Sabine Alt
WERAS TALENT
Roman
Fischer Taschenbuch Verlag
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Sabine Alt
WERAS TALENT
Roman
Fischer Taschenbuch Verlag
Originalausgabe Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag, einem Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, November 2005
© Fischer Taschenbuch Verlag in der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2005 Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-596-16947-x
Bevor Weras Mann Felix eines anscheinend natürlichen Todes starb, hatte er ein Verhältnis mit ihrer Assistentin. Wera, Professorin für Kunstgeschichte in Wien, tröstete sich mit einem ihrer begabtesten Studenten. Doch nach den Semesterferien ist der junge Mann plötzlich spurlos verschwunden. Wenig später wird ein zweiter Student Weras tot aufgefunden – in einem verlassenen Kloster in Norditalien, das seit kurzem zum Verkauf steht. Ausgerechnet Wera hat das Wertgutachten für den Orden geschrieben, darin entlarvt sie die einzige Kostbarkeit der Kirche als Fälschung. Aber warum liegt plötzlich das Original, eine 1000 Jahre alte Elfenbeintafel, auf Weras Nachttisch? Und gibt es eine Verbindung zum Verschwinden des einen und zum Tod des zweiten Studenten? Sabine Alt studierte Germanistik, Mathematik und Pädagogik, legte beide Staatsexamina ab und unterrichtete an einem Berliner Gymnasium. Nach einem Umzug ins Ruhrgebiet begann sie zu schreiben. Bisher erschienen die satirischen Romane »Kira Royale« und »Die schönen Lügen der Maria Wallot« sowie der psychologische Spannungsroman »Kinder des Wassers«. Seit 2003 lebt Sabine Alt wieder in Berlin.
Die Sonne wärmt nicht, stimmlos ist das Meer. Die Gräber, schneeverpackt, schnürt niemand auf. Ingeborg Bachmann, Lieder auf der Flucht, XIII
Prolog
Grobknochig wie ein aufgebahrtes Skelett liegen die Höhenzüge des Karsts zwischen der fetten friulanischen Ebene und den beginnenden Weiten des Balkan. Kommt man aus der venetischen Lagunenlandschaft, steigt die Adriaküste hinter den Sandstränden bei Grado plötzlich an. Zwischen Meer und Karst passen bald nicht mehr als eine Straße und eine Bahnlinie. Allzu schroff erheben sich die Felsen über der Brandung, bilden natürliche Balkone und phantastische Aussichtsplattformen. Diese Steilküste ist im letzten Jahrhundert ein bevorzugter Bauplatz für die Adelssitze der Potentaten des Habsburgerreiches gewesen. Architekturinteressierte aus aller Welt besuchen bis heute die eklektischen Bauten, allen voran Miramare, das Schloss des unglücklichen Kaiserbruders Maximilian. Von den Sakralbauten jener Epoche haben sich nur wenige erhalten. Die katholische Kirche und die ihr zugehörigen Orden pflegten ihre Reichtümer anderswo zu investieren. So ist beispielsweise das Augustiner-Kloster Zum Heiligen Kreuz, das auf einer plateauartigen Felsnase hoch über dem Adriatischen Meer sitzt, kaum noch als Sehenswürdigkeit zu bezeichnen. Seit über 30 Jahren sind die Wohn- und Wirtschaftsgebäude verlassen, findet kein Gottesdienst, finden keine Andachten in der Kirche mit dem befremdlich wirkenden romanischen Portal mehr statt. Seit über 30 Jahren verrichten die heftigen Herbst- und Frühjahrsstürme, verrichtet die berüchtigte Bora ihr vernichtendes Werk an den Wänden, vor allem aber an den Dächern der Klostergebäude, beschleift wie ein wütender Gegner Mauern und Balken.
Der Verfall der Anlage begann wenige Tage, nachdem die letzten vier Klosterbrüder nach dem Tod ihres Abtes das Gebäude verlassen und bei einer anderen Kongregation Aufnahme gefunden hatten. Damals tobte ein besonders heftiger Sturm über die adriatische Küste. In allen Ansiedlungen zwischen Triest und Grado wurden die Fenster verrammelt und die Gebäude gesichert. Zwei Tage und Nächte lang wagte sich niemand ohne triftigen Grund auf die Straße, obwohl in den Städten längst die Halteseile entlang der größeren Wege und Plätze gespannt worden waren, an denen man sich an Sturmtagen gewohnheitsmäßig vorwärts zu hangeln pflegte. Das verlassene Kloster am Karst musste zum ersten Mal seit seiner Gründung ungeschützt den tobenden Winden widerstehen. Es war ein ungleicher Kampf. Zum Teil einzeln, manchmal in ganzen Reihen, wurden die Ziegel der längst baufälligen Wirtschaftsgebäude zu Boden gerissen, wo sie aufschlugen und scheppernd zu Bruch gingen, sodaß jeder nächste Windstoß das Werk seines Vorgängers fortführen konnte. Da auch nach Abflauen der Winde niemand die klaffenden Löcher reparierte, die freigelegten Balken sicherte, fiel es der Bora, diesem reißenden Sturmwind, Jahr für Jahr leichter, die über Jahrhunderte gepflegte und ausgebaute Klosteranlage zu zerstören. Längst ist das Gelände mit den verfallenen Gebäuden die Wohnstätte zahlreicher Nager und anderer Kleintiere, ein ertragreicher Nahrungshort also für die Raubvögel, die mit ihren hungrigen Schreien das Meer und die angrenzende Steilküste beherrschen. Die bröckelnden Mauern des Wohntraktes sind mit dem Kot der Vögel ebenso wie mit den Knochenresten ihrer Beutetiere überzogen. Wie bizarr gesprenkelte Waben umgeben die früheren Zellen der Fratres einen aus rohen Steinen errichteten, seit langer Zeit
deckenlosen Duschraum, aus dessen Ziegelboden ein verkrüppelter Feigenbaum neben einigen Macchiasträuchern wächst. Das Refektorium, der ehemalige Speisesaal der Mönche, grenzt östlich an den Schlaftrakt. Hier ist der hölzerne Dachstuhl komplett eingestürzt und hat das ungewöhnlich farbenfrohe Bodenmosaik unter sich begraben. Von den inneren Wänden lappen grauweiße Putzfladen und legen das Mauerwerk aus gebrannten Ziegeln frei. Nur die Kirche und der ihr angegliederte Kreuzgang, die das Ensemble nach Westen abschließen, sind besser erhalten. Vor allem dem Kreuzgang hat die Bora weniger zusetzen können. Seine quadratische Grundform, die gedrungene, zweigeschossige Bauweise, das doppelt gedeckte, außergewöhnlich flache Ziegeldach und der nicht sehr hoch aufragende ebenfalls quadratische Turm strahlen immer noch eine gewisse Eleganz aus. Gerade zieht ein Falke einen weiten Kreis über den Innenhof, sein Schatten gleitet von Wand zu Wand und streift eine menschliche Gestalt auf der sonnigen Seite des Hofes. Aufmerksam geworden hebt sie den Kopf. Der Falke bleibt ohne einen einzigen Flügelschlag in der Luft stehen, sekundenlang begegnen sich die Blicke von Mensch und Raubvogel in einem stummen Duell, dann begreift der Falke, dass das Lebewesen auf dem Klostergelände wohl kaum zu der Kategorie seiner Beutetiere gehören kann, und dreht ab. Der Mensch im Klosterhof schaut dem Vogel lange hinterher, als wolle er ihn neuerlich herausfordern. Erst als sich die Silhouette des Vogelleibs im Dunst über dem Meer verloren hat, senkt der Mensch seinen Blick. Bedächtig wischt er sich die Hände an der weiten Baumwollhose ab und beugt sich über den Spaten, der neben ihm im Boden steckt. Der Fuß in dem Turnschuh tritt auf die Kante des Blattes und dirigiert einen
Stich zwischen krautigen Lavendel und üppig wuchernden Rosmarin. Im Umkreis einer verfallenen Zisterne haben sich die Strukturen eines klösterlichen Kräutergartens erhalten. Streng symmetrisch angelegt, fassen dorrende Buchsbaumgerippe die ehemaligen Beete ein, deren Bewuchs zum Teil auch ohne Pflege überleben konnte. Das Grün der verwilderten Sträucher wirkt im Licht der Morgensonne blau. Pelzige Salbeiblätter beschatten einen wilden Thymian, der winzige Blüten zeigt. Das Skelett einer abgestorbenen Rose dient als Kletterhilfe für ein anspruchsloses Malvengewächs. Nach jedem Stich wirft die grabende Gestalt den Bodenaushub weit nach hinten. Die trockene Erde ist durchsetzt mit Wurzeln und Steinen, sie bröselt auf das Pflaster des inneren Rundwegs, dessen Ziegel brüchig und von der intensiven Strahlung der norditalienischen Sonne hellgelb gebleicht sind. Würmer und Asseln, die die jähen Stürze überlebt haben, kriechen zwischen den Brocken hervor und irren über das Ziegelpflaster. Ein weiterer Stich fördert Scherben zutage. Rötlich getöntes Glas mit plumpen Pressnarben. Nichts, was auf die Glasbläsertradition der Gegend hinweisen könnte, auf Grado und Murano, die beiden nicht weit entfernten Lagunenstädte. Vielmehr handelt es sich bei den Scherben um Böden und Seitenteile von einfachen Bechergläsern. Haben daraus die letzten Augustinermönche ihr Wasser und ihren Wein getrunken? Aber warum liegen die Scherben im Klosterhof? Die Gestalt in den Turnschuhen grübelt über diese müßigen Fragen nach, während sie wie mechanisch weitergräbt. In der Achsel ihres weiten Baumwollhemdes bilden sich erste Schweißflecken. Von Stich zu Stich wird die Erde lehmhaltiger und damit schwerer. Nur durch mehrmaliges
Stoßen und Treten lässt sich der Spaten noch im Boden versenken. Es ist Ostersonntag, zehn Uhr am Morgen, und die Grube erst einen knappen Meter lang und zu flach, um einen Toten aufzunehmen. Der Spaten erreicht die äußere Grenze des Kräutergartens, entwurzelt zwei Thymianbüsche und einen Currystrauch. Behutsam werden die Pflanzen neben die zerfallene Zisterne in der Mitte des Kreuzganges platziert. Der Tote, ein schmaler junger Mann mit auffallend blonden Haaren und einem hart geschnittenen Kinn, liegt im Schatten auf der Ostseite des Ziegelwegs. Er trägt eine helle Cordhose und ein blau-grün kariertes Hemd, dessen Knöpfe bis zum Hals geschlossen sind. Der Riss über der linken Brustseite hat den Stoff ausfransen lassen. Die Fasern sind in einem Schwall von Blut erstarrt, das jetzt krustig schwarz eine klaffende Wunde einrahmt. Die Füße des Toten stecken in auffallend gut geputzten schwarzen Schnürschuhen. Es ist noch nichts Unappetitliches an seinem Gesicht. Nur hat niemand seine Augen geschlossen, sodass ihr im Erstaunen über einen allzu plötzlichen Tod erstarrter Blick gezwungen ist, jetzt auch die Bemühungen um seine letzte Heimstatt zu verfolgen.
Zur Mittagszeit streift der Falke auf seinem Flug den Hafen von Triest und gleich darauf den gewaltigen Aufmarsch- und Paradeplatz hinter dem Hafen, ein Areal von der Größe des Markusplatzes in Venedig, den an drei Seiten Prachtbauten aus der Ära Maria Theresias umgeben. An der vierten Front, der Hafenmole, ragen Anleger weit ins Meer. Sie ruhen wie Betonfinger auf dem Wasserspiegel, flankiert von Möwen, die gleichmütig auf müden Wellen wippen und keinen Blick für
den Raubvogel haben, der hoch über ihnen durch den Frühjahrshimmel segelt. Über die Mole schlendern müßige Triestiner Familien, die Herren korrekt gekleidet bis zum Einstecktuch, die Damen auf hohen Schuhen und in engen Röcken, die Kinder mit weißen Strümpfen und blauen Jacken. Es ist zwölf Uhr am Mittag, Zeit für den Osterspaziergang. Die Flanierenden drehen eine Runde um den Platz und verweilen eine angemessene Zeitspanne in der Nähe der Blaskapelle, die sich neben dem Standbild im vorderen Drittel postiert hat und Märsche intoniert. Nach der dem Musikgenuss gewidmeten Pause folgt in ritualisierter Gewohnheit der Gang über einen der Betonanleger bis hinaus zur Meereskante. Die Gestalt in den erdverkrusteten Lederturnschuhen und dem schweißfleckigen Hemd schlendert auch über die Mole. Sie lenkt alle Blicke auf sich. Niemand kennt sie, sie fügt sich nicht ein in das Bild dieses Ostersonntags, den man wie jedes Jahr mit dem Gottesdienst, dem Spaziergang und einem sich anschließenden heimischen Festmahl begehen möchte. Die Gestalt stört. Sie riecht schlecht. Die Triestiner machen einen Bogen um sie. Der Mensch, der sich in das fremde Ritual gedrängt hat, ignoriert den Feiertag, die Blaskapelle und die gesetzte Gangart der anderen. Zielstrebig steuert er die Spitze eines der Anleger an. An der Kante zum Meer stehen zwei weiß lackierte Bänke. Die Gestalt, schlecht gekleidet und behaftet mit dem Geruch nach wenig feiertäglicher körperlicher Arbeit, setzt sich vor den Bänken auf den Betonboden. Sie schert sich nicht um die missbilligenden Blicke der Spaziergänger, lässt die Beine übers Wasser baumeln, gräbt mit der Hand in der tiefen Tasche ihrer Cargohose und fördert einen Schraubenzieher zu Tage. Das Werkzeug ist alt, der hölzerne Griff speckig und voller Scharten. An dem metallenen
Vorderteil zieht sich Flugrost bis hinauf zu der Spitze, die auffallend blank und wie von häufigem Gebrauch verbogen und abgeschliffen ist. Langsam schiebt die Gestalt den Schraubendreher über die Mole bis an die Kante zum Meer. Niemand beobachtet ihr Tun, die Triestiner hören auf die Mittagsglocken, das Ostergeläut, das jetzt einsetzt und aus allen Kirchen der Stadt gleichzeitig erklingt, die Seelen entzückt und die Augen zum Horizont, zum Himmel oder zu dem am nächsten stehenden Menschen wandern lässt. Nicht aber zu einem alten, abgenutzten Schraubenzieher, der halb verborgen unter der losen Manschette eines schmutzigen, ehemals weißen Hemdes über den Beton geschoben wird, nach kurzem Kippeln über die Kante rutscht und mit einem leisen Klatschen im Hafenbecken versinkt. Kaum kräuselt sich das Wasser, als es sich über dem Schraubenzieher schließt. Die beiden winzigen Wellen, die sich gebildet haben, verebben nach wenigen Metern. Immer noch läuten die Glocken. Jetzt hebt auch die Gestalt wie von Andacht überwältigt lauschend den Kopf, lässt sich rücklings auf die Mole fallen und starrt mit leeren Augen in den Himmel über Triest, nicht ahnend, dass der Vogel dort oben, der durch die glockentonerfüllte Luft schwebt und dessen Schatten sie für einen Sekundenbruchteil streift, derselbe ist, der auch den Kreuzgang umkreist hat, während sie die Leiche eines blonden jungen Mannes in ein eigenwilliges Grab gelegt hat.
Das Wasser kocht. Wera hört unter der Dusche den schrillen Ton der Kesselpfeife, nass und tropfend läuft sie in die Küche und zieht den Kessel vom Herd. Weißer Dampf lässt die Glastüren der Küchenschränke beschlagen. Wera füllt
Kaffeepulver in das Metallnetz ihrer gläsernen Kanne und gießt das kochende Wasser darüber. Während das Pulver aufquillt, trocknet Wera sich ab und deckt den Tisch. Orangensaft, Orangenmarmelade, Butter, Toast. Der Toaster klemmt, Wera verflucht ihn, das tut sie jeden Morgen und kauft trotzdem keinen neuen. Dann gießt sie die Venusfliegenfalle auf der Fensterbank. Die feinen Zähnchen an den Blatträndern schimmern sanft. Wera hat die Pflanze noch vor ihrer Ehe von einem Liebhaber geschenkt bekommen. Seinen zynischen Kommentar vergaß Wera sofort und den Mann wenig später. Aber die Pflanze gefiel ihr, sie bekam den Ehrenplatz am Frühstückstisch. Der Kaffee braucht noch einen Moment, Wera greift nach ihrem Kimono. Zum Briefkasten sind es nur zehn Schritte und zwei Treppenstufen. Wera wohnt im Hochparterre eines Altbaus, früher hat sie manchmal nackt die Post aus dem Stiegenhaus geholt, aber die Hausverwaltung hat die Eingangstür verglasen lassen, und die Passanten können jetzt von der Straße bis zu Weras Wohnungstür sehen. Das Risiko, dass einer dabei ist, der sie kennt, ist ihr zu hoch. Wera legt die Briefe in den Brotkorb zu den Toasts und greift nach der Morgenzeitung. Irgendwo muss die Ankündigung der Ringvorlesung über Wiener Baudenkmäler sein, denn Wera hat vor zwei Wochen das Semesterprogramm an alle Redaktionen schicken lassen. Auf der Wissenschaftsseite wird sie fündig, die Titel aller Vorträge sind einzeln aufgeführt, natürlich ist ihr Name wieder falsch geschrieben: Prof. Dr. Vera Pratzinger: Die Hofburg als Zeichen kaiserlicher Macht. Wera legt die Zeitung zur Seite und schaut nach dem Kaffee. Er hat jetzt die richtige Farbe. Sie greift mit beiden Händen nach den Querholmen oben an der Kanne und drückt sie nach unten. Die Flüssigkeit leistet Widerstand, es kostet Kraft, das Sieb bis auf den Boden des Glaszylinders zu schieben. Dann
trinkt Wera die erste Tasse Kaffee, belädt ihren Toast mit Orangenmarmelade und sieht kauend die Post durch. Zwei Briefe sind von Kollegen aus Übersee. Dass die sich nicht abgewöhnen können, an ihre Privatadresse zu schreiben. Die Stiftung zur Erhaltung österreichischer Baudenkmäler möchte sie ins Kuratorium aufnehmen, das ist interessant. Der Antiquar Holitscher schickt seinen neuen Katalog und der Verlag einen Scheck über die Tantiemen ihres letzten Buches. Der nächste Brief enthält eine Mahnung. Höflich, aber mit nicht zu überlesender Ungeduld erinnert der Prior der Augustiner-Chorherren an ein vor geraumer Zeit bei Wera bestelltes Gutachten. Das ehemalige Kloster auf dem Karst solle in naher Zukunft veräußert werden, es gäbe zwei ernsthafte Interessenten, darum müsse man schnellstens Klarheit über den Wert der Kirchenausstattung gewinnen. Wera hat schon vor Monaten den Auftrag übernommen, die in der Kirche enthaltenen Kunstschätze zu sichten. Die Mahnung schreckt sie wenig, denn das Gutachten ist fertig, allerdings bisher nur in ihrem Kopf, es muss noch geschrieben werden. Aber der Orden ist vermögend und wird sie angemessen entlohnen, auch wenn er dieses eine Kloster aus Rentabilitätsgründen aufgeben will. Ein letzter Brief liegt noch im Brotkorb, Wera gießt Orangensaft in ihr Glas. Links oben auf dem Umschlag steht der Absender. Carl-Josef Maurer. Der Name sagt Wera nichts, unschlüssig dreht sie den Brief zwischen den Fingern. Das Kuvert ist schmal und lang, aus feinem hellgrauem Papier. Studenten benutzen andere Briefumschläge, außerdem schreiben sie an Weras Universitätsadresse. Wera reißt das Kuvert auf. Sehr geehrte Frau Professor Pratzinger, also doch ein Student, denkt Wera. Ich stehe vor der Anfertigung meiner
Examensarbeit und würde mich freuen, wenn Sie die Zeit und die Mühe aufbringen wollten, diese Arbeit zu betreuen. Da ich über die Architektur der k.u.k.-Monarchie an der östlichen Adria schreiben will, hoffe ich, auf Ihr Interesse zu stoßen. In Ihrer Vorlesung über die Prachtbauten des letzten österreichischen Kaisers habe ich wichtige Anstöße erfahren… Wera unterbricht ihre Lektüre, weil sie über den stilistischen Schnitzer lachen muss. Ein neuer Examenskandidat also. Merkwürdig nur, dass er sich nicht wie alle anderen in ihrer Sprechstunde vorgestellt hat. Wera trinkt noch eine Tasse Kaffee und greift nach ihren Zigaretten. Der Brief hat ein angenehmes Schriftbild, Herr Maurer muss einen guten Drucker benutzen, hoffentlich wird die Examensarbeit auch so ansehnlich. Verehrte Frau Professor, ich werde mir erlauben, mich in einer Ihrer nächsten Sprechstunden persönlich vorzustellen, auch möchte ich nicht versäumen zu erwähnen, dass ich stets zu Ihren größten Bewunderern gezählt habe… Wera tastet nach dem Feuerzeug in der Tasche des Kimonos und steckt die Zigarette an… zu Ihren größten Bewunderern gezählt habe und es mir zu einer hohen Ehre anrechnen würde, wenn Sie einwilligen könnten, meine Frau zu werden. Mit vorzüglicher Hochachtung, Carl-Josef Maurer. Wera legt den Briefbogen sorgfältig neben ihrem Teller und die kaum angerauchte Zigarette im Aschenbecher ab. Sie greift nach dem Saftglas, aber das ist leer, die Flasche auch, also steht Wera auf und holt eine neue aus dem Kühlschrank. Der Schraubdeckel lässt sich schwer öffnen, schließlich gelingt es. Beim Eingießen achtet Wera darauf, nichts zu verschütten. Dann setzt sie das volle Glas an die Lippen und trinkt es in einem Zug aus. Nur die Ruhe bewahren. Wenn Sie einwilligen könnten, meine Frau zu werden, was denkt der sich denn? Sie kennt ihn doch gar nicht. Oder ist das ein dummer Witz? Wera
betrachtet die Anschrift auf dem Umschlag, aber der Brief ist nicht fehlgeleitet, da steht es, völlig eindeutig: Frau Prof. Dr. Wera Pratzinger, Wien, 9. Bezirk, Berggasse 18. Sogar ihren Namen hat er richtig geschrieben. Wera nimmt die qualmende Zigarette aus dem Ascher und drückt sie aus. Natürlich gibt es diesen Maurer nicht, kein Wunder, dass er nie in ihrer Sprechstunde war. Wer von ihren Studenten sich das wohl ausgedacht hat? Wera stellt sich die Gesichter aus ihrem Oberseminar vor. Nein, von denen war es keiner, eher schon aus der Vorlesung, er schreibt ja selbst, dass er sie gehört hat. Wera nimmt den Brief noch einmal zur Hand, was steht da? Wichtige Anstöße erfahren, das soll wohl Ironie sein. Verärgert zerreißt sie den Brief und beginnt, den Frühstückstisch abzuräumen.
»Die spezifischen Nutzungsaufträge der Hofburg haben sich natürlich ausgewirkt auf die jeweilige bauliche Gestaltung. Ein sensibler Beobachter des Gebäudekomplexes kann leicht die unterschiedlichen Ausformungen der einen großen architektonischen Idee erkennen.« Wera macht eine Pause, um den Studenten Zeit zum Mitschreiben zu geben. Den Text kann sie fast auswendig, zum dritten Mal hält sie die Vorlesung über die Architektur des Kaiserreiches, auch wenn sie über frühgotische Sakralkunst promoviert hat. Beim Vortragen setzt Wera ihre Blicke ins Auditorium bewusst. Oben rechts, unten links, oben links, unten rechts, Mitte oben, Mitte unten. Schon vor Jahren hat sie sich dieses Verfahren antrainiert, aber immer noch ist es ihre eigentliche Konzentrationsleistung während einer Vorlesung. Die Studenten fühlen sich angesprochen und kommen gern. Nur heute ist der Hörsaal nicht so voll wie sonst, einige Reihen sind
gänzlich leer geblieben, in anderen klaffen größere Lücken. Ein Umstand mehr, der Wera irritiert. »Nehmen Sie die Hofreitschule als Beispiel, die hohen Bogengänge zur Straßenseite hin erfüllten seit jeher eine Doppelfunktion: Schon zur Zeit ihrer Erbauung boten sie den Tieren Schutz vor den Kutschen und Kaleschen auf der Straße, und gleichzeitig waren sie immer auch repräsentative Überdachung für Passanten und Flaneure.« Wera schaut nach links unten, der junge Mann, der dort sitzt, blickt ihr ausdauernd ins Gesicht. Er hat das kleine Tischchen vor sich nicht heruntergeklappt und macht sich auch keine Notizen, er sitzt nur da und starrt sie an. Er mag 25 Jahre alt sein, ist blond, hat ein breites, fast plattes Gesicht, die Haare sind sorgfältig geschnitten, ein bisschen brav sieht er aus. Ob man ihm den Brief zutrauen kann? Wera fixiert ihn noch einmal, er weicht dem direkten Blick aus. Seine Hände sind rund und merkwürdig klein, sie liegen gelassen auf der Lehne des Vordersitzes. Wera denkt, Nervosität strahlt der ganze Mensch nicht aus, höchstens Konzentration, wahrscheinlich hört er einfach nur aufmerksam zu. Sie redet weiter, Hofreitschule, Kaisergruft, Nationalbibliothek, bald nimmt sie die eigenen Worte nicht mehr wahr. Es gibt einige junge Männer, die allein im Auditorium sitzen und diese spezielle Ausstrahlung haben, die Wera sich vorstellt. Auf den Gedanken, dass eine Frau den Brief geschrieben haben könnte, kommt Wera nicht. Ganz oben am Ende der letzten Reihe, direkt neben der Tür sitzt ein Dunkelhaariger, über ihm leuchtet das Schild Notausgang. Der Student lümmelt auf seinem Platz, kaum vorstellbar, dass er zuhört, und sicher kein Zufall, dass er so weit hinten sitzt. Die Blicke des Studenten wandern über blonde und rötliche Frauenköpfe, erspähen Bewegungen und taxieren Freundschaften. Der junge Mann kann seinem
voyeuristischen Interesse unverhohlen nachgehen, denn außer Wera wenden ihm alle den Rücken zu. Eine Studentin, zwei Reihen unter ihm und auffallend rothaarig, hat es ihm besonders angetan. Immer wieder kehren seine Blicke zu ihr zurück und streichen räudig um ihre langen Locken. Die Rote wiederum schaut mit leeren Augen zielgenau an Wera vorbei, während sie an ihrem Kugelschreiber kaut. Neben ihr sitzt ein schmaler Junge in schwarzem Rollkragenpullover, der unempfänglich für die Ausstrahlung der Rothaarigen zu sein scheint. Er traktiert seine Notizkladde mit dem Stift, er muss eine große und ungebändigte Handschrift haben, denn alle zwei oder drei Minuten schlägt er die Seite um und beginnt, eine neue zu füllen. Trotzdem findet der Schmale immer wieder Zeit, um seinen Blick zu heben und ihn Wera saugend ins Gesicht zu setzen. Es stört ihn nicht, dass Wera den Blick erwidert, nur einmal rückt er nachdrücklich die Nickelbrille zurecht, dann widmet er sich von neuem seinen Notizen. Wera ist erschöpft, die erste Vorlesung im Semester ist immer am anstrengendsten. Sie redet seit einer Stunde, die kurze Rauchpause nicht mitgezählt. Heute verspricht sie sich häufiger als sonst, die treuen Seelen unter ihren Studenten schauen schon ganz besorgt. Aber Wera kann sich nicht auf den Text konzentrieren, sie will den unbekannten Briefschreiber in dieser Vorlesung packen. Natürlich sitzt er im Auditorium, er weiß genau, dass sie seinen Brief inzwischen bekommen hat, und wird sich kaum ihre Reaktion entgehen lassen. Weras müde Augen wandern weiter und weiter, als seien sie kleine, eigensinnig programmierte Automaten. Längst kann Wera die Bilder nicht mehr einordnen, sinnlos reihen ihre Augen Eindruck an Eindruck. Eine kräftige Hand, die einen ungewöhnlich geformten Federhalter führt. Eine mutwillig ausgesuchte Designerbrille vor schläfrigen Augen. Eine
geföhnte Haartolle über buschigen Brauen. Schließlich das rhythmische Zucken eines schmalen Mundes, der einem leise klackernden Notebook die Sätze einzutreiben scheint. Der Student hat ein Dumme-Jungen-Gesicht, wahrscheinlich kann er sehr charmant lächeln mit diesen herben Lippen. Wera stellt sich vor, dass er gerade den nächsten Brief an sie entwirft. Da stößt sie auf die rote Markierung in ihrem Text, das Kapitel ist zu Ende. Wera blickt auf die Uhr, 20 vor zwölf, also wird sie heute fünf Minuten früher schließen. Zum Glück hat niemand eine Frage. Zum Glück hat niemand die Vorlesung gestört. Vielleicht bleibt es bei diesem einen geschmacklosen Brief. Wera tastet nach der Zigarettenpackung in ihrer Jackentasche, langsam kann sie die Erleichterung zulassen, da hört sie Schritte hinter ihrem Rücken. Hastig greift sie nach ihrer Aktenmappe und wendet sich dem Ausgang zu, als habe sie einen wichtigen Termin. Soll der Student denken, sie habe ihn in der Eile nicht bemerkt. Anfangs fürchtet Wera noch, er könne ihr gefolgt sein, doch dann fühlt sie sich sicherer, und die ersten Züge aus der Zigarette tun ihr gut.
Wera zieht ihre Schuhe aus, legt die Füße auf den Schreibtisch und lässt den Drehsessel nach hinten federn. Sie inhaliert tief und schließt die Augen. »Frau Professor, ich bitt Sie sehr, rauchen’s net so viel.« Wera blinzelt durch den Qualm. Ihre Sekretärin Frau Ott steht in der Seitentür. »Keine Sorge, ich pass schon auf mich auf. In fünf Minuten können Sie die nächste Studentin hereinbitten. Sie ist die Vorletzte, oder?« Missbilligend schüttelt die Sekretärin den Kopf. »Es sind noch zwei Neue erschienen, Frau Professor, die stehen aber nicht auf Ihrer Liste. Was die sich immer
herausnehmen. Haben doch ein ganzes Semester Zeit. Soll ich sie auf die nächste Woche bestellen?« Frau Ott reckt kampflustig ihr spitzes Gesicht, Nase und Kinn treten scharf hervor und lassen den schmalen Mund unsichtbar werden. Die Sekretärin trägt eine ihrer vielen Wollhosen. Wahrscheinlich ungefüttert, denkt Wera und gruselt sich. Dann sieht sie auf die Uhr, es ist sieben vorbei und schon fast dunkel im Zimmer. Zwei zusätzliche Studenten heute Abend, Frau Ott hat doch Studenten gesagt, oder täuscht sie sich? Wera schaltet die Schreibtischlampe an. »Lassen Sie die Herren ausnahmsweise da, ich bleibe länger. Und, Frau Ott?« »Ja, bitte?« »Gehen’s ruhig schon nach Hause. Ich schaff das auch allein.« »Aber Frau Professor, das kommt gar nicht infrage!« »Danke, Frau Ott, das ist lieb von Ihnen.« Während der nächsten Stunde hört sich Wera die Familiendramen einer Doktorandin an, die die Fertigstellung ihrer Arbeit immer wieder auf heimtückische Weise verzögern, und weist einen eifrigen Tschechen in die Prüfungsregularien ein. Dann lässt Wera sich von ihrer Sekretärin die Liste mit den Namen der beiden zusätzlich erschienenen Studenten zeigen. Als nächstes erscheint der Name desjenigen, der ihr diesen unverschämten Brief geschrieben hat. Carl-Josef Maurer. »Na, dann lassen Sie den ersten Kandidaten mal eintreten«, erklärt sie finster, ohne auf Frau Otts irritierten Blick zu reagieren.
Insgeheim ist Wera erleichtert darüber, dass der Student sich gemeldet hat, dass er überhaupt existiert. Verlegen wird er
sein, denkt Wera, und ihr eine schweißnasse Hand zur Begrüßung reichen. Wahrscheinlich wird sie ihn vom Sehen kennen, ohne ihn einem ihrer letzten Seminare zuordnen zu können. Bitte setzen Sie sich, wird sie sagen, auf ihren Besucherstuhl deuten und sich heimlich die Hand am Hosenstoff abwischen. Kaum dass der Student Platz genommen haben wird, wird er beginnen sich zu räuspern und gar nicht damit aufhören können. Ich hatte heute früh Post von Ihnen, wird Wera das Verhör beginnen. Ich weiß. Darum bin ich hier. Ich muss mich entschuldigen. Es handelt sich um einen Streich, den Kommilitonen mir gespielt haben. Ehemalige Kommilitonen, sollte ich wohl sagen. Das Ganze ist mir furchtbar peinlich, Frau Professor Pratzinger, das müssen Sie mir glauben. Raus mit der Sprache, was ist passiert? Der Brief stammt nicht von Ihnen, habe ich Recht? Natürlich nicht. Ich bin Historiker, am Freitag hatte ich meine letzte Prüfung. Und am Samstag habe ich ein paar Freunde zu einem Umtrunk eingeladen, na ja, und am späteren Abend, als alles schon in der Post war und auch am Hauptpostamt nichts mehr zu machen, da haben mir die anderen eine Kopie dieses… Schreibens, also dieses Antrags vorgelesen. Mit hochrotem Kopf wird der Student verstummen. Machen Sie sich nichts draus. Ich hob schon ganz andere Sachen nach erfolgter Abschlussprüfung erlebt. Wera wird die Lüge mit einem Lächeln beglaubigen und dem frisch examinierten Studenten mit mütterlicher Stimme falschen Trost zusprechen. Ihr Brief ist längst vernichtet, und ich werde niemandem davon erzählen. Nehmen sie es einfach mit Humor.
Wenn Sie einmal heiraten, werden Sie sich auf eine ganze Reihe von ähnlichen Überraschungen einstellen müssen. Ich bin bereits verheiratet, wird der Student humorlos antworten und wie zum Beweis seinen Ehering herzeigen. Oh pardon, das ist mir entgangen. Wera wird aufstehen, ihren Schreibtisch umrunden und dem Besucher widerstrebend die Hand zum Abschied reichen. Dessen Händedruck wird keinen Deut fester geworden sein. Alles Gute für Sie – und herzlichen Glückwunsch zum Examen nachträglich. Danke. Vor allem für Ihr Verständnis. Beim Hinausgehen wird der Student fast über seine eigenen Füße stolpern. Spöttisch sieht Wera dem schlaksigen jungen Mann entgegen, den Frau Ott jetzt in ihr Dienstzimmer geleitet. Er ist sehr groß und hat schönes, ungewöhnlich langes dunkles Haar. Wera kann sich nicht erinnern, diesem Studenten jemals begegnet zu sein. Und er sieht nicht aus wie einer, den man schnell vergessen würde. Bevor Wera ihn begrüßen kann, eröffnet er das Gespräch. »Guten Tag, Frau Professor Pratzinger, Maurer ist mein Name, Carl-Josef Maurer. Es tut mir Leid, dass ich es nicht geschafft habe, mich rechtzeitig auf Ihrer Warteliste einzutragen, ich war in der letzten Woche verhindert.« »Ich habe heute Morgen Ihren Brief bekommen, Herr Maurer, bitte nehmen Sie Platz.« »Ich wusste doch, dass Sie sich besser an mich erinnern würden, wenn ich Ihnen den Brief an die Privatadresse schicke.« Der Student lacht laut und energisch, er hat volle Lippen und große, weiße Zähne. Ein Wolf im Schafspelz ist er, denkt Wera. Sie verzieht keine Miene und wartet darauf, dass der Student sich für den unangebrachten Nachsatz entschuldigt. Sie hat den Wortlaut genau im Kopf. Wenn Sie einwilligen könnten, meine Frau zu werden… Also wirklich! Aber Carl-
Josef Maurer entschuldigt sich nicht. Und sie wird sich nicht entblöden, den Vorfall selbst anzusprechen. »Haben Sie sich über das Thema Ihrer Arbeit schon Gedanken gemacht, Herr Maurer?«, erkundigt sich Wera mäßig interessiert. »Natürlich. Die Idee kam mir im letzten Semester in Ihrem Hauptseminar. Sie sagten, dass im Bereich der östlichen Adria zwischen Grado und Triest einige Adelssitze und Klöster stünden, die von renommierten Wiener Architekten gebaut worden sind. Ich bin in den Semesterferien mit dem Rad dort gewesen. Ich denke, es ließen sich interessante Erkenntnisse sammeln.« Wera betrachtet die Radfahrerbeine in ihrem Besucherstuhl. Sie sind zu lang für den schmalen Sessel und stehen schräg. Die Beine wirken nicht sehr muskulös, sie stecken in einer engen, verwaschenen Jeans, die merkwürdig gegen die auf Hochglanz polierten schwarzen Lederschuhe absticht. »Haben Sie im letzten Hauptseminar keine Arbeit geschrieben, Herr Maurer? Ich müsste mich doch erinnern können.« »Ich habe schon, aber als die Arbeit fertig war, schien es mir nötig, die Bauten gründlicher zu studieren. Darum habe ich die Arbeit nicht eingereicht und bin selbst nachschauen gefahren, ob ich meine Thesen halten kann.« »Und?« Der Student lehnt entspannt in seinem Stuhl, fast lümmelt er sich hinein. Beim Reden bewegt er ständig die Hände. Obwohl sie lang und feingliedrig sind, unterstreichen die Gesten das Gesagte kraftvoll. »Ich habe nach meiner Erkundungsfahrt ein Thesenpapier zusammengestellt. Ich denke, es ergänzt die Arbeit auf sinnvolle Weise.«
»Natürlich müsste ich mir beides anschauen, um zu entscheiden, ob ich Sie betreue. Jetzt, zu Beginn des Semesters kann das allerdings eine Weile dauern.« »Damit habe ich gerechnet. Darf ich Ihnen die Sachen trotzdem schon geben?« Wera nickt. Auf dem Deckblatt der Arbeit erkennt sie die Schrifttype des Briefes wieder. »Gut, Herr Maurer. In jedem Fall sollten Sie in diesem Semester mein Colloquium für Examenskandidaten besuchen. Lassen Sie sich von Frau Ott die Termine geben.« Wera steht auf, um das Ende des Gesprächs zu signalisieren. Der Student Maurer ist zwei Köpfe größer als sie und sein Händedruck so kraftvoll, dass es schmerzt. »Spätestens bis Ende Mai habe ich Ihre Arbeit gelesen. Wenn Sie dann in die Sprechstunde kommen wollen, können wir uns über Ihr Projekt unterhalten.« »Das tue ich gern, Frau Professor Pratzinger.« Der Student verlässt Weras Zimmer. Auf ihrem Schreibtisch liegt seine Seminararbeit. Unter dem Titel stehen Name und Adresse: Carl-Josef Maurer, Wien, 9. Bezirk, Berggasse 21. Berggasse 21. Das ist nur zwei Häuser von ihrer eigenen Wohnung entfernt. Wera denkt an den Briefkasten und die Eingangstür des Hauses, die seit kurzem verglast ist. Verärgert greift sie nach ihren Zigaretten, lässt die Packung aber gleich wieder fallen. Anstatt zu rauchen leckt Wera ihren Zeigefinger an und reibt mit dem nassen Finger über das Deckblatt der Arbeit. Herr Maurer benutzt einen Tintenstrahldrucker, die Schrift ist wasserlöslich. Wera reibt kräftiger. Über das Papier ziehen sich schwarzgraue Schlieren. Niemand, nicht einmal Wera selbst, wäre jetzt noch in der Lage, die Anschrift des Studenten Carl-Josef Maurer zu entziffern. Schnell versteckt Wera die Arbeit mit dem unleserlichen Titelblatt in der untersten Schublade ihres Schreibtischs, greift zum Telefon und wählt. Im selben Moment klopft Frau Ott an die
Verbindungstür zum Sekretariat. Wera legt den Hörer zurück in die Halterung, lässt die Hand aber darauf liegen. »Ja, bitte.« »Frau Professor, entschuldigen Sie vielmals, dass ich noch einmal störe, aber der Student ist verschwunden.« »Welcher Student?« »Na der zweite, der nach dem Herrn Maurer dran gewesen wäre.« »Umso besser, dann machen wir Schluss für heute, Frau Ott. Lieb, dass Sie geblieben sind. Morgen können Sie schon mittags gehen, da haben Sie doch Ihren Bridgeabend, oder irre ich mich?« Die Sekretärin errötet. »Das kann ich nicht annehmen!« »Liebe Frau Ott, wenn ich’s Ihnen anbiete, dann können Sie’s auch annehmen. Also bittschön, zieren’s sich nicht so. Sie arbeiten sich sonst noch zu Tode.« »Recht herzlichen Dank, Frau Professor. Es passt grandios. Ich bleibe dann morgen nach der Mittagspause fort, ist das in Ordnung?« »Aber ja. Und jetzt beeilen Sie sich und kommen Sie gut nach Hause.« Wera wartet. Erst als Frau Ott die Tür zum Nebenraum abgeschlossen hat und ihre Schritte auf dem abendlich verlassenen Flur verklungen sind, wählt Wera noch einmal. Am anderen Ende wird sofort abgehoben. »Wera, was gibt es? Ich dachte, du bist längst auf dem Weg zu mir.« »Von wegen! Ich sitze immer noch im Büro, und vor meiner Tür warten mindestens vier weitere Studenten. Ich muss für heute Abend absagen. Vor neun komme ich hier bestimmt nicht raus. Vielleicht kannst du einen Kollegen mit ins Konzert nehmen.«
»Ich gehe mit keinem Journalisten in ein Sinfoniekonzert, das weißt du genau. Die wispern einem noch während der schönsten Passagen Details ihres letzten ProminentenInterviews ins Ohr. Das tu ich mir nicht an. Ich will mit dir in dieses Konzert, du bist wenigstens still, wenn das Orchester redet. Also, vertröste deine Studenten auf die nächste Woche und wirf dich in ein Taxi.« »Geht nicht, Rudolf, wirklich!« Der Mann am anderen Ende der Leitung seufzt. Es klingt ungehalten und belustigt gleichzeitig. Wera zündet sich eine Zigarette an. »Rauch nicht so viel!« »Schimpf nicht so viel!« Er lacht. »Was machst du am Wochenende?« »Arbeiten.« »So kommst du mir nicht davon. Wenn du unsere Verabredung für heute Abend absagst, ist eine Entschädigung fällig. Wir machen einen Ausflug, wie wäre das? Immer die Adria entlang. Grado, Duino, Miramare, Triest. Wenn das Wetter mitspielt, können wir im Hafen von Duino auf der Terrasse essen. Du erinnerst dich doch an das Fischrestaurant mit den Hummertortellini und den hervorragenden Brassen?« »Natürlich erinnere ich mich. Aber ich habe am Wochenende keine Zeit.« »Doch, hast du. Für mich schon! Ich möchte dir etwas zeigen, Wera.« »Was denn?« »Lass dich überraschen.« »Ich hasse Überraschungen, das weißt du genau.« Wieder lacht er. »Okay, ich verrate es dir: Ich habe unseren künftigen Altersruhesitz gefunden.« »Ich werde dich nicht heiraten, Rudolf, begreif es endlich. Auch wenn du das Schloss Miramare für mich kaufst.«
»Es schmeichelt mir, dass du mich für einen Krösus hältst. Aber ich habe etwas Besseres als Miramare entdeckt: ein kleines Kloster, gerade richtig verfallen, um von der Kurie veräußert zu werden.« »Ein Kloster? Als Ferienhaus? Du hast vielleicht Ideen! Aber gut, ich seh’s mir an. Hol mich am Samstag ab. Gegen elf bin ich fertig. Und reservier uns ein Zimmer in dem kleinen Hotel auf dem Karst, du weißt schon.« »Das mit dem schmiedeeisernen Balkon für die nackte Lady mit der Zigarette danach?« »Genau dieses!« »Dein Wunsch ist mir Befehl. Au revoir, ma chère.« »Au revoir, du Despot.« Während Wera sich die nächste Zigarette ansteckt, spielt sie ihren Briefkopf auf den Rechner, sucht die Adresse des Augustiner-Chorherrenstiftes heraus und beginnt, das Gutachten über die Kunstschätze der Klosterkirche zu tippen. Sie kommt schnell voran, denn der Befund ist eindeutig. Das im 17. Jahrhundert an die sehr viel ältere Kirche angebaute Kloster war nie üppig ausgestattet. Stiftungen und Schenkungen, auf die man anfänglich gehofft hatte, blieben aus. Nur notdürftig konnten sich die jeweiligen Äbte des Bettelordens über die Jahrzehnte retten. Beinahe wäre die Gemeinschaft den Klosterreduktionen des 18. Jahrhunderts zum Opfer gefallen, konnte sich im 19. Jahrhundert mehr schlecht als recht behaupten, erfuhr aber dafür in der faschistischen Ära des 20. Jahrhunderts unter Mussolini eine besondere Förderung. Ausgerechnet die Faschisten schätzten und nutzten die stabilisierende Funktion des katholischen Glaubens. Doch nach 1950 erlahmte das Interesse der Bevölkerung an dem Kloster, der dringend nötige Nachwuchs blieb aus, was in den siebziger Jahren zur endgültigen Schließung führte.
Seitdem verfallen die Klostergebäude, und die Kirche ist abgesperrt. Jetzt sollen die bedeutenderen Kunstschätze vorsichtig entfernt und in andere Chorherrenstifte gebracht werden. Der Orden hat entschieden, das Gelände zu veräußern und die Klosterkirche nach dem Verkauf öffentlich zugänglich zu machen, als Ort der stillen Andacht und Besinnung. So hat es jedenfalls der Prior Wera gegenüber formuliert. Bisher war diese stille Andacht auf dem Gelände oberhalb von Duino nur außerhalb der geweihten Mauern möglich, denn man hatte Angst vor Dieben. Doch nun, nach mehr als 30 Jahren der Vorsicht, wird Wera den Prior mit der ernüchternden Feststellung konfrontieren müssen, dass diese Angst überflüssig war, da die Kirche wenig Kostbares zu bieten hat, abgesehen von ihrer überraschend gut erhaltenen und sehr beeindruckenden romanischen Fassade, die man allerdings kaum würde abbauen wollen und können. Amüsiert überfliegt Wera diese kleine rhetorische Spitze noch einmal, bevor sie die Zeilen markiert und ins fiktive Jenseits des Computermülls befördert. Schließlich wird der Orden Wera dafür bezahlen, dass sie die Spreu vom Weizen trennt und nicht dafür, dass sie ironische Seitenhiebe in ihrem Gutachten platziert. Wera wendet sich der Inventarliste des Kircheninnenraums zu. Sie weiß genau, dass sich die Hoffnung des Priors vor allem auf ein Detail des Altarunterbaus richtet. Dessen Verkleidung, Antependium genannt, besteht aus einzelnen geschnitzten Vorsatztafeln. Und eine dieser Tafeln habe schon vor der Klostergründung die Kirche geziert. Das jedenfalls ist es, was man sich unter den Mönchen erzählt. Die Platte sei aus Elfenbein und sagenhaft wertvoll. Schon immer hätten sich Legenden um diese Schnitzerei gerankt, die möglicherweise sogar ein Bestandteil des berühmten Magdeburger Antependiums gewesen sein solle.
Leider wird Wera den Prior enttäuschen müssen, denn das besagte Täfelchen ist wertlos. Entschieden wählt sie ihre Worte: Es handele sich um eine einfache Holzschnitzerei, die zugegebenermaßen kunstvoll gealtert und mit einem elfenbeinweißen Brei aus Gesteinsmehl und. Farbe überzogen worden sei. Allerdings komme an den Kanten das Holz bereits zum Vorschein, sodass sich jede Prüfung im Labor erübrige. Um die Enttäuschung des Priors abzumildern, übertreibt Wera bei ihrer Einschätzung der restlichen Kunstschätze. Sie lobt die differenzierte Darstellung eines Letzten Abendmahls aus dem 17. Jahrhundert, ein Gemälde, das ebenso auslagernswert wie – leider – restaurierungsbedürftig sei. Außerdem empfiehlt sie dringend den Abbau einer frühgotischen Sitzmadonna, die zwar in bejammernswertem Zustand, aber kunstgeschichtlich höchst bedeutsam sei. Wera scheut sich nicht, die Marienfigur mit der Salzwedler Madonna zu vergleichen, und preist die romanische Blockform ebenso wie den gotischen Faltenwurf des Gewandes. Kritisch liest sie das Gutachten noch einmal durch. Doch, so kann es gehen. Der Prior wird die Abendmahlsdarstellung abhängen und die Sitzmadonna auslagern, beides restaurieren lassen und sich anschließend dem befriedigenden Gefühl hingeben können, trotz der Aufgabe des Klosterareals zwei nicht unbedeutende Kunstschätze für die Kongregation bewahrt zu haben. Wera druckt den Text aus, sucht in Frau Otts Büro nach einem Umschlag – warum bis morgen warten? – heftet die Seiten zusammen und tütet sie ein. In zwei Tagen wird das Gutachten beim Prior sein – eine eifrigere Reaktion auf sein Mahnschreiben kann er sich kaum wünschen.
Im Vestibül der Universität ist es kalt. Weras Schritte hallen, und die Leuchtstoffröhren an der Decke summen dazu. Nach
dem grellen Licht des Innenraums sehen die gelbfleckigen Straßenlaternen unter dem wild bewölkten Himmel abenteuerlich aus. Es ist ungewöhnlich warm für Mitte April und die Luft weich wie Badewasser. Am Morgen herrschte noch Frost. Plötzlich hat Wera es eilig. Sie läuft hinunter zur Votivkirche und überquert hastig den dreieckigen Vorplatz. Trotz der späten Stunde flutet der Verkehr über den Ring, auch scheinen mehr Menschen als üblich auf den Straßen zu sein. Am Taxistand wartet ein einziger Wagen. Wera öffnet den Schlag und lässt sich auf den Rücksitz fallen. Nur zwei Querstraßen weiter steht ihr eigenes Auto in der Berggasse, aber sie ist zu ungeduldig und zu unkonzentriert zum Fahren. Der Taxichauffeur bringt Wera in wenigen Minuten die Hernalser Hauptstraße hinauf. Die letzten hundert Meter zum Friedhofseingang geht sie zu Fuß. Sie hat Glück, das unauffällige Seitentor für die Gärtner und Steinmetze ist, wie häufig, nicht geschlossen. Auf dem Hauptweg begegnet Wera keiner Menschenseele. Hohe akkurat geschnittene Hecken verbergen den Blick auf die Gräber. Die Laternen, gusseiserne Sechsecke mit künstlicher Patina, erinnern an eine Vorstadtstraße. Gelbliche Glühbirnen werfen ein falsches Mondlicht auf den Kies. Für die schmalen Pfade, die die Hecke zu beiden Seiten in regelmäßigen Abständen unterbrechen und zwischen die Grabfelder führen, gibt es keine Beleuchtung. Doch Wera kennt ihr Ziel. Eine Kirchturmglocke schlägt die achte Stunde, als Wera vor einem quadratischen Erbbegräbnis stehen bleibt. Der schwarze Stein ist hoch und wirkt wie ein Loch in der Finsternis. Auf dem Grund des Loches leuchten Goldbuchstaben. Dr. Felix Pratzinger 1950-2003
Felix war acht Jahre älter als Wera. Eines Morgens lag er reglos neben ihr im Bett, reagierte weder auf ihre Worte noch auf ihre Berührungen. Trotzdem brauchte Wera eine Stunde, bis sie begriff, dass er tot war. Der Notarzt stellte Herzversagen fest und gab zögernd zu bedenken, dass der Tote mit einer schnelleren Reaktion vielleicht zu retten gewesen wäre. Selbstverständlich stimmte Wera einer Obduktion zu. Die Untersuchung bestätigte die Diagnose des Notarztes und entband Wera von jeder Mitschuld. Auf dem Grab liegt noch die Winterabdeckung. Überdimensionierte Tannenzapfen und schwarz-rot verschrumpelte Beeren an trockenen Stöckchen auf einem Bett aus Föhrenzweigen und Moos. Wera greift seitlich unter das Gebinde und hebt die Styroporplatte ab, auf der die Zweige befestigt sind. Zwischen den treibenden Wolken erscheint der Mond und lässt das Styropor für wenige Sekunden blau aufglänzen. Seitlich haben sich faulige Stellen gebildet, die im Licht fluoreszieren. Ein Teil der Dekoration löst sich aus den Drahtschlingen und fällt zurück auf den Grabhügel. Wera kümmert sich nicht darum, sondern trägt die Platte zu dem laufstallgroßen Abfallgitter am Ende des Weges und wirft sie hinein. Dem Müllhaufen entsteigt eine Wolke aus gärender Wärme. Das Styropor verkantet sich zwischen Erdklumpen, Pflanzen und Schleifenresten. Der Anblick lässt Wera an die unvollendeten Bühnenentwürfe des Expressionismus denken. Sie atmet den Geruch nach Moder und faulenden Blüten tief ein, dann geht sie zurück zum Grab ihres Mannes. Als Wera sich bückt, treiben neue Wolken vor den Mond. Der schwarze Stein verschmilzt wieder mit den Eiben und lässt die Goldbuchstaben in der Luft schweben. Auf ihrer tastenden Suche nach den Resten des Grabschmucks treffen Weras Hände auf Würmer und Käfer. Die nackte Erde ist kalt und bröselig wie gefrorener Streuselteig. Wera sammelt die
restlichen Zapfen und Zweige vom Grab. Der Mond bleibt versteckt, doch die Styroportafel schimmert als finale Zielscheibe hinter dem Maschendraht des Abfallbehälters. Einem plötzlichen Impuls folgend wirft Wera einen der Zapfen quer über die Gräber. Er prallt von außen gegen das Metallgitter und bringt es zum Schwingen. Ein Ton wie von verstimmten Violinsaiten zerschneidet die Stille. Der zweite Zapfen erreicht sein Ziel und landet dumpf zwischen den Pflanzenresten. Der dritte verfehlt den Abfallbehälter knapp und tupft einen Schmutzfleck in eine morbide Landschaft aus weißen Schleifen und goldenen Fransen. Der vierte und letzte Zapfen fliegt weit über sein Ziel hinaus und taucht knisternd in ein winterkahles Gebüsch. Wera bückt sich noch einmal und rafft einige Zweige mit den bröselnden Beeren zusammen. Dann lässt sie ihre Hände in einer segnenden Gebärde vorschnellen, sodass Zweige und Beeren auf die benachbarten Gräber niederregnen. Die Wolken geben den Mond frei, der lachend auf die rot gesprenkelte Friedhofserde herabsieht.
