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ROGER ZELAZNY und ROBERT SHECKLEY im BASTEI-LÜBBE-Taschenbuchprogramm: DER BESTE-BÖSE-TAT-ZYKLUS 20 275 Band 1Brin...
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ROGER ZELAZNY und ROBERT SHECKLEY im BASTEI-LÜBBE-Taschenbuchprogramm: DER BESTE-BÖSE-TAT-ZYKLUS 20 275 Band 1Bringt mit den Kopf des Märchenprinzen 20 293 Band 2 Wer immer sterbend sich bemüht
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Ins Deutsche übertragen von Frauke Meier
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BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 20293
© Copyright 1993 by The Amber Corporation and Robert Sheckley All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1996 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Bergisch Gladbach Originaltitel: If At Faust You Don't Succeed Lektorat: Anke Schäfer/Stefan Bauer Titelbild: Luis Royo/Norma Agency, Barcelona Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: Fotosatz Schell, Hagen a.T.W. Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-20293-7 Der Preis dieses Mehrwertsteuer.
Bandes versteht
sich
Erste Auflage: Oktober 1996
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einschließlich
der
gesetzlichen
BESCHWÖRUNGSFEHLER
Faust sprach einen Zauber, aber nichts geschah. Das Problem war, daß er durch seinen Wunsch, den Betrüger so schnell wie möglich zu finden, kaum etwas von seinen magischen Ingredienzien mitgenommen hatte. Dennoch mußte er es versuchen. Tief in seiner Tasche fand er einen Rest Bilsenkraut, außerdem war da noch ein Mistelzweiglein, das von einer Mittwinterzeremonie übriggeblieben war. Was brauchte er mehr? Gewöhnlicher Dreck würde die Friedhofserde ersetzen müssen, und anstelle des Mumienstaubs würde es auch Nasensekret tun. »Das ist ja widerlich«, sagte Marguerite. »Sei still! Immerhin könnte es dein Leben retten!« Alles war vorbereitet. Faust erhob seine Hände und murmelte eine Beschwörung. Ein rosarotes Schimmern erschien in der Mitte des Pentagramms – ein glühender Punkt, der sich rasch ausbreitete. »Du hast es geschafft!« rief Marguerite. »Du bist wunderbar!« »Still!« zischte Faust ihr zu. Er wandte sich dem heller werdenden Leuchten zu und sprach: »O Geist der dunkelsten Tiefen, ich beschwöre dich im Namen von Asmodeus, Beelzebub, Belial…« Eine Stimme kam aus dem Lichtschein, die Stimme einer jungen Frau, die in einem unverbindlichen Ton antwortete: »Bitte hören Sie auf, mich zu beschwören. Ich bin kein beschwörbarer Geist.« »Nicht?« fragte Faust. »Aber was denn dann?« »Ich bin die Repräsentantin der Infernalischen Kommunikationsgesellschaft. Wir können Ihre Beschwörung in der vorliegenden Form nicht entgegennehmen. Bitte überprüfen Sie die benutzte
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Magie. Korrigieren Sie eventuelle Fehler und beschwören Sie erneut. Wir danken Ihnen und wünschen Ihnen einen schönen Tag.« Die Stimme verstummte, und das rosa Licht schrumpfte in sich zusammen, bis es schließlich ganz verschwand…
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DER WETTKAMPF KAPITEL 1 Die beiden Botschafter des Lichts und der Finsternis trafen sich in der Taverne Zur Mitte im Limbus, um die letzten Details des bevorstehenden Wettkampfes zu besprechen. Der Limbus war eine äußerst farblose, von fahlem Licht nur schwach erhellte Gegend. Er befand sich zwischen dem Reich des Lichts und dem der Finsternis. Ein substanzloses, nebelhaftes Zwischenreich, wo sich aber doch noch das eine oder andere Greifbare fand. Da gab es beispielsweise die Taverne Zur Mitte, die, wie der Name sagte, genau in der Mitte des Limbus gelegen war. Das Gasthaus war ein sonderbar wackeliges altes Holzgebäude mit einem verwinkelten baufälligen Dach. Es war direkt auf der Grenzlinie erbaut worden, die den Teil des Limbus, der dem Himmel zugeneigt war, von dem Teil trennte, der der Hölle näher lag. Es gab nicht allzuviel Kundschaft hier, aber die Wirtschaft wurde von den Mächten des Lichts und der Finsternis subventioniert. Sie diente denjenigen Geistwesen zur Einkehr, die hier auf ihrem Weg an einen anderen Ort vorbeikamen. »Das ist also die berühmte Taverne Zur Mitte!« stellte der Erzengel Michael fest. »Ich bin noch nie zuvor hier gewesen. Gibt es hier eine anständige Küche?« »Sie hat einen recht guten Ruf«, antwortete Mephistopheles. »Aber nach einer halben Stunde werden Sie bezweifeln, irgend etwas gegessen zu haben.
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Überzeugend, aber nicht wirklich, so wie alles im Limbus.« »Was ist das dort für ein Ort?« fragte Michael. Mephistopheles folgte seinem Blick. »Oh, das ist die Wartezone. In der alten Zeit war das der Ort, an dem tugendhafte Heiden und ungetaufte Babys untergebracht wurden, bis entschieden war, was weiter mit ihnen geschehen sollte. Das wird heutzutage nicht mehr gemacht, aber es gibt immer noch eine Menge Leute, die aus unterschiedlichen Gründen herkommen.« »Ich frage mich, ob dies ein guter Ort für unser Treffen ist«, sagte Michael, dem manches nicht gefiel, was er in der Wartezone zu sehen bekam. »Es wurde von Ihren und meinen Leuten vorab so verabredet«, erwiderte Mephistopheles. »Der Limbus ist ein neutrales Territorium, weder Fisch noch Geflügel und ganz bestimmt kein gutes rotes Fleisch. Was könnte es schon für einen besseren Ort für unsere Besprechung geben? Also, gehen wir rein?« Michael hinein.
nickte
widerstrebend, ging aber dennoch
Der Tendenz folgend, himmlische Körper mit einer athletischen Figur auszustatten, war auch Michael groß und gut gebaut. Er hatte krauses schwarzes Haar, eine leicht hakenförmige, fast klassische Nase und einen dunklen Teint, ein Andenken seiner semitischen und persischen Vorfahren. In den alten Tagen war Michael der Schutzengel Israels gewesen. Das war lange her, damals hatte es noch lokale Gottheiten gegeben, die sich dem auf Erden so überaus populären Monotheismus noch nicht angeschlossen hatten. Im Himmel war es jedermann freigestellt, sein Äußeres ganz nach Belieben zu wählen, unter der Bedingung, dieses Privileg nicht
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zum persönlichen Vorteil zu mißbrauchen. Mit einer im wahrsten Sinne des Wortes göttlichen kosmetischen Operation hätte auch Michael blond und blauäugig wie die anderen Erzengel sein können, aber er zog es vor, sein Aussehen im Gedenken an vergangene Zeiten nicht zu verändern. Außerdem glaubte er fest, sein dichtes schwarzes Haar und die gebogene Nase könnten ihm ein wenig Würde verleihen. »Es ist kalt da draußen«, sagte Mephistopheles und rieb die Hände aneinander. Für einen ranghohen Offizier der Finsternis war er durchschnittlich groß. Er war mager und hatte ein schmales Gesicht, lange Finger und schlanke, wohlgeformte Füße, die in lackledernen Halbschuhen steckten. Sein pechschwarzes Haar hatte er an den Seiten glatt zurückgekämmt, wogegen es in der Mitte eher struppig aussah. Er trug einen dünnen Schnurrbart und einen spitzen Knebelbart, weil ihm jemand gesagt hatte, das ließe ihn heimtückisch erscheinen. »Wie kann es kalt sein?« fragte Michael. »Im Limbus gibt es weder Hitze noch Kälte.« »So sagt man«, antwortete Mephistopheles. »Aber es stimmt nicht. Dieser Unsinn, daß alles im Limbus völlig neutral sei, ist offensichtlich falsch. Es gibt genug Licht, um zu sehen, oder etwa nicht? Und wenn es Licht gibt, warum dann nicht auch Kälte?« »Im Limbus«, entgegnete Michael etwas wichtigtuerisch, »sieht man mit dem inneren Auge.« »Und friert durch innere Kälte, nehme ich an«, konterte Mephistopheles. »Nein, Michael, in dem Punkt irren Sie. Der Wind im Limbus, den die Verzweiflung gebiert, kann manchmal überaus beißend sein.«
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»Ich irre nicht«, sagte Michael. »Aber ich nehme an, es ist Teil unseres Systems, daß Sie und ich verschiedener Meinung sind. Schließlich repräsentieren wir zwei zwar glorreiche, aber entgegengesetzte Standpunkte. Ja, ich denke, es muß so sein.« »Da liegen wir auf einer Linie«, sagte Mephistopheles vergnügt, während er sich Michael gegenüber in der Nische niederließ und seine Seidenhandschuhe auszog. »Ich nehme an, wir sind uns einig, daß wir uns fast nie einig sind.« »Ganz besonders in der Angelegenheit ›Städte gegen Land‹.« »Ja. Unser letzter Wettkampf hat diese Frage nicht ausreichend geklärt, nicht wahr?« Mephistopheles spielte auf den unlängst ausgetragenen Jahrtausendwettkampf an, in dem die Streitkräfte von Finsternis und Licht um die Kontrolle über das Geschick der Menschheit für die nächsten tausend Jahre gekämpft hatten. Jener Wettstreit hatte auf dem seltsamen Vorschlag eines jungen Dämonen namens Azzie basiert, der die Idee gehabt hatte, die Legende des Märchenprinzen neu zu inszenieren, um sie diesmal zu einem unglücklichen Abschluß zu bringen. Dabei hatte er, ohne noch in den weiteren Verlauf des Wettstreites eingreifen zu müssen, der Finsternis zum Sieg verhelfen wollen, indem er den Körper des Märchenprinzen derart zusammenstückelte, daß dessen Versagen unausweichlich schien. Obwohl das Böse in diesem Wettkampf deutlich im Vorteil gewesen war, hatte sich das Gute darauf eingelassen. Das Gute ließ sich immer wieder auf derartige Strategien ein, da es davon ausging, die Anziehungskraft des Guten auf die Menschheit sei so groß, daß es geradezu unfair wäre, dem Bösen keinen Vorteil einzuräumen. Einen Vorteil, der nötig war, sollte
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es jemals auch nur einen Hauch von Höllenqual verbreiten wollen. Die Mächte der Finsternis, die sich so oder so in jeder Art von Komplikation heimisch fühlten, waren stets entzückt, neue, verwickelte Komplotte voranzutreiben. Das Licht dagegen war in seiner etwas schulmeisterlichen Schlichtheit erfreut, sobald es den Machenschaften der Finsternis erfolgreich begegnen konnte, obwohl die Mächte des Lichts oft genug auf verlorenem Posten gestanden hatten. Denn das Gewicht auf einer Waage kann man nun einmal nur in begrenztem Umfang in eine Richtung verschieben, ehe die Schale kippt, was dann nachträglich einfach als Vorsehung ausgelegt wird. Der Besitzer der Taverne kam an ihren Tisch. Er war ein unwirklicher Geselle wie alle, die sich längere Zeit im Limbus aufgehalten hatten. Das einzig Substantielle an ihm waren sein Schielen und seine großen unförmigen Füße. »Ja, Herr«, wandte er sich unterwürfig Mephistopheles. »Was kann ich für Euch tun?« »Ein Daiquiri Mephistopheles.
mit
Götterblut
wäre
nett«,
an sagte
»Gern, Herr. Darf ich Euch vielleicht noch Teufelsküchlein anbieten? Sie sind ganz frisch heute.« »Gut. Was hast du sonst noch?« »Der Schinken ist sehr gut. Wir haben jemanden im Fegefeuer, der ihn ganz speziell für uns satanisch räuchert.« »Keine Blutwurst?« »Die haben wir nur donnerstags.«
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»Gut, dann bring mir den satanischen Schinken«, sagte Mephistopheles und fügte an Michael gewandt hinzu: »Wir können unsere Herkunft nicht verleugnen, nicht wahr?« »Gewiß nicht. Aber könnten wir nun zum Geschäft kommen?« »Ich bin bereit«, erklärte Mephistopheles. »Haben Sie die Tagungsordnung zur Hand?« »Nicht nötig«, antwortete Michael. »Ich habe alles im Kopf. Es ist unsere Aufgabe, die Entscheidung über den nächsten Jahrtausendwettkampf zu treffen. Ich hoffe, wir können die Frage über Frömmigkeit oder Verderbtheit der Städte dieses Mal klären.« »Wie schnell die Zeit vergeht, wenn man unsterblich ist!« warf Mephistopheles ein. »Vielleicht hängt es auch damit zusammen, konzentriert an einer Sache zu arbeiten. Gut, lassen wir die Städte wachsen wie Pilze.« »Blumen Michael.
wäre
ein
passenderer
Vergleich«,
sagte
»Welcher zutreffender ist, wird sich dann zeigen«, erwiderte Mephistopheles. »Schön, dann lassen Sie einen Ihrer urbanen Heiligen antreten. Meine fröhlichen Dämonen und ich werden ihn im Nu dazu bringen, dem Guten abzuschwören.« Michael bewies einmal mehr die Unfähigkeit des Guten, Vorteile auszunutzen, indem er sagte: »Ein Heiliger ist nicht nötig. Uns schwebt ohnehin etwas Kunstvolleres vor. Etwas, das mitreißend und eindrucksvoll genug ist, um seinen Einfluß in den verschiedensten Orten und Zeiten des neuen Jahrtausends auszuüben. Aber davon später. Sagen Sie, ist Ihnen unser Diener Faust bekannt?«
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»Aber ja«, log Mephistopheles. Es war eine typische Unart der Diener der Finsternis, fälschlicherweise vorzugeben, jemanden oder etwas zu kennen. »Sie meinen Johann Faust, den bekannten Magier und Scharlatan aus – wo war es doch gleich – Königsberg?« »Ob Faust ein Scharlatan ist, darf bezweifelt werden«, sagte Michael. »Aber er ist sicher nicht in Königsberg. Sie finden ihn in Krakau.« »Ach ja, natürlich, er hat eine kleine Wohnung in der Nähe der Jagiello-Universität, nicht wahr?« »Wieder daneben«, antwortete Michael. »Er wohnt in einem Zimmer in der Kleinen-Kasimir-Straße in der Nähe des Florian-Tores.« »Es lag mir auf der Zunge«, behauptete Mephistopheles. »Ich werde ihn aufsuchen und in unseren Plan aufnehmen. Dabei fällt mir ein: Was ist der Plan?« »Da kommt Ihr satanischer Schinken. Ich werde es Ihnen während Ihres Mahls erklären.«
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KAPITEL 2 Johann Faust war allein in seinem Gemach in Krakau, jener Stadt im fernen Polen, in die ihn sein langer Weg als Geisteswissenschaftler verschlagen hatte. Die Universität war froh, ihn zu haben. Immerhin war Faust ein angesehener Gelehrter, der die meisten wichtigen Schriften auswendig kannte. Darunter gab es so wertvolle Werke wie die von Paracelsus und Cornelius Agrippa und die noch älteren geheimen Schriften des großen römischen Magiers Vergil. Fausts Kammer war einfach ausgestattet. Der Fußboden bestand aus nackten Holzbohlen, die jeden Morgen von dem Zimmermädchen sauber gewischt wurden. Jedesmal, wenn sie durch die Tür eintrat, murmelte sie ein Gebet und spuckte abergläubisch über ihre Schulter. Man mußte auf der Hut sein, wenn man für einen so unheimlichen Mann wie Faust arbeitete. Sie hatte sich bekreuzigt, als sie zum ersten Mal das Pentagramm am Boden erblickte, das jeden Morgen frisch nachgezogen war und in den Zwischenräumen allerlei hebräische Schriftzeichen und Symbole enthielt, die nicht einmal die Freimaurer kannten. Die Einrichtung des Raumes blieb immer gleich. In einer Ecke stand Fausts Destillierkolben. Im Kamin brannte zu jeder Jahreszeit ein kleines, aber heißes Kohlenfeuer, das Faust Tag und Nacht schürte, da er unter Frostbeulen litt, die niemals ganz abheilen wollten. Das einzige Fenster war mit schweren Vorhängen bestückt und ließ kaum Tageslicht hinein. Faust mochte schummerige Beleuchtung, seine Augen waren das Flackern des Kaminfeuers und der Kerzen gewohnt. Überall im Zimmer standen Kerzenhalter aus Zinn mit großen Bienenwachskerzen, die sich ein einfacher Mann kaum hätte leisten können. Einige wohlhabende
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Krakauer Bürger versorgten Faust mit diesen edlen Wachskerzen, die man sonst allenfalls noch in der Kathedrale finden konnte. Sie waren mit Balsam, Myrrhe und seltenen Blütenessenzen der wunderbarsten Frühlingsblumen getränkt. Ihr Duft überlagerte sogar den Geruch von Quecksilber, Gold und anderen Metallen, deren unangenehme Ausdünstungen in dem geschlossenen Zimmer ständig in der Luft hingen. Ein Gestank, den nur ein erfahrener Alchimist ertragen konnte. Faust ging in seinem Zimmer auf und ab. Zehn Schritte in die eine Richtung auf die Wand mit dem Portrait von Agrippa zu, zehn Schritte in die andere bis zu der Vitrine mit der Marmorbüste von Vergil. Sein langer Talar flatterte um seine spindeldürren Beine. Während des Gehens war er in ein lautes Selbstgespräch vertieft. Die intime Bekanntschaft mit der inneren Einsamkeit, wie sie nur ein Gelehrter kennt, hatte ihm diese Form der Unterhaltung zur Gewohnheit werden lassen. »Lernen! Weisheit! Wissen! Sphärenklänge! Zu wissen, was auf dem Grund der entferntesten Meere liegt, sicher sagen zu können, was der Kaiser von China zum Frühstück verspeist und was der Kaiser der Franken seiner Mätresse in der finstersten Nacht zuflüstert. Gut zu wissen, ganz zweifellos! Dennoch, was bedeutet mir das?« Die pupillenlose Büste Vergils schien jeden seiner Schritte zu beobachten. Fast hatte es den Anschein, als verzögen sich die dünnen, fahlen Lippen des Römers zu einem Ausdruck gelinder Überraschung, unterschied sich doch dieser Vortrag des gelehrten Doktors so sehr von allen anderen, die jemals zuvor über seine Lippen gekommen waren. »Sicher«, fuhr Faust fort, »ich weiß all diese Dinge und noch vieles andere mehr.« Er lachte ironisch. »Ich kann
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die göttliche Sphärenharmonie des Pythagoras wahrnehmen. Meine Forschungen zeigten mir den imaginären Punkt, durch den man, wie Archimedes behauptete, den Erdball aus seiner Bahn heben könne. Und ich weiß, daß der Hebel das Ich ist ausgedehnt in die Unendlichkeit, und daß der Drehpunkt das geheime Wissen ist, das zu erlernen immer meine Lebensaufgabe war. Und trotzdem, was bedeutet diese Erkenntnis für mich? Die Vertrautheit mit all den Wundern, die ich unzählige Stunden studiert habe. Lebe ich etwa besser als irgendein dummer Dorfbursche, der seine Erfüllung in einem Heuschober findet? Es ist wahr, ich genieße großes Ansehen unter den Ältesten der Städte und ich bin weit über die Grenzen unseres Landes hinaus berühmt unter den sogenannten Weisen. Der König von Böhmen setzte mir einen goldenen Reif auf die Stirn und erklärte mich für unvergleichlich unter den Menschen. Vermindert das etwa den Schüttelfrost, der mich befällt, wenn ich an einem kalten Morgen erwache? Oder die Schmeicheleien des Königs von Frankreich. Selbstgefällig sitzt er da in seinem Luchspelz und den weichen Stiefeln aus spanischem Leder, mit der Krone auf seinem bornierten Kopf. Bringen seine Schönfärbereien auch nur die geringste Erleichterung für meinen kranken Magen, meinen Morgenschweiß oder meine abendliche Verzweiflung? Was habe ich tatsächlich vollbracht mit meinem Streben, in die unendlichen Sphären des Wissens einzutreten? Was hilft mir all das Wissen, all die Macht, wenn mein Körper von Tag zu Tag mehr verwelkt, wenn meine Haut sich so straff über meine Züge spannt, daß schon jetzt der Schädel hinter dem verdorrten Fleisch zum Vorschein kommt?« Faust war so sehr in sein Wehklagen versunken, daß ihm die Geräusche von draußen ganz entgingen. »Nach Wissen zu streben ist wahrhaftig eine gute Sache.
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Vor Jahrzehnten, als ich noch jung war, dachte ich sogar, daß alle Sehnsucht meines Herzens gestillt wäre, wenn ich nur diese göttliche Essenz, diesen wahren Kern des Wissens, der nur den Engeln selbst zugänglich ist, erfahren könnte. Und dennoch frage ich, ist Wissen allein tatsächlich befriedigend? Ich sitze hier bei meinem täglichen Haferschleim, das einzige, was mein Magen noch verträgt, während draußen die gewöhnliche Welt gedankenlos ihren Geschäften nacheilt. Was bringt es mir. Wissen über Wissen anzusammeln, einen ganzen Misthaufen von Weisheit aufzuschichten, in dem ich herumkrieche wie ein Käfer? Kann das wirklich alles sein? Wäre ich nicht besser dran, würde ich all dem ein Ende setzen? Mit einem Dolch zum Beispiel?« Während er sprach, griff er nach dem scharfen spitzen Stilett, das ihm einer der Studenten des großen Nicolas Flame!, der jetzt in Paris auf dem Friedhof zu SaintJacques-la-Boucherie begraben lag, überreicht hatte. Faust hielt die Waffe in das flackernde Kerzenlicht und beobachtete die Reflexe auf der schmalen Klinge. »Waren denn all meine Mühen vergebens? Mein Wissen um die Künste der Kalzinierung, der Sublimation, der Kondensation und Kristallisation? Was hilft mir mein Verständnis für die Chemie der Dinge, wenn doch mein Innerstes, Faust der Homunculus, der alterslose Geist meiner selbst, der dem so gar nicht alterslosen Fleisch innewohnt, sorgenvoll, verwirrt und ziellos umhertreibt? Wäre es nicht besser, ich würde diesen Dolch benutzen, um dem ein Ende zu machen. Ich könnte ihn in meine Magengrube stoßen und hinaufreißen, so wie es die prächtig kostümierten Orientalen aus dem fernen Osten in meinen Visionen taten.« Noch immer bewegte er das Stilett im Kerzenschein, fasziniert von den Lichtreflexen auf der Klinge. Die zitternden Flammen ließen einen mißbilligenden Ausdruck auf Vergils marmornem Antlitz erscheinen.
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Ganz allmählich drangen die Geräusche der Außenwelt in Fausts Bewußtsein vor. Es war der Klang von Kirchenglocken, und Faust erinnerte sich wieder daran, daß Ostersonntag war. So schnell die trübe Stimmung ihn erfaßt hatte, so plötzlich zog sie sich nun zurück. Er trat zum Fenster und öffnete die Vorhänge. »Ich habe zuviel Quecksilberdampf eingeatmet«, sagte er sich. »Ich darf nicht vergessen, daß diese große Kunst auch gefährlich ist für den, der sie betreibt. Auf der einen Seite lauert die Gefahr des Versagens, auf der anderen das Risiko des Trübsinns, das im Fahrwasser jeden Erfolges mitschwimmt. Es wird das Beste sein, ich gehe an diesem schönen Morgen hinaus an die Luft, spaziere einige Schritte über das junge Gras und gönne mir ein Glas Bier in der Wirtschaft an der Ecke, ja, und vielleicht eine Bratwurst, meinem Magen scheint es heute besser zu gehen. Die Ausdünstungen der Destille spiegeln sich in denen des Geistes. Ich werde den Augenblick nutzen, beide zu vertreiben.« Ohne weiter zu zögern, warf er sich seinen Umhang über die Schultern. Ein prachtvoller, hermelinverzierter Umhang, der auch eines Kaisers würdig gewesen wäre. Obwohl er überall Kredit genoß, vergewisserte er sich, daß er seine Brieftasche bei sich hatte, ehe er den Raum verließ. Dann strebte er zur Haustür hinaus, dem hellen Sonnenschein und den Ungewißheiten des neuen Tages entgegen. Ungewißheiten, die nicht einmal der erfahrenste Alchemist hätte erahnen können.
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KAPITEL 3 Alle Kirchenglocken Krakaus läuteten die Hymne ›Te Deum laudamus‹, als Faust die Kleine- Kasimir-Straße vom Florian-Tor in Richtung Tuchmacherhalle auf dem großen Marktplatz entlang schlenderte. Er konnte jede einzelne Glocke an ihrem Klang erkennen: das hohe Glockenspiel des Klosters Mogila, der klare stählerne Klang von St. Wenzeslaus, die große donnernde Stimme von St. Stanislaus und, alle anderen dominierend, der bewegende Baß von der großen Kirche Unserer Lieben Frau an der Ecke des Marktplatzes. Es war ein wunderschöner Ostersonntag, und das goldene Sonnenlicht schien jeden Winkel der altehrwürdigen Stadt zu durchfluten. Über den strahlendblauen Himmel wanderten langsam kleine weiße Wolken. Jene Art Wolken, die Maler so gern als Ruheplätze der Engel darzustellen pflegen. Der Tag war schön genug, selbst Fausts Stimmung aufzuhellen. Wohlgelaunt nahm er die Abkürzung zum Marktplatz durch einen kleinen, muffigen Gang, der Teufelsgang genannt wurde. Die Häuser schienen sich zu wölben wie die Bäuche fetter Männer in einem Dampfbad. Es gab nicht einmal genug Platz, daß zwei Leute hätten nebeneinander gehen können. Die eng zusammenstehenden Häuser mit ihren überhängenden Steildächern ließen selbst an diesem sonnigen Tag kein Licht hindurch. Der Weg lag in tiefem Schatten. Faust war noch keine zehn Meter weit gegangen, als er seinen Entschluß, die Abkürzung zu nehmen, auch schon bedauerte. Er hätte doch oben auf der Straße bleiben sollen, auch wenn es einige Minuten länger gedauert hätte. Was bedeutete Zeit schon für einen Alchemisten und Philosophen?
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Fast wäre er umgekehrt, aber ein starrsinniger Zug seines Charakters bewog ihn, weiter zu gehen. Schließlich lag die letzte Biegung des Weges direkt vor ihm, und danach würde er gleich in die lärmende Betriebsamkeit des Marktplatzes eintauchen. Faust beschleunigte seine Schritte, während er sich der Biegung näherte. Sein Gelehrtenrock raschelte, als er seine Beine zu größerer Geschwindigkeit antrieb. Er passierte einen dunklen Hauseingang auf der rechten und noch einen auf der linken Seite. Vor ihm wurde es langsam heller, als er plötzlich eine Stimme direkt neben sich hörte. »Verzeihen Sie, Herr, nur einen Augenblick…« Faust blieb auf der Stelle stehen und wandte sich um, jederzeit bereit, den aufdringlichen Menschen zu maßregeln, der die Kühnheit besessen hatte, ihn aufzuhalten. Er sah in den Hauseingang hinein, doch da war nichts. Er wollte gerade weitergehen, als er ein surrendes Geräusch vernahm. Sein reger Verstand sagte ihm, daß irgend etwas vor sich ging. Diese Erkenntnis kam fast gleichzeitig mit dem Aufprall eines stumpfen Gegenstandes von beträchtlicher Härte auf seiner Schläfe. Für einen Augenblick sah er Sterne aufblinken und große, leuchtende Kometen blitzschnell dahinziehen, ehe ihn tiefe Bewußtlosigkeit mit ihrem dunklen Mantel umfing.
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KAPITEL 4 Zur gleichen Zeit saß in einem anderen Teil der Stadt in der kleinen Wirtschaft Zur Gescheckten Kuh ein großer blonder Geck bei einer morgendlichen Schale Borschtsch an einem der schlichten Außentische. Seine Kleider, die vormals ein vornehmerer Herr sein eigen genannt hatte, waren im Stil der neuesten italienischen Mode gefertigt, sein Gesicht glatt rasiert, und auf seinem Kopf wucherte eine wilde Lockenpracht. Voller übler Absichten saß er mit gespitzten Lippen dort und beobachtete die Straße. Die Gescheckte Kuh war kein besonders anspruchsvolles, aber ein gemütliches Plätzchen genau gegenüber von Fausts Zimmer. Hier trafen sich die Vagabunden aus allen Teilen Europas, die während der Blütezeit Krakaus in die Stadt gekommen waren. Das waren jene goldenen Tage zwischen der Invasion der Hunnen und dem wilden Angriff der Ungarn gewesen. Damals war die Stadt nicht nur wegen ihrer berühmten Universität, die Faust hierher geführt hatte, weit über die Grenzen Polens hinaus bekannt gewesen. Vielmehr war es der Wohlstand der Bürger und die großen Märkte, auf denen Kaufleute aus Deutschland und Italien ihre kostbaren Waren feilboten. Der Geck, sein Name war Mack, der Schläger – ein Hinweis auf die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten des Instruments, das in seinem Gürtel steckte und sich häufigen Gebrauches erfreute – war nach Krakau gekommen, um sein Glück zu machen. Niemand wußte so recht, woher er gekommen war, vielleicht aus Troyes in Frankreich, vielleicht aus dem Schmelztiegel London im fernen England. Mack der Schläger war nicht der Mensch, der darauf wartete, daß irgendwann das Glück an seine Tür klopfte. Er war ein unternehmungslustiger
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Gauner, schlagfertig und nicht dumm. Er hatte sogar ein Jahr in einem Kloster verbracht, um das Gewerbe eines öffentlichen Schreibers zu erlernen, ehe er sich für einen direkteren Weg zum Glück entschied. Nachdem er von Faust gehört hatte, stellte er Nachforschungen an, die ihm Kenntnis von Fausts Ruf als Geisterbeschwörer und von seinem Wohlstand verschafften. Da gab es wertvolle Metalle, die der Alchimist bei seinen Experimenten benutzte. Und es gab Geschenke und Souvenirs aus den verschiedensten Königshäusern, die Faust als Dank für Heilmittel erhalten hatte, welche die illustre Gesellschaft zur Behandlung ihrer ungezählten Leiden einzusetzen pflegte. Mack hatte einen Plan ausgeheckt, um den prominenten Doktor zu berauben. Seiner Ansicht nach benötigte jemand, dessen wahre Güter im Himmel lagen, all diesen irdischen Unrat nicht. Folglich hatte er sich nach einem Komplizen umgesehen, der ihn dabei unterstützen würde, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Sein Helfer war ein tölpelhafter Lette, dessen Fähigkeiten gerade ausreichen würden, um einem Passanten aufzulauern und ihn mittels einer Keule außer Gefecht zu setzen. Mack hatte entschieden, daß dies der richtige Tag sei, Faust um den beweglichen Teil seiner weltlichen Güter zu erleichtern. Zuvor hatten er und der Lette eine ganze Woche damit verbracht, die Gegend zu erkunden und über jeden Schritt des guten Doktors Buch zu führen. Faust war ein unberechenbares Opfer ohne jene festen Gewohnheiten, die es sonst so einfach machten, rechtschaffene Bürger auszurauben. Unglücklicherweise war er sehr oft zu Hause und mit seinen magischen Experimenten beschäftigt. Aber selbst Faust mußte gelegentlich das Haus verlassen, und wenn er das tat,
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ging er immer denselben Weg: die Kleine-Kasimir-Straße hinunter, durch den Teufelsgang – die Abkürzung zur Jagiello-Universität. Als Faust sich an diesem Tag auf den Weg machte, stand Macks Plan fest. Der Lette bezog Stellung in einem dunklen Hauseingang, und Mack nahm seinen Platz in der Taverne Zur Gescheckten Kuh gegenüber von Fausts Zuhause ein und wartete. Sollte irgend etwas schiefgehen, so würde der Lette zu einem verabredeten Zeitpunkt herkommen und ihn warnen, anderenfalls würde Mack seinen Teil des Planes umsetzen. Dieser Zeitpunkt war nun gekommen. Mack beendete seine Mahlzeit und ließ eine Kupfermünze als Bezahlung zurück. In einem gemächlichen Tempo, das so gar nicht zu seiner inneren Aufregung passen wollte, ging er hinüber zum Haus des Doktors. Er schaute sich auf der Straße um. Alles lag in tiefer Stille. Die Leute aus der Nachbarschaft hatten sich von diesem schönen Ostersonntag ins Freie locken lassen. Niemand hielt sich noch in den Häusern auf. Mack hatte in der Klosterbibliothek in Czvniez einige Bücher über Magie kostenfrei erstanden, die er nun bei sich trug. Sollte doch jemand auftauchen, so würden sie als glaubhafte Ausrede dienen. Schließlich war Faust bekannt dafür, alles zu sammeln, was ihm bei der Suche nach dem Stein der Weisen helfen konnte. Der unerwünschte Besucher schlenderte zum Haus hinüber und klopfte der Form halber an die Tür. Niemand antwortete. Er hatte gesehen, wie die Vermieterin, deren Alkoholkonsum in der Gegend bekannt war, vor einiger Zeit das Haus verlassen hatte. Sie hatte ihr Kopftuch schief umgebunden und trug einen Korb mit Kräutern und Heilpflanzen bei sich. Die brauchte sie für ihre kranke Tante, die sie oft besuchte.
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Mack betätigte probeweise die Klinke, natürlich ohne Erfolg. Die Tür hatte ein einfaches Schnappschloß, und Mack hatte ein Duplikat des Schlüssels in der Tasche. Er steckte den Schlüssel in das Schloß, doch er ließ sich nicht drehen. Eine Weile suchte er nach der richtigen Position, bewegte den Schlüssel vor und zurück, dann fettete er ihn mit Dachsfett ein und versuchte es erneut. Dieses Mal drehte sich der Schlüssel, die Tür öffnete sich. Es war düster in dem großen alten Haus. Mack ging hinein und zog die Tür hinter sich zu. Zielstrebig schlich er zum Zimmer des Doktors, das sich, wie er ausgekundschaftet hatte, links von ihm befand. Durch das der Sonne abgewandte Fenster fiel kein direktes Licht herein. Nur eine diffuse Helligkeit drang in den Raum, die von den Wänden reflektiert wurde und das Mobiliar in Zwielicht tauchte. Vergils Büste schien den Eindringling zu beobachten, wie er geräuschlos durch den Raum schlich. Es roch noch immer nach Quecksilber, Schwefel, abgebrannten Kerzen und Mäusekot. Vor ihm auf dem Tisch standen Glasflaschen und Reagenzgläser, die zu der alchimistischen Ausrüstung des Doktors gehörten und das spärliche Licht auf ihrer glatten Oberfläche widerspiegelten. In einer Ecke befand sich die Schlafstätte des Doktors: zwei Bretter, die auf niedrigen Holzböcken lagen und mit Hermelinfellen bedeckt waren. Ein Indiz für den luxuriösen Geschmack seines Besitzers. Mack schenkte all dem keine Beachtung. Es war lediglich die Kulisse für seine Arbeit. Ihn interessierte nur das, was klein, wertvoll und – anspruchsvoll, wie er war – zudem noch gefällig war. Der Smaragd, der so achtlos neben der Kristallkugel und dem Schädel auf dem großen Holztisch lag, den der Doktor als Arbeitsplatz nutzte, wäre ein guter Anfang. Er bahnte sich seinen Weg zu dem edlen Stein. Seine Hand mit ihren langen schmutzigen
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Fingern wollte gerade zugreifen, als ein furchtbarer Krach in der Mitte des Raums ihn zusammenfahren ließ. Mack erstarrte mitten in der Bewegung. Dieser Radau klang, als befände er sich im Gebirge während einer jener Herbststürme, die regelmäßig in der späten Jahreszeit von Norden heranzogen. Als seien die Naturgesetze außer Kraft gesetzt worden, donnerte es inmitten des Raumes, statt draußen, wie es sich gehörte. Gleichzeitig loderten wie aus dem Nichts vom nackten Fußboden große rote und gelbe Flammen hoch auf. Mit vor Staunen weit geöffnetem Mund und noch immer unfähig, sich zu rühren, beobachtete Mack, wie sich in den Flammen eine Gestalt manifestierte. Erst verschwommen, doch dann immer deutlicher erkannte er einen Mann mit einem langen Gesicht und schwarzem Haar, das an den Seiten glatt zurückgekämmt, in der Mitte dagegen struppig war. Sein Gesicht zierte ein schmaler Schnurrbart und ein spitz zulaufender Knebelbart. Seine Kleidung war von einer merkwürdig düsteren Pracht, und in der Hand hielt er eine Schriftrolle, die von einem roten Band zusammengehalten wurde. »Seien Sie gegrüßt, Doktor Faust«, sagte die Gestalt und entstieg den Flammen, die sodann von selbst erloschen. »Ich bin Mephistopheles, ein Prinz im Dienste der Finsternis, dreifach ausgezeichnet für die beste böse Tat des Jahres vom Institut für dämonische Normen, einer unserer großen zeitlosen Innungen.« Es gelang Mack, sich zumindest so weit aus seiner Erstarrung zu lösen, daß er, wenngleich weit entfernt von seiner üblichen Schlagfertigkeit, eine Antwort zurechtstottern konnte. »Oh, hallo. Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
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»Habe ich Sie mit meinem etwas ungewöhnlichen Auftritt überrascht?« »Oh, nein, eigentlich nicht«, sagte Mack. Er war zwar recht unschlüssig, was er wohl darüber denken würde, wenn er sich ausreichend erholt und seine normale Hirntätigkeit wieder aufgenommen hätte, aber er war sich doch ziemlich sicher, daß es unklug wäre, seine wahre Identität preiszugeben. »Ich meine, was heißt schon ungewöhnlich?« »Ich habe mir erlaubt, diesen kleinen Großen Auftritt zu inszenieren – für einen großen Großen Auftritt mit Feuerwerk und tonnenweise Schießpulver ist es in Ihrem Gemach leider zu beengt – um jegliche Zweifel an meinen Worten gleich im Ansatz zu ersticken. Ich bin tatsächlich Mephistopheles, Prinz der Dämonen. Und ich bin von der Anderen Seite gekommen, um Ihnen ein Angebot zu unterbreiten, das Sie vermutlich nicht ablehnen werden.« Mack, der im Laufe seines bewegten Lebens gelernt hatte, mit allerlei Überraschungen fertigzuwerden, hatte inzwischen seine Kaltschnäuzigkeit wiedergefunden. Sicher, er war noch nie einem leibhaftigen Teufel begegnet, aber einmal ist immer das erste Mal, und so außergewöhnlich war das Ganze ja nun auch wieder nicht, in einer Zeit, in der Wunder auf dem ganzen Kontinent zur Tagesordnung gehörten und die Auswirkungen der Hexerei europaweit für Aufsehen sorgten. »Nun, Doktor Faust«, fuhr Mephistopheles fort, »sind Sie bereit, sich meinen Vorschlag anzuhören?« Mack war sich selbstverständlich der Tatsache bewußt, daß dieser große Dämon einen Fehler begangen hatte, indem er ihn für den gelehrten Doktor Faust hielt. Offensichtlich konnten sich auch Dämonen irren, und er hatte nicht die Absicht, diesen Irrtum zu korrigieren.
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Einerseits fürchtete er, es könnte gefährlich für ihn sein, Mephistopheles zu verärgern, nachdem jener sich sogar die Mühe eines kleinen Großen Auftritts gemacht hatte, andererseits schien es durchaus möglich, daß sich aus dieser zufälligen Begegnung ein Vorteil ziehen ließ. »Ich würde mich freuen, Ihr Angebot zu hören«, antwortete Mack. »Nehmen Sie Platz -in diesem Stuhl werden Sie bequem sitzen, sofern Sie nicht durchbrennen –, und erzählen Sie mir, worum es geht.« »Ich danke Ihnen für Ihr Entgegenkommen«, sagte Mephistopheles und setzte sich, wobei er seine Rockschöße sorgsam glattzog und eine Talgkerze in einem verkohlten Eichenholzhalter veranlaßte, sich spontan selbst zu entzünden. Nacheinander entflammten noch einige weitere Kerzen, bis das Licht endlich zu seiner Zufriedenheit ausfiel und lange unheimliche Schatten über sein Gesicht huschen ließ. Mephistopheles fuhr fort: »Wie würde es Ihnen für den Anfang gefallen, über so unermeßlichen Reichtum zu verfügen, wie es ihn seit der Zeit, als Fabius Cunctator Karthago plünderte, nicht mehr gegeben hat. Ich spreche von vielen kunstvoll gearbeiteten Kästchen, gefüllt mit Goldstücken, die so rein sind, daß man auf Erden nur davon träumen kann. Und dazu Fässer voller kostbarer Steine. Perlen so groß wie Hühnereier, Diamanten wie Granatäpfel und einen Smaragd, aus dem man einen Eßtisch für sechs Personen anfertigen könnte. Außerdem eine Kollektion von zehn feurigen Rubinen, jeder so groß wie ein Pferdeapfel. Das und noch vieles mehr, so viel, daß die Details meine Stimme zu sehr beanspruchen würden. Ich überlasse alles weitere lieber Ihrer Phantasie.« »Ich kann es mir annähernd vorstellen«, sagte Mack. »Das klingt wirklich sehr gut. Es wäre geradezu kleinlich zu fragen, um wie viele Fässer mit Edelsteinen und wie viele Kästchen Gold es genau geht. Selbst wenn es sich
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nur um jeweils eines handeln würde, wäre es doch ein überaus wunderbares Geschenk.« »Kein Geschenk«, widersprach Mephistopheles. »Sehen Sie es als den Lohn für die Dienste, die ich von Ihnen einfordern werde. Aber da gibt es noch etwas anderes.« »Eben dieses andere ist es, was mich beunruhigt«, gestand Mack. »Aber natürlich will ich Sie dadurch nicht verärgern.« »So habe ich Sie auch nicht verstanden. Es ist eine Freude, offen sprechen zu dürfen. Sehen Sie, Faust, ich habe nicht vor, Sie zu täuschen. Glauben Sie etwa, die Mächte der Finsternis würden sich die Mühe machen, sich meiner Dienste zu bedienen und einen kleinen Großen Auftritt zu organisieren, nur um Sie zu hintergehen? Ihre Leichtgläubigkeit auszunutzen, bedarf wohl kaum eines solchen Aufwands.« »Verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, diese Sache mit dem Reichtum klingt wirklich gut. Aber gibt es da nicht einen Haken? Mit wem werde ich mich an all den Schätzen erfreuen können?« Die verschämte Lüsternheit seines Gesprächspartners zauberte ein vergnügtes Funkeln in Mephistopheles' Augen. »Sie werden ein ganzes Rudel der schönsten Mädchen besitzen. So schön, wie sie noch kein Mann jemals gesehen hat, außer vielleicht in den Fieberträumen seiner unerfüllten Sehnsüchte. Diese jungen Damen, jede eines Herrschers würdig, werden die köstlichsten Körper haben, jede gewünschte Hautfarbe und traumhaftes Haar, und Frisuren ganz nach Ihrem Geschmack, Faust. Sie werden jeder Ihrer Stimmungen genügen. Aber sie werden noch mehr zu bieten haben als nur ihre Schönheit. Sie werden wahre Meisterinnen in der Kunst der Liebe sein. Ob Ihnen der Sinn nach sanfter Zärtlichkeit, nach berauschender Ekstase oder nach
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härteren Spielen steht, sie werden alle Ihre Wünsche aufs vorzüglichste erfüllen. Manche von ihnen werden Ihren Intellekt befriedigen, andere Ihre animalischen oder kindlichen Bedürfnisse, und wieder andere werden einfach nur da sein, um Ihnen den morgendlichen Borschtsch zu servieren. Und sie haben noch einen weiteren Vorzug: Alles, was sie außer Ihnen noch lieben werden, ist, so lange in einem kalten Raum in einem todesähnlichen Schlaf zu liegen, bis ihre Anwesenheit wieder erwünscht ist. Jede einzelne von ihnen wird ein schier unerschöpflicher Quell der Sinnlichkeit sein. Und darüber hinaus sind sie nicht alleine. Sie werden Freundinnen, Schwestern und Mütter haben, die für jegliche Pikanterie bereitstehen.« »Das alles ist wirklich wundervoll«, sagte Mack. »Wirklich erstaunlich, wie es Ihnen gelungen ist, eines der ältesten Probleme der Menschheit zu lösen.« Fast hätte er hinzugefügt: Mephistopheles, Sie haben mich überzeugt. Schaffen Sie die Tänzerinnen herbei und sagen Sie mir, wen ich dafür umlegen soll! Aber eine angeborene Vorsicht ließ ihn statt dessen sagen: »Und wo werde ich mein neues Leben mit meinen unermeßlichen Reichtümern und unzähligen Frauen genießen?« »Wo auch immer Sie es wünschen«, antwortete Mephistopheles. »Und wenn es gegenwärtig keinen Ort geben sollte, der Ihnen zusagt, dann können wir Sie in eine andere Zeit bringen, in jede Zeit und an jeden Ort, ganz gleich, wann oder wo. Wir sind sogar ausgerüstet für den Fall, daß Sie etwas suchen, das noch gar nicht existiert. Wir kennen ein Gesetz, das besagt, daß alles, was ersonnen wird, in dem Augenblick, in dem das geschieht, bereits zu sein beginnt. Wir können Sie an einem solchen Ort als einen großen Gelehrten etablieren, als Prinz eines mächtigen Reiches, als reichen Bischof, als denjenigen, der Sie sein wollen. Wir betätigen uns auch gerne auf dem Feld der Beschäftigungstherapie. Wir
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werden dafür sorgen, daß Sie in Ihrem neuen Leben eine Tätigkeit haben werden, die Ihnen zusagt, nötigenfalls werden wir sie für Sie kreieren. Wir werden Ihrem Leben den Sinn geben, der am besten zu Ihnen paßt, ganz gleich, was das sein wird. Und wir garantieren Ihnen ein langes, glückliches Leben durch Arzneien und Heilkräuter, die wir Ihnen als kostenlose Zugabe zu unserem Angebot mitliefern werden. Sie werden dadurch so langsam altern, daß es Ihnen selbst kaum auffallen wird.« »Bis zum Ende natürlich, denn meine Tage werden wohl trotzdem irgendwann gezählt sein«, sagte Mack. »Natürlich. Es wird sich kaum vermeiden lassen, daß Sie zumindest das bemerken.« Mack überlegte einen Augenblick, dann fragte er: »Sie können mir nicht zufällig auch Unsterblichkeit anbieten?« »Sie sind wirklich ein hartnäckiger Verhandlungspartner, Faust! Nein, das können wir nicht. Warum sollten wir? Schon ein kleiner Teil dieses neuen verbesserten Komplettangebots, dessen einzige Beschränkung in der Vorstellungskraft des Empfängers liegt, sollte mehr als genug sein, um gleich mehrere von Ihrer Sorte zu kaufen.« »Wie gut Sie uns einschätzen können«, schmeichelte Mack. »Wie weise Sie sind!« Dabei dachte er, Mephistopheles sei wichtigtuerisch, hochnäsig und mehr als nur ein bißchen dumm. Mack war überzeugt, die Situation im Griff zu haben und ahnte nicht einmal, daß er im Begriff war, auf eine der subtilsten Täuschungen der Hölle hereinzufallen. »Ich dachte nur, falls Sie etwas Unsterblichkeit übrig hätten – ich würde nur das nehmen, was Sie ohnehin
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nicht brauchten – ach, wäre das schön –, nun, daß Sie mir vielleicht etwas davon überlassen könnten.« »Aber das würde den Sinn der ganzen Angelegenheit zunichte machen. Welcher Gewinn bliebe mir, wenn ich am Ende nicht Ihre Seele bekäme?« »Ja, natürlich, so gesehen haben Sie vollkommen recht. Ein langes Leben ist schon mehr als genug.« »Das bieten wir Ihnen an, eine regelmäßige Verjüngung eingeschlossen.« »Aber das mit meiner Seele ist trotzdem so eine Sache.« »Bedenken Sie, daß die Seelenklausel nicht zwangsläufig zum Tragen kommen muß. Wenn es mir im Verlauf unserer Zusammenarbeit nicht gelingt, Sie vollständig zufriedenzustellen, können Sie Ihre Seele behalten und wir reden nicht mehr davon. Das ist doch wohl fair genug, oder?« »Hey, ich widerspreche doch gar nicht«, sagte Mack. »Nun sagen Sie mir, was ich tun soll.« »Wir möchten, daß Sie uns bei einem kleinen Wettstreit unter Freunden behilflich sind.« »Was ist das für ein Wettstreit?« »Es geht um die Entwicklung der menschlichen Moral im Laufe der Zeit. Sie werden in einer Reihe von unterschiedlichen Situationen einen Part übernehmen. Jeder wird zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort spielen. Wir werden in die Vergangenheit und in die Zukunft reisen, je nachdem, wie es das Spiel verlangt. Sie werden in jeder Episode eine Rolle spielen und vor eine Wahl gestellt werden. Wie, aus welchen Gründen und mit welchen Absichten Sie Ihre Entscheidungen treffen, wird beobachtet und beurteilt werden. Wir werden Sie beurteilen, Faust, aber nicht als den gelehrten Doktor
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Faust, sondern als den beispielhaften Kämpfer für die Menschheit, der von beiden Seiten auserwählt wurde, um uns neue Erkenntnisse über die menschliche Moral, Ethik und andere schwer abwägbare Eigenschaften zu liefern. Ich sage Ihnen das so deutlich, Faust, weil ich von Ihnen erwarte, daß Sie Ihre Aufgabe verstehen, bevor wir beginnen. Wenn wir erst einmal angefangen haben, werden Sie kaum noch an die ehrfurchtgebietenden Voraussetzungen denken, auf denen dieser Wettstreit basiert. Sie werden zu sehr damit beschäftigt sein, sich um Ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.« »Ich verstehe«, log Mack und mühte sich redlich, den Worten des Dämons zu folgen. »Das war schon alles, Faust. Die Besetzung steht, die Kulisse ist aufgebaut, die Akteure sind bereit, das Spiel kann beginnen. Wir warten lediglich auf Ihre Antwort.« Was für ein gewiefter Redner doch dieser Teufel ist, dachte Mack. Aber Mephistopheles erschien ihm trotz seines anmaßenden Zynismus doch ein Idealist zu sein. Es gab keinen Grund, an dem Angebot zu zweifeln, und es würde ihn kaum weiter bringen, wenn er noch länger wegen seiner Seele zauderte. »Sie haben mich überzeugt«, sagte er. »Ich bin dabei.« »Unterschreiben Sie hier«, sagte Mephistopheles. Er entrollte das Schriftstück, das er bei sich getragen hatte, reichte Mack eine Feder und punktierte mit seinem langen scharfen Fingernagel eine Vene in Macks Unterarm.
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KAPITEL 5 Die Akteure des Dramas in Fausts Zimmer hätten ein Gesicht am Fenster auftauchen sehen können, das gleich darauf wieder verschwand, wären sie nicht so sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt gewesen. Es war Faust selbst, der am Fenster lauschte. Nach dem kräftigen, aber ungeschickt plazierten Schlag des Letten im Teufelsgang hatte sich Faust mit blutender Kopfhaut mühevoll aufgerichtet, jedoch nur um nach kurzem Wanken gleich wieder in den Rinnstein zurückzusinken. Er hatte seinen Sinnen Zeit geben müssen, sich wieder zu regenerieren. Doch schon im nächsten Moment war der Lette aus dem Hauseingang hervorgetreten, die Eichenkeule schlagbereit erhoben, um sich zu überzeugen, daß Faust für eine Weile oder auch für immer – das war ihm einerlei – außer Gefecht gesetzt war. In Zeiten wie diesen sollte man es mit derlei Dingen nicht zu genau nehmen. Nicht solange die Seuche ihr graues Leichentuch über den Süden Europas legte, nicht solange die von unerschütterlichem Fanatismus getriebenen moslemischen Krieger mit ihren furchterregenden Krummschwertern von Andalusien her voranstürmten und erneut drohten – wie schon zu Zeiten Karls des Großen – die Pyrenäen nordwärts zu überqueren, um in ihrer heiligen Wut die Städte Aquitaniens und der Languedoc zu verwüsten. Letztendlich berührten allerdings nur wenig.
diese
Dinge
den
Letten
Gerade als er erneut zuschlagen wollte, hörte er die Männerstimmen, die sich ihm lebhaft diskutierend näherten. Er wußte, daß es sich nur um Studenten der Universität handeln konnte, die natürlichen Feinde der Klasse, die der unwissende Lette repräsentierte. Sie
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entdeckten ihn, Rufe wurden laut. Der Lette machte sich so schnell er nur konnte aus dem Staube. Er rannte, um weiterzuleben und noch anderen Leuten zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort seine Keule über den Schädel ziehen zu können. Er rannte immer weiter und weiter, hinaus aus Krakau, auf die Straße Richtung Böhmen und weiter gen Süden und verschwand so für immer aus unserer Geschichte. Die Studenten halfen Faust auf die Beine, und er wischte sich den Schmutz und die Hühnereingeweide, in die er gefallen war, von der Kleidung. Die Rinnsteine und Abwasserkanäle jener Zeit waren abenteuerliche Ausgeburten jener unfähigen Architekten, die die finsteren, beengten, übelriechenden, aber irgendwie doch freundlichen Städte des Mittelalters entworfen hatten. Faust beeilte sich, die Studenten wieder loszuwerden und hastete, noch immer wankend, nach Hause. Er bemerkte, daß die Haustür halb offen stand. Vorsichtig schlich er um die Hausecke zu seinem Fenster, schaute hinein und war einigermaßen überrascht, zwei Gestalten zu sehen, eine davon offensichtlich Mephistopheles, den Faust viele Male auf Abbildungen in den Grimoires, den Chemiebüchern jener Zeit, gesehen hatte, ohne ihm jedoch jemals persönlich begegnet zu sein. Er duckte sich unter das Fenster und lauschte. Leise drangen die Stimmen durch das Glas an sein Ohr. Gerade schickte Mack sich an, seine blutige Unterschrift unter das Dokument zu setzen. Da war ein Betrüger in seinem Haus! Der Teufel verführte den falschen Mann! Faust wandte sich vom Fenster ab und rannte um das Gebäude zur Eingangstür. Er stieß die Tür so heftig auf, daß sie mit lautem Krachen gegen die Wand prallte, lief
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ins Haus hinein, den Flur entlang bis zu seiner Tür, wo er einen Augenblick stehen blieb, ehe er öffnete. Das war genau in dem Moment, da Mack den letzten Federstrich seiner Unterschrift unter den Vertrag gezogen hatte. Der Teufel rollte das Schriftstück wieder zusammen und sagte: »Und nun, mein lieber Doktor, werden wir uns zu der Hexenküche begeben, wo unsere Kosmetikexperten Sie für die vor Ihnen liegenden Abenteuer herrichten werden.« Mephistopheles hob seine Hände, helle Flammen in allen Farben des Regenbogens loderten auf, strichen in unheilvollem Blauviolett hier und dort umher und schwebten erhaben um die zwei Gestalten herum. Als das Feuer verschwunden.
schließlich
erlosch,
waren
beide
»Verdammt!« schrie Faust, rannte in den Raum und hieb mit der Faust in die Handfläche der anderen Hand. »Eine Minute zu spät!«
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KAPITEL 6 Faust starrte ins Halbdunkel seines Zimmers. Einen Augenblick lang dachte er, in dem fledermausähnlichen Muster der Decke irgend etwas gesehen zu haben. Doch nein, dort war niemand. Sie waren fort, sie alle beide, der Betrüger und Mephistopheles. Nichts war zurückgeblieben außer dem schwachen Geruch von Schwefel. Faust konnte sich vorstellen, was geschehen war. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände war genau zu dem Zeitpunkt, als der Teufel ihm seine Aufwartung zu machen gedachte, ein Fremder in sein Zimmer eingedrungen. Der Fremde war dieser große blonde Hanswurst, den er durch das Fenster erblickt hatte. Und Mephistopheles, dieser dumme Dämon mit dem großartigen Namen, hatte den Kerl tatsächlich mit ihm verwechselt. Kopfschüttelnd und mit gerunzelter Stirn stand Faust da. Er hatte genug mitangehört, um zu wissen, daß Mephistopheles ein phantastisches Abenteuer offeriert hatte und gerade jetzt dabei war, den Schwindler an den Ort des Geschehens zu bringen und damit auch näher an eine Belohnung, die rechtmäßig ihm, Faust, zustand. Doch er selbst saß nach wie vor in seinem trostlosen Zimmer in der irdischen Stadt Krakau, dazu verdammt, so weiterzuleben, als sei nichts geschehen. Zum Teufel damit! Er würde nicht untätig bleiben. Er würde ihnen folgen, wenn nötig bis ans Ende von Raum und Zeit. Er würde den Betrüger entlarven und seinen rechtmäßigen Platz im großartigen Lauf der Dinge einnehmen.
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Faust ließ sich auf einen Stuhl sinken. Sein Kopf wollte ihm fast platzen vor lauter Überlegungen. Zuerst einmal mußte er dorthin, wo Mephistopheles und der Betrüger sich befanden. Sie waren inmitten eines widernatürlichen Feuers verschwunden, offenbar hielten sie sich nicht mehr auf der Erde auf. Das aber bedeutete, daß auch er sich auf magische Weise in jenen Raum jenseits der Grenzen der Erde und seiner irdischen Herkunft begeben mußte, in jenes ätherische Reich, das von den Geistwesen beherrscht wurde. An jenen Ort, wo die Toten ihre düsteren Gelage feierten, und Elfen, Feen, Kobolde, Zwerge und andere Kreaturen der heidnischen Vergangenheit ihr wahres Zuhause hatten. Faust versank immer tiefer in seinen Grübeleien. War er bereit für eine so große Sache? Es wäre die höchste Prüfung für jeden Magier. Doch obwohl er sich selbst für den besten von allen hielt, für denjenigen, der die magischen Künste am sichersten beherrschte und über mehr esoterisches Wissen verfügte, als jeder andere, war er unschlüssig. Schließlich war er nicht mehr der Jüngste. Diese Angelegenheit könnte womöglich seine Kräfte überfordern, sie könnte ihn töten… Dann erinnerte er sich daran, daß er noch vor wenigen Stunden mit dem Gedanken gespielt hatte, sich selbst das Leben zu nehmen! Und warum? Nur weil es ihm so vorgekommen war, als sei ihm nichts wahrhaft Interessantes mehr geblieben. Das Leben hatte sich in ermüdender Regelmäßigkeit vor ihm ausgedehnt, geizend mit jeder Art der Freude, dafür aber angefüllt mit Kummer und unendlicher Bedeutungslosigkeit. Und nun war ihm ein Abenteuer vorenthalten worden, das ihm mit dem Recht seines Ruhmes und seiner Bildung zustand. Und er war nicht gewillt, dies zu dulden. Selbst wenn er dabei den Tod fand – wenn das seine Bestimmung sein sollte, dann war ihm auch das recht. Aber niemand sollte es wagen, ihm ein Angebot des Teufels zu stehlen!
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Er erhob sich und zerstieß die wenige verbliebene Glut im Kamin, dann legte er Holz nach, und das Feuer loderte wieder auf. Faust wusch sein Gesicht mit dem nicht mehr ganz frischen Wasser in der Waschschüssel, das das Dienstmädchen bereits vor zwei Tagen gebracht hatte. Er fand noch ein Stück getrocknetes Rauchfleisch, aß es und spülte mit einem Glas Starkbier nach. Die ganze Zeit über war er damit beschäftigt, seine nächsten Schritte zu planen. Er brauchte einen wirklich starken Zauber, um sein Ziel zu erreichen. Der Zauber mußte nicht nur die Macht haben, ihn fortzutragen, sondern ihm zudem einen Schutz vor den vielfältigen Gefahren eines solchen Unternehmens bieten. Reisezauber waren bekanntlich problematisch, schickten sie doch ein körperliches Wesen – in diesem Falle ihn selbst – in eine Sphäre, in der sich alle Kreaturen üblicherweise fein-stofflicher Leiber bedienten. Allein die Menge an spiritueller Energie, die für ein solches Vorhaben nötig war, war erschreckend groß. Faust wandte sich seinem Bücherschrank zu und durchstöberte seine Grimoires. Er fand eine Formel in Hermes Trismegistos' Sichere Reise zu den Sternen, aber sie erwies sich als zu kompliziert. Ihre Durchführung verlangte nach Ingredienzen, die kaum zu bekommen waren. Darunter befanden sich so exotische Zutaten wie der linke große Zeh eines Chinesen, ein Artikel, der in jener Zeit in Osteuropa fast unmöglich zu beschaffen war, obwohl es in Venedig ein beträchtliches Angebot davon geben sollte. Er suchte weiter. In seiner Konkordanz des Malleus Mallificarum stieß er auf eine einfachere Formel mit weniger Zutaten. Er machte sich umgehend an die Ausführung.
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Fledermauswurz… Irgendwo mußte doch noch eine ganze Flasche davon sein. Und vier ganze Giftpilze. Glücklicherweise hatte er einige sorgfältig getrocknete Pilze aufbewahrt. Nieswurz war überhaupt kein Problem, weiße Weide gängig, Quecksilber hatte er zur Hand, nur der geschwärzte Wermut war ihm ausgegangen, aber den konnte er sich in der Apotheke um die Ecke besorgen. Doch was war das? ›Nur durchführbar unter Verwendung eines Fragments des Heiligen Kreuzes!‹ Verflucht! Er hatte sein vergangenen Monat verbraucht!
letztes
Fragment
im
Ohne weitere Zeit zu verlieren, griff Faust nach seiner Brieftasche, legte für alle Fälle den Smaragd hinein und verließ das Haus. Die Apotheke an der Ecke hatte aufgrund des Feiertages geschlossen. Faust ließ sich nicht abschrecken, sondern klopfte so lange hartnäckig und lautstark an die Fensterläden, bis der Apotheker ihm öffnete. Murrend erklärte ihm dieser, daß er kein Heiliges Kreuz vorrätig habe und nicht wisse, wann die nächste Lieferung aus Rom eintreffen würde. Immerhin hatte er etwas geschwärzten Wermut, den Faust erwerben konnte. Er verließ die Apotheke und eilte, so schnell ihn seine dürren Beine tragen wollten, zum Bischofspalast in der Paternosterstraße. Die Diener ließen ihn sogleich herein, da er und der Bischof alte Freunde waren. Sie hatten oft noch spät in der Nacht bei einer Schale Haferbrei (um den Magen des Bischofs stand es ähnlich schlecht wie um den Fausts) zusammengesessen, geistreiche Diskussionen geführt und Spitzfindigkeiten ausgetauscht. Der Bischof, der seinen beachtlichen Leibesumfang bequem in einem riesigen Sitzmöbel untergebracht hatte,
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schüttelte ablehnend das Haupt. »Es tut mir außerordentlich leid, mein lieber Faust. Die jüngste Anweisung aus Rom verbietet uns, den Gebrauch von Fragmenten des Heiligen Kreuzes für Götzendienste zuzulassen.« »Wer spricht denn hier von Götzendiensten?« protestierte Faust. »Worum es hier geht, ist die anerkannte Wissenschaft der Alchimie.« »Und zu welchem Zweck willst du es einsetzen, mein Sohn? Womöglich, um große Reichtümer zu erwerben?« »Aber nein! Alles, was ich will, ist, ein großes Unrecht wieder rückgängig zu machen.« »Nun, ich denke, das kann ich dulden«, sagte der Bischof. »Aber ich muß dich warnen, der Preis für das Heilige Kreuz ist gestiegen. Es ist nun einmal nur in begrenztem Umfang verfügbar.« »Ich brauche nur ein Stück von der Größe eines Fingernagels. Rechnen Sie es meinen Verbindlichkeiten zu.« Der Bischof holte eine kleine, in japanischer Manier lackierte Schachtel hervor, in der er die Fragmente des Heiligen Kreuzes zu verwahren pflegte. »Ich dachte, wir hätten uns bereits über deine Verpflichtungen unterhalten.« Faust griff in seine Brieftasche und holte den Smaragd hervor. »Nehmen Sie das als Anzahlung.« Er legte das Fragment des Heiligen Kreuzes zwischen Birkenrinden und rollte beides sorgfältig in eine alte Altardecke ein, während der Bischof den Glanz des Smaragds bewunderte. Mit dem sicher verpackten Fragment eilte Faust heim. Er entzündete ein Kohlenfeuer unter seinem
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Alchimistenkessel und fachte es mit dem ledernen Blasebalg an, bis es rotglühend aufflammte und kleine glitzernde Funken aus der Glut aufstiegen. Nun suchte er die Ingredienzien zusammen. Er stellte den Krug mit Aqua Ardens neben sich auf den Tisch und achtete sorgfältig darauf, nichts davon zu verschütten, weil die Flüssigkeit sich durch alles hindurchfressen würde, was nicht mit einem speziellen Schutz überzogen war. In eine kleine Messingschale streute er veredeltes Antimon und fügte am Rand der Schale auf der einen Seite Blütenessenzen, auf der anderen Krötendreck, verkalkten Fledermauskot, kristallisierten Urin eines Waldmurmeltiers und angereicherte Friedhofserde hinzu, wobei er darauf achtete, daß alle Zutaten säuberlich voneinander getrennt lagen. Die Formel würde nicht wirken, wenn sich die Ingredienzien vorzeitig vermischten! Hier hatte er Weinstein, Alaun und Hefe, dort das Nigredo, das er gerade erst in der letzten Woche hergestellt hatte. Er bedauerte ein wenig, daß er es nun schon opfern mußte, denn richtig angewandt war es in der Lage, einen leibhaftigen Phoenix hervorzubringen, den wunderbarsten aller mystischen Vögel. Aber das war sicher nicht der richtige Zeitpunkt, sich schöngeistigen Betrachtungen hinzugeben. Er war bereit anzufangen. Es klopfte an der Tür. Faust versuchte, es zu ignorieren, aber es klopfte wieder und wieder, und er konnte das Palaver verschiedener Stimmen von draußen hören. Äußerst übellaunig stampfte er zur Tür und öffnete. Auf dem Flur standen vier oder fünf junge Männer – es war kaum auszumachen, wie viele es tatsächlich waren, so sehr plapperten sie durcheinander. »Doktor Faust, Herr! Erkennen Sie uns nicht? Wir sind Studenten aus Ihrem Kurs über die Ursprünge der
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Alchimie an der Universität. Wir brauchen Ihren Rat. Es ist uns nicht klar, warum das feminine Bildnis der Anima in dem sich wandelnden hermaphroditischen Körper des Merkurius immer erhalten bleibt. Im Abschlußexamen wird man uns das bestimmt fragen, und wir können in unserem Leitfaden zur alchimistischen Literatur absolut nichts darüber finden.« »Und wieso nicht?« erwiderte Faust ungehalten. »Der gesamte Themenbereich des Hermaphrodismus und der geschlechtlichen Symbolik wird in Neue Wege in einer Alten Wissenschaft von Nicholas Flamel ausführlich behandelt. Ich hatte Ihnen bereits zu Jahresbeginn geraten, sich eingehender mit dieser Lektüre zu befassen.« »Aber es ist in Französisch geschrieben, Herr.« »Die Beherrschung der französischen Sprache wird von Ihnen erwartet!« »Aber es macht keinen Sinn, Herr. Wenn das Prinzip des Hermaphrodismus in Übereinstimmung mit Aristoteles…« Faust erhob die Hand: »Studenten«, sagte er, »ich arbeite an einem überaus schwierigen und komplexen Experiment, das meine ungeteilte Aufmerksamkeit erfordert und im Erfolgsfalle möglicherweise als ein Meilenstein in die Annalen der Alchimie eingehen wird. Ich kann keine weitere Unterbrechung dulden. Gehen Sie zu einem der anderen Professoren, oder scheren Sie sich meinetwegen zum Teufel, nur verschwinden Sie von hier, sofort!« Die Studenten gingen, und Faust setzte seine Arbeit fort. Er fachte das Feuer wieder an und vergewisserte sich, daß seine Meßkolben, Reagenzgläser und haarfeinen Pipetten sauber und in ordnungsgemäßem
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Zustand waren. Die Destillierkolben waren aufgeheizt und arbeitsbereit und die Feinwaage korrekt tariert. Es konnte losgehen. Nach und nach gab er die einzelnen Zutaten in einen Tiegel, wobei die Masse jedesmal zu seiner Zufriedenheit die Farbe wechselte. Rote und grüne Wirbel zogen sich durch die schimmernde Flüssigkeit, Dampfwolken stiegen auf und kondensierten zu einem feuchten Dunst, der zur Decke aufstieg und dort wie eine transparente graue Schlange in der Luft hing. Faust gab das Fragment des Heiligen Kreuzes hinzu. Für einen Augenblick leuchtete die Substanz auf, ehe sie sich schwarz verfärbte. Es war ein äußerst schlechtes Zeichen, wenn sich eine Substanz in einer alchimistischen Reaktion schwarz färbte. Faust hatte einen zweifachen silbernen Blitz bemerkt, der kurz vor der Schwarzfärbung aufgetreten war. Er nahm das Handbuch zur Problemlösung für Alchimisten, das die Hexenmeister der Universität zu Kairo zusammengestellt und Moses Maimonides übersetzt hatte, und schlug unter der entsprechenden Rubrik nach. Er las: »Ein doppelter silberner Blitz mit anschließender Schwarzfärbung der Materia Confusa tritt auf, wenn das verwendete Kreuzesfragment nicht vom Heiligen Kreuz war. Testen Sie es mit Ihrem Religionsprüfer, ehe Sie fortfahren.« Verdammt! Schon wieder Probleme! Und dieses Mal schien es keinen Ausweg zu geben. Es sei denn, es gäbe einen Ersatz für das Heilige Kreuz. Erneut durchwühlte er seinen Bücherbestand, fand aber nichts Brauchbares auf den überladenen Regalen. Er hätte schreien können, so frustriert war er. Dann fiel sein Blick auf das Bücherbündel, das der Mann hinterlassen hatte, der in sein Zimmer eingedrungen war.
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Er schaute die Titel durch und schürzte verächtlich die Lippen. Nichts als billige Kopien der echten Werke, Nippes in Rummelplatzqualität, den man nur einem Unwissenden andrehen konnte. Doch plötzlich entdeckte er inmitten des Schunds einen Titel, der ihm bekannt war, wenn es ihm auch nie gelungen war, eine Ausgabe davon in die Hände zu bekommen. Vor ihm lag in deutscher Übersetzung Das Wesen der Alchimie, ein Buch, das wichtige Schlüsseltexte des Eirenäus enthielt. Wie war das bloß da hineingeraten? Er blätterte in dem Buch und stieß auf die folgende Textpassage: ›Heiliges Kreuz kann anhand seiner äußeren Erscheinung von einfachem Kreuz kaum unterschieden werden. Unglücklicherweise beeinträchtigt die Verwendung des falschen Kreuzes die Wirkungsweise alchimistischer Mixturen. Die Kraft des einfachen Kreuzes kann jedoch durch das Hinzufügen von Kalium und gewöhnlichem Lampenruß so weit verstärkt werden, daß es als Ersatz für das Heilige Kreuz dienen kann.‹ Faust hatte eine Phiole mit Kalium vorrätig. Lampenruß hatte er nicht, aber wenn, wie er annahm, das Dienstmädchen die Lampen eher nachlässig gesäubert hatte… Richtig, er hatte sich nicht getäuscht, da war reichlich Lampenruß. Nachdem er die beiden Substanzen hinzugefügt hatte, veränderte die Masse in seinem Alchimistenkessel ihre Farbe auf mannigfaltige Weise. Ein dichter grauer Dunst stieg auf und bildete augenblicklich eine Wolke um Faust und seine Gerätschaften. Als der Nebel sich wieder lichtete, befand sich Faust nicht mehr in seinem Zimmer und auch nicht mehr in Krakau.
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KAPITEL 7 Im ersten Moment nahm Faust nichts als ein alles umfassendes Perlmuttgrau wahr. Dieser Eindruck hielt aber nur sehr kurze Zeit an – genau so lange, wie das Geisterreich brauchte, um sich der ungewöhnlichen Situation anzupassen, einen irdischen Beobachter zu beherbergen, indem es eine sichtbare Oberfläche entwickelte. Faust fand sich direkt an der Peripherie einer kleinen Stadt wieder, die im ersten Moment wirkte wie viele der Orte, die er während seiner Reisen durch Europa gesehen hatte, ohne ihnen jedoch wirklich zu gleichen. Er war mit einer scheinbar unglaublichen Geschwindigkeit an diesen Ort gelangt, aber der Eindruck rührte einfach nur daher, daß das Reich der Geistwesen nicht wirklich substantiell war. Nur manchmal, den allgemeinen Regeln der temporären Erstarrung folgend, nahm es eine feste Form an. Dann wieder schrumpfte es auf ein winziges Etwas zusammen und hinterließ anstelle einer feinstofflichen Welt ein Vakuum ungenutzten Raumes. Die gelehrten Doktoren der Jagiello-Universität nahmen an, daß sich das spirituelle Reich, wenn sich keine fremden Besucher in ihm aufhielten, in einem Universum befand, das nicht größer als ein Stecknadelkopf war – zu einer so unendlich dichten Masse konnte die nichtstoffliche Welt zusammengezogen werden. Der einzig sinnvolle Grund für eine Ausdehnung war die Anwesenheit eines Beobachters aus einer anderen Sphäre. Dann aber gebar diese Welt sich selbst mit einem Szenario und einem Personal, das der Welt und den Erwartungen des Fremdlings entsprechen sollte.
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Faust lief in die Stadt hinein und eine Ladenstraße entlang. Über jedem Geschäft waren Schilder angebracht, deren Aufschriften Faust jedoch nicht entziffern konnte, woraus er folgerte, daß sie für ihn keinerlei Bedeutung hätten. Am Ende der Straße sah er ein Schild, das er lesen konnte – DIE HEXENKÜCHE – und er wußte, daß dies der Ort war, den er aufsuchen mußte. Es war Teil eines Reisezaubers, den Reisenden sicher bis an die Schwelle seines Abenteuers zu geleiten, bevor er dann ganz auf sich allein gestellt war. Faust näherte sich der Tür. Er berührte sie zuerst nur ganz vorsichtig, weil er befürchtete, seine Hand würde einfach hindurchgreifen, da an diesem Ort nichts als Geist existierte und Geistwesen in der Lage sind, andere Geistwesen zu durchdringen. Trotzdem fühlte sich die Tür fest an. Faust nahm an, daß sich die Wesen dieser Welt trotz ihrer Feinstofflichkeit in seiner Anwesenheit so zu verhalten hatten, als seien sie von fester Substanz. Vermutlich hatten die Geistwesen sich einem formalen Eid unterworfen, der sie dazu verpflichtete, Substanz vorzugeben, und der vor allem verlangte, daß sie sich nicht mit anderen Wesen verschmolzen, was die Illusion der Festigkeit zerstört hätte. Wie ihnen das allerdings gelang, wußte auch Faust nicht zu erklären. Faust betrat die Hexenküche und sah eine Schar kleiner, nicht sonderlich furchteinflößender Dämonen, die damit beschäftigt waren, einigen in gestreifte Tücher gehüllte Kunden zu Diensten zu sein. Dieses Etablissement war offenbar eine Art Schönheitssalon, und die Dämonen waren augenscheinlich Coiffeure oder womöglich auch Chirurgen. Sie kümmerten sich nicht nur um die Frisuren ihrer Kundschaft, sondern schälten auch Fett aus dicken Bäuchen, brachten fleischige Oberschenkel in Form, die mehr einer Blutwurst als einem Bein ähnelten, fügten feuchtglänzende frische Muskelstränge an ausgezehrte Arme und
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zusammengeschrumpfte Beine. Sie schrubbten den Schmutz von den Leibern und schliffen die Haut ab, um Schönheitsfehler zu entfernen. Unter ihren geschickten Klauen wurden ganze Gesichter rekonstruiert. Als Ersatzteile benutzten sie Fleischklumpen verschiedenster Art, die sie in großen Fässern neben den Friseurstühlen aufbewahrten. Nachdem Faust dem Treiben eine Weile zugesehen hatte, bemerkte er, daß die Dämonen bloß Assistenten waren. Etwa ein Dutzend Hexen huschte ständig mit prüfenden Blicken zwischen ihnen herum und nahm sich der besonders schwierigen Fälle persönlich an. Sie alle waren in die gleichen zerlumpten, schäbigen Gewänder gekleidet und trugen spitze, hohe Hüte auf den schmalen Köpfen. Ihre mageren Beine steckten in Schnürstiefeln, und die meisten von ihnen trugen eine unheilverkündende schwarze Katze auf der Schulter. »Oh, was ist das?« fragte eine Seniorhexe, deren Rang an der schwarzen Krepprose an ihrem Hut erkennbar war. »Bist du etwa die Lieferung Rohmaterial, auf die wir warten? Komm hier herüber, Süßer, und wir werden dich im Nu zerstückelt haben.« »Ich bin niemandes Lieferung«, polterte Faust mit stolzer Stimme. »Ich bin Johann Faust, ein Doktor aus der irdischen Sphäre.« »Es will mir scheinen, als wäre erst kürzlich eine Person dieses Namens hier durchgekommen«, überlegte die Hexe laut. »War er in Begleitung eines großen, mageren Dämons namens Mephistopheles?« »O ja, das war er. Obwohl der Dämon meiner Ansicht nach nicht mager war.«
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»Der Mann bei Mephistopheles war nicht Faust! Das war ein Betrüger! ICH bin Faust!« Die Hexe sah ihn verständnisvoll an. »Und ich dachte noch, daß er zu jung sei, um ein gelehrter Doktor zu sein! Können Sie sich denn irgendwie ausweisen?« Faust durchwühlte seine Brieftasche, die mit ihm transformiert worden war, sich aber nicht von ihrer irdischen Erscheinung unterschied. Er fand einen Ehrensherifftitel aus der Stadt Lublin, einen amtlichen Wahlberechtigungsschein aus Paris und eine silberne Gedenkmedaille, die ihm auf der großen ThaumaturgieMesse vor zwei Jahren in Prag verliehen worden war. »Na gut, Sie sind Faust«, sagte die Hexe, »und der andere Mensch hat mich getäuscht und, wenn mich meine Intuition nicht gänzlich verlassen hat, Mephistopheles ebenfalls. Das ist wirklich zu ärgerlich. Wir haben dem anderen Faust eine so gelungene Verjüngung verpaßt. Sie hätten sehen sollen, wie schön wir ihn gemacht haben, es hätte Ihnen die Tränen in die Augen getrieben.« »Aber das war ein Fehler!« empörte sich Faust zähneknirschend. »Sie müssen dasselbe auch für mich tun.« »Das wird nicht möglich sein«, bedauerte die Hexe. »Wir haben den Großteil unserer Zuteilung für Verjüngungen verbraucht. Aber lassen Sie uns mal schauen, was wir für Sie tun können.« Sie führte Faust zu einem der Stühle. Dort rief sie einen ihrer dämonischen Helfer zu sich und sprach leise mit ihm. »Das Problem ist«, meinte der Dämon, »daß wir kaum noch etwas von dem Lebensverlängerungsserum haben. Wir haben fast alles für den anderen Kerl gebraucht.«
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»Nimm den Bodensatz. Das ist besser als gar nichts.« »Aber dieses Profil!« Der Dämon drehte Fausts Kopf unsanft erst zur einen, dann zur anderen Seite. Seine Augen, hart und glänzend wie Glasmurmeln, studierten ausdruckslos Fausts Gesichtszüge. »Was soll ich ohne eine Schönheitspackung mit diesem derben, langnasigen, eingefallenen, dünnlippigen und von Krankheit gezeichneten Gesicht anfangen?« »Hey!« schrie Faust wütend. »Ich bin hergekommen, um mich beleidigen zu lassen!«
nicht
»Ruhe!« fauchte der Dämon. »Ich bin hier der Doktor, nicht Sie.« An die Hexe gewandt fügte er hinzu: »Wir können seine physische Konstitution aufbauen, nicht gerade zu einer übermenschlichen Kraft, darauf sind wir einfach nicht vorbereitet, aber doch in einem beachtenswerten Maß.« »Tu was du kannst«, sagte die Hexe. Der Dämon arbeitete flink und mit einem Elan, der Faust ängstigte. Dann jedoch bemerkte er, daß die Eingriffe des Dämons nicht schmerzhaft waren. Er entspannte sich in seinem Stuhl, während der Dämon leise vor sich hin summend seinen Leib bearbeitete. Er entfernte einiges von dem erschlafften Fleisch aus Fausts Anatomie und ersetzte es durch frisches Fleisch aus dem Faß, wobei er die abgelöste Haut so lange in Position hielt, bis das Fleisch mit Haut und Knochen verwachsen war. Gleichzeitig legte er neue Stränge von Nerven, Muskeln und Sehnen in die vorgesehenen Aussparungen, so daß Faust das neue Fleisch bewegen können würde, und fixierte sie mit kleinen Universalklemmen. Er beendete seine Arbeit, modellierte noch die letzten Ecken und Kanten, trat zurück, um sein Werk zu begutachten und nickte zufrieden. »Besser, als ich
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erwartet habe, angesichts des Materialmangels.« Er bürstete den Schmutz von Fausts Körper, entfernte die gestreiften Tücher und wies den Gelehrten an, sich in einem der großen Wandspiegel zu begutachten. Faust stand einem Mann gegenüber, der um einiges kräftiger wirkte, als er sich in Erinnerung hatte. Seine Haut hatte die wächserne Blässe des hohen Alters verloren und wieder eine gesunde Farbe angenommen. Seine Sehfähigkeit war besser als zuvor, ebenso sein Gehör. Seine Züge waren noch deutlich als die seinen zu erkennen, aber der Dämon hatte seine Nase etwas verkleinert, das Kinn verstärkt und die Tränensäcke entfernt. Alles in allem sah er besser aus als zuvor, obwohl er noch immer keine der Schönheitskonkurrenzen für Männer gewinnen würde, die in manchen Teilen Italiens in aller Verschwiegenheit abgehalten wurden und sich zunehmender Beliebtheit erfreuten. »Besser«, sagte Faust anerkennend, während er sich im Spiegel betrachtete, »aber nicht gut genug. Ich habe das Recht auf eine vollständige Verjüngungsbehandlung!« Der Dämon wandte sich schulterzuckend ab, und die Hexe sagte: »Lassen Sie uns nicht über Rechte diskutieren. Wir haben Ihnen diese Behandlung aus reiner Gutmütigkeit zukommen lassen. Hexen sind eben nicht grundsätzlich schlecht! Um eine Komplettbehandlung zu bekommen, müssen Sie uns einen offiziellen Auftrag vorlegen, der von Mephistopheles selbst oder einem anderen großen Prinzen des Lichts oder der Finsternis unterzeichnet ist. Nur dann können wir die notwendigen Materialien von der zentralen Zuteilungsstelle anfordern.« »Den werde ich bekommen«, sagte Faust, »und eine Menge anderer Dinge noch dazu. Wohin wollte Mephistopheles von hier aus?«
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»Das hat er uns nicht gesagt.« »In welche Richtung hat er sich denn aus dem Staub gemacht?« »Direkt nach oben in den Himmel, in einer Wolke aus Feuer und Rauch, so wie üblich.« Faust war klar, daß er Mephistopheles nicht auf dieselbe Weise folgen konnte. Sein Reisezauber gab nicht genug her. Er hatte ihn zwar hierher gebracht, aber es würde nicht ausreichen, um ihn noch weiter zu schicken. Er würde zur Erde zurückkehren müssen, um sein weiteres Vorgehen zu planen.
