Im 1986 bei Diogenes erschienenen ersten Band seiner Autobiographie, Ambler by Ambler (detebe 21589), läßt sich der Thr...
24 downloads
707 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Im 1986 bei Diogenes erschienenen ersten Band seiner Autobiographie, Ambler by Ambler (detebe 21589), läßt sich der Thrillerautor Ambler nach einem beinahe tödli chen Unfall vom Biographen Ambler auf dem Kran kenbett die Lebensbeichte abnehmen. Er erzählt aus seiner Kindheit im Süden Londons, seiner Zeit als Inge nieur, Werbetexter; von seinen ersten Romanen, darun ter auch so frühe Meisterwerke wie Die Angst reist mit (detebe 20181) und Die Maske des Dimitrios (detebe 20137), berichtet von den Kriegsjahren als Motorrad fahrlehrer, Artillerieoffizier und Verfasser und Regisseur von Kriegsfilmen, vom frühen Erfolg von Filmen wie ›The Mask of Dimitrios‹ und ›Hotel Reserve‹. Mit Peter Ustinov schreibt er ein Drehbuch, mit John Huston dreht er im Kugelregen in Italien einen Kriegsfilm, Carol Reed, der Regisseur des ›Dritten Mannes‹, ist sein Freund und Mentor, mit Humphrey Bogart durchzecht er eine Nacht in Neapel. Unter dem kühlen, durchdrin genden Zugriff Amblers gerät die Beichte unversehens zum Roman. »Ambler by Ambler registriert mit bewährter Genauig keit Personen, Szenen und Skurrilitäten, die sich an die Vita eines gescheiten und weltläufigen Mannes knüpfen. Erzählt wird diese Lebensgeschichte nicht ohne Hu mor.« Der Spiegel, Hamburg »Schon der Anfang von Ambler by Ambler ist wieder ein Ambler-Thriller.« The Daily Telegraph, London »Ein Werk von der Genialität, der Skepsis und Logik ei nes Voltaire.« Julian Symons/Sunday Times, London
Eric Ambler, geboren 1909 in London als Sohn eines Entertainerpaares. Maschinenbaustudium, nebenbei Songs und Sketches für Vaudevilles, in denen er gelegentlich selbst auftritt. Der graduierte Ingenieur wird Werbetexter. 1936 erscheint der erste Roman, Der dunkle Grenzbezirk (detebe 20602); 1937 Direktor einer Werbeagentur; erst 1938, nach dem Erfolg des dritten Romans, Nachruf auf einen Spion (detebe 20605), Aufgabe des bürgerlichen Be rufs. Bis 1940 sechs Romane, darunter das Meisterwerk Die Maske des Dimitrios (detebe 20137), der nächste (Die Angst reist mit, detebe 20181) folgt erst 1951. Dazwischen militärische Karriere, aus der er bei Kriegsende im Rang eines Obersten und als Produktionsleiter der britischen Armee für Lehr-, Propaganda- und Durchhaltefilme eh renvoll entlassen wird. Nach 1945 Filmproduzent für die J. Arthur Rank Organization; zahlreiche Drehbücher, 1953 Oscar-Nomination. 1958 Heirat mit Joan Harrison, Alfred Hitchcocks Produzentin, Wohnung in Hollywood, die 1962 beim Bel-Air-Feuer mitsamt der ersten Fassung seines Romans Topkapi (detebe 20536) verbrennt. Amblers Werk wurde mit zahlreichen internationalen Literarprei sen ausgezeichnet: Edgar Allan Poe Award für Topkapi (detebe 20536) und Doktor Frigo (detebe 20606), Gold Dagger Award für Der Levantiner (detebe 20223). Im Frühling 1982 überlebt Ambler nur knapp einen schwe ren Unfall unweit seines Domizils am Genfersee; im Krankenhaus beginnt er den ersten Band seiner Autobio graphie, der 1986 bei Diogenes unter dem Titel Ambler by Ambler (detebe 21589) erscheint; zehn Jahre danach wagt er mit Wer hat Blagden Cole umgebracht? die lange ver sprochene Fortsetzung vor. Eric Ambler lebt heute wie der in London.
Eric Ambler
Wer hat
Blagden Cole
umgebracht?
Lebens- und
Kriminalgeschichten
Aus dem Englischen von
Matthias Fienbork
Diogenes
Titel der 1993 bei Weidenfeld & Nicolson,
London, erschienenen Originalausgabe:
›The Story So Far. Memories and Other Fictions‹,
Nachweis am Schluß des Bandes.
Umschlagfoto von Lord Snowdon
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 1995
Diogenes Verlag AG Zürich
60/95/24/1
isbn 3 257 06066 1
Inhalt
Nachträgliche Gedanken zu einem Nachruf
9
Anfang Die Armee der Schatten
15
29
Ende des Anfangs Dr. Czissar mischt sich ein Der Fall des Blechmedaillons Der Fall des smaragdgrünen Himmels Der Fall des radfahrenden Chauffeurs Der Fall der überheizten Eigentumswohnung Der Fall des betrunkenen Sokrates Der Fall des Gentleman-Dichters
59
65
81
96
111
126
141
Mitte Der Kuhhandel
157
199
Fortsetzung folgt Wer hat Blagden Cole umgebracht?
223
250
Anhang Personen- und Werkregister Nachweis
305
307
315
Nachträgliche Gedanken zu einem Nachruf
Vor einigen Jahren, als ich noch in der Schweiz lebte, schlug mir mein englischer Verleger George Weidenfeld vor, eine Autobiographie zu schreiben. Er habe gerade mit der Autobiographie eines Dra matikers großen Erfolg gehabt. Ich sei Drehbuchau tor in Hollywood gewesen und hätte außerdem eine Reihe erfolgreicher Thriller geschrieben. Ob ich nicht ernsthaft über seinen Vorschlag nachdenken möchte? Ich dachte nach. Romanautoren, finde ich, sollen gelesen, aber selten gesehen und nur gelegentlich ge hört werden. Sie schreiben Romane, und genau darin liegt die Schwierigkeit, für den populären Unterhal tungsschriftsteller ebenso wie für seine seriöseren Kollegen von der Abteilung E-Literatur. Es wird oft so getan, als seien Leser eines Autors ein Publikum. Falsch. Das Publikum des Autors besteht aus lauter einzelnen Lesern, die, jeder für sich, im stillen Käm merlein den Autor wieder anders erleben. Eine Auto biographie verlangt eine plötzliche Umkehrung der Situation und eine andere Art Aufmerksamkeit des Lesers. Es ist, als würde der Kellner plötzlich einen Stuhl heranziehen und den Gastgeber spielen. An scheinend hat der Autor etwas über sein Leben und 9
seine Zeit zu erzählen, was durch Romanfiguren nicht besser oder fesselnder gesagt werden kann. Den Le sern gefällt das nicht; sie interessieren sich für den Roman, nicht für den Autor. Sie wollen wissen, woran sie bei einem Autor sind. Ist er nun ein Schauspieler, der Geschichten erzählt, ein Entertainer oder ein Selbstdarsteller? Sofern er nicht noch ein anderes Le ben außerhalb der Schriftstellerei führt – eine span nende Vita, mit viel Hokuspokus und berühmten Namen, die man beiläufig erwähnen kann –, sollte sich ein Unterhaltungsschriftsteller zurückhalten. Auto biographien sollte man Leuten aus dem Showgeschäft überlassen, alternden Schurken, die auspacken wollen, und Politikern. Als ich schließlich zu dem vereinbarten Termin nach London fuhr, wo über die vorgeschlagene Auto biographie gesprochen werden sollte, wußte ich, was ich sagen würde. Ich war vertraglich verpflichtet, Weidenfeld noch einen Roman zu liefern. Den würde er zu gegebener Zeit bekommen. Allerdings mußte ich feststellen, daß ich es nicht nur mit Weidenfeld zu tun hatte. Auch John Gross war zu der Besprechung gekommen, ein ehemaliger Redakteur des ›Times Literary Supplement‹, einer Zeitschrift, die ich immer außerordentlich geschätzt habe. Meine Einwände gegen eine Autobiographie gingen mir im großen und ganzen wie geprobt über die Lippen, doch sie klangen mir jetzt eher kleinlaut und defensiv als wohlüberlegt und vernünftig. Gross antwortete, er persönlich habe Weidenfeld geraten, 10
mir den Vorschlag mit der Autobiographie zu ma chen. Die Maske des Dimitrios, fuhr er fort, sei ein Thriller gewesen, der Maßstäbe für das Genre gesetzt habe. Es sei auf seine Weise ein berühmtes Buch. Leser beiderseits des Atlantiks würden gern erfahren, was den Autor veranlaßt habe, dieses Buch zu schreiben. Ob das so überraschend sei? Und hatte ich nicht zehn Jahre in Hollywood gearbeitet? Hatte ich denn nichts Interessantes über diese Zeit zu berichten? Ich hätte die letzte Frage zuerst beantworten sollen. Nein, nichts Interessantes, hätte ich antworten sollen. Das Wort Hollywood erinnerte mich nur noch an das Jahr meines Lebens, das ich damit vergeudet hatte, die historischen Fakten soweit umzuschreiben, daß die kindischen Fantasien Marlon Brandos darin Platz fän den. Statt dessen fühlte ich mich nur geschmeichelt. Akademische Ergüsse über meine frühen Romane war ich gewöhnt, aber das maßvolle Kompliment eines ehemaligen Redakteurs vom ›TLS‹ tat mir wohl. Ich hätte ihn hinhalten, ihm versprechen sollen, daß ich es mir überlegen wolle. Statt dessen sagte ich lahm, daß ich das Buch natürlich schreiben würde. Das Ausmaß meiner Dummheit war nicht sofort zu erkennen. Ich fand eine Möglichkeit, das Buch so an zufangen, daß es sich fast wie ein Thriller las. Das war leicht. Doch dann mußte ich meine Kindheit be schreiben, und es kam nur Blödsinn heraus. Blödsinn in jeder Beziehung. Ich fing noch einmal an. Dioge nes, mein deutschsprachiger Verlag, hatte zu meinem siebzigsten Geburtstag ein kleines Buch über mich her 11
ausgebracht*, das mit alten Familienfotos aus dem Be sitz meiner Schwester illustriert war. Ich hatte Bildun terschriften dazu geschrieben, die die Leser ergötzlich gefunden hatten; sie lockerten das Buch auf. Eine Lockerung, welcher Art auch immer, brauchte ich jetzt dringend. Ich zerriß alles und fing wieder von vorn an. Es gab mehrere mißglückte Anfänge. Ich ackerte weiter, schrieb und überarbeitete, strich und kürzte, erweiterte und komprimierte. Ich haßte das Ding. Wäre es ein Roman gewesen, hätte ich ihn als un durchführbar ad acta gelegt. Da das Buch eine Art Selbstbekenntnis werden sollte, gab es nur zwei plau sible Gründe, den Versuch aufzugeben: Entweder war die wirkliche Erklärung zu banal für Worte, oder ich war der Darstellung nicht gewachsen. Da ich weder das eine noch das andere akzeptieren mochte, blieb mir nichts anderes übrig, als weiterzuarbeiten. Die Schwierigkeiten waren zweifellos heilsam. Sie zwan gen mich, so leidenschaftslos wie nur möglich über meine Entwicklung als Erzähler und über meine Grenzen nachzudenken. Ich glaube aber nicht, daß es mir gelungen ist, mich zu erklären. Am vorgesehenen Wendepunkt des Buches, wo ich kurz und bündig über das Scheitern meiner ersten Ehe berichten wollte, brach ich das Buch ab. Ich hatte genug von mir. * Über Eric Ambler. Zeugnisse von Alfred Hitchcock bis Helmut Heissenbüttel. Zürich: Diogenes 1979, 1989 (detebe 20607)
12
Here Lies (deutsch Ambler by Ambler) wurde freundlich aufgenommen und hatte einen bescheide nen Erfolg. Einigen gefiel die Zweideutigkeit des eng lischen Titels; andere dagegen fanden es irritierend, daß das Buch sozusagen mein letztes Wort zu meiner Person sein sollte, während es doch vom Inhalt her – vor allem, weil meine Hollywood-Jahre nicht vorka men – geradezu nach einer Fortsetzung rief. Zunächst weigerte ich mich schlicht, eine Fortset zung zu schreiben. Mit Nachdruck erklärte ich, daß ich genug hätte und Autobiographien nicht mehr se hen könne, egal ob meine eigene oder die anderer Leute. Niemand glaubte mir. Meine Schilderung der Hollywood-Jahre konnte nicht die übliche Story des durchreisenden, erfolglosen Engländers sein. Immer hin hatte ich dort zehn Jahre gelebt und gearbeitet. Über die Beziehung zwischen dem Schriftsteller und der Filmindustrie konnte ich natürlich einiges sagen, aber Hollywood spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Was mir vorschwebte, war ein Buch über das Drehbuchschreiben in der Art von C. E. Montagues A Writer’s Notes on his Trade. John Gross hätte das be stimmt verstanden, doch leider war er inzwischen wo anders. Als Peter Lewis, der für einen amerikanischen Verlag eine Studie über mein Werk schrieb, sich er kundigte, wie es mit der Arbeit vorangehe, an der ich gerade saß, konnte ich nicht leugnen, daß sie autobio graphische Elemente habe, oder so tun, als würde ich wieder einen Roman schreiben. Die Fortsetzung von Ambler by Ambler führte allmählich ein Eigenleben. 13
Als ich kürzlich Julian Symons anrief, um ihn zu fra gen, wer mich vor vierzig Jahren für den Detection Club vorgeschlagen habe, wollte er wissen, warum das wichtig sei. Ich versuchte, ihm mein Buch zu erklären: »Aha!« sagte er. »Endlich die Fortsetzung.« Es ist keine Fortsetzung. Es ist eine Sammlung von neun Erzählungen, die in den letzten sechzig Jahren entstanden sind. Schwerlich ein Lebenswerk, und ei nige haben sich auch nicht besonders gut gehalten. Aber in ihrer Gesamtheit lassen sie eine Erzählstruk tur erkennen, die ich immer sehr überzeugend gefun den habe: Anfang, Mitte und Ende. Die Geschichten gehören zu den Orten und in die Zeit und Situation, in der sie entstanden sind. Ich habe also, statt ihre Mängel zu korrigieren, den jeweiligen Abschnitt meines Lebens beschrieben, in den sie ge hören. Wenn irgendwo in der Mitte das Wort Holly wood auftaucht, so bezieht sich das nicht nur auf den so benannten Stadtteil von Los Angeles, sondern auch auf die geistige Atmosphäre, die dort einmal herrsch te. Das war in der Zeit des Schwarzweißfilms, der Studiogiganten, des üblen Starsystems und der vielen Drehbuch- und Regietalente, die aus Mitteleuropa dorthin kamen – lange vor der Erfindung des Satelli tenfernsehens.
Anfang
Meine schriftstellerische Karriere hat in der Textab teilung einer Werbeagentur angefangen. Bei anderen Unterhaltungsschriftstellern jener Zeit scheint es ähn lich gewesen zu sein. In der schlimmen Rezession der frühen dreißiger Jahre konnte ein junger, agiler Schreiberling mehr Geld in der Werbebranche verdie nen als auf der mühsamen Karriereleiter des lebendig sten Provinzblattes und seine eigenen Texte auch sehr viel eher gedruckt sehen. Unter seriösen Menschen galt Werbung damals na türlich als einigermaßen zweifelhafter Beruf; dafür hatten Romane wie H. G. Wells’ Der Traum und Ro se Macaulays Potterism gesorgt. Heute, da unter den stillen Dienern, die den Lenkern des Staatsschiffes als Ghostwriter und anderweitig helfend zur Seite stehen, auch Werbe- und pr-Leute anzutreffen sind, hat die Branche die Ausstrahlung, die von einem arrivierten Proletarierkind zu erwarten ist. Der Vater dieses Kin des, den ich noch kannte, mag wohl keine maßge schneiderten Anzüge getragen haben, doch sein Lä cheln war entschieden sympathischer. Kürzlich mußte ich an ihn denken, als ich von einem alten Freund ge fragt wurde, ob es stimme, daß die Textabteilungen der großen Londoner Werbeagenturen in den dreißi 17
ger Jahren Brutstätten des Kommunismus gewesen seien. Ich hielt das für einen Witz und lachte, aber er hatte es ernst gemeint und zählte sie alle auf: die Marxisten in Cambridge, die Pazifisten in Oxford, Harry Pollitt, John Strachey und die ersten Bücher des Left Book Club. Da erinnerte ich mich, daß er einige Jahre jün ger war als ich und die Unterwelt, in der ich und die meisten anderen Texter der großen Agenturen gear beitet hatten, nicht kannte. Ich mußte ihn an die Ko alitionsregierung von Ramsay MacDonald erinnern und an die Protestmärsche von Tyneside, an die Angst der Leute, den Arbeitsplatz zu verlieren und keinen Shilling für die Gasheizung übrig zu haben. In der Werbung wurde damals von solchen Dingen natürlich nicht gesprochen. Unsere ökonomische Sicherheit gründete auf Optimismus, höheren Werbeetats, Wachstum. Wir sahen uns die Anzeigen in den Mor genzeitungen an, aber unsere eigentliche Lektüre war der ›Evening Standard‹. Dort zog David Low über die Politiker her, Arnold Bennett besprach Bücher, und W. R. Inge, der Dekan von St. Paul’s, verteilte reihum seine Tadel und Breitseiten. Gewiß, die meisten von uns führten ein Doppelleben, das heißt, wir versuch ten, uns eine zweite Karriere außerhalb der Werbung aufzubauen, aber niemand von uns engagierte sich po litisch. Diese nominelle zweite Karriere sollte natür lich die drohende Arbeitslosigkeit in der ersten auf fangen, aber nicht nur das. Ganz verachteten wir un sere Brotarbeit nämlich durchaus nicht. In einer er 18
folgreich entwickelten und durchgeführten Kampa gne, beispielsweise den Marktanteil eines Babynah rungsartikels zu steigern, konnte tatsächlich eine ge wisse Befriedigung liegen. Wenn sie jener Befriedi gung ähnelte, die ein Strafverteidiger verspürt, der für einen zahlungskräftigen Schurken einen Freispruch erwirkt – was war schon dabei? Für die Einwände der Moralisten hatten wir dieselbe Antwort parat wie er. Wir waren legal beschäftigte Mittelsmänner; Fachleu te, die sich gern nonkonformistisch gaben, wie Star verteidiger oder Charakterschauspieler. Nicht alle von uns wollten Unterhaltungsromane schreiben. In der ersten Textabteilung, in der ich arbei tete, gab es zwei Exzentriker. Der eine war ich – ich wollte avantgardistische Theaterstücke in der Art Ernst Tollers schreiben –, der andere war ein angehender Geistheiler, der nach Feierabend als Assistent bei einer Heilerin mit einer gutgehenden Praxis in Holland Park fungierte, von der er in die Mysterien ihres Handwerks eingeführt wurde. Ich habe vergessen, wie er hieß. Von den literarisch Ambitionierten schien anfangs Robin Fedden am ehesten Erfolg zu versprechen, aber später wurde er Kunsthistoriker. Cecil Maiden veröffentlichte als erster von uns einen Roman, und er schrieb auch Kurzgeschichten für Hochglanzmagazine. Er war ein überzeugter Anhänger der Christian Scientists und ein großer Liebhaber der Musik von Rutland Boughton. An den Wochenenden saß er oft mit seiner Frau vor dem Grammophon und hörte The Immortal Hour – eine deprimierende Oper. Das Büro, in dem wir arbei 19
teten, war der europäische Ableger einer amerikani schen Agentur in Chicago, und unsere großen Kun den waren hauptsächlich amerikanische Firmen. Stän dig verfolgten wir die neuesten amerikanischen Ver brauchergewohnheiten, deren Übergriffe auf England von uns aufmerksam registriert und bisweilen sogar vorweggenommen wurden. Gerald Butler, zum Bei spiel, war der Vorbote der Sex-and-Crime-Story in England, und zwar mit einem Roman, der den Titel Kiss the Blood Off My Hands trug. Der Titel war eine Spur kesser als das Buch; Butler war ein begabter Er finder von Slogans. Einer unserer Kunden, ein Mie derwarenproduzent, gab für Anzeigen in den Mode zeitschriften viel Geld aus. Mit ein paar geschickten Formulierungen brachte Butler es fertig, daß ein ge wöhnlicher Elastikschlüpfer so aufreizend klang wie die Dessous von Coco Chanel. Der älteste von uns, Philip Taylor, war schon in den Vierzigern; er hatte eine Sommeschlacht mit einer Schützengrabenneurose überlebt, war ein Choleriker und übler Stotterer. Fast ein Jahr lang hatten wir ein gemeinsames Büro, und wenn wir uns etwas mitteilen wollten, kritzelten wir es auf einen Zettel. Das war leichter für ihn, als endlos zu stottern, und ich paßte mich ihm an. Einmal, als ich hastig eine Antwort hinschreiben wollte und dabei die Bleistiftmine zerbrach, nahm er mir den Zettel weg und schrieb darauf: »Schrei nicht so.« Zu meiner Er leichterung lachte er dann. Wir verstanden uns gut, weil wir uns außerhalb der Arbeit nie sahen und nie über etwas anderes sprachen als über das Theater. 20
Heimlich dichtete er, schrieb Kalauer und zotige Wit ze für Nachtclubentertainer. Seine Arbeit in der Agentur war besser bezahlt. Er war vielleicht ein An archist, aber kein Kommunist. In unserer Agentur hatte sich noch niemand einen literarischen Namen gemacht. Am ehesten traf das noch für Dorothy L. Sayers zu, die als Texterin in einer Konkurrenzfirma ein paar Straßen weiter arbeitete. Ihr etwas verstiegener Amateurdetektiv Lord Peter Wimsey war in den besse ren Leihbibliotheken schon weithin bekannt. Es war Maiden, der mir vorschlug, statt deprimie render Theaterstücke über mißglückte Selbstmorde kurze Erzählungen zu schreiben. Unbekannte Büh nenautoren hätten es ohnehin schwer. Der Markt für Kurzgeschichten dagegen boome. Und durch das Schreiben von Erzählungen würde ich mit der Zeit das Schreiben von Romanen lernen. Ich wußte schon, daß letzteres nicht stimmte. Die Erzählung war eine eigenständige Form, nicht eine Vorstufe zu Höherem. Ich hatte mich noch nicht an Erzählungen versucht, weil ich nur die Schwierigkei ten dieses Genres sah. In einem Einakter konnte ich sie bewältigen. Sobald man aber begann, Maiden sol che Schwierigkeiten zu erklären, kämpfte man bald gegen Mary Baker Eddy und Mauern aus Baumwolle. Abgesehen davon konnte Maiden zum Beweis für sei ne Argumente mehrere veröffentlichte Romane an führen. Also nahm ich seinen Rat an. Was er mir riet, war im Grunde normale Praxis in der Textabteilung. Wenn man Anzeigen für einen 21
Kunden entwerfen mußte, für den man noch nie gear beitet hatte, schaute man zuerst in die »Mappen« oder ließ sie sich bringen. Das waren große Hefter, in denen alle früheren Werbekampagnen eines Kunden vollstän dig dokumentiert waren. Man sah, was andere Kolle gen produziert hatten, und versuchte nun, sich etwas anderes, aber nicht allzu radikal anderes einfallen zu lassen. Dieses Mal waren es jedoch nicht die »Map pen«, die ich mir bringen ließ, sondern Belegexemplare der Kurzgeschichtenmagazine und Groschenhefte. Ich bekam mehr, als ich tragen konnte. Es war die große Zeit der Zeitschriftenverlage, un ter anderem der Amalgamated Press. Vierzig Jahre später wurde ermittelt, daß die AP in den dreißiger Jahren insgesamt zweiunddreißig wöchentlich er scheinende Hefte zu jeweils ein paar Pennies heraus brachte, die Fortsetzungsromane in den Zeitungen nicht mitgerechnet. Detektivgeschichten gab es kaum. Das beherrschende Thema war Aschenputtel, aller dings in leicht abgewandelter Form. Der Königssohn war meist Angestellter oder Abteilungsleiter, Aschen puttel arbeitete in einer Fabrik oder als Tippse in ei nem großen Büro, und die häßlichen Schwestern wurden von einer egoistischen, verwitweten Mutter verkörpert, die an Hexenschuß litt und heimlich trank. Die gute Fee konnte jeder sein, vom Aushilfs gärtner bis zum Kapellmeister des örtlichen Vergnü gungsetablissements. Es machte wenig Spaß, diesen ganzen Blödsinn durchzuackern, und ich hätte gar nicht erst versuchen 22
sollen, derlei zu imitieren. Ein guter Werbetexter zeichnet sich dadurch aus, daß er mit möglichst wenig Worten viel sagen kann, und zwar klar und verständ lich. Witz oder ein besonderer Stil waren weder ange bracht noch gefragt und auch nur schlecht kopierbar. Aber die Sache lockte mich. Ich schrieb drei Geschichten im Stil jener Roman zen, wie sie der ›Home Companion‹ brachte, und redete mir ein, daß sie ganz gut seien. Auch Maiden fand sie ganz gut und beschloß, sie seiner Agentin zu schicken. Sie würde sie zweifellos für mich verkaufen. Ich fühlte mich ermutigt. Maidens Agentin arbeite te für eine der besseren literarischen Agenturen jener Zeit. Sie wollte mich sprechen. Ich weiß nicht mehr, wie sie hieß. Nach jahrelangen Bemühungen, ihren Namen zu vergessen, ist mir das offenbar auch gelun gen. Am Strand, fast schon Fleet Street, waren zwei Agenturen. Ich war in die kleinere bestellt. Be schwingt machte ich mich auf den Weg. Die Frau war hübsch, mit gepflegtem Bubikopf und langen Ohrringen. Sie lächelte mir wohlwollend zu, während ich mich setzte. Dann nahm sie die drei Er zählungen, die vor ihr auf dem Schreibtisch lagen, hob sie hoch und ließ sie wieder fallen, als wollte sie sehen, ob sie wie ein Pingpongball hüpften. Als das nicht pas sierte, wurde ihr Lächeln etwas dünner. »Sie glauben wahrscheinlich, es ist Schund«, sagte sie. »Vielleicht ist es das. Jedenfalls ist es kein publi zierbarer Schund. Ihr macht einen Fehler, ihr cleveren jungen Leute. Ihr glaubt, ihr könnt den Massenge 23
schmack treffen. Ihr glaubt, Schund ist leicht zu schreiben. Irrtum. Pseudoschund kann man leicht schreiben. Aber echten Schund zu schreiben, ist schwer. Dafür braucht man eine besondere Ader und leider auch ein gewisses Talent. Diese Storys beweisen nur, daß Sie parodieren können. Stimmen Sie mir zu?« »Ich hatte mich schon gefragt, warum Sie mich überhaupt sprechen wollten.« »Dazu komme ich noch. Eigentlich wollen Sie gar keine Erzählungen schreiben, stimmt’s?« »Nein, eigentlich nicht.« Mir fiel es nicht mehr schwer zu lügen. »Gut, ich hatte es mir gedacht. Kennen Sie Cecil Maidens Frau?« »Ja. Ich war mal übers Wochenende eingeladen.« »Hübsche Person. Aber sie ist zu nachsichtig. Das Problem ist, daß Cecil sich in gutaussehende junge Männer verguckt und ihnen einredet, daß sie schrei ben können.« Sie lächelte süß. »Ich glaube, bei den Edwardianern hieß das literarische Verführung. Ich weiß nicht, wie man heutzutage dazu sagt. Vielleicht fällt Ihnen ja was ein.« Sie lächelte nicht mehr und hielt die drei Manuskripte hoch. »Wollen Sie sie zu rückhaben?« »Nein, danke.« Sie ließ sie in den Papierkorb neben ihrem Schreib tisch fallen. »Schön, daß Sie vorbeigeschaut haben. Sa gen Sie Cecil, daß ich Sie für vielversprechend halte. Er wird schon verstehen.« Aber ich stand schon an der Tür und verließ das 24