Bucklige Erdbeeren mit frühreif gespannter Haut quellen aus Spankörben. In braunen und grauen Plastikeimern stehen dickknospig aufgetriebene Kirschzweige neben Bündeln von Birkenreisern, deren frisches Grün unecht wirkt. Das Gelb von Forsythienblüten wetteifert mit dem der Osterglocken, die stapelweise auf den Holztischen der Marktstände liegen. Daneben türmen sich weiße, rote, gelbe und fransig bunte Tulpen mit kurz geschnittenen fleischigen Stielen. Ein Himmel, unwirklich wie im Theater, blau gelackt und wolkenlos, steht über der Stadt. Als eine Kirchturmuhr die elfte Stunde schlägt, zieht die junge Frau hinter dem Blumenstand ihre Wolljacke aus. Ein plötzlicher Windstoß wirft zwei voll erblühte Margeritenbüsche um. Unter dem
knappen T-Shirt der Blumenverkäuferin werden die Brustwarzen hart. Der Käsehändler vom Stand gegenüber vergisst für Sekunden, dass seine Ehefrau neben ihm bedient, und pfeift durch gespitzte Lippen. Die Blumenverkäuferin bückt sich und richtet die Margeriten auf. Die Frau des Käsehändlers tritt ihrem Mann hinter der Bedienungstheke mit aller Kraft auf den Fuß. Er verzieht keine Miene und beobachtet das Spiel der Brustwarzen aus den Augenwinkeln, während er den Rohmilchkäse und die Freilandeier für Wera verpackt. Wera nimmt ihren Korb und schlendert weiter zum Obsthändler. Er ist vor fünf Tagen Vater geworden, seine Frau liegt noch im Krankenhaus. Jeder Stammkunde muss sich eine Kurzfassung der Kaiserschnittnacht anhören, bevor er bedient wird. Wera streicht über die samtige Haut von Pfirsichen und fragt sich, wo in aller Herrgottsnamen diese Früchte im April herkommen. Sie kauft drei davon, dazu Äpfel, Bananen und einen harten, hellen Eisbergsalat. »Viereinhalb Kilo hat der Kleine bei der Geburt gewogen. Kein Wunder, dass es Probleme gab!« Der junge Vater ordnet stolz die Früchte und den Salat in Weras Henkelkorb an. »Jeden Morgen zieht der Bub meiner Nicola die ganze Milch aus dem Busen, und zwei Stunden später brüllt er nach mehr. Die Schwestern sagen, er wird sich durchsetzen im Leben.« Wera lächelt und nickt und dreht blinzelnd das Gesicht in die Frühlingssonne. Ihre winterblassen Arme können sich nicht zwischen Frösteln und Sonnenwärme entscheiden. Vor dem Kaffeehaus an der Ecke hat man die ersten Stühle auf die Straße gerückt. Zwei junge Frauen, deren Gesichter Wera schon in der Universität gesehen zu haben meint, beugen die Köpfe über ein geheftetes Vorlesungsverzeichnis. Am Nachbartisch bestellt ein Herr in Trachtenjacke ein Glas Waldmeisterbowle. Wera setzt sich an ihren Stammplatz vom letzten Sommer dicht neben den Eingang.
»Guten Morgen, Frau Professor Pratzinger. Einen großen Braunen, wie üblich?« »Ja. Und bringen’s mir dazu einen Topfenstrudel. Und die Morgenzeitung, bitte schön.« »Gern, Frau Professor.« Die beiden jungen Frauen blättern eifrig. Plötzlich beginnen sie zu kichern. Wera fragt sich, welche der Ankündigungen ihrer Kollegen wohl der Grund für die Heiterkeit ist. Sie versucht, über die Distanz Einzelheiten im Vorlesungsverzeichnis zu erkennen, hat aber keinen Erfolg. Als Carl-Josef Maurer am Ende der Straße erscheint, mündet das Kichern in ein zweistimmiges Räuspern. Verstohlen rücken sich die Studentinnen in ihren Stühlen zurecht. Herr Maurer ist ein attraktiver Mann, er trägt sein Lächeln an Weras Tisch, und die Studentinnen gehen leer aus. »Guten Morgen, Frau Professor Pratzinger.« Wera sitzt bequem in ihren Korbstuhl gelehnt und lässt den Blick langsam an den Radfahrerbeinen hinaufwandern. Es dauert eine Weile, bis sie bei den entblößten weißen Zähnen angekommen ist. Sie runzelt die Stirn und scheint nach dem Namen des Studenten zu suchen. Dann lässt sie das Lächeln frei. »Guten Morgen, Herr Maurer«, Sie reicht ihre Hand zu ihm hinauf und er drückt sie zu fest. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe.« »Aber ich bitte Sie, Frau Professor, bei den Studentenzahlen…« »Falls Sie einen Moment Zeit haben, setzen Sie sich doch bitte.« »Das tue ich gern. Vielen Dank.« Carl-Josef Maurers Beine ragen weit auf das Trottoir hinaus. Eine junge Frau, die einen Kinderwagen schiebt, umfährt die Beine in einer betonten Kurve und wirft ihm einen bösen Blick
zu. Herr Maurer blickt schuldbewusst unter gesenkten Lidern hervor, seine Wimpern sind lang und dicht. »Vielleicht rücken wir näher an die Hauswand, sodass nur noch die Kellnerin über Ihre Beine stolpern kann«, schlägt Wera vor und muss gleichzeitig über die eigenen Worte lachen. Der Student sieht ihr beim Lachen zu, dann greift er nach Weras Einkaufskorb und schiebt den schweren Tisch mit der Marmorplatte ein Stück nach hinten. »Ihre Arbeit hat mich beeindruckt, Herr Maurer.« »Sie haben sie schon gelesen? Das wundert mich aber. Sagten Sie nicht, dass die Professoren zu Semesterbeginn alle Hände voll zu tun haben?« Der Student Maurer würzt die Bemerkung mit einem ironischen Blick, ohne das gewinnende Lächeln von den Lippen zu nehmen. »Glauben Sie mir, Herr Maurer, in der ersten Woche des Semesters tun wir alle nur so, als täten wir etwas, und unterscheiden uns damit kaum von den Studenten«, lügt Wera. »Ihre Arbeit habe ich mir bald nach unserem Gespräch angesehen.« »Und?« Wera denkt, jetzt sieht er aus, als sei er der Professor und ich die Studentin. Er schaut so aufmerksam und konzentriert, fast gönnerhaft. Das darf er natürlich nicht, es steht ihm aber gut zu Gesicht. »Ihre Arbeit ist gescheit, Herr Maurer. Die Forschungsansätze, die Sie skizzieren, sind vielversprechend.« Wera gönnt sich einen langen Blick in die Augen des jungen Mannes, bevor sie fortfährt. »Und Ihr Thesenpapier ist geradezu brillant.« »Ich denke, Sie wissen, was mir ein Lob aus Ihrem Mund bedeutet.« Wera spart sich die Antwort. Stattdessen schlägt sie die Beine übereinander und wippt mit dem Fuß. Die beiden Studentinnen
am Nebentisch bitten die Kellnerin um die Rechnung. Sie haben genug gesehen. »Sagen Sie, Herr Maurer…« »Ja?« »Möglicherweise brauche ich für dieses Semester eine weitere Hilfskraft. Nach der Lektüre Ihrer Arbeit könnte ich mir vorstellen, dass Sie der Richtige sind. Hätten Sie Interesse an der Stelle?« »Es würde mir gefallen«, Maurer streicht sich mit ausladender Bewegung durchs Haar, »und ich könnte sicher viel bei Ihnen lernen.« »Also abgemacht! Dann verabreden Sie für die nächste Woche einen Termin mit meiner Sekretärin, damit wir alles Nähere besprechen können.« Der Student nickt und steht auf. Wera hat das Bedürfnis, sich auch zu erheben, aber sie unterdrückt den Impuls und reicht ihm sitzend die Hand zum Abschied. Carl-Josef Maurer sieht Wera zu lange in die Augen. Dafür vergisst er, ihre Hand so kräftig wie bei seiner Ankunft zu drücken. »Auf Wiedersehen, Frau Professor Pratzinger. Ich freue mich auf die nächste Woche.« Wera neigt den Kopf, lächelt und schweigt.
Als Wera an diesem Tag die Uni betritt, ist es weit nach Mittag. Frau Ott wartet mit einer guten Neuigkeit auf sie. Die Bibliothek hat zusätzliche Mittel zugesagt bekommen, sodass jede Lehrkanzel eine kleine Wunschliste für Bücheranschaffungen abgeben kann. Wera müsste ihrer Sekretärin eigentlich einige dringende Anträge diktieren und ein Gutachten fertig stellen, aber die Verlockung, Geld auszugeben, das ihr nicht gehört, ist größer. Sie zieht sich in ihr Dienstzimmer zurück und notiert die Titel einiger sündhaft
teurer Bildbände, zu deren Kauf für ihre Privatbibliothek sie sich bisher nie hat entschließen können. Frau Ott nutzt die Gelegenheit, um ihren Schreibtisch und die Wandschränke aufzuräumen. Die festen Schritte der Sekretärin pendeln zwischen den Ecken des Nachbarraumes hin und her und machen Wera nervös. Das energische Aufziehen von Schubladen und Zuschlagen von Schranktüren deutet auf eine größere Unternehmung hin. Als es dazu noch an der Außentür klopft, weiß Wera endgültig, dass die Ruhe der Semesterferien dahin ist. Seufzend greift sie nach ihren Zigaretten. »Ja bitte.« Eine junge Frau betritt den Raum. Sie ist mittelgroß, brünett und ungewöhnlich gut gekleidet. Wera lächelt und bietet ihrer Assistentin einen Stuhl an. »Wie war es in Indien, Frau Palfy? Sie waren doch über Ostern in Indien, oder irre ich mich?« »Indonesien, nicht Indien«, antwortet Irma Palfy lächelnd. Dann fügt sie hinzu: »Es war meine Hochzeitsreise. Seit vier Wochen bin ich Frau Leonhardt.« »Gratuliere, Frau Leonhardt. Nur Leonhardt? Ganz ohne Palfy?« »Markus hasst Doppelnamen.« »Markus ist Ihr Mann, nehme ich an. Moment mal: Markus Leonhardt? Der Markus Leonhardt?« Irma, geborene Palfy, verheiratete Leonhardt, nickt stolz. »Wir haben uns im letzten Herbst kennen gelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick.« Erschrocken hält Weras Assistentin inne und wird rot. Verlegen senkt sie die Stimme. »Ich hätte vielleicht schon früher…« Sie räuspert sich, verstummt plötzlich und lässt offen, was sie vielleicht schon früher hätte tun sollen. Wera hilft ihrer Assistentin nicht über die Situation hinweg. Wie käme sie dazu? Allzu genau kennt sie die Gründe für
deren Verlegenheit. Und allzu schmerzlich ist die Erinnerung daran. Mit überspannt fröhlicher Stimme erkundigt sich Wera: »Und wie ist es, mit dem Erben des Leonhardt-Imperiums verheiratet zu sein?« Die frischgebackene Frau Leonhardt, ehemals Palfy, errötet noch einmal. Sie verzichtet auf eine Antwort und beteuert ernsthaft: »Ich möchte mich auf jeden Fall habilitieren. Mein Mann wird in den nächsten beiden Jahren sehr beschäftigt sein. Er will auf dem Karst ein Wellnesshotel bauen.« »Das fehlte gerade noch.« Irma Leonhardt nickt heftig, ohne wahrzunehmen, dass Weras Äußerung nicht ironiefrei war. »Diese Hotels boomen wie verrückt. Die Leute können nicht genug von Whirlpools und Biosaunen bekommen. Aber das Projekt ist noch geheim, ich sollte gar nicht darüber reden.« »Dann lassen Sie’s einfach. Haben Sie Xaver Sturz heute schon gesehen?« »Nein. Danach wollte ich Sie auch fragen. Eigentlich war ich heute Morgen um elf mit ihm verabredet, aber er war nicht da.« »Merkwürdig. Er ist doch sonst so zuverlässig. Sein Hilfskraft-Vertrag läuft noch bis zum Herbst, oder irre ich mich?« »So ist es, Frau Pratzinger. Ich verstehe überhaupt nicht, was da los ist. Ans Telefon geht er auch nicht. Ich habe in den letzten Tagen ein paar Mal angerufen, weil ich unsere Verabredung bestätigen wollte. Vielleicht ist er nicht von seiner Reise zurückgekommen…« »Wohin wollte er denn verreisen?« »Das hat er niemandem gesagt, das ist ja das Problem.«
»Wahrscheinlich war er auch in Indien zum Heiraten. So hellblond wie er ist, müssten die jungen Inderinnen scharenweise auf ihn fliegen.« Irma Leonhardt kann die Anspielung ihrer Chefin nicht komisch finden. Patzig antwortet sie: »Indonesien, Frau Pratzinger. Und geheiratet haben wir selbstverständlich in Wien.« »Selbstverständlich. Hat sich denn die neu eingestellte Hilfskraft wenigstens bei Ihnen gemeldet? Wie hieß sie noch gleich? Veronika Neuburger, nicht wahr? Der Kollege Kramer hatte sie im letzten Winter so warm empfohlen.« Frau Leonhardt nickt. »Ich habe gestern versucht, ihr alles zu erklären. Aufbau der Lehrkanzel, Rechnerausstattung, Schreibund Zeichenprogramme, das Übliche eben.« »Schön. Und welchen Eindruck hat Frau Neuburger auf Sie gemacht?« »Sie lacht gern«, antwortet die Assistentin diplomatisch. Wera hebt schweigend die Augenbrauen. Frau Leonhardt nimmt das als Aufforderung und fragt: »Warum hat Professor Kramer diese Veronika Neuburger eigentlich nicht selbst eingestellt, wenn er so begeistert von ihr ist?« Wera lächelt, zuckt die Schultern und denkt, das möchte ich auch gern wissen.
Der Mann, der wenig später Weras Zimmer betritt, ist ihr sofort unsympathisch. Nicht nur, weil er nicht angeklopft hat. Nicht nur, weil er sich setzt, bevor sie ihm einen Stuhl angeboten hat. Nicht nur, weil er missbilligend ihren gut gefüllten Aschenbecher auf dem Schreibtisch mustert. Nicht nur, weil das Foto auf seinem Dienstausweis sichtbar retuschiert ist.
Kommissar Eduard Schirn von der Wiener Kriminalpolizei hat das Aussehen eines Sittenstrolches, findet Wera. Sie schätzt ihn auf Mitte fünfzig, mindestens, das fettige Schwarz seiner Haare kann unmöglich echt sein. Auch die buschigen Augenbrauen, die Wera in ungemütlicher Weise an ihren verstorbenen Ehemann denken lassen, sind vermutlich gefärbt. Der faltige Altmännerhals ragt aus dem zu weiten Kragen des Pilotenhemdes wie ein Spargel, der die Normmaße nicht erfüllt. Beim Reden wippt der Kopf des Polizisten geierartig nach vorn. Aber Kommissar Schirn sucht nicht nach Aas, er sucht nach Xaver Sturz. »Die Eltern des jungen Mannes haben erst gestern eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Doch gemeldet hat er sich seit Ostern nicht mehr bei ihnen. Das heißt, er ist seit gut zwei Wochen verschwunden. Vollkommen spurlos, wie es scheint. Das ist selten ein gutes Zeichen. Aber möglicherweise können Sie mir weiterhelfen. Ich höre, er arbeitet hier.« »Im Moment nicht.« »Was soll das heißen?« »Ich vermisse ihn auch, Herr Kommissar.« »Sie wissen nicht zufällig, was er in den Semesterferien vorhatte?« »Zufällig nicht. Sollte ich?« »Nein. Es wäre sogar besser für Sie, wenn Sie es nicht wüssten.« Wera steckt sich eine Zigarette an und denkt darüber nach, was mit einer Beamtin des Landes Österreich geschieht, wenn sie einen anderen Beamten des Landes Österreich aus ihrem Dienstzimmer wirft. Sie ist sicher, dass dieser Umstand in keinem Gesetz geregelt ist. Das mitleidige Lächeln des Kommissars macht sie rasend.
»Ich höre, Sie hatten ein ausgesprochen gutes Verhältnis zu Ihrer Hilfskraft Xaver Sturz, Frau Professor.« »Alle Mitarbeiterinnen dieser Universität, die Herrn Sturz kannten, hatten ein ausgesprochen gutes Verhältnis zu ihm. Nur die männlichen Mitarbeiter waren nicht immer gut auf ihn zu sprechen. Xaver Sturz war ein Charmeur von Gottes Gnaden.« »Wissen Sie zufällig, zu welcher der Damen er besonders charmant war?« »Mein Institut ist keine Heiratsvermittlung, Herr Kommissar.« »Ich dachte immer, jede Universität wäre das. Ganz nebenbei selbstverständlich. Ergibt sich doch aus der Altersstruktur.« »Mag sein. Aber falls Sie uns Hochschullehrer für so eine Art Oberkuppler halten sollten, sind Sie auf dem Holzweg.« »Vielleicht tanzen die Professoren lieber selbst in dem Reigen mit? Wäre nahe liegend. Ich stelle mir das nicht gerade leicht vor: den lieben langen Tag von attraktiven Studenten umgeben zu sein, die einen über alle Maßen bewundern.« »Ach? Stehen Sie auf Studenten, Herr Kommissar?« »Sehr komisch. Zurück zu Herrn Sturz: Wie würden Sie ihn charakterisieren? Ich versuche gerade, mir ein Bild von ihm zu machen, so eine Art Persönlichkeitsprofil zu entwerfen.« »Xaver Sturz war charmant und intelligent. Aber er konnte auch sehr sturköpfig sein und manchmal zynisch bis zur Beleidigung. Ich habe das selbst zwei- oder dreimal in Seminaren erlebt.« »Nur in Seminaren?« »Ganz recht.« »Sie meinen also, dass sich Sturz mit seinen Provokationen durchaus hätte Feinde machen können und demzufolge leicht zum Opfer eines Gewaltverbrechens hätte werden können?«
»Ich habe gesagt, er konnte sehr zynisch sein. Alles andere ist Ihre Interpretation.« »Warum reden Sie im Präteritum von Herrn Sturz?« »Weil Sie es vor mir getan haben, Herr Kommissar.« Wera lächelt süßlich. »Haben Sie sonst noch Fragen?« »Für heute nicht, Frau Pratzinger.« »Für Sie immer noch Frau Professor Pratzinger«, antwortet Wera böse. Aber da hat der Kommissar ihr Dienstzimmer schon verlassen.
»Und diesen Ausblick möchtest du also jeden Morgen nach dem Aufstehen genießen.« Wera umreißt mit einer weiten Handbewegung den Horizont von den flachen Sandstränden Grados im Norden bis zum südlichen Ende der Küste, wo die Triestiner Bucht mit den hohen Hafenaufbauten liegt und die Stadt sich die Hügel hinauf zieht. »Der Blick über den Klosterkomplex ist auch nicht schlecht. Jedenfalls, wenn man Ruinen mag.« Rudolf Rumberg geht hinüber auf die andere Seite des Steinturms, von wo aus er die Reste von Refektorium und Wohntrakt überschauen kann. Wera betrachtet seine schlanke, fast hagere Figur im Abendlicht, während sie ihm langsam folgt. Beim Gehen lässt sie die Hand über die hüfthohe Steinbrüstung des Turmes gleiten, der den Kreuzgang überragt und auf dessen Altan sie gestiegen sind. »Das müsstest du alles abreißen lassen, die Zellen, den eingestürzten Speisesaal, da ist nicht mehr viel zu retten.« »Unter dem Schutt des Dachstuhls ist ein wundervolles Bodenmosaik. Ich zeig’s dir nachher. Man könnte eine Wohnhalle drum herum bauen – oder ein riesiges Badezimmer.«
Oder gleich ein Wellnesshotel, denkt Wera, aber sie spricht es nicht aus. »Trotzdem, Rudolf: Es würde vom Kloster nicht viel mehr übrig bleiben als der Kreuzgang da unten, dieser Turm hier und meinetwegen das Mosaik. Und die Aussicht natürlich.« »Aber die ist grandios, das musst du zugeben.« Rumberg legt Wera den Arm um die Schultern und deutet hinüber zur Triestiner Bucht. »Von dort aus sind sowohl Franz Kafka als auch Gustaf Aschenbach nach Venedig übergefahren.« »Sie hören die Belehrung zum Feierabend. Es spricht unser Korrespondent aus Triest, Bildungsbürger Rudolf Rumberg«, spottet Wera. »Wer ist Gustaf Aschenbach?« »Das weißt du nicht? Eine Thomas-Mann-Figur.« »Und was haben Kafka und dieser Aschenbach in Venedig getrieben?« »Der eine ist dort gestorben, der andere ist über Verona nach Riva weitergereist, wo er die rätselhafteste Frau seines Lebens traf.« Wera lächelt. »In einer Stunde könnten wir mit dem Wagen in Triest sein. Wir nehmen die Fähre und versuchen es auch.« »Ich habe keinen Bedarf an schönen Unbekannten. Du bist mir rätselhaft genug. Und sterben wollte ich eigentlich auch noch nicht. Jedenfalls nicht in Venedig. Eher schon hier und 40 Jahre später.« »Und die letzten Stunden deines Lebens wolltest du hier oben verbringen?« »Warum nicht?« »Weil du als alter Mann die Stufen nicht mehr hinaufkommst. Außerdem möchte ich bezweifeln, dass du es in 40 Jahren immer noch reizvoll findest, jeden Morgen zu den Freiluftduschen da unten neben dem Feigenbaum zu humpeln.« Wera deutet auf die alte Duschanlage zwischen den
Zellenresten. »Immer vorausgesetzt, dass die Rohrleitungen überhaupt intakt sind.« »Du hast Recht. Wahrscheinlich müsste man das alles abreißen lassen.« »Was sagen denn die Denkmalschützer dazu?« »Ich habe mich erkundigt. Zum Glück stehen nur Kirche und Kreuzgang unter Denkmalschutz.« »Und du glaubst wirklich, dass der Orden dir das Grundstück verkauft?« »Verkaufen wird er es sicher. Das Kloster ist bereits entweiht. Die Frage ist nur, ob ich der glückliche neue Besitzer sein werde.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es außer dir noch andere Irre gibt, die so ein Projekt in Angriff nehmen.« »Man muss hier nicht als Privatmann seine Wochenenden verbringen wollen. Man kann auch richtig Geld herausschlagen.« »Ach?« »Sagt dir der Name Markus Leonhardt etwas?« »Ja, natürlich. Der geistert ständig durch die Boulevardpresse.« »Leider scheint sich Klein-Markus jetzt vorgenommen zu haben, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.« »Als Baulöwe meinst du?« »Bingo, Wera!« »Warte mal: Die Schönheitsfarm?« »Woher weißt du das? Ich habe meine ganzen Verbindungen spielen lassen müssen, um von Leonhards Plänen zu erfahren.« »Meine Assistentin ist seit ein paar Wochen mit ihm verheiratet.« »Die kleine Palfy? Das gibt’s doch nicht!« »Da ist der Herr Feuilletonchef platt, gell?«
»Allerdings!« Rudolf Rumberg fährt sich mit beiden Händen durchs Haar. Es ist grau meliert und störrisch. Seit Wera Rudolf kennt, trägt er es sehr kurz geschnitten, sodass nichts von seinen scharfen Gesichtszügen ablenkt. Gerade vertiefen sich die Falten zwischen Nase und Mund, wie immer, wenn Rudolf sich konzentriert. »Sie müssen geheiratet haben, während ich in New York war. Und bei meinen Recherchen habe ich mich auf das Leonhardt-Imperium beschränkt. Ich könnte mit Einzelheiten aufwarten, von denen du bestimmt noch nichts gehört hast.« »Immobilienspekulationen sind auch nicht unbedingt mein Spezialgebiet. Eher Baugeschichte. Bist du an Details über die Kirche da hinten interessiert?« »Sie ist abgesperrt, leider. Unten im Dorf gibt es irgendwo einen Schlüssel. Aber man bekommt ihn nur mit einer schriftlichen Genehmigung vom Orden.« »Ich weiß. Aber das bleibt nicht mehr lange so. Wenn das Kloster verkauft ist, wird die Kirche wieder geöffnet.« »Und wer bewacht die Kunstschätze?« »Die werden vorher abmontiert.« »Woher weißt du das?« »Ich habe das Gutachten für den Orden geschrieben. Gerade letztens. Es ist nichts besonders Wertvolles in der Kirche.« »Aber sie ist richtig alt, man muss sich nur das Portal ansehen.« »Das stimmt schon. Aber nicht alle alten Kirchen strotzen vor Kostbarkeiten. Die Region war arm, die Bruderschaft auch. Es gibt nicht mehr als eine interessante, aber ziemlich heruntergekommene Darstellung des Letzten Abendessens aus dem 17. Jahrhundert. Und eine Sitzmadonna auf dem Thron aus der Frühgotik.« »Und was wird damit, wenn jeder hier reinmarschieren kann?«
»Vermutlich wird alles ausgelagert. Genau wie seinerzeit die ganze Bibliothek. Einiges, was die Augustiner zusammengetragen hatten, muss ziemlich bedeutend gewesen sein. Frag mich nicht, wo die Bestände herkamen. Angeblich gab es sogar eine Bibel aus dem Jahre 1474.« »Und wo ist das alles hingekommen?« »Wahrscheinlich haben sich irgendwelche anderen Augustinergemeinschaften die Kunstschätze einverleibt. Das ist der übliche Weg. Aber wolltest du dir wirklich eine ausführliche kunstgeschichtliche Belehrung einhandeln? Wenn wir uns nicht bald um die Bausubstanz kümmern, Rudolf, sind wir nicht rechtzeitig unten am Hafen und verpassen den Sonnenuntergang.« »Tu bloß nicht so naturbeflissen, Wera, du willst nur zu Benito und seiner großartigen Speisekarte.« »Und wenn schon.« Lachend stößt Wera die schwere Tür zum Treppenschacht auf. Bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, tastet sie mit der Fußspitze nach jeder Treppenstufe. Ab und an bückt sie sich, um Wände und Bodenbretter abzuklopfen. »Hier scheint nichts feucht zu sein, da hast du Glück gehabt, Rudolf. Hoffentlich gilt das für die Dielen in den umlaufenden Arkaden auch. Es ist ein kleines Wunder, dass der Dachstuhl des Kreuzganges überhaupt gehalten hat.« »Er ist zuletzt errichtet worden und wahrscheinlich von anderen Handwerkern, das habe ich schon herausgefunden.« Rudolf hält Wera die Holztür zu der Galerie im Zwischengeschoss auf. Sie tritt ins Licht und lehnt sich über die Brüstung. Im Klosterhof sonnen sich zwei Eidechsen auf dem Steinhaufen, der einmal eine Zisterne war. Es riecht nach Salbei und Lavendel. Den meisten Stauden scheint das warme, windstille und trockene Klima gut zu bekommen. Nur zwei
Thymianbüsche und ein Currystrauch dorren ihrem kreatürlichen Ende entgegen. »Hast du da unten Probegrabungen veranstaltet, Rudolf? Der Boden sieht so uneben aus.« »Ich habe überhaupt nichts veranstaltet. Und ich werde es auch bis zum 15. Juni nicht tun.« »Was ist am 15. Juni?« »Der Ortstermin.« »Du sprichst in Rätseln, mein Held.« »Der Prior hat zum Verkaufsgespräch geladen. Und zwar hierher. Bis vor wenigen Tagen nahm ich an, die Einladung gelte exklusiv für mich. Aber dann setzte ich meinen sportlichen Neffen, du kennst ihn, er kann ein kleines Handgeld immer gut gebrauchen, auf die frühmorgendliche Joggingspur von Klein-Markus, dem Erben. Denn KleinMarkus pflegt mit seinem Finanzberater zu joggen. Hat mir ein Kollege erzählt.« »Lass mich raten: Der Prior ist clever und wird das Kloster im Rahmen einer amerikanischen Versteigerung veräußern, die hier unten im Innenhof stattfinden soll. Und Klein-Markus wird den Ortstermin mit seiner Anwesenheit zieren.« »Hör auf mit dem Quatsch, Wera. Es ist mir ernst mit der Sache.« »Also?« »Versteigerung: nein, gemeinsamer Ortstermin: ja.« »Sauber!« »Wie man’s nimmt. Fest steht jedenfalls, dass mir das Erbe meines alten Herrn wenig nutzen wird, wenn ich gegen das geballte Leonhardt-Vermögen antreten muss.« »Du könntest sagen, dass du ein Heim für gefallene Mädchen errichten möchtest. Dann hättest du wenigstens die Moral auf deiner Seite.«
»Ich könnte aber auch versuchen, den Leonhardt-Konzern durch gezielte Pressepolitik mit Schmutz zu bewerfen und aus dem Klosterverkauf ein Politikum zu machen.« »Und hinterher kaufst du die Immobilie selbst? Es gibt einfachere Methoden, die eigene Karriere zu ruinieren, mein Lieber.« »Du könntest die Immobilie kaufen, Wera. Mit meinem Geld. Wie wäre das?« »Und anschließend heiraten wir, damit alles schön in der Familie bleibt. So denkst du dir das doch, oder?« Rudolf nimmt Wera in den Arm und will sie küssen. »So ähnlich denke ich mir das in der Tat«, murmelt er in Weras Ohr. Sie wendet sich ab. »Ohne mich.« »Wera, sei nicht so sperrig.« »Bedank dich bei deinem alten Schulfreund Felix Pratzinger für meine Sperrigkeit.« »Werd nicht zynisch, Wera.« »Du weißt genau, wie oft er mich betrogen hat. Wahrscheinlich weißt du es sogar besser als ich. Und dann glaubst du im Ernst, dass ich in diesem Leben noch einmal heirate? Vergiss es.« »Felix war ein Schürzenjäger, okay. Aber das wusstest du genau, als ihr euch zusammengetan habt.« »Aber ich wusste nicht, welche Geschmacklosigkeiten mir bevorstanden. Er hat’s mit meiner eigenen Assistentin getrieben. Keine zwei Monate nachdem ich sie eingestellt hatte, ging die Geschichte los.« Als Rudolf die Antwort schuldig bleibt, lacht Wera böse. »Ach, du hast gedacht, das sei mir verborgen geblieben?« Ihre Stimme wird schrill. »Ganz Wien wusste von der pikanten Liaison. Der Herr Ministerialrat führte seine jugendliche Geliebte ja auch ungeniert aus. Nur die arme dumme Ehefrau, die hatte natürlich keine Ahnung
und gab der Irma Palfy noch gute Ratschläge für ihre Habilitation. Habt ihr euch das so vorgestellt, Felix und du?« »Wera, bitte, reg dich nicht auf! Der Felix war eben so, aber er hat dich geliebt. Und er ist schließlich in deinem Bett gestorben.« »Was soll das denn heißen?« Rudolf setzt sich auf die Steinbalustrade, streckt den Arm aus und zieht Wera zu sich heran. »Ich hab’s dir schon so oft gesagt. Immer lachst du darüber, aber ich glaube nun mal daran: Es gibt keine Zufälle. Und wenn ein Mann an Herzversagen stirbt, dann ist es kein Zufall, wo das geschieht. Und dein Mann, Wera, ist in deinen Armen gestorben und nicht in denen irgendeiner Irma oder Charlotte oder Gabriele.« »Von Gabriele wusste ich noch gar nichts.« Wera macht sich los und setzt sich Rudolf gegenüber auf die Balustrade. Während sie spricht, sieht sie auf den Kreuzgang hinunter. »Weißt du, ich hätte Felix diese ganzen Weiber verziehen. Dieses ganze lächerliche Rumgehure. Ehrlich. Es hat mich nicht gestört, sonst hätte ich ihn nicht geheiratet, da hast du Recht. Aber diese Sache mit der kleinen Palfy, das war etwas anderes. Das war eine Boshaftigkeit.« »Felix war schon immer ein Spieler, vielleicht wollte er einfach sehen, wie weit er gehen kann.« Wieder fährt sich Rudolf durchs Haar. Er vermeidet es, Wera ins Gesicht zu sehen, und senkt den Blick ebenfalls auf die Kräuter und die verfallene Zisterne. »Ich hatte wirklich keine Ahnung, dass du damals von dieser Geschichte erfahren hast. Und die Palfy – oder Leonhardt oder wie sie jetzt heißt – weiß es mit Sicherheit bis heute nicht. Ist sie nicht immer noch an deiner Lehrkanzel beschäftigt?« »Ich konnte sie schlecht mit Schimpf und Schande davonjagen. Wir leben nicht mehr im Mittelalter, mein Lieber.«
Rudolf antwortet nicht. Er steht auf und zieht auch Wera von der Balustrade hinunter. »Komm mit. Ich zeige dir den Kräutergarten. Die alten Strukturen sind noch gut zu erkennen. Fehlen nur ein paar Säcke Mutterboden und eine Palette frischer Buchsbaumsetzlinge, und du kannst deinen Frühstückstisch direkt neben einem intakten Beet aufstellen und die Kresse für den Quark gleich im Sitzen schneiden.« »Ich hasse Kräuterquark zum Frühstück«, murmelt Wera, während sie Rudolf widerstrebend ins dunkle Treppenhaus folgt. Als Rudolf längst in den besonnten Innenhof getreten ist, lehnt Wera immer noch an einer der Turmwände und kämpft gegen die aufsteigenden Erinnerungen. Da war der Tag, an dem sie begann, Verdacht zu schöpfen. Da waren diese Fotos in der Zeitung. Und da war ihre eigene unbändige Wut. Aber nach sehr kurzer Zeit gab es nur noch eines: Diese verdammte Ablenkungsaktion, zu der sie sich entschlossen hatte und die fatale Folgen haben sollte.
Schon ihre Sprechstunde am Nachmittag dieses Katastrophentages stand unter einem schlechten Stern, nur dass Wera es zunächst nicht wahrnehmen konnte, sondern mit einer Mischung aus Amüsement und Verärgerung auf ein ungewöhnliches Gespräch reagierte. Vor ihr saß Xaver Sturz, eben jener Student, der jetzt von der Wiener Polizei gesucht wird. Er war damals noch nicht lange Hilfskraft an ihrer Lehrkanzel. Wera hatte Schwierigkeiten gehabt, sich an seine eigenwillige Art zu gewöhnen. Er hatte häufig etwas Provozierendes, ohne dass Wera hätte erklären können, worin die Provokation bestand. Vielleicht nur darin, dass sie ihn nicht lesen konnte, dass er seine Gedanken vor ihr verschloss, selbst
diejenigen, die die Studienangelegenheiten betrafen. Das war Wera nicht gewohnt. Normalerweise freuten sich die Studenten über jede Minute Aufmerksamkeit, die ihnen ein Hochschullehrer widmete. In den Sprechstunden sprudelten sie über vor Mitteilungsdrang, sie wussten, sie mussten diese beschränkte Zeit möglichst geschickt nutzen, um die Höchstmenge an Informationen aus der Professorin oder dem Professor herauszuholen. Nicht so bei Xaver Sturz. Da war in jedem Gespräch eine Grenze, die von ihm gesetzt und niemals überschritten wurde. Die Grenze bezog auch fachliche Themen mit ein. Sturz wiegelte ab oder wechselte den Gesprächsgegenstand, er nahm Wera mit selbstverständlicher Souveränität die Kontrolle über jeden ihrer Dialoge aus der Hand. Er tat es geschickt. Anfänglich bemerkte sie nichts. Dann amüsierte es sie. Später reagierte sie verwirrt. Und schließlich machte es sie rasend. Aber Sturz war nun einmal Weras Hilfskraft, sie sprachen mehrmals täglich miteinander, und mit der Zeit gewöhnte sich Wera an seine distanzierende Art. Gelassen wartete sie darauf, dass er ihr irgendwann ein Examensthema präsentieren würde. Dann musste er mit ihr reden. Er tat es lange nicht. Und in ebendieser Sprechstunde, an die sie sich jetzt erinnert, fragte sie ihn nach seinem Thema. Er nickte bedächtig, als habe er auf diesen Vorstoß gewartet, und antwortete: »Das ist ein wenig heikel. Darf ich auf Ihre Diskretion hoffen?« Da platzte Wera der Kragen. »Bevor ich diese Frage beantworte, wüsste ich gern, worum es geht. Und diesmal ohne Ausflüchte bitte!« Xaver Sturz blieb ruhig. Obwohl er genau wusste, dass vor der Tür mindestens drei Kommilitonen saßen und dass im Viertelstundentakt neue hinzukamen, ließ er sich Zeit mit der Antwort. Wera wartete schweigend und half ihm nicht.
Schließlich sagte Xaver Sturz in beiläufigem Tonfall: »Es handelt sich um ein Verbrechen. Leider.« Wera verkniff sich jedes Anzeichen von Überraschung. Kühl erkundigte sie sich: »Geht es etwas genauer?« »Kennen Sie Duino?« »Natürlich.« »Das Kloster auf dem Karst?« Wera winkte ab. »Ja, kenne ich. Aber für eine Examensarbeit ist da nichts zu holen. Jedenfalls nichts kunstgeschichtlich Interessantes. Es ist nicht mehr als ein ganz normales Provinzkloster mit einer ganz normalen Provinzkapelle.« »Ich weiß. Aber das war nicht immer so. Es gab durchaus etwas zu holen, wie Sie sich auszudrücken belieben.« Er stockte kurz, als habe ihn ihre unerwartete Vorlage aus dem Konzept gebracht, fuhr aber mit beherrschter Stimme fort: »Wie gesagt: Es gab durchaus etwas zu holen. Und ein Onkel von mir hat es geholt.« »Hat was geholt?« »Ein Antependium. Nein, nicht das ganze. Nur einen Teil davon. Ein einziges Täfelchen. Selten, alt, aus Elfenbein. Es zeigt Jesus im Tempel. Hauchfein geschnitzt. Ein Wunder muss die Tafel in das Kloster verschlagen haben. Jedenfalls habe ich in der Literatur keine Erklärung dafür gefunden, wie sie zwischen diese grob bemalten Holzschnitzereien geraten sein könnte, die die Lebensgeschichte des Gottessohns darstellen und die Vorderfront des Altars bis heute zieren – wenn man das denn eine Zierde nennen möchte. Es scheint, als sei die Existenz dieser Elfenbeintafel der Wissenschaft bisher entgangen.« »Moment mal! Verstehe ich Sie richtig? Eine der Tafeln soll wertvoll gewesen sein? Nur eine einzige?« »Genau. Sie wissen wahrscheinlich besser als ich, dass die Einzelteile etlicher Antependien ein wechselvolles Schicksal
hatten. Das hing wahrscheinlich mit ihrem Format zusammen. Sie waren vielfältig einsetzbar und außerdem leicht zu transportieren. Sind ja nicht viel größer als eine CD-Hülle.« »Und dieser Onkel von Ihnen hat diese eine also gestohlen? Einfach abgeschraubt, oder wie habe ich mir das vorzustellen?« »Abgeschraubt, ja. Anfang der vierziger Jahre. Er war Soldat und verstand einiges von Kunstgeschichte.« »Sie sind wirklich sicher, dass die Tafel wertvoll war?« »Hundertprozentig. Wenn Sie sie einmal gesehen haben, werden Sie mir sofort zustimmen.« »Und über diese gestohlene Tafel wollen Sie ihre Arbeit schreiben?« »Falls das geht…« »Sie ist also in Ihrem Besitz?« Sturz nickte. »Na, dann sehe ich nicht, wo das Problem sein sollte. Sie geben die Tafel zurück – und anschließend arbeiten Sie darüber. Die Aufmerksamkeit der Presse wird Ihnen sicher sein.« »Das ist eben das Problem. Ich will sie nicht zurückgeben. Sie ist ein Erbstück, sie gehört zu mir und meiner Familiengeschichte.« »Sie sind verrückt.« »Wohl kaum. Würde ich sonst Ihren Rat suchen?« »Haben Sie die Tafel bei sich?« Der Gedanke war Wera ganz plötzlich gekommen. Gebannt starrte sie auf den Rucksack des Studenten. Aber Xaver Sturz schüttelte den Kopf. »Für wie dumm halten Sie mich?« »Mit Dummheit hat das nichts zu tun. Also: Haben Sie sie bei sich oder nicht?« »Nein.«
»Ich glaube Ihnen kein Wort.« »Sie haben mir die restliche Geschichte doch auch geglaubt.« Eiskalt klang seine Stimme, fast spöttisch. »Das Täfelchen ist zu Hause bei mir. In meiner Wohnung. Wenn Sie wollen, kommen Sie vorbei, heute Abend zum Beispiel, dann zeige ich es Ihnen gern.« Es klang wie ein Lockruf. Ein erotisch grundierter Lockruf? Aber wozu und vor allem warum sollte dieser junger Mann Wera verlocken wollen? Das alles ergab keinen Sinn. Wera war mit Felix Pratzinger verheiratet. Sie hielt ihre Ehe für glücklich, trotz Felix’ gelegentlicher Affären. Wera und Felix traten häufig gemeinsam in der Öffentlichkeit auf. Man kannte sie als Paar. »Herr Sturz, es tut mir Leid, aber ich muss diese – wie Sie zugeben werden – absurde Unterhaltung jetzt beenden. Vor der Tür warten sicher etliche Kommilitonen von Ihnen. Und selbstverständlich habe ich bei Ihnen zu Hause nichts verloren. Sie müssten sich schon überwinden können, mir das Corpus Delicti einmal hier zu präsentieren. Vielleicht in der nächsten Woche. Sie wissen ja, wo meine Sprechstundenliste üblicherweise hängt.« Sturz lächelte, nickte und ging. Wera kümmerte sich weiter um ihre Studenten. Am Abend hatte sie die Sache vergessen. Es war ein anstrengender Tag gewesen, sie hoffte darauf, dass Felix für sie beide etwas zum Abendessen vorbereitet haben würde. Er war ein guter Koch, frönte dieser Leidenschaft aber nur anfallweise. An diesem Abend hatte er keinen Anfall gehabt – er war noch nicht einmal zu Hause. Wera aß, was sich im Kühlschrank an Resten auftreiben ließ, dann warf sie sich aufs Sofa. Es war schon spät, als sie nach der Zeitung griff, und sie war zu müde, um sich auf Politik oder das Feuilleton zu konzentrieren. Unaufmerksam blätterte
sie weiter bis zum Fernsehprogramm und den Gesellschaftsnachrichten. Gestern Abend hatte es an der Burg eine Uraufführung gegeben. Tout Wien war dort gewesen, auch Felix hatte für sie beide Karten gehabt. Als Wera um sieben immer noch keine Anstalten gemacht hatte, ihren Schreibtisch zu verlassen und sich umzukleiden, war Felix wütend allein aufgebrochen. Es gab eine Reihe von Fotografien von der Premierenparty in der Zeitung. Felix war mehrmals zu sehen, er hatte ein Talent dafür, sich immer dort aufzuhalten, wo es am spannendsten war. Felix war ein gut aussehender Mann, und Wera schaute sich gern die Fotos an, die es von ihm in den Gazetten gab. Dieser fremde Blick stellte eine Distanz zu ihrem Ehemann her, die Wera im alltäglichen Zusammensein nicht mehr aufbringen konnte und die sie daran erinnerte, warum sie ihn geheiratet hatte. Es dauerte ein wenig, bis Wera bemerkte, dass etwas an den Bildern nicht stimmte. Es war eine Blicklinie, die sie irritierte. Eine unsichtbare Gerade, die auf jedem Foto quer durchs Format lief und die nur anhand der Stellung eines Augenpaares auszumachen war. Als Wera mit ihrer Analyse so weit gekommen war, ging alles Weitere sehr schnell. Irma Palfy, ihre frisch eingestellte Assistentin, stand nie im Mittelpunkt, war aber auf jedem Foto im Hintergrund zu finden. Manchmal halb verdeckt von anderen Gästen, mal lachend, mal redend, einmal auch nur verträumt in die Gegend schauend – so schien es auf den ersten Blick. In Wirklichkeit sah sie Felix an, immer, auf jedem der Fotos, gleichgültig mit wem sie lachte oder redete. Und Felix reagierte auf ihre Blicke. Es war weit weniger auffällig als bei der kleinen Palfy, nicht immer hatte es etwas mit seinen Augen zu tun, einmal war es
nur die Körperhaltung, die ihn verriet. Aber Felix war ein Flirtprofi, das wusste Wera längst. Sie beschloss, sich nicht aufzuregen, stopfte die Zeitung in den Müll und ging ins Bett. Dort lag Wera lange wach, trotz der Erschöpfung und entgegen aller Vorsätze. Sie wartete und horchte, aber Felix kam nicht nach Hause. Als er um Mitternacht noch nicht erschienen war, stand Wera wieder auf und kleidete sich an. Sie wollte ihrem Mann nicht nackt begegnen – falls er überhaupt in dieser Nacht noch auftauchen würde. Bisher hatte er das immer getan. Wera ahnte, es würde ein schlechtes Zeichen sein, sollte Felix nicht heimkommen. Um sich abzulenken, begann Wera zu recherchieren. Diese hanebüchene Geschichte mit dem gestohlenen Antependiumplättchen, die ihre Hilfskraft Xaver Sturz erzählt hatte, kam ihr gerade recht. Und die Internet-Recherche war genau die richtige Ablenkung. Das Thema fesselte Wera schnell. Die einzelnen Tafeln von Antependien schienen die Wanderpokale des frühen Mittelalters gewesen zu sein. Diese Elfenbein- oder Metallarbeiten waren ein beliebter Altarschmuck des 10. und 11. Jahrhunderts. In Gruppen hergestellt, erzählten sie Bildergeschichten vom Leben einzelner Heiliger oder von anderen bedeutenden biblischen Ereignissen. Nur wenige Menschen konnten damals lesen oder schreiben, da war ein anschauliches Bilderbuch auf der Altarvorderseite nicht das schlechteste Medium zur Vermittlung der religiösen Überlieferung. Aber die Zeiten waren wechselhaft, es gab Kriege, Plünderungen, Feuersbrünste. Wo einstmals eine komplette Geschichte auf Täfelchen erzählt worden war, blieben häufig nur wenige Reste, die an ihrem ursprünglichen Ort keinen Sinn mehr machten. Man schraubte sie ab und verwendete sie anderweitig – jedenfalls wenn sie wertvoll waren. Oft wurden
diese einzelnen Platten in Buchdeckel eingefügt. Die Einbände der kostbaren Handschriften waren aus gehämmertem Silber, manchmal sogar aus Gold, da machte sich in der Mitte eine Tafel aus Elfenbein mit einer passenden Schnitzerei ausgezeichnet. So überlebten einige der Tafeln bis heute in unterschiedlichsten Bibliotheken. Und warum sollte man nicht anlässlich einer Klosterneugründung eine dieser kostbaren Platten wieder aus einem Buchdeckel herauslösen und beschließen, bei einem geeigneten Schnitzmeister eine passende Bildergeschichte zu bestellen? Es musste nicht gleich eine Arbeit aus Elfenbein sein, man würde eben das alte Plättchen wie ein Juwel in die Mitte von vergleichsweise preiswert zu beschaffenden bemalten Holztäfelchen setzen. Es war sogar denkbar, dass man das Elfenbein ebenfalls hatte bemalen lassen, um die Kostbarkeit zu tarnen. Die Fratres würden schon gewusst haben, was da an ihrem Altar angebracht war, und alle anderen ging es nichts an. Als Wera sich bei dem Gedanken ertappte, dem Studenten Xaver Sturz doch einmal einen Besuch abzustatten, verließ sie abrupt das Suchprogramm und schaltete den Computer ab. Dann sah sie auf die Uhr. Kurz vor zwei in der Nacht. Mit Felix war wohl nicht mehr zu rechnen. Weras Arbeitszimmer war restlos verqualmt, auf ihrem Schreibtisch stand ein übervoller Aschenbecher. Trotzdem brauchte sie jetzt eine letzte Zigarette. Wera schüttelte die Schachtel – nichts. Der Automat war gleich um die Ecke, aber sie hatte kein Kleingeld im Portemonnaie. Also warf sie sich eine Jacke über, griff nach ihrem Autoschlüssel und machte sich auf den Weg zur nächsten Nachttankstelle.
Wera trommelt nervös auf die Schreibtischplatte. Hinter der geschlossenen Tür zum Vorzimmer rumort es. Vor einer halben Stunde haben sich die beiden neuen Hilfskräfte und Weras Assistentin dort zusammengefunden. Die Verbindungstür ist nicht schallisoliert, sodass Wera das Gespräch genau verfolgen kann. Herr Maurer stellt kluge Fragen und scheint noch die kompliziertesten Antworten zu verstehen, während die hübsche Veronika Neuburger nicht viel mehr als ihr glucksendes Lachen zu den ernsthaften Erläuterungen Irma Leonhardts beisteuert. Wera verflucht im Stillen den Kollegen Kramer, der ihr die Einstellung der jungen Frau empfohlen hat. Gerade versucht Carl-Josef Maurer Weras Assistentin argumentativ zu unterstützen. »Veronika, komm doch mal her, wir erklären dir das alles ganz ausführlich, dann verstehst du es auch.« Natürlich, denkt Wera, sie sind Kommilitonen, sie duzen sich. Ob er auch Frau Leonhardt bei ihrem Vornamen nennt? »Wenn der Papierkorb auf dem Bildschirm voll ist, dann wird er dick und rund, siehst du, Veronika, so. Und wenn du ihn ausgeleert hast…« Die Tastatur klackert und das Fräulein Neuburger lacht niedlich. Das Lachen Irma Leonhardts klingt dagegen tief und kehlig. Der Student Maurer redet weiter. Manchmal versteht Wera seine Worte nicht ganz, jetzt allerdings wird seine Stimme wieder lauter. »Na also! Wenn du das einmal begriffen hast, Veronika, bist vom Idealbild einer Computerspezialistin nicht mehr weit entfernt.« Unironisch klingt das nicht. Wera hofft, dass sich die Neue auch weiterhin so dumm anstellen wird. Am Ende des Semesters kann sie nur einen der beiden Hilfskraftverträge verlängern, dann soll sich der Kollege Kramer einen anderen
Protege für das Fräulein Neuburger suchen. Wera zündet sich eine Zigarette an. Der Student Maurer im Nebenraum flüstert eindringlich. Weras Hand mit dem Feuerzeug zittert. Sie schließt die Augen und denkt, ich bin verrückt! Das Fräulein Neuburger kichert, als könne sie Weras Gedanken lesen, und sagt dann laut und deutlich: »Heute nicht, aber morgen Abend habe ich Zeit.« Wera inhaliert den Zigarettenrauch tief und gleichmäßig. Er zeichnet grazile Linien in die Luft, die Wera an die Lettern auf Carl-Josef Maurers Hausarbeit erinnern. Mit der freien Hand fährt Wera durch die empfindlichen Gebilde, als gelte es, feindliche Flugzeuge abzuwehren. Im Nebenraum unterbricht Irma Leonhardt das sich anbahnende Tête-à-tête. »Kommt mal mit, ihr beiden, ich zeige euch die sekretierten Bücher in der Bibliothek.« Wera denkt, also die duzen sich auch schon. Kaum sind die Stimmen auf dem Flur verklungen, läuft die Professorin den dreien hinterher. Die Asche ihrer Zigarette lässt sie auf den Boden fallen, das Linoleum ist ohnehin fleckig und alt. Außerdem ist Wera wütend. Was denkt sich dieser Herr Maurer eigentlich? Flirtet mit ihrer Assistentin und trifft sich heimlich mit der anderen Hilfskraft. Wera fegt durch den Vorraum der Bibliothek, ohne die höflich grüßenden Angestellten eines Blickes zu würdigen, in letzter Sekunde drückt sie ihre Zigarette aus. Dann, zwischen den Büchern, hallen ihre Schritte durch die Stille. Wera legt die Hände auf den Rücken und zwingt sich zu einem leisen und bedächtigen Gang. Der Raum, in dem die Sekreta verwahrt werden, ist leer. Also durchkämmt Wera die schmalen Querwege seitlich des Hauptganges. Am Ende dieser büchergesäumten Pfade stehen quadratische Arbeitstische mit Stahlbeinen und Resopalplatten. Auch die Tische sind verlassen, auf einigen liegen Bücherstapel, hin und wieder
finden sich aufgeschlagene Kladden. Von Leonhardt, Maurer und Neuburger keine Spur. Vielleicht essen sie ebenso wie die Studenten, die hier arbeiten, gerade zu Mittag, überlegt Wera. Um diese Zeit ist es in der Bibliothek leer und in der Mensa voll. Da hört sie ein Rascheln auf der gegenüberliegenden Seite des Bücherregals. Auf Weras Augenhöhe versperren großformatige Folianten jede Sicht, sodass sich Wera bücken muss, um zwischen Bücheroberkanten und dem darüber liegenden Regalboden hindurch zu schauen. Vor einem weißen T-Shirt blättern schmale Hände in einem Bildband, schlagen eine Seite nach der anderen um, ohne lange zu zögern. Das Ganze wirkt unentschlossen und lustlos, als seien die Gedanken des Blätternden nicht bei der Sache. Jetzt wird der Bildband zugeklappt und wieder in das Regal gestellt. Wera macht einige Schritte auf den Mittelgang zu. Die unsichtbaren Beine unter dem T-Shirt machen auch einige Schritte. Wera bleibt stehen und wartet, doch der Mensch hinter dem Regal reagiert nicht. Er bewegt sich weiter, und das T-Shirt verschwindet aus Weras Blickfeld. Nur das sachte Auftreten von Füßen ist aus dem Gang nebenan zu hören. Jetzt haben die Füße den Hauptgang erreicht. Sie zögern einen kurzen Moment lang, in dem es völlig still in der Bibliothek ist, dann setzen sich die Füße wieder in Bewegung. In gleichmäßigen Schritten rollen schwarze Schuhe über den Boden und entfernen sich endgültig.
