« Chris ist seit acht Jahren Fachbereichssekretärin. Sie trägt ein goldenes Kruzifix, klein genug, um geschmackvoll zu sein, groß 43
genug, um aufzufallen. Larken kann Chris gut leiden - sie ist unerhört effizient und zuvorkommend -, trotzdem spricht sie lieber nicht allzu lange mit ihr. Sie fürchtet, dass Chris ihr eines Tages in die Augen schauen und sie mit ernster Miene fragen könnte: Sind Sie erlöst? Larken schnappt sich noch ein paar Süßigkeiten. »Wo soll ich die Benotungen hinlegen?«, fragt sie. Chris kommt aus dem Kopierraum, sie hat einen trabenden, energischen Gang und eine unermüdlich muntere Stimme, als verbrächte sie ihre Freizeit als Tambourmajorin. »Ich nehme sie«, sagt sie entschlossen und streckt die Hand aus - Larkens Herz macht einen ängstlichen Satz. Doch natürlich meint Chris die Benotungen. »Ich musste Misty Kroeger durchfallen lassen«, bemerkt Larken beiläufig. »Nicht unbedingt überraschend, oder?« »Eigentlich nicht, aber trotzdem, ich hasse das.« »Sie sind so gutherzig. Danke, dass Sie sie mir rechtzeitig gebracht haben. Auf den halben Fachbereich warte ich noch.« »Also, ich bin dann weg«, sagt Larken. »Wir sehen uns in zwei Wochen.« Sie ist fast schon zur Tür hinaus, wickelt in Gedanken bereits ein Schokoküsschen aus, als Chris hinter ihr herruft. »Hey! Gehen Sie heute Nachmittag denn nicht hin?« »Wohin?« »Zu dieser Cocktailparty. In der Galerie, wissen Sie? Den neuen Dekan begrüßen, säusel-säusel.« »Mist«, murmelt Larken. »Hab ich ganz vergessen.« Sie schaut auf die Bürotür des noch amtierenden Dekans. »Kommt Richard auch?« »Das nehme ich an.« Verdammt. Dann muss sie hingehen. »Was ist mit Professor Collins und seiner Frau?« Arthur und Eloise sind zwar beinahe vierzig Jahre älter als Larken, aber die 44
Einzigen in dieser akademischen Gemeinde, zu denen sie eine persönliche Beziehung hat. Ihre Anwesenheit bei einer universitären Veranstaltung würde ihr zumindest eine sichere Gesprächszuflucht garantieren. »Na ja, Arthur war noch nicht hier - er hat seine Benotungen schon vor ein paar Tagen abgegeben -, aber ich vermute, sie kommen. Haben Sie die Einladung nicht gekriegt?« »Doch, habe ich, es ist bloß …« Oh Mann! Sie hatte Pläne für heute Nachmittag. Sie wollte nach Hause, sich für den Abend fertig machen, raus hier. Larken schaut auf ihre Uhr. »Wann fängt die Party an?« »Um halb vier. Sie geht bis um halb sechs, aber Sie müssen bestimmt nicht so lange bleiben, wenn Sie nicht mögen. Haben Sie was vor?« Chris spricht in gewollt lässigem Ton, den Larken kennt, er soll ihre inbrünstige unterschwellige Neugier vertuschen. Keiner im Fachbereich außer den Collins’ weiß etwas über Professor Jones’ Privatleben, und selbst ihnen gegenüber ist Larken nicht besonders mitteilsam. Sie ignoriert die Frage und sagt: »Okay, dann sehen wir uns später«, und macht sich auf den Weg zum Ausgang. Kurz bevor sie hinaustritt in die drückende Hitze, verschlingt sie ein Schokoküsschen, es ist sowohl Belohnung für ihr pünktliches Abliefern der Benotungen als auch Trost dafür, dass sie zu dieser dämlichen Universitätsparty muss. Das ist das Wunderbare am Essen: Es passt zu allen Gelegenheiten. Larken hat einen der begehrten Parkplätze nahe dem Gebäude, wo ihr Büro und die Hörsäle liegen. Das ist ein echter Segen. Arthur, der damals Vorsitzender des Fachbereichs war, hat Larken diesen Parkplatz schon vor mehreren Jahren verschafft, als aus der Studentin unter vielen ein eifriges Mitglied des Lehrkörpers wurde - wenn auch noch keine ordentliche Professorin. Unter anderem deshalb fühlt sich Larken auf ewig in Arthurs Schuld. Seit jenem Tag in Kunstverständnis 101 ist er ihr Mentor, ihr Held. Er hat ihre Identität ebenso nachhaltig geprägt wie ihre 45
Familie. Es fällt Larken schwer, sich vorzustellen, wie ihr Leben verlaufen wäre, hätte er sich nicht für sie interessiert. Trotz größter Anstrengungen hat ihr eigener Vater sie jahrelang nicht zur Kenntnis genommen. Das macht nichts. Sie war damals total daneben. Er wahrscheinlich auch. Aber jetzt ist er stolz auf sie. Zumindest in beruflicher Hinsicht. Er wird überglücklich sein, wenn man sie zur Leiterin des Fachbereichs ernennt. Begeistert. Hin und weg. Larken hievt sich in ihren Wagen, einen 1986er kastanienbraunen Chevy Nova. Er ist klein. Er ist zuverlässig. Sobald sie die Tür geschlossen hat, wird sie von Panik übermannt: Die Atmosphäre im Innern des Autos erscheint ihr gefährlich, vergiftet von aufgespeicherter Hitze - wie die Kabine eines Jets mit nicht funktionierendem Luftdruckausgleich. Hektisch kurbelt Larken ein Fenster herunter und versucht, ruhiger zu atmen. Diese verdammte Party. Vielleicht sollte sie schwänzen, den Dekan anrufen, wenn sie nach Hause kommt, und sich krankmelden. Aber nein, Chris hat sie gesehen - die zuckersüße, kruzifixtragende Chris -, und sie ist genau der Typ, der dann herumlaufen und jeden fragen würde:Wissen Sie, wo Dr. Jones ist? Sie war noch mittags im Büro und hat die Benotungen abgegeben und wirkte völlig gesund. Sie hat gesagt, sie würde kommen. Sie glauben doch nicht, dass sie Grippe hat, oder? Oder eine Lebensmittelvergiftung? Der Weg zum Vorsitz des Fachbereichs ist gepflastert mit Veröffentlichungen und Cocktailpartys. Larken weiß, dass sie teilnehmen muss; mehr noch, sie muss sich aufbrezeln, sich einschleimen, einen guten Eindruck machen. Nach Hause zu fahren wäre jetzt für die meisten Menschen der logische Schluss. Larken hat elegante Blusen in ihrem Kleiderschrank. Ihre Kommodenschubladen sind voll mit auffallenden Accessoires, dafür gedacht, dass sie den Blick von unten nach oben, oben, oben lenken. 46
Doch ihr trautes Heim ist keine Option. Dieser Ort, an dem ihr ganzes Herz hängt, lockt Larken beharrlich, wenn sie woanders ist, und hält sie unerbittlich fest, wenn sie sich dort aufhält. Sie ist unfähig, in ihrer Wohnung »vorbeizuschauen«. Vorbeischauen ist etwas für Vögel und Insekten. Es impliziert Leichtigkeit, Beweglichkeit, Ungezwungenheit - lauter Eigenschaften, die sie nicht besitzt. Das Gute ist, dass sie sich, wenn sie heute Abend nach Hause kommt, zwei Wochen lang nicht vom Fleck rühren muss. Wahrscheinlich wird sie es tun, aber sie muss es nicht. Bis zum ersten Tag des Herbstsemesters wird keiner etwas von ihr wollen. Die feuchte Hitze verstärkt die Gerüche im Wagen, intensive Gerüche, die Erinnerungen an vergangene Fastfood-Genüsse heraufbeschwören. Larken sieht fröhliche, rot-weiß gestreifte Pappeimer mit frittiertem Hühnchen vor sich, ein geschmackliches Meisterwerk, das süchtig macht, außen knusprig und würzig, innen glatt und saftig, nah am Knochen feucht und rosig. Sie stellt sich kleine Styroporbehälter vor, drinnen Berge aus geschmeidigem Kartoffelbrei, verziert mit Wirbeln aus Soße. Diese Styroporbecher sind stets so großzügig gefüllt, dass die durchsichtigen Deckel sich über ihrem platt gedrückten Inhalt wölben. Larken wird die Deckel entfernen und ablecken, mit der Zunge in ihre winzigsten Winkel fahren, die Stellen, die das Styropor berührt haben, obwohl die Ränder der Deckel scharf genug sind, um sich damit zu schneiden. Man wird ihr Besteck mitgeben, und selbst dessen eigentümliches benzinartiges Schillern ist verlockend. Larkens Zunge krümmt sich instinktiv in Vorfreude auf essigsaure Weißkohlfäden, zusammengehalten von dickflüssiger Mayonnaise. Auf dem Weg zum Einkaufszentrum gibt es ein Kentucky Fried Chicken. Das wär’s. Problem gelöst. Sie wird sich ein spätes Mittagessen genehmigen und dann auf die Jagd gehen nach einem Schal, einem teuren Schal, bunt und extravagant oder mit besonderer 47
Textur - Velours auf Rayon vielleicht oder Seide mit Knötchen -, der als Kontrast zu ihrem schlichten Hemd die Aufmerksamkeit auf ihr Gesicht lenkt, das sie mit einer neuen Lippenstiftfarbe auffrischen wird. Sie könnte auch nach Ohrringen suchen; sie sollten stilvoll sein, das Licht einfangen und glitzern. Burgunderrotes Glas wäre hübsch - Rubinimitate, in schwarzes Filigran gefasst. Ein 20er-Jahre-Look. Wie bei Gertrude Stein, wenn sie in ihrem Pariser Salon Gäste empfing. Larken würde darauf wetten, dass niemand Gertrude Stein jemals Tonne oder Rollmops genannt hat. Und falls doch, hätten Pablo oder Ernst oder sogar die dicke, lesbische Gertie selbst das Schandmaul vermöbelt. Larken lässt den Motor an, kurbelt das Fenster wieder hoch und stellt die Klimaanlage auf höchste Stufe. Mit dem Hühnchen des Colonels, der Accessoires-Abteilung und dem Kosmetikstand kann sie ihre unmittelbaren Bedürfnisse befriedigen. Sie wird sich kurz bei dieser blöden Party sehen lassen, die Freundlichkeit in Person mimen und wieder verschwinden. Und dann nur noch nach Hause, nach Hause, wo ihr Herz sich hinsehnt, denn Professor Larken Jones hat seit langem am Freitagabend eine feste Verabredung, die sie sich um nichts in der Welt je entgehen lassen würde. Auf der anderen Seite der Stadt, in den Studios von KLANKHAM, wird Gaelan Jones gleich den mittäglichen Wetterbericht präsentieren. In sieben Minuten ist er dran, im Gesicht noch das Make-up, das er heute Morgen um halb vier in Vorbereitung auf die Sechs-Uhr-Vorhersage aufgetragen hat. Gaelan führt ein streng eingeteiltes Leben, ob die Kamera nun an ist oder nicht, eins, das sich um Zahlen dreht: Zeiteinheiten, Gewichte, Wiederholungen, Luftdruck, Niederschlagsmengen, Windgeschwindigkeit. Er studiert ein Fax mit den neuesten Daten des nationalen Wetterdienstes und macht sich Notizen. Seine Gelassenheit ist beeindruckend, wenn man das vor ihm Liegende bedenkt: In sehr kurzer Zeit muss er sich live vor eine Kamera 48
stellen und freundlich und ganz aus dem Stegreif zahlreiche Spalten mit Ziffern in eine knappe, verständliche Zusammenfassung übersetzen, die unter anderem den guten Menschen der Counties Lancaster und Hamilton - Farmern und Nicht-Farmern gleichermaßen - hilft, das bevorstehende Wochenende zu planen. Viele Leute verlassen sich auf Gaelan Jones. Er setzt alles daran, sie nie zu enttäuschen, sich ihr Vertrauen in seine prophetischen Fähigkeiten immer wieder zu verdienen - obwohl er nur ein Wetteransager ist. Dieses Wort, Wetteransager, ist eine Umschreibung, die allmählich ausstirbt. Es gab eine Zeit, in der dieser Titel keine heimliche Konnotation hatte, doch heute weiß jeder in der Fernsehbranche, dass er jemanden bezeichnet, der keine fundierte akademische Ausbildung hat: »Gaelan Jones ist mit seinen sechzehn Jahren Erfahrung der Lieblingswetteransager des Teams unserer Heimatstadt!« Heißt: Gaelan Jones, geboren in Nebraska, Kleinstadtjunge, hat diesen Job bekommen, weil er von Natur aus charmant ist und die Kamera ihn liebt. Es gab einen weiteren Grund dafür, dass Gaelan diese Stelle gekriegt hat, das argwöhnt er jedenfalls, einen Grund, den er sich noch weniger gern eingesteht. Er kam direkt nach dem Journalismusstudium an der Uni von Nebraska zum Sender, für eine schlecht bezahlte Praktikantenstelle als Fernsehreporter so qualifiziert wie jeder andere 22-Jährige mit einem Notendurchschnitt von 1,7, und wurde genommen, aber nicht als Praktikant, nicht einmal als Anfänger. Zu Gaelans Erstaunen begannen die Produzenten gleich damit, ihn als Nachfolger von Joe Dinsdale aufzubauen, Nebraskas beliebtestem Wetteransager seit den 1950ern. Unerhört. Nie dagewesen. Unfair. Gaelan stimmt zu. Er weiß, dass er ein paar Ränge übersprungen hat. Ihm ist klar, dass ihm viele wegen seines raschen Aufstiegs zum Star des Lokalfernsehens gegrollt haben und immer noch grollen. Man kann ihn eigentlich nur so erklären: Irgendjemand hat den Produzenten die Familiengeschichte der Jones’ ge49
steckt, und er wurde hauptsächlich ihretwegen angeheuert, als ob seine persönliche Tragödie, die mit dem Wetter zu tun hatte, ihn irgendwie besonders dafür qualifizierte, es vorherzusagen. Es ist eine sensationelle Geschichte, dafür spricht, dass sie Gaelans Bemühungen zum Trotz nach wie vor kursiert. Er erhält immer noch Post von mitfühlenden Fans und muss regelmäßig Interviews für Fernsehsendungen wie »Amerikas bizarrste Wetterdramen!« und »Wahrheit oder Erfindung: Sie entscheiden!« ablehnen. Gaelans Glück in beruflicher Hinsicht ist einer der vielen Gründe dafür, dass er an einem chronischen, diffusen Unbehagen leidet, das er nicht benennen und noch weniger lindern kann. Er fühlt sich wie ein Mensch, der gestohlene, ungewaschene Socken trägt. Sein Vorgänger war ein vierschrötiger Mann mit freundlichem Gesicht und von einnehmender Schüchternheit, ein Mann, der bereits großväterliche Güte ausstrahlte, als er noch in den Dreißigern war. Diese Attribute erlaubten es Joe Dinsdale, Wetteransager, mit seinen Prognosen regelmäßig schwer danebenzuliegen, ohne den Zorn oder Spott seiner Zuschauer auf sich zu ziehen. Gaelan hat Joes Wetterberichte als Kind selbst gesehen, bis er dreizehn war. In dieser Zeit war Joe mehr als ein höflicher Gast beim Abendessen, er gehörte zur Familie, lange bevor Gaelan ihm Jahre später leibhaftig begegnete. In jenen Tagen erfolgte Joes Wetterbericht um 18 Uhr, vor allen anderen Nachrichten. So wichtig waren die Informationen, die er hatte. Der Tenor war meistens oberlehrerhaft, selten munter und ganz gewiss nie schnodderig. Die Leute erwarteten nicht, dass der Wetterbericht unterhaltsam war. In den ruhmreichen Tagen der unabhängigen Farmen, als Feldfrüchte und Vieh die Hauptressourcen Nebraskas darstellten, war die Wettervorhersage eine ernste Angelegenheit. Der Familienfernseher war das Stammesfeuer und Joe Dinsdale - mit seiner allseits geschätzten Sendung zur vollen Stunde - der Stammesprophet. Möglicherweise 50
hatte die Nachricht von der Ermordung Kennedys Vorrang, doch das ist auch so ungefähr das Einzige, das in Gaelans Vorstellung Joes Wetterbericht den ersten Platz hätte strittig machen können. Joe stand vor einer richtigen Landkarte, trug einen schlichten Sergeanzug und benutzte einen Zeigestock. Er redete über heute. Er redete über morgen. Viel weiter in die Zukunft zu sehen wurde nicht von ihm erwartet. Wenn Gaelan an ihn denkt, sieht er Joe Dinsdale in SchwarzWeiß-Schattierungen vor sich. Er war von 1955 bis 1987, über dreißig Jahre lang, das menschliche Antlitz des Wetters in Nebraska, und Gaelan weiß, dass Joes Abschied vom Fernsehen für viele Bewohner des Staates das Ende einer Ära repräsentierte, vergleichbar mit dem Verlust Walter Cronkites. Es war ein historischer Wendepunkt, und Gaelan vermutet, dass die Menschen immer noch in Erinnerungen an Joe schwelgen und bedauernd sagen: Also, als Joe Dinsdale das Wetter machte … Wäre Joe heute noch in derselben Branche, hätte er vielleicht nicht mehr so viel Erfolg. Er war berüchtigt für seine lakonische Sprechweise. Die Kamera liebte ihn nicht. Doch er war ein Schatz. Sein Rat an Gaelan klang so: »Sie werden sagen, du seist blöd, wenn du dich geirrt hast, und sie werden sagen, du hattest Glück, wenn du richtig lagst. Als Wetteransager wirst du nie Respekt ernten, aber wenn du darüber lachen kannst - denn denk mal nach, Junge, wie viele Leute auf der Welt werden schon dafür bezahlt, das Unvorhersagbare vorherzusagen? -, hast du jede Menge Spaß.« Hatte Joe den Tornado vorausgesagt, der Hope davontrug? Gaelan weiß es nicht. Man hat es ihm nie erzählt, er hat sich mit Sicherheit nie danach erkundigt, und es hätte ohnehin keinen Unterschied gemacht, denn was Tornados angeht, trifft auf sie die Redewendung que sera, sera ganz besonders zu. Gaelan fragt sich oft, wie Joe über den Tornado in Gage County vom August 1978 berichtet hat. Die Sendungen darüber hat er natürlich nie gesehen, da der Fernseher der Jones’ zu den Opfern 51
dieses Ereignisses gehörte. Gaelan wollte ihn immer danach fragen, bei einer Tasse Kaffee vielleicht, irgendwann nach seiner Anfangszeit, wenn sie beide sich ganz entspannt über anderes als die Arbeit würden unterhalten können, aber Joe starb eine Woche nach seinem Abschied vom Bildschirm an einem Schlaganfall, als wäre seine Existenz als Lebender mit dem Ende der elektronischen Übertragung überflüssig geworden. Der zweite kommerzielle Sender der Stadt (der mit den höheren Einschaltquoten und der breiteren Zielgruppe) hat Brock Garrison vorzuweisen, einenMeteorologen: »Das Aktuellste vom Wetter, präsentiert von Brock Garrison, Meteorologe! Brock stellt sich den Bewohnern von Ost-Nebraska mit zwölf Jahren Erfahrung und den modernsten Mitteln der Vorhersagetechnik! Verlassen Sie sich beim Neuesten vom Wetter ganz auf unseren Meteorologen Brock Garrison und die anderen Nachrichtenprofis von KOLN-KGIN!« Gaelan und Brock Garrison sind beide Mitglieder im Verband der Rundfunk- und Fernsehschaffenden Amerikas. Sie gehen zu denselben Veranstaltungen ihrer Branche. Sie werden von Grundschulen im ganzen Staat oft als Gastredner eingeladen. Sie sind ungefähr gleich alt. Und doch wird sich Gaelan nie so qualifiziert fühlen wie Brock Garrison, Meteorologe, denn Brock Garrison hat sich seinen Job durch eine richtige Ausbildung verdient statt durch gutes Aussehen und den Mitleidsfaktor; er hat einen akademischen Grad in Geowissenschaft, den er (sicher mit Auszeichnung und einer glatten Eins) von der Großmutter aller Hochschulen erhielt, die auf die Berichterstattung über schwere Stürme spezialisiert sind und ihr symbolisches Epizentrum bilden: der Universität von Oklahoma. Brock Garrison ist darin ausgebildet, Computermodelle zu interpretieren. Ihm steht eine ganz andere Welt numerischer Daten und Statistiken zur Verfügung. Gaelan stellt sich vor, wie er Zahlen aus der Luft herbeizaubert - wie es ein Magier mit Spielkarten, Münzen, Blumensträußen, Kaninchen tut -, ihnen seine 52
volle Aufmerksamkeit schenkt und sie dann mit königlicher Geringschätzung beiseitefegt, verschwinden lässt und ihre Geheimnisse für sich behält. Gaelans Vorhersagen sind nie vollkommen falsch. Sie sind auch nie vollkommen richtig. Sie sind unspezifisch. Die Daten des NWS, des Nationalen Wetterdienstes, mit denen er arbeitet die einzigen, die zu Joe Dinsdales Zeiten verfügbar waren, die auch Gaelan zu deuten gelernt hat, die früher gut genug waren -, beziehen sich auf durchschnittliche Gegebenheiten. Der NWS misst landschaftliche Beschaffenheiten in Abständen von zwölf Meilen - viel zu weit voneinander entfernt, um die Auswirkungen feiner topografischer Unterschiede zu berechnen. KLAN-KHAM hat kürzlich den Besitzer gewechselt. Von oben ist durchgesickert, dass die neuen Eigentümer erwägen, im Nachrichtensegment Änderungen vorzunehmen. Sie wünschen sich eine prägnantere, weniger volkstümliche Präsentation, einen anderen Look des Formats. Sie wollen ein größeres Publikum ansprechen. Gaelan vermutet, dass diese vagen politischen Phrasen schon bald zu Unter-vier-Augen-Gesprächen mit den Produzenten führen werden. Vielleicht bittet man ihn, seine Garderobe zu wechseln. In dieser Hinsicht hat Gaelan einige Ideen. So würde er zum Beispiel statt Jacketts gern kurzärmelige Hemden tragen; Gaelan Jones ist zu Recht stolz auf seinen Bizeps. In zwei Minuten ist er dran. Ihm ist unwohl. Irgendetwas stimmt nicht mit den Daten, aber dieses Gefühl stützt sich nicht im Mindesten auf die Zahlen des NWS. An ihnen ist nichts, was auf etwas Ungewöhnliches hindeutet, ganz bestimmt nicht auf ein schweres Unwetter. Und das ist es, was die Zuschauer hauptsächlich wissen möchten, vor allem um diese Jahreszeit: Also, Gaelan, ist eventuell ein Tornado im Anzug? Gaelan steht hinter seinem Schreibtisch auf. Das Blinklicht an der Kamera leuchtet. Direkt unter dem Objektiv spult der Teleprompter den Text ab, der in einem anderen Teil des Gebäudes
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gerade von einem der Nachrichtensprecher vorgetragen wird, eine Story über den gesundheitlichen Nutzen von Leinsamenöl. Gaelan ringt sich ein Lächeln ab. Gleich wird er frei haben, das ganze Wochenende. Er wird ins Fitness-Studio fahren und trainieren, dann Claudia anrufen und sie fragen, ob sie bei der Arbeit früh Schluss machen kann, mit ihm zu Abend essen, ins Kino gehen, ein bisschen schmusen möchte. Sie hat Arnolds neuen Film noch nicht gesehen. Vielleicht übernachtet sie bei ihm. Das wäre nett. Die Worte »Rüber zu Gaelan« erscheinen auf dem Teleprompter, und Gaelan hört die improvisierte Ansage: »Wie sieht’s aus, Gaelan? Können wir noch ein paar Steaks grillen, bevor der Sommer zu Ende ist?« »Auf jeden Fall, Greg! Samstag und Sonntag sehen ziemlich gut aus. Hier und da ist mit ein bisschen Regen zu rechnen, besonders heute Nachmittag im Südosten des Staates, aber ich glaube, Sie können mindestens noch für ein Wochenende Ihre ›Küsstden-Koch‹-Schürze umbinden.« Gelächter bei den Nachrichtensprechern. Gaelan hat auch seine Fähigkeiten: Er kann Menschen zum Lachen bringen, und er ist telegen, und in einem Beruf, in dem das Äußere viel zählt, bedeutet das eine Menge. Im Liegen drückt er 225 Pfund und aus der Hocke 250, unter seinem Hemd wölben sich die Muskeln. Er liebt die Gesellschaft von Frauen und weiß, dass er ein talentierter Liebhaber ist mit der angeborenen Gabe, jederzeit Orgasmen zu bescheren. Und er kann mit Zuversicht behaupten, es sei unwahrscheinlich, dass ein schweres Gewitter heute in Südost-Nebraska Leben ruiniert. »Also, ich sehe Folgendes, Greg …« Gaelan Jones, Nutznießer guten Aussehens und der Launen des Schicksals, fährt fort, sein Bestes zu geben und so zu tun, als hätte er Spaß am Vorhersagen des Unvorhersagbaren. Dies ist seine letzte Sendung der Woche. In einer knappen Stunde übernimmt der Wochenendsprecher von KLAN-KHAM, 54
und dann ist das Einzige, was Gaelan Jones, Wetteransager, für die nächsten zweieinhalb Tage zu prognostizieren hat, wie oft er Sex haben wird.
3 Die Jung frau deutet die Zeichen Bonnie Jones identifiziert sich nicht über ihre Berufstätigkeit, wie Gaelan und Larken es tun - und alle Menschen, die sie in ihrem Leben kennen gelernt hat: Farmer, Arzt, Krankenschwester, Briefträger, Pastor, Lehrerin, Mutter, Bürgermeister. Ebenso wenig setzt sie materiellen Wohlstand mit Erfolg gleich. Bonnie räumt offen ein, dass sie in beruflicher Hinsicht einige schlechte Entscheidungen getroffen hat, dumme Entscheidungen. Sie ist ab und zu auf dubiose Anzeigen und nächtliche Werbesendungen hereingefallen, die Schlaflose und Menschen mit Selbstzweifeln in Versuchung führen sollen. Stimmt, sie hat Fernstudien in medizinischer Transkription, Handschriftenanalyse und Massagetherapie gemacht - Investitionen in ihre Ausbildung, die persönlich bereichernd, aber finanziell nicht einträglich waren. In jedem Fall hat ihr Lohn gerade ausgereicht, um die Schulden zu tilgen, die sie machen musste, um sich für diese Kurse einzuschreiben. Doch abgesehen davon hat Bonnie nie Geldprobleme gehabt, überdies ist sie sparsam. Ihre Geschwister würden staunen darüber, welche Summen sie, die Jüngste, im Lauf der Jahre mit ihren diversen schlecht bezahlten, in einer Sackgasse endenden Jobs angehäuft hat. Sie war Caddie im Country Club, Sekretärin der Farmergenossenschaft, Verkäuferin in Olson’s Drugstore, Beiköchin im Little Cheerful Café, Vertreterin für Electrolux, die Encyclopedia Britannica und Avon. Sie hat für Greenpeace geworben, Perlen auf55
gefädelt und Briefumschläge bestückt: Vollzeit-Mamis! Hausfrauen! Verdient $$$ mit Heimarbeit! Ehe ihr Pickup zusammenbrach, hat sie Sperrmüll zur öffentlichen Müllkippe gefahren, Rasen gemäht, Laub geharkt. Danach ist sie sogar vor Tagesanbruch aufgestanden (und Gaelan und Larken halten sie für faul!), um Zeitungen auszutragen, hat die wenigen Seiten, aus denen die Goldenrod Gazette besteht, sorgfältig aufgerollt und mit Gummibändern versehen, sie in den Satteltaschen ihres Fahrrads verstaut und auf die altmodische Art ausgeliefert. Sie bemühte sich sehr, ein vorbildliches Zeitungsmädchen zu werden, aber auch nach einem Jahr unermüdlichen Übens hatte sich ihre Fähigkeit, präzise zu zielen und zu werfen, noch nicht verbessert, und meistens endete es damit, dass sie die Nachrichten, die ihr Heimatort gedruckt sehen wollte, unabsichtlich unlesbar gemacht hatte, weil sie in Schlammpfützen, Vogeltränken, Schneewehen, Wespennestern, von Mücken wimmelnden Regenrinnen, Brombeersträuchern oder frischer Hundekacke landeten. In ihrem neuesten Job ist Bonnie Eigentümerin und Betreiberin eines Saft- und Smoothie-Standes namens »BJs Mixgetränke«. Dieser unternehmerische Coup, vorgeschlagen und vorfinanziert von Alvina Closs, ist seit dem Memorial Day in Betrieb. Die Öffnungszeiten variieren. Bonnie hat vier Stammkunden und einen täglichen Durchschnittsprofit von achtzehn Dollar und fünfundsiebzig Cent. Doch keine dieser Tätigkeiten macht ihr Leben aus. Keine davon entspricht ihrem wahren Wesen. Gefragt, welches ihre eigentliche Berufung sei, die sie zielstrebig und mit Leidenschaft verfolgt, würde Bonnie zögern. Es ist nicht einfach, ihrer Beschäftigung einen Namen zu geben. Es ist so etwas wie Archäologie, ein Gebiet, für das sie rein formal unausgebildet, vom Wesen her jedoch geeignet ist. Allgemein gesagt, befasst sie sich damit, Artefakte zu suchen oder auszugraben, zu sammeln und instand zu setzen - scheinbar zusammenhanglose Objekte, die der Unwissende für Abfälle vom 56
Straßenrand halten mag. Sie studiert sie, ordnet sie historisch ein, konserviert und archiviert sie. Wenn sie sich überhaupt etwas anderes als eine Versagerin nennen würde (in diesem Punkt stimmen sie und ihre Geschwister völlig überein, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen), würde sich Bonnie Jones, jüngstes überlebendes Kind von Llwellyn und Hope Jones, geboren 1971, als forensische Dichterin bezeichnen. Nach einem Sturm macht sie sich möglichst rasch auf die Suche. Sie sucht jeden Tag, mindestens zweimal, auch bei ruhigem Wetter, aber die besten Tage sind die, an denen der Wind ihr schon einen Teil des Freilegens, Säuberns, Sortierens abgenommen hat. Dann findet sie die vielversprechendsten Artefakte: Stofffetzen, verrostete Deckel, Pillenfläschchen - auf denen der Name des Patienten zwar verblasst, aber doch noch beinahe lesbar ist. Sie sind wertvoll. Alles Handschriftliche fasziniert sie auch Getipptes. Ebenso Metallschnipsel, denn wer weiß schon, woher sie stammen? Von landwirtschaftlichen Geräten, ist die logischste Antwort, aber Bonnie glaubt inbrünstig daran, dass jedes von ihr entdeckte Stück Metall Teil einer SingerNähmaschine, einer IBM Selectric oder eines Rollstuhls von Everest and Jennings, Baujahr 1977, ist. Und natürlich hält sie stets Ausschau nach allem, was vielleicht einmal zu einem Steinway-Stutzflügel gehört hat. Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Relikte phasenweise einem mysteriösen Ordnungsprinzip zu folgen scheinen. Die Kriterien sind variabel: Listen zum Beispiel oder etwas ausschließlich auf Kinder Bezogenes: Schnuller, einzelne Babyschuhe, verwaiste Plastikspielzeuge, die von ihren Überraschungseiern getrennt wurden. Auch Größe, Gewicht, Material können Kategorien sein - oder Form. Seit Wochen schon führt Bonnies Suche sie derzeit überwiegend zu runden Objekten: Münzen, Schraubverschlüsse, Haargummis, Kondome, CDs, Beißringe. An Landstraßen findet sich nicht viel Müll, denn die Bewohner des ländlichen Nebraska sind größtenteils ordentliche Menschen. 57
Deshalb fällt alles Neue am Straßenrand schnell ins Auge. Gelegentlich, selten, entdeckt Bonnie Überreste von Trinkgelagen junger Leute, von Teenagern mit frisch erworbenem Führerschein, die sich jenseits der Grenze in Kansas Bier besorgt haben: weggeworfene Aluminiumdosen, leere Chipstüten. Sie interessieren Bonnie wenig. Sie sammelt nur solche Relikte, die etwas mit der Geschichte zu tun haben könnten, an der sie seit fünfundzwanzig Jahren fortgesetzt arbeitet. Es ist eine lebendige Geschichte, die sie zusammensetzt, und wenn sie darin einen passenden Platz für ein Stück Abfall findet, behält sie es. Bierdosen gehören nicht dazu, wohl aber Einkaufszettel. Alles von Bedeutung wird katalogisiert und kategorisiert und beschriftet. Knochen sind das, was ihr am liebsten wäre. Rippen, Gliedmaßen, Zähne. Sie malt sich die Schlagzeilen aus: Jahrzehnte altes Rätsel gelöst: Forensikexperten identifizieren mittels DNS-Test die von Bonnie Jones aus Emlyn Springs, Nebraska, entdeckten menschlichen Überreste als die ihrer Mutter Aneira Hope Jones, vermisst seit 1978. Aber Knochen findet sie nie - oder etwas anderes mit eindeutiger Herkunft. Einer, die sie sich nicht ausdenken muss, sondern die real ist. Wenn sie nur etwas fände - irgendetwas -, das sich unverkennbar, unmissverständlich mit Hope in Verbindung bringen ließe! Erst dann wird sie wissen, dass die Zeit reif ist, dass die Voraussetzungen geschaffen und die Engel auf ihrer Seite sind. Am Morgen des Tages, an dem ein Stromschlag ihren Vater trifft, tritt Bonnie aus ihrem Domizil, einer großen, umgebauten Remise hinter der Villa der Williams’, um nach den Mädels zu schauen. Ein Blick über die große Rasenfläche (das Gras muss gemäht werden, sie wird sich heute Abend darum kümmern, ehe die Schwestern zu Bett gehen) verrät ihr, dass die Zeitung schon hereingeholt wurde. Sicher hat Matthew, Jim und Joanie Llyrs Sohn 58
und Emlyn Springs’ jetziger Zeitungsjunge, sie mit unfehlbarer Pünktlichkeit geliefert. Die Verandalampe ist aus, der Wohnzimmervorhang offen. Auf dem Klavier wird die walisische Nationalhymne gespielt, und zwei kräftige, harmonisierende Stimmen, Sopran und Alt, singen sie. All dies deutet darauf hin, dass die beiden Miss Williams, Hazel und Wauneeta (88 beziehungsweise 85 Jahre alt) noch nicht tot sind. Bonnie wendet ihre Aufmerksamkeit dem Wetter zu. Ihre Empfindsamkeit für die wechselnden Luftströmungen ist sehr ausgeprägt, ja geradezu schmerzhaft; es gibt keinen Augenblick, in dem sie ihre Wahrnehmung des Windes nicht mit ihrer Mutter in Zusammenhang bringt. Der Tag hält die Luft an, denkt sie. Es ist, als wäre der ganze Ort in einer riesigen, fiebrigen Lunge gefangen, die das Atmen vergessen hat. Ausatmen!, möchte Bonnie schreien, murmelt es jedoch nur, da sie die Mädels nicht aufschrecken will. Atme, flüstert sie, sich selbst ebenso wie den Wind an die Mechanik erinnernd: Pumpen, blasen, ziehen, pusten, rein, raus, atmen! Der Wind - das bisschen, was von ihm da ist - wirkt besiegt, kümmerlich, zu geschwächt von dem erbarmungslosen Sommer, um sich zu wehren. Bonnie welkt nicht in dieser stickigen, drückenden Hitze wie Larken, aber sie findet sie deprimierend. Ein schöner, starker Wind ist ihr lieber, auch wenn er Luft, die muffig und schwül ist, nur herumwirbelt wie ein Ventilator in einer Dampfsauna. Bewegung jeglicher Art ist besser als Stillstand. Die Sonne strahlt zum Verzweifeln hell. Der Himmel ist klar, aber bräunlich, verschleiert von Staub, den zu zerstreuen der Wind sich nicht aufraffen kann. Bonnie stellt sich vor, wie sie mit einem riesigen, weiß behandschuhten Finger Putz mich, du Schwein auf den Himmel schreibt, wie es Jugendliche tun, die gelangweilten, unzufriedenen Kids von Emlyn Springs, verbitterte kleine Kleinstadtvandalen, die nicht an Spraydosen herankommen - und eh nicht wagen würden, sie zu benutzen - und sich 59
deshalb so auf verdreckten Pickups und Lieferwagen austoben. Jugendliche, deren Fantasie bereits verkümmert ist, die ihrer Rebellion nicht einmal bleibenden Ausdruck verleihen können: Putz mich. Wasch mich. Scheiße. Fotze. Arschloch. Möse. Schwanz. Kein Anzeichen für Regen. Bonnie geht wieder hinein. Als Dr. Williams vor vier Jahren starb, war Bonnie neunundzwanzig und wohnte noch immer im Haus ihres Vaters. Ihr Vater war selten da - im Grunde lebt er ja mit Viney zusammen -, doch trotzdem spürte Bonnie seine Missbilligung auf vielfältige Weise. Sie wusste, dass er wütend auf sie war und enttäuscht von ihr, weil sie nicht aufs College gegangen war wie ihre Geschwister, weil sie Jobs hatte, die er für Sklavendienste hielt, weil sie hierblieb, statt wegzuziehen, weil sie schätzte, was sie nun einmal schätzte. Wegen allem eigentlich. Sie fühlte sich nicht mehr wohl dabei, ihrem Dad verpflichtet zu sein, und wünschte sich eine eigene Wohnung. Da Bonnie wusste, dass Hazel und Wauneeta sich einsam und nutzlos vorkommen würden - sie hatten den größten Teil ihres Lebens für ihren Vater gesorgt -, schlug sie ihnen vor, die Remise auszubauen, und die beiden willigten ein. In diesem geräumigen und solide gebauten Schuppen hatte Hazels und Wauneetas Vater seine Jahre als Pensionär verbracht. Bei der Ankunft von Bonnies Eltern im Jahr 1960 war er der einzige Arzt in der Stadt gewesen. Dr. Williams unterstützte den Neuankömmling großzügig, indem er ihm seine Praxis und deren Einrichtung zu einem Preis verkaufte, der den jungen Mann nicht jahrzehntelang mit Schulden belastete. Auch in anderer Hinsicht sorgte er für eine reibungslose Übergabe des Äskulapstabs (wie er gern sagte). Es ist eine traurige Tatsache, dass die Patienten von Kleinstadtärzten, die in den Ruhestand gehen, sich manchmal wie die Kinder geschiedener Eltern benehmen - sie bestrafen den Elternteil, der sie verlassen hat, damit, dass sie dem verbliebenen das Leben zur Hölle machen -, und Dr. Williams wusste, die Tatsache, dass Llwellyn Jones hier geboren war, würde ihm nur ei60
nen geringen Vorteil verschaffen. Also blieb er noch so lange als Angestellter, bis er jedem seiner Patienten den neuen Arzt persönlich vorgestellt, die Zweifelnden beruhigt, die Bärbeißigen gescholten, die Ängstlichen beschwichtigt hatte. Und noch lange nach seinem offiziellen Rückzug aus der Praxis stand Dr. Williams für Konsultationen zur Verfügung. In erster Linie verbrachte er die restlichen Jahre seines Lebens jedoch als Bastler und Tüftler, entwarf und fertigte Hunderte farbenfroher hölzerner Windkreisel: Figuren, die walisische Corgies darstellten, Matronen mit hohen Hauben, Babys mit nacktem Po, einheimische Vögel, Jäger, Angler. Die meisten dieser Kunstwerke verschenkte er an Freunde, ein paar verkaufte er an den EierFeiertagen. Außerdem tat sich Doc Williams als Möbeltischler hervor und erdachte und baute jedes Jahr in Anlehnung an eine uralte walisische Tradition - einen Künstlerwettbewerb namens Eisteddfod den Spezialpreis, den die Gewinnerin des Titels Little Miss Emlyn Springs erhielt: einen kunstvoll geschnitzten und bemalten Stuhl, der seine einzigartige Meisterschaft bezeugte. Bonnie ist sicher, dass das rot lackierte Stück Furnierholz, das sie eines Tages fand, vom Flügel des Windkreisel-Kardinals stammt, den Dr. Williams ihr schenkte, als sie fünf war. Sie erinnert sich, wie sie Tag und Nacht ausgestreckt auf ihrem Bett lag und den Vogel betrachtete. Er stand vor ihrem Fenster auf einem wackligen Gestell, entworfen und gebastelt von ihrem Vater eins der zwei Handwerksprojekte, die er je in Angriff nahm. Beschwingt und optimistisch zu jeder Jahreszeit, ließ ihr Kardinal seine Flügel rotieren wie zwei Riesenräder. Wenn Bonnie an ihn denkt - ihren lieben, unverzagten Pechvogel -, stellt sie sich vor, dass er immer noch und bis in alle Ewigkeit ungestüm und unermüdlich gegen den Wind anpaddelt. Auf dem First des Remisendachs sind lauter Windkreisel von Dr. Williams aufgereiht. Meistens erzeugen sie ein stetiges Klappern, das Bonnie hilft einzuschlafen. Heute Morgen sind sie still. 61
Bonnie schneidet eine Avocado in Achtel, sie löst ein Stück heraus, schält es und lässt es in den Glaskrug ihres Mixers fallen. Dann fügt sie Bröckchen gefrorener Mango hinzu, zwölf Mandeln, drei entsteinte Datteln, eine halbe Tasse Sojamilch, einen Teelöffel Leinöl und eine Prise Zimt, drückt auf den Einschaltknopf und wartet. Bonnie ist auf der Suche nach dem perfekten Mixer, einem, dessen Motor leistungsstark genug ist, um ohne manuelle Intervention Smoothies zu machen. Der hier - ein Hamilton Beach - ist gut, aber aus irgendeinem Grund hören wie bei jedem Modell, das Bonnie ausprobiert hat, die Zutaten nach wenigen Sekunden auf zu zirkulieren. Der Motor dreht weiter, doch die gefrorenen Obststücke bleiben hängen und bewegen sich nicht mehr dorthin, wo die Klingen sind. Es ist lästig. Bonnie muss mit der einen Hand kräftig auf den Deckel drücken, mit der anderen den Sockel festhalten und den Mixer dann energisch hin und her rütteln donk, donk donk! Das lockert die Zutaten wieder und befördert sie zurück auf den Boden des Glases. Sie schüttelt den Mixer. Erfolg. Sie wartet. Stillstand. Sie schüttelt ihn erneut, und so weiter. Den Hamilton Beach muss sie vieroder fünfmal schütteln nicht schlecht, aber auch nicht gut -, bis aus der Mischung der unaufhörlich wirbelnde Strudel mit dem implodierenden Schlund im Zentrum wird, der aussieht wie ein nach innen gestülpter Bauchnabel. Darauf wartet Bonnie: auf den Moment, in dem der Smoothie gründlich durchpüriert ist. Während sie dieses Wunder der Küchenphysik betrachtet - fein zerkleinerte Partikel von Lebensmitteln, die an den Seiten der Glaskaraffe hochgeschleudert werden und sich dann durch das Loch in der Mitte hinunterstürzen, auf und ab, auf und ab -, atmet sie ein paarmal ganz tief ein. Der Mixer ist Bonnies einziges Küchengerät. Sie benutzt ihn jeden Tag. Es war nicht so schwierig, die Remise bewohnbar zu machen. Stromleitungen waren bereits vorhanden - Dr. Williams hatte mit 62
elektrischen Geräten gearbeitet -, und für die Wasseranschlüsse handelte Bonnie mit Pete Earnhart, dem ortsansässigen Klempner, einen Deal aus: Sie betreute einen Sommer lang seinen Garten, und er verlegte Rohre und installierte Toilette, Dusche und Spüle. Alles andere - Isolieren mit Gipskarton, Streichen - machte Bonnie selbst. Im Lauf der Jahre hat sie per Tauschgeschäft weitere Verbesserungen erreicht: Fenster, neues Dach, Holzofen, Fußboden. Es ist ein gutes Haus, nicht nur wegen seiner Solidität, sondern auch, weil es für etwas steht; es spiegelt genau die Werte wider, die Bonnie lieb und teuer sind. Während sie ihr Frühstück trinkt, sinnt Bonnie über ihre erste Aufgabe des Tages nach. Eine Aufgabe, die sie gründlich geplant hat: das Einpflanzen von drei gekeimten Avocadokernen. Sie beobachtet die Kerne seit Wochen, nachdem sie sie vorsichtig, behutsam mit kleinen Spießen, die gelbe Plastikmaiskolben als Griffe haben, angebohrt und jeweils über ein Glas mit Wasser gehängt hatte. So stehen sie seit einiger Zeit auf dem nach Osten gerichteten Fensterbrett, und Bonnie überprüft sie täglich. Dutzende weiterer Avocadokerne in verschiedenen Stadien der Keimung säumen auch die anderen Fenster. In Bonnies Augen ist dieses Keimen ein Wunder, wenn auch nur von kurzer Dauer. Wenn nur eine einzige ihrer Avocados die Einbettung in Erde länger überleben würde! Aber alle ohne Ausnahme - egal, wie gut entwickelt ihre Wurzeln, wie kräftig ihre Stämme, wie prachtvoll ihre Blätter sind - erschlaffen, welken und gehen irgendwann nach dem Verpflanzen ein. Ist es in der Remise im Winter zu kalt und dunkel? Gibt sie ihnen nicht genug Nährstoffe und Zuwendung? Sie überwacht regelmäßig den pH-Wert der Erde, sie programmiert den CD-Player darauf, sie mit Musik zu überfluten, wenn sie nicht da ist, einem speziellen Potpourri, von ihr selbst zusammengestellt aus Aufnahmen walisischer Männerchöre, von Musical-Soundtracks, Rachmaninoff-Klavierkonzerten und den größten Hits von Doris Day. 63
Sie hat noch nicht aufgegeben, aber demnächst verzweifelt sie vielleicht doch. Bonnie beginnt. Sie hebt den ersten Avocadokern aus dem Glas, zieht vorsichtig die Spießchen heraus und bettet ihn in einen der drei Terrakottatöpfe, die sie gestern Abend vorbereitet hat; jeder enthält eine neue Mischung aus nährstoffreicher Erde nach einem Rezept, das sie selbst ersonnen hat. Dabei singt sie leise vor sich hin: Es war einmal ein Samenkorn, mitten in der Erde, das hübscheste Samenkorn auf der ganzen Welt, oh … Vor langer Zeit tauschte Bonnies Vater seine Dienste gegen Naturalien. Sie erinnert sich lebhaft an einen Spätsommermorgen, als sie etwa zwei Jahre alt war und schon ganz gut laufen konnte: Sie stößt in der Küche die magische Wand auf (durch die Mommy und Daddy und Lark und Gaelan hindurchgehen und dann verschwinden), und diesmal fällt sie nicht hin; keiner hält sie auf, als die Wand mit einem Knarren und einem Knall auffliegt und sie im Freien steht, auf der hinteren Veranda, wo es sonnig ist, wo die Luft anders riecht. Sie spürt die trockenen, warmen Holzplanken unter ihren nackten Füßen, während sie weiterzottelt, auf die Schaukel und den Sandkasten zu, die Wäscheleine mit den Hemden und Laken, wie Fahnen im Wind, wo sie Versteck spielen, auf die Wiese dahinter zu, wo sie noch nie gewesen ist. Sie will weitergehen, doch da auf den Stufen versperrt ihr etwas Unbekanntes den Weg: ein Geschenk! Er hat noch nie dort gestanden, der große Korb, gefüllt mit dicken, leuchtend roten Tomaten, gelben Maiskolben, Gurken, lila Bohnen, grünen Bohnen, gefleckten Bohnen, Dillsträußen. Danach hoffte sie jeden Morgen, Hinweise auf Besucher zu finden. Nicht immer hielt die Veranda eine Überraschung bereit, doch das bedeutete nicht, dass die Elfen sie vergessen hatten. Man kann nie wissen, sagte Hope jeden Abend, wenn sie Bonnie warm zudeckte und Bonnie gefragt hatte: Ist morgen auch was da? Kommen die Elfen wieder?
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Andere Jahreszeiten brachten andere Gaben: Apfelkuchen, Zucchini und Kürbisse im Herbst, Wildbret, Fasane und Wachteln im November, Einmachgläser voller Obst oder Tomatensoße im Winter, Narzissensträuße, jungen Salat, frische Zwiebeln und Honigwaben im Frühling und einmal etwas mit unebener dunkelgrüner ledriger Haut, in Papiertücher eingewickelt - geformt wie ein Ei, dachte Bonnie.Und bis ihre Mutter diesem Etwas einen Namen gab (A-kuh-VAH-do, ein Wort wie eine Zauberformel) und erklärte, es sei eine seltene Frucht von weit her, von einem Ort, der Kalli-FOR-njen hieß, hielt Bonnie es auch für ein Ei, aus dem ein herrlicher Drache entstehen würde, stark und freundlich. Er würde sie auf sich reiten lassen und sie immer beschützen. Ihre Familie war eindeutig gesegnet. Gute Geister - Farmerelfen nannte Bonnie sie -, die einen Lieferservice betrieben, zu dem sie, einzig in der Absicht, ihnen etwas zu essen zu bringen, auf dem Rücken mildtätiger Drachen aus Kallifornjen anreisten, hatten sie adoptiert. Womit hatten sie solche Großzügigkeit verdient?, staunte Bonnie. Als sie älter wurde, befragte sie ihre Freundinnen. Aber niemand sonst wachte morgens auf und fand auf der Veranda Lebensmittel vor. Es ist ein Wunder, Schätzchen, sagte Hope. Manchmal passieren Dinge, die man nicht erklären kann. Lass uns einfach dankbar sein. Bonnie sandte jeden Abend Dankesgebete an Gott und die Farmerelfen. Sie glaubte immer noch an sie, selbst nachdem Hope in die Luft geflogen war. Vielleicht wissen sie nicht, dass wir umgezogen sind, sagte Bonnie zu ihrer Schwester. Sie wohnten jetzt in dem Haus in der Stadt, und anderthalb Jahre waren ohne Geschenke verstrichen. Bonnie war fast neun. Vielleicht sollte ich ihnen einen Brief mit unserer neuen Adresse schreiben und ihn da hinlegen, wo früher unsere Veranda war. Sie hatte erfahren, dass Weihnachtsmann, Zahnfee und Os-
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terhase Erfindungen waren, aber niemand hatte ihr bisher ihren Glauben an die Farmerelfen nehmen können. Larken erklärte ihr schließlich, dass es nie Elfen gegeben hatte. Es waren Menschen gewesen - Nachbarn, Leute, die sie kannten , die ihre Arztrechnungen mit Essen statt mit Geld bezahlt hatten. Warum haben sie das getan? Weil sie arm waren, aber sie wollten Daddy trotzdem was geben, um ihm dafür zu danken, dass er sie gesund gemacht hat. Daddy wusste Bescheid? Natürlich wusste Daddy Bescheid. Aber woher wusste er, von wem die Sachen kamen? Es war ja nie ein Zettel dran. Irgendwie hat er es wohl in Erfahrung gebracht, sagte Larken. Sie hielt ihren gelben Bleistift, als wäre er ein Maiskolben, drehte ihn und knabberte daran. Mom hat es nicht gewusst, sagte Bonnie bestimmt. Sonst hätte sie es mir erzählt. Larken machte ihre Mathe-Hausaufgaben. Klar, sagte sie, radierte eine Gleichung aus und kritzelte eine andere hin. Natürlich. Aber wieso kommen sie nicht mehr? Bonnie war gar nicht so sehr bestürzt darüber zu erfahren, dass die Farmerelfen einfach bloß Farmer gewesen waren, etwas anderes quälte sie, etwas, das sie nicht artikulieren konnte. Larken runzelte die Stirn. Wahrscheinlich tun wir ihnen leid. Sie glauben wohl, dass wir eher Geld brauchen als Essen. Warum sollten sie das denken?, hakte Bonnie nach. Jeder braucht Essen. Ich weiß nicht, Bonnie, antwortete Larken verärgert. Können sie denn jetzt mit Geld bezahlen? Sind sie nicht mehr arm? Ich weiß nicht!, wiederholte Larken, und Bonnie fragte sich, warum ihre Schwester so böse war. Lass mich in Ruhe. Ich versuche, meine Hausaufgaben zu machen.
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Bonnie verbindet den Beginn des Niedergangs ihres Heimatortes mit zwei Ereignissen: der Himmelfahrt ihrer Mutter und dem Verschwinden der Elfen. Umgekehrt hängt für sie die Auferstehung von Emlyn Springs von der Entdeckung der Überreste ihrer Mutter und der Rückkehr zum Tauschhandel ab. An ihrem Saftstand akzeptiert Bonnie Geld - ihre Kunden ziehen diese Zahlungsweise vor -, und sie begleicht damit ihre Rechnungen, wenn es sein muss. Tatsache ist jedoch, dass Bonnie nicht gern Bargeld bei sich trägt. Die Taschen voller Scheine und Münzen zu haben gibt ihr das Gefühl, versenkt zu sein, wie ein Fisch, der einen Bleiköder verschluckt hat und den Rest seiner Tage so tun muss, als säße er gern am Boden des Flusses fest. Kein Dahintreiben oder Plantschen mehr. Nicht mehr von der Strömung getragen werden oder gegen sie ankämpfen. Die Erlöse aus dem Saftstand decken ihre unmittelbaren Bedürfnisse ab. Das kleine Gehalt, das sie an der Emlyn-SpringsGrundschule dafür bekommt, dass sie den Kindern beim Lesenlernen hilft, fließt sofort in die Bücherei und in Malkurse zurück. Bonnie tauscht, wann immer es möglich ist. Manche Menschen in der Stadt, die Bonnie weniger wohlgesinnt sind, glauben, dass sie dabei mehr als nur Gärtnerdienste anbietet. Joe Pappas zum Beispiel, der nette junge Witwer, der von Omaha hierhergezogen ist und auf den Baustellen am Highway arbeitet, hat schrecklich viel Zeit damit verbracht, ihr diese neuen Doppelfenster einzusetzen, und keiner hat je gesehen, dass Bonnie seinen Rasen gemäht hätte. Doch sie irren sich. Das jüngste Kind von Hope und Llwellyn Jones ist weiter von der Normalität entfernt, als irgendjemand ahnt. Nachdem sie mit den Avocados fertig ist, duscht Bonnie, zieht sich an und macht sich mit dem Rad auf zu ihrer ersten Erkundungsfahrt des Tages.
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Es ist ein langsames, stetiges Bergauf zum Friedhof - SüdostNebraska ist hügeliger, als viele Menschen wissen -, das Bonnie aber nicht anstrengt. Sie benutzt diese Straße seit Jahren, tagein, tagaus, bei jedem Wetter. Hoch gewachsen, rank und schlank wie eine Königskerze, ähnelt Bonnie von den drei Jones-Kindern ihrer Mutter am meisten. Obwohl die Toten inzwischen schon auf ihre täglichen Besuche warten, kommen sie immer noch nicht über diese Ähnlichkeit hinweg und sorgen sich, dass sie der jungen Frau zum Verhängnis werden könnte. Mehr als einmal haben sie schon damit gerechnet, dass sie die Decke aus Schmutz, die auf dem Zenotaph ihrer Mutter liegt, zurückschlägt und sich hineinkuschelt. Sie kommt an, nachdem sie unterwegs nichts Bemerkenswertes gesehen hat. Sie lehnt ihr Rad an den schmiedeeisernen Zaun, der das Grundstück begrenzt, und holt ein Einmachglas mit Seifenwasser und einer Zahnbürste aus einer der Satteltaschen. Mit dem feierlichen Gang eines Laien in einer Prozession nähert Bonnie sich einem kleinen Grabstein in der Mitte des Friedhofs: Er markiert die Überreste von Gwendolyn Margaret Elfyn (17811854).Geliebte Schwester und Tante steht darauf und darunter: Die Seele wählt sich ihre eigene Gesellschaft. Miss Elfyn ist eine entfernte Verwandte von Viney und die erste Bürgerin von Emlyn Springs, die auf diesem Gelände beerdigt wurde. Und wie geht es Ihnen heute, Miss Elfyn?, beginnt Bonnie. Sie muss laut sprechen, um Miss Elfyn zu wecken. Miss Elfyn, die nie Mutter war, ist immer anwesend, macht aber oft ein Nickerchen. Bonnie!, erwidert Miss Elfyn in einem Ton, der andeutet, dass dies kein alltäglicher Vorfall sei. Wie nett, dass du gekommen bist. Seit dem Höhenflug ihrer Mutter glaubt Bonnie, dass, wenn überhaupt irgendjemand irgendetwas wissen könnte, dies die älteste Tote auf dem Friedhof von Emlyn Springs sein müsste. Ob-
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wohl sie nie mit Erkenntnissen über Hopes Verbleib belohnt wurde, beharrt sie auf dieser Meinung. Mir geht es gut, Miss Elfyn. Und Ihnen? Bonnie hockt sich hin; heute säubert sie den Teil des Friedhofs, der von der Familie Mutter belegt ist. Danke, gut, meine Liebe. Was machen die Avocados? Ich habe erst vorhin drei neue eingepflanzt, antwortet Bonnie. Dann hast du hochfliegende Hoffnungen? Manchmal ist es schwierig, Miss Elfyn zu deuten. Bonnie ruft sich ins Gedächtnis zurück, dass das WortHoffnung, englisch hope, nicht für alle so mit Bedeutung aufgeladen ist wie für ihre Familie. Vermutlich meint Miss Elfyn genau das, was sie sagt. Ja, ma’am, entgegnet Bonnie. Sie ist ein höfliches Mädchen, sehr rücksichtsvoll gegen Ältere. Und ruhig. Kein Wunder, dass die Toten sie lieber haben als ihre sonstigen lebenden Besucher. Das extreme Wetter Nebraskas macht den Grabsteinen schwer zu schaffen. Die ältesten, nämlich die von Miss Elfyn und der Familie Mutter, sind aus weißem Granit, grau geädert und in einem erbärmlichen Zustand. Die Erde hat sich so häufig unter ihnen gedreht und verschoben, der Präriewind so oft auf sie eingedroschen, und sie sind so durchnässt von Regen und Schnee, dass viele von ihnen sich aufzulösen scheinen wie riesige Zuckerwürfel. Manche sind sogar umgekippt. Um die Bewohner dieser Gräber trauert Bonnie. Haben Sie Hope gesehen?, fragt sie nach einer angemessenen Pause. Sie möchte nicht aufdringlich erscheinen. Miss Elfyn lässt die Zunge an ihr intaktes Gebiss klicken. Ihre Zahnhygiene war stets einwandfrei. In dieser Hinsicht war sie ihrer Zeit voraus. Ihre Langlebigkeit verdankte sie einer streng vegetarischen Diät - sehr ungewöhnlich in diesem Land der Rinderzucht, aber die Waliser eifern oft ihrem Schutzheiligen David nach, der sich bekanntermaßen des Verzehrs von Fleisch enthielt. Er ernährte sich hauptsächlich von Wasser, heißt es, und wann
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und wo auch immer er ein Wunder vollbrachte, entsprangen dem Boden angeblich Quellen. Bonnie wartet und beschäftigt sich in der Zwischenzeit damit, hellgrünes Moos vom Grabstein eines namenlosen MutterSprösslings zu schrubben, der im Alter von drei Tagen starb: Hier liegt unser Liebling. Es gibt viele Grabsteine wie diesen auf dem Friedhof, zu viele. Die neugeborenen Kinder von Morgan und Braunwyn Ellis. William und Robert, Unsere geliebten Kleinen. Ihr Leben kurz, unsere Liebe ewig. Tief betrauert, für immer geliebt … Es gibt zahlreiche Gründe, Elternschaft zu verweigern, sich für Kinderlosigkeit zu entscheiden und dies sogar zu schätzen - selbst heute, in diesen modernen, medizinisch fortgeschrittenen Zeiten. Kinder, die das Säuglingsalter überleben, können immer noch vor ihren Eltern sterben, dahingerafft durch Unfälle, Krankheiten, Mord, Krieg. Die Welt ist überbevölkert, globale Erwärmung eine Tatsache. Verlust und Schmerz kommen auf uns alle zu. Es gibt so viele Möglichkeiten, wie eine Frau den Kummer darüber, dass sie nie Mutter werden wird, lindern kann. Bonnie jedoch findet keinen Trost in diesen Wahrheiten. Mehr als alles andere auf der Welt wünscht sich Bonnie Jones ein Kind. Und trotzdem hat sich dieser Wunsch nach Fortpflanzung bisher nicht in einem Verlangen nach Sex manifestiert. Jeder biologische Trieb, den sie ansatzweise verspürt, wird sofort durch ihre Ängste gebremst - bei ihr sind Furcht und Verlangen Geschwister, von denen die Furcht stärker und bestimmter auftritt und ihren Zwilling stets überwacht und beschützt. Die Angst hält Bonnie so lange von jedem echten Begehren ab, bis ihr ein ganz spezieller Beweis gewährt wird, eine Garantie auf Erfolg. Nur Bonnie weiß, was diesen Beweis ausmacht. Zumindest wird sie ihn erkennen, wenn sie ihn sieht. Haben Sie Hope gesehen, meine Mutter?, wiederholt sie drängender.
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Miss Elfyn neigt zur Tagträumerei, wenn sie wach ist. Vielleicht hat ihr langsames Sprechen aber auch andere Gründe. Ohne ihre Miene zu sehen, ist das schwer zu sagen. Womöglich träumt sie gar nicht vor sich hin, sondern denkt nach oder will Bonnie ein bisschen ärgern. Manchmal, besonders in letzter Zeit, hat Bonnie das Gefühl, es ist Letzteres. Hope?, fragt Miss Elfyn mit ihrer wunderbar modulierten Stimme nach. Sie war eine gute Sängerin, das hat sie Bonnie bei mehr als einer Gelegenheit erzählt. Hope. Habe ich Hope gesehen? Auf dem Friedhof von Emlyn Springs liegen noch andere Frauen, die nach Tugenden benannt sind: Patience, Temperance, Grace, Modesty - Geduld, Mäßigung, Anmut, Bescheidenheit. Ihre Namen tauchen aber nicht so oft in ganz alltäglichen Gesprächen oder in Schlagzeilen auf wie der von Bonnies Mutter: FAMILIE DES VERMISSTEN SOLDATEN KANN NUR WARTEN UND HOFFEN; W UT KOMMT AUF, WÄHREND HOFFNUNG SCHWINDET; MUTTER DES OPFERS HOFFT AUF FRIEDEN; HOFFNUNG FÜR PATIENTEN DURCH NEUE MEDIKAMENTE. Bonnie ist im Lauf der Jahre aufgefallen, dass diejenigen, die für Schlagzeilen verantwortlich sind, Varianten des Worts Hoffnung oder hoffen gern mit Varianten des Worts Tragödieverbinden: TRAGÖDIE WENDET DAS BLATT FÜR HOFF-NUNGSVOLLEN OLYMPIONIKEN; HOFFNUNGEN BEGRABEN IN TRAGISCHEM GRUBENUNGLÜCK. Vielleicht, erwidert Miss Elfyn meistens auf Bonnies Frage. Manchmal reagiert sie auch mit einem unmissverständlichen Nein, aus lauter Widerspenstigkeit, argwöhnt Bonnie, eine Antwort, die aber weniger grausam ist als jene, die Miss Elfyn selten gibt: Ja, natürlich habe ich Hope gesehen. Wo?, will Bonnie dann wissen. Ich weiß es, und du musst es herauskriegen ist eine von Miss Elfyns typischen Entgegnungen.
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Oder, besonders ärgerlich: Du wirst nur finden, was du suchst, wenn du aufhörst zu suchen. Bonnie hasst dieses Zen-Geschwätz. Oder, eher vorwurfsvoll: Was spielt das für eine Rolle? Warum kümmert es dich? Was würde sich ändern, wenn du es wüsstest? Ja, was?, lamentiert Pastor Mutter leise unter Bonnies Knien. Mehrere andere tote Väter nicken und murmeln zustimmend. Bonnie hört sie nicht. Heute erwidert Miss Elfyn: Hoffnung ist das, was Flügel hat und in der Seele sitzt und Melodien ohne Worte singt und nie nachlässt. Gelegentlich wird Bonnie wütend auf Miss Elfyn - vor allem, wenn sie so begriffsstutzig tut wie heute - und stapft davon, ehe sie die Möglichkeit hatten, andere Angelegenheiten zu erörtern. Aber was nützt es, böse auf die Toten zu sein? Und natürlich kennen die Toten die Antwort auf Bonnies drängendste Frage - Sie ist ganz nah!, würden sie am liebsten rufen, sehr nah, gleich dort drüben! -, doch der strenge ethische Codex, dem sie verpflichtet sind, hindert sie daran, den genauen Aufenthaltsort von Vermissten preiszugeben. Es ist wirklich am besten so für die Lebenden. Sie müssen lernen, Derartiges allein herauszufinden. Ich liebe Emily Dickinson, sagt Miss Elfyn. Du auch? Bonnie seufzt. Ja, Miss Elfyn, erwidert sie und weiß, dass dies das Ende ihres heutigen Gesprächs über Hope ist. Ich liebe sie auch. Eine Stunde später, nachdem Miss Elfyn sich darin erschöpft hat, Emily Dickinsons Gesamtwerk - so scheint es jedenfalls - zu rezitieren, und dann eingeschlafen ist, steigt Bonnie auf ihr Rad und fährt los. Sie muss zu ihrem Saftstand und anfangen, Sellerie, Äpfel und Brokkoli zu zerschneiden und Petersilie und Gerstengras zu hacken - alles aus biologischem Anbau. Mr. Norris ist immer ihr erster Kunde des Tages, und sie hat seinen Grünen Gingko-Kraft-Smoothie gern schon fertig, wenn er um neun Uhr kommt. Die Zeit alter Leute ist so kostbar. 72
Es ist nicht viel los. Bonnie macht das nichts aus: Wenn das Geschäft gut läuft, kann sie mehr von ihren Einkünften für Projekte spenden, die ihr am Herzen liegen - die Restaurierung des Friedhofs von Emlyn Springs zum Beispiel oder das Walisische Museum -, läuft es schlecht, hat sie Zeit, sich aufs Fahrrad zu setzen und nach Artefakten zu suchen. Beides hat seine Vorteile. Nachdem Mr. Norris gekommen und gegangen ist, kreuzen ein paar Radler aus der Großstadt auf und fragen, wo sie einen Latte Macchiato kriegen können; Bonnie schickt sie weiter nach Beatrice. Vielleicht sollte sie in eine Espressomaschine investieren; die Aussicht auf so einen Firlefanz-Kaffee würde Touristen anlocken. Die Labenz-Brüder machen um halb elf Pause und verlangen nach ihren Lieblings-Smoothies: Erdbeerüberraschung für Al, Applepie-Grün für Pete und Orangen-Granita für Dylan. (Bonnie sorgt sich um sie; sie ernähren sich sonst bloß von Cola und Junkfood, deshalb fügt sie ihren Getränken, ohne dass sie es wissen, immer einen Löffel Proteinpulver hinzu.) Gegen Mittag taucht Blind Tom auf. Er ist einer von Bonnies Gelegenheitskunden. Sie weiß nie genau, wann er vorbeischaut, denn er arbeitet unregelmäßig und manchmal auch außerhalb. »Hi, Tom«, sagt Bonnie. »Hi, Bonnie.« »Das Übliche?« »Ja, bitte.« Bonnie gibt sich große Mühe bei ihrer Tätigkeit. Sie hat hohe Ansprüche an sich selbst, und es ist nicht immer so, dass ihr der perfekte Drink gelingt. Aber heute macht sie einen für Blind Tom. »Danke, Miss Jones.« Blind Tom nippt an seinem Sonnenparadies-Smoothie. »Ich, äh …« Er zögert. »Ich muss Ihnen was sagen.« »Stimmt was nicht mit dem Getränk?«
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»Doch, doch. Das ist lecker. Das beste, das ich je hatte. Es ist nur … ich werde nervös, wenn Sie mit diesem Geklapper anfangen.« »Geklapper?« »Mit dem Mixer.« »Oh!«, ruft Bonnie. »Das tut mir leid. Ich hatte nicht daran gedacht, dass Ihr Gehör so … empfindlich ist.« »Nein, nein, das ist es nicht. Ich meine nur, es könnte gefährlich sein.« »Ich mache das seit Ewigkeiten. Wenn ich nicht rüttle, verklemmen sich die Zutaten.« »Aber so hat es der Hersteller doch wohl nicht beabsichtigt.« »Ich halte den Deckel mit der Hand fest«, beruhigt ihn Bonnie. »Es kann gar nichts passieren.« »Haben Sie es mal anders versucht? Dass Sie die Sachen vielleicht nacheinander mixen?« »Man muss Flüssigkeit zu den Nüssen geben. Sonst überhitzt sich die Maschine.« Blind Tom lächelt. »Der Motor, meine ich«, fügt Bonnie hinzu. »Vielleicht sollten Sie die Nüsse vorher mahlen. Ich habe eine Kaffeemühle, und ich dachte, die mahlt vielleicht auch Mandeln.« »Aber wie mahlen Sie dann Ihren Kaffee?« »Ich könnte ihn mahlen und dann einfrieren.« »Das ist wirklich nett von Ihnen, aber…« »Oder ich mahle die Nüsse für Sie.« »Nein.« »Warum nicht?« Bonnie überlegt. »Es wäre irgendwie nicht richtig, wenn Sie für mich arbeiten.« »Ich würde nicht für Sie arbeiten. Ich würde bloß helfen.« Bonnie runzelt die Stirn. Sie wird allmählich ärgerlich.
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»Ich sage doch nur«, fährt Blind Tom fort, »dass ich Ihnen gern bei Ihrem Nussproblem helfen würde.« »Ich habe kein Nussproblem.« »Aber vielleicht gibt es eine Methode, mit der es nicht so schwer für Sie ist.« »Es ist nicht schwer für mich!«, sagt Bonnie schroff und fühlt sich dann sofort furchtbar. Einen Blinden anzuschnauzen ist bestimmt eine Sünde, die Katholiken zur Beichte treibt. »Wirklich, es macht mir nichts aus«, ergänzt sie. »Okay«, sagt Blind Tom und klingt überhaupt nicht beleidigt. »Wenn Sie meinen. Bis bald.« Bonnie schnippelt frische Erdbeeren aus dem Garten der Williams-Mädels. Wenn bis halb zwei keiner mehr aufkreuzt, wird sie zumachen und eine längere Radtour unternehmen, vielleicht in Richtung Osten diesmal, nach Holmesville oder Wymore. Sie kann keinen Tag verstreichen lassen ohne den Versuch, etwas für ihre Archive zu ergattern.
4 Der Mythos Schutz Larken erreicht die Kunstgalerie des Campus und verdrückt sich in die Damentoilette, bevor jemand sie entdeckt. Sie ist fast bereit für ihren Auftritt, aber wie selbst die sichersten Schauspieler muss auch sie noch ein paar Maßnahmen treffen, ehe sie aus den Kulissen treten und auf der Bühne in ihre Rolle schlüpfen kann. Im Vorraum gibt es Ganzkörperspiegel, aber die meidet Larken; sie stellt sich an eins der Waschbecken, wo sie sich im Spiegel nur vom Hals aufwärts sehen kann. Ihre Accessoires sind fantastisch: Um ihre Schultern ist ein perlenbestickter burgunderroter Samtschal drapiert, und sie trägt neue Ohrringe. Zum Glück hat sie gleich vor der Galerie einen 75
Parkplatz gefunden, denn bei einem langen Fußweg wäre ihr das ganze Gesicht weggeschwitzt. So glänzt es nur ein wenig, und sie muss sich bloß mit ein bisschen Feuchtigkeit befassen, die leicht zu beheben ist. Lidschatten und Rouge sind noch intakt, sie braucht sich nur einen kühlen Wattebausch auf Wangen, Stirn und Oberlippe zu drücken. Mit einem Papiertuch tupft sie sich kaltes Wasser unter die Arme und auf die Handgelenke. Sie steckt sich zwei Pfefferminzpastillen in den Mund und kaut wild darauf herum, bis sie überzeugt ist, dass alle noch verbliebenen Fastfood-Gerüche ausgemerzt sind. Sie frischt ihren neuen Lippenstift auf (»Himbeertrüffel«), rückt ihren Schal zurecht, holt tief Luft und macht sich auf in das Foyer der Galerie, zufrieden mit ihrem Aussehen und mit gestilltem Appetit. Es ist genau 15:37 Uhr, früh genug, um Pünktlichkeit zu demonstrieren, spät genug, um jeden Anschein von verzweifeltem Bemühen zu vermeiden. Larken hat die letzten zwei Stunden damit verbracht, sich diese Selbstsicherheit und Sattheit mit etwa 300 Dollar zu erkaufen: Der Schal hat sie 175 Dollar gekostet, das Make-up 70 Dollar, die Ohrringe 60 Dollar und das Essen ungefähr 15 Dollar. Das findet Larken nicht verschwenderisch. Diese Einkäufe waren notwendig. Sie ermöglichen es ihr, die unmittelbar bevorstehende Hölle akademischen Geschwafels zu überleben. Der größte Saal der Galerie ist ein luftiger, offener Raum, bemerkenswert wegen der über zwei Stockwerke reichenden Glaswand auf der einen Seite und des aus Italien importierten Marmors, mit dem viele der Innen- und Außenflächen verkleidet sind. Dieser Marmor, hell wie ein Cappuccino-Baiser, zart geädert, gefleckt und genarbt, ist Larken immer das Liebste an der Galerie gewesen. Die Galerie selbst ist stolz auf ihre zeitgenössischen Werke, von denen ihr die meisten nicht gefallen. Nicht ein einziges Gemälde der Sammlung repräsentiert den Schwerpunkt ihres Forschungsgebiets: die Darstellung der Jungfrau durch die flämi76
schen Meister. Viele Christusbilder natürlich, Heilige ohne Ende, aber nicht eine Maria aus der Renaissance des Nordens. Wenn Larken also ein Besuch der Galerie abverlangt wird, tröstet sie sich mit dem Marmor, seiner spiegelnden Oberfläche, seiner kühlen Glätte. Sie wünscht sich, barfuß durch das Museum gehen zu können. Zu einer bestimmten Tageszeit - am späten Nachmittag sehen die Böden, wenn der Himmel schwer ist von Regen, aber noch genug Licht durch die Wolken dringt, aus wie zugefrorene Teiche. Es sind ungefähr 75 Personen hier, zur Hälfte Studenten, zur anderen Hälfte Angehörige des Lehrkörpers und der Verwaltung. Die Studenten, ihre Teller hoch beladen, stehen an den Rändern der einzelnen Gruppen, wo sie leichten Zugriff aufs Büfett haben. Sie reden überwiegend miteinander, und wer wollte ihnen das verübeln? Keine Spur von Drew - einer der wenigen Menschen, mit denen sie bei einer Veranstaltung wie dieser gern sprechen würde. Auch von Misty Ariel Kroeger ist nichts zu sehen, Gott sei Dank. In einer Ecke der Galerie spielt ein Jazztrio. Chris (die sich umgezogen hat, bemerkt Larken, und jetzt ein rotes, rückenfreies Kleid trägt) ist in der Mitte des Raums in ein Gespräch mit dem einzigen anderen weiblichen Mitglied des Fachbereichs Kunst vertieft, Dr. Mirabella Piacenti. Und da stehen Arthur und Eloise, Arm in Arm, wie gewöhnlich. Sie sind Teil eines Quartetts, lächeln und reden mit jemandem, den Larken nicht kennt, einem Mann, der der neue Dekan sein muss. Er ist untersetzt, hat schütteres Haar und einen rosigen Teint. Zu ihrer Bestürzung sieht Larken, dass Richard Edgerton Gaffney, der gegenwärtige Fachbereichsvorsitzende, der Vierte im Bunde ist. Mit gebleckten Zähnen, eine Vogelscheuche in einer seiner Armani-Kopien, nimmt er wie üblich zu viel Raum ein, wedelt mit seinen großen Händen und spricht und gestikuliert, als wollte er einen reichen florentinischen Intellektuellen parodieren (sie kann seinen pseudo-britischen Akzent fast hören), statt wie der Südstaatler, der er in Wahrheit ist. Larken hat keine Lust, sich 77
dieser Gruppe anzuschließen; Richard verachtet sie, da ist sie sicher, deshalb meidet sie ihn, wenn möglich. Sie wird sich etwas zu trinken holen, darauf warten, dass er sich woanders hinstellt, und dann ihre Pflicht tun. Larken tritt an die Theke. »Haben Sie einen Weißwein?«, fragt sie den Barkeeper lächelnd. Sein Bild von ihr, das weiß sie, ähnelt dem, das sie eben im Waschraum gesehen hat: Ein eng begrenzter Ausschnitt, der ihren Körper ausschließt. »Ich würde den Soave empfehlen«, erwidert der Barkeeper. Er ist schwul, das erkennt Larken sofort. Er wirkt durchtrainiert, ziemlich muskulös, aber nicht einschüchternd wie Gaelan, und hat strahlende, hellbraune Augen, Grübchen, dichte schwarze Korkenzieherlocken - und an seinem gestärkten weißen Hemd ein Namensschild, auf dem David steht. Larken fragt sich, ob er wohl eine Kippa trägt, wenn er nicht gerade bei langweiligen Universitätspartys Wein ausschenkt. Er würde gut aussehen mit einer Kippa. »Dann nehme ich ein Glas davon, bitte.« Draußen bewölkt es sich, und das Licht wird kühler. Die Orange- und Gelb- und Rottöne in der Galerie verlieren ihre Leuchtkraft, Blau und Grau treten in den Vordergrund. Larken dreht sich halb um und sieht, dass Richard weitergegangen ist und jetzt vor einer Gruppe älterer Studenten schwadroniert. Sie greift nach ihrem Weinglas und trinkt einen Schluck. »Mmm, der ist gut.« »Freut mich, dass er Ihnen schmeckt.« Larken ist dankbar für die Zuflucht, die ihr die unaufdringliche, asexuelle männliche Gesellschaft des Barkeepers bietet. Sie wünscht sich, sie könnte die Party hier verbringen, auf die Theke gestützt, und nur ihr Gesicht und nichts als ihr Gesicht präsentieren. Sie würde Schuhe und Socken abstreifen, David würde das nicht stören. Sie würde das Gefühl von kühlem, glattem Marmor unter ihren Füßen auskosten, Marmor, der den ganzen weiten Weg von Italien hierhergekommen ist, und mit dem jungen Mann über alles Mögliche, 78
bloß keinen Universitätskram, reden: über Kunst, Politik, Dichtung, Filme, Musik, Romane, Religion, Trauer. Vielleicht könnte er sie einem netten Rabbi vorstellen. Aber jetzt haben Arthur und Eloise sie entdeckt; beide winken, und Arthur bedeutet ihr, sich zu ihnen zu gesellen. Larken seufzt. »Ich werde vorgeladen.« »So ein Pech. Viel Spaß.« Larken macht sich auf den Weg quer durch den Raum. Sie weiß, was bei dieser Veranstaltung von ihr erwartet wird. Sie weiß, wie sie diese öffentlichen Pflichtauftritte, so qualvoll sie auch sein mögen, zu absolvieren hat. Sie muss alle, mit denen sie interagiert, davon überzeugen, dass sie weitaus wichtiger sind als die Häppchen. Nach dem gegenseitigen Vorstellen hat sie dreißig Sekunden, um den neuen Dekan von ihrer Erscheinung (Accessoires und Make-up nützen nur bedingt) auf einen anderen Schwerpunkt zu lenken. Eine halbe Minute, um seinen ersten Gedanken zu vertreiben, seinen ersten Eindruck zu zerstreuen, das Wort auszulöschen, das sich ihm vermutlich unmittelbar aufdrängt - fett -, und es durch Attribute wie hochintelligent, charmant, geistreich, witzig und Wendungen wie ein Gewinn für die Fakultät, großartige Aussichten auf ein Marian-Stipendium, ideale Kandidatin für den Fachbereichsvorsitz zu ersetzen. Larken tritt näher an Eloise und Arthur und den neuen Dekan heran und legt sich innerlich ihre einleitenden Bemerkungen zurecht. Sie bewegt sich schwungvoll, anmutig, wie eine Frau, die es gewöhnt ist, über einen schmalen Laufsteg zu gehen, eine Frau, die Auszeichnungen gewonnen und die Krone getragen hat und nicht mehr als fünfzig Kilo wiegt. Die Blütenkörbchen von Gänsedisteln schließen sich vor einem Regen. Sie schließen sich jetzt, als Bonnie an ihnen vorbeifährt, wie die Münder eines Chors, wenn ein Lied zu Ende ist. Bonnie erinnert sich an ein Ritual, das sie und Hope jeden August befolgten: Sie gingen sammeln, nur sie beide, suchten in den 79
Gräben und auf den Wiesen entlang der Straße nach wilden Pflanzen, nach zertrampelter Rispenhirse mit Samenbüscheln wie schwarze Johannisbeeren, fedrigen Gräsern, den Köpfen von Sonnenblumen, zerquetscht, aber trocken, wie leere Eierkartons oder verlassene Wespennester, nach verdorrten Königskerzen und großen Bündeln von Gänsedisteln, deren Körbchen aussahen wie Muschelschalen aus Sandpapier, gefüllt mit hauchdünnem Seidengespinst. Ihre Funde -Herbststräuße nannte Hope sie - arrangierten Bonnie und ihre Mutter dann in einer alten Milchkanne, die sie neben die Tür zur vorderen Veranda stellten.Sie - nicht Larken oder Gaelan - war diejenige, die Hope für diese besondere Aufgabe auswählte. Jetzt blickt Bonnie mit Grausen auf das Ritual zurück: ein Sammeln von Pflanzen, die tot oder welk waren, verzweifelt bemüht, ihre Samen in Erde zu streuen, die noch gefügig genug war, um sie aufzunehmen. Als Kind fühlte sie sich geehrt, besonders. Heute fühlt sie sich verflucht. Nachdem sie die Cermetory Hill Road genommen hatte, um den Toten im Geiste ihren Gruß zu entbieten, wählt sie eine andere Strecke für den Heimweg. Denn sie hat heute noch nichts entdeckt, nicht das kleinste Fädchen. Die Straßen sind leer, ebenso ihre Satteltaschen. In geschlossenem Zustand sind die Distelblüten völlig reglos, als warteten sie auf Applaus. Sie scheinen erstarrt in jenem elektrisierten Moment, nachdem der letzte Ton verklungen ist, wenn das Echo der Musik noch in der Luft hängt. Eine nach der anderen schließen sie sich, während Bonnie vorbeifährt, dann beginnen sich die vor ihr zu schließen. Wollen sie sie führen? Wohin? Sie folgt ihnen eine asphaltierte Straße entlang über eine Kreuzung auf einen ungepflasterten Weg, der das Kornfeld eines Farmers durchschneidet. Durch jahrelange Lektüre des Bauernalmanachs weiß Bonnie, dass Getreide nach dem Lammas-Fest genauso im Mondlicht reift wie im Sonnenlicht, aber das Korn auf diesem Feld ist besonders reif, wirklich sehr hoch.
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Die Prozession der Gänsedisteln am Straßenrand kommt zum Ende; hier gibt es keine mehr. Sie steigt vom Fahrrad ab und legt es in den Graben. Eine einzelne Reihe Getreide neigt sich im Wind, beugt sich bis zur Erde hinunter - was für ein Wind, der mit solcher Trennschärfe, solch sanfter Kraft weht! Die Halme weichen langsam vor ihr zurück, geben einen neuen Weg frei, und Bonnie folgt ihm. Ihr Herzschlag wird schneller. Vor sich sieht sie etwas, einen runden Lichtfleck auf dem Pfad, den der Wind ihr eröffnet. Sie tritt näher. Es ist ein umgedrehter Deckel, nicht halb vergraben, wie es ein Artefakt sein sollte, sondern er liegt auf den platt gedrückten Halmen und reflektiert die spätnachmittägliche Sonne wie ein Spiegel, als wäre er erst vor kurzem, vorsätzlich, hier abgelegt worden. Als Signal. Als Zeichen. Bonnie hebt ihn auf - das Metall ist kühler, als sie erwartet hat - und ringt nach Luft. Unter dem Deckel sind ein Papierfetzen - eine Liste! - und ein Stück geblümter Stoff, kreisrund zugeschnitten. Der Deckel ist rostig und an mehreren Stellen mit einem Nagel durchbohrt, die Farbe teilweise abgeblättert, die Beschriftung fast unleserlich, aber Bonnie weiß, was sie in der Hand hält: den Deckel eines alten Mayonnaiseglases. Hellmann’s Mayonnaise. Bonnie drückt diese neuesten, kostbaren Artefakte an ihr Herz und geht rasch zurück durch das Feld zu ihrem Fahrrad. Die biegsamen Halme richten sich hinter ihr wieder zu voller Höhe auf. Die Regenwolken ziehen jetzt schneller von Südwesten heran. Es ist Zeit, sich auf den Heimweg zu machen. Bonnie verstaut ihre Funde in einer ihrer Satteltaschen und steigt auf, saust im höchsten Gang den Hügel hinunter und lauscht dabei den Liedern des Donners in der Ferne und der Gänsedisteln im Graben. »Sie hatte Multiple Sklerose«, sagt Gaelan zu niemandem, die Antwort auf eine nicht gestellte Frage.
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Es ist 15:41 Uhr, und die Wohnungstür klappt zu. Sie schließt sich hinter Claudia, der traurigen, blassen Claudia, die ihm vor drei Monaten weinend in die Arme fiel und jetzt geht, bemerkenswert trockenen Auges, um die Ehe mit ihrem treulosen Mistkerl von Mann zu kitten. Gaelan hat sie vom Fitness-Studio aus angerufen, sobald er mit seinem Training fertig war, und gefragt, ob sie ihn nicht besuchen wolle. Sie blieb lange genug für einen spektakulären Abschiedsfick, ehe sie ihre Versöhnungsabsichten verkündete. Jetzt ist sie weg, ohne dass einer von beiden Probleme damit hätte. Es war ein für Gaelans Beziehungen mit Frauen typisches Finale. Sie kommen und gehen, fast so regelmäßig wie die Jahreszeiten. »Du musst nicht aufstehen«, sagte Claudia, wobei sie ihm ihr Gesicht zuwandte und plötzlich ganz wie eine Rechtsanwältin aussah. Sie streckte die Hand aus - zuerst dachte er, sie wolle ihn streicheln, stattdessen glättete sie den zerknüllten Quilt. »Ich finde allein raus.« Dann nahm sie ihre Aktenmappe und ging. Gaelan bleibt liegen, wird sich der plötzlichen Stille, des abkühlenden Bettzeugs, des deutlich sichtbaren nassen Flecks bewusst. Der lautlose Mörder junger Erwachsener. Das war die Umschreibung für MS, die sich irgendein cleverer Werbetyp in Manhattan für die im Fernsehen gesendete Information über Hopes Krankheit ausgedacht hatte (eine Krankheit, deren Name noch längst nicht denselben Wiedererkennungswert hatte wie etwa Krebs oder Kinderlähmung). MS, verkündete der Sprecher düster, während die Silhouette eines aufrecht stehenden, vermeintlich gesunden Menschen auf dem Bildschirm zusehends schrumpfte, in sich zusammenfiel und sich schließlich in die Umrisse einer schwachen, gekrümmten, an den Rollstuhl gefesselten Gestalt verwandelte, sei der lautlose Mörder junger Erwachsener. Diese Informationssendung wurde in Gaelans Kindheit ständig gezeigt und erschreckte ihn schon zu Tode, bevor man das Leiden 82
bei seiner Mutter diagnostizierte. Das Wort »lautlos« beschwor heimtückische Bedrohlichkeit und beängstigende Macht. Ein lärmender Mörder wäre Gaelan lieber gewesen, den hätte man wenigstens gehört. Ein lautloser Mörder dagegen: Gaelan malte sich aus, wie sich die MS ins Zimmer seiner Mutter schlich - in einem grauen Flanellanzug und Schuhen mit Gummisohlen - und ihr im Schlaf den Garaus machte. Gaelan entsinnt sich, wie beschützt er sich von dem Quilt fühlte, der auf seinem Bett lag - seine Mutter hatte ihn für ihn gemacht, als er ein Baby war, und er blieb auf seinem Bett, bis sie alles verloren. Heute liegt hier eine Neuschöpfung der Decke. Claudia hat nicht viele Fragen darüber gestellt. Vielleicht hat sie ihn auch gar nicht befragt, Gaelan erinnert sich nicht genau. Ihre Beziehung war in erster Linie nonverbal, reich an Orgasmen, aber arm an Gesprächen. Claudia schmeckte wie das Wasser eines Sees und roch angenehm würzig, vor allem hinter den Ohren, und einmal hat sie ihm erklärt, einen Orgasmus zu haben, das sei, wie einen Wasserfall hinunterzustürzen. Gaelan fragt seine Geliebten immer, wie sie den Orgasmus erleben. Frauen sind so wortgewandt. Nicht zwei von ihnen beschreiben ihn gleich. Es ist Gaelan sehr wichtig, geistig und körperlich dem Bild zu entsprechen, das seine Freundinnen ihm schildern - es auszuschmücken, seinen Platz darin zu finden. Er hält sich nicht für leichtfertig, auch wenn er mehrere Frauen gleichzeitig hat. Ein leichtfertiger Mensch befasst sich nicht gründlich und unermüdlich mit den spezifischen Fantasien seiner Geliebten. Ein leichtfertiger Mensch hält sich nicht für einen Versager, wenn seine Partnerin nicht kommt. Ist er unfähig, Nähe zu ertragen? Schwer zu sagen. Unter der Woche trainiert Gaelan, nachdem er den Sender verlassen hat, zwei Stunden im Fitness-Studio. Um sieben Uhr geht er schlafen; sein Wecker klingelt um zwei Uhr morgens. An Samstagen und Sonntagen ist er länger im Studio, dann mit seinem persönlichen Trainer, macht Besorgungen, fährt gelegentlich 83
nach Emlyn Springs oder geht mit Larken ins Kino. Dieser Zeitplan erfordert eine Geliebte, die Gaelan montags bis freitags zwischen halb vier und halb sieben Uhr nachmittags treffen kann. Nach seiner Erfahrung schließt dies einen Großteil der in Frage kommenden weiblichen Bevölkerung aus. Es schränkt die Auswahl möglicher Interaktionen ein. Ein Plus ist, dass nachmittäglicher Sex immer etwas Verbotenes hat, auch wenn er keinen Ehebruch darstellt. Das gefällt Gaelan - und den Frauen ebenso, vermutet er. Ist er sexsüchtig? Vielleicht. Zweifellos liebt Gaelan die Macht der Frauen, mit der sie es schaffen, dass sich seine Empfindungen für sie in etwas physisch so Eindeutiges wie eine Erektion umsetzen. Er liebt das Gefühl der Stabilisierung, das sie ihm geben. Sie wirken so beneidenswert sicher in ihrer Bodenhaftung - was seltsam ist, wenn man ihre Leichtigkeit bedenkt, die komischen, unpraktischen Schuhe, die sie tragen, ihre Besessenheit, abnehmen zu müssen. Wie sehr Gaelan auch seinen eigenen Körper aufbaut, ihn mit Nahrungszusätzen stärkt, mit Muskeln wappnet, nie hat er das Gefühl, dieselbe Beziehung zur Schwerkraft zu haben wie sie. Wenn er jedoch in ihnen ist, fühlt er sich fest verankert und weiß, dass er nicht davontreiben kann. Er wird Claudia vermissen. Er vermisst sie alle, alle Frauen, die ihn je verlassen haben. Traurig ist er nicht unbedingt. Er hat definitiv nichts so Dramatisches wie ein gebrochenes Herz. Er verspürt lediglich eine vage Trübsal, ein Schwächeln, das ihm unbehaglich ist. Er sollte aufstehen, eine der anderen Frauen anrufen, die er kennt. Es ist spät, dazu Freitag, aber womöglich hat eine von ihnen Zeit für eine Verabredung am Abend, im Kino vielleicht, wo angenehme Kühle herrscht. Kein Wunder, dass er bei dieser Schwüle so lethargisch ist.
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Kate und Spencer, Gaelans Katzen, springen aufs Bett. Schnurrend schmiegen sie sich in seine Kniekehlen. Er sollte nicht dösen, sonst schläft er heute Nacht schwer ein. Aus der Seitenlage ist seine Perspektive auf die Steppdecke stark verkürzt, ihre Falten und Flicken sehen aus wie terrassenförmig angelegte Felder in den Tropen. Er könnte ein Riese sein Paul Bunyan, Herkules des Westens, Retter des ländlichen Amerika, ein Held mit der Macht, Flüsse umzuleiten, Fluten Einhalt zu gebieten, Bäume zu fällen, Wirbelstürme zu zähmen. Gaelan schließt die Augen, nur für ein paar Minuten. Gleich wird er aufstehen und überlegen, was er mit dem Rest des Tages anfangen soll. Tote Mütter haben die Fähigkeit, ihre Kinder nicht nur zu sehen, wie sie sind, sondern auch so, wie sie waren, und zwar gleichzeitig. Ihr Sehvermögen ist das eines Insekts, facettenartig und komplex, aber während eine Fruchtfliege, Hummel oder Mücke nur die extreme Nahaufnahme des JETZT sieht - eine höckrige Avocadoschale, betrachtet aus mehreren Blickwinkeln, eine geodätische Kuppel aus menschlichem Fleisch in Form eines großen, saftigen, schwitzenden Zehs -, zeigt sich den Augen einer toten Mutter jede Teilfläche einer Szene aus einem unterschiedlichen Lebensabschnitt. Als Aneira Hope Jones auf einem von ihrem lebenden Ehemann plötzlich erzeugten hoch aufgeladenen Energiestrom nach Hause geschwemmt wird, nimmt sie also ihre Kinder nicht nur in der so genannten Gegenwart wahr, sondern auch in anderen Zuständen. Diese Gleichzeitigkeit des Sehens ist ein Geschenk, das Hope zum ersten Mal zuteilwird; verständlicherweise ist sie zunächst verwirrt, hat die Situation noch nicht im Griff, ist eher Passagier, der von ihr mitgerissen wird, als selbst treibende Kraft. Geduld, bitte. Sie wird schnell an Erfahrung gewinnen. Hier ist Larken, ihre Älteste, verstrickt in etwas Unwahres.
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Das ist für Hope ganz deutlich, obwohl sie die Lüge nicht genau definieren kann. Larken spricht auf einer Party angeregt zu einer Gruppe von Menschen, zwei Männern und einer Frau - alle wesentlich älter als sie. Sie spricht über … Kann das stimmen? … marode Ratten. »… und das wunderbar Neue am Mérode-Altar«, sagt Larken gerade, »das ihn, unleugbar, wie ich finde, an den Anfang der Renaissance stellt und nicht ans Ende der Gotik …« Jetzt versteht Hope. Das Unwahre hat nichts mit dem zu tun, was sie sagt, sondern mit dem, was sie denkt. »… ist diese aufkeimende Herausbildung eines einzigartigen und ganz speziellen Symbolismus. Mit Josef und der Mausefalle …« Ach so, Mäuse. »… radikalisiert Campin die religiöse Malerei.« Sie denkt an Essen. »Er entwickelt eine Bildsprache, die ihren Ursprung - zum ersten Mal - nicht in der etablierten Doktrin der Kirche hat, nicht in Vorstellungen, die ihm von seinen Auftraggebern aufgezwungen wurden …« Sie möchte sich die mit Brie bestrichene Scheibe Brot vom Teller des Glatzkopfs schnappen - ein Akt der Rebellion - und in den Mund stopfen. »… sondern in seiner eigenen Fantasie. Was könnte moderner sein?« Warum lächelt sie, wenn sie sich so sehr schämt? In anderen Szenen sieht sie Larken als Baby, das schreit und schreit und Hope wahnsinnig macht. Das vermisse ich nicht. Herrgott, nein. Erst jetzt erkennt Hope, dass es immer Hunger ist, der Larken zum Schreien veranlasst, nicht Einsamkeit oder Angst oder Übererregtheit oder Erschöpfung. Sie ist einfach nur hungrig. Bei Gaelan weiß Hope es besser. 86
Ein pflegeleichtes Baby. Immer wenn er schreit, stillt Hope ihn, und er ist glücklich. An die Brust, ganz bei der Sache. Er hat mich schneller und mit mehr Ungestüm leergetrunken als die beiden Mädchen. »Guck mal, Mama!«, ruft Gaelan, drei Jahre alt und voller Jubel. »Mein Penis ist gefroren!« Mit acht kommt er in Baumwollunterhosen schüchtern lächelnd herein, als sie gerade versucht, Lippenstift aufzutragen. »Mom«, sagt er, seine Erektion mit den Händen verdeckend, »kannst du mich bitte allein lassen?« Mit unerfahrenen sechzehn mit der ersten Liebe. Seiner einzigen? Das Verstummen, die Ehrfurcht, die Angst, die Hitze. Junge Hände, die neues Terrain erkunden. »Das fühlt sich schön an«, sagt er zu dem Mädchen. Ein Mädchen aus Emlyn Springs. Wie heißt sie? Ohne mehr zu verlangen, mehr zu erwarten, ohne zu wissen, dass es mehr sein kann - denn jetzt ist alles köstlich, alles wunderbar -, dass die Verbindung zweier Körper solch unvergleichliches Entzücken beschert, den Himmel auf Erden, fragt er das Mädchen: Bethan, die war’s. Die jüngste Ellis-Tochter. Wohnte auf der anderen Straßenseite. »Fühlt sich das gut an? Gefällt es dir?« Seitdem hält er beim Küssen die Augen einen winzigen Spalt offen. So rastlos bei der Liebe. All seine Frauen bemerken das, und am Ende vertreibt es sie alle. Zu Hause und allein - ein Mann jetzt, attraktiv, nicht glücklich - träumt Gaelan von einem Drachen an einem wolkenlosen Himmel. Er fragt sich, wer den Drachen steigen lässt. Er kann es nicht erkennen, möchte es aber. Seine Hand findet im Schlaf seinen Penis, einen Trost. Dummer Junge. Er ist derjenige, der den Drachen steigen lässt. 87
Hopes jüngstes Kind begleitet ein Wirrwarr aus Szenen: Schreien und Rufen, wirbelnde Räder, heftige Winde. »Nein! Das ist kein Müll!«, kreischt Bonnie, die kleine Faust um Krümel, Steine, leere Streichholzschachteln, alle möglichen Abfälle gekrampft. »Nein! Das darfst du nicht wegschmeißen!« Und immer radelt Bonnie. Oh ja. Hier auch. Ich habe sie ›den kleinen Strampler‹ genannt, wenn sie sich in meinem Bauch bewegte. Sie lebt von Luft. Sie spricht meistens mit Toten und Sterbenden. Sie ist nahezu verrückt. Hope wendet sich ab von diesen Bildern. Sie sind zu zahlreich, zu schmerzlich. Hier ist Bonnie als Erwachsene in ihrer provisorischen Küche. Wohnt sie wirklich dort? Vor dem Gebäude holt Bonnie, während sich das Gewitter zusammenbraut, Dinge aus einer Satteltasche: wieder Müll. Und doch behandelt sie diese Objekte mit der Behutsamkeit, die man religiösen Artefakten widmet. Ein Papierfetzen mit einer handschriftlichen Liste: Kinderzimmer streichen. Windeln kaufen. Kleidungsstücke - wo Das klingt vertraut. Ein rundes Stück Baumwollstoff. Das kommt mir bekannt vor. Der Metalldeckel von einem Glas Hellmann’s-Mayonnaise. Als Hope die in ihn gebohrten Löcher bemerkt, sieht sie Bonnie vor sich, diesmal als kleines Kind. Es ist alles so verwirrend. Sie ist fünf Jahre alt, und da, dicht neben ihr … Endlich. Alle drei. … sind ihr Bruder und ihre Schwester, elf und zwölf. Gaelan hält den Nagel - »Autsch! Autsch!« -, während Larken mit dem Hammer zuschlägt - »Entschuldige! Entschuldige!« -, während Bonnie drauflosplappert: »Und heute Abend nach dem Essen fangen wir sie und tun sie ganz vorsichtig in das Glas, und dann können sie atmen, aber 88
nicht wegfliegen, und Mommy kann mir bei ihrem Licht vorlesen, das hat sie gesagt. Ich mag Mai-Neese, ihr auch?« Mai-Neese. Ich hatte ganz vergessen, wie sie das ausspricht. »Senf mag ich nicht, aber Ketchup. Bei Miss Williams hört es sich an wie ›Ketz ab‹. Ist euch das schon mal aufgefallen? Lustig, oder? Und eingelegte Gurken mag ich auch. Aber nicht, wenn sie süß sind.« »Autsch!« »Tut mir leid!« »AUA! Mensch, Larken …« Llwellyn ist auf dem Golfplatz, Hope ist bei ihm und den anderen. »Zeitpunkt des Todes«, verkündet Bud Humphries, der Sanitäter. Ich kenne ihn. Ich kenne alle diese Männer. Im Regen stehend schaut Bud auf seine Uhr. »Zeitpunkt des Todes: 15:59 Uhr.« Und in dem Moment, in dem Hopes Ehemann himmelwärts getragen wird, auf einer kleinen weißen Kugel in die Stratosphäre eintritt, löst sich etwas in ihren lebenden Kindern. In Larkens Unterleib ist es ein plötzlicher Blutschwall. »Scheiße«, murmelt sie, wie vom Donner gerührt, mitten im Satz. Das kann nicht sein, denkt sie,ich bin noch nicht dran mit meiner Periode, aber Blut strömt ihr die Beine hinunter. Keine Zeit für einen höflichen professoralen Abgang. Sie kneift Oberschenkel, Knie und Knöchel zusammen, wendet sich abrupt von den verblüfften Mienen der Menschen ab, mit denen sie eben geredet hat, und watschelt wie die Parodie auf eine ungraziöse Geisha auf die Toilette zu. Wer hält den Drachen?, fragt Gaelan sich im Traum. Er hat Angst. Die Schnur ist bis zum Ende abgespult, der Drachen zehn Kilometer hoch, gefährlich nahe an der Stratosphäre. Wenn die Schnur nun reißt? Wenn sie nun nicht richtig an der Rolle befestigt ist? Er folgt ihr mit den Augen weiter und weiter nach unten, 89
kann aber den Besitzer nicht lokalisieren. Es ist ein Geisterdrachen ohne Steuermann. Die Schnur strafft sich. Sie schwirrt, sie vibriert. Der Drachen hört auf zu hüpfen und zu tanzen und erstarrt wie ein Lutscher am Ende eines Holzstiels. Gaelan wacht auf, während er kommt, beschämt, verwirrt. Bonnie ordnet ihre neuen Artefakte in ihr Archiv ein, ein überdimensioniertes, in Stoff gebundenes Album. Es gibt viele Alben wie dieses, die auf den Regalen ihrer Remise nach einem System aufgereiht sind, das nur Bonnie versteht. Die Beschriftungen (Fetzen von einem Quilt, Deckel von einem Mayonnaiseglas für Glühwürmchen, Liste mit Besorgungen für Baby) hat sie sich bereits ausgedacht, Datum (15. August 2003) und Zeit (ungefähr 15:30 Uhr) festgehalten, als sie ihre heutigen Funde machte. Fundort? Bonnie hält inne. Als sie im Geiste ihren Weg nachvollzieht, wird ihr klar, wo sie die Artefakte entdeckt hat - auf dem Grund und Boden ihrer Familie, an der Stelle, wo die Farmerelfen sie früher besuchten. Sie bricht in Schluchzen aus, so herzzerreißend, dass es scheint, als würde es nie enden. Im Gleichklang weinen ihre Körper: Blut, Sperma, Tränen. Und jetzt zerstreuen sie sich wieder. Sie waren auf derselben Umlaufbahn, sind aber auseinandergetrieben und nun in verschiedene Richtungen unterwegs. Hope macht sich ein paar rasche Notizen in ihrem Tagebuch, mit denen sie ihre Kinder so charakterisiert, wie sie sie gerade gesehen hat: Larken: schwerfällig, kritisch, arglistig, ängstlich. Gaelan: verschlossen, bindungsscheu, libidinös, sich seiner selbst nicht bewusst. Bonnie: in sich gefangen, schweigsam, besessen. Lügner, alle drei. Und so humorlos. Das habe ich nicht gewollt, aber wahrscheinlich verdiene ich es. Keiner lügt so wie ich. Die Lebenden sehen nur das bisschen Schnur, das von der Rolle abgespult wurde. 90
Die Toten dagegen sehen alles, ganz gleich, welches Augenpaar sie dafür wählen. Denn schließlich ist alles da.
5 Verkündigung durchs Telefon Viney trocknet sich die Hände mit einem Geschirrtuch, ehe sie ans Telefon geht. Sie hat am Ausguss gestanden, das Wetter beobachtet und Gemüse geputzt, um eine doppelte Portion von Dr. Walkers Salat Nr. 5 zuzubereiten. Nach ihren Yogaübungen fühlt sie sich ruhig und gefestigt. Ihr drittes Auge ist geöffnet. Der Tisch ist gedeckt. Der Ofen ist vorgeheizt. Der Regen hat nachgelassen, aber es ist sicher noch zu nass, um Golf zu spielen. Welly wird bald nach Hause kommen und Elektrolyte brauchen. Im Kühlschrank stehen zwei geeiste Martinigläser mit einem Cocktail aus frisch gepresster Gurke und Sellerie. »Hallo, Viney.« »Bud. Was ist passiert?« Alvina Closs, eine Frau, die in ihrem Leben schon oft Todesnachrichten entgegengenommen hat - und in viel schrecklicheren Fällen als diesem -, erkennt den Tonfall von Buds Stimme: schleppend, bedächtig, zerknirscht, als mühte sich der Überbringer bereits mit der Last des soeben Verstorbenen, als könnte er den Sarg und seinen Inhalt kaum stemmen. Als Bud die Geschichte erzählt, geht ein Teil des Gewichts auf Viney über; sie setzt sich an den Tisch in der Küchenecke und lauscht. »Ich kann es mir nur so erklären, dass er das Gewitter falsch eingeschätzt hat«, sagt Bud gerade. »Vielleicht dachte er, es würde vorbeiziehen. Glaub mir, Viney, wir haben getan, was wir konnten. Er war schon tot, als wir zu ihm kamen. Ehrlich, ich 91
glaube nicht, dass er es selbst mitgekriegt hat. So schnell ging es.« Was hat sich der Mann dabei gedacht?, möchte Alvina wissen und spürt gleichzeitig, dass sie, wenn sie wollte, diese Unklarheit leicht beseitigen könnte. Es erinnert sie an jenes einst populäre Spielzeug: eine Kugel von der Größe einer kleinen Melone und hart wie Glas. Man stellte eine Frage und schüttelte sie und spähte durch ein winziges dreieckiges Fenster und wartete, bis Wörter vorbeitrieben wie durch schlammiges Wasser und einen in Spannung hielten, bis man sie deutlich und unwiderlegbar sah: Ja. Nein. Vielleicht. Wahrscheinlich nicht. Versuch es noch mal. Warte ab. Die Antwort auf Vineys Frage ist schon formuliert und lauert unter einer trüben Oberfläche. Doch sie kann sich nicht dazu überwinden, ihr ins Auge zu sehen. Noch nicht. Hope?, denkt sie, und nur dieser Name ist nötig, um etwas Greifbares heraufzubeschwören und den Beginn von Trauer, wenn nicht Akzeptanz. Was fange ich jetzt an? Einfachere Fragen werden gestellt: Möchte Viney die Kinder selbst benachrichtigen, will Bud wissen, oder soll er es tun? Und was ist mit dem Pastor der Bethel Welsh Congregational Church? Er erledigt die Anrufe gern. Sie braucht es ihm nur zu sagen. »Ich gebe den Kindern Bescheid«, erwidert Viney. »Sie sollten es von mir erfahren. Aber du kannst Pastor Huw anrufen, wenn du nichts dagegen hast, Bud. Das wäre eine große Hilfe.« »Klar, mach ich, Viney.« »Ist der Bürgermeister schon drüben bei Mal?« »Ja.« Also noch mal dasselbe, denkt Viney. Sie wird die fünf Blocks zu McKeevers Bestattungsinstitut fahren, die Verandatreppe hochsteigen, durch die Bleiglastür und das stille, unbelüftete Foyer mit den schweren Samtvorhängen gehen und von dort in den Keller. (Die McKeevers und ihre Angestellten wissen mittlerweile, was sie von Alvina Closs zu erwarten haben. Sie werden nicht mehr versuchen, die Vorschriften von Bestattungsunter92
nehmen ins Spiel zu bringen, um sie dem Präparationsraum fernzuhalten.) Sie wird jenen übelkeiterregenden, süßen, lungenverätzenden Cocktail von Gerüchen einatmen - von Formaldehyd, Verwesung, Wachs. Sie wird sich auf das glatte, gallig gelbe Linoleum stellen, mit dem der Raum seit den 1950ern ausgelegt ist, neben die Bahre, nur einen Atemzug entfernt von dem Laken, das Mal - der einer seiner Söhne - anheben wird. Wieder wird sie über dem hohlen, leeren Schreckenskabinett stehen, das der Körper im Tode ist. Wie kann dieses Fleisch - ein solcher Quell der Freude, während wir leben - sich in etwas so Obszönes verwandeln, und das so schnell? Erst gestern haben sie und Welly sich geliebt. Was hat er sich dabei gedacht?, denkt sie erneut. Wieso um alles in der Welt ist er auf diese Weise abgetreten? »Gut«, sagt sie. »Ich fahre rüber, sobald ich die Kinder erreicht habe.« »Okay, Viney. Ich und Vonda kommen später vorbei und sehen nach dir.« »Danke, Bud.« Viney bleibt sitzen. Ihr Blick schweift von den Platzdeckchen und dem Besteck über die Küchenuhr und den Garderobenständer zu dem Sieb mit den frisch gewaschenen Kirschtomaten neben der Spüle. Sie erinnern sie an die Gummibälle, die die Mädchen auf den Boden prallen ließen, wenn sie unter diesem Tisch spielten, Gummibälle an Gummibändern, die an Paddel aus Balsaholz geheftet waren, heiß geliebt von den Kindern, diese billigen Spielsachen von Tinkham’s Five & Dime, gegründet 1881, seit 1980 außer Betrieb. Eine weitere Frage kristallisiert sich heraus: Hat er je mir gehört? Die Kirchenglocke läutet, Bud muss Pastor Huw schon erreicht haben. Bald wird jeder in der Stadt Bescheid wissen. Viney steht auf. Sie wählt die Nummer der Williams’ und bittet Hazel, Bonnie ans Telefon zu holen. (So ruhig in ihrem 93
Schmerz, denkt Viney, nachdem sie aufgelegt hat, als ob sie es bereits gewusst hätte. Genauso war es, als ihre Mutter verschwand.) Sie ruft bei Larken und Gaelan in Lincoln an - bei der Arbeit, zu Hause, auf dem Handy, wird aber nur mit ihren aufgezeichneten Stimmen verbunden und hinterlässt jedes Mal eine kurze Nachricht: Bitte melde dich, Schatz, es ist wichtig. Sie ruft bei ihren Töchtern an - bei Julie in Omaha, bei Janey in Salt Lake City - und hinterlässt auch hier Nachrichten; sie sind beide arbeiten und werden erst später zu Hause sein. Haley, ihre dritte Tochter, die einzige, die noch hier wohnt, hat keinen Anrufbeantworter, und Viney weiß ganz sicher, dass sie nicht daheim ist. Die Kinder verbringen das Wochenende mit Randy; er lebt in Crete, und Haley fährt sie gerade zu ihm. Das macht nichts. Es ist ja nicht so, als wäre Welly ihr Vater gewesen. Viney wird heute Abend mit ihr reden. Erst als sie endlich alle Telefonate erledigt, den Ofen ausgeschaltet und angefangen hat, das Gemüse wegzuräumen, dämmert ihr die Antwort auf ihre Fragen: Er wollte sterben. Er hat ihr nicht gehört. Sie haben nie richtig zueinandergehört. Die Kirchenglocke ist verstummt. Für Hope hat diese Glocke nie geläutet. Gaelan ist im Dunkeln. Sein Handy ist abgestellt. Er sitzt im Kino und schaut zu, wie sich der nackte Körper von Arnold Schwarzenegger auf der großen Leinwand entrollt. Funken fliegen. Die Energie, die den Terminator knisternd und zischend von der Zukunft in die Gegenwart befördert hat, schießt im Zickzack durch die Wüste, setzt dicke Ballen Tumbleweed in Brand, lässt Sandkörner explodieren. Gaelan hat diesen Film schon dreimal gesehen: mit Mara, einer seiner Geliebten, am Premierenwochenende, ein zweites Mal mit Jeff, seinem persönlichen Fitnesstrainer, und vor zwei Wochen noch einmal mit Larken. Er sieht ihn zum vierten Mal, allein, 94
weil die Aussicht, einen Freitagabend ohne Gesellschaft zu Hause zu verbringen, ihm zu deprimierend erschien. Gaelan findet viel Trost und Inspiration in Arnolds visueller Anwesenheit. Arnold ist kein großer Schauspieler - Gaelan besitzt alle seine Filme (sogar »The Jane Mansfield Story«) und sieht sie sich ohne Ton an -, aber ein großartiger Bodybuilder, ein Wunder an physischer Stabilität. Gaelan versucht sich auszumalen, wie es wäre, sich mit solch sicherer, gewichtiger Anmut durch die Welt zu bewegen. Er bestaunt Arnolds Körper, der sich seit seinen Tagen als Conan der Barbar stark verändert hat, immer noch. Auch der von Gaelan hat sich verändert, denn er eifert Arnold in allem nach, was mit Bodybuilding zu tun hat. Ebenso wie Arnold bevorzugt Gaelan jetzt eine schlankere Silhouette. Als Arnold sein Trainings-, Ernährungs- und Vitalstoffprogramm umstellte, um Masse durch Länge zu ersetzen, folgte Gaelan seinem Beispiel. Obwohl Arnolds Ruhm und Einfluss gewachsen sind - heute ist er Gouverneur von Kalifornien und mit einer Kennedy verheiratet, und es ist durchaus vorstellbar, dass sich die Gesetze des Landes irgendwann der zielstrebigen, unbezähmbaren Kraft Arnolds beugen und einen im Ausland geborenen Oberbefehlshaber erlauben werden: Präsident Schwarzenegger! -, hat Gaelan nach wie vor das Gefühl, mit dem Helden seiner Jugend durch seine Liebe zum Bodybuilding verbunden zu sein. Meistens beruhigt ihn das. Heute Abend jedoch wird Gaelan von Befürchtungen geplagt, dass sein Leben, wie sehr sein Bemühen um körperliche Fitness ihn auch dem ehemaligen Mr. Olympia nahebringen mag, zum Stillstand gekommen ist. Schon wieder hat eine Geliebte sein Bett verlassen. Er schläft schlecht. Der Herbst steht vor der Tür. Der lautlose Mörder verfolgt ihn immer noch. Auf der großen Leinwand hat sich Arnold soeben eingekleidet: enge Hose, Jacke, Stiefel, alles aus Leder. Jetzt kommt die Szene 95
mit der strassbesetzten Sonnenbrille. Das Publikum lacht. Gaelan wirft eine weitere Tablette gegen Sodbrennen ein. Wenn Larken bloß freitags nicht diese regelmäßigen Verabredungen hätte, sonst wäre sie bestimmt mitgekommen. Vielleicht geht sie ja morgen Abend mit ihm aus. Nach dem ersten Ausbruch von Regen und Tränen geht es Bonnie besser. Gewitter beruhigen sie, und obwohl sie sich ein wenig um die Williams-Mädels sorgt, bleibt sie fest entschlossen, ihre Pflichten als Archivarin zu erledigen. Irgendwann bemerkt sie eine plötzliche Stille, der Wind hat sich gelegt, und es tröpfelt nur noch. Bonnie reißt sich von ihrer Arbeit los und öffnet die Tür. Draußen ist es Winter geworden. Die Temperatur ist auf den Gefrierpunkt gesunken. Die aus Bonnies Lunge austretenden Gase konzentrieren sich augenblicklich und hängen vor ihr in der Luft. Sie formen vor ihren Lippen eine kleine Bank aus Kumuluswolken, die mit jedem schneller werdenden Atemzug wächst. Der Boden ist weiß, übersät mit knubbeligen Hagelkörnern in der Größe von Golfbällen, und doch sieht Bonnie, als sie aufschaut, dass wundersamerweise keiner der Windkreisel auch nur den geringsten Schaden genommen hat. Während sie sie anstarrt, fangen sie langsam an, sich zu drehen. Es geht kein Wind. Bonnie praktiziert ihre eigene Form von Wahrsagerei: Sie bückt sich nach einem Hagelkorn wie nach einer abgefallenen Pflaume, hebt es auf und steckt es in den Mund. Es ist mit Energie aufgeladen und hat einen besonderen Geschmack, zu gleichen Teilen nach Eisen, Salz und Schuhcreme. Eine chemische Reaktion setzt ein. Als ihr Speichel in Kontakt mit dem Hagelkorn kommt und es sich aufzulösen beginnt, blitzt in Bonnies Mundhöhle Licht auf, und ihre Wangen färben sich kurz glühend rot. Sie fängt an, über den Rasen zu gehen, behutsam zunächst, weil sie barfuß ist und die Hagelkörner hart, stellenweise scharfkantig und so kalt sind, dass sie ihr die Haut versengen. Doch so96
bald sie das Telefon im großen Haus klingeln hört, rennt sie auf dem rutschigen Untergrund los. Sie ist fast am Fuß der Verandatreppe, als die Tür knarrend aufgeht und Hazel erscheint, verschwommen und undeutlich hinter dem Fliegengitter, in ihr Hauskleid gehüllt. »Jetzt weiß er es, oder?«, sagt Bonnie. »Er weiß, wo Mom ist.« »Ich nehme es an«, erwidert Hazel freundlich, während sich ihre Augen mit Tränen füllen. Als sie die Fliegengittertür aufhält und Bonnie bedeutet, aus der Kälte ins Haus zu kommen, schaut sie zu Boden und ruft aus: »Ach du lieber Himmel, Kind! Was hast du nur mit deinen Füßen angestellt …« Larken schneidet Sellerie in winzige Würfel, die sie dem Möhren-Rosinen-Salat hinzufügen wird. Diese spezielle Zutat ist einer der Gründe dafür, dass Larkens Essensgast diesen MöhrenRosinen-Salat allen anderen vorzieht. Und Larken hat noch ein Geheimnis: Sie weicht die Rosinen vorher eine halbe Stunde lang in einer Mischung ein, die aus einer Tasse heißem Wasser, einem großzügigen Schuss Orangensaft, einem Spritzer Zitronensaft, einem Teelöffel Vanilleextrakt und einem Hauch Zimt und gemahlenem Ingwer besteht. Nachdem sie unter die geriebenen Möhren, die aufgeschwemmten Rosinen und die Selleriestückchen Kleehonig gehoben hat, streut Larken als krönenden Abschluss und Proteinlieferanten Sesam und Sonnenblumenkerne darüber, ungeröstet, ungesalzen, aus biologischem Anbau. Die Nudeln sind beinahe fertig. Larken schüttet zwei Tassen Tiefkühlerbsen in ein Sieb; darauf wird sie die Pasta abgießen. Sie hat noch einen Topf auf dem Herd, er enthält ein besonderes Gebräu, das jetzt perfektioniert ist, nachdem sie Dutzende Internet-Seiten nach Spezialdiäten durchforstet hat. Larkens Gast hat eine Laktose-Unverträglichkeit, und zahlreiche fehlgeschlagene Versuche haben endlich eine Soße ohne Käse ergeben, die nicht nur genießbar, sondern wirklich schmackhaft ist. Neben anderen Zutaten nimmt Larken Kurkuma, um das prägnante Cheddar97
Orange zu erzeugen, das ein unabdingbarer optischer Bestandteil von Makkaroni mit Käse ist. Sie rührt die Soße um, die schön glatt und sämig wird, und holt bewusst tief Luft. Alles wird gutgehen. Sie war ein verärgertes, nervöses Wrack, als sie nach Hause kam - nicht eben der ideale Zustand, um für einen lieben Menschen zu kochen. Larken meditiert über den Töpfen mit dampfender Pasta und warmer Soße und betet, dass nichts von ihrer Erregung von vorhin auf das Essen abgefärbt hat. Sie traf viel später hier ein, als sie gehofft hatte. Als ob diese scheißdämliche Universitätsparty nicht gereicht hätte, waren da noch das plötzliche, unerwartete Auftreten ihrer Periode - das im nicht geplanten Aufsuchen einer Drogerie resultierte - und die brennende Scham, als sie sich ausmalte, welchen Eindruck sie wohl auf den neuen Dekan gemacht hatte. Dann musste sie noch in die Videothek und den Supermarkt. Überall staute sich der Verkehr - als ob auch die Autos in der Hitze schlappmachten -, und die Schlangen an den Kassen waren aufreizend lang. Sobald sie zu Hause ankam, schleuderte sie ihre Schuhe von sich, stellte die Klimaanlage am Fenster auf höchste Stärke ein, packte ihre Taschen aus und machte sich gleich ans Kochen. Das blinkende Lämpchen an ihrem Anrufbeantworter sah sie nicht. Vielleicht hätte sie ihre Nachrichten auch nicht abgehört, wenn sie es bemerkt hätte; Larken hasst das schrille, aufdringliche, angeblich notwendige Läuten des Telefons - hasst es seit ihrer Kindheit, als Patienten zu allen Tages - und Nachtzeiten ihren Vater anriefen -, deshalb hat sie an ihrem Apparat zu Hause den Klingelton abgestellt. Private Anrufe für Larken sind stets von der vorhersehbaren Art: von Kollegen, Telefonwerbung, Gaelan, Viney und selten von ihrer kleinen Schwester. Sonst sind in ihrem gegenwärtigen Leben nur die Nachbarn über ihr von Belang, und wenn die das Bedürfnis nach Kommunikation haben, klopfen sie entweder mit dem Besenstiel auf den Fußboden oder rufen die Treppe hinunter. 98
Heute rufen sie nicht. Es ist sogar ungewöhnlich still. Zwar erklingt Musik, aber untypisch leise, und auch Schritte sind nicht zu hören. Vielleicht sind sie nicht da - doch das wäre ebenfalls untypisch für einen Freitag um diese Zeit. In Larkens Unterleib wüten Krämpfe mit voller Macht, und sie hat das Gefühl, von Drahtgeflecht durchbohrt zu werden. Sie hat bereits zwei super-saugfähige Binden durchgeblutet. Am besten legt sie eine frische ein, bevor ihr Gast eintrifft. Larkens Apartment - Teil eines Anfang des 20. Jahrhunderts erbauten Hauses - liegt wenige Kilometer vom Campus entfernt in einem Viertel von Lincoln, das alt, gutbürgerlich und üppig mit Bäumen bestanden ist. Ungefähr die Hälfte der Gebäude hier sind Einfamilienhäuser, die andere Hälfte ist in Wohnungen aufgeteilt, in diesem Fall drei: Das Erdgeschoss beherbergt Larkens Zweizimmerwohnung sowie ein schlecht geschnittenes StudioApartment (überteuert, schwer zu vermieten, zurzeit leerstehend); das obere Stockwerk ist eine Vierzimmerwohnung. Larken darf die vordere Veranda benutzen, die ihr reichlich Platz bietet, um Topfblumen, Gemüse und Kräuter zu ziehen. Bad und Küche waren früher andere Räume und nicht Teil des ursprünglichen Hauses - sie sind sehr klein -, das Wohnzimmer dagegen ist in voller Pracht erhalten: geräumig, gefliester Kamin, Erkerfenster, Holzdielen und bläulich getönte Fensterscheiben, die auch an den stickigsten und windigsten Tagen im Innern ein kühles, ruhiges, weihevolles Licht erzeugen. Larkens Schlafzimmer befindet sich hinter einer massiven Schiebetür im ehemaligen Esszimmer. Larken liebt ihr Apartment. Sie wohnt seit zehn Jahren hier und hofft, für immer hier wohnen zu können. Über ihr sind plötzlich Anzeichen von Bewegung hörbar: schwere Schritte von zwei Paar Füßen, durchsetzt mit dem Stakkato-Getrappel einer dritten, wesentlich leichteren Person. Stimmen konferieren leise. Larken versteht nicht, was sie sagen, nimmt jedoch eine deutliche Angespanntheit in der weiblichen Stimme wahr, die sich in einer streitsüchtigen Betonung der Kon99
sonanten äußert. Es fällt ihr leicht, sich vorzustellen, dass die Worte von Gebärden begleitet werden: von Stichen, Boxhieben, Schnitten, Klapsen. Larkens Nachbarn, Jonathan Schwartzmann und Mia Hinkley, sind vor fünf Jahren eingezogen. Mia ist vierzig und hat eine komplizierte persönliche Geschichte und ein unausgeglichenes Temperament, das sich äußerlich in zahlreichen Tätowierungen und aggressiv gezupften Augenbrauen manifestiert. Ihren Südstaatenakzent versucht sie zu vertuschen. Mia ist PerformanceKünstlerin. Larken erhält oft Einladungen zu Veranstaltungen, an denen Mia teilnimmt; sie geht hin, wenn es unvermeidlich ist. Mias Darbietungen fehlt es nicht an echter Leidenschaft, aber Larken findet den Stil, in dem sie sich präsentiert, sonderbar (sie schafft es, sowohl selbstbeweihräuchernd als auch masochistisch zu wirken) und ihre Auftritte roh und ungeformt wie Beef Tartare. Jon ist fünfunddreißig, hat im Englisch-Fachbereich der Universität einen Posten als Lehrbeauftragter inne und wird höchstwahrscheinlich bald ordentlicher Professor. Er hat bereits zwei von der Kritik bejubelte Romane und eine Biografie veröffentlicht. Larken wünscht sich akademischen Ruhm für Jonathan mehr als für sich selbst. Jon und Mia lernten sich in England kennen, als Mias Band Cunt Julep in der Kiez- und Kegelkneipe spielte, in die Jon immer kam, um zu schreiben. (Er war der einzige Gast, der nach dem Ende ihres ersten Songs blieb.) Obwohl diese Begegnung für eine lustige und romantische Anekdote taugt, die Jon zu gern erzählt und Larken zu gern hört, bestehen die beiden darauf, dass ihre Heirat eine pragmatische Angelegenheit war, eine reine Formalität nur zu dem Zweck, dass Jon in den Staaten arbeiten konnte. Das Thema Empfängnis haben Jon und Mia nie angesprochen. Es ist gut möglich, dass sie nicht beabsichtigten, ein Kind zu zeugen, aber es geschah, und zwar gleich nach ihrer Ankunft. In Lar100
kens Erinnerung parkte der Umzugswagen noch vorm Haus, und sie hatten erst die Hälfte ihrer Kartons ausgeladen, als sie auf dem Schlafzimmerfußboden loslegten. Mia ist sehr ausdrucksstark beim Sex. Die Geräusche, die sie beim Orgasmus ausstößt, haben etwas Animalisch-Brünstiges, daher weiß Larken, dass sie mitgehört hat, wie Jons und Mias Baby, das auf den Tag genau neun Monate nach ihrem Einzug zur Welt kam, gezeugt wurde. Larken schaut auf die Uhr; es ist sechs, und alles ist fertig. Oben wird die Musik ausgeschaltet und mit Schlüsseln gerasselt; zwei leise, zivilisierte Stimmen führen eine nicht zu dechiffrierende Unterhaltung. Eine dritte Stimme - hoch und zwitschernd durchdringt Schichten von Isoliermaterial, alten Holzdielen und Balken und ruft: »KOMM schon, Jonathan! KOMM schon, Mia! Wir müssen LOS!« Eine Tür knallt zu. Füße steigen die Treppe herunter; das Getrappel erinnert an ein kleines Pony, das wirkliche Grazie auf vier Beinen noch nicht beherrscht, sich aber sehr darum bemüht. Larken eilt an die Tür, erreicht sie atemlos und macht auf, nachdem lautes und drängendes Klopfen eingesetzt hat. »LARKEE! HI! FROHES WOCHENENDE!« Es gibt nur eins, was im Herzen von Professor Jones einen größeren Platz einnimmt als die flämischen Meister der Vorrenaissance und ihre Gemälde: Jonathans und Mias Tochter Esmé Veronica Hinkley-Schwartzmann. »Hi, Schneckchen!« Die Liebe ihres Lebens, ein exquisites Gewirr weißblonder Haare, Schuhe mit baumelnden Schnürsenkeln, das Gesicht mit Marmeladenflecken beschmiert, sieht aus wie ein Sherpa-Azubi. Ihre Besitztümer nehmen mehr Raum im Flur ein als sie selbst. Mit einer Hand umklammert sie eine Stofftasche, aus der ihre Menagerie aus Plüschtieren und Puppen quillt - Einhorn, Wolf, Libelle, Orca, Schildkröte, Krähe, Elch, Gecko -, mit der anderen hält sie den Griff ihres Koffers. »KINOABEND!« 101
Esmé katapultiert ihre fünfunddreißig Pfund hoch und in Larkens Arme. Larken vergräbt ihr Gesicht in Esmés zerzaustem Haar, das einen schwindelerregenden Mischmasch von Gerüchen verströmt, hauptsächlich nach Knetmasse und Klebstoff. Ein bisschen Glitzerstaub schmückt Esmés linkes Ohrläppchen. »Was hast du diese Woche ausgesucht?«, flüstert Esmé. »Wirst du schon sehen«, erwidert Larken, ebenfalls flüsternd, »wenn Mommy und Daddy gegangen sind.« »Ich WEISS einfach, dass es Nemo ist.« Esmé kuschelt sich enger an sie und drückt dabei etwas Klebriges an Larkens Wange. Dann windet sie sich aus der Umarmung zu Boden. »Brauchst du Hilfe, Schatz?« »Das schaffe ich schon«, sagt Esmé und beginnt, den Po voran, ihre Sachen in Larkens Apartment zu ziehen. Jon kommt die Treppe herunter, er trägt Esmés zusammengerollten Schlafsack und ihr Kopfkissen. Larken ist immer wieder beeindruckt von dem Kontrast zwischen Jons Körper und seinen Bewegungen, die schwungvoll und geschmeidig sind. Mia zufolge wiegt er über zwanzig Kilo zu viel und ist trotz seiner Jugend ein Kandidat für Herzbeschwerden. Jon erträgt ihre häufigen Hinweise in der Öffentlichkeit auf den Spott, den er als dickes Kind erdulden musste, und ihre ständigen Bemühungen, seine Kalorienzufuhr zu drosseln, anscheinend ohne es Mia übelzunehmen. Larken findet Jons Körper genau richtig; für sie sieht er aus wie ein solider, gepolsterter Ledersessel in einem gemütlichen Wohnzimmer neben einem knisternden Feuer mitten im Winter. »Larken«, sagt Jon, kommt durch den Flur auf sie zu und beugt sich vor, um sie auf die Wange zu küssen. »Schönes Wochenende.« »Wie war dein Tag?« »Also, mal sehen … Im Laufe des Morgens wurde ich immer besessener von den Fusseln auf meiner Strickjacke. Gegen Mittag fühlte ich mich von Gott berufen, den Spiegel im Waschraum zu 102
putzen, was mich zu der Frage führte, ob ein echter Schriftsteller so etwas wirklich tragen würde. Und um halb vier habe ich ernsthaft überlegt, in die Hobby Lobby zu fahren, mir Wolle zu kaufen und stricken zu lernen.« Larken lacht. Sie liebt Jonathans Stimme. »Ah! Das belustigt dich. Aber es waren Männer, die das Stricken erfanden, wusstest du das?« »Nein. Du bist ein Quell der Weisheit.« »Klar, na ja, ich bin ein Quell von irgendwas, so viel steht fest.« Es sind nicht nur Jons Arbeiterklasse-Akzent und seine ausgeprägt britische Sprech- und Ausdrucksweise. Seine Stimme erinnert Larken an ein Blätterteigteilchen, das oben Vertiefungen hat, Perforationen, wo es sich, wenn es frisch aufgebacken ist, eindrücken und dann aufblättern lässt wie ein Miniaturbuch. »Kurz gesagt«, fährt Jon fort, »es war ein anstrengender Tag. Ein holpriger Tag. Allerdings ist es mir gelungen, eine besonders brillante Stelle für ein Semikolon zu finden.« Larken lacht wieder. »Verstehe.« Mia erscheint mit ihrem Handy am Ohr auf dem Treppenabsatz. Sie trägt eins ihrer typischen Outfits - einen übergroßen gestreiften Männerpyjama aus dem Secondhand-Laden, in dem sie aussieht wie jemand, der gerade aus einem Sanatorium oder einer längeren Haft als Kriegsgefangener entlassen wurde. Sie bewegt sich wie zu einem Klagelied. »Was war bei dir?«, fragt Jon und wirft einen kurzen Blick auf Mia. Er spricht weiterhin im Plauderton, doch seine Miene umwölkt sich. »Hast du die Benotungen abliefern können?« »Ja.« Larken legt besondere Fröhlichkeit in ihre Stimme. »Jetzt bin ich zwei volle Wochen von Studenten befreit.« »Gratuliere. Bitte sag mir, dass du dieses Mädchen hast durchfallen lassen.« »Misty? Musste ich. Es nahm ein übles Ende. Sie gebrauchte Schimpfwörter.« 103
Jon packt Larkens Arm. »Oh Gott, Lark. Das tut mir leid. Studenten können wirklich Arschlöcher sein.« Mia ist unten angekommen. Sie lauscht nach wie vor aufmerksam dem Teilnehmer am anderen Ende der Leitung. Larken zuwinkend und mit dem Mund das Wort danke formend, setzt sie ihren Einpersonen-Trauermarsch durch den Flur und zur Tür hinaus fort. »Na dann«, sagt Jon. »Wir sollten wohl los.« »Was habt ihr vor heute Abend?« »Im ›The Night Before‹ ist Open Mike. Mia liest ein paar neue Arbeiten.« Jon legt Esmés Sachen hinter der Tür ab. »Hey, Kleines«, ruft er. Esmé ordnet ihre Stofftiere systematisch zu einem Halbkreis gegenüber dem Fernseher. »Ich gehe jetzt. Hab dich lieb.« Esmé kommt auf ihren Vater zugerannt, kracht gegen seine Beine und umarmt sie dann. »Tschüss, Daddy! Tschüss, Jonathan! Bis bald!« Jon will sie eben auf den Kopf küssen, als sie auch schon zurück ins Wohnzimmer hüpft. »Armes Kind«, sagt er, und Larken weiß, dass sein kummervoller Ton nur halb gespielt ist. »Schreckliche Trennungsängste. Was sollen wir bloß anfangen?« »Macht euch einen fantastischen Abend!«, spornt Larken ihn an. Ja, sie ist in Jon und Esmé verliebt - sogar in Mia -, und aus diesem Grund und vielen anderen dürfen sich Jon und Mia nicht trennen. Stunden später - nachdem Esmé ihre Makkaroni mit Käse und den Möhren-Rosinen-Salat verputzt, gebadet, sich zu Larken aufs Sofa gekuschelt und »Findet Nemo« gesehen hat - bemerkt Larken endlich das blinkende Licht an ihrem Anrufbeantworter. Es sind sechs Nachrichten. Nachricht eins, empfangen um 16:42 Uhr: Bitte ruf mich an, Schatz, sagt Viney. Es ist wichtig. »Was gibt’s zum Frühstück?«, ruft Esmé aus dem Bad. »Wie bitte, Süße?« 104
Nachricht zwei … »Was für ein gesundes Frühstück essen wir?« »Wie wär’s mit Kürbispfannkuchen?« »Ich liebe Kürbispfannkuchen!« Ich bin’s noch mal, Schatz. Bitte ruf so schnell wie möglich zurück, ja? »Putz dir die Zähne. Ich bin gleich bei dir.« »Erinnerst du dich an die Sache mit Nemos Mom?« Nachricht drei: Larken … »Larkee!« … Herzchen … »Ja!« Ich muss mit dir reden. Es geht um deinen Vater. Ich möchte nicht … »Die Sache mit Nemos Mommy.« »Ja, ich erinnere mich.« … ruf mich an, sobald du kannst. Okay? »Was ist mit ihr passiert?« »Na ja«, sagt Larken, bemüht, ihre Atmung zu verlangsamen und ihre Stimme zu kontrollieren. »Das wissen wir nicht genau, oder? Das haben sie nicht gezeigt.« Nachricht vier … Larken hört, wie Esmé ins Waschbecken spuckt und dann verkündet: »Ich glaube, der Fisch mit den Zähnen hat sie getötet. Nicht der Hai. Der war lustig. Der andere.« Larken. Viney weint. Ich möchte dir das nicht auf den Anrufbeantworter sprechen, aber … Schatz? Es hat einen Unfall gegeben. »Erinnerst du dich an den anderen Fisch?«, hakt Esmé nach. »Den Barkudu?« »Das war gruselig, stimmt’s? Ich war froh, dass du mir in der Szene die Hand gehalten hast.« Dein Vater, sagt Viney. Dein Dad …
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»Larkee?« Esmé ist fertig im Bad und kommt durch das Wohnzimmer dorthin getappt, wo Larken steht. »Ja, Mäuschen.« Larken stellt den Ton leiser. »Weinst du manchmal?« »Klar. Jeder weint ab und zu.« Larken steuert Esmé in Richtung Schlafzimmer. »Geh jetzt ins Bett. Ich bin gleich bei dir.« Esmé greift drängend nach Larkens Hand. »Aber ich möchte, dass du mitkommst. Mich trägst. Huckepack.« »Okay«, sagt Larken und unterbricht den Anrufbeantworter. »Aber dann musst du schlafen.« Esmé klettert auf einen Stuhl und von da aus auf Larkens Rücken. »Ich habe dich noch nie weinen sehen«, sagt sie. »Das liegt daran, dass ich immer glücklich bin, wenn wir beide zusammen sind.« Im Schlafzimmer ist Esmés Schlafsack bereits ausgerollt und ihr Kopfkissen aufgeschüttelt, und ihr Lieblingsplüschtier - der Orca - steht Wache. »Ich weine manchmal, wenn ich bei dir bin«, bemerkt Esmé. »Das ist was anderes.« »Wieso?« »Du musst jetzt schlafen, Schätzchen. Mach die Augen zu. Ich räume nur noch auf, dann komme ich.« Larken geht zurück ins Wohnzimmer. Nachricht fünf: Lark, sagt Bonnie mit ausdrucksloser Stimme. Dad ist tot. »Larkee?« Ich bin bei Viney. Sie ist zu Bett gegangen. »Vergiss nicht, dir die Zähne zu putzen!« Ruf uns morgen früh an. »Larkee!« »Ich hab dich gehört, Esmé. Ich vergesse es nicht.« Nachricht sechs, empfangen … »Kommst du bald?«
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Larken? Gaelan, weinend. Du hast es inzwischen bestimmt schon gehört. Ich fahre noch heute Nacht runter. »LARKEE! Ich warte und warte und warte auf dich.« »Bin sofort da.« Ruf an, okay? Auch, wenn es spät ist. Mein Gott, Lark, ich fasse es nicht. Ende der Nachrichten, erklärt der Anrufbeantworter mit einer pseudo-weiblichen Stimme, die keinen Trost bietet. Larken streckt die Hand aus, um die Löschtaste zu drücken, immer weiter nach unten, entsetzlich weit, denn das Durcheinander der Landschaft auf ihrem Schreibtisch entzieht sich ihr, fällt in die Tiefe, und sie sieht die getippten Seiten und die Bilder von Madonnen und Engeln aus großer Höhe, sieht, wie die Rechtecke einen verrückten Flickenteppich aus Text und Farben formen, über dem sie schwebt: ohne Netz, ohne Fallschirm, ohne Flügel. Sie umklammert die dicken hölzernen Kanten der Schreibtischplatte. Gaelan hat ihr geholfen, das Möbelstück in ihr Apartment zu tragen. Es war schwer, sogar für ihn. »Meine Mom wird nie sterben«, sagt Esmé. »Nie nie nie.« Hopes Tagebuch, 1961 Ich hätte sie natürlich auch essen können Ist es nicht im Grunde ein ständiges Listenabhaken? Läuft nicht alles darauf hinaus: versorgen, abwehren, beschützen, füttern, kleiden, Kinder gebären? Viel mehr als das gibt es eigentlich nicht: sich den Grundbedürfnissen stellen, an die wir Menschen gefesselt sind. Alles andere ist Zuckerguss, Schlagsahne, und man kann sich glücklich schätzen, wenn man es kriegt. Auf das Unvermeidliche warten, hoffen, dass du vor deinen Kindern stirbst, und wenn du sie begraben musst, wissen, dass du den Großteil deines restlichen Lebens damit verbringen wirst, dich von ihnen wegzubewegen und seltsamerweise gleichzeitig auf sie
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zu, auf die so ersehnte Wiedervereinigung, und doch, was ist mit den Lebenden und deren Bedürfnissen an dich? Ich habe das Baby verloren. Es gibt etliche Listen, die jetzt weggeworfen werden können, auf denen etwa steht: Kinderzimmer streichen (obwohl Llwellyn schon versucht, mich zu beruhigen; alle versuchen, mich zu beruhigen, sogar Frauen, die dasselbe durchgemacht haben, und ach wie gern sie aus der Versenkung auftauchen, nun, da auch mir das passiert ist, und falls ich wütend klinge statt dankbar für ihr Mitleid, dann deshalb, weil ich es bin, wütend, weil ihre Wunden verheilt sind und keine Flüssigkeit mehr absondern wie diese, wie auch meine Brüste überquellen von unausgedrückter, ungetrunkener Milch. Am liebsten würde ich nachts rausrennen und den Himmel mit Trauer bespritzen.) Kinderzimmer streichen. Windeln kaufen. Kleidungsstücke - wohin soll ich mit ihnen? Ich hätte sie natürlich auch essen können. Das wäre vielleicht ein besseres Gedenken gewesen. Urzeitlich, nach der Art wilder Tiere, streunender Katzen. Hätte ich sie mir einverleibt, würde ich jetzt womöglich nicht am Wahnsinn des Verlusts leiden. Sie wäre immer noch ein Teil von mir, nichts Abgetrenntes. Ich könnte versuchen, sie auszugraben. Soll ich? Nein. Ich habe ihr Fleckchen Erde schon mit ein paar Tropfen ausgedrückter Milch geweiht. Was für ein wunderbarer Begriff! Ausgedrückte Milch - im Gegensatz zu »unausgedrückter Milch« - ist die Kennzeichnung. L. hält mich für verrückt. Er hat Recht. Und hier das Furchtbarste, vielleicht sogar noch furchtbarer (obwohl ich das nicht glaube) als der Verlust selbst: die sichere Gewissheit, dass sich ein großer Graben zwischen uns aufgetan hat. Die Landschaft unserer Ehe ist für alle Zeit verändert; da klafft ein tiefer, steiler Abgrund, der sich nie überbrücken lassen wird, denn auf der anderen Seite ist nichts. Und das hat nichts mit der Schwan108
gerschaft zu tun - damals waren wir vereint, wir machten sie gemeinsam durch, obwohl es mein Körper war -, sondern mit dem Tod, dem Gebären des Todes, der auf jeden Fall eingetreten wäre, auch wenn ich das Kind ausgetragen hätte; das erkenne ich jetzt. Wir sind es, immer wir, die Mütter, die gebären und zugleich töten (sie gebären über dem Grab, welcher der alten Griechen hat das gesagt?), und jetzt ist mir klar, dass L. das nie verstehen wird, nie dasselbe empfinden wird wie ich. Er wird nie wissen, wie das ist, wie es Frauen wissen, oder doch? Er sieht mein Handeln nicht im richtigen Kontext. Als ich mit dem Sieb ins Bad ging und anfing, in der Toilette nach ihr zu fischen - durchscheinend, seidig war sie, und ja, ich kann es »sie« nennen, weil ich weiß, dass das stimmt, und nichts als dieses Wissen brauche -, versuchte er, mich zu bremsen. Als wäre ich verrückt, als brächte ich mich in Gefahr. Aber nichts hätte mich davon abhalten können, sie zu retten, ihr eine ordentliche Bestattung zu verschaffen. Wieder kommen mir die Griechen in den Sinn: Jetzt könnte ich Antigone spielen mit ihrem wahnsinnigen, verzweifelten Verlangen, ihren geliebten Bruder zu begraben. Immer wieder versuchte L., mich von der Toilette wegzuziehen. Immer wieder riss ich mich los. Es muss gewalttätig zugegangen sein - ich bemerke blaue Flecken an meinen Beinen, Kratzer in L’s Gesicht. Doch irgendwann hat er mich wohl losgelassen, denn ich holte sie - nackt und bloß, uneingegrenzt, ein bisschen mehr als eine Ansammlung von Zellen, aber noch nicht in erkennbarer menschlicher Gestalt, eher so etwas wie ein Meereswesen - heraus und legte sie zwischen zwei der Flicken (an der Babydecke arbeiten stand auch auf der Liste) ihres Quilts. Dies werden immer ihre Farben sein, es wird nie wieder eine Decke geben wie diese, nie ein anderes Muster für irgendein künftiges Kind (als ob ich das jemals wieder tun könnte),
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und trug sie zu einer Stelle weit hinten auf der Wiese, die jedoch leicht zu finden ist, und begann zu graben. L. blieb hinter mir und beobachtete mich aus der Ferne. Warum konnte er nicht kommen und mit mir trauern? Was hinderte ihn daran? Wovor hatte er solche Angst? Ich spürte, dass er mich ganz neu sah. Mit Schrecken? Vielleicht. Ruhig und tolerant auf seine Weise, doch da zeigte sie sich, noch eine Kluft, eine tiefe Schlucht, und womit sollte man sie überbrücken? Ich grub so tief, wie es mit bloßen Händen möglich war, und salbte den Boden mit Blut und Milch - inzwischen floss Blut aus mir heraus; meine Kleider waren durchnässt, also hatte L’s Widerstreben vielleicht einen ganz einfachen Grund: Er ekelte sich vor mir, vor dem, was ich verströmte. Das Frausein ist so unsauber, und hier war ich, überquellend von Flüssigkeiten. Nur mein Mund war trocken. Ich wünschte, ich hätte etwas anderes von mir geben können als würgende Geräusche, die Leere des Schmerzes. Wenn sich mein Mund nur zu einem Lied hätte öffnen können, etwas, das sie auf ihren Weg gebracht hätte, zu einem Fluss ins Meer für mein kleines Meereswesen. Und so nannte ich sie Marin. Es ist nicht so, dass wir die Macht haben, Leben zu schenken. Das ist es nicht, was meinen Mann und mich auf ewig voneinander entfremden wird, es ist die Macht, den Tod zu schenken. Es ist dieses Wissen: Das haben wir - habe ich - getan. Es ist alles unsere Schuld. Es ist wirklich die schrecklichste Macht auf Erden, die uns, den Müttern, gegeben ist. Ich will sie nicht. Ich ertrage sie nicht. Und doch …
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6 Verdeckte Einfahrt Gaelan erinnert sie immer wieder daran, dass es sich um einen Mythos handelt - diese Vorstellung vieler Menschen, es gäbe geschützte Orte. Allerdings wäre er auch der Erste, der einräumen würde, dass man trotz aller technologischen Fortschritte - Doppler-Radartürme und mathematische Modelle und farbige Darstellungen und computergenerierte Simulationen - immer noch nicht weiß, was zum Teufel einen Tornado auslöst oder wie er sich nach seiner Entstehung verhält, und die Wahrheit ist, dass es innerhalb der Stadtgrenzen von Lincoln noch nie einen gegeben hat, kein einziges Mal. Nachdem Larken ihre Abfahrt daher so lange wie möglich aufgeschoben hat und sich nun mit dem unausweichlichen Verlassen ihrer von Bäumen gesäumten Straße in dieser mythisch geschützten Stadt und der Reise in die Gefahrenzone, ihren Heimatort, konfrontiert sieht, kann sie sich trotzdem nicht dazu überwinden, die Handbremse zu lösen und Gas zu geben. Sie sitzt in ihrem Wagen - sicher angeschnallt im Fahrersitz, während der Motor läuft und die Klimaanlage auf höchste Stufe eingestellt ist - und redet mit Jonathan, seit einer ganzen Weile schon, so lange, dass die Sonne in ihr Blickfeld gerückt ist und sie allmählich blendet, lange genug für die Benzinanzeige, um unter halbvoll zu rutschen. Larken klappt die Sonnenblende herunter und trinkt den Rest des Kaffees, den Jon ihr gebracht hat, als sie das Auto belud. »Danke noch mal, Jon«, sagt sie und reicht ihm den Kaffeebecher. »Ich sollte dann wohl…« »Hier, Larkee!«, schreit Esmé fröhlich. Sie streckt ihr einen Strauß schlaffer, fast totgedrückter Löwenzahnblüten entgegen, die sie während Larkens Verabschiedungsversuchen gepflückt hat. 111
»Danke, Schätzchen! Die sind schön!« Larken widersteht dem Drang, an ihrem Daumen zu lecken und Esmés Gesicht zu säubern. Sie dachte, sie hätte alle Sirupflecken erwischt, nachdem sie heute früh Pfannkuchen gegessen und sich »Clifford, der große rote Hund« angesehen haben, aber immer noch haften Reste von Schwarz an den seltsamsten, unwahrscheinlichsten Stellen: einem Ohrläppchen, einer Schläfe, einem inneren Augenwinkel und zwischen Esmés Brauen, wo eigentlich ein juwelenbesetztes Bindi hingehört. »Willst du sie nicht ins Wasser stellen?«, fragt Esmé. »Sie verwelken.« »Oh! Aber ich habe nichts im Auto…« Jon hockt sich neben Esmé und reicht ihr den Kaffeebecher. »Warum bittest du Mum nicht, den hier auszuspülen und mit Wasser zu füllen? Dann kannst du Larkens Blumen da reintun.« »Okay. Ich bin gleich zurück.« Esmé hüpft die Verandastufen hoch und ins Haus. Jons Blick folgt ihr. Und Larken muss an Supermann und seine Röntgenaugen denken. Es ist, als könnte er tatsächlich sehen, wie Esmé die Treppe hinauf und durch die Räume des Obergeschosses bis in das Schlafzimmer hopst, das er mit Mia teilt und wo jetzt das Rollo noch heruntergezogen ist. Larken war fast die ganze Nacht wach, daher weiß sie, dass Jon gegen eins und Mia um vier Uhr morgens nach Hause gekommen ist. Sie haben sich nicht geliebt, aber auch nicht gestritten. »Wie schafft sie es, sich Sirup auf die Augenlider zu praktizieren?«, fragt Larken. Sie will nicht fahren. Sie wird hier gebraucht. »Das ist eine ihrer speziellen Fähigkeiten«, erwidert Jon, der immer noch auf sein Schlafzimmerfenster schaut, als hätte er auch Superheldenohren und könnte jedes Wort hören, das gesprochen wird. »›Bringt übermenschliche Klebrigkeit zustande. ‹ Das kommt gleich nach ›Richtet nächtliche Verwüstungen mit Bettzeug an‹ und ›Spielt Schwertkampfszenen aus Die Braut des Prinzen nach‹. So begabt müssten wir alle sein.« Er wendet sich wieder Larken zu. »Ruf mich an, wenn du was brauchst, okay?« 112
Sie muss fahren. Ihr Vater ist tot, und sie hat noch keine Träne vergossen. »Erzähl Esmé nichts, ja?« »Was soll ich sagen, wenn sie fragt? Es ist doch offensichtlich, dass was passiert ist.« Larken nickt, überlegt und seufzt dann. »Ich weiß nicht. Stell dich einfach dumm.« »Ah! Das ist wohl eine meiner speziellen Fähigkeiten.« »Lüg sie an, meine ich. Behaupte, du wüsstest nichts. Du kannst doch deine Tochter anlügen, oder?« »Natürlich. Das ist absolute Vorbedingung für Elternschaft. Im Krankenhaus geben sie dir das Kind erst, wenn du beweisen kannst, dass du Experte im Lügen bist.« Esmé kommt langsam auf sie zu, vorsichtig den Kaffeebecher balancierend. »Mia hat noch geschlafen«, flüstert sie, »da habe ich es selbst gemacht.« Sie erreicht den Wagen und hält Larken den ertrunkenen Löwenzahn hin. Jon taucht einen Hemdzipfel in das Wasser und bearbeitet damit Esmés Schmutz- und Sirupflecken. »Na dann«, sagt Larken. »Wir vermissen dich!«, ruft Esmé. Jon übergibt Esmés Blumenstrauß, beugt sich dann durch das offene Fenster und küsst Larken auf die Wange. Er hat sich noch nicht rasiert und riecht nach frisch gemahlenem Kaffee und dem eigenartig muffigen Duft, den Mia trägt. »Es tut mir so leid, Larken«, sagt er leise. Sie liebt es, wie er ihren Namen ausspricht, wie niemand sonst: das verschluckte ›r‹, das scharfe ›k‹, die vertikale Ausrichtung des Klangs - LAHkun , bei dem sie sich wie ein anderer Mensch fühlt. »Halt die Ohren steif, okay? Gute Fahrt.« Goodbye, goodbye, goodbye, rufen sie einander zu, während Larken aus der Einfahrt biegt. Sie betrachtet die beiden kleiner werdenden Figuren im Rückspiegel, bis sie sie nicht mehr sieht,
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und fragt sich dabei, wie viele Generationen es wohl gedauert hat, bis aus der Wendung God be with you das Wortgoodbye wurde. Ich bin nur ein paar Tage weg, ruft sie sich ins Gedächtnis. Doch sie hat eine plötzliche, furchtbare Vorahnung, dass sie Jonathan und Esmé nie wiedersehen wird, und fängt schon an zu weinen, ehe sie um die Ecke gebogen ist. Larken verbringt eine Menge Zeit so, unterwegs in ihrem Wagen. Sie fährt allein hin und her, trotzig, ganz amerikanisch, ohne Schuldgefühle wegen des Ölpreises oder der Gleichgültigkeit gegenüber der globalen Erwärmung, die ein solches Handeln bedeutet. Sie verlässt sich darauf, dass die Erde ihr wenigstens das verzeiht. Neben den Regeln, die sich Larken für ihr Verhalten als Professorin aufgestellt hat, folgt sie im Geiste auch einem Leitfaden, mit dem sie ihr Öko-Karma in der Balance hält, und achtet darauf, dass sie ihre Sünden an Mutter Erde durch gute Taten wettmacht: Das Autofahren als Einzelperson gleicht sie damit aus, dass sie jeden Karton pflichtbewusst plattdrückt und recycelt, ihre Bio-Abfälle an die Würmer verfüttert und beim Zähneputzen den Wasserhahn zudreht. Für andere Sünden zu büßen ist komplizierter, aber was das Autofahren betrifft, hat Larken ein reines Gewissen. Das Alleinfahren - besonders auf offener Straße - erschließt ihr eine eigentümliche innere Landschaft, die ihr eine Flüssigkeit des Denkens, emotionale Sicherheit und den Zugang zu Erinnerungen ermöglicht, die sonst nicht abrufbar sind. Deshalb schließt sie sich keiner Fahrgemeinschaft an. Während sie durch die Stadt auf den Highway 77 zusteuert, sinnt Larken über die Tatsache nach, dass sie hemmungslos um ihre Nachbarn, nicht aber um ihren Vater trauern kann. Dad ist tot, denkt sie, als sie an einer roten Ampel wartet. Sie hofft, dass diese unausgesprochene Erklärung den Sturzbach ihrer Gefühle und Tränen für Jonathan und Esmé umlenkt. Dad. Ist. Tot. Larken fällt nicht nur der Inhalt ihrer Gedanken auf, sondern auch ihre Unmissverständlichkeit im Gegensatz zu der Sprache, 114
derer sie sich bedient, wenn sie die Abwesenheit ihrer Mutter beschreibt. Sie sagt nie: Mom ist tot oder Als meine Mutter starb, sondern Mom ist in die Luft geflogen oder Als meine Mutter verschwand. Dad ist tot, wiederholt sie mit mehr Nachdruck. Jetzt werden ihre Nase und ihre Augen jeden Moment einen neuen Grund finden überzulaufen, werden mit Hilfe ihres inneren Monologs den naheliegenderen Quell anzapfen: den Verlust ihres Vaters. Der tot ist. Das hat man ihr jedenfalls berichtet. Die Ampel schaltet auf Grün. Immer noch nichts. Sie probiert es mit einem Experiment. »Daddy ist tot«, sagt sie laut, um die potenzielle Macht kindlichen Sprechens heraufzubeschwören, doch ihre Nasenlöcher sind so mit Schleim verstopft, dass ihr die Verschlusslaute nicht recht gelingen und das Ganze eher wie »Annies Hut« klingt. Sie versucht es noch einmal. »D-addy«, müht sie sich, »ist t-ot.« Vielleicht werden die im Wagen umherschwirrenden Schallwellen Emotionen auslösen, sich ihren Weg bahnen durch die Korridore, durch welche die äußere Welt in die innere übertragen, Materie in Geist, Äußerung in Gefühl übersetzt wird. »Daddy. Daddy. Daddy. Daddy«, wiederholt sie, immer noch in der Hoffnung, dass ihr Herz mit Trauer darauf reagiert. Aber die Ds klingen nach Komik, verlangen nach einer Pointe. Daddy mag zwar die richtige Anrede für ihren Vater sein, eignet sich akustisch jedoch nicht zur Heraufbeschwörung von Kummer. Sie setzt ihren Weg nach Süden fort, vorbei an neuen Einkaufszentren und Siedlungen, die immer weiter entfernt vom Herzen der Innenstadt entstehen. In ihrer Kindheit war das alles hier Ackerland. Die Siedlungen tragen verlogene Namen, die nichts mit ihrer Umgebung zu tun haben - »Wohnen in der Wildnis«, »Bisontal« -, und die Einkaufszentren täuschen Grandezza vor. Larkens Meinung nach zeigen sich die schlimmsten Auswüchse amerikanischer Hybris in dem »e«, das dem Wort 115
»Point« hinzugefügt, und dem »re«, mit dem das »Center« verunstaltet wird. In Nebraska sagt niemand pointe odercentre - bis auf sie und Jon vielleicht, wenn sie improvisierte Gespräche mit schamlos nasalem, übertriebenem Peter-Sellers-als-InspektorClouseau-Akzent führen, ein verlässlicher Quell des Entzückens für Esmé schon in ihrem ersten Lebensjahr. An einer anderen Ampel füllt sich der Fußgängerüberweg mit Frauen, die die gesamte Bandbreite dessen vor sich herschieben, was zurzeit an Transportmitteln für Säuglinge erhältlich ist: Zwillings- oder Drillingswagen, dreirädrige Jogger, Liegebuggys, chromgerahmte Kutschen im Retro-Stil. »Mein Vater ist heimgegangen«, informiert Larken die vorbeiziehenden Frauen und Säuglinge. »Mein Vater ist entschlafen.« Ihre Tränen fließen wieder, doch sie gelten nicht ihrem Dad. Sie schaut auf den Beifahrersitz, wo in dem Kaffeebecher Esmés Blumen dahinsiechen: Schwächelnd, mit anämischen und hoffnungslos schlaffen Stengeln erinnern sie Larken an alte, von Knochenschwund befallene Menschen mit ihren degenerierten Wirbelsäulen und dem wächsernen Teint. Es ist einfach noch nicht real, befindet sie. Eher so, als läse man einen Nachruf in der Zeitung, der typischerweise mit den Worten beginnt: Soundso - Tochter/Sohn von Soundso (Mutter) und Soundso (Vater), geboren am Soundsovielten in Soundso - ist heimgekehrt zu Gott, hat jene schwere Last abgelegt, sich zu Jesus im Himmel gesellt … Larken bricht das Herz, als sie sich die Freude der Eltern des Verstorbenen bei der Geburt des Kindes vorstellt - eines Kindes, das jetzt tot ist, ebenso wie sie. Im Nachruf heißt es weiter: Soundso lebte hier und da, war tätig als dies und das, hinterlässt blabla und so fort und so fort - der Reichtum eines ganzen Lebens, reduziert auf einen Zehn-Cents-pro-WortBandwurmsatz, markiert durch die Kommata des Korrektors. Auch das Leben ihres Vaters wird auf einen solchen Nachruf zusammenschnurren, wird Larken klar, und das ist traurig, aber nicht traurig genug, um starke Emotionen zu wecken. 116
Was wird es real machen?, fragt sie sich, weil sie die Abwesenheit ihres Vaters nur so spürt wie immer: Er ist nicht hier, aber trotzdem fühlt es sich an, als ob er dort, als ob er irgendwo sein könnte. Auf jeden Fall ist er irgendwo. Larken weiß, dass der wahrscheinlichste Ort, jemanden zu finden, der nicht hier ist, aber sicherlich irgendwo, die Erinnerung ist. Sie biegt auf den Highway ab, der den Großteil ihres Heimwegs ausmachen wird, eine auf der Landkarte blau eingezeichnete Straße, kaum befahren, nur wenigen bekannt. Sie atmet tiefer ein als Reaktion auf eine Umgebung, die nicht verschandelt ist von Ampeln, schicken Allradfahrzeugen und Wohnsiedlungen. Die leere Straße liegt erwartungsvoll vor ihr. Larkens Vorfahren waren bestimmt fasziniert von der Leere, angelockt von dem Mangel an Bäumen, die gefällt, an Felsen, die hätten weggeräumt werden müssen, und von der schwarzen Erde, in der alles wachsen würde, so hieß es, alles. Und so war es auch. Trotzdem. Keine Berge, pflegte Daddy zu sagen, wenn sie im Auto saßen und die Straße sich so vor ihnen erstreckte. Nichts Exotisches, aber hier sind wir zu Hause. Dabei klang seine Stimme - die allgemein für ihre musikalische Schönheit beim Singen und beim Sprechen bekannt war - seltsam ausdruckslos, und Larken begriff schon früh, dass Daddys Gefühle für dieses Zuhause gemischt waren. Manchmal war Daddy gelb - nicht mommy-gelb (wie die Eigelbe in der Schüssel, ehe sie durch einige Spritzer Milch gebleicht und verrührt waren, wie Hope, wenn sie vorm Einschlafen zusammen lasen), sondern daddy-gelb, hatte eine ganz spezielle Farbe, intensiv, glänzend: die puddingartige Füllung der Zitronenriegel, die beim walisischen te bach in der Kirche serviert wurden, Löwenzahnblüten nach einem Regenschauer. Bisweilen war Daddy auch gelb, wenn er in die andere Richtung fuhr, zum Indian Hills Cinerama in Omaha zum Beispiel oder ins Stuart Theatre in Lincoln und danach in ein schickes Restaurant - ob117
wohl seine Wegfahrfarbe meistens eine war, die Larken bei sich als Kleeblatt-im-Sonnenschein bezeichnete. Wenn er in diese Richtung unterwegs war, erst nach Süden, dann nach Westen, nach Hause also, war Daddy dagegen nie gelb. Nein, auf der Heimfahrt hatte Daddy eine trübselige Farbe, die Larken nie richtig hat bestimmen können. Und das kann sie auch jetzt noch nicht, obwohl sie erwachsen und überdies eine Person ist, deren akademischer Grad und Beruf von ihr verlangt, dass sie Farbe haargenau und ganz spezifisch analysiert und beschreibt, sich in der Wissenschaft der Farbrelationen auskennt, darin, wie Farben einander hervorheben, wie sie auf Lichtveränderungen reagieren. »Grau« ist das Treffendste, das ihr bisher eingefallen ist. Im Unterschied dazu war Hopes Heimfahrtfarbe ein saftiges Fuchsienrot, die Farbe von angetauter Kirsch-Vanilleeiscreme, die in sich verschmolz. Außerdem hatte sie etwas an sich, das sprudelnd, elastisch und schwungvoll wirkte, und Larken stellte sich auf dem Heimweg immer vor, dass ihre Mutter, in einen Gummireifen geschmiegt, eine Wasserrutsche hinuntersauste und dabei glücklich an einem Mixgetränk aus Kirsch-Vanilleeis und 7-Up, gekrönt von bunten Streuseln, nippte. So ist es, seit Larken sich erinnern kann, seit sie ganz klein war, bevor ihre Sprache präziser war als Daddy grau, Mommy kirsch, um die Dynamik zwischen ihren Eltern zu beschreiben und die gegensätzlichen Energien, die ihre gemeinsamen Autofahrten nach Hause bestimmten. Man konnte sich auch mit einem von ihnen verbünden: Wenn man nach Emlyn Springs wollte, schwamm man fröhlich mit auf Mommys Gummireifen, und Ruder waren überflüssig. Wollte man dagegen nicht nach Hause, stieg man zu Daddy in sein kleines Ruderboot, wo einem die Brust eng wurde, das Atmen schwerfiel, die Hände wund und voller Blasen waren, die aufplatzten und heilten und wieder aufplatzten.