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KAPITEL 8 Als Faust sich in dem Pentagramm rematerialisierte, das er jeden Tag mit Kreide nachzuzeichnen pflegte, war er vollends am Boden zerstört. Nach der lebhaften Geschäftigkeit all der hochspezialisierten Dämonen in der Hexenküche erschien ihm sein eigenes Heim unerträglich einsam und schäbig. Das verflixte Zimmermädchen hatte nicht einmal das Skelett abgestaubt! Und sein Umhang war auch noch voller Schlamm und Dreck. Es war an der Zeit, hier einige Dinge grundlegend zu ändern, so beschloß er grimmig. Das hatte er nun davon, daß er stets freundlich mit anderen Leuten umging: Betrüger, die nicht das mindeste von Alchimie verstanden, bildeten sich ein, einfach hereinspazieren und seinen langerhofften Pakt mit dem Teufel stehlen zu können. Nun, der Kerl sollte die Folgen seines Handelns zu spüren bekommen. Er würde es ihm schon noch zeigen! Unterdessen betrachtete er eingehend seine Verjüngung. Er hatte festgestellt, daß er offenbar über ein Vielfaches der Energie verfügte, die ihm in den letzten Jahren zur Verfügung gestanden hatte. Auch seine aufbrausende Natur, die sich mit zunehmendem Alter mehr und mehr gelegt hatte, war nun in voller Stärke zurückgekehrt. Verdammt, er war Faust! Er war stark! Und er war hungrig! Er inspizierte den Speiseschrank. Im obersten Fach stand eine Schale mit Haferbrei, der von seinem letzten Abendessen übriggeblieben war. Es war noch eine volle Portion übrig. Er rührte mit seinem langen Löffel mißmutig in dem Brei herum. Das Zeug war klumpig und hatte die Farbe von Leichenfett. Seine frisch verjüngte Verdauung signalisierte ihm, daß er sich diesen Fraß
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nicht länger zumuten mußte, zumal die Alte in der Hexenküche ihn umsichtigerweise mit einem vollständigen Satz Zähne ausgestattet hatte. Bis auf eine kleine angeschlagene Stelle im linken Schneidezahn, waren sie so gut wie neu. Er wollte keinen Haferbrei mehr! Er wollte Fleisch! Und Rache, ja, besonders Rache! Ohne weitere Umschweife verließ er den Raum, ging den Flur hinunter und hinaus auf die Straße. Es war inzwischen Abend geworden, ein herrlicher klarer Abend, der einen passenden Abschluß für den wundervollen Ostertag bildete. Faust hatte keinen Blick dafür übrig. Er hatte wirklich Besseres zu tun, als Loblieder auf das Wetter zu singen! Er überquerte die Straße und stürmte in sein Stammlokal. »Wirt!« rief er. »Ich will ein Stück von dem Spanferkel, und geize er mir nicht mit der Kruste!« Der Wirt ließ sich sein Erstaunen über den unerwarteten Stimmungswechsel des sonst so ruhig und verdrießlich wirkenden Faust nicht anmerken. »Graupen und Hafergrütze dazu, Herr?« »Bleib mir mit der Hafergrütze vom Leibe! Aber bring mir eine große Portion Bratkartoffeln dazu! Und sage deiner Serviererin, sie soll mir einen Krug anständigen Weines bringen! Aber nicht diesen miserablen, dünnen Rotwein.« »Ist Ihnen Tokaier recht?« »Ja, Tokaier ist in Ordnung, Rheinwein auch. Jetzt beeil dich ein bißchen!« Faust setzte sich an einen Tisch, der sich etwas abseits von den anderen Gästen befand, um in Ruhe nachzudenken. In der Wirtschaft war es dämmerig, und in dem großen Ofen brannte lediglich ein ziemlich mickriges Feuer. Von der Decke hing an langen Ketten,
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die in den Deckenbalken verankert waren, ein Wagenrad herab, das als Halter für Talgkerzen diente. Die ständige Zugluft, die durch die schlecht schließende Tür hereinwehte, ließ es sanft schaukeln. Ein Mädchen brachte den Wein, und Faust schlürfte ein halbes Glas ohne abzusetzen. Gleich darauf brachte das Mädchen das Essen. Der Spanferkelbraten war auf einem hölzernen Brett zusammen mit einem Haufen fettiger Bratkartoffeln und einer kleinen Portion aromatischen Rotkohls angerichtet. Noch vor einem Tag hätte Fausts Magen gegen derartige Kost ganz furchtbar rebelliert, doch nun mundete sie ihm ganz ausgezeichnet. Einen ähnlich starken, doch andersgearteten Appetit löste die Bedienung bei ihm aus, die sich herabgebeugt hatte, um das Servierbrett vor ihm abzustellen. Dabei gewährte sie ihm einen großzügigen Blick auf ihre Brüste unter der bestickten schulterfreien Bluse. Als sie sich aufrichtete, strich sie ihr glänzendes, haselnußbraunes Haar zurück, das ihr ovales Gesicht anmutig umschmeichelte und sich um ihren Nacken und ihre runden Schultern wellte. Faust, der geglaubt hatte, die Zeit für derlei Gelüste läge längst hinter ihm, sah auf, blinzelte und brauchte eine Weile, ehe er die Sprache wiederfand. »Du mußt neu sein«, sagte er. »Ich kann mich nicht erinnern, dich hier schon einmal gesehen zu haben, und ich bin sicher, ich hätte dich nicht vergessen.« »Es ist mein erster Tag hier«, antwortete das Mädchen mit einem geradezu provozierenden Lächeln. »Mein Name ist Marguerite, und ich komme aus Mecklenburg. Ich war dort Gänsemagd, bis Gustavus Adolphus und seine wilden schwedischen Soldaten von Norden über uns herfielen und alles niederbrannten. Da bin ich geflohen, um dem scheinbar Unausweichlichen zu entgehen.« Faust nickte nur, ganz gebannt von ihrem Geplapper und hingerissen von ihrem weiblichen Charme – ein
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faszinierendes Gefühl, das mit seiner Verjüngung wieder aufgefrischt worden war. »Ich bin Doktor Johann Faust«, sagte er. »Du hast vielleicht schon von mir gehört.« »O ja, wirklich, das habe ich, Herr«, entgegnete Marguerite. Alchimisten waren zu dieser Zeit die wohl schillerndsten und begehrtesten Personen des öffentlichen Interesses, und jemand, der so erfolgreich war wie Faust, konnte mit Fug und Recht erwarten, weit und breit bekannt zu sein. »Sind Sie wirklich ein Meister jener Künste, mit deren Hilfe man die kostbarsten Geschmeide, die wunderbarsten Edelsteine und die herrlichsten Gewänder aus dem Nichts herbeizaubern kann?« Faust wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als eine Stimme vom Nebentisch rief: »Werden wir hier noch bedient? Unser Krug ist leer. Bring uns Rheinwein oder Tokaier, aber schnell!« »Ich muß gehen«, sagte Marguerite, Schwein seinen Wein kredenzen.«
»und
einem
»Warum besuchst du mich nicht einfach heute abend?« fragte Faust. »Wir könnten uns die Zeit mit dem ein oder anderen Zauber vertreiben.« »Mit Vergnügen«, erwiderte Marguerite. »Mein Dienst endet um acht Uhr. Bis dahin, hasta la vista.« Nachdem sie ihn mit diesem unerwarteten Sprachschatz überrascht hatte, eilte sie fort, um sich den Wünschen der anderen Gäste zu widmen.
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KAPITEL 9 Faust beendete seine Mahlzeit und ging zurück nach Hause. Er nutzte die verbleibende Zeit bis zu Marguerites Ankunft, um sein Gemach zu säubern. Er brachte den Müll, der während der Experimente der vergangenen Woche angefallen war, zur Hintertür: tote Katzen, die er zum Tanzen hatte animieren wollen, alte Borschtsch und Haferbreiverpackungen seiner letzten Mahlzeiten. Einen großen Haufen schmutziger Roben, die das Zimmermädchen hätte waschen und bügeln sollen, legte er ebenfalls dazu. Dann zog er die Vorhänge zurück, öffnete das Fenster und sorgte für eine anständige Belüftung. Frauen, sofern sie sich nicht selbst der Wissenschaft verschrieben hatten, achteten auf solche Dinge. Als er sein Gemach in einen ordentlichen Zustand gebracht hatte, entzündete er Weihrauch in einer Kupferschale, der die Luft augenblicklich mit einer pikanten Süße anreicherte. Schließlich erhitzte er Wasser, entkleidete sich und unterzog nun auch sich selbst einer gründlichen Reinigung. Er kam nicht umhin, sich bei der ganzen Prozedur ein wenig albern vorzukommen – aber zum Teufel damit, es war Frühling und ein Großputz nach dem langen Winter konnte kaum schaden. Er zog eine frische Robe an und kämmte sein Haar, das seit seinem Besuch in der Hexenküche drahtig und widerborstig geworden war. Eine ungewohnte, jedoch keineswegs unbekannte Erregung durchfuhr seinen wieder jung gewordenen Körper. Er konnte sich nicht erinnern, wieviel Jahre seit seiner letzten Verabredung vergangen waren. Als Marguerite um kurz nach acht Uhr eintraf, dämmerte es bereits. Ihr Erscheinen in Fausts bescheidener Unterkunft schien von einer rosa Aura begleitet zu sein. Sie schwebte beständig um sie herum,
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während sie sich mit kindlicher Neugier überall umsah, seine Ausrüstung bestaunte und voller Bewunderung seine Bücher und Manuskripte anschaute, wobei ihre weibliche und wohlriechende Anwesenheit den Raum mit einer Atmosphäre des Wohlbehagens anfüllte. Nur der Gedanke an den Verlust und den Frevel, den die geradezu verbrecherische Unachtsamkeit der höllischen Mächte verursacht hatte, trübte Fausts gehobene Stimmung. Offensichtlich hatte Mephistopheles von dem Betrüger nicht einmal irgendeinen Ausweis verlangt! Er hatte sich einfach auf dessen Wort verlassen! Das war ungeheuerlich. Als er wenig später mit Marguerite gemütlich zusammen in seinem engen Gelehrtenbett lag und einen Krug mit anregendem Starkbier trank, ertappte er sich dabei, wie er ihr sein Leid klagte. Marguerite hörte ihm mitfühlend zu, obwohl sie keinen besonders uneigennützigen Eindruck machte. »Wie wundervoll das wäre«, sagte sie, »wenn du die Reichtümer, die Mephistopheles dir zweifellos anbieten wollte, zurückgewinnen könntest. Wenn du dann eine Geliebte hättest, könntest du sie mit wertvollen Geschenken überhäufen und dich an ihrem Sinn für schöne Dinge erfreuen.« »Möglicherweise hast du recht«, entgegnete Faust, »obwohl ich es noch nie von dieser Seite betrachtet habe. Aber wo du gerade von Geschenken sprichst, wie gefällt dir das hier?« Er nahm einen Kupferring, warf ihn in die Luft und murmelte einige geheimnisvolle Worte. Als der Ring herunterfiel, leuchtete in ihm das weiße Feuer eines Diamanten – tatsächlich war es nur ein Zirkon, es war eben auch nur ein kleiner Zauber. Marguerite war entzückt, obwohl der Ring etwas zu groß für ihre schmalen Finger war. Aber sie erklärte, sie kenne einen Goldschmied, der ihn ihr für den Preis eines Lächelns
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anpassen würde. Sie wollte wissen, ob Faust ihr noch mehr Tricks zeigen könne. Faust tat ihr den Gefallen und verwandelte einen Bund getrockneter Stockrosen in ein duftendes Bukett frischer Rosen. Marguerite sagte, dies sei zwar auch ein schöner Zauber, aber ob es denn nicht noch mehr von denen mit den Juwelen gäbe, die ihr so besonders gut gefielen? Es gab genug davon, und Faust überhäufte sie mit Anstecknadeln und Broschen. Die Stücke waren kunstvoll gearbeitet, aber nicht allzu wertvoll. Auch ein so großer Magier wie Faust stieß irgendwann einmal an die Grenze des Machbaren, wenn er wie jetzt erschöpft und zufrieden in seinem Bett an einem weichen Busen lag. Die Erinnerung an einen Trick des Albertus Magnus, den dieser von seinen Reisen durch das Morgenland mitgebracht hatte, munterte ihn wieder auf. Er nahm eine der Rosen, die er zuvor herbeigehext hatte, machte einige beschwörende Gesten, murmelte einen etruskischen Zauber, den er in Neapel gehört hatte, und hielt ein wunderschönes Medaillon aus Sterlingsilber mit einem Türkis in der Hand. »Das ist phantastisch«, rief Marguerite. »Wie machst du das?« Faust bewegte seine Finger in der Luft. »Das machen meine Hände. Und mein Wissen natürlich.« »Wenn du all dieses Zeug hervorbringen kannst«, sagte Marguerite, »dann könntest du doch auch reich sein. Warum lebst du so?« Sie machte eine Geste, die andeutete, daß das Zimmer, auch wenn es Faust zweckdienlich schien, nicht gerade zu einer erhöhten Reputation seines Bewohners beitrug. »Ich hatte nie ein Interesse daran, reich zu sein«, erklärte Faust ihr. »Mein Reichtum war das Wissen. Ich
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suchte den Stein der Weisen, der Weisheit schafft und nicht Gold, wie die Unwissenden glauben.« »Ich verstehe«, sagte Marguerite, »aber was ist der Zweck des Ganzen?« »Wie bitte?« »Nun, Menschen wollen mit dem was sie tun immer etwas erreichen, wußtest du das nicht? Sie züchten Getreide, weil sie Brot essen wollen. Sie ziehen in den Krieg, weil sie den Frieden wollen. Sie töten, um Leben zu schützen. Es gibt immer eine andere Sache, für die sie die eine tun, und diese andere Sache ist der Zweck.« »Mein gutes Kind«, erwiderte Faust, »in all deiner Ungebildetheit und Naivität hast du eine Frage von ziemlich interessanter philosophischer Bedeutung aufgeworfen. Du willst von mir erfahren, mit welchem Ziel oder welcher Absicht ich danach trachte, Weisheit zu erlangen?« »Ja, genau das«, antwortete Marguerite. Faust lächelte. »Wissen, Weisheit, diese Dinge bergen das Ziel in sich selbst. Sie erfordern keinen weiteren Zweck, wie du ebenso scharf wie entzückend gefolgert hast.« »Wenn das so ist, warum bist du dann so wütend über den Betrüger, von dem du mir erzählt hast? Daß er dich um deinen Lohn gebracht hat, hindert dich doch schließlich nicht daran, weiter nach Wissen zu streben.« »Hmm.« »Was willst du tun«, fuhr Marguerite fort, »wenn du weise genug bist?« »Noch weiser werden.« »Und wenn du alle Weisheit der Welt erlangt hast?«
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Faust dachte einen Moment nach, ehe er antwortete. »Wenn ich über alle Weisheit der Welt verfügen würde, dann wäre ich vielleicht bereit, die Sinnesfreuden zu genießen, triviale Dinge wie Essen, Baden, Schlafen, körperliche Liebesfreuden, den Anblick eines Sonnenuntergangs und so weiter. Aber wir Philosophen halten derlei Dinge bloß für wertloses Zeug.« »Wertlos oder nicht«, sagte Marguerite, »wenn du erst alle Weisheit erreicht hast, was gibt dir das dann? Körper und Geist, Doktor Faust. Wenn du damit fertig bist, den einen zu füttern, wird es Zeit, dich um den anderen zu kümmern.« »Da gäbe es noch die Religion«, sinnierte Faust. »Auch sie will in sich ruhend Selbstzweck sein. Aber nicht für mich. Einfach eine traditionelle und allgemeingültige Glaubenslehre fraglos zu akzeptieren, würde den Geist der freien Forschung unterwandern, für den Faust steht und der ihn fordert, auf seine eigenen Gesetze und Beweggründe zu hören und nicht darauf, was irgendein abergläubischer Prediger sagt.« Von seinen eigenen Worten berauscht, sprang Faust aus dem Bett, wickelte sich in einen langen Umhang und ging laut denkend im Raum auf und ab. »Der Philosoph sucht den einen Moment absoluter Perfektion. Er will einen Augenblick erleben, der so perfekt ist, daß er sagen möchte: Bleib ein bißchen länger, o kostbarer Augenblick! Wenn jemand mir ein solches Erlebnis verschaffen könnte – ich würde ihm meine Seele geben. Vielleicht war Mephistopheles deshalb hier. Er kam mit einer Art Angebot zu mir. Ein großes Angebot, warum sonst hätte Mephistopheles mir – oder besser gesagt, dem falschen Faust – gleich zu Beginn eine aufwendige Verjüngung verschafft? Verdammt, er wird diesem Kerl die Wunder der Welten zeigen, die sichtbaren wie die unsichtbaren. Möglicherweise wird er ihm
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genügend Reichtümer geben, daß er sich darin wälzen kann, weil das nun mal die Art ist, wie Teufel Geschäfte machen, anscheinend ganz ohne dabei zu bedenken, daß es im Grunde nicht mehr als eine verführerische Frau braucht, um einen Mann vom Weg der Tugend abzubringen. Verführung ist eine ganz einfache Sache; du mußt nur irgendeinen blödsinnigen Vorschlag machen, und schon wird der Sünder der Sünde verfallen. Aber ich schweife ab. Dieser Betrüger hat mich um all diese Möglichkeiten gebracht! Doch gerade das Wissen, daß der große Tag kommen würde, hat dem Faust Erhabenheit verliehen. Verstehst du, Marguerite? Das war meine große Chance, und sie wird nie wieder kommen.« »Du darfst dir das nicht bieten lassen!« kreischte Marguerite. »Das werde ich nicht!« schrie Faust und dann leiser: »Aber was kann ich tun? Mephistopheles und der Schurke können sonstwo sein!« Gerade in diesem Moment begannen die Kirchturmglocken der Stadt zur Abendmesse zu läuten. Ihr lauter, metallischer Klang, ihr bebender und lang anhaltender Nachhall und die flüchtigen, hellen Töne vibrierten durch Fausts Gehörgang, als würden sie ihm etwas Wichtiges sagen wollen. Ach, wenn er sie doch nur verstehen könnte… Ostermesse. Sie wurde auf der Erde und im Himmel gefeiert. Und für die Kräfte der Finsternis war dies die Zeit des großen Anti-Oster-Sabbats… Dort würde er sie finden, Mephistopheles und den Betrüger! »Ich weiß, wo sie sein müssen!« rief Faust. »Ich werde ihnen folgen und mein Schicksal selbst korrigieren!«
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»Wie wunderbar!« sagte Marguerite. »Ach, könnte ich doch dich und dein Schicksal ein kleines Stück weit begleiten!« »Das kannst du! Du wirst mich begleiten und mir auf dieser Mission zur Seite stehen, und du wirst die Belohnung mit mir teilen!« »Das würde ich so gern«, sagte Marguerite. »Aber ach, Herr, ich bin doch nur eine Gänsemagd, die neuerdings als Serviermädchen arbeitet. Ich weiß nichts über Alchimie.« »Du mußt davon nichts wissen, um mir zur Hand zu gehen«, entgegnete Faust. Er warf sich seinen Gelehrtenumhang um. »Komm, zieh dich an, laß uns anfangen!«
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KAPITEL 10 Und so begann Faust voller Aufregung mit den Vorbereitungen für seine Reise. Zuerst brauchte er eine Liste. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, tauchte die Feder in das Tintenfaß und notierte alle Zutaten, die er für einen wirklich erstklassigen Reisezauber brauchen würde. Dann lehnte er sich bestürzt zurück. Es würde ihn Monate, nein Jahre kosten, alle Ingredienzen für einen Zauber zusammenzutragen, der kraftvoll genug wäre, ihn zum Hexensabbat und wohin auch immer er danach gehen müßte zu bringen. Außerdem mußte er Marguerite in seine Planung einbeziehen, da er sie bei sich haben wollte. Dummerweise hatte er einfach nicht genügend Zeit, das ganze Zeug auf legale Weise zu beschaffen. Aber er mußte es haben, andernfalls würde die Geschichte von Faust, die großartige Geschichte vom Einsatz menschlicher Fähigkeiten gegen die Machenschaften der Anderen Welt, niemals geschrieben werden. Ganz allmählich kam Faust zu der Überzeugung, daß es an der Zeit wäre, sich auch auf verzweifelte Aktionen einzulassen, selbst wenn sie nicht ganz legal wären. Wenn es jemals in der Geschichte einen Zeitpunkt gegeben hatte, an dem der Zweck die Mittel heiligte, dann mußte dies der Augenblick sein. Nun wußte er, was er zu tun hatte. Er stand auf und packte einige Alchimistenwerkzeuge zusammen, die manchmal zum Einsatz kamen, wenn ein Öffnungszauber nicht arbeiten wollte. Außerdem nahm er einen Schlauch spanischen Weins mit, falls er vor dem Ende dieses Unternehmens eine Stärkung benötigen würde.
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»Komm«, sagte er zu Marguerite, »wir haben einiges zu erledigen.« Das Jagiello-Museum, ein massiver grauer Steinbau, stand im Belvederepark, gleich rechts vom St.-RudolphTor. Das Gebäude war dunkel und verlassen. Marguerite hielt sich direkt neben Faust, als dieser einen Öffnungszauber für die bronzene Tür am Vordereingang murmelte. Wie er befürchtet hatte, funktionierte es nicht. Manchmal reichte eine einzige falsche Betonung, um einen Zauber unwirksam werden zu lassen. Das ging so weit, daß Zauberer und Magier, wenn sie erkältet waren, auf die Anwendung ihrer Künste verzichten mußten, um sich nicht durch ein Schniefen im falschen Moment selbst zu gefährden. Was auch immer falsch gelaufen sein mochte, Faust störte es nicht sehr, schließlich hatte er sich vorbereitet. Er zog sein Werkzeug hervor und bearbeitete kurz das Schloß, trank einen Schluck mutmachenden Weines und stieß die Tür gerade so weit auf, daß Marguerite und er hineinschlüpfen konnten. Sie standen in der großen Ausstellungshalle des Museums, aber die Exponate lagen in tiefer Dunkelheit. Nur durch ein kleines Fenster, das in das schräge Dach eingelassen war, fiel ein wenig Mondlicht. Faust kannte diesen Ort gut genug, um Marguerite – die ohne seine Hilfe orientierungslos herumgestolpert und an eine Tafel mit den Namen ehemaliger polnischer Könige gestoßen war – sicher bis zur Mauer am Ende des Flurs zu führen. »Und nun?« fragte sie. »Das wirst du gleich sehen. Ich werde dir etwas hier zeigen, von dem kaum jemand etwas weiß.« Er betastete mit den Fingern die Wand, bis er eine charakteristische Einkerbung fand. Er faßte auf eine
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besondere Weise hinein, und ein Teil der Wand rollte mit einem leisen Rumpeln zur Seite und gab den Blick auf einen engen Durchgang frei. »Wohin führt dieser Gang?« fragte Marguerite. »In das verschlossene Zimmer. Das ist der unheiligste Ort im ganzen Museum. Die Kirche hat ihn schon vor langer Zeit geächtet. Es ist das geheime Museum der mystischen Dinge aus frühester Zeit.« Er führte sie durch den Gang in einen höherliegenden Raum, in dem Ausstellungstische kreuz und quer herumstanden. Hier war selbst Faust von Ehrfurcht erfüllt, hieß es doch, daß dieses Zimmer älter sei als die gesamte europäische Zivilisation. Auf Zehenspitzen bahnten sie sich ihren Weg durch den Raum, sahen chaldäische Kupferringe aus Ur, bronzene heilige Ringe aus Tyrus, steinerne Opfermesser aus Judäa, vielseitig verwendbare, glückverheißende Skarabäen aus Ägypten, sichelförmige Opfermesser der keltischen Regenbogenanbeter und modernere Objekte wie den ehernen Kopf von Roger Bacon, Raymond Lulls Weisheitsmaschine, die bei der Bekehrung von Heiden nutzbringend sein sollte, einige von Giovanni Battista Vicos Siegeln und Schattenspielen in einer leicht zu deutenden Ausführung und eine Menge anderer geheimnisvoller Gegenstände. »Das klappt doch ganz gut«, sagte Faust, über und über mit magischen Objekten bepackt. »Sie werden Marguerite.
dich
dafür
aufhängen!«
erwiderte
»Dazu müssen sie mich erst mal kriegen«, antwortete Faust. »Das da drüben ist das echte Grabtuch aus Turin. Ich frage mich, ob wir es mitnehmen sollten.«
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»Ich habe ein schlechtes Gefühl bei dieser Sache«, sagte Marguerite, wobei sie sich ungeachtet ihrer eigenen Worte das Tuch um die Schultern hängte. Im gleichen Augenblick hörten sie von der Tür her ein metallisches Scheppern begleitet von dem charakteristischen Stampfen eisenbeschlagener Stiefel, wie sie Wachleute zu tragen pflegen, die sich vor den Tritten aufgebrachter Krimineller schützen wollten. »Jetzt haben sie uns!« kreischte Marguerite. »Es gibt keinen Ausweg!« »Schau her«, sagte Faust und legte die Gegenstände, die er mitnehmen wollte, in eine bestimmte Form. Er machte eine Geste mit den Händen, geheimnisvolle Worte kamen über seine Lippen, Worte, die niemals wiederholt werden durften, damit sie die natürliche Ordnung der Dinge nicht außer Kraft setzten. Marguerite schaute mit offenem Mund auf den Glorienschein, der sich über den magischen Objekten erhob und zuerst Faust, der noch immer den Weinschlauch hielt, und dann sie selbst einhüllte. Als der Wachmann außer Atem und völlig erledigt in dem geheimen Raum ankam, war niemand mehr da, den er hätte gefangennehmen können.
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KAPITEL
11
Faust und Marguerite kamen windzerzaust von ihrem Flug durch den Äther auf einer naßkalten Wiese außerhalb Roms an, auf der der Hexensabbat üblicherweise abgehalten wurde. Die Wiese lag zwischen zwei Bergen, deren Spitzen wie die Köpfe von urtümlichen Monstren aussahen. Die letzten Strahlen der Abendsonne, die den Himmel in leuchtendes Rot tauchten, warfen ihr Licht auf die Überbleibsel eines Festes, das noch nicht lange beendet sein konnte. Überall lagen leere Weinschläuche und Papierhüte herum. Die Orchestermusiker verpackten ihre Instrumente und bereiteten sich auf ihre Rückreise nach Budapest vor. Der riesige Altar auf der Mitte der Wiese lag voller Opfer. Aber die Götzendiener waren fort, und dämonische Bedienstete suchten Fleischreste für die Armen zusammen, denn Arme gab es überall, auf der Erde, in der Höhe und in der Tiefe. Faust und Marguerite waren auf der großen freien Grasfläche angekommen, auf der die Veranstaltung stattgefunden hatte. Faust hätte schreien können vor lauter Ärger. Schon wieder zu spät! Er war so weit gekommen, hatte so viel Mühe gehabt, aber umsonst! Schnell nahm er sich wieder zusammen und ermahnte sich nachdrücklich, die Hoffnung nicht aufzugeben. Vielleicht ließ sich doch noch irgend etwas ausrichten. Er ging zu einem der Arbeiter, einem bärtigen Zwerg mit stelzenähnlichen Beinen, bekleidet mit einem weißen, ledernen Hüfthalter und einem gehörnten Helm skandinavischer Machart. Er hatte einen Spaten an einem kleinen Rucksack auf seinem Rücken befestigt. »Wie läuft's?« fragte Faust.
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»Schlecht«, antwortete der Zwerg. »Dieser Dämon hat mich und meine Freunde geschnappt und zum Aufräumen verdonnert. Aber Dämonen zahlen schlecht, und zu Trinken gibt's auch nichts.« »Durst?« Faust hielt ihm den Schlauch mit spanischem Wein vor die Nase, den er die ganze Zeit über festgehalten hatte. »Vielleicht könnte ich dir etwas zu Trinken anbieten.« »Das ist wirklich nett von Euch, Herr! Mein Name ist Rognir, und ich stehe Euch zu Diensten.« Er griff nach dem Weinschlauch, aber Faust entzog ihn den zupackenden kleinen Händen. »Nicht so schnell! Du mußt mir im Austausch auch etwas geben.« »Ich wußte, das war zu schön, um wahr zu sein«, sagte Rognir. »Was wollt Ihr von mir?« »Informationen«, antwortete Faust. Rognirs enorm runzliges Gesicht, das sich zu einer finsteren Miene verzogen hatte, hellte sich wieder auf. Er zog die Augenbrauen in die Höhe und lächelte. »Informationen, Herr? Ihr könnt jede Information von mir bekommen. Ich dachte schon, Ihr würdet Juwelen fordern. Wen soll ich verraten?« »So dramatisch ist das nicht«, sagte Faust. »Ich suche nur zwei Leute, die auf diesem Sabbat waren. Einer ist ein großer blonder Mensch, der andere ein schwarzhaariger Dämon namens Mephistopheles.« »Ja, sicher. Die waren hier«, antwortete Rognir. »Sie haben gelacht und rumgealbert, als wären sie das erste Mal auf einem Hexensabbat.« »Wohin sind sie gegangen?« fragte Faust.
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»Solche Dinge werden uns Zwergen niemals erzählt«, sagte Rognir. »Aber seht hier, Herr, ich habe ein Pergament, das Mephistopheles geschrieben und dem rothaarigen Dämon dort drüben gegeben hat.« Das Wesen, auf das der Zwerg deutete, war niemand anderes als Azzie Elbub, der adrette, fuchsgesichtige Dämon, der den letzten Wettkampf zugunsten der Mächte der Finsternis hatte entscheiden wollen. Doch seine Kreation, der Märchenprinz, hatte ein so zweifelhaftes Ende gefunden, daß die Macht der Notwendigkeit, die die Wettkampfrichterin gewesen war, ihn für ungültig erklären mußte. Somit hatte der vorherige Sieger auch weiterhin im Amt hatte bleiben können. Da die Fürsten der Finsternis dabei das Nachsehen gehabt hatten, war dieser Ausgang bei ihnen nicht gerade auf Beifall gestoßen. Schließlich hatten sie darauf gehofft, zu siegen und das Geschick der Menschheit für die nächsten tausend Jahre bestimmen zu können. Azzie war wegen dieses Fehlschlags nicht wieder auserkoren worden, sich um diese Angelegenheit zu kümmern. Statt dessen sollte Mephistopheles die Bedingungen mit dem Abgesandten des Guten, dem Erzengel Michael aushandeln. »Hat dir der Dämon dieses Schriftstück gegeben?« fragte Faust. »Nicht ganz«, sagte Rognir. »Er hat es zusammengeknüllt und wütend weggeworfen, als Mephistopheles und sein verjüngter Freund in einer Wolke aus Rauch und Feuer verschwanden.« »Gib mir das Papier!« »Gib mir den Schlauch!« Sie starrten einander an und tauschten ihre Güter aus. Während Rognir trank, sah sich Faust das Schriftstück an. Er sah eine Liste von Orten und Daten: Paris,
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beispielsweise. London und der Palast des Großen Khan in Peking waren ebenfalls dabei. Auch die Zeiten waren sehr unterschiedlich. Manches lag in der Vergangenheit, anderes in der Zukunft. Der erste Ort auf der Liste war das Konstantinopel des Jahres 1210. Faust erinnerte sich, daß dies die Zeit des unheilvollen vierten Kreuzzugs gewesen war. Dies war die erste der Situationen, die Mephistopheles Mack angekündigt hatte, als Faust am Fenster gelauscht hatte. Während er die Liste weiter durchging, hörte er plötzlich eine Stimme. »Sie haben von mir gesprochen, glaube ich.« Faust sah auf und erkannte neben sich Azzie, den Dämon, auf den Rognir gedeutet hatte. »Wie konnten Sie mich belauschen?« fragte Faust. »Ich habe geflüstert.« »Dämonen wissen immer, wenn jemand von ihnen spricht. Sie haben Interesse an dem Schriftstück? Ich werde es Ihnen erklären. Mephistopheles hat die Verhandlungen für den Jahrtausendwettkampf geführt, der über das Geschick der Menschheit in den nächsten tausend Jahren entscheiden soll. Sie haben ihn mir vorgezogen, trotz meiner erheblich höheren Qualifikation! Er und Michael haben sich geeinigt, daß Mephistopheles Faust in fünf Situationen führen soll, in denen er eine Entscheidung treffen muß. Seine jeweilige Wahl soll dann von der Macht der Notwendigkeit, die wir unter dem Namen Ananke kennen, beurteilt werden.« »Aber ICH bin Faust!« schrie Faust. »Mephistopheles hat den falschen Mann erwischt.« Azzie sah ihn an. Seine strahlenden Raubtieraugen zogen sich zu Schlitzen zusammen, sein gesunder sehniger Dämonenkörper spannte sich in einer Weise, die
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einen erfahrenen Beobachter an einen lauernden Fuchs erinnert hätte. »Sie sind der gelehrte Doktor?« »Ja! Das bin ich, das bin ich!« Marguerite zupfte so beharrlich an seinem Ärmel, daß er hinzufügte: »Und dies ist meine Freundin Marguerite.« Azzie begrüßte sie mit einem kurzen Kopfnicken und wandte sich dann wieder Faust zu. »Das ist eine wirklich interessante Entwicklung.« »Für mich nicht«, sagte Faust. »Ich will nur Gerechtigkeit. Mich wollte Mephistopheles für diesen Wettstreit, und ich will den mir zustehenden Platz einnehmen! Werden Sie mir helfen?« Azzie schritt nachdenklich im niedergetrampelten Gras auf und ab. Mühsam zügelte er seine übliche Ungeduld. Es gab zu viel zu bedenken und er brauchte mehr Informationen, ehe er irgend etwas unternehmen konnte. Wenn er nicht ganz falsch lag, war das eine wunderbare Gelegenheit für ihn, sich wieder ins rechte Licht zu rücken. »Ich melde mich später wieder bei Ihnen«, sagte Azzie. »Geben Sie mir wenigstens einen kleinen Hinweis. Sagen Sie mir, wohin ich als nächstes gehen muß, um sie zu finden.« »In Ordnung«, sagte Azzie. »Wenn Sie Mephistopheles und diesen Betrüger verfolgen wollen, müssen Sie durch die Zeit reisen, und um das tun zu können, müssen Sie Charon aufsuchen und eine Vereinbarung für eine Bootspassage mit ihm treffen.« »Danke!« rief Faust. Er schnappte sich das Mädchen mit dem haselnußbraunen Haar, sprach den zweiten Teil
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der Beschwörung, die er in dem geheimen Zimmer begonnen hatte und verschwand in der Luft.
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KAPITEL 12 Azzie sah zu, wie Faust den Ort verließ. Es war ein knapper und präziser Aufbruch. Eben war er noch hier gewesen, nun war er fort, kein schlampiger Grenzübertritt, keine zerlaufenden Farben, wie man sie von weniger erfahrenen Zauberern gewohnt war. Der Bursche ging für einen Sterblichen wirklich sehr geschickt mit der Magie um. Er war eben Faust, das machte den Unterschied. Selbst Azzie hatte schon von Faust gehört. Es war kurz nach Mitternacht. Die Reinigungstrupps hatten ihre Arbeit auf der Wiese, auf der der Hexensabbat stattgefunden hatte, mittlerweile beendet. Die Hygienefachleute waren dabei, die Stellen zu desinfizieren, an denen sich während des Festes unsaubere Bestien verkrochen hatten. Nichtstoffliche Ökologen reparierten die Schäden an den Bäumen, die von Blitzen und Höllenfeuer verursacht worden waren, pflanzten neues Gras auf dem niedergetrampelten Rasen und säuberten ihn von dem Schmutz, den bösartige Kreaturen während der nächtlichen Lustbarkeit hinterlassen hatten. »Das war's dann«, sagte Rognir, der Vorarbeiter der Zwerge. »Eine größere Schweinerei als im vergangenen Jahr.« »Ja, es war recht gelungen«, entgegnete Azzie mit einem Ausdruck von distanziertem Interesse in seinen Fuchsaugen. »Können wir jetzt gehen?« fragte Rognir. Er war verärgert. Er hatte diesen Job wirklich nicht gewollt. Ehe er Azzie in die Arme gelaufen war, hatte er sich gerade auf einem der Untergrundwege der Zwerge zu der großen
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Uppsala-Zwergenparty befunden, die in diesem Jahr unter Montpellier abgehalten werden sollte. Es war der höchste Feiertag des Zwergenjahres. Eine Gelegenheit, kleine Variationen altertümlicher Tänze vorzuführen und neue Strophen zu alten Liedern zu singen, denn die Zwerge liebten ihre traditionellen Künste. Zwerge mochten keine Neuerungen. Sie befürchteten, diese wären nicht von Dauer. Sie polierten lieber Althergebrachtes auf und fügten hier ein Wort und da einen neuen Schritt ein. Rognir hatte mit einigen Mitgliedern seiner Zwergensippe monatelang an einer veränderten Version der Tarantella gearbeitet. (Eine Zwergensippe ist ein Freundeskreis mit fünf bis siebzehn Mitgliedern. Für Zwerge steht ihre Sippe anstelle der Familie und trägt die Verantwortung dafür, daß jeder einmal an der Reihe ist, die Getränke zu bezahlen) Rognir hatte den Rest seiner Zwergensippe unter Montpellier treffen wollen. Er war wie immer spät dran gewesen und in Eile, als plötzlich Azzie in dem Tunnel aufgetaucht war und ihn gesehen hatte. »Hallo!« hatte Azzie gesagt. »Wir kennen uns, nicht wahr?« »Wir sind uns schon einmal begegnet«, hatte Rognir, der den Dämon erkannt hatte, geantwortet. »Du wolltest meinen Schatz investieren. Dabei fällt mir ein, wo ist mein Schatz?« »Unterwegs, Zinsen sammeln«, sagte Azzie. »Mach dir darüber keine Sorgen, schließlich hast du bereits Profit daraus geschlagen, erinnerst du dich?« Er legte einen Arm um Rognirs Schulter, was man als freundschaftliche Geste hätte mißdeuten können. »Du hast doch gerade nichts zu tun, oder?« »Ich habe eine Verabredung«, antwortete Rognir.
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»Die kann warten«, sagte Azzie. »Ich brauche dich zum Putzen nach dem Hexensabbat. Es wird nicht lange dauern.« »Warum machst du das nicht einfach selbst?« »Ich bin ein Aufseher, kein Arbeiter«, erwiderte Azzie. »Nun komm schon, sei ein guter Junge!« Rognir wollte ablehnen, aber es war nicht ohne Risiko, einen Dämon von Angesicht zu Angesicht zu brüskieren. Dämonen waren viel schrecklicher als Zwerge, die eigentlich gar nicht so schrecklich waren, obwohl sie furchtbar böse dreinblicken konnten. Die Feindseligkeiten zwischen Zwergen und Dämonen konnten auf eine lange Geschichte zurückblicken, denn beide teilten sich seit undenklichen Zeiten denselben Lebensraum, jedoch niemals als Gleiche unter Gleichen. Die Dämonen hatten sich immer schon als Herrscher erhoben. Es war ihnen nie auch nur der Gedanke gekommen, daß es anders sein könnte. Die Zwerge ihrerseits kannten nichts anderes, als unter der Herrschaft der Dämonen zu stehen. Sie konnten es auch keinem der Ihren zumuten, sie anzuführen, denn nicht einmal ein Zwerg war bereit, einem anderen Zwerg zu gehorchen. Sie hatten über eine Rebellion nachgedacht, aber sie hatten sie nicht ausgeführt. Zwerge sind nun einmal pedantisch in ihrem Traditionalismus, selbst dann, wenn es darum geht, von Fremden unterjocht zu sein. Sie liebten ihre Rituale, und sie taten grundsätzlich alles so, wie es schon immer getan worden war – seit jener mystischen Zeit, als die Leute noch wußten, was richtig war. Die Dämonen andererseits waren innovativ und wirklich unglaublich hochmütig. Und sie waren politisch. Zwerge hielten nichts von Politik. Sie versuchten, den Komplikationen aus dem Weg zu gehen, in die sie die Dämonen immer wieder verstricken wollten. Die Dämonen lebten auf der Oberfläche der Erde und im
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Reich der Geistwesen. Auch das mochten die Zwerge nicht. Sie kannten das Geisterreich und gingen nur dann dorthin, wenn es absolut unumgänglich war. Der ganze spirituelle Kram gefiel ihnen nicht. Sie hatten ihre eigenen Vorstellungen vom Leben, und die waren absolut materiell. Außerdem galten sie nur für Zwerge und konnten schon allein deshalb keine universelle Gültigkeit beanspruchen. Aber leider befanden sich die Zwerge im selben Universum wie die Menschen und Dämonen. Also beschlossen sie, sich nicht weiter um die anderen zu scheren und in den Untergrund zu gehen. Sie zogen, wie es einer ihrer Weisen formulierte, die letzte große Grenze, die es ihnen gestatten sollte, in Frieden zu leben – nur Zwerge und ihre kostbaren Erze, ihre Schafherden und ihre zotteligen kleinen Ponys. Aber die Dämonen konnten auch in den Untergrund eindringen, und sie erkannten die Selbständigkeit der abgegrenzten Territorien der Zwerge niemals an. Soweit es die Dämonen betraf, war der Untergrund nichts als ein großer Haufen Dreck, der niemandem gehörte. Die Aufräumarbeiten waren beendet, und Rognir erkundigte sich bei Azzie: »Wie steht's mit der Bezahlung?« »Du erhältst die übliche Bezahlung. Ein Sack Silberstücke wird deinem Konto bei der Höllentor Sparund Darlehensbank gutgeschrieben.« »Aber das ist unten in der Hölle!« sagte Rognir. »Wir Zwerge kommen da doch nicht hin.« »Du wirst wohl hingehen müssen, wenn du deinen Lohn ausbezahlt haben willst.« »Wenn wir dorthin gehen, werden wir von Pontius nach Pilatus geschickt und nach Papieren gefragt. Außerdem scheint dort noch niemand bemerkt zu haben, daß Zwerge keinen Führerschein besitzen.«
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»Hör mit der Nörgelei auf«, knurrte Azzie in seinem riefen, bedrohlichen Tonfall. »Und niemand gibt uns Wein oder Essen«, jammerte Rognir weiter. »Kauf dir selbst was! Dafür ist Geld da!« Rognir hastete davon und versammelte seine Zwergenfreunde. Sie alle schimpften untereinander über die Arbeitsbedingungen und den fehlenden Wein, doch sie entfernten die Tarnung über dem Loch, durch das sie gekommen waren. Zwerge reisten immer unterirdisch und gruben sogar neue Tunnel, wenn es irgendwo noch keine gab. Es war eine Menge Arbeit und schien manchmal kaum der Mühe wert zu sein, gab es doch Straßen und Wege genug auf der Oberfläche, die jeden Ort der Welt mit jedem anderen verbanden. Aber Zwerge waren Traditionalisten. Die alten Wege waren die besten, und schließlich wußte man im Untergrund, woran man war. Also verschwanden sie durch ihre Löcher, und der letzte von ihnen tarnte den Zugang mit einem Stück Erdboden. Als die Zwerge sich schließlich davongemacht hatten, hatte die Wiese wieder ihr irdisches und irgendwie verwahrlostes Aussehen zurückerlangt, und Azzie hätte jetzt ebenfalls gehen können. Doch der fuchsgesichtige Dämon zögerte. Er dachte noch immer über die beiden Fausts nach. Was ging da vor? Es schien, als hätte Mephistopheles im Auftrag des Jahrtausend-Planungskommittees und mit Michaels Billigung einen von ihnen auf eine Reise an Orte geschickt, an denen er das Geschick der Menschheit zu Zeitpunkten beeinflussen sollte, die für die nachfolgende Weltgeschichte von Bedeutung sein würden. Und jener Faust hatte zugestimmt. Vermutlich gingen er und Mephistopheles gerade an den Start für den Wettkampf.
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Aber der Mann war nicht Faust. Es war ein Betrüger, und Mephistopheles schien nichts davon zu wissen. Das war kurios. War das ein schlichter unvorhersehbarer Zufall, der dem Geringsten ebenso widerfahren konnte wie dem Allergrößten? Oder steckte womöglich ein geheimer Plan dahinter? Trotz seines Rufes, ein gutartiger Dämon zu sein, war Azzie in gereizter Stimmung. Die jüngsten Ereignisse schlugen ihm aufs Gemüt. Bei dem aktuellen Jahrtausendwettkampf einfach übergangen zu werden, hatte seinem Befinden nicht gerade gut getan. Es ärgerte ihn immer noch, daß die Fürsten der Finsternis ausgerechnet Mephistopheles, den dümmsten Teufel, den man sich nur vorstellen konnte, mit der Aufgabe betraut hatten, die Azzie vor ihm so trickreich in Angriff genommen hatte. Und nun lief Mephistopheles doch tatsächlich mit dem falschen Mann durch die Gegend! Welche Auswirkungen würde der Betrüger auf den Wettkampf haben? Wer würde davon profitieren, den echten Faust aus dem Spiel zu lassen? Je mehr Azzie darüber nachdachte, desto mehr wuchs die Sicherheit in ihm, daß jemand diesen Mißgriff geplant haben mußte. Verschwörungstheorien gehörten zu den vornehmsten intellektuellen Leistungen der Hölle, und Azzie war ein geradezu orthodoxer Anhänger dieser Denkweise, wenngleich er sonst so seine Schwierigkeiten mit strengen Lehrmeinungen hatte. Ja, irgendwer plante irgendwas… bestimmt! Und er konnte herausfinden, was es war und es für seine eigenen Zwecke gebrauchen. Kaum war ihm dies klar geworden, da wich seine üble Stimmung einem Hochgefühl. Wenn es etwas gab, das einem Dämon Freude bereitete, dann die Möglichkeit,
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eine Verschwörung zu planen und darin besser zu sein als jeder andere. Azzie begrüßte diese Gelegenheit. Er hatte schon lange nichts mehr zu tun gehabt. Seit er darauf gewartet hatte, für die Planung des Wettkampfes gewählt zu werden, harte es überhaupt nichts mehr gegeben, das interessant für ihn gewesen war. Diese Sache würde ihn ausreichend entschädigen, und er wußte genau, wo er anfangen mußte. Nach einem letzten prüfenden Blick auf das Land, auf dem der Hexensabbat stattgefunden hatte, stieg er in die Luft auf, wobei er sich wie ein glühender Kreisel drehte. Dann startete er durch wie eine Rakete, umgeben von gleißenden roten und weißen Lichtpunkten. Das sollte ein Sterblicher einmal versuchen!
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KAPITEL
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Sein Flug wurde ruhiger, als Azzie sich erst einmal im Äther befand, und brachte ihn in seine Heimatregion in der südlichen Hölle, wo sich auch das Höllenarchiv befand. Die Akten waren für gewöhnliche Bewohner der Hölle nicht zugänglich, aber Azzie kannte einen Weg, wie er sie trotzdem würde einsehen können. Er mied das große graue Archivgebäude, wo unzählige verdammte Seelen auf Computertastaturen herumtippten, dazu bestimmt, eine Ewigkeit in hirnerweichender Langeweile zu verbringen. Ihre einzige Abwechslung waren gelegentliche Zigarettenpausen, die man ihnen zugestanden hatte, weil sich die Höllenmächte in der Regel recht nachsichtig zeigten, wenn man irgend etwas tat, um sich selbst zu schädigen. Azzie ging in eine kleine, rustikale Taverne rechts hinter dem Archiv. Von dort aus telefonierte er mit Winifred Feyye, eine ihm wohlbekannte, süße kleine Hilfsteufelin, die als Abteilungsleiterin in der Protokollabteilung angestellt war. »Hey, Baby, wie steht's?« erkundigte sich Azzie in der unbeschwerten Art, die Winnie so an ihm mochte. »Azzie! Es muß Jahrhunderte her sein, seit ich das letzte Mal von dir gehört habe!« »Du weißt doch, wie das ist, Baby. Wenn du etwas wirklich Böses in der Welt anstellen willst, dann ist das eine echte Vollzeitbeschäftigung.« Später saßen sie bequem zusammen in einer Nische in der Ecke, und der Ober brachte ihre Getränke, eine Bloody Mary für Winnie und ein Teufelscocktail für Azzie. In dieser gelösten Atmosphäre schwatzten sie eine Weile
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über gemeinsame Bekannte: den alten Foxworthy, der jetzt eiserne Jungfrauen im ewigen Fegefeuer reparierte; das Fräulein Muggles, das noch immer als Privatsekretärin für Asmodeus arbeitete; oder der junge Silberfuchs, der als Speiselieferant für den SchlechteTaten-Service die Verdammten mit Essen versorgte. Im Kamin brannte ein helles, warmes Feuer, und ein blinder Minnesänger, der die Geschichte von Troja zu den Klängen einer Harfe vortrug, gab dem Ganzen eine ebenso klassische wie romantische Komponente. »O Azzie«, sagte Winnie einige Gläser später, »das hat soviel Spaß gemacht, daß ich mir wirklich wünschte, wir könnten uns öfter sehen, aber jetzt muß ich dringend zurück an die Arbeit.« »Mir hat es auch gefallen«, antwortete Azzie. »Wer weiß, vielleicht klappt es ja bald wieder einmal. Winnie, du könntest mir einen kleinen Gefallen tun, wenn es dir nichts ausmacht. Ich schreibe einen Artikel für das Satanische Tageblatt über Verträge und Vereinbarungen zwischen den Mächten der Finsternis und des Lichtes. Es gibt da ein ganz neues Protokoll, das noch nicht für die Öffentlichkeit freigegeben worden ist. Es hat etwas mit dem aktuellen Jahrtausendwettkampf zu tun.« »Ich weiß, welches du meinst, ich habe es gerade vor zwei Tagen abgelegt.« »Es würde mir sehr weiterhelfen, wenn ich es einsehen könnte.« Winnie stand auf und wandte sich zum Gehen. Sie war klein und zierlich, sogar für ein Hilfsteufelchen, und ihr Haar, das sie wie ein Kobold geschnitten hatte, umrahmte ihr herzförmiges Gesicht und betonte ihre großen, dunklen Augen. »Ich werde es in der nächsten Pause herbringen.«
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»Winnie, du bist wunderbar. Aber nun beeil dich!« Die hübsche kleine Teufelin verließ ihn, wobei ihr knapper Rock hochwirbelte und ihm einen kurzen Blick auf ihre wohlgeformten Schenkel erlaubte. Azzie saß in der Taverne und wartete darauf, daß die Zeit verging. Ab und zu kam ein Arbeiter aus dem Archiv auf einen schnellen Drink in die mäßig beleuchtete Wirtschaft. Das Licht im Innern war von perfekter Ebenmäßigkeit. Gleichgültig ob Tag oder Nacht, hier sah es immer aus wie an einem regnerischen Wintertag. Draußen fielen vereinzelte Regentropfen auf die bleiverglasten Fensterscheiben der Taverne. Azzie fand eine zwei Wochen alte Ausgabe des Höllischen Lokalanzeigers, der Hauszeitung des Archivs. Wenig interessiert überflog er Artikel über eine Verlosung, einen Betriebsausflug und den neuesten Nachtrag zu den innerhöllischen Angelegenheiten. Er schlürfte Café Diabolique mit Kokain, was in der Hölle nicht nur legal, sondern sogar eine Anforderung des Unheiligen Sakraments der Zerstörung war, zu der die Arbeiter des Höllenarchivs durch ein Gesetz tagtäglich verpflichtet wurden. Nach einer Weile huschte Winnie herein, und wieder rutschte ihr Minirock ganz entzückend an ihren festen kleinen Schenkeln hoch. Sie reichte Azzie einen dicken braunen Umschlag. »Das sind die Unterlagen, aber ich muß sie gleich wieder zurückbringen.« »Ich brauche nicht lange«, sagte Azzie. Er zog die Dokumentenrolle aus dem Umschlag und überflog sie, während Winnie das untere Ende festhielt. Schnell stieß er auf die Vereinbarung zwischen Faust und Mephistopheles. Die Bedingungen waren geradezu penibel genau festgelegt worden, luden aber paradoxerweise geradezu
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dazu ein, umgangen zu werden. Da stand: Hiermit wird vereinbart, daß Johann Faust, zu Hause in vielen Städten der Erde, zuletzt vermutet in Krakau… Und weiter: Der oben genannte Faust, er selbst oder wer diesen Namen für sich beansprucht, soll hinausgehen… Wer diesen Namen für sich beansprucht? Für Azzie klang das verdächtig nach einem Hintertürchen, mit dem sich gegebenenfalls der Umstand rechtfertigen ließe, einen falschen Faust erwischt zu haben. Azzie las weiter: Dieser Faust – welcher Faust? Wieder dieselbe Mehrdeutigkeit! – wird sich in fünf Situationen, die weiter unten näher benannt werden, zu bewähren haben. In jeder dieser Situationen wird er ohne unser Eingreifen eine Entscheidung zu treffen haben. Über seine Wahl wird Ananke allein nach den Gesichtspunkten von Gut und Böse, Licht und Finsternis oder jedem anderen Gegensatzpaar, das für diesen Wettkampf von Bedeutung ist, zu Gericht sitzen. Es wird weiter vereinbart, daß dieser Faust nur aus seinem eigenen freien Willen handeln wird… Azzie legte die Dokumente nieder. »Wer hat das aufgesetzt? Doch sicher nicht der Erzengel Michael?« »Doch, genau der«, sagte Winnie. »Ich hätte nicht gedacht, daß er zu derartigen Spitzfindigkeiten fähig ist. Das Ding ist derart vieldeutig, daß es sogar den Professoren am Institut für fortgeschrittene Tatsachenverdrehung die Tränen in die Augen treiben würde.« »Nun, Michael hat Haarspalterei studiert, soweit wir wissen«, sagte Winnie. »Er ist der Ansicht, daß sich das Gute nicht länger seine eigenen Möglichkeiten dadurch beschneiden darf, daß es zu keiner ernsthaften Täuschung fähig ist.«
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»Das ist schon in sich eine Spitzfindigkeit. Hmmm…« Azzie überflog die Dokumente noch einmal. »Dieses ganze Zeug mit dem freien Willen… Denkst du, daß das ebenfalls nur eine Finte ist? Und wenn, was soll damit vertuscht werden?« »Ich habe keine Ahnung«, sagte Winnie mit einem wundervollen Augenaufschlag. »Du vielleicht nicht, mein Schatz.« Er rollte die Schriftstücke wieder zusammen und reichte sie ihr. »Aber ich kenne jemanden, der eine Ahnung haben könnte.«
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KAPITEL 14 Die Person, die Azzie im Sinn hatte, war Lachesis, die älteste der drei Parzen. Das sind jene Damen, die den Schicksalsfaden der Menschen spinnen, bemessen und abschneiden. Lachesis war diejenige, die die Verantwortung für die Arbeit trug. Klotho, deren Aufgabe es war, die Schicksalsfäden aus dem Flachs undifferenzierten Daseins zu spinnen, ließ einfach ihre Hände automatisch die Arbeit tun, während sie sich Tagträumen von alten Zeiten hingab. Atropos, die die Fäden durchzuschneiden hatte, arbeitete nur auf direkte Anweisung von Lachesis. Schnipp-schnapp, schneide hier, meine Liebe, und dort und da – und wieder ist ein Leben futsch! Das war keine sehr anstrengende Tätigkeit, und Klotho und Atropos hatten nebenher reichlich Zeit für endlose Kartenspiele, Kaffeekränzchen und Früchtekuchen, dem Hauptnahrungsmittel der Parzen. Nur Lachesis hatte darüber zu richten, wie lange ein Mensch leben sollte und, so wurde gemunkelt, auf welche Art und Weise er sterben sollte. Sie war eine große alte Dame mit einem grimmigen Gesichtsausdruck, die mit den Mächten der Notwendigkeit, dem Chaos und der Nacht – einer frühen Urmutter – verwandt war, die sie an wichtigen Feiertagen besuchte. Den Rest ihrer Zeit verbrachte sie damit, die Länge der Fäden zu bestimmen und mit unermüdlichem Eifer die individuellen Fasern zusammenzustellen, die jedem Menschen seine Moira – sein Schicksal – bestimmten. Die Parzen gehörten zum Erbe eines mystischen Zeitalters, und man könnte glauben, einen Widerspruch darin zu erkennen, daß sie kurioserweise in einem Kosmos mit christlichen Engeln und mittelalterlichen Dämonen wohnten. Dieser Widerspruch und noch viele
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andere offensichtliche Ungereimtheiten wurden alle endgültig erklärt in der Einheitlichen Feldtheorie des Geistigen, doch da es niemanden gab, der sie wirklich kannte, war allein schon ihre bloße Existenz eine Sache des Glaubens. Eine Reise zu den drei Schicksalsschwestern, wie man sie hinter ihrem Rücken nannte, war alles andere als einfach. Sie lebten in ihrem eigenen kleinen Reich jenseits von Raum und Zeit, an einem Ort, der mit nichts anderem in Verbindung stand, nur mit dem stählernen Band der unerklärlichen Kausalgesetze. Dennoch nahm Azzie den beschwerlichen Weg auf sich. Lachesis galt schon aufgrund ihrer engen Verbindung zu der Macht der Notwendigkeit als weise und erfahren im Umgang mit den Kreaturen der Finsternis und des Lichts. Außerdem erlaubten ihr ihre intuitiven Fähigkeiten erstaunlich genaue Rückschlüsse auf die Motivation dieser Wesen. Zunächst kaufte Azzie ein kleines Geschenk, denn Lachesis hatte eine Schwäche für Kinkerlitzchen aller Art. Sie verwahrte sie in einem großen Lagerraum, der an den bescheidenen griechischen Tempel angebaut war, in dem sie und die anderen Parzen arbeiteten. Der Lagerraum war wieder und wieder ausgebaut worden, weil die Flut der Geschenke, die die Parzen in der ein oder anderen Weise beeinflussen sollten, einfach nicht abreißen wollte. Azzie entdeckte ein Teesieb aus Sterlingsilber in einer kunstvollen Fassung aus altem Porzellan. Mit diesem in Geschenkfolie verpackten Präsent machte er sich auf den Weg zu dem kleinen roten Stern am Rande derjenigen Region des Weltraumes, die auch Kohlensack genannt wurde. Er holte tief Luft und tauchte hinein.
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In dieser Region gab es viele Turbulenzen, die ihn wild umherschleuderten. Nach einem anstrengenden Flug erreichte er schließlich sein Ziel: eine Gebirgswiese, an deren Ende das kleine Backsteinhäuschen stand, in dem die Parzen lebten. Dahinter, sehr viel eindrucksvoller, befand sich der gewaltige griechische Tempel, der die vielen Geschenke beheimatete, die Generationen von Menschen ihnen geschickt hatten, immer in der Hoffnung, ihr Schicksal ändern und ein paar weitere Lebensjahre herausschlagen zu können. »Komm herein, mein Lieber«, begrüßte Lachesis ihn und öffnete die Tür. »Atropos, Klotho, schaut, wer uns da besuchen kommt!« »Ist das nicht Azzie, dieser nette junge Dämon?« fragte Atropos. Ihre Schere klapperte geschäftig, und die abgeschnittenen Stücke des gesponnenen Flachses wirbelten durch die Luft. »Gib acht!« ermahnte Lachesis sie. »Du hast die letzten Lebensfäden über zwei Zentimeter unter meiner Markierung abgeschnitten, und jeder davon bedeutet zehn Jahre im Leben eines Sterblichen!« »Was macht das schon?« fragte Atropos. »Sie hätten diese Jahre doch nur ebenso vergeudet wie all ihre anderen auch.« »Darum geht es nicht«, entgegnete Lachesis. »Moira, das Schicksal selbst, gibt ihnen eine bestimmte Zeit, mit der sie tun können, was immer sie wollen, und es ist keinem Gott, keinem Sterblichen und auch keinem Geist erster Ordnung gestattet, sich in diese Belange einzumischen.« »Dann gib eben jemand anderem ein oder zwei Zentimeter mehr!« mischte Klotho sich herausfordernd in das Gespräch. »Es wird sich schon wieder ausgleichen.«
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Lachesis wandte sich schulterzuckend an Azzie. »Was soll ich nur machen? Erst vergangene Woche habe ich Atropos dabei erwischt, wie sie Knoten in die Lebensfäden machte, ehe sie sie durchschnitt. Als ich sie dann gefragt habe, warum sie das täte, erklärte sie mir, sie habe nur sehen wollen, was die Menschen wohl mit Knoten in ihren Lebensfäden täten. Und Klotho hat einfach nur zugesehen und fand das anscheinend völlig in Ordnung. So etwas ist ihr schlichtweg gleichgültig. Wir sind zwar alte Freundinnen, aber ich habe trotzdem inzwischen bei der zentralen Zuteilungsstelle angefragt, ob man sie nicht auswechseln könnte, aber man sagte mir, es gäbe da ein zivilrechtliches Problem. Nur Atropos könne diesen Job tun, es sei weder mit der Tradition, noch mit den Dienstvorschriften vereinbar, sie auszuwechseln. Als ob Tradition und Dienstvorschriften alles wären!« »Ich sehe schon, du hast es nicht leicht hier«, sagte Azzie. »Es ist mir unangenehm, dich auch noch mit meinen unbedeutenden Angelegenheiten zu belästigen.« »Mach dir darüber keine Gedanken!« antwortete Lachesis. »Das Teesieb ist ganz entzückend, und ich weiß auch schon einen passenden Platz dafür. Nun, was hast du für ein Problem?« Azzie erzählte ihr von dem Jahrtausendwettkampf und den mehrdeutigen Formulierungen des Protokolls, das der Erzengel Michael aufgesetzt hatte. »Du hast vollkommen recht damit, Michael nicht zu trauen«, sagte Lachesis. »Sein Diensteifer ist in der letzten Zeit so groß geworden, daß ihn die Mittel, die er einsetzt, um seine Ziele zu erreichen, nur wenig kümmern. Irgendwann wird er sich einen Verweis dafür einfangen, da bin ich mir sicher. Aber in der Zwischenzeit kann er
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seine Spitzfindigkeiten dazu nutzen, sich so unsichere Faktoren wie den sogenannten freien Willen dienstbar zu machen und damit die schwierige Urteilsfindung gerade in diesem Fall zu seinen Gunsten zu manipulieren. Das kann ihm bei den Situationen helfen, in die er Faust – oder auch den falschen Faust – bringen will. Ich frage mich nur, wie Ananke über die Absichten dieses Wettkämpfers, wer immer es auch ist, urteilen soll, obwohl der doch von beiden Seiten bedrängt werden dürfte. Es scheint so, als müsse sie ihr Urteil vorwiegend nach den Ergebnissen und nicht so sehr nach den Absichten treffen. Das würde bedeuten, daß Michael einen Wettkämpfer braucht, dessen Wahl er vorhersehen kann.« »Aber warum nimmt er dann nicht den echten Faust?« »Der echte Faust ist nicht unproblematisch«, entgegnete Lachesis. »Wir kennen diverse Geschichten über ihn, aber sie ergeben kein einheitliches Bild seines Charakters. Er wird einerseits oft als ein Aufschneider und Scharlatan dargestellt, andererseits als hervorragender Magier und scharfsinniger Denker. Michael wußte, daß es nicht schwer sein würde, Mephistopheles von Faust als Wettkampfkandidaten zu überzeugen; sein Problem war wohl mehr vorauszusehen, wie Faust in den einzelnen Situationen reagieren würde. Mack der Schläger war dagegen ein einfacherer Kandidat – ein gescheiterter Klosterschüler, der harte Zeiten durchgemacht und einige üble Taten begangen hatte. Trotzdem ein absolut konventioneller Typ. Er ist unentrinnbar gefangen in dem Drang nach einem bürgerlichen Leben; zumindest war das die Einschätzung der himmlischen Untersuchungsbeamten, die ihn in Michaels Auftrag heimlich überprüft haben.« »Willst du mir erzählen«, fragte Azzie, »daß Michael das alles eingefädelt hat? Er hat in Mack den Gedanken
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entstehen lassen, Faust niederzuschlagen und in sein Haus zu gehen, weil er wußte, daß Mephistopheles da sein und beide verwechseln würde?« »Ich kann es dir nicht absolut sicher sagen, aber nach allem, was ich gehört habe, scheint es sich genauso abgespielt zu haben. In den himmlischen Heerscharen halten das viele für einen guten Witz auf Kosten des überheblichen Mephistopheles. Der Engel Babriel hat die Drecksarbeit für Michael erledigt. Er ging zu Mack in die Taverne und flüsterte ihm ein, Faust auszurauben, und daß es seinem Konto als eine gute Tat angerechnet würde. Zu seiner Ehre sei gesagt, daß Mack ihm vorhielt, es sei schwer, einen Mord zu rechtfertigen, selbst wenn er aus dem besten und ehrenhaftesten Motiv geschehe. Babriel verdrehte in gottesfürchtigem Entsetzen die Augen und sagte: ›Wir reden hier doch nicht von Mord, nicht einmal davon, jemanden ernsthaft zu verletzen. Du sollst ihn lediglich kurzfristig außer Gefecht setzen, dir seine Brieftasche schnappen und dir dann noch was von dem Zeug in seinem Haus holen.‹ Mack fragte nach, ob das denn nicht Diebstahl sei, und Babriel antwortete, daß es das gewissermaßen schon sei, aber wenn Mack zehn Prozent seines Gewinns einem Armenhaus spenden würde, wäre die Schuld gesühnt.« Lachesis bewunderte noch einmal das Teesieb, legte es weg und sagte: »Das ist alles, was ich über diese Sache weiß.« »Das sind äußerst interessante Neuigkeiten. Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.« »Ich habe dir das im Namen der Gerechtigkeit erzählt«, sagte Lachesis. »Wir Parzen bevorzugen weder die Mächte des Lichtes noch die der Finsternis. Aber es ist unsere unausweichliche Pflicht, Gaunereien zu entlarven, wenn wir sie entdecken, ganz gleich, wer sie betreibt oder welchem Zweck sie dienen. Der Tag mag kommen, an
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dem ich Geschichten über dich erzählen werde, Azzie. Stelle dich dann nicht gegen mich.« »Das sollte ich in der Tat nicht tun. Wer erwischt wird, der verdient die Niederlage, das gilt für uns alle. Ich muß gehen, gute Mutter!« »Was wirst du mit dieser Information anfangen?« fragte Lachesis. »Ich weiß es noch nicht«, antwortete Azzie. »Ich muß erst eine Weile darüber nachdenken und mein Herz befragen, ehe ich entscheide, was zu tun ist.« Mit diesen Worten verschwand er.
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KAPITEL 15 »Was ist das hier für ein Ort?« fragte Marguerite. Sie zupfte ihr Kleid zurecht und versuchte, irgendwie ihre zerzausten Haare zu bändigen, die der Wind auf ihrer letzten Reise heftig durcheinander gebracht hatte. Sie waren soeben in der Nähe eines großen marmornen Gebäudes mit vielen Säulen, das sich ganz oben auf einer Anhöhe befand, aus dem Blau des Himmels herabgesunken. Gleich neben dem Prachtbau befand sich ein Marktplatz, auf dem kleine dunkelhäutige Männer Teppiche, Kleider, Gobelins und andere Waren feilboten. Dahinter standen braune, graue und schwarze Zelte, die dem Platz die Aura eines Beduinendorfes verliehen. »Wo sind wir?« fragte Marguerite. »In Athen«, erklärte Faust ihr. »Das Marmorgebäude da drüben ist der Parthenon.« »Und all diese Leute hier?« fragte sie und wies auf die Händler. »Kaufleute, nehme ich an«, sagte Faust. Marguerite seufzte. »Das soll die Herrlichkeit der alten Griechen sein? Das sieht aber ganz anders aus als das, was sie uns in der Dorfschule erzählt haben.« »Nun, du sprichst von der Antike«, sagte Faust. »Aber dies hier ist die Neuzeit. Alles hat sich ein bißchen geändert, doch der Parthenon steht noch immer. Seine großen dorischen Säulen ragen in den Himmel wie Wächter für alles Gute, Achtbare und Schöne in der Welt.«
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»Er ist wirklich schön«, sagte Marguerite. »Aber warum sind wir hier? Ich dachte, wir würden direkt zum Fluß Styx reisen.« »Nun, der Fluß Styx fließt durch Griechenland.« »Was, hier in Athen?« »Nein. Irgendwo anders in Griechenland. Ich dachte, es wäre besser, erst einmal hierher zu kommen und nach dem Weg zu fragen.« Marguerite schien verwirrt. »Eine Sache verstehe ich nicht. Ich habe in der Schule gelernt, daß der Fluß Styx nicht wirklich existiert. Wie kannst du dann aber nach dem Weg fragen?« Faust lächelte überheblich und fragte: »Existiert der Erzengel Michael wirklich?« »Ja, natürlich.« »Und wie steht's mit dem heiligen Gral? Gibt es den?« »So heißt es, ja«, antwortete Marguerite. »Nun gut, dann glaube mir, der Styx existiert ebenfalls. Wenn ein imaginäres Ding wirklich ist, dann müssen es alle anderen imaginären Dinge auch sein.« Marguerite rümpfte die Nase. »Gut, wenn du das sagst.« »Ja, das sage ich. Wer von uns ist schließlich der autodidaktische Thaumaturg?« »Ist ja schon gut, das bist du«, sagte Marguerite. »Nun sei mir nicht gleich böse.« Faust wußte aus alten Atlanten, daß der Fluß Styx irgendwo in Griechenland an die Erdoberfläche kam, ehe er wieder verschwand und seine weiten Wege durch Raum und Zeit zog – hin zu den Gestaden des Tartaros. Seinen Karten zufolge kam der Styx aus einer Höhle an
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die Erdoberfläche, floß eine Weile durch eine finstere Ebene und strömte dann einen steilen Abhang hinunter. Schließlich tauchte er in eine Höhle ein, die dem menschlichen Vorstellungsvermögen nicht zugänglich war. Das war die klassische antike Route, die schon Theseus genommen hatte, als er hinabstieg um Helena dem Achilles zu rauben. Faust erzählte Marguerite davon. »Wer ist diese Helena?« fragte sie. »Eine beeindruckende Frau«, sagte Faust. »Sie ist bekannt für ihre Schönheit. Ihretwegen wurde ein gewaltiger Krieg geführt und eine große Stadt vernichtet.« »Ach, so eine. Was haben wir mit ihr zu tun?« »Wahrscheinlich werden wir ihr gar nicht begegnen. Aber falls doch, könnte sie uns einige wichtige Hinweise geben, wie wir in das Konstantinopel des Jahres 1210 gelangen, um endlich Mack den Thronräuber zu vertreiben – auf daß ich meine rechtmäßige Position in was auch immer einnehmen kann.« »Wen willst du hier nach dem Weg fragen?« fragte Marguerite. »Diese Leute sehen nicht so aus, als wüßten sie auch nur, in welcher Stadt sie sich gerade befinden, geschweige denn, wo wir einen mystischen Fluß wie den Styx finden.« »Laß dich von ihrem Äußeren nicht täuschen! Sie sehen lediglich so aus, um Fremde abzuschrecken. Ich wette, jeder einzelne von ihnen kennt den Weg.« Er führte Marguerite zu einer Gruppe von Männern, die sich um einen Mann mit einer Kaffeekanne versammelt hatten. »Siehst du das? Kaffee! Diese Leute sind keineswegs rückständig. Das Zeug ist im übrigen Europa noch gar nicht bekannt.«
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Voller Ungeduld fragte Faust in dem affektierten korinthischen Dialekt, den er im Griechischunterricht erlernt hatte: »Gute Leute! Könnt ihr mir den Weg zum Fluß Styx weisen, von dem gesagt wird, er sei irgendwo in Hellas zu finden?« Die kaffeetrinkenden Männer sahen einander an, und einer sagte in einem breiten dorischen Dialekt: »Alf, ist da nicht ein Styx in der Nähe des Hofes deines Onkels in Thesprotia?« »Du meinst den Acheron«, sagte Alf. »Er mündet nahe bei Herakleia Pontica in den Styx, aber es dauert sehr lange, seinem Lauf zu folgen. Wie man sagt, fließt er in vielen Schlangenlinien. Es gibt allerdings noch einen direkteren Weg zum Styx. Gehen Sie nach Kolophon. Von dort aus folgen Sie dem Fluß Kokytos stromabwärts. Er fließt in den Styx, nachdem er die unergründlichen Höhlen von Acherusia durchquert hat.« »Ja, das ist der beste Weg«, stimmte ein anderer zu. »Sie können es gar nicht verfehlen. Sie werden wissen, daß Sie den Styx gefunden haben, sobald an den Ufern nur noch Affodill und Schwarzpappeln wachsen. Der Fluß taucht dann bald in den Untergrund, und alles wird ein bißchen unheimlich werden. Dann werden Sie schon wissen, wo Sie sich befinden.« Faust dankte den Bauern und ging mit Marguerite fort. Mit Hilfe eines Zaubers folgte er der Küstenlinie Attikas nordwärts. Marguerite ritt auf seinem Rücken. Leider gab es keinen Zauber, der stark genug gewesen wäre, seine Arme so zu kräftigen, daß er sie hätte halten können, während sie vom Wind durchgeschüttelt wurden. Marguerites Haar hatte sich wieder zu einem wilden Knäuel verwandelt, und sie befürchtete, der dauernde Wind könnte ihr die Röte ins Gesicht treiben. Aber auch das sollte ihr recht sein, war sie doch das einzige Mädchen, das mit einem Zauberer durch die Lüfte ritt,
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und das war schon etwas ganz Besonderes für ein Frauenzimmer ihrer Bildung. Sie flogen über die Stadt Korinth mit ihrer hochaufragenden Zitadelle und vorbei an den Ruinen von Theben, die Alexander der Große vor über tausend Jahren hinterlassen hatte. Die Landschaft zeigte sich weniger zerklüftet, als sie sich Thrakien näherten. Nach einer Weile tauchten unter ihnen zwei breite Flüsse auf, und Faust erkannte, daß einer davon der Acheron war. Er landete. »Warum halten wir an?« fragte Marguerite. »Ist das der Styx?« »Nein, es ist der Acheron, der in den Styx mündet.« »Und warum fliegen wir dann nicht weiter?« Faust schüttelte den Kopf. Durch den häufigen Gebrauch hatte er schon viel zuviel von der Macht seines Reisezaubers vergeudet, und es würde eine Weile dauern, ihn wieder aufzuladen. Einige hundert Meter von ihnen entfernt stand ein verfallenes Gehöft mit einem Bootssteg, an dem ein offener Stakkahn vertäut lag. Da die Gegend verlassen zu sein schien, löste Faust das Tau, setzte Marguerite an den Bug, nahm selbst achtern Platz, und sie folgten dem Fluß mit dem Boot stromabwärts bis zum Styx.
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KAPITEL 16 Das Boot trieb verträumt auf dem langsam fließenden Fluß. Faust wußte, daß er auf dem richtigen Weg war. Der Strom verengte sich, und die Landschaft wurde kahler. Schnell gab es keine Vegetation außer Schwarzpappeln und düsteren Affodillfeldern mehr. »Wir nähern uns unserem Ziel«, sagte Faust. Er hatte den größten Teil des Stakens auf ihrer Bootsfahrt übernommen. Trotzdem war er nicht allzu erschöpft, denn er hatte sich mit einem polarisierenden Zauber, der jeden seiner Stakzüge wie ein künstlicher Muskel mit Energie unterstützte, etwas Erleichterung verschaffen können. Der Fluß verjüngte sich immer mehr, bis er nur noch ein schmaler Graben war. Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt. Als die Uferböschungen plötzlich auseinandergingen und den Blick auf eine große dunkle Wassermasse freigaben, wußte Faust, daß sie am Ziel waren. An dieser Stelle passierten sie eine riesige Warntafel, auf der in mehreren Sprachen zu lesen war: DER FLUSS STYX. WEITERFAHRT FÜR PRIVATBOOTE VERBOTEN. »Wir müssen hier anlegen«, erklärte er Marguerite. »Charon, der Fährmann der Unterwelt, hat als einziger das Recht, auf diesem Fluß zu fahren. Niemand, auch nicht der klügste Magier, wird sich ungestraft über dieses Verbot hinwegsetzen. Um weiterzukommen, müssen wir eine Vereinbarung treffen. Komm, wir müssen Charon finden!« »Gibt es denn wirklich einen Charon?« fragte Marguerite. »Widerspricht das nicht den kirchlichen Lehren?«
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»Nein, das tut es nicht. Diese Wesen haben wenig mit Religion zu tun. Sie sind Energien, die aus einem früheren Zeitalter zurückgeblieben sind und noch immer in der ihnen bestimmten Gestalt weiterexistieren.« Dann sah er das Boot, das über den dunklen Fluß auf ihn zukam. Als es sich näherte, erkannte er, daß es eine Art Hausboot war, das von fünf Delphinen vorwärtsgezogen wurde. Der Kahn war schnell, weil mittschiffs Männer mit Rudern und Paddeln die Delphine unterstützten. Es war ein unsolides, altes Boot mit hohen Aufbauten, und durch seine Luken und Bullaugen drangen das gelbe licht von Laternen, Musik und unverwechselbare Laute der Lustbarkeit nach draußen. »Und wer bist nun du?« schrie Charon herüber und zeigte auf Fausts Stakkahn. Er war ein dürrer alter Mann mit einem unrasierten, stachelig-weißen Kinn. Kleine dunkle Augen glitzerten in tief eingesunkenen Höhlen. Ein Schwall grauweißen Haares wogte um seinen knochigen Schädel, und sein breiter Mund wurde von trockenen, rissigen Lippen eingerahmt. Er unterbrach sich, um einige Anweisungen zu geben. »Schiebt den Balken dort rüber! Pull das Ruder da drüben! Zieht das Seil ein! Dreht das Ding rum!« Faust wußte dank seiner hervorragenden Bildung, daß einige der Arbeiter auf dem Boot tote griechische Helden waren. Da waren Theseus, Perseus, Herkules, Jason und andere, die Faust nicht kannte, die aber wohl ebenfalls Helden gewesen sein durften. »Was willst du?« rief Charon. »Wir brauchen eine Fahrgenehmigung auf dem Styx«, sagte Faust. »Wir müssen zu einem bestimmten Ort in einer bestimmten Zeit. Unser Ziel ist das Konstantinopel des Jahres 1210.«
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»Wir haben keine Verbindung zum Konstantinopel des Jahres 1210 mehr«, sagte Charon. »Zuviel Ärger und Unruhe. Und zu viele Seelen, die von dort weggebracht werden wollen. Ich sehe keinen Grund, dieses Boot einem derartigen Ärger auszusetzen.« »Es ist wirklich sehr wichtig für mich, dorthin zu gelangen«, erklärte Faust. »Was kann ich tun, um die Passage zu bekommen?« Charon lachte. »Du hast nichts, was ich haben wollte! Und vergiß die Geschichte, daß du lediglich einen einzigen Obolus zahlen müßtest. Alles auf dem Styx ist verdammt teuer geworden, seitdem ich allein das Recht habe, hier herumzufahren. Das ist allein mein Gebiet, also versuche ja nicht, mit deinem Kahn noch weiter zu fahren. Und komm mir nicht über die Ufer gekrochen, ich habe sie mit Rührmichnichtan bepflanzt! Du wirst einen wahren Höllenzauber brauchen, um einer Ranke wie meinem Rührmichnichtan beizukommen.« »Ich hatte nicht die Absicht, Euch zu hintergehen«, sagte Faust würdevoll. »Aber ich bin sicher, wir können eine Abmachung treffen.« »Was läßt dich so sicher sein?« fragte Charon. »Ich habe etwas, das Euch gefallen wird.« »Hah! Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, was das sein sollte!« »So hört«, sagte Faust. »Habt Ihr meine Begleiterin gesehen?« Charon betrachtete Marguerite. »Ja, ich sehe sie, und weiter?« »Süß, nicht wahr?«
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»Hier kommen genug Charon.
süße
Dinger vorbei«,
sagte
»Aber keine lebenden süßen Dinger.« Charon starrte ihn an. Faust fuhr fort: »Ihr kennt doch den Unterschied zwischen den Lebenden und den Toten?« »Nur weil ihr am Leben seid, braucht ihr euch nicht als etwas Besseres zu fühlen. Ich bin ebenso gut wie ihr. Und ebenso real, auch wenn ich im irdischen Sinne nie existiert habe.« »Darum geht es mir nicht«, sagte Faust. »Ich biete Euch eine lebende Dame.« »Hey, warte mal!« unterbrach ihn Marguerite. Faust bat Charon um einen Augenblick Geduld, nahm Marguerite beiseite und sprach leise auf sie ein. »Du mußt nicht denken, daß ich dich irgendwelchen Unschicklichkeiten aussetze, wenn ich dich ihm anbiete. Das ist wirklich nicht mein Stil. Aber ich glaube, es könnte ihm gefallen, mit dir zu essen und vielleicht danach noch einen Moriskentanz zu wagen. Für ihn wäre es eine Abwechslung von seinem ewigen Alltag und für dich eine ganz harmlose Angelegenheit.« »Wieso denkst du, es würde mich nach einer Abwechslung gelüsten?« fragte Charon, der zugehört hatte. »Jeder, ganz gleich ob tot oder lebendig, braucht Abwechslung. Das ist das Wesen des Seins.« »Nun, vielleicht könnte mir etwas in der Art gefallen. Ich könnte – wie lautete doch gleich dieses neumodische Wort?« »Urlaub«, sagte Faust.