Wera schließt die Augen und sieht den Studenten Maurer vor sich in den Gang einbiegen. Er lächelt sie an und kommt näher, ohne ein Wort zu sagen. Wera öffnet den Mund, obwohl sie nicht weiß, was sie fragen soll, aber das ist nicht wichtig, denn der Student legt ihr sacht den Finger auf die Lippen. Ermutigt
durch diese Geste tastet Wera nach seinem T-Shirt und nach dem Körper unter dem Stoff. Carl-Josef Maurer streicht ihr die Haare aus dem Gesicht und biegt ihren Kopf sanft nach hinten. Seine Lippen sind weich und vorsichtig, sie umrunden Weras Mund auf eine fast andächtige Weise. Wera streichelt Nacken und Ohrgruben, geduldig versucht sie, den wandernden Mund auf ihren Lippen zu halten, winzig harte Bartstoppeln reiben an ihrer Wange.
Ein Räuspern läßt Wera auffahren. Vor ihr steht Irma Leonhardt. »Störe ich Sie, Frau Pratzinger?« »Nein, gar nicht. Was gibt es?« »Ich mache mir wirklich Sorgen wegen Xaver Sturz. Er kann doch nicht einfach verschwunden sein…« »Das wäre zumindest unwahrscheinlich. Aber wie soll ich da weiterhelfen? Sogar ein Herr von der Kriminalpolizei war schon bei mir. Ein ganz unangenehmer Mensch, übrigens.« »Frau Pratzinger, es geht mich nichts an, und ich hätte auch nie etwas dazu gesagt, aber…« Irma Leonhardt bricht mitten im Satz ab und wird rot. Wera denkt, was kann die denn noch zum Erröten bringen, und fragt: »Aber… was?« »Nun ja. Soweit ich weiß, hatten Sie zu Herrn Sturz ein sehr… wie soll ich sagen… inniges Verhältnis. Ich will mich gar nicht einmischen, aber…« »Innig. Wie darf ich das verstehen?« Weras Stimme klirrt vor Kälte. »Der Xaver hat im letzten Frühjahr beim Heurigen draußen erzählt, dass Sie und er über eine gemeinsame Exkursion nachgedacht hätten.«
Wera lacht leise. »So, hat er das. Im letzten Frühjahr? Und wie viel von dem frischen Heurigen hatten Sie beide vorher getrunken?« »Frau Pratzinger, es ist mir ernst. Ich habe Angst, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte.« »Der Xaver Sturz ist ein Glückskind, dem stößt so schnell nichts zu. Und was Sie sich da zusammenphantasiert haben von dem Herrn Sturz und mir, das möchte ich lieber nicht gehört haben, ist das klar?« Der Kommissar ist sofort am Telefon. »Pratzinger, ich wollte…« »Die Frau Professor! Wie schön, dass Sie sich entschlossen haben, mit mir zusammenzuarbeiten.« »Herr Schirn, ich weiß nicht, ob es wichtig ist, aber ich möchte Ihnen empfehlen, sich einmal mit meiner Assistentin über Xaver Sturz zu unterhalten.« »Mit dieser Frau Leonhardt? Sie meinen wegen der Wohnung?« »Welcher Wohnung?« »Eben. Ich halte das auch für übertrieben. Nur weil Ihre Assistentin den Vermieter von Herrn Sturz geheiratet hat und die Kronenzeitung so eine fette Schlagzeile daraus gemacht hat – Hirn und Geld heilt die Welt. Haben Sie’s nicht gesehen?« »Kronenzeitung… so was lese ich nicht.« »Ja, dann wundert mich gar nichts mehr. Jedenfalls wäre es zu viel verlangt, wenn ausgerechnet die Frau Leonhardt gleich alles über den verschwundenen Herrn Sturz wissen sollte.« »Ich verstehe immer noch nicht…« »Tatsächlich? Und dabei sagt man doch immer, die Hochschulen beherbergen die geistige Elite unseres Volkes.« Der Kommissar lacht meckernd. »Passen Sie auf, Frau Professor, ich werd’s Ihnen erklären: Wenn ein Mensch verschwindet, befragt die Polizei den Arbeitgeber, alle
Nachbarn und eben auch den Vermieter. Reine Routinesache. Wer hat den Vermissten zuletzt gesehen, wann sind die letzten Rechnungen von ihm bezahlt, die Kontoanweisungen unterschrieben worden? – Können Sie mir folgen?« Wera überhört die Beleidigung und bejaht die Frage. »Bei Herrn Sturz ist das so«, fährt der Kommissar fort, »die Arbeitgeberin, also Sie selbst, scheint sich kaum an ihn erinnern zu können…« »Aber«, will Wera protestieren, doch der Kommissar lässt sie nicht zu Wort kommen. »Nachbarn gibt es nicht, denn Xaver Sturz wohnt als letzter Mieter in einem dieser Abbruchhäuser in der Vorstadt. Alle anderen sind bereits ausgezogen. Nur er hält noch die Stellung – oder hielt die Stellung, besser gesagt. Der Vermieter, also die Eigentümerin der Häuser, ist eine von Markus Leonhardts Baugesellschaften. Und die rückt keine Einzelheiten heraus, beruft sich auf den Datenschutz, wie üblich, macht uns also richtig Arbeit.« »Ach so. Darum ging es mir aber gar nicht. Was ich Ihnen sagen wollte, ist Folgendes: Die Frau Leonhardt ist eng mit dem Herrn Sturz befreundet gewesen. Fragen Sie mich jetzt aber nicht, wie weit die Freundschaft ging…« »Das wollte ich gerade tun.« »Fragen’s lieber bei der Irma Leonhardt selbst nach. Sie hat mir da so Heurigengeschichterln erzählt…« Der Kommissar lässt sich nicht von dem volkstümelnden Tonfall täuschen. »Soll ich die Frau Leonhardt dann schön von Ihnen grüßen, Frau Pratzinger?«, erkundigt er sich lauernd, lacht sein Ziegenbocklachen und legt auf, ohne Weras Antwort abzuwarten. Die Wut bringt Weras Hals zum Schwellen. Die nächsten beiden Zigaretten tun das ihrige dazu. Der Rauch kratzt, Wera hustet, alles schmerzt. Wenig später tun ihr auch die Ohren
weh. Den Kopf sprengt ein dumpfes Gefühl, das sich ausdehnt. Vielleicht hätte sie den Kommissar besser nicht anrufen sollen. Dabei hat sie nichts als die Wahrheit gesagt. Der Sturz und die Leonhardt, damals noch Palfy, waren ein schönes Paar, auch wenn sie offiziell nie eins waren. Der blond verwegene Sturz und die ruhige, dunklere, brav wirkende Palfy. Sie waren gleich groß, hatten die gleiche helle Haut und die gleichen geschmeidigen Bewegungen, wenn sie nebeneinander durch die Gänge der Universität liefen. Sie gingen immer eng nebeneinander, manchmal lag auch Sturz’ Arm wie zufällig auf den Schultern der Palfy. Xaver Sturz war jemand, der andere gern anfasste. Und alle ließen sich gern von ihm anfassen. Seine Berührungen waren wie kleine Küsse. Ich denke im Präteritum von ihm, überlegt Wera, der Kommissar hat Recht mit seinen unausgesprochenen Befürchtungen. Xaver Sturz ist tot. Sein Körper verwest. Wenn man ihn finden wird, wird er stinken und sein Fleisch wird von den Knochen rutschen. Wera ruft sich selbst zur Ordnung. Sie will sich zusammenreißen. Aber das Bild des toten Körpers ist überscharf. Gegen diese Fieberfantasien muss sie schnellstens etwas unternehmen. Ohne ihrer Sekretärin Bescheid zu geben, verlässt Wera ihr Dienstzimmer und die Universität. Wie in Trance läuft sie nach Hause. Sie sieht nichts, sie hört nichts. Aber der Geruch nach Verwesung lauert an jeder Straßenecke. Als Wera endlich allein in ihrer Wohnung ist, trägt sie alle Decken zusammen, die sie besitzt. Es hilft wenig gegen den Schüttelfrost, nichts gegen die Gliederschmerzen und erst recht nichts gegen die unappetitlichen Gedanken. Erst weit nach Mitternacht schläft Wera in Skiunterwäsche, Wollpullover und einen alten Bademantel gehüllt erschöpft ein.
Der Student Xaver Sturz spaziert durch all ihre Träume. Er gießt am Morgen die Venus-Fliegenfalle in Weras Küche und verschüttet anschließend das Kaffeepulver auf dem Bord. Er kauft sein Obst am gleichen Marktstand wie Wera, betastet die Pfirsiche und die Melonen, die Wera auswählt, mit seinen blassen Händen. Er sitzt schon auf Weras Schreibtischstuhl und kramt gedankenverloren in ihren Papieren, als sie ihren Computer benutzen will. Er schlüpft am Nachmittag im Schwimmbad aus der Umkleidekabine nebenan. Er wartet am Abend im Taxi auf Wera und teilt mit ihr eine Theaterloge. Er applaudiert nur, wenn sie es auch tut. Er bestellt beim Kellner das gleiche Nachtmahl wie sie, beide Portionen werden auf einer großen Platte serviert, von der sich Xaver Sturz selbstverständlich bedient. Er trägt denselben Regenmantel wie Wera, und als sie in ihren Manteltaschen nach dem Haustürschlüssel sucht, begegnet sie seinen unruhigen Fingern. Er benutzt am Abend ihre Zahnbürste, und er legt in der Nacht seine Kleidung auf den einzigen Stuhl neben ihr Bett, seine enge Jeans auf ihre weite Leinenhose, sein helles T-Shirt auf ihren dunklen Pulli, die Streifenshorts auf den Spitzenslip. Dann steigt er zu Wera ins Bett und schlüpft unter ihre Decke.
Am nächsten Morgen hat Wera hohes Fieber, die Mandeln sind so stark geschwollen, dass sie kaum sprechen kann. Rudolf Rumberg hat Mühe, ihre Worte am Telefon zu verstehen. Der Notarzt diagnostiziert eine SeitenstrangAngina, verordnet strickte Bettruhe und verschreibt Penicillin. Frau Ott verspricht besorgt, alle Termine für die kommende Woche abzusagen, natürlich auch die Sprechstunde. Ob sie die Vorlesung am Freitag auch absagen solle, will die Sekretärin wissen. Wera verneint krächzend und beendet das Telefonat.
Am nächsten Freitag steht Wera schwankend hinter dem Katheder. Mit einer Hand hält sie sich an dem Holzkasten fest, mit der anderen zieht sie das Mikrophon näher an ihre Lippen. Es nutzt nichts. Weras Stimme ist leiser als sonst und kann den Hörsaal nicht füllen. Wera fühlt sich schwach und fehl am Platz. Sie will wieder nach Hause unter ihre Decken, sie redet schneller als üblich und lässt den Studenten keine Pausen zum Mitschreiben. Auch wirft sie keinen Blick ins Auditorium, es fällt ihr schwer genug, mit den Augen die Zeilen zu halten. Verstohlen schaut sie immer wieder auf die Uhr. Ob ihre Assistentin im Hörsaal ist? Das Gespräch in der Bibliothek kurz vor dem Ausbruch ihrer Krankheit fällt Wera ein. Und ihr eigener denunziatorischer Anruf bei dem Kommissar. Vorsichtig hebt sie den Blick. Irma Leonhardt sitzt wie immer ganz unten rechts, und auf dem Stuhl neben ihr sitzt Carl-Josef Maurer. Die Beine in den engen Jeans sind lang ausgestreckt, auf Höhe der Knöchel liegen sie entspannt übereinander, sodass die schwarzen Schuhe glänzend und aufdringlich in die Höhe stehen. Das weiße T-Shirt ist frisch gebügelt, Wera denkt, es müssten noch die Spuren meiner Hände darauf zu sehen sein, ich habe doch in der Bibliothek… Aber dann fällt ihr ein, dass alles nur eine Fieberphantasie gewesen ist. Prompt verliest sie sich, sagt Kapuzinerkluft statt Kapuzinergruft. Die Studenten quittieren den Versprecher mit Gelächter. Der Student Maurer lacht nicht. Er blickt Wera geradewegs ins Gesicht, ohne eine Miene zu verziehen. Sie sagt die nächsten drei Sätze auswendig auf, um genauer hinsehen zu können. Herr Maurer schaut sie zwar an, aber eigentlich durch sie hindurch. Offensichtlich sitzt er in ihrer Vorlesung und träumt vor sich hin. Frau Leonhardt dagegen ist konzentriert
wie immer. Sie macht sich Notizen, runzelt die Stirn, reibt ihre Nase und rutscht ab und an unruhig auf dem Stuhl herum. Als die Vorlesung beendet ist und Wera endlich den Stapel ihrer Papiere zusammenschieben kann, dauert es lange, bis die Studenten sich aus den Reihen und die Treppenstufen hinunter geschoben haben. An den Ausgängen klumpen sie sich zu Trauben und verstopfen die Durchgänge. Wera räumt mit äußerster Langsamkeit ihre Tasche ein. Sie schichtet die Blätter ihres Manuskriptes einzeln aufeinander und sortiert ihre Stifte sorgfältig, wobei sie es vermeidet, den Blick zu heben. Nur nicht zufällig Carl-Josef Maurer in die Augen sehen. Doch das scharrende Geräusch der vielen Füße will und will nicht leiser werden. Also räumt Wera die Tasche wieder aus, tut, als suche sie etwas, betrachtet jedes einzelne Stück, als sähe sie es zum ersten Mal. Endlich verebben die Geräusche um Wera herum. Der Hörsaal ist leer, der Student Maurer nicht zu sehen. Was hat sie denn erwartet? Hastig stopft Wera die Manuskriptseiten zurück in die Tasche, wirft Schlüsselbund, Stifte und Terminkalender hinterher. Das Vorlesungsmanuskript hält dem Druck nicht stand und reißt ein. Der sirrende Ton hallt in Weras Ohren wider, aber sie schließt die Tasche, ohne sich den Schaden zu besehen. Frau Ott wird die Seiten eben morgen früh neu ausdrucken müssen. Als Wera den Hörsaal verlässt, löst sich der Student Maurer von der Wand neben der Tür. Es wirkt, als habe er ihr aufgelauert. »Frau Professor Pratzinger, darf ich Sie etwas fragen?« »Ja, bitte.« »Ist es möglich, dass ich in den nächsten Tagen den Rechner in Ihrem Büro benutze, um ein paar Daten zu konvertieren?« »Wenn es nicht zu lange dauert. Sprechen Sie das am besten mit Frau Ott ab.«
Wera hütet sich davor, dem Studenten in die Augen zu sehen, und wendet sich ab, doch Maurer bleibt an ihrer Seite. Wera geht schneller, fast läuft sie, aber es nutzt nichts, denn CarlJosef Maurer hält mit ihr Schritt. Schweigend begleitet er Wera durch den langen Korridor, schweigend verlassen beide die Universität, schweigend passieren sie die Votivkirche und überqueren die Währinger Straße, schweigend biegen sie in die Berggasse ein. Vor Weras Haustür sagt der Student: »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, Frau Professor Pratzinger. Hoffentlich hat Sie meine Begleitung nicht gestört, aber wir haben den gleichen Heimweg, und da dachte ich…« Mitten im Satz bricht er ab und wirkt nun doch verwirrt. Wera ist erleichtert, als sie es bemerkt. »Aber ich bitte Sie, Herr Maurer, Sie haben mich nicht gestört. Ich bin nur noch nicht ganz auf dem Posten. Aber das wird schon wieder.« »Ich hoffe sehr, dass es Ihnen bald besser geht, Frau Pratzinger!« Warum lässt er ihren Titel weg? Ist es das Zeichen beginnender Vertraulichkeit? Wera will nicht darüber nachdenken und weiß doch genau, dass sie es tun wird. »Entschuldigen Sie mich jetzt bitte, ich bin wirklich erschöpft. Guten Abend, Herr Maurer.« Carl-Josef Maurer nickt und hebt schweigend die Hand. Es ist eine Geste, die Gruß und Entschuldigung gleichzeitig sein kann. Oder nichts von beidem. Wera schließt die Haustür auf und verschwindet im Inneren des Altbaus, ohne sich noch einmal nach dem Studenten umzusehen. Kaum ist die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss gefallen, reißt sie sich die Kleider vom Leib. Ihr ist, als müsse sie ersticken. Jede Berührung von Jackett, Hose und T-Shirt ist wie das Streicheln einer Männerhand. Erst im heißen Badewasser, das dunkel gefärbt ist von einer
Moorschlammpackung und Wera den Blick auf den eigenen Körper verwehrt, findet ihre Haut Ruhe.
Im Arkadenhof der Universität stehen zwischen alten Säulen Büsten mit den ehrwürdigen Gesichtern längst verstorbener Gelehrter, und Marmorreliefs zeugen von den Glanzzeiten der Alma Mater. Ab und an gibt es hier einen Umtrunk für die Professorenschaft, etwa nach einer Antrittsvorlesung wie an diesem Nachmittag. Die Herren und Damen Kollegen haben entspannte, fröhliche Gesichter, sie bedienen sich an den kleinen Tischen, auf denen die Sekretärinnen Käsehäppchen und Salzbrezeln angerichtet haben. Die Professoren tauschen Anekdoten über die Tagungen der letzten Monate aus und informieren sich gegenseitig über den neuesten Wiener Klatsch. Wera wäre der Veranstaltung gern ferngeblieben, sie fühlt sich immer noch schwach und angegriffen, nach Smalltalk ist ihr wirklich nicht zumute. Aber die Frauenbeauftragte hat sie vor zwei Tagen angerufen und nachdrücklich um ein Treffen gebeten. Wera, die sich nicht erinnern kann, mit Frau Goldig in den letzten Jahren mehr als einige belanglose Sätze gewechselt zu haben, war erstaunt. Jetzt nippt sie lustlos an ihrem Gespritzten und wartet. Das Kollegium ist fast vollzählig versammelt, soweit Wera es überblicken kann, fehlt nur Professor Kramer. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn der Kollege ist bekannt dafür, dass er Geselligkeiten dieser Art hasst. Wera, die gern einiges zu der von ihm empfohlenen Veronika Neuburger bemerkt hätte, bedauert seine Abwesenheit. Sie macht Konversation mit dem frisch berufenen Kollegen aus Deutschland, der ihr von seinen Schwierigkeiten berichtet, sich an die Wiener Umgangsformen zu gewöhnen. Wera denkt
verächtlich, so hätte der Mensch besser in seiner Heimat bleiben sollen, und lächelt ihr Gegenüber freundlich an. Dem Deutschen bleibt ihr Spott verborgen, er ist im Gegenteil glücklich darüber, eine einfühlsame Gesprächspartnerin gefunden zu haben. Als Wera die Frauenbeauftragte hinter einer der Säulen entdeckt, fasst sie den neuen Kollegen tröstend am Oberarm, entschuldigt sich wortreich und eilt auf Frau Goldig zu. »Sie glauben nicht, Frau Professor Pratzinger, wie froh ich bin, dass wir so schnell die Gelegenheit zu einem Gespräch gefunden haben.« »Offen gestanden weiß ich überhaupt nicht, womit ich Ihnen behilflich sein könnte.« »Es handelt sich um eine delikate Angelegenheit.« Die Frauenbeauftragte blickt unsicher in die Runde. Wera hat nicht den Eindruck, als nehme jemand sonderliche Notiz von ihrer Begegnung, trotzdem schlendern die Frauen auf die schattige Seite des Innenhofes, hier ist es erheblich kühler, und Wera fröstelt in ihrer leichten Bluse. »Worum handelt es sich denn nun, Frau Goldig?« »Wie gesagt, die Angelegenheit ist delikat. Es hat nämlich einen Fall von Belästigung gegeben.« »Belästigung?« »Sie dürfen nicht glauben, Frau Pratzinger, dass mir diese ganze Geschichte angenehm ist. Vor allem nach diesem mysteriösen Verschwinden Ihrer Hilfskraft muss Ihnen das alles läppisch erscheinen.« »Was ist denn genau geschehen? Nun reden’s schon, Frau Goldig, hier hört uns bestimmt niemand.« »Es hat eine Beschwerde gegeben.« »Ja?«
»Eine Beschwerde über das unstatthafte Verhalten eines Hochschullehrers.« Frau Goldig schnappt nach Luft, als ginge das Mitzuteilende über ihre Kräfte. Wera versteht immer noch nicht. Was soll sie denn damit zu tun haben? Oder ist sie womöglich mit dem Studenten Maurer vor dem Caféhaus beobachtet worden? Aber dort ist doch nichts vorgefallen. »Um es kurz zu machen, Frau Professor Pratzinger, es hat Übergriffe in der Bibliothek gegeben. Und nicht nur dort.« Wera denkt, die Sache in der Bibliothek, das war doch ein Tagtraum, davon kann sie unmöglich etwas wissen. Und warum ist mein Verhältnis zu Maurer überhaupt ein Fall für die Frauenbeauftragte? Ich bin die Frau, und ich bin durch ihn nicht zu Schaden gekommen. »In der Bibliothek? Um welche Art von Übergriffen soll es sich denn gehandelt haben?« »Eine Studentin hat sich beschwert. Sie sagt, sie wage sich nicht mehr allein in die Bibliothek.« »Eine Studentin? Ach so! Und wovor fürchtet sie sich?« »Also, es ist so… jedenfalls behauptet die Studentin, dass es so ist…« »Jetzt reden’s endlich, Frau Goldig.« »Der Herr Professor Kramer hat sie angefallen.« »Der Herr Professor Kramer hat… Nein, das glaube ich einfach nicht!« Die Erleichterung ist so groß, dass Wera sich das Lachen nicht verkneifen kann. Sie lacht sich alles von der Seele, die Angst, die Scham, die Wut und in gewisser Weise auch die Eifersucht. Die Kollegen auf der sonnigen Seite des Hofes wenden neugierig die Köpfe. Frau Goldig blickt indigniert. So hat sie sich die Reaktion der Frau Professor gerade nicht vorgestellt.
»Frau Pratzinger, ich bitte Sie, hören Sie mich erst an, bevor Sie lachen. Ich hab ihr zu Anfang auch kein Wort geglaubt. Ich wollte die Studentin schon wegschicken. Aber dann fing sie immer wieder davon an. Sie sagt, er habe sie angefasst. Und geküsst habe er sie auch. Frau Professor, Sie hätten sehen sollen, wie es das Maderl geschüttelt hat beim Erzählen. Das kann es sich unmöglich ausgedacht haben!« Wera räuspert sich und nimmt einen großen Schluck aus dem Weinglas. Dann blickt sie der Frauenbeauftragten treuherzig in die Augen. »Wenn das so ist, Frau Goldig, dann müssen’s natürlich etwas unternehmen.« »Darum wende ich mich ja an Sie, Frau Pratzinger. Sie sind die einzige weibliche Kollegin. Sagen’s mir um Himmels willen, was ich machen soll!« In Frau Goldigs Gesicht steht echte Verzweiflung. »Da müssten Sie schon zum Herrn Professor Kramer persönlich gehen. Er wird sich ja wohl äußern.« »Aber diese Peinlichkeit, Frau Pratzinger, diese Peinlichkeit! Und dann wird er alles leugnen. Oder glauben Sie, er gibt es zu?« Ein Hoffnungsschimmer huscht über Frau Goldigs Gesicht. Die Frauenbeauftragte hängt an Weras Lippen, als könnten sie das Heil verkünden. »Aber ich bitte Sie, Frau Goldig! Der Kollege Kramer ist ein grundanständiger Mensch. Er wird Sie nicht belügen. Und zuzugeben gibt’s wahrscheinlich gar nichts. Gehen Sie getrost zu ihm, Sie werden sehen, es klärt sich alles auf.« Frau Goldig nickt. Überzeugt sieht sie nicht aus.
»Speichern Sie das ab, Frau Ott, Sie können es später fertig machen. Jetzt kommen erst einmal die Briefe an die beiden deutschen Kollegen an die Reihe.«
Wera sitzt im Zimmer der Sekretärin auf dem Rand des Ablagetisches und dreht ihren Kaffeebecher in der Hand. Sie trinkt in winzigen Schlucken, denn der Kaffee ist heiß, und Wera nimmt ihn schwarz. Außer den beiden Frauen ist niemand im Raum, Wera hat die Tür zum Gang abgeschlossen, was ihr einen irritierten Blick Frau Otts eingetragen hat. »Lieber, verehrter Herr Kollege Bingelmann«, beginnt Wera ihr Diktat. »Ich dachte immer, Sie mögen den Herrn Bingelmann nicht, Frau Professor.« Frau Ott wird rot, kaum dass ihr die Worte herausgefahren sind. Wera lacht. »Er ist uralt und außerdem eine Koryphäe, den muss man so anreden.« Frau Ott schweigt und schreibt weiter. »Ich brauche nicht zu betonen, wie viel mir ein Lob aus so berufenem Munde bedeutet. Es wird mir eine Freude sein, Ihnen mein neues Buch gleich nach seiner Fertigstellung zuzusenden. Mit vorzüglicher Hochachtung und herzlichen Grüßen Komma Ihre und so weiter und so weiter.« Beim Diktieren spürt Wera die Hände Carl-Josef Maurers in ihrem Rücken. Frau Ott beendet den Brief und druckt ihn aus. Wera denkt an den nächsten Adressaten, dabei legt sie den Kopf ein wenig schräg. Der Kopf kommt auf der Schulter Carl-Josef Maurers zu liegen. Die Wange Carl-Josef Maurers reibt an Weras Schläfe. Weras Stimme zittert. »Dem Professor Bürster in Köln schicken Sie einen Dankesbrief für seinen Aufsatz. Interessante Lektüre, erhellende Einsichten und so weiter.« »Und das Thema?« »Welches Thema?« »Das Thema des Aufsatzes. Welchen Titel hatte er denn?« »Was weiß ich. Schauen’s halt nach. Ist vor ein oder zwei Wochen hier eingegangen.«
»Soll ich gleich?« Wera nickt. Frau Ott steht auf und schiebt sich dicht an Wera vorbei, um an die Ablage hinter Wera heranzureichen, dabei dreht sie der Professorin den Rücken zu. Die nutzt die Gelegenheit, um sich blitzschnell umzuwenden. Sie wird nach Carl-Josef Maurer greifen und ihn zwingen, sie zu küssen. Doch Carl-Josef Maurer ist nicht da. Natürlich nicht. Der Ablagetisch ist leer. »Ach, Frau Ott lassen’s das jetzt mit dem Aufsatz. Sie wissen ja, was Sie schreiben müssen. Ich möchte Ihnen lieber einen anderen Brief diktieren, bevor ich es wieder vergesse.« »Wie Sie meinen, Frau Professor.« »Wir müssen dem Herrn Maurer schreiben und ihm mitteilen, dass wir ihn nicht mehr brauchen. Ich kann im nächsten Semester leider nur noch eine Hilfskraft beschäftigen.« »Aber es ist doch Frau Neuburger, die nicht zu Ihrer Zufriedenheit arbeitet.« »Wir behalten Frau Neuburger.« »Wir behalten Frau Neuburger?« »Ganz recht, wir behalten sie. Der Herr Maurer wird gehen müssen.« »Das ist aber wirklich schade, so ein kluger Kopf. Und immer so höflich. Er ist der ideale Ersatz für den Herrn Sturz… also falls er nicht wiederkommt, mein ich…« Die Sekretärin schlägt die Hand vor den Mund, als habe sie den Teufel beschworen. Wera lässt die geschmacklose Bemerkung unkommentiert. »Ja, Frau Ott, das mag alles stimmen, aber leider hat der Herr Maurer das falsche Geschlecht.« »Was?« »Wir haben schließlich eine Frauenquote. Gerade heute Vormittag habe ich mit der Frau Goldig geredet. Sie werden es
vielleicht nicht glauben, aber wir haben in diesem Jahr weniger Frauen beschäftigt als in den Jahren davor.« »Aber bis auf den Herrn Maurer und den Herrn Sturz haben Sie doch immer nur Frauen angestellt. Ihnen kann wirklich niemand nachsagen…« »Darum geht es nicht, Frau Ott. Solange die Männer nicht umgelernt haben, müssen wir hart sein. Auch ich. Der Herr Maurer wird gehen.«
Wera traut sich nicht mehr in die Universität. Und sie traut sich nicht mehr auf die Straße. Sie sitzt in ihrer Wohnung und fürchtet sich davor, dem Studenten Carl-Josef Maurer zu begegnen. Ständig muss sie an ihn denken, aber sie wird sich nicht vor aller Welt lächerlich machen und die verrückte Professorin geben. Als ihre Lebensmittelvorräte erschöpft sind, bestellt sie telefonisch das Nötigste beim Feinkostladen an der Ecke und lässt es liefern. Denn zwischen ihrer Wohnung und dem Eckgeschäft, in dem sich der Feinkostladen befindet, liegt das Haus, in dem Carl-Josef Maurer wohnt. Nach zwei Wochen wird Frau Ott, mit der Wera mehrmals täglich telefoniert, energisch. »Frau Professor, jetzt gehen’s endlich noch einmal zum Arzt, oder Sie kommen wieder her. Ohne Sie läuft alles aus dem Ruder. Meine Autorität ist nicht ausreichend, und Frau Leonhardt ist auf dieser Tagung in München. Die Hilfskräfte haben sich seit einer Woche nicht gemeldet.« Wera fragt nach, nein, auch den Herrn Maurer habe Frau Ott seit einer Woche nicht mehr angetroffen. Und ob sie den Brief mit der Hiobsbotschaft denn wirklich abschicken solle, erkundigt sich Frau Ott nun ihrerseits. Bisher habe sie ihn zurückgehalten, das müsse sie zu ihrer Schande gestehen. Wera verneint hastig und bittet Frau Ott, den Brief zu
vernichten. Die Erleichterung angesichts dieses Entschlusses kommt über Wera wie eine kühle Brise nach langer Trockenheit. Ein Versprechen von Frische und Feuchtigkeit am Abend eines allzu heißen Tages. Da sei sie aber froh, plappert Frau Ott, dass die Frau Professor sich das noch einmal überlegt habe. Wera hat Mühe, die Erleichterung aus ihrer Stimme zu verbannen, diesen Klang von reiner Freude über einen Aufschub, der ihr nur Ärger einbringen wird. Sie ruft ein Taxi und lässt sich die drei Straßen weiter in die Universität fahren; der Taxifahrer beschimpft sie, als sie die so nahe gelegene Adresse angibt. Auf ihrem Schreibtisch liegt die Sprechstundenliste für den Abend. Carl-Josef Maurer steht ganz oben auf der Liste. Weras Herz schlägt zu laut, und sie verschluckt sich schon am ersten Zug aus der frisch angezündeten Zigarette. Zu schnell, zu viel, denkt sie, das schaff ich nicht, nicht jetzt, nicht heute. Hustend wendet sie sich an Frau Ott. »Die Sprechstundenliste ist endlos lang. Warum haben Sie davon am Telefon nichts gesagt?« Frau Ott zuckt die Schultern und betrachtet ihre Chefin besorgt. Wera ruft gleich noch einmal ein Taxi, das sie wieder heimfahren soll. Als sie ihr Büro verlässt, kommt Carl-Josef Maurer am Ende des Ganges aus dem Treppenschacht. Wera stürzt in den Aufzug, als gelte es, auf schnellstem Wege einem Unheil zu entkommen. Den Rest des Tages verbringt sie in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch und versucht, sich zu beruhigen. Draußen ist es warm, durch das geöffnete Fenster dringt Sommerluft ins Zimmer. Zwei Frauen unterhalten sich auf dem Trottoir über die Sonderangebote in der Innenstadt. Ein Motorradfahrer entlockt seiner Maschine blubbernde Töne, die bald nach ihrem Entstehen wieder in Benzin ertrinken. Wera verflucht
wie so oft die Lage ihres Arbeitszimmers zur Straße hinaus, dabei weiß sie selbst, dass der Fluch nicht so gemeint ist, denn im Hof schimpft die Portiersfrau regelmäßig über den Zustand der Mülltonnen und verbellt die Schlampigkeit der Mieter. Wera kann das Keifen dieser Stimme nicht ertragen, seit sie einmal zufällig beobachtet hat, wie Frau Hrobilek eine junge Katze ertränkte, während sie unablässig und lautstark über die Höhe der hiesigen Steuern lamentierte. Gegen Abend ist der Stapel auf der rechten Seite von Weras Schreibtisch endlich höher als der auf der linken Seite. Wera erfüllt das mit Befriedigung, handelt es sich doch rechts um die bereits korrigierten und benoteten Seminararbeiten. Als sie nach der nächsten Arbeit greift, klingelt das Telefon. »Guten Tag, Frau Professor Pratzinger, Carl-Josef Maurer am Apparat. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.« Wera atmet tief durch. »Ich korrigiere Seminararbeiten.« Sie wird den Studenten Maurer weiter beschäftigen, aber sie wird jeden privaten Kontakt zu ihm strikt unterbinden. Kühl und beherrscht erkundigt sie sich: »Also, was gibt es?« »Ich war gestern bei Herrn Holitscher, dem Antiquar in der Beckergrube, der Laden liegt neben dem neuen französischen Restaurant, vielleicht kennen Sie… « »Selbstverständlich kenne ich Herrn Holitscher, Herr Maurer. Hat er Ihnen etwas auf getragen? Warum ruft er mich nicht selbst an?« Wera geht mit dem Telefon am Ohr in die Küche, um einen Kaffee aufzusetzen. Die Venusfliegenfalle auf der Fensterbank ist schlapp, die gezahnten Blätter hängen weich und gelblich herunter. Die Pflanze steht schlecht, sie leidet unter der Sonne, denkt Wera. Vielleicht hat sie aber auch vergessen, das Gewächs regelmäßig zu gießen. »Herr Holitscher hat mich nicht beauftragt, Sie anzurufen, Frau Professor Pratzinger, jedenfalls nicht direkt. Es ist nur so, dass ich beim Stöbern eine Entdeckung gemacht habe, die Sie
vielleicht interessieren könnte. Herr Holitscher hat das Buch erst einmal zurückgelegt, aber ich dachte, ich könnte Ihnen besser als er beschreiben, worum es sich handelt.« »Unterschätzen Sie nicht den Sachverstand des Herrn Holitscher.« »Nein, nein, nichts läge mir ferner. Aber da es sich um einen Band über Klosterbauten auf dem Karst handelt, das Buch ist aus den dreißiger Jahren, dachte ich… « »Was dachten Sie?« Mit harter Stimme unterbricht Wera den Studenten. Die Botschaft ist klar: Fasse dich kurz, du störst. Aber der Student Maurer lässt sich nicht verunsichern. Im Gegenteil. Er holt zu einer langatmigen Erklärung aus. »Es geht vor allem um das Augustinerstift bei Duino. Sie haben in Ihrer letzten Vorlesung das romanische Portal der zugehörigen Kirche beschrieben.« »Richtig, ich erinnere mich.« »Das Kloster ist geschlossen und die Bauten stehen leer, soviel ich weiß. Die Kirche ist abgesperrt, denn der Altar war oder ist immer noch mit ein paar Schnitzereien geschmückt, mit einzelnen Tafeln, die nebeneinander geschraubt sind und eine Bibelgeschichte illustrieren. Die meisten Tafeln sind aus Holz.« »Sie reden von einem Antependium?« »Genau. Solche Altarverkleidungen können ungeheuer wertvoll sein, denken Sie an die Pala d’oro in Venedig, diesen riesigen goldenen Aufbau hinter dem Altar der Markusbasilika, für dessen Besichtigung man immer extra Geld bezahlen muss.« »Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, Herr Maurer, kenne ich die Pala d’oro genau.« »Natürlich. Aber dort unten auf dem Karst, in dieser kleinen Kirche bei Duino, gäbe es möglicherweise etwas ganz Neues zu entdecken…«
»Tut mir Leid, da muss ich Sie enttäuschen. Ich habe die Innenausstattung der Kirche gerade für den Orden begutachtet. An dem Altar ist wirklich nichts Besonderes. Glauben Sie mir, das Kloster war zu unbedeutend. Ich weiß, dass es immer wieder solche aufsehenerregenden Funde gibt, und ich kann verstehen, dass Sie davon träumen. Aber ich fürchte, solche Funde werden woanders gemacht, und nicht ausgerechnet dort, in diesem verlassenen Nest auf dem Karst, in diesem Provinzkloster.« »Aber eines der Täfelchen wird in dem Buch genau beschrieben. Es zeigt Christus im Tempel und muss viel feiner ausgearbeitet sein als die restlichen Platten. Im Hintergrund ist ein Kreuzbandrelief wie bei den Tafeln des Magdeburger Antependiums. Es könnte also sein, der Autor geht jedenfalls davon aus, dass die Tafel aus einer anderen Kirche stammt und irgendwann in diesen Altar eingearbeitet worden ist.« »Das muss aber nicht heißen, dass sie wertvoller ist als der Rest, oder?« »Nein. Aber niemand hat das bisher überprüft. Weiß der Teufel, warum der Autor sich nicht selbst darum gekümmert oder seine Erkenntnisse wenigstens dem Orden mitgeteilt hat.« »Wann ist das Buch, von dem Sie sprechen, denn erschienen?« »Ende der dreißiger Jahre. Der Autor war Jude, er hat es nicht mehr geschafft zu emigrieren…« »Da haben Sie sich Ihre Frage schon selbst beantwortet.« »Aber umso interessanter wäre es, die Überprüfung nachzuholen. Immer vorausgesetzt, das Täfelchen ist noch da.« »Es ist da. Aber nach allem, was Sie mir erzählt haben, muss ich stark daran zweifeln, dass es dasselbe ist, das dieser Autor beschrieben hat. Gibt es eine Abbildung in dem Band?« »Ja, aber sie ist sehr schlecht.«
»Das Täfelchen, das ich vorgefunden habe, ist aus Holz und notdürftig mit Leim und Gesteinsmehl oder etwas Ähnlichem kaschiert. Niemand wird ernsthaft annehmen, dass es sich um Elfenbein handelt.« »Woher wissen Sie, dass die in dem Buch beschriebene Tafel aus Elfenbein ist?«, fragt Maurer verblüfft. Wera lacht. »Die Magdeburger Tafeln sind alle aus diesem Material. Und wenn Sie die aus der Duineser Kirche damit vergleichen – das haben Sie doch, oder? –, dann müsste sie auch aus Elfenbein sein. Ist sie aber nicht, wie gesagt.« »Das Kloster war nach Erscheinen dieses Buches noch 30 Jahre bewohnt. Vielleicht stand die Kirche ab und an mal offen und jeder konnte reinspazieren und sich den Altar ansehen.« »Vielleicht hat niemand genau hingesehen.« »30 Jahre lang? Das glaube ich nicht. Eher wird jemand sehr genau hingesehen haben. Möglicherweise ist das betreffende Täfelchen jetzt weg, und keiner kann mehr etwas über dessen Wert sagen.« »Bevor wir uns in wilden Spekulationen ergehen, Herr Maurer, sollte ich mir das Buch mit der Abbildung erst einmal anschauen. Wie lange hat Herr Holitscher den Band denn reserviert?« »Er sagte, er würde ihn bis zum Ende der Woche zurückhalten.« »Gut, Herr Maurer, ich werde mich darum kümmern. Und vielen Dank für den Tipp.« Wera unterbricht die Verbindung, greift nach einem Kaffeebecher vom Frühstück, füllt ihn mit kaltem Wasser und trägt ihn hinüber zur Fensterbank. Die Erde in dem Blumentopf ist spröde und rissig, sie kann das Wasser nicht richtig aufnehmen. Wera gießt es in kleinen Portionen hinein und wartet, bis die Krumen aufquellen und nachdunkeln. Als das Telefon noch einmal klingelt, fährt sie zusammen.
»Wera, wo bleibst du denn? Sag nicht, dass du mich schon wieder versetzt!« Wera erkennt die Stimme sofort. Die Erleichterung ist wie ein Cape, das sich schützend um ihre Seele legt. »Entschuldige bitte, Rudolf, aber ich weiß nicht, wovon du redest.« »Die Promi-Party, Wera. Du wolltest unbedingt mit. Jetzt stehst du auf der Gästeliste.« »Ach du heiliger Bimbam, das hab ich glatt vergessen. Liegt alles an der blöden Krankheit. Heute Abend?« »Exakt. Hast du noch Lust? Wenn wir um zehn dort sind, reicht es. Vorher kommen nur die, die scharf aufs Büfett sind.« »Also Hunger hätt ich schon…« »Dann wirf dich in Schale, es darf gern das kleine Schwarze vom Silvesterfest sein, und komm her. Ich ruf uns ein Taxi.«
Die Villa strahlt in der sommerlichen Dämmerung, als gelte es, Licht in eine Winternacht zu tragen. Spotlights unterm Dachüberstand, Laternen im Garten, Windlichter auf der Freitreppe, Punktstrahler unter jedem Baum. Die Einfahrt ist videoüberwacht, der Hauseingang auch. Dass der Hausherr sie persönlich empfängt, wundert Wera. »Er liebt schöne junge Frauen«, wispert Rudolf, als sie seinen Fängen endlich entkommen sind. »Und warum hat er dann ausgerechnet meine Hand so abgelutscht?« »Er lässt schon aus Prinzip nichts aus.« Wera kichert. Plötzlich fühlt sie sich ausgelassen wie eine Internatsschülerin am Wochenende. »Also, hier ist ja richtig was los! Bin ich froh, meinen Seminararbeiten entronnen zu sein!« »Um welch pikante Themen ging’s denn diesmal?«
Während er redet, rastert Rudolf mit den Augen die versammelte Gesellschaft. »Beispielsweise um die Verwendung der griechischen Säulenformen in neoklassizistischen Nutzbauten. Willst du mehr hören?« »Es gibt möglicherweise Amüsanteres. Zum Beispiel da hinten. Siehst du die Dicke in dem schwarz-roten Kleid?« »Die mit den brillantenbesetzten Boulekugeln an den Ohren?« »Sie heißt Ferdinand von Bruchstein und hat sich kürzlich geschlechtsumwandeln lassen.« »Du spinnst. Ich denke, der Hausherr ist Industrieller. Der lädt doch so was nicht ein.« »Täusch dich nicht! Ein oder besser zwei Irre gehören auf jede Party, sogar bei uns in Wien. Sonst langweilen sich die anderen Gäste. Das weiß auch Dr. Bistum genau.« »Ist er verheiratet?« »Klar. Etwa so, wie Felix mit dir verheiratet war.« »Rudolf!« »Entschuldige, ist mir versehentlich raus gerutscht. Streichen wir sofort aus dem Protokoll, okay?« »Nur wenn du mir die Frau von Dr. Bistum zeigst. Ich will sehen, ob sie Ähnlichkeit mit mir hat.« Rudolf braucht keine drei Sekunden. »Ganz links außen, direkt neben der Tür steht sie, den Fluchtweg wie immer im Rücken.« »Wo? Sehe ich nicht.« »Na da vorn. Die Dame in dem bauchfreien Lurexkleid.« »Aber die ist höchstens 23. So was Knuspriges betrügt man nicht.« »Stell dir vor, du müsstest jeden Abend Salzbrezel essen. Ohne den kleinsten Schluck Rotwein dazu.« »So tickt ihr Männer?«
»So ähnlich. Aber mehr werde ich dir nicht verraten. Nur eines noch: Der fesche Dunkelhaarige mit den zu großen Zähnen…« »Der ihr gerade den Fussel aus dem Ausschnitt pustet?« »Ganz recht, genau dieser.« »Ist?« »Willst du raten?« »Du weißt genau, dass ich nicht will.« »Markus Leonhardt, der Erbe.« »Nein! Meinst du, er schläft heimlich mit der knusprigen Salzbrezel, wenn er den ihm rechtmäßig angetrauten Blaustrumpf nicht mehr ertragen kann?« »Komm mit, wir fragen ihn.« Markus Leonhardt begrüßt Rudolf Rumberg wie einen alten Feind. Ein knapper Händedruck und ein misstrauischer Blick reichen, um das Verhältnis der beiden zu veranschaulichen. Wahrscheinlich kann dieser Leonhardt Rudolfs letzte drei Kolumnen zur Verschandelung der Wiener Innenstadt durch die Bausünden der väterlichen Firma auswendig hersagen, denkt Wera. Selbstverständlich mit Wutschaum vor dem Mund. Als Rudolf Wera mitsamt ihren Titeln vorstellt, verkrümelt sich die Salzbrezel sofort. Und dem Immobilienerben verschlägt es kurzfristig die Sprache. »Ihre Frau hat letztens von Ihrem neuen Projekt geschwärmt. Ist sie übrigens hier?«, hilft ihm Wera hinterhältig. »Ja. Nein. Also, Irma hat im letzten Moment abgesagt. Migräne, Sie wissen schon.« »Nein, eigentlich nicht. Sollte ich?« Der Erbe lächelt nichts sagend. Schlagfertig ist er schon mal nicht, denkt Wera. Dann fragt sie verschwörerisch: »Ist es schön in dem alten Kloster?« »Hat Irma Ihnen wirklich davon erzählt? Das freut mich aber!« Die Freude scheint außerordentlich tief in seinem
Inneren zu wohnen und unfähig zu sein, die Wut auf seinen Zügen zu besiegen. »Ich darf doch auf Ihre Diskretion hoffen«, ist alles, was Markus Leonhardt inhaltlich zu diesem Thema beizusteuern hat. »Selbstverständlich. Ich werde schweigen wie ein Grab.« Langsam steckt sich Wera eine Zigarette an, genussvoll zögert sie den ersten Zug hinaus, dann bläst sie Markus Leonhardt den Rauch direkt ins Gesicht. »Sie werden den Komplex doch nicht abreißen?« Markus Leonhardt hustet. Sein Gesicht läuft rot an. Selbst Wera ist überrascht von der Wirkung, die sie mit ihrer kleinen Provokation erzielt hat. »Pardon. Ich bin Asthmatiker.« Entschuldigend hebt Leonhardt die Hand, dabei scheint er nicht unglücklich darüber zu sein, dass Weras Laster ihm einen Grund liefert, die Unterhaltung vorzeitig abzubrechen. »Sie werden die Bauten also abreißen lassen«, erklärt Wera mit fester Stimme, während sie ihre Zigarette ausdrückt. Markus Leonhardt, der sich schon fast abgewendet hat, hält plötzlich in seiner Bewegung inne und entschließt sich, doch noch zu antworten. »Der ganze Komplex steht unter Denkmalschutz, hat meine Frau das nicht erwähnt?« »Nicht das Klostergebäude, nur Kirche und Kreuzgang sind denkmalgeschützt. Das wissen Sie aber sicher besser als ich.« Markus Leonhardt schweigt, und Wera fragt sich, ob sich dahinter Begriffsstutzigkeit oder Taktik verbergen mag. »Darf man erfahren, wovon ihr sprecht?« Rudolf Rumberg spielt den Ahnungslosen nicht untalentiert. Wera antwortet vollkommen ernsthaft: »Das verlassene Kloster auf dem Karst. Ich habe dir letztens von der Schwarzen Madonna erzählt. Man sieht von der Küstenstraße aus nur einen Turm zwischen den Bäumen. Wenn man an der Kreuzung nach Duino zum Fischrestaurant abbiegt.«
»Richtig. Das Ganze muss ziemlich verfallen sein – oder täusche ich mich?« »Nein, gar nicht.« Leonhardt strahlt, als habe man ihm ein persönliches Kompliment gemacht. »Mir ist allerdings noch völlig unklar, ob sich eine Investition überhaupt lohnen würde. Kommt darauf an, ob mit dem Erdreich alles in Ordnung ist.« Rudolf lässt sich nicht irritieren. »Was soll schon sein? Mehr als eine kleine Schnapsbrennerei werden die Mönche sicher nicht auf dem Grundstück betrieben haben. Und den Alkohol haben sie vermutlich getrunken und nicht auf den Boden geschüttet.« »Man weiß nie… Es gibt da allerlei Gerüchte.« »Vielleicht hatten sie im Mittelalter eine Alchimistenwerkstatt dort – oder in der Steinzeit eine Chemiefabrik«, witzelt Wera. Markus Leonhardt lächelt höflich. »In meiner Branche, Frau Professor, ist man gewohnt, auch das Unvorhergesehene einzukalkulieren. Aber ich fürchte, Sie müssen mich entschuldigen. Einen wichtigen Geschäftspartner lässt man ungern warten.« »Brrr! Der knirscht sicher nachts mit den Zähnen.« Wera zieht Rudolf durch die Flügeltür. »Komm tanzen. Der Moment ist günstig, ich kann doch nur Foxtrott.« »Strangers in the Night ist eine Rumba, liebste Wera. Aber mach dir nichts draus. Da hinten tanzt der Herr von Bruchstein, der jetzt eine Dame ist, mit dem Sohn eines republikbekannten Altnazi sogar einen langsamen Walzer zu der Rumba.«
Frau Goldigs aufgeregte Stimme im Telefonhörer holt Wera geradewegs aus der Badewanne. Sie ist heute spät aufgestanden und wollte sich einen gemütlichen Vormittag machen. In der Küche steht der Kaffee warm, und aus der
Stereoanlage perlt, sirrt und schmeichelt die Stimme der Callas. Aber die Frauenbeauftragte ruft aus Frau Otts Büro an, um Wera mitzuteilen, dass sie seit zehn Minuten vergeblich auf sie warte. Frau Ott wisse von keiner Verabredung und habe, ganz die loyale Sekretärin, Frau Goldig bereits an ihrer eigenen Wahrnehmungsfähigkeit zweifeln lassen. Wera zeigt die nötige Zerknirschung und verspricht ihr Kommen innerhalb der nächsten Viertelstunde. Sie kann sich nur zu gut an den verschluderten Termin erinnern. Vor zwei Wochen ist der Vertrauensmann des Instituts persönlich an Wera herangetreten. Sie spürt noch immer das unangenehme Gefühl, das ihr seine körperliche Nähe bereitet hat. Seine vorsichtig gestikulierenden Hände standen kurz vor ihren Schultern, er beugte den Kopf zu nah an ihr Gesicht und wisperte zwischen Weras Augenbrauen etwas von Schande für das ganze Kollegium, von unbedingt aufklären und von Sie als Frau und Kollegin sind hier besonders befugt. Wera hätte in alles Mögliche eingewilligt, um den Vertrauensmann los zu werden. Hastig versprach sie, Frau Goldig bei ihrer schwierigen Mission zu unterstützen. Wera erinnert sich sogar, den Termin für das Dreier-Gespräch mit dem Kollegen Kramer in ihrer Agenda vermerkt zu haben, doch scheint sie in den letzten zwei Wochen jedem Kontakt mit dem Notizbuch aus dem Weg gegangen zu sein. Mit einem sehnsüchtigen Blick auf den frisch gebrühten Kaffee verlässt Wera ihre Wohnung. Auf der Währinger Straße gerät sie unter die dampfende Morgensonne. Wera sieht auf die Uhr und beginnt zu laufen, dabei zerrt sie sich das in letzter Sekunde übergeworfene Leinenjackett wieder vom Leib, um nicht völlig verschwitzt in der Universität anzukommen. Wera
fühlt sich verfolgt. Ständig muss sie an den Klang von CarlJosef Maurers Schritten denken. Was wäre, wenn der Student an der bevorstehenden Unterredung mit dem Kollegen Kramer teilnähme? Wenn irgendjemand ihn heimlich dazugebeten hätte, um Wera ein für alle Mal zu kompromittieren? Wera könnte nichts dagegen tun, sie kann die bevorstehende Verabredung nicht platzen lassen, es ist ausgeschlossen, die Frau Goldig noch einmal zu versetzen. Der Student würde wie ihr eigener Schatten durch die Tür des Besprechungszimmers schlüpfen und sich während des Gesprächs dicht hinter Weras Stuhl halten, sein Atem nah an ihrem Nacken. Und sollte der Kollege Kramer anführen, dass die Studentinnen doch so allein und im Dämmerlicht zwischen all den Büchern recht zudringlich werden können, würden Carl-Josef Maurers Lippen Weras Ohr berühren und flüstern: Können Sie sich das vorstellen, Frau Pratzinger, dass ein Student sich so etwas wagen tat? Wera schüttelt die Stimme aus ihrem Ohr und betritt das Universitätsgebäude. Als sie die Treppe hinaufgeht, hallen nur ihre eigenen Schritte durch den kahlen Raum. Aber Wera traut ihren Wahrnehmungen nicht und sieht sich um. Und richtig. Dicht hinter ihr geht eine kleine, auffallend blonde junge Frau, sie trägt Turnschuhe mit dicken Gummisohlen, die den Klang ihrer Schritte dämpfen. Wera fährt sich mit der Hand über die Stirn, dabei bemerkt sie, dass die Innenfläche feucht ist. Verstohlen riecht Wera an ihren Achseln, das Diktum eines kürzlich verstorbenen Freundes fällt ihr ein: Nur Angstschweiß stinkt. Wera zieht das Jackett wieder an und knöpft es zu. Die Frauenbeauftragte trägt ein dunkelblaues Kostüm, blaue Strümpfe und blaue Schuhe. Wera denkt, sie tut geradewegs so, als wolle sie den Kollegen Kramer gleich beerdigen. Die beiden Frauen hetzen im Laufschritt durch die Gänge und
kommen trotzdem zu spät. Wera wundert sich, dass der Herr Kollege überhaupt auf sie gewartet hat. Frau Goldig eröffnet das Gespräch ungeschickt und kommt bei jedem zweiten Satz ins Stottern. Der Herr Professor Kramer leugnet alles und äußert die Hoffnung, dass man ihm eher glauben werde als einer hergelaufenen Studentin. Hergelaufen sagt er nicht, aber dass er es gedacht hat, sieht Wera seinem Gesicht deutlich an. Der Frauenbeauftragten gehen bald die Argumente aus. Natürlich wisse sie, dass der Herr Professor seit 17 Jahren der Fakultät angehöre, und nein, da müsse sie aber widersprechen, natürlich halte sie ihn für einen integeren Kollegen. Wera fängt einen Hilfe suchenden Blick Frau Goldigs auf und verzichtet trotzdem auf jede Einmischung in das Gespräch. Sie hat nicht mehr als ihre Anwesenheit zugesagt. Als sich der Kollege Kramer zum vierten Mal nicht an den Namen der Beschwerde führenden Studentin erinnern kann und die liebe Frau Goldig dafür ausdrücklich um Verzeihung bittet, gibt die Frauenbeauftragte auf. Wera hält es für möglich, dass sie sich sogar entschuldigen wird, vielleicht im Namen aller Geschlechtsgenossinnen, aber so weit geht Frau Goldig dann doch nicht. Der Herr Professor Kramer hält den beiden Damen zum Abschied galant die Tür auf, auch kann er sich ein abschließendes Witzchen nicht verkneifen, kein Wunder, dass die Studenten sich über lange Wartezeiten beschweren, da sehen Sie, wofür unsereiner seine kostbare Zeit opfern muss. Frau Goldig lacht bereitwillig. Sie wirkt plötzlich beschwingt und um Jahre verjüngt, das blaue Kostüm steht ihr gut. Da tritt die kleine Blonde mit den Turnschuhen auf Wera und die Frauenbeauftragte zu. Frau Goldig begrüßt die Studentin verlegen, und Wera erkennt, dass sie es gewesen sein muss, die dem Kollegen Kramer die Übergriffe angelastet hat. Die
Frauenbeauftragte zieht die junge Frau zur Seite und murmelt etwas von Missverständnissen, die man besser unter vier Augen klären solle. Als Wera sich bereitwillig verabschiedet, ist Frau Goldig sichtlich erleichtert.