Zimmer. Draußen auf der Straße glaubte ich einen Moment, mich übergeben zu müssen, ging dann in ei nen Lyons und trank eine Tasse Tee. Erst viele Jahre später konnte ich hier wieder entlanggehen, ohne daß sich mir bei der Erinnerung daran der Magen umdreh te. In der Teestube schwor ich mir, nie wieder eine Erzählung zu schreiben. Statt dessen schrieb ich einen anachronistischen Thriller über einen kleinen osteuropäischen Staat, dem es gelingt, eine Atombombe zu bauen. Der Roman er schien 1936. Das war das Jahr, in dem der spanische Bürgerkrieg ausbrach und in dem viele Menschen, so gar Werbetexter, darüber nachdachten, wie der näch ste Krieg aussehen würde. Plötzlich wurde mir klar, worüber ich schreiben konnte. Bis zum Sommer 1939 hatte ich fünf Thriller geschrieben, und ich lebte ohne finanzielle Sorgen in Paris. Mein fünftes Buch war Die Maske des Dimitrios, es sollte in London als Buch des Monats im ›Daily Mail‹ abgedruckt werden. Der betreffende Monat war jedoch der August 1939, für Bücher und auch sonst kein besonders guter Monat in Europa. Damals gab es nur eine berühmte Harry’s Bar außerhalb Italiens, und die war in Paris, in der Rue Blanche, unterhalb von Bricktop’s, dem anderen freundlichen Nachtclub in der Nähe der Me trostation Pigalle. Meine Freundin war Louise Crom bie, Modezeichnerin, geboren in Portland (Oregon), geschieden; sie arbeitete in Paris, um ihre Kinder, die in New Jersey lebten, zu ernähren. Am Abend des Zweiundzwanzigsten tranken wir Brandy und Soda 25
und versuchten, uns darüber klar zu werden, ob wir die Komplikationen einer angloamerikanischen Ehe nach französischem Gesetz auf uns nehmen oder wei ter ohne staatlichen oder kirchlichen Segen zusam menleben wollten. Es würde Krieg geben, aber was für einen Krieg? Wer würde auf der Seite der Verbün deten stehen, die gegen Hitler kämpften? Auf der Suche nach den neuesten Nachrichten gin gen wir in jener Nacht in die Harry’s Bar. Dort kam kurz nach Mitternacht immer ein Zeitungsverkäufer mit den Frühausgaben vorbei. Und so erfuhren wir also in dieser Nacht die schreckliche Nachricht von der Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes zwischen Hitlerdeutschland und der Sowjetunion. Ich erinnere mich noch an den Schock dieses Au genblicks und an die Unruhe, die uns plötzlich erfaß te. Ich sympathisierte mit der Volksfront, jenem kurz lebigen Bündnis der europäischen Linken gegen den Faschismus, der sich ruchlos und unaufhaltsam, wie eine mittelalterliche Pest, über die im Versailler Ver trag festgeschriebenen Grenzen hinwegsetzte. Wie viele andere glaubte ich, daß das Münchner Abkom men vom Vorjahr eine katastrophale Demütigung ge wesen war, doch wir hatten auch geglaubt, daß sich die Sowjetunion letzten Endes an die Seite Frank reichs und Englands stellen würde, um mit ihnen zu sammen dem gemeinsamen Feind Einhalt zu gebieten. Plötzlich war Licht auf der Bühne, und man sah, wie der Held mit dem Schurken ins Bett stieg. Damals wußten wir natürlich noch nicht, daß der von Molo 26
tow und Ribbentrop unterzeichnete Vertrag nicht bloß den Nazis freie Hand gab, sich die ehemaligen deutschen Gebiete wieder einzuverleiben; heimlich war außerdem die Teilung Polens und die Abtretung der baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland an die Sowjetunion verabredet worden. Aber es reich te, daß Stalin und Hitler überhaupt einen Vertrag ab geschlossen hatten. Der Krieg, seit langem unaus weichlich, würde zweifellos ein totaler Krieg sein. Einige Tage später fuhren wir nach London. Wir wollten heiraten, so schnell das nach britischem Ge setz möglich war. Louise würde dann zwei Staatsbür gerschaften und, wenn sie das wollte, sogar zwei Pässe haben. Bis zur Hochzeit würden aber noch einige Wochen vergehen. Es wurde Zeit, mir zu überlegen, wie ich mich am Krieg beteiligen wollte. Ich war drei ßig, und wenn ich wartete, bis meine Altersgruppe eingezogen würde, landete ich mit Sicherheit auf ei nem stumpfsinnigen Posten. Lieber sich freiwillig melden, sagte ich mir und beschloß, einen Bekannten anzusprechen, der, wie ich annahm, Kontakt zu höch sten Stellen hatte. Es war tatsächlich so, und mit seiner Hilfe stand mein Name bald auf einer Liste von Frei willigen für die Marine. Ich mußte dann nur noch das tun, was alle anderen auf dieser Liste auch tun mußten – auf eine entsprechende Vorladung warten. Alle, so schien es, warteten auf irgendwelche Befehle. Alle, nur mein Verlag nicht. Der hatte von der Londoner Stadtverwaltung den Auftrag erhalten, so schnell wie möglich einen Sonderband herauszubrin 27
gen, der überall im britischen Empire zugunsten des Roten Kreuzes verkauft werden sollte. Das Ergebnis war The Queen’s Book of the Red Cross, ein Buch von etwa dreihundert Seiten, mit einer faksimilierten Bot schaft der Königin und Beiträgen von fünfzig Autoren und Künstlern. Es war ein teures Buch mit einem schönen Leineneinband, reich mit Farblithographien und Photogravüren illustriert und mit Beiträgen von Schriftstellern wie Hugh Walpole, Daphne du Maurier und A. A. Milne, Dichtern wie T. S. Eliot und John Masefield und Illustratoren wie Laura Knight, Rex Whistler und Mabel Lucie Atwell. Das erstaunlichste aber war, wie schnell das Buch produziert wurde. Vom Startschuß für die Autoren bis zum fertig ge bundenen Buch vergingen nicht mehr als zwei Mona te. Die Kriegsfurien können die ungewöhnlichsten Aktionen veranlassen. Die Erzählung, die ich, meinem Vorsatz zum Trotz, keine weiteren Kurzgeschichten zu schreiben, für die sen Band schrieb, war Die Armee der Schatten. Ich arbeitete zügig und ohne die üblichen Unsicherheiten. Ich hatte etwas zu sagen, das laut oder unverblümt zu sagen bald sehr viel schwieriger sein würde: daß näm lich nicht das deutsche Volk unser Feind war, sondern die Nazityrannei, der sich allzu viele von ihnen un terworfen hatten. Wo konnte man das besser sagen als in einem Buch, das mit königlichem Segen erscheinen würde?
Die Armee der Schatten
Vor drei Jahren hat Llewellyn mir den Blinddarm herausgenommen, aber hin und wieder sehen wir uns noch. Ich hin entfernt mit seiner Frau verwandt – das zumindest ist die Ausrede für unsere Bekannt schaft. In Wahrheit hat sich während meiner Rekonvales zenz herausgestellt, daß wir die gleiche Musik mögen. Wenn vor dem Krieg irgendwo Sibelius gespielt wurde, trafen wir uns meistens und gingen gemeinsam hin. Ich war daher ein wenig verwundert, als er vor etwa drei Wochen anrief und mich zum Essen bei sich zu Hause einlud. Ich wußte, daß an dem Abend in Lon don kein Konzert stattfand, sagte aber zu, mich durch die verdunkelte Stadt zu schlagen und kurz vor acht in der Wimpole Street zu sein. Erst beim Brandy nach dem Essen fand ich heraus, warum ich eingeladen worden war. »Erinnerst du dich«, sagte Llewellyn plötzlich, »daß ich letztes Jahr eine Woche in Belgrad war? Ich habe deswegen Beecham und die Zweite verpaßt. Es war einer dieser internationalen Medizinerkongresse, bei dem ich unseren Verband vertreten habe. Du weißt ja, mein Deutsch ist ganz passabel. Ich bin mit dem Auto gefahren. Züge kann ich nicht ausstehen. Jedenfalls, 29
auf der Rückfahrt ist mir etwas sehr Komisches pas siert. Habe ich dir davon erzählt?« »Nein.« »Ich dachte es mir schon. Naja,« – er lachte unsicher – »es war so komisch, jetzt wo Krieg ist, daß ich die ganze Geschichte spaßeshalber aufgeschrieben habe. Vielleicht könntest du so nett sein, einen professionel len Blick darauf zu werfen. Ich habe versucht« – wie der lachte er – »etwas richtig Literarisches daraus zu machen. Eine Art Erzählung.« Seine Hand, die er hinter der Sessellehne verborgen hatte, kam nun mit einem Packen maschinengeschrie bener Blätter zum Vorschein. »Ich habe es getippt«, sagte er und legte mir den Stapel auf die Knie. Und dann, mit einem theatrali schen Blick auf die Uhr: »Meine Güte, es ist schon zehn. Ich muß noch telefonieren. Entschuldige bitte, ich bin gleich wieder da.« Ehe ich den Mund aufmachen konnte, war er schon aus dem Zimmer, und ich saß allein mit dem Manu skript da. Ich nahm es in die Hand. Es trug den Titel ›Eine merkwürdige Begegnung‹. Mit einem Seufzer legte ich das Deckblatt beiseite und begann, ziemlich gereizt, zu lesen: Im Winter ist das Stilfserjoch zugeschneit, und jeder vernünftige Mensch, der Ende November von Bel grad nach Paris fährt, nimmt lieber den Umweg über Mailand statt zu riskieren, durch einen vorzeitigen 30
Wintereinbruch festgehalten zu werden. Doch ich hatte es eilig und ließ es darauf ankommen. In Bozen bereute ich meinen Entschluß schon. Es war bitter kalt, und ein bleierner Himmel lag vor mir. In Meran erwog ich ernsthaft umzukehren. Doch fuhr ich wei ter, so schnell ich nur konnte. Wäre ich halbwegs bei Verstand gewesen, hätte ich vor dem wirklich kriti schen Abschnitt der Paßstraße noch einmal getankt. Laut Benzinuhr hatte ich noch fünfundzwanzig Liter. Ich wußte, daß sie nicht genau anzeigte, aber ich hatte am Morgen getankt und rechnete mir aus, daß es bis Sargans reichen müßte. In meiner Nervosität hatte ich nicht bedacht, daß etliche Kilometer vor mir lagen, die ich im zweiten oder ersten Gang würde fahren müssen. Auf der schweizerischen Seite, dort, wo die Straße Richtung Sargans damals unweit der neuen deutschen Reichsgrenze verlief, kam der Wagen stot ternd zum Stehen. Eine Weile saß ich da, schimpfend und fluchend, und fragte mich, was ich tun konnte. Ich wußte, daß meilenweit außer mir niemand unterwegs war. Es war etwa acht Uhr, sehr dunkel und sehr kalt. Abgesehen von dem leisen Knistern des abkühlenden Motors und dem Rauschen des Windes in den Bäu men war nichts zu hören. Im Scheinwerferlicht sah ich, daß die Straße vor mir eine Rechtskurve machte. Ich holte die Karte heraus und versuchte festzustellen, wo ich mich befand. Ich erinnerte mich, daß ich nach Klosters durch ein Dorf gekommen war, das etwa zehn Kilometer hinter 31
mir liegen mußte. Ich mußte also entweder zehn Ki lometer zurück bis zu diesem Dorf laufen oder aber zum nächsten Dorf vor mir, je nachdem, welches nä her lag. Ich schaute auf die Karte. Sie war eines von diesen nutzlosen Dingern, die den Autofahrern ver kauft werden. Zwischen Klosters und Sargans war kein Ort verzeichnet. Das nächste Dorf konnte fünf zehn oder zwanzig Kilometer vor mir liegen. Wenn man in seinem Auto übernachten will, sollte man sich dazu nicht gerade eine Alpenstraße Ende No vember aussuchen. Ich beschloß daher, in die Richtung zurückzulaufen, aus der ich gekommen war. Ich hatte eine Schachtel italienischer Wachsstreich hölzer dabei. Nach meiner Schätzung waren etwa hundert Stück in der Schachtel, und wenn ich alle hundert Meter eines anzündete, würden sie bis zum Dorf reichen. Diese Berechnung hatte ich im Umkreis der Scheinwerfer angestellt. In größerer Entfernung, als ich das Licht nicht mehr sehen konnte, sah die Sache schon anders aus. Fast schmerzhaft drückte die Dun kelheit auf meinen Augenhintergrund. Ich konnte nicht einmal die Straße sehen, auf der ich entlangging. Nur das Rauschen und der Harzgeruch sagten mir, daß ich von Tannenbäumen umgeben war. Nach zwei Kilometern hatte ich nur noch sechs Streichhölzer. Dann fing es an zu schneien. Ich sage »schneien«. Es war Schnee, aber die Straße nach Sargans lag unterhalb der Schneegrenze, und so kam das Zeug als halbgefrorener Matsch herunter, der 32
mir über das Gesicht lief und zwischen Mantelkragen und Hals hinunter sickerte. Etwa zwei Kilometer weiter wurde es dann richtig unangenehm. Die sechs Streichhölzer hatte ich zwar noch, aber mit meinen steifen Fingern konnte ich sie nicht aus der Schachtel holen, ohne daß sie naß wur den, und so war ich, immer wieder von der Straße ab kommend, blind vorwärtsgestolpert. Ich überlegte ge rade, ob mir das Gehen leichter fiele, wenn ich ein Lied singen würde, als ich gegen einen Telegrafenmast lief. Er war aus Beton, und die Kante war scharf wie ein Rasiermesser. Mein Gesicht war ebenso kalt und ge fühllos wie meine Hände, und ich spürte nicht viel mehr als eine gehörige Erschütterung. Aber ich schmeckte Blut an den Lippen und merkte, daß meine Nase blutete. Als ich den Kopf in den Nacken legte, um die Blutung zu stillen, sah ich das Licht, und mir schien, als hinge es irgendwo über mir in der Luft. Es hing nicht in der Luft und auch nicht über mir. Im Dunkeln verliert man den Sinn für Entfernungen. Nach ein paar Sekunden erkannte ich, daß das Licht rechts oben am Berghang durch die Bäume schien. Jeder, der eine so unangenehme Situation schon einmal erlebt hat, weiß genau, was in diesem Moment in mir vorging. Ich überlegte nicht, woher dieses gott verlassene Licht kam oder ob sein Besitzer über mei nen Anblick erfreut wäre. Ich war durchnäßt und fror, meine Nase blutete, und es wäre mir egal gewesen, wenn mir jemand gesagt hätte, daß hinter dem Licht 33
ein Verrückter mit einer Maschinenpistole stand. Ich wußte nur soviel: Das Licht bedeutete, daß in meiner Nähe eine menschliche Behausung war und daß ich dort die Nacht verbringen konnte. Ich wechselte auf die andere Straßenseite über und tastete mich an dem Drahtzaun, den ich dort fand, voran. Etwa zwanzig Meter weiter berührten meine Hände ein Holzgatter. Das Licht war nicht mehr zu sehen, aber ich stieß das Gatter auf und ging weiter in die Dunkelheit hinein. Der Boden unter meinen Füßen stieg steil an. Ich ging auf einer Art Pfad, und bald stieß ich auf eine Holztreppe. Es müssen über hundert Stufen gewesen sein. Dann kam abermals ein Stück Weg, nicht ganz so steil. Als ich das Licht wieder sah, war ich nur noch zwanzig Meter davon entfernt. Es kam von einer Petroleumlampe, die an einem Fenster stand. Aus der Form des Fensters und dem Schein der Lampe schloß ich, daß es ein kleines Chalet war, wie es im Sommer oder während der Skisaison an Familien vermietet wird. Daß es Ende November be legt war, kam mir merkwürdig vor. Aber ich dachte nicht weiter darüber nach: Ich hatte durch das Fen ster, neben der Lampe, noch etwas anderes gesehen. Der flackernde Schein eines Kaminfeuers erfüllte das Zimmer. Ich ging weiter bis zur Tür. Es gab keinen Klopfer. Ich hieb mit der Faust auf das nasse, lackierte Holz und wartete. Drinnen war nichts zu hören. Ich klopfte erneut. Noch immer kein Lebenszeichen. Ich klopfte 34
und wartete mehrere Minuten. Mir war kalt. Verzwei felt packte ich den Türriegel und rüttelte heftig. Im nächsten Moment gab er nach, und die Tür ging knar rend einen Spaltbreit auf. Ich glaube, daß ich einen normalen, gesunden Re spekt vor dem Eigentum und der Privatsphäre meiner Mitmenschen habe, doch in diesem Moment fühlte ich mich weder normal noch gesund. Der Besitzer des Häuschens konnte nicht sehr weit sein. Unschlüssig stand ich eine Weile da. Ich roch das brennende Ka minholz und registrierte auch einen bitteren, öligen Geruch, der mir irgendwie bekannt vorkam. Doch ich dachte nur an das Feuer. Ich zögerte nicht länger und ging hinein. Kaum war ich eingetreten, sah ich, daß etwas an diesem Ort sehr ungewöhnlich war und daß ich hätte warten sollen. Der Raum selbst war durchaus gewöhnlich. Er war größer, als ich erwartet hatte, aber er hatte die übli chen holzverkleideten Wände, die üblichen Holzdie len, die übliche Holztreppe, die in das Obergeschoß führte, und den üblichen gekachelten Kamin. Es gab auch die üblichen Tische und Stühle; gedrechselt und kitschig bemalt, wie man sie manchmal in englischen Teestuben findet. Vor den Fenstern hingen rotweiß ka rierte Gardinen. Man ahnte, daß der Vermieter noch viele ähnliche Häuser hatte und daß er gut an ihnen verdiente. Nein, ungewöhnlich war das, was hinzugefügt worden war. Alle Möbelstücke hatte man in die eine 35
Hälfte des Zimmers geräumt, in der anderen stand, auf einem Stück Linoleum und offenbar viel benutzt, eine Druckerpresse. Es war eine kleine Tiegeldruckpresse, wie sie von Akzidenzdruckern für die Herstellung von Reklame zetteln verwendet werden. Sie sah sehr alt und klappe rig aus. Neben ihr auf einem Zeichentisch standen ein Setzkasten und eine kleine Probepresse mit einer ge schlossenen Form. Auf einem zweiten Tisch lag ein Stapel Papier und daneben ein Stapel gefalteter Papie re. Gefaltet wurde augenscheinlich per Hand. Ich nahm einen dieser gefalteten Bögen. Er sah wie einer dieser länglichen, schmalen Pro spekte aus, wie sie in Reisebüros ausliegen. Die Vor derseite zeigte, in blaßblauer Farbe, einen Linolschnitt von einem tannenbestandenen Seeufer und darunter das Wort Titisee. Seite zwei und die gegenüberliegen de Seite boten eine rhapsodische Beschreibung der Schönheiten des Schwarzwalds im allgemeinen und des Titisees im besonderen. Ich legte den Prospekt wieder hin. Deutsche Frem denverkehrsprospekte ausgerechnet in einer unzu gänglichen Schweizer Berghütte zu drucken, erschien mir merkwürdig, aber ich hatte keine Lust, mir über diese Merkwürdigkeit den Kopf zu zerbrechen. Ich fror und wollte mich am Kamin wärmen. Da fiel mein Blick auf fünf Wörter, die in fetten Druckbuchstaben auf einem der ungefalteten Bögen prangten, die auf dem Tisch lagen: »Deutsche Män ner und Frauen, Kameraden!« 36
Ich blieb stehen. Ich erinnere mich, daß mein Herz plötzlich wie wild gegen meine Rippen pochte, wie schon einmal an diesem Tag, als mich am Stilfserjoch irgendein Verrückter in seinem Hispano fast von der Straße gedrängt hatte. Ich beugte mich vor, nahm das Faltblatt wieder in die Hand und klappte es ganz auf. Die Botschaft be gann auf der zweiten der drei Innenseiten. »Deutsche Männer und Frauen, Kameraden! Wir sprechen zu euch mit der Stimme der deutschen Demokratie und sagen euch, wie es steht. Weder die Propaganda der Nazis noch die Gestapo können uns zum Schweigen bringen, denn wir haben einen Ver bündeten, dem kein Folterknecht etwas anhaben kann, einen Verbündeten, den in der Geschichte der Welt noch niemand hat besiegen können. Dieser Verbündete ist die Wahrheit. Hier also, deutsches Volk, ist die Wahrheit, die euch vorenthalten wird. Vernehmt sie, vergeßt sie nicht und verbreitet sie. Je eher die Wahrheit bekannt wird, desto eher wird Deutschland erhobenen Hauptes in den Kreis der freien Nationen der Welt zu rückkehren können.« Es folgte eine Art Nachrichtenübersicht, hauptsäch lich Fakten und Zahlen (vor allem Zahlen) zur wirt schaftlichen Lage Deutschlands. Berichtet wurde auch über einen Streik bei den Essener Kruppwerken und über Unruhen in einer Hamburger Werft. Ich legte das Blatt wieder hin. Jetzt war mir klar, warum diese »Reiseprospekte« nicht in Deutschland gedruckt wurden, sondern in einer abgelegenen 37
Schweizer Berghütte. Kein deutscher Eisenbahnbeam ter würde sie verteilen. Das würden sehr viel verwe genere Männer tun. Diese Faltblätter würden nicht auf den Schaltern von Reisebüros verstauben. Man würde sie in Zugabteilen und Straßenbahnen finden, in Om nibussen und geparkten Autos, in Wartesälen und in Restaurants unter dem Teller und in der Serviette. Ei nige der Verteiler würden geschnappt werden und un ter Folter die Namen ihrer Kameraden preisgeben, doch die Aktion würde weitergehen. Die Faltblätter würden gelesen, vielleicht heimlich diskutiert. Etwas mehr von der Wahrheit würde durch Goebbels’ Lü genmauer dringen und die morschen Fundamente der Naziherrschaft weiter zersetzen. Während ich noch dastand, den Geruch von bren nendem Holz und Druckerschwärze in der Nase, und diese kleine, klapprige Maschine anstarrte, als wäre sie die Stimme der Freiheit, hörte ich draußen Schritte. Ich hätte einfach stehenbleiben sollen. Schließlich hatte ich eine hervorragende Erklärung für meine Anwesenheit. Mein Auto und die blutende Nase hät ten meine Geschichte bestätigt. Aber mir gingen ande re Dinge durch den Kopf. Ich war auf ein Geheimnis gestoßen, und mein erster Impuls war, dies vor dem Besitzer des Geheimnisses zu verbergen. Diesem Im puls gehorchte ich. Ich blickte mich rasch um und sah die Treppe. Ehe ich überlegen konnte, ob ich nicht doch eine Dumm heit machte, stürmte ich schon die Treppe hoch und öffnete oben die erste Tür. Im Halbdunkel erkannte 38
ich flüchtig ein Bett; ich trat ein und ließ die Tür einen Spaltbreit offen stehen. Mein Blick fiel über den Treppenabsatz und durch das Holzgeländer auf das Fenster im unteren Zimmer. Ich wußte, daß jemand hereingekommen war: ich konnte die Schritte hören. Er zündete eine zweite Lampe an. Von der Tür her kam ein Geräusch, und eine zweite Person trat ein. Eine Frauenstimme sagte auf deutsch: »Gott sei Dank hat Johann es hier schön warm gemacht.« Der andere antwortete mit einem Grunzer. Ich spürte förmlich, wie sie sich die Hände wärmten. »Mach Kaffee, Frieda«, sagte der Mann plötzlich. »Ich muß bald wieder los.« »Aber Bruno ist doch dort. Ruh dich ein bißchen aus.« »Bruno ist aus Berlin. Er ist die Kälte nicht so ge wöhnt wie ich. Wenn Kurt jetzt kommen würde, wär er müde. Bruno könnte sich nur um sich selbst küm mern.« Für einen Moment war Stille. Dann sprach die Frau wieder. »Glaubst du wirklich, daß er noch kommt, Stefan? Es ist schon so spät.« Sie hielt inne. Ihre Stimme hatte sorglos geklungen, bemüht sorglos. »Ich bin ganz ruhig, Stefan.« Sie klang jetzt doch ein wenig angespannt. »Ich möchte es ja glauben, aber es ist schon so spät. Du glaubst doch selbst nicht, daß er noch kommt, gib’s zu.« Er lachte, aber etwas zu fröhlich. »Du bist zu ner vös, Frieda. Kurt kann auf sich aufpassen. Inzwischen 39
kennt er alle Tricks. Vielleicht hat er auf den ersten Schnee gewartet. In einer solchen Nacht sind die Grenzer nicht so wachsam.« »Er müßte schon seit einer Woche zurück sein. Das weißt du so gut wie ich, Stefan. Er hat sich noch nie so verspätet. Sie haben ihn erwischt. Das ist es. Du siehst, ich kann ganz ruhig bleiben, obwohl es mein lieber Mann ist.« Aber dann zitterte ihre Stimme. »Ich wußte es, früher oder später mußte es ja passieren. Ich wußte es. Zuerst Hans, dann Karl, und jetzt Kurt. Diese Schweine, diese …« Sie seufzte und brach plötzlich in lautes Weinen aus. Hilflos versuchte er, sie zu trösten. Ich hatte genug gehört. Ich zitterte am ganzen Leib, aber ich weiß nicht, ob es die Kälte war. Ich löste mich von der Tür. In diesem Moment hörte ich hinter mir ein Geräusch. Beim Hineinschlüpfen in das Zimmer hatte ich das Bett zwar bemerkt, aber auf den Gedanken, daß je mand darin liegen könnte, war ich nicht gekommen. Ich drehte mich um und wußte, daß ich einen schwe ren Fehler gemacht hatte. Auf dem Bettrand saß ein ganz dünner, älterer Mann im Nachthemd. In dem schwachen Licht, das vom Flur hereinfiel, konnte ich seine verschlafenen Augen sehen und die angegrauten Haare, die lustig und wirr von seinem Kopf abstanden. Ich hätte ge lacht, wenn er nicht etwas in der Hand gehalten hätte, eine große automatische Pistole, die er auf mich rich tete. Seine Hand zitterte kein bißchen. 40
»Keine Bewegung!« sagte er, und dann laut: »Ste fan! Komm schnell!« »Ich muß mich entschuldigen …«, begann ich auf deutsch. »Sie dürfen später sprechen.« Ich hörte, wie Stefan die Treppe heraufgestürmt kam. »Was gibt’s, Johann?« »Komm her.« Die Tür hinter mir flog auf. Ich hörte ein Keuchen. »Wer ist das?« »Weiß ich nicht. Ich bin von einem Geräusch wachgeworden. Ich wollte gerade aufstehen, als dieser Mann ins Zimmer kam. Er hat mich nicht gesehen. Er hat eure Unterhaltung belauscht. Er muß die Drucke rei untersucht haben, als er euch zurückkommen hör te.« »Wenn ich bitte erklären dürfte …« »Kommen Sie mit hinunter!« sagte der Mann, der Stefan hieß. »Gib mir die Pistole, Johann.« Die Pistole wechselte den Besitzer, und ich konnte Stefan jetzt sehen, einen schlanken, grobknochigen Burschen mit breiten Schultern und gefährlichen Au gen. Er trug einen schwarzen Kleppermantel und Gummistiefel. Seine Backenmuskeln verhärteten sich. »Nehmen Sie die Hände hoch und gehen Sie hinun ter. Langsam. Wenn Sie laufen, schieße ich sofort. Los!« Ich stieg hinunter. Die Frau, die Frieda hieß, stand an der Tür und 41
starrte mich ausdruckslos an, während ich die Treppe hinunterkam. Sie muß etwa dreißig gewesen sein und hatte den gleichen weichen, matronenhaften Zug wie viele junge deutsche Frauen. Sie war klein und füllig, und das strohblonde Haar war, wie um das Gesicht zu betonen, um den Kopf geflochten. Einzelne Strähnen hatten sich gelöst und klebten naß am Hals. Auch sie trug einen schwarzen Kleppermantel und Gummistie fel. Die grauen Augen waren vom Weinen gerötet und verquollen und sahen an mir vorbei. »Wer ist das, Stefan?« »Er hatte sich oben versteckt.« Wir waren am Fuß der Treppe angekommen. Der Mann schickte mich mit einer Handbewegung zum Kamin, weg von der Tür. »So, jetzt können Sie sich erklären.« Ich entschuldigte mich vielmals. Ich gab zu, daß ich die Faltblätter studiert und eines gelesen hatte. »Mir schien«, sagte ich abschließend, »daß Ihnen meine Anwesenheit nicht recht sein könnte. Ich wollte gera de gehen, als Sie zurückkamen. Dann habe ich leider die Nerven verloren und versucht, mich zu verstek ken.« Sie glaubten mir sichtlich kein Wort. »Ich versichere Ihnen«, beteuerte ich verzweifelt, »meine Angaben …« »Aus welchem Land sind Sie?« »Ich bin Engländer.« »Sprechen Sie also Englisch! Was wollten Sie hier in der Gegend?« 42