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»Ja, einen Urlaub machen. In der antiken Welt hatten wir so etwas nicht.« »Ihr solltet Euch mit den Gebräuchen der Moderne bekanntmachen«, empfahl Faust. »Nur so könnt Ihr Eure Erscheinung im Universum auf die Dauer behalten. Warum legt Ihr nicht gemeinsam mit uns in Richtung Konstantinopel im Jahre 1210 ab und speist und tanzt unterwegs mit Marguerite?« »Und was willst du derweil tun?« fragte Charon. »Ich würde mich nur gern in eine Kabine zurückziehen, um etwas zu schlafen. Es war ein harter Tag.«
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KONSTANTINOPEL KAPITEL 1 Mephistopheles hatte sie in eine bewaldete Bucht gebracht. Um sich herum sah Mack zwar nur große Bäume aufragen, doch die salzhaltige Luft brachte ihn zu der Annahme, daß sie sich in der Nähe des Meeres befanden. Die Bäume waren anders, als er sie aus Europa kannte. Nicht einmal das Gras unter seinen Füßen kam ihm bekannt vor. Es schien irgendwie gröber und robuster zu sein als das Zeug, das die heimischen Wege säumte. Damit erschöpften sich bereits seine Erkenntnisse über seine Umgebung; er konnte nicht mehr sehen, weil ihm große Trauerweiden den Blick versperrten. Trotz der Massen an frischer Luft, die ihm auf ihrem Flug vom Hexensabbat um die Ohren geweht waren, war Mack noch immer ein wenig betrunken. Auf diesen Hexenveranstaltungen wurde ein verdammt berauschendes Gebräu serviert! Noch fühlte er sich in Hochstimmung, aber das dumpfe Pochen in seinem Schädel ließ ihn ahnen, daß sich das noch ändern würde. Jetzt wollte er erst einmal von Mephistopheles Genaueres über die Belohnung erfahren. »Ich muß mich setzen und meine Wunschliste ausarbeiten. Sie sagten doch, daß Sie mir meine Wünsche garantiert erfüllen werden?« wandte er sich an Mephistopheles. »Natürlich«, entgegnete der, »aber das ist jetzt wirklich nicht wichtig.«
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»Nicht wichtig? Für Sie vielleicht nicht, aber für mich! Kann ich nicht jetzt schon eine Kleinigkeit – sozusagen als Vorgeschmack – bekommen? Ich hätte gern einen mit Hermelin besetzten Umhang, wie ihn Könige tragen, und einen Silberbecher, aus dem ich meinen Wein trinken kann. Dieses billige Zinnzeug ist für einen Mann in meiner Position nicht länger angemessen.« »Beherrschen Sie sich ein bißchen!« sagte Mephistopheles streng. »Sie sollten die Belohnung erst mal vergessen. Sie werden sie unverzüglich erhalten, wenn Sie Ihre Aufgabe abgeschlossen haben. Doch jetzt ist es erst mal an der Zeit, daß Sie mit Ihrer Arbeit beginnen.« »Oje«, seufzte Mack, »ich bin nicht gerade besonders gut in Form. Wie wäre es mit einem Tag Pause, ehe es ernst wird?« »Es ist bereits ernst«, sagte Mephistopheles. »Während Sie sich mit den Hexen herumtrieben, habe ich die Gelegenheit genutzt, ihre Akte zu lesen. Sie sind unter den Menschen für Ihre enormen intellektuellen Fähigkeiten und Ihre ausgeprägte Selbstkontrolle bekannt.« »Meine Akte?« »In den großen Archiven der Finsternis werden Akten über jeden Lebenden geführt.« »Das wußte ich nicht.« »Sie waren ein Streber in der Schule. Die verschiedenen Fächer der Unter- und Mittelstufe haben Sie mit einer Disziplin gemeistert, die manche Ihrer Lehrer für eine wahrhaft göttliche Gabe gehalten haben.« Mack glotzte ihn verständnislos an. Er war während seiner kurzen Schulzeit ein recht uninteressierter
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Schüler gewesen. Dann dämmerte ihm, daß Mephistopheles nicht von ihm, sondern von Faust sprach. »Zeigen Sie mir diesen starken Geist jetzt«, forderte Mephistopheles. »Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.« »Ja, ja«, murrte Mack, »es wird schon gehen.« Entgegen dem zuversichtlichen Klang seiner Worte breitete sich in ihm eine Woge düstersten Selbstzweifels wie die Tinte eines riesigen Kraken in einem klaren Gewässer aus. Wie, um Gottes willen, hatte er sich nur in so eine Situation bringen können? Er mußte völlig verrückt gewesen sein, diesen großen und bösen Geist glauben zu machen, er sei der gelehrte Doktor Faust. Nun mußte er zusehen, wie er mit den Folgen seiner Tat zurechtkam. Er konnte nicht länger Mack, der zwar attraktive, aber nicht besonders helle Klosterschüler sein, der Bursche, der Regeln ebenso sehr verabscheute, wie er Spaß liebte, der Kerl, der ein ganzes Jahr damit zugebracht hatte, minimale Grundlagen des Schreibens, Lesens und Rechnens zu erlernen, der so faul gewesen war, daß nur sein Charme und seine glatte Zunge ihn durchgebracht hatten. Nun, zumindest so lange, bis seine stetige Bereitschaft zu kleinen Abenteuern mit den jungen Damen aus dem nahegelegenen Nonnenkloster und sein großer Durst nach deutschem Bier ihn in die rauhe Wirklichkeit des Lebens hinauskatapultiert hatten. Das war sein Leben gewesen, doch das durfte es nun nicht mehr sein. Immerhin bot sich ihm nun plötzlich die Chance, einer der ganz Großen zu werden und einen Platz unter den Archetypen der Welt, den geistigen Führern, einzunehmen. Und es war auch eine Möglichkeit zu beweisen, daß er ein ebenso guter Mann wie Faust war. Was er zu lernen verpaßt hatte, würde er
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durch geschickte Fragen und Auffassungsgabe wettmachen können.
eine
schnelle
Mack fühlte, wie neues Selbstvertrauen seinen Geist erfüllte. Dies war wirklich nicht die Zeit, sich Spekulationen über die Belohnung hinzugeben. Er ignorierte seinen schmerzenden Kopf und beschloß, sich auf das zu konzentrieren, was jetzt von Bedeutung war. »Wo sind wir?« fragte er. »An der Küste nahe bei Konstantinopel«, sagte Mephistopheles. »Gleich neben dem Lager der Franken. Hier werde ich Sie verlassen. Sind Sie bereit, Ihre Instruktionen entgegenzunehmen?« »Das bin ich«, sagte Mack und versuchte zuversichtlich zu bleiben, obwohl er verzweifelt wünschte, er hätte einen Krug Wein, der ihn wieder auf die Beine brächte. »Was soll ich tun?« »Sie werden die Wahl zwischen drei Möglichkeiten haben. Für eine müssen Sie sich entscheiden.« »Was für Möglichkeiten?« »Die erste ist, Enrico Dandolo zu töten, die zweite, Alexios den Thronräuber zu entführen, und die dritte, die geheiligte Ikone des St. Basilius zu retten.« Mack fand es nicht besonders fair, noch vor dem Frühstück mit so vielen Alternativen und Informationen belästigt zu werden. Andererseits wußte er, daß er von dem so ernst dreinschauenden Mephistopheles keine weitere Geduld mehr zu erwarten hatte. »Welche Entscheidung sollte ich Ihrer Ansicht nach treffen?« »Meine Ansichten tun hier nichts zur Sache«, entgegnete Mephistopheles. »Sie müssen Ihre Wahl allein treffen.«
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»Aber auf welcher Grundlage?« »Auf der Grundlage Ihrer eigenen Kriterien und Ihrer Urteilskraft, denn hier geht es um ein exemplarisches Muster menschlicher Gerechtigkeit und freien Willens.« »Dandolo? Alexios? Ich kenne diese Leute nicht.« »Dann liegt es wohl nahe, daß Sie sich mit innen vertraut machen müssen.« »Eine meiner Möglichkeiten war, einen Mann zu töten, richtig?« »Richtig.« »Nun, die Mächte des Guten würden daran sicher Anstoß nehmen.« »Ich denke, ich spreche hier auch im Namen meines Freundes, des Erzengels Michael«, sagte Mephistopheles, »wenn ich Ihnen sage, daß Sie dem Guten zuwenig zutrauen, wenn Sie glauben, daß man dort außerstande wäre, einen Grund für einen Mord zu akzeptieren. Auch das Gute weiß, daß es Schlimmeres geben kann. Natürlich dulden sie Mord im allgemeinen ebensowenig, wie wir das tun, denn das wahrhaft Wesentliche für beide Seiten, Gut und Böse, sind die Absichten und Ziele der Handlung. Aber da wir als Unsterbliche einen größeren Rahmen überblicken, messen wir einer derartigen Tat an sich noch keine besonders große Bedeutung zu. Wir wissen jedoch, daß ein Mord für einen Menschen eine sehr ernste Angelegenheit ist, und darum haben wir ihn in den Wettkampf mitaufgenommen. Bedenken Sie, daß bei Mord wie bei allen anderen Taten das Motiv ausschlaggebend ist, und die Resultate müssen ebenso berücksichtigt werden wie die gewählten Mittel.«
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»Aber wie kann ich wissen, was die Resultate sein werden. Wie kann ich ahnen, was der Mord an diesem Dandolo für die weitere Geschichte bedeuten wird?« »Da sprechen Sie ein grundlegendes Problem an. Niemand weiß jemals im voraus, ob eine Entscheidung richtig ist, ob es beispielsweise besser ist zu töten oder nicht. Dennoch muß es manchmal getan werden, sowohl aus der Sicht des Lichtes als auch vom Blickwinkel der Finsternis aus.« »Man wird mich hart verurteilen, wenn ich mich irre.« »Niemand außer Ananke, der Kraft der Notwendigkeit, die die Richterin über uns alle ist, wird über Ihre Taten zu urteilen haben. Das ist Ihre Rolle in diesem Spiel, Faust.« »Wenn Sie es sagen. Wen sollte ich möglicherweise noch umbringen?« »Enrico Dandolo, den Dogen von Venedig, aber nur dann, wenn Sie glauben, daß dies unter den gegebenen Umständen die beste Lösung ist.« »Und der andere? Alex irgendwas?« »Alexios. Er beansprucht den Thron von Konstantinopel für sich.« »Und die dritte Möglichkeit?« »Die Rettung des heiligen Reliktes des St. Basilius, des Schutzherrn von Konstantinopel. Wirklich, Faust, Sie müssen sich zusammennehmen. Ihr gutes Gedächtnis ist sonst weithin bekannt.« »Es arbeitet besser, wenn ich nicht verkatert bin«, bedauerte Mack. »Erzählen Sie mir doch bitte noch, was die fränkischen Soldaten in Konstantinopel machen.«
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Mephistopheles zog fragend eine Augenbraue hoch. »Ich dachte, ein gelehrter Mann wie Sie müßte über die bedeutenden Ereignisse informiert sein, die sich hier nur einige Jahrhunderte vor Ihrer Zeit zugetragen haben. Ich bin überrascht von Ihrer Unwissenheit, obwohl ich fast geneigt bin anzunehmen, es könnte sich um einen Teil dessen handeln, was Sie als Humor bezeichnen. Es handelt sich natürlich um den vierten Kreuzzug. Aber Sie müssen die Situation selbst erfassen und entscheiden, was das Beste ist.« »Nun, ich werde es versuchen«, sagte Mack. »Sie müssen mehr tun, als es nur versuchen«, erwiderte Mephistopheles. »Wir haben einen Vertrag, der Sie verpflichtet, bestimmte Dinge in einer vorgegebenen Zeit zu tun. Wenn Sie ihn nicht einhalten, werden Sie unseren Wettstreit zunichte machen, und das würde auch für Sie äußerst unangenehme Folgen haben.« »Und welche Folgen wären das?« fragte Mack alarmiert. »Unaussprechliche Pein im ewigen Höllenschlund, einer der abgrundtiefen Gruben des Entsetzens. Sie werden auf die schrecklichste Weise getötet, wiedererweckt und wieder getötet werden. Immer wieder, so lange, bis uns etwas noch Schlimmeres für Sie einfällt. Sie haben vierundzwanzig Stunden Zeit, Ihre Aufgabe zu erfüllen. Adieu.« Mit diesen Worten stieg er auf und verschwand schnell in der sonnigen Unendlichkeit des Himmels.
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KAPITEL 2 Mack blieb noch eine Weile in der bewaldeten Bucht stehen und überdachte seine Lage, bis er schließlich beschloß, daß es wohl besser sei loszugehen. Schnell kam er zu einer großen Ebene, die sich bis zum Horizont erstreckte. Etwa eine halbe Meile voraus streckten sich über der grüngelben Vegetation die mächtigen Mauern Konstantinopels in den Himmel. Diese Mauern waren höher und wehrhafter als alle, die er aus Europa kannte. Wachposten mit Brustharnischen aus Messing und Roßschweifen auf ihren leuchtenden Helmen patroullierten über die Zinnen. Unten in der Ebene sah er Hunderte von Zelten, unzählige Lagerfeuer und noch mehr bewaffnete Männer. Etwas weiter entfernt standen außerdem etliche Pferdewagen, die dort ein separates Lager mit Frauen und Kindern bildeten. Beim Näherkommen erkannte Mack diverse Schmiedefeuer, an denen Handwerker damit beschäftigt waren, Pfeilspitzen und Lanzenköpfe zu bearbeiten. Neben einigen großen Zelten mit leuchtenden Fahnen, die an respekteinflößenden Lanzen befestigt waren, wurden Karren mit Proviant entladen. Dies schienen die Wohnzelte der Anführer dieser großen Expedition zu sein. Es war eine fahrende Stadt, ein Ort, der jederzeit zusammengepackt und weitertransportiert werden konnte. Mack wurde sich bewußt, daß diese Stadt nahezu täglich auf Reisen gewesen sein mußte, seitdem diese Menschenmasse das Frankenland verlassen hatte. Da ihm keine andere Wahl blieb, ging er einfach in das Lager hinein. Unterwegs traf er auf eine kleine Gruppe von Reitern, deren Anführer die Hand zum Gruß erhob. Mack winkte zurück. Sie mußten ihn für einen der Franken halten, denn seine Kleidung war in Grau, Braun und Schwarz gehalten, wie man es im alten Europa
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gewohnt war. Er ging weiter, und bald passierte er die ersten Außenposten – bewaffnete Männer, die sich mit ihren Lanzen und Schilden bequem in der Sonne aneinandergelehnt hatten. »Bringt Ihr Neuigkeiten vom Rat?« rief einer von ihnen. »Meine Neuigkeiten sind nicht für Eure Ohren bestimmt«, sagte Mack. Er hatte beschlossen, sich ein wenig zugeknöpft und erhaben zu geben, da er befürchtete, andernfalls schon zu Beginn alles zu vermasseln. »So sagt uns wenigstens, ob Bonifatius von Montferrat noch auf der Zusammenkunft ist. Schon das wäre ein gutes Zeichen.« »Ich kann Euch nur sagen, daß sich die Umstände in den letzten Stunden nicht viel verändert haben«, sagte Mack. »Dann gibt es immer noch Hoffnung, daß wir ehrenvoll aus diesem Schurkennest herauskommen«, rief ein anderer der Männer. Mack ging weiter. Schließlich kam er an einen Ort, der ihm irgendwie vertraut erschien. Es war ein Pferdewagen mit einem breiten Baldachin, unter dem Tische und Stühle standen. Fässer waren hoch übereinandergestapelt, und einige Männer saßen an den Tischen und aßen und tranken. Es war eine Taverne auf Rädern. Erleichtert, einen Ort gefunden zu haben, an dem er sich heimisch fühlte, ging Mack hinein und suchte sich einen Platz. Der Wirt der Taverne kam heran und sagte voller Respekt vor der stattlichen Kleidung, die Mack in der
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Hexenküche erhalten hatte geradezu ehrfürchtig: »Was darf ich Euch bringen, gnädiger Herr?« »Deinen besten Wein«, sagte Mack, dem aufgegangen war, daß er hier über eine sehr hohe Kreditwürdigkeit verfügen dürfte. Der Wirt füllte Wein in einen Krug und kam wieder an Macks Tisch zurück. »Ich habe Euch noch nie zuvor gesehen, Herr. Seid Ihr erst kürzlich zu unserem Heerlager gestoßen?« »Ganz recht«, antwortete Mack. »Rieche ich da Wildbret auf deinem Rost?« »Ja, Herr. Euer Gnaden haben eine sehr feine Nase. Ich werde Euch sofort einen Brocken davon bringen. Sagt doch, Herr, welche Kunde bringt Ihr von Eurem großen Herrn?« »Welchen Herrn meinst du?« fragte Mack, der hoffte, durch geschickte Gegenfragen mehr über die Vorgänge im Lager erfahren zu können. »Ich dachte nur, Herr, daß ein so großer Herr, wie Ihr es seid, zweifellos einem noch größeren dienen wird; es steht geschrieben, daß alles in der Welt einer Sache dienlich ist, der Leibeigene seinem Meister, der Ochse dem Bauern, der Bischof Gott selbst und so weiter. Es ist eine eherne Regel, die auf der Erde ebenso gilt wie in den himmlischen Gefilden.« »Deine Redseligkeit wird nur noch von deinem Scharfsinn übertroffen«, sagte Mack, den der Wein wieder aufgebaut hatte. »Gnädiger Herr, darf ich Euren Namen erfahren?« »Ich bin Johann Faust.«
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»Und habt Ihr eine weite Reise gemacht, um uns zu besuchen?« »Ja, sehr weit.« »So sagt mir doch, wem dient Ihr?« Die anderen Gäste in der Wirtschaft verrenkten sich fast die Hälse, um mitzuhören, aber Mack sagte nur: »Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.« »Könnt Ihr uns denn nicht einmal einen kleinen Hinweis geben?« bat der Wirt, während sich um sie herum eine Menschentraube bildete. Der Wirt spekulierte augenzwinkernd: »Bestimmt seid Ihr ein Botschafter des venezianischen Rates, der geschickt wurde, Enrico Dandolo, den Dogen von Venedig, zu zügeln.« Mack zuckte mit den Schultern. »Nein«, rief ein anderer. »Er ist kein Venezianer. Habt Ihr denn nicht die stolze Frömmigkeit auf seinem Gesicht gesehen und die Art, wie seine Hände über seine Ärmel fahren, als trüge er die Amtstracht eines Mönches? Ich wette, er ist ein getarnter Mönch, geschickt von Papst Innozenz dem Dritten, der diesen heiligen Kreuzzug organisiert hat und sich nun von den Machenschaften des diabolischen Enrico Dandolo hintergangen sieht.« Alle starrten Mack an, doch der sagte nur: »Ich sage nicht ja, und ich sage nicht nein.« Ein dritter Mann, ein Soldat, erklärte: »Seine Standhaftigkeit und seine lakonischen Antworten weisen ihn als Soldaten aus. Zweifellos ist er ein Repräsentant Philipps von Schwaben, des schweigsamen Kämpfers, der so manch himmelschreiende Untat zu verantworten hat. Wahrscheinlich bringt er eine Offerte für den Thron von Konstantinopel, sobald der derzeitige Herrscher, der
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lästige und störrische Alexios der Dritte, ihn geräumt hat und fortan wie ein blinder Bettler die Reste seiner einst so stolzen Stadt im Dreck zusammensuchen muß.« Mack gab ihnen keinerlei Hinweis auf seine politische Orientierung. Es wurde viel geredet über die Frage, wen Mack repräsentieren könnte, aber es gab offenbar keinen Zweifel daran, daß er irgendwen vertreten mußte. Der Wirt wollte kein Geld von Mack annehmen, bat ihn aber, an ihn zu denken, wenn der Rat seine Beschlüsse über die Alkoholabgabe an die Kreuzfahrer träfe. Als Mack gehen wollte, stellte sich ihm ein kleiner, plumper, gutgekleideter junger Mann, der das Grau der Sekretäre trug, als Wasyl von Gent vor und bat um die Erlaubnis, Mack bei der Suche nach einer Unterkunft behilflich zu sein, falls er dies bisher versäumt haben sollte. Also gingen sie gemeinsam zu dem großen, gelben, mit Fahnen geschmückten Doppelzelt, wo der Quartiermeister seine Arbeit verrichtete. Vor der Eingangsöffnung lungerten einige Männer herum, die Wasyl mit den Worten verscheuchte: »Macht Platz für Johann Faust, den Gast aus Franken, der in geheimer Mission reist!« Der Quartiermeister war beeindruckt und wies Mack ohne weitere Fragen ein spitzes Zelt zu. Es stand etwas abseits von den anderen, da er keiner der Splittergruppen zugeordnet werden konnte. Wasyl, der sich offenbar selbst zum Diener und Faktotum für Macks sichere, wenn auch unklare Bedeutsamkeit ernannt hatte, ging voraus, um alles vorzubereiten. In seinem neuen Quartier fand Mack einen gedeckten Tisch mit einem Krug Wein, kaltem Truthahn und einem halben Laib duftenden Weizenbrotes vor. Er war einem zweiten Mittagessen nicht abgeneigt, denn der Wirt der Taverne hatte mit seinem Wildbret arg gegeizt. Also ließ er sich nieder und
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lauschte Wasyl, der ihm von den Vorgängen des Tages berichtete. »Alle hier sind sich einig«, erzählte Wasyl, »daß Enrico Dandolo, der Doge von Venedig, diese heilige Mission zu einem Handel hat werden lassen. Das kann ein Vor- oder Nachteil sein, je nachdem, von welcher Warte aus man die konkurrierenden Prioritäten des Handels und der Religion betrachtet.« Während er sprach, beobachtete er Mack ganz genau, in der Hoffnung, auf diese Weise etwas über dessen Standpunkt herauszufinden. Doch Mack verzog keine Miene, sondern spielte statt dessen mit einer Truthahnkeule und aß noch einen Bissen Brot. »Papst Innozenz der Dritte«, fuhr Wasyl fort, »ist frei von Sünde in seinem Wunsch, Jerusalem aus der Hand der Sarazenen zu befreien. Doch mag man seine edle Gesinnung anzweifeln, angesichts seines anmaßenden Zieles, die griechischen Christen Rom zu unterwerfen.« »Interessanter Gesichtspunkt«, sagte Mack, der sein letztes Stück Brot kaute und nun nach einigen Bonbons griff, die er in einer Schale neben dem Tisch gefunden hatte. »Dann ist da noch Alexios der Vierte, wie ihn manche jetzt schon nennen, obwohl er noch kein König ist. Er, der Sohn des abgesetzten Herrschers Isaak des Zweiten Angelos, hat versprochen, Konstantinopel der Herrschaft Roms zu unterstellen, wenn er König werden wird. Demnach scheint er ein frommer Mann zu sein. Andererseits wird er hauptsächlich von Philipp von Schwaben unterstützt, der kein Freund des Papsttums, sondern ein gewalttätiger Mann ist und dessen Ambitionen so groß sind wie sein Land klein.« »Ich verstehe, was du meinst«, sagte Mack, obwohl er der ganzen Angelegenheit wenig Sinn abringen konnte.
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»Schließlich gilt es, die Position des Heerführers Geoffroy de Villehardouin zu bedenken, ein Mann, der ebenso gefürchtet wie geachtet ist und die Religion respektiert, obwohl er selbst nicht gottesfürchtig ist. Ein guter Mann, könnte man annehmen. Aber er ist auch bekannt für die Oberflächlichkeit seiner politischen Taten und für seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Handel. Alles, was ihn interessiert, ist das Klirren gekreuzter Waffen. Ist das der Mann, dem wir folgen sollen?« Mack wischte sich die Lippen ab und sah sich nach einem Platz um, an dem er sich für kurze Zeit zur Ruhe legen konnte. Der unentbehrliche Diener hatte ihm eine Schlafstatt mit einem bequemen, frisch bezogenen Kissen bereitet. Mack stand auf und ging darauf zu. »Gnädiger Herr«, sagte Wasyl, »ich bin Euer Diener. Werdet Ihr mich in Eure Pläne einweihen und mir verraten, wem Ihr zugeneigt seid und wessen Nachricht Ihr überbringt? Ich werde kämpfen und schweigen für Eure Zwecke, doch sagt mir bitte, welche das sind.« Mack wünschte, er könnte es. Er war sich darüber klar, daß er in dieser zerstrittenen Umgebung Vertraute brauchen würde, aber er wußte zu diesem Zeitpunkt nicht, welche Seite die Stärkere war und auf welcher das Recht lag, geschweige denn, was er tun könnte, um der weiteren Geschichte förderlich zu sein und die Stadt Konstantinopel zu schützen. »Guter Diener«, sagte Mack, »alles wird dir in Bälde gewährt werden. Glaube mir, du wirst der erste sein, der erfahren wird, wo meine Sympathien liegen. Doch jetzt sieh dich im Lager um und finde heraus, was es Neues an Gerüchten und Nachrichten gibt, und komm dann in ein oder zwei Stunden zurück zu mir!« »Ja, Herr«, antwortete Wasyl und ging. Mack streckte sich auf der Ruhematte aus und schlief auf der Stelle ein.
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KAPITEL 3 Mack erwachte mit dem unangenehmen Gefühl, nicht allein im Zelt zu sein. Es war dunkel geworden. Er mußte mehrere Stunden geschlafen haben. Jemand hatte eine brennende Kerze in einem irdenen Gefäß bereitgestellt. Wasyl, zweifellos. Die flackernde Flamme warf wilde Schatten an die Zeltwände, die fast wie ein Mann aussahen – ein unwirklicher Mann, ganz in Grau und Schwarz gekleidet, mit offenem Haar und einem stechenden Blick. Genau die Art Mann, der man des Nachts nicht begegnen mochte. Es war erstaunlich, wie echt die Schattengestalt wirkte. Mack streckte seinen Arm aus und berührte sie. Die Schatten gaben unter dem Druck seiner Finger nach, und sie fühlten sich verdammt nach Fleisch und Knochen an. Er zuckte entsetzt zurück. »Du stößt mich«, sagte die Erscheinung, »aber du grüßt mich nicht. Was sind das für Manieren?« »Ich wußte nicht, daß du wirklich bist.« »Das bin ich nicht, ebensowenig wie du selbst. Du bist nicht der, der du zu sein vorgibst.« »Und du?« »Ich werde dir nicht sagen, wer ich bin, aber du weißt es.« Die Erscheinung trat ins Licht und gab sich als jemand zu erkennen, dessen Züge Mack wahrhaftig nicht vergessen haben konnte, hatte er doch mehrere Tage lang jede Bewegung dieses Mannes ausspioniert, bis sein lettischer Komplize ihm in jenem dunklen Durchgang in Krakau aufgelauert hatte. »Du bist Doktor Faust!« keuchte Mack.
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»Und du bist ein verdammter Betrüger!« sagte Faust mit heiserer Stimme. Für den Bruchteil einer Sekunde erschauerte Mack vor der Wut, die in dieser Anklage mitschwang, doch dann nahm er sich zusammen. Verbrecher haben ebenso einen Ehrenkodex, wie alle anderen auch, und sie waren ebenfalls stets um ihre Selbstachtung und Fassung bemüht. Das galt in einfachen Zeiten und mehr noch in schwierigen. Und dies war ein extrem schwieriger Augenblick: Schließlich war es außerordentlich peinlich, bei einem Betrug dieser Art erwischt zu werden, und es war noch schlimmer, von demjenigen entlarvt zu werden, in dessen Rolle man geschlüpft war. Das war eine Situation, die einen weniger starken Charakter erblassen und wimmern hätte lassen: »Entschuldigt, Herr, ich wußte ja nicht, was ich tat. Ich gebe auf, aber bitte, laßt mich nicht hängen.« Aber Mack hatte nicht vor, seine derzeitige Rolle so einfach aufzugeben. Also bemühte er sein Gehirn und erkannte, daß jemand, der auf der Bühne der ganzen Welt den Doktor Faust zu spielen gedachte, ein wenig von Fausts Geist brauchen würde, wollte er irgend etwas erreichen. »Wir scheinen einem Mißverständnis zu erliegen«, sagte Mack. »Ich bezweifle nicht, daß du Faust bist. Aber mit der Berechtigung durch keinen Geringeren als Mephistopheles persönlich, bin ich ebenfalls Faust.« »Mephistopheles hat einen Fehler gemacht.« »Wenn die wirklich Großen einen Fehler machen, dann wird er zum Gesetz.« Faust richtete sich zu voller Größe auf, womit er immer noch kleiner war als Mack. »Muß ich mir die Spitzfindigkeiten von jemandem anhören, der meinen
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Namen mißbraucht? Bei allen Mächten, ich werde grausame Rache nehmen, wenn du nicht sofort verschwindest und dieses Spiel demjenigen überläßt, dem es namentlich zugedacht war: Mir!« »Du hast zweifellos eine hohe Meinung von dir«, sagte Mack. »Aber derjenige, der erwählt wurde, bin ich. Das wirst du nicht ändern können, und wenn du bis in alle Ewigkeit dagegenredest.« »Reden? Ich werde ganz was anderes tun als reden! Mein Zauber wird dich der entsetzlichsten Kondemnation preisgeben.« »Der was?« fragte Mack. »Kondemnation, das heißt Verdammung. Ich werde dich deinem Vergehen angemessen aufs Grausamste strafen.« »Du kennst eine Menge Worte, die der einfache Mann niemals benutzt«, sagte Mack erhitzt. »Nun hör zu, Faust, ich werde dir die Stirn bieten, dessen kannst du sicher sein. Und bedenke, daß die Mächte der Finsternis die ganze Zeit über hinter mir stehen. Dein Problem ist, daß ich einen besseren Faust abgebe als du selbst.« Faust fühlte, wie die Wut in ihm aufstieg und sich wie ein blutroter Schleier über seine Augen legte. Er kämpfte mühsam um seine Selbstkontrolle. Er war nicht hier, um einen Wettkampf im gegenseitigen Anschreien zu bestreiten. Er wollte seinen rechtmäßigen Platz in dem Jahrtausendwettkampf. Wie es schien, war es reine Zeitverschwendung, Mack – gegen den er doch nichts unternehmen konnte – zu bedrohen. »Entschuldigung, ich habe mich vergessen«, sagte Faust. »Reden wir vernünftig miteinander.«
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»Ein anderes Mal vielleicht«, antwortete Mack, denn gerade in diesem Moment kam Wasyl zurück und sah Faust argwöhnisch an. »Wer ist das?« fragte er. »Ein alter Bekannter«, sagte Mack. »Sein Name ist nicht wichtig. Er wollte gerade gehen.« Wasyl drehte sich zu Faust um, dem der gezückte Dolch in der Hand des plumpen, diensteifrigen jungen Mannes ebenso wenig entging wie dessen drohender Gesichtsausdruck. »Ja«, sagte Faust, »ich war gerade dabei, mich auf den Weg zu machen. Bis zum nächsten Mal…« Er stockte, ehe er mit einiger Überwindung schließlich noch »Faust« herauspreßte. »Ja, bis zum nächsten Mal«, sagte Mack. »Wer ist die Frau draußen vor dem Zelt?« fragte Wasyl. »Oh, das ist Marguerite«, sagte Faust. »Sie begleitet mich.« »Dann sieh zu, daß du sie von hier wegbringst. Wir brauchen hier keine dahergelaufenen Dirnen, die vor unseren Zelten herumlungern«, knurrte Wasyl. Faust enthielt sich einer Antwort, da er nicht beabsichtigte, sich zu erkennen zu geben, bis er mit Mephistopheles gesprochen hatte. Der große Dämon wäre über ein Mißlingen des Wettkampfes sicher nicht besonders erbaut. Faust verließ das Zelt und entfernte sich. Marguerite, die gleich neben dem Eingang gewartet hatte, folgte ihm. »Was ist passiert?« »Bisher nichts«, sagte Faust.
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»Was meinst du damit? Hast du ihm denn nicht gesagt, wer du bist?« »Sicher.« »Warum hast du dann nicht einfach seine Rolle übernommen?« Faust blieb stehen und sah sie an. »Das ist nicht so einfach. Ich muß erst mit Mephistopheles reden und den habe ich nicht gefunden.« Als er sich umwandte, um weiterzugehen, sah er sich drei Soldaten mit Stahlhelmen und Speeren gegenüber. »Hey, du!« sagte einer von ihnen. »Ich?« erwiderte Faust fragend. »Außer dir ist doch sonst niemand hier. Und mit der da rede ich bestimmt nicht.« »Ja«, sagte Faust, »was gibt es?« »Was machst du hier?« »Nichts, was Euch etwas angehen würde.« »Nun, wir wurden angewiesen, ein Auge auf Kerle wie dich zu haben, die zwischen den Zelten herumschleichen und nichts zu tun haben. Es ist wohl besser, du kommst mit uns.« Faust ging auf, daß er wieder einmal vor dem Sprechen das Denken vergessen hatte. Großspuriges Drauflosreden war ein Manko seines Charakters, das Mack anscheinend nicht teilte. Er würde darauf achten müssen. letzt aber war es angebracht, mit Engelszungen weiterzureden. »Meine Herren, ich kann alles erklären.« »Erzähl das dem Hauptmann der Wache!« antwortete der Soldat ungerührt. »Jetzt wirst du uns erst einmal
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leise folgen, oder wir werden dir zeigen, wie spitz unsere Speere sind!« Mit diesen Worten führte er Faust und Marguerite fort.
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KAPITEL
4
»Also, was gibt's Neues?« fragte Mack, kaum daß Faust und Marguerite gegangen waren. »Große Neuigkeiten, gnädiger Herr«, sagte Wasyl. »Der Doge, Enrico Dandolo höchstpersönlich, wünscht Euch sofort zu sehen.« »Tatsächlich?« fragte Mack zurück. »Weißt du auch, was er von mir will?« »Er hat mich nicht eingeweiht«, sagte Wasyl, »aber ich habe meine Vermutungen.« »Teile sie mir mit, mein Guter, während ich mir das Gesicht wasche und die Haare kämme!« Er fuhr fort, sich zurechtzumachen, wobei er sich ärgerte, aus der Hexenküche keine Wäsche zum Wechseln mitgenommen zu haben. »Was für ein Mensch ist dieser Enrico Dandolo?« »Er ist ein furchterregender alter Mann«, sagte Wasyl. »Als Doge von Venedig ist er der Kommandant eines der stärksten und diszipliniertesten Heere der ganzen christlichen Welt. Wir Kreuzfahrer sind wegen des Proviants von den Venezianern abhängig, und sie vergessen niemals, uns daran zu erinnern. Der Doge befindet sich in einem Alter, in dem die meisten Adligen es genießen, sich gemütlich auf ihr Landschloß zurückzuziehen und sich von ihren Dienern gesüßten Haferschleim servieren zu lassen. Aber nicht Enrico Dandolo! Er ist den ganzen Weg von Europa hergeritten. Man hat ihn im Schlachtgetümmel bei Szabo gesehen, wo er von den Kreuzfahrern verlangte, die stolze ungarische Stadt anzugreifen, falls sie weiterhin von Venedig mit Proviant versorgt werden wollten. Also fügten sich die
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Kreuzfahrer murrend. Was als heilige Mission begonnen hatte, war nun nach der Meinung mancher Leute wieder zu einem Handelskrieg geworden. Ich selbst habe in dieser Angelegenheit keine Meinung, ehe ich nicht die Eure vernommen habe.« »Das ist eine weise Entscheidung«, sagte Mack und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Eure Möglichkeiten bei diesem Zusammentreffen sind mannigfaltig«, sagte Wasyl. »Zweifellos.« »Wenn Ihr Euch auf eine Allianz zwischen Euren eigenen Interessen und denen Venedigs verständigen könntet, so könnte Euch das unermeßlichen Reichtum einbringen. Aber es gibt da auch noch eine andere Alternative.« »Was soll das?« fragte Mack. Wasyl hatte den Dolch hervorgezogen und prüfend die Spitze in seinen Daumen gedrückt, ehe er die Waffe sanft auf den Tisch legte. »Das, gnädiger Herr, ist ein Instrument aus bestem Toledo-Stahl, das Euer Gnaden möglicherweise gebrauchen könnte, falls sich Eure Interessen nicht mit denen des Dogen vereinbaren lassen sollten.« Mack prüfte nun ebenfalls die Dolchspitze an seinem Daumen. Es war nun einmal in jener Zeit üblich, so mit Waffen zu verfahren. Er schob das Mordinstrument in seinen Ärmel. »Das könnte nützlich sein, falls ich Punkte machen muß«, sagte er, und Wasyl lächelte zufrieden. Wasyl hatte zwei Soldaten mit Fackeln herbeigerufen. Sie gingen voraus und erhellten den Weg für Mack. Wasyl bot seine Begleitung an, doch Mack lehnte ab. Er hatte erkannt, daß es an der Zeit war, etwas zu unternehmen. Und es war klüger, allein zu arbeiten, da er sich nicht
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sicher sein konnte, wann Wasyl bemerken würde, daß sie verschiedene Absichten verfolgten. Nun konnte es also losgehen. Während er durch das Lager ging, bemerkte er die große Aufregung ringsherum. Soldaten rannten hin und her, Reiter in schweren Rüstungen galoppierten vorbei, überall brannten Lagerfeuer, und der Duft eines großen Abenteuers lag in der Luft. Der Doge residierte in einem großen runden Zelt aus weißem Seidentuch, durch das der Schein von Laternen hindurchschimmerte. Er saß in einem kleinen Stuhl vor einem Tisch, auf dem eine Schale voller wertvoller Edelsteine stand. Enrico Dandolo war damit beschäftigt, die Steine zu betasten – einen nach dem anderen nahm er sie heraus und ließ sie durch seine Finger gleiten. Er war ein mächtiger Mann und trotz seines hohen Alters noch immer sehr ehrfurchtgebietend. Jetzt aber wirkte er ein wenig verloren in seiner steifen brokatbesetzten Kleidung mit der samtenen Kopfbedeckung, an der eine venezianische Falkenfeder mit keckem Schwung befestigt war. Sein schmales Gesicht war unrasiert. Der Feuerschein beleuchtete die grauen Bartstoppel an seinem Kinn. Seine dünnen eingefallenen Lippen waren fest zusammengepreßt, und seine tief in den Höhlen liegenden Augen schimmerten in dem nebelhaften Blaugrau, das charakteristisch für den grauen Star ist. Er sah nicht auf, als der Diener die Anwesenheit des soeben aus dem Westen angekommenen edlen Herren Faust bekanntgab. »Tretet ein und nehmt Platz, lieber Faust!« sagte Enrico Dandolo in korrektem, aber nicht akzentfreiem Deutsch. Seine vibrierende Stimme hatte einen dröhnenden Klang. »Die Diener haben Wein bereitgestellt. Nehmt Euch ein Glas, guter Herr, und fühlt Euch in meiner bescheidenen
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Unterkunft ganz wie zu Hause. Gefällt Euch mein Spielzeug?« Er zeigte auf die juwelengefüllte Schale. »Ich habe von Zeit zu Zeit Ähnliches gesehen«, antwortete Mack und beugte sich über die Schale. »Aber niemals etwas Schöneres. Diese Steine sind von besonderer Feinheit und Brillanz. Sie scheinen einzigartig zu sein.« »Der Rubin hier ist ganz besonders schön, nicht wahr?« fragte Dandolo. In seinen kräftigen Fingern hielt er einen Stein von der Größe eines Taubeneis, den er hin und her drehte, fast so, als wolle er das Spiel des Lichtes auf dem Juwel betrachten. »Ich bekam ihn von dem Nawab von Taprobane. Und dieser Smaragd hier…«, seine Finger griffen den Stein zielsicher aus den anderen heraus, »… hat ein bemerkenswertes Feuer für seine Größe, seht Ihr?« »Allerdings, das hat er«, sagte Mack, »doch verzeiht mir mein Erstaunen, Herr. Wie ist es möglich, daß Ihr trotz Eurer Blindheit noch immer fähig seid, diese Qualitäten zu erkennen und solchermaßen zu unterscheiden? Es scheint, als könntet Ihr mit Euren Fingerspitzen sehen.« Dandolo lachte. Eigentlich war es mehr ein heiseres Gegacker, das in einem trockenen Husten endete. »Mit den Fingerspitzen sehen! Was für ein phantastischer Gedanke! Obwohl das gar nicht so abwegig ist. Meine Hände lieben es, diese Steine zu berühren. Sie mögen ihren eigenen Weg gefunden haben, sie wahrzunehmen. Ebenso wie edle Stoffe. Auch das ist eine Leidenschaft von mir, wie bei jedem wahren Venezianer. Ich könnte Euch mehr über die Dichte von Kette und Schuß erzählen als ein flandrischer Weber. Aber das sind nur die kleinen Freuden eines alten Mannes. Es gibt hier etwas von wesentlich größerem Wert.« »Wirklich, Herr?«
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»Seht Euch dies hier an!« Der alte Mann griff hinter sich, und seine Finger fanden und öffneten den Deckel einer großen hölzernen Truhe. Er griff hinein und entnahm ihr ein prachtvoll gemaltes Holzbild, das in verknitterten Samt gewickelt war. »Wißt Ihr, was das ist?« fragte Dandolo. »Nein, Herr, das weiß ich nicht.« »Es ist die Ikone des heiligen St. Basilius. Es heißt, wer sie besitzt, dem wird sie die Macht verleihen, für die Sicherheit und den Wohlstand Konstantinopels zu garantieren. Könnt Ihr Euch vorstellen, warum ich Euch das erzähle?« »Ich habe keinerlei Ahnung, gnädiger Herr.« »Nun, ich will, daß Ihr Eurem Herrn eine Nachricht von mir zukommen laßt. Hört mir gut zu!« »Ich höre«, sagte Mack, dem die wildesten Vermutungen durch den Kopf gingen. »Sagt dem Heiligen Vater in Rom, daß ich auf ihn und die erbärmliche Exkommunikation spucke. Solange diese Ikone in meinem Besitz ist, brauche ich seinen Segen nicht.« »Das soll ich ihm sagen?« fragte Mack. »Wort für Wort.« »So werde ich das tun, falls ich jemals die Ehre haben werde, dem Heiligen Vater zu begegnen.« »Versucht keine Spielchen mit mir!« warnte Dandolo. »Auch wenn Ihr es nicht zugeben wollt, ich weiß, daß Ihr sein Repräsentant seid.«
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»Ich bitte Euch untertänigst, es mir nachzusehen, wenn ich Euch widerspreche. Ich komme nicht vom Papst. Ich vertrete andere Interessen.« »Ihr seid wirklich nicht vom Papst geschickt worden?« Die blinden Augen des alten Mannes fixierten ihn so grimmig, daß Mack in jedem Fall bestritten hätte, ein Gesandter des Papstes zu sein, selbst wenn es so gewesen wäre. »Absolut nicht! Das Gegenteil ist der Fall!« Der alte Mann hielt inne und ließ die Worte auf sich wirken. »Das Gegenteil, ja?« »Ganz genau!« »Wem dient ihr dann?« verlangte Dandolo zu erfahren. »Ich bin sicher, Ihr werdet es herausfinden«, sagte Mack in dem Bestreben, sich auf eine dem Faust angemessene Weise herauszureden. Dandolo dachte nach. »Ich hab's! Ihr müßt ein Gesandter Grünbarts des Gottlosen sein. Er ist der einzige, der bisher noch keinen Repräsentanten geschickt hat!« Mack hatte nicht die geringste Vorstellung, wer dieser Grünbart sein mochte, aber er war entschlossen, das Spiel fortzusetzen. »Ich werde nicht ja und nicht nein sagen«, antwortete er. »Aber wenn ich sein Gesandter wäre, was würdet Ihr dann zu mir sagen?« »Sagt Grünbart, daß wir ihn zu unserem kühnen Unternehmen willkommen heißen und uns die einzigartige Rolle, die nur er selbst übernehmen kann, bewußt ist.«
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»Er wird erfreut sein, das zu hören. Aber worin genau soll diese Rolle bestehen?« »Er muß seinen Angriff von der Barbarenküste her innerhalb einer Woche von jetzt an beginnen. Könnt Ihr ihm diese Nachricht rechtzeitig zukommen lassen?« »Ich kann vieles tun«, sagte Mack. »Aber zuerst muß ich wissen, warum.« »Das ist doch offensichtlich. Wenn Grünbart, der die Piraten des Peloponnes kommandiert, die Korsaren vor der Barbarenküste nicht ausschaltet, könnten sie unsere Pläne durchkreuzen.« »Ganz genau«, erwiderte Mack. »Wie genau sehen Eure Pläne eigentlich aus?« »Wir werden Konstantinopel erobern. Wir Venezianer haben unsere Seemacht aufs Äußerste vergrößert, indem wir die Franken hierher nach Asien gebracht haben. Wenn aber die Piraten unsere dalmatinischen Kolonien angreifen, während wir anderweitig beschäftigt sind, so fürchte ich, daß wir in große Schwierigkeiten geraten könnten.« Mack nickte lächelnd, doch in seinem Innern brodelte die Aufregung. Dandolo plante also, Konstantinopel zu erobern! Selbst bei großzügigster Auslegung konnte das wohl kaum als Beistand verstanden werden. Er war sicher, daß Dandolo sterben mußte, und die Gelegenheit könnte nicht günstiger als gerade jetzt sein, wo er allein mit dem blinden alten Mann in seinem Zelt war, während sich die Franken im Lager in Aufruhr befanden. Er zog den Dolch aus seinem Ärmel. »Versteht mich richtig«, sagte Dandolo, der seinen Rubin streichelte. »Meine Pläne für diese wunderbare Stadt sind weitreichend, und niemand außer Euch und Eurem Piratenführer wird wissen, was ich vorhabe.«
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»Es ist mir eine große Ehre«, erwiderte Mack, während er überlegte, ob er Dandolo das Messer von vorn oder von hinten in den Leib stoßen sollte. »Konstantinopel hat schon bessere Tage erlebt«, fuhr Dandolo fort. »Einst war es eine große, mächtige Stadt, in aller Welt geachtet und gefürchtet. Heute jedoch ist es, dank der Unfähigkeit seiner törichten Herrscher, nur noch ein kraftloser Schatten seiner selbst. Ich werde das beenden. Ich werde nicht selbst regieren. Venedig zu beherrschen reicht mir vollkommen! Aber ich werde einen Mann meiner Wahl auf den byzantinischen Thron setzen, und er wird die Anweisung haben, die Stadt zu ihrer alten Herrlichkeit und Größe zurückzuführen. Die ganze Welt wird mit ehrfürchtigem Staunen auf ein neues großes Zeitalter des Handels in der alten Stadt blicken.« Mack zögerte. Er war bereit gewesen zuzustoßen. Aber Dandolos Worte riefen die Vision einer wiedererweckten großen Stadt in ihm hervor – einer Stadt, die ein Vorreiter der Wissenschaft und des Handels in der Welt sein würde, einer Stadt, die zum Wendepunkt der Weltgeschichte werden konnte. »Und welcher Religion huldigen?« fragte er.
sollen dann
die
Griechen
»Trotz meiner Differenzen mit dem Papst bin ich doch ein guter Christ. Der junge Alexios hat mir feierlich versprochen, daß er die Menschen wieder zum wahren Christentum zurückführen würde, wenn er erst einmal das Zepter in seinen Händen hält. Dann wird der Papst meine Exkommunikation aufheben. Vielleicht wird er mich für diese Großtat sogar heiligsprechen, für das Herbeiführen eines Wandels, wie ihn die moderne Welt noch nicht gesehen hat.« »Gnädiger Herr!« rief Mack nun völlig begeistert aus. »Eure Mission ist so wunderbar wie heilig! Zählt auf
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mich, gnädiger Herr! Ich werde Euch helfen, wo immer ich kann!« Der alte Mann griff nach ihm und zog ihn in seine Arme. Mack konnte die steifen Bartstoppeln im Gesicht Dandolos fühlen – und die salzigen Tränen, die er weinte, als er die Stimme hob, um Gott zu preisen. Mack wollte gerade in die Lobpreisungen einstimmen, als plötzlich bewaffnete Männer in das Zelt stürmten. »Herr!« riefen sie. »Der Angriff hat begonnen! Villehardouin führt seine Soldaten zu den Stadtmauern!« »Bringt mich zu ihnen!« schrie Dandolo. »Ich werde selbst kämpfen! Meine Rüstung, schnell! Faust, überbringt Grünbart meine Nachricht, wir reden dann später weiter!« Mit diesen Worten verließ der alte Mann, geleitet von seinen Gefolgsleuten, das Zelt. Er trug die heilige Ikone bei sich, hatte aber die Juwelen zurückgelassen. Mack stand allein in dem Zelt, an dessen seidenen Wänden Schatten auf- und abtanzten. Er stellte befriedigt fest, daß er diese Sache gut gemeistert hatte. Er war dabei, Konstantinopel zu retten und davon zu profitieren, genau wie Enrico Dandolo. Aber falls doch noch etwas schiefgehen sollte… Er fand einen kleinen Leinenbeutel und nahm eine nette kleine Auswahl Edelsteine an sich, ehe er in die Nacht hinauseilte.
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KAPITEL 5
Die Soldaten brachten Faust und Marguerite zu einem niedrigen Holzgebäude, das aus dicken, unbehandelten Brettern zusammengezimmert worden war. Es war ein Kerker, und Faust wurde bewußt, daß dies eines der fahrbaren Modelle war, die die reisenden Truppen mit sich führten. Dieses Verlies war ein außergewöhnlich gut ausgestattetes Produkt aus Spanien, wo die andalusischen Mauren für diese Dinge zuständig waren. Beim Eintreten zeigten die Soldaten Faust und Marguerite die Folterkammer – ein wahres Wunderwerk der Miniaturisierung und der geschickten Schreinerei. »Wir können zwar nicht einen gesamten Mann in seine Einzelteile zerlegen, wie man es in Europa tut«, erzählte einer der Soldaten, »aber wir können ihm die höllischsten Schmerzen bereiten und seine Arme und Beine zerfetzen. Der Effekt ist der gleiche, wie bei einem Gerät, das den ganzen Körper bearbeitet. Diese Fingerzangen arbeiten genauso gut wie die großen Modelle und sind doch nur so klein wie ein Nußknacker. Und dies hier ist unsere eiserne Jungfrau. Sie ist kleiner als die in Nürnberg, aber sie hat mehr Stacheln. Die Mauren können mehr Dornen auf zehn Quadratzentimetern unterbringen als irgendwer sonst. Auch unsere Zangen sind kleiner als gewöhnlich, aber sie reißen das Fleisch auf außerordentlich zufriedenstellende Weise in Stücke.« »Ihr werdet es nicht wagen, uns zu foltern!« schrie Faust. »Sicher nicht«, sagte der Anführer der Soldaten. »Wir sind einfache Soldaten. Schlichtes Töten reicht uns völlig aus. Ob Ihr gefoltert werdet oder nicht, wird der Kommandeur des Verlieses entscheiden.«
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Die Soldaten sperrten sie in einen der Kerker. Kaum hatten die Soldaten sie verlassen, kroch Faust schon über den Boden und fing an, mit einem Zweig, den er in einer Ecke gefunden hatte, ein Pentagramm auf den staubigen Boden zu zeichnen. Faust sprach einen Zauber, aber nichts geschah. Das Problem war, daß er durch seinen Wunsch, den Betrüger so schnell wie möglich zu finden, kaum etwas von seinen magischen Ingredienzen mitgenommen hatte. Dennoch mußte er es versuchen. Er verwischte die Linien des Pentagramms und zeichnete es noch einmal in den Staub auf dem Boden des Verlieses. Marguerite stand auf und begann, wie eine gefangene Raubkatze in dem Raum herumzulaufen. »Tritt nicht auf das Pentagramm!« ermahnte Faust sie. »Werde ich schon nicht«, murrte sie ärgerlich. »Willst du damit irgendwas anfangen?« »Ich arbeite daran«, murmelte Faust. Tief in seiner Tasche fand er einen Rest Bilsenkraut, außerdem war da noch ein Mistelzweiglein, das von einer Mittwinterzeremonie übriggeblieben war. Aus seinen Ärmeln konnte er etwas Antimon herausschütteln, und in seinen Schuhen waren noch zwei Bleikügelchen. Was brauchte er mehr? Gewöhnlicher Dreck würde die Friedhofserde ersetzen müssen, und anstelle des Mumienstaubs würde es auch Nasensekret tun. »Das ist ja widerlich«, sagte Marguerite. »Sei still! Immerhin könnte es dein Leben retten!« Alles war vorbereitet. Faust erhob seine Hände und murmelte eine Beschwörung. Ein rosarotes Schimmern erschien in der Mitte des Pentagramms – ein glühender Punkt, der sich rasch ausbreitete.
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»Du hast es geschafft!« rief Marguerite. »Du bist wunderbar!« »Still!« zischte Faust ihr zu. Er wandte sich dem heller werdenden Leuchten zu und sprach: »O Geist der dunkelsten Tiefen, ich beschwöre dich im Namen von Asmodeus, Beelzebub, Belial…« Eine Stimme kam aus dem Lichtschein, die Stimme einer jungen Frau, die in einem unverbindlichen Ton antwortete: »Bitte hören Sie auf, mich zu beschwören. Ich bin kein beschwörbarer Geist.« »Nicht?« fragte Faust. »Aber was denn dann?« »Ich bin die Repräsentantin der Infernalischen Kommunikationsgesellschaft. Wir können Ihre Beschwörung in der vorliegenden Form nicht entgegennehmen. Bitte überprüfen Sie die benutzte Magie. Korrigieren Sie eventuelle Fehler und beschwören Sie erneut. Wir danken Ihnen und wünschen Ihnen einen schönen Tag.« Die Stimme verstummte, und das rosa Licht schrumpfte in sich zusammen, bis es schließlich ganz verschwand. »Halt!« schrie Faust. »Ich weiß ja, ich hatte nicht alle nötigen Zutaten, aber doch fast alle! Sie können doch sicher einmal eine Ausnahme machen…« Er erhielt keine Antwort. Das rosarote Leuchten war fort, und es gab in dem Verlies außer dem ungeduldigen Tappen von Marguerites Füßen kein anderes Geräusch mehr. Draußen wurde es laut. Schnelle Schritte und das Rassein und Klirren von Kettenhemden erklangen. Große Holzräder, die sich auf einer ungeölten Achse drehten, ließen ihr unverwechselbares Quietschen ertönen. Soldaten schrien Anweisungen. Und da war noch etwas anderes: der Klang einer monotonen Stimme, die etwas
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rezitierte, das für Faust wie eine Beschwörung klang. Er gebot Marguerite zu schweigen und preßte sein Ohr an die Wand. Tatsächlich, das Geräusch kam aus der Nachbarzelle. Aber das, was er hörte, war keine Beschwörung, es war ein Gebet. »Erhöre mich, o Gott!« flehte die gedämpfte Stimme. »Ich habe nichts Böses getan, und dennoch bin ich nun zu doppelter Dunkelheit verflucht, der Dunkelheit meiner geblendeten Augen und der der Gefangenschaft. So wurde ich, Isaak, der ich einst der König von Konstantinopel und bekannt als Alexios der Dritte war, der ich im Dienste der Frömmigkeit und Religion soviel geleistet habe, der ich den Kirchen Konstantinopels die folgenden Gaben zukommen ließ…« Es folgte eine Liste von Spenden an einzelne Kirchen und Kirchenmänner, die so lang war, daß Faust ausreichend Zeit hatte, sich Marguerite zuzuwenden. »Weißt du, wer sich im Kerker neben uns befindet?« »Das ist mir wirklich vollkommen egal«, Marguerite. »Ich will nur aus diesem hier raus.«
murrte
»Sei ruhig, Mädchen! In jenem Kerker schmachtet Isaak, der alte König von Konstantinopel, der von seinem grausamen Bruder vom Thron vertrieben und geblendet worden ist.« »Schön, wir befinden uns also in bester Gesellschaft«, entgegnete Marguerite sarkastisch. »Sei still! Jemand öffnet die Tür nebenan.« Faust lauschte. Er konnte hören, wie der Schlüssel sich im Schloß drehte und die Tür auf- und wieder zugestoßen wurde. Er hörte das Schlurfen von Füßen durch die dünne Holzwand, dann einen Augenblick lang nichts. Schließlich erklang die klagende Stimme des alten
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Isaak. »Wer ist da? Bist du der Scharfrichter? Sprich, ich kann dich nicht sehen.« »So wenig wie ich dich«, ließ sich eine tiefe Stimme vernehmen. »Aber ich bringe dir etwas, das du nicht sehen mußt, um daran zu glauben: Beistand.« »Du bringst mir was?« »Beistand, Hilfe, Erleichterung, Befreiung. Erkennst du denn meine Stimme nicht, Isaak? Ich bin es, Enrico Dandolo!« »Es ist der Doge!« flüsterte Faust Marguerite zu. »Enrico Dandolo, der nahezu allmächtige Doge von Venedig!« Faust erhob seine Stimme und rief: »Doge Dandolo! In der Nachbarzelle! Wir erbitten Eure Fürsprache!« Stimmen redeten durcheinander, Füße stampften hart auf den staubigen Boden. Dann öffnete sich die Tür zu ihrem Verlies. Zwei Soldaten kamen herein. Direkt hinter innen folgte die große, aufrechte Gestalt Enrico Dandolos in seiner prachtvollen, scharlachrot und grün gefärbten Brokatrobe. In seiner Hand hielt er die heilige Ikone des St. Basilius. »Wer seid Ihr, daß Ihr mich beim Namen ruft?« verlangte er mit donnernder Stimme zu erfahren. »Ich bin Johann Faust«, rief Faust. »Ich kam hierher, um ein großes Unrecht zu korrigieren, das mir widerfahren ist. Es gibt da einen Kerl, der sich für mich ausgibt. Sogar den leichtgläubigen Gesandten der infernalischen Mächte hat er hereingelegt. Er behauptet, ein großer Magier zu sein, aber das ist nicht wahr. Ich bin der große Magier!« »So, so«, murmelte Dandolo.
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»Ich flehe Euch an, Enrico Dandolo, befreit mich aus diesem Verlies, und ich werde Euch ein wertvoller Verbündeter sein!« »Wenn Ihr ein so großer Magier seid«, fragte Dandolo, »warum befreit Ihr Euch dann nicht selbst?« »Auch ein Zauberer braucht einige Hilfsmittel«, sagte Faust. »Ich habe nichts von meinen Beschwörungszutaten dabei. Doch wenn ich nur eine Kleinigkeit hätte, um den Zauber zu vervollständigen – diese Ikone, die Ihr in Händen haltet, beispielsweise…« Enrico Dandolo sah ihn verärgert an. »Ihr wollt die heilige Ikone des St. Basilius zu einer Beschwörung mißbrauchen?« »Nun, ja, dafür sind heilige Ikonen doch da.« »Die einzige Bestimmung der Ikone von St. Basilius«, donnerte Dandolo, »ist es, die Stadt Konstantinopel vor allen Übeln zu beschützen.« »Sie arbeitet wohl nicht besonders gut, oder?« »Macht Euch darum keine Gedanken! Das geht Euch nichts weiter an.« »Da habt Ihr sicher recht«, sagte Faust, »und die Ikone ist allein Euer. Doch bitte, befreit uns! Wir haben nichts Böses getan, und wir sind nicht Eure Feinde.« »Ihr werdet mir Eure Behauptung, ein Magier zu sein, beweisen müssen«, sagte Dandolo. »Ich werde wiederkommen.« Damit wandte er sich um und verließ den Kerker in Begleitung seiner Soldaten. Die Tür fiel krachend zu, und der Schlüssel drehte sich wieder im Schloß herum. »Es ist einfach unmöglich, mit diesen schweinsköpfigen Venezianern zu verhandeln!« schimpfte Faust.
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»Oh, mein Gott, was sollen wir nur tun?« jammerte Marguerite. Marguerite war verzweifelt. Faust selbst war ebenfalls nicht besonders gutgelaunt, obwohl es sich in seinem Falle wohl mehr um verletzten Stolz als um Todesangst handelte. Er ging auf und ab, ständig auf der Suche nach einem Ausweg. Es war wirklich dumm von ihm gewesen, sich an die Verfolgung von Mephistopheles und dem Betrüger zu wagen, ohne sicherzustellen, daß seine magische Ausrüstung in Ordnung war. Er erinnerte sich an seine Reisen durch Europa, bei denen er stets einen Beutel mit Hilfsmitteln bei sich gehabt hatte. Er war stets auf alles vorbereitet gewesen. Sollte seine achtbare, jedoch langweilige Position in Krakau seine Denkfähigkeit getrübt haben? Und wenn dem so wäre, wie hätte er das dann erkennen sollen? Er spielte erneut mit seinem Pentagramm herum, mehr, um sich zu beschäftigen, als in der tatsächlichen Hoffnung auf eine – wie auch immer geartete – Wirkung. Voller Aufregung bemerkte er, daß ein Leuchten innerhalb der in den Boden geritzten Linien entstand und langsam größer wurde. Wie beim letzten Mal war es erst nur ein kleiner Punkt, der sich mehr und mehr ausdehnte, aber dieses Mal leuchtete es in einem typischen rot-orangenen Farbton, der einen Besucher aus der Hölle ankündigte. Als das Licht einen menschlichen Umriß formte, rief Faust: »O Geist! Ich rief dich empor aus den dunkelsten Abgründen der Hölle…« »Nein, das hast du nicht«, widersprach die Kreatur in dem Licht, die nun die Gestalt eines schlanken, fuchsgesichtigen Dämons mit kurzen Hörnern wie von einem Ziegenbock angenommen hatte. Der Dämon trug einen hautengen Anzug aus Robbenfell, der seine wohlgeformte Figur umschmeichelte.
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»Ich habe dich nicht gerufen?« »Ganz sicher nicht. Ich kam aus eigenem Antrieb her. Ich bin Azzie. Ich bin ein Dämon.« »Ich freue mich sehr, dich zu sehen«, sagte Faust. »Ich bin Johann Faust, und dies ist meine Freundin Marguerite.« »Ich weiß, wer ihr seid«, antwortete Azzie. »Ich habe euer Tun beobachtet – ebenso wie das von Mephistopheles und jenem anderen Mann; der sich selbst Faust nennt.« »Dann weißt du, daß er ein Betrüger ist! Ich bin Faust!« »Sicher bist du das«, sagte Azzie. »Und?« »Und ich habe mir so meine Gedanken über die Angelegenheit gemacht. Ich habe dir einen Vorschlag zu unterbreiten.« »Endlich!« schrie Faust. »Anerkennung! Rache! Ewige Freude!« »Nicht so schnell«, warnte Azzie. »Noch kennst du die Bedingungen meines Vorschlages nicht.« »Dann nenne sie mir.« »Nein, nicht hier«, sagte Azzie. »In einem Kerker der Franken führe ich keine Verhandlungen.« »Wo dann?« »Mir schwebt da eine ganz bestimmte Gebirgskrone vor. Es handelt sich um einen hohen Berg im Kaukasus, nicht weit von der Stelle entfernt, wo Noah nach dem Einsetzen der Sintflut zum ersten Mal Land gefunden hatte. Dort können wir reden, und ich kann dir die
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Bedingungen meines Angebotes mit der gebotenen Würde darlegen.« »Gut, dann bring mich dorthin«, sagte Faust. »Und was wird aus mir?« fragte Marguerite. »Was wird aus ihr?« schloß Faust sich ihren Worten an. »Sie kann uns nicht begleiten. Mein Handel gilt nur dir selbst, nicht irgendeinem herumlungernden Weibsstück.« »Na, du hast Nerven«, ereiferte sich Marguerite. »Ich habe ihn begleitet und unterstützt. Ich habe ihm sogar bei seiner Zauberei geholfen. Und er hat mich gebeten mitzukommen. Johann, du kannst mich doch hier nicht allein zurücklassen!« Faust wandte sich an Azzie: »Es ist nicht richtig, weißt du?« »Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß ihr nichts geschehen wird.« »Dann laß uns gehen!« sagte Faust. »Marguerite, wir werden bald zurück sein. Ich tue das wirklich nicht gerne, aber Geschäft ist Geschäft.« Tatsächlich war Faust jedoch nicht allzu traurig darüber, Marguerite zurückzulassen, denn sie hatte sich als weitaus weniger anschmiegsam und unterwürfig erwiesen, als er gehofft hatte. »Nein, nein! Nimm mich mit!« Das unglückselige Mädchen stürmte zu Faust und versuchte noch, ihre Arme um ihn zu schlingen. Doch Azzie machte eine kurze Geste, und ein Feuer loderte auf. Marguerite mußte zurückweichen. Als das Feuer erlosch, waren Faust und Azzie fort. Sie war allein in dem Verlies, und durch die Tür erklangen die schweren Schritte der Soldaten.
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KAPITEL 6 Azzie flog, Faust im Schlepptau, mit großer Geschwindigkeit hoch über die Türme Konstantinopels hinweg in südwestliche Richtung zu der großen Hochebene Anatoliens. Gelegentlich passierten sie Dörfer mit Lehmbauten. Dies war die Heimat der Türken, die von wer weiß woher an diesen Ort gekommen waren und gerade jetzt auf die Befestigungen der großen Stadt weit im Norden zuritten. Nach einer Weile tauchten unter innen die ersten kümmerlichen und kahlen Hügel auf, ehe sie die Gipfel des Kaukasus vor sich sahen. Azzie stieg noch weiter auf, um sie zu überqueren, und Faust begann in der dünnen, kalten Luft erbärmlich zu frieren. Das Gebirge lag nun unter ihnen, und die hohen Gipfel schienen sich in die lockeren, weißen Wolken zu bohren, die im Licht der Sonne strahlten. »Siehst du den großen Berg da vorne?« fragte Azzie Faust, wobei er gegen den Wind anbrüllen mußte. »Das ist unser Ziel.« Sie landeten auf dem Gipfel – einer ebenen Fläche in schwindelnder Höhe, die vom Licht der Mittagssonne überglänzt war. Faust hätte Azzie gerne gefragt, wie er das angestellt hatte. Schließlich war es finsterste Nacht gewesen, als sie sich auf den Weg gemacht hatten. Um sich jedoch keine Blöße zu geben, verkniff er sich die Frage und erkundigte sich statt dessen, wo sie sich befanden. »Dies ist der Elbrus, der höchste Gipfel des Kaukasus«, erklärte Azzie. »Wir sind nicht weit vom Berge Ararat entfernt, wo Noah zum ersten Mal wieder Land gefunden hat.«
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Faust trat an den Abgrund heran. In der klaren Luft konnte er viele Kilometer weit sehen, bis hinunter zu den friedlichen Ansiedlungen in der Ebene am Fuße des Gebirges. Weiter in der Ferne erkannte er einen Palast aus blaßrotem Stein, der von weißen Mauern und Türmchen umgeben war und ihn auf frappierende Weise an einen Geburtstagskuchen erinnerte. »Was ist das?« fragte er. »Das ist Schloß Sorglos«, antwortete Azzie. »Es wird dir gehören, wenn wir uns einig werden.« »Was ist das Besondere an Schloß Sorglos?« wollte Faust wissen. »Siehst du die blaßroten Steine, aus denen es erbaut ist? Das ist Glücksstein. Er ist ein Erbe des goldenen Zeitalters der Menschheit, als noch überall Frieden und Glück herrschten. Dieser Stein ist durchdrungen von der Essenz des Glücks. In seiner Nähe werden alle Menschen von einem Gefühl leichter Euphorie ergriffen. An diesem Ort wirst auch du fröhlich und munter sein, Faust. Ach, und natürlich wirst du in dem Palast auch die übliche Auswahl an jungen Damen vorfinden. Wunderbare Mädchen, deren Antlitz dein Herz schneller schlagen lassen werden und deren Leiber einen Engel zu Tränen rühren würden, auch wenn es äußerst peinlich für ihn wäre, bei solch einem unangemessenen Verhalten erwischt zu werden.« »Das Schloß sieht aus dieser Entfernung sehr klein aus«, sagte Faust. »Auf diesem Berg herrschen besondere Gesetze von Licht und Luft«, erklärte Azzie. »Ein leichtes Zusammenkneifen der Augen reicht aus, um das Bild, das du siehst, beliebig zu vergrößern. Du kannst jedes Detail, das dich interessiert, erkennen.«
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Faust blinzelte. Sein erster Versuch fiel zu heftig aus, so daß er auf eine glatte Mauer sah, als stünde er nur fünf Zentimeter von ihr entfernt. Er entspannte seine Lider und versuchte es erneut, dieses Mal behutsamer. Nun konnte er den Palast in seiner ganzen Pracht erkennen. Schloß Sorglos war tatsächlich ein bezaubernder Ort. Faust sah viele Springbrunnen, in deren Wasser sich das Sonnenlicht brach, sauber abgestochene Gehwege, die den großen, gepflegten Garten durchzogen, eine Vielzahl zahmer Rehe, die von einem schattigen Platz zum nächsten streiften und viele bunt gefiederte Papageien, die in den Bäumen des Palastgartens lebten und den Ort zu einem Schauspiel unendlicher Farbenpracht werden ließen. Überall waren Bedienstete zu erkennen, die Messingtabletts mit Konfekt und Früchten, Schalen mit Nüssen und Terrinen mit würzigen Speisen trugen, die sie den Gästen in ihren prachtvollen, vielfarbigen Roben anboten. Faust erkannte, daß viele der Anwesenden auffallend groß waren. Ihre Gesichter waren so edel geschnitten, wie er es zuletzt in Rom gesehen hatte, wo er antike Bildhauerei studierte. »Wer sind diese Männer?« fragte er. »Das sind Philosophen«, antwortete Azzie. »Sie sind hier, um ihr Wissen mit dir zu teilen und über das Wie und Warum der Dinge zu diskutieren. Sie werden deinen wachen Geist mit frischen Anregungen beglücken. Nun sieh einmal dort hinüber, da links, ja genau. Siehst du den Kuppelbau, der ein wenig abseits der anderen Bauten steht?« »Ja, ich sehe ihn. Wozu dient er?« »Das ist die Schatzkammer von Schloß Sorglos«, sagte Azzie. »In ihr lagern die herrlichsten Reichtümer. Edelsteine reinsten Wassers, unvergleichlich schöne Perlen, allerfeinste Jade und noch vieles mehr.«
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Faust zwinkerte wieder und drehte seinen Kopf etwas zur Seite. »Was ist das dort am Horizont? Es sieht aus wie eine wandernde Staubwolke.« Azzie folgte seinem Blick. »Das ist nicht wichtig.« »Was ist es?« »Wenn du es unbedingt wissen willst, es ist eine Horde wilder türkischer Krieger«, bekannte Azzie. »Gehören sie zum Schloß?« »Ich fürchte, nein. Eigentlich sind sie eher eine Gefahr für die Gegend rundherum, aber sie kümmern sich nicht um Schloß Sorglos.« »Fragt sich nur, was ich tun soll, wenn sie doch dorthin kämen und mich überfallen würden. Dann würden mir all die Reichtümer und das fröhliche Leben nicht helfen, oder?« »Garantien gibt es nirgends«, sagte Azzie. »Überall auf der Welt streifen grausame Krieger um die Paläste und begehren lautstark Einlaß, und manchmal haben sie auch Erfolg. Aber das soll für dich kein Grund zur Sorge sein. Ich würde dich einer solchen Gefahr nicht aussetzen. Ich kann dir Paläste an den verschiedensten Orten der Welt besorgen. Es gibt so viele schöne Städte, in denen du leben kannst. Und so viele verschiedene Zeiten außerdem. Wenn es dir gefiele, Plato in Athen zu treffen oder mit Vergil oder Cäsar in Rom zu sprechen, dann kann ich auch das für dich arrangieren.« »Das klingt alles sehr gut«, sagte Faust, »aber was ist mit meinem rechtmäßigen Platz in dem großen Wettstreit zwischen den Mächten der Finsternis und des Lichts?« »Ich denke, ich werde auch das regeln können«, entgegnete Azzie. »Du mußt verstehen, es war nicht mein Fehler, daß dieser Irrtum passieren konnte. Das war die
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Dummheit von Mephistopheles, und ich beabsichtige, ihm eine Lektion zu erteilen. Aber zuerst muß ich einige Informationen sammeln, denn der Wettkampf läuft bereits, und weder die Mächte des Lichts noch die der Finsternis wären erbaut davon, wenn er unterbrochen würde. Mit ein bißchen Glück und dem richtigen Wort an der richtigen Stelle müßte es mir trotzdem gelingen, dich an Macks Stelle ins Spiel zu bringen.« »Das würdest du für mich tun?« »Ja, das würde ich, aber es gibt eine Bedingung.« »Welche?« »Du mußt einen Eid leisten, der dich unlösbar an mich bindet. Du mußt mir unter allen Umständen gehorchen, ganz besonders in bezug auf den Wettkampf. Du wärest an mich und meine Weisungen gebunden und müßtest tun, was ich verlange.« Faust richtete sich voller Stolz auf. »Ich? Dir gehorchen? Ich bin Faust, und wer bist du? Nichts weiter als irgendein dahergelaufener unreiner Geist!« »Ich würde nicht gerade unrein sagen«, entgegnete Azzie sichtlich beleidigt. »Das ist ein schändliches Gerücht, das über uns Dämonen verbreitet wird. Wie auch immer, es ist nichts Unehrenhaftes daran, einem Dämon zu gehorchen. Menschen haben das immer getan.« »Aber nicht Faust! Warum hältst du das überhaupt für notwendig?« »Weil ich einen Plan habe. Einen Plan, dessen Ziel es ist, daß du deinen rechtmäßigen Platz im Lauf der Dinge einnehmen kannst – und ich den meinen. Aber dafür mußt du tun, was ich sage. Du wirst in mir keinen allzu gestrengen Befehlshaber haben. Also, was ist? Wirst du mitmachen?«
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Faust überlegte eine Weile und war einigermaßen verwirrt. Die Versuchung war groß. Der Herr über Schloß Sorglos zu sein, war schon etwas anderes als eine Professur in Alchimie an der Universität zu Krakau. Dennoch konnte er es nicht mit sich vereinbaren, Azzie zu gehorchen. Ein tiefes inneres Widerstreben hielt ihn davor zurück. Es war nicht so sehr deshalb, weil Faust, der Mensch, seine eigenen Entscheidungen treffen wollte, sondern vielmehr, weil er sich als die Verkörperung der archetypischen Seele des Faust unmöglich einem Geist unterordnen konnte, der nach der Natur der Dinge ihm hätte dienen sollen und nicht umgekehrt. »Ich kann es nicht tun«, konstatierte er daher. »Gut, dann mache ich dir noch einen Vorschlag. Was wäre, wenn ich dir die wahre und absolute Schönheit biete, nach der jeder Mann auf Erden vergeblich sucht? Ich biete dir niemand geringeren als Helena von Troja.« »Kein Interesse. Ich habe bereits eine Geliebte.« »Aber nicht Helena!« »Ich habe kein Interesse«, wiederholte Faust. Azzie lächelte. »Sieh sie dir wenigstens einmal an!« Der Dämon machte eine Geste, und direkt vor Fausts Augen begannen sich die Konturen einer Frau zu materialisieren, bis sie schließlich in voller Größe vor ihm stand. Sie sah ihn mit ihren wundervollen Augen an, die von einer tiefen Farbe waren, wenngleich Faust nicht sagen konnte, von welcher. Sie schienen die Farbe zu wechseln wie Wolken, die an der Sonne vorüberzogen. Waren sie im einen Moment noch grau, so schimmerten sie im nächsten blau und im übernächsten grün. Die Frau war in eine klassische griechische Tunika gehüllt, die ihren wohlgeformten Körper perfekt umrahmte. Ein Streifen des edlen Stoffes zog sich über eine ihrer
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Schultern, die andere war völlig unverhüllt. Helena war so ergreifend schön, daß es unmöglich, ja geradezu lächerlich gewesen wäre, irgendeinen Punkt besonders hervorzuheben. Es schien sinnlos zu sagen, daß sie eine besonders feine Nase hätte oder der Schwung ihrer Augenbrauen außerordentlich schön sei. Oder wie wohlgeformt ihre Brüste waren und überaus anmutig ihre Beine. Jede dieser Äußerungen wäre absolut wahr, aber Helenas Schönheit lag weit jenseits jeglicher Beschreibung und war mit nichts auf der Welt vergleichbar. Sie war von einer Vollkommenheit, wie sie einem Mann manchmal flüchtig in seinen Träumen begegnen konnte, niemals aber in der Realität. Auf ihre Art war sie absolut perfekt, ein lebendes Ideal, überirdisch und doch menschlich, und sollte sich ein Fehler an ihr finden lassen, so diente er doch nur dazu, ihre menschliche Perfektion noch zu steigern. Faust sah sie an und fühlte sich aufs äußerste in Versuchung geführt. Sie zu gewinnen wäre wirklich fantastisch. Ganz abgesehen von der Begehrlichkeit, die allein ihr Anblick in ihm erweckte – da wäre noch die unglaubliche Befriedigung, sie allein für sich zu besitzen und für jeden anderen Mann unerreichbar sein zu lassen. Alle Männer der Erde, die Schwulen einmal ausgenommen, würden ihn um diese Frau beneiden. Helena zu besitzen wäre ein größerer Reichtum, als die Schätze eines Königs der Könige sein eigen nennen zu können. Aber er würde sie nicht ohne Gegenleistung bekommen. Von Azzies unakzeptabler Bedingung abgesehen, wäre da noch ein ganz anderer Preis zu zahlen. Helena zu besitzen, bedeutete, ebenso sehr auch ihr zu gehören. Ein Mann in dieser Lage könnte weder seine Seele noch sein Schicksal mehr sein eigen nennen. In seinem Fall hieße das, nicht länger Faust, der Archetypus zu sein. Eher schon wäre er Faust, der Liebhaber von Helena.
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Seine eigene Vortrefflichkeit würde mit absoluter Gewißheit von derjenigen Helenas getrübt werden. Sicher war auch Paris, der Helena nach Troja entführt hatte, ein beeindruckender Mann gewesen. Aber wer erinnerte sich heute noch an ihn? Und zu allen diesen schwerwiegenden Überlegungen kam noch etwas hinzu: Faust wußte, daß es seinem archetypischen Wesen nicht wohl tun würde, Helena zu besitzen. Er war Faust, ein Einzelgänger und nur sich selbst verantwortlich. Er war keines anderen Mannes Marionette und noch weniger die einer Frau. Er antwortete rasch, ehe der Anblick ihres betörenden Liebreizes seine Entscheidung noch beeinflussen würde. »Nein, nein«, sagte er. »Ich will sie nicht besitzen, und ich bin auch nicht der richtige Mann für deine Pläne.« Azzie lächelte schulterzuckend. Er schien über Fausts Ablehnung nicht sonderlich überrascht zu sein. Ihm war anscheinend klar gewesen, aus welch hartem Holz Faust geschnitzt war, der sich, als ihm dieses klar wurde, eines warmen Gefühls von Stolz in seiner Brust nicht erwehren konnte. Es war schon ein überaus gutes Gefühl, wenn sogar ein Dämon eines Menschen Standfestigkeit hoch zu schätzen wußte. »Nun gut«, entgegnete Azzie. »Ich werde sie wieder fortschicken. Aber den Versuch war es wert.« Er machte einige schnelle beschwörende Gesten, deren Präzision Faust ehrlich bewunderte. Magier erkennen ihre gegenseitigen Fähigkeiten an der Geschicklichkeit ihrer Hände, und Faust hatte noch keinen besseren gesehen. Ein Licht umtanzte für einen Augenblick Helena, die die ganze Zeit teilnahmslos schweigend gewartet hatte. Dann verschwand es. Azzie wiederholte seine Beschwörung, aber nichts geschah.
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»Na, wenn das nicht schicksalhaft ist«, sagte Azzie. »Normalerweise arbeitet dieser Entfernungszauber sehr zuverlässig. Ich werde mich darum kümmern müssen, sobald ich etwas Zeit dafür habe. Ich mache dir einen Vorschlag: Helena ist ein nettes Mädchen, und sie könnte etwas Urlaub vom Hades vertragen, wo sie derzeit ansässig ist. Was hältst du davon, wenn sie dich eine Weile begleitet, und ich hole sie dann später ab?« Faust sah sie an, und sein Herz hämmerte erregt in seiner Brust, denn trotz seiner unfehlbaren intellektuellen Gründe, sie abzulehnen, konnte er doch seine Gefühle für sie nicht unterdrücken. Dennoch hielt er sich zurück. »Einverstanden. Ich werde für eine Weile auf sie achten, wenn du das so willst. Aber bedenke, daß es da noch Marguerite gibt.« »Mach dir um sie keine Sorgen! Ihr wird nichts geschehen, und außerdem bin ich überzeugt, daß das mit euch beiden nichts wird.« »Denkst du das wirklich?« fragte Faust. »Vertrau mir! Ein Dämon weiß mit Gewißheit, wenn eine Liebesaffäre zum Untergang verdammt ist. Ich werde später wieder zu dir stoßen, dann können wir uns weiter unterhalten. Bist du sicher, daß ich dich nicht doch in Versuchung führen kann?« »Ich bin mir sicher, aber der Versuch ehrt mich.« »Nun gut, ich muß los.« »Warte!« rief Faust. »Kannst du mir noch einige magische Ingredienzen überlassen, die ich für den Reisezauber benötige? Andernfalls würden Helena und ich wohl längere Zeit auf diesem Berggipfel verbringen müssen.«
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»Gut, daß du daran gedacht hast«, sagte Azzie und griff in den Lederbeutel, den alle Dämonen bei sich trugen, der aber dank ihrer magischen Kräfte für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar war. Er fischte diverse Gewürze, Heilkräuter und Geheimmittel, gereinigte Metalle, absonderliche Gifte und verschiedene andere Dinge heraus und reichte sie Faust. »Danke, mit dieser Ausstattung kann ich mein Schicksal wieder in die eigenen Hände nehmen. Dein Angebot war sehr freundlich, Azzie, aber ich werde mich dieser Sache und des Betrügers allein annehmen.« »Dann lebe wohl«, rief Azzie. »Lebwohl«, antwortete Faust. Beide nahmen eine typische magische Haltung ein, bei der sie hochaufgerichtet ihre rechten Arme in die Höhe strecken, die Handfläche nach außen und den Daumen eingeknickt, dann verschwand Azzie in einem hellen Lichtblitz, und Faust folgte ihm Augenblicke später in Begleitung der schönen Helena.