Einige Tage später wird Wera zufällig Zeugin eines Gesprächs, das ihr deutlich zeigt, dass der Fall höhere Wellen geschlagen hat, als sie bisher anzunehmen bereit war. Die Stimmen aus dem Nebenraum kann sie durch die Zwischentür deutlich verstehen und problemlos unterscheiden. Da sind der einschmeichelnde Bariton Carl-Josef Maurers, der sich ständig ins Hysterische steigernde Sopran Frau Otts und die leise, beruhigende Altstimme Irma Leonhardts. Grade sind die beiden Frauen in einen engagierten Wortwechsel verwickelt, dem Carl-Josef Maurer offenbar schweigend folgt. Behutsam greift Wera nach einer frischen Zigarettenpackung. Das Knistern der Folie und das Schnappen des Feuerzeugs gellen in ihren Ohren. Muss den Redenden im Nebenzimmer nicht gerade jetzt die Stille der vergangenen Minuten deutlich werden? Ist es hörbar, wenn jemand lauscht? Und was tut Herr Maurer in den Minuten, die sein Schweigen schon angedauert hat? Während Wera den ersten Zug inhaliert, wird ihre Sekretärin von einer aufgebrachten Irma Leonhardt zurechtgewiesen. »Ich bitte Sie, Frau Ott, Sie können doch nicht im Ernst meinen, dass die Studentin selbst schuld an ihrer Misere ist! Sie ist dem Herrn Professor Kramer in allem ausgeliefert, wenn sie sich bei ihm prüfen lassen will.« Frau Ott geht in die Offensive. »Soll sie sich einen anderen Prüfer suchen, wenn er sie anfällt.«
»Sie wissen besser als ich, wie sehr so ein Wechsel die Prüfungsbürokratie durcheinander bringt. Man kann dabei leicht ein ganzes Semester verlieren.« »Ist vielleicht klüger, als sich anfallen zu lassen.« Das Gespräch zwischen Frau Goldig und dem Professor Kramer liegt vier Tage zurück, überlegt Wera. Offiziell war von der Angelegenheit seitdem nichts mehr zu vernehmen. Frau Goldig hat sicher kein Interesse daran gehabt, den Vorfall auszuplaudern. Hat vielleicht die betroffene Studentin selbst die peinliche Geschichte überall herumerzählt? Anders ist es kaum zu erklären, dass nun alle Bescheid wissen. »Stellen Sie sich nur einmal vor, Ihnen würde so etwas passieren.« Irma Leonhardt entwickelt deutlich hörbar missionarischen Eifer. Frau Ott erwidert Unverständliches. Im Hintergrund raschelt es entschieden. Wera sieht den Studenten Maurer vor sich und denkt an einen Gerichtsprotokollanten, der kopfschüttelnd ein Papier zerknüllt, sich aber zu keiner Meinungsäußerung hinreißen lässt. »Aber glauben’s denn wirklich, der Herr Professor hätte es nötig, eine kleine, unbedeutende Studentin zu küssen? Dem stehen doch ganz andere Wege offen.« Ein Stuhlbein knirscht über den Boden, vielleicht richtet sich Frau Ott gerade zu ihrer ganzen hageren Größe auf, um ihr ungebrochen hierarchisches Bewusstsein zu dokumentieren. Wera unterdrückt, trotz der Anspannung, ein Lachen. Auch Weras Assistentin hört man an, dass es ihr angesichts derartiger Naivität schwer fällt, sachlich zu bleiben. »Aber ich bitte Sie, nur weil der Herr Professor Kramer schlauer ist als andere, muss er noch lange nicht moralisch besser sein.« Das Rascheln im Hintergrund schwillt bedrohlich an und übertönt die weiteren Einlassungen Frau Leonhardts. Dann ist
es plötzlich ganz still im Nachbarraum – bis sich die Stimme Carl-Josef Maurers hören lässt. »Wenn dem Herrn Professor Kramer die Studentin gefallen hat, soll er ihr das auch zeigen. Er wird sie schon zu nichts gezwungen haben.« Die beiden Frauen im Nebenzimmer schweigen. Sie warten darauf, dass Herr Maurer fortfährt. Wera wartet auch. Doch dann muss sie einen Aufschrei unterdrücken und wirft hastig den glimmenden Filter ihrer Zigarette in den Aschenbecher. Sie hat sich den Finger verbrannt, dunkel zeichnen sich die Linien der Fingerkuppe ab, der Nagel hat einen schwarzen Rand, es riecht nach verkohltem Horn. Während Wera an dem schmerzenden Finger saugt, hört sie Männerschritte im Nebenraum. Die Tür zum Flur öffnet und schließt sich. Die Schritte des Studenten durchmessen den Gang und verhallen an seinem Ende.
Am Nachmittag findet Weras Oberseminar statt. Es hat sieben Teilnehmer. Zwei davon sind Herr Maurer und Frau Leonhardt. Seit Wochen sitzen sie nebeneinander. Und seit Wochen hat Herr Maurer für Wera diese bestimmte Höflichkeit. Ihren Titel in der Anrede hat er kein zweites Mal weggelassen. Und jede Aufgabe, die sie ihm überträgt, erledigt er zu ihrer vollsten Zufriedenheit. Wera kann sich nicht erinnern, jemals eine so zuverlässige Hilfskraft gehabt zu haben. Die Kollegen am Fachbereich beneiden sie um CarlJosef Maurer. Wera hat in den letzten Sitzungen Schwierigkeiten gehabt, das Gespräch im Oberseminar zu steuern. Sie musste sich konzentrieren, damit Studenten und Doktoranden sich nicht in Thesen und Gegenthesen verrannten. Manchmal wusste Wera am Ende einer Sitzung nicht mehr, mit welcher Fragestellung
sie begonnen hatte. Deshalb hat sie in der letzten Woche vorgeschlagen, dass die sieben Teilnehmer jeweils eine der ausstehenden Sitzungen leiten sollen. Heute ist Carl-Josef Maurer an der Reihe. Er trägt eine helle Leinenhose und braune Flechtschuhe. Es ist schon Hochsommer und sehr warm. Wera vermisst seine Jeans und die glänzend polierten Lederschuhe. Maurer sitzt Wera direkt gegenüber, sie muss immerzu die schlanken Hände anschauen, die er beim Reden bewegt. Den weiblichen Teilnehmern des Oberseminars gefällt Herr Maurer gut, man kann sehen, wie sie sich bemühen, ihm mit klugen Beiträgen zu imponieren. Er leitet das Gespräch mit Charme und großer Umsicht. Wera denkt, er würde einen guten Universitätslehrer abgeben, ich sollte ihn ermuntern, bei mir zu promovieren. Gerade fasst Carl-Josef Maurer die Diskussion der Seminarsitzung zusammen, die Teilnehmerinnen hängen an seinen Lippen. Nur Frau Leonhardt hat einen kritischen Einwand. Herr Maurer entkräftet ihn überzeugend. Lächelnd schließt er die Debatte, dann blickt er Wera fragend an. Wera lobt ihn mit wohlüberlegten Worten und bedankt sich bei ihm für die Leitung der Sitzung. Als Carl-Josef Maurer aufsteht, um den Raum zu verlassen, klopfen die Teilnehmer mit den Fingerknöcheln anerkennend auf ihre Tischplatten. Die Doktorandinnen klopfen besonders laut.
An diesem Tag bleibt Wera bis zum Abend in der Universität. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch und tut nichts. Ab und an raucht sie eine Zigarette. Einmal geht sie ins Vorzimmer, um sich einen Kaffee aufzubrühen. Frau Ott hat das Institut pünktlich um vier Uhr nachmittags verlassen. Nachdem Wera eine ganze Kanne Kaffee ausgetrunken hat, muss sie auf die Toilette. An
der Außenseite ihrer Tür befestigt sie einen Zettel von ihrem Notizblock: Bin sofort zurück, bitte warten. Um zehn Uhr abends bekommt Wera Hunger. Sie ruft bei dem neuen Pizzaservice an und lässt sich einen Salat ins Institut bringen. Als der Bote kommt, ist der Haupteingang schon abgeschlossen, zum Glück hat der Pizzaexpress ihre Telefonnummer. Wera greift nach ihrem Schlüssel, klebt wieder den Zettel an die Tür und eilt nach unten, um den Salat in Empfang zu nehmen. Er schmeckt fade, vergeblich sucht Wera in Frau Otts Büro nach einem Salzstreuer. Um halb elf hört Wera Schritte vor ihrer Tür. Carl-Josef Maurer tritt ein, ohne anzuklopfen, schließt die Tür sorgfältig hinter sich und sagt: »Ich wusste, dass Sie noch da sein würden.« »Wie sind Sie denn ins Gebäude gekommen?« »Ich war im Hilfskraftzimmer am Ende des Ganges.« »Die ganze Zeit?« »Die ganze Zeit.« »Sind Sie hungrig?« »Nein.« Dann schweigen beide. Der Student steht an der Tür, die Professorin sitzt hinter ihrem Schreibtisch und schaut ihn an. Carl-Josef Maurer trägt Schnürschuhe, die Wera noch nie gesehen hat. Sie sind dunkelblau und ungeputzt. Wann hat er sich umgezogen? überlegt Wera. An den Beinen sitzen die bekannten Jeans, über den schmalen Hüften ein alter brauner Ledergürtel. Das weiße Hemd ist ungebügelt, eine der beiden Kragenecken ausgefranst. Oberhalb der Brusttasche leuchtet ein winziger kirschroter Fleck. Die Hemdsärmel sind bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt und lassen kräftige Unterarme sehen. Die den Blicken längst vertrauten Hände mit den ovalen Fingernägeln sind gepflegt, die Nägel vielleicht ein wenig zu lang. Weras Blick steigt hinauf bis zu seinem Gesicht, mustert
das Kinn mit der Längskerbe, Atavismus, Männlichkeitssymbol, dann den klar gezeichneten Mund, die Nase, die Augen, die Wimpern, dunkel, glänzend, schließlich die Haare, ungekämmt, länger als bei den meisten seiner Kommilitonen. Auch der Student betrachtet die Professorin hinter dem Schreibtisch. Sogar im Sitzen wirkt sie klein. Kräftiger, sportlicher Körper. Breite Schultern, der Busen unter dem Leinenhemd deutlich sichtbar, dicke Silberkette. Der Hals leicht faltig, die Haut gebräunt. Quadratisches Gesicht, helle grüne Augen, erhabene Wangenknochen, runde Nase, slawisch. Dunkle, kräftige Haare, kurz geschnitten, keine grauen Strähnen, vielleicht gefärbt. Auf dem Schreibtisch liegen ruhig die breiten, wenig eleganten Hände, die Adern auf den Handrücken blau und erhaben. Kurze Finger, keine Ringe, die Nägel spateiförmig. Unter dem Tisch die Beine in weiten Hosen, deren dünner Stoff ein Stück über den Knöcheln endet. Die Beine sind strumpflos, ebenfalls gebräunt. Die Professorin trägt flache Schuhe aus stumpfem Leder. Hell. Schmeichelnd. »Ich war gestern bei Herrn Holitscher«, beginnt Wera das Gespräch und bietet dem Studenten mit einer Handbewegung den Platz neben dem Schreibtisch an. »Das Buch ist interessant. Aber nur, weil der Autor einen Einblick in das Klosterleben der zwanziger Jahre bietet. Auf diesem Gebiet hat er ziemlich gründlich recherchiert. Doch kunstgeschichtlich ist das Ganze wenig ergiebig. Und das Foto, von dem Sie sprachen, ist nun wirklich lausig schlecht.« »Man müsste hinfahren…« »Die Kirche ist zugesperrt… aber das wissen Sie ja. Sie bräuchten eine Genehmigung, um hineinzukommen.« »Das ist doch für Sie kein Problem, oder?« »Ich war schon drin, Herr Maurer.« »Ich weiß.«
»Ich habe das Gutachten für den Orden fertiggestellt und abgeschickt. Warum also meinen Sie, sollte ich mir die Kirche noch einmal ansehen?« »Ist doch egal, warum. Wer viel fragt, bekommt viele Antworten«, sagt Maurer lächelnd und lehnt sich zurück. Seine ansehnlichen Wimpern senken sich über die Augen. »Vielleicht sollten Sie hinfahren, um mich zu begleiten…« Wera räuspert sich. »Zum Kloster?« »Warum nicht? Nächste Woche zum Kloster und vorher in ein Beisi.« »Wann vorher?« »Jetzt gleich, zum Beispiel.«
Der schmale lange Raum ist angefüllt mit Rauch und abgestandener Luft. Es ist elf Uhr in der Nacht, seit einer halben Stunde hat kein neuer Gast das Beisi betreten, und wer jetzt noch an einem der einfachen Holztische hockt, wird auch bleiben. Wera und Carl-Josef Maurer sitzen übers Eck an einem Nischentisch, ihre Ellenbogen berühren sich. Wenn einer von beiden den Arm hebt, um einen Schluck von seinem Viertel zu trinken, legt er den Ellenbogen immer wieder an die gleiche Stelle zurück. »Warum haben Sie diesen Heiratsantrag in Ihren Brief geschrieben?«, fragt Wera. Ihr Lächeln straft den strengen Tonfall Lügen. »Ich wollte Ihre Aufmerksamkeit erregen.« »Das ist Ihnen gelungen. Herzlichen Glückwunsch!« »Ich hätte zu gern Ihr Gesicht gesehen, als Sie den Brief gelesen haben.« »Da haben Sie nichts verpasst. Ich hab mich geärgert und den Brief gleich zerrissen.« »Wirklich?« Er lächelt auch. Er glaubt ihr kein Wort.
Wera ist plötzlich verwirrt. Aber sie hat den Brief doch tatsächlich zerrissen. Sie kann sich nicht so täuschen. Carl-Josef Maurer lächelt immer noch. Sein Gesicht kommt näher. Sie öffnet den Mund, will Es war eine Unverschämtheit! sagen oder zumindest Es war eigentlich eine Unverschämtheit, das müssen Sie zugehen! Sie kann sich nicht entscheiden und überlegt zu lange. Dann kann sie gar nichts mehr sagen, weil er sie küsst. Zuerst wehrt sie sich. Sie fürchtet, dass jemand sie beobachten könne, aber im Grunde genommen weiß sie genau, dass ihre Sorge überflüssig ist. Maurer hat sie in seinem Wagen bis weit hinaus in die Vorstadt gefahren. Hier bei den Arbeitern und kleinen Angestellten verkehren keine Akademiker. Höchstens Studenten. Aber an den beiden einzigen noch bevölkerten Tischen sitzen ältere Herrschaften, die reden und Karten spielen. Da ist niemand, der Wera bekannt vorkommt. Also erwidert sie den Kuss. Carl-Josef Maurers Lippen sind fest und fordernd wie sein Händedruck. Es hätte wenig Sinn gehabt, ihnen widerstehen zu wollen. Der Kuss treibt Wera von einer Wirklichkeit in eine andere. Studenten und Kollegen, Gutachten, Kommissionen, Prüfungen, Seminarsitzungen rutschen wie Schemen an einem sich immer weiter entfernenden Horizont entlang, flackernd erleuchtet und zu Schatten degradiert von einem Feuer, das Carl-Josef Maurer geschickt anzufachen weiß. Mit ruhiger Sicherheit nimmt er Weras stillschweigendes Einverständnis zur Kenntnis, als habe er nie etwas anderes erwartet. Und auf die gleiche selbstverständliche Art nimmt er von ihrem Körper Besitz, ertastet Arme, Hüften, Nacken murmelnd und brummend, manchmal leise auflachend und macht sich die fremde Landschaft zu Eigen. Plötzlich steht der Wirt vor ihnen. Er ist klein und stämmig, seine Wangen sind rot, und die Haut unter den Augen ist blass
und durchscheinend vor Müdigkeit. »Schluss für heut, geht’s nach Haus ihr beiden«, sagt er streng und legt die Rechnung für den Wein auf den Tisch. Der Student Maurer holt ein paar Münzen aus der Jackentasche und zahlt, während Wera sich aus der Bank zwängt. Das Beisi ist jetzt leer, Maurer und sie sind die letzten Gäste, stellt sie erstaunt fest, nur die Schattengestalten, Studenten und Kollegen lauern in den Nischen des Lokals. Sie sind stumm, wie es sich für Schatten gehört, aber ihre Gesten sind vorwurfsvoll und fordern unmissverständlich das Recht einer anderen Realität ein, das Recht der helllichten Tage, der Öffentlichkeit, der akademischen Ausbildung, der Prüfungen und Riten, der gesellschaftlichen Übereinkünfte. Hastig läuft Wera zur Tür. Ein Veranstaltungsplakat hebt sich von dem dunklen Holz ab. Ein helles Rechteck in einem Rahmen. Elfenbein in schwerem Silber. Jesus im Tempel. Was sind das für Gedanken? Wieder will Wera fliehen, da nähern sich die Schritte Carl-Josef Maurers. Schwere, entschlossene Schritte, so scheint es. Sie bringen Unheil. Er will mit ihr ins Kloster. Plötzlich zittert Weras Hand. Nur die Rechte, die Linke nicht. Wera kann es sich nicht erklären. Das Plakat an der Beisltür muss weg, denkt sie noch, da hört sie schon das Geräusch des reißenden Papiers. Im gleichen Augenblick legt ihr Carl-Josef Maurer den Arm um die Schulter. »Kleine Sachbeschädigung, Frau Professor?«, fragt er ironisch und zieht sie hinaus auf das nächtliche Trottoir.
In den frühen Morgenstunden wird Wera wach. Sie wälzt sich im Bett und kann nicht wieder einschlafen. Aus alter Gewohnheit greift sie nach dem Krimi auf dem Nachttisch, aber die grässlichen Kindheitserlebnisse des Serienmörders
interessieren sie jetzt kein bisschen, außerdem ist es noch zu dunkel zum Lesen. Wera steht auf und geht in die Küche. Sie hat einen Bärenhunger, aber der Kühlschrank ist fast leer, und Wera wird doch nicht im Morgengrauen einen eingeschweißten Hamburger aus der Folie schälen, um ihn in die Mikrowelle zu schieben. Das Datum auf dem einzigen Fruchtjoghurt gehört seit Wochen der Vergangenheit an, Wera wirft den Becher in den Müll. Nach Felix’ Tod ist es ihr nicht gelungen, ein gewisses Regelmaß in die Abfolge ihrer Mahlzeiten zu bringen. Die Lebensmittel verkommen in ihrem Kühlschrank oder in der Speisekammer. Es ist Wera merkwürdig gleichgültig geworden, was sie isst und wann sie es tut. Wera greift nach einem Wasserglas und gießt den Rest aus einer angebrochenen Weinflasche hinein, die sie im Kühlschrank gefunden hat. Der Wein schmeckt schal und abgestanden, Wera weiß nicht, seit wann die Flasche geöffnet ist. Sie reißt eine frische Zigarettenpackung auf und sucht nach ihrem Feuerzeug. In der Küche liegt es nicht, vielleicht im Schlafzimmer. Wera trinkt im Gehen. Auf ihrem Nachttisch steht der Aschenbecher, daneben findet Wera das Feuerzeug. Sie zündet die Zigarette an und legt sich wieder ins Bett. Der Körper auf der anderen Seite bewegt sich im Schlaf, der Kopf sucht nach einer neuen Position, dabei rutschen die verschwitzten Haare über das Kissen und streifen Weras Schulter. Carl-Josef Maurer hält den Mund leicht geöffnet, seine Zähne schimmern im ersten Licht, aufs Kopfkissen läuft ein Speichelfaden. Gleichzeitig beginnen die Wimpern des Studenten über den Augen zu flattern. Wera stellt das Glas zurück auf den Nachttisch und drückt ihre Zigarette aus. Als die Hand des jungen Mannes über ihren Rücken streicht, feste Fingerkuppen ihre Wirbelsäulenfurche hinunterwandern, erschrickt Wera, obwohl sie auf die
Berührung gewartet hat. Sofort dreht sie sich um, drückt dabei Hand und Arm des Studenten mit ihrem Oberkörper tief in die Kissen und lässt sich darauf fallen. Die Männerhaut riecht nach Butter, findet sie, und nach Brot. Sie riecht wie Sauerteig, der gerade aufgetrieben ist. Carl-Josef Maurer legt den freien Arm um Weras Kopf, dann zieht er den anderen Arm entschlossen unter ihrem Körper hervor. Wera will den Arm festhalten, aber der Student ist schneller, er versteckt ihn hinter seinem Rücken. Wera lacht und wirft sich noch einmal über ihn, er nutzt ihren Schwung aus und verstärkt ihn, sodass Wera auf die andere Seite des Bettes rollt. »Wenn du so weitermachst, landest du auf dem Fußboden, Frau Professor. Wer weiß, ob ich dich wieder in dein Bett lasse.« Seine Stimme klingt vollkommen ernst. Wera trommelt auf die Schultern des Studenten, er fasst nach ihren Handgelenken und hält sie fest. Wera versucht, sich zu befreien, es gelingt ihr nicht. Sie denkt an seinen kräftigen Händedruck bei ihrer ersten Begrüßung, er lacht über ihre Wehrlosigkeit und fragt mit kreideweicher Stimme: »Sag an, meine Kleine, wie heißt das Zauberwort?« »Mistkerl vermutlich«, antwortet Wera und gibt ihren Widerstand auf.
Der Pfad führt direkt an der Steilküste entlang. Er schwebt zwischen Himmel, Sträuchern und Meer. Die Rücken der Felsen schwimmen auf dem Wasser, das vollkommen still ist, im Mittagslicht schweigt, wie die Tiere auch. Zwei Eidechsen sonnen sich auf einem glatten Stein, bis Schritte sie aufschrecken. Auf gezackten Wegen fliehen sie in ein dorniges Gebüsch. Carl-Josef Maurer nimmt den Arm von Weras Schultern, bückt sich und hebt ein Steinchen auf. Er holt aus und wirft den Kiesel in weitem Bogen übers Wasser. Es
scheint Wera, als stehe der Stein sekundenlang in der Luft. Dann stürzt er ab und ist, bevor das Meer ihn schluckt, längst unsichtbar. Wera kann den Blick nicht abwenden. »Hey, Frau Professor, aufwachen! Schau mal, da hinten auf dem Weg. Siehst du die Feder? Die ist von einem Falken, jede Wette. Wahrscheinlich hat er sie im Gefecht verloren, beim Kampf mit einem Beutetier.« Carl-Josef Maurer läuft die paar Schritte nach vorn und bückt sich, um die schmale, braunschwarz gefleckte Feder aufzuheben. Er wendet den Kopf zu Wera und zeigt auf die Spuren im Sand. »Und hier, die Abdrücke, das sind die Krallen eines anderen Tieres gewesen, einer Maus vielleicht. Und das hier auf der Seite, das sind Flügelspuren, da ist der Falke auf sein Opfer niedergestoßen und hat es geschlagen.« »Woher weißt du das alles?« »Ich habe als Kind stundenlang Tiersendungen im Fernsehen angeschaut. Es war das Einzige, was ich sehen durfte.« Wera geht neben ihm in die Knie. »Warst du ein braves Kind?« »Nein. Ein unartiges.« Maurer lacht und zieht Wera hinunter auf den warmen Sand, der zwischen Gebüsch und Felsen den Weg bedeckt. »Komm, wir legen uns hin und machen es wie die Eidechsen. Einfach die Augen schließen und abwarten, bis die Sonne durch die Lider brennt.« »Und wenn jemand kommt?« »Stellen wir uns tot. Wir halten die Luft an. Verwandeln uns in zwei Leichen auf einem verlassenen Pfad. Wäre doch interessant zu sehen, was unser Entdecker tun würde.« »Was würdest du denn tun?« »Weglaufen natürlich. Schließlich könnte unser Mörder hier irgendwo im Gebüsch lauern.« Wera lacht. »Machen Mörder so was?«
»Woher soll ich das wissen, Frau Professor? Ich hab ja, wie gesagt, als Bub nur die Tierfilme sehen dürfen.« »Tu nicht so harmlos!« Wera beugt sich über ihn und küsst ihn. Hinters Ohr, auf den Mund, wieder hinters Ohr. »Wirklich keinen einzigen Krimi?« »Nein. Leider. Darum interessieren mich Kriminalfälle ja so sehr.« Carl-Josef Maurer streichelt ihren Hals, die Arme, die Schultern. »Zum Beispiel wüsste ich zu gern, wo der Xaver Sturz geblieben ist.« »Hast du ihn gut gekannt?« »Nein. Ich hab ihn auch nicht gemocht. Diese Mischung aus Arroganz und Humorlosigkeit war nichts für mich. Aber jetzt, wo er weg ist, interessier ich mich für ihn. Wundert dich das?« Wera antwortet nicht auf seine Frage. Ihre Finger kämmen sein Haar. »Lass uns von hier verschwinden. In dem Kloster gibt es ein paar Räume, die recht gut erhalten sind. Mit Wänden und sogar einem Dach darüber.« Maurer lacht. »Für darunter hätte ich im Auto ein paar Decken.« »Es würde uns niemand sehen«, überlegt Wera, »und wir bekämen obendrein keinen Sonnenbrand.« Maurer nickt. »Es wird sein wie bei Boccaccio. Am Himmel glühende Sonne, im Kloster der Schatten der alten Mauern. Und wir beide ganz allein. Außer ein paar Ratten vielleicht. Hast du Angst vor Ratten, Wera?« »Du bist der Tierexperte von uns beiden. Sag mir, ob ich Angst haben muss.« Carl-Josef Maurer lächelt und schweigt.
Vor dem Klosterportal steht schon ein Auto. Maurer wendet sofort, lässt seinen Wagen ein paar Kehren hinunterrollen und parkt ihn am Rand der Straße hinter drei dicht beieinander
stehenden Korkeichen. Als sie zu Fuß hinaufsteigen, muss Wera an Eselskarren und Flagellantenzüge denken. Männerschweiß unter sengender Sonne. »Was glaubst du, wie die Klosterbrüder ihre Lebensmittel hier hinauf transportiert haben?« »Kommt drauf an. In den dreißiger Jahren wahrscheinlich auf dem Rücken, entweder auf dem eines Lasttieres oder auf dem eigenen. In den Fünfzigern hatten die Augustiner vielleicht schon einen Wagen. Er muss ja nicht so teuer wie dieser hier gewesen sein.« Carl-Josef Maurer versucht, ins Innere des fremden Autos zu sehen, das vor dem Portal parkt und ihn zur Umkehr bewogen hat. Aber die Scheiben sind getönt. »Vielleicht ist es jemand vom Orden«, schlägt Wera vor. »Wohl kaum. Oder kannst du dir vorstellen, dass die solche Nobelkarossen fahren? Außerdem hat der Wagen ein Wiener Kennzeichen.« Maurer will eine Tür öffnen, aber alle sind verriegelt. »Wir sollten von hier verschwinden.« »Warum denn?« Der Student lacht. »Es ist nicht verboten, das Klostergelände zu betreten.« »Lass uns vorsichtig sein. Ich möchte nicht, dass man uns miteinander sieht.« »Angst ums Renommee, Frau Professor Pratzinger?« Maurer fasst Weras Kinn mit hartem Griff, zieht es zu sich hinauf und will sie küssen. »Lass das, bis wir wissen, wer außer uns im Kloster ist.« »Wie du willst. Dann sehen wir eben nach.« Mit schnellen Schritten überquert Maurer den Platz vor der Kirche. Aber das Portal ist verriegelt. Maurer hat schon die Hand auf der Türklinke zum benachbarten Kreuzgang, als Wera ruft:
»Warte noch! Vielleicht sollten wir zuerst nach hinten zum ehemaligen Schlaftrakt gehen. Von dort aus kann man das gesamte Gelände überblicken.« Nebeneinander kämpfen sie sich durch kniehohes Gestrüpp. Eine Wolke von Rosmarinduft steigt auf, als Wera stolpert und in die Blüten eines Strauches fällt, der in den Mauerresten des Bettenhauses wächst. Die Mönchszellen mit ihren halbhohen Wänden liegen wie aufgereiht längs eines mehrfach abknickenden Ganges. Die Räume sind schmal, etwa eineinhalb Meter breit und höchstens drei Meter lang. In einer Zelle steht das Gerippe einer Pritsche. Kopf- und Fußteil sind aus Eisenstangen, die helle Farbe ist abgeplatzt, nur in den Kanten sitzen noch letzte Lackspuren. Anstelle eines Lattenrostes hängt zwischen den Bettstreben ein ausgeleiertes Metallgitter. Das ganze Bett ist nicht breiter als ein Kindersarg. »Sieh dir das an, Wera. Wenn man sich nur umdreht, fällt man garantiert heraus, selbst wenn man allein in dem Bett gelegen hat.« Carl-Josef Maurer versetzt dem rostigen Eisengeflecht einen Tritt. Krachend rutscht das Gitter aus seiner Halterung und begräbt ein Distelgewächs unter sich. »Wie ein Naturschützer benimmst du dich nicht gerade.« Wera zieht ihn weiter ins Innere des Gebäudekomplexes zu den Resten der Waschräume. »Also der Weg vom Bett zur Dusche war jedenfalls kurz.« Maurer versucht vergeblich, einen der alten Hähne aufzudrehen, die zum Teil frei im Gelände stehen, weil ihre Stützmauern eingefallen sind. »Meinst du, da kommt noch Wasser?« »Möglich ist es. Die haben hier vielleicht einen eigenen Brunnen gehabt.« »Der ist sicher längst versiegt.«
»Stimmt auch wieder. Schau mal die Leiter da hinten und dieser Holzthron, auf den sie führt. Sieht aus wie ein Hochsitz. Kannst du dir das erklären?« »Du hättest das Buch vom Herrn Holitscher gründlicher lesen sollen, Wera, dann wüsstest du, was das ist.« »Nun sag schon.« »Da saß der Abt, während seine Schäfchen duschten, und ließ die Augen wandern über ihre Leiber und ihre Hände.« »Nein!« »Doch. Unkeuschheit ist eine Sünde, Frau Professor, nicht nur mit anderen, auch mit sich selbst.« »Das erinnert mich an etwas. Komm, wir sehen nach, ob das fremde Auto noch da ist. Vielleicht haben wir Glück und die Touristen haben freiwillig das Feld geräumt.« Maurer nickt und sagt leise, wie zu sich selbst: »Falls es überhaupt Touristen sind.« Der dunkelblaue Wagen wartet immer noch auf dem Vorplatz, allerdings ist die Kofferraumklappe jetzt weit geöffnet. Wera bleibt abrupt stehen. »Ich geh nicht weiter. Keinen Schritt! Da stimmt irgendetwas nicht!« »Hast du Angst?« »Ja.« Der Student Maurer lächelt und streicht Wera zärtlich über die Wange. »Hätte ich dir gar nicht zugetraut. Du wirkst so unnahbar und fast hart. Aber ängstlich, liebste Wera, gefällst du mir noch besser.« »Sehr komisch!« »Pass auf: Du bleibst hier und wartest. Ich gehe hinüber zum Kreuzgang und sehe nach, wer hier rumschleicht.« Wera nickt. Wie hypnotisiert bleibt sie stehen und starrt auf die Tür, hinter der Maurer verschwunden ist, die Tür zu dem einzigen erhaltenen Gebäude des Klosterkomplexes. Plötzlich
streift sie ein Schatten. Als Wera den Blick hebt, sieht sie einen schlanken Vogelleib mit auffällig schmalen Flügeln über dem Kreuzgang kreisen. Dann steht er still. Ohne jeden Flügelschlag schwebt der Vogel sekundenlang in der Luft, um plötzlich herabzustoßen. Der Vogel verschwindet hinter der Mauer, etwas quiekt. Wera kann nicht erkennen, ob der Falke im Inneren des Kreuzganges oder in den Ruinen dahinter sein Opfer geschlagen hat. Wieder hört sie die Töne des sterbenden Tieres, gleich darauf sieht Wera Blut. Ganze Schwalle von Blutsuppen über einen Steinboden. Das Bild verflüchtigt sich so plötzlich, wie es erschienen ist. Bevor der Vogel wiederkommen und noch einmal seinen Schatten über sie werfen kann, stürzt Wera auf die alte Holztür zu, schlüpft durch den Spalt und presst sich gegen die Wand im Schutz der Gewölbedecke. Der Innenhof liegt leer im gleißenden Sonnenlicht. Kein Falke, kein Beutetier sind zu sehen, kein Ton ist zu hören. Auch Carl-Josef Maurer scheint verschwunden zu sein. Der Falke hat ihn entführt, denkt Wera, der Vogel Greiff ist gekommen und hat sich ein Opfer gesucht. Dann erst sieht sie, dass neben der verfallenen Zisterne eine flache Grube ausgehoben und die Erde zu einem akkuraten Haufen auf dem Ziegelweg geschichtet ist. Neben der Grube liegt ein Spaten. Wera weiß nicht, was sie tun soll. Zu dem Spaten muss ein Mensch gehören, wahrscheinlich der Fahrer des fremden Autos. Aber hier ist niemand, selbst Maurer scheint verschwunden zu sein. Und einen zweiten Ausgang gibt es nicht, nur die Seitentür zum Kirchenschiff, und die war bei Weras letztem Besuch mit Rudolf fest verschlossen. Vielleicht ist Maurer auf den Turm gestiegen, fällt ihr ein, vielleicht versucht er, den Besitzer des Spatens von oben zu entdecken. Oder er beobachtet Wera. Die Tür zum Turm liegt auf der anderen Seite des Kreuzgangs, es ist hoher Mittag, die
Schatten fallen fast senkrecht, Wera kann von ihrem Standort aus nicht erkennen, ob die Tür offen steht. Gerade will sie aus dem schützenden Schatten treten, als sich auf der anderen Seite des Kreuzgangs etwas regt. Eine Person, die sich wie sie selbst im Schatten verborgen hatte, macht ein paar Schritte ins Licht. Das kann nicht sein, denkt Wera. Das. Kann. Nicht. Sein. Es ist Irma Leonhardt. Sie ächzt unter der Last eines Kanisters, den sie zu der Grube schleppt und dort polternd abstellt. Der Kanister ist aus rostigem Metall, von dem die Farbe abplatzt. Hose und Bluse der Leonhardt sind über und über beschmutzt, voller Grasflecken und metallisch glänzender Schmierspuren. Weras Assistentin wischt sich das verschwitzte Haar mit dem Unterarm aus der Stirn und keucht. Das Keuchen hallt von den Wänden wider. Es klingt, als komme es aus vielen Arme-Sünder-Kehlen gleichzeitig. Unschlüssig betrachtet die Leonhardt den Kanister, die Grube, wieder den Kanister. Wera steht zu weit entfernt, um in die Grube sehen zu können. Vorsichtig schleicht sie sich näher heran. Säule für Säule mit lautlosen Schritten auf den Gummisohlen ihrer Turnschuhe. Aber sie ist nicht schnell genug. Schon bückt sich Irma Leonhardt, schraubt den Kanisterdeckel auf und kippt das Gefäß über die Grubenkante. Dickflüssig suppt Öl heraus und platscht auf den Grubenboden. Die Sonne wirft spiegelnde Reflexe auf die Flüssigkeit und lässt sie in allen Regenbogenfarben schillern. Ein Geruch wie auf einer Tankstelle breitet sich aus. Bevor Wera reagieren kann, stürzt Carl-Josef Maurer hinter einer der Säulen an der Stirnseite des Kreuzgangs hervor. Wera denkt, so ist das also, er will der Irma Leonhardt zu Hilfe eilen, das Ganze ist ein abgekartetes Spiel. Die beiden haben mich absichtlich hergelockt, um mir eine Falle zu stellen.
Doch Carl-Josef Maurer umklammert die Leonhardt von hinten, drückt ihr das Knie in den Rücken und zwingt sie, den Kanister fahren zu lassen. Polternd kracht er in die Grube, Irma Leonhardt schreit, reißt ihre Arme hoch und dreht sich aus der Hüfte, dabei versetzt sie dem Studenten Maurer einen heftigen Schlag mit dem Ellenbogen gegen die Schläfe. Er lässt sie los, taumelt und stürzt zu Boden. Sekundenlang steht die Leonhardt wie erstarrt, blickt auf Maurer hinunter und rührt sich nicht. Endlich geht sie neben ihm in die Knie und rüttelt Kopf und Schultern. »Tut dir was weh? Was machst du überhaupt hier? Himmelherrgott, Josef, jetzt sag doch was! Hast du dir was getan? Jetzt red endlich!« Maurer stöhnt und dreht den Kopf. »Warte, da ist ein wenig Blut. Nur eine Schürfwunde. Dem Himmel sei Dank! Bleib hier liegen und beweg dich nicht. Ich hole das Verbandszeug aus dem Auto und kleb dir ein Pflaster drauf.« Irma Leonhardt richtet sich auf und läuft quer über den Klosterhof direkt auf die Außentür zu. Wera, die wie gelähmt vor Schreck hinter ihrer Säule steht, müsste nur den Arm ausstrecken, um sie zu berühren. Aber Wera streckt den Arm nicht aus, und Irma Leonhardt bemerkt in ihrer Aufregung nichts von Weras Anwesenheit. Gleich nachdem die Tür hinter ihrer Assistentin ins Schloss gefallen ist, will Wera aus dem Schatten treten und zu CarlJosef Maurer eilen, der sich jetzt stöhnend aufrichtet und in die Grube blickt. Aber Wera bleibt, wo sie ist, und rührt sich nicht. Sie weiß nicht genau, was sie zurückhält. Angst? Ein Verdacht? Das frische Blut auf Maurers Haut glänzt in der Sonne. Er ist sehr blass und tastet vorsichtig nach seiner Schläfe. Als er aufsteht, schwankt er kurz, greift aber trotzdem nach dem Spaten und versucht, mit dessen Hilfe den Kanister aus der
Grube zu fischen. Es klappt nicht, also lässt er den Spaten fahren, springt den halben Meter in die Tiefe, landet auf öligem Boden und hebt den Kanister nach oben. Als er ihn am Grubenrand abstellt, strauchelt er, der Kanister scheint immer noch sehr schwer zu sein oder Maurer von dem Schlag geschwächt. Wera denkt, jetzt kommt er wieder herauf, und dann wird alles gut. Irgendwie werden wir schon unbemerkt weglaufen können. Aber Carl-Josef Maurer bückt sich noch einmal in die Grube hinunter. Wera schleicht sich näher heran, so nah, bis sie endlich auch hinabblicken kann. Carl-Josef Maurers linker Fuß ist bei dem Sprung knöcheltief ins ölsatte Erdreich gesunken, als sei dort unten ein verborgener Hohlraum. Als Maurer den Fuß aus dem Loch zieht, trägt er nur noch einen Strumpf, sein Schuh muss im Boden stecken geblieben sein. Maurer bückt sich und wühlt in dem Loch, zuerst mit einer Hand, dann mit beiden Händen. Als er sich aufrichtet, hat er in jeder Hand einen Schuh. In der Linken seinen eigenen Flechtschuh, in der Rechten einen ehemals schwarz glänzenden Männerschuh, der nun mit regenbogenbuntem Lehm überzogen ist. Es dauert einige Sekunden, bis Carl-Josef Maurer begreift, was sein Fund bedeutet. Er schreit, hysterisch und schrill wie ein Mädchen, aber da ist Wera bereits mit einem Sprung an der Grube und hat den Spaten ergriffen. Sie schwingt ihn hoch in die Luft und lässt ihn mit aller Wucht auf Carl-Josef Maurers Kopf niedersausen. Der Spaten trifft die Stelle schräg über dem Ohr, aus der Maurer vorhin schon geblutet hat, nur dass jetzt eine hellrote Fontäne hervorschießt, in sich zusammenfällt, wieder hervorschießt, wieder zusammenfällt. Zehnmal, vielleicht zwölfmal hintereinander schlägt Wera zu. Der Körper sackt auf dem Boden der Grube zusammen, die beiden Schuhe fallen dem Taumelnden aus der Hand. Nur das
Blut, das Blut, das Blut hört nicht auf. Endlich wird die Fontäne kleiner, schrumpft zu einem mickrigen Springbrunnen, dem schnell die Puste ausgeht. Immer langsamer läuft das Blut an der verblassenden Wangenhaut entlang, bis der letzte Tropfen kraftlos auf der Schläfe stehen bleibt. Noch schillert der Tropfen im Sonnenlicht, aber an den Rändern wird die Flüssigkeit schon matt und stumpf, gleich wird eine Kruste den ganzen Tropfen überzogen haben. Es ist eine Frage von Minuten, bis sein Inneres ausgedörrt sein wird unter dieser heißen mittäglichen Sommersonne. Wera starrt abwechselnd auf den leblosen Körper des Studenten Maurer und auf den lehmigen Schuh, den er aus dem Erdreich gezogen hat. Einem plötzlichen Impuls folgend, öffnet sie die unteren Knöpfe ihrer Bluse und reibt mit den losen Enden den Spatengriff ab. Langsam, gründlich. Wie in Trance. Dabei fällt ihr ein, dass ihre Fingerabdrücke nicht nur auf dem Spaten, sondern ebenfalls auf Maurers Körper sind, dass folglich der Körper weg müsste, fort aus der Grube, am besten fort aus dem Kloster, damit sie nicht als Mörderin dasteht. Wera wird schwindlig. Alles dreht sich, kreiselt, trudelt um sie herum, Maurer, die Grube, der Spaten, der Schuh. Sie lässt den Toten, den Kanister, den Spaten liegen, wo sie sind, nur den ehemals schwarz glänzenden Schuh nimmt sie mit und flieht zurück in den Schatten des Kreuzgangs. Sie meidet die Tür nach draußen, durch die jeden Moment ihre Assistentin zurückkehren muss, und läuft hinüber zur anderen Seite, dorthin, wo der Aufstieg zum Turm ist. Da fällt die Außentür des Kreuzgangs ins Schloss. Wie erstarrt bleibt Wera stehen. Unterm Arm einen Verbandskasten, in der zweiten Hand eine Plastikflasche mit Wasser läuft Irma Leonhardt auf die Grube zu. »Josef«, ruft sie, »Josef, ist alles in Ordnung? Wo bist du denn? Warum bist
du nicht liegen geblieben? Josef, mach keinen Unsinn, ruh dich lieber aus.« Wera drückt sich tiefer in den Schatten. Es ist zwecklos, den Kreuzgang verlassen zu wollen, die Leonhardt würde sie sehen. Aber die Tür zum Turm ist nur wenige Schritte entfernt. Wera will warten und den Schreck ausnutzen, den die Leonhardt jeden Augenblick bekommen wird. Gerade hat diese den Grubenrand erreicht und sieht hinunter. Der Verbandskasten fällt polternd zu Boden, die Wasserflasche rutscht aus ihrer Hand, schlägt auf einen Stein und zerschellt splitternd. Während das Wasser ins Erdreich sickert, schlüpft Wera durch die hölzerne Tür und hastet die Stufen hinauf zur Empore. Eine Umdrehung, zwei, drei, da ist die Pforte nach draußen. Wera stößt sie auf und tritt ans Licht. Sonne, Wärme, Stille umgeben sie. Erleichtert sinkt Wera zu Boden, der Schuh des toten Studenten Xaver Sturz fällt ihr aus der Hand. Doch die Erleichterung ist von kurzer Dauer, Wera weiß genau, sie hat keine Zeit, oder nur wenig Zeit. Dort unten liegt ein Toter, nein, dort liegen zwei Tote, verbessert sie sich selbst, und die Polizei wird ihre Mörder suchen, dabei ist es noch gar nicht lange her, da hab ich mit Rudolf hier oben gestanden und Witze gemacht. Vorsichtig beugt Wera sich über die Steinbalustrade und späht hinunter. Irma Leonhardt versucht, Maurers Körper aus der Grube zu ziehen. Aber der Tote entgleitet ihr wieder und wieder. Irma Leonhardts Keuchen dringt bis zu Wera hinauf. Atemlos. Panisch. Energisch. Verzweifelt. Entschlossen. Ergeben. Matt. Am Ende nur noch wimmernd. Weras Assistentin sackt über der Leiche zusammen und schluchzt in kurzen abgehackten Tönen, hohl und heiser. Nichts Menschliches ist mehr in ihrer Stimme, eher klingt sie, als gehöre sie einem trauernden Tier. Wera verkriecht sich hinter der schützenden Brüstung. Zwar ist sie nun vor neugierigen Blicken aus dem Kreuzgang sicher,
aber nicht vor der Mittagsglut. Der Turm hat kein Dach, schon jetzt brennt die Sonne vom Himmel und hindert Wera daran, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber plötzlich hört das Schluchzen auf. Sind Sekunden, sind Minuten vergangen? Hat Irma Leonhardt vielleicht längst den Kreuzgang verlassen und ist davongefahren? Wera weiß es nicht. Hastig richtet sie sich wieder auf, vorsichtig schiebt sie den Kopf über die Brüstung. Die Leonhardt ist nicht zu sehen. Der Körper des Studenten Maurer liegt immer noch in der Grube, verschandelt von Blut und Öl. Jetzt knarrt die Tür zum Kreuzgang. Jemand hustet. Ein Mann? Die Polizei, denkt Wera, nun ist alles aus! Die Leonhardt ist geflohen und ich sitze hier fest. Eine Mörderin und ihr Opfer in glühender Hitze vereint. Aber es ist nicht die Polizei, es ist ein weiteres Mal Irma Leonhardt, die quer über den Hof zur Grube geht. Wieder schleppt sie einen Kanister, diesmal ist er aus rotem Plastik. Irma bleibt dicht neben der Grube stehen, stemmt den Kanister in die Höhe, schüttelt ihn kurz und kippt den Inhalt in die Grube. Er ist dünnflüssiger als das sämige Öl und springt gluckernd hinab. Das weiße T-Shirt auf Carl-Josef Maurers Körper wird feucht und dunkel, die Jeans schimmert schwarz im Sonnenlicht, auch die längst getrockneten Blutflecken auf Gesicht und Kleidung des Toten erhalten ihren Glanz zurück. Als die Leonhardt das Streichholz anzündet und es in die Grube wirft, muss Wera mit aller Kraft einen Schrei unterdrücken. Der Schrei bleibt in ihrer Kehle stecken und nimmt ihr den Atem. Mit einem einzigen Zischlaut verwandelt sich die Grube in eine Flammensäule. Die Leonhardt schlägt beide Hände vors Gesicht, taumelt rückwärts und prallt gegen eine der Säulen. Ihre Knie knicken ein, sie geht zu Boden wie ein geschlagener Boxer.