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Heute ist Larken beseelt von der Energie ihres Vaters: Sie fährt stromaufwärts, gebremst, nur so schnell, wie es erlaubt ist, oder langsamer, obwohl sie weiß, dass sie ihrem Ziel entgegeneilen müsste. Für diese Sünde des Widerstrebens gibt es keine Buße. So findet Larken Erinnerungen: Sie bewegt sich in Spiralen. Ihr Blick beschreibt, zunächst diffus und frei schweifend, einen Kreis um die Landschaft, groß und weit, gleitet dann, nicht mehr auf eine einzige Ebene beschränkt, wie im Sturzflug nach unten und verengt sich dabei. Raubvögel tun dasselbe. Herzchirurgen und Trichterwolken auch. Und dann wird etwas heraufgeholt, verwirbelt, umgedreht, zerlegt, auseinandergerissen und im Zuge dieser hochkonzentrierten Betrachtung mehr, als es zuvor war: ein Symbol. Das versucht Larken ihren Studenten beizubringen: dass eine selektive Wahrnehmung dem, was wir sehen, gesteigerte Bedeutung verleiht und alles, alles, wenn es nur aufmerksam ins Auge gefasst wird, signifikant erscheint. Eine Feldmaus wird Nahrung und alles, was Nahrung repräsentiert. Ein krankes Herz versinnbildlicht mehr als sein physisches Sein. Und eine Tafel in einem Kornfeld wird Symbol für einen nicht eingeschlagenen Weg. Da ist sie, direkt vor ihr. Fötus bedeutet »kleines Lebewesen«. Dem Illustrator mag es an vielen fundamentalen Techniken mangeln, aber er will den Uninformierten und Ängstlichen eindeutig weismachen, dass ein menschlicher Fötus in utero Anatomie und Gesichtszüge eines mehrere Monate alten Babys hat samt Lächeln und einem voll ausgebildeten Gebiss. Und so stürzt Larken hinab in den Schlund der Erinnerung an Ereignisse, die ihre erste längere Autofahrt allein im Herbst 1979 begleiteten. Die ehemalige Miss Emlyn Springs ist fünfzehn, ein Jahr und fünfzehn Kilo über ihre Tage als Titelgewinnerin hinaus, ein mutterloses Kind und eigentlich auch ein vaterloses. 119
»Du bist absolut sicher, dass du das Baby abtreiben willst?«, fragt die Beraterin zum vierten Mal. Sie ist Mitte zwanzig, von gesundem Aussehen und auf aggressive Art mitfühlend, der Typ große Schwester, der Larken nicht ist und niemals sein wird. »Du bist sicher, dass du eine Abtreibung später nicht bedauern wirst? Es gibt andere Optionen.« Die Beraterin heißt Trixie. Der Name passt perfekt zu ihr, und Larken hat ihn nie vergessen. »Ja, ich weiß«, erwidert Larken, ohne zu zögern, »ja, ich bin sicher.« Sie hat kein einziges Mal mit zweifelnder Stimme geantwortet, und dennoch hat Trixie gefragt und gefragt und Larken dabei jedes Mal betrachtet, als wäre sie ein Autoreifen mit einem kleinen Loch, das sie nicht so recht lokalisieren kann. »Also, gehen wir einfach alles noch mal durch«, sagt Trixie. »Es gibt jede Menge sozialer Einrichtungen, die ich dir empfehlen kann, wenn du auch nur den geringsten Zweifel hast.« Sie ist so arglos und wenig gönnerhaft, dass Larken es nicht übers Herz bringt, etwas dagegen einzuwenden. »Schließlich ist es eine Entscheidung, die den Rest deines Lebens beeinflusst.« Trixie hält ihr ein graugrünes Blatt Papier mit der Überschrift Ehe du dich entscheidest: ABTREIBUNG ist nur EINE Möglichkeit hin. Sie zeigt beim Sprechen mit ihrem Stift auf die Optionen zwei und drei und erläutert sie in großer Ausführlichkeit, obwohl sie im Wesentlichen hierauf hinauslaufen: Baby bekommen/Baby behalten oder Baby bekommen/Baby weggeben. Larken ist keine Idiotin. Sie weiß, dass es bei Trixies Vortrag nicht um Informationen geht. Hier geht es nur darum, ihre Entschlossenheit zu prüfen. Trixies wiederholter Gebrauch des Wortes »Baby« ist so eklatant taktisch, dass Larken sich auf die Lippen beißen muss, um nicht zu lachen. Vielleicht geben andere Mädchen nach, brechen zusammen, ändern ihre Meinung, aber nicht sie, Larken Jones. Trixie könnte das Wort »Baby« tausendmal benutzen, und dieses Mädchen würde es sich trotzdem nicht anders überlegen. 120
Musste Lindie Critchfield sich diesen Scheiß auch anhören?, fragt sich Larken. Auf keinen Fall, sonst hätte sie es nicht durchgezogen. Larken kommt zu dem Schluss, dass Trixie an dem Tag frei gehabt haben muss und zu Hause Tunfischdosen für ihre zwölf Pflegekatzen geöffnet oder im Obdachlosenheim Mittagessen serviert oder im Krankenhaus Kindern mit Krebs im Endstadium vorgelesen hat. Lindie Critchfield ist der Grund dafür, dass Larken hier ist. Sie ist im letzten Schuljahr, Softballstar und Präsidentin des Fördervereins für Vorschulkinder. Sie kommt aus einer gutbürgerlichen Familie, hat in dieser Hinsicht also etwas mit Larken gemeinsam. Für ein Mitglied des Schuladels ist sie recht nett, grüßt jeden und tut wie viele der allgemein beliebten Jugendlichen nicht so, als würden sie sich nicht alle schon kennen, seit sie Windeln trugen aber sie ist nicht Teil von Larkens näherem sozialen Umfeld. (1979 hat Larken schon nicht mehr viele Bekannte, geschweige denn enge Freunde. Ihr bester Freund ist ihr Bruder.) Da die Schulqueen stets im Scheinwerferlicht steht und Larken so einmalig scharfe Augen hat, bemerkt sie irgendwann, dass sich das leuchtende Orange eintrübt, das immer Lindies Grundfarbe gewesen ist. Der Verlust an Leuchtkraft ist so eindeutig und alarmierend, dass Larken sich über die offenkundige Blindheit der anderen wundert; sie fürchtet, Lindie könne sich eine tödliche Blutkrankheit zugezogen haben - Leukämie vielleicht oder anaplastische Anämie. Es stimmt, Larken neigt zur Paranoia, wenn es um Krankheiten geht. Sie ist nicht hypochondrisch wie Gaelan, doch der mühelose Zugang zu den medizinischen Büchern ihres Vaters hat ihre Fantasie so weit angeregt, dass sie ständig nach Symptomen Ausschau hält, falsche Diagnosen stellt und jedem, der auch nur im Mindesten unpässlich wirkt, alle möglichen imaginären Leiden andichtet. Als sie Lindies Freund Matt Moser genauer in Augenschein nimmt, sieht Larken, dass sich auch seine Farbe verändert hat: An 121
die Stelle der sonnigen Zuversicht, Matts Markenzeichen, ist ein düsteres Maulheldentum getreten, das ihn zum Arschloch macht. Larken erkennt eine krasse Transformation nicht nur des Farbtons, sondern der Farbe selbst wie auch der Textur, eine Verwandlung von Gesundheit und Anstand in etwas Giftiges: Aus süßem Mais ist ein Frostschutzmittel geworden. Larken ahnt, was geschehen ist. Sie sagt niemandem etwas, nicht einmal Gaelan, weil sie glaubt, ihre Diskretion könnte ihr Lindies Vertrauen einbringen und ihren Rat, sollte sie ihn jemals brauchen. Und das ist schon einige Wochen später der Fall. Larken sucht Lindie nach einem Softballtraining auf, als sie absolut sicher sein kann, dass Lindie allein ist. Sie findet sie auf einer der niedrigen Holzbänke ganz hinten im Umkleideraum vor, eine einsame Regenwolke, in ein schmuddeliges Handtuch gehüllt. Ihre langen, nackten Füße stehen mitten in einer Pfütze, die mit jedem Tropfen, der ihr aus den nassen Haaren rinnt, größer wird. Lindies Haltung - hängende Schultern, krummer Rücken, Kinn auf der Brust - sieht fast danach aus, als starrte sie in den Spalt zwischen ihren Brüsten, obwohl Larken aus dieser Entfernung nicht erkennen kann, ob ihre Augen offen sind. Vielleicht schläft sie. Oder sie betet. Lindie hat zwar ein bisschen Farbe zurückerlangt, doch sie ist immer noch nicht die Alte, und es fällt Larken nicht schwer sich vorzustellen, dass sie geweint hat. Womöglich weint sie noch. »Lindie?«, sagt Larken vorsichtig, aber die gekachelten Wände verstärken ihre Stimme, und Lindie schnappt nach Luft, greift spontan nach den Rändern ihres Handtuchs und zieht es sich hoch bis an den Hals, mit gekreuzten Handgelenken und geballten Fäusten, eine perfekte Verkörperung der melodramatischen Heldin, die vom Schurken belagert wird. Larken verspürt plötzlich eine unerwartete Zärtlichkeit für sie. »Larken!«, sagt Lindie, als sie wieder zu Atem gekommen ist. »Scheiße. Du hast mich zu Tode erschreckt.« 122
»Tut mir leid. Ich wollte dich was fragen«, setzt Larken an und bemerkt, dass Lindie nervös an ihr vorbei in Richtung Tür schaut. »Alles in Ordnung«, beruhigt Larken sie. »Sie warten auf dem Parkplatz auf dich.« Lindie sackt wieder in sich zusammen und beginnt, sich das Wasser aus den Haaren zu wringen. »Was gibt’s?« Sie klingt sehr müde. Larken setzt sich auf die Bank. »Ich bin …« Ihre Stimme ist immer noch zu laut, deshalb rückt sie so nahe an Lindie heran, wie sie kann, ohne nass zu werden. Sie fühlt sich wie eine Spionin in einem James-Bond-Film. »Ich bin in Schwierigkeiten«, platzt es aus ihr heraus, sotto voce, während sie Lindie den Kopf zuwendet, sie aber nicht ansieht. »Du weißt schon, welche Schwierigkeiten ich meine - und ich muss da raus.« Sie drückt sich gewollt unspezifisch aus. Wenn jemand hereinkommt, können sie alles abstreiten. »Du hattest eine, oder?«, flüstert sie. Lindie spricht nicht, aber Larken hört sie tief einatmen. »Ich will nur wissen, wo du hingegangen bist und wie viel es gekostet hat und so.« Plötzlich ist Lindie auf den Beinen und schleudert, jede Schamhaftigkeit vergessend, ihr Handtuch von sich. Sie beginnt, sich ihre Kleider über die feuchte Haut zu ziehen, schwingt ihr langes, dichtes Haar und verspritzt dabei Wasser wie ein nasser Spaniel. »Ich hab keine Ahnung, wovon du redest«, sagt sie zu laut, als hätte sie den Verdacht, der Raum sei verwanzt. Sie knallt ihren Spind zu und rennt an Larken vorbei zur Tür hinaus. »Bis morgen!«, ruft sie. »Scheiße«, murmelt Larken. Sie hat gehofft, durch Lindie einen einfachen Ausweg zu finden, und jetzt hat sie es vermasselt. Larken zieht Lindies Handtuch aus der Pfütze. Es ist voller Haare. Im Geiste greift Larken auf Informationen aus einem der medizinischen Bücher ihres Vaters zu, eine Liste dessen, womit Frauen nach einer Fehlgeburt (alias spontaner Abort) zu rechnen haben: Häufige Auswirkungen sind Mattigkeit, Depressionen 123
dann einiges, an das sie sich nicht erinnern kann - und/oder postnatale Alopezie. Larkens Haar ist längst nicht so üppig wie Lindies. Vielleicht wird sie danach kahl und muss Mützen tragen. Falls das in der Schule jemand bemerkt, kann sie immer noch sagen, sie habe Krebs. Am nächsten Tag kommen Lindie und ihre Meute nach der ersten Stunde im Flur an Larken vorbei. Lindie rempelt sie an und lässt gleichzeitig ein zusammengeknülltes Blatt Papier neben Larken zu Boden fallen. »Hey!«, ruft sie, hebt den Zettel auf und drückt ihn Larken in die Hand. »Der ist dir runtergefallen.« Lindies Stimme klingt munter wie immer, aber ihre Augen sind tödlich ernst. Larken hatte keine Ahnung, dass Fördervereinspräsidentinnen zu solchen Finten fähig sind. Sie schwört, sich von nun an aller stereotyper Vorurteile über Highschoolqueens zu enthalten. »Schön den Papierkorb benutzen!«, ruft Lindie noch. Dann entfernen sie und ihre Freundinnen sich lachend. Larken nimmt den Zettel mit in eine Kabine der Mädchentoilette und glättet ihn an der Wand. Eine Anrede fehlt, das Briefchen beginnt mit einem Sperrfeuer von Worten: Du solltest es dir echt überlegen, bevor du was unternimmst. Mir tut es wirklich WIRKLICH leid, dass ich es gemacht habe, es war M’s Idee, und deshalb haben wir uns auch getrennt. Ich habe ihn nicht abserviert, weil er in letzter Zeit so beschissen gespielt hat, dass er wahrscheinlich kein Stipendium fürs College kriegt. Ich weiß, alle glauben das, aber es ist nicht der Grund. Wir haben Schluss gemacht wegen du weißt schon, und jetzt habe ich Angst, dass ich in die Hölle komme. Ich habe keinem davon erzählt, also muss ich dir ja wohl nicht sagen, dass es AUF KEINEN FALL rauskommen darf. Ich vertraue dir, wie ich noch nie im Leben jemandem vertraut habe. Darunter steht eine Telefonnummer mit der Vorwahl von Omaha.
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Lindies i-Punkte sind aufgeblähte, schiefe Herzen. Sie sehen aus wie Ballons, denen teilweise die Luft ausgegangen ist. Da Lindie für die Plakate des Fördervereins zuständig ist, kennt die ganze Schule ihre Handschrift, und jeder, der diesen Zettel gefunden hätte, hätte sofort gewusst, wer ihn geschrieben hat. (Dämlich, denkt Larken und revidiert ihre Meinung über Lindies Intellekt und ihre Eignung für eine mögliche Karriere als verdeckte Ermittlerin.) Sie nimmt einen Filzstift und kopiert die Telefonnummer - mit der linken Hand - auf die Wand der Kabine. Sie platziert sie zwischen eine besonders anstößige Obszönität (LJ LUTSCHT GROSSE SCHWÄNZE) und ein pfeildurchbohrtes Herz (Lindie + Matt). Später, wenn sie mehr Zeit hat, wird sie sie in ihr Notizheft eintragen. Sie erwägt, Lindies Zettel aufzuessen - das würde eine echte Spionin tun -, beschließt aber, ihn in winzige Fetzen zu zerreißen und die Toilette hinunterzuspülen. Sie spült dreimal, für alle Fälle. Gaelan passt sie auf dem Weg zur dritten Stunde ab. »Wir kriegen die Grippe«, sagt sie. »Was?« »Reib dir den Kopf und behaupte, du hättest das Gefühl, dass du dich übergeben musst«, sagt sie. »Ich kann morgen nicht in die Schule.« »Wieso nicht?« »Erzähl ich dir später. Tu den Rest des Tages einfach so, als ob du krank wirst.« »Okay, und was ist mit Dad? Heute Abend?« »Dad ist nicht zu Hause. Die Prohaskas drüben in Odell erwarten jede Minute ihre Zwillinge, und er bleibt bis nach der Geburt bei ihnen. Sie ist eine Risikoschwangere oder so. Jedenfalls stell dich einfach krank, ich erklär es dir schon noch. Jetzt geh, sonst kommst du zu spät!«
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»Okay«, sagt Gaelan und runzelt die Stirn. »Genau genommen ist mir wirklich ein bisschen übel …« Nach der Schule ruft Larken von zu Hause in der Klinik an. Nachdem sie Bonnie zu Bett gebracht hat, berichtet sie ihrem Bruder von ihren Plänen. Gaelan nimmt das Thermometer aus seinem Mund und setzt sich auf. »Meine Güte, Larken.« Er liegt seit dem Abendessen auf dem Wohnzimmersofa vor dem Fernseher. »Wer ist der Typ?« »Den kennst du nicht«, sagt Larken. Sie kennt ihn selbst kaum, ist aber nicht bereit, ihrem Bruder das Ausmaß ihrer sexuellen Freizügigkeit zu enthüllen. Er ist in mancher Hinsicht noch ein Baby. »Rück mal.« »Weiß er Bescheid?« »Der Typ? Gott, nein. Er ist bloß irgendein Blödmann.« »Wo hast du ihn kennen gelernt?« »Ist doch egal. Er ist ein Niemand.« Sie könnte hinzufügen tut es jedoch nicht -, dass er ein Rücksitzfick auf dem Parkplatz eines Stripteaseclubs gleich jenseits der Grenze zu Kansas war. Larken hat entdeckt, dass es in den richtigen Kreisen kein Hindernis ist, dick zu sein, wenn man männliche Aufmerksamkeit sucht. Sie ist sich sogar sicher, dass viele der Männer, mit denen sie schläft, glauben, sie täten ihr einen großen Gefallen. Sie ist so fett, denken sie wahrscheinlich, dass sie bestimmt riesig dankbar ist. Also kommen sie, wann immer ihnen danach ist, tun so, als wüssten sie nicht, dass sie minderjährig ist, und erzählen ihren Freunden von dieser Tonne aus Nebraska, die sich kleidet wie ein Kerl, in Jeans und Flanellhemd, eine Stimme hat wie ein Feldwebel, ihnen für ein großes Bier einen bläst und sich für einen Teller Nachos flachlegen lässt. Sie haben keine Ahnung. Larken ist tatsächlich dankbar, aber nicht aus den Gründen, die sie vermuten. Und wer weiß, vielleicht kreuzt eines Abends jemand aus ihrem Heimatort auf. Das könnte passieren. Dann würde es sich herumsprechen, und keiner hätte mehr Illusionen über Little Miss Emlyn Springs. 126
Gaelan rutscht voller Unbehagen auf dem Sofa hin und her. Eine Weile tut er so, als würde er fernsehen. »Dann hast du es also, äh, gemacht?« »Gib mir die Chips. Kann ich einen anderen Sender einstellen?« »Wie lange schon? Warum hast du mir nichts erzählt? Ich meine, ehrlich …« »Du bist noch Jungfrau, oder?«, fragt Larken. »Also, ja, Natürlich. Bethan und ich sind ein paarmal ziemlich weit gegangen, aber das volle Programm haben wir noch nie durchgezogen.« »Gut. Lasst es dabei. Gib mir das.« Larken schüttelt das Thermometer und steckt es Gaelan wieder in den Mund. »Du musst es länger als zwei Sekunden drinlassen.« Sie schauen sich ein paar Minuten des Films der Woche an. Beide haben ihn schon gesehen. »Dad ruft bestimmt nicht an«, sagt Larken, »aber falls doch, deckst du mich, ja?« Gaelan grunzt und nickt. Das dem Untergang geweihte Heldenpaar verliebt sich ineinander. Beide sehen ziemlich gut aus für zwei Menschen, die angeblich todkrank sind - besonders, wenn sie Krebs haben. (Hope war auch todkrank - das sagen alle -, aber sie sah nie so aus.) Wenn das Filmpaar so attraktiv sein soll, hätte man ihm eine andere Krankheit verpassen müssen. Dann wären die beiden wesentlich glaubhafter. »Ich vermisse Mom wirklich«, murmelt Gaelan. In der Werbepause holt Larken das Thermometer heraus. »Du hast wirklich ein bisschen Fieber«, lügt sie, »deshalb ist es gut, wenn du morgen zu Hause bleibst. Leg dich wieder hin.« »Wie kommt Bon in die Schule?« »Ich habe die McClures angerufen, die nehmen sie mit.« »Willst du wirklich nicht, dass ich mitkomme?« »Auf keinen Fall.« 127
»Wieso nicht? Ich habe bloß ein bisschen Fieber. So krank bin ich nicht.« »Und wenn Bonnie nun tagsüber was braucht? Außerdem weiß ich nicht, wie lange es dauert, und einer von uns muss hier sein, wenn sie aus der Schule kommt. Du musst ihr was zu essen machen. Nach der Schule hat sie immer großen Hunger.« »Ruf an, bevor du aus Omaha losfährst, okay? Und fahr vorsichtig. Joe Dinsdale meint, es regnet morgen den ganzen Tag bis weit in den Abend.« »Ich komme schon klar, Gaelan. Wirklich. Es ist keine große Angelegenheit.« Larken greift sich noch eine Handvoll Kartoffelchips. »Ich hasse diesen Film«, sagt sie und steht auf. »Ich gehe schlafen.« »Also«, schließt Trixie. »Irgendwelche Fragen?« »Ich bin mir immer noch sicher«, erwidert Larken. »In Ordnung.« Trixie schiebt die Einverständniserklärungen über den Schreibtisch. Nachdem Larken ihre Unterschrift und ihre Initialen an die vorgesehenen Stellen gesetzt hat, fährt Trixie fort: »Okay. Ich erläutere jetzt das Verfahren und sage dir, was dich erwartet. Es heißt Dilatation und Curettage. Abgekürzt ›D und C‹.« Jetzt, da sie die Wörter Abort und Abtreibung nicht mehr zu benutzen braucht, entspannt sich Trixie sichtlich. Sie muss kaum den Mund aufmachen, um »D und C« zu sagen. »Eine DeeunZEH …«, beginnt sie und beschreibt dann die Prozedur, indem sie kaum voneinander zu unterscheidende Wörter herunterrasselt, die, nachdem Larken ihre Entscheidung formalisiert hat, eindeutig ihre Wichtigkeit verloren haben. Nur absaugen und ausschaben heben sich als auffällig hervor. Insgesamt gleicht Trixies Vortrag einem Schwall von Farbe, der an sich keine Bedeutung hat, sondern nur Hintergrund ist für das eigentliche Motiv.
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Larken sieht betont oft auf ihre Uhr. Sie möchte Trixies Gefühle nicht verletzen, aber es ist bereits Nachmittag. Sie muss die Sache hinter sich bringen, damit sie rechtzeitig zu Hause ist, um das Abendessen zu machen. Trixie schwadroniert weiter und klingt dabei wie ein besonders geübter Auktionator; es entgeht ihr, wie Larken versucht, ihre wachsende Ungeduld und Besorgnis zu signalisieren, indem sie auf dem Stuhl hin und her rutscht, sich räuspert, mit dem Bein wippt, nickt, sich auf die Lippen beißt. »Ich hab’s verstanden, ehrlich«, unterbricht Larken sie schließlich, was zickiger klingt, als sie beabsichtigt hat. Sie rudert zurück zu einem höflicheren Ton und fügt hinzu: »Ich kenne mich nämlich mit Medizin ganz gut aus«, doch das hört sich wiederum hochnäsig an. Plötzlich würde Larken Trixie am liebsten alle möglichen unpassenden Dinge sagen, etwa: Der Grund dafür, dass ich so viel über Medizin weiß, falls Sie sich wundern, ist der, dass mein Vater Arzt ist. Als ich noch ganz klein war, hat er mir beigebracht, dass die Bezeichnung »Doktor« unpräzise ist, denn auch Dentisten und manche Uni-Dozenten und natürlich Spezialisten wie Neurologen und Psychiater und Anästhesisten sind Doktoren; es gibt sogar Doktoren der Theologie, was ich nicht ganz verstehe, ist eine komische Vorstellung, finden Sie nicht? … Und: Der andere Grund ist, dass meine Mom MS hatte - Multiple Sklerose, auch Encephalomyelitis disseminata genannt -, und ich war diejenige, die sie hauptsächlich gepflegt hat in den letzten zwei Jahren ihres Lebens, bis sie von dem Tornado mitgerissen wurde, den wir letztes Jahr in Emlyn Springs hatten, daher komme ich nämlich … Doch Larken fängt sich gerade noch. »Okay.« Trixie ist jetzt ganz geschäftsmäßig. Larken kann fast ihre Gedanken hören: Das Mädchen hier braucht niemanden zum Händchenhalten. Alles, was der fehlt, ist Benehmen. »Ich sage dem Arzt, dass du bereit bist. Besorgen wir dir ein OP-Hemd.«
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Die DeeunZEH verläuft ohne Komplikationen. Sie ist offiziell beendet, als der Gynäkologe Larken eine Petrischale hinhält und fragt: »Willst du sehen, was wir aus deinem Körper geholt haben?« Es ist spät, als Larken vorfährt. Sie empfindet Erleichterung; Dads Wagen ist nicht hier. Er stand auch nicht bei Viney, also kann er noch nicht aus Odell zurück sein. Ihr Bruder wartet in der Küche auf sie, wo er Bizepsübungen macht. Der Raum ist warm und duftet wie ein Zitrushain. Auf dem Tisch liegen jede Menge Orangenschalen. »Hey!«, sagt Gaelan, als er sie sieht. »Es ist fast zehn.« »Tut mir leid«, sagt sie und schüttelt das Regenwasser von ihrer Jacke, bevor sie sie aufhängt. »Die Fahrt war schrecklich. Schläft Bonnie?« Gaelan nickt und beginnt, eine weitere Orange zu schälen. Seit er angefangen hat, Muskelmagazine zu lesen und zu trainieren, sind Orangen seine Lieblingsnahrung. Alle Bodybuilder essen Orangen, wenn sie Hunger haben, hat er Larken erklärt. Arnold zufolge sind Orangen die ideale Diät. »Und, alles gut gelaufen heute?« »Ja. Und bei dir?« Larken zuckt die Achseln. Sie füllt ein Glas mit Wasser aus dem Hahn und schluckt noch zwei Schmerztabletten. »Hat Dad angerufen?« »Ja.« »Was hast du ihm erzählt?« »Dass wir beide die Grippe haben und zu Hause geblieben sind. Dass wir klarkommen.« »Gut.« »Möchtest du was von der Orange? Sie ist ganz süß.« »Nein, danke.« Larken holt sich eine Dose Limo aus dem Kühlschrank.
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»Wir hatten Tunfischauflauf zum Abendessen. Falls du Hunger hast, ich hab dir was aufgehoben. Es ist da drin.« »Vielleicht später.« Larken macht den Kühlschrank zu und öffnet das Gefrierfach. »Haben die Prohaskas ihre Zwillinge schon?« »Noch nicht. Morgen früh aber auf jeden Fall, sagt Dad.« »Mist«, murmelt sie. »Kein Eis.« Gaelan isst seine Orange. Larken spürt seinen Blick auf sich, als sie in den Schränken herumkramt. »Wir hatten auch gedämpfte Möhren«, fährt er fort. »Die waren echt gut. Ich hab in letzter Zeit eine Menge übers Kochen gelernt. Gemüse zu dämpfen ist die beste Methode, um seinen Nährwert zu erhalten. Es ist ganz einfach und geht schnell. Ich kann es dir zeigen.« Larken bewegt sich in Richtung Wohnzimmer, aber Gaelan steht auf und versperrt ihr den Weg. Wann ist er so groß geworden? »Ich hol dir einen Teller und wärm dir was auf.« »Hör auf, Gaelan. Wenn ich fett sein will, bin ich fett. Wenn ich Scheiße essen will, esse ich Scheiße. Wenn ich trinken will, wen geht das was an?« »Mich.« »Es ist mein verdammter Körper. Ich kann damit machen, was ich will.« »Schwesterchen.« Larken wendet sich von ihm ab und reißt die Speisekammertür auf. »Es freut mich wirklich für dich, echt«, sagt sie. »Ich finde es prima, dass du so süchtig bist nach diesem gesunden Essen und Mr. Universum junior wirst oder Klein-Arnold oder Hulk als Teenager oder was auch immer, aber bitte lass mich da raus.« Larken starrt auf den Inhalt der Speisekammer, jedes Bord eine geschlossene Front von wenig reizvollen Kartons und Tüten. Sie
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kramt darin herum auf der Suche nach dem, worauf sie Appetit hat. Sie wird es erkennen, wenn sie es sieht. »Larken.« »Tu das keinem Mädchen an, verstanden?«, sagt sie, wühlt sich durch die vorderen Reihen, Dosen mit Cornedbeef und Kondensmilch, und wirft dabei Schachteln mit Kochbeutelreis und Soßenbinder um. »Benutz gefälligst ein Kondom, und sorg dafür, dass sie außerdem ein Diaphragma trägt.« Auf einem der obersten Borde - da hat Gaelan sie wahrscheinlich verstaut - entdeckt Larken endlich eine große Tüte gerösteten Mais mit BarbecueGeschmack und reißt sie auf. Sie explodiert, und Maiskügelchen fliegen wie Schrot heraus und verteilen sich über den Küchenfußboden. »VerDAMMter Mist!« Sie lässt sich auf Hände und Knie nieder, jagt dem Mais hinterher und fegt ihn zu einem Haufen zusammen. Gaelan hilft ihr. Keiner von beiden spricht, aber sie denken dasselbe: wie bekannt ihnen das vorkommt - auf einem Küchenfußboden zu hocken und sich schweigend mit einem spektakulären Durcheinander zu befassen. Sie haben erst die Hälfte eingesammelt, als Larkens Krämpfe zurückkehren. Sie rollt sich zusammen und schließt die Augen. Gaelan macht weiter. Der geröstete Mais schlägt an die Wände des metallenen Mülleimers, als er ihn hineinwirft - ein Hagelschauer -, während draußen der Regen endlich aufhört, genauso, wie es der Wetteransager prophezeit hat. Sie muss ein, zwei Minuten eingedöst sein, denn als Nächstes nimmt sie wahr, dass Gaelan sie in seinen Armen hält. Sie fühlen sich weich und hart zugleich an, und obwohl Larken keine spezifische Szene dazu einfällt - die Kindheit erscheint ihr sehr weit entfernt -, erinnert die Situation sie daran, wie sie als kleines Mädchen im Frühling auf dem frisch gemähten Rasen lag. Wie die Erde sich an sie schmiegte, wenn das Gras noch zart war, bevor es im Spätsommer ausblich und stachelig wurde.
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Gaelan hebt sie auf und trägt sie zur Couch. Früher war sie immer stärker gewesen als er, jetzt nicht mehr. Sie will nicht, dass er erwachsen wird. Sie möchte in die Zeit zurückkehren, ehe er den Nährwert von Orangen und gedämpften Möhren kannte, ehe sie wusste, was Encephalomyelitis disseminata und Funktionsstörungen des Fortpflanzungsapparats heißt, ehe sie das Geheimnis belastete, dass Bonnies Körper ihr wahrscheinlich nie erlauben würde, Kinder zur Welt zu bringen. Gaelan bringt heißen Tee und ein Heizkissen. Sie sitzen auf dem Sofa, hören Bruce-Springsteen-Platten, wachen über ihre schlafende kleine Schwester und warten darauf, dass ihr Vater nach Hause kommt. Die ganze Nacht hindurch lauschen sie und halten Wache, während Larken den Rest ihres Babys ausblutet. Larken greift nach ihrer Handtasche, die offen auf dem Boden vor dem Beifahrersitz steht. Ohne den Blick von der Straße zu wenden, tastet sie nach ihrer Flasche mit Ibuprofen - die sie zwischen den archäologisch komplexen Schichten des Tascheninhalts mühelos lokalisieren kann - und lässt sie aufschnappen. Darauf hat Hope sie trainiert: Spielen wir »Die Blinden und der Elefant«, pflegte sie zu sagen, füllte eine Papiertüte mit Gegenständen - Gabel, Haarbürste, Garnrolle, Kerze, Taschenspiegel, Korkenzieher - und ließ Larken hineingreifen und identifizieren, was ihre Finger sahen. Anschließend klebten sie die Objekte zusammen und gaben ihrer Kreation einen Namen: Gabrofant! Als die Tabletten auf ihrer Zunge liegen, wird Larken klar, dass sie nichts hat, womit sie sie schlucken könnte. Sie schaut auf Esmés Löwenzahn, der jetzt noch welker ist und unerträglich jammervoll aussieht. Zeit, ihn von seinem Elend zu erlösen. Sie nimmt den Kaffeebecher und schlürft das bisschen Wasser, das übrig ist. Es schmeckt giftig, steinerweichend bitter und sandig. Larken lächelt, als sie sich die mögliche Bandbreite der Reaktionen ihres Bruders ausmalt, wenn sie ihm erzählt, dass sie ihre Pillen mit destilliertem Löwenzahnsaft heruntergespült hat. 133
Die Landschaft verändert sich, zu beiden Seiten der Straße ragen vereinzelt grasbewachsene Erhebungen auf. Nachdem ihre Mutter ihnen die ersten Geschichten über Paul Bunyan und seinen riesigen Ochsen Babe vorgelesen hatte, begannen Larken und Gaelan, diese Erhebungen »Babes Wiesen-Muffins« zu nennen. Gleich neben der Straße, ebenfalls auf beiden Seiten, ist der Boden von tiefen Abflussgräben gefurcht. In dieser Gegend gibt es viele unterirdische Quellen, meinte Dad immer. Larken würde ihn gern fragen, woher er das weiß, denn im Rückblick ist es seltsam, dass ein Arzt diese Feststellung mit solcher Bestimmtheit trifft. Wer hat dir von den unterirdischen Quellen erzählt?, wüsste sie gern. Und: Warum hast du ihm geglaubt? Warum sollte ich ihm glauben? Ihr wird klar, dass alles, was ihr Vater jemals behauptet hat, Fragen aufwirft, die sich nie werden beantworten lassen. Und mit jeder dieser Fragen geht Bedauern einher: Warum war sie kein wissbegierigeres Kind? Warum hat sie nicht gefordert: Los, Daddy, erzähl mir mehr, sondern war scheu und schweigsam dagesessen, statt zu sagen: Erzähl mir von den unterirdischen Quellen; wie sehen sie aus, und wieso gibt es sie hier, und wie sind sie entstanden? Aber Kinder hinterfragen nie etwas, das in festem Ton von ihren Eltern verkündet wird. Wenn Mütter und Väter nicht alles wissen, ist die Welt in schrecklicher Gefahr. Also bleibt Larken nichts übrig, als die Tatsache zu akzeptieren: In dieser Gegend gibt es viele unterirdische Quellen. Wenn es warm wird, blühen in den mysteriösen, von Quellen gespeisten Gräben breitblättrige Rohrkolben und Königskerzen und Gänsedisteln, die Fasanen und Wachteln Deckung bieten, aber jetzt sind sie welk. Vorn rechts markiert eine Gruppe hundertjähriger Rotzedern die südliche Grenze der Vance-Farm. Nur Menschen, die mit der lokalen Geschichte vertraut sind, wissen, dass hier seit 1978 ein 134
Baum fehlt. Das Auffinden dieses Baums ist Teil einer Geschichte, die (das weiß Larken ganz genau) in den nächsten Tagen immer wieder erzählt werden wird. Babes Wiesen-Muffins werden allmählich von Hügeln abgelöst, und nicht weit entfernt sind niedrige, grasbewachsene Klippen zu sehen, Einschnitte in die Landschaft, die Schichten von, wie Larken vermutet, Sand, Kalkstein, Schiefer erkennen lassen: monochrome Parfaits, stellenweise rostrot angehaucht. Die Straße fängt an, Kurven zu beschreiben, schlängelt sich an Böschungen entlang, die zunächst kaum über die Fahrbahn aufragen, aber schnell höher werden. Sie bewirken, dass man zu sinken meint. Es ist, als wäre die Straße nicht von Menschenhand geschaffen, sondern das ausgetrocknete Bett eines Flusses, der sich einst durch diese Landschaft wand - und vielleicht trifft das zu. Larken weiß nichts über Geologie oder den Wasserkreislauf. Sie stammt nicht aus einer Farmerfamilie, deren Sache es ist, so etwas zu wissen. Der letzte auffällige Orientierungspunkt auf ihrer Reise liegt einen knappen Kilometer vor ihr, wo eine enge Kurve Autos dazu zwingt, eine besonders hohe Klippe zu umfahren. Kleine weiße Holzkreuze, Schilder und sonnengebleichte, billige Plastikblumen tauchen auf. »Micki und Mike, wir vermissen euch!« steht auf einer der Tafeln. Die i-Punkte sind aufgeblähte Herzen, die denen von Lindie Critchfield so sehr ähneln, dass man fast glauben möchte, sie habe das Schild beschriftet - obwohl es ebenso gut eine ihrer Töchter gewesen sein kann. Drei von Lindies und Matts fünf Kindern sind Mädchen. Oben auf der Klippe steht ein ziegelrotes Holzhaus, dessen Einfahrt genau unten in der Kurve mündet. Es ist bestimmt nicht weiter als 25 Meter von der Straße entfernt, doch die Kombination aus Haarnadelkurve und Hügel macht diese Einfahrt für Fahrer aus beiden Richtungen vollkommen unsichtbar. Verdeckte Einfahrt!, ruft Wegfahr-Daddy, Kleeblatt-imSonnenschein-grün. Er hupt, während sie sich nähern und vorbei135
fahren, ein langes, gedehntes Hupen - eine Heroldstrompete! -, das sie alle entzückt, weil es, obwohl es sie vor Schaden bewahren soll und sie darauf vorbereitet sind, etwas Unbekümmertes, Spontanes an sich hat. Verdeckte Einfahrt, sagt Daddy, grau und auf dem Heimweg, aber nur manchmal. Bisweilen hupt er bloß, und sogar die Hupe klingt traurig und bedrückt. Larken überlegt gerade, wie sie ihres Vaters am besten gedenken soll - hupen oder nicht? -, als sie im Rückspiegel einen weißen Lieferwagen erblickt, der schnell und im Zickzack näher kommt, das erste Fahrzeug, das sie seit einer Stunde sieht. Der Wagen hupt und blendet auf wie verrückt, als er versucht, an ihr vorbeizuschießen, genau in der Kehre, wo die durchgezogenen gelben Linien signalisieren, was sowieso jeder weiß: Hier nicht überholen! Die Straße hat keinen Seitenstreifen, trotzdem steuert Larken so weit wie möglich nach rechts - gefährlich nahe an den Graben -, hält an und betet, dass niemand aus der anderen Richtung kommt. Der Lieferwagen passiert sie, rast um die Kurve und außer Sichtweite. Zitternd und außer Atem, ihr Körper voller Stresshormone, sitzt Larken in ihrem Auto. Nie hat sie die Stimme ihrer Mutter so deutlich gehört wie jetzt die ihres Vaters: Bleib nicht da stehen, Schatz, sagt Daddy. Es ist zu gefährlich. Larken fährt weiter. Die Stadtgrenze wird markiert von Bäumen am östlichen Ende einer von Quellen gespeisten Schlucht, die Emlyn Springs auf drei Seiten umschließt, und von dem Ortsschild mit der Einwohnerzahl, über das ein schwarzes Tuch drapiert ist. Der Highway wird zur Bridge Street, wo er die Schlucht überquert. Dies ist der einzige Weg hinein und heraus. Obwohl Samstag ist, diktieren die Bräuche von Emlyn Springs, dass die wenigen Unternehmen, die noch in Betrieb sind, heute geschlossen haben - bis auf eines, und dorthin, zu McKeevers Bestattungsinstitut, fährt Larken jetzt. 136
»Hallo, Mr. McKeever.« »Larken«, sagt er einfach und umfasst eine ihrer Hände mit seinen fleischigen Pranken. Wie alle, die in Emlyn Springs aufgewachsen sind, erkennt Larken ihre Mitbürger ebenso leicht an ihrer Singstimme - Sopran, Alt, Tenor, Bass - wie an ihrem Namen. Mr. McKeever ist ein Bass. »Mein herzliches Beileid. Ich bringe Sie zu Ihrem Vater.« Während sie ihm folgt, wird ihr klar, dass sie nie wirklich geglaubt hat, sie würde ihren Vater als Toten sehen. Dass er tot ist, erscheint noch einigermaßen glaubhaft, dass sie ihn als Toten sehen wird, dagegen unvorstellbar. Doch hier ist er, zweifellos tot. Als sie die Hülle anstarrt, die ihn einst enthielt, ist das Gefühl, das sie endlich zu Tränen rührt, vollkommen unerwartet. Danke danke danke, sagt sie lautlos, denn es ist leicht zu erkennen, dass all seine Farben verschwunden, dass unter seiner Haut keine unterirdischen Quellen mehr sind, und deshalb weiß Larken Jones, dass wenigstens ein Elternteil unwiderlegbar nicht mehr lebt. Habeas corpus, wie die Anwälte sagen, kommt es Larken in den Sinn. (Die toten Väter haben zugeschaut und sich unterhalten, und Larken hat einen Kommentar von Fritz Bybee, Esq., aufgeschappt. Plötzliche, unerklärliche Gedanken in den Köpfen der Lebenden kommen oft auf diese Weise zustande.) Ja, stimmt Larken im Geiste zu und bemerkt, dass Malwyn McKeever den Blick senkt und beiseitetritt, eine Geste des Respekts, weil er ihre Tränen irrtümlich für die einer trauernden statt die einer dankbaren Tochter hält. Man braucht den Leichnam.
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7 Avocadoküche Vor Vineys Haus parken auffallend viele Fahrzeuge: Auf der Straße stehen Stoßstange an Stoßstange ein hellblauer Cadillac und ein Ford-Pickup. Im Rückfenster des Cadillacs ist eine Revuetruppe von Teddybären - angeordnet in den Farben des Regenbogens - aufgereiht (mit ihren Glasaugen sehen sie aus, als hätten sie eben einen Joint herumgereicht und befänden sich noch in der selig-vergnügten, nicht-paranoiden Phase des Bedröhntseins), während der Pickup großzügig mit marktschreierischen Abziehbildchen und Aufklebern dekoriert ist, alle in Rot und Weiß: Ich bin stolz darauf, ein Maisfresser zu sein! Nebraska Cornhuskers! Croesco i Gymru! Iechyd da! In der Einfahrt ist, gefährlich nahe an Gaelans Jeep, der weiße Lieferwagen geparkt. Larken weiß nicht recht, wie sie es finden soll, dem Wahnsinnigen gegenüberzutreten, der sie fast von der Straße gedrängt hat. Während sie den Rasen überquert, überlegt sie, warum der Lieferwagen wohl hier ist, warum der Fahrer es so verdammt eilig hatte, zu Viney zu gelangen, und wem der Wagen gehört. Soweit sie sich erinnern kann, hat keiner der guten Bewohner von Emlyn Springs bisher einen Hang zum Mord im Straßenverkehr gezeigt. Als Larken um den Lieferwagen herumgegangen ist und das auf die Seite gemalte Bild sieht, sind alle Rätsel gelöst. Der Künstler ist eindeutig von Robert Crumb, Schöpfer des »Keep on Truckin’«-Comics aus den 1970ern, inspiriert. Das Gemälde hier auf dem Wagen stellt ein hervorragendes Beispiel für Imitation als Hommage dar, es könnte von Crumb selbst stammen. Ein Mann mit wild zerzausten Haaren, Stoppelbart, einer gigantischen Sonnenbrille und geschwollenen Zehen in übergroßen Stiefeln, in einer der Schwerkraft trotzenden Haltung zurückgelehnt, hält einen Stock in der einen Hand und eine Leine in der anderen. Die Leine ist an einem Halsband befestigt, dieses 138
wiederum an einem zottigen Hund - ebenfalls mit Sonnenbrille und Stiefeln -, der seinem Herrchen ein paar Schritte voraus ist. Ah, denkt Larken, die den subtilen Humor des Künstlers und seine ungewöhnliche Bezugnahme auf »Keep on Truckin’« zu schätzen weiß. Der Blinde führt den Blinden. Über der Illustration mäandern die Worte »Keep on Tunin’« (die Buchstaben sind in unterschiedlicher Höhe auf Notenlinien angeordnet, als handele es sich um ein Musikstück), und darunter steht »Blind Toms Pianoklinik«, begleitet von einer örtlichen Telefonnummer und, was Larken überrascht, einer Website-Adresse - schlagender Beweis dafür, dass zumindest ein Betrieb in Emlyn Springs (und dazu auch noch einer der ältesten) nicht nur in kreative Werbung investiert hat, sondern auch im 21. Jahrhundert angekommen ist. Gut gemacht, denkt Larken. Aus Vineys Haus ertönt das Geräusch einzelner Klaviertöne, ein Zeichen dafür, dass der gegenwärtige Blind Tom bereits an der Arbeit ist. Ein makellos gestimmtes Klavier ist entscheidend für die Bestattungstraditionen in Emlyn Springs. Larken vermutet ganz richtig, dass das Instrument der Familie Closs seit dem gymanfa für Vineys Sohn im Jahr 1966 nicht überholt worden ist. Der erste Blind Tom, geboren als Trebor Oronwen Mahynlleth, eröffnete sein hiesiges Geschäft 1871 und starb 1897. Er ist auf dem Stadtfriedhof beerdigt, und sein Grabstein profitiert von Bonnies regelmäßiger Aufmerksamkeit; seine schattige Lage macht ihn anfällig für Moos. Eine Kombination aus Ehrerbietung und Naivität hat die Bürger von Emlyn Springs bewogen, auch alle nachfolgenden Klavierstimmer »Blind Tom« zu nennen. Seitdem sind Generationen von Blind Toms gekommen und gegangen, keiner von ihnen hat sich jemals darüber beschwert. »Oh Schätzchen, oh Liebling!«, ruft Viney und springt von ihrem Stuhl auf, als Larken in die Küche tritt, und umarmt sie, noch ehe sie Zeit hat, ihre Tasche abzustellen.
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Niemand umarmt wie Viney. Sie ist so klein und doch sehr stark, lauter Muskeln und Sehnen. Ein Energiebündel, beschrieb Daddy seine Helferin immer, wenn er von ihr sprach. Diese Viney Closs, die ist ein Energiebündel, die kann zupacken. Larken ist bestimmt mindestens fünfzig Kilo schwerer als Viney, aber sie hat das Gefühl, Viney könnte sie nach wie vor mühelos hochheben und herumwirbeln. Im Gegensatz zu Hope war Viney eine eher raubeinige Mutter. Larken kam es immer vor, als wären Vineys mütterliche Instinkte weniger vom typischen Frauenbild der 50er Jahre als von Reportagen über Wildkatzen inspiriert. »Mach dir nichts draus, dass du zu spät kommst«, sagt Viney halb flüsternd, ihr Gesicht nah an dem Larkens. »Ich weiß, du musstest auf das kleine Mädchen aufpassen, für das du freitags Babysitter spielst. Du wärst früher gekommen, wenn du gekonnt hättest, das weiß ich.« Typisch für Bewohner des Mittleren Westens, hat Larken im Laufe der Jahre festgestellt, ist ihre geradezu unheimliche Fähigkeit, Absolution zu erteilen und zugleich Vorwürfe anzudeuten und Schuldgefühle zu wecken. Viney umarmt Larken noch einmal auf jene ungestüme, fürsorgliche Weise und reibt dabei die Stelle zwischen ihren Schulterblättern mit rhythmisch kreisenden Bewegungen, die Larken das Gefühl geben, sie würde auf ein Mittagsschläfchen in ihrer Wiege eingestimmt. Gaelan kommt auf sie zu - mit seinen kummervollen, feuchten Augen sieht er schrecklich aus, als hätte er stundenlang geweint (was vermutlich auch zutrifft; von ihnen dreien ist er am anfälligsten für Tränen) -, gefolgt von Bonnie, deren Gesicht merkwürdig zweidimensional wirkt und grau ist wie Pappmaché; sie sieht aus, als hätte sie vergessen, wie man atmet. Viney tritt beiseite, nach wie vor Larkens Rücken tätschelnd. Die Geschwister treffen zusammen, schlingen die Arme umeinander, schwanken ein wenig, wortlos, und halten sich gegenseitig aufrecht.
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Larken wird bewusst, dass im Nebenzimmer Oktaven gespielt werden. Dieselben Noten in verschiedenen Tonlagen. Blind Tom ist schon seit ihrer Ankunft am Werk, gestaltet mit seinem plank, plank, plank den Soundtrack zu ihrer Heimkehr, doch erst jetzt in der Stille, die mit dieser Wiedervereinigung einhergeht - bemerkt sie es. Wir sind wie ein Baum, denkt Larken plötzlich. Das ist ein untypisch simpler und sentimentaler Gedanke für ein Mädchen, das nie zu Simplizität oder Sentimentalität geneigt hat. Manchmal wachsen sie so, wenn sie zu eng gepflanzt wurden. Dann stoßen und schaben ihre Stämme aneinander, sodass schließlich kein Platz mehr zwischen ihnen ist und sie sich kreuzen, ein Baum werden. Das habe ich schon gesehen. Aber während Gaelan anfängt zu schluchzen und Bonnie immer noch die Luft anhält, wird Larken klar, dass das nicht stimmt. Selbst in ihrer Trauer sind sie und ihre Geschwister nicht so miteinander verbunden wie jene alten Bäume, sosehr sie sich das auch wünschen mag. Larken ist hin - und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, ins Bad zu rennen und Papiertaschentücher für ihren Bruder zu holen, und dem, ihre Schwester zu reanimieren. Ich hätte früher hier sein müssen, denkt sie und spürt den Schmerz und die Angst in den Körpern der beiden anderen. Jetzt machen sie mir noch keine Vorwürfe, sie sind noch nicht wütend. Aber später werden sie es sein, Bonnie auf jeden Fall. Ich bin die Älteste und hätte als Erste hier sein müssen. Sie lösen sich voneinander. Gaelan wischt sich die Augen, und sein Schluchzen verebbt. Bonnie schöpft mit einem großen, gierigen Zug wieder Atem, und Larken nimmt endlich die anderen Anwesenden wahr. Bud Humphries, der Stadtratsvorsitzende, taucht von seinem Platz neben dem Garderobenständer auf; Estella Axthelm sitzt am Küchentisch vor einer Tasse Kaffee und einem Teller mit Keksen (Was zum Teufel macht sie hier?), und ein Herr, den Larken nicht erkennt, hat sich auf einem Klappstuhl am anderen Ende der Kü141
che zwischen dem Eingang zum Wohnzimmer und dem Kühlschrank niedergelassen. Er ist vornübergesackt, das Kinn liegt auf der Brust. Die Lücke zwischen seinen Socken und den Hosenaufschlägen zeigt Beine, weiß und glatt wie Kerzenwachs, und sein kahler, mit Altersflecken gesprenkelter Kopf sieht aus wie ein großes lumineszierendes Ei. Er trägt eine Brille und ein »Keepon-Tunin’«-T-Shirt, und Larken ist sich nicht ganz sicher, ob er wach ist. Vineys Küche ist seit den 1970ern nicht mehr renoviert worden. Die vorherrschenden Farben, Avocadogrün und Herbstgold, haben einen ungünstigen Effekt auf den Teint der Anwesenden, da sie dem Licht einen galligen Schimmer verleihen und sie aussehen lassen wie Mitglieder eines Clubs, der auf Lebertransplantationen hofft. »Bud kennst du ja«, sagt Viney. Mr. Humphries schleppt sich heran und ergreift Larkens Hände. »Es tut mir so leid«, sagt er, während ihm Tränen in die Augen steigen. »Wir haben getan für ihn, was wir konnten.« »Das weiß ich. Vielen Dank.« Viney deutet auf den Tisch. »Erinnerst du dich an Estella?« »Ja.« Die Hexe bleibt, Gebrechlichkeit vortäuschend, stocksteif auf ihrem Stuhl sitzen und versucht, einen mitfühlenden Gesichtsausdruck zu simulieren.Sie muss mindestens neunzig sein, überlegt Larken. Warum werden die Niederträchtigsten immer am ältesten? »Hallo, Miss Axthelm.« Miss A. streckt ihre spindeldürren, geäderten Finger in einer förmlichen Geste aus, als erwartete sie, dass Larken den Papstring küsst. »Das mit Ihrem Vater tut mir so unglaublich leid«, sagt sie mit samtweicher, wohl artikulierter Stimme. »Was für ein Verlust für unsere Gemeinde.« Miss Axthelm verdiente früher ihren Lebensunterhalt als Sprechlehrerin. In den 1930ern und 1940ern unterrichtete sie Filmsternchen in Hollywood, Mädchen, die zum Beispiel aus Nebraska kamen und auch so klangen und denen - da ist sich Larken sicher - beigebracht wurde, sich dafür 142
zu schämen. Und zwar von Menschen, die von ihrem Naturell her für eine solche Tätigkeit geeignet waren, Menschen wie Miss A. Selbst viel zu reizlos, um auf der Leinwand zu glänzen, rühmt sich Miss A., die Stimme eines der Elefanten in Dumbo gewesen zu sein. Sie müht sich, ihre Gesichtsmuskeln so zu verzerren, dass sie tief empfundenes Mitleid widerspiegeln. »Was. Für. Ein. Schock«, intoniert sie. Larken hasst sie. Sie nimmt kurz ihre Hand. Wenn du glaubst, dass ich zusammenbreche, kannst du warten, bis du schwarz wirst. »Ja, wirklich.« Viney zeigt auf den Kühlschrank und sagt laut: »Und das ist Mr. - oh, entschuldigen Sie, ich habe Ihren Namen vergessen.« »Kein Problem«, erwidert der Angesprochene, reckt den Hals zur Seite und müht sich, den Kopf zu heben. »Vollkommen begreiflich, wenn man die tragischen Umstände bedenkt, die uns zusammengeführt haben.« Larken erkennt, dass er seine gebückte Haltung einer furchtbar deformierenden Osteoporose zu verdanken hat und es eine körperliche Anstrengung für ihn ist, woanders hinzuschauen als auf den Fußboden. Er streckt eine knotige, arthritische Hand aus. »Ich bin Howie Barstow. Guten Tag, Missy.« Mr. Barstow hat ein breites, freundliches Gesicht, dessen Freundlichkeit durch eine Brille mit Gläsern, dick wie gewölbte Briefbeschwerer, noch verstärkt wird. Seine Farbe (Pfirsich) besitzt eine Lichtdurchlässigkeit, die Larken manchmal an älteren Leuten auffällt. Sie tritt näher und ergreift seine Hand. »Guten Tag«, sagt sie. »Ich bin mit dem Klavierstimmer hier.« »Ach so, natürlich.« »Er ist sehr geschickt«, flüstert Mr. Barstow, »und glauben Sie mir, ich habe viele Blind Toms kommen und gehen sehen. Er kann in fünf Stunden fünf Klaviere stimmen. Das habe ich selbst miterlebt.« Seine feuchten, vergrößerten Augen werden noch größer, sodass seine Pupillen aussehen wie Schokoladenbonbons. 143
»Natürlich bin ich ein bisschen voreingenommen«, sagt er vertraulich, »er ist mein Großneffe.« »Aha.« »Keine Sorge. Das Klavier Ihrer Mutter ist in den besten Händen.« Bisweilen korrigiert Larken Leute, die voraussetzen, dass Viney ihre Mutter ist. Stiefmutter, berichtigt sie dann. Aber heute nicht. »Das ist gut zu wissen«, flüstert sie zurück. Bei Mr. Barstows offenbar stark beeinträchtigtem Sehvermögen fällt es schwer, sich vorzustellen, dass er ein motorisiertes Fahrzeug lenken kann, geschweige denn dazu autorisiert ist. Larken bringt es nicht übers Herz, etwas über seine Verwegenheit auf dem Highway zu sagen, doch sie ist in Versuchung zu fragen, wann sein Führerschein zuletzt aktualisiert wurde. »Mein herzliches Beileid zu Ihrem Verlust«, sagt Mr. Barstow förmlich und laut. Blind Tom räuspert sich - er sitzt am Klavier und hat ihnen den Rücken zugewandt -, woraufhin Mr. Barstow sich duckt und gespielt verschämt den Kopf einzieht, als wäre er ein kleiner Junge, den man für eine Sache getadelt hat, deretwegen er nicht die mindeste Schuld verspürt. Es erscheint Larken plötzlich wichtig, dass sie Mr. Barstows Kondolenzwünsche würdigt, deshalb formen ihre Lippen ein sehr deutliches »Danke« - eine Muskelanspannung, die sie aus irgendeinem Grund zum Weinen bringt. Verlegen wendet sie sich ab und dem Klavier zu. In Vineys Wohnzimmer stehen zwei Tasteninstrumente. Verglichen mit dem Wurlitzer aus den 1950ern ist das Spinett neu, wird jedoch nicht annähernd so oft gespielt; meistens ist eine Decke darüber drapiert, und es dient eher der Zurschaustellung einer Auswahl von Vineys handgefertigten Engeln. Sie macht sie aus alten Gesangbüchern, die aufgeklappt, mit der Schere zu weiten Röcken und Papierflügeln zugeschnitten und mit einem Puppenkopf gekrönt werden.
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Es gibt braunhäutige, bezopfte Indianerprinzessinnen-Engel, schwarze, wollhaarige Engel, Farrah-Fawcett-Blondinen - DreiEngel-für-Charlie-Engel! -, krause Rotschöpfe und so weiter und so weiter. Manche haben süße Gesichter. Manche sehen aus wie kesse Soubretten. Andere wirken schlichtweg hausbacken. Alle sind geschmückt mit Ketten aus Plastikperlen und tragen kleine maßgeschneiderte Kostüme, die in Farbe und Design zu der ihnen von Viney zugedachten Persönlichkeit passen. Diese Engel hat Viney, seit Larken denken kann, auf Kunstmärkten und Landwirtschaftsausstellungen und bei te bachs verkauft. Früher hat Larken ihr beim Basteln geholfen, ihr Job war es, die Frisuren zu gestalten. »Es ist sehr wichtig, dass jeder Mensch einen Engel hat, mit dem er sich identifizieren kann«, pflegte Viney zu sagen. »Deshalb lasse ich sie auch alle so unterschiedlich aussehen.« Lange Zeit flogen Vineys Engel - jedenfalls im übertragenen Sinne - geradezu von den Regalen. In den letzten Jahren hat ihre Popularität jedoch abgenommen. Heute sind sie definitiv nicht mehr in bester Verfassung. Um Blind Tom den Zugang zu den Innereien des Spinetts zu erlauben, wurden die Engel von ihrem angestammten Platz entfernt und wahllos irgendwohin umgesiedelt, eilig in dunklen Ecken verstaut und auf schon überfüllte Tischplatten gestellt, wo sie sich die Bühne mit Nippes und Büchern und Familienfotos teilen müssen. Mit schiefsitzenden Kopfbedeckungen, die gefransten Lider auf Halbmast, betrachten sie Blind Tom mit Argwohn und Missmut. Blind Tom spielt immer noch Oktaven. Die Sequenz klingt vertraut. Larken hat nicht das musikalische Ohr ihrer Eltern oder auch nur ihres Bruders -, doch wie alle in Emlyn Springs Geborenen kennt sie die Tonleiter und kann Noten und ihre Beziehung zueinander identifizieren, wenn sie so aneinandergereiht sind: Sol-mi-fa-sol-do, la-ti-do-sol … Auch sitzend ist Blind Tom sehr groß. Außerdem muss er ziemlich dünn sein, denn seine Schulterblätter springen unter dem
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weißen T-Shirt so spitz vor, dass sie wie Tipis auf seinem oberen Rücken aufragen. Neben ihm auf dem Fußboden liegt ein schwarzer Retriever ohne Halsband, Stiefel oder Sonnenbrille - mit elegant gekreuzten Vorderpfoten. Der Hund registriert Larkens Gegenwart und mustert dann wieder Vineys grünen Zottelteppich - der kürzlich geharkt worden sein muss, denn er weist nirgendwo Fußabdrücke auf. Larken fragt sich, wie Blind Tom und sein Retriever hereingekommen sind. Entweder haben sie das Zimmer von der Vordertür bis zur anderen Seite mit riesigen Schritten und auf Zehenspitzen durchquert, sind geflogen, oder Viney hat den Teppich nach ihrer Ankunft gerecht. Was nicht auszuschließen ist. La-sol-mi-fa-sol-do, la-ti-do-do … Was ist das?, wundert Larken sich. Ich weiß, das habe ich schon mal gehört … Blind Tom geht dazu über, Quarten zu stimmen: Here Comes the Bride. »Es war nett, Sie kennen zu lernen«, sagt Larken leise, an Mr. Barstow gewandt, aber dem ist das Kinn wieder auf die Brust gesunken, und jetzt schläft er wirklich und schnarcht leise. Er hat die beeindruckende Fähigkeit, dabei zwei verschiedene Töne gleichzeitig zu erzeugen. Larken fragt sich, wie das physisch möglich ist. »Alles in Ordnung, Schatz?«, will Viney wissen. Larken schreckt auf und dreht sich um. Alle starren sie an: Bud, Gaelan, Bonnie, die Hexe. Wie lange hat sie hier gestanden und vor sich hingeträumt? »Mir geht es gut.« Sie geht zurück in die Mitte der Küche, dankbar für das Geräusch, das ihre Absätze auf dem Linoleum machen: Es ist laut und voller Autorität und alles andere als bezaubernd. »Hast du ihn dir schon angeschaut?«, fragt Bonnie. »Ja, habe ich.« »Er sieht gut aus, oder?«, murmelt Viney. 146
Seine Farbe ist verschwunden, würde Larken am liebsten sagen. Seine unterirdischen Quellen sind versiegt. Sie ergreift Vineys Hand. »Er sieht gut aus.« »Möchtest du Kaffee, Schätzchen? Ich habe welchen fertig. Ach nein, warte, diese Kanne hier ist alt. Ich mache neuen, ehe all die anderen kommen.« »Das brauchst du nicht, Viney«, wirft Gaelan ein. »Lass mich das tun.« »Na ja, ich würde gern noch ein paar Dinge …« »Lass Gaelan Kaffee kochen«, sagt Larken. »Warum setzt du dich nicht ein Weilchen hin?« »Eigentlich«, sagt Miss Axthelm, »sollten wir uns jetzt, wo Larken endlich da ist, wieder der Lösung unseres Dilemmas zuwenden.« »Was für ein Dilemma?« Viney meldet sich zu Wort. »Ich sag euch was: Gaelan, Schatz, wenn es dir wirklich nichts ausmacht, Kaffee zu kochen, gehe ich mich jetzt umziehen. In der Zeit könnt ihr drei mit Bud und Estella über … ihr wisst schon was reden. Was ihr auch beschließt, mir soll es recht sein. Ich gehe nach oben …«, und sie entfernt sich mit einer Eile, die Larken traurig macht, weil es ihr scheint, als würde Viney vertrieben. »Was ist los?«, fragt sie. Gaelan beschäftigt sich mit dem Kaffee. Bonnie kaut auf ihrer Unterlippe herum und schießt Blicke in Miss Axthelms Richtung. »Setz dich doch, Larken«, sagt Miss Axthelm. »Nein, danke, Miss Axthelm. Ich stehe lieber nach der langen Autofahrt.« Mr. Humphries beginnt: »Wir haben darüber geredet, wo wir das gymanfa ganu feiern sollen.« »Und?« Larken schaut hilfesuchend zu Gaelan. Er gibt ihr keinen Hinweis.
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»Ich fange schon mal mit den Tüchern an«, sagt Bonnie. Sie geht hinüber zum Schrank und zieht einen großen Pappkarton von einem der oberen Borde. »Es wird normalerweise im Haus des Verstorbenen abgehalten«, sagt Mr. Humphries. »Genau. Also hier.« Gaelan putzt sich die Nase. Bonnie holt das Bügelbrett hervor und klappt es auf. Es gibt ein grauenhaftes Quietschen von sich. Der Hund fängt an zu bellen. »’tschuldigung!«, ruft Bonnie. »Allmächtiger!«, psalmodiert Miss A. »Still, Sergei!«, befiehlt Blind Tom. Der Hund verstummt, und Blind Tom wendet sich den Sexten zu: My Bonnie lies over the ocean … »Oder bei Dad«, fährt Larken fort, »obwohl er da eigentlich nicht gewohnt hat und wir ein Klavier hinschaffen müssten. Ist das das Dilemma?« Bonnie betätigt ein paarmal versuchsweise den Wasserzerstäuber und zielt dabei auf die Stelle an der Küchendecke, die sich genau über Miss A.’s Kopf befindet. Blind Tom geht zu den großen Terzen über. Miss Axthelm spricht. »Manche Leute denken, dass es… nun ja, manche Leute für unpassend halten könnten, wenn das gymanfa hier stattfindet.« »Was?« »Sie könnten es anstößig finden«, behauptet Miss A. Sie scheint nicht zu bemerken, dass ein feiner Nebel auf ihre gelackte, hoch toupierte Frisur fällt und in deren Mitte langsam und stetig eine Art Schlund formt. »Warum?« Bonnie nimmt ein zusammengefaltetes schwarzes Tuch aus dem Karton, schüttelt es mit einer Vehemenz aus, die einen regelrechten Donnerschlag verursacht, und legt es auf das Bügelbrett.
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Als Bud auf seinem Stuhl hin und her rutscht, protestiert sein Ledergürtel mit einem Knarren. »Das verstehe ich nicht«, fährt Larken fort und setzt sich. »Wieso sollte jemand etwas dagegen haben, dass das gymanfa hier stattfindet?« Gaelan ergreift das Wort. »Weil Dad und Viney nicht - offiziell - verheiratet waren.« Grundgütiger, würde Larken am liebsten sagen. Stattdessen nimmt sie eine ihrer Professorinnen-Posen ein, indem sie den Kopf auf eine Hand stützt und mit weiser Miene die Stirn runzelt. Sie fängt an, nach Schokolade zu gieren, und wünscht sich, sie hätte daran gedacht, einen geheimen Vorrat mitzubringen. Viney hat nie Süßigkeiten im Haus. Nebenan wechselt Blind Tom zu Mollakkorden. Bonnie presst das Eisen mit solchem Nachdruck auf den Stoff, dass das Bügelbrett ächzt und kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen scheint. »Natürlich würde sich niemand, der Viney und deinen Dad gut kennt, daran stören«, sagt Mr. Humphries, »aber es könnte sein, dass manche Leute Anstoß nehmen und nicht kommen, und das wäre einfach schrecklich. Wir wollen, dass alle dabei sind. Schließlich war er unser Bürgermeister.« Jetzt legt die Hexe los. »Außerdem ist es ja nicht so, als hätte Alvina hier noch kein gymanfa gehabt. Sie hatte zwei.« Ihre Gefühllosigkeit ist erstaunlich. »Ist mal jemandem der Gedanke gekommen, dass sie sogar erleichtert sein könnte, wenn hier nicht noch ein gymanfa stattfindet? Hat jemand mal darangedacht?« Larken hindert sich selbst am Sprechen, indem sie ihre unteren Zähne über ihre Oberlippe schiebt. Mr. Humphries rückt erneut nervös hin und her. Blind Tom spielt plötzlich einen schweren, lauten c-Moll-Akkord (der Miss A. hochfahren lässt, als hätte man ihr durch die Gesäßbacken einen elektrischen Schlag versetzt) und leitet dann zu Beethovens Pathétique über. »Was ist die Alternative?«, fragt Larken. »Das Haus der Williams’ natürlich«, sagt Miss A. 149
Mr. Humphries fügt hinzu: »Es ist groß, und sie haben den Stutzflügel …« »Das schönste Instrument in der Stadt!«, ergänzt Miss A. triumphierend. Mr. Humphries wirft ihr einen Blick zu und lächelt, wie man es nur im Mittleren Westen tut, wenn man stinkwütend auf jemanden ist, aber zu höflich, um es ihn merken zu lassen. »Sie haben dieses hübsche große zweite Wohnzimmer, wenn wir mehr Platz brauchen«, fährt er fort. »Das wäre in meinen Augen der Hauptvorteil.« Viney tritt wieder ein, jetzt auf hohen Absätzen und in Nylonstrümpfen und einem weit ausgeschnittenen schwarzen Kleid, das sie, wie Larken sich erinnert, seit den 1960ern hat, als das kleine Schwarze unabdingbarer Bestandteil der Garderobe einer Frau war. Hope hatte auch eins. Larken hat Viney seit Jahren immer nur im Jogginganzug gesehen. Trotz ihrer offenkundigen Erschöpfung und Trauer sieht Viney verblüffend sexy aus. »Also, sind wir zu einem Urteilsspruch gekommen?«, fragt sie. »Ich muss ins Bad«, sagt Miss A. unvermittelt. »Bud, helfen Sie mir.« Mr. Humphries ergreift ihren Ellbogen und steuert sie in Richtung Wohnzimmer. »Oh nein, nicht das da, bringen Sie mich hierhin«, verlangt Miss A., und Mr. Humphries geleitet sie zu der nahen Gästetoilette gleich neben dem Raum mit Waschmaschine und Trockner. Sie tappt hinein und stellt die Lüftung an. Kurz darauf versuchen alle, das laut vernehmliche Rumoren von Miss A.’s Gedärmen zu ignorieren. »Es tut mir alles so leid, Viney«, entschuldigt sich Mr. Humphries. »Ich gebe es ungern zu, aber es ist etwas Wahres an dem, was Estella sagt.« »Oh, das verstehe ich, Bud«, erwidert Viney. »Wirklich, und ich bin sicher, Sie haben Recht. Wir hatten ein … ungewöhnliches Arrangement, der Bürgermeister und ich, und vermutlich 150
denken einige Leute sogar nach so langer Zeit … na ja, es ist ein kleiner Ort, und wir wissen alle, wie das sein kann, im Guten und im Schlechten. Ich habe wirklich nichts dagegen, wenn wir es woanders machen.« Larken kennt Viney gut genug, um zu wissen, dass sie nicht wie eine Märtyrerin klingen will, aber sie kann einfach nicht heucheln. »Bei den Williams’ ist nun mal sehr viel Platz, wissen Sie«, sagt Mr. Humphries zum dritten Mal. »Oh, ich weiß.« »Da passen eine Menge Leute rein. Praktisch der ganze Ort, wenn es sein muss.« »Das ist bestimmt ein Plus.« »Was denkst du, Larken?«, fragt Mr. Humphries. Larken weiß, dass die Entscheidung bereits gefallen ist, die ungeschriebenen Gesetze einer Kleinstadt jedoch erfordern, dass sie ihre Stimme abgibt. »Wenn es Viney recht ist, soll es mir auch recht sein.« »Gut«, sagt Viney und tätschelt Larkens Hand. »Da bin ich froh.« Blind Tom ist wohl fertig mit seiner Arbeit; er spielt jetzt ein Potpourri aus Gershwin-Melodien. Teils, um etwas Abstand zwischen sich und Miss A. zu legen, und teils, weil die Musik so mitreißend ist, treten die fünf an die Wohnzimmertür und lauschen. Mr. Barstow ist anscheinend nach draußen gegangen, über den Zottelteppich ziehen sich zwei parallele Streifen, als hätte er dazu Langlaufskier benutzt. »Ich hätte dieses Spinett nie kaufen sollen«, sinniert Viney, die sich nach wie vor an Larken festhält. »Welly mochte es eigentlich nie. Er sagte immer, es hätte einen steifen Anschlag und der Ton sei dünn. Ich hätte lieber ein Wandklavier nehmen sollen. Das ist größer, aber der Klang ist viel voller.«
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»Es ist ein schönes Instrument, Viney«, fügt Gaelan hinzu. Er hat wieder angefangen zu weinen, was aber niemand außer Larken bemerkt. Sie nimmt seinen Arm. Blind Tom schließt mit einem Auszug aus »Rhapsody in Blue«. Alle applaudieren. Blind Tom steht auf - er muss weit über eins achtzig sein - und dreht sich schüchtern lächelnd zu ihnen um. Die Sonnenbrille hebt sich besonders dunkel von seiner blassen Haut ab. »Sehr schön!«, sagt Miss Axthelm, die mit siegreicher Miene aus dem Bad auftaucht, als gelte der Beifall ihr. »Das wäre also geregelt!« Ohne sich die Mühe zu machen, ihr schmutziges Geschirr vom Tisch zu räumen, nimmt sie ihre Handschuhe und ihre Tasche. »Ich muss jetzt nach Hause, um Sugar ihre Insulinspritze zu geben, aber wir treffen uns später. Es war schön, euch Kinder alle zusammen zu sehen«, sagt sie und geht. »Ich und Vonda kommen auch bald«, sagt Mr. Humphries und bewegt sich ebenfalls auf die Küche zu. »Ich gebe Hazel und Wauneeta Bescheid wegen dem gymanfa.« Er umarmt Viney kurz und entfernt sich. »Blind Tom!«, ruft Viney und langt nach ihrer Handtasche. »Vielen herzlichen Dank. Es ist Jahre her, dass dieses Ding da gestimmt wurde, wie Sie sicher gemerkt haben. Es war in furchtbarer Verfassung.« »Es gibt nichts auszusetzen an dem Instrument, Mrs. Closs«, sagt Blind Tom, klappt seinen Koffer zu und greift nach Sergeis Leine. »Es müsste nur öfter gespielt werden, das ist alles.« Viney tritt mit ihrem Scheckheft ins Wohnzimmer. »Tut mir leid, aber wir halten das gymanfa nun doch nicht hier ab«, hört Larken sie leise sagen. »Ich hoffe, Sie haben nicht das Gefühl, dass Ihre Arbeit Zeitverschwendung war.« »Nichts ist Zeitverschwendung«, erwidert Blind Tom. »Es ist immer eine Freude, eine neue Klaviatur kennen zu lernen.« »Was schulde ich Ihnen denn?«, fragt Viney. »Nichts, Ma’am. Das hat der Gemeinderat schon erledigt.« 152
»Oh, dieser Bud«, sagt Viney, und Tränen steigen ihr in die Augen. »Er ist wirklich ein zu lieber Mensch.« »Ich fahre dann rüber zu den Williams’«, sagt Blind Tom. »Tschüss, Leute!«, ruft er laut und unbestimmt. Dann neigt er den Kopf genau in Bonnies Richtung und sagt leise: »Auf Wiedersehen, Bonnie.« »In Ordnung, Kinder«, verkündet Viney. »Wir haben nicht viel Zeit. Gaelan, Schatz, holst du bitte Larkens Koffer rein und stellst ihn ins untere Schlafzimmer? Bonnie, Liebes, warum überlässt du mir nicht das Bügeln? Und Larken, Herzchen«, sagt sie, zieht eine Trittleiter aus dem Besenschrank und reicht sie weiter, »du und deine Schwester, ihr könnt schon mal mit dem Verhängen anfangen.« »Es riecht immer noch nach Putzmittel mit Zitronenduft«, sagt Larken. Ihr und Bonnie wurde das obere Stockwerk zugewiesen, wo sie jetzt Fenster und Spiegel mit schwarzem Tuch abdecken. Sie wissen genau, was zu tun ist und wie sie es tun müssen - sie verhängen die Fenster und Spiegel in diesem Haus nicht zum ersten Mal. Gaelan hilft Viney im Erdgeschoss. »Du wohnst also hier?«, fragt Bonnie. »Du fährst nicht rüber zu Dads Haus?« »Nein. Das ist mir gar nicht in den Sinn gekommen. Gaelan übernachtet auch hier, oder?« »Viney ist so glücklich, ihn bei sich zu haben. Dich natürlich auch, aber du weißt ja, wie sie zu ihm steht.« »Was ist mit dir?« »Heute Nacht schlafe ich auf jeden Fall hier. Vielleicht sogar die ganze Woche.« »Das wäre großartig, Bon.« Larken ist überrascht. Sie weiß, wie schwer es ihrer Schwester fällt, aufs Alleinsein zu verzichten. »Dann haben wir Zeit, uns zu unterhalten.« »Gib mir noch eins«, sagt Bonnie.
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Sie sind beinahe fertig. Wally juniors Zimmer haben sie sich bis zuletzt aufgehoben; Gaelan wird darin schlafen. »Unglaublich, dass sie sich so anstellen mit dem gymanfa. In vielen Staaten würde das mit Dad und Viney bestimmt als Ehe gelten, oder?« »In diesem Staat wahrscheinlich auch, aber sowas kümmert Idioten natürlich nicht.« »Wie läuft’s da oben?«, ruft Viney. »Seid ihr bald fertig?« »Ja!«, erwidern sie im Chor. »Okay! Larken, du solltest dich umziehen. Gaelan hat deinen Koffer reingeholt, und du hast das Bad für dich.« Bonnie steigt von der Trittleiter. Es ist so dunkel, dass man glauben könnte, es sei Mitternacht. »Ich wünschte …«, setzt sie an und hält dann inne. »Was, Bon? Was wünschst du dir?« »Los, Mädels!«, ruft Viney. »Bewegt euch! In einer halben Stunde sind die anderen da!« »Wir kommen!«, ruft Bonnie zurück und eilt die Treppe hinunter. Larken lauscht. Das Geräusch der Schritte ihrer Schwester ist ihr so vertraut - wie die Jahreszeiten oder eine Farbe oder ein Musikstück, das im wichtigsten Moment ihres Lebens gespielt wurde -, dass Larken sich wieder dabei ertappt, wie sie ins Leere starrt und anfängt zu weinen, ohne zu wissen, warum. Am Nachmittag, der auf den Gedenkgottesdienst für ihre Mutter folgt, steht die 14-jährige Larken eng an die schattige, mit Holzimitat verschalte Wand des Souterrains der Bethel Welsh Methodist Church gepresst und denkt an Kleider. Peggy McCandless und Stephanie Hansen, ihre besten Freundinnen, sind bei ihr, doch schon jetzt hat sich zwischen ihnen etwas verändert. Eine Kluft der Fremdheit hat sich aufgetan. Larken und Peg und Steph haben sich ständig untereinander über ihre Mütter beschwert. Larken hat sich dabei nie zurückgehalten, obwohl ihre Mutter an den Rollstuhl gefesselt und angeblich tod154
krank war, und nun wird ihr klar, dass sie aus dieser Runde ausgeschlossen ist. Schimpfen und Rebellieren sind ihr nicht mehr vergönnt. Es war schwer genug, sich gegen einen Krüppel aufzulehnen, aber es ist unmöglich, gegen eine Mutter Front zu machen, die tot ist. Höchstwahrscheinlich tot. Verschollen. »Es tut mir so leid, Larken«, wiederholen Peg und Steph abwechselnd, während sie an ihrem Kuchen knabbern und von ihrer Limonade trinken, ohne zu ahnen, dass sie bei jeder dieser gut gemeinten Beileidsbekundungen weniger und weniger ihre Freundin werden. Sie will das hier nicht. Sie wird nicht weinen. Sie wird nicht zusammenbrechen, nicht in diesen Klamotten. Sie steckt in einem Trägerrock - marineblau, weil junge Mädchen noch kein Schwarz tragen. Er hat die Form eines A (der unpassendste Schnitt für ein Mädchen, das gebaut ist wie Larken, die aus der Zeitschrift Seventeen bereits weiß, dass sie eine birnenförmige Figur hat und Modelle mit hoher Taille im EmpireStil wählen und auf alles Steife verzichten sollte) und wirkt schäbig und plump und hat etwas von einem missglückten gemeinnützigen Projekt an sich. Unter dem Rock trägt sie eine gestärkte, zu enge Polyesterbluse. Diese Tracht könnte eine katholische Schuluniform sein, und wer weiß, vielleicht ist sie es. Es würde den Katholiken, besonders diesen hochnäsigen katholischen Mädchen, nur allzu ähnlich sehen, einen ausgeblichenen SchulTrägerrock zu spenden und damit diesem armen Mädchen da unten in Emlyn Springs etwas Gutes zu tun, deren Mutter bei dem schrecklichen Tornado verschwunden ist und die jetzt nichts mehr hat, nichts, NICHTS! Larken stellt sich vor, wie sie und ihre Geschwister bereits zum näher liegenden Ersatz für die hungernden Kinder in Afrika geworden sind. Trag dein neues Kleid!, ermahnen Mütter überall im Land ihre Töchter, wenn sie es wagen, zweimal wöchentlich ihr Lieblingsoutfit zur Schule anzuziehen. Weißt du nicht, dass es in Südostnebraska Mädchen
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gibt, die zum Gedenkgottesdienst für ihre Mutter nichts anzuziehen haben? Dieser Trägerrock gehörte zu einem der Bündel, die von Leuten aus Lincoln geschickt und vom Roten Kreuz oder von einer anderen Hilfsorganisation, die sich um solche Dinge kümmert, gesammelt worden waren. So schlimm er auch aussah, war er doch das am wenigsten widerwärtige Kleidungsstück gewesen, das sie finden konnte, und das einzige, das zumindest annähernd passte. Sogar ihre Schuhe sind geliehen: schwarze Riemenschuhe - wie für ein Baby! -, abgewetzt und zu eng, sodass sie sich wacklig und unsicher fühlt. All diese Sachen stammen von Mädchen mit schlanken Hüften und schmalen Füßen und weniger üppigen Titten, denn Larkens Titten sind früher gewachsen als bei allen anderen, ebenso wie ihre Periode früher eingetreten ist. Der Rock schiebt sich immer wieder an ihren Beinen hoch, und sie hat Angst, dass ihre Strumpfbänder zu sehen sind - sie trägt sogar den Hüftgürtel eines anderen Mädchens -, und seine Abnäher sind nicht auf ihre Brüste zugeschnitten. Gaelan ist auch irgendwo, wie Larken trägt er geborgte Kleidungsstücke. Bonnie ist nicht anwesend, sondern nach wie vor im Krankenhaus. Larken würde alles dafür geben, an ihrer Stelle zu sein. Sie beschließt hier und jetzt, dass sie diesen Rock - oder einen von den anderen - nie wieder tragen wird. Ab morgen wird sie die Flanellhemden und Arbeitshosen anziehen, die Gaelan gespendet wurden. Peg und Steph werden bald so peinlich berührt und angewidert sein, dass sie nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen. Larken ist eine Figur in einer Tragödie, aber nur Nebendarstellerin in einem Stück, in dem ihre Mutter der Star ist. Ihr Vater hat die männliche Hauptrolle, und er spielt sie gut. Larkens Freundinnen finden Daddy attraktiv. Meistens kichern sie, wenn er mit ihnen flirtet. Doch jetzt kichern sie nicht, und sie werden Larkens Vater auch nie mehr als attraktiv bezeichnen. Von heute an wird er nur noch Dr. Llwellyn Jones sein, der Witwer. 156
»Glaubst du, er wird je wieder heiraten?«, fragt Peg. Larken hat noch nicht darüber nachgedacht, und die Möglichkeit erschließt ihr eine Welt der Fantasien, eine willkommene Ablenkung von den Dingen, über die sie nicht nachdenken mag. Falls ihr Vater wieder heiratet, hat sie eine Stiefmutter, und das eröffnet massenhaft dramatisches Potenzial. Stiefmütter sind nie normale Frauen. Sie lackieren sich die Fingernägel in grellen Farben und neigen zur Liederlichkeit. Vielleicht wird ihre Stiefmutter wie die Hexe in einem Märchen. Larken hat das Gefühl, sie verdiene eine böse Stiefmutter, und fängt an, die Menge nach Frauen abzusuchen, die ihr das Leben zur Hölle machen könnten nur ihr allerdings, nicht Gaelan oder Bonnie, eine Stiefmutter, die ihr und nur ihr allein übel gesonnen ist. So läuft es natürlich nicht. Ein paar Jahre nachdem Hope in die Luft geflogen ist, wissen alle in Emlyn Springs, dass die einzige Person, die einen ehefrauähnlichen Platz in Dr. Llewellyn Jones’ Leben und Herzen einnimmt, seine Sprechstundenhilfe Alvina Closs ist. Larken ist schwer enttäuscht. Viney ist alles andere als eine böse Stiefmutter, so unschuldig wie ihre Gesangbuchengel, und Larken liebt sie. Sie muss sich ihre Strafe woanders suchen. Die Uhren ticken. Nachdem Larken in einem sehr teuren, sehr schmeichelhaften schwarzen Leinenanzug aufgetaucht ist, lässt Viney sie und Gaelan und Bonnie auf dem niedrigen Sofa Platz nehmen, wo sie sitzen bleiben müssen, während die Besucher kommen und gehen werden. Sie ergreift Gaelans und Larkens Hände und wendet sich mit großem Ernst an alle drei. »Also. Ehe die Sache losgeht, möchte ich, dass ihr Kinder etwas wisst.« Sie schaut ihnen nacheinander in die Augen. »Er hat euch geliebt. Und er wusste, dass ihr ihn liebt, jeder auf seine Weise. Und ich möchte nicht, dass ihr auch nur einen Moment lang ein schlechtes Gewissen habt, weil ihr nicht hier wart, als er starb. Es macht nichts, dass ihr nicht jeden Tag mit ihm gespro157
chen habt. Es macht nichts, dass wir an den Feiertagen nicht immer zusammen waren. Glaubt niemals, er wäre nicht für jeden Einzelnen von euch zum Mond und wieder zurück geradelt.« Ihr Blick ruht auf Bonnie, die den Kopf gesenkt hat und leise weint. »In Ordnung? Versprecht mir, dass ihr euch nicht schlecht fühlt.« »Ich verspreche es, Viney«, sagt Larken. »Ich auch«, sagt Gaelan. »Bonnie?«, drängt Viney. Bonnie schaut auf. Einen flüchtigen Moment lang erlaubt ihr Gesichtsausdruck Larken die Erinnerung daran, wie ihre Mutter aussah. »Ja, Viney, ich versuche es.« Und dann ist die Ähnlichkeit verschwunden. Bonnie sieht wieder aus wie sie selbst und erinnert Larken in nichts mehr an Hope. »Gut, das wär’s dann«, sagt Viney und wirft einen Blick auf die Tür. »Oh! Das hätte ich fast vergessen.« Hastig reicht sie jedem von ihnen ein kleines Notizheft, in dessen Bindung aus Spiraldraht ein kurzer, knubbeliger Stift steckt. Dann seufzt sie, schmiegt sich tief in die Sofakissen und drückt Larken noch einmal die Hand. Draußen ertönt ein Crescendo von Schritten, die die hölzerne Treppe hinauf und über die Veranda kommen. »Lasst uns besonders nett zueinander sein, meine Lieben«, fügt Viney hinzu. »Wir haben eine allergische Woche vor uns.« Bevor eins von den Kindern Gelegenheit hat, diese eigenartige, ungestüme Frau zu fragen, die nach dem Gesetz nicht als ihre Stiefmutter gilt, es aber ist und noch viel mehr - mehr, als sie wissen (Was war das, Viney? Hast du »allergisch« gesagt?), klingelt es an der Tür, die Trauergäste werden eingelassen, und das tridiau, die dreitägige Zeit der Stille, beginnt. Hopes Tagebuch, 1960 Keiner ist tot, ehe er besungen wurde
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Noch genau neun Wochen, exakt dreiundsechzig Tage, bis ich Mrs. Llwellyn Jones bin! Dreiundsechzig Tage und ebenso viele Nächte. Wenn man es so hinschreibt, scheint es sehr lange. Womöglich hätte ich mich für eine raffiniertere und größere Hochzeit entscheiden sollen, Hunderte von Gästen und zahlreiche Brautjungfern und Begleiter des Bräutigams usw., mit Rezitationen von Gedichten, Sopransoli, Streichquartetten, Cocktailservietten mit Monogramm, mit Büfett und einer Big Band im Elks Club und so weiter. Diese Art Hochzeit muss geplant werden. Eine Braut, die sich so eine Hochzeit wünscht, wäre dankbar, noch dreiundsechzig Tage Zeit für alle Erledigungen zu haben. Aber der arme Papa ist schon überfordert genug - wer hätte gedacht, dass auch eine kleine Hochzeit so viel kostet? -, und außerdem ist eine große Hochzeit gar nicht mein oder L.’s Stil. Ich wünschte nur, wir müssten nicht mehr so lange warten. Ich komme mir vor wie ein Schulmädchen, aber sei’s drum das Heiraten ist ein universelles Thema, das mich Tag und Nacht beschäftigt, nahezu jedenfalls. Na gut: Sex. (Was für einen Sinn hat es, im eigenen Tagebuch zimperlich zu sein?) Er ist das eigentliche Thema. Wir haben darüber geredet. L. hat natürlich Erfahrung - die erwartet man von Männern. Besonders von 26-jährigen, die so attraktiv, brillant, nett und mit einer so klangvollen Stimme gesegnet sind, dass sie sicherlich sogar die Wiesenlerchen entzückt. Womit verdiene ich so viel Glück? Heute nach dem Abendessen, als mir durch zwei Gin Tonics die Zunge gelockerter war als sonst, quetschte ich ihn nach Einzelheiten aus. »Erzähl mir davon, wie du entjungfert wurdest«, sagte ich. »Mädchen sollten eigentlich nichts über die sexuelle Geschichte ihres künftigen Ehemanns wissen.« »Klar, und guck dir an, wohin das führt! Seit hundert Jahren handelt über die Hälfte der englischen Literatur von dieser Unwissenheit.« 159
»Wie kannst du so kaltschnäuzig sein?« »Ich bin nicht kaltschnäuzig! Ich bin fasziniert. Hoffentlich kommt mir deine jahrelange Erfahrung zugute. Wann war dein erstes Mal?« »Hope.« »Los, erzähl’s mir. Wie alt warst du?« »Zwölf.« »Nein!« »Siehst du, ich wusste, du würdest schockiert sein.« »Ich bin nicht schockiert.« (Obwohl ich es war. Ein bisschen.) »Wie viele Frauen hast du …« »Nein. Auf keinen Fall.« »Aha, verstehe. Zu viele, um sie zu zählen.« »Es ist anders, wenn man auf dem Lande aufwächst.« »Du Lügner! Das hat doch damit nichts zu tun.« »Lass uns nicht mehr darüber reden.« »Sexuell erfahren und prüde. Du hättest einen musterhaften Viktorianer abgegeben.« »Und du hättest die wilden 20er-Jahre genossen.« »Ich mache mir keine Sorgen um unser Liebesleben. Ich möchte nur, dass es endlich losgeht.« »Hope, ich will, dass unsere Hochzeitsnacht etwas ganz Besonderes wird.« »Für dich, meinst du!« »Für uns beide.« Sein Ton war so liebevoll und aufrichtig, dass ich aufhörte, ihn zu necken. »Ich will auch, dass sie was Besonderes wird, und genau deshalb sollten wir vorher üben.« »Hope.« »Denk darüber nach! Könntest du einen Patienten operieren, wenn du zuvor nicht an - wie heißt er gleich? - geübt hättest?« »Wie heißt wer?« »Deine Leiche.« »Du hast zu viel getrunken.« 160
»Alistair! Du übst an Alistair. Und wie sollte ich mein Konzert schaffen, wenn ich nicht üben würde? Übung macht den Meister.« »Ich bringe dich jetzt nach Hause.« »Es könnte ja auch was schiefgehen in der Hochzeitsnacht. Vielleicht bin ich … nicht penetrierbar oder so. Und was wird dann aus unserer ganz speziellen Nacht, Casanova?« »Ja, ja. Halt den Mund«, sagte er. »Schließ ihn mir doch«, erwiderte ich. Aber statt des dicken, feuchten Knutschers, auf den ich gehofft hatte, bekam ich einen Pfefferminzbonbon. Dann gab er mir ein Küsschen auf die Wange und half mir in meinen Mantel, dem in den letzten Stunden eine erschreckende Anzahl von Ärmeln gewachsen zu sein schien. Wir ließen L.’s Wagen vor dem Restaurant stehen und gingen zu Fuß zu meinem Wohnheim. Die frische Luft ernüchterte mich so weit, dass ich mein Gleichgewicht wiederfand, minderte meine Leidenschaft aber nicht. Ich bin so eine ordinäre Betrunkene! An der Tür gab L. mir einen weiteren zu keuschen Kuss und wandte sich zum Gehen. Ich zog ihn zurück. »Mehr, bitte«, sagte ich. Er gehorchte. »Noch einen.« Was für ein wunderbarer Mund. Heute Abend nahmen L. und ich uns frei vom Studieren/ Üben und sahen uns einen Film an: »Der Mann, der zu viel wusste« mit James Stewart als Arzt und Doris Day als seiner Frau. Natürlich war sie ein ehemaliger Varieté-Star und musste ständig in Gesang ausbrechen. Hinterher gingen wir ins Tastee’s auf einen Malzshake. »Wag bloß nicht, MICH mit Beruhigungsmitteln vollzupumpen, wenn eins unserer Kinder von einer internationalen Mörderbande entführt wird«, sagte ich. 161
Er lachte. »Mach ich nicht. Versprochen.« Auf langen Umwegen spazierten wir händchenhaltend zurück. Eine herrliche Nacht im Vorfrühling. »Findest du es nicht großartig, dass sie nie ihre Stimme verloren oder vergessen hat, Lippenstift aufzutragen, auch nicht in der größten Krise?«, fragte ich. »So wäre ich auch gern. ›Que sera, sera … Whatever will be, will be …‹« »Anscheinend hasst sie diesen Song.« »Wer? Doris? Woher weißt du das?« L. zuckte die Achseln. »Hab ich irgendwo gehört.« »Also, mir gefällt er. Den Song werde ich mir von jetzt an jedes Mal wünschen, wenn wir tanzen gehen, und das Orchester soll ihn an unserem 50. Hochzeitstag spielen. Ist Ihnen das recht, Doktor?« Die Antwort erhielt ich in Form mehrerer nach Schokoladenmalz schmeckender Küsse. L.’s Großmutter (väterlicherseits) ist heute Morgen plötzlich gestorben - Herzschlag, so, wie wir alle gern abtreten würden, ohne Ankündigung oder Kampf, andererseits aber auch unvorbereitet -, und nachdem er es mir erzählt hatte (mitten beim Frühstück, muss ich hinzufügen, und erst, als ich ihn genervt hatte, mir zu sagen, was los sei), verkündete L., er habe vor, allein an der Beisetzung teilzunehmen. Ich erinnerte ihn daran, dass dies genau die Art von Anlass ist, bei der ich an seiner Seite sein sollte, nicht nur bei fröhlichen Feiern wie unserer Verlobungsparty, sondern bei Ereignissen, wo es um Leben und Tod geht. »In Krankheit und Gesundheit« heißt es schließlich im Ehegelübde. Er aber tat alles Menschenmögliche, um mir das Mitkommen auszureden. »Warum sträubst du dich so dagegen?«, fragte ich. »Tue ich gar nicht. Ich bin nur praktisch. Du würdest kurz vor dem Abschluss etliche Stunden versäumen.« »Das kann ich mit meinen Professoren regeln. Die werden Verständnis dafür haben.« 162
»Ich bleibe über eine Woche da«, sagte er. »Emlyn Springs braucht eine Weile, um seine Toten zu begraben.« Er spricht oft so über seine Heimatstadt - als ob sie eine Person wäre. »Eine Woche? Das ist nicht lange. Natürlich willst du wenigstens ein paar Tage vor und nach der Beisetzung da sein.« »Du verstehst nicht. Die Beisetzung dauert eine Woche. Na ja, nicht die Beisetzung an sich, aber … Es ist einfach so, dass es da diese … Geschichte gibt, bei der ich dabei sein muss.« Ich merkte, dass er wieder einen Rückzieher machen wollte, deshalb hakte ich nach: »Deine Großmutter muss in der Gemeinde sehr beliebt gewesen sein.« »Nein, das tun sie für jeden.« Als ich ihn um eine Erklärung bat, hielt er sich absichtlich bedeckt und machte nur vage Andeutungen über jede Menge Rituale und Zeremonien, die notwendig seien. »Je mehr du mir ausweichst, desto hartnäckiger werde ich, das weißt du doch. Also kannst du ebenso gut gleich auspacken.« »Okay«, seufzte er. »Ich versuche es.« Mit der resignierten Melancholie eines Mannes, der nie wieder Orangensaft trinken wird, nahm er einen Schluck aus seinem Glas. »Zunächst mal wird drei Tage lang getrauert - in diesem Fall im Haus meiner Familie; in dieser Zeit sind sehr viele strenge Regeln zu beachten, dann folgt eine Parade, ein Gottesdienst, noch eine Parade …« »Das klingt faszinierend.« »Es ist grotesk, Hope. Ehrlich. Ich möchte dich dieser Situation nicht aussetzen. Sie ist teils irische Totenwache, teils Klagemauer von Jerusalem und ausgesprochen morbide und gipfelt in einer großen Party im Haus des Verstorbenen, wo der Tote neben kalten Platten und Nudelsalat und Wackelpudding und Sechserpacks Bier aufgebahrt wird, und alle essen und trinken weitere drei Tage lang und singen walisische Kirchenlieder, und anschließend gehen sämtliche Bewohner des Orts zum Friedhof und begraben den armen Teufel, und dann ist es Gott sei Dank endlich vorbei.«
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»Es ist aber nicht irgendein Toter«, erinnerte ich ihn sanft. »Kein ›armer Teufel‹, sondern deine Großmutter.« »Ja«, sagte er nachdenklich. »Meine Großmutter.« »Eine ganze Stadt, die zusammenkommt, um eine Mitbürgerin zu betrauern? Das ist bemerkenswert.« »Es ist bizarr. Glaub mir. Es ist sogar für mich bizarr, und ich bin dort aufgewachsen. Für einen Außenstehenden ist es noch bizarrer.« »Für einen Außenstehenden? Wer soll das denn sein?« »Du weißt, was ich meine, Hope. Werd nicht kratzbürstig.« (Es stimmte, ich hatte meine Stacheln aufgestellt.) »In Ordnung, aber ich wollte deinen Heimatort sowieso besuchen. Unter glücklicheren Umständen natürlich, aber jetzt habe ich Gelegenheit, den Rest deiner Familie kennen zu lernen und die Menschen, mit denen du aufgewachsen bist.« »Und was ist mit deinem Konzert? Musst du nicht üben?« »Wie, in einer Stadt, die ihre Toten besingt, gibt es keine Klaviere?« L. war nicht nach Neckereien zumute, und er runzelte die Stirn und setzte diese verschlossene Miene auf, die zeigt, dass er frustriert ist. L.’s Patienten interpretieren sie mit Sicherheit anders. Jedem, der ihn nicht so gut kennt wie ich, muss sie beruhigend nachdenklich erscheinen. »Llwellyn, deine Familie ist bald auch meine Familie. Deine Leute werden auch meine Leute sein.« Wieder das Arztgesicht bei L. Ich hätte ihm am liebsten einen dicken, unanständigen Kuss gegeben, stellte mich stattdessen jedoch auf die Hinterbeine. »Na gut. Fahr allein. Ich habe einen Führerschein, ich kann mir von einem der Mädchen ein Auto leihen, ich kann mir bei Woolworth eine Straßenkarte kaufen, und wenn Emlyn Springs so klein ist, wie du sagst, werde ich ja wohl das Haus deiner Eltern finden, indem ich einfach den Erstbesten, den ich sehe, nach dem Weg frage.« »Ich will dich doch nur schützen.« 164
»Schützen wovor?« »Das kann ich nicht erklären, Hope«, murmelte er. »Ich halte es schlichtweg für keine gute Idee.« Was ich als Nächstes tat, war unterhalb der Gürtellinie, doch ich wusste mir nicht anders zu helfen. L. kann manchmal so wahnsinnig stur sein. Mit meiner abscheulichsten Kleinmädchenstimme sagte ich: »Vielleicht bin ich dir ja peinlich. Vielleicht ist das der wahre Grund dafür, dass ich nicht mitkommen soll.« Das gab den Ausschlag. »Nein!«, schrie er geradezu und packte meine Hand. »Nein! Natürlich nicht!« Ich schämte mich fürchterlich. Eigentlich verachte ich Frauen, die Männer auf diese Weise manipulieren, und habe immer Wert darauf gelegt, es selbst nicht zu tun. Jetzt sehe ich allerdings, wie verlockend es ist, besonders mit solch dramatischen Ergebnissen. Ich gab L. einen Klaps auf den Arm - eine kumpelhafte, ausgesprochen unweibliche Geste - und sagte: »Hör auf, dir unnötige Sorgen zu machen, und iss dein Frühstück auf. Ich rufe dich später an, wenn ich mit meinen Professoren geredet habe, dann machen wir einen Plan für morgen, okay?« Keine Antwort, also küsste ich ihn auf die Wange, während er missmutig seine Spiegeleier mit Haschee anstarrte. Der Rest des Tages verging mit Absprachen und Erörterungen mit allen Betroffenen, von denen keiner so sehr umschmeichelt und beschwichtigt werden musste wie L., bis dann feststand, dass wir morgen früh fahren werden. Mache jetzt Schluss. Bin müde, aber da es zeitig losgeht, muss ich heute noch packen. Liebes Tagebuch (so muss ich anfangen, denn ich habe das Gefühl, in einem anderen Jahrhundert gelandet zu sein). Was für ein Tag - ich weiß kaum, wo ich beginnen soll.
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Mit dem Ort vielleicht: Ich bin hier ganz jungfräulich im Gästezimmer des Hauses von Llwellyns Familie untergebracht (desjenigen in der Stadt, genauer gesagt, im Unterschied zu der Farm nordöstlich des Ortes, die L. mir irgendwann vor unserer Rückfahrt nach Lincoln zu zeigen versprochen hat). L.’s Mutter Lillian ist sehr reinlich. Ich befürchte jetzt schon, dass meine Fähigkeiten als Hausfrau nicht dem entsprechen, was L. gewöhnt ist. Vorhänge und Bettdecke haben einen seltsamen Geruch - muffig, aber zugleich ein bisschen nach Chlor, als hätten sie ein langes und extrem unglückliches früheres Leben als Bettzeug in einem katholischen Krankenhaus hinter sich. Bestimmt werde ich in meinen Träumen von hochgewachsenen Nonnen heimgesucht, die statt einer Ordenstracht gestärkte Kopfkissenbezüge tragen. Alle sind sehr nett zu mir, aber ich habe das Gefühl, es ist irgendwie unpassend, dass ich hier bin, und die Situation - junges unverheiratetes Paar unter einem Dach - wird von vielen missbilligt. Vielleicht wollte L. deshalb nicht, dass ich mitkomme. Nachdem Lillian vorbeigeschaut hatte, um mir gute Nacht zu sagen, erwartete ich fast, dass sich draußen ein Schlüssel drehen würde, um mich vor etwaigen nächtlichen Ungehörigkeiten ihres Sohns zu schützen. (Wenn sie wüsste, dass er derjenige ist, der Schutz braucht!) Wir trafen später ein als geplant, weil wir erst gegen Mittag losfuhren. L. überraschte mich mit dem Entschluss, vorher noch in der Bibliothek zu lernen. Ich weiß, dass er nervös ist wegen seiner Prüfung, aber es erstaunte mich trotzdem. Er schien die Abfahrt hinauszögern zu wollen, was ihm, der sonst immer so geschäftig und in Eile und die Effizienz schlechthin ist, gar nicht ähnlich sieht. Und als wir endlich auf der Straße waren, fuhr er so vorsichtig, wie ich es nie erlebt habe. Mit der Pferdekutsche wären wir schneller vorangekommen. Unterwegs fragte ich L., wie es gewesen sei, in einer so kleinen Stadt aufzuwachsen. Er war bisher nicht sehr mitteilsam, was sei166
ne Kindheit betrifft. Nicht, dass ich glaube, er hätte etwas zu verbergen. Er wirkt nur so gleichgültig, als wäre er voll entwickelt auf die Welt gekommen und ganz unbeeinflusst von allem, was geschah, ehe wir uns kennen lernten. Er lebt sehr im Hier und Jetzt, mein L., und neigt nicht zu Reisen in die Erinnerung. L. räumte ein, es sei ein bisschen seltsam gewesen, in einem Ort aufzuwachsen, wo die eigene Familie eine Anomalie ist, weil sie weder Vieh züchtet noch Getreide anbaut. »Das Kind eines Priesters zu sein ist überall ein Stigma, aber in einer ländlichen Gemeinde fühlt man sich dadurch besonders … ausgeschlossen, das ist es wohl, unbedeutend, überflüssig.« »Wieso?« »Ein Dad, der Seelen nährt, ist nicht ganz dasselbe wie ein Dad, der Bäuche füllt.« »Ich kann mir nichts Wichtigeres vorstellen, als spirituelle Anleitung zu bieten.« »Tut er das denn?«, fragte Llwellyn mit einiger Schärfe in der Stimme. »Ich fand, er kommandiert die Leute einfach nur rum.« »Ha! Machen Ärzte nicht genau dasselbe?«, forderte ich ihn heraus. »Die Leute rumkommandieren und sie gleichzeitig im Ungewissen lassen?« »Hope.« »Ich habe mal einen Blick in deinen Examensaufsatz über medizinische Ethik geworfen: ›Im Falle einer schweren Krankheit sollte Patienten Genaueres über ihren Zustand, unter gewissen Umständen sogar die Prognose selbst, vorenthalten werden.‹ Das heißt doch auch, jemanden im Ungewissen zu lassen.« L. fand das nicht lustig. »Das ist was anderes.« Ich merkte, dass unser Gespräch in einer Sackgasse gelandet war, und beschloss zu versuchen, ein bisschen mehr über L.’s Kleinstadtjugend auszugraben. »Du kannst mir also nichts über Schweinezucht beibringen?«, neckte ich ihn. »Ebenso wenig wie über Rinder oder Schafe oder Geflügel. Nichts.« 167
»Ihr hattet nicht mal Hühner? Und das in der Welthauptstadt der ausgefallensten Eiersorten?« »Nein.« »Verdammt.« »Wenn es dich tröstet, ich weiß, wie man beim Mais die Seide entfernt und mangelhafte Exemplare aussortiert. So verdienen sich die Jugendlichen hier im Sommer ihr Taschengeld.« »Hast du das auch getan?« »Klar.« »Gut zu wissen, dass unsere Kinder Einkünfte haben werden, wenn sie in die Pubertät kommen.« »Mais wird übrigens in rein männlichen und rein weiblichen Reihen angepflanzt.« »Lass mich raten«, warf ich ein. »Mit den männlichen in der Mehrzahl.« L. lachte. »Richtig.« »Typisch«, schloss ich, und wir verfielen in Schweigen. Eins von den Dingen, die ich an unserer Beziehung liebe, ist, dass sie Stille ebenso zulässt wie das Gespräch. Mit L. zusammen zu schweigen ist sehr angenehm. Je weiter wir uns von Lincoln entfernten, desto stärker verspürte ich etwas, das ich nur als freudige Erregung bezeichnen kann, was ich kaum verstand - besonders wenn man bedenkt, dass wir zu einer Beisetzung unterwegs waren. L.’s Eltern scheinen mich recht gern zu haben, damit hatte es also nichts zu tun. Auch dass ich andere Angehörige und Nachbarn kennen lernen würde, machte mich nicht nervös; schüchtern bin ich nicht. Ich glaube, das Gefühl erwuchs aus der Möglichkeit, durch Llwellyn und seine Familie auf eine andere Art mit der Landschaft in Verbindung zu treten. Ich bin fasziniert von Menschen, die ihr Leben dort weiterführen, wo es angefangen hat - im Gegensatz zu meinen Leuten, die in kleinen Ortschaften geboren wurden und dann in die Großstadt zogen - ebenso wie ihre skandinavischen und schottischen und walisischen und englischen 168
Vorfahren. Ich habe mich stets gefragt, wie es wäre, eine lange Geschichte mit einem einzigen Ort und seinen Bewohnern zu haben. Was für eine Abschweifung - zurück zum heutigen Tag. Als wir ankamen, war die Stadt bereits in Trauer vereint. Geschäfte geschlossen, Verandageländer mit schwarzen Fahnen behängt. Man hätte meinen können, die Queen sei gestorben. »Und das machen sie wirklich für jeden?«, fragte ich. »Ja«, sagte L. »Nichts erweckt diesen Ort so zum Leben wie der Tod.« Seine Stimme hatte einen fast verächtlichen Beiklang. »Aber das ist doch reizend, Llwellyn, findest du nicht?« Er zuckte die Achseln, und ich ließ es dabei bewenden. Gegen halb drei fuhren wir bei L.’s Elternhaus vor, weit über die Zeit zum Mittagessen, oder »Dinner«, wie es hier genannt wird, heraus. Es ist die wichtigste Mahlzeit des Tages, und es wurde viel Getue darum gemacht, dass wir sie versäumt hatten. Lillian wirkte beleidigt, und Papa Jones zeigte offen seinen Ärger. Allerdings hatte Lillian uns Teller warmgestellt. Sie belud sie im Moment unserer Ankunft mit Schmorfleisch, Kartoffeln, Soße und gekochtem Gemüse, alles sehr schwer. (L. hatte mich schon vor der walisischen Küche gewarnt. »Spar dir deinen Appetit für den Nachtisch auf«, sagt er immer. »Alles andere schmeckt wie eine Strafe.«) Lillian und L.’s Vater saßen bei uns, während wir aßen. Es herrschte ein entschieden seltsamer Mangel an Gefühl im Raum. L.’s Dad schaute ständig auf seine Uhr. »Sag Bescheid, wenn du fertig bist«, sagte er immer wieder, als ob er jeden Bissen von L. mitzählte. »Du und ich, wir müssen rüber zu Mal und spätestens um 16 Uhr zurück sein.« »Ich weiß, Dad«, sagte L. und schlang sein Essen hinunter wie ein Teenager. Ich verstand die Eile nicht. Als L. und Papa Jones weg waren, fragte ich Lillian danach. Sie erklärte - wie L. bereits angedeutet hatte -, in Emlyn Springs gebe es spezifische, besonders strenge Regeln, was den Ablauf 169
der Trauerzeit angehe, und die Trauerrituale müssten exakt zweiunddreißig Stunden nach dem Tod beginnen. Diese Vorschrift scheint sich nicht aus religiösen Gesetzen herzuleiten, sondern auf andere Weise entstanden zu sein. Wichtig ist jedenfalls, dass die engsten Angehörigen den Toten innerhalb der ersten zweiunddreißig Stunden in der Leichenhalle in Augenschein nehmen. »Es wird erwartet, dass man den Verstorbenen«, sagte Lillian ernst, »nach seinem Tod so bald wie möglich aufsucht.« Ich musste ein Lächeln unterdrücken; es kam mir vor wie eine Strafe, eine Rüge für diejenigen, die zu weit fortgezogen sind oder sich nicht sofort aus ihrem Alltag lösen, den Toten keinen Vorrang vor den Lebenden einräumen können. Lillian fragte mich, ob ich wüsste, was sonst noch auf mich zukäme. »Na ja«, stammelte ich, weil ich L. nicht in Schwierigkeiten bringen wollte, indem ich sagte Nein, nicht genau, weil dein Sohn der verschlossenste Mensch ist, den ich je kennen gelernt habe. Also erwiderte ich: »Ich würde es gern von dir hören.« Daraufhin erzählte sie mir, die Familie würde drei Tage lang zu Hause bleiben, ohne auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen, und sei es zum Einkaufen. Die Leute würden ihnen Essen bringen und alle anderen Besorgungen erledigen, die eventuell erforderlich werden. Kein Tratsch, kein Gerede über Sportergebnisse, alle Gespräche streng beschränkt auf Geschichten über Grandma Elinor, Worte des Lobes, ansonsten respektvolles Schweigen. Kein Radio, kein Fernsehen, Spiegel und Fenster schwarz verhängt und keine andere Betätigung. Nur dasitzen und zuhören. In diesen drei Tagen muss die Familie also vollkommen still sein (!) und darf nur Lobesworten für L.’s Großmutter lauschen, ob sie nun als Lied oder Gedicht oder Anekdote geäußert werden. »Und wie kommuniziert ihr?« »Gar nicht. Wenn wir etwas brauchen - zum Beispiel irgendwas aus der Apotheke, was nicht schon im Hause ist -, dürfen wir 170
es aufschreiben. Es wird aber erwartet, dass wir um möglichst wenig bitten.« Wieder fiel mir auf, wie strafend das klang, und diesmal fasste ich mir ein Herz und sagte es. »So könnte man es wohl sehen«, erwiderte Lillian nachdenklich, »aber es ist wirklich nicht als Strafe gedacht. Als Opfer, ja, mehr aber noch als Möglichkeit, sich mit den Toten, die ja auch nicht sprechen, verbunden zu fühlen.« Sie erläuterte weiterhin, dass Grandma E. nach dieser Trauerperiode durch die Straßen zur Kirche getragen und dort ein traditioneller Trauergottesdienst stattfinden würde. Danach sollte sie in ihr eigenes Haus zurückkehren, wo ihr - wieder für drei Tage und Nächte - ihre Mitbürger vorsingen würden, ohne Pause. »Ohne Pause?«, fragte ich ungläubig. »In Emlyn Springs heißt es, keiner sei wirklich tot, ehe er auf diese Weise besungen wurde.« Sie singen im Chor, wurde mir erklärt, abwechselnd. 72 Stunden lang singen Grandma Jones ständig nicht weniger als vier und bis zu 100 Menschen gleichzeitig vor, und zwar in der Sprache ihrer Ahnen. Ich bin so dankbar dafür, dass ich kommen durfte. L. scheint keine Ahnung zu haben, wie bemerkenswert das alles ist, wie bewegend. Zumindest für mich. Muss jetzt die Augen zumachen. Morgen ist ein weiterer großer Tag. Tage später. Es gibt so viel zu schreiben, und ich bin sehr müde, muss aber versuchen, einiges davon zu Papier zu bringen, solange es mir noch frisch im Gedächtnis ist. Heute habe ich dazu die erste Gelegenheit seit dem Tag unserer Ankunft - besser gesagt, ich hätte Zeit gehabt, war jedoch immer zu erschöpft. Zuerst kam die Trauerperiode - ich durfte Leute kennen lernen und mit ihnen sprechen, da ich noch nicht offiziell Teil der Familie bin, aber L. und seine Eltern und sein Bruder schwiegen die 171
ganze Zeit. »Tridoh« heißt das, obwohl ich nicht sicher bin, dass man es so buchstabiert. L. und ich machten uns einen Spaß daraus, wie Schulkinder heimlich freche Briefchen auszutauschen, wenn seine Eltern nicht hinsahen. Ich klebe sie hier zwischen die Seiten. Der Gottesdienst war eher mittelmäßig - und alle wirkten während dieses Teils der Feierlichkeiten ziemlich unengagiert, als wäre er bloße Routine. Wenig emotional und gekennzeichnet von uninspiriertem Gesang. Ich sage »uninspiriert«, obwohl ich ihn zu der Zeit ganz schön fand - es scheint, dass alle Stadtbewohner eine gute Singstimme haben -, aber sobald wir zu Grandma Elinors Haus gelangten und das eigentliche Ereignis begann, erkannte ich, wie wahrhaft inspirierter walisischer Kirchenliedergesang klingt - ein himmelweiter Unterschied. Wir sind zurück in Lincoln - sehr müde, doch ich muss schreiben, weil es große Neuigkeiten gibt. Vor unserer Heimfahrt ließ ich mir von L. das alte Farmhaus zeigen - es liegt etwa sechs Kilometer vom Ort entfernt -, das seit fast hundert Jahren im Besitz seiner Familie ist. Es ist wunderschön, wirkt aber ein bisschen traurig, da es in letzter Zeit ziemlich vernachlässigt wurde - obwohl L. mir erzählte, das Gebäude sei von großer historischer Bedeutung. Einer seiner Vorfahren, ein Pastor aus Wales, hielt hier seine ersten Gottesdienste ab. Die Leute kamen von meilenweit her, oft zu Fuß. Heute leben dort Pächter, die die umliegenden Felder bewirtschaften. Sie bewohnen nur das Erdgeschoss und waren nicht da, als wir kamen. Die oberen Stockwerke sind verschlossen. Der Haupttrakt war ein Trümmerhaufen. Überall der Mief von Mäusekot und Luzerne und ein Geruch nach Pilzen und Feuchtigkeit, als schimmelten irgendwo im Haus Wolldecken vor sich hin. Dennoch, vieles vom Balkenwerk und Buntglas ist gut erhalten es wirkt irgendwie bescheiden und zugleich elegant -, und die Räume sind wunderschön geschnitten. Es war einfach, sich vor172
zustellen, wie das Gebäude auf der Höhe seiner Zeit ausgesehen hat. L. sagte: »Ich weiß nicht, wieso Dad an diesem Haus festhält. Es ist buchstäblich am Zusammenfallen. Es sollte abgerissen werden.« Ich dachte zuerst, er scherzte. »Mit ein bisschen Liebe und Mühe lässt es sich bestimmt instand setzen.« »Dazu ist mehr nötig als Liebe und Mühe. Es gibt zu viele Schäden, Termiten, Ratten. Außerdem sind die Kabel und Rohre uralt. Eine Renovierung würde ein Vermögen kosten.« »Ich würde gern hier leben.« »Hope.« »Llwellyn, das hier ist Teil deiner Geschichte, der Geschichte des Ortes. Die kannst du doch unmöglich preisgeben. Wir sollten zumindest darüber reden.« »Worüber?« »Darüber, hier zu leben …« »Hope, das ist Wahnsinn.« »… in Emlyn Springs, meine ich, wenn wir verheiratet sind.« Was L. mir bisher über die Stadt erzählt hat, war offensichtlich dazu gedacht, mich abzuschrecken: Kulturell wird so gut wie nichts geboten, die Bibliothek ist klein, die Frauen in Emlyn Springs sind dort aufgewachsen und nicht anregend genug für mich usw. usw. Diese Argumente wiederholte er jetzt. »Das klingt, als wäre ich ein furchtbarer Snob«, sagte ich. »Dabei glaube ich, du bist snobistisch. Vielleicht wäre Emlyn Springs nicht anregend genug fürdich.« »Ich werde meine erste Arztpraxis eröffnen. Mehr Anregung brauche ich für eine ganze Weile nicht.« »Genau! Und sobald ich schwanger bin, ist bei mir auch für Anregung gesorgt. Wir werden doch nach der Hochzeit Sex haben, oder?«
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Das brachte ihn zum Lachen - endlich. L. ist so lieb, so altmodisch auf seine Weise. Ein alter Mann im Körper eines jungen Mannes. Das ist ein weiterer Grund, warum wir so gut zusammenpassen - er erdet mich, ich muntere ihn auf. Ich sehe uns schon an unserem fünfzigsten Hochzeitstag, immer noch ein Paar von Komplementärfarben auf gegenüberliegenden Seiten des Spektrums und doch aufeinander eingestimmt, genau wie zwei Kinder auf einer Wippe ihr jeweiliges Gegengewicht brauchen, damit das Spiel funktioniert. Wir trugen unser Picknick hinaus auf die Veranda und setzten uns hin und aßen und redeten darüber, dass die Miete für Praxisräume in Emlyn Springs sicher niedriger sein würde als in der Stadt, dass L. seine Praxis langsam würde aufbauen können und ihm allein die Tatsache, dass ihn jeder im Ort bereits kennt, Patienten garantiert, während er in einer großen Stadt ganz von vorn anfangen müsste. »Du wirst deine Meinung über Emlyn Springs noch ändern, Hope«, sagte er und schaute hinaus über die Prärie. »Ich weiß, jetzt erscheint dir das alles wundervoll und irgendwie romantisch, aber glaub mir, es hat nichts Romantisches, in einem kleinen, sterbenden Ort zu leben. Eines Tages wirst du wegwollen.« »Nein, Liebling«, sagte ich, nicht um ihm zu widersprechen oder aufmüpfig zu sein - wonach mir manchmal der Sinn steht -, sondern weil ich mir einer Sache nie so sicher gewesen war. »Bestimmt nicht.« Es heißt, die Waliser hätten sich hier angesiedelt, weil die Landschaft sie ans Meer erinnerte: baumlos damals und windgepeitscht, mit wogenden Präriegräsern. Diese Landschaft besitzt eine großartige, überraschende und traurige Sinnlichkeit. Ich hätte gern an Ort und Stelle mit L. geschlafen, doch er wies mich erneut ab. Ich heirate einen Mann mit großer Entschlossenheit und Disziplin. Ich werde mich nie darum sorgen müssen, ob er mir untreu ist, so viel steht fest.
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Auf dem Heimweg im Auto setzten wir unser Gespräch fort, und am Ende war es abgemacht. L. würde seine Praxis in Emlyn Springs eröffnen. Ich habe mich neu verliebt. Zuerst in Llwellyn und dann in die Menschen und das Land seiner Heimat. Was für ein Glück wir haben! Was für ein Glück unsere Kinder haben werden.
8 Mehrstimmiger Gesang auf Walisisch »Groeswen!«, ruft eine tiefe männliche Stimme aus dem Wohnzimmer von Hazel und Wauneeta Williams. Das Klavier - soeben tadellos gestimmt von Blind Tom - antwortet munter mit zwei Takten, und dann heben alle an: »Arglwydd, clywaf, sun cawodydd Gwlawa Dy gariad oddi fry …« Es ist an der Zeit, sich der walisischen Sprache zuzuwenden. Menschen, die es nicht gewöhnt sind, geschriebenes Walisisch zu sehen, fürchten, sie hätten eine Halluzination oder wären von einer vorübergehenden Blutleere befallen. Eine Katze, die über die Tastatur eines Rechners flitzt, könnte solche nicht wirklich Wörtern gleichenden Gebilde erzeugen oder eine blinde Sekretärin mit zwei linken Händen. Auch eine ungünstige Buchstabenfolge beim Scrabble kommt einem in den Sinn. Eine von Menschen ersonnene und gesprochene Sprache kann jedenfalls nicht so aussehen. Viele Amerikaner haben zumindest flüchtig Bekanntschaft mit dem Irischen gemacht - Erin go bragh! - oder mit dem Schottischen - On the bonnie, bonnie banks of Loman und Should auld aquaintance be forgot and days of auld lang syne -, aber Walisisch? Diese Sprache gehört einer völlig anderen Spezies an. Die Waliser werden Ihnen zur Ermutigung erklären - denn sie sind ein freundliches und hilfreiches Völkchen -, ihre Sprache sei 175
gar nicht schwer zu meistern. Jeder Buchstabe werde auch gesprochen, werden sie sagen, im Unterschied zu diesen lästigen stummen Lauten, die man im Englischen findet. Die Rs würden immer gerollt, und das könne jeder lernen. Die Betonung liege immer auf der vorletzten Silbe, bis auf … Und da fangen sie an, die Ausnahmen, Varianten, Komplikationen, Mutationen: Erstens. Ein U kann wie ein kurzes I klingen (»bin«) oder wie ein langes (»Biene«). Zweitens. Das doppelte D wird ausgesprochen wie das englische »th«. Drittens. Das doppelte L hat im Englischen kein Äquivalent; es ist eine Art stimmloses L. Viertens. Das allgegenwärtige Y kann auf dreierlei Weise ausgesprochen werden, als kurzes I wie in »bin«, als langes I wie in »Biene« oder wie das A in »dann«. Es gibt Regeln dafür, wann welcher Fall eintritt, aber die kennt keiner. Und so weiter. Ein guter Rat also: Wenn man die Sprache nicht kennt, tut man gut daran, sich der visuellen Anarchie des Walisischen einfach zu erfreuen, der verblüffenden Art und Weise, wie sich vertraute Buchstaben an neue Gefährten schmiegen. Befreit von der Notwendigkeit der Verständlichkeit kann man das Walisische genießen wie ein abstraktes Gemälde. »Yn adfywio’r tir sychedig …« Es könnte sein, dass Larkens frühe Bekanntschaft mit dem geschriebenen Walisisch sie indirekt zu dem von ihr gewählten Beruf geführt hat. Mit Sicherheit hat sie eine visuelle Offenheit begünstigt, die ihr gut zupasskommt, wenn sie einen Kurs über Maler wie Wassily Kandinsky und Jackson Pollock abhält. »… Deued hefyd arnaf fi …« Weder Larken noch ihr Bruder haben je mehr als ein paar Brocken Walisisch gelernt, obwohl sie - wie alle Kinder in Emlyn Springs - den walisischen Text von »Land of My Fathers« (»Hen Wlad Fy Nhadau«) und »There is No Place Like Nebraska« (»Ni 176
does unman yn debyg i Nebraska«) auswendig lernen mussten und sich durch die meisten walisischen Kirchenlieder schummeln können. Nur Bonnie spricht als Einzige von den dreien fließend Walisisch. Larken steht in der Küche von Hazel und Wauneeta Williams und nippt an einem Bier, das schon lange warm ist. Sie würde gern ihre Schuhe ausziehen. Seit über einer halben Stunde steht sie auf demselben Fleck, festgehalten von ihrer allmählich ermattenden Höflichkeit: Sie gibt vor, Mr. Eustace Craven zu lauschen, der ihr eine erweiterte Version von »Flying Girl« erzählt, einer der legendären Geschichten dieser Gegend. Sie hört sie seit Beginn des gymanfazum vierten oder fünften Mal. Die Küche der Williams’ ist groß, aber ziemlich überfüllt. Larken und Mr. Craven werden bedrängt und geschubst von Leuten, die hier sind, um den Bürgermeister in seinen offiziellen Tod zu singen, ihren müden Stimmen im Moment jedoch eine Pause gönnen und essen und trinken. Larken befürchtet, dass sich die Menge, wenn ein besonders populäres Lied angekündigt wird, zerstreut und Mr. Craven, dann plötzlich ungestützt, umfallen könnte. Im Salon wechseln sich die Sänger ab - wie Wache haltende Soldaten -, sodass immer mindestens zwanzig von ihnen da sind, um dem Bürgermeister vorzusingen, und das mehrstimmig. Das geht jetzt schon drei Tage und drei Nächte lang so. Es hat sich als kluge Entscheidung erwiesen, das gymanfa hier abzuhalten. Hazel und Wauneeta Williams haben nicht nur den meisten Platz und den besten Flügel (nur Hopes Steinway war besser), sondern sind auch die Autoritäten des Orts, was die walisische Sprache angeht, und kennen jedes Kirchenlied im walisischen Gesangbuch. Sie kennen es, ob es beim Namen genannt »Groeswen!«, »Pantyfedwen!«, »Penlan!« - oder seine Nummer »Nummer 42!«, »Nummer 98!«, »Nummer 13!« - aufgerufen wird, denn das war früher Sitte. 177
Die Stimmung ist inzwischen mehr als ausgelassen, sie ist bombastisch. Der Anlass könnte ein Rock-Konzert oder ein Spiel der nationalen Football-Meisterschaft sein. Keiner würde vermuten, dass nebenan ein Toter in seinem Sarg auf einem Katafalk liegt - wie der Sarg John Kennedys, nur dass er nicht mit einer rot-weiß-blauen amerikanischen Flagge drapiert ist, sondern mit einem rot-weiß-grünen walisischen Quilt, handgenäht und vor über hundert Jahren von einem Siedler eigens für diesen Zweck gespendet. Natürlich könnte der Frohsinn zum Teil der Tatsache geschuldet sein, dass sich die lange Feier ihrem Ende nähert. Die Leute hier sind todmüde, denn ihr biologischer Rhythmus ist gestört, ihre Körperchemie verändert. Sie halluzinieren schon, ähnlich wie die Marathontänzer der Depressionsära, die Ewigkeiten auf den Beinen waren und sich nicht mehr erinnern konnten, welchen Preis sie eigentlich gewinnen wollten und ob er ihre Anstrengung überhaupt wert war. Und alle haben eine Menge Bier getrunken. »Ein fliegendes Sofa ist gar nichts in dieser Gegend!«, schreit Mr. Craven. In sämtlichen Versionen vom »Fliegenden Mädchen« - und es gibt davon ebenso viele wie Geschichtenerzähler kommt dieser Satz vor. »In Nebraska fliegen ständig Sofas rum. Tiefkühltruhen auch und Klaviere und Pickups und Fernseher und Traktoranhänger … Aber ein fliegendes Mädchen. Das ist doch mal was anderes!« Mr. Craven hält lange genug in seiner ausführlichen Schilderung inne, um die Augen zu schließen, sich an seinen Text zu erinnern und in den Chor der Tenöre einzufallen. »Ie fi!«, singt er - laut jauchzend, wie es das Gesangbuch verlangt. »Ie fi! Deued hefyd arnaf fi.« So erschöpft sie auch sein mag, Larken ist entzückt darüber, dass ein Mann in Mr. Cravens Alter - über neunzig - wie ein Zwanzigjähriger klingen kann. Nicht alle singen auf Walisisch, und auch die, die es können, beherrschen es nicht alle gleich gut. Mr. Craven gehört zu denjenigen in der Stadt, die es am besten sprechen. 178
Larken ist erleichtert über die Pause in Mr. Cravens Geschichte, sie nutzt die Gelegenheit für einen Bissen von einem walisischen Keks, den sie vorsichtig auf einer Serviette unter ihrem Kinn balanciert. Als der Chor nebenan zu einem neuen Vers anhebt, nimmt Mr. Craven seine Erzählung wieder auf. Larken weiß, wie sie sich bei einer Beisetzung in Emlyn Springs zu betragen hat; eigentlich muss sie nur lächeln und nicken, aber das tut sie seit Stunden, seit Tagen, und sie beginnt, sich wie eine Wackelkopfpuppe zu fühlen, deren Gehirn sich allmählich verflüssigt und auflöst. »Alle Männer fingen an zu singen!«, fährt Mr. Craven fort. »Wir liefen von dort, wo wir gesucht hatten, zur Brücke, als wir Mr. Koester hörten - so weit trug seine Stimme! Als Erstes sangen wir … ach, was war es noch mal? Und die Jungs kamen auch …« Er stupst Mr. Byelick an, der hinter ihm steht. »Arnold, was haben wir für die kleine Jones gesungen, du weißt schon, 1978, als wir sie da oben im Baum fanden?« Mr. Byelick spült den Rest von seinem Schinkensandwich mit einem Schluck Bier herunter. »Ach du liebe Güte, Eustace, an alles erinnere ich mich nicht mehr, wir haben furchtbar lange gesungen, aber, äh … Land of my Fathers ganz sicher und…« »Natürlich! Die Nationalhymne! Die kennt doch jeder.« Mr. Craven singt: »Mae henwlad fynhadau yn anwyl imi, Gwlad beirrd a chantoroin, enwogion o fri …« »Eustace!«, schreitet Gladys Byelick mit gespielter Missbilligung ein. »Wenn du singen willst, geh ins Nebenzimmer. Grundgütiger, Deine Stimme übertönt alles!« »Entschuldigung.« Mr. Craven trinkt von seinem Bier und fährt fort: »Alle Mütter waren inzwischen drinnen, weil es nämlich dunkel wurde, aber nach einer Weile, nachdem sie uns gehört hatten, kamen auch sie heraus, manche von ihnen sogar mit Babys auf dem Arm. Die ganze Stadt sang!« »Das muss ja was gewesen sein«, entgegnet Larken, nicht so sehr, weil sie erwartet, Gehör zu finden, oder weil Mr. Craven 179
Ermunterung braucht, sondern weil sie so ihre Gesichtsmuskeln vorübergehend entspannen kann. »Zuuu schön«, sagt sie und verweilt bei dem Vokal, dankbar für die Dehnung ihrer Wangen. »Wir mussten singen, wissen Sie. Damit die Kleine wach blieb und nicht runterfiel, denn wir hatten hier in Emlyn Springs natürlich kein Leiterfahrzeug.« Mr. Craven hat vergessen, vermutet Larken zu Recht, dass die Hauptperson seiner Geschichte ihre Schwester ist. »So viel gab das Budget der Stadt nie her, obwohl der Bürgermeister, Gott sei seiner Seele gnädig, sein Bestes tat und versuchte, uns eins zu beschaffen, aber das Leiterfahrzeug musste aus Beatrice anrücken, und natürlich lagen nach dem Sturm überall umgestürzte Bäume herum, sodass es schwer war durchzukommen.« Die Legende vom Fliegenden Mädchen ist in die Geschichte von Emlyn Springs eingegangen. Es gibt keinen Menschen im Ort, der nicht irgendeine Version davon zu erzählen wüsste. Allerdings sind bestimmte Elemente nie Teil der Folklore geworden, sondern nur der Familie Jones bekannt, insbesondere Bonnie, in deren Körper sich die wichtigsten kurz und schmerzhaft eingeschrieben haben. Mr. Craven fährt fort. Larken ist vertraut genug mit dem Ablauf der Geschichte, um zu wissen, dass es noch mindestens eine Viertelstunde dauern wird, bis er zum Ende kommt. Sie fragt sich, wie oft Gaelan sie schon gehört hat. Heute Abend, wenn alles vorbei ist, werden sie ihre Erfahrungen austauschen. Wo ist er überhaupt? Gaelan versteckt sich im Keller. Er ist im Keller, weil er es nicht erträgt, noch einer weiteren Variante der Geschichte vom Fliegenden Mädchen zu lauschen. Larken weiß es noch nicht, aber verglichen mit ihrem Bruder hatte sie es leicht; er hat sie sieben- und nicht wie sie nur viermal gehört.
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Er ist im Keller, weil die Regeln nicht mehr vorschreiben, dass die Trauernden nur von dem Toten sprechen und jetzt jeder, der eine Unterhaltung mit ihm beginnt, über seine Berühmtheit reden will, ihn fragt, warum er nicht mitsingt, oder darauf brennt, etwas über sein Privatleben als Junggeselle zu erfahren. Ebenso unangenehm ist ihm die häufige Verwendung eines bestimmten Wortes - ein unter diesen Umständen ganz normales und gewöhnliches Wort, das Gaelan jedoch, wenn es als Appell ins Spiel gebracht wird, mit bleierner Furcht erfüllt: Erinnerst du dich …? Ich erinnere mich … Weißt du noch, als …? Und schließlich, in erster Linie, ist Gaelan deshalb hier, weil dies der sicherste Ort ist, um noch einmal den entscheidenden Beweis für ein Verbrechen in Augenschein zu nehmen. Er ist nicht der einzige Verbrecher; seine Schwestern sind ebenfalls beteiligt. Er fühlt sich nur am schuldigsten, weil er es initiiert hat. Das Haus der Williams’ hat einen riesigen Keller mit zahlreichen unbeleuchteten Nischen und Winkeln und Gängen, der feucht ist und nach Chlor riecht. Nachdem Gaelan eine Weile herumspaziert ist - dieses schattige Labyrinth ist ihm ein bisschen unheimlich; es hätte als Kulisse für »Das Schweigen der Lämmer« dienen können -, betritt er einen entlegenen Eckraum mit einem Fenster, durch das Tageslicht fällt. Eine Wand ist ganz mit Metallregalen vollgestellt, wo die Damen Willliams ihren Konservenvorrat lagern, Bord um Bord mit Einmachgläsern, alle ordentlich etikettiert und datiert - Spaghettisoße, Gewürzgurken, Marmeladen, Apfelmus -, und daneben steht eine uralte Tiefkühltruhe, ein guter Sitzplatz. Gaelan schließt die Tür. Er zieht die Anzugjacke aus und krempelt seine Hemdsärmel hoch. Dann hievt er sich rücklings auf die Kühltruhe und absolviert dabei eine rasche Folge von sechzehn Trizepsübungen, ehe er sich niederlässt. Er horcht einen Moment, um sich zu vergewissern, dass ihm niemand gefolgt ist. Über seinem Kopf ertönt gedämpfter Gesang; trotzdem erkennt Gaelan das Lied. Es ist eins der wenigen, die einen nichtwalisi181
schen Titel haben (»Heilige Elizabeth«). Vielleicht singen es die Einwohner von Emlyn Springs - wenn bei einem gymanfa die Nummer 101 aufgerufen wird - deshalb immer auf Englisch. Gaelan kennt viel mehr Kirchenlieder, als er sich anmerken lässt. Leise singt er mit: »Flocken, die durch Täler schweben, Ähren, die im Winde beben, Regen tropft aus Wolkenbänken, Sonnen, die uns Wärme schenken …« Obwohl Gaelan Jones, Wetteransager, es gewöhnt ist, im Rampenlicht zu stehen, ist er zu schüchtern, um in der Öffentlichkeit zu singen, und sei es im Chor. Seine Scheu ist umso verblüffender, wenn man bedenkt, dass er die Stimme seines Vaters geerbt hat. »Gott dort droben woll’n wir loben. Gott dort droben woll’n wir loben.« Wie sein Vater ist Gaelan ein Bariton. Im Unterschied zu ihm liest er jedoch keine Noten, und so wechselt er, singt manchmal mit den Tenören, manchmal mit den Bässen, und bisweilen findet er die Lücke dazwischen. Auf diese Weise ist Gaelan ein einzigartiger Sänger geworden. Er ist nicht ganz das traurige Unikum, für das seine Mitbürger ihn halten - ein Waliser, der nicht singt -, doch was Gaelan zu einer wahrhaft seltsamen und jämmerlichen Gestalt macht, ist die Tatsache, dass er als Waliser alleine singt. Das Lied ist zu Ende. Im Keller ist es still. Gaelan greift in die Tasche seines Jacketts und holt die Beweise für das Verbrechen hervor: dreiundzwanzig zerknitterte Zettel, aus den kleinen Spiralheften herausgerissen, die Viney ihnen vor Beginn des tridiau gegeben hat, jetzt bekritzelt mit kurzen Notizen. Manche der Briefchen sind in Gaelans Handschrift verfasst, manche in Bonnies und andere in Larkens. Sie stellen den verbotenen, stummen Wortwechsel dar, mit dem Gaelan angefangen hat, deshalb stammt der oberste Zettel von ihm. B.E. … wieso hier? 182
(B.E. steht für Bethan Ellis, Gaelans erste - und einzige Freundin in Emlyn Springs.) Larken: Weiß nicht, frag Bon Bonnie: Ehemann gestorben Gaelan: Ehemann wer? Bonnie: Weisman, Leo, glaube ich. Professor für Religion? Philosophie? Kennen gelernt während BE’s Medizinstudium. Viel älter. Herzschlag. Traurig. Larken: BE lebt jetzt wo? Bonnie: Im Staat Washington, Insel Larken: Ärztin, oder? Bonnie: Radiologin Gaelan: Wie lange hier? Bonnie: Paar Monate. Arbeitet Teilzeit im Krankenhaus in Beatrice. Gaelan: Wohnt? Bonnie: Bei Familie. Gaelan: Für wie lange? Bonnie: Weiß nicht. E auch hier. Gaelan: E - wer? Bonnie: Sohn Gaelan: Wessen Sohn? Bonnie: BE’s Gaelan: BE hat Sohn? Wie alt? Bonnie: 11,12? Klein, nervös, schüchtern. Gaelan: Hier? Irgendwo im Raum? Larken: Vorsicht! Hexe guckt Gaelan steckt die Zettel wieder in seine Tasche. Obwohl er sie schon mehrmals gelesen hat (im abgeschlossenen Badezimmer, in Wandschränken, auf Vineys Dachboden), ist er immer noch zutiefst verstört über das, was sie enthüllen. Da das Gewichtstemmen Gaelan hilft, sich zu entspannen, zu beruhigen und zu konzentrieren, nimmt er zwei Gläser Rote Bete vom Regal und fängt an, Bizeps-Curls zu machen. 183
Gaelan hat seit fünfzehn Jahren mit Bethan Ellis kein Gespräch von Belang geführt. Und natürlich zählt der heutige Kontakt auch nicht als richtiges Gespräch. Die Regeln des tridiau gebieten, dass er nicht einmal danke sagen konnte, als Bethan herüberkam, Vineys Hand ergriff, sie beide anschaute und erklärte: Ich kann gar nicht sagen, wie viel mir Dr. Jones’ Unterstützung und Ermutigung bedeutete. Als sie Viney daran erinnerte, dass er mir in dem Sommer, als ich fünfzehn war, einen Job im Labor gab, wo ich Röntgenaufnahmen entwickeln durfte, und mich damit zum ersten Mal auf den Gedanken brachte, dass ich Ärztin werden wollte, konnte Gaelan nicht hinzufügen: In diesem Juli hat sich in Dads Dunkelkammer eine Menge zwischen uns entwickelt. Und bei Bethans Offenbarung, dass Dr. Jones mit mir in Verbindung geblieben ist, auch als ich schon in Kalifornien Medizin studierte, noch bis vor ein paar Jahren, konnte Gaelan kein Erstaunen darüber äußern, dass sein Vater seine Rolle als Mentor in Bethan Ellis’ Leben noch lange, nachdem er selbst daraus geflüchtet war, weitergespielt hatte. Inzwischen trägt sie Kontaktlinsen. Sie blinzelt immer noch zu oft, wenn sie nervös ist. Unscheinbar war das Wort, das sein Vater benutzte, wenn er über das Mädchen sprach, das mit seiner Familie ihnen gegenüber wohnte. Gott, die kleine Ellis ist wirklich unscheinbar, pflegte Dad zu sagen. Superschlau, aber unscheinbar, armes Ding. Worauf Hope entgegnete: Oh, Llwellyn, weißt du denn nicht, dass unscheinbare Mädchen häufig zu großen Schönheiten heranwachsen? Und das sollte auch für Bethan gelten, aber damals war sie einfach ein merkwürdiges, geniales Kind mit ernstem Gesicht, straff geflochtenen Zöpfen und einer Hornbrille, so blass, dass ihre Sommersprossen aussahen wie Cornflakes-Krümel, die auf einer Schale Milch schwimmen. Nachdem Hope in die Luft geflogen war, zogen die Jones’ ins King Castle Motel in der Stadt und warteten: auf das Geld von 184
der Versicherung, auf die Fertigstellung des neuen Hauses, auf Neuigkeiten über ihre Mutter. Monate verstrichen, und der Strom an finanzieller Hilfe und Zuwendungen in Form von Aufläufen begann zu versiegen. Dad war viel unterwegs, arbeitete härter denn je - oder vielleicht fiel ihnen seine Abwesenheit auch nur stärker auf. Gleichzeitig hatte Gaelan zunehmend das Gefühl, dass er und seine Schwestern nicht mehr mit Mitleid, sondern mit Angst betrachtet wurden. Er spürte, dass die Leute ihn komisch ansahen, ihn aus der Ferne musterten, als versuchten sie festzustellen, ob er Schaum vorm Mund hatte und sie lieber wegrennen und sich eine Schrotflinte besorgen sollten. Als er Larken fragte, was los sei und ob es ihr auch so vorkäme, als ob ihre Mitschüler sie mieden, schnaubte sie finster und sagte: Machst du Witze? Die wollen alle nichts mehr mit uns zu tun haben, denn sie haben ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht mehr nach Mom suchen. Ich wünschte nur, irgendjemand würde mal offen aussprechen, dass sie tot ist. Aber warum gucken sie so verängstigt? Sie befürchten, sie könnten sich mit unserer Tragödie anstecken oder so. Gott, warum können wir nicht wegziehen? Wenigstens nach Beatrice! Es gibt doch überhaupt keinen Grund dafür hierzubleiben. Aber du bist Little Miss Emlyn Springs, sagte Gaelan. Halt die Klappe! Glaubst du, dass sie tot ist? Natürlich ist sie tot. Benutz deinen Grips. Auch wenn sie den Sturm überlebt hat, konnte sie ja wohl nicht weglaufen, oder? Bonnie denkt, sie ist noch am Leben. Bonnie glaubt auch an Farmerelfen. Sie ist ein Baby. Ja, aber sag das nie zu ihr, okay? Dass Mom tot ist. Auch wenn es stimmt. Okay. Versprich es. 185
Okay! Versprochen! Hast du Hunger? Ich bestell mir’ne Pizza. Bonnie! Raus aus der Badewanne! Nur Alvina Closs besuchte sie in diesen ersten Monaten, mischte sich noch in ihr Leben - als ob sie sich als einen Teil ihrer Tragödie betrachtete oder bereit wäre, sich von den Unglücklichen anstecken zu lassen. Als also eines Abends an die Tür des Motelzimmers geklopft wurde - Dad machte irgendwo einen Hausbesuch -, konnten sie sich nicht vorstellen, wer das sein mochte. Larken öffnete die Tür, ließ die Kette jedoch eingehakt. »Ist Gaelan da?«, fragte eine Kinderstimme, und da stand Bethan Ellis, elf Jahre alt. Zwei Jahre jünger als Gaelan, aber nur eine Klasse unter ihm, in der ganzen Schule berühmt dafür, dass sie dank ihrer Intelligenz die fünfte Klasse übersprungen hatte. Es regnete heftig, und sie war bis auf die Haut durchnässt. Sie musste die zwei Meilen in die Stadt zu Fuß gelaufen sein, und das im Dunkeln. »Das ist für dich und deine Familie«, sagte sie und hielt Gaelan einen mit Aluminiumfolie abgedeckten Kuchenteller hin. Die Folie hatte Grübchen, war voller kleiner metallener Teiche und reflektierte Bethans blasses Gesicht, sodass es aussah, als böte sie ihr eigenes Spiegelbild dar. Gaelan nahm den Teller entgegen, auf dem eine schiefe, sich auflösende Erdnussbutter-Baiser-Pie lag, wie sie später feststellten. Sie aßen sie ganz, in einem Rutsch. Des Weiteren überraschte Bethan sie damit, dass sie anfing zu singen. Es war nicht nur allgemein bekannt, dass Bethan Ellis einen außergewöhnlich hohen IQ hatte, sondern auch, dass sie, obwohl als Kind eines Volkes geboren, das für seine Begabung für Lyrik und Gesang berühmt war, keinen Ton halten konnte. Trotzdem sang sie alle acht Strophen von »Ich singe wie ein Vogel« (wenigstens ihr Walisisch war perfekt), während sie auf Gaelans Füße starrte. Dann drehte sie sich um und begann, sich auf den Heimweg zu machen. Sie trug die Tambourmajorinnenstiefel ihrer älteren 186
Schwester - weißes Lackleder, mit Bommeln geschmückt - und ein gelbes Regencape mit Kapuze und einem hinten aufgeklebten dreieckigen fluoreszierenden Warnzeichen. »Hey, warte!«, rief Gaelan und rannte ihr nach. »Ich bring dich nach Hause.« Sie wandte sich um. »In Ordnung. Aber du solltest dir was Helles überziehen. Ich warte.« Von da an war Bethan Ellis Gaelans beste Freundin. In der Highschool wurden sie ein Pärchen, im College ein Liebespaar. Jeder - sogar Gaelan selbst - erwartete, dass sie eines Tages heiraten würden. Was machte es da schon, dass sie zum Medizinstudium nach Kalifornien ging? Ein paar Monate Trennung waren nicht viel, wenn man sie der Zeit gegenüberstellte, die sie schon zusammen gewesen waren, und all den Jahren, die vor ihnen lagen. Weihnachten würden sie sich wiedersehen. Gaelan konnte nicht voraussehen, wie schwierig es sein würde, zweiundzwanzig Jahre alt, ein Fernsehpromi und keusch zu sein. Er überstand keine zwei Wochen. Heiligabend traf Bethan ein. Er wartete auf der Kirchentreppe, als sie angerannt kam. Komisch, wenn es Weihnachten nicht schneit, oder?, sagte sie. Nachbarn gingen an ihnen vorbei in die Kirche, lächelnd, froh, sie zusammen zu sehen. Er hatte nicht nur Bethan betrogen, sondern die ganze Stadt. Ja, murmelte er. Komisch. Dad meint, das Wetter schlägt um, fuhr sie fort. Glaubst du das auch? Vielleicht. Sie versuchte, ihn zu necken. Du bist doch der Wetteransager. Er blieb stumm oder so gut wie - seine Bemerkungen waren bedeutungslos, dumm, jämmerlich. Gott, ich habe dich so vermisst. Ich dich auch. Was war er nur für ein Feigling! Gaelan. 187
Was? Was ist los? Nichts. Lüg mich nicht an. Irgendwas stimmt nicht. So ging es weiter: Bethan bohrte, fragte nach, wurde immer verzweifelter, während er sich in einsilbige Antworten, tiefe Scham und Schweigen zurückzog. Sie standen nach wie vor auf der Kirchentreppe, als alle anderen schon hineingegangen waren und der Gottesdienst angefangen hatte. Du hast mit anderen Mädchen geschlafen, sagte sie schließlich. Gib es doch einfach zu. Aber das hat er nie getan. Er weiß heute noch nicht genau, ob es die Untreue selbst war oder seine Unfähigkeit, sie einzugestehen, die sie auseinanderbrachte. Jedenfalls war es vorbei. Es gibt wirklich keine Möglichkeit, das Ende von Gaelans Beziehung mit Bethan zu beschreiben, in der er nicht das Arschloch ist. Sie drehte sich um und marschierte über die braune, schneelose Wiese ins Dunkel. Heute sagte sie, ehe sie weiterging, um anderen Trauergästen und ihren Geschenken des Lobes für den Toten Platz zu machen: Es tut mir so leid. Es tut mir schrecklich leid. Wieder schwieg Gaelan, und seine Schuld an Worten für Bethan Ellis bleibt unbeglichen. Gaelan hat seine Curls auf beiden Seiten gut hundertmal wiederholt, als er hört, wie jemand die Kellertür öffnet und die Treppe herunterkommt. Es sind mindestens zwei Personen, und ihre Schritte weisen eine leichte, schlurfende Arhythmie auf, die sie unsicher klingen lässt oder unbeholfen oder beides - als spazierten sie über den Mond, mit dem Mutterschiff verbunden durch ein defektes NASA-Kabel, das jeden Moment reißen kann. »Hast du die Tüte?« »Ja. Pscht! Warte.« Natürlich: Es sind Teenager, Jungen. 188
Sie nähern sich. Gaelan weiß nicht recht, was er tun soll. Er vermutet, dass diese Jungen sich aus denselben Gründen hierher verziehen, aus denen er gekommen ist - um dem gymanfa zu entfliehen und sich mit etwas Verbotenem zu befassen. Weiteres Schlurfen ertönt. Gaelan befürchtet, er könnte entdeckt werden, doch die Schritte machen jenseits der Tür Halt. Gott sei Dank ist der Keller groß genug, um mehr als einen Verbrecher zu beherbergen. Es folgt ein Rascheln, wie von einer Maus in einer Papiertüte. Dann Stille. »Ich hasse diese Geschichten«, sagt einer der Jungen. »Lieber gehe ich zur Schule als zu so einer Trauerfeier.« »Wenigstens gibt es massenhaft zu essen.« »Ja. Kein Problem, wenn der große Hunger kommt. Hey, hältst du mal die Taschenlampe?« Ein schwacher, flackernder Lichtschein erhellt den Spalt zwischen Tür und Fußboden. »Das Zeug sieht beschissen aus. Woher hast du es?« »Hinter dem Haus von den Johnstons ist so ein Stück Land, an dem Wäldchen. Da wächst es wild.« »Ist ja irre.« »Na ja, super ist es nicht, aber ich konnte nicht nach Beatrice fahren.« »Wieso nicht?« »Mein Führerschein ist weg.« »Seit wann? Weswegen?« »Bin an der verdeckten Einfahrt zu schnell gefahren.« »Wann? Hast du mir gar nicht erzählt.« »Hatte noch keine Gelegenheit bei diesem ganzen BeisetzungsKlimbim. Am letzten Wochenende.« »Da sind schon’ne Menge Leute umgekommen.« Sie verstummen. Gaelan stellt sie sich vor: zwei Jungen, die im Schneidersitz auf dem feuchten Boden eines hundert Jahre alten Kellers hocken, angespannt, weil einer von ihnen mit Pot aus dem 189
Straßengraben einen Joint dreht, während der andere eine Taschenlampe mit sterbenden Batterien hält. Zwei Jungen, die sich in einem Haus verstecken, in einer Stadt, wo die Toten mehr Aufmerksamkeit erfahren als die Lebenden. »Das kannst du ja richtig gut.« »Kein Wunder. Schließlich rollt Dad schon seit meiner Geburt seine eigenen Zigaretten. Hier.« »Nein, du hast ihn gebaut. Du bist als Erster dran.« Ein Streichholz wird entzündet, und dann hört Gaelan jenes unverkennbare Geräusch - erst scharfes, langes Inhalieren, dann Stille und dann ein stoßweises Ausatmen, das klingt wie das Stottern eines Diesel-Traktors. Gaelan inhaliert synchron mit den beiden, erinnert sich an den krautigen Geschmack, das Brennen des Rauchs in seiner Kehle. Leider ist entweder seine Einbildungskraft zu groß oder die Damen Williams haben den Keller lange nicht gefegt, denn er muss plötzlich husten. »Was war das?«, fragt einer der Jungen träge. »Scheiße!«, flüstert der andere. »Hier unten ist jemand. Mach ihn aus!« »Verdammt, Chris, jetzt kriegen wir Ärger.« Gaelan ist ebenso bestürzt wie die beiden, er will sie nicht in Schwierigkeiten bringen. Außerdem hat er gehofft, noch etwas länger hierbleiben zu können. Aber jetzt bleibt ihm nichts anderes übrig: Er muss aus seinem Versteck hervorkommen. Er nimmt sich mehr Zeit als nötig, um sein Jackett anzuziehen und den Raum zu durchqueren. Er klopft an die Tür, bevor er sie ein Stück weit öffnet und den Kopf hindurchsteckt. »Hallo, Leute«, sagt er. »Wie geht’s?« Beide Jungen sind auf den Beinen und vollkommen reglos, doch es umgibt sie eine Art Vibrieren, als ob die Energie, die sie zum Aufstehen gebraucht haben, nachwirkt und noch nicht den Weg zurück in ihre erdgebundenen Körper gefunden hat.