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KAPITEL 7 Marguerite konnte es nicht fassen. Sie hatte schon davon gehört, daß Magier launenhafte Gesellen waren, aber dies hier schlug dem Faß nun wirklich den Boden aus. Sie war aus einer Taverne in Krakau gekommen und in einem Kerker bei Konstantinopel gelandet, und sie wußte noch nicht einmal, warum sie eingesperrt worden war. Da saß sie nun, verlassen von Faust und der Welt und vermutlich in argen Schwierigkeiten. Noch immer lief sie unruhig in ihrer Zelle auf und ab, als das Geräusch von Schritten zu ihr hereindrang. Sie kauerte sich in banger Erwartung in eine Ecke der Zelle und lauschte. Die Schritte kamen näher, dann verstummten sie. Marguerite hörte, wie die Tür zur Nachbarzelle geöffnet wurde. Sie blieb ganz still sitzen und lauschte weiter. Eine kurze Zeit war es still. Dann hörte sie wieder die Schritte. Sie kamen näher und stoppten vor ihrer Tür. Ein Schlüssel bewegte sich rasselnd in dem groben Schloß, dann sprang es auf. Marguerite machte sich noch etwas kleiner, als die Tür aufgestoßen wurde. Ein großer, blonder, junger Kerl in edler Kleidung kam herein und musterte sie neugierig. Eine Weile bildeten die beiden eine geradezu malerische Szene in dem schwachen Licht, das von den verdreckten Lampen auf dem Korridor ins Innere des Verlieses schien. Der Fremde war kaum älter als ein Knabe, und sie konnte Schweißperlen auf seiner Oberlippe erkennen, während er sie unverwandt anstarrte. Sie saß noch immer zusammengekauert am Boden, ihr Haar umschmeichelte ihr Gesicht, und ihr langes Kleid war ein kleines Stück hochgerutscht und gab den Blick auf ihre schlanken
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Fesseln frei. Es war verführerischer Anblick.
ein
ebenso
rührender
wie
Dann fand der Besucher seine Stimme wieder. »Wer bist du?« »Ich bin Marguerite«, antwortete sie. »Und du?« »Doktor Johann Faust, stets zu Diensten.« Marguerite blinzelte. Fast hätte sie gesagt, daß er nicht Faust sein konnte, denn schließlich hatte der richtige Faust sie gerade erst im Stich gelassen, um sich mit einem Dämon auf Vergnügungsfahrt zu begeben. Ihre Intuition warnte sie jedoch davor, diesem Fremden zu widersprechen. Immerhin war es denkbar, daß dieser Mensch sie retten konnte, und es war kaum anzunehmen, daß er besonders begeistert wäre, wenn sie ihn gleich in den ersten Minuten ihrer Begegnung demaskieren würde. Sollte er ihretwegen Faust sein oder Schmaust oder Gnaust oder was auch immer er wollte – Hauptsache, er holte sie hier raus. »Was tust du hier?« fragte Mack. »Das ist eine lange Geschichte«, entgegnete Marguerite. »Ich war mit diesem Kerl zusammen, und – na ja – er hat mich hier einfach im Stich gelassen und ist abgehauen. Und du?« Mack war in den Kerker gekommen, in der Hoffnung, Enrico Dandolo zu finden und von ihm die heilige Ikone des St. Basilius zu ergattern. Er war zu der Überzeugung gelangt, daß es genau diese Ikone war, die er brauchte, um in dieser Situation zu einer erfolgreichen Lösung zu kommen. Als er die Nachbarzelle geöffnet hatte, mußte er feststellen, daß Dandolo bereits in Begleitung des blinden alten Isaak verschwunden war. Er hatte daraufhin eigentlich gleich wieder gehen wollen, doch ein unerklärliches Gefühl nötigte ihn dazu, noch einen Blick
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in den Kerker nebenan zu werfen. Es war schon merkwürdig. Normalerweise gehörte es nicht gerade zu seinen Gewohnheiten, Verliese zu inspizieren, aber diesmal war es ihm irgendwie wichtig erschienen, also hatte er es getan. Aber wie sollte er das Marguerite oder sonst jemandem erklären? »Das ist auch eine lange Geschichte«, erklärte er statt dessen. »Willst du hier raus?« »Will ein Schwein sich im Dreck suhlen? Natürlich«, antwortete sie in einer für die Gegend, in der sie Gänsemagd gewesen war, typischen Ausdrucksweise. »Dann komm!« sagte Mack. »Du kannst mich begleiten. Ich muß noch jemanden treffen.« Sie verließen den Kerker und gingen zurück in das Lager, wo ein wildes Durcheinander herrschte. Tausende von Fackeln beleuchteten mit ihrem flackernden Licht das ständige Hin und Her. Trompeter gaben Signale, und die meisten Leute bewegten sich auf die Mauern der Stadt zu. Das Ganze sah nach einem Angriff aus. Mack und Marguerite wühlten sich mühsam durch die Menge. Sie hatten denselben Weg eingeschlagen wie die meisten anderen auch. Scheinbar jeder eilte auf die Stadtmauern Konstantinopels zu, wo heftige Kämpfe in Gang zu sein schienen. Je näher sie kamen, desto mehr Verwundeten begegneten sie. Viele von ihnen waren von byzantinischen Pfeilen getroffen worden, die von denen der Angreifer durch ihr sechseckiges, rot-grünes Wappen auf dem Schaft und die Federn leicht unterschieden werden konnten. Man hatte dafür Moskauer Entenfedern genommen, wohingegen die anderen Pfeile mit englischen Gänsefedern versehen waren. Aus dem Lager strömten immer noch Soldaten nach, die sich auf dem Weg zum Schlachtfeld befanden. Auch
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auf den hohen Wehrtürmen der Stadt schien gekämpft zu werden. Unten bewegten sich plötzlich laut quietschend die mächtigen Tore der Stadt, die von Sympathisanten der Franken innerhalb Konstantinopels geöffnet wurden. Berittene Kreuzfahrer formierten sich augenblicklich und galoppierten schwerbewaffnet in Keilformation auf die geöffneten Tore zu. Griechische Soldaten versuchten die Tore zu verteidigen. Dabei halfen ihnen Normannen, die von Konstantinopel als Söldner angeworben worden waren. Doch sie stemmten sich vergeblich gegen die angreifende Meute. Die blutgierigen Kreuzfahrer überrannten sie einfach. Streitäxte und Morgensterne wirbelten durch die Luft, gingen mit kurzen harten Schlagen nieder und zerfleischten unter grauenhaften Geräuschen Körper und Köpfe feindlicher Soldaten. Einige griechische Frauen hatten einen riesigen Kessel mit siedendem Öl auf die Mauer geschleppt, den sie nun über den Angreifern auskippten. Wie eine goldglitzernde Kaskade ergoß es sich über die fränkischen Soldaten, floß über ihre Rüstungen, kroch durch die Öffnungen im Nacken und an den Armen ins Innere und garte die Männer wie Hummer. Dann entlud sich ein ganzer Wald von Bogen auf die Frauen, und sie fielen von Pfeilen durchsiebt zu Boden. Die Franken stürmten erneut vorwärts. Ihr Kriegsgeschrei erfüllte die Luft, als sie mit der geballten Macht einer fanatischen Armee auf die Stadt zustürzten. Nun waren nur noch eine Handvoll türkischer Söldner übrig, die das Innere der Stadt verteidigten. Das Surren ihrer Pfeile erfüllte die Luft und machte jede Verständigung zu einem Problem. Schnell und zielsicher schossen sie die Kreuzfahrer Reihe für Reihe von ihren Pferden. Doch die Angreifer rückten trotzdem immer näher, bis sie schließlich die Türken erreichten. Die leicht bewaffnete Schar fast schon zierlich gebauter Männer hatte dem Ansturm der wilden, großen und bärtigen Franken nichts mehr entgegenzusetzen. Es war ein kurzes und grausames Gemetzel. Gliedmaßen
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wurden abgetrennt und flogen durch die Luft, Köpfe wurden eingeschlagen, und die Franken brachen in ihrem Blutrausch ganz einfach durch die feindlichen Linien in die Straßen der Stadt hinein. Mack hielt sich die ganze Zeit dicht hinter dem Kampfgeschehen und zog Marguerite an der Hand mit sich. Endlich entdeckte er Enrico Dandolo. Der alte Mann stand auf seinen Füßen und wirbelte ein riesiges Schwert herum, so daß jeder in seiner Nähe sich ducken mußte, um nicht getroffen zu werden. »Führt mich zu ihnen!« schrie »Überlaßt mir diese Griechen!«
Dandolo
erhitzt.
Mack lief zu ihm, duckte sich unter dem herumfahrenden Schwert und ergriff Dandolos Arm. »Doge, ich bin es, Faust! Ich werde Euch führen.« »Ah, der Bote von Grünbart!« rief Dandolo. »Wunderbar, bringt mich nur in die richtige Richtung und gebt mir einen Stoß.« »In Ordnung«, sagte Mack und drehte Dandolo herum, bis er den Stadtmauern zugewandt stand. Dabei öffnete er geschickt die seidene Schärpe des Dogen, in der er die Ikone von St. Basilius erspäht hatte. »Viel Glück, Herr!« rief Mack, als Enrico Dandolo sein enormes Schwert wild über seinem Kopf schwang und auf das Kampfgeschehen zustürzte. Falls es für die Figur des Don Quixote jemals eine historische Vorlage gegeben hatte, so mußte es zweifellos dieser Doge sein. Mack wandte sich an Marguerite: »Schnell, laß uns von hier verschwinden!« Mit Marguerite im Schlepptau entfernte er sich von den Stadtmauern und kämpfte sich wieder zum Lager durch. Er war auf der Suche nach einem sicheren Ort.
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Zumindest aber wußte er, daß er durch die Rettung der Ikone von St. Basilius die erste Situation gemeistert hatte. Es war schon spät und wurde nun zunehmend dunkel. Die Nacht war sehr kalt geworden, ein scharfer Wind umwehte sie, und es regnete. Zitternd und frierend mühten sich Mack und Marguerite durch das schlammige Schlachtfeld. »Wohin gehen wir?« fragte Marguerite. »Ich muß mich noch mit jemandem treffen«, antwortete Mack, der sich wunderte, wo zum Teufel Mephistopheles blieb. »Und wo?« »Er sagte, er würde mich finden.« »Warum rennen wir dann so?« »Wir verlassen das Schlachtfeld. Da draußen kann man immerhin getötet werden.« Dabei rannten sie geradewegs in eine Gruppe Soldaten hinein. Es waren andere als diejenigen, die Faust und Marguerite gefangengenommen hatten, allerdings sahen sie ähnlich aus, obwohl sie größer, unrasiert und von Kopf bis Fuß bewaffnet waren. Man konnte ihnen ansehen, daß sie gekämpft hatten. Blut klebte an ihren verbeulten Rüstungen, und wo immer ihre Haut sichtbar war, zeigte sie die ungesunde Farbe diverser Blutergüsse. Sie standen um einen Stapel aus Feuerholz und einigen Stühlen herum, die sie von einem vorbeifahrenden Karren gezerrt hatten, erzählten sich derbe Witze und versuchten ein Feuer zu entzünden. Immer wieder stießen sie die Feuersteine aneinander, Funken stoben, aber der Regen, der bei Sonnenuntergang eingesetzt hatte
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und nun immer Bemühungen.
stärker
wurde,
vereitelte
ihre
Mack und Marguerite wollten die Gruppe möglichst schnell passieren, als sie aufgehalten wurden. »Hey, ihr da! Wartet einen Moment!« schrie eine Stimme. »Ihr habt nicht zufällig ein trockenes Stück Feuerholz dabei?« »Nein«, sagte Mack. »Tut mir leid, wir haben keines. Entschuldigt uns, Leute, wir müssen weiter.« Die Soldaten umringten sie. Marguerite fühlte, wie sich etwas Hartes in ihre Seite drückte. Sie wollte gerade einen Abdruck ihrer Handfläche als passende Antwort in dem Gesicht des Verursachers hinterlassen, als sie feststellte, daß es Mack war, der versuchte, ihr den kleinen Beutel zu geben, den er zuvor Enrico Dandolo abgenommen hatte. Sie griff zu und verbarg ihn an ihrem Körper, als die Soldaten sich Mack schnappten. Sie durchsuchten ihn unsanft und wandten sich dann Marguerite zu. Da ihre Abscheu gegen die Berührung durch grobschlächtige Hände weitaus stärker als ihre Loyalität war, übergab sie den Beutel ohne großes Zögern. »Na also!« schrie einer der Männer triumphierend und schwang die Ikone des St. Basilius herum. »Was haben wir denn da?« »Seid vorsichtig damit«, sagte Mack, »das ist eine ganz besondere heilige Ikone.« »Wozu ist sie gut?« fragte der Soldat. »Sie kann Wunder bewirken«, erklärte Mack. »Wunder, ja? Na, vielleicht kann sie dann ja auch brennen. Das wäre ein Wunder!« Wieder schlug er die
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Feuersteine aneinander. Funken stoben auf und einer davon traf auf die lackierte Oberfläche der Ikone, die sofort Feuer fing. Die Soldaten wandten sich mit der brennenden Ikone wieder dem Holzstapel zu und bemühten sich, das Feuer anzufachen. Mack nutzte die Gelegenheit und machte sich aus dem Staub. Marguerite folgte ihm. Sie erreichten den Rand eines kleineren Gehölzes, das das Schlachtfeld säumte. Nachdem das Surren der Pfeile verstummt war, konnte man von der Stadt her nun lautes Geschrei vernehmen. Die Kreuzfahrer schienen endgültig verrückt zu spielen. An dem klaren mondhellen Nachthimmel über der Stadt schwebte eine gewaltige Rauchwolke. Es schien, als sei Troja auferstanden und erneut vernichtet worden. Mack wandte den Blick von dem Kampfplatz ab und erkannte, wie keine drei Meter von ihm entfernt in einem Lichtblitz eine große, bedrohlich wirkende Gestalt erschien. Sie trug einen karminroten Mantel und stand in einer geradezu malerischen Pose am Waldrand. »Mephistopheles!« rief Mack erleichtert aus. »Bin ich froh, Sie zu sehen! Haben Sie gesehen, was ich getan habe? Ich habe mich für die Ikone entschieden.« »Ja, das habe ich gesehen«, entgegnete Mephistopheles. »Offen gesagt, bin ich nicht besonders beeindruckt.« »Nicht? Aber es schien die beste Möglichkeit zu sein. Nachdem mir Enrico Dandolo von seinen Plänen für Konstantinopel erzählt hatte, war klar, daß ich ihn nicht töten durfte, und an Alexios war ich nie nah genug dran, um ihn zu entführen. Ich konnte doch gar nichts anderes tun.«
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»Narr!« schimpfte Mephistopheles. »Enrico Dandolo hat Sie getäuscht. Er haßt Konstantinopel, und sein Haß ist unversöhnlich.« »Woher, zum Teufel, sollte ich das denn wissen?« begehrte Mack auf. »Lippen lesen, oder was weiß ich. Wenn er tot wäre, hätte vielleicht ein besserer Mann die Herrschaft übernommen. Jemand, der die Stadt vor dieser furchtbaren Zerstörung und Plünderung hätte schützen können, die ihr in diesem Moment widerfährt.« »Ich habe getan, was ich für das Beste hielt«, grummelte Mack verdrießlich. »Meine Schelte gilt nicht Ihnen persönlich«, besänftigte ihn Mephistopheles. »Es ist wie ich gesagt habe. Nicht Sie selbst werden beurteilt, sondern die Menschheit, als deren Vertreter Sie hier sind. Ihre Entscheidung war nichts anderes als eine ganz typische Dummheit, wie sie Menschen nun einmal machen. Nur Menschen können auf den Gedanken kommen, eine Illusion zu schützen, anstelle einer ganzen Stadt!« »Nächstes Mal werde ich es besser machen«, sagte Mack. »Ich werde bestimmt keine Illusionen mehr schützen, das kann ich Ihnen versichern. Wie geht's weiter?« »Ihr zweites Abenteuer wartet bereits. Sind Sie bereit?« »Ich könnte ein Bad und eine Mütze voll Schlaf vertragen.« »Dazu werden Sie auf Ihrer nächsten Station Gelegenheit haben. Sie werden an den Hof Kublai Khans gehen.«
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»Was werde ich dort zu tun haben?« »Ich werde es Ihnen erklären, wenn wir da sind. Machen Sie sich reisebereit.« »Moment«, rief Mack, denn Marguerite hatte sich durch hartnäckiges Zerren an seinem Ärmel bemerkbar gemacht. »Kann ich sie mitnehmen?« Mephistopheles betrachtete Marguerite mit wenig begeisterter Miene, zuckte dann aber gleichgültig die Schultern. »Das wird schon gehen, nehme ich an. Nehmen Sie sie an die Hand, schließen Sie die Augen, und dann geht's los.« Mack und Marguerite taten, wie ihnen geheißen, doch Marguerite hielt zudem die Luft an, denn sie verabscheute dieses erdrückende Gefühl, durch Raum und Zeit geschleudert zu werden. Mephistopheles gestikulierte, Feuer und Rauch umwirbelten sie in der inzwischen schon vertrauten Art, und sie verschwanden.
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MARCO POLO KAPITEL 1 Als Mack die Augen wieder öffnete, befanden sie sich an einer belebten Straßenecke in einer scheinbar sehr großen Stadt. Mephistopheles und Marguerite standen zu beiden Seiten neben ihm, und Mephistopheles sah so geschniegelt wie immer aus. In einem Knopfloch am Revers seines eleganten Überwurfs steckte eine frische rote Rosenknospe, und seine Schuhe glänzten wie frisch geputzt. Aber auch Marguerite hatte sich herausgeputzt. Sie war so schön wie ein Gemälde. Irgendwie war es ihr gelungen, ihr Make-up zu erneuern und die Kleidung zu wechseln. Sie trug jetzt ein geblümtes Kleid mit einem knapp geschnittenen Leibchen. Mack sah sich um und bemerkte die vielen großen, eigentümlich gestalteten Gebäude. Chinesische Architektur, wie er meinte. Die Passanten bestätigten den Eindruck, daß sie sich in Ostasien befinden mußten. Sie waren in Seide und Fell gekleidet und hielten die Arme ineinander verschränkt, wobei sie die Hände in ihren langen Ärmeln verbargen. Die hellen Stimmen ließen ihre Unterhaltungen wie Soprangesang klingen. Die Luft war frisch und angefüllt mit dem Duft verschiedenster Gewürze, und der Himmel erstrahlte in einem kühlen nordischen Blau. Männer mit Pelzkappen und flachen Gesichtern mit gelblich-braunem Teint zogen an ihnen vorbei. Mack war überzeugt, daß es sich um Mongolen handeln mußte. Sie waren von Mongolen umgeben, die alle bis an die Zähne bewaffnet waren und an ihnen vorbeiliefen, als wären sie gar nicht vorhanden.
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»Haben die was gegen uns oder warum beachten sie uns nicht?« fragte Mack. »Sie können uns nicht sehen«, erklärte Mephistopheles. »Ich habe uns mit einem vorübergehenden Unsichtbarkeitszauber belegt. Das ist billiger, als ein Besprechungszimmer zu mieten.« »Wenn Sie es sagen«, murmelte Mack wenig interessiert. »Was soll ich hier tun?« »Sehen Sie! Dort vorne am Ende der Straße steht der große Palast von Kublai Khan. In ihm residiert der Khan, umgeben von seinen Fürsten, seinen Verwandten, Konkubinen und anderen Schmarotzern. Dort werden Sie auch Marco Polo treffen.« »Den berühmten venezianischen Forscher?« »Eigentlich war er ein Händler, aber ja, genau der. Normalerweise wären auch sein Vater und sein Onkel anwesend, aber sie befinden sich zur Zeit auf einer Handelsreise nach Trapezunt.« »Wo liegt Trapezunt?« fragte Mack. »Unwichtig. Darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Wichtig ist, was Sie hier zu erledigen haben.« »Ganz richtig. Weihen Sie mich ein.« »Die Situation ist folgendermaßen: Marco hat die Absicht, Peking zu verlassen und nach Venedig zurückzukehren. Kublai Khan hat nach einigem Zögern zugestimmt, ihn gehen zu lassen, denn er ist der einzige, der Prinzessin Irene sicher eskortieren kann. Der Khan hat die Prinzessin einem seiner Statthalter in Persien versprochen. Marcos Leben ist in Gefahr, es werden Anschläge auf ihn geplant. Einige der mongolischen Fürsten sind verärgert über die Gunst, die Kublai Khan ihm erwiesen hat, und manche von ihnen schmieden
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Mordpläne. Eine Ihrer Möglichkeiten wäre, dafür zu sorgen, daß Marco Polo nicht getötet wird, bevor er Peking verlassen kann.« »Moment mal, bitte«, unterbrach Mack. »Er hat aber doch Peking verlassen. Er wurde nicht getötet.« »Ja, aber das geschah in der Vergangenheit, dies ist die Gegenwart. Alles geschieht wieder und wieder, und es muß nicht immer auf dieselbe Weise ablaufen, denn selbst wenn sich die Dinge wiederholen, so geschehen sie doch jetzt auch zum ersten Mal.« »Aber wenn sich der Ablauf diesmal ändert«, wandte Mack ein, »was hat das dann für Auswirkungen auf die Geschehnisse unserer eigenen Zeit?« »Darüber brauchen Sie sich keine Gedanken machen«, sagte Mephistopheles. »Stellen Sie sich nur vor, dies wäre ein Teil eines großen Spiels. Sie wurden hergebracht und mit einem winzigen Augenblick an Zeit ausgestattet, in dem Sie die Wahl zwischen drei verschiedenen Möglichkeiten haben. Wir werden sehen, welchen Einfluß Ihre Auswahl auf die Zukunft hat, sei er nun gut oder schlecht.« Mack war verwirrt. »Nein«, sagte er kopfschüttelnd. »Das ergibt keinen Sinn. Warum sollte ich Marco Polo helfen müssen? Er hat doch bereits alle Anschläge schadlos überstanden, die jemals auf sein Leben ausgeführt worden sind.« »Sie scheinen mich nicht zu verstehen«, sagte Mephistopheles mit angestrengter Miene. »Jetzt, in diesem Augenblick, in dem Sie sich hier befinden, geschieht das alles zum ersten Mal. Der Ausgang ist noch vollkommen offen. Wer weiß, wie viele Male das Leben des Marco Polo sich schon wiederholt hat. Die Geschichte der Erde gleicht einem historischen Theater. Sie ist wie
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die Commedia dell'arte, in der fast nichts festgelegt ist, bis auf die Besetzung und die Maske. Sie versammeln sich jeden Abend für ihr Spiel, und die Anfangssituation ist immer die gleiche, aber der Ablauf kann sich ändern, und manchmal nimmt er eine unerwartete Wendung.« »Beeinflußt denn so eine Änderung nicht den weiteren Verlauf der Geschichte?« »Wie wollen Sie denn wissen, was der weitere Verlauf der Geschichte sein wird, solange Sie in ihn eingebunden sind? Davon abgesehen ist diese ganze Sache zwar todernst, aber dennoch nur ein Spiel. Nun, zumindest für uns ist es ein Spiel. Sie sollten es lieber weiterhin ernst nehmen, andernfalls werden Sie es bereuen.« »Welche anderen Möglichkeiten außer der Rettung von Marco Polo gibt es für mich?« »Da wäre die Prinzessin Irene. Sie kommt aus einem fernen Land, und der Khan hat sie mit einem seiner persischen Statthalter verlobt. Aber wenn sie einen anderen heiraten würde, dann hätte auch das einen Einfluß auf den Geschichtsverlauf. Sie könnten sie dazu bringen, jemand anderen zu heiraten.« »Was geschah mit dem Mann, den sie damals wirklich geheiratet hat?« »Das ist ein Teil der Mephistopheles unwirsch.
Zukunft«,
wiederholte
»Schon gut«, beschwichtigte Mack, dem allmählich aufging, daß er keine klareren Auskünfte von diesem aufgeblasenen Dämon bekommen würde. »Was ist die dritte Möglichkeit?« »Kublai Khan besitzt ein magisches Zepter, das dem mongolischen Heer Glück, seinen Gegnern aber Unglück bringt. Dazu gehören auch die Länder des Westens,
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denen der Khan feindlich gesonnen ist. Sie können das Zepter stehlen.« »So etwas Ähnliches habe ich schon beim letzten Mal versucht.« »Dies ist aber nicht das letzte Mal, vergessen Sie es doch einfach. Jetzt ist alles wieder anders. Also, falls Sie nun bereit sind, werde ich den Mantel der Unsichtbarkeit von uns nehmen und Sie können anfangen.« »Nein, warten Sie! Wie erkläre ich meine Anwesenheit hier?« fragte Mack. Ganz ohne Zweifel hatte er aus den Erfahrungen seines letzten Abenteuers seine Lehren gezogen. Mephistopheles dachte einen Moment nach. »Erzählen Sie ihnen, Sie seien ein Gesandter aus Ophir.« »Und was ist Ophir?« »Ophir«, erklärte Mephistopheles, »ist ein Ort, von dem im Alten Testament die Rede ist. Von dort soll König Salomon seine Reichtümer geholt haben, sein Gold, sein Silber, sein Elfenbein, sogar seine Affen und Pfauen.« »Wo liegt es?« »Das weiß niemand so genau. Einer sucht es in Ostafrika, der nächste im Orient, in Abessinien oder Arabien. Auf jeden Fall können wir sicher sein, daß Marco Polo nicht dort war, sonst hätte er es wohl in seinen ausufernden und selbstgefälligen Reiseberichten erwähnt. Sie können sich also gefahrlos als ein Botschafter Ophirs ausgeben, denn es gibt niemanden, der Sie der Lüge überführen könnte.« »Gut, dann bin ich also ein ophirianischer Botschafter. Oder ophirisch, ophiresisch?«
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»Wie es Ihnen gefällt«, sagte ungeduldig. »Sind Sie jetzt fertig?«
Mephistopheles
»Nein! Da gibt es noch etwas. Wie steht es mit meiner Kleidung?« »Sehen Sie sich doch an.« Mack tat, wie ihm geheißen. Offensichtlich hatte der Dämon nicht nur sich selbst und Marguerite neu eingekleidet, sondern auch ihm enganliegende schwarz weiße Hosen, eine wollgefütterte Jacke und eine Kappe mit einer Feder verpaßt. Also war auch das geregelt. Dennoch hatte Mack das Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Mephistopheles hatte bereits die Hände erhoben und würde gleich verschwunden sein, als es ihm doch noch einfiel. »Warten Sie! Die Sprache! Wie kann ich mit den Leuten reden?« »Wie bitte?« fragte Mephistopheles konsterniert. »Wenn sie nicht deutsch oder französisch sprechen, bin ich geliefert.« »So«, knurrte Mephistopheles. »Aber, Doktor Faust, Sie sind doch auch als Sprachgelehrter bekannt.« »Sie wissen doch, wie das ist«, sagte Mack. »Die Leute übertreiben. Wie auch immer, es ist lange her, daß ich mich mit Sprachen beschäftigt habe. Ich brauche einfach eine Auffrischung.« »Nun gut. Ich werde Ihnen einen Sprachzauber geben, mit dem Sie fähig sein werden, alles zu verstehen, was irgend jemand auf dieser Welt sagt. Aber gehen Sie vorsichtig damit um, dieser Zauber ist nicht dazu gedacht, in der Öffentlichkeit verbreitet zu werden.« »Ich werde das berücksichtigen.«
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»Das hoffe ich«, sagte Mephistopheles und machte eine beschwörende Geste. »Fertig. Sie werden ihn nach dem Wettkampf zurückgeben müssen.« »Und was ist mit mir?« fragte Marguerite. »Du bist nichts weiter als seine Begleiterin«, antwortete Mephistopheles. »Der Zauber gilt nicht für dich. Kann es jetzt endlich losgehen?« Mack nickte unbehaglich, und der Dämon verschwand, ausnahmsweise ohne Feuer und Rauch; er löste sich schlicht und einfach in Luft auf. Im gleichen Moment stieß Mack mit einem kleinen gedrungenen Mann zusammen, dessen Gesicht von einem wuchernden Bart umrahmt wurde. »Ogrungi«, sagte der Fremde. »Nein, nein. Es war mein Fehler«, antwortete Mack ganz selbstverständlich, ehe er noch begriffen hatte, daß er den Mann nicht nur verstanden, sondern ihm auch ohne Schwierigkeiten geantwortet hatte. Der Mann ging weiter, und Mack wandte sich Marguerite zu. »Ich wünschte, Mephistopheles wäre nicht ganz so sehr von sich überzeugt«, sagte er. »Ich finde wirklich, er könnte diese Dinge besser vorbereiten. So, nun laß uns überlegen! Wie lautete meine erste Alternative?« In diesem Moment wurde er unterbrochen. »Hey, ihr da!« rief eine Stimme, die zu einem großen Krieger in einer lackierten Rüstung gehörte, der mit einem gewaltigen Schwert, einem Schild und einer Lanze bewaffnet war. »Das kommt mir bekannt vor«, murmelte Mack Marguerite zu. Dann wandte er sich an den Krieger. »Ja?« »Ich habe euch hier noch nie gesehen. Wer seid ihr?«
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»Ich bin«, sagte Mack, »der Gesandte aus Ophir und wünsche, deinen Khan zu sprechen. Ach ja, dies ist meine Begleiterin, Marguerite.« »Folgt mir!« befahl der Krieger. So gingen sie also mit einigen Schritten Abstand hinter dem Mann her, vor dem die Leute geradezu unterwürfig auswichen. Sie durchquerten das Gewimmel auf dem großen Marktplatz, der am Weg zum Palast des Khans lag. Eine unglaubliche Vielfalt an Gerüchen lag in der Luft, die meisten typisch für chinesisch. Aber auch der Geruch indischen Currys und Hibiskusduft, wie man ihn von der Südsee her kennt, drangen in ihre Nasen. Während sie die Marktstände passierten, war die Luft angefüllt von den Aromen verschiedenster Gewürze: Gepreßte Algen, die die Leute als Imbiß aßen, verbreiteten ihren klinisch-septischen Dunst; Mack unterschied die reinlichen Düfte von Bambus und Sandelholz von dem eher aufdringlichen Odeur von Knoblauch, Holzkohle, Reiswein und Gewürzessig. Er sah Körbe mit gegrilltem Schweinefleisch und Platten voller Hühnchen. Überall gab es Peking-Ente, meist in Verbindung mit der allgegenwärtigen Peking-Soße. Leute mit gelblich-brauner Hautfarbe und glattem schwarzen Haar starrten innen nach und bedachten sie mit allerlei Bemerkungen. Dank des Sprachzaubers, den Mephistopheles ihm gegeben hatte, war Mack in der Lage, ihre Gespräche zu verstehen. »Martha, schau dir das an!« »Was denn, Heinz?« »Sieht aus wie Fremde.« »Komische Hautfarbe!« »Und so häßliche Augen.«
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»Und sieh dir seine Jacke an! Niemand hier trägt solche Samtjacken.« »Schau dir die Frau an mit ihren hohen Absätzen! So etwas würde hier keine Frau anziehen. Sie sind so vulgär, da kann man sich ja vorstellen, von welcher Sorte die sind.« »Ja, wirklich.« Sie redeten viel und nicht unbedingt das Netteste, aber sie waren ganz friedlich; von ihnen drohte keine Gefahr. Mack, Marguerite und der Krieger verließen den Markt und seine Gerüche und kamen nun in eine zumindest für den Geruchssinn neutralere Gegend. Vor ihnen lag eine prächtige Straße, an deren anderer Seite sich der herrschaftliche Palast befand. Sie überquerten die Straße und liefen über einen Hof auf ein großes Tor zu. Das Tor war geöffnet, aber davor stand ein Wachsoldat in lackierter Rüstung, bewaffnet mit Schwert und Schild, der in befehlsgewohntem Ton fragte: »Wer da?« »Ein namenloser Soldat«, antwortete der mongolische Krieger. »Ich habe den Gesandten von Ophir und seine Begleiterin bei mir.« »Das paßt ja wunderbar!« sagte der Wachsoldat. »Kublai Khan und sein gesamter Hofstaat sind drinnen versammelt. Sie sind mit ihren geschäftlichen Angelegenheiten fertig und haben Langeweile. Sie werden über eine Abwechslung erfreut sein, die ihnen die Zeit bis zum Essen vertreibt. Du kannst mit deinen ehrbaren Gästen passieren, namenloser Krieger.« Das Innere des Palastes war von einer unbeschreiblichen Pracht, die bereits den Versuch einer Darstellung sinnlos werden ließ. Sie gingen die Korridore entlang, vorbei an Wandbehängen mit chinesischen
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Gedichten, die davon erzählten, wie tugendhaft es sei, Wasser zu betrachten. Schließlich trennte sie von dem Audienzsaal nur noch eine große, reichverzierte, ovale Bronzetür, die sich bei ihrer Ankunft wie von selbst öffnete. »Wen darf ich melden?« fragte ein zierlicher Mohr. »Den Gesandten von Ophir und seine Begleiterin«, sagte Mack. Überall in dem großen Raum befanden sich Halter, in denen neuartige, aus Frankreich importierte Fackeln steckten und ihr merkwürdig kaltes, erbarmungsloses Licht verbreiteten. In diesem Licht erkannte Mack auf einer Empore vor ihm eine Gruppe edel gekleideter Leute. In ihrer Mitte, etwas erhöht auf einem Sockel, thronte ein absolut mittelmäßiger Mann: mittelgroß, mittleres Alter, durchschnittliches Aussehen. Selbst sein Teint lag auf der Mitte zwischen hell und dunkel. Er hatte einen schmalen Bart und trug einen Turban, der von einem ungeheuer großen Diamanten gekrönt wurde. Mack wußte ohne den geringsten Zweifel, daß dieser Mann Kublai Khan war. Rund um den Khan hatten sich die verschiedensten Leute versammelt. Da waren Würdenträger, Tanten und Onkel, Brüder und Schwestern und einige andere Verwandte. Außerdem hielten sich in dem großen Raum etliche Höflinge auf. Auf einem kleineren und etwas niedrigerem Thron neben dem Khan saß eine blasse blonde Frau, von der Mack annahm, daß es die Prinzessin Irene war. Vor jeder Wand hatten Bogenschützen Aufstellung genommen. Sie hielten ihre Bogen schußbereit in den Händen, die Pfeile waren angelegt und die Sehnen halb gespannt. Voller Mißtrauen verfolgten sie jede Bewegung der Anwesenden. Etwas entfernt von den anderen Personen saß an einem kleinen Tisch ein verhutzelter alter Mann in einer sternverzierten
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Robe, der ohne Zweifel der Hofzauberer des Khans war. Ganz in seiner Nähe stand ein junger Mann mit europäischen Zügen. Er war mit edlen Beinkleidern und einem ebensolchen Wams ausstaffiert, und seinen Kopf zierte eine Filzkappe mit einer Falkenfeder. Dieser Mann war Marco Polo. »So, von Ophir seid Ihr?« fragte der Khan. Mack bemerkte das Zepter in seiner Hand und erinnerte sich an Mephistopheles' Worte. Es schien zwar nichts Besonderes an dem Zepter zu sein – nichts, das irgendwie magisch wirkte –, aber andererseits konnte er wohl davon ausgehen, daß die Auskünfte von Mephistopheles verläßlich waren. Der Khan fuhr fort: »Ihr seid der erste Ophirer, den wir zu Gesicht bekommen. Oder heißt es Ophiraner?« »Ganz, wie Eure Majestät belieben«, antwortete Mack. »Seht her, Marco!« sagte Kublai. »Er ist auch Europäer!« Der junge Mann mit der Falkenfeder blickte mit finsterer Miene auf. »Ich kenne ihn nicht. Wie ist Euer Name, Fremder, und woher kommt Ihr?« »Ich bin Doktor Johann Faust«, entgegnete Mack. »Gebürtig komme ich aus Wittenberg in Sachsen, aber ich lebe schon seit einigen Jahren in Ophir.« »Wir kennen in Europa keine Ophiraner«, sagte Marco. »Das wundert mich nicht. Wir sind kein besonders reisefreudiges Volk, wir bleiben lieber zu Hause und schließlich sind wir auch keine große Handelsnation mehr, wie es Eure Heimat Venedig ist, Marco.« »Ihr kennt meinen Namen?« »Aber sicher. Euer Ruhm eilt Euch voraus, selbst bis nach Ophir.«
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Marco war bemüht, seinen ablehnenden Gesichtsausdruck beizubehalten, doch er konnte nicht verbergen, daß ihm Macks Worte geschmeichelt hatten. »Nun, sagt mir, was sind die Handelsgüter Eurer Heimat?« »Oh, wir exportieren die verschiedensten Waren«, antwortete Mack, »aber vor allem anderen lebt unsere Wirtschaft von dem Handel mit Gold, Silber, Elfenbein, Affen und Pfauen.« »Affen! Das ist interessant«, sagte Marco. »Der große Khan ist gerade auf der Suche nach einem guten Lieferanten.« »Wir liefern beste Auswahl und Qualität. Ihr könnt jede Rasse haben, die Euch gefällt. Große oder kleine Affen, bezaubernde Zwergäffchen, riesige Gorillas, Orang-Utans mit leuchtend farbigem Fell und viele andere. Ich bin sicher, wir können jeden Eurer Wünsche erfüllen.« »Das ist wunderbar. Ich werde sicher darauf zurückkommen. Wie steht es mit den Pfauen? Der große Khan wäre gewiß auch an ihnen interessiert, vorausgesetzt, Eure Preise sind angemessen.« »Reden wir doch darüber. Ich werde Euch einen fairen Preis machen, darauf könnt Ihr Euch verlassen.« »Ophir, ja?« ließ sich der Hofzauberer überraschend vernehmen. »Die Stadt in der Gegend von Sheba?« »Richtig, das ist meine Heimat.« »Ich werde das prüfen«, sagte der Zauberer. »Nun, ich bin sicher, Ihr werdet keine Beanstandungen haben.« Kublai Khan, der das vorangegangene Gespräch schweigend verfolgt hatte, wandte sich nun wieder an
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Mack. »Seid mir an meinem Hof willkommen, Doktor Faust, Botschafter von Ophir. Wir werden zu einem späteren Zeitpunkt wünschen, Euch zu sprechen, denn – das sollte bekannt sein – wir lieben es, Geschichten aus fernen Ländern zu hören. Unser lieber Sohn Marco ergötzt uns oft mit seinen Erzählungen, doch es kann niemals zuviel davon geben.« »Ich werde Eurer Majestät gern zu Diensten sein«, sagte Mack und sah, daß Marcos Gesichtsausdruck nun nicht mehr nur ablehnend, sondern äußerst verärgert war. Wie es schien, hatte er sich bisher keine Freunde am Hof des Khans gemacht. »Und was ist mit dieser Frau?« fragte Kublai Khan. »Er spricht zu dir«, zischte Mack Marguerite zu. »Was sagt er?« fragte sie. »Ich kann kein Wort verstehen.« »Ich werde für dich sprechen«, sagte Mack und wandte sich an Kublai. »Dies ist Marguerite, sie begleitet mich. Leider ist sie Eurer Sprache nicht mächtig.« »Wirklich nicht? Das ist traurig, denn wir wünschen, auch ihre Geschichte zu hören.« »Ich werde gern für Euch übersetzen«, sagte Mack, »obwohl das eigentlich eine Sünde ist, da Marguerite selbst eine wunderbare Erzählerin ist.« »Das wird nicht nötig sein«, widersprach der Khan. »Glücklicherweise haben wir gerade erst ein Schnell-LernZentrum für Fremde eingerichtet, die unsere Sprache nicht sprechen. Ihr beherrscht Mongolisch perfekt, mein lieber Faust.« »Habt Dank, Majestät«, sagte Mack Verbeugung. »Ich hatte schon immer ausgeprägtes Sprachgefühl.«
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mit ein
einer recht
»Aber die Frau wird es lernen müssen. Erklärt ihr, daß sie zum Unterricht gehen muß. Sie wird sofort beginnen und erst zurückkehren, wenn sie mit uns sprechen kann.« Mack tat wie ihm geheißen. »Schau, es tut mir leid, aber der Khan verlangt, daß du seine Sprache lernst. Sie werden dich gleich zum Unterricht bringen.« Marguerite stöhnte auf. »O nein. Ich will nicht wieder zur Schule.« »Ich verstehe dich ja, aber ich kann nichts dagegen tun.« »Verdammt!« fluchte Marguerite. »Das macht wirklich keinen Spaß!« Dann aber folgte sie ohne weiteres Gezeter den Dienerinnen, die sie fortbrachten.
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KAPITEL 2 Erst während er dem Diener Wong folgte, der die Anweisung hatte, ihn zu seinem Quartier zu geleiten, wurde Mack allmählich die Fremdartigkeit seiner Umgebung bewußt. Er bemerkte das Flackern von Wongs Laterne, für das es keine Ursache zu geben schien. Die Flamme war nicht dem geringsten Luftzug ausgesetzt, dennoch neigte sie sich immer wieder zur Seite. Auf ihrem Weg durch die verlassenen Korridore kamen sie an einem abzweigenden Gang vorbei, der mit einer dicken, leuchtend roten Kordel abgesperrt war, die zu beiden Seiten an goldenen Ringen an der Wand befestigt war. »Was befindet sich dort?« fragte Mack. »Das ist der Geisterflügel«, erklärte Wong. »Er ist den Geistern verstorbener Poeten gewidmet. Kein Lebender darf ihn betreten. Nur der große Khan selbst und die Diener der Künste dürfen mit ihren Opfergaben hinein.« »Was für Opfergaben?« »Schöne bunte Steine, Seemuscheln, Moose und andere Dinge, die den Geistern toter Erzähler gefallen mögen.« Wong erzählte ihm, daß es nicht viele Monarchen gebe, die so gastfreundlich seien wie der Khan, und keinen einzigen, der so begierig sei, mit Fremden zu sprechen und ihre Geschichten zu erfahren. Sein Interesse an fremden Erzählungen unterschied den Khan deutlich von anderen mongolischen Herrschern. Er ließ die Menschen überall auf der Welt wissen, daß sie ihn besuchen und ihm von sich und ihrer Heimat, ihrem Leben und ihren Gebräuchen erzählen sollten. Selbst ihre Familiengeschichten wollte er hören – je ausschweifender, desto lieber. Kublai Khan hatte einen
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ganzen Flügel seines Palastes nur für Besucher aus der ganzen Welt reserviert. Man konnte mit Fug und Recht behaupten, daß dies das erste und einzige First-ClassHotel der Erde war, an dem die Menschen ganz ohne Reservierung und Geld willkommen waren. Alles, was sie mitbringen mußten, war eine Geschichte für den Khan. Im Palast befanden sich nicht nur Edelleute und Botschafter, sondern auch Bettler. Allerdings keine normalen Bettler. Der Khan war der Ansicht, daß ein Bettler jemand war, der keine Geschichten erzählen konnte. Alle Bettler im Palast Kublai Khans waren Menschen, die aus dem einen oder anderen Grund nichts mehr zu erzählen hatten. Ihre Unterstützung durch den Khan stellte einen Akt öffentlichkeitswirksamer Wohltätigkeit dar. Neben den luxuriösen Gemächern für Besucher aus aller Herren Länder gab es tatsächlich einen ganzen Flügel, der nur für die Geister toter Dichter und Erzähler reserviert war. Der Khan glaubte, daß die Geister dieser Menschen unsterblich seien und nach dem Tod ihrer irdischen Leiber in einem himmlischen Königreich weiterlebten, das jenseitige Mächte allein für sie errichtet hatten. Manchmal, so glaubte der Khan, kamen diese Geister zur Erde zurück und wanderten auf ihr umher. Schließlich brauchten Poeten Inspirationen, und die bekamen sie, wenn sie die Orte ihrer früheren Triumphe und Niederlagen aufsuchten. Und während ihrer Wanderschaft durch ihre alte Heimat konnten sie von Zeit zu Zeit empfänglich für äußere Einflüsse sein. Zu diesen Zeiten war es möglich, die Geister mit einem bestimmten Ritual und ausgewählten Geschenken zu erreichen und ihnen Freude zu bereiten. Wenn dies gelang, würden sie den Palast des Khans besuchen, weil sie wüßten, daß sie willkommen wären. Einmal angekommen, würden sie all die Gaben entdecken, die dort vorbereitet lagen, um das Herz eines Dichters zu
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erfreuen: weiche Pelze, glitzernde Spiegelscherben, Bernstein, alte Silbermünzen, bunte Kieselsteine und viele andere Dinge, die die Geister toter Dichter ersehnen mochten und die der Khan für sie sammelte und in diesem besonderen Flügel seines Palastes darbot. In jenen Räumen wurde immer Weihrauch verbrannt und die Kerzen stets erneuert, ehe sie erlöschen konnten. Und wenn ein Geist hier vorbeikam und eine Rast machte, während derer er sich an all diesen Dingen erfreuen konnte, würde er vielleicht als Dank für die Gastfreundschaft einen Traum im Kopf des Khans hinterlassen, wenn er weiterzog. Wie zur Bestätigung seines Glaubens hatte der Khan viele erinnernswerte Träume. Die Geister, die ihn besuchten, hatten ihm von wilden weißen Walen erzählt, von Intrigen aus dem Forum Romanum und von großen Armeen, die über gefrorenes Land zogen. Er hatte davon geträumt, den rechten Weg verloren zu haben und durch einen großen dunklen Wald zu reisen. Er hatte geträumt, die Wahl zwischen einer edlen Dame und einem Tiger zu haben. Tag und Nacht hatte er einen wahren Reichtum an Geschichten und Träumen angehäuft, so lange und so viele, daß er sie kaum noch zu unterscheiden vermochte. All dies sollte ihm helfen, seinen eigenen, geheimen Traum wahr werden zu lassen – ein Lebenstraum, in dem er sich wünschte, eines Tages, nach seinem irdischen Tod, auf ewig den Erzählungen jener Geister lauschen zu dürfen. Macks Domizil war so luxuriös ausgestattet, wie man es in den Ländern des Westens auch in jener Zeit kaum kannte. Der Khan hatte Sinn für allerlei Finessen. Die Diener, die Mack Speisen und Getränke servierten und heißes Wasser für ein Bad besorgten, arbeiteten so umsichtig und leise, daß er sie kaum bemerkte. Trotz ihrer Anwesenheit war er absolut ungestört. Mack entging der Reiz dieses Luxus nicht, dennoch konnte er
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sich nicht recht daran erfreuen, denn er sorgte sich um seine Aufgabe. Schließlich war er kein Tourist. Er war hier, um zu arbeiten. Marco Polo schien ihm der richtige Ansatzpunkt für sein weiteres Vorgehen zu sein. Marcos Leben zu schützen konnte kaum ein Fehler sein. Wie er es auch betrachtete, er konnte keinen Haken erkennen. Eines Menschen Leben zu retten, dürfte einem nun einmal kaum verübelt werden. Hingegen schien ihm die Möglichkeit, der Prinzessin Irene einen anderen Bräutigam zu besorgen, doch recht problematisch zu sein. Noch unangenehmer wäre seine dritte Option, das Zepter des Kublai Khan. Mack war nicht entgangen, wie umfangreich der Khan beschützt wurde. Die mongolischen Bogenschützen, die sich ständig in seiner Nähe aufhielten, würden jeden töten, der auch nur im geringsten gefährlich wirken könnte. Mack war sich sicher, daß es keinen Weg gab, nahe genug an den Khan heranzukommen, um dessen Zepter zu stehlen – es sei denn, er wollte sich von Dutzenden mongolischer Pfeile durchbohren lassen. Blieb also nur Marco Polo. »Sage mir«, wandte Mack sich an Wong, »wohnt Marco Polo auch hier im Palast?« »Er bewohnt eine Zimmerflucht in diesem Flügel«, antwortete Wong. »Aber er hat auch einige schöne Villen in der Stadt, Gehöfte außerhalb, Lustschlösser und andere Gebäude.« »Mich interessiert nicht, was er besitzt«, unterbrach Mack. »Ich will lediglich wissen, wo er sich aufhält.« »Augenblicklich befindet er sich im großen Bankettsaal. Er leitet die Vorbereitungen für das große Fest zu Ehren des Khans heute abend.«
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»Sei so gut, und führe mich dorthin.«
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KAPITEL 3 In dem großen Bankettsaal herrschte reges Treiben. Arbeiter befestigten Luftschlangen und andere Dekorationen aus Papier, hängten Fahnen und Wimpel auf und verteilten hier und dort allerlei festliche Kinkerlitzchen. Der Raum war sehr hoch, und seine Decke ruhte auf acht Säulen, die jeweils auf einem großen steinernen Quader standen, dessen vier Ecken viel Platz für Festschmuck boten. Die Dekoration bestand vorwiegend aus abgetrennten Köpfen. An jeder Ecke der Quader wurden menschliche Köpfe aufgetürmt. Manche von ihnen bluteten noch, andere waren bereits ausgetrocknet, manche mumifiziert, wieder andere modernd, verwesend oder ganz einfach verfault. In der Mitte des Raumes stand ein großes Faß voller Blut. Zwei Kuttenträger rührten ständig darin herum, um das Gerinnen zu verhindern. Marco stand gleich daneben, die Hände in die Hüften gestemmt, und überwachte die Plazierung der Köpfe. Mack blieb einen Augenblick stehen, um den Anblick zu verdauen, ehe er sich zu Marco begab. »Sieht nett aus«, kommentierte er. »Danke«, sagte Marco, »aber mir gefällt das so noch lange nicht.« Er bellte Befehle an die Männer, die auf Leitern damit beschäftigt waren, die Köpfe aufzustapeln. »Das soll eine gleichmäßige Pyramide werden, kein schlaffer Haufen. Seht zu, daß das ordentlich wird, ich will nicht, daß diese Köpfe hier einfach nur herumliegen! Höher, sie müssen höher werden! Ich will Pyramiden aus Köpfen, die mindestens zwei Meter hoch sind, und zwar an jeder Ecke! Seht zu, daß das irgendwie hält! Besorgt Euch
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Stützmaterial oder Bindfaden oder was weiß ich, Hauptsache, das Ganze bricht nicht zusammen. Und nehmt diese verdorrten Schädel da raus, die sehen ja aus, als lägen sie schon seit Jahrzehnten hier herum! Das wird hier kein Tribut an die Vergangenheit! Wir feiern die heutigen und zukünftigen Eroberungen des großen Khan! Ich will frisch abgeschlagene Köpfe, bluten müssen sie, und wenn sie nicht mehr bluten, dann helft eben mit dem Blut aus dem Faß nach!« Mack und Marco sahen den Arbeiten eine Weile zu. Die Arbeiter bemühten sich, Marcos Anweisungen nachzukommen. »Die Anordnung sieht jetzt noch besser aus«, ließ Mack einen weiteren Kommentar vernehmen. »Meint Ihr wirklich?« »Aber ja. Ihr Venezianer habt ein Auge für solche Dinge.« »Danke. Also, Ihr seid aus Ophir?« »Ja«, bestätigte Mack. »Aber reden wir nicht von mir. Ich wollte Euch nur erzählen, wie es mich freut, Euch einmal kennenzulernen. Ich bewundere Euch, Marco. Es ist wirklich eine Ehre, den größten Erzähler unserer Zeit, vielleicht sogar aller Zeiten, zu treffen.« »Ihr seid ein geschickter Schmeichler. Und ein Erzähler noch dazu. Oder was ist Ophir anderes als eine Legende aus alter Zeit?« »Ist das nicht unerheblich? Und außerdem – wer interessiert sich schon für Ophir? Außer Elfenbein, Pfauen und Affen gibt es darüber nicht viel zu erzählen.« Marco verzog die Lippen zu einem dünnen, gefährlichen Lächeln. »Nun, das hoffe ich. An diesem Hof ist kein Platz für mehr als einen Geschichtenerzähler.«
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»Ihr seid der Erzähler hier«, beschwichtigte Mack. »Tatsächlich bin ich Euretwegen hier. Ich wollte Euch um eine Widmung bitten.« »Ihr habt eine Ausgabe meines Buches?« »Es ist mein liebster Besitz. Nun, das war es zumindest, bis diebische Araber in der Tartarei es mir eines Nachts gestohlen haben.« »Das klingt nach einem Märchen.« »Das ist es nicht«, sagte Mack vorsichtig. Er hatte nicht vergessen, wer hier der große Erzähler war. »Tatsächlich war es ein absolut banaler Diebstahl. Nur für mich war es ein großes Pech, denn nun habe ich kein Buch mehr, in das Ihr mir eine Widmung schreiben könntet. Aber vielleicht könnt Ihr sie mir auf ein Blatt Papier notieren, das ich dann später einkleben werde, sobald ich ein neues Exemplar Eures Buches besitze.« »Möglicherweise habe ich noch eines«, sagte Marco gelangweilt. »Ich denke, ich könnte es Euch zum Selbstkostenpreis überlassen.« »Eure einzige Ausgabe. Nein, das kann ich nicht annehmen.« »Nun, tatsächlich habe ich noch einige davon.« »Es wäre eine Ehre für mich, wenn Ihr mir eine Ausgabe widmen würdet. Und es wäre mir eine Ehre, Eure Person vor allem Übel zu schützen.« »Was meint Ihr damit?« fragte Marco mißtrauisch. »Nun, ein Mann, der so berühmt und begütert ist, wie Ihr es seid, der hat überall nicht nur Freunde. Vor den anderen, Euren Feinden, würde ich Euch wirklich gern schützen.«
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»Wenn es tatsächlich Euer Wunsch ist, mir einen Dienst zu erweisen«, sagte Marco, »dann wüßte ich etwas, das Ihr für mich tun könntet.« »Sagt es mir nur!« »Als ein Botschafter Ophirs werdet Ihr verschiedene Sprachen beherrschen.« »Das ist die Voraussetzung für ein solches Amt«, bestätigte Mack. »Ich weiß bereits, daß Ihr Deutsch, Französisch, Mongolisch und Persisch sprecht.« »Das ist absolut notwendig.« »Wie steht es mit Türkisch, Usbekisch, Turkmenisch, Tadschikisch und Mandarin?« »Ich kann mich verständigen.« »Und Paschtu?« »Ich bin nicht sicher«, sagte Mack. »Wie hört es sich an?« Marco spitzte auf ungewöhnliche Art seine Lippen und formulierte: »So hört sich ein Satz in Paschtu an.« »Ja, das kann ich verstehen.« »Wunderbar. Die Prinzessin Irene spricht nur Paschtu. Es ist ihr nie gelungen, Mongolisch zu lernen, und sie hat niemanden, mit dem sie sich unterhalten kann.« »Außer Euch, nehme ich an.« »Nein, leider. Der einzige Satz, den ich in dieser Sprache beherrsche, ist: ›So hört sich ein Satz in Paschtu an.‹ Ich hatte bisher keine Zeit, mich näher damit zu beschäftigen, versteht Ihr?«
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»Das ist sehr schade.« »Worum ich Euch bitten möchte, ist, zu der Prinzessin zu gehen und sie mit etwas Konversation zu erfreuen. Es wird ihr wohltun, sich wieder einmal in ihrer Sprache mit jemandem unterhalten zu können, und sie wird sicher auch an den Gütern Ophirs interessiert sein.« »Ich werde ihre Zeit nicht mit Handelsgeschwätz verschwenden«, sagte Mack. »Ophir hat nicht mehr zu bieten als andere Orte auch. Aber wenn Ihr denkt, es würde der Prinzessin gefallen, mit mir zu plaudern, so könnt Ihr auf mich zählen. Ich werde gleich zu ihr gehen.« Mack verließ den Bankettsaal und gratulierte sich zu seinem Erfolg. Er war überrascht, wie leicht es gelungen war, in die innersten Kreise um Kublai Khan vorzudringen.
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KAPITEL 4 Mack dankte dem Schicksal, daß es ihn mit einem so hervorragenden Orientierungssinn ausgestattet hatte, denn ohne diesen hätte er sich in dem monumentalen Gebäude, das in seiner verwinkelten Bauweise einem Labyrinth glich, vollkommen verirrt. Er ging endlose Flure hinab, alle frisch gebohnert und poliert, schritt Rampen hinauf, die verlassen in der Sonne glänzten, und erklomm Treppen, deren Baumaterial sanft schimmerte. Alle Geräusche in diesen Fluren und Hallen klangen irgendwie gedämpft. Hier und da hing ein Vogelbauer von der hohen Decke herab. Katzen, Hunde und Ozelots streiften durch die menschenleeren Korridore. Manchmal konnte Mack das entfernte Spiel einer hochtönenden Flöte hören, die sich gegen das tiefe Donnern einer Trommel zu stemmen schien. Zweimal begegneten ihm Händler, die Lepjoschka – ein mit Ziegenmilch gebackenes Fladenbrot – und mongolische Schaschliks lieferten. Der Khan hatte überall im Palast Feuerstellen einrichten lassen, auf denen die mit Hammelfleisch bestückten Spieße gebraten wurden – als Imbiß für diejenigen Gäste, die auf ihrer langwierigen Suche nach den Speiseräumen in dem enormen Gebäude manchmal ein Heißhunger befiel. In diesem Teil des Palastes gab es keine Fenster. Statt dessen waren in unregelmäßigen Abständen plastisch wirkende Bilder mit Naturszenarien angebracht – Eichhörnchen, die auf Birken herumturnten, sanft dahinplätschernde Flüsse mit badenden Ottern und Dschungelszenen mit Affen. Auf diese Weise fühlte man sich der Außenwelt nicht gar so fern, obwohl es sich nur um wenig wirklichkeitsgetreue Bilder handelte. Hier und da waren die Gänge unterbrochen und mündeten unter freiem Himmel auf mehr oder weniger großen
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Innenhöfen. Manche waren sehr klein, nur ein Flecken Grün mit einem zierlichen Schrein darauf, andere hatten eher die Größe eines mittleren Gartens. Mack hatte bereits diverse Korridore und Höfe durchquert, als er zu einem großen gepflasterten Platz kam, wo eine stattliche Zahl bewaffneter Männer mit Kampfübungen beschäftigt war. Die Kämpfer trugen Rüstungen, Schwerter, Schilde und Lanzen. Ausbilder mit roten Stirnbändern leiteten das Kampftraining und die Freiübungen, die Mack für außerordentlich ermüdend hielt. Er schob sich durch die Reihen der schwitzenden Männer, um den Gang auf der anderen Seite zu erreichen, der ihn zu den Räumen der Prinzessin fuhren würde. Es war ein bunter Haufen, den er zu passieren hatte. Die Kämpfer trugen Uniformen aus den verschiedensten Ländern. Ein Stimmengewirr aus etwa zwei Dutzend unterschiedlichen Sprachen lag über dem vollen Exerzierplatz, und Mack war dank Mephistopheles' Zauber in der Lage, sie alle zu verstehen. Die meisten Gespräche ignorierte er, denn die Unterhaltungen von Soldaten während ihrer Leibesübungen waren in keiner Sprache besonders interessant. Dennoch nahm plötzlich ein Gespräch seine Aufmerksamkeit gefangen, als er den Namen Marco Polo hörte. Nicht weit von ihm waren zwei Krieger mit Fechtübungen beschäftigt, und einer von ihnen hatte Marco erwähnt. Es waren bärtige Männer in Lederkleidung mit bronzener Plattenpanzerung. Sie trugen ihr Haar gefettet und in einer Weise frisiert, wie es die Phoenizier zu tun pflegten. Einer von ihnen hatte gesagt: »Was hast du mir über diesen Marco Polo erzählen wollen?« »Wir sollten das nicht antwortete der andere.
gerade
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hier
besprechen«,
»Mach dir keine Sorgen!« meinte der erste Mann. »Niemand außer uns beherrscht hier Aramäisch im Haifaer Dialekt. Sie werden uns nicht verstehen.« Es war tatsächlich eine schwierige und ungewöhnliche Sprache, aber der Sprachzauber von Mephistopheles umfaßte wirklich alle Sprachen und Dialekte, so daß Mack auch dieser Unterhaltung ohne Schwierigkeiten folgen konnte. Er verstand jedes Wort und jede Feinheit bis zum kleinsten Zungenschlag. Er unterbrach seinen Weg und kniete nieder, so als wolle er seinen Schuh zuschnüren, als der zweite Mann wieder das Wort ergriff: »Was ich dir erzählen wollte, war, daß die Zeit jetzt reif ist, unseren Plan in die Tat umzusetzen. Wir beide sind heute abend zum Wachdienst im Bankettsaal eingeteilt. Diese Gelegenheit müssen wir nutzen.« »Um ihn zu töten, richtig?« »So lautet die Anweisung des Potentators von Phoenizien, die mir vor einigen Tagen von einer Brieftaube überbracht wurde. Wir müssen ihn jetzt erledigen, ehe er Peking verlassen und noch mehr Verträge schließen kann, die die Stadt Tyrus weiter vom Handel isolieren.« »Lang lebe Tyrus!« rief der erste Mann aus. »Sei still, du Idiot, und halte dich heute abend bereit!« Damit wandten sich die beiden Krieger wieder mit neuer Kraft ihren Fechtübungen zu, und Mack hörte auf, seinen Stiefel zu schnüren. Er stand auf und verließ den Platz. Der Zufall schien ihm beständig zuzuarbeiten. Er hatte einen Mordplan gegen Marco Polo aufgedeckt. Er würde den Venezianer gleich nach seiner Unterhaltung mit der Prinzessin Irene von der Gefahr in Kenntnis setzen.
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KAPITEL
5
Prinzessin Irene hielt sich, wie es sich für eine Dame bei Hofe geziemte, in ihren Räumen auf und war erfreut, den Botschafter Ophirs zu empfangen. »Ihrr mußt värrstehn«, mühte sie sich einige Worte in gebrochenem Mongolisch ab, während sie Mack durch den Vorraum in eines ihrer Privatgemächer führte. »Ich frreuä mir übärr Eure Besuch, abärr spreche nur sährr wenig mongolisse Sprache.« »Das genau ist der Grund, warum ich Euch besuche, Prinzessin«, entgegnete Mack in fehlerlosem Paschtu. »Ich beherrsche Eure Muttersprache ein wenig, und ich dachte, Ihr würdet Euch an einer einfacheren Konversation erfreuen, mit der ich Euch gerne die Zeit bis zum Bankett vertreiben würde.« Die Prinzessin ließ ein überraschtes Schnaufen vernehmen. Ihre Muttersprache aus dem Mund dieses fremden Blondschopfes zu hören – noch dazu ohne jeglichen Akzent und mit absolut korrekter Aussprache und Betonung –, verwunderte sie noch mehr als der Anblick von blühenden Veilchen im Januarschnee, was sie bisher für den absoluten Höhepunkt an ungewöhnlichen Erfahrungen gehalten hatte. »Aber das ist ja meine Muttersprache!« rief sie entzückt aus. »Ihr sprecht sie wie ein Landsmann.« »Nein, nur ein bißchen, aber hoffentlich gut genug, daß es Euch erfreuen möge, Hoheit«, bemerkte Mack, wobei er den Konjunktiv einsetzte, als sei er damit aufgewachsen. »Wie wunderbar. Endlich muß ich mich einmal nicht mit diesem entsetzlichen Mongolisch abquälen«, sagte die Prinzessin. »Ihr müßt wissen, es ärgert mich immer
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wieder, wenn ich mich selbst als dummes Gänschen darstelle, obwohl ich doch sowohl in Ophiresischer Literatur als auch in der von Kush und Sheba graduiert habe.« »Ich selbst habe leider nicht viel von dem Zeug gelesen«, erzählte Mack, »obwohl ich weiß daß es wichtig wäre.« »Wichtig ist nur, daß Ihr mit mir sprechen könnt«, widersprach die Prinzessin. »Noch wichtiger ist lediglich, daß ich ebenso mit Euch zu sprechen vermag. Kommt, setzt Euch her, nehmt Euch etwas Feigenbrot und Palmwein und erzählt mir von Euch. Was führt Euch nach Peking?« Mack ließ sich auf einem niedrigen Diwan nieder, wobei er erst einen Haufen bunter Kissen zur Seite schieben mußte. Prinzessin Irene war eine große, bleiche Blondine mit abfallenden Schultern und Augen, die in einem verschwommenen Blaugrün leuchteten. Sie machte einen leicht hysterischen und affektierten Eindruck. Wenn sie sprach, gestikulierte sie so heftig, daß ihre Armreifen beständig aneinanderschlugen. Mack nahm sich eine Feige aus einer Schüssel, die in Reichweite neben dem Diwan stand, und kaute, wie um sich selbst zu beruhigen, darauf herum. »Man hat mich aus dem Land der hohen Fahnen hierher gebracht und entschieden, daß ich diesen Schah von Persien heiraten muß«, berichtete sie. »Haltet Ihr das für gerecht? Mein Papa hat mir versprochen, daß ich heiraten dürfe, wen immer ich wolle, aber dann hat er seine Meinung geändert, weil der große Khan nach einer Prinzessin aus meinem Geschlecht verlangte. Zuerst sollte ich einen Viguren heiraten, aber der wurde vergiftet.« »Im Adel dient eine Hochzeit oftmals dazu, einem Vertrag zusätzliche Stabilität zu verleihen«, erwiderte
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Mack. »Was gibt es für ein Problem mit dem Schah von Persien? Er ist doch sicher eine gute Partie, selbst für eine Prinzessin, wie Ihr es seid.« »Ich sah sein Bild! Er ist fett, alt, häßlich, und er hat einen grausamen Zug um die Lippen! Er sieht impotent aus. Bestimmt ist er dumm, und er spricht nur Persisch.« »Nun, letzteres könnt Ihr ihm kaum vorhalten.« »Ich habe nicht die Absicht, ihm irgendwas vorzuhalten, ganz besonders mich nicht«, ereiferte sich die Prinzessin schaudernd. »Wenn mich schon sein Bild derart abstößt, wie wird dann erst der Mann selbst auf mich wirken? Stellt Euch das nur vor! Ich würde ihm niemals Kinder gebären, sein Geschlecht würde aussterben.« Mack nickte und fragte sich, ob das für zukünftige Generationen von Bedeutung sein könnte. Nun, vermutlich schon. Alles ist irgendwie von Bedeutung für die Zukunft. Es fragte sich nur, inwiefern und was ein Eingreifen seinerseits für diese Bedeutung zu bedeuten hätte. Das waren zu viele Bedeutungen, und niemand hatte ihm gesagt, wie er sie handhaben sollte. »Probiert die gezuckerten Feigen«, sagte Irene. »Ich wette, sie sind nicht halb so süß, wie Ihr es seid.« »Prinzessin!« rief Mack entsetzt. So hart und welterfahren er war – oder zumindest gern wäre –, derart offene Angebote, noch dazu vom höchsten Adel, schockierten ihn vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen in den weichen Lederstiefeln. »Verzeiht mir, ich mußte so direkt sein. Wer weiß, ob ich noch eine zweite Chance haben werde.« Sie rückte ganz nahe an ihn heran und legte ihre Arme um seinen Nacken. »Wie war noch dein Name, Süßer?« »Johann Faust, zu Euren Diensten. Aber Prinzessin…«
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»Johann Faust, deine schnuckelige Zunge hat mich in ihren Bann geschlagen. Sträube dich nicht so, und hilf mir, dieses Ding aufzuschnüren!« Sie fuhr mit den Händen langsam über das Mieder, das ihre zarte Taille umschloß. Mack versuchte ihr zu entkommen, aber er fiel über die weichen Kissen auf dem Diwan, und die Prinzessin schien überall um ihn herum zu sein, während sie gleichzeitig ihr Mieder aufschnürte, sein Haar streichelte, ihre Schuhe auszog, sein Wams öffnete und gezuckerte Feigen aß. Mack hatte keine Angst vor aggressiven Frauen, aber die durchaus gefährlichen Rahmenbedingungen in diesem Fall waren ihm alles andere als geheuer. Er fragte sich, ob Prinzessin Irene derartige Dinge wohl schon öfter getan hatte und ob die, mit denen sie es getan hatte, erwischt worden waren und was gegebenenfalls mit ihnen geschehen war. Für einen kurzen Moment befiel ihn eine Ahnung, daß Marco Polo ihn vor dieser Situation hätte warnen können, wenn er nur gewollt hätte. Noch bevor er diesen Gedanken weiterspinnen konnte, hörte er, wie sich die Tür zu dem Privatgemach der Prinzessin öffnete. Er sprang auf und sah eine junge Frau mitten im Zimmer stehen – wie auch immer sie so schnell dorthin gekommen sein mochte. Sie war dunkelhäutig, wunderschön und ganz sicher nicht menschlich. »Wer bist du?« stammelte Mack mit zitternder Stimme. »Ich bin Ylith, eine Dienerin der himmlischen Streitkräfte und offizielle Beobachterin des Wettkampfs. Und Sie, Doktor Faust, sind dabei, sich gegen Ihre Aufgabe zu versündigen.«
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KAPITEL 6 Ylith war mit der Ausübung guter Taten in einer der provisorischen, alternativen Zeitebenen der Erde beschäftigt gewesen, als Michael sie über die Engel-HotLine hatte ausrufen lassen. Sie hatte sich sofort zur Stelle gemeldet. Ylith gefiel das Dasein als Engel des Guten, auch wenn sie derzeit noch in der Ausbildung war. Das Problem dabei war nur, daß es anscheinend absolut nichts zu tun gab. Sie hatte Hermes Trismegistos überredet, sie in jene andere Zeitebene zu versetzen, so daß sie wenigstens übungshalber gute Taten verrichten konnte. Es war ganz nett dort, aber es war nicht die wirkliche Erde, und dementsprechend war sie erfreut, als Michael sie hatte ausrufen lassen. »Ah, hallo Ylith«, begrüßte Michael sie. »Ich wollte mich nach deinen Fortschritten erkundigen. Wie geht es dir?« »Gut, eigentlich«, antwortete sie. »Ich hätte nur gern etwas Richtiges zu tun.« »Das ist die richtige Einstellung«, lobte Michael. »Und wie es aussieht, kann ich dir in diesem Punkt weiterhelfen. Ich habe einen Job für dich. Du kennst unseren großen Wettstreit mit den Mächten der Finsternis?« »Aber natürlich. Jeder in der spirituellen Welt spricht davon.« »Nun, in dem Wettbewerb ist es beiden Seiten erlaubt, Beobachter einzusetzen. Sie sollen dafür sorgen, daß niemand eine Situation zum eigenen Vorteil ausnutzt oder den Kandidaten in der Wahl seiner Möglichkeiten beeinflußt. Ich möchte, daß du dich zur Erde begibst und dort beobachtest, was Mephistopheles und Mack tun.«
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»Ich bin bereit«, antwortete Ylith. »Nimm dies hier!« sagte Michael und überreichte ihr ein Amulett. »Aber, Michael!« rief Ylith aus. »Das ist kein Geschenk«, erklärte Michael. »Dieses Amulett macht den, der es trägt, unsichtbar. Es wird dir die Möglichkeit geben, dich stets unbemerkt in Macks Nähe aufzuhalten.« »In Ordnung. Bis später dann.« Ylith verschwand. Sie erreichte Mack, als er gerade Konstantinopel verließ. Mit Hilfe des Amuletts beobachtete sie, was Mack und Irene auf der Couch taten und zog ihre eigenen Schlüsse. Prinzessin Irene war vor Erstaunen über das plötzliche Erscheinen der schwarzhaarigen Hexe mit dem wilden Haarschnitt und dem eigentlich keuschen, aber seltsamerweise doch aufreizenden Engelskostüm wie gelähmt. »Oh, mein Gott!« keuchte sie. »Was geschieht hier?« »Dir geschieht nichts«, beruhigte Ylith sie. »Ich habe mit diesem Burschen hier zu sprechen.« Sie zeigte auf Mack, der lediglich ein wenig zur Seite gerückt war, obwohl er vor diesem merkwürdigen, vielleicht sogar wahnsinnigen Geist eigentlich lieber Hals über Kopf davongelaufen wäre. »Ich werde ihn jetzt mitnehmen, denn was ich ihm zu sagen habe, ist nicht für die Ohren einer Unwissenden bestimmt.« Sie drehte sich zu Mack um. »Komm mit mir, Bursche!« befahl sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.
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Sie führte Mack in die Halle hinaus und über den Korridor zur nächstgelegenen Suite. Die Räume glichen denen, die Prinzessin Irene bewohnte, nur beherbergten sie derzeit keine Gäste, sondern warteten auf die Ankunft einer weiteren Prinzessin aus einem anderen kleinen Land. Ylith nahm einen Stuhl, setzte sich mit auffallend gerader Körperhaltung darauf und starrte Mack, der wie ein verlegener Schuljunge vor ihr stand, durchdringend an. »Doktor Faust, ich bin wirklich enttäuscht von Ihnen.« »Von mir?« fragte Mack. »Warum, was habe ich getan?« »Spielen Sie nicht das Unschuldslamm! Ich war in den Gemächern der Prinzessin, und ich habe alles gehört.« »Haben Sie, ja?« antwortete Mack und versuchte sich ebenso verzweifelt wie vergeblich zu erinnern, über was er und die Prinzessin gesprochen hatten, ehe Ylith aufgetaucht war. »Ich war Zeugin, wie Sie versucht haben, die arme, unschuldige junge Prinzessin zu verführen und den Sprachzauber von Mephistopheles zu ihrem persönlichen Vorteil und Vergnügen auszunutzen.« »Hey, Moment mal«, protestierte Mack. »Das stimmt so aber nicht. Ich habe überhaupt nichts getan.« »So, und wie wollen Sie mir dann das Tête-à-tête erklären, das ich bei meinem Eintreffen vorgefunden habe?« »Sie hat versucht, mich zu verführen!« Yliths schöne volle Lippen nahmen einen verächtlichen Ausdruck an. Sie war früher einmal eine Hexe gewesen, aber das war schon lange her. Damals hatte sie den Mächten der Finsternis mit der Leidenschaft naiver Wollust gedient. Doch ihre Augen waren schließlich für
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den geistigen Aspekt der Liebe geöffnet worden. Es war Babriel, der blonde junge Engel mit den eisgrauen Augen, der sie geläutert hatte, nachdem sie sich rettungslos in ihn verliebt hatte. Das war zur Zeit des letzten Jahrtausendwettkampfes gewesen, als Azzie seine Neuauflage der Geschichte vom Märchenprinzen inszeniert hatte. Ylith war bis dahin Azzies Freundin gewesen, aber sie hatte den fuchsgesichtigen, rothaarigen jungen Dämonen schnell vergessen, nachdem sie Babriel begegnet war. Die Liebe hatte ihre Ansichten verändert, also hatte sich die junge Hexe mit dem ausnehmend wohlgeformten Hinterteil und der ansehnlichen Muskulatur voller Inbrunst den Mächten des Lichts zugewandt, denn das Gute war Babriels Heimat, und es gefiel ihr und schien sogar unterhaltsam zu sein. Aus lauter Liebe zu dem netten, aber äußerst korrekten und anständigen jungen Engel hatte sie dem Bösen abgeschworen und ein neues geistiges Gelübde abgelegt, von nun an dem Guten ebenso leidenschaftlich zu dienen, wie zuvor der anderen Seite. Aus einem sorglosen Partygirl war ein prüder Blaustrumpf geworden, wie er auch im Himmel jener Tage selten war. Allerdings ist es meistens so, daß die einstmals Gefallenen nach ihrer Wendung zum Guten die größten Eiferer im Namen des Lichtes werden. Yliths Streben nach Tugend und korrektem Verhalten zwei Qualitäten, die sie früher in jedem Falle vermieden hätte – war von solch einer Energie begleitet, daß sie so manches Mal die älteren Vertreter des Lichtes in Verlegenheit gebracht hatte. Jene, die während ihrer vielen Jahre in den Diensten des Lichtes gelernt hatten, wie die Dinge in der Realität abliefen, übten sich in Geduld mit dem jungen Heißsporn und meinten, sie würde es schon noch lernen. Bisher jedoch hatte sich diese Hoffnung nicht erfüllt.
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»Sie haben Ihre Position mißbraucht«, warf sie Mack vor. »Sie wurden nicht durch Raum und Zeit geschickt, um mit Hilfe des teuflischen Sprachzaubers Jungfrauen zu verführen. Dies ist ein ernsthafter Wettstreit, und Sie haben darin ernsthaft zu agieren und nicht wie ein Halbwüchsiger herumzuturteln. Ich werde eine schwere Anklage vor dem Verwaltungsrat gegen Sie vorbringen. In der Zwischenzeit werde ich dafür sorgen, daß Sie keine Gelegenheit haben, Ihr unverantwortliches Tun fortzusetzen.« »Hören Sie doch, Gnädigste, es handelt sich um einen Irrtum«, versuchte Mack sich zu verteidigen und das Geschehen zu erklären, doch Ylith war nicht daran interessiert, den Lügen eines gutaussehenden blonden Verführers mit einem Sprachzauber zu lauschen. »Ich werde Sie an einen Ort bringen, an dem Sie kein weiteres Unheil mehr anrichten können, bis ich weiß, was weiter mit Ihnen geschehen soll. Auf Sie wartet das Spiegelverlies.« Mack hob seine Hände, um Einspruch einzulegen, doch er war nicht schnell genug. Es gab nichts Schnelleres als den Zauber einer zornigen Hexe. Zwei Lidschläge und eine blitzschnelle Bewegung leuchtend roter Fingernägel, und sie war verschwunden. Zumindest glaubte Mack das im ersten Moment. Als er genauer hinsah, stellte er fest, daß tatsächlich er selbst nicht mehr da war, zumindest nicht mehr dort, wo er sich befunden hatte. Er war in einem kleinen Raum, der ausschließlich aus Spiegeln bestand. Spiegel an den Wänden, Spiegel an der Decke, Spiegel auf dem Boden. Es schien dort mehr Spiegel zu geben, als Fläche vorhanden war, sie anzubringen. Sie formten quecksilberfarbene Tunnel und Abgründe – eine barocke Spiegellandschaft. Er sah sich selbst reflektiert und wieder reflektiert in Hunderten von Spiegelflächen und Hunderten verschiedener Winkel. Er
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drehte sich um und sah, wie er sich in Myriaden reflektierender Oberflächen drehte. Versuchsweise machte er einen Schritt vorwärts und sah seine Ebenbilder dasselbe tun, obwohl einige scheinbar rückwärts gingen. Er tat noch einen Schritt und stieß gegen einen Spiegel. Er prallte zurück, und etliche Abbilder taten dasselbe, außer einigen, die nirgendwo angestoßen waren. Mack fand es sehr merkwürdig und irgendwie unheimlich, daß einige seiner Spiegelbilder nicht dasselbe wie er und die übrigen taten. Einer der Abweichler saß in einem Lehnstuhl und las ein Buch, dann sah er auf und winkte Mack zu. Ein anderer saß an einem Flußufer und angelte. Er ignorierte Mack vollkommen. Dann war da noch einer, der rücklings auf einem Stuhl saß und Mack grinsend ins Gesicht sah. Nun, zumindest in das, was Mack für sein Gesicht hielt, denn er war plötzlich absolut nicht mehr sicher, wie es wohl aussehen mochte. Mit ausgestreckten Armen ging er vorsichtig durch den Raum und hoffte, einen Ausgang aus dem Labyrinth der Spiegel zu finden. Manche seiner Reflexionen taten dasselbe, aber eine saß an einem Tisch und aß Rinderbraten mit Yorkshire-Pudding. Eine andere schlief in einem großen Federbett, und noch eine andere ließ auf einer Bergkuppe einen Drachen steigen. Wenn er diese Abbilder mit ihrem merkwürdigen Eigenleben betrachtete, sahen die meisten zu ihm herüber, nickten ihm zu oder lächelten, ehe sie sich wieder ihren jeweiligen Tätigkeiten zuwandten, aber einige schenkten ihm auch keinerlei Beachtung. Ungläubig betrachtete er mit weit aufgerissenen Augen die unheimliche Szenerie. Eine Stimme in seinem Kopf raunte leise: Ich werde wahnsinnig! Eine andere Stimme fragte: Ob es hier wohl irgendwo etwas zu Lesen gibt? Er sah sich um, konnte aber nichts entdecken, also schloß
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er die Augen und versuchte sich die Zeit mit angenehmen Tagträumereien zu vertreiben.
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KAPITEL 7 Mephistopheles materialisierte sich mit Blitz, Donner und Schwefelgestank in den Räumlichkeiten Prinzessin Irenes. Der Wirbel, den er um seinen Auftritt veranstaltete, vermittelte einen deutlichen Eindruck seiner Stimmung. Man hatte ihn aus seinem Lieblingssessel gerissen, als er sich gerade vor einem wärmenden Kaminfeuer der Lektüre von Erinnerungen an eine böse Kindheit gewidmet hatte, einem der anregendsten Bücher, die er im Laufe seines langen Lebens gelesen hatte. Er war eben an der Stelle angelangt, in der der junge dämonische Held das Vergnügen entdeckt, diejenigen, die ihm nahestanden und ihn liebten, zu verraten und zweifelhaften moralischen Experimenten auszusetzen, als das Telefon klingelte und ihn aus seinen Tagträumen rief. Einer der unsichtbaren Zeugen des Jahrtausendwettkampfes war am anderen Ende der Leitung und berichtete ihm von einer ernsthaften Störung, die soeben vorgefallen war. Der Protagonist war widerrechtlich aus dem Spiel entfernt worden und in einem verspiegelten Raum mit turbulenten und mysteriösen reflektierenden Oberflächen eingesperrt worden. Mephistopheles mußte sein Buch zur Seite legen und sich in aller Eile nach Peking, begeben, obwohl er eigentlich gerade dienstfrei hatte. Er war über die Störung allerdings gar nicht so sehr verärgert, denn jene, die ernsthaft Böses tun wollten, waren jederzeit bereit, sich für ihre Sache einzusetzen, wenn der Ruf der Sünde sie erreichte. Für die Chance, etwas wirklich Böses zu tun, ließen sie gern all die kleineren Vergnügungen ruhen.