»Ich bin auf dem Heimweg von Belgrad. Ich habe gestern die jugoslawische Grenze passiert und heute nachmittag am Stilfserjoch die italienische Grenze. Mein Reisepaß wurde beide Male gestempelt, wenn Sie …« »Wieso waren Sie in Belgrad?« »Ich bin Chirurg. Ich habe dort an einem interna tionalen Ärztekongreß teilgenommen.« »Darf ich Ihren Paß sehen?« »Natürlich. Ich habe …« Ich faßte in die Innentasche und verstummte. Das Herz schlug mir bis zum Hals. In meiner Eile, nach der italienischen Zollkontrolle möglichst rasch wei terzukommen, hatte ich den Paß zusammen mit mei nem Notizbuch in die Tasche an der Tür gesteckt. Sie beobachteten mich mit ausdruckslosen Gesich tern. Und als meine Hand leer wieder hervorkam, hob Stefan seine Pistole. »Ja?« »Mein Paß …« Idiotischerweise war ich wieder ins Deutsche zurückgefallen. »Ich habe ihn im Wagen ge lassen. Er steht ein paar Kilometer von hier auf der Straße. Wenn …« Da brach es aus der Frau heraus, als könnte sie es nicht mehr ertragen, mir zuzuhören. »Verstehst du nicht? Verstehst du nicht?« rief sie. »Es ist sonnenklar. Sie haben herausgefunden, daß wir hier sind. Nach all den Monaten haben Hans oder Karl unter der Folter vielleicht gestanden. Und Kurt haben sie jetzt auch, und diesen Mann haben sie losge 43
schickt, uns auszuspionieren. Es ist doch klar. Be greifst du denn nicht?« Sie drehte sich plötzlich um, und ich dachte schon, sie würde auf mich losgehen. Da legte Stefan eine Hand auf ihren Arm. »Ruhig, Frieda.« Dann wandte er sich wieder mir zu, und sein Gesicht wurde hart. »Verstehen Sie, mein Freund, was in uns vorgeht? Wir wissen, in welcher Gefahr wir sind. Daß wir auf Schweizer Boden sind, wird uns nicht schützen, wenn die Gestapo uns ent deckt. Die Nazis scheren sich wenig um Grenzen, die Gestapo schon gar nicht. Sie würden uns hier genauso skrupellos umbringen, wie sie es im Reich tun wür den. Wir unterschätzen sie nicht. Daß Sie kein Deut scher sind, ist nicht bewiesen. Vielleicht sind Sie ein Engländer, vielleicht auch nicht. Wenn ja, um so bes ser. Wenn nicht, dann werden Sie erschossen, ich sage es Ihnen gleich. Sie behaupten, daß Ihr Paß im Wagen ist, mehrere Kilometer von hier. Leider haben wir heute nacht nicht die Zeit, das zu überprüfen. Wir können Sie auch nicht die ganze Nacht bewachen. Sie haben Johann schon aus dem ersten Schlaf gerissen, den er in vierundzwanzig Stunden hatte. Es bleibt uns keine andere Wahl. Es ist würdelos und barbarisch, aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Wir müssen Sie fesseln, damit Sie nicht weglaufen können.« »Mein Gott, das ist doch absurd«, rief ich wütend. »Natürlich ist es ganz allein meine Schuld, aber Sie könnten so viel Anstand haben …« »Das ist keine Frage des Anstands«, sagte er streng, 44
»sondern der Notwendigkeit. Wir haben heute nacht keine Zeit für lange Fußmärsche. Ein Kamerad von uns hat unseren Freunden in Deutschland ein Paket dieser Faltblätter geliefert. Wir hoffen und glauben, daß er heute nacht über die Grenze zurückkehren wird. Er braucht vielleicht unsere Hilfe. Bei solchem Wetter ist der Weg über die Berge ziemlich anstren gend. Frieda, bring mir ein Stück von dem Bindfaden, mit dem wir die Pakete verschnüren.« Ich wollte etwas sagen, aber die Wut verschlug mir die Sprache. In meinem ganzen Leben war ich noch nie so wütend gewesen. Sie brachte die Schnur, dickes, graues Zeug. Er nahm sie und gab Johann die Pistole. Dann kam er zu mir. Ich glaube, daß ihnen die Sache genauso unange nehm war wie mir. Er war ein bißchen bleich gewor den und sah mir nicht in die Augen. Ich war wohl auch bleich im Gesicht, aber bei mir war es die Wut. Er legte mir die Schnur um einen Unterarm. Ich wehr te mich. »Es ist besser, wenn Sie sich fügen«, sagte er barsch. »Um Ihnen die peinliche Situation zu ersparen? Das hätten Sie gern! Sie werden schon Gewalt anwen den müssen, mein Lieber. Aber keine Sorge. Sie wer den sich schon daran gewöhnen. Aus Ihnen wird mal ein guter Nazi. Schlagen Sie mich doch einfach zu sammen!« Das letzte bißchen Farbe wich aus seinem Gesicht. In diesem Moment war meine Wut fast verflogen. Der 45
arme Kerl tat mir leid. Ich glaube wirklich, ich hätte mich von ihm fesseln lassen sollen, wer weiß, doch da hielt er mitten in der Bewegung inne. Die Frau hörte das Geräusch zuerst – jemand, der den Pfad entlangkam. Im nächsten Moment flog die Tür auf. Stefan hatte sich umgedreht. »Bruno! Was ist los? Warum bist du nicht in der Hütte?« Der Mann war völlig außer Atem und konnte über haupt nicht sprechen. Sein Gesicht, das über dem re gennassen Mantel herausguckte, war vor Kälte blau angelaufen. Dann stieß er keuchend hervor: »Kurt ist in der Hütte! Er ist schwer verwundet!« Die Frau stöhnte leise auf und schlug die Hände vors Gesicht. Stefan packte den anderen bei den Schultern. »Was ist passiert? Sag schon!« »Es war dunkel. Die Schweizer haben ihn nicht ge sehen. Es war eine von unseren Patrouillen. Sie haben ihn angeschossen, als er schon auf der Schweizer Seite war. Er hat eine Schenkelverletzung. Er ist bis zur Hüt te weitergekrochen, aber er kann nicht weiter. Er …« Aber Stefan hörte schon nicht mehr zu. Er wandte sich um. »Johann, zieh dich sofort an. Bruno, du nimmst die Pistole und bewachst diesen Mann. Er ist hier eingebrochen. Er könnte gefährlich sein. Frieda, hol den Kognac und das Jod. Kurt wird beides ge brauchen können.« Er selbst ging zu einer Kommode und holte ein paar Taschentücher heraus, die er fieberhaft in Streifen 46
riß und zusammenband. Bruno, noch immer außer Atem, hatte die Pistole an sich genommen und starrte mich stirnrunzelnd an. Dann kam die Frau mit einer Flasche Kognac und einem Fläschchen Jod, wie es zum Betupfen von kleineren Schnittwunden benutzt wird, aus der Küche zurück. Stefan stopfte beides und auch die zusammengeknoteten Taschentücher in seine Taschen. Dann rief er die Treppe hinauf: »Beeil dich, Johann, wir sind fertig!« Ich konnte es nicht mehr mitansehen. Berufskrank heit vermutlich. »Hat einer von euch schon mal eine Schußverlet zung verarztet?« fragte ich laut. Sie starrten mich an. Stefan sah Bruno an. »Wenn er sich bewegt«, sagte er, »dann schießt du.« Und dann wieder laut: »Johann!« »Ich komm’ ja schon«, schallte es von oben herun ter. Ich ließ nicht locker. »Ist Ihnen klar, daß er, falls Sie ihn lebend hierherbekommen, was ich bezweifle, da Sie offensichtlich nicht wissen, was Sie tun, sofort ärztlich versorgt werden muß? Glauben Sie nicht, daß einer von Ihnen einen Arzt holen sollte? Ach so, der Arzt würde wegen der Schußwunde natürlich Fragen stellen, stimmt’s? Er würde es der Polizei melden.« »Wir werden ihn schon pflegen«, brummte er. »Jo hann! Beeil dich!« »Eigentlich schade«, sagte ich nachdenklich, »daß ein tapferer Mann sterben soll, bloß weil seine Freun de so töricht sind.« Und dann verlor ich die Selbstbe 47
herrschung. »Sie verdammter Idiot!« brüllte ich. »Hö ren Sie zu. Wollen Sie den Mann umbringen? Sie scheinen es ja darauf angelegt zu haben. Ich bin Chir urg, und hier ist ein Chirurg gefragt. Packen Sie den Kognac wieder aus, den brauchen wir nicht. Das Jod auch. Und diese Stoffetzen. Haben Sie zwei, drei sau bere Handtücher?« Die Frau nickte dumpf. »Dann holen Sie sie bitte, und zwar schnell. Und Sie haben etwas von Kaffee gesagt. Haben Sie eine Thermoskanne? Gut. Dann werden wir sie mitneh men. Tun Sie reichlich Zucker hinein. Ich brauche au ßerdem Decken. Drei reichen, aber sie müssen trok ken bleiben. Wir benötigen eine Trage. Beschaffen Sie zwei Stangen oder Besenstiele und zwei alte Mäntel. Wenn wir die Stangen durch die Ärmel stecken, haben wir eine Behelfstrage. Und nehmen Sie die Schnur. Aus ihr kann man Gurte für die Trage machen. Und beeilen Sie sich! Der Mann verblutet vielleicht. Ist es weit?« Der Mann warf mir einen finsteren Blick zu. »Vier Kilometer. In einer Berghütte diesseits der Grenze.« Er trat vor und packte meinen Arm. »Wenn Sie uns reinlegen wollen …«, fing er an. »Ich denke nicht an Sie«, gab ich zurück, »sondern an einen Mann, der sich mit einer Kugel im Ober schenkel und mit rührendem Vertrauen in seine Freunde dahinschleppt. Und jetzt holen Sie die Stan gen, beeilen Sie sich.« Sie beeilten sich. Binnen drei Minuten war alles da. 48
Auf meinen Vorschlag überließ man mir den Mantel und die Gummistiefel des erschöpften Bruno. Dann wickelte ich mir eine der Decken unter dem Mantel um die Taille und forderte Stefan und Johann auf, es mir gleichzutun. »Ich nehme die anderen Sachen«, erklärte die Frau. »Sie«, sagte ich, »bleiben bitte hier.« »Nein«, sagte sie entschlossen und richtete sich dabei ein wenig auf. »Ich komme mit. Ich werde ganz ruhig sein. Sie werden sehen.« »Trotzdem«, sagte ich ziemlich hart. »Hier sind Sie nützlicher. Wir brauchen ein Bett, das am Kamin be reitsteht. Wir brauchen heiße Backsteine und viele Decken. Außerdem werde ich abgekochtes und ko chendes Wasser benötigen. Sie haben doch hoffentlich genügend Kochsalz?« »Jawohl, Herr Doktor, aber …« »Wir verschwenden kostbare Zeit.« Zwei Minuten später waren wir aus der Tür. Ich werde diesen Aufstieg nie vergessen. Er begann etwa einen Kilometer weiter an der Straße unterhalb des Chalets. Zuerst ging es auf schmalen Waldwegen entlang, die mit Tannennadeln bedeckt und im Regen furchtbar rutschig waren. Nach etwa einer halben Stunde Fußmarsch blieb Stefan, der mit einer Sturmla terne vornweg ging, stehen. »Ich muß hier das Licht ausmachen«, sagte er. »Die Grenze ist nur noch drei Kilometer entfernt, und die Wachen patrouillieren bis in eine Tiefe von zwei Ki lometer. Sie dürfen uns nicht sehen.« Er blies das 49
Licht aus. »Drehen Sie sich um«, sagte er dann. »Sie werden ein anderes Licht sehen.« Ich sah es, tief unter uns, ein kleiner Punkt. »Das ist unser Licht. Wenn wir von Deutschland zurückkommen, sehen wir es von der anderen Seite der Grenze aus, und dann wissen wir, daß wir bald zu Hause sind und daß unsere Freunde warten. Halten Sie sich jetzt an meinem Mantel fest. Um Johann hin ter Ihnen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Er kennt den Weg. Hier entlang, Herr Doktor.« Es war das erste Zeichen, daß er beschlossen hatte, mich als denjenigen zu akzeptieren, für den ich mich ausgegeben hatte. Mir war schleierhaft, wie man sich auf diesem Weg zurechtfinden konnte. Bald ging es nicht mehr auf Tannennadeln, sondern auf felsigem Geröll entlang, und der Weg wand sich wie eine verwundete Schlan ge. Der Wind hatte nachgelassen, aber es war doch kälter geworden, und ich stapfte durch verkrusteten, halbgefrorenen Schneematsch. Ich bezweifelte, daß wir einen Verwundeten auf einer improvisierten Trage jemals würden hinunterschaffen können. Etwa zwanzig Minuten waren wir ohne Licht vor angestolpert, als Stefan stehenblieb und die Lampe, vor die er schützend seinen Mantel hielt, wieder anzündete. Ich sah, daß wir angekommen waren. Die Berghütte war auf einen Felsvorsprung gebaut. Der Raum war etwa sechs mal sechs Meter groß, und der Mann lag ausgestreckt da, mit dem Gesicht auf dem Boden. Unter ihm hatte sich eine große Blutlache 50
ausgebreitet. Er war halb bewußtlos. Die Augen wa ren geschlossen, aber er murmelte etwas, während ich nach seinem Puls tastete. »Wird er es schaffen?« flüsterte Stefan. Ich wußte es nicht. Der Puls war da, aber er war schwach und schnell. Der Atem ging flach. Ich sah mir die Wunde an. Die Kugel war auf der Innenseite des linken Oberschenkels eingedrungen, knapp un terhalb der Lende. Die Wunde blutete, doch die Oberschenkelarterie war offensichtlich nicht getroffen und, soweit ich das erkennen konnte, der Knochen unversehrt. Aus einem Handtuch machte ich einen Verband, den ich mit einem zweiten Handtuch fest band. Die Kugel konnte warten. Die unmittelbare Ge fahr war der Schock und außerdem die Unterkühlung. Mit den Decken und der Thermoskanne machte ich mich an die Arbeit. Bald ging der Puls etwas kräftiger, und nach etwa einer halben Stunde erklärte ich den anderen, wie sie die Trage bauen sollten. Ich weiß nicht mehr, wie sie ihn in der Dunkelheit auf dem Pfad hinunterschafften. Ich hatte selber genug Schwierigkeiten mit dem Abstieg. Es schneite, große weiche Flocken, die einen beim Gehen blendeten. Ich rechnete schon damit, daß sie ausrutschen und die Trage fallen lassen würden, doch es passierte nichts. Wir kamen aber nur langsam voran und brauchten gut vierzig Minuten, bis wir zu der Stelle kamen, wo die Lampe wieder angezündet werden konnte. Danach konnte ich mit anfassen. Am Fuß des Pfa des, der zum Chalet führte, ging ich mit der Laterne 51
voraus. Die Frau hörte meine Schritte und kam zur Tür. Ich schätzte, daß wir etwa drei Stunden unter wegs gewesen waren. »Sie bringen ihn«, sagte ich. »Er wird durchkom men. Ich brauche jetzt Ihre Hilfe.« Sie sagte: »Das Bett ist fertig.« Und dann: »Ist es ernst, Herr Doktor?« »Nein.« Ich wollte ihr noch nicht sagen, daß eine Kugel entfernt werden müßte. Es war eine üble Sache. Die Wunde selbst war nicht so schlimm. Die Kugel konnte nicht viel Durch schlagskraft gehabt haben, denn sie saß vor dem Kno chen, ohne viel Schaden angerichtet zu haben. Es wa ren die Instrumente, die die Arbeit erschwerten. Sie kamen aus der Küche. Der Mann ertrug es nicht be sonders gut, kein Wunder. Mir war selbst etwas blü merant, als ich fertig war. Der Kognac leistete dann doch noch gute Dienste. Gegen fünf schlief der Mann endlich ein. »Es wird ihm bald besser gehen«, beruhigte ich Frieda, der Tränen über die Wangen rollten. Da erst fiel mir ein, daß sie ja keine Krankenschwester, son dern seine Frau war. Johann tröstete sie. Stefan kam zu mir. »Wir sind Ihnen sehr dankbar, Herr Doktor«, sagte er. »Ich muß mich für unser Verhalten heute abend ent schuldigen. Wir sind nicht immer so roh gewesen. Kurt war früher Professor für Zoologie. Johann war Buch drucker. Ich war Architekt. Jetzt schleichen wir uns nachts wie Verbrecher über Grenzen. Man hat uns wie 52
Tiere behandelt, und so leben wir wie Tiere. Manchmal vergessen wir, daß wir einmal zivilisierte Menschen wa ren. Wir müssen Sie um Verzeihung bitten. Ich weiß nicht, wie wir uns erkenntlich zeigen können für das, was Sie getan haben. Wir …« Aber ich war zu müde für Ansprachen. Ich lächelte ihm rasch zu. »Als Honorar möchte ich nur noch ein Glas Ko gnac haben und ein Bett, in dem ich ein paar Stunden schlafen kann. Übrigens würde ich empfehlen, daß Sie später einen Arzt holen, der sich den Patienten an sieht. Er wird ein kleines Fieber zu behandeln haben. Sagen Sie ihm, der Mann sei auf seine Axt gefallen. Er wird Ihnen nicht glauben, aber er wird keine Kugel finden, die ihn neugierig machen könnte. Ach ja, und wenn Sie etwas Benzin für meinen Wagen auftreiben könnten …« Es war fünf Uhr nachmittags und fast schon wieder dunkel, als Stefan mich weckte. Während er ein großes Tablett mit Essen neben dem Bett abstellte, berichtete er, daß der Arzt dagewesen sei, die Wunde versorgt und ein Rezept ausgestellt habe und wieder gegangen sei. Mein Auto warte, voll betankt, unten an der Stra ße auf mich, falls ich noch am selben Tag nach Zürich weiterfahren wolle. Kurt sei wach, man könne ihn ein fach nicht dazu bringen, einzuschlafen, ehe er mir nicht gedankt habe. Alle standen um das Bett, als ich die Treppe her unterkam. Bruno hatte offenbar als einziger etwas ge schlafen. 53
Er sprang auf. »Da kommt der Doktor, Kurt«, rief er lachend. »Er wird dir das Bein abschneiden.« Nur die Frau lachte nicht über den Witz. Kurt selbst lächelte, als ich mich über ihn beugte und ihn ansah. Er war ein jungenhaft wirkender Mann von etwa vierzig, mit klugen braunen Augen und einer hohen, breiten Stirn. Das Lächeln verschwand aus sei nem Gesicht, als er mich ansah. »Wissen Sie, was ich Ihnen sagen möchte, Herr Doktor?« Ich flüchtete mich in professionelle Schroffheit. »Je weniger Sie sagen, desto besser«, sagte ich und griff nach seiner Hand, um den Puls zu fühlen. Aber seine Finger bewegten sich, und er berührte meine Hand. »England und das Dritte Reich«, sagte er, »werden bald Krieg gegeneinander führen. Aber Sie werden nicht gegen Deutschland kämpfen. Vergessen Sie das nicht, Herr Doktor. Nicht gegen Deutschland. Deutschland, das sind Menschen wie wir, und wir wer den, auf unsere Weise, an der Seite Englands kämpfen. Sie werden sehen.« Kurz darauf fuhr ich los. Um neun Uhr abends war ich in Zürich. Llewellyn war wieder ins Zimmer gekommen. Ich leg te das Manuskript hin. Er sah mich fragend an. »Sehr interessant«, sagte ich. »Ich hatte schon überlegt, es an eine der Zeitschrif ten einzuschicken, die Kurzgeschichten veröffentli 54
chen«, sagte er entschuldigend. »Ich wollte aber erst deine Meinung hören. Was hältst du davon?« Ich räusperte mich. »Tja, schwer zu sagen. Wie ge sagt, sehr interessant. Aber die Geschichte hat eigent lich keine Pointe. Sie fällt irgendwie auseinander.« »Ja, ich verstehe, was du meinst. Der Schluß ist ziemlich dünn. Aber es ist wirklich so passiert.« Er guckte enttäuscht. »Ich glaube nicht, daß ich ein Ende erfinden könnte. Eigentlich schade, was? Es ist näm lich alles wahr.« »Ja, war schade.« »Naja, jedenfalls vielen Dank, daß du es gelesen hast. Komische Geschichte. Ich habe sie eigentlich nur zum Spaß aufgeschrieben. Magst du noch einen Brandy?« Er stand auf. »Ach, fast hätte ich es vergessen. Etwa eine Woche nach Kriegsausbruch habe ich von diesen Leu ten wieder gehört. Ein Brief. Wo hab ich ihn nur hin gelegt, ach ja.« Er stöberte eine Weile in einer Schublade herum, reichte mir dann einen Brief herüber und holte die Brandyflasche. Der Umschlag trug eine Schweizer Briefmarke, die am 4. September 1939 in Klosters abgestempelt war. Er lag schwer in der Hand. Ich zog den Inhalt heraus. Es sah wie ein Reiseprospekt aus, der zusammenge faltet war, damit er in den Umschlag paßte. Das er klärte auch das Gewicht. Ich strich ihn glatt. Die Vor derseite zeigte einen Linolschnitt einer Tannengruppe am Ufer eines Sees und das Wort Titisee. Ich klappte den Prospekt auf. 55
»Deutsche Männer und Frauen, Kameraden!« Die Buchstaben waren abgenutzt und beschädigt. »Hitler hat euch in den Krieg geführt. Er hat euch mit Lügen über das anständige polnische Volk hin ters Licht geführt. In eurem Namen hat er einen Akt brutaler Aggression begangen. England und Frankreich haben daraufhin Deutschland den Krieg erklärt, und, Kameraden, sie haben Recht und Ge rechtigkeit auf ihrer Seite. Hitler und der National sozialismus sind die wahren Feinde des Friedens in Europa. Als wahre Deutsche kämpfen wir auf der Seite der Demokratien gegen Hitler, gegen den Na tionalsozialismus. Hitler kann diesen Krieg nicht gewinnen. Aber das deutsche Volk muß handeln. Alle Deutschen, Katholiken, Protestanten und Ju den müssen nun handeln. Unsere tschechischen und slowakischen Freunde weigern sich schon, für Hitler Kanonen zu bauen. Stellen wir uns auf ihre Seite. Vergeßt nicht …« Ich war im Begriff, bis zum Ende zu lesen, als ich den Brief sah, der dem Prospekt beigelegt und nun auf den Teppich gefallen war. Ich hob ihn auf. Er bestand aus ein paar getippten Teilen auf einem ansonsten leeren Blatt Papier. Wir grüßen Sie, Herr Doktor. Wir haben Ihre Adresse aus dem Notizbuch in Ihrem Wagen und schreiben Ihnen, um Ihnen alles Gute zu wünschen. Kurt, Stefan und Bruno haben seit unserer Begeg 56
nung viele Reisen gemacht und sind jedesmal wohl behalten zurückgekehrt. Heute reist Kurt ab. Wie immer beten wir für ihn. Diesem Brief legen wir Jo hanns neueste Arbeit bei, damit Sie sehen, daß Kurt Ihnen die Wahrheit gesagt hat. Wir gehören zur Armee der Schatten. Wir kämpfen nicht für Sie ge gen unsere Landsleute, sondern mit Ihnen gegen den Nationalsozialismus, unseren gemeinsamen Feind. Auf Wiedersehen,
Frieda, Kurt, Stefan, Johann und Bruno Llewellyn stellte mein Glas auf das Tischchen neben mir. »Nimm dir eine Zigarette! Was hältst du davon? Nett von ihnen, nicht?« sagte er. »Sentimentale Bur schen, diese Deutschen.«
Ende des Anfangs
Die Armee der Schatten entstand unter großem Termindruck, und meine Eile ist der Geschichte noch heute anzumerken. Mit etwas mehr Zeit hätte ich sie lebendiger machen können, und sie würde sich weni ger wie eine John-Buchan-Story anhören. Dennoch erwies sich die Arbeit, und vielleicht auch der Abga betermin, als eigentümlich stimulierend. Zum ersten Mal seit jenem Abend in der Harry’s Bar und der Nachricht von dem schändlichen Pakt hatte ich das Gefühl, daß es mit dem Schreiben vielleicht doch noch nicht zu Ende war. Ich wartete zwar auf ein Angebot der Navy und mochte keinen neuen Roman anfangen, den ich dann möglicherweise nicht mehr vollenden könnte, schrieb aber eisern jeden Tag, eine Praxis, die ich mir zu eigen gemacht hatte und die mir Halt gab. Als meine Agentin berichtete, daß die Wochenzeit schrift Sketch sechs Detektivgeschichten von mir bringen wollte, war ich sofort einverstanden. Vorschnell? Vermutlich. Ich hatte noch nie versucht, eine Detektivgeschichte zu schreiben, hatte aber die großen Meister des Genres gelesen, ihren beängstigenden Einfallsreichtum bewundert und die etwas absurden »Regeln« ihres Handwerks beklagt, die die frühen Pala dine des Detection Club aufgestellt hatten. G. K. Che 61
stertons Geschichten von Pater Brown hatte ich mit großem Vergnügen gelesen, nicht zuletzt deswegen, weil der Autor seinen Detektiv unverschämterweise mit ei nem privaten Draht zu Gott ausgestattet hatte. Jeder Gehversuch, den ich in diese Richtung unternahm, wür de natürlich weniger phantasievoll sein, aber zumindest konnte er handwerklich überzeugen. Ich konnte es mir nicht leisten, die Leser zu hintergehen. Meine Plots mußten funktionieren. In derselben Woche erhielt ich die Aufforderung, mich in Zimmer Soundsoviel des Admiralitätsgebäu des vorzustellen. Ich fuhr hin. Es war furchtbar. Mein Bekannter im Ministerium hatte mich in eine Liste Freiwilliger eingeschrieben, die als Kommandanten von Minensuchbooten in der Nordsee eingesetzt wer den konnten. Vorausgesetzt wurden Erfahrung mit Hochseejachten, Mitgliedschaft in einem anerkannten Segelclub sowie Navigationskenntnisse. Der Offizier, der mich befragte, war ein höflicher Hund mit einem herablassenden Grinsen. Ich hätte sie alle beide um bringen können, ihn und diesen Bekannten von mir, die dachten, daß alle Schriftsteller über dreißig Hob bysegler sind oder sein sollten. Statt dessen lief ich wutentbrannt über den Trafalgar Square zur Charing Cross Road. Dort kaufte ich mir eine antiquarische Ausgabe von Taylors Principles and Practice of Medi cal Jurisprudence, das damalige Standardwerk der Ge richtsmedizin und ein Vademecum für Mörder. Das Werk bestand aus zwei Bänden. Der erste be handelte »Todesfälle durch äußere Gewalteinwir 62
kung«, sprich Schläge, Striche, Strangulation, Feuer, Schußwunden und andere schwere Verletzungen. Der zweite Band handelte ausschließlich von Vergiftun gen. Ein paar Tage Herumschmökern lieferten mir das technische Rüstzeug für sechs hübsche, kleine Mord geschichten; sechs kleine Rätsel mit sechs Lösungen, die kurz und ohne ausführliche Analysen von Alibis erklärt werden konnten. Gefragt war jetzt ein passen der Meisterdetektiv. Er mußte sich in kleine Ge schichten einfügen. Seine Auf- und Abtritte mußten einem klaren Schema folgen. Er mußte erkennbar in unsere Zeit gehören. Kurz und gut, es mußte ein Flüchtling her. Vorlage für meinen Detektiv, den tschechischen Emigranten Dr. Czissar, waren zwei lebende Perso nen, die vor den Nazis geflohen waren. Beide hatte ich vor dem Krieg kennengelernt; der eine war ein Prager Redakteur, der andere ein deutscher Historiker, der als Halbjude seine Professorenstelle verloren hatte. Der lange Regenmantel und der Regenschirm, den der Protagonist wie ein Gewehr trug, waren Bühnenre quisiten, die ich während der Arbeit an der ersten Ge schichte erfand. Da der Historiker eine berühmte Ge schichte der deutschen Wehrmacht geschrieben hatte, schien es naheliegend, meinen Detektiv in preußisch soldatischer Manier auftreten zu lassen. Dr. Czissar mischt sich ein entstand in der Zeit zwi schen der Absage der Navy und der barschen Zu rückweisung durch die Royal Air Force – »Was zum Kuckuck sollen wir mit einem dreißigjährigen Schrift 63
steller? Versuchen Sie’s bei der Army!« Louise Crombie und ich heirateten auf dem Standesamt unse res Bezirks. Pikant wurde die Zeremonie durch eine Insiderinformation, die wir besaßen. Man rechnete damit, daß bei dem ersten schweren Luftangriff auf London etwa fünftausend Personen in unserem Stadt teil ums Leben kommen würden, und der Mann, der uns traute, hatte bereits zusammenklappbare Mehr zwecksärge bestellt, die, unter unseren Füßen sozusa gen, im Keller des Rathauses lagerten. Ich meldete mich zu einem Erste-Hilfe-Kurs für Krankenträger.