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»Äh, hallo, Sir«, sagt der Kleine, Stämmige. Er hat die Arme hinter dem Rücken und sieht zu Tode erschrocken aus: Houdini, beim Entfesseln ertappt. »Hey!«, sagt der Größere. Er ist so bemüht um eine lässige Nonchalance, dass Gaelan Angst hat, in lautes Gelächter auszubrechen. Sie sehen aus wie ungefähr zwölf, aber sie haben übers Autofahren gesprochen, müssen also mindestens sechzehn sein. Jungen aus der Kleinstadt wirken immer jünger als welche, die in einer Großstadt aufwachsen. »Wir wollten bloß, äh …« »Wir sind runtergekommen, weil …« »Ist schon in Ordnung«, sagt Gaelan. »Ich verrate nichts.« »Oh, Mann. Vielen Dank.« »Ja, danke. Ich bin Ricky.« »Hallo.« »Und ich bin Chris.« »Hey«, sagt Ricky und versucht, sich mit seinen rot unterlaufenen Augen auf Gaelan zu konzentrieren. »Sind Sie nicht dieser Fernsehtyp? Der Wetteransager? Was machen Sie denn hier?« »Meine Güte, Ricky«, sagt Chris in nachsichtigem GroßerBruder-Ton. »Hast du denn gar keine Ahnung? Das da oben ist sein Dad.« »Sein Dad?« »Ja, Bürgermeister Jones ist sein Dad.« »Ach ja. Hey! Sie sind berühmt!« »Ricky, halt die Klappe«, fährt Chris fort. »Sein Dad … ist gestorben!« »Ach du Schande. Der Jones.« »So berühmt bin ich nicht«, sagt Gaelan. »Ich bin hier aufgewachsen, ebenso wie ihr.« »Trotzdem. Sie sind im Fernsehen. Das ist doch prima.«
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Manche Menschen sehen im richtigen Leben völlig anders aus als im Fernsehen; Gaelan wünscht sich oft, einer von ihnen zu sein. »Hört mal, warum geht ihr nicht rauf und verdrückt euch für ’ne Weile. Euch ist doch bestimmt furchtbar langweilig. Niemand würde sich daran stoßen.Ich jedenfalls nicht, und ich gehöre zur Familie, also … düst ruhig ab. Ich räume hier auf.« »Oh Mann, danke.« »Ja, vielen Dank.« »Das Gras solltet ihr aber hierlassen«, sagt Gaelan und streckt die Hand aus. »Oh! Klar.« Ricky tritt mit dem teilweise gerauchten Joint und einem Streichholzbriefchen vor; Chris reicht ihm Tüte und Taschenlampe. Gaelan verspürt einen Schwall von Zuneigung für die Jungen - wie rührend von ihnen, dass sie sogar auf die nicht belastenden Accessoires ihres Verbrechens verzichten. Chris und Ricky. Gaelan könnte wetten, dass sie seit dem Kindergarten beste Freunde sind und ihre Namen immer zusammen genannt werden: Chrisnricky. »Hey, das mit Ihrem Vater tut mir leid.« »Mir auch. Er war wirkliche ein guter Bürgermeister.« »Danke.« »Meine Mom sagt, er hat mich und meine Schwester auf die Welt geholt.« »Ja, mich auch.« Gaelan spürt, wie ihm die Kehle eng wird. Nickend bekräftigt er seinen Dank. »Bis bald.« »Wiedersehen, Mr. Jones.« »War nett, Sie kennen zu lernen.« Gaelan versucht sich vorzustellen, dass er dabei war, als sein Vater die Jungen auf die Welt holte. Er kann es nicht. Er hat jede Menge Geburten von Tieren miterlebt, aber nie die eines menschlichen Kindes. Hat er jemals darum gebeten, seinen Vater bei 192
Hausbesuchen begleiten zu dürfen? Oder hat er einfach angenommen, das würde ihm doch nicht erlaubt? Was hat sein Vater getan, wenn er weg war? Er wird es nie erfahren. Diese Erkenntnis fährt ihm direkt in die Beine, und er fühlt sich, als hätte er zu viel Gewicht gestemmt. Seine Knie beginnen nachzugeben, und er muss sich an einen der Stützbalken des Kellers lehnen, damit er nicht auf dem Fußboden landet. Irgendwann bemerkt er, dass er immer noch die Tüte mit dem Gras und den teilweise gerauchten Joint in der Hand hält. Der muss ja nicht ungenutzt bleiben. Er setzt sich hin, zündet ihn an, lehnt sich an den Pfeiler und lauscht. Oben haben sie angefangen, Kirchenlieder zu wiederholen. Das gymanfa ist fast vorbei. In der Nähe ertönt ein Geräusch, und aus den Schatten taucht unvermittelt ein kleiner Junge auf. Gaelan versucht aufzustehen, doch seine Glieder sind schlaff, und er wird von plötzlichem Schwindel befallen. »Entschuldigen Sie«, sagt der Junge. Es ist schwierig, sein Gesicht zu erkennen, aber er hat sich einen Bleistift hinter ein Ohr geklemmt und drückt ein Spiralheft an seine Brust. »Ich wollte nicht mithören«, fährt er fort. »Ich bin runtergekommen, um zu schreiben.« Er hat etwas von einem nächtlichen Heimlichtuer an sich, könnte Woodward oder Bernstein sein, jedenfalls derjenige, der sich mitten in der Nacht mit Deep Throat in unbeleuchteten Parkhäusern zu treffen pflegte, um den Watergate-Skandal aufzudecken. »Eigentlich dürfte keiner von uns hier unten sein«, sagt Woodward Bernstein. Er starrt Gaelan an, als erwartete er, dass dieser sich erklärt, dann senkt er den Kopf und durchquert schnell den Raum. Als er am Fuß der Treppe ist, bleibt er stehen und dreht sich um. »Ich bin seit Stunden hier, aber Sie wird man vermissen, wenn Sie zu lange wegbleiben.« Und dann eilt er die Stufen hoch - um, da ist sich Gaelan sicher, der Washington Post seinen Knüller durchzugeben.
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»Wir mussten singen, wissen Sie«, fährt Mr. Craven fort. »Wir mussten!« »Ja«, sagt Larken. Mr. Craven hängt jetzt schon seit einiger Zeit an diesem Satz fest. Sie fragt sich, ob er vielleicht vergessen hat, an welchem Punkt der Geschichte er ist und was als Nächstes kommt. »Sonst wäre sie womöglich …« »Genau! Sie hätte herunterfallen können. So wie es kleinen Vögeln manchmal passiert, direkt aus dem Nest.« Im Salon nebenan herrscht kurze Stille. »Y Delyn Aur!«, ruft dann eine raue Stimme. »Oh!«, sagt Mr. Craven unvermittelt. »Dafür brauchen sie mich. Die Tenorpartie ist kniffelig.« Larken geleitet Mr. Craven am Ellbogen in den Salon, wo etwa vierzig, fünfzig Leute mehrstimmig singen. Manche haben sich in Klappstühle gezwängt, andere lehnen an der Wand (viele mit Bierflaschen in der Hand). Die Damen haben die weichsten Sessel, und sogar ein paar Kinder sitzen auf dem Schoß von Älteren oder auf dem Boden. Sie sitzen aufrecht, denn in Emlyn Springs wissen alle Kinder, wie wichtig die Haltung fürs richtige Atmen ist. Mrs. Regina Butts klopft energisch auf den leeren Stuhl neben sich, als wollte sie ein Haustier dazu bewegen hinaufzuspringen, und flüstert Larken zu: »Nimm doch Platz, meine Liebe.« Mrs. Butts war in der Highschool Larkens psychologische Betreuerin, und Larken hat den Verdacht, dass es ihr weniger darum geht, den Alt zu verstärken, als darum herauszufinden, ob ihr ehemaliger Zögling immer noch ein aussichtsloser Fall ist oder sich gebessert hat, seit sie den Titel der Little Miss Emlyn Springs gegen den der Stadtschlampe eintauschen musste. »Gern«, lügt Larken höflich, »nachdem ich im Bad war.« Larken platziert Mr. Craven bei den Tenören, stibitzt ein halbes Dutzend walisische Kekse vom Esszimmertisch, steckt sie in ihre Jackentasche und macht sich auf den Weg nach oben.
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Die Toilette ist besetzt, also schlüpft sie in eins der Gästezimmer und versteckt sich im Wandschrank. Niemand wird auf die Idee kommen, sie hier zu suchen, außer ihrem Bruder und ihrer Schwester vielleicht. Bonnie sitzt draußen auf dem frisch gemähten Rasen, die langen, nackten Beine ausgestreckt, umringt von schnatternden Kindern und männlichen Wesen in verschiedenen Stadien der Reife, aber ähnlichen Stadien der Vernarrtheit: kleine Jungs, Jungs aus der fünften und sechsten Klasse, Jungs der Mittelund Oberstufe, schüchterne Jungs, dreiste Jungs, ältere Jugendliche, deren Freundinnen an der Peripherie des Kreises stehen, zuschauen, die Hüften eingeknickt, schmollend, und eigentlich eifersüchtig sein wollen, aber es ist unmöglich, einen Groll gegen Miss Jones zu hegen - die so anders ist als alle sonstigen Erwachsenen in Emlyn Springs, dass sie sich gern Bonnie von ihnen nennen lässt. Sie ist Patin von mindestens zehn der Umstehenden, darunter Chris und Ricky Reimnitz, die eben aus dem Haus gekommen sind, um sich der Gruppe anzuschließen. In einem früheren Jahrhundert wäre Bonnie als alte Jungfer bezeichnet worden und hätte deswegen auch älter und verschrumpelter ausgesehen. Das Wort selbst - Jung fer - hat schon etwas Hexenhaftes, Vertrocknetes an sich, aber keiner hat es je für Bonnie Jones verwendet. Es ist nicht Sex, was die Jungs von ihr wollen, nicht direkt. In ihren Augen liegt etwas, das solche Gelüste zerstreut, das sie entwaffnet, aus Gründen, die sie nicht benennen können. Bonnie Jones mag unverheiratet sein und ein bisschen exzentrisch - wie sie da haust in dem alten Schuppen, auf ihrem Fahrrad herumfährt und Müll sammelt -, und sie ist in beruflicher Hinsicht vielleicht der größte Pechvogel, den sie kennen. Andererseits aber eine Legende, ein Beispiel für das, was an ihrer kleinen, sterbenden Stadt gut ist, und das wissen alle.
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Sogar die Fünfjährigen können eine Version vom »Fliegenden Mädchen und der Tornado von 1978« erzählen. Der älteste Büger des Orts war damals Mr. Armin Koester. Der Tornado hatte vor Stunden seinen Schaden angerichtet und war weitergezogen. Alle Männer suchten nach den Vermissten, die meisten auf den schlammigen, verwüsteten Kornfeldern in der Nähe des Jones’schen Hauses, doch unebener Boden war für Mr. Koester mit seinem Krückstock schwer zu bewältigen, deshalb beschränkte er sich auf die asphaltierten Straßen der Stadt. »Bonnie Jones!«, rief er immer wieder, wie es alle taten. »Aneira Hope!« Er überquerte eben die Bridge Street, als der Gesang der Vögel seine Aufmerksamkeit weckte, der so schön war wie manchmal in der Dämmerung, heute Abend jedoch besonders überschwänglich klang. Und Mr. Koester dachte, was für ein Tag es auch für sie gewesen war, die armen Dinger, wie erleichtert sie sein mussten, wie begierig darauf, wieder singen zu können nach jener schrecklichen, erzwungenen Stille, die einem Tornado immer vorausgeht. Und natürlich nach dem Tornado selbst mit seinem Geheul, das so beängstigend ist, wie oft man es auch schon gehört haben mag - und Mr. Koester, sein Leben lang Einwohner von Emlyn Springs, hatte es oft gehört. Vögel haben sicher eine bestimmte Gesangsquote zu erfüllen, dachte Mr. Koester, und die Vögel des Ortes versuchten jetzt wohl aufzuholen, was sie versäumt hatten. Mr. Koester schaute mehrere Minuten lang in die Äste der Bäume, lauschte und ruhte sich aus. (Er und Mrs. Koester waren stets eifrige Spaziergänger gewesen, doch nach ihrem Tod im letzten Frühjahr war er ein bisschen träge geworden.) Erst jetzt fiel ihm auf, dass an dem Winkel eines Stammes im Vergleich mit den anderen Bäumen, welche die Schlucht säumten, irgendetwas nicht stimmte, und dann erkannte er, dass dieser nicht laubwechselnde Baum - eine Zeder - gar nicht hierhergehörte. Überdies stand er auf dem Kopf, neigte sich ein Stück entfernt 196
von der Brücke schräg über die Schlucht, genau dort, wo die Quellen am tiefsten sind, kurz bevor der Bach anfängt, sich von der Stadt weg auf den Big Blue River zuzuschlängeln. Zunächst traute er seinen Augen nicht. Die Zeder musste aus der Erde gerissen worden und wie ein Wurfspeer über die Spitze des Kirchturms geschossen sein und sich mit dem Wipfel in eine Wand der Schlucht gebohrt haben, sodass ihre Wurzeln auf der anderen Seite hoch in die Luft ragten. Später fand man heraus, dass sie aus dem Zedernhain stammte, der zweieinhalb Meilen weiter die Nordwestecke des Grundstücks der Familie Vance einnahm. Und da, ganz oben (unten) im Baum, in seine ausgerissenen, schlammigen Wurzeln geschmiegt, hockte die siebenjährige Bonnie Jones auf ihrem Fahrradsitz. Wie sie dort hingekommen war, kaum bei Bewusstsein, gefährlich schwankend, den Po auf dem Sitz und der Sitz in den Wurzeln und die Wurzeln auf dem Baum und der Baum auf dem Boden, wird außer ihrer Mutter nie jemand wissen, aber da war sie. Sie musste geflogen sein! Das Alter der Zeder (ihr Wurzelwerk war gewaltig) und die Präzision, mit der sie gelandet war (genau zwischen den Ästen der teilweise kahlen Laubbäume, welche die Schlucht auf beiden Seiten säumten), retteten Bonnie das Leben. Die Wurzeln verflochten sich mit Bonnies Gliedmaßen und hielten sie fest - denn sie selbst konnte sich nicht festhalten. »Gott im Himmel, da ist sie!«, schrie Mr. Koester. »Da ist sie! Da ist sie!« Doch keiner hörte ihn, und ihm wurde rasch klar, dass er seine Singstimme würde einsetzen müssen, um die anderen herbeizurufen. Den Kopf nach oben gereckt, sang er das erste Lied, das ihm einfiel, Nummer 65, »R wy’n Canu« (»Ich singe wie ein Vogel«), mit Inbrunst und Leidenschaft, als befände sich Mrs. Koester persönlich dort oben im Baum und nicht Bonnie Jones. Als wären sie beide wieder jung, zwanzig Jahre alt und ein Liebespaar. 197
Bald kamen die Männer angerannt, zunächst keuchend, doch dann kriegten sie wieder Luft und stimmten ein. Keiner wagte, den Baum zu berühren, denn das Mädchen hätte herunterfallen können, und so sammelten sie sich, während die kleine Bethan Ellis auf ihrer preisgekrönten Stute bis nach Beatrice ritt, um die Feuerwehr zu benachrichtigen (im Umkreis von fünfzehn Meilen waren alle Telefonleitungen kaputt) und ein Dutzend anderer Jungen und Mädchen ihre verstörten Ponys zusammentrieben, beruhigten, sattelten und den Highway räumten, damit der Leiterwagen durchkam, in der Schlucht unter ihr und bildeten ein menschliches Netz, das sie auffangen würde, sollte sie abstürzen. Und sie sangen. Sie sangen, um sie zu segnen. Sie sangen, um ihr zu vermitteln, dass sie da waren, denn wer wusste schon, welche Albträume das arme Ding haben mochte, was sie Grauenhaftes erlebt hatte, ehe sie dort zwischen den Vögeln landete. Wer wusste, ob sie überhaupt am Leben war? Es hätte sogar sein können, dass sie sie in den Tod sangen. Als der Leiterwagen eintraf, sangen alle Männer der Stadt und auch einige Frauen und Kinder für die siebenjährige Bonnie Jones. Der spätere Blind Tom war ebenfalls anwesend, damals dreizehn und mit noch nicht geschwächtem Sehvermögen. Dr. Llwellyn Jones war da, zusammen mit seiner Mitarbeiterin Alvina Closs - die neben ihm stand und seine Hand hielt; Bud Humphries und seine Schwester Vonda waren da und die Cravens und die Schlakes und die Ellis’ und die Byelicks, sie alle, jeder, der nicht zu aufgelöst oder verletzt war. Gaelan und Larken waren nicht dabei. Viney fand es besser, sie bei sich zu Hause zu lassen, denn wer wusste schon, in welcher Verfassung ihre Schwester sein würde, wenn sie sie fanden. Außerdem war Hopes Verbleib noch nicht geklärt. Sie sangen für Bonnie Jones, die noch nicht ahnte, dass ihre Mutter nirgendwo zu finden sein würde und dass die schweren
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inneren Verletzungen, die sie erlitten hatte, es ihr wahrscheinlich nicht ermöglichen würden, je eigene Kinder zu haben. Der Wagen wurde auf der Ostseite der Schlucht geparkt, und ein junger Feuerwehrmann namens George Jachulski trug sie die Leiter herunter und legte sie ihrem Vater in die Arme. (Er zog später nach Chicago, um für die dortige Feuerwehr zu arbeiten, und kam nur wenige Jahre darauf ums Leben, als er ein weiteres Kind rettete.) Sie war schwer verwundet, aber sie lebte. Immer wieder musste der Hauptfigur ihre eigene Geschichte erzählt werden, und inzwischen hat sie sie so gründlich verinnerlicht, dass sie glaubt, sich an alles und mehr als das zu erinnern. Sie sagt, sie habe ihre Mutter in dem Strudel gesehen, inmitten Hunderter weiterer, kleinerer Windspiralen, die sie umwirbelten wie Bänder, hell beleuchtet von Blitzen, als wäre ihr Aufschwung in den Himmel kunstvoll inszeniert worden wie ein Feuerwerk am vierten Juli. Sie behauptet auch, es sei noch jemand anders da gewesen, ein Engel mit weißen Haaren, der Hope mit gewaltigen, starken Armen hochgehoben und fortgetragen habe. Sie sagt, sie erinnere sich, die Stimmen der Männer gehört zu haben und sogar das Rattern der Eisenbahn - obwohl schon lange keine Züge mehr nach Emlyn Springs kommen. Das Ereignis bestärkte Bonnie Jones in ihrem Glauben an das Unwahrscheinliche, so viel ist sicher, und an die Magie. Natürlich war sie schon vorher empfänglich dafür gewesen. Ihre Mutter hatte ihr oft genug Geschichten von dem Zauber erzählt, der ihre Empfängnis umgab: wie sie zu ihnen kam, als ihr Vater den Feenkönig spielte in jenem Stück über Elfen und launische Liebespaare, die im Wald schlafen, und den Zaubersaft, der ihnen auf die Augen geträufelt wird, und Jack kriegt seine Jill, das Gute wird siegen, der Mann bekommt sein Pferd zurück, und alles endet im Glück. Mittlerweile schauen alle auf die Uhr; es ist kein Geheimnis, wann das gymanfa offiziell vorbei ist, nämlich dann, wenn die 199
Bewohner der Stadt, solange sie noch stehen können, zwei letzte Lieder gesungen haben. Es herrscht die unausgesprochene Erwartung, dass die engsten Familienangehörigen sich ihnen vor dem Gang zum Friedhof anschließen und mitsingen. Bonnie kommt herein. Sie bemerkt die Abwesenheit ihrer Geschwister, ist aber ebenso wie Viney nicht beunruhigt darüber. Wenn es in Emlyn Springs zwei Menschen gibt, die das Bedürfnis, allein zu sein, nachempfinden können, dann sind es Bonnie Jones und Alvina Closs. Beide nehmen Gaelan und Larken ihr Fehlen weder übel noch bieten sie an, sie zu suchen. Aber nicht alle haben diese Einstellung, wenn es um Traditionen geht. Insbesondere Miss Axthelm findet, es wäre ganz und gar unpassend, das gymanfazu beenden, ohne dass alle Kinder des Bürgermeisters dabei sind. Auf ihr Drängen werden mehrere Mitbürger losgeschickt, um das Haus zu durchsuchen und sie in ihren Verstecken aufzustöbern. Fünf Minuten verstreichen, dann zehn. »Wir können unmöglich ohne sie anfangen«, insistiert Miss Axthelm. »Doch, Estella, und das sollten wir auch«, sagt Viney. »Die Leute hier sind müde und müssen nach Hause.« Die Hexe verstummt, wird aber bei ihren gleichgesinnten, ebenso niederträchtigen Freundinnen noch wochenlang über Alvina Closs herziehen. »Fangen wir an, Hazel«, sagt Viney, und Miss Williams schlägt einen einzelnen Ton auf dem Klavier an. Es folgt eine kurze Stille, während der jede Person im Raum innerlich ihre Beziehung zu diesem Ton findet. Und dann beginnen sie. In Emlyn Springs gibt es ein einzigartiges Arrangement für das Kampflied Nebraskas; es wird langsam, a capella, auf Walisisch gesungen, und zwar vierstimmig. O nid oes unman yn debyg i Nebraska …
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Dieses Arrangement wurde nie niedergeschrieben oder bewusst komponiert. Es hat sich im Laufe vieler Jahre allmählich entwickelt und ist nicht das Produkt eines Einzelnen. … annwyl’Nebraska U’… Am Ende sind Larken und Gaelan Jones nirgends zu finden, und so singt die Stadt wie üblich ohne sie.
9 Das Rad im Loch und das Loch im Boden Larken klopft an die Badezimmertür. »Bist du bald fertig, Bon? Es wird Zeit.« Es ist später Nachmittag. Gaelan und Larken sind aus ihren Verstecken aufgetaucht, sobald sie den letzten Refrain von There is No Place Like Nebraskahörten. Zusammen mit Viney und Bonnie sind sie für ein paar Minuten bei Viney vorbeigefahren, um sich frischzumachen, bevor sie zum Friedhof aufbrechen. Gaelan und Viney sind schon weg. Bonnie tritt in den Flur. Sie hat sich ein Paar schwarze Leggings unter ihr schwarzes Kleid gezogen und trägt jetzt Tennisschuhe. »Ich habe Moms Mund«, verkündet sie in einem Ton voller Selbsthass, als gestände sie, Ehebrecherin oder heroinsüchtig zu sein. »Was?« Diese Art zusammenhangloser Äußerung ist normal für Bonnie, geboren jenseits der Sechziger, jenseits der Unschuld, außerhalb des Zeitfensters der Baby Boomer. Larken und Gaelan erscheint es oft, als wäre ihre Schwester jenseits des Mondes geboren. Bonnie zeigt auf ihre Lippen und umfährt sie in der Luft mit einem raschen Kreis. »Siehst du das nicht?« »Bonbon, wovon redest du?« Larken ist verwirrt. Früher verstand sie alles, was Bonnie sagte, und selbst wenn sie es nicht verstand, verstand sie, was sie meinte. 201
Bonnie spricht weiter. Es klingt immer noch nach Beichte. »Manchmal ertappe ich meinen Mund dabei, wie er etwas tut, und es fühlt sich an, als wäre ich besessen, als hätte ich keine Kontrolle über ihn. In letzter Zeit passiert das immer öfter.« »Du meinst, du hast das Gefühl, keine Kontrolle über das zu haben, was du sagst?« »Nein, es ist nicht meine Stimme. Mein Mund. Es ist Moms Mund.« »Schatz…« »Erinnerst du dich nicht, wie sie immer so schnaubte?« »Schnaubte?« »Wie sie die Lippen spitzte und vor sich hinprustete. Dabei tat sie gar nichts Anstrengendes, sondern saß einfach in ihrem Rollstuhl und prustete.« »Nein.« »Ich erwische mich ständig dabei. Es geht so.« Bonnie demonstriert es: Ihr Blick wird glasig, sie runzelt die Stirn und stößt zwischen energisch geschürzten Lippen winzige Luftschwälle hervor. »Daran erinnere ich mich nicht.« »Sie hat es aber getan, sag ich dir! Und manchmal verformt sich mein Mund, spannt sich an, das spüre ich. Es ist etwas Muskuläres, eine Art Muskelgedächtnis, aber vielleicht ist es auch das genetische Gedächtnis, vielleicht gibt es Mimik-Gene, die sich verspätet, nach zig Jahren erst, manifestieren, so wie die Gene, die bewirken, dass dein Haar grau wird oder dass du Krebs kriegst.« »Bee, ich glaube, das bildest du dir ein.« »Und wenn ich es nun habe?« »Du meinst MS?« »Ja.« »Die ist nicht genetisch, Bonnie. Die wird nicht vererbt.« »Das sagen sie, aber wissen sie es wirklich? Nein. Sie wissen überhaupt nichts.« 202
»Ich bin mir ziemlich sicher, sie wissen, dass es nicht erblich ist. Du hast keine MS.« Bonnies Gesicht wirkt plötzlich hart und verkrampft. »Ich habe das nie verstanden«, sagt sie und richtet den Blick dann rasch auf eine Stelle neben Larkens Füßen - als wollte sie ihre Superkräfte im Dampfablassen rechtzeitig zügeln. »Was verstanden?« »Warum ich mich an so viel mehr von ihr erinnere als du. Du bist die Älteste. Du müsstest dich an alles erinnern.« Larken holt tief Luft. Bonnie schaut immer noch zu Boden. »Ich erinnere mich an sie, Bon. Ich erinnere mich nur an andere Dinge als du.« Bonnie wird still. Es geschieht oft, dass sie mitten in einer lebhaften Unterhaltung abrupt verstummt. Vielleicht sagt sie jetzt für den Rest des Tages gar nichts mehr. Bei Bonnie äußert sich Sprache in Ausbrüchen, nach denen sie sich, als wäre die Anstrengung zu groß gewesen, wieder zurückzieht. Vielleicht verfällt sie auch in eine andere Sprache, eine lautlose, die Larken nicht kennt. »Du musstest nicht warten«, sagt Bonnie abweisend. »Ich fahre nicht mit.« Wie oft Larken die Sprunghaftigkeit ihrer Schwester auch schon am eigenen Leib erfahren hat, sie verletzt sie noch immer: ein stechendes Heiß/Kalt, Vorbote einer Frostbeule und zugleich einer Verbrennung dritten Grades. »Wir treffen uns dort«, ruft Bonnie, bevor die Fliegengittertür zuknallt, dann ist sie verschwunden. Bonnie hat oft ihre ganz eigene Art, den Gesang von Vögeln zu charakterisieren, indem sie ihm Worte zuschreibt. »Oh? Oh hiiier!«, rufen die Kardinäle. »Hierher hierher hierher hierher hierher!« Ein anderer Vogel klingt wie Groucho Marx, der eine dralle, kichernde Frau jagt und lüstern nach ihrem üppigen Hintern greift: »Wacker wacker wacker wacker wacker.« Die tratschenden Vögel zwitschern: »Wirklich?Wiiirklich? Erzähl schnell erzähl schnell«, während andere ihren Kindern die Not203
wendigkeit gründlichen Kauens einprägen - ein Vogelgesangsäquivalent zu menschlichen Müttern, die ihre Sprösslinge wiederholt daran erinnern, dass ihre Mägen keine Zähne haben: »Schling nicht schling nicht schling nicht!« Es gibt verdrießliche, abweisende, pessimistische Vögel »Neinneinneinneinnein« - und Vögel, die einem Cartoon entsprungen zu sein scheinen - »Pieppiep, Pieppiep«. Manche klingen, als wollten sie ihre Familie fotografieren: »Cheese! Cheese!«, andere wie schnurrende Katzen, wenn diese singen könnten. Die Rufe von Zuggänsen haben etwas Krächzendes, Jodelndes; sie hören sich an wie niedliche, pubertierende Jungen, deren Stimmen in den peinlichsten Momenten brechen. Manche Vögel klingen wie Aufziehspielsachen, andere wie ein Stück Pappe, das sich zwischen den Speichen eines Fahrrads verfangen hat. Der Gesang der Wiesenlerche ist kompliziert und schwer mit Wörtern zu unterlegen, Bonnie ist noch kein zufriedenstellender Text eingefallen. Rotkehlchen stoßen plötzliche erschreckte Schreie aus, für Bonnie klingen sie mit all ihrer vollbusigen Schönheit hektisch und erschöpft, wie überanstrengte Damen der Gesellschaft, die auf einer Benefizgala dringend eine Pause brauchen. Sie liebt sie alle, sogar die, deren Stimmen weniger melodisch sind: Vögel, die sich anhören wie die ungeölten Scharniere von Verandatüren oder metallisch und reibend wie die Ratschen, mit denen die Labenz-Brüder an der Tankstelle Getriebeteile festzurren. Und natürlich die Spechte - von denen viele jeden Frühling versuchen, Gefährtinnen anzulocken, indem sie unablässig auf das Dach von Bonnies Behausung klopfen. Sie liebt sie vor allem für ihre Ausdauer und Einfalt. Einen Vogel gibt es jedoch, den Bonnie besonders gern hat: Er klingt, als riefe er ein verirrtes Kind mit einem zweisilbigen Namen zum Essen. (Lar-ken! Gae-lan! Bon-nie!) Es ist eine sanfte Stimme - leise, geduldig -, die etwas von Abenddämmerung an sich hat, zu welcher Tageszeit man sie auch 204
hört. Außerdem klingt sie immer weit entfernt, selbst wenn sie ganz nah ist. Es ist das zuversichtliche Vertrauen dieser Vögel, das Bonnie so gut gefällt: Wie lange und wie weit weg ihre Kinder gezogen sein mögen, wie viele Rufe sie bereits ausgestoßen haben, nie werden sie laut, nie halten sie es für notwendig, verzweifelt oder besitzergreifend zu reagieren wie andere Vögel. Siezweifeln nicht daran, dass eines Tages, heute vielleicht, die verloren Geglaubten, die Verschollenen, die Verschwundenen, die Verirrten zurückkehren werden. Sie alle werden ihren Stimmen folgen und wieder nach Hause finden. Wenn sie schon zur Beerdigung müssen, sollte es ihnen wenigstens erlaubt sein, das ist Bonnies feste Meinung, sich dorthin zu begeben wie Kinder, nämlich auf dem Fahrrad, statt in klimatisierten Autos mit Ledersitzen, Hüfte an Hüfte zwischen Erwachsene in zu engen Schuhen und formeller Kleidung gezwängt. Deshalb hat sie im Laufe der Jahre eine neue Tradition entwickelt: Nach dem Ende des gymanfa führt sie eine Karawane von Kindern auf ihren Rädern zum Friedhof an. Courtney! Tyler! Jason! Kelsey!, ruft ein Vogel. Es schmerzt Bonnie, dass keins dieser Kinder im biologischen Sinne ihres ist, obwohl sie sie liebt, sogar die rotzigen Mädchen, die T-Shirts mit Slogans wie »Nicht alles in Nebraska ist flach« und »Schlechte Manieren sind geil« tragen. In Kleinstädten müssen Mädchen heftiger aufbegehren als anderswo, wenn sie der rebellische Typ sind, weiß Bonnie. Sie selbst war es nie. Aber wenn irgendetwas Rebellisches in ihnen steckt, müssen sie sich jetzt austoben, denn bald werden sie feststellen, dass Rebellion nicht mehr möglich ist, sich in einem Leben einrichten, das ihnen vorgezeichnet ist und sie verbittern lässt. Bonnie hat das oft gesehen. Sie möchte nur, dass ihre Auflehnung nichts mit Alkohol oder Drogen oder rücksichtslosem Fahrstil oder Promiskuität zu tun hat. 205
Und so begleitet Bonnie nach diesen sieben Tagen, als alle genug davon haben, sich ihrem toten Vater zu widmen, die Kinder den Hang hinauf zum Friedhof. Meistens ist sie die Anführerin, ganz hinten radeln Jungen und Mädchen, die schon angefangen haben zu rauchen und außer Atem sind - wobei sie versuchen, ihre Position in der Gruppe als selbstgewählt und nicht als notwendig, ihre Langsamkeit als Beispiel für die Art von Nonchalance erscheinen zu lassen, die Teenager immer für besonders individualistisch halten, obwohl sie ihnen in Wahrheit allen gemeinsam ist. Die Kleinen vergöttern sie. Mit einunddreißig ist Bonnie alt genug, um ihre Mutter zu sein. Oh, warum kann sie sich kein Baby aus den Fingern saugen? Oder es aus der elektrisch aufgeladenen Luft an einem Sommerabend kurz vor einem Gewitter herbeizaubern? Warum kann ein Kind nicht aus einer Eichel oder einem Blatt entstehen? Bonnie hält es für die schlimmste Ungerechtigkeit, dass Babys durch menschliche Paarung gezeugt werden müssen. »Was ist eine Periode?«, fragt Bonnie Larken. »Was?« »Das ist doch eine bestimmte Zeit, oder?« Hope ist seit zwei Wochen verschwunden und Bonnie nach wie vor im Krankenhaus. »Wie kommst du auf Perioden?« »Ich habe so getan, als ob ich schlafe, und da kamen diese Leute rein, zwei Männer und eine Frau, die hatten weiße Kittel an wie Daddy, wenn er arbeitet. Daddy war auch hier, und sie haben über Perioden geredet und dass ich vielleicht nie eine kriege, und dann fing Daddy an zu weinen. Wozu braucht man eine Periode?« »Oh!« »Und dann bin ich wirklich eingeschlafen, und als ich aufwachte, waren sie alle weg.« 206
Larken nickt. »Wo ist Daddy?« »Er musste zur Arbeit. Gaelan ist in der Cafeteria und holt was zu essen.« »Ach so.« »Wenn er raufkommt, essen wir zusammen, okay? Ich habe eine Überraschung für dich.« »Sie haben Mommy gefunden!« »Nein. Nein, Schätzchen. Ich bin bloß in der Bibliothek gewesen und habe dir Bücher mitgebracht.« »Und was ist mit meiner Periode?« »Na ja, in deinem Körper ist was kaputt gegangen, als du in dem Baum gelandet bist.« »Wo in meinem Körper?« Larken wedelt unbestimmt mit der Hand, als rührte sie in einem Topf etwas um. »Ungefähr hier.« »In meinem Magen?« »Nein, nicht ganz. Ein bisschen weiter unten.« »Aber es geht mir doch viel besser.« »Ich weiß. Und darüber sind wir alle sehr glücklich. Aber der Doktor sagt, dass …« »Der Arzt, meinst du.« »Was?« »Daddy sagt, es gibt viele Arten von Doktor.« »Genau. Der Arzt.« Larkens Stimme klingt komisch, als wäre sie ein Sopran und kein Alt. »Und was ist nun passiert in meinem Körper?« »Nichts, Schätzchen. Wirklich nichts. Soll ich dir ein bisschen vorlesen?« »Glaubt Daddy das auch? Dass da was kaputtgegangen ist?« »Was möchtest du hören? Ich habe dir ›Goodnight Moon‹ mitgebracht.« »Das ist ein Babybuch.«
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»Na gut, wie wär’s dann mit Babar? Ich habe jede Menge Babar-Bücher dabei.« »Es geht um Babys, oder?«, fragt Bonnie. »Das, was bei mir nicht stimmt. Mommy hat es mir erzählt.« »Was?« »Ja, hat sie. Als ich sie am Himmel gesehen habe. Sie hat es mir erzählt, und sie hat gesagt, die irren sich alle. Ich kann so viele Babys kriegen, wie ich will, wenn ich dafür bereit bin. Ich muss nur auf den richtigen Zeitpunkt warten.« Da Bonnie von Natur aus standhaft und eigensinnig ist - ihrer älteren Schwester nicht unähnlich -, wartet sie immer noch. Ein anderer Vogel ruft: Ashlee! Jordan! Chloe! Michael! Bonnie schaut in seine Richtung und sieht, dass ein Kind sich von der Gruppe entfernt hat (wie konnte ihr das entgehen?) und in einen Seitenweg abgebogen ist. Es geschieht bisweilen, dass ein kleines Schaf aus der Herde ausbricht, obwohl Bonnie es meistens schon bemerkt, ehe es tatsächlich eintritt. Es gibt unterschiedliche Gründe dafür: einen Streit, eine Herausforderung, ein Duell, eine Beleidigung. Verletzte Gefühle geben den Ausschlag. Es ist selten in Emlyn Springs, dass ein Kind allein unterwegs ist, und Bonnie behält es dann genau im Auge. Vielleicht hat eins der anderen Kinder etwas Unfreundliches zu ihm gesagt oder etwas Bedrohliches. Bonnie wird sich später mit ihm befassen. Zuerst aber muss sie sich um das vom Weg abgekommene Kind kümmern. Sie überträgt einem der älteren, zuverlässigen Mädchen die Verantwortung für den Trupp und folgt dem Kleinen. Da ist er, direkt vor ihr, doch er fährt sehr schnell. Wie kann das sein? Bonnies Beine sind länger, sie tritt sicher ebenso rasch und ungestüm in die Pedale wie er. Sie wechselt den Gang. Das Gelände steigt leicht an, Bonnies Beine beginnen vor Anstrengung zu schmerzen, und sie atmet mühsam.
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Das Kind ist fast außer Sichtweite und sieht mehr und mehr aus wie eine Fata Morgana. Bonnie keucht mittlerweile. Wie weit haben sie sich entfernt? Wie lange sind sie schon gefahren? Die letzten Reste des Tageslichts verschwinden hinter einer Baumgruppe. Sie radelt über ein Feld, das holprig und noch nass vom Regen der letzten Woche ist. Sie hat den Blick auf das Kind gerichtet, daher ist sie unvorbereitet, als sie gegen etwas knallt. Das hintere Ende des Fahrrads kippt nach oben, und Bonnie fliegt vom Sattel. Und dann ist das Kind da, über ihr. Nur dass es kein Kind ist. »Doc Williams?«, murmelt Bonnie. Er kniet; sein Gesicht ist so nah, dass sie fast seine Züge erkennen kann, obwohl es jetzt recht dunkel ist. Sanft hebt er ihren Kopf an und steckt ihr die Öffnung einer Flasche Mineralwasser in den Mund. Sie trinkt, ein bisschen Wasser tröpfelt ihr das Kinn hinab. Nach ein paar weiteren Schlucken fragt sie: »Wo ist dein Fahrrad?« Er spricht nicht. Er reicht ihr eine Taschenlampe. Er streckt die Hand aus. Sie setzt sich auf, hält die Lampe in die Richtung, in die er zeigt, schwenkt sie hin und her, zeichnet Bögen über die abgeernteten Felder, die platt gedrückten Halme. Sie blinzelt. »Ich sehe nichts.« Als sie sich umdreht, ist er verschwunden. Aber sie hört die leise Drehung von Rädern und das Rascheln von Flügeln. Die Taschenlampe hat er dagelassen. Sie nimmt sie mit aufs Feld. Dort wartet etwas Wichtiges auf sie. Bonnie zwingt sich zum Aufwachen. Sie weiß, wo sie ist. Sie weiß auch, dass ein Perspektivwechsel, der Blick aus einem anderen Winkel, sehr erhellend sein kann. Alle Häuser in ihrer Straße gehen auf denselben Park hinaus, doch sie weiß - weil sie schon in jedem dieser Häuser zu Gast gewesen ist -, dass die Aussicht aus jedem Haus unterschiedlich ist. Von der Veranda der Parrys bemerkt sie andere Details als von der der McClures oder der Thomas’ oder der Wil-
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liams’, sodass ihre Augen nie unempfänglich werden für das Vertraute. Es ist wie beim Beerenpflücken: Wenn man an derselben Stelle stehen bleibt, macht man gute Beute. Man nimmt, was man sieht. Dreht man dagegen den Körper leicht, nur um einen Grad, oder verändert die Blickhöhe, indem man sich hinkniet oder hinhockt, zeigt sich eine andere Beere, von der man nie geglaubt hätte, dass man sie übersehen könnte, so sehr leuchtet ihre Farbe, so reif ist sie. Auf dem Boden liegend, sieht Bonnie etwas auf diesem Feld, das ihr bisher entgangen ist, etwas Rundes, Schwarzes, halb vergraben - und doch sichtbar: Paul Bunyans Geld, eine riesige Münze, in den Schlitz eines allzu vollen Sparschweins gesteckt. Bonnie scharrt mit den Händen in der Erde. Es ist ein Rad. Mit rasendem Herzen gräbt sie weiter. Die Erde ist gefügig. Sie wird so lange graben, wie es dauert, dieses Artefakt zu bergen. Sie weiß, was es ist: ein Beweis. Ein Zeichen. Eine Botschaft. Sie wird ewig graben, wenn es sein muss.
10 Schwesterstadt Er ist in sakraler wie in säkularer Umgebung ausgiebig gelobt worden. Man hat ihm zweiundsiebzig Stunden hintereinander in der Sprache seiner Ahnen vorgesungen, ihn durch den Ort geleitet. Er wurde in die geweihte, schwere, nährstoffreiche Erde von Nebraska gebettet und wird jetzt in die Gesellschaft der toten Väter eingeführt, von denen er allerlei über mögliche Post-mortemVergnügungen lernt. Wer möchte, kann über Llwellyn Jones jetzt in der Vergangenheit sprechen.
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Alles, was fehlt, um die Woche offiziell abzuschließen, ist das Läuten der Kirchenglocke um Mitternacht. Viney hat ihr schwarzes Kleid ausgezogen und trägt ihren Bademantel und Pantoffeln. Sie verspürt jene seltsame Kombination aus Erschöpfung und Rastlosigkeit, die typisch für soeben Hinterbliebene ist. Sie kann nicht anders, als den Inhalt von Kühlschrank und Gefrierfach ständig umzusortieren. »Was um alles in der Welt soll ich bloß mit dem ganzen Essen anfangen?«, sinniert sie, ohne eine Antwort zu erwarten. Die beiden anderen Menschen in der Küche hören ihr sowieso nicht zu. Wie Viney sind sie müde und nervös, gefangen in ihrem eigenen Schmerz. Außerdem beschäftigt sie die Abwesenheit einer vierten Person. Gaelan läuft im Raum auf und ab. »Glaubst du wirklich, es ist alles in Ordnung mit ihr?«, fragt er. Seine Stimme klingt ungewöhnlich kraftlos und dünn, und seine Frage scheint an niemand Bestimmten gerichtet zu sein. »Sollten wir sie nicht als vermisst melden oder sowas?« »Ich fasse es nicht, dass sie das tun konnte«, faucht Larken. Sie sitzt am Küchentisch, wo sie einen Teller voller Reste - Hackbraten, Erbsen und kaltes Kartoffelpüree - verdrückt. »Wie spät ist es überhaupt?« »22:23 Uhr. Ich finde, wir sollten die Polizei anrufen.« Gaelans Wut manifestiert sich oft als Angst, Larkens Angst manifestiert sich oft als Wut. Diese Tendenz bleibt weitgehend unbemerkt. »Kinder«, sagt Viney, »es geht ihr gut. Sie kommt sicher jede Minute.« Larken steht auf, nimmt eine Gabel voll Essen mit und tritt ans Küchenfenster. Ihr Bruder stellt sich neben sie. Sie denken beide über die Tage nach - dass sie kürzer werden - und über die Abwesende - die zuletzt Schwarz trug. »Sie wusste doch, dass du heute Abend fährst, oder?«, fragt Larken. 211
»Ja«, erwidert Gaelan. »Ich hab’s ihr gesagt.« »Ich fasse es nicht, dass sie das tun konnte!«, wiederholt Larken, wobei sie versucht, sich durch einen Mund voll Erbsen und Kartoffeln zu artikulieren. »Ich bin so sauer, dass ich kotzen könnte. Diese Egozentrik … einfach unglaublich.« »Was sollen wir tun?«, fragt Gaelan. »Weiter warten? Ich muss bald los, damit ich noch ein paar Stunden Schlaf kriege, bevor ich zum Sender fahre …« Larken wirft ihre Gabel auf den Tisch, sodass zermatschtes Gemüse durch die Luft fliegt. »Verdammt, wir warten seit sechs Stunden«, verkündet sie. »Wenn sie an dieser Diskussion teilnehmen wollte, hätte sie kommen müssen.« Sie ruft quer durch die Küche, als wäre sie ein riesiger Konferenzsaal: »Setz dich zu uns, Viney!«, und nimmt mit der Vehemenz eines Wall-StreetMoguls, der eine Firmenübernahme inszeniert, wieder ihren Platz am Tisch ein. »Es gibt ein paar Dinge, die wir besprechen müssen«, fügt Gaelan etwas leiser hinzu. »Ich höre euch auch von hier«, antwortet Viney, »schießt los.« Sie versucht, mehrere Pfund Makkaronisalat in einen Tupperware-Behälter zu quetschen. »Okay … also, Larken? Willst du …?« Larken seufzt. »Klar«, sagt sie gepresst. Muss sie immer diejenige sein, die jede Familiendebatte einleitet? Kann ihr Bruder nicht ein einziges Mal die Initiative ergreifen? »Viney, wir müssen über Dads Haus reden.« »Hm - mm.« »Frag sie nach dem Geld«, flüstert Gaelan. »Was?« »Du weißt doch, ob sie und Bonnie … du weißt schon …« »Willst du das hier übernehmen?« »Entschuldige. Nein. Mach weiter.«
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Larken fährt fort: »Dad hat das Haus uns dreien hinterlassen, aber Gaelan und ich haben darüber gesprochen, und wir finden…« »Kann ich euch nicht ein bisschen von dem Essen nach Lincoln mitgeben?«, fragt Viney. »Das schaffe ich allein doch nie.« »Natürlich werden wir es verkaufen«, sagt Larken, »und dazu müssen wir noch mal herkommen, aber wir wollten dich fragen…« »Kein Problem«, sagt Viney. »Das eilt doch nicht.« Sie will für den gewaltigen Bottich mit Makkaronisalat Platz machen und räumt alles andere aus dem Kühlschrank. Am Rande der Küchentheke entsteht eine kleine Stadt aus Häusern, die keinerlei Bauvorschriften einhalten, eine dem Verderben geweihte Skyline aus unterschiedlich großen, schwankenden Plastikbehältern, mit Folie abgedeckten Schüsseln, Auflaufformen, Tiegeln, Töpfen, Saucieren. So viel Essen, denkt Viney. Es ist irgendwie obszön. »Ist da drüben irgendwas, das du willst, Viney?«, fragt Gaelan. »Wo drüben?« »In Dads Haus.« »Oh, das ist lieb von dir, Schatz. Ich weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht.« »Du solltest rüberfahren und nachsehen«, sagt Larken. »Wir werden wohl versuchen, das Haus komplett zu verkaufen, mit Möbeln und allem, also solltest du dir die Sachen von Dad raussuchen, die du behalten willst.« Viney nickt. »Kann ich euch nicht wenigstens ein paar Brownies und Kekse einpacken? Larken, was ist mit dem kleinen Mädchen, auf das du aufpasst? Würde ihr nicht ein bisschen Gebäck schmecken?« »Sie hat eine Laktose-Intoleranz«, murmelt Larken. »Was?« »Klar, Viney, das wäre prima. Über das andere können wir ja auch später sprechen.«
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Gaelan steht auf und schaut wieder aus dem Fenster. »Meint ihr wirklich, wir müssen uns keine Sorgen machen?« »Nein«, sagt Viney. »Es war schwer für sie - sie stand sich nicht besonders gut mit ihrem Vater, wisst ihr -, und ich bin sicher, sie braucht einfach ein bisschen Zeit für sich, allein auf ihrem Fahrrad, wie sie es gern hat, wisst ihr.« Sie wissen es. Sie wissen alles über die spezielle Beziehung ihrer Schwester zu Fahrrädern - eine Beziehung, die in dem Moment begann, als sie im verblüffend frühen Alter von vier lernte, ein Zweirad zu lenken. Nachdem sie aus dem Krankenhaus gekommen war, fing sie an zu schlafwandeln. Bei jedem Wetter fanden Larken und Gaelan sie draußen, wo sie, im Dunkeln weinend, auf ihrem nagelneuen Schwinn saß, einer Spende des Radfahrclubs Lincoln, die Zehenspitzen auf dem Boden. Larken hatte solche Angst, dass ihre kleine Schwester eines Nachts nicht nur zu ihrem Rad tappen, sondern auch damit fahren würde, dass sie es einem Wohltätigkeitsverein schenkte. Sie weiß nicht, ob Bonnie ihr das je verziehen hat. In Emlyn Springs haben alle im Unkreis von dreißig Meilen sie schon oft auf den Feldwegen herumradeln sehen. Sie wissen nicht genau, was sie da tut, nur dass sie manchmal am Straßenrand hockt oder in einem der Abflusskanäle, wo sie Abfälle sammelt und sie in ihren Satteltaschen verstaut. Was immer sie vorhat, es ist ihre Angelegenheit. Sie mag seltsam sein, aber das stört niemanden. Sie nimmt an allen örtlichen Paraden teil und führt seit etlichen Jahren zum Abschluss des gymanfa die Karawane der Kinder zum Friedhof an. Die toten Väter billigen das vielleicht nicht einhellig, doch fast alle anderen haben sich daran gewöhnt. Das gilt allerdings nicht für Larken und Gaelan. Sie sorgen sich darum, was aus Bonnie werden soll, eingesperrt in diese kleine, sterbende Stadt ohne Zukunft, eine Gefangene ihrer eigenen Misserfolge und der Art und Weise, wie sie von deren engstirnigen Bewohnern wahrgenommen wird. Sie wollen nicht, dass 214
ihre Schwester als »exzentrisch« bezeichnet wird. Sie ist jung, aber so jung auch nicht mehr. In drei Jahren, vielleicht schon früher, wird ihre Exzentrik nicht mehr als reizvoll gelten. Sie sorgen sich um sie, unaufhörlich. »Ich wüsste es, wenn ihr etwas passiert wäre«, fährt Viney fort, und obwohl weder Gaelan noch Larken verstehen, warum das so sein sollte, glauben sie ihr und sind vorübergehend beruhigt. Sie sehen, dass Viney die Anhäufung von Essensbehältern abgebaut und für alle einen Platz im Kühlschrank gefunden hat. »Gaelan, Schatz«, sagt Viney, »du solltest dich auf den Weg nach Lincoln machen. Ich rufe dich an, oder Larken tut es, sobald Bonnie hier ist.« »Ein paar Minuten warte ich noch.« »Na gut«, sagt Viney, »es ist deine Entscheidung.« Sie rückt die Schüssel mit dem Makkaronisalat zurecht, schließt den Kühlschrank und gähnt ausgiebig. »Ich weiß nicht, wie es euch beiden geht, aber ich bin so müde, dass ihr mich jetzt entschuldigen müsst.« Sie tappt durch die Küche und nimmt Gaelan fest in die Arme. »Fahr vorsichtig, Liebling«, sagt sie. »Und ruf an, wenn du zu Hause bist, okay?« »Versprochen.« Sie bückt sich, um Larken einen Kuss zu geben. »Schlaf gut, Schätzchen«, sagt sie. »Bis morgen früh. Und mach dir keine Sorgen um deine Schwester.« Ich mache mir keine Sorgen, denkt Larken. Ich würde sie bloß gern umbringen. »Schlaf gut.« Viney geht in Richtung Wohnzimmer und Treppe. »Meine Güte«, sagt sie seufzend. »Das war wirklich eine allergische Woche. Gute Nacht, ihr Lieben.« »Gute Nacht, Viney«, entgegnen sie. Sobald sie außer Hörweite ist, flüstert Gaelan: »Und? Was meint sie damit?«
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Von den Jones-Geschwistern ist Larken die Einzige, die Vineys falsche Aussprache von Wörtern entschlüsseln kann. »Elegisch. Eine elegische Woche.« »Und was ist das?« »Kommt von ›Elegie‹.« »Ach so. Na ja …« »Das ist doch lächerlich. Es ist fast halb elf.« Gaelan schaut noch einmal auf seine Uhr, dann steht er auf und gießt den Rest seines Kaffees in die Spüle. »Ich fahre nicht gern, ohne sie gesehen zu haben, aber …« Und dann hören sie das Geräusch einer Fahrradbremse auf Kies, gefolgt von raschen, leichten Schritten. Quietschend geht die Fliegengittertür auf, und Bonnie tritt ein. Sie ist schmutzig. Sie ist in Ekstase. Sie spricht. »Hi, Leute!« Ihre Ignoranz ist erstaunlich. »Wo zum Teufel bist du gewesen?« Gaelan berührt die Schulter seiner Schwester. »Larken …« »Oh Gott«, sagt Bonnie ernst. »Tut mir leid. Wie spät ist es? Habt ihr euch Sorgen gemacht?« »Haben wir uns Sorgen gemacht? Sorgen? Scheiße, du warst beinahe sechs Stunden verschwunden und fragst, ob wir uns Sorgen gemacht haben? Allmächtiger!« »Bitte benutz keine Schimpfwörter!« Gaelan greift ein. »Wo warst du, Bon?« »Nur mit dem Fahrrad unterwegs. Eins von den Kindern hatte sich aus der Karawane entfernt, und da …« Larken steht auf, wobei sie viel Lärm mit ihrem Stuhl macht, und räumt ihre Sachen vom Tisch. Nachdem sie Besteck und Geschirr in den Ausguss geworfen und alles mit Spülmittel bespritzt hat, dreht sie den Warmwasserhahn auf. »Scheiße, ich glaube es nicht …«, murmelt sie. »Keine Schimpfwörter!«, ruft Bonnie. Gaelan fährt fort: »Wir waren bloß … es gab Verschiedenes zu besprechen, und jetzt muss ich zurück nach Lincoln, daher …« 216
»Ich habe was gefunden«, verkündet Bonnie. »Deshalb war ich so lange weg. Es war in der Erde, und ich musste es ausbuddeln.« Larken dreht sich zu ihr um. »Was?« »Es ist echt wichtig, was ganz Besonderes. Ein Artefakt. Ihr müsst es euch ansehen. Ich habe es draußen gelassen, weil es ziemlich dreckig ist, aber…« »Bonnie!«, sagt Larken. »Es gibt Dinge, die wir diskutieren müssen.« »Sprich nicht mit mir wie mit einem Kind.« »Ach nein? Wieso sollte ich anders mit dir sprechen?« »Wie bitte?« »Mädels …«, sagt Gaelan. »Warum sollte ich mit dir sprechen, als wärst du tatsächlich eine verantwortungsbewusste, vernünftige Erwachsene? Seit wir hier sind, hast du nichts alsMist gebaut!« »Und du hast die ganze Zeit versucht, jeden mit deinem Superhirn zu beeindrucken und zu zeigen, wie unterlegen wir dir alle sind.« »Mädels! Schluss damit! Wir müssen über das Haus reden, bevor ich fahre.« »Das Haus?«, fragt Bonnie. »Welches Haus?« »Dads Haus«, erwidert Larken. »Was ist damit?« »Wir müssen einen Preis festsetzen und entscheiden, ob wir es selbst oder über einen Makler verkaufen …« »Ich finde, wir sollten einen Makler in Lincoln beauftragen«, wirft Gaelan ein. »Außerdem wollten wir klären, ob du bereit bist, den Erlös mit Viney zu teilen, also durch vier. Dad hat in seinem Testament keine Vorkehrungen für sie getroffen, deshalb dachten Lark und ich…« »Nein«, sagt Bonnie mit einer so klaren und eindringlichen Stimme, dass ihre Geschwister vorübergehend verstummen. »Nein was?« 217
»Wir verkaufen Daddys Haus nicht.« »Natürlich tun wir das«, kontert Larken. »Was soll denn sonst damit werden?« »Jedenfalls verkaufen wir es nicht.« »Es ist ein schönes Haus, Bon«, sagt Gaelan. »Und ganz abbezahlt«, fügt Larken hinzu. »Dad hatte keine Schulden mehr bei der Bank. Der gesamte Erlös würde uns gehören.« »Ist das alles, woran du denkst? An Geld?« »Oh, bitte nicht«, sagt Larken. »Fangen wir nicht an, über Geld zu reden.« »Ich weiß, was ihr beide denkt«, sagt Bonnie. »Jetzt, wo Dad nicht mehr da ist, meint ihr, ihr könnt alle Verbindungen zu diesem Ort kappen und müsst nie mehr herkommen…« »Bonnie …« »… dabei wisst ihr, das ist das Letzte, was Mom gewollt hätte. Wir verkaufen Dads Haus nicht! Vielleicht will ich ja selbst einziehen.« »Grundgütiger.« Gaelan greift nach seiner Umhängetasche. »Okay, Mädels. Ich bin so lange geblieben, wie ich konnte. Ich fahre jetzt.« »Großartig«, sagt Larken. »Einfach großartig. Ich fasse es nicht!« »Lark, ich gucke nicht zu, wie ihr beide euch streitet. Ihr hört ja sowieso nicht auf mich. Ihr hört nie auf mich. Pass auf. Der Ausguss läuft gleich über.« »Scheiße!«, ruft Larken und dreht das Wasser ab. »Gaelan, das stimmt so nicht«, wirft Bonnie beschwichtigend ein. »Ich höre auf alles, was du sagst.« »Na gut«, entgegnet Gaelan, »ich muss jedenfalls um halb vier geschminkt auf Sendung sein, das heißt, in genau vier Stunden und dreiundfünfzig Minuten, also … prügelt euch, ihr zwei, oder wie auch immer ihr das regeln wollt, und dann gebt mir Bescheid, was ihr beschlossen habt.« 218
»Ich fasse es nicht, dass du jetzt fährst«, wiederholt Larken. »Ruft mich an, okay?«, sagt Gaelan. »Tschüss.« Er gibt seinen Schwestern jeweils einen Kuss auf die Wange und geht. Sie stehen da und hören, wie Gaelan seine Autotür auf- und zumacht, den Motor anlässt, abfährt. Es folgt eine kurze Stille, dann fängt Wasser an, über den Rand der Küchentheke zu rauschen, ein Miniatur-Niagarafall. Larken reißt ein paar Geschirrtücher vom Haken und wirft sie auf den Boden, die Anstrengung laugt sie komplett aus. Sie ist plötzlich erschöpft, so erschöpft, dass ihr gesunder Menschenverstand versagt; es kommt ihr nicht in den Sinn, den Stöpsel aus der Spüle zu ziehen. Sie steht einfach da, kraftlos und benommen, und beobachtet, wie das Wasser herabstürzt und sich in den Dellen des Ziegelmusterlinoleums in Vineys Küche ineinanderlaufende Pfützen formen. Ist das nicht interessant?, denkt sie. Als sie endlich spricht, ist ihre Stimme ruhig. »Wie konntest du den Trauergottesdienst für Dad schwänzen? Wie konntest du einfach abhauen, ohne uns zu sagen, wohin?« Bonnie kniet sich hin und versucht, mit den durchnässten Geschirrtüchern das Wasser aufzuwischen. »Ich weiß, was du denkst. Du denkst, ich bin eine Versagerin. Du hältst uns alle hier für Versager, jeden Einzelnen.« »Komm, ich helfe dir.« »Ich mach das!« Bonnie reißt mehrere Papiertücher von der Rolle und schichtet sie auf dem Fußboden; sie werden ihrem Ruf, supersaugfähig zu sein, nicht gerecht. »Wir verkaufen Dads Haus nicht«, wiederholt sie verdrießlich. »Es geht nicht um das Geld, Bon. Weder Gaelan noch ich brauchen es. Eigentlich wäre es uns sogar ganz recht, wenn nur ihr beide, du und Viney, euch den Erlös teilt.« Bonnie schaut auf. »Ihr habt also schon darüber gesprochen?« »Ein bisschen, aber nicht …« »Ihr wolltet mich in Wahrheit also gar nicht in die Entscheidung mit einbeziehen. Der ganze Blödsinn, den ihr da aufs Tapet 219
gebracht habt, war nichts als … Blödsinn, Verarschung! Es ist wie immer: Ihr beide entscheidet, weil die arme kleine Bonnie zu dämlich ist, Entscheidungen zu treffen. Sie ist inkompetent. Sie ist eine Niete.« »Bonnie, bitte …« »Schöne Rückfahrt in die Stadt!«, schreit die gekränkte Heldin, wobei ihre Stimme vor Erregung bricht, dann stürmt sie hinaus. Larken kann fast das Anschwellen der Musik auf dem mechanischen Klavier hören. Es ist ein großartiger Abgang. Draußen radelt Bonnie mit solchem Ungestüm davon, dass sie sicher jeden Moment vom Boden abhebt. Larken steht da, wie gebannt von Bonnies Darbietung und ihrer eigenen Reaktion. Es ist wirklich ein Wunder. Nur Bonnie schafft es, Professor Jones vollkommen sprachlos zu machen. Jedes Mal, wenn Larken mit ihrer kleinen Schwester im selben Raum ist, verliert sie Worte, verliert sie zu Tausenden, und die wenigen, die ihr bleiben, scheinen keine Bedeutung mehr zu haben. Sie wird unfähig zu sprechen - was für Larken dasselbe ist wie zu verblöden. Wieder einmal wünscht sie sich eine andere Sprache, eine, die nie Gefühle verletzen kann. Sie müsste ohne Subtext sein und dürfte keine Fehldeutungen zulassen. Larken bietet das bisschen Tatkraft auf, das sie noch hat, um einen Mopp aus dem Besenschrank zu holen und den Boden aufzuwischen. Da ist etwas, das sie sagen wollte, etwas, zu dem sie keinen Zugang hatte, als ihre und Bonnies Energien kollidierten, etwas Wichtiges. Was war es bloß? Kann ihr Körper ihr helfen, das Unausgesprochene zu finden? Würde eine bestimmte Geste es ans Tageslicht bringen? Larken fällt nichts anderes ein, als der Nacht zu lauschen und sich vorzustellen, dass sie immer noch hören kann, wie Bonnie zu ihrer Remise zurückradelt. Es ist schwierig, den Gedanken zu akzeptieren, dass ihre Schwester verrückt ist, mehr als schwierig: Es ist herzzerreißend. 220
Wie kann Larken ihr helfen? Wie kann sie über die Schnuller und einzelnen Babyschühchen sprechen, die Bonnie an der Decke ihres Schuppens aufgehängt hat? Im Laufe der Jahre hat sie Hunderte davon gesammelt. Wie kann sie ihrer Schwester sagen, dass die meisten Menschen ihre Besessenheit von dem, was sie am Straßenrand finden, nicht teilen? Wie soll sie ihr erklären, dass die Einkaufslisten, die Bonnie so liebevoll birgt und mit der Sorgfalt einer Museumsarchivarin auf die säurefreien Seiten ihrer Alben klebt, unmöglich von ihrer Mutter verfasst sein können? Sie ist tot, würde Larken nur zu gern sagen, doch sie hat vor langer Zeit versprochen, diese Worte in Bonnies Gegenwart nie zu äußern, und fühlt sich immer noch daran gebunden. Wenn irgendjemand die Schuld an Bonnies Wahn trägt, dann sie selbst, glaubt Larken. Der Fußboden ist trocken. Sie öffnet den Kühlschrank. Der riesige Bottich mit dem Makkaronisalat fällt heraus; als er auf das Linoleum trifft, knallt der Deckel mit der Kraft einer Rakete, die sich von einem Raketenwerfer löst, von dem Behälter. Larken verbringt eine weitere halbe Stunde damit, diese neue Schweinerei zu beseitigen, und geht dann endlich - nachdem sie sich einen Suppenlöffel aus der Besteckschublade und einen großen Kübel fettfreie Eiscreme aus dem Gefrierfach geholt hat - nach oben und ins Bett. Alvina Closs - eine Frau, die rein formal nicht behaupten kann, Witwe von Dr. Llwellyn Jones oder Stiefmutter seiner Kinder zu sein, schläft ein mit der Hoffnung, in ihren Träumen Welly zu begegnen. Mehr noch, sie hofft, dass er ihr Anweisungen gibt, einen Plan, wie sie jetzt nach seinem Tod weiterleben, insbesondere, wie sie mit all den Informationen umgehen soll, die sie in den letzten fünfundzwanzig Jahren gehütet hat. Am liebsten wäre es ihr, wenn der Bürgermeister sie so besuchte, wie es Engel angeblich tun: angekündigt durch helle Lichter und, wenn möglich, durch das Schmettern einer Trompete 221
(denn Viney schläft normalerweise tief und fest). Sie würde keine Angst haben. Eine übernatürliche Erscheinung wäre ihr unter diesen Umständen ganz willkommen. Es wäre ihr lieb, wenn der Geist des Bürgermeisters lange genug über ihr schwebte, um ihr mit seiner wundervollen, gebieterischen Stimme eine klare Direktive zu liefern. »TU DIES!«, würde sie gern hören, gefolgt von einem freimütigen Monolog. Um ihre Bereitschaft für eine solche Erscheinung rituell zu demonstrieren, legt sie vor dem Einschlafen das Spiralheft, das sie während des tridiau benutzt hat, auf ihren Nachttisch, damit sie ein Diktat von Welly aufnehmen könnte - wie sie es in ihrer Rolle als seine Arzthelferin und Sekretärin so oft getan hat. Zu guter Letzt drapiert sie eins der ungewaschenen Hemden des Bürgermeisters über ihr Kopfkissen. Sag mir, was ich tun soll, fleht sie den Geist ihres lieben, toten Nicht-Ehemanns an, während sie einschlummert. Sag’s mir sag’s mir sag’s mir … Aber sie träumt nicht von Welly - sie träumt von Hope. In diesem Traum sind sie beide gleich alt, Anfang zwanzig. Sie tragen beide Schwesterntrachten von der altmodischen Art: hoch geknöpfte, sauber gebügelte Hemdblusenkleider mit kurzen Ärmeln mit Manschetten und sittsamen Krägen und auf dem Kopf jene gestärkten weißen Hauben, die Viney immer an MiniaturBaseballstadien erinnert haben. Die linke Brusttasche von Vineys Uniform schmückt ein großes rotes Kreuz; bei Hope befindet sich das Kreuz vorn auf ihrem Rock. Viney ist stolz darauf, so altmodisch gekleidet zu sein, schließlich hat sie eine gute Figur. Sie fragt sich, wann Hope wohl ihr Schwesternexamen abgelegt hat; Viney ist auch stolz auf sie. Sie tragen weiße Strümpfe und weiße Schnürschuhe. Ganz in Weiß damals, wie Bräute, wie Novizinnen, kein Vergleich mit diesen bunten, formlosen Kitteln und Hosen, die Krankenschwestern heutzutage anhaben.
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Allerdings arbeiten sie nicht als Schwestern. Sie stehen auf beiden Seiten einer sehr langen Fördervorrichtung - die sich in alle Ewigkeit zu erstrecken scheint -, und Viney erkennt, dass es sich um das Fließband in einer Fabrik handelt. Sie halten ein kleines Glas für Babynahrung, mit roter Farbe gefüllt, in der einen Hand und einen feinen Pinsel mit winzigen Borsten in der anderen. Sie haben eine wichtige Aufgabe: Sie sind dafür zuständig, Babypuppen rote Lippen aufzumalen. Es ist ein Job, der große Gewissenhaftigkeit erfordert, die Art von Job, der Frauen liegt. Die Puppen tauchen vor ihnen auf, das Band hält gerade so lange an, dass sie zwei rasche, geschwungene Striche auftragen können, einen für die Ober- und einen für die Unterlippe, dann setzt es sich wieder in Gang und transportiert die Puppen weiter. »Tschüss, Babys!«, ruft Hope. Es sind kleine Jungen und Mädchen in ungefähr gleicher Zahl, bemerkt Viney; die Babys sind nackt und anatomisch korrekt gestaltet, was ihr gefällt. Beunruhigend findet sie es dagegen, dass sämtliche Babys weiß sind. »Babys gibt es doch in allen Farben«, sagt sie. »Unsere Babys nicht«, erwidert Hope. Und nun erscheinen echte menschliche Babys vor ihnen auf dem Fließband. Das ist ja entzückend!, denkt Viney. Wir müssen im Himmel sein. Die Babys sind keine Neugeborenen mehr, keine Säuglinge, sondern etwa vier Monate alt, in jenem wundervollen Stadium, in dem sie lernen zu lächeln. Und sie lächeln wirklich, was Vineys und Hopes Aufgabe zusätzlich erschwert; es ist knifflig, diese beweglichen, lächelnden Babylippen zu bemalen, mit sicherer Hand, während die Kleinen zappeln und versuchen, sich auf den Bauch zu drehen. Aber Hope und Viney nehmen die Herausforderung mit einem Lachen an. Und dann kommen - oh! - ihre eigenen Babys angerollt: Vineys drei Töchter und Wally junior und Larken und Gaelan und
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Bonnie und dann einige, die Viney nicht erkennt und die fest schlafen. Diese Babys sind nicht nackt. Sie tragen Miniatur-Arzt- und Schwesternkostüme, die Mädchen exakte Kopien der Tracht, in der Viney steckt (bis hin zu den gestärkten weißen Hauben und den Strümpfen und Schuhen und dem Kreuz auf der linken Brusttasche), die Jungen weiße Hosen und Kittel und weiße Golfschuhe. Alle Babys umklammern eine kleine weiße Arzttasche mit einem roten Kreuz darauf. Der Motor geht aus. Das Förderband kommt zum Stillstand. »Pause!«, ruft Hope. Viney sorgt sich, dass ihre Stimme die schlafenden Babys wecken könnte, doch die rühren sich nicht. Hope schwingt sich auf das Band, knöpft das Oberteil ihrer Uniform auf, nimmt Wally junior auf den Arm und fängt an, ihn zu stillen. »Behältst du die anderen im Auge, Viney?« Hope muss die Schichtleiterin sein. »Soll ich sie auch stillen?«, fragt Viney und schaut auf ihre Brust. Das rote Kreuz auf ihrer Tracht sieht viel größer aus als zuvor, während ihr Busen komplett verschwunden ist. »Ich bin platt wie ein Pfannkuchen!«, ruft sie. Hope antwortet nicht. Sie wiegt Wally im Walzertakt und singt: »The future’s not ours to see, que sera, sera …« Viney betrachtet die Babys. Ihr fällt auf, dass das Bemalen ihrer Lippen eigentlich albern und unnötig ist. Ihre Münder weisen den perfekten Rotton auf - bis auf die der Schlafenden, bemerkt Viney plötzlich, die sehen tatsächlich ein bisschen blass aus. Und so nimmt sie ihren Pinsel und ihr Glas mit Farbe und macht sich ans Werk. Ihre Hand ist müde, immer wieder verrutscht sie. Sie hat ihren Rhythmus verloren, ihr Geschick. Obwohl diese Babys vollkommen reglos sind, schafft Viney es nicht, ihre Münder gut aussehen zu lassen. Irgendwann bemerkt sie, dass die schlafenden Babys gar nicht schlafen, sie sind tot. Sie wünscht sich, sie könnte sie zudecken. Sie wünscht sich, das Fließband möge wieder anspringen und sie forttragen. 224
Ein Wirbelwind kommt auf, so stark, dass er die roten Kreuze von den Ärztetaschen und Uniformen reißt. Bald fliegen sie überall umher und drehen sich wie Propeller. Viney erkennt, wie gefährlich sie sind; sie haben rasiermesserscharfe Kanten, und die lebenden Babys greifen entzückt nach ihnen. Viney nimmt Gaelan und die fünf Mädchen in die Arme und legt sie zu ihren Füßen nieder. »Husch!«, ruft sie und versucht, sich schützend über die toten Babys zu beugen, während sie gleichzeitig nach dem wespengleichen Schwarm aus roten Kreuzen schlägt. Das Förderband setzt sich wieder in Gang, bewegt sich aber bald zu schnell, beschleunigt wie ein Güterzug, der aus dem Bahnhof fährt, und gibt dabei dasselbe rhythmische Rattern von sich. »Hope!«, ruft Viney. »Welly! Das wollte ich nicht!« Hope steigt nicht aus dem Zug. Sie schart die toten Babys um sich - sie sehen nicht mehr echt aus, sondern scheinen sich in Puppen zurückverwandelt zu haben - und drückt Wally an ihre Brust. »Ich habe ihn, Viney!«, ruft sie, und dann sind beide außer Sichtweite. Plötzlich ist der Windwirbel so mit Staub und Schutt gesättigt, dass Viney nichts mehr sieht. Wo sind die Babys? Voller Panik sinkt sie auf die Knie und beginnt, nach ihnen zu tasten, spürt Schlamm und platt gedrückte Kornhalme an ihren Beinen. Sie wird sich ihre weißen Strümpfe ruinieren. Irgendwann fühlt sie, wie kleine Hände nach ihr greifen, verzweifelt, hektisch, während der Wind heult. »Festhalten!«, schreit sie. Von beiden Seiten wird sie an den Gelenken gepackt, aber es sind erwachsene Hände, und Viney bekommt Angst. Wer klammert sich an sie? Der Wind heult, der Zug rattert, der Regen brennt in ihren Augen … Die Kirchenglocke weckt sie. Sie lauscht und versucht sich zu beruhigen, indem sie ihre Atmung dem Läuten der Glocke und dem Widerhall zwischen den einzelnen Schlägen anpasst. Es muss Mitternacht sein. 225
Ist da drüben irgendwas, das du willst, Viney? Larkens und Gaelans Frage hängt noch in der Luft und fordert ihre Aufmerksamkeit, wie etwas, das sie braucht, aber nicht erreichen kann: einen Servierteller im Regal über dem Kühlschrank, der selten benutzt wird, aber wenn sie ihn benötigt, dann sofort. Sie steht auf, schlüpft in ihre Pantoffeln und macht sich auf den Weg nach unten. Die Tür von Larkens und Bonnies Zimmer ist zu, das Licht aus. Also muss zwischen ihnen alles in Ordnung sein, denkt Viney erleichtert. Sie hasst es, wenn die Kinder sich streiten. Die Küche riecht nach Reinigungsmittel: Larken muss den Boden geputzt haben. Das war aufmerksam von ihr. Viney öffnet den Kühlschrank, holt eine Flasche Mineralwasser heraus und bemerkt eine große leere Fläche im zweiten Fach. Ah, denkt sie. Anscheinend hat sie den ganzen Makkaronisalat gegessen. Dieses Mädchen. Willst du irgendwas von Dads Sachen behalten? Ja, überlegt Viney, während sie ein Glas füllt und es austrinkt. Es gibt vieles von eurem Vater, das ich gern hätte, aber ich bezweifle, dass es in seinem Haus zu finden ist. Trotzdem wird ihr klar, dass sie dorthin muss. Sie holt Wellys hellblaue Strickjacke - die er trug, als er starb aus dem Garderobenschrank und überprüft, ob die Schlüssel noch in der Tasche sind. Sie sind da. Plötzlich kommt es Viney seltsam vor, dass Welly in den fünfundzwanzig Jahren, in denen sie das Bett teilten, nie einen Satz Zweitschlüssel für sie anfertigen ließ. Warum nicht? Sie hatte Schlüssel zu seiner Praxis, seinem Wagen … Sie zieht Socken und Tennisschuhe an, legt sich Wellys Strickjacke um die Schultern und macht sich zu Fuß auf den Weg. Es ist eine heiße und feuchte Nacht. Sie fand es nie gerecht, dass Hitze und Feuchtigkeit hier die Nacht ebenso beherrschen wie den Tag, und wollte Gaelan schon immer fragen, wieso man-
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chen Orten nachts eine Verschnaufpause vergönnt ist, nicht aber Emlyn Springs. Llwellyns Haus steht mehrere Blocks entfernt auf einem großen Eckgrundstück am äußersten nordöstlichen Rand des Ortes, gerade noch innerhalb der Stadtgrenzen. Es ist ein Haus, in dem man so nahe an Lincoln wohnt, wie man kann, ohne Emlyn Springs zu verlassen, sinniert Viney. Welly fuhr gern nach Lincoln - meistens zu den CollegeFootball-Spielen, aber auch ins Kino, Theater, in Restaurants, Theater, Konzerte. Beatrice bietet ebenfalls Unterhaltung, doch Welly schweifte lieber in die Ferne, als wäre Emlyn Springs ein Virus, den es zu fliehen galt. War das immer so gewesen? Viney weiß es nicht. Sie ist sechs Jahre älter als Welly. Das ist ein großer Altersunterschied, wenn man jung ist, deshalb kannten sie sich, obwohl sie im selben Ort aufwuchsen, früher eigentlich nicht. Viney heiratete Waldo mit siebzehn und bekam bald danach ihre Kinder. Das war viele, viele Jahre lang ihr Leben - ein Ehemann und vier Kinder und alles, was damit einhergeht: Windeln und Pseudokrupp, Impfungen und hohes Fieber, erste feste Nahrung, Gewöhnung ans Töpfchen, Wegschließen von Giften (immer wachsam sein!) und abgeschürfte Knie und laufende Nasen und, oh Gott, Windpocken! Kopfläuse! Sie schrien, sie nahm sie auf den Arm, sie maß ihre Temperatur, klopfte ihnen auf den Rücken, strich ihnen über die Stirn, kämmte und bürstete ihr Haar, half ihnen bei den Schularbeiten. Sie sang ihnen vor und kitzelte sie und raufte mit ihnen, vor allem mit Wally, weil Jungen so etwas brauchen. Und sie bereitete Hunderte, vielleicht Tausende von Pausenbroten und Snacks zu, saß bei jedem Wetter auf harten Tribünen, von denen die Farbe abblätterte, und sah sich Softball- und Footballspiele an. Und hob jede Muttertagsund Geburtstagskarte auf, die sie ihr bastelten. Und kaufte ein und kochte und putzte und ging mit ihrem Mann jedes Jahr ins Surf’n’Turf, von ihrem ersten Hochzeitstag bis zum letzten. 227
Wie die Zeit verflog! Ihr Leben hatte jahrelang nichts mit Wellys zu tun, obwohl sie wusste, wer er war: Llwellyn Jones, ältester Jones-Sohn, dieser gescheite, gut aussehende junge Mann aus dem Ort, von dem es allgemein hieß, er hätte Opernsänger werden können, wenn er gewollt hätte, hätte ein Musikstipendium bekommen können. (Wer hatte nicht seine wunderschöne Singstimme in der Kirche und bei jedem gymanfa ganu gehört, das für die Toten abgehalten wurde?) Der stattdessen jedoch Arzt werden wollte, Arzt, und auch einer wurde! Und nicht nur das, er kam zurück! Kam zurück in seine Heimatstadt mit seiner hoch gewachsenen, hübschen Ehefrau namens Hope, die zuerst alle mochten, dann aber bald für ihre Größe und Attraktivität und ihren Eifer verachteten, für ihre leidenschaftliche Liebe zu ihnen allen und ihrem Ort - alle, bis auf Alvina Closs, noch so eine Abtrünnige, auch so verschroben, denn wer geht schon auf die Schwesternschule und überlässt vier Kinder sich selbst? Wer tut so etwas? Lange Zeit hatte Viney so wenig mit Welly zu schaffen, dass sie ebenso gut an entgegengesetzten Enden der Welt hätten aufwachsen können. Doch nachdem Hope und Viney Freundinnen geworden waren, begann ein anderes Leben - ein gemeinsames. Die Tatsache, dass Hope seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr da ist, hat nicht das Mindeste daran geändert. Da ist es. Da ist das Haus des Bürgermeisters. Es ist recht ansehnlich, typisch für die 70er Jahre - Backsteine, terrassiert, geräumig -, aber Viney hat es nie gemocht. Es ist ihr immer sehr steril und wenig einladend erschienen, vielleicht weil es mit Versicherungsgeld errichtet wurde und eine Art Monument für die Tragödie der Familie Jones darstellt. Vielleicht auch, weil Welly nie etwas unternommen hat, um es heimelig zu machen. Draußen keine Blumenkästen, kein Windglockenspiel, keine Fahne, drinnen weiße, schmucklose Wände, einfarbige moderne Möbel. Natürlich war Hope die künstlerisch Begabte gewesen, was Einrichtung betraf. All die Arbeit, die sie in die Renovierung 228
des Farmhauses gesteckt hatte, all die Liebe und Sorgfalt, mit der sie es mit Antiquitäten ausgestattet und etwas Einmaliges, Wunderschönes geschaffen hatte … Alles weg. Das halbe Jahr über, in dem das Haus gebaut wurde, wohnten Welly und die Kinder im King’s Castle Motel. In diesen Monaten war es schwierig für Viney und Welly, Zeit allein miteinander zu verbringen, meistens mussten sie sich auf Quickies beschränken: nach der Arbeit - wenn Vineys Kinder bei ihr zu Hause auf Wellys Sprösslinge aufpassten - und in der Mittagspause, wenn die Kinder in der Schule waren. Viney ist plötzlich wütend auf dieses Haus und das, was es repräsentiert. Sie hätten das Geld von der Versicherung nehmen und eine Reise machen können. Warum haben sie das nicht getan? Warum sind Welly und die Kinder nicht einfach zu ihr gezogen, ohne sich darum zu kümmern, was für einen Eindruck das machen würde? Jedes wichtige Fest, jeder Geburtstag wurde ohnehin bei Viney gefeiert. Sie schließt die Haustür auf. Es riecht muffig. Sie geht durch die abgedunkelten Räume, knipst Lampen an, öffnet Fenster. Am Fuß der Treppe bemerkt sie eine einzelne Socke und runzelt die Stirn. Es sieht Welly gar nicht ähnlich, Socken herumliegen zu lassen. Sie schaut auf und sieht, dass die Stufen übersät sind mit ihnen, Socken in allen Farben, keine davon zu einer anderen passend. Sämtliche verlorenen Socken der Welt haben sich auf dieser Treppe versammelt wie eine Fährte aus Brotkrümeln, aber wohin führt sie? In das Schlafzimmer, das sie nie mit Welly geteilt hat? In sein Arbeitszimmer? Sie ist nicht bereit, nach oben zu gehen, noch nicht. Sie betritt die Küche. Viney durchsucht den Kühlschrank, um verdorbenes Essen in den Mülleimer zu werfen. Es ist nicht viel darin. Sie wendet sich der Gefriertruhe zu. Sie ist voller Fleisch. Rotes Fleisch. 229
Alle möglichen Sorten Fleisch. Beefsteaks, Leber, Hamburger, Schmorbraten, Würste, sogar Wild. Sie öffnet die Schränke. Sie sind vollgestopft mit Junkfood in Großpackungen: endlos Tüten mit Bonbons und Keksen und Chips, fette und zuckerhaltige Produkte, genug, um mehrere Läden zu bestücken. Sie ist stinkwütend. Jetzt reicht es ihr wirklich. Sie greift sich einen Beutel Schokolinsen, Erdnussflips und eine Dose Limonade und stürmt die Treppe hinauf. Die Socken lässt sie liegen. Vor der geschlossenen Tür zum Arbeitszimmer des Bürgermeisters bleibt sie stehen. Zum Teufel, da drinnen könnte eine Herde Rinder sein oder ein Satz Schusswaffen oder das Handwerkszeug eines Tierpräparators. Sie weiß nicht, was sie erwartet, und stößt die Tür auf. Nichts. Bloß ein Schreibtisch mit einer ledernen Unterlage, ein Sessel, Bücherregale, ein paar Aktenschränke und auf dem Boden weitere Socken. Sie geht durch den Raum zu den Aktenschränken, jedes Schubfach ist deutlich beschriftet: »Steuern, alt« steht auf einem, »Rechnungen« auf einem anderen, »Gebäudeversicherung«, »Krankenversicherung«, »Medizinische Daten« und so weiter. Als sie eins mit der Aufschrift »Korrespondenz« entdeckt, zieht sie es auf und fängt an, die Mappen durchzublättern. Viel ist hier nicht zu finden, überwiegend Geschäftskorrespondenz zwischen Welly und Lieferanten medizinischen Zubehörs und dergleichen. Wenn es je Liebesbriefe von Hope gab, sind sie mit ihr in die Luft geflogen, und Viney und Welly waren nie ein Paar, das seine gegenseitige Zuneigung auf Papier äußerte. Doch da ist etwas: eine dicke Mappe mit der Aufschrift »Schwesterstadt, ab 1980«. Viney weiß aus eigener Erfahrung, wie hervorragend der Bürgermeister seine Akten führte (er bestand darauf, Kopien von allen Briefen anzufertigen, die er schrieb), und war überaus peni230
bel, was die Ordnung seiner Unterlagen betraf. Der älteste Brief befindet sich mit Sicherheit ganz hinten in der Mappe. Viney trägt sie zum Schreibtisch, lässt sich auf dem Sessel des Bürgermeisters nieder, streift ihre Schuhe ab und macht die Tüten mit den Schokolinsen und den Erdnussflips und die Limonadendose auf. Sie zieht den Durchschlag eines Briefes heraus und fängt an zu lesen: Werte Herren, steht da, bitte verzeihen Sie mir, falls dies nicht die korrekte Anrede ist. Ich habe noch nie mit einer klösterlichen Gemeinschaft korrespondiert. Ich schreibe, um einen Dialog mit Ihnen, den Gründern unserer Schwesterstadt, zu initiieren. Mir ist klar, dass Sie dies vielleicht überrascht - Emlyn Springs hat seit kurz nach Kriegsende nicht mehr versucht, Kontakt mit seiner Schwesterstadt aufzunehmen. Ich hoffe jedoch, diesen Mangel zu beheben - zum einen, weil ich als neu gewähltes Mitglied des Stadtrats die Verpflichtung verspüre, alles zu tun, was ich kann, um unseren kleinen Ort am Leben zu erhalten, zum anderen aber auch, um eine Idee zu verfolgen, die meiner Frau (sie starb 1978) sehr am Herzen lag. Es war immer ihr inniger Wunsch, dass Emlyn Springs eines Tages nicht mehr als »klein und sterbend« beschrieben werden möge, und aus diesem Grund würde ich gern einen Dialog mit Ihnen beginnen … Viney liest in chronologischer Reihenfolge weiter, Brief für Brief. In den ersten beiden Jahren kommunizieren Welly und sein Briefpartner - ein Mönch namens Bruder Henry - in formellem, nüchternem Ton. Vineys Interesse schwindet. Die Sprache von Verwaltungen und Ämtern hat - ähnlich wie die des Footballs schon immer eine zuverlässig einschläfernde Wirkung auf Viney gehabt, und sie merkt mehrmals, wie sie fast eindöst. Sie sollte wirklich gehen. Allmählich jedoch bemerkt sie, wie Welly eine neue Sprache einführt, eine, die Wörter wie Familie, Kinder, Frau, Krankheit enthält. 231
Noch ein Jahr verstreicht: Schuld, Strafe, Reue, Scham. Jetzt prescht Viney vor, liest nur noch Wellys Briefe und überspringt die Antworten. Sie spürt, wie in ihrer Brust schwere Türen zuschlagen, als könnte sie in diesem Gewölbe die Geheimnisse bewahren, die Welly ohne ihre Erlaubnis auf die Seiten ergießt. Zu spät, zu spät. Ihre Hände zittern. Geschichten werden erzählt, Namen genannt. Meine Ehefrau Hope … meine Geliebte Alvina … Viney liest den ganzen Inhalt der Mappe, ohne auf die Uhr zu schauen. Bis sie zu Wellys letztem Brief gelangt ist - in dem ihr die verkrampfte, nach rechts geneigte Schrift auffällt, der verbitterte Ton Nichts hat sich verändert … dieselbe alte Geschichte … keine Visionen … -, ist es beinahe vier Uhr morgens. Die Milchfarmer sind wach. … fast fünfundzwanzig Jahre … und trotzdem kann ich nicht … immer noch fühle ich … Sie regen sich, ihre Mitbürger, werfen das Leben ab, das sie im Schlaf geführt haben mögen - ein Leben voll fröhlicher, unwahrscheinlicher Abenteuer oder alles überschwemmender lautloser Schrecken -, und nehmen in die Hand, was real, was notwendig ist: Bettzeug, Kaffeetassen, Knöpfe, Kämme. War da nichts von ihr in dem, was er wurde? Blieb es für ihn immer Ehefrau und Geliebte, die ganze Zeit, bis zum Ende? Viney spürt stärker denn je, dass sie nicht hierhergehört, zieht ihre Tennisschuhe an, schnürt sie fest zu und marschiert nach Hause. Noch sind die Sterne zu sehen. Eigentlich sinnlos, jetzt ins Bett zu gehen, denkt sie, ich könnte sowieso nicht schlafen. Als sie wieder in ihrer eigenen Küche steht, fängt die Sonne an, über den Horizont zu steigen. Larken wird bald abfahren. Vi-
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ney holt ein paar Tofu-Würstchen aus dem Gefrierfach und eine Schachtel Pfannkuchen-Backmischung aus der Speisekammer. Ein neuer Tag ist angebrochen. Sie braucht ein neues Wort. Wahllos schlägt sie das Wörterbuch auf, legt ihren Finger auf die Seite und findet: »holochroal: h. Augen bestehen aus einer Ansammlung dicht gepackter konvexer Linsen, die von einer einzigen Hornhautschicht überlagert werden - inbesondere bei Trilobiten zu finden«. Was ist ein Trilobit?, fragt sie sich, gefolgt von: Wie zum Teufel soll ich das je verwenden? Hopes Tagebuch, 1962 Schwierige Pfannkuchen Ich bin in letzter Zeit ganz besessen von Pfannkuchen. Wer würde annehmen, dass etwas so Simples so schwer zu fabrizieren ist? L. ist beunruhigt über meine neueste Zwanghaftigkeit, aber wenn die Welt von Häuslichkeit und anderen Angelegenheiten bestimmt ist, die junge Ehefrauen beschäftigen, nimmt das Backen perfekter Pfannkuchen große Bedeutung an. Alle Aktivitäten des täglichen Lebens - und die gelungenen oder missglückten Versuche, dem Titel »gute Hausfrau« gerecht zu werden - werden zu Metaphern. Nichts ist, was es ist; es ist immer noch etwas anderes, hat die Macht zu belehren, Einsichten zu verschaffen, zu verurteilen. Buddhisten kennen sich vermutlich damit aus. Häftlinge ebenso. Je eingeschränkter das Blickfeld, desto mehr ist man genötigt, das mit Bedeutung aufzuladen, was verfügbar ist. So stellen wir uns der Herausforderung. Wir erhöhen das Banale. Wir sprechen das Gewöhnliche heilig. Aber zurück zu den Pfannkuchen. Es ist viel schwieriger, einen perfekten Pfannkuchen zu produzieren, als man sich vorstellen kann. Den Schnellgerichtköchen überall in Amerika wird bei weitem nicht die Anerkennung zuteil, die sie verdienen. Ich erinnere 233
mich nicht daran, dass Mom je Pfannkuchen für mich machte. Üppig gefrühstückt wurde in unserer Familie nicht. Getreideflocken mit Bananen und Milch, großzügig mit Zucker bestreut. Ein-, zweimal versuchte Mom sich an einem Ei. Ich hatte immer das Gefühl, Dad hätte uns etwas Exotisches zaubern können wieso ist eigentlich das, was Väter kochen, stets etwas Besonderes? -, aber er tat es nicht, oder ich habe es vergessen. Wenn es etwas Spezielles zum Frühstück gab, dann außer Haus und nach der Kirche (als stünde uns nach der Teilnahme am Gottesdienst eine Belohnung zu). So aßen wir unsere Pfannkuchen in Essie’s House of Pancakes in Germantown, wo es einen Drehtisch voller Sirupsorten in den unwahrscheinlichsten Farben gab. Ich hätte immer gern den limonengrünen probiert - ob der wohl aus Limonen gemacht war? -, erhielt dazu aber nie die Gelegenheit. Über meine Mahlzeit wurde stets schlichter karamelbrauner Sirup gegossen. Dazu kamen köstliche Iglus aus schaumiger Butter, die sofort schmolz und dabei eine Art Eisbahn schuf, auf der die Butterflöckchen über den Pfannkuchen gleiten konnten. Und die Pfannkuchen waren riesig! Gigantisch! Wie um alles in der Welt wurden sie gewendet? Vielleicht sind größere Pfannenheber des Rätsels Lösung. Ich habe L. schon mehrmals auf die Suche nach der perfekten Pfannkuchenpfanne geschickt und bereits eine Sammlung angelegt. Also. Abgesehen von den Kochgeräten steht am Anfang eines gelungenen Pfannkuchens der vollkommene Teig. Seine Textur ist entscheidend - dünn, ein bisschen dünnflüssiger als Kuchenteig, aber nicht viel. Zu dünn, und es werden Crêpes daraus. Zu dickflüssig, und das Ding wird innen nicht gar, sondern bleibt schleimig-feucht. Roher Pfannkuchenteig hat weder den Reiz noch den guten Geschmack von rohem Kuchen- oder Plätzchenteig. Niemand will die Löffel ablecken oder die Schüssel auskratzen. Dann stellt sich die Frage nach dem Öl: Wenn man dem Teig Öl hinzufügt, erhitzt er sich schneller, sodass die Gefahr des Anbrennens besteht, und auch damit habe ich reichlich Erfahrung. 234
Die Temperatur der Bratpfanne ist ebenfalls sehr wichtig. Nicht heiß genug: Der Pfannkuchen wird nicht gar. Zu heiß: Rauch, Feuerlöscher, Notfallhilfe können die Folge sein! Alles sehr aufregend, aber wenn das Vergnügen vorbei ist, hat man immer noch Hunger auf Pfannkuchen. Ich habe mir angewöhnt, den ersten abzuschreiben. Nach meiner Erfahrung ist es absolut unmöglich, beim ersten Mal einen perfekten Pfannkuchen zu fabrizieren. Oder auch beim zweiten, dritten, vierten Mal … Ich werde es wohl weiter versuchen. Was bleibt mir übrig? Diesmal waren es zwei. Zwillinge. Als ob es nicht schon eine Höllenqual wäre, eins zu verlieren. Als ob ich Variationen des Themas Fehlgeburt bräuchte.
11 Wenn die Krähe fliegt Raus aus den Federn, Prinzessin!, sagt Daddy. Wohin fahren wir?, fragt Larken, denn seine Stimme hat diesen speziellen Klang, der bedeutet, dass sie einen Ausflug machen. Wir fahren nirgendwohin, ehe du fertig bist, Dummerchen!, antwortet er. Guck auf die Uhr! Raus aus den Federn! Und dann ist es Viney, die aus der Küche heraufruft: »Raus aus den Federn! Ich habe Frühstück gemacht!« Larken blinzelt und schielt auf das andere Bett in der Hoffnung, dort ihre Schwester zu sehen. Es ist unberührt. Sie fühlt sich benommen. Den Beweis für ihr gestriges kriminelles Verhalten - ein leerer Eiscremebecher - hat sie ausgespült und platt gedrückt und in einer Plastiktüte in ihren Koffer gesteckt.
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Larken schließt erneut die Augen und versucht, noch einmal die Stimme ihres Vaters an einem Wegfahrmorgen heraufzubeschwören. Aufwachen, Sonnenschein! Wenn sie in einen Sommerurlaub nach Westen fuhren, platzte er in ihr Zimmer, obwohl es noch dunkel war, und brüllte: »Los geht’s, Schätzchen!«, kam an ihr Bett, gab ihr einen Kuss und zauste ihre Haare. »Wenn wir bis um halb elf in Grand Island sind, können wir bei Bosselman’s frühstücken. Komm, ein bisschen Beeilung. Raus aus den Federn!« Hatten sie einen Tagesausflug nach Omaha geplant, um sich einen Film wie Das war der wilde Westen oder My Fair Lady anzusehen, kam er singend herein. »Wach auf, Prinzessin! Zieh dein hübsches neues Kleid an!«, und Larken sprang aus dem Bett und fand das Kleid schon fertig ausgebreitet vor, als wäre es ihr erster Schultag. Omaha ist nicht sehr weit entfernt, und trotzdem kann es Daddy nie früh genug losgehen. Später halten sie irgendwo, um Pfannkuchen mit Speck und Eiern zu essen, und im Kino bekommen sie Programme und Popcorn und Süßigkeiten und Limonade, und der Film ist so lang, dass er eine Pause hat, in der sie mehr Popcorn und Souvenirs kaufen, und wenn der Film aus ist, gehen sie etwas Besonderes essen, und Daddy sagt: »Wollt ihr noch was? Jetzt bestellen wir alle Nachtisch! Kommt, lasst uns reinhauen! Heute ist ein spezieller Tag, da wird keine Diät gehalten!« Und dann fängt Mommy an, auf ihre Uhr zu schauen und zu sagen: »Wir sollten bald losfahren, Llwellyn, bevor es dunkel wird, damit sie nicht so spät ins Bett kommen.« Und irgendwann fahren sie, nach Einbruch der Dunkelheit, weil Mommy es nie schafft, Daddy zum rechtzeitigen Aufbruch zu bewegen. Und wenn sie zu Hause sind, wird Larken so tun, als schliefe sie, denn dann trägt Daddy sie hinein und packt sie ins Bett, und das ist das süßeste, beste, behaglichste Gefühl auf der Welt. Auf dem Arm ihres Vaters sehen die Dinge anders aus als 236
sonst; sie haben etwas Unscharfes, sodass es Larken vorkommt, als wäre sie selbst in einem altmodischen Film. Es ist, als wäre alles schon passiert und sie schaute es sich jetzt noch einmal von vorne an. Früher gab es viele Ausfahrten, in der Zeit, die für Larken inzwischen die Ära der Unschuld ist: bevor sie von Hopes Krankheit wussten, als sie einfach noch ihre tolpatschige, komische Mutter war, die ständig etwas fallen ließ, dauernd über ihre eigenen Füße stolperte und an diesen Raus-aus-den-Federn-Tagen immer so verschlafen war. »Mommy ist nun mal kein Morgenmensch«, pflegte Hope zu sagen. »Ich bin nicht wie Daddy. Morgens bin ich langsam wie eine Schnecke.« Larken ist noch nicht bereit aufzustehen. Also döst sie wieder ein in der Hoffnung, eine fröhliche Wegfahrerinnerung einzufangen. Stattdessen wird sie von einer Rückfahrt heimgesucht. Es herrscht Zwielicht. Sie kommen zurück von einem Tag in Omaha, wo sie im Indian Hills Cinerama Theatre mit seiner riesigen PanoramaleinwandWestwärts zieht der Wind gesehen haben. Larken ist sieben Jahre alt und ausstaffiert mit einer Kombination, die sie heute zum ersten Mal trägt: ein lila karierter Taftrock, eine eng sitzende lila Weste aus Rippensamt mit stoffbezogenen Knöpfen, eine weiße, seidige Bluse mit einer großen weichen Schleife (sie hat sie so zurechtgerückt, dass sie einen pfenniggroßen Soßenfleck verdeckt, den sie sich in dem schicken Restaurant geholt hat), weiße Strumpfhosen und schwarze Lackschuhe. Daddy sieht sie gern in Lila - so eine seltene Farbe für Kinderkleidung, sie fühlt sich sehr erwachsen - und hat ihr diese Kombination bei Hovland-Swanson gekauft, dem elegantesten Geschäft in Lincoln. Larken war auch schon mit ihm dort und hat gesehen, wie beflissen die Verkäuferinnen sind, während Daddy vor der Umkleidekabine wie ein König auf einem riesigen runden Polster thront und sie Kleider anprobiert und ihm dann vorführt. Diese Kombination dagegen hat Daddy besorgt, als er an einem 237
Football-Samstag ohne sie in Lincoln war. Sie war ihr nur ein bisschen zu klein, als sie heute Morgen losfuhren - und fühlte sich schön und frisch und kühl auf ihrer Haut an -, doch sie haben den ganzen Tag über gegessen. Deshalb ist sie jetzt wirklich zu eng; die Bluse klebt an ihr, und Larken hat Bauchweh. Da sie auf dem Heimweg sind und es bald dunkel wird, ist es wohl in Ordnung, wenn sie ihren Rock aufhakt und die untersten Knöpfe der Weste aufmacht. Vielleicht kann sie sogar die Bluse aus dem Rock ziehen. Ganz bestimmt, sie sitzt hinter Daddy, sodass ihm sicher nichts auffallen wird. Außerdem sind sie jetzt unter sich und nicht in Gegenwart von Fremden, für die sie schick aussehen müssen. Es ist nicht einfach, die Ösen von den Haken zu befreien. Sie muss ihren Bauch dazu noch mehr einziehen, aber endlich ist es geschafft - was für eine Erleichterung! Ihr Magen tut allerdings immer noch weh. Clint Eastwood hat in dem Film mitgespielt und eine wunderschöne Blondine namens Jean Seberg, die, wie Daddy ihr verrät, aus Iowa stammt, was Larken sehr aufregend findet, denn aus Iowa zu kommen ist fast dasselbe, wie in Nebraska geboren zu sein. Ehe der Film anfängt, erklärt Daddy, dass Jean Seberg in Wirklichkeit gar nicht singt. Das hat jemand anders für sie übernommen. »Du kannst es daran erkennen«, flüstert er, »dass ihre Kehle sich nicht bewegt.« Die nächsten drei Stunden verbringt Larken damit, ganz genau auf Jean Sebergs Kehle zu schauen, wenn sie singt. Sie versteht nicht, wie es aussehen kann, als sänge Jean Seberg, wenn sie es gar nicht tut. Und wenn Jean Seberg nicht singt, wer dann? Wo versteckt sich die echte Sängerin? »Siehst du?« Daddy beugt sich bei jedem Lied zu ihr. »Du erkennst es doch, oder?«, und Larken nickt, dabei erkennt sie es eigentlich nicht. Für sie sieht es aus, als sänge Jean Seberg jeden einzelnen Ton.
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Larken und ihr Vater sind die Einzigen in der Familie, die den gesamten Film sehen. Bonnie quengelt, wenn es laut wird, und Gaelan erschreckt sich bei Nahaufnahmen von Gesichtern, sodass Mommy den größten Teil des Nachmittags mit den beiden im Foyer verbringt. Hope hat Larken erzählt, dass Bonnie kein so pflegeleichtes Baby ist, wie es Gaelan war, aber immer noch ziemlich pflegeleicht. »War ich ein pflegeleichtes Baby?«, will Larken wissen. Hope lächelt. »Du warst mein erstes Baby«, sagt sie, als ob das alles erklärte. Jetzt sind sie auf der Heimfahrt. Gaelan ist mit dem Kopf an Larkens Schulter eingeschlafen, Bonnie schläft vorn in Hopes Armen. Larken hat einen guten Blick auf Mommys Profil; selbst im schwindenden Licht bemerkt sie, dass das Kirschrot ihrer Mutter blasser ist als sonst. Larken hat die Kunst des Mäuschenspielens perfektioniert. Ihre Eltern sprechen anders, wenn sie glauben, nicht belauscht zu werden, und Larken gefällt das vertrauliche Murmeln ihrer erwachsenen Stimmen, deshalb schließt sie, als Daddy fragt: »Schlafen sie?«, rasch die Augen und lässt ihr Gesicht erschlaffen. »Ja«, sagt Hope und seufzt, »sie schlafen.« Schweigend fahren sie weiter. Larken blinzelt zu den Sternen hinauf und schwelgt in dem exotischen Gefühl, so spät abends noch wach zu sein. Und dann fängt Bonnie plötzlich an zu schreien - es ist kein quengeliges Baby, das da schreit, sondern ein verletztes, als hätte sie ihre Hand auf die Herdplatte gelegt. Es ist ein grässliches Geräusch. »Was ist?«, fragt Hope mit verängstigter Stimme. »Was ist passiert?«, und Daddy lenkt den Wagen an den Straßenrand, gefährlich nahe an den Graben, und sagt: »Allmächtiger, Hope! Hast du sie fallen lassen?« »Oh mein Gott«, sagt Mommy. Sie klingt verschlafen oder traurig. »Meine Hände. Ich kann nicht.« 239
Und Daddy sagt: »Gib sie mir«, und Mommy sagt: »Nein, alles in Ordnung, ich hab sie. Tut mir wirklich leid, ich wollte das nicht, meine Hände …« Daddy zieht heftig an der Handbremse. Bonnie wimmert. Gaelan schläft weiter, ihn stört nichts in seinem Schlaf. Daddy kommt an Mommys Seite, macht die Tür auf, nimmt ihr Bonnie ab und fragt: »Larken, bist du wach?« Er tritt neben Larken und öffnet die hintere Tür. Warum schließt er die Autotüren nicht?, fragt sich Larken. Drei von ihnen stehen offen, und das erscheint ihr gefährlich. »Behalt deine Schwester auf dem Schoß, bis wir zu Hause sind«, befiehlt er und legt Bonnie in Larkens Arme. »Hast du sie?« »Ja, ich hab sie.« Daddy umringt erneut den Wagen und knallt dabei nacheinander alle Türen zu (RUMMS! RUMMS! RUMMS!), dann steigt er wieder ein. Bonnie beruhigt sich fast sofort in Larkens Armen. Ich kann gut mit Babys, merkt Larken plötzlich. Sie hat diese Wendung schon einmal gehört und stellt erstaunt und ein wenig stolz fest, dass sie auf sie zutrifft. Ich sehe gut aus in Lila, ich habe kleine Füße, und ich kann gut mit Babys. Gaelan regt sich und schläft wieder ein. Und ich kann wach bleiben, weil ich die Älteste bin. Hope weint auf dem Heimweg. Sie versucht, es zu verbergen, aber Larken erkennt es an ihrem Schniefen. Als sie zu der verdeckten Einfahrt kommen, drückt Daddy wie immer auf die Hupe, doch nur kurz, als drohe die wahre Gefahr woanders. Und als sie daheim angelangt sind, trägt er niemanden ins Bett. Er wartet nicht einmal auf sie. Er steigt einfach aus dem Wagen, knallt die Autotür zu und verschwindet im Haus. Larken und Hope und Gaelan und Bonnie bleiben allein zurück. Gaelan und Bonnie schlafen immer noch. »Ich habe etwas Furchtbares getan«, sagt Hope leise. »Etwas Furchtbares, sehr Egoistisches.«
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Larken spricht nicht, und so sitzen sie eine Weile schweigend da. Sie glaubt schon, dass Mommy sie vergessen hat, doch irgendwann dreht Hope sich um und schaut sie an. Dann wechselt sie vom Beifahrersitz zu ihnen auf die Rückbank. »Ich nehme sie jetzt, Schätzchen«, sagt sie, greift behutsam nach Bonnie und nimmt sie Larken aus den Armen. »Gaelan«, sagt sie, und Gaelan regt sich. »Wach auf, Lämmchen. Wir sind zu Hause. Du musst ins Bett. Du auch, Larken. Ich bleibe noch ein bisschen hier sitzen, aber dann komme ich rein und decke euch zu.« Als Larken die Tür schließt, wirft sie noch einen Blick auf die Rückbank und sieht, dass Mommy auf Bonnie hinabschaut und weint. Sie bewegt ihre Lippen immer wieder auf dieselbe Weise, aber es ist dunkel im Wagen, und Mommy macht den Mund nicht besonders weit auf. So errät Larken nicht, was sie sagt, doch sie ist sich ziemlich sicher, dass sie kein Gebet spricht. Jahre später fahren Larken und Gaelan allein nach Omaha und sehen sich einen anderen Jean-Seberg-Film an, in dem sie nicht singt. Er ist grauenhaft, einer dieser humorlosen Katastrophenfilme, Airport, die seither unzählige Male parodiert wurden, so schlecht waren sie. Und ein paar Jahre darauf hören sie, dass Jean Seberg Selbstmord begangen hat. Es hatte mit den Black Panthers und dem Tod ihres ungeborenen Babys zu tun, und sie erfahren, dass sie irgendwo in Europa lebte und Französisch sprach - obwohl sie aus Iowa war! - und an diesem fremden Ort so viel Trauriges erlitt, dass sie es nicht ertrug und Tabletten nahm und starb. Das Gleiche galt für eine andere blonde Schauspielerin, Inger Stevens, die ebenfalls aus dem Mittleren Westen kam und in der Fernsehserie The Farmer’s Daughter auftrat. Werden alle hübschen blonden Schauspielerinnen aus dem Mittleren Westen, beginnend mit Jean Seberg, erst berühmt und bringen sich dann um?
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»Larken!« Vineys Stimme zwingt Larken, wach zu werden. »Komm schnell runter! Deine Pfannkuchen werden kalt!« Tschüss und Ich ruf dich an, wenn ich da bin und Mach dich jetzt bloß nicht rar, Schatz, komm bald wieder, und sie ist wieder auf der Straße. Wenn Larken sich im Geiste Nebraska von oben anschaut, sieht sie die Tornado-Allee als eine tatsächlich eingegrenzte Region, die immer präsent ist, allgegenwärtig, nicht identifizierbar für Radartürme, aber vollkommen offensichtlich für ein anderes, noch zu erfindendes Aufspürgerät. Sie stellt sich etwas vor wie das, was in einem der Lieblingsbücher ihrer Kindheit, Die Zeitfalte, über die Erde geistert: einen schwarzen, heimtückischen Pesthauch, der die südöstliche Ecke von Nebraska markiert, und zwar genau in Form einer dieser Fotoecken, mit denen die Leute ihre Aufnahmen in Alben kleben. Die Tornado-Allee ist ein energetischer Fluch, das Bermuda-Dreieck des Maisfresser-Staates, und Emlyn Springs liegt genau mittendrin. Meistens ist Larken froh, den Staub ihrer Heimatstadt abschütteln und in Richtung Norden aufbrechen zu können. Heute jedoch, als Letzte, die angekommen ist, und als Letzte, die abfährt, verströmt sie eine Energie, die weder die ihres Vaters noch die ihrer Mutter ist. Welche Farbe hat sie? Sie ist vage unglücklich darüber, fahren zu müssen, will aber auch nicht bleiben und fährt in Erwartung, Bonnie bei der Arbeit vorzufinden, zur Texaco-Tankstelle, um den Wagen aufzutanken. Doch am Saftstand hängt das »Geschlossen«-Schild. Pete Labenz taucht aus der Werkstatt auf und wischt sich die Hände ab, als Larken eben den Motor ausgestellt hat und aussteigen will. »Hey, Larken«, sagt er. »Ich mach das schon.« »Danke, Pete.« »Auf dem Rückweg nach Lincoln?«, fragt er. »Ja.« »Dyl!«, ruft er in Richtung Werkstatt. Dylan kommt heraus, ölverschmiert. 242
»Hi, Larken!«, grüßt er und wendet sich dann den Fenstern zu. »Volltanken?«, fragt Pete. »Ja, bitte.« In Fleisch und Blut sind die Labenz-Brüder nie so, wie Larken sie in Erinnerung hat. Aber ihr Körper erinnert sich an sie - nicht in sexueller Hinsicht, denn Larken hat sich ihre Sexualpartner immer außerhalb von Emlyn Springs gesucht, sondern mit Scham und Angst, denn wer weiß, ob ihnen klar ist, was für eine Hure sie war, und ob sie nicht damals hinter ihrem Rücken über sie geredet haben? Und vielleicht reden sie immer noch über sie. Sie fühlt sich unbehaglich. Es lässt sich nicht abstreiten: In Emlyn Springs ist sie niemand. Sie ist ebenso wenig die Person, die sie kannten, wie die anderen die Leute sind, die ihr vertraut waren. Menschen ändern sich ständig, aber wenn sie in enger Nachbarschaft leben, findet die Veränderung allmählich statt, und alle sind Teil davon, vielleicht sogar der Grund für die Veränderung. Wenn man dagegen wegzieht und dann wiederkommt, wen stellt man dar? Die Person, die man früher war, die jeder kannte? Oder die Person, die man jetzt ist, nämlich (seien wir ehrlich) eine Fremde? Wenn man versucht, sich als der Mensch zu geben, der man war - besonders, wenn man nicht stolz auf ihn ist -, kommt man sich unaufrichtig vor. Versucht man, der Mensch zu sein, der man ist - besonders, wenn man stolz auf ihn ist -, erscheint es einem ebenso falsch. Sobald Larken sich außerhalb des klar definierten Protokolls desgymanfa befindet, fühlt sie sich nichts als verlogen. Al legt im Büro den Hörer auf und tritt ins Freie. Er hat zugenommen, aber es steht ihm. »Hey, Larken.« »Hey, Allan.« »Wieder zurück nach Lincoln, was?« »Ja, es wird Zeit.« Er beugt sich vor. »Wir behalten Viney und Bonnie im Auge, keine Sorge.«
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»Danke, das ist nett.« Sie beschließt, eine versteckte Frage zu riskieren. »Bonnie hat sich wohl noch einen Tag frei genommen.« »Nein, sie hat heute früh aufgemacht, aber nicht für lange. Du hast sie knapp verpasst. Hey, Leute! Hat Bonnie gesagt, wo sie hinwollte?« »In den Baumarkt vielleicht«, erwidert Pete. »Sie meinte, sie braucht Holz.« »Mir hat sie erzählt, sie will was zu essen einkaufen«, fügt Dylan hinzu. »Ist schon okay«, sagt Larken. »Ich wollte sie nur noch mal sehen, bevor ich fahre.« »Soll ich bei Schlakes anrufen und fragen, ob sie da ist?« »Nein, danke, Al«, entgegnet Larken und fürchtet, schon zu viel verraten zu haben. Sie zahlt und macht sich auf den Weg. Alle drei Labenz-Brüder winken zum Abschied. Sicher ist Bonnie auf dem Fahrrad unterwegs. Wo sollte sie sonst sein? Larken hinterlässt eine Nachricht bei den WilliamsSchwestern, Bonnie möge sie am Nachmittag anrufen. Sie überquert die Bridge Street und schaut nach links, wo eine halbe Meile entfernt immer noch der Baum des Fliegenden Mädchens die Nord- und die Südwand der Schlucht miteinander verbindet. Warum hat noch keiner diesen Baum da herausgeholt? Sie könnte ein Weilchen herumfahren. Dann trifft sie vielleicht auf Bonnie. Aber nein, sie muss nach Lincoln. Übermorgen fängt das Herbstsemester an. Grundgütiger! Sie hat längst nicht genug Zeit gehabt, um sich vorzubereiten, und mit dem Buch ist sie auch im Verzug. Es herrscht jetzt mehr Aktivität, mehr Leben, da die Einwohner von Emlyn Springs - erlöst von ihrer Untätigkeit und ihren Verpflichtungen gegen Larkens toten Vater - wieder auf der Straße sind. Manche haben bereits Besorgungen erledigt und sind auf dem Heimweg. Sie kommt an mehreren Farmern vorbei, die sie 244
kennt, sie nehmen zur Begrüßung ihre Fingerspitzen vom Lenkrad. »Verdeckte Einfahrt«, sagt sie und hupt. Das Geräusch fungiert wie der Auslöser für einen Zaubertrick, denn plötzlich sind überall Vögel. Sie schwingen sich aus den Gräben und aus dem Gestrüpp, das die Klippe überzieht. Sie scheinen von allen Seiten zu kommen und wirken seltsam erregt. Larken streckt den Kopf aus dem Fenster und versucht zu erkennen, wohin sie fliegen. Anscheinend folgen sie ihr. Am Straßenrand hockt eine große, glänzende Krähe auf dem Boden, die von kleineren Vögeln umringt wird, Staren vielleicht, als würde die Krähe eine Bedrohung darstellen - doch in der Nähe sind keine Bäume, keine Nester - oder wäre im Besitz von etwas, das der Schwarm haben will. Aber als Larken vorbeifährt, sieht sie nichts in ihrem Schnabel, und außerdem sind Stare doch keine Raubvögel, oder? Im Weiterfahren bemerkt sie, wie sie sich auf den Stromleitungen sammeln, grelle Schreie ausstoßen, Verletzung vortäuschen. Aber dies ist nicht die Zeit des Eierlegens und Brütens und der fürsorglichen elterlichen Instinkte. Es ist fast Herbst. Wenige Meter vor ihrer Windschutzscheibe sieht sie einen plötzlichen Wirbel, ein wildes Flattern wie von einem ungebundenen Manuskript, das in die Luft geschleudert wird. Es dauert einen Moment, ehe ihr klar wird, dass es ein Vogel ist, ein Habicht oder vielleicht sogar eine Eule, und dann sammelt und verfestigt sich das formlose Chaos und taucht mit speerartiger Präzision auf die rechte Seite des Highways ab, wo es offenbar etwas Kleines, Triviales entdeckt hat, das jetzt sterben muss oder bereits tot ist. Hier kommt die Tafel: Danke, Mom! Ich bin auf der Welt! Die Worte stehen in einer schmalen Sprechblase, die aussieht wie die Zigarre eines unheimlich wirkenden, schlecht gezeichneten Neugeborenen mit Gebiss. Bestimmt hat der Künstler auch die andere
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Seite zu verantworten. Gott hat mich geschaffen,heißt es da, Mom und Dad haben mich adoptiert! Und später, als sie zu Hause ist, versucht sie zu arbeiten, während sie auf Bonnies Anruf wartet. Sie isst die Kekse und Brownies, die Viney ihr für Esmé mitgegeben hat, wodurch sie das Gefühl bekommt, hochschwanger zu sein - der Bauch so gebläht, dass sich ihr Zwerchfell beim Einatmen nicht senken und sie nur in winzigen Mengen Luft holen kann -, und dann ein anderes Gefühl, unbekannt und erschreckend. Ihre Brust ist plötzlich ein Vogelhaus, in dem es lebhaft flattert und zuckt. So ist das also, denkt sie, zu übersättigt von Stärke und Zucker, um echte Angst zu haben. Herzinfarkt. Morgen früh finden sie mich kopfüber auf dem Kapitel über Rogier van der Weyden und die Himmelfahrt Christi. Aber nach einer Weile beruhigen sich die Vögel in ihrer Brust, vielleicht ergriffen von etwas, das größer, ungestümer, räuberischer, mächtiger ist. Oder sie sind einfach müde, zu Tode erschöpft von ihren gescheiterten Fluchtversuchen. Und alles, was sonst noch in dem Käfig lebt, der Larkens Herz enthält, ist wieder still. Hopes Tagebuch, Dezember 1963 Ich sah nur sie Nie wieder werde ich die Existenz von Wundern bezweifeln oder meinen Körper verleumden, wie oft er mich auch enttäuscht haben mag. Alles ist durch die Ankunft dieses kleinen Mädchens wettgemacht, dieser Kriegerin. Angesichts dessen, was wir durchgestanden haben, verdienen wir, glaube ich, beide diesen Titel. Der Gynäkologe ist gerade gegangen. Wichtigtuerischer Arsch. Eine ganze Woche lang hatte er nur Geringschätzung für mein Beharren darauf, dass ja, doch, wirklich, die Schmerzen ziemlich stark waren, mir das Laufen schwerfiel, das Baby bald kommen 246
würde. »Warten Sie, bis der Schmerz nach vorn gewandert ist, meine Liebe«, sagte er immer wieder. »Dann wissen Sie, dass Sie Wehen haben.« Der verdammte Schmerz wanderte nie nach vorn, und dann tauchten neue Schmerzen auf, die nicht sein durften, das wusste ich, und ich fing an zu bluten. Llwellyn übertrat Gott weiß wie viele Verkehrsregeln auf dem Weg nach Beatrice, und in der Notaufnahme hörte ich sie sagen: »Das Kind muss geholt werden, bringt sie sofort in den OP!«, und dann der so genannte »Dämmerschlaf« während des Kaiserschnitts, aber ich war wach genug, um zu realisieren, dass kein Schrei ertönte, gar kein Geräusch, und als man sie - ein verschwommenes Gebilde in Weiß und Dunkelrot, als wäre sie mit Schlagsahne und Himbeersoße beschmiert aus meinem Leib gekommen - eilig in einen anderen Teil des Raums trug, wusste ich, dass etwas schiefgegangen war. L. umklammerte mit bleichem Gesicht und verängstigtem Blick über die sterile Maske hinweg meine Hand, und dann endlich, endlich ein kräftiges, wütendes Heulen, genau das, was man sich von einem Neugeborenen ersehnt. Dann brachten sie sie mir, gewickelt und schreiend und mit Augen, groß und braun wie die ihres Vaters, und einem Gesichtsausdruck, dass man hätte meinen können, sie wäre gekidnappt worden. »SO habe ich mir das NICHT vorgestellt!«, schien sie sagen zu wollen. Mittlerweile war der Arzt wieder aufgetaucht und löste damit eine Art chemische Abwehr bei mir aus. Ich fühlte mich allergisch gegen ihn. Er hantierte irgendwie arztmäßig herum und fing dann an, lästige Fragen über mein Sehvermögen zu stellen. Verlangte immer wieder, ich solle hierhin schauen und dorthin, seinem Finger folgen, mich auf das kleine Lämpchen am Ende seines Stifts konzentrieren, was mir unmöglich war. »Können wir das nicht später tun?«, hätte ich am liebsten gesagt. »Wir sind eine schöne neue Welt für sich, dieses Baby und ich, und ich werde niemandem leichten Zugang zu diesem Planeten gestatten. Unerlaubtes Betreten verboten! Inkompetente, rücksichtslose Gy-
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näkologen, die Stablampen schwingen und banale Fragen stellen, sperren wir aus! Fragen Sie uns etwas Wichtiges!« Aber ich blieb sprachlos. Ich war mir eines schwachen Lichts bewusst, das verschwommene Linien durch den Raum zeichnete, wie eine Wunderkerze, die eine Art magische Schrift erzeugt, einen Moment lang sichtbar, und dann erkennt man, dass das Gesehene eine Illusion ist, dass der Stab weitergewandert ist und ein Schattenlicht hinterlassen hat, ein visuelles Echo, das noch vorhanden ist. Ein Überbleibsel der eben vergangenen Zeit, ein Protokoll des gerade Geschehenen, eine Dunstspur, ein Gespenst. Etwas, das war, aber nicht mehr ist. Irgendwann werde ich meiner Tochter von den Babys erzählen, die vor ihr kamen, von ihren älteren Geschwistern. Doch vielleicht weiß sie schon Bescheid. Dass sie nach so langer Zeit endlich hier ist! Natürlich ist mein Sehvermögen nicht normal, Doktor. Ich sehe nur sie.
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TEIL II Die Mutterpflanze Ich bin Geschichte Erinnerung, die sich selbst erfindet Ich bin niemals allein Ich spreche immer mit dir Du sprichst immer mit mir Ich bewege mich im Dunkeln Ich pflanze Zeichen OCTAVIO PAZ Hopes Tagebuch, 1964 Ave Maria im Supermarkt Larken schläft, Gott sei Dank. Ich sollte auch ein Nickerchen machen, aber ich muss über heute Morgen schreiben. Bin nach Beatrice gefahren, weil ich in den IGA-Supermarkt wollte, um für die Dinnerparty am Samstag ein paar Sachen zu besorgen, die die Moores hier im Ort nicht führen. Was habe ich mir dabei gedacht? Die reine Blödheit. Larken hat Abweichungen von unserem normalen Tagesablauf gar nicht gern. Das weiß ich. Ich weiß es gut, deshalb ist es meine eigene Schuld. Nach unserem Spaziergang schlief sie im Kinderwagen nicht ein - vielleicht zahnt sie, das meinte Alvina Closs jedenfalls neulich im Postamt, und eine Frau mit vier Kindern weiß vermutlich, wovon sie redet. (Wieder ein Grund, mich unfähig zu fühlen: Alvina Closs ist als junge Witwe mit vier Kindern auf die Schwesternschule gegangen und steht kurz vorm Abschluss. Wie um alles in der Welt schafft sie das?) Jedenfalls dachte ich, wenn ich Larken ins Auto setze und nach Beatrice fahre, würde sie ein249
schlafen und ich könnte ein paar Einkäufe erledigen, während sie schläft. Aber sie schlief immer noch nicht ein, und weil an der verdeckten Einfahrt wieder Straßenarbeiten stattfanden und nur eine Spur offen war, lief der Verkehr zäh, und wir bogen erst um halb zwölf, kurz vor Mittag, auf den Parkplatz ein. Trotzdem wirkte sie ganz munter. Großes Interesse an den Wolken heute - starker Wind und viel Gewirbel am Himmel. Vielleicht hat sie die Kurve gekriegt, dachte ich. Vielleicht wird sie anpassungsfähiger. Den ganzen Weg über starrte sie aus dem Autofenster und sabberte glücklich, bis ihr Kinn glänzte und ihr Strampelanzug vorn ganz durchnässt war. Total wach, mit strahlenden Augen und quietschvergnügt. Kein Anzeichen für das, was kommen würde. Ich wechselte ihr auf dem Parkplatz rasch die Windel, und sie wurde schon ein bisschen quengelig, aber nur ein bisschen. Also zottelten wir in den Laden. Es war, als hätte jede Mutter in Gage County dieselbe Idee gehabt, so verrückt nach Bewegung waren wir alle am Ende des Winters, nachdem wir mit unseren Babys und Kleinkindern so lange allein gewesen waren und nun nach einem Vorwand suchten, aus dem Haus zu kommen, und was war ein besseres Ziel als der Supermarkt? Der Frühling stand vor der Tür, und wir verzehrten uns nach sozialen Kontakten, auch wenn sie der Not entsprangen. Der ganze Schwung Neugeborener war da. Und ich schwöre, jedes einzelne von ihnen schlief, bis auf Larken. Ich hatte eine Liste gemacht - das wusste ich genau -, doch als wir im Laden waren, konnte ich sie nirgendwo finden. Ich hasse es, wenn mir das passiert. Und es passiert oft. Ich glaube, der Wind hat etwas gegen mich, so wie er immer nach Dingen greift, die man sicher verstaut zu haben meint, zum Beispiel Einkaufslisten in den Seitentaschen von Autotüren. Irgendwie langt der Wind herein und schnappt sie sich. Also ging ich ohne Liste einkaufen. Das ganze Unternehmen war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, und ich hätte gleich kehrtmachen sollen. 250
In der Obst- und Gemüseabteilung war eine wunderschön frisierte Blondine mit einem ebenso blonden und wunderschön frisierten kleinen Mädchen, drei Jahre alt vielleicht. Beide trugen dieselben getupften Kleider. Sie sahen aus, als gehörten sie in ein Modemagazin. Wo war der Fotograf? Warum saßen meine Haare nicht besser, war meine Garderobe nicht schicker? Warum schaffte ich es nicht, Mutter und trotzdem gepflegt zu sein? Ich fühlte mich entschieden unelegant und wünschte, Larken würde nicht so sabbern und trüge etwas anderes als einen Strampelanzug, eins von diesen höchst unpraktischen, aber allerliebsten Kleinmädchenkleidern, die Lillian ihr immer schenkt: rosa und gerüscht und mit unmöglich winzigen Knöpfen in Form von Blüten oder Entchen, die meine Hände nicht bezwingen, auch wenn wir nicht in Eile sind. Die Frau gab ihrer Tochter eine Netzmelone in die Hand und begann, ihr verschiedene Methoden des Drückens und Prüfens zu erklären und zu demonstrieren. Das Kind ahmte sie mit perfektem, ruhigem Gehorsam nach, als wären sie im Katechismusunterricht. Die Mutter schaute kurz auf, sah, wie ich sie anstarrte, und lächelte selig. Ihre Zähne waren vollkommen. In ihrem Einkaufswagen lag auch noch ein Säugling, ein kleiner Junge, nach der blauen Decke zu schließen. Natürlich schlief er, die Hände unter dem Kinn zu Fäustchen geballt wie ein Boxer beim Training. Larken und ich sehen ganz unterschiedlich aus - sie hat L.’s Farben und seinen Knochenbau und ein Gesicht, das niemandem außer ihr selbst gehört. Keiner würde uns für Mutter und Tochter halten. Ich glaube, nicht einmal in identischer Kleidung würden wir uns ähneln. In der Konservenabteilung schimpfte eine andere Mutter mit ihrem Sohn. Das konnte ich noch verstehen - ich glaube, wie es ist, am Ende seiner Geduld zu sein, weiß man erst, wenn man Kinder hat -, doch dass sie ihn dabei so traktierte, machte mich wütend. 251
Bei der Tiefkühlkost versuchte eine weitere Mutter mit einem schreienden Baby auf dem Arm, ein paar Fertiggerichte aus dem Regal zu holen. Das muss Larken inspiriert haben - oder es hat sie daran erinnert, dass sie eigentlich müde war -, denn sie fiel in das Geheul ein. Das war’s dann. Schnell waren im ganzen Laden alle Blicke auf uns gerichtet. Meine Tochter kann jedes Baby der Christenheit niederbrüllen, darauf wette ich alles, was ich habe. Wenn sie sich richtig hineinsteigert, ist ihr Gekreisch wirklich grauenhaft, so voller Zorn und Frustration, dass man meinen könnte, sie würde gefoltert. Ich ließ den Einkaufswagen stehen und flüchtete, bevor jemand das Jugendamt anrief. Auf der Heimfahrt (L. schlief natürlich prompt ein) wurde mir klar, dass ich jede Frau mit Kind als Konkurrenz angesehen hatte. Es gibt da diesen plötzlichen Zwang - nicht nur eine »gute« Mutter, sondern die »beste« Mutter zu sein. Bei Männern ist das nicht so, oder? Dass sie sich mit anderen Vätern vergleichen, wie Frauen es mit anderen Müttern tun? Ich glaube es jedenfalls nicht. Keiner erwartet von Vätern, dass sie perfekt sind. Väter werden nicht bombardiert mit Bildern, auf denen sie gelassen und heiter ein Neugeborenes wiegen oder makellos modisch gekleidet mit ihren ebenso propperen Sprösslingen spielen. Wie viele Darstellungen der Jungfrau Maria gibt es wohl?, frage ich mich. Warum ist Gott nicht als Frau in die Welt gekommen, eine, die Kinder gebärt? Der Spruch »Gott konnte nicht überall sein, deshalb hat er Mütter erfunden« ist nur witzig, solange man seine Implikationen nicht näher untersucht. Wäre Gott weiblich gewesen und eine Mutter, hätte er wirklich etwas über die Menschheit und die Komplexität von Liebe begriffen. Wenn ich mit Larken die Geduld verliere, fühle ich mich wie die unfähigste Mutter der Welt, aber hat denn sonst keiner ein Kind, das stundenlang unaufhörlich schreit und dann aus schierer Erschöpfung irgendwann fest einschläft, doch erst um fünf Uhr 252
nachmittags, was bedeutet, dass es mitten in der Nacht wieder aufwacht und etwas braucht, etwas will, wer weiß das schon, denn das verdammte Ding wurde ohne Handbuch geliefert? Ich sollte wirklich ein Nickerchen machen. Nein. SCHEISSE. Da ist Larken. Wach. Hilf mir! Also, das war übel. Es ist ein paar Tage her, seit ich etwas geschrieben habe. Ich hatte mir geschworen, erst zu diesen Seiten zurückzukehren, wenn ich zu etwas anderem als weinerlichem Gestammel in der Lage wäre. Ich warte auf Llwellyn - einer seiner Patienten hat angerufen (warum ereignen sich medizinische Notfälle immer beim Mittagessen und dauern bis zum Abend?), und er ist aus dem Haus gerannt; kein Wort darüber, was los ist oder wo der Notfall sich ereignet hat. L. nimmt das Thema ärztliche Schweigepflicht sehr ernst. Ein Mann mit Berufsethos, mein L. Bei der ständigen Geheimnistuerei und dem nächtlichen Kommen und Gehen fühle ich mich allmählich wie die betrogene Gattin in einem Melodram. Manche Ehemänner haben Geliebte, meiner hat eine Arztpraxis. Ich fange an, mir darüber Sorgen zu machen, wie hart L. arbeitet. Seine Patienten leben bis zu hundert Meilen entfernt, und L. ist insofern außergewöhnlich, als er sie bereitwillig aufsucht, statt zu verlangen, dass sie zu ihm kommen: ein echter Landarzt, der Letzte einer aussterbenden, obwohl dringend benötigten Rasse. Der Erfolg seiner Praxis ist erfreulich, aber ich merke, dass L. sehr müde ist. Jedenfalls bin ich nicht sicher, wann er zurückkommt. Er sagte, er würde anrufen, doch wir haben noch nichts von ihm gehört. Ich habe ihm sein Essen in den Ofen gestellt in der Hoffnung, 253
dass er bald wieder hier ist und noch ein bisschen Zeit mit Larken verbringen kann, ehe sie zu Bett geht. Im Moment ist sie damit beschäftigt, den Inhalt der untersten Küchenschublade neu zu sortieren; wie lange ich noch schreiben kann, hängt davon ab, wie unterhaltsam sie das findet. (Mehr Tupperware kaufen!) Also, es geht mir besser, zumindest fürs Erste. Habe wieder Alvina Closs getroffen, in Olsons Drugstore diesmal, beide, weil wir etwas für unsere Erstgeborenen zu besorgen hatten: ich ein Zahnungsmittel für meine vier Monate alte Tochter, sie eine Aknesalbe für ihren halbwüchsigen Sohn. Alvina (sie bat mich, sie Viney zu nennen) ist eine der wenigen Frauen im Ort, die mich nicht ansehen wie eine Fremde - obwohl L. und ich jetzt schon seit zwei Jahren hier sind. Wir hielten einen Plausch über Koliken bei Babys und die höllischen Stunden zwischen vier und sechs Uhr nachmittags. Sie bedauerte mich in beiden Punkten und war besonders witzig, was den letzteren betraf. »Wozu, glauben Sie, hat Gott die Happy Hour erfunden?« Ich krümmte mich vor Lachen. Sie lud mich auf eine Tasse Kaffee bei sich zu Hause ein. Ich hatte Bedenken, Larkens Gewohnheiten zu durchbrechen, aber ich fühle mich so einsam, dass ich einwilligte. Ich werde teuer dafür bezahlen müssen, dachte ich, und bestimmt nicht lange bleiben können. Aber Viney nahm die Kleine auf den Arm und schaukelte sie, bis sie eindöste. Meine Larken schläft in einem fremden Haus! Ich konnte es nicht fassen. »Was ist Ihr Geheimnis?«, fragte ich Viney. Sie lachte. »Gar keins. Sie merkt einfach, dass ich nicht Sie bin.« Viney legte Larken in das Schlafzimmer im Erdgeschoss, machte die Tür zu, und wir redeten weitere anderthalb Stunden lang. Unter Erwachsenen! Was für eine Wonne! Viney fragte mich, wieso L. seine Praxis hier eröffnet habe, und ich erzählte ihr, dass es überwiegend mein Wunsch gewesen
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war, dass ich mich bei meinem ersten Besuch in Emlyn Springs in die Stadt verliebt hatte. »Ich glaube, ich habe noch nie gehört, dass sich jemand in einen Ort verliebt hat«, sagte sie. »Jedenfalls nicht in einen Ort wie diesen.« »Sie klingen wie Llwellyn. Ich weiß, Emlyn Springs blüht und gedeiht nicht gerade …«, darüber lachte Viney, »… aber es hat so viel Liebenswertes.« »Na ja, auf jeden Fall können wir frisches Blut gebrauchen, das ist mal sicher.« Ich weiß nicht, was mich überkam - wahrscheinlich riss mich die Tatsache, mit einer anderen Erwachsenen zusammen zu sein, einfach mit -, aber ich sah in Vineys Kommentar die Erlaubnis, einige Dinge zu äußern, über die ich oft nachdenke, und fing an draufloszuplappern: »Es gibt hier so viel, das ich gern tun würde, wenn das Baby älter ist und ich mehr Zeit habe. So viele ehemalige Einrichtungen wurden aufgegeben - Hazel Williams hat mir erzählt, es gab hier früher sogar eine Oper, stimmt das?« »Meine Großmutter hat darüber geredet. Und ein gutes Hotel auch.« »Ich weiß, dass sich eine Menge verändert hat, seit die Eisenbahn nicht mehr durchfährt, aber ich finde, das ist kein Grund, einen Ort einfach abzuschreiben. Es ist wunderschön hier; die Leute sollten bloß darauf vertrauen, dass Emlyn Springs keine Sackgasse sein muss, wissen Sie, was ich meine?« Nach diesen Worten (die ich jetzt auch noch aufgeschrieben habe) kam ich mir ein bisschen vor wie eine Reklametafel, auf der für Gemeinsinn geworben wird, aber so ist es nun mal. Ich würde wirklich gern positive Veränderungen mit in Gang setzen: dafür sorgen, dass der Bibliotheksbestand erweitert wird, mich für die Restaurierung der Innenstadt einsetzen, vielleicht ein kommunales Theater gründen, ein historisches Museum. All diese leeren Gebäude im Ortskern, die einfach verfallen! Es bricht mir das Herz, wo es doch so viele Möglichkeiten gäbe, sie zu nutzen. 255
Viney lauschte meinem Geschwafel geduldig - im Nachhinein ist es mir peinlich, wie ich das Gespräch an mich gerissen habe. Ich sagte ihr, wie sehr ich sie bewundere - noch einmal zur Schule zu gehen und dabei vier Kinder großzuziehen. »Sie wären überrascht, wie viele Menschen in dieser Stadt das missbilligen«, meinte sie. Das fand ich erstaunlich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand Sie nicht respektiert für das, was Sie für Ihre Familie leisten.« »Es ist nett, dass Sie das sagen. Aber wenn Sie so lange hier gelebt haben wie ich, erwarten die Leute ein bestimmtes Verhalten von Ihnen. Es ist, als hätten sie Ihr Leben bereits geplant und wären jetzt aufrichtig und zutiefst verstört, weil Sie die Ihnen zugedachte Rolle nicht spielen.« »Aber an mich hat doch sicher keiner Erwartungen.« »Oh doch, natürlich, Schatz!«, sagte Viney. »Sie würden sich wundern.« »Na, dann muss ich wohl mein Bestes tun, um ihnen zu entsprechen.« Sie lachte. »Das wird Ihnen nicht gelingen.« »Was meinen Sie damit?« Sie lächelte und zuckte die Achseln. »Ich könnte mich irren. Ach! Da sind meine Kinder …« Larken rührte sich nicht einmal, als ich sie wieder in ihren Wagen legte; sie schlief auf dem Heimweg im Auto und dann noch eine Stunde und wachte schließlich putzmunter auf. Und hier sind wir nun. Ich denke immer noch darüber nach, was Viney gesagt hat dass die Leute hier Erwartungen an mich haben. Es bedrückt mich, dass sie so engstirnig sind, was ihre Ausbildung betrifft. Es war sehr tapfer von ihr, sich nach einer Tragödie neu zu erfinden. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich reagieren würde, wenn L. stürbe und ich als junge Witwe zurückbliebe. Es ist zu schrecklich, um darüber nachzudenken. 256
Na, jedenfalls habe ich das Gefühl, eine Freundin gewonnen zu haben. Viney macht bald ihren Abschluss. Sie erzählte mir, sie würde sich wahrscheinlich in Beatrice Arbeit suchen. Werde L. raten, sie einzustellen. Er könnte weiß Gott Hilfe gebrauchen. Und ziemlich egoistisch von mir! - wenn sie in Emlyn Springs arbeitet, sehe ich sie öfter. Muss Schluss machen. Larken langweilt sich mit der Tupperware und beäugt mit Interesse die Verlängerungsschnur.