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»Ylith!« herrschte Mephistopheles die Hexe an. »Was treibst du hier für ein Spiel? Warum hast du Faust eingesperrt?« »Ich korrigiere einen großen Fehler«, sagte Ylith herausfordernd, wenngleich der scharfe und gestrenge Blick des Dämons ihre Selbstsicherheit beträchtlich schmälerte. »Was hast du mit Faust gemacht?« »Ich habe ihn wegen moralischer Vergehen eingesperrt, ganz einfach.« »Weib! Wie konntest du es wagen! Du hast kein Recht, diesen großen Wettkampf zu stören! Du bist nur als Beobachter hier.« »Als Beobachter«, antwortete sie mit überraschender Schärfe, »war ich Zeuge des Geschehens. Ganz offensichtlich habt Ihr selbst am Ablauf herumgepfuscht und Faust in Eurem Sinne manipuliert. Ihr habt ihm widerliche Dinge eingeredet und ihn glauben gemacht, es sei ihm gestattet von dem schmalen Pfad abzuweichen, auf dem er sich zu bewegen hat. Oder wie wollt Ihr mir erklären, daß er Zeit genug hat, eine unschuldige Prinzessin zu verfuhren, anstatt sich seiner Aufgabe zu widmen?« »Was nimmst du dir heraus? Du wagst es, mich zu beschuldigen? Ich hatte damit nichts zu tun!« antwortete Mephistopheles hitzig. »Wenn er dieses Weibsbild verführt hat, dann auf seine eigene Verantwortung.« Erst jetzt kam ihnen die Anwesenheit der Prinzessin Irene zu Bewußtsein. Beide starrten kurz die Prinzessin an und schlossen dann nach einem schnellen Blickwechsel eine stumme Übereinkunft. Ylith zog eine Braue in die Höhe, Mephistopheles nickte, und Ylith bannte die Prinzessin mit einem elfenhaft leichten
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Schlafzauber, der mit einer rückwirkenden Gedächtnislöschung für die vergangene halbe Stunde kombiniert war. Nachdem Irene ausgeschaltet und Mack noch immer in seinem Spiegelverlies eingesperrt war, wandte sich Ylith mit einem zornigen Funkeln in ihren tiefblauen Augen wieder dem Dämon zu: »Das ist alles Eure Schuld! Und glaubt bloß nicht, Ihr könntet mich mit Schmeicheleien und sogenannten vernünftigen Argumenten einwickeln. Schließlich war ich einmal eine der Euren.« »Reiß dich zusammen, Weib!« entgegnete Mephistopheles. »Der Sprachzauber, mit dem ich Faust ausgestattet habe, war lediglich dazu gedacht, ihm einen Handlungsspielraum innerhalb dieses orientalischen Gebrabbels zu eröffnen. Davon abgesehen ist es vollkommen egal, ob das nun gut oder schlecht war. Du durftest unseren Protagonisten nicht einfach aus dem Spiel entfernen. Das war ein schlimmeres Vergehen, als Faust es überhaupt hätte begehen können.« »Ihr seid ein Lügner«, sagte Ylith. Mephistopheles nickte: »Ja, natürlich, aber was hat das damit zu tun?« »Ich will, daß Faust gegen eine moralisch integere Person ausgetauscht wird!« »Was erdreistest du dich? Wir haben keinen Platz für dogmatische Moralvorstellungen. Weder im Himmel noch in der Hölle. Laß Faust frei, sofort!« »Nein! Ihr habt mir gar nichts zu befehlen!« Mephistopheles starrte sie an. Dann griff er in den Beutel, den er unter seiner Kleidung trug, und entnahm ihm ein kleines rotes Mobiltelefon. Er wählte eine Nummer. Es war 999, die Telefonnummer der Engel – die
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Nummer des Bösen, vertikal verkehrt. Mephistopheles wartete ungeduldig, wobei er nervös mit den Fuß hin und her wippte. »Wen ruft Ihr an?« fragte Ylith. »Jemanden, der dich hoffentlich wieder zur Vernunft bringen wird.« Plötzlich ertönte Harfenmusik, und ein heller farbiger Rauch entstand aus dem Nichts. Der Erzengel Michael erschien auf der Bildfläche. Er sah verärgert aus, war tropfnaß und bedeckte seine Blöße nur mit einem großen, flauschigen Handtuch. »Was gibt es so Dringendes?« fragte er so mißgestimmt, wie es ein Engel nur sein konnte. »Immerhin mußte ich Ihretwegen mein Bad unterbrechen.« »Sie baden Mephistopheles.
doch
ständig«,
kommentierte
»Und? Sie wissen doch, was man über Reinlichkeit sagt.« »Das ist ein übles Gerücht. Das Böse ist ebenso anspruchsvoll wie das Gute, und Reinlichkeit an sich ist eine neutrale Eigenschaft. Aber jetzt ist nicht die Zeit für Streitereien.« »Richtig. Also, warum haben Sie mich gerufen?« »Diese Hexe«, sagte Mephistopheles und zeigte mit einem langen, scharfen Fingernagel auf Ylith, die die Arme trotzig über ihrem zarten kleinen Busen verschränkt hielt und mit vorgeschobenem Unterkiefer wütende Blicke auf den Dämon warf. »Dieses dumme Weibsstück, dieser Lehrengel, diese aus einem Hilfsteufelchen entstandene Fanatikerin des Lichts hat sich die Frechheit erlaubt, Faust von der Bühne der Ereignisse zu entfernen. Sie ist sogar so weit gegangen,
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ihn einzusperren. Sie hat unseren Jahrtausendwettkampf unterbrochen. Das war wohl Grund genug, Sie anzurufen.« Michael drehte sich zu Ylith herum. Sein Gesicht verzog sich zu einem derart grimmigen Ausdruck, daß man ihn kaum mehr als einen Erzengel identifizieren konnte. In seinen Augen stand ungläubige Verwirrung geschrieben. »Faust ist aus dem Spiel? Ist das wahr?« Ylith, nicht mehr ganz so sicher wie zuvor, aber noch immer trotzig, antwortete: »Was hätte ich denn tun sollen? Sein Faust war dabei, die Prinzessin Irene zu verführen.« »Und wer ist das, Prinzessin Irene? Nein, sag es mir nicht! Es ist vollkommen gleichgültig, wer sie ist. Was bei allen Heiligen hat dich nur auf den Gedanken gebracht, Faust aus dem Jahrtausendwettkampf zu nehmen und das nur wegen einer dummen kleinen Verführung?« »Angebliche Verführung«, bemerkte Mephistopheles. »Auch das noch«, sagte Michael. »Wie konntest du dir derartige Freiheiten herausnehmen, nachdem wir dich großmütig zum Beobachter ernannt haben? Du solltest wissen, daß dir diese Großzügigkeit nur um Babriels Willen gewährt worden ist. Irgendwie hat er wohl einen Narren an dir gefressen. Und du wagst es, unseren Wettkampf wegen etwas so Banalem und Unwichtigem wie einer Verführung – einer angeblichen noch dazu – zu unterbrechen?« »Aber wir haben gelernt, daß Verführungen böse sind«, begehrte Ylith leise auf. »Das sind sie, zweifellos. Aber du solltest auch wissen, daß es nicht zu unserer Politik gehört, uns jedesmal einzumischen, wenn irgendwer etwas Böses tut, ebenso wenig wie die andere Seite bei jeder guten Tat
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interveniert. Hast du die Abschnitte über die Relativität der Moral und die Verbindung der Gegensätze im Himmlischen Führer für alltägliche Angelegenheiten der Erde nicht gelesen?« »Das muß ich übersehen haben«, sagte Ylith kleinlaut. »Bitte, schrei mich nicht an! Ich will doch nur Gutes tun und auch alle anderen dazu bringen, gut zu sein.« »Dabei ein wenig nachzudenken und klug zu handeln, würde dich nicht vom Wege abbringen«, rügte Michael. »Von Engeln wird gefordert, Frömmigkeit mit Klugheit zu verbinden. Andernfalls würde sich das Gute zu einem unsinnigen, alles verschlingenden Moloch entwickeln, der schon aufgrund seiner Totalität von einer natürlichen Schlechtigkeit geprägt wäre. Und das wollen wir doch nicht, oder?« »Ich verstehe das nicht«, sagte Ylith. »Dann bemühe dich, es zu begreifen. Und nun befreie Faust auf der Stelle und setze ihn wieder in das Spiel ein! Danach wirst du dich im Zentrum für Leidenschaftskontrolle melden und um Züchtigung und Nachschulung bitten.« »Ach, seien Sie doch nicht so hart mit dem armen Mädchen!« beschwichtigte Mephistopheles, der eine Möglichkeit sah, Punkte für die Großmut des Bösen zu gewinnen. »Lassen Sie sie doch weiter beobachten, nur einmischen darf sie sich nicht wieder.« »Hörst du das?« fragte Michael. »Ich höre und gehorche. Aber ich hätte nie gedacht, daß ein Erzengel mir sagen würde, ich müsse den Anweisungen eines Dämons aus der Hölle folgen.«
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»Du wirst noch einiges lernen müssen«, grummelte Michael und zog sein Handtuch fester um den Leib. »letzt kann ich ja wohl zu meinem Bad zurückkehren.« »Viel Vergnügen«, sagte Mephistopheles. »Tut mir leid, Sie gestört zu haben.« Michael wandte sich noch einmal an Ylith: »Merke dir: Du sollst gut sein, aber nicht zu gut, und vor allem, mach keinen Unsinn, das ist ein Befehl!« Michael entschwand, und Ylith vernichtete das Spiegelverlies. Mack war wieder im Zimmer und blinzelte verwirrt. Mephistopheles lächelte und verschwand ebenfalls. »Ich scheine wieder da zu sein«, sagte Mack. »Haben Sie mit der Prinzessin gesprochen?« »Sehen Sie selbst«, antwortete Ylith und ließ ihn allein.
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KAPITEL 8 Nachdem Mack aus dem Spiegelverlies befreit war, verabschiedete er sich von der verwirrten Prinzessin und eilte zurück, um Marco Polo vor dem geplanten Mordanschlag zu warnen. Ihn wiederzufinden, gestaltete sich jedoch schwieriger, als Mack angenommen hatte. Er stolperte durch ihm völlig unbekannte Korridore und über steile Rampen, die er, soweit er sich entsinnen konnte, auf dem Hinweg nicht passiert hatte. Auf den Gängen herrschte reges Treiben. Es waren so viele Menschen dort unterwegs, daß er sich fragte, ob er sich wohl irgendwie nach draußen verirrt hatte. Er kam sich vor wie in einer großen Markthalle, die sich über eine weite Fläche vor dem Palast zu erstrecken schien. Doch dann hörte er wieder das vertraute Geräusch der Flöten und Trommeln und wußte, daß er sich auf dem richtigen Weg befand. Keuchend und völlig außer Atem erreichte er schließlich Marcos Gemächer und stürmte ohne anzuklopfen hinein. »Marco! Ich muß Euch sofort sprechen! Es ist äußerst wichtig!« Niemand antwortete ihm. Die Räume waren leer; Marco Polo war nicht hier. Mack begriff, daß mehrere Stunden vergangen sein mußten, während der er sich im Spiegelverlies befunden hatte. Wahrscheinlich war es bereits Abend. Leider gab ihm die Beleuchtung im Palastinneren keinerlei Hinweis auf die Tageszeit. Die Korridore waren stets gleichmäßig erhellt, ob es nun Tag oder Nacht war. Er verließ den Raum und machte sich auf die Suche nach dem Bankettsaal. Dieses Mal hatte er mehr Glück und fand den Weg ohne weitere Zwischenfälle. Er schob sich an den Wachen vorbei in den großen Raum.
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Die Feierlichkeiten schienen in vollem Gang zu sein. Wie schon am Morgen hatte Kublai Khan seine Würdenträger auf einem Podest um sich versammelt. Marco war anwesend, ebenso wie die Prinzessin Irene und der Hofzauberer in seinem sternenverzierten Umhang. Ein kleines Orchester sorgte für die musikalische Untermalung, und ein Komödiant in einer ausgebeulten Ziegeniederhose führte seine Späße auf, doch niemand beachtete ihn. Alle Augen waren auf Mack gerichtet. Mack fühlte sich angesichts der schweigsamen Aufmerksamkeit, die seine Ankunft ausgelöst hatte, äußerst unwohl in seiner Haut. Er hustete, räusperte sich und ging zu Marco Polo. »Marco, ich bin froh, Euch noch rechtzeitig gefunden zu haben. Ich habe schlechte Nachrichten für Euch. Ich war Zeuge eines Gespräches zweier Männer aus Tyrus, die sich auf dem Exerziergelände unterhalten haben. Sie planten…« Marco erhob einhaltgebietend die Hand und unterbrach ihn mitten im Satz. »Sprecht Ihr von jenen dort?« Mack erkannte die zwei bärtigen Soldaten, die er Stunden zuvor belauscht hatte. »Das sind die Männer«, sagte er. »Das ist wirklich interessant«, entgegnete Marco. »Diese Männer kamen vor einer Stunde zu mir, um mich vor einem geplanten Mordanschlag zu warnen, den Ihr eingefädelt haben sollt.« »Aber das stimmt nicht«, wehrte Mack ab. »Sie sagen, daß Ihr sie anheuern wolltet, um mich zu meucheln.« »Sie versuchen, sich aus der Affäre zu ziehen, Marco. Ich habe Euch die Wahrheit erzählt.«
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»Nun, Ihr habt Euch höchst seltsam aufgeführt«, meinte Marco und wandte sich an den Khan. »Darf ich fortfahren, die Doppelzüngigkeit dieses Burschen zu entlarven?« »Fahrt fort, Marco«, stimmte der Khan zu. »Westliche Prozeß- und Verhörtechniken haben mich immer schon interessiert.« »Ich rufe die Prinzessin Irene als Zeugin auf«, sagte Marco. Prinzessin Irene erhob sich von dem zierlichen Thron, den der Khan für sie auf dem Podest hatte aufstellen lassen. Sie hatte sich umgezogen und trug nun einen himmelblauen, mit Butterblumen bestickten Umhang. Sie sah aus wie ein Muster reinster Unschuld, als sie in gebrochenem Mongolisch ihre Aussage machte. »Dieser Geck kam in meine Gemächer, was keinem Mann erlaubt ist. Er hat mich mit unanständigen Angeboten brüskiert und in meiner Muttersprache mit mir gesprochen und er hat den Dialekt benutzt, den man nur in meiner Familie zu sprechen pflegt. Niemand sonst spricht diesen Dialekt, außer zwielichtigen Gestalten mit bösen Absichten. Ich habe um mein Leben gefürchtet, denn wenn ein Fremder so spricht, kann das nur bedeuten, daß er, wenn er nicht doch zur Verwandtschaft gehört, Böses im Schilde führt. Ich war sicher, daß er mich töten würde. Ich verlor das Bewußtsein, und als ich wieder zu mir kam, war er fort. Sicher hat er Geräusche von draußen gehört und ist geflohen – er scheint ein erbärmlicher Feigling zu sein. Ich zog meinen blauen Umhang an und lief so schnell ich konnte hierher.« »Lügen! Alles Lügen«, protestierte Mack. »Ihr selbst, Marco, habt mich zu der Prinzessin geschickt!«
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»Ich soll Euch zu Prinzessin Irene geschickt haben?« fragte Marco Polo. Er blickte mit einer Miene völliger Unschuld augenrollend zu Kublai Khan und wandte sich dann an die versammelten Würdenträger. »Ihr alle kennt mich, verehrte Herren. Ich lebe nun schon seit siebzehn Jahren an diesem Hof. Würde ich etwas tun, das von Gesetzes wegen verboten ist, von Anstand und Sitte ganz zu schweigen?« Es war still in dem Bankettsaal. Nur das Rascheln von Stoff war zu hören, als sich die Anwesenden kopfschüttelnd auf Marcos Seite schlugen. Mack schien es, als würden sogar die abgetrennten Köpfe, die nun zu zwei Meter hohen Pyramiden aufgeschichtet waren, verneinend wackeln. »Das ist ein abgekartetes Spiel«, erklärte Mack hitzig. »Nun verstehe ich alles. Marco Polo will mich loswerden. Vielleicht fürchtet er um seinen Stand, vielleicht sieht er mich als einen Rivalen um die Gunst des großen Khans. Und vermutlich fühlt er sich unterlegen, ist er doch nur ein kleiner venezianischer Kaufmann, wogegen ich der Botschafter Ophirs bin.« »Hören wir, was der Hofzauberer dazu zu sagen hat«, sagte Marco Polo. Der Zauberer erhob sich und ordnete seine Sternenrobe. Er rückte seine Drahtgestellbrille zurecht, räusperte sich einige Male und sprach: »Ich habe bei allen Weisen der Stadt Erkundigungen eingezogen, ganz besonders bei den gelehrten Geographen. Sie alle stimmen darin überein, daß es nirgends auf der Welt einen Ort wie Ophir gibt. Sie erklären außerdem, daß, falls Ophir jemals existiert haben sollte, es während einer großen Überschwemmung in den Fluten des Meeres versunken sei, und sie sind überzeugt, daß Ophir, würde es heute noch existieren, niemals einen Sachsen zum Botschafter bestellt haben würde.«
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Mack machte Frustration.
eine
wegwerfende
Gebärde
der
Er fühlte wütende Empörung in sich aufwallen. Der Ärger ließ ihn nervös mit den Fingern auf sein Bein trommeln. Unruhig wippte er auf den Füßen vor und zurück, doch kein Wort kam über seine Lippen. So sehr er sich mühte, er wußte nichts zu sagen. Kublai Khan ergriff das Wort. »Was ich nun zu tun habe, mißfällt mir sehr, ist doch mein Hof weithin für seine Großzügigkeit und Gastfreundschaft bekannt. Doch dieser Mann wurde von seinesgleichen für schuldig befunden, ein Betrüger und falscher Abgesandter eines nichtexistierenden Reiches und überdies ein Verführer edler Damen zu sein. Aus diesem Grunde soll er verurteilt werden. Man schaffe ihn in den Kerker. Dort soll er alle Qualen erleiden, die für dieses Verbrechen vorgesehen sind. Später soll er dann erdrosselt, aufgeschlitzt und ausgeweidet, gevierteilt und verbrannt werden.« »Ein weises Urteil, großer Khan«, sagte Marco Polo. »Aber doch ein recht bürgerliches Los. Dieser Mann könnte von adligem Blut sein. Darf ich vorschlagen, ihn gleich hier und jetzt zu töten? Es würde Euren Hofstaat amüsieren und wir könnten anschließend wohlgestimmt mit den Feierlichkeiten fortfahren.« »Eine wunderbare Idee«, erwiderte der Khan. Er erhob sein magisches Zepter und gestikulierte damit herum. Aus dem hinteren Teil des großen Raumes eilte ein fetter, bärtiger Mann herbei. Er trug ein Lendentuch aus Gamsleder, ein passendes Wams und einen riesigen Turban. »Euer herrschaftlicher Scharfrichter großer Khan«, sagte er unterwürfig.
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zu
Diensten,
»Hast du deinen Drosselstrick zur Hand?« fragte Kublai Khan. »Ich habe ihn immer bei mir«, antwortete der Scharfrichter und löste den Knoten einer Schnur, die er um seinen großen Bauch gewickelt trug. »Man weiß doch nie, wann man ihn brauchen kann.« »Wachen«, rief der Khan, »ergreift Scharfrichter, verrichte deine Arbeit!«
diesen
Mann!
Mack drehte sich um und versuchte aus dem Saal zu fliehen, in der Hoffnung, sich auf den langen, verwinkelten und belebten Gängen vorerst dem Zugriff seiner Häscher entziehen zu können, doch er stolperte über das Bein Marco Polos, das dieser maliziös lächelnd vor ihm ausgestreckt hatte. Alle viere von sich gestreckt, lag er da, als ihn die Wachen ergriffen, hochzerrten und ihn mit unerbittlich festem Griff bändigten. Der Scharfrichter kam zu ihm und spielte mit gelassener Professionalität mit der Bogensehne, die er als Drosselstrick zu verwenden gedachte. »Euer Majestät, Ihr macht einen Fehler!« rief Mack verzweifelt. »Sich zu irren, ist das Vorrecht der Mächtigen«, erwiderte der Khan unbeeindruckt. Der Scharfrichter legte Mack die Schlinge um den Hals und zog sie um seine Kehle zu. Mack versuchte zu schreien, doch kein Ton kam über seine Lippen. Er erkannte verwirrt, daß es ein Märchen war, daß man angeblich im Augenblick des Todes sein Leben in Bildern vor sich ablaufen sah. Alles, woran er in diesem Moment denken konnte, war ein Feriennachmittag, an dem er mit einem Freund aus der Klosterschule am Weserufer über Leben und Tod sinniert hatte. Sie hatten festgestellt, daß es unmöglich sei, sich vorzustellen, wie man einmal
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sterben würde. Nun erst wußte er, wie richtig das gewesen war. Er hätte sich damals – er war gerade vierzehn Jahre alt gewesen – sicher nicht denken können, daß sein Leben einige hundert Jahre früher am Hofe Kublai Khans infolge einer Intrige Marco Polos enden würde, während er dazu ausersehen war, Hauptfigur in einem Wettstreit der Mächte des Lichts und der Finsternis zu sein. Dann erhellte ein Lichtblitz urplötzlich den Raum, Rauch stieg auf, und Mephistopheles erschien. Der Dämon war verärgert, und wie immer in solcher Stimmung gestaltete er seinen Auftritt besonders spektakulär. Er suchte sich einen prachtvollen Rahmen für sein Erscheinen und umgab es mit den wunderbarsten Visionen, die sich in der Luft abzuspielen schienen, ehe sie wieder verschwanden. Diese Effekthascherei hatte durchaus praktische Aspekte. Er hatte festgestellt, daß es sich lohnte, ein wenig mehr Arbeit in den Auftritt zu investieren, denn diejenigen, unter denen er sich materialisierte, waren von dem großen Brimborium stets derart gebannt, daß sie keinen Gedanken daran verschwendeten, sich ihm in den Weg zu stellen. »Laßt diesen Mann gehen!« herrschte Mephistopheles die Wachen mit donnernder Stimme an. Der Scharfrichter wankte zurück, als hätte ihn der Lichtblitz durchbohrt und niedergestreckt. Die Wachen flohen in Panik. Kublai Khan kauerte sich auf seinem Thron zusammen, Marco Polo versteckte sich unter einem Tisch, und die Prinzessin Irene brach ohnmächtig zusammen. Mack war wieder frei. »Sind Sie bereit zu gehen?« fragte Mephistopheles.
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»Bereit, o Herr!« antwortete Mack, erhob sich und schlug sich den Staub aus den Kleidern. »Nur eines noch.« Er lief zu Kublai Khan. Während der Khan sich noch hilfesuchend umsah, nahm Mack ihm das magische Zepter aus der Hand und verstaute es in seiner Tasche. »Nun werden wir sehen, wie lange deine Herrschaft noch andauern wird!« schrie er gehässig. Mephistopheles verschwunden.
gestikulierte,
und
beide
waren
Es herrschte Stille am Hofe des Khans. Eine Weile waren alle wie gelähmt. Niemand sprach, niemand rührte sich. Dann fand der Khan seine Stimme wieder. »Marco, was hat das zu bedeuten?« »Ich denke, wir wurden soeben Zeugen eines wahrhaft übernatürlichen Ereignisses. Es erinnert mich an eine Begebenheit, die mir in Tashkent widerfahren ist. Es war Frühling und die Blumen im Tal…« Die großen bronzenen Türen öffneten sich und Marguerite betrat den Bankettsaal. Sie trug ein chinesisches Kleid aus Waschseide. Es war gerade geschnitten und hochgeschlossen, mit einem kleinen Stehkragen. So umschmeichelte es ihren wohlgeformten Körper. Sie hatte sich frisch gemacht, gewaschen, parfümiert, die Haare neu frisiert und sich der Pflege ihrer Fingernägel gewidmet. Wie es schien, hatte der Khan gewisse Methoden, den Sprachunterricht interessant zu gestalten. »Hallo«, sagte sie. »Ich komme gerade vom Unterricht. Hört alle her!« In gebrochenem, aber verständlichem Mongolisch gab sie eine Kostprobe des Erlernten von sich. Es war eine Sprachübung, wie man sie in allen
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Ländern antreffen kann. Danach lächelte sie, auf Worte der Anerkennung wartend, in die Runde. »Sollen wir sie hinrichten?« fragte Marco den großen Khan und kroch unter dem Tisch hervor. »Ja, ja«, erwiderte der Khan, den der Gedanke an Grausamkeiten aller Art von dem soeben Erlebten ablenkte. »Immer noch besser als gar nichts.« »Wachen! Scharfrichter!« rief Marco befehlend. Noch einmal begann das makabre Spiel von vorn. Die Wachen ergriffen Marguerite. Der Scharfrichter ignorierte das Zittern seiner Beine und legte ihr den Strick um den Hals, und dann tauchte Mephistopheles erneut auf. »Entschuldigen Sie, Gnädigste, ich habe Sie wohl vergessen«, sagte er. Eine kurze Geste, und Marguerite war, gefolgt von Mephistopheles, verschwunden. Der Khan und seine Gäste starrten in ehrfürchtigem Schweigen auf die Stelle, wo sich die beiden gerade noch aufgehalten hatten. Dann erschienen die Diener und servierten das Mahl.
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FLORENZ KAPITEL 1 »Nun, Faust, es wird Zeit für Sie, Ihre nächste Aufgabe anzugehen. Diesmal werden wir Sie ins Florenz des Jahres 1497 schicken. Das ist etwas, worum ich Sie geradezu beneide. Sie werden den Ort besuchen, den man als die Geburtsstätte der neuzeitlichen Kunst betrachtet. Viele Gelehrte sind der Ansicht, daß hier das Zeitalter der Renaissance seinen Anfang nahm. Na, wie klingt das?« Mack und Mephistopheles befanden sich in einem kleinen Büro im Limbus. Der Limbus schien sich hier bis in die Unendlichkeit auszudehnen, und es gab weit und breit nichts zu sehen, außer dem kleinen Bürogebäude. Mephistopheles kam oft hierher, um noch spät in der Nacht Papierkram zu erledigen. Es war nur ein schlichter Bau: eine einfache Holzkonstruktion von nur drei mal drei Metern Grundfläche (im Limbus konnte zwar jedermann ohne zusätzliche Kosten so groß bauen, wie er nur wollte, aber Mephistopheles mochte die heimelige Gemütlichkeit dieses kleinen Raumes). Die Wände waren mit einigen Ölgemälden und Ikonen dekoriert. An einer Seite des Raumes stand ein kleines Sofa mit einem grünen Satinbezug, auf dem Mephistopheles es sich bequem gemacht hatte. Ihm gegenüber in der Ecke saß Mack auf einem alten Holzstuhl mit einer hohen geraden Lehne. Mephistopheles hatte ihm ein Glas Starkbier gegeben, um ihn nach den beängstigenden Ereignissen seiner letzten Station wieder aufzubauen. Doch Mack dachte trotzdem voller Angst und Sorge an den weiteren Verlauf des Wettstreites.
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»Also gut«, sagte Mephistopheles schließlich, und Mack war klar, daß er – kaum wieder einigermaßen zu Atem gekommen – erneut zu einem Ort mit einem sonderbaren Namen würde aufbrechen müssen. »Was bedeutet Renaissance?« fragte Mack. »Oh, ich vergaß«, kicherte Mephistopheles. »Diese Bezeichnung ist im Sprachgebrauch nicht weit über das Ende jener Epoche hinaus erhalten geblieben. Es bezeichnet einen Abschnitt der Geschichte, lieber Faust.« »Was habe ich damit zu tun?« »Damit? Nichts, eigentlich. Es gibt nichts, was Sie mit der Renaissance anfangen könnten. Nein, ich wollte Ihnen nur ein bißchen über jene Zeit und ihre große Bedeutung für die Geschichte erzählen, damit Sie verstehen, wie schwerwiegend die Folgen Ihrer Entscheidungen sein können.« »Wie werden diese Entscheidungen aussehen? Gibt es wieder drei Optionen?« »Nun, sicher, es gibt Optionen«, sagte Mephistopheles ausweichend. »Sie werden Florenz zur Zeit der großen Scheiterhaufen erleben.« »Was für Scheiterhaufen?« »Keine Hexenverbrennungen. Nein, man hat die Objekte der Eitelkeit und des Reichtums vernichtet: Spiegel, Gemälde, seichte Literatur, wertvolle Manuskripte, Zuckerwerk und so weiter. Sie haben das ganze Zeug auf dem Vorhof der Piazza della Signoria zu mehreren großen Haufen aufgeschichtet und angezündet.« »Hört sich ziemlich merkwürdig an«, kommentierte Mack. »Soll ich die Feuer verhindern?« »Nein, eigentlich nicht.«
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»Was soll ich denn dort tun?« »Etwas Sinnvolles. Das ist schließlich der Grund, warum Sie für den Wettstreit ausgewählt worden sind. Sie sollen etwas tun, das entweder gute oder schlechte Auswirkungen hat und dementsprechend von Ananke beurteilt wird.« »Von wem?« »Ananke ist griechisch und steht für die Verkörperung der schicksalhaften Macht der Natur und ihrer Notwendigkeiten – eben jener Kraft, die immer war und immer sein wird. Alles wird letztendlich von Ananke gerichtet werden.« »Wer ist Ananke?« »Sie ist ewig, und sie ist allgegenwärtig«, erklärte Mephistopheles. »Aber sie ist weder materiell noch kann sie beschrieben werden. Die Macht der Notwendigkeit ist jene letzte Instanz, die alle Dinge miteinander verbindet, auch wenn sie selbst nicht von Substanz ist. Wenn die Zeit gekommen ist, wird Ananke sich uns in körperlicher Form zeigen und uns wissen lassen, wie ihr Urteil lautet.« Mack war verwirrt. Das Ganze wurde ihm allmählich zu kompliziert. »Was soll ich denn nun in Florenz tun?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen«, sagte Mephistopheles. »Dieser Abschnitt ist anders aufgebaut als die anderen. Dieses Mal sollen Sie selbst herausfinden, was zu tun ist.« »Wie soll ich das denn machen?« Mephistopheles zuckte mit den Schultern. »Es gibt viele Möglichkeiten, etwas zu tun. Vielleicht sehen Sie jemanden, der in Gefahr ist, und entscheiden sich, sein Leben zu retten. Dann würde das Urteil sich daran orientieren, wessen Leben Sie gerettet haben und was
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derjenige mit den zusätzlichen Lebensjahren angefangen hat.« »Aber woher soll ich das denn wissen?« »Denken Sie nach, hören Sie auf Ihre innere Stimme«, antwortete der Dämon. »Niccolò Machiavelli wird sich in Florenz aufhalten, wenn Sie dort sind. Sie könnten ihn veranlassen, sein Hauptwerk nicht zu schreiben. Es heißt ›Deprincipatibus – Der Fürst‹ und hat in himmlischen Kreisen für einiges Aufsehen gesorgt.« Mephistopheles zögerte und betrachtete seine Fingernägel. »Wenn Ihnen gar nichts anderes einfällt, dann schauen Sie doch einfach, ob Sie nicht einen Botticelli für mich auftreiben können.« »Wäre das gut?« Wieder zögerte der Dämon. Man würde ihn aufs härteste zur Rechenschaft ziehen, wenn irgendwer das herausfände. Aber da gab es diese weiße ungeschmückte Wand in der westlichen Halle seines Palastes in der Hölle. Wie gut sich dort ein Gemälde von Botticelli machen würde! Die anderen Erzdämonen würden krank vor Neid werden, wenn sie es sähen. »Aber sicher«, behauptete er also. »Einen Botticelli mitzubringen, kann eigentlich gar nicht schlecht sein.« »Das Problem ist nur«, wandte Mack ein, »daß ich einen Botticelli nicht einmal von einem Dürer unterscheiden könnte. Die Malerei ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Ich weiß absolut nichts darüber.« »Ach, das ist kein Problem. Ich bin sicher, es wird niemanden stören, wenn ich Ihre Kenntnisse in diesem Bereich etwas verbessere. Es könnte doch immerhin möglich sein, daß es für Ihre Aufgabe notwendig ist, sich in der Kunst ein wenig auszukennen.«
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Er führte eine kurze Beschwörung aus, und Mack wurde ein bißchen schwindelig, als sich sein Gedächtnis plötzlich mit einem umfassenden Wissen über die Kunst der Malerei vom hellenischen Zeitalter bis zu seiner eigenen Zeit anfüllte. »Ein Gemälde von Botticelli soll ich also besorgen; ist das meine Aufgabe?« »Ich kann Ihnen nicht verraten, was Ihre Aufgabe dort sein wird. Ich darf Ihnen nur einige Hintergrundinformationen mit auf den Weg geben, damit Sie ungefähr wissen, worum es gehen könnte.« Er schwieg einen Moment nachdenklich, dann fuhr er fort: »Während Ihres Aufenthalts in dieser Epoche wird es Ihnen sicher nicht schwerfallen, an einen Botticelli zu kommen. Ich würde mich freuen, ihn Ihnen zu einem guten Preis abzukaufen.« »Nur für den Fall, daß ich keinen Botticelli bekomme, was soll ich dann tun?« »Ich kann es Ihnen wirklich nicht sagen, mein lieber Faust. Es gibt diesmal keine einfache Auswahl aus vorgegebenen Möglichkeiten. Sie sollen hier nicht nur herausfinden, welche die beste von drei verschiedenen Optionen ist. Hier wird mehr von Ihnen verlangt. Sie, ein einfacher Sterblicher, werden die Chance bekommen, auf eine Weise in den Verlauf der Geschichte einzugreifen, wie es sonst nur den Geistwesen erlaubt ist. Wir werden sehen, wie ein menschliches Wesen eine solche Aufgabe meistert.« »Gut, obwohl ich immer noch nicht so recht weiß, was ich eigentlich tun soll.« »Aber, mein lieber Freund! Sehen Sie es doch einfach als eine Art Quiz-Show an.« »Pardon?«
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»Ach, ich vergaß, die gibt es zu Ihrer Zeit ja noch gar nicht. Stellen Sie sich vor, Sie stünden vor einem Publikum und sollten irgendwelche Fragen beantworten. Für jede richtige Antwort erhalten Sie eine bestimmte Summe Geld. Und jetzt stehen Sie für die Summe von zehntausend Louisdor im Jahr 1497 vor den Feuern von Florenz. Direkt vor Ihnen brennt ein großer Scheiterhaufen, der aus allen möglichen Luxusgegenständen aufgeschichtet ist. Darunter befindet sich ein Gemälde von Botticelli, und Sie könnten es vor den Flammen retten. Was tun Sie?« »Ich verstehe«, antwortete Mack. »Und wenn Ihnen meine Antwort gefällt, bekomme ich das Geld?« »So ungefähr funktioniert das Spiel«, sagte Mephistopheles. »Eine andere Frage. Nehmen wir an, Sie befinden sich nun im Palast von Lorenzo de Medici. Er ist ein großer und furchtbarer Tyrann, aber auch ein begeisterter Liebhaber und großzügiger Mäzen der Künste. Er stirbt gerade. Hier, nehmen Sie das.« Er überreichte Mack eine kleine Phiole aus Glas, die mit einer grünen Flüssigkeit gefüllt war. »Nun haben Sie die Medizin in den Händen, die sein Leben um zehn Jahre zu verlängern vermag. Werden Sie sie ihm geben oder nicht?« »Puh«, stöhnte Mack. »Darüber müßte ich nachdenken. Können Sie mir noch mehr verraten?« »Tut mir leid, aber das war alles, was ich sagen durfte. Das Wichtigste diesmal ist die Schnelligkeit. Wir wollen sehen, wie schnell Sie eine Situation erfassen und verstehen können. Also, Doktor Faust, gehen Sie hin und erledigen Sie Ihre Aufgabe gut, für sich selbst und für die ganze Menschheit! Sind Sie bereit?« »Ich schätze Marguerite?«
schon«,
sagte
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Mack.
»Was
ist
mit
»Ich habe sie schon vorausgeschickt. Sie werden sie in Florenz treffen. Sie wollte die Gelegenheit nutzen, dort das ein oder andere einzukaufen, solange Zeit dafür ist. Sie finden sie auf dem Seidenmarkt.«
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KAPITEL 2 In einer anderen Ecke des Universums war mittlerweile ein regnerischer, düsterer Abend hereingebrochen. Große Amseln überflogen auf dem Weg nach wer weiß wo trostlos kreischend den westlichen Innenstadtbereich der Hölle. Die schmutzigen Straßen waren naß vom Regen. Überquellende Mülltonnen säumten die Bürgersteige, und die Schreie der Gemarterten drangen durch die vernagelten Fenster der Wohnhäuser zu beiden Seiten der Straßen. Dort waren die Geister untergebracht, die – soeben aus den Gruben befreit – zur immerwährenden Versklavung verdammt waren. Der einzig erfreuliche Ort war der Ichor Club zum fehlenden Anstand, der genau in der Mitte eines Häuserblocks gelegen war. In den Räumen des Clubs ging es hoch her, hier war alles und jeder lebendig und trendy. Dies war die gute Seite der Hölle. In einem Separee des Ichor Clubs hatte sich Azzie Elbub zu einer Verabredung mit Etta Giber eingefunden, die beim letzten Hexensabbat zur Miß Speichellecker des Jahres 1122 gewählt worden war. Als Siegesprämie hatte man ihr ein privates Treffen mit einem attraktiven und aufstrebenden jungen Dämonen versprochen. Sie war einigermaßen überrascht gewesen, als sich herausgestellt hatte, daß Azzie dieser Dämon sein sollte, denn sie hatte nicht mit einem fuchsgesichtigen Teufel mit orangefarbenem Haar gerechnet. Ihre enorme Anpassungsfähigkeit, der sie den Sieg im SpeichelleckerWettbewerb verdankte, hatte sich jedoch auch in diesem Fall ausgezahlt, so daß sie sich, schnell auf die überraschende Situation eingestellt hatte. Azzie seinerseits hatte die Mißwahl einige Jahre zuvor höchstpersönlich ins Leben gerufen, weil sie für ihn einen
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todsicheren Weg darstellte, Erdenmädchen zu ergattern.
Verabredungen
mit
Eigentlich war die Stimmung genau richtig, um sich süßen Erinnerungen an unwichtige Eroberungen hinzugeben. Das Licht war gedämpft, die Jukebox spielte Earth Angel, und ein kleiner, diskreter Strahler erhellte Miß Speichelleckers samtenes Dekolleté. In der Hölle wurden früher oder später alle irdischen Hits gespielt. Allerdings tauchten sie in den infernalen Gefilden immer zeitversetzt auf. Im Grunde war es ein absolut perfekter Abend. Trotzdem kam Azzie nicht recht in Stimmung. Spaß zu haben, ist in der Hölle geradezu Gesetz, doch Azzie war in rebellischer Stimmung. Er hatte Wichtigeres zu tun. Er mußte sich überlegen, wie er für sich das Beste aus dem Jahrtausendwettstreit zwischen den Mächten des Lichtes und der Finsternis herausholen konnte – und damit notwendigerweise auch, was mit Faust geschehen sollte. Faust war nicht leicht zu gewinnen. Azzie war bisher daran gescheitert. Er fragte sich, ob es am Inhalt seines Angebotes gelegen haben könnte, aber was hätte er neben Ruhm, Reichtum und Helena von Troja noch offerieren sollen? Faust war ein problematischer Vertreter der Menschheit, daran konnte nicht der mindeste Zweifel bestehen. Er war völlig unberechenbar. Niemand konnte im voraus sagen, was er wohl als nächstes tun würde. Unter diesen Umständen waren die Mächte der Finsternis vermutlich besser beraten, ihn nicht im Wettstreit zu haben. Faust war vielleicht kein guter Mensch, aber er war immer noch weit davon entfernt, böse zu sein. Mack hingegen, sein Ersatzmann, war vor allem von schlichterem Gemüt. Man konnte mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, daß er leichter zu
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berechnen war und folglich bessere Ergebnisse erzielen würde. Azzie dachte noch eine Weile darüber nach. Je mehr er die beiden Aspiranten gegeneinander abwägte, desto problematischer erschien ihm Faust. Schließlich hatte er eine Entscheidung getroffen. »Hör mal«, sagte er zu Miß Speichellecker. »Es war wirklich nett mit dir, und ich habe mich gefreut, dich kennenzulernen, aber jetzt muß ich leider gehen. Und mach dir keine Sorgen um die Rechnung, es ist alles bezahlt!« Mit diesen Worten sprang er auf und verzog sich in eine kleine Beschwörungsnische, die der Club für anspruchsvolle Mitglieder eingerichtet hatte, denen es unangenehm war, ihre Beschwörungen in aller Öffentlichkeit durchzuführen. Er zauberte sich auf den Zeitstrahl, um in die Vergangenheit der Erde zu reisen. Der Zauber startete, und die Jahre flogen zurück wie die Blätter eines Kalenders in einer fernen Zukunft, in der es einmal solche Dinge geben würde. Der Zauber schickte ihn schneller in vergangene Zeiten zurück, als es sein Gedächtnis hätte tun können. Er konnte zusehen wie sich alles entgegengesetzt entwickelte, so als würde die Zeit sich selbst verschlucken. Alte Männer wurden wieder jung, Vulkane bildeten sich zurück und verschwanden in ihren Ursprüngen, Eisberge schwammen über die Erde, und die menschliche Rasse durchlief noch einmal in umgekehrter Richtung die Stadien ihrer Entwicklung, bis sie schließlich verschwunden war. Am Ende seiner Reise durch die Geschichte der Menschheit passierte er die Grenze zum Land der Mythen und Legenden, das Homer und seinesgleichen kreiert hatten. Vor ihm wand sich Lethe, der Fluß des Vergessens, gleich darauf tauchte der große Krater des Avernus in seinem Blickfeld auf. Er flog hinein und folgte
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dessen Windungen und Strömungen bis in die Tiefen der Hölle und traf dort auf den Fluß Styx. Er fühlte sich, als würde er durch die Gedärme einer Schlange reisen. Alles war in fahle, gräßliche Farben getaucht, die von hoch aufragenden, phosphoreszierenden Felsen widergespiegelt wurden. Manchmal konnte Azzie Männer auf den Felsen stehen sehen – aufrechte heroische Männer in Lendentüchern, in denen sie wie die verlorenen Figuren auf einem Holzschnitt Gustave Dorés anmuteten. Azzie hatte sein Ziel erreicht; die Grenze zur Hölle lag vor ihm. Er korrigierte seinen Kurs und folgte nun dem Styx, bis er schließlich das Hausboot Charons erreichte, das nahe dem schlammigen Ufer vertäut lag. Im Heck des Bootes konnte er Faust und Helena erkennen. Sie waren in ein Gespräch vertieft und hatten den Blick auf das schwarze Flußwasser gerichtet. Azzie stieß herab und legte eine blitzsaubere Landung auf dem Deck hin. Er setzte so sanft auf, daß das Boot sich kaum bewegte, dennoch reichte es aus, um Charons Aufmerksamkeit zu erregen. Charon sah auf, um festzustellen, wer sich da auf seinem Boot niedergelassen hatte, doch Azzie beachtete ihn gar nicht. »Ja, was sehe ich denn da?« kreischte er. »Doktor Faust! Einen guten Tag wünsche ich.« »Sei mir gegrüßt, übler Geist!« entgegnete Faust. »Was führt dich hierher?« »Ich dachte mir, ich sehe mal nach dir«, sagte Azzie und setzte sich auf einen der Klappstühle, die gegen die Reling gelehnt waren. »Wie läuft's denn so?«
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»Recht gut. Charon ist kein einfacher Verhandlungspartner, aber ich denke, ich konnte ihn davon überzeugen, mit mir zusammenzuarbeiten.« »Charon überzeugen? Wie ist dir denn das gelungen?« fragte Azzie staunend. »Ich habe ihm erklärt, daß er durch mich die Chance erhalten wird, einen neuen Mythos der Tapferkeit zu begründen.« »Was für ein Mythos?« »Ganz einfach. Es ist die Geschichte von der sagenhaften Zusammenkunft von Faust und Charon, die Geschichte davon, wie Faust mit Charons Unterstützung zu Orten reist, die nie ein Mensch zuvor betreten hat, und wie er mit der schönen Helena zurückkehrt.« »Hah!« ließ sich Helena vernehmen, die ganz in der Nähe saß, mit ihren Füßen im Wasser spielte und der Unterhaltung lauschte. Azzie ignorierte sie und wandte sich wieder an Faust. »Ich habe einen neuen Vorschlag für dich.« »Ich habe dir doch bereits gesagt, daß ich dir keinesfalls gehorchen werde.« »Darum geht es auch gar nicht«, erklärte Azzie. »Schau, das Spiel um die Machtverhältnisse des kommenden Jahrtausends läuft nun einmal schon! Dieser Mack ist im Rennen und hat deine Rolle übernommen. Es gefällt mir auch nicht, und ich hätte einen solchen Fehler sicher nicht begangen, aber das ist nun einmal der Stand der Dinge. Er hat bereits zwei Episoden hinter sich, und es ist vollkommen egal, ob er sie gut oder schlecht gemeistert hat. Was geschehen ist, ist geschehen, und es gibt nichts, das du oder ich daran ändern könnten. Also sage ich dir, vergiß die ganze Angelegenheit! Laß Mack
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die Sache zu Ende bringen, und bleib dem Wettkampf fern! Ich werde deine Großmut und Geduld angemessen entlohnen.« »Wie willst du das anstellen?« fragte Faust. »Ich werde dir einen Abschnitt der Geschichte heraussuchen, der dir wie auf den Leib geschneidert sein wird. Du wirst reich und berühmt sein.« »Ich allein? Oder wird mich eine passende Gemahlin begleiten?« Azzie stöhnte innerlich auf. Schon wieder fing dieser Kerl zu feilschen an! »Helena wird an deiner Seite sein. Sie wird ein Teil unseres Handels. Johann, alle Welt wird dich beneiden und du wirst reich sein – so reich, wie du es dir nicht vorstellen kannst.« »Du bist ein verschlagener und trickreicher Teufel«, entgegnete Faust. »Womöglich wirst du mir all das geben und nebenher mein Gehirn verwirren oder mich paralysieren, auf daß ich nichts davon werde genießen können. Ich kenne deine Tricks, Dämon.« »Du denkst wirklich, ich würde so etwas tun? Ich mag ja böse sein, aber ich bin kein schlechter Kerl. Ich sage dir etwas, das deine Zweifel zerstreuen wird. Ich gebe dir eine komplette Verjüngungsbehandlung dazu. Du wirst dich fühlen und aussehen wie ein völlig neuer Mann, und das auf geistiger wie auf physischer Ebene. Du wirst noch viele, viele Jahre eines aktiven, wundervollen Lebens vor dir haben. Und das wird gut werden, Doktor, ach, wie wird das gut werden!« Azzie ging derart in seiner eigenen Schwärmerei auf, daß er Fausts Hand in einer gezierten Geste küßte, die nicht zu seinem üblichen Verhaltensrepertoire gehörte. Trotzdem blieb Faust unbeeindruckt.
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»Nein«, entgegnete Faust, »tut mir wirklich leid, ich verstehe dein Ansinnen, aber ich kann es nicht tun.« »Aber warum nicht?« fragte Azzie klagend. »Es wäre dem Faust nicht angemessen, verstehst du das? Ich weiß, du mußt dich um euren Wettkampf sorgen. Ich aber habe die Größe des Faust zu bedenken und – falls mir dafür noch Zeit bleibt – mich der Zukunft der Menschheit im allgemeinen anzunehmen. Es tut mir leid, mein armer teuflischer Verführer, aber ich kann dir den Gefallen nicht tun.« »Nun ja, den Versuch war es wohl wert«, seufzte Azzie. »Was hast du jetzt vor?« »Es ist noch immer meine Absicht, meinen rechtmäßigen Platz in dem Wettstreit einzunehmen. Ich weiß nicht, ob ich es noch rechtzeitig schaffe, nach Florenz zu gelangen, aber danach steht als nächste Station London auf dem Plan. Ich habe Charon bereits vorgeschlagen, mich dorthin zu bringen. Es wäre auch für ihn eine nette Abwechslung, einen Tag auf der Themse zu verbringen.« Charon, der das Gespräch verfolgt hatte, kam nun herbeigeschlurft. Er lachte auf seine ungemütliche Art und sagte: »Ja, Faust, das ist schon richtig. Und ich war auch damit einverstanden, allerdings nur unter der Bedingung, daß du für einen Reisezauber sorgst, der uns die nötige Antriebskraft für eine solche Reise verschafft. Das Schiff der Toten wird nicht allein von seinen Rudern durch Raum und Zeit getragen werden.« Faust wandte sich wieder an Azzie. »Dieser Reisezauber… meiner ist schon ziemlich verbraucht. Denkst du, du könntest ihn für mich wieder aufladen? Oder, besser noch, mir einen ganz neuen Reisezauber
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überlassen, damit Charon und ich uns auf den Weg machen können?« »Sicher«, entgegnete Azzie und zog einen handlich verpackten Zauber aus seinem Beutel. Verstohlen zog er den Aufkleber vom Amt für Zaubernormen ab, auf dem MANGELHAFT – NICHT VERWENDEN zu lesen stand, und reichte ihn Faust. »Viel Glück«, sagte er und beschwor sich selbst davon. Er war sehr zufrieden mit sich. Um Faust mußte er sich keinerlei Sorgen mehr machen. Der Bursche war dabei, sich selbst auszuschalten, mit der geringfügigen Unterstützung durch einen schlauen, fuchsgesichtigen, durchtriebenen, reisezauberschenkenden Dämon.
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KAPITEL
3
»Was sollte das vorhin? Was hast du gemeint mit ›hah‹?« fragte Faust Helena, während Charon das Schiff für die Reise vorbereitete. Helena – so schön wie unnahbar – stand an der Reling und sah auf das Wasser herab, aus dem dann und wann ein Fisch auftauchte und gleich wieder verschwunden war. Das schwarze Wasser plätscherte in kleinen Wellen dahin und spiegelte die Taten von Menschen und Göttern auf seiner Oberfläche wider. Ohne sich umzusehen, antwortete Helena: »Das war ein Ausdruck der Geringschätzung, und das wiederum ist die Emotion, die ich für dich und deinen Sexismus aufbringe.« »Sexismus? Ich soll sexistisch sein? Ich bin Faust!« »Wie schön für dich! Und was ist mit mir? Du magst auf deine Weise durchaus klug sein, aber eine Frau siehst du dennoch nur als ein Objekt an, als eine Siegestrophäe, um die ihr Männer in euren unsinnigen Kriegen kämpfen könnt.« »Deine Worte passen gar nicht zu dem, was unsereins über Helena von Troja gelernt hat«, meinte Faust. »Du klingst mehr nach einer Intellektuellen als nach dem süßen Stück Zuckerwerk, für das die Menschheit dich immer gehalten hat. Die Geschichte hat uns deine Ansichten über Männer nicht überliefert.« »Was für ein Wunder! Geschichte selbst ist sexistisch«, ereiferte sich Helena. »Geschichte wird von Siegern geschrieben, und die erzählen nur, was ihnen gefällt. Warum sollte es auch anders sein? Mit der Geschichte werden Tatsachen geschaffen, werden Rollen verteilt, und wenn es nach dem Willen derer geht, die sie schreiben,
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dann werden wir einfach unseren Rollen folgen. Das ist nicht gerade fair.« »Worüber regst gerade du dich auf«, fragte Faust. »Du bist schön und berühmt.« »Ja, sicher. Und gefangen in einer ewigen naiv unschuldigen Rolle. Meine Freunde lachen mich sogar aus. Und warum? Nur weil Idioten wie du nicht aufhören, um mich herumzulungern und sich einzubilden, sie wären die Größten, weil sie mich in ihrer Gewalt haben.« »Ich? Dich in der Gewalt haben? Eher schon ist es umgekehrt, du hast Macht über mich, und ich folge gehorsam jeder deiner Launen.« »Ach ja? Warum bringst du mich dann nicht zurück in den Hades, aus dem mich der Dämon entführt hat?« »Das steht absolut nicht zur Debatte«, erklärte Faust. »Nun komm schon! Versuch, ein bißchen nett zu sein, ich tu' es doch auch!« »Den Teufel werde ich tun. Du kannst vielleicht meinen Körper haben, aber mich bekommst du nie.« »Hmm«, brummte Faust und sah sie lüstern an. »So mancher weise Mann würde sich nur zu gern mit deinem Körper begnügen.« »Du wirst auch meinen Körper nicht bekommen. Erst mußt du mich töten.« Faust stellte fest, daß der Gedanke so abwegig gar nicht war, aber er verkniff sich jede weitere Bemerkung dazu. Das Komische an der Sache war, daß er sie gar nicht mehr so sehr begehrte. Sie zu besitzen, zu beherrschen, zu dominieren – sicher. Aber sie zu lieben? Solange sie geschwiegen hatte, war sie ihm als das reizvollste Wesen auf der ganzen Welt erschienen, doch wenn sie sprach, entpuppte sie sich als ein echter
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Drache. Er wunderte sich wirklich, daß die antike Welt nicht das geringste über Helenas Art der Konversation hatte verlauten lassen. »Jetzt beruhige dich«, sagte er. »Laß uns sachlich diskutieren! Es gibt in unserer Welt nun einmal nicht sehr viele verschiedene Rollen, die wir spielen können. Ich spiele die eines Professors, doch ich kann dir versichern, sie erfüllt mich nicht. Der Umgang mit gebieterischen Frauen liegt mir allerdings auch nicht sehr, um die Wahrheit zu sagen, ich bevorzuge Gänsemägde. Aber selbst wenn es nicht mein ursprüngliches Bestreben war, dich zu besitzen, so hast du doch mein Verlangen geweckt, und nun spiele ich meine Rolle in diesem Stück. Schicksal, Notwendigkeit, Zufall oder wer auch immer hat dir die Rolle der absolut begehrenswerten Frau zugeteilt. Du sollst der Inbegriff der süßen Verführung sein. Es wird dir nicht weiterhelfen, etwas anderes sein zu wollen. Dies ist die Rolle, die dir bestimmt ist, und es ist eine gute Rolle. Tausende und abertausende Frauen würden alles geben, dürften sie deinen Platz einnehmen. Diese Rollenverteilung ist schon eine kluge Sache, und selbst wenn du die deinige ablehnst, so solltest du doch wenigstens einmal versuchen, die ganze Angelegenheit von dieser Seite aus zu betrachten.« Helena dachte eine Weile nach, ehe sie antwortete. »Nun, Faust, du führst ein sicheres Wort, und du sprichst frei heraus. Also werde ich nun ebenso frei sein. Bist du meiner würdig? Der Archetypus der Helena ist überall in der Welt bekannt, doch ich hörte noch nie von einem Faustschen Archetypus.« »Er ist erst lange nach deiner Zeit entstanden«, erklärte Faust. »Trotzdem ist er nicht minder wichtig als der deine. In der alten Welt mögen sich die Männer
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gewünscht haben, so zu sein wie Odysseus oder Achilles, heutzutage ersehnen sie das Ideal des Faust.« »Kannst du mir dieses Ideal erklären?« fragte Helena. »Es ist sehr schwierig, das wahre Wesen der eigenen göttlichen Macht in Worte zu fassen. Sagen wir einfach, Faust will mehr. Das trifft es zwar nicht ganz, aber es kann dir ein Gefühl für den Kern des Ideals vermitteln.« »Ein Vorausdenker? Prometheus?«
So
eine
Art
neuzeitlicher
»Ja, Helena. Möglicherweise«, entgegnete Faust kichernd. »Allerdings mit einem kleinen, aber bedeutenden Unterschied. Prometheus endete an einen Felsen gekettet, wo ein Geier seine ewiglich gesundende Leber fraß. Faust dagegen bewegt sich frei in Raum und Zeit. Mit ein bißchen Hilfe von Freunden, zugegeben. Dennoch, das ist der große Unterschied zwischen der alten und der neuen Zeit.« »Wie ich sehe, bist du in der Lage, deinen Part in einer Konversation bravourös beizubehalten«, sagte Helena. »Immerhin etwas.« Sie kicherte, und Faust fühlte eine wohlige Gänsehaut seinen Körper hinaufsteigen. Der Impuls sexueller Erregung nahm Besitz von den zugehörigen Rezeptorzellen und versetzte sie in fast rasende Aktivität, bis sich schließlich sein unbeugsamer Wille durchsetzte und den Körper wieder zur Ruhe brachte. »Also gut, Faust«, ergriff Helena wieder das Wort. »Ich denke, es könnte mich interessieren, die groben Umrisse deines Mythos etwas näher kennenzulernen. Was wird als nächstes geschehen?« »Als nächstes verschwinden wir erst mal von hier«, antwortete Faust. »Charon! Ist das Boot fertig?«
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»Ja! Hast du den Reisezauber?« »Hier ist er«, entgegnete Faust und reichte ihn weiter. Charon befühlte mit den Fingern die Planken der Bootswand und fand schließlich den Antriebsschacht. Vorsichtig legte er den Zauber ein, dessen äußere Form der einer Batterie glich. Faust sprach die Beschwörung, die den Zauber aktiviert. Ein Geist stand mittschiffs und kappte die Taue, als die Energie des Reisezaubers einen ersten Ruck durch das Schiff gehen ließ. Noch ein Ruck, und eine graugrüne Rauchwolke mit merkwürdigen kleinen nebulösen Ausläufern, die von einem ockerfarbenen Licht begleitet wurde, stieg auf. Dann startete der Reisezauber durch und mit ihm Charons Hausboot. Einem Beobachter am Ufer, der das Totenschiff ablegen gesehen hätte, wäre möglicherweise aufgefallen, daß graugrüne Rauchwolken nicht zu den üblichen Begleitumständen einer Zauberbeschwörung gehören, außer vielleicht bei einem mangelhaften Antriebszauber. Das Boot bewegte sich nicht so, wie man es eigentlich von einem magiegetriebenen Kahn hätte erwarten sollen. Ein Beobachter hätte aus den Vorgängen geschlossen haben können, daß irgend etwas ganz und gar verkehrt lief, und damit wäre er der Wahrheit sehr nahe gekommen.
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KAPITEL 4 Als Mack wieder zu sich kam, lief er eine von Pappeln gesäumte Straße hinab. Er streckte sich etwas, richtete sich zu voller Größe auf und erkannte in geringer Entfernung eine Stadt, die einen edlen und reichen Eindruck machte. Es war ein warmer, sonniger Tag. Viele Leute waren auf der Pappelallee unterwegs. Mack sah Kniebundhosen, Tuniken und weiche Lederstiefel – Kleidung, die ihn an Krakau erinnerte. Diese aber zeugte hier unverkennbar von italienischer Großspurigkeit. Mack sah an sich herab und stellte fest, daß Mephistopheles ihn in demselben Stil eingekleidet hatte. Nach einer Weile erreichte er die Stadt. Er passierte die Tore und fand sich in der regen Lebendigkeit wieder, die Florenz mehr als jede andere Stadt auszeichnete. Die engen Straßen waren voller Menschen. jedermann schien auf den Beinen zu sein, und die meisten Menschen trugen legere Freizeitkleidung. Florenz befand sich an diesem schönen Frühlingstag in festlicher Stimmung. Bunte Fahnen hingen von Balkongeländern und Dächern herab und flatterten im Wind. Sie zeigten die Farben und Wappen der einzelnen Stadtteile. Lebensmittellieferanten waren überall in den Straßen unterwegs, um die neuesten Delikatessen – kleine Renaissance-Pizzen – unter die Leute zu bringen. Bewaffnete Reiter mit Stahlhelmen zogen durch die Straßen und schoben die Leute in einer Art aus dem Weg, wie sie für die Polizei eines jeden Zeitalters typisch zu sein schien. Mack kam an vollgepackten Ständen mit Kleidung, Haushaltwaren, Gewürzen, Schwertern und Messern vorbei. Hier wurden große Porzellangefäße verkauft, dort Wassermelonen und da Fische.
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Mack fand den Trubel außerordentlich anregend und interessant, doch er beschloß, daß es besser sei, sich zunächst um eine Unterkunft zu kümmern. Er überprüfte seine Geldbörse und stellte fest, daß Mephistopheles nicht geizig gewesen war. Er hatte mehr als genug Geld zur Verfügung. Ein Stück weiter die Straße hinauf sah er ein Gasthaus. An der pastellfarbenen Fassade des Gebäudes hing ein blattgoldenes Schild, das ihn mit der Aufschrift Paradiso geradezu zur Einkehr aufforderte. Der Eigentümer, ein stämmiger, rotgesichtiger Mann mit einer Furunkulose auf der Nase, reagierte zunächst recht mißtrauisch auf die Ankunft des Fremden, der sich nicht durch einen Boten hatte ankündigen lassen. Ein Goldstück aus Macks Börse ließ ihn jedoch gleich freundlicher werden. »Ihr werdet unser bestes Zimmer bekommen, lieber Doktor Faust! Ihr habt eine gute Zeit gewählt, unser schönes Florenz zu besuchen. Dies ist ein gesetzlicher Feiertag, an dem wir Florentiner all den nutzlosen eitlen Tand verbrennen.« »Ich habe davon gehört«, sagte Mack. »Wo finden die Feierlichkeiten statt?« »Nur einige Blocks von hier entfernt, auf der Piazza Signoria«, erklärte der Wirt. »Ihr werdet eines der bemerkenswertesten Ereignisse unserer Zeit beobachten können. Savonarola sagt, daß das Feuer dieses Jahr ganz besonders groß sein wird.« »Was für ein Mann ist dieser Savonarola?« fragte Mack. »Er ist der heiligste aller Mönche und Betbrüder. Er lebt in einfachen Verhältnissen und verzichtet auf jeden Luxus, ganz anders als die Kirchenfürsten, die sich uns gegenüber als Herrscher aufspielen wollen. Er predigt gegen den Ämterhandel, die Genußsucht und die Übel in
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der päpstlichen Kirche, und er unterstützt die Allianz mit Frankreich.« »Was beinhaltet diese Allianz?« »Es ist ein Abkommen mit dem König von Frankreich, das uns vor dem Ansinnen des Papstes schützen soll, die Medici wieder in machtvolle Positionen zu bringen.« »Sie sind nicht besonders beliebt, diese Medici, oder?« erkundigte sich Mack. »Sie haben sich um uns wahrhaft verdient gemacht«, erwiderte der Wirt. »Lorenzo wird zu Recht Il Magnifico, der Prächtige, genannt. Er ist der größte Kunstmäzen auf Erden. Unter seiner Herrschaft wurde Florenz zur schönsten Stadt der Welt.« »Trotzdem mögt ihr ihn nicht?« »Die Menschen, die in dieser Stadt leben, haben für seine Pracht bezahlen müssen«, antwortete der Wirt achselzuckend. »Und außerdem mögen wir es nicht, wenn sich irgendeine Familie zu Herrschern über unsere Stadt aufspielt. Wir Florentiner sind freie Menschen, und wir haben die Absicht, frei zu bleiben.« Mack inspizierte sein Zimmer und stellte fest, daß es seinem neuerdings gewohnten Standard absolut entsprach. Nun wurde es Zeit, Marguerite aufzutreiben. Von dem Gasthausbesitzer erfuhr er, daß der Seidenmarkt auf einer kleinen Piazza an der FiesoleStraße stattfinden würde. Der Wegbeschreibung des Wirtes folgend, stieß Mack schließlich auf eine chaotische Ansammlung von Marktständen, die ihn an einen orientalischen Basar erinnerte. Die Stände standen dicht gedrängt, und ein ganzer Rattenschwanz von Besuchern strömte durch die engen Durchgänge. Waschseide lag hoch aufgestapelt neben dem zweifach gefärbten Material, das in diesem Jahr der Renner in Amsterdam
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werden sollte, und seidenen Estofados und nackenfreien Sanbenito-Sporthemden für den spanischen Handel. Hier und da zwischen den Ständen der Händler befanden sich kleine Erfrischungsbuden, wo die Neuheit verkauft wurde, die Marco Polo aus China mitgebracht hatte. Dort bezeichneten die Menschen es mit dem merkwürdigen Namen Nudel. Mack entdeckte Marguerite in einer Art Vorläufer neuzeitlicher Boutiquen, die die Verhaltensweisen der Kundschaft zukünftig so nachhaltig verändern sollten. Marguerite betrachtete sich in einem kleinen Spiegel, den der Eigentümer, ein Mann mit einer Hasenscharte, aber – fast wie eine Entschädigung der Natur – auffallend guten Zähnen, nach ihren Anweisungen ständig um sie herum führte. »Ah, Signor«, rief er. »Ihr seid genau zum rechten Zeitpunkt gekommen, Eure Dame in all ihrem Glänze zu sehen!« Mack lächelte gönnerhaft. Es war nicht sein Geld, warum also nicht großzügig sein? »Greif ruhig zu, Schätzchen!« sagte er mit heiserer Stimme. »Sieh nur, was ich ausgewählt habe«, antwortete sie. »Ist dieses Ballkleid nicht entzückend? Du mußt dir Signor Enricos Herrenkleidung zeigen lassen. Er führt die neueste Mode, sogar Camicias.« »Camicia?« echote Mack fragend. Signor Enrico lächelte und zwinkerte mit seinen warmen braunen Augen. »Es ist das Neueste aus Ungarn«, erklärte er. »Ein ungezwungener, lässiger Stil. Für den Abend kann ich Euch eine ganz wundervolle Ausstattung empfehlen, deren Charme es ist, Eure
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Männlichkeit dezent hervorzuheben, ohne sie laut in den Nachthimmel hinauszuschreien.« »Ich mag seine Art zu reden«, schwärmte Marguerite. Mack kam sich bei dieser Art der Konversation ziemlich albern vor. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß es eines der Glanzlichter im Leben eines erfolgreichen Mannes war, einer schönen Frau teure Kleider zu schenken. Wenn Marguerite fertig eingekleidet war, könnte er sich selbst nach diesem oder jenem umsehen und nötigenfalls Mephistopheles um einen Vorschuß auf seine Belohnung bitten. Mack wurde klar, daß er einen Fehler gemacht hatte. Er hätte diese Belohnung genau aushandeln und schriftlich fixieren müssen. Aber jetzt war dieser Gedanke müßig. Er würde sich darum kümmern, sobald sich eine geeignete Gelegenheit dazu ergab. Zwischenzeitlich würde ein kleiner Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte, schon seinen Zweck erfüllen, denn schließlich hatte es kaum Sinn, wenn er sich für etwas abmühte, das ihm gar nicht zusagte. Das wäre wirklich unnötige Zeitverschwendung. »Du siehst großartig aus, meine Liebe«, sagte er. »Bitte beeile dich ein bißchen, damit ich mit meinen Geschäften vorankomme!« »Was für Geschäfte denn, Liebster?« »Ich muß einen Botticelli besorgen. Ich kann einen wirklich guten Gewinn machen, wenn ich einen auftreibe.« »Ein Botticelli?« mischte Enrico sich ein. »Vielleicht kann ich Euch helfen, Herr. Ich kenne alle Maler in der Stadt, und es wäre mir eine große Ehre, Euch meine Unterstützung und Fachkenntnis anzubieten.« Schnell fügte er hinzu: »Nicht, daß ich dächte, Ihr kämet nicht
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ebenso gut allein zurecht. Ganz offensichtlich seid Ihr ein Kenner, Herr.« »Das Angebot klingt gut. Versuchen wir es doch einfach«, entgegnete Mack. Er wollte sich gerade umdrehen, um das Geschäft zu verlassen, als ein Mann zur Tür hereingestürmt kam. »Ich suche Doktor Faust! Den deutschen Arzt! Im Paradiso haben sie gesagt, er sei zum Seidenmarkt gegangen.« »Ich bin der, den du suchst«, sagte Mack. »Wo liegt denn das Problem, guter Mann?« »Es ist mein Herr! Er stirbt! Als er hörte, daß ein neuer deutscher Arzt in der Stadt weilt, schickte er mich los, ihn zu suchen. O Herr, wenn Ihr ihn heilen könnt, wird Euch gegeben werden, was immer Ihr begehrt.« »Ich bin ziemlich beschäftigt.« versuchte Mack sich herauszuwinden. Der Gedanke, seine angeblichen Heilfähigkeiten unter Beweis stellen zu müssen – noch dazu in einer so gereizten Stimmung, wie er sie in Florenz zu spüren glaubte –, gefiel ihm überhaupt nicht. »Wer ist dein Herr?« »Es ist Lorenzo de Medici, Il Magnifico!« »Es ist erstaunlich, wie schnell die Dinge Form annehmen«, raunte Mack Marguerite zu. »Sei so gut, meine Liebe, nimm deine Sachen, und warte im Hotel auf mich! Ich muß einen Akt der Barmherzigkeit vollführen.«
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KAPITEL 5 Mack folgte dem Diener zum Palast der Medici, der sich in einem kleinen, aber exklusiven Villenvorort nahe dem Arno befand. Es war ein prächtiges Gebäude mit Marmorsäulen und einer attischen Veranda. Die Türen aus lackiertem Mahagoni waren mit ausgedehnten Schnitzereien im Stil von Damiato, dem Verdammten, verziert. Diener in feinen Anzügen mit weißen neapolitanischen Hemden erwarteten ihn bereits. Sie sahen Mack etwas argwöhnisch an, denn sein Äußeres ließ in dieser edlen Umgebung doch sehr zu wünschen übrig. Im Gegensatz zu dem Markt der Illusionen, den er soeben verlassen hatte, wirkte er hier deplaziert. Nur auf die Bitte des alten Dieners hin, der ihn hergeführt hatte, gewährten ihm die anderen Einlaß. Händeringend und weinend führte ihn der alte Diener über verlassene Korridore, deren Wände mit Ölgemälden bedeckt waren, zu einer großen Rosenholztür am äußersten Ende des Flurs. Der Diener klopfte an die Tür, um ihre Anwesenheit kundzutun, ehe er öffnete und Mack den Blick auf einen Raum freigab, der jedem König zur Ehre gereichen würde. Kunstvolle Gemälde zierten die Wände, und kleine formvollendete Skulpturen standen überall im Raum verteilt. Den Boden bedeckte ein wertvoller orientalischer Teppich, und von der Decke hing ein kristallener Kronleuchter herab, der den Raum in helles warmes Licht tauchte. Die Fenster waren hinter schweren Vorhängen verborgen, durch die nur wenig Sonnenlicht ins Innere des Raumes drang. Ein Geruch von Schwefel und Krankheit, von Wein und Tränen hing in der Luft. Auf dem Tisch war ein Festmahl angerichtet worden,
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doch darunter lagen die Fäkalien der Hunde, die gleich daneben an Knochen nagten. Ein großes, breites und kunstvoll geschnitztes Bett mit einem prächtigen Baldachin dominierte den Raum. Große Wachskerzen brannten auf Tischen um das Bett herum, und im Kamin flackerte ein Feuer. »Wer ist dort?« fragte Lorenzo de Medici. Lorenzo lag fest in die Laken gewickelt in seinem Bett. Jedes seiner siebzig Lebensjahre hatte sich tief in seine Züge eingegraben. Die Wassersucht hatte seinem Körper die Lebensenergie geraubt. Sein graues, aufgedunsenes Gesicht hielt er Mack zugewandt. Es zeigte genau den Ausdruck, mit dem kleine, gescheite Augen darum rangen, einen Handel mit Gevatter Tod abzuschließen, um noch ein bißchen mehr Zeit herauszuschlagen. Doch selbst in dieser kläglichen Verfassung hatte der Kranke Klasse. Er war Lorenzo de Medici, und Klasse war ihm angeboren. Er trug ein langes, weißes, mit Einhörnern besticktes Baumwollnachthemd und eine schwarze Bettkappe mit einem Band aus Klöppelspitze, das er unter dem Kinn verknotet hatte. Wo sein Gesicht nicht von Fäulnis aufgebläht war, schien es so eingefallen zu sein, daß man die Knochen unter der dünnen, blassen Haut deutlich zu erkennen meinte. Seine Lippen, die zu einer Zeit, als ein Medici-Papst einen Medici-Gott propagiert hatte, noch voll und rot gewesen waren, zeigten sich nun ausgedörrt und rissig, nachdem sie viele Jahre die Bitterkeit der Welt geschmeckt hatten. Eine Arterie in seinem Nacken pulsierte so heftig, als wolle sie fragen, warum sie nicht gemeinsam mit den anderen Blutbahnen kollabiert war. Die Finger seiner linken Hand, zittrig und von der Krankheit schwer gezeichnet, befanden sich in ständiger, flüchtiger Bewegung. »Ich bin Doktor Faust«, stellte sich Mack vor. »Was ist Euer Problem?«
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»Ich«, donnerte der Medici mit einer Stimme, die, obwohl nur ein Schatten ihrer selbst, noch immer den Staub auf dem Baldachin in Bewegung versetzen konnte, »bin der reichste Mann der Welt.« Eine wahrhaft höllische Eröffnung, doch Mack hatte nicht die Absicht, sich davon einschüchtern zu lassen. »Und ich«, antwortete er, »bin der teuerste Arzt der Welt. Wie schön, daß wir uns kennengelernt haben.« »Wie gedenkt Ihr, mich zu heilen?« grummelte de Medici derart gebieterisch, daß selbst die Maden in seinem Fleisch aus Respekt für den alten Herrn für einen Moment ihre Mahlzeit unterbrochen haben dürften. Mack wußte, daß die Behandlung denkbar einfach war. Er mußte nur die Phiole mit Medizin, die Mephistopheles ihm gegeben hatte, aus der Tasche nehmen und ihren Inhalt in des Kranken Kehle rinnen lassen. Aber er war nicht gewillt, Lorenzo das wissen zu lassen. Wer würde schon einen anständigen Preis für eine derart simple Sache bezahlen? Er würde die Medizin als letzten Schritt seiner Behandlung einsetzen, aber zuerst würde er eine großartige Prozedur abhalten. Schon Galenos hatte gewußt, daß die Methode der Behandlung ein unverzichtbares Gerüst darstellte. Aber mehr als alles andere, dessen war Mack sich sicher, kam es darauf an, einen tiefen Eindruck zu hinterlassen. »Zuerst brauche ich eine goldene Schüssel«, sagte er. »Aber keinen Ramsch. Es muß vierundzwanzig Karat haben.« Ihm war der Gedanke gekommen, daß eine goldene Schüssel auch nicht zu verachten sei, falls etwas schiefgehen sollte. Es ist schon komisch, welche Gedanken einem Mann in Krisensituationen durch den Kopf gehen können.
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»Besorgt ihm alles, was er braucht!« wies Lorenzo seine Diener an. Die Diener schwirrten geschäftig herum. Nur während sie den Schlüssel zu dem Schrank suchten, in dem die goldenen Gefäße, Töpfe und Pfannen aufbewahrt wurden, gab es eine kurze Verzögerung. Schließlich brachten die Diener die gewünschte goldene Schüssel und einen ganzen Haufen alchimistischer Ausrüstungsgegenstände noch dazu. Lorenzo de Medici war von einer allumfassenden Sammelleidenschaft befallen, und er besaß einen ganzen Raum voller alchimistischer Geräte modernster Bauart. Allein sein Destillierkolben aus schimmerndem Glas und polierter Bronze bot einen beachtenswerten Anblick. Auch sein Schmelztiegel war ein Wunderwerk der Präzision. Mack fragte sich, warum der Medici mit all seinem edlen Trödel und der sicher umfassenden Grundlage geraubten Wissens sich nicht ganz einfach selbst kurierte. Gerade, als Mack damit beschäftigt war, Reagenzgläser und Brenner aufzustellen, klopfte es heftig an die Tür. Gleich darauf wurde sie aufgestoßen, und der berühmteste Mönch der Welt, Bruder Girolamo Savonarola, betrat den Raum. Der Mönch, der das Gesprächsthema in ganz Italien zu sein schien, war groß und entsetzlich blaß. Seine brennenden Augen hefteten sich auf de Medici. »Man sagte mir, Ihr wolltet mich sprechen.« »Ja, Bruder«, antwortete de Medici. »Ich weiß, wir hatten unsere Differenzen, doch ich bin überzeugt, daß wir beide für ein starkes Italien, eine sichere Währung und ein Ende kirchlicher Korruption einstehen. Ich möchte die Beichte ablegen und bitte Euch um Absolution.«
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»Es wird mir eine Freude sein«, sagte Savonarola und zog eine Schriftrolle aus den Tiefen seines Umhangs, »vorausgesetzt, daß Ihr all Eure Güter und Euer Geld an eine gemeinnützige Organisation meiner Wahl übereignet, die die Reichtümer gerecht an die Armen verteilen wird.« Er öffnete die Schriftrolle vor Lorenzos von der Krankheit geröteten Augen. Der muntere Eifer, mit dem er das tat, wollte so gar nicht zu seiner schwachen Konstitution und seinem fiebergeschüttelten Körper passen; der Mönch litt unter Zahnschmerzen und war bisher mit seinen Heilgebeten nicht sehr erfolgreich gewesen. Lorenzos kranke, alte Augen lasen das Schriftstück mühevoll und verengten sich dann argwöhnisch. »Ihr verhandelt äußerst hart, Bruder. Ich bin bereit, der Kirche ein gutes Angebot zu machen, aber ich habe auch noch Verwandte, für die ich sorgen muß.« »Gott wird für sie sorgen«, entgegnete Savonarola. »Ohne Euch beleidigen zu wollen, aber das glaube ich nicht«, erklärte de Media. »Ich denke, die Medizin ist jetzt fertig«, mischte Mack sich ein, der fürchtete, in Konkurrenz zu dem Mönch am Ende leer auszugehen. »Unterzeichnet den Vertrag!« »Beichtet Eure Sünden!«
schrie
Savonarola.
»Ich bete in meinem Herzen zu Gott, Girolamo! Ich werde nicht zu Euch beten!« »Ich bin ein Savonarola.
Mönch,
ein
Diener
Gottes«,
sagte
»Stolz und eitel seid Ihr«, donnerte de Medici. »Zum Teufel mit Euch! Faust! Die Medizin!«
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Mack zog eilig die Phiole aus seiner Tasche und mühte sich, sie zu entkorken. Der Korken war mit Draht gesichert, der sich ohne eine Kneifzange kaum entfernen ließ. Und in einer Zeit, in der die Erde noch der Mittelpunkt der Welt war, würde er arge Schwierigkeiten haben, eine Kneifzange aufzutreiben. Lorenzo und Savonarola schrien einander an, die Diener standen demütig herum, und von draußen konnte man die Kirchenglocken läuten hören. Endlich hatte Mack es geschafft, die Phiole war offen. Er drehte sich zu dem Kranken herum. D Magnifico war plötzlich still geworden. Bewegungslos und mit weit offenem Mund lag er da. Über seine noch immer geröteten Augen, deren starrer Blick sich ins Nichts gerichtet hatte, zog langsam ein milchiger Schleier. War er tot? »Tu mir das nicht an!« murmelte Mack und versuchte, den Inhalt der Phiole in de Medicis geöffnetem Mund zu entleeren. Die Flüssigkeit erreichte die Kehle des Mannes nicht, sondern lief blasenschlagend aus seinen Mundwinkeln. Der große Mann war definitiv und unwiderruflich tot. Die Diener grummelten ärgerliche Verwünschungen, als Mack sich von dem Körper zurückzog, über den sich nun Savonarola beugte und noch immer mit lauter, aufgeregter Stimme schimpfte. Mack verließ den Raum und folgte den Korridoren bis zur Haustür. Er blieb einen Augenblick stehen und überlegte, ob er nicht etwas vergessen hatte. Verdammt, er hatte die goldene Schüssel nicht mitgenommen. Er drehte sich herum, um das Versäumte nachzuholen, doch da war es bereits zu spät. Die Menschenmassen auf der Straße trugen ihn lachend, schreiend, singend und betend mit
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sich. Es war die Zeit der Feuer, und die Stadt schien vollkommen verrückt geworden zu sein.