Dr. Czissar mischt sich ein
Der Fall des Blechmedaillons
Es war ein kalter und deprimierender Winternach mittag, als Dr. Jan Czissar beschloß, mit seiner eigen tümlichen Art und seinem eigentümlichen Englisch in das Leben von Kommissar Mercer von Scotland Yard einzutreten. Mercer war erkältet, deprimiert und er trank in Arbeit. Wäre Dr. Czissar nicht mit einem Empfehlungsschreiben eines der »hohen Tiere im In nenministerium« erschienen, wie Sergeant Flecker es nannte, hätte er den Kommissar überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Der Brief war kurz. Nach den üblichen Einlei tungsfloskeln erklärte das hohe Tier, daß Dr. Czissar bis September 1938 ein hoher Beamter der tschechi schen Polizei gewesen sei, daß er in England ein will kommener Gast sei und daß der Kommissar so freundlich sein möge, Dr. Czissar in jeder nur denk baren Weise zu unterstützen. Erst viel später, als es schon keine Rettung mehr für ihn gab, wurde Mercer klar, daß der Brief zwar kurz, aber auch außerordent lich vage formuliert war. Mercer hatte schon früher mit prominenten Besu chern von Scotland Yard zu tun gehabt. Es würde den 65
üblichen Austausch von Höflichkeiten geben, an schließend einen Rundgang unter Führung von In spektor Denton, der, sobald der Gast Mercers Zimmer betreten hatte, wie zufällig erscheinen würde, und zum Abschied würde man dem Besucher die Hand schüt teln und ihn freundlich zum Ausgang Embankment begleiten, wo schon ein Taxi auf ihn warten würde. Trotz Erkältung, trüber Gedanken und der Ver stimmung über die Störung empfing Mercer Dr. Czis sar mit einem strahlenden Lächeln. Dr. Czissar war ein beleibter älterer Herr, ziemlich groß, mit einem runden, blassen Gesicht und zwei traurigen, braunen Augen, die ein bißchen wie Kuh augen aussahen hinter den starken Brillengläsern. Er trug einen langen, grauen Regenmantel, der ihm fast bis zu den Knöcheln reichte, und hatte einen nicht zu sammengerollten Regenschirm dabei. Er betrat den Raum, blieb stehen, schlug die Hacken zusammen, wobei er den Regenschirm wie ein Gewehr an die Ho sennaht hielt, und rief laut und deutlich: »Doktor Jan Czissar, Polizeipräsidium Prag. Zu Diensten.« »Sehr erfreut, Doktor. Wollen Sie nicht Platz neh men?« Dr. Czissar nahm Platz. Seine Kuhaugen wanderten durch das Zimmer und blieben schließlich wieder auf Mercer ruhen. »Es ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte der Dok tor plötzlich, »mich so prompt zu empfangen. Es ist eine Ehre, in Scotland Yard empfangen zu werden. Gemeinsam mit meinen Kollegen« – die Kuhaugen 66
wurden eine Spur schmaler – »meinen ehemaligen Kol legen von der tschechischen Polizei, hegte ich immer ei ne große Bewunderung für Ihr Haus.« Mercer war derlei gewöhnt. Er lächelte beschei den. »Nicht doch. Wir tun nur unser Bestes. Die Engländer sind ein gesetzestreues Volk.« Und dann vernahm er das Geräusch, auf das er schon wartete – die Schritte Inspektor Dentons draußen auf dem Korridor. Er stand auf. »Also, Doktor, wo Sie schon einmal hier sind, werden Sie sich ein wenig bei uns umschauen wollen, was?« Im Laufe der Zeit hatte diese Frage für Mercer etwas rein Rhetorisches be kommen. Was ihn anging, so befand sich Dr. Czissar bereits unter den Fittichen Inspektor Dentons. Die Bekanntmachung lag ihm schon auf den Lippen, der Inspektor klopfte schon an der Tür, die Maschinerie zum Hinauswerfen von prominenten Besuchern hat te sich schon in Bewegung gesetzt. Und dann ge schah das Unfaßbare. Dr. Czissar sagte: »Nein nein, vielen Dank. Ich möchte Ihnen keine Umstände bereiten.« Einen Augenblick schien es Mercer, als habe er nicht richtig gehört. »Sie bereiten uns keine Umstände, Doktor.« »Ein andermal, vielleicht.« Die Kuhaugen betrach teten ihn freundlich. »Ich habe viel zu tun. Sitze an ei nem Lehrbuch der Gerichtsmedizin. Es wäre besser, wenn wir uns kurz über eine wichtige Angelegenheit unterhalten könnten, die für mich von Interesse ist.« Mercer ließ sich langsam in seinen Stuhl fallen. Er 67
sah Denton hilflos an der Tür stehen. Er hörte Sergeant Flecker an seinem Tisch in der Ecke etwas zu laut »Is ja ’n Ding« sagen. Dr. Czissar betrachtete ihn teilnahms voll mit großen, traurigen Augen. Mercer versuchte, möglichst ausdruckslos zu gucken und zu sprechen. »Also, was können wir für Sie tun, Doktor?« »Pardon, Kommissar Mercer. Ich bin es, der etwas für Sie tun kann.« »Ach ja?« Und dann erlebte Mercer, zum ersten von vielen Malen, wie Dr. Czissar loslegte. Seine vollen Lippen verzogen sich zu einem schwachen, dünnen Lächeln. Er schob sich die Brille zurecht. Dann zog er eine riesi ge Brieftasche aus Krokodilleder heraus und entnahm ihr einen Zeitungsausschnitt. Und schließlich tat er drei Dinge, die Mercer bald erkennen und verabscheuen sollte. Er räusperte sich, schluckte laut und sagte dann scharf: »Passen Sie auf!« Langsam fügte er hinzu: »Ich glaube, daß ich Ihnen bei der Aufklärung eines Verbrechens helfen kann. Clevere Verbrecher sind manchmal arg dumm, nicht wahr?« Mercer strich sich über das Kinn. Ein warmes, an genehmes Gefühl erfüllte seine Brust. Dieser Tscheche war also doch nur ein Spinner, zweifellos gebeutelt durch seine Flucht. Er dachte an die Aktennotiz, die er dem hohen Tier im Innenministerium zukommen lassen würde, und schenkte Dr. Czissar ein wohlwol lendes Lächeln. Abermals stand er auf. »Sehr freundlich von Ihnen. Wenn Sie alles einfach 68
aufschreiben und mir per Post zukommen lassen, werden wir uns darum kümmern.« Das dünne Lächeln Dr. Czissars verschwand. Die Kuhaugen funkelten. »Das ist nicht nötig. Die Sache liegt schon schriftlich vor. Hier.« Er hielt Mercer den Zeitungsausschnitt unter die Nase. »Bitte lesen Sie!« sagte er mit Nachdruck. Wieder setzte Mercer sich hin. Ihre Blicke trafen sich. Er las. Bei dem Artikel, der einer vierzehn Tage alten, südwestenglischen Wochenzeitung entnommen war, handelte es sich um den Bericht von einer Leichen schau. In der Shingles Bay war eine Leiche aufgefun den und als die sechzigjährige Mrs. Sarah Fallon iden tifiziert worden, wohnhaft in Seahurst, einem Dorf fünf Meilen von dem Seebad Seabourne entfernt. Ihr Mann war fünfzehn Jahre zuvor gestorben und hatte ihr ein großes Vermögen sowie das Gut Seahurst Grange mit seinem zehn Hektar großen Park hinter lassen. Kurze Zeit nach dem Tod ihres Mannes hatte sie die Vormundschaft für seine Nichte Helen Fallon übernommen, die elf Jahre später Arthur Barrington heiratete, der Kohlen- und Baustoffhändler in Sea bourne und Präsident des örtlichen Anglervereins war. Die Barringtons lebten seit ihrer Hochzeit zu sammen mit Mrs. Fallon auf Seahurst Grange. Am Abend des 4. November hatte Barrington bei der Polizei angerufen und das Verschwinden von Mrs. Fallon gemeldet. Seine Frau hatte die Tante, die ein paar Einkäufe erledigen wollte, am Nachmittag nach 69
Seabourne gefahren. Da Mrs. Fallon erklärt hatte, daß sie möglicherweise eine Freundin zum Tee besuchen werde, hatte ihre Nichte sie um Viertel vor drei am South Square abgesetzt, den Wagen auf dem öffentli chen Parkplatz abgestellt und den Nachmittag im Ki no verbracht. Um sechs Uhr wollte man sich wieder am South Square treffen. Mrs. Fallon war nicht er schienen, und als alle Nachfragen bei ihren Freunden erfolglos blieben, hatte man die Polizei informiert. Mrs. Fallons Leiche wurde erst acht Tage später von der Küstenwache aufgefunden. Identifiziert wurde sie von ihrem Arzt und ihrem Zahnarzt. Laut Obduktion mußte als Todesursache ein plötzlicher Herzstillstand nach Schädelfraktur angesehen werden. Die Fraktur konnte von einem Aufprall auf einer stumpfen, harten Oberfläche her rühren, doch denkbar war auch ein Sturz von einer hohen Klippe. Die Leiche war erst mehrere Stunden nach dem Tod ins Wasser gelangt. Die Verwesungs erscheinungen deuteten darauf hin, daß sie vermutlich am Tag ihres Verschwindens gestorben war. Im übri gen wies der Hausarzt darauf hin, daß seine Patien tin an Herzrhythmusstörungen und häufigen Schwindelanfällen gelitten habe. Die kleine Annie Smith hatte am Siebten des Mo nats am Fuß von Sea Head Cliff, einem bekannten Aussichtspunkt unweit des South Square, ein herz förmiges Blechmedaillon gefunden. Mrs. Barrington hatte das Medaillon als Besitzstück ihrer Tante identifiziert. Ihre Tante hing sehr daran 70
und hatte es immer getragen. Ihre Nachmittage hatte sie gewöhnlich auf der Bank auf dem Felsen verbracht, allerdings die letzten Tage vor ihrem Verschwinden nicht mehr, da sie eine starke Erkältung hatte. Der Untersuchungsbeamte erklärte in seinem Be richt, daß die Verstorbene, nachdem sie sich am Nachmittag des Vierten von ihrer Nichte verabschie det hatte, höchstwahrscheinlich nicht ihre Bekannten besucht, sondern es sich anders überlegt habe und zum Aussichtspunkt auf den Klippen hochgestiegen sei. Offenbar sei der Weg nach der Krankheit zu an strengend für sie gewesen, ihr sei schwindlig gewor den und sie sei von der Klippe zu Tode gestürzt. Die Flut kam abends um sechs. Ihre Leiche mußte am Strand gelegen haben, bis sie schließlich hinausgetrie ben wurde. Das Urteil lautete auf »Unfalltod«, und die Ge schworenen sprachen zusätzlich die Empfehlung aus, die Klippen durch einen Zaun abzusichern. Mercer blickte auf. »Nun, Doktor?« »Ich bin sicher«, sagte Dr. Czissar bestimmt, »daß Mrs. Fallon ermordet wurde.« Mit einem Seufzer lehnte sich Mercer in seinem Stuhl zurück. »Sergeant«, sagte er, »bringen Sie mir bitte die Akte Fallon.« Müde lächelte er dem Doktor zu. »Sehen Sie, wir sind nicht so dumm. Eine reiche Frau hat einen Unfall. Ihre Nichte, die bei ihr wohnt, erbt. Der Mann der Nichte, der ebenfalls in dem Haus wohnt, steckt mit seinem Geschäft zufällig in finanziellen Schwierig 71
keiten. Der Polizeichef von Wessex hielt es für sinn voll, uns einzuschalten. Ah, vielen Dank, Sergeant. Hier bitte, Doktor. Es ist alles da. Zuerst die Nichte. Sie verbrachte den Nachmittag genau so, wie sie es gesagt hat. Sowohl der Parkplatzwächter als auch die Platzanweiserin im Kino bestätigen, daß sie den Nachmittag in Seabourne verbrachte. Um sieben kehrte sie nach Hause zurück, nachdem sie eine halbe Stunde am South Square gewartet und etwa zehn Mi nuten unter den Bekannten ihrer Tante herumtelefo niert hatte. Barrington kam wenig später nach Hause. Er hatte das Haus um halb drei verlassen, weil er um drei einen geschäftlichen Termin in Haywick hatte – das ist ein Ort gut zwanzig Kilometer weiter westlich an der Küste. Er fuhr zu diesem Termin und noch mehreren anderen, die er für diesen Nachmittag im Bezirk Haywick verabredet hatte. Jedenfalls würde kein Mörder, der einigermaßen bei Verstand ist, ver suchen, jemanden von den Klippen zu stoßen. In vierhundert Metern Entfernung befindet sich eine Sta tion der Küstenwache. Die Gefahr, gesehen zu wer den, wäre viel zu groß. Zufrieden, Doktor?« Dr. Czissars dünnes Lächeln war wieder da. Er nick te. »O ja. Durchaus. Sie wurde zweifellos ermordet. Ist das Hauspersonal im Gut befragt worden?« Mercer schluckte hörbar: »Selbstverständlich.« »Und sind an dem Abend, an dem Mrs. Fallon ver schwand, irgendwelche Schwierigkeiten mit dem Hei zungskessel gemeldet worden?« Mercer wahrte mühsam die Fassung. Langsam 72
wandte er sich an Inspektor Denton. »Inspektor? Sie sind doch in Seahurst gewesen, stimmt’s? Können Sie Dr. Czissars Frage beantworten? Übrigens«, fügte er mechanisch hinzu, »dies ist Inspektor Denton.« Dr. Czissar sprang hoch wie ein Schachtelmänn chen, schlug die Hacken zusammen und setzte sich wieder hin. Der Inspektor räusperte sich verlegen. »Es hat tat sächlich Probleme mit dem Heizungskessel gegeben, Sir«, sagte er und vermied dabei, seinem Vorgesetzten in die Augen zu sehen. »Die Haushälterin ist Spiriti stin, wie ich, Sir; sie sagt, es hätte an dem Abend Schwierigkeiten mit dem Kessel gegeben. Das Feuer ist ausgegangen. Sie hielt es irgendwie für ein Zeichen, daß die alte Dame abgekratzt ist. Ich meine, gestor ben«, fügte er hinzu und fiel wieder in nachdenkliches Schweigen. »Aha«, sagte Dr. Czissar. Seine traurigen braunen Augen hefteten sich wieder auf Mercer. »Verstehen Sie meine Überlegung allmählich, Herr Kommissar?« Mercer gab sich einen Ruck. »Offen gesagt, Herr Doktor, ich glaube, wir verschwenden unsere Zeit.« Dr. Czissar lächelte ernst. »Passen Sie auf!« sagte er mit erhobenem Zeigefinger. »Ich werde Ihnen den Fall erläutern. Also – es war vor allem dieses Medail lon, das meine Aufmerksamkeit erregt hat«, begann er. »Sehr kurios. Es wird am Fuß der Klippen gefun den. Also kam Mrs. Fallon durch einen Sturz von den Klippen ums Leben. Eine Spur zu simpel, hm? Die Leiche wird drei Tage nach dem Unfall gefunden. Sie 73
muß also an eine Stelle gefallen sein, die von den Gezei ten nicht erreicht wird. Sechs Fluten müßten sie eigent lich begraben oder fortgetrieben haben, finden Sie nicht? Gestern bin ich nach Seabourne gefahren und habe mir die Klippen angesehen. Sehr interessant. Es ist völlig unmöglich, von dort oben einen Gegenstand so hinunterzuwerfen, daß er am Strand oberhalb der Flutmarke landet.« Mercer zuckte mit den Schultern. »Die Spange war geöffnet. Wahrscheinlich hat sie sie während des Stur zes festgehalten. Sie hatte Probleme mit dem Herzen. Es wäre eine naheliegende Bewegung. In dieser Situa tion hätte sie überall hinfallen können.« Dr. Czissar guckte unverwandt mit seinen braunen Kuhaugen, schürzte aber die vollen Lippen ein wenig. »Jaja. Vielleicht. Eine Frau von sechzig in schlechter gesundheitlicher Verfassung könnte auch an einem kalten Novembertag auf die Klippen steigen und so nahe am Abgrund stehen, daß sie hinunterfällt. Doch das ist unwahrscheinlich. Und wurde sie von der Kü stenwache gesehen?« »Nein. Aber das beweist nichts. Und die Tatsache, daß sie in der Shingles Bay angetrieben wurde, bestä tigt nur die Theorie, daß sie von der Klippe aus ins Wasser fiel. Die Meeresströmung dort ist sehr stark. Vom Kliff wurde sie bestimmt zur Bucht getrieben.« »Ah! Sie treibt in der Shingles Bay an Land. Also muß sie von der Klippe gefallen sein. Richtig?« »Das Medaillon beweist es.« »Passen Sie auf.« Das dünne Lächeln war wieder da. 74
»Ich habe verschiedene Erkundigungen in Seabourne eingezogen.« »Ach ja?« »Über die Strömungen. Sie haben nicht ganz unrecht. Es gibt eine sehr starke Strömung dort, die an den Klip pen vorbei, durch die Firth Bay und zur Shingles Bay verläuft. Aber« – Czissar suchte Mercers Blick – »diese Strömung verläuft eine ganze Weile an der Küste ent lang und nähert sich bei Haywick Dunes der Küste. Und finden Sie nicht auch, daß acht Tage eine sehr lan ge Zeit sind für eine Leiche, um von den Klippen zur Shingles Bay zu kommen? Die Strömung ist, wie Sie schon sagten, sehr stark.« Mercer sah zu Denton. »War dies bekannt, Inspek tor?« »Nein, Sir. Die Beamten dort waren sich in bezug auf die Klippen ganz sicher. Sie sagten, es hätte ein oder zwei Selbstmorde gegeben und die Leichen seien alle in der Shingles Bay angeschwemmt worden.« »Aha. Darf ich fragen, woher Sie Ihre Informatio nen haben, Herr Doktor?« »Vom Sekretär des Anglervereins Sebourne.« Dr. Czissar hüstelte. »Nach Angaben der Zeitung ist Mr. Barrington der diesjährige Vereinsvorsitzende. Er kennt sich gewiß ebenfalls aus.« »Verstehe. Tja, Doktor, das ist ja alles sehr interes sant, aber ich fürchte …« »Mrs. Fallon«, fuhr Dr. Czissar fort, »wurde wegen ihres Geldes von Arthur und Helen Barrington er mordet, die sich entsprechende Alibis verschafften, 75
um ihre Tat zu vertuschen. Es waren keine sehr brauchbaren Alibis, weil niemand genau wußte, wann Mrs. Fallon starb. Meiner Meinung nach wurde sie am Tag ihres Verschwindens zwischen vierzehn Uhr dreißig und vierzehn Uhr fünfunddreißig umgebracht. Zwischen achtzehn und neunzehn Uhr wurde sie in Haywick Dunes zum Strand geschafft.« »Aber …« »Der Mord«, fuhr Dr. Czissar mit fester Stimme fort, »war sorgfältig geplant. Erinnern Sie sich an den Weg zum Gut, Inspektor? Der Weg ist lang und kur venreich, Kommissar Mercer, und wegen der Bäume zum größten Teil vom Haus aus nicht einsehbar. Um halb drei verließ Barrington das Haus, um zu sei nem Termin in Haywick zu fahren. Statt aber direkt dorthin zu fahren, ließ er sein Auto ein Stück abseits der Straße stehen und ging zu Fuß zurück. Fünf Minuten später fuhr seine Frau los, um Mrs. Fallon nach Sea bourne zu bringen. Sobald sie außer Sichtweite des Hau ses war, hielt sie an. Ihr Mann brachte Mrs. Fallon dann mit der Waffe um, die er bei sich hatte. Zum Beispiel mit einem Hammer. Er war doch Baulieferant, nicht wahr? Dann ging er zu seinem Auto zurück und fuhr zu sei nem Termin in Haywick. Mrs. Barrington fuhr ebenfalls los, nach Seabourne.« »Und wo, bitteschön, war die Leiche?« fragte Mer cer scharf. »Im Kofferraum von Mrs. Barringtons Auto, unter einer groben Wolldecke. Bei den Bäumen konnte sie nicht liegen bleiben, weil man sie dort zufällig hätte 76
entdecken können. Barrington konnte sie nicht in sei nem Auto mitnehmen. Er hatte Termine, und sein Auto würde längere Zeit unbeaufsichtigt auf der Stra ße stehen. Auf dem großen städtischen Parkplatz war Mrs. Barringtons Auto vor neugierigen Blicken sicher. Es gibt dort nur einen Wächter, und der sitzt an der Einfahrt. Gegen halb sechs dürfte Mrs. Barrington das Kino verlassen haben. Sie ging zu ihrem Auto zurück und fuhr zu den Haywick Dunes, wo sie mit ihrem Mann verabredet war, um sechs kommt die Flut, also waren sie vermutlich um sechs verabredet. Es würde bereits dunkel sein. Der Ort ist einsam und verlassen, die Chance, daß Barrington gesehen würde, wie er die Leiche zum Wasser trägt, gering. Mrs. Barrington fuhr anschließend nach Seabourne zurück, um unter den Bekannten ihrer Tante die nötigen Erkundigungen einzuziehen. Das ist alles.« Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann frag te der Inspektor in die Stille hinein: »Ich begreife nicht, welche Rolle der Heizungskessel spielt.« »Die Decke und die Fußmatten waren sicher blut getränkt, Inspektor. Mrs. Barrington hat sie vermut lich in den Heizungskessel getan, obwohl er für die Nacht geschlossen worden war. Selbst solch dickes Zeug würde am Ende verkohlen, aber bei geschlosse nen Lüftungsklappen mußte das Feuer ausgehen. Die Nichte einer reichen Frau versteht wahrscheinlich nicht viel von Heizungsanlagen.« »Das alles«, meine Mercer verdrießlich, »erklärt noch 77
nicht, was das Medaillon unten am Strand verloren hatte, Dr. Czissar. Die beiden Barringtons könnten – angenommen, Ihre Theorie stimmt – das Medaillon von der Leiche entfernt haben. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß sie riskieren würden, nach dem Verschwinden von Mrs. Fallon das Medaillon an den Strand zu legen und dabei entdeckt zu werden. Selbst bei Nacht wäre es ein zu großes Risiko. Wenn er da mit erwischt worden wäre, warum …« »Ach ja. Das Medaillon.« Dr. Czissar schmunzelte. »Wissen Sie, ich lese so viele Zeitungsberichte über polizeiliche Ermittlungen, daß ich manchmal etwas vergesse, obwohl es mich interessiert. Es gibt ja so viele Verbrechen, nicht wahr. Selbst im ordnungslieben den England.« War da, fragte sich Mercer, nicht leiser Spott aus der Stimme dieses Burschen herauszuhören? Zum Teufel mit ihm! »Kürzlich habe ich im Schaufenster eines Juweliers etwas gesehen«, sagte Dr. Czissar, »was mich an die Barringtons erinnert hat.« Er steckte die Hand in die Tasche. Als sie wieder hervorkam, hielt sie eine dün ne, gelbe Kette mit einem herzförmigen Medaillon daran. »Der Juwelier meinte, daß diese Dinger ziemlich verbreitet sind«, fuhr Dr. Czissar fort. »Altmodisch, hat er gesagt. Solche Medaillons gibt es fast überall zu kaufen, wenn man sich etwas umschaut. Vielleicht wurde kürzlich in Seabourne oder Haywick eines ge kauft. Irgend jemand konnte es in der Nacht vor dem Mord an den Strand gelegt haben. Schließlich hat Mrs. 78
Barrington es doch als das Medaillon ihrer Tante iden tifiziert. Schlaue Verbrecher sind manchmal arg dumm, nicht wahr?« Er sah auf seine Uhr. »Außerdem schlage ich vor, daß Sie herausfinden, ob Barrington vor oder nach dem Mord neue Fußmatten und eine neue Decke ge kauft hat und ob jemand seine Frau gesehen hat, als sie am Vierten nach Haywick fuhr. Und ein detaillier ter Bericht darüber, wo sich Barrington nach siebzehn Uhr aufgehalten hat, würde Ihnen sicher noch mehr von jenen Beweisen liefern, die Sie für eine Anklage brauchen.« Er stand plötzlich auf. »Aber ich muß jetzt wirklich gehen. Es war sehr freundlich von Ihnen. Reizend. Ganz reizend.« Mercer merkte, daß er wie in Trance die steife Ver beugung und den ausdruckslosen Blick der Kuhaugen erwiderte. Dann war Dr. Czissar verschwunden. »Puh«, sagte der Inspektor laut, »ich dachte …« Mercer riß sich zusammen. »Also, bis später, Den ton«, sagte er scharf. »Sergeant, sehen Sie mal, ob Sie ein paar Aspirin für meine Erkältung auftreiben können.« Die Tür schloß sich wieder, und Mercer saß allein da. Er wartete einen Augenblick, starrte verzweifelt auf den Berg unerledigter Akten vor sich. Dann atmete er tief durch und griff zum Telefonhörer. »Verbinden Sie mich mit dem Chief Constable von Wessex.«
79
Der Fall des smaragdgrünen Himmels
Kommissar Mercer starrte stumm auf die Visiten karte, die ihm Sergeant Flecker hingelegt hatte. Es stand keine Adresse darauf, nur Dr. Jan Czissar