Wera zieht das Handy aus der Tasche. Ohne nachzudenken tippt sie auf die SOS-Taste, es klingelt endlos, dann bellt eine Männerstimme ihr ins Ohr. Wera versteht die Worte nicht, will sie auch nichts verstehen, sie will nur ihre Botschaft loswerden. »Das Kloster brennt. Al fuoco! Il monastero«, stammelt Wera. »Welches Kloster? Wer sind Sie?« »Das Kloster in den Bergen hinter Duino. Das Kloster Zum Heiligen Kreuz. Kommen Sie, schnell, man sieht den Rauch von der Straße aus.« »Wo sind Sie? Von wo rufen Sie an? Aus dem Auto? Sind Sie unten auf der Küstenstraße? Bitte bleiben Sie, wo Sie sind!« Die Stimme wird drängender, schärfer. Wera unterbricht die Verbindung, ohne ein weiteres Wort gesprochen zu haben. Wieder schiebt sie den Kopf über die Brüstung. Hitze schlägt ihr entgegen. Knisternde Hitze, die einen Geruch transportiert, süß und scharf zugleich, verbranntes Fleisch. Wera würgt, aber sie schafft es, den Brechreiz zu besiegen. Nur keine Spuren hinterlassen, nicht hier oben auch noch! Unten im Hof packt Irma Leonhardt hastig ihre Werkzeuge zusammen, Spaten und Kanister, trägt sie quer über den Hof, vorbei an der Flammengrube, durch die Tür zum Vorplatz hinaus, wahrscheinlich in ihr Auto, das Wera nicht sehen kann. Die Hitze steigt in Schwaden auf. Erste Flammenzungen lecken über den Rand der Grube, erreichen die nah stehenden Sträucher und verschlingen sie mit einem einzigen hungrigen Knistern. Der Geruch nach geröstetem Salbei und verkohltem Thymian besänftigt verwirrenderweise Weras Magen. Die Flammen umzüngeln die Zisterne, sie haben sich schon auf der Hälfte der Hoffläche ausgebreitet. Von der Küstenstraße klingt
eine Sirene herauf. Verschreckt erscheint die Leonhardt von neuem am Rand des Kreuzgangs. Wera denkt, was willst du denn noch hier, mach, dass du verschwindest, ich muss doch hier auch noch herunterkommen, in wenigen Minuten brennt die Tür zum Turm, dann sitze ich fest, ich kann doch nicht verbrennen wie der tote Student Maurer dort unten, der mich vor einer Stunde noch umarmt hat mit seinen kräftigen Armen, die jetzt vielleicht schon verkohlt sind. Unten im Hof gellt ein Schrei. Wera glaubt, es sei ein verspätetes Entsetzen Irmas über das Feuer und den Tod, bis sie sieht, dass die Leonhardt nicht mehr allein im Hof ist. Eine Gruppe von Männern in Helmen und Schutzkleidung drängt die Frau zur Seite, ein Schlauch, dick wie ein Kinderkörper, wird ins Innere des Kreuzgangs gewälzt, kehlige Rufe haben Mühe, sich gegen die knatternden Flammengeräusche durchzusetzen. Das Feuer springt wie ein Tier an den Wänden hinauf, unwillig knurrend auf der Suche nach Beute. Längst sind die letzten Kräuter und Sträucher verbrannt, noch sind die hölzernen Deckenbalken der Empore nicht erreicht. Das Wasser erwischt das Feuer in einem schwachen Moment. Der Schlauch wird von drei Männern gehalten, ein wuchtiger Strahl fegt über den Boden und kracht gegen die Ziegelmauer. Die Flammen stehen für wenige Augenblicke in der Luft, dann sacken sie zusammen, kein Wind treibt sie wieder auseinander, nur in den Ecken halten sich Reste, aber auch hier trifft sie das Wasser, spült sie von den Wänden ins Nichts. Plötzlich ist es still. Erschrocken will Wera Kopf und Oberkörper zurückziehen, doch die Neugier besiegt die Angst. Wera beugt sich noch einmal weit über die Balustrade. Niemand schaut nach oben, niemand entdeckt sie. So wie der Kampf gegen das Feuer ihre eigene Aufmerksamkeit gefangen hält, so hält er auch die der
Feuerwehrmänner und die Irma Leonhardts gefangen, die, kaum sind die Flammen besiegt, aus dem Schatten des Kreuzgangs auftaucht und mit schwankenden Schritten quer über den Hof geht. Das Wasser steht knöcheltief zwischen den Mauern, die Leonhardt watet durch eine trübschwarze Brühe und bleibt neben dem Steinhaufen stehen, der einmal eine Zisterne gewesen ist. Die Grube, die sie selbst gegraben hat, ist nicht mehr zu erkennen. Das Wasser hat sich in der Kuhle gesammelt, seine Oberfläche liegt rußig dunkel über der Grube, Ascheteilchen und verkohlte Sträucher, Pflanzenleichen, schwimmen darauf und verbergen den grausigen Inhalt. Nur der Erdaushub, dieser immerhin kniehohe Hügel ragt zu einem kleinen Teil aus der Wasserfläche. Einen letzten Blick auf das Inferno erlaubt sich Wera, bevor sie ihren Kopf zurückzieht, plötzlich packt sie die Angst vor Entdeckung. Was ist, wenn die Polizei das Kloster durchsucht? Wie lange wird das Wasser brauchen, um auf dem Grund der Kuhle und im Boden zwischen den Pflastersteinen zu versickern und den Blick auf den grausig verkohlten Körper freizugeben? Was wird Irma Leonhardt den Carabinieri sagen, was hat sie jetzt schon den Feuerwehrmännern gesagt? Sie muss sich für die Verursacherin von Carl-Josef Maurers Tod halten. Hat sie nicht darum den Brand gelegt? Aber was weiß sie von dem zweiten Toten? Wera sieht auf die Uhr. Zum ersten Mal seit Stunden. Viertel nach drei. Um zwei Uhr mittags war die Strahlkraft der Sonne am stärksten, fällt ihr ein. Und dass ihr Gesicht brennt. Und dass sie noch ewig hier oben wird sitzen müssen, bedrängt von Hitze und Furcht, beidem gleichermaßen schutzlos ausgeliefert. Wie im Decamerone, der Josef hat es gewusst, denkt Wera. Was werden die Carabinieri tun? Sie wagt es
nicht, noch einmal über die Brüstung zu schauen, zu groß ist die Angst vor Entdeckung, jetzt, wo kein Feuer mehr alle Blicke auf sich zieht. Aber Wera hört die Männerstimmen unten im Hof. Es sind mindestens drei verschiedene, die laut durcheinander schreien. Weras Italienisch ist nicht schlecht, und die Männer begnügen sich mit kurzen Ausrufen. »Andrea«, versteht sie, »komm schnell! Presto, presto!« Und dass sich Andrea gefälligst diese Bescherung ansehen solle. »Ein Mann, Federico, das ist ein Mann«, stammelt Andrea, bevor er zu würgen beginnt. »Reiß dich zusammen«, schilt ihn Federico, aber Andrea würgt weiter. »Cesare, dann hilf du mir eben!«, befiehlt Federico ungeduldig. Cesare scheint ein Schweiger zu sein. Immerhin wird ihm nicht schlecht. Dafür kracht jetzt etwas unten im Hof. Metall auf Stein, schätzt Wera. Eine Bahre? Wohl eher ein Sarg. Genau will sie es gar nicht wissen. Und sie will nichts mehr hören. Kein Wort, keinen Laut. Weras Gesicht brennt, die Hände, die Arme brennen auch. Es ist ein Gefühl, als löse sich die Haut in Fetzen vom Körper ab. Wera öffnet die restlichen Knöpfe ihrer Bluse, zieht sie aus und legt sie sich als Sonnenschutz über Kopf und Schultern, die Hände halten unter der Bluse die Ohren zu. Aber das nächste Krachen ist so laut, dass sie es auch mit zugehaltenen Ohren hört. »Merda!«, ruft eine Stimme, die sie noch nicht kennt. Vielleicht ist es Cesare, der Schweiger. »Pass doch auf, du Blödmann! Cesare cretino!«, brüllt Federico. Es kracht von Neuem. »Na also«, sagt Cesare. »Wurde auch Zeit«, antwortet Federico und lacht roh. »Andrea, du kannst die Augen wieder aufmachen, der Kleine ist in der Kiste.«
»Madre mia!«, stöhnt Andrea und fragt den Wortführer: »Meinst du, sie hat ihn umgebracht?« »La bellezza?« Wieder lacht Federico sein rohes Lachen. »Bei lebendigem Leib wird sie ihn schon nicht angezündet haben.« »War sie allein?« »Hast du hier sonst noch jemanden gesehen?« »Ich habe nicht gesucht. Aber irgendwo hier im Gebäude könnte ein Komplize sitzen. Oder da oben auf dem Turm.« Campanile, das Wort trifft Wera wie ein Schlag. »Da oben? Bist du noch ganz dicht? Dann wäre der Komplize ja mit abgebrannt, wenn wir nicht rechtzeitig gekommen wären. Schöne Kumpanei!« Wera spürt, wie ein unkontrollierbares Schluchzen sie überfällt. Es ist wie Zähneklappern bei großer Kälte. Nicht zu stoppen. Sie presst beide Hände vor den Mund und beißt sich in die Handballen. Nur kein Geräusch bis nach unten dringen lassen, nur nichts tun, was die Männer zusätzlich misstrauisch machen könnte. »Soll ich nachsehen?« Andrea klingt eifrig, tatendurstig, männlich, seine Stimme ist jetzt tiefer. Er möchte etwas gegen den schlechten Eindruck tun, den sein Übelkeitsanfall hinterlassen hat, er will nicht als Memme dastehen, denkt Wera, nun ist alles aus… Aber Federico wiegelt ab. »Sei nicht blöd. Was willst du da oben? Wir haben den Toten und wir haben die Schöne. Il morto e la bellezza. Reicht doch. Komm zum Auto.« Andrea antwortet nicht. Aber die hallenden Schritte da unten können alles bedeuten. Vielleicht hat Andrea die Schultern gezuckt und sich auf den Weg zum Turm gemacht. Vielleicht ist es ihm egal, wie Federico die Sache sieht, vielleicht ist die Tür, die jetzt ins Schloss fällt, nicht die Tür, durch die die Carabinieri den Kreuzgang betreten haben, sondern gerade
diese andere, die ins Stiegenhaus und direkt zu Wera hinauf führt. Vielleicht steht Federico unten im Schatten und wartet ungeduldig darauf, daß sein übereifriger Kollege mit leeren Händen wieder hinunter kommt. Was wird er für Augen machen, wenn Andrea stattdessen eine Austriaca mit rot verbrannter Gesichtshaut und halb nackt vom Turm herunterzerrt? Hektisch zieht Wera ihre Bluse wieder an. Die Sonnenstrahlen ritzen wie feine Messer die Haut ihres schutzlosen Gesichts. Aber in wenigen Sekunden wird zumindest diese Plage ausgestanden sein. Andrea ist noch nicht alt, seine Stimme war eher die eines Knaben, für ihn sind die paar Treppenstufen ein Witz, er wird sie im Dauerlauf nehmen und jeden Moment die Tür zur Empore aufstoßen… Aber Andrea kommt nicht. Niemand kommt. Aus dem Treppenhaus sind keine Schritte zu hören, und unten im Hof bleibt es auch still. Totenstill, denkt Wera. Unwirklich still, verbessert sie sich mit Nachdruck. Bestimmt werden sie zurückkommen. Spätestens wenn sie Maurers Wagen entdeckt haben. Sie werden sich fragen, warum das Auto hinter den Bäumen versteckt worden ist. Und sie werden Irma Leonhardt fragen, die darauf nun wirklich keine Antwort wissen kann. Und dann kommen sie zurück und holen mich. Angespannt lauscht Wera, registriert jedes Flirren der Luft, jedes Zirpen der Insekten. Ein Käfer brummt schwerfällig an ihrem Ohr vorbei, ein Vogel schreit vom Gebirge herüber. Ein Mann ruft: Tu das nicht!, und greift nach ihren Schultern. Wera antwortet nicht, hebt den Schraubenzieher ein weiteres Mal. Der Mann schlägt ihr das Werkzeug aus der Hand, polternd fällt es auf den Steinboden. Aber da ist noch ein anderes Geräusch. Autos werden angelassen. Es klingt weit entfernt, die Klostermauern dämpfen den Lärm. Trotzdem ist es eindeutig: Motoren
blubbern, einer heult auf, Reifen rutschen über Schotter. Ein Fluch ertönt. Federico? Cesare? Oder Andrea? In der Entfernung sind ihre Stimmen nicht zu unterscheiden. Die Autos fahren den Hang hinunter, Steine schlagen gegen Blech, es sind eindeutig mehrere Wagen, gleich müssen sie in der ersten Kehre sein, das Poltern wird leiser, jetzt fahren sie an dem versteckten Wagen vorbei. Er ist leuchtend rot und hinter den Korkeichen lächerlich leicht zu entdecken. Die Kolonne wird anhalten, denkt Wera, was sonst? Ich werde das Bremsen hören oder zumindest das Ausschalten der Motoren wahrnehmen. Jetzt, jetzt, jetzt! Aber die Autos entfernen sich stetig, der Lärm der Motoren nimmt so gleichmäßig und unspektakulär ab, als drehe man den Ton im Fernsehen leiser. Erst als die Geräusche längst verstummt sind, löst Wera die Hände vom Mund. Ihre Zähne haben tiefe Spuren in die Haut gegraben, Bisse eines wilden Tieres auf einer Menschenhand. Bei dem Versuch aufzustehen, fällt Wera taumelnd zurück. Ihre Beine sind eingeschlafen, es ist ihr unmöglich, sich auf den Füßen zu halten. Wie eine hüftabwärts Gelähmte zieht sie sich an der Brüstung hinauf, ächzt und stöhnt, bis ihr Oberkörper schwer auf dem heißen Stein liegt. Im Klosterhof ist das Wasser versickert und hat eine schlammige Schicht zurückgelassen, durch die sich erste Trockenrisse ziehen. Ein Teil des Erdaushubs ist wieder in die Grube gerutscht, vielleicht von dem versickernden Wasser mitgeschwemmt. Oder der Hügel war im Weg, als die Carabinieri die sterblichen Überreste Carl-Josef Maurers geborgen haben. Jetzt bedeckt Erde die Stelle, an der Maurers Fuß ins Tiefere geglitten ist, dieses verräterische Loch, aus dem er erst seinen eigenen und dann diesen zweiten Schuh gezogen hat.
Wera rekapituliert den Wortwechsel der Carabinieri. Nein, sie täuscht sich nicht, von einem zweiten Toten war bestimmt nicht die Rede. Langsam weicht die Taubheit aus ihren Beinen. Sie kann wieder stehen, noch sind ihre Schritte wacklig, aber es wird besser. Die Kühle des Treppenhauses tut ihr unendlich wohl. Sie wagt es nicht, ihr Gesicht zu betasten, konzentriert sich auf die Stufen, hält sich mit krampfenden Händen am Geländer fest, befürchtet jede Sekunde das Ausbrechen einer Panik, die alles Nachdenken verhindern und jede Flucht vereiteln wird. In ihrem Rucksack ist das Handy, die Verlockung, Rudolf anzurufen – oder vielleicht noch einmal die Polizei –, ist groß. Alles wäre vorbei. Wera müsste nicht mehr nachdenken, nicht mehr entscheiden, was zu tun ist. Sie könnte um eine kalte Kompresse für ihr Gesicht bitten, die schmerzende Haut beruhigen, die Schwellung eindämmen. Aber sie müsste Fragen beantworten. Fragen nach ihrem Aufenthaltsort in den letzten Stunden, Fragen nach ihrem Verhältnis zu Carl-Josef Maurer und mit Sicherheit Fragen nach diesem Schuh, den die Polizei sehr schnell in ihrem Rucksack finden würde und der sie auf die Spur des zweiten Toten dort unten in der Grube führen würde. Während Wera in dem dunklen Treppenhaus nach der Tür zum Klosterhof tastet, ihre Finger über rissige Steine gleiten, das stark gemaserte Holz des Türrahmens finden, die Klinke umfassen, kühles Metall mit buckligen Rostbeulen, hält sie den Atem an. Was ist, wenn jemand vor der Tür steht? Eine große Mattigkeit überkommt Wera. Sie öffnet den Mund, holt tief Luft und stellt sich vor, zu einem Tauchgang anzusetzen. Dann drückt sie die Klinke hinunter. Die Tür schwingt auf, lässt Helligkeit ins Treppenhaus, aber keine fremden Blicke. Der Kreuzgang ist leer, scheint leer zu sein, verbessert Wera sich, schließlich war sie selbst vor
einigen Stunden in dem schattigen Rechteck auch nicht zu erkennen. Langsam durchquert Wera den Hof. Auf Zehenspitzen, als könne sie einen Schlafenden aufstören, läuft sie aus dem Schatten in die Sonne und wieder in den Schatten zurück. Es riecht feucht und gleichzeitig verkohlt wie nach einem verregneten Grillfest, ganz anders als oben auf dem Turm, wo der Seewind längst den Brandgeruch vertrieben hat. Den Blick hinüber zu Zisterne und Grube verbietet sich Wera. Die Tür nach draußen ist geschlossen, auch hier ist die Klinke mit Rostpusteln überzogen. Behutsam drückt Wera sie nieder. Durch den sich vergrößernden Spalt dringt ein frischer Windhauch und kühlt ihr brennendes Gesicht. Aber die Erleichterung dauert nur Sekundenbruchteile. Etwa fünf Meter entfernt parkt ein Auto mit der Schnauze direkt auf die Tür gerichtet. Es ist ein Polizeikombi, weiße Schrift auf schwarzem Grund. Hinter der staubigen Frontscheibe sitzt ein uniformierter Fahrer, die scharf gekantete Mütze vor sich auf der Ablage. Er hat den Blick gesenkt und blättert die Seite eines Magazins um. Dabei fährt er sich mit der linken Hand durchs pomadisierte Haar, während die rechte Hand auf der Magazinseite schnalzende Bewegungen macht, die durch die Stille bis zu Wera dringen. Ohne aus der Zeitschrift aufzusehen, ruft der Carabiniere durch die weit geöffnete Autotür ins Freie: »Beeil dich Andrea, na mach schon, die Schöne wartet nicht gern!« Wera erstarrt. Warum: die Schöne, la bellezza? Um welch seltsame Form von Ironie handelt es sich hier? Es dauert Sekunden, lange grauenhafte Sekunden, bis Wera erkennt, dass nicht sie gemeint ist, dass der Carabiniere sie noch gar nicht wahrgenommen hat, dass demzufolge auch nicht sie hergezeigt werden soll, sondern die Dame auf dem Ausklappbild des Magazins, das auf dem Steuerrad des Polizeiwagens liegt. Und als diese Erkenntnis sich ihren Weg durch Weras
überstrapaziertes Gehirn gesucht hat, sind wiederum lange Sekunden vergangen, ist es für eine Flucht fast zu spät. Denn oberhalb der Straße in der trockenen Böschung knacken Sträucher unter schweren Tritten. Offenbar hat sich der Kompagnon des Fahrers dort erleichtert und befindet sich nun auf dem Rückweg zum Wagen. Noch verbergen mannshohe Ginsterbüsche seine Gestalt, aber seine Stimme klingt bedrohlich nah: »Halt sie fest, aber tu ihr nichts, hörst du! Das ist meine Puppe!« Diesmal verscheucht Wera jede Irritation. Der Mann muss die Folder-Lady meinen, niemand hat sie, Wera, bisher gesehen, niemand wird sie entdecken, es wird alles gut ausgehen. Es sind nur drei oder vier Schritte über den Kies bis zur Ecke des Gebäudes, und wenn sie erst einmal hinter Kreuzgang und Kirche angekommen sein wird, wenn der zweite Polizist zu dem ersten ins Auto gestiegen sein wird und beide sich wieder in die Betrachtung der nackten Signorina vertieft haben werden… wenn, wenn, wenn… dann wird alles gut werden, dann muss Wera auch die restliche Flucht gelingen. Eins, zwei, drei, vier. Jeder einzelne Schritt hallt, donnert, kracht, knirscht zum Himmel, fast fällt Wera hin, jetzt müsste der zweite Carabiniere längst hinter den Ginsterbüschen hervorgekommen sein, Wera kann sich nicht umdrehen, darf keine Zeit verlieren, schnell, schnell, sie huscht um die Ecke, jeden Augenblick eines Befehls in ihrem Rücken gewärtig. Stop, signora. Aspetti! Keuchend ringt Wera nach Luft. In ihren Ohren dröhnt es. Da. War da nicht die Stimme? Nein. Es ist alles still. Nur die Insekten zirpen im Strauchwerk, und eine Eidechse bringt sich raschelnd hinter einem Mauervorsprung in Sicherheit. Die Sekunden ziehen sich. Nichts, nichts, nichts. Nur Flimmern, Hitze, Stille. Dann dringt das Lachen zu Wera
durch. Zuerst aus einer, schließlich aus beiden Männerkehlen. Dreckiges, schmieriges Macholachen. Zwei Kerle amüsieren sich mit einem Porno. Das Heft lässt sie die Welt vergessen. Und ihren Job. Ein gewöhnliches Pin-up-Girl ermöglicht Weras Entkommen aus der sicheren Falle. Eine gelungene Pose und viel nacktes Fleisch eröffnen Wera die Fluchtmöglichkeit zurück in ihr altes, behagliches Leben, retten vielleicht sogar ihre Karriere. Wera schleicht an der bröckelnden Mauer entlang, die zum Schlaftrakt führt. Vorsichtig setzt sie die Füße zwischen Macchia und Steine. Jedes Geräusch kann sie verraten, auch wenn jetzt der Kreuzgang zwischen ihr und den Carabinieri liegt und den Hall ihrer Schritte dämpft. Im Labyrinth der halbhohen Zellenmauern sucht Wera Schutz, kauert sich in eine Ecke, sticht sich an einer wilden Distel, greift versehentlich in ein Kothäufchen, merkt, wie die Kräfte sie verlassen, Hunger und Erschöpfung sie überfallen. Dann kommt der Schüttelfrost. Hoffentlich habe ich keinen Sonnenstich, denkt Wera, einen Sonnenbrand habe ich sicher. Sie will nach der Zeit sehen, aber ihr Handgelenk zittert, der ganze Arm bebt. Wera muss die linke mit der rechten Hand festhalten, um das Ziffernblatt erkennen zu können. Es ist sechs Uhr am Abend. Die Sonne ist hinter Schleierwolken verschwunden, ein milder Wind kommt auf und greift frostig nach Weras überempfindlichem Gesicht. Die Zeit tropft. Wera starrt eine Ewigkeit auf ihre Uhr, als könne sie den Minuten Beine machen. Zehn nach sechs, halb sieben, viertel vor sieben, halb acht. Wie lange werden die Carabinieri warten? Und worauf warten sie? Auf die Spurensicherung? Oder auf das Erscheinen weiterer Verdächtiger? Auf die Rückkehr eines Mörders? Wera weiß es nicht.
Gegen halb neun beginnt es zu dämmern. Niemand ist gekommen und hat das Gelände abgesucht, aber es hat auch keine Motorengeräusche gegeben, kein Anzeichen dafür, dass das wartende Auto sich entfernt hat. Wenn Wera nicht die Nacht zwischen bröckelndem Mauerwerk, Disteln und Mäusekot verbringen will, muss sie fliehen. Und zwar nicht über die Zufahrtsstraße, die sie heute Mittag – wie lange ist das her? – mit Carl-Josef Maurer heraufgekurvt ist, sondern quer durch die Macchia den Hügel hinunter. Und wenn sie diesen Weg nicht innerhalb der nächsten Stunde hinter sich bringt, wird es dunkel sein und jede Flucht gänzlich unmöglich. Mit steifen Gelenken rappelt sich Wera auf. Die Erschöpfung, die Kraftlosigkeit, der Schmerz übertreffen die Angst vor Entdeckung. Wera durchquert den Zellenbau, eilt vorbei an den Duschen, dem Refektorium und einem Gewirr von weiteren Zimmern, wahrscheinlich Vorratsund Lagerräumen. Sie findet einen Eselspfad, der sich fast parallel zur Hügelkante den Berg entlang zieht. Es wird ewig dauern, bis sie unten an der Küstenstraße ankommen wird, aber wenigstens führt der Pfad nach Norden in Richtung Grado, Udine, wenn man so will: Richtung Wien. Während Wera über Wurzeln stolpert, sich die Knöchel an Felsecken blutig stößt und die Dämmerung sich graurot über die Küste hängt, versucht Wera auszurechnen, wie lange eine Busfahrt bis Grado, bis Udine dauern könnte, falls es überhaupt eine Busverbindung geben sollte. Und wird es mitten in der Nacht einen Zug von Udine nach Wien geben? Und wenn ja, wie lange wird er unterwegs sein? Wer wird sie sehen, im Bus, im Zug, und sich später vielleicht an sie erinnern? Eine erschöpfte Frau mit einem rot verbrannten Gesicht, schmutzigen Händen, ölverschmierter Bluse und aufgeschürften Knöcheln.
Sehr plötzlich ist es dunkel, als habe eine entschiedene Hand einen Vorhang am Horizont zugezogen. Wera stolpert die letzten hundert Meter halbblind den Pfad hinunter bis zur Küstenstraße. Noch herrscht reger Verkehr, einen Gehweg gibt es nicht. Jeder Scheinwerfer, der Wera ins Gesicht leuchtet, ist wie eine Vernehmungslampe. Wo warst du? Mit wem? Was hast du getan? Warum? Warum? Warum? Ich habe einen Mann umgebracht, denkt Wera, einen Studenten, meinen Studenten, mit dem ich vorher das Bett geteilt habe. Warum? Wegen eines Schuhs. Der Gedanke verstört sie, obwohl er in den ganzen Stunden dicht unter ihrer Schädeldecke gelauert hat. Wegen des Schuhs eines anderen Studenten. Wera hat den Schuh sofort erkannt, es gibt keinen Zweifel, er gehörte Xaver Sturz. Jetzt ist da wieder einer dieser Scheinwerfer, die ihr aufdringlich ins Gesicht leuchten, dieser hier wird sogar aufgeblendet. Wera steht wie blind in all dem Licht. Das Auto wird langsamer, kommt schleichend, so scheint es, näher. Wera sieht nur dieses grelle Weiß, es füllt ihr Gesichtsfeld bis zum Rand, es füllt die ganze Welt aus. Plötzlich kann Wera die Tiere verstehen, Rehe, Hasen, Kaninchen, die sich, geblendet bis zur Willenlosigkeit, ins Helle stürzen, einem sicheren Tod entgegen, in dem alles aufgehoben ist, eine endgültige Ruhe herrscht, niemand Fragen stellt. Jetzt ist der Wagen direkt neben ihr, das Licht fällt von Weras Körper ab wie ein zu weiter Mantel, sie fühlt sich nackt in der plötzlichen Dunkelheit, nackt und geborgen gleichzeitig. Für einen winzigen Moment erhascht sie den Blick auf ein Männergesicht hinter der Autoscheibe. Dunkle Haare, riesige Augen, dann heult der Motor auf, der Wagen macht einen Satz, rutscht aus Weras Blickfeld, sie dreht sich um, schaut dem Auto hinterher, versucht, die Buchstaben auf dem Kennzeichen
zu lesen, sieht das große W, weiß auf dunklem Grund, ein Wiener also, aber mehr kann sie nicht erkennen, zu schnell gewinnt der Wagen an Tempo und verschwindet in der Schwärze der Nacht. Bevor Wera über die Begegnung nachdenken kann, schreckt sie ein Hupen auf. Ratternd nähert sich ein Bus aus der Gegenrichtung. »Gorizia« steht oben auf der matt beleuchteten Anzeigetafel. Gorizia, das könnte die Rettung sein, oder zumindest ein Anfang. Wera winkt, der Bus stoppt. Wera stolpert über die Straße, die beiden Stufen hinaus aus der Anonymität, hinauf und hinein ins Neonhelle sind mühsam zu erklimmen wie die letzten Stufen eines Kreuzweges. Der Busfahrer sieht ihr kaum ins Gesicht, als er das Geld entgegennimmt und ihr den Fahrschein reicht. Auf den Bänken sitzen zwei Pubertierende mit rauen Stimmen und wenig Interesse für eine abgerissen aussehende Frau, eine verirrte Wanderin vielleicht, eine verblödete Touristin. Auch das Greisenpärchen, struppige weiße Haare über faltiger Haut, er eine Raubvogelnase, sie schrundige Flechten auf den Wangen, blickt kaum auf. Nur sekundenlang flattern die Augenlider in vorgetäuschtem Interesse, kaum fährt der Bus wieder an, versinken die Alten in einen unruhigen Halbschlaf, aus dem mit Sicherheit erst die Stimme des Fahrers sie reißen wird, sollte er den Zielort ihrer Reise durchs Mikrophon verkünden. Wera fällt auf eine Bank, drückt das Gesicht ans Fenster, Stirn auf Glas, kalt, fest, beruhigend, und sieht mit blinden Augen in die Dunkelheit. Gerettet, denkt sie, gerettet, gerettet, mit jeden Meter, jedem Kilometer mehr, den der Bus sie von dem Kloster, dem Turm, der Zisterne, der Grube, die zum Grab geworden ist, entfernt. Als die Hand des Busfahrers sie rüttelnd an der Schulter greift, schreckt sie schreiend auf, so tief war der Schlaf. Der Fahrer sieht ihr nicht ins Gesicht, brüllt ein hallendes
»Gorizia« in ihr Ohr und geht nach hinten, wo auf der letzten Bank auch die beiden Alten geweckt werden müssen. Wera stolpert aus dem Bus, steht auf einem asphaltierten Platz, es riecht nach Diesel und Benzin, dazu ein wenig süßlich, wie nach verwesenden Blumen. Nur nicht an den Kreuzgang denken, die Zisterne, die Grube, die Kanister. Die Erinnerung an das gluckernde Geräusch verdrängen, mit dem das Benzin aus dem Plastikgefäß quoll, eine farblose Flüssigkeit aus einem blutroten Kanister auf einen toten Menschen. Auf noch warme Haut, auf Arme, die Wera umarmt hatten, auf einen Mund, der sie liebkost hatte, auf einen Kopf, den sie selbst mit einer Schaufel so lange malträtiert hatte, bis die Haut platzte, die Schlagader brach, der Schädel… aufhören, sofort aufhören, befiehlt sich Wera und blickt sich um. Die Bahnhofsuhr zeigt Viertel nach zehn, auf den Fliesen der Bahnhofshalle treiben Papierfetzen und Staubflocken im Nachtwind. Der nächste Zug kommt in einer halben Stunde, er fährt nach Mestre. Dann eben Mestre, denkt Wera, lässt sich auf eine Bank sinken und greift nach ihren Zigaretten. Endlich! Die ersten tiefen Züge tun ihr gut. Auch das Denken fällt jetzt leichter. Ich kann behaupten, ich sei in Venedig gewesen, überlegt Wera, einen ganzen Tag lang und die halbe Nacht, wer will mir das widerlegen? Und in Mestre habe ich mir einen Leihwagen genommen. »Warum mitten in der Nacht?«, werden sie fragen. Weil Venedig am Abend so schön war, ich konnte mich nicht trennen, werde ich antworten, und niemand kann mir das Gegenteil beweisen. Morgen Vormittag bin ich in Wien, und alles ist vorbei. An der heruntergerauchten Zigarette steckt Wera sich die nächste an.
Als der Zug einfährt und neben Wera krachend zum Stehen kommt, schreckt sie von der Bank auf. In dem trüben Licht
hinter den Zugfenstern sind nur leere Sitze zu sehen, da wartet ein ganzer Waggon auf Wera allein, keine Zeugen und eine gepolsterte Ruhestätte, so muss das Paradies daherkommen. Doch nach wenigen Minuten Fahrt fällt ihr ein, dass sie keinen Fahrschein hat. Bald wird sich ein Schaffner an sie erinnern, die Panik bricht ganz plötzlich aus, Wera beginnt zu wimmern wie ein allein gelassenes Kind und erschauert beim Klang der eigenen Stimme. Aber das Schicksal ist gnädig, fünfmal hält der Zug auf seiner Fahrt, kein anderer Reisender besteigt ihren Waggon, und kein Kontrolleur verlangt ihren Fahrschein zu sehen. In Mestre hat sie Durst. Der Mund, die Kehle, der ganze Körper sind trocken, verdörrt durch Hitze und Angst. Die wenigen anderen Reisenden verschwinden innerhalb von Sekunden in den Betonschächten der Treppen, die zu den Gängen unter den Gleisen führen. Wera setzt sich auf den Boden, lehnt den Rücken an ein Eisengeländer, steckt sich eine Zigarette an und wartet, bis die letzten Stimmen verklungen sind und nur das Gurren einer Taube zu hören ist, die aufgeplustert oberhalb der Zuganzeige sitzt. Eine Leuchtstoffröhre knallt leise, als Wera aufsteht. Ein letztes Flackern geht durch die Röhre, bevor das Licht erlischt. In der Ferne heult ein Martinshorn. Die Imbissbude in der Bahnhofshalle ist geschlossen. Das Waschbecken im Vorraum der Bahnhofstoilette hat einen langen Riss. Wera überwindet den Ekel und stillt mit tiefen Zügen ihren Durst. Kein Trinkwasser steht über dem Becken, aber so schlimm wird es schon nicht sein. Der Mann in der Autovermietung will gerade den Rollladen herunterlassen, als Wera an die Tür klopft. Missmutig füllt er den Leihvertrag aus, mustert erst Wera, dann ihren Führerschein und trägt schließlich eine Summe als Mietpreis ein, für die man in Wien eine Luxuslimousine mit Chauffeur
drei Tage lang mieten könnte. Dafür darf Wera den Wagen in der Filiale am Wiener Hauptbahnhof abgeben. Wera unterschreibt den Vertrag sofort. Ob sie eine Straßenkarte brauche? Nein, vielen Dank und auf Wiedersehen. Wera hat es so eilig wie selten. Die Kupplung des Wagens ist ausgelutscht, und die Heizung funktioniert nicht richtig. Kältewellen wechseln sich mit Hitzeschüben ab. Die Landstraßen sind leer und die Autobahn auch. Erst nachdem sie an einer Tankstelle zwei Becher heißen Kaffees getrunken hat, wird Wera wacher. Eine weitere Pause macht sie nicht, das Gaspedal tritt sie auf der Autobahn bis zum Anschlag hinunter, ignoriert den Sonnenaufgang, löst ihre Augen nicht eine Sekunde vom Asphalt. Jeder Kilometer Distanz, den sie zwischen sich und das Kloster legt, führt zu einer winzigen Entkrampfung. In kleinsten Schritten lösen sich die Ringe um ihre Brust, geben ihrem Atem wieder Raum.
Um elf Uhr am Vormittag ist Wera endlich in Wien. Um zwölf hat sie das Auto abgegeben, eine halbe Stunde später schließt sie ihre Haustür auf. Aus dem Briefkasten ragt die Montagszeitung, Wera zieht sie hervor, ignoriert den restlichen Inhalt des Kastens und steckt den Schlüssel in das Schloss der Wohnungstür. Sie sperrt auf, der vertraute Geruch nach Büchern, Staub und Zigarettenrauch empfängt sie. Mit zitternden Händen zieht sie den Schlüssel aus dem Schloss und schlägt die Tür hinter sich zu. Das Schnappen ist wie eine Erlösung. Endlich allein. Schlüsselbund und Zeitung gleiten Wera aus den Händen und fallen zu Boden. Ohne einen einzigen Blick auf die Schlagzeile geworfen zu haben, wankt Wera in ihr Schlafzimmer, reißt sich im Gehen den Rucksack vom Körper, kippt auf ihr Bett und fällt und fällt.
Eine endlose Dämmerung umgibt sie. Es ist, als sei der Moment des Sonnenuntergangs zur Ewigkeit erstarrt. Schmale Schatten verharren in ihrer längstmöglichen Ausformung. Die Silhouetten eines schlanken und eines verkrüppelten Baumes geben auf einer Ziegelwand eine Pantomime im Abendlicht. Laterna magica, unterlegt von den Schreien erwachender Raubvögel. Die Luft ist kühl und scharf, Kies knirscht unter Schritten. Zwei Menschen gehen zu dicht nebeneinander, um einander wirklich fremd zu sein, auch wenn sie furchtsam jede Berührung vermeiden. Es fällt kein Wort, der alte, rostige Schlüssel gleitet unerwartet sanft ins Schloss, ohne dass jedoch die Tür nachgäbe. Erst wechseln sich die Hände ab, dann treffen sie sich in ihrem hastigen Bemühen. Das Schloss gibt sein Geheimnis lange nicht preis, es ist ein winziger Winkel, um den man den Schlüssel abklappen müsste. Die Hände werden fahrig, verstört, ziehen an dem Türknauf, rütteln daran. Schultern stoßen gegen das trockene Holz. Die Sonne stürzt jenseits der Klippen ins Meer wie abgeschossen. Die Schatten, eben noch auf dem Weg in die Unendlichkeit, fahren zur Hölle oder gen Himmel, es ist dies nur eine Sache von Definitionen. Und das Schloss im Kirchenportal wird zur Paradiespforte, von uneinsichtigen Engeln verrammelt, um zwielichtige Geheimnisse zu schützen. Die träumende Wera weiß sich umgeben vom Duft dieser fremden und doch so vertrauten Haut, die Nähe der beiden Körper hat etwas kaum zu Ertragendes, Schweiß und Parfüm, vom Nachthimmel fallen die Schreie der Tiere, Täter und Opfer, Triumph und Tod.
Als Wera endlich aufwacht, den Traum abschüttelt und aus dem Bett kriecht, klingelt das Telefon. Die Haut an ihrer Wange schmerzt bei der kleinsten Berührung mit dem Apparat. Die Stimme am anderen Ende Leitung ist hysterisch schrill und
redet ohne Punkt und Komma. Wera wirft das Telefon auf den Küchentresen und legt sich beide Hände ans Gesicht. Die kühlen Handinnenflächen sind eine Wohltat für die verbrannten Stellen. »Frau Professor«, kräht es aus dem Lautsprecher, »Frau Professor, um Himmels willen, jetzt sagen’s doch endlich etwas!« Langsam nimmt Wera den Apparat wieder auf. »Schreien’s bitte nicht so, Frau Ott, ich hör Sie ja. Was ist denn geschehen?« »Wie ich schon gesagt hab: Die Beamten stellen alles auf den Kopf. Seit einer Stunde sind sie hier, und die Mittelalterkammer sieht aus wie nach einem Erdbeben.« »So sieht es da doch immer aus«, will Wera abwiegeln, aber dann begreift sie endlich, warum Frau Ott so außer sich ist. »Was macht die Polizei überhaupt im Institut?« »Sie haben einen Untersuchungs-, nein einen Durchsuchungs-, einen Befehl eben für alles, was die Irma Leonhardt angeht. Sie sagen, die Frau Leonhardt sei eine Mörderin oder Brandstifterin, ich weiß es nicht mehr genau. Jedenfalls sitzt sie im Gefängnis. Und noch nicht einmal hier bei uns, sondern drüben in Italien.« »Das glaub ich nicht, Frau Ott. Das kann nicht sein, die Leonhardt doch nicht, das haben Sie sich ausgedacht, um mich zu erschrecken.« »Frau Professor, ich bitt Sie sehr, kommen Sie schnell und schaffen Sie diesen widerlichen Kommissar fort. Und die vielen Beamten, sie machen alles kaputt! Bitte kommen Sie, ich weiß sonst nicht mehr, was ich tu!« Wera sieht auf die Küchenuhr. Halb vier am Nachmittag. Sie hat erst drei Stunden geschlafen. Wie soll sie dem Kommissar gegenübertreten? Was auf seine Fragen antworten? Wie die verbrannte Haut verbergen?
»In einer halben Stunde bin ich im Institut. Bleiben Sie bitte ruhig, die Beamten werden wissen, was sie tun. Und wenn die Irma Palfy unschuldig ist, wird sie auch wieder freikommen.« »Leonhardt, Frau Professor, nicht Palfy, die Irma ist doch jetzt mit dem Herrn Leonhardt verehelicht. Diese Schande, nein, diese Schande…« Wera legt auf. Das kalte Wasser der Dusche tut unendlich gut. Für die Gesichtshaut ist der Strahl zu scharf, Wera tupft Stirn, Wangen und Nase mit einem Wattebausch ab. Wangen und Stirn sind von einem leuchtenden, aber gleichmäßigen Rot, nur an der Nase haben sich kleine Blasen gebildet. Wera nimmt eine uralte Make-up-Probe zur Hand und dreht das Briefchen unentschlossen zwischen den Fingern. Soll sie oder soll sie nicht? Nein, sie legt die Probe wieder zurück. Sie wird gar nichts verbergen. Sie war in Venedig. Das Licht über der Lagune, spiegelnde Sonne über den Kanälen, und das einen ganzen Tag lang, Sie wissen schon Herr Kommissar, eine Katastrophe, wenn man sich da nicht rechtzeitig eincremt…
Aber der Kommissar fragt nicht. Er sitzt auf Weras Schreibtischstuhl, wippt mit entnervender Konsequenz vor und zurück und fuhrwerkt in ihrem PC-Programm herum. Ihre Bürotür steht offen, ebenso wie alle anderen Türen auf dem Korridor. Die Mittelalterkammer mit den wertvollen Bauplänen ähnelt einem Schuttabladeplatz, das Büro von Frau Leonhardt dagegen ist leer. Vor der Tür stapeln sich Kisten wie bei einem Umzug. »Guten Tag, Frau Professor Pratzinger. Merkwürdige Bürozeiten haben Sie.« Eduard Schirn sieht nicht vom Bildschirm auf, während er spricht. »Auch Ihr Briefablagesystem finde ich originell. Die Mails der Kollegen
unter Hyänen et al und die Ihres – nun sagen wir mal – Liebhabers unter Post vom Murmeltier zu verwahren, das hat einen gewissen Stil.« »Sind Sie verrückt? Was machen Sie da? Wer hat Ihnen das Passwort verraten?« »Ich habe ein, zwei Suchprogramme durchlaufen lassen, erst eine simple Wortkartei, dann den Sprichwörterduden. Bei aller Hochachtung vor Ihrer Bildung, Frau Pratzinger, aber ora et labora ist kein sonderlich geniales Passwort. Das Ganze hat höchstens fünf Minuten gedauert.« »Wer gibt Ihnen das Recht, das zu tun?« »Niemand. Aber ich gehe davon aus, dass Ihre Erschütterung über das Vorgefallene angemessen ausgeprägt ist und Sie mir meinen Eingriff in Ihre Intimsphäre großmütig verzeihen werden.« »Was ist denn passiert? Ich habe vorhin nur kurz mit meiner Sekretärin gesprochen.« »Das ist die hysterische Person, die vorhin das ganze Institut zusammengeschrien hat, nehme ich an. Kein Wunder, dass die Ihnen nichts Gescheites sagen konnte. Was mich viel mehr wundert, ist, dass Sie keine Nachrichten hören, Frau Pratzinger. Auch die Morgenzeitungen waren, wenn mich nicht alles täuscht, randvoll mit Berichten über die merkwürdigen Unternehmungen Ihrer Assistentin.« »Würde es Ihnen etwas ausmachen, meinen Stuhl zu räumen? Ich muss mich setzen.« »Aber gar nicht, bitte nehmen Sie Platz, Frau Professor. Was ist übrigens mit Ihrer Haut geschehen? Meine 16-jährige Tochter war letztens zu lange im Solarium. Danach sah sie genauso aus.« »Venedig, Herr Kommissar. Das Licht über der Lagune, die Spiegelungen auf den Kanälen, Sie wissen schon.«
»Ich weiß überhaupt nichts«, grantelt der Kommissar. »Hier in Wien hat’s geregnet, das ganze Wochenende lang. Das ist das Einzige, was ich weiß.« »Ja sehen Sie und darum bin ich nach Venedig gefahren. Und dann hab ich halt die Sonnencreme vergessen, und das Wetter war so schön und die Kanäle…« »… spiegelnd, ja das sagten Sie bereits. Mit wem waren’s denn dort? Mit einer Hyäne? Oder vielleicht eher mit dem Murmeltier? Postwendend sozusagen…« »Ich war allein, Herr Schirn.« »Ja, da kann man schon mal die Sonnencreme vergessen. Wenn man so allein und sehr abgelenkt ist von der ganzen venezianischen Pracht. Sie waren doch sicher nicht zum ersten Mal dort?« »Natürlich nicht.« »Gesehen hat Sie niemand, nehme ich an?« »Tausende, fragt sich nur, ob die mich alle erkannt haben. Aber warum ist das wichtig?« Der Kommissar seufzt und sieht Wera mitleidig an. »Weil Ihre Assistentin gestern einen Kreuzgang in Brand gesetzt hat und die Leiche eines Ihrer Studenten gleich mit. Und weil ich finde, dass dieses zugegebenermaßen ungewöhnliche Vorgehen einer näheren Untersuchung bedarf. Ich nehme an, dass Sie mir da zustimmen, Frau Professor Pratzinger. Und jetzt gehen Sie nach Hause und kühlen Sie Ihre Haut, Sie sehen erbärmlich aus. Und beim nächsten Venedigbesuch nehmen Sie sich wenigstens einen Sonnenhut mit, wenn Sie schon die Creme vergessen. Ach, und noch etwas: Vor dem Gebäude ist ein Zeitungskiosk. Kaufen Sie sich einfach ein Druckerzeugnis Ihrer Wahl und lesen Sie alles nach. Dann kann ich hier in Ruhe meine Arbeit machen und mir langatmige Erklärungen sparen.« »Die Leiche eines Studenten…«
»Ganz recht. Und es hat sich nicht um Xaver Sturz gehandelt, um Ihrer nächsten Frage zuvorzukommen.« »Aber wer…?« »Maurer hieß er. Carl-Josef Maurer. Sie hätten ihn mit nach Venedig nehmen sollen, Frau Professor, dann würde er vielleicht noch leben.« »Sie glauben mir nicht, dass ich dort war, stimmt’s?« »Ehrlich gesagt ist es mir völlig egal, wo Sie waren und mit welchem Murmeltier Sie dorthin gereist sind. Eines steht für mich jedenfalls fest: Wenn Sie nur das Geringste mit dem Vorfall zu tun hätten, mit dem ich mich nun leider beschäftigen muss, hätten Sie sich etwas Klügeres als Ausrede einfallen lassen. Und jetzt gehen Sie bitte nach Hause, bevor Sie mir hier zusammenbrechen und ich Sie auch noch auf dem Hals hab.«
Die Kronenzeitung zeigt ein altes Foto Irma Leonhardts auf dem Titelbild. Ihre Haare waren damals länger und umrahmten ein Gesicht, das strahlend lächelte. Das Foto muss aus der Zeit stammen, als Felix noch lebte, überlegt Wera, vielleicht ist es direkt nach einem Rendezvous mit ihm aufgenommen worden. Der Gedanke versetzt ihr einen Stich. Zwei andere Blätter haben sich die Mühe der Recherche gar nicht erst gemacht und ein Hochzeitsfoto aus dem Archiv zurechtgeschnitten. Bräutigam weg, Schleier ab. Übrig bleibt ein kantig gestutzter Frauenkopf mit zerstörter Frisur, dessen glücklicher Blick mangels Partner ins Leere geht. Wera kauft alle Zeitungen, die einen Bericht ankündigen. Zu Hause reiht sie die Blätter auf ihrem Küchentisch auf. Die Kronenzeitung, den Standard, die Presse. Bevor sie ihre Lektüre beginnt, gießt Wera die Venusfliegenfalle auf der
Fensterbank. Die Pflanze hat sich erholt und übers Wochenende einen neuen Trieb ausgebildet. Die Zeitungen beschäftigen sich ausführlich mit Irma Leonhardts Biographie. Ihr beruflicher Werdegang – katholisches Gymnasium, Hochschulstudium, Auslandsaufenthalt, Promotion – und die anschließende glanzvolle Hochzeit mit dem stadtbekannten Firmenerben machen sie zum idealen Gegenstand der Boulevardpresse. In einem der Blätter entdeckt Wera sogar ein Foto, das Irma Leonhardt mit Felix zeigt. Beide strahlen in die Kamera, als hätten sie den Fotografen persönlich um die Aufnahme gebeten. Das Foto ist mit der Zeile In vorehelichen Zeiten war Frau Leonhardt kein Kind von Traurigkeit untertitelt. Die wahre Brisanz des Bildes scheint dem Redakteur in der Eile entgangen zu sein. Auch der Klosterhof ist zum Opfer der Fotografen geworden. Die schlammverkrustete Grube ist aus allen denkbaren Perspektiven abgebildet. Desgleichen die Brandspuren an Wänden und Gewölbedecken. Ein Kamerateam scheint sogar mit einem Helikopter über den Kreuzgang geflogen zu sein. Merkwürdig, denkt Wera, als ich von dem Klosterareal geflohen bin, war von all dem nichts zu merken. Sollte ich der Presse so knapp entkommen sein? Die Aufnahmen müssen entstanden sein, während ich mich durch die Macchia gekämpft habe. Danach war es dunkel. Jetzt erst muss Wera an Rudolf denken. Natürlich hat auch er die Fotos gesehen, die Berichte gelesen. Er ist seit einer Woche in Salzburg, um für eine groß angelegte Architekturreportage zu recherchieren, aus diesem Grund hatte Wera den Ausflug mit Maurer auf dieses Wochenende gelegt. Sie weiß aus Erfahrung: Rudolf ist ein fanatischer Arbeiter, der, wenn er an einer Sache sitzt, alle anderen Gedanken aus seinem Kopf verdrängt. Aber diese Schlagzeilen können ihm unmöglich
entgangen sein. Es ist ein Wunder, dass er noch nicht angerufen hat. Unschlüssig dreht Wera das Telefon in der Hand. Vielleicht sollte sie ihm zuvorkommen. Vorhin bei der Begegnung mit dem Kommissar hat sie offenbar Glück gehabt und in ihrer Verwirrung glaubwürdiger gewirkt, als es mit einem noch so geschickt ausgeklügelten Plan gelungen wäre. Aber darauf sollte sie sich besser nicht ein zweites Mal verlassen. Wera tippt Rudolfs Handynummer ein. Nur die Mailbox antwortet. Wera bemüht sich darum, das Entsetzen in ihrer Stimme hörbar zu machen. »Es ist etwas Grässliches geschehen, Rudolf. Aber wahrscheinlich hast du’s schon selbst gelesen. Bitte ruf mich zurück, so schnell es geht!« Als Wera die Verbindung unterbricht, zittert ihre Hand. Sie muss dringend etwas essen. Egal was. Pizza. Warum nicht Pizza? Die Nummer vom Service hat sie im Kopf. »Und bringend mir eine Flasche Rotwein mit. Aber nicht von dem billigen mit dem Schraubverschluss wie beim letzten Mal, haben’s gehört.« Als Wera das erste Glas Wein getrunken und die Pizza zur Hälfte gegessen hat, klingelt es an der Tür. Sie sieht auf die Uhr. Zwanzig nach acht. Kann das die Polizei sein? Ist Kommissar Schirn doch nicht so leichtgläubig, wie es den Anschein hatte? Warum hat sie die Zeit nicht besser genutzt und sich genau überlegt, wie sie nach Venedig gekommen sein und was sie dort getan haben will. Jetzt ist es zu spät! Als Wera durch den Spion an ihrer Wohnungstür das Gesicht Rudolf Rumbergs erblickt, stößt sie einen Erleichterungsschrei aus. Noch unter der Tür fällt sie ihm in die Arme. »Bin ich froh, dass du da bist!« »So eine überschwängliche Begrüßung bin ich gar nicht gewohnt. Darf ich vielleicht erst mal reinkommen? Danke. Oh,
Pizza! Gibst du mir was ab? Ich hab seit heute Morgen nichts gegessen. Dafür bin ich der ideale reitende Bote. Ich kann dir alles erzählen, was erst morgen in den Zeitungen stehen wird.« »Du weißt es also?« »Wofür hältst du mich? Ich habe das Salzburg-Projekt schon gestern abgebrochen und sitze seit dem frühen Morgen an dem Fall. Wir werden eine ganz große Nummer daraus machen. Und ich bin für die Leonhardt-Bauimperium-Schweinereien zuständig. Diese Geschichte passt perfekt in meine Pläne. Jetzt sind sie geliefert, die Herrschaften.« Während er spricht, macht sich Rumberg über die restliche Pizza her. »Du isst wie ein Mann kurz vorm Hungertod. Hier hast du ein Weinglas. Willst du auch Wasser? So. Und jetzt kau in Ruhe deine Pizza, und hernach erzählst du mir alles.« Rumberg schüttelt den Kopf und spricht mit vollem Mund weiter. »Sie hat am Nachmittag erstmals ausgesagt, ist gerade vor einer Stunde durch den Ticker gegangen. War alles ein Zufall, behauptet sie. Der Student habe vorher schon da gelegen. Er sei bereits tot gewesen, als sie ihn entdeckt haben will. Das Benzin habe sie aus völlig anderen Gründen ausgeschüttet. Und in Brand geraten sei das Ganze, als sie sich eine Zigarette angesteckt und das Streichholz zu früh weggeworfen habe.« »Sie raucht nicht. Hat sie auch früher nicht getan, soweit ich weiß.« »Das hat ihr die Polizei auch vorgehalten. Sie behauptet, die Zigaretten hätten dort gelegen, ebenso die Streichhölzer. Seien wahrscheinlich vom eigentlichen Totschläger vergessen worden. Allerdings hat die Polizei nichts gefunden. Weder Zigaretten noch Streichhölzer. Nur Schlamm und Blut. Das haben sie ihr auch gesagt. Daraufhin muss sie wieder die Aussage verweigert haben. Hat wahrscheinlich ihren Anwalt befragt und morgen gibt’s eine andere Version.«
»Klar. Die Zigaretten sind explodiert. Oder in der Stichflamme verbrannt.« »Woher weißt du von einer Stichflamme?« »Na hör mal! Wenn jemand Benzin anzündet…« »Trotzdem stimmt das alles hinten und vorne nicht.« »Das kann sich schnell ändern. Markus Leonhardt wird seiner Frau erstklassige Anwälte besorgen. Und die lassen sich etwas Besseres einfallen.« »Wenn man so eindeutig in flagranti erwischt wird, meine Liebe, ist das nicht so einfach.« »Aber wenn sie doch sagt, dass sie’s nicht war. Was soll sie denn für ein Motiv gehabt haben? Das ist alles ein einziger Unsinn.« »Hast du noch Wein? Die Flasche ist leer.« »Unten im Keller. Ich war vorhin zu faul, hinunterzusteigen. Dieser hier war vom Pizzaservice.« »So hat er auch geschmeckt. Gib mir den Schlüssel, ich hol uns zwei Flaschen.« Während Rumberg im Keller ist, räumt Wera die Zeitungen zusammen. Die mit dem Bild von Felix und der kleinen Palfy legt sie nach unten. Wenn sie damals nichts bemerkt hätte, hätte sie spätestens jetzt von der Affäre erfahren. Doch wahrscheinlich wäre ihr Leben völlig anders verlaufen. Ihres und das von Felix auch. Bevor Wera weiter darüber nachdenken kann, fällt ihr ein, dass Rudolf sie in der ganzen Aufregung noch nicht auf ihr verbranntes Gesicht angesprochen hat. Langsam glaubt sie selbst daran, dass sie in Venedig war. Schließlich ist sie schon einmal dorthin geflohen.