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KAPITEL 6 Die Menschen rannten wie wild durcheinander, und ihre Schritte hallten von den Pflastersteinen wider. Eine festliche Hochstimmung erfüllte die Stadt. Überall waren Kinder, sie liefen umher und verbreiteten ekstatischen Frohsinn. Die Geschäfte waren geschlossen, die Eingangstüren mit Brettern vernagelt. Hufgetrappel wurde laut, als Lanzenreiter sich näherten. Sie sahen beeindruckend aus in ihren scharlachrot und schwarz gefärbten Uniformen. Mack zog sich in einen Torweg zurück, um nicht von ihnen niedergetrampelt zu werden, wobei er gegen den Körper eines Mannes stieß. »Paßt auf, wo Ihr hintretet!« »Verzeiht!« sagte Mack. »Es waren die Soldaten.« »Was haben die Soldaten damit zu tun, daß Ihr mir auf den Fuß getreten seid?« Der Mann, auf dessen Fuß Mack getreten war, war groß und hatte auffallend feine Gesichtszüge. Sein Kopf erinnerte an die Darstellungen des Apollo. Er war in einen modischen Mantel aus dunklem Pelz gekleidet. An seinem Hut steckte eine Straußenfeder – ein Zeichen, daß er entweder Kontakte nach Übersee haben mußte oder aber jemanden im Zoo von Florenz kannte. Er sah Mack mit einem durchdringenden Blick aus großen, leuchtenden Augen an. »Verzeiht mir, Fremder!« sagte er. »Aber kennen wir uns nicht?« »Das glaube ich nicht«, erklärte Mack. »Ich komme nicht aus dieser Gegend.«
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»Das ist interessant. Ich suche nämlich einen Mann, der nicht von hier ist. Mein Name ist Pico della Mirandola. Vielleicht habt Ihr schon von mir gehört?« Das hatte Mack tatsächlich. Mephistopheles hatte ihm von dem Mann als einem der großen Alchimisten der Renaissance berichtet. Mack, dessen untrüglicher Instinkt Ärger witterte, entschloß sich, ahnungslos zu tun. »Nein, ich denke nicht«, sagte er. »Unser Zusammentreffen hier ist nur ein Zufall. Es ist kaum anzunehmen, daß ich der Mann bin, den Ihr sucht.« »So mag der profane Lauf der Dinge sein«, erwiderte Pico. »Doch wenn Magie ins Spiel kommt, wird aus einem Zufall leicht Bestimmung. Ich sollte hier an dieser Stelle jemanden treffen. Warum solltet nicht Ihr derjenige sein?« »Wie ist der Name der Person, die Ihr treffen solltet?« »Johann Faust, der große Magier aus Wittenberg.« »Nie von ihm gehört«, sagte Mack ohne Zögern, denn ihm war schlagartig klar geworden, daß der echte Faust oder – wie Mack ihn lieber bezeichnete – der andere Faust, seine magischen Kräfte dazu benutzt haben mußte, zu diesem Burschen Kontakt aufzunehmen. Pico della Mirandola war ein berühmter Magier von nicht ganz makellosem Ruf. Möglicherweise unterhielten er und Faust eine Art von Konversation über die Grenzen der Zeit hinweg. Es hieß, daß Magier solche Dinge tun konnten, da nicht einmal der Tod ein echtes Hindernis für die Magie darstellte. »Ihr seid ganz sicher nicht Faust?« fragte Pico. »Natürlich bin ich sicher. Ich nehme schon an, daß ich meinen eigenen Namen kenne, ha, ha! Entschuldigt
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mich, ich muß weiter. Ich möchte die Verbrennung der Eitelkeiten nicht verpassen.« Mack eilte davon. Pico sah ihm eine Weile nach und folgte ihm mit einem Abstand. Mack schritt schnell voran. Vor sich sah er einen großen, offenen Platz, in dessen Mitte ein Haufen von hölzernen Möbeln, Bildern, Kosmetikartikeln und Schmuckstücken aller Art aufgeschichtet worden war. »Was geschieht hier?« fragte er einen der Umstehenden, »Savonarola und seine Mönche verbrennen eitlen Tand«, erklärte der. Mack ging näher heran. Er sah eine Menge schöner Dinge, die scheinbar achtlos auf den enormen Haufen geworfen worden waren: reich bestickte Kinderkleider, fein gehäkelte Tischdecken, edel gearbeitete Kerzen, Ölgemälde unbekannter Künstler und eine Menge anderes Zeug. Als er noch näher herantrat, entdeckte Mack an einer Seite des Scheiterhaufens ein großes Ölgemälde in einem reich verzierten Rahmen. Dank der Kunstkenntnisse, die Mephistopheles ihm verliehen hatte, wußte er sofort, daß dies ein echter Botticelli war. Es war ein Werk aus seiner mittleren Schaffensperiode. Das Bild war sehr viel Geld wert und recht hübsch außerdem. Mack dachte bei sich, daß es wohl niemanden stören würde, wenn er von diesen vielen Bildern eines nahm. Er sah sich um, stellte fest, daß niemand ihn beachtete, und zog das Gemälde aus dem Haufen, ehe die Flammen es erreichen konnten. Es war unbeschädigt und sah aus wie neu. Er stellte es zur Seite und sah sich nach weiteren Kostbarkeiten um. Da lag ein Giotto, aber die Oberfläche schlug in der Hitze des Feuers bereits Blasen. Begierig suchte er weiter. Wenn es eine gute
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Sache war, einen Botticelli vor den Flammen zu retten, dann mußte es doch um so besser sein, zwei zu ergattern. Einträglich wäre es auf jeden Fall! Und es war sicherlich nichts Falsches daran, die Kunst zu schützen! Besonders, wenn die Gemälde nur herumlagen und darauf warteten, verbrannt zu werden! Mit Mephistopheles' anderen Andeutungen konnte er ohnehin nicht viel anfangen. Er war überzeugt, daß niemand einem Mann Vorwürfe machen würde, der diese großartigen Kunstwerke vor der Vernichtung schützte. Plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter. Sie gehörte zu einem mageren, edel gekleideten Mann mit einem kurzen Bart, der ihn streng ansah. »Herr, was tut Ihr hier?« »Ich? Nichts weiter. Ich sehe mir das Schauspiel an, wie jeder andere auch.« »Ich sah, wie Ihr ein Gemälde aus dem Feuer gezogen habt.« »Ein Gemälde? Ach, Ihr meint dieses hier«, grinste Mack und zeigte auf den Botticelli. »Der Diener hat es fälschlicherweise herausgebracht. Wir hatten es nur von der Wand genommen, um es zu säubern. Es ist ein Botticelli. Man verbrennt einfach keinen Botticelli, nicht einmal zu einer Gelegenheit wie dieser.« »Wer seid Ihr, wenn ich fragen darf?« verlangte der Mann argwöhnisch zu erfahren. »Ein hiesiger Edelmann«, log Mack. »Merkwürdig. Ich habe Euch noch nie zuvor gesehen.« »Ich war für längere Zeit nicht in der Stadt. Wer seid Ihr?«
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»Ich«, antwortete der Mann, »bin Niccolo Machiavelli. Ich arbeite für den Rat der Stadt Florenz.« »Was für ein Zufall!« rief Mack aus. »Man hat mir aufgetragen, Euch davon abzuhalten, Euer geplantes Buch zu schreiben. Ich meine das Buch, das Ihr ›De principatibus – Der Fürst‹ nennen wollt.« »Ich habe bisher nichts Derartiges geschrieben. Aber der Titel klingt interessant. Vielleicht sollte ich ihn einmal benutzen.« »Tut, was immer Ihr wollt, doch vergeßt nicht, daß Ihr gewarnt worden seid.« »Und von Machiavelli.
wem
stammt
diese
Warnung?«
fragte
»Ich kann den Namen nicht preisgeben«, erklärte Mack. »Doch ich kann Euch versichern, daß er ein teuflisch guter Bursche ist.« Machiavelli starrte ihn verständnislos an, ehe er sich umwandte und kopfschüttelnd davonzog. Mack nahm das Gemälde, entschlossen, sich von hier zu verziehen, solange die Bahn für ihn frei war, als Pico della Mirandola wieder auftauchte. »Ich habe die infernalischen Kräfte um Auskunft ersucht«, sprach er mit bedrohlicher Stimme. »Was habt Ihr mit dem wahren Faust gemacht?« Pico trat drohend auf ihn zu, und Mack wich furchtsam zurück. Der Magier hielt eine dieser neumodischen Feuerwaffen in der Hand, die in der Lage waren, eine Kugel so sehr zu beschleunigen, daß sie einen Mann in Stücke reißen konnte. Mack sah sich nach einem Versteck um, jedoch ohne Erfolg. Picos Finger krümmte sich bereits um den Abzug.
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In diesem Moment erschien Faust. »Tu das nicht, Pico!« schrie er. »Warum nicht? Dieser Mann versucht, sich für dich auszugeben!« »Trotzdem dürfen wir ihn nicht töten. Er ist ein Betrüger, der sich als Faust ausgibt, aber es ist notwendig, daß er am Leben bleibt, solange er meine Rolle besetzt hält.« »Was für eine Rolle, Johann?« »Ich werde dir alles später erklären. Doch jetzt, alter Freund, laß ab!« »Du bist ein weiser Mann, Faust, ich werde deinem Wunsch folgen.« »Vielleicht werde ich dich später noch um Hilfe bitten, Pico. Ich habe einen Plan!« »Du kannst auf mich zählen.« Faust verschwand, und Mephistopheles erschien. »Bereit?« fragte er Mack. »Dann los! Was starren denn die Leute so?« Mack entschied sich, ihm nichts über Faust zu erzählen. »Sie wissen doch, wie die Leute sind. Sie starren immer auf irgendwas.« Mack hielt das Gemälde fest in seinen Händen, und Mephistopheles zauberte sie beide fort.
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KAPITEL 7 Mack und Mephistopheles materialisierten sich vor dem Eingang zu einem kleinen Gebäude im Limbus. Es lag auf einem Berg ganz in der Nähe des Ortes, an dem das Urteil über Macks Handlungsweisen in dem Jahrtausendwettkampf gefällt werden sollte. »Wo sind wir hier?« erkundigte sich Mack. »Dies ist der Warteraum im Limbus. Ich habe hier eine Lagermöglichkeit, wo Sie den Botticelli aufbewahren können, es sei denn, Sie wollten ihn jetzt gleich verkaufen.« »Ich denke, ich werde ihn noch eine Weile behalten«, entgegnete Mack. »Wie war ich?« »Pardon?« »In dem Wettbewerb, in Florenz.« Mephistopheles antwortete nicht, sondern führte Mack in das Haus und zeigte ihm einen Raum, wo er sein Gemälde lagern konnte. Dann erwiderte er: »Sie haben mit dem Versuch, den Streit zwischen de Medici und Savonarola zu beenden, absolut nichts erreicht. Das ist eine glatte Sechs für völlig nutzlose Zeitverschwendung.« »Aber ich habe Machiavelli davor gewarnt, sein ›De principatibus – Der Fürst‹ zu schreiben. Das war doch eine gute Idee, oder nicht?« »Ich kann es Ihnen nicht sagen. Es liegt bei der Macht der Notwendigkeit, darüber zu befinden«, erklärte Mephistopheles achselzuckend. »Gut und Böse müssen sich der Notwendigkeit unterordnen. Dabei fällt mir ein – wer war der Mann? Er schien Sie zu kennen.«
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»Welcher Mann?« »Der Mann, der Pico della Mirandola davon abgehalten hat, Sie zu töten.« »Irgendein Kerl«, erwiderte Mack, entschlossen, Faust nicht zu erwähnen. »Ich habe wirklich keine Ahnung. Das Gemälde ist schön, nicht wahr?« Mephistopheles hielt das Bild auf Armlänge von sich gestreckt und betrachtete es eingehend. »Ja, es ist wirklich sehr schön. Ich werde es Ihnen mit Freude abkaufen.« »Aber jetzt noch nicht«, sagte Mack. »Ich möchte mich erst etwas auf dem Markt umsehen und mich nach den Preisen für derartige Stücke erkundigen.« »Das ist ein kluger Entschluß«, stimmte Mephistopheles zu. »Dann stellen Sie es jetzt fort, und trödeln Sie nicht. Ich habe hier einen Zauber für Ihre Reise nach London, Sie müssen gleich weiter.« »Keine Sorge, ich werde mich beeilen.« Mephistopheles nickte und verschwand. Mack sah sich in dem Raum um und entdeckte eine große Eisentruhe, in deren Schloß ein Schlüssel steckte. Er öffnete die Truhe und wollte das Gemälde hineinlegen, als er ein kratzendes Geräusch unter seinen Füßen hörte. Aufgeschreckt sprang er zur Seite. Der Boden brach auf, als eine kleine Spitzhacke ihn durchstieß. Dann wurde sie zurückgezogen, und eine Schaufel erschien, unter deren Anwendung die Öffnung im Boden sich rasch vergrößerte. Schnell war das Loch groß genug, um eine kleine Gestalt heraussteigen zu lassen. Es war Rognir. »Hallo«, sagte Mack, der den Hexensabbat in Erinnerung hatte.
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Zwerg
noch
vom
»Nettes Bild«, kommentierte Rognir. »Wo hast du es her?« »Das Bild? Ich habe es von einem Ort, den sie Renaissance nennen. Das ist irgendwo in Italien, in der Nähe von Florenz.« »Ach ja. Was hast du denn da gemacht?« »Ich bin der Vertreter der Menschen in einem Wettkampf«, erklärte Mack. »Es geht um das Schicksal der Menschheit in den nächsten tausend Jahren.« »Und darum hat man dich in geschickt, um ein Bild zu besorgen?«
die
Renaissance
»Ich weiß nicht genau, wozu sie mich dorthin geschickt haben. Ich habe noch anderes Zeug erledigt. Aber ich habe das Gemälde mitgebracht, weil Mephistopheles gern eines haben und mir einen guten Preis dafür bezahlen wollte. Aber bisher habe ich es ihm noch nicht verkauft. Ich will erst mal wissen, wieviel so ein Schinken wert ist.« »Er wollte, daß du ihm ein Bild mitbringst, ja?« »Ja, sicher wollte er das. Und ich war ja sowieso dort. Entschuldige, ich muß los. Meine nächste Station ist London, das wird sicher eine große Aufgabe.« »Dann viel Glück«, sagte Rognir. »Vielleicht sehen wir uns dort noch.« »Das wäre nett«, antwortete Mack. Er zögerte und sah auf das Loch im Boden. »Du wirst hier doch sauber machen, ehe du wieder gehst, oder?« Rognir beruhigte ihn; er ordentlich hinterlassen, und aufgehoben. Schließlich verließ darüber sinnierend, was für
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würde bestimmt alles Macks Bild sei sicher Rognir selbst den Raum, ein unglaublicher Idiot
dieser Mack sein mußte. Er schien überhaupt nicht zu merken, daß er manipuliert wurde. Die Möglichkeit, sein Gehirn zum Denken zu benutzen, mußte ihm vollkommen fremd sein. Statt dessen bemühte er sich nach besten Kräften, es jedermann recht zu machen. Wahrscheinlich hatte er sein ganzes Leben lang nichts anderes getan. Trotzdem hatte er irgendwas an sich, das man einfach mögen mußte.
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ACHILLES KAPITEL 1 Zwischenzeitlich hatte die Entführung Helenas aus dem Hades, wo sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Achilles für die soziale Gerechtigkeit zuständig war, erste Konsequenzen herbeigeführt. Azzie hatte Helena mittels seiner dämonischen Magie einfach aus dem Hades herausgezaubert, ohne auch nur einen Augenblick darüber nachzudenken, warum so etwas normalerweise nicht gemacht wurde und welche Folgen es haben könnte. Ein Moment der Besinnung hätte gereicht, ihn daran zu erinnern, daß auch die Toten über einige Macht verfügten und es nicht allzu empfehlenswert war, sich mit ihnen anzulegen. Achilles war nicht gerade begeistert gewesen, als er nach seiner Rückkehr von der Jagd auf Hirschgeister in den nebelverhangenen Wiesen gleich hinter dem Sumpf der Verzweiflung feststellen mußte, daß Helena fort war. Es paßte nicht zu ihr, so einfach zu verschwinden. Zunächst hatte er vermutet, sie sei zu Besuch bei irgendwelchen Nachbarn; also erkundigte er sich, doch keiner hatte sie gesehen. Niemand verschwand einfach so aus dem Hades, jemand von außen mußte dahinterstecken. Achilles beschloß, seinen alten Freund und Nachbar Odysseus um Hilfe zu ersuchen. Odysseus hatte sich einen guten Platz in der Rangordnung der Archetypen erkämpft, und er hatte sicher genug eigene Sorgen. Obwohl er trickreich und clever war, fiel es doch nicht leicht, neue Abenteuer zu ersinnen, die der List des Odysseus gerecht werden konnten. Die Geister hinter den Archetypen können
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Vollkommenheit erlangen und sanft entschwinden, aber sie müssen beständig versuchen, neue Herausforderungen zu meistern und sich dabei selbst zu übertreffen. Doch auch alte Götter lernen nicht mehr so leicht etwas Neues dazu. Odysseus' jüngste Schliche waren so arg durchschaubar gewesen, daß sie ihm selbst peinlich waren. Odysseus' Charakter wurde von einem Wesenszug absolut dominiert: Er wollte gewinnen, und er tat alles, um den Sieg davonzutragen. Schon deswegen gefiel es ihm nicht sonderlich, tot zu sein. Er haßte es, keinen Körper zu haben. Es störte ihn, wie jedermann im Hades einfach nur herumsaß und wartete, daß die Zeit verging. Man klagte über die Existenzbedingungen im Hades und weinte der guten alten Zeit des irdischen Lebens nach. Doch Odysseus würde sich nicht dazu herablassen zu jammern. Zeigt doch mal ein bißchen Schwung!, würde er innen sagen. Bleibt aktiv, bleibt im Training! Obwohl die Toten körperlos waren und folglich keine Muskeln aufbauen konnten, trainierte er verbissen. »Es ist wichtig, sich der Möglichkeit mancher Dinge zu erinnern«, sagte er denjenigen, die ihn daraufhin ansprachen, »selbst dann, wenn sich dadurch nichts ändert.« Odysseus saß auf der vorderen Veranda seines Hauses, als Achilles ihn aufsuchte. Odysseus lebte allein in einem Gebäude aus Marmor an einem Nebenfluß des Styx. In dem vermoosten Rasen vor seinem Haus wuchs Affodill, und sein Anwesen lag im Schatten der unvermeidlichen Schwarzpappeln, die nicht nur im Hades auf die Dauer furchtbar langweilig anzusehen waren. Es war ein düsterer Tag wie alle Tage im Hades. Es war gerade kalt genug, um den Aufenthalt im Freien ungemütlich zu gestalten, aber die Kälte wirkte trotzdem nicht im mindesten erfrischend. Odysseus hatte ein Feuer im Kamin seines Wohnzimmers angefacht, doch es verbreitete nicht viel Wärme. Nicht, daß das irgend etwas
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geändert hätte, die Toten konnten so oder so niemals wirklich erwärmt werden. Odysseus führte Achilles in die Küche und bot ihm Datteln und Haferbrei zum Frühstück an. Es war natürlich kein wirkliches Essen, aber die Toten hingen sehr an ihren alten Gewohnheiten und hörten folglich auch nicht auf zu essen. Sie hielten sogar große Bankette und feierliche Gelage ab. Die Ewigkeit zieht sich sehr lange hin, und Essen ist eine Möglichkeit, sich die Zeit zu vertreiben. Sex ist eine weitere Möglichkeit, die Ewigkeit zu verkürzen, wenngleich man den hiesigen Sex eigentlich nicht als solchen bezeichnen konnte. Ektoplasma ist immateriell und verfügt nicht über die notwendige Sensualität, um sich irgendwelcher Sinneswahrnehmungen zu erfreuen. Sex gehört schlicht zu den Gewohnheiten der Lebenden, also taten es auch die Toten. Nun, zumindest führten sie die gewohnten Bewegungen aus. Odysseus war derzeit nicht verheiratet. Er und Penelope hatten sich schon vor langer Zeit getrennt. Odysseus hatte immer schon seine eigenen Ansichten über Penelope und ihre Freier gehabt. Immerhin war sie während der zwanzig Jahre, in denen er fort war, um die Trojaner zu bekämpfen, ständig von Männern umgeben gewesen. Eine Zeitlang hatte er die Familie um ihres Sohnes Telemachus willen zusammengehalten. Doch später hatte Telemachus seinen eigenen Archetypus begründet, nichts Großartiges, aber immerhin stabil. Nun wohnte er in einem anderen Bereich des Hades mit seinen Freunden, die allesamt Söhne berühmter Väter waren. Also war Odysseus allein, und es gab nicht viel, womit er sich beschäftigen konnte. Er widmete sich täglich
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seinem Training. Manchmal bekam er Besuch von seinem Freund Sisyphos. Sisyphos war noch immer die meiste Zeit über damit beschäftigt, den Felsbrocken auf den Berg zu rollen, obwohl er das eigentlich nicht mehr tun mußte, da er schon vor langer Zeit von seinen Mühen befreit worden war. Aber, so hatte er, wie er meinte, doch wenigstens etwas zu tun, und schließlich erhielt die Arbeit seinen Archetypus am Leben. Manchmal besuchte Odysseus den ältesten seiner Freunde, Prometheus, der noch immer an den Felsen gekettet war, wo der Geier an seiner Leber zu nagen pflegte. Prometheus war ein besonders schwieriger Fall für die Götter. Ihn aus seiner Strafe zu entlassen, wäre eine Gefahr für die Allgemeinheit gewesen, denn die Welt war noch immer nicht reif für sein Freidenkertum. Und der Kerl wollte sich einfach nicht darauf einlassen, zukünftig den Mund zu halten. Für ihn fand sich kein Modus vivendi. Früher oder später waren eigentlich alle Toten bereit, Kompromisse zu schließen und ihre Werte den Gegebenheiten anzugleichen, nicht aber Prometheus. Er wollte seinen Ruf aufrechterhalten. In der jüngsten Zeit war er launisch geworden, und es gab Tage, an denen er nicht einmal mehr mit Odysseus sprechen wollte. Die Leute sagten, sein einziger Freund sei der Geier. Odysseus verbrachte seine Zeit in einiger Langeweile. Er war mit Achilles oder Orion auf die Jagd nach Hirschgeistern gegangen, aber auch dieses Hobby hatte schnell seinen Reiz verloren. Das unbefriedigendste an der Jagd auf Hirschgeister war, daß man die Viecher nicht töten konnte. Und selbst wenn das möglich gewesen wäre, so könnte man sie doch nicht essen. Odysseus war froh, Achilles zuhören und möglicherweise helfen zu können. Er schlug vor, Pluto,
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den König von Tartaros, in seinem schwarzen Palast aufzusuchen, den er mit Persephone teilte. Pluto hatte seine eigenen Probleme. Er lag in juristischem Streit mit seinem altrömischen Gegenpart Plutus, der soeben zum Beherrscher der römischen Unterwelt ernannt worden war. Er hatte sogleich begonnen, einen eigenen Machtbereich für sich einzufordern, in dem er nicht den Gesetzen des Hades unterworfen wäre. Mit einer solchen Regelung hätte Pluto auf einmal die Kontrolle über eine große Sektion der klassischen Unterwelt und mit ihr die Macht über die Toten Roms verloren, die ihm zuvor unterstanden hatten. Auf der einen Seite war er ganz froh, die Römer loszuwerden. Sie hatten sich nie besonders gut mit den Griechen vertragen. Auf der anderen Seite würde damit sein Königreich, sein Einfluß und schließlich auch sein Archetypus schrumpfen. Außerdem liefen noch etliche andere juristische Verfahren, denn es gab ständig Querelen mit anderen jenseitigen Welten, die versuchten, den hellenischen Hades ihrem Machtbereich zu unterwerfen. Die Götter der Menschen, die Sanskrit sprachen, hatten bereits Unmengen an Material zusammengetragen, das beweisen sollte, daß alle griechischen Gottheiten eigentlich ihrer Ägide unterstanden und sich demzufolge fügen sollten. Bis jetzt war es Pluto gelungen, ein endgültiges Urteil in dieser Sache hinauszuzögern, doch es war und blieb ein empfindlicher Punkt in seiner Herrschaft. Probleme, Probleme und jetzt auch noch Achilles und Odysseus, die ihre Rechte einfordern wollten. »Was erwartet Ihr, das ich tun soll?« fragte Pluto. »Ich habe dort oben keinerlei Macht. Man wird mich lediglich auslachen, wenn ich mich dort blicken lasse. Das ist nicht mehr die antike Welt; heute gelten andere Bedingungen.«
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»Es muß eine Möglichkeit geben«, sagte Achilles. »Wenn du wirklich so machtlos bist, dann solltest du zurücktreten und die Regierungsgeschäfte im Hades einem anderen überlassen. Ich bekomme allmählich Lust, die Sache der hellenischen Generalversammlung bei ihrer nächsten Gemeinderatssitzung vorzulegen.« »Zum Teufel, nein, tu das nicht!« protestierte Pluto. »Laß mich doch darüber nachdenken! Weißt du, wer Helena geraubt hat?« »Ein Dämon soll daran beteiligt gewesen sein, wie ich gehört habe. Einer von denen, die erst nach unserem Zyklus aufgetaucht sind.« »Zu wem hat er gehört?« fragte nun Odysseus. »Er soll ein Repräsentant der Finsternis oder des Bösen gewesen sein, etwas in der Art.« »Finsternis«, sinnierte Odysseus. »Ich nehme an, die kann man mit dem Bösen gleichstellen. Wenn das der Fall ist, dann weiß ich, an wen wir uns wenden müssen, um Gerechtigkeit zu erlangen. Ich habe allerdings nie verstanden, was es für Unterschiede zwischen Gut und Böse geben soll. Die Menschen haben diesen Antagonismus auch erst einige Jahrhunderte nach unserer Zeit erfunden.« »Ich halte das für ausgemachten Blödsinn«, erwiderte Pluto. »Aber den Leuten scheint er zu gefallen.« »Nun ist es jedenfalls zu einem Unrecht gekommen, das wir nicht hinnehmen können. Wenn du uns vorläufige Papiere für die irdische Realität gibst, damit wir den Hades verlassen können, und uns autorisierst, offiziell für die klassischen infernalen Strukturen zu arbeiten, dann werden Achilles und ich den Fall den endgültigen Mächten vortragen.«
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»Gut, ich bin einverstanden«, sagte Pluto. Er war zufrieden mit sich. Das absolut wichtigste am Umgang mit Macht war immer schon die Fähigkeit gewesen, sie geschickt zu delegieren. Nun war es die Sache von Odysseus und vielleicht von Achilles, das geschehene Unrecht zu korrigieren.
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KAPITEL 2 Nachdem Odysseus von Pluto für sich und Achilles die Erlaubnis erhalten hatte, sich in die Welt der Lebenden zu begeben, beschloß er, zunächst Tiresias aufzusuchen. Tiresias war der bemerkenswerteste Magier der antiken Welt gewesen. Er würde wissen, was zu tun war und wie sie ihr Ziel erreichen konnten. Zunächst mußten die Helden ein Blutopfer vorbereiten, denn Tiresias würde ohne Blut absolut nichts tun. Er war dem Zeug hoffnungslos verfallen. Es war nicht ganz einfach, Blut zu besorgen, denn es war eigentlich immer Mangelware im Tartaros. Glücklicherweise fühlte sich Pluto verpflichtet, ihnen eine gefüllte Haut aus seinem Privatvorrat zu überlassen (es stimmt nicht, daß man im Hades nicht genug zu trinken bekam, man mußte nur die richtigen Leute kennen). Die beiden Helden begaben sich zum Hain der Persephone mit seinen Schwarzpappeln und den alten Weiden, genau dort, wo die beiden Flüsse des Hades – der Phlegethon und der Kokytus – in den Acheron mündeten. Dort gruben sie ein Loch in die Erde und schütteten das Blut hinein, wobei sie heroisch gegen den Drang ankämpften, es selbst zu trinken. Dann und wann kamen Tote vorbei, die um einen Schluck des edlen Trankes baten, doch sie wurden alle abgewiesen. Nicht einmal Agamemnon, ihr ehemaliger Oberbefehlshaber, der, vom Wohlgeruch des Blutes angezogen, herbeigeeilt war, konnte sie erweichen. Dieses Blut war allein für Tiresias bestimmt. Das Blut schimmerte dunkel und ölig in dem Erdloch. Plötzlich schäumte es auf und verschwand gleich darauf, gierig verschluckt von etwas Unsichtbarem. Sofort danach erschien Tiresias – eine schlanke Gestalt, die in
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einen langen grauen Wollmantel gehüllt war. Sein Gesicht war mit blauem und ockerfarbenem Lehm bemalt, und sein strähniges weißes Haar hing ihm bis über die Augen ins Gesicht. »Einen wunderschönen Tag, meine Herren. Habt Dank für euer freundliches Opfer. Das war etwas von Plutos Privatvorrat, nicht wahr? Ein wundervolles Zeug. Ihr habt nicht zufällig noch mehr davon? Nein? Zu schade! Nun gut, dann sagt mir, was ich für euch tun kann.« »Wir suchen Helena von Troja«, erklärte Odysseus. »Sie ist das Opfer einer widerrechtlichen gewaltsamen Entführung geworden; man hat sie ihrem Ehemann Achilles, der hier bei mir ist, geraubt.« »Irgendwer findet sich doch immer, um die schöne Helena zu rauben«, bemerkte Tiresias. »Wißt ihr, wer es getan hat?« »Uns wurde erzählt, es sei ein Dämon der neuen Zeit gewesen«, antwortete Odysseus. »Aber wir kennen seinen Namen nicht und wissen nicht, wo wir ihn finden können. Wir brauchen deinen Rat und deine Unterstützung.« »Gut. Der Name des Dämons ist Azzie, und er gehört zu diesem neuzeitlichen Licht-Finsternis-Konstrukt, das sich in den Köpfen der Menschheit eingenistet hat.« »Wir werden ihn suchen gehen«, erklärte Achilles. »Ihr werdet da draußen eine fremdartige Welt vorfinden«, warnte Tiresias. »Zuerst müßt ihr euch zu dem Hauptquartier begeben, von dem aus das Böse dirigiert wird. Es ist ein Ort, den man Hölle nennt. Beginnt dort mit euren Erkundigungen! Ich kann euch einen Reisezauber mit auf den Weg geben, sofern ihr Plutos Einverständnis dafür habt. Und wie der Zufall so spielt, weiß ich, bei wem sich Helena zur Zeit aufhält.«
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»Sprich!« schrie Achilles. Tiresias räusperte sich und drehte sich nach der inzwischen ausgetrockneten Opfergrube um. »Wir haben nichts mehr, das wir dir geben könnten«, sagte Odysseus bedauernd. »Aber wir werden die erste sich bietende Gelegenheit nutzen, dir ein neues Opfer darzubringen.« »Das Wort des Odysseus soll mir genügen«, entgegnete Tiresias. »Aber ich muß euch warnen. Es wird nicht leicht sein, Helena zu finden. Sie reist viel herum, seit sie die Gesellschafterin eines großen Magiers namens Faust ist.« »Faust?« wiederholte Achilles. »Das klingt nicht gerade griechisch für meine Ohren.« »Er ist kein Grieche. Im Laufe der Zeit sind andere Völker entstanden, die heute die physischen und intellektuellen Herren der Welt sind. Dieser Faust ist in ein Spiel mit den Göttern selbst verwickelt. Die neuen Götter, meine ich.« »Wo sind denn unsere alten Götter jetzt?« erkundigte sich Odysseus. »Die meisten tragen heute andere Namen«, erklärte Tiresias. »Sie haben eine neue Identität angenommen. Viele werden sich nicht einmal mehr an Griechenland und den Olymp erinnern. Ausgenommen Hermes, der noch immer als der Trismegistos aktiv ist.« »Genug davon. Wo finden wir Helena und diesen Faust?« »Sie reisen, und das nicht nur auf der Erde. Sie reisen auch durch die Zeit.« »Können wir sie mit einem Boot erreichen?«
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»Nur, wenn es ein magisches Boot ist. Nur mit dem Reisezauber könnt ihr sie finden.« »Und auf dem Landweg?« »Nein, auch das nicht. Ihr braucht schon ein bißchen Magie, um dorthin zu gelangen, wo Helena sich aufhält. Glücklicherweise habe ich meine Zaubertasche dabei.« Er griff in seinen Mantel und förderte einen Beutel aus Pferdeleder zutage. Der Beutel blähte sich auf, knirschte verdächtig und ließ ein leichtes Seufzen und Wimmern vernehmen. »Die Zauber sind rastlos heutzutage«, klagte Tiresias. »Benutzt sie umsichtig, und paßt auf eure Finger auf, wenn ihr sie aus dem Sack holt. Und überstürzt nichts. Vergeßt nicht: Ihr müßt behutsam, Schritt für Schritt vorgehen. Zuerst müßt ihr in die Hölle gehen und euch von den Mächten der Finsternis die Erlaubnis holen, Helena zurückzubringen. Diese Dinge erfordern ein planvolles Vorgehen.« »Wirst du uns dorthin begleiten?« fragte Achilles. »Nein, das werde ich nicht. Aber ich werde mich um weitere Informationen kümmern. Ich muß los. Vergeßt nicht, ihr schuldet mir noch ein Opfer!« Odysseus war nicht besonders erbaut über die schwammigen Auskünfte, aber Tiresias erweckte nicht den Anschein, noch etwas hinzufügen zu wollen. Also verabschiedeten sie sich, und Tiresias verschwand. Odysseus griff in den ledernen Beutel nach einem Zauber, der sich um die anderen herumgewickelt hatte. Er löste ihn, zog ihn hervor und verschloß hastig den Beutel. Der Zauber wand und krümmte sich, aber Odysseus hielt ihn fest gepackt und murmelte nun die magischen Worte. Der Zauber bebte und startete dann mit einem mächtigen Sprung durch. Odysseus hielt ihn
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noch immer fest in der Hand, und Achilles hielt sich an Odysseus fest. Mit klassischer Schlichtheit, ohne den barocken Unsinn mit Feuer und Schwefel, landeten sie in einem Vorzimmer im Königreich der Finsternis.
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KAPITEL 3 Die Tür zu Belials Büro wurde unsanft aufgestoßen. Belial sprang erschreckt auf. Der fette Dämon mit dem Krötenleib, der blaugrauen Gesichtsfarbe und den auf und abschwellenden orangefarbenen Augen war gerade damit beschäftigt gewesen, sich selbst in einem Spiegel der Illusionen zu bewundern. Ganz vertieft in die Betrachtung seiner eigenen Schläue und Schönheit – ein ganz gewöhnlicher Vorgang in der Hölle, wo Eitelkeit und Eigenliebe die Selbstachtung ersetzen –, hatte er das Klopfen überhört. Nun traten plötzlich zwei kräftige Gestalten in weißen, plissierten Tuniken in den Raum. »Wer seid ihr zwei?« »Ich bin Odysseus, und dies hier ist Achilles.« »Ach, wirklich?« Belial betrachtete die Eindringlinge genauer und erkannte ihr klassisch-griechisches Aussehen – große Männer mit geraden Nasen und lockigem braunen Haar. Selbst als Tote haftete innen noch eine rudimentäre Realität an, sie waren in der Tat beeindruckend. Irgendeine verschreckte Sekretärin mußte ihnen wohl einen vorläufigen Paß für die reale Welt ausgestellt haben, sonst wären sie hier nicht hereingekommen. Die Angehörigen der klassischen Unterwelt waren per Gerichtsbeschluß für nicht real erklärt worden. Das war seinerzeit der einzige Weg gewesen, sie loszuwerden, doch selbst das funktionierte nicht immer. »Achilles und Odysseus. Ich habe von euch gehört, sicher, aber ich hätte nicht gedacht, daß ich euch einmal begegnen würde.«
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»Man läßt uns nicht aus dem Tartaros heraus«, erklärte Odysseus. »Wir waren einst zu stark. Nun erlaubt man uns keine Manifestationen mehr – außer in Form des Archetypus. Das ist nicht besonders erfreulich für uns, sieht man einmal von der Publicity ab.« »Ach ja? Das ist aber traurig! Es ist wirklich ein Jammer, daß ihr nicht real seid. Einigen unserer jüngeren Dämonen würde eine Vorlesung oder eine Diskussion mit euch recht gut tun. Ich bin sicher, ihr könntet uns eine Menge nützlicher Dinge lehren.« »Darüber können wir ein andermal reden«, sagte Odysseus. »Eine Vorlesungsreise ist nicht ausgeschlossen. Aber jetzt spreche ich für die Belange meines Freundes Achilles. Einer deiner Dämonen hat ihm ein Unrecht angetan.« »Du sprichst für Achilles? Kann er denn nicht selbst für sich sprechen?« »Natürlich könnte ich«, donnerte Achilles. »Das Problem dabei ist, daß meine Sprache ebenso ungestüm und hitzig ist wie mein Charakter. Ich spreche hastig und bringe mich in die wildesten Situationen. Oft endet das mit einem Kampf, den ich selbstverständlich gewinne. Aber die Leute mögen mich im allgemeinen nicht besonders, Odysseus dagegen ist bei jedermann beliebt.« »Das reicht, Achilles«, unterbrach Odysseus. »Vergiß nicht, ich erledige das Reden!« »Verzeih, Odysseus«, murmelte Achilles kleinlaut. »Ist schon in Ordnung. Daß ich beliebt bin, liegt daran, daß ich ein Halbgott bin, der sich für Sitten und Gebräuche der Leute interessiert, ganz im Gegensatz zu dir, Achilles, der du an nichts anderes als Krieg und Töten denkst.«
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»Ich wünschte, ich könnte jetzt jemanden töten«, knurrte Achilles. »Ich bin nervös.« »Beruhige dich wieder!« sagte Odysseus und wandte sich wieder Belial zu. »Wir haben aus sicherer Quelle erfahren, daß ein Dämon namens Azzie, der zu deinen Gefolgsleuten gehört, eine der Unseren entführt hat. Er hat Helena von Troja aus dem Hades geraubt, und zwar ohne die geringste Rechtfertigung. Er hat sie einem Magier namens Faust gegeben, der sie in ungriechische Abenteuer hineinzieht.« »Das muß ein Irrtum sein«, entgegnete Belial. »Wir Diener der Finsternis holen nicht einfach tote Leute ohne deren Einverständnis aus dem Hades.« »Vielleicht solltest du die Angelegenheit überprüfen.« »Genau das werde ich tun«, sagte Belial und drückte einen Knopf an seiner Gegensprechanlage. »Fräulein Siggs?« »Ja, Euer Exzellenz.« »Haben Sie gelauscht?« »Na ja, aber es war nur reiner Zufall.« »Ist schon in Ordnung. Sie werden die Sache prüfen und mich umgehend informieren.« »Das muß ich nicht erst prüfen, Euer Exzellenz. Die beiden Griechen sagen die Wahrheit. Man hört bereits überall von Azzies Entführung der Helena. Es sieht so aus, als würde daraus ein neuer Mythos entstehen.« »Aber wir haben verdammt nochmal kein Recht dazu gehabt, sie zu rauben! Es gibt schließlich ein paar Regeln.« »Ja, Euer Exzellenz. Es ist nur so, daß sie keiner zu kennen scheint.«
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»In diesem Fall liegen die Dinge ja wohl klar genug«, sagte Belial, der sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen würde, Azzie die Hölle im wahrsten Sinne des Wortes heißzumachen. Immerhin hatte der ihm bei Fortbildungsseminaren einige Male übel mitgespielt. Er schaltete die Gegensprechanlage aus und wandte sich wieder Odysseus und Achilles zu. »Wie es scheint, gibt es ernstzunehmende Grundlagen für eure Behauptung. Ich selbst hatte damit nichts zu tun, und es gibt leider auch nichts, was ich daran ändern könnte. Es wird besser sein, ihr wendet euch an Mephistopheles oder an Azzie selbst.« »Wo können wir die beiden finden?« fragte Achilles. »Derzeit sind sie beide mit dem Wettkampf beschäftigt.« »Was für ein Wettkampf?« »Wir tragen alle tausend Jahre einen großen Wettkampf zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis aus, der darüber entscheiden soll, welche Seite über das Schicksal der Menschheit im folgenden Jahrtausend befindet.« »Was hat Helena damit zu schaffen?« fragte Odysseus. »Ich vermute, Azzie hat sie als eine Art Preis für Faust eingesetzt.« Plötzlich sagte Achilles: »Wir haben genug geredet. Wir wollen Helena zurück haben.« »Das ist richtig«, bestätigte Odysseus. »Deswegen sind wir hier.« »Liebe Freunde«, schmeichelte Belial. »Ich verstehe ja eure Lage, doch was kann ich tun?« »Gib uns nur deine Erlaubnis, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Mehr Hilfe brauchen wir nicht.«
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»Ihr seid gute, aufrechte Männer, doch ihr habt keine Macht in dieser Welt.« »Das mag sein. Aber wir haben wichtige Freunde.« »Und wer soll das sein?« Odysseus legte in einer warnenden Geste einen Finger an seine Nase. »Sprich ihre Namen nicht aus, wenn du sie nicht gleich hier bei dir im Büro haben willst.« Belial ging ein Licht auf. Odysseus meinte die Eumeniden – auch bekannt als Erinnyen oder Furien. Manche dieser antiken Wesen hatten noch immer gewaltige Macht, ebenso wie Ananke selbst. Belial wollte bestimmt nichts Näheres in dieser Richtung erfahren, soviel stand fest. »Wenn ihr meint, daß ihr es schaffen könnt, dann legt los! Ihr habt meine Erlaubnis.« Stirnrunzelnd betrachtete er die beiden Griechen. »Ich möchte nicht überkritisch erscheinen, aber ihr seid nicht gerade körperlich.« »Das ist das Beste, was wir bieten können«, antwortete Odysseus. »Wir sind schließlich tot, wie du weißt.« »Ich habe da was für euch«, sagte Belial. »Hier habt ihr zwei Freikarten für die Hexenküche. Geht hin, und sagt denen da, sie sollen euch mit anständigen Körpern ausstatten! Tja, es sind eben nicht alle hier in der Hölle so schlecht wie manche, deren Namen ich lieber nicht nennen möchte.«
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KAPITEL 4 Der Türsteher der Hexenküche, ein riesenhafter arabischer Dämon, hatte während der vielen Jahre, die er diese Arbeit nun schon ausführte, bereits einige skurrile Dinge zu Gesicht bekommen. Aber ein Anblick wie dieser war dem schlaffen, schlehenäugigen ehemaligen Bürger Ge-Hinnoms noch nicht begegnet. Da kamen doch zwei griechische Helden direkt aus einem Epos Homers in seinen Schönheitssalon spaziert. Der Dämon wußte sofort, wer die beiden waren, denn er war vor seiner Karriere als Türsteher in einem Schönheitssalon für Untote einmal Gelehrter der klassischen Geschichte gewesen. »Wir hatten noch nie griechische Helden hier«, begrüßte er die Neuankömmlinge. »Habt ihr Geister eure Passierscheine für die reale Welt dabei?« Odysseus zeigte ihm die zeitlich begrenzten Realitätspässe, die Pluto ihnen gegeben hatte. Die Seniorhexe legte ihr Brandeisen beiseite und kam herbei, um die Pässe zu begutachten. Dann sah sie sich die Freikarten an, die Belial den Griechen überlassen hatte. »Ist in Ordnung, Tony, laß sie rein!« wies sie den arabischen Dämon an. In der anschließenden Prozedur der Körperlichkeitsbehandlung standen die Hexen vor der Frage, wie muskulös sie die Heldenkörper gestalten sollten. Sie beschlossen, die Muskulatur nicht allzu voluminös ausfallen zu lassen, weil es für die Belange der Halbgötter ebenso wichtig war, schnell und beweglich zu sein.
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Einige Stunden später war die Schönheitsbehandlung von Achilles und Odysseus abgeschlossen, und sie traten in ihren neuen menschlichen Körpern mit einem weiteren Zauber aus dem pferdeledernen Beutel die Reise zurück zur Erde an. Dort angekommen, rasteten sie eine Weile unter einem Baum, ohne so recht zu wissen, wo sie eigentlich waren. Es störte sie nicht allzu sehr, da sie in der Hexenküche Proviant für mehrere Tage bekommen hatten. Zumindest hätte er mehrere Tage reichen sollen, aber der Genuß wirklichen Essens reizte sie derart, daß sie den gesamten Vorrat in einer einzigen Mahlzeit vertilgt hatten. Nachdem sie so viele Jahrhunderte von Essen geträumt hatten, war es ihnen ganz einfach nicht möglich gewesen aufzuhören, solange noch etwas da war. »Ich bin satt«, schnaufte Achilles. »Ich auch«, stimmte Odysseus zu. »Dies ist ein Tag, an dem die Weisheit des Odysseus zumindest beim Essen versagt hat. Die Salzheringe waren köstlich, nicht wahr?« »Ich ziehe die Pastete vor«, antwortete Achilles. »Feingehackte Leber ist möglicherweise die größte Errungenschaft der Welt nach unserer Zeit. Erinnerst du dich noch, wie es im klassischen Altertum war? Es gab immer nur gegrillte Leber mit Zwiebeln. Nicht einmal Sojasoße hatten wir damals, Odysseus. Wie konnten wir das bloß durchstehen?« »Wir kannten halt nichts anderes«, erklärte Odysseus. »Es wäre schon recht hart, zum Trojanischen Krieg und der Armeeverpflegung zurückkehren zu müssen. Aber das wird uns wohl kaum passieren.« »Nein, wohl kaum. Aber es war ein guter Krieg, stimmt's?« »Der beste. So einen wird es nie wieder geben. Erinnerst du dich noch, wie ich Ajax besiegt habe?«
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»Das habe ich gar nicht mehr miterlebt. Ich war bereits tot, weißt du das nicht mehr? Du hast mit ihm um meine Rüstung gekämpft.« »Ja, und ich habe sie gewonnen«, sagte Odysseus. »Das war wirklich eine großartige Rüstung. Damit konnte man eigentlich gar nicht verlieren. Ich trug sie, als ich Cycnus und Troilus getötet habe. Aber meine größte Tat, für die ich in die Geschichte eingegangen bin, war, Hektor umzubringen.« »Ich kenne die Geschichte.« »Ich schwelge nur ein bißchen in der Erinnerung. Später hat mich dann Paris mit seinem heimtückischen Pfeil getroffen… genau in die Ferse! Nun ja.« Achilles seufzte und rieb sich genießerisch den Bauch. »Diese Pastete… Odysseus, was diese Körper angeht, die sie uns gegeben haben…« »Ja?« »Sie scheinen recht gut zu sein, oder?« »Die besten.« »Nun, ich habe Schmerzen, genau hier.« Achilles deutete auf seinen Unterleib. »Das ist nichts. Nur eine kleine Muskelzerrung oder wahrscheinlich eine Magenverstimmung. Du hast dich überfressen.« »Bist du sicher, daß mit mir alles in Ordnung ist?« »Sie haben uns gesagt, daß dies völlig gesunde Körper sind. Und du hattest doch früher auch schon Muskelzerrungen.«
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»Ich kann mich nicht erinnern, jemals so etwas gefühlt zu haben. Meine Füße schmerzen auch«, klagte Achilles weiter. »Natürlich. Wir sind auch weit gelaufen. Füße werden nun einmal wund, wenn man viel läuft, dafür reicht sogar ein längerer Spaziergang.« »Das ist also das Gefühl, wieder körperlich zu sein, ja?« »Es scheint so«, antwortete Odysseus. »Aber für uns ist es doch gar nicht so fremd. Wir sind im Training und gewohnt, mit den Freuden und Leiden der Körperlichkeit umzugehen.« »Ich will mich ja nicht beklagen«, sagte Achilles. »Ich bin vollgestopft bis oben hin, aber ich habe trotzdem schon wieder Hunger. Und es gibt hier anscheinend nichts zum Trinken.« »Was für ein Glück, daß sich kein Chronist in der Nähe herumtreibt und dir zuhören kann«, foppte Odysseus. »Das muß man sich vorstellen: Der große Achilles sitzt da und jammert über Hunger und Durst!« »Das habe ich doch als Lebender bestimmt nicht anders gehalten.« »Ich kann mich nicht erinnern, dich jemals über Hunger klagen gehört zu haben, Achilles. Nahrung war eine profane Sache für dich. Notwendig, aber nicht der Rede wert. Dein damaliges Leben war dem Heldentum gewidmet.« »Das ist es noch«, erklärte Achilles bestimmt, stand auf und zuckte zusammen. »Ich glaube, ich fühle da leichte Rückenschmerzen. Na, macht nichts. Laß uns gehen!« »Ich bin bereit«, sagte Odysseus. »Das Problem ist nur, ich weiß nicht, wohin wir gehen sollen.«
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Achilles sah sich um. Sie standen auf einer sonnenbeschienenen Wiese, vor ihnen lag ein dunkler, grüner Wald, und über ihren Köpfen flogen kleine Vögel zwitschernd und singend dahin. Ein leichter Wind wehte, der einen frischen Duft mit sich brachte. Es war kurz nach Mittag, und die Sonne, die sich noch fast im Zenith befand, verbreitete ihr warmes goldenes Licht über ihnen. Dies war einer der besonders schönen Tage, die sich in die Erinnerungen der Menschen eingruben, und er war absolut nicht vergleichbar mit den Tagen im Hades, wo es unter dem blaugrün gefärbten Himmel stets feucht, regnerisch und düster war. Die Wiese lag friedlich in der warmen Sonne, und doch war da etwas Unheimliches, Drohendes. Odysseus sah sich um und war nicht besonders überrascht, als er drei Frauen im Gras bei einem Picknick sitzen sah. Sie trugen klassische Kleider und waren nicht mehr ganz jung. Odysseus war überzeugt, die drei schon einmal gesehen zu haben, und plötzlich fiel es ihm wieder ein. Vor ihm im Gras saßen die Eumeniden, die drei rasenden Schwestern, die üblicherweise die antike Welt bereist und die Rache der Götter über die Menschen gebracht hatten. Die Erwähnung der Damen galt landauf, landab als schlimme Nachricht. Um so mehr war es wichtig, sich in freundlicher Weise mit ihnen zu unterhalten und innen keinen Anlaß zur Verärgerung zu bieten. »Das sind ja meine alten Freunde, die Eumeniden«, rief Odysseus und lief, von Achilles gefolgt, zu ihnen hinüber. »Hallo, Tisiphone, Alekto, Megära. Ihr Mädchen habt euch aber weit vom guten alten Hellas entfernt.« »Hallo, Odysseus«, grüßte Alekto. Sie war eine große Frau, deren graues Haar in gleichmäßigen Wellen auf ihre Schultern fiel. Ihr Gesicht zierte ein gebieterischer Zinken, der der Galionsfigur eines Kriegsschiffes alle Ehre gemacht hätte. »Wir haben dich bereits erwartet.«
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»Wie konntet ihr wissen, daß ihr uns hier treffen würdet? Niemand außer den Hexen wußte, wohin wir gehen würden.« »Die Hexen sind unsere Freunde«, erklärte Alekto. »Wir haben sie in ihrer Hexenküche besucht, und sie erzählten uns, daß ihr hier vorbeikommen würdet. Dies ist die Wiese der Ruhe. Hier seid ihr nur angenehmen Einflüssen ausgesetzt. Darum sind auch meine Schwestern und ich etwas angeschlagen und nicht in unserer üblichen schrecklichen Form. Aber dafür ist später noch genug Zeit. Jetzt können wir erst mal einige Minuten Pause machen und nett sein.« »Ich habe euch immer für nett gehalten«, schmeichelte Odysseus. »Ebenso wie mein Freund Achilles. Komm her, Achilles. Erkennst du die Damen?« Achilles näherte sich schüchtern. »Ich glaube, ich hatte einmal das kurze Vergnügen, ihre Bekanntschaft zu machen, als ich Orestes besuchte. Sagt, meine Damen, warum habt ihr Odysseus gesucht?« »Das war der einfachste Weg, dich zu finden«, gackerte Tisiphone. Achilles erbleichte. »Warum wolltet ihr mich finden?« »Das ist der einfachste Weg, Faust und die geraubte Frau zu finden. Ich spreche natürlich von deinem Eheweib Helena«, sagte Alekto. »Was wollt ihr von Helena?« fragte Achilles. »Nichts von ihr persönlich. Sie ist nur eine Beute und muß umgehend in den Hades zurückkehren. Wir sind die vollstreckende Einheit der Divisionen der klassischen Welt. Azzie Elbub hatte nicht das Recht dazu, Helena aus dem Hades zu entführen. Wir können Derartiges nicht
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dulden und werden sie dir zurückbringen. Bist du jetzt zufrieden?« »Sehr zufrieden«, entgegnete Achilles, obwohl es ihm schwerfiel, der Furie zu vertrauen. »Ich bin schließlich aus demselben Grund hier.« »Gut«, sagte Alekto. »Wir waren bisher nicht vollkommen sicher, warum ihr hier seid. In der letzten Zeit ist es zu vielen Helden gelungen, den Hades zu verlassen und dann pflichtvergessen auf der Erde herumzuspringen und an nichts anderes als an den Spaß zu denken, den sie mit ihren neuen Körpern haben.« Eine Weile blieben sie noch beisammen und unterhielten sich, ehe es Zeit für die Helden wurde, aufzubrechen und ihre Suche nach Helena fortzusetzen.
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MARLOWE KAPITEL 1 Der 30. September 1588 war ein bedeckter, aber milder Tag. Und es war ein großer Tag für London, denn an diesem Abend wurde das Rose Theater in Southwark wieder eröffnet. Auf dem Programm stand ›Doktor Faustus‹, und die Hauptrolle sollte Edward Alleyn spielen. Dieser Tag war nicht nur im Hinblick auf das Stück von Bedeutung, über das schon im Vorfeld viel geschrieben worden war, es war auch die erste Aufführung nach dem Abklingen der letzten Epidemiewelle. Dieser Umstand verlieh dem Abend ein ganz besonderes Flair und garantierte ein volles Haus. Die Leute hatten sich frühzeitig auf den Weg gemacht und erreichten das Theater noch vor der Abenddämmerung. Sie kamen von überall her, nicht nur aus der Stadt selbst. Manche waren aus Graveslines und Swiss Cottage oder Hampton Court, aus Shepherd's Mill, Reindeer's Head, aus Baxby oder Weltenshire angereist. Zielstrebig bewegten sie sich durch den Dauerregen und passierten die Themse und die London Bridge zu Fuß oder mit der Fähre, um vor dem Theater auf das Signal des Hornbläsers zu warten, das den Beginn der Vorstellung verkünden würde. Bereits einige Stunden zuvor waren Mack und Mephistopheles in der Taverne Zum Ertrunkenen angekommen. »Gnädige Herren!« sagte der Wirt. »Ich habe Euch nicht hereinkommen sehen.« »Das muß wohl daran liegen, daß du mit der Serviererin geflirtet hast«, entgegnete Mephistopheles.
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»Nein, Sir, das ist unmöglich! Ich war die ganze Zeit hinter der Theke, habe Gläser poliert und mit Mistress Henley gesprochen, die unsere täglichen Mahlzeiten liefert.« »Nun, wenn du uns also nicht hast hereinkommen sehen«, herrschte Mephistopheles ihn an, »dann denkst du wohl, daß mein Freund und ich uns einfach hereingehext haben.« »Aber nein, mein Herr!« widersprach der Wirt. »Niemand braucht magische Kräfte, um hier hereinzukommen. Die Tür ist immer offen, und ich stehe jederzeit zu Diensten. Was darf ich den gnädigen Herren bringen?« »Eine Flasche deines besten Weines«, sagte Mephistopheles. »Ihr Einverständnis vorausgesetzt, Doktor.« Mack war noch damit beschäftigt gewesen, seine fünf Sinne wieder zu sammeln, die auf der Reise von Florenz nach London heftig durcheinander geraten waren. Seine Kleidung, die Mephistopheles während des Fluges gewechselt hatte, befand sich noch immer in gröbster Unordnung. Nun aber, von Mephistopheles in eine Nische geschoben und unter dem Blick des Wirtes, der ihn mit weit geöffnetem Mund anstarrte, fand er schnell zu seiner üblichen Gewandtheit zurück. »Ich schließe mich gern an«, sagte Mack. »Ist das Pate, dort auf dem Regal?« »Ja, Herr.« »Dann bring uns einige Scheiben davon«, sagte Mack und sah unsicher zu Mephistopheles herüber, da er nicht wußte, ob die Verpflegung in seinen Reisespesen enthalten war.
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»Ja, und einen halben Laib Weizenbrot«, stimmte Mephistopheles zu und lächelte den Wirt schmeichlerisch an. »Ist Doktor John Dee heute schon hier gewesen?« »Bis jetzt noch nicht, gnädiger Herr«, antwortete der Wirt. »Aber er wird sicher bald kommen. Heute gibt es hier sein Lieblingsgericht, Aalpastete und Kartoffelbrei, und das wird er sich bestimmt nicht entgehen lassen, besonders da er uns bald verlassen wird, um an den Hof des Königs von Böhmen zu reisen, wie die Gerüchte sagen.« »Vielleicht haben deine Gerüchte dir auch erzählt, wie schnell mein Freund und ich ungeduldig werden, wenn man uns nicht bald aufträgt.« »Ich werde Euch sofort alles bringen, gnädige Herren«, beeilte sich der Wirt zu versichern. »Polly! Beweg dich, und serviere den Herrschaften ihre Mahlzeit.« Sprachs und eilte davon, umweht von flatternden Fetzen aus dem Futter seiner Hose. »Wo sind wir hier?« fragte Mack, kaum daß sie allein waren. »Und was haben Sie mit Marguerite angestellt?« »Ich habe sie in einem Warteraum im Limbus zurückgelassen«, erwiderte Mephistopheles. »Sie muß ja schließlich nicht überall dabei sein. Wir sind hier übrigens im London des Jahres 1588. Es ist für die Stadt ein ebenso ereignisreiches Jahr wie für Sie.« »Für mich? Aber wieso denn für mich?« »Dies ist das Jahr, in dem das großartige Theaterstück, das auf Ihrem Leben basiert, das erste Mal auf der Bühne zu sehen ist. Ich spreche von dem Stück ›Die tragische Geschichte des Doktor Faustus‹, die von dem Ensemble des Earls von Nottingham mit dem unvergleichlichen Edward Alleyn in der Titelrolle heute uraufgeführt werden wird. Aber das müssen Sie doch während Ihrer
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nekromantischen erfahren haben.«
Träumereien
in
Krakau
ebenfalls
»Ja, sicher«, antwortete Mack, immer gern bereit, sich den Mantel der Gelehrsamkeit über die Schultern zu ziehen. »Das berühmte Schauspiel über mich und mein Leben. Und Sie haben mich hierher gebracht, damit ich es mir ansehen kann, mein lieber Mephistopheles.« »Ich habe Sie nicht so weit durch Zeit und Raum geschickt«, widersprach Mephistopheles mit düsterem Blick, »damit Sie sich mit einem Imbiß unter das Publikum mischen und den Lügen der Dichter applaudieren. Sie haben hier eine Aufgabe zu erfüllen.« »Ja, natürlich«, beschwichtigte ihn Mack. »Das ist mir vollkommen klar. Was werde ich tun müssen?« »Zuhören«, sagte Mephistopheles und unterbrach sich sofort wieder, denn Polly, die Serviererin, war an ihren Tisch getreten. Sie brachte ihnen die Pâté, die offenkundig aus Spatzen gemacht war, das Weizenbrot aus Hafermehl und den besten Wein des Hauses, ein recht schlichter Bordeaux. Die Mahlzeit war gerade so gut, wie man es in diesen Zeiten von einer Hafenwirtschaft an der Themse erwarten konnte. Die spanische Armada rüstete zum Angriff, in den Straßen der Stadt wütete die Pest, und der Herzog von Guise saß mit seinen dreißigtausend kampferprobten Spaniern in Scheveningen fest und schickte wütende Rüche über den Kanal. Mephistopheles und Mack machten sich mit Appetit über die Speisen her. Gesättigt schob Mephistopheles seinen Teller zur Seite und ergriff wieder das Wort. »Also, hören Sie mir zu, Faust, denn Sie haben heute noch etwas zu erledigen.« »Ich bin ganz Ohr«, antwortete Mack, »und gespannt auf meine Aufgabe.«
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»Der Autor des Schauspiels ist Christopher Marlowe«, erzählte Mephistopheles. »Er wird heute abend im Publikum sitzen. Nach der Aufführung – übrigens ein bemerkenswerter Erfolg – wird er einen bestimmten Mann treffen und sich mit ihm besprechen.« »Aha!« gab Mack von sich, ohne zu verstehen, wohin das Gerede führen sollte. »Dieser Mann«, fuhr Mephistopheles fort, »ist Thomas Walsingham, ein alter Freund von Marlowe. Thomas' Vater, Sir Francis, ist Staatsekretär am Hof Königin Elisabeths, und er befehligt ihren Geheimdienst mit Methoden, deren verheerende Auswirkungen auf das kriegsgeschüttelte Europa dieses Jahres noch in die Geschichte eingehen werden.« »Walsingham. Gut, das habe ich«, unterbrach Mack, der sich fast verzweifelt ein Detail aus Mephistopheles' scheinbar endloser Rede herausgriff. »Was soll ich mit dem Kerl machen? Ein Überfall wäre mal eine nette Abwechslung, und ich kann Ihnen versprechen…« Mephistopheles fiel ihm ins Wort. »Nein, nein, Sie sollen gar nichts mit Walsingham anstellen. Hören Sie mir doch zu!« »In Ordnung, ich höre zu«, erwiderte Mack. »Walsingham wird Marlowe bitten, noch einmal für seines Vaters Geheimdienst zu arbeiten, wie er es schon in den vorangegangenen Jahren getan hat. Marlowe wird zustimmen. Soweit die Fakten bis zum heutigen Tag, und wenn nichts geschieht, werden sie zu Marlowes vorzeitigem Tod führen. Aber hier kommen Sie ins Spiel. Sie werden Marlowe sofort nach seinem Gespräch mit Walsingham aufsuchen und dazu bewegen, nichts Derartiges zu tun.«
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»In Ordnung. Ist dieser Marlowe geschickt an der Waffe? Es wäre vermutlich besser, wenn ich selbst bewaffnet wäre. Haben Sie nicht eine gute, schwere Keule für mich?« »Vergessen Sie die Keule! Sie werden Marlowe sicher nicht mit Waffengewalt überzeugen können, nicht einmal Ihre Überredungskünste werden Ihnen da weiterhelfen können. Nein, Sie müssen ihm die Konsequenzen seiner Spionagetätigkeit für Walsingham vor Augen führen.« »Was sind das für Konsequenzen?« »In fünf Jahren von heute an gerechnet, am 30. Mai 1593, wird Marlowe mit drei anderen Männern – Ingram Frizer, Robert Poley und Nicholas Skeres – ein Lokal aufsuchen. Er wird ihnen Vorhaltungen hinsichtlich ihrer verräterischen Aktionen zugunsten Heinrich des Dritten von Frankreich machen, und er hat Beweise für seine Anschuldigungen. Er wird ihnen vorschlagen, als Kronzeugen vor Gericht auszusagen und sich der Gnade des Kronrats zu unterwerfen. Die drei Verräter werden wenig begeistert reagieren und sich statt dessen Marlowes bemächtigen und ihn mit einem Dolchstoß ermorden. Später werden sie behaupten, Marlowe hätte einen von ihnen, Frizer, grundlos angegriffen und fast getötet. In Todesangst habe jener sich zur Wehr gesetzt, wobei Marlowe leider ums Leben gekommen sei. Sie werden es als Notwehr darstellen. Wie auch immer, an diesem Tag wird England und die ganze Welt einen der besten Dichter verlieren, der jemals geboren wurde. Er wird im Alter von nur neunundzwanzig Jahren sterben, dabei hätte er, wäre er am Leben geblieben, der Welt noch viele wunderbare Stücke schenken können, die die bürgerliche Frömmigkeit und Moral aufs allerfeinste bloßgestellt hätten.« »Verstanden. Sie wollen, daß ich diesen Marlowe am Leben erhalte, richtig?«
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»Ich würde nicht gerade so weit gehen zu behaupten, es sei mein ausdrücklicher Wunsch. Es ist lediglich eine Sache, die Sie tun können.« »Aber Sie geben die Richtung vor, der ich zu folgen habe.« »Sicher, aber Sie müssen ihr nur dann folgen, wenn Sie das für richtig halten. Sie könnten ebensogut den magischen Spiegel von Doktor Dee stehlen. Sie haben doch von Doktor Dee gehört, oder?« »Bestimmt«, behauptete Mack. »Nur im Augenblick kann ich mich einfach nicht auf ihn besinnen.« »Doktor Dee ist der herausragendste Nekromantiker und Magier in England. Ein Name, der im gleichen Atemzug und mit der gleichen Ehrfurcht ausgesprochen wird wie der von Albertus Magnus oder Cornelius Agrippa. Niemand Geringerer als Königin Elisabeth von England hat ihn um ein Horoskop gebeten, und die Königin ist immerhin bekannt für ihre nüchterne Denkweise. Dee ist soeben damit beschäftigt, seine Sachen zu packen, um zukünftig am Hof König Rudolphs des Zweiten von Böhmen zu residieren. Er wird seinen Spiegel mitnehmen. Ihre Aufgabe wäre es, dieses Spiegels irgendwie habhaft zu werden.« »Wozu ist dieser Spiegel nütze?« »Sie könnten ihn benutzen, um Marlowe von der Spionagetätigkeit abzuhalten. Wenn er in diesen Spiegel sieht, erblickt er die blutigen Ergebnisse seiner Arbeit. Würde er seinen Tod mit eigenen Augen sehen können, so wäre es möglich, daß er seine Absicht ändert. Haben Sie alles verstanden, was ich Ihnen erzählt habe?« »Ich denke schon«, erwiderte Mack. »Aber wie komme ich in den Besitz dieses Spiegels?«
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»Mein lieber Freund«, sagte Mephistopheles. »Ich kann Ihnen doch nicht Ihre ganze Arbeit abnehmen. Fragen Sie ihn doch! Wenn er ablehnt, dann geben Sie ihm das.« Mephistopheles zog einen kleinen Gegenstand aus der Innentasche seines Mantels, wickelte ihn in scharlachrote Seide und reichte ihn Mack. Dann stand er auf und ordnete den langen schwarzen Mantel, der seinen Körper eng umschmiegte. »Viel Erfolg, Faust! Ich bin gespannt, welche Ergebnisse Sie erzielen.« Er wandte sich zum Gehen, aber Mack hielt ihn am Ärmel fest. »Was ist denn?« »Wenn Sie so nett wären, die Rechnung zu begleichen, falls es Ihren dämonischen Charakter nicht kränkt?« »Haben Sie denn kein eigenes Geld?« »Ich könnte es noch brauchen. Man weiß nie, was einen bei einer derartigen Aufgabe erwartet.« Mephistopheles warf mit einer verächtlichen Geste eine Handvoll Geldstücke auf den Tisch und wollte gerade verschwinden, als er sich an die Ankunft erinnerte. Er verließ die Taverne und fand in der Nähe eine stille kleine Sackgasse, wo sein Verschwinden kein Aufsehen erregte. Mack steckte den mit einem seidenen Taschentuch umwickelten Gegenstand in die Tasche, ohne ihn anzusehen. Er zählte das Geld auf dem Tisch und behielt ein, was die Rechnungssumme überstieg, dann erkundigte er sich nach dem Weg zu Doktor Dees Haus und verließ die Gaststätte. In der Nische neben dem Tisch, an dem Mack und Mephistopheles gesessen hatten – verdeckt durch die hohen Lehnen der Bänke –, begann sich eine verhüllte Gestalt zu rühren. Es war ein fuchsgesichtiger Kerl in
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karminrotem und grünem Staat mit gestärkter Halskrause. Niemand anderes als Azzie tippte dort nachdenklich mit den Fingerspitzen auf den Eichentisch, und seine Lippen verzogen sich zu einem humorlosen Grinsen. Er hatte sich in aller Heimlichkeit an die Fersen von Mephistopheles geheftet, begierig, endlich herauszufinden, was es mit dessen merkwürdiger Handlungsweise auf sich hatte. Nun wußte er, worum es ging. Mogelei! Es mußte einen Weg geben, wie Azzie dieses Wissen für sich ausnutzen konnte. Er dachte einen Moment nach und glaubte dann, die passende Idee gefunden zu haben. Er beschwor sich selbst aus der Taverne heraus, gerade rechtzeitig, bevor der staunende Wirt ihm die Rechnung präsentieren konnte. Sollte es der abergläubische Kerl doch Marlowes Faust anlasten, was ging es ihn an? Azzie hatte teuflische Arbeit zu erledigen. Schnell stieg er in den Sternenhimmel auf, bis zu dem Bereich, der den Geistwesen vorbehalten war. Dort hatte er einer ehemaligen Hexe, die er von früher kannte, etwas Interessantes zu erzählen.
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KAPITEL 2 »Wir sollten uns nicht so heimlich treffen«, sagte Ylith und sah sich besorgt um, doch wie es schien, gab es nichts, worüber sie sich Sorgen machen mußte. Sie befanden sich in einer Cocktailbar, die sich Zum Gemischten Geist nannte. Sie lag gerade noch innerhalb der blauschwarzen Mauern Babylons, nur eine Straßenecke vom Tempel Baals entfernt und war als ein neutraler Ort bekannt, an dem sich die Mitarbeiter von Gut und Böse von Zeit zu Zeit treffen konnten, um Informationen auszutauschen oder sich gegenseitiger Bekehrungsversuche zu erwehren. Da beide Seiten die Ansicht vertraten, der jeweils anderen überlegen zu sein, konnten sie sich nicht einmal die gegenseitigen Bekehrungsversuche verübeln. Dies war eine gute Zeit für Babylon, bevor die Hethiter einmarschierten und alles zertrümmerten, und vor allem bevor Alexander der Große die Stadt eroberte und endgültig zerstörte. Die Stadt war für ihre Revuetheater bekannt, für ihren großen Zoo, der mit Tieren aus aller Welt angefüllt war, die ihr Leben hier in einer paradiesischen Umgebung verbringen durften, und für die hängenden Gärten, die von Ferne wie gefrorene Wasserfälle aussahen. Und selbst wenn es die neiderfüllten Athener später noch so sehr bestreiten mochten, so war doch Babylon das intellektuelle Zentrum der Welt in jenen Tagen. Es war ein Ort, an dem Phoenizier und Juden, Beduinen und Ägypter, Perser und Inder sich in freundlicher Atmosphäre in einem der vielen Cafehäuser der Stadt zusammensetzen könnten. Die Babylonier waren die ersten, die die Kunst des Kaffeekochens beherrschten. Mit großem Druck wurde das siedende Wasser durch eine Art überdimensionierten Blasebalg gepreßt, wobei es das Aroma jedes einzelnen
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Körnchens des feinen Kaffeemehls aufnahm. Die Bedienung der Gerätschaften oblag den Nubiern und Äthiopiern, die das Monopol auf diese Art der Kaffeezubereitung hielten. Babylon war zugleich die kulinarische Metropole der Welt. Nirgends gab es besseres Shish Kebab, und der Kaninchenbraten war weit über Asmara hinaus berühmt. Es war ein fröhlicher, bunter und prunkvoller Ort, der sich ganz öffentlichen Festivitäten und wahrhaft königlichen Feierlichkeiten gewidmet hatte. »Entspann dich, da gibt es nichts zu fürchten!« sagte Azzie. »Nur weil wir für verschiedene Seiten arbeiten, heißt das noch lange nicht, daß wir uns nicht dann und wann treffen und den neuesten Klatsch austauschen dürfen.« Ylith sah ihn liebevoll aber zweifelnd an. Azzie war ein wirklich attraktiver Dämon, daran konnte kein Zweifel bestehen. Er trug sein orangerotes Fell kurz und fedrig geschnitten, seine lange, schmale Nase war überaus elegant und seine Lippen, die sie zärtlich anlächelten, hatten die ihren zu oft berührt, als daß sie sie mit völliger Gleichgültigkeit hätte betrachten können. Sie mußte sich eingestehen, daß sie durchaus noch etwas für ihn empfand. Aber das war nicht der Grund, warum sie eingewilligt hatte, sich mit ihm zu treffen. Sie wußte, daß die Begegnung mit ihm ihrer Seele wohltun würde, sofern es ihr gelänge, ihm zu widerstehen. Dennoch erschauderte sie unter dem schmerzhaften Empfinden einer Liebe, die nicht sein durfte – einer Liebe, die nun dem Engel Babriel gehörte. Sicher, Babriel war gut, und das war auch gut so, so gut, wie etwas nur gut sein konnte, aber in der letzten Zeit hatte Ylith oftmals eine gewisse Sehnsucht verspürt, von der sie verzweifelt hoffte, daß sie nicht allzu unmoralisch wäre.
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Reiß dich zusammen, Mädchen!, ermahnte sie sich und fragte: »Also, was gibt's Neues?« »Nicht viel«, antwortete Azzie mit gespielter Gleichgültigkeit. »Nur die üblichen Gaunereien und Schwindeleien. Du weißt ja selbst, wie das Leben eines Dämons so abläuft.« »Wen hast du denn in letzter Zeit beschwindelt?« »Ich? Niemanden. Ich hatte nicht mehr so viel zu tun, seit die Kräfte des Seins in ihrer Weisheit beschlossen haben, nicht mich mit der Ausführung des neuen Jahrtausendwettkampfes zu beauftragen.« »Nach allem, was ich gehört habe, ist Mephistopheles ein kompetenter Dämon«, erwiderte Ylith. »Er wird bestimmt gute Arbeit für eure Seite leisten.« »Zweifellos. Besonders, wenn er sich einer gewissen Hinterlist bedient.« »Das war zu erwarten. Schließlich ist er ein Dämon.« »Ich weiß, Hinterlist ist ein nettes Spielchen und völlig in Ordnung, aber kompletter Betrug läßt sich mit den Regeln des Wettkampfes schon weniger vereinbaren.« »Betrug«, echote Ylith. »Ich bin überzeugt, daß Mephistopheles nicht betrügt. Soweit ich gehört habe, ist er ein anständiger Teufel.« »Nun, dann habe ich mich vielleicht getäuscht, und es gibt gar keinen Betrug«, sagte Azzie. »Schon möglich, daß ich da was mißverstanden habe.« Ylith nahm eine gespannte, aufrechte Haltung ein. »Was hast du mißverstanden?« »Es war gar nichts«, antwortete Azzie, hauchte seine Fingernägel an und polierte sie an seiner auffälligen roten Samtjacke.
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»Azzie, spann mich nicht langer auf die Folter! Was hast du gesehen?« »Ich habe nichts gesehen – aber gehört.« »Was?« »Ich habe gehört, wie der furchtbare Mephistopheles unserem gemeinsamen Wettkämpfer Johann Faust Anweisungen gegeben hat.« »Natürlich hat er das. Andernfalls wüßte Faust doch gar nicht, was er tun sollte.« »Nun weiß er es etwas zu gut.« »Hör doch endlich mit diesen vagen Andeutungen auf! Worauf willst du hinaus?« »Okay. Mephistopheles muß Wahlmöglichkeiten vorgeben, richtig?«
Faust
doch
»Das ist doch allgemein bekannt.« »Ich habe gehört, wie er Faust gesagt hat, welche Wahl er treffen und wie er das anstellen soll.« »Du willst mir erzählen, daß Mephistopheles unseren Wettkämpfer manipuliert?« »Genau das. Vergiß die Sache mit der freien Willensentscheidung! Der einzige Wille, der hier ausgeführt wird, ist der von Mephistopheles.« Ylith starrte ihn mit offenem Mund an, und Azzie erzählte ihr von dem Gespräch zwischen Mack und Mephistopheles, das er in der Gastwirtschaft in London belauscht hatte, und davon, wie Mephistopheles dem großen Magier eingeredet hatte, Marlowes Leben zu retten, und ihm überdies erklärt hatte, auf welche Weise er das bewerkstelligen solle. »Azzie, wenn du hier nur Unruhe stiften willst…«
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»Dazu bin ich immer bereit, wie du weißt«, erwiderte Azzie. »Aber das, was ich dir hier erzählt habe, ist die absolute, pure Wahrheit ohne jegliche Ausschmückungen.« Ylith blieb eine Weile still sitzen und versuchte, die unangenehmen Nachrichten zu verdauen. Zweimal nippte sie kurz an ihrem Nektarfrappé, ein göttliches Getränk, das vom Angesicht der Erde verschwunden war, als Alexander der Große die Mauern von Babylon niederrang und sämtliche Bars in einem Akt unangebracht übertriebener Frömmigkeit zerstörte. »Wenn du die Wahrheit gesagt hast, dann ist das eine sehr ernste Angelegenheit.« »Davon bin ich ausgegangen«, erklärte Azzie, »und es ist nicht gerade zu meinem Vorteil, daß ich dir davon erzähle. Mephistopheles ist immerhin auf derselben Seite wie ich, und es hätte nicht besonders gut ausgesehen, wenn ich dem hohen Rat Meldung über diese Dinge gemacht hätte. Aber irgendwas mußte ich tun, denn schließlich schlägt mein Herz ebenso sehr für Recht und Gerechtigkeit wie das deine.« »Wie kannst du so etwas behaupten?« entgegnete Ylith. »Du und deinesgleichen seid willige Diener der Lüge und der Schlechtigkeit.« »Schon, aber nur im Sinne der Wahrheit«, erklärte Azzie. Paradoxerweise versuchte er damit, die Lüge um der Wahrheit willen zu rechtfertigen, allerdings nur, um sich geschickt an der Realität vorbeizustehlen. »Wir haben nur andere Methoden als ihr.« Kopfschüttelnd sah sie ihn an. »Du warst immer schon ein redegewandter Dämon«, kritisierte sie sanft und schenkte ihm ein liebevolles Lächeln.
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»Ein Dämon, der nicht bereit wäre für die Schönheit zu lügen, verdient den Namen des Bösen nicht. Aber was ich dir über Mephistopheles erzählt habe, ist dennoch die reine und ungeschminkte Wahrheit.« Ylith verstand nicht, was Mephistopheles zu erreichen versuchte. »Wenn Marlowe gerettet wird«, überlegte sie, »wäre das doch eigentlich eine gute Sache, schließlich würde er der Welt dann noch viele seiner Schauspiele liefern können.« »Das ist nur eine Seite der Medaille«, erklärte Azzie. »Aber Marlowe ist kein frommer Mensch. Er ist blasphemisch, und alles, was er noch schreiben könnte, wenn er nicht so früh sterben würde, wäre eher dazu angetan, die Gottesfürchtigkeit der Menschen zu untergraben, als sie zu stärken.« »Azzie«, sagte Ylith, »du hast mir eine Menge zu bedenken gegeben. Ich werde mich in Ruhe mit der Frage befassen müssen, was ich mit diesen Informationen anfangen soll.« »Benutze sie ganz wie du es für richtig hältst. Mein Gewissen ist jedenfalls rein. Also, wollen wir austrinken und uns dann wieder unseren Aufgaben zuwenden?« Ylith nickte und trank ihren Frappé, ehe sie gemeinsam mit Azzie die Bar verließ. In der benachbarten Sitznische erhob sich eine kleine Gestalt mit einem gelben Bart, hüfthohen Stiefeln und einem dicken Lederwams. »Ha, ha, mein lieber fuchsgesichtiger Dämon«, lachte Rognir. »So also liegen die Dinge, was? Ich durchschaue deine verdammenswerten selbstsüchtigen Absichten, um deretwillen du sogar deine eigenen Leute verrätst, nur wegen eines vorübergehenden persönlichen Vorteils.«
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Seit Azzie ihn auf dem Hexensabbat genötigt hatte, Reinigungsarbeiten auszuführen, war nichts mehr so gelaufen, wie Rognir es sich vorgestellt hatte. Er hatte sich beeilt, nach Montpellier zu kommen, doch bei seinem Eintreffen war das Fest bereits beendet. Alle möglichen Zwergensippen waren dort gewesen und hatten gefeiert, doch bei seiner Ankunft waren sie alle schon lange fort. Von dem ganzen Fest waren nur noch einige leere Bierfässer übrig geblieben. Rognir war betrübt nach Hause gegangen, nur um dort festzustellen, daß jemand seinen Schatz gestohlen hatte. Es war natürlich nicht sein ganzer Besitz gewesen – kein vernünftiger Zwerg würde all seine Reichtümer an demselben Ort verbuddeln – dennoch war der Verlust alles andere als gering, und Rognir hatte sich wie vom Pech verfolgt gefühlt. Der Zwerg war noch immer wütend über die Art, wie Azzie ihn auf dem Hexensabbat behandelt hatte. Die ganze Zeit über hatte er einen tiefen Groll gegen den Dämon gehegt und nur darauf gewartet, eine Möglichkeit zu finden, es ihm heimzuzahlen. Zwerge haben ein enorm gutes Gedächtnis, und ihr Grollen ist dauerhafter als die Struktur der Erdoberfläche. Nun rieb er sich in diebischer Freude die Hände und überlegte, was er mit seinem neuen Wissen anfangen könnte. Dann hatte er eine Idee. Er verließ die Taverne und ging in die Außenbezirke Babylons, um nach einem jener Zwergentunnel zu suchen, die an jeden Ort und in jede Zeit führten. Das war genau das, was er brauchte: ein fertiger Tunnel. Plötzlich hatte er es sehr eilig.