Polizeipräsidium Prag
Eine schlichte Karte. Ein Beobachter, der nur wußte, daß Dr. Czissar ein tschechischer Emigrant war, der auf eine glänzende Karriere bei der Prager Kriminal polizei zurückblicken konnte, hätte gestaunt über den Ausdruck geradezu grimmigen Widerwillens, der sich langsam über das gesunde Gesicht des Kommissars ausbreitete. Hätte derselbe Beobachter aber die Umstände des ersten Zusammentreffens zwischen Mercer und Dr. Czissar gekannt, wäre er weniger erstaunt gewesen. Erst eine Woche war vergangen, seit Dr. Czissar, ver sehen mit einem Empfehlungsschreiben des allmächti gen Sir Herbert vom Innenministerium, aus heiterem Himmel aufgekreuzt war, und noch immer litt Mercer an den Folgen dieser Begegnung. Niemand, am aller wenigsten ein leitender Kriminalbeamter, läßt sich gern sagen, und sei es mit noch so höflichen Worten, daß er sein Handwerk nicht versteht. Wird dies nicht nur behauptet, sondern auch noch bewiesen, so fühlt 80
er sich in seinem Stolz tief getroffen. Mercers Ge sichtsausdruck war also entschuldbar. Sergeant Flecker hatte diesen Ausdruck bemerkt und interpretiert. Jetzt sagte er: »Abwesend, Sir?« Mercer sah auf. »Nein, Sergeant. Anwesend, aber nicht zu sprechen!« erwiderte er unwirsch und ver tiefte sich wieder in seine Arbeit. Eine halbe Stunde später klingelte Mercers Telefon. »Sir Herbert vom Innenministerium will Sie spre chen, Sir«, sagte der Telefonist. Nach einer langen und für Mercer höchst enervie renden Pause meldete sich Sir Herbert am anderen Ende. »Tag, Mercer, sind Sie’s? Also, was höre ich da, Sie weigern sich, Dr. Czissar zu empfangen?« Mercer wollte schon hochfahren, riß sich aber noch zusammen. »Ich habe mich nicht geweigert, ihn zu empfangen, Sir Herbert«, sagte er. »Ich habe ihm nur bestellen lassen, daß ich keine Zeit habe, ihn zu spre chen.« Sir Herbert schnaufte. »Also, passen Sie auf, Mer cer. Ich weiß zufällig, daß es Dr. Czissar war, der die Mörder von Seabourne für Sie gefunden hat. Soll na türlich kein Vorwurf sein, und ich habe auch nicht vor, die Sache Ihrem Chef gegenüber zu erwähnen. Jeder macht mal einen Fehler. Wir alle wissen, daß Scotland Yard als Organisation über jede Kritik erha ben ist. Ich will nur sagen, Mercer, daß ihr Burschen euch nicht zu schade sein solltet, das eine oder andere von einem ausländischen Experten zu lernen. Berufs 81
neid können wir nicht gebrauchen. Wenn Sie aller dings glauben, daß das vielleicht nicht ganz der richti ge Weg ist« – es entstand eine vielsagende Pause – »dann könnte ich ja mit Ihrem Chef reden.« Wenn es möglich wäre, sich durch zusammengebis sene Zähne verständlich zu machen, Mercer hätte es getan. »Von Berufsneid kann keine Rede sein, Sir Herbert. Ich habe Dr. Czissar ausrichten lassen, daß ich keine Zeit habe. Wenn er sich schriftlich um einen Termin bemüht, werde ich ihn gern empfangen.« »Ausgezeichnet«, rief Sir Herbert munter, »aber lassen wir doch diesen bürokratischen Aufwand. Dr. Czissar ist gerade in meinem Büro. Ich werde ihn jetzt losschicken. Er möchte mit Ihnen vor allem über den Fall Brock Park sprechen. Wiederhören!« Mercer legte den Hörer vorsichtig auf die Gabel. Er wußte, daß er den Apparat zertrümmert hätte, wenn er so aufgelegt hätte, wie ihm zumute war. Eine Weile saß er völlig reglos da. Dann griff er plötzlich wieder zum Hörer. »Inspektor Cleat bitte.« Er wartete. »Sind Sie’s, Cleat? … Ist der Chef da? … Aha. Tja, Sie könnten ihn fragen, sobald er wieder da ist, ob er einen Mo ment Zeit für mich hat. Es ist dringend. Jawohl.« Er legte wieder auf und fühlte sich etwas besser. Wenn Sir Herbert mit dem Chef sprechen konnte, dann konnte er das auch. Der Alte mochte ein Teufel sein, aber er würde niemals hinnehmen, daß seine Mitarbeiter von dahergelaufenen Politikern gedemü tigt, beleidigt und – jawohl, das war das Wort – er 82
preßt würden. Und jetzt wollte dieser prächtige Dr. Czissar mit ihm über den Fall Brock Park sprechen. Na schön. Bitte sehr! An diesem Fall würde er nichts herumzukritteln haben. Der Fall war wasserdicht. Er griff zu der Akte, die auf seinem Schreibtisch lag. Ja wohl, absolut wasserdicht. Drei Jahre zuvor hatte der sechzigjährige Witwer Thomas Medley, Vater von zwei erwachsenen Kin dern, die zweiundvierzigjährige Helena Murlin gehei ratet. Die vier wohnten seitdem gemeinsam in einem großen Haus im Londoner Vorort Brock Park. Med ley, der mit der Firma Baltic Exchange ein Vermögen gemacht hatte, war kurz vor seiner zweiten Eheschlie ßung in den Ruhestand getreten und hatte sich die meiste Zeit der Hobbygärtnerei gewidmet. Helena Murlin war Künstlerin. Sie malte Landschaften, und in Brock Park wurde geflüstert, daß ihre Gemälde viel Geld einbrachten. Sie kleidete sich modisch elegant und war bei ihren Nachbarn nicht beliebt. Harold Medley, der fünfundzwanzigjährige Sohn, studierte Medizin an einem Londoner Krankenhaus. Seine drei Jahre jüngere Schwester Janet war so schlampig wie ihre Stiefmutter schick war. Anfang Oktober jenes Jahres hatte sich Thomas Medley nach einer besonders schweren Mahlzeit mit einer Gallenkolik ins Bett gelegt. Derartige Anfälle waren bei ihm öfter vorgekommen. Er hatte eine vergrößerte Leber und litt an normalen Verdauungs beschwerden. Sein Arzt hatte ihm die üblichen Me dikamente verschrieben. Am dritten Tag ging es dem 83
Patienten schon deutlich besser. Am vierten Tag aber, gegen vier Uhr nachmittags, hatten ihn heftige Unterleibsschmerzen gepackt, er mußte sich ständig übergeben und klagte über Muskelkrämpfe in den Beinen. Diese Symptome hatten drei Tage angehalten, zu letzt kamen starrkrampfartige Zuckungen hinzu. In der Nacht war er gestorben. Der Arzt hatte als To desursache Gastroenteritis bescheinigt. Das Vermögen des Toten belief sich auf rund 110 000 Pfund. Die Hälfte bekam seine Frau. Der Rest ging zu gleichen Teilen an seine beiden Kinder. Eine Woche nach der Beerdigung erhielt die Polizei einen anonymen Brief, in dem behauptet wurde, daß Medley vergiftet worden sei. Es kamen dann noch zwei weitere Briefe. Man erfuhr, daß mehrere Nach barn ähnliche Briefe erhalten hatten und daß über den Fall geredet wurde. Medleys Arzt wurde erneut be fragt. Er bestätigte, daß der Tod von einer Gastroente ritis verursacht worden war, räumte aber ein, nicht daran gedacht zu haben, daß die Beschwerden des Toten möglicherweise durch Gift hervorgerufen sein könnten. Die Leiche wurde mit Genehmigung des In nenministeriums exhumiert, damit eine Autopsie durchgeführt werden konnte. Im Magen fanden sich zwar keine Spuren von Gift, dafür aber in Leber, Nie re und Milz – insgesamt 113 Milligramm Arsen. Es wurde ermittelt, daß der Verstorbene an dem Tag, an dem sich die Vergiftungssymptome gezeigt hatten, mittags einen leichten Imbiß, bestehend aus 84
Hühnerbrust, (Dosen-)Spinat und einer Kartoffel, zu sich genommen hatte. Der Koch hatte ebenfalls von dem Spinat aus dersel ben Dose gegessen, ohne irgendwelche Beschwerden zu verspüren. Nach dem Mittagessen hatte Medley die vom Arzt verschriebene Medizin eingenommen. Sein Sohn Harold hatte sie ihm, in Wasser verdünnt, zube reitet. Nach Aussage einer Hausangestellten hatte Harold zwei Wochen vor dem Tod seines Vaters um 100 Pfund gebeten, um Spielschulden zu begleichen. Sein Vater hatte abgelehnt. Wie sich herausstellte, hatte Harold ihn belogen, indem er sechs Monate zuvor heimlich geheiratet hatte, und das Geld war nicht zur Deckung von Spielschulden, sondern für seine Frau gedacht, die ein Kind von ihm erwartete. Alles hatte gegen Harold gesprochen. Er hatte drin gend Geld gebraucht. Er hatte sich mit seinem Vater gestritten. Er wußte, daß er ein Viertel des väterlichen Vermögens erben würde. Als Medizinstudent konnte er sich im Krankenhaus Arsen besorgen. Der Zeit punkt, zu dem die Vergiftungssymptome auftraten, ließ die Vermutung zu, daß das Arsen ungefähr zur gleichen Zeit verabreicht worden war wie die Medi zin. Es war das erste Mal gewesen, daß Harold für seinen Vater die Medizin zubereitet hatte. Die Leichenschaukommission hatte gezögert, ihn als Tatverdächtigen anzusehen, doch er war später verhaftet und gegen Kaution wieder auf freien Fuß ge setzt worden. 85
Mercer lehnte sich zurück. Ein wasserdichter Fall. In Gedanken formulierte er schon die Sätze, mit de nen er seinen Chef zu überzeugen hoffte. »Sir Charles, dieser Dr. Czissar ist einfach ein Spinner, der unsere Zeit vergeudet. Er ist ein Emigrant, den seine leidvol len Erfahrungen wahrscheinlich ein bißchen umge worfen haben. Wenn Sie darüber mal mit Sir Herbert sprechen könnten …« Doch da wurde, zum zweiten Mal an diesem Nachmittag, Dr. Czissar gemeldet. Mercer war, wie erinnerlich, schlecht gelaunt an diesem Nachmittag. Dennoch spürte er, als Dr. Czis sar sein Büro betrat, eine merkwürdige Freundlichkeit in sich aufsteigen. Es war nicht nur die Freundlichkeit, die man gegenüber einem Feind empfindet, den fertig zumachen man im Begriff ist. In Mercers Erinnerung war Dr. Czissar ein Monster. Nun sah er, daß Dr. Czissar, mit seinen Kuhaugen hinter den dicken Bril lengläsern, dem runden, blassen Gesicht, dem grauen Regenmantel und dem Regenschirm, im Grunde nur eine armselige Gestalt war. Als Dr. Czissar eintrat, stehenblieb, den Regenschirm wie ein Gewehr an die Hosennaht hielt und laut »Dr. Jan Czissar, Polizeiprä sidium Prag. Zu Diensten!« rief, da hätte Mercer fast geschmunzelt. Statt dessen sagte er: »Nehmen Sie Platz, Doktor. Tut mir leid, daß ich vorhin keine Zeit für Sie hatte.« »Es ist sehr freundlich von Ihnen …«, begann Dr. Czissar ernst. »Keine Ursache, Doktor. Wie ich höre, wollen Sie 86
uns zu unserer Lösung des Falles Brock Park gratulie ren.« Dr. Czissar blinzelte. »Nein, nein, Herr Kommis sar«, sagte er eifrig. »Ich würde Ihnen gern gratulieren, aber es ist wohl noch etwas verfrüht. Ich möchte nicht unhöflich sein, aber …« Mercer lächelte selbstgefällig. »Oh, wir werden un seren Mann noch verurteilen, Doktor. Seien Sie unbe sorgt.« »Aber ich mache mir Sorgen. Er ist nämlich un schuldig.« Mercer hoffte, daß das Lächeln, mit dem er auf die se Feststellung reagierte, nicht verriet, wie sehr er in nerlich triumphierte, und er sagte mild: »Sind Ihnen alle Beweise bekannt, Doktor?« »Ich war bei der Leichenschau anwesend«, sagte Dr. Czissar kummervoll. »Im Krankenhaus wird es zweifellos noch mehr Beweise geben. Dieser Mr. Ha rold hätte genug Arsen stehlen können, um ein ganzes Regiment zu vergiften, ohne daß der Diebstahl aufge fallen wäre.« Daß Czissar ihm die Worte aus dem Mund ge nommen hatte, beunruhigte Mercer nur wenig. Er nickte. Ein schwaches, dünnes Lächeln erschien auf Czis sars Lippen. Er schob sich die Brille zurecht. Dann räusperte er sich, schluckte laut und beugte sich vor. »Passen Sie auf!« rief er. Mercer spürte, daß sein Selbstvertrauen aus irgend einem unerklärlichen Grund plötzlich dahinschwand. 87
Den gleichen Auftritt hatte er schon einmal erlebt, die gleiche gebieterische Bitte um Aufmerksamkeit, und es hatte in katastrophaler Niederlage geendet, in De mütigung, in … Er riß sich zusammen. Der Fall Brock Park war wasserdicht. »Ich höre«, sagte er gereizt. »Gut.« Dr. Czissar hob feierlich den Zeigefinger. »Nach Angaben des untersuchenden Arztes wurde in Leber, Nieren und Milz Arsen gefunden. Richtig?« Mercer nickte. »113 Milligramm. Das zeigt, daß sehr viel mehr als eine tödliche Dosis verabreicht wurde. Erheblich mehr.« Dr. Czissar strahlte. »Gewiß. Erheblich mehr. Es ist doch merkwürdig, nicht wahr, daß so viel in den Nieren gefunden wurde?« »Daran ist nichts merkwürdig.« »Lassen wir das für einen Moment. Ist es nicht so, Herr Kommissar, daß bei allen forensischen Arsen tests nach Arsen gesucht wird und nicht nach be stimmten Arsensalzen?« Mercer runzelte die Stirn. »Doch, aber das spielt keine Rolle. Alle arsenischen Salze sind tödlich wir kende Gifte. Außerdem wird Arsen, sobald es vom menschlichen Körper absorbiert wird, in ein Sulfid umgewandelt. Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswol len, Herr Doktor.« »Der Punkt ist der, Herr Kommissar, daß es bei ei ner verspäteten Obduktion meist unmöglich ist, her auszufinden, welche Form von Arsen verwendet wur de. Stimmen Sie mir soweit zu? Es könnte Arsenoxyd 88
sein oder eines der Arseniate oder Arsenite, Kupferar senit beispielsweise, oder es könnte ein Chlorid sein oder eine organische Arsenverbindung. Ja?« »Korrekt.« »Und welche Sorte«, fuhr Dr. Czissar fort, »findet man gewöhnlich in einem Krankenhaus, hm?« Mercer verzog den Mund. »Ich wüßte nicht, warum ich Ihnen verhehlen sollte, Doktor, daß Harold Med ley sich mühelos Salvarsan oder Neosalvarsan be schafft haben könnte. Beides wichtige Medikamente.« »Ehrlichs 606 und 914! Jawohl!« sagte Dr. Czissar. Er starrte zur Decke. »Haben Sie schon mal eines der Bilder von Helena Murlin gesehen, Herr Kommis sar?« Mercer irritierte der plötzliche Themenwechsel. Er zögerte: »Ach, Sie meinen Mrs. Medley. Nein, ich ha be ihre Bilder noch nicht gesehen.« »So eine schicke, attraktive Frau«, sagte Dr. Czis sar. »Nachdem ich sie bei der Leichenschau gesehen hatte, wollte ich unbedingt eines ihrer Bilder sehen. Ich fand ein paar in einer Galerie in der Nähe von Bond Street.« Er seufzte. »Ich hatte etwas Raffiniertes erwartet, aber ich war enttäuscht. Sie ist eine von die sen Künstlerinnen, die ihre Phantasien malen und nicht das, was existiert.« »Ach ja? Doktor, ich muß leider …« »Mir schien«, sagte Dr. Czissar unbeirrt, und seine Kuhaugen hefteten sich wieder auf Mercer, »daß eine Frau, die sich ein Feld blau und den Himmel sma ragdgrün vorstellt, etwas seltsam im Kopf sein muß.« 89
»Modernes Zeug, hm?« sagte Mercer. »Und nun, Doktor, wenn Sie fertig sind, möchte ich Sie bitten, mich zu entschuldigen. Ich …« »Oh, ich bin noch nicht fertig«, sagte Dr. Czissar freundlich. »Ich glaube, Herr Kommissar, daß eine Frau, die eine Landschaft mit grünem Himmel malt, nicht nur seltsam, sondern auch interessant ist. Ich habe bei dem Galeristen nachgefragt. Sie malt nur ei nige wenige Bilder, etwa sechs pro Jahr. Sie verdient pro Bild etwa 100 Pfund. Unglaublich, was für teure Kleider sie sich kaufen kann.« »Sie hat einen reichen Mann.« »O ja. Ein merkwürdiges Haus, finden Sie nicht? Die Tochter Janet ist besonders merkwürdig. Sehr be dauerlich, daß die Leichenschau sie so mitgenommen hat.« »Der Gedanke, daß ihr Bruder ein Mörder ist, dürfte jede junge Frau mitnehmen«, bemerkte Mercer trocken. »Aber sich selbst so heftig des Mordes zu beschul digen.« »Hysterie. Findet man oft bei Mordfällen.« Mercer stand auf und streckte die Hand aus. »Nun ja, Doktor, tut mir leid, daß Sie unseren Fall diesmal nicht haben erschüttern können. Wenn Sie dem Sergeanten dort drüben Ihre Adresse hinterlassen, werde ich Ihnen ei ne Eintrittskarte für den Prozeß besorgen«, fügte er mit Genugtuung hinzu. Doch Dr. Czissar rührte sich nicht von der Stelle. »Sie wollen diesen jungen Mann also wegen Mordes 90
vor Gericht bringen, ja?« sagte er langsam. »Ist Ihnen nicht klar, was ich angedeutet habe?« Mercer grinste. »Wir haben Besseres als Andeutun gen, Doktor – erstklassige Indizienbeweise gegen den jungen Medley. Motiv, Zeitpunkt der Tat und Metho de der Verabreichung, Herkunft des Giftes. Konkrete Beweise, Doktor! So etwas gefällt den Geschworenen. Wenn Sie auch nur die Spur eines Beweises haben, daß Medley der Falsche ist – bitte sehr, lassen Sie hören.« Dr. Czissar streckte sich, und seine Kuhaugen fun kelten. »Ihre Herablassung gefällt mir nicht, Herr Kommissar«, sagte er scharf. »Auch ich habe viel zu tun. Ich arbeite an einem Werk über Gerichtsmedizin. Ich möchte nur, daß Gerechtigkeit geübt wird. Bei den Beweisen, die Sie haben, werden Sie diesen jungen Mann nach englischem Gesetz kaum hinter Gitter bringen können; die Anklage könnte aber seiner ärzt lichen Karriere schaden. Außerdem gibt es den wah ren Mörder, um den man sich kümmern sollte. Aus freundschaftlicher Verbundenheit habe ich mich daher an Sie gewandt statt an die Anwälte von Harold Med ley. Ich werde Ihnen nunmehr den Beweis liefern.« Mercer setzte sich wieder. Er kochte vor Wut. »Passen Sie auf«, sagte Dr. Czissar mit erhobenem Zeigefinger. »In den Nieren des Toten wurde Arsen gefunden. Es wurde behauptet, Harold Medley habe seinen Vater mit Salvarsan oder Neosalvarsan getötet. Hier liegt ein Widerspruch vor. Die meisten anorgani schen Arsensalze – weißes Arsen beispielsweise – sind praktisch wasserunlöslich, und wenn ein Quantum ei 91
nes solchen Salzes verabreicht worden wäre, ließen sich Spuren davon in den Nieren nachweisen. Salvar san und Neosalvarsan sind aber dreiwertige organi sche Arsenverbingungen und sehr wohl wasserlöslich. Wäre eines von beiden oral verabreicht worden, wür de man kein Arsen in den Nieren finden.« Er machte eine Pause, aber Mercer schwieg. »In welcher Form wurde das Arsen also verab reicht?« fuhr er fort. »Die Untersuchungen liefern uns keinen Aufschluß darüber, denn sie beweisen nur das Vorhandensein des Elements Arsen. Dieses Arsen ist im Laufe der Zeit auch als Sulfid nachzuweisen. Nehmen wir einmal die anorganischen Salze. Es gibt weißes Arsen; das ist Arsenoxyd. Es wird zum Ent haaren von Fellen verwendet. In Brock Park dürfte es kaum anzutreffen sein. Aber Mr. Medley war Hobby gärtner. Wie steht es mit Arsen als Unkrautvertilger? Wir haben bei der Leichenschau gehört, daß das Un krautvernichtungsmittel im Garten nur von jener Sor te war, die für Unkraut schädlich ist. Womit wir bei Kupferarsen angelangt waren. Mr. Medley wurde meiner Meinung nach durch eine große Dosis Kupfer arsen vergiftet.« »Und welche Beweise haben Sie für Ihre Theorie?« fragte Mercer. »Im Haus der Medleys gibt es oder gab es Kupfer arsen.« Dr. Czissar sah zur Decke. »Am Tag der Lei chenschau trug Mrs. Medley einen Pelzmantel. Ich habe inzwischen einen anderen, ähnlichen Pelzmantel gesehen. Dieser Mantel kostete vierhundert Guineen. 92
Ermittlungen in Brock Park haben ergeben, daß der Mann dieser Dame nicht nur reich war, sondern auch ein Geizkragen und ein Ekel. Bei der Leichenschau erklärte sein Sohn, daß er seine Ehe verheimlicht habe, aus Angst, sein Vater würde ihm sein Studiengeld streichen und ihn zwingen, sein Medizinstudium auf zugeben. Helena Murlin hatte einen erlesenen Ge schmack. Sie heiratete diesen Mann, weil sie auf nichts verzichten wollte. Er enttäuschte sie. Der Mantel, den sie trug, Herr Kommissar, war nicht bezahlt. Sie wer den feststellen, daß sie noch anderweitig Schulden hat te und daß einer ihrer Gläubiger drohte, er werde sich an ihren Mann wenden. Sie war dieses so viel älteren Mannes überdrüssig. Vielleicht hatte sie einen mittel losen, jungen Geliebten. Aber das werden Sie alles herausfinden. Sie hat ihren Mann vergiftet. Keine Fra ge.« »Unsinn!« knurrte Mercer. »Natürlich wissen wir, daß sie verschuldet war, aber das sind viele Frauen. Das macht sie noch nicht zu Mörderinnen.« Dr. Czissar lächelte sanft. »Mein Interesse wurde durch diesen Spinat erregt, den der Tote zu Mittag aß, bevor sich die Vergiftungssymptome zeigten«, sagte er. »Warum Spinat, wo es in dieser Jahreszeit doch keinen Spinat gibt? Ein Patient mit Magenbeschwerden soll normalerweise kein Dosengemüse essen. Und als ich dann Mrs. Medleys Gemälde sah, wurde mir alles klar. Der smaragdgrüne Himmel, Herr Kommis sar! Es war ein schönes, sattes Smaragdgrün – ein Grün, wie man es nur erhält, wenn man der Farbe 93
Kupferarsen beimischt. Die Firma, von der Mrs. Med ley ihre Farben bezog, wird Ihnen sagen können, wann sie sie gekauft hat. Außerdem schlage ich vor, daß Sie das Bild nehmen – es hängt in der Summons Gallery – und ein wenig von dem Himmel chemisch analysieren lassen. Weiter werden Sie feststellen, daß der Spinat auf Mrs. Medleys Vorschlag hin zubereitet wurde und daß sie ihn eigenhändig in das Zimmer ih res Mannes gebracht hat. Spinat ist grün und schmeckt etwas bitter. Das gilt auch für Kupferarsen.« Er seufz te. »Ohne die anonymen Briefe …« »Ah!« fuhr Mercer dazwischen. »Die anonymen Briefe! Vielleicht wissen Sie …« »O ja«, sagte Dr. Czissar nur. »Die Tochter, Janet, hat sie geschrieben. Die Arme! Sie konnte ihre elegan te Stiefmutter nicht leiden, und sie schrieb die Briefe aus Gehässigkeit. Stellen Sie sich ihre seelische Verfas sung vor, als sie merkte, daß sie ihrem Bruder gewis sermaßen die Schlinge um den Hals gelegt hatte. Es ist verständlich, daß sie die Schuld auf sich lenken wollte. Auf Wiedersehen – und vielen Dank«, fügte er noch hinzu. »Auf Wiedersehen«, sagte Mercer matt. Das Tele fon klingelte. »Der Chef will Sie sprechen, Sir«, sagte der Telefo nist. »Na schön. Hallo … Guten Tag, Sir Charles. Ja wohl, ich wollte Sie dringend sprechen. Es ging« – er zögerte – »es ging um den Fall Brock Park. Ich glaube, daß wir den jungen Medley freilassen müssen. Ich ha 94
be neue medizinische Beweise, die den Schluß nahele gen, daß … Sehr wohl, Sir Charles, ich komme sofort vorbei.«
95
Der Fall des radfahrenden Chauffeurs