Es war an dem Tag, nachdem sie zum ersten Mal Fotos von Felix und ihrer Assistentin in der Zeitung gesehen hatte.
Genauer gesagt, an dem Tag, der auf die Nacht folgte, in der sie, schockiert durch diese Fotos, die größte Dummheit ihres Lebens angefangen hatte. Schuld daran war der Tankwart gewesen, der damals auf dieser Nachttankstelle Dienst gehabt hatte. Schuld waren sein mitleidiges Lächeln und sein besorgter Blick, als er ihr die Zigaretten verkaufte. Während Wera wieder in ihr Auto gestiegen war, hatte sie sich vorgestellt, wie sie auf ihn gewirkt haben musste. Er hatte gewusst, dass sie in ein einsames Heim zurückfuhr. Eine leere Wohnung. Ohne Partner, ohne Kinder. Eine Wohnung, in der nachts ferngesehen und geraucht wurde. Und getrunken – vielleicht. Und masturbiert – vielleicht. Und gewartet – oder auch nicht. Nicht mehr. Jedenfalls, wenn Wera dem Blick des Tankwarts hatte glauben wollen. Er hatte ihr angesehen, dass sie eine betrogene Ehefrau war. Sie musste bereits diesen hündischen Ausdruck im Gesicht tragen, der es allen Menschen auf offener Straße entgegenschrie: Mich hat einer verlassen. Er hat es noch nicht einmal für nötig gehalten, mich von seiner Absicht in Kenntnis zu setzen. Ich seh ja auch so, dass er fort bleibt. – Und was wäre, wenn Felix zurückkäme?, überlegte Wera im Auto. Heute beispielsweise oder vielleicht erst morgen früh? Was würde Felix sagen, wie würde er reagieren, wenn er diesen ganz bestimmten Ausdruck, diese feige Wut in ihren Augen entdeckte? Wera fuhr in dieser Nacht nicht zurück nach Hause. Sie wollte das Risiko, Felix zu begegnen, ebenso wenig eingehen, wie dieses andere vielleicht schrecklichere und möglicherweise wahrscheinlichere, nämlich, Felix nicht zu begegnen und bis zum nächsten Morgen vergeblich auf ihn warten zu müssen. Wera suchte die nächste Telefonzelle auf. Ihr Handy hatte sie nicht mit zur Tankstelle genommen. Warum auch? In der
Telefonzelle rief Wera zuerst die Auskunft und dann Xaver Sturz an. Es war zwei Uhr in der Nacht, natürlich wunderte er sich. Aber die Geschichte mit der Recherche, die sie bis jetzt wach gehalten hatte und immer noch am Schlafen hinderte, schien er zu glauben. Sturz wohnte in einem Abbruchhaus in Ottakring. Seit Monaten wurden hier ganze Straßenzüge entkernt, um Platz für ein Neubauvorhaben zu schaffen. Die Fassade des Hauses, vor dem Wera parkte, bröckelte, und an der Hälfte der Klingelbretter standen keine Namen. Im Treppenhaus roch es nach Schimmel, auf der ersten und der zweiten Etage waren die Glühbirnen der Treppenhausbeleuchtung kaputt. Xaver Sturz lehnte in der dritten Etage an seiner Wohnungstür. Er trug eine Jeans und ein Hemd, dessen Knopfleiste schief geschlossen war. Er bat Wera mit einer zaghaften Geste herein und ging ihr mit bloßen Füßen durch eine langgestreckte Diele voran in eine Wohnküche. Dort wies er auf einen Stuhl, stellte unaufgefordert einen Aschenbecher auf den Tisch und bot Wera ein Glas Wein an. Wera setzte sich, klopfte eine Zigarette aus der frischen Packung, probierte den Wein und sagte nur ein einziges Wort: »Und?« »Was: und?« »Bekomme ich es zu sehen?« Und dann zeigte ihr Xaver Sturz seinen größten Schatz.
Am nächsten Tag war Wera nach Venedig aufgebrochen, ohne vorher in ihre Wohnung zurückzukehren. Sie hatte ihr Portemonnaie und die Kreditkarten dabeigehabt und alles Nötige in den Gassen zwischen den Kanälen gekauft. Drei Tage lang war sie durch diese Gassen gestürmt. Nur im Laufen
war der Gedanke an Felix, der vielleicht gerade jetzt ihre eigene Assistentin beschlief, zu ertragen gewesen. Natürlich hatte Felix sie damals gesucht. Am Handy war sie nicht zu erreichen gewesen, es lag schließlich immer noch auf ihrem Nachttisch. Felix hatte sich größte Sorgen gemacht – jedenfalls hatte er das hinterher behauptet. Fast wäre er zur Polizei gegangen. War er aber nicht. Vielleicht war er insgeheim unerwartet erleichtert über die viele Freizeit, die er plötzlich hatte – und über die charmante Gelegenheit, sie zu nutzen, die sich ihm bot. Als Wera zurückkam, machte er ihr Vorwürfe, die sie schweigend über sich ergehen ließ, so froh war sie, ihn überhaupt in der gemeinsamen Wohnung anzutreffen. Auf die Affäre mit der Irma Palfy sprach Wera ihren Mann nicht an. Vielleicht war schon längst alles vorbei, hoffte sie. Doch bald hatte sie gute Gründe zu der Annahme, dass sich Felix auch nach ihrer Rückkehr regelmäßig mit ihrer Assistentin traf. Er dachte nicht daran, Wera in dieser Angelegenheit aufzuklären. Das war nicht immer so gewesen. Früher hatte Felix Wera häufig von seinen Affären erzählt. Sie hatten sogar gemeinsam darüber gewitzelt. Wera war zu klug gewesen, um eifersüchtig zu sein. Oder zu klug, um es zuzugeben. Und tatsächlich fühlte sie sich jedes Mal auf eine fast perverse Weise herausgehoben, geadelt durch die sexuelle Potenz dieses Mannes, der immerhin ihr Ehemann war. Sie war klug genug gewesen, auch dieses Gefühl nie zu hinterfragen. Diesmal hatte es sich nicht eingestellt.
Als Rudolf Rumberg Weras Küche wieder betritt, sieht er den hasserfüllten Blick, mit dem Wera die Zeitungen neben der gläsernen Kaffeekanne mustert. »Kanntest du den toten Studenten eigentlich?«
»Er war Hilfskraft an meiner Lehrkanzel. Natürlich kannte ich ihn, ich hab ihn schließlich eingestellt. Ein blitzgescheiter Bursche.« »Hast du eine Ahnung, was er in dem Kloster gewollt hat? Seit ich das Gelände kaufen will, scheint sich alle Welt dafür zu interessieren.« »Er ist wahrscheinlich durch mein Gutachten darauf gestoßen. Wir haben darüber geredet. Möglicherweise wollte er sich die Sitzmadonna ansehen, er war auf der Suche nach einem Examensthema.« »Aber hast du mir nicht gesagt, man käme in die Kirche nicht ohne weiteres hinein?« »Vielleicht hat er gedacht, die anderen Gebäude würden noch unentdeckte Schätze bergen. Ich weiß es nicht, Rudolf, wirklich. Und ich grause mich schon davor, wenn die Polizei mich danach fragt.« »Du kannst die Aussage verweigern und dich auf die Geschichte mit deiner Assistentin und Felix berufen.« »Damit das Ganze noch posthum breitgetreten wird? Das kannst du nicht ernst meinen!« »Stimmt auch wieder. Aber vielleicht wird es gar nicht so weit kommen, dass sie dich nach Irma Leonhardts Motiv fragen.« »Warum?« »Ich weiß nicht, wie gründlich du die Zeitungen gelesen hast. Der Mord ist nämlich nicht der einzige Skandal. Soll ich dir verraten, was die Dame getan hat, bevor sie den Studenten erschlagen hat? Pass auf: Sie hat überall – auf dem gesamten Klosterareal – Gruben ausgehoben und Motorenöl reingeschüttet.« »Warum denn das? Ich denke, ihr Mann wollte das Grundstück kaufen.«
»Eben drum. Kannst du dich an das kurze Wortgeplänkel mit Markus Leonhardt auf der Industriellenparty erinnern?« »Warte mal. Die blödsinnige Geschichte mit der Chemiefabrik? Meinst du das?« »Ganz so blödsinnig ist die Geschichte nicht mehr, wenn man tatsächlich feststellt, dass der Boden verseucht ist. Dann können Kaufinteressenten wie du und ich ihre Träume vom lauschigen Frühstück neben dem selbst angelegten Kräutergarten nämlich begraben.« »Also Irma Leonhardt hat das Öl auf den Boden gekippt, damit ihr Mann das Klostergelände billiger kaufen kann? Das ist doch pervers, das glaube ich einfach nicht.« »Sie hat’s selbst eingestanden.« »Wirklich?« »Verglichen mit diesem Mord ist das eine lässliche Sünde. Das Problem ist nur, dass ihr jetzt niemand mehr abnimmt, dass sie den Studenten nicht erschlagen haben will.« »Weil er sie überrascht und unter Druck gesetzt hat?« »So ähnlich. Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen. Aber es ist doch erstaunlich, was so ein Histologe alles herausfinden kann. Selbst an einer halb verkohlten Leiche.« »Hör auf!« »Gleich. Eines jedenfalls ist jetzt schon klar. Irma Leonhardt hat an beiden Oberarmen Druckspuren, die von einem festen Griff herrühren. Als sie festgenommen wurde, konnte man quasi die Finger des Toten auf ihren Armen erkennen.« »Vielleicht war’s ein anderer.« »Die Fingerabdrücke auf der Haut sind sichergestellt worden und werden gerade untersucht, soviel ich weiß. Aber wenn es tatsächlich die von Carl-Josef Maurer sein sollten, wovon ich ausgehe, dann kann der Leonhardt-Clan mitsamt seinen exzellenten Anwälten einpacken, das kannst du mir glauben.«
»Gib mir noch etwas von dem Wein, Rudolf, bitte. Ich ertrag das nüchtern einfach nicht.« »Du siehst auch ziemlich schlecht aus. Wobei mir völlig unklar ist, wie man sich bei diesem Dauerregen einen solchen Sonnenbrand holen kann. Warst du im Solarium und bist auf der Liege eingeschlafen?« »Solarium! Spinnst du? Ich war in Venedig, das weißt du doch. Hab ich schon im Frühjahr geplant, darum war ich auch so gnatschig, als du am Wochenende in Salzburg bleiben wolltest.« »Moment, Moment. Venedig? Wochenende? Du und ich, ganz allein? Hast du mir wirklich davon erzählt? Es ist mir peinlich, aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern. Ich hätt doch alles stehen und liegen lassen und wär mitgekommen.« »Also hör mal: Ich hab dich zweimal gefragt, ob du die Salzburg-Woche nicht verschieben kannst, und immer hast du dich geweigert.« »Ja, aber du wolltest mit mir ins Theater oder irgend so etwas. Von Venedig war nie die Rede.« »Also Rudolf, das kränkt mich jetzt sehr. Trag bitte deine Probleme mit deiner verdammten selektiven Wahrnehmung nicht auf meinem Rücken aus!« »Entschuldige, Wera, vielleicht bin ich einfach übermüdet. War’s wenigstens einsam ohne mich?« »Sehr einsam. Ich war so beschäftigt mit dem Unglücklichsein, dass ich sogar die Sonnencreme vergessen habe, wie du siehst.« »Ich kauf dir eine Packung Schlammmaske oder wie das heißt, und wenn dein Gesicht wieder in Ordnung ist, gehen wir groß essen. Wie wär’s mit dem Japaner an der Oper? Der ist in aller Munde. Und der Koch, wie es heißt, sterneverdächtig. «
»Okay. Entschuldigung angenommen. Und zu dem Japaner wollte ich immer schon…«
»Was ist das?« »Auf französisch nennt man es amuse gueule, liebste Wera. Eine japanische Bezeichnung dafür kann ich dir leider nicht anbieten.« »Lass das. Du weißt genau, was ich meine. Dieses Restaurant ist der Spitzentipp der Saison. Und dann stellen sie uns frittierte Fischgräten auf den Tisch?« »Wir könnten den Kellner fragen.« »Tu das.« Missmutig stippt Wera mit ihrem Zeigefinger in das Keramikschälchen, in dem zwei Fischschwänze und mehrere zierlich gebaute Grätenstückchen liegen. Die Fischhaut hat sich in dem siedenden Frittierfett wellig zusammengezogen. Zwischen den honigfarbenen Gräten hängen in Klümpchen die Reste einer hauchfeinen Panade. »Auf mich wirkt das wie die Ausgeburt eines pervers veranlagten Konditorenhirns«, schimpft Wera. »Grätenfächer an Orangenkaramell. Glasierte Fischhaut im Schokoladenmantel. Hannibal Lecter lässt grüßen.« »Mäßige dich, meine Liebe, der Kellner naht.« Der junge Mann lächelt schon von weitem. Er scheint diese Art der Irritation von den Restaurantbesuchern gewohnt zu sein. »Frittierte Klieschen«, erklärt er ungefragt. »Das sind winzige Seezungen. Man kann auch Heilbutt oder Petersfisch nehmen. Nur dürfen die Fische nicht mehr als 300 Gramm wiegen, sonst sind die Gräten nicht zart genug für den Verzehr. Probieren Sie ruhig davon. Es ist eine pikante Knabberei, die dem europäischen Geschmack sehr entgegenkommt.« Wera wartet, bis der Kellner außer Hörweite ist, dann steckt sie eines der Grätenstückchen in den Mund und erklärt kauend:
»Das ist eine durchaus pikante Definition von Resteverwertung, findest du nicht?« »In der japanischen Küche gibt es keine Reste«, antwortet Rudolf ruhig. »Fischköpfe beispielsweise gelten als Delikatesse und werden in Reiswein pochiert, bis die Augen glasig sind und die Bäckchen sich von allein vom Kopf lösen.« »Erzähl mir mehr davon. Das beflügelt meine Menschenfresser-Phantasien.« »Gern. Wie wär’s mit folgendem delikaten Detail: Jeder ambitionierte japanische Koch schächtet seine Fische, um mal ein kulturübergreifendes Wortspiel zu wagen.« »Er kauft sie lebend und lässt sie ausbluten?« »Ganz recht. So bleibt die Muskulatur geschmeidig, und gleichzeitig mit dem Blut wird dem Organismus das beim Ableben produzierte Adrenalin entzogen. Vor diesem Gnadentod müssen die Fische allerdings ein paar Tage im Becken fasten. Um die anderen Schlackstoffe auszuschwemmen.« »Das hast du schön gesagt. Glückliche Fische hungern für glückliche Köche.« »Wohl eher für glückliche Esser.« »Gibt’s hier auch was Vegetarisches?« »Jetzt sei keine Spielverderberin, Wera. Du befindest dich immerhin in einem Tempel fernöstlicher Kochkunst.« »Dann sag du mir, was ich essen soll.« Rudolf blättert in der Karte. »Ayu-Fische beispielsweise sind unvergleichlich im Geschmack. Es gibt sie nur zwischen Juni und September.« »Und was habe ich mir unter einem Ayu-Fisch vorzustellen?« »Das sind kleine Flussfische, sie sehen wirklich hübsch aus, mit grünen Streifen auf goldgelbem Grund. Merkwürdigerweise schmecken sie nach Gurken. Man spießt
sie auf und grillt sie bei lebendigem Leib. Gegessen werden sie im Ganzen inklusive Kopf und Schwanz, aber das wird dich schon nicht mehr wundern. Beim Grillen muss übrigens der Kopf nach unten gehalten werden, damit das heraustropfende Fett darüber läuft und dort verkrustet. Ist gut fürs Aroma. Gleichzeitig werden die Schwänze mit einem Fächer gekühlt, damit sie nicht anbrennen. Wir sollten diese Fische unbedingt probieren, ihr feiner rauchiger Geschmack ist unübertroffen.« »Das ist nicht dein Ernst.« Rudolf lacht. »Nicht ganz. Ich habe diese Fische in Japan gegessen. Zuerst musste ich mich überwinden, aber es hat sich gelohnt, sie sind wirklich köstlich. Auf der Karte hier stehen sie aber nicht.« Wera hebt die Speisekarte mit spitzen Fingern an, schlägt sie auf, wirft einen einzigen missmutigen Blick hinein und lässt die Karte klatschend zurück auf den Tisch fallen. »Diese ganzen toten Fische, geschächtet oder auch nicht, werden mich bis in meine finstersten Albträume verfolgen, mein Lieber, das weiß ich jetzt schon. Und wer ist daran schuld? Du allein!« Rudolf Rumberg verdreht in gespieltem Entsetzen die Augen. »Also nehmen wir Sushi, okay? Da ist alles fein portioniert und eingewickelt, vollkommen unkenntlich gemacht sozusagen.« »Sushi ist großartig. Warum konntest du das nicht gleich vorschlagen?« »Vielleicht mag ich es, wenn du dich gruselst.« »Hab ich das nicht in den letzten Wochen zur Genüge getan?« Rudolf verzichtet auf jede Antwort und bestellt die SushiVariationen für zwei Personen. »Es gibt übrigens Neuigkeiten vom Leonhardt-Imperium.« »Ich will sie nur hören, wenn du versprichst, dass keine Leichen vorkommen.«
»Lediglich die sprichwörtlichen Leichen im Keller, jedenfalls soweit ich das bisher beurteilen kann.« »Na gut, schieß los.« »Dass Markus Leonhardts Daddy einer von Wiens Immobilienzaren ist, weiß du?« »Ich weiß sogar noch mehr. Einer meiner Studenten hat in einem Haus gewohnt, dass seiner Gesellschaft gehört. LeWoBau heißt sie, glaube ich. Selten habe ich etwas derart Abgescheppertes gesehen.« »Wo war das? Etwa in Ottakring?« »Woher weißt du das?« »Gegenfrage: Seit wann besuchst du Studenten zu Hause.« Wera schweigt. Wie konnte ihr das passieren? Was soll sie bloß antworten? Sie kann unmöglich die Geschichte mit dem Elfenbeintäfelchen erzählen. Jetzt, wo Xaver Sturz verschwunden ist. Tot ist, verbessert sie sich. Zum Glück naht der Kellner mit einer gigantischen Platte, auf der äußerst kunstvoll Dutzende von exotischen Häppchen dekoriert sind. Zwischen Algen und auf Klebreis ruhen neben den üblichen Verdächtigen der Sushi-Fan-Gemeinde wie Lachs, Scampi und Thunfisch diverse Dinge, die Wera eher in einer Blumenschau als auf einem Restaurantteller erwartet hätte. Tomatenrosen, die an die Dekosünden der Sechziger erinnern, als Papageientulpen getarnte Radieschen und zum Schwan geschnitzte Rettiche. Während Wera die Auswahl betont interessiert mustert, wiederholt Rudolf seine Frage: »Seit wann besuchst du Studenten zu Hause?« Wera wartet, bis der Kellner die Beilagen angerichtet hat und sie wieder allein sind. »Du wunderst dich zu Recht. Natürlich gehört das nicht zu meinen Angewohnheiten. Aber in diesem Fall hatte ich einen guten Grund: Ich wollte ein Verbrechen verhindern – nein, das trifft es nicht. Ich hatte von einem Diebstahl erfahren und
wollte helfen, das Gestohlene wieder den Eigentümern zukommen zu lassen.« »Die Fakten?« Rudolf hebt die Augenbrauen und kehrt den investigativen Journalisten heraus. Wera muss lachen. »Ich wusste gar nicht, dass du so einschüchternd wirken kannst. Bist du sicher, dass das die richtige Methode ist, um an Informationen zu kommen?« »Du hast doch schon Gesprächsbereitschaft signalisiert. Jetzt kommt es darauf an, dich nicht mehr von der Leine zu lassen.« »Ach so ist das.« Wera mischt Wasabi mit Sojasoße und tunkt das erste Häppchen hinein. Kauend fährt sie fort: »Der Onkel dieses Studenten hat vor Jahrzehnten etwas Wertvolles gestohlen. Und zwar aus ebenjenem Kloster, das du als Altersruhesitz kaufen willst, stell dir vor. Und weil sein Neffe Kunstgeschichte studiert, das betreffende Stück geerbt hat und nun seine Examensarbeit darüber schreiben wollte, hat er sich an mich gewandt.« »Und?« »Ich war bei ihm, habe mir das Täfelchen angesehen, es handelt sich um eine wertvolle Elfenbeinschnitzerei. Selbstverständlich habe ich dem Studenten geraten, er solle die Schnitzerei zurückgeben. Er wusste aber nicht so recht, wie er das anstellen sollte, und so haben wir uns darauf geeinigt, dass ich es tue. Unter dem Vorwand, man habe mir die Tafel anonym zum Kauf angeboten, nachdem bekannt geworden ist, dass ich das Gutachten für den Orden schreibe.« »Und warum hast du nicht? Oder hast du?« »Nein. Denn der Student ist kurz darauf verschwunden. Die Polizei sucht ihn seit Wochen. Habe ich dir nicht davon erzählt?« »Ich erinnere mich dunkel. Der Kriminale war unverschämt, stimmt’s?«
»Genau. Und jetzt sitze ich mit dieser Tafel da. Niemand wird mir die Geschichte glauben. Nicht nach den Dingen, die seitdem im Kloster vorgefallen sind.« »Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass du auf eine Finte hereingefallen sein könntest? Vielleicht hat das Verschwinden deines Studenten mehr mit der Sache zu tun, als du denkst.« »Natürlich habe ich darüber nachgedacht. Aber das ändert nichts an meinem Problem. Ich will einfach nur diese Tafel loswerden, weiß aber nicht wie.« »Du könntest sie bei E-Bay versteigern.« »Sehr lustig.« »Entschuldige. Und wenn du sie behältst? Ist sie schön?« »Sie hat etwas Erhabenes an sich. Einen ganz eigenen Glanz. Das Elfenbein wirkt wie – ich weiß nicht, womit ich das vergleichen soll –, wie polierte Zuckerglasur vielleicht. Man möchte immerzu daran lecken.« »Ist wenigstens was Pornographisches darauf zu sehen?« »Wenn du Jesus im Tempel als Kinderschänder-Motiv bezeichnen möchtest.« »So weit würde ich vielleicht nicht gehen. Auch wenn das neunmalkluge Jesulein etwas provozierend Unwirkliches an sich hat – das musst du zugeben.« »Auf dem Elfenbein wirkt er eigentlich ganz souverän. Ich zeig dir die Tafel nachher.« »Gern. Selbstverständlich werde ich den Geschmackstest machen. Nicht, dass du doch nur auf ein Zuckerkunstwerk hereingefallen bist.« »Untersteh dich. Konzentrier dich lieber auf die Röllchen hier. Hast du das mit dem gerösteten Sesam schon probiert? Es ist köstlich.« Wera verdreht die Augen, um ihre Begeisterung zu signalisieren. Während sie versucht, ein widerspenstiges Reisbällchen zwischen den Stäbchen zu halten, erkundigt sie
sich: »Aber wolltest du mir nicht eigentlich etwas völlig anderes erzählen? Es ging um die heruntergekommenen Mietshäuser von Leonhardt senior, oder?« »Richtig. Ich bin da einer ziemlich miesen Sache auf der Spur.« »Laß mich raten: Leonhardt kauft das Abgeschepperte billig, sahnt alle staatlichen Zuschüsse ab, entmietet die Gebäude und sorgt dafür, dass die schönen alten Häuser so richtig zugeschleckt renoviert werden. Danach kann er sie teuer weitervermieten.« »Ganz so einfach ist es nicht. Die Stadt fördert Sanierungsprojekte mit Sondermitteln, da hast du schon Recht. Das Problem ist, dass trotz aufwändiger Maßnahmen der Mietpreis nicht über ein bestimmtes Limit steigen darf. Einfacher und erheblich lukrativer ist darum der Abriss von Altimmobilien und ein Neubau an gleicher Stelle. Die Mieten für Neubauten kann man ganz anders kalkulieren. Allerdings steht dieses Verfahren seit einiger Zeit auf dem Index.« »Weil es moralisch verwerflich ist?« »Man braucht gar keine moralischen Kategorien zu bemühen. Es reichen städtebauliche Argumente. Es ist viel Schindluder mit diesen wilden Neubauten getrieben worden. Ganze Viertel, die über Jahrzehnte, wenn nicht über Jahrhunderte gewachsen sind, hat man zerstört. Ich muss dir nicht beschreiben, wie apart eine Straße aussieht, in der sich Maria-TheresiaKlassizismus mit postmodernen Architektursünden mischt. Von den entwurzelten Einwohnern, die wie Heimatvertriebene in irgendwelche Vorstadtbunker abgeschoben werden, gar nicht zu reden. Aber was erzähle ich, du kennst meine Klagen zur Genüge.« Wera nickt. »Rudolf Rumberg, der Rächer der Alten und Wohnungsvertriebenen. Ich weiß schon. Und jetzt hast du also
ein ordentliches Klafter Futter für dein ganz persönliches Steckenpferd gefunden, oder wie darf ich das verstehen?« »Ich habe mit einigen Mietern von Leonhardt senior gesprochen. Vor allem interessiert mich ein Altbaukomplex in Ottakring. Weil es sich um Arbeitersiedlungen handelt und die Leute schlecht informiert sind, dachte der alte Leonhardt wohl, er könne mit den Mietern nach Belieben umspringen.« »Was heißt das genau?« »Leonhardts Methoden waren nicht die feinsten. Ständig hat er den Mietern unter fadenscheinigen Vorwänden den Strom oder das Wasser absperren, manchmal auch ein Räumkommando den Hinterhof verwüsten lassen und die Männer genau dann abgezogen, als die Konfusion am größten war. Die meisten Mieter haben irgendwann kapituliert und eingewilligt umzuziehen, obwohl die angebotenen Ersatzwohnungen kleiner, teurer und von der Lage her eine Zumutung waren.« »Kann ich gut verstehen.« »Wahrscheinlich kannst du dir auch vorstellen, wie erfreut die wenigen standhaften Mieter darüber waren, dass sich endlich jemand für ihre Sorgen interessierte. Und dann noch einer von der Zeitung.« »Wo sind diese Häuser genau? Doch nicht etwa an dieser merkwürdig spitzwinkligen Kreuzung mit dem tschechischen Friseur im Untergeschoss?« »Treffer, Wera. Genau dort. Der Friseur hat sein Geschäft im ehemaligen Kohlenkeller. Er gibt aber auch im nächsten Monat auf, hat er mir erzählt. In letzter Zeit liegen ständig tote Ratten in seinem Briefkasten.« »Lecker. Du, dieses hellviolette Fleisch in dem Sesamröllchen könnte durchaus eine Ratte gewesen sein.« »Also Wera! Jetzt hör aber auf – ich hab dich schließlich eingeladen.«
»Aber du hast angefangen mit den Ekelthemen. Und mit den Ratten eben auch wieder.« »I beg your pardon, madam.« »Gewährt. Direkt neben dem Haus mit dem tschechischen Friseur hat übrigens der Student gewohnt, von dem ich dir erzählt habe. Soweit ich weiß, war er der letzte Mieter. Alle anderen hatten schon aufgegeben.« »Und du bist sicher, dass Leonhardt senior nichts mit seinem Verschwinden zu tun hat?« »Bitte?« »Das war ein Witz.« »Warum? Die Idee ist durchaus pikant.« »Du würdest Leonhardt eine Entführung oder einen Mord also zutrauen?« Anstelle einer Antwort häuft Wera vorsichtig etwas von dem eingelegten Meerrettich auf ein Lachshäppchen und balanciert den Bissen zum Mund. Auf halber Strecke bricht das KlebreisPaket auseinander und fällt in zwei Teilen zurück auf ihren Teller. Achselzuckend schiebt Wera den Lachs ohne seinen Reisunterbau in den Mund. »Der Fisch schmeckt allein viel besser als mit dem Reis. Solltest du auch probieren. Was hast du gerade gefragt? Ach so. Nein, ich glaube, das ginge zu weit. Zwischen Rattenmord und Menschenmord gibt es Unterschiede, wahrscheinlich sogar für den von dir so innig gehassten Immobilien-Leonhardt.« »Die Gattin seines Sohnes ist nicht vor einer umfassenden Umweltverschmutzung zurückgeschreckt – mit Todesfolge, wie du weißt.« »Aber die Irma Palfy, pardon: Leonhardt leugnet doch.« »Nur nutzt ihr das nichts. Die Druckspuren auf ihren Oberarmen stammen eindeutig von diesem Maurer, das weiß man seit heute. Damit ist leider ihre gesamte Verteidigung zusammengebrochen.«
»Sie wird sich etwas Neues einfallen lassen, wart’s ab.« »Na das Klosterprojekt für Klein-Markus hat sich jedenfalls erledigt. Ich habe vorhin mit dem Beauftragten vom Orden telefoniert.« »Und?« »Leonhardt hat zurückgezogen. Kein Interesse mehr an dem Geschäft, heißt es offiziell. Klar, die Sache hat seinen Leumund ruiniert und wird aller Voraussicht nach seine Frau wegen Totschlags ins Gefängnis bringen. Das reicht wahrlich, um jedes Interesse zu verlieren. Aber Leonhardt wird nicht umhin können, die Kosten für den Bodenaustausch zu übernehmen. Und anschließend komme ich zum Zuge.« »Bodenaustausch?« Weras Gedanken jagen sich. »Selbstverständlich. Oder glaubst du, an diesen verseuchten Stellen wächst in den nächsten Jahren irgendetwas? Das muss alles großräumig ausgeschachtet werden.« Wera denkt an den Schuh, der immer noch in einer Plastiktüte bei ihr zu Hause in der Kammer versteckt ist. Und plötzlich sieht sie einen toten Xaver Sturz zwischen den Wurzeln der Kräuter liegen. Verwesendes Fleisch in karger Erde unter sengender Sonne durchzogen von Würmern und Maden. Mit zitternden Händen schiebt Wera ihren Teller zur Seite. »Ich bin satt.« »Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass ich mit meiner Restaurantwahl Ihren Geschmack nicht vollständig getroffen habe, Mylady.« »Stimmt. Aber ich werde dir großmütig verzeihen, wenn du mich schnellstens von hier wegbringst.« Weras nervöser Tonfall straft die Ironie in ihren Worten Lügen. Besorgt blickt Rudolf auf Weras Gesicht, das blass geworden ist. Zuckende Mundwinkel und angespannt geschlossene Augen künden vom nahen Ende ihrer Fähigkeit
zur Selbstbeherrschung. Energisch winkt Rudolf dem Kellner und bittet um die Rechnung. Nein, sie wünschten kein Dessert und auch keinen Kaffee, doch, doch es sei alles zu ihrer Zufriedenheit gewesen, antwortet er auf dessen irritiertes Nachfragen. Nur solle er sich bitte ein wenig beeilen. Als Wera und Rudolf draußen auf der Ringstraße angekommen sind, schafft Wera es gerade bis an die Rinnsteinkante, bevor sie das Abendessen würgend erbricht. Ein erboster Autofahrer blendet auf und hüllt Weras gekrümmten Körper für einige Sekunden in strahlende Helligkeit. Wera sinkt zu Boden und flüstert: »Bitte, Rudolf, bring mich nach Hause.«
Wenig später liegt Wera zitternd im Bett, sie fiebert und fröstelt gleichzeitig und wankt alle Viertelstunde ins Bad, um sich zu übergeben. Bald kommt nur noch Galle, aber Weras Magen spielt weiterhin verrückt. Auslöser kann unmöglich das Sushi gewesen sein, davon ist Rudolf überzeugt, zumal ihm selbst das Essen vorzüglich bekommen ist. Also lässt er das abendliche Gespräch Revue passieren. Ist er vielleicht mit seiner Neckerei die japanischen Kochsitten betreffend ein Stück zu weit gegangen? Nein, Wera ist nicht zimperlich, das weiß Rudolf genau. Es muss etwas anderes gewesen sein, es muss mit diesen beiden Studenten zu tun haben. Besser gesagt mit dem einen, der verschwunden ist und über den Wera mehr zu wissen scheint, als sie sagen möchte. Gerade kommt Wera wieder aus dem Bad, sie hat sich diesmal besonders lange dort aufgehalten, aber Rudolf nimmt das als gutes Zeichen. Denn den Geräuschen nach zu urteilen, hat sie sich die Zähne geputzt und sich gewaschen.
»Du siehst schon besser aus. Wie wär’s: Soll ich dir einen Kamillentee kochen? Dein Körper braucht sicher dringend Flüssigkeit.« »Danke, das ist lieb.« Wera lässt sich wieder aufs Bett fallen und zieht die Decke bis zum Hals hoch. »Hast du immer noch Schüttelfrost?« »Nein. Es handelt sich eher um eine prophylaktische Maßnahme.« Ihr gelingt das erste Lächeln seit Stunden. Als Rudolf mit der heißen Teekanne zurück ins Zimmer kommt, liegt auf der Bettdecke die Elfenbeintafel, von der Wera beim Essen berichtet hat. »Wo kommt die denn plötzlich her?«, fragt er verwundert. »Ich hatte sie in meinem Nachttisch. Keine Sorge, ich bin nicht im Nachthemd bis in den Keller gelaufen.« Rudolf nimmt die Tafel vorsichtig in beide Hände und streicht mit den Daumen über die Jesusfigur. »Wie alt soll die Schnitzerei sein?« »900 Jahre, vielleicht auch 1000, genau kann ich es nicht sagen.« »Du hast Recht mit deinem Zuckerguss-Vergleich. Die Oberfläche wirkt wie angeschmolzen und im Schock erstarrt.« »Das Bild ist ein Wunder, findest du nicht? Wie fein alles herausgearbeitet ist. Und erst der Hintergrund. Es ist das plastischste Kreuzbandrelief, das ich jemals zu Gesicht bekommen habe.« »Siehst du dir die Tafel oft an?« »Jeden Abend. Manchmal denke ich, ich könnte gar nicht mehr einschlafen ohne diesen Anblick.« »Wenn du bei mir übernachtest, gelingt dir das erstaunlich gut.« »Du verfügst über eine besonders wirksame Schlaf spritze, mein Lieber.«
»Soll ich das jetzt als Kompliment oder als Beleidigung werten?« »Gemeint war es als Kompliment.« »Dein Glück. Sonst würde ich dir meine pflegerischen Bemühungen umgehend in Rechnung stellen«, ruft Rudolf über die Schulter, während er in die Küche geht, um einen Becher und die Zuckerdose zu holen. Dann gießt er den Tee ein, süßt ihn und rührt um. Seufzend nimmt ihm Wera den Becher ab und trinkt mit winzigen Schlucken. »Köstlich! Du solltest eine Krankenstation aufmachen.« »Du darfst dich getrost als meine Privatpatientin betrachten. Allerdings hätte ich gern eine vertrauliche Auskunft von dir. Für die Patientenakte sozusagen.« »Frag nur. Ich bin ja schon den ganzen Abend dabei, mein Innerstes nach außen zu kehren.« Rudolf setzt sich neben Wera auf die Bettkante und nimmt ihre Hand. »Erzähl mir von diesem Studenten, der dir die Tafel gegeben hat. Sie ist kostbarer, als ich dachte, das sehe sogar ich mit meinem laienhaften Blick. Wie kam dieser Student dazu, so etwas Wertvolles herzugeben? Und warum ausgerechnet dir? Was hattet ihr für ein Verhältnis zueinander? Was war das Besondere daran?« »Es fällt mir schwer, darüber zu reden. Dabei hätte ich es dir längst erzählen sollen. Aber ich dachte immer, du würdest mich nicht verstehen. Und plötzlich war es zu spät.« »Warum das?« »Xaver Sturz ist tot, Rudolf. Und ich bin schuld.« »Quatsch. Niemand ist am Tod eines anderen Menschen schuld, es sei denn, er hat ihn umgebracht.« Wera schweigt. Als Rudolf nach einigen Minuten das Schweigen bricht, klingt seine Stimme gepresst. »Könntest du mir bitte diese Geschichte von Anfang an erzählen, Wera. Es ist im Moment
nicht leicht für mich, dir zu folgen. Was heißt, du bist schuld an seinem Tod? Und warum willst du überhaupt so genau wissen, dass er nicht wieder auftaucht?« »Ich weiß es eben. Und es ist mehr als ein Gefühl. Ich bin mir sicher. Aber du wolltest die ganze Geschichte. Also pass auf: Xaver Sturz war dickköpfig, er war der dickköpfigste Mensch, dem ich je begegnet bin. Das Wort ist altmodisch, ich weiß, aber ein besseres fällt mir nicht ein. Wie er sich weigerte, aus diesem völlig zerfallenen Haus auszuziehen, wie er stoisch alle Schikanen der Verwaltungsgesellschaft ertrug. Seine unerschütterliche Überzeugung, im Recht zu sein, hat mich anfangs irritiert, aber irgendwann schlug das Gefühl um, und ich war beeindruckt, und zwar tiefer, als ich zunächst wahrhaben wollte.« »Du hast dich verliebt.« »Vermutlich.« »Wann war das?« »Felix lebte noch. Ich hatte gerade von seiner Affäre mit der kleinen Palfy erfahren, war also dementsprechend moralisch aufgeweicht.« »So lange ging das schon?« »Wart’s ab. Der Xaver Sturz hat mir eines Tages von diesem Täfelchen hier erzählt. Dann hat er’s mir gezeigt. Da war ich zum ersten Mal bei ihm zu Hause, darum kenn ich auch die Straße und diese Leonhardt’schen Häuserblöcke. Ich habe mich wohl gefühlt in jener Nacht in der Wohnküche der Studentenwohnung. Xaver Sturz hatte mich in sein Geheimnis eingeweiht, und es schien so, als könne es noch andere Geheimnisse geben, die zu teilen sich lohnen würde.« »Das hast du aber sehr poetisch ausdrückt. War es wenigstens gut mit ihm im Bett?« »Du erwartest doch nicht im Ernst eine Antwort auf diese Frage?«
»Warum nicht? Schließlich hast du damals nicht mich, sondern Felix betrogen.« »Weißt du, ich habe vor Jahren einen Satz gelesen, den ich bei allen Bemühungen nicht verstehen konnte. Aber ich konnte ihn auch nicht vergessen. Nur wenn zwei Menschen ein obszönes Geheimnis teilen, haben sie guten Sex. Und so merkwürdig es klingen mag, schon vor der ersten Nacht, die Xaver und ich miteinander verbracht hatten, stand für mich fest, dass auch das gemeinsame Wissen um einen Diebstahl etwas Obszönes sein musste.« »Haben wir zwei beiden auch ein obszönes Geheimnis?« »Ich bin gerade dabei, dich in eines einzuweihen. Merkst du das nicht?« »Es dämmert langsam. Also red weiter.« »Du darfst nicht denken, dass das alles einfach für mich war. Nach meiner Rückkehr aus Venedig gab es ständig diese elenden Streitereien mit Felix, die so sinnentleert waren, weil wir beide, Felix ebenso wie ich, das Wesentliche verschwiegen. Es waren zermürbende Gespräche, perfekt inszenierte Scheingefechte.« »Die dich in die Arme dieses Studenten trieben.« »Du unterschätzt meine moralischen Kapazitäten. Zunächst trieben mich diese Streitereien in die Arme eines Analytikers. Ich wählte absichtlich einen Mann. Er sollte mir erklären, was ich Felix nicht zu fragen wagte. Er sollte mir sagen, was meinen Ehemann antrieb, wenn er mich betrog, und wie ich ihn vielleicht zurückgewinnen könnte.« »Warum hast du mich nicht gefragt? Ich hätte dir sagen können, dass du Felix nie verloren hattest.« »Machst du Witze? Was soll diese verdammte Männerperspektive?« »Was hat denn der Analytiker dazu gesagt?«
»Natürlich hat er mir keine Ratschläge gegeben. Stattdessen hat er mich auf mich selbst verwiesen.« »Versteh ich nicht.« »Kein Wunder. Das ging mir genauso. Der Mann redete von einem Kind, das ich in mir spüren müsse. Auf meine zunächst verwirrten und schließlich erbosten Nachfragen, was das denn in Himmels Namen für ein Kind sein solle, blieb er ruhig und befahl mir, in mich hineinzuhorchen. Da müsse eine Stimme sein. Was für eine Stimme, fragte ich. Eine Kinderstimme, die nach Liebe rufe, bekam ich zur Antwort. Aber da war nichts. Keine Stimme, kein Kind, in meinem Inneren war rein gar nichts. Alles leer. Der Analytiker sah mich wortlos an. Ich hatte genau das gesagt, was er hatte hören wollen. Er war auch nur ein Mann, und anstatt mir beizustehen, hatte er mir eine Falle gestellt. Jedenfalls sah ich das damals so. Heute weiß ich, dass er mir zu einer wichtigen Erkenntnis verholfen hat. Welcher Mann will schon mit einer Frau verheiratet sein, die zugibt, dass in ihrem Inneren nichts als Leere herrscht, dass ihre Seele eine Einöde, die reinste Wüstenei ist?« »Fragst du mich das jetzt, Wera?« »Nein. Und untersteh dich, darauf zu antworten.« »Okay. Rede weiter.« »Ich bin damals aufgestanden und habe wortlos die Praxis verlassen. Eine Rechnung für diese Sitzung habe ich nie bekommen, und hätte ich sie bekommen, hätte ich sie nicht bezahlt.« »Aber dieser Analytiker hatte etwas angestoßen in dir?« »So kann man es ausdrücken. Auch wenn Felix nicht davon profitiert hat. In den letzten Monaten vor seinem Tod habe ich die Verbindung zu ihm einfach nicht mehr gefunden.« »Und der Student?« »Wir trafen uns häufiger, und irgendwann ist es eben passiert. Nichts Besonderes also, wirst du vielleicht denken. Aber es
war etwas Besonderes, denn es war anders als alles, was ich jemals vorher erlebt hatte. Es war wie ein Stromstoß, der alles erfasste, von den Fingerspitzen bis zu den Zehennägeln. Ein ungeheurer Energieschub. Plötzlich fühlte ich mich allmächtig, unverletzlich wie niemals vorher. Dieses Gefühl, dieses Lebensgefühl, das mich so unerwartet durchflutete, machte mich süchtig. Es war wie eine Droge. Und weil es die Affäre mit Xaver Sturz war, die mir zu diesem Gefühl verhalf, wollte ich sie fortführen, um jeden Preis der Welt. Und der Preis war nicht sehr hoch, weißt du. Ich war die Mitwisserin eines Diebstahldeliktes, das lange zurücklag, der Dieb war seit Jahren tot, nur das Diebesgut gab es noch. Und mit ihm dieses Geheimnis, das Xaver und ich teilten.« »Euer obszönes Geheimnis, ja, das sagtest du bereits. Möchtest du noch Tee?« »Er ist sicher kalt.« »Ich könnte neuen kochen.« »Nein, bleib sitzen. Ich bin noch nicht fertig. Als Felix starb, war wieder alles anders. Zunächst dachte ich, es sei der Schock. Es war für mich plötzlich unvorstellbar, mit Xaver zu schlafen. Und natürlich hielt er sich zurück. Wir trafen uns seltener, denn merkwürdigerweise hatte ich plötzlich weitaus größere Angst, mein Verhältnis zu Xaver könne ans Licht kommen, als vor Felix’ Tod. Und als Xaver nach einigen Monaten begann, drängende Signale auszusenden, interessierte ich mich nicht mehr für ihn.« »Möchtest du eine Erklärung für dieses Phänomen?« »Gern, wenn du eine hast.« »Felix war dein Schutzschild gegenüber der Wirklichkeit. Als er fort war, brauchtest du ein neues. Dafür war dieser Student nicht geeignet.« »Aber du warst es?« »Sieht ganz so aus.«
»Jedenfalls wollte Xaver nicht einsehen, dass es vorbei sein sollte. Erst verfolgte er mich, dann begann er, mich zu erpressen.« »Womit denn?« »Er machte Andeutungen über meine Mitwisserschaft die Elfenbeintafel betreffend. Es war keine richtige Erpressung, Xaver stellte keine Forderungen, aber ich wurde die Angst nicht los, dass da noch etwas kommen könnte.« »Warum hast du mir nie davon erzählt?« »Ich weiß nicht. Vielleicht hab ich mich geschämt. Oder ich hatte den Wunsch, diese ganzen Konfusionen hinter mir zu lassen. Ich wollte mich einfach nicht mehr damit beschäftigen.« Rudolf lässt nachdenklich seine Finger über die Elfenbeintafel auf Weras Bettdecke wandern. Wera fragt: »Soll ich weiterreden?« »Nur wenn du willst. Du musst nicht. Ich sitze nicht als Journalist an deinen Bett.« »Irgendwann bin ich auf einen von Xavers Vorschlägen eingegangen und mit ihm zum Kloster gefahren.« »Irgendwann?« »Es war Anfang dieses Jahres, kurz vor Ostern, du warst an dem Wochenende in Prag, glaube ich.« »Ja, ich erinnere mich. Ich dachte allerdings, du seiest allein unterwegs gewesen. Du hattest lediglich von einem Gutachten gesprochen. Dass es ausgerechnet um dieses Kloster ging, wusste ich damals noch nicht.« »Warum hätte ich es auch erzählen sollen? Ich hatte keine Ahnung, dass du dich für den Gebäudekomplex interessierst. Ich hatte den Auftrag für dieses Gutachten, und ich hatte den Schlüssel zur Kirche. Xaver wusste das, denn an der Lehrkanzel wurde darüber geredet. Es war mir unheimlich, ihn mitzunehmen, aber er bestand darauf. So bin ich auf die Idee
gekommen, ihn zu überreden, die Tafel zurückzubringen. Wir wollten sie entweder austauschen oder irgendwo in der Kirche verstecken. In einem Schrein oder was weiß ich wo. Wir würden einen geeigneten Ort finden, wenn wir erst im Kloster wären, davon war ich überzeugt. Anschließend hätte ich die Tafel bei meinen Recherchen ganz offiziell entdeckt, es hätte einen mächtigen Presserummel gegeben, und der Xaver hätte seine Examensarbeit über das gute Stück geschrieben.« »Und ihr beiden wärt euer obszönes Geheimnis los gewesen.« »Vielleicht stand diese Überlegung wirklich im Hintergrund.« Weras Stimme klingt abwägend. »Du hast Recht, je länger ich darüber nachdenke, umso wahrscheinlicher scheint es mir. Merkwürdig, dass ich nie selbst darauf gekommen bin. Jedenfalls schien Xaver zwar überrascht, aber einverstanden mit der von mir vorgeschlagenen Lösung zu sein. Das hätte mich gleich stutzig machen müssen. Ich wusste ja, wie stur er war, wenn es darum ging, seine Vorstellungen durchzusetzen. Und er wollte sich partout nicht von der Tafel trennen, das hat er oft genug betont.« »Und jetzt liegt sie hier, bei dir. Und dieser Xaver ist weg. Verschwunden? Tot? Raus mit der Sprache, Wera. Du hast mich lange genug auf die Folter gespannt.« »Nimm’s mir nicht übel, Rudolf, aber ich würde dir den Rest der Geschichte gern ein andermal erzählen. Ich bin müde, ich muss dringend schlafen. Morgen erwartet mich ganz in der Frühe ein Habilitationsvortrag.« »Hör mal, Wera, du kannst mich jetzt unmöglich so ausbremsen. Den Vortrag morgen musst du schließlich nicht selber halten, sondern nur anhören.« »Schon, aber hinterher muss ich mindestens eine gescheite Frage stellen, ich bin in der Kommission. Die Gutachten waren
mehr als wacklig. Und dass meine körperliche Verfassung im Moment nicht die beste ist, hast du ja gesehen.« »Also wann reden wir weiter?« »Morgen Abend?« »Na gut. Dann lasse ich dich jetzt allein. Du kommst doch zurecht?« »Ich fühl mich halbwegs stabil, danke für alles. Vor allem für deine Geduld.«
Der Vortrag am nächsten Morgen ist strukturierter, als Wera gedacht hätte. Sie stellt eine butterweiche Frage, die der Kandidat souverän beantwortet. Auch die anderen Kommissionsmitglieder scheinen kein Interesse daran zu haben, die Kompetenz des jungen Mannes noch einmal auf Herz und Nieren zu prüfen. Nach der abschließenden Aussprache wird ihm – vielleicht ein wenig schmallippiger als üblich – mitgeteilt, dass er sich fortan als habilitiert betrachten dürfe. Erleichtert bittet der Habilitand die Kommissionsmitglieder und alle anderen Anwesenden zu einem Umtrunk in den Arkadenhof. Dort sei alles für einen kleinen Empfang vorbereitet. Wera spürt einen gewissen inneren Widerstand, als sie bemerkt, dass der Kandidat offenbar fest mit einem positiven Ausgang des Verfahrens gerechnet hat, aber sie drängt die aufkeimende Verärgerung zur Seite. Sie ist immer noch benommen von ihrem nächtlichen Gespräch mit Rudolf und scheut sich davor, über die Konsequenzen ihrer ungeplanten Enthüllungen nachzudenken. Also nutzt sie dankbar die Gelegenheit, sich ablenken zu lassen, und folgt den anderen zum Büfett. In einem der Flure stößt sie fast mit der Frauenbeauftragten zusammen. Frau Goldig wirkt im Vergleich zu den letzten
beiden Begegnungen ausgesprochen entspannt. Fröhlich verwickelt sie Wera in ein Gespräch und schließt sich beim Reden dem Tross der Professoren einfach an. Es dauert nicht lange, bis die beiden Frauen auf die leidige Angelegenheit mit dem Kollegen Kramer und den angeblichen Übergriffen zu sprechen kommen. Frau Goldig weiß Erfreuliches zu berichten. Die kleine blonde Studentin habe letztendlich zugegeben, sich die Episode in der Bibliothek ausgedacht zu haben. Nach dem Grund gefragt, habe sie gesagt, sie habe Aufmerksamkeit erregen wollen. Der Herr Professor Kramer habe sehr über diese Enthüllung gelacht und sei überhaupt nicht nachtragend gewesen, er habe sogar zugesagt, die Studentin trotzdem zu examinieren. Wera beglückwünscht die Frauenbeauftragte zu dem erfolgreich abgeschlossenen Fall. Am Büfett lassen sich die Frauen zwei Gläser mit Wein füllen und trinken auf den glücklich abgewendeten Skandal. Wenig später begegnet Wera dem neuen deutschen Kollegen. Er berichtet, wie gut er sich eingelebt habe und dass seine Familie in einigen Wochen nachkommen werde. Man habe günstig ein kleineres Haus in Grinzing erwerben können. Wera gratuliert, preist die Vorzüge des Landlebens und schickt sich an, ihr Glas auf das Immobiliengeschäft zu erheben. Leider ist das Glas schon leer. Wieder wendet sie sich zum Büfett. »Soll ich Ihnen einen Wein mitbringen oder vielleicht eine Schorle, Herr Kollege? Sie sollten sich entspannen.« »Danke nein. Ich muss gleich ins Seminar. Ich darf Ihnen auch weiterhin alles Gute wünschen.« Wera nickt lächelnd. Das Lächeln vertieft sich, während sie von den Häppchen probiert. Dieser strahlende Sonnenschein, die Aussicht auf die bevorstehenden Semesterferien und der leichte Vormittagsrausch, der sich jetzt einstellt, sind eine beschwingende Kombination. Den Mann, der plötzlich
zwischen Wera und die Sonne tritt, erkennt sie nicht gleich. Nicht nur, weil ihre Augen sich erst an den Schatten unter den Kolonnaden gewöhnen müssen, sondern auch, weil sie nie erwartet hätte, ihm ausgerechnet hier zu begegnen. In Sekundenbruchteilen läuft ein Film ab. Sonne, ein Innenhof, gesäumt von einem Säulengang, eine ganz und gar unerwartete Begegnung. Und dann der Tod und das Feuer. Eine infernalische Szene mitten im Paradies. Es kostet Wera große Kraft, den Kampf gegen die Erinnerung zu gewinnen. »Herr Leonhardt… wie geht es Ihrer Frau?« »Schlecht. Das können Sie sich doch denken. Stellen Sie immer so geschmacklose Fragen?« »Nein. Verzeihen Sie, aber ich bin überrascht, Sie hier zu sehen. Was führt Sie her?« »Ich wollte Sie um eine Auskunft bitten, Frau Professor Pratzinger.« Wera stellt ihr Glas auf dem Büfett ab. Das Vergnügen an dem leichten Vormittagsrausch ist ihr gründlich vergangen. »Fragen Sie.« »Kennen Sie die Küstenstraße zwischen Duino und Triest?« »Ja.« »Waren Sie schon einmal abends auf dieser Straße, Frau Professor?« »Lassen Sie mich nachdenken. Ja, natürlich. Wir sind gelegentlich bis in die Nacht hinein zurückgefahren nach Wien, wenn Sie das meinen.« »Das gerade meine ich nicht. Ich denke an eine Frau, die am Abend nach dem Klosterbrand in Richtung Grado die Straße entlanglief. Oder sollte man besser sagen: irrte? Sie wirkte abgerissen, sie hatte einen Sonnenbrand, und in ihrem Gesicht stand das blanke Entsetzen.« »Das hört sich furchtbar an. Aber was habe ich damit zu tun?«