12 Werben um Wales All die Zeit und Aufmerksamkeit, die den Verstorbenen gewidmet wird, hat natürlich ökonomische Auswirkungen, aber die sind geringfügig, und keiner murrt. Die Lebenshaltungskosten in Emlyn Springs sind niedrig. Und unter den Lektionen, die den Kindern eingeprägt werden - Trag nachts immer helle Kleidung … Wenn du auf einer Straße ohne Bürgersteig oder Böschung bist, geh immer dem Verkehr entgegen, auf der linken Seite … -, ist auch eine über Vorkehrungen für eine Beisetzung: Hab immer für mindestens eine Woche Geld und Vorräte im Haus. Diejenigen, die es dennoch unvorbereitet trifft - aus welchem Grund auch immer, Fragen werden nicht gestellt -, erhalten Zuschüsse aus einem streng überwachten, speziell zu diesem Zweck eingerichteten Gemeinschaftsfonds. Die kürzeste Zeitspanne zwischen zwei Todesfällen - und die längste Periode erzwungener Arbeitslosigkeit - war 1943, als die Stadt in der Schlacht von Midway innerhalb einer einzigen Stunde drei Söhne der Familie Groathouse verlor. Die Jungen wurden Seite an Seite begraben, wie sie es sich gewünscht hätten, aber individuell und nacheinander betrauert: zuerst George junior, weil 257
er der Älteste war, dann Harold und dann der kleine Jerry. Der ganze Ort hatte drei Wochen lang geschlossen, was damals nicht einmal als lange genug empfunden wurde. Die längste Zeit ohne Todesfall waren siebenunddreißig Monate, und alle sind sich einig, dass das eine gesegnete Ära in der Geschichte der Stadt war. Allerdings stellten die Leute, als der Tod dann schließlich seinen Anspruch auf Mrs. Gladys Hurd Jones (1883-1985) geltend gemacht hatte und das gymanfazu Ende war, mit Entsetzen fest, dass einige der Jüngeren den walisischen Text der Nationalhymne und des Kampflieds von Nebraska inzwischen vergessen hatten. Der Gemeinderat traf unverzüglich Maßnahmen, die das Singen dieser beiden Lieder bei allen Stadtversammlungen forderten. Die vertraute, auf Touristen zielende Wendung ein geschäftiger kleiner Ort - die erfolgreichen Handel, blühende Wirtschaft und eine tatkräftige Bevölkerung impliziert - ist bei Emlyn Springs nur auf diesen Tag anwendbar, den ersten Tag nach dem Verklingen des letzten Glockenschlags. Und selbst dann wäre »geschäftig« übertrieben. Ein gemütlicher kleiner Ort käme der Wahrheit näher. Ja, es stimmt: Überall in der Stadt werden die GeöffnetSchilder aufgehängt, aber in gemächlichem Tempo und mit verhaltenem Enthusiasmus. Schließlich könnte jeden Moment der Nächste sterben, dann müsste es wieder Geschlossen heißen. Die toten Väter nehmen ihre Notizhefte und Pinsel mit Bedacht zur Hand. Die toten Mütter umkreisen langsam das Gelände, als warteten sie auf grünes Licht vom Fluglotsen. Wenn irgendjemand heute als geschäftig bezeichnet werden kann, ist es die jüngste Tochter des zuletzt verstorbenen Bürgers von Emlyn Springs, Bonnie Jones. Eigentlich müsste sie erschöpft sein - die gegensätzlichen Energien, die der Fund des Artefakts und der Streit mit ihrer Schwester auslösten, haben sie die ganze Nacht wach gehalten -, doch stattdessen sprüht sie vor Leben, besitzt jene wahnsinnige 258
Entschlossenheit, die man in den Augen der des Schlafs Beraubten sieht. Bonnie hat ihre nächtlichen Stunden produktiv genutzt. Als Erstes schlug sie in ihrem aktuellen Album eine leere Seite auf und verpasste ihr die ÜberschriftMÖGLICHE KANDIDATEN. Dann stellte sie eine Liste aller Männer auf, die sie kennt (»Männer« sind in diesem Fall alle ledigen männlichen Wesen über achtzehn außer ihrem Bruder). Es wurde eine deprimierend kurze und uninteressante Liste. Das führte sie dazu, sich der nächsten Seite zuzuwenden und zu schreiben: WIE ERWEITERE ICH DIE LISTE MÖGLICHER KANDIDATEN? Sie malte einen Kringel um diese Frage und starrte sie an. Als ihr eine Antwort darauf einfiel, zog sie, ausgehend von diesem Kringel, eine Linie, zeichnete einen zweiten Kringel und schrieb MEHR MÄNNER KENNEN LERNEN hinein. So machte sie weiter, fügte Kringel aneinander, die eine logische Abfolge von Fragen und Antworten darstellten: MEHR MÄNNER KENNEN LERNENführte zu WIE?, woraus sich AN MEHR GESELLIGKEITEN TEILNEHMEN ergab, daraus wiederum EISCAFÉ?, IM ELKS CLUB PFANNKUCHEN SERVIEREN?, IM KIRCHENCHOR MITSINGEN?, VOLKSTANZ DONNERS-TAGS IN BEATRICE?, IN BARS GEHEN? und dann ein triumphierendesSAFTSTAND! Bonnie hat keine Ahnung, wieso diese Methode funktioniert, aber sie schwört darauf. SAFTSTAND! brachte sie zu MEHR KUNDEN = MEHR MÄNNER!, was zu MEHR WERBUNG! führte, woraus sich ganze Generationen von Ideen ergaben, sodass Bonnie, als die Seite voll war, beschlossen hatte, Reklametafeln anzufertigen und sie vor strategisch günstigen, weil von vielen Männern besuchten Örtlichkeiten aufzustellen (Grumpys Sports Grill, W.W. Saatgut, Grells Ford-Vertretung, Schlakes Baumarkt, Burkes Autozubehör, Farmer-Co-op), eine Anzeige in die Zeitung von Beatrice zu setzen und mehrere Getränke auf ihrer Karte umzubenennen. Aus »Favorit der Fans« würde zum Beispiel »Yang-Stimulator« wer259
den, aus »Orangenpotpourri« »Turbo-Lader«, aus »Frühjahrsputz« »Cocktail für Stahlharte«. Bonnie versorgt die Avocadopflanzen, macht sich ihren Frühstücks-Smoothie und bricht dann auf zum Saftstand. Ihren Ausflug zum Friedhof wird sie heute auslassen; Miss Elfyn kann ihr nichts Wichtigeres verraten als das, was Bonnie in den letzten vierundzwanzig Stunden erfahren hat. Und es ist auch nicht nötig, nach Artefakten Ausschau zu halten; Bonnie hat das Artefakt aller Artefakte entdeckt. Sie hat es gesäubert und poliert; jetzt hängt es an einem langen Nagel über dem Kopfende ihres Betts: eine Sonne aus Aluminium und Gummi, die über einer orthopädischen Matratze aufgeht. Mit der Zeit wird sich ein Verwendungszweck für das Artefakt finden. Bis dahin will sie es nah bei sich haben. Vielleicht hat seine Nähe Einfluss auf ihre Träume. Auch Viney im Haus des Bürgermeisters ist bei der Arbeit. Sie steckt eine Ladung Wäsche in die Maschine - Geschirrtücher, Badelaken, die Plethora nicht zusammenpassender Socken. (Vineys falsche Aussprache des Worts beschwört Bilder von einer walisischen Waldelfe herauf: PLEH-tora.) Sie saugt und schrubbt und wischt Staub. Sie ruft bei der Essenstafel in Beatrice an und fragt, ob sie an einer Spende interessiert wären. Ja, gerne, wenn sie sie vorbeibringt. Viney überlegt. Sie erträgt den Gedanken nicht, Menschen, die eh schon schlecht ernährt sind, Junkfood zu spenden. Sie wird das Zeug bei sich zu Hause aufbewahren, bis sie weiß, was sie damit anfangen kann. Was das Fleisch betrifft, so ist es nicht nur eine symbolische Erinnerung an die BI-go-trie des Bürgermeisters, sondern Viney ekelt sich auch davor, mit tauenden Steaks eine Stunde im Auto verbringen zu müssen. »Ich schicke es mit dem Taxi«, sagt sie und greift nach einem Stift. »Wie ist Ihre Adresse?« 260
Sie geht hinauf ins Schlafzimmer und beginnt, Schubladen und Schränke durchzusehen und Wellys Sachen für die Heilsarmee zusammenzupacken. Sie schüttelt jedes Stück gründlich aus, ehe sie es sorgfältig wieder faltet und in einen Karton legt. Sie erwartet, jeden Moment von einer Gürtelschlaufe oder einem Knopf zu Tränen gerührt zu werden. Doch es geht ihr gut. Das hier fällt ihr überhaupt nicht schwer. Gewiss war der Bürgermeister stolz auf seine Erscheinung, aber Viney wird klar, dass sie den Mann nie mit Mode assoziiert hat. Jahrelang war Welly, wenn sie ihn in absentia vor sich gesehen hat, einfach und salopp gekleidet, entweder in Shorts oder seinen Sonntagsanzug. Immer wieder muss sie an ein Gespräch denken, das sie vor Jahren mit Welly führte. Vielleicht waren es auch viele Gespräche, zu einem verquirlt. Das Gedächtnis arbeitet manchmal so, dass es die Zeit verdichtet, sodass aus mehreren diffusen Erinnerungen eine deutliche destilliert wird. Diese Erinnerung ist natürlich erfunden, eine Art Lüge, aber im Laufe der Zeit gewinnt sie an Gewicht. Sie wird wahr. Dann wird sie in ein Gefäß gesteckt und aufbewahrt, bis ihre Relevanz offensichtlich ist. Sehr oft, hat Viney bemerkt, bestehen gewisse Erinnerungen darauf, gespeichert zu werden, ohne den sich Erinnernden jemals wissen zu lassen, warum. Dieses Gespräch - in seiner destillierten und frei gestalteten Form - fand im November 1980 statt. Es drehte sich - ausgerechnet - um die Stadtverwaltung. »Bürgermeisterzentriert«, sagte Welly. »Das ist die Art von Verwaltung, die wir hier haben. Sie bedeutet, dass der Bürgermeister das Recht hat, Angestellte der Stadt ohne Zustimmung des Stadtrats einzustellen und zu feuern.« Die Jahreszahl lässt zumindest teilweise auf die Bedeutsamkeit dieser Erinnerung schließen, Welly und sie lernten allmählich, Themen zu erörtern, die nichts mit Hope zu tun hatten. Es war in Vineys Haus, nach dem Liebesakt, am frühen Nachmittag - Kulisse für die meisten ihrer wichtigen Gespräche, egal, 261
worum es ging -, und Welly studierte die Charta von Emlyn Springs. »Wir sind eine Stadt zweiter Klasse«, fuhr er fort. »In einer Stadt erster Klasse wie Lincoln haben sie kein bürgermeisterzentriertes System. Da muss alles vom Stadtrat gebilligt werden.« Viney wusste nichts über Stadtverwaltung. Sie interessierte sich auch nicht besonders dafür. Sie würde sich nie um ein Amt bewerben - ihr eigenes chaotisches Leben beanspruchte bereits all ihre organisatorischen Fähigkeiten -, und die Sitzungen der Gemeinde fand sie meistens frustrierend. Im Großen und Ganzen verbrachte sie ihre Zeit lieber damit, eine lehrreiche naturwissenschaftliche Reportage oder eine dieser britischen Komödien auf PBS zu sehen. Aber an diesem Tag war es so wohltuend, Welly angeregt zu erleben, so in Schwung, wie er es seit Jahren nicht gewesen war, dass Viney tat, was alle guten Frauen tun, wenn die wichtigen Männer in ihrem Leben ernsthaft etwas erklären (die komplizierte Funktionsweise von Scheibenbremsen zum Beispiel oder das höchst ungerechte System, nach dem College-Footballteams bewertet werden): Sie gab vor, interessiert zu sein. »Aha«, sagte sie mit munterer Das-ist-aber-spannend-Stimme. Welly hatte alle seine Mitbürger - und niemanden mehr als Viney - damit überrascht, dass er für den Stadtrat kandidierte. Seine Passionen waren immer Medizin und Musik gewesen. Mit Sicherheit hatte er nie einen Hang zu Aktivitäten für die Gemeinde gezeigt, das war Hopes Domäne gewesen. Harlan Beck, ein Zahnarzt im Ruhestand, tauchte in diesem Jahr ebenfalls aus der Versenkung auf und ließ sich zum Bürgermeister wählen. Seit Jahrzehnten hatte es in Emlyn Springs nicht so viele Veränderungen gegeben. Die obligatorischen Neinsager des Ortes taten, als wäre es ein coup d’état und keine demokratische Abstimmung. »Das hätte ich nie vermutet«, fuhr Viney fort, »dass der Bürgermeister solche Macht hat, meine ich. Mir ist es immer so vorgekommen, als hätte der Stadtrat hier das Sagen.« 262
»Genau, das ist das Problem.« »Estella in erster Linie«, fügte Viney knapp hinzu. »Und alle, die sie so einschüchtern kann, dass sie ihre Partei ergreifen.« Ich konnte die Frau noch nie leiden, dachte sie. Hope hat sie auch nicht gemocht. »Estella kann sich auf eine Überraschung gefasst machen. Harlan wird hier einiges ändern. Den Ort in Schwung bringen, wie es sich gehört.« »Glückwunsch dazu, dass er es versucht. Und Glückwunsch, dass er dich an seiner Seite hat.« »Ich habe eine Menge Ideen, weißt du«, sagte Welly. »Ich hätte gern, dass sich was bewegt.« »Natürlich.« Viney wollte das Thema abschließen und kuschelte sich enger an Welly. Sie war bereit, sich etwas anderem zuzuwenden, zu besprechen, ob sie am Wochenende nicht nach Branson fahren und im dortigen Dinner-Theater Burt Reynolds in »Hello Dolly!« sehen sollten. Das wäre sicher amüsant. »Sie wäre stolz auf dich, weißt du«, fügte sie leise hinzu, »richtig stolz.« Welly warf ihr einen bedrückten Blick zu. »Ich tue es nicht für sie«, sagte er. Den Teufel tust du, dachte Viney, teilte ihm diese Einsicht aber lieber nicht mit. Welly behandelte sie bisweilen immer noch wie eine Geliebte statt wie die beste Freundin seiner toten Ehefrau, wie einen Eindringling statt wie eine Komplizin - als wäre ihr gemeinsames Leben keine bewusste Entscheidung, kein Teil einer vor langer Zeit getroffenen Vereinbarung zwischen ihnen dreien. »Also, welche Ideen meinst du?« »Keine spezifischen«, brummte er, »und wahrscheinlich sowieso nicht umzusetzen.« »Sei nicht so negativ. Man kann nie wissen.«
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»Es ist nur so, dass, wenn irgendjemand was Großes vorschlägt, irgendwas, das … nein, nicht Arbeit, Arbeit scheut hier keiner … Visionen erfordert, Weitsichtigkeit, Risikobereitschaft … Gott behüte, dass sich in dieser Stadt je irgendwas zum Besseren ändert. Gott behüte, dass wir versuchen, erfolgreich zu sein, etwas aus uns zu machen.« Ich habe etwas aus mir gemacht, hätte Viney am liebsten gesagt, und du auch, doch stattdessen entgegnete sie: »Ich weiß, dass du es aufregend findest, im Stadtrat zu sein, und es ist ja auch wunderbar, aber du musst realistisch sein, sonst machst du dich verrückt. Nicht jeder hier hat deine Energie, Welly. Die meisten sind zufrieden damit, wie es ist.« »Das meine ich ja gerade!«, sagte er, warf die Decke von sich und stieg aus dem Bett. »Typisch Kleinstadt.« Und dann kniff er die Lippen zusammen, sodass es aussah, als steckte ein Dutzend Aspirin hinter seinen Weisheitszähnen, und begann, sich anzuziehen. »Wir müssen zurück in die Praxis.« So konnte er manchmal sein, zumindest privat. Pessimistisch. Verbittert. Verdammt nervig, ehrlich gesagt, wenn er in diese miesepetrige Stimmung verfiel. Diese Seite seiner Persönlichkeit schien er ausschließlich den Frauen in seinem Leben vorzubehalten, Hope und Viney hatten oft darüber geredet. In der Öffentlichkeit war er charmant, verbindlich, ausgleichend. Jeder liebte Llwellyn Jones. Wenn er dagegen mit Viney allein war - bisweilen sogar in Gegenwart der Kinder, sie hatte es miterlebt -, konnte er ohne Vorwarnung mürrisch und verletzend werden. Janusköpfig war ein Wort, das Alvina Closs schon vor Jahren gelernt hatte. »Wenn es dir hier so wenig gefällt, warum gehst du nicht einfach?«, erwiderte sie gelegentlich, wenn er so war, und bedauerte es dann. Warum gehst du nicht einfach? war eine Frage, deren Antwort sie beide kannten.
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Viney geht ins Arbeitszimmer - wo sie den Inhalt einer Mappe auf zwei verteilt hat (mit der Aufschrift »Schwesterstadt« beziehungsweise »Das geht verdammt noch mal niemanden was an außer dir und mir WIE KONNTEST DU??!!«) - und nimmt sich die erste Mappe erneut vor, dann noch einmal. Als sie erkennt, dass dieser Briefwechsel und jene destillierte, dreiundzwanzig Jahre alte Erinnerung vermutlich das Einzige sind, was einer göttlichen Direktive nahekommt, seufzt sie, greift zum Telefon, wählt die Nummer des Country Clubs und hat Bud Humphries am Apparat. »Steht viel auf der Tagesordnung für das Treffen heute Abend?«, fragt Viney. »Außer dass Sie offiziell zum InterimsBürgermeister ernannt werden, meine ich?« »Oh Gott, Viney«, sagt Bud. »Ich glaube nicht.« Viney hört das helle Klirren von Gläsern. Wie alle anderen in Emlyn Springs ist auch Bud zur Arbeit zurückgekehrt. Zwar hat er sein Bauunternehmen schon vor zehn Jahren aufgegeben, aber seit dem Tod seiner Frau wohnt seine unverheiratete Schwester bei ihm, deshalb verbringt er gern ein paar Stunden als TeilzeitBarkeeper im Country Club. »Tut mir leid, dass ich Sie jetzt stören muss.« »Das macht nichts. Ist nicht viel los. Wie geht’s Ihnen?« »Mir geht’s gut, Bud. Also, die Tagesordnung?« »Warten Sie einen Moment. Ich habe mich gerade damit befasst. Sie muss hier irgendwo sein.« Bürgermeisterzentriert, denkt Viney. Von wegen. Bud ist ein Schatz, aber man könnte ihn mit einem Atemzug umpusten. »Ach, hören Sie, Viney, ich finde sie nicht. Können Sie dranbleiben? Vielleicht habe ich sie in der Küche gelassen.« »Klar, Bud. Ich warte.« Ein Tod in der Familie hat so viele Emotionen zur Folge. Trauer ist nicht die einzige, nicht einmal die vorherrschende. Viney hasst Filme über Sterbende. Es hat nichts mit der Realität zu tun, wenn sie, mit Weichzeichner fotografiert, in poetischen 265
Wendungen über ihre Gefühle reden und ihr Leiden von Musik untermalt ist, so schmalzig, dass es komisch wirkt. Die Worte der Sterbenden in diesen Filmen sind immer bedeutsam, klar formuliert und inhaltsschwer. Viney kauft sie ihnen nicht ab. Welcher vernünftige Mensch würde an der Schwelle zum Tod schon sprechen - und das auch noch voller Eloquenz? Wenn er etwas zu sagen hätte, da ist Viney sich sicher, wäre es etwas wie Scheiße oder Oh Gott oder Uups. Und die Lebenden! Im Film sind sie stoisch und schweigsam. Sie sind … gefügig, das ist das richtige Wort - nicht wütend und verwirrt und verletzt und voller Fragen, die so viel Raum in ihrem Kopf beanspruchen, dass kaum Platz für etwas anderes bleibt, nicht für Einkaufslisten oder das Bezahlen von Rechnungen oder sogar fürs Zähneputzen. So sieht die Wirklichkeit aus. Viney hat die Erfahrung gemacht, dass es am besten ist, direkt nach dem Tod eines Angehörigen zu handeln, sofort, rechtzeitig, wenn man noch dazufähig ist, bevor sich das wahre Gesicht des Kummers zeigt und man von einer besonderen und unheilbaren Form von Mattigkeit in die Knie gezwungen wird. »Bist du noch dran, Viney?«, fragt Bud jetzt. »Ja, Bud«, antwortet Viney. Im Hintergrund singt Tennessee Ernie Ford »Sixteen Tons«. Diesen Song hat Viney seit Jahren nicht gehört. Sie hat vergessen, dass er so optimistisch klingt, so beschwingt. »Ich bin noch dran.« »Gerade sind ein paar Kunden reingekommen. Ich bin noch am Suchen. Mir fällt einfach nicht ein, wo ich sie hingelegt habe …« Beeil dich, beeil dich, denkt Viney, denn schon hat sie das Gefühl, dass es zu mühsam wird, dass das, was sie mit diesem simplen Anruf initiieren wollte, eine aussichtslose Sache ist. »Ich warte«, sagt sie und lässt sich mit einer plötzlichen Müdigkeit in den Schreibtischsessel des Bürgermeisters sinken, dass sie glaubt, nie wieder aufstehen zu können.
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Bonnie kommt früher zur Arbeit als sonst. Die Tankstelle ist noch nicht einmal offen. Im Saftstand tritt sie an die Registrierkasse, um sich zu vergewissern, dass sie genug Wechselgeld hat. Über der Kasse hängt ein Kalender. Als Bonnie ihn bis zum September vorblättern will, fällt ihr ein, dass sie angesichts der jüngsten Enthüllungen noch etwas anderes zu erledigen hat. Sie wendet sich wieder dem August zu und überprüft die Quadrate mit ihren hineingekritzelten Notizen: Geburtstage, Feiertage, Gemeindetreffen, Erinnerungen daran, Rechnungen zu zahlen, Lebensmittel einzukaufen, den Rasen der WilliamsSchwestern zu mähen, im Altersheim St. David auszuhelfen. Sie hält Ausschau nach anderen Hinweisen, die mit dem physikalischen Durcheinander, das sich ihr Körper nennt, zu tun haben. In Folge des Schadens, den ihr Reproduktionssystem während des Tornados von 1978 genommen hat, ist ihr Menstruationszyklus alles andere als zyklisch. Sie menstruiert keineswegs regelmäßig, und wenn, blutet sie schwach, und das Blut selbst ist blass und wässrig, als täte ihr Körper nur so, als ob. Bisher ist Bonnie das Ticken ihrer biologischen Uhr gleichgültig gewesen. Nur gelegentlich hat sie daran gedacht, bedeutsame körperliche Vorgänge auf ihrem Kalender zu vermerken, und zwar mit Hilfe von Aufklebern. An dem Tag, an dem ihre Periode beginnt, klebt sie Aschenputtels Besen in das entsprechende Quadrat. Goldene Sterne zeigen mit ihrer Anzahl von eins bis fünf die Stärke der Blutung an. Manchmal verspürt Bonnie ein ungewöhnliches Gefühl dort, wo sie ihre Eierstöcke vermutet, eine Art arhythmisches Zwicken, wie eine Bogensehne, die unbeholfen und zögernd gespannt wird; an diesen Tagen schmückt sie den Kalender mit Aufklebern mit Ostereiern - und bisweilen mit einem »Gut gemacht!«. Aber sie hat diese Form der Dokumentation nie sorgfältig betrieben. Das wird sich ändern. Nachdem sie jetzt das Artefakt geborgen und seine klare Botschaft entschlüsselt hat, wird sie ihrem
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Reproduktionssystem - soweit es vorhanden ist - genaueste Aufmerksamkeit schenken und seine Regungen präzise vermerken. Leider fehlen im Monat August Besen, Sterne und Eier. Ebenso im Juli. Na ja, macht nichts, heute ist ein neuer Tag. Vielleicht reagieren Körper ähnlich wie Träume, die produktiver werden, sobald sie wissen, dass der Träumende sie zur Kenntnis nimmt. Bonnie schaltet ihr kleines tragbares Radio-Fernsehgerät ein und schaut Gaelan bei seinem morgendlichen Wetterbericht zu. Er sieht müde aus. Es tut Bonnie leid, dass sie sich mit ihren Geschwistern gestritten hat, aber sie ist immer noch wütend auf sie, besonders auf Larken. Sie wird es ihnen zeigen. Sie werden schon sehen. In flottem Tempo fängt sie an, Obst und Gemüse zu zerschneiden. Nachdem sie die Zutaten gefällig arrangiert hat - Ach, es gibt doch nichts Hübscheres als ein Tablett frischer Früchte! -, schreibt sie »NEUE ANGEBOTE AUF DER KARTE!« auf die Wandtafel. Sie gelobt sich, alle Gäste unvoreingenommen zu betrachten, holt tief Luft und klappt die Läden auf. »Hallo noch mal, Viney.« Bud ist wieder am Apparat. Viney ist ganz desorientiert. Sie hat keine Ahnung, wie lange sie hier gesessen und gewartet hat. »Ich habe die Tagesordnung«, fügt Bud hinzu. »Ich wollte gerade die Reihenfolge der Punkte festlegen. Außer der Abstimmung sind es hauptsächlich ein paar Ankündigungen. Da ist die Chili-Sause, die demnächst stattfindet, dann brauchen wir den Bericht des Schatzmeisters über den Bestattungsbeihilfe-Fonds von Doc Williams, solche Sachen … Nichts Großes. Worüber wollten Sie mit mir reden?« »Also, ich bin in Wellys Haus und sehe seine Papiere durch und … Wussten Sie von seiner Korrespondenz mit Wales?« »Oh Gott, da muss ich überlegen, ich glaube, er hat mal darüber gesprochen.« 268
»Es ging um unsere Schwesterstadt auf Gwynnedd Island. Er korrespondierte mit Mönchen, die dort leben. Wir haben ihnen in den 1940ern Geld geschickt, als ihr Kloster im Krieg beschädigt worden war.« »Ach, das hatte ich ganz vergessen«, sagt Bud in wehmütigem Ton. »Ich hatte völlig vergessen, dass wir überhaupt eine Schwesterstadt haben … Sieh mal einer an.« Das Gespräch läuft nicht so, wie Viney gehofft hat. Sie muss direkter vorgehen. »Wussten Sie, dass der Bürgermeister was mit unserer Schwesterstadt vorhatte? Sie einladen wollte?« »Ein Freundschaftsbesuch, meinen Sie?« »Ja, etwas in der Art.« »Hmm. Vielleicht hat er es mal erwähnt.« Scheiße. Sie hätte die Sache gründlicher durchdenken, womöglich sogar ein, zwei Monate warten sollen, bevor sie Bud anrief. Aber nein, sie zählt ja gerade auf die Tatsache, dass der Bürgermeister erst kürzlich verstorben ist und die Stadt sich seine Idee deshalb bereitwillig anhört. Sie muss sie der Gemeinde sofort präsentieren und deren Gefühle dazu nutzen, sie zum Handeln zu bewegen. Es wird eine Menge Energie kosten. Energie, für etwas zu werben. Scheiße! Zum ersten Mal in ihrem Leben wünscht sich Viney, ein anderer Mensch zu sein, jemand mit einem liebenswerten, einnehmenden Wesen. Ein netter Mensch. Bud Humphries ist nett. Er ist ein Weichei, aber er ist nett. »Ich würde gern eine Idee zur Sprache bringen, die der Bürgermeister hatte, über die er seit Jahren nachgedacht und mit diesen Mönchen diskutiert hat. Wenn sie richtig präsentiert wird, könnte sie den Leuten vielleicht gefallen.« »Hmm.« »Ich möchte nur wissen, ob Sie ein offenes Ohr dafür hätten. Ein positives Interesse daran zeigen würden. Sie wissen ja, wie manche Ratsmitglieder sein können.«
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»Ich unterstütze alles, was dem Bürgermeister am Herzen lag, Viney, das wissen Sie. Aber wie soll ich es nennen, wie soll es auf der Tagesordnung bezeichnet werden?« Viney seufzt. »Es wäre wesentlich einfacher, wenn ich Ihnen die Sache persönlich erklären könnte. Wollen Sie nicht nach der Arbeit zum Essen rüberkommen? Ich habe weiß Gott genug Lebensmittel im Haus.« »Das ist furchtbar nett von Ihnen, Viney. Um halb sechs?« »Okay, bis dann.« Viney legt auf und begutachtet die über Wellys Schreibtisch verstreuten Papiere. Dreiundzwanzig Jahre Korrespondenz. Es ist alles hier, alles, was Welly - und auch Hope - sich jemals für die Stadt gewünscht hat, und wenn sie sich jetzt damit befassen muss, dann wird sie es tun. Sie fängt an, die »Schwesterstadt«-Briefe in der richtigen Reihenfolge in die Mappe zurückzulegen. Ganz unten auf eine Seite hat Welly in seiner berüchtigt unleserlichen Schrift etwas gekritzelt. Henrys E-Mail-Adresse, entziffert sie mühsam mit Hilfe einer Lupe,
[email protected]. Viney klappt den Ordner zu und schiebt ihn wieder in den Schrank. Dann geht sie nach unten, wirft ein paar Eiswürfel in ein Glas und gießt sich eine Cola mit Rum ein. (Beim Ausräumen von Wellys Seite des Kleiderschrankes hat sie einen umfangreichen Vorrat an Schnapsfläschchen gefunden, versteckt in Dutzenden schuhloser Schuhkartons, und beschlossen, sich durch sie hindurchzutrinken, eines nach dem anderen.) Sie will gerade im Wohnzimmer Platz nehmen, als sie von draußen eine Hupe hört. Es ist das Taxi. Viney winkt den Chauffeur zur Haustür. Sein Gesicht ist unrasiert und freudlos. Er erscheint Viney viel zu alt für seinen Job. »Danke, dass Sie gekommen sind«, sagt sie. »Sie wollen nach Beatrice?«, fragt er.
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»Nein, ich selbst nicht. Ich möchte Ihnen etwas mitgeben.« Viney reicht ihm den Zettel mit der Adresse. »Da soll es hin, zur Essenstafel.« Der Fahrer wirkt verdutzt. »Was?« »Kommen Sie rein. Ich zeige es Ihnen.« Viney führt den Chauffeur in die Küche und öffnet den Gefrierschrank. »Das ist eine Menge Fleisch«, bemerkt er. »Ist das ein Problem?«, fragt Viney. Ihr ist übel. »Nein«, erwidert der Fahrer. »Es ist bloß nicht das, was ich erwartet habe.« »Hören Sie, ich gebe Ihnen zehn Dollar zusätzlich - fünfzehn -, wenn Sie es selbst einladen. Ich fühle mich nicht besonders.« »Klar«, sagt der Fahrer mit sanfterer Stimme. »Haben Sie was, wo ich das reintun kann?« Viney reicht ihm eine Schachtel mit extragroßen Plastikmüllsäcken. »Sind die okay?« »Prima«, sagt er. »Das ist nett, was Sie da tun, Ma’am.« Er beginnt, die Säcke zu füllen. »Das müssen über hundert Pfund sein.« Sie ist dankbar für seine Freundlichkeit. Sie tritt mit ihrem Drink ins Wohnzimmer, setzt sich aufs Sofa und stellt den Fernseher an. Es läuft eine Seifenoper. Sie hört, wie der Chauffeur zwischen Küche und Taxi hin und her geht und hat vor, aufzustehen und ihm zu danken, wenn er fertig ist. Doch nach fünf Minuten Springfield Story schläft sie fest ein. Sie wacht erst Stunden später wieder auf, als die Zivilschutzsirene ertönt, wie sie es jeden Montagnachmittag um genau fünf Uhr tut. Erschrocken und voller Panik, nur halb bei Sinnen, eilt sie nach Hause und malt sich dabei aus, wie Bud Humphries auf ihrer Veranda steht und darauf wartet, gefüttert zu werden.
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Als Mr. Norris, 88, zu seinem Grünen Gingko-Power-Smoothie aufkreuzt, ist Bonnie ehrlich bereit, auch ihn in Betracht zu ziehen. Aber nachdem sie gehört hat, wie er sich über die lärmenden, unartigen Gören beim gymanfa des Bürgermeisters und ihre allzu duldsamen Eltern beschwert - Dieses Land wird noch völlig den Bach runtergehen, wenn sie sich nicht zusammenreißen! -, ist klar, dass er nicht die Person ist, nach der sie sucht. Nachdem Allan, Pete und Dylan Labenz vorbeigekommen sind - waren sie schon immer so empfindlich, so pessimistisch, so unreif? -, erkennt Bonnie allmählich, dass dieses Verfahren schwieriger sein könnte, als sie gedacht hat. Dass sie die Labenz-Brüder als mögliche Baby-Erzeuger ins Auge fasst, verändert ihre Sichtweise. Sie hat das Gefühl, ihnen zum ersten und nicht zum tausendsten Mal zu begegnen. Widerwillig holt sie ihre Liste hervor und streicht vier Namen durch. Sie sucht erst seit ein paar Stunden, und schon sind ihre Optionen um zehn Prozent geschrumpft. Bonnie betrachtet die Liste mit solch hartnäckiger Konzentration, dass ihr das Eintreten eines weiteren Kandidaten entgeht. »Bonnie? Bonnie, sind Sie da?« »Oh, hallo, Blind Tom. Hey, Sergei. Ein Leckerbissen gefällig?« Bonnie streckt ihm einen der Bio-Hundekuchen hin, die sie für Kunden seiner Art bereithält. »Sitz«, befiehlt Blind Tom. Sergei gehorcht und nimmt seinen Hundekuchen mit der Würde eines Gläubigen entgegen, der die Abendmahlsoblate empfängt. »Er ist so ein wohlerzogener Hund«, sagt Bonnie und hofft, dass diese Bemerkung Blind Tom dazu bringt, sich zu öffnen, ähnlich wie es bei einem Elternteil der Fall ist, dem man zu den guten Manieren seines Kindes gratuliert. Sie und Sergei beäugen ihn erwartungsvoll. Blind Toms Gesichtsausdruck bleibt ernst. Er räuspert sich. »Er schnarcht.«
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»Wirklich?« Bonnie wartet darauf, dass er ausführlicher wird. Das tut er nicht, also bereitet sie die Zutaten für seinen Smoothie vor. Zieh alle Gäste in Erwägung, ruft sie sich ins Gedächtnis. Sie hat ein schlechtes Gewissen, weil sie sich Blind Toms Behinderung zunutze macht, studiert sein Gesicht aber trotzdem mit unerschrockenem Interesse, während sie Mango- und Avocadostücke in die Glaskaraffe fallen lässt. Seine dunkle Brille lässt nicht richtig erkennen, wie er wirklich aussieht - so viel vom Aussehen eines Menschen vermittelt sich über seine Augen -, aber sein Teint ist fahl, und seine Haut weist stellenweise tiefe, wie punktierte Löcher auf, als wäre er ein gerupfter Kaktus. Als Bonnie den Mixer anwirft, fragt sie sich, ob sie wohl ein besseres Gespür für Blind Toms Persönlichkeit bekäme, wenn sie ihm im Land der Töne statt der Bilder begegnete. Sie schließt die Augen. Sofort fühlt sie sich desorientiert und benommen. Sie runzelt die Stirn, schlüpft aus ihren Tennisschuhen und stellt sich breitbeiniger hin. Das hilft. Sie hört, dass der Mixer stecken bleibt, und fängt an, ihn zu schaukeln. Ihres Sehvermögens beraubt, stellt Bonnie fest, dass Blind Tom Recht hat: Das Geräusch ist nervtötend. »WENN DAS PÜRIEREN ZU LANGE DAUERT«, schreit sie, »WIRD DER SMO OTHIE ZU WARM. ICH MAG ES LIEBER, WENN ER KALT IST, UNGEFÄHR WIE SOFTEIS.« Tom schreit zurück. »MICH STÖRT ES NICHT, WENN ER NICHT SO KALT IST. HABEN SIE MAL AN DIE DATTELN GEDACHT?« »WAS?« »ICH HABE ÜBERLEGT - VIELLEICHT LIEGT ES AN DEN DATTELN, WENN DER MIXER STEHEN BLEIBT.« »ICH NEHME MEDJOOLS. DIE SIND NICHT SO KLEBRIG WIE DIE ANDEREN SORTEN, UND SIE ENTHALTEN 273
KEINE KONSERVIERUNGSMITTEL. ES SIND DIE BESTEN.« »WIE PRÄPARIEREN SIE DIE?« »WAS MEINEN SIE DAMIT?« »ICH HABE MICH NEULICH MAL IM BIOSUPERMARKT IN BEATRICE ERKUNDIGT, UND DIE HABEN MIR WAS VON DATTELSTÜCKCHEN ERZÄHLT. SIE FÜHLEN SICH SO ÄHNLICH AN WIE DIE TRO CKENFUT TERDRAGEES, DIE MAN KANINCHEN UND HAMSTERN UND MEERSCHWEINCHEN ZU FRESSEN GIBT.« Das klingt nach einer wertvollen Information. Bonnie stellt den Mixer vorübergehend aus. »Hatten Sie als Kind Haustiere?«, fragt sie, die Augen nach wie vor fest geschlossen. »Keine Kaninchen oder sowas, nein. Aber wenn man sehbehindert ist, machen die Lehrer immer Ausflüge mit einem, bei denen die Sinne angeregt werden sollen. In Zoos. In Tierhandlungen.« »Aha.« Bonnie schaltet den Mixer wieder ein und schüttelt ihn. Sie fragt sich, ob Blind Tom wohl lieber »Sehbehinderter Tom« genannt werden würde. Der Smoothie ist fertig. Sie stellt den Mixer aus und erwägt den Versuch, ihn ohne die Hilfe ihrer Augen in den Becher zu gießen, entscheidet sich jedoch - weil sie ihn nicht verschütten will - dagegen. Als sie sich umdreht, um Tom den Smoothie zu reichen, ist sein Gesichtsausdruck verändert. Er lächelt zwar nicht, aber irgendetwas deutet darauf hin, dass er belustigt ist. »Also, was denken Sie?«, fragt er. »Worüber?« »Über die Trockendatteln.« »Ach so. Mir ist eingefallen, dass sie mehlig sind.« »Was?« »Ich habe sie mal ausprobiert, weil sie mir praktisch erschienen. Aber damit sie in der Dose nicht zusammenkleben, bestäubt 274
man sie mit Mehl, und dadurch kriegen die Smoothies einen echt ekligen Beigeschmack.« »Verdammt.« »Wieso?« »Ich habe Ihnen welche gekauft.« Tom streckt ihr eine große Plastiktüte hin, auf der »TrockenLebensmittel« steht und die eine riesige Menge Datteldragees enthält. »Mensch, Tom, das war wirklich nett von Ihnen. Danke.« »Aber Sie mögen sie nicht. Sie können sie nicht gebrauchen.« »Sie schmecken bestimmt gut in Brot oder so«, sagt Bonnie, die Blind Tom nicht verletzen will. Das ist natürlich geheuchelt, in Bonnies Remise gibt es keinen Ofen, und sie hat nicht die leiseste Ahnung vom Backen. »Kommen Sie zur Versammlung heute Abend?«, fragt Tom. Daran hat Bonnie noch gar nicht gedacht. Fast jeder Mann auf ihrer Liste wird dort sein. Sie ist seit Ewigkeiten nicht mehr bei einem Gemeindetreffen gewesen, doch es wäre dumm, heute nicht hinzugehen. »Definitiv.« »Dann bis später.« »Ja. Bis später.« Blind Tom und Sergei entfernen sich. »Der beste Smoothie, den ich je hatte«, bemerkt Tom, »aber ich finde es trotzdem gefährlich.« Bonnie sieht sie gehen und hat ein flaues, ambivalentes Gefühl, was Toms potenzielle Eignung betrifft. Jetzt, da sie angefangen hat zu suchen, wird ihr klar, dass es töricht wäre, etwas zu überstürzen. Sie muss sich wirklich alle Möglichkeiten offenhalten. Sie sollte nicht ausschließen, dass etwas Ungewöhnliches passiert, etwas völlig Unerwartetes, sogar Magisches. Jedenfalls noch nicht. Vielleicht gibt es jemanden - den sie noch gar nicht kennt! -, der ein starkes, eindeutiges Gefühl entzündet, jemanden, dessen bloße Nähe alles erleuchtet. Anziehung kann so etwas bewirken, 275
das hat Bonnie gehört. So viele Liebeslieder haben Texte, die Wörter wie Hitze, Feuer, Funken, Flamme enthalten. Bei Blind Tom - so nett er ist - verspürt Bonnie keine Funken. Er hat ihr eine große Tüte mit etwas mitgebracht, das sie nicht braucht und nicht verwenden kann. Er hat nie Haustiere gehabt, die für ihre Fruchtbarkeit bekannt sind. Was könnte eine deutlichere Sprache sprechen? Sie streicht ihn von der Liste. Kurz nach Mittag kommt Mrs. Prohaska, die Kindergärtnerin, mit der neuen Generation Fünfjähriger vorbei. Diesmal sind es acht. Ihr Besuch ist ein Ritual zum Schuljahrsbeginn, auf das Bonnie sich immer freut. »Hi, Kinder!« »Hallo, Miss Jones!« Bonnie nimmt Bestellungen für die zuckerfreien SmoothieLutscher entgegen, die sie in der Tiefkühltruhe hat: Pappbecher voller Supermans Erdbeer, Madeleines Melone, Babars Beeren, Luckys lila Traube. Die Kinder schlecken ihr Eis am Stiel, während Bonnie erklärt, wie Smoothies hergestellt werden und warum sie so gesund sind. Dann dürfen die Kleinen ihr helfen, Mrs. Prohaskas LieblingsSmoothie zuzubereiten: eine Piña Colada ohne Alkohol namens Prinzessin Lea. Nachdem sie sie belehrt hat, wie wichtig die Anwesenheit Erwachsener in der Küche ist, überwacht Bonnie ihre Bemühungen mit Obstmessern und weichen Früchten und lässt sie dann abwechselnd den Knopf des Mixers drücken. In der Kunst des Schüttelns und Klopfens unterweist sie sie nicht. »Das ist die beste Prinzessin Lea, die ich je gekostet habe«, erklärt Mrs. Prohaska. Bonnie verteilt Aufkleber und ein Smoothie-Grundrezept, das die Kinder mit nach Hause nehmen und ausprobieren können. Nachdem sie sich von ihnen verabschiedet hat, räumt sie auf, zählt den Kassenbestand und hakt auf dem Kalender einen weiteren Tag ab. Blind Toms Tüte mit Datteldragees fällt ihr ins Auge.
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Sie ergreift sie, hebt und senkt sie ein paarmal, verlagert sie von der linken in die rechte Hand. Was soll sie damit … Am besten lässt sie sie hier. Vielleicht sollte sie den mehligen Datteln noch eine Chance geben. Ehe sie die Tüte in den Kühlschrank stellt, wiegt sie sie ein letztes Mal mit den Händen. Um die sechs Pfund, befindet sie. Vielleicht hundert Gramm mehr. Der Name auf seiner Geburtsurkunde lautet Morgan Geraint Mathias Jones. Er leidet unter einer degenerativen Augenerkrankung, die als Retinitis pigmentosa bekannt ist. Im Grunde kann er einigermaßen gut sehen - innerhalb bestimmter vorgegebener Grenzen. Sein offizieller Status als Blinder beruht nicht darauf, dass sein Blickfeld generell verschwommen, sondern dass es peripher beschränkt ist: Er sieht die Welt als zwei nebeneinanderliegende, schwarz gerahmte Kreise. Da eine Retinitis pigmentosa progressiv verläuft, schrumpft die durch diese Kreise beschriebene Fläche zunehmend, unerbittlich. Früher waren die Kreise wesentlich größer: Trampoline, Planwagenräder, Steuerräder von Piratenschiffen, Gummireifen, extra große, große und mittelgroße Pizzen. Sie hatten die Größe von Frisbees, von Flutlichtern, Autoscheinwerfern, Pfannkuchen. Irgendwann wird er durch Küchentuchrollen hindurchschauen, dann durch Strohhalme, dann durch die Öhre von Teppichnadeln und so weiter, bis sich sein Blickfeld auf ein Nichts reduziert. Wenn Morgan sich ausmalt, wie das sein wird, denkt er manchmal an Bagels, die übermäßig aufgegangen sind, sodass nur noch eine winzige Kerbe die Stelle anzeigt, wo einst ein Loch war. Oder er vergleicht seine Augen mit Kameras, bei denen der Bildausschnitt immer kleiner wird und schließlich ganz verschwindet - ein Effekt, der das Ende einer Filmszene oder das Finale eines Cartoons signalisiert. Das war’s, Leute. So wird es eines Tages sein. 277
Doch fürs Erste sieht er die Welt noch, wenn auch begrenzt. Wenn Bonnie sich wirklich eine genaue Vorstellung von Blind Toms gegenwärtigem Sehvermögen würde machen wollen, dürfte sie die Augen nicht zukneifen - sie müsste sich ein Paar mittelgroße Versandrollen davorhalten. Im Herbst machen Klavierstimmer gute Geschäfte. Das Ferienchaos des Sommers ist endlich vorbei. Schulen und Colleges und Universitäten sind wieder in Betrieb. Klavierlehrer heißen ihre alten Schüler willkommen und rekrutieren neue. Kirchenchöre beginnen wieder zu singen. Theaterdirektoren proben ihre Premieren der Saison - Gute-Laune-Musicals mit großer Besetzung wie The Music Man, My Fair Lady oder Der Fiedler auf dem Dach. In Pflegeheimen wird für die musikliebenden Bewohner das musikalische Programm fürs nächste Jahr geplant. Einsame Klaviere, die seit Monaten nicht angerührt wurden, erregen endlich wieder Aufmerksamkeit, und da den meisten von ihnen nicht das Glück einer temperatur- und feuchtigkeitskontrollierten Umgebung vergönnt ist, hat Blind Tom reichlich zu tun. Er liebt seinen Beruf. Er wünscht sich nur, dass er nicht so viel unterwegs sein müsste, das ist hart für seinen Fahrer. Da Hausbesuche einen Großteil ihres Arbeitsalltags ausmachen, haben Kleinstadtklavierstimmer viel mit Landärzten gemeinsam. Blind Tom wurde Blind Tom, als er zweiundzwanzig Jahre alt und im Begriff war, von der Emil Fries School of Piano Tuning and Technology in Washington ein Diplom zu erhalten, auf dem sein richtiger Name gestanden hätte. Einen Monat vor der Abschlussprüfung fragte der damalige Blind Tom (geb. Phineas William Guffy) in der Schule an, ob es dort begabte, fleißige Studenten gäbe, die ihre Ausbildung beendet und Interesse daran hätten, einen Klavierstimm- und reparaturbetrieb zu übernehmen. Mr. Guffy war über dreißig Jahre lang Blind Tom gewesen und wollte jetzt in den Ruhestand treten, nach Arizona ziehen, mehr Zeit mit seinen Enkeln verbringen und sich als P. W. Guffy ins Telefonbuch von Phoenix 278
eintragen lassen. Er erklärte, der Betrieb sei klein, aber wohletabliert und habe seinen Sitz in Südost-Nebraska. Morgan Jones war der einzige Student, der Interesse äußerte. »Es ist ein sehr kleiner Ort, verstehen Sie«, warnte Mr. Guffy. »Er ist nicht Lincoln, nicht einmal Grand Island, wo es genügend Klaviere gibt, um Ihnen Arbeit zu verschaffen, ohne dass Sie die Stadtgrenzen hinter sich lassen müssen.« »Ich verstehe.« »Die Sache ist die, junger Mann, dass ich nicht an Sie verkaufen möchte, wenn Sie nicht genügend Begeisterung dafür aufbringen. In Emlyn Springs gibt es seit dem 19. Jahrhundert einen Blind Tom. Er ist Teil der Geschichte dieses Orts, wissen Sie, und es würde mir das Herz brechen, wenn der Betrieb den Bach runtergeht. Wenn Sie ihn am Laufen halten wollen, müssen Sie auf einer Menge Feldwege eine Menge Staub aufwirbeln. Können Sie das? Können Sie mir versprechen, dass Sie das tun werden?« Morgan, ein junger Mann von redlicher Gesinnung, fühlte sich verpflichtet, eine wichtige Frage zu stellen: »Glauben Sie, es stört die Leute, dass ich rein formal nicht blind bin - nicht völlig, meine ich?« Am anderen Ende der Leitung blieb es einen Moment lang still. »Wie viel können Sie sehen?« »Fünfzig Prozent«, antwortete Morgan. Das war eine fünfzehnprozentige Lüge. Er hätte die Wahrheit nie verschleiert, wenn er nicht sicher gewesen wäre, dass diese Lüge eines Tages hundertprozentig wahr sein würde. »Ich werde Sie nicht enttäuschen, Mr. Guffy«, fügte er hinzu. »Das verspreche ich.« Der künftige ehemalige Blind Tom überlegte. »Na gut.« Das Versprechen fiel Morgan leicht. Er wollte immer schon nach Südost-Nebraska zurückkehren. Er hatte Verwandte in der Gegend von Blue Springs und sie im Sommer 1978, als er dreizehn gewesen war, einmal besucht. Es war ein seltsamer, ereignisreicher Aufenthalt gewesen. Ein paar Tage nach seiner Ankunft fegte ein gewaltiger Tornado über 279
die Außenbezirke einer nicht weit entfernten Kleinstadt, und anschließend wurden ein Mädchen und ihre Mutter vermisst. Morgan schloss sich den Suchtrupps an, und während er über das niedergetrampelte, schlammige Hirsefeld nahe dem Haus seines Großonkels stolperte, stieß er auf die Überreste eines Stutzflügels. Er hatte keine Beine mehr und keine Abdeckplatte, sodass man das Innere sah: goldene Saiten - ähnlich wie bei einer Harfe -, Vorrichtungen, die Schrauben ähnelten, und andere, für die Morgan keine Worte hatte. Er hatte die Eingeweide eines Klaviers noch nie gesehen, nicht einmal darüber nachgedacht, wie es Musik erzeugte. Daher war ihm nie in den Sinn gekommen, dass die entscheidenden, aber unsichtbaren Teile eines so stabil wirkenden und schönen Instruments so stark beschädigt werden konnten. Morgan war unter den Zuschauern, als Bonnie Jones gerettet wurde. Wie alle anderen lockte auch ihn der Gesang zur Schlucht. Er stand zwischen den Einwohnern von Emlyn Springs, die ihr in einer Sprache vorsangen, die er noch nie gehört hatte, der Sprache seiner Vorfahren, mit vielen Stimmen, die wie eine einzige klangen, und das draußen im Freien, ohne ein Klavier oder eine Orgel oder auch nur eine Gitarre, die sie begleitete. Nachdem ein Fotograf der National Geographic eine Aufnahme von dem Stutzflügel gemacht hatte, erhielt Morgan die Erlaubnis, ihn zum Haus seiner Großtante und seines Großonkels transportieren zu lassen. Er säuberte ihn und nahm ihn auseinander. Das war ein vernünftiges Vorhaben für einen neugierigen Heranwachsenden, der Verwandte besuchte und keine anderen Jugendlichen zur Gesellschaft hatte. Als sich sein Aufenthalt dem Ende näherte, erklärten ihm die Erwachsenen, es sei unmöglich, dass er das Klavier mitnähme nach Michigan, wo er lebte. »Was passiert damit?«, fragte Morgan.
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Als man ihm sagte, es würde wahrscheinlich auf die Müllkippe gebracht werden, regte er sich sehr auf, was seine Verwandten bestürzte, die ihn als vernünftig und fügsam kannten. »Ihr müsst mir versprechen, dass ihr es nicht wegwerft!«, insistierte er. »Ihr müsst es für mich aufbewahren!« Die Erwachsenen schüttelten den Kopf, gaben jedoch nach. Es schien dem Jungen so viel zu bedeuten, und schließlich war er dreizehn und erlebte all die körperlichen und emotionalen Umbrüche, die einen Teenager in diesem Alter heimsuchen. Also schob Onkel Howie die Reste des Klaviers in eine Ecke der Scheune, und dort blieben sie. Alle erwarteten, dass Morgan sie im Laufe der Zeit vergessen würde. Sehr oft kam er nicht zu Besuch. Nach diesem Sommer fing er an, die Tafel nicht mehr so gut zu sehen. Wenn er die Schulkorridore entlanglief, wurde ihm schwindelig. Tagsüber taten ihm die Augen von dem hellen Sonnenlicht weh; abends und nachts fiel ihm das Sehen immer schwerer. Der Sommer in Emlyn Springs war der letzte Sommer gewesen, in dem er ein normaler Junge mit normalem Sehvermögen war. Er fragte sich oft, ob das kleine Mädchen wohl noch dort lebte und ob ihre Mutter je gefunden worden war. Als Phineas William Guffy nun anrief und Morgan Geraint Jones die Möglichkeit bot, einen neuen Namen anzunehmen und seine berufliche Laufbahn in dem Ort zu beginnen, wo all diese Erinnerungen und das kaputte Klavier beheimatet waren, erschien ihm das weniger ein Zufall als vielmehr ein Zeichen göttlicher Gnade. Nachdem die Sache für Mr. Guffy dank Morgans ernsthafter, aber sympathischer Aufrichtigkeit schon abgemacht war, kam für den jungen Mann der entscheidende Moment, als er fragte: »Gab es in der Gegend Ende der 70er Jahre nicht einen Tornado, bei dem eine Frau und ihre kleine Tochter vermisst wurden?« »Ja, sicher«, erwiderte Mr. Guffy. 281
»Was ist mit ihr passiert? Was ist aus der Tochter geworden?« Mr. Guffys Stimme spiegelte entzückte Überraschung wider. »Aber Junge«, rief er, »Sie sprechen ja über das Fliegende Mädchen!« Dann machte er sich daran, seine Version der Geschichte zu erzählen, und Morgan entsinnt sich, wie dankbar er war, dass der Anruf auf Mr. Guffys Kosten ging. Morgan hat den Schneid seines jüngeren Ich immer bewundert. Hopes Klavier war der einzige greifbare Beweis, dass die Ereignisse jenes Sommers tatsächlich stattgefunden hatten, dass er wirklich ihr Zeuge gewesen war. Dass er das alles nicht bloß geträumt hatte. So kehrte er nach Emlyn Springs zurück, wurde Blind Tom und transportierte die Reste von Hope Jones’ Stutzflügel von der Scheune seines Großonkels ins Hinterzimmer seiner Pianoklinik. Er hatte das Gefühl, sich endlich eine Identität und ein Leben anzueignen, die er schon vor Jahren gewählt hatte. Zur Zeit seiner Rückkehr war Bonnie sechzehn Jahre alt. Sie erkannte ihn nicht wieder, aber dafür gab es auch keinen Grund. Er war nur einer von vielen am Boden gewesen, als sie dort auf dem Baum gehockt hatte, ein Junge und ein Fremder. Jetzt ist er ein anderer. Und trotzdem irgendwie derselbe, weil er hergekommen ist, sich hier niedergelassen hat und mit seinem ehemaligen Ich und diesem Ort durch die visuelle Erinnerung an ein siebenjähriges, in einem Baum gefangenes Mädchen, die akustische Erinnerung an gemeinsam singende Stimmen, die taktile Erinnerung an ein schlammbespritztes Klavier auf einem Feld verbunden ist. Diese Erinnerungen werden bleiben. Sie werden nicht schwinden wie sein Augenlicht. Für Blind Tom ist Bonnie nie das Fliegende Mädchen gewesen, für ihn ist sie ein schlafendes Wesen am nächtlichen Himmel, ihr Gesicht von unten beleuchtet von den Hunderten Taschenlampen der Stadtbewohner, die sie anstrahlten, ehe sie heruntergeholt wurde. 282
Sie wird ihm nie gehören - ebenso wenig, wie der Mond den wilden Geschöpfen gehört, die ihn ansingen. Hopes Tagebuch, 1964 Es gibt eine Verordnung gegen dreiviertellange Hosen Allmählich offenbart sich das Kleinstadtleben - die weniger großzügige, die gehässige Seite des Kleinstadtlebens, sollte ich wohl sagen. Am Vormittag, Schlafenszeit für Larken, legte ich sie in den Kinderwagen, damit sie zur Ruhe kam, nachdem ich ein paar Besorgungen gemacht hatte, und fuhr sie spazieren, als Estella Axthelm uns zu sich winkte. Sie goss gerade die Blumenkästen auf ihrer Veranda. Während ich näher kam, dachte ich, wie reizend, endlich initiiert mal jemand ein Gespräch, lädt mich vielleicht sogar zu einer Tasse Kaffee oder einem Glas Eistee ein. Diese Art von Willkommensgruß hatte ich erwartet, wird mir jetzt klar, besonders da ich einen Einheimischen geheiratet habe. Ich stand auf dem Bürgersteig, zeigte mein schönstes Lächeln und überlegte, wie ich die Unterhaltung am besten beginnen sollte - etwas Nettes über ihre Blumen sagen natürlich! -, war aber noch mitten in meinem Kompliment, als sie mich unterbrach. »Sie müssen nach Hause gehen und sich umziehen«, sagte sie. »Wie bitte?« Ich war sicher, dass ich mich verhört hatte. Die Fremdartigkeit ihrer Sprechweise - sie klang irgendwie gewollt britisch - irritierte mich. Larken hatte angefangen, sich zu regen - sie nimmt jeden Stillstand sofort wahr, wie tief sie auch schlafen mag -, deshalb schob ich den Kinderwagen vor und zurück. Miss A. fuhr fort, ihre Geranien zu wässern. Sie stellte nicht einmal Augenkontakt her. »So ein Aufzug schickt sich nicht«, hörte ich sie sagen. Wovon redete sie? Ich hatte wirklich den Eindruck, die Frau spräche eine fremde Sprache. Da ihr Blick nach unten gerichtet war, schaute auch ich auf den Kinderwagen. Schickte es sich 283
nicht, dass ich daran zog? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Miss A. daran Anstoß nahm. Dann wurde mir klar, dass sie meine Kleidung meinte. »Mein Aufzug?«, fragte ich. Ich trug eine Dreiviertelhose, Keds und eine ärmellose, gelb getupfte Bluse. »In Emlyn Springs kleiden Mütter sich nicht so«, erwiderte sie und beehrte mich endlich mit der vollen Härte eines direkten Blicks, der besonders vorwurfsvoll und gewichtig war, weil sie nach wie vor auf der Veranda und somit über mir stand. Ich fühlte mich, als wäre ich fünf Jahre alt. An diesem Punkt kehrte sie mir den Rücken zu und ging ins Haus, wobei sie das Fliegengitter zuknallen ließ und die Haustür so fest ins Schloss zog, dass ich wusste, eine Einladung zu Tee und Gebäck war nicht zu erwarten. Inzwischen war Larken ganz aufgewacht und fing an zu schreien. Von wegen Schlafenszeit. Ich blieb noch ein paar Sekunden ungläubig stehen, dann hob ich Larken aus dem Wagen, trug sie zur Veranda hinauf und ließ sie sich damit amüsieren, dass sie jede einzelne von Miss A.’s Geranien - hassenswerte, übelriechende Blumen - mit der Wurzel aus der Erde riss. Als ich L. davon erzählte - wobei ich meinen Anfall von gärtnerischem Vandalismus verschwieg, bis ich seine Reaktion abschätzen konnte -, tat er die Sache als unwichtig ab. »Sie hat es nicht so gemeint«, sagte er. »Kleinstädter sind oft misstrauisch gegenüber Fremden, das ist alles, und die Frau war schon immer eine affektierte Kuh. Nimm es dir nicht zu Herzen.« Natürlich erwähnte ich die Blumen jetzt nicht, ebenso wenig wie die vier wütenden Anrufe, die ich nachmittags von Miss A. erhalten hatte. Ich hatte jedes Mal einfach aufgelegt. »Liebling«, sagte ich - immer noch in meinem unschicklichen Aufzug - zu Larken, als ich sie ins Bett legte, »sei freundlich zu den Leuten.« Llwellyn scheint nicht zu verstehen, wie verletzend diese Begegnung war, wie tief sie mich verunsichert hat. Ich beginne mich
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zu fragen, ob die anderen Frauen im Ort auch alle so über mich denken. Dass ich eine Schlampe bin, ihrer nicht würdig. Muss Schluss machen. Larken quengelt. Habe einen Artikel gelesen über die posthume Veröffentlichung der Gedichte einer jungen Frau namens Sylvia Plath. Amerikanische Autorin mit Kindern. Hoch gelobt. Ob sie ihre Werke wohl hier in der Bibliothek haben? Nach dem, was ich von ihrem Bestand gesehen habe, hege ich keine große Hoffnung, aber ich gehe trotzdem morgen hin. Das wird ein netter Ausflug für uns werden. Jedenfalls war sie zum Zeitpunkt ihres Todes mit einem ebenso gefeierten Dichter verheiratet - allerdings von ihm getrennt. Das muss schrecklich gewesen sein. Manche Menschen bezweifeln die Ernsthaftigkeit ihrer Absicht, da sie vereinbart hatte, dass früh am nächsten Morgen jemand in die Wohnung kam. Hoffte sie nicht, dass diese Person sie finden und retten würde? Bestimmt hat sie nur geblufft. War ihre Tat nicht eher ein Hilfeschrei als ein echter Versuch? Idioten. Natürlich nicht. Sie hatte nur dafür gesorgt, dass sich jemand um die Kinder kümmerte, wenn sie aufwachten. Ich würde dasselbe tun, so wie jede Mutter.
13 Schlundlöcher können selbstinduziert sein Im Fitness-Studio gibt es eine Neue. Gaelan bemerkt sie gleich zu Beginn seines Workouts. Er absolviert gerade sein CardioProgramm auf dem Crosstrainer; sie sitzt ihm direkt gegenüber auf dem Fahrrad. Sie betet. Das ist sein anfänglicher Eindruck. Ihre Lippen bewegen sich, und ihre Augen sind geschlossen. Sie ist ungewöhnlich intensiv mit sich selbst beschäftigt. Immerhin ist das hier 285
nicht Gold’s Gym in Venice Beach, sondern der YMCA im Stadtzentrum von Lincoln. Es ist eine gute Einrichtung, ideal für das, was Gaelan bezweckt, aber nicht der Ort, an dem man Menschen erwartet, die mit so viel nach innen gerichteter, geradezu ehrfürchtiger Konzentration trainieren. Nachdem er sie mehrere Minuten gemustert hat, wird ihm klar, dass sie keineswegs in ein Gebet vertieft ist. Sie singt lautlos die Texte sämtlicher Songs von »Born to Run« mit und hält dabei auch während der Instrumentalsoli den Takt. Bis sie beim vorletzten Stück, »Meeting across the river«, angelangt ist, lauscht Gaelan dem Album in seinem eigenen Kopf; er hört sogar das Trompetensolo. Und als »Jungleland« einsetzt, hat er den Rhythmus seines Körpers ganz dem ihren angepasst, und sie treten im Gleichklang in die Pedale. Sie steigen von ihren Geräten. »Hallo«, sagt er. »Hi!« Sie ist wesentlich jünger, als sie ihm auf den ersten Blick erschien: Anfang zwanzig, das heißt fünfzehn, sechzehn, vielleicht sogar siebzehn Jahre jünger als er. Normalerweise würden derartige Schätzungen für Gaelan keine Rolle spielen, heute tun sie es aus irgendeinem Grund - aber nur ein bisschen. Sie kennt Springsteen, sie strahlt nicht diese wahnsinnige Energie einer potenziellen Stalkerin aus, die Gaelan nach jahrelanger Erfahrung mit weiblichen Fans kennt und fürchtet, und sie trägt keinen Ehering (nicht, dass eine Ehe bei seinem Selektionsverfahren ein Ausschlussfaktor wäre, sie macht die Dinge nur komplizierter), und sie ist auf eine hoch gewachsene, blonde, nordische Weise sehr hübsch - stark ausgeprägte Gesichtskonturen, lange Gliedmaßen. Man kann sich gut vorstellen, dass sie als Model für Stretchpants und Wollpullover die Seiten eines dieser Kataloge für winterliche Sportkleidung ziert und auf Skiern einen Hang hinuntersaust. Nur noch ein paar Auskünfte über ihr bisheriges Liebesleben, die er durch dezent formulierte Fragen zu erhalten hofft, dann
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weiß Gaelan genug über dieses Mädchen, um sie in sein Schlafzimmer einzuladen. »Sie sind neu hier«, sagt er. »Ja, stimmt.« Ihr Körper ist wie gemeißelt, aber nicht massig wie der eines Bodybuilders. Sie ist sehr schlank. »Ich heiße Gaelan.« Und dann - er fühlt sich zwar wie ein Arschloch, kann jedoch der Versuchung, sie zu beeindrucken, nicht widerstehen - fügt er hinzu: »Gaelan Jones. Ich sage bei KLANKHAM das Wetter an.« »Genau!«, ruft sie fröhlich aus. »Sie kamen mir schon bekannt vor.« Ihre Augen zucken sporadisch; es gibt einen Namen für diese Angewohnheit, an den er sich aber nicht erinnern kann. »Ich heiße Rhiannon«, sagt sie. »Bin erst vor ein paar Wochen hergezogen.« »Von wo?« »Oregon. Ich habe hier ein Stipendium.« »An der Uni von Nebraska?« »Ja. Für Geologie. Hören Sie, ich wollte mich mit meinem Trainer treffen, aber er hat eben angerufen und gesagt, er kommt etwas später; ich soll schon mal ohne ihn anfangen. Haben Sie Lust aufzulegen?« »Klar.« Sie wenden sich den Gewichtstangen zu. Um ihre entblößte Taille spannt sich ein glatter, straffer Hautstreifen, der breiter und schmaler wird, wenn sie sich bewegt. Sie trägt schwarze, eng anliegende Fitnesskleidung: eine kurze, bestickte Hose und ein Leibchen mit Spaghettiträgern. Bodybuilder können von der Ästhetik eines männlichen Waschbrettbauchs schwärmen, so lange sie wollen; Gaelans Meinung nach ist nichts mit der Rückansicht einer Frau zu vergleichen: dieser wunderschöne Quadrant aus Gesäßmuskeln und Sehnen, der elegante, sanfte Schwung des Trapezmuskels, der sich über die Schultern und die Spitzen der Schulterblätter zieht.
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Sie kann nicht mehr wiegen als fünfzig Kilo, und dennoch lädt sie sich hundertfünfundsechzig Pfund auf die Stange und legt sich auf die Bank. Soll das ein Witz sein? Ihre Miene ist ausdruckslos, also begibt Gaelan sich in die Position des Trainingspartners: Beine weit gespreizt, Arme ausgestreckt und bereit zuzugreifen. »Fertig?«, fragt er. Sie atmet in ihre erste Presse. Gaelan zählt. »Eins … zwei … drei …« Sie konzentriert sich nicht auf die Stange, als sie ihre Übungen macht, sie schaut ihn aus ihren seltsamen Augen mit einem gelassenen und neugierigen Blick an, den Gaelan beunruhigend findet. Es ist kein unfreundlicher Blick, aber sexuell ermutigend ist er auch nicht. Es ist definitiv nicht der Blick einer Person, die mehr als das Anderthalbfache ihres Körpergewichts stemmt. Erst nach zwanzig Wiederholungen hört sie auf. Erstaunlich. »Danke«, sagt sie. »Dann stehe ich jetzt mal auf.« »Ja«, lacht Gaelan. »Das sollten Sie wohl.« Sie erhebt sich von der Bank und fängt an, sie abzuwischen obwohl ihr Körper nur einen ganz schwachen Hauch von Schweiß darauf hinterlassen hat. »Und, was studieren Sie?«, fragt er. »Karsthöhlen.« »Karsthöhlen?« »Schlundlöcher. Sie können selbstinduziert sein. Nicht viele Menschen wissen das.« Sie zeigt auf die Bank. »Sie sind dran.« Was soll er tun? Dies ist nicht seine übliche Reihenfolge. Aber sei’s drum. »Womit fangen Sie an?«, fragt sie. »Ich packe es Ihnen drauf.« »Zwei fünfundzwanzig«, sagt er. Sie legt ihm eine Hand auf den Bizeps. Ihre Haut ist überraschend kühl. Er spürt eine Reaktion in seinen Lenden. »Sie schaffen mehr«, sagt sie. »Legen Sie sich hin. Machen Sie die Augen zu.«
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Er gehorcht und lässt sich auf der Bank nieder, während sie die Stange belädt. Als sie fertig ist, fragt er: »Wie viel?« »Nicht so wichtig«, entgegnet sie, und als er die Augen öffnet, lächelt sie auf ihn herunter. »Sie wissen doch, wie es heißt«, fügt sie hinzu. »Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.« Er greift nach der Stange und starrt in ihre tanzenden Augen. »Haben Sie Lust, danach mit mir essen zu gehen?« »Klar. Das wäre prima. Aber erst …« Sie runzelt die Stirn, senkt die Stimme und sagt mit übertrieben österreichischem Akzent: »Erst PUMPEN WIR SIE AUF! Los jetzt, Kumpel. Achtmal. Das schaffen Sie.« Sie hat Recht. Er schafft es. Er fühlt sich großartig. »Es gibt Leute, die würden für diese Plätze töten, weißt du das?«, sagt Larken und fächelt sich das Gesicht mit einem Stapel teilweise zensierter Seminararbeiten. Aufgrund der unglaublichen Hitze, des unaufhörlichen Geschreis der Masse von Menschen von denen die meisten seit dem Vormittag Alkohol trinken - und weil die Marschkapelle darauf besteht, alle fünf Minuten There is no place like Nebraska zu spielen, fühlt sich ihr Kopf an wie ein Luftschiff kurz vorm Bersten. »Es gibt Leute, die würden mich für diese Plätze wahrscheinlich sogar heiraten«, fährt sie fort. Sie wischt sich die Stirn, bevor sich der nächste Vorhang aus Schweiß über ihre Brauen senkt. »Vermutlich dieselben Leute.« Jon lacht. Es ist kein echtes Lachen. Er wirkt schon den ganzen Tag zerstreut. »Football-Tickets als Mitgift«, sagt er. »Daran muss ich mich erinnern, wenn Esmé ins heiratsfähige Alter kommt.« »Ich habe eine Idee: Nächstes Jahr verkaufen wir sie auf dem Schwarzmarkt und stecken den Erlös in ihren College-Fonds.« Jon lächelt matt. »Schwarzmarktverkäufe sind verboten, weißt du das nicht?« Er blinzelt in die Menge auf der anderen Seite des 289
Stadions, als erwartete er, in dem aufgewühlten Meer aus RotWeiß eine bestimmte Person zu erkennen. »Ach ja, richtig«, erwidert Larken mit gespielter Bestürzung. »Verdammt.« Sie sitzen in der Mitte eines Sechser-Blocks an der FünfzigYard-Linie des Husker Stadion. Ein großer Kühlbehälter steht auf dem dritten Sitz; die anderen drei sind auffallend leer. Neben Jon waren diese Woche Mia, Esmé und Rhonda, Mias AkupunkteurFreundin, eingeladen. Sie waren zu Beginn des Spiels verabredet, doch das vierte Viertel hat bereits angefangen, und es ist offensichtlich, dass man sie und Jon versetzt hat. Larkens Bemühungen um einen fröhlichen Nachmittag sind fehlgeschlagen. Jon schaut auf seine Uhr. »Ich glaube, ich rufe Mia noch mal an.« »Sicher ist alles in Ordnung.« Larken will diese Annahme nicht dadurch bekräftigen, dass sie Jon an Mias generelle Unzuverlässigkeit erinnert. »Wahrscheinlich war es ihnen einfach zu heiß.« »Ja«, sagt Jon bedrückt. »Das muss es sein.« Es ist das letzte Heimspiel. Larkens Verpflichtung gegenüber ihrem toten Vater - zumindest, was diese Saison angeht - endet in ungefähr sechzehn Minuten. Sie hat wechselnden Erfolg damit gehabt, diese Plätze zu besetzen, und es nie geschafft, alle sechs zu füllen. Ihre Angehörigen fragt sie natürlich als Erste. Sie hat sie wiederholt eingeladen, aber Gaelan will seine samstäglichen Marathon-Trainings im Fitness-Studio nicht sausen lassen, und Bonnie ist vollauf mit einem neuen zum Scheitern verurteilten unternehmerischen Projekt beschäftigt. Viney ist zwar zu den ersten zwei Spielen gekommen, aber in seltsam gedämpfter Stimmung, und hat den Großteil beider Nachmittage leicht nach vorn gebeugt auf ihrem Sitz verbracht, das Kinn auf die Hand gestützt, und geschlafen. Larkens nachfolgende Einladungen hat sie höflich abgelehnt.
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»Ich habe dieses Jahr so viel mit der Planung der EierFeiertage zu tun«, erklärte sie. »Tut mir leid, Schätzchen, aber sicher gibt es eine Menge Leute, die mitkommen möchten.« Stimmt nicht. Es sind einfach nicht sehr viele Menschen, mit denen Larken gern einen Samstagnachmittag verbringt. Zu dem Spiel gegen Texas A&M hat sie Arthur und Eloise eingeladen sie brachten ihre beiden ältesten Enkel mit -, zum Spiel gegen Iowa State waren es Chris und ihr Ehemann Dennis und ihr achtjähriger Sohn. Und jetzt sehen sie und Jon zu, wie Nebraska von Kansas State niedergemacht wird. Es ist das erste Heimspiel in diesem Jahr, das sie verlieren. Alles wirkt so entrückt. »Ich kann gar nicht glauben, dass es Mitte November ist«, sagt Larken, weil sie spürt, wie ihre eigene Laune sich verschlechtert, und sie versuchen will, sie mittels Smalltalk zu heben. »Wo ist die heiße Schokolade? Wo ist das Brrrr?« Jon greift sich eine seiner ziemlich langen Haarsträhnen und fängt an, sie mit langsamer, gebändigter Zwanghaftigkeit zu zwirbeln. Larken fragt sich, ob sie die Entstehung einer Dreadlock miterlebt. Sie wollte immer schon wissen, wie sie gemacht werden. Die Sitzplätze sind Teil von Larkens Familienerbe. Ihr Vater erstand sie irgendwann Mitte der 1970er, und eine Zeitlang, ehe Hope einen Rollstuhl benutzen musste, kamen sie an den Football-Samstagen zu sechst hierher: drei Erwachsene - Mom und Dad und Viney - und drei Kinder. Wenn Larken darüber nachdächte, würde ihr womöglich klar, dass ihr ausgeprägtes Gespür für Farbe sich an diesen Samstagen ausbildete, in den Straßen von Lincoln und im Stadion, wo tausend oder mehr Rotschattierungen aufeinanderprallten. Sogar die Getränke, die aus Thermosflaschen ausgeschenkt wurden, waren rot: Bloody Marys für die Erwachsenen, Virgin Marys für die Kinder. Das dauerte allerdings nur wenige Jahre, dann behinderte Hopes MS sie alle. Fröhliche Ausflüge nach Lincoln an Football291
Samstagen zählten zu den Tributen, die eine Mutter im Rollstuhl von ihnen forderte. »Hast du jemals über das Ende der Welt nachgedacht, als du ein Kind warst?«, fragt Jon. Er starrt immer noch in die Menge der Husker-Fans auf der anderen Seite des Spielfelds. Es ist wohl das erste Mal an diesem Nachmittag, dass er ein Gespräch initiiert. Larken folgt Jons Blick und sieht, dass einzelne Grüppchen von Leuten schon gehen. Sie ist sowohl neidisch als auch wütend auf diese Deserteure. »Wenn man in den 60ern hier aufgewachsen ist, konnte man kaum anders«, sagt sie. »Bei dem Probealarm, der jeden Montag losging. Den Luftschutzschildern. Und als ich dann Angriffsziel Moskau sah und das mit der Air Force Base Offutt in Omaha erfuhr …« »Ach, stimmt ja«, murmelt Jon nickend. »… wenn es je einen Atomkrieg gäbe, würde Nebraska als Erstes weggepustet werden. Nicht mal ein Präsident, der ausieht wie Henry Fonda, könnte uns davor schützen.« Jon faltet die Hände und beugt sich vor. »Ich habe früher ständig an das Ende der Welt gedacht.« Larken muss dieselbe Haltung annehmen, um hören zu können, was er sagt; die Band hat zu einer weiteren Darbietung des Kampflieds von Nebraska angesetzt, und um sie herum sind alle aufgestanden und klatschen. Trotz der Umgebung und des Lärms umfängt sie eine eigenartige Ruhe; die stehenden Körper formen die Wände eines hohen, rechteckigen, türlosen, vom Himmel erhellten Privatgemachs. Jon fährt fort: »Als Kind habe ich jede Nacht zu Gott gebetet: »Bitte, bitte, lieber Gott, wenn ein Atomkrieg ausbricht, lass mich mit Mum und Dad und meinen Geschwistern im Luftschutzkeller sein.« Er hält inne, lächelt, schaut sie an. »Ich hatte dabei einen geräumigen Bunker vor Augen.«
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»Natürlich«, sagt Larken. Die Mauern ihres kleinen Zimmers stehen noch. Sie könnten hierbleiben, es nie verlassen. Sprich weiter, fleht sie. »Wenn ich mit meinem Dad bei einem Rugby-Spiel war, habe ich mich immer gefragt, wenn jetzt das Ende der Welt käme und die einzigen Menschen, die auf der Erde noch übrig sind, die Zuschauer in diesem Stadion wären … wäre dann jemand dabei, der mich lieben würde, den ich lieben könnte?« Larken mustert ihn. Sie entscheidet, dass es besser ist, mit einer kleinen, harmlosen Lüge zu kontern als mit der bedauerlichen - und vielleicht gefährlichen - Wahrheit. »Das ist komisch«, sagt sie. »Ich würde mich fragen, ob genug zu essen da ist.« Die Lüge bringt ihr den gewünschten Erfolg: Jon lacht unbeschwert. »Apropos«, fragt er, »möchtest du was von einem der Stände?« Nein, tu es nicht, denkt sie, denn sie weiß, dass es ein Vorwand ist. Er wird noch einmal bei Mia anrufen. Wieso? Wieso? Es geht ihm doch schon besser! Es ist ihr doch gelungen, ihn aufzumuntern! »Im Kühlbehälter ist jede Menge zu futtern«, sagt Larken und bereut es sofort. Natürlich ist noch jede Menge da; sie hat für fünf gepackt, nicht für zwei, und jetzt hat sie Jon wieder an die Abwesenden erinnert. Er drückt kurz ihre Schulter. »Bin gleich zurück.« Der Kühlbehälter ist voller Kartoffelsalat und kaltem Brathähnchen und Gemüsesticks und Rosinen und Äpfel und Getränken und Sandwiches, die sie speziell für Esmé gemacht hat: mit Sojakäse und Gurke und Oliven, mit Tunfisch und Kapern und Dill, mit Erdnussbutter und Pickles und Marmelade. Sie hat die Sandwiches zu kleinen Figuren zugeschnitten: Sterne und Ponys und sogar Glocken und Weihnachtsmänner und Tannenbäume, denn Larken glaubt fest daran, dass es, wenn Kinder im Spiel sind, nie zu früh ist, um an Weihnachten zu denken. 293
Es steht 38 zu 9. Wenn sie noch einmal There is no place like Nebraska hören muss, dreht sie durch. Und tatsächlich, da kommt es. Statt durchzudrehen, öffnet sie den Kühlbehälter und kramt darin, bis sie die Familienpackung Kartoffelchips gefunden hat. Sie holt sie heraus, reißt sie auf, isst. Dauerkarten für Footballspiele der University of Nebraska sind für die Einwohner dieses Staates, was mietpreisgebundene Apartments für die Bewohner Manhattans sind. Sie sind rar. Sie sind begehrt. Ihre plötzliche Verfügbarkeit ruft bei zivilisierten Bürgern - nette, aufrechte Menschen, die nie zuvor den Anschein erweckt haben, zutiefst opportunistisch zu sein - eine einzigartige Form von Verzweiflung hervor. Nachdem Larken von der Beisetzung ihres Vaters zurückgekehrt war, fing sie an, merkwürdige Anrufe aus Emlyn Springs zu erhalten, überwiegend von Leuten, die sie kaum kannte. Sie ließen höfliche, weitschweifige Monologe vom Stapel, in denen sie zahlreiche Geschichten zum Besten gaben, die ihre enge Freundschaft mit ihrem Vater offenbarten, z. B.: Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr an mich, Larken, aber Ihr Dad hat mich in jeder Saison zu mindestens einem Heimspiel eingeladen. Natürlich wissen Sie ja selbst, wie großzügig er war. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel Spaß wir da immer hatten! Also, einmal … Larken hörte zu und gab einsilbige Antworten, wenn sie ihr erforderlich schienen. Oft schaltete sie auf Freisprechfunktion und konnte nebenbei arbeiten: ihre täglichen Online-Kommuniqués an Studenten verschicken, Arbeiten zensieren, Prüfungsaufgaben schreiben. Diese Telefongespräche waren manchmal sehr lang. Irgendwann kam der Anrufer auf Larkens Pläne für die Wochenenden zu sprechen: Ihre Samstage sind sicher ziemlich ausgefüllt mit Referaten, die Sie begutachten müssen, und so weiter. Ich kann mir vorstellen, wie anspruchsvoll Ihr Job ist. Vermutlich
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haben Sie wenig Zeit für Geselligkeit. Sind Sie diesen Herbst viel auf Reisen für die Universität? Viney musste es ihr erläutern. »Sie wollen die Tickets.« »Welche Tickets?« »Die Football-Tickets von deinem Vater. Sie hoffen, dass du sie ihnen verkaufst, statt sie der Uni zurückzugeben.« »Das verstehe ich nicht.« Viney seufzte. »Ruf beim Kartenvorverkauf der Uni an, Schatz. Die können dir das besser erklären als ich. Und dann sag mir, wie du dich entschieden hast, damit ich den Leuten Bescheid geben kann. Sie machen mich wahnsinnig. Tschüss, Herzchen. Hab dich lieb.« Welchen Leuten Bescheid geben?, hätte Larken gern gefragt, doch Viney hatte bereits aufgelegt. Und so verbrachte Larken eines Nachmittags Anfang September fast eine Stunde mit einer bemerkenswert widerspenstigen Angestellten der Sportveranstaltungskasse der University of Nebraska am Telefon. Einen Großteil davon hing sie in der Warteschleife und lauschte endlosen Wiederholungen des Kampflieds von Nebraska samt Händeklatschen. Die Frau stellte sich nicht vor, aber da Larken wusste, dass sie aus dieser surrealen Begegnung irgendwann eine Anekdote für Jon machen würde, war ihr klar, dass die zweite Hauptfigur einen Namen brauchte, und so taufte sie sie. »Sie müssen die Tickets persönlich abholen«, sagte Mrs. Petra Tabatchnik. »Dauerkarten verschicken wir grundsätzlich nicht mit der Post.« »Weil sie gestohlen werden könnten.« »Das wäre eine Möglichkeit, ja. Diese Tickets sind sehr wertvoll.« »Ich kann Ihnen also nicht einfach telefonisch die Erlaubnis erteilen, sie zum Beispiel Freunden oder meinen Geschwistern oder
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meiner Stiefmutter auszuhändigen? Ich muss selbst kommen? Höchstpersönlich?« »Ja.« »Mit einer notariell beglaubigten Kopie der Sterbeurkunde meines Vaters.« »Wenn Sie RE sind, ja. Sie müssen auch eine notariell beglaubigte Kopie des Erbscheins mitbringen sowie zwei Identitätsnachweise mit Foto.« Mrs. Tabatchniks Professionalität war beeindruckend. Larken verspürte eine perverse Versuchung, die Grenzen ihrer Unnachgiebigkeit auszuloten. »Ich fasse es nicht!«, sagte sie, bemüht, den melodramatischen Ton zu treffen, den sie seit Jahren von den Bummelanten unter ihren Studenten kannte. »Mein Vater ist gestorben! Er ist tot! Verlangen Sie wirklich, dass ich mich persönlich darum kümmere?« Larken hoffte, dass Mrs. Tabatchnik dank ihrer stimmlichen Darbietung eine bleiche, schwindsüchtige junge Frau vor Augen hatte, gelähmt vom Ausmaß ihres Grams, im Morgenrock hingegossen auf ein zerwühltes, ungemachtes Bett: eine Mimi im letzten Akt von La Bohème. Tatsächlich trug Larken einen Bademantel und hatte ihr Bett noch nicht gemacht, also war dieser Teil des Bildes nicht ganz falsch. »Schließlich reden wir über Football-Tickets!«, fuhr sie, ganz Operndiva, fort und versuchte dabei, ihrer Stimme einen Gleichbreche-ich-in-TRÄNEN-aus-so-sehr-bin-ich-außer-mir-Klang zu verleihen. »Es ist einfach lächerlich, Menschen - besonders wenn sie gerade ihren Vater verloren haben - mit solchem …« Larken zögerte. So erregt sie auch war, brachte sie es doch nicht über sich, Mrs. Tabatchnik mit dem Wort Scheiß zu attackieren, und außerdem hätte Mimi nie Scheiß gesagt. Wenn irgendwas, dann merde, und Larken wusste nicht, ob Mrs. Tabatchnik Französisch sprach, obwohl das bei ihrem sicheren Auftreten nicht verwunderlich wäre. 296
»Jedenfalls«, schloss sie verärgert, »ist es einfach Wahnsinn.« Mrs. Tabatchnik blieb ungerührt. »Tut mir leid, Ms. Jones. Warten Sie bitte einen Moment. Ich habe jemanden in der anderen Leitung.« »Ja«, sagte Larken und seufzte theatralisch. »Gut.« Oh, there is no place like Nebraska, dear old Nebraska U … Inzwischen - fast einen Monat nach dem Tod ihres Vaters hatte sie gelernt, dass RE rechtmäßige Erbin bedeutet. Nach ihrem Bachelor-, Magister- und Doktortitel war RE jetzt ihre neueste Auszeichnung. … where the boys are the squarest, the girls are the fairest, of any old place that I knew … Als RE war sie mittlerweile wohlvertraut mit einer speziellen Sorte Aufkleber: transparent an den Rändern, sodass er wundersamerweise über dem Dokument zu schweben schien, auf dem er klebte, geformt wie ein Pfeil und in der Mitte schwach gallegrün angehaucht, darüber in Rot die Worte HIER UNTERSCHREIBEN. Diese wichtigtuerischen Spezialaufkleber versteckten sich mutwilllig irgendwo zwischen endlosen Zeilen voller Amtssprache, untergliedert in Klauseln, Zusatzklauseln und so weiter. Das HIER UNTERSCHREIBEN war manchmal schwer zu finden. Trotzdem, wer immer es sich ausgedacht hat, war sehr einfühlsam. Er oder sie musste erkannt haben, dass jemand, der erst kürzlich einen Angehörigen verloren hat, nicht gern viel liest. Ein Mensch kann nur ein bestimmtes Maß an Kummer ertragen, und der Kummer beansprucht ein großes Terrain. Ungebeten nistet er sich in jedem sichtbaren und unsichtbaren Teil einer Person ein. Das Lesevermögen ist nur eine der vielen Regionen, die der Kummer erobert, unterdrückt und besetzt. … there is no place like Nebraska, there we’ll all pull through… Es war Erschöpfung, die Larken schließlich zum Auflegen bewegte - das und der Verdacht, dass Mrs. Tabatchnik in ihrer Be297
ziehung zu Larken eine Grenze erreicht hatte und diese nervtötende Ms. Jones jetzt länger in der Warteschleife hängen ließ als notwendig. … We’ll all stick together in all kinds of weather at dear old Nebraska U … Ist sie ein Football-Fan? Nein. Hat sie sich diese Bürde gewünscht? Falls Larken Jones, RE, es so wollte, könnten diese Dauerkarten für den Sechserblock an der Fünfzig-Yard-Linie des Husker Stadion wieder in den allgemeinen Kartenverkauf zurückgehen. Das Territorium, das Dr. Llwellyn Jones aus Emlyn Springs, Nebraska, beinahe dreißig Jahre lang verteidigt hat, könnte preisgegeben werden. Jeder könnte es erwerben, und irgendjemand würde es erwerben, begierig und bald, zu welchen Kosten auch immer; falls Larken sich entschied, es abzuschreiben, wären diese sechs leeren Sitze aus ihrem Leben verschwunden und in glücklicheren Händen. Aber sie schaffte es nicht. Sie wusste, sie hätte es ewig bereut. Es gibt ein kleines Land, das sich an bestimmten Samstagen im Herbst innerhalb der Stadtgrenzen von Lincoln, Nebraska, formt. An diesen Samstagen versammeln sich Zigtausende Menschen, um ein Footballteam mit dem Namen Cornhuskers anzufeuern. Larken konnte nicht HIER UNTERSCHREIBEN - heute nicht und vielleicht nie, denn der Verkauf des kleinen Grundstücks ihres Vaters in jenem Samstags-Land wäre dasselbe gewesen wie der Verkauf der Familienfarm. Als Jon und Larken zu Hause ankommen, sehen sie Mias Wagen vor dem Haus. Jon hilft Larken, den Kühlbehälter aus dem Auto zu wuchten, und springt dann die Treppe hinauf. Larken macht sich eine Kanne Kaffee, schaltet ihren Rechner an und beginnt, die aktuellen Mails durchzusehen. Zehn Minuten später brüllt Mia los: »Du kapierst es einfach nicht, oder? Scheiße, du KAPIERST es nicht! Ich brauche Freiraum. Ich muss auch mal Zeit ohne dich verbringen, ohne sie. Ich 298
weiß schon gar nicht mehr, wer ich bin außer Professor Schwartzmanns Ehefrau und Esmés Mommy.« Larken hört eine gedämpfte Erwiderung von Jon, dann schwere Schritte auf der Treppe, dann ein Klopfen an ihrer Tür. Jon steht mit der halb schlafenden Esmé auf den Armen da. »Es tut mir leid, Larken, aber … könntest du sie ein Weilchen nehmen? Wir haben eine … na ja, ist sicher kein Geheimnis. Wir haben ein bisschen … Egal, sie hat geschlafen …« »Ist sie krank?«, fragt Larken und legt Esmé automatisch eine Hand auf die Stirn. Esmé hat kein Mittagsschläfchen mehr gemacht, seit sie drei war. »Nur müde, glaube ich«, sagt Jon. »Die Hitze, weißt du. Sie schläft sicher wieder ein, wenn es ruhig ist. Ich weiß, es ist viel verlangt, du hast schon einen ganzen Tag geopfert und musst jetzt arbeiten …« »Jon. Natürlich.« »Sie ist auch ganz leise, stimmt’s, Prinzessin?« »Ja«, murmelt Esmé mit gerunzelter Stirn. »Ich bin ganz leise, damit Larken arbeiten kann.« »Hier«, sagt Larken und breitet die Arme aus. »Ich nehme sie.« »Nein«, sagt Jon. »Ich mach das schon.« »Dad, lass mich runter«, insistiert Esmé. Sie geht zum Sofa, nimmt Platz, zieht die Füße unter sich, schlägt ihr Babar-Buch auf und fängt an zu lesen. Larken weiß nicht, was herzzerreißender ist: Esmés Teilnahmslosigkeit oder ihr Gehorsam. »Jon«, sagt Larken leise, »bitte, bitte zögere nie, mich um Hilfe zu bitten. Sie kann hier übernachten, wenn ihr mehr Zeit braucht. Das ist völlig in Ordnung. Ich habe sie sehr gern bei mir.« »Noch mal danke«, sagt Jon und wendet sich der Treppe zu, ohne sich von seiner Tochter zu verabschieden. Larken schließt die Tür und dreht sich zu Esmé um, die von dem Treiben in Babars Dschungel beunruhigt scheint. »Möchtest du was essen? Ich habe hier ein paar besondere Leckerbissen.« 299
»Ja, danke«, erwidert Esmé, ohne von ihrem Buch aufzuschauen. Larken öffnet den Kühlbehälter und bestückt einen der Pappteller mit einer Auswahl an Sandwiches: Weihnachtsmann, Rentier, Christbaum, Stern, Glocke, Herz. »Hier, Süße«, sagt Larken und stellt den Teller auf den Couchtisch. »Vielleicht können wir später zusammen lesen. Wie wäre das?« Esmé blickt auf. »Daddy sagt, du musst arbeiten.« »Stimmt.« Larken geht zum Fernseher. »Willst du dir was anschauen?« Esmé runzelt die Stirn und wendet sich wieder ihrer Lektüre zu. »Ja, gern.« Larken findet es nicht gut, den Fernseher als Babysitter zu benutzen, doch sie hat zu arbeiten. Sie stellt den Apparat auf PBS und setzt sich an ihren Schreibtisch, um einen Stapel Aufsätze zu zensieren. Als sie aufsieht, ist Clifford, der große rote Hund zu Ende, und Esmé ist eingeschlafen. Larken geht auf Zehenspitzen durchs Zimmer und stellt den Fernseher ab. Als sie Esmé in eine Decke wickelt, bemerkt sie an den Rändern der Sandwiches winzige, kaum sichtbare Bissspuren. Esmé hat das Brot kaum mit den Zähnen berührt: eine nervöse Haselmaus, die Angst hat, entdeckt zu werden. Und doch sah sie sich trotz ihrer gefährlichen Situation gezwungen, jedes einzelne Sandwich anzuknabbern, nur ein wenig, auf der Suche nach der richtigen Zutat, in der Hoffnung, den Zaubertrank zu erwischen, die Pille, die Schmerztablette, die Linderung bringt. Bis sie schließlich aufgab, weil sie sie nirgendwo fand. Hopes Tagebuch, 1965 Gravida Ich kann gar nicht glauben, wie lange es her ist, dass ich mich diesen Seiten zugewandt habe. Wo ist die Zeit geblieben? Die größte Neuigkeit ist, dass ich wieder schwanger bin. 300
Man bemerke das Fehlen eines Ausrufezeichens am Ende dieses Satzes. Angesichts der vielen älteren Geschwister von Larken, die es nicht geschafft haben, versuche ich, meine Gefühle zu bändigen und nicht zu hoffen. Also keine Babypartys, keine Einkaufstouren durch die Babyabteilung von J.C. Penney, keine Listen mit möglichen Namen … Ich erzähle es niemandem, nicht einmal Viney. Es ist schwer, so zurückhaltend zu sein, aber ich ertrage die Vorstellung nicht, mich wieder in ein Baby zu verlieben und es dann zu verlieren. Ich hoffe nur, wer auch immer dort drin ist, fühlt sich nicht vernachlässigt. Keine Sorge, Schätzchen. Ich weiß, dass du da bist. Ach, jetzt ist mir klar, warum ich nicht geschrieben habe. Ich hatte Angst. Nur diese wenigen Worte hinzukritzeln, diese paar Zeilen diesem Kind zu widmen, hat Hoffnung in mir geweckt. Wem will ich was vormachen? Ich empfinde bereits sehr viel für dieses Baby. Etwas anderes wäre unmöglich. Jedenfalls, so weit, so gut, mehr lässt sich nicht darüber sagen. Llwellyn und ich haben wirklich nicht so bald damit gerechnet (wer hätte gedacht, dass auch Ärzte dem Mythos anheimfallen, Stillen habe eine empfängnisverhütende Wirkung?), und dass ich demnächst zwei Kinder unter zwei Jahren haben werde, ist noch nicht Realität für mich, aber ich beklage mich nicht. Llwellyn scheint besorgt, aber die Wahrheit ist, dass ich mich großartig fühle. Voller Energie. Geht alles gut, hat unsere kleine Tochter an ihrem ersten Geburtstag ein Geschwisterchen! (Upps! Da ist mir doch ein Ausrufezeichen entwischt…) Weitere Neuigkeiten: Ich arbeite ehrenamtlich als Kostümbildnerin und Näherin für eine Inszenierung von »Romeo und Julia«. Das ganze Haus ist ein Riesendurcheinander aus Stoffen, Litzen, Schnittmustern. Larken hat einen Heidenspaß daran, sich in Brokat- und Seidenimitate zu wickeln. Es ist ein Paradies der Sinne für sie, in dem sie sich vergnügt, während ich in die Pedale trete. Was für eine glückliche Zeit. 301
In Emlyn Springs ist seit ungefähr zehn Jahren kein Stück mehr aufgeführt worden, hat Hazel Williams mir erzählt. Anscheinend machten Festspiele und dergleichen früher einen großen Teil des hiesigen gesellschaftlichen Lebens aus, und lange Zeit inszenierte ein Englischprofessor im Ruhestand namens Dr. Stubblefield einmal im Jahr in der Turnhalle der Highschool ein Shakespeare-Stück. Nach seinem Tod fand man keinen Ersatz für ihn, und damit war es dann vorbei. Niemand bemühte sich, neue Stücke auf die Bühne zu bringen - zumindest nicht, bevor diese anmaßende Außenseiterin in ihrem unschicklichen Aufzug, die Ehefrau des Arztes, in die Stadt kam … Ich weiß, ich sollte nicht so streng mit Emlyn Springs sein - es gibt wunderbare Menschen hier, die mehr als bereit sind, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen -, aber manchmal ist der Widerstand gegen alles, alles, was nicht von jemandem über sechzig vorgeschlagen wurde, erstaunlich. Kein Wunder, dass so viele junge Leute wegziehen. Es scheint hier einfach keine Wertschätzung neuer - oder auch nur wiederbelebter alter - Ideen zu geben! Nachdem ich Hazel Williams in meinen Plan eingeweiht hatte (sie ist so ein Schatz; sie fand ihn wundervoll und sagte ihre Unterstützung zu), präsentierte ich ihn bei einer Sitzung des Gemeinderats und schlug eine Komödie vor, etwas Leichtes wie »Ein Sommernachtstraum« oder »Wie es euch gefällt«, doch die zuverlässigen Neinsager (Estella Axthelm, Greta Hallock usw.) wollten etwas mit mehr »Würde«, mehr »Gewicht«. (Ich glaube, in Wahrheit wünschten sie sich ein Stück mit Hauptrollen für ältere Diven. Vermutlich hätten sie »König Lear« gewählt, wenn sie allein zu entscheiden gehabt hätten.) Jedenfalls stimmte die Mehrheit dann für »Romeo und Julia«. Ich freue mich sehr, dass wir eine kulturelle Veranstaltung organisieren. Es ist so wichtig für unsere Kinder zu sehen, dass wir die Künste schätzen. Und natürlich ist es wundervoll, dass die Leute sich für so etwas zusammentun, auch wenn es bedeutet, ertragen zu müssen, wie Estella Axthelm sich ständig in den Vor302
dergrund spielt. Schließlich heißt das Stück nicht »Julia und die Zofe«, aber das ist für Estella wohl ein unwesentliches Detail. Ich ernte immer noch missbilligende Blicke von bestimmten Elementen der Bevölkerung, wenn ich bei den Proben aufstehe und, so scheint es wohl, eine haarsträubende Idee nach der anderen präsentiere, doch das ist mir egal. Ich wünsche mir nichts mehr für diesen Ort, als dass er wiederbelebt wird, und diesem Ziel stehen nur engstirnige Menschen im Wege. Wenigstens habe ich in Viney eine liebe Freundin gefunden. Da sie jetzt für L. arbeitet, sehe ich sie jeden Tag. Sie ist eine Anarchistin wie ich, witzig und klug und scheint mit dem Kleinstadtleben ihren Frieden geschlossen zu haben.
14 Totenstellung Ganz hinten im Raum, so nahe wie möglich am Ausgang, stellt Gaelan sich tot. Rhiannon - die ebenfalls vorgibt, ein Leichnam zu sein, wahrscheinlich mit größerem Erfolg - liegt auf einer Matte neben ihm. Entspann deinen Körper, sagt der Lehrer. Leere deinen Geist… Viney wäre stolz auf ihn. Sie versucht seit Jahren, ihn für Yoga zu begeistern. Er erinnert sich daran, wie er zum ersten Mal Pumping Iron sah. Er war vierzehn, vielleicht fünfzehn - jedenfalls hatte er noch keinen Führerschein, und es war Viney, die sie nach Lincoln chauffierte. Schon der Beginn des Films lieferte ihr die Rechtfertigung, die sie gesucht hatte. »Siehst du!«, flüsterte sie eindringlich, während sie zuschauten, wie Arnold Schwarzenegger und Franco Columbu an einer Ballettstange standen und mit einer professionellen Ballerinaports de bras übten. »Wenn er Biegsamkeit und Grazie wichtig findet, solltest du das auch tun!« 303
Gaelan wäre auch zum Ballettunterricht gegangen, wenn Rhiannon das vorgeschlagen hätte. Wie die Dinge liegen, zieht sie aber als Abrundung des Fitnesstrainings Yoga vor. »Du kannst nicht nur Ausdauer und Kraft trainieren«, hat sie ihm schon kurz nach ihrer ersten Begegnung erklärt. »Und fünf Minuten halbherziges Stretching am Ende des Workouts reichen nicht, Gaelan. Du musst mehr an deiner Flexibilität arbeiten, sonst - das kannst du mir glauben - ziehst du dir Verletzungen zu. Das habe ich bei sehr vielen Bodybuildern erlebt.« Gaelan fragt sich, wie viele von Rhiannons BodybuilderExfreunden wohl in Oregon schmachten, weil sie nicht gelernt haben, die Sonne zu begrüßen. Er erkundigt sich jedoch nicht, leistet aber auch keinen Widerstand. Seit ihrem ersten gemeinsamen Training nimmt er täglich mit ihr am Yogakurs teil. … Verscheuche alles Geschwätz aus deinem Geist, liefere dich der Erde aus … Die Erfahrung hat Gaelan gelehrt, dass die Erfüllung der Wünsche einer Frau - auch wenn sie gar nichts mit Sex zu tun hat - der beste Weg zu einer glücklichen sexuellen Beziehung mit ihr ist. Frauen brauchen das. Gaelan hat herausgefunden, dass sie umso lustvoller und aggressiver im Bett werden, je mehr Willfährigkeit ihnen außerhalb des Schlafzimmers zuteilwird. Sexuelle Anziehung ist für Frauen nichts Separates, nichts, was sie vom Rest ihres Lebens trennen; sie ergibt sich aus allem und ist mit allem verknüpft. Frauen haben andere Dinge im Kopf, vermutet Gaelan, wenn sie mit Männern schlafen. Für Männer und da ist er mit Sicherheit keine Ausnahme - ist Sex ein simples Hier-und-Jetzt-Erlebnis. Bei einer Frau dagegen kann es sein, dass sie sich im Bett daran erinnert, wie du über den Einkauf der Artischockenherzen genörgelt oder vergessen hast, ihr die Tür aufzuhalten, oder nicht die Abkürzung nehmen wolltest. Frauen gegenüber musst du dich in diesen kleinen Dingen ständig beweisen. Sie entsinnen sich an alles, was außerhalb des Schlafzimmers passiert ist, und bringen es mit hinein, auch wenn sie das 304
selbst gar nicht immer wissen. Es ist wirklich am besten, den Ball flach zu halten und zu tun, was sie wollen. … Wenn doch Gedanken auftauchen, dann betrachte sie einfach als Wolken, die über einen vollkommen blauen Himmel ziehen … Seine Willfährigkeit gegenüber Rhiannon hat sich ausgezahlt: Nach dem heutigen Kurs gehen sie zum ersten Mal zu ihm. In seiner Wohnung ist alles bereit. … Es gibt keinen anderen Ort, an dem du sein musst, nichts anderes, was du tun musst … Sie stellen sich heute länger tot als sonst. In der ersten Stunde kam Gaelan mit der Totenstellung shavasana - nicht zurecht. Er kapierte sie einfach nicht. Irgendwann setzte er sich sogar auf und sah sich um, um sich zu vergewissern, dass es wirklich nur darum ging, auf dem Rücken zu liegen, die Handflächen nach oben gedreht, die Füße ein Stück auseinander und die Augen geschlossen. Dass er nicht Opfer eines Juxes war, eines Initiationsritus für Yoga-Anfänger. Aber im ganzen Raum lagen etwa dreißig Männer und Frauen, die so taten, als wären sie tot. Gaelan fiel auf, dass etliche der männlichen Leichen einen Ständer hatten. Sie erinnerten ihn an MiniaturGolfplätze. Es fehlten nur noch die Fahnen. Inzwischen versteht er, worum es geht, irgendwie. Zumindest der körperliche Teil fällt ihm jetzt leichter. Aber den Geist leeren? Das ist unmöglich. Er wünscht sich, es wäre anders. Er würde gern aufhören, über das nachzudenken, was er bei der Trauerfeier für seinen Vater erfahren hat - dass das Mädchen, das er vor fünfzehn Jahren sitzen gelassen hat, mittlerweile Witwe mit einem 11- oder 12jährigen Sohn ist und nicht weiter als fünfundsiebzig Meilen entfernt von ihm lebt. Es wäre ihm sehr recht, wenn sich dieses Wissen ihm nicht immer wieder zu den unpassendsten Zeiten, zum Beispiel jetzt, aufdrängen würde.
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Wenn sein Geist schon schwatzen muss, dann soll er doch über Rhiannon schwatzen. Ist sein Himmel voller Wolken, würde er sie gern in Form von Rhiannons Körper sehen, wenn sie die Seitkrähe oder einen Spagat macht. … lass dich tief in deine Mitte sinken, finde Zufriedenheit darin, einfach zu sein … Vielleicht quält sie sich ja genauso wie er. Gaelan dreht den Kopf und blinzelt in der Hoffnung, dass auch Rhiannon ihm einen verstohlenen Blick zuwirft, dass sie ebenso begierig auf das Ende des Kurses wartet und sich bereits ausmalt, was zwischen ihnen geschehen wird, wenn sie in seiner Wohnung sind, sich darauf freut. Aber nein. Sie sieht nicht aus, als freute sie sich auf irgendetwas. Wie könnte sie auch? Sie ist tot. In Gaelans Wohnung befindet sich ein Ehrenmal. Er begreift es nicht als solches, aber es ist eins. Es wartet hinter einer verschlossenen Tür als Letztes, das sich den Frauen offenbart, die er mit nach Hause bringt: eine Belohnung für ihre Geduld, eine Bestätigung ihrer Hoffnungen, denn ihre ersten Eindrücke von Gaelans Behausung sind nicht positiv. Mit geringfügigen Variationen erleben die Frauen Folgendes: Zwei Wochen lang tauschen sie eine Reihe stetig wachsender Intimitäten aus: Erst flirten sie beim Kaffee, dann füttern sie sich beim Mittagessen gegenseitig mit Dessert, dann turteln sie bei Martinis; es folgen Zungenküsse auf dem Parkplatz und Petting im Kino. So weit, so gut. Und dann werden sie in sein Apartment eingeladen. An Gaelan Jones’ Wohnung fällt den Frauen als Erstes auf, dass sie sehr sauber ist - nicht unbedingt etwas Schlechtes, doch sie wirkt außerdem beunruhigend aufgeräumt, als gehörte ihr Besitzer zu denen, deren Nervensystem einen Kurzschluss erleidet, wenn die Zeitschriften nicht ganz ordentlich gestapelt sind und 306
die Steakmesser nicht genau fünf Zentimeter oberhalb der Tischkannte liegen. Die Stereoanlage ist an und auf einen Sender eingestellt, der fade Pop-Hits aus den 60ern, 70ern und 80ern spielt: »Peaceful easy feeling«, »Rainy days and Mondays«, »Up, up and away«. Vielleicht wurde sie angelassen, um die Katzen zu sedieren. (Sie sind nicht zu sehen, aber den Frauen wurde erzählt, dass er welche hat.) Es ist die Art von Musik, die stumpfsinnige Arbeitsabläufe begleitet, Beschallung für Menschen, die in fensterlosen Kabinen verbissen vor sich hinwerkeln. Es ist Musik, der, so stellen es sich Gaelans Frauen vor, ihre Mütter lauschten, während sie Möbelpolitur auf Couchtische auftrugen oder Sprühstärke in die Oberhemden ihrer Dads bügelten. Gaelan präsentiert ihnen spätnachmittägliche Erfrischungen und Snacks: Wein oder Bier, aufgeschnittenes Gemüse, Weizenkleiecracker, Dips, Nüsse … Die Frauen nippen an ihren Getränken und schauen sich im Raum um: Er enthält glänzende, nichtssagende Möbel in verschiedenen Beige-Schattierungen, einen Satz Hanteln, eine Multimedia-Anlage, einen HightechCrosstrainer. Keine Plakate, keine Pflanzen, keine Familienfotos. Sogar Geschirr und Weingläser sind unpersönlich und gesichtslos. Gaelan setzt sich neben sie auf das Sofa. Die Frauen spüren, wie die Konstruktion unter der Polsterung - Holzrahmen, Stahlfedern - auf sein Gewicht reagiert. Das erinnert sie an seine Massigkeit, seinen wie gemeißelten Körper. Gaelan Jones: Wetteransager und Bodybuilder. Das sind die Fakten, die sie alle kennen eigentlich die einzigen Fakten, die sie kennen, wenn sie genau überlegen. Die Frauen beißen in eine Selleriestange. Der Lärm ist ohrenbetäubend, wie gewaltige Baumstämme, die von einem Bulldozer wegrasiert werden. Sie plaudern. Zu Gaelans Gunsten sei gesagt, dass er ein guter Zuhörer ist, aber in dieser sterilen Umgebung kommt es den Frauen vor, als hätte sich ihre bisherige Geschichte mit ihm in 307
Luft aufgelöst. Sie stellen fest, dass sie Geschichten erzählen, die sie ihm schon erzählt haben, Informationen preisgeben, die nur Wiederholungen sind. Sie und Gaelan umkreisen einander, vorsichtig, mit Abstand - wie Ringkämpfer gewissermaßen, nur dass der eigentliche Ringkampf vielleicht gar nicht stattfindet. Es könnte sein, dass er aufgrund der Nebenwirkungen der Kaufhausmusik und des monochromen Interieurs abgeblasen wird. Gaelans Frauen fangen an zu bezweifeln, dass es klug wäre, mit diesem Mann eine Affäre zu beginnen. Vielleicht hat er nichts zu bieten außer seiner Fernsehpräsenz - und seinem beeindruckend starken, anbetungswürdigen Körper. Vielleicht ist alles nur Äußerlichkeit ohne Substanz. Er küsst gut, wenn auch ein bisschen hektisch. Wenn er nun ebenso unentschlossenes Mittelmaß ist wie die Einrichtung? Vielleicht täten sie besser daran, eine Beziehung mit seinem Fernseh-Ich einzugehen; sie könnten in ein kleines, tragbares Gerät investieren und ihn so immer in der Nähe haben. Dann würden sie kein Unbehagen verspüren, keinen Druck, berühren oder sich berühren lassen zu müssen. (Aber sind sie nicht hergekommen in der Hoffnung, berührt zu werden? Suchen sie nicht nach sexueller Abwechslung? Armer Gaelan, er zieht nur Zweifelnde und chronisch Wirre an.) Ihr Gastgeber dagegen lässt kein Anzeichen von Befangenheit erkennen. Er ist liebenswürdig und höflich. Die Frauen fragen sich, ob nicht irgendwo eine Anstandsdame versteckt ist, im Besenschrank oder im Gemüsefach. Sie sprechen leise und halten sich von weiteren Begegnungen mit Sellerie und Crackers fern. »Möchtest du den Rest der Wohnung sehen?«, fragt Gaelan nach dreißig bis fünfundvierzig Minuten. »Ja, klar«, erwidern die Frauen, höflich, aber verdutzt, denn sie wissen, dass es nur noch ein Zimmer gibt. Sie haben sich noch nicht einmal geküsst. Sie haben sich kaum berührt. Wie aufregend kann das werden? Sie schauen auf ihre Uhr und denken an die Einkäufe, die sie zu erledigen haben, an die Wäsche, die Lektüre juristischer Ab308
handlungen, das Zensieren von Schulaufsätzen über Der scharlachrote Buchstabe. Sie denken an all die Verpflichtungen, denen sie ausweichen, indem sie hier sind, die sie erwarten, wenn sie gehen. Was jetzt jeden Moment der Fall sein kann, denn dieses Rendezvous mit dem Wettermann läuft nicht so, wie sie gehofft haben. (Und was haben sie sich vorgestellt? Doch nicht, dass er gleich über sie herfällt, oder? Das können sie sich nicht gewünscht haben.) Gaelan erhebt sich, geht einen kurzen Korridor entlang und bleibt vor einer geschlossenen Tür stehen. Die Frauen folgen, ihr Getränk in der Hand. Er stößt die Tür auf. Da ist der Schrein. Die Frauen sind wie gebannt. Es ist ein Quilt, aber ganz anders als die Quilts, die ihre Großmütter ihnen vererbt haben. Quilts, die in Aussteuertruhen verstaut sind, eingeschlagen in Seidenpapier, inmitten von Mottenkugeln, die hart sind wie Hagelkörner und nach Kampfer stinken. Quilts, die in Ehren gehalten, jedoch nie benutzt werden, da sie viel zu altjüngferlich und bieder wirken, um die Betten moderner Frauen zu schmücken - unzufriedener Frauen, die hier sind, weil es sie dringend nach stürmischem, rachsüchtigem, schweißtreibendem, heilsamem und/ oder verbotenem Sex verlangt. Die Quilts von Gaelans Geliebten haben gefällige Muster (Blumenkorb, Fliegende Gänse, Ehering), Muster, in denen große weiße Flächen frei bleiben, die mit Sicherheit von den braven, schmucklosen Baumwolllaken der Ehebetten ihrer Vorfahren stammen. Diese weißen Felder, jungfräulich wie Hochzeitskleider, unterstreichen den Glauben der Quiltnäherinnen, dass es gefährlich wäre, zu sehr auf Farben und Muster zu setzen, dass ein zu langer Blick auf ein freizügiges Design die Betrachterin vielleicht dazu verführen könnte, moralisch freizügige Handlungen zu begehen. Die Quilts von Gaelans Geliebten wurden von anständigen einheimischen Hausfrauen gefertigt, die sich keinem anderen Mann als ihrem Ehegatten je nackt gezeigt hätten, deren Hände von 309
Herzen und Gedanken geleitet wurden, die spätnachmittägliche Rendezvous mit einer 38-jährigen Fernsehberühmtheit, einem Mann mit zweifelhaften Talenten und seltsamen Obsessionen, nicht billigen würden. Aber dieser Quilt! Der Quilt des Wetteransagers! Eine Explosion unkonventioneller Ausdruckskraft, ein Getümmel wirbelnder Formen in den Farben wohlschmeckender Gewürze und tropischer Blüten. Wer hätte das gedacht? Hier sind auch die Katzen, von denen die Frauen gehört haben. Sie liegen schlafend mitten auf dem Bett: orange getigert und bunt gescheckt, sodass sie aussehen, als wären sie Teil des Designs. Wenn die Frauen sich nähern, blinzeln die Katzen zu ihnen auf und registrieren die Ankunft der Besucherinnen mit den Gesten und Lauten von Operndiven. Manche der Frauen finden Spencer und Kate wonnig, Hundeliebhaberinnen sind sie egal, die Allergischen beginnen zu niesen. Für alle jedoch ist die Aussicht auf faden Sex in Beige wie weggewischt. Der Quilt, erotisch so stark aufgeladen, dass er den Umschlag einer Neuübersetzung des Kamasutra illustrieren könnte, verändert alles. »Was für ein fantastischer Quilt!«, rufen - oder murmeln, sinnieren, schniefen, schmachten - die Frauen, je nach Temperament und dem Grad sexueller Erhitzung, die den Moment der Enthüllung begleitet. »Danke«, erwidert Gaelan. Er ist froh, dass der Quilt den Frauen gefällt, spielt seine Bedeutung jedoch lieber herunter, weil er sich nicht eingestehen mag, dass er zweifellos das Bemerkenswerteste an seiner Wohnung ist - und das meiste über seine Persönlichkeit verraten könnte. »Wo hast du den her?«, fahren die Frauen fort. Sie treten näher ans Bett, um ihn besser betrachten zu können. Spencer und Kate, die wissen, dass sie sowieso bald verbannt werden, verlassen den Raum. »Meine Mutter hat ihn entworfen.« Keiner der Frauen fällt auf, dass dies keine Antwort auf ihre Frage ist. 310
Sie stimmt zwar im Wesentlichen, aber Gaelan verschweigt die Tatsache, dass der von Hope entworfene Quilt vor fünfundzwanzig Jahren in die Luft geflogen ist und dass er Jahre später Dutzende kleiner Skizzen und Zeichnungen, die er aus dem Gedächtnis angefertigt hatte (sowie seine ersten beiden Gehälter als Wetteransager bei KLAN-KHAM), einer Textilkünstlerin übergeben hat, die daraus dieses Faksimile rekonstruierte. Es ist also Hopes Quilt, ja - aber auch Gaelans, denn es sind seine Erinnerungen, die die Farben intensiviert haben: Kurkuma, Paprika, Curry, Limone, Lavendel-Blau, Hibiskus-Rot, PfefferSchwarz, Staubfaden-Rosa. Es sind seine Erinnerungen, aus denen die beispiellose Geografie des Quilts geschaffen wurde, bei der einzelne Flicken aus der Reihe tanzen, mäandern, sich voneinander wegdrehen wie Planeten, die aus der Umlaufbahn gerutscht sind. Hopes Quilt war eine zahme, abgeschwächte Version von diesem, eine frühe Fassung. Die Frauen ziehen einen verständlichen, aber falschen Schluss. »Deine Mutter hat den gemacht?«, staunen sie. Gaelan antwortet nicht, sondern nimmt diese Frage als eine rhetorische. Dann wollen die Frauen zum Beispiel wissen: »Ist sie Künstlerin von Beruf?« oder »Verkauft sie ihre Quilts irgendwo?«. Worauf Gaelan entgegnen muss: »Ehrlich gesagt, sie ist tot.« »Oh nein!«, rufen die Frauen. »Wann ist sie gestorben?« »Ist schon lange her, 1978.« »Das tut mir ja so leid.« Die Frauen stellen ihr Glas ab. Sie beugen sich über das Bett und streichen mit den Händen über den Quilt. Gaelan tritt hinter sie. Er drückt seinen konkaven Körper an ihren konvexen und streckt ebenfalls die Hände aus. Eine Zeitlang erkunden sie den Quilt gemeinsam. Die Frauen können sich jetzt ohne Zögern oder Angst in die Arme des Wetteransagers schmiegen. Alles fühlt sich richtig an.
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Bald werden Kleidungsstücke abgelegt, Pheromone beginnen mit Gewalt, ihre Signale abzufeuern. Der Quilt hat sie verzaubert, so kommt es den Frauen vor. Er hat sie - mit seinen suggestiven Farben, seinen wirbelnden Kaskaden von Formen - von ihrer Unzufriedenheit befreit. Gaelan hat den Quilt in seinem Liebesleben nie als Trumpfkarte einsetzen wollen, wirklich nicht, aber die Wahrheit ist, dass nichts so sicher zum Sex führt wie eine traurige Geschichte, auch wenn sie nicht vollständig ist. Irgendwann überwinden die Frauen die Probleme, die sie hergebracht haben. Geheilt, wie sie sind, fällt es ihnen nicht ein, der Historie dieser dekorativen Anomalie, die das Bett des Wetteransagers schmückt, gründlicher nachzuspüren. Am Ende ist er nichts weiter als ein großartiger Liebhaber, und der Quilt ist bloß eine hübsche Tagesdecke. »Meine Eltern haben sich bei einem Fleetwood-Mac-Konzert kennen gelernt.« »Ich erinnere mich«, erwidert Gaelan, 1975. »Bier oder Wein?« »Bier ist gut, wenn du eins mit wenig Kohlehydraten hast.« »Hab ich.« Gaelan steht im Küchenbereich der Wohnung. Während er das Bier in ein Glas gießt, schaut er auf Rhiannons Hinterkopf. Sie sitzt auf der anderen Seite des Raums auf dem Sofa, spielt geistesabwesend mit ihren Haaren und sieht sich um. Sie wirkt zerstreut, müde. Vielleicht ist ihr Blutzucker im Keller. »Bedien dich von dem Hummus«, erinnert Gaelan sie. »Mom zufolge«, fährt Rhiannon fort, »wurde ich gezeugt, als sie gerade ein Bootleg-Album hörten.« »Was für eine tolle Geschichte«, sagt Gaelan und tritt wieder ins Wohnzimmer. »Hier.« »Ich bin nur froh, dass sie mich nicht ›Stevie‹ genannt haben.« Gaelan lacht, als hätte er das noch nie gehört. Er setzt sich neben sie, legt seinen Arm auf die Sofalehne und befingert ein paar 312
ihrer Haarsträhnen. Ihr Nacken ist warm und noch feucht. Sie haben beide, ehe sie herkamen, im Fitness-Studio geduscht. »›Stevie‹ würde überhaupt nicht zu dir passen«, murmelt er. »Du bist definitiv eine Rhiannon.« Er denkt gern daran, dass sie erst vor einer halben Stunde beide nackt waren (gleichzeitig, aber in unterschiedlichen Räumen). Sie riecht nach geschmolzenen Zuckerstangen. Er kann es gar nicht abwarten, sie zu schmecken - und das wird er. Das Warten, und sei es nur für eine kurze Weile, macht alles nur noch besser. Sie rückt ein Stück von ihm ab. Gaelan nimmt seine Hand weg, trinkt einen Schluck Bier. »Ich glaube, mir hat mal jemand erzählt, das ist ein gälischer Name«, fügt sie hinzu. »Irisch vielleicht. Oder Walisisch.« »Wirklich?« Diese Information ist neu. »Ich habe ein Buch über walisische Mythologie. Ich gucke mal, ob ich es finde. Kann ich dir was mitbringen?« »Nein, danke. Ich brauche nichts.« »Bin gleich zurück.« Gaelan geht den Flur entlang in sein Schlafzimmer. Er glaubt, dass das Buch im Schrank ist, zusammen mit anderem Kram, den er sich nie anschaut: alte Jahrbücher, Lehrbücher vom College, Briefe. Viel ist es nicht. Gaelan ist nicht der Typ, der Andenken hortet. Ja, hier: Land meiner Väter. Eine Sammlung walisischer Folklore und Dichtung. Er klappt es auf, und auf dem Vorsatzblatt steht: Für meinen großen Bruder, Waliser durch und durch und immer mein Held. In Liebe, Bonnie. Weihnachten 1984. »Hab’s gefunden«, ruft er. 1984. Scheiße. 1984 war die Frau nebenan neun Jahre alt. Gaelan blättert, bis er findet, was er gesucht hat. »Hier ist es: Rhiannon«, ruft er. »Was?« Ihre Stimme klingt erschrocken, als hätte sie gedöst. »Hier steht was über deinen Namen.« »Ach so, ja.« 313
»Rhiannon ist die große walisische Göttin, die viele Gestalten annehmen kann.« »Hmm.« »Oft erscheint sie auf einem weißen Pferd und wird von drei lieblich singenden Vögeln begleitet …« »Sind da auch Bilder?«, fragt Rhiannon, »lass mal sehen.« Als Gaelan das Schlafzimmer verlassen will, fällt etwas aus dem Buch. Es ist ein Brief. Er bückt sich, um ihn aufzuheben. Als er erkennt, von wem er ist, zieht sich seine Brust zusammen: ein Geflecht aus Muskeln und Sehnen, das mit zu kleinen Stichen, zu eng beieinander, durchbohrt und gestrafft wird. »Oh, mein Gott«, sagt Rhiannon ganz aus der Nähe. »Was ist?« Von Panik ergriffen, schaut Gaelan auf. Aber sie sieht ihn gar nicht an; sie steht ein Stück entfernt von ihm in der offenen Tür. »Was ist?«, wiederholt er mit ruhigerer Stimme, steckt den Brief wieder in das Buch und verbirgt es hinter seinem Rücken. »Dein Quilt«, sagt Rhiannon atemlos. »Er ist fantastisch.« »Danke.« »Woher hast du ihn?« »Er ist eine Art Familienerbstück. Meine Mutter hat ihn entworfen.« »Du machst Witze. Hey, ist das das Buch?« Sie macht ein paar Schritte auf ihn zu und greift danach, doch Gaelan packt ihre Hand, zieht sie in seine Arme, lässt das Buch zu Boden fallen und kickt es - während sie anfangen, sich zu küssen - unter das Bett. »Hab ich ein Glück«, murmelt er zwischen zwei Küssen, während Kleider abgestreift werden, während sie in die Horizontale übergehen, »ich habe mir eine Göttin geschnappt.« Zwei Orgasmen später (ihre, nicht seine) macht Gaelan eine Pause. »Das war gaaaanz toll«, sagt Rhiannon, seufzt und streckt sich.
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Sie wirkt aufrichtig. Das ist eine Erleichterung. Nach der erschreckenden Erkenntnis, dass er Probleme mit seinem Schwanz hatte, musste Gaelan das Geschehen nämlich durch den großzügigen Gebrauch von Fingern und Zunge lenken. Weil er sich die Erfahrung immer gern schildern lässt, fragt er: »Wie war es?« »Hmmmm«, sinniert sie und schließt die Augen. Sie sieht wirklich recht glücklich aus. »Es hat sich angefühlt, als wäre ich mitten in einem weißen Wirbel, wie schneeblind.« Sie streckt sich wieder. »Und ich hab Pfefferminz geschmeckt.« Sie küsst ihn und lässt ihre Zunge langsam in seinem Mund kreisen, zieht mit den Zähnen leicht an seinen Lippen. In Gaelans unteren Regionen tut sich nichts. Nicht das Geringste. »Bist du sicher, dass du es nicht noch mal versuchen willst?«, flüstert sie und will nach ihm greifen, doch er packt ihre Hand und führt sie an seinen Mund. »Heute nicht«, sagt er entschlossen, als wäre das von Anfang an geplant gewesen. Er befeuchtet ihre Finger und dirigiert sie zurück unter die Decke und in sie hinein; die Wände ihrer Vagina sind noch warm und prall und nass. »Konzentrieren wir uns auf dich.« Rhiannon schnappt nach Luft, schließt die Augen. Das ist nicht übel. Eigentlich ist es schön zu wissen, dass er eine Frau irgendwo hinbringen kann, auch wenn es bedeutet, dass sie sich von ihm entfernt. In ihr bewegen sich ihrer beider Finger mit wachsender Dringlichkeit. Rhiannon stöhnt, hebt sich ihm entgegen, segelt davon. »Gut so«, flüstert Gaelan, während sie immer weiter wegdriftet. »Los, machen wir einen Schneesturm.« Ursprünglich hatten sie davon gesprochen, ins Kino zu gehen, aber nichts fest abgemacht. Jetzt beschließt Rhiannon, zur Bibliothek zu fahren. Sie werden sich morgen im Fitness-Studio treffen. 315
»Irgendwie habe ich ein schlechtes Gewissen«, sagt sie, als er sie zur Tür bringt. »Du weißt schon …« »Brauchst du nicht«, unterbricht Gaelan sie. »Ein schlechtes Gewissen ist vollkommen unnötig.« Das ist seine Standardentgegnung auf ein oft geäußertes Gefühl, aber sie scheint zuverlässig beruhigend zu wirken. Sie küssen sich, dann geht Rhiannon. Trotz einer gewissen Enttäuschung über den Verlauf des Nachmittags hat Gaelan allen Grund anzunehmen, dass sie sich noch häufig sehen werden. Nachdem er sich unter der Dusche vergewissert hat, dass mit seinem guten Stück per se alles in Ordnung ist, beschließt Gaelan, zu Hause zu bleiben; er wird sich eine Pizza bestellen und eine DVD aus seiner Sammlung ansehen. Vielleicht eine Komödie wie Twins - Zwillinge oder Kindergarten Cop, oder hat Arnold nicht auch einen Film mit Dolly Parton gemacht? Er zieht das Bett ab, steckt das Bettzeug in die Waschmaschine und spült das Geschirr ab. Er ruft bei Godfather’s Pizza an und gibt seine Bestellung auf. Er setzt sich an den Computer und durchforstet das Internet. So erfährt er, dass zu den psychischen Gründen für eine erektile Dysfunktion Stress, Versagensangst, Schuldgefühle, Depressionen, beeinträchtigtes Selbstwertgefühl, Gleichgültigkeit, Verlust durch Tod, Nervosität, Beziehungsprobleme, Erschöpfung und latente Schwulheit gehören. Eine Website aus Großbritannien beschwört ihn, keinesfalls Pillen oder sonstige Mittel über das Internet oder in Kneipen zu kaufen. Eine andere Site versichert ihm, dass dank der Verfügbarkeit neuer Medikamente Maßnahmen wie Schwellkörperinjektionen oder implantate oder das Einführen von Mini-Tabletten in den Harntrakt (hier kämpft Gaelan gegen eine Welle der Übelkeit) kaum noch notwendig sind. So etwas ist ihm einfach noch nie passiert, nicht mal ansatzweise. Bisher war er immer uneingeschränkt zur Stelle, wenn Leistung von ihm gefordert wurde. 316
Genug. Er steht auf, bezieht das Bett frisch und legt den Quilt darüber. Er gibt schmatzende Laute von sich. Kate und Spencer tauchen aus ihrem Versteck auf, kommen auf ihn zugetrottet, reiben sich an seinen Beinen und springen auf das Bett. Als er sich vorbeugt, um sie zu tätscheln, stößt er mit dem Fuß an etwas. Das Buch. Er hat es ganz vergessen. Drinnen stecken eine fünfzehnseitige Broschüre über walisische Liebeslöffel (A Spoonful of Love - The Story of the Welsh Love Spoon) von Elwyn Hughes und die Geburtstagskarte von Bethan, an die er sich nicht erinnert hat und die er Rhiannon nicht hatte zeigen wollen. Er setzt sich aufs Bett und liest: Liebster G, so einen hätte ich dir gemacht, wenn ich könnte … Gaelan entsinnt sich des Geschenks, das diese Karte begleitet hatte. Er hat es sich seit Jahren nicht angeschaut und keine Ahnung, wo er danach suchen soll. Bethan fährt fort: Ich hoffe, er gefällt dir. Ich habe Dad und Mom letzten Sommer, als sie in Wales waren, auf jemanden angesetzt, der mir einen ganz speziellen Liebeslöffel schnitzt. (Da er für dich bestimmt war, hatte ich besondere Anweisungen.) Die einzelnen Symbole bedeuten Folgendes: Das Herz ist ziemlich offenkundig, ebenso das Schlüsselloch mit Schlüssel, aber das ist mir egal. Du hast den Schlüssel zu meinem Herzen. Die Weinranken versinnbildlichen das Wachsen der Liebe und erinnern mich natürlich an Viney. Ineinander verschlungen wie hier zeigen sie auch, wie zwei eins werden. Das vierblättrige Kleeblatt steht für das alte Gedicht von Ella Higginson. Und natürlich für deine Mom. Und dann ist da noch das Komma/die Träne, das so genannte ›Seelen‹-Motiv. Keiner weiß genau, wie dieses Symbol nach Wales gelangte und wann es begann, auf Grabsteinen und Liebeslöffeln aufzutauchen. Manche Menschen glauben, es kam mit arabischen Piraten, die auf der Isle of Man gefangen gehalten wurden 317
- ist das nicht eine irre Geschichte? - und für die als praktizierende Muslime diese Figur die Seele repräsentierte (die Seele hat ihren Ursprung im Atem, der Atem tritt durch die Nasenlöcher in den Körper ein und aus, daher die Form: Nasenloch/Komma/Träne). Ich weiß, Nasenlöcher sind nicht gerade romantisch, aber die Hauptsache ist, dass die Form ewige Hingabe symbolisiert. Und die schenke ich dir, mein Liebster, jetzt und für immer. Bethan. Gaelan steckt Karte und Broschüre wieder in das Buch und legt es auf den Nachttisch. Eigentlich müsste er etwas empfinden. Reue, Scham, Sehnsucht, irgendetwas. Er stopft das Bettzeug in den Trockner, schaltet das Radio ab, gibt Kate und Spencer zu fressen. Dann schiebt er »The Jane Mansfield Story« in den DVD-Player und stellt den Ton aus. Er setzt sich aufs Sofa, zündet sich einen Joint an und wartet auf den Pizza-Mann. Alles sieht genauso aus wie vor Rhiannons Ankunft. Es ist, als wäre sie nie hier gewesen. Hopes Tagebuch, 1965 Ein überquellendes Leben Jetzt weiß ich, was ein »pflegeleichtes Baby« ist. Ich fasse es nicht, welche Wirkung Gaelan auf seine Schwester hat. Es ist, als wäre er der Zwilling, auf den sie bisher verzichten musste. »Warum hast du so lange gebraucht?«, scheint sie ihn zu fragen. »Ich habe auf dich gewartet und gewartet und gewartet.« Sie starren sich an, bis sie einschlafen. So gehe ich mit den Schwierigkeiten meiner Haushaltspflichten um, meiner Unfähigkeit, sie zu bewältigen: Irgendwie habe ich das Gefühl, wenn ich die saubere Wäsche im Korb lasse, ist sie gut aufgehoben und damit erledigt. Dasselbe beim Geschirr: Wenn ich den großen Suppentopf mit Wasser und Spülmittel fül318
le und die schmutzigen Teller und Tassen darin einweiche, ist das besser, als wenn ich sie einfach in der Küche herumstehen lasse. Ich nehme sie mir dann Stück für Stück vor und ruhe zwischendurch aus. Ich bin ihnen nicht immer wohlgesinnt, diesen Kindern, die mich beglücken, mich peinigen, mir die größte Freude und den tiefsten Kummer bereiten. Schließlich sind sie es, die den Großteil dieses Durcheinanders verursachen. Überall sind Spuren von ihnen - Llwellyn und ich hinterlassen kaum welche. Die Kinder geben sich durch Chaos zu erkennen; wir, die Erwachsenen, löschen uns mit unserer zwanghaften Sauberkeit und Ordnung praktisch selbst aus. Niemand würde vermuten, dass hier jemand anders lebt als ein Stamm wilder Barbaren. Unsere eigene kleine Herr-der-Fliegen-Insel. Die Mutterschaft hat meine Lesegewohnheiten verändert, ausgerechnet. Jetzt sind es eher Kurzgeschichten als Romane, auch Lyrik - mehr schaffe ich am Ende eines Tages mit zwei Babys in Windeln offenbar nicht. Ein gutes Gedicht bietet mir mehr Nahrung für meinen Geist als zweihundert Seiten »Krieg und Frieden«. Ich mache Witze. In Wahrheit habe ich keine Ahnung. Ich habe »Krieg und Frieden« nie gelesen und werde wohl auch in nächster Zeit nicht dazu kommen. Beide Kinder zahnen, da ist nichts zu machen. Tat so, als wäre ich in Italien, und genehmigte mir einen frühen Drink, sonst hätte ich meinen zum Zerreißen gespannten Nerven nachgegeben und sie angeschrien. Ein Glas Rotwein um halb zwölf Uhr morgens wäre in Florenz nicht fehl am Platze. Das war meine Rechtfertigung. Larken hat einen neuen Spitznamen: der kleine Hai. Sie hat Gaelan kürzlich so fest in den Arm gebissen, dass er blutete. Sie benutzt ihre Zähne in letzter Zeit immer öfter als Waffen - obwohl ihre Hauptangriffsziele bis zu diesem Vorfall Beißringe und 319
Mommy waren. An mir hat sie es ausprobiert: erst ein bisschen rhythmisches Geknabber, dann ein sanftes Zwicken, dann ein richtiger (und schmerzhafter) Biss. Ihr Impuls scheint nicht so sehr von dem Wunsch zu verletzen herzurühren, als vielmehr von Neugier, überwältigender Liebe und Aufregung - Gefühle, die so stark sind, dass ihr winziger Körper ihnen Ausdruck verleihen muss. Trotzdem ist es inakzeptabel. Meine ständigen Bemühungen, ihr diese Unsitte abzugewöhnen, indem ich sie immer wieder mit barscher Stimme anfuhr »Nicht beißen!« (als wäre sie ein Hündchen) -, blieben erfolglos, doch als sie ihren Bruder biss, reichte es mir. Ich packte ihren pummeligen Babyarm und biss mit meinen voll entwickelten Erwachsenenzähnen hinein - nicht so fest, dass es blutete, sicher nicht, aber fest. Einen Moment lang war sie so geschockt, dass sie vergaß zu weinen. Ich hätte fast gelacht. Dann heulte sie natürlich los und war eine gute Dreiviertelstunde lang untröstlich. Da Gaelan auch noch aufgrund seiner Verletzung schrie, war es ein lauter Vormittag. Ich bezweifle, dass Dr. Spock diese Taktik als disziplinarische Maßnahme empfiehlt, aber zu meiner Verteidigung sei gesagt, dass Larken die letzten drei Tage keine Menschen gebissen hat. Andererseits muss ich zugeben, dass sie in gar nichts gebissen hat, nicht einmal einen Zwieback. Sie verweigert schlichtweg jede Nahrung, die nicht püriert ist. Was natürlich bedeutet, dass ich sie immer mit dem Löffel füttern muss. Meine schlaue, halsstarrige Tochter. Ich glaube, sie rächt sich. Viney hat die Kinder heute nach der Arbeit zu sich genommen - was für ein Engel sie ist -, sodass ich ein Weilchen schlafen konnte. Und das tat ich auch, Gott sei Dank. Fühle mich wie neugeboren! Jetzt sind sie wieder zu Hause und vergnügen sich draußen ich beobachte sie durch das Küchenfenster -, und ich kann ein 320
wenig vor mich hinkritzeln. Allerdings werden sie garantiert jeden Moment nach mir verlangen. Sie haben eine Art sechsten Sinn, was die Zeit betrifft, die ich mit Musik oder Schreiben verbringe; den ganzen Tag können sie mich ignorieren und fröhlich allein spielen, doch sobald ich mich ans Klavier oder an mein Tagebuch setze, heißt es »MOMMY MOMMY MOMMY!«, und ich muss gehen. Gott. Wie erbärmlich, wegen meiner Kinder zu jammern an einem Tag, an dem mir eine Pause von ihnen vergönnt war. Ich erinnere mich an den alten Kalender in Onkel Jims Laden, den aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Bilder darauf stehen mir immer noch ganz klar vor Augen. Mütter, die stoisch über die gesenkten Köpfe ihrer Kinder blicken, während sie alle darum beten, dass Daddy nach Hause kommt. Ich liebte diese Illustrationen. Ich liebte diese Vorstellung von Mutterschaft. Da sind sie. Später mehr. Es macht immer Spaß, die Leute in zwei Gruppen einzuteilen, etwa in »diejenigen, die das Glas als halb leer ansehen, und diejenigen, für die es halb voll ist«. Heute fällt mir eine andere Methode ein, sie zu kategorisieren: Mir scheint, es gibt Menschen auf der Welt, die imstande sind, ihr Leben ordentlich und geregelt zu führen. Sie schaffen Grenzen, die ihnen erlauben, im jeweiligen Moment das Erforderliche zu tun. Zum Beispiel ignorieren sie ihre Kinder, wenn das die angemessene Reaktion ist. Sie zahlen ihre Rechnungen jeden Monat pünktlich zur selben Zeit, putzen das Bad stets mittwochs und erstellen für jede Woche einen Essensplan. Ich gehöre in die andere Kategorie. Bei mir tanzt alles aus der Reihe, selbst im Garten. Wenn ich wütend auf Llwellyn bin, lasse ich das an den Rosmarinsträuchern aus, die in das Thymianbeet überquellen, diese egoistischen Rosmarinsträucher, die ich doch als Kennzeichen meiner Tugend angepflanzt habe, weil es heißt,
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die Jungfrau Maria hätte einst ihren Mantel über einen Rosmarinstrauch gelegt. Mutter zu sein ist in mancher Hinsicht chaotischer, als ich dachte. Ein Durcheinander aus Emotionen und Wäsche. Ein Leben ohne Grenzen, das aus allen Nähten platzt und in alle Richtungen überschwappt.
15 Kummerspeck Mit dem Wetteransager stimmt etwas nicht. Sein Gesicht ist wie mit Tau benetzt, als wäre er im Begriff, seine eigene Karikatur zu werden, eine Art menschlicher Cartoon im Dienste der ZehnTage-Vorhersage: bewölkt, womöglich regnerisch. Die Bewohner der Counties Lancaster und Hamilton sind besorgt. Es ist nicht das erste Mal, dass die Zuschauer von KLANKHAM feststellen, wie ihre Aufmerksamkeit schwindet. Seit Gaelan Jones, Wetteransager, von seiner kurzen Auszeit Ende August zurückgekehrt ist, strahlt er nicht mehr das Selbstvertrauen und den Charme von früher aus. Manche Zuschauer - darunter etliche Frauen - sind sogar schon abtrünnig geworden, haben den Sender gewechselt und sehen sich jetzt Brock Garrison, Meteorologe, an. Brock Garrison ist nicht so angenehm fürs Auge wie Gaelan Jones, aber wenigstens müssen sie nicht um seine emotionale Stabilität bangen. Es stimmt, dass Gaelan bei seinen Live-Auftritten in letzter Zeit unerklärliche und plötzliche Gefühlswallungen erlebt. Bis heute hat er diese Gefühle stets bändigen und sublimieren können - das glaubt er jedenfalls: Die Wahrheit ist jedoch, dass die Kamera alles sieht, alles verrät. Sie nimmt die leiseste Andeutung eines traurigen oder abschweifenden Gedankens wahr. Deshalb springen Zuschauer ab, sinken Einschaltquoten, sind die Sponso-
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ren in Sorge, machen die Eigentümer des Senders Pläne für den Notfall. Gaelan weiß nie, was diese emotionalen Regungen auslöst: ein leichtfertiger Kommentar des Nachrichtensprechers, ein Anschwellen der Kennmelodie, die Schuhe des Kameramanns. Früher drang, sobald er auf Sendung war, nichts mehr zu ihm durch; er befand sich praktisch allein in einem geschlossenen Raum. Doch die Grenze, dank derer er sich immer konzentrieren und den Rest der Welt aus seinem Bewusstsein aussperren konnte, ist irgendwie löchrig geworden, durchlässig. Es sind die Toten. Sie sind die Invasoren. Und durch diese Portale kommen sie: Musik und Träume hauptsächlich, manchmal aber auch durch Gesten, Objekte, Symbole. Und ebenso, wie ein Körper mit geschwächtem Immunsystem anfällig ist für Krankheiten, ist ein durch Schmerz angegriffenes Gemüt empfänglich für Mitteilungen von den Toten. Diese Mitteilungen sind nicht unbedingt erwartet oder gar willkommen, sondern meist störend. Gaelan hat die Regentropfen-Graphik jahrelang benutzt, ohne dabei etwas zu empfinden. Auch heute Morgen, beim Sechs-UhrWetterbericht, bereitete ihm ihr Erscheinen auf dem Bildschirm keinerlei Probleme. Jetzt dagegen, in der Mittagssendung, wird etwas losgetreten, als er sich auf dem Monitor auf eine Reihe Wassertropfen zeigen sieht. »Tut mir leid, Leute, wenn ich euch fürs Wochenende einen Dämpfer verpassen muss«, sagt er gerade, als er tief unten in seiner Kehle eine Reizung, ein Kratzen verspürt. Seine Stimme wird dünn. Seine Tränendrüsen spielen verrückt. Seine Hornhäute jucken. »… aber das Radarbild scheint darauf hinzudeuten, dass wir gefasst sein sollten auf eine längere Periode …« Gaelan verstummt. Die Figuren auf dem Bildschirm symbolisieren nicht mehr die Wahrscheinlichkeit von ausgedehnten Nie323
derschlägen, sie haben sich in Kommata, Nasenlöcher, Repräsentationen der Seele und ewiger Liebe verwandelt. Er denkt an gefangen gehaltene arabische Piraten. An walisische Liebeslöffel. An die Löffelstellung. An Yin und Yang. An … »… schwerer Grabsteine.« Pause. Hat er das wirklich gesagt? Vielleicht. »Schwerer Regenfälle«, sagt Gaelan nachdrücklich. »Vereinzelte Löffel.« Er räuspert sich und spricht langsam. »Eine längere. Periode. Schwerer. Regenfälle. Die in. Vereinzelte. Schauer übergehen.« Er wird sich anderer Menschen im Studio bewusst: des Kameramanns, des Toningenieurs, des Produktionsleiters, des Nachrichtensprechers. Manche von ihnen schauen verwirrt drein. Keiner wirkt glücklich. Gaelan hat schon früher Fehler gemacht. Er weiß, dass er in einer solchen Situation drauflosschwafeln, witzeln, fabulieren, Scheiße erzählen muss - einfach Land gewinnen, um die fünfzehn oder dreißig oder fünfundvierzig Sekunden Zeit auszufüllen, die er noch auf Sendung ist -, doch sobald sein Blick wieder auf den Monitor fällt, ist er erneut wie gebannt von der feierlichen Parade der Auslassungszeichen. »Zurück zu Greg«, sagt er matt, aber noch ehe er ausgesprochen hat, wird sein Bildschirm schwarz. Die Kamera ist nicht mehr auf ihn gerichtet. »Danke, Gaelan!«, grölt der Nachrichtensprecher von der anderen Seite des Studios. Er verplappert sich mit einem politisch inkorrekten Vergleich zwischen Eskimos und Wetteransagern und leitet dann mit energischer, wenn auch leicht verzweifelt klingender Stimme mit »Singin’ in the rain« ein chronologisch geordnetes Potpourri von Songs ein, die alle vom Wetter handeln. Erst als er bei Bob Dylans »It’s a hard rain’s a-gonna fall« angelangt ist, blendet endlich jemand gnädigerweise die Kennmelodie ein.
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Die Sendung ist fast vorbei. Gaelan fängt an, sein Mikrofon zu entfernen. »Das waren die Mittagsnachrichten«, resümiert der Sprecher und gewinnt seine Fassung zurück, während die Musik anschwillt. »Einen schönen Nachmittag, Leute. Bleiben Sie im Trockenen, und schalten Sie um 17 Uhr wieder ein, wenn das Team von KLAN-KHAM Ihnen das Neueste aus Politik und Sport und vom Wetter präsentiert.« Musik lauter, denkt Gaelan, der versucht, sein Bewusstsein zurück ins Hier und Jetzt zu zwingen. Bild und Ton ausblenden. Übergang zur Werbung. Er strebt auf die Tür des Studios zu, ohne mit jemandem zu sprechen. Er zieht sich nicht um und schminkt sich nicht ab, schnappt sich nur seine Tasche aus dem Umkleideraum, setzt seine Sonnenbrille auf und fährt direkt zum Training. »Das nennt sie Kunst? Die macht wohl Witze.« Professor Jones lässt die Dias durchlaufen, die sie jedes Semester gleich zu Anfang in Kunstverständnis 101 zeigt. Es ist eine zwanzigminütige visuelle Anthologie, die etwa zweihundert bedeutende Gemälde von der Frühgeschichte bis zur Gegenwart umfasst, jedoch in nicht-chronologischer Reihenfolge. Larken präsentiert die Fotos ganz schnell und sagt wenig dazu. Dem ungeschulten Auge erscheinen sie willkürlich angeordnet: da Vincis »Letztes Abendmahl« neben Andy Warhols ElvisPorträts, ein niederländisches Stillleben neben einer Traumlandschaft von Salvador Dalí, ein Swimmingpool von Hockney neben einer Kathedrale von Constable, der Mérode-Altar neben einem Frida-Kahlo-Selbstbildnis. Und so weiter. Gewöhnlich macht Larken die Zusammenstellung viel Spaß, und sie ändert sie jedes Jahr. Diesmal dagegen begnügt sie sich - aus Zeitmangel bei der Vorbereitung - mit einer Wiederholung.
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Sie fühlt sich leer, abwesend - wie eine zuverlässige Schauspielerin, die zum tausendsten Mal die Hauptrolle in einem brillanten Stück spielt, gekonnt, aber uninspiriert. Im Moment ist eins von Jackson Pollocks Action Paintings auf der Leinwand zu sehen: »Lavender Mist«. In jedem Semester gibt es unweigerlich einen naiven, unreif wirkenden Jungen, der an dieser Stelle irgendetwas murmelt und damit, ohne es zu wissen, für die nächsten drei Monate Hauptziel von Professor Jones’ Aufmerksamkeit wird. Larken hält den Projektor an. »Möchte sich jemand dazu äußern?«, fragt sie. »Bitte, nur zu.« Ganz hinten im Hörsaal hebt sich eine Hand. »Das kann doch jeder«, sagt der Junge. »Es sieht aus, als hätte er einfach Farbe auf den Boden gekleckst.« »Das hat er tatsächlich«, entgegnet Larken. Gedämpftes Kichern. »Und warum«, fährt Professor Jones fort, »ist es Ihrer Meinung nach deswegen keine Kunst?« »Es sieht nach nichts aus«, sagt der Junge, überzeugt davon, eine noch nie dagewesene Beobachtung zu machen und für alle anderen im Raum zu sprechen. »Ich meine, was soll es sein?« »Sagen Sie, Mr.…« (Sie hält inne, um auf ihre Teilnehmerliste zu schauen. Das ist reine Show, denn Larken hat ein nahezu fotografisches Gedächtnis und kennt nach der dritten Unterrichtsstunde die Namen all ihrer Studenten.) »Houser. Warum muss es nach etwas aussehen, um Kunst zu sein? Kommt es wirklich darauf an?« Er weiß nicht, wovon sie redet. Keiner im Saal weiß es, noch nicht. Aber das macht nichts. Deshalb ist sie ja hier. »Was wäre, wenn wir ›Kunst‹ einmal anders definieren?«, fährt Larken fort. »Wenn wir in diesem Fall zum Beispiel fragen: Kann das Gemälde Interesse wecken, Neugier? Können Sie eine Beziehung dazu herstellen?« Sie sind immer schon ein Quell des Kummers für Larken gewesen, die Werte, die die amerikanische Kultur - und insbesonde326
re die Nebraskas - ihren Heranwachsenden vermittelt. Anscheinend herrscht hier der Glaube vor, dass sich sämtliche Lektionen fürs Leben durch das Ausüben halsbrecherischer Sportarten oder den Eintritt in die Armee erlernen und in allgegenwärtigen Redewendungen wie Ein Indianer kennt keinen Schmerz und Was uns nicht umbringt, macht uns stark zusammenfassen lassen. Larken ist ordentliche Professorin. Sie müsste einen Kurs wie Kunstverständnis 101 nicht selbst abhalten, hat sich jedoch dafür entschieden, weil sie sich berufen fühlt, die Ansichten der Söhne von Farmern und Ranchern zu beeinflussen: Jungen, deren Vorstellungen von Kunst aus der Möbelabteilung bei J.C. Penney’s oder dem Sears-Katalog stammen oder den Kalendern in Autowerkstätten und den Läden der Co-ops oder von ländlichen Märkten, wo jede Menge Ramsch verkauft wird. Kleinstadtjungen von vierschrötiger Statur, die mit einem Football-Stipendium hier sind und Kunstverständnis 101 nur belegen, weil sie damit leicht Punkte sammeln können. Jungen, deren Leben hart und rau ist und die ohne ihren Einfluss zu harten, rauen Männern heranwachsen und auf dem Rücksitz ihrer Trucks, die am Rande von Grenzstädten vor namenlosen Bars oder Striptease-Clubs geparkt sind, junge Mädchen ficken werden. Larken fährt fort: »Der Künstler Pierre Bonnard hat einmal gesagt, ein Gemälde, das seien viele kleine Lügen, die sich zu einer großen Wahrheit zusammenfügen. Lassen Sie uns diese Behauptung anhand von Mr. Pollocks Werk diskutieren.« Wieder wird sie unterbrochen - diesmal vom Geräusch der aufgehenden Tür. Larken dreht sich um, gefasst darauf, einem säumigen Studenten eine öffentliche Standpauke halten zu müssen; stattdessen sieht sie in einem schmalen Lichtspalt im Eingang Chris stehen. »Tut mir leid, Professor Jones. Kann ich Sie einen Moment sprechen?« Gedämpftes Murmeln im Hörsaal. Larken entschuldigt sich, verlässt das Podium und folgt Chris in den Flur. 327
»Es geht um Professor Collins«, beginnt Chris heiser, mit feuchten, spiegelblanken Augen. »Arthur. Er ist im Seminarraum zusammengebrochen, und die Sanitäter waren gerade hier und haben ihn ins Lincoln General Hospital gebracht …« Sie spricht weiter und weiter, die Augen triefend vor Kummer, und ihre Worte fördern immer mehr von ihrem Schmerz zutage, bis er wie eine Krankheit in der Luft liegt, ein Virus, mit dem Larken sich keinesfalls anstecken darf, nicht hier, nicht jetzt. Sie legt sich die Hand auf den Mund und schaut zu Boden, hüllt sich in schützende Dunkelheit und abwehrendes Schweigen. Sei still, würde sie am liebsten sagen, weil die unverstellte menschliche Stimme ein so verräterisches Vehikel ist, klar wie Glas: Sobald sich Es geht um Arthur aus Chris’ Herzen in ihren Mund ergossen hatte, wusste Larken alles, was sie wissen musste. Chris hat aufgehört zu reden und starrt sie an. »Larken, ist alles in Ordnung?« »Alles okay. Ist er …?« »Ich weiß nicht. Sie glauben, es war ein Schlaganfall. Eloise ist mitgefahren.« »Und jetzt ist er im Lincoln General?« Chris nickt, bricht wieder in Tränen aus und putzt sich die Nase mit dem, was von einem Papiertaschentuch übrig ist. »Sie ruft im Büro an, sobald es Neuigkeiten gibt, aber … Na ja, ich weiß, wie nahe Sie ihnen stehen, und da dachte ich …« »Ja, ja …« Larken will an nichts denken als an das, was unmittelbar erforderlich ist - das praktische Handeln eines Kommandanten im Belagerungszustand. »Sagen Sie alle meine heutigen Veranstaltungen ab. Ich schaue später noch mal rein.« Ohne eine Antwort abzuwarten, eilt sie davon, den Korridor entlang in den Fahrstuhl. Büro, Mantel, Handtasche, dann nach oben und ins Freie und möglichst schnell zum Auto, ins Auto, sie muss ihr Auto erreichen: eine Zuflucht, wo Emotionen gebändigt und in aller Abgeschiedenheit ausgedrückt werden können. 328
Die Teilnehmer von Professor Jones’ Kurs Kunstverständnis 101 - im Stich gelassen, unsicher und zunehmend rastlos - haben inzwischen das Interesse daran verloren, eine Beziehung mit Jackson Pollock einzugehen. Ohne die hartnäckigen Fragen von Professor Jones und ihre einschüchternde Gegenwart denken sie gar nicht daran, ihre Vorstellungen von Kunst neu zu definieren. »Sagtest du kaschieren?«, fragt Viney. »Nein, nein: koscherisieren«, erwidert Bethan. Sie steht in Vineys Küche am Herd, wärmt eine Suppe auf und erklärt, warum sie ihren eigenen Tiegel mitgebracht hat. »Es bedeutet, eine Küche koscher zu machen, das heißt, bei der Zubereitung und beim Servieren der Mahlzeiten bestimmte Regeln zu befolgen.« »Koscherisieren.« Es ist ein exotisch klingendes Wort, und seine eigentümliche Mischung aus Lauten zu sprechen hat eine angenehm stärkende Wirkung, als besäße es Zauberkraft. Viney beschließt, es an das gerahmte Foto an der Wand zu richten, das sie und Welly letztes Frühjahr in einem Profi-Studio in Lincoln haben machen lassen. »Koscherisieren«, wiederholt sie und wartet. Nichts passiert. Viney seufzt. »Was für Regeln?« »Man darf zum Beispiel Milchprodukte und Fleisch nicht zusammen essen; man muss getrennte Töpfe und Teller für sie benutzen; Schweinefleisch ist generell verboten …« »Auch Speck?«, fragt Viney. »Ja.« Bethan lacht leise. »Ich muss zugeben, dass ich den wirklich vermisse …« Kein Speck, sinniert Viney. Wie bizarr! Es war nett von Bethan und ihrem Sohn, eine warme Mahlzeit vorbeizubringen und bei der Gartenarbeit zu helfen - Eli ist draußen und harkt Laub -, aber Viney hatte völlig vergessen, dass sie kommen wollten. Sie hatte bei zugezogenen Vorhängen gerade
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ein Nickerchen auf dem Wohnzimmersofa gemacht und war noch im Bademantel, als sie eintrafen. Das Haus ist ein Schweinestall. »Leo, mein Ehemann, war gar nicht religiös, obwohl er Professor für Religionswissenschaft war, ist das nicht komisch?« »Mmmm.« »Aber es war uns wichtig, einige jüdische Gesetze und Traditionen zu beachten, hauptsächlich um Elis willen. Genauso habe ich versucht, das Walisische …« Viney ist einfach zu müde. Sie ist kaum in der Lage zu sprechen, geschweige denn die komplizierten Details des jüdischen Glaubens in Bezug aufs Kochen zu verstehen. »… irgendwie war es wohl tröstlich für mich, eine Möglichkeit, mich weiterhin verbunden …« Bethans Stimme verklingt. Sie öffnet den Backofen und sieht nach den Kartoffeln. Viney hofft, dass Bethan nicht vorhat, ihr eine Menge Reste dazulassen. Sie hat eben erst den Kühlschrank geleert; er roch grauenhaft. Alles, was die Leute ihr nach dem Tod des Bürgermeisters gebracht hatten, war verdorben. Es war ihr einfach zu viel gewesen - die Sachen aufzuwärmen, Geschirr schmutzig zu machen. Deshalb warf sie schließlich alles weg. Von draußen ertönt das rhythmische Geräusch toter Blätter, die aneinanderschaben, während sie zu einem Haufen zusammengerecht werden. Ein universelles Geräusch, das zu dieser Jahreszeit gehört. Wenn Viney die Augen zumacht, kann sie sich vorstellen, dass Welly da draußen ist oder Wally junior oder Gaelan oder sogar Waldo oder Papa oder Opa Edryd. Vor ihrem geistigen Auge sieht sie sie alle ganz klar vor sich: die individuelle Form und Haltung ihrer starken männlichen Körper - sie hat immer starke Männer in ihrem Leben gehabt. Sie könnte auch aus großer Entfernung jeden Einzelnen von ihnen anhand seiner Silhouette identifizieren. Bethans Sohn dagegen kann sie sich nicht vorstellen; sie kennt ihn nicht gut genug. 330
»Viney?« Bethans Stimme lässt sie aufschrecken. »Warum gehen Sie nicht wieder ins Wohnzimmer und ruhen sich aus? Es tut mir leid, dass wir ungelegen kamen. Wir haben Sie beim Fernsehen gestört.« »Oh nein, sei nicht albern. Ich hatte nur eingeschaltet, um die Nachrichten zu sehen.« Das ist gelogen. Viney verbringt mittlerweile die meisten Tage dösend auf dem Sofa, während perfekt geschminkte Menschen in fiktiven Kleinstädten mit lächerlichen Namen Ehebruch begehen, Skandale ertragen und nie eine Maniküre verpassen. In der Welt des Nachmittagsfernsehens sind sogar die Alten glamourös. »Wirklich, Viney. Gucken Sie sich Ihre Sendung an. Ich rufe Sie, wenn das Essen fertig ist.« »Na gut, in Ordnung«, sagt Viney. »Wenn du sicher bist, dass ich dir nicht helfen kann.« »Das bin ich.« Viney geht in das abgedunkelte Wohnzimmer und setzt sich aufs Sofa. Auf dem Bildschirm stehen Leute im Warteraum eines Krankenhauses. Ihre Mienen zeigen eine ganze Skala von Gefühlen, sind besorgt oder blasiert oder finster oder erschöpft oder hysterisch. Ein Arzt im Chirurgenkittel und mit Gesichtsmaske betritt die Szene. Die Kamera schwenkt über die Menge, als sich alle zu ihm hinwenden, erwartungsvoll, begierig auf Informationen. Langsam zieht der Arzt seine Maske herunter und mustert sie, einen nach dem anderen. Er sagt nichts. Sein Gesichtsausdruck ist nicht zu deuten. Der Bildschirm wird schwarz. Viney wirft ein Sofakissen nach dem Apparat. Auf der anderen Seite des Raums springt einer ihrer Gesangbuchengel vom Klavier. Es war Vineys Nachbarin Mrs. Bauer, die sie mit dem Begriff Kummerspeck bekannt machte. Viney war zehn. In den Wochen nach dem Tod von Vineys Großvater wirkten die wichtigen Erwachsenen in ihrem Leben - besonders ihre Mut331
ter, ihre Tanten und ihre Großmutter - benommen und sehr zerstreut. Nie schienen sie irgendetwas richtig anzusehen, und sie sagten ständig: »Stör Großmutter jetzt nicht. Sie ruht sich aus« oder »Spiel bitte allein, Viney, ich muss mich ein Weilchen hinlegen.« Viney hatte die Frauen in ihrer Familie noch nie so erlebt. Es beunruhigte sie schrecklich, denn das konnte nur eins bedeuten: Sie hatten eine große Sünde begangen. Eines Tages langweilte Viney sich vorne im Garten. Sie war aus dem Haus verbannt worden, weil sie zu laut gewesen war (wenn auch nicht lauter als sonst), und protestierte gegen diese Ungerechtigkeit, indem sie Grasbüschel ausrupfte und Kiesel auf die Straße warf. Ein eindeutiges Geräusch von nebenan verriet Viney, dass Mrs. Bauer auf Händen und Knien ihre Veranda schrubbte. Viney rang sich einen kräftigen Rülpser ab und schleuderte eine Handvoll Steinchen in die Luft. Mrs. Bauer steckte den Kopf um die Mauer der Veranda. »Was ist los, Alvina?« Viney antwortete mit Nachdruck. »Meine Großmutter kommt in die Hölle.« »Wirklich?« »Meine Mutter auch und Tante Molly und Tante Lizzie.« »Was du nicht sagst.« Mrs. Bauer stand auf und kam über den Rasen auf Viney zu. Sie trug eine geblümte Schürze - wie sie bei Frauen damals üblich war - und raffte sie im Gehen erst mit der einen, dann mit der anderen Hand, um sie als Handtuch zu benutzen. Es war eine Geste, die Viney bei ihrer Mutter und Großmutter schon Hunderte Male beobachtet hatte, ausgeführt von Händen, die vom zu langen Umgang mit heißem Wasser verschrumpelt und rot verbrüht waren. Sie jetzt bei Mrs. Bauer zu sehen löste bei Viney ein komisches Kratzen im Hals aus, und so schaute sie zu Boden und riss noch eine große Faustvoll Gras aus.