Für die Untergebenen von Kriminalkommissar Mer cer stand fest, daß man ihn am besten nachmittags sprach, wenn er seinen Tee trank. Inspektor Denton beschloß daher, seinen mündlichen Bericht über den Fall Mortons Hind zur Teezeit vorzutragen. Das Dorf Mortons Hind, berichtete Denton, sei fünf Meilen von der Kreisstadt Penborough entfernt. Unweit der Stelle, wo sich die Landstraßen nach Pen borough und Leicester kreuzen, befinde sich Mortons Grange, der Wohnsitz von Mr. Maurice Wretford, ei nem pensionierten Geschäftsmann, und seiner Frau. Am 10. November nachmittags um halb vier habe Mr. Wretfords Chauffeur, der vierzigjährige Alfred Gregory, das Anwesen verlassen, um das Auto seines Arbeitgebers in die Werkstatt nach Penborough zu bringen, wo ein Kotflügel ausgebeult und neu ge spritzt werden sollte. Da die Reparatur nicht in einem Tag zu bewerkstelligen war, habe Gregory im Koffer raum sein Fahrrad mitgenommen, um nach Hause ra deln zu können. Er sei dort nicht angekommen. Um halb sechs habe ein Autofahrer, der auf einer einsamen Straße etwa eine Meile vom Gut entfernt unterwegs war, das Fahrrad im Straßengraben liegen sehen und angehalten. Ein paar Meter weiter, ebenfalls im Stra ßengraben und tot, habe Gregory gelegen, mit einer Kugel im Kopf. 96
Das Bleigeschoß vom Kaliber 22 sei an der linken Schläfe eingedrungen, habe dabei eine kleine, kreis förmige Wunde genau zwischen Ohr und Auge hin terlassen, das Gehirngewebe zerrissen und sei einen Zentimeter vor dem oberen Rand der linken Gehirn hälfte, direkt über dem zersplitterten Keilbein stek kengeblieben. Zwei kleinere Frakturen, die von der Einschußstelle im Schläfenbein ausgingen, aber keine Schmauch- oder Pulverspuren. Das und die Tatsache, daß der Durchmesser der Wunde kleiner sei als der Durchmesser der Kugel, ließe darauf schließen, daß der Schuß aus einer Entfernung von mehr als zwei Metern abgegeben worden sei. Die Nachricht hatte sich bald im Dorf ausgebreitet, und am späten Abend meldete sich der zweiundfünf zigjährige Wildhüter Harry Rudder bei der Polizei und sagte aus, daß er am selben Nachmittag beobach tet habe, wie ein neunzehnjähriger Bursche, Thomas Wilder, mit einem Gewehr auf Vögel geschossen habe, und zwar unweit der Stelle, wo Gregorys Leiche ge funden worden sei. Wilder habe gestanden, daß er mit dem Gewehr – einem Kaliber 22 – am vorangegange nen Tag geschossen habe, aber bestritten, daß er sich in der Nähe der Straße nach Penborough aufgehalten habe. Der erwähnte Obduktionsbefund war den ermit telnden Polizeibeamten erst später am Tag zugänglich gemacht worden. Gleichzeitig wurde ihnen die tödli che Kugel ausgehändigt. Zu ihrer Enttäuschung war sie durch den Aufprall gegen den Schädelknochen de 97
formiert, und es waren keine Gewehrlaufmarkierun gen mehr zu erkennen. Die Kugel konnte also aus je der Waffe vom Kaliber 22 abgefeuert worden sein. Dennoch hatte man die Möglichkeit eines Indizien prozesses gegen Wilder in Erwägung ziehen müssen. Der Polizeichef der Grafschaft hatte beschlossen, Bal listikexperten von Scotland Yard hinzuzuziehen. Die amtliche Leichenschau fand statt. Der Tote hat te keine Familienangehörigen. Sein Arbeitgeber, der bekümmerte Mr. Wretford, identifizierte die Leiche. Anschließend sagte der Ballistikexperte Sergeant Blundell aus: Der Schuß sei in einiger Entfernung vom Toten abgegeben worden und in schrägem Winkel von unten in den Kopf eingedrungen. Blundell bestä tigte, daß ein Schuß aus einem Gewehr, das ein etwa einsachtzig großer Mann (Wilder war einsachtzig) auf der Wiese links neben der Straße an die Schulter hält, um auf einen Vogel zu schießen, der auf dem Baum auf der anderen Straßenseite sitzt, durchaus einen vorüberfahrenden Radfahrer treffen könne. Die Kommission habe auf »Unfalltod, verursacht durch fahrlässiges Verhalten des Thomas Wilder« erkannt. Der junge Wilder sei festgenommen worden. Mercer rührte gereizt in seiner zweiten Tasse Tee. »Ja, ja. Alles ganz eindeutig, hm? Jetzt ist Blundell dran. Reichen Sie Ihren Bericht auf dem üblichen Weg ein.« »Jawohl, das heißt …« Zu Mercers Erstaunen errö tete Denton. »Sir, es ist schon eindeutig, aber« – er zögerte – »aber …« 98
»Aber was?« wollte Mercer wissen. Denton holte tief Luft. Dann: »Ich glaube nicht, daß Wilder schuldig ist, Sir«, sagte er. Mercers Stirnrunzeln verstärkte sich. »Ach? Und wieso? Los, Denton, ich kann nicht den ganzen Tag verplempern.« Denton rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Tja, eigentlich ist es gar nicht meine Idee. Es war dieser tschechische Flüchtling, der bei der Prager Polizei war, dieser Dr. Czissar.« »Wer bitte?« fragte Mercer ungläubig. Denton erkannte den bedrohlichen Tonfall und fuhr hastig fort. »Dr. Czissar. Er war bei der Leichen schau. Er hat anschließend mit mir gesprochen, und weil er doch mit Sir Herbert vom Innenministerium bekannt ist, hielt ich es für besser, ihm nicht zu wider sprechen. Er …« Doch Mercer hörte kaum noch hin. Er hatte eine Vision: die Vision eines dicklichen, blassen Mannes mit Brille und braunen Kuhaugen, einem langen grau en Regenmantel, einem Filzhut, der ihm zu groß ist, und einem nicht zusammengerollten Regenschirm; und ebendieser Mann sitzt auf dem Stuhl, auf dem Denton gerade sitzt, und erklärt ihm, Mercer, höflich, wie er seine Arbeit zu tun habe. Zweimal war das schon passiert. Zweimal hatte Dr. Czissar bewiesen, daß er recht gehabt und Scotland Yard sich geirrt hat te. Und jetzt … Mercer riß sich zusammen. »Na schön, Denton. Ich kenne Dr. Czissar. Erzählen Sie weiter.« 99
Denton holte wieder tief Luft. »Also, nach der Lei chenschau kam er auf mich zu und bat mich, Ihnen Grüße zu bestellen. Dann fragte er mich, was ich von dem Urteil halte.« »Und, was haben Sie von dem Urteil gehalten?« »Ich hatte keine Gelegenheit, ihm zu antworten, Sir. Er ließ mir keine Zeit. Er sagte einfach in seiner üblichen Art: ›Passen Sie auf!‹ und erklärte, daß Wil der unschuldig ist. Sie wissen ja, Sir, immer höflich, aber ziemlich unverblümt.« Mercer wußte es. Dr. Czissars Höflichkeit machte ihn ganz nervös. »Aha. Und hat er gesagt, welche Beweise er hat, oder haben Sie das selbst herausgefunden?« »Weder noch.« »Aber Sie haben doch gesagt, Sie glauben, daß Wil der unschuldig ist.« »Richtig.« Denton zögerte einen Moment. »Es ist dieser Dr. Czissar. Er kann einen schon beeindrucken. Ich muß sagen, nachdem er mit mir gesprochen hatte, bin ich mit Blundell zu der Stelle gegangen, wo der Tote gefunden worden war; ich konnte aber nichts Besonderes feststellen, und Blundell auch nicht. Die Hecke ist nicht überall gleich hoch, und genau da, wo’s passiert ist, ist sie etwas niedriger, wie eingedellt. Von der Wiese aus kann man einen Radfahrer auf der Straße erst sehen, wenn er direkt vor einem ist. Der Baum befindet sich der Delle genau gegenüber. Es ist eine hohe Ulme, und der nächste Baum rechts oder links davon ist mindestens hundert Meter entfernt. Aus meiner Sicht war die Geschichte sonnenklar: ein Unfall, 100
zu dem es einfach kommen muß, wenn man Neun zehnjährige mit Gewehren herumspielen läßt. Und trotzdem …« Mercer lächelte kühl. »An Ihrer Stelle, Denton, würde ich Dr. Czissars kleine Phantasien ignorieren. Vergessen Sie nicht, er ist ein Flüchtling. Seine Erleb nisse haben ihn wahrscheinlich ein bißchen durchein andergebracht. Ist ja ganz verständlich.« »Sie meinen, er ist nicht ganz richtig im Kopf, Sir?« Denton dachte darüber nach. »Naja, er macht wirk lich so einen Eindruck. Aber wenn ich mir die Be merkung erlauben darf, Sir, in dem Seabourne-Fall war er ziemlich clever. Und auch in dem Fall Brock Park. Ohne ihn … Wissen Sie, es hat mich nachdenk lich gemacht, daß er auf Wilders Unschuld besteht.« Er zögerte. »Er will übrigens heute nachmittag bei Ih nen vorbeischauen, Sir«, schloß er. »Ach ja?« »Jawohl. So gegen fünf.« Denton guckte gespannt. »Wenn Sie mich wissen lassen könnten, was er sagt, Sir, wäre ich Ihnen sehr verbunden.« »Gut, Denton. Ich werde es Ihnen sagen.« Denton verließ das Zimmer mit dem federnden Schritt und dem unangenehmen Lächeln eines Men schen, der weiß, daß er eine schwierige Situation takt voll und findig gemeistert hat. Mercer starrte ihm hin terher. So weit war es also schon gekommen, dachte er. Sei ne Untergebenen hingen an den Lippen dieses großar tigen Dr. Czissar wie – wütend suchte er nach einem 101
Vergleich – wie Schuljungen an einem Cricketstar. Es war demütigend, schlimmer noch, geradezu demorali sierend. Hier saß er, Kommissar Mercer, in seinem Dienstzimmer und wartete darauf, daß ein stellungslo ser tschechischer Polizeibeamter ihm erzählte, wie er seine Arbeit zu tun habe. Etwas mußte unternommen werden. Nur was? Sich zu weigern, den Mann zu emp fangen, brachte ihm bloß Scherereien mit diesem alten Trottel im Innenministerium. Außerdem – mit maso chistischem Ingrimm entrang er seinem Unterbewußt sein dieses Geständnis – wollte er Dr. Czissar sehen, und zwar nicht nur, weil er erleben wollte, wie sich der Tscheche lächerlich machte. Er war, wie er sich erbit tert eingestehen mußte, auch einfach neugierig. Ratlos starrte er auf seine zweite Tasse Tee, die er noch immer nicht angerührt hatte, als Dr. Czissar ge meldet wurde. Dr. Czissar betrat das Zimmer, hielt den Regen schirm an die Hosennaht, schlug die Hacken zusam men, verbeugte sich und rief: »Dr. Jan Czissar, Poli zeipräsidium Prag. Zu Diensten.« Mercer beobachtete das allzu vertraute Schauspiel mit unverhülltem Abscheu. »Setzen Sie sich, Doktor«, sagte er kurz. »Inspektor Denton hat mir erzählt, daß Sie im Fall Mortons Hind einen Vorschlag machen möchten.« Dr. Czissar setzte sich umständlich und beugte sich vor. »Vielen Dank, Herr Kommissar«, sagte er ernst. »Es ist sehr freundlich, daß Sie mich abermals emp fangen.« Mercer bemühte sich, den spöttischen Ton heraus 102
zuhören, den er bei Dr. Czissar vermutete. »Keine Ur sache«, erwiderte er barsch. Dr. Czissar schüttelte den Kopf. »Sie sind sehr lie benswürdig. Alle sind hier so freundlich. Wissen Sie, Herr Kommissar, am meisten vermißt ein Emigrant seine Arbeit. Polizeiliche Ermittlungen, das ist mein Leben. Ich bin Ihnen dankbar für die Gelegenheit, die Sie mir, einem Außenstehenden, gegeben haben, mich wieder nützlich zu machen.« »Nett von Ihnen, es so auszudrücken«, sagte Mer cer schroff. »Und nun, wenn Sie mir etwas zu berich ten haben …« Dr. Czissar lehnte sich zurück. Mercer glaubte sei ne Enttäuschung zu spüren. »Ich werde Ihre Zeit na türlich nicht vergeuden, Herr Kommissar«, sagte er steif. »Ich würde Sie nicht belästigen, wenn es nicht um die Unschuld dieses jungen Wilder ginge.« Mercer räusperte sich. »Für mich ist der Fall son nenklar. Unser Sachverständiger, Blundell …« »Ah!« Dr. Czissars Augen leuchteten auf. »Das ist das Wort. Sachverständiger. Der Zeuge, den die Ver teidiger immer attackieren, hm?« Mercer lächelte schief. »Unsere Sachverständigen, Doktor, sind praktisch selber Anwälte. Sie sind Kreuz verhöre gewöhnt.« »Genau. Sergeant Blundell ist augenscheinlich er fahren. Er hat die ihm gestellten Fragen nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet. Nicht mehr, nicht weniger. Sehr lobenswert. Bedauerlicherweise können derartige Aussagen irreführend sein.« 103
»Was wollen Sie damit sagen?« »Sergeant Blundell wurde gefragt, Herr Kommissar, ob ein Schuß, den jemand aus einem in Schulterhöhe gehaltenen Gewehr links von der Straße auf einen Vo gel in dem Baum rechts von der Straße abgibt, einen vorbeikommenden Radfahrer treffen und eine solche Wunde verursachen könnte, wie sie bei dem Toten festgestellt wurde. Blundell antwortete völlig korrekt, daß diese Möglichkeit bestehe.« »Und?« Dr. Czissar lächelte kühl. »Sergeant Blundell hat Ent fernungen gemessen und Berechnungen angestellt. Ganz akkurat. Aber er selbst hat keinen Schuß auf einen Vogel in diesem Baum abgefeuert. Seine Beobachtungen waren daher unvollständig. Vom juristischen Standpunkt her war seine Antwort korrekt. Mr. Gregory könnte durch aus auf diese Weise getötet worden sein. Doch er ist nicht auf diese Weise getötet worden. Und zwar aus ei nem einfachen Grund. Wenn Wilder aus diesem be stimmten Winkel geschossen haben soll, müßte der Vo gel auf einem Ast etwa fünf Meter über dem Erdboden gesessen haben. Der unterste Zweig dieses Baums, Herr Kommissar, ist etwa drei Meter über dem Erdboden.« Mercer richtete sich auf. »Sind Sie sicher, Doktor?« »In solchen Dingen irre ich mich nie«, sagte Dr. Czissar würdevoll. »Nein, nein, natürlich nicht. Entschuldigen Sie mich einen Moment, Doktor.« Mercer griff zum Tele fonhörer. »Inspektor Denton und Sergeant Blundell bitte sofort in mein Büro.« 104
Peinliches Schweigen, bis die beiden erschienen. Dann wurde Dr. Czissar gebeten, seine Erklärung zu wiederholen. Denton knackte mit den Fingern. Mercer sah Blundell an. »Nun?« Blundell errötete. »Schon möglich, Sir. Ich kann nicht behaupten, daß ich die Situation von dem Standpunkt aus betrachtet habe. Vielleicht war es et was an dem Baumstamm, ein Eichhörnchen viel leicht.« Denton grinste. »Das kann ich beantworten, Sir. Ich bin auf dem Land groß geworden. Ein Eichhörnchen, das im November eine einsame Ulme am Rand einer größeren Straße hinaufklettert, ist ziemlich unwahr scheinlich. Demnach war es Mord, hm, Doktor?« Dr. Czissar runzelte die Stirn. »Das zu entschei den«, sagte er steif, »ist Sache des Kommissars.« Er wandte sich höflich an Mercer. »Ob Sie mir wohl ge statten, Herr Kommissar, noch einen weiteren Vor schlag zu machen?« Mercer nickte müde. »Bitte, Doktor.« Ein dünnes Lächeln legte sich auf Dr. Czissars volle Lippen. Er rückte die Brille zurecht, räusperte sich, schluckte laut und beugte sich vor. »Passen Sie auf!« sagte er scharf. Alle paßten auf. »Zu Ihnen, Kommissar Mercer«, begann Dr. Czissar, »würde ich sagen, daß Inspektor Denton oder Sergeant Blundell in dieser Sache keine Schuld trifft. Offensicht lich wollte man Wilder Totschlag nachweisen, und sie haben sich bemüht, den Erwartungen der dortigen Poli 105
zeibeamten zu entsprechen. Die Sache war schon vor ih rer Ankunft verfahren. Dieser Gregory wurde erschos sen aufgefunden. Entweder hatte ihn die Kugel zufällig erwischt, oder er war ermordet worden. In einer kleinen Gemeinde ist Mord noch unangenehmer als in einer großen Stadt. Aber man brauchte gar nicht an Mord zu denken, denn direkt vor ihrer Nase bot sich eine bessere Erklärung. Wilder hatte mit einem 22er Gewehr ge schossen. Gregory wurde von einer 22er Kugel getötet. Ergo: Wilder hat Gregory getötet. Alle sind glücklich und zufrieden – abgesehen von Wilder und mir. Ich bin nicht glücklich, zumal mir klar ist, daß der Unfall nicht so passiert sein kann, wie behauptet wird. Mir scheint, daß tatsächlich ein Mord verübt wurde, auch wenn es den örtlichen Polizeibeamten nicht gefällt. Wer war der Täter? Ich beginne logischerweise beim Opfer. Bei der Leichenschau erklärte Mr. Wretford, be trübt über den Verlust seines Chauffeurs, Gregory habe seit drei Jahren für ihn gearbeitet und sei immer nüchtern, zuverlässig und vertrauenswürdig gewesen. Der Arme habe keine Freunde oder Verwandte. Wirklich jammerschade, und so ungewöhnlich. Ich beschloß, mich ein wenig umzuhören. Ich ging zu der Werkstatt in Penborough und sprach mit einem Mechaniker dort. Ich fand heraus, daß Mr. Wretford in bezug auf seinen Chauffeur nicht ganz die Wahr heit gesagt hatte. Gregory war nicht immer nüchtern. Und für einen Mann in seiner Stellung gab er viel Geld für Wetten aus. Der Mechaniker erzählte mir, Gregory habe bei einem Buchmacher in Penborough 106
gewettet. Ich begab mich also zu diesem Buchma cher.« Dr. Czissar guckte plötzlich verlegen. »Ich fürchte, ich habe nicht ganz korrekt gehandelt«, sagte er klein laut. »Sehen Sie, Kommissar Mercer, ich wollte Infor mationen von diesem Buchmacher haben. Ich sagte, daß ich von der Polizei sei, allerdings ohne hinzuzufü gen, von der Prager Polizei. Ich erfuhr, daß Gregory in den letzten zwölf Monaten zweihundertsiebenund dreißig Pfund bei diesem Buchmacher verloren hatte.« Mercer zuckte zusammen: »Was?« »Zweihundertsiebenunddreißig Pfund, Herr Kom missar. Er hat nie um Kredit gebeten. Gewinne und Verluste erhielt beziehungsweise bezahlte er in Pfundnoten. Sein Lohn, fürchte ich, dürfte für solche Verluste nicht gereicht haben.« »Laut Mr. Wretford bekam er zwei Pfund die Wo che plus Kost«, warf Denton ein. »Ja, genau.« Dr. Czissar lächelte mild. »Der Buch macher folgerte daraus, daß die Wetten in Wahrheit von Mr. Wretford gemacht wurden, der seine Spiel leidenschaft aus privaten Gründen verheimlichen wollte. Eine solche Geheimnistuerei scheint nicht un gewöhnlich zu sein. Aber Gregory wurde ermordet. Das war ungewöhnlich. Die Schlußfolgerung des Buchmachers überzeugte mich nicht. Ich stellte wei tere Nachforschungen an. Unter anderem fand ich heraus, daß vor acht Jahren, kurz vor Mr. Wretfords Pensionierung, einer seiner Firmenangestellten die Summe von fünfzehntausend Pfund in Obligationen 107
und dreihundert Pfund in bar gestohlen hatte und verurteilt worden war. Im Archiv der Lokalzeitung fand ich einen vollständigen Bericht darüber. Die Staatsanwaltschaft wies nach, daß er sich durch Wet ten verschuldet und über einen längeren Zeitraum hinweg systematisch kleinere Geldbeträge gestohlen hatte. Ermutigt durch den Umstand, daß der Klein diebstahl nicht aufgefallen war, hatte er daraufhin die Obligationen gestohlen. Etwas Kurioses war an der Sache. Die Obligationen wurden nicht aufgefunden, und der Angeklagte weigerte sich, etwas dazu zu sa gen, außer daß er sie gestohlen hatte. Für einen Unbe scholtenen fiel das Urteil daher ungewöhnlich streng aus – fünf Jahre Gefängnis. Sein Name war Selton.« »Ich erinnere mich an den Fall«, sagte Denton eif rig. »Gregory Selton – so hieß der Mann.« »Richtig!« sagte Dr. Czissar. »Gregory. Ein junger Mann, der bis zu seinem Tod sehr gern gewettet hat. Er muß nach seiner Entlassung seinen Namen geän dert haben. Und dann begegnen wir ihm an einem Ort, wo man ihn am allerwenigsten vermutet hätte. Er arbeitet als Chauffeur für Mr. Wretford, den Mann, den er um fünfzehntausend Pfund erleichtert hatte!« Mercer zuckte mit den Schultern. »Großzügig von Wretford. Es erklärt nicht, warum er erschossen wur de und von wem.« Dr. Czissar lächelte. »Auch nicht, warum Mr. Wretford bei der Leichenschau log?« »Worauf wollen Sie hinaus?« Dr. Czissar erhob seinen Zeigefinger. »Passen Sie 108
auf! Das einzig Logische an diesem Fall gegen Selton war, daß er über einen längeren Zeitraum hinweg ins gesamt dreihundert Pfund Bargeld gestohlen hatte und damit Wettschulden begleichen wollte. Das ist ein Diebstahl, wie ihn ein kleiner Büroangestellter verübt. Daß er plötzlich fünfzehntausend Pfund stiehlt, ist ab surd. Und wir haben nur sein Wort, daß er sie gestoh len hat.« »Aber warum zum Teufel sollte …« »Mr. Wretford genoß keinen besonders guten Ruf in der City«, fuhr Dr. Czissar fort. »Ich glaube, daß er diese Obligationen zu seinem eigenen Profit umwan delte und daß er damit rechnen mußte, aufzufliegen, als er Seltons Diebstahl entdeckte. Vielleicht stand ihm das Wasser bis zum Hals. Selton, dachte er, würde ohnehin ins Gefängnis gehen. Sollte er sich doch be reit erklären, eine kleine zusätzliche Schuld auf sich zu nehmen, und alles wäre in Butter. Selton würde nach seiner Entlassung seinen Lohn bekommen. Pech für Mr. Wretford, daß Mr. Gregory Selton mit einer be quemen und gut bezahlten Anstellung nicht zufrieden war. Er beschloß, Mr. Wretford zu erpressen. Die Wettschulden, verstehen Sie. Mehr Geld, immer wie der Geld. In dieser Situation war es sehr klug von Mr. Wretford, ihn umzubringen.« »Aber …« »Wie? Ah ja.« Dr. Czissar schenkte ihnen ein freundliches Lächeln. »Ich glaube, daß Mr. Wretford einer plötzlichen Eingebung folgte. Mr. Wretford be sitzt ein großes Grundstück. Wahrscheinlich hörte er 109
Wilders Schüsse in der Nähe, und dabei fiel ihm sein eigenes Gewehr ein. Er war Mitglied eines Schützen vereins. Er wußte, daß Selton bald zurückkehren würde. Er würde vom Haus zu der Stelle hinter der Hecke gelangen, ohne die Straße benutzen zu müssen und zu riskieren, gesehen zu werden. Wenn Selton ge funden würde, würde man den jungen Burschen ver dächtigen. Für ihn ein paar Monate Gefängnis, für den ehrbaren Mr. Wretford Sicherheit. Er stand etwa drei Meter hinter der Hecke, als Selton vorbeiradelte. Er war kaum zu verfehlen.« Dr. Czissar erhob sich. »Es ist natürlich nur eine Vermutung«, sagte er schüchtern. »Sie werden Selton anhand seiner Fingerabdrücke identifizieren und Mr. Wretford wegen Meineides belangen können. Wenn Sie das Grundstück durchsuchen lassen, wird man das Gewehr sicher finden. Eine Überprüfung von Mr. Wretfords Konten wird ergeben, daß er von Selton er preßt wurde. Diese großen Summen in Ein-PfundNoten … aber es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen zu sagen, was Sie tun sollen, hm?« Er lächelte irritiert über diese Vorstellung. »Es wird Zeit, daß ich gehe. Guten Abend, Herr Kommissar.« Einen Augenblick war es still. Dann sagte Denton fröhlich: »Wußte ich doch, daß an der Sache etwas faul war, Sir. Schlaue Kerlchen, diese Tschechen.«
110
Der Fall der überheizten Eigentumswohnung