»Genau das wollte ich von Ihnen wissen, Frau Professor Pratzinger.« »Herr Leonhardt, bitte nehmen Sie mir das jetzt nicht übel. Ich bin mir im Klaren darüber, dass Sie sich in einer extremen Drucksituation befinden. Aber trotz allem kann ich nicht einsehen, was Ihnen das Recht gibt, mich hier in so ein abstruses Verhör zu verwickeln.« »Ich gebe dem Herrn Leonhardt das Recht dazu, Frau Pratzinger.« Die Stimme Eduard Schirns ist weich wie Seide und falsch wie Kunstblumen. Wera fährt herum und entdeckt den Kommissar hinter einer Säule. »Bitte, was soll das? Ich habe meine Aussage schon gemacht.« »Nur leider lässt der Herr Leonhardt sich nicht davon abbringen, Sie an dem fraglichen Abend gesehen haben zu wollen. Dadurch entsteht ein kleines Problem in der Beweisführung, wie Sie sich möglicherweise vorstellen können. Und da dachte ich mir, bevor das Problem größer wird, sollten wir es am besten zu dritt klären.« »Aber nicht hier. Darf ich Sie beide hinüber in mein Büro bitten.« »Wenn Sie das unbedingt möchten, Frau Professor Pratzinger.« Die Stimme des Kommissars trieft vor Hohn. »Eigentlich wollten wir Sie nicht lange stören oder Ihnen den netten Vormittag verderben. Aber wenn Sie freilich so viel zu der Frage zu erzählen haben…« »Wir können es ebenso gut hier abmachen.« Wera geht hinüber zum Kommissar und dreht sich mit dem Rücken gegen die Sonne, sodass Markus Leonhardt in das Licht schauen muss. »Herr Leonhardt, ich weiß nicht, was Sie und Ihre Frau an diesem Abend in der Nähe des Klosters getan haben. Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, ob ich es überhaupt erfahren möchte. Aber eines weiß ich genau: Ich selbst war nicht dort,
sondern in Venedig.« Jetzt wendet sich Wera direkt an Kommissar Schirn: »Wenn Sie an meiner Aussage zweifeln, sollten Sie meinen Lebensgefährten fragen. Rudolf Rumberg. Er weiß, dass die Venedigfahrt seit Wochen geplant war. Ich habe immer wieder versucht, ihn zum Mitkommen zu überreden. Leider vergeblich. Ich überlasse Ihnen gern seine Telefonnummer.« »Lassen Sie mich bloß mit Telefonnummern in Frieden. Ich streite mich seit Tagen mit den italienischen Kollegen herum, weil sie nicht in der Lage sind, die Nummer einer Anruferin zu recherchieren.« »Ich verstehe nicht.« Jedes Wort kostet Wera Mühe, denn sie ahnt nur zu deutlich den Zusammenhang. Da war ihr eigener panischer Anruf vom Altan des Klosterturms aus. Wie leicht hätte es geschehen können, dass ihre Handynummer aufgezeichnet wird. Dann wäre alles Leugnen umsonst gewesen. Der Kommissar ist zu sehr mit seinem Ärger beschäftigt, um Weras Irritation zu bemerken. »Eine Frauenstimme hat den Brand im Kloster gemeldet. Angeblich von der Küstenstraße aus. Von eben jener Küstenstraße übrigens, auf der Herr Leonhardt meint, Sie gesehen zu haben, Frau Professor. Aber Sie wollen ja partout nicht dort, sondern in Venedig gewesen sein. Vielleicht haben Sie wenigstens eine Restaurantquittung für mich oder ein Billet vom Vaporetto?« »Herr Schirn, die ganze Geschichte ist über zwei Wochen her. Wie lange bewahren Sie denn einen Fahrschein auf? Und Restaurantquittungen lasse ich auf dem Tisch liegen – es sei denn, es handelt sich um ein Geschäftsessen, und ich will die Kosten von der Steuer absetzen. Ich war aber rein privat in Venedig.« »Die Tatsache, dass Sie nicht versucht haben, die Fahrt als Dienstreise auszugeben, ehrt Sie. Trotzdem betrübt es mich
zutiefst, dass es kein einziges Beweisstück geben sollte, das uns Ihre Anwesenheit in der Stadt der Gondeln und der Liebe plausibel machen könnte.« »Sparen Sie sich Ihre billige Ironie für passendere Gelegenheiten auf.« »Ihr Wunsch ist mir Befehl. Nur eine letzte Frage habe ich: Wie sind Sie nach Venedig gefahren? Mit dem eigenen Wagen nehme ich an, und dann ins Parkhaus. Und die Belege gibt es natürlich auch nicht mehr. Keine Tankquittung, keinen Parkschein.« »Nein.« »Was nein?« »Ich bin nicht mit dem Auto, sondern mit dem Zug gefahren.« »Das ist aber sehr kompliziert, soviel ich weiß.« »Das habe ich auch gemerkt. Umständlich und unbequem. Deshalb habe ich mir für die Rückreise einen Leihwagen genommen.« »Hätten Sie die Güte, sich an die Firma zu erinnern? Zur Not täte es auch der Standort des Vermittlungsbüros.« Wera schweigt. Sie weiß genau, was Schirn jetzt denkt. Er erwartet, dass sie ihm die nächste Ausflucht präsentiert. Es ist ihm allzu deutlich anzusehen, wie er sich darauf freut, ihr sein Misstrauen zu erklären. Langsam und anscheinend zögerlich setzt sie ihre Worte. »Ich will nicht zu viel versprechen, aber es könnte sein… nein, vergessen Sie’s.« »Gern, wenn Sie mir vorher sagen könnten, was genau ich vergessen soll.« »Der Autoverleih war unanständig teuer. Ich weiß noch, dass ich die Rechnung in meiner Wohnung geprüft und anschließend in irgendein Buch gelegt habe. Ich mache das manchmal, weil es mich amüsiert, nach Jahren Dinge wiederzufinden, die mich an kuriose Begebenheiten erinnern.«
»Dann rate ich Ihnen jetzt eines außerordentlich dringlich: Erinnern Sie sich bald daran, welches Buch es war, und bringen Sie mir die Rechnung vorbei. Andernfalls kann ich Ihnen garantieren, dass Sie sich an diese spezielle kuriose Begebenheit in der Tat sehr lange erinnern werden.« Wera verzichtet auf jede Antwort und wendet sich stattdessen dem Ehemann ihrer Assistentin zu, der das Geplänkel mit gerunzelter Stirn und angespanntem Gesichtsausdruck verfolgt hat. »Es tut mir wirklich Leid um Ihre Frau, Herr Leonhardt, aber eines dürfen Sie sich ruhig merken: Wen auch immer Sie in Duino gesehen haben wollen, ich war es ganz sicher nicht.«
Kaum ist Wera wieder zurück in ihrer Wohnung, eilt sie ins Arbeitszimmer und zieht einen großformatigen Kunstkatalog aus dem Regal. Es ist ein Griff, dann hat sie die Quittung. Als sie das Blatt in einen Umschlag steckt und diesen an den Kommissar adressiert, muss Wera an ihre echte Venedig-Fahrt vor eineinhalb Jahren denken, an den überstürzten Aufbruch, die Verzweiflung im Zug und an den müden Trost, den die Lagunenstadt nach ein oder zwei Tagen tatsächlich zu spenden in der Lage war. Diese Flucht war nicht nur eine Flucht vor Felix und seiner neuesten Affäre, sondern auch eine Flucht vor Xaver Sturz gewesen. Vor den Möglichkeiten, die sich ihr plötzlich geboten hatten. Es waren dies Möglichkeiten, die immer da gewesen sein mussten, jedenfalls seitdem Wera an der Universität gearbeitet hatte, die sie aber nie gesehen, nie wahrgenommen hatte. Und die sie erst zu diesem Zeitpunkt auf eine verwirrende Weise zu interessieren begonnen hatten. Nachdenklich geht Wera hinüber in ihr Schlafzimmer und nimmt die Elfenbeintafel zur Hand, die immer noch auf ihrem Nachttisch liegt. Behutsam streicht sie mit den Fingern über
die erhabene Jesusfigur. Mit kaum zu fassender Präzision sind die Gesichtszüge modelliert. Stirn, Wangenknochen, Augenbrauen, eine stark gewölbte Oberlippe. Plötzlich scheint es Wera, als habe die Figur Ähnlichkeit mit Xaver Sturz und als sei dies der Grund dafür gewesen, dass die Tafel ihm so viel bedeutet hatte. Nicht zum ersten Mal löst die Tatsache, dass sie und nur sie allein diese perfekte Arbeit eines seit Jahrhunderten vergessenen Schnitzmeisters betrachten darf, eine Art Rausch in Wera aus. Gleichzeitig empfindet sie Scham. Das Berühren der Tafel erscheint ihr wie ein Sakrileg. Wera denkt an die ägyptischen Königsgräber und die Flüche, die mit deren Öffnung verbunden waren. Ein vollkommen unwissenschaftliches Schaudern überfällt sie. Sie beschließt, die Tafel zu säubern und zukünftig nicht mehr so sorglos zu betasten. Schnell holt sie ein leinenes Gläsertuch aus dem Schrank, legt es neben der Spüle zurecht und beginnt, das Täfelchen mit Spülmittel und einem Lappen abzureiben. Dann schlägt sie es in das Geschirrtuch und tupft es vorsichtig trocken. Als Wera die Tafel gerade in eine Zellstoffserviette einwickeln will, klingelt es an der Tür. Wera legt Serviette und Tafel auf den Tisch, wirft das Geschirrtuch darüber und geht nachschauen, wer sie so unangekündigt besucht. Wahrscheinlich Rudolf, denkt sie, während sie die Tür öffnet. Wir waren zwar erst für den Abend verabredet, aber möglicherweise konnte er sich früher freimachen und ist zu neugierig auf den Fortgang der Geschichte, um länger warten zu wollen. Im Hausflur steht niemand, natürlich, die Haustür ist ja seit einigen Monaten verglast und mit einem Schnappschloss versehen, niemand kommt ohne weiteres hinein. Was um alles in der Welt erzähle ich Rudolf jetzt von Xaver und dem Osterausflug?, überlegt Wera und tritt zwei Schritte vor ihre
Tür, um zu schauen, wer draußen steht. Es scheint ein Mann zu sein, er wartet seitlich des Eingangs im Schatten, aber Rudolf ist es nicht, der ist eindeutig kleiner als dieser Mann. Ein Vertreter wird es sein, denkt Wera und will wieder in ihrer Wohnung verschwinden, ohne die Tür zu öffnen. Soll der Mann bei einem anderen Mieter sein Glück versuchen. Doch dann klingelt es Sturm bei ihr, wütend drückt sie auf den Einlassknopf. Diesem aufdringlichen Menschen werde ich etwas erzählen, denkt Wera wütend, als mit energischen Schritten Markus Leonhardt das Vestibül betritt. Er beginnt zu reden, bevor er Weras Tür erreicht hat. »Verzeihen Sie meinen unangemeldeten Besuch, aber ich hatte das dringende Bedürfnis, etwas richtig zu stellen.« »So?« Wera steht in der Türöffnung, Markus Leonhardt lehnt neben ihr an der Wand. Er hat die Hände in den Taschen seines Trenchcoats vergraben und die Schultern eingezogen wie ein sprungbereites Tier. »Und was wollen Sie richtig stellen?«, fragt Wera und überlegt gleichzeitig, ob jetzt jeder Mieter, der aus einer der oberen Wohnungen träte, ihr Gespräch verfolgen könnte. Oder die Anschuldigungen mithören, die der ungebetene Gast möglicherweise vorbringen wird. Da ist es ihr schon lieber, wenn die Unterhaltung in ihrer Wohnung stattfindet. Also macht Wera einige Schritte nach hinten und bittet Markus Leonhardt herein. Er bleibt mitten in der Diele stehen und sieht sich um. Wera schließt die Tür zum Hausflur, ihre Gedanken jagen sich. Was wird er von ihr wollen? Seltsamerweise wirkt Markus Leonhardt nicht aggressiv, sondern eher versöhnlich. Nur gibt es nicht viel Anlass zu einer Versöhnung, das weiß Wera genauer, als ihr lieb ist. »Frau Professor, ich bin gekommen, um mich für das überfallartige Gespräch vom Vormittag zu entschuldigen«,
beginnt Leonhardt. Seine Stimme klingt sanft, fast einschmeichelnd. »Sie müssen sich brüskiert gefühlt haben, das hätte ich gern verhindert. Aber der Kommissar bestand auf diesem unangekündigten Besuch. Und im Moment tue ich alles, um meine Frau zu entlasten. Es geht keinesfalls darum, Sie stattdessen zu beschuldigen.« »Das wäre ja auch absurd«, entgegnet Wera schmallippig. »Vermutlich. Andererseits haben Sie heute Vormittag so heftig reagiert…« »Also das ist ja wohl die Höhe! Sie versuchen dem Kommissar weiszumachen, ich würde nachts in desolatem Zustand durch den Karst irren wie eine Geistesgestörte, und ich soll mir das ruhig anhören?« »Ich verstehe Ihren Zorn. Darum bin ich hier. Sehen Sie, ich weiß von Irmas damaliger Affäre mit Ihrem Mann.« Wera starrt ihn mit reglosem Gesicht an. »Ich stelle fest, Sie sind nicht überrascht. Das wundert mich nicht. Ich hielt Sie von vornherein für zu intelligent, als dass Ihnen diese Geschichte hätte entgangen sein können. Meine Frau ist da übrigens bis heute ganz anderer Ansicht.« Das plötzliche Schweigen Markus Leonhardts wird von einem lauernden Blick begleitet. »Wollen Sie mich mit dieser Bemerkung einschüchtern, oder sind sie einfach nur geschmacklos? Mein Mann ist tot, das dürfte Ihnen und Ihrer Gattin nicht entgangen sein.« Weras Stimme klingt gepresst. Wenn sie nicht bald eine Zigarette rauchen kann, wird sie das hier nicht durchstehen. Leonhardt lässt sie warten, lehnt sich an die Wand, steckt die Hände in die Hosentaschen. Wera spürt Wut und Angst. Die Wut siegt, Wera hält Leonhardts spöttischem Blick stand. Er lächelt und erklärt mit sanfter Stimme: »Wissen Sie, ich bin mir nicht wirklich sicher, ob Sie es waren, die ich bei Nacht und Nebel gesehen habe, aber das geht schließlich niemanden
etwas an. Sie könnten es gewesen sein oder auch nicht. Aber da Sie dummerweise alle Belege ihrer Venedig-Reise vernichtet zu haben scheinen, wird mir niemand so schnell meine Beobachtung ausreden können.« »Sie wollen mich erpressen.« »Ich möchte mit Ihnen ins Geschäft kommen. Vielleicht sollten wir es besser so ausdrücken.« »Und was macht Sie so sicher, dass ich mich an Ihrem Geschäft beteiligen werde?« »Frau Pratzinger, das möchte ich Ihnen gern erklären. Aber das kann länger dauern. Auch würde ich Sie gern um ein Glas Wasser bitten.« Sein Tonfall gefällt ihr nicht. Sie braucht Zeit zum Nachdenken. »Bitte kommen Sie.« Langsam geht Wera voran ins Wohnzimmer. Aber Leonhardt, der direkt neben der Küchentür gestanden hat, macht drei Schritte in den anderen Raum hinein und lässt sich auf einen der Küchenstühle fallen. »Warum so förmlich, Frau Professor?«, ruft er Wera über die Schulter hinterher. Sie fährt herum. Markus Leonhardt sitzt genau vor dem Leintuch, unter dem das Elfenbeintäfelchen verborgen ist. Der Schock lähmt Weras Gedanken. Sie möchte die Tafel an sich reißen, sie um jeden Preis den Blicken und womöglich den Händen Markus Leonhardts entziehen. Aber sie weiß genau, dass dies nur seine Neugier wecken würde. Mit Mühe unterdrückt sie den Reflex und tut das Naheliegende, nimmt eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank, ein Glas aus dem Regal und gießt es voll. Als sie das Glas auf den Tisch stellen will, rutscht es ihr aus der Hand, sodass sein Inhalt über die Tischplatte rinnt. Bevor Wera reagieren kann, nimmt Leonhardt das Geschirrtuch in die rechte Hand und wischt die Lache auf. Mit der Linken schiebt er wie zufällig das Täfelchen samt der
darunter liegenden Serviette zur Seite. Wera sieht, wie seine Finger das Elfenbein berühren. Der Anblick bereitet ihr fast körperliche Schmerzen. Markus Leonhardt hat stark behaarte Hände, der Haarwuchs erstreckt sich bis über die Fingergelenke, die Nägel sind kurz und eckig beschnitten, auf Wera wirken diese Hände gewaltbereit. Jetzt ist es sinnlos, die verräterische Tafel wegzuräumen, denkt sie, während sie das Glas von neuem füllt. Markus Leonhardt greift mit der Rechten nach dem Wasserglas, ohne die Linke von dem Elfenbein zu lösen. Wie unabsichtlich trommeln seine Finger auf das Plättchen. »Um auf unser Gespräch zurückzukommen: Ich kann es durchaus verstehen, wenn sich bestimmte Regungen der Befriedigung in Ihre Reaktionen auf den unseligen Vorfall im Kloster mischen. Keine Frau lässt sich gern betrügen.« Wera setzt sich auf den zweiten Küchenstuhl und steckt sich eine Zigarette an. Während sie den Rauch mit geschlossenen Augen inhaliert, sagt sie leise: »Darum geht es nicht. Aber bei dem unseligen Vorfall im Kloster, wie Sie sich auszudrücken belieben, ist ein Mensch gestorben.« »Ja, verdammt noch mal. Und wenn ich es könnte, würde ich wer weiß was tun, um ihn wieder lebendig zu machen. Aber das Einzige, was mir zu tun bleibt, ist zu verhindern, dass meine Frau für etwas bestraft wird, was sie nicht verbrochen hat.« Mit Mühe bringt Markus Leonhardt den Satz zu Ende, bevor ein Hustenkrampf ihn überfällt. Seine Hand lässt die Elfenbeintafel fahren und umklammert den glattrasierten Männerhals. »Bekommt Ihnen der Rauch nicht?«, erkundigt sich Wera lächelnd. Markus Leonhardt ringt nach Luft. »Machen Sie sich keine Sorgen, es geht schon«, presst er hervor, während er mit der freien Hand in der Tasche seines Jacketts wühlt. Nach wenigen
Sekunden zieht Leonhardt einen Pumpspender hervor und inhaliert mehrmals den feinen Nebel. Anschließend lehnt Weras Gast sich scheinbar entspannt zurück. Er hat sich wieder unter Kontrolle, auch wenn sein Atem immer noch flach und unregelmäßig geht. Wera könnte triumphieren, wäre da nicht diese Erinnerung, die in ihr aufsteigt und alle Sinne besetzt. Die Erinnerung an jene Nacht, in der Felix starb. Die Erinnerung an das Keuchen und die alarmierende Blässe, die sich auf dem Gesicht ihres Mannes ausbreitete und nach und nach alle Farben des Lebens schluckte. Die Erinnerung an die beklemmende Eindeutigkeit dieser letzten Stunde, in der Felix ihr jedes Wort verweigerte, nimmt Wera den Atem. Hätte Felix nur ein einziges Wort gesagt, hätte sie sofort den Arzt gerufen. Aber so wagte Wera sich nicht aus dem Bett – aus lauter Angst, dieses eine Wort, diesen einen Satz, auf den sie so sehnlich wartete, zu verpassen. Wera kann das Keuchen Markus Leonhardts nicht eine Sekunde länger ertragen. Sie drückt ihre Zigarette aus und öffnet das Fenster. »Besser?« »Ja. Danke.« »Also? Was kann ich für Sie tun?« »Im Grunde genommen wenig und doch sehr viel. Sie müssten zugeben, dass Sie in jener Nacht auf dem Karst waren – ich betone: auf dem Karst, nicht im Kloster. Ich sorge dafür, dass Sie ein lupenreines Alibi für diese Zeit bekommen, nur zur Sicherheit. Und dann denken wir uns eine schöne Geschichte mit einem flüchtigen Mörder oder besser einer Mörderin aus, die oder den Sie selbstverständlich gesehen haben. Meinetwegen kann das gern die umherirrende Person sein, die ich irrtümlich für Sie gehalten habe, Frau Professor.« »Zu kompliziert. Ich schlage vor, Sie revidieren einfach Ihre Aussage und erklären, dass es sich nicht um mich, sondern um
einen mysteriösen Unbekannten oder eine mysteriöse Unbekannte gehandelt habe. Was hatten Sie überhaupt dort zu suchen? Mitten in der Nacht.« »Woher wissen Sie, dass es Nacht war?« »Sie haben es heute Vormittag selbst gesagt.« »Ich habe vom Abend gesprochen. Und Sie übrigens auch. Es kann also noch hell gewesen sein, gerade im Sommer – oder dunkel. Das ist eine reine Definitionssache. Aber was soll’s, Sie haben Recht. Es war eindeutig Nacht und bereits stockdunkel, als mir diese Person vors Auto wankte, die Sie ja nicht gewesen sein wollen.« Wera schweigt, auch wenn es sie Mühe kostet. Markus Leonhardt steht die Enttäuschung über das Misslingen seiner Finte im Gesicht geschrieben. Eins zu null für mich, denkt Wera. Ich bin dir nicht vors Auto gewankt, sondern habe starr vor Schreck am Straßenrand gestanden. Aber wenn du glaubst, ich verrate mich jetzt, indem ich dir leichtfertig widerspreche, hast du dich getäuscht. Nach einer Pause, die zu lang ist, um zufällig entstanden zu sein, redet Leonhardt weiter. »Meine Frau hat mich angerufen, als alles schon brannte. Sie hat nicht viel gesagt, vielleicht war sie dazu nicht in der Lage oder die Verbindung ist unterbrochen worden. Ich weiß es nicht. Im Grunde genommen habe ich nur erfahren, dass sie in diesem verdammten Kloster in Gefahr geraten ist. Ich konnte mir nicht erklären, wie und warum das geschehen sein mochte. Natürlich bin ich trotzdem sofort losgefahren, aber Sie wissen ja, wie weit es bis Duino ist. Als ich endlich ankam, war Irma längst nicht mehr dort. Alles, was ich vorfand, waren Rauchschwaden über dem Kloster, ein einzelner Polizeiwagen und jede Menge Journalisten. Die Polizisten konnten mir nicht sagen, wohin man Irma gebracht hatte. Vielleicht wollten sie es auch nicht.
Vom Autotelefon aus habe ich es über meinen Anwalt herausfinden lassen.« »Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie ausgerechnet an meiner Aussage interessiert sind.« »Ganz einfach: Sie wissen mehr über das Opfer als ich. Das erleichtert es, einen Verdächtigen oder eine Verdächtige zu finden. Und dann brauchen wir nur noch zu bezeugen, ihn oder sie beide gesehen zu haben. Das müsste ausreichen, um Irma zu entlasten und zu verhindern, dass sie aufgrund von Indizien verurteilt wird.« Wera nickt und fragt leise: »Warum sollte ich Ihnen helfen? Warum sollte ich das tun?« Markus Leonhardt greift noch einmal nach der Elfenbeintafel. Wie zufällig sieht es aus und ist doch sehr kalkuliert. »Das ist wirklich ein außerordentlich schönes Stück, das Sie da haben, Frau Professor. Auch wenn ich es an Ihrer Stelle nicht ganz so achtlos auf dem Küchentisch herumliegen lassen würde. Immerhin führt es mich direkt zu meiner Antwort. Der Herr Sturz – ebenfalls ein Student von Ihnen, nicht wahr? – hat nämlich nicht nur mit Ihnen seine Geheimnisse geteilt. Er hat es auch bei meiner Frau versucht. Ohne den gewünschten Erfolg. Aber das ist schon eine Weile her, und glücklicherweise ist der Herr Sturz inzwischen verschwunden. Aber es wäre doch zu schade, wenn dieses Täfelchen Ihre Karriere ruinieren würde.« Wera schweigt. Das ist es also, was Markus Leonhardt tatsächlich gegen sie in der Hand hat. Nicht nur sprichwörtlich, sondern in diesem Moment ganz real. Wäre es nicht so bedrohlich, wäre es zum Lachen, denkt Wera. Im Plauderton erkundigt sie sich: »Weiß Ihre Frau, dass Sie hier sind?« Markus Leonhardt zögert einige Sekunden. Er wählt seine Worte sorgfältig. »Nein, ich habe mich spontan entschlossen,
Sie aufzusuchen. Meine Frau hat genug eigene Probleme, ich wollte sie nicht unbedingt in unser kleines Geschäft einweihen.« Wieder macht er eine Pause, bevor er mit verbindlicher Stimme weiterspricht. »Wissen Sie, ich begreife einfach nicht, wie Irma auf die Idee kommen konnte, dieses Öl ins Erdreich zu schütten. Ich will ganz offen zu Ihnen sein. Natürlich wollte unsere Gesellschaft das Kloster kaufen, und natürlich hätten wir vor den Preisverhandlungen Bodenproben entnommen, schließlich wollten wir sichergehen, dass keine Verseuchung vorliegt. Und selbstverständlich hat Irma gewusst, dass wir im Fall eines positiven Ergebnisses dieser Proben, also im Fall einer Verunreinigung, mit sehr viel mehr Druck in die Preis Verhandlungen hätten einsteigen können.« »Das erklärt einiges. Vielleicht wollte Ihre Frau Ihnen helfen.« Leonhardt zuckt die Schultern. »Vermutlich. Aber seien wir ehrlich: So etwas tut kein normaler Mensch. Ich weiß nicht, wie es passieren konnte, aber irgendetwas muss Irmas Verstand vollkommen vernebelt haben. Vielleicht ein Schockerlebnis – was weiß ich.« »Haben Sie eine Ahnung, woher das Öl stammte?« »Irma hatte mehrere Kanister ordinäres Motorenöl im Kofferraum. Vermutlich unterwegs auf einer Tankstelle gekauft. Bei jeder gründlicheren Bodenanalyse wäre der Betrug ohnehin aufgeflogen.« »Haben Sie mit Ihrer Frau über deren Motive gesprochen?« »Wie denn? Es sitzt immer jemand dabei. Das schüchtert sie ein. Außerdem schweigt sie nicht nur mir, sondern auch den beiden Anwälten gegenüber. Aber die könnten Irma ja zur Abwechslung mal nach dieser kleinen Schnitzarbeit fragen. Vielleicht bekämen sie dann eine Antwort.« Weras ungebetener Gast bedenkt die Elfenbeintafel mit einem letzten Blick, trinkt sein Glas aus und erhebt sich abrupt. »Ich habe
mich zu bedanken, Frau Professor. Für das Wasser und für Ihre Geduld. Wann darf ich mit Ihrem Vorschlag zur Lösung unseres gemeinsamen Problems rechnen?« Wera denkt, dass auf der frisch geputzten Elfenbeintafel jetzt ausschließlich die Fingerabdrücke Markus Leonhardts zu finden sein dürften. »Morgen Abend«, schlägt sie vor. Ihre Stimme klingt munter. Falls Markus Leonhardt überrascht sein sollte, lässt er sich nichts anmerken. »Warum nicht. Allerdings geht es bei mir erst nach zehn. Macht Ihnen das etwas aus?« »Nein.« »Wir sollten uns vielleicht im Freien treffen, dann können Sie rauchen.« »Wie wär’s mit einer Ihrer Baustellen? Oder sind die nachts bewacht?« »Nicht alle. Kompliment, Frau Professor, das ist eine glänzende Idee. Ich schreibe Ihnen eine Adresse auf, dort warte ich auf Sie.« Markus Leonhardt zieht eine Visitenkarte und einen Stift aus seiner Jacketttasche, beugt sich über Weras Küchentisch, wirft ein paar Worte auf die Rückseite der Karte und schnippt sie über den Tisch, sodass sie direkt vor dem Aschenbecher liegen bleibt. Anschließend hebt er kurz die Hand zum Gruß und verlässt die Wohnung, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Einen Moment lang steht Wera wie versteinert. Dann beugt sie sich über die Visitenkarte. Schustergasse 7, XVI. Bezirk. Das kann, das muss, das wird sie sich einprägen. Schon klickt das Feuerzeug, schon schwebt Weras Hand über dem Stück Karton, in wenigen Sekunden wird die Karte über dem Aschenbecher in Rauch aufgehen. Aber Wera überlegt es sich anders. Plötzlich weiß sie genau, was sie tun wird. Und wenn sie keinen Fehler macht und die Nerven behält, wird alles gut werden. Wera legt das Feuerzeug
zur Seite und nimmt aus einer Küchenschublade einen Bratenspieß und aus dem Schrank einen Gefrierbeutel. Ohne die Visitenkarte zu berühren, schiebt Wera sie in den geöffneten Beutel. Anschließend hebt sie das Elfenbeintäfelchen vorsichtig mit der Serviette vom Tisch auf und schlägt es in den Zellstoff ein, wobei sie hofft, die Fingerabdrücke Markus Leonhardts nicht zu verwischen und genau darauf achtet, ihnen keine eigenen hinzuzufügen. Nur wohin jetzt mit den Beweisstücken? Keinesfalls dürfen sie Rudolf in die Hände fallen. Wera geht ins Gäste-WC, dort hängt ein Medikamentenschränkchen an der Wand, das außer Tampons und ein paar leeren Badesalzflakons nichts Nennenswertes enthält. Wera schiebt das Zellstoffpaket hinter die Flakons. Es sieht durch das farbige Glas betrachtet aus wie ein Päckchen Verbandsmull. Als Wera die Metalltür des Schränkchens zuschlägt, hat sie nur einen Gedanken im Kopf: Morgen Abend wird alles vorbei sein.
MORGEN ABEND WIRD ALLES VORBEI SEIN. Der Satz steht wie ein Fanal in Weras Hirn, macht sich breit, ist Mahnung und Bollwerk zu gleichen Teilen. Der Satz könnte eine Waffe werden, hofft sie jetzt, eine Waffe gegen die Erinnerungen, die in den letzten Tagen immer kraftvoller werden. Als würden sie sich nähren von den Gesprächen, der Angst und den Drohungen. Eine Waffe gegen Erinnerungen, die sich kaum noch zurückdrängen lassen, seit nun auch Markus Leonhardt den Namen genannt und die Bilder geweckt hat. Die Bilder dieser einen Nacht in der Klosterkirche – schwebend zwischen Traum und Wirklichkeit.
Da war zunächst die hohe Tür, schwer, aus altem, knarzigem Holz, ungelenk verziert mit wütenden Schnitzereien, schief in den Angeln hängend an längst eingerosteten Scharnieren. Was half es, dass Xaver und Wera den Schlüssel mit sich führten, ihn zum Gebrauch hervorzogen und in beinahe wild zu nennender Entschiedenheit im Inneren des Hohlraums versenkten. Was half das alles, wenn der Schlüssel sich partout nicht drehen ließ in diesem hohlwangigen Schloss. Und als er sich endlich bewegte und die beiden Ausgesperrten schon aufatmen wollten, schien diese so sehnlich erwartete Drehung nichts zu nutzen, im Gegenteil, im Inneren der Mechanik brach etwas mit einem unangenehmen Knacklaut entzwei, der Schlüssel lief plötzlich frei, er ließ sich immer weiter drehen, eine endlose Höllenfahrt, kreisförmig an stets den gleichen nutzlos gewordenen Teilen eines zur Unzeit zerborstenen Schlosses entlang, ohne dass sich die Tür im Geringsten bewegte. Als Minuten später die Tür vollkommen überraschend doch noch nachgab und plötzlich in ihrer ganzen Tiefe aufschwang, fielen die beiden Körper, fielen die Professorin Wera Pratzinger und ihr Student Xaver Sturz fast zu Boden, stürzten gewissermaßen ins Nichts oder ins Paradies, was für Sekundenbruchteile nicht zu unterscheiden war. Gleichzeitig schoss das Licht einer schon niedrigen Abendsonne zielgenau über die steinernen Bodenplatten bis nach vorn zur Vierung, wo von drei krummen Stufen getragen sich der Altar erhob. So gnadenlos ausgeleuchtet erwiesen sich die grob kolorierten Tafeln des Antependiums sofort als Tand und Plunder. Es brauchte den kurzen Blick zwischen Wera und Xaver nicht wirklich, um klarzustellen, dass das eigentliche Sakrileg nur darin bestehen könnte, den Schatz aus Elfenbein tatsächlich diesem heruntergekommenen Innenraum anzuvertrauen, die kostbare Tafel diesem an den Gestaden der
Zeitläufte gestrandeten Kirchenschiff auszuliefern. Zwar fand sich nach kurzem Suchen an der Rückwand des Altars eine geheime Lade, staubig und fast leer, mit einem mumifizierten Mäuseköttel in einer hinteren Ecke als einzigem Inhalt. Eine Lade, die durchaus ein passables Versteck für das Elfenbeintäfelchen abgegeben hätte, doch konnten sich weder Wera noch Xaver dazu durchringen, das Kleinod in der Lade zu versenken. Stattdessen holten sie Wein und Brot, Käse und Oliven aus dem in der Nähe geparkten Auto und schlugen, eine Decke ausbreitend, ihr Lager vor einer bogenförmigen Seitennische der Kirche auf. Kauend und trinkend saßen sie zu Füßen einer hölzernen Madonna, die kaum halblebensgroß die Nische ausfüllte und mit ihren wurmzerfressenen Augenhöhlen auf das ungleiche Paar herabschaute, den Blick im Staunen erstarrt. Als nach vollendeter Mahlzeit die beiden Körper sich annäherten wie zur Vorbereitung eines rituellen Nachtisches, als also wenig später der Mann und die Frau endlich nackt waren, fiel der Kirchenraum sehr plötzlich in völlige Dunkelheit. Verspätet hatte sich eine säumige Sonne, vielleicht allzu lange abgelenkt durch die unerhörte Begebenheit, die sich ihren Blicken darbot, auf ihre in der Schöpfung vorgesehene Rolle besonnen und den Sprung hinter den Horizont getan, dabei den Wasserspiegel durchbrochen, einmal, zweimal, dreimal diesen glockenhellen Ton erzeugt, springendes Glas, diesen Ton, der nicht zu der Dunkelheit passen wollte, und darum die beiden zu Füßen der Marienstatue liegenden Gestalten gehörig irritierte, der aber immer wieder erklang, ausblieb, erklang, ausblieb… So lange, bis Wera, plötzlich allein gelassen, endlich begreift, dass es sich um ihre eigene Türglocke handelt, die sie aus dieser Erinnerung reißt, dass jemand vor ihrer Tür steht und Einlass
begehrt, obwohl doch der andere, den ihr Tagtraum so wach zu halten in der Lage gewesen war, sich noch gar nicht bedankt hatte für den Einlass, den sie ihm gerade zum wiederholten Mal gewährt hatte.
Rudolf Rumberg nimmt Weras Verwirrung deutlich wahr und lässt sich bei seiner Frage nach den Gründen nicht abspeisen. Nachdrücklich besteht er auf einer Fortsetzung ihrer Unterhaltung vom gestrigen Abend. Wera setzt sich an den Küchentisch, die Zigaretten, eine frisch geöffnete Weinflasche und ein gefülltes Glas in Reichweite. Stockend beginnt sie zu erzählen. Während sie spricht, lässt Rudolf sie nicht aus den Augen, selbst beim Trinken beobachtet er Wera, als ahne er etwas von ihren waghalsigen Konstruktionen der Vergangenheit und erwarte, dass sich ein Fehler in der Statik ihrer Wortgefüge zuallererst in ihrer Miene offenbaren würde. Wera spürt die Anspannung Rudolfs und beschränkt sich auf wenige stichhaltige Details. Während der Fahrt zum Kloster habe sie ein merkwürdig ungutes Gefühl nie loswerden können, auch nach der Türöffnung, die im Übrigen ganz unproblematisch vor sich gegangen sei, habe sie sich nicht frei in dem Kirchenraum bewegen können, weil sie stets den beobachtenden, um nicht zu sagen lauernden Blick des Studenten Xaver Sturz im Rücken gespürt habe. Das Kircheninnere sei wie erwartet verwahrlost und schmutzig gewesen, übersät von frischen und älteren Mäuseoder Rattenkötteln, sie kenne sich auf diesem Gebiet nicht aus und wolle gern auf jede Nachhilfe verzichten. Ein erstes Lächeln Rudolfs hellt die Stimmung auf, und Wera fährt sichtlich dankbar für dieses Zeichen des Wohlwollens in weit weniger angespannter Tonlage fort. Die Motivtäfelchen an der
Altarvorderseite seien kaum mehr gewesen als tumbe Schnitzereien eines minder begabten und sicher zu Recht vergessenen Meisters, der diesen Ehrennamen im Übrigen gar nicht verdiene. Dazu passe, dass selbst ausgiebiges Suchen nach einem Herkunftsvermerk oder einer Signatur kein Resultat gezeitigt habe, was allerdings nicht verwunderlich sei, wenn man die vermutliche Entstehungszeit der Arbeit bedenke, die sie auf das frühe 20. Jahrhundert schätze, bestenfalls. Auf ihre Anweisung hin habe Xaver Sturz eine Reihe von Fotografien gemacht, die sich nach der Entwicklung als ganz passabel erwiesen und ihr bei der Abfassung des Gutachtens nützliche Dienste geleistet hätten. Der Student sei während dieser Tätigkeit wortkarg gewesen und habe auch nach abgeschlossener Arbeit mürrisch gewirkt. Wiederholte Versuche Weras, ihn zu einer Schilderung seiner Gefühle zu bewegen, seien komplett fehlgeschlagen. Selbst auf ihre Entdeckung einer verborgenen Lade an der Rückseite des Altars habe er zurückhaltend, beinahe desinteressiert reagiert. Erst als Wera vorgeschlagen habe, die Elfenbeintafel in dieser Lade zu platzieren, bevor man die Kirche wieder verlasse, habe sich der Gesichtsausdruck des Studenten plötzlich verändert. »Lass mich raten. Er wurde wütend?« »Wütend ist gar kein Ausdruck. Er sah aus, als sei der Teufel bei lebendigem Leibe in ihn gefahren. Er schrie mich an, was mir denn einfalle, und ob ich wirklich geglaubt habe, er würde sich auf so einen Kuhhandel einlassen. Ich versuchte, ihn zu beruhigen, was mir auch halbwegs gelang, jedenfalls dachte ich das zunächst. Wir untersuchten noch einmal gemeinsam die holzgeschnitzten Tafeln, vor allem diejenige, die als Ersatz für die Elfenbeintafel auf der Altarvorderseite prangte. Sie unterschied sich in nichts von den anderen, was Xaver zu dem Schluss kommen ließ, sein Onkel habe sich bei der
Herkunftsschilderung nicht ganz an die Wahrheit gehalten, und die Elfenbeintafel stamme womöglich aus einem völlig anderen Zusammenhang.« »Aber was du über diese verborgene Lade erzählt hast, legt eine recht simple Erklärung nahe.« »So ist es. Die Lade war offensichtlich als Reliquienschrein vorgesehen, und die Tafel der kostbarste Besitz dieses Klosters, in unsicheren Zeiten gestohlen von einem amoralischen Onkel.« »Wie ich dich kenne, hast du das deinem Studenten auch mit unzweideutigen Worten zu verstehen gegeben.« »Natürlich. Ich hatte genug von seinem Theater. Ich wollte endlich diese Tafel loswerden und das Klostergelände verlassen. Es war schon Abend, die Sonne stand tief, und ich schlug vor, das letzte Tageslicht zu nutzen, um einige Fotos von der Elfenbeintafel zu machen. Als Erinnerung für Xaver. Daraufhin riss er mir die Tafel aus der Hand und lief aus der Kirche. Ich hinterher. Ich dachte, er würde draußen stehen bleiben, aber er lief geradewegs den Hügel hinter der Kirche hinauf. Du kennst diesen Hügel bestimmt, er ist dicht bewachsen mit dornigen Büschen und allen möglichen Kräutern. Ich hastete hinterher. Es war lächerlich, das kannst du mir glauben. Als Xaver endlich stehen blieb, waren wir ein gutes Stück vom Kloster entfernt. Xaver schien sich beruhigt zu haben, er entschuldigte sich bei mir und schlug vor, zurückzugehen und alles so herzurichten, wie ich es angeregt hatte.« Wera unterbricht sich und nimmt einen großen Schluck von dem Wein, steckt sich eine Zigarette an und inhaliert den ersten Zug so tief, dass Rudolf schon denkt, sie wolle gar nicht mehr aufhören mit dem Einatmen. Nach einer kurzen Pause stößt sie in einem entschiedenen Schwall den Rauch wieder
aus, sodass die weiß-grauen Fäden ihr Gesicht für wenige Sekunden verbergen. Leise redet sie weiter. »Das Problem war nur, dass wir nicht mehr allein auf dem Klostergelände waren.« »Warum das denn? Wer war noch dort?« »Rate. Es ist nicht so schwer.« Rumberg zögert, bevor er den Namen ausspricht. »Markus Leonhardt?« »Ganz recht. Es trat jemand aus der Kirche, als wir uns umdrehten, um den Hang wieder hinunterzusteigen. Heute weiß ich, dass das Markus Leonhardt war, damals wusste ich es nicht. Es hätte auch jemand vom Orden sein können.« »In jedem Fall kam dieser Jemand ungelegen.« »Allerdings. Xaver und ich entdeckten den Mann gleichzeitig. Wir blieben stehen wie erstarrt. Jetzt gab es einen Zeugen für unsere Unternehmung. Und was erheblich schlimmer war: Ich erinnerte mich nicht daran, ob wir die Lade offen gelassen hatten oder nicht.« »Was hätte das für einen Unterschied gemacht?« »Wir hätten die Tafel nicht mehr dort verstecken und das Ganze für einen sensationellen Fund ausgeben können, wenn grad vorher jemand die leere Lade gesehen hätte. Und uns beide dort oben am Hügel möglicherweise auch.« »Stimmt. Die Sache wäre sofort aufgeflogen. Also? Was habt ihr getan?« »Zunächst gewartet. Markus Leonhardt hielt sich nicht lange in der Kirche auf. Er schien sich mehr für die Nutzgebäude zu interessieren. Als er am anderen Ende des Grundstücks zwischen den Zellenresten herumschnüffelte, sind Xaver und ich wieder in die Kirche geschlichen. Die Lade stand tatsächlich offen. Unser schöner Plan war geplatzt.« »Und dein Student erleichtert.«
»Richtig unglücklich sah er jedenfalls nicht aus. Aber wir hatten wenig Zeit, uns mit unseren Befindlichkeiten zu beschäftigen, wie du dir denken kannst. Wir verriegelten die Tür und liefen zurück zum Wagen.« »Hat Markus Leonhardt euch gesehen?« »Ich denke nein, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Aber wir waren mit meinem Auto dort, und der Wagen auf dem Vorplatz wird ihm wohl kaum entgangen sein. Außerdem weiß ich nicht, ob Leonhardt uns beim Abfahren hinterhergeschaut hat, vielleicht ist er auf das Motorengeräusch aufmerksam geworden. Ich hab mich nicht umgesehen, ich hab nur den Gang eingelegt und bin losgefahren. Ich wollte da weg, und zwar so schnell wie möglich. Als wir den Vorplatz verlassen hatten und die Straße abschüssig wurde, habe ich zurück in den Leerlauf geschaltet und den Wagen den Berg hinunterrollen lassen, die ganzen Kurven entlang, immer im Leerlauf, um möglichst wenig Lärm zu machen. Zwischendrin musste ich sogar zwei- oder dreimal kräftig bremsen, die Straße ist ziemlich steil.« »Ich weiß.« Rudolf sitzt weit vorgebeugt, er fixiert Weras Gesicht mit größter Aufmerksamkeit. Keine ihrer Regungen soll ihm entgehen. Wera tut so, als bemerke sie Rudolfs Anspannung nicht, und leert in aller Ruhe ihr Glas, bevor sie weitererzählt. »Als wir unten an der Einmündung zur Küstenstraße angekommen waren, ich hatte schon den Gang eingelegt und den Blinker gesetzt, bat mich Xaver plötzlich, den Motor auszustellen. Verwundert tat ich, was er verlangte. Ich dachte, er habe etwas vergessen, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, was das gewesen sein sollte. Xaver jedenfalls stieg aus dem Wagen und wies auf eine schmale Stelle seitlich der Einfahrt, die offenbar häufiger als Haltebucht gedient hatte, denn die Büsche waren platt gefahren und verdorrt. Xaver
sagte, es täte ihm Leid, aber er müsse dringend noch einmal zurück, es würde nicht lange dauern, ich solle solange in dieser Haltebucht auf ihn warten.« »Und was wollte er da oben im Kloster?« Wera seufzt und zuckt mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, Rudolf, wirklich. Ich habe bis heute nicht den Schatten einer Ahnung.« »Hast du ihn nicht gefragt?« »Selbstverständlich habe ich. Aber Xaver hat nicht reagiert, sondern ist stracks den Berg wieder hinaufmarschiert. Ich bin ihm nicht nachgelaufen, ich war zu erschöpft, ich hatte das ewige Hin und Her satt. Und außerdem dachte ich, er käme bald wieder zurück.« »Aber er kam nicht zurück.« »Genau. Er kam nicht zurück. Und ich habe ihn danach nie wieder gesehen. Und außer mir wohl auch kein anderer Mensch.« »Und diese Geschichte trägst du mit dir herum, ohne sie der Polizei zu erzählen? Geht’s dir noch gut? Hast du an diesem Tag überhaupt noch nach dem Studenten gesucht? Oder bist du einfach so nach Hause gefahren?« »Nein, natürlich nicht. Erst hab ich gewartet, vielleicht eine Stunde oder zwei, ich weiß es nicht mehr. Ich war erschöpft, wie gesagt. Ich glaube, ich bin sogar kurz eingenickt, der Wagen stand im Schatten, beide Seitenfenster waren offen, und der Seewind wehte kühl ins Auto.« »Wera, bitte keine idyllische Landschaftsschilderung jetzt, das halte ich nicht aus.« »Und ich halte dieses andere nicht aus. Diese Erinnerung, die mich seitdem quält – was glaubst du denn?« »Also gut. Du hast gewartet. Und dann?« »Hab ich den Wagen stehen lassen und bin wieder hinaufgelaufen, dem Xaver Sturz hinterher. Aber oben war
niemand. Weder Xaver noch Markus Leonhardt. Ich habe überall gesucht, ich war im Kreuzgang und in den Wirtschaftsgebäuden, im Schlaftrakt und in den Waschräumen – oder dem, was davon übrig ist. Nur in der Kirche war ich nicht, ich hatte den Schlüssel unten im Wagen vergessen. Aber die Tür war abgeschlossen, genau so, wie wir sie zurückgelassen hatten, das habe ich überprüft.« »Wera, das alles ergibt keinen Sinn. Du musst irgendetwas übersehen haben. Hat denn das Auto vom Leonhardt noch vor dem Kloster gestanden?« »Welches Auto? Ach so, habe ich das nicht erzählt? Da war kein Auto, auch nicht, als der Xaver und ich weggefahren sind. Irgendjemand muss den Markus Leonhardt zum Kloster hinaufgefahren haben. Oder man hat ihn unten abgesetzt, so wie ich den Xaver später.« »Also beide Männer waren spurlos verschwunden, und einer von ihnen ist bis heute nicht mehr aufgetaucht.« »Ja. Und ich hätte es verhindern können.« »Wie denn, Wera? Ich finde, du hast dich ganz normal verhalten – bis zu diesem Zeitpunkt jedenfalls. Aber dieser Xaver Sturz ist mir ein Rätsel. Wie lange hast du nach ihm gesucht?« »Bis zum Anbruch der Dunkelheit. Dann konnte ich nicht mehr, ich war völlig fertig, psychisch und physisch, das kannst du mir glauben.« »Das tue ich auch. Du bist wieder hinabgestiegen und zurück nach Wien gefahren, nehme ich an.« »Genau. Und in den nächsten Tagen hab ich mir noch nicht einmal Sorgen gemacht. Nur wütend war ich. Und immer hab ich darauf gewartet, dass sich der Xaver bei mir meldet, schließlich hatte ich seine Elfenbeintafel. Aber er hat sich nicht gemeldet. Nicht bei mir und auch bei niemandem sonst.« »Und jetzt glaubst du, dass er tot ist?«
Wera nickt und fährt sich kurz mit dem Handrücken übers Gesicht. Dann steckt sie sich die nächste Zigarette an.
Am darauf folgenden Tag ist Wera unruhig wie lange nicht mehr. Immer wieder fährt sie mit dem Finger über den Stadtplan, Straße für Straße auf dem Weg zu dem von Markus Leonhardt vorgeschlagenen Treffpunkt. Wera weiß, sie müsste sich diesen Ort vor dem abendlichen Termin in Ruhe ansehen. Aber irgendetwas hält sie zurück. Als gegen ein Uhr am Mittag das Telefon klingelt, schreckt Wera zusammen. »Pratzinger.« Ihre Stimme zittert. »Rumberg. Buongiorno, cara mia. Ich hoffe, du hast nach deinen gestrigen Geständnissen keinen Kater.« »Psychisch nein, physisch ja. Aber als kleinen Tribut an die Pharmaindustrie habe ich schon ein Paket Aspirin besorgt. Und wenn ich heut Abend früh ins Bett geh und als Einschlafhilfe das Telefon aus der Buchse nehme, ist morgen alles wieder gut«, lügt Wera. »Als wir jünger waren, ging auch das Trinken leichter.« »Hast du mich angerufen, um mir mit dieser Weisheit den restlichen Tag zu verderben?« »Fahr deine Krallen ein, liebste Wera, es gibt einen triftigen Grund für meinen Anruf. Dein Interesse an Neuigkeiten im Leonhardt-Verfahren immer vorausgesetzt.« »Redest du von Irma oder Markus?« »Eigentlich Irma. Aber wenn du dich neuerdings für Immobilien-News interessieren solltest, könnte ich auch damit aufwarten.« »Du weißt genau, dass ich davon nichts halte. Also, mach es nicht so spannend: Was hat sich meine Assistentin Neues zu ihrer Verteidigung ausgedacht?« »Nichts.«
»Ist das nicht ein bisschen wenig?« »Kommt darauf an, wie man’s dreht. Die Irma Leonhardt sagt gar nichts mehr, denn sie ist neuerdings ein bisserl unzurechnungsfähig.« »Irma Leonhardt ist eine der intelligentesten Frauen, denen ich in den letzten Jahren begegnet bin. Wenn die unzurechnungsfähig ist, bin ich debil.« »Also, Wera, ich muss doch sehr bitten. Sieh es einmal so: Alles, was die Irma in ihrem bisherigen Leben getan hat, war klug und durchdacht. Jetzt hat man sie bei so einer mordsmäßigen Dusselei erwischt, dass man sich in der Tat fragen muss, was die Frau angetrieben hat. Die Beweislast der Indizien ist drückend, leugnen hilft also wenig. Da werden ihre Anwälte notgedrungen auf die Idee mit der Unzurechnungsfähigkeit gekommen sein. Fehlen noch das eine oder andere stichhaltige Gutachten, und der kleinen Irma bleibt möglicherweise die Strafanstalt erspart. Psychiatrische Kliniken gibt es wenigstens in feinster Aussichtslage. Für eine angemessene Unterbringung wird der gute Markus sicher sorgen – und nach einiger Zeit ist das Frauchen wieder psychisch normal und darf nach Hause. Ich weiß nicht, was du willst, ich jedenfalls halte das für eine geniale Verteidigungsstrategie.« »Vielleicht hast du Recht. Aber es bleibt die Frage, warum sie es getan hat, oder?« »Möglicherweise hatte Klein-Markus selbst die Finger im Spiel. Hast du darüber schon mal nachgedacht?« »Nicht wirklich«, antwortet Wera und denkt, wenn du wüsstest, dass mir seit gestern Nachmittag nichts anderes im Kopf herumgeht. »Dann lasse ich dich jetzt mit dieser Inspiration allein. Für heute Abend hast du dich ja unzweideutig aus dem
gesellschaftlichen Geschehen ausgeklinkt, aber vielleicht kann ich dich für morgen gewinnen.« »Was hast du denn anzubieten?« »Vor mir liegen zwei Theaterkarten für ein Gastspiel aus München und außerdem die Einladung zu einer Opernpremiere. Mit entsprechendem Prominentenaufkommen, nehme ich an.« »Wahrscheinlich laufen wir wieder dem Leonhardt über den Weg. Ich glaub, auf den reagier ich langsam allergisch. Was gibt’s denn im Theater?« »Beckett. Zwei Einakter, die ich allerdings nicht kenne.« »Beckett ist wunderbar. Die Chance ist groß, dass mindestens eines der Stücke in einer Mülltonne spielt. Das ist genau der Eindruck, den unsere verkorkste Gesellschaft auf mich macht. Lass uns hingehen.« »Okay, dann gebe ich die Premiereneinladung weiter.« »Du bist ein Schatz. Und was hast du heut am Abend vor?« »Ich muss zu einer Podiumsdiskussion. Mein Steckenpferd, Städteplanung. Abgescheppert versus zugeschleckt, um dich zu zitieren. Also falls du Markus Leonhardt doch noch treffen willst, solltest du mitkommen. Er sitzt nämlich auch auf dem Podium.« »Besten Dank. Und dir viel Spaß beim Streiten.« Nach dem Telefonat steckt sich Wera eine Zigarette an, in der Hoffnung, das Rauchen möge ihr beim Denken helfen. Länger als bis acht Uhr am Abend wird auf der Baustelle wohl kaum gearbeitet werden. Und wenn Markus Leonhardt mit Rudolf auf dem Podium sitzt, kann er nicht gleichzeitig in Bauherren-Manier den Ort besichtigen. Es müsste also mit dem Teufel zugehen, wenn sie nicht zwischen acht und zehn Uhr am Abend Zeit genug hätte, auf dieser Baustelle alles vorzubereiten.