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»Sag mal, Alvina, warum glaubst du das mit Großmutter und Mutter?« »Die Wäsche ist nicht zusammengelegt. Im Ausguss steht dreckiges Geschirr.« Und dann, geflüstert, der schlagendste Beweis: »Sie machen Nickerchen.« »Verstehe.« »Sie sind faul. Das ist dasselbe wie träge.« Da Viney einfiel, dass dieses Wort vielleicht nicht zu Mrs. Bauers Vokabular gehörte, fügte sie hinzu: »Trägheit ist eine von den sieben Todsünden.« »Aha«, sagte Mrs. Bauer und kniete sich neben Viney ins Gras. »Also, Alvina, erst mal sollten wir nichts beurteilen, was wir nicht selbst erlebt haben. Verstehst du das?« »Nein.« »Du hast deinen Opa verloren. Das ist dein Kummer. Aber hast du einen Papa verloren, wie deine Mama? Oder einen Ehemann, wie Großmutter?« Viney war verwirrt. Warum redete Mrs. Bauer über ihren Großvater? »Nein, natürlich nicht.« »Also weißt du nicht, wie er sich für Mama und Großmutter anfühlt, dieser Verlust, stimmt’s?« Viney runzelte die Stirn. Großvaters tridiau und gymanfa im Februar lagen weit zurück. Sie war traurig gewesen über seinen Tod. Sie hatte geweint und gesungen wie alle anderen, aber war es damit nicht zu Ende? War das Trauern danach nicht vorbei? Viney fing an, mit den Fingern einzelne Grashalme aus der Erde zu zwirbeln und auf ihre ausgestreckten Beine zu schnipsen. »Und deshalb«, fuhr Mrs. Bauer fort, »kommt deine Großmutter nicht in die Hölle. Glaub mir. Und faul ist sie auch nicht. Ebenso wenig wie Mama. Sie legen sich Kummerspeck zu.« »Was?« »Hmm.« Mrs. Bauer hielt inne und sah nachdenklich beiseite. Sie hob eine ihrer roten, stark geäderten Hände ans Gesicht, grub 333
den Daumen in die fleischige Stelle unter ihrem Kinn und spreizte ihre Finger über ihren Mund. Dann fing sie an, sich damit langsam auf die Lippen zu klopfen, einer nach dem anderen, als spielte sie Klavier, immer wieder dieselben vier Töne. Es war eine seltsame Geste, und aus irgendeinem Grund konnte sich Viney plötzlich sehr gut vorstellen, wie hübsch Mrs. Bauer in ihrer Jugend gewesen sein musste. »Es ist schwierig, aber ich versuche, es dir zu erklären«, sagte Mrs. Bauer schließlich. »Wenn jemand stirbt, den wir lieben, macht uns das müde. Sehr müde. Wir möchten nur noch schlafen und schlafen. Du weißt schon, wie die Bären im Winter.« »Wenn sie Winterschlaf halten?« »Ja. Winterschlaf, den braucht der Körper, so müde ist er. Und wie bei den Bären wird auch bei uns der Körper manchmal schwer, weil er zunehmen muss, um sich vor der Kälte zu …« Mrs. Bauer machte eine Geste, als wollte sie sich einen Mantel überziehen, um in den Schnee hinauszugehen. »Schützen?« »Ja. Damit ihnen warm bleibt.« Mrs. Bauer zuckte die Achseln und verschränkte die Arme vor der Brust, als ob sie sich in eine dicke Decke wickelte. »Um den Kummer von ihnen fernzuhalten. Deshalb heißt es Kummerspeck.« Viney überlegte. »Also, ich mag ihn nicht, den Kummerspeck.« »Denk es dir doch mal so, Schatz: Vielleicht tun unsere Körper das, damit die Toten - die uns noch nahe sind - uns in unseren Träumen besuchen können, ehe sie zu beschäftigt sind.« Viney fühlte sich nicht unbedingt getröstet durch die Vorstellung, dass die Toten nicht nur in Träumen erscheinen, sondern auch beschäftigt (womit?,fragte sie sich) sein konnten, aber es war beruhigend zu hören, dass es, jedenfalls Mrs. Bauers Meinung nach, keine Sünde war, eine schlechte Hausfrau zu sein und mitten am Tag ein Nickerchen zu halten. Das bedeutete eine Menge, wenn man bedachte, dass Mrs. Bauer die saubersten 334
Fenster und Fußböden in Emlyn Springs hatte. Zumindest behauptete Mutter das immer. »Oh, sieh mal!«, sagte Mrs. Bauer. »Ich habe ein vierblättriges Kleeblatt für dich gefunden! Kennst du das Gedicht über vierblättrige Kleeblätter? Von Miss Ella Higginson?« Viney schüttelte den Kopf. »Da heißt es, dass ein Blatt für Hoffnung steht und eins für den Glauben und eins für die Liebe, und manchmal fügt Gott eins hinzu, das steht für Glück. Wenn du suchst, findest du die mit den vier Blättern.« Viney betrachtete ihr Kleeblatt: vier ovale Blättchen an einem Stiel. Eins davon war schrumpelig und braun gefleckt; Vineys Ansicht nach hatte dies sicher eine unheilvolle Bedeutung, die jedes Glück, das ihr das vierblättrige Kleeblatt bescheren sollte, bestimmt zunichtemachte. Sie nahm es entgegen, um höflich zu sein, hatte jedoch vor, es später wegzuwerfen. »Mutter und Großmutter geht es bald wieder gut«, fuhr Mrs. Bauer fort und drückte Vineys Schultern. »Wirst schon sehen. Willst du jetzt nicht mit mir rüberkommen? Ich habe frisch gebackene Kekse und schöne kalte Milch. Und während du sie isst, schreibe ich dir Miss Higginsons wunderbares Gedicht ab.« Viney wird vom plötzlichen Auf- und Zugehen der Haustür wach. »Wally, bist du das, Schatz?«, fragt sie und blinzelt durch das abgedunkelte Zimmer. »Nein, Mrs. Closs, ich bin es, Eli.« »Eli?« Viney setzt sich auf und reibt sich die Augen. »Ach so, ja, Eli. Hallo.« Wie lange hat sie geschlafen? Wie spät ist es? Der Fernseher ist noch an, doch der Ton ist abgestellt. Auf dem Tisch liegen drei Platzsets, und jemand hat ihr eine Decke übergelegt. Bethan muss hereingekommen sein und sie schlafend vorgefunden haben. Wie peinlich. Das geht einfach nicht. »Dürfte ich Ihr Bad benutzen?«, fragt Eli.
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»Natürlich, Schätzchen. Es ist da hinten.« Eli beginnt, den Raum zu durchqueren. Er hat den schrecklich hölzernen Gang, den Jungen bekommen, wenn sie zwischen Kindheit und Pubertät gefangen sind und ihre Körper so schnell wachsen und sich verändern, dass es sich jeden Morgen für sie anfühlen muss, als hätte sich nachts jemand in ihr Schlafzimmer geschlichen und ihre gesunden Arme und Beine durch schlecht passende Prothesen ersetzt. »Vielen Dank für deine Hilfe«, fügt Viney hinzu. »Es ist schwer, die Gartenarbeit zu schaffen, nachdem … Also, ich weiß das wirklich zu schätzen.« »Ich habe es gern getan.« Eli stolziert ins Badezimmer. Der Ärmste. Die Nachrichten fangen an. Viney schaltet den Ton ein: Willkommen zu den Mittagsmeldungen von KLAN-KHAM, in denen wir Ihnen mit unserem Team von Profis das Neueste aus lokaler und nationaler Politik und vom Wetter bringen … Und dann die Sache mit dem Sex: Feuchte Träume und unkontrollierbare Erektionen und die Scham, die damit einhergeht. In Vineys Augen ist es für sie viel schlimmer, denn Jungen können sich nicht so gut verstecken wie Mädchen - hinter Kleidern und Frisuren und Make-up und einer gewissen Grausamkeit -, weil sie ihr Geschlecht außerhalb ihres Körpers tragen. Was um Himmels willen hat sich Gott bloß dabei gedacht, männliche Wesen so hilflos und verletzlich zu erschaffen? Unsere wichtigste Meldung … Viney hat es immer bereut, dass sie - und besonders Welly Gaelan so allein gelassen haben, als er in diesem Alter war, denn das haben sie; sie weiß es. Als er all das durchmachte, waren sie beide noch gebeutelt von Hopes Tod, von Schuldgefühl, Scham, Nichtwissen … Eli kehrt zurück. »Das hier lag auf dem Fußboden«, sagt er und reicht Viney den abgestürzten Engel.
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»Oh, danke«, sagt Viney. Die Frisuren der Engel verraten ihr Alter, dieser mit den auftoupierten Farrah-Fawcett-Locken muss auf die dreißig zugehen. »Die machen Sie selbst, oder?«, fragt Eli. »Früher, ja, da habe ich ständig welche gebastelt. Jetzt nicht mehr so oft«, sagt Viney und wird plötzlich von Traurigkeit und schlechtem Gewissen überwältigt, weil sie ihr Hobby vernachlässigt. Die Zahl der Gesangbuchengel ist seit Jahren nicht gewachsen. Sie sollte wirklich wieder welche machen. »Der jüdische Glaube erlaubt keine physische Darstellung von Engeln«, entgegnet Eli. »Sie gilt als Götzenanbetung.« »Verstehe«, bemerkt Viney. Er ist schon ein seltsames Kind ein alter Mann in einem jungen Körper. Aber süß. »Wie ist deine Meinung dazu?« Eli zuckt die Achseln. »Ambivalent.« »Möchtest du dich nicht setzen?«, schlägt Viney vor. »Du bist doch sicher müde. Laubharken ist Schwerstarbeit.« »Danke.« Eli nimmt neben Viney auf dem Sofa Platz. Er scheint sehr interessiert an den Nachrichten zu sein. Die Sendung ist schon halb vorbei, als Viney auffällt, wie merkwürdig seine Anwesenheit mitten am Tage ist. »Sag mal«, fragt sie unvermittelt, »wieso bist du eigentlich nicht in der Schule?« »Ich lerne zu Hause.« »Was bedeutet das?« »Meine Mom und ich entscheiden, was ich lerne und wann.« »Und zur Schule gehst du gar nicht? Zusammen mit anderen Kindern?« »Nein, meistens arbeite ich am Computer.« »Fühlst du dich nicht einsam?« Er wendet den Blick vom Fernseher. »Wie meinen Sie das?« »Na ja, in der Schule geht es nicht nur ums Lernen. Es geht um Freundschaften und Klassenfeiern und Tanzen und Mannschaftssport.« 337
»Ich bin schüchtern beim Tanzen. Aus Sport mache ich mir eigentlich gar nichts. Ich will Schriftsteller werden.« »Trotzdem.« … und hier kommt Gaelan Jones mit der Wettervorhersage für die nächsten fünf Tage … Elis Aufmerksamkeit richtet sich wieder auf den Fernseher. »Na ja«, murmelt Viney, »meinen Jungs wäre es jedenfalls zu einsam gewesen …« Gaelan beginnt mit seinem Segment: Tut mir leid, Leute, wenn ich euch fürs Wochenende einen Dämpfer verpassen muss … »Er sieht müde aus«, sagt Viney zu sich selbst. »Wir bleiben sowieso nicht in Emlyn Springs«, ergänzt Eli. »Nein? Warum nicht?« »Wir bleiben nur so lange, bis es, na ja, bis es meiner Mom besser geht.« … aber das Radarbild scheint darauf hinzudeuten, dass wir gefasst sein sollten auf eine längere Periode … »Was fehlt deiner Mutter denn?« »Mein Dad ist letztes Frühjahr gestorben.« Oh mein Gott, denkt Viney, wie konnte ich so dumm sein? »Es tut mir leid, Schatz, das hatte ich ganz vergessen.« … schwerer Grabsteine … »Aber zu meiner Bar-Mizwa«, sagt Eli zerstreut - wie Viney schenkt er seine Aufmerksamkeit hauptsächlich Gaelans MiniAusfall -, »muss ich unbedingt zurück sein.« Viney ist verwirrt. »Hat er eben ›Grabsteine‹ gesagt?« »Ich glaube, ja.« … schwerer Regenfälle … »Deine Mutter ist viel zu jung, um Witwe zu sein«, fügt Viney hinzu. »Mein Dad war ziemlich alt. Er hatte vor meiner Mom eine andere Frau und auch Kinder mit ihr. Die sind fast in Moms Alter.« 338
… vereinzelte Löffel … »Verstehe.« »Mom und Mr. Jones waren früher mal ein Paar«, bemerkt Eli. Viney schaut ihn an. »Das stimmt.« »Wieso haben sie nicht geheiratet?« »Das ist eine Privatangelegenheit zwischen deiner Mom und Gaelan.« Von der Tür zur Küche ertönt ein Geräusch. Da steht Bethan und hält zwei mit Essen beladene Teller in den Händen. Auch sie starrt auf den Fernseher. … eine längere Periode schwerer Regenfälle, die in vereinzelte Schauer übergeht … Zurück zu Greg. Bethan durchquert den Raum und stellt die Teller auf den Platzsets ab. »Entschuldigung«, murmelt sie und eilt an ihnen vorbei in Richtung Bad. »Das sieht wirklich lecker aus«, bemerkt Viney. »Es ist koscher«, sagt Eli. Aus dem Badezimmer hören sie Bethans Schluchzen. »Alles in Ordnung mit deiner Mutter?«, fragt Viney. »Kann ich was für sie tun?« »Sie kommt schon klar«, entgegnet Eli und stürzt sich auf sein Essen. »Sie wird immer traurig, wenn sie ihn im Fernsehen sieht.« Bonnie kniet auf den Holzdielen des ehemaligen Tinkham’s Five and Dime und stellt Mausefallen auf. Sie hat sie im Internet gefunden, nach Eingabe der Suchbegriffe humane Schädlingsbekämpfung. Genau genommen heißen sie »Mäusehütten«; es sind rechteckige, grün getönte Plexiglaskästen mit schrägem Dach und genialer Konstruktion. Man schiebt eine der Wände beiseite, drückt auf eine gefederte Plattform und legt ein winziges Stück Cracker mit Erdnussbutter hinein, und wenn ein Mäuschen den Cracker wittert, hineinspaziert und auf die Sprungfeder tritt, schließt sich die Falle, und die Maus hat genug 339
zu fressen und kann durch Luftlöcher atmen, bis sie irgendwann umgesiedelt wird. Die Fallen gab es als Sonderangebot, und Bonnie hat zweiunddreißig gekauft. Ihr neuestes Unternehmen ist im selben Gebäude untergebracht wie Blind Toms Pianoklinik. Da Bonnie eine verantwortungsvolle Mieterin sein und Energie sparen will, arbeitet sie im Dunkeln. Als Bonnie bei der Stadtversammlung das Wort ergriff und sagte, wie schön es wäre, wenn die Häuser im Zentrum sinnvoll genutzt würden, besonders hinsichtlich des SchwesterstadtProjekts, sprang ihr Blind Tom sofort bei und unterstützte sie. Da er doppelt so viel Platz habe wie nötig, um seine restaurierten und verkäuflichen Klaviere zu präsentieren, würde er vorschlagen, sich das Gebäude mit »BJs Räder und Reparaturen« zu teilen. Die einzige größere Auswirkung auf die Pianoklinik ist ein anderer Eingang: Da die Vordertür des Gebäudes in Bonnies Hälfte führt, werden Blind Toms Kunden jetzt mittels Schildern und Pfeilen zum Hintereingang umdirigiert. Bonnie hatte anfangs Bedenken, Blind Tom und seiner Kundschaft damit Unannehmlichkeiten zu machen, aber Blind Tom versicherte ihr, sein Geschäft sei seit 1871 fester Bestandteil von Emlyn Springs, habe einen exzellenten Ruf und würde dieses neue Arrangement sicher überleben. Jetzt ist er auf der anderen Seite der Sperrholzwand, die ihre Arbeitsplätze voneinander trennt, und stimmt ein kürzlich restauriertes Klavier, das er verkaufen will. Es ist ein tröstliches Geräusch, das Streuen einzelner Töne in Oktaven. »Sie können ruhig das Licht anmachen«, ruft er. Bonnie ist verblüfft, denn sie wundert sich, dass er weiß, dass das Licht aus ist, findet es aber ungehörig, ihn zu fragen. Es wäre wirklich ein bisschen leichter, wenn sie sehen könnte, was sie tut. Sie knipst das Licht an. Das Klavier verstummt. Blind Tom kommt mit Sergei herein. »Wie läuft’s?«, will er wissen.
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»Bin fast fertig. Morgen um dieselbe Zeit muss ich nach ihnen schauen. Der Hersteller sagt, sie überleben darin nicht länger als vierundzwanzig Stunden. Kann ich Sergei eine Kostprobe geben? Es ist Bio-Erdnussbutter.« »Sie verwöhnen ihn.« »Er verdient es, verwöhnt zu werden. Hier, Sergei.« »Vielen Dank, dass Sie das übernommen haben«, fügt Blind Tom hinzu. »Das mit den Fallen, meine ich.« »Keine Ursache. Ich mag Mäuse ebenso gern wie jeder andere, aber ich möchte nicht, dass sie zwischen den Klaviersaiten oder den Radspeichen Nester bauen.« Blind Tom lacht. »Das war ein Problem, stimmt.« Bonnie kommt ein plötzlicher Gedanke. »Haben Sie je auf einem Fahrrad gesessen?« Blind Tom überlegt. »Muss ich wohl, aber wenn, ist es lange her. Ich erinnere mich nicht genau.« »Man verlernt es nie, wissen Sie.« »Ja, das habe ich auch gehört.« Bonnie hat das seltsame Gefühl, dass er sie sehen kann. »Wissen Sie, was die Maus in der indianischen Kultur repräsentiert?«, fragt er. »Nein, was denn?« »Den prüfenden Blick.« »Echt? Das ist interessant.« Er starrt sie an - vielmehr scheint es so, weil sein Gesicht schräg nach unten und auf sie gerichtet ist. Bonnie erwartet, mehr über indianische Weisheiten zum Thema Mäuse zu hören - sie liebt Tiergeschichten -, doch nach wenigen Momenten ruft er Sergei und wendet sich zum Gehen. »Ich überlasse Sie Ihrer Arbeit«, sagt er. Bonnie wünscht sich, er würde nicht immer diese dunkle Brille tragen. Sie würde gern einmal seine Augen sehen.
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16 Die Geschwindigkeit des Betens An dem Morgen, an dem der Brief eintrifft (par avion, mit exotischen Briefmarken, abgestempelt am Tag nach Wellys Tod, adressiert in einer Handschrift, die sie noch nie gesehen hat), reißt Viney den Umschlag auf - eine Geste, die mit mehr Energie ausgeführt wird, als sie seit Wochen aufgebracht hat. Sie zieht den Brief heraus und lässt seine gefalteten Seiten mit selbstgerechtem Zorn auseinanderschnippen, als wäre er ein Feind, dem sie die Hölle heißzumachen beabsichtigt. Lieber Llwellyn, steht da, Sie klingen trübsinnig. Vermutlich erleben Sie eine dieser Gemütsverfinsterungen, von denen wir früher schon gesprochen haben. Es tut mir leid, Sie so pessimistisch, so entmutigt zu hören. Ich wünschte, ich wüsste, wie ich Sie trösten kann. Diese maßvollen Worte - geäußert von einem Fremden, einem Eindringling, dem Welly Zutritt zu ihrem Leben gewährt hat, ohne sie um Erlaubnis zu bitten - haben eine besänftigende Wirkung, die Viney nicht gefällt. Sie überfliegt die nächsten Abschnitte und liest erst das Ende des Briefs wieder genauer: Manche Menschen sind von einer schrecklichen Uneinigkeit des Geistes befallen - so nenne ich das. Es ist, als hätten sich ihre äußerlichen Eigenschaften an die Spitze der langen Reihe von Identitäten gedrängt, die uns ausmachen, diese Parade von Ichs. Diese siegesgewissen Ichs - beruflicher Erfolg, finanzielles Wohlergehen, guter Ruf - marschieren drauflos, ohne sich um die zarte, unbeachtete Seele am Ende der Reihe zu kümmern, die kaum Schritt halten kann, niemanden an der Seite hat, unruhig, immer verängstigt ist. Sie haben so viel erreicht im Leben, Llwellyn. So viel gegeben Ihrer Familie, Ihren Patienten, Ihrer Gemeinde. Versuchen Sie, sich das immer vor Augen zu halten, dieses Wissen. 342
Das Dunkel der Nacht übermannt uns alle. Aber für Sie, mein Freund, scheint es Worte zu geben, die Sie nicht oft genug hören können, deshalb erinnere ich Sie an diese simplen Wahrheiten: Gott ist nicht nachtragend. Sie sind ein guter Mensch. Sie haben für Ihre Fehler bezahlt. Ihnen ist vergeben. Viney faltet den Brief wieder und steckt ihn zurück in den Umschlag. Sie hat die Ahnungslosen benachrichtigt. Sie hat alle Beileidsbekundungen zur Kenntnis genommen. Es ist nur höflich, auch auf diesen Brief zu reagieren, selbst wenn es bedeutet, sich mit dem Feind gemein zu machen. »Ich möchte lernen, wie man den benutzt«, sagt Viney und zeigt auf einen der Bibliothekscomputer. »Gibt es jemanden, der Zeit hat, mir dabei zu helfen?«, fragt sie die Angestellte am Informationsschalter. Nachdem mehrere Versuche, eine handschriftliche Antwort an Bruder Henry zu verfassen, gescheitert sind (der Einsatz von Alkohol zur Ermutigung führte regelmäßig zu einem gehässigen Ton, ganz zu schweigen von Unleserlichkeit), hat Viney beschlossen, eine neue Methode auszuprobieren. Zu diesem Zweck ist sie - einen Ausbruch von Energie und Zielstrebigkeit nutzend bis nach Beatrice gefahren. Ich schaffe das, versichert sie sich. Ich kann noch etwas Neues lernen. Natürlich hätte sie schon eine halbe Stunde früher in Wymore sein können; die dortige Bibliothek hat ebenfalls Computer und Internet und all das; Larken und Gaelan suchen sie manchmal auf, wenn sie zu Besuch sind, um ihre Mails zu checken. Aber Viney kennt die Bibliothekarin in Wymore. Wenn sie dorthin gefahren wäre, hätte Betty ihr alle möglichen persönlichen Fragen gestellt, und Viney hat einfach keine Lust, sich Mit343
leidsbekundungen anzuhören oder Klagen darüber, wie schrecklich es sei, in diesem Alter allein zu leben, oder sich sagen zu lassen, wie wichtig es ist, hin und wieder RAUSzukommen, sich was zu GÖNNEN, unter LEUTE zu gehen. Wenn sie schon die gewaltige Mühe auf sich nimmt, sich anzuziehen und das Haus zu verlassen, will sie ihre Zeit bestimmt nicht damit vergeuden, dass sie mit anderen einsamen alten Frauen plaudert. »Ich helfe Ihnen gern«, sagt die Bibliothekarin und kommt hinter ihrem Schalter hervor. »Folgen Sie mir.« Sie ist keine verkniffene altjüngferliche Matrone mit Strickjacke und Brille, sondern ein stämmiges Mädchen in den Zwanzigern, und sie geht wie ein Mann. In ihren fettigen Haaren stecken zahlreiche mit Strass besetzte Klemmen, und sie trägt Netzstrümpfe und grauenhaft klobige Schuhe und ein Namensschild, auf dem Addison steht. Die jungen Frauen heutzutage haben so interessante Namen. »Setzen Sie sich«, sagt Addison, als sie in einer leeren Lesenische angekommen sind. »Ich würde gern eine E-Mail schreiben. Kann ich das?« »Na klar.« Das Mädchen legt die Hand auf ein silbriges, brötchengroßes Objekt auf dem Schreibtisch und beginnt, es fachkundig hin und her zu schieben. Ab und zu ertönt ein leises Klicken. Es erinnert Viney an die Geräusche, die kleine Vögel und Füchse machen, und sie findet es seltsam beruhigend. Ein dünnes graues Kabel verbindet den Gegenstand mit der Tastatur des Computers. »Das nennt man eine ›Maus‹«, bemerkt Addison. »Leider ist es der einzige Teil des Rechners, der einen poetischen Namen hat.« »Aaaah«, sagt Viney. Eine Maus. Pfiffig. Das gefällt ihr. Addison bewegt die Maus weiter hin und her, und auf dem Monitor erscheinen und verschwinden Bilder so schnell, dass Viney kaum Zeit hat, sie zu registrieren. »Okay. Also, jetzt brauchen Sie einen Benutzernamen, damit Sie online Briefe schreiben und erhalten können.« »Kann ich nicht einfach so einen Brief schreiben?« 344
»Die Person, mit der Sie korrespondieren, muss ja Ihre Adresse kennen, um Ihnen zu antworten. Und deshalb benötigen Sie einen Namen.« Viney weist Addison nicht darauf hin, dass sie schon einen hat. »Er kann ganz simpel zusammengesetzt sein, etwa aus dem ersten Buchstaben Ihres Vornamens und Ihrem Nachnamen oder Ihrem Namen, gefolgt von einer Zahl: wie viele Kinder Sie haben, zum Beispiel, oder ein bedeutsames Datum. Er kann sich auf Ihren Beruf beziehen oder Ihre Interessen. Er kann auch reine Fantasie sein. Einfach erfunden.« Nach Vineys Erfahrung sind die meisten Menschen, die sich falsche Namen zulegen, Filmstars, Stripperinnen oder Ganoven. »Aber der Name muss auf jeden Fall mindestens sechs Zeichen haben, ohne Leerstellen dazwischen. Während Sie sich entscheiden, helfe ich mal den Leuten da drüben am Schalter. Sobald Sie was haben, fangen wir an, okay?« »Alles klar. Vielen Dank.« Addison stapft davon. Gut, dass die Bibliothek einen Teppichboden hat. Aber vielleicht ist Stille auch nicht mehr so gefragt. Viney nimmt einen Zettel und einen kurzen, spitzen Bleistift, denkt über ihre Aufgabe nach und schreibt ihren Namen hin: ALVINA CLOSS Darunter schreibt sie Acloss. Das gefällt ihr nicht; es hört sich plump an. Alvinac. Ein Medikament gegen Verstopfung. Vineycloss. Vineloss. Rückwärts vielleicht? Yenivssloc. Klingt slawisch - irgendwie bedrohlich, nach eisernem Vorhang, nach Nikita Chruschtschow, der mit seinem Schuh auf den Tisch hämmert. Acloss1929. Mutter1948. Witwe1962. Geliebte76. Todesengel78. 345
Ein Name. Sie muss sich einen Name einfallen lassen. Einen neuen Namen. Eigentlich müsste ihr das mehr Spaß machen. Wie oft passiert so etwas schon? Wie oft wird eine Fünfundsiebzigjährige, die immer in derselben Stadt gelebt hat und nie anders genannt worden ist als bei dem Namen, auf den sie getauft wurde, schon aufgefordert, sich ein Alias auszudenken? Addison ist zurück. »Wie läuft es?«, fragt sie. »Können Sie mir nicht ein Beispiel geben? Welchen Namen benutzen Sie denn?« »Sandhundi. Das ist zusammengesetzt aus Buchstaben meines Vornamens und den ersten drei Buchstaben meines Nachnamens. Aber so kompliziert muss es nicht sein. Haben Sie Hobbys?« Viney überlegt. »Ich interessiere mich für Ernährung. Ich mache Yoga.« »Fantastisch! Und wie ist Ihr Vorname?« »Alvina. Genannt Viney.« »Prima. Versuchen wir es mal mit …« Sie tippt. »… ernyogavine.« Sie drückt auf die Enter-Taste, als ließe sie eine Peitsche knallen. »Glückwunsch! Sie haben einen E-Mail-Namen.« »Ich könnte ihn aber auch ändern, wenn ich wollte?« »Sicher. Jetzt brauchen wir die E-Mail-Adresse der Person, an die Sie schreiben möchten.« Viney holt ein Notizheft aus ihrer Handtasche, schlägt es auf und reicht es der jungen Frau. Addison tippt
[email protected]. Jetzt, da Viney weiß, wie mühselig die Entscheidung für eine Mail-Identität sein kann, ist sie Bruder Henry dankbar dafür, dass er eine so konventionelle Wahl getroffen hat. Es wäre ihr schwergefallen, einem Fremden mit einem Namen wie Sandhundi einen Brief zu schreiben. »Also«, fährt Addison fort. »Jetzt ziehen wir den Cursor dahin, wo Sie anfangen zu schreiben … Und dann legen Sie einfach los wie auf einer normalen Schreibmaschine.« Addisons Finger bewegen sich mit unglaublicher Geschwindigkeit. Sie zeigt, wie 346
man Wörter umstellt, ausschneidet, einfügt, kopiert, unterstreicht, löscht. »Wenn Sie den Brief dann fertig haben«, schließt Addison, »ziehen Sie den Cursor hierher, klicken auf ›Senden‹, und das war’s.« »Verstehe«, sagt Viney. »Wow!« »Sie kriegen das schon hin. Ich bin da drüben, falls Sie noch Fragen haben.« Viney macht sich ans Werk. Na gut. Abgesehen von der Namensfindung war das wirklich leicht. Warum hat sie sich so lange vor Computern gescheut? Aus irgendeinem Grund dachte sie, man müsste alles über das Innenleben der Dinger wissen, bevor man einen benutzen kann. Aber das ist albern. Sie sind auch nur Geräte, Werkzeuge. Sie bedient jede Menge Maschinen, ohne sich mit ihrem Innern auszukennen. Weiß sie, wie ihr Auto funktioniert? Ihr Entsafter? Ihr Staubsauger? Zum Teufel, nein. Und sie kann hervorragend tippen. Konnte es jedenfalls mal. Es dürfte nicht lange dauern, bis sie zu ihrer alten Geschicklichkeit zurückfindet. Das hier wird ein Kinderspiel. Lieber Bruder Henry Sie zögert: Ausrufezeichen oder Komma? Immerhin ist er Mönch, und sie kennen sich nicht. Sie wählt die formelle Variante: ! Es soll eine Einladung werden. Höflichkeit und Offenheit sind gefordert. Viney hat in ihrer Eigenschaft als medizinische Sekretärin jede Menge Korrespondenz für Welly erledigt, also müsste das hier einfach sein. Lieber Bruder Henry! Mein Name ist Alvina Closs, und es geht um eine Einladung, initiiert von meinem langjährigen Freund Arbeitgeber Partner Lebensgefährten dem Mann, mit dem ich das Bett geteilt Lieber Bruder Henry! Vor kurzem fand ich Ihre Briefe an meinen Ich schreibe im Auftrag von 347
Ich schreibe, um Sie zu fragen, ob Sind Sie noch dazu bereit? Ich bitte Sie herzlich zu kommen Es würde unserer Stadt und mir und Hope und Welly so viel bedeuten Lieber Bruder Henry! Sie kennen mich vielleicht durch Ihre Korrespondenz mit Llwellyn Jones, dem Bürgermeister von Emlyn Springs, denn ich glaube, er hat mich ein-, zweimal erwähnt als beste Freundin seiner Frau und als seine Ich habe die traurige Aufgabe, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr langjähriger Briefpartner und Bürgermeister von Emlyn Springs, Dr. Llwellyn Jones Lieber BH! Ich habe im Arbeitszimmer des toten Bürgermeisters rumgeschnüffelt und übrigens interessiert es Sie vielleicht dass er auf dem Golfplatz vom Blitz erschlagen wurde und vielleicht haben Sie als Mann Gottes eine ganz eigene Meinung dazu ich persönlich glaube er vollstreckte damit ein Urteil das er vor vielen Jahren über sich selbst gesprochen hat und vielleicht finden Sie es ebenso interessant wie ich dass er über zwanzig Jahre lang vorgab ein Saft trinkender Ovo-lacto-Vegetarier zu sein was gar nicht stimmte. Wie sich herausstellt hatte er eine Menge Geheimnisse was mich nicht überraschen sollte denn wir bewahren hier seit fünfundzwanzig Jahren ein sehr großes Geheimnis und ich weiß dass Sie wissen wovon ich rede Hallo! Ich bin Alvina Closs, Dr. Llwellyn Jones’ ehemalige Arzthelferin und langjährige Geliebte und außerdem seine Mitverschwörerin bei einem Mordkomplott, bei dem wir nicht erwischt wurden Alvina nimmt die Hände von der Tastatur. Mit Hilfe ihrer Maus löscht sie alles, was sie geschrieben hat. Dann beugt sie sich vor, sodass sie die Halb-Abgeschiedenheit der Nische nutzen kann, öffnet den Mund, so weit sie kann, streckt ihre Zunge heraus, atmet tief ein und kräftig wieder aus.
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Als sie sich gefasst und konzentriert genug fühlt, setzt sie erneut an: Lieber Bruder Henry! Mein Name ist Alvina Closs. Als Mitglied der Gemeinde von Emlyn Springs und langjährige enge Bekannte von Bürgermeister Dr. Llwellyn Jones habe ich die traurige Aufgabe, Sie von seinem plötzlichen Tod Ende August zu unterrichten. Ich weiß, dass Sie beide jahrelang über das Thema korrespondiert haben, die Beziehung zwischen unseren Schwesterstädten zu vertiefen. Außerdem ist mir bekannt, dass Sie und Dr. Jones die Möglichkeit erörterten, ein zweites Kloster in Südost-Nebraska zu gründen, nicht nur um die Präsenz des Benediktinerordens hier im Mittleren Westen zu stärken, sondern auch unter dem Aspekt, das soziale, kulturelle und ökonomische Leben unserer Gemeinde zu bereichern. Es hat zwar in der Vergangenheit einigen Widerstand gegen Dr. Jones’ Pläne gegeben, doch jetzt sind wir bereit, diese Möglichkeit mit neuer Entschlossenheit ins Auge zu fassen. Es könnte kein besseres Gedenken an den Bürgermeister geben als die Erfüllung seiner Hoffnungen auf ein neu belebtes Emlyn Springs durch eine Allianz mit den Brüdern von Gwynnedd Island. Aus diesem Grund möchten wir Ihnen hiermit eine Einladung aussprechen. Natürlich sind Sie uns jederzeit willkommen, und wir freuen uns sehr darauf, Ihnen ein wenig von unserem Wales in Nebraska zeigen zu dürfen, wann immer Ihre Reisen Sie in die Staaten führen. Allerdings hoffen wir besonders darauf, dass Sie uns im nächsten Jahr zu unserem alljährlichen Sommerfest, den Eier-Feiertagen, besuchen werden. In dieser Zeit finden hier einige walisisch inspirierte Veranstaltungen statt, die Ihnen und Ihren Mitbrüdern besonders gefallen könnten. Ich freue mich auf Ihre Antwort. Herzliche Grüße, Ihre Alvina (Viney) Closs 349
Nachdem sie gründlich Korrektur gelesen hat, klickt Viney spontan auf »Senden«, ohne Addison zu konsultieren. Eigentlich ist es fast zu einfach - einen Brief zu schreiben, der physisch nicht existiert -, und Viney fürchtet die globale Wirkung von E-Mail-Korrespondenz auf die menschliche Moral. Wer hätte gedacht, dass es ihr so leichtfallen würde, einen Benediktinermönch zu belügen, und sei es nur durch Unterlassung? Wenn sie diesen Brief auf die herkömmliche Weise hätte verfassen, eine Marke aufkleben, ihn zur Post bringen und in den Kasten werfen müssen, hätte sie das nie durchgestanden. Seine physische Präsenz hätte sie zu sehr beschämt. Die Worte »Ihre E-Mail an brotherhenry@saintgwenfrewi. org wurde versandt« erscheinen auf dem Bildschirm. Viney fühlt sich zwar nicht unbedingt beruhigt - und schon gar nicht von ihren Sünden freigesprochen -, verspürt aber eine gewisse Befriedigung. Auf der Heimfahrt kann sie kaum die Augen offen halten. Da sie weiß, dass sie für heute alles erledigt hat, was ihr möglich ist, streift sie zu Hause gleich ihre Kleider ab, wirft ihren Bademantel über, zieht die Jalousien und Vorhänge zu, isst ein paar Bissen von einem altbackenen Puderzucker-Donut, legt sich dann aufs Wohnzimmersofa und schläft ein. Auf dem täglichen Gang zur Intensivstation bahnt sich Larken ihren Weg durch die Katakomben des Lincoln General Hospital. Ihre Erfahrungen mit den Besonderheiten von Intensivstationen sind Gott sei Dank begrenzt. Bis auf jene schrecklichen Besuche 1978 bei Bonnie, ehe sie das Bewusstsein wiedererlangte, fühlte Larken sich bisher eher zu Empfängen eingeladen, wenn sie ins Krankenhaus ging und irgendwelchen Bekannten, die sich von Nasenkorrekturen, Knieoperationen oder Schulterverletzungen erholten, Luftballons und Karten mit Genesungswünschen brachte. Zweimal hat sie Mia im Krankenhaus besucht; beide Male war 350
die Stimmung gut, wenn auch beim einen Mal etwas schlechter als beim anderen. (Larken hat immer geglaubt, dass Mias Freude über Esmés Geburt durch die Sedativa gedämpft wurde, die sie während ihrer komplizierten Wehen und des Notkaiserschnitts erhielt. Zweieinhalb Jahre später dagegen war Mia nach ihrer Tubenligation, die ohne Probleme vonstattenging, trotz der Nachwirkungen ihrer Narkose grenzenlos glücklich.) Larkens früheste Erinnerung an Krankenhäuser stammt aus ihrer Kindheit und Jugend: ein Destillat aus Erinnerungen an unzählige Krankenhausbesuche zwischen 1973 und 1978. Die meisten Menschen erleben die optische Magie von »Perspektive« und »Fluchtpunkt«, indem sie einer Eisenbahn hinterherstarren. Larken und Gaelan und Bonnie wurden mit dem Phänomen vertraut, indem sie beobachteten, wie ihre Eltern viele sehr lange Krankenhauskorridore entlanggingen und ihre Gestalten dabei mit jedem Schritt erschreckend kleiner wurden, bis sie hinter schweren Metalltüren verschwanden, die laut klirrend zuschlugen: das Geräusch des Tors einer Festung, die vor der Belagerung gesichert wird, eines Hochsicherheitstrakts im Gefängnis. Aber wer wurde geschützt?, fragte Larken sich oft. Wer war gefangen? Ihre verschwundenen Eltern oder sie und ihre Geschwister? Sie langweilten sich beim Warten. Larken gab vor, Erwachsenen-Zeitschriften zu lesen - Life und Newsweek und Time. Wenn ein Automat in der Nähe war, kaufte sie Schokoriegel und Erdnüsse und Kekse und Limonade für sich und die beiden anderen. (Als Ältester wurde Larken ein kleiner Geldbetrag anvertraut, den sie nach eigenem Gutdünken ausgeben durfte, während ihre Eltern sich jenseits des Fluchtpunkts befanden. Irgendwann fing sie an, das Geld teilweise für Zigaretten zu verwenden, und ließ ihre Geschwister schwören, nichts zu verraten.) Wenn eine National Geographic herumlag, schaute Gaelan sich die an. Sonst beschäftigte er sich mit einem Kartenspiel, das er immer bei sich hatte. Er kannte eine Million Patiencen, außerdem probierte er ver351
schiedene Mischtechniken und Kartenhauskonstruktionen aus. Manchmal spielten sie auch gemeinsam Rommé oder Mau-Mau. Bonnie konnte sich stundenlang damit amüsieren, so genannte »Versteckte Bilder« auszumalen, von denen sie nie genug bekam. Wenn Larken gelegentlich vorschlug, in die Cafeteria zu gehen oder einen Spaziergang zu machen, nur um sich die Beine zu vertreten, die Langeweile zu mildern - denn schließlich befahlen ihnen Mom und Dad nicht, die ganze Zeit über im Warteraum zu bleiben -, konnten sie und Gaelan Bonnie nie dazu überreden. Und wenn sie nun zurückkommen, während wir weg sind?, fragte sie dann immer. Dann ängstigen sie sich um uns. Ihr könnt ja gehen, wenn ihr wollt, aber ich bleibe hier. Das Mitgefühl, die Ausdauer ihrer kleinen Schwester rührte und beschämte sie, und so blieben sie ebenfalls. Von ihnen dreien war es Bonnie, die nie daran zweifelte, dass ihre Eltern als zwei winzige Punkte am Horizont wieder auftauchen und zu ihnen zurückkehren würden. Larken ist schon fast vor Arthurs Zimmer, als jemand hinter ihr ruft. »Entschuldigen Sie, Ma’am! Die Besuchszeit ist vorbei.« Larken war seit Arthurs Schlaganfall jeden Tag hier, ist dieser Person aber noch nie begegnet. Sie geht zurück zum Schwesternschalter. Sehr viele der im Gesundheitswesen Tätigen sehen selbst krank aus. Die Frau hier hat blasse Haut, glänzend vor Schweiß oder Talg oder beidem - das ist schwer zu erkennen -, und ihre blonden Haare sind aus dem Gesicht gezurrt und zu einem straffen Knoten zusammengefasst. Ihre Figur ist vom Kragen bis zum Gesäß vollkommen konisch und wirkt wie ein überaus steif geschlagener Berg Sahne. Es ist sicher nicht einfach, Krankenschwester auf einer Intensivstation, überhaupt Krankenschwester zu sein. Larken kann sich nicht vorstellen, wie Viney das so lange durchgehalten hat. Krankenschwestern sind Heilige; das ist die einzige 352
Erklärung. Diese Frauen überprüfen nicht nur Vitalzeichen und nehmen Blut ab, sie beantworten auch Anrufe, bewachen das Tor, lassen nur die Befugten ein. »Ich möchte Arthur Collins besuchen«, sagt Larken. »Ich werde erwartet.« »Tut mir leid«, hebt die Schwester an, »aber …« »Sie gehört zur Familie, Teresa.« Larken schaut zu Arthurs Zimmer und sieht, dass Eloise ihren Kopf zur Tür herausgestreckt hat. »Kommen Sie rein, meine Liebe«, sagt sie, winkt Larken zu sich und zieht sie in eine Umarmung. Eloise strahlt Wärme und zugleich königliche Zurückhaltung aus. Selbst bei großer körperlicher Nähe hat man das Gefühl, dass ihre Moleküle eher gesellschaftlichen Regeln als wissenschaftlichen Gesetzen gehorchen und nie daran denken würden, sich mit anderen zu mischen. In Larkens Augen sind Arthur und Eloise Reinkarnationen eines Monarchenpaars aus einer Zeit (und die hat es doch gegeben, oder?), in der Autoritätspersonen wohltätig, gebieterisch, bescheiden, umsichtig und weise waren. Einer Zeit, in der die Führer der Welt nicht geschmacklos gekleidet in der Boulevardpresse zu sehen waren, sich schlecht benahmen, idiotische Reden hielten, für die Weight Watchers eintraten, das Wort »nuklear« falsch aussprachen. Einer Zeit, in der ihre Unvollkommenheiten sie noch nicht so menschlich, so gewöhnlich machten. Larken ist es lieber, wenn ihre Helden unnahbar und geheimnisumwittert sind. Eloise und Arthur heben sich in ihrer Fantasie von allen anderen ab - ihre Farben sind zu komplex, um sie zu definieren. Zu sagen, dass sie die beiden liebt, wäre korrekt, doch es ist eine Liebe, die ihnen von ferne zuwinkt. »Wie geht es ihm heute?«, fragt Larken. »Er fängt an, gezielte Bewegungen zu machen«, erwidert Eloise. »Gestern Abend hat er sogar die Augen geöffnet.« »Da bin ich aber froh.« Larken tritt ans Bett. »Hallo, Arthur.«
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»Er sieht gut aus, oder?«, bemerkt Eloise. »Nicht mehr so blass.« »Sehr gut«, stimmt Larken zu, obwohl sie Mühe hat, sein Aussehen zu bestimmen. Wenn sie ihren Kurs über die Renaissance des Nordens unterrichtet, beginnt sie immer damit, dass sie ihren Studenten Aussagen über die Eigenschaften der gemalten Personen entlockt: Wie sehen sie aus? Total flach. Warum? Weil kein Licht da ist, kein Schatten. Was ist mit den Farben? Sie sind blass. Sie wirken ausgeblichen. Wie stellen Sie sich ihr Skelett vor? Sind ihre Knochen dick oder dünn, stabil oder mürbe? Sie sind zerbrechlich, als bestünden sie aus Brezeln. Was sagt das über das Gewicht der Menschen aus? Sie wiegen gar nichts. Sie sehen unecht aus. Sie wirken geziert. Sie sehen aus wie schlechte Schauspieler. Sie sehen aus wie Puppen. Nachdem sie ihre Studenten auf diese Weise dazu gebracht hat, etwaige festgefahrene Einstellungen zur Religion im Allgemeinen und zu Mutter und Sohn im Besonderen zu überwinden, fragt sie nach der Bedeutung dieser Abbildungen: Da wir uns nun einig sind, dass kein Mensch so aussieht: Was, glauben Sie, will der Künstler uns damit über Christus sagen? Was will er über die Heilige Jungfrau sagen? Was sollen Sie Ihrer Meinung nach beim Betrachten dieser Personen empfinden? Was bedeutet es, dass sie in dieser sehr spezifischen und unrealistischen Weise wiedergegeben sind? Woher sollte Larken wissen, dass sie sich all die Jahre über geirrt hat? Sie würde ihre Studenten nie vorsätzlich anlügen, nie Informationen verbreiten, die sie nicht für wahr hält.
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Arthur sieht aus wie der Gekreuzigte, aber nicht wie der von van der Weyden. Sein Torso auf dem gebleichten Krankenhausbettzeug ist leicht aufgerichtet und wirkt, als wäre er aus knittrigem Pappkarton. Die Hände mit den langen Fingern sehen aus wie Haut und Knochen - ausgemergelte Seesterne auf dem Grund eines sonnenlosen Meers. Die Kanülen in seinem Arm sind wie Ranken. Sein Körper ist dürr und nahezu ohne Substanz. Larken kann fast seine Rippen sehen; jedenfalls kann sie sie sich vorstellen - zerbrechlich wie Brotstangen - unter dem Nachthemd, das so oft gewaschen wurde, dass alles, was einmal ein Muster gewesen sein mag, nur noch der Schatten einer Farbe ist, bis zur Unkenntlichkeit verblichen. Arthur ist eins mit ihm und dem Bettzeug. Der Geruch von Franzbranntwein und nach Gummi schmeckendem Krankenhausessen hat ihn ganz absorbiert. Die Sauerstoffmaske verdeckt seinen Mund; er sieht aus wie Dr. Fu Manchu bei der Meditation oder … … wie Boris Karloff, ehe ihn der Blitz zum Leben erweckt, oder … wie Dashiell Hammett, der seinen Rausch vom Vortag ausschläft, oder … »Er ruht sich nur aus«, bemerkt Eloise. Das soll sicher tröstlich klingen, dabei sieht er aus wie der Tod höchstpersönlich. Larken und Eloise plaudern. Eloise - deren Hände immer mit etwas Reizendem und Unnötigem beschäftigt sind - bestickt einen Weihnachtsstrumpf für ihr jüngstes Enkelkind. Gelegentlich schaut sie Arthur an, als würden sie ein normales Gespräch zu dritt führen und er nur vorübergehend schweigen. Er wird jeden Moment etwas sagen. Lächelnd kommen und gehen die Schwestern und Pfleger mit ihren Klemmbrettern, kümmern sich um Arthurs Bedürfnisse, überprüfen Infusionen und Monitore. Auf Eloises Bitte bringt eine Cafeteria-Angestellte Larken eine kleine Tasse heißen Kaffee. 355
Eine freiwillige Helferin liefert Blumen ab, ein prachtvolles Gebinde aus Chrysanthemen, Weidenzweigen und exotischen getrockneten Samenkapseln. Es erinnert Larken an die Sträuße, die ihre Schwester und ihre Mutter früher immer im Herbst pflückten. »Oh!«, ruft Eloise und liest die Karte. »Wie hübsch! Sind die nicht hübsch, Arthur?« Dann wechselt sie zu einem anderen Thema und fragt, wie Larkens Kurse laufen, ob es in diesem Semester besonders vielversprechende Studenten gibt, ob es eine große Belastung ist, neben ihren eigenen Lehrveranstaltungen auch noch die von Arthur zu übernehmen. Larken spürt, wie in ihrer Brust ein heftiges, ängstliches Flattern einsetzt. Sie sollte sich entschuldigen und nach Hause fahren. »Das ist überhaupt kein Problem«, sagt sie stattdessen, schaut auf die Uhr und rückt auf ihrem Stuhl hin und her. Es ist fast neun. Sie muss noch Referate korrigieren, einen Lehrplan überarbeiten. Sie wird bis weit nach Mitternacht auf sein, und morgen früh um acht findet eine Fakultätsversammlung statt. Als Eloise schließlich die Frage stellt - und es zeugt von ihrer Geduld und ihrem Gefühl für Anstand, dass sie beinahe zwei Stunden damit gewartet hat -, sieht sie dabei nicht von ihrer Stickerei auf, und ihre Stimme ist unverändert. »Wissen Sie«, sagt sie, »ich habe über die Europareise nachgedacht, die Arthur jedes Jahr in den Winterferien macht, seit … na ja, seit Sie bei ihm Studentin waren, oder?« Jetzt kommt es. »Ich glaube schon.« »Sind Sie je dabei gewesen?« »Nur einmal.« Sie entsinnt sich nicht, denkt Larken ungläubig, oder sie ist bloß höflich. Sie weiß nicht, ob sie erleichtert oder beschämt sein soll, und richtet den Blick auf eine Schale voll wabbeliger Geleewürfel auf dem Rollwagen neben Arthurs Bett. Sie stehen schon den ganzen Abend da und schmelzen vor sich hin. Irgendetwas an ihrer 356
schleichenden Auflösung, an ihrer Glitschigkeit und ihrer Farbe leuchtend rot - bringt Larken auf die Frage, ob dieses Gelee nicht für Spezieleffekte in Horrorfilmen benutzt wird. Sie muss sich bei ihrem Bruder danach erkundigen. Er hat jeden Horrorstreifen gesehen, der je gedreht wurde. »Dann wissen Sie ja Bescheid!«, fährt Eloise fort, und ihrer munteren Stimme fehlt jeder Unterton. Sie scheint wirklich vergessen zu haben, was vor vielen Jahren im Flugzeug passiert ist. »Arthur hat die Reise so oft gemacht, dass sie bis auf die letzte Sekunde geplant ist. Sie wissen ja, wie er ist. Der ganze Ablauf, die Tagesausflüge, die Unterbringung, alles ist arrangiert, bis ins Detail.« Larken versucht zu lächeln. »Das bezweifle ich nicht.« »Zwölf Studenten haben sich angemeldet. Arthur hat sich als Schwerpunkt Constable vorgenommen - es gibt eine Ausstellung in der Tate, wissen Sie - und Mirabella, die Raffaeliten.« Der Vogelschwarm wütet in Larkens Brust. Sie malt sich aus, wie sie nach den Geleewürfeln langt, sie sich in den Mund stopft und sie herunterschlingt, als könnte ihn das besänftigen. Eloise fährt fort: »Worauf ich hinauswill: Obwohl ich mir sicher bin, dass Arthur Weihnachten wieder auf den Beinen ist, habe ich meine Zweifel, ob er dann schon reisen kann, deshalb habe ich mich gefragt …« Sie ist von ihrem Stuhl aufgestanden und zu Arthur getreten und ergreift seine Hand. »Es gibt niemanden in der Fakultät wie Sie, keinen, der Arthurs Arbeit so gut kennt und seinen Lehrstoff so vermittelt, wie er es sich wünschen würde.« Einen Moment lang hat Larken den Eindruck, Arthur spräche durch sie, als ob sie Bauchredner und Puppe wären. Was für eine Erleichterung! Arthur hat sich die ganze Zeit über nur krank gestellt! Frag nicht frag nicht frag nicht, fleht Larken. Aber natürlich wird sie fragen.
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Gaelan ist in den Konferenzraum bestellt worden. Er ist sehr voll. Versammelt sind der Segmentproduzent, der NachrichtenChefredakteur, ein paar langjährige Sponsoren von KLANKHAM und die neuen Eigentümer des Senders, zwei Herren in Anzügen, deren Namen Gaelan einfach nicht behalten kann, vielleicht weil sie etwas Wandelbares an sich haben, das Gaelan schon oft bei reichen und mächtigen Männern aufgefallen ist ihre Identität scheint sich ständig im Fluss zu befinden. Bemerkenswert abwesend sind Gaelans Sprecherkollegen; warum sollte eine Ankündigung von Veränderungen bei KLANKHAM sie nicht betreffen? Auf dem Sideboard stehen ein üppiges Blumengebinde und ein regelrechtes Füllhorn an Delikatessen bereit: Obst, Gebäck, Salate, Saucen, Aufschnitt. Es erinnert Gaelan so beunruhigend deutlich an das gymanfa seines Vaters, dass er sich für einen kurzen Augenblick fragt, wo der Leichnam ist. Die Eigentümer des Senders nehmen die Sache in die Hand. Sie sind freundlich, bieten Gaelan eine Flasche Mineralwasser an - die er akzeptiert - und ein Sandwich seiner Wahl (Schinken, Cornedbeef, Roastbeef oder Pastrami) mit Chips, das er ablehnt. Sie bieten ihm einen Platz an. Sie kondolieren ihm zu seinem Verlust. Und dann schlagen sie ohne weitere Vorrede vor, er möge einen Online-Schnellkurs der Mississippi State University für Meteorologie im Fernsehen mit abschließendem Diplom belegen. In dem darauf folgenden Schweigen fragt sich Gaelan, ob ihm irgendetwas entgangen ist. Die Anzüge lächeln ihn verdächtig erwartungsvoll an. Vielleicht ist er das Hauptgericht. »Sie wollen, dass ich studiere«, sagt er, nur zur Klarstellung. »Einen akademischen Grad in Meteorologie erwerbe.« Angeführt von den Anzügen, nicken alle im Raum glücklich und zustimmend und wirken gleich weniger bedrohlich: eine Versammlung von Wackelkopfpuppen. Gaelan versucht, gelassen zu klingen: »Wie, stellen Sie sich vor, soll ich das schaffen?« 358
Es folgt eine kollektive Reaktion, eine Neuordnung des Energiefeldes im Raum: Räuspern, verzogene Mienen, Füßescharren. Gaelan fährt fort: »Ich meine, ich versuche zu begreifen, wie ich ein Studium durchziehen soll, wenn ich gleichzeitig ganztags arbeite. Ganz zu schweigen vom Lernen …« Die Anzüge wechseln einen grimmigen Blick - Unterhändler beim Entwurf eines Friedensvertrags - und sagen dann, natürlich würden sie kein solches Opfer verlangen. Was sie anböten, seien mehrere Monate Urlaub bei Teilfortzahlung der Bezüge, denn er sei mit seiner jahrelangen Erfahrung und seinem dauerhaften Engagement eine wertvolle Kraft, wirklich, ein äußerst wertvoller Mitarbeiter des Nachrichtenteams. »Hören Sie«, sagt Gaelan, »ich weiß, dass ich in den letzten Wochen ein bisschen neben der Spur war, aber …« Die Anzüge unterbrechen ihn, um ihm zu versichern, dass seine Leistung - und Gaelan kann gar nicht anders, als sich von dem nachdrücklichen Gebrauch gerade dieses Wortes getroffen zu fühlen, wenn er die Tatsache bedenkt, dass sein Penis in einen nahezu ungeschlechtlichen, komatösen Zustand verfallen ist absolut gar nichts mit ihrem Vorschlag zu tun hat; sie hätten die Maßnahme schon vor dem Tod seines Vaters geplant. Überdies seien sie mehr als bereit, Gaelan die Situation auf jede erdenkliche Weise zu versüßen, um sich seiner fortgesetzten Verbindung mit KLAN-KHAM zu vergewissern. Er werde eine wichtige Rolle beim Übergang des Senders zu seiner neuen Identität spielen. In ihrer Vision von der Zukunft sei er einer der ganz Großen. Sie bräuchtenihn. Und trotzdem fühlt sich Gaelans Körper an, als ob er welkt, schrumpft, ihm langsam, aber unerbittlich alle Flüssigkeit entzogen wird, sodass am Ende dieser Zusammenkunft (wird sie je zu Ende sein?) nichts von ihm übrig ist als eine verdorrte Hülle. Sogar seine Knochen werden zerbröseln. Es ist ein Ende, das in bestimmten Horrorfilmen böse, unmenschliche Kreaturen finden: Vampire, Dämonen, Außerirdische. Er wird versuchen, nicht zu 359
schreien. Der arme Hausmeister wird mit Besen und Schaufel ordentlich zu tun haben. Oder vielleicht bläst ja auch ein Wind mit Beaufort-Stärke 5 durch den Konferenzraum und weht ihn in pulverisierter Form in die Luft - wie Asche. »Überlegen Sie es sich«, schließen die Anzüge herzlich lächelnd, »dann geben Sie uns Bescheid.« Sie haben erneut die Identität gewechselt. Jetzt sind sie Kandidaten, die bereits wissen, dass sie dank einer gekauften Wahl garantiert haushoch gewinnen werden. Gaelan ist inzwischen klar, dass seine Zukunft davon abhängt, ob er einer ihm als Vorschlag untergeschobenen Entscheidung zustimmt. Er weiß, dass er für heute entlassen ist. Er geht, ohne jemandem die Hand zu schütteln, weil er befürchtet, schon der geringste physische Kontakt könnte seine Auflösung bewirken. Es wäre nicht gut, wenn er zu Staub zerfiele, ehe er das Gebäude verlassen hat. Er eilt zu seinem Wagen, so erregt, dass er seine sonstige körperliche Bewusstheit und Kontrolle verloren hat. Er merkt nicht, dass er auf eine Weise geht, derer er sich vor Jahrzehnten verschämt entledigt hat, nämlich ausgeprägt schaukelnd. In gewissem Sinne, denkt er, ist das eben Geschehene eine Erleichterung. Jahrelang hat er wegen seines ungerechtfertigten frühen Erfolgs Schuldgefühle gehabt, sich mit der Fragwürdigkeit seines beruflichen Status gequält. Er hat sich an die Möglichkeit geklammert, dass Aufrichtigkeit und Mühe sein unverdientes Glück aufwiegen. Er hat um Absolution gebetet. Jetzt sind seine Gebete wenigstens erhört worden: Endlich weiß er, dass das alles nicht gezählt hat. Entmutigt, weil ihr nach wie vor nicht klar ist, wie sie weiter vorgehen soll, beschließt Bonnie, sich vorläufig einem speziellen Teil ihres Archivs zu widmen. Sie holt einen Schuhkarton hervor, in dem sie Papierfetzen verschiedener Größe aufbewahrt, die sie 360
im Laufe der Jahre gefunden und gesammelt hat: Fragmente der Tagebücher ihrer Mutter. Manche davon sind mit der Hand beschriftet, manche maschinengeschrieben, andere kaum lesbar, alle eingerissen und die Texte nur Bruchstücke. Aus diesen Abfällen komponiert sie - mit Hilfe eines säurefreien Klebestiftes und der Kraft ihrer Intuition - eine Epistel: Liebes Tagebuch, ich bin so eine schäbige perfekte Avocado Nicht schwanger vielen Dank die sich über hormonelle Kriege auf dem Laufenden hält so wie jede Mutter (sag doch was du meinst du Feigling) Vielleicht gebäre ich nie Aber ich habe ein Paar Babyschuhe gefunden, Können wir nicht warten, hörte ich sie sagen Warten worauf? Meine lieben Babys. Mommy Bonnie? Warum sollte ich so lange warten? ich Ärmste ich werde allmählich verrückt Verliere noch den Verstand Mein Sehvermögen unvollkommen nichts zu ändern und doch und doch und doch wunderschön frisierte Blondine meine halsstarrige Tochter diese Kinder, die mich beglücken Herzen und Hände und Hände und Füße der Zwilling, auf den sie bisher verzichten musste oh, wie wir uns mühen hilf mir hilf mir hilf mir
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Bonnie presst die Handballen auf ihre Lider, bis ihre Tränen zurückgedrängt sind. Mehr schafft sie heute nicht, und so beginnt sie, die nicht benutzten Zettel (es sind so viele) einzusammeln und wieder in den Schuhkarton zu legen. Hier ist einer: nenne dieses Baby den kleinen Strampler, so eifrig Ein unheimliches Geräusch lässt Bonnie aufschrecken: ein leises Summen, ein hoher Seufzer. Es kommt vom Rad des Rollstuhls. Bonnie erinnert sich, wie ihre Mutter in Bezug auf das Klavier von akustischer Magie sprach: von synchronisierten Vibrationen und Obertönen und Harmonien, davon, dass die Saiten nicht nur durch die Hämmerchen zum Klingen gebracht werden, sondern auch durch die unsichtbare Einwirkung einer wandernden Schallwelle. Und dann verstummt das Geräusch. Was hat die Vibration ausgelöst? Was hat die Stimme des Artefakts geweckt? Bonnies Blick fällt auf einen weiteren Gegenstand, einen, der sich gewöhnlich woanders befindet. Er liegt auf einem Tisch neben ihrem Bett und ist so dem Artefakt nicht nur durch Größe, Form und Zweck verbunden, sondern auch durch seine Nähe: ein Rad von Bonnies Fahrrad. Sie hat es nach ihrer Morgentour mit hereingebracht. Es muss neu zentriert werden. Die Übereinstimmung ist geradezu verblüffend. Die Erkenntnis trifft sie wie eine Frühlingsbrise: Das ist es, denkt sie und wispert Worte des Dankes. Hopes Tagebuch, 1966 Kleine Sandwiches und blinde Hände und Füße Verliere noch den Verstand. Ich mache Sandwiches und schneide sie zu gefälligen kleinen Figuren - Herzen und Händen und Ponys und Sternen -, und dann lassen die Kinder sie fallen. Ich spüre, 362
dass ich beim Wegräumen finster blicke und meine Stimme angespannt und überkontrolliert klingt, selbst für mich, also werden sie meinen Ärger sicher bemerken. Ich fühle mich chronisch unvorbereitet für alles, was meinem Körper abverlangt wird. Meine Hände haben ihre Anmut verloren. Früher waren sie graziös. Es gab sogar eine Zeit, als Larken und Gaelan Babys waren - gar nicht so lange her! -, da erschienen sie mir gesegnet und kompetent, wenn sie zum Beispiel die Hinterköpfe der Kleinen stützten, als alles noch einfacher war. (Als sie noch keine Persönlichkeit hatten, ist es das, was ich in Wahrheit meine? Noch keinen eigenen Willen? HA!) Jetzt haben sie einen Willen und die Fähigkeit, sich durchzusetzen und um Dinge zu bitten und Vorlieben zu äußern und die Milch zu verschütten und den herrlichen Teller voller Sandwiches mit Butter und Gurken und Frischkäse und Oliven - wie bei einem richtigen Tee, habe ich ihnen erklärt, wie ihn die Kinder in England um diese Tageszeit einnehmen - umzukippen. Ja, kein Wunder, denn es ist vier Uhr, die schlimmste, absolut schlimmste Tageszeit für eine Mutter, denn jetzt hat sich jede Fröhlichkeit und gute Laune aufgebraucht, und man will nur noch einen steifen Drink oder sich die Handgelenke aufschlitzen oder beides. Ich entscheide mich für ein großes Glas Wein. Es macht die Konturen weicher. Was meine Hände betrifft: Sie agieren neuerdings in einer Art Nebel - als wäre ihre Sicht getrübt, anders kann ich es nicht beschreiben. Sie scheinen nicht zu wissen, wo sie hingreifen, stoßen häufig mit Sachen zusammen, schätzen die Entfernung zwischen zwei Punkten falsch ein. Dasselbe erlebe ich bei meinen Füßen. Meine Hände brauchen eine Brille! Meine Füße erblinden! Aus dieser Situation heraus habe ich ganz neue Blindekuhspiele erfunden: In unserer Version fülle ich Papiertüten mit verschiedenen Haushaltsobjekten und lasse sie hineingreifen und raten, was drinnen ist. Bei einer anderen Variante verbinde ich ihnen die Augen, lege Hershey-Schokoladenküsse auf einzelne 363
Tasten und schlage sie an; wenn sie die Note richtig identifizieren, bekommen sie die Praline. Witziges Bild eigentlich. Mir gefällt die Vorstellung von bebrillten Händen und Füßen.
17 Zaunkönige im Winter Larken wacht mit den ersten Strahlen des Dezemberlichts auf, die drei Bären über ihr halten Winterschlaf. Sie wünscht, sie könnte sich ihnen anschließen. Die Sonnenwende mag ja rein theoretisch bedeuten, dass die Erde sich wieder der Sonne zuneigt, aber es wird Monate dauern, bis Larkens Körper das glaubt. Nie fühlt sie sich schwerer und verdüsterter als im Winter. Müde öffnet sie den Schlafzimmerschrank und beginnt, Einkaufstüten voller Geschenke herauszuholen, von denen die meisten noch mit Preisschildern versehen und nicht eingewickelt sind. Gewöhnlich macht es Larken große Freude, nach den perfekten Geschenken zu suchen. Dieses Jahr ist sie sich bei vielem, was sie ausgewählt hat, unsicher - so unsicher, dass sie die Quittungen aufgehoben hat. Drei Geschenke liegen festlich verpackt bereit. Mia bekommt eine Erstausgabe von The Collected Poems of Audre Lorde. Larken ist letzte Woche trotz Schnee und Eis nach Omaha gefahren, um sie dort in einem Secondhand-Buchladen zu besorgen. Sie kennt das Werk der Schriftstellerin nicht, doch Lorde ist eins von Mias literarischen Idolen, und Larken ist vertraut genug mit Jons und Mias Bibliothek, um zu wissen, dass sie es nicht haben. Für Jon hat sie schon vor Monaten bei einem Spezialversand in Wales online einen handgestrickten Lambswoolpullover mit Zopfmuster in einem satten Smaragdgrün bestellt. 364
Esmés Geschenk ist gigantisch, eher sperrig als schwer. Larken brauchte drei Rollen Papier, um es einzuwickeln. Es wird Mia nicht entgehen, dass sich eigentlich mehrere Geschenke in dem Paket befinden: ein wunderschönes handbemaltes Puppentheater aus Italien - samt Vorhängen und Kulissen - und etliche Handpuppen: König, Königin, Prinz, Prinzessin, Zauberer, Ritter, Hexe, Drache, Bauer, Pony, Rauchschwalbe, Hund. Larken ist klar, dass diese Extravaganz einen Bruch der fest etablierten Regeln darstellt. Jedes Jahr um diese Zeit erinnert Mia sie daran, dass wir, wenn wir wirklich Jesu Geburtstag feiern wollen, daran denken sollten, dass die drei Weisen drei Gaben mitbrachten, basta, und dass es absoluter Blödsinn sei, den Geist der Weihnacht als Vorwand zu missbrauchen, Toys’R’Us zu plündern und Konten zu überziehen. Mia ist eine strenge Befürworterin von Erlebnisgeschenken anstelle von Spielsachen. Am glücklichsten macht es sie, wenn Larken ihnen Eintrittskarten für das Kindermuseum oder Ganztagstickets für den Zoo präsentiert. Larken will Mias mütterliche Autorität nicht untergraben, ihre Wünsche nicht missachten, bestimmt nicht, aber in diesem Jahr passte ihre Liebe zu Esmé einfach nicht in einen Briefumschlag. Sie zieht ihre Reisetasche hervor und setzt Kaffee auf. Sie kritzelt ein Briefchen an Jon (J - Frohe Weihnachten. Ich rufe morgen an. Hoffe, M ist nicht zu sauer und lässt E alles behalten. Umarm sie und gib ihr einen dicken Kuss von mir. Alles Liebe, L), und während der Kaffee durchläuft, legt sie die Geschenke neben die Wohnungstür. Jon wird heute Abend, wenn Esmé schläft, mit seinem Zweitschlüssel hereinkommen, sie holen und als Weihnachtsmann oben unter den Baum legen. Wenigstens wird sie nur zwei Tage in Emlyn Springs sein. Sie hat noch jede Menge zu erledigen, bevor sie nach Europa abreist. Wahrscheinlich sollte sie gar nicht fahren, aber sie fühlt sich dieses Jahr mehr als sonst dazu verpflichtet, hauptsächlich wegen Viney.
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Es ist das erste Mal, dass sie und Gaelan am Heiligabend nicht zusammen fahren. Sie bedauert es - weil sie weiß, wie sehr ihr Bruder es verabscheut, allein zu fahren -, doch es lässt sich nicht ändern, denn ihr Flug geht sehr früh am 26. Dezember. Scheiße. Sie ist so unorganisiert. Den Rest der Geschenke wird sie heute Abend einpacken müssen, wenn alle anderen zu Bett gegangen sind. Als sie anfängt, ihr Auto zu beladen, zieht von Südwesten eine Flotte dunkler Wolken mit gezackten Rändern auf. Ein Unwetter ist im Anmarsch. Larken hält unterwegs am South Pointe Super Saver und kauft sechs Zehnpfundtüten Katzenstreu für den Fall, dass sie stecken bleibt. Die Straßen sind schon nass und heimtückisch rutschig, auf dem Parkplatz fängt es bereits an zu schneien. Sie lädt den Ballast in den Kofferraum, stellt den Entfroster an, schaltet in den ersten Gang und lenkt den Chevy auf den Highway und in ihre Vergangenheit. Am 14. Dezember 1977 verbringt die künftige Little Miss Emlyn Springs - begleitet von ihrer Mutter - den Vormittag ihres Geburtstags in der Fahrerlaubnisbehörde des Staats Nebraska in Beatrice. Momentan steht sie am Schalter und tritt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen in der Hoffnung, damit lässig, aber erkennbar angesäuert ihre Missbilligung zu demonstrieren, denn wenn man Geburtstag hat und der Vater Arzt in einer Kleinstadt ist und die Mutter MS hat, weiß man einfach, dass jede Bewegung, die man macht, von den anderen im Raum registriert wird. Eine Kaltfront ist im Anzug, Joe Dinsdale zufolge eine ganz schlimme. Er hat gesagt, sie könnten dreißig Zentimeter Schnee kriegen. Eigentlich sollte sie erst später eintreffen, aber es schneit jetzt bereits seit einer Viertelstunde. Keine große Überraschung, denn der ganze Morgen war schon eine Katastrophe. Sie sind früh losgefahren - Viney am Steuer -, denn sie wollten am frühen Nachmittag wieder zu Hause sein. Geplant war, dass 366
Viney sie absetzt und Besorgungen macht, während Larken sich ihre Fahrerlaubnis holt. Das hätte nicht lange dauern dürfen. Viney wollte sich mit Lebensmitteln eindecken, falls sie eingeschneit würden, außerdem Propan für die Kocher, zusätzliche Batterien für Taschenlampen und Generatoren und ein paar Bündel Feuerholz kaufen. Die Erteilung einer Fahrerlaubnis an Vierzehnjährige ist eine staatlich sanktionierte Gefälligkeit, die für gewöhnlich Farmerssöhnen vorbehalten ist, aber keiner der drei wäre in den Sinn gekommen, dass - unter den gegebenen Umständen - der Staat Nebraska Larkens Antrag ablehnen würde. Im Jahr 1977 ist es für ihre Familie ebenso unerlässlich, dass sie von Amts wegen berechtigt ist, den Pontiac zu fahren, wie es für die Familien ihrer männlichen Altersgenossen notwendig ist, die Jungen ans Lenkrad eines Traktors zu setzen. Sie kamen rechtzeitig an, gleich nach Sprechstundenbeginn, aber es dauerte eine Weile, bis sie Hope aus dem Wagen, die Treppen hoch und in den Schalterraum gehievt hatten. Da das amerikanische Behindertengesetz erst dreizehn Jahre später in Kraft treten wird, hat die Kraftfahrzeugsbehörde in Beatrice keine Behindertenparkplätze, keine Rampen, keine Aufzüge, keine für Rollstühle zugänglichen Toiletten, keine verbreiterten Flure, keine speziellen Wartebereiche. Viney ließ das Auto in zweiter Spur und im Leerlauf auf der Straße stehen, während sie und Larken Hope ausluden und in den Rollstuhl setzten. Es war kalt bei ihrer Ankunft, aber nicht allzu sehr - nicht die grimmige, schneidende Kälte nach einem Schneesturm, sondern die mildere, wolkenverhangene Kälte, die ihm vorausgeht. Larken schob ihre Mutter bis zum Fuß der Treppe und wartete, während Viney auf der Suche nach einem Parkplatz immer wieder um den Block fuhr. Das war ein sinnloses Unterfangen, denn die Einwohner von Südost-Nebraska waren nicht nur dabei, Vorräte für den zu erwartenden mörderischen Schneesturm zu horten, 367
sondern in besonderer Panik, weil sie wussten, dass ihnen bis Weihnachten nur noch zehn Tage zum Einkaufen blieben. Viney winkte jedes Mal, wenn sie vorbeifuhr, wobei ihre Miene und ihr Gruß den allmählichen Übergang von strahlendem Optimismus zu zähneknirschender Wut widerspiegelten. Schließlich kam sie auf dem Bürgersteig auf sie zugerannt, und das wuchtige Trommeln ihrer Stiefel auf dem Beton ließ sie mindestens fünfzig Pfund schwerer wirken. »Es tut mir so leid«, sagte sie. »Ist es zu fassen? Ich musste mich auf einen Parkplatz stellen! Sechs Straßen weiter!« »Kein Problem, Viney«, sagte Hope und drückte ihre Hand. Larken war es zuwider, wie nahe sie sich standen. Sie hasste sich selbst dafür, doch es ließ sich nicht ändern. Sie waren beide so gut, dass Larken Zahnschmerzen kriegte. »Bist du bereit?«, fragte Viney. Hope nickte. Mit Hilfe ihres Stocks stemmte sie sich hoch. Sie machte zwei wacklige Schritte und blieb dann unsicher stehen. »Fest zupacken!«, befahl Viney. Rasch umklammerten sie und Larken hinter Hope in Höhe ihres Gesäßes gegenseitig ihre Unterarme. »Los!« Dies war das Stichwort für Hope, sich niederzulassen. Sie schmiegte sich in den aus vier Armen bestehenden Sitz und legte Larken und Viney ihre eigenen Arme um die Schultern. So trugen die beiden, Hope zwischen sich, sie hinauf, hinauf und hinauf. Sobald sie oben angekommen waren (alle drei atmeten schwer und fragten sich, warum der Eintritt in Bundesbehörden unweigerlich Bergsteigerfähigkeiten erfordert), setzten Larken und Viney Hope ab. Während Viney die Treppe hinunterflitzte, Hopes Rollstuhl holte und damit heraufkam, stützte Larken den Körper ihrer Mutter mit ihrem eigenen an der Wand ab, damit sie nicht umkippte. »Na, dann mal los«, sagte Viney, als Hope wieder im Rollstuhl saß. »Rein mit euch. Ich komme so schnell wie möglich zurück.«
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Sie schaute auf den Himmel und zog eine Grimasse. »Scheiße«, sagte sie, gab jeder der beiden einen Kuss und eilte davon. »Wie flink sie ist«, bemerkte Hope. Als sie endlich im Wartebereich waren - der mit unbequem aussehenden Plastikmöbeln und Plakaten der Regierung ausstaffiert war -, stellten sie fest, dass er rappelvoll war. Dutzende Leute hatten bereits eine Nummer gezogen und Platz genommen. Larken schob ihre Mutter bis zur vordersten Reihe. Da kein Stuhl mehr frei war, lehnte sie sich an die nächste Wand. Nach ein, zwei Minuten wandte Hope sich an den griesgrämigen Mann mit dem Mehrfachkinn neben sich. »Meine Tochter«, sagte sie freundlich, »muss sich hinsetzen.« Er rührte sich nicht, deshalb funkelte sie ihn an, bis er aufstand. Larken nahm Platz. Ihre Mutter griff nach ihrer Hand. Sie warteten. Nummern wurden aufgerufen. Larken ging ein paarmal hinaus, um eine Zigarette zu rauchen, und starrte jeden Erwachsenen in Grund und Boden, der sie missbilligend ansah. Als die 48 aufgerufen wurde, war über eine Stunde verstrichen. Larken trat an den Schalter und präsentierte einer Frau mit Mausgesicht und krauser Dauerwelle ihre Nummer und ihre Geburtsurkunde. Sie erläuterte ihr die speziellen Bedürfnisse ihrer Familie und reichte ihr dann ein Schreiben ihres Vaters, in dem er den Gesundheitszustand ihrer Mutter detailliert beschrieb und die Notwendigkeit bezeugte, dass jemand die Verantwortung dafür übernahm, Hope zu ihren Arztterminen zu fahren. Die Angestellte machte Larken nervös. Sie zwinkerte ständig. Während sie Larkens Unterlagen durchsah, stießen ihre stark geschminkten Wimpern immer wieder an ihre Korkenzieherlocken, sodass diese auf und ab hüpften wie eine Reihe wild gewordener hüpfender Metallspiralen. »Eure Situation ist ungewöhnlich«, sagte sie schließlich. »Ich muss meine Vorgesetzte konsultieren.« Also heißt es: weiter warten. Wenigstens kann sich Larken so vor ihrem Biologie-Abschlusstest drücken. 369
Hopes Rollstuhl steht neben der vordersten Sitzreihe des Wartebereichs. Wie immer ist Larken hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, so zu tun, als sei ihre Mutter eine Fremde, und dem, aller Welt ihre Verwandtschaft zu demonstrieren. Eine Mutter im Rollstuhl zu haben ist zwar oft lästig und peinlich, macht sie aber auch zu etwas ganz Besonderem. Genau genommen ist Hopes Besonderheit in dieser Hinsicht der Grund für ihr Hiersein. Eigentlich ist sie der Grund für sehr vieles. Als Larken das letzte Mal nach ihr gesehen hat, war ihre Mutter noch wach und las, die Lippen wie im Gebet langsam bewegend, in ihrem Gedichtband. Doch als Larken sich jetzt zu ihr umdreht, sind Hopes Augen geschlossen, und ihr Kopf hängt schlaff zur Seite. In letzter Zeit kann sie überall einschlafen. Es ist schrecklich. Bald wird sie sabbern und sich die Windeln einnässen, wenn das nicht schon der Fall ist. Larken schnuppert. Sie erkennt den Geruch des Urins ihrer Mutter auf dreißig Schritte. Ja. Es ist Pisse in der Luft. Die mausgesichtige Angestellte kehrt mit ihrer Vorgesetzten zurück: Man mag es kaum glauben, aber deren Dauerwelle ist noch schlimmer als die ihrer Untergebenen. »Sie braucht ihn nicht, um landwirtschaftliche Geräte zu fahren«, flüstert die Maus dem Pudel zu. »Wieso nicht?« »Ihr Vater ist kein Farmer. Er ist Doktor.« »Arzt«, wirft Larken ein, ohne nachzudenken. Maus und Pudel schauen sie an. »Die Bezeichnung Doktor ist unpräzise.« Die beiden nehmen ihr Gespräch wieder auf. »Sie sagt, sie braucht ihn, um ihre Mutter rumzufahren.« »Ihre Mutter fährt nicht selbst?« »Sie kann nicht fahren«, erklärt Larken noch einmal müde. »Sie hat multiple Sklerose. Sie sitzt im Rollstuhl.« Sie zeigt auf Hope. »Dann muss ich mit deiner Mutter sprechen«, blafft Pudel. 370
Larken beißt die Zähne zusammen. »Sie hat MS. Das Sprechen fällt ihr schwer. Außerdem schläft sie, wie Sie sehen.« Plötzlich schauen Maus und Pudel an Larken vorbei und reißen Mund und Augen weit auf. Larken dreht sich um in der Erwartung, einen Wahnsinnigen mit einer Schusswaffe zu erblicken, sieht stattdessen jedoch ihre Mutter, die versucht, mit Hilfe ihres Stocks aufzustehen. Sie macht zwei wacklige Schritte und bricht dann theatralisch zusammen. »Ooohhhhh!«, schreit Hope. »Aaaaaaah!« »Mein Gott!« Maus und Pudel rennen auf sie zu, aber Larken ist zuerst bei ihrer Mutter. Hope neigt sich zu ihr. Ihre Augen sind nach wie vor geschlossen, und ihre Stirn ist gefurcht, als hätte sie Schmerzen, aber auf ihren Lippen liegt der Anflug eines Lächelns. »Jetzt sollen sie mal versuchen, nein zu sagen«, flüstert sie. Nachdem Mrs. Jones wieder in ihren Rollstuhl gesetzt wurde (sie weist keine äußeren Verletzungen auf, verzieht jedoch weiterhin das Gesicht und stöhnt leise), wirft die Vorgesetzte erneut einen Blick auf Larkens Unterlagen. »Ach, warte mal!«, sagt sie. »Jones? Larken Jones? Du bist doch die Tochter vom Doc, oder? Meine ganze Familie, meine Kinder, wir alle hatten deinen Dad schon als Arzt, bevor du geboren wurdest.« Rasch setzt sie eine große, schnörkelige Unterschrift unter Larkens Antrag und reicht der Maus alle Papiere. »Glückwunsch, Schatz«, sagt sie zu Larken. »Du hast deine Anfängererlaubnis.« Bis Viney zurückkommt - nachdem sie den Rücksitz ihres Wagens mit genügend Vorräten beladen hat, um ein Militärregiment in Sibirien auszustatten -, ist der Schneesturm in vollem Gange. Als sie das Ortsschild von Beatrice passieren, macht Hope einen Vorschlag: »Lass sie fahren, Viney.« Larken staunt. Ihre Mutter macht wohl Witze. Aber Viney lässt keinerlei Belustigung erkennen. Auch zeigt sie weder Ablehnung noch Entsetzen oder irgendeine sonstige 371
Reaktion, die Larken angemessen finden würde. Im Gegenteil, zu Larkens Schrecken scheint sie diese verrückte Idee tatsächlich zu erwägen. Das darauf folgende Schweigen - durchsetzt von Grunzen, Summen, Achselzucken, tiefem Einatmen und bedeutungsvollen Seufzern - ist in Wahrheit offenbar ein telepathischer Dialog zwischen Viney und Hope. Endlich spricht Viney. »Du hast Recht. Wenn sie das hier schafft, kann sie bei jedem Wetter fahren.« Nachdem Viney in der nächsten Parkbucht gehalten hat, stellt sie die Warnblinkanlage an, stößt die Wagentür auf - sodass kurz heulender Wind und eine Schrotladung Eiskristalle eindringen und steigt aus. Volle zwei Minuten später taucht sie auf der Beifahrerseite wieder auf und klopft ans Fenster. »DU KOMMST SCHON ZURECHT, SCHATZ!«, schreit sie. Schon bedecken zentimeterdicke Schneewehen die Simse ihrer Augenbrauen, ragen kleine Stalaktiten aus ihren Nasenlöchern. »DEINE MOM UND ICH HELFEN DIR!« Hope tätschelt Larken die Hand und nickt. »RUTSCH RÜBER, LIEBLING!« Mit übertriebener Schwerfälligkeit und ängstlichem Schnauben klettert Larken über ihre Mutter hinweg auf den Fahrersitz. Und so nimmt Larken bereits eine Stunde nach Erteilung ihrer Anfängerfahrerlaubnis aus Anlass ihres magischen Geburtstags ihren ersten Fahrunterricht während eines Blizzards, der so heftig ist, dass er dreißig Zentimeter eisigen Schnees auf SüdostNebraska fallen lässt und die Stromversorgung für eine Woche lahmlegt. Sie brauchen sechs Stunden für den Heimweg, doch Hope und Viney hatten Recht: Seit Larken vierzehn ist, kann sie bei jedem Wetter fahren. Es gibt Würmer, die in Schnee leben. Und Moskitos der Gattung Aedes, deren Larven sich in der Schneebrühe des Spätwin-
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ters entwickeln. Es ist ein seltsamer Gedanke, dass diese Kreaturen bei tiefen Temperaturen gedeihen. Gaelan hat nie Zauberkräfte besessen, sich auch nie welche gewünscht. Er hält sich nicht für fähig, über Ereignisse zu gebieten, schon gar nicht solche, die mit dem Wetter zu tun haben. »Lassen wir es schneien«, sagt Rhiannon. Sie hat sich, in einem fernen Türrahmen stehend, materialisiert und kommt mit unheimlich glatten und stetigen Bewegungen auf ihn zu. Als sie sich nähert, sieht er, dass sie auf einem selbstangetriebenen Fahrrad sitzt, einem American Red Flyer. Sie bremst. Sie ist viel zu nahe. Gaelan hat zumindest ein kurzes Vorspiel erwartet. »Ich habe geräucherten Tofu da«, sagt er, um den Ablauf zu verlangsamen. »Chipotle-Cheddar. Geröstete Pistazien. Hummus.« »Hummmmm …«, sagt sie und fängt an, ihre Kleider abzustreifen. Sie flattern zu Boden und bilden zu ihren Füßen eine Schneewehe aus weißer Baumwolle und Spitze: T-Shirt, Gymnastikshorts, Unterwäsche. Fallender Schnee hat immer etwas Schwereloses, in welcher Form er auch herunterkommen mag. Viele Menschen finden ihn berückend, zauberhaft. Diese Menschen assoziieren meteorologische Ereignisse nicht mit dem Verschwinden eines Elternteils. Gaelan dagegen mag Schnee in diesem rieselnden, verletzlichen Zustand nicht so gern. Verständlich, vielleicht, wenn man seine Biografie bedenkt. Ihm ist er lieber, sobald die Flocken auf der Erde angekommen sind und beginnen, sich zu Klumpen zu verbinden und damit an Gewicht zu gewinnen. »Lass uns Schnee machen«, wiederholt Bethan. Bethan? Sie ist nackt, und jetzt zieht sie ihm den Wollpullover über die Augen, sodass er nichts mehr sieht. Es ist jedoch nichts Leidenschaftliches an ihrem Tun, er könnte auch fünf Jahre alt sein. Sie könnte der Babysitter sein, der ihn zum Schlafengehen fertig macht. 373
»Der ist nicht vorhergesagt«, erwidert Gaelan. »Manche Dinge sind unmöglich vorherzusagen«, entgegnet sie, und kurz danach ist ihr Mund auf seinem. Er sieht sie und sich wie in einer Reihe schneller Schnappschüsse beim Sex. Er liegt oben, sie liegt oben, sie drehen sich um, sie liegen auf der Seite … Es ist wie im Kino, sogar mit Soundtrack. Die Szene erinnert ihn an einen Film, den er hundertmal gesehen hat, dessen Titel ihm aber nicht einfällt. Sie hat einen Orgasmus. »Wie hat es sich angefühlt?«, fragt er. Sie starrt an ihm vorbei - in das Licht, das durchs Fenster fällt. Es wirft graue und hellblaue Schatten auf ihr Gesicht und verleiht ihrer Haut den Schimmer von Mondstein. »Gaelan«, wispert sie, »guck aus dem Fenster.« Doch er will nicht hinausschauen. Er nimmt seine Einführung in die Meteorologie vom Nachttisch und liest: »Schnee besteht aus Eiskristallen, die sich zu Flocken verbunden haben. Schneeflocken haben keine feste Form. Sie können Nadeln sein, Säulen, Sterne oder Platten, je nach Temperatur und Konzentration des Wasserdampfs.« »Machen wir einen Schneesturm«, insistiert sie. Ihre Hände fangen wieder an, sich zu bewegen, und Gaelan ist plötzlich nervös. Er liest weiter: »Schnee entsteht durch Niederschlag, bei dem die Temperatur des Wasserdampfs unter den Nullpunkt fällt.« Der Wind frischt auf. Irgendein zufälliges Aufeinandertreffen von Schnee, Licht, Objekt und Schatten lässt die Silhouette von Nofretete auf der Schlafzimmerwand erscheinen. »Nein!«, ruft er erschrocken. »Das habe ich nicht angesagt!« Mit diesem Aufschrei wird er wach und findet sich auf dem Sofa wieder. Er wollte sich nur ein wenig ausruhen, nachdem er den ganzen Vormittag gelernt hatte. Der Raum ist kalt und in ein besonderes stählernes Licht und in eine eigenartige Stille gebadet. Er be374
merkt, dass Kate und Spencer sich in der Wärme sonnen, die von der kleinen tropischen Insel seines Kopfes ausstrahlt. Behutsam, um sie nicht zu stören, erhebt er sich und dreht den Thermostat auf. Er sieht auf die Uhr - es ist viel später, als er dachte, beinahe Mittag -, tritt dann ans Fenster und schaut nach draußen, wo es, wie er vermutet hat, auch ohne Mithilfe des Nationalen Wetterdienstes begonnen hat zu schneien. Es fällt Gaelan schwer, sich auf das Online-Lernen zu konzentrieren. Er ist nicht der Typ für ein Fernstudium. Er zieht richtige Menschen und richtige Unterrichtsräume vor. Bei der Arbeit zu Hause ist es so leicht, sich ablenken zu lassen. Da sind die Katzen und sein Computer, seine Gewichte und sein Laufband. Die Stille ist beunruhigend. Außerdem kann er nur schwer der Versuchung widerstehen, den Fernseher einzuschalten, um sich über seine ehemaligen Kollegen von KLAN-KHAM zu informieren. Jetzt stellt er den Fernseher an und sieht seine Vertretung, die eben auf ein Dopplerbild des Sturmsystems zeigt, von dessen Aufziehen er bereits weiß. Das neueste Mitglied des Nachrichtenteams von KLANKHAM ist eine sehr junge, sehr aufgeweckte Frau mit viel Haar, schmaler Taille und vorstehenden Schneidezähnen. Ihr Name, Riley Calder, kommt Gaelan verdächtig wohllautend und kess vor - ersonnen wegen seines forschen Klangs. Ms. Calder war früher, das ahnt er, jemand anders und ist jetzt dabei, sich für den amerikanischen Massenmarkt, in diesem Fall das kommerzielle Fernsehen, neu zu erfinden. Sie gehört zu den Menschen, die simple Motive haben: Sie ist erpicht auf Prominenz, wie auch immer sie sie erreichen kann, und auf die Chance, die Karriereleiter ihrer Wahl mit einem Namen zu erklettern, der diesen Aufstieg befördert. Wenn sie zum Beispiel als Schriftstellerin von kitschigen Liebesromanen Starruhm hätte erringen wollen, hätte sie sich, da ist Gaelan sicher, einen anderen nom de plume ausgesucht, etwa Ashleigh du Printemps oder Clarissa de 375
Winter. Wahrscheinlich ist sie mit einem Namen aufgewachsen, den sie für ordinär, proletarisch, armselig hält: Sue, Nancy, Doris, Lynn. Basierend auf ihrer miteinander verbrachten Zeit - in der Riley ihn während seiner letzten Woche vor der Kamera beobachtete und Gaelan anschließend ihren ersten Sendungen beiwohnte -, ist sein Eindruck der, dass dieser Job für sie nur eine Zwischenstation ist. Als Ersatz-Wetteransagerin von KLAN-KHAM wird sie mehr als kompetent sein und alles richtig machen, doch Gaelan vermutet, dass ihre Zukunftspläne weit über die Grenzen von Lincoln, Nebraska, hinausreichen und sie einen Auftritt als Markenzeichen Riley Calder in der nationalen, wenn nicht internationalen Medienöffentlichkeit anstrebt: eine Produktpalette aus Talkshow und Frauenzeitschrift, Buchrechten, Gourmet-Tiefkühlkost und Designermöbeln: die Kollektion Riley Calder. Riley hat schon ihren Abschluss in Meteorologie gemacht, im Frühjahr, und dies ist ihr erster Job. Trotzdem wirkt sie erfahren und clever. Als Gaelan sie anlernte, schien sie bereits alles zu wissen und hatte mehr Interesse daran, sich zu dicht neben ihn zu stellen, als sich einarbeiten zu lassen. Er schaltet den Fernseher aus und schaut erneut auf die Uhr. Er sollte sich auf den Weg nach Emlyn Springs machen - um fünf wird er von Viney zum Essen erwartet, und dieser Sturm zeigt keine Anzeichen dafür, sich zu legen -, aber er möchte eigentlich noch einen Workout einschieben. Also fährt er - nachdem er das Auto beladen und Kate und Spencer beim Tierarzt abgesetzt hat (wo sie die nächste Woche im Luxuskatzenheim verbringen werden) - zum Fitness-Studio. Vielleicht ist Rhiannon gar nicht da. Immerhin ist heute Heiligabend. Vielleicht sitzt sie schon im Flugzeug, um ihre Familie in Oregon zu besuchen und die Schwadron liebeskranker Bodybuilder zu bemitleiden, die jetzt noch nach ihr schmachten. Er ist theatralisch. Schließlich hat sie ihm nicht das Herz gebrochen. Durchaus nicht. Sie sehen sich weiterhin beim Training 376
und halten freundschaftlichen Kontakt. Sie ist ein nettes Mädchen, ein intelligentes Mädchen, eine Klassefrau. Es hat eben nicht geklappt mit ihnen - sie ist seit jenem einen Mal nicht mehr in seiner Wohnung gewesen und hat sich auch nie mehr erboten, ihm beim Bankdrücken Gewichte aufzulegen. Das ist in Ordnung. Es hat ja auf beiden Seiten keine ausgesprochenen Erwartungen gegeben. Genau genommen haben sie nicht einmal miteinander geschlafen. Sie haben geflirtet und rumgemacht; sie war für ein paar Wochen angenehme Gesellschaft, mehr nicht. Sie kann nicht behaupten, jener Nachmittag hätte ihr keinenSpaß gemacht. Es ist nur so, dass keiner von ihnen beiden nach diesem Tag eine sexuelle Beziehung initiiert hat. Es muss nicht für alles einen Grund geben. Und bald nach ihrem zweiwöchigen Was-auch-immer wurde es sowieso offensichtlich, dass sie sich mit jemand anderem traf: einem der Einzeltrainer des Studios (sogar Gaelans Einzeltrainer), einem Typen, der allgemein nur als Jeff oder, bei einigen Besuchern, als »Muskel-Jeff« bekannt ist - Einzeltrainer haben keinen Nachnamen. Jeff macht bei Amateurwettbewerben mit. Er hat schon zweimal am Arnold Classic teilgenommen. Es war schon ein bisschen irritierend, sie jeden Tag in dieser Umgebung zu sehen, ihr diskretes Geschmuse und Getuschel mitzuerleben. Nicht, dass Gaelan damit nicht umgehen kann. Aber manchmal ertappt er Rhiannon dabei, wie sie ihn anschaut, als wäre er ein dreibeiniger Hund. Und dann ist da natürlich die quälendere Sorge: Hat sie Jeff von seinem Problem erzählt? Dessen Resultat ist, dass Gaelan aus Angst vor einem erneuten Versagen seit Wochen keine Frau mehr zu sich eingeladen hat, nicht einmal die Frauen, mit denen er schon vor Rhiannon geschlafen hatte. Eine Zeitlang riefen sie noch an und fragten ihn, ob er nicht mal wieder mit ihnen ausgehen wolle. Er hatte stets eine Entschuldigung parat (Ich bin so wahnsinnig beschäftigt mit diesem Online-Studium) und gab sich große Mühe, ihnen zu ver377
sichern, dass es nicht an ihnen, sondern an ihm liege und dass er anrufen würde, sobald er weniger gestresst wäre. Inzwischen melden sie sich nicht mehr, sind weitergeflattert wie Zugvögel im Winter. Jetzt tanzen sie den Mitleidstango wohl mit anderen Partnern. Vielleicht tut ihm eine Periode des erzwungenen Zölibats ja gut, hilft ihm, sich aufs Lernen zu konzentrieren - was bisher allerdings nicht der Fall war. Gaelan parkt den Wagen, geht hinein und schaut auf dem Weg zu seinem Spind forschend in den Trainingsraum. Von Rhiannon ist nichts zu sehen. Doch nachdem er sich umgezogen hat und wieder auftaucht, steht sie am Empfangstresen. »Hi, Gaelan!«, sagt sie. »Frohe Weihnachten!« Sie trägt Mütze, Schal, Handschuhe, Stiefel und einen dicken Wintermantel über dem Arm. »Frohe Weihnachten!« Gaelan liebt es, wenn Frauen sich warm anziehen, dann gibt es so viel auszupacken. Zu ihren Füßen steht eine Reisetasche. »Bist du am Gehen?« »Ja, wir … ich hab mein Workout schon hinter mir. Die Wettervorhersage, weißt du, außerdem schließen sie heute früher …« »Ach, stimmt ja. Habe ich ganz vergessen.« Mist. Er wird also kürzer und härter trainieren müssen. »Unternimmst du was Besonderes über die Feiertage?« »Na ja, ich bin …« »Hey, Süße!« Jeff kommt aus dem Büro auf sie zu. Sein Designerjackett hat er sich über eine Schulter gehängt, seinen Schlips gelockert und die Hemdsärmel so weit aufgekrempelt, dass sie einen Blick auf seinen Mammut-Bizeps erlauben. Keine Mütze, kein Schal, keine Handschuhe, kein Mantel. Eindeutig ein Mann mit so viel innerer Hitze, dass er gegen Minustemperaturen keinen Schutz braucht. »Hey, Gaelan!« Jeff zieht Rhiannon an sich. Er drückt seinen Mund an ihr Kinn und lässt seine Zunge dann wie ein Reptil ge378
gen eine pulsierende Stelle an ihrem Hals schnellen. »Mmm«, murmelt er und zwinkert Gaelan zu. Sie hat es ihm erzählt. Sie hat ihm alles erzählt. »Irgendwas Besonderes vor über Weihnachten?«, fragt Jeff. »Eigentlich nicht. Ich besuche nur meine Stiefmutter und meine Schwestern.« »Vergiss deine Gewichte nicht, Kumpel. Arbeite weiter an dir, okay? Denk an die guten Vorsätze zu Neujahr.« »Mach ich.« Jeff wendet sich Rhiannon zu, packt ihre Taille und wirbelt sie zu sich herum, sodass sie Bauch an Bauch dastehen. »Fertig, Süße?« »Ja. Tschüss, Gaelan.« »Tschüss.« Gaelan hört noch, wie Jeff den Song singt, der Rhiannons Eltern zusammenbrachte, ihr darauf folgendes Lachen und dann eine innere Stimme aus der Vergangenheit: Du hast ja einen ganz schönen Schaukelgang, Kumpel … Gaelan strengt sich auf dem Crosstrainer besonders an und absolviert ein paar zusätzliche Runden an den Nautilus-Geräten. Es ist spät, und draußen wird es dunkel. Wenn er die Dehnübungen nach dem Workout auslässt, hat er gerade noch genug Zeit für die Gewichte. Er entscheidet sich fürs Bankdrücken. Das schaffst du, hat sie gesagt, also belädt er die Stange. Alles läuft großartig, und er verlässt das Studio erst um halb vier. Es dauert noch eine Stunde, bis er die Stadtgrenze von Lincoln hinter sich hat. Die Straßen sind glatt, der Schnee häuft sich, und es herrscht wahnsinniger Verkehr. Er ruft Viney vom Handy aus an, um ihr zu sagen, dass er sich verspäten wird und sie mit dem Essen nicht auf ihn warten sollen.
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Seine Schulter fängt an wehzutun. Er hat es wohl ein bisschen übertrieben. Er schluckt ein paar Ibuprofen, legt eine SpringsteenCD ein und bereitet sich auf eine lange Fahrt vor. Ohne darauf zu achten, wie sehr er die Festtagsvorfreude der anderen Reisenden stört, lässt Gaelan seine Warnblinkanlage an und steuert den Jeep mit der Geschwindigkeit eines Golfkarrens, der sich über das Rough bewegt, in Richtung Emlyn Springs. »Du hast ja einen ganz schönen Schaukelgang, Kumpel …«, stichelt sein Vater. Gaelan läuft weiter, macht aber sofort kürzere Schritte und beendet das Schlenkern seiner Arme, indem er seine Hände in die Taschen steckt. »Tut mir leid, dass ich so spät dran bin«, fährt Dad fort. Er hat seine Fahrt verlangsamt und ruft durch das offene Fenster über die Straße hinweg. »Komm schon, steig ein. Ich bring dich nach Hause.« »Nein, danke«, erwidert Gaelan, »ich gehe zu Fuß.« Er hat eine Stunde lang an ihrem vereinbarten Treffpunkt an der Brücke gewartet, bevor er aufgab. Eine Stunde, während der seine Freunde vorbeifuhren und winkten, während der immer wieder Nachbarn anhielten, ihn fragten, was er da macht und ob sie ihn mitnehmen sollen. Nein, ist schon okay. Mein Dad holt mich ab. Er fixiert seinen Blick auf den Horizont und beschleunigt seine Schritte. »Los, Junge, sei doch nicht so! Ich bin aufgehalten worden …« Ein Autounfall, ein Unfall mit dem Mähdrescher, eine Amputation, ein Herzinfarkt, eine Geburt, ein Todesfall, ein Gehirnschlag, ein Bruch … Dads Gründe für sein Nichterscheinen sind vorhersehbar. Und dennoch, wie kann man Anspruch auf die Zeit seines Vaters erheben oder sauer darüber sein, dass er einen versetzt, wenn er einem anderen Kind gerade die Finger angenäht hat? 380
»Ich kann dir morgen eine Fahrstunde geben.« Kann er nicht wenigstens sagen, dass es ihm leid tut? »Mach dir keine Umstände«, mumelt Gaelan. »Larken hat gesagt, sie bringt es mir bei.« Es folgt eine Pause, in der die einzigen Geräusche, die Vater und Sohn - auf entgegengesetzten Seiten des Highways in derselben Richtung unterwegs - erzeugen, das Knirschen von Kies und das Rascheln von Kies bei Gaelan und die verlangsamten Umdrehungen des Motors sind, mit denen der Wagen seines Vaters neben ihm herschleicht. »Na schön«, sagt Llwellyn schließlich scharf. »Dann schmoll eben wie ein kleines Mädchen.« Gaelans Herz hämmert vor Angst, aber er erlebt auch eine gewisse Genugtuung: Ich habe Dad wütend gemacht. Er hat mich bemerkt. Gaelan hört, wie Dad Gas gibt, und sieht zu, wie er losrast und im Fluchtpunkt des Horizonts verschwindet. Auf den nächsten vier Meilen probiert er verschiedene Arten des Laufens aus, die ihn nicht als Tölpel identifieren, als peinlichen Außenseiter, denn nichts könnte für einen Dreizehnjährigen schlimmer sein, als von seinem unfehlbaren Arztvater hänselnd darauf hingewiesen zu werden, dass er einen schaukelnden Gang hat. Gaelan weiß nicht und wird nie erfahren, dass die nach außen gerichtete Wut seines Vaters dessen Schuldgefühl entspringt: Llwellyn hat keine legitime Entschuldigung dafür, dass er Gaelan nicht rechtzeitig am vereinbarten Ort abgeholt hat. Er ist zu spät gekommen, weil er Sex mit seiner Mitarbeiterin hatte und vergessen hat, die Zeit im Auge zu behalten. Und Llwellyn wusste nicht - wie es bei vielen Eltern der Fall ist -, dass es häufig gerade die halb bewusste Bemerkung ist, die beiläufige Neckerei, die schroffe Ermahnung, geäußert am Ende eines schweren, frustrierenden Tages, an die das Kind sich erinnert, an der es festhält, die es sich einverleibt und die seine Persönlichkeit formt. Nicht die vielen Gelegenheiten, bei denen er Gut gemacht, Junge gesagt hat oder Ich bin sehr stolz auf 381
dich, zählen; entscheidend ist, dass ihm ein einziges Mal Warum treibst du keinen Mannschaftssport wie Schwimmen oder Football? herausgerutscht ist und Sei kein Idiot: Bodybuilding hat nichts mit Athletik zu tun. Es ist die pure Eitelkeit, der reinste Fanatismus. Wenn Llwellyn sich bloß als Aufleger angeboten hätte, als Gaelan anfing, Gewichte zu stemmen! Wenn nur Hope noch da gewesen wäre, als er Springsteen entdeckte! Sie hätte ihren Mann dafür ausgescholten, dass er die erste große musikalische Liebe ihres Sohns verächtlich behandelte. Sie hätte ihm nicht erlaubt, dieses Scheißgeklimper vom Plattenspieler zu verbannen. Hope glaubte, dass bestimmte Stücke entweder dem Komponisten oder dem Interpreten einen Platz im Himmel sichern. Und nicht nur die »klassischen«. Hope war kein Snob. Auf ihrer Gästeliste fürs Paradies (an der sie weiterhin schreibt) stehen zum Beispiel auch Bruce Springsteen mit State Trooper und Pink Martini mit Que sera sera. Wenn Hope länger gelebt hätte, würde Gaelan nicht immer noch darauf warten, dass sein Vater sich mit ihm gemeinsam ein Springsteen-Album einmal richtig anhört. Aber natürlich könnten Mütter, wenn sie fortgesetzt für ihre Kinder eintreten müssten, diese Welt nie verlassen. Es hört auf zu schneien, als Gaelan die Brücke erreicht. Seltsamerweise bleibt gleichzeitig der Jeep stehen. Gaelan entspannt sich, vorübergehend beruhigt von der plötzlichen Stille. Er wirft einen Blick auf die Main Street und erfreut sich an den bunten Weihnachtslichtern, die sich um Laternenpfähle ranken wie Bänder um einen Maibaum, den hell erleuchteten Weihnachtsmännern und Rentieren und Krippen aus Plastik. Gaelan wird bewusst, dass dies das erste Jahr ist, in dem sein Vater nicht auf einer Leiter gestanden und Vineys Haus dekoriert hat. Die Ungeschicklichkeit seines Vaters bei seinen Versuchen, etwas »Handwerkliches« zu erledigen (und er hat es wirklich ver382
sucht), brachte Gaelan immer in Verlegenheit, als er klein war; alle anderen Kinder, die er kannte, hatten Dads, die kaputte Sachen reparieren konnten, die Dinge bauten, ohne dass sie zusammenbrachen. Später jedoch empfand er, wenn er daran dachte, wie sein Vater - der in allen sonstigen Bereichen seines Lebens voller Anmut und Kompetenz war - mit einem Werkzeuggurt, der immer nagelneu aussah, auf einer Leiter balancierte und jeden Nagel schief einschlug - eine unaussprechlich tiefe und traurige Zärtlichkeit für ihn. Hat dieses Jahr irgendjemand die Aufgaben seines Vaters übernommen? Ist jemand für Viney auf die Leiter gestiegen? Hat ihr beim Anbringen der Kerzen geholfen? Beim Schmücken des Baums? Er stellt die Fragen, er kennt die Antworten. Nein, nein, nein und nein und Das hätte ich tun müssen. Die Temperatur ist wieder gesunken, die Brücke mit mehreren Zentimetern Pulverschnee bedeckt, aber darunter befindet sich bestimmt eine Schicht Eis. Gaelan lässt den Jeep an und fährt vorsichtig über die Schlucht in die Straßen der Stadt, die um diese Stunde und an diesem Abend nahezu verlassen sind. Die Veranda vor Vineys Haus ist nur mit zwei Weihnachtsmotiven dekoriert: einem zerzausten Kranz aus falschem Tannengrün und einem Chor von drei lebensgroßen Engeln, ein Trio aus Plastik, das an den Flügeln miteinander verbunden ist und Gesangbücher in den Händen hält. Diese Figuren sind seit Jahren nicht in Erscheinung getreten - Wo waren sie die ganze Zeit über?, fragt Gaelan sich -, aber er entsinnt sich deutlich an sie: Die drei Münder sind in perfekten Os erstarrt, als hätte jemand aus einer Episode von Twilight Zone, der die Macht hat, die Zeit anzuhalten, sie erwischt, als sie eben die erste Silbe von O, little town of Bethlehem oder Holy night sangen. Ihr Leuchten von innen heraus ist einem Kabel zu verdanken, das sich unter dem Gewand des mittleren Engels hervor durch ein Fenster ins Haus
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schlängelt. Drinnen brennt Licht, doch Gaelan weiß, dass alle schon in die Kirche aufgebrochen sind. Auf dem Küchentisch findet er einen Zettel: Willkommen daheim, Schatz! Hoffentlich war die Fahrt nicht zu schlimm. Ich halte dir in der Kirche einen Platz frei. Falls du Hunger hast, bedien dich von dem Pie. Alles Liebe, V. Nachdem er sein Auto entladen hat, packt er sich warm ein, greift sich eine Taschenlampe und macht sich auf den zwei Meilen langen Weg. Bei den Walisern in Emlyn Springs ist es Tradition, zum Gottesdienst an Heiligabend zu Fuß zu kommen - oder auf jede andere Weise, bei der keine fossilen Brennstoffe verbraucht werden oder die Ruhe ungebührlich gestört wird. Nicht alle halten sich an diesen Brauch, aber viele. Es gibt Leute, die auf ihren Pferden reiten oder sie zum Ziehen von Schlitten, Wagen oder Kutschen verwenden. Eltern mit kleinen Kindern, die noch nicht laufen können, springen als Schlittenhunde ein, und wenn der Schnee trocken und pulvrig ist wie heute, kommen einige auf Schneeschuhen oder Skiern. Bonnie kommt mit dem Fahrrad. Gaelan erinnert sich nicht, am Heiligabend jemals allein zur Kirche gegangen zu sein. Als er seine Taschenlampe hin und her schwenkt, staunt er über die zahlreichen Fußabdrücke; er hätte nie vermutet, dass so viele Menschen zu Fuß zur Kirche laufen. Es gibt im Ort unterschiedliche Meinungen darüber, warum diese Tradition nach wie vor sinnvoll ist. Manche bestehen darauf, es sei eine Methode, junge Leute - für die alles so leicht ist einer Beschwernis auszusetzen, die viele von den Älteren früher täglich erlebt haben. Andere, von weniger puritanischer, aber immer noch strenger Gesinnung, merken an, dass dieser Volksmarsch etwas von der Wanderschaft der Heiligen Drei Könige an sich hat. Wieder andere bleiben dem Brauch treu, weil sie finden, dass eine hart errungene Gemeinsamkeit etwas besonders Schönes ist. Diese weisen Seelen sagen, wenn Licht und Kameradschaft und Wärme und Gesang als Belohnung winkten, könnten sich auch die bedrücktesten Herzen emporschwingen. 384
Gaelan dagegen verspürt nichts von alledem: weder Licht noch Leichtigkeit noch Hoffnung oder Vorfreude. Während er durch den Schnee stapft, empfindet er vor allem. Er denkt an das Gedicht über einen Mann, der im Winter allein durch den Wald geht - das Larken in dem Jahr, als sie den Titel der Little Miss Emlyn Springs gewann, im Talent-Teil des Wettbewerbs rezitierte -, und fragt sich, wieso um alles in der Welt es seiner Mutter so gut gefiel. Vor sich sieht er die weiße Holzkirche, deren spitzer Turm sich wie eine Nadel in das dunkle Kissen des Himmels bohrt und deren hohe Fenster zitronengelb schimmern. Plötzlich bleibt Gaelan stehen und lauscht. Seine Mitbürger singen. Das Lied ist berühmt, vielleicht die berühmteste aller walisischen Weisen. Auf Englisch heißt sie All Through the Night, doch in Emlyn Springs ist sie als Ar Hyd Y Nos bekannt und wird auf Walisisch gesungen. Die örtliche Tradition verlangt, dass ein Solist - ein begabter junger Mensch, der von Hazel Williams, der Kirchenpianistin, ausgewählt wird - es abwechselnd mit der Gemeinde singt. Gaelan steigt die hölzernen Stufen hinauf. Das zitronengelbe Licht bahnt sich seinen Weg aus der Kirche, wo immer es kann, durch alle nicht abgedichteten Ritzen und Spalten. Es hat etwas Selbstbewusstes, dieses Licht; wenn jemand die Türen aufrisse, würde es die ganze Nacht erhellen. Gaelan öffnet eine der Türen und späht hinein. Die Kirche ist rappelvoll, aber keiner spricht. Jeder Platz ist besetzt - bis auf den, vermutet er, den Viney ziemlich weit vorn für ihn freihält, neben ihr und seinen Schwestern. Sein Blick fällt durch den Mittelgang auf den Jugendlichen - er muss sechzehn oder siebzehn sein -, der vor der Gemeinde steht und singt. Bestimmt kennt ihn jeder der hier Versammelten, nur Gaelan nicht. O mor siriol, gwena seren. Ar hyd y nos, antwortet die Gemeinde. I oleuo’i chwaer-ddaeren, singt der Junge. 385
Ar hyd y nos. Gaelan macht die Tür ein Stück weiter auf, gerade weit genug, um sich in das Vestibül zu schieben. Holl amrantau’r sêr ddywedant … Ar hyd y nos Dyma’r ffordd i fro gogoniant … »Ar hyd y nos«, singt Gaelan. Diese wenigen Töne fördern schon ein ganzes Reservoir an Gefühlen zutage, deshalb verstummt er und tritt zurück ins Freie. Es schneit wieder. Er will gerade die Treppe hinuntergehen, als ihn ein Räuspern herumfahren lässt. »Hallo.« Es ist Woodward-Bernstein. Elf Jahre alt, oder zwölf vielleicht? Klein, traurig, nervös. Bethans Sohn. »Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.« »Ist schon in Ordnung«, erwidert Gaelan. »Was machst du hier draußen in der Kälte?« Woodward-Bernstein wirft ihm einen fragenden Blick zu, als versuchte er in Erfahrung zu bringen, ob Gaelan wirklich keine Ahnung hat oder ihn bloß auf den Arm nimmt. »Ich bin Jude«, sagt er, zu Gaelans Gunsten entscheidend. »Verstehe«, lügt Gaelan. »Ich heiße Eli Ellis Weisman«, fährt der Kleine fort und streckt die Hand aus. »Sehr erfreut. Ich heiße…« »Oh, ich weiß, wer Sie sind«, sagt Eli und lindert dann Gaelans plötzliche Furcht, Bethan könne ihrem Sohn alles über ihn erzählt haben, indem er hinzufügt: »Sie sind der Fernseh-Wetteransager.« »Ja, stimmt.« Aus irgendeinem Grund hat Gaelan das Bedürfnis, sich kurzzufassen, wenn er mit diesem Jungen spricht. Eli kramt in einer Ledertasche, die ihm von seiner mageren Schulter baumelt. »Ich habe gehofft, dass ich Sie heute Abend hier sehen würde. Genau genommen habe ich auf Sie gewartet.« 386
Gaelan weiß nicht, was er davon halten soll. Ihm ist zwar früher auch schon aufgelauert worden, aber noch nie von einem kleinen Jungen, der eine Kippa trägt. Eli holt ein großes Notizheft hervor und drückt es an seine Brust. »Mein Stück hat beim Schauspielwettbewerb den ersten Preis gewonnen und wird nächsten Sommer bei den EierFeiertagen aufgeführt.« »Aha.« »Ich hoffe, Sie haben Lust, die Rolle des Aufsehers zu spielen. Es ist die Hauptrolle.« Gaelan will etwas sagen, doch Eli fährt rasch fort. »Das Vorsprechen ist erst im Mai, aber ich würde Ihnen gern einen Vorsprung verschaffen. Das hier ist Ihr Text.« Er greift in das Heft und zieht ein paar lose Blätter heraus. »Frohe Weihnachten«, sagt er und stapft dann - ehe Gaelan Gelegenheit hat zu reagieren - die Stufen hinunter und verschwindet in die Nacht. Gaelan schaut sich die Seiten an. Im Licht, das aus den Kirchenfenstern dringt, liest er: Vielleicht glaubt ihr nicht, dass es noch so etwas wie Wunder gibt. Wunder sind heutzutage selten. Aber ich bin hier, Leute, um euch zu sagen, dass ständig unerklärliche und wunderbare Dinge passieren. Man muss nur wissen, wo man danach suchen muss. Wenn es einen Ort auf der Welt gibt, der diese Behauptung bestätigt, dann ist es unsere Heimatstadt Emlyn Springs. Unser kleines Wales. Gaelan setzt sich auf die Kirchentreppe. Etwas Hartes knallt an seine Hüfte. Er zuckt zusammen, greift in seine Manteltasche und holt seine Taschenlampe heraus. Er stellt sich vor, wie Woodward-Bernstein allein durch die Dunkelheit geht: seine schmalen Schultern und dunklen, ernsten Augen. Er hatte keinen Fetzen heller Kleidung am Leib, keine Handschuhe, keinen Schal gegen die Kälte, nur einen seltsamen übergroßen Mantel. Den Mantel eines Mannes, wird Gaelan klar, und dann verspürt er schreckliches Mitleid und weint. 387
Hopes Tagebuch, 1967 Ein Pilot könnte darüber hinwegfliegen Familiäre Beziehungen sind nicht leicht zu erklären, auch nicht mit Hilfe bedeutsamer Worte. Eine Familie ist wie eine kleine Stadt bei Nacht am Rande der Prärie, deren Lichter glitzern. Ab und zu sind ihre Konturen klar, ist sie in ihrer Form fast zu greifen, ist das Ordnungsprinzip deutlich zu erkennen, und einen Moment lang versteht man. Jedes Kind könnte die Skyline nachzeichnen. Ein Pilot könnte darüber hinwegfliegen. Ein Künstler könnte sie malen. Ein besonders brillanter Mathematiker könnte einen Beweis führen, der ihre ganze Vielschichtigkeit aufzeigt. Aber dann geht ein Licht aus, ein anderes wird angeschaltet. Lichter werden schwächer oder heller, und im Nu ist alles, was beinahe zugänglich war, wieder verloren. Nicht einmal diese kleine Stadt lässt sich beschreiben. Es gibt Wahrheiten, unglaubliche Wahrheiten, so furchtbar, dass wir die Augen vor ihnen verschließen. Vielleicht ist das falsch. Vielleicht sollten wir uns zwingen, diese schrecklichen Wahrheiten jeden Tag auszusprechen: Irgendwann wird meine Mutter sterben. Irgendwann wird mein Vater sterben. Irgendwann wird mein Mann sterben. Irgendwann werden meine Kinder sterben. Das ist sicher. Das sind Gewissheiten. Aber wer könnte das? Wer könnte das eigene Herz mit so viel Wahrheit belasten, ohne dass es zu Stein wird? Wer kann an den Tod glauben und dennoch leben? Vineys Erstgeborener, Wally junior, ist tot. Sein Hubschrauber wurde in Südvietnam abgeschossen. Er war neunzehn Jahre alt. Dafür gibt es keine Worte.
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18 Geheime Weihnachtsmänner »ALLE MAL HERGUCKEN! ICH BIN EIN VULKAN! BUMM! BUMM! NEHMT EUCH VOR DER LAVA IN ACHT!« »GUCKT MAL HIER! ICH BIN EIN HÖRRKEHN! GUCKT MAL! HIER KOMMT DER ZU MAMI!« Vineys jüngste Enkel, Dylan, 3, und Zeke, 5, vergnügen sich mit dem Abfall des Weihnachtsmorgens. Zeke vergräbt sich wiederholt in einem großen Karton voller Styroporkügelchen und kommt dann herausgesprungen wie ein Showgirl aus einer riesigen Torte; Dylan saust über Felder aus zerknülltem Geschenkpapier und Schleifen, schwenkt die Arme und verstreut den Müll mit der Kraft eines Orkans. Trotz der unausgesprochenen Hoffnungen der sechs Erwachsenen im Raum (Viney, Vineys jüngste Tochter Haley und ihr getrennt von ihr lebender Ehemann Randy, Larken, Gaelan und Bonnie) zeigt keins der beiden Kinder Anzeichen von Müdigkeit oder Halsweh. Ihrer Mutter zufolge sind Dylan und Zeke seit sechs Uhr auf. Um halb sieben hatten sie sämtliche Geschenke ausgepackt und um sieben den süßen Inhalt ihrer Weihnachtsstrümpfe verspeist. Gegen zehn waren sie dann bei Viney und wurden dort eine Stunde lang zu Gekasper ermutigt. Schließlich ist Weihnachten. Die meisten Erwachsenen trugen sogar selbst mit zu dem Chaos bei. Aber inzwischen ist es fast Mittag. Als wollten sie ein gutes Beispiel geben, verhalten sie sich jetzt so leise und höflich und unauffällig wie möglich. Mit Ausnahme von Dylans und Zekes Vater - der eingeschlafen ist - sitzen sie aufrecht da, die Füße eng nebeneinandergestellt, die Ellbogen an sich gedrückt. Sie trinken Kaffee und knabbern an krümeligen Kuchenstücken. Sonst backt Viney den Teisen Cnau A Ffrwythau immer selbst, aber dieses Jahr serviert sie gekauftes Früchtebrot. Keiner ist sehr gesprächig. 389
Larken wickelt ihr letztes Geschenk aus. Es ist von Viney. »Das sind MBTs«, sagt Viney munter, nachdem Larken die Schachtel aufgemacht hat. »Danke, Viney«, sagt Larken, Entzücken heuchelnd. »Die sind super!« »Solche hast du doch noch nicht, oder?« »Nein, nein.« »Gut. Ich hatte schon Angst …« »OOOOOO!«, schreit Zeke, schnappt sich den unteren Teil des Schuhkartons und stülpt ihn sich über den Kopf. »GUCK MAL, MOM! ICH BIN DARTH VADER!« Dann pirscht er sich an seinen Bruder heran und intoniert mit der tiefsten Stimme, die einem Fünfjährigen möglich ist: »ICH BIN DEIN VATER LUKE. ICH BIN DEIN VATER LUKE. ICH BIN DEIN VATER LUKE …« »HÖR AUF!«, sagt Dylan. Er zieht eine lange Pappröhre aus der Packpapierdeponie und fängt an, sie seinem Bruder auf den Kopf zu knallen. »MBT ist die Abkürzung für Masai Barefoot Technology«, fährt Viney fort. »Aha.« Larken dachte, es stünde vielleicht für Meine Bescheuertsten Treter. »Von denen habe ich schon gehört«, sagt Gaelan. »Sie sind nach physiologischen Gesichtspunkten entworfen. Man läuft darin so, wie wir alle laufen sollten.« »Genau«, sagt Viney. »Als ob man barfuß wäre.« »Zeig mal«, sagt Bonnie und hält einen der Schuhe an ihre eigene Fußsohle. »Ich vergesse immer, wie klein deine Füße sind.« »Du bist so schwer zu beschenken«, sagt Viney, »und ich dachte, du gehst sicher viel zu Fuß, wenn du in Europa bist, und … Oh, Schätzchen«, fügt sie mit plötzlich weinerlicher Stimme hinzu, »wenn sie dir nicht gefallen, kannst du sie bestimmt umtauschen.« »Nein, Viney!« Larken legt ihr einen Arm um die Schulter und drückt sie. Vineys Fleisch fühlt sich merkwürdig weich an, als 390
hätte sie zugenommen. »Sie sind wunderbar. Und du hast Recht: Es sind die idealen Schuhe für London.« »MOM!«, schreit Zeke. »DYLAN WILL NICHT STERBEN, UND ICH HAB IHM DOCH MIT DEM LASER DEN ARM AB-GEHAUEN!« »GAR NICHT WAHR!«, brüllt Dylan und fängt an zu weinen. »MIR IST EIN NEUER NACHGEWACHSEN!« »Viney scheint es nicht so gut zu gehen, oder?«, fragt Gaelan. »Wie meinst du das?«, entgegnet Larken ein wenig atemlos. Auf dem holprigen, verschneiten Gelände hat sie Mühe, mit Bonnies raschen Schritten mitzuhalten. Nachdem sie sich alle von Haley, Randy, Dylan und Zeke verabschiedet und gemeinsam aufgeräumt hatten, entschuldigte Viney sich, um oben ein Nickerchen zu machen, und Bonnie verkündete, sie habe eine Überraschung für ihre Geschwister, für die sie sich warm einpacken und ihr nach draußen folgen müssten. Larken weiß nicht, wohin ihre Schwester sie führt und was sie ihnen unbedingt zeigen will, aber sie wandern in Richtung Stadtzentrum - ein Ziel, das, weil es so deprimierend ist, Larkens Lust am Gehen noch mehr mindert. Gaelan wartet auf sie und ergreift ihren Arm. »Sie ist einfach … irgendwie daneben«, sagt er stirnrunzelnd. Seine Stimme hat etwas Gepresstes, seine Worte werden von Atemzügen getragen, so kläglich, dass sie kaum eine Spur in der frostigen Luft hinterlassen. »Sie hat ihr übliches … Strahlen nicht mehr. Und sie war so … ich weiß nicht, distanziert gegenüber Haleys Kindern, fandest du nicht?« »Na ja, die Feiertage und so. Der erste Dezember ohne Dad. Das muss hart sein.« Bonnie hüpft mit der animalischen Grazie vor ihnen her, die sie seit ihrer Kindheit hat, sodass der Eindruck entsteht, sie hätte vier Füße mit Hufen statt nur zwei beschuhte.
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»Meine Güte«, nörgelt Larken. »Hast du eine Ahnung, was das soll?« Gaelan zuckt gleichgültig die Achseln. Bonnie dreht sich um und ruft: »Kommt schon, Leute! Warum seid ihr so langsam?« Die Gegenwart ihrer Schwester, wenn sie so vor Energie vibriert, weckt in Larken das Gefühl, uralt zu sein. »Wieso konnten wir nicht fahren?«, murmelt sie. »Ich wünschte, du müsstest nicht weg«, sagt Gaelan mit so ernster und kummervoller Stimme, dass sie ihn anschauen muss, um sich zu vergewissern, dass er nicht weint. »Ich finde es auch schade«, erwidert Larken. »Aber ich muss heute Abend zurück. Ich habe noch jede Menge zu tun und muss morgen unmenschlich früh aufstehen …« »Nein«, unterbricht Gaelan sie. »Nach England, meinte ich.« »Warum?« »Wann geht dein Flug?« »Früh. Um viertel nach sechs.« »Wie kommst du zum Flughafen?« »Mit dem Taxi wahrscheinlich.« »Viertel nach sechs«, wiederholt Gaelan mit seltsamer Feierlichkeit. »Das merke ich mir.« »Alles in Ordnung?« »Mir geht’s gut.« So verschlossen ist er sonst nie. Irgendetwas muss los sein. »Hast du gestern in der Kirche mit jemandem geredet? Bethan hat nach dir gefragt …« »Ich bin zu spät gekommen, weißt du nicht mehr?«, antwortet er mit untypischer Schärfe. »Ich habe alles verpasst.« »Beeilt euch!«, ruft Bonnie ausgelassen. »Wir sind fast da!« Sie haben den ödesten Teil von Emlyn Springs erreicht, der aber immer noch euphemistisch »Stadtzentrum« genannt wird. Larken kann sich nicht vorstellen, wo da sein könnte.
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Larken und Gaelan bleiben stehen und beobachten, wie Bonnie kurz innehält und nach links und rechts schaut, bevor sie über die breite, leere Straße eilt. Als Kinder mussten die beiden ihre Schwester ständig daran erinnern, wenn sie die Main Street überqueren wollten. Sie haben sie gut abgerichtet. Früher war diese Vorsicht notwendig, heute ist sie es nicht mehr. Zu Larkens Bestürzung geht Bonnie auf eins der ältesten und schäbigsten Bauwerke von Emlyn Springs zu: das Tinkham Building. Einst Heimat eines florierenden Unternehmens, hat es das Schicksal vieler benachbarter Häuser erlitten und wurde aufgeteilt. Zurzeit beherbergt die eine Hälfte Blind Toms Betrieb für das Reparieren und Stimmen von Klavieren; die andere steht seit Jahrzehnten leer, ihre Tür ist zerkratzt und verrammelt, die Fenster sind getrübt von Schmutzschlieren. Und doch bleibt Bonnie hier stehen und holt einen Schlüsselbund aus ihrer Manteltasche. »Wir sind da!«, ruft sie, während sie die Tür aufstößt. Sicher erwartet sie drinnen ein Engelchor, der Jubilate Deo singt. »Kommt, Leute! Kommt und seht es euch an!« Wieder ergreift Gaelan Larkens Arm, und sie nähern sich der Kreuzung Bridge und Main. Aus irgendeinem Grund - langjährige Gewohnheit, Respekt vor der ehemaligen Pracht ihres toten Heimatortes oder weil sie ihre kleine Schwester vor der Wahrheit schützen wollen (dass ihre Hoffnungen vergeblich sind und ihre Zuversicht nie belohnt werden wird) - schauen auch sie nach links und rechts, bevor sie die Straße überqueren. Blind Tom und Sergei sind ebenfalls unterwegs in die Stadt. Sie haben die letzten Stunden mit Onkel Howie verbracht, sich mittags mit ihm im Souterrain des Gemeindezentrums getroffen, wo die Damen des Gartenvereins Cly-ta ein traditionelles, walisisch inspiriertes Weihnachtsessen für die einkommensschwachen Bürger von Emlyn Springs servieren - überwiegend allein lebende verwitwete und geschiedene Männer, die weder das Geschick 393
noch die Neigung haben, sich selbst ein Festmahl zu bereiten -, und sind dann weitergezogen in den Gemeinschaftsraum des Altersheims St. David, wo - inzwischen alljährlicher Brauch - Blind Tom die Klavierbegleitung zum Weihnachtsliedersingen und zur Bescherung übernommen hat, während Onkel Howie und Sergei in ihren Rollen als achtzigjähriger Junggeselle und Therapiehund glänzen. Blind Tom pfeift im Gehen ein Frage-und-Antwort-Duett mit einem seiner einheimischen Lieblingsvögel, demjenigen, der die ersten vier Noten einer Beethoven-Symphonie zwitschert. Es war ein schöner Tag - doch das Beste kommt noch. Er greift in seinen Mantel und legt die Hand auf seine unteren rechten Rippen; es ist albern, das weiß er, aber er will sich vergewissern, dass in der Tasche seiner roten Weste immer noch ein rechteckiges Elfenbeinplättchen steckt. Es ist da. Seine einzigartigen Konturen zu ertasten erfüllt ihn mit einer geradezu ekstatischen Wonne, als wäre er heimlicher Besitzer eines wertvollen Relikts - was in gewisser Weise zutrifft -, und bringt ihn zum Lachen. Sergei schaut zu ihm auf und lächelt, glücklich, weil sein Herrchen glücklich ist. Blind Tom beschleunigt seine Schritte, bis sie fast laufen. »Los, Sergei!«, ruft er mit wehenden Mantelschößen. »Beeilen wir uns!« Wer außer einem blinden Klavierstimmer hätte wohl solche Freude an einem so kleinen Gegenstand? Wer außer einem ausgesprochenen Sonderling würde auf die Wärme und Behaglichkeit menschlicher Gesellschaft verzichten (und das auch noch am Weihnachtstag!), um in einem dunklen, baufälligen Lagerhaus seinem Gewerbe nachzugehen, und seine Tätigkeit als Segen empfinden? Sogar Blind Tom weiß, dass er mit seiner Exzentrik die Grenzen der Normalität streift. Was für ein Glück, dass er hier gelan-
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det ist, in dieser isolierten, provinziellen kleinen Gemeinde, die diese Exzentrik mehr als akzeptiert, nämlich nicht beachtet. »Bitte sehr!« Bonnie breitet theatralisch die Arme aus. Sie stehen vor einem Durcheinander aus Kartons - manche geöffnet, andere noch zugeklebt -, Werkzeugen, Fahrradteilen und Anleitungen für den Fahrradbau. An der Decke blinkt eine einzelne lange, schmutzige Neonröhre. Sie baumelt gefährlich an vier Ketten unterschiedlicher Länge; ihr rhythmisches Flackern illuminiert hin und wieder ein Rad, das waagerecht - wie ein Kronleuchter - an einem der freiliegenden Balken aufgehängt und mit Lametta und Lichtern und Girlanden aus Popcorn und Cranberrys geschmückt ist. Es ist so kalt hier drinnen, dass sie ihren Atem sehen können. Der Raum hat jenen entschieden komplexen Geruch nach verschmorten Kabeln, Moder und Mäusekot an sich, der darauf hinweist, dass ein Gebäude zu heruntergekommen ist, um nicht entkernt oder gar abgerissen zu werden. Eine metallene Mülltonne in der Ecke ist übervoll mit Bierdosen und Flaschen, an den Wänden prangen Graffiti. Larken erinnert sich an die Goldene Regel des Mittleren Westens - Wenn du nichts Nettes sagen kannst, sag gar nichts - und hält den Mund. Ihre Gesichtsmuskeln bleiben unbewegt. »Meine Güte, Bon«, sagt Gaelan. Er fängt an umherzuschlendern, Schränke und Türen auf- und zuzumachen und Steckdosen zu überprüfen. »Da hast du ja wirklich ganze Arbeit geleistet.« Seine Stimme ist freundlich, aber Larken weiß, dass ihm seine Bauinspektornummer nur dazu dient, ihrer Schwester nicht in die Augen sehen zu müssen. »Es sieht schlimm aus«, beeilt sich Bonnie zu sagen. »Tut mir leid, dass ich noch keine Gelegenheit hatte aufzuräumen. Ich hatte eine Menge Aufträge für Weihnachten, wisst ihr, von Eltern, die sich nicht trauten, Fahrräder zusammenzubauen, und wollten, dass ich es mache. Es hat so viel Spaß gebracht! Ich bin mir vorgekommen wie eine der Elfen vom Weihnachtsmann.« 395
»Ich hoffe, du hast dich dafür bezahlen lassen«, sagt Larken. »Mit Geld, meine ich.« Die Worte entschlüpfen ihr, ehe sie sich selbst zensieren kann. »Ja«, erwidert Bonnie, nur ein wenig unwirsch, »ich habe Geld dafür gekriegt.« »Hier war doch früher das Warenhaus, oder?«, fragt Gaelan. »Ja, Tinkham’s.« Bonnie schließt sich Gaelan auf seinem Rundgang an. »Es war riesig. Wir sind dauernd hergekommen, weißt du nicht mehr? Manches von dem alten Bestand ist sogar noch da. Und immer wieder tauchen komische Sachen auf.« »Tote Ratten?«, murmelt Larken. »Betrunkene Teenager? Giftpilze?« »Ich stolpere ständig über diese kleinen, roten Kugeln, wisst ihr. Diese elastischen, die so federn.« »Hm«, sagt Gaelan. Larken sieht, dass er über das alles hier ebenso entsetzt ist wie sie, doch er kann seine Gefühle besser verbergen. »Als Tinkham’s zumachte«, fährt Bonnie fort, »war das Gebäude für eine Weile geschlossen. Und dann haben sie es aufgeteilt; diese Hälfte stand lange leer, aber die andere hat Blind Tom schon in den 80ern bezogen.« Larken nimmt wahllos ein Stück Papier zur Hand. Es ist eine Lieferquittung. »Klar, reich werde ich damit nicht«, sagt Bonnie und wirft Larken einen Blick zu, »aber die Miete ist wirklich niedrig …« Das glaube ich gern, denkt Larken. »… und ich habe gute Tipps aus dem Internet gekriegt.« Larken studiert immer noch die Quittung. Es hat ein kleines Vermögen gekostet, die Fahrräder herzuschaffen. Gaelan öffnet eine Tür auf der Rückseite des Raums. »Was ist denn mit diesen Klavierteilen?« »Da hinten lagert Blind Tom seine Sachen. Wenn der Laden erst mal läuft, räumt er alles raus, und ich erledige dann dort die Reparaturen und das Zusammenbauen, und in diesem vorderen 396
Teil stelle ich die Räder aus. Man könnte sich keinen besseren Platz dafür wünschen. Er ist sehr gut einsehbar.« Gaelan verschwindet nach hinten. »Also«, hebt Larken behutsam an, »heißt das, dass du den Saftstand aufgibst?« »Nein. Ganz und gar nicht. In dem Artikel, den ich gelesen habe - ich suche ihn dir eben raus -, steht, man sollte nicht gleich erwarten, dass ein Fahrradladen größere Einkünfte abwirft, erst nach ungefähr - hier ist er - einem Jahr.« Bonnie reicht Larken ein paar lose Blätter. Larken schaut auf den Ausdruck eines Artikels aus Mother Earth News, Nummer 26, Ausgabe März-April 1974. »Das benutzt du?« »Wie ich schon sagte, die Informationen sind sehr nützlich.« »Bist du sicher, dass sie noch aktuell sind, Bonnie?« »Die Preise natürlich nicht, aber alle anderen Angaben sind zuverlässig.« Gaelan taucht wieder auf. »Das sieht alles … ziemlich … gut aus, Bon«, sagt er, »aber mir wäre wohler, wenn die Elektrik modernisiert und die Hintertür repariert würde.« »Ich weiß. Ich habe schon mit Tom darüber geredet, und er wird den Eigentümer kontaktieren.« »Wer ist der Eigentümer?«, fragt Larken. »Wissen wir nicht genau. Es ist ein bisschen schwierig, ihn zu ermitteln. Er könnte tot sein.« »Verstehe.« »Aber wir werden uns große Mühe geben«, fährt Bonnie munter fort, »mit allen Eigentümern der Gebäude im Stadtzentrum Verbindung aufzunehmen, damit sie renoviert werden können.« »Wozu das?«, fragt Larken. »Wegen der walisischen Delegation. Aus unserer Schwesterstadt.« Bonnie spricht in dem leicht gereizten Ton von jemandem, der denkt: Habt ihr denn nicht zugehört? »Die Zeitung ist seit Monaten voll davon …« Bonnie steckt ihren Geschwistern seit 397
deren Wegzug zu jedem Weihnachtsfest ein Jahresabonnement für die Golderod Gazette in den Strumpf. Larken weiß nicht, wie es bei Gaelan ist, aber ihre Exemplare landen meistens im Papiermüll oder im Kamin. »Habt ihr denn die Berichte über die Gemeinderatssitzungen nicht gelesen?«, fragt Bonnie. »Nein, tut mir leid«, sagt Larken. »Warum erzählst du uns nicht einfach davon?« »Na gut.« Bonnie seufzt. »Es ist viel passiert, aber ich versuche es mit der Kurzversion. Nach Dads Tod hat Viney bei seinen Sachen Briefe gefunden, die er sich mit dem Kloster in unserer Schwesterstadt geschrieben hat. Von der Schwesterstadt wisst ihr doch, oder?« »Natürlich«, lügt Larken. »Klar«, fügt Gaelan hinzu. »Es war Dads Idee, eine Delegation von Mönchen einzuladen, ihnen alles zu zeigen und zu sehen, ob sie eventuell Interesse daran hätten, hier ein zweites Kloster zu gründen.« »Warum sollten sie das tun?«, fragt Larken. »Wegen der Verbundenheit«, erwidert Bonnie, als wäre diese Antwort selbstverständlich. »Weil wir Schwesterstädte sind. Und aus finanziellen Gründen. Diese Mönche sind sehr erfolgreich, und vielleicht wollen sie sich auch den amerikanischen Markt erschließen.« Eine Wendung wie den amerikanischen Markt erschließen klingt auffallend untypisch für Bonnie, und Larken fragt sich, ob ihre Schwester womöglich gar nicht improvisiert, sondern diese Rede mit Hilfe von Wirtschaftsfachleuten einstudiert hat. »Sie haben eine florierende Heimindustrie, die sie hierher importieren würden. Und damit kämen Touristen, Geld, Jobs in die Stadt … Es könnte super werden.« Ja, denkt Larken, und eine Ewigkeit dauern. »Es ist schon deshalb eine großartige Idee«, fällt Gaelan ein, »weil Dad sie hatte.« 398
Bonnie fährt fort: »Also hat Mr. Humphries Kontakt zu den Mönchen aufgenommen, und sie schicken im Sommer eine Delegation her, zu den Eier-Feiertagen …« Bonnie erläutert ausführlich, wie die Stadt plant, das Festival neu zu beleben, das einst eine ganze Woche von Veranstaltungen umfasste, seit Jahrzehnten aber aus wenig mehr besteht als einem bunt zusammengewürfelten Umzug, einem Eier-Wettbewerb und einer Traktorparade. Larken und Gaelan hören lächelnd zu. Ihre Schwester ist unendlich liebenswert. Es ist sehr schwer, nicht von ihr entwaffnet zu sein. Da Bonnie die Landschaft ihrer Kindheit nie verlassen hat, ist sie ihr auch immer treu geblieben; deshalb ist es nahezu unmöglich, mit ihr zu diskutieren wie mit einer Erwachsenen. »Und was den Laden angeht«, sagt Bonnie achselzuckend, »die Idee hatte ich schon vor einer Weile, bevor diese anderen Dinge passierten, und dann passte auf einmal alles zusammen. Als ob es Bestimmung wäre.« Wer kann schon gegen Als ob es Bestimmung wäre argumentieren? Im Weltbild ihrer Schwester wird alles - das Lächerliche, das Unbrauchbare, das Hoffnungslose - mit einer a-prioriAutorität ausgestattet. »Also«, schließt Bonnie, streckt die Arme aus und dreht sich einmal im Kreis. »Was denkt ihr?« Sie landet direkt unter der Neonröhre und dem hängenden Rad, die beide, wie Larken bestürzt feststellt, leicht schaukeln. Sie muss Gaelans Arm packen, damit sie nicht zu Bonnie rennt und sie aus der Gefahrenzone schubst. »Du hast dir das alles gut überlegt, Bon«, sagt Larken. Das ist eine harmlose und zutreffende Bemerkung und im Moment die beste, die ihr einfällt. »Darüber, meine ich«, sagt Bonnie und zeigt nach oben. »Damit hat alles angefangen.« »Womit …?«
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»Mit dem Rad. Ich habe es gefunden, wisst ihr nicht mehr? An dem Tag, als wir Dad beerdigt haben. Deshalb habe ich es ja nicht zum Friedhof geschafft.« »Ach so.« Es wäre sinnlos, Bonnie daran zu erinnern, dass nicht wir Dad beerdigt haben, dass sie ihr Verhalten vier Monate nach dem Ereignis erklärt und dies eine völlig neue Information ist. »Ihr wisst doch, dass manche Firmen ihren ersten verdienten Dollar rahmen, oder?«, fährt sie fort. »Ihn öffentlich präsentieren. Und ich habe beschlossen, mein Rad öffentlich zu präsentieren.« »Prima, Bon.« Bonnies Miene verfinstert sich. »Du guckst es ja nicht mal an.« »Okay«, sagt Larken langsam und schaut betont aufmerksam auf das Rad. »Es ist wunderbar. Eine wunderbare Idee, es dort aufzuhängen, ein ideales Symbol für das, was du hier vorhast.« Was auch immer es sein mag. »Du erkennst es nicht, oder? Du kapierst es einfach nicht.« Ich werde nicht mit ihr streiten. Nicht heute. Nicht zu Weihnachten, nicht, wenn ich am nächsten Tag in ein Flugzeug steigen muss. »Was erkenne ich nicht, Schatz?«, fragt Larken im versöhnlichsten Ton, der ihr zur Verfügung steht. »Was soll ich kapieren?« »Nichts, vergiss es.« Bonnie wendet sich ab und fängt an, Pappkartons in einer Ecke des Raums zu stapeln. »Trotzdem danke, dass du gekommen bist. Ich weiß, dass du in Eile bist. Wenn du also losmusst, verstehe ich das.« Larken sieht auf ihre Uhr. »Ja, ich sollte mich wohl auf den Rückweg machen. Bleibt ihr noch hier?« »Ich muss die Mäuse einsammeln«, murmelt Bonnie. »Die was?« »Ich bleibe und helfe dir«, sagt Gaelan. Er wirft Larken einen Blick zu, dessen Bedeutung klar ist: Er wird versuchen, Bonnie weitere Informationen zu entlocken, und ihr dann davon berichten. 400
»Ich hab dich lieb, Bon«, sagt Larken. »Fröhliche Weihnachten.« »Ich hab dich auch lieb.« Bonnie lässt sich umarmen und macht sich dann wieder an die Arbeit. »Gute Fahrt«, fügt Gaelan hinzu, »und ruf an, wenn du in Lincoln bist.« Als Larken durch den Schnee zurückstapft, setzt sie ihre Füße in die von ihr und Gaelan auf dem Hinweg hinterlassenen Abdrücke, die bereits an Deutlichkeit verlieren. Es hat wieder angefangen zu schneien, fein und leicht: Puderzucker, der vom Himmel herunterweht. Ohne die Unterstützung durch den Arm ihres Bruders und den Enthusiasmus ihrer Schwester erscheint ihr der Weg überwältigend mühselig. Sie könnte ebenso gut die Steppen Sibiriens durchqueren. Vielleicht wird sie den Rest des Tages und die ganze Nacht brauchen, um zu Vineys Haus zu gelangen. Sie wird ihr Flugzeug verpassen, und das war’s dann. Der Schnee macht alles sehr leise. Während Larken die vertraute zunehmende Enge in der Brust verspürt, hofft sie, dass sie ihre Geschwister nicht eben zum letzten Mal gesehen hat. Fünfundzwanzig Jahre sind eine absurd lange Zeit für die Beschäftigung mit einem einzigen Instrument. Blind Tom hat schon ernsthaft beschädigte Klaviere in fünfzehn Monaten restauriert. Aber diese Projekte waren finanzieller Natur; er wurde dazu entweder von den Besitzern beauftragt oder hatte die Absicht, das Instrument zu verkaufen. Dieses Klavier ist anders. Es gehört niemandem. Keiner wartet auf seine Rückkehr. Es wird nie zum Verkauf angeboten werden. Blind Tom ist sich noch nicht einmal sicher, ob seine Bemühungen streng genommen als Restaurierung gelten können, denn es geht ihm in diesem Fall nicht darum, das Instrument perfekt und wie fabrikneu herzurichten, sondern in den Zustand eines 401
funktionierenden, aber charakteristische Mängel aufweisenden Klaviers zurückzuversetzen, in dem es war, als es in die Luft geschleudert wurde. Schließlich hatte es bis zu diesem Moment Musik hervorgebracht - herrliche Musik bestimmt. Klaviertechniker sind - ähnlich wie Oldtimer-Fans - berüchtigt dafür, dass sie Einzelteile sammeln und erwerben in der Hoffnung, sie irgendwann verwenden zu können. Ganze Sets von Elfenbeinplättchen für Klaviertasten - ins Land gebracht, bevor derartige Importe in den 1970ern illegal wurden - werden seit Jahren ge- und verkauft, von einem Pianotechniker an den nächsten weitergereicht durch Nachlassverkäufe oder Online-Auktionen, von Klavierbauern, die irgendwie nie dazu kamen, sie zu gebrauchen. Blind Tom vermutet, dass in ihren Beichten auf dem Totenbett oft das Versteck heimlicher Vorräte von eingeschmuggeltem Elfenbein genannt wird. Er selbst hat das große Glück, ein solches Set von seinem Vorgänger geerbt zu haben, und bedient sich daraus, um die Elfenbeinplättchen zu ersetzen, die verloren gegangen oder zu kaputt sind, um sie noch zu benutzen. Wenn er wollte, könnte er auch Ersatzelfenbein verwenden - Yamaha stellt ein sehr gutes Imitat her, das sich nicht so nach Plastik anfühlt wie die anderen Sorten, und bei vielen Projekten greift er auf dieses Kunstelfenbein zurück. Für dieses Klavier jedoch nimmt er nur das echte. Die weißen Tasten eines Pianos sind nicht - wie man annehmen könnte - einzelne Holzklötze, sondern Teile eines großen Stücks, in den USA meistens von einer Zuckerkiefer, das mit einem bandsägeartigen Werkzeug zugeschnitten wird; also muss man dieses Stück, wenn es irgendwo beschädigt ist, komplett erneuern. Aber auch hier hat Blind Tom Glück: Die Klaviatur seines Sonderprojekts ist vollkommen intakt geblieben. Bei all seinen Restaurierungen, nicht nur dieser speziellen, teilt sich Blind Tom seine Arbeit gern so ein, dass sie einen gewissen Symbolcharakter hat, daher repariert er die Tasten an den Tagen, deren Anfangsbuchstaben der jeweiligen Note entsprechen. Da 402
das Klavieralphabet nur von A bis G reicht - im Englischen ist statt des H noch das B üblich -, sind seine Möglichkeiten eingeschränkt, aber nicht sehr. Zum Beispiel: Ein A-Plättchen kann er an einem Adventssonntag anbringen, an Allerheiligen, Allerseelen oder am Geburtstag von Clarence Acox. Zum Glück herrscht ein Überfluss an bekannten Musikern mit Namen in den vorgegebenen Grenzen: außer den ganz berühmten - Bach, Beethoven, Borodin, Brahms, Britten, Chopin, Copland, Debussy, Dvořák, Elgar, Fauré, Grieg usw. - sind viele von Blind Toms persönlichen Lieblingen darunter: Adderley (Cannonball), Bernstein (Leonard), Brubeck (Dave), Bennett (Tony), Cassidy (Eva), Clooney (Rosemary), Carmichael (Hoagy), Desmond (Paul), Ellington (Duke), Forbes (China), Getz (Stan), Gershwin (Ira und George), Grappelli (Stéphane) und so fort. Ein D erhält seine Krone am St.-Davids-Tag, ein E zu Epiphanias. Das F-Plättchen kann er zum Frühlingsanfang anbringen, dasjenige fürs G an jedem Tag, an dem ein gymanfa stattfindet. Zum Christfest fällt die Entscheidung nicht schwer. Dieses Jahr allerdings befestigt er das Elfenbein nicht einfach an irgendeinem C, sondern am Polarstern des Klaviers, auf der Taste, die für jeden Pianisten den ersten Orientierungspunkt darstellt. Außerdem hat dieses Plättchen eine Delle, das heißt, seine Oberfläche ist durch jahrelange Benutzung konkav geworden. Im Vergleich zu den Nachbartasten ist diese Vertiefung ausgeprägt und offenkundig - jedenfalls für die Hand, wenn schon nicht fürs Auge. Bliebe das Plättchen draußen im Regen liegen (was 1978 tatsächlich geschah), würde sich in der Mitte eine flache kleine Pfütze bilden.