Kommissar Mercer war nicht oft bei Leichenschau en anwesend. Derlei gehörte nicht zu seinen Aufga ben. Es brauchte schon einen triftigen Grund, damit er an einem nebligen Dezembervormittag in einen Londoner Vorort hinausfuhr, um an einer solchen Untersuchung teilzunehmen, statt in seinem Büro in New Scotland Yard zu sitzen. Die Situation war in der Tat außergewöhnlich. Es sah so aus, als sollte ein Mörder ungestraft davon kommen und als sei Scotland Yard machtlos dagegen. Im Jahre 1933 war die Frau von Mr. Thomas Jones, einem Chemiker in einer mittelenglischen Stadt, in ih rer Badewanne an Kohlenmonoxydvergiftung gestor ben. Bei der Leichenschau stellte sich heraus, daß ihr Tod auf einen schadhaften Boiler zurückzuführen war. Drei Monate zuvor hatte Mr. Jones für seine Frau eine Lebensversicherung in Höhe von 5000 Pfund abgeschlossen. Obwohl nicht ausgeschlossen werden konnte, daß er den Defekt in dem Boiler mög licherweise selbst herbeigeführt hatte, war ihm nichts nachzuweisen. Der Spruch der Kommission lautete auf »Unfalltod«. 1935 heiratete Mr. Jones ein zweites Mal. Seine zweite Frau war fünfzehn Jahre älter. Wettgemacht wurde der Altersunterschied fraglos durch die 15 000 Pfund, welche die zweite Mrs. Jones von ihrer Mutter 111
geerbt hatte. Doch Mr. Jones hatte in der Liebe offen bar nicht viel Glück. Achtzehn Monate nach der Hochzeit starb die zweite Mrs. Jones, und zwar, man höre und staune, an Kohlenmonoxydvergiftung. Sie wurde in ihrem Auto aufgefunden, das mit laufendem Motor in der Garage stand. Nach Aussage des bedau ernswerten Mr. Jones hatte seine Frau immer wieder unter Schwächeanfällen gelitten. Offenbar hatte sie das Auto in die Garage gefahren, dabei war sie ohn mächtig geworden, und in diesem Zustand war sie auf dem Fahrersitz sitzengeblieben. Zu der Zeit hatte ein starker Wind geweht, und durch eine Bö war die Garagentür zugeschlagen, so daß die Frau Opfer der Auspuffgase wurde. Die Tatsache, daß eine geringe Menge Veronal in ihrem Magen gefunden wurde, führte der Hausarzt, sehr zum Verdruß der Polizei, darauf zurück, daß sie regelmäßig Schlaftabletten ge nommen habe. Der Spruch lautete auf »Unfalltod«. Im Jahre 1938 heiratete Mr. Jones, nunmehr finan ziell unabhängig, ein drittesmal. Seine Frau hieß Rose. Sie bezog ein Einkommen von jährlich 1200 Pfund aus Immobilieneigentum, das sie von ihrem Vater ge erbt hatte. Eine Woche vor der Leichenschau, der Mercer jetzt beiwohnte, war Mrs. Jones gestorben – an Kohlenmonoxydvergiftung. Das Paar hatte in einem vornehmen Appartment block gewohnt. Unendlich trauervoll erklärte Mr. Jo nes, daß er am Nachmittag der »Tragödie« in seinem Golfclub gewesen und gegen sechs heimgekehrt sei. In der Wohnung habe es stark nach Kohlegas gerochen, 112
und seine Frau habe tot im Bett gelegen. Die Gashei zung im Schlafzimmer sei voll aufgedreht gewesen. Seine Frau, meinte er, sei ein »sonniges« Gemüt gewe sen, er könne sich nicht erklären, warum sie »sich das Leben genommen« habe. Seiner Ansicht nach war sie zu Bett gegangen, um ihr Nachmittagsschläfchen zu halten, dabei habe sich der Saum ihres Hausmantels im Absperrhahn verfangen, und während sie sich dar aus zu befreien versuchte, habe sie aus Versehen den Hahn aufgedreht. Das Gas – Mr. Jones rang sichtlich um Fassung – habe sie im Schlaf überwältigt. Düster verfolgte Mercer die Aussage. In Anbetracht der früheren Eheabenteuer von Mr. Jones stand für ihn fest, daß Rose Jones ermordet worden war. Die Schwierigkeit war, es zu beweisen. Solange das Schicksal der dritten Gattin Gegenstand eines laufen den Verfahrens war, durfte nach geltendem Recht das Schicksal von Mr. Jones’ ersten beiden Frauen nicht wieder aufgebracht werden. Das wußte zweifellos auch Mr. Jones. Mercer sah, daß der Mann auf die Ge schworenen einen ausgezeichneten Eindruck machte. Ernst und vergrämt machte er seine Aussagen, wobei er über die Tragweite der ihm gestellten Fragen groß zügig hinwegging. Jawohl, er habe den Einbau der Gasheizung veran laßt. Nein, er habe es auf Wunsch seiner Frau getan. Nein, es sei nicht seltsam, daß sie in einer zentralbe heizten Wohnung noch eine Gasheizung benötigt ha be. Sie habe immer gefroren. Ja, es sei die einzige Gas heizung in der Wohnung. 113
In einem anderen Zimmer habe ein kleiner elektri scher Heizofen gestanden, aber seine Frau habe dieses Gerät nicht im Schlafzimmer haben wollen. Nein, es sei nicht merkwürdig, daß er ein altes Mo dell und nicht ein neues habe einbauen lassen, bei dem der Gashahn direkt am Heizkörper sei. Seine Frau ha be eine Vorliebe für das ältere Modell zum Ausdruck gebracht. Jetzt tue es ihm leid, daß er nicht auf dem neuesten Modell bestanden habe. Der Unfall hätte dann nicht passieren können. Um halb drei habe er sich von seiner Frau verab schiedet, um in den zehn Minuten entfernten Golfclub zu gehen. Nein, er sei nicht direkt dorthin gegangen. Vorher sei er noch zu einem Zeitungsladen gegangen und habe dort eine Modezeitschrift für seine Frau ge kauft. Er sei dann zurückgekehrt und habe den Por tier unten im Hauseingang gebeten, die Zeitschrift Mrs. Jones hinaufzubringen. Dann sei er in den Golf club gegangen. Nein, er habe seine Frau nicht mehr lebend gese hen, nachdem er die Wohnung um halb drei verlassen habe. Der Portier müsse der letzte gewesen sein, der sie lebend gesehen habe. Nach seiner Erinnerung sei er gegen drei im Golfclub eingetroffen. Aber er sei sich nicht sicher. Der Sekretär des Golfclubs würde sich wahrscheinlich erinnern. Er sei ihm kurz nach seiner Ankunft begegnet. Ja (jetzt mit einem fragenden Stirnrunzeln), in der Wohnung gebe es eine Gasuhr. Ja, der Haupthahn sei daneben. Soweit er sich erinnere, befinde sich die 114
Gasuhr über einem Schrank gleich neben der Woh nungstür. Ja, er habe vorgeschlagen, daß die Uhr dort und nicht in der Küche angebracht werde. Sie hätte dort nur Stellplatz weggenommen. Mercer fiel auf, daß die Geschworenen allmählich unruhig wurden. Offensichtlich war ihnen der Sinn dieser Fragen nicht klar. Diese Knallköpfe! Man hatte ihnen doch einen Plan der Wohnung gezeigt. Und la sen sie denn nie Zeitung? Konnten sie sich die Szene nicht vorstellen? Mr. Jones sperrt den Haupthahn zu und dreht dann die Gasheizung im Schlafzimmer auf; Mr. Jones kehrt mit der Zeitschrift in die Eingangshal le zurück; der Portier fährt mit dem Lift nach oben, um die Zeitschrift abzuliefern, während Mr. Jones zu Fuß die Treppe hochsteigt. Konnten sie nicht sehen, wie Mr. Jones auf der Treppe wartet, während der Portier wieder hinunterfährt und seine Frau ins Bett steigt? Konnten sie nicht sehen, wie Mr. Jones leise die Wohnungstür öffnet, die Hand nach dem Haupt hahn ausstreckt und ihn wieder aufdreht und die Wohnung still wieder verläßt? Der Portier hatte doch zugegeben, daß er den Eingang nicht die ganze Zeit im Blick hat. Sahen sie denn nicht, daß Mr. Jones all das getan haben und rechtzeitig wieder im Club sein konnte, um sich »kurz nach drei« einem Tattergreis von Sekretär zu zeigen? Es war doch sonnenklar. »Diese Knallköpfe!« murmelte er, und Inspektor Denton neben ihm nickte beifällig. Und dann sah er Dr. Czissar. Der tschechische Emigrant saß auf einem der für 115
die Presse reservierten Plätze, und als seine braunen Kuhaugen den grauen Augen Mercers begegneten, neigte er respektvoll den Kopf. Mercer nickte kurz und sah weg. Er hörte Dentons überraschten Grunzer und hoffte, sein Assistent würde es nicht für notwendig halten, sich über Dr. Czissars Anwesenheit auszulassen. Der letzte, an den er in die sem Moment denken wollte, war Dr. Jan Czissar. Seit jenem ersten Tag, an dem dieser blasse, bebrillte Tsche che mit Regenschirm und einem Empfehlungsschreiben von einem hohen Tier im Innenministerium in seinem Büro erschienen war, hatte Mercer sein schwer ange schlagenes Selbstwertgefühl pflegen müssen. Zweimal war die Wunde wieder geöffnet worden. Insgesamt dreimal hatte er zuhören müssen, wie Dr. Czissar in seiner unangenehm belehrenden Art demonstrierte, daß Scotland Yard sich geirrt hatte, während er, Dr. Jan Czissar, »Polizeipräsidium Prag«, recht hatte. Während Mercer einem Vertreter der Gaswerke zu hörte, der Mr. Jones’ Angaben hinsichtlich der Installa tion der Gasheizung bestätigte, versuchte er, die Ge danken an Dr. Czissar zu verscheuchen. Doch die Er innerung an frühere Demütigungen nagte an ihm. Er wurde den Mann nicht los. Er überlegte, warum Dr. Czissar bei der Verhandlung anwesend war, was er auf der Pressebank machte und was er wohl von dem Fall hielt. Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung ver nahm er die Ankündigung des Kommissionsvorsit zenden, daß die Verhandlung für die Mittagspause un terbrochen werde. 116
Er erhob sich. »Wir könnten gegenüber eine Klei nigkeit essen und etwas trinken, Denton.« »In Ordnung, Sir.« Sie waren kaum drei Schritte gegangen, als die Ne mesis, die sich in Gestalt von Dr. Czissar an einem Polizisten und einem dicken Zuschauer vorbeige schlängelt hatte, sie einholte. »Kommissar Mercer, bitte!« rief Dr. Czissar atemlos. »Dr. Jan Czissar, Polizeipräsidium Prag. Zu Diensten. Ich würde gern mit Ihnen über diesen Fall reden, wenn es Ihnen recht ist.« Er verbeugte sich flüchtig vor Denton. Mercer schenkte ihm ein giftiges Lächeln. »Ach, Dr. Czissar! Arbeiten Sie jetzt für die Presse?« Dr. Czissar stutzte. »Die Presse? Nein, ich arbeite noch immer an meinem Buch über Gerichtsmedizin. Ach so, jetzt verstehe ich. Der Platz. Er wurde mir von einem Reporter mit Presseausweis überlassen. Aber« – er lächelte schüchtern – »vielleicht dürfte ich das nicht verraten, hm?« Mercer grunzte. Der Doktor lief nun federnden Schritts neben ihnen her, und sein langer, grauer Man tel wallte ihm um die Beine. Denton, der weniger Würde zu verlieren hatte als Mercer und Dr. Czissar daher für sehr klug hielt, hätte den Fall gern bespro chen, sah aber Mercers Gesichtsausdruck und schwieg. »Ich war sehr überrascht«, fuhr Dr. Czissar fort, während sie die Stufen zur Straße hinuntergingen, »Sie heute vormittag in diesem Gerichtsgebäude zu sehen, 117
Herr Kommissar. Es schien sich ja um einen unbedeu tenden Fall zu handeln. Aber da hatte ich noch nicht die Zeugenaussagen gehört. Ich möchte Ihnen mein Kompliment aussprechen, Herr Kommissar. Die Exi stenz des elektrischen Heizofens ist sehr geschickt nachgewiesen worden. Ich hatte einen Moment be fürchtet, daß der Mörder mit seinem Trick durch kommen würde. Aber ich hätte es besser wissen sollen. Es ist ein äußerst interessanter Fall.« Mercer blieb wie angewurzelt stehen. »Wie soll ich das mit dem Heizofen verstehen?« fragte er. Etwas verängstigt wiederholte Dr. Czissar den Satz. »Darf ich Sie daran erinnern, Doktor«, schnappte Mercer, »daß Mrs. Jones nicht zu Tode verbrannt und auch nicht durch einen Stromschlag getötet, sondern vergast wurde?« Ein irritierter Ausdruck trat auf Dr. Czissars Ge sicht. »Aber ich dachte«, sagte er zögernd, »Sie hätten verstanden, daß …« Er beendete den Satz nicht. Der irritierte Gesichtsausdruck machte einem Ausdruck großer Verlegenheit Platz. Dr. Czissar richtete sich auf. »Pardon, Herr Kommissar«, sagte er förmlich, »ich ha be einen Fehler gemacht. Entschuldigen Sie bitte.« Mercers Magen krampfte sich zusammen und mach te dem Kommissar schmerzlich bewußt, daß die De mütigungen durch Dr. Czissar noch nicht zu Ende wa ren, daß die Wunde abermals aufgerissen würde. Es ließ sich nicht vermeiden, Dr. Czissar hatte an diesem Fall offenkundig etwas verstanden, was er selbst nicht verstanden hatte. Er, Mercer, mußte wissen, was das 118
war, ehe die Verhandlung mit dem Urteil »Unfalltod« abgeschlossen würde. Und es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Er wappnete sich für die bevorste hende Nervenprobe. »Ich würde sehr gern mit Ihnen über den Fall spre chen, Doktor«, sagte er feierlich. »Inspektor Denton und ich waren gerade im Begriff, einen kleinen Imbiß einzunehmen. Wenn Sie uns vielleicht begleiten möchten …« Drei Minuten später saß ein völlig verwirrter Dr. Czissar mit einem Whisky Soda und einem Schinken sandwich vor ihm. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Kommissar«, erklärte er immer wieder. Die braunen Augen hinter den dicken Brillengläsern glit zerten, wie von Tränen. »Keine Ursache.« Mercer holte tief Luft. »Ich muß Ihnen etwas gestehen, Doktor. Wir wissen nicht, daß es in diesem Fall um Mord geht. Wir glauben es nur. Jones hatte drei Frauen, von denen diese Frau die drit te war. In allen drei Fällen handelte es sich offenbar um Unfalltod durch Kohlenmonoxydvergiftung. Dar auf gründet unsere Vermutung, daß Jones ein Mörder ist. Mit den uns zur Verfügung stehenden Beweisen können wir es ihm aber offen gesagt nicht nachweisen. Wie Sie unseren Fragen heute vormittag unschwer entnehmen können, sind wir überzeugt, daß Jones in die Wohnung zurückkehrte, bevor er zum Golfclub ging, und den Haupthahn aufdrehte, so daß im Zim mer seiner schlafenden Frau das Gas austrat. Bevor er hinausging, brauchte er also nur den Heizungshahn 119
offenzulassen und den Haupthahn zuzudrehen. Aber wir brauchen einen Beweis, Doktor, Sie haben uns früher schon geholfen. Wenn Sie uns diesmal wieder helfen könnten, wären wir Ihnen sehr verbunden.« Denton fand Dr. Czissars Reaktion übertrieben ge fühlvoll. »Kommissar Mercer«, sagte er eifrig, »Ihr Vertrauen ehrt mich zutiefst. Es ist mir eine aufrichtige Freude, der Nation helfen zu können, die mich und andere meiner bedauernswerten Landsleute so gast freundlich aufgenommen hat. Auch ich werde offen sein. Wenn Sie heute nicht anwesend gewesen wären, hätte ich mir nur die Aussagen der medizinischen Gut achter angehört. Ich werde Ihnen folgendes sagen. Wenn ich gewußt hätte, was Sie mir über Mr. Jones be richtet haben, hätte ich den Fall sicher nicht verstanden. Dieser Mann ist sehr clever. Ich werde es Ihnen erklä ren.« »Ich bitte darum«, sagte Mercer trocken. Ein feines, dünnes Lächeln legte sich auf Dr. Czis sars volle Lippen. Er rückte die Brille zurecht. Dann räusperte er sich, schluckte laut und beugte sich vor. »Passen Sie auf!« sagte er scharf. »Zunächst einmal«, sagte Dr. Czissar, »habe ich über diese Geschichte von dem unabsichtlich aufge drehten Gashahn nachgedacht. Ich habe versucht, es mir vorzustellen. Da ist ein Gashahn, und diese Dame hat einen langen Hausmantel, der sich in dem Gas hahn verfängt und ihn dadurch aufdreht. So weit, so gut. Unwahrscheinlich, wie alle Unfälle, aber möglich. Was passiert dann? Mr. Jones zufolge war der Hahn 120
voll aufgedreht, als er in die Wohnung zurückkam und seine Frau tot vorfand. Wir sollen also glauben, daß, während die Dame diesen Hausmantel ablegte, ins Bett stieg und einschlief, der Hahn die ganze Zeit voll aufgedreht war. Das wiederum erschien mir un möglich. Herr Kommissar, ich werde Ihnen erklären, warum.« »Ich höre«, warf Mercer rasch ein. »Ein voll aufgedrehter Hahn verursacht bei nicht angezündetem Gas ein Geräusch. Aber nehmen wir einmal an, daß diese Dame ein wenig taub war. Wir müssen jetzt den Geruch des Gases berücksichtigen. Mein eigener Geruchssinn ist nicht besonders fein, aber ich kann mühelos einen Teil Gasgeruch in sie benhundert Teilen Luft herausriechen. Viele Men schen, besonders Nichtraucher, können einen Teil Gas in zehntausend Teilen Luft herausriechen. Ist es möglich, daß diese Dame in einem kleinen Zimmer mehrere Minuten wach dalag, ohne das ausströmende Gas zu riechen? Ich glaube nicht. Die Unfallversion fällt also weg. Und ist die Poli zeitheorie nicht auch unmöglich? Mr. Jones verläßt die Wohnung um halb drei. Um fünf nach halb drei übergibt er dem Portier die Zeitschrift. Er muß dann die Treppe hinaufsteigen und warten, bis der Portier wieder verschwunden und seine Frau eingeschlafen ist. Nehmen wir einmal an, daß er die Gewohnheiten seiner Frau gut kennt und genau weiß, wann sie einge schlafen sein wird. Mindestens zwanzig Minuten wird er auf der Treppe warten müssen. Dann muß er das 121
Gebäude wieder verlassen und ungesehen den Golf club erreichen. Das dürfte für ihn ein ungeheures Ri siko gewesen sein. Einer der Mieter hätte ihn im Trep penhaus sehen können. Ich glaube nicht, daß ein Mann wie Mr. Jones ein solches Risiko eingegangen wäre.« »Dann war es also kein Mord?« fragte Denton. Dr. Czissar lächelte. »O doch, es war Mord, In spektor. Keine Frage. Aber vergessen Sie nicht, Mr. Jones war clever. Er wollte seine dritte Frau umbrin gen. Nun gut. Ihm war sofort klar, daß die Polizei wegen der zwei vorangegangenen Fälle, die Sie er wähnt haben, sofort an Mord denken würde, wie ge schickt er es auch anstellen mochte, daß es wie ein Unfall aussah. Seine Raffiniertheit besteht darin, daß er sich des Verdachts der Polizei bedient, um garan tiert als Unschuldiger dazustehen. Sie sind, verständli cherweise, davon ausgegangen, daß er sich zurückstahl und den Gashaupthahn öffnete. Bedenken Sie nur, was er alles tat, um Sie in dieser Ansicht zu bestärken! Er ließ die Gasheizung einbauen, obwohl die Zentral heizung für genügend Wärme sorgte. Sehr verdächtig. Er verlangte ausdrücklich ein veraltetes Modell, so daß er sagen konnte, daß es ein Unfall war. Sehr ver dächtig. Sein Alibi ist nicht hieb- und stichfest. Auch das sehr verdächtig. Das einzige, was er Ihnen nicht verschaffte, war der Beweis daß er in die Wohnung zurückgekehrt ist. Und er weiß, daß Sie diesen Beweis allein nicht beibringen können. Warum? Weil es die sen Beweis nicht gibt. Er ist überhaupt nicht in die 122
Wohnung zurückgekehrt. Er hat also nichts zu be fürchten. Was macht es schon, wenn er verdächtigt wird? Man kann ihm nichts nachweisen, weil Sie et was beweisen wollen, was nicht passiert ist.« »Verrückt!« rief Denton. »Richtig«, bestätigte Dr. Czissar höflich. »Aus mei ner Sicht sah das alles aber ganz anders aus. Von den anderen Morden war mir nichts bekannt. Ich habe nur den Tatbestand dieses Falles gesehen. Ich habe nur eine Frau gesehen, die an einer Kohlenmonoxydvergiftung starb, und einen Mann, der Chemiker ist und ein Ver mögen erben wird. Kohlengas? Das behauptet er. Aber er ist ein Verdächtiger.« »Aber verdammt …«, brach es aus Mercer heraus. »Kohlengas«, fuhr Dr. Czissar fort, »ist zweifellos giftig wegen des darin enthaltenen Kohlenmonoxyds. Ein Chemiker hätte aber andere Möglichkeiten, ein Zimmer mit Kohlenmonoxyd zu füllen. Ein kleiner Holzkohlengrill, beispielsweise.« »In der Wohnung war kein Holzkohlengrill«, sagte Mercer. »Und auch keine Spur von einem«, fügte Denton hinzu. Dr. Czissar kicherte. »Du lieber Himmel, nein. Das hatte ich auch nicht erwartet. Ich wollte Ihnen nur ein Beispiel geben. Ist Ihnen aufgefallen, Herr Kommis sar, daß eine Gasheizung in einer zentralgeheizten Wohnung zwar merkwürdig erschien, daß aber nie mandem merkwürdig erschien, daß dort auch ein Heizöfchen stand?« 123
»Sie meinen, er hat die Holzkohle auf den elektri schen Heizofen gelegt?« »Nein, ich bitte Sie«, widersprach Dr. Czissar ta delnd mit erhobenem Zeigefinger. »Das habe ich nicht gesagt. Der Mann ist Chemiker. Wie wird im Labor reines Kohlenmonoxyd hergestellt? Ich werde es Ih nen sagen. Man reduziert Kreide durch Erhitzen mit Zinkstaub. Er braucht nicht viel davon. Ein Teil Koh lenmonoxyd in hundert Teilen Luft ist eine genügend hohe Konzentration, um in sehr kurzer Zeit, wenig mehr als einer Stunde, einen Menschen umzubringen. Und reines Kohlenmonoxyd ist geruchlos.« »Aber …« »Passen Sie auf!« sagte Dr. Czissar scharf. »Meines Erachtens ist der Mörder folgendermaßen vorgegan gen. Mr. Jones nahm, bevor er an jenem Tag die Wohnung verließ, das Heizöfchen und legte es unter das Bett seiner Frau. Dann streute er eine Mischung aus Kreide und Zinkstaub über die Heizdrähte, schloß das Gerät an die Steckdose an und verabschiedete sich. Dann schickte er den Portier mit der Zeitschrift hoch. Er sollte später aussagen können, daß seine Frau zu diesem Zeitpunkt noch lebte. Aber sie lebte nicht mehr lange. Sobald der Heizofen heiß wurde, reagier te die Kreide-Zinkstaub-Mischung und produzierte eine große Menge Kohlenmonoxyd. Als Mr. Jones um sechs Uhr nach Hause kam, war seine Frau tot. Er entfernte das Heizöfchen und drehte die Gasheizung an. Sobald der Gasgeruch in der Wohnung stark ge nug war, rief er um Hilfe.« 124
»Aber der Beweis, Mann – der Beweis!« »O ja. Der Zinkstaub muß in einem Geschäft für Laborbedarf gekauft worden sein. Er wird oft als Re duktionsmittel eingesetzt. Eine Überprüfung des Heizofens könnte ebenfalls weiterhelfen. Der Polizei chemiker wird auf den Heizdrähten vermutlich Spu ren von Kalziumoxyd und Zinkoxyd finden. Und der Teppich unter dem Bett ist wahrscheinlich angesengt. Selbst die Rückseite von Heizöfen kann sehr heiß werden.« Mercer sah Denton an. »Wir sollten besser eine Vertagung der Leichenschau beantragen, Sir.« Mercer nickte. Dann sah er wieder zu Dr. Czissar, der vorsichtig an seinem Sandwich knabberte. »Also, Doktor«, sagte er so herzlich, wie er konnte, »wir müssen uns wieder bei Ihnen bedanken.« Er hob sein Glas. »Auf Ihr Wohl!« Dr. Czissar legte das Sandwich hin. Seine blassen Wangen röteten sich leicht. Er strahlte vor Freude. »Ich habe noch nie englischen Whisky getrunken«, sagte er rasch, »aber ich kenne den englischen Trink spruch.« Er hob das Glas. »Cheerio! All the best!« rief er mit schallender Stimme. Er trank, setzte das Glas ab und schüttelte sich hef tig. »All the best«, wiederholte er tapfer und biß ein großes Stück von seinem Sandwich ab.