Beflügelt von der Aussicht, dass schon in der nächsten Nacht der Druck der letzten Wochen von ihr genommen sein könnte, entfaltet Wera eine hektische Betriebsamkeit. Als sie kurz vor acht das Haus verlässt, trägt sie eine Cargohose, ein weites Sweatshirt und an den Füßen ein Paar Sneaker, die sie vor Monaten versehentlich eine Nummer zu groß gekauft hat. Damit ihre Füße trotzdem Halt in den Schuhen haben, hat sie zwei Paar Socken übereinander angezogen. In der rechten Hand hält Wera eine Plastiktüte. Die Fahrt nach Ottakring dauert zehn Minuten. Langsam rollt Wera mit dem Wagen durch die Schustergasse. Es ist eine schmale Straße, auf beiden Seiten zugeparkt mit Mittelklassewagen, lediglich der Abschnitt vor der Baustelle ist aufgrund eines Parkverbotes leer geblieben. Zwischen der Nummer 6 und der Nummer 8, glatten Fassaden einer inspirationslosen Bunkerarchitektur aus den späten Neunzigern, entsteht ein Neubau, der laut Bautafel viergeschossig geplant ist und zehn Wohnungen beherbergen wird. Bisher stehen zwei Geschosse, die Zwischendecke zum dritten scheint in Arbeit zu sein. Der Rohbau ist eingerüstet und der Bürgersteig verstellt von drei Bauwagen und einer Miettoilette. Das gesamte Areal wirkt ausgestorben. Wera parkt ihren Wagen sicherheitshalber einen Block vom verabredeten Treffpunkt entfernt und läuft zu Fuß zurück in die Schustergasse. Aufmerksam mustert sie das der Baustelle gegenüberliegende Mietshaus. Es stammt aus den Fünfzigern und weist eine Doppelreihe von Baikonen zur Straßenseite auf, die ideale Beobachtungsposten abgeben. Besorgt lässt Wera ihre Blicke an den Freisitzen hinaufgleiten. Doch scheint sich trotz des Sommerwetters niemand draußen aufzuhalten. Es ist mittlerweile Viertel nach acht, und dem blauen Fernsehlicht nach zu urteilen, das aus etlichen Fenstern dringt, wird die Attraktivität dieses Mediums in Ottakring deutlich höher
eingeschätzt, als es die Verlockungen eines jeden noch so verführerischen Sommerabends sein könnten. Notdürftig beruhigt, wendet sich Wera dem Rohbau gegenüber zu. Parallel zur Straßenfront verläuft ein Zaun entlang der Baustelle. Mannshohe Eisengitter, die in kantigen Betonfüßen stecken, versperren Unbefugten den Zutritt. Wera entnimmt einer der Plastiktüten ein paar Wollhandschuhe, streift sie über, stemmt, mit beiden Händen zugreifend, eines der Gitter aus dem Betonquader und stellt es zwanzig Zentimeter weiter hinten wieder ab. Sie schlüpft durch den Spalt und schließt sorgfältig den Zaun hinter sich. Niemand soll sehen, dass sie sich in diesem Gerippe aus großflächigen Betonplatten aufhält, die bausatzartig zu Wänden und Decken gestapelt sind. Fenster- und Türöffnungen sind freigelassen und wirken wie Löcher in einem abgenagten Schädel, der nur einen Mund, die Eingangstür, aber viele Augenhöhlen aufweist. Wera beeilt sich, durch die Mundöffnung ins Innere des Schädels zu gelangen, wo es feucht riecht, nach Sand und Wasser, wie an der See nach einem Sturm. Schnell durchquert Wera das untere Geschoss und tritt auf den Hof. Er ist zu großen Teilen betoniert, offenbar befindet sich eine Tiefgarage unter dem Gebäude. Wera blickt nach oben, wo Fertigbetonplatten wie starre Zungen aus der Fassade ragen, eine lächerliche Drohgebärde angesichts des fensterlosen Gegenübers, der Brandmauer eines vom Sanierungs- und Abrißwahn unbehelligt gebliebenen Altbaus. Abblätternder Putz von einer längst nicht mehr zu definierenden Farbe, changierend zwischen Schimmelgrün und Rattengrau, legt versetzt gemauerte Steine frei. Nirgendwo befindet sich ein Fenster. Befriedigt geht Wera wieder hinein.
Eine Betontreppe führt hinauf in die erste Etage und endet an einer Bodenplattform, von der aus man nicht weiter aufsteigen kann. Ein Blick nach oben lenkt Weras Augen durch ein Loch in der Decke in die zweite und durch eine weiteres, perspektivisch verkleinert wirkendes, bis hinauf in die dritte Etage. Um dorthin zu kommen, überlegt Wera, wird sie das Gerüst an der Außenhaut benutzen müssen. Durch zwei käfigartig kleine und bedrückend niedrige Zimmer gelangt sie an die Rückfront des Gebäudes und betritt einen der ins Nichts ragenden Balkone mit Aussicht auf die Brandmauer. Von hier aus sind es nur wenige Schritte auf die sägerauen Gerüstplanken. Allerdings sind Weras Fußspuren auf den staubüberzogenen Holzbrettern deutlicher sichtbar als auf den geschützter liegenden Betonböden der Innenräume. Aber es gibt Wichtigeres als die Sorge um Fußabdrücke, überlegt Wera, zumal die noch nicht einmal ihrer Schuhgröße entsprechen und möglicherweise zwischen den vielen anderen nicht weiter auffallen werden. Wichtiger ist zum Beispiel die Frage, wo die beiden in der Tüte befindlichen Gegenstände am günstigsten zu platzieren sind. Wera steigt über zwei versetzt angebrachte Leitern hinauf in die dritte und bisher letzte Etage des Hauses. Von oben wirkt der Bau luftig und dem Himmel sehr nah, wie ein hochgewölbter Brustkorb, dem aus nicht nachvollziehbaren Gründen die eine oder andere Rippe fehlt. Zu Weras größter Erleichterung ist auch in dieser Etage die Auskragung der Balkonplatte bereits vorhanden. Vorsichtig macht sie zwei Schritte auf den Abgrund zu, bleibt dann aber stehen, von einer überraschenden Angst geschüttelt. Wera erkennt diese Angst sofort, obwohl es ewig her ist, dass sie sie zum letzten Mal überfallen hat.
Als 13-Jährige hat Wera, den Zwängen eines pubertären Wettbewerbs gehorchend, die Leiter eines Fünf-MeterSprungbrettes erklommen, durchaus in der Absicht, sich todesmutig in die Tiefe zu stürzen. Während des Aufstiegs hegte sie die Hoffnung auf eine gnädige Aufnahme durch das Wasser des Tauchbeckens. Doch oben angekommen, brachte sie der Anblick der Tiefe unterhalb ihrer nackten Zehen an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Das Wasser schien unendlich weit entfernt und zudem abweisend glatt und hart wie Beton zu sein – und damit Weras Tod, sollte sie springen, eine unausweichlich beschlossene Sache. Da der Andrang der Mitschüler und Mitschülerinnen auf der Treppe nach oben nicht nachlassen wollte, war ein Zurück ausgeschlossen. Wera blieb für eine geschlagene Stunde an das Seitengeländer der Sprungplattform gedrückt, dem wachsenden Spott der Mutigeren ausgesetzt, die einer nach dem anderen unter Ausstoßen von Begeisterungs- oder Entsetzensschreien, das ließ sich nicht unterscheiden, den Sprung in die Tiefe wagten. Und überlebten. Erst nach Ablauf dieser einen beschämenden Stunde, die den Ruf Weras als Königin aller Feiglinge für den Rest ihrer Schullaufbahn begründen sollte, wurde ein Bademeister auf die Mädchenfigur im roten Anzug aufmerksam. Durch eine Sperrung am Fuß der Treppe veranlasste er deren Freigabe für eine von Hohnrufen begleitete Kletterpartie Weras zurück zur Erde in ein zukünftig scham- und schmacherfülltes Schulleben.
Die Erinnerung löst Panik aus. Schweiß klebt überall an Weras Körper. Sie reißt sich die Handschuhe von den Händen, ergreift die Plastiktüte, will fliehen. Doch die Körperflüssigkeit netzt auch die Griffe der Tüten, kalte Feuchtigkeit auf gummiertem Kunststoff. Körperflüssigkeit auf Gummi?
Auslaufende Kondome nach dem Geschlechtsakt. Die Assoziation amüsiert Wera. Und beruhigt sie. Und nicht nur das. Sie bringt Wera sehr schnell zu der Überzeugung, dass sie den idealen Platz für die Ausführung ihres Plans gefunden hat. Wera tritt, so nah es ihr möglich ist, an den Rand des Balkons, geht in die Knie und lässt den Inhalt der Plastiktüte dicht neben der Außenkante herausrutschen. Es ist der Schuh des toten Xaver Sturz, den Carl-Josef Maurer in seiner Todesstunde aus der Grube im Klosterhof gezogen hat und der längst von allen Fingerabdrücken Weras befreit ist. Neben dem Schuh platziert Wera die Elfenbeinplatte, wobei sie darauf achtet, keines der beiden Objekte mit den Fingern zu berühren. Ihr Blick kann sich kaum von der Schnitzerei lösen, und die Verlockung, ein letztes Mal mit der bloßen Hand über das Elfenbein zu streichen, ist fast übermächtig. Wera wendet sich ab und zieht von neuem die Handschuhe an. Als sie den Balkon verlässt, Leitern und Treppe hinuntersteigt, zeigt ihr ein Blick auf die Uhr, dass noch eine gute Stunde Zeit bleibt, bis mit dem Erscheinen Markus Leonhardts zu rechnen sein wird. Sie überlegt, ob sie das Risiko eingehen soll, die Baustelle zu verlassen, oder ob sie ihr weiteres Vorhaben auf später verschieben soll. Weil sich Wera aber vor der Untätigkeit des Wartens fürchtet und ihren angespannten Nerven die zusätzliche Belastungsprobe ersparen will, entscheidet sie sich für die Unternehmung. Der Weg zur Kriminalpolizeidirektion ist in 15 Minuten mit dem Wagen zu schaffen, das weiß sie. Wieder vermeidet es Wera, vor dem Gebäude zu parken, und läuft einen ganzen Block zu Fuß. Schon im Gehen zieht sie einen kleinen Gegenstand aus einer ihrer Hosentaschen. Es ist der Gefrierbeutel mit der Visitenkarte Markus Leonhardts, auf deren Rückseite er die Adresse der Baustelle notiert hat. Weil Wera die Handschuhe längst wieder ausgezogen hat, schüttelt
sie die Karte direkt aus dem Plastikbeutel in den Briefkasten des Kriminalkommissariats. Auf halbem Weg zur Baustelle entsorgt sie die leere Tüte und den Gefrierbeutel in einem städtischen Mülleimer. Als Wera zum zweiten Mal an diesem Abend die obere Etage des Rohbaus erreicht, ist es fünf Minuten vor zehn. Langsam legt sich das Grau einer wolkigen Sommernacht über die Stadt. Wera ist mit ihren Vorbereitungen zufrieden. Nur eines bleibt ihr noch zu tun. Aus der rechten Seitentasche ihrer Hose zieht sie die Packung mit den Zigaretten, wobei es ihr schwer fällt, den Wunsch nach einem tiefen Nikotinzug zu unterdrücken. Aber zum Rauchen ist jetzt keine Zeit. Noch nicht. Wera beschränkt sich darauf, den Inhalt der Packung lose zurück in die Tasche gleiten zu lassen. Wenn sie später nach einer Zigarette greifen wird, könnte es auf jede Sekunde ankommen, da will sie nicht vorher die Schachtel aufklappen müssen. Als Wera das Vorhandensein ihres Feuerzeugs in der linken Seitentasche durch ein kurzes Klopfen gegen den Stoff überprüft, hört sie auf der Straße ein Auto heranfahren. Schnell steckt sie die leere Zigarettenschachtel in die Gesäßtasche. Nur keine Spuren auf der Baustelle hinterlassen. Der Wagen unten bremst und parkt direkt vor dem Grundstück im Halteverbot. Mit so viel Unvorsichtigkeit von Seiten Markus Leonhardts hat Wera nicht gerechnet. Für Sekunden befällt sie die Angst, der Mann könne nicht allein zu ihrer Verabredung erschienen sein. Doch ein Blick über die Kante der Bodenplatte beruhigt Wera. Außer Markus Leonhardt steigt niemand aus dem Wagen. Er bleibt einen Moment unschlüssig stehen und sieht sich suchend um. Offensichtlich vermisst er ihr Auto und nimmt an, Wera habe sich verspätet. Wera tritt, so nah es ihr möglich ist, an den Abgrund und ruft leise hinunter: »Hallo. Ich bin schon oben.« Dabei fühlt sie
sich wie der Igel aus dem Märchen, der beim ungleichen Wettlauf den Hasen provoziert. Leonhardt reagiert nicht gleich, er muss die Richtung orten, aus der ihre Stimme gekommen ist. Dann schaut er hinauf, erkennt Wera, winkt kurz und betritt zügig die Baustelle. Während Markus Leonhardt in die erste Etage vordringt, beobachtet ihn Wera durch das Loch des Treppenhauses. Als er ebenso wie sie es getan hat, nach außen aufs Gerüst wechselt, ist er ihren Blicken entzogen – und sie den seinen. Zum Glück für Wera, die vergessen hat, ihre Handschuhe nach dem Besteigen der Leiter wieder auszuziehen. Hastig stopft sie sie zu der leeren Zigarettenschachtel in die Gesäßtasche und eilt aufs Gerüst. Von hier aus ist die Balkonplatte, auf der sie Schuh und Tafel abgelegt hat, nur zu erahnen. Und in wenigen Minuten, wenn die Dunkelheit weiter fortgeschritten sein wird, wird man die Gegenstände gar nicht mehr erkennen können. Als Markus Leonhardt auf der Leiter erscheint, empfängt ihn Wera mit den Worten: »Ich dachte, dass wir unseren Handel am besten fernab von der Öffentlichkeit beschließen. Was ich Ihnen anzubieten habe, ist ein bisschen heikel.« »Sie machen mich neugierig.« »Das will ich auch. Kommen Sie, ich möchte Ihnen etwas zeigen.« »Und?« Leonhardt hat die Leiter verlassen. Mit fragendem Gesichtsausdruck steht er neben Wera. Sie lacht kurz und deutet in die Dunkelheit, wo die Balkonplatte ins Nichts ragt. »Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber ich habe tatsächlich einen Entlastungszeugen für Ihre Frau aufgetrieben. Er wartet dort hinten auf dem Balkon.« »Warum das denn?« »Aus Angst, Sie könnten nicht allein sein.«
»Wen sollte ich denn bei mir haben? Wissen Sie, Frau Pratzinger, ich habe mich selten in meinem Leben so allein gelassen gefühlt wie in den letzten Wochen.« »Das hat mein Zeuge nicht gemeint.« Markus Leonhardt zuckt die Schultern. »Was soll schon sein? Ich will etwas von Ihnen, und Sie wollen etwas von mir. Begleiten Sie mich nach vorn?« »Natürlich.« Die Betonplatte ist nur wenige Meter entfernt, aber Wera erscheint jeder Schritt wie ein in hohem Maße fragwürdiges Unternehmen. Am Rand des Balkons bleibt Markus Leonhardt stehen. Verwundert dreht er sich um. »Ich sehe niemanden.« »Es ist zu dunkel. Vielleicht war Zeuge auch nicht ganz das richtige Wort. Kommen Sie mit, da vorn ist es.« Dicht nebeneinander betreten beide die Platte. Markus Leonhardt scheint es wichtig und keineswegs unangenehm zu sein, Wera so nah neben sich zu wissen, das kann sie deutlich wahrnehmen. Er fürchtet sich vor dem, was ihn erwartet. Doch auf den Gedanken, dass gerade von Wera eine Gefahr ausgehen könnte, kommt er nicht. »Sie erlauben?« Mit zwei schnellen Bewegungen zieht Wera eine Zigarette und das Feuerzeug aus den Taschen links und rechts der Cargohose. Schon klickt das Zündplättchen, und für Sekundenbruchteile steht die Flamme in der Dunkelheit. Wera saugt so viel Luft durch die Zigarette ein, wie sie in der Eile schaffen kann. Die Aufmerksamkeit Markus Leonhardts wird im gleichen Moment von den beiden Gegenständen an der Bodenkante abgelenkt. »Könnten Sie mir das Feuerzeug leihen, bitte?«, fragt er, ohne aufzusehen. »Ich kann nicht erkennen, was da liegt, und ich hatte keine Ahnung, dass ich eine Taschenlampe brauchen würde.«
Während er redet, macht Markus Leonhardt einen letzten Schritt zur Kante, bückt sich und streckt blind die Hand nach hinten aus, in der Annahme, Wera werde ihr Feuerzeug hineinlegen. Doch Wera schlägt den Arm Leonhardts mit Wucht nach oben und bläst ihm im selben Augenblick ihren Zigarettenatem ins Gesicht. Leonhardt strauchelt, hustet, dreht den Kopf, sieht direkt in Weras starren Blick, schnappt hastig nach Luft, atmet wieder nur Rauch ein, hustet noch einmal, weicht automatisch zurück, weil Wera jetzt in einer schnellen und erst in allerletzter Sekunde abgebremsten Bewegung auf ihn zu kommt. Panisch will Markus Leonhardt sein Gleichgewicht wiedergewinnen, gerät dabei völlig aus dem Tritt und kippt über die Kante. Wera zwingt sich, ruhig stehen zu bleiben. Das Aufschlagen des Körpers auf dem Beton klingt, als klatsche ein übereifriger Koch ein Fischfilet auf eine Granitplatte. Wera steht bewegungslos. Das Nikotin erzeugt eine angenehme Leere in ihrem Kopf. Wie in Trance zieht sie die Handschuhe aus der Gesäßtasche, streift sie über und verlässt das Gebäude. Markus Leonhardt hat bei seiner Ankunft darauf verzichtet, den Bauzaun hinter sich zu schließen, also schlüpft Wera durch den Spalt, ohne etwas zu verändern. Vor der Leonhardt’schen Limousine bleibt sie stehen. Die Verschlussknöpfe an den Türen ragen aus der Verkleidung, Leonhardt hat den Wagen nicht abgeschlossen. Ein Umstand, der sich nutzen ließe. Wera prüft mit einem kurzen Blick die Balkone gegenüber, alle sind leer. Immer noch flackert hinter den Fenstern das Fernsehlicht. Also betritt Wera noch einmal die Baustelle, steigt Treppe und Leitern hinauf bis zum Balkon. Vorsichtig geht sie an die Kante, wobei sie sich jeden Blick nach unten verbietet. Behutsam nimmt Wera mit den Händen in den
Wollhandschuhen die Elfenbeintafel vom Boden auf. Den Herrenschuh lässt sie liegen. Zurück auf der Straße, betrachtet Wera ein letztes Mal die Tafel, dann öffnet sie die Wagentür und schiebt die Tafel unter den Beifahrersitz. Sanft drückt sie die Tür ins Schloss. Das Blaulicht oben in den Wohnungen zuckt verlässlich. Als Wera zehn Minuten später den letzten Parkplatz in der Berggasse ergattert, hängt ihr die heruntergerauchte Zigarette immer noch im Mundwinkel. Wera steigt aus, schließt den Wagen ab und schnippt die Kippe in den Rinnstein.
Weras Schlaf in dieser Nacht ist tief und ungestört. Doch am nächsten Morgen kann sie eine gewisse Unruhe nicht abschütteln. Sie macht sich einen Kaffee und trinkt ihn im Bett. Dort bleibt sie liegen, sie fühlt sich gelähmt, fast starr. Ihre Kräfte reichen gerade für die Griffe nach den Zigaretten auf dem Nachttisch. Immer wieder. Rauchend wartet Wera auf die Nachricht vom Tod Markus Leonhardts. Alle halbe Stunde schaltet sie das Radio ein, aber es ist nichts zu erfahren. Erst um halb elf gibt es eine knappe Mitteilung. Man habe die Leiche Leonhardts auf einer seiner Baustellen gefunden, in der Sache werde ermittelt. Wera greift zum Telefon und wählt Rudolfs Nummer. Als er sich meldet, beginnt sie das Gespräch ohne Einleitung. »Dein Intimfeind ist tot. Aber das weißt du sicher schon.« »Natürlich. Die Frage ist nur, wer ihn umgebracht hat.« »Vielleicht war es Selbstmord.« »Vielleicht. Aber es gibt eine Nachrichtensperre, das spricht für gewöhnlich gegen jede Selbstmordthese.« »Rufst du mich an, wenn du mehr weißt?« »Versprochen, Wera. Aber jetzt muss ich arbeiten. Wie du dir denken kannst, steht die ganze Redaktion Kopf.«
Wera bleibt weiter im Bett. Am Nachmittag spielt sie mit dem Gedanken an ein Geständnis, weil sie die Ungewissheit kaum noch ertragen kann. Fast hätte sie vergessen, die Halbvier-Nachrichten einzuschalten. Als sie den Knopf betätigt, ist der Sprecher mitten im Satz: »…verdacht erhärtet habe. Die Kriminalpolizei prüft, ob darüber hinaus ein Fremdverschulden bestehen könne. Die italienische Polizei ist am Mittag um Amtshilfe gebeten worden, da der Fall vermutlich in Zusammenhang mit dem Klosterbrand auf dem Karst vor einigen Wochen stehe. Dabei war ein Todesopfer zu beklagen gewesen und die Gattin des Verstorbenen unter dringendem Tatverdacht festgenommen worden.« Wera verflucht ihre eigene Unaufmerksamkeit. Das Wichtigste hat sie verpasst. Sie zappt durch die Radiostationen auf der Suche nach einem Sonderbericht, stößt aber nur auf Schlager- und Ratesendungen. Rudolf ruft auch nicht an. Wera verlässt das Bett, fährt ihren Rechner hoch und konsultiert den Nachrichtenservice im Internet. Vergebens. Die Meldung vom gewaltsamen Tod einer Lokalgröße scheint nicht wichtig genug zu sein. Oder der Regionalsender hat sich mit seinen Thesen zu weit vorgewagt. Nach zehn Minuten gibt Wera die Suche auf. Sie steckt sich die zwanzigste Zigarette dieses Tages an, zerknüllt die leere Schachtel und wirft sie wütend in eine Zimmerecke. Dann geht sie zurück zum Bett, lässt sich auf das zerwühlte Laken fallen, greift nach dem Wecker auf dem Nachttisch und stellt ihn auf ihren Bauch. Rauchend beobachtet sie das Vorrücken der Zeiger. Die Sekunden ziehen sich, die Minuten gleichen Ewigkeiten. Zwei Minuten vor der vollen Stunde stellt Wera das Radio wieder an. Der Nachrichtensprecher verliest dieselbe Meldung wie vor einer halben Stunde, aber diesmal entgeht Wera nicht ein einziges Wort.
»Ein eindeutiger Indizienfund im Todesfall Markus Leonhardt hat die Kriminalpolizei zu der Aussage veranlasst, dass sich der Selbstmordverdacht erhärtet habe. Die Kriminalpolizei prüft, ob darüber hinaus ein Fremdverschulden bestehen könne. Die italienische Polizei ist am Mittag um Amtshilfe gebeten worden, da der Fall vermutlich in Zusammenhang mit dem Klosterbrand auf dem Karst vor einigen Wochen stehe. Dabei war ein Todesopfer zu beklagen gewesen und die Gattin des Verstorbenen unter dringendem Tatverdacht festgenommen worden.« Mehr ist für den Rest des Tages nicht zu erfahren. Als es gegen sieben an Weras Wohnungstür klingelt, fährt sie zusammen. Das muss der Kommissar sein. Keinesfalls wird sie jetzt die Tür öffnen. Jedes Wort würde sie verraten. Doch es klingelt wieder. Und wieder. Wera sitzt auf ihren Bett und presst beide Hände gegen die Ohren. Soll die Polizei die Tür einschlagen! Plötzlich ändert sich der Klingelton. Nun ist es das Telefon und nicht die Wohnungstür. Wera liest die Nummer vom Display. Es ist Rudolfs Handy. Endlich hat das Warten ein Ende. Sie hebt ab. »Wera, warum machst du denn nicht auf? Ich steh vor deiner Tür und komme mir vor wie der letzte Idiot. Wir wollten heut Abend ins Theater, weißt du das nicht mehr?« »Rudolf, ich hab geschlafen, entschuldige. Und das Theater hab ich ganz vergessen. Irgendwie hat mich das alles mehr mitgenommen, als ich gedacht hätte. Ich komme gleich zur Tür, warte.« Kopfschüttelnd betritt Rudolf Rumberg Weras Wohnung. »Weißt du was, Cara mia, ich glaube, du wirst alt. Sonst warst du doch nicht so vergesslich.« »Das Semester ist extrem anstrengend. Außerdem brüte ich irgendetwas aus. Eine Sommergrippe vielleicht.«
»Ich glaube eher, dass diese Assistentinnen-Geschichte dir in den Knochen sitzt. Aber ich habe gute Neuigkeiten für dich. Es sieht so aus, als würden sich die Rätsel langsam auflösen.« »Erzähl.« »Nur wenn du dich dabei umziehst. Sonst sind wir zu spät.« Während Wera wahllos Body, Hose und Jackett aus dem Schrank zerrt und überstreift, fasst Rudolf den Stand der Ermittlungen mit knappen Worten zusammen. »Leonhardt ist augenscheinlich vom höchsten Punkt eines Rohbaus gesprungen. Direkt in den sicheren Tod. An der Stelle, von der er sich hinuntergestürzt hat, fand man einen Männerschuh, dessen Größe nicht mit Leonhardts eigener übereinstimmt. Außerdem trug der Tote seine beiden Schuhe an den Füßen. Darum dachte man zuerst an Mord, zumal bei der Kripo eine von Leonhardt eigenhändig beschriftete Visitenkarte mit der genauen Ortsbezeichnung der Baustelle eingegangen ist. Man nahm an, er habe sich mit dem ominösen Schuhträger getroffen und sei dabei vom Gerüst gestoßen worden. Aber es gab keine Spuren von Gewaltanwendung. Lediglich die Brüche und Blessuren, die beim Aufprall entstanden sind. Also unterzog man den Schuh einer genauen Untersuchung. Dabei erkannte man, dass es sich bei den reichlich vorhandenen Schlammspuren in den Seitennähten und im Profil um eine ganz andere Bodenzusammensetzung handelte, als auf der Baustelle vorhanden. Mehr Lehm, weniger Sand.« »Der Schuh war nie auf der Leonhardt-Baustelle getragen worden?« »Du sagst es.« »Aber wo sonst?« »Irgendein schlauer Ermittler kann auf den Gedanken, die Tatorte der Fälle Leonhardt, Markus und Leonhardt, Irma zu
vergleichen. Und richtig, der Besitzer des Schuhs muss in dem Kloster auf dem Karst unterwegs gewesen sein.« »Aber das spricht sehr für einen Mord, findest du nicht?« »Nicht unbedingt. Vielleicht gehörte der Schuh deinem vermissten Studenten. Dann wäre er ein wichtiges Indiz und der Besitzer des Schuhs der Mörder von diesem Sturz. Du hast mir selbst erzählt, dass Sturz im Kloster mit Leonhardt zurückgeblieben ist. Das passt ziemlich gut zusammen, findest du nicht?« Wera nickt. Zögernd sagt sie: »Es gibt etwas, was ich dir noch nicht erzählt habe.« »Na dann los, ich bin gespannt.« »Leonhardt war hier. Vorgestern.« »Was? Warum denn das?« »Er sagte, er wolle sich entschuldigen. Für das blöde Gespräch in der Universität.« »Das mit dem Kommissar?« »Genau. Ich war ziemlich verwirrt. Mir war klar, dass das ein Vorwand sein musste, aber ich hatte keine Ahnung, was er tatsächlich gewollt hat.« »Und hast du’s herausgefunden?« »Erst gestern. Da stellte ich fest, dass die Elfenbeintafel nicht mehr hier war. Er muss sie gestohlen haben.« »Aber woher wusste er von der Tafel?« »Vermutlich von Sturz. Ich hab jedenfalls außer dir niemandem von der Sache erzählt.« »Und wie konnte er sie so schnell finden? Du wirst ihn ja nicht in deiner Wohnung allein gelassen haben.« »Natürlich nicht. Sie lag auf meinem Nachttisch, wie immer.« »Und du hast ihn in dein Schlafzimmer gebeten?«
»Quatsch. Wir standen in der Diele. Aber ich war kurz in der Küche, er hatte mich nach einem Glas Wasser gefragt, und das habe ich ihm geholt.« »Und in den paar Sekunden, die so was dauert, soll Leonhardt die Tafel entdeckt haben? Das glaube ich nicht.« »Aber wenn sie doch weg ist, Rudolf. Ich versteh’s selbst nicht. Obwohl… weißt du was?« »Na?« »Der Xaver hat’s auch gewusst.« »Was hat der Xaver auch gewusst?« »Wo ich die Tafel aufbewahrt habe. Nämlich in meinem Nachttisch. Wenn er also dem Leonhardt davon erzählt hat…« Wera bricht mitten im Satz ab und lässt sich auf ihr ungemachtes Bett fallen. »… dann findet die Kriminalpolizei jetzt deine Fingerabdrücke auf der Tafel – und meine ebenfalls«, vollendet Rumberg den Satz. Wera wirft ihm einen knappen Blick zu. Zögernd erwidert sie: »Nein, ich glaube nicht. Lach mich bitte nicht aus, Rudolf, aber ich habe die Tafel immer abgeputzt, bevor ich sie wieder in die Lade getan habe.« Rudolf setzt sich neben sie, seine Stimme klingt deutlich erleichtert. »Warum sollte ich dich auslachen? Mit deiner Putzerei hast du uns beide vermutlich vor größten Unannehmlichkeiten bewahrt, wenn nicht vor Schlimmerem. Weißt du was, Wera? Wir vergessen die ganze Geschichte. Du bist die Tafel los, und das wolltest du schließlich. Und wenn der Markus Leonhardt sich wirklich selbst gerichtet hat, und darauf deutet alles hin, wird er dafür gesorgt haben, dass man die Tafel entdeckt.« »Stimmt.« Wera steht auf. »Auf den Gedanken bin ich noch gar nicht gekommen. Ich glaub, jetzt fällt mir doch ein Stein
vom Herzen. Komm. Wir müssen los, sonst sind wir zu spät im Theater.«
Nach der Vorstellung gehen Wera und Rudolf in ein winziges spanisches Restaurant. Sie haben es versäumt, einen Tisch zu reservieren, und müssen sich nun an einen Ecktisch quetschen, an dem schon ein junges Pärchen sitzt. Wera ist aufgekratzt und bestellt Unmengen Tapas. Rudolf warnt vor den Folgen und erinnert an den verunglückten Sushi-Abend. Wera beteuert lachend, vollkommen wiederhergestellt zu sein. Gleichzeitig spürt sie, wie sich eine unbestimmte Beklemmung in ihr ausbreitet. Die jungen Leute neben ihr auf der Eckbank sind ihr unheimlich. Sie sitzen so nah an Wera und Rudolf, dass jedes Wort, das sie wechseln, zu verstehen ist. Und sie reden über den Tod des Bauunternehmers. Mit immer neuen Argumenten versucht der junge Mann die Selbstmord-These zu entkräften. Dabei streicht er sich fahrig durchs Haar, das nachlässig blondiert und für Weras Geschmack erheblich zu lang ist. Die Begleiterin des jungen Mannes hängt an seinen Lippen, scheint aber von den Einwänden nicht ganz überzeugt zu sein. Langsam wird auch Rudolf auf das Gespräch aufmerksam. Er will sich einmischen, aber Wera verhindert mit einer knappen Handbewegung und einem mahnenden Blick auf das andere Paar jedes Wort. So erfahren Wera und Rudolf, dass der Blonde selbst in einem von Leonhardts Abbruchhäusern gewohnt hat. Allerdings habe er schon vor Monaten die angebotene Ersatzwohnung akzeptiert und sei nicht schlecht damit gefahren. Einmal habe er den Juniorchef selbst gesprochen.
»Das ist niemand, der sich umbringt, darauf würde ich mein gesamtes nicht vorhandenes Vermögen wetten«, erklärt er seiner Partnerin im Brustton der Überzeugung. Wera starrt ihn an. Zunächst ungläubig, dann mit sich steigerndem Entsetzen. Denn der Mann verändert sich unter ihren Blicken. Das Blond seiner Haare wird verführerisch und echt, und in die eher dümmlich wirkenden Züge schreibt sich ein Zynismus, der Wera sehr bekannt vorkommt, hat er doch einen Großteil von Xaver Sturz’ Anziehungskraft ausgemacht. Die Begleiterin des jungen Mannes ahnt nichts von dieser Veränderung. Sie lacht und schmiegt sich eng an ihren Freund. Wie groß die neue Wohnung sei, will sie wissen, und ob darin möglicherweise auch Platz für sie sein könne. Der Blonde wird rot vor Freude und nimmt seine Freundin schwungvoll in die Arme. Sein Ellenbogen trifft ein Rotweinglas und wirft es um. Der Wein steht wie Blut auf dem Tisch. Ein ovaler Fleck auf einem karierten Tischtuch, dessen Oberfläche im Kerzenlicht schimmert. Weras Blick klebt daran fest, wie hypnotisiert starrt sie auf den feuchten Glanz. »Was ist los mit dir?«, erkundigt sich Rudolf flüsternd. Wera schüttelt stumm den Kopf, sie will die aufsteigenden Bilder loswerden, aber die Erinnerung ist mächtiger als ihr Wille. Im Sterben hatte Xaver Sturz die Augen aufgeschlagen, zum Tode erwacht, hatte er Wera angesehen, mit allen Fragen dieser Welt in seinem Blick. Wera hatte nicht eine dieser unausgesprochenen Fragen beantworten können, sie auch nicht beantworten müssen, weil Xaver Sturz sich nur für einen sehr kurzen Aufenthalt zwischen Schlafen und Sterben auf die Insel der Bewusstheit geschwungen und kaum dass er ihr steiniges Ufer erklommen hatte, schon wieder abgerutscht war und in die endlosen Tiefen der Ewigkeit geglitten. Nur die Augen des Toten waren offen geblieben, sodass Wera für die nächsten
Stunden schutzlos seinem fragenden Blick ausgeliefert gewesen war. »Wera, verdammt noch mal, was ist mit dir los?« Hart umklammert Rudolfs Hand ihren Oberarm, seine Stimme wird eindringlich und laut. »Wera, jetzt antworte! Willst du gehen?« Gewaltsam reißt Wera die Augen von dem Fleck auf dem Tischtuch. Ihr Blick streift das Hemd des Blonden, dessen Karostoff ebenfalls voller Weinspritzer ist. Doch das scheint den jungen Mann nicht weiter zu kümmern. Unkonzentriert tupft er mit seiner Papierserviette über den Stoff, während seine freie Hand der Freundin verliebt durchs Haar streicht. Für Wera, die wie hypnotisiert die Flecken auf seinem Hemd anstarrt, hat er weiterhin keinen Blick. Erst als sie aufspringt und sich mit hektischen Bewegungen aus der Bank herauswindet, dabei Rudolf fast zu Fall bringt in dem Bemühen, auch seinen Aufbruch zu beschleunigen, hebt er den Kopf. »Tut mir Leid«, sagt er lächelnd und streicht die blonde Mähne zurück. Mit charmantem Timbre in der Stimme fügt er hinzu: »Ich hoffe sehr, dass ich Ihnen mit meiner kleinen Ungeschicklichkeit nicht den Abend verdorben habe.« »Nein, nein, alles in Ordnung«, versichert Wera und erkennt ihre eigene Stimme nicht. Ein Röcheln wie zwischen sterbenden Lippen hervorgepresst. Gerade noch rechtzeitig kann Wera nach Rudolfs Hand greifen, um ein Straucheln zu vermeiden. »Ich muss nach Hause«, flüstert Wera. »Aber allein.«
Am nächsten Morgen findet Wera schwer aus dem Bett. Erst unter der Dusche kommt sie zu sich. Das Morgenritual tut ihr gut. Kaffee aufgießen, abtrocknen, Kimono anziehen, nach der
Zeitung laufen, den Kaffee durchpressen. Während Wera die ersten Schlucke nimmt, überfliegt sie den Lokalteil. Unter der Überschrift FREITOD EINES MÖRDERS wird ausführlich über die Entwicklungen im Fall Markus Leonhardt berichtet. Von Grabungen im Klosterhof ist die Rede und von der Entdeckung einer männlichen Leiche, die zwar vollständig bekleidet gewesen sei, aber merkwürdigerweise nur einen Schuh getragen habe. Der Tote sei erstochen worden, so viel wisse man, allerdings müsse man ihn noch identifizieren. Unter dringendem Tatverdacht stehe der Immobilienkaufmann Markus Leonhardt, der am Ort seines Selbstmordes den zweiten Schuh des Toten hinterlassen und erst damit die Polizei auf die Spur zum Kloster gebracht habe. Auch habe man im Auto Leonhardts eine außerordentlich kostbare Elfenbeinschnitzerei gefunden, die möglicherweise aus dem Kloster stamme und damit das Motiv für die ungewöhnlichen Vorfälle sein könne. Habgier als Mordursache sei nicht auszuschließen. Habgier, denkt Wera, das stimmt sogar, Habgier war das Motiv. Ich wollte ihn haben, den Xaver Sturz, weil er mir schon so lange so gut gefallen hatte. Und nachdem ich ihn gehabt hatte, wollte ich ihn nicht verlieren und nicht teilen. Ich wollte ihn behalten, und ich wusste nur zu gut, das würde nicht gehen. Der Xaver schlief noch, als ich nach dem Schraubenzieher griff, den wir vorsorglich mitgebracht hatten, denn ursprünglich wollten wir nur die Elfenbeintafel zurückbringen. Wir hatten geglaubt, wir könnten vielleicht die Ersatztafel abund die echte anschrauben, es war eine von mehreren Ideen gewesen, uns der Tafel zu entledigen. Lauter Ideen, die nach dieser Nacht gegenstandslos geworden waren, weil es mir nicht mehr um die Tafel gegangen war, sondern nur noch um
diesen einen Menschen, um Xaver Sturz nämlich, der nicht gehen sollte, sondern bleiben und der sich in dem Moment, in dem er aufwachen würde, entscheiden müsste, mit dem ersten Blick aus seinen Augen würde sich alles klären, würde sich die Zukunft, meine Zukunft entscheiden, so oder so, gut oder böse, hell oder dunkel. Und mit jeder Sekunde, die ich auf das Erwachen dieses Mannes wartete, wuchs in mir die Gewissheit, dass es nicht gut ausgehen konnte, dass die Entscheidung nicht erst noch fallen musste, sondern das Ende vielmehr von Anfang an festgestanden hatte. Ich sah einem Ende entgegen, nämlich dem Ende meiner Liebesgeschichte, die so verlockend begonnen hatte und die doch nur im Schlimmen, im Schlimmsten ihre Fortsetzung würde finden können. Und darum nahm ich den Schraubenzieher, stumpf und rostig, wie er war, und bohrte ihn in die Brust des Schlafenden, der vor mir lag. Ob er aufwachen, ob er zucken oder sich gar wehren würde, bevor er starb, war nicht wichtig. Ich habe keine Sekunde darüber nachgedacht. Wichtig war allein, dass diese Geschichte weitergehen sollte als gemeinsame Geschichte von Xaver und mir, wenn nicht als Liebesgeschichte, so als Todesgeschichte. Denn mit seinem Tod war der Xaver wieder verfügbar geworden, und zwar nur für mich, für immer mein.
Ein schnarrendes Geräusch, das Wera zu hören meint, zeigt an, dass ein Schlüssel im Schloss an der Wohnungstür gedreht wird. Die Tür wird aufgestoßen, und wenige Sekunden später steht Felix in der Küchentür. Er sieht gut aus in seinem maßgeschneiderten Anzug, findet Wera, auch wenn dieser Anblick am Vormittag direkt nach dem Frühstück und etliche
Monate nach Felix’ Tod, an den sie sich plötzlich nur noch schemenhaft erinnern kann, etwas gewöhnungsbedürftig ist. »Hast du meine rote Mappe gesehen?«, fragt Felix, als sei nichts geschehen, als habe Wera in der Nacht seines Todes nicht minutenlang seinem Röcheln gelauscht, ohne das Geringste zu unternehmen. »Welche Mappe?« »Die mit den Unterlagen zum Leonhardt-Abrissverfahren. Du weißt schon, Wera, sei bitte nicht so träge. Ich brauche diese Mappe dringend, und im Büro ist sie nicht. Der Minister macht mich zu Kleinholz, wenn die Unterlagen heute in der Sitzung fehlen.« Wera zögert einen Moment, bevor sie antwortet. LeonhardtAbrissverfahren? Langsam erinnert sie sich. Es ging um das Grundstück, auf dem jetzt der Rohbau steht. Die Gesellschaft war in die Revision gegangen, nachdem Felix’ Behörde die Abrissgenehmigung verweigert hatte. Es war der letzte Fall, mit dem Felix vor seinem Tod befasst gewesen war. »Hast du die Mappe nicht gestern Abend in deiner Wut auf den Kaminsims geklatscht? Ich hab doch noch geschimpft wegen der Fotografien daneben.« »Ach natürlich. Danke, du bist ein Schatz.« Wera schließt die Augen, um ihrem Mann nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Leise sagt sie: »Das kommt davon, wenn du dich so in der Leonhardt-Sache engagierst. Du schaufelst dir dein eigenes Grab.« Als sei dies sein Stichwort gewesen, verstummt Felix.
Vorsichtig öffnet Wera die Augen. Ihr verstorbener Mann ist verschwunden. Dass ihre Einbildungskraft zu solchen Kapriolen fähig ist, erschreckt Wera. Langsam faltet sie die Zeitung zusammen und steht auf, um den Tisch abzuräumen.
Ein Blick auf die Uhr zeigt ihr, dass es schon halb zwölf ist. Sie wird sich beeilen müssen, in der Universität wartet etliches auf sie, das dringend zu erledigen ist. Weras letzter Blick, bevor sie die Wohnung verlässt, gilt der Venusfliegenfalle auf der Fensterbank. Ein verzweifeltes Brummen ist von dort zu hören. Hilflos windet sich ein winziges Insekt im Todeskampf mit der gefräßigen Pflanze. Beim Fußweg über den Ring beruhigt sich Wera. Sie liebt diese strahlenden Wiener Sommertage, alles an ihnen, die schweren Blüten in den Rabatten, den Duft nach Mandeln und Verwesung, den die Stadt aus jeder Pore atmet, und sogar den Geruch des Asphalts, seinen Glanz, spiegelnde Flächen, die erstarrten Kanälen gleich die Häuserfluchten teilen. Die Studenten, die in Schwallen aus dem U-Bahn-Schacht drängen, blinzeln gegen die Mittagssonne, sind für Sekunden vollständig orientierungslos. Es scheint Wera plötzlich, als seien die U-Bahn-Benutzer ein Volk von Höhlenmenschen, das, gerade der Unterwelt entkommen, sich erst im Oben zurechtfinden muss. Wera entdeckt einige bekannte Gesichter, neigt zuweilen grüßend den Kopf, ohne dass ein einziger Gruß erwidert würde. Wie Blinde taumeln die Studenten dem Universitätsgebäude entgegen. Erst innerhalb der alten Mauern, wo es schattig und kühl ist, können die Gesetze des Untergrunds erneut zur Anwendung kommen. Jeder erkennt jeden. Und Wera wird von allen gegrüßt. Die Kollegen sind bester Laune, man wirft sich Scherzworte zu und tauscht Urlaubspläne aus. Frau Ott ist voller Tatendrang. Die Büros sollen in den Semesterferien renoviert werden, vorsorglich räumt Weras Sekretärin alle Schränke und Regale aus, um nach der Renovierung eine neue und bessere Ordnung installieren zu können. Auch in ihrem eigenen Büro findet Wera kahle Wände vor. In einer Ecke stehen die abgehängten Graphiken, deren gelb und
bräunlich getönte Papiere gegen die bald frisch geweißten Flächen zweifellos schmutzig und abgegriffen aussehen würden. Wera beschließt, in den Semesterferien nach bezahlbaren modernen Öl- oder Acrylbildern Ausschau zu halten. Auf ihrem Schreibtisch liegen vier Briefstapel. Säuberlich von Frau Ott getrennt, warten die Nachrichten von Verlagen, Fachzeitschriften, Kollegen und Studenten darauf, gelesen zu werden. Wera beginnt, die Briefe zu überfliegen, es scheint nicht eine einzige unerfreuliche Botschaft darunter zu sein. Den Sommerkatalog des Antiquars Holitscher studiert sie genauer, das Angebot ist außergewöhnlich verlockend und preisgünstig obendrein. Wera gerät angesichts der vielen Objekte in Kauflaune und füllt gleich einen Bestellzettel aus. Anschließend widmet sie sich den restlichen Briefen. Veronika Neuburger, die verbliebene Hilfskraft, bedankt sich schriftlich für die Verlängerung ihres Vertrages und verspricht, das in sie gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen. Nachdem Wera drei Einladungen zu Vorträgen beiseite gelegt hat, dreht sie unschlüssig den letzten Brief in den Händen. Absender ist eine ihr bisher unbekannte Akademie mit Sitz in Oberösterreich. Zögernd reißt Wera den Umschlag auf. Man teilt ihr in wohlgesetzten Worten mit, dass sie mit einer neu geschaffenen Auszeichnung für ihre vorbildliche Lehre geehrt werden solle. Der mit der Auszeichnung verbundene Betrag entstamme einer Stiftung und werde in jährlichen Raten über zehn Jahre gezahlt. Wera zählt die Nullen hinter der Fünf und pfeift durch die Zähne. Der Betrag ist wahrhaft nicht unerheblich. Allerdings, so schränkt die Akademie ein, müsse die Summe für einen dem Hochschulwesen nutzenden Zweck verwandt werden.
Wera greift erst nach ihren Zigaretten und dann zum Telefon. Sie hat Glück, Rudolf ist selbst am Apparat und hat sogar ein wenig Zeit für sie. »Hast du dich von dem verunglückten gestrigen Abend leidlich erholt?«, will sie wissen. »Ja. Danke der Nachfrage.« »Und? Was hast du noch gemacht?« »Ich war ein wenig beleidigt, dass du mich nicht bei dir haben wolltest, und bin zu der Premierenfeier gegangen.« »War’s wenigstens nett?« »Das Übliche halt.« »Tut mir Leid, dass ich nicht auf der Höhe war. Aber ich brauchte einfach meine Ruhe. Nicht reden, nicht denken, du weißt schon. Ich hab ein Glas Wein getrunken und noch einen Krimi im Fernsehen geschaut.« Rudolf muss lachen, das Eis ist gebrochen. »Also Wera, das ist unglaublich. Was soll die Weltöffentlichkeit sagen, wenn sie erfährt, dass du heimlich Krimis guckst, anstatt mich zu einem wichtigen Wiener Kulturevent zu begleiten.« »Wenn das alles wäre, was ich vor der Weltöffentlichkeit verheimlichen müsste…« »Du führst ein Doppelleben?« »Natürlich, wusstest du das nicht? Und ich habe einen Vorschlag, der geeignet wäre, dich und deine intimsten Wünsche in mein Doppelleben zu integrieren.« »Raus mit der Sprache, ich bin ganz Ohr.« »Man wird mich mit einer Auszeichnung bedenken.« »Gratuliere.« »Für vorbildliche Lehre.« »Ich bin beeindruckt.« »Du wirst gleich noch mehr beeindruckt sein. Es ist nämlich ein stattlicher Geldbetrag mit der Auszeichnung verbunden.«
»Geld ist immer gut.« »Nur hat die Sache einen winzigen Haken.« »So ist das meistens im Leben, Cara mia. Die Haken kommen am Schluss. Aber vielleicht könntest du langsam konkreter werden. Du hast nämlich mit deinem Anruf unsere Konferenz gestört. Und die Kollegen schauen schon recht ungehalten.« »Hast du noch die Absicht, das Kloster zu kaufen?« »Trotz der Leichenfunde? Findest du das nicht ein wenig morbid?« »Wenn du es nicht kaufst, wird’s ein anderer tun.« »Zweifellos. Aber dass dieser Vorschlag ausgerechnet von dir kommt, hätte ich trotzdem nicht erwartet.« »Mit dem Geld von der Stiftung könnte man etwas für den Erhalt des Klosters tun. Beispielsweise eine Begegnungsstätte einrichten. Oder einen Ort für Forschungsaufenthalte schaffen.« »Und wer soll dort deiner Meinung nach forschen?« »Begabte junge Kunsthistoriker beispielsweise.« »Das ist ja alles schön und gut. Aber was hätte ich davon?« »Du nimmst eine Hypothek auf und kaufst die Immobilie. Anschließend miete ich sie für diese noch zu schaffende Institution. Mit den Einnahmen zahlst du den Kredit zurück. Und wenn das Geld von der Stiftung aufgebraucht ist, stornieren wir den Mietvertrag und das Kloster gehört dir.« »Verstehe. Klingt nicht schlecht.« »Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?« »Bei näherem Nachdenken, klingt es sogar ziemlich gut. Sehen wir uns heute Abend?« »Bei dir oder bei mir?« »Komm zu mir, da habe ich den Fernseher unter Kontrolle.« »Schuft.« »Also um acht?«
»Schön, ich freu mich drauf.« »Das hoffe ich.« Rudolf lacht. »Ich muss Schluss machen, Cara mia, die Redaktionskonferenz.« »Bis später, mein Held.« »Bis später.« Wera zieht genüsslich an ihrer Zigarette. Ein Blick auf die Uhr zeigt ihr, dass es höchste Zeit ist, um zum Hörsaal aufzubrechen. Ihre Vorlesung beginnt in drei Minuten.
»Sollten Sie einmal in das ehemalige Mähren kommen, und ich kann Ihnen nur zu einer solchen Reise raten, dann lohnt sich in jedem Fall ein Besuch der Klosterbauten dieses zu Unrecht vergessenen Architekten.« Die Studenten auf den Rängen des Hörsaals hängen an Weras Lippen, denn ihre Semester-Abschluss-Vorlesung ist spannend wie selten eine. Anschaulich berichtet Wera von fast unbekannten Relikten der Provinzarchitektur und stellt Thesen auf, die geeignet sind, das Bild der letzten Kaiserlichen Epoche aus der Sicht der Kunsthistoriker völlig neu zu definieren. Wera doziert mit Leidenschaft und Begeisterung. Da der Text der Vorlesung erst in den letzten Wochen entstanden ist, sind ihr Gegenstände und Argumentationen vertraut, sie spricht in weiten Teilen frei. Ihre Blicke lässt sie durch den Hörsaal wandern. In der vorletzten Reihe, ganz am Rand, sitzt ein großer, schmaler Student. Seine leuchtend roten Haare sind zu einer kurzen Bürste geschnitten, das Gesicht ist vielleicht ein wenig grob, doch der Mund wirkt sinnlich und ist schön geformt. Wera sieht den rothaarigen Studenten immer wieder an. Nach der Hälfte der Vorlesung fällt es ihm auf. Während der letzten zehn Minuten erwidert er jeden Blick Weras mit einem schüchternen Lächeln.
Nach dem Ende der Vorlesung hat es der Rothaarige gar nicht eilig. Wera beobachtet genau, wie der Student langsam die Treppen des Hörsaales hinunterkommt. Als sich die Professorin anschickt zu gehen, ist der Hörsaal vollständig leer. Nur der Rothaarige geht wortlos an ihrer Seite.