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Wie alle anderen Elfenbeinstücke, die zu Blind Toms Sonderprojekt gehören, wurde auch dieses sorgfältig abgetrennt, gereinigt und katalogisiert und wartet seitdem geduldig, ohne zu klagen, mit äußerster Zuversicht, während andere Plättchen bereits wieder an der Tastatur befestigt wurden. Heute wird das konkave Stück Elfenbein in Blind Toms Westentasche endlich in seine ursprüngliche Heimat zurückkehren: auf das mittlere C der Zuckerkiefertastatur von Hope Aneira Jones’ Stutzflügel, Baujahr 1918. »Gae?« »Ja, Bon?« »Glaubst du, ich werde jemals Kinder haben?« Den Anweisungen seiner Schwester folgend, hat Gaelan schweigend gearbeitet, zuerst große Pappkartons flachgedrückt und mit Schnur gebündelt, dann kleine, grün getönte Plexiglaskästchen, die den Raum säumten, eingesammelt und in eine alte Holzkiste gestellt. Die Kästchen enthalten Mäuse in verschiedenen Stadien des Elends. Gaelan hat gerade aufmerksam ein besonders niedergeschlagen und resigniert wirkendes Kerlchen studiert und muss Bonnie daher bitten, ihre Frage zu wiederholen. »Glaubst du, ich werde jemals Kinder haben, habe ich gefragt.« Gaelan zögert, bevor er antwortet - das ist ein heikles Thema -, und dann fügt Bonnie hinzu, als ginge sie im Geiste ebenfalls die Liste der möglichen Antworten durch: »Und ich meine kein adoptiertes Kind, obwohl ich nichts gegen Adoptionen habe. Ich rede vom Schwangerwerden. Auf die übliche Weise. Wie eine normale Frau. Du weißt schon, durch …« Sie hält mitten im Satz inne. »Geschlechtsverkehr.« Dieses Wort spricht Bonnie mit solch erbitterter, grimmiger Betonung aus, als hätte sie eben erst die Tatsache akzeptiert, dass Babys nicht vom Storch gebracht werden. »Hältst du das für möglich?«
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Bonnie die Wahrheit zu sagen ist nicht immer die beste Lösung; wenn es um Herzensangelegenheiten geht, genau genommen wahrscheinlich nie. Gaelan hat einen Instinkt dafür, Larken nicht; deshalb streiten sie und Bonnie sich auch so oft. In dieser Situation zum Beispiel würde Larken automatisch die Wahrheit äußern, wenn auch sanft. Gaelan dagegen weiß, dass Bonnie nur scheinbar eine ehrliche Antwort auf ihre Frage erwartet; in Wirklichkeit bietet sie ihm eine Schale blutender Eingeweide für die Lüge, die sie hören möchte. Gaelan findet es am besten, sie wie ein Naturphänomen zu behandeln, das sich manchmal mit vorsichtiger Anwendung von Kraft und Technik umlenken lässt - wie ein Fluss. »Ich glaube, du wärst eine wunderbare Mutter«, sagt er. »Das glaube ich auch«, erwidert Bonnie. Sie setzt sich auf einen leeren Platz in der Siedlung der gefangenen Mäuse und fängt an zu weinen. Gaelan lässt sich neben ihr auf dem Boden nieder, zieht sie an sich, wartet. Das Klimpern von Glocken, gefolgt vom Geräusch von Füßen und Pfoten, zeigt an, dass Blind Tom und Sergei die andere Hälfte des Gebäudes betreten haben. Wer auch immer Tinkham’s aufgeteilt hat, hat sich mit der Schalldämmung nicht viel Mühe gegeben. »BJs Fahrräder« und die Pianoklinik trennen nur eine nicht isolierte Wand und ein schief aufgehängtes Stück Sperrholz. Bonnie versucht, ihren Tränenfluss zu bremsen. »Hi, Tom!«, ruft sie mit nasaler Stimme. »Frohe Weihnachten.« »Frohe Weihnachten, Bonnie.« »Gaelan ist auch hier.« »Frohe Weihnachten, Gaelan.« »Frohe Weihnachten, Tom.« Bonnie zieht ein Papiertaschentuch aus ihrer Manteltasche und kuschelt sich enger in die Arme ihres Bruders. Im Nu verfallen Gaelan und Bonnie, während Blind Tom sich leise an die Arbeit macht und Sergei sich zu Füßen seines Herr405
chens niederlässt, in eine Art soziale Amnesie, indem sie völlig vergessen, dass sie eigentlich nicht allein sind. Die Geräusche, die sie hören, sind reine Umweltgeräusche für sie - nicht verursacht von einem lebenden, fühlenden Wesen. »Du hast schon viele Freundinnen gehabt, oder?«, fragt Bonnie. »Na ja, ich weiß nicht so recht …« »Ach, komm, Gae. Du weißt, was ich meine. Du bist erfahren. Du hast es oft gemacht.« Nicht in letzter Zeit. »Ja, das stimmt wohl.« »Was mögen Männer?« »Wie meinst du das?« »Was macht manche Frauen besser … im Bett … als andere? Was macht sie anziehender?« »Das sind zwei unterschiedliche Eigenschaften, Schatz. Es gibt Anziehungskraft, und dann …« Er kann es nicht fassen, dass er dieses Gespräch mit seiner zweiunddreißigjährigen Schwester führt. Hätte Larken das nicht übernehmen müssen, so vor zwanzig Jahren? »… gibt es Sex. Das ist nicht dasselbe.« »Definiere Anziehungskraft.« »Okay, gut, äh, das ist irgendwas, das du an der anderen Person wahrnimmst, das deine Aufmerksamkeit weckt, zum Beispiel … ihr Gesicht oder ihr Körper oder…« »Schon klar.« »Na ja, du hast mich gefragt, und nach meiner Erfahrung fängt es damit meistens an.« Bonnie ist bestürzt. »Also basiert alles auf dem Aussehen?« »Nein, nicht immer. Es gibt …« Was? Das wusste er doch mal. »Persönlichkeit spielt eine Rolle.« Genau. »Ein ähnlicher Sinn für Humor, gemeinsame Interessen …« »Moment. Wie war es denn bei dir und Bethan?« »Mir und Bethan?« »Ja. Bei euch kann es nicht ums Aussehen gegangen sein, denn ihr kanntet euch doch schon lange, bevor ihr Sex hattet, oder?« 406
Das ist das Riskante an einem Gespräch mit Bonnie. Erst klappt sie zusammen, und in der nächsten Minute leuchtet sie einem mit der Taschenlampe ins Innerste und sucht nach Narben. »Ich verstehe nicht, was das zu tun hat mit …« »Es war ja nicht so, dass du eines Tages aufgewacht bist und bemerkt hast, was für eine Schönheit Bethan ist und dass sie einen Superkörper hat. Du kanntest sie seit Ewigkeiten, seit sie ein kleines Mädchen war und eigentlich eher bescheuert aussah.« »Ich sah damals auch ziemlich bescheuert aus, wenn du dich erinnerst.« »Du hast nie bescheuert ausgesehen. Und was ist mit Dad und Viney?« Das ist auch so eine Sache: Anfangs fühlt man sich gut vorbereitet, stark, selbstbewusst, als kluger älterer Bruder, der gute Ratschläge und Jahre der Erfahrung zu bieten hat, und dann wechselt sie unvermittelt das Thema, und man sitzt total in der Patsche. »Dad und Viney«, wiederholt Gaelan und versucht nun nicht mehr, Ratschläge zu erteilen, sondern nur noch, dem Gespräch zu folgen. »Wie sind die eigentlich zusammengekommen? Hast du dich das nie gefragt? Sie war lange Zeit Dads Arzthelferin und Moms beste Freundin, und dann, schwupps, haben sie sich ineinander verliebt oder irgendwas in der Art, stimmt’s? - und sind den Rest ihres Lebens zusammengeblieben. Was ist da passiert? Was hat sich plötzlich zwischen ihnen verändert?« »Keine Ahnung.« »Natürlich«, bemerkt Bonnie nachdenklich, »hatten sie keine gemeinsamen Kinder.« Wie hat das hier begonnen?, wundert Gaelan sich. Er erinnert sich nicht. »Also«, sagt Bonnie, »du hattest nie Sex mit einer Frau, die du nicht anziehend fandest.« Gaelan überlegt. »Nein.« 407
»Aber du HATTEST Sex mit Frauen, die du nicht geliebt hast.« »Ja.« »Warum?« »Weil … na ja … weil ich sie anziehend fand.« »Aber du wolltest keine Babys machen. Du wolltest nur mit ihnen schlafen?« »Hm-mm.« »Und wie ist das?« »Wie ist was?« »Mit jemandem Sex zu haben, den du anziehend findest, aber nicht liebst und mit dem du keine Babys machen willst. Geht das?« »Hängt davon ab, was du mit ›gehen‹ meinst.« »War es angenehm?« »Bon, Schätzchen, was fragst du mich da?« »Ich weiß nicht, was ich dich frage. Das ist das Problem.« Bonnie richtet sich auf und betrachtet die Mäuse. »Wir müssen sie bald rauslassen, sonst ersticken sie.« »Okay.« Bonnie greift nach einer der Mäusehütten und fängt ein Blickduell mit ihrem Bewohner an. »Pass auf«, sagt sie. »Ich erzähle dir jetzt was, das ich noch nie jemandem erzählt habe, und du musst versprechen, dass du es niemandem verrätst, nicht mal Larken. Besonders Larken nicht.« »In Ordnung.« »Versprich es.« »Ich verspreche es.« »Ich habe es noch nie gemacht.« Gaelan blickt im Geiste Jahre voraus in eine Zeit, in der man seine kleine Schwester, die alte Jungfer der Stadt, liebevoll, aber mitleidig das Jones-Mädelnennen wird, ebenso wie Hazel und Wauneeta heute noch die Williams-Mädels heißen. Doch die haben wenigstens einander. Bonnie wird niemanden haben. 408
In der positiven Version dieser Zukunft lebt Bonnie in Dads Haus (armes Ding, nie verheiratet), geht zu Gemeindeversammlungen, häkelt Wolldecken, trägt Stützstrümpfe und Hush Puppies, wärmt sich ihr Abendessen in der Mikrowelle auf und stirbt mit 114 im Schlaf in der Obhut des Personals vom St. David. Im schlimmstmöglichen Szenario bleibt sie in ihrem Holzschuppen wohnen und hortet weiterhin Müll vom Straßenrand (armes Ding, nie verheiratet, nicht ganz bei sich), eine dieser traurigen Gestalten, die üblicherweise anonym in einer Stadt wie New York leben, in einem Apartment, in dem seit Jahrzehnten sonst keiner gewesen ist. Und dann herrscht dort eines Tages ein grauenhafter Gestank, und jemand lässt vom Hausmeister die Tür öffnen, und da sind sie, seit Wochen tot, und verwesen inmitten von verschimmelten Zeitungen und Büchern. (Allerdings könnte das, wenn er darüber nachdenkt, in Emlyn Springs nicht passieren; in Kleinstädten ist - was man gut finden kann oder schlecht - keiner unsichtbar. Die Menschen werden wahrgenommen. Sterben, ohne dass es jemandem auffällt, das könnte eher ihm selbst widerfahren, obwohl eine längere Abwesenheit vielleicht in seinem Fitness-Studio bemerkt würde.) »Was denkst du, Gaelan?« »Ich denke gar nichts«, entgegnet er. »Ich sehe einfach keinen Sinn darin, Sex zu haben, wenn man kein Baby kriegen will. Ich weiß, das ist verrückt.« »Es ist überhaupt nicht verrückt.« »Hast du dir jemals ein Baby gewünscht? Mit Bethan zum Beispiel. Glaubst du, ihr hättet Kinder bekommen, wenn ihr euch nicht getrennt hättet?« »Das ist lange her, Bon.« Bonnie überlegt. »Ich frage dich, weil du mehr als jeder andere, den ich kenne, alles gehabt hast. Du hattest eine große Liebe, und dann hattest du, na ja, wie immer du die anderen Frauen nennen willst, mit denen du geschlafen hast. Ich möchte einfach wis-
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sen, wie man den Richtigen findet. Den Menschen, der für einen bestimmt ist.« »Weißt du, Schatz, viele Leute glauben, es gibt nicht nur einen Menschen, mit dem du glücklich sein kannst …« Bonnie seufzt. »Ich weiß. Aber zu denen gehöre ich nicht. Danke fürs Reden darüber, Gae. Es hat echt geholfen.« »Wirklich?« »Na ja, du hast zugehört. Du hast mir geholfen, was zu kapieren, mich an etwas erinnert, das ich schon wusste.« »Und was ist das, Bon?« »Ich will keinen Sex haben, ohne zu versuchen, dabei ein Baby zu machen. Und ich will kein Baby mit irgendjemandem machen. Es muss der Richtige sein. Sonst klappt es nicht. Das weiß ich.« Sie steht auf und reckt sich und inspiziert Mausstadt. »Okay. Kümmern wir uns um die Kleinen hier.« »Was machen wir mit ihnen?« »Zuerst geben wir ihnen Namen.« Sie konsultiert ein kleines Notizheft auf ihrem Arbeitstisch. »Ich wechsle ab mit dem Geschlecht, weißt du, wie bei Hurricanes. Im Moment brauchen wir einen Jungsnamen, der mit M anfängt.« »Okay.« »Dann bringen wir sie zur Schlucht und lassen sie raus. Da gibt es viele Stellen, wo sie sich verkriechen können und nicht so schnell von Raubtieren entdeckt werden.« Gaelan denkt daran, seine Schwester zu fragen, woher sie weiß, dass sie nicht immer wieder dieselben Mäuse fängt, überlegt es sich aber anders. Er ist sicher, dass es für Bonnie keinen Unterschied machen würde. Sie gehen, ohne sich zu verabschieden. Bestimmt haben sie vergessen, dass er hier ist. Er ist nicht beleidigt, so etwas passiert dauernd. Nach Blind Toms Erfahrung halten sich Menschen in Gegenwart von jemandem, der nicht sehen kann, oft nicht nur für unsichtbar, sondern
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auch für unhörbar. Das verschafft ihm Zugang zu allen möglichen nützlichen Informationen. Das mittlere C ist repariert und an der Klaviatur befestigt. Er ist fast fertig. Ehe er geht, holt er ein eingepacktes Geschenk und stellt es in Bonnies Hälfte des Gebäudes. Er hofft, dass es ihr gefällt. In Consumer Reports steht, der Vita-Mix 5000 (mit seinen 1380 Watt, dem Zwei-Liter-Glasbehälter und sieben Jahren Garantie) werde von seinen Benutzern überschwänglich gelobt. Wer täglich einen Mixer verwende - besonders für schwierige Aufgaben -, müsse sich diesen zulegen. Er pulverisiere ganze Früchte und Gemüse, verwandle Eis sekundenschnell in Schnee, zermahle Weizenflocken zu Mehl, und seine Messer drehten sich rasch genug, um in etwa fünf Minuten aus Zutaten mit Raumtemperatur eine heiße Suppe zu machen - all das findet Blind Tom enorm beruhigend, denn es gibt ihm guten Grund zur Annahme, dass die Tage von Bonnies lautem Gerüttel endlich vorbei sein werden. Viney hat den ganzen Tag auf diesen Moment gewartet. Vor Wochen schon hat sie Wellys Schuhkartons aus seinem Haus geholt und auf seiner Seite des begehbaren Kleiderschranks angeordnet: Kartons mit Schuhen darin zu einem Stapel, Kartons mit Alkoholischem zu einem zweiten. Jetzt sitzt Viney in diesem Schrank auf dem Boden. Sie schließt die Augen, greift in einen der Schnapskartons und zieht zwei Flaschen heraus: Bailey’s Irish Cream und Kaluha. Von ihrer Seite des Schranks nimmt sie eine Schachtel aus der Stofftasche, wo sie den letzten Monat über versteckt war. Auf dem Anhänger steht: Für Welly mit all meiner Liebe, V. Sie öffnet den Karton. Darin ist ein neues Paar Golfschuhe. Sie waren teuer, aber er hat sie gebraucht. »Frohe Weihnachten, Schatz«, sagt sie und hebt die Flasche. »Auf uns!«
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Hopes Tagebuch, 1968 Die Zensurhauptstadt der Welt Ich bin heute die Treppe runtergefallen. Nicht ganz, Gott sei Dank, nur die untersten Stufen. Vorher hatte ich den Kindern vorgelesen und sie zu einem Mittagsschläfchen hingelegt. Es lag sicher nicht nur an dem Glas Wein, das ich mir eingoss, nachdem wir aus der Bibliothek zurück waren (wieder eine Reise nach Italien!). Ich ging zu schnell und trug hochhackige Schuhe, die mir die Zehen einquetschten. Außerdem war ich abgelenkt und verärgert. Eine üble Kombination. Jetzt ist es später Nachmittag. Warte auf L., um mit ihm zu essen und ihm meine Prellung vorzuführen. Inzwischen sind wir hinten auf der Veranda; Larken und Gaelan spielen im Sandkasten, und Mommy hält sich eine Packung Tiefkühlgemüse an die Hüfte. Ich kann nicht fassen, dass ich mich für die Ziege tatsächlich aufgetakelt hatte. Nicht nur mit hohen Schuhen, sondern auch mit Rock und Bluse und sogar Haarspray und Make-up. Begann den Tag mit großen Hoffnungen. Als ich L. von meinem Plan erzählte, sagte er: »Vielleicht überlegst du dir das noch mal.« »Was meinst du damit?« »Denk nach, Hope. Es hat seinen Grund, dass der Bibliotheksbestand ein bisschen …« »Archaisch?« »Konservativ ist.« Ich lachte. »Es wäre schön, wenn die Einwohner von Emlyn Springs die Möglichkeit hätten, etwas zu lesen, das im 20. Jahrhundert geschrieben wurde.« »Sei nicht sarkastisch. Damit machst du dir keine Freunde.« »Ich mache mir eh keine Freunde«, erinnerte ich ihn. »Außer Viney.« 412
L. zuckte die Achseln. »Viel Glück.« Also verstaute ich mit dem Gefühl, der Weihnachtsmann (auf Stöckelschuhen) zu sein, gleich heute Morgen die Bücher und die Kinder im Wagen und fuhr in die Stadt. Ich wollte Larken und Gaelan in der Kinderecke beschäftigt wissen, bevor ich mit der Bibliothekarin sprach, daher stattete ich sie mit Viewmastern aus. Wenn sie auf dem Boden sitzen und sich diese übergroßen, sperrigen Geräte an die Augen halten, sehen sie aus wie dralle exotische Käfer. Sie lieben die Sammlung »Wunder dieser Welt«: Larken gefallen besonders die architektonischen (Notre Dame, Parthenon usw.), während Gaelan die der Naturbilder bevorzugt. Ich nahm meinen Bücherkarton, schwankte auf den Schalter zu und begrüßte Mrs. Burchett mit den Worten: »Ich möchte etwas spenden.« Sie spähte über den Karton hinweg. »Wie nett«, antwortete sie. Myrtle Burchett ist sogar für eine Bibliothekarin ein Ausbund an Verklemmtheit. Schwer zu glauben, dass sie verheiratet ist und Kinder hat. Ich setzte nach. »Ich dachte, Sie hätten vielleicht gern ein paar neuere Titel.« »Danke.« In der nächsten Stunde oder so schauten die Kinder und ich durch den Viewmaster, setzten hölzerne Puzzles zusammen, lasen. Ich fand einige reizende Bilderbücher und eine Sammlung amerikanischer Volksmärchen für sie und für mich die »Geschichte von Emlyn Springs«, verfasst und selbst verlegt von Hazel Williams, und eine Anleitung für die Zucht exotischer Hühner. Wird langsam Zeit, dass ich erfahre, was es bedeutet, in der ehemaligen Welthauptstadt der ausgefallensten Eiersorten zu leben. Gegen Mittag wurden die Kinder allmählich hungrig, und wir trugen unsere Auswahl zum Schalter. Mein Karton stand immer noch da. Der Inhalt war offenkundig untersucht worden; die Bü413
cher lagen mit dem Rücken nach oben und nach Autoren geordnet darin. Mrs. Burchett fing an, mit grimmiger Entschlossenheit, als versähe sie Rinder mit Brandmälern, Rückgabedaten zu stempeln. »Ich fürchte, die können wir nicht gebrauchen«, sagte sie und schob mir meinen Karton zu, als enthielte er totgefahrene Tiere. »Was ist los, Mommy?«, fragte Gaelan. »Nichts, Schätzchen. Hier sind deine Bücher.« »Lass uns gehen«, sagte Larken und zerrte an meiner Hand. »Gleich, Liebling.« Ich wandte mich Mrs. Burchett zu und ertappte sie bei einem mitleidigen Blick auf die Kinder. Das gab den Ausschlag. »Könnten Sie mir Ihre Einwände nennen?« »Na ja, dieser Gedichtband zum Beispiel. Es ist doch klar, dass wir den nicht nehmen können.« »Mir nicht.« Ich schwöre, dass ich versuchte, einen höflichen Ton beizubehalten. Mrs. Burchett biss die Zähne zusammen und klappte das Buch auf. »Der Titel hier«, wisperte sie und zeigte darauf. »Dieses Wort. Sie verstehen doch sicher, was daran unpassend ist.« Dann stapelte sie andere Bücher auf einem kleinen Rollwagen. »Kann ich die haben?« Larken hatte in meiner Jackentasche gekramt und Pfefferminzpastillen gefunden. »Ja. Teil sie dir mit deinem Bruder.« Mrs. Burchett sah hoch. »Es ist nicht erlaubt, in der Bibliothek …«, setzte sie an, hielt dann jedoch inne. Sie musste beschlossen haben, eine Ausnahme zu machen für meine armen Lieblinge, weil sie von einer Frau erzogen werden, die das Wort »masturbieren« kennt. Dann kam Mrs. Burchett mit dem Bücherwagen hinter dem Schalter hervorgesegelt. »Was ist mit dem hier?«, fragte ich und rannte ihr mit Harper Lee in der Hand hinterher. »Das hat der Bibliotheksvorstand schon überprüft. Es geht um ein strittiges Thema.« 414
Ich erinnerte sie daran, dass »Wer die Nachtigall stört« den Pulitzer-Preis gewonnen hat, doch sie ging weiter, bis wir schließlich in der riesigen Kitschromane-Abteilung landeten. Ich verbrachte ein paar Minuten damit, sie durcheinanderzubringen. Larken kriegte einen Tobsuchtsanfall. Gaelan pinkelte auf den Fußboden. Ich schnappte mir meinen Karton mit den zensierten Büchern, und wir rauschten ab. Zu Hause warteten Mittagessen und Paul-Bunyan-Geschichten und ein Nickerchen auf sie und ein Glas Wein und ein Treppensturz auf mich. Zurück zu meiner Prellung: Sie ist spektakulär. So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich betrachte die fantastisch marmorierten lila Flecken mit Ehrfurcht und verspüre das perverse Verlangen, den Vorfall noch einmal in Zeitlupe zu erleben. Der Ablauf meines Sturzes muss faszinierend gewesen sein, die Bewegung meiner Gliedmaßen Stoff für ein ganzes Universitätsseminar geboten haben. Das Atmen tut weh - ich bin einen Teil der Strecke auf der Seite abgerutscht, sodass mir die Holzstufen in die Rippen hämmerten -, aber ich glaube nicht, dass etwas gebrochen ist, und der einzige blaue Fleck ist der auf meinem Bein. In Zukunft werde ich mich vernünftiger benehmen, wenn ich schon unvernünftige Schuhe trage. Muss Schluss machen. Die Kinder wollen mit mir spielen.
19 Der Wächter verlässt seinen Posten Das Taxi kommt nicht, eine Bestätigung von Larkens chronischer Angst, jemand anderem die Verantwortung für ihre Fortbewegung zu übertragen, und überdies ein schlechtes Omen: Wenn ein Taxifahrer unzuverlässig ist, wie kann sie dann unbeschwertes,
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enthusiastisches Vertrauen zum Piloten eines transkontinentalen Fluges haben? Sie schleicht nach oben und klopft an die Tür. Jon macht auf. Sie weiß nicht genau, welche Nachtbekleidung sie bei ihm erwartet hat - Unterhosen und T-Shirt vielleicht -, einen karierten Flanellpyjama jedenfalls nicht. Er sieht - wie beunruhigend! - zum Anbeißen aus. »Entschuldige«, flüstert Larken. »Tut mir wirklich leid.« »Was?«, fragt Jon. »Was ist los?« »Es ist spät, ich meine, es ist früh, aber mein Taxi ist noch nicht da, und ich müsste in …«, sie schaut auf ihre Armbanduhr, »… vor einer Viertelstunde am Flughafen sein.« »Du hast dem Fahrer die falsche Adresse gegeben, oder?«, neckt Jon. Larken überlegt. Die Möglichkeit ist nicht auszuschließen. »Ich glaube nicht. Jedenfalls, tut mir leid, aber könntest du mich fahren?« »Natürlich.« Sie wartet auf der Schwelle, während er in die Wohnung zurückschlurft - auf karierten Pantoffeln! - und sich einen Morgenmantel über den Pyjama zieht, einen von diesen altmodischen, die aussehen, als wären sie aus einer Wolldecke genäht. Dann ergänzt er das Ensemble um eine Kaschmirjacke, schlüpft in Schneestiefel aus Pelzimitat und stülpt sich eine Strickmütze über den Kopf. Er kritzelt eine Notiz auf einen Zettel und legt ihn auf den Küchentisch. Erst nachdem er seine Handschuhe angezogen hat, wendet er sich zu ihr um. »Sollen wir?«, fragt er. Sein Gesicht - der einzige nicht verhüllte Teil seiner Anatomie - ist stellenweise gerötet, voll und glatt und erinnert sie an eine reife Nektarine. Er sieht auf einmal sehr wach aus, aber schließlich ist er ja auch der Morgenmensch von ihnen beiden. »Klar«, erwidert Larken. »Macht es dir was aus zu fahren?«
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Ein Schniefen ertönt; die beiden drehen sich um und sehen, wie Esmé halb schlafend und in ihre Decke gewickelt aus ihrem Zimmer getappt kommt, ihren Orca an einer abgewetzten Flosse haltend. Schläfrig beäugt sie Jon und Larken. »Rauf«, sagt sie, lässt Decke und Orca zu Boden gleiten und streckt die Arme aus. »Oh nein«, seufzt Jon. »Jetzt kriege ich sie nicht mehr ins Bett.« »Rauf«, murmelt Esmé erneut, während Arme und Kopf und Lider herabsinken. »Wir können sie doch mitnehmen«, sagt Larken und hebt Esmé hoch. »Ich trage ihren Kindersitz, wenn du mein Gepäck nimmst.« »Okay, ich erzähle Mia nur kurz, was los ist.« Larken hievt sich Esmé auf eine Hüfte, greift nach der Decke, wickelt sie um die Kleine, packt den Autositz und läuft die Treppe hinunter und ins Freie. »Es ist dunkel«, sagt Esmé, während Larken mit ihr auf die Rückbank klettert und sie festschnallt. »Wohin fahren wir?« »Du und Daddy, ihr bringt mich zum Flughafen.« »Warum?« »Ich mache eine Reise, weißt du noch? Ich habe dir davon erzählt.« »Dauernd verabschiedest du dich von mir, Larkie.« »Ich weiß, dass es dir so vorkommen muss, und es tut mir leid.« »Und warum verreist du?« »Weil ich einem Freund ein Versprechen gegeben habe.« »Aber mir hast du auch versprochen, zu meiner Geburtstagsparty zu kommen.« »Ich weiß, Mäuschen. Aber mein Freund ist sehr krank und braucht meine Hilfe.« Esmé grübelt eine Weile darüber nach. Dann packt sie eine Strähne ihrer wehenden Haare und fängt an, sie zu zwirbeln.
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»Du weißt, dass ich dich sehr lieb habe«, fährt Larken fort, »und dass es mir sehr, sehr leidtut, deine Party zu verpassen.« »Du fliegst dahin, wo Daddy geboren wurde.« »Genau. Ich fliege nach England.« »Warte, warte! Wo ist Grentha?« »Hier ist sie«, sagt Jon, der neben Larken aufgetaucht ist, und reicht Esmé ihren Orca. »Und hier sind eine Mütze und Pantoffeln gegen kalte Zehen.« Esmé lässt sich Schuhe und Mütze überstreifen. »Larkee fährt nach England, Dad«, sagt sie. »Das stimmt.« »Und weißt du was?«, fügt Larken hinzu und gibt Esmé einen Kuss. »Ich kann dir jeden Tag eine E-Mail schreiben, während ich weg bin.« »Okay.« Larken setzt sich nach vorn neben Jon, er dreht die Heizung auf, und sie fahren los. Nach ein paar Blocks schaut Larken über ihre Schulter. »Sie schläft.« »Erinnerst du dich, wie wir sie stundenlang rumfahren mussten, damit sie ein Nickerchen machte?« Larken lacht. »Und dann wachte sie genau in der Minute auf, in der wir sie ins Haus trugen.« Jon lächelt, doch er wirkt matt, melancholisch. »Hat ihr das Geschenk gefallen?« »Oh mein Gott, Larken, es war fantastisch. Sie hat den ganzen Tag mit den Puppen gespielt, sich kleine Dramen ausgedacht. Deinetwegen wird sie noch mit dreißig an den Weihnachtsmann glauben.« Hoffentlich, denkt Larken. Sie dreht sich um. Esmé schnarcht jetzt ein wenig. Eine ihrer Hände liegt auf dem Kissen neben ihrem Ohrläppchen, das sie im Schlaf reibt. Das hat sie immer schon getan: Es ist eine unbewusste Geste, die sie als Baby für
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sich entdeckt hat und die sie unfehlbar beruhigt, wenn sie müde oder verängstigt ist. Während Larken sie weiter betrachtet, erinnert sie sich an eine andere Gewohnheit Esmés, bevor sie anfing zu sprechen. Sie bestand darin, dass ihre Augen plötzlich einen entrückten Ausdruck annahmen; dann führte sie ihre gewölbte Hand ans Ohr und begann mit einer langsamen, kontrollierten Geste seinen Umriss in der Luft nachzuzeichnen. Als Larken und Jon das zum ersten Mal sahen, waren sie in Larkens Apartment; Esmé saß in ihrem Hochstuhl, und Jon versuchte, sie mit einem Kürbis-Avocado-Püree zu füttern. Ihre Konzentration war vollkommen und tief, absolut faszinierend. Als ob sie ein Radio einstellt, flüsterte Jon, die richtige Frequenz sucht. Larken nickte und erwiderte, ebenfalls flüsternd: Als ob sie ein Signal aus dem Weltraum empfängt. Irgendwann kamen sie auf die passende Beschreibung: Esmé telefoniert mit den Engeln. Es stimmt, dass nach 9/11 eine landesweite Periode der Trauer einsetzte und der Vorfall bei vielen Amerikanern eine lähmende Angst vorm Fliegen auslöste - Trauer und Angst sind oft emotionale Zwillinge -, aber Professor Jones’ Krankheitsgeschichte ist wesentlich älter. In ihrer Jugend flog sie selten. Es gab gelegentliche Familienausflüge zu Footballspielen - nach Florida, Kalifornien, Texas und einige Besuche bei Verwandten, die für eine Autofahrt zu weit entfernt lebten. Sie waren so ereignislos, dass sie sich nicht an sie erinnert. Nach 1978 jedoch fing sie an, Albträume zu haben, alle Variationen eines einzigen Themas: Sie wurde aus seltsamen gewölbten Raumschiffen abgeworfen, die der Überwachung der Tornado Alley dienten - die Außerirdischen wollten sie nicht an Bord haben! -, stürzte an einem nicht funktionierenden Fallschirm vom 419
Himmel, wurde aus gigantischen Raubvogelkrallen fallen gelassen oder vom Eiffelturm oder vom Empire State Building geweht. Larkens Angst schlich sich unbemerkt an wie ein Passagier, der heimlich neben dir Platz nimmt, während du schläfst: Eben war er noch nicht da, dann sitzt er dort, viel zu nahe, atmet dir ins Ohr und ist sogar so dreist, seinen Kopf auf deine Schulter zu legen. Da sie und ihre Familie, nachdem Hope in die Luft geflogen war, nicht mehr weiter reisten als bis nach Omaha (sie wagten es nicht, denn sie alle hatten das unausgesprochene Gefühl, sie könnte doch noch auftauchen und nach ihnen suchen), äußerte sich Larkens Zustand zunächst nicht, wie eine genetische Präposition, die erst Jahrzehnte nach der Geburt zutage tritt. Nicht einmal ihr selbst war bewusst, wie sich aus Erfahrung und Träumen ihre Flugangst herausbildete - bis sie sich im zweiten College-Jahr zu einer Reise in den Winterferien anmeldete. Arthur organisierte und beaufsichtigte diese Reise als Fachbereichsvorsitzender. Eloise flog ebenfalls mit - auch damals schon unternahmen sie alles gemeinsam. Es begann, als die Motoren kurz vor dem Abheben auf Touren kamen. Larkens Handflächen wurden schweißnass, ihr Atem ging schneller. »Das ist echt dein erster Flug?«, fragte der Junge, der neben ihr saß, ein Kommilitone, dessen Eltern mit ihm nach Europa gereist waren, seit er zehn war. Er hatte alle Gemälde, die sie sich anschauen wollten, schon mindestens dreimal gesehen. Larken schwärmte ein bisschen für ihn. Sie konnte nicht antworten. Irgendetwas stimmte nicht mit ihrer Lunge. »Larken?«, wiederholte er. Dann drückte er auf einen Knopf über seinem Sitz, und eine Stewardess eilte herbei. »Was gibt’s? Wir starten gleich.« Larken erkannte in ihrem Gesicht das Ausmaß ihrer Krankheit, so wie einem tödlich verwundeten Soldaten erst klar wird, dass seine Eingeweide auf dem
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Schlachtfeld verstreut sind, wenn er einem Kameraden in die Augen sieht. Sie merkte auch, dass andere Passagiere sie anstarrten. Ist ein Arzt an Bord?, hätte Larken am liebsten geschrien, aber ihre Atemnot erlaubte ihr nicht zu sprechen. Es war keiner da. Sie mussten auf der Rollbahn stehen bleiben, die Motoren wurden abgestellt. Eloise und Arthur retteten sie. Sie setzten sich neben sie Arthur auf den Fensterplatz, Eloise in die Mitte. Eloise hielt Larken die Hand, gab ihr ein Valium und zeigte ihr, wie sie mit Hilfe einer Spucktüte ein- und ausatmen konnte. Derart sediert, schaffte sie es dieses eine und einzige Mal bis nach Europa, wo sie die herrlichen Gemälde, nach deren Anblick sie sich so gesehnt hatte, kaum genießen konnte, weil sie die ganze Zeit über den unausweichlichen Schrecken des Rückflugs fürchtete. Ein französischer Arzt verschrieb ihr dafür ein starkes Beruhigungsmittel, das sie in die Lage versetzte, die ganze Strecke über zu schlafen. Sie flog nie wieder. Bisher ist das eigentlich nie ein Problem gewesen. Es stimmt, Professor Jones’ Flugangst hat sie vielleicht davon abgehalten, die Egozentrik der öffentlichen Präsenz zu kultivieren, die vielen Akademikern so wichtig ist: die Teilnahme an diversen Konferenzen sowohl in den Staaten als auch im Ausland, die Mitarbeit in Gremien, die Präsentation von Vorträgen. Was soll’s? Das ist nicht Larkens Stil. Überdies hält sie zu Hause genügend Pflichtschwätzchen. Sie muss nicht um die halbe Welt fliegen, um mit Kollegen Cocktails zu trinken. Sie stehen am Bordstein, und Jon ermahnt sie, sich regelmäßig zu melden. »Ich erwarte tägliche E-Mail-Berichte.« »Soll ich dir irgendwas aus der Heimat mitbringen?«, fragt Larken, die Zeit ignorierend, alles ignorierend außer dem Film, der sich in ihrem Kopf abspult und auf einer realen Tragödie basiert, die vom Absturz eines Jets handelt, der College-Studenten und -Professoren der Universität von Nebraska an Bord hat, die 421
in England die Bilder von Turner und Constable und die Werke der Präraffaeliten studieren wollen. Es gibt keine Überlebenden. »Ein Glas Marmite? Eine Geschenkpackung Biskuits und Käse? Tony Blairs Kopf auf einer Silberplatte?« Jon lacht und küsst sie auf die Wange. »Bring einfach dich selbst mit, Larken. Gute Reise.« Larken wirft einen letzten Blick auf Esmé - dralle, gerötete Wangen, feuchte Haarsträhnen auf der Stirn -, dann eilt sie ins Flughafengebäude. Obwohl der Lincoln Municipal Airport klein und ihr Flug um diese Zeit der einzige ist, hat Larken in ihrer offiziellen Rolle als Gruppenleiterin darauf bestanden, dass die Studenten KEINESFALLS SPÄTER ALS UM VIERTEL VOR FÜNF hier sind. Als sie ihr Gepäck um halb sechs in die Halle zieht und feststellt, dass sie nicht nur vollständig versammelt sind, sondern bereits eingecheckt haben und vor den Fahrstühlen auf sie warten, fühlt sie sich beschissen. Zum Glück bemerkt sie zunächst keiner. Die jungen Leute die im Koma wären, wenn sie so früh zum Unterricht gebeten würden - sind mit sich selbst beschäftigt und munter und unterhalten sich angeregt und unbekümmert, wie es für CollegeStudenten vor einer Ferienreise typisch ist. Ein paar ältere Erwachsene schleichen um die Gruppe herum, vermutlich Eltern. Ihr Gesichtsausdruck verrät alles über die Beziehung zu ihren Kindern, für die sie momentan so gut wie unsichtbar und höchst entbehrlich sind. Mirabella Piacenti, die einzige weitere Angehörige des Lehrkörpers, die mitreist, steht zwischen den Studenten, lachend, redend, hoch gewachsen, gelassen. Sie vermittelt den Eindruck, zu ihnen zu gehören und sich doch von ihnen abzuheben. Das ist eine Fähigkeit, die Larken abgeht. Larken huscht auf den Schalter zu in der Hoffnung, wenigstens so lange unbemerkt zu bleiben, bis sie ihre Bordkarte hat. Aber plötzlich dreht sich Misty Ariel Kroeger um und funkelt sie an 422
wie ein Gefängniswärter, der durch das Zielfernrohr eines Gewehrs einen fliehenden Häftling ins Auge fasst. Sie starrt Larken länger an als nötig, dann flüstert sie Mirabella etwas zu - die aufschaut und Larken quer durch die Halle königinnenhaft zuwinkt. Larken erwidert das Winken. »Tut mir leid, dass ich so spät komme!«, ruft sie und bedauert es umgehend. Entschuldige dich nie, niemals in Gegenwart von Studenten. Doch ihre Position ist schon geschwächt, der falsche Ton bereits angeschlagen. Mirabella war rechtzeitig hier - die Gute, Zuverlässige -, Larken dagegen unpünktlich. Zu blöd. Sie wird sich wahnsinnig anstrengen müssen, um ihre Autorität zurückzugewinnen. Sie zeigt auf den Check-in-Schalter. Mirabella nickt und lächelt und wendet sich dann wieder den Studenten zu. Sie wirkt erstaunlich frisch, als wäre es selbstverständlich für sie, um vier Uhr morgens aufzustehen. Wer weiß? Ebenso wie ihre Kollegen dafür sorgt Larken - so gut wie nichts über ihr Privatleben wissen, weiß sie so gut wie nichts über deren Privatleben. Hoffentlich erwartet Mirabella nicht, dass sie sich auf dieser Reise anfreunden. Außer den Flug zu überleben, wünscht sich Larken nichts weiter, als für Arthur den Unterricht zu übernehmen, die Tate zu besuchen und es sich mit dem erstbesten Schundroman, der ihr auf dem Flughafen ins Auge fällt, gemütlich zu machen. »Eine Ihrer Taschen hat Übergewicht«, teilt ihr der Schalterbeamte mit, nachdem Larken ihm ihr Ticket gezeigt hat. »Wie bitte?« »Die Grenze liegt bei dreiundzwanzig Kilo pro Gepäckstück. Diese Tasche wiegt fünfundzwanzig. Sie können entweder einen Aufschlag bezahlen oder umpacken.« »Umpacken?« Die Vorstellung ist grauenhaft. Larken hat ewig gebraucht, um sich zu entscheiden, was sie mitnehmen soll, und ist sich immer noch nicht sicher, ob sie alles dabei hat, was sie benötigen wird. »Ich zahle den Aufschlag«, seufzt sie. »Wie viel?« 423
»Fünfundzwanzig Dollar.« »Hier ist Ihre Bordkarte, Miss Jones«, sagt der Beamte, nachdem er das Geld von Larken entgegengenommen hat. »Gate drei im Obergeschoss.« »Also dann, alle nach oben!«, hört Larken Mirabella verkünden, und die Menge stürzt sich auf die Fahrstühle. Mirabella bleibt zurück und teilt sich mit Larken einen Aufzug. »Guten Morgen«, sagt sie. »Hart, so früh aufzustehen, oder?« Larken irritieren sehr schöne und gut gewachsene Frauen, die dazu auch noch freundlich sind. »Danke, dass Sie schon mit den Studenten eingecheckt haben.« »Es wird bestimmt eine großartige Reise. Ich freue mich sehr darauf.« Als sie sich der Sicherheitskontrolle nähern, hält sich Larken an die Studenten. Sie beobachtet, wie sie ihre Mäntel ausziehen, Laptops aus Koffern holen, Schlüssel und Handys und Kleingeld in eine Plastikschale legen, Accessoires abnehmen, die Alarm auslösen könnten: Ohrringe, Nasenringe, Bauchnabelringe, Armbänder mit Metallnieten. Nichts piept oder klingelt oder heult. Vielleicht ist das Fliegen nach 9/11 nicht so schrecklich, wie sie dachte. Aber als sie durchgeht, ertönt ein Signal. Sofort sind die Blicke aller auf sie gerichtet. Sie wird nach dem Inhalt ihrer Taschen gefragt. »Ich glaube, sie sind leer«, murmelt sie, stülpt sie jedoch trotzdem um, um sich zu vergewissern: Fusseln, zerknüllte Servietten, ein Kartenabschnitt von Terminator 3,Bonbonpapiere. Sie probiert es noch einmal, und erneut ertönt ein aufdringliches Piepsen. Man bittet sie auf die Seite und erklärt ihr, sie müsse gescannt werden. »Hier draußen?«, fragt sie entsetzt. »Vor allen Leuten?« Sie wird angewiesen, ihre Füße hochzuheben und die Arme auszustrecken. So muss es sich angefühlt haben, am Pranger zu stehen.
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Mirabella passiert die Kontrolle derweilen lautlos und mit Würde. Als erfahrene Überseereisende - so viel weiß Larken über Professor Piacenti: Sie hat ein Haus in der Toskana, wohin sie jeden Sommer mit ihrem Ehemann, Juraprofessor, und ihren beiden Kindern fährt - trägt sie italienische Lederstiefel und ein fließendes Ensemble in Braungrau, ergänzt durch einen Seidenschal. Larken vermutet, dass es zu einer wohlkoordinierten Garderobe gehört, einer Kollektion von Einzelstücken aus nicht knitternden, leichten Stoffen, die sich im Nu neu kombinieren lassen und es der modebewussten Globetrotterin erlauben, beschwingt und elegant von einem Tag im Museum zu einem Abend im Restaurant und im Theater überzugehen, und das mit Hilfe eines einzigen kompakten Koffers. Larken hat ein Reisebügeleisen mitgenommen. »Wiedersehen, Mom!«, hört sie ein Mädchen rufen, und das setzt ein Hin-und-Her-Verabschieden zwischen den Studenten und ihren Eltern in Gang. Tschüss, Dad! Tschüss, Schatz! Ich hab dich lieb! Ich dich auch! Ruf uns an, wenn du da bist, okay? Pass auf dich auf! Viel Spaß! Schreib uns eine Postkarte! Wir werden dich vermissen! Guten Flug! Tschüss! Tschüss! Tschüss! Larken wird zurückgeschickt ans Ende der Schlange und passiert schließlich, ohne MBTs, die Kontrolle. »Darf ich mich woanders hinsetzen?«, fragt Larken die Flugbegleiterin, die fix und fertig aussieht und bestimmt über fünfzig ist. Larken vermutet, dass sie dieser Tätigkeit schon nachging, als Flugbegleiterinnen noch Stewardessen hießen. Ihr Körper scheint sich im Laufe der Zeit ihrer Umgebung immer besser angepasst zu haben, ihr Hinterteil ist inzwischen genauso breit wie der Gang. »Ich kann nicht in der Mitte sitzen«, sagt Larken, ihre Stimme zu einem Flüstern gesenkt. »Ich werde klaustrophobisch. Ich habe … Flugangst.« 425
»Sie werden Geduld haben müssen, Ma’am«, erwidert die Flugbegleiterin. Sie ist ein wenig außer Atem, und ihr entschlossen freundlicher Ton hebt ihren offenkundigen Ärger nur noch deutlicher hervor. »Erst müssen alle eingestiegen sein.« »Ich tausche mit Ihnen, Professor Jones«, bietet Drew an. »Das ist sehr nett von ihnen, Mr. McNeely.« Am Gang zu sitzen müsste eigentlich helfen, doch nachdem sie sich angeschnallt hat, verspürt Larken ein Kribbeln, das in ihren Fußsohlen anfängt und rasch metastasiert. Es ist, als wäre ein Impfstoff, der Millionen von Rennmäusen enthält, in ihr Nervensystem geschossen worden. Sie rasen die Meridiane ihres Rückgrats, ihrer Arme und Beine entlang und sammeln sich en masse in der Nähe ihres Kreuzbeins zu einem wirbelnden Tumult animalischer Energie, huschen mit ihren winzigen knöchernen und krallenbewehrten Füßen über die glitschigen Oberflächen ihrer Eingeweide. »Geht es Ihnen gut, Larken?« Das ist Mirabella, jenseits des Gangs, mit ihrer samtigen, mütterlichen Stimme und ihrem italienischen Akzent. Stinksauer, schon während es geschieht, beginnt Larken zu hyperventilieren. Sie fühlt, wie ihr Tränen aus den Augen rinnen, als sie Mirabellas Hand packt. »Larken?«, wiederholt Mirabella mit besorgter Miene. Larken versucht zu sprechen, aber vergeblich. Es ist einfach billig, in den USA Ausländerin zu sein. Alle lieben dich, was du auch tust. Die Studenten sind fasziniert von deiner Exotik. Im Beruf wirst du mit einer ordentlichen Professur belohnt, und Kollegen brechen unter deinen mitfühlenden Blicken zusammen. Larken spürt einen Arm bewusst, der sich um ihre Taille schlingt und ihren Rücken stützt und sie hochhebt. Sie lässt sich den Gang entlangsteuern und nimmt vage zur Kenntnis, dass alle anderen auf ihren Plätzen sitzen und sie anstarren.
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»Keine Angst«, sagt Mirabella leise, »sie werden denken, dass wir uns bloß frischmachen wollen.« Unterwegs bleiben sie einen Moment stehen, Larken hört, wie Mirabella eine der Flugbegleiterinnen flüsternd bittet zu prüfen, ob sich auf der Passagierliste ein Doktor befindet. »Halten Sie durch, okay?«, murmelt Mirabella. »Versuchen Sie, langsamer zu atmen.« Nachdem Larken zu einem anderen Sitz geführt worden ist, drückt ihr jemand ein feuchtes Papiertuch auf die Stirn. Sie rasen immer noch in ihr herum. Larken stellt sich ihren Brustkorb als einen gigantischen Spielplatz für Rennmäuse vor, ihr Herz als eins von diesen Maschendrahtgerüsten, die sie in Tiergeschäften gesehen hat, ihre Wirbelsäule und ihre Rippen als Rennmauskletterstangen, ihr Zwerchfell als Rennmaustrampolin, ihre Lunge als zwei große, aufblasbare Kammern, gefüllt mit abertausenden Kugeln, in die die Rennmäuse hineinspringen, immer wieder, zwischen denen sie herumwaten, mit denen sie sich bewerfen - schlafen diese kleinen Mistkerle denn nie? »Larken? Larken«, ertönt Mirabellas Stimme. »Der Doktor ist hier.« Arzt, denkt Larken, meine Güte, begreift ihr das denn nie?, und dann folgt Gemurmel. Larken hat Probleme, sich darauf zu konzentrieren, doch als sie gefragt wird, ob sie mit einer Behandlung einverstanden ist, nickt sie und sagt so deutlich wie möglich: »Ja.« »Okay, dann spritze ich Ihnen Lorazepam«, sagt eine Frauenstimme. »Sie werden gleich einen kleinen Stich spüren.« Zeit verstreicht. Wie viel? »War’s das?«, ringt Larken sich ab. Sie hat nichts gefühlt. Sie hört Leute, die über ihrem Kopf leise miteinander sprechen und erörtern, so wird ihr klar, wie unter juristischen und medizinischen Aspekten mit einer Person mit schwerer Flugangst zu verfahren ist und ob sie an Bord eines Transatlantikflugs bleiben
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kann. Anscheinend kommt man zu dem einstimmigen Ergebnis, dass sie zu krank ist. Das Zufallen einer Tür lenkt ihre Aufmerksamkeit auf Misty Ariel Kroeger, die aus einem der Waschräume auftaucht. »Alles in Ordnung?«, fragt sie. Selbst in ihrem pharmazeutisch beeinflussten Zustand fällt es Larken nicht schwer, die starke Veränderung der Farbe von Mistys Aura zu erkennen: Aus einem faden, wässrigen Hellgrau ist ein dickes Impasto geworden, braun wie Hundekacke. »Alles bestens, Misty«, sagt Mirabella. »Würden Sie der Gruppe bitte mitteilen, dass Professor Jones und ich noch etwas zu erledigen haben?« »Natürlich«, erwidert Misty lächelnd und stolziert davon. Noch mehr Gebrabbel. Auf Augenhöhe mit einem Konsortium von Taillen zu sein weckt in Larken die Vorstellung von sprechenden Bauchnabeln …umbilici? - Umbilikusse! -, und sie fängt an zu lachen. Doch dann rücken sie näher, engen sie ein. Können sie ihr nicht ein bisschen Platz lassen, Herrgott noch mal? Sie werden zu einer Wolke von Insekten, die ihr zudringlich, hartnäckig in die Ohren schwirren, und sie wedelt mit den Händen, um sie zu verscheuchen. Eins von ihnen beugt sich vor und flüstert: »Wir bringen Sie aus dem Flugzeug, Larken.« Einer dieser exotischen Erdkäfer aus Süditalien. »Das ist das Beste.« Verdammtes Viech. Larken schlägt danach. Ein rothaariger Erzengel Michael erscheint (Der Tag des Jüngsten Gerichts!), verkleidet als Flughafenangestellter. Mit neutralem Gesichtsausdruck schiebt er einen Rollstuhl vor sich her. Himmel oder Hölle?, würde sie gern fragen, aber die Rennmäuse haben sich in ihren Stimmbändern verfangen und schlafen. Als Larken umgesetzt und für Studenten und Kollegin gut sichtbar abtransportiert wird - ein dickes, schwer sediertes Tier un-
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terwegs zum Schlachthof(Hölle also) -, ist ihre Demütigung komplett. Der Wächter tritt aus seiner Position heraus auf den Betrachter zu, in den Vordergrund, auf den Platz, der sonst von zwei knienden Büßern - Nonne und Mönch - besetzt, jetzt aber frei ist. Wo sind sie?, fragt Larken sich. Sie sind nicht anderswo auf dem Gemälde, haben sich nicht in Josefs Tischlerwerkstatt eingeschlichen oder die Verkündigungsgesellschaft im Wohnzimmer der Jungfrau gestört. Sie sind nicht weit weg, das spürt sie, nur außer Sichtweite. Vielleicht sind sie tiefer in das Bild hineinspaziert, durch die schmale, offene Tür, wo normalerweise der Wächter steht. Vielleicht haben sie sich endlich von ihren Knien erhoben - die müssen sehr wehtun! - und den ummauerten Hof verlassen und sind in die Stadt gegangen, um sich Schuhe zu kaufen. Der Wächter erscheint im Vordergrund des Gemäldes. Wird er gleich heraustreten? Er hält seinen Strohhut an den Körper gedrückt. Zum ersten Mal bemerkt Larken die anatomisch anzügliche Position des Hutes, dessen winzige Ausbuchtung mitten in der Hutkrone dem vorgewölbten Bauchnabel einer Schwangeren ähnelt. Er sieht sie einen Moment lang an, mit demselben kummervollen, besorgten Ausdruck, den sein Gesicht seit 1420 hat. Will er verschwinden?, fragt sie sich erneut und verspürt Angst. Aber nein. Es muss doch eine Schranke zwischen seiner Welt und ihrer geben, die ihm den Zugang verwehrt. Er wendet sich ab und beginnt, die Treppe zu erklimmen, als hätte er vor, aus dem Rahmen zu steigen, von der linken Tafel des Triptychons in den mittleren Teil. Er geht weiter die Stufen hinauf, Stufen, die sie noch nie gesehen hat, von deren Vorhandensein sie bisher nichts ahnte, und das nach all den Jahren, in denen sie das Bild studiert hat. Wie ist das möglich? Vielleicht sind sie zwischen den Tafeln versteckt. Viel-
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leicht gibt es eine Geheimtür, welche die Tafeln miteinander verbindet! Was für eine Entdeckung wäre das! Und dann ist Larken der Wächter. Sie steigt auf schmiedeeisernen Stufen ohne sichtbare Träger empor. Sie scheinen ewig weiterzuführen, erst geradeaus, dann wie in einem Schneckenhaus, werden immer schmaler, je höher sie kommt. Endlich ist sie oben angelangt. Vor ihr ist eine Tür, eine schwere Holztür mit Metallscharnieren und einem Schloss. Sie hat Schlüssel in der Hand. Sie fängt an, sie auszuprobieren, einen nach dem anderen. Es sind sehr viele. Keiner passt. Und jetzt merkt sie, wie hoch oben sie ist, und sie bekommt Angst. Ein Flugzeug fliegt vorbei, gefährlich nahe, so nahe, dass Larken das Gesicht ihrer Mutter und ihres Vaters und ihr eigenes in den Fenstern sehen kann, und dann streift eine der Tragflächen ihre Treppe, und die Stützkonstruktion, die sie aufrecht gehalten hat, kracht zusammen, und sie fällt und fällt und versucht zu schreien. Mit holprig schlagendem Herzen wacht sie auf, und ihr Atem geht in panischen Stößen. Ist es Morgen? Hat sie wirklich einen ganzen Tag verschlafen? Ja. Wie spät ist es in England? Wen kümmert das? Wie spät ist es hier? Was spielt das für eine Rolle? Sie hat Winterferien. Sie fängt an zu husten: ein ausgewachsenes, unkontrollierbares Keuchen, das aus der Tiefe ihrer Lunge emporsteigt und den schleimig-metallischen Geschmack erzeugt, der darauf hindeutet, dass es zu spät ist für vorbeugende Maßnahmen. Sie hat Winterferien, und sie ist sterbenskrank. Über ihr hustet jemand mit derselben lungenzerreißenden Vehemenz. Vielleicht ist sie gar nicht zu Hause, sondern liegt auf der Tuberkulosestation des Lincoln General. Vielleicht träumt sie noch.
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Sie hievt sich auf die Beine, schlurft ins Bad, pinkelt und fegt dann den Inhalt ihres Arzneischränkchens in den Abfallkorb, damit sie die ganze Apotheke mit ins Bett nehmen kann. Es muss doch etwas dabei sein, das hilft. Nachdem sie Gaelan eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hat (Bin nicht geflogen, habe Grippe oder sowas Ähnliches, sag Viney und Bonnie Bescheid, ruf dich später an), lässt sie sich wieder aufs Bett fallen und verbringt weitere vierundzwanzig Stunden in einem nahezu komatösen Zustand, Opfer von Virusattacken und Scham. Nur gelegentlich wacht sie vom Geräusch ihres eigenen Hustens und dem darauf folgenden Echo ihres unidentifizierten Mitpatienten im Sanatorium für Schwindsüchtige auf. »Sie sind weg«, krächzt Jon. »Was meinst du damit?«, krächzt Larken zurück. »Du dürftest nicht allein sein. Jemand muss sich um dich kümmern.« Ihre Lunge fühlt sich immer noch schwarz und morastig an, aber wenigstens ist Larken ab und zu bei Bewusstsein und kann halbwegs aufrecht stehen und sprechen. »Sie sind gegangen, meine ich.« Auch Jon hat irgendeine Bronchialkatastrophe erwischt. Sie führen ein Telefongespräch, weil sich keiner von ihnen stark genug fühlt, die Treppe zu bewältigen. »Mia ist weg.« Er bekommt erneut einen Hustenanfall. »Was?« »Sie hat mich verlassen.« »Jon, was sagst du da?« Er gibt ein furchtbar schleimiges, nachdrückliches Husten von sich und verkündet dann: »Sie hat mich wegen einer Frau verlassen und Esmé mitgenommen.« »Oh nein! Nein!« »Ehrlich gesagt, lief es schon vor Weihnachten nicht besonders«, fährt Jon fort. »Ich wollte es dir eigentlich erzählen, dir aber auch nicht die Ferien verderben.« 431
»Jon …« »Ach, Scheiße. Ich wollte es nicht wahrhaben.« »Ich komm rauf …« »Bist du sicher? Kannst du das denn?« »Bin gleich oben.« »Ich setz den Kessel auf.« »Brauchst du was?« »Bourbon, wenn’s geht. Ich hab keinen mehr.« Also hievt sie sich aus dem Bett, schlängelt sich in ihren Bademantel und fängt an, sich die Treppe hochzuschleppen. Sie ist halb oben, als sie das Geräusch der aufgehenden Tür hört. Da steht Jon, schwach lächelnd, in Pyjama, Morgenmantel und Pantoffeln und wartet. Er sieht schrecklich aus: fahle Haut, die Augen tief eingesunken in schattige Krater. »Oh mein Gott«, murmelt er, und Larken wird klar, dass sie beide wohl ähnlich aussehen: zwei Komparsen in einem ZombieFilm. »Schaffst du es?« »Ja«, schnauft sie atemlos. »Gib mir noch eine halbe Stunde oder so.« Sie schleppt sich weiter auf ihn zu. »Hey«, sagt er verwundert, als wäre ihm eine plötzliche Erkenntnis gekommen. »Du solltest eigentlich in England sein.« »Aber ich bin hier.« »Alles in Ordnung?« »Abgesehen von einem kleinen Psychoseschub am Flughafen?«, keucht sie. »Stand es nicht in der Zeitung? Mir geht’s bestens.« Endlich ist sie angekommen. »Hallo«, sagt Jon. »Hallo.« »Ich erzähl dir meine Geschichte, wenn du mir deine erzählst.« »Abgemacht.« Sie gehen hinein. »Sei gegrüßt im Sanatorium«, sagt Jon. »Ich brühe den Tee auf.«
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Krankheit und schlechte Stimmung prägen Jons Wohnung ebenso wie ihre: Mit den zugezogenen Vorhängen und den heruntergelassenen Rollos wirkt alles düster und farblos und auf aggressive Weise unaufgeräumt; überall liegen zerknautschte Kissen und Decken herum, auf jedem Tisch steht schmutziges Geschirr, und die abgestandene Luft hat den typisch ranzigen, säuerlichen Geruch des Krankenzimmers. Der Weihnachtsbaum ist verdorrt, der Fernseher auf denselben Sender eingestellt wie Larkens ein Stockwerk tiefer. Sie folgt Jon in die Küche. Während er den Tee aufbrüht und sie Toast macht, fangen sie an, ihre Erfahrungen der letzten Tage auszutauschen. Als alles fertig ist, tragen sie es ins Wohnzimmer, setzen sich aufs Sofa, ergänzen den Earl Grey um großzügige Mengen Zitronensaft, Honig und Whiskey. »Es ist wirklich unfassbar«, sagt Jon. »Wir leben in einem der konservativsten Staaten der USA, und sie schafft es, die einzige Lesbe in ganz Nebraska aufzutreiben …« Jon trinkt einen Schluck von seinem Toddy, »… und es ist mir scheißegal, wie sexistisch und/oder politisch unkorrekt das klingt.« »Es tut mir so leid. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Larken gießt Tee nach. »Sie wird es bereuen, glaub mir. Ich spreche aus eigener Erfahrung.« Jons Ehe zerbricht, ihr berufliches Ansehen ist beschädigt, und doch ist das hier wesentlich besser, als allein zu sein. Unsinnigerweise ist sie glücklich. »Wir haben uns auf eine, wie es so schön heißt, ›Trennung auf Probe‹ geeinigt«, fährt Jon fort. »So viel ich sehe, bedeutet das, dass sie in ungetrübter Seligkeit mit dieser Frau zusammenlebt, in die sie sich verliebt hat, und ich … na ja, guck mich an.« »Ätzend.« Larken kommt ein Gedanke. »Glaubst du, es wäre weniger ätzend, wenn sie dich mit einem Mann betrügen würde?« Jon überlegt. »Vielleicht. Nein, wahrscheinlich nicht.« Larken seufzt. »Ist wohl kein großer Unterschied. Betrug ist Betrug. Und ein Arschloch ist ein Arschloch.« 433
»Ich meine, Mia hat immer gesagt, dass sie bi ist, also kann ich nicht behaupten, ich hätte sie nicht sehenden Auges geheiratet. Aber anscheinend habe ich gehofft - klingt das nicht jämmerlich? -, dass sie zur Ruhe kommt. Sich für mich entscheidet. Gott. Ich höre mich an wie mein Vater. Wie mein Großvater. Wie ein alter Mann, und genauso fühle ich mich auch.« »Du bist nicht alt.« »Ehrlich, falls sie nicht zurückkommt, weiß ich nicht, ob ich bleiben kann, wenn ich ständig damit rechnen muss, sie beim Einkaufen oder im Kino mit ihrer Freundin zu treffen.« Er starrt in seine Teetasse. »Scheiße. Ich muss wieder nach England ziehen.« »Sag das nicht.« Larken setzt sich auf, packt die Revers seines Morgenmantels und ruft pseudo-melodramatisch: »Sag doch so etwas nicht, Liebling!« Der Ton soll ihre echte Verzweiflung verschleiern. Er darf nicht gehen. Jon wirft ihr einen onkelhaften, trüben Blick zu. »Kannst du nicht heute Nacht hierbleiben? Wir könnten uns den ›Law & Order‹-Marathon angucken und uns über das Fresspaket hermachen, das meine Mutter aus dem guten alten England geschickt hat.« Und sie bleibt. Sie träumt nicht. Als sie am nächsten Morgen aufwacht, sind sie immer noch auf dem Sofa in ein Gewirr aus übelriechenden Decken verstrickt. Sie sind im Sitzen eingeschlafen, ihre Körper zueinander geneigt wie die Wände eines schlecht aufgebauten kleinen Zelts. Kein einziges Geräusch im Apartment, keine Bewegung, keine Spur deutet darauf hin, dass es noch etwas anderes auf der Welt gibt als sie beide. Sie starrt in sein Gesicht, will ihn zwingen aufzuwachen. Er hat ein bisschen Johannisbeergelee im Mundwinkel, auf dem ein paar Kekskrümel kleben. Als er »Guten Morgen« murmelt, sind seine Augen noch geschlossen. Sie bleiben zu, als er sie an sich zieht und seine Hände ihre Brüste finden. Als er anfängt, die schweren Stofffalten beiseitezuschieben, schaut er sie endlich an. 434
Mit viktorianischer Verzweiflung und Sittsamkeit beginnen sie, sich zu küssen und zu streicheln. Beim Schmusen im bekleideten Zustand braucht man sich um körperliche Mängel keine Sorgen zu machen. Fleischwülste, seine und ihre, bleiben verborgen, verdeckt von Flanell. In einem früheren Jahrhundert wäre es genauso gewesen. Sagt er ihren Namen? Vielleicht bildet sie es sich nur ein. Aber während sie sich der von Viren und Erregung befeuerten Hitze hingibt und ihn in die Schlüpfrigkeit ihres Schoßes aufnimmt, sieht sie im Geiste bereits ihre Zukunft vor sich, eine altmodische Arthur-und-Eloise-Romanze mit den schönsten Variationen: ein gemütliches Cottage in Cambridge, lackiertes Gartentor, Blumenbeete, Wände voller Bücherregale, Lehraufträge, ein Kreis enger Freunde mit Verbindungen zu Literatur und Kunst - Variationen, zu denen immer Kinder gehören, denn es sind nicht nur ihre gemeinsamen Leidenschaften, die dieses Bild prägen, es ist vor allem Esmé. Und vielleicht weitere Töchter. Ihr Körper schwillt und öffnet sich, eine Flut von Flüssigkeiten, ein gewaltiges Einatmen, befreiendes Erbeben und dann Atemlosigkeit. Sie lachen beide. Warum hat sie das nicht gesehen? Es hätte von Anfang an so sein sollen. Hopes Tagebuch, 1969 Mommy lässt die Mayonnaise fallen Ich habe eine perfekte Aubergine gezüchtet. Das Ding sieht genauso aus wie ein Uterus - wenn man das bisschen zugrunde legt, was ich darüber weiß. Ich habe sie aus Saatkörnern gezogen auch das noch! -, sie vor den Krallen unserer räuberischen Katzen bewahrt, die davon ausgehen, dass jeder wohlbestellte Flecken Erde ihr ganz persönliches Klo ist. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Tomaten ja, klar, und ein paar Halme Mais. In Neb435
raska kann man sich nicht Hausfrau nennen, wenn man nicht Frühstückstomaten und süßen Mais zieht. Und die sind auch gut geworden. Dieser Sommer war heiß bisher, nicht zu schwül, nicht so erbarmungslos windig, sondern einfach heiß, was Tomaten und Mais hervorragend bekommt, nur mir nicht. Außerdem habe ich die obligatorischen Bohnen gezogen - das ist einfach, und die Kinder lieben es, sie so schnell wachsen zu sehen -, Spaliergurken und, Gott steh uns bei, Zucchini sowie Kräuter. Aber Auberginen? Was habe ich mir dabei gedacht? Es ist die Farbe, glaube ich. So überlistet, verlockt uns die Natur: mit Farbe. Es klappt bei Vögeln und Bienen, warum also nicht bei Menschen und Gemüse? »Zieh mich!«, befehlen uns Auberginen mit ihren exotischen Schalen. Sie sind violett - die Farbe der Könige. Zurück zu meiner Aubergine: Sie war vollkommen (sagt sie voller Kummer), hatte exakt die Größe und Form der, wie ich mir vorstelle, unschwangeren (das bin auch ich diesen Monat wieder) Gebärmutter. Heute musste ich sie wegwerfen - die Aubergine meine ich, nicht meine Gebärmutter. Ich hatte sie zu den Kartoffen in den Korb gelegt, und bis ich ein Rezept für Moussaka gefunden hatte, war sie geschrumpelt und hatte ihren prächtigen Purpurglanz verloren. Schluchz. Das Violett meiner perfekten Aubergine erinnerte mich an die Farbe meiner spektakulären Prellung nach meinem Treppensturz vor Monaten, und mit der Erinnerung kommt die Erkenntnis, dass ich chronisch tolpatschig geworden bin. Chronisch im Gegensatz zu gelegentlich. Die Tolpatschigkeit scheint nicht mehr zu kommen und zu gehen wie ehemals. Sie ist ein Dauerzustand, beinahe jedenfalls. Was mich auf heute Nachmittag bringt, als ich den Kindern etwas zu essen machte. Ich ließ die Mayonnaise fallen. Obwohl es sich eigentlich nicht so anfühlte. Die Bruchlandung und das darauf folgende explosive 436
Zerbersten schienen ohne mein Zutun stattzufinden. An Ursache und Wirkung war ich nicht beteiligt, will ich damit sagen. Scheiße. Das Glas. Es war in meiner Hand und dann nicht mehr. Merkwürdig. Okay, mehr als das, denn warum würde ich der Geschichte sonst so viel Platz in diesem Tagebuch einräumen? Beunruhigend. Ich fing an zu lachen, das hysterische Lachen, das mich manchmal überkommt, wenn ich erschöpft bin. Zum Glück kriegten die Kinder meine Hysterie nicht mit; nach dem anfänglichen Schreck über den Aufprall werteten sie mein Gelächter als gutes Zeichen und stimmten ein. Ich versuchte, ein Spiel daraus zu machen. »Guckt mal! Mommy malt mit Mayonnaise!«, sagte ich, stolz auf mein Improvisationstalent, ohne das Resultat vorherzusehen: Larken und Gaelan sprangen sofort auf und kamen auf mich zugerannt nackte kleine Füße und überall Scherben -, und ich schrie instinktiv: »STOPP! STOPP!« Sie blieben stehen, völlig verängstigt. »Wartet einen Moment, bis Mommy die Scherben weggeräumt hat«, fügte ich hinzu, »dann könnt ihr euch auf den Boden setzen und malen!« Ich konnte meine Beine nicht dazu bewegen, ihre übliche Beziehung zum Planeten Erde aufzunehmen; sie waren wie die defekten Stützen eines Klapptischs. Kein Kartenspiel heute Abend, Liebchen! Ich schaffte es, mich zum Geschirrschrank zu schleppen, eine Rolle Haushaltstücher aus der Schublade zu ziehen und die Scherben in den Mülleimer zu befördern. Und dann saßen wir zu dritt ungefähr eine Stunde lang auf dem Fußboden und malten mit der guten Mayo von Hellmann. Irgendwann waren sie wieder da - meine Beine, meine ich -, aber so schwach, dass ich wusste, allein würde ich es nicht schaffen. Mit Hilfe meiner fünf- und sechsjährigen Kinder machte ich ein weiteres Spiel daraus, mit Wasser und Spülmittel zu malen. So sauber war der Küchenfußboden noch nie. 437
Llwellyn zu Hause. Später mehr.
20 Die Jungfrau zweifelt an ihrer Berufung Im Winter 2004 haben die Einwohner von Emlyn Springs - wie übrigens die des größten Teils von Südost-Nebraska - weder Interesse daran, mit dem Rad zu fahren, noch, Smoothies zu trinken. Sie verkriechen sich. Der Weg zur Arbeit und zurück und gelegentliche Ausflüge in den Supermarkt reichen ihnen vollauf. Viele von ihnen begnügen sich einfach mit Konserven und dem Inhalt ihrer Tiefkühltruhen. Auch die Toten sind keineswegs unempfindlich gegen die Kälte. Ihre Kreislaufsysteme sind zwar ausgeblutet, aber nicht leer; Venen und Arterien dienen nach wie vor als Leitungen für Wasser, das durch unterirdische Quellen fließt. Es überrascht nicht, dass die Toten langsamer werden, wenn der Boden gefriert und die Quellen träger sprudeln. Ihre Stimmen sinken um eine volle Oktave. Sie haben das starke Verlangen, nichts zu tun. Die toten Väter sind besonders lethargisch. Andererseits verhilft die isolierende Schneeschicht den toten Müttern zu einer Pause von dem stetigen Getrappel menschlicher Füße. Das Gefühl in ihren Bäuchen ändert sich unter diesen Umständen erheblich: Für manche ist es, als sprängen weiche Nerfbälle darin herum, andere erinnert es an aufplatzendes Popcorn. In jedem Fall wird es durch tiefen Schnee schwächer und gedämpfter, unangenehm nur noch insofern, als es unaufhörlich ist. Aber verglichen damit, was sie sonst erdulden müssen … Was für eine Erleichterung! Die Schritte der Menschen gedämpfter wahrzunehmen erlaubt vielen Müttern, das Reisen während der Wintermonate aufzugeben und einiges an dringend benötigtem Schlaf nachzuholen. Ein 438
paar von ihnen sind im Dienste ihrer psychologischen Studien weiterhin als Globetrotter unterwegs, andere beschränken ihre Beobachtungen auf die lokale Bevölkerung. Hier in Emlyn Springs gibt es weiß Gott genug zwischenmenschliche Verwicklungen, um jede Mutter bis in alle Ewigkeit zu beschäftigen. Ihre Lebenserfahrung hat sie gelehrt, dass sich nach einer Geburt das Gefühl einer Frau für sich selbst enorm verändert. Sie erinnern sich: Die Mutterschaft beseitigt Grenzen auf eine Weise, wie es keine andere Liebe vermag- nicht nur körperliche Grenzen, sondern auch geistige. Mütter erahnen ihre Kinder ebenso, wie sie sie spüren. Eine Art spirituelles Echolot verbindet sie mit ihnen, auch wenn sie nicht in unmittelbarer physischer Nähe sind. Seltsamerweise besitzt Bonnie Jones - die nicht nur keine Mutter ist, sondern höchstwahrscheinlich auch nie eine sein wird diese Fähigkeit ebenfalls, und zwar gegenüber den Kindern ihrer Heimatstadt. Sie nimmt ihre Gegenwart intuitiv wahr, spürt ihre Not, die Beschaffenheit ihrer Energie. Obwohl nicht Mutter, versteht sie die Geheimnisse der Mutterschaft und eignet sie sich an. Ein interessanter Fall, dieses Mädchen. Die toten Mütter behalten sie im Auge. Eine Zeitlang versucht Bonnie, »BJs Mixgetränke« am Laufen zu halten; sie leiht sich sogar eine Werbeidee von Runza Hut in Beatrice: IHR SMOOTHIE KOSTET DIE TEMPERATUR VON HEUTE! Aber Ende Januar ist es so weit, dass nur noch die Labenz-Brüder und Blind Tom aufkreuzen, daher hängt sie ein Schild, BIS ZUM FRÜHJAHR GESCHLOSSEN, an die Tür und transportiert ihren Mixer und den Kühlschrank in den Fahrradladen, zusammen mit einem kleinen Campingherd und einem großen Elektroheizkörper. Außerdem legt sie einen Vorrat an gesunden Snacks und Brettspielen an. Sie tauscht eins ihrer neuen Fahrräder gegen einen gebrauchten Farbfernseher mit eingebautem Videorecorder und einige Jugendfilme.
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Seitdem hat sich der Fahrradladen zu einer Ad-hoc-Tagesstätte für Kinder und Teenager entwickelt. Manche von ihnen tauchen bei Miss Jones auf, weil sie dort eine Zuflucht finden, einen Ort, um sich aufzuwärmen, ehe sie den Rest des Weges nach Hause gehen. Andere, weil derjenige, der sie abholen sollte, in einer Schneewehe gestrandet ist und keinen Abschleppdienst erreichen kann. Die Jugendlichen von Emlyn Springs sind glücklich über »BJs Fahrräder« - nicht wegen der materiellen Angebote, sondern weil hier eine Tür für sie offen steht, weil sie hier Platz haben und ihr nahe sein können. Am Saftstand war der Blick auf Miss Jones begrenzt, der Zugang zu ihr blockiert. Irgendetwas an ihr weckt den Wunsch in ihnen, sich dicht vor sie zu stellen, als wäre sie ein volles Keksglas oder der Spiegel eines Arzneischränkchens. Von Heranwachsenden umgeben zu sein ist auch für Bonnie eine große Freude, und ihre improvisierten Zusammenkünfte sind wie eine Segnung ihrer Bemühungen. Vielleicht kann ihre Anwesenheit ja sogar ihren Eierstöcken Starthilfe geben. Auf jeden Fall haben sie Bonnie aus einer Phase der Untätigkeit aufgerüttelt, und sie fühlt sich wieder inspiriert, das Problem Fortpflanzung aktiv anzugehen. Als Kind liebte Bonnie die Artussage, aus der ihre Mutter ihnen vorlas. Sie liebt sie immer noch, und zwar besonders so, wie sie in Kinderbüchern erzählt wird. Ihre Lieblingsgeschichten sind in Wales angesiedelt, in Umgebungen, die geheimnisvoll und verzaubert sind: die verborgene Höhle auf Anglesey, wo Artus Zuflucht vom Schlachtfeld suchte, der unterirdische See in Dinas Emrys, wo ein roter und ein weißer Drache miteinander kämpften, das unsichtbare Haus auf Bardsey Island, wo Merlin heute noch ruht. Wer dieses Schwert aus diesem Stein und Amboss ziehet, ist rechtmäßiger König von ganz England. Es ist eine alte Vorstellung, die Bonnie sehr gut gefällt: dass der Wert eines Menschen sich an seinem Handeln misst. 440
Die Aufgabe steht fest. Alles ist für die Prüfung vorbereitet. Bonnie hat den ersten ihrer ahnungslosen Freier zu sich bestellt und wartet hoffnungsvoll auf seine Ankunft. Neben der Auswahl der Kandidaten - fünf sind es geworden war die größte Herausforderung für Bonnie, die Kandidaten auf das Testgelände zu locken: Keiner von ihnen hat bisher das geringste Interesse am Radfahren gezeigt. Sie könnten es vortäuschen - Bonnie ist durchaus bewusst, dass sich zwar keiner von ihnen fürs Radfahren interessiert, jeder aber für sie -, doch dadurch wäre nichts erreicht. Letztlich war es das allgemeine Desinteresse der Kandidaten am Radfahren, das Bonnie auf die Idee brachte, womit sie sie ködern könnte. Ihre Einladung erfolgte in Form von Werbezetteln, die sie ihnen an ihrem Arbeitsplatz aushändigte: GRATISANGEBOT! WERBEGESCHENK! FÜLLEN SIE DIESEN FRAGEBOGEN AUS, UND SIE ERHALTEN EINEN PREIS! Interessieren Sie sich fürs Radfahren? Falls ja, besitzen Sie ein Fahrrad? Wie oft benutzen Sie es? Falls nein, warum nicht? Was würde das Radfahren für Sie und Ihre Familie reizvoller machen? Welche Dienstleisungen und Informationen sollte ein Fahrradladen anbieten? Womit könnte ein Fahrradladen Ihnen, Ihrer Familie und Ihrer Gemeinde am nützlichsten sein? Präsentieren Sie den ausgefüllten Fragebogen am ___________ (hier trug Bonnie die Daten von fünf aufeinanderfolgenden Abenden ein) der Inhaberin und Betreiberin von »BJs Fahrräder«, Bonnie Jones, 1302 Main Street, Emlyn Springs, Nebraska, und Sie erhalten einen gesunden Gratis-Smoothie! Es ist fast so weit. Bonnie holt ihr Klemmbrett hervor und überfliegt ihre Liste: Heute Abend kommt Harold Schlake jun., drei Kinder, zusammen mit seinem Vater Eigentümer von Schlakes Baumarkt. Kein attraktiver Mann, 40, geschieden, aber aufmerksam, wenn es um Schrauben und Muttern geht, und er hält ihr immer die Tür auf. 441
Der Dienstags-Kandidat ist Mike Lawlor, alleinstehend nach langjähriger Beziehung. Mike arbeitet in der Abteilung für Damen- und Kinderschuhe bei J.C. Penney’s. Er saß eines Abends neben Bonnie in der Bibliothek von Beatrice, als sie sich im Internet über Fahrradbau informierte, und suchte nach SinglesKontaktbörsen. Am Mittwoch besucht sie Ed Loerch, verantwortlich für das Sportprogramm im Altersheim und häufig Kunde am Saftstand. Getrennt lebend, keine Kinder. Er nimmt stets Notiz von den hübschen Aufklebern auf Bonnies Kalender und macht oft Bemerkungen über ihre Kleidung. Dimitri (Nachname unbekannt) kommt am Donnerstag. Nie verheiratet gewesen, aber ein Kind, Hauptkassierer im Biomarkt von Beatrice. Seine Piercings wirken sehr gepflegt, und er ist überzeugter Veganer. Und am Freitag trifft sie Brody Canarfaen, Lehrer für Gesundheitserziehung an der Highschool und Trainer im Ringerverein. Er ist ein großer Fan der Eier-Feiertage. Er ist zwar eher klein, sieht aber nicht übel aus, hat einen tollen Körper und liebt Kinder. Um Punkt sieben Uhr klopft es an die Tür. Bonnie schmiert sich ein bisschen Öl ins Gesicht und zerzaust sich die Haare immerhin ist dies nicht Schauplatz einer Verführung, sondern eines Examens - und schließt dem ersten Kandidaten die Tür auf. »Sie brauchen einen moderneren Elektroverteilerkasten, so viel ist klar«, sagt Harold. Bonnie folgt ihm mit Klemmbrett und Stift durch die Werkstatt, angeblich, um sich seine Empfehlungen zu notieren. »Ein ganz neues System.« Solide, schreibt sie. Zuverlässig. Hat den großen Überblick. »Die Kabel hier sind uralt und echt gefährlich.« Seriös. Praktisch. Sicherheitsbewusst. Wird auf Kindersicherungen bestehen. »Wem gehört das Gebäude überhaupt?« 442
»Weiß ich nicht genau«, erwidert Bonnie. »Tom zahlt die Miete an jemanden in Arizona, aber die letzten beiden Schecks sind zurückgeschickt worden.« »Tom?«, fragt Harold. Argwöhnisch, schreibt Bonnie. Der eifersüchtige Typ? »Blind Tom«, antwortet sie. »Ihm gehört die Pianoklinik nebenan, wissen Sie.« »Aha«, sagt Harold. Definitiv eifersüchtig. »Ich habe diese Hälfte des Gebäudes von ihm gemietet. Da hinten lagert er seine Klaviere.« »Klaviere, sieh mal an«, sagt Harold und marschiert in Richtung Hinterzimmer. »Kaputte Klaviere, Klavierteile …«, sagt Bonnie. Sie hat plötzlich das Gefühl, Blind Tom in Schutz nehmen zu müssen. »Das sind alles seine Sachen«, fügt sie hinzu. »Ich gehe da nicht rein.« Harold ignoriert sie und späht trotzdem in den Raum. »Ja«, sinniert er düster. »Hier entspricht nichts den Vorschriften.« Mangel an Fantasie, kritzelt Bonnie. Kein Musikliebhaber. Sie laufen weiter herum. Harold kniet sich vor jeder Steckdose hin, um sie zu begutachten. Auch eine halbe Stunde später haben ihn seine Erkundungen noch nicht zum Hochschauen bewegt. »Was halten Sie von dieser Lampe?«, fragt Bonnie schließlich und zeigt auf die Neonröhre über ihr. »Mein Gott«, sagt Harold missbilligend, »was für’ne Menge toter Insekten …« Er steht direkt unter dem Rad und blinzelt zur Decke hinauf. »Also, ich vermute, auf dem Kabel ist zu viel Strom. Und Sie sollten sich auf jeden Fall neue Ketten besorgen.« »Prima«, sagt Bonnie. Da sie findet, dass sie Harold jede Möglichkeit gegeben hat, erfolgreich zu sein, geht sie zur Vordertür der Werkstatt und macht sie auf. Harolds Miene - eh schon verdrießlich - wird noch finsterer. »Ich könnte raufklettern und sie mir genauer angucken«, bietet er an.
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»Muss nicht sein, Harold«, sagt Bonnie. »Nett, dass Sie gekommen sind.« Stur und anscheinend verwirrt bleibt Harold stehen. Er betrachtet die Tür mit Skepsis, als hätte es unheilvolle und peinliche Folgen, wenn er hinausginge. »Ich mache … mir Sorgen, Bonnie«, sagt er. »Ich sehe es nicht gern, wenn jemand in einer so gefährlichen Umgebung arbeitet.« »Keine Angst, Harold«, entgegnet Bonnie. »Ich nehme das alles sofort in Angriff.« »Na gut. Wiedersehen«, grunzt Harold und stapft hinaus. Bonnie schließt die Tür und streicht ihn von der Liste. Erst Stunden später, als sie zu Hause und im Bett ist, fällt ihr ein, dass sie vergessen hat, Harold mit einem Gratis-Smoothie zu belohnen. Auch an den folgenden Abenden schleppt sich Bonnie durch den Schnee, um sich mit den Kandidaten zu treffen. Jeden von ihnen muss sie zu Erkundungen anstacheln: Gucken Sie sich ruhig um. Würden Sie mal das Deckenlicht anmachen? Gefällt es Ihnen so, oder sollte ich eine Akustikdecke einziehen? Alle wollen eigentlich nur reden. Keiner besteht den Test, jeder geht mit einem Gratis-Smoothie. In Brody Canarfaen, ihren fünften und letzten Kandidaten, setzt sie große Hoffnungen. Sein Fragebogen ist vielversprechend. Als Antwort auf Was würde das Radfahren für Sie und Ihre Familie reizvoller machen? hat er geschrieben Das Angebot einer Einzelfahrt mit der Inhaberin des Ladens. Ein paar Sekunden nachdem Bonnie - beiläufig natürlich und nur mit einer ganz kleinen Bewegung des Kinns - bemerkt hat: »Ich glaube, es ist Zeit, den Weihnachtsschmuck abzunehmen«, schaut Brody aufmerksam nach oben. Mit kriegerischer Entschlossenheit schiebt er Bonnies schweren Arbeitstisch durch den Raum, bis er direkt unter dem Rad steht. Nachdem er hinaufgeklettert ist, macht er einen Klimmzug
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genau an den zwei Balken, an denen das Rad hängt, und grinst schelmisch zu ihr hinunter. Ja!, denkt Bonnie. Er sieht es! Er ist der Richtige! Aber dann fängt Brody an, Bonnie von seinen Jahren als Wettkampfturner zu erzählen und von seinem Wunsch, in der Schule eine Turnmannschaft zu gründen. Als er ihr mit Hilfe der Dachsparren einige Übungen am Bock demonstrieren will, mit denen er dreimal die Meisterschaften des Bundesstaates gewann, wenden sich die Dinge zum Katastrophalen. Es endet damit, dass Brody Canarfaen, Bonnies fünfter und letzter Kandidat, seinen Gratis-Smoothie im Rettungswagen trinkt, auf einer Gratisfahrt zur Notaufnahme. »Tom?«, ruft Bonnie durch die Trennwand zu ihm herüber ein plötzliches Geräusch hat ihr verraten, dass er da ist. »Ja?« »Glauben Sie, das mit dem Fahrradladen ist eine gute Idee?« »Sie ist hervorragend.« Bonnie seufzt. Nachdem sie das Licht ausgemacht hat, ist das Gebäude in völlige Dunkelheit getaucht. »Ich mache mich auf den Heimweg«, sagt sie. »Gehen Sie auch bald?« »Nein. Heute ist Claude Debussys Geburtstag.« Es kommt fast nie vor, aber in diesem Fall irrt sich Blind Tom. »Oh. Na dann …« Bonnie hat keine Ahnung, wie sie diese Information deuten soll. »Gute Nacht.« Blind Tom, findet sie, ist der bei weitem seltsamste Mann, den sie je kennen gelernt hat. Hopes Tagebuch, 1970 Feenpossen Am Wochenende hat »Ein Sommernachtstraum« Premiere, die sechste Produktion der Emlyn Springs Shakespeare Troupe! Viney und ich drängten und schmeichelten und nörgelten und gingen Llwellyn um den Bart, bis ihm nichts anderes übrig blieb, als vorzusprechen, und natürlich ist er absolut wundervoll als König 445
Oberon. Hazel hat die Inszenierung mit ein bisschen walisischer Volksmusik angereichert - unser Feenwald liegt selbstverständlich in Wales! -, sodass L. auch seine Singstimme präsentieren kann. Richtig, die Aufführung hat auch ihre peinlichen Momente. Viele Zuschauer graust es vor Estella Axthelms maniriertem Spiel und ihrer affektierten Sprache, ich aber betrachte Titanias Auftritte als Gelegenheit, ein Nickerchen zu machen. Hazel war so diplomatisch, ihr und Llwellyn den letzten Vorhang zu überlassen. Im Großen und Ganzen bin ich jedoch stolz auf unsere Leistung. Heute Morgen fand ich zwei Würfel auf meinen Socken. Ich habe sie nie zuvor gesehen, ebenso wenig wie Llwellyn und die Kinder. Sie sind alt und aus Holz. Ein Nachtgespenst? Kobolde? Die Katze? Tornados tun das manchmal, dass sie mysteriöse Gegenstände an den unmöglichsten Stellen deponieren, aber die einzige Trichterwolke, die dieses Haus heimsucht, ist diejenige, die unsere Kinder jeden Tag aufwirbeln. Ich bin sprachlos. Die Würfel zu finden war eine nette Ablenkung. Es passierte, als ich ans Fußende des Bettes kroch und nach meinem Bademantel tastete. Endlich sickerte vom Fenster her Licht ein, wärmte mir das Gesicht, ließ mich am Rande meines Blickfelds verschwommene Formen erkennen. Llwellyn telefonierte zu diesem Zeitpunkt unten mit einem Kollegen, einem Neurologen in Omaha. Ich persönlich fand und finde noch, das war eine Überreaktion. Schließlich habe ich meine Augen in letzter Zeit sehr oft benutzt. Meine Hände auch - sie sind seit einer Woche fast ständig taub, weil sie Hunderte Pailletten auf Dutzende Feenflügel nähen mussten. Aber oh, wie zauberhaft unsere Feen aussehen! Das war es wert.
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»Llwellyn«, sagte ich, als ich heute Morgen aufwachte, »sind meine Augen auf?« Ich dachte zuerst, ich träume. »Was?« »Ich kann nichts sehen. Bin ich wach?« »Was meinst du damit, dass du nichts sehen kannst?« Es klingt komisch, wenn ich das so hinschreibe, wie ein Witz, dem die Pointe fehlt. »Hope«, sagte Llwellyn, »guck mal zu mir rüber. Kannst du deine Augen auf mich richten?« »Natürlich«, sagte ich. Ich hörte, wie er sich bewegte. »Bleib hier«, sagte er schließlich. »Ich gehe runter, telefonieren.« »Llwellyn, ich bin sicher, es ist nichts.« »Bleib im Bett. Ich bin gleich zurück.« »Was ist los, Daddy?« Das war Larken im Flur vor unserem Schlafzimmer. »Nichts, Schneckchen. Mommy geht es nur nicht so gut.« »Muss sie spucken?«, fragte Gaelan. »Nein, nein, nichts dergleichen«, sagte L., »sie hat nur ein bisschen Kopfschmerzen.« Ich hörte, wie er die Treppe hinunterging, behende und anmutig - ganz anders als seine ungeschickte Ehefrau. »Lasst Mommy allein«, rief er dabei. »Sie muss sich ausruhen.« Ich spürte die Kinder, bevor ich sie hörte - Larken stand in der Tür, Gaelan kam ein paar Schritte herein -, und legte mir die Hände auf die Lider, um sicherzugehen, dass meine Augen geschlossen waren. »Mom?«, sagte Gaelan. »Guten Morgen, Schatz.« »Was ist los mit dir?« »Ich habe nur ein bisschen Kopfschmerzen.« »Hast du deshalb die Augen zu?« »Genau. Dann ist es nicht so schlimm.« »Machst du Frühstück?«, fragte Larken. 447
»Das macht Daddy gleich, oder ich, wenn die Kopfschmerzen weg sind. Ihr könnt euch so lange Cartoons angucken.« Gaelan kam näher. Ich wusste, dass er es war, weil er behutsamer auftritt als Larken, zögernder. Ich konnte mir vorstellen, wie sie mich von der Schlafzimmertür her missbilligend ansah. Ich spürte Gaelans Körper, noch ehe er mich berührte. Er tätschelte mir die Hand. »Werd schnell gesund, okay?« »Okay, das mache ich. Gib mir einen Kuss!« Er gehorchte. Larken blieb auf Abstand. »Ich hab euch lieb«, sagte ich, und dann hörte ich, wie die beiden die Treppe hinuntergingen, ihre Schritte immer leiser wurden, und plötzlich hatte ich eine schreckliche Vorahnung vom Tod, ihrem oder meinem, durchlebte das ganze Entsetzen, das mich hin und wieder überfällt, wenn der Schleier von dem, was erträglich ist, weggerissen wird und man weiß, dass man Leben und Tod geschenkt hat, beides auf einmal. Ich fing an zu weinen, und dann dachte ich, das ist lächerlich, Hope, reiß dich zusammen, und kroch auf der Suche nach meinem Bademantel ans Fußende des Bettes. Kurz darauf kehrte mein Sehvermögen zurück - es war sicherlich der reinigende Effekt der Tränen, der das bewirkte -, und das Erste, was mich von dem Haufen schmutziger Wäsche anstarrte, die ich gestern Abend auf die Zederntruhe geworfen hatte, waren diese rätselhaften Würfel. Schlangenaugen. Doppelte. Bringt das Glück oder Unglück? Keine Ahnung. Bin nie eine große Glücksspielerin gewesen. Glück anscheinend, denn (Überraschung) ich bin wieder schwanger!! (Man bemerke die Ausrufezeichen. Ist mir egal.) L. und ich haben uns von all der Shakespeare-Romantik mitreißen lassen, und ich stelle mir gern vor, dass sein Auftritt als Oberon eine Art Feenzauber zur Unterstützung unserer Fortpflanzungsbemühungen heraufbeschwor. Und siehe da!!!!!!!!!! 448
Habe L. noch nichts erzählt. Mache ich morgen.
21 Wetteransager begegnet der Coriolis-Kraft Der dreidimensionale Gaelan sitzt im Fitness-Studio auf dem Ergometer und schaut sich auf einem Schwarzweiß-FlachbildPlasma-Fernseher den zweidimensionalen Gaelan an. Es ist toll, dass er an zwei Orten gleichzeitig sein kann. 2-D-Gaelan steht vor einem Doppler-Radarbild, das ein Tiefdrucksystem auf seinem Weg nach Südost-Nebraska zeigt. Bis auf eine winzige schwarze Badehose ist er nackt, und er übt verschiedene Posen ein, während er über das Wetter spricht. »Hier vorn haben wir eine schöne Symmetrie«, sagt er und lässt seine Brustmuskeln spielen. Dann wendet er der Kamera seinen Rücken zu. »Besonders gut ausgebildet sind die seitlichen.« Ich sehe prima aus, denkt 3-D-Gaelan, während er sein 2-DSelbst betrachtet. Dann wechselt der dreidimensionale Gaelan den Platz: Er steht auf einer leeren Bühne und schaut dorthin, wo eigentlich das Publikum sein sollte, er aber nur ein gewaltiges sternenloses Universum sieht. Ist er noch auf Sendung? Wo ist der Kameramann? Plötzlich setzt eine Art Stroboskopeffekt ein: Überall um ihn herum explodieren Lichter. Als er versucht, ihren Weg zu verfolgen, schmerzen seine Augen von den pfeilschnellen Bewegungen. Was erblickt er hier? Sterbende Sterne? Tanzende Glühwürmchen? Ein Blitzlichtgewitter? Er ist nicht allein. Als die Lichter zur Ruhe gekommen sind, beleuchten sie die ganze Bühne: Es ist eine riesige weiße, runde Plattform, gesäumt von Hunderten von Bodybuildern. Jeder hat einen eigenen Monitor mit blauem Hintergrund vor sich, zeigt auf Radarbilder von verschiedenen Hoch- und Tiefdrucksystemen 449
und führt individuelle Posen vor, während aus Lautsprechern Springsteens »She’s the one« dröhnt. Die Atmosphäre ist beschwingt und fröhlich wie bei einem Rock-Konzert. Jetzt versteht Gaelan: Es ist der Mister-Universum-Wettbewerb für Wetteransager! Die Teilnehmer werden nicht nur nach ihrem Körperbau beurteilt, sondern auch nach ihrer Kameratauglichkeit und ihrer Treffsicherheit bei den Vorhersagen. Arnold steht links neben ihm, nur ein kleines Stück entfernt. Er trägt sein Kostüm aus »Conan der Barbar«. Rechts von ihm ist Lou Ferrigno als »Der Hulk«. Sollte er selbst nicht auch verkleidet sein? Er schaut an sich herunter. Seine Badehose hat vorn ein rotes »S«, und er trägt Supermann-Stiefel, die seine Schienbeine verdecken. Das ist in Ordnung. Er war nie stolz auf seine Waden. Arnold und Lou stellen sich vor Gaelan und fangen an, ihre Wetteransagen und Bodybuilderposen vorzuführen. Gaelan ist wohl einer der Schiedsrichter, er hat eine kleine Tafel und einen Stift in der Hand. Es ist mühsam zu verstehen, was Arnold sagt. Sein Akzent ist stärker denn je, und er bewegt sich sehr steif. Er sollte Yoga-Unterricht nehmen. Und Lou Ferrignos Teint hat einen kränklich grünen Schimmer; auf dem Bildschirm sieht er furchtbar aus. Keiner von beiden hat Erfahrung darin, das Unvorhersagbare vorherzusagen. Gaelan schreibt eine Null auf seine Tafel und hält sie hoch. Auf der anderen Seite der runden Fläche steht ein Mann. Er ist sehr weit entfernt und trägt einen grauen Flanellanzug. Er scheint nicht an dem Wettbewerb teilzunehmen, Gaelan hat das Gefühl, er könnte ebenfalls Schiedsrichter sein. Er bewegt seinen Mund, aber Gaelan kann nicht hören, was er sagt. Er wäre gern näher an ihm dran, doch dazu müsste er um den ganzen Kreis herumgehen und würde die Präsentationen der Wettkämpfer stören. Man hätte wirklich eine Brücke bauen sollen.
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Aber vielleicht auch nicht. Irgendetwas an dem Mann ist vage beunruhigend, und Gaelan weiß gar nicht, ob er tatsächlich hören möchte, was er sagt. Gaelan fängt an, Yoga zu machen. Er ist sehr geschmeidig. Er ist der erste Bodybuilder-Wetteransager in der Geschichte der Bodybuilder-Wetteransager, der Yogaübungen in seinen Auftritt einbezieht. Als er sich aus der Brückenposition erhebt, stellt er fest, dass er sich auf der hinteren Veranda ihres alten Hauses befindet und auf ein Kornfeld schaut. Das Getreide ist reif, es muss Spätsommer sein. Auf der Verandatreppe steht ein großer Korb mit Auberginen und Spargel. Das ist sein Preis. Er hat den Wettbewerb gewonnen. In der Mitte des Felds entdeckt er Rhiannon. Sie ist eine Vogelscheuche. Es gibt eine Menge Vogelscheuchen da draußen. Er kann beinahe ihre Gesichter erkennen, aber nicht ganz. Sie sind zu weit weg. Sie steigt von ihrem Vogelscheuchenkreuz herunter, tritt aus dem Feld und auf die Veranda. »Nimm die hier«, sagt sie und reicht ihm ein Paar Hanteln. Sie sind sehr schwer. »Schlundlöcher können selbstinduziert sein«, fügt sie hinzu und beginnt dann, ihn in das Kornfeld zu führen. Sie erreichen eine Stelle, die ihm vertraut vorkommt. Er kennt sie, oder? Ist er nicht schon einmal hier gewesen? »Nicht alles in Nebraska ist flach«, erklärt sie ihm. »Es gibt viele unterirdische Quellen in dieser Gegend.« Eine Tür geht auf, wie die zu einem Rübenkeller, aber dahinter liegt eine Höhle. Es ist dunkel dort unten. »Wir müssen ins Souterrain«, sagt Rhiannon. »Bist du sicher, dass es leer ist?«, fragt Gaelan. Mit weit gespreizten Fingern reckt sie den Arm himmelwärts und fängt an, ihn im Uhrzeigersinn kreisen zu lassen. »Ich dachte, die Corioliskraft wirkt gegen den Uhrzeigersinn«, sagt Gaelan. »Zumindest auf der Nordhalbkugel.« »Nicht immer«, erwidert sie, »das hängt vom Blickwinkel ab.« 451
Und dann ist er hoch oben und schaut hinab. Rhiannon ist winzig wie Däumelinchen und sitzt in seinem Bad im Waschbecken auf dem Abflussrand. Es stimmt, aus dieser Perspektive bewegt sich ihr Arm gegen den Uhrzeigersinn. Sie gebietet damit über eine stetig wogende flache Wasserpfütze. Sie schwappt über die Wände des Beckens, bis sie im dunklen Loch des Abflusses verschwindet. Und dann sind sie im Fitness-Studio beim Wirbelunterricht. Sie ist die Trainerin. Seine Schwestern sind auch da - und Viney und Dad und sogar seine Mutter, die den Kurs im Rollstuhl mitmacht. Er freut sich sehr darüber, sie zu sehen, aber sie sind so beschäftigt, dass sie ihn anscheinend gar nicht bemerken. Alle treten rückwärts in die Pedale. Vielleicht werden beim Rückwärtsradeln andere Muskeln beansprucht. »Okay, Leute«, ruft Rhiannon. »Jetzt aber los! Lasst uns ein paar Kumuluswolken machen!« Sein Fahrrad ist speziell. An der Lenkstanke befindet sich eine Trainingsbank, auf der eine Frau ein seltsam geformtes Gewicht stemmt, das hin und her schaukelt. Es ist eindeutig zu schwer für sie. Sie quält sich. Er muss ihr helfen. Er versucht, vom Rad abzusteigen und die Position des Auflegers einzunehmen, doch er bewegt sich nicht schnell genug, und sie lässt das Baby fallen …Nein! … und in diesem Moment wacht Gaelan auf, das Gesicht auf seinem Lehrbuch zur Einführung in die Meteorologie, den Körper schief an seinen Schreibtisch gepresst, und in seiner linken Schulter wütet ein Schmerzfeuer. Mit dem rechten Arm langt Gaelan nach seinen Medikamenten sein linker Arm ist näher dran, aber wenn es in seiner Schulter so lodert wie jetzt, tut ihm sogar das Anheben eines Fläschchens Ibuprofen schrecklich weh. Er schluckt zwei Tabletten, taxiert seinen Schmerz und wirft eine dritte ein.
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Unruhiger Schlaf, lebhafte, verstörende Träume und das Aufwachen mit Schulterschmerzen sind zur Regel geworden. Aber solange er noch einen Vorrat an nichtsteroidalen Antirheumatika hat, kann er trainieren. Bestimmte Teile seines Übungsprogramms geht er vorsichtiger an: das Bankdrücken, den Latissimuszug, Flys, Liegestütze. Weniger Wiederholungen. Sein Rechner ist im Ruhezustand, er rüttelt an der Maus, um ihn zu wecken. Das Ergebnis seiner jüngsten Google-Suche erscheint auf dem Bildschirm: eine Website namens »Falsche Corioliskraft«. Eins der Probleme, denen Gaelan als Fernstudent immer wieder begegnet, besteht darin, dass eine simple Frage eine InternetSuche einleiten kann, die womöglich zu Hunderten Websites führt, was eventuell wiederum darin resultiert, dass er Stunden damit verbringt, Informationen zu lesen, die gar nicht zum Lehrplan gehören, aber weitaus interessanter sind als das, was er eigentlich herausfinden wollte. Er erinnert sich nicht einmal mehr, wie er auf der Website »Falsche Corioliskraft« gelandet ist, doch er sucht sie oft auf; sie ist eine der faszinierendsten und aufschlussreichsten Seiten, auf die er bei seinen Wanderungen durch den Cyberspace bisher gestoßen ist. Sie wird von einem gewissen Alistair B. Fraser verwaltet - einem Mann, der sich der Entlarvung bestimmter weit verbreiteter wissenschaftlicher Mythen verpflichtet fühlt sowie der These, es sei »besser, nützliche Informationen zu kommunizieren, als im Namen nützlicher Kommunikation Falschinformationen anzubieten«. Mr. Frasers Seite »Falscher Regen« hat Gaelan zum Beispiel darauf hingewiesen, dass das allgemein akzeptierte Sinnbild Regentropfen als Träne einen Irrtum nährt. Regentropfen sehen völlig anders aus: Kleine sind kugelrund, große in etwa geformt wie Hamburger-Brötchen. Gaelan plant, Mr. Frasers Bemühungen zu unterstützen, indem er KHAM-KLAN nach der Rückkehr aus seinem Urlaub einige 453
Veränderungen der Wettergrafiken vorschlägt. Er vertraut darauf, dass seine Zuschauer nicht nur die Verwendung von Kugeln und Hamburger-Brötchen als Symbole, sondern auch akkurate wissenschaftliche Kenntnisse willkommen heißen werden. Das Telefon klingelt. »Gaelan, du musst sofort herkommen.« Es ist Bonnie. Sie klingt angestrengt und nasal, als hätte sie geweint. »Mit Viney stimmt was nicht.« »Was ist los?« »Es ist schwer zu beschreiben, aber sie verhält sich wirklich eigenartig …« Bonnie schildert ihm Einzelheiten, und Gaelan versichert ihr, er komme so bald wie möglich. Für den Fall, dass er über Nacht bleiben muss, wirft er ein paar Sachen in seine Sporttasche. Er füllt die Fress- und Trinknäpfe der Katzen. Keine Zeit für Kaffee, deshalb lässt er das Waschbecken im Bad volllaufen und spritzt sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er ist sich kaum der Tatsache bewusst, dass er all diese Handlungen nur mit dem rechten Arm und der rechten Hand ausführt: Sein linker Arm haftet vom Ellbogen bis zur Schulter wie festgeklebt an seinem Brustkorb, die linke Seite seines Torsos ist praktisch unbeweglich, als wäre sie eingegipst. Er zieht den Stöpsel aus dem Becken und eilt hinaus, ohne ein wissenschaftlich unmögliches Ereignis zu beachten: Das Wasser strudelt im Uhrzeigersinn in den Abfluss. Es ist nach Mitternacht, als er ankommt. Die Wirkung der Medikamente lässt schon nach, der Schmerz in seiner Schulter flammt wieder auf. Ein nasser, dichter Schnee fällt. Bethan steht, in eine Decke gehüllt, auf der vorderen Veranda. Eli ist drinnen und späht über die Rückenlehne von Vineys Sofa hinweg zwischen ein Stück weit geöffneten Vorhängen ins Freie. »Sie ist hinten im Garten«, sagt Bethan und hält Gaelan die Tür auf, als er die Verandastufen hinaufsteigt. »Bonnie ist bei ihr. Lass uns durchs Haus gehen.« 454
Eli steht jetzt in Habachtstellung da. »Hallo«, sagt er. »Hallo«, entgegnet Gaelan. »Wartest du bitte hier, Schatz?«, ruft Bethan über ihre Schulter hinweg, während sie das Wohnzimmer durchqueren. Eli runzelt die Stirn, gehorcht aber. »Also, was ist passiert?«, fragt Gaelan. »Bonnie hat heute Morgen bei ihr angerufen - das tut sie wohl jeden Tag -, und als nach mehreren Versuchen niemand abnahm, machte sie sich Sorgen. Haley konnte wegen der Kinder nicht weg, deshalb ist Bonnie zu ihr rüber und hat Viney so vorgefunden.« »Im Schnee.« »Ohne Mütze, ohne Mantel, ohne Handschuhe.« »Wann war das?« »Kurz bevor sie dich anrief, glaube ich. Gegen Viertel nach zehn.« Sie betreten den Anbau an der Rückseite des Hauses, von dem eine Schiebetür auf die aus Beton gegossene Terrasse führt. Die Lichter des Bewegungsmelders werfen ein grelles Licht auf den Garten, in dem der fallende Schnee als schroffes Relief auf dem Hintergrund der schwarzen Nacht erscheint. Die Flocken rieseln in vollkommen parallelen senkrechten Linien zu Boden, als ob sie, auf einer Konstruktion aus unsichtbaren Fäden herabgleitend, einander verfolgten. »Bonnie hat mich gebeten zu kommen, weil sie dachte, ich könnte vielleicht feststellen, was los ist«, fährt Bethan fort, »aber in diesem Zustand kann ich keine Untersuchungen bei ihr machen. Sie beantwortet keine Fragen, und sie weigert sich, ins Haus zu gehen.« Gaelan stellt sich an die Schiebetür. »Wenigstens hat sie sich einen Mantel umlegen lassen«, sagt Bethan. »Siehst du sie?« Er stößt die schwere Tür zur Seite und tritt auf die Terrasse. Auch im Schutz der Dachtraufe schneit es so heftig, dass er spürt, 455
wie die Flocken vom Beton abprallen, seine Füße und Knöchel streifen und die Aufschläge seiner Khakihose befeuchten. Er blinzelt in den Garten. Es erscheint ihm jetzt noch kälter, aber vielleicht ist es auch das Bizarre der Szene, das ihn erschauern lässt. Ganz am Rande des Lichtkegels, wo er schwächer wird, etwa fünfzehn Meter entfernt von der Terrasse, befinden sich zwei Menschen. Im fallenden Schnee sehen sie aus wie Gestalten aus einer Wochenschau in körnigen Schwarzweißtönen. Die eine kniet mit dem Rücken zu ihm, die andere steht mit einem großen Schirm daneben. »Soweit wir wissen, ist sie seit ein paar Stunden da draußen, womöglich länger«, sagt Bethan und tritt zu ihm ins Freie. »Sie ist nicht bei sich, Gae, irgendwas stimmt ganz und gar nicht, aber ohne CT habe ich keine Anhaltspunkte. Wir müssen sie ins Krankenhaus schaffen.« »Sie weint«, sagt Gaelan, halb zu sich selbst. »Woran siehst du das?« Er starrt Viney weiterhin an. »Bonnie meinte, sie hätte nach mir gefragt?« »Jedes Mal, wenn wir sie reinbringen wollen, sagt sie, sie geht nirgendwohin, ›ehe mein Junge hier ist‹, und wir dachten, dass du damit gemeint bist.« »Wie geht es ihr?« Eli hat sich zu ihnen gesellt. »Oh Schatz«, sagt Bethan und legt einen Arm um ihn. »Es tut mir echt leid. Du bist so tapfer. Aber ich wollte dich einfach nicht allein zu Hause lassen.« »Mir geht’s gut, Mom«, sagt Eli und windet sich aus ihrer Umarmung. Er wendet sich Gaelan zu. »Was machen Sie jetzt? Wie wollen Sie sie dazu bringen, dass sie reinkommt?« »Ich weiß nicht«, sagt Gaelan. »Oh«, sagt Eli. Er wirkt enttäuscht. »Na ja, vielleicht haben Sie eine Idee, wenn Sie mit ihr sprechen.«
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Gaelan zieht seine Kapuze über den Kopf, macht sich auf den Weg in den Garten und fragt sich, warum ein paar Worte von diesem Jungen einen so stärkenden Effekt haben und wieso Elis Gegenwart den Erfolg seiner Aufgabe so viel wichtiger macht. Sobald er nahe genug bei ihr ist, um ihr Gesicht zu sehen, weiß er, dass er Recht hatte: Viney - die selten weint und wenn doch, den Eindruck vermittelt, dass alles in ihrem Körper sich dagegen sträubt - kniet im Schnee, im Erdbeerbeet, zitternd, vor sich hin murmelnd, schluchzend. Über ihren Schultern liegt ein Mantel, ihre Beine sind nackt und wie ihre Schuhe mit Schnee und Matsch bedeckt. Bonnie steht neben ihr. Als sie Gaelan sieht, schenkt sie ihm ein trauriges, verängstigtes Lächeln. Auch sie hat geweint. Sie hält Dads großen grün-weißen Golfschirm, und sobald Viney ihre Haltung verändert, richtet sie ihn genau so aus, dass er über ihr bleibt. Es ist eine freundliche, aber sinnlose Geste. Viney ist schon so lange vor Bonnie hier draußen gewesen, dass sie bis auf die Knochen durchnässt ist. Gaelan streckt die Hand aus und berührt leicht ihren Kopf. »Hi, Viney.« »Oh Schatz!«, ruft sie. Sie springt auf und umarmt ihn. Er zuckt zusammen vor Schmerzen, weicht aber nicht zurück. »Ich bin so froh, dich zu sehen! Es ist so viel Arbeit zu erledigen.« Ehe Gaelan sie aufhalten kann, kniet sie sich wieder hin und klopft auf die matschige Erde neben sich, als wäre sie ein Sofakissen. »Komm, hilf mir.« Sie fängt an zu graben. Er hockt sich neben sie. »Was ist los, Viney?« Ihre Augen sind glasig; sie hat eine Energie, die sowohl manisch als auch diffus ist. »Nichts ist los, Schätzchen, gar nichts! Ich bin bloß im Verzug. Ich habe dieses Beet nicht richtig gepflegt.« »Was meinst du damit?« »Die Ausläufer sind zu lang geworden. Diese Ausläufer. Diese Ausläufer …« 457
Gaelan schaut Bonnie an. Ihr Gesicht ist gefurcht vor Sorge. »Komm, Schatz«, insistiert Viney und packt seine Handgelenke, sodass ihm erneut der Schmerz in die Schulter schießt wie elektrischer Strom. »Hilf mir!« »Wie kann ich denn helfen, Viney? Was soll ich tun?« »Graben, Liebling, das ist alles. Grab einfach. Guck, so. Ach, ich bin so froh, dass du da bist. Es war schrecklich von mir, weißt du, das alles so verkommen zu lassen.« Sie gräbt weiter, doch Gaelan spürt, dass ihr Elan abnimmt, dass sie sich der Erschöpfung überlässt, und ihm wird klar, dass er vielleicht weiter nichts tun muss, als einfach bei ihr zu sein. Seine physische Präsenz - und was immer sie Viney bedeutet reicht aus. Die richtigen Worte zu sagen ist nicht erforderlich. »Eine Sünde des Hochmuts«, murmelt sie nach einer Weile. »Schrecklichen Hochmuts. Und jetzt folgt die Strafe.« Auf eine Erklärung hoffend, sieht Gaelan Bonnie an. Bonnie zuckt die Achseln und schüttelt den Kopf. Als er sich wieder Viney zuwendet, hat sie aufgehört zu graben und starrt mit stocksteifem Körper auf ihre schlammverschmierten Hände. Er hat das Gefühl, dass ihr Herz zu schnell schlägt, wie bei einem kleinen Geschöpf, das nur knapp dem Überfahrenwerden entkommen ist oder sich vor einem bedrohlichen Raubtier versteckt. »Viney?«, sagt er. Sie antwortet nicht. Sie weint wieder. Er hebt sie auf - so winzig sie ist, fühlt sich seine Schulter dabei doch an, als würde sie auseinandergerissen - und trägt sie ins Haus. »Oh Schatz«, wiederholt sie. »Ich bin so froh, dass du da bist.« Ihr Körper entspannt sich, ihre Gliedmaßen erschlaffen. Als er sie in die Küche bringt, fällt einer ihrer schlammbespritzten Schuhe zu Boden: Es ist ein Golfschuh. Einer von Dads. Viney erholt sich ein bisschen, nachdem sie sie gewaschen haben. Sie machen es ihr mit Kissen und mehreren Decken auf dem 458
Rücksitz von Gaelans Wagen bequem und brechen nach Lincoln auf, Gaelan in seinem Auto, Bethan in ihrem. Bonnie bleibt da und kümmert sich um Eli. Auf den ersten Meilen ist Viney noch wach und redselig. »Ich hätte wissen müssen, dass diese Ausläufer sich aus dem Staub machen«, sagt sie. Es ist unklar, ob sie mit ihm spricht oder mit sich selbst. »Man kann die Dinge nicht einfach im Zaum halten, nicht für immer«, fährt sie fort. »Das hätten Welly und ich wissen müssen, und jetzt hat mich der Mistkerl mit dem verdammten Schlamassel allein gelassen, ohne die geringste Orientierung. Ist das nicht mal wieder typisch für den Mann?« So schwadroniert sie noch eine Weile, doch irgendwann wird sie müde, und als sie den Eingang zur Notaufnahme erreicht haben, ist sie eingeschlafen. Das inständige Flehen seines Körpers ignorierend - denn dies hier kann ihm keiner abnehmen, es ist seine Verantwortung, seine Last -, hievt Gaelan Viney vom Rücksitz und setzt sie in einen Rollstuhl. Seine Schmerzen sind mittlerweile kaum zu ertragen. Er muss sich einen Moment lang abstützen, ehe er sie hineinschiebt. Bethan steht bereits am Anmeldeschalter, beschreibt Vineys Symptome - desorientiert, manisch, verwirrt, womöglich Halluzinationen, furchtbar nervös - und ordnet eine CT an. Sie bittet darum, der diensthabende Neuroradiologe möge sie verständigen, wenn die Ergebnisse vorliegen. Ein Sanitäter legt Viney auf eine Trage und rollt sie davon. Bethan und Gaelan setzen sich. Keiner der anderen Wartenden scheint in akuter Not zu sein, weder medizinisch noch sonstwie, deshalb kann Gaelan nur raten, ob sie selbst einen Arzt benötigen oder auf Nachrichten über Angehörige hoffen. Eine stark geschminkte Frau mittleren Alters in einem überaus engen quietschrosa Jogginganzug döst in einem der Sessel (irgendetwas an ihr weckt in Gaelan den Verdacht, dass sie betrunken ist); ein Mann und eine Frau, beide erschöpft wirkend, wech459
seln sich damit ab, ein quengelndes kleines Kind für ein DisneyVideo zu interessieren; drei Männer, die aussehen, als könnten sie Vater und Söhne sein - sich aber gegenseitig komplett ignorieren -, sitzen, enorm übergewichtig und in schmutzigen Overalls, auf einem Sofa, und ein blasses, ausgemergeltes Mädchen in der Ecke scheint ein ermattetes Tier mit langen struppigen Haaren auf dem Schoß zu halten. Doch als Gaelan genauer hinschaut, erkennt er, dass neben ihr jemand sitzt, dessen Kopf auf ihren Knien liegt. Sie geben ein verstörendes Bild ab, beide so klapperdürr, ihre Körper in so seltsamer Beziehung zueinander. Es ist, als wären die Knochen des Jungen innerlich unverbunden und völlig instabil, als verhinderte nur die Umarmung des Mädchens, dass sie sich wie ein lockeres Bündel Reisig auf dem Boden zerstreuen. Das Mädchen beugt sich hinunter, flüstert ihm etwas ins Ohr und küsst ihn dann mit großer Zärtlichkeit auf den ungewaschen aussehenden Kopf. Gaelan ertappt Bethan dabei, dass sie die zwei ebenfalls anschaut. Sie trägt ihre Kontaktlinsen nicht, und ihr Haar ist nachlässig zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Ihm wird klar, dass sie seit sechzehn Jahren nicht mehr miteinander allein waren. »Danke, dass du hier bist«, sagt er. Das erscheint ihm als eine einigermaßen harmlose Einleitung. »Ich möchte dir von meiner Ehe erzählen«, entgegnet sie und starrt dabei immer noch das traurige Liebespaar an. Gaelan hat das Gefühl, dass in seinem Körper ein plötzliches geologisches Ereignis stattfindet, tektonische Platten zusammenkrachen und ein zeklüftetes Gebirge schaffen. »Was?« Bethan sieht ihn an. »Von meiner Ehe«, wiederholt sie. »Von meinem Mann, Leo. Darf ich dir davon erzählen? Nicht heute Nacht vielleicht, aber irgendwann?« »Hey!«, ruft jemand. Es ist einer der drei Männer im Overall. »Sind Sie nicht der Typ aus dem Fernsehen? Der Wetteransager?« 460
Es ist nicht immer ein wichtiger Vorfall oder Entschluss, der den Weg weist, und klug sind die Menschen, die begreifen, dass auch kleine Momente - wie dieser hier in einem Krankenhauswarteraum in Lincoln, Nebraska - die Wahl zwischen zwei sehr verschiedenen Varianten der Zukunft ermöglichen. Gaelan erkennt deutlich, dass sich die Türen zu diesen beiden Alternativen durch den simplen, aber sorgfältigen und wohlüberlegten Gebrauch zweier Wörter öffnen: ja oder nein. In der einen Version ist er überaus dankbar dafür, dass seine Erscheinung auf dem Bildschirm so sehr seiner persönlichen entspricht: Ja, sagt er, ja, ich bin der Wetteransager. Als Nächstes wird er dann mehrere Minuten lang mit seinen Warteraummitinsassen plaudern und auf Broschüren - Informationsblättern mit Titeln wie Risiko Geschlechtskrankheiten, AIDS: Nicht nur eine Gefahr für Homosexuelle, Warnende Vorzeichen von Krebs undWer braucht eine Mammografie? - Autogramme geben. Schließlich wird ein Mann im Arztkittel auftauchen und »Dr. Ellis?« sagen, und er und Bethan werden mit den Identitäten, die ihnen dieses Szenario bietet, in die Zukunft treten. Gaelan ist selbst überrascht, als er die andere Version wählt. »Nein«, sagt er zu dem jungen Mann im Overall, der nicht wahrnimmt, wie verängstigt sein Vater, wie verängstigt sein Bruder, wie verängstigt er selbst ist - denn Gaelan weiß intuitiv, dass sie alle guten Grund haben, verängstigt zu sein. »Nein«, wiederholt er und legt Wert darauf, dass es freundlich klingt, »bin ich nicht.« Dann wendet er sich Bethan zu. Sie schaut ihn durch verschmierte Brillengläser aus leicht geweiteten Augen an. »Ja«, antwortet er, »ich würde gern etwas über dein Leben erfahren.« »Dr. Ellis?«, fragt der Mann im Arztkittel. »Mr. Jones?« Sie stehen auf und folgen ihm gemeinsam. »Also, so viel ich erkennen kann, ist es nichts Organisches«, sagt der Arzt und zeigt auf die CTs, die er in Vineys Kabine mitgebracht hat; sie schläft immer noch fest. »Kein Anzeichen für eine 461
Gehirnblutung oder auch nur einen kleinen Infarkt.« Er blättert Vineys Krankenakte durch. »Hat sie in letzter Zeit unter Stress gestanden?« »Ihr Mann ist im August ganz plötzlich gestorben«, erwidert Bethan. Gaelan liebt sie dafür, dass sie seinen Vater als Vineys Mann bezeichnet. »Na ja, das könnte Depressionen erklären, aber ihre wirren Äußerungen … die Persönlichkeitsveränderung … In Anbetracht ihres Alters würde ich sie gern über Nacht zur Beobachtung hierbehalten. Sie müssen vorn am Empfang ein paar Formulare ausfüllen, dann verlegen wir sie nach oben.« Bethan ruft bei Viney zu Hause an, während Gaelan sich um den Papierkram kümmert. »Das wäre jedenfalls erledigt«, sagt sie, nachdem sie aufgelegt hat. »Bonnie bleibt über Nacht bei Eli. So, jetzt schaffen wir dich mal in die Radiologie und sehen uns an, was mit deiner Schulter los ist.« »Wovon redest du?« »Mach dich nicht lächerlich. Ich habe dich die ganze Zeit beobachtet, Gaelan. Ich habe dein Gesicht gesehen, als du sie getragen hast.« Sie führt ihn einen öden Korridor entlang zum Aufzug. Sie fahren zwei Stockwerke nach oben, treten hinaus in einen ebenso öden Flur - der gerade renoviert wird -, gelangen zu einer ganzen Reihe von Aufzügen und fahren drei Stockwerke nach unten. Gaelan hasst Krankenhäuser. Sie scheinen absichtlich so gestaltet zu sein, dass Menschen sich hier verwirrt, paranoid und hilflos fühlen. Zumindest hat er eine Führerin, die sich auskennt: Bethan geht so schnell und zielstrebig, dass er fast rennen muss, um mit ihr Schritt zu halten. »Was werden sie mit mir machen?«, fragt er. »Es nennt sich Arthrogramm, eine Art Röntgenaufnahme. Dazu muss dir ein spezielles Färbemittel ins Schultergelenk gespritzt werden, damit wir sehen, was da drinnen los ist.« 462
Sein Magen hebt sich. »Keine Angst«, sagt sie in weicherem Ton. »Ich weiß, wie wenig du Nadeln magst, deshalb mache ich die Injektion selbst.« Als es vorbei ist, studiert Bethan die Aufnahmen mit ernster Miene: »Wie ich’s mir gedacht hatte«, sagt sie. »Du hast einen kleinen Riss in der Rotatorenmanschette.« »Was bedeutet das?«, fragt er, Unwissenheit vortäuschend. Sie schaut ihn über ihre Brille hinweg an. »Das bedeutet, du musst abwechselnd heiße und kalte Kompressen auflegen, die Schmerzmedikamente einnehmen, die ich dir verschreiben werde, und mit dem Gewichtheben aufhören. Ehe wir gehen, kopiere ich dir noch was, das du dir zu Hause durchlesen solltest.« »Das kann ich nicht… Mit dem Gewichtheben aufhören.« »Dann soll ich dich zu einem chirurgischen Eingriff anmelden?« Er hat sie noch nie als Ärztin erlebt. Sie ist sehr süß. »Sei nicht blöd, Gaelan«, fährt sie fort. »Ich zeige dir ein paar Übungen, die du machen kannst, und überweise dich an einen Physiotherapeuten.« »Okay, Doc.« Sie bleibt ernst. »Sehen wir nach Viney, sie müsste inzwischen oben sein.« Es ist drei Uhr morgens, als sie in Vineys Zimmer ankommen; ein Pfleger überprüft gerade ihre Vitalzeichen. Bethan stellt sich vor und blättert dann Vineys medizinische Unterlagen durch. Gaelan zieht sich einen Stuhl ans Bett. Vineys Augenlider öffnen sich flatternd. »Welly?«, murmelt sie. »Guten Morgen, Mrs. Closs«, sagt der Pfleger. »Mein Name ist Herman, und ich kümmere mich heute um Sie.« »Wo ist Welly?«, fragt Viney ängstlich. Gaelan nimmt ihre Hand. »Hi, Viney.« »Gaelan, Schatz! Wo bin ich?«
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»Du bist im Krankenhaus.« Sie sieht so verwirrt, so winzig, so gealtert aus. »Bethan und ich haben dich nach Lincoln gebracht, weil es dir nicht gut ging.« »Bethan ist auch hier?« »Hallo, Viney.« Bethan tritt an die andere Seite des Betts und streicht Viney die Haare aus dem Gesicht. »Ich komme später wieder«, sagt der Pfleger, nachdem er Vineys Herztöne abgehört hat. Viney schaut ihm nach und fängt an zu weinen. Sie greift nach Gaelans Hand. »Ich vermisse ihn so sehr.« »Natürlich tust du das«, erwidert Gaelan. »Du und Dad, ihr wart lange verheiratet.« Ihre Augen leuchten auf, richten sich auf ihn, und sie packt seine Hand fester. »War es eine Ehe, Schatz?«, fragt sie fast flehend. »Hast du das wirklich so gesehen?« »Natürlich, das haben wir alle«, antwortet Gaelan, erstaunt und traurig darüber, dass sie diese Frage stellen muss. »Was soll es denn sonst gewesen sein?« »Oh!«, ruft sie. »Danke, dass du das sagst, Liebling. Danke.« Sie schließt die Augen. Ihre Hand erschlafft, bewegt sich noch eine Weile rastlos in der seinen, dann schläft sie wieder ein. Am Schwesternschalter versichert man ihnen, Mrs. Closs sei stabil und der Arzt werde anrufen, falls sich ihr Zustand verändern sollte. Zusammen gehen sie zum Parkplatz. »Hast du Lust, mit zu mir zu kommen, ehe du zurückfährst?«, fragt Gaelan. »Ich könnte Spiegeleier machen oder so, wenn du Hunger hast.« Bethan sieht auf ihre Uhr. »Na ja, jetzt schlafen sowieso alle, also … Klar, einen Kaffee könnte ich gebrauchen.« »Sollen wir in einem Auto fahren?« Sie runzelt die Stirn, ein plötzliches Muskelzucken lässt ihre Lider zittern. Sie zwinkert ungestüm. »Nein«, entgegnet sie und schaut beiseite. »Ist schon okay.« Nachdem sie ihre Augen einen 464
Moment lang zugekniffen hat, holt sie Rezeptblock und Stift aus ihrer Tasche. Als sie ihn wieder ansieht, ist ihr Blick stetig. »Wie ist deine Adresse?« Sie taxiert seine Wohnung ohne Kommentar, legt ihren Mantel und ihre Tasche aufs Sofa und geht ins Bad. Gaelan hofft, in der Küche etwas zu entdecken, das er seinem Gast um vier Uhr morgens servieren kann, aber zuversichtlich ist er nicht. Seit Wochen - eigentlich eher Monaten - hat sich hier außer ihm und den Katzen niemand aufgehalten, tags oder nachts, deshalb hat er meistens auswärts gegessen. Der Inhalt des Kühlschranks ist trostlos: ein paar Navelorangen, ein fettiger Karton mit einem TakeawayNudelgericht, ein Rest Hafergrütze, zwei hartgekochte Eier, ein Glas Kapern und ein bisschen Hummus, das schon grün angelaufen ist. Vielleicht sind im Schrank noch Reiswaffeln. Fettarme Baked Beans. Oder Konserven von Healthy Choice. Zumindest Alkohol ist vorhanden. »Bier oder Wein?«, ruft er. »Nur Kaffee, wenn du hast«, ruft sie zurück. »Instant reicht. Ich sollte wahrscheinlich sowieso bald wieder los.« Er könnte eine CD einlegen, aber das ist ihm peinlich. Seine Sammlung ist immer noch von der Musik seiner Jugend dominiert - überwiegend Springsteen aus den 80ern -, und ihm ist klar, wie traurig das ist, wie verräterisch. Bethan ist mit ihrem Musikgeschmack bestimmt im 21. Jahrhundert angekommen, allein deshalb, weil sie ein Kind hat - obwohl Eli ihm nicht wie ein Junge erscheint, den Modetrends interessieren. Mit Bethan Musik zu hören, die nicht von Bruce ist, käme ihm verkehrt vor. Es aber zu tun könnte wirken, als wollte er etwas zurückgewinnen. Schließlich haben sie sich ja beide verändert, oder? Es würde wie eine Verzweiflungstat aussehen. Sogar das Radio anzustellen erscheint ihm trivial, wie eine Störung. Gaelan hat eine betrübliche Erkenntnis: Es wird nie möglich sein, mit Bethan Ellis in einem Zimmer zu sitzen und sich unbefangen zu den Klängen einerHintergrundmusik zu unterhalten. 465
»Danke«, sagt sie, als sie aus dem Bad tritt und ihren Kaffee entgegennimmt. Offenbar hat sie sich das Gesicht gewaschen (an ihrer Stirn kleben feuchte Strähnchen) und ihre Brille geputzt. Er setzt sich aufs Sofa, sie nicht. Das macht ihn nervös. Sie inspiziert die Ecke des Raums, wo sich sein WorkoutZubehör befindet. »Der Schauplatz des Verbrechens, aha«, murmelt sie. Was soll er darauf antworten? Er verlagert demonstrativ sein Gewicht auf dem Sofa und tut, als hätte er sie nicht gehört. »Willst du irgendwohin?«, fragt sie lässig. »Was? Ach so …« Er schlängelt sich aus der rechten Hälfte seiner Jacke und krempelt dann den linken Ärmel bis zum Handgelenk herunter, stellt aber fest, dass er den Arm nicht herausziehen kann. So sitzt er da, ein Einarmiger, halb in eine Daunenjacke gehüllt. Sie scheint die Digitalanzeige auf seinem Laufband zu studieren, als sie unvermittelt sagt: »Ich weiß nicht, ob wir zu viel zu bereden haben oder zu wenig.« Müssen wir überhaupt reden?, fragt er sich. Vielleicht sollte er doch Musik auflegen. »Wie lange wohnst du schon hier?«, fügt sie hinzu, Gott sei Dank, als wäre dieser Übergang zu müßigem Geplauder völlig normal. »Mal sehen … Zwölf Jahre vielleicht? Nein, dreizehn.« Sie schaut ihn an. »Dann bist du gleich nach deinem CollegeAbschluss eingezogen?« »So ungefähr, ja. Nachdem ich beim Sender angefangen hatte.« Sie nickt. »Du hast es weit gebracht.« Miauend kommen Kate und Spencer angetänzelt. Sie tätschelt sie, gibt summende Geräusche von sich. Lüstern geben sie sich ihrem Streicheln hin, drehen sich verzückt auf die Seite, strecken sich, gähnen, zeigen ihre Bäuche. Sie konnte immer gut mit Tieren umgehen. 466
»Ich habe mit sehr vielen Frauen geschlafen«, entschlüpft es Gaelan. Sie sieht ihn verwundert an. »Ja? Und? Warum solltest du nicht?« Das ist nicht die Reaktion, die er erwartet hat. Kritik ja, blasierte Akzeptanz niemals. »Ich finde nur, du solltest es wissen.« »Warum?« Sie zuckt die Achseln. »Es geht mich nichts an.« Sie lässt sich aufs Sofa plumpsen, so weit entfernt von ihm wie möglich. Immerhin, sie hätte den Sessel wählen können. Kate und Spencer gesellen sich zu ihnen. Bethan fährt fort, den Raum zu mustern, und betrachtet aufmerksam die weiße Decke und die beigen Wände, als überlegte sie, wie die antiken Fresken dahinter am besten zu restaurieren seien. »Erzähl mir von deinem Mann«, sagt Gaelan. »Wenn du willst.« »Jetzt nicht. Erzähl du mir, warum du nie geheiratet hast.« Wahrscheinlich glaubt sie, das sei eine heikle Frage, doch das ist sie nicht. »Ich habe einfach nie die Richtige getroffen.« »Das ist eine ziemlich abgedroschene Antwort«, bemerkt Bethan. »Sie stimmt aber.« »Ich habe nach unserer Trennung auch mit vielen Männern geschlafen«, verkündet sie mit entschlossen heiterer Stimme. »Racheficks nennt man das, glaube ich. Viel Spaß gemacht haben sie mir nicht.« »Tut mir leid.« Sie sieht ihn an, wartet. »Es tut mir leid«, wiederholt er und verleiht den Wörtern mehr Gewicht. Er ist sich sicher, dass ihre inneren Monologe zumindet in diesem Moment einigermaßen in dieselbe Richtung laufen. »Kannst du mir verzeihen?« Ihr Schweigen - kein teilnahmsloses Schweigen, sondern eins, das sich irgendwie deutlich auf seine Worte bezieht - erinnert ihn 467
an etwas, das er immer an ihr geliebt und lange vermisst hat: dass sie sich nicht die Mühe macht, Fragen zu beantworten, die nicht zu beantworten sind. »Es ist schade, was mit uns passiert ist«, sagt sie schließlich, »und ich dachte, ich würde nie darüber hinwegkommen. Aber das bin ich.« Abrupt zieht sie einen dicken Stoß Papiere aus ihrer Tasche. Wieder wallt ein jähes Gefühl in seiner Brust auf; sie hat das entschlossene Aussehen einer Frau, die gleich gut vorbereitet eine Anklage präsentieren wird: eine lästerliche Aufzählung seiner Sünden und Vergehen. Stattdessen macht sie sich an eine Beschreibung von Unterschulterblattmuskel, Obergrätenmuskel, Untergrätenmuskel und kleinem Rundmuskel, gefolgt von einem Vortrag über Verletzungen der Rotatorenmanschette. »Ich habe dir ein paar Informationen über Schulterverletzungen im Allgemeinen ausgedruckt«, schließt sie. »Behandlungsmethoden, Physiotherapie, Selbsthilfemaßnahmen … Hier.« »Danke.« Gaelan nimmt belustigt zur Kenntnis, dass das Deckblatt eine Seite aus dem Malbuch der Anatomie ist. Er fragt sich, ob sie wohl als Nächstes eine Schachtel Buntstifte aus der Tasche holt. »Lies das«, sagt sie eindringlich, »damit ich Fragen beantworten kann, bevor ich gehe. Einige Übungen würde ich dir gern zeigen. Und hast du Eispackungen?« »Ich glaube nicht.« Sie erhebt sich. »Was ist mit Tiefkühlgemüse?« »Vielleicht …« Er bleibt lesend auf dem Sofa zurück, während sie in die Küche geht. Da steht vieles, was ihm Sorgen macht, besonders, dass er nichts Schweres tragen oder heben soll und dass eine Physiotherapie drei Wochen bis mehrere Monate dauern kann. Er gesellt sich zu ihr. »Es heißt hier, dass auch Steroidinjektionen den Schmerz lindern können.« »Das ist eine Behandlungsmöglichkeit.« 468
»Und?« Sie hilft ihm aus dem Rest seiner Jacke. »Dir würde ich sie nicht empfehlen.« »Ich könnte mich an Spritzen gewöhnen«, sagt er wenig überzeugend, sogar für sich selbst. »Das ist nicht der Grund.« »Und warum dann nicht?« »Weil Steroidinjektionen dir ein falsches Gefühl der Sicherheit vermitteln. Wenn du keine Schmerzen hast, ist es wahrscheinlicher, dass du etwas Dummes tust. Dich überanstrengst und wieder verletzt. Bodybuilder sind berüchtigt für ihren Leichtsinn. Das erlebe ich ständig. Jetzt stell dich hierher. Ich helfe dir beim Ausziehen.« Er gehorcht. Sie greift unter seinen Pullover und drückt seine Schulter, um sie zu stabilisieren, gegen den Kühlschrank. Er hat ganz vergessen, wie sich ihre Hände anfühlen, dass sie wirklich die Gabe zu heilen besitzt. »Warum bist du Radiologin geworden?«, fragt er. Sie runzelt die Stirn. »Das tut jetzt vielleicht weh«, sagt sie. »Einatmen.« Sie fängt an, seinen linken Arm aus dem Pullover zu befreien. Es schmerzt nur ein bisschen. »Alles okay?«, fragt sie. »Klar.« Sie nimmt ihm die Unterlagen aus der Hand und zieht seinen anderen Arm aus dem Ärmel. Sein Kopf ist jetzt sein einziger Körperteil, der noch aus dem Pullover ragt. Er fühlt sich wie ein ungeschicktes Kleinkind. Aber als sie beginnt, ihm den Pullover langsam, vorsichtig über den Kopf zu streifen, registriert er die Nähe ihres Körpers die Küche ist winzig -, und nach monatelangem erfolgreichem Sichtotstellen erwacht sein Penis endlich aus der shavasana.
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In der Sekunde, in der sie so dasteht, die Arme hochgereckt, den Blick nach oben gerichtet, umschlingt er ihre Taille und zieht sie an sich. Sie wirkt überrascht, aber bereitwillig, nicht ängstlich. Er hat keine Lust, sich an die genauen Umstände ihres letzten Kusses zu erinnern. Doch er weiß, dass es sechzehn Jahre her ist, seit er diesem Mund begegnet ist, diesen Lippen, dieser Zunge seinem ersten Mund und dem einzigen, den er zwischen seinem vierzehnten und zweiundzwanzigsten Lebensjahr kannte. Die Zeit beginnt zurückzuspulen, und es ist der letzte Kuss, nicht der traurige, schuldbewusste, mechanische Kuss, den er ihr an jenem Heiligabend vor ihrer Trennung gab, sondern ein anderer: der Kuss am Flughafen an dem Tag, als sie zum Medizinstudium abreiste, beide mit nassen Wangen und Mündern voller Salz. Es ist ein Kuss an der Ecke 10th und G an einem winterlichen Samstagmorgen vor der Bäckerei Klein, die Lippen bestäubt mit Puderzucker, Pappbecher mit dampfendem schwarzem Kaffee und eine Tüte Gebäck in den Händen - die netten deutschen Verkäuferinnen liebten sie und schenkten ihnen deshalb immer Strudel direkt aus dem Ofen. Es ist der Kuss auf der Treppe des Capitols im Frühjahr, während Busladungen von Kindern vorbeiströmten und kichernd auf sie zeigten, auf einer abgelegenen Wiese im Pioneer Park, kurz bevor ein Polizist sie aufscheuchte, im Feld seiner Familie, versteckt zwischen dem Getreide. Es sind viele Küsse in seinem Wagen, wo sie schmusen, während Bruce von barefoot girls sittin’on the hood of a Dodge, drinkin’cold beer on a soft summer night singt. Es ist der Abend des Abschlussballs, in Gegenwart seiner Schwestern, die sie immer wieder zu einem Kuss vor der Kamera nötigen; es ist ihr erster Kuss unter der Eisenbahnbrücke über der Schlucht, wo sie sich zu treffen pflegten: Sie waren zwölf und vierzehn, und er machte sich Sorgen wegen ihrer Zahnspange, aber sie meinte hinterher, es habe überhaupt nicht wehgetan. Nach einer Weile löst sie sich von ihm und wirbelt in seinen Armen herum, sodass sie ihm jetzt den Rücken zuwendet. 470
»Bleib über Nacht«, sagt er. »Ich weiß nicht, ob ich das kann, Gae.« »Warum nicht?« »Ich vermisse meinen Mann immer noch.« Sie reckt das Kinn und stößt einen schweren, heiseren Seufzer aus. Er weiß, dass sie bemüht ist, nicht zu weinen. »Es ist komisch, wie lange ich mit anderen Männern geschafen habe, weil ich dich so vermisste.« »Ich habe dich auch vermisst«, sagt er, nicht nur, weil diese Antwort den nächsten, den logischen Schritt ins Schlafzimmer ermöglichen soll, sondern auch, weil es wahr ist. Er umfasst sie mit dem rechten Arm, zieht sie an seine gesunde Seite und legt ihr leicht das Kinn auf den Kopf. Er spürt, wie sie sich entspannt. »Du hast mal eine Geste gemacht«, sagt sie, »vor langer Zeit, als wir gerade nach Lincoln gezogen waren und ich dir zum ersten Mal die Küche in meinem Apartment zeigte. Die mit den himmelblauen Geschirrschränken und dem gelben Linoleum. Erinnerst du dich?« Dieser Satz, wie er ihn manchmal fürchtet. »Ich liebte diese Küche«, fährt Bethan fort. »Ich glaube, deshalb habe ich die Wohnung überhaupt genommen, wegen der Küche. Sie wirkte so hell und fröhlich. Ich war sehr nervös, als du mich zum ersten Mal besucht hast, und ich glaube, du auch, denn du warst so ruhig, so ernst. Hast dir alles angeguckt, dich wohl vergewissern wollen, dass alles okay war. Dass die Spüle nicht leckt, dass der Zündbrenner funktioniert … Erinnerst du dich?« Er erinnert sich. »Ich wollte unbedingt, dass dir die Wohnung gefällt, weil wir dort, du weißt schon, zum ersten Mal miteinander schlafen wollten, und ich fing an, Schubladen und Schränke auf- und zuzumachen auf diese blöde zwanghafte Weise, wie man es tut, auch wenn man weiß, dass gar nichts darin ist. Die Schranktüren waren so oft gestrichen worden, dass sie sich nur schwer öffnen ließen, und eine - ganz oben - klemmte. Ich mühte mich eine Weile da471
mit, und dann bist du hinter mich getreten und hast hochgelangt und sie aufgemacht.« Er entsinnt sich nicht daran, und dennoch beginnt er, weil sie jetzt ebenso stehen, wie sie es beschrieben hat, eine Erinnerung zu kreieren, sich das Bild auf eine Weise einzuprägen, die es ihm von jetzt an erlauben wird, davon zu sprechen, als wäre es eine Erinnerung. »Wir haben einfach dagestanden«, sagt sie mit hoher, junger Stimme, »uns nicht berührt, nur in diesen leeren Schrank geschaut. Ich kann dir nicht sagen, wie oft ich von diesem Moment geträumt habe, von dieser Geste, besonders nach Leos Tod. Sehr lange habe ich nicht gewusst, warum, aber jetzt, glaube ich, weiß ich es.« Sie weint. Er dreht sie wieder zu sich. »Es ist eigentlich ein ganz simpler Traum«, sagt sie, »ein nochmaliges Durchleben dieses Augenblicks, nur ohne die sexuelle Erregung. Aber das Gefühl, das er mir vermittelt, ist so stark. Das Gefühl, behütet zu sein. Dafür wollte ich dir danken, das ist alles.« Er wischt ihr die Tränen ab, nimmt ihre Hand und führt sie aus der Küche. »Komm ins Bett«, sagt er. »Schlaf mit mir.« »Ich habe dir doch gesagt, ich weiß nicht, ob es richtig ist. Ich vermisse Leo immer noch.« Er lächelt. »Es stört mich nicht, Ersatzmann zu sein.« Das ist scherzhaft gemeint, aber ein besorgter Ausdruck huscht über ihr Gesicht. »Das sollte es aber«, sagt sie nachdrücklich. »Wie kannst du so etwas sagen? Du solltest nie Ersatzmann sein. Für niemanden. Niemals.« Ihr Ton ist drängend, verärgert sogar. Und dann zeichnet sich eine furchtbare Erkenntnis auf ihrer Miene ab. »Ist es denn so für dich, Gae?« Er ignoriert die Frage. »Bleib bei mir.« Er zieht sie an der Hand den Flur entlang in Richtung Schlafzimmer.
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Sie wehrt sich nicht. Als sie jedoch in der Tür stehen, spiegelt ihr Gesicht plötzliches Erschrecken. »Was ist? Was ist los?«, fragt er alarmiert und dreht sich um. Da ist nichts. Nur das Bett. »Dieser Quilt«, sagt sie verwundert, und ihm wird klar, dass sie zu den wenigen Menschen gehört, die darin eine Kopie erkennen. »Das kann doch nicht der sein, den eure Mom gemacht hat … Wie …?« »Ich habe ihn anfertigen lassen.« Sie runzelt immer noch die Stirn. »Er ist fantastisch.« Ihre Stimme ist ausdruckslos. »Was ist?«, fragt er. »Warum ist er hier?« »Was meinst du damit?« »Du könntest ihn woanders präsentieren.« »Es ist ein Quilt. Der gehört auf ein Bett.« Sie schaut ihn an. Jede Weichheit ist aus ihrem Gesicht verschwunden. »Es ist mehr als das, Gae. Mach mir nichts vor. Du hättest ihn …« Sie macht eine vage Geste. »… an die Wand hängen können oder so.« »Ich wollte ihn aber nicht an die Wand hängen«, sagt er verärgert. Warum macht sie so ein Getue deswegen? »Ich wollte ihn…« »Ja?« »Ich wollte, dass er …« Sie starrt ihn an, und ihre Augen werden Projektionsflächen, auf denen er alle Begegnungen mit allen Frauen sieht, die er im Laufe der Jahre hier gehabt hat: dieselbe Szene, derselbe Dialog, verschiedene Schauspielerinnen, eine einzige lange Probeaufnahme. Er sieht, dass sie im Geiste die Verbindung herstellt zwischen dem Quilt - der Trumpfkarte schlechthin - und seinem Sexualleben, dass sie erkennt, wie er seine Familiengeschichte und die Schönheit des Quilts ausgebeutet hat.
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»Wie leid du ihnen tun musst«, bemerkt Bethan, »all diesen Frauen, die in diesen Raum kommen, wenn du ihnen erzählst, dass deine Mutter tot ist.« Sie wartet, aber als er nichts sagt, senkt sie den Blick und nickt - als wäre sein Schweigen Bestätigung einer traurigen Wahrheit, die sie zu widerlegen hoffte. »Ich kann nicht, Gae«, sagt sie schließlich. »Ich muss los.« Sie hinterlässt eine benutzte Kaffeetasse. Nicht einmal Lippenstiftspuren sind auf dem Rand. Er zieht den Quilt vom Bett und stopft ihn in den Schrank. Dann gießt er sich ein Bier ein, legt das Album Nebraska auf, setzt sich aufs Sofa und schließt die Augen. Im Geiste spielt er einen Film ab, der sie beide zeigt, als sie jung waren. Es ist nichts Trauriges an diesem Film oder an den handelnden Personen. Die Zukunft liegt noch vor ihnen. Sie haben noch keine Entscheidung getroffen außer der, sich zum ersten Mal zu verlieben, und zwar ineinander. Hopes Tagebuch, 1970 Verstecken Ich denke über Dinge nach, die sich verstecken: ganz hinten im Schrank oder in der Schublade, unter der Treppe, hinter der Tür, auf dem Dachboden, im Keller, tief in der Erde, in Sichtweite. Das Versteckte gewinnt eine Macht, deren Ausmaß und Umfang mit der Zeit wächst. Wie kann etwas so lange verborgen bleiben? Ich spreche über die Verschollenen in Vietnam (Gott sei Dank blieb Viney wenigstens dieser Horror erspart), das Mammutskelett, das mitten im Winter unversehrt von einer Familie gefunden wurde, die über die sibirische Steppe wanderte, über Mordopfer, das höllische Suchen und Finden, das Polizeibeamten aufgezwungen wird. Wie ist das möglich? Wie können Dinge so lange im Verborgenen bleiben? Was verborgen ist, besitzt Macht - aber worin besteht sie? 474
In Emlyn Springs verdecken wir in Zeiten der Trauer die Spiegel. In Momenten der Scham verstecken wir unser Gesicht. Vor unseren Kindern verbergen wir Dinge, deren Anblick zu schrecklich ist. Wir verstecken uns vor der Realität des Todes, wenn wir können. Wenn das Verborgene Macht gewinnt, müsste es sie verlieren, wenn es entdeckt wird. Verstecken und finden. Sollten wir wirklich suchen, was versteckt ist? Komm raus, komm raus, wo immer du auch bist. Nachdem ich »Fahrenheit 451« gelesen hatte, fragte ich mich, wo ich die Bücher verstecken würde, die die Gedankenpolizei verbrennen will. Und nach der Lektüre von Anne Franks Tagebuch fragte ich mich, wo ich die Juden versteckt hätte. Hätten Anne und ihre Familie in meinem Haus überlebt? Gegenstände, Objekte verstecken sich vor mir, das weiß ich genau. Und dann, nachdem sie ihre geheimen Abenteuer erlebt haben, tauchen sie wieder auf. Unbemerkt fügen sie sich wieder in die Landschaft meines Schreibtischs, meiner Kommodenschublade ein. Eheliche Untreue, ja. Die verbirgt man aus offensichtlichen Gründen. Aber die Wahrheit des Körpers? »Er weiß, wo die Leichen vergraben sind«, sagt man nicht nur über Attentäter und Meuchelmörder, sondern über alle, die Kenntnis von heimtückischen Taten haben. Erpresser, Beamte, die sich bereichern, bestechliche Polizisten. Und Ärzte, wie sich herausstellt. Als ich Llwellyn heute Abend, nachdem ich die Kinder zu Bett gebracht hatte, die vermeintlich freudige Nachricht verkündete, wirkte er alles andere als erfreut. »Was ist los?« 475
Er druckste eine Weile herum, dann sagte er schließlich: »Hope, ich halte es für keine gute Idee, dass du dieses Baby kriegst.« Diese Worte - und sein Ton - erschreckten mich so sehr, dass ich einen Moment lang nicht sprechen konnte. »Was?« »Ich finde einfach - du wirkst schon mit den beiden ständig so erschöpft. So müde und ausgelaugt. Wo willst du da die Energie für ein drittes Kind hernehmen?« »Soll das heißen, dass ich eine schlechte Mutter bin?« »Nein! Nein, Hope, das meine ich nicht. Bitte sei doch nicht trotzig.« Ich fasste es nicht. »Du sagst mir, ich soll unser Baby nicht zur Welt bringen! Welche Reaktion findest du denn da angemessen?« »Ich sage bloß, denk dran, wie müde du immer bist.« Es war nicht zu glauben. »Das ist dein Argument? Lächerlich! Ich kenne keine Mutter, die sich nicht wünscht, sie könnte sich mal ein paar Stunden hinlegen und ausruhen.« »Du weißt, was ich meine.« »Nein, weiß ich nicht, Llwellyn. Wovon redest du?« Er schwieg, und sein Gesicht nahm einen Ausdruck an, den ich kaum beschreiben kann. Es verhärtete sich auf eine Weise, wie ich es noch nie gesehen habe, und da bekam ich Angst, dass er mir etwas verheimlicht, dass wirklich irgendwas nicht stimmt. Das Telefon klingelte - ein Notfall außerhalb der Stadt und ein willkommener Anlass für L., unsere Diskussion abzukürzen. »Ich muss weg«, sagte er. »Wir sprechen später darüber. Rufst du bitte Viney an? Sag ihr, dass ich sie heute Abend brauche und schon unterwegs bin.« Er eilte zur Tür hinaus und ließ mich mit klopfendem Herzen zurück. Stunden danach warte ich immer noch auf ihn. Ich habe meine Hand auf meinem Bauch, während ich dies schreibe, und versuche, mir nicht vorzustellen, was an dieser Geburt es wohl ist, das bei meinem Mann Entsetzen auslöst - denn das war es, was sein Gesicht widerspiegelte. 476
Schlief letzte Nacht im Kinderzimmer ein, während ich auf L. wartete. Gegen ein Uhr morgens rief er endlich an und erklärte, er und Viney seien in Lincoln im Krankenhaus bei der Familie eines Jungen, der bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt worden war. Er würde gerade operiert und sie warteten auf Neuigkeiten. Er werde später wieder anrufen. Kein Wort über unseren gestrigen Wortwechsel, was mich nicht überraschte. Habe die Kinder zur Schule gebracht. Als das Telefon wieder läutete, war es Viney, die mir sagte, sie seien nach wie vor in Lincoln. Llwellyn wolle bis zum Abend bleiben, vielleicht auch über Nacht, um bei den Eltern des Jungen zu sein und sich zu vergewissern, dass er stabil ist. BLÖDSINN!, hätte ich am liebsten gerufen, aber die Motive des guten Doktors in Frage zu stellen wäre gleichbedeutend mit Blasphemie gewesen. »Viney, was fehlt mir?« »Was …?«, stotterte Viney. »Fehlt mir irgendwas?«, wiederholte ich, »gesundheitlich?« »Was meinst du?« »Ich bin wieder schwanger«, sagte ich und ließ diese Information wirken. Am anderen Ende folgte Schweigen, bevor Viney »Oh, Hope, wie wundervoll!« zirpte und mir damit zu der Erkenntnis verhalf, dass sie Bescheid wusste. »Llwellyn will nicht, dass ich das Kind kriege«, fuhr ich fort. Wieder Stille. »Warum, Viney? Warum will Llewellyn das nicht?« Sie fing an zu weinen. »Oh, Schatz, ich weiß nicht«, sagte sie schließlich. »Ich kann mir nicht denken, wieso er das sagt. Wenn er aus Lincoln zurück ist, sorge ich dafür, dass er …« Ich hängte auf. Derartig hingehalten von meiner besten Freundin - die eine sehr schlechte Lügnerin ist - und von meinem Ehemann, stieg ich 477
ins Auto, fuhr in die Stadt und suchte den einzigen Menschen auf, der meine Fragen ehrlich beantworten würde. Dr. Williams war wie üblich in seiner Garage über eine seiner Kreationen gebeugt und bemalte die Flügel eines Windkreiselkardinals sorgfältig und methodisch mit glänzender, knallroter Emailfarbe. Der liebe alte Herr musste nur »Hope! Was für eine nette Überraschung! Kommen Sie rein, dann mache ich uns Tee« sagen, und schon begann ich, unkontrolliert zu weinen. Nachdem ich mich zusammengerissen hatte, berichtete ich von Llwellyns seltsamer Reaktion auf meine Ankündigung und seinen Bemerkungen über meine Mattigkeit. Dr. Williams wirkte aufrichtig verblüfft. Er erkundigte sich, ob ich ihm einige Fragen zu meinem Befinden beantworten würde, und wollte dann wissen, ob ich manchmal das Gefühl hätte, diese Mattigkeit schwächte mich so sehr, dass sie mich daran hinderte, meine täglichen Aufgaben zu verrichten, ob ich je Taubheit in den Gliedmaßen verspürt, eine Veränderung meiner Sehkraft wahrgenommen hätte. Die Antwort auf all diese Fragen lautete natürlich »Ja«. »Geht es Ihnen ziemlich gut, wenn Sie schwanger sind?« »Ja, abgesehen von den Fehlgeburten.« Er nickte. »Und sind Sie in den Monaten nach der Entbindung sehr müde?« »Ja, aber wer ist das nicht?«, erwiderte ich. Er nickte wieder. Es dauerte lange, bis er sprach. »Ich habe den Verdacht - und sicher bin ich keineswegs; es wäre falsch von mir, den Eindruck zu erwecken, dass dies mehr als eine bloße Vermutung ist -, aber nach dem, was Sie mir erzählt haben: das Taubheitsgefühl in Füßen und Beinen und Händen, das verschwommene Sehen in den letzten Jahren, der plötzliche Totalverlust und dann die Rückkehr Ihres Sehvermögens gestern Morgen, das Kommen und Gehen all dieser Symptome, Ihre verstärkte Müdigkeit bei Hitze … Diese Konstellation von
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Befunden deutet darauf hin, dass Sie an einer neurologischen Erkrankung leiden könnten.« Konstellation von Befunden. Reizender Ausdruck. »Zum Beispiel?«, hakte ich nach. »Das weiß ich nicht. Es gibt viele Krankheiten, die man ausschließen müsste.« »Nennen Sie eine.« Er zögerte. »Na ja, MS etwa. Multiple Sklerose.« Ich dachte zurück an Larkens Geburt, an die hartnäckigen und ärgerlichen Fragen des Arztes über meine Sehkraft. »Wie lange, glauben Sie, weiß Llwellyn schon, dass etwas nicht stimmt?«, fragte ich. Dr. Williams zuckte die Achseln. »Wussten Sie es?« »Nein«, sagte er nachdrücklich, und ich merkte, dass er nicht log. Er versuchte, mich zu beschwichtigen, indem er erklärte, die medizinische Ethik unserer Zeit gebiete, die Wahrheit zu verheimlichen, wenn es um Krankheiten wie diese gehe. »So war es jedenfalls, als ich ein junger Arzt war«, sagte er, »und als Berufsanfänger habe ich meinen Patienten auch Informationen vorenthalten. Man braucht einige Zeit und Erfahrung, um zu wissen, wann diese Regeln gebeugt oder sogar ignoriert werden müssen. Ich bin sicher, Llwellyn dachte, er täte das Richtige, als er es Ihnen unterschlug, Hope. Ich bin sicher, dass seiner Verheimlichung echte Liebe zugrunde liegt, der Wunsch, Sie zu beschützen.« Das klang ziemlich einleuchtend, minderte meinen Zorn jedoch nicht. »Besteht Gefahr für das Baby?«, fragte ich. »Nein.« »Ist die Krankheit erblich?« »Das hält man für ausgeschlossen.«
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»Warum haben Sie sich nach meinen Schwangerschaften erkundigt?« »Manchen Frauen mit MS geht es sehr gut, wenn sie schwanger sind; ihre Symptome klingen dann ab oder verschwinden sogar ganz, aber nach der Entbindung sind sie schlimmer als zuvor. Sicher hat sich Llwellyn deshalb Sorgen gemacht.« Ich dankte Dr. Williams und ging, und jetzt bin ich zu Hause und warte und begreife es immer noch nicht. Welches Recht hatten sie, mir das zu verheimlichen? Dabei geht es eigentlich nicht um »sie« - die ach so ethischen Ärzte im Allgemeinen. Wen ich meine, ist mein Ehemann und, wie es scheint, seine Helferin. All diese Zeit - Jahre um Jahre -, während die Krankheit heimtückisch voranschritt, haben sie so getan, als wären die Krankheit und ich nicht ein und dasselbe. Aber ich bin die Krankheit. Ich hätte nie vor mir selbst versteckt werden dürfen. Ich bekomme dieses Kind. Vielleicht werde ich ihm nie verzeihen können.