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KAPITEL 3 Charon hatte eine ziemlich interessante Ladung Toter an Bord. Zuletzt hatte er drei Fischer aufgenommen, die an der Küste Spartas ertrunken waren und von einem plötzlich aufkommenden Sturm von Norden her in die Unterwelt geweht worden waren. Die Fischer hatten kein Geld bei sich gehabt, doch sie hatten Charon versprochen, daß ihre Reise bezahlt werden würde. Ein Vetter von ihnen, ein gewisser Adelphius von Korinth, hatte ein Guthaben bei einem Wohltätigkeitsverein, der Gesellschaft zur Transportsicherung der toten Seelen. Für jeden von ihnen sollte auf einem Konto bei der Ersten Hellenischen Spar- und Darlehenskasse ein Obolus bereitliegen. Charon müßte nichts weiter tun, als dort anzurufen oder einen Boten mit einer Vollmacht hinzuschicken, und er würde sein Geld bekommen. Charon mochte diese Geschäftspraktiken nicht. Er war ein altmodischer Mann und wollte Bargeld. Er verdächtigte die Fischer, ihn betrügen zu wollen, um eine freie Überfahrt zu erhalten. Folglich hatte er es erst abgelehnt, sie an Bord zu nehmen. Nur der Redefluß eines gewieften Bankiers aus seiner Mannschaft hatte ihn umstimmen können. Der Bankier, ein Mann namens Ozymandias, war kein Grieche. Er war nur deswegen unter Charons Fuchtel geraten, weil er bei einem Aufruhr auf Korfu getötet worden war, den hellenische Geheimdienstler angezettelt hatten. Jener Tote setzte sich für die drei Fischer ein und überzeugte Charon, daß er sich auf die Zahlungsmoral des Wohltätigkeitsvereins getrost verlassen könne. Charon, der sich besser auf Boote als auf Banken verstand, fand keine Gegenargumente, dennoch gefiel ihm die Sache nicht. Andererseits kam auch er nicht
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daran vorbei, sich den Gegebenheiten der Moderne zu fügen. Wenn er in einen fremden Hafen einlief und Reparaturen ausführen lassen wollte, kam er mit seinen Obolen nicht besonders weit. Niemand wollte für einen Lohn arbeiten, den die Leute außerhalb seines Reiches als Spielgeld abtaten. Auch Charon mußte sich wohl oder übel damit abfinden, daß sich die Zeiten geändert hatten. Besser waren sie allerdings bestimmt nicht geworden. Immerhin hatte er früher nie mit seinem Boot auf einem Riff festgesessen. Nun aber war er gestrandet, und das in einem Bereich des Styx, wo es keinerlei Untiefen geben sollte. Dies war eine besonders üble Gegend. Das Wasser war dunkel und morastig, der Himmel von einem bedrohlichen Grau, und ein stetiger leichter Wind trug den Geruch toter Fische herüber. Kleine Wellen mit schmutzigen Schaumkronen schlugen gegen die Bordwände. Das Ufer säumten verkrüppelte Bäume, und an einigen von ihnen hingen tote Männer. Die Toten winkten zu Charons Boot herüber und baten darum, abgenommen zu werden, doch Charon ignorierte sie. Er hatte genug Tote an Bord; für mehr reichte sein kleines Boot nicht aus. Zwanzig oder dreißig hatte er dabei. Sie saßen auf dem Vorderdeck und spielten Karten mit einem ramponierten Tarotblatt. Andere lungerten einfach irgendwo an Deck herum. Ihre stinkenden Hemden standen bis zum Bauchnabel offen, und sie planschten mit den Füßen im trüben Wasser herum. Einige hatten das festsitzende Boot verlassen, um mit einem schimmeligen alten Kopf, der vom Fluß angespült worden war, Wasserpolo zu spielen. Charon ging verärgert zu Faust hinüber. »Daran bist nur du schuld. Was gedenkst du nun zu tun?«
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»Ich kann nichts tun«, erwiderte Faust. »Und es ist nicht meine Schuld, sondern die von Azzie, diesem verfluchten Dämon. Er hat mir ins Handwerk gepfuscht.« »Warum wirfst du den verdammten Zauber nicht einfach über Bord?« »Das wäre das schlimmste, was wir tun könnten«, sagte Faust kopfschüttelnd. »Nein, wir müssen das jetzt einfach durchstehen.« »Das sagst du schon die ganze Zeit«, murrte Charon. »Aber es passiert nichts. Die Zeit vergeht, und wir sitzen noch immer hier fest. Du solltest dir bald etwas einfallen lassen, oder du selbst gehst über Bord.« Faust sah auf das schmierige dunkle Wasser. Charons Drohung erschien ihm fast wie eine Erleichterung. In der Tiefe konnte er die schemenhafte Bewegung großer Gestalten erkennen, die schwerfällig dahinzuschwimmen schienen. Er wußte, daß unter dem Styx ein riesiges Reich verborgen lag, von dem die Menschen nichts ahnten. Der Gedanke hatte eine verlockende Wirkung auf ihn. Warum sie nicht beenden, diese unaufhörliche Seelenqual, die doch zu nichts führte? Welch eine Freude, dem Leben auf immer zu entschwinden, in den Fluten des Flusses Styx zu ertrinken und jenen unheimlichen Schwimmern im dunklen Wasser Gesellschaft zu leisten! Er wischte die Gedanken beiseite. Schließlich war er Faust, und Faust würde sich niemals der Verzweiflung hingeben. Das war etwas, das kleinere Geister, als er einer war, tun konnten, aber nicht er selbst. Er würde einen Ausweg finden! Dann sah er ein schwaches aber helles Strahlen in der Luft über dem Wasser. Konnte es auf dem Styx etwas so Heiteres, Leichtes geben? Er sah in die Ferne.
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Tatsächlich schien sich auf der Wasseroberfläche etwas zu nähern. Als sich der Nebel lichtete, erkannte Faust, daß es sich um einen kleinen Mann in einem Ruderboot handelte, der sich zügig und munter in die Riemen legte. Charon hatte das Boot ebenfalls bemerkt. »Wer, zum Teufel, kann das sein?« »Ich dachte, der Styx untersteht ganz allein dir, Charon«, spottete Faust. Das Ruderboot hatte Charons Schiff erreicht und ging längsseits. Der kleine Mann war niemand anders als Rognir, der Zwerg. Er hatte sich in feste gelbe Regenkleidung gehüllt, und auf seinem großen struppigen Kopf saß ein unförmiger Gummihut. »He da!« schrie er. »Habt ihr den Faust an Bord?« »Ja, er ist hier«, antwortete Charon. »Aber wer bist du?« »Ich bin Rognir. Ich komme aus einer völlig anderen Sphäre als Ihr, aber ich weiß, wer Ihr seid. Seid mir gegrüßt, Charon! Warum versteckt Ihr Euch hier in dieser windstillen Zone? Ich sah unterwegs Ladestationen und -rampen voller toter Seelen, die ganz verzweifelt nach Euch riefen, und sie hielten Geld in ihren Händen, Charon.« »Verdammt«, fluchte Charon. »Ich wußte, meine Geschäfte würden unter dieser Sache leiden. Ich bin hier, Rognir, weil ein bösartiges Wesen mein Boot mit einem Fluch belegt hat, genauer gesagt das Ruder, und nun fährt mein gutes altes Schiff nur noch im Kreis herum, und so sind wir auf dieser Sandbank gelandet. Das ist ganz sicher die einzige Sandbank auf hundert Kilometer, die es in diesem Fluß gibt, und genau hier mußten wir auflaufen und kommen einfach nicht mehr frei. Was führt dich hierher?«
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Rognir erklärte ihm, daß er gekommen war, um mit Faust zu sprechen und ihm einige wichtige Neuigkeiten mitzuteilen. »Ich habe ein bißchen gelauscht, was bei den Dämonen so geredet wird«, erzählte er Faust. »Ich glaube. Euch ist Azzie Elbub bekannt, ein Dämon und ein verdammt krummer Hund, selbst für höllische Verhältnisse.« »Ich habe ihn kennengelernt«, antwortete Faust. »Er wollte mich von meiner Absicht abbringen, meinen Platz in dem großen Wettkampf zwischen den Mächten der Finsternis und des Lichts einzunehmen und so Erlösung für die ganze Menschheit und einen unsterblichen Ruhm für mich selbst zu erlangen. Außerdem hat er mir einen mangelhaften Antriebszauber gegeben, einen, der von Unheil verseucht war und Charons Boot zu diesem Stillstand verurteilt hat.« »Ich glaube, bei dieser Sache kann ich dir weiterhelfen. Hier, versuch es damit!« Rognir reichte Faust ein verknotetes Seil. »Was ist das?« erkundigte sich Faust. »Ein Lösungszauber. Ihr aufbinden, und Ihr seid frei.«
müßt
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nur
den
Knoten
KAPITEL
4
Mack hatte das Londoner Wohnhaus von Doktor Dee erreicht. »Bist du bereit?« »Ich denke schon«, antwortete Marguerite. »Aber die Sache gefällt mir nicht.« »Mach dir keine Gedanken! Tu nur einfach, was ich dir gesagt habe, dann kann gar nichts schiefgehen, glaub mir!« Marguerite sah unglücklich, aber ausnehmend hübsch aus. Ihr haselnußbraunes Haar glänzte geheimnisvoll. Nachdem Mephistopheles sie zu Mack gebracht hatte, war ihr noch genug Zeit geblieben, sich hübsch zu machen. Sogar ihr grünes Kleid mit den getupften Einsätzen schien zu leuchten. Mack hatte darauf geachtet, daß sie besonders gut zurechtgemacht war. Er näherte sich der Tür des windschiefen, alten Gebäudes, dessen verschlossene Fensterläden es wie eine schlafende Katze aussehen ließen. Das Haus stand in einem üblen Viertel Londons, dem berüchtigten Tortingham. Überall hatten dubiose Geschäftemacher ihre Büros eingerichtet, und in naher Zukunft würde alles hier einem Durcheinander aus Taschendieben, Räubern, Taugenichtsen, Bauerntrampeln und Rattenfängern anheim fallen. In diesem Schmelztiegel lebte der berühmte Doktor Dee. Doktor Dee, ein großer hagerer Mann in einer Gelehrtenrobe, saß in seinem Wohnzimmer und blätterte in einem antiken Schriftstück über das geheime und vergessene Wissen. Plötzlich hielt er inne und sah auf. »Kelly!« rief er.
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Auf der anderen Seite des Raumes blickte ein kleiner breitschultriger Mann von dem Garnhaufen auf, den er zu entwirren bemüht gewesen war. Edward Kelly, ein Ire aus der Grafschaft Limerick und begabt mit übersinnlichen Fähigkeiten, zog unter der Pelzkappe, die seinen Kopf bedeckte, eine Augenbraue in die Höhe. »Ja?« fragte er. »Da ist jemand auf der Treppe«, sagte Dee. »Soll ich hingehen und nachsehen, wer da ist?« »Nein, mach erst eine Vorhersage! Ich habe ein merkwürdiges Gefühl.« Kelly griff nach einem Glas Wasser, das auf dem Tisch stand, und stellte es vor sich hin. Mit dem Zeigefinger rührte er darin herum und starrte dann intensiv hinein, in dem strudelnden Wasser sah er, wie sich die verschiedensten Formen entwickelten und voneinander lösten. Da gab es Formen und Gesichter von Ertrunkenen und vielfarbige, sich umeinanderschlingende Geister, die nicht greifbarer als aufsteigende Rauchfahnen waren. Er hörte vielfältige Geräusche – eine besondere Eigenart seiner Hellsichtigkeit. Nach einer Weile sah er einen Mann und eine Frau, umgeben von einer Aura geheimnisvoller Geschehnisse, die nur für Kellys Augen sichtbar war. »Zwei Personen nähern sich der Tür«, sagte Kelly. »Ein merkwürdiges Paar, obwohl ich nicht sagen kann, was mir an ihnen merkwürdig erscheint. Der Mann ist groß und blond, die Frau dunkelhaarig und sehr schön. Sie sehen ganz annehmbar aus.« »Wenn sie deiner Ansicht nach in Ordnung sind, dann werden wir sie reinlassen«, antwortete Dee. »Mich hatte nur so ein merkwürdiges Gefühl befallen.«
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»Und warum fragen Sie dann mich, anstatt in Ihren magischen Spiegel zu sehen und alles über die beiden zu erfahren?« »Der magische Spiegel liegt im anderen Zimmer«, entgegnete Dee. »Ich weiß nicht, worüber du dich ärgerst.« »Ich, mich ärgern?« murrte Kelly finster. »Warum sollte ich mich ärgern?« »Nun, du siehst verärgert aus.« »Warum sollte ich verärgert aussehen«, fragte Kelly, »wenn es doch absolut nichts gibt, worüber ich mich beklagen könnte? Bin ich Ihnen und Ihrem übersinnlichen Zirkus nicht quer durch Europa gefolgt? War ich nicht der Star in Ihrer Show? Habe ich nicht die ganze Arbeit stillschweigend erledigt, auf daß Sie sich an dem Ruhm und der Ehre erfreuen konnten?« »Aber, Edward«, sagte Dee, »ich dachte, wir hätten das schon ausgiebig diskutiert. Nun geh und sieh nach, wer da ist!« Grummelnd ging Edward Kelly zur Tür. Der Diener war grundsätzlich abwesend, wenn es etwas für ihn zu tun gab, und man brauchte keine übersinnlichen Kräfte, um zu wissen, daß er sich in seinem Zimmer unter dem Dach befand und seine alte Kriegsverletzung pflegte, die er sich unter dem Schwarzen Prinzen, Edward von Wales, zugezogen haben wollte. Kelly war in Gedanken in Irland, als er zur Tür ging. Irland, das grüne Irland, mit seinen satten Wiesen, seinen Sümpfen und seinen jungen Mädchen, die immer bei ihm vorbeigeschaut hatten auf ihrem Weg zu den Schafherden, die sie in den grasbewachsenen Hügeln nahe der kalten glitzernden See weiden ließen. Kelly schüttelte gereizt den Kopf und
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befahl seinen Erinnerungen zu schweigen, ehe er die Tür öffnete. »Hallo«, grüßte Mack. »Wir würden gern mit Doktor Dee sprechen, wenn Sie gestatten.« »Worum geht es?« »Das möchten wir ihm persönlich sagen.« »Nun, wenn Sie wollen, daß er es auch persönlich erfährt, sollten Sie es zuerst einmal mir sagen.« »Es ist wirklich sehr persönlich«, versicherte Mack. Kelly ließ sie achselzuckend eintreten und führte sie ins Wohnzimmer. »Irgendwas Kelly.
ganz
besonders
Persönliches«,
erklärte
Mack nickte dem Doktor lächelnd zu. »Wir würden gern Ihren magischen Spiegel kaufen«, erklärte er Dee. Dees buschige Augenbrauen näherten sich in einem Ausdruck ungläubigen Erstaunens seinem Haaransatz. »Ich soll Ihnen meinen Spiegel verkaufen? Mein Herr, Sie müssen verrückt sein. Ein Spiegel, mit dem eine solche Kraft und Hellsichtigkeit einher geht, den kauft man nicht einfach wie einen Sack Kartoffeln. Dieser Spiegel, mein lieber Herr, war das ultimative Objekt der Begierde in allen Königshäusern Europas. Der König von Polen hat mir reiche Besitztümer dafür geboten, Land und Leibeigene, Wälder voller Wildschweine und den Titel eines Grafen. Und um mir die Sache noch schmackhafter zu machen, hat er mir sogar die junge Komteß von Radzivil angeboten, deren berückender Zauber bis an die Ufer der Weser für Aufregung und Gespräch sorgte. Doch meine Antwort war nur ein Lachen, ein verächtliches Lachen, mein lieber Herr. Weltliche Güter gegen einen
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Spiegel tauschen zu wollen, der den Blick in unsichtbare Reiche erlaubt und zukünftige Ereignisse voraussehen kann, ist wie der Versuch, Schlacke gegen Gold einzuwechseln.« »Das ist mir bewußt«, sagte Mack. »Aber ich habe ein Angebot für Sie, das Sie nicht ausschlagen werden.« »Werde ich nicht? Dann lassen Sie mal hören.« Mack zog das scharlachrote Seidentuch mit seinem geheimnisvollen Inhalt, das Mephistopheles ihm gegeben hatte, aus seiner Tasche und reichte es dem Doktor. Leider verschweigt uns die Geschichte, was in dem Taschentuch verborgen war, ebenso wie seine genaue Wirkung auf den eitlen und großspurigen Doktor Dee. Nur eines ist sicher: Zehn Minuten nach ihrer Ankunft in Doktor Dees Haus setzten Mack und Marguerite ihren Weg nach Southwark fort, und der magische Spiegel befand sich in einem ledernen Etui unter Macks Arm.
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KAPITEL 5 Die Menschenmenge schob sich langsam in das Innere des Theaters. Es gab nur dreihundert Plätze, doch aus allen Teilen des englischen Königreiches waren die Leute gekommen, um das Stück zu sehen. Alle waren sie in feierlichen Staat gekleidet. Männer und Frauen waren in lange Mäntel gehüllt, die sie vor der aufkommenden Kälte der Nacht schützen sollten. Das Publikum war bunt zusammengewürfelt. Viele Angehörige des Adels, wie Lord Salisbury, Lord Dunkirk und Lord Faversham waren darunter. Manche kamen mit ihren Gattinnen, andere mit ihren Bräuten oder – falls sie besonders jung waren, wie der achtjährige Lord Dover – mit ihren Eltern oder Lehrern und in dem besonderen Falle von Viscount Delville, sieben Jahre alt und kränklich, mit ihrem Leibarzt. Aber das Publikum beschränkte sich keineswegs auf bekannte Persönlichkeiten des englischen Adels. Die meisten Besucher waren einfache Leute: schwergewichtige Tuchhändler aus der Meaching Row, große magere Apotheker aus der Pall Mall und aus Cheapside, dürre Nahrungsmittelhändler aus der Piccadilly Street, aber auch robuste Vagabunden, die es geschafft hatten, eine Karte zu ergattern, sowie Soldaten mit prachtvollen Straußenfedern an ihren Kopfbedeckungen, die noch aus den niederländischen Kriegen übriggeblieben waren. Außerdem hatten sich etliche Kleriker eingefunden, die ganz sicher nicht gekommen waren, um sich zu amüsieren, sondern weil dem Stück der Ruf vorauseilte, ein Sakrileg zu sein, und sie sich erhofften, eine Menge Material für ihre nächste Sonntagspredigt sammeln zu können. Sie alle strömten nun drängelnd und schubsend in das kleine Theater, kauften Orangen und Tüten mit allerlei
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Naschereien von jungen Verkäuferinnen und liefen wie aufgeschreckte Hühner durcheinander. Das Theater war oval gebaut. Auf beiden Seiten gab es eine Reihe mit Logen, und die höhergelegene Bühne zog sich bis zu den ersten Sitzreihen im Theatersaal hin. Die Kerzen in den Leuchtern flackerten unter dem Getöse lauter Stimmen, die sich in brüllender Unterhaltung befanden. »Ich sehe Harry!« »Oh, da ist Saffron!« »Schau, da kommen Melisande und Cuddles!« So und so ähnlich tönte es durch das Theater. Wer keine Karte besaß, konnte sich für dreieinhalb Pence an der Kasse Einlaß verschaffen, denn der Earl von Nottingham und seine Leute wollten mit der Aufführung auch etwas Gewinn machen. Die Leute bezahlten anstandslos, und es gab keinerlei Schwierigkeiten. Dies war ein Tag des Feierns, und das Geld war unwichtig. Die Zukunft war unsicher, denn sollten die Spanier mit ihrer Armada an Englands Küste landen und die Marine der rothaarigen Königin überwältigen, so wäre das Geld sowieso nichts mehr wert. Wozu also damit geizen? Auf den von unzähligen Kerzen hell erleuchteten Gängen hatten sich Männer in scheckigen Kniebundhosen und bunten Joppen versammelt, die sich lärmend unterhielten. Zu dem beeindruckenden Klang einer Trompetenfanfare trat nun endlich Edward Alleyn auf die Bühne. Im Publikum registrierte der junge William Shakespeare, der bereits langsam kahl zu werden begann, das plötzliche und ehrfürchtige Schweigen, das für einen Moment von der unruhigen Menge Besitz ergriff und für seine persönliche Zukunft noch größte Bedeutung gewinnen sollte.
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Die Bühnenbeleuchtung – Magnesiumund Petroleumlampen auf dreibeinigen Ständern, die man erst seit kurzem in den Theatern verwendete – wurde entzündet. Das Publikum richtete seine Aufmerksamkeit nun ganz auf die Bühne, und die Oboisten des kleinen Ensembles stimmten das Faustus-Thema an. Das Bühnenbild zeigte das Wittenberg des vergangenen Jahrhunderts. Von geringfügigen Kleinigkeiten abgesehen, war die Szenerie erstaunlich realistisch, bedachte man, daß Bühnenbildnerei noch eine sehr junge und unausgereifte Kunst war, die erst im frühen achtzehnten Jahrhundert zur vollen Blüte kommen sollte. Als der Vorhang aufgezogen wurde, begann auf den Rängen ein anhaltendes Räuspern. Über den Holzboden scharrten unebene Sohlen aus den verschiedensten groben und oberflächlich behandelten Materialien, so wie man sie eben im vorindustriellen Zeitalter erwarten konnte. Die Unebenheit der Sohlen bewirkte ganz besonders dann unangenehme Geräusche, wenn unter ihnen die Schalen von Eiern, Orangen und Erdnüssen knirschten, die den Boden in einer dicken Schicht bedeckten. In diesem Jahr der Heimsuchungen hungerte das Volk nach jeglicher Art von Amüsement und war bereit, jeden Preis dafür zu zahlen. Gerade als die Aufführung begann, eilte Mack verspätet in das Theater und schob sich, Entschuldigungen murmelnd, an den Sitzreihen vorbei, bis er seinen Platz erreicht hatte. Etwas außer Atem ließ er sich nieder und verwahrte den magischen Spiegel an seiner Seite. Marguerite setzte sich mit einem kindlichen, erwartungsfrohen Kichern auf den Sitz neben Mack. »Ich habe noch nie zuvor ein Theaterstück gesehen«, vertraute sie ihm an. »Ist das so, wie wenn man
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zusammensitzt erzählt?«
und
sich
gegenseitig
Geschichten
»Ja, es ist ziemlich ähnlich. Aber hier spielen die Leute die Geschichte auf der Bühne vor, anstatt sie zu erzählen.« »Manchmal tun sie beides«, bemerkte ein Mann neben Mack. Mack sah sich um. Neben ihm saß ein Mann mittleren Alters und von kräftiger Statur. Er hatte einen geröteten Teint und stechende dunkle Augen, aus denen eine falkenartige Klugheit sprach. »Faust«, keuchte Mack. »Korrekt«, antwortete der Mann. »Und du bist ein dreckiger Betrüger.« »Pssst«, erklang aus der Reihe vor ihnen eine ungehaltene Stimme. »Sehen Sie denn nicht, daß die Vorstellung begonnen hat?« Auf der Bühne trat Edward Alleyn nach vorn, zog mit einer gekünstelten Geste seinen Hut und stellte sich in Positur. »Wir werden das später besprechen«, sagte Mack. »Pssst!« antwortete wieder die Stimme von vorn. Der Chor hatte seine Ouvertüre beendet. Edward Alleyn war in seinem karminroten Umhang prachtvoll anzusehen. Vor seiner Brust baumelte ein vergoldetes Kreuz, und er begrüßte mit getragener Stimme das Publikum. »Es gibt nichts zu besprechen«, erwiderte Faust. »Verschwinde einfach, denn von jetzt an übernehme ich.« »Keine Chance«, versetzte Mack.
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Ihr verbaler Schlagabtausch wurde an dieser Stelle von den Umsitzenden unterbrochen, die kein Interesse daran hatten, die plumpen Streitereien zweier Laffen zu verfolgen. »Ruhe!« »Stopft ihnen das Maul!« »Seid doch endlich still!« Diese und diverse andere unfreundliche Ausrufe geboten ihnen zu schweigen. Hinzu kam, daß weder Mack noch Faust besonders erpicht darauf waren, die Wahrheit über sich publik werden zu lassen. Also starrten sie sich gegenseitig böse aus den Augenwinkeln an, während Marguerite und Helena, jeweils neben ihren Begleitern sitzend, auf sie einflüsterten und sie aufforderten, Ruhe zu bewahren. Währenddessen ging das Spiel auf der Bühne weiter.1 Macks Gehirn arbeitete in einer zumindest für ihn atemberaubenden Geschwindigkeit sowohl an dem Wettkampf wie auch an seinen nächsten Schritten in Hinblick auf Faust. Er hatte inzwischen begriffen, daß er in dieser Sache mehr gewinnen und folglich auch mehr verlieren konnte, als er seinerzeit in Krakau bei seinem Einbruch in Fausts Gemach und der Verhandlung mit Mephistopheles gedacht hatte. Es war zwar richtig, daß der echte Faust hier war, um sein Recht einzufordern, doch was ging das Mack an? Seine eigene Welt lag ihm bei weitem näher als die des Faust, und genau diese eigene Welt hatte ihn schließlich dazu gebracht, Faust zu werden. So gesehen hatte jener andere Faust, dessen
1
Im Original wird ein Dialog mit den sieben Todsünden erwähnt, der mir aus dem Faust nicht bekannt ist.
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Rolle Mack einst übernommen hatte, auch nicht mehr Rechte an der Person des Faust als er selbst. Trotzdem war und blieb Faust ein Problem. Mack mußte einen Weg finden, den Kerl loszuwerden. Er hatte keine Ahnung, was aus ihm werden würde, wenn er zuließ, daß Faust ihn aus dem Spiel verjagte. Sicherlich hätte er von einem derartigen Verlauf nichts Erfreuliches zu erwarten. Überlegenheit, das war es. Er mußte sich Überlegenheit verschaffen. Sicher, das war nichts Neues. Jede militärische Strategie basiert auf der Taktik, den eigenen Vorteil zu suchen und zu finden! In diesem Moment besann er sich auf den magischen Spiegel des Doktor Dee, der sich noch immer an seiner Seite befand. Ihm ging auf, daß ein Blick in den magischen Spiegel ihm die Zukunft zeigen würde und damit eine Möglichkeit bieten könnte, den Zweikampf mit Faust für sich zu entscheiden. Vorsichtig zog er den Spiegel aus seinem Etui, wobei er das Rascheln überdeckte, indem er mit den Füßen über den schmutzigen Boden scharrte und Marguerite zuraunte: »Es ist schlimm, wie verdreckt dieser Ort ist.« Ohne daß es jemand bemerkt hätte, lag nun der Spiegel in seinem Schoß. Er wollte gerade in den Spiegel sehen, als es auf der Bühne eine Explosion gab, gefolgt von einem Aufblitzen hellen höllischen Lichtes. Mack hatte dieses Licht schon öfter gesehen. Es handelte sich um Mephistopheles, der sich selbst herbeigezaubert hatte. Der große ansehnliche Dämon trat aus dem Rauch, richtete seine Abendkleidung und ging zur Mitte der Bühne. Dort blieb er stehen und spähte in den Zuschauerraum, bis er Mack entdeckte.
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»Der Spiegel!« schrie er. »Ich habe ihn!« antwortete Mack in gleicher Lautstärke. »Keine Sorge, er ist hier!« »Sie müssen ihn zerstören!« »Wie bitte?« »Sehen Sie zu, daß Sie ihn loswerden. Sofort! Eben ist eine Regel erlassen worden! Wenn Sie in den Spiegel sehen, wird der gesamte Wettkampf ungültig, denn es darf nicht sein, daß der Kandidat Ereignisse vorhersehen kann. Das würde die Ergebnisse beeinflussen, verstehen Sie?« Im Publikum war unsicheres Gemurmel aufgekommen, und man konnte hören, wie immer häufiger verwirrte Nasen an parfümierten Zierblümchen schnüffelten, die von schmutzigen Händen in zarten Spitzenhandschuhen gehalten wurden. Grobe Sohlen knirschten auf Erdnußschalen, und an diesem Geräusch war etwas überaus Befremdliches, etwas Dunkles, als gäbe es plötzlich einen bedrohlichen Unterton, einen nicht greifbaren Bass, der sich unter das Krachen der Schalen mischte – ein Laut des Wahnsinns, der die Ohren der Anwesenden malträtierte und sie etwas Grauenhaftes erwarten ließ, so wie ein blutiges Spektakel, unter dessen symbolischen Schwingen das Grauen geboren würde. Es war an der Zeit, hier zu verschwinden. Mack stand auf und suchte sich einen Weg durch die Masse hinaus auf den Gang. Je eher er diesen Ort verlassen haben würde, desto besser. Wer konnte schon sagen, was noch alles passieren würde? Die dunkle Ahnung der Menschen, daß ein Theater ein Ort war, an dem böse Dinge geschehen könnten, wurde zeitgleich mit dem ersten Theater geboren, und die Uraufführung des Doktor Faustus würde diese Legende weiter nähren.
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Marguerite folgte Mack dicht auf und hielt sich an seiner Jacke fest, um ihn inmitten der Menge nicht zu verlieren, die nun in Panik durcheinander zu rennen und zu stolpern begann. Es gab einen Auslöser für die ganze Panik. Ein aufmerksamer Zuschauer, der anscheinend nicht ganz so dumm war, wie er aussah, hatte bemerkt, daß die Anzahl der Personen auf der Bühne nicht mit denen im Programm übereinstimmte. Seine Äußerung, derzufolge sich ein Teufel zuviel auf der Bühne befand, löste eine Welle der Verunsicherung aus. Überall wurden holzgerahmte Brillen aufgesetzt; jeder wollte nun selbst das Programm lesen. Wenn da ein Teufel zuviel war, dann mußte er echt sein. Man brauchte keinen Gelehrten, um das zu wissen. Jeder aufrechte Mensch mit klarem Verstand, der den Geschehnissen aufmerksam gefolgt war, mußte zweifelsfrei erkennen, daß dieser große schlanke Kerl, der so plötzlich inmitten der Schauspieler aufgetaucht war, einem Teufel wesentlich ähnlicher sah als der Schauspieler, der diese Rolle zuvor verkörpert hatte. Diese Erkenntnis und der daraus herrührende Fluchtgedanke vieler hatten die Panik verursacht. Alle waren aufgesprungen und suchten das Weite. Ein Teufel zuviel – ein echter Teufel! Doch plötzlich erschien in einer zweiten Rauchwolke eine weitere Gestalt auf der Bühne. Es war ein adretter, fuchsgesichtiger Dämon, der hier seinen Auftritt zelebrierte. Azzie trug einen knochenhellen Anzug, weiße Mokassins und einen türkisfarbenen Schal, auf den ein tibetanisches Mandala gemalt war. Sein Auftritt versetzte die aufgebrachte Menge nun in einen Zustand erschöpfter Raserei. »Behalte den Spiegel!« schrie Azzie, an Mack gewandt. »Du weißt nie, wann du auf einen solchen Gegenstand
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einmal angewiesen sein wirst, in jedem Fall benötigst du ihn für den Wertkampf.« »Das ist nicht wahr!« brüllte nun Mephistopheles. »Das war nur eine seiner Möglichkeiten.« »Wie kannst du es dann wagen zu behaupten, daß er diese Wahl nicht treffen dürfe?« »Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete Mephistopheles. »Ich habe ihm lediglich erklärt, daß er nicht in diesen Spiegel sehen darf, denn wenn er die Folgen seiner Handlungen bereits vorhersehen kann, dann ist der ganze Wettkampf gescheitert, und das wäre für Gut und Böse untragbar.« Die aufgewühlte Menge wurde nun endgültig von rasender Panik ergriffen. Das Unheil, das über ihr zu liegen schien, raubte ihr mehr und mehr den Atem. Körbe mit delikaten Leckerbissen und Appetithappen, die den Weg zum Ausgang behindert hatten, flogen durch die Luft, weggeschleudert von erwachsenen Männern, die nichts anderes mehr im Sinne hatten, als diesen gespenstischen Ort zu verlassen. Wie zur Krönung des um sich greifenden Wahnsinns begann das Orchester zu spielen.
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KAPITEL
6
Unterdessen saß Rognir auf einem belebten Platz in der unterirdischen Welt der Zwerge und plante Böses. Er überlegte hin und her, was er wohl Azzie Übles antun könne. Nichts anderes war ihm mehr wichtig, denn er haßte diesen fuchsgesichtigen Dämon. Nebenbei war es natürlich eine Wohltat für jeden Zwerg, einen stolzen Dämon aufs Glatteis zu führen. Und schließlich mochte Rognir die Dämonen nicht, besonders verabscheute er fuchsgesichtige Dämonen und erst recht diesen einen. Einen Dämon aus der Fassung zu bringen, war eine gute Sache! Rognir tat also lediglich das, was jeder anständige Zwerg tun würde, wenn er eine Möglichkeit dazu sähe. Alles, was einem Dämon Schmach bereiten würde, war als erfreulich anzusehen. Und wenn es überdies noch einen Gewinn für einen Zwerg abwarf, um so besser. Rognirs Problem war nur, daß er nicht mit letzter Sicherheit wußte, was er mit dem Gespräch anfangen sollte, das er belauscht hatte. Es war zwar offensichtlich, daß Azzie irgend etwas hinter dem Rücken von Mephistopheles ausheckte – aber was, das war eine gänzlich andere Frage. Was tat Azzie, was Mephistopheles, worum ging es überhaupt, und welche Bedeutung mochte dieser Wettstreit haben (Zwerge sind im allgemeinen nicht besonders gut über die großen Ereignisse der Gegenwart informiert)? Nachdem er Mephistopheles von dem Gespräch zwischen Azzie und Ylith erzählt hatte, arbeitete Rognir nun an einem neuen Plan. Er saß gerade auf einem großen giftigen Pilz, als ihm ein passender Gedanke durch den Kopf ging. Es war ein riesiger orangefarbener Giftpik mit schönen gelben Tupfen. Einer von der Sorte, die nur ein Zwerg essen
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konnte, ohne elendiglich zugrundezugehen. Rognir allerdings aß nicht, obwohl seine Kiefer sich in ständiger Bewegung befanden. Ein Zeuge hätte – wenn er ein genauer Beobachter gewesen wäre – bemerken können, daß seine Backenzähne in geradezu schmerzhafter Weise aufeinanderknirschten und er augenscheinlich den Geburtsschmerz der Inspiration verdaute. »Faust habe ich informiert, Mephistopheles auch. Ich war wirklich sehr hinterlistig. Aber jetzt, so scheint mir, wird es Zeit, daß ich mir einen neuen Kunstgriff einfallen lasse. So werde ich denn in das Reich eilen, von dem es heißt, daß dort die Geister des Lichtes leben…« Noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, begann sein Zwergenzauber zu wirken, und er trat seine Reise an.
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PARIS KAPITEL 1 »Wo sind wir?« fragte Mack. »In einer Taverne im lateinischen Viertel von Paris«, antwortete Mephistopheles. »Ich fühle mich hier in der Nähe der Studenten wie zu Hause. Studenten waren immer schon von besonderem Reiz für den Teufel, und Paris… Paris ist des Teufels ureigenste Stadt. Ich dachte mir, dies wäre ein würdiger Ort, um den Vorhang zum letzten Akt unserer Jahrtausendveranstaltung zu öffnen.« Mack sah sich in der Taverne um. Er und Mephistopheles saßen in dem schwach beleuchteten Raum gemeinsam mit einigen anderen Leuten an einem roh gearbeiteten Holztisch. Ihre Sitznachbarn waren junge Männer und ihrem Anblick nach ganz offensichtlich Studenten. Sie waren in ihre eigenen Gespräche vertieft, die sie mit theatralischer Gestik begleiteten. Die Wirtschaft war recht groß und düster – ein Effekt, der durch die niedrige Decke noch verstärkt wurde. Bedienstete hasteten mit Tabletts voller Weinkrüge und Speisen hin und her. Mack erkannte auf den Tellern Muscheln in einer roten Soße und Brotscheiben. Es war laut in der Taverne. Schallendes Gelächter und spontane Gesänge übertönten immer wieder die Geräuschkulisse unzähliger Gespräche. Die Studenten waren jung, die Welt gehörte ihnen, und sie studierten in Paris, der bemerkenswertesten Stadt in Europa und der gesamten restlichen Welt. »Worum geht es diesmal?«
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»Es ist das Jahr 1789«, erklärte Mephistopheles. »Paris und damit ganz Frankreich befinden sich im Aufruhr. Das Volk hat sich von dem Unabhängigkeitskrieg Amerikas mitreißen lassen. Die Bürger sind bereit, sich gegen den König aufzulehnen und seine nutzlose Politik zusammen mit dem gesamten korrupten Adel zu stürzen. Es ist die Morgendämmerung eines neuen Zeitalters für die einfachen Leute, und es ist der Untergang einiger weniger Privilegierter. In den Palastbauten der Tuilerien bereiten der scheiternde Louis der Sechzehnte und seine Frau, Marie-Antoinette, voller Angst vor den Drohungen und Beschimpfungen eines immer weniger kontrollierbaren Mobs ihre Flucht vor. Noch in dieser Nacht wollen sie mit einer Kutsche nach Belgien fliehen, wo sie auf royalistische Soldaten treffen sollen, die darauf brennen, bittere Rache für jedes böse Wort gegen die königliche Familie zu üben.« »Klingt aufregend«, bemerkte Mack. »Werden sie es schaffen?« »Leider nein. Die Geschichte lehrt uns, daß einige wichtige Dinge schiefgegangen sind, die am Ende die Flucht vereitelt haben. Die königliche Familie wurde von den Aufständischen nach Paris zurückgebracht und der Guillotine zugeführt.« »Waren sie sehr böse, der König und seine Frau?« Mephistopheles lächelte traurig. »Nein, sie waren keine schlechten Menschen. Sie waren nichts weiter als Kinder ihrer Zeit, die zufällig in die besseren Kreise geboren worden waren. Ihr Tod hat nichts wirklich verändert oder verbessert, aber er hat die ganze Welt in Aufruhr versetzt. Überall gab es Kriege und Massaker, und Frankreich stand den Armeen Europas allein gegenüber.« »Ich vermute, Sie wollen, daß ich das Königspaar rette.«
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»Sie allein entscheiden, was Sie tun oder nicht tun«, widersprach Mephistopheles. »Aber die Rettung des Königs wäre ganz sicher eine denkwürdige Tat.« »Was soll ich tun?« »Die Flucht soll heute nacht stattfinden. Die Mitglieder der königlichen Familie werden einzeln den Palast verlassen und mit verschiedenen Kutschen die Flucht antreten. Gleich zu Beginn wird es zu einer Verzögerung mit fatalen Folgen kommen. Marie-Antoinette wird sich so lange mit ihren Fluchtvorbereitungen aufhalten, daß sie erst mit einer Verspätung von mehreren Stunden den Palast verlassen und in ihre Kutsche steigen wird. Diese Verspätung wird dazu führen, daß der Duc de Choiseul, der die königliche Familie in einem Wald außerhalb von Paris mit seinen Männern erwarten sollte, seinen Posten in dem Glauben verläßt, die Flucht sei gescheitert. Dies ist eine der Schlüsselsituationen.« »Gibt es denn mehrere davon?« »Einige«, sagte Mephistopheles. »Nachdem schließlich die königliche Familie ihre Flucht gemeinsam fortsetzen kann, wird ein Mann namens Drouet den König in seiner Kutsche erkennen, während dieser durch den Ort SaintMenehould fährt. Drouet wird die Revolutionäre alarmieren, was zur Gefangennahme der Majestäten führen wird. Daß Drouet den König überhaupt entdeckt, ist purer Zufall. Wenn er aber abgelenkt wäre…« »Ich verstehe.« »Falls das nicht funktioniert, gibt es noch eine weitere Möglichkeit, den König und die Königin zu retten. Wenn sie die Brücke von Varennes ohne Hindernisse passieren könnten, anstatt durch die blockierte Brücke aufgehalten zu werden, dann würden sie es schaffen, die belgische Grenze zu erreichen und wären in Sicherheit. Es gibt also
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drei Ansatzpunkte: Marie-Antoinettes Verspätung, Drouet und die blockierte Brücke von Varennes. Alles klar, Faust?« »Ich denke schon«, antwortete Mack. »So klar wie nur möglich.« »Wunderbar. Und bitte, Johann, versuchen Sie, es dieses Mal gut zu machen. Es ist die letzte Episode, wie Sie wissen. Ich werde von Zeit zu Zeit nach Ihnen sehen. Vielleicht kann ich Ihnen auch ein bißchen helfen.« Er winkte. »Bis später!« Mephistopheles verschwand. Eine Marktfrau, die ihm zufällig über den Weg lief, erzählte Mack, daß sich Marie-Antoinette in Versailles aufhielt, das einige Wegstunden außerhalb von Paris gelegen war. Am Place Saint-Michel bestieg er zum Preis eines Centimes eine öffentliche Kutsche. Der Vierspänner fuhr durch Paris und hielt immer wieder an, um Fahrgäste aufzunehmen oder aussteigen zu lassen. Schließlich verließ er die Stadt und fuhr auf einer Landstraße durch leuchtend grüne Felder und angenehm schattige Baumgruppen. Am Versailler Schloß stieg Mack aus und lief zu Fuß zum Haupteingang. Vor dem Tor stand ein Wachsoldat, gekleidet in die prächtige rot-weiße Uniform der Royalisten. Als Mack sich näherte, erhob er angriffsbereit seinen Speer. »He da! Was ist Euer Begehr?« »Ich bitte untertänigst um eine Audienz bei der Königin«, sagte Mack. »Die Königin empfängt heute nicht«, erklärte der Soldat. »Ich weiß, aber es ist wirklich wichtig.« »Ich sagte doch, die Königin empfängt heute nicht!«
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»Dann teilt der Königin mit, daß Doktor Faust darum ersucht, sie zu sehen. Sie wird Euch dafür entlohnen. Und ich habe hier auch eine Kleinigkeit.« Mack reichte dem Wachmann ein Goldstück. »Danke, Bürger«, sagte der Soldat und steckte das Gold in die Tasche. »Und jetzt verschwindet, oder ich lasse Euch wegen Bestechung einsperren.«
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KAPITEL 2 Das Haus des Erzengels Michael stand auf einem höhergelegenen Grundstück von gut zweitausend Quadratmeter Größe in einem noblen Vorort des Himmels. Michael war gerade mit der Rosenpflege in seinem Vorgarten beschäftigt, als Ylith, die Engelsschülerin und ehemalige Hexe, die Marmorstufen zu ihm hinaufstieg. »Hallo, Ylith, nett, dich zu sehen.« Er legte die Rosenschere zu Boden und wischte sich die Hände mit einem Lappen ab. »Kann ich dir etwas anbieten, ein Glas Limonade vielleicht? Es ist ja ziemlich heiß heute. Wie schön, daß es nicht stickig ist, ein wirklich himmlischer Tag.« »Danke, nein«, antwortete Ylith. »Ich bin nur hier, weil es etwas gibt, das mich sehr verwirrt.« »Nun, dann erzähl mir davon! Was ist geschehen?« »Ich kann beweisen, daß Mephistopheles betrügt.« »Aha!« sagte Michael etwas verwundert. »Aber das sollte dich eigentlich nicht überraschen. Damit mußten wir, angesichts dessen, daß er ein Teufel ist, doch rechnen.« »Das ist richtig. Was mich weitaus mehr aus der Fassung bringt, ist, daß du ebenfalls betrügst.« »Ich?« fragte Michael. »Ja, du!« antwortete Ylith. Michael schwieg einen Augenblick lang nachdenklich, ehe er schließlich bemerkte: »Du bist noch nicht lange bei uns, nicht wahr?« »Richtig. Aber wo liegt der Unterschied…?«
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Michael hatte ruhegebietend die Hand erhoben. »Also bist du noch recht unerfahren und weißt wenig über die große Harmonie, die Gut und Böse zusammenhält und zu einer Einheit verbindet, in der es bestimmte Regeln gibt.« »Ich habe noch nie von dieser großen Harmonie gehört«, gab Ylith zu. »Und was soll das für einen Unterschied ergeben? Ich spreche immerhin von komplettem Betrug.« »Das ist sogar ein ganz enormer Unterschied, mein liebes Kind. Ich will es dir erklären. Wenn die Mächte des Lichtes und der Finsternis sich in einen Wettstreit begeben, so müssen sie das als gleichwertige Gegner tun. Keiner darf dem anderen überlegen sein, und beide müssen wissen, daß es für keine Seite jemals einen endgültigen Sieg geben kann. Beide Seiten, Gut und Böse, sind voneinander abhängig und können nur gemeinsam existieren. Verstehst du mich?« »Ich denke schon«, sagte Ylith zweifelnd. »Aber was ist nun der Unterschied…?« »Es gibt mehr als einen guten Grund«, fuhr Michael fort, »daß sich die beiden Parteien ebenbürtig sein müssen. Gut und Böse müssen immer wieder für die eine oder andere Sache eintreten, und wir alle wollen gewinnen. Wir versuchen sogar, unseren Gegner für die Ewigkeit auszuschalten, obwohl wir genau wissen, daß das nicht möglich, nicht praktikabel, ja nicht einmal wünschenswert ist. Kannst du mir folgen?« »Ich bin nicht sicher«, antwortete Ylith, »aber sprich bitte weiter!« »Aus all dem folgt, daß wir als gleichwertige Gegner auch Zugriff auf die gleichen Techniken haben müssen. Es darf nicht sein, daß das Gute einen Nachteil erleidet, weil es nicht auf Mittel des Bösen zurückgreifen darf.
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Auch das Böse nutzt die Mittel des Guten für seine Ziele, also muß das umgekehrt ebenso erlaubt sein. Und schließlich, meine liebe Ylith, kommt es nicht so sehr auf die Mittel an, als auf das, was hier drin stattfindet.« Michael hatte seine Hand an sein Herz geführt. »Willst du mir damit sagen, daß es für dich in Ordnung ist zu betrügen?« fragte Ylith. Michael wandte lächelnd den Blick ab. »Was ich sagen will, ist, daß wir ebenso das Recht auf Betrug haben wie das Böse.« »Und du denkst, es ist korrekt zu betrügen, um den Sieg davonzutragen?« »Nun, ich würde sagen, es ist zumindest nicht falsch.« »Ich habe wohl genug gehört«, sagte Ylith. »Ich muß darüber nachdenken.«
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KAPITEL 3 Der Abend hatte sich über die Tuilerien gesenkt. Sämtliche Fenster waren von Kerzenschein hell erleuchtet. An der großen verzierten Eingangspforte herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Die Menschen, die hier zu dieser Zeit unterwegs waren, trugen die blau-grauen Uniformen der Revolutionäre und nicht das Rot-Weiß der Royalisten. Mack saß ein wenig abseits des Gefummels auf einer kleinen Bank und überdachte seine Lage. Ein sanfter Wind flüsterte in den sorgfältig geschnittenen Bäumen, die den Palast umgaben, doch plötzlich hatte Mack das Gefühl, daß da noch etwas anderes wäre, etwas Greifbareres als den Wind, eine hauchdünne Stimme, die die Allee auf und ab wanderte und leise wisperte: »Faust! Faust! Wo bist du, Faust?« Mack sah sich um. »Ruft mich da jemand?« Gleich darauf materialisierte Ylith sich direkt neben ihm. Sie trug ein elegantes Reitkostüm aus Wildleder und schwarzem Samt, ihre Stiefel schimmerten sanft im Mondlicht, und ihre langen dunklen Haare hatte sie mit einem weißen Chiffontuch zusammengebunden. »Erinnern Sie sich an mich?« »Allerdings«, entgegnete Mack. »Du hast mich in das Spiegelverlies gesperrt, weil du geglaubt hast, ich wolle die Prinzessin verführen.« »Ich habe seitdem ein wenig dazu gelernt«, sagte Ylith. »Was haben Sie jetzt vor?« Für einen Moment wollte Mack sich einfach schmollend von der überaus schönen, aber ungestümen und arg vorurteilsfreudigen Geistfrau abwenden und ihr nichts
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über seine Pläne erzählen. Wenn sie so klug war, wie sie anzunehmen schien, so sollte sie es doch selbst herausbekommen! Dann aber besann er sich in der Hoffnung, sich einen Vorteil verschaffen zu können, und unterdrückte seinen verletzten Stolz. »Ich versuche, die königliche Familie vor den Revolutionären zu retten.« »Warum wollen Sie sie retten?« fragte Ylith. »Das weiß ich selbst nicht so recht. Ich kenne sie nicht, verstehst du? Aber irgendwas muß ich ja tun, und es scheint eine gute Sache zu sein. Schließlich sind das doch eigentlich auch nur dumme Menschen, deren größtes Vergehen es war, adlig zu sein. Und außerdem hält Mephistopheles das für eine gute Sache.« »Ich verstehe«, sagte Ylith. »Allerdings wird Michael es nicht so gut finden, wenn es Mephistopheles gefällt.« »Ja, das ist wohl die logische Konsequenz, und da du auf Michaels Seite bist…« »Ich weiß im Augenblick eigentlich gar nicht so recht, wo ich nun wirklich hingehöre«, unterbrach Ylith. »Zumindest weiß ich, daß ich Ihnen Unrecht getan habe. Ich bin hier, um es wieder gutzumachen. Wie kann ich Ihnen helfen?« »Ich muß dafür sorgen, daß die Königin sich beeilt. Es ist bereits fast acht Uhr abends – Zeit für sie zu verschwinden, aber bisher hat sie sich nicht blicken lassen.« »Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte Ylith, führte zwei graziöse Handbewegungen aus und entschwand aus Macks Blickfeld.
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KAPITEL
4
Ylith landete in einem Korridor im zweiten Stockwerk der Tuilerien, von dem aus die Räume der Königin abzweigten. Schon auf den ersten Blick erkannte Ylith, daß es eine kluge Entscheidung gewesen war, unsichtbar zu bleiben. Überall auf den prachtvoll tapezierten Gängen des Schlosses lungerten betrunkene Soldaten herum, begrabschten die verängstigten Hofdamen, tranken billigen Wein und stopften Essen in sich hinein, dessen Überreste sich über den Teppich verteilten. Ylith schob sich unter dem Schutz ihrer Unsichtbarkeit an den Soldaten vorbei, bis sie die königlichen Gemächer erreicht hatte und ging hinein. Sie fand Marie-Antoinette vollständig bekleidet und schlafend auf einer Chaiselongue vor. Die Finger der Königin befanden sich in ständiger Bewegung. Sie öffneten und schlossen sich, als wollten sie nach etwas greifen, das ihnen entfallen war – möglicherweise das Leben selbst. Marie-Antoinette mußte die Anwesenheit der fremden Person in ihrem Gemach gefühlt haben, denn sie erwachte und richtete ihre weit geöffneten blauen Augen auf Ylith. »Wer seid Ihr?« »Nur ein freundlich gesonnener Geist, Euer Hoheit«, antwortete Ylith. »Ich bin hier, um Euch aus Eurer Not zu helfen.« »Was wollt Ihr tun?« »Wenn Ihr erlaubt, Marie, werde ich es Euch erklären. Eure Flucht ist für acht Uhr heute abend geplant. Zu dieser Stunde sollt Ihr Euch in den Kleidern einer Gouvernante an den Wachen vorbei zu einer
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bereitstehenden Kutsche schleichen. Der Kutscher wird Euch zu einem Treffpunkt außerhalb von Paris fahren, wo Ihr vom König erwartet werdet, um gemeinsam die Flucht nach Belgien fortzusetzen.« »Das ist unser Plan«, sagte Marie-Antoinette mit erstauntem Gesichtsausdruck. »Wie konntet Ihr das wissen? Und was gibt es daran auszusetzen?« »Der Plan ist in Ordnung«, erklärte Ylith, »aber die Geschichte hat uns gelehrt, daß Ihr die Kutsche einige Stunden zu spät besteigen werdet, und daß diese Verzögerung den sorgfältig ausgearbeiteten Zeitplan zunichte machen wird, der für Eure weitere Flucht von größter Bedeutung ist.« »Ich soll mich verspäten? Um mehrere Stunden?« rief die Königin empört. »Unmöglich! Vielleicht, wenn ich unterwegs zu einem Liebesabenteuer wäre, wie sie mir die Geschichte später sicherlich andichten wird, gerade so, als wäre ich eine schamlose Hure, ein gemeines Luder wie die Dubarry. In einem solchen Fall könnte es schon sein, daß ich die Zeit vertrödeln würde, um die Pikanterie zu erhöhen und die Erwartungen meines geheimnisvollen Galans zu schüren. Ich würde vorgeben, ich hätte meinen Muff vergessen, meine Juwelen oder meinen Spaniel, und er würde voller Ungeduld neben seiner Kutsche stehen und seine Schnurrbarthaare zwischen den Fingern zwirbeln. Meine augenscheinliche Leichtlebigkeit und die Gefährlichkeit der Situation würden seine Erregung dann bis zur Raserei steigern. Aber hier geht es nicht um Liebschaften, sondern um mein Leben, mein lieber Geist, und ich bin sicher nicht so dumm, zu einer Verabredung, die mich vor dem Tode retten soll, zu spät zu erscheinen.« »Ich freue mich, daß Euer Hoheit nicht die frivole Gestalt sind, zu der Euch die Geschichte noch erklären wird. Jetzt ist aber nur wichtig, daß wir den Palast
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rechtzeitig um Punkt acht Uhr verlassen. Der Rest wird dann ein Kinderspiel sein.« »Da stimme ich Euch zu, aber Ihr irrt Euch in einem Punkt. Der Plan verlangt meine Abfahrt erst um elf Uhr.« Ylith überlegte kurz und schüttelte verneinend den Kopf. »Das muß ein Irrtum sein, Majestät. Meine Informationen entstammen der Geschichte an sich.« »Welch unschöner Gedanke, durch eine Flucht in die Geschichte einzugehen«, erwiderte die Königin. »Dennoch bin ich sicher, daß elf Uhr die verabredete Zeit ist, schließlich sprach ich gerade vor einer Stunde mit dem Kutscher.« »Meine Information lautet acht Uhr«, beharrte Ylith. »Dann ist Eure Information falsch«, entgegnete die Königin. »Ich werde es überprüfen«, erklärte Ylith schließlich und ließ die Königin allein. Sie verschwand aus dem Palast und hexte sich in die bunte Welt der fremdartigen Reiche, die zwischen den einzelnen Schichten des Daseins existierten. Sie durchquerte eilends diese Reiche auf ihrem Weg zu der Bibliothek der wichtigen Erddaten, die im Westen der Sphäre 12-11 gelegen war und über sämtliche Geschichtsdaten der Erde, einschließlich der genauen Tageszeiten, verfügte. Ylith ging zu der großen, erst kürzlich installierten EDV-Anlage, in der sämtliche Daten und Aufzeichnungen über die Erde zur Information interessierter Geister gespeichert waren. Der Computer war eine Form des Fortschritts, die bei den Angehörigen beider Seiten auf geteilte Meinungen gestoßen war. Für viele Geistwesen stellte der Computer eine jener neumodischen Erfindungen dar, die die Zeit
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noch nicht zu einer schlichten und damit akzeptablen Handelsware gewandelt hatte und die folglich in der spirituellen Welt nichts zu suchen hatte. Andere hielten derartige Ansichten für ziemlich unüberlegt. Schließlich einigten sich die Kreaturen von Licht und Finsternis darauf, daß hier wohl die Regel ›so unten, so oben‹ zur Anwendung kommen müsse und daß selbst die Geistwesen sich manchmal den Entwicklungen auf der Erde anpassen mußten. Ylith setzte sich an eines der sprachgesteuerten Terminals und trug ihr Anliegen vor. »Ich brauche Informationen über die genaue Abfahrtszeit der Königin Marie-Antoinette von Frankreich bei ihrer Flucht vor den Rebellen und der Guillotine. Sie sagt, der Termin sei um elf Uhr abends, meine Information lautet aber acht Uhr abends.« Nach weniger als einer Nanosekunde antwortete der Computer: »Tut mir leid, diese Information ist gesperrt.« »Das ist ein ganz einfaches Datum der Geschichte. Es muß verfügbar sein. So etwas kann doch gar nicht gesperrt sein.« »Es ist nicht wirklich gesperrt«, erläuterte die künstliche Stimme aus dem Terminal. »Ich habe Anweisung, zu behaupten, Informationen seien gesperrt, sobald Fragen zu einem bestimmten Bibliotheksbereich gestellt werden.« »Was für ein Bereich?« »Der Bereich der einfachen, allgemein zugänglichen Daten.«
offensichtlichen
und
»Warum? Wo liegt das Problem? Wieso bekomme ich die Information nicht?«
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»Die Information selbst ist nicht das Problem, es ist der Zugriff, der nicht verfügbar ist.« »Warum?« »Die Techniker ordnen meine Daten neu. Sie sind gerade dabei, sämtliche Dateien zu sortieren. Um sie durchsehen zu können, benötige ich eine Arbeitsanweisung von ihnen, die einen sinnvollen Zugriff auf die Datensätze erlaubt.« »Und ohne diese Arbeitsanweisung kannst du nichts finden? Das ist ja lächerlich! Warum tust du nichts dagegen?« »Ich?« »Ja, du!« »Das ist nicht meine Aufgabe«, erklärte das Terminal. »Die Techniker haben mir gesagt, sie würden mir die Arbeitsanweisung sofort geben, wenn sie soweit wären.« »Also weißt du jetzt schlicht gar nichts?« fragte Ylith. »Das habe ich nie gesagt!« protestierte der Computer mit verletztem Stolz. »Ich kenne alle Daten, aber meine Arbeitsanweisung ist außer Kraft gesetzt. Es ist mir technisch unmöglich, deine Anforderung zu bearbeiten.« »So, technisch. Und wie wäre es dann virtuell?« »Das geht.« »Dann gib mir eine virtuelle Antwort.« »Ich könnte, wenn ich wollte, aber ich will nicht!« Ylith bemerkte den verletzten Stolz, der aus der Stimme der Maschine klang und versuchte es mit einer List. »Bitte!« flehte sie eindringlich.
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»Klar, Süße, nur einen Moment.« Zahlenreihen leuchteten auf dem Monitor auf. »Meine Daten lauten: drei Uhr morgens.« »Unmöglich!« sagte Ylith. »Entspricht nicht so ganz deinen Erwartungen, wie? Aber ich habe dich gewarnt, mein System arbeitet zur Zeit nur partiell.« »Ich weiß, aber du sagtest doch, es ginge trotzdem.« »Es geht ja auch. Die Information lautet: drei Uhr morgens.« »Das ist alles, was du mir sagen kannst, ja? Gut, ich werde wohl damit zufrieden sein müssen. Danke.«
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KAPITEL 5 Ylith eilte so schnell wie möglich zu Marie-Antoinette zurück. »Wie spät ist es jetzt, Euer Hoheit?« Die Königin sah auf ihr Stundenglas. »Bald elf Uhr.« Ylith schaute auf ihre Uhr. »Merkwürdig, bei mir ist es gerade acht Uhr. Wie auch immer, wir sollten aufbrechen.« »Ich bin bereit«, sagte Marie-Antoinette. »Laßt mich nur meine Tasche holen!« Draußen lief ein Kutscher neben seinem Gefährt auf der Stelle, um seinen Blutkreislauf in Bewegung zu halten. Von Zeit zu Zeit sah er ungeduldig auf das Stundenglas, das in der Kutsche aufrecht auf einem Rosenholzgerüst befestigt war. »Verdammt, verdammt, verdammt«, murmelte er dabei in schwedischer Sprache. Schließlich öffnete sich die Pforte der Tuilerien und zwei Frauen – eine blond, die andere dunkelhaarig – eilten auf ihn zu. »Euer Majestät«, rief der Kutscher. »Was habt Ihr nur so lange gemacht?« »Was meinst du damit?« fragte Marie-Antoinette. »Ich bin doch genau zur verabredeten Zeit herausgekommen.« »Verzeiht, wenn ich Euch widersprechen muß, aber Ihr seid vier Stunden zu spät gekommen. Das kann uns Scherereien bereiten.« »Ich? Zu spät? Das ist unmöglich!« Sie wandte sich Ylith. »Welche Zeit haben wir jetzt?« Ylith sah auf ihre Uhr. »Acht Uhr.« Marie-Antoinette konsultierte ihr eigenes Stundenglas. »Bei mir ist es gerade elf Uhr.«
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»Und bei mir«, sagte der Kutscher, »ist es jetzt drei Uhr früh!« Drei verschiedene Zeiten. Konsterniert sahen sie einander an und beklagten übereinstimmend das Fehlen eines genormten Zeitsystems, das ihnen eine zuverlässige Uhrzeit hätte bieten können. Ylith war mit Schrecken bewußt geworden, daß Marie-Antoinette von königlich französischer Zeit, der Kutscher von schwedischer und sie selbst von der spirituellen Standardzeit ausgegangen war. Fest stand, daß gleichgültig in welcher Zeit, die Königin auf jeden Fall zu spät zu ihrer Verabredung erschienen war. Der Kutscher drängte zum Aufbruch. »Es hilft nichts, wir müssen hier weg. Aber wir sind verdammt spät dran.«
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KAPITEL
6
Mack hatte sich im nahegelegenen Hôtel de Ville ein wenig zur Ruhe gelegt, als plötzlich jemand unsanft an seiner Schulter rüttelte. »Was ist los?« rief er erschreckt. Noch nicht ganz wach, sah er vor sich ein kleines bärtiges Gesicht. »Ich bin es, Rognir, der Zwerg.« »Ja, das sehe ich«, antwortete Mack, richtete sich auf und rieb sich müde die Augen. »Was willst du von mir?« »Ich will gar nichts. Ich bringe dir Neuigkeiten. Ylith bat mich, dich aufzusuchen und dir auszurichten, daß sie keinen Erfolg gehabt hat. Irgendwas mit Zeitunstimmigkeiten, aber diesen Teil habe ich leider vergessen.« »Verdammt!« fluchte Mack. »Die königliche Kutsche hat also doch Verspätung auf ihrem Weg nach Varennes!« »Wenn du das sagst«, brummelte der Zwerg, »mir hat ja niemand gesagt, worum es hier geht.« »Ich versuche, die königliche Familie vor der Gefangennahme durch die Rebellen zu schützen. Aber jetzt weiß ich nicht weiter. Ich brauche ein Pferd, sonst schaffe ich es nicht.« »Ein Pferd? Wozu brauchst du ein Pferd?« »Ich muß nach Saint-Menehould. Dort gibt es noch eine Chance, in das Schicksal von Ludwig dem Sechzehnten und Marie-Antoinette einzugreifen.« »Warum reist du denn nicht auf magische Weise?« fragte Rognir überrascht und schenkte Mack ein Glas Wein ein.
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»Ich kenne die Worte nicht«, gestand Mack.
»Der andere kannte sie.«
»Welcher andere?«
»Der, dem ich auf dem Styx geholfen habe.«
»Meinst du Faust?«
»Diesen Namen hat er mir genannt.«
»Ich bin auch Faust.«
»Wenn du das sagst.«
»Er versucht, mich loszuwerden.«
»Das ist hart«, meinte Rognir. »Nimm es nicht
persönlich! Ich habe ihm nur deshalb geholfen, weil ich mir gedacht habe, daß ich damit einem Dämon ein Schnippchen schlagen könnte. Der Dämon hat mich bei einem Arbeitsauftrag betrogen, und wir Zwerge lassen uns nicht gern betrügen. Außerdem haben wir ein sehr gutes Gedächtnis.« »Und kleine, struppige Köpfe«, kommentierte Mack. »Verdammt! Wie komme ich jetzt bloß rechtzeitig vor der königlichen Kutsche nach Saint-Menehould?« »Du wirst hinausgehen und dir ein Pferd besorgen müssen.« Mack starrte den Zwerg mit großen Augen an. »Du meinst, das ist alles?« »So sollte es sein«, antwortete Rognir. »Andernfalls hast du eine Menge Probleme.« Mack nickte. »Du hast recht. Ich bin schon unterwegs.« Kurze Zeit später galoppierte Mack auf einem feurigen schwarzen Offizierspferd durch einen dunklen Wald. Er
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hatte das Tier einem Soldaten, auf den Rognir ihn vor den Tuilerien aufmerksam gemacht hatte, im Namen des Komitees für öffentliche Sicherheit abgenommen, und niemand hatte sich ihm in den Weg gestellt. Nun ritt er über einen schmalen, düsteren Waldweg und beglückwünschte sich zu dem schönen Pferd, das er sich besorgt hatte, bis er den Hufschlag bemerkte, der sich ihm von hinten näherte. Er sah sich kurz um und beugte sich dann weit nach vorn, um den Rappen zu einem noch schnelleren Gang anzutreiben. Sein Pferd war schnell, aber nicht schnell genug, so daß der Reiter, der ihn verfolgte, beständig näher kam. So sehr Mack sich auch bemühte, es gelang ihm nicht davonzukommen. Der Verfolger erreichte ihn. Erst als er bereits neben ihm ritt, erkannte Mack, daß es Faust war. Die Aufschläge seines langen Rocks flatterten im Wind, sein Hut klebte förmlich an seiner Stirn, und seine Lippen hatten sich zu einem hämischen Grinsen verzogen. »Ha, Betrüger, so sehen wir uns wieder!« schrie Faust. Eine Weile ritten sie in wildem Galopp Seite an Seite. Mack hatte arge Schwierigkeiten, sich überhaupt auf seinem Pferd zu halten. Es gehörte nicht zu seinen üblichen Gewohnheiten, in rasantem Tempo auf dem Rücken eines Pferdes durch einen dunklen Wald zu jagen, verfolgt von den wüsten Verwünschungen und Beschimpfungen eines anderen Reiters, der ihm förmlich im Nacken saß. Vermutlich entsprach die Situation auch nicht Fausts alltäglichen Gepflogenheiten. Aber der Magier aus Wittenberg war ein hervorragender Reiter. Er ritt wie der Teufel und hielt dabei noch Helena fest, die ihre schlanken Arme fest um seine Taille geschlungen hatte. Mack selbst hatte Marguerite bei sich, die bis jetzt sehr still gewesen war, scheinbar völlig hingerissen vom Spiel des Mondlichts in den Bäumen. Das Gewicht, das
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die beiden Pferde zu tragen hatten, war also nahezu gleich, aber Faust war der bessere Reiter. »Hör auf, meinen Namen zu mißbrauchen!« donnerte Faust. »Wenn ich erst meinen rechtmäßigen Platz eingenommen habe, wird sich schnell zeigen, daß nur ich allein fähig bin, die große Aufgabe zu erfüllen und das Schicksal der Menschheit zum Guten zu führen.« Dann verfiel er in eine Gossensprache, wie sie für eine spätere Zeit nicht ungewöhnlich war; und auch wenn seine Worte recht unverständlich klangen, so war doch der Inhalt klar und eindeutig. »Mickrige Wichte wie du sollten besser ihren beschissenen Arsch aus meinem Weg schieben. Hörst du? Verschwinde, oder ich poliere dir die Fresse!« »Ich kann nicht von hier verschwinden!« brüllte Mack nun. »Dies ist meine Geschichte.« »Zum Teufel damit. Ich bin der einzige und absolute Faust!« schrie Faust, und in seine glühenden Werwolfsaugen trat ein bedrohliches Funkein. Er rückte mit seinem Pferd noch näher an Mack heran und zog etwas aus seiner Weste. Der Gegenstand war fast einen Meter lang und mit Juwelen besetzt. Sein einzigartiges Glänzen zeigte deutlich, daß dies nicht irgendein Zepter war. Es war ein magisches Zepter – ein gestohlenes magisches Zepter. Mack selbst hatte es dem Kublai Khan entwendet, doch nun hielt Faust es in der Hand und er kannte keine Gnade. Mack konnte an der Art, wie Faust das Zepter hielt, schon erkennen, daß er dessen Geheimnis enträtselt hatte. Ein furchtbares Geheimnis. Wer auch immer das Zepter auf einen anderen richtete, brauchte nichts weiter als »Bumm« zu sagen, und sein Gegner würde in einer Weise zerfetzt werden, die einen kleinen Ausblick auf die Waffen der Zukunft vermittelte. Angesichts des Zepters in Fausts Händen wollte Mack bereits alle Hoffnung aufgeben, doch dann sah er ein geeigneteres Ziel für Faust und seine magische Waffe. Vor
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ihnen ragte eine gewaltige Eiche empor. Sie würde Mack sicher dienlich sein können. Mack berührte vorsichtig mit seinem Pferd das von Faust, welches erschreckt nach links auswich. Instinktiv sah nun auch Faust nach links. Mack wich im letzten Moment nach rechts aus, Faust aber prallte in vollem Galopp gegen den Baum. Der Zusammenstoß war so hart, daß Mack fast glaubte, er könnte die Sterne sehen, die nun in Fausts Kopf tanzen mußten. Hinter ihm stieß Marguerite einen mitfühlenden Wehlaut aus. Der Magier stürzte zu Boden und blieb benommen liegen, während sein Pferd in Panik davonrannte. Mack selbst setzte seinen Weg einigermaßen erleichtert fort, und Helena, die die Gemahlin eines Kriegers war, richtete sich ungerührt wieder auf und ordnete ihre Haare. Sie war bereits vor dem Aufprall abgesprungen, hatte sich geschickt abgerollt und war ohne große Blessuren wieder aufgestanden. Ob nun ein einzelner Zauberer zu Fall kam oder tausend Schiffe – ihr war es gleich. Man mußte eben nur das Beste aus einer Sache machen, wie die Dinge auch liegen mochten.
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KAPITEL 7 Nachdem sie noch eine beträchtliche Strecke durch den Wald geritten waren, erreichten Mack und Marguerite eine Lichtung, auf der ein Landgasthof stand. Mack nahm die Gelegenheit war, sich eine dringend benötigte Pause zu gönnen. Er half Marguerite abzusteigen, band das Pferd an einem dafür bereitstehenden Pfosten fest und holte aus einem großen Faß einen Eimer mit frischem Wasser, um das Tier zu tränken. Dann ging er gemeinsam mit Marguerite hinein. Hinter dem Tresen war der Wirt damit beschäftigt, sein Messing zu polieren, und am anderen Ende des Raumes brannte ein anheimelndes Kaminfeuer. Gleich daneben saß ein Mann, der das Gesicht abgewandt hatte und seine Hände am Feuer wärmte. Neben ihm an der Wand lehnten Bogen und Köcher. »Guten Tag, liebe Leute«, grüßte der Wirt. »Darf ich Ihnen einen Cognac zum Aufwärmen bringen?« »Es ist noch ein bißchen früh dafür«, antwortete Mack. »Ein Kiefernblütentee wird es wohl auch tun.« »Nehmen Sie Platz, am Kamin können Sie sich aufwärmen«, sagte der Wirt. »Ich habe besonders würzige Kiefernblüten da, ich werde Ihnen den Tee gleich bringen.« Mack ging zum Kamin, setzte sich neben dem wärmenden Feuer nieder und nickte dem Fremden freundlich zu, der in einen langen Mantel gehüllt war und sein Gesicht hinter einer Kapuze verbarg. »Guten Abend«, sagte der Mann und zog seine Kapuze zurück.
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Mack starrte ihn an. »Wissen Sie, ich glaube, ich habe Sie schon irgendwo gesehen.« »Vielleicht hast du eine Büste von mir in irgendeinem Museum gesehen«, entgegnete der Fremde. »Ich bin Odysseus, und ich könnte dir eine lange Geschichte darüber erzählen, wie ich von meinem Haus in den Außenbezirken des Tartaros hierher gekommen bin. Doch dafür haben wir wohl keine Zeit. Du bist nicht zufällig Faust?« Odysseus sprach homerisches Griechisch mit dem leichten Akzent seiner Heimatinsel Ithaka. Mack harte keine Schwierigkeiten, ihn zu verstehen, da Mephistopheles den Sprachzauber bisher nicht zurückgefordert hatte. »Ja, nein, ja. Ich meine, ich kenne ihn flüchtig. Ich habe seinen Job übernommen, ich weiß nur momentan nicht mehr so genau, ob ich das nicht besser gelassen hätte.« »Du bist nicht der Faust, der mit Helena von Troja unterwegs ist?« hakte Odysseus nach. »Nein, das ist der andere. Ich reise mit Marguerite.« Mack wandte sich nach seiner Begleiterin um, in der Absicht sie Odysseus vorzustellen, doch Marguerite war bereits auf der Bank eingeschlafen. »Aber du willst auch Faust sein?« fragte Odysseus nun. »Da bin ich mir nicht mehr so sicher«, sagte Mack. »Die ganze Sache belastet mein Gewissen. Ich habe ihm seine Rolle in diesem Stück einfach gestohlen. Vielleicht sollte ich mich einfach zurückziehen und ihm den Rest überlassen.«
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»Du scheinst deine Arbeit aber doch nicht schlecht zu machen. Warum also willst du aufgeben? Was hat Faust, was du nicht hast?« »Nun, dieser andere Faust, er ist ein großer Magier. Er hat wirklich die Berechtigung, die Menschheit zu repräsentieren…« »Nicht im mindesten«, wiedersprach Odysseus und zog seinen Mantel noch enger um den Körper. »Warum sollte die Menschheit ausgerechnet durch einen Magier repräsentiert werden? Magier sind nicht besser als Politiker, eher schlimmer. Kennst du denn die Wahrheit wirklich nicht? Magie arbeitet immer gegen die Menschen.« »So habe ich das noch nie betrachtet«, gestand Mack. »Magie ist Macht, und es gibt nur sehr wenige Menschen, die sie beherrschen. Denkst du, es wäre gut, wenn eine Handvoll Magier über die Geschicke der gesamten Menschheit bestimmten? Willst du wirklich, daß Faust über dich herrscht?« »Ich nahm an, daß Magier mehr wissen als normale Menschen.« »Ihr Wissen ist nicht notwendigerweise auch für den Rest der Menschheit von Nutzen. Ich habe einige Erfahrungen mit Magiern gemacht. Zu meiner Zeit gab es Tiresias. Er war wirklich hervorragend, aber du glaubst doch nicht ernsthaft, wir hätten ihm gestattet, uns in der Politik oder im Kriege zu fuhren? Niemals! Unser Führer Agamemnon hatte viele Fehler, aber er war ein Mann, und er hat keine Sonderbehandlungen von Göttern oder Geistern für sich beansprucht. Hüte dich vor Männern, die im Namen der Götter sprechen wollen!« »Aber er ist der wahre Faust!«
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»Mag sein. Aber besitzt er auch wahrhaftig, was man den Faustschen Geist nennt? Nein, du hingegen schon! Du, mein lieber Mack, bist ein aufrechter Mann, du bist einfach nur du selbst, du hast keine besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten, besitzt keine Magie, und du allein beherrschst dich selbst.« Odysseus' herausfordernde und aufmunternde Worte berührten Mack tief. Er trank seinen Teebecher aus, den ihm der Wirt gebracht hatte und erhob sich, um die schlafende Marguerite zu wecken und die Reise fortzusetzen. »Ich sollte mich wieder auf den Weg machen?« »Und Faust?« »Er folgt mir.« »Oh, gut«, sagte Odysseus. »Hast du das gehört, Achilles?« Achilles, der in einer dunklen Nische gedöst hatte, schreckte hoch und richtete sich auf. »Hast du mich gerufen, Odysseus?« »Mach dich bereit, mein Freund! Faust wird bald hier sein!« Odysseus und Achilles! Mack hoffte, sie würden Faust eine ganze Weile aufhalten. »Komm, Marguerite, wir müssen los.« »Ich komme ja schon.« Sie verließen den Gasthof, stiegen wieder auf ihr Pferd und ritten in Richtung Saint-Menehould davon.
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KAPITEL 8 Zwanzig Minuten nachdem Mack und Marguerite den Gasthof verlassen hatten, kam Faust dort an. Seine Stirn zierte ein häßlicher blauer Fleck, den er sich beim Aufprall gegen den Baum zugezogen hatte. Von der Prellung abgesehen war ihm jedoch nichts weiter passiert. Helena ihrerseits war lediglich etwas vom Wind zerzaust und sah lieblicher aus als je zuvor. Faust betrat den Gasthof und stand augenblicklich Auge in Auge vor Odysseus, der sagte: »Ich weiß, wer du bist. Du wirst Faust genannt.« »Das ist kein Geheimnis«, erwiderte Faust. »Und du hast Helena von Troja.« »Ja, richtig. Ich habe sie! Sie ist die wundervollste Frau der Welt und damit die einzig angemessene Begleitung für mich. Wer bist du, und was willst du?« Odysseus stellte sich und Achilles vor. Falls Faust beeindruckt war, so zeigte er es nicht. »Ich werde dir sagen, was wir wollen«, sagte Odysseus. »Wir wollen Helena zurückhaben. Dein Dämon hatte nicht das Recht, sie aus dem Tartaros zu entfuhren und ihrem Ehemann zu rauben.« »Auf keinen Fall. Sie wurde mir gegeben, und ich werde sie behalten«, antwortete Faust. »Und versucht nicht, es mit mir aufzunehmen.« »Mir scheint, als hätte ich so etwas schon einmal gehört«, sagte Odysseus. Er spielte auf die Ereignisse zu Beginn der Ilias an, als Achilles von Agamemnon gefordert hatte, ihm seine Freundin Briseis zurückzugeben und, nach Agamemnons Weigerung, so
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lange in seinem Zelt schmollte, bis der Krieg gegen Troja fast verloren war. »Mag sein, daß sie dir gegeben wurde, aber das ist nicht wichtig«, sagte Achilles nun. »Gib sie uns zurück!« »Niemals! Aber ihr könnt gern versuchen, sie euch zu holen«, entgegnete Faust und zog ein Steinschloßgewehr aus seinem Mantel hervor. »Wenn wir das wollten, dann würden wir es auch schaffen, glaube mir!« sagte Odysseus. »Keine Waffe würde uns aufhalten. Trotzdem, Achilles, halte dich zurück! Es gibt einen besseren Weg.« Odysseus legte zwei Finger an die Lippen und stieß einen durchdringenden, traurigen Pfiff aus, der fast sofort von einem Schreien und Kreischen beantwortet wurde. Zuerst klang es ähnlich wie der Wind, der um das Haus strich, aber dann entpuppte es sich als eine weibliche Stimme. Plötzlich öffnete sich die Tür zu der Wirtschaft unter einem heftigen übelriechenden Windstoß. Die Furien kamen hereingeflogen. Sie hatten die Gestalt dreier Krähen mit schmutzig-schwarzem Gefieder angenommen. Schreiend und kreischend bombardierten sie die Anwesenden mit ihren stinkenden Exkrementen. Dann verwandelten sie sich in ihre menschliche Gestalt – drei alte Frauen mit langen Nasen, roten Augen und zerlumpten, schwarzen Kleidern. Alekto war fett, Tisiphone abgezehrt, und Megära war sowohl fett als auch abgezehrt und beides an den denkbar unpassendsten Stellen. Ihre Augen erinnerten an Spiegeleier, deren Dotter geronnen war. Die Furien tanzten um Faust herum, kreischten, kicherten, lachten, johlten, sprangen herum und trieben allerlei Schabernack. Faust bemühte sich, eine
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würdevolle Haltung zu bewahren, doch das war – umkreist von diesen antiken Vetteln – nicht so einfach. Schließlich sagte Faust: »Dieses Verhalten wird euch nichts nützen, meine lieben Damen, denn ich gehöre nicht in eure Zeit, und folglich könnt ihr kaum erwarten, daß mich bei eurem Anblick gar schreckliche Angst überkommt.« »Angst, Schmangst«, höhnte Tisiphone. »Vielleicht können wir dir kein physisches Leid bereiten, aber es wird schwer für dich werden, eine Konversation zu betreiben, solange du uns ständig in deinen Ohren heulen hörst.« »Das ist lächerlich«, konstatierte Faust. »Schon möglich, aber genau so ist es«, sagte nun Tisiphone. »Vielleicht möchtest du gern ein kleines Liedchen hören, eine sonderbar lästige Volksweise, gesungen von vielen hundert Stimmen? Alle zusammen, Schwestern!« Faust taumelte entsetzt zurück, als die drei Furien in ein übles Geschrei ausbrachen, das wohl früher ein hellenischer Gesang gewesen sein mußte und ein bißchen dem Heulen läufiger Hyänen ähnelte, nur daß es schlimmer war – viel schlimmer. Faust hielt dem Krach einen Moment stand, doch er war nicht mehr in der Lage zu denken, konnte kaum atmen, und endlich erhob er verzweifelt die Hand. »Ich erbitte einen Augenblick der Stille, meine Damen, in dem ich meine Situation überdenken kann.« Als in seinem Kopf wieder kostbare Ruhe eingekehrt war, zog Faust sich ans andere Ende des Raumes zurück, wo er mit dem Wirt sprechen wollte. Aber die Furien trauten ihm nicht und begannen nun ihrerseits mit einer Konversation, die Faust erschien, als
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entstammten die Stimmen nicht den alten Frauen, sondern seinem eigenen Hirn. Sie schienen ein Teil seines Denkens zu sein. Wie um alles in der Welt konnte ich mich nur in diese Situation bringen? Ich kann mein eigenes Denken nicht verfolgen, solange in meinem Kopf ein derartiges Getöse herrscht. Und selbst wenn ich denken könnte, woran sollte ich denken? Helena? Wie kann ich an Helena denken, solange diese alten Hexen mein Bewußtsein mit Entsetzen und Abscheu über ihre gräßlichen Gestalten erfüllen? Obwohl es die alten Damen waren, die diese Gedanken ersonnen hatten, konnte Faust sich dem Gefühl nicht entziehen, daß es seine eigenen wären. Was nützt mir Helena, dachte er, wenn in meinem Kopf nichts anderes ist, als ein Rezept für Blutpudding und eine Schummelanweisung für Mah-Jongg? Ich muß wohl eingestehen, daß mir diese drei überlegen sind. Schließlich gab er auf. »Nun gut, wenn ihr sie unbedingt haben wollt, dann nehmt sie mit!« Die alten Damen waren so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen waren, und Helena war mit ihnen gegangen. Auch Odysseus und Achilles waren fort. Faust aß einige Scheiben Brot und spülte sie mit einem Krug Wein hinunter. Es ärgerte ihn, daß er Helena verloren hatte, aber andererseits hatte er sie gar nicht so sehr begehrt. Sie nun wieder los zu sein, gab ihm immerhin die Freiheit zurück, sich ausschließlich um die wichtigen Dinge zu kümmern. Nämlich darum, als der Faust, der im Wettstreit zwischen den Mächten des Lichtes und der Finsternis für die Menschheit eintrat, in die Geschichte einzugehen. Es gab keine Zeit zu verlieren. Er ging hinaus, schnappte sich sein Pferd, und schon war er wieder unterwegs auf Macks Spur.