125
Der Fall des betrunkenen Sokrates
Im New Scotland Yard sind geduldige, desillusio nierte Männer einzig und allein damit beschäftigt, die anonymen Briefe zu sichten, die in England massen haft geschrieben werden. Sie lesen, sie ordnen, sie ar chivieren. Kaum ein Brief unter Tausenden ist mehr als einen flüchtigen Blick wert. Für die Haltung, die Kommissar Mercer in der Affäre offenbarte, die von der Presse später als der »Fall des betrunkenen Sokra tes« bezeichnet wurde, kann man ihm kaum einen Vorwurf machen. Allerdings konnte Mercer, selbst wenn es nicht um einen anonymen Brief gegangen wäre, der Fall nicht behagen, und zwar einzig und allein darum, weil Dr. Jan Czissar ihn auf den Fall aufmerksam gemacht hatte. Ein angeknackstes Selbstwertgefühl ist schon für einen normalen Menschen schlimm genug. Für einen Kommissar von Scotland Yard ist es ausgesprochen verheerend. Und wenn man bedenkt, daß Dr. Czissar ihn nicht nur einmal, sondern schon viermal gedemü tigt hatte, so ist Mercers Verhalten durchaus ent schuldbar. Bei vier verschiedenen Gelegenheiten hat te Dr. Czissar höflich, aber unwiderlegbar beweisen können, daß Scotland Yard im allgemeinen und Kommissar Mercer im besonderen nicht unfehlbar waren; und Mercer war auch nicht dankbar, wie ein schlichtes Gemüt vielleicht erwartet hätte. 126
Nun ergab es sich, daß Mercer an jenem Dezem bernachmittag, als Dr. Czissar sich zum fünften Mal in die Angelegenheiten von Scotland Yard einmischte, äußerst zufrieden mit sich war. Er hatte gerade einen schwierigen Fall bravourös abgeschlossen. Der Chef hatte ihn beglückwünscht. Dr. Czissar war vergessen. Mercer fühlte sich stark und kompetent. Da wurde ihm Dr. Czissar gemeldet. Ein verletztes Selbstwertgefühl heilt nicht sehr schnell, selbst dann nicht, wenn die Wunden vergessen sind. Wenn Mercer schon überrascht und verärgert war, daß sich ihm bei der Ankündigung plötzlich die Brust zusammen schnürte, so machte ihn die Reaktion seines Kopfes wütend. Ehe es ihm bewußt wurde, gingen ihm blitz artig all die Fälle durch den Sinn, an denen seine Ab teilung gegenwärtig arbeitete, und er fragte sich, wel cher von ihnen das beunruhigende Interesse Dr. Czis sars auf sich lenken mochte. Dann riß er sich zusam men; er durfte sich nicht so irremachen lassen. »Na schön«, sagte er müde, »er soll reinkommen.« Eine Minute später hörte er draußen auf dem Korri dor Dr. Czissars langen wehenden Regenmantel, und er wartete, wie ein Häftling auf die nächste Drehung der Daumenschraube wartet, auf Dr. Czissars unver meidliche Begrüßung. Da. Der Doktor betrat das Zimmer, hielt den unaufgerollten Regenschirm an die Hosennaht, schlug die Hacken zusammen und rief laut: »Dr. Jan Czissar, Polizeipräsidium Prag. Zu Diensten.« »Wie geht’s, Doktor? Bitte nehmen Sie Platz.« Das 127
runde, blasse Gesicht entspannte sich. Die braunen Kuhaugen hinter den dicken Brillengläsern wurden größer. »Mir geht es gut, vielen Dank, Kommissar Mercer.« Er setzte sich. »Sehr gut sogar. Ich bin nur ein wenig besorgt. Sonst würde ich mir nicht erlauben, Ihnen Ihre Zeit zu stehlen. Es geht um einen sehr kuriosen Fall.« Mercer wappnete sich innerlich. »Ach, was Sie nicht sagen?« lachte er gespielt fröhlich. »Was haben wir denn diesmal angestellt? Uns wieder einen Mör der durch die Lappen gehen lassen?« Dr. Czissar war schockiert. »Aber nein, ich bitte Sie! Das wäre doch ganz unwahrscheinlich. Ihre Be amten sind äußerst tüchtig. Es geht um einen Mord, aber ich glaube nicht, daß Scotland Yard hier versagt hat. Die Polizei weiß nichts von diesem Fall. Ich muß erklären, daß ich nur durch meine Zimmerwirtin da von weiß.« »Ihre Zimmerwirtin?« »Ich wohne in Bloomsbury, Herr Kommissar, am Metternich Square. Das Haus ist sehr schön, sehr sau ber, außer mir wohnen noch vier Studenten dort. Das Haus gehört meiner Wirtin, Mrs. Falcon. Da ihr be kannt ist, daß ich gewisse Erfahrung in Polizeidingen habe, hat sie mir diesen Fall zur Kenntnis gebracht und mich um Rat gebeten.« Seine Kuhaugen guckten noch pathetischer. »Und so bitte ich Sie nunmehr um Ihren Rat in dieser Angelegenheit, Kommissar Mercer, wenn Sie die Güte hätten.« 128
Rat! Dr. Czissar bat ihn um Rat! Mercer traute sei nen Ohren kaum. »Selbstverständlich, Doktor. Jederzeit.« »Sehr liebenswürdig. Darf ich Ihnen den Fall darle gen?« »Ja, ich bitte darum.« »Alles begann mit einem Todesfall«, sagte Dr. Czis sar ernst. »Am 20. Juni dieses Jahres starb der Bruder meiner Wirtin, Captain Pewsey, unerwartet in seinem Haus in Meresham, einer kleinen Stadt dreißig Kilo meter von London. Das war sehr betrüblich für meine Wirtin, die ihren Bruder sehr gern hatte, trotz seiner Schwächen. Er trank nämlich zuviel Whisky, Herr Kommissar. Vor etwa fünf Jahren heiratete er eine sehr viel jüngere Frau. Mrs. Falcon glaubt, daß diese Mrs. Pewsey ihn nicht glücklich gemacht hat. Ich habe schon gesagt, daß der Captain ein großer Trinker war. Ungefähr eine Woche vor seinem Tod ging er wegen Herzbeschwerden zu einem Arzt in Meresham. Der Arzt untersuchte ihn und stellte eine kleine Herzschwäche fest. Er empfahl dem Captain, weniger Whisky zu trinken und gesünder zu leben. Es bestehe keine große Gefahr, meinte er, aber es sei rat sam, sich zu mäßigen. Danach trank der Captain tatsächlich mehrere Tage nicht mehr so viel, doch den Abend des 20. Juni ver brachte er mit einem Bekannten – Mr. Stenson. Der Captain war in der Versicherungsbranche tätig gewesen, und mit Mr. Stenson war er befreundet, seit er ihm eine Lebensversicherung verkauft hatte. Au 129
ßerdem spielten die beiden Golf. Möglicherweise gab es auch einen finanziellen Grund für das freundschaft liche Verhältnis, das der Captain zu Mr. Stenson pflegte: Mr. Stenson arbeitet in der Londoner City, er verdient viel Geld und kennt wichtige Leute. Der Captain wird ihn nützlich gefunden haben. Den Abend jenes 20. verbrachte er mit Mr. Stenson und anderen Männern im Golfclub; gegen zehn Uhr verließen der Captain und Mr. Stenson gemeinsam den Club und machten sich zu Fuß auf den Nachhau seweg. Zuerst gelangte man zu Mr. Stensons Haus, und der Captain ging noch auf ein paar Whisky mit hinein. Kurz nach elf verabschiedete sich der Captain und ging nach Hause. Mittlerweile dürfte er ein wenig betrunken gewesen sein. Seine Frau war schon zu Bett gegangen, und sie sagte später, sie habe ihn durch den Flur auf sein Zimmer torkeln hören. Dann schlief sie wieder ein. Am Morgen, als sie in sein Zimmer kam, fand sie ihn, noch immer angekleidet, in einem Sessel sitzen. Er war ganz blau im Gesicht und wie tot. Sie rief sofort den Arzt, der feststellte, daß der Cap tain tatsächlich tot war. Der Arzt war ein wenig be fremdet. Erst eine Woche zuvor hatte er den Captain untersucht, aber nicht gedacht, daß es so schlecht um sein Herz stand, daß ein, zwei Gläser zuviel ihn um bringen würden. Er wies Mrs. Pewsey darauf hin und erklärte, daß er vor der Ausstellung des Totenscheins gern eine Obduktion durchführen wolle. Sie zögerte und gab erst nach längerem Drängen nach. Er führte die Untersuchung durch und stellte fest, daß der Tod 130
durch Ersticken aufgrund eines Herzversagens erfolgt war. Demgemäß stellte er dann den Totenschein aus.« »Ein sehr vorsichtiger Arzt«, bemerkte Mercer. Dr. Czissars Kuhaugen sahen ihn an. »Ärzte sollten immer vorsichtig sein. Aber lassen Sie mich mit der Geschichte fortfahren. Vor einem Monat heiratete Mr. Stenson Mrs. Pewsey.« Mercer runzelte die Stirn. »Ziemlich fix.« Dr. Czissar nickte betrübt. »Das war auch Mrs. Falcons Ansicht. Von der Hochzeit erfuhr sie über ei ne Bekannte, die in Meresham wohnt. Es hat sie sehr getroffen. Sie hatte ihren Bruder seit seiner Heirat nur selten gesehen, da sie Mrs. Pewsey nicht leiden konn te, aber an ihrer Zuneigung für ihren Bruder änderte es nichts. Sie fand es ungut, daß die Witwe sein An denken so wenig pflegte, und war auch überrascht, denn bei der Beerdigung war nichts über eine Freund schaft zwischen den beiden verlautet. Und dann« – er griff in seine Tasche und holte drei gefaltete Bögen Papier heraus – »zeigte mir Mrs. Falcon dies hier. Es sind drei Briefe, der Reihenfolge nach numeriert.« Mercer nahm die Blätter und suchte Nummer eins heraus. Liebe Mrs. Falcon [las er] – Ihre Schwägerin hat den Freund Ihres Bruders ge heiratet. So schnell! Merkwürdig, nicht wahr? An Ihrer Stelle würde ich mir ein paar Fragen stellen. Warum ist Ihr Bruder gestorben? Er stand in der Blüte seines Lebens. Er hatte die besten Jahre noch 131
vor sich. Ärzte sind nicht allwissend. Captain Pewsey war kräftig wie ein Ochse. Beste Grüße, ein freund Der Brief war getippt. Mercer überflog rasch die bei den anderen Briefe, sah, daß sie ähnlich waren, und guckte hoch. »Tja, Doktor, davon kriegen wir reichlich. Wissen Sie, wer sie geschrieben hat?« Dr. Czissar nickte. »O ja, Mrs. Falcon hat sie ge schrieben.« »An sich selbst.« »Ja. Sie sagt, sie hat die Briefumschläge weggewor fen. Und« – Dr. Czissar lächelte traurig – »sie hat eine Vorliebe für bestimmte Ausdrücke. Mrs. Falcon ist eine freundliche Frau, aber sie ist frustriert. Sie hatte wohl gehofft, daß ihr Bruder, der Captain, ihr etwas Geld hinterlassen würde. Aber diese Briefe sind inter essant, finden Sie nicht?« »Der übliche Giftkram.« »O ja, aber interessant. Und ihr Ziel haben sie ja auch erreicht. Mrs. Falcon wollte, daß ich nach Me resham fahre und dort mit meinen Fragen einen Skan dal verursache. Ich bin dort gewesen und habe einige Fragen gestellt. Es wird sicher einen Skandal geben.« »Aber Sie nehmen dieses Zeug doch nicht ernst?« »Doch.« Dr. Czissar beugte sich vor. »Und ich möchte, daß Sie es ebenfalls ernst nehmen, Herr Kommissar.« 132
»Aber warum? Offenbar soll der Eindruck erweckt werden, daß Pewsey von Stenson ermordet wurde. Nach all den Fakten, die Sie mir geschildert haben, ist diese Theorie offenkundig absurd. Pewsey war ein starker Trinker mit einem schwachen Herzen. Die Ursache seines Todes wird durch eine Obduktion be stätigt. Alles sonnenklar. Wenn Ihre Mrs. Falcon nicht aufpaßt, wird sie mit ihren Vorwürfen noch auf der Anklagebank landen.« Die traurigen braunen Augen blinzelten. »Aber, Herr Kommissar, Mrs. Falcon erhebt keine Vorwürfe. Sie glaubt bestimmt auch nicht, daß an der Sache et was nicht stimmt. Sie will, wie gesagt, nur einen Skan dal verursachen, um sich an ihrer Schwägerin zu rä chen. Sie kommt vor allem deswegen zu mir, um sich trösten zu lassen und weil sie über die Geschichte sprechen will. Sie ist zufrieden, daß ich in Meresham war, aber bei meiner Rückkehr fragte sie mich nicht einmal, ob ihr Bruder möglicherweise eines unnatürli chen Todes gestorben sein könnte. Die in ihren Brie fen angedeuteten Unterstellungen waren die reine Bosheit. Sie hatte nicht die leiseste Idee, daß ihre An deutungen eine reale Basis haben könnten. Nein, Herr Kommissar, Vorwürfe werden nicht von Mrs. Falcon erhoben, sondern von mir.« Mercer lehnte sich zurück. »Und wen beschuldigen Sie, Doktor?« Dr. Czissar räusperte sich und schluckte laut. »Pas sen Sie auf!« sagte er scharf. »Bin ganz Ohr«, bellte Mercer. 133
»Gut. Dann werde ich Ihnen zuerst die Tatsachen schildern. Die erste ist in Mrs. Falcons Briefen an sich selbst enthalten. Drei Monate nach dem Tod des Cap tain heiratet Mrs. Pewsey Mr. Stenson. ›So schnell! Merkwürdig, nicht wahr?‹ sagte Mrs. Falcon. Das ist tatsächlich merkwürdig, Herr Kommissar. Drei Mo nate ist sehr wenig Zeit, um einen Mann zu beerdigen, um sich an das Alleinsein zu gewöhnen, um sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, den toten Mann durch einen anderen zu ersetzen, und ihn dann tat sächlich zu heiraten. In so kurzer Zeit könnte man ei ne Entscheidung treffen, aber tatsächlich auch zu hei raten … Ich halte das für eher unrealistisch. Ich glau be, Mrs. Pewsey und Mr. Stenson hatten schon vor dem Tod des Captain an eine Heirat gedacht.« »Das können Sie nicht beweisen«, sagte Mercer rasch. »Einige Indizien stützen meine These, Herr Kom missar. Zunächst einmal ihre Heimlichtuerei. In einer kleinen Ortschaft wie Meresham etwas geheimzuhal ten, ist sicher nicht einfach. Dennoch, hätte ein Mit glied des Golfclubs von Meresham Mr. Stenson und die Dame nicht einen Tag nach ihrer Hochzeit in ei nem Londoner Hotel gesehen, niemand in Meresham hätte geahnt, daß die beiden auch nur miteinander ge sprochen hätten. Wenn alles mit rechten Dingen zu ging, bestand für sie kein Grund zur Heimlichtuerei. Als Freund des Captain hätte Mr. Stenson einen guten Grund gehabt, Mrs. Pewsey in Meresham zu besu chen. Er hat aber, und ich stütze mich hierbei auf die 134
Aussage von Mrs. Pewseys Hausmädchen, die Pew seys nur einmal besucht. Er kam einmal zum Dinner, ein Jahr vor dem Tod des Captain, vielleicht war es noch länger her. Heimlichtuerei wird leicht zur Ge wohnheit, Herr Kommissar. Nach dem Tod des Cap tain wurde die Heimlichtuerei fortgesetzt, weil es vorher schon eine Notwendigkeit dafür gegeben hatte. Ein anderer Aspekt: der große Unterschied zwi schen Mr. Stenson und Mr. Pewsey. Mr. Stenson war äußerst beliebt. Er hatte Geld. Er war ein guter Golf spieler. Er war bekannt für seinen Humor. Er sah gut aus. Der Captain dagegen war sehr unbeliebt. Er ver suchte immer, mit den Leuten Geschäfte zu machen. Er trank zuviel. Er war ein schlechter Golfspieler. Er war langweilig. Niemand in Meresham konnte verste hen, warum Mr. Stenson sich mit ihm abgab. Daß er es tat, ist sehr aufschlußreich.« Mercer schürzte die Lippen. »Nehmen Sie mir die Bemerkung nicht übel, Doktor, aber ich glaube, Sie interpretieren mehr in diese Geschichte hinein, als sie hergibt.« Die Kuhaugen wurden runder und trauriger. »Ja? Lassen Sie mich fortfahren. Ich habe mit Mrs. Pew seys Dienstmädchen gesprochen. Das Haus ist zur Zeit geschlossen, aber sie war in der Nacht anwesend, als der Captain starb. Ihre Aussage ist interessant, wirklich interessant. Sie hörte den Captain nach Hau se kommen und sterben. Sie sagt, sie habe ihn nie so betrunken erlebt. Er stolperte die Treppe hinauf und torkelte den Flur ent 135
lang zu seinem Zimmer. Und er sprach dabei zu sich selbst. So etwas hatte er noch nie getan. Als er an ihrer Zimmertür vorüberkam, konnte sie einen Satz deut lich hören. Er murmelte etwas und sagte dann: ›Sokra tes! Was meint er damit, Sokrates? Ich heiße doch nicht Sokrates.‹ Mehr hörte sie nicht. Aber sie hatte vermutlich genug gehört.« Mercer warf die Hände in die Luft. »Tut mir leid, Doktor. Ich verstehe es einfach nicht. Der Mann war sturzbetrunken. Nichts Außergewöhnliches bei einem Alkoholiker. Und vergessen Sie nicht, daß er weniger trank, seit er eine Woche zuvor den Arzt konsultiert hatte. Es war ein Rückfall. Es war zuviel für sein Herz. Er starb. Durch den Obduktionsbefund wird das hinreichend bewiesen.« »Meinen Sie?« Dr. Czissar sah bekümmert aus. »Todesursache war Ersticken.« »Genau. Atemnot. So sterben die meisten von uns, früher oder später.« Mercer stand auf. Der Bann war gebrochen. Dr. Czissar war also doch nur ein Scharla tan. Durch einen außergewöhnlichen Zufall war es ihm gelungen, ein paar Fälle aufzuklären, in denen Scotland Yard zunächst überfordert gewesen war. Nun hatte er sich entlarvt. Mercer lächelte nachsichtig. »Doktor«, sagte er, »Sie haben mich um meinen Rat in dieser Angelegenheit gebeten. Mein Rat sieht fol gendermaßen aus. Gehen Sie zurück zu Ihrer Wirtin und sagen Sie ihr, sie soll sich nicht so anstellen. Und Sie selbst sollten die ganze Sache vergessen. Ich denke, damit hat es sich.« Er streckte ihm die Hand hin. 136
Aber Dr. Czissar erhob sich nicht, um sie zu ergrei fen. »Es handelt sich hier, wie schon gesagt, um einen Mordfall, Herr Kommissar«, sagte er mit Nachdruck. »Der Gerechtigkeit muß Genüge getan werden. Ich habe Ihnen die Sachlage geschildert. Ich bitte Sie nur, die Schlußfolgerungen zu ziehen.« »Ich habe Ihnen meinen Schlußfolgerungen ausein andergesetzt, Doktor. Ich wiederhole: An der ganzen Sache ist überhaupt nichts dran.« Dr. Czissar streckte sich. »Ich habe Ihnen die Fak ten objektiv dargelegt«, sagte er. »Wir haben es hier mit einem Mord zu tun. Das ist klar.« »Nicht für mich, Doktor.« »Na schön. Ich werde es Ihnen erklären.« Er räus perte sich, schluckte und rief: »Passen Sie auf!« Mercer ließ sich wieder in seinen Stuhl fallen. »Zwei Minuten, Doktor, mehr Zeit habe ich nicht«, sagte er wütend. »Das reicht mir«, sagte Dr. Czissar. »Zunächst ein mal haben wir die Eheschließung von Mrs. Pewsey und Mr. Stenson. Das ist der zweite Fehler, den sie begangen haben. Es steht außer Frage, daß sie schon seit vielen Monaten ein Verhältnis miteinander hatten. Ich nehme an, daß sie sich schon ziemlich früh entschlossen haben, den Captain umzubringen. Mrs. Falcon sagt, ihr Bruder habe ihr vor fast einem Jahr geschrieben, daß seine Frau sich von ihm scheiden lassen wolle, daß er sich aber ge weigert habe. Wir werden vermutlich feststellen, daß Mr. Stenson nicht viel später die Lebensversicherung 137
bei ihm abgeschlossen hat und diese merkwürdige Freundschaft begann. Wenn wir mehr Beweise für die ses Verhältnis haben wollen, werden wir sie wohl im Hotel Metropolis finden. Dort wurden die beiden nach der Hochzeit gesehen. Fraglos waren sie vorher schon oft dort gewesen. Wie dumm von ihnen, so bald nach dem Mord zu heiraten. Aber ich sehe, Sie sind ungedul dig. Wir kommen zu dem Mord. Das erste, was auffällt, sind die Herzbeschwerden des Captain. Sie waren nicht tödlich, jedenfalls nach Ansicht des Arztes. Er bestand auf einer Obduktion. Aber« – Dr. Czissar hob warnend den Finger – »er führte die Obduktion persönlich durch, ohne einen amtlichen Leichenbeschauer zu kon sultieren. Nach meiner Kenntnis des englischen Rechts durfte er das nur mit Mrs. Pewseys Einwilligung. Doch was nützt uns eine Obduktion? Wenn die Todesursache nicht sozusagen auf der Hand liegt, braucht es große Erfahrung.« Mercer grunzte. »Betrachten wir zweitens die Art, wie der Captain zu Tode kam. Nach Aussage des Dienstmädchens verhielt er sich ungewöhnlich. Er stolperte und tor kelte. Nun, Herr Kommissar, das erscheint auch mir ungewöhnlich. Der Captain war ein starker Gewohn heitstrinker. Nach meiner Erfahrung ist es nicht üb lich, daß solche Menschen unter Alkoholeinfluß stol pern und torkeln. Der Captain stolperte und torkelte. Todesursache war eine Atemlähmung. Was ist das Bindeglied zwischen diesen beiden Fakten? Ich werde es Ihnen sagen. Es ist das Wort ›Sokrates‹.« 138
»Was?« »Sie haben von Sokrates gehört, Herr Kommissar? Aha. Dann erinnern Sie sich vielleicht an die Umstän de seines Todes. Eine Weile läuft er noch umher, dann werden seine Schritte immer schwerer. Die Lähmung steigt in den Beinen auf. Er muß sich hinlegen. Die Lähmung erreicht jetzt seine Brust. Und dann stirbt er – an Atemnot – Atemlähmung. Es gibt nur ein Gift, das diese Wirkung hat. Es ist das Gift, das Sokrates gegeben wurde.« »Sie meinen Schierling! Aber …« »Schierling ist der Name der Pflanze, aus der das Gift gewonnen wird, Herr Kommissar. Das eigentliche Gift ist Koniin. Hat man das Koniin in purer und konzen trierter Form, so braucht man nur wenige Tropfen. Es wirkt sehr schnell. Ein normaler Aufguß von Schier lingsblättern wirkt, ohne Gegenmittel, sehr schnell töd lich. Ich habe herausgefunden, daß in Mr. Stensons Garten Schierling wächst. Es steht außer Zweifel, daß der Captain in jener Nacht, als er Mr. Stenson besuchte, einen Whisky vorgesetzt bekam, dem ein Schierlings aufguß beigemengt war. Schon den ganzen Abend hatte er getrunken. Er würde den Geschmack nicht bemer ken. Mr. Stenson machte aber den ersten Fehler. Er be sitzt Humor. Er war nervös und besorgt. Er war es nicht gewohnt zu morden. Er flüchtete sich in seinen Humor. Er versuchte, einen Witz über die Situation zu machen und nannte den Captain ›Sokrates‹.« »Herrgott«, explodierte Mercer, »selbst wenn die Geschichte stimmt, wie wollen Sie sie denn beweisen?« 139
Dr. Czissar erhob sich würdevoll. »Ich bin über zeugt, daß Sie einen Weg finden werden. Koniin ist im Körper noch nach Monaten nachzuweisen. Eine Ex humierung und eine Obduktion durch einen erfahre nen Pathologen, der nicht primär auf eine Herzschwä che fixiert ist, werden Ihnen gewiß weiterhelfen. Die Art der Verabreichung werden Sie vermutlich nicht beweisen können, aber ich zweifle nicht daran, daß Sie genügend Indizienbeweise für eine Verurteilung zu sammentragen können.« »Und was ist mit der Frau?« fragte Mercer. »Sie ha ben gesagt, die beiden hätten den Mord verübt?« »O ja. Mrs. Pewsey hat gewiß Beihilfe zur Tat ge leistet. Ich