22 Die Witwe findet ihre Geschichte In kleinen Orten gibt es eine spezielle Form der Heuchelei. Sie hat weder mit absichtlicher Ignoranz noch mit Blindheit zu tun. Sie ist das Gegenteil von Tratsch, nämlich vorzutäuschen, etwas nicht zu wissen. Diese Heuchelei erlaubt es den Bewohnern kleiner Orte, ständig in so großer Nähe zueinander zu leben. Wie sonst könnten sie sich tagtäglich begegnen, wenn auch Sünder unter ihnen sind? Ohne den Brauch des Nicht-Wissen-Wollens wäre das nicht möglich. Sollte ein Fremder in den sozialen Kokon einer Stadt wie Emlyn Springs eindringen und Fragen stellen wie: »Müsste der 480
nicht im Gefängnis sein?« oder »Haben die beiden je geheiratet?« oder »Hat sie zugenommen?«, wären die Antworten Das kann ich wirklich nicht sagen, Da fragen Sie den Falschen, Sie könnten Recht haben oder Das ist eine sehr interessante Beobachtung. Diese Form des Verdrängens tritt oft auch innerhalb eines Individuums auf. Schließlich kann ein einziges Leben zahlreiche Identitäten enthalten, eine ganze Ansammlung von Ichs, die man im Laufe von, sagen wir, fünfundsiebzig Jahren beherbergt hat. Damit all diese Ichs miteinander koexistieren können, muss man die Macht des Nicht-Wissen-Wollens gelegentlich nach innen richten. Sollte ein Ich zum Beispiel fragen: Wann genau habe ich angefangen, mit dem Mann meiner besten Freundin zu schlafen?, könnte ein anderes Ich guten Gewissens und mit echter Verwunderung antworten: Nachdem sie es mir erlaubt hat, natürlich! Jahrelang sind Alvina Closs Selbstgespräche wie diese mühelos gelungen. Aber jetzt ist sie das einzige überlebende Mitglied eines nicht eingetragenen Zweipersonenvereins, der sich der Unterstützung und dem Verdrängen gewisser bedrückender Verbrechen gewidmet hatte. Das andere Mitglied dieses Clubs ist nicht mehr da und hat sie in schmerzlicher Einsamkeit zurückgelassen. Was ist so wichtig daran? war immer die vorherrschende Frage in der Gemeinde der Ichs, die Alvina Closs ausmachen. Worauf die Nicht-wissen-Wollenden antworteten: Das kann ich wirklich nicht sagen oder Da fragen Sie die Falsche. Und hier ist sie nun: meilenweit entfernt von zu Hause, an ein Krankenhausbett gefesselt, Symptome zeigend, die keine Röntgenaufnahme erklären und kein Arzt (außer Welly natürlich) diagnostizieren kann. Natürlich war es eine Ehe, hat Gaelan gesagt. Was soll es denn sonst gewesen sein? Es ist schwierig, sehr schwierig für die Hinterbliebenen, sich der Vielfalt der Gefühle zu öffnen, die auf einen Verlust folgen und viele können es nicht. Es gibt die weit verbreitete falsche 481
Vorstellung, dass wir nur gut von den Toten sprechen dürfen, dass wir ihnen in unseren Herzen und Gedanken mit treuer Liebe und ungetrübter Freundlichkeit begegnen und damit im Rückblick eine persönliche Geschichte konstruieren müssen, die Schmerz, Leiden und Sünde ausschließt. Dabei kann Trauer sich nicht abschwächen und Genesung nicht eintreten ohne die Bereitschaft, ehrlich über die Toten und unsere Beziehung zu ihnen zu sprechen. Die ganze Bandbreite der Empfindungen für diejenigen zu äußern, die uns verlassen haben, wirkt reinigend - und stärkend. Es gestattet uns, dieterra incognita einer drastisch umgestalteten Zukunft - einer sehr langen womöglich - mit Zuversicht zu betreten. »Bis dass der Tod uns scheidet« ist ein schrecklicher, erzwungener Schwur für ein Hochzeitspaar. Der Tod beendet gar nichts. Was im Leben unvollkommen war, wird nach dem Tod unvollkommen bleiben; was nicht repariert wurde, lässt sich nicht mehr kitten, ausgesprochene Worte hallen nach wie ein Fluch, ungesagte Worte werden zum Krebsgeschwür. Und doch muss das alles anerkannt und eingestanden werden, zumindest im eigenen Herzen, wenn schon nirgendwo anders. Es war nicht 1976, als Hope es ihnen erlaubte. Es war auch nicht 1967, nach dem Tod von Wally junior (nein, zu der Zeit noch nicht), obwohl es, wenn sie es recht bedenkt, damals hätte anfangen können. Es hängt ganz davon ab, wie man es betrachtet. Eins ist sicher: Sie hat etwas aus sich gemacht, ganz allein, nachdem Waldo gestorben war. Vielleicht begann es da: als sie einunddreißig war und verwitwet. Natürlich trauerte sie, aber sie war trotzdem noch heißblütig und willensstark, ein echtes Energiebündel, wie Llwellyn Jones sagte. Sie war schon als Kind eine Rebellin gewesen, ein standhaft nonkonformistisches kleines Mädchen, das lieber Jeans trug als Kleider und dem Tränen furchtbar peinlich waren - ihre eigenen oder die anderer. Die meisten Leute erwarteten, dass sie sich 482
mit der Zeit ändern, unterwürfiger werden würde. Vielleicht gab es sogar manche, die es als wohlverdiente Strafe für Alvina Closs ansahen, dass ihr Ehemann so plötzlich starb, so jung. Viney jedoch hielt sich keineswegs an das, was die Stadt von ihr erwartete: eine Periode des stoischen Trauerns, in der sie in den Genuss von mitleidigen Blicken, Nudelaufläufen und den Besuchen älterer Damen gekommen wäre, die Bibelverse herunterrasselten, gefolgt von einem sittsamen Wiedereintritt in die gute Gesellschaft bei Kirchenbasaren, Tanzabenden an den EierFeiertagen und te bachs in St. David. Und dann würde irgendwann ein fader, schwabbeliger Kerl mit schütterem Haar in Erscheinung treten, ein Witwer oder Junggeselle mittleren Alters, einer von denen, die bei ihrer Mutter leben. Er würde ihre Töchter ein paarmal zum Eisessen einladen, mit Wally junior einen Football schleudern und annehmen, das müsste ausreichen, denn schließlich war eine Mutter von vieren Gebrauchtware und nicht eben eine gute Partie. Sie würde so dankbar sein für seine Freundlichkeit und seine väterlichen Instinkte, seine Krankenund Lebensversicherung, seine Pensionsansprüche und sein festes Gehalt, dass sie bereitwillig, ergeben, einen sittsamen kleinen runden Hut mit Schleier auf dem Kopf, gekleidet in ein matronenhaftes Kostüm in Rosa oder Hellgelb oder Cremeweiß und passende Pumps, an seinem Arm in die Bethel Welsh Methodist Church treten, mit einem Blick höchster Bewunderung Ja, ich will sagen und fortan ihre Beine spreizen würde, wenn er sie dazu auffordert. Nein. Das nicht. Nie und nimmer. Schon lange bevor die Zeitschrift Ms. den Weg in ihr Leben fand und der Begriff Feministin zum Allgemeingut wurde, wusste Alvina Closs, dass die Hand an der Wiege vielleicht wirklich die Hand ist, die die Welt regiert, es aber nicht schaden kann, wenn die Besitzerin dieser Hand ihr eigenes Geld verdient.
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Sie hatte mit siebzehn geheiratet und ihr erstes Kind bekommen - nicht weil sie bebrütet worden war, wie es so schön heißt (und es gab in Vineys Generation weiß Gott jede Menge Mädchen, auf die das zutraf). Sie war gescheit, sie war anständig, und sie war Jungfrau in ihrer Hochzeitsnacht. Jung zu heiraten und früh Kinder zu kriegen war das, wofür sie sich entschieden hatte. Und sie würde nicht aufhören, Entscheidungen zu treffen, nur weil der Zufall - oder das Schicksal oder Gott oder wie immer man es nennen will - ihr einen Stein in den Weg gelegt hatte. Noch im Alter staunt Viney darüber, wie viele Menschen durchs Leben gehen, ohne Entscheidungen zu fällen - das ist doch keine Art zu leben! Sie kann sie nicht ausstehen. Und so entschied sie sich nach Waldos Tod dazu, sich weiterzubilden, Krankenschwester zu werden. Sie bestand stolz und fest auf der Richtigkeit dieser Entscheidung, auch wenn sie Opfer beinhaltete: Sie verschuldete sich, nahm einen Kredit auf; ihre Kinder mussten früh Verantwortung tragen, selbständig werden. Sie lernte nachts, wenn die Kinder im Bett waren, und war in dieser Phase dauernd müde, das Haus unaufgeräumt; Mahlzeiten wurden aus Tüten und Dosen zubereitet. Aber es ging immer liebevoll zu. Und sie wusste, dass Wally junior und die Mädchen sie irgendwann verstehen, vielleicht sogar dafür bewundern würden, was sie getan hatte. Am Tag der Abschlussfeier standen sie alle zusammen da: Viney und ihre vier Kinder und Hope und Welly mit ihren zwei Kleinen. Es gibt einen Beweis dafür: ein Foto, das irgendwo im Keller in einem Karton vergraben ist. Vielleicht wird sie versuchen, es zu finden, und es rahmen lassen. Danach folgten drei glückliche, unbeschwerte Jahre. Sie hatte eine liebe Freundin in Hope und einen guten Arbeitgeber in Welly - obwohl er damals in der Praxis Dr. Jones und bei Geselligkeiten Llwellyn für sie war. Sie fungierte nicht nur als Arzthelferin, sondern verwaltete auch das Büro, weil er sich keine zweite Angestellte leisten konnte. 484
Deshalb war es Viney, die am Empfangsschalter saß, als an jenem Nachmittag die Türglocke läutete. Sie schaute nicht gleich auf; sie machte die Buchhaltung. Ihr erster Gedanke: Wozu brauchen zwei so gesund aussehende junge Männer einen Arzt? Sie bemerkte nicht einmal, dass sie Uniform trugen, nicht sofort; es war kalt in jenem November. Sie hatten ihre Mützen abgenommen, ihre Mäntel aber noch an. Ihre Erinnerung an die Monate nach diesem Augenblick ist ein Konstrukt, eine Collage aus Bildern und Satzfragmenten Angriffsunternehmen, Dak To, Aufklärungsflug, bewaffnete Eskorte, Einsatz von Maschinengewehr, ins Heck getroffen, Ausleger abgetrennt, Explosion, Feuer, konnten nicht beide Piloten gerettet werden, Leichensuchtrupp, Metall und Asche, Knochensplitter, Zähne, aber sonst nichts, nichts weiter. Einer der jüngsten gefallenen Piloten. Eine gefaltete Fahne, eine dankbare Nation. Irgendwann begann sie, sich Bilder von anderen gymanfas auszuleihen, denn an dem für Wally junior hat sie nicht teilgenommen, nicht wirklich. Wenn sie andere Trauerfeiern besuchte, dachte sie So muss es bei Wallys auch gewesen sein und setzte sich daraus etwas zusammen, etwas, das inzwischen als Erinnerung an die Beisetzung ihres Sohnes durchgeht. Welly sang in der Kirche. Das ist das Einzige, dessen sie sich wirklich entsinnt. Er hatte die schönste Stimme von allen. Mit der Zeit war sie also imstande, sich einzureden, sie hätte die Trauerfeier für ihren Sohn erlebt, seinen Tod dagegen konnte sie nie rekonstruieren, und das war verrückt, es war inakzeptabel, denn die Geburt von Wally junior miterlebt zu haben und sein gymanfa und seine Beerdigung, nicht aber seinen Tod, ergab irgendwie keinen Sinn. Welly fing an, sie zu Noteinsätzen mitzunehmen. Ihre Kinder waren alt genug, um allein gelassen zu werden. Also holte er sie ab, oft mitten in der Nacht, denn die meisten Blutbäder spielten sich außerhalb der Sprechstunden ab. 485
Es gab damals sehr viele Verkehrsunfälle, mehr als heute, denn viele fuhren betrunken Auto. Es war die Zeit, bevor sich die Werbeleute zusammentaten und all die eingängigen Slogans erfanden: Kein Alkohol am Steuer, Betrunken Autofahren - nein danke, 0,5 Promille sind schon zu viel. Damals trank jeder und fuhr danach, und wenn Eltern den nächsten Tag kotzend im Bad verbrachten, erzählten sie ihren Kindern, sie hätten Grippe. Natürlich erfuhren die Kinder irgendwann die Wahrheit und zogen daraus den Schluss, ebenfalls betrunken fahren zu dürfen, und wickelten ihre Autos um Straßenbäume. Und in jenen Nächten bekam Viney dann einen Anruf, und es war Llwellyn, der sagte, er sei unterwegs, er brauche sie, er brauche sie, obwohl das anfangs gar nicht stimmte. Sie stand einfach dabei, eine stumme Zuschauerin, die ihm reichte, was er benötigte. Auf dem Heimweg tat Welly jedes Mal so, als wäre er schläfrig. Würde es Ihnen was ausmachen zu fahren, Viney?, fragte er dann. Ich bin todmüde. Es machte ihr nichts aus. Sie war niemals müde, obwohl sie nie schlief. Wie denn auch, wenn alle Lichter anbleiben mussten? Sie konnte Wally junior doch nicht in ein dunkles Haus zurückkehren lassen. Die Unfälle ereigneten sich stets irgendwo in der Pampa, auf einer unbefestigten, nicht beleuchteten Landstraße, gesäumt von Mais oder Hirse, in einem Niemandsland der Zuständigkeiten. Stadt? Bezirk? Staat? Die Beteiligten konnten sterben, bevor sie herausfanden, wen sie vom nächsten Haus aus anrufen mussten, aber wenn sie diesen jungen Arzt in Emlyn Springs und seine Helferin erreichten, kamen die sofort, waren schnell da. Eines Nachts sagte ein dankbarer Farmer: Ihr beide, ihr seid wie die mobilen Chirurgenteams, die wir drüben hatten, und Viney fragte sich: Wie groß ist der Zeitunterschied zwischen Nebraska und Vietnam?, und von nun an war sie nicht mehr hier, sie war dort, und Welly und sie sahen nur aus wie Zivilisten: In Wahrheit waren sie in Bereitschaft und warteten auf ihren Ein486
satz, und wenn die Anrufe kamen, mussten sie zur Flugpiste von Dak To, zu den Brandopfern im Lazarett von Vung Tau oder ins Brigadehauptquartier von Pleiku. Sie ersetzte die Familienbibel durch ein Wörterbuch, und ihr Vokabular wuchs und wuchs; auf derselben Seite wie Vietnam stand Vignette: in der Buchkunst eine kleine Verzierung meist ornamentaler Art, z.B. auf dem Titelblatt, und während da drüben immer mehr Jungs starben, rettete sie ihnen hier das Leben: Sie waren alle Wally. Und Viney war dankbar, wenn einer von ihnen ein Bein verlor oder ein Auge, denn dann wurde er ausgemustert, und seinen Eltern war es lieber, ihn versehrt bei sich zu Hause zu haben, als zu wissen, dass er nicht mehr da war, Knochen und Zähne, sonst nichts. Von da an sah es hier nur für die anderen wie Nebraska aus. Wo normale Menschen umgekippte Mähdrescher und zerquetschte Autos und Äcker mit Viehfutter erblickten, hatte Viney eine Landschaft aus Bombenkratern und ausgebrannten Hubschraubern vor Augen. Und keine Maisfelder mehr, nur noch Reisterrassen. Es war in der Nacht nachdem Hope Llwellyn erzählt hatte, dass sie wieder schwanger war, 1970 also, denn Bonnie wurde im April 71 geboren. Damals also geschah es. Ihr habt einen Notfall, sagte Hope. Llwellyn ist schon unterwegs. Viney hatte inzwischen so viel Erfahrung, dass sie an der ersten Silbe erkannte, ob Hope sie als Freundin oder als Verbindungsoffizier anrief. Diesmal klang Hopes Stimme besonders angespannt, doch daran erinnerte Viney sich erst später, als Llwellyn ihr berichtete, dass sie sich gestritten hätten. Viney legte auf, zog ihre Schwesterntracht an, hinterließ einen Zettel für die Mädchen und griff sich ihre Tasche. Sie wartete draußen auf Llwellyn, als er vorfuhr, und dann düsten sie los. 487
Unterwegs - sie fuhren von Emlyn Springs auf Landstraßen und Feldwegen nach Norden - teilte Llwellyn ihr das wenige mit, was er wusste: Verkehrsunfall, ein Fahrzeug, womöglich Verstümmelung mit eventuell tödlichem Verlauf. Danach schwieg er. Das war wie üblich. An seinem Verhalten war nichts Ungewöhnliches. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie am Ziel waren. Der Junge hatte viel Blut verloren. Hatte keinen Sicherheitsgurt getragen, war aus dem Wagen geschleudert worden. Eins seiner Beine war zerquetscht, das andere über dem Knie abgetrennt. Für ihn wird es keinen Militärdienst geben, dachte Viney. Sie taten, was sie konnten, machten ihn transportbereit. Obwohl offensichtlich war, dass es nichts nützen würde, nahmen sie um der Familie willen das abgetrennte Bein, packten es in Eis und brachen nach Lincoln auf. Llwellyn saß hinten bei dem Jungen, Viney fuhr, die Angehörigen folgten. Der Junge starb unterwegs. Viney erwartete, dass sie nach Emlyn Springs zurückkehren würden, nachdem sie einige Zeit mit der Familie verbracht hatten. Als sie aber mit frischen Tassen Kaffee aus der Cafeteria kam, fand sie Welly am Telefon vor, wo er Hope nicht sagte, dass ihr Patient tot war - schwer verletzt waren seine Worte. »Viney und ich bleiben über Nacht im Krankenhaus«, erklärte er, »bei den Angehörigen, während er operiert wird und bis wir wissen, dass er stabil ist.« Vielleicht ist er gar nicht gestorben, dachte Viney. Das erschien ihr einleuchtender, als mit anzuhören, wie Dr. Jones seine Frau belog. Llwellyn meinte, er oder Viney würden Hope morgen früh anrufen und ihr Bescheid geben, wann sie mit ihm rechnen könnte. »Ich kann heute Nacht nicht zurückfahren«, sagte er, nachdem er aufgelegt hatte. »Ich fahre, wenn Sie zu müde sind«, erbot sich Viney.
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»Nein, das ist es nicht.« Jetzt schaute er sie an, und sie erkannte, dass er nicht nur sehr erschöpft war, sondern auch Angst hatte. Wovor? »Ich kann ihr heute Nacht nicht gegenübertreten«, sagte er. »Wir haben uns furchtbar gestritten, ehe ich losfuhr. Sie ist wieder schwanger und …« »Was, Llwellyn? Was ist los?« »Ich kann ihr nicht in die Augen sehen, Viney, ich kann nicht. Suchen wir uns einfach was, wo wir übernachten können.« Hatten sie es geplant? Nein. Sie waren bloß müde. Es war eine lange, schreckliche Nacht gewesen. Sie brauchten ein bisschen Schlaf. Sie mussten sich ausruhen. Und doch, Llwellyn hatte gelogen, und sie hätte ein Hotel in der Stadt wählen können, nahe dem Krankenhaus und der Straße, die sie zurück nach Emlyn Springs führen würde. Aber stattdessen fuhr sie nach Westen, in die Außenbezirke von Lincoln, wo es große, laute Clubs mit Bands gab, die ein raubeiniges Publikum anzogen, eine schäbige Meute, wo man, wenn der Wind richtig stand, die Konservenfabrik riechen konnte, wo sie bestimmt niemand kennen würde. Llwellyn schaffte kaum die paar Schritte ins Zimmer und ließ sich auf eins der Betten sinken. »Hope ist krank«, sagte er. »Sie hat MS.« Er saß zusammengekrümmt da wie ein alter Mann, mit niedergeschlagenen Augen. Der Raum war mit fleckigem rotem Teppichboden ausgelegt und roch schwach nach Bier, Ammoniak und Schweiß. »Sie weiß es nicht«, sagte Viney. »Nein, aber es geht ihr immer schlechter, und jetzt hat sie allmählich den Verdacht, dass etwas nicht stimmt.« Sie sei schon lange krank, erzählte er ihr, seit Larkens Geburt, vielleicht sogar länger, und es würde sich stetig verschlimmern, und jetzt sei sie wieder schwanger - seine Nachlässigkeit, seine Schuld -, und sie wolle das Kind austragen, natürlich, aber als 489
sie ihn mit der Neuigkeit überraschte, konnte er nicht so tun, als freute er sich. Diesmal nicht. Nicht schon wieder. »Wie hätte ich es ihr denn sagen sollen?«, fragte er immer wieder. »Und jetzt hat sie gemerkt, dass da etwas ist. Dass ich ihr etwas verheimlicht habe, und sie hasst mich, Viney. Hope hasst mich. Das kriegen wir nie wieder in den Griff, ich weiß es …« Viney hörte lärmende Betrunkene draußen auf dem Parkplatz, ein Paar, das sich im Nebenzimmer stritt. Meine Frau, zu Hause, sagte er, oder etwas Ähnliches, und an diesem Punkt wurde Viney klar, dass sie zusammen ein fremdes Land betreten hatten, eins, in dem normale Regeln nicht galten. »Meine Frau, zu Hause, sie verachtet mich.« Der Raum war klein und dunkel und stickig und barg sehr viel Gefühl, zu viel, und das musste irgendwohin, und so ergoss es sich in ihren Körper. »Wie könnte jemand Sie verachten?«, sagte Viney, kniete sich neben das Bett und zog ihm die Hände vom Gesicht. »Sie sind Arzt.« Sie betrachtete seine Hände. Die Hände eines Frontchirurgen. Mit diesen Händen konnte er alles bewerkstelligen. Er konnte Blut stillen, Knochen richten, Gliedmaßen annähen, wahrscheinlich Herzen transplantieren, wenn es sein musste. Und dann plötzlich holte er ihr selbst das Herz aus der Brust, weil er gleich erkannt hatte, dass sie ein neues brauchte. Auf seinen Kleidern war Blut, Blut des Toten. Er musste sie ausziehen. Zuhause und Ehefrau und Kinder waren sehr weit weg. Trotz allem hatten sie heute Nacht diesen Jungen verloren. Hatten sie dann nicht das Recht dazu? Hatten sie sich keinen Trost verdient? Und dann wurde ihr bewusst, dass sie beide an Stoff zerrten, nach Muskeln und gesundem, lebendem Fleisch griffen, durchströmt von arteriellem Blut, venösem Blut, ihre Körper aufeinander prallten, Knochen auf Knochen, mit der Wucht dieses ersten Mals. So hatte sie es mit ihrem Mann nie erlebt, doch sie war 490
richtig, diese Gewalttätigkeit. Sie war das, was sie gebraucht hatte. Liebe und Sanftheit sind ein Luxus für Friedenszeiten, ihr Land dagegen befand sich im Krieg. Und am nächsten Morgen, als Viney anrief, um zu sagen, dass sie immer noch in Lincoln seien und auch noch eine Weile bleiben würden, und Hope fragte: Fehlt mir was?, dachte Viney, sie meinte damit: Schlaft ihr deshalb miteinander, Llewellyn und du?, und eisige Furcht überfiel sie. Sie konnte kaum sprechen. Aber natürlich war es gar nicht das, was Hope meinte. Was für ein Glück für sie, die frischgebackenen Ehebrecher! Genau in dem Moment, als die hintergangene Ehefrau den Betrug hätte spüren können (und Viney hätte sich in ihrer Panik vielleicht sogar selbst verraten, wenn Hope nicht den Hörer aufgeknallt hätte), beschäftigte sie die einzige Tatsache, die eine derartige Intuition verdrängen konnte: Sie war schwanger mit einem Baby, das ihr Mann nicht wollte. Wieso nicht? Ohne es darauf anzulegen, waren Viney und Llwellyn Meister in der Zauberkunst geworden, die Aufmerksamkeit umzulenken. Sie kamen damit durch. Und so blieben sie in dem übelriechenden Zimmer mit dem Bitte-nicht-stören-Schild an der Tür und hatten den ganzen Nachmittag Sex. Sie machten niemandem etwas vor, die beiden, die sich als Mr. und Mrs. Jones eingetragen hatten, aber das mussten sie schließlich auch nicht. Sie konnten so viel Lärm machen, wie sie wollten. Sie waren Waffengefährten außer Dienst, in einer Kampfpause. Es war nur ein Freizeitvergnügen, das nichts bedeutete. Und das blieb es jahrelang: ein harmloses Vögeln von Soldaten im Krieg. Natürlich empfanden sie Zuneigung füreinander, doch es war ihre Beziehung auf dem Schlachtfeld, nicht im Bett, die sie definierte: ein Muster an Moral und Professionalismus. Als Hope sie zu einer Affäre ermutigte - nicht wissend, dass sie etwas förderte, das schon vor langer Zeit begonnen hatte -, war
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es, als hätte sie ihnen vergeben. Sie konnten von vorn anfangen. Sie konnten ihr erstes Mal ganz neu erfinden. Danach kamen sie anders zusammen, mit Zärtlichkeit, mit Freude. Deshalb hatte sich Alvina Closs nicht an die Wahrheit erinnert. In ihrer Vorstellung begann es mit ihr und Welly erst Jahre später, 1976, als Hope ihnen ermöglichte, was sonst nie geschehen wäre und was keiner von ihnen, am allerwenigsten Hope, je erwartet hätte. Sie war es, die Viney und Welly von ihrer Standhaftigkeit erlöste und ihnen erlaubte, sich endlich ineinander zu verlieben. In Vineys Krankenhauszimmer fängt das Telefon an zu läuten. Es sind die Kinder, eins nach dem anderen, die anrufen, um zu fragen, was passiert ist, wie es ihr geht, ob sie Hilfe braucht. Es sind gute Kinder, fürsorgliche, verantwortungsbewusste Kinder, die sich genauso benehmen, wie sie sollten. Aber Viney hört auch die Furcht in ihren Stimmen. An ihrem Verhalten ist etwas Gekünsteltes. Ihrer Sorge liegt Angst zugrunde - die Urangst der Kindheit: Sie wollen wissen, ob sie noch zu ihnen gehört, noch ihre Mutter ist, körperlich und geistig heil und gesund. Auch als Erwachsene brauchen sie noch die Bestätigung, dass ihre Welt stabil und sicher ist. Sie sagt ihnen, es sei alles in Ordnung, wirklich, sie sollten sich keine Gedanken machen, sie habe nur nicht so gut auf sich aufgepasst, sich nicht ausreichend geschont. Dumm von ihr. Die Ärzte würden sie zur Beobachtung hierbehalten und ein paar Untersuchungen machen, aber wahrscheinlich sei sie heute Abend schon wieder zu Hause. Nein, sie bräuchten nicht ins Krankenhaus zu kommen. Sie werde sich später melden und Bericht erstatten und ihnen sagen, ob und wann sie abgeholt werden müsse. Als Bud Humphries anruft, erinnert sich Viney, dass er der harmloseste und am wenigsten neugierige Mensch ist, den sie kennt, und bittet ihn, ihr einen Gefallen zu tun. 492
Etwa eine Stunde später trifft er mit einer Tüte frischem Obst, Wäsche zum Wechseln und einem Aktenordner ein, den er nach ihren Angaben in Wellys Arbeitszimmer gesucht hat. Bud bleibt eine Weile, hält ihre Hand und sagt wenig - genau das, was sie braucht -, dann, als der Pfleger kommt, um ihre Vitalzeichen zu überprüfen, geht er, nachdem er sie ermahnt hat, dass er einen Anruf erwarte, wenn sie nach Hause dürfe. Es mache ihm nichts aus, sofort wieder umzukehren und sie abzuholen. Viney klappt den Ordner auf. DAS GEHT VERDAMMT NOCH MAL NIEMANDEN WAS AN AUSSER DIR UND MIR … Sie starrt auf die wütenden Worte, die Barrikade aus Ausrufezeichen, mit solcher Vehemenz hingekritzelt, dass sie das Gebot »Kein Zutritt« zu symbolisieren scheinen. Sie erinnert sich, diese Worte geschrieben zu haben. Sie erinnert sich ihrer Gefühle dabei. Vielleicht ist es keine gute Idee, diese Mappe aufzuschlagen und damit womöglich wieder jenen furchtbaren Zorn in sich zu entfachen. Sie weiß es nicht. Der letzte Nachtrag ist genau dort eingeheftet, wo er sein sollte, nämlich ganz vorn. Viney hat ihn mit Hilfe von Addison, ihrer neuen Verbündeten in der Welt von Computertechnologie und Online-Kommunikation, in der Bibliothek von Beatrice ausgedruckt. Sie hat das Dokument nur flüchtig überflogen, bevor sie es im Dunkel von Wellys Aktenschrank verstaute. Liebe Mrs. Closs, beginnt die E-Mail. Mit großer Betrübnis habe ich den Tod von Bürgermeister Jones zur Kenntnis genommen. Viney zwingt sich, langsam zu lesen. Vielen Dank dafür, dass Sie mich über den Heimgang von Dr. Jones informiert haben. Es mag seltsam klingen, aber obwohl Llwellyn und ich uns nie persönlich kennen gelernt haben, betrachte ich ihn als einen meiner engsten Freunde. Ich werde ihn mehr vermissen, als ich sagen kann.
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Die Nüchternheit des Formats mit seinem »Von:, Betreff:, Datum:« und dem schmucklosen Font erscheint Viney kalt und amtlich, ganz anders als der Inhalt des Briefs und (wie sie jetzt einräumen muss) sein Verfasser. Es stimmt, dass es Llewellyns sehnlichster Wunsch war, die Beziehung zwischen unseren Gemeinden zu vertiefen. Viney wird klar, dass alle anderen Kondolenzbriefe von Menschen kamen, die sie kennt, denen sie begegnet ist, deren Namen sie mit einem Gesicht, einer Stimme, einem Körper verbinden kann. … ich habe mir die Freiheit genommen, Ihre freundliche Einladung an den Finanzausschuss weiterzuleiten, der sicher bald mit Ihnen Kontakt aufnehmen wird … Vielleicht könnte sie Bruder Henry bitten, ein Foto von sich zu schicken. Obgleich der ursprüngliche Anlass für unsere Korrespondenz geschäftlicher Natur war, sind wir im Laufe der Zeit auch zu persönlicheren Themen übergegangen … Vielleicht stellt sie sich einfach vor, wie er aussieht. Unsere Freundschaft hat großen Einfluss auf mein spirituelles Leben gehabt. Ich verdanke Llwellyn sehr viel dafür, dass er mir seine Herzensnöte mitgeteilt und Fragen gestellt hat, die nicht einfach zu beantworten sind. Ja. Nein. Vielleicht. Wahrscheinlich nicht. Versuchen wir es noch einmal. Warten wir ab.
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Der Anfang ist immer sehr wichtig. Tiefe, dauerhafte Beziehungen können überall entstehen - bei einer Tasse Kaffee, bei einem Footballspiel … Am Schauplatz eines tödlichen Unfalls … … ich habe stets vermutet, dass Llwellyn diese tieferen Abgründe nie erkundet hätte, wäre unsere Freundschaft keine briefliche gewesen. So wie manche Leute den Schutz des verdunkelten Beichtstuhls benötigen, um die Wahrheit auszusprechen, können sich andere nur schriftlich frei äußern … Sein Haar ist kraus wie ungesponnenes Mohair. Sicher wissen Sie besser als jeder andere, was für ein ungeheuer diskreter Mensch er war, wie er mit den Grenzen seiner Fähigkeiten als Arzt haderte. Mehr als einmal musste ich Llwellyn daran erinnern, dass die Verheißung des »ewigen Lebens« nicht für den Körper gilt … Sie schüttelt seine Hand. Sie ist groß und fleischig wie die eines Farmers. Viney liest den Brief zu Ende und kehrt dann zurück zu den anderen Briefen, in denen sich Seite um Seite, hier handschriftlich, durch unbarmherzige Fragen, Worte des Trosts und der Verdammung die Vergangenheit enthüllt. Es kann keine Vergebung geben für das, was ich getan habe … Wie konnte Ihr Gott das geschehen lassen? Über diese Dinge spreche ich nur mit Ihnen … Worte, die tröstlich gemeint waren. Sie haben unter äußerst schwierigen Umständen gehandelt, und das mit Liebe und Tapferkeit und unter Schmerzen. Mehr kann keiner verlangen … Diese Worte gehören jetzt ihr, im Guten wie im Schlechten. Welly hat sie hinterlassen. 495
Wollte er, dass sie sie bekommt? Spielt das eine Rolle? Ob sie Güte oder Gefühllosigkeit repräsentieren, kann sie selbst bestimmen. Viney lässt den Blick zum Fenster schweifen. Die Wolken haben sich zu einer gewellten Formation gehäuft und werden von unten her in grellem Orange und Lila angeleuchtet. Warum sprechen wir immer von Sonnenaufgang, fragt sie sich, wenn es doch in Wirklichkeit die Umdrehung der Erde ist, die einen Himmel wie diesen ermöglicht? Wir als Passagiere der Erde sind es, die sich bewegen, nicht die Sonne. Sie drückt auf den Rufknopf und greift nach dem Telefon. Bud hat schließlich gesagt, er würde gleich umkehren und kommen, wenn sie ihn brauchen sollte. Sie ist bereit, nach Hause zu fahren. Hopes Tagebuch, 1971 »Gwnewch y pathau bychain« Heute ist St. David’s Day, den wir mit Lauchbrühe begehen und der humoristischen Prämierung des längsten Lauchs mit zahlreichen zweideutigen Anspielungen auf die männliche Anatomie. In Wales haben die Kinder an diesem Tag schulfrei. Hier nicht, aber in der Schule findet eine spezielle Versammlung statt, also fuhr ich mit Larken und Gaelan morgens in die Stadt. Sie vergaßen mich sofort, nachdem sie sich auf das als »Der Spielplatz« bekannte Territorium der Ungezähmten gestürzt hatten - das Stammessystem von Kindern, die von Zivilisation und elterlichem Einfluss befreit sind, ist immer wieder eine Offenbarung -, und ich lungerte mit den anderen ihrer Macht beraubten Müttern am Rand des Platzes herum. Fühle mich in ihrer Gesellschaft nie wohl. Ihre Gespräche, so scheint mir, drehen sich stets um Leistungen und besondere Fähigkeiten - ihre oder die ihrer Kinder. Es ist eine hochspezialisierte Form des Absteckens ihrer Hoheitsgebiete, was bei Frauen so 496
nett wirkt, weil sie dabei die ganze Zeit lächeln. Ich habe nie das Gefühl, dass meine Bemühungen einem Vergleich standhalten. Und natürlich kamen die üblichen Fragen: wie es mir gehe, wann der Geburtstermin sei, ob wir schon Namen ausgesucht hätten und so weiter. Ich bin immer noch abergläubisch, wenn ich über meine ungeborenen Babys reden soll. Wünschte, Viney wäre noch eine Spielplatzmutter. Jedenfalls entschuldigte ich mich damit, dass ich etwas im Wagen vergessen hätte, entfernte mich von der Menge und fand neben dem Parkplatz eine schöne, geschützte Stelle außer Sichtweite, wo ich mich hinsetzen und in Ruhe auf das Läuten der Glocke warten konnte. Der März ist dieses Jahr wie ein Löwe - starke Winde, dramatischer Himmel. Es ist eine Lüge, wenn über den Frühling gesagt wird, er sei die Zeit von neuem Leben und Wiedergeburt. Pflanzen kennen die Wahrheit. Ja, alles wächst, und da sind diese unerhörten Schattierungen von Grün und die Gerüche, aber auch die Samen sprießen - und was sind Samen, wenn nicht Symbole für Verzweiflung? Samen repräsentieren wie nichts anderes das Wissen um den Tod. Sie sind Leben, das ahnt, dass der Tod nicht weit entfernt ist. Deshalb ist Reproduktion erforderlich. Pflanzen kennen die wahre Geschichte. Frühlingssträuße erfreuen mich nicht mehr; eine Vase mit welkem Gras wäre mir eher willkommen. »Tut die kleinen Dinge, die ihr mich habt tun sehen«, trug uns der Heilige in seiner letzten Predigt auf, als er im Sterben lag. Ich stelle mir seine Stimme schrill vor, aber nicht unangenehm. Sie äußert nichts Bombastisches, nur einen gut gemeinten, höflichen Vorschlag: »Gwnewch y pathau bychain.« Was werde ich auf dem Sterbebett sagen?, frage ich mich. Oder kann ich dann gar nicht mehr sprechen? Wahrscheinlich nicht. Der Schluckmechanismus kommt zum Erliegen; dasselbe
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muss für alles gelten, wozu Zunge, Lippen, Zähne und Kiefer nötig sind … ich werde also stumm sein bei meinem Tod. Ist Denken dann noch möglich? Das ist die entscheidende Frage. Überlebt das Gehirn einen funktionsunfähigen Körper? Muss es nicht wahnsinnig werden, wenn ihm alle Formen des Ausdrucks versagt sind? Und ist nicht-ausgedrückter Wahnsinn nicht eine Art Dreifach-Hölle? Vielleicht hatte L. Recht damit, es mir vorzuenthalten. Was nützt das Wissen? Ich bin sehr verbittert gegen ihn, seit ich erfahren habe, was er mir verschweigt. Schließlich hat er mich nicht mit dieser Krankheit infiziert, er wusste nur davon und hat sie mir - in bester Absicht, aus Liebe, nehme ich an (und mir ist inzwischen klar, dass es ihn einiges gekostet haben muss) - verheimlicht. »Tu die kleinen Dinge« wird also mein Motto sein. Und sie werden immer kleiner und kleiner werden, bis … was? Was werde ich am Ende noch tun können? Welches kleine Ding? Heute jedenfalls habe ich etwas Großes zustande gebracht, die letzte große Sache wahrscheinlich, die dieser Körper in diesem Leben noch bewerkstelligen wird. Es ist hart, die Möglichkeit zu erwägen, dass ich mit 31 vielleicht eben physisch mein großes Finale hingelegt habe, doch in diesem Moment könnte niemand stolzer sein als ich auf diesen kranken Körper und das, was wir geleistet haben. Mein letztgeborenes Kind ist ein Mädchen: Bonnie Ebrilla. Kein Kaiserschnitt diesmal: Mein kleiner Strampler, so lebhaft und munter in meinem Schoß, kündigte seine Ankunft mit einem dramatischen Erguss an - meine Fruchtblase platzte, als ich heute Morgen, an einem der ersten warmen Frühlingstage, draußen die Wäsche aufhängte. Als ich auf meine durchnässte Kleidung und die nasse Erde hinunterschaute, dachte ich an die nie geborenen Kinder, die ich im Laufe der Jahre auf unserer Wiese begraben habe. Wann immer ich über dieses Land gehe, spüre ich sie unter 498
meinen Füßen: die zarten Überreste der Verlorenen, die doch ein Fleisch sind mit dieser Erde, die ich so liebe, und mit mir, und ich habe nie aufgehört, mit ihnen zu sprechen; sie sind nicht weniger real für mich, nur weil sie nie das Licht der Welt erblickten. Damit, dass Bonnie ihre Ankunft so ankündigte, schien sie zu sagen: »Ich weiß, wer hier lebt. Ich weiß, was dieser Ort dir bedeutet.« Ich stand da und spürte die Stärke ihres Willens, die Kraft ihres Geistes, ihrer Zuversicht. Ich spürte, dass sie genau diesen Moment gewählt hatte: Sie wässerte jene Überreste, weil sie glaubte, sie könne sie zum Leben erwecken, als wären ihre älteren Geschwister Samen, die immer noch keimen könnten, wenn sie die richtige Nahrung erhielten. Eine Stunde später lag sie in meinen Armen. Llwellyn schaffte es nicht einmal mehr rechtzeitig bis nach Hause - er war vierzig Meilen weit weg bei einem Noteinsatz. Viney war meine Hebamme, ein Segen für uns beide. Und so sind wir jetzt daheim statt im Krankenhaus. Nur wir zwei; Llwellyn ist gerade in die Stadt gefahren, um Gaelan und Larken von der Schule abzuholen, damit sie ihre kleine Schwester kennen lernen können. Sie ist sehr ruhig und wachsam. Und mir in ihrer Physis so ähnlich (54 Zentimeter groß!), feingliedrig, ganz anders als die beiden stämmigen Boxer, die mir der Gynäkologe vor sechs und sieben Jahren aus dem Schoß holte! Was die Zukunft mir sonst auch bringen mag, dieses Kind wird mich immer an den Triumph meines Körpers erinnern statt an sein Versagen.
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TEIL III Eier-Feiertage Ich hatte Jahre mit der Suche nach ihm verbracht und ihn nicht gefunden. Er wollte nie, dass ich im Grab seines Selbst herumwühle. Er wollte, dass ich ihn anderswo finde - im Antlitz des Bärtigen Priesters, in Menschen, die sich in den Raum aufschwingen und durch ihn hinunterstürzen … Im Gesicht der Frau, die mir jetzt eine Tasse Kaffee hingestellt hat. MICHAEL RIPS The Face of a Naked Lady Hopes Tagebuch, 1972 Überrasche und unterhalte deine Freunde Bisschen müde heute. Mit der Hand zu schreiben ist mühsam, deshalb bat ich L., ehe er zu einem Hausbesuch aufbrach, meine IBM Selectric - eine alte Freundin! - vom Dachboden zu holen. Mal sehen, wie es läuft. Die Aufsätze im College liegen weit zurück; noch länger her ist der Tippunterricht in der neunten Klasse, aber damals war ich ein echter Tastenblitz. Ich versuche, mir regelmäßig Zeit für jedes einzelne der Kinder zu nehmen. Heute ist Gaelan an der Reihe. Viney hat das Baby bei sich, und Larken ist in der Spielgruppe. Im Moment legen wir eine »Ruhepause« ein; ich schreibe, und Gaelan sieht sich auf dem Sofa eins der naturwissenschaftlichen Bücher an, die ich ihm zum Geburtstag geschenkt habe, nämlich die Reihe »Überrasche und unterhalte deine Freunde!« Ein Buch handelt von Versuchen mit Luft, eins von Düsenjägern und Raketen, eins von Magneten und eins von Samen.
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Wir beschäftigen uns neuerdings viel mit Luft. Vorhin haben wir ein Experiment gemacht, das sich »Was ist in dem leeren Glas?« nennt. Es geht darum, Papier in ein Glas zu stopfen, das Glas umzudrehen, in einen Topf mit Wasser zu stecken und wieder herauszuholen. Wenn das Papier dann noch trocken ist, kommt es einem wirklich vor wie ein Zaubertrick. Ich glaube, ich habe eigentlich nie über die Beziehung zwischen Naturwissenschaft und Zauberei - oder zumindest dem, was wir für Zauberei halten - nachgedacht, bevor mein neugieriger Sohn anfing, sich für diese Dinge zu interessieren. Wenn ich gar nicht oder nur verschwommen sehen kann, liest Gaelan mir vor. Damit hat er begonnen, ohne dass ihm das jemand aufgetragen hätte. Typisch für ihn. Manchmal liest er mir aus der Zeitung vor oder aus einem seiner Schulbücher oder auch Gedichte, wenn ich ihn darum bitte. Bonnie liest er auch vor, was ich so süß finde, dass ich es kaum ertragen kann. Heute Morgen hat er einen Artikel über eine neue Form der Chaostheorie vorgelesen, bei der es um so genannte dissipative Strukturen geht. Gaelan hat mehr davon begriffen als ich, aber ich weiß mit Sicherheit sowohl Chaos als auch Dissipation zu schätzen. Meine Anwesenheit als Labor- und Zaubererassistentin wird gewünscht. G. teilt mir mit, dass wir bei unserem nächsten Experiment Wasser dazu bringen werden, dass es bergauf fließt. (!)
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23 Auszeit für den Missetäter »Setzen Sie sich, Gaelan.« Der Konferenzraum ist mit den Männern besetzt, die er inzwischen in dieser Umgebung erwartet - dem Nachrichtenchefredakteur, den Sponsoren, den Anzügen (die allerdings seit der letzten Zusammenkunft ihren Dresscode eindeutig gelockert haben) sowie einem Menschen, der als Rechtsberater von KLAN-KHAM vorgestellt wird und dessen Name dem des Senders akustisch so sehr ähnelt (Ken Clam? Clem Lamb? Cam Clapp?), dass Gaelan ihn sofort wieder vergisst. »Tut uns leid, dass wir Sie herbitten mussten«, beginnen die Anzüge-in-Hemdsärmeln, »aber es ist etwas vorgefallen…« Gaelan malt sich aus, dass sich nun doch sein Wunsch erfüllt: Endlich wird man ihm erlauben, das Wetter in Sachen anzusagen, die seinen Bizeps betonen. »… etwas so Ernstes, dass wir es schnellstmöglich erörtern müssen.« Stimmt, er hat seit seiner Verletzung viel an Tonus und Symmetrie eingebüßt - da er ja mit links keine Gewichte heben darf -, aber das kommt zurück. Er wird besser aussehen denn je. Als er sich seinen neuen Look im Fernsehen vorstellt, verspürt Gaelan ein Aufwallen von Vorfreude. Doch es herrscht keineswegs fröhliche Stimmung. Der Nachrichtenchefredakteur starrt zu Boden, die Sponsoren beißen sich auf die Lippen. »Verstehen Sie«, sagen die Anzüge mit Nachdruck, »es hat bisher nichts Formelles gegeben, aber …« Gaelan bemerkt plötzlich, dass das Sideboard auffallend leer ist: keine üppigen Blumengebinde, keine Aufschnittplatten. Falls ein Toter im Raum ist, wird sein Heimgang nicht betrauert.
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»… eine unserer Angestellten hat ein grobes Fehlverhalten zur Anzeige gebracht …« Ein Krimineller also oder irgendein Hinz und Kunz, auf dessen sterbliche Überreste niemand Anspruch erhebt und der, ohne dass man ihm ein einziges Lied singt, in einem billigen Kiefernholzsarg auf dem Armenfriedhof beigesetzt werden wird. »… und wie Sie sicher verstehen werden, sind wir verpflichtet, Behauptungen dieser Art sehr ernst zu nehmen.« Dann folgt eine Pause, wohl als Aufforderung an ihn zu sprechen. »Behauptungen«, sagt Gaelan, dem bewusst wird, dass seine Aufmerksamkeit abgeschweift ist und er deshalb am besten die letzten Worte des letzten Sprechers wiederholt. »Sehr ernst«, fügt er mit einem Nicken hinzu. Die Anzüge betrachten ihn mit vorsichtigem Argwohn. »Wir müssen handeln, Gaelan. Sofort. Bevor etwas durchsickert. Bevor das Image des Senders Schaden erleidet.« »Entschuldigung«, sagt Gaelan, »was …« Als die Antwort erfolgt, hat Gaelan - obwohl sie überraschenderweise von Herrn Ken-Clem-Cam kommt - das Gefühl, alle hier Versammelten im Chor zu hören: »Ms. Calder gibt an, Opfer sexueller Belästigung zu sein.« Er fragt nicht Wer?, obgleich er in Versuchung ist, das zu tun; sein Kontakt mit Ms. Calder war so kurz, dass er wirklich einen Moment braucht, ehe ihm klar wird, wen sie meinen. Der Anwalt fährt fort: »Sie behauptet, die Belästigungen - in Form unschicklicher Berührungen und sexistischer Witze - hätten stattgefunden, als Sie sie eingearbeitet haben.« Gaelan entgegnet nicht Was? - auch wenn ihm das als angemessene Reaktion erscheint, denn sie war diejenige, die ihm ständig auf die Pelle gerückt ist, auf dem Sofa im Aufenthaltsraum, am Kaffeeautomaten, an seinem Computer, und dafür gesorgt hat, dass er dauernd ihren gelifteten Arsch oder ihren Silikonbusen vor Augen hatte. Er selbst hat ihr nie etwas anderes als 503
sachliche und vollkommen asexuelle Höflichkeit entgegengebracht. »Der Vorwurf wird schwer zu widerlegen sein, Mr. Jones, wenn man Ihren Lebensstil bedenkt.« »Meinen Lebensstil?« »Ich hielt es für ratsam, Erkundigungen über Ihr Privatleben anzustellen, als Ms. Calder sich an uns wandte, um abschätzen zu können, wie glaubwürdig ihre Behauptungen sind.« Sie nehmen ihn auf die Schippe. Es kann gar nicht anders sein. Also lacht Gaelan und sagt: »Sie machen Witze.« Das gefällt ihnen nicht. Die abgedroschene Szene, die jetzt folgt, weckt in Gaelan den Verdacht, dass diese Typen hier zu viele Gerichtsfilme gesehen haben. Sie haben ihren Sinn für Humor verloren. Das Gespür für Realität ist ihnen abhandengekommen, daher haben sie kein Interesse an etwas so Komplexem wie der Wahrheit. Vor allem, merkt Gaelan, haben sie Angst, und verängstigte Menschen können weder Liebe noch Loyalität empfinden. Hier sitzt kein einziger Joe Dinsdale. Als Wetteransager wirst du nie Respekt ernten, hat Joe gesagt, aber wenn du darüber lachen kannst - denn denk mal nach, Junge, wie viele Leute auf der Welt werden schon dafür bezahlt, das Unvorhersagbare vorherzusagen? -, hast du jede Menge Spaß. Bei seinem letzten offiziellen Auftritt als Angestellter von KLAN-KHAM fragt Gaelan Jones, Wetteransager: »Was haben Sie sich denn als Abfindung gedacht?«, und als auch deren Einzelheiten zu seiner Zufriedenheit ausgehandelt sind, geht er und wundert sich darüber, wie leicht es war. Und doch, als er anfängt, seinen Spind zu räumen, stellt er fest, dass er bedauert, nicht ein letztes Symbol hinterlassen zu haben, ein Zeichen der Rebellion, das Äquivalent eines loyalen Wetteransagers zu Waffe und Dienstausweis, die der zu Unrecht be-
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schuldigte Polizist seinem Vorgesetzten auf den Schreibtisch knallt, wenn er zum Abschied gezwungen wird. Was könnte das sein? Als er an der gläsernen Trennwand zum Konferenzraum vorbeikommt, sieht er, dass die Anzüge und die anderen von vorhin dort immer noch zusammensitzen - gemeinsam mit der kosmetisch verschönerten Ms. Calder und einer weiteren Person, vermutlich ihrem Rechtsbeistand. Es wird reichlich gelächelt und genickt. Gaelan bittet die Empfangsdame um einen Zettel. Darauf kritzelt er das Logo der Website »Falscher Regen« - eine Träne in einem Kreis, durchgestrichen - und klatscht ihn an die Scheibe. Als alle deutlich erschrocken aufschauen, wirft er Riley Calder eine Kusshand zu, dann marschiert er hinaus zu seinem Wagen, ohne zu merken, dass er schaukelnd geht wie ein Farmer. Dabei sagt er sich Folgendes: Achtzehn Jahre lang hat er keinen Urlaub gemacht, und Viney braucht ihn. Er hätte eher als alle anderen erkennen müssen, wie traurig sie war. Diesen Grund hat es Gaelans Meinung nach - nicht den, dass seine eigene Wohnung zu viele Erinnerungen an Versagen und Demütigung birgt, und nicht den, dass Lincoln zu groß ist, um kleinstädtische Heuchelei zu praktizieren -, dass er seine Katzen und seine Hanteln und seine CD- und DVD-Sammlungen zusammenpackt und nach Emlyn Springs zieht. Er muss ja nicht gleich erzählen, dass er seinen Job verloren hat, ganz bestimmt nicht Viney. Sie würde sich nur Sorgen machen. Er kann einfach tun, als wäre nichts passiert - zumindest, solange er noch keine Pläne für die Zukunft hat. Wer weiß? Vielleicht wird sich dieser Vorfall als das größte Glück erweisen, das ihm je widerfahren ist. Er ist seit fast zwei Monaten hier. Es war sehr lieb und aufopfernd von ihm zu kommen, und zunächst hat Viney sich über seine Anwesenheit gefreut. Er umsorgte sie, kochte für sie, achtete darauf, dass sie aß und viel 505
schlief. Wenn das Wetter gut genug für einen Spaziergang war, überredete er sie dazu. Ein paarmal fuhr er mit ihr nach Beatrice ins Kino. Sie genoss die gemeinsam verbrachte Zeit. Aber jetzt, da es ihr besser geht, macht sie sich allmählich Sorgen um ihn, und offen gesagt, ist er ihr (anders lässt es sich einfach nicht ausdrücken) auf jene aufreizende, unangenehme Weise im Wege, die verdrießliche Teenager und arbeitslose Männer an sich haben. Nicht, dass er verdrießlich wäre, nur ruhig. Auch untätig ist er nicht - er trainiert jeden Tag mit seinen Hanteln, denn Viney hört ihn oben in seinem Zimmer stundenlang zu dieser Rockmusik, die er so gern hat, schnaufen und prusten. Es ist eher eine Art Ziellosigkeit. Sie fragt sich, wann er wieder arbeiten geht, denn Männer haben eine spezielle Aura, wenn sie arbeiten, wenn sie das Gefühl von Wichtigkeit verspüren, das damit einhergeht, dass sie sich als arbeitend begreifen - was das auch für sie bedeuten mag. Es ist fast wie ein Geruch, den sie verströmen. »Lernst du nach der Sendung noch?«, fragt sie. Sie sitzen auf der Wohnzimmercouch und sehen Die Springfield Story. Viney wünscht sich mittlerweile, sie hätte Gaelan nicht mit Seifenopern bekannt gemacht. Er ist inzwischen sehr am Tun und Treiben der Figuren interessiert. »Gaelan, Schatz«, wiederholt sie. »Lernst du vor dem Essen noch?« »Nein«, erwidert er. »Al Gore ist bei Oprah zu Gast, und anschließend gehe ich joggen.« Schon wieder?, denkt Viney, denn das ist dann heute das dritte Mal. Aber sie hält den Mund. »Ich lerne heute Abend«, fügt Gaelan hinzu. »Na, dann hast du das Haus für dich. Ich treffe mich gleich mit Hazel Williams im Little Cheerful, dann gehe ich mit Bud und Vonda im Club essen, und danach bin ich bei einer Sitzung des Eier-Feiertage-Komitees.«
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»Prima, Viney«, entgegnet er, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden. »Wunderbar.« »Du könntest doch Bonnie anrufen«, schlägt sie vor. »Dann guckt ihr euch zusammen einen Film an oder so.« »Ja, Viney, das ist eine gute Idee. Das mache ich vielleicht.« Was Männer betrifft, sind Arbeitslosigkeit, Ruhestand und bezahlter Urlaub eine ganz schlechte Erfindung. Sie verlieren wirklich ihre Würde, wenn sie für ihren monatlichen Scheck nicht arbeiten müssen. Viney überlegt, ob sie nicht verlangen soll, dass er bestimmte Aufgaben übernimmt, für die sie ihn entlohnt. Vielleicht sollte sie sich um einen Internet-Zugang kümmern, damit er hier sein Online-Studium fortsetzen kann. Irgendetwas muss geschehen, denn seine Gegenwart macht sie zum schlimmsten Stereotyp eines Nörgelweibs. Jeden Tag ertappt sie sich dabei, dass sie Dinge sagt wie Warum rufst du nicht Bethan Ellis an? oder Hast du mal darüber nachgedacht, dich in der Schule als Ehrenamtlicher zu melden? oder Bei den EierFeiertagen könnten wir wirklich Hilfe gebrauchen. Befehle, kaschiert als Vorschläge. Wer konnte ahnen, dass es sich mit einem erwachsenen, nicht arbeitenden Sohn im Haus anfühlen würde, als sei man verheiratet? Nachdem Viney gegangen ist, beschließt Gaelan, sich Al Gores gut gemeinte Warnungen zu schenken, und schiebt stattdessen einen von Arnolds frühen Filmen ein. Er zündet sich einen Joint an. Seine Schulter fühlt sich prima an, völlig gesund. Es wird Zeit, wieder mit dem Gewichtheben anzufangen. Er wird nur noch ein bisschen fernsehen, eine Runde joggen und dann oben in seinem Zimmer trainieren. Er fragt sich gerade, mit welchem Gewicht er beginnen soll, als es an der Tür klingelt.
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Eigentlich müsste ihn das unerwartete Auftauchen dieses Besuchers überraschen, doch das ist nicht der Fall. In der kurzen Geschichte ihrer Beziehung hat sich Eli Ellis Weisman als jemand gezeigt, der die unheimliche Gabe hat, immer in höchst ungelegenen oder peinlichen Momenten zu erscheinen. »Hallo«, sagt Eli. Ist es möglich, dass er noch kleiner ist als bei ihrer letzten Begegnung? »Hallo.« Vielleicht ist hier ein bisher unentdecktes naturwissenschaftliches Gesetz am Werke, das unterentwickelte Zwölfjährige mit schwankendem Hormonspiegel schrumpfen lässt. »Wie bist du hergekommen?«, fragt Gaelan. »Mit dem Rad«, erwidert Eli. Gaelan schaut an ihm vorbei und bemerkt das neu aussehende Fahrrad, das an Vineys Veranda lehnt. Es ist eins der Modelle, die Bonnie in ihrem Laden verkauft. »Wo ist dein Helm?«, fragt er. »In Emlyn Springs trägt niemand einen Helm«, sagt Eli verächtlich. »Aber du hast einen, oder?« »Ja.« »Du musst ihn tragen«, mahnt Gaelan. »Dass die anderen Kinder hier keinen tragen, heißt noch lange nicht, dass du auch keinen tragen solltest. Du könntest mit gutem Beispiel vorangehen.« Eli starrt verlegen vor sich hin, und Gaelan wird klar, wie unangemessen es ist, in derartig bevormundendem Ton mit diesem Jungen zu sprechen, den er kaum kennt. »Außerdem«, ergänzt er, »würde deine Mom das wollen.« Eli schluckt und schaut auf seine Füße. »Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht bei einem Projekt helfen.« »Was?« »Ich habe eine Aufgabe in Meteorologie, und da dachte ich, Sie wären vielleicht bereit, mir zu helfen, weil Sie auf dem Gebiet ja Experte sind.« 508
Nicht mehr, denkt Gaelan. »Ich bin sicher, das kriegst du auch ohne meine Hilfe hin. Was ist es denn für eine Aufgabe?« »Eine Wetterfahne zu bauen.« Gaelan nickt. Eli schnuppert. Er versucht, an Gaelan vorbei ins Wohnzimmer zu spähen. Gaelan versperrt ihm die Sicht. »Machen Sie denn auch gewissenhaft Ihre physiotherapeutischen Übungen?«, fragt Eli. Es muss noch ein anderes naturwissenschaftliches Prinzip geben, das diesen Wortwechsel beeinflusst, eins, das mit mentalen Magnetfeldern und übersinnlicher Wahrnehmung zu tun hat, denn es ist offensichtlich, dass Eli nicht nur weiß, was Gaelan getan hat, sondern auch, was er denkt. »Wieso?« »Es interessiert meine Mom, das ist alles.« »Ach so.« »Ich sehe Sie manchmal an unserem Haus vorbeijoggen. Sie laufen wirklich oft.« Sie beobachten mich, denkt Gaelan mit wachsender Paranoia. Ich muss meine Route ändern. »Meine Mom hat Angst, dass Sie wieder Gewichte heben.« »Das mache ich nicht, kannst du ihr sagen.« »Sagen Sie es ihr doch selbst. Sie sind ja oft genug draußen bei uns. Kommen Sie einfach kurz rein.« »Gut«, lügt Gaelan, »irgendwann vielleicht.« »Na dann, auf Wiedersehen.« »Tschüss.« Gaelan schließt die Tür, sehr erleichtert darüber, dass der deutliche, überwältigend süße Geruch nach Dope endlich nicht mehr nach draußen dringt. Er tritt ans Fenster und späht durch einen schmalen Schlitz zwischen den Wohnzimmervorhängen hinaus. Nachdem Eli sich umgeschaut hat, um sich zu vergewissern, dass er nicht beobachtet wird, schnallt er seinen Helm um und
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strampelt bedenklich schwankend los, als hätte er das Radfahren gerade erst gelernt. Die Tage verstreichen. Er hebt keine Gewichte. Er läuft in der Stadt, er läuft auf der Landstraße, durch Maisund Hirsefelder und - trotz Elis beunruhigender Offenbarung, dass seine Schritte verfolgt werden - immer weiter die Straße entlang, an dem Grundstück vorbei, wo seine Mutter in die Luft geflogen ist, vorbei am Farmhaus der Familie Ellis. Er kann sich nicht an die Vorstellung gewöhnen, dass er in dieser Landschaft nie wieder seinem Vater begegnen, nie wieder um eine Ecke biegen und ihn dabei entdecken wird, dass er über einem Piloten kniet, der mit seinem Streuflugzeug abgestürzt ist, bei einem bewusstlosen Kind Mund-zu-Mund-Beatmung vornimmt, jemanden wiederbelebt. Manchmal erwartet er sogar, auf eine frühere Version von sich und Bethan zu treffen. Er ist nicht deprimiert, er macht nur Urlaub. Ein positives Ergebnis der Situation ist, dass er noch nie so gut in Form war wie jetzt. Er hat angefangen zu joggen, weil ihm die Herz-Kreislauf-Geräte im Fitness-Studio fehlen, und seit UPS letzten Monat seinen Heimtrainer geliefert hat, vermisst er das Studio nicht mehr; eigentlich braucht er es gar nicht. Vielleicht wird er endgültig hierherziehen. Zu Hause hat Viney einen Zettel hinterlassen: Sie wird zum Abendessen wieder nicht zurück sein; es seien Tiefkühlgerichte da, wenn er sich schnell was machen will. Es klingelt an der Tür. Wieder Eli. Zumindest war er diesmal nicht gerade dabei, Dope zu rauchen oder die Anweisungen seines Physiotherapeuten zu missachten. »Hallo.« »Hallo.«
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»Ich wollte nur fragen, ob Sie zum Vorsprechen bereit sind. Ich kann Ihnen alle Fragen beantworten, die Sie zu der Figur vielleicht haben.« »Vorsprechen wofür?« »Die Eier-Feiertage-Aufführung.« Eli runzelt die Stirn. »Sie haben sie vergessen, stimmt’s?« »Ach so, ja. Stimmt.« »Haben Sie die Seiten noch?« »Seiten?« »Die ich Ihnen im Dezember gegeben habe.« »Äh, nein, ich glaube nicht.« Eli nickt wissend. Er nimmt einen großen Rucksack von seinen Schultern, stellt ihn auf die Veranda und beginnt, darin herumzuwühlen. »Hör mal, Eli«, setzt Gaelan an und schaut auf den Kopf des Jungen hinunter, den heute eine schwarze Kippa bedeckt, die mit zahlreichen Haarklemmen befestigt ist. »Ich fühle mich echt geehrt, dass du mich in deinem Stück haben willst, aber …« »Wenn Sie nicht zum Vorsprechen gehen«, sagt Eli und kramt weiter, »nimmt der Regisseur bestimmt Mr. Canarfaen.« Schließlich zieht er ein großes Notizheft hervor. »Ich meine, klar, Mr. Canarfaen ist wirklich ein guter Lehrer und so, aber für diese Rolle passt er überhaupt nicht, also versuchen Sie es doch bitte, okay?« Eli streckt ihm das Heft hin, Gaelan ergreift es ohne Kommentar. Aus irgendeinem Grund bringt er es nicht übers Herz, diesem Kind gegenüber Ausflüchte zu gebrauchen. »Wiedersehen«, sagt Eli. »Wiedersehen«, erwidert Gaelan. Eli stülpt den Helm über seine Kippa und radelt davon. Er wirkt inzwischen sicherer, was Gaelan beruhigend findet. Nachdem er gegessen hat, geht Gaelan in sein Zimmer, zündet sich einen Joint an und verbringt den ganzen Abend damit, den
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siegreichen Beitrag im Schauspielwettbewerb für die EierFeiertage zu lesen. Elis Stück trägt den Titel »Unser kleines Wales«, hat drei lange Akte, stellt hohe Anforderungen an Technik, Bühnenbild und Kostümdesign und ist extrem ehrgeizig in seinen Ausmaßen, denn es beginnt in prähistorischer Zeit und endet in der Gegenwart. Wollige Mammuts und Säbelzahntiger sollen auftreten. Mit einer Windmaschine wird der Tornado simuliert, der Emlyn Halopeter von seinem Kurs abbrachte, sodass er die Orientierung verlor und sich hier ansiedelte statt in Wymore. Indianerstämme werden Büffel jagen. Lehmhütten müssen gebaut werden. Die Schlacht von Midway wird nachgestellt. Gaelan fragt sich, ob Elis Einfallsreichtum nicht besser beim Film aufgehoben wäre. Die Rolle des Aufsehers hat Eli im Skript hervorgehoben. Außerdem hat er einen zweiseitigen Brief an Gaelan beigefügt, in dem er ihn mit detaillierten Beschreibungen der Figur versorgt. Der Brief beginnt: Die Rolle des Aufsehers ist absolut entscheidend für den Erfolg des Stücks. Er muss ganz spezielle Eigenschaften haben, offen sein, aber nicht übertrieben freundlich, charmant, aber professionell; er muss sowohl Autorität als auch Güte verkörpern, wie ein Vater. Warum könnt ihr mich nicht einfach alle in Ruhe lassen?, fragt sich Gaelan. Als er Viney unten zur Tür hereinkommen hört, drückt er rasch seinen Joint aus, stellt den Ventilator an, knipst das Licht aus und vergräbt sich unter der Bettdecke. Hopes Tagebuch, 1973 Wie man zum Lügen erzieht Unser häusliches Leben ist ein Witz. Immer wenn das Telefon klingelt, müssen wir Llwellyn fragen: »Bist du zu Hause?«, ehe wir abheben, denn neun- von zehnmal will die Person am anderen Ende der Leitung wissen: »Ist Dr. Jones da?« 512
Meistens wird die jeweilige Sekretärin dann mit einem Nicken bedacht. »Ja, er ist hier, einen Moment, bitte.« Dr. Jones’ Patienten haben alle seine Privatnummer und wissen stets, wo er sich aufhält, deshalb ist er auch so beliebt. Keiner ist seinem Berufsethos verpflichteter als Dr. med. Llwellyn Jones, wenn es sich darum handelt, auf die Krisen anderer Menschen einzugehen, und wir, seine Familie, müssten schon aus den Augen bluten, damit er uns vor ihnen den Vorzug gibt. Stimmt, es gibt Situationen - selten, aber hin und wieder -, in denen er nicht gestört werden will. Wenn er etwa in einer seiner düsteren Stimmungen ist oder die ganze Nacht mit einem Notfall beschäftigt war und versucht, sich ein bisschen auszuruhen, sagt die Sekretärin: »Nein, er ist gerade nicht da, kann ich etwas ausrichten?« Sind die Umstände undurchsichtig - wenn Llwellyn zum Beispiel, weil kein Name genannt wurde, nicht sofort einschätzen kann, ob der Anrufer wirklich in akuter Not ist, eine postoperative Komplikation vorliegen oder etwas anderes seine unmittelbare Aufmerksamkeit erfordern könnte -, formt L. mit dem Mund die Frage »Wer ist dran?«, woraufhin die Sekretärin sagt: »Er ist momentan nicht hier; wer spricht da, bitte?« Nachdem sie dem Anrufer ein paar weitere Informationen entlockt und sie Dr. Jones zugeflüstert hat, ist er möglicherweise zu sprechen. Da Larken und Gaelan ein telefonierfähiges Alter erreicht haben - und ich manchmal nicht schnell genug an den Apparat komme -, sind sie mittlerweile geschult in dieser komplexen Kunst der Täuschung. Ihre Umgangsformen am Telefon sind tadellos. Einiges teilen Eltern ihren Kindern jedoch nicht mit: wie oft Mommy über Scheidung nachdenkt, dass die Ehe eine Last ist wie kaum etwas anderes, dass es in ihr bei Distanz nicht um Freiheit geht, sondern um Entfremdung, dass sich schlimmste Niedertracht auch ohne erhobene Stimme oder drohende Hand vermittelt. Es ist die Last des Schweigens und der Stimmen aus der 513
Vergangenheit, die sagen: »Du warst immer ein selbstsüchtiges Mädchen. Du hättest nie heiraten dürfen. Du bist schlecht, und du wirst diese wunderbaren Kinder ruinieren, ehe es mit dir vorbei ist.« Ich versuche, zumindest zu schweigen - obwohl mich das sehr ermüdet, denn so vieles zu verheimlichen kostet Energie, und Energie ist ein Gut, das zu verschwenden ich mir nicht leisten kann. So drückt mein Schweigen schließlich gar nichts mehr aus: Es birgt keinen verborgenen Subtext, nur eine große Leere, eine furchtbare Nicht-Aufmerksamkeit. Ich hoffe, dass die Kinder denken: Mommy und Daddy geht es sicher gut. Vielleicht sind sie einfach nur still, so wie wir selbst auch gelegentlich. Wer zum Teufel weiß, was in ihrem Kopf vorgeht? Ich hoffe nur, der Schaden ist nicht zu groß. Heiratet jemanden, mit dem ihr reden könnt, werde ich ihnen raten, wenn ich lange genug lebe. Es gibt nichts Einsameres als eine schweigsame Ehe. Was L. wohl denkt? Vielleicht ist auch er einfach von Erschöpfung geschwächt. Manchmal möchte ich jedoch damit herausplatzen. »Müssen wir eigentlich verheiratet bleiben?«, würde ich am liebsten fragen, ohne Heftigkeit oder Zorn, nur als simple Erkundigung. »Müssen wir diese Ehe fortsetzen? Wenn dich nur Mitleid an mich bindet oder Pflichtgefühl, dann bitte, bitte lass uns damit Schluss machen.« Aber ich kann mich nicht dazu überwinden, die Worte auszusprechen. Ich kann bloß dasitzen und den Kindern beim Malen zusehen - Larken, die Gesichtern und Haaren selbstbewusst ganz einzigartige, nicht-naturalistische Farben gibt; Gaelan, der sehr darauf achtet, innerhalb der vorgezeichneten Umrisse zu bleiben; Bonnie, die wie verrückt draufloskritzelt und die Handlung der Malbücher so verändert, dass alle möglichen Zauberwesen darin vorkommen. 514
Das Telefon klingelt. »Daddy, bist du zu Hause?«, fragt Larken, bevor sie abnimmt. »Nein«, antwortet er vielleicht und bleibt bei uns und doch nicht bei uns. Heute Abend erwidert er: »Ja«, und signalisiert damit (für mich jedenfalls) seinen Wunsch, sich zu entziehen. »Bei Jones, Larken am Apparat«, höre ich sie sagen - so erwachsen, mein kleines Mädchen - und dann, »ja, einen Moment, bitte.« Und er geht. Lüge, und Daddy bleibt. Sag die Wahrheit, und Daddy geht. Was für interessante Lektionen wir sie doch lehren.
24 Expatriierte unterwegs Nach Monaten mit gelegentlichen Treffen - Quickies zwischen Lehrveranstaltungen und dem Zensieren von Arbeiten, spätnächtliche Rendezvous während Esmés Wochenendbesuchen -, in denen sie nie zusammen aufgewacht sind, nie das langsame, aufeinander abgestimmte Atmen eines Liebespaars erlebt haben, eines Paars, das Zeit hat, sollte es folgendermaßen ablaufen: Sie und Jon sollten am frühen Nachmittag ankommen und Viney einen kurzen Pflichtbesuch abstatten, bei dem Larken Jon auch ihren Geschwistern vorstellen wollte; er würde alle mit seinem britischen Witz und seinem exotischen Akzent bezaubern; sie beide würden zusammen mit den anderen essen, aus lauter Höflichkeit noch ein wenig bleiben, sich dann schleunigst in Dads Haus verkriechen und dort ihre von der Universität finanzierten Frühjahrsferien antreten: eine Art Flitterwoche für Ehebrecher, die sie als Nonstopfick gestalten wollten, unterbrochen 515
von kurzen Pausen, um zu essen, zu trinken und sich IvoryMerchant-Filme anzusehen. Nach dem Essen - bei dem Bonnie distanziert und Gaelan stoned ist - besteht Viney jedoch darauf, dass sie alle zusammen einen Ausflug machen. »Ich würde Jon gern die Gegend zeigen, bevor es dunkel ist«, sagt sie. Die Gegend?, denkt Larken. Welche Gegend? »Das ist nett von dir, Viney, aber Jon und ich haben die Gegend schon gesehen. Auf der Herfahrt.« »Oh, das weiß ich, aber …« »Außerdem muss Jon arbeiten«, sagt Larken nachdrücklich. Jon wirft ihr einen fragenden Blick zu. »An deinem Roman«, souffliert sie. »Ach so, ja. Stimmt«, entgegnet er lahm. Offenbar muss sie ihm die Codes, die eine solche Situation erfordert, erst noch nahebringen. »Aber ihr seid doch die ganze Woche hier, oder?«, fragt Viney. »Kommt schon, wir machen einen kleinen Ausflug, das wird lustig.« Vineys Gesicht ist so ausdruckslos und der Subtext ihrer Bitte so vielschichtig und unergründlich, dass Larken sich zu fragen beginnt, ob ihr Wunsch nach einer bösen Stiefmutter sich endlich erfüllt hat. Für Larken ist es eine Ausnahmesituation, dass sie ein voll besetztes Fahrzeug lenkt. Das letzte Mal war sie in ihrer Kindheit mit mehr als einer weiteren Person im Wagen unterwegs, in den Tagen von Wegfahr-Kleeblatt-im-Sonnenschein-Daddy und Rückweg-Kirsch-Vanilleeis-Hope. Es ist März, und obwohl sich die Luft noch winterlich klamm anfühlt, zeigen sich in den Gräben am Straßenrand erste Anzeichen von Leben: sternförmige Laubbüschel, flaumig und weißlich-grün, haben sich aus der Erde gedrängt und kauern auf dem 516
Schlamm; aus ihrer Mitte werden im Sommer die schlanken Stängel hoher Königskerzen aufragen, gesprenkelt mit gelben Blüten in der Größe kleiner Knöpfe, umschwirrt von Bienen. »Ich habe nie woanders gewohnt als in Emlyn Springs«, sagt Viney vom Beifahrersitz aus; Gaelan, Bonnie und Jon sind hinten eingekeilt. »Die Landschaft hier ist nicht spektakulär, aber sie ist meine Heimat. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn man so weit entfernt von seinem Geburtsort lebt.« »Na ja, es verschafft einem auf jeden Fall einen klaren Blick«, erwidert Jon. »Das Gute wie das Schlechte, beides tritt deutlicher hervor, so viel ist sicher.« Larken sieht wieder auf die Uhr. Sie wünscht sich, sie käme an ihre Tasche und die Zweipfundtüte mit den Schokotoffees heran. Normalerweise denkt sie nicht ans Essen, wenn sie mit Jon zusammen ist, aber momentan könnte sie die sedierende Wirkung von Zucker gut gebrauchen, um ihre Ungeduld und Langeweile zu mildern. Die jämmerlichen Sehenswürdigkeiten der Stadt haben sie bereits passiert, von Viney kommentiert mit Einzelheiten über die Geschichte von Emlyn Springs, wobei sie besonders auf die Schule, die Bibliothek, die Kirchen und die historischen Bauwerke hingewiesen hat, die die Gemeinde in Partnerschaft mit ihrer Schwesterstadt zu renovieren hofft, blabla … Jetzt sind sie - wiederum auf Vineys Bitte hin - auf der Landstraße Richtung Lincoln. Larken kommt sich allmählich vor, als sei sie unwissentlich dafür engagiert worden, für einen Haufen entsprungener Häftlinge den Fluchtwagen zu fahren. Ihre Geschwister sind auffällig still. Jon dagegen ist äußerst höflich, charmant und geduldig - was Larken erwartet hat und unter anderen Umständen bezaubernd fände. Jetzt aber beginnen seine unfehlbar guten Manieren sie zu ärgern, denn es ist sein augenscheinliches Interesse an dem ganzen Scheiß, das Viney dazu ermutigt, an ihrer neu entdeckten
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Rolle als Reiseführerin festzuhalten. Genauer gesagt, hält es sie und Jon davon ab, endlich ins Bett zu kommen. »Vermissen Sie England manchmal?«, fragt Viney. »Ja«, erwidert Jon, ohne zu zögern. Larken ist überrascht; sie hat nie gehört, dass Jon etwas anderes als - wenn auch milde Verachtung über seine Heimat geäußert hätte. Auch beunruhigt sie die Geradlinigkeit und Bestimmtheit seiner Antwort. »Natürlich nicht die Politik der Regierung oder die Art und Weise, wie der britische Premier Amerika um den Bart geht. Verzeihen Sie, Mrs. Closs. Ist nicht als Beleidigung gemeint.« »Schon gut«, entgegnet Viney munter. »Bitte nennen Sie mich Viney.« »Was ich vermisse, ist schwer zu formulieren«, fährt Jon fort. »Es hat wohl damit zu tun, wie sehr Erinnerungen dem Ort ihrer Entstehung verhaftet sind. Verstehen Sie, was ich meine?« »Sicher.« »Und ich glaube, wir empfinden nie wieder so tief für einen Ort wie in der Kindheit.« Viney summt und nickt. Offensichtlich mag sie Jon sehr gern. Das ist eigentlich etwas Gutes, doch es fällt Larken immer schwerer, das Feuer ihrer unerlaubten Lust auf einen Mann zu schüren, der darauf besteht, so nett zu sein. Larken lehnt kurz ihre linke Schläfe an die kalte Scheibe und schaut hinaus und nach oben. Große Schwärme von Wandergänsen, einer nach dem anderen, ziehen über sie hinweg. Ihre Formationen wirken ausgefranst, ungeordnet - als sei ihr »V« von einer schwachen, unsicheren Hand auf den Himmel gekritzelt worden. Sie nähern sich der Vance-Farm, die von einer langen Reihe Zedern begrenzt wird, in der eine fehlt. Larken wird klar, dass niemand außer den Einwohnern von Emlyn Springs die Geschichte dieser Bäume und ihres abwesenden Gefährten kennt. »Warum kehren wir nicht um?«, schlägt Larken vor. »Fahren wir doch zurück.«
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»Gute Idee«, entgegnet Viney. »Aber ich habe Clara so lange nicht gesehen. Würde es dir was ausmachen, wenn wir kurz anhalten? Nur für eine Minute, damit ich hallo sagen kann?« Die Frage scheint an Larken gerichtet zu sein, deshalb erwidert sie: »Nein, natürlich nicht.« Sie parkt den Wagen. Gaelan und Jon haben rasch ihre Gurte abgelegt und stehen schon draußen, strecken sich, plaudern. Bonnie bleibt auf der Rückbank sitzen. »Ich bin sicher, Clara würde dich auch gern sehen«, sagt Viney zu Larken. »Komm doch mit.« Larken seufzt. »Klar.« Aber Viney ist schon aus dem Auto gehüpft, bevor sie sich auch nur abschnallen kann. Sie dreht sich zu Bonnie um. »Kommst du auch mit?« »Nein«, blafft Bonnie. Sie schmollt, ist wütend auf Gott weiß was und starrt verdrossen ihre Kniescheiben an. Larken seufzt erneut, denn sie fühlt sich immer niedergeschlagener durch den Verlauf, den der Tag nimmt. »Na schön.« Jetzt, da sie nicht mehr von Wollust getrieben wird, hievt sie sich aus dem Auto und fängt an, sich auf das Farmhaus zuzuschleppen. Hinter ihr bricht Jon in Gelächter aus. Viney ist bereits an der Tür angelangt, klingelt und bedeutet Larken, sich zu beeilen. Ihre weit ausholenden Nun-komm-schon-Gesten haben den Effekt, dass Zeit und Raum sich verwerfen: Die Haustür erscheint plötzlich meilenweit entfernt. Larken trottet weiter. Jon hat Recht: Die Eigenarten dieser Landschaft haben sich ihr fest eingeprägt - unabhängig davon, was sie für die Landschaft selbst empfindet. Die Luft - die feucht riecht und durchsetzt ist mit der schweren Wärme von Kuhmist und nassem Heu - ist Larken fremd geworden und ihr dennoch so vertraut, dass eine Sehnsucht sie erfasst, die stark und zugleich unmöglich zu beschreiben ist. Clara Vance steht in der offenen Tür und plaudert mit Viney, während Larken sich nähert. 519
»Larken!«, ruft sie. »Wie schön, dich zu sehen!« Mrs. Vance ist Anfang sechzig - eine Altersgenossin von Larkens Eltern - und hat immer noch eine leicht entstellende Narbe an der Oberlippe, wo Larkens Vater ihr vor über dreißig Jahren ein großes Muttermal entfernte und histologisch untersuchen ließ. »Hallo, Mrs. Vance«, sagt Larken. »Ich freue mich auch sehr, Sie zu sehen. Wie geht es Ihrem Mann?« »Oh, gut, sehr gut. Er ist drüben in der Co-op. Es wird ihm leidtun, dass er dich verpasst hat.« Larken erinnert sich gut daran, was Mrs. Vances Muttermal für sie und Gae bedeutete: eine beängstigende Möglichkeit, die in Form eines neuen, hässlich klingenden Wortes - Krebs - in ihr Leben platzte und drohte, alles zu verändern, denn wenn Mrs. Vance an Krebs erkranken konnte, bestand diese Gefahr auch für die Moms und Dads aller anderen. Doch das Muttermal erwies sich als gutartig: ein Meteor, der Gott sei Dank von seinem Kurs abkam, bevor er die Erde zerstören konnte. Sie hat Glück gehabt, sagte Dad mit einer Stimme, die klang, als wäre er nicht sicher, dass dieses Glück andauern würde. Aber das tat es. Mrs. Vance ist immer noch hier. »Und was machen die Enkel?«, erkundigt sich Larken. »Oh, danke der Nachfrage. Ich habe Viney gerade erzählt, wie wundervoll sie sind …« Harold Vance war so dankbar - als wäre Dad höchstpersönlich für das glückliche Ergebnis verantwortlich -, dass er die Familie Jones mit einer Wildbretseite bedachte, die über zwei Jahre lang den größten Teil ihrer Tiefkühltruhe einnahm und Larken ständig daran erinnerte, dass Dankbarkeit gleich Essen und Essen gleich Dankbarkeit war. »Leider sehen wir sie nicht mehr so oft, nachdem die Kinder weggezogen sind«, fährt Mrs. Vance fort. »Es gibt wohl nirgendwo auf der Welt Großeltern, die finden, sie kriegten genug von ihren Enkeln zu sehen - aber zu Weihnachten kommen sie
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und in den Sommerferien, und Harold und ich besuchen sie so oft wie möglich …« Vielleicht gibt es nur eine bestimmte Menge Glück auf der Welt, hat Larken damals gedacht. Vielleicht ist das Glück wie eine Torte, und wenn jemand ein großes Stück erwischt, heißt das, jemand anders bekommt nur ein kleines Stück oder gar keins. So kam es ihr jedenfalls vor, als sie, kurz nachdem Mrs. Vances Muttermal für gutartig erklärt wurde, erfuhren, dass Hope krank war. Ihre Mutter, so stellte sich heraus, hatte kein Glück. Als Larken merkt, dass Mrs. Vance an ihr vorbeischaut, dreht sie sich um. Gaelan und Jon lehnen in einer Haltung beiläufiger Wachsamkeit am Auto - wie Teenager, die sich auf dem Schulparkplatz einen Joint teilen. Gaelan blickt Jon über die Schulter und winkt. »Hi, Mrs. Vance!«, ruft er fröhlich. Mrs. Vance erwidert sein Winken. »Hi, Gaelan!« Dann wendet sie ihr freundliches, schiefes Lächeln wieder Larken zu und sagt: »Sieht aus, als hättet ihr einen Gast.« »Das ist Larkens Freund Jonathan«, wirft Viney ein. »Er ist für eine Woche zu Besuch.« Larken kann regelrecht sehen, wie Mrs. Vance im Geiste Dutzende Fragen formuliert - und dann verwirft, ehe sie nickt und »Wie nett« bemerkt. »Also, wir wollen dich nicht aufhalten, Clara«, sagt Viney. »Aber ich wollte dich zum Treffen des Planungskomitees einladen, von dem ich dir erzählt habe.« »Da wollte ich mich längst schon mehr engagieren«, sagt Mrs. Vance entschuldigend. »Ich versuche bestimmt zu kommen.« »Planungskomitee? Wofür?«, fragt Larken, sobald sie und Viney auf dem Rückweg sind. Mit verdächtiger Eile entfernen sich Jon und Gaelan vom Wagen und gehen auf die Zedernreihe und die Felder dahinter zu. Jon greift demonstrativ zu seiner Kamera und fängt an, Fotos zu machen. Vielleicht haben sie sichwirklich einen Joint geteilt.
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»Die Eier-Feiertage«, erwidert Viney. »Alle legen sich mächtig ins Zeug dafür.« »Ach so.« Bonnie steigt aus dem Wagen. Sie schlendert in die entgegengesetzte Richtung von Jon und Gaelan. »Sei nicht überrascht, wenn jemand versucht, dich für irgendwas anzuwerben, während du hier bist«, fügt Viney hinzu, ergreift Larkens Arm und stupst sie spielerisch an. »Vielleicht sogar ich.« »Danke für die Warnung.« Bonnie bleibt stehen, kniet sich hin. Sie ist auf einen dieser provisorischen Schreine am Straßenrand gestoßen. »Dein Dad würde sich sehr freuen«, ergänzt Viney wehmütig. »Hope auch.« Nachdem Bonnie das gebrechliche, umgekippte Kreuz wieder aufgerichtet hat, klopft sie die Erde um den Sockel fest und arrangiert die Plastikblumen neu. »Was ist los, Schatz?«, fragt Viney. »Hast du dich über irgendwas geärgert?« »Nein, alles in Ordnung. Ich warte im Auto.« Gaelan ist hinausgewandert zu den Erhebungen, die sie früher Babes Wiesen-Muffins genannt haben; wie ein Leinwandheld vom Sonnenuntergang beleuchtet, steht er breitbeinig auf zweien dieser Muffins und starrt in den Himmel; Viney geht auf ihn zu. Bonnie kniet immer noch. Jon läuft herum und macht Fotos von den Kiefern, den kleinen verdorrten Hügeln, den kahlen Feldern. Kann es eine deprimierendere Landschaft geben als die Nebraskas Mitte März?, fragt sich Larken. Sie nimmt Platz auf dem Fahrersitz, greift nach ihrer Tasche, holt die Toffees heraus und beginnt, sich zu therapieren. Es ist Mai 1978, und die älteste Tochter von Hope und Llwellyn Jones wehrt sich erneut - Gott sei Dank zum letzten Mal, da sie im nächsten Jahr zu alt sein wird - heftig gegen den Vorschlag ihrer Eltern, an der Wahl zur Little Miss Emlyn Springs teilzunehmen. Optimistisch wie eh und je, aber, das erkennt Larken, 522
mit zunehmender Verzweiflung, haben sie diesen Vorschlag seit 1975 jeden Juni gemacht. Schätzchen, du bist intelligent, du bist hübsch, du bist begabt, sagen sie, einem Drehbuch folgend, das sie jedes Jahr hervorzuholen und mit leichten Variationen zu inszenieren scheinen, ich (wir) verstehe(n) einfach nicht, wieso du keine Lust dazu hast. Diesmal haben sie Gelegenheit gefunden, sie einzeln ins Gebet zu nehmen. Tu es für Daddy, hat Hope ihr mit erzwungener Munterkeit eingeschärft. Du weißt, wie gern er es sieht, wenn du dich schön zurechtmachst. Tu es für deine Mutter, hat ihr Vater gebeten - und dann düster hinzugefügt: Vielleicht ist es das letzte Mal, dass sie mitkommen kann. Sonst war Larken meistens imstande, sie nach ein paar Versuchen abzuwimmeln, aber in diesem Jahr ist Hope besonders hartnäckig. Sie gibt keine Ruhe. Momentan sitzt Larken am Schreibtisch ihrer Mutter und ignoriert sie. Die Rechnungen sind fällig, und da Moms rechte Hand eine ihrer plötzlichen Auszeiten genommen hat, stellt Larken diesen Monat die Schecks aus. Das bedeutet, dass sie buchstäblich in die Ecke gedrängt ist, notgedrungen zuhören muss. »Ich verstehe einfach nicht, warum du nicht teilnehmen willst«, sagt Hope, »vor allem, weil es deine letzte Chance ist.« »Tust du wohl«, erwidert Larken knapp. Ihr wegen des LittleMiss-Emlyn-Springs-Wettbewerbs zuzusetzen scheint das Einzige zu sein, wofür Hope noch Energie aufbringt. Das Haus ist ein Schweinestall. Sie wünscht sich wirklich, ihre Mutter würde den Mund halten und sie in Ruhe lassen; sie hat noch eine Ladung Wäsche zu waschen, und dann muss sie überlegen, was sie zum Abendessen machen soll. »Ist Dad heute Abend zu Hause?«, murmelt sie in der Hoffnung, ihre Mutter mit einem anderen Thema abzulenken. 523
»Nein«, entgegnet Hope. Larken ist erleichtert. Die Anwesenheit ihres Vaters am Esstisch - so selten sie ist - verschärft die Situation und bedeutet immer, dass sie etwas Besonderes zubereiten muss. Wenn er nicht da ist, geben sie sich mit Hamburgern aus der Tüte zufrieden. »Du hast Recht«, räumt Hope ein. Sie schweigt so lange, dass Larken schon hofft, die Diskussion sei endlich vorbei. »Aber das heißt nicht, dass wir nicht darüber reden können«, fügt Hope, neue Kräfte sammelnd, hinzu. Larken hat zwei Einwände: Erstens hat sie genügend MissAmerica-Wahlen gesehen, um zu wissen, dass sie weder jetzt noch in Zukunft die Proportionen einer Schönheitskönigin aufweist, abgesehen davon, dass die Bewerberinnen um den Titel der Little Miss Emlyn Springs, zwölf bis vierzehn Jahre alt, in vielen Fällen noch nicht einmal Brüste haben (was auf Larken nicht zutrifft; sie hatte ihre erste Periode, ihre Schuhgröße 36, ihre Körpergröße von 1,57 m und ihre blöden Riesentitten bereits mit 11). Gott sei Dank müssen sie nicht im Badeanzug auftreten, ihr Talent als Model aber immerhin dadurch demonstrieren, dass sie auf dem Laufsteg Pumps und Nylonstrümpfe und eine Art Brautjungfernkleid mit jeder Menge Schleifen und Volants vorführen. Und wenn auch das Gegenteil behauptet wird, Larken weiß, dass niemand einem dicken Mädchen mit großen Möpsen eine MissIrgendwas-Krone verleihen wird, weil es in Spaghettiträgern und Rüschen nur dämlich und noch dicker aussehen kann. Zweitens das Talent: Larken kennt die meisten Bewerberinnen und kann sich leicht ausrechnen, womit sie Eindruck machen wollen: Mary Margaret Ellsworth wird Klavier spielen, Vicky Davies ein Ballettsolo tanzen, Jennifer McAllister vorturnen, und Tracey Hindemuth wird singen oder tanzen oder schauspielern; sie beherrscht alles, und jeder weiß, dass sie sowieso gewinnt, also was soll’s? »Ich will darauf hinaus«, sagt ihre Mutter, »dass jedes Jahr dieselbe Art von Mädchen an diesem Wettbewerb teilnimmt, und 524
ohne gemein sein zu wollen, sie führen immer dasselbe vor, aber du … na ja, du bist anders, Larken - grinse nicht, ich weiß, du hörst es nicht gern, aber es stimmt, und eines Tages wirst du mir dankbar dafür sein, dass ich dich darauf hingewiesen habe.« Larken hört, wie ihre Mutter aufsteht und - gestützt auf die Gehhilfe, die Larken ihr letzte Woche im Sanitätsfachgeschäft von Beatrice besorgt hat - durch den Raum schlurft. Sie erlebt einen vertrauten Anfall von Selbsthass aufgrund der Tatsache, dass sie in der Lage ist, ohne Hilfe Schecks ausstellen, ein Auto fahren, Essen zubereiten, das Zimmer durchqueren kann. Hope streicht ihr übers Haar. »Ich möchte einfach, dass du nicht ständig … dein Licht unter den Scheffel stellst.« »Es gewinnen immer dieselben Mädchen, weil sie gut sind, Mom. Und sie sind hübsch, nicht anders.« Larken spürt, wie ihre Mutter sich von hinten über den Stuhl beugt. »Zunächst mal könnten wir ein Kleid entwerfen, das dir gefällt, ein Kleid, in dem du fantastisch aussiehst, ganz ohne Schnickschnack. Zeichne mir ein Bild.« »Mom.« »Pass auf, ich spreche über deine Probleme, und ich weiß, das ist eins für dich. Wir müssen nicht nach Beatrice fahren und ein Kleid von der Stange kaufen. Ich kann dir eins machen.« Larken klappt das Scheckheft zu und dreht sich zu Hope um. »Wie willst du mir ein Kleid nähen, Mom? Du hast ja kaum genug Kraft, um durchs Zimmer zu gehen.« Sie weiß, es ist grausam, das zu sagen, aber es ist ihr egal. Sie will einfach nur, dass ihre Mutter den Mund hält, und wenn sie, um das zu erreichen, gemein zu ihr sein muss, dann soll es eben so sein. »Ich weiß deine Anteilnahme zu schätzen«, sagt Hope, und ihre Stimme ist ruhig und ohne jede Ironie, »aber das lass mal meine Sorge sein. Also …« Der Fußboden knarrt, als Hope ihr Gewicht verlagert. »Das Talent. Ich habe darüber nachgedacht. Du bist ziemlich gut am Klavier …« »Mom …« 525
»… aber ich weiß, dass du nicht Klavier spielen oder singen willst oder irgendwas in der Art, also dachte ich …« Hope streckt ihren Arm in Larkens Blickfeld und präsentiert ihr ein Buch mit amerikanischer Lyrik. »Wie fändest du es, ein Gedicht aufzusagen?« »Was?« Eine dümmere Idee hat Larken noch nie gehört. »Du hast so eine ausdrucksstarke Stimme, Schatz.« »Nein, hab ich nicht«, erwidert Larken entsetzt. »Wer sagt das?« »Sie ist sehr eindringlich, wenn du an das glaubst, was du vorträgst, wenn du deine Ansicht durchsetzen willst.« »Wann zum Beispiel?« »Als du dich zum Beispiel für den Schülerbeirat beworben hast.« »Und verloren habe«, erinnert Larken ihre Mutter. Hope strebt auf wackligen Beinen den nächsten Stuhl an und setzt sich. »… oder wenn du bei einem von Gaelans Spielen bist …« »Mom …« »… oder wenn du aus dem Haus gehst und dasselbe trägst wie die letzten drei Tage und deine Mutter versucht, dich dazu zu bringen, dass du was anderes anziehst.« Einen Moment lang bleibt Hopes Gesicht ausdruckslos, dann lacht sie. Larken verabscheut das. Die meisten ihrer 14-jährigen Altersgenossinnen liegen ständig im Kampf mit ihren Müttern, aber es ist schwierig, mit einer Mom zu streiten, die alles so komisch findet, ganz zu schweigen davon, dass sie ein Krüppel ist. Hope fängt an, in dem Buch zu blättern. Es ist schmerzlich anzusehen. Früher waren ihre Hände - ob sie nun Klavier spielte oder nähte oder einen Deckel aufschraubte oder eine Spargelstange vom Teller nahm - immer anmutig. Sie hatten Charakter, Haltung, Eleganz wie die eines Filmstars. Jetzt agieren sie zögernd und holprig, als wäre Hope alt. Während Larken beobachtet, wie 526
ihre Mutter sich müht, steigt ein Gefühl, stärker als Schmerz, in ihr auf: Wut. Sie ist wütend auf ihre Mutter wegen ihrer senilen Hände, und diese Wut löst Scham in ihr aus. Hope fummelt weiter in dem Buch herum - das einen feuchten, modrigen Geruch verströmt, als wäre es in einem Komposthaufen vergraben gewesen. »Was ist mit dem hier?«, fragt sie jetzt. »›Rast am Wald an einem verschneiten Abend‹ von … Ha! Weißt du, das ist mir nie aufgefallen! Witzig, oder, dass sein Name ›Frost‹ ist? Hier«, sagt sie und reicht Larken das Buch. »Guck es dir an und sieh mal, was du denkst.« »Gedichte zu rezitieren ist kein Talent, Mom«, sagt Larken, obwohl sie das Gegenteil hofft. Jetzt, da Hope es vorgeschlagen hat, keimt der Verdacht in Larken auf, dass sie vielleicht wirklich gut Gedichte aufsagen kann. »Natürlich ist es ein Talent, Liebling. Keiner schätzt Lyrik mehr als die Waliser, das weißt du. Und ein Gedicht aufsagen ist nichts anderes, als was diese Dingsbums getan hat, die Gewinnerin vom letzten Jahr, die ein Stück aus ›Romeo und Julia‹ vorgetragen hat.« »Anne Gottberg. Es ist was anderes, Mom. Sie hat eine Rolle gespielt, eine Figur dargestellt. Das hier ist bloß … Dichtung.« »Ach komm schon. Lies es einfach mal laut und guck, ob es dir gefällt. Lies langsam. Sprich so, als ob du es singst.« Larken fängt an. »Langsamer«, sagt Hope. »Du musst deutlicher betonen.« Larken beginnt erneut. »Noch langsamer, Schätzchen. Stell dir vor, dass du die einzelnen Wörter erst beim Lesen lernst.« Larken liest jetzt sehr langsam. Zuerst kommt es ihr albern vor, aber sie sind ja nur zu zweit. Hope lächelt und nickt. Irgendwann schließt sie die Augen, und schon bald hat Larken das Gefühl, allein im Raum zu sein.
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Sie verweilt nun weniger befangen bei Wörtern wie Wald und Meilen und Schlaf, nimmt ihr eigentümliches Aussehen auf der Seite neu wahr, wird sich bewusst, wie sie bestimmte Muskeln beanspruchen: Kiefer, Zunge, Wangen, Lippen. Sie hat nie darüber nachgedacht, dass Sprechen physische Mühe erfordert, dass Ideen sich nicht äußern lassen, wenn der Körper nicht mitspielt. »Und?«, fragt Hope, immer noch mit geschlossenen Augen. Ihre Stimme ist ziemlich ausdruckslos, aber sie beißt die Zähne zusammen, denn Larken sieht die Muskeln ihrer Kiefer unter der dünnen Haut arbeiten. »Es ist okay«, sagt Larken. »Gut«, erwidert Hope. »Das wäre dann also abgemacht. Denk über dein Kleid nach. Wir können nach dem Essen darüber reden.« Sie befingert die Ränder ihrer Strickjacke - Larken erkennt nicht, ob sie sie ausziehen oder zuknöpfen will -, prustet dann und gibt auf. »Ich liebe es einfach, Probleme zu lösen«, murmelt sie, »du nicht auch?« Doch diese Bemerkung scheint nicht an Larken gerichtet zu sein und klingt merkwürdig bitter. Larken ist klar, dass Jons Aufenthalt in einer Umgebung, die keine Assoziationen zu seiner Familie bietet, seine emotionale Genesung beschleunigt - an und für sich keine schlechte Sache, aber während ihrer gemeinsamen Woche in Emlyn Springs nimmt sein Bedürfnis nach engagierten therapeutischen Ficks entschieden ab. Außerdem offenbart sich Jon als jemand, der viel extrovertierter ist, als sie wusste. Er interessiert sich sehr für die Geschichte der Stadt, für Unterhaltungen mit ihren Einwohnern. Er ist gern unter Leuten. Eigentlich leuchtet ihr das ein. Jon ist schließlich Romancier nicht Kunsthistorikerin und Bücherwurm wie sie - und unterrichtet zeitgenössische Literatur. Seine Arbeit erfordert den Kontakt mit Menschen, die noch am Leben sind. Sie ist froh, dass es ihm 528
besser geht. Er erwähnt Mia und Esmé die ganze Woche über nicht. Was den Rest der Stadt betrifft, so herrscht das Prinzip des Nichtwissenwollens wie eh und je. Wenn überhaupt Erörterungen stattfinden, gehen sie nicht hinaus über Larken, die älteste Tochter vom Doc, Uni-Professorin, ist die Frühjahrsferien über zu Besuch, wohnt aber nicht bei Viney, sondern im Haus ihres Dads. Hat einen Freund dabei, Engländer, Schriftsteller, Kollege. Niemand stellt Fragen, die Jon abverlangen würden, die gefürchteten Wendungenmeine Frau oder meine Tochter zu benutzen. Sie gehen spazieren, nehmen im »Little Cheerful« Malzgetränke und Burger und Pommes zu sich, trinken Bier im Grumpy’s und sehen sich dabei College-Football an. Sie besuchen die Coop, damit Jon die Umgangssprache der Farmer von Nebraska studieren und etwas über Bewässerung und Viehfutter lernen kann. Sie verbringen einen ganzen Nachmittag bei der Historischen Gesellschaft, Jon umrahmt von den Damen Williams bei der Durchsicht des Stadtarchivs. Darin findet sich auch ein Foto von Larken Jones, 14, Little Miss Emlyn Springs 1978. »Wie goldig!«, bemerkt Jon. »Larken, komm her. Guck mal.« »Nein, danke.« Überall fängt Jon ein Gespräch an, stellt Fragen zur Geschichte, lässt großzügig seinen Charme spielen. In der Öffentlichkeit verhalten sie sich keusch wie Cousin und Cousine. Sie kommen auch zum Vögeln, aber nicht annähernd so oft, wie Larken gehofft hatte, und sind dabei kaum weniger gehemmt, als wenn Esmé nebenan schlafen würde. Larken willigt ein, Jurorin bei der Wahl der Little Miss Emlyn Springs zu werden, und das erste Treffen des Planungskomitees findet bei Viney statt. »Wen sollen wir dieses Jahr bitten, den Stuhl zu bauen?«, fragt Miss Williams. 529
»Entschuldigung«, wirft Jon ein. »Den Stuhl?« »Das ist eine Tradition, die wir vom Eisteddfod übernommen haben«, erklärt Miss Williams, »dem nationalen Lyrikund Gesangswettbewerb, der in Wales seit dem Mittelalter üblich ist. Eisteddfod kommt von eistedd ›sitzen‹, weil es dem siegreichen Barden früher erlaubt war, am Tisch des Königs Platz zu nehmen. Jede Little Miss Emlyn Springs erhält einen speziellen, einzigartigen Stuhl.« »Früher hat Miss Williams’ Vater die gebaut«, fügt Larken hinzu und erinnert sich an ihren eigenen Stuhl. Wie alle Konstruktionen von Doc Williams waren Sitz und Rücken fantasievoll und bunt bemalt. Geschnitzte Vögel, ebenfalls farbig, fungierten als Armlehnen, als könnte der darin Sitzende erwarten, emporgehoben zu werden. »Ich glaube, deiner war der schönste, den er je gemacht hat«, sinniert Hazel. Bonnie und Gaelan fehlen bei den meisten dieser Zusammenkünfte. Bonnies Zurückhaltung ist normal, Gaelans dagegen besorgniserregend. Er wirkt deprimiert. Am Samstag, dem Vortag ihrer Abreise nach Lincoln, lädt Larken ihre Geschwister für den Abend ins Haus ihres Vaters ein, um gemeinsam Pizza zu essen und sich einen Film anzuschauen. »Also, wie steht’s, Gae?«, fragt Larken. Sie gießen in der Küche Getränke ein, während die Pizza gart und Bonnie und Jon im Wohnzimmer den Tisch decken. »Wie läuft das Studium?« »Ich habe aufgehört.« »Mit der Fortbildung?« »Nein. Ich habe meinen Job gekündigt.« »Wann?« »Letzten Monat.« »Warum?« »Das ist eine lange Geschichte.« »Viney hat das gar nicht erwähnt.« »Weil sie es nicht weiß. Ich habe es ihr noch nicht erzählt.« 530
»Gaelan …«, setzt Larken an, doch da kommt Bonnie mit der DVD-Kassette herein. »Dieser Film ist ab 18«, verkündet sie. Die Herduhr piepst. »Ich hole sie raus«, sagt Gaelan und bewaffnet sich mit Topflappen. »Ja? Und?« Bonnie liest vor. »›Darstellung von Gewalt, drastische Sprache und explizite Sexualität‹.« »Aber er soll gut sein, Bon. Er hat einen Oscar gewonnen.« »Ich glaube nicht, dass ich hierbleiben und ihn mir ansehen will.« »Bonnie«, sagt Larken und greift beschwichtigend nach ihrer Hand, »das ist unser letzter Abend hier in der Stadt. Wir müssen uns den Film nicht angucken, wenn du nicht willst. Wir können auch was anderes machen. Karten spielen oder Scrabble oder einfach rumsitzen und reden. Alles, wozu du Lust hast.« »Es ist nicht bloß das …«, sagt Bonnie, Larkens Blick ausweichend. »Wer will vegetarische?«, ruft Gaelan. »Ich nicht!«, ruft Jon zurück. Bonnie reckt das Kinn vor, sieht Larken kalt an und lässt einen Satz vom Stapel, der nach Larkens Meinung eingeübt ist. »Ich fühle mich nicht wohl in eurer Gegenwart.« »Du fühlst dich nicht …?« »Alle anderen kannst du vielleicht an der Nase herumführen«, flüstert Bonnie grimmig, »aber mich nicht!« Gaelan seufzt. »Ich gehe mal eben auf die Veranda«, sagt er und greift in die Tasche seines Sweatshirts. »Ruft mich, wenn ihr bereit seid.« »Ich versuche niemanden an der Nase herumzuführen«, sagt Larken. »Er ist doch dein Nachbar, oder? Der mit der kleinen Tochter?« »Bonnie, du kennst die Situation nicht.« 531
»Ich weiß, dass er verheiratet ist.« »Ja, und du bist die ganze Woche total unhöflich zu ihm gewesen«, sagt Larken. »Und zu mir auch. Was ist dein Problem?« Bonnies Gesicht fällt in sich zusammen. »Was mein Problem ist?«, kreischt sie. »Ich habe keine Probleme! Mir geht es gut! Mein Leben ist perfekt! Wenigstens bin ich keine Schlampe, die mit einem verheirateten Mann in Dads Haus übernachtet!« Sie stürmt hinaus auf die Veranda. Larken folgt ihr. »Und du!«, sagt Bonnie zu Gaelan, der sich eben einen Joint anzündet. »Du bist der reinste Drogensüchtige!« Gaelan und Larken teilen sich ein paar Züge, während Bonnie auf ihrem Rad davonrast. »Sie wird tatsächlich vor unseren Augen zur alten Jungfer«, bemerkt Larken. Gaelan zuckt die Achseln. »Irgendwie verstehe ich sie.« »Was meinst du damit?« »Na ja, ich mache mir auch Sorgen darüber, dass du dich mit so einem Typen einlässt.« »So einem Typen? Prima, das hast du gerade nötig.« Gaelan macht ein beleidigtes Gesicht. »Hier«, sagt er ruhig und reicht ihr den Joint. »Den kannst du mit Jon aufrauchen. Ich fahre besser hinter ihr her und vergewissere mich, dass sie okay ist.« Und so verbringen Larken und Jon den letzten Abend ihrer Flitterwoche damit, einen Joint zu rauchen, zwei große Pizzen zu essen und sich einen Science-Fiction-Film über das Ende der Welt anzuschauen. Sie schlafen ein, ohne Sex zu haben. Am Sonntagmorgen beladen sie erst einmal den Wagen und fahren dann zu Viney, um sich zu verabschieden. Gaelan ist noch im Bett. »Du solltest raufgehen und ihn wecken«, sagt Viney. »Er wird traurig sein, wenn er dich vor deiner Abfahrt nicht mehr gesehen hat.« Larken klopft an seine Tür. »Gae? Ich bin’s. Kann ich reinkommen?« 532
»Ja«, sagt er mit schwacher Stimme. Am Zustand seines Zimmers - unaufgeräumt, schmutzig, übelriechend - erkennt sie, dass wirklich etwas mit ihm nicht stimmt. »Tut mir leid wegen gestern Abend«, sagt sie. »Ich würde gern mehr hören über … na ja, alles, also ruf mich an, okay?« Als sie aus dem Haus kommt, geht Jon auf der anderen Straßenseite auf und ab und horcht mit grimmiger Miene in sein Handy. Sie winkt ihm zu, steigt ins Auto, wartet. Es dauert weitere fünf Minuten, bis er bei ihr ist. »Alles in Ordnung?«, fragt sie. »Ja. Bestens«, sagt er und schnallt sich an. »Fahren wir.« Seine Stimme klingt beruhigend kräftig und entschlossen. Jetzt kehren sie also tatsächlich zu ihrem wahren Leben, ihren wahren Ichs zurück. Mit großer Erleichterung braust Larken in Richtung Norden los. »Ich hatte einen komischen Traum letzte Nacht«, beginnt sie, um ein Gespräch in Gang zu bringen. »Es ging um Mia. Sie war…« »Lass das«, unterbricht Jon sie scharf. Sein Ton ist unmissverständlich strafend, vorwurfsvoll - der Ton eines zornigen alttestamentarischen Gottes. »Bitte sprich nicht über Mia.« Larken ist erschrocken, so erschrocken, dass sie nicht merkt, wie viele Meilen sie fährt, ehe er wieder spricht. »Entschuldige«, sagt er sanfter. »Reden wir einfach über was anderes.« Und doch hat Jons Maßregelung Larken, obwohl sie sich sonst immer offen über alle möglichen Themen außer Mia unterhalten, den letzten Atem geraubt. Sie verbringen den Rest der Fahrt schweigend. Sie verbringen die Nacht lautstark vögelnd. Hopes Tagebuch, 1974 Frauenbewegung
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Heute ist etwas Lustiges passiert. Viney und L. und die Kinder waren in Lincoln bei einem Footballspiel. (Ich kann da wirklich nicht mehr mit: der Lärm, die Menschenmassen, die Hitze. Ich bleibe gern allein in meinem stillen, wohltemperierten Haus, setze mich in meiner roten Strickjacke aufs Sofa und schaue mir, eine Bloody Mary in der Hand, die Spiele im Fernsehen an. Viney hat eigentlich auch keine große Lust, aber sie geht um L.’s willen mit. Sie hat mir erzählt, sie habe eine Methode entwickelt, sich auf ihre Hand zu stützen und ein kleines Nickerchen zu halten, ohne dass L. es merkt!) Jedenfalls lud L. die Kinder noch auf ein Eis ein, nachdem sie alle essen gewesen waren, und Viney ging in den Universitätsbuchladen. Sie forscht dort nach neuen und lesenswerten Büchern für mich, ich gebe ihr das Geld dann zurück. Als sie mit Joyce Carol Oates und Philip Roth unter dem Arm in der Schlange stand, fiel ihr Blick auf etwas. »Du weißt doch, manchmal liegen Zeitschriften so übereinander«, sagte sie später, »dass man nur den Titel sehen kann. Ich war schon an der Kasse, als ich die hier entdeckte. Ich konnte es nicht fassen. ›Das wird Hope aber interessieren‹, dachte ich. ›Eine ganze Zeitschrift zum Thema MS!‹« Wir lachten, bis uns die Tränen kamen. »Vielleicht hätte ich sie gar nicht gekauft«, meinte sie, »aber genau in dem Moment stießen Welly und die Kinder zu mir, und Welly zog diese verdrießliche Miene«, sie demonstrierte sie perfekt, »und grummelte: ›Die nimmst du doch wohl nicht mit, oder?‹, also nahm ich sie natürlich.« Gott segne sie. Wir hatten mächtigen Spaß damit, Abonnementsanträge auszufüllen: je einen für uns beide, einen für Llwellyns Praxis und einen (als anonymes Geschenk) für Estella Axthelm. Viney witzelte, sie würde sich in den nächsten Wochen zu gern jeden Tag, wenn die Post kommt, vor ihr Haus stellen, nur um ihren Gesichtsausdruck zu sehen. 534
Es tat gut zu lachen. MS Magazine. In Wahrheit kann ich mir nichts Öderes oder Deprimierenderes vorstellen als eine Zeitschrift, die sich nur dieser verdammten Krankheit widmet. Es kann vorkommen, dass du einen Menschen schon lange gut kennst und liebst, und dann bemerkst du etwas, es muss nichts Welterschütterndes sein, vielleicht nur eine kleine Grimasse, die er in einem seltsamen Augenblick zieht, einen Anflug von Ungeduld, dem nicht einmal sprachlich Ausdruck verliehen wird, der aber eine Seite offenbart, die dieser Mensch bisher nicht gezeigt hat - jedenfalls nicht dir. Viney ist in Llwellyn verliebt. Es war nur ein kurzer Moment: Ich sah, wie sie ihn auf eine bestimmte Weise anschaute. Ich sage nicht, dass sie sich ihrer Verliebtheit bewusst ist - das glaube ich nicht - oder dass L. sie erwidert. Zwei moralisch aufrechtere Menschen als die beiden gibt es nicht, und obwohl mein Mann sich an mir versündigt hat und ich mich an ihm -, ein Ehebrecher ist er nicht. Betrüblicherweise muss ich zugeben, dass mir »Alvina Closs ist ein Flittchen« in den Sinn kam. Das muss es sein, was die Leute mit der Präsenz des Teufels meinen. Was sonst sollte mir einen solchen Gedanken eingegeben haben?
25 Das letzte Artefakt Bonnie wacht eines Morgens im April auf und weiß, dass sich ein Sturm - ein richtig schwerer, so gefährlich wie der im 19. Jahrhundert, der immer nochKindermörder genannt wird, weil er au-
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ßer nichtsahnenden Erwachsenen besonders viele von den Kleinen erwischte - über Südost-Nebraska zusammenbraut. Sie zieht sich Winterstiefel an und tritt aus der Remise. Der Himmel ist weichspülerblau, von Sonnenschein durchflutet, wolkenlos. Kein Wind. Temperatur knapp über zehn Grad. Nach einem schneereichen, eiskalten Winter wird es den Kindern so warm vorkommen, dass manche von ihnen - vor allem die Teenager - ihre Jacken zu Hause lassen werden. Ganz zu schweigen von Mützen und Handschuhen. Bonnie schließt die Augen, wird ganz ruhig, schnuppert. Noch eine Stunde. Vielleicht anderthalb. Dann wird es umschlagen. Es sind ihre, sie alle, auch wenn sie sie nicht geboren hat. Warum sonst sollte sie diese Gabe haben, diese schmerzhafte Empfindsamkeit für den Wind und das Wetter, das er vorhersagt, wenn nicht dafür: um die Verkörperung all der Hoffnungen ihrer Heimatstadt vor Schaden zu bewahren? Rasch kleidet Bonnie sich an. Sie sieht nach den Schwestern Williams und erklärt ihnen, sie sollten sich keine Sorgen machen, falls sie heute Abend nicht nach Hause kommt; ein Schneesturm sei im Anzug und es könne sein, dass sie über Nacht in der Werkstatt bleibt. »Meine Güte!«, sagt Hazel und schaut auf. »Glaubst du wirklich, dass es schneien wird? So spät im Jahr?« »Da bin ich sicher, Miss Williams«, sagt Bonnie. »Haben Sie alles, was Sie brauchen, falls der Strom ausfällt?« »Ja, ja«, sagt Wauneeta. »Was ist mit dir?« »Ich komme zurecht, aber hätten Sie wohl noch ein paar warme Mützen und Handschuhe, die ich mir ausborgen könnte?« »Sicher. Holst du bitte eine Tüte aus der Küche, Wauneeta?« Wauneeta watschelt den Korridor entlang, während Hazel den Flurschrank öffnet und zahlreiche Schals und Mützen und Handschuhe und Fäustlinge hervorzieht. Die Williams-Mädels sind große Strickerinnen. »Wofür brauchst du die?« 536
»Ich bin unterwegs zur Schule, und ich habe das Gefühl, dass einige der Kinder sie benötigen werden, falls das Wetter wirklich umschlägt.« »Ach so! Natürlich!« Wauneeta kehrt mit einem Plastikbeutel zurück, den sie zu dritt vollstopfen. Bonnie wirft ihn sich über die Schulter. »Diolch yn fawr!«, ruft sie. »Croeso!«, erwidern Hazel und Wauneeta. Die Schule von Emlyn Springs ist mehrere Blocks entfernt. Beladen mit dem großen Sack voller Wollsachen kommt Bonnie langsamer voran, als sie erwartet hat, deshalb macht sie, als sie durch die Innenstadt kommt, am Supermarkt Halt und fragt Gwilym Moore, ob sie sich einen Einkaufswagen ausleihen könne. »Klar, Bonnie. Was ist in dem Sack?« »Schals und Mützen«, sagt Bonnie atemlos. »Faint o’r gloch yw hi, Mr. Moore?« »Mae hi’n ddeg o’r gloch«, sagt er. »Vielleicht fünf nach.« Sie schwingt den Beutel in den Wagen. »Diolch!«, ruft sie, bereits davoneilend. »Pob hwyl, Bonnie!«, entgegnet er. Kurz darauf beginnt der Himmel seine Farbe zu verändern. Aus dem Nichts erscheinen Wolken, als hätten sie sich weit oberhalb des Jetstreams zusammengeballt und wären dann über der Stadt abgeworfen worden: ein grau gesprenkeltes Zeltdach. Nun kommt der Sturm mit beängstigender Schnelligkeit angefegt. Bonnie schafft es gerade bis zur Schule, als der Blizzard anfängt, sich in seiner ganzen blendenden, bösartigen Bedrohlichkeit zu zeigen. Der Wind schneidet jetzt wie ein Messer und ist ungestüm: Sobald sie drinnen ist, muss sie sich gegen die Tür werfen, damit sie hinter ihr schließt. Als sie den Plastiksack aus dem Wagen hievt und in das Sekretariat schleppt, hört sie Carys Janssen, die Schulsekretärin, am Funksprechgerät. Sie spricht mit Lars Gruffudd, dem Schulbusfahrer von Emlyn Springs. Er ist unterwegs. Garreth Peterson, der 537
Rektor, verkündet über die Lautsprecheranlage, dass die Schule schließt und Schüler und Lehrer so schnell wie möglich den Heimweg antreten sollten. »Bonnie«, sagt Carys. »Was tun Sie denn hier? Sie arbeiten heute doch nicht, oder?« »Nein, nein, ich habe mir nur Sorgen um die Kinder gemacht.« Carys schaut verblüfft drein. »Na ja, die Familien sind alle benachrichtigt, und Lars ist unterwegs. Die Straßen sind noch frei, das müsste also klappen. Sie sollten wirklich auch sehen, dass Sie nach Hause kommen. Diese Frühjahrsstürme, Sie wissen ja, wie die sind.« »Ich glaube, ich bleibe für den Fall, dass Sie noch einen Erwachsenen brauchen.« »Mir soll’s recht sein, Schätzchen, aber die Schule muss so bald wie möglich geräumt werden.« Die ersten Eltern treffen ein, Schüler und Lehrer verlassen das Gebäude. Bonnie postiert sich mit ihren Wollsachen am Haupteingang und sorgt dafür, dass alle Kinder gut für das Wetter gerüstet sind. Mr. Peterson versammelt diejenigen, die im Bus mitfahren wollen, in der Cafeteria. »Warum gehen Sie nicht nach Hause, Carys?«, sagt er. »Ich weiß doch, dass Sie es ziemlich weit haben.« »Oh danke, Gareth«, entgegnet sie erleichtert, und schon ist sie im Mantel und zur Tür hinaus. »Ich werde mal bei den Familien der Kinder anrufen«, erbietet sich Bonnie, »und ihnen Bescheid sagen, dass sie sich verspäten.« Sie geht ins Sekretariat und holt das Schüleradressverzeichnis hervor. Als sie gerade die erste Nummer wählen will, klingelt das Telefon: Es ist die Polizei, die anruft, um mitzuteilen, dass Lars in einer Kurve der Bridge Street auf eine vereiste Stelle geraten und mit dem Bus halb den Hang der Schlucht hinuntergerutscht ist. Er hat nur ein paar Schnittwunden und Prellungen, doch die Sanitäter bringen ihn nach Beatrice. 538
Bonnie läuft in die Cafeteria. Die Kinder sitzen in kleinen Gruppen beisammen, ihre Gesichter gerötet und glänzend, weil sie schon so lange in der Wärme dick eingemummelt sind. Mr. Peterson hockt mit ein paar älteren Schülern auf dem Rand der Bühne und spielt Karten mit ihnen. Bonnie winkt ihn zu sich. Seine Miene wird ernst, als er die Neuigkeit hört. »Das heißt, wir haben zwölf Kinder hier, die keine Möglichkeit haben, nach Hause zu gelangen.« »Ich nehme sie mit«, schlägt sie vor. »Ich gehe mit ihnen rüber zu meinem Laden - das sind nur zwei Blocks -, und da können sie mit mir zusammen warten, bis ihre Eltern kommen.« »Sind Sie sicher?« Mr. Peterson schaut zweifelnd drein. »Ich würde sie ja hierbleiben lassen, aber ich muss rüber nach Wymore und meine Frau von der Arbeit abholen, wir haben nur ein Auto.« »Wir kommen schon zurecht.« Mr. Peterson knöpft Mäntel zu und schlägt Kragen hoch. Bonnie verteilt Mützen und Handschuhe und Fäustlinge an diejenigen, die sie brauchen. Dann binden die beiden mit Hilfe der Williams’schen Wollschals die Kinder aneinander, sodass sie eine lange, bunte Reihe bilden. Zum Schluss setzt Bonnie sich selbst an die Spitze - wie der Leithund bei einem Schlittenrennen. Und so bahnen sie sich ihren Weg, die Köpfe gesenkt gegen den tosenden Wind und den sprühenden Schnee. Sie benötigen zehn Minuten für die zwei Blocks. Bonnie scheucht die Kinder ins Gebäude, stellt den elektrischen Heizkörper an und setzt den Kessel auf. Jetzt sind sie in Sicherheit. Während sie darauf warten, dass das Wasser kocht, massiert sie kalte Hände und Gesichter und Füße. Blind Tom begrüßt sie und bringt Stapel von Klavierdecken aus Filzwolle herein, in die sich die Kinder einwickeln können. Bonnie macht heiße Schokolade und Popcorn. Als die Abstimmung darüber, welches Video angeschaut werden soll, in eine Sackgasse führt, fällt Blind Tom eine Entscheidung. 539
»Wir gucken ›Die Monster AG‹«, verkündet er. »Da ist für jeden was dabei.« Gegen ein Uhr ist das schlimmste Unwetter vorbei, um zwei hört es auf zu schneien, und um drei macht sich Hal Sigurdson, Angestellter der Stadt und Betreiber des einzigen Schneepflugs von Emlyn Springs, ans Werk und bahnt sich seinen Weg die Main Street entlang. »Können Sie im Schnee fahren?«, fragt Blind Tom. »Klar, das hat mir meine Schwester beigebracht.« »Dann lassen Sie uns die Kinder nach Hause bringen.« Bonnie beauftragt die zwölfjährige Alyssa Critchfield damit, die Kinder für die Fahrt fertig zu machen, während sie und Blind Tom zur Hintertür hinausgehen und anfangen, seinen Lieferwagen auszugraben. Er zeigt sich dabei als so kompetent, dass sie seine Behinderung fast vergisst. Sie laden die Kinder ein, fahren auf der Main Street zum Highway und folgen dann dem Schneepflug, der auch diese Straße bereits räumt. »Fährt sich gut, der Wagen«, bemerkt Bonnie. »Sie sind eine gute Fahrerin«, erwidert Blind Tom. Bis sie alle Kinder abgeliefert haben und wieder im Fahrradladen sind, ist es beinahe sieben Uhr. »Haben Sie Lust, mit mir und Sergei zu Abend zu essen?«, fragt Blind Tom. Endlich wird Bonnie klar, was heute an Blind Tom so anders ist: Er trägt seine dunkle Brille nicht. Seine Augen sehen nicht aus wie die eines Blinden. Die sie umgebenden Muskeln sind nicht verzerrt, und er hat keine entstellenden Narben. Blind Toms Augen sind blau und vollkommen. »Klar«, sagt sie. »Ich bin nicht in Eile.« »Ist Dosensuppe okay?« »Sicher. Ich kann auch Smoothies machen, wenn Sie mögen. Ich gucke nur noch nach, ob die Kinder alles mitgenommen haben.« 540
»Dann bis gleich.« Kinder hinterlassen immer viele Spuren, und das in sehr kurzer Zeit: Die Sitze bedeckt ein Durcheinander aus Krümeln und einzelnen Fäustlingen und vergessenen Hausaufgaben und Kaugummipapier. Auf der Suche nach Putzgeräten öffnet Bonnie die hintere Tür des Lieferwagens. Sie findet einen Besen und eine Schaufel und einen leeren Karton, den sie zu einem Behälter für Fundsachen umfunktioniert. Als sie durch die Hintertür in den Lagerraum tritt, stellt sie fest, dass es in der Werkstatt stockfinster ist. »Tom?« »Kein Strom«, ruft er von irgendwoher. »Macht es Ihnen was aus, Sandwiches zu essen?« Woher weiß er, dass der Strom ausgefallen ist?, fragt sich Bonnie. Sie tastet sich auf seine Stimme zu. »Wo sind Sie?« »Gehen Sie einfach weiter.« Im Dunkeln ist das, was einst ein leicht zu verfolgender Weg zwischen Lagerraum und dem vorderen Bereich des ehemaligen Warenhauses war, ein Minenfeld. Bonnies Füße treffen auf etwas, das sich wie Holzklötze anfühlt: Sie knickt um. Ihre Arme kollidieren mit einer Tischkante: Sie prellt sich ein Handgelenk. »Autsch!«, schreit sie. Nachdem sie gegen ein unsichtbares Hindernis nach dem anderen geprallt ist wie eine menschliche Flipperkugel, stößt sie schließlich an ein Klavier. Dann hört sie Blind Tom. Seine Schritte klingen eilig, seltsam dringlich. »Warten Sie!«, ruft er warnend, so wie man jemanden ansprechen würde, der kurz davor ist, sich einem nahenden Auto in den Weg zu stellen oder barfuß in einen Haufen Glasscherben zu treten. »Was ist los?« »Nichts … warten Sie einfach«, sagt er mit unsicherer Stimme. »Ich hole Sie.« Aber das tut er nicht. Er bleibt, wo er ist. Es hört sich an, als sei er sehr nahe, direkt neben ihr. Während die Momente verstrei541
chen, wird ihr langsam klar, dass auch seine Hände auf dem Klavier liegen. Sie orientiert sich an der Tastatur und beginnt, mit den Fingern über die Tasten zu streichen, vom Diskant bis zum Bassregister. Alle Elfenbeinplättchen sind vorhanden, das spürt sie. »Warten Sie«, sagt er. »Es ist noch nicht fertig. Bitte warten Sie. Ich bin nicht …«, und seine Stimme hat sich verändert; sie klingt fast, als ob … Warten Sie. Warten Sie. Ihre Finger vollziehen noch einmal dieselben Schritte. Wo war sie? Hier? Hier? Nein, hier. Diese da. Bonnie schließt die Augen. Hope ist im Raum. Diese Taste ist das mittlere C, sagt sie. Das ist eine wichtige Taste auf dem Klavier, und wenn wir spielen, setzen wir uns so hin, dass unser Bauchnabel direkt davor ist. Genau in die Mitte, erwidert Bonnie. Also, natürlich kannst du sie mit den Augen finden, sagt Hope und Bonnie erinnert sich, dass sie sie gemustert, ihre Beziehung zu den schwarzen Tasten bemerkt hat, doch die verwirrte sie und du kannst sie mit den Ohren finden -, und Bonnie entsinnt sich, wie Hope den Ton gesungen hat -, aber bei diesem Klavier haben wir besonderes Glück, weil es noch eine dritte Möglichkeit gibt. Welche denn? Du kannst das mittlere C ertasten. Wie meinst du das? Mach die Augen zu und streich drüber. Spürst du den Unterschied? Bonnies Finger erkunden die Taste. Sie ist nicht flach. 542
Genau. Sie ist wie ein Löffel oder eine Muschelschale oder ein Teller. Ja! Sie ist abgenutzt von den Fingern der Menschen, weißt du. Dieses Klavier ist schon sehr alt und von vielen, vielen Leuten gespielt worden. Und die haben alle als Kinder angefangen, ebenso wie du, und gelernt, das mittlere C zu finden. Unser mittleres C ist speziell. Ja, lacht Hope, das ist es. »Sag mir deinen Namen«, fordert Bonnie. Er antwortet nicht, aber sie kann kurze, unregelmäßige Atemzüge hören, die leiser werden. Sie hat das Gefühl, dass er vor ihr zurückweicht. »Stopp«, sagt sie, »hör bitte auf, dich zu bewegen.« Ihre Hände, die jetzt schneller über das Klavier gleiten, nehmen in der glatten, geölten Politur Kratzer zur Kenntnis, tiefe Furchen stellenweise, Hinweise auf alte Narben, dauerhafte Verletzungen. Sie tastet sich weiter die geschwungenen Ränder der Klavierflanke entlang - es ist oben offen, die Saiten sind entblößt -, bis sie auf ihn trifft und ihre Hände an sein Gesicht führt. »Warum weinst du?« »Ich hatte es vergessen«, sagt er. »Es ist so lange her, seit ich mit der Arbeit begonnen habe. Ich habe mich gezwungen, es zu vergessen.« »Was zu vergessen?« »Dass es für dich ist. Dass ich es von Anfang an für dich getan habe.« Sie zieht sein Gesicht an ihrs und spürt das Verstreichen von Jahren, ein sich in die Zukunft entfaltendes Leben, das erfüllt sein wird von dieser Geste und anderen, ähnlichen. »Hab keine Angst«, flüstert sie, und als sie ihn küsst, wird ihr klar, dass das letzte Artefakt nicht einmal dieses Klavier ist - das Klavier ihrer Mutter, zu neuem Leben erweckt von diesem Mann an diesem Ort, und das ist eine Geschichte, die zu erzählen sie ihn bitten wird: Nein, es ist noch nicht einmal das. 543
Das letzte Artefakt, das sie von nun an in Ehren halten muss, ist ihr Körper mit seinem, die letzte, wundersame Entdeckung, ein Fleisch. Hopes Tagebuch, 1975 Die Indianer nennen es Großreinemachen In Omaha hat diese Woche ein Tornado gewütet. Schreckliche Zerstörung. Eine fast bewusst anmutende Bösartigkeit. Der Sturm schnitt eine gerade Schneise entlang einer Hauptstraße. Und das in einer Großstadt. Normalerweise hat man den Eindruck, dass Tornados kleine Orte wie unseren vorziehen, und wenn sie doch beschließen, dichter bevölkerte Gebiete heimzusuchen, bleiben sie meistens an den Rändern, wählen Wohnwagen, armselige Gebäude, die Marginalisierten der Gesellschaft aus. Sie sind snobistisch und elitär, diese Tornados. Sie besitzen eine Grausamkeit, die von Klassenhass geprägt zu sein scheint. Die Indianer sagten früher, ein Tornado tauche auf, wenn eine Säuberung notwendig sei. Niemand weiß, was ihn verursacht. Es gibt Theorien, aber keine Antworten. Als L. und ich letzten Monat in Omaha waren, stellte der Spezialist viele Fragen über meinen Geburtsort und verbreitete sich dann über die Einflüsse von Breitengraden. War ich oft krank als Kind? Neigte ich zu Fieberschüben? Die Wahrheit ist, dass ich nicht daran interessiert bin, Gegenstand der Forschung zu sein. Andere Menschen, die sich diese Krankeit in Zukunft womöglich zuziehen, sind mir vollkommen schnurz. Ich habe drei Kinder, und ich möchte, dass mir geholfen wird. »Bei Ihnen handelt es sich um eine schubförmig remittierende MS, wie wir bereits erörtert haben«, sagte der Spezialist und fügte dann munter hinzu, als ob ich eine Übersetzung für Blöde bräuchte, »Sie werden gute und schlechte Tage haben, genau wie wir anderen auch.« 544
Würde einem von ihnen etwas zustoßen (sag doch, was du meinst, du Feigling), würde eins von ihnen sterben, würde ich sie überall sehen: in den Kieseln, die sie mir bringen, und den welkenden Sträußen aus Klee und Löwenzahn (»Der ist für dich, Mom«) - ich reihe sie auf der Fensterbank auf, diese Geschenke, zusammen mit Steinen, die im Regen fantastisch bunt aussehen, im getrockneten Zustand jedoch ganz gewöhnlich, aber ich ertrage es nicht, dass die Kinder das bemerken, deshalb bespritze ich sie gelegentlich aus der Sprühflasche; zusammen mit ihren Zeichnungen, mit einzelnen Socken. Selbst wenn all diese Spuren von ihnen beseitigt wären, würde ihre Abwesenheit unablässig auf mich einschreien. Wenn ich mir also meinen eigenen Tod vorstelle, stelle ich mir die Spuren vor, die ich für sie hinterlasse, Dinge, die dann größere Bedeutung annehmen, als sie normalerwiese hätten. Tagsüber, wenn Larken und Gaelan weg sind und Vineys Tochter auf Bonnie aufpasst und mich nichts von dem Durcheinander, dem Chaos ablenkt, von den Aufgaben, die zu erledigen ich zu müde bin, den allgegenwärtigen Erinnerungen daran, dass ich versagt habe, verspüre ich den schrecklichen Impuls, einen großen Müllsack zu nehmen und das Haus komplett zu leeren. Alles wegzuwerfen. Auslöschung - danach sehne ich mich. Wenn ich nichts von mir hinterließe, würde das ihren Kummer nicht vielleicht lindern? Wenn ich könnte, würde ich einfach verschwinden, mich in Luft auflösen. Puff! Ein Zaubertrick! Ich will nicht, dass sie nach mir suchen, wenn ich tot bin. Ich will nicht, dass sie sich mit Hilfe von Notizbüchern oder Fotoalben an mich erinnern. Ich möchte, dass sie mich zusammen mit der Luft einatmen. Wenn ich an die Babyzeit denke - und die ist noch nicht lange her -, entspanne ich mich. Sogar die letzte Woche erscheint mir simpler und weniger ungeordnet als diese. Selbst vor einer Minute war der Wäscheberg noch kleiner, häufte sich das schmutzige Geschirr noch nicht so. Stapel von Kleidungsstücken und Spiel545
sachen und Büchern und Zeitungen und Rechnungen und Umschlägen und Listen. Was für ein Wirrwarr! Ich fühle mich davon eingemauert, bin aber nicht imstande, die Wand einzureißen, denn die Ironie des Schicksals ist, dass in meinem Körper eine Gegenbewegung zu all diesem Anhäufen stattfindet. So wurde sie mir beschrieben, diese Krankheit. Die Isolierung geht verloren. Als ob sich Haut abschält, nur dass es bei mir die Nervenenden sind, die freigelegt werden. Vielleicht könnte ich meine Augen darauf trainieren, sich fest auf einen kleinen Punkt zu konzentrieren, nur eine winzige Fläche im Haus, um die ich mich kümmern muss. Einen einzigen Stapel. Nur einen Haufen. L. fragt mich immer wieder, ob er nicht eine Putzfrau für mich einstellen soll. Ich lehne jedes Mal ab. Ich bin nach wie vor böse auf ihn. Ich fürchte, ich werde immer böse auf ihn sein. Und so will zwar ein Teil von mir, dass das Haus meinen inneren Zustand widerspiegelt, dass es nackt und bloß ist wie meine Nervenzellen, aber ein anderer Teil wünscht sich, mein Ehemann möge jeden Tag auf seinen zwei perfekt funktionierenden, schön geschwungenen Beinen hereinspaziert kommen und daran erinnert werden, dass seine Frau an einer Krankheit dahinsiecht, die er ihr jahrelang verheimlicht hat. Jetzt ist nichts mehr im Verborgenen, sondern alles liegt offen zutage. Der ganze verdammte Schlamassel. Am leichtesten ist es jedoch, nicht alles wegzuräumen und zu putzen oder wütend zu sein, sondern sich hinzulegen - und das werde ich wahrscheinlich tun - und zu schlafen und dann wie Dornröschen wieder aufzuwachen, wenn die Kinder nach Hause kommen. Gesellschaft ist kaum noch zu ertragen. Natürlich sind die Absichten meiner Gäste gut und ehrenwert und äußerst christlich, aber die Dynamik normaler sozialer Kontakte wird durch diese 546
blöde Krankheit zunichtegemacht. Jedes Gespräch - jeder versuchte Smalltalk - steht im Zusammenhang damit, dass ich sterbe, wenn auch langsam und in Schönheit. »Aber du siehst gar nicht krank aus!« ist der Lieblingsrefrain meiner Besucher. Früher oder später landen sie alle bei dieser Behauptung. Und wer kann ihnen ihre Verwirrung übelnehmen? Müssten Sterbende nicht unappetitlich riechen, giftgrün schillern wie verdorbenes Fleisch? Ich sage, dass ich mich nach ganz normalem menschlichem Kontakt sehne, aber das ist gelogen. Sobald wir die Litanei des »Wie geht es dir, kann ich irgendwas für dich tun?« hinter uns haben, bleibt mir nicht mehr viel übrig, als zuzuhören. Und wenn dann jemand versucht, mir freimütig etwas über sein Leben zu erzählen, über die Schwierigkeiten, mit denen er sich konfrontiert sieht, kann ich nicht anders, als hochnäsig zu werden - und das merken wir beide. »Die Arthritis deines Mannes ist so schlimm, dass er den Rasen nicht mehr mähen kann?«, würde ich dann am liebsten höhnen. »Dein Sohn ist schlecht in Algebra? Deine Tochter raucht Marihuana? Na so was! Komm wieder, wenn du ECHTE Probleme hast …« Ich verabscheue mich selbst dafür, doch in den meisten Fällen stimmt es: Ich bin wirklich übler dran als fast alle, die mich aufsuchen. Manchmal sehne ich mich nach der Gesellschaft einer Krebspatientin, eines Vietnamkriegsveteranen. Ich würde es genießen, in der Intensivstation bei einem Wachkomapatienten zu sitzen. Das wäre wenigstens ein ehrliches Miteinander. Die Kinder sind die Einzigen, die noch größere Probleme haben als ich. Was könnte schrecklicher sein, als zu erfahren, dass die Mutter bald stirbt? L. wollte es auch nicht. »Warum müssen wir es ihnen erzählen?«, flehte er, als ich darauf bestand, dass wir es nicht länger für uns behalten dürften. »Können wir nicht warten?«
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»Warten worauf?«, konterte ich und zog die Karte, die immer griffbereit ist. »Auf meinen Tod?« Ich sagte es ja schon: echt hochnäsig. Er wird nie etwas haben, das die Tatsache wettmachen kann, dass er mich jahrelang belogen hat. Es ist wunderbar - und grauenhaft -, in einer Ehe so viel Macht zu besitzen. Ich bin zu einer Schurkin geworden, der Karikatur eines sauertöpfischen Weibsbilds, das seinen Ehemann kastriert, indem es sich weigert, ihm zu verzeihen. »Warten, bis du mich neu erfinden kannst, wie es dir gefällt?«, fuhr ich fort. »Wenn ich nicht mehr hier bin, um dir zu widersprechen? Warten, bis ich nicht mehr sehen, nicht mehr sprechen, mich nicht mehr erklären kann?« Man spaßt. Man scherzt. Man redet dummes Zeug. Wie weit ist es mit mir gekommen - von wegen »Liebes Tagebuch« und Schwärmen von meinen süßen Babys! Ich Ärmste! Und so haben wir es ihnen erzählt, letzte Woche, am Abend nach dem Essen - und ich habe dafür gesorgt, dass das Telefon nicht läuten konnte! Wir präsentierten uns als Einheit, obwohl ich diejenige war, die das Reden übernahm, und ich bin sicher, diese Tatsache entging den Kindern nicht. Sie sehen so vieles, die Ärmsten. Sie sehen alles. Die Sache ist die - und vielleicht habe ich es geahnt, vielleicht wollte ich in Wahrheit deswegen, dass sie Bescheid wissen -, dass die Kinder die Einzigen sind, mit denen ich wirklich über die Krankheit sprechen kann. Sie haben sich den Anstandsregeln der Gesellschaft noch nicht unterworfen. Ihre Äußerungen zum Thema Tod sind spontan und unverfälscht. Sie schonen meine Gefühle nicht. Sie reden nicht um den heißen Brei herum und tun nicht so, als sei es nicht das Beschissenste auf der Welt, eine kranke Mutter zu haben. Ich bin immer noch Mommy. »Wann stirbst du denn?«, erkundigte sich Larken. Ihre Fragen und der Stil, in dem sie sie stellen, verraten sehr viel über ihre Persönlichkeit. 548
»Ich weiß nicht. Tut mir leid. Ich wünschte, ich wüsste es.« »Muss ich für alle kochen, wenn du tot bist?« »Wahrscheinlich. Vielleicht sogar schon vorher. Du und Gaelan.« »Und die Rechnungen bezahlen und die Wäsche machen und das alles?« »Ich nehme es an. Das sind meine Aufgaben, und an manchen Tagen funktionieren meine Hände nicht so gut, wie du weißt.« »Das ist fies.« »Finde ich auch.« Gaelan ist in der letzten Woche meistens still gewesen, aber aufmerksam. Er macht mir gern Kleinigkeiten zu essen, bringt mir Wasser. »Lies mir vor«, bitte ich ihn. »Was möchtest du hören?« »Wie wär’s mit den Comics?« Er fixiert mich mit seinen seelenvollen Augen, ignoriert meine Frage und liest mir stattdessen über medizinische Wunder vor, Geschichten, die zu Herzen gehen. »Du gehst nirgendwohin«, sagte Bonnie gestern Abend. »Ich lasse dich nicht weg!« Knacks, macht das Herz. Es ist auf der ganzen Welt zu hören.
26 Bar Mitzva Es war leicht, sie nach jenem Abend im Januar zu meiden. Er hat seine Joggingroute geändert, sodass er nun nicht mehr an ihrer Farm vorbeikommt. Wenn er ihr Auto sieht - am Supermarkt zum Beispiel oder vor der Bank -, macht er einfach heimlich kehrt. Dass er es nach wie vor schafft, ihr auszuweichen, ist inzwischen jedoch keine Erleichterung mehr, sondern eine Pein. Ihm 549
ist klargeworden, dass ein derart langfristiges, erfolgreiches Ausweichen selbst in einem kleinen Ort wie Emlyn Springs nicht möglich wäre, wenn sie nicht auch versuchen würde, ihn zu meiden. Der Gedanke, dass sie ihn ebenso wenig sehen will wie er sie, ist deprimierend. All dies bedeutet, dass Bethan Ellis, als er eines regnerischen Nachmittags die Tür öffnet, der letzte Mensch ist, den er erwartet hat. »Ich bringe Bücher in die Bibliothek zurück, deshalb bin ich hier«, verkündet sie. »Okay.« »Deshalb bin ich in der Stadt.« Sie ist weshalb hier? Er kann es sich nicht vorstellen. Sie ist eindeutig angespannt. »Willst du reinkommen?« »Nein, danke«, sagt sie, aber dann wirft sie ein paar nervöse Blicke über ihre Schulter, als hätte sie Angst, dass jemand sie sieht. »Jedenfalls nicht für lange.« Sie tritt ins Wohnzimmer, wagt sich jedoch nicht von der Fußmatte. »Ist Viney zu Hause?« »Nein, sie ist bei einem Kurs im Gemeindezentrum.« Bethan nickt. Gaelan zeigt auf seine Kleidung. »Tut mir leid, dass ich so … ich habe trainiert.« Ihr Gesicht wird hart. »Bist du sicher, dass du dich nicht setzen willst?«, fügt Gaelan hinzu. »Ich habe wirklich mit mir gerungen«, beginnt sie, die Augen niedergeschlagen, die Arme so verschränkt, dass sie aussieht wie ein Schulmädchen, das ohne triftigen Grund in die Ecke gestellt worden ist. »Er wäre total wütend, wenn er wüsste, dass ich hier bin.« »Wer?« Sie kneift ein paar Sekunden lang die Lippen zusammen, womit sie eindeutig einen inneren Geist-gegen-Körper-Konflikt ausdrückt, bevor sie endlich damit herausrückt: 550
»Kommst du zum Vorsprechen für das Stück?« »Was?« »Elis Stück. ›Unser kleines Wales‹. Das sie an den EierFeiertagen aufführen. Über das er seit Weihnachten mit dir gesprochen hat. Versuchst du es?« Gaelan hat sich mehrere Gründe für ihre Anwesenheit ausgemalt, verschiedene Dialoge vorgestellt. Zum Beispiel: B: Wie geht es deiner Schulter? Machst du deine physiotherapeutischen Übungen noch? G: Ja. Sie haben wirklich geholfen. Oder: B: Erinnerst du dich, was ich dich im Warteraum der Notaufnahme gefragt habe? Kann ich dir jetzt von meiner Ehe erzählen? G: Ich erinnere mich. Ja, natürlich. Oder: B: Willst du immer noch mit mir schlafen? G: Ja. Auf das hier war er nicht vorbereitet. »Gaelan«, bittet Bethan, »ein simples Ja oder Nein genügt.« »Nein.« Sie beißt sich auf die Lippe. »Okay. Du musst es ihm sagen.« »Warum?« »Warum? Er ist zwölf Jahre alt, darum. Weil sein Vater ungünstigerweise gerade jetzt gestorben ist, wo er versucht zu verstehen, was es heißt, ein Mann zu sein. Weil er die Rolle offensichtlich in der Hoffnung geschrieben hat, dass …« Sie hat Lautstärke und Intensität erhöht, zwingt sich aber mit einer weiteren Willensanstrengung, innezuhalten. »Weil er dich eingetragen hat«, schließt sie dann. »Für nächsten Sonntag um Viertel nach vier.« »Und wie sollte ich das erfahren?« Sie seufzt. »Ich weiß nicht, Gaelan. Er redet in letzter Zeit nicht besonders viel mit mir. Vielleicht wollte er dich anrufen. Vielleicht wollte er noch mal herkommen. Vielleicht hat er eine 551
Entführung geplant. Keine Ahnung. Ich habe nur zufällig eine Kopie der Vorsprechliste auf seinem Schreibtisch gesehen, als ich die Wäsche in sein Zimmer brachte. »Es tut mir leid«, beginnt Gaelan. »Ich wünschte, ich …« »Hör zu«, unterbricht sie ihn. »Du musst nicht mitspielen in dem Stück, darum bitte ich dich nicht. Aber du musst ihm eine Antwort geben. Ausflüchte … die kann er im Moment nicht gebrauchen, geschweige denn verstehen. Also bitte, sieh ihm einfach in die Augen und sag ihm, du kannst es nicht machen. Begründen kannst du es, wie du willst - du bist zu beschäftigt mit dem Studium, du denkst, du wirst der Rolle nicht gerecht, auf der Bühne zu stehen ist was anderes, als im Fernsehen aufzutreten, was auch immer - nur sag es ihm. Kannst du das?« »Ja«, sagt er, obwohl er es nicht wirklich glaubt. »Danke, deswegen bin ich eigentlich nur vorbeigekommen.« Sie stellt den Kragen ihres Regenmantels auf und wendet sich zum Gehen, aber ehe sie die Verandatreppe hinuntersteigt, dreht sie sich noch einmal zu ihm um. »Ich glaube, du solltest wissen, dass er versucht, gemilut chasadim auszuüben.« »Wie bitte? Was bedeutet das?« »Du weißt doch, dass er sich darauf vorbereitet, bar mitzva zu werden, oder?« »Ja.« Sie lächelt, anscheinend, weil ihr eine Erinnerung kommt. »Er und Leo haben oft darüber geredet … bar mitzva zu sein heißt unter anderem, dass du Menschen nicht nur Gutes tun kannst, wenn dir danach zumute ist; sobald du ein Mann bist, ist es ein Gebot, gute Taten, mitzvot, zu begehen.« »Woher weißt du das alles?« »Ich bin konvertiert. Vermutlich wusstest du das nicht.« Es ist nicht als Frage formuliert, doch er antwortet trotzdem. »Nein«, sagt er, und ihm beginnt zu dämmern, wie viel er nicht über sie weiß. 552
»Eine Form von mitzvot heißt jedenfalls gemilut chasadim Akte der Mitmenschlichkeit -, und dazu gehört es wiederum, jemanden zu besuchen, der einen geliebten Menschen verloren hat. Das ist die mitzva des nichum avilin, der Tröstung von Trauernden. Also, diese Besuche bei dir, all diese Offerten, damit will er … ich weiß nicht. Gib ihm einfach Bescheid wegen des Stücks, okay?« Sie eilt davon und steigt ins Auto, bevor er etwas erwidern kann. Erst nachdem sie weggefahren ist, fragt er sich, ob wohl jemand diese Mitmenschlichkeit, diese mitzva der Tröstung, für sie oder ihren Sohn praktiziert. Das Universitätsjahr nähert sich seinem Ende. Arthur kann wieder sprechen und seine linke Seite teilweise gebrauchen - obwohl er immer noch eine Gehhilfe benutzt. Er ist seit mehreren Monaten zu Hause. Larken ist bisher nicht dorthin eingeladen worden die Genesung von einem Schlaganfall ist sicherlich ein langer, mühsamer Prozess, der gesellschaftlichen Umgang auschließt -, aber Arthur und Eloise haben angefangen, sich gelegentlich auf dem Campus zu zeigen, also sieht Larken sie dort. Sie unterrichtet nach wie vor Arthurs Kurse, doch mit der Rückkehr seiner körperlichen Kräfte hat er angeboten, sie dadurch zu entlasten, dass er Tests und Examensarbeiten korrigiert. Das ist eine riesige Hilfe, und es freut ihn eindeutig, sich nützlich machen zu können. Ihre Begegnungen sind meistens nur kurz. Larken schaut in seinem Büro vorbei, wenn sie bemerkt, dass er und Eloise anwesend sind. Dann empfängt Eloise sie auf ihre übliche muntere Art - »Hallo, meine Liebe! Wie läuft die Schlacht? Haben Sie Zeit für eine Tasse Tee?« -, während Arthurs Begrüßung weniger überschwänglich ausfällt: »Larken. Schön, Sie zu sehen.« Er tendiert jetzt dazu, in langsamen, abgehackten Sätzen zu sprechen, und seine volltönende Stimme klingt ein wenig leiser - aber geistig wirkt er so wach wie eh und je, und seine Augen haben wieder ihren vertrauten beruhigenden Glanz. 553
Sie hat ihn nicht auf das Thema Fachbereichsvorsitz angesprochen - Arthur ist Mitglied des Auswahlkomitees, deshalb wäre das unpassend -, doch vermutlich geht es ihm so gut, dass er an der Abstimmung teilgenommen hat. Er wird einer der Ersten sein, die das Ergebnis kennen. Jedes Mal, wenn Larken ihn sieht, studiert sie seinen Gesichtsausdruck aufmerksam, versucht, ein schelmisches Zwinkern oder heimlichen Stolz darin zu erkennen. Sie hat diese Hinweise schon öfter von Arthur bekommen - als sie eine Anstellung in der Fakultät erhielt, nach ihrer mündlichen Magisterprüfung, vor ihrer Auszeichnung mit dem Doktortitel -, also weiß sie genau, wonach sie Ausschau halten muss. Bislang hat sie es nicht entdeckt. An einem Nachmittag Mitte Mai wird sie in das Büro des Vorsitzenden gebeten. »Sie wissen wahrscheinlich, warum Sie hier sind«, beginnt er, nachdem Larken auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz genommen hat. »Es war eine schwierige Entscheidung, aber das Komitee hat sich für Mirabella entschieden.« »Bitte?« Sie ist sicher, ihn missverstanden zu haben. »Natürlich waren Sie in der engeren Wahl, Larken«, sagt er ölig und mit geradezu parodistischer Freundlichkeit, »und Sie sollten darin keinerlei Affront sehen. Ihr Engagement für die Fakultät ist unentbehrlich.« »Das verstehe ich nicht. Können Sie mir den Entschluss des Komitees erklären?« »Nun ja, als Wissenschaftlerin sind Sie fraglos erstklassig, und natürlich arbeiten Sie schon länger hier als alle anderen außer Arthur, aber das Komitee fand es wichtig, eine Vorsitzende zu haben, die eine gewisse Flexibilität zeigt und Stress standhalten kann.« Was soll der Scheiß?
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»Um ehrlich zu sein«, fährt er fort, »Ihre Leistungen waren im letzten Jahr nicht ganz so hervorragend wie sonst. Ich weiß, dass Sie einige private Probleme hatten …« Private PROBLEME?, würde sie am liebsten schreien. Mein Vater ist gestorben, meine Stiefmutter hatte einen Nervenzusammenbruch, mein Bruder hat keinen Job mehr, meine Schwester ist völlig durchgedreht … »… das wurde alles berücksichtigt, aber außerdem haben Sie auch nie ein Interesse am Reisen gezeigt …« »Ich erinnere mich nicht, dass in der Stellenausschreibung ›Muss bereit sein zu fliegen‹ stand«, bemerkt sie und gibt sich keine Mühe, den Sarkasmus in ihrer Stimme nicht durchklingen zu lassen. Richard führt eine seiner Hände zum Mund und reibt sich das Kinn, als wollte er sich einen unpassenden, verräterischen Ausdruck vom Gesicht wischen. Als er die Hand senkt und wieder spricht, ist er ganz diplomatische Verbindlichkeit. »Sicher verstehen Sie, dass es mit einem solchen Handicap schwierig für Sie wäre, einigen der Verpflichtungen nachzukommen, die eine Vorsitzende des Fachbereichs hat. Ich spreche natürlich von der Fahrt nach England.« »Ach so«, sagt Larken und klammert sich an ihre Verbitterung, denn sonst würde sie vielleicht zusammenbrechen. »Darum geht es also in Wirklichkeit, stimmt’s? Um diese Reise. Nach allem, was ich für den Fachbereich und die Studenten getan habe. Ich fasse es nicht …« Er lächelt, faltet die Hände, beugt sich zu ihr. »Es ist nicht die Flugangst an sich, Larken, es ist die Art und Weise, wie Sie mit der Situation umgegangen sind, die Tatsache, dass Sie sich für den Flug gemeldet haben, obwohl Sie wussten, dass Sie dieses Problem haben …« »Ich habe mich gemeldet, weil Eloise mich darum gebeten hat.« Larken verabscheut den flehenden Ton ihrer Stimme. »Ich
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habe mich gemeldet«, wiederholt sie mit erzwungener Zurückhaltung, »weil ich loyal sein wollte.« »Das ist mir klar, Larken, und doch haben Sie sich nicht bemüht, Ihren Zustand mit Medikamenten zu behandeln oder was sonst nötig gewesen wäre. Mirabella hat sich bewundernswert geschlagen, wenn man die Situation bedenkt …« »Bestimmt hat sie das …« »… aber trotzdem fühlten sich die Studenten und ihre Eltern betrogen. Ich habe schwer was aufs Dach gekriegt, weil sie nicht das bekamen, was ihnen versprochen wurde - und wofür sie schließlich bezahlt hatten.« »Sie sagen also, dass es eigentlich um Sie geht.« Er spricht mit müder Geduld. »Nein, Larken. Ich war kein Mitglied des Komitees. Das wissen Sie.« »Aber Sie haben es doch sicher geschafft, Ihren Standpunkt zu vermitteln.« Er seufzt. »Ich darf wohl behaupten, dass Arthur besonders enttäuscht über den ganzen Vorfall war.« Der Raum, der ihre Lunge und ihr Herz beherbergt, fällt in sich zusammen. »Was?« »Er war derjenige, der Zweifel äußerte, dass Sie dem Vorsitz gewachsen wären nach dem, was im Dezember geschehen ist. Sie müssen wissen, dass es sehr, sehr schwierig für ihn war.« »Arthur?«, fragt sie benommen. »Arthur?« »Es tut mir leid, Larken. Das ist bestimmt hart für Sie.« Larken denkt zurück ans Krankenhaus, an Eloise, die neben ihm steht, seine Hand hält und bittet: Fahren Sie? Es war ein Test, erkennt Larken ungläubig. All die Jahre hindurch hat sie die beiden missverstanden. Sie ist nie ihr besonderer Liebling gewesen. Die Frage - diese eine (Fahren Sie?) und vielleicht nicht nur sie - wurde nicht einer Ersatztochter gestellt, sondern einem Intellektuellen-Azubi, einem fügsamen Schützling, einer Kandidatin.