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KAPITEL 9 Mack erreichte erneut eine große Lichtung, von der aus er die Stadt Sommevesle erkennen konnte. Dort hoffte er den Duc de Choiseul zu treffen, der die königliche Kutsche geleiten und beschützen sollte. Vor einem Gasthaus am Stadtrand entdeckte Mack einen Mann, der damit beschäftigt war, die Verkaufsanzeigen von Gebrauchtpferden in der Pariser Zeitung zu lesen. »Seid Ihr der Duc de Choiseul?« fragte er. Der Mann sah auf und betrachtete Mack über den Rand seiner Drahtgestellbrille hinweg. »Der bin ich.« »Ich habe Neuigkeiten vom König.« »Das wurde auch Zeit«, erklärte der Duc. Er faltete seine Zeitung so zusammen, daß die Titelseite oben lag, und zeigte auf einen Bericht des Pariser Revolutionsjournals. »Habt Ihr dies schon gesehen? Danton und Saint-Just fordern den Kopf des Königs und auch den seiner Frau. Früher hat man so etwas als Verleumdung bezeichnet und hart bestraft, aber heutzutage können sie schreiben, was immer sie wollen. Und das nennt sich dann Fortschritt! Wo befindet sich der König, Sire?« »Er ist auf dem Weg hierher«, sagte Mack. »Wann wird er hier eintreffen?« »Ich weiß es nicht genau.« »Oh, das ist phantastisch«, kommentierte der Duc voller Sarkasmus und sah Mack mißbilligend an. »Er ist jetzt schon Stunden zu spät, und die Bürger dieser Stadt sind bereit, jederzeit auf uns loszugehen, weil sie glauben, wir
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seien hier, um Steuern einzutreiben. Und nun kommt Ihr daher und sagt mir, der König würde kommen. Aber wann genau wird er kommen?« »Es ist wirklich schwer, das genau vorherzusagen«, erwiderte Mack. »Er fährt so schnell, wie er nur kann, aber die Königin hatte einige Vorbereitungen zu treffen, wodurch sie sich verspätet haben. Verlaßt nur Euren Posten nicht, das königliche Paar ist unterwegs zu Euch!« »Die königlichen Bauern auch«, entgegnete der Duc und wies mit dem Finger die Straße hinunter. Mack folgte ihm mit seinem Blick und entdeckte den Mob, der sich mit Mistgabeln bewaffnet am Ende der Straße versammelte. »Wo liegt das Problem?« fragte Mack. »Es sind nur Bauern. Wenn sie Schwierigkeiten machen, dann schießt sie nieder!« »Das ist leichter gesagt als getan, junger Mann. Ihr seid offensichtlich fremd hier. Ihr lebt nicht in dieser Gegend. Ich aber nenne ganze Ländereien mein eigen, die von diesen Burschen bevölkert werden. Ich muß auch im nächsten Jahr, wenn das Droit du Seigneur stattfindet, noch mit ihnen auskommen. Dies ist Frankreich, und hier ist Sex äußerst wichtig! Davon abgesehen, sind die Bauern dort vorn nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Jenseits der Stadtgrenzen befinden sich noch Tausende von innen, und mit jeder Stunde werden es mehr. Sie können uns zertreten wie ein lästiges Insekt, und Ihr sagt mir, ich soll sie niederschießen!« »Das war nur ein Gedanke«, antwortete Mack. »Oh, wer ist das?« fragte der Duc und drehte sich nach einem Neuankömmling um. Der ganz in Schwarz gekleidete Reiter, der mit wehenden Rockschößen die Straße entlanggeprescht kam, war niemand anderes als Faust.
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»Eure Anweisungen wurden zurückgezogen«, sagte Faust. »Sire, Ihr müßt mit Euren Truppen sofort von hier verschwinden.« »Ja, da schau her«, entfuhr es dem Duc. »Und wer sagt das?« »Doktor Johann Faust, stets zu Diensten.« »Nein«, widersprach Mack, »ich bin Johann Faust.« »Zwei Fausts mit gegensätzlichen Mitteilungen, ja?« murmelte der Duc nachdenklich. »Ich sage euch etwas. Ich denke, ihr zwei werdet jetzt hierbleiben, bis ich herausgefunden habe, was tatsächlich los ist. Soldaten!« Die Männer ergriffen Faust und sein Pferd. Der Magier wehrte sich vergeblich gegen ihren eisernen Griff. Mack, der sich den weiteren Ablauf vorstellen konnte, machte sich eilends aus dem Staub, ehe man auch ihn ergreifen konnte. Er lief über den kleinen laubbedeckten Platz und sprang auf sein Pferd. Er trieb das Tier mit heftigen Tritten in die Flanken zu rasantem Galopp an und ritt, begleitet von den Verwünschungen des gefangenen Faust, so schnell er nur konnte davon.
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KAPITEL 10 Emile Drouet, der das Postamt in Saint-Menehould leitete, saß noch spät in der Nacht auf einem Stuhl an seinem Schlafzimmerfenster und wartete auf Nachricht aus Paris. Die Nacht war kühl und still, eine willkommene Erholung nach einem anstrengenden Tag. Es hatte viele Neuigkeiten vom Pariser Komitee gegeben, und den ganzen Tag über waren Angehörige des Adels auf ihrer Flucht vor der Revolution durch den Ort gefahren, um die Grenze nach Belgien zu erreichen. Drouet dachte im allgemeinen recht pragmatisch. Er fragte sich, welche Auswirkungen die Revolution wohl auf seine Arbeit haben würde. Früher an diesem Tag hatte er zu seiner Frau gesagt: »Regierungen kommen und gehen. Aber ganz gleich, wer gerade an der Macht ist, eine funktionierende Post brauchen sie alle.« Jetzt aber fragte er sich, ob dem wirklich so war. Drouet und seine Kollegen hatten hart gearbeitet. Sie hatten das bestehende Postsystem in einer fast genial zu nennenden Weise verkompliziert, so daß kaum ein Außenstehender sich noch zurechtfinden konnte. »Sie werden uns brauchen, um das Ding am Laufen zu halten.« Doch ganz sicher war er sich dessen nicht. Revolutionen konnten kuriose Folgen haben. Der Platz unter seinem Fenster wurde vom Mondlicht erhellt. Sogar zu dieser späten Stunde waren noch Leute unterwegs. Plötzlich hörte er Hufgetrappel, das aus der Richtung der dunklen Berggipfel hinter dem feuchten Waldgürtel zu kommen schien. Wahrscheinlich irgendein Straßenräuber, der aus dem Dunkel des Waldes in das Dunkel der Zivilisation ritt. Der Reiter – es war der Bürger Mack – schwang sich aus dem Sattel und setzte sich entschlossen einen
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Revolutionshut auf den Kopf. Er sah sich sorgfältig um, ohne jedoch etwas Besonderes zu erwarten. Kurz darauf näherte sich etwas langsamer ein weiteres Pferd mit seiner Reiterin – Marguerite. Mack führte sein Pferd am Halfter und blieb unter Drouets Fenster stehen. »Monsieur Drouet, ich möchte Ihnen etwas zeigen, das Sie interessieren könnte.« »Und wer seid Ihr, Sire?« erkundigte sich Drouet. »Ich bin ein Gesandter des Pariser Rats«, behauptete Mack. »Ich brauche Ihre Unterstützung, jetzt gleich.« Drouet schlüpfte in seine Holzschuhe, zog sich einen langen Regenmantel an und eilte die Treppe hinunter. »Wohin gehen wir?« »Ich werde es Ihnen zeigen. Marguerite, bleib bei den Pferden!« Mack führte Drouet durch die Stadt bis ans entgegengesetzte Ende, vorbei an den Mietpferdeställen, der öffentlichen Latrine und dem Maibaum, bis hin zu einer kleinen, wenig befahrenen Straße im Wald. »Was wollen wir hier?« fragte Drouet. »Nun, dies ist ein verschwiegener Weg durch SaintMenehould«, erklärte Mack. »Aber, Sire, niemand benutzt diese Straße.« Mack war sich dieser Tatsache durchaus bewußt. Er wußte auch, daß gerade jetzt die große gelbe Kutsche mit dem König und der Königin Saint-Menehould auf der Hauptstraße passieren sollte. Er hatte sich ausgerechnet, daß Drouet, wenn er ihn zur rechten Zeit zu dieser einsamen Straße führte, niemals auch nur in die Nähe der königlichen Kutsche gelangen und folglich den König auch nicht erkennen würde.
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»Sire, das ist Unsinn«, sagte Drouet. »Hier kommt niemand durch.« »Normalerweise nicht«, entgegnete Mack. »Still! Hören Sie den Huf schlag? Es hört sich an, als käme aus einiger Entfernung eine schnelle Kutsche gefahren.« Drouet lauschte und Mack ebenfalls. Es war schon erstaunlich, wieviel Einbildung bewirken konnte. Wie er so dastand an jenem stillen Ort, an dem es kein anderes Geräusch gab als das Flüstern des Windes, der über ihren Köpfen sanft durch die Kronen der Kastanien und Eichen strich, hätte er schwören können, er würde ein weit entferntes Hufgetrappel vernehmen. Natürlich war das nur Einbildung. »Ja, ich kann es hören«, sagte Drouet aufgeregt. »Natürlich können Sie das«, antwortete Mack und gratulierte sich zu seinem genialen Einfall. Zu früh, wie sich herausstellte, denn das Geräusch wurde lauter, und gleichzeitig erklang ein verräterisches Kreischen, das seinen Ursprung nur in den protestierenden Federn der königlichen Kutsche haben konnte, die in hohem Tempo über die tief zerfurchte, dunkle Nebenstraße jagte. Diffuses Mondlicht schimmerte durch das dichte Laub. Drouet starrte in die Richtung, aus der das noch immer anschwellende Geräusch kam. Dann gelangte die Kutsche in Sichtweite. Das Mondlicht zauberte einen matten Schimmer auf das Gefährt, das nun direkt auf sie zukam. Die Kutsche fuhr jetzt langsamer, denn die Straße war in diesem Bereich äußerst kurvenreich. Als sie die beiden Männer passierte, sah Drouet hinein und schrak staunend zurück. »Euer Majestät«, keuchte er. »Was, zum Teufel…?« entfuhr es Mack atemlos.
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Dann war die Kutsche wieder verschwunden. »Habt Ihr ihn gesehen? Das war König Ludwig, ich habe ihn ganz deutlich erkannt. Ich habe ihn letztes Jahr auf dem königlichen Empfang für die Postmeister des ganzen Landes gesehen, und die Königin war auch dabei.« »Das muß jemand anderes gewesen sein«, sagte Mack. »Es gibt eine ganze Menge Leute in Frankreich, die so aussehen.« »Das war das Königspaar!« schrie Drouet. »Danke, Bürger, daß Ihr mich zu dieser abgelegenen Straße geführt habt. Ich muß sofort zurück in die Stadt und Alarm geben!« Er drehte sich um und wollte zurücklaufen. Mack war nicht klar, was eigentlich schiefgegangen war, aber er wußte, daß diese unerwartete Wendung der Ereignisse nach schnellen Taten verlangte. Wie es sich für einen erfahrenen Straßenräuber gehörte, führte er ein handliches Sandsäckchen mit sich. Als Drouet zurücklaufen wollte, zog Mack den Sack heraus, schwang ihn durch die Luft und hieb ihn Drouet auf den Hinterkopf. Geräuschlos fiel dieser auf den moosbewachsenen Waldboden. Wenig später kam auf dem Weg ein Reiter heran, dessen karminroter Umhang hinter ihm in der Luft flatterte. Es war Mephistopheles, der auf seinem schwarzen Roß und mit dem Glühen in seinen Augen teuflischer denn je aussah. »Haben Sie die königliche Kutsche vorbeifahren sehen?« schrie er. »Habe ich«, antwortete Mack. »Wie ist sie hierher gekommen?« »Ich habe sie umgeleitet«, erklärte Mephistopheles stolz. »Ich habe dafür gesorgt, daß sie die Hauptstraße
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verlassen, damit Drouet sie nicht sehen kann. Ich sagte doch, ich würde Ihnen helfen.« »Und ich sagte Ihnen, daß ich mit der Sache allein fertig werde. Sie haben alles kaputtgemacht.« »Ich habe nur versucht zu helfen«, murrte Mephistopheles schmollend und verschwand samt seinem Pferd. Mack schaute auf den bewußtlosen Drouet. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß es noch eine Weile dauern würde, ehe Drouet wieder bei Sinnen wäre, zog er dessen Körper ins Gebüsch und bedeckte ihn mit Farnblättern. Dann eilte er zurück zu Marguerite und den Pferden. Er hatte immer noch eine Chance, die königliche Familie zu retten: die Brücke von Varennes! Drouet war für eine Weile ausgeschaltet, also dachte sich Mack, daß es möglich sein müßte, die Blockade noch rechtzeitig zu beseitigen, um der Kutsche den Weg nach Belgien freizumachen.
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KAPITEL 11 Die Dämmerung warf ihr fahles Licht auf die hohen Steinhäuser und engen Gassen von Varenne. Hier und da standen an den Hausecken schläfrige Männer, Angehörige der Nationalgarde, die sich auf ihre Musketen gestützt hatten. Die Stille des frühen Morgens wurde von den donnernden Hufschlägen von Macks Pferd auf dem Asphalt und ihrem Widerhall an unzähligen Mauern jäh durchbrochen. Mack ritt in flottem Trab durch die Stadt, bis er zu der Brücke über den Aire gelangte. Die Brücke war nicht besonders beeindruckend. Sie hatte ein steinernes Fundament und war auf Bauholzstützen von Bäumen aus den hochgelegenen Wäldern der nahen Ardennen gelagert. Unter ihr floß der Aire auf seiner Reise zum Meer träge dahin. Auf der Brücke herrschte reges Gedränge. Trotz der frühen Stunde befand sich eine stattliche Anzahl von Karren darauf. Die Wagen transportierten alle möglichen Waren, und ihre Fahrer waren hitzige Kerle mit locker sitzenden Peitschen. Ganz sicher würde niemand diese Brücke passieren können, erst recht kein so großes Fahrzeug wie die gelbe Kutsche des Königs. Drouet war ausgeschaltet, aber die Brücke war dicht, es sei denn… Mack beschloß, sich der Sache anzunehmen. »Macht den Weg frei!« schrie er. »Räumt die Brücke für die Passage einer wichtigen Persönlichkeit.« Ein ganzer Chor protestierender Stimmen antwortete ihm. Mack versuchte sich in der Rolle eines Verkehrspolizisten, winkte hier einen Karren vor, dort einen zurück, wobei er die ganze Zeit über rief: »Im Namen des Kommitees für öffentliche Sicherheit.«
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Fluchend, johlend, trinkend und pfeifend, aber nichtsdestotrotz tief beeindruckt, versuchten die Kutscher seinen Anweisungen Folge zu leisten. Doch mit jedem Fahrzeug, das Mack von der Brücke lotste, folgten von der belgischen Seite her neue Karren nach. Sie schienen von überall her zu der Brücke zu streben – Karren jeder Form und Größe, beladen mit Dung, Äpfeln, Mais, Weizen und anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Mack stand schweißüberströmt und fluchend mitten in dem Chaos und versuchte, den Verkehr zu regein. Wo zum Teufel mochten nur all diese Fahrzeuge herkommen? Mack trieb sein Pferd an und schob sich, gefolgt von Marguerite, durch das Gedränge hinüber auf die andere Seite des Flusses. Dort angekommen, ritt er ein wenig umher, bis er auf eine große weißgekleidete Gestalt traf, die sogar am hellichten Tage noch in einem unirdischen Licht erstrahlte. Diese Gestalt dirigierte den Verkehr auf die Brücke zu. »Wer bist du?« fragte Mack. »Und was denkst du, was du hier tust?« »Huch«, entfuhr es der weißgekleideten Gestalt. »Du hättest mich nicht sehen dürfen.« In diesem Augenblick materialisierte sich Mephistopheles samt seinem Pferd neben Mack. Er starrte den Weißgekleideten an und wetterte: »Michael! Was tun Sie da?« »Ich schicke nur einige Karren nach Varennes«, erklärte Michael mit leicht beleidigter Miene. »Und verursachen dabei ein Verkehrschaos auf der Brücke«, erwiderte Mephistopheles. »Damit bringen Sie ganz nebenbei unseren Kandidaten in Schwierigkeiten.
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Michael, Sie greifen in den Wettkampf ein, und das ist auch einem Erzengel nicht erlaubt.« »Ebenso wenig wie einem Teufel«, antwortete Michael. »Ich tue hier auch nicht mehr, als Sie getan haben.« Mephistopheles starrte den Erzengel an. »Ich denke, wir sollten das unter vier Augen diskutieren.« Michael sah zu Mack und schürzte die Lippen. »Ja. Es gibt Dinge, die kein Mensch hören sollte«, antwortete er, und beide Geistwesen entmaterialisierten sich.
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KAPITEL 12 Mack eilte zurück zur Brücke. Sie war über ihre gesamte Länge und Breite absolut überfüllt und überlastet mit vollgeladenen Karren, ihren Zugpferden und Lenkern. Rechts und links standen Kutschen und dazwischen noch niedrigere kleine Karren. Mack tobte zwischen ihnen herum und versuchte erneut, Ordnung in das Chaos zu bringen. Doch noch immer kamen weitere Wagen auf die Brücke, die alle zu dem großen Markt in Varennes wollten, von dem Michael ihnen erzählt hatte. Die Pfeiler knarrten verdächtig. Als sich schließlich ein weiterer Karren, beladen mit getrocknetem baltischen Hering, auf die Brücke schob, krachte es in dem gemarterten Gebälk, und die gesamte Brücke stürzte ein. Gerade noch rechtzeitig krabbelte Mack von der Brücke, die wie in Zeitlupe zusammenbrach. Kutschen fielen in das klare Wasser des Aire. Ein vielstimmiges Wutgeheul, begleitet von dem lauten Muhen der Rinder, stieg in die Luft, dann wurde es still. Aus der Ferne erklang ein klimperndes Geräusch, verursacht durch das Geschirr der königlichen Pferde, als die dazugehörige Kutsche die Straße heraufkam und vor der zerstörten Brücke anhielt. Ohne Zeit zu verlieren, lief Mack zu dem königlichen Gefährt. »Euer Majestät!« rief er. »Es gibt noch eine Chance.« »Was redet Ihr da?« fragte Marie-Antoinette. »Die Brücke ist zerstört, wir sind verloren.« »Es gibt noch einen Weg«, sagte Mack. »Welcher Weg soll das sein?«
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»Ihr müßt die Kutsche verlassen, Majestät, sofort. Wir werden uns Pferde von den Bauern hier besorgen und weiterreiten; erst wieder zurück Richtung Paris, um unsere Spur zu verwischen, und dann nehmen wir einen anderen Weg, auf dem wir sicher über die Grenze kommen. Noch haben wir Zeit, die Flucht durchzuführen.« Ludwig sah seine Gattin an. »Was denkst du?« »Das hört sich zu riskant an«, antwortete MarieAntoinette. Der König widersprach, und Marie-Antoinette, die im Grunde nicht viel von dem Plan hielt, stimmte endlich doch zu. Mack redete ihnen zu, die Kutsche zu verlassen, und schließlich standen sie in der Morgensonne und sahen mehr als nur ein bißchen dumm aus, so als seien sie es nicht mehr gewohnt, auf ihren eigenen Füßen auf dem Boden zu stehen. Mack eilte davon, um Pferde zu mieten. Er hatte sich ausgerechnet, daß die Zeit ausreichen müßte, um von hier zu verschwinden. Immerhin wußte niemand, daß der König hier war. Niemand außer Drouet, und den hatte Mack sicher verschnürt in Saint-Menehould zurückgelassen. Der König trat auf das Pferd zu, das Mack ihm besorgt hatte, und stieg ein bißchen zögerlich auf. MarieAntoinette kletterte auf das andere Pferd, und endlich waren sie aufbruchbereit. Genau in diesem Augenblick entdeckten sie eine Staubwolke über der Stadt. Sie kam die Straße herauf und schwoll an, bis sie schließlich den Blick auf die einzelnen Reiter freigab, die sie verursachten. Es war Drouet, und in seinem Gefolge ritten tausend bewaffnete Männer.
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Beim Anblick der großen gelben Kutsche schrie er: »Der König und die Königin! Nehmt sie fest! Sie müssen auf der Stelle nach Paris zurückgebracht werden!« Die Bewaffneten taten, wie ihnen geheißen. Drouet ritt zu Mack hinüber. »So sehen wir uns also wieder. Du hast mir da draußen einen üblen Dienst geleistet, Bürger. Ich denke, ich werde dasselbe für dich tun.« Er winkte zwei Männer heran. »Dieser Mann ist ein Konterrevolutionär. Ergreift ihn!« »Sagen Sie mir nur, wie Sie so schnell hier sein konnten?« fragte Mack. »Nicht durch deine Hilfe«, antwortete Drouet. »Glücklicherweise kam dieser Herr dort des Weges und half mir.« Ein weiterer Reiter gesellte sich zu ihnen, und Mack sah, daß es Faust war. »Du schon wieder!« keuchte er. Faust lächelte selbstgefällig. »Es war kein besonders großes Problem, den Soldaten zu entkommen, und dann fand ich diesen Mann hier. Ich habe ihm geholfen und deine Pläne durchkreuzt.« Mephistopheles erschien. »Laß den Mann gehen!« herrschte er Drouet an. Drouet hatte furchtbare Angst vor dem Dämon, doch er polterte: »Wir werden über diesen Mann zu Gericht sitzen.« »Tut mir leid, aber übernatürliche Belange haben Vorrang«, entgegnete Mephistopheles. »Dies ist das Ende des Wettkampfes.«
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Er legte eine Hand auf Macks Schulter, und sie verschwanden gemeinsam, einen Augenblick später war auch Marguerite fort.
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URTEIL KAPITEL 1 Nachdem Mephistopheles Mack aus Varennes herausbeschworen hatte, war die Kontinuität von Macks bewußtem Erleben unterbrochen. Für eine Weile blieb er in merkwürdigen Träumen gefangen, deren Details sich dem Zugriff seines Denkens verschlossen. Später, nach einer Periode ruhigen Schlafens, erwachte er. Er fand sich auf einer grünen Couch an einem nebelhaften, verschwommenen Ort wieder. Er versuchte, sich genauer umzusehen, doch die Einzelheiten zerfaserten vor seinen Augen. Allerdings war ihm nur ein Ort bekannt, an dem eine solche grüne Couch stand. Er mußte sich in Mephistopheles' Büro im Limbus befinden! Er stand auf und schaute sich um. Er sah einen Bogengang, der zu einem anderen Raum führte. Dort fand er die Truhe, in der er den geretteten Botticelli gelagert hatte. Er hörte, wie hinter ihm eine Tür geöffnet wurde. Auf Ärger gefaßt, drehte er sich um. Ylith betrat den Raum. Sie trug einen beigefarbenen gefütterten Mantel, der ihre schönen Beine bis zu den Waden hinab bedeckte. Ihr langes, dunkles Haar hatte sie mit Kämmen aus Schildpatt-Imitat zu einer anmutigen Hochfrisur gesteckt und ihr sonst eher blasses Gesicht durch einen Tupfer Rouge mit etwas Farbe belebt. »Es ist vorbei«, sagte sie. »Das war die letzte Episode, in der Sie eine Entscheidung zu treffen hatten.«
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»Mephistopheles hat, glaube ich, so etwas erwähnt. Was geschieht jetzt?« »Das Urteil wird gefällt werden. Ich bin gerade auf dem Weg zum Gericht. Ich habe nur kurz vorbeigeschaut, um zu sehen, wie es Ihnen geht.« »Das war nett von dir. Ich nehme nicht an, daß ich zu der Urteilsverkündung eingeladen bin?« »Nicht daß ich wüßte«, antwortete Ylith. »Das ist wirklich typisch«, konstatierte Mack etwas verbittert. »Mephistopheles war freundlich und aufmerksam, solange er etwas von mir wollte. letzt, wo ich nicht mehr gebraucht werde, fragt mich noch nicht einmal jemand, ob ich an der Veranstaltung teilnehmen möchte.« »Menschen werden im allgemeinen nicht zu solchen Terminen geladen«, erklärte Ylith, »aber ich verstehe natürlich, was Sie meinen.« »Wann bekomme ich meine Belohnung?« »Darüber weiß ich nichts«, sagte Ylith. »Sie müssen einfach warten. Dies ist der Limbus, und im Limbus warten die Leute.« Mit einer eleganten Bewegung ihrer schlanken Hände hexte Ylith sich davon. Mack lief eine Weile im Raum herum, bis sein Blick auf einen Stapel Bücher fiel, der auf einem kleinen Tisch lag. Er setzte sich in einen Stuhl neben dem Tisch und nahm sich eines der Bücher. Es war Die Straße zur Hölle und wie Sie sie finden, eine Publikation der Satanischen Presse. Er las: »Wollen Sie wirklich in die Hölle? Seien Sie nicht überrascht, so wie Ihnen geht es vielen! Die Hölle zeichnet sich durch die überragende Bedeutung der Gelüste aus. Entgegen den Gerüchten, die Sie gehört haben mögen, können diese
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Gelüste in der Hölle sehr gut befriedigt werden. Das Problem ist, daß sie nicht in diesem befriedigten Zustand bleiben. Aber das tun sie auch nicht, solange Sie noch leben. Wir müssen berücksichtigen…« Ein plötzlicher Lichtblitz, gefolgt von einer Rauchwolke und dem Auftritt Fausts, unterbrach Mack. Der Magier sah in seinem edlen Gelehrtenumhang mit dem Hermelinkragen wirklich gut aus. »Hallo!« sagte Mack, der froh war, ein bekanntes Gesicht zu sehen, sogar, wenn es sich um den düster dreinblickenden Faust handelte. »Hör zu, ich bin in Eile«, sagte der Magier. »Hast du einen großen, sehr mageren Mann mit gelblichen Augen und langen, dünnen schwarzen Haaren gesehen, der einen etwas merkwürdigen Eindruck bei dir hinterlassen hat?« Mack schüttelte den Kopf. »Nein, seit ihr hier bin, ist niemand außer Ylith, einem weiblichen Geist, vorbeigekommen.« »Die suche ich nicht. Der Graf zu Saint-Germain sagte, er wolle mich hier treffen. Ich hoffe, er hat sich nicht verspätet.« »Wer ist das?« Faust sah ihn verächtlich an. »Nur einer der größten Magier der Welt, weiter nichts. Er lebte erst nach deiner Zeit.« »Aber meine Zeit ist doch auch deine Zeit. Wie kannst du ihn kennen?« »Nun«, erklärte Faust. »Ich bin selbst ein großer Magier, der größte, den es jemals gegeben hat, und es darf wohl vorausgesetzt werden, daß ich jeden wichtigen Mann aus meiner Branche kenne, egal, ob aus der Vergangenheit
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oder der Zukunft. Lebend, tot oder noch nicht geboren, wir Magier halten Kontakt miteinander.« »Was willst du von diesem Saint-Germain?« »Es wäre verfrüht, dir das jetzt schon zu sagen, tut mir leid«, erwiderte Faust. »Sagen wir einfach, ich habe noch eine kleine Überraschung in petto.« »Eine Überraschung? Aber der Wettkampf ist doch vorbei.« »Der Wettkampf ist allerdings vorbei, und es wird interessant sein zu hören, was Ananke zu deinen unzulänglichen und stümperhaften Versuchen, die Geschichte zu beeinflussen, zu sagen hat. Aber auch wenn der Wettkampf nun vorbei ist, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Um es dir in einfachen Worten zu erklären, mein lieber Mack: Faust hat noch nicht gesprochen.« »Faust? Du meinst dich?« »Selbstverständlich meine ich mich! Ich bin Faust, oder etwa nicht?« »Gewissermaßen. Aber gewissermaßen bin auch ich Faust.« Faust sah Mack lange und durchdringend an, dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Du, Faust? Mein lieber Freund, du bist das absolute Gegenteil des Faustschen Ideals, eine gemeine Kreatur, geistig minderbemittelt, obrigkeitshörig, treulos gegenüber deinen Freunden, vulgär, unwissend in Belangen der Geschichte, der Philosophie, Politik, Chemie, Optik, Alchimie, Ethik und vor allem der Magie, der Krone aller Wissenschaften.« Faust lächelte grausam. »Nun, Mack, es ist dir gelungen, für eine Weile meine Schuhe zu tragen, so wie ein Kind in die Schuhe eines
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Erwachsenen schlüpft und vielleicht sogar ein oder zwei Schritte damit geht. Aber jetzt ist dein clownesker Auftritt auf der Bühne der menschlichen Geschichte glücklicherweise beendet. Mein Freund, es ist nichts Faustsches an dir, nicht einmal irgend etwas Interessantes. Du bist nichts weiter, als der kleinste gemeinsame Nenner der menschlichen Rasse, und wir brauchen dich hier nicht länger.« »Ach, so ist das?« antwortete Mack, dessen Kopf von unzusammenhängenden aber nichtsdestoweniger scharfen Entgegnungen überquoll, doch er sprach in einen leeren Raum, denn Faust hatte sich mit einer einzigen komplizierten Bewegung seiner linken Hand bereits wieder davongezaubert. »Ich wünschte, ich könnte so was auch«, klagte Mack laut. Wieder allein in dem Büro im Limbus, zerfiel sein Ärger schnell und machte einer Welle des Selbstmitleids Platz: »Das ist nicht fair. Sie stellen mich all diesen berühmten Leuten gegenüber und sagen mir nichts von den Geistern, die sich einfach hin beschwören können, wohin sie auch immer wollen. Diese Leute zwinkern einmal mit den Augen und sind am Ziel. Ich dagegen, ein einfacher, erdverbundener Mann, muß zu Fuß gehen, mich bemühen und jeden Schritt zwischen hier und dort aus eigener Kraft zurücklegen.« »Wer wird sich denn da so bejammern?« sagte eine tiefe sarkastische Stimme hinter Mack. Mack hatte sich absolut allein geglaubt. Nun fuhr er erschrocken herum und entdeckte Odysseus, groß und heroisch und herrlich anzusehen in seiner frisch geplätteten, weißen Tunika, über die er einen Umhang geworfen hatte, dessen viele Falten jeden Bildhauer glücklich gemacht hätten. Odysseus hatte so edle Züge, daß ein einfacher Mann wie Mack mit seinem Allerweltsgesicht, seiner Stupsnase und den
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Sommersprossen den Eindruck bekam, selbst nicht viel hübscher als ein Affe zu sein. Der Grieche war einen Kopf größer als Mack, sein Teint war bronzefarben, und seine wohlgeformten Arme ließen ein beeindruckendes Muskelspiel erkennen. »Hallo, Odysseus«, sagte Mack. »Was tun Sie hier?« »Ich bin unterwegs zu der großen Versammlungshalle, um mir Anankes Urteil anzuhören und vielleicht ein paar eigene Ideen beizusteuern. Und du?« »Ich warte darauf, daß Mephistopheles Belohnung gibt, die er mir versprochen hat.«
mir
die
»Hältst du es für klug, sie anzunehmen?« fragte Odysseus achselzuckend. »Ich persönlich würde von einem dieser neumodischen Teufel nichts annehmen. Sie sind nur darauf aus, dich zu versklaven, indem sie dich von sich abhängig machen. Aber jedem das Seine. Alles Gute, Mack.« Mit diesen Worten entließ Odysseus einen Reisezauber aus seinem Lederbeutel und verschwand. »Diese alten Griechen halten sich auch für Gott weiß was«, murmelte Mack verdrießlich, als er wieder alleine war. »Sie haben diese ganzen guten Götter, die für sie arbeiten, nur darum können sie soviel erreichen. Die halten zusammen, diese antiken Götter und ihre Menschen. Jemand wie ich dagegen, ein moderner Mann, hat nichts als seinen schwachen Geist, um sich seinen Weg durch die Probleme der verschiedenen Welten zu suchen. Nur die schwankende Kraft seiner beiden Beine trägt ihn zu seinem Ziel. Aber es gibt Reisen, die zu weit sind für die Beine eines Menschen.« »Meinst du?« hörte er eine Stimme hinter seinem Rücken.
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Einen Augenblick fragte sich Mack, ob es in diesem Universum wohl einen besonderen Mechanismus gab, der es den Leuten ermöglichte, sich grundsätzlich hinter ihm zu materialisieren. Er wandte sich um und sah Rognir, den Zwerg, der gerade einem Loch im Boden entstieg, das er mit seiner Hacke gehauen hatte. »Das meine ich allerdings«, antwortete Mack. »Alle anderen hier können die Magie benutzen. Sie sagen nur irgendein Wort und sind plötzlich sonstwo. Aber ich muß laufen, und dabei weiß ich nicht einmal so richtig, wohin.« »Das ist wirklich hart«, bedauerte Rognir voller Sarkasmus. »Was glaubst du denn, was ich mache, Freundchen?« »Was du machst? Darüber habe ich nachgedacht. Wie erreichst du deine Ziele?«
noch
nie
»Wir Zwerge reisen auf die altmodische Weise, zu Fuß. Aber Zwerge laufen nicht einfach nur. Zuerst graben wir Gänge in die Erde, dann können wir losgehen. Glaubst du, daß es einfach ist, einen Tunnel zu graben?« »Wahrscheinlich nicht«, antwortete Mack und dachte einen Augenblick nach. »Vermutlich stoßt ihr manchmal auf Felsgestein.« »Die Gegenden, in denen wir unsere Tunnel bauen, sind voll davon. Es gibt mehr Felsen als Erde«, erklärte Rognir. »Wir Zwerge können uns wirklich glücklich schätzen, wenn wir unsere Gänge nur durch Erde graben müssen. Felsen und Geröll sind schon ziemlich übel, aber das Schlimmste ist es, einen Sumpf zu untertunneln. Da muß man jeden Meter Tunnel abstützen, und das bedeutet, daß wir uns Holzbalken besorgen und in die Stollen tragen müssen. Holzbalken wachsen allerdings nicht einfach so, wir müssen sie aus Bäumen sägen, aber
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meistens liegt der nächste Wald weit von der Stelle entfernt, wo wir die Balken brauchen. Manchmal behelfen wir uns mit kleinen zottigen Ponys, die die Last für uns schleppen, aber meistens benutzen wir nur unseren Mumm und unsere Muskeln.« »Ihr habt es wohl ziemlich schwer.« »Da liegst du falsch. Wir Zwerge sind der Ansicht, daß es uns sehr gut geht. Vergiß nicht, wir sind keine Menschen, sondern eine Art übernatürlicher Wesen, auch wenn wir kein großes Brimborium darum veranstalten! Wir hätten die hohen Mächte um besondere Fähigkeiten ersuchen können, aber das ist nicht unser Stil. Wir sind die absolut einzige Spezies im gesamten Kosmos, die niemals irgendwen um irgendwas bittet.« »Interessiert es dich nicht, wer den Wettkampf zwischen den Mächten der Finsternis und des Lichts gewinnt?« »Nicht im mindesten. Die Ergebnisse haben keine Bedeutung für uns Zwerge. Der Konflikt zwischen Gut und Böse läßt uns kalt. Zwerge kennen nur ein Gutes: Buddeln. Und sie kennen auch nur ein Böses: ebenfalls Buddeln. Unser Geschick ist von der Geburt bis zum Tod vorausgeplant: Wir graben bis zum Umfallen, und wenn wir nicht graben, dann gehen wir durch unsere Tunnel, suchen Juwelen oder feiern Feste. Wir brauchen keine Geistwesen, die uns unsere Arbeit abnehmen.« »Nun, ich schätze, ich sollte mich für mein Selbstmitleid schämen«, erklärte Mack, der sich tatsächlich ein wenig verlegen fühlte. »Aber was erwartest du jetzt von mir?« »Korrigiere mich, falls ich mich irre«, sagte Rognir, »aber ist es nicht richtig, daß alle diese Geistwesen, Halbgötter und selbst Faust darum kämpfen, die Herrschaft über die Menschheit für die nächsten tausend Jahre zu erlangen?«
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»So habe ich die Sache verstanden.« »Gut. Was also wirst du in der Angelegenheit tun?« »Ich? Du meinst, was ich persönlich tun werde?« »Genau das möchte ich wissen«, bestätigte Rognir. »Aber… Nichts, nehme ich an. Da gibt es nichts für mich zu tun. Und selbst wenn es etwas gäbe, warum sollte ich es tun?« »Weil es um dein Schicksal geht. Das ist es, worum sie alle streiten, Dummkopf«, rügte Rognir. »Willst du wirklich nichts dazu sagen?« »Natürlich will ich. Aber wer bin ich schon, den Leuten zu sagen, wie sie über mich herrschen sollen?« »Wer wird für die Menschen sprechen? Faust?« Mack schüttelte den Kopf. »Faust hält sich für allwissend, aber er ist nur ein großmäuliger Magier, der ein paar gute Tricks auf Lager hat. Leute wie er sind anders als der Rest der Menschheit. Ich kenne einige ihrer Tricks, aber wenn sie sich über die höheren Ebenen der Alchimie unterhalten, läßt mich das kalt.« »Das ist ganz richtig so«, erwiderte Rognir. »Es ist alles nur heiße Luft. Es gibt nichts außer Buddeln. Für uns Zwerge jedenfalls. Und wie steht es mit dir? Warum sollte ein Ganove wie Faust dir sagen, was du zu tun hast?« Mack starrte ihn an. »Aber was kann ich denn schon tun?« »Nun, zuerst einmal könntest du wütend werden.« »Aber ich bin auf niemanden wütend«, antwortete Mack, doch auch wenn er es bestritt, so fühlte er doch die Hitze einer langunterdrückten Rage in sich. Zuerst dachte er, er würde damit fertigwerden – wie mit so vielen anderen Dingen in seinem Leben. Er zwang sich, ruhig zu bleiben.
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Es würde schon vorbeigehen. Aber es ging nicht vorbei. Statt dessen wurde sein Zorn größer und größer. Er breitete sich in seinem Kopf aus, bis Mack fühlen konnte, wie glühende Wut seine Augäpfel entflammte und die Venen in seinem Nacken zum Pulsieren brachte, bis sie zu platzen drohten. »Verdammt, nein! Das ist wirklich nicht in Ordnung!« brach es schließlich aus ihm heraus. »Niemand außer den Menschen selbst sollte über das Los der Menschheit befinden dürfen. Wir haben uns lange genug von Geistwesen und sogenannten großen Männern wie Faust bevormunden lassen. Es wird Zeit, etwas dagegen zu unternehmen!« »Na also, das hört sich doch schon besser an«, kommentierte Rognir. Mack sackte in sich zusammen. »Aber was kann ich tun?« »Das ist eine interessante Frage«, antwortete Rognir und kroch wieder in den Tunnel zurück, den er gerade erst ausgeschachtet hatte. Mack stand eine Weile bewegungslos da und starrte in das Loch, in dem Rognir verschwunden war. Am liebsten wäre er selbst hineingekrochen. Aber Menschen krabbeln nicht durch unterirdische Gänge, wie die Zwerge es tun. Mack durchquerte den Raum und öffnete die Tür. Draußen erstreckte sich die endlose verschwommene Landschaft des Limbus vor seinen Augen. In der Ferne konnte er einige schemenhafte Berge erkennen, die bis in die Wolken zu reichen schienen – sofern es wirklich Wolken waren und nicht ein noch weiter entferntes nebelverhangenes Gebirge hinter ihnen lag. Als er genauer hinsah, erkannte er andeutungsweise einen Pfad, dem er durch umherwirbelnde weiße und
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gelbe Nebelschwaden folgte. Bald erreichte er eine Kreuzung, an der ein Schild stand. In einer Richtung war darauf STRASSE ZUR ERDE zu lesen, in der nächsten STRASSE ZUR HÖLLE, dann STRASSE ZUM HIMMEL, und schließlich DER ORT, VON DEM DU KOMMST. Mack dachte nach und lief los.
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KAPITEL 2 Es war ein klarer Tag in dem Teil des Limbus, der für die Urteilsfindung über das Schicksal der Menschheit reserviert war. Der Himmel leuchtete in einem fischigen Weiß, das in dieser Jahreszeit häufig zu sehen war. Ein paar Flocken Schnee waren gefallen, doch mit ernsthaftem Schneefall war nicht zu rechnen. In einiger Entfernung bildeten die Berge der Nichtigkeit eine blaue Linie am Horizont. Es war kein Märchen, daß man an einem klaren Tag buchstäblich endlos sehen konnte. Mephistopheles und der Erzengel Michael saßen Seite an Seite auf dem Sockel eines großen Pfeilers, den Simon, der Säulenheilige, gerade erst freigemacht hatte, nachdem er eine bessere Methode gefunden hatte, seinen Geist zu demütigen, indem er sich einfach nur zwang, ohne Unterlaß die Fernsehwiederholungen von jedem Spiel der Tampa Bay Buccaneers anzusehen. Michael war seit seinem Treffen mit Mephistopheles, das nun schon einige Zeit zurücklag, nicht mehr im Limbus gewesen. Es freute ihn zu sehen, daß sich hier nicht viel geändert hatte. Da war noch immer dieselbe alte Unbestimmtheit, die es unmöglich machte, den Horizont klar zu erkennen, die gleiche angenehme Unklarheit der Farben und die Verschwommenheit, in der sich alle Formen präsentierten. Alles hier war vage und folglich auch moralisch unbeständig! Nach einem langen Leben der völligen Bestimmtheit, hatten diese Umstände etwas Erfrischendes an sich. »Der Limbus ist noch genau so, wie er immer war!« erklärte Michael. »Mein lieber Erzengel«, erwiderte Mephistopheles, »wenn Sie Ihren Hang zum Paradoxen einen Augenblick zügeln
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würden, könnten Sie sehen, daß es hier einige Veränderungen gibt. Sind Ihnen die Bauarbeiten rund um uns herum denn gar nicht aufgefallen?« »Oh, sicher«, sagte Michael. »Aber das ist alles vergänglich. Darunter steckt immer noch derselbe gute alte Limbus.« Er spähte nach Westen. »Was wird dort gebaut?« Mephistopheles folgte seinem Blick. »Das wissen Sie nicht? Dort entsteht der neue Justizpalast, wo das Urteil verkündet werden soll.« Michael betrachtete den Bau. aufwendiges Gebäude zu werden.«
»Es
scheint
ein
»Auf jeden Fall wird es groß genug«, entgegnete Mephistopheles. »Ich hörte, daß eine beachtliche Anzahl von Gästen beider Seiten geladen ist. Sogar einige Menschen, obwohl mir das recht ungewöhnlich vorkommt.« »Nun, das ist doch wohl nur gerecht. Schließlich ist es ihr Schicksal, über das hier entschieden werden soll.« »Na und?« schnaubte Mephistopheles. »Die Mächte des Lichtes und der Finsternis haben doch noch nie die Menschheit in derartige Entscheidungen einbezogen. Wir haben ihnen einfach nur gesagt, wie es laufen wird, und sie konnten damit zufrieden sein oder auch nicht.« »Der Einfluß von Wissenschaft und Rationalismus hat das geändert«, meinte Michael. »Das ist es, was man Fortschritt nennt. Der Balance wird es sicher guttun, glaube ich.« »Natürlich glauben Sie das«, knurrte Mephistopheles. »Mit Ihrer Neigung zum jasagen können Sie auch nichts anderes denken.«
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»Und was könnten Sie anderes tun, als dagegen sein?« »Ein Punkt für Sie«, nickte Mephistopheles. »Wir sind beide in unserer Betrachtungsweise eingeschränkt.« »Ganz richtig. Darum wird auch Ananke das Urteil fällen.« »Wo ist Ananke eigentlich?« »Niemand kennt ihre jüngste Inkarnation«, antwortete Michael. »Die Macht der Notwendigkeit legt manchmal merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag. Aber es hilft nichts, sich zu beklagen. Sie sagt einfach, es sei eine Notwendigkeit und entzieht sich jeder weiteren Erklärung.« »Wer kommt denn da?« fragte Mephistopheles. Michael schaute über den Limbus. Trotz seiner hervorragenden Sehkraft brauchte er einen Moment, ehe es ihm gelang, etwas so Kleines wie einen Mann in dieser weiten Landschaft des Nichts zu erkennen. »Das ist Mack, der Schläger!« sagte Michael. Mephistopheles betrachtete den Mann. »Sind Sie da sicher? Das ist der Mann, mit dem ich es während unseres Wettkampfes zu tun hatte.« »O ja. Das ist ganz sicher Mack«, antwortete der Erzengel. »Haben Sie etwa einen Fehler gemacht, damals in Krakau, mein lieber Dämon? Hat womöglich der falsche Faust den Wettkampf für uns bestritten?« Mephistopheles sah noch einmal genau hin. Seine Lippen preßten sich zu dünnen Linien zusammen und seine dunklen Augen schienen zu glühen. Er funkelte Michael mit bösem Blick an. »Es scheint, als hätte da jemand seine Engelshand im Spiel gehabt!« »Sie überschätzen mich«, antwortete Michael.
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Mephistopheles starrte wieder auf den Mann. »Das ist mit absoluter Sicherheit der Bursche, der den Wettkampf durchlaufen hat. Sind Sie wirklich sicher, daß das nicht Faust ist?« »Leider. Der Name dieses Mannes ist Mack, und er ist ein gewöhnlicher Krimineller. Ich fürchte. Sie haben den falschen Mann erwischt, um über das Geschick der Menschheit zu entscheiden, mein lieber Mephistopheles.« »Und Sie haben den falschen Teufel erwischt, wenn Sie glauben, daß Sie damit so einfach davonkommen!« Michael lächelte, sagte aber nichts. »Wir werden das später besprechen«, erklärte Mephistopheles. »Ich muß zum Bankettsaal. Die dunkle Seite wird dieses Mal Erfrischungen anbieten.« Er schaute wieder über den Limbus. »Wo geht der Kerl hin?« »Lesen Sie die Wegweiser. Er ist auf der Straße zum Himmel«, antwortete Michael. »Wirklich? Ich wußte nicht, daß das der Weg dorthin ist!« »Das ändert sich von Zeit zu Zeit.« »Und warum?« »Wir Streiter für das Gute«, erklärte Michael würdevoll, »bemühen uns stets, nicht allzuviel Zeit mit unnützen Fragen nach dem Warum zu verschwenden.« Mephistopheles zuckte mit den Schultern, und die beiden großen Geister setzten ihren Weg zum Justizpalast fort.
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KAPITEL 3 Azzie bummelte durch die äußeren Hofräume des Justizpalastes, als er Michelangelo persönlich begegnete. Er erkannte den Maler sofort, den er auf Abbildungen in Kunstbüchern auf der Dämonen-Universität oft gesehen hatte. Michelangelo war gerade dabei, noch einige letzte Korrekturen an einem gigantischen Fresko vorzunehmen. »Sieht gut aus«, sagte Azzie und stellte sich hinter den Maler. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir aus dem Licht zu gehen?« fragte Michelangelo. »Die Arbeitsbedingungen sind auch so schon schlecht genug, Sie müssen sie nicht noch schlechter machen.« Azzie trat zur Seite. »Es muß Kunstwerke anfertigen zu können.«
wundervoll
sein,
Michelangelo grinste spöttisch und wischte sich mit einem farbverschmierten Lumpen den Schweiß von der Stirn. »Das hier ist keine Kunst. Ich arbeite nur einige Sachen an einem meiner alten Werke nach.« »Aber Sie können Kunstwerke schaffen, wenn Sie es wollen, nicht wahr?« »Sicher. Aber jede Kunst erfordert ein Streben, und was gibt es schon noch zu erstreben, wenn man erst einmal im Himmel gelandet ist?« Azzie fiel keine Entgegnung ein, denn ein derartiger Gedanke war ihm noch nie gekommen. Michelangelo widmete sich wieder seiner Arbeit, und Azzie, der ihm noch einen Augenblick zusah, hatte den Eindruck, daß er dabei absolut zufrieden wirkte.
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Außerhalb des großen Auditoriums, auf den kreisförmigen Gängen, die das runde Gebäude durchzogen, standen unzählige Geistwesen mit ihren Drinks und Hors d'oeuvres in Gespräche vertieft herum. Es waren mehr Geistwesen gekommen, als das Gebäude fassen konnte, denn jedes ätherische Wesen – und das war immerhin der Großteil allen empfindungsfähigen Seins – wollte dabei sein, wenn das Urteil verkündet wurde. Das Organisationsbüro hatte in dem Bemühen, wirklich jeden unterzubringen, bereits neue Packordnungen erlassen. Sogar das Reich der virtuellen Sphäre war um Hilfe gebeten worden, sehr zum Mißfallen der Puristen, die die Ansicht vertraten, daß, wer keinen Platz mehr fand, eben Pech gehabt hätte. Dies war ein großer Tag; der Urteilstag, das größte Ereignis des Jahrtausends, die Superfastnacht des gesamten Universums. Dies war die Zeit, in der jeder jeden traf. Gruppen von Geistwesen kamen gemeinsam an und betrachteten voller Ehrfurcht den Justizpalast und riefen staunend aus: »So, das ist also der Ort!« Dann gingen sie woanders hin, meistens in die Cafeteria, wo sie nur einen leichten Salat bestellten, um sich ihren Appetit für die Orgie, die das Böse im Falle seines Sieges ausrichten würde oder das Festmahl, das das Gute im umgekehrten Falle geben würde, zu erhalten. Die geräuschvolle Aufregung war unüblich für den Limbus. Der Limbus war normalerweise ein ruhiger Ort, an dem nicht viel Unterhaltsames passierte. Die Einwohner des Limbus erwarteten nicht viel und waren willig zu leben und leben zu lassen. Sie neigten nicht dazu, Werturteile abzugeben, denn in derlei Dingen hatten ausschließlich die Ansichten der zwei angrenzenden Fürstentümer des Lichts und der Finsternis Gewicht. Die Bewohner des Limbus schlenderten durch ihr sonderbar unklares Milieu, aßen gelegentlich illusionäre Mahlzeiten und liebten sich in
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ihrer unzulänglichen Weise; sie lauschten zweitklassigen Dichterlesungen oder besuchten Volkstanzfestivals ohne besondere Höhepunkte. Die Zeit verlief hier so ereignislos, daß niemand ihr besondere Beachtung schenkte. Nicht einmal ein eindeutiger Wechsel der Jahreszeiten durchbrach die Monotonie. Und nun plötzlich waren die Gestalten im Limbus Gastgeber in dem Jahrtausendwettkampf, der gerade im Begriff war, eine außerplanmäßige Wendung zu nehmen.
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KAPITEL 4 In dem großen Versammlungssaal, dem Mittelpunkt des Justizpalastes, war alles für das Ereignis vorbereitet. Das Publikum saß auf den Rängen und unterhielt sich oder wartete still den Beginn der Veranstaltung ab. Anders war es nur in dem Bereich, der für die virtuelle Realität vorgesehen war. Dort wurden Myriaden von Zuschauern fast in Lichtgeschwindigkeit hindurchgeschleust, um nur jedem ohne nennenswerte Verzögerungen einen Eindruck zu vermitteln. Dennoch stimmte etwas nicht. Ananke hatte sich bisher nicht blicken lassen. Niemand zweifelte daran, daß die große Göttin der Notwendigkeit sich zeigen würde, sobald sie bereit wäre, und sie würde eine Hülle wählen, die sie der Situation für angemessen hielt. Aber wie würde sie aussehen? Spekulationen machten die Runde im Zuschauerraum, und die Leute verrenkten sich die Hälse, in der Hoffnung, die Transformation sehen zu können. Doch selbst die erfahrensten unter ihnen waren überrascht, als Marguerite, die allein in einer der hinteren Reihen gesessen hatte, sich plötzlich erhob, während zwei Mönche, einer blind, der andere taub, mit ihren Gehstöcken klappernd den Mittelgang heraufkamen und direkt auf sie zugingen. Der Taube hatte einen starren Blick, der Blinde hob sein Haupt und sagte mit einem Ausdruck der Begeisterung: »Sie ist gekommen!« Marguerite, deren geweitete Augen wie Opale leuchteten, erhob sich aus ihrem Sitz und trat auf den Gang. Die Zuschauer machten ihr Platz, als sie, begleitet von ihren Mönchen, nach vorn zur Tribüne schritt. Ihr Gesicht war so weiß wie Elfenbein, ihre Lippen waren fahl, und ihre glühenden Augen sahen wie kleine
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Flammen in einem dunklen Spiegel aus. Sie schien nun weit mehr zu sein als eine einfache Sterbliche. Kein Geräusch durchbrach die Stille im Saal, als sie zu dem Thron ging, der für sie bereitgestellt worden war. Sie ließ sich auf ihm nieder und wandte ihr Gesicht dem Publikum zu. »Es ist Zeit für das Urteil, doch zuerst, so glaube ich, möchte noch jemand sprechen.« Odysseus stand auf und verbeugte sich tief. Er trat vor, blieb stehen und drehte sich herum, um zuerst Ananke zu grüßen. »Ich grüße Euch, große Göttin. Ich weiß so gut wie jeder hier, daß Ihr über alles und jeden richtet. Da aber dies ein Wettstreit über die Festsetzung der Selbstbestimmung ist, die Ihr der Menschheit großzügigerweise erlauben wollt, wird es mir eine Ehre sein, wenn Ihr mir gestattet, einen Anspruch anzubringen, der hier noch nie zuvor gestellt wurde.« »Komm her und sprich, Odysseus«, sagte Ananke. »Groß ist dein Ruhm in den Annalen der Menschheit. Dein Standpunkt soll gehört werden.« Odysseus stieg auf die Bühne, richtete seinen Mantel und begann mit polternder Stimme seine Ansprache: »Ich stehe hier, um alle im Saale Anwesenden zu bitten, einen Vorschlag zu bedenken, den ich nun unterbreiten werde. Meine Idee ist recht einfach, aber dennoch revolutionär, und ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Nun zum Thema: Ich schlage vor, die alten hellenischen Götter wieder zur Erde zurückzubringen und die Geschicke der Menschen in ihre Hände zu legen.«
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Im Publikum war vereinzeltes Murmeln zu hören, doch Ananke erhob ruhegebietend die Hand, und Odysseus konnte fortfahren. »Bedenkt doch: Ihr selbst, Ananke, benutzt schon jetzt ein altes griechisches Konzept: die Macht der Notwendigkeit als letzte Schiedsinstanz über das Sein. Eure Konzepte von Gut und Böse, die als absolutistische Erklärungen in der Anfangszeit der neuen Kirchen entstanden sind, wurden inzwischen bis zu einem Punkt weiterentwickelt, an dem die Differenzen keinen Bestand mehr haben. Der Gewinn an Wahrheit wurde von einem Verlust an Rechtmäßigkeit begleitet. Ihr habt die freie Dialektik des Sokrates und der Sophisten durch die Lehren diverser kirchlicher und geistiger Führer ersetzt. Ihr werdet mir gestatten, Euch zu sagen, daß all das gegenüber menschlichen Wesen mit der Fähigkeit zu Einsicht und Vernunft unangemessen, barbarisch und geistig ungesund ist. Warum laßt Ihr Euch durch emotionale Aspekte beeinflussen? Warum Heil predigen, an das Ihr selbst nicht zu glauben vermögt? Ich bitte Euch, führt die alten Götter zu neuer Herrschaft – die irrationalen alten Götter mit den menschlichen Eigenschaften! Laßt Ares wieder über die Schlachtfelder toben, wie er es immer getan hat! Laßt Athene alles Gute und Reine repräsentieren, und bringt Zeus als letzte göttliche Instanz in seiner Allmacht, wenngleich nicht Allwissenheit, zurück. Unser Beitrag hier, der griechische Beitrag, ist es, Götter vorzuschlagen, die unendlich stark, aber nicht allzu klug sind. Durchtrennen wir den Schleier des Übernatürlichen, mit dem wir unsere inneren Schwächen zu verdecken suchten. Laßt uns aufhören mit der Scheinheiligkeit, laßt uns eingestehen, daß die neuen Götter und Geister nichts nützen, und zu den alten Herrschern zurückkehren! Und selbst wenn es sonst nichts bewirken sollte, so wäre es zumindest ein ästhetischer Gewinn.«
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Als Odysseus seine Rede beendet hatte und zu seinem Platz zurückkehrte, erfüllte der Klang vieler ins Gespräch vertiefter Stimmen den Saal. Ananke rief das Publikum zur Ordnung und sagte: »Die Worte des Odysseus sind wohl gewählt und werden zu bedenken sein. Aber wir haben noch einen weiteren Redner, der seine Ansprüche vertreten will, und er ist auf seine Weise ebenso berühmt wie Odysseus. Ich spreche von keinem Geringerem als Doktor Johann Faust, der beachtliche Schwierigkeiten überwunden hat, um heute hier bei uns zu sein. Ich gebe das Wort nun an Doktor Faust.« Faust ging auf die Bühne und flüsterte »Danke, Marguerite, ich werde es irgendwann wieder gutmachen«, ehe er sich dem Publikum zuwandte: »Mein aufrechter und ehrenwerter Freund Odysseus war von jeher für seine exzellenten Redefähigkeiten bekannt. Ich selbst bin kein großer Redner, aber ich werde Euch einige schlichte Wahrheiten erzählen, und Ihr mögt damit umgehen, wie Ihr es für richtig haltet. Zuerst möchte ich auf Odysseus' Worte Bezug nehmen: Die klassische Konstellation ist zweifellos von großem Reiz, aber sie kann keinen Anspruch auf Richtigkeit übernehmen. Die alten Hellenen und ihre Götter hatten ihre Zeit, und die Welt hat ihren religiösen Standpunkt ohne großes Bedauern vergessen. Wir können das weder mit den hellenischen noch mit irgendwelchen anderen Göttern wiederholen. Ich sage, entmachtet alle Götter, ganz gleich ob antik oder modern! Wir Menschen brauchen keine Götter. Wir haben uns wie diejenigen Arbeiter verhalten, die für eine höhere Klasse stimmten, die sie schließlich unterdrücken soll. Wozu brauchen wir derart durchsichtige Konstruktionen? Warum sollten Götter oder Teufel oder sonstwer über unser Schicksal befinden? Ich bin Faust, und ich stehe hier stellvertretend für glorreiche Männer, Männer, die trotz ihrer Schwächen ihr Los selbst bestimmen. Mit nur einer
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einzigen Entscheidung könnten wir die ganze Sache beenden – das windige Parlament aus Teufeln und Engeln, die nutzlosen Diskussionen und endlosen Streitereien. Die Menschen werden ihr Bestes tun, und sie brauchen keine übernatürliche Macht, die sie zu größerer Anstrengung antreibt. Aber falls Ihr auf einem Vermittler besteht, auf einen Rat der Weisen, so habe ich eine Gruppe von Männern zusammengestellt, die ein größeres Anrecht hat, die Geschicke der Menschheit zu steuern, als all diese Gottheiten. Ich sage, laßt die Magier über uns herrschen! Sie haben es schon immer gekonnt; wir haben es uns selbst nur nicht gestattet.« Faust klatschte in die Hände, und eine Reihe Männer kam langsam auf die Bühne. »Hier sind Cagliostro, Paracelsus, Saint-Germain und viele andere«, sagte Faust. »Dies ist der Rat, der über die Welt befinden sollte.« Michael stand auf und sagte: »Das können Sie nicht machen, Faust.« »Wieso denn nicht? Ich bin hier, und ich tue es. Ihr habt die Fähigkeiten des Menschen, sich der Magie zu bedienen, nicht berücksichtigt. Ich habe hier die größten Seher bei mir, die je gelebt haben. Ihre Gabe gehört ihnen mit dem Recht ihrer Mühen. Sie ist nicht das Geschenk eines umherschwirrenden Geistwesens. Wir Menschen können auf uns selbst aufpassen, unter der Führung dieser weisen Männer, die die Vorfahren aller zukünftigen Wissenschaftler sind.« »Das geht wirklich zu weit«, rief Michael. »Ihre MagierVersammlung ist illegal, unmöglich und jenseits aller Regeln. Sie werden Zeit und Raum auf diese Art nicht manipulieren. Richtig, Mephistopheles?« »Das ist auch meine Meinung«, antwortete der Teufel.
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»Ich werde es mit Euch aufnehmen!« erklärte Faust. »Wir Magier erkennen weder Teufel noch Götter an! Laßt uns mit Euren undurchsichtigen Reglementierungen in Ruhe! Wir werden unsere eigenen Regeln aufstellen.« »Fort mit Ihnen«, brüllten Michael und Mephistopheles im Chor, doch Faust und die anderen Magier blieben entschlossen stehen. »Lassen wir Ananke entscheiden, denn die Macht der Notwendigkeit richtet über uns alle«, sagte Michael. »Ananke, du weißt, daß ich recht habe!« Marguerite zögerte. »Ja, Faust. Du hast recht.« »Dann mußt du für uns entscheiden.« »Nein, Faust, das ist unmöglich.« »Warum? Warum?« »Weil das Recht für die Entscheidung der Notwendigkeit nicht der einzige Beweggrund ist. Es gibt andere Faktoren, die von ebenso großer Bedeutung für die Zukunft des Seins sind.« »Was für andere Faktoren?« »Da ist die Wärme, Faust, und du hast keine Wärme. Da ist die Fähigkeit zu lieben, Faust, und du kannst es nicht. Da ist die Fähigkeit der Selbstbeherrschung, Faust, und du hast sie nicht. Da ist das Mitgefühl, Faust, und auch das fehlt dir. Was Odysseus vorschlug, war nostalgisch, aber deine Gedanken sind ein Fluch. Darum, Faust, hast du trotz deiner tapferen Bemühungen verloren, und die Erde wird sich weiterdrehen, ohne von dir beherrscht zu werden.« Aus dem Publikum wurden Zwischenrufe laut. »Wer hat nun gewonnen, Licht oder Finsternis?«
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Ananke hielt ihren starren Blick auf das Publikum gerichtet. »Nun zu den Ergebnissen. Wir werden uns von vorn nach hinten durcharbeiten. Aber zuerst noch etwas zu den alten Göttern und Religionen, die zurückzuwünschen ein Akt der Sentimentalität ist, denn die alten Götter sind fort, und sie werden nicht wiederkehren. Auch über Faust, der der neue Herrscher der Menschheit sein will, gibt es noch einige Dinge zu sagen. Er ist kalt, gleichgültig und nicht wirklich um die Führung der Menschen besorgt. Soviel zu den bis jetzt gehörten Anträgen, die wir das bleiben lassen wollen, was sie sind – Wünsche. Nun kommen wir zur Urteilsverkündung, zu dem, was ist, und dem, was sein wird. Jede Episode, die Mack bestritten hat, kann auf verschiedene Arten beurteilt werden – nach den Ergebnissen, den Intentionen, den äußeren Einflüssen –, kurz gesagt, sie bergen eine Fülle von Widersprüchen, über die Gut und Böse noch weitere tausend Jahre streiten könnten. Hört nun die Ergebnisse: Zuerst Konstantinopel. Die Ikone, die Mack zu schützen versuchte, wurde ebenso wie die Stadt selbst zerstört, also ein Opfer derer, die sie zu neuer Blüte hatten führen wollen. Ein Punkt für das Böse. Zweitens: Kublai Khan hat sein Zepter verloren. Der Verlust des magischen Zepters hat die mongolischen Horden eines Teils ihres Glücks und ihrer Angriffskraft beraubt und damit eine Bedrohung von der westlichen Zivilisation abgewendet. Ein Punkt für das Gute. Drittens: In Florenz wurde ein unbezahlbares Kunstwerk gerettet. Media und Savonarola, beide potentielle Verbreiter des Bösen, starben vorzeitig, was der Welt viel Kummer erspart hat. Ein Punkt für das Gute.
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Viertens: Doktor Dees Spiegel war nicht wirklich wichtig, aber Marlowe war es. Hätte er weitergelebt, so hätte er noch mehr erbauliche, sittliche, wahre und nützliche Werke geschrieben. Der zweite Punkt für das Böse. Fünftens: Ob die königliche Familie Frankreichs gerettet worden wäre oder nicht, hätte keinen besonderen Einfluß auf den langen Kampf gegen demokratische Reformen im neunzehnten Jahrhundert gehabt. Hier herrscht Gleichstand. Auf beiden Seiten wurde gleichermaßen betrogen. Auch hier also ein Gleichstand. Der Wettkampf wird damit für ungültig erklärt!«
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KAPITEL 5 Mephistopheles hatte zunächst keine Ahnung davon. Erst später berichtete ihm ein Engel, der vom Himmel zum Limbus gereist war, um dem Urteilsspruch beizuwohnen, von den Neuigkeiten. Dieser Engel hatte beschlossen, kraft seiner eigenen Flügeln zu reisen, denn er war der Ansicht, daß er etwas Übung gebrauchen könnte. Sein letzter Flug lag nämlich schon eine lange Zeit zurück. Als er sich auf den Weg gemacht und die himmlischen Villen in den reizvollen Außenbezirken hinter sich gelassen hatte, begegnete er Mack, der sich mühsam über den unbefestigten Pfad in die Höhen des göttlichen Reiches hinaufschleppte. Er kam nur langsam vorwärts, doch er bewegte sich auf seinen eigenen zwei Beinen auf den Himmel zu. »Wo kann er nur hin wollen?« fragte Mephistopheles. »Es sah aus, als wolle er zu Ihr-wißt-schon-wer«, antwortete der weibliche Engel verschwörerisch. »Nur das nicht!« schrie Michael. »Aber genauso sah es aus. Natürlich kann er auch nur einen Ausflug machen, um sich ein bißchen umzusehen.« »Wie kann er sich erlauben, Gott selbst aufzusuchen? Wie kann er es wagen? Und noch dazu ohne einen Ausweis? Ohne eine Empfehlung? Ohne die Begleitung durch einen erwiesenermaßen sittsamen geistigen Würdenträger? Das ist unerhört.« »Aber so ist es nun mal.« »Ich wünschte, ich wüßte, was da vorgeht«, murrte Michael, und Mephistopheles nickte zustimmend.
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KAPITEL 6 Als Mack den höchsten Wolkenberg erreicht hatte, erblickte er direkt vor sich die großen perlmuttartigen Tore, die sich langsam in ihren goldenen Angeln drehten, als er sich ihnen näherte. Er trat ein und fand sich in einem großzügigen Garten wieder, in dem jeder Baum und jeder Strauch gute Dinge hervorbrachte und keine Schnecke und kein Käfer ihr Unwesen trieben. Ein Mann kam auf ihn zugeeilt, ein großer bärtiger Mann in einer weißen Robe, vor dem Mack sich tief verbeugte. »Hallo, Gott.« Der Mann eilte auf ihn zu, half ihm wieder auf die Beine und sprach: »Verbeuge dich nicht vor mir, ich bin nicht Gott! Ich fürchte, Er kann jetzt gerade nicht mit dir sprechen, obwohl Er es gern täte, aber Er hat mich, seinen Diener, geschickt, um dir zu sagen, daß Er beschlossen hat, das Urteil Anankes aufzuheben und dich zum wahren Sieger des Wettbewerbs zu erklären.« »Mich?« rief Mack. »Aber womit habe ich das verdient?« »Ich bin über die Details nicht informiert«, erwiderte der bärtige Mann. »Auf jeden Fall hat das keine persönlichen Gründe. Es ist lediglich die Entscheidung, die Geschicke der Erde in die Hände einfacher Gauner und Menschen zu legen, die nicht besser sind, als von ihnen erwartet wird. Die alten Götter haben versucht, die Menschheit zu führen, und dabei versagt. Gott und der Teufel haben es versucht und versagt, Gesetze haben es versucht und versagt, Einsicht und Vernunft haben sich als unzureichend erwiesen, und selbst dem Chaos ist es nicht besser ergangen. Dies ist nun die Ära des einfachen Mannes. Deine schlichten, selbstbezogenen Aktionen, Mack, die du zu deinem eigenen Vorteil, aber doch mit
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der unbestimmten Hoffnung, edleren Zwecken zu dienen, durchgeführt hast, haben es verdient, den Sieg in dem Wettbewerb zu erlangen. Selbst diese geringe Andeutung von Idealismus trägt mehr Überzeugung in sich als all diese großen und komplizierten Gedanken.« Mack war verwirrt. »Ich soll die Dinge lenken? Nein, das ist unmöglich, ich will nichts mehr davon hören. Offen gesagt, das klingt nach Blasphemie.« »Gott existiert in der Blasphemie, der Teufel in der Frömmigkeit.« »Ich glaube, ich sollte das lieber mit Gott selbst besprechen.« »Wenn das doch nur möglich wäre!« sagte der Mann traurig. »Aber niemand hat den einen Gott gesehen oder gesprochen, nicht einmal hier oben im Himmel. Wir haben Ihn gesucht, aber Er ist einfach nicht zu finden. Es scheint, als habe Er sich selbst entfernt, ausradiert. Manche hier sagen, Er hätte niemals existiert, und natürlich haben wir keine Fotografien, die das Gegenteil beweisen könnten. Unsere Legenden besagen, daß Er einmal existiert hat und die Engel Ihn oft besucht haben, um sich im Licht Seiner Anwesenheit zu sonnen. Er soll erzählt haben, daß Himmel und Hölle nebensächlich seien, doch niemand hat Ihn verstanden. Er sagte auch, daß ›so unten, so oben!‹, aber auch das hat niemand verstanden, bis die ersten Elendsviertel im Himmel auftauchten und mit ihnen das Verbrechen.« »Verbrechen, im Himmel?« fragte Mack. »Das kann ich mir nicht vorstellen.« »Du wärest überrascht, wenn du wüßtest, was hier so alles vor sich geht. Es ist schon einige Zeit her, da hat Er allen erzählt, daß Er gar nicht Gott, der Eine und Einzige, der allem Innewohnende, sei. Vielmehr sei Er
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lediglich ein Stellvertreter Gottes, denn der selbst hätte etwas anderes zu tun. Jedermann fragte sich, was das wohl sein könnte. Einige glaubten, daß Er dabei war, die Dinge in einem anderen Kosmos noch einmal zu erschaffen, und diesmal würde Er die Schöpfung einfacher gestalten, auf daß sie funktionieren würde. Alle waren sich darüber einig, daß Gott über die Entwicklung Seiner ersten Schöpfung sehr enttäuscht sei, auch wenn Er niemals etwas Derartiges geäußert hatte, schließlich war Er ein edler Geist.« Mack starrte den bärtigen Mann in der weißen Robe an und fragte: »Ihr seid Gott, nicht wahr?« »Nun ja, so könnte man sagen. Wo liegt das Problem?« »Oh, es gibt kein Problem«, entgegnete Mack. »Du bist enttäuscht, nicht wahr?« fragte Gott. »Du hast etwas anderes erwartet.« »Nein, bestimmt nicht.« »Ich weiß, was du denkst. Vergiß nicht, ich bin allwissend!« »Ich weiß. Und allmächtig außerdem.« »Ach ja, das… Aber das ist eine Fähigkeit, derer man sich besser nicht bedient. Gottes wahre Aufgabe ist es, seiner eigenen Allmacht zu widerstehen und sich der Verpflichtung durch sie würdig zu erweisen.« »Verpflichtung durch Allmacht? Wie ist das möglich?« »Allmacht ist äußerst hinderlich, wenn sie mit Allwissenheit und Erbarmen einher geht. Man ist immer in Versuchung, sich von der Seite der Güte her einzumischen, um jedes Unrecht zu korrigieren.« »Und warum solltet Ihr das nicht tun?«
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»Wenn ich meine Allmacht in die Dienste meiner Allwissenheit stellen würde, dann ergäbe sich daraus eine perfekte Weltmaschine. Es gäbe keinen freien Willen mehr. Niemand würde mehr die Konsequenzen seiner Handlungen erleben. Ich müßte ständig da sein und aufpassen, daß kein Spatz vom Himmel fällt, kein Mensch durch einen Verkehrsunfall ums Leben kommt, kein Reh einem Leoparden zum Opfer fällt, niemand hungert, darbt oder friert und daß niemand vorzeitig stirbt, und wenn wir schon so weit sind, dann könnte ich auch gleich verhindern, daß überhaupt jemand jemals stirbt.« »Das hört sich verständnislos.
doch
gut
an«,
meinte
Mack
»Aber nur, weil du die Sache nicht wirklich durchdacht hast. Stell dir nur einmal vor, alles was jemals gewesen ist, wäre noch immer! Alles wäre da, mit seinen ganzen Ansprüchen, seinen Prioritäten und Wünschen. Und dem allen müßte Genüge getan werden, von anderen Aufgaben einmal abgesehen. Wenn der Leopard kein Reh essen darf, dann muß ich ihm etwas anderes bieten. Soll ich ihn zum Vegetarier machen? Aber warum glaubst du, daß es Pflanzen nicht ebenso wenig gefällt, gegessen zu werden, wie es dir selbst gefiele? Du siehst, wie kompliziert das alles ist. Ich müßte alles machen und ständig eingreifen. Das Leben der Leute würde unsagbar langweilig werden, wenn ich ihnen alles Wichtige abnähme.« »Ich verstehe, daß Ihr dabei viel zu bedenken habt«, erklärte Mack. »Aber Ihr seid allwissend, das muß doch helfen.« »Meine Allwissenheit sagt mir, daß ich meine Allmacht zurückhalten sollte.« »Und wie steht es mit Gut und Böse?«
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»Nun, ich habe durchaus bemerkt, daß das eine wichtige Frage ist, aber ich konnte nie mit Sicherheit sagen, wer nun eigentlich was ist. Das ist alles furchtbar schwierig. Obwohl ich Gott bin, der einzige Gott, habe ich aber doch noch das Recht, bescheiden zu sein, und ich habe das Recht, mir etwas anzueignen, das mir einen Anlaß zur Bescheidenheit liefert. Ich verfüge über Allwissenheit und Allmacht, doch ich weigere mich, diese Fähigkeiten einzusetzen. Ich denke, es wäre eine unnötige Einmischung, wenn ich versuchen würde, stets alles zum Guten zu wenden. Es wäre parteiisch und einseitig, immer das Gute zu unterstützen. Aber durch meine Allwissenheit weiß ich auch, daß nach einer genauen Untersuchung Gut und Böse austauschbar, sogar gleich sind. Nicht daß das irgend etwas ändern würde. Ich denke, das Kreuz der Allwissenheit ist, daß man niemals etwas dazulernen kann. Ich hätte lieber weitergelernt. Vielleicht kenne ich die geheimen Hintergründe einer jeden Sache, aber ich habe sie mich niemals wissen lassen. Sogar Gott hat ein Recht auf Geheimnisse und das Recht und die Pflicht, nicht alles zu wissen.« »Und was kann ich daraus lernen?« fragte Mack. »Daß du ebenso frei bist wie ich. Das mag nicht viel sein, aber immerhin etwas, nicht wahr?«
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KAPITEL 7 Nach dem Ende der großen Veranstaltung wußte Azzie nicht so recht, was er nun tun sollte. Er beschloß zu schauen, was Faust und die anderen taten. Er entdeckte Faust in einer Taverne außerhalb Krakaus. Erstaunlicherweise war auch der Engel Babriel dort. Sie beide saßen zusammen in einer Nische und tranken Bier. Als Azzie sich zu ihnen gesellte, begrüßten sie ihn und luden ihn zu einem Drink ein. Faust fuhr mit der Konversation fort. »Hast du Ananke gehört? Das war Marguerite, die früher alles mögliche angestellt hat, um mich für sich zu gewinnen.« »Das hatte mit dir persönlich nichts zu tun, alter Junge«, erklärte Babriel. »Sie sprach dort als die Notwendigkeit.« »Ja, aber warum hat Ananke ausgerechnet sie auserwählt?« Faust dachte noch einen Moment darüber nach, dann fuhr er fort: »Wahrscheinlich hatte sie genau die Eigenschaften, die Ananke in ihrer Richtungsblindheit für das menschliche Geschick benötigt.« Babriel blinzelte und trank einen Schluck Bier. »Das hast du bemerkt? Du hast dazugelernt, Faust.« »Nicht genug«, entgegnete Faust. »Wir hätten es schaffen können, Babriel. Wir Menschen, meine ich. Wir hätten das Joch abwerfen können, wenn ich doch nur…« »Nicht du allein«, widersprach Babriel. »Ich will mich nicht aufspielen, aber es waren nicht allein deine Schwächen, über die gerichtet wurde, sondern die der gesamten Menschheit.«
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»An der ganzen Sache ist etwas faul«, sagte Faust. »Wir waren von Beginn an im Nachteil. Sie finden heraus, an welchen Eigenschaften es uns mangelt, sagen dann, daß dies die von uns geforderten Merkmale gewesen seien, und weil wir sie nicht vorweisen können, haben wir verloren. Sollten wir aber diese Eigenschaften erringen, dann wollen sie eben andere sehen. Aber woher, wenn nicht von uns selbst, können sie wissen, welche Eigenschaften wir haben sollten?« »Das ist wahr«, sagte Babriel. »Aber laßt uns nicht über Politik diskutieren. Vorbei ist vorbei. Reden wir über Angenehmeres, ehe wir wieder unserer Wege ziehen.« Die Tür öffnete sich, und Mack kam mit einem fröhlichen Studentenlied auf den Lippen herein. Seit dem Wettkampf hatte er sich enorm zusammengerissen. Er war jetzt ein Händler und gerade dabei, sich einen gewissen Lebensstandard zu erarbeiten, und er hatte eine wunderschöne Freundin, die Marguerite sehr ähnlich sah. Seit er von seinem Besuch im Himmel auf die Erde zurückgekehrt war, hatte er sein Leben unter einem glücklicheren Stern wieder aufgenommen. Die anderen umringten ihn, und Azzie fragte: »Na, was hat Er gesagt?« »Wer?« »Na, Gott natürlich. Wir haben vom Justizpalast aus gesehen, wie Sie zum Himmel hinaufgestiegen sind. Was haben Sie erfahren?« Mack blinzelte und wirkte unangenehm berührt. »Ich habe eigentlich gar nichts erfahren. Außerdem habe ich nicht Gott getroffen, sondern nur einen Freund von Ihm.« »Aber der hat Ihnen gesagt, daß Sie den Wettkampf gewonnen haben, oder?«
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»Nicht ganz. So wie ich es verstanden habe, soll ich mit meinem Leben machen, was ich für richtig halte, und genau das tue ich jetzt.« »Das ist alles, was Sie uns erzählen können?« fragte Azzie. Mack runzelte die Stirn, sagte aber nichts, dann lächelte er. »Kommt schon, Freunde!« sagte er. »Ich habe uns einen Tisch in der Geschossenen Ente reservieren lassen. Sie haben gebratene Gans für uns vorbereitet. Laßt uns essen, uns zu unseren Leistungen beglückwünschen und über unsere Fehler lachen!« Alle waren einverstanden, nur Faust sagte, daß er etwas später nachkäme. Dann verließ er die Taverne und lief in die kleine Kasimir-Straße zu einem eleganten kleinen Teehaus, wo er sich mit Helena treffen wollte. Helena saß an einem kleinen Tisch und nippte an einer Tasse Orange Pekoe. Als Faust eintrat und sich zu ihr setzte, begrüßte sie ihn mit einem unterkühlten Lächeln. »Nun, meine Liebe«, sagte Faust. »Du bist also den alten Damen entwischt und zu mir zurückgekehrt!« »Nur um mich zu verabschieden, Johann«, entgegnete Helena. »So? Das ist deine Entscheidung?« »Ich habe beschlossen, zu Achilles zurückzukehren«, antwortete Helena nickend. »Das ist ein notwendiger Teil des Archetypus der Helena. Ich bin letztendlich auch zu Menelaus zurückgekehrt, als er mein Ehemann war.« »Ich denke, es ist wohl besser so«, erklärte Faust nicht allzu traurig, denn sie war wirklich zu gut. »Unsere Archetypen passen auch nicht recht zusammen. Wir sind beide einmalig und dominant. Aber stell dir den Spaß vor, den wir miteinander hätten haben können!«
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»Du hättest wohl mehr Spaß gehabt als ich«, entgegnete Helena. »Und schließlich bevorzugst du doch den Gänsemagd-Typ. Warum versuchst du es nicht noch einmal mit Marguerite?« »Woher weißt du von ihr?« fragte Faust. »Vergiß die Frage! Ich weiß, du wirst es mir nicht verraten. Wie auch immer, Marguerite ist Vergangenheit. Das Problem bei der Sache ist, daß ich sie nicht wirklich respektiere, nicht einmal, wenn sie Ananke verkörpert.« Etwas hämmerte gegen die Tür des Teehauses. Dann war ein Knirschen zu hören, als die drei alten Weiber begannen, an dem Holz zu nagen, während unter der Tür grüner Schleim hereindrang. »Wir sollten die verrückten Schwestern nicht warten lassen«, sagte Helena, erhob sich und ging hinaus. Allein zurückgeblieben, starrte Faust in die Luft und sah nichts anderes, als seine zerbrochenen Träume. Nichts befriedigte ihn mehr. Männer, Frauen, Geistwesen, sie alle waren ihm geistig unterlegen. Selbst Ananke hatte sich als intellektuelles Leichtgewicht erwiesen. Er erinnerte sich an das gute Gefühl, die größte Gruppe Magier anzuführen, die jemals zusammengefunden hatte. Sie hätten die Tür zu einem neuen Zeitalter aufstoßen können. Unter ihrer Führung hätte die Menschheit alles erreicht… Oder wäre bei dem Versuch untergegangen! Doch das hatte nicht sein sollen. Aber eines Tages… Eines Tages würde die Menschheit erkennen, wie wertvoll Faust für sie war. Dann würde sie zu ihm aufsehen! Er stand auf, um das Teehaus zu verlassen, als es plötzlich in der Luft irrlichterte und die bezaubernde Ylith vor ihm erschien. Faust starrte sie an, ohne daß sich sein Gesichtsausdruck im mindesten veränderte. Er vermutete, daß sie ihm eine Ankündigung von Gut oder
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Böse überbringen würde, und er wollte nichts Derartiges hören. »Nun«, fragte er, »was gibt es?« »Ich habe nachgedacht«, sagte Ylith und zögerte. Sie trug einen langen smaragdgrünen Mantel, der im Empire-Stil geschnitten war. Eine einzelne Perlenkette zierte ihren schlanken Hals, und ihr zurückgekämmtes Haar betonte das Oval ihres Gesichts. Sie fuhr fort. »Ich war einmal eine Hexe in den Diensten der finsteren Mächte, dann bin ich zum Licht übergetreten. Jetzt habe ich festgestellt, daß die beiden Seiten sich in einigen wichtigen Punkten nicht besonders unterscheiden.« »Zweifellos«, entgegnete Faust. »Aber warum erzählst du mir das?« »Weil ich noch einmal von vorn anfangen will«, erklärte Ylith. »Ich will ein neues Leben jenseits von Gut und Böse, und ich dachte an dich, Faust. Ob er nun richtig oder falsch ist, du gehst deinen eigenen Weg. Ich wollte dich fragen, ob du möglicherweise Verwendung für eine Assistentin hast?« Faust betrachtete sie. Sie war hübsch, intelligent, und sie lächelte. Er straffte seinen Rücken und plusterte sich auf. Er konnte fühlen, wie der Faustsche Geist in ihn zurückkehrte. »Ja«, sagte er. »Ich könnte mir vorstellen, daß das eine Sache ist, die uns beide zufriedenstellen wird. Setz dich her, kleine Dame! Bleib einfach! Dies könnte der Beginn eines wunderschönen und endlosen Augenblicks sein.«
ENDE
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