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Richard erhebt sich und geht auf die Tür zu. »Wie ich schon sagte, ich hoffe, dass Sie es irgendwann verstehen …« Er schwadroniert weiter höflich drauflos, obwohl er ihr einen Fußtritt gibt. Wenn sie gegangen ist, wird er sicher sein Zensurenbuch aufschlagen und neben ihrem Namen eine Sechs eintragen. Chris ist an ihrem Schreibtisch und schenkt ihr ein aggressiv mitfühlendes Lächeln, ein zutiefst christliches Lächeln. »Schokoküsschen?«, fragt sie. Leck mich, denkt Larken. Sie strebt auf den kleinen Raum am anderen Ende des Gebäudes zu, wo sie den letzten Kurs des Tages abhalten wird, ein Fortgeschrittenen-Seminar über die flämischen Meister. Grüppchen von Studenten säumen den langen Flur, viele sind noch in Mäntel und Mützen und Handschuhe eingemummelt, wodurch sie aussehen wie Weihnachtssänger, die hereingekommen sind, um sich aufzuwärmen. Sie wirken munter, glücklich, eifrig. Als Larken an ihnen vorbeigeht, heben ein paar von ihnen den Kopf, winken, sagen hallo, begrüßen sie, aber die meisten sind mit sich selbst beschäftigt. Sie wird sich einer ungewöhnlichen Konformität ihrer Gespräche bewusst, die fast etwas von einem Chor haben - als ob sie nur bestimmte Wörter verwendeten, als würden sie alle über dasselbe reden. Professor Piacenti, singen die Studenten. Ist das nicht aufregend? Die elegante Mirabella. Italienische Lederschuhe. Sooo schön. Vorsitzende, Vorsitzende Sooo authentisch. Sie ist perfekt! Perfekt Piacenti Fachbereichsvorsitzende Piacenti 557
Fachbereichsvorsitzende Piacenti Larken wird klar, dass sie für eine Beförderung nie in Frage gekommen ist, und das nicht wegen schlechter Leistungen oder ihrer Flugangst. Wie hat sie sich solche Illusionen machen können? Sie ist zu niederen Diensten verdammt aufgrund flacher Schuhe und Fettleibigkeit und eines besonders gewöhnlichen und uneleganten Namens. Fachbereichsvorsitzende Jones. Kann man sich einen weniger wohllautenden Titel vorstellen? Nach dem Unterricht schwänzt sie ihre Bürostunden. Auf dem Weg zum Parkplatz sieht sie Arthur und Eloise Arm in Arm durch den Skulpturengarten spazieren. Sie sehen sie. Sie winken. Larken eilt davon, ohne ihr Winken zu erwidern. Er läuft. Heute ist Donnerstag - Bethans Besuch liegt drei Tage zurück, und es sind noch drei Tage bis zu dem Vorsprechtermin, für den Eli ihn eingetragen hat. Er hat etliche Male zum Telefon gegriffen, sogar die Nummer gewählt bis zur letzten Ziffer, und dann aufgelegt. Warum musste sie auch Sieh ihm in die Augen sagen? Er hat eine Ansprache eingeübt, die er jetzt repetiert: Eli, ich fühle mich sehr geschmeichelt, dass du mich gebeten hast, in deinem Stück mitzuspielen. Du schreibst hervorragend. Es ist sehr gut. Diese Aussagen sind absolut wahr. Er kann sie mit voller Überzeugung vorbringen. Nur das, was dann kommt, ist schwierig. Aber ich muss … ich kann nicht mitmachen, weil … ich bin sicher, es gibt jemand anderen, der … ich kann es nicht … ich könnte, aber ich kann nicht … Und dann fällt ihm etwas ein: Aber ich werde nicht mitspielen. Ich werde nicht mitspielen.
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Das ist die Wahrheit. Das ist offen und ehrlich. Das kann er sagen. Gaelan schaut auf seine Uhr. Es ist fast eins, sie werden mit dem Mittagessen fertig sein. Also nimmt er die Abzweigung, die er in den letzten Wochen gemieden hat, und joggt auf die EllisFarm zu. Er kommt an, als die Arbeiter gerade wieder mit Bethans Vater aufs Feld zurückgehen. »Prynhawn da, Mr. Ellis«, sagt Gaelan, »sut wyt chi?« »Yn dda iawn«, erwidert Mr. Ellis förmlich. »Diolch.« »Mae hi’n braf heddiw«, fügt Gaelan hinzu. Mr. Ellis betrachtet den Himmel, summt zweifelnd und fragt dann: »Wyt tichwilio am Bethan?« »No. Rydw i yma gweld Eli.« »Ah.« Mr. Ellis’ Miene ist immer noch streng, aber Gaelan erkennt, dass er willkommener ist, wenn es bei seinem Besuch um Eli geht und nicht um Bethan. »Mae hi y ty«, sagt Mr. Ellis und deutet mit dem Kopf auf das Haus. »Mae darllen llyfr Bar Mitzva.« »Cdiolch yn fawr, Mr. Ellis.« »Croeso.« Bethan öffnet die Tür. »Hallo«, sagt sie und hat denselben lakonischen Tonfall und denselben undurchdringlichen Gesichtsausdruck wie ihr Dad. Gaelan hat vergessen, wie ähnlich sie sich sind. »Er ist in Bryns altem Zimmer.« Gaelan nickt, steigt die Treppe hoch, klopft. »Ich lerne, Mom.« Elis Stimme ist höher, als er sie in Erinnerung hat. »Ich bin’s, Gaelan.« Als Eli die Tür aufmacht, schaut er vollkommen verblüfft drein. Gaelan wird klar, dass Eli in der Geschichte ihrer Begegnungen zum ersten Mal nicht auf ihn vorbereitet ist. »Hi.« »Hi.« 559
»Kann ich reinkommen?« »Klar.« Eli tritt beiseite. Sein Zimmer ist nicht die ordentliche Behausung, die Gaelan irgendwie erwartet hat, sondern unaufgeräumt wie das jedes Zwölfjährigen, ebenso unaufgeräumt wie Gaelans Zimmer. »Tut mir leid, wenn ich dich beim Lernen störe«, sagt er. »Komme ich ungelegen?« »Nein«, sagt Eli und befreit einen Stuhl von Kleidungsstücken und einem Stapel Bücher. »Möchten Sie sich setzen?« »Danke. Hat deine Mom erwähnt, dass ich vielleicht vorbeischauen würde?« »Meine Mom? Nein.« Eli beäugt ihn misstrauisch, und Gaelan fällt plötzlich ein, dass er Bethans Besuch lieber nicht erwähnen sollte. Er rudert zurück. »Und was lernst du da?« »Ach, das übliche Siebte-Klasse-Zeug. Und Hebräisch.« Gaelan schaut auf die fotokopierten Seiten auf Elis Schreibtisch - die fremdartigen Schriftzeichen mit ihren eckigen Formen. Er verspürt den starken Drang, die Blätter umzudrehen, weil er den Verdacht hat, sie würden auf diese Weise optisch mehr Sinn ergeben. »Das sieht echt schwierig aus.« Eli zuckt die Achseln. »Es hat eigentlich viel Ähnlichkeit mit Walisisch.« »Wie das?« »Keine Vokale.« Gaelan nickt. »Du wirkst heute ein bisschen … bedrückt.« »Mir geht’s gut.« »Und was heißt das hier?« »Es ist mein Abschnitt aus der Tora, der Teil, den ich aus der Schöpfungsgeschichte rezitieren muss. Er handelt von Josef. Wahrscheinlich haben Sie von ihm gehört. Sie wissen schon: Josef und der Traummantel.« »Ach so. Der Josef. Ja, davon habe ich gehört.« 560
Eli schaut auf seinen Schreibtisch. »Josef ist das Kind, das Jakob als alter Mann gezeugt hat.« In diesem Augenblick bemerkt Gaelan das Familienfoto auf dem Regal neben Elis Schreibtisch. Eli hat darauf einen munteren, schelmischen Gesichtsausdruck, den Gaelan nie an ihm gesehen hat; unmöglich zu entscheiden, ob es daran liegt, dass er noch jünger ist, zehn vielleicht, oder daran, dass seine Eltern ihn umarmen. Alle drei lachen. Sie müssen bei einem Baseballspiel sein. »Das mit deinem Dad tut mir leid«, sagt Gaelan. »Ich meine, ich kannte ihn nicht, aber er war bestimmt was Besonderes.« »Er hieß Leo Mordecai Weissman. Er war Professor für Religionswissenschaft an der University of Washington.« »Sicher vermisst du ihn. Ich vermisse meinen Dad jedenfalls.« Eli sieht Gaelan einen Moment lang fragend an, dann folgt er seinem Blick auf das Foto. »Er war viel älter als Mom, aber lustiger.« »So ist das eben manchmal.« »Er hat mir eine Menge Witze erzählt. Wollen Sie einen hören?« »Klar.« »Okay«, beginnt Eli voller Elan. »Präsident Bush, der Papst und der Rebbe von Lubawitsch sind im Flugzeug unterwegs zu einer Konferenz der mächtigsten und frömmsten Menschen der Welt. Plötzlich fallen die Motoren aus! Der Pilot kommt in die Kabine und ruft: ›Wir stürzen ab, und es gibt nur drei Fallschirme, und ich nehme den hier. Viel Glück!‹« Während Gaelan lauscht und Eli anschaut, versucht er festzustellen, welche Anteile dieses komischen kleinen Jungen von Bethan stammen, die er so gut kennt, und welche er von seinem Vater geerbt hat, der ihm völlig unbekannt ist. »›Ich bin der mächtigste Mann der Welt! Ich muss gerettet werden!‹, sagt Präsident Bush, greift sich einen Fallschirm und springt zur Tür hinaus …« 561
Und doch kennt er Elis Vater irgendwie, denn indem er das abzieht, was nicht Bethan ist, sieht er, was Leo ist, und bis Eli mit seinem Witz fertig ist, merkt er, dass er Leo Mordecai Weissman richtig gern hat. Er muss Bethan sehr glücklich gemacht haben. Eli rüstet sich für die Pointe. »… ›Keine Sorge‹, sagt der Rebbe. ›Der mächtigste Mann der Welt ist gerade mit meinem Gebetsmantel aus dem Flugzeug gesprungen.‹« Er wirft sich mit solch schallendem Gelächter nach hinten, dass Gaelan die Stuhllehne festhalten muss, damit er nicht umkippt. »Sie haben nicht so viel übrig für Witze, oder?«, fragt Eli. »Oh, der Witz ist prima. Ich bin bloß nicht so ein großer Lacher.« »Und, warum sind Sie überhaupt hergekommen?« »Na ja, ich wollte dir nur sagen, ich meine, dich nach dem Vorsprechtermin am Sonntag fragen.« »Kommen Sie?« »Klar.« »Super!« »Hast du einen Rat? Ich habe noch nie für eine Rolle vorgesprochen.« »Eigentlich nicht. Ich bin kein Schauspieler. Ich bin Schriftsteller. Aber einer von meinen Freunden in Washington - er ist schon öfter aufgetreten - sagt, das Wichtigste ist, dass man einfach mit Schwung loslegt. So tut, als ob man die Rolle schon hat.« »Okay, danke. Das mache ich. Viel Glück beim Lernen.« »Ihnen auch viel Glück.« Bethan ist in der Küche; er ruft ihr auf dem Weg zur Haustür ein auf Wiedersehen zu. »Hast du es ihm gesagt?«, will sie wissen. »Es ist alles gut«, erwidert er. Als er aus dem Haus springt, sieht er Mr. Ellis und seine Arbeiter auf dem Feld. Ohne sich bewusst zu machen, dass er zu dieser
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Bewegung monatelang nicht fähig war, hebt Gaelan seinen Arm und winkt. Als Reaktion auf Scham und Selbsthass würde Larken sich normalerweise mit der Fastfood-Industrie verbünden, denn die Aufnahme riesiger Mengen von fiesem Fett bedeutet sowohl Strafe als auch Trost. Heute jedoch weiß sie, dass Jon zu Hause auf sie wartet. Sie hat ihn schon auf dem Handy angerufen und ihm die schlechten Nachrichten mitgeteilt. Zumindest wird er ihr eine Schulter zum Ausweinen bieten; im besten Fall wird sie mit ihm im Bett landen. Keine Chips der Welt können es damit aufnehmen, verliebt zu sein. Als er die Tür aufmacht, stürzt sie in seine Arme. »Es tut mir so leid, Larken«, sagt er, aber statt des üblichen Gefühls, sich in ihn sinken lassen zu können, kommt ihr sein Körper seltsam isoliert und entfernt vor, als wäre er in dicke Luftpolsterfolie eingewickelt. »Niemand verdient den Vorsitz mehr als du.« Dann schaut sie an seiner Schulter vorbei in die Wohnung. »Was ist denn hier los?« »Komm rein. Ich habe auch Neuigkeiten.« »Scheint so.« »Möchtest du Tee oder Wein oder was anderes?« »Nein, ich möchte wissen, warum du packst.« »Immer schnurstracks drauflos«, versucht er zu witzeln. »Ich ziehe aus. Wir ziehen aus.« Er seufzt. »Mia und ich werden wieder zusammenleben.« »Was?« »Wir wollen es noch mal probieren.« »Wieso zum Teufel?« »Was meinst du mit ›wieso‹?« »Sie hat dich abserviert. Sie hat dich auf die schlimmste, verletzendste Weise abserviert, die man sich denken kann, und du
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weißt, dass sie es wieder tun wird. Sie ist eine üble, egozentrische, selbstsüchtige…« Er unterbricht sie. »Hör auf. Bitte. Um unserer Freundschaft willen.« »Unserer Freundschaft?« »… bitte hör auf. Mia und ich sind verheiratet, Larken, darum. Wir haben uns ein Versprechen gegeben und werden versuchen, es zu halten.« Als die möglichen Folgen seiner Worte Form anzunehmen beginnen, verspürt Larken eine plötzliche Schwäche in den Beinen. Sie muss sich setzen. »Und was ist mit Esmé?« »Was soll mit ihr sein?« »Ich denke doch, Esmé ist der Hauptgrund dafür, dass ihr nicht wieder zusammenkommt, Mia und du.« Er antwortet nicht. »Und was ist mit uns dreien? Du und Esmé und ich haben monatelang jedes Wochenende Familie gespielt. Ist das jetzt einfach vorbei?« Ihr kommt ein noch entsetzlicherer Gedanke. »Sehe ich sie dann überhaupt noch?« »Darüber haben Mia und ich noch nicht geredet …« Sein Körper fällt in sich zusammen, sein Kinn sinkt ihm auf die Brust, und er fährt sich mit den Fingern durch die Haare. Diese Reihe von Gesten vermittelt eine Hilflosigkeit, die sie wütend macht. Alles, was sie an ihm geliebt und geschätzt hat, stößt sie plötzlich ab und ärgert sie. »Bitte erzähl mir nicht, dass ihr wegen des Kindes zusammenbleiben wollt«, sagt sie mit schneidender Stimme. »Und bitte bring nicht diesen Scheiß mit der Heiligkeit der Ehe aufs Tapet. Du hast dich ja auch nicht gerade an die Abmachungen gehalten. Du hast mindestens so viele Versprechen gebrochen wie sie.« Ihr fällt etwas ein, das ihn ihr noch widerwärtiger macht. »Du hast ihr nichts von uns erzählt, oder?« Jon fängt an zu weinen, aber sie ist gnadenlos.
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»Hast du nicht, stimmt’s?«, bedrängt sie ihn weiter und hört sich wie aus weiter Ferne, denn das kann nicht sie selbst sein, die da spricht - so hat sie noch nie mit jemandem gesprochen. »Du Mistkerl. Du glaubst wirklich, du kannst es noch mal probieren, wenn du es unterlässt, deiner Frau zu erzählen, dass du von dem Moment an, als sie sich vom Acker gemacht hat, deine Nachbarin, deine Freundin, deine Babysitterin gefickt hast? Was für ein Eheglück soll sich denn auf einer solchen Basis aufbauen, Jon? Antworte mir.« Jon wischt sich die Augen und setzt sich neben sie aufs Sofa. »Ich habe es ihr erzählt, Larken. Sonst könnte ich mich ja wohl kaum als Mann bezeichnen, oder?« Seine Worte beenden nicht nur die angestaute Anspannung in ihrem Körper, sondern kehren sie in einem Maße um, das sie erschreckt: Es sind nicht nur ihre Muskeln, die loslassen, sondern auch Sehnen, Knorpel, alles, was Knochen mit Knochen verbindet, Organe mit Bauchfell, Herz mit Brustkorb. Er greift nach dem Häufchen Knochen, das noch bis eben ihre Hand war. »Eine Ehe existiert nicht im leeren Raum«, sagt er. »Mias Untreue ist ebenso sehr meine Schuld wie ihre. Es tut mir sehr, sehr leid, dass ich dich da mit reingezogen habe.« Er hat ihr von mir erzählt, denkt Larken verwundert, immer noch kaum fähig, sich das vorzustellen. Keiner der verheirateten Männer, mit denen sie bisher zusammen gewesen ist, hat seiner Frau von ihr erzählt. Sie ist ihr Geheimnis gewesen, ihre Sünde, eine Verirrung, eine Fiktion. Dass Jon seiner Frau von ihr erzählt hat, bedeutet, dass Larken existiert. Es macht alles, was sie und Jon miteinander erlebt haben, real, zu etwas Wichtigem. Seine Aufrichtigkeit ehrt ihn, aber verdammt sie, denn wenn Mia ihm verzeihen kann, werden Larken und Jon nie ein gemeinsames Leben haben. Und Esmé geht ihr für alle Zeiten verloren. Heute ist Umzugstag. Esmé darf so lange bei Larken bleiben, wie Jon und Mia brauchen, um den Transporter vollzuladen. 565
Danach werden sie ihre Habe zu ihrer neuen Behausung fahren, wo immer die sein mag. Larken kennt die Adresse nicht, aber man hat ihr mitgeteilt, dass sie weiterhin in Lincoln wohnen werden und dass ihre Telefonnummer dieselbe bleiben wird. Als Mia vor Larken steht, ist sie überraschend freundlich. Was ihr in den letzten Monaten auch widerfahren ist, es hat sie weicher gemacht, vielleicht hat sie sogar ein paar Pfund zugenommen. Sie ist eindeutig eine Frau, der Scham oder Schuldgefühl oder andere normale menschliche Regungen in einer Situation wie dieser fremd sind. Von ihnen allen ist Mia diejenige, der es richtig gut zu gehen scheint. »Danke dafür, dass du uns hilfst, Larken«, sagt sie. Sie spricht mit solchem Nachdruck und offenkundiger Ehrlichkeit, dass Larken nicht anders kann, als einen heimlichen Subtext zu vermuten. Gern geschehen, denkt sie. Es ist mir stets ein großes Vergnügen, eine verkorkste Ehe retten zu helfen. »Larkee!«, schreit Esmé, und sie sind allein zu zweit. Larken tut, was sie kann, um sie beide zu beschäftigen - sie backen, sie lesen, sie gehen auf Schatzsuche -, um Habseligkeiten Esmés einzusammeln, die sie womöglich in Larkens Apartment vergessen hat. Larken wünscht sich, sie könnte diese Zeit mit ungeteilter Aufmerksamkeit genießen, aber sie stellt fest, dass sie mit einem Ohr ständig dem Kommen und Gehen von Jon und Mia lauscht, die mit Möbeln und Kartons die Treppe hinauf- und hinuntersteigen und mit so viel Effizienz kooperieren, dass man sich gut vorstellen kann, wie sie doch noch ihre goldene Hochzeit miteinander feiern. Esmé ist in der Küche und legt gerade die Plätzchen auf einen Pappteller, als Larken von oben das grauenhaft endgültige Geräusch einer Tür hört, die ins Schloss gezogen wird. Kurz darauf erscheint Jon. »Hi«, sagt er.
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Larken hat ihn heute noch nicht gesehen. Ihr wäre es lieber, sie müsste ihn gar nicht sehen. »Wir haben alles eingeladen«, fügt er hinzu. »Okay.« Sie wird nicht lächeln, sie wird seinen Kuss nicht mit Anmut entgegennehmen, sie wird in seiner platonischen Umarmung nicht weich werden. Sie wird es ihm nicht leicht machen. »Zeit zum Abmarsch, Prinzessin!«, ruft Jon. »Guck mal, Dad!«, ruft Esmé zurück. »Larken und ich haben Plätzchen gebacken!« »Prima, sie sehen fantastisch aus. Kann ich eins haben?« »Nein«, sagt sie entschieden. »Die sind ein Einzugsgeschenk. Wir müssen sie in unserem neuen Haus essen.« Jon nimmt den Karton, in den Larken Esmés Sachen gepackt hat, und sie gehen zu dritt nach draußen. »Freust du dich darauf, mit Mommy und Daddy in dem großen Laster zu fahren?«, fragt Larken. Jon reicht Mia den Karton, die ihn hinten in den Wagen zwängt. Beide fangen an, darüber zu verhandeln, welche Strecke sie nehmen und ob sie vorher etwas zu essen einkaufen sollen. Larken ergreift Esmés Hand, tätschelt ihr den Kopf, zieht ihr eine rosa, mit Strass besetzte Plastikspange, die sich gelöst hat, aus den feinen, flatternden Haaren und versucht, sie neu zu befestigen. Sie könnte - und sollte, um Esmés willen - diesen Abschied leicht machen, zweifellos, aber sie will ihn nicht beschleunigen. »Larkee?«, sagt Esmé nachdenklich. »Ja, Mäuschen.« »Ich muss dich was fragen.« »Was denn, Schatz?« »Wann kommt es?« Esmé nimmt sich ein Plätzchen von dem Teller. Geistesabwesend knabbert sie daran und bietet es dann Larken an. »Ich warte schon so lange.« »Mmmm«, sagt Larken. »Lecker.« »Also«, sagt Esmé. »Wann kommt es?«
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»Was, Schätzchen?« Jon tritt an die Fahrertür, Mia an die andere Seite. Sie wollen wirklich losfahren. »Wann kommt was?« Larken gerät in Panik. Es ist lächerlich zu glauben, sie könnte es schaffen, diesem Kind fernzubleiben. Sie nimmt Esmé auf den Arm. Allmählich wird sie schwer. »Also«, sagt Larken, »was willst du wissen, Schneckchen? Wann kommt was?« Mia steht wartend an der offenen Beifahrertür. »Ich habe gewartet und gewartet und gewartet«, sagt Esmé. »Ich verstehe nicht, Schatz«, erwidert Larken. »Gewartet worauf?« »Esmé«, fällt Mia in scharfem Ton ein. »Dein Baby«, sagt Esmé und streicht über Larkens Bauch. »Das Baby in deinem Körper. Wann kommt es raus?« »Esmé!«, wiederholt Mia. »Es ist unhöflich, sowas zu fragen.« Esmé legt ihr Gesicht an Larkens Bauch. »Hallo, Baby!«, ruft sie. »Bitte komm bald raus, damit ich mit dir spielen kann.« Sie fängt an, Twinkle, twinkle, little star zu singen. Mia spricht; Larken hört sie, als befände sie sich unter Wasser. Was soll sie sagen? Wann kommt es denn raus? How I wonder what you are … Larken drückt Esmé fest an sich, während Mia unverständliche Laute der Entschuldigung von sich gibt, mit denen sie Esmé zum Schweigen bringen will, und versucht, Larken das Kind zu entwinden. »Ich wünschte, ich wüsste es, meine Süße«, sagt Larken, schon jetzt krank vor Sehnsucht nach diesem Augenblick, als ob er bereits Erinnerung wäre und sie aus ferner Zukunft auf ihn zurückschaute: Sie stehen vor ihrem Apartment, Esmé ist vier Jahre alt und singt dem Gewicht von Larkens Körper ein Lied, als könnte ihre Stimme etwas hervorbringen und als wäre dies ein so freudiges Ereignis wie eine Geburt. Ihr Geruch (nach buttergetränkten Krümeln, warmen Buntstiften, Klebstoff) - und das Wissen, dass Esmé diesen Moment hinter sich lässt, schon als er sich ereignet, 568
dass sie ihr entwachsen wird, wie fest Larken sie auch an sich drückt - erfüllt sie so vollständig und unerwartet mit Gefühlen, dass sie die Augen schließen muss, um nicht in Tränen auszubrechen. Irgendwann fängt Esmé an, sich ein wenig zu winden und zu kichern. »Larkee, du zerquetschst uns!« Larken stellt sie auf den Boden, und als sie ihr in die Augen sieht, wird ihr klar, dass die einzige Antwort, die sie geben kann, auf halbem Wege zwischen Lüge und Wahrheit liegen muss. »Ich wünschte, ich könnte dir sagen, wann es kommt, aber ich kann es nicht.« Esmé nimmt das mit gerunzelter Stirn und nachdenklicher Miene in sich auf. »Vielleicht braucht es nur ein anderes Lied«, folgert sie. Noch einmal drückt sie ihr Gesicht an Larkens Bauch und singt: »I’ve got a lovely bunch of coconuts.« Wie im Traum hört Larken Wir müssen los, Mäuschen, verabschiede dich, sag tschüss, dann sind sie weg, und nichts weist darauf hin, dass sie je hier waren, außer einer kleinen Ramschladen-Haarspange in ihrer Tasche. Hopes Tagebuch, 1976 Wie Gedanken ihre Form ändern Mir ist nach Fluchen zumute, und das tue ich auch. Ich fluche auf die pharmazeutische Industrie. Mein Gesicht ist zu einem Ballon aufgequollen. Eine Travestie. Manchmal gucken die Kinder mich an, als wäre ich ein Ungeheuer, dann bin ich froh über die Tage (gute Tage oder schlechte Tage?) der Blindheit. Sollten wir mehr darüber reden? Es beim Essen erörtern? Inzwischen kocht Larken meistens. Hamburger aus der Tüte, etwas mit Tunfisch aus der Dose. Natürlich helfe ich! Ich zerpflücke den Eisbergsalat. Ein Messer darf man mir nicht anvertrauen, mich nicht an den Herd lassen. An manchen Tagen (gute Tage, schlechte Tage) braucht meine Gabel eine halbe Minute bis zum Mund. Schafft sie es? Die Spannung ist kaum zu ertragen. 569
An manchen Tagen kann ich fast die Form meiner Gedanken sehen. Gewöhnlich sind sie oval und flach und fein gemustert wie bestickte Deckchen. Aber wenn ich gerade eines an seinem zarten Rand ergreifen und angemessen platzieren will - auf die Armlehne eines Polstersessels zum Beispiel, wo ich in königlich wohlwollendem, weisem Schweigen sitzen kann -, ändert der Gedanke seine Form und Qualität vollkommen. Er wird eine Fußmatte im Auto, die nach Fabrik riecht, ein borstiges Ding, auf dem man sich an der Hintertür Schlamm von den Arbeitsstiefeln kratzt. Etwas völlig anderes. Ich sollte alles aufschreiben, sobald es mir in den Sinn kommt, wird mir klar. Ich kann meinem Gedächtnis nicht mehr trauen, ich kann mich nicht darauf verlassen, dass ich mich an etwas erinnere, das mir in den Kopf geflogen ist, denn möglicherweise fliegt es ebenso schnell wieder hinaus. Ich entwickle meine eigene Sprache, eine einzigartige Sprache, die jetzt noch existiert, aber bald ausgestorben sein wird, denn wie soll ich sie weitergeben? Gute Tage, schlechte Tage, hat der Spezialist gesagt. Herzloser Mistkerl. Viney kam heute rüber, um Hausarbeit zu erledigen. Eine riesige Hilfe. Ich müsste dankbar sein. »Ich liebe das Bettenmachen«, sagte sie. »Wirklich? Ich nicht.« »Hmmm. Ist vielleicht die Krankenschwester in mir.« Die Umgebung war passend - wir befanden uns in Llwellyns und meinem Schlafzimmer -, und so platzte ich damit heraus: »Hast du Umgang mit jemandem gehabt, seit dein Mann tot ist?« Sie sah mich an. »Umgang? Du meinst …?« »Sex.« Sie lachte, verneinte und fuhr fort, mit den knappen, flinken, effizienten Bewegungen der körperlich Tüchtigen die Laken zu glätten. Ich ertappte mich dabei, dass ich sie hasste. Das war eine 570
neue Erfahrung. Ich dachte: »Wie faszinierend, dass man die Fähigkeit hat, jemanden zu hassen und ihm zugleich dankbar zu sein.« Ich weiß nicht, warum mich das so überraschte. Ich bin weiß Gott durch meine Ehe damit vertraut, wie nah Hass und Liebe nebeneinander existieren können. »Hattest du je Lust darauf?« »Lust worauf?« »Auf Sex, seit du Witwe bist?« »Hope.« »Es ist lange her, oder? Dass dein Mann gestorben ist?« »Dreizehn Jahre.« »Vermisst du es nicht?« »Eigentlich nicht.« Sie hielt inne, wurde nachdenklich. »Sex mit meinem Mann war, na ja … Wie soll ich sagen? Er funktionierte, auf zuverlässige, vorhersehbare Weise, wie eine gut geölte Maschine. Es ist schwer, etwas zu vermissen, das sich nie ändert. Sex mit Waldo zu vermissen wäre dasselbe, wie einen Traktor zu vermissen.« Sie fing wieder an zu lachen, ein bisschen hysterisch, fand ich. »Aber du musst doch … Bedürfnisse haben. Du bist noch so jung.« Viney schlug die Bettdecke aus. Sie blähte sich zwischen uns und beschnitt mir kurz die Sicht auf ihren Körper, sodass ich Torso und Hüften getrennt von ihrem Kopf begutachten und noch deutlicher sehen konnte, was für eine gute Figur sie hat. »Fühlst du dich nicht einsam?« »Klar, aber ich denke, man kriegt eben, was man kriegt. Und ich hatte eine Menge.« »Du hast also die Hoffnung auf Romantik in deinem Leben aufgegeben?« Sie zuckte die Achseln. »Ich brauche keinen Mann.« Ich glaubte ihr keine Minute, deshalb fragte ich sie ohne Umschweife: »Findest du Llwellyn attraktiv?« »Was?« 571
»Theoretisch, meine ich. Findest du ihn attraktiv?« Sie runzelte die Stirn, bückte sich und sammelte die schmutzige Wäsche ein. »Dein Mann sieht sehr gut aus«, sagte sie in gereiztem Ton. »Ist es das, was du hören wolltest? Ich gehe jetzt runter und werfe das hier in die Maschine. Wenn ich zurückkomme, nehmen wir uns die Kinderzimmer vor.« Sie floh auf ihren gesunden Beinen die Treppe hinunter. Ich betrachtete die frische Wäsche auf meinem Ehebett. Habe ich meine neueste Anschaffung hier schon erwähnt? Ein Stock. Ich bilde mir ein, er verleiht mir eine Aura von Würde oder Bedrohlichkeit. Ich fühle mich entschieden wie eine Monarchin. Die jungfräuliche Königin, das bin ich. Vor dem Stock, erst letzte Woche, bin ich auf dem Parkplatz des Country Clubs aufs Gesicht gefallen, als ich zu einer Gala jetzt kommt der Witz! - der MS-Gesellschaft wollte. Ich war das reinste Werbeplakat mit meinen frischen Abschürfungen, Prellungen und Kratzern. So schnell waren die Scheckhefte noch nie gezückt worden. Der Sturz machte allen weiteren Gehversuchen ohne Stütze ein Ende. Heute habe ich gelernt, dass mein Stock auch als praktisches Haushaltsgerät dienen kann. Ich benutzte ihn dazu, Schwester Alvinas Arbeit zunichtezumachen, indem ich durch Stochern und Wühlen all die geglätteten Laken und aufgeschüttelten Decken durcheinanderbrachte. Riesenstreit mit L. gestern Abend. Heute erschöpft. Ich dachte, es wäre ein vernünftiger Vorschlag - dass er und Viney miteinander schlafen. Auf jeden Fall ist er äußerst langweilig und unoriginell. Der Stoff unzähliger Romane und Seifenopern. Alles dreht sich doch um Ehebruch. Was für ein prüder Mensch, mein Mann. Er kam wie üblich sehr spät nach Hause, hatte wieder alles verpasst, das ganze familiäre Leben nach der Schule und vorm Schlafengehen der Kinder. 572
»Du verbringst eh deine ganze Zeit mit ihr«, erinnerte ich ihn. »Es wäre so einfach! Niemand würde sich was dabei denken; die Leute sind es gewöhnt, euch beide zusammen zu sehen.« »Sei still, Hope.« »All die Abende, an denen du mit ihr Hausbesuche machst und dann meinst, du müsstest so schnell wie möglich zurück zu mir und den Kindern … Sieh es doch mal von der praktischen Seite. Ihr könntet in einem Motel übernachten.« »Sei still, habe ich gesagt!« »Sie hat eine Wahnsinnsfigur, findest du nicht?« Ich glaube, ich wollte ihn dazu bringen, dass er mich schlägt oder sowas, sich irgendwie auf reale, physische Weise mit mir befasst. Ich hätte jeden Riss in seiner Maske willkommen geheißen. Im Rückblick wäre mein Stock vielleicht hilfreich gewesen. Er schaute mich an, kalt wie Eis, und sagte: »Ich bin mit dir verheiratet, Hope.« Mein Mann, der loyale Masochist. »Du bleibst also lieber an eine nicht zu vollziehende Ehe gefesselt, als glücklich zu sein?« »In der Ehe geht es nicht immer ums Glücklichsein.« »Aber auch nicht nur ums Leiden.« »Ich leide nicht.« »Wirklich nicht? Dir fehlt keine Frau, die deine körperlichen Bedürfnisse befriedigen kann?« »Nein.« »Na dann komm, Süßer!«, sagte ich und tätschelte die frischen, sauberen Laken, mit denen meine sexy, abstinente Freundin das Bett bezogen hatte. »Hier bin ich, bereit und willlig, und warte.« Ich fing an, mit den Knöpfen an meinem Nachthemd zu kämpfen. Irgendwann gab ich auf und versuchte, sie einfach abzureißen. Zu schwach natürlich. L. hielt mich fest. Ich wollte ihn wegschubsen. Auch dafür zu schwach.
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»Nein, nein, bitte warte, bis ich aus meiner Windel geschlüpft bin, Liebling!«, rief ich. »Ich kann nichts versprechen, aber ich werde mein Bestes tun, um nicht ins Bett zu scheißen.« Er hielt mich im Arm, während ich weinte. Armer Llwellyn. Arme Hope. So saßen wir eine Weile da, voller Liebe und Hass füreinander. Als ich endlich zu weinen aufgehört und mich beruhigt hatte, war ich imstande, vernünftig und zivilisiert mit ihm zu sprechen. »Ich möchte einfach, dass ihr es euch gutgehen lasst. Es ist kein Betrug, nicht, wenn ich es will, verstehst du nicht? Du kannst mich trotzdem lieben und ehren, bis der Tod uns scheidet.« Ich habe getan, was ich konnte. Sie werden es tun oder lassen, aber ich glaube, sie tun es, denn wirklich: was für eine grandiose Form der Selbstbestrafung für Llwellyn! Er wird nicht widerstehen können.
27 Kunstverständnis, die Zweite Bei dem Gratulationsempfang - ein großes Spektakel im University Club mit dem Verwaltungsrat und dem Dekan und jeder Menge sonstiger Lichtgestalten - wies der gegenwärtige Vorsitzende Richard Edgerton Gaffney, dieser Schleimer, darauf hin, die Entscheidung sei gefallen, als Dr. Piacenti vor einigen Monaten in einer Krisensituation den Mut besessen habe, während einer dreiwöchigen Auslandsreise die Verantwortung für eine Gruppe von zwölf UNL-Kunststudenten zu übernehmen, als ihre Kollegin plötzlich an einer Bronchialpneumonie erkrankte. Applaus und weiteres Blabla. Mirabella sah hinreißend aus. Ihr Ehemann und ihre Kinder sahen hinreißend aus. Larken stopfte sich mit Canapés voll und schaffte es trotzdem, betrunken zu werden. Auf dem Heimweg holte sie sich zwei Kübel Häagen Dazs und 574
aß sie, während sie sich auf Kabel das 1986er Remake von »Die Fliege« ansah. Jede hart arbeitende, gescheiterte Akademikerin plus Ehebrecherin verdient ab und zu eine kleine Belohnung. Das Ende des akademischen Jahres hat normalerweise nicht diese Art von Finalität. Für Larken stellt es gewöhnlich nur eine Zäsur in einem Jahr voller Zäsuren dar: Winterferien, Frühlingsferien, Sommerferien. Langfristige Trennungen sind nicht damit verbunden, große Abschiede nicht erforderlich. Diesmal jedoch hat Professor Jones beschlossen, einen richtigen Urlaub einzulegen. Sie lässt den Campus der Universität von Nebraska hinter sich, die Verpflichtung zum Unterrichten, die üppigen Bronzefrauen im Skulpturengarten, die sie sonst täglich sieht. Sie löst sich aus den Verstrickungen universitärer Politik. Sie entfernt sich von ihren Studenten, Kollegen und Mentoren, die sie so bitterlich enttäuscht hat, von der neuen Mieterin über ihr - einer Jurastudentin aus McCook, deren politische und soziale Neigungen sie als Rassistin erscheinen lassen und die keinerlei gesellschaftlichen Umgang pflegt. Sie nimmt eine Auszeit von der kapriziösen Klimaanlage im Fenster ihres Apartments - zuverlässig nur insofern, als sie bei Hitzewellen regelmäßig zusammenbricht -, um in der kühlen, stetigen Behaglichkeit eines Domizils mit zentral gesteuerter Klimaanlage Kitschromane aus einer Kleinstadtbibliothek zu lesen. Diesen Sommer wird Professor Jones, weil sie nicht an einem Ort schlafen kann, an dem das Lachen eines Kindes derart nachhallt, im Haus ihres Vaters in Emlyn Springs verbringen. Es ist früher Nachmittag, als Larken ankommt. Neben der Haustür findet sie einen Pappkarton vor, zusammengehalten durch ein dickes Gummiband, mit der Aufschrift »Unterlagen zur MissWahl für Larken Jones«. Sie ignoriert ihn erst einmal und fängt an, alles vom Auto ins Wohnzimmer zu tragen. »Hi, ich bin hier«, spricht sie Viney auf den Anrufbeantworter. »Gaelan? Viney? Jemand zu Hause?«
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Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass dies am anderen Ende mitgehört wird, aber Larken kann sich nicht erinnern, dass Viney jemals nicht abgehoben hätte. Dass es diesmal so ist, macht sie traurig. »Okay, gut, ihr seid wohl nicht da. Meldet euch bei mir. Hab euch lieb. Tschüss.« Als sie bei den Williams-Schwestern anruft, wird ihr mitgeteilt, dass Bonnie auch nicht zu Hause sei, aber du solltest es bei Blind Tom versuchen, meine Liebe. Gut möglich, dass sie da ist. Das ist ein verblüffender Vorschlag, bis Larken einfällt, dass sich der Fahrradladen und die Pianoklinik im selben Gebäude befinden. Das Einhalten regelmäßiger Öffnungszeiten ist bei den Geschäftsleuten von Emlyn Springs - vor allem bei ihrer Schwester nicht selbstverständlich, auch wenn niemand gestorben ist, deshalb überrascht es sie nicht besonders, als das Telefon zwanzigmal klingelt und keiner abnimmt. Sie legt auf. Allein im Haus fällt Larken auf, wie kalt und unwirtlich es ist. Physische Spuren hat ihr Vater hier nicht hinterlassen. Und doch fühlt sie sich wie ein Eindringling. Sie erwägt, sich in dem großen Schlafzimmer einzurichten - es wäre sicher nett, sich ausbreiten zu können -, aber dort haben Jon und sie übernachtet, als sie hier waren, und der Sinn ihres Kommens ist es ja gerade, diese Gespenster zu meiden. Wegen ihrer Nähe sind auch die anderen beiden Schlafzimmer im Obergeschoss unbewohnbar. Zu guter Letzt beschließt sie, ins Souterrain zu ziehen - das noch steriler wirkt als der Rest des Hauses, nicht nur wegen der langweiligen Möblierung, sondern auch, weil es keine Fenster hat; das einzige Licht verströmen die in die abgehängte Decke eingelassenen Leuchtstofflampen. Aber das Souterrain bietet ein einigermaßen großes Schlafzimmer, ein kleines Bad und den riesigen Freizeitraum mit einem Billardtisch, einem leeren Kühlschrank und dem großen Farbfernseher. Kein Telefon. Hier unten hat sie alles, was sie braucht, 576
und es ist völlig abgeschieden. Wenn jemand vorbeikommt, merkt er nicht einmal, dass sie da ist. Die Essensrunde bei Viney entpuppt sich als große Gesellschaft. Neben ihren Geschwistern ist Blind Tom da, überdies Bethan Ellis mit ihrem Sohn Eli. Larken fällt es schwer, sich an die energiegeladene Atmosphäre zu gewöhnen. Fast die ganze Mahlzeit hindurch hat sie das Gefühl, das falsche Haus betreten zu haben oder eins, in dem sich außerirdische Parasiten vertraute Körper angeeignet haben. Vielleicht ist sie versehentlich auf das Set einer menschenfreundlichen Neuverfilmung der Invasion der Körperfresser geraten. Das hier kann einfach nicht ihre Familie sein. Alle - sogar Bonnie, besondersBonnie - wirken so glücklich. Gaelan ist offenbar damit herausgerückt, dass er keinen Job mehr hat. Soweit Larken erkennen kann, macht er sich keinerlei Sorgen über die Frage, was er mit dem Rest seines Lebens anfangen soll. Vielleicht besucht er eine Kochschule. Vielleicht unterrichtet er. Es könnte auch sein, dass er sich ernsthafter mit dem Bodybuilding beschäftigt, an Wettbewerben teilnimmt. Momentan ist er einfach froh darüber, hier bei seiner Familie zu sein. Er freut sich sehr über seine Rolle in »Unser kleines Wales«. Während Viney Kaffee einschenkt und eine Platte mit Gebäck herumgereicht wird, steht Bonnie auf. »Ich habe etwas anzukündigen«, beginnt sie. Dann schaut sie auf Blind Tom, der neben ihr sitzt. »Genau genommen …«, und zu Larkens Überraschung erhebt Blind Tom sich ebenfalls, und sie legen die Arme umeinander, »… haben Morgan und ich etwas anzukündigen.« Wer ist Morgan?, fragt Larken sich. »Wir bekommen ein Baby.« Sofort verwandelt sich das Energiefeld des Raums von gemessener Freundlichkeit in rasenden Jubel. Es ist, als hätte Bonnies simple Erklärung ein Feuerwerk ausgelöst, eine berauschende Explosion von Lichtern und Farben und Emotionen.
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Viney springt auf. »Oh Schätzchen! Wie wundervoll!«, ruft sie und stürzt sich auf Bonnie und Blind Tom, um sie zu umarmen. »Habe ich irgendwas verpasst?«, flüstert Larken ihrem lächelnden außerirdischen Bruder zu. »Was meinst du damit? Ist es nicht erstaunlich?« Die Vorstellung, dass Bonnie schwanger ist, findet Larken nicht annähernd so erstaunlich wie das, was sie logischerweise impliziert: Bonnie - ihre sonderbare, geliebte kleine Schwester, einsiedlerisch, exzentrisch, künftige alte Jungfer, Quell all ihrer Sorgen und häufiges Gesprächsthema - hat eine intime Beziehung mit einem Vertreter des anderen Geschlechts. Sie hat sich das unexotischste, vorhersehbarste Accessoire des Lebens zugelegt, einen Freund, und Larken weiß nichts davon. Sie reagiert mit angemessenem Verhalten - Umarmung, Lächeln, Glückwünschen. Aber innerlich verspürt sie nur dumpfe Verwirrung, fühlt sich verraten und im Stich gelassen. Später, als sie und Gaelan das Geschirr spülen, hört sie das fröhliche Durcheinanderreden im Wohnzimmer: eine frühe Planung der Babyparty. Wie konnte das passieren?, wundert sie sich, und ihr ist nicht bewusst, dass sie die Frage laut gestellt hat, bis Gaelan sich zu ihr neigt und flüstert: »Na ja, Schwesterchen, sie haben wohl Geschlechtsverkehr gehabt.« »Du weißt schon, was ich meine. Im Krankenhaus haben sie uns gesagt, das wäre unmöglich. Dad meinte, sie könne nie …« Larken verstummt, weil sie davor zurückschreckt, wohin ihre Worte - und die plötzliche, unüberlegte Erwähnung ihres Vaters führen könnten. »Freu dich für sie, Larken«, sagt Gaelan, räumt den letzten Teller weg und hängt das Geschirrtuch über den Rand der Spüle. »Und für uns auch. Ich werde Onkel!«, frohlockt er. »Du wirst Tante!« Tante. Aunt. Das Wort ist hässlich, so wie es im Mittleren Westen Amerikas ausgesprochen wird: mit kurzem »a«, nasal, die 578
Mundwinkel zur Seite gezogen, als würde man übereifrig lächeln oder den Anweisungen eines Zahnarztes folgen. Ganz anders, als es kultivierte Ostküstenbewohner aussprechen oder Briten, mit einem langen, schwelgerischen, eleganten »aaaaah«. Aaaaahnt Augusta. Aaaaantie Mame. Ant Larken. »Es ist ein Wunder«, schließt Gaelan. »Ja«, räumt Larken ein, halb in der Hoffnung, dass sie bei der Rückkehr in Dads Haus eine große Hülse vorfinden wird, die ihre glückliche außerirdische Doppelgängerin enthält. »Das ist es wohl.« Nach dem Essen fahren sie alle ins Gemeindezentrum zum Treffen des neu gegründeten Vereins zur Innenstadtentwicklung. Seine Aufgabe ist es, die baufälligen Teile des Ortszentrums bis zum Besuch der so genannten walisischen Delegation im August zu sanieren. Außerdem plant man, für die Eier-Feiertage eine Präsentation vorzubereiten, die den Gedanken an eine kulturelle und finanzielle Wiederbelebung (Dads Gedanken, muss Larken sich immer wieder ins Gedächtnis rufen) nicht nur als keineswegs absurd, sondern überzeugend erscheinen lässt. Bud Humphries zeigt eine endlose Reihe von Dias, während Komiteemitglieder darüber spekulieren, ob die alte Eierfarm dazu dienen könnte, das Markenfabrikat der Mönche (Bio-Müsliriegel) herzustellen, der ehemalige Bahnhof sich in ein Museum und Touristeninformationszentrum umbauen ließe, das Hotel die Mönche beherbergen könnte und so weiter. Hat der Verein genug Geld, um einen Architekten anzuheuern, der ihre Ideen in Entwürfe umsetzt? Oder wäre die Investition in ein paar Körbe Stiefmütterchen und Geranien und das Organisieren einer Blumenpflanzparty nicht ebenso effektiv, um den vornehmen Gästen ihre künftige Zusammenarbeit zu veranschaulichen? Larken wird durch die leiernden Stimmen und das rhythmische Schwirren des Diakarussells in eine Art Trance versetzt. Die Fotos - Aufnahmen von Straßen und Gebäuden im Ortskern von 579
Emlyn Springs - bilden eine Endlosschleife. So könnte eine Spielart des Fegefeuers aussehen. Larken fühlt sich an Diavorträge in der Grundschule erinnert: über Empfängnisverhütung, das Verhalten bei Atombombenabwürfen oder Tornados, über Autofabriken in Michigan, die Bodenschätze von Peru. Irgendwann sieht sie nur noch Farben, die ruhigen, unaufdringlichen Farben von verwittertem Holz, Pflastersteinen, verblichenen Straßenschildern, das matte, fahle Blau des Himmels, schattige Alkoven, gekalkte Fensterläden. Die einzige Ausdruckskraft findet sich in den Ziegelmauern der leerstehenden Gebäude: verschiedene Varianten von Rot, der Farbe der Gewänder der Jungfrau. Langsam dämmert ihr eine Erkenntnis, und sie beginnt, sich in einen anderen Raum zu träumen. Da sitzt sie im Dunkeln neben einer jüngeren Version von sich selbst: Jones, Larken? Hier!, ruft das Mädchen verärgert und winkt dem weißhaarigen Mann unten auf dem Podium zu (ist er taub?), Kleinstadtschlampe, überheblich und kaputt, mutterlose Tochter, eine von hundert faulen Studienanfängerinnen aus der Provinz, die nach Nikotin schmachtet, sich aber in die hinterste Reihe von Kunstverständnis 101 verbannt hat, weil sie die Punkte braucht, die sich fragt: Werde ich das hier in der Prüfung wissen müssen?, und der dann der Atem stockt, die für immer und ewig verwandelt ist durch den Anblick jenes Gemäldes auf der Projektionsfläche. Das ist Kunst, dachte die junge Frau. Sie hat die nächsten zwanzig Jahre damit verbracht, sich zu fragen, warum es dieses Bild war, das ihre Erleuchtung auslöste. Es waren nicht radikale Ideen oder politische Aspekte, erklärt Larken dem Mädchen jetzt freundlich, als könnte sie ihm damit die Vergangenheit und die Zukunft und vielleicht sogar die Gegenwart ersparen. Es waren die Farben. Auch andere Dinge spielten eine Rolle, aber in erster Linie waren sie es: die Farben.
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Bibliothek, Schule, Supermarkt, Hotel, McKeevers Bestattungsinstitut, die Villa der Williams’, Baumarkt, Tinkhams Warenhaus. Als Robert Campin, genannt »Der Meister von Flémalle«, und seine namenlosen Gehilfen um 1420 das Mérode-Triptychon malten, heute zu sehen im Metropolitan Museum of Art, The Cloisters, New York City, New York, verwendeten sie die triste, vertraute Farbpalette von Larken Jones’ Heimatstadt. Danach bleibt sie noch auf einen dünnen, seifigen Kaffee, dann entschuldigt sie sich und geht zu Fuß zum Haus ihres Vaters. Der Karton mit den Miss-Wahl-Beiträgen steht noch auf der Veranda. Drinnen liegt ein Zettel von Hazel Williams: »Liebe Larken, anbei findest du Kopien aller acht Aufsätze, die eingereicht wurden. Die Mädchen mussten auf die Frage antworten: ›Was erhoffst du dir für Emlyn Springs?‹ Ihnen wurde gesagt, sie sollten die Aufsätze möglichst tippen, aber in leserlicher Handschrift verfasst würden sie auch akzeptiert, falls die Teilnehmerin weder zu Schreibmaschine noch Computer Zugang hat. Danke für deine Hilfe und viel Glück!« Larken nimmt den obersten Beitrag heraus, der mit der Hand geschrieben ist. Die Bewerberinnen sind mit Zahlen gekennzeichnet, nicht mit Namen, sodass die Jurymitglieder urteilen können, ohne Bekannte zu begünstigen. Meine größte Hoffnung für Emlyn Springs, beginnt der erste Aufsatz, wäre ein MacDonald’s. Da könnten junge Leute jobben und Fahmilien preiswert essen gehen. Auserdem würde es Turristen anlocken, denn alle kennen MacDonald’s, und wenn einer in der Stadt wäre, würden sie bestimmt halt machen, auch wenn sie eigentlich woanders hinwollen. Und das will fast jeder, Schätzchen, denkt Larken und empfindet Mitleid und zugleich Liebe für dieses ernsthafte, namenlose Mädchen, das sich kein größeres Geschenk an ihren Heimatort vorstellen kann als die Filiale einer Fastfood-Kette.
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Hopes Tagebuch, 1977 Film der Woche Habe geträumt, vor einer Heerschar von Menschen Stepptanz zu unterrichten. Ich war sehr geschickt, ließ es ganz leicht aussehen. Die Kinder waren auch da: Bonnie trug ein gerüschtes Trägerkleid, sehr untypisch, und hantierte mit einem Miniaturstaubsauger, während ich zeigte, was ich konnte. »Könntest du das später erledigen, Schatz?«, fragte ich, schreiend, um den Staubsauger zu übertönen. In einem anderen Teil des Raums führte Gaelan Zaubertricks vor, glaube ich, oder irgendein wissenschaftliches Experiment: Es waren Ballons und Drachen zu sehen. Versuchte er womöglich, einen Windkanal nachzubauen? Eine Windmaschine? Er verstand es gut, sich in Szene zu setzen, entsinne ich mich, und hatte sein eigenes Publikum, lauter Mädchen, von denen sich keins fürs Stepptanzen interessierte. Larken konnte ich zunächst nicht entdecken; sie war in einer Ecke und tat etwas, das sie nicht tun sollte, weiß nicht, was es war. Ich tanzte unterdessen einen einzigen Schritt, den ich ständig wiederholte, damit alle Zuschauer ihn kapierten. Der Schritt war rhythmisch simpel, seine Komplexität lag in den Details. Die Erwachsenen waren beeindruckt, die Kinder beachteten mich gar nicht. Ich freute mich darüber, dass sie mit ihren eigenen Projekten beschäftigt waren. Gleichzeitig wollte ich, dass sie mir zusahen bei dieser kraftvollen, spielerischen, unbeschwerten Tätigkeit: dem Stepptanzen. Ich wünschte mir, dass sie sich so an mich erinnerten. An ihre Mutter, die Stepptänzerin. Ich glaube, was ich schlechter ertrage als alles andere, ist mein Verfall vor den Augen der Kinder. Sie werden mich nur als krank in Erinnerung haben - sie sind zu jung, sie haben mich nicht lange genug gekannt, um sich anders an mich zu erinnern als so, wie ich zuletzt sein werde. Der Gedanke an den Anblick eines verwelkten, behinderten, sprachunfähigen, benebelten Wesens, den 582
ich ihnen am Ende bieten werde, ist grauenhaft. Ich würde gern vor diesem Zeitpunkt einen Schnappschuss von mir machen, ihr Bild von mir einfrieren, den langen Niedergang abkürzen. Ich könnte mir natürlich auch etwas vorgaukeln - dass vielleicht ein Heilmittel gefunden wird und ich länger durchhalte, als man heute glaubt. »Ich werde nicht sterben«, könnte ich sagen, wie eine dieser Filmheldinnen, deren Leben von Soundtracks begleitet werden und die noch im Angesicht des Todes eine professionell gestylte Frisur haben. Vielleicht gibt es aber doch eine Möglichkeit zu beeinflussen, wie sich meine Kinder an mich erinnern. Ich möchte, dass sie besonders die Mädchen, denn der Heiligenschein der Bedauernswerten wird schon viel zu lange von Frauen getragen - mich in Erinnerung behalten, wie sie es wollen, nur so nicht: als Opfer einer Krankheit. Meine Beine - arme Stummel, die so lange vor sich hingesiecht haben - geben wirklich, endgültig auf. Sie lassen sich nicht mehr beschwatzen, sind tot wie gefällte Bäume. Anscheinend ist es über Nacht passiert, obwohl es natürlich nicht so war. Meine Beine und ich, wir sind schon seit einer Ewigkeit auf diesem Weg. Jetzt sieht es aus, als müssten wir ihn, wenn wir irgendwo hinwollen, mit Hilfe eines Rollstuhls gehen. Keine Stöcke oder Krücken mehr. Von nun an werde ich mich so durch die Welt bewegen, dass ich den meisten Erwachsenen auf Taillenhöhe begegne und Sechsjährigen Auge in Auge. Ich kann sie nicht mehr verdrängen, die Furcht, die Gewissheit. Ich beginne, meinen eigenen Tod zu sehen. Diese Scharfsichtigkeit habe ich der Krankheit zu verdanken. Ohne sie hätte ich wie alle anderen weitergemacht und erst viel später an den Tod geglaubt, vielleicht erst am Ende selbst, wie es sich auch dargestellt hätte: als Autounfall, als Gehirnschlag, als Herzinfarkt. Mein Tod wird sich hinziehen. Ich könnte kämpfen. Ich könnte mich wehren. Ich könnte versuchen, mich zu trösten,
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indem ich mit energischer Stimme Dinge sage wie »Ich bin genauso lebendig wie jedes Neugeborene«. Aber das ist nicht meine Art, und ich bin nicht getröstet. Gestern Abend gab es im Fernsehen einen fantastischen Film der Woche. Er hieß »Liebe ohne Hoffnung« und handelte von Griffin und Phoenix, zwei tödlich Erkrankten, die sich ineinander verlieben, doch die Frau (war sie Griffin oder Phoenix? Ich erinnere mich nicht) nimmt dem Mann das Versprechen ab, sie nicht mehr zu besuchen, wenn der Krebs bei ihr das letzte Stadium erreicht hat. Sie will nicht, dass er sie sterben sieht. Meistens sind solche Geschichten unerträglich kitschig und unwahr, und diese war es teilweise auch, aber alles wurde durch das Ende wettgemacht, das ich großartig fand: Peter Falk läuft die Straße entlang und zertrümmert die Windschutzscheiben der dort geparkten Autos. Es war perfekt. Es war zum Brüllen komisch. L. sah aus, als hätte er eine Großpackung Aspirin geschluckt. Er wirkte angewidert. Menschen, die nicht im Schatten einer tödlichen Krankheit leben, verstehen einfach nicht - ich spreche keineswegs von der moralischen Erhabenheit des Leidens oder ähnlichem Blödsinn -, wie grotesk das manchmal sein kann. Es ist die reine Ironie. Früher hielt L. mich immer für flatterhaft und unpragmatisch, für jemanden voll romantischer Vorstellungen. Jetzt ist es umgekehrt. Ich bin sicher, ihm schwebt ein ganz anderes Szenario vor als mir, was meine Krankheit und meinen Tod betrifft - etwas mit Herzchen und Blumen und Kindern mit tränenfeuchten Augen, die mir schon verziehen haben, dass ich sie verlasse; fehlen nur noch die Geigen. Das Windschutzscheibenzertrümmern liegt mir mehr. Stinksauer zu sein auf den Sensenmann. Zur Vandalin zu werden. Leider habe ich die Fähigkeit verloren, die Straße entlangzulaufen und Scheiben zu zerschmettern oder auch nur in meinen Pantoffeln zur Hintertür hinauszugehen. Viney nimmt mich morgen mit nach Beatrice, um mit mir einen Rollstuhl auszusuchen. 584
Kann nicht mehr schreiben. Im Nachhinein ergibt alles einen Sinn: Llwellyn an seinem Schreibtisch anzutreffen, wo er sich mit Papieren beschäftigte, die er dann verstohlen und mit vorgeblicher Nonchalance beiseiteschob; zahlreiche Anrufe für L., die ihn nicht aus dem Haus, sondern in ein anderes Zimmer gehen ließen. Vineys Ankündigung, sie wolle einen Tag mit mir in Omaha verbringen, mich zu einem Einkaufsbummel und Mittagessen in der Gegend des Old Market einladen. Dieser Vorschlag erfüllte mich nicht mit Freude. »Warum?«, fragte ich. »Ich habe doch nicht Geburtstag.« »Es wird Spaß machen«, entgegnete Viney. »Sei doch nicht so langweilig!« »Viney«, murrte ich. »Ich glaube wirklich nicht, dass ich dazu fähig bin.« Zugegebenermaßen spielte ich meinen neuen Status als an den Rollstuhl gefesselte Invalidin hoch. »Du kannst dich auf der Hinfahrt im Auto ausruhen, wenn du willst, und auf dem Rückweg auch«, sagte sie. »Und in der Stadt helfe ich dir. Es wird schon gehen.« Und dann war da Larkens ausweichendes Verhalten, als ich sie fragte: »Kommst du am Sonnabend denn den ganzen Tag allein zurecht?« (In L.’s Pläne war ich bereits eingeweiht; zwei seiner Patientinnen standen kurz vor der Niederkunft, und er hatte das ganze Wochenende Bereitschaftsdienst.) »Was machst du denn, wenn Viney und ich in Omaha sind?« Sie zuckte die Achseln. »Och, weiß nicht.« »Vielleicht würdet ihr ja gern mitkommen, du und Gaelan und Bonnie«, schlug ich vor. Sie zog eine finstere Miene, biss sich auf die Lippe. »Nein danke, Mom. Wir können uns schon beschäftigen. Ein kinderfreier Tag wird dir guttun.« Also fuhren wir zu einer unchristlichen Zeit los, um sieben Uhr morgens. Suchten Buchläden und andere Geschäfte auf, aßen in 585
einem gemütlichen italienischen Restaurant. Viney richtete das Lokal praktisch neu ein für mich und »den Stuhl«. Ich denke daran, ihm einen Namen zu geben; vielleicht hasse ich ihn dann nicht mehr so sehr. Jedenfalls war ich danach wirklich bereit für die Heimfahrt, aber Viney bestand darauf, dass wir uns einen Film ansehen. »Komm schon, Hope«, sagte sie. »Wann bist du das letzte Mal im Kino gewesen?« Also gingen wir ins Indian Hills, wo »Unheimliche Begegnung der dritten Art« lief. Ich hatte mehrere unheimliche Begegnungen mit dem Innern meiner Augenlider (es war ein sehr langer Film, und im Rückblick ist mir klar, warum Viney ihn ausgewählt hat), doch ich schaffte es, rechtzeitig aufzuwachen, um das Ende mitzukriegen, als die Wissenschaftler mit den Außerirdischen mit Hilfe einer einfachen Abfolge von Tönen kommunizierten, einer Coplandähnlichen Melodie, wie ich fand. Re-mi-do-do-so. Re-mi-do-do-so. Sie war erstaunlich rührend und süß. Außerdem hatten Viney und ich viel zu lachen, als Richard Dreyfuss all diese Phallusformen modellierte. Von wegen »Teufelsturm«. Außer uns schien keiner im Kino den Witz zu verstehen. Viney wollte noch etwas besorgen. »Lass uns Kuchen aus der französischen Bäckerei mitnehmen, an der wir vorbeigekommen sind«, sagte sie. »Was Leckeres für die Kinder.« »Ich bin MÜDE, Viney!«, jammerte ich, ganz die nervtötende schwierige Patientin. »Ich will nach HAUSE!« Sobald wir losfuhren, schlief ich ein und wachte erst auf, als wir in Beatrice waren. Wir befanden uns an einer Tankstelle, und Viney rief von einem Münztelefon aus jemanden an. »Alles okay?«, fragte ich, als sie zurückkam. »Ach, Mist«, sagte sie. »Ich hatte gehofft, du würdest durchschlafen.« »Was ist los?« 586
»Schlaf wieder ein, sonst muss ich dir die Augen verbinden.« »Was?« »Zu Hause wartet eine Überraschung auf dich.« »Was für eine Überraschung?« »Mehr darf ich nicht verraten.« Sie drehte sich zu mir um. »Du weißt gar nicht, wie sehr du geliebt wirst«, sagte sie, und in ihren Augen standen Tränen. Ursprünglich wollte L. alles allein machen. Vor ungefähr einem Monat, in jenen dunklen Tagen, nachdem ich den Stuhl bekommen hatte, ging er mit ein paar Skizzen und einer Einkaufsliste zu Schlake’s und fing an, Fragen zu stellen. Aber wie Kleinstädte nun mal sind, begann Harold senior, seine eigenen Erkundigungen einzuholen, und es dauerte nicht lange, bis Llwellyns geheimes Einmann-Tischlerprojekt zu einer öffentlichen Angelegenheit wurde. »Ich würde Doc Jones mein Leben anvertrauen«, flüsterte Harold mir heute beim Essen zu. »Wir alle haben ihn schon Wunder vollbringen sehen - er kann amputierte Gliedmaßen wieder annähen -, aber nichts für ungut, wenn man dem Mann einen Hammer und Nägel gibt, ist er eine Gefahr für seine Umwelt!« Also fingen Llwellyn und Harold an, sich zu treffen, Ideen auszutauschen, verschiedene Entwürfe zu überdenken. Gott sei gedankt für Harolds Einmischung. L.’s ursprünglicher Plan hatte kaum mehr als eine große Sperrholzplatte umfasst, die auf den Verandastufen befestigt werden sollte, in einem Winkel, der von mir verlangt hätte, der Schwerkraft zu trotzen. Sämtliche Materialien - Holz, Eisenwaren, alles - wurden gespendet. Die Schlakes ließen nicht zu, dass Llwellyn für irgendetwas zahlte. Außerdem rüsteten sie jedes Kind, das sich blicken ließ, mit einem eigenen Werkzeuggürtel samt Werkzeugen aus. Harold zeichnete die Pläne, schnitt das Holz zu, verfasste Schritt-für-Schritt-Anleitungen, stellte ein Team aus geschickten Amateurtischlern zusammen (fast jeder Mann in Emlyn Springs gehörte dazu) und delegierte sämtliche Aufgaben so, dass jeder 587
von meinem berüchtigt unpraktischen Ehemann bis zum kleinsten Kind - etwas Wichtiges zu tun hatte und der Bau an einem einzigen Tag zu erledigen war. Wauneeta Williams und Kay Ellis machten Dutzende Fotos sie haben beide so eine Instant-Kamera, die das Bild sofort ausspuckt -, und während Männer und Kinder mit der Konstruktion der Rampe beschäftigt waren, stellten die Frauen ein großes Album zusammen, das den ganzen Tag des Rampenaufbaus von Anfang bis Ende dokumentierte. Das Album enthält nicht nur Fotos, sondern auch die »Blaupausen«: Llwellyns erste Zeichnungen, alle möglichen Skizzen auf kleinen Zetteln und Cocktailservietten (viele von L.s und Harolds Planungstreffen fanden eindeutig bei Martinis im Country Club statt), auf Rezeptblöcke gekritzelte Einkaufslisten… Llwellyn sagt mir seit Jahren, ich sei viel beliebter in dieser Gemeinde, als ich wüsste. Heute hat sich wohl erwiesen, dass er Recht hat - obwohl ich irgendwie das Gefühl habe, dass ihre Loyalität in Wahrheit der Frau des guten Doktors gilt. Aber das macht nichts. So viele Leute kamen, um zu helfen: Roy Klump, Myron Mutter, Ezra Krivosha, Ellis Cockeram, Owen Lloyd, Bud Humphries, Harlan Beck, die Ellis’ und natürlich der liebe Doc Williams, alle waren hier und sicherlich noch viele andere, die ich vergessen habe, daher bin ich froh über die Fotodokumente. Das werden eine Menge Dankesschreiben. Sogar Estella Axthelm tauchte auf, wahrscheinlich, weil sie den Gedanken nicht ertrug, nicht auf einem Foto der Gemeinde zu sein. Aber immerhin, sie kam. Das Essen, zu dem jeder etwas beigesteuert hatte, wurde vorn im Garten auf Tischen angerichtet, und uns war ein klarer, schöner, trockener Abend vergönnt. Gegen halb acht - nachdem ich es über mich hatte ergehen lassen müssen, dass mir die ganze Gruppe mit lautem Hurra dabei zusah, wie ich die Rampe mit einer Rollstuhlfahrt einweihte - gingen alle und ließen uns endlich allein. 588
Danach wollte Bonnie, dass wir Karten spielten. Wir hatten ein paar Runden hinter uns und waren gerade so richtig in Fahrt gekommen, als das Telefon läutete. Es ist so selten, dass wir sechs zusammen sind. Alle schauten unmutig drein - sogar Larken, die gestöhnt und sich darüber beschwert hatte, dass sie mit ihrer Familie so ein blödes Kartenspiel spielen musste. »Ich geh ran«, seufzte sie, stand vom Tisch auf und machte sich auf den Weg zum Telefon. »Dad, bist du zu Hause?« Er spähte über seine Karten hinweg und schüttelte - was uns alle überraschte - den Kopf. Wie sich herausstellte, war der Anruf für mich, von Clara Vance, die sich dafür entschuldigen wollte, dass sie nicht hatte kommen und helfen können - eins ihrer Kinder hatte Fieber -, und fragte, ob wir ihren Apfelkuchen erhalten hätten. Ich rollte zurück in die Küche. Viney und Larken und Gaelan machten Popcorn und gossen Getränke ein. Bonnie saß auf Llwellyns Schoß und sah sich das Album an. Llwellyn - der sich anhörte, als sei er der erfahrenste Tischler der Welt - zeigte auf die Seiten und sprach ganz ernst über Rampenkonstruktion, Geometrie, Gefälle und Auftritt und Bauvorschriften und darüber, dass auch menschliche Körper Wunder der Baukunst seien, fähig zu so vielen erstaunlichen Dingen, als Bonnie ihn unterbrach. »Daddy?«, fragte sie mit beunruhigter Miene. »Warum sagst du das?« »Was denn, Schätzchen?« »Dass du nicht zu Hause bist. Weißt du, manchmal, wenn das Telefon klingelt. Das verstehe ich nicht.« »Es ist verwirrend, ich weiß, wenn Daddy sagt, dass er nicht zu Hause ist.« Und dann schaute sie ihm in die Augen und sagte sehr ernst: »Und es ist gelogen. Du bist doch hier.«
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28 Die Rückkehr der Little Miss Emlyn Springs Der offizielle Beginn der Eier-Feiertage wird mit der Premiere von »Unser kleines Wales« eingeläutet. Verfasst von Wettbewerbssieger Eli Ellis Weissman, wird das Stück heute Abend seine erste Aufführung mit Kostümen, Beleuchtung, Kulissen, Geräuscheffekten und der Windmaschine erleben, die von der University of Nebraska ausgeliehen wurde. Merle Schlake und sein Sohn Harold sind am Vormittag extra hingefahren, um sie abzuholen. Das Publikum ist klein - die Massen werden erst am Wochenende erwartet, und es geht ziemlich familiär zu: Außer dem Autor und der Regisseurin (Fiona Hughes, die an der Highschool Englisch unterrichtet) sind Larken Jones, Bonnie Jones (die Fiona als Eleanor Thomas besetzen wollte, die berühmte walisische Sängerin, die 1911 die hiesige Oper besuchte, bevor sie abbrannte, aber Bonnie ist im sechsten Monat schwanger und hilft als Requisiteurin aus) und mehrere Bewohner des Altersheims St. David anwesend. Die Mutter des Autors ist ebenfalls da, allerdings gegen den Wunsch ihres Sohns, deshalb hat sie sich bis jetzt, da der Vorhang sich öffnet, in der Mädchentoilette versteckt. Das Licht im Zuschauerraum geht aus, sodass die erleuchtete Bühne zu sehen ist. Eine Gestalt in der unbestimmbaren Kleidung eines Schulhausmeisters lehnt am Proszenium. »Guten Abend, Leute«, beginnt er, direkt ans Publikum gewandt. »Das heutige Stück heißt ›Unser kleines Wales‹. Es wurde von Eli Ellis Weissman verfasst und vom Kulturausschuss von Emlyn Springs produziert. Sie werden darin Brody Canarfaen als Emlyn Halopeter sehen, Bess Simpson als Julia Halopeter …« Während Gaelan die Personen aufzählt, kommen sie hinter ihm auf die Bühne. »Die Brüder Labenz, Allan, Peter und Dylan, 590
werden die braven jungen Männer darstellen, die ihrem Land im Laufe der Jahre das höchste Opfer gebracht haben …« Wie viel Kraft in ihrer Fähigkeit zusammenzuhalten liegt, denken die Toten bewundernd. Sie sollten sie öfter nutzen. »Und schließlich«, sagt Gaelan und deutet nach rechts, »haben wir hier unseren musikalischen Begleiter, Morgan Geraint Jones, auch bekannt als Blind Tom.« Er schaut sich um, um sich zu vergewissern, dass alle dreiundsechzig Schauspieler an Ort und Stelle sind, und wendet sich dann wieder ans Publikum. »In Emlyn Springs gibt es nichts Wichtigeres als Musik, und ehe ich Ihnen Weiteres mitteile, was Sie über uns und unser kleines Wales wissen müssen, wollen wir ein Lied singen. Blind Tom, darf ich bitten?« Blind Tom spielt die ersten Takte der walisischen Nationalhymne, sie singen, und dann beginnt das Stück. Die Aufführung geht nicht ohne Ausrutscher, Patzer und technische Probleme vonstatten - von denen das offensichtlichste der Debüteinsatz der Windmaschine am Ende vom ersten Akt ist. Es passiert, kurz nachdem Brody Canarfaen bei seinem großen Auftritt als Emlyn Halopeter sich mit gespreizten Beinen mitten auf die Bühne gestellt, seine Augen beschirmt und mit wachsendem Entsetzen in eine imaginäre Ferne geschaut hat. Er gibt das Stichwort: »GRUNDGÜTIGER! ES IST … EIN … TORNADO!«, und die Maschine wird angestellt. Alles, was nicht sicher befestigt oder mit Sandsäcken beschwert ist, fliegt in die Luft. Der Baumstumpf aus Pappmaché hebt sich vom Boden, kippt zur Seite und torkelt über die Bühne, bis er rechts verschwindet. Mrs. Julia Halopeter gerät in schreckliche Verlegenheit, als ihr Kleid ihr über dem Kopf zusammenschlägt und Unterwäsche enthüllt, die nicht in einem Dessousgeschäft des 19. Jahrhunderts erstanden wurde. Die HalopeterKinder fangen an zu weinen. Das Pferdegespann aus Pappe löst sich aus seiner Halterung, wird in Stücke gerissen und in Fetzen
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durch den ganzen Saal geschleudert, ein Effekt, der schauerlicher und realistischer ist als beabsichtigt. Hinter der Bühne merkt schließlich jemand, was vor sich geht, und die Windstärke sinkt unvermittelt auf null. Der Hausmeister erscheint, scheucht die verwirrten Schauspieler von der Bühne und beginnt - mit Besen und Schaufel - sauberzumachen. »Wieso glaubt uns bloß niemand«, sinniert er, »wenn wir über das extreme Wetter in Nebraska reden?« Das Publikum lacht, Darsteller und Crew sind beruhigt, und Gaelan kündigt eine viertelstündige Pause an. Es kommt zu ein paar weiteren technischen Pannen - klein im Vergleich zu der ersten -, und es dauert wirklich fast drei Stunden, um die Zuschauer von der Vorgeschichte bis in die Gegenwart zu führen (von den Altersheimbewohnern schlafen etliche ein), aber als alles vorbei ist, werden Schauspieler und Bühnenpersonal mit ausgelassenem Beifall empfangen. »AUTOR! AUTOR!«, rufen alle, doch der Dichter verschanzt sich hinter seinem Klemmbrett. Erst als der Hausmeister ins Publikum getreten ist und ein paar schmeichelnde Worte gesagt hat, findet Eli den Mut, sich zu den anderen zu gesellen und den stürmischen Applaus entgegenzunehmen. Alvina Closs lebt seit ihrer Geburt in Nebraska, aber einen Himmel wie diesen hat sie noch nie gesehen. Gaelan hat ihr zwar die Namen der Wolken genannt, wie sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts von jenem Quäker festgelegt wurden, doch die hier passen in keine Kategorie. Keine gleicht der anderen, und sie wirken ungeordnet, als wären verschiedene Wettersysteme aufeinandergeprallt und kämpften um die Vorherrschaft. Ein Teil der Himmelsleinwand sieht wellig aus wie Schneewehen oder Sanddünen, dann wieder ähneln die Wolken von innen erleuchteten menschlichen Organen, sauerstoffgefüllten Lungenflügeln, Blasen oder Nieren, sind geädert oder marmo592
riert. Hin und wieder, hier und da, flammen in diesen Gebilden plötzlich kleine Lichter auf. »Guckt euch das an«, sagen die Leute und schauen ab und zu kurz hoch, aber dann werden sie abgelenkt vom nächsten Ereignis, das ihrer Unterhaltung dienen soll, und da ist die Auswahl groß: das Konzert der Kapelle, Vorführungen für die Jugend, die Pferdeausstellung des Saddle Club, Rollschuhläufer und Komödianten und Jongleure, der Walisisch-Buchstabierwettbewerb, der Eierlegwettbewerb … Viney nippt an ihrem Ananas-Protein-Vollwert-Smoothie. Sie passt auf die Kasse auf, während Bonnie auf der Toilette ist. »BJs Mixgetränke« ist nur für eine Woche wiedereröffnet worden, und zwar in einem der vielen Zelte, die im McClure Park aufgebaut wurden und voll weiterer Verkaufsstände mit Essen und Trinken und Kunsthandwerk sind. Vineys Engel haben es in diesem Jahr nicht hierher geschafft. Sie sind zu Hause und schmollen. »Guckt euch den Himmel an«, sagt wieder jemand. Sie zeigen nach oben, sie unterbrechen ihre Gespräche, um den Verlauf des Wetters zu überprüfen, doch wenn ein heranziehender Flecken Blau sie beruhigt (»Sieh mal da drüben, das dauert nicht lange …«), wenden sie sich erneut dem Traktorziehen zu oder kaufen sich bei den Knights of Columbus noch einen Hotdog, wobei sie ihre Uhr nicht aus den Augen lassen, denn der Höhepunkt der Eier-Feiertage - den keiner verpassen will - ist die Wahl der Little Miss Emlyn Springs am Nachmittag. Und am Abend findet im Untergeschoss der Freimaurerloge die Dinnerparty mit Tanz und Live-Musik statt, gefolgt von einem Feuerwerk im Park. Was ist das für eine Woche gewesen! Alle sind sich einig, dass es die schönsten Eier-Feiertage aller Zeiten waren. Vor vier Tagen sind die walisischen Delegierten eingetroffen, und man hat sie gut bewirtet und ihnen den Ort gezeigt. Es ist offenkundig, dass sie beeindruckt sind und interessiert daran, die Idee des ehemaligen Bürgermeisters mit zu verwirklichen; sicherlich wird ihr Bericht in Wales günstig ausfallen. Wer weiß, was noch ge593
schieht? Dies ist vielleicht der Beginn eines neuen Lebens für ihre Gemeinde, und Llwellyn Jones’ lange gehegter Traum von der Wiedererweckung von Emlyn Springs könnte doch noch in Erfüllung gehen. Alvina Closs kann sich gar nicht darüber freuen. Nächste Woche ist es ein Jahr her, überlegt sie. »Hi, Viney!«, ruft Bonnie. »Sollen wir den Laden dichtmachen und uns die Miss-Wahl angucken?« »Geh du vor, Schatz«, sagt Viney. »Ich kümmere mich um alles.« »Mach nicht so lange, okay? Ich kann es nicht abwarten, Larkens Gesicht zu sehen!« Viney beobachtet, wie Bonnie durch den Park auf das Gemeindezentrum zugeht, sich in dem dichten Gewirr aus Touristen und Einheimischen anmutig zwischen den Zelten hindurchschlängelt. Bisher war es eine ungeordnete, wimmelnde Masse von Menschen mit immer gleichen T-Shirts, Flipflops, Strohhüten, Baseballkappen und Sonnenbrillen. Aber jetzt, als Bonnie kommt, fangen sie an, sich zu sammeln, zu sortieren, ihr in Reih und Glied zu folgen, als würden sie von der Kraft ihrer Schönheit und ihres Glücks angezogen. Sie gehen nach drinnen. Das ist gut so. Sollen sie gehen. Alvina Closs hält ihren Blick noch ein wenig länger auf den Himmel gerichtet. »Nehmen Sie bitte alle wieder Platz«, säuselt Don Parry, der wie immer sein Markenzeichen, einen rot, grün und schwarz karierten Smoking (akzentuiert durch einen leuchtend roten Kummerbund) trägt. Er war schon Conférencier bei der Wahl der Little Miss Emlyn Springs, ehe Larken dazu gekrönt wurde. Woher kommt es, überlegt sie, dass manche Männer nicht altern? Während sie Mr. Parrys gebräuntes, faltenloses Gesicht betrachtet, fragt sie sich, ob er wohl Zugang zu schwarzer Magie hat, eine Art Bildnis des Dorian Gray, das zu seinen Gunsten
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wirkt. Vielleicht hängt ein solches Gemälde in dem Wohnwagen, mit dem er in der Gegend herumfährt. Gestern Abend hat sie sich noch einmal durch die dreistündige Aufführung von »Unser kleines Wales« gequält. Und heute sitzt sie schon wieder seit drei Stunden, um die Kandidatinnen für den Miss-Titel zu begutachten - aber ihre Frontposition am Jurorentisch neben Hazel Williams und Owen Lloyd verlangt gute Miene zum bösen Spiel von ihr. Don Parry fährt fort: »Die Jury hat eine Entscheidung getroffen und ist bereit, der Siegerin den Stuhl zu verleihen.« Er macht eine weit ausholende Geste. »Alyssa, Heather, Nicole, Kristin und Toree, kommt ihr bitte alle und stellt euch vorn auf der Bühne in einer Reihe auf?« Jon und Esmé sind hier. Ihr Besuch ist eine Überraschung. Während Larken heute Morgen im Elks Club Pfannkuchen servierte, spürte sie plötzlich, wie zwei kleine Arme sie umschlangen. Nachdem Esmés süßer Überfall - offensichtlich ein von Jon inszenierter taktischer Schritt - seine magische Wirkung getan hatte, erklärte er, sie seien zu den Abschlussfeierlichkeiten extra aus Lincoln angereist und übernachteten im King’s Castle Motel. Larken fragte nicht, warum. Sie erkundigt sich nicht nach Mias Verbleib. Sie freut sich, Esmé zu sehen. Jon hat sie nach wie vor nicht verziehen. »Noch einmal«, fährt Don Parry fort, während die Mädchen ihre Plätze einnehmen, »möchte ich allen Sponsoren danken, die dieses Ereignis mit ihrer Großzügigkeit ermöglicht haben. Und ehe ich nun verkünde, wer gewonnen hat, solltet ihr Mädchen wissen, dass ihr alle einen Geldpreis erhalten werdet. Die fünfundzwanzig Dollar, die euch die Wettbewerbsteilnahme gekostet hat, wurden von jedem unserer Sponsoren um die gleiche Summe aufgestockt und als Sparguthaben auf die Landesbank von Emlyn Springs eingezahlt. Dieses Programm, ›Ein warmes Nest für die schönsten Eier‹, geht auf die Idee einer unserer Jurorinnen zu-
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rück, Larken Jones, selbst ehemalige Little Miss Emlyn Springs. Applaus für Miss Jones, bitte!« Larken steht kurz auf, dreht sich nach allen Seiten und nimmt den Beifall lächelnd und nickend entgegen. Sie entdeckt Viney und Bonnie und Blind Tom, Gaelan jedoch, Mistkerl, muss gegangen sein. Dann setzt sie sich wieder. Die fünf Teilnehmerinnen - mit steif toupierten Frisuren, Rouge und Lippenstift - tragen dasselbe wie im letzten Teil des Wettbewerbs, in der Kategorie Talent. Es war eine peinliche Zurschaustellung nicht von Können, sondern von Mittelmaß. Schon vorher hatte Larken sich immer wieder vor mitfühlender Scham gekrümmt, aber die Talentpräsentationen waren besonders schwer mit anzusehen: Heather Pike und Nicole Cockeram führten beide Karaoke-Nummern vor; Alyssa Critchfield zeigte eine Turnübung, die im Wesentlichen eine endlose Abfolge von Vorwärts- und Rückwärtssaltos war, Kristin Penkava gab mit den Flaggen von USA, Nebraska und Wales eine Art Schleiertanz zum Besten, und Alyssas ältere Schwester Toree spielte auf ihrem Altsaxofon ein Arrangement von Debussys »Clair de Lune«. Alle waren grauenvoll. Und doch ist Larken überrascht, weil sie nicht erwartet hat, so viel für diese Mädchen und ihre Familien zu empfinden. Das sind keine törichten Menschen, die sich Illusionen machen. Sie wissen, dass ihre Töchter im Großen und Ganzen nichts Besonderes sind, sondern nur durchschnittlich, dass ihre Bemühungen an diesem Tag aber Anerkennung verdienen, weil der Mut, den es erfordert, Durchschnittlichkeit ins Rampenlicht zu stellen, herzzereißend ist. Niemand zog eine Grimasse, wenn ein falscher Ton erklang, niemand rutschte ungeduldig auf seinem Klappstuhl hin und her, als der zwanzigste Salto geschlagen wurde, niemand seufzte und verdrehte die Augen, wenn eine weitere lahme und unoriginelle Antwort auf die Frage Was sind deine Hoffnungen und Träume für Emlyn Springs? zu hören war.
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Jetzt stehen die Mädchen nebeneinander und halten sich mit geröteten, glänzenden Gesichtern an den Händen. Hinter ihnen wogen Girlanden aus Polyesterfoliensternen vor einem dunkelblauen Samtvorhang. Der Stuhl wird von vier Männern hereingebracht und auf das Podest ganz hinten auf der Bühne gestellt. Die von der Decke hängende Spiegelkugel dreht sich langsam für die Mädchen, deren Traum hier wahr werden soll, und streut Lichtflecke über sie alle. Don Parry sagt die Zweitplatzierte an, Kristin Penkava, und überreicht ihr einen Blumenstrauß. »Und jetzt«, deklamiert er mit seiner Showmaster-Stimme, »heißen wir Kelly McAllister willkommen, die Little Miss Emlyn Springs von 2003, die ihre Nachfolgerin krönen wird!« Ein Trommelwirbel ertönt, das Publikum verstummt, und in dieser erwartungsvollen Stille hört Larken plötzlich ihre eigene viel jüngere Stimme, spürt sie sogar mit ihrem ganzen Körper: Und Meilen, Meilen noch vorm Schlaf, und Meilen Wegs noch bis zum Schlaf … »Und die Gewinnerin ist …« Als Kelly McAllister sich die Krone vom Kopf nimmt und sie Toree Critchfield auf die wundervoll gestylten Locken setzt, spannen und entspannen sich die Muskeln in Larkens Arm mitfühlend, als befreite sie sich selbst von einer kleinen, aber bedeutsamen Last. Nachdem Toree ein langer Umhang um die Schultern gelegt wurde, setzt sie sich auf ihren Stuhl. Dann stellen Bud Humphries, Harold Schlake junior, Harold Schlake senior und Joe Pappas sich um sie herum, heben den Stuhl mit einer zügigen Bewegung hoch und fangen an, sie durch den Raum zu tragen. Das Publikum applaudiert, Kameras blitzen, Wauneeta Williams spielt Klavier, Don Parry singt. Larken will sich gerade zu Jon und Esmé gesellen, als Hazel auf die Bühne tritt und den Zuschauern bedeutet, still zu sein und
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sich zu setzen. Sie hält etwas in der Hand, das aussieht wie ein gerahmtes Foto. »Da nun unsere neue Little Miss Emlyn Springs ihren Ehrenplatz eingenommen hat, möchten wir einer unserer Jurorinnen und ehemaligen Titelgewinnerin ein Überraschungsgeschenk machen.« Hazel lächelt Larken auf eine Weise an, die diese äußerst nervös macht. »Komm, meine Liebe«, sagt sie ohne Mikrofon. »Wie viele von Ihnen wissen«, fährt Hazel fort und legt ihren Arm um Larkens Mitte, »ist Larkens Stuhl verloren gegangen.« Sie schaut Larken an und drückt sie, in ihren Augen sind Tränen. »Aber«, schnieft sie, »mit Hilfe unseres Stadtarchivars Myrtle Burchett - Myrtle, steh mal auf - haben wir ein Foto von Larken entdeckt, das bei ihrer Krönung aufgenommen wurde.« Hazel hält das Foto hoch. »Dank dieses Fotos und kollektiven Gedächtnisbemühungen konnten wir eine Kopie nachbauen.« Hazel schaut hinter sich. »Meine Herren?« Larken ist entsetzt. Das hier kann nicht wahr sein. Aber da kommen sie auf die Bühne: Bud Humphries, Alan Everett Jones, Glen Rhys und Gott sei Dank Gaelan, denn wenn sie tatsächlich ihre achtzig Kilo plus Stuhl schleppen sollen … »Nein«, protestiert sie. »Bitte, ihr müsst doch nicht …«, doch bevor sie weitersprechen kann, haben die Männer sie hochgehoben. Keiner von ihnen ächzt oder keucht oder schwankt. Es scheint sie keinerlei Anstrengung zu kosten. Sie tragen Larken mühelos, als wöge sie überhaupt nichts. »Was wolltest du mir sagen, Jon?« Larken muss schreien, die Band ist eine keltische Gruppe mit elektrischen Instrumenten. Sie sind im Untergeschoss der Freimaurerloge von Emlyn Springs, wo viele Hochzeitsempfänge, Abschlussbälle und Gemeindefeste wie dieses stattfinden, bei denen es Live-Musik gibt und eine große Küche und eine Tanzfläche gebraucht werden.
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Jon hat sich den ganzen Abend sehr bemüht, ihr etwas abzuringen - was, das weiß sie nicht genau. Vertrauen vielleicht. Sie ist sich nicht sicher, ob sie ihm das noch schenken kann. Sie haben ihre Arme zwischen sich zu einem Sitz für Esmé verflochten und schaukeln sie im Takt der Musik. Esmé hat darauf bestanden, dass sie zu dritt miteinander tanzen, und jetzt ist sie trotz des Lärms und Gedränges eingeschlafen. Sie verrutscht ein Stückchen, gähnt. Ihre Lider flattern, dann schläft sie wieder ein. Jon schaut auf sie hinunter. Die Musiker kommen zum Ende des Stücks - ein ekstatisches Fiedlerduell -, und die Tanzenden jubeln und klatschen. »Mia und ich«, erwidert Jon, sobald es ruhiger geworden ist. »Wir können nicht zusammenleben. Es ist aus.« »Was?«, fragt Larken. »Wir machen jetzt eine kurze Pause, Leute«, verkündet der Sänger. »In einer Viertelstunde sind wir zurück, also lauft nicht weg.« »Hör zu«, sagt Jon, »es gibt einiges, worüber ich mit dir reden muss, eine ganze Menge sogar.« Er nimmt Esmé auf den Arm. »Ich bringe sie zu Viney … sie hat gesagt, sie würde ein paar Stunden auf sie aufpassen.« »Wozu?« »Damit wir ein bisschen Zeit für uns haben.« Er beugt sich vor, um sie auf die Wange zu küssen, aber Larken weicht ihm aus. Jon lächelt reumütig. »Bitte bleib hier, okay? Bis bald.« Larken steht mitten auf der Tanzfläche und lässt Jons Enthüllungen im Geiste Revue passieren, während Menschen sie anrempeln, die zu ihren Tischen zurückstreben. Sie tritt an die Bar, um sich ein Glas billigen Chablis zu holen. Bonnie gesellt sich zu ihr. »Ist es nicht toll, wie die Jugendlichen sich feingemacht haben?«, fragt sie und schaut sich im Saal um. »Mit Smokings und Abendkleidern? Als wäre heute Abschlussball oder so.«
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Sie hat nie schöner ausgesehen, denkt Larken. Sie ist Mom nie ähnlicher gewesen. Von einer plötzlichen beschwipsten Sentimentalität überwältigt, stößt sie heraus: »Ich hab dich lieb, Bon«, packt Bonnie bei den Schultern und zieht sie an sich. »Ich freue mich unheimlich für dich. Das weißt du doch, oder?« »Natürlich. Hör zu, die vielen Leute und der Lärm und die Hitze machen mir ein bisschen zu schaffen, also sag ich mal gute Nacht.« »Soll ich dich fahren?« »Nein, danke, ich habe mein Rad dabei.« »Dein Rad? Schatz, du bist im sechsten Monat schwanger.« »Ich bin nicht krank, Larken. Ich kriege ein Baby.« Larken seufzt. »Okay.« »Bis morgen früh.« Larken sieht, wie ihre Schwester sich zu Blind Tom auf die Klavierbank setzt. Sie reden mit unbeschwerter Vertraulichkeit, lachen, küssen sich. In einem anderen Teil des Raums haben Bethan und Gaelan die Köpfe zusammengesteckt, sodass ihre Körper eine Art sanft gewölbten Bogen bilden, auch sie sind in ein Gespräch vertieft. Es kommt Larken schon den ganzen Tag so vor, als wäre die Zeit zurückgespult worden. Sie erwartet fast, ihre Mutter und ihren Vater an einem der Tische sitzen und im Kerzenlicht plaudern und lachen zu sehen. Ja, beinahe mühelos sieht sie sie tatsächlich. Und Viney auch, denn das hat sie vor Augen, wenn sie an ihre Eltern denkt: einen Vater und zwei Mütter. Sie nippt an ihrem Wein, fischt einen Eiswürfel aus einem auf der Theke stehen gelassenen Glas und kühlt sich damit Handgelenke und Nacken. Es ist wirklich stickig hier drinnen. Sie malt sich aus, wie Jon die schlafende Esmé auf seinen Armen durch die Straßen ihrer herausgeputzten Heimatstadt zu Viney nach Hause trägt.
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Die Lampen flackern und gehen aus. Die Teenager machen »Ooh!«. Eine halbe Minute später ist der Strom wieder da. Es muss windig sein draußen. Die Band kehrt zurück. Larken sieht, dass ihr Bruder mit Bethan tanzt. Jon ist vielleicht schon auf dem Rückweg, sie stellt sich vor, wie er die Bridge Street entlanggeht, schneller jetzt denn er braucht Esmé ja nicht mehr zu tragen -, doch, er geht schneller. Es gibt einiges, worüber er mit ihr reden muss. Eine ganze Menge sogar. Erneut fällt der Strom aus, und dabei bleibt es. Larken bemerkt die Sturmlaternen auf den Tischen: Die Flammen der Kerzen sind länger und schmaler geworden. Sie fangen an, synchron zu flackern, als wäre oben eine Tür aufgegangen und ein Luftkorridor ins Untergeschoss entstanden. Im Geiste versucht sie, Jons Weg zurück zu ihr weiter nachzuvollziehen. Aber sie kann ihn nicht mehr sehen, findet ihn nicht. Bürgermeister Humphries stellt sich vor der Band auf die Bühne. »Hört zu, Leute«, verkündet er, »ich habe oben gerade mal meine Nase rausgesteckt, und es scheint, als wären wir mitten in einem dicken Sturm. Deshalb bitte ich euch, noch ein Weilchen hier unten zu bleiben, wo es sicher ist, und zu warten, bis er vorbei ist.« Dicker Sturm, im Untergeschoss bleiben, wo es sicher ist. Die Leute beginnen, Namen zu murmeln, die Namen der Abwesenden, der eben Gegangenen. Wann haben sie sich verabschiedet? Wollten sie direkt nach Hause? Kann ich dein Handy benutzen? Hat jemand eine Taschenlampe? Sie warten. Sie lauschen. Die Luft um sie herum wird seltsam drückend. Nach einer halben Stunde ist der Strom wieder da. Sie steigen die Treppe hoch und stoßen die schwere Tür auf. Der halbe Ort ist verschwunden.
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29 Liebestaumel, 1978 Es ist weit nach Mitternacht, und Llwellyn Jones befindet sich auf dem Heimweg. Eine nächtliche Überlandfahrt kann ein unwirkliches Erlebnis sein, wenn der Himmel so samtschwarz ist und nicht vom künstlichen Licht der Großstädte, die niemals schlafen, aufgehellt wird. Nur ab und zu brennt in einem Farmhaus eine Lampe - wo vielleicht jemand noch über Rechnungen brütet, sich um ein krankes Kind kümmert oder einfach vor lauter Sorge nicht schlafen kann. Schwarzer Himmel und schwarze Erde scheinen zu verschmelzen, die Grenze zwischen Oben und Unten verschwindet, sodass Llwellyn das Gefühl hat, durch den Weltraum zu fliegen. Oft begleitet ihn seine Helferin, wenn er zu weit entfernten Patienten muss, aber heute ist eine ihrer Töchter zu einem seltenen Besuch in der Stadt, daher ist er allein. Llwellyn sieht in Viney in erster Linie seine Mitarbeiterin, obwohl ihre Beziehung überdies von körperlicher Nähe und tiefer Zuneigung geprägt ist. Er hätte sich eine so komplexe intime Beziehung nie vorstellen können; er hat sie seiner Frau zu verdanken. Sein spätes Eintreffen zu Hause ist nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist aber schon, dass nicht nur die kleine Lampe auf dem Telefontischchen brennt, die seine Frau immer für ihn anlässt, sondern dass auch in der Küche Licht ist, was darauf hindeutet, dass noch jemand wach ist. »Larken?«, ruft er leise, während er seine Arzttasche auf den Stuhl neben der Lampe stellt und weiter den Flur entlanggeht. »Gaelan?« Seine Frau ermüdet aufgrund ihrer Krankheit schnell und geht früh zu Bett, deshalb vermutet Llwellyn, dass die Nachteule eins seiner Kinder ist. Ein bisschen Zeit mit ihnen allein wäre ihm ganz recht, er sieht sie so selten. Außerdem ist auch ein Quent602
chen Wunschdenken mit dabei, denn Llwellyn Jones ist heute Nacht nicht erpicht darauf, seiner Frau zu begegnen. Aber dann, als er in die Küche schaut, wo die Deckenlampe den Wänden, die Hope vor Jahren narzissengelb gestrichen hat, einen sahnigen Schimmer verleiht, sieht er sie durch die offene Fliegengittertür in ihrem Rollstuhl auf der hinteren Veranda sitzen. Ihr Gesicht kann er nicht sehen - sie hat ihm den Rücken zugewandt -, doch er nimmt an, dass sie auf den Vollmond blickt, der jetzt dort über den Feldern leuchtet. »Hallo, Llwellyn«, sagt sie über ihre Schulter hinweg, ihren Kopf nur so leicht drehend, dass sonst keine Muskelanspannung nötig ist. In letzter Zeit fällt Llwellyn auf, dass seine Frau mit ihren Bewegungen sehr sparsam geworden ist, vielleicht im Streben nach größtmöglicher Effizienz. Es könnte auch sein, dass sie all ihre Energiereserven auf eine einzige Geste konzentrieren muss, um sie zu bewerkstelligen. Oder sie ist einfach müde oder in Gedanken verloren. Oder sie hat einen schlechten Tag, und der Rest ihres Körpers ist nicht mehr imstande, sich an der Bewegung zu beteiligen. Wenn es um Hopes physische Fähigkeiten und die grausame, launische Natur ihrer Krankheit geht, sind zahlreiche Interpretationen möglich. Er beugt sich hinunter, küsst sie auf den Kopf und bemerkt den Martinikrug und das geeiste Glas auf dem Tisch neben ihr. Sie bemerkt, dass er es bemerkt hat, lächelt zu ihm auf und sagt: »Irgendwo ist immer Happy Hour.« »Wie war dein Tag?«, fragt er und schenkt sich einen Martini ein. »Es war ein guter Tag. Und deiner? Konntest du den Jungen retten?« »Ja«, erwidert Llwellyn knapp. »Er wird wieder.« »Das freut mich«, sagt sie ohne jede Bitterkeit. Llwellyn hat viele Gründe, verschlossen zu sein, wenn er über seine Patienten redet, nicht nur den, dass er sich streng an das 603
Arztgeheimnis hält. Er ist es auch, weil jedes Mal, wenn er von einem Erfolg berichtet, einer abgewendeten Katastrophe, einem geretteten Leben, die unausgesprochene Wahrheit ihren hässlichen Kopf hebt und höhnt: Deine Frau kannst du aber nicht retten. Sie schauen auf den Mond, die hell angestrahlten Ähren in der Ferne, den Sandkasten der Kinder, die Wäsche auf der Leine, die niedriger gespannt ist, damit Hope sie erreichen kann. Die unteren Ränder der Laken kräuseln sich stellenweise nicht ungehindert, sondern werden durch den leichten Kontakt mit der Erde abgebremst. Llwellyn klammert sich an dieses tröstliche Schweigen. Solange sie still sind, kann ihre Welt bleiben, wie sie ist. »Erinnerst du dich an das Picknick, das wir hier gemacht haben?«, fragt sie. »Als du mich zum ersten Mal nach Emlyn Springs mitgenommen hast?« Der Ton ihrer Stimme beruhigt ihn. Er ist leicht, beiläufig. Sie sind einfach ein Ehepaar, das sich auf der hinteren Veranda seines Hauses an Cocktails und Konversation erfreut, während oben die Kinder schlafen. »Gott, waren wir jung.« »Ich wollte, dass du mich verführst.« Sie klingt glücklich. »Aber du warst so anständig. Eine Säule der Rechtschaffenheit.« »Es war nicht so einfach, wie du glaubst«, sagt er, »die Hände von dir zu lassen.« Sie verstummen wieder. Eine leichte Brise bewegt die Flügel von Bonnies Windkreisel. »Oh!«, sagt Hope und hebt eine Hand - Llwellyn sieht sofort, dass sie schlaff ist und zittert -, um in die Tasche ihrer Strickjacke zu greifen. »Die Abzüge sind gekommen.« Sie fummelt eine Weile herum. »Verdammt«, murmelt sie. »Hier, Hope, lass mich …« »Das schaffe ich schon!«, blafft sie und probiert es erneut. Es gelingt ihr, die Hand in die Tasche zu stecken, aber dann kann sie das Päckchen Fotos entweder nicht umfassen oder sie bekommt 604
die Hand nicht mehr heraus. Sie schließt die Augen und seufzt. »Entschuldige. Mach du es.« Die Fotos sind von vorgestern, vom Ende der Eier-Feiertage, als ihre älteste Tochter zur Little Miss Emlyn Springs gekrönt wurde. »Ist sie nicht wunderschön?«, fragt Hope. »Sie hat sich an alles erinnert, als sie das Gedicht rezitiert hat, an jede Nuance, jede Einzelheit. An alles, worüber wir gesprochen haben.« Llwellyn betrachtet jede einzelne Aufnahme: Larken mitten auf der Bühne beim Talentwettbewerb - und sie war ohne Zweifel das talentierteste Mädchen -, Larken neben Don Parry, der ihr das Mikrofon hinhält, während sie ihre Antwort auf die Frage »Wie, glaubst du, unterscheidet sich das Leben in einem kleinen Ort von dem in einer Großstadt?« vorträgt, Larken auf dem Laufsteg in dem Kleid, das Hope und Viney genäht haben - Lila steht ihr wirklich gut -, in dem Moment, als die Siegerin genannt wird (er war sehr stolz auf sie, kein Gekreische und Gehüpfe und Geheule, das man manchmal bei derartigen Anlässen erlebt; ihr Gesicht nahm einfach nur diesen wunderbar überraschten und seeligen Ausdruck an), dann die Krönung und die Übergabe des Stuhls. »Dieses Jahr hat Doc Williams sich wirklich selbst übertroffen«, bemerkt Llwellyn. »Was für ein Künstler. Diese Vögel. Als ob er schon vorher wusste, dass sie gewinnen wird.« »Hmmm«, murmelt Hope. »Die sind gut geworden«, fährt Llwellyn fort. »Wir müssen ein spezielles Album für sie machen.« Er schaut sich noch ein paar Fotos an: Larken, die auf ihrem Stuhl durch den Saal getragen wird, Larken mit ihren besten Freundinnen Stephanie und Peggy, mit dem Bürgermeister und Don Parry, mit ihren Geschwistern. Als er zu einem Gruppenbild kommt, deutet Hope langsam darauf. »Das da«, sagt sie. »Guck es dir an.« Es ist die Aufnahme, die Llwellyn Bud Humphries von ihnen allen - Larken, Gaelan, Bonnie, Viney, ihm selbst und Hope - hat
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machen lassen. Hope sitzt in der Mitte in ihrem Rollstuhl mit Bonnie auf dem Schoß, die anderen flankieren sie. »Das ist ein hübsches Foto von uns«, sagt er und legt es zwischen sie beide auf den Tisch. »Wir sollten es rahmen.« »Nein«, entgegnet sie scharf. »Sieh mich an. Sieh dir mein Gesicht an.« »Was ist damit?«, fragt er. »Du siehst gut aus.« Seine Stimme klingt sogar für ihn selbst nicht überzeugend. Sie starrt ihn schweigend an. »Hope …« »Hast du mir was mitgebracht? Hast du getan, worum ich dich gebeten habe?« Jetzt ist ihre Stimme unbarmherzig, fordernd, obwohl sie ihre Forderungen als Fragen formuliert hat. »Ich finde, du schuldest mir etwas. Ich glaube, ich habe dafür bezahlt.« Er beschäftigt sich mit den Fotos, stapelt sie zu einem ordentlichen Stoß, schiebt sie wieder in den Umschlag und legt sie dann mitten auf den Tisch. Dabei ist er sich die ganze Zeit ihres Blicks bewusst. »Wir müssen das noch genauer besprechen …« »Nein. Ich habe alles gesagt, was ich sagen will. Du schuldest es mir, Llwellyn.« Sie hält inne, schaut beiseite und presst ihre Zähne zusammen. »Es ist meine Entscheidung. Viney versteht mich.« »Viney sollte nichts damit zu tun haben.« Sie wendet sich ihm zu. »Viney hat sehr viel damit zu tun. Glaubst du, ich würde diesen Schritt erwägen, wenn sie nicht Teil unseres Lebens wäre? Ich liebe sie. Die Kinder lieben sie. Du liebst sie.« Es fällt ihm schwer zu sprechen, sich zu bewegen, als zöge ihm ihre Willenskraft die Isolierschicht von seinen eigenen Nervenzellen. »Ich kann nicht.« »Ich kann«, sagt sie mit ihrer steinernen Stimme. »Hast du sie mitgebracht?« »Ja.« 606
»Also dann.« Sie streckt ihre schlaffe Hand aus. Schwach, wie sie ist, greift sie doch nach der kleinen Papiertüte, die er aus seiner Jackentasche zieht, und schnappt sie ihm gierig, triumphierend weg. Dann legt sie beide Hände um die Tüte, schüttelt sie und lächelt glücklich - als wäre sie eine Spielerin, die gleich eine doppelte Sieben werfen wird. »Lass mal sehen …«, sagt sie mit gespieltem Entzücken, holt die kleinen zylindrischen Gefäße heraus und lässt sie in ihren Schoß fallen. »Oooh, es hat so viele Vorteile, mit einem Arzt verheiratet zu sein …« Er verspürt den plötzlichen Drang, sie zu ohrfeigen. Stattdessen starrt er den Mond an, dessen schattige Krater er jetzt bemerkt (er ist schmuddelig geworden wie zusammengeschaufelter Schnee am Ende des Winters), und trinkt seinen Martini. Sie schaut auf die Etiketten. »Diese Arzneimittelfirmen mit ihren Geschenken! Wissen sie nicht, wie dumm es ist, all diese Kontraindikationen und Warnungen zu veröffentlichen? Das sind ja geradezu Anleitungen, wie man sich umbringen kann, indem man das tut, was man nicht tun soll.« Sie wendet sich ihm zu, ihre Miene ist jetzt ernst. »Vielen Dank.« Eine Weile sitzen sie schweigend da, bis er merkt, dass er angefangen hat zu weinen. »Ich sage dir nicht, wann«, erklärt sie leise und in sanftem, freundlichem Ton. »Heute Nacht jedenfalls nicht. Vielleicht erst in Jahren. Ich selbst wähle den Tag. Und wenn ich es tue, brauchst du keine Angst zu haben … ich werde dafür sorgen, dass …« Ihre Stimme beginnt zu zittern. »Ich sorge dafür, dass die Kinder …« Er ergreift ihre Hand. »Nein, nicht!« Sie stößt die Worte aus, als wären sie Waffen, dabei weint sie jetzt auch. »Ich werde nicht die böse Königin im Märchen meiner eigenen Tochter sein. Sieh dir das an«, insistiert sie, nimmt das Foto vom Tisch und zerknüllt es. »Schau genau 607
hin, Llwellyn!« Sie hält es ihm entgegen, und er sieht Hope, wie sie sich selbst sieht, zusammengesunken und grimassierend, verbittert am Tag von Larkens Triumph. Er schnappt sich das Foto, nimmt die Tablettenfläschchen aus ihrem Schoß und stellt sie auf den Tisch, küsst Hope auf die Schläfen, auf die Lider, auf die Wangen, auf die Lippen, knöpft ihre Strickjacke auf, ihre Bluse, hebt ihre Beine, ihren Körper aus dem Stuhl, dann trägt er sie - als hätten sie, jung und verliebt, an einem schönen, die Erde wärmenden Frühlingstag mit klarem Himmel gerade gepicknickt - auf die Wiese und zieht dabei im Gehen eins ihrer Bettlaken von der Wäscheleine. Am nächsten Vormittag ist Hope allein im Haus. Sie sitzt in ihrem Rollstuhl am Schreibtisch, umgeben von der besonderen Stille, die auf den Abschied von ihren Kindern folgt. Sie weiß nicht genau, warum sie sich genötigt fühlt, noch einen Eintrag in ihrem Tagebuch vorzunehmen, obwohl sie es doch zusammen mit den anderen bald verbrennen wird. Aus Gewohnheit vielleicht. Sie führt seit Jahren diese Art von Selbstgespräch. Es wird ein kurzer Eintrag werden: Sie muss Energie sparen für den wichtigen Brief, den sie noch zu schreiben hat: Im Bauernkalender steht, nach dem Bartholomäustag würden Gewitter heftiger. Wer wohl solche Beobachtungen macht? Es ist ein schöner Tag, nur im Südwesten sieht man ein paar Wolken. Viney und L. sind die ganze Woche über auf Tour und impfen die Menschen im Umkreis von hundert Meilen gegen verschiedene Viren. Es kommt selten vor, dass Llwellyns Arbeitstage so fest geplant ablaufen wie jetzt. Ich habe Viney gleich in der Früh angerufen, als Llwellyn unter der Dusche war, und vorgeschlagen, dass wir alle heute Abend zusammen im Club essen gehen. Viney begrüßte die Idee, was ich vermutet hatte. Sie bot an, die Kinder nach der Schule zu sich kommen zu lassen - ihre Tochter Haley wird auf sie aufpassen -, und wenn sie und Llwellyn mit der Arbeit fertig sind, holen sie 608
erst mich ab und dann mit mir die Kinder, und wir fahren gemeinsam in den Country Club. Das wäre also erledigt. Es wird schon klappen. Über Llwellyn mache ich mir allerdings Sorgen, obwohl Viney so schwungvoll und vital ist. Sie erdet ihn und lockert ihn zugleich auf, wie ich es nie konnte. Vielleicht doch, früher - ich entsinne mich, dass ich vor langer Zeit dachte, wir gleichen einander aus. Aber inzwischen ist die Waagschale, in der ich sitze, viel zu schwer. Kein Mensch auf dieser Welt könnte mich heben. Und trotzdem fühle ich mich in diesem Moment seltsam leicht, sogar glücklich. Ich habe Ähnliches von anderen gehört. Die Last des langen Kampfes mit dieser Entscheidung ist endlich von mir gefallen. Jetzt klappt sie ihr Tagebuch zu und holt Briefpapier hervor. In der ersten Stunde nach dem Weggang der Kinder, wenn das Haus still ist, aber ihre Energie noch nachhallt, fällt es ihr leicht, mit ihnen zu sprechen, obwohl sie sich davor gefürchtet hat, es in diesem Kontext zu tun. Sie greift nach ihrem Stift. Vor Wochen hat sie bereits Briefe an Llwellyn und Viney geschrieben, jedoch auf der Maschine. Sie möchte, dass ihre letzten Worte an ihre Kinder den Anstrengungen ihres Körpers zu verdanken sind - wie sie selbst auch. Meine Lieben, schreibt sie, langsam, methodisch, sehr bemüht um Leserlichkeit. Ihre Schrift ist schon mutiert, schlechter geworden. Es gibt so viele Möglichkeiten, einen Brief wie diesen zu beginnen. »Wenn ihr das hier lest, bedeutet es …« ist eine davon, »Bitte macht euch keine Vorwürfe« eine andere. Wenn ich in meinem Leben etwas gelernt habe, dann, dass es sehr wenig gibt, was wir beeinflussen können. Leidenschaften entstehen überraschend. Die Liebe springt uns an wie der schwarze Mann, wenn wir um eine Ecke biegen oder den Schrank aufmachen. Immer wieder versuchen wir, uns unser Leben pas609
send zu machen, die Ereignisse in unserem Leben in eine bestimmte Richtung zu lenken, Grenzen zu errichten, uns voneinander abzuschotten, die Liebe aufzuhalten - die niemals aufgehalten werden sollte -, und das, meine Lieben, ist einfach nicht möglich. Das Einzige, dessen ich mir sicher bin, ist dies: Eines Tages wird euch irgendetwas das Herz zerreißen, etwas, das euch an mich erinnert. Vielleicht geschieht das oft. Hoffentlich nicht, aber ich weiß es nicht, und ich kann nichts versprechen. Ich weiß nicht, wer ihr in Zukunft sein werdet und wie sich meine Abwesenheit auf euer Leben auswirken wird. Doch dieses Herzzerreißende, was es auch sein mag - etwas, das ihr seht oder hört oder riecht oder anfasst, oder auch etwas weiter Entferntes, das ihr gar nicht benennen könnt, an den Rändern eures Bewusstseins, vielleicht ein halb erinnerter Traum -, es hat zwei Seiten. Stellt es euch als eine Münze vor. So betrachtet, hat das Herzeleid ein Gegenstück. Dreht es um, und ihr werdet merken, dass alles, was euch sagt, dass ich verschwunden bin, euch ebenso überzeugend sagt, dass ich da bin. Meine Lieblinge. Larken Myfanwy. Gaelan Llwellyn. Bonnie Ebrilla. Dreht die Münze um. Wenn ich nicht mehr da bin, sucht mich auf der anderen Seite des Herzeleids. Dann erkennt und wisst ihr, dass ihr meine Allerliebsten seid und dass ich bei euch bin, auf ewig. Sie holt die Tabletten aus der abgeschlossenen Schreibtischschublade. Sie hat ihm gesagt, sie würde den Tag wählen, ohne ihm davon zu erzählen. Sie hat ihm nicht gesagt, dass er eher früher als später kommen würde. Aber vielleicht wusste er das sowieso und hat ihr deshalb das Geschenk von letzter Nacht gemacht - ihrer letzten gemeinsamen Nacht -, an jenem traurigen und geheiligten Ort, wo die Geister all ihrer Verluste und Freuden wohnen. 610
Ein Fleisch sein mit dem Mann und dem Land, das ihn hervorbrachte. Davon hat sie geträumt, das hat sie bekommen. Nicht jeder ist mit so viel Reichtum gesegnet. Mitten am Vormittag, in der Englischstunde für Erstklässler bei Miss Green, fühlt Bonnie Jones sich plötzlich krank. Sie hebt die Hand und wird zur Schulschwester geschickt, die leichtes Fieber feststellt. Die Mutter einer Klassenkameradin, die ehrenamtlich in der Schule arbeitet, erbietet sich, Bonnie heimzufahren. Alle wissen, dass Hope Jones, die Ärmste, ans Haus gefesselt ist, daher erübrigt es sich, vorher anzurufen, um sich zu vergewissern, ob jemand da ist. Als Mrs. McClure Bonnie absetzt, beginnen von Südwesten her ein paar Wolken heraufzuziehen. »Soll ich dich reinbringen, Schätzchen?«, fragt Mrs. McClure. »Nein, danke. Es geht schon«, sagt Bonnie. So ein ernsthaftes kleines Ding. »Na schön. Grüß deine Mom von mir, okay? Ich wünsche dir gute Besserung.« Ein plötzlicher Wind kommt auf, und Bonnie geht die Einfahrt entlang auf Mommys Rollstuhlrampe zu, als sie bemerkt, dass aus dem Schornstein Rauchfähnchen aufsteigen. Das ist komisch. Es ist noch Sommer, viel zu warm für ein Feuer im Kamin. »Mom! Mommy!«, ruft sie, sowie sie drinnen ist. »Ich bin zu Hause! Ich hatte ein bisschen Fieber …« Bonnie findet ihre Mutter auf dem Sofa, das Daddy aus dem Sears-Katalog geordert und in eine Ecke ihrer großen Küche gestellt hat, damit sie sich, wenn sie müde ist, dort hinlegen und auf die Wiesen schauen kann. Mommy sagt, sie ist gern hier, weil sie die Aussicht liebt, aber Bonnie hat den Verdacht, dass ihre Mutter in Wahrheit versucht, einen Blick auf die Farmerelfen zu erhaschen.
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Sie schläft tief und fest. Es ist nicht ungewöhnlich, Mommy bei einem Nickerchen vorzufinden, also bewegt Bonnie sich auf Zehenspitzen durch die Küche und füllt einen Teller mit Salzgebäck. Das wird ihre Übelkeit lindern. Wenn ihre Mutter aufwacht, wird sie sie fragen, ob sie sich eine Suppe machen kann. Jetzt geht sie erst einmal ins Wohnzimmer und legt sich da aufs Sofa. Den Rauch aus dem Schornstein hat sie ganz vergessen, aber jetzt sieht sie sofort das glimmende Feuer im Kamin. Noch merkwürdiger ist, dass sich etwas darin befindet. Mommys Tagebücher. Alle. Ihre Seiten sind bereits geschwärzt, Mommys Worte dabei zu verschwinden. Bonnie greift sich eine der Kaminzangen und beginnt, die Tagebücher von den glühenden Kohlen wegzuziehen. Wer macht denn so etwas? Mit einem nie gekannten Gefühl der Angst kehrt Bonnie in die Küche zurück und versucht, Mommy zu wecken, um sie zu fragen, warum im Kamin Feuer brennt, obwohl noch Sommer ist, und was die versengten Tagebücher bedeuten. Und als es ihr nicht gelingt, sie zu wecken - nicht einmal, als sie laut ruft, nicht einmal, als sie Mommy so heftig schüttelt, wie sie kann -, weiß sie, dass etwas Schlimmes passiert ist. Doch Bonnie gerät nicht in Panik. Sie weiß, was zu tun ist. Und obwohl das, was von Hopes Geist noch wach ist, mit zunehmender Verzweiflung Nein schreit (denn die Vögel verstummen, und die Luft ändert ihre Farbe), geht Bonnie Ebrilla Jones nach draußen, steigt auf ihr Fahrrad und macht sich auf den Weg zurück in die Stadt. Hope stirbt. Aber ihr Körper enthält einen Rest von Fötusgewebe, eine physische Verbindung zu diesem lebenden Kind, ihrer Tochter, und der Gefahr, die sich mit Riesenschritten nähert. NEIN! NEIN! Die Gefahr bricht herein mit dem Geräusch eines Güterzugs, doch der Vergleich hinkt, denn der Lärm, den ein Güterzug macht, verläuft in eine Richtung, ist begrenzt und äußerlich, während dieser Lärm wirkt, als sei er physikalisch unmöglich, wie 612
eine Attacke von allen Seiten, als befände man sich im Innern des riesigen Organs eines gigantischen tobenden wilden Tiers. Hope fühlt sich wie von ungeheuer großen und starken Armen in die Höhe gezogen. Sie weiß, dass Bonnie dasselbe Gefühl durchlebt - wie verängstigt sie sein muss! -, und versucht, sie zu rufen durch das zarte Bindeglied aus fetalem Fleisch und Zellen und Geisteskraft, dünn wie Seidenpapier, aber doch substanziell, ein Faden, der sie miteinander verknüpft, auch als sie hochgewirbelt werden samt Sofakissen und Bonnies Windkreisel, Larkens Stuhl, Gaelans Experimentierzubehör, den Hühnern, arme Dinger, aus dem Hühnerhaus gerissen, gerupft und zurückgeschleudert, während Hope und Bonnie immer höher aufsteigen. Eine längst tote Mutter aus Emlyn Springs kommt, um Hope in den Tod zu geleiten, aber Hope ist nicht bereit. Nein!, schreit sie, wehrt sie mit zappelnden Armen und beharrlichen Rufen ab, Nein! Noch nicht! NOCH NICHT! Wo werden sie landen? Hat Hope die Macht, es zu steuern? Sie versucht, Bonnie zu packen, schafft es jedoch nicht, denn der elementare Sog der sie umfangenden Winde ist zu stark, aber nicht - niemals - stark genug, um sie zu unterwerfen. Dies ist ihre letzte Tat. Nicht die Einnahme von Tabletten und Wein, das Schreiben von Briefen, die Lektüre des Gedichts, das sie mitnahm, als sie sich auf dem Sofa mit Blick auf die Hintertür niederließ, damit sie ein letztes Mal das Land sehen konnte und imaginäre Elfen und Kinder im Sandkasten und Kinder in der Erde und Wäsche wie Gebetsfahnen, die Heiligkeit des Alltäglichen, das sie umgab. Sie konnte zwar nicht ihre Pantoffeln anziehen und draußen auf den Tod zuschreiten, aber sie konnte wählen, was sie als Letztes sehen würde. Das war ihr Plan, und wenn ihr noch Atem blieb zu lachen, würde sie es tun, weil sie wusste, dass sie Gott zum Lachen gebracht hatte. Also nein, ihre letzte Tat wird folgende sein: dieses Mädchen, dieses Kind von ihrem Fleisch, zu retten, wenn sie kann.
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Schafft sie es, das Flügelpaar an Bonnies Schultern zu befestigen? Erbsenblüte! Spinnwebe! Motte! Senfsame!, hört Hope eine Stimme intonieren. Aber die Flügel schweben weiter, und die Frage bleibt hypothetisch. Ab und zu öffnet sich das untere Ende des Trichters und gibt Blicke auf die Landschaft frei, wo einiges schon wieder heruntergefallen ist: die Eier, perfekt aufgereiht wie Perlen, weiß und braun und blau und gesprenkelt und völlig intakt, eine Anekdote für künftige Bücher über die unerklärlichen Mysterien der Auswirkungen von Tornados; das Klavier, durch die Luft wirbelnd, solange es kann, eine elefantöse Ballerina, die Pirouetten dreht, bis sie schließlich auf einem Meilen entfernten Feld abgeworfen wird; ein roter Karren; ein angeknabberter Bleistift. Hope nimmt allmählich die Sichtweise der Toten an, und sie kann weit genug in das, was die Lebenden Zukunft nennen, blicken, um zu erkennen, dass ein Fotograf eine Aufnahme von ihrem kaputten Klavier machen wird, das einen Artikel in der National Geographic illustrieren wird, der Zeitschrift, die Gaelan so gern hat. Nebraska: Das gute Leben wird der Artikel heißen, ohne zu erwähnen, wem das Klavier gehörte. Bis dahin wird es nur noch emblematisch sein, ein Symbol dafür, was dieses gute Leben sowohl geben als auch nehmen kann. Sie hält in dem Schlund nach anderen Menschen Ausschau, doch da sind nur sie, sie und Bonnie, die sich drehen wie auf einem Karussell, immer auf entgegengesetzten Seiten. Eine Willensanstrengung erlaubt Hope, sich etwas zu schnappen, das sich mit noch größerer Geschwindigkeit bewegt (Larkens lila Kleid, das sie und Viney genäht haben); sie springt auf diesen Zug auf und kommt näher, packt dann andere schnell fliegende Objekte, als wären sie Leitersprossen, und lässt sie näher und näher herankommen. Bonnie! Bonnie! Bonnie!, ruft Hope ihrer Tochter zu.
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Es heißt, dass die Stimme einer Mutter ein schlafendes Kind zuverlässiger weckt als jeder Feueralarm, und so bleibt Bonnie wach, öffnet sogar die Augen oder bildet es sich zumindest ein... Baby, sagt Hope, bleib wach. Nicht einnicken … … und sieht wirbelnde Bänder und Stofffetzen und Feenflügel, die ihre Mutter umflattern, und sie reden miteinander, geben sich Versprechen, und sie löst sich wieder auf, doch dann saust das Telefon vorbei, und Mommys Stimme sagt: Bonnie! Und Bonnie bleibt bei ihrer Mutter und spürt, wie sich langsam alles um sie auflöst, und dann umschwirren sie schwarze Scheiben, die aussehen wie Paul Bunyans Knöpfe, Mommys Schallplatten, Rachmaninow und Copland und Doris Day … QUE SERA SERA!, singt Mommy laut, lauter als Doris Day. WHATEVER WILL BE, WILL BE! … und Schuhe und eine Haarbürste und zwei Würfel und Mommys Nähmaschine, Rollstuhl, Schreibmaschine, ihr eigenes Fahrrad … Das ist es!, ruft Hope und schnappt es sich, vollkommen erledigt wie die armen Hühner, aber voller Schwung aufgrund jener zellularen Verbindung zu Bonnie, dieses Fadens der Lebenskraft. HALT DICH FEST! HALT DICH FEST!, schreit sie, und als Bonnie in dem Baum landet, ist es nicht nur der Fahrradsitz, der sie davor bewahrt, in zwei Hälften zertrennt zu werden; es ist jenes zähe, dünne Häutchen, Hopes letztes Geschenk an sie, das schützende Kissen einer Mutter, eine Nabelschnur der Seele. Hopes Körper, nutzlos jetzt, stößt ein Loch in den Strudel, entwischt, fliegt weiter. Die toten Väter - stets in Bereitschaft für Situationen wie diese, effizient und emsig wie eine Bürgerwehr - unterbrechen ihre Tätigkeit und sammeln sich, um Hope aufzufangen und ihren Sturz zu mildern, als sie schließlich zur Erde zurückkehrt. Nur die toten Väter wissen, wo sie landet.
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Oben im Baum verweilt Hopes Geist und wartet mit Bonnie, bis der Sturm nachlässt, bis ihre Abwesenheit bemerkt wird, bis alle nach ihr suchen. Und am Abend, als sie Mr. Armin Koester mit seinem Krückstock die Bridge Street entlangschlurfen sieht, den Einzigen, der sich hier blicken lässt, die gute alte Seele, ein einsamer Witwer, humpelnd und mit kataraktgetrübten Augen, der sich in dieser Krise so nutzlos fühlt, ruft sie ihn mit den Stimmen der Vögel. Mr. Koester schaut auf - sogar ein alter Mann, der fast blind ist, sieht einen umgedrehten Baum. »Allmächtiger!«, ruft er. »Da ist sie ja!« Und weil er weiß, dass Gesang vonnöten ist, wenn er gehört werden will, fängt er an zu singen. Da kommen sie, all ihre Nachbarn, angelockt von seinem Lied, und schwärmen auf den Baum zu und auf Bonnie, die verletzt ist, aber nicht tot, Gott sei Dank. Sie sammeln sich und singen Bonnie ins Leben zurück. Llwellyn und Viney, die Ärmsten! (Oh, macht euch keine Vorwürfe, hätte Hope gern gerufen, während die Briefe, die sie ihnen geschrieben hat, herunterregnen, breiige Fetzen, die sich über Bäche und Abflussgräben und Felder streuen und sich mit den zerrissenen Seiten ihrer Tagebücher vermischen.) Sie werden nie erfahren, dass Hope ihnen alles verziehen hat, dass sie dankbar ist. Die Worte, um die sie so gerungen hat, werden weder die beiden noch die Kinder je erreichen, doch sie kann noch ein Weilchen bei ihnen und bei Bonnie bleiben und den Stimmen der guten Menschen von Emlyn Springs lauschen und beobachten, wie Bethan Ellis auf ihrer weißen Stute davonreitet, um Hilfe zu holen, und am Rande der Menge einen ihr unbekannten Jungen bemerken, der Morgan heißt. Er wird ihr Klavier finden, und wenn er erwachsen ist, wird er Bonnie das geben, was sie sich mehr wünscht als alles andere. Alles wird gut. Das erkennt sie jetzt, weil sie tot ist. Die Toten sehen alles, weil alles da ist.
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Der starke junge Feuerwehrmann - auch er ist inzwischen tot holt Bonnie sehr behutsam vom Baum und legt sie Llwellyn in die Arme. Hopes Arbeit ist getan. Sie rufen noch wochenlang nach ihr, suchen und suchen, bis sie schließlich damit aufhören. Wäre es ein Trost für sie, wenn sie wüssten, dass ihr Körper ganz mühelos in eine schmale Erdspalte gerutscht ist - wie ein Penny in eine Spardose - und von da aus in eine unterirdische Höhle, in den Boden gemeißelt von uralten Quellen, die immer noch tröpfeln? Sie werden sie nie finden, obwohl sie ganz nahe ist. Es ist der perfekte Platz für sie. Sie will nichts mehr von ihnen, nur dass sie sich fortbewegen, anders hinsehen, sie anderswo aufspüren. Wenn sie nur wüssten - denn das könnte tröstlich sein -, dass sie am selben Tag, an dem sie das Fliegende Mädchen ins Leben zurücksangen, damit zugleich Aneira Hope Jones in den Tod geleiteten.
30 Nachwehen Die Hälfte des Ortes, die beschädigt wurde (der Tornado hat sich seinen Weg mit geradezu unheimlicher Präzision gebahnt, sauber wie der Schnitt eines Skalpells), ist dunkel an den falschen Stellen, nicht von kleinen Verandalampen oder Glühwürmchen erleuchtet, wie sie es sein sollte, sondern von Blitzen, die, auch wenn sie sich auf dem Rückzug befinden, immer wieder höhnisch aufflackern, von den flammend roten Lichtern der Krankenwagen und Polizeiwagen und Feuerwehren, die nach und nach eintreffen. Das hier ist nicht ihre Stadt.
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Handys werden hervorgeholt, Anrufe gemacht, manche vergeblich. Wer fehlt, wer ist da? Wer ist verletzt? Von der Freimaurerloge brechen sie auf, die Glücklichen, Geschützten: Gaelan, Larken, Bethan, Blind Tom und Sergei, der Bürgermeister, Musiker und Caterer, die frisch gekrönte Little Miss Emlyn Springs und ihre Vorgängerin, die Jungen in ihren geliehenen Smokings, die Mädchen in ihren Abendkleidern, die unbequeme Schuhe von sich schleudern, falls sie welche tragen, die barfuß gehen, wenn es sein muss. Einige haben Taschenlampen, ohne sich zu erinnern, wer sie ihnen in die Hand gedrückt hat, aber notfalls gehen sie auch im Dunkeln, weil sie den Weg kennen, ihn mit geschlossenen Augen finden könnten, und es wäre vielleicht das Beste, die Augen zu schließen, denn die müssten ja lügen: Das hier darf einfach nicht wahr sein. Man kann doch nicht von Musik und Essen und Gelächter direkt in eine solche Szenerie geraten! Sie wünschten, sie könnten gleichzeitig überallhin laufen, und versuchen, sich damit zufriedenzugeben, dass sie nur diesen einen langsamen, unbeholfenen Körper haben, der sich nur in eine Richtung bewegen kann, und so heißt es Du und Morgan, ihr sucht Bonnie, ich laufe zu Viney. Überall werden Namen gerufen. Eli! Esmé! Bonnie! Viney! Sie klettern über Trümmer, Schutt - wo ist die Straße? -, zwischen Häusern, denen die Dächer fehlen oder die nur noch teilweise stehen. Die bösartige Mutwilligkeit des Tornados ist daran zu erkennen, dass manche Gebäude völlig zerstört sind, während andere, die Türen weit aufgerissen wie Münder vor Staunen darüber, womit sie dieses Glück verdient haben, die Titelseiten von Zeitschriften schmücken könnten. Warum stehen sie noch, während gegenüber, wo vor Minuten auch eine Tür war, und das seit hundert Jahren, jetzt nichts als gähnende Leere ist? Dass es so dunkel ist, macht die Suche nicht leichter. Gaelan rennt zu Vineys Haus. 618
Oh Gott, nein!, denkt er. Er sieht einen Berg von Trümmern, doch eine Treppe steht noch, die zu den Resten des Obergeschosses führt. Da Gaelan den Grundriss von Vineys Haus so gut kennt, als wäre es sein eigenes, weiß er ungefähr, wo die Stufen sein müssen, die in den Keller führen. »Hier!«, ruft er jedem zu, der ihn hören und helfen kann. »Grabt hier!« Mit denen, die sich um ihn sammeln, räumt Gaelan Balken, Ziegel, ein Waschbecken, eine Tür aus dem Weg. Er hievt eine Küchenspüle beiseite, Möbel, die er noch nie gesehen hat, das, was von Vineys Spinett übrig ist, und dann sind sie da, am Fuß der Kellertreppe. »Gaelan, Schatz!«, ruft Viney. Eine völlig verschreckte Esmé, das Gesicht von Schmutz und Tränen verschmiert, ist in die Arme ihres Vaters geschmiegt. »Dad!«, schreit sie und zerrt an ihm. »Dad! Wach auf!« Tage später werden Zeitungen im ganzen Staat ein Foto von Mrs. Alvina Closs zeigen, wie sie, einen Schuhkarton in der Hand, diese Treppe heraufkommt; dieses Foto wird neben dem 1978 am anderen Ende der Stadt gemachten erscheinen, auf dem das Haus von Dr. Llwellyn Jones ebenso aussah. »Wo kann sie hingefahren sein?«, fragt Larken. »Wo sollen wir suchen?« »Ich weiß nicht«, erwidert Blind Tom und fügt dann hinzu, was bisher niemand zu äußern gewagt hat: »Sie war mit dem Rad unterwegs, Larken. Mit dem Fahrrad.« Sie trennen sich. Blind Tom geht mit Sergei zu dem Gebäude, das er und Bonnie sich teilen, Larken läuft zu den Williams’, wo sie eine Gruppe vorfindet, zu der auch Bud Humphries und seine Schwester Vonda gehören. Das Dach von Doc Williams’ Remise ist hochgehoben und etwa zwanzig Meter weiter mitten im Garten abgesetzt worden, als wäre es der Deckel eines Geschenkkartons. Auf dem First thronen nach wie vor Bonnies Windkreisel, weitgehend unbeschädigt. 619
Der Schuppen selbst ist völlig zerstört, die Straße übersät mit den Babyschuhen und Schnullern, die Bonnie an der Decke hängen hatte. Ihre Alben sind verschwunden. Nur die Avocadopflanzen sind noch da, drei davon in großen Töpfen - hoch aufgeschossen, wenngleich die Blätter abgerissen sind. Hazel und Wauneeta erscheinen in Flanellnachthemden und Bademänteln in der Tür. Wauneeta weint, sie ist völlig aufgelöst; mehrere Fenster sind zu Bruch gegangen, und eine der alten Ulmen ist auf das Türmchen gestürzt. Larken rennt weiter. Überall stößt sie mit Menschen zusammen, die sie noch nie gesehen hat, bleibt lange genug stehen, um ein paar Worte zu wechseln, Informationen auszutauschen, ihnen den Weg zu zeigen, sie zu führen, ihnen zu folgen. »Habt ihr Bonnie gesehen?«, ruft sie Leuten zu, die ihre Schwester kennen, »Ist Ihnen eine Schwangere begegnet?« den anderen. Keiner von all den Suchenden zeigt bisher irgendwelche Emotionen. Dazu ist keine Zeit. Gaelan lässt Viney und Esmé und Jon in der Obhut der Sanitäter und läuft zum Park. Er hört Bethan, noch ehe er sie sieht, hektisch seinen Namen rufend. »Ich finde ihn nicht«, weint sie. »Mein Gott, Gae, oh Gott.« Es sind andere da, die schon begonnen haben, den Schutt wegzuräumen. Die Tribünen sind platt gedrückt wie Pappkartons und liegen übereinander. Das Wellblechdach des Emlyn Springs Boosters Club ist teilweise abgerissen und an den Rändern verbogen. »Eli!«, fällt Gaelan in Bethans Rufe ein. »Eli! Eli!« Unter einem der zusammengebrochenen Picknickunterstände dringt ein Stöhnen hervor. Gaelan schiebt zerfetzte Metallplatten und Bretter beiseite. Als sie Eli entdecken, hat er sein Notizbuch an die Brust gepresst. Seine Brille ist kaputt, eins seiner Beine weist eine schlimme Schnittwunde auf. »Ich kann sowieso nicht gut tanzen«, sagt Eli matt, und Bethan umschlingt ihn, als wollte sie seinen Körper in sich aufsaugen. 620
Gaelan hebt ihn hoch und trägt ihn in Richtung der Sanitäter. Bethan geht dicht neben ihm, spricht mit Eli, hält seine Hand. Dann steigen sie in den Rettungswagen, und Gaelan winkt ihnen nach. Er strebt zurück in die Nacht, mit leeren Armen, auf der Suche nach seinen Schwestern. Sein Arm ist geheilt. Er kann alles heben. Er wird jeden tragen, der getragen werden muss. In den folgenden Stunden wird mehr bekannt: Das Altersheim St. David ist schwer beschädigt, und zwei seiner Bewohner, Mr. Robert Norris und Miss Greta Hallock, sind tot. Eine Person, Bonnie Jones, wird noch vermisst. Mrs. Jones ist im sechsten Monat schwanger. Die Bethel Welsh Methodist Church hat ihr Dach verloren, ihren Turm, ihre Glocke; von der Schule gegenüber sind Ziegel heruntergefallen, und einige der Fenster sind zertrümmert. Bäume sind umgestürzt, sodass auch dort, wo der Tornado nicht direkt mit Gebäuden in Berührung gekommen ist, Schäden entstanden sind. Fremde strömen herbei, freiwillige Helfer aus dem ganzen Staat, das Rote Kreuz rückt mit Zelten an, die so sehr an die zurückliegenden Eier-Feiertage erinnern, dass es scheint, als wäre all dies nur ein weiterer Teil der Festlichkeiten. Der Schaden geht schätzungsweise in die … Die Zahl der durch den Sturm Obdachlosen beträgt … Der Himmel fängt an, heller zu werden, und enthüllt die seltsamsten Wunder: Wo das Haus von Bess und Owen Simpson stand, befindet sich nur noch ein Schrank, die Türen herausgerissen, das Hochzeitsgeschirr verschwunden, und doch steht mitten auf einem der Borde ein unversehrtes, einsames Sektglas, in das die Worte Harriet und Lawrence, 9. September 1951 eingraviert sind. Niemand hier im Ort kennt Harriet und Lawrence. Was bedeutet das? Wer fehlt noch? 621
Wo ist unsere Stadt? Wo ist das Fliegende Mädchen? Alle suchen nach ihr, einschließlich der Kinder. Sie sind fest entschlossen, keiner kann sie aufhalten: weder Ärzte noch Krankenschwestern, weder Polizisten noch verzweifelte Eltern. Das Fliegende Mädchen, Miss Jones, jetzt Mrs. Jones, ist für sie das Herz der Stadt. Sie hat sie durch den Schneesturm geführt. Sie gehört ihnen mehr, als sie irgendjemandem sonst gehört. Sie steigen auf ihre Fahrräder, wenn sie noch welche haben. Den anderen werden Räder zugeteilt; dafür sorgt Blind Tom, denn die jetzt auf KEEP ON TUNIN’ KEEP ON TRUIN’, GUT GESTIMMT UND GUT ZENTRIERT getaufte Piano- und Fahrradklinik hat ebenfalls überlebt, aber Bonnie ist nicht da. Sergei sitzt neben seinem Herrchen. Er weiß, warum sein Herrchen weint. Er holt eine von Bonnies Jacken aus der Fahrradwerkstatt und legt sie Blind Tom zu Füßen. »Ich wusste gar nicht, dass du ein Spürhund bist«, sagt Blind Tom und tätschelt ihm den Kopf. »Okay, Sergei, dann zeig uns, wo’s langgeht.« Larken will zur Brücke. Sie stolpert am Rande der Schlucht entlang, bis sie Bonnies Baum erreicht. Er ist noch an Ort und Stelle, während andere in seiner Umgebung entwurzelt sind. Auch hier ist Bonnie nicht. Larken durchquert die Schlucht, klettert die andere Seite hoch und geht nach Osten, weiter als sonst jemand, weiter, als eigentlich sinnvoll ist. Überall bemerkt sie Abfälle, die Art von Dingen, die Bonnie immer mit nach Hause nahm und in ihre Alben klebte: Ticketabschnitte, Visitenkarten, den abgebrochenen Bügel einer Brille. Sie fängt an, sie aufzuheben und in die Tasche zu stecken, diesen Müll, diese Überreste, denen ihre Schwester so viel Liebe, so viel Ehrerbietung entgegenbrachte. Niemand sah sie wie Bonnie als Artefakte, als allumfassende Zeugnisse menschlichen Lebens. 622
Hier ist eine Einkaufsliste, verfasst in ebenmäßiger, sauberer Handschrift: Speck, Joghurt, Eier, Rosinen, Ananas, Cashews, Avocado. Auf die Rückseite ist der Spruch Lachen ist gesund gedruckt. Larken versucht, wie es ihre Schwester sicher auch getan hätte, sich die Person vorzustellen, die diesen Zettel geschrieben hat. Sie wollte wohl einen speziellen Salat zubereiten, etwas Exotisches für ihre monatliche Bridgerunde, lauter Witwen. Wer schafft so etwas?, fragt sich Larken. Wer kann durchs Leben gehen wie ihre kleine Schwester, allem eine Bedeutung zumessen, immer aufmerksam sein? Wessen Herz ist so stark, wer hat so viel Fantasie und Zuversicht? Larken hebt weitere herrenlose Objekte auf und steckt sie ein einen Fetzen Stoff, einen gravierten Löffel, eine Münze. In dieser Gegend, die einst der Boden eines flachen Binnenmeers war, gibt es keine hohen Bäume, die den Blick verstellen, keine Wälder. Hier nach einem Menschen zu suchen heißt, auf ebenen, schlammigen Feldern zu suchen, in Erdspalten, wo gelegentlich eine der unterirdischen Quellen zutage getreten, für kurze Zeit sichtbar geworden ist und einer kleinen Baumgruppe Trost und Wasser gespendet hat. An diesen Stellen könnte ein Körper versteckt sein, und sie werden auch von manchen Leuten erkundet, die nach Bonnie Jones Ausschau halten, aber Larken sucht nicht dort. Sie folgt weiterhin der Fährte aus Abfällen, den Krumen, die der Tornado hinterlassen hat. Sie führt sie zu Babes WiesenMuffins. Wegen des plötzlich einsetzenden heftigen Regens ist der Boden weich und nass; er federt, ist überraschend elastisch. Larken hat das Gefühl, auf dem Boden eines Hauses mit ungehärtetem Fundament zu gehen oder auf einem Grassodenhaus, einem ganzen Dorf aus Grassodenhäusern. Ist das möglich? Kann es sein, dass das, was sie all die Jahre über für Hügel gehalten hat, in Wirklichkeit mit Gras überwachsene Hohlräume sind? 623
Sie findet ein Golf-Tee, ein Arzneimittelfläschchen, zwei Holzwürfel. Und dann erblickt sie vor sich - ist es das Haus? Das mit der verdeckten Einfahrt? Sie ist desorientiert. Sonst sieht sie diese Landschaft nur im Vorbeifahren und durch ein Autofenster. Und doch könnte es das Haus sein. So weit ist sie gelaufen! Aus der Ferne sieht es aus wie ein Puppenhaus: Die rückwärtige Wand fehlt völlig und legt so zwei Geschosse mit vielen Zimmern, zerfetzten Tapeten, zerrissenen Vorhängen frei. Als Larken näher kommt, erkennt sie, dass kaum Möbel darin stehen, nur ein altes Sofa ohne Polster, aus dem stellenweise die Sprungfedern hervorragen; es fehlt jedes Anzeichen dafür, dass hier jemand gewohnt hat. Schwer zu sagen, ob der Tornado den Schaden angerichtet hat oder ob das Haus seit Jahren in diesem Zustand ist. An dem Sofa lehnt ein Fahrrad. Larken schreit auf und fängt an zu rennen und wird sich zugleich anderer Geräusche bewusst - ein Hund bellt, Leute rufen Bonnies Namen. Andere Menschen laufen neben ihr, alle mit demselben Ziel. In Emlyn Springs weiß jedes Kind, dass man im Falle eines Tornados - wenn man keinen Zugang zu einem Keller hat - das Zentrum des Hauses aufsuchen muss. Wenn dort ein Bad ist, umso besser. Und so wird - auf beiden Seiten geschützt durch die Wände zweier weiterer Räume, in einer alten, eisernen Klauenfußbadewanne, unter einem Haufen Sofapolster, ein aufgeschlagenes Exemplar von Was Sie erwartet, wenn Sie ein Kind erwarten auf dem Bauch - die schlafende Bonnie Jones gefunden. Sie treten näher, einer nach dem anderen, schwer atmend, Schlamm an den Füßen: Larken und Gaelan und Blind Tom und Sergei. Sie sammeln sich um sie und schweigen, bis sie aufwacht. »Was ist los?«, fragt Bonnie die knienden Menschen, die sie umringen, mit schläfriger, kindlicher Stimme. 624
Und immer noch können sie nicht sprechen. Sie lacht, aber nicht spöttisch. »Warum weint ihr?«, fragt sie und tätschelt einen nach dem anderen. »Ihr seid alle so komisch. Ihr musstet euch keine Sorgen machen. Habt ihr geglaubt, ich wüsste nicht, was zu tun ist?« An der Peripherie dieser Szene stehen wie wachsame Linienrichter, die das Tor im Auge haben - mit entblößten Köpfen, ohne Kleider, kahl wie Billardkugeln und splitternackt, aber ansonsten intakt -, Vineys Gesangbuchengel.
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EPILOG Ein Gemälde ist eine kleine Lüge Im Süden hat der Sturm ziemlich gewütet, aber bis er Omaha erreichte, war er nur noch ein Schatten seiner selbst, nichts als heiße Luft, ein Angeber, der mit den Schäden protzt, die er in seinen ruhmreichen Tagen angerichtet hat, dort unten im südlichsten Teil von Gage County. In ganz Nebraska berichten die Zeitungen von dem verheerenden Tornado, der durch das Städtchen Emlyn Springs gefegt ist und zwei Tote und viele Obdachlose hinterlassen hat. Fotos zeigen grauhaarige Frauen mit Arbeitshandschuhen, den Rücken zur Kamera gewandt, die Arme umeinandergelegt; es gibt Aufnahmen von umgekippten Autos an den Rändern von Straßen, die aussehen wie Wirbelsäulen mit schwerer Skoliose, von lachenden Kindern, knietief im Schutt. Eine Bildunterschrift lautet: »Gaelan Jones, ehemals Wetteransager bei KLAN-KHAM, und seine Schwester Larken, Professorin an der Universität von Nebraska, servieren Estella Axthelm, langjährige Einwohnerin von Emlyn Springs und eine der vielen Personen in dieser winzigen Gemeinde im Südosten, die durch die Katastrophe obdachlos wurden, eine warme Mahlzeit.« Am Tag nach dem Tornado von 2004 strömen tausend Menschen nach Emlyn Springs. Hilfreiche, wohlmeinende Menschen, Menschen mit Kenntnissen in allem Möglichen, vom Einreichen eines Antrags bei der Versicherung bis zum Kaffeeeinschenken, Fähigkeiten, die benötigt werden und sehr willkommen sind. Die guten Mönche von Emlyn Springs’ Schwesterstadt schicken einen ansehnlichen Geldbetrag. Lebensmittel und Kleidung treffen lastwagenweise ein. Ja, Hilfe wird ihnen von allen Seiten zuteil, und sie sind dankbar dafür. Kein Bürgermeister einer kleinen, sterbenden Stadt würde es offen zugeben - mit Sicherheit nicht Bud Humphries, 626
schon gar nicht, wenn Tote zu beklagen sind -, aber eine Naturkatastrophe kann ein Segen sein, wenn sie einer Gemeinde wie in diesem Fall Tausende von Freiwilligen, Aufmerksamkeit, reichliche Unterstützung und staatliche Zuschüsse beschert. Sie werden zurechtkommen. Dennoch, die vielen Helfer wissen, dass es am Ende nicht sie sind, die entscheiden müssen, ob sie bleiben oder wegziehen. Keiner kennt eine Kleinstadt so gut wie die Leute, die dort leben. Keiner sonst versteht diejenigen, die bleiben, vielleicht nicht einmal sie selbst. Wenn sie aber versuchten, es zu erklären, würden die Einwohner von Emlyn Springs sagen, dass sie - in jenen Tagen nach dem Tornado von 2004, als sie ihre Angehörigen befreiten, im Schutt wühlten, ihren Nachbarn halfen, bargen, was sie fanden, niederrissen, was nicht wieder aufzubauen war - einfach wussten, dass sie nicht weggehen konnten, dass sie einander verbunden waren durch diese seltene Art des Leids: die treue Liebe zu einem Ort, der zerstört worden ist. Larken erlernt neue Formen des Reisens. Oft ist sie noch als Solistin unterwegs - denn das ist seit langem Professor Jones’ Gewohnheit -, sie entscheidet sich aber immer häufiger dafür, sich in Gesellschaft von anderen durch die Welt zu bewegen: von Studenten, Kollegen, neuen Bekannten, alten Freunden. Wenn sie fliegt, die Augen geschlossen, halb dösend, stellt sie sich jetzt manchmal vor, wie sie landet, aussteigt und am anderen Ende des Tunnels, der Flugzeug und Terminal verbindet, ihre wartenden Eltern vorfindet. Die Fantasie ist so real, dass sie sich anfühlt wie etwas, das wirklich geschehen ist, wie eine echte Erinnerung. Hi Mom! Hi Dad! Und in gewissem Sinne findet sie sie auch, oft unerwartet - die besten und freundlichsten und versöhnlichsten Versionen der beiden Menschen, mit denen sie die komplexesten Emotionen ver627
band. (So banal es sein mag, das Wort Liebe ist das einzige, das sie alle umfasst. Eine Reduktion, wie beim Kochen, bei der ihre Persönlichkeiten karamellisiert sind, sodass nur eine kompakte, glühend heiße Süße übrig bleibt, mühsam zu kauen, klebrig und fest.) Sie findet sie in einem Gesicht hinter einem Autofenster, an dem sie auf dem Weg zum Unterricht vorbeigeht, in einer unbewussten Geste, in der Melodie der Stimme eines Fremden, in den anmutigen Händen einer strickenden Frau auf der anderen Seite des Kabinenganges. Dann erlaubt sie ihrem Herzen, sich zu öffnen, und akzeptiert den Preis, den sie dafür zahlt. Ende Dezember sind die Kinder von Hope und Llwellyn Jones weit verstreut, befinden sich in großer Entfernung voneinander auf der Weltkarte: An der Gepäckausgabe des Flughafens Heathrow entrollt Larken einen kirschroten, handgestrickten Schal - ein unvollkommenes Werk aus willkürlich aufgenommenen und fallen gelassenen Maschen - und wickelt ihn Esmé um den Hals, während Jon zuschaut. In einer Synagoge in Seattle ist Gaelan Mitglied einer großen, fröhlichen Gemeinde, die Bar Mitzva Eli Ellis Weissman das Glückwunschlied singt. Heute ist Eli ein Mann. Und in Emlyn Springs, Nebraska, öffnet die erstgeborene Tochter von Morgan Geraint und Bonnie Jones (auf die Welt geholt von Alvina Closs) ihre Faust, in der ein flaches, rechteckiges Stück Elfenbein liegt. Diese Unwahrscheinlichkeiten bringen tief in ihrem Inneren etwas zum Klingen, und während die Vögel in glückseliger Dämmerung Wirklich? Wiiirklich? Erzähl schnell, erzähl schnell rufen, brechen sie alle in Gelächter aus.
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Danksagung Vor einigen Jahren, als ich gerade eine schwierige Phase in meinem Leben durchlief, nahm ich an einer literarischen Benefizveranstaltung teil, bei der auch der wunderbare Malachy McCourt anwesend war. An einem Punkt bedauerte ich die Tatsache, dass ich als Einzelkind aufgewachsen bin. Mr. McCourt, mit seiner wunderbaren, ausdrucksstarken Stimme, erwiderte: »Aber jetzt sind Sie eine Schriftstellerin, meine Liebe. Jetzt haben Sie viele Brüder und Schwestern.« Und die habe ich in der Tat, und es ist mir eine große Freude, ihnen für die Rolle zu danken, die sie bei der Vollendung dieses Buchs gespielt haben. Mein tief empfundener Dank gilt: Den vielen Lesern und Buchhändlern im ganzen Land, denen ich seit der Veröffentlichung von »Die Porzellansammlerin« begegnet bin. Ohne sie wäre die einsame Arbeit des Schreibens noch einsamer. Rich Marriott und M. J. McDermott für ihre Kenntnisse der Meteorologie; Alister B. Fraser und dem Bad Coriolis Web, die mich über die wahre Form der Regentropfen aufgeklärt haben. Larry Jones, der seine enormen Kenntnisse der walisischen Sprache, Kultur und Musik mit mir geteilt hat; Robert Price, der den Text des »Nebrasca Fight Song« für mich übersetzte. Dr. Ron Singler, Dr. Mary Case und Fran Gallo, die mir medizinische und auch persönliche Erfahrungen zum Thema multiple Sklerose zukommen ließe. Julie Everson, Bürgermeisterin von Wymore, Nebraska, und den Bürgern von Wymore, ganz besonders Arnold Irvin, Robert Norris, Bud und Vonda Roberts sowie Margaret Thomas. Judith Wills für ihre Internet-Fähigkeiten und Dave Bennett für den Witz.
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Dr. Alan Hamlet für seine Ratschläge, wie man eine literarische Landschaft gestaltet; Richard Weeks, der mir erklärt hat, wie das Innere eines Klaviers funktioniert. Den Menschen in Llithfain und Pwlltheli, Nordwales; Richard und Bethan Ellis von Organic Park, dem Welsch Language Center sowie dem Seattle Welsh Choir. Morgan Entrekin, dem Prinzen des Publizierens, für seinen nie versiegenden Glauben an meine Fähigkeiten und dafür, dass ich ein Teil der großartigen Gemeinschaft der Autoren von Grove/Atlantic sein darf, darunter Deb Seager, Elizabeth Johnson, Jessica Monahan, Elisabeth Schmitz. Cindy Heidemann und Cheryl McKeon, die eine frühe Fassung gelesen haben und mich mit ihrer großen Begeisterung zu einem Zeitpunkt unterstützten, an dem es wirklich nötig war. Meinen Autoren-Kollegen: Ellen Parker, Craig English, Ron Pellegrino, Lisa Lynch, Heather Barbieri, Jennie Shortridge, Kit Bakke, Mary Guterson, Garth Stein, Randy Sue Coburn, Phil Jennings, Sheri Holman und der unendlich liebenswürdigen Sue Monk Kidd. Nan Burling, ChiChi Stewart-Singler und Alexandra Immel, die in der Nacht von Dreikönig 2006 anwesend waren, Wendy Dell, Lynne McMahan und Kate Zuckerman, die mir half, den perfekten Pfannkuchen zu machen. Hedgbrook, wo ich die Zeit und das Umfeld hatte, um das erste Kapitel zu schreiben, und der Ragdale Foundation, wo ich die Inspiration für das letzte Kapitel fand. Dan Lazar, für den beiläufig gemachten, aber sehr wichtigen Hinweis über Larkens Kommen und Gehen. Simon Lipskar, für seine harten Worte, die mich dazu brachten, ein besseres Buch zu schreiben. Lauren Wein - geliebter Freund, Lehrer, Mitreisender und Begleiter meiner Träume.
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Noah, Sam und Bill, die mir halfen zu lachen und - wenn lachen nicht mehr möglich war - mich umarmten, wenn die Tränen kamen. Und schließlich Joan Didion, für die Orientierungshilfe auf dem Weg durch die verunsichernde Landschaft der Trauer und dafür, dass sie mir half zu verstehen, warum meine Mutter sich nie dazu durchringen konnte, die Schuhe meines Vaters wegzuwerfen.
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Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Sing Them Home« bei Atlantic Monthly Press, New York.
1. Auflage Deutsche Erstausgabe August 2010 Copyright © 2008 by Stephanie Kallos Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München KR · Herstellung: SK eISBN : 978-3-641-04876-1 www.btb-verlag.de www.randomhouse.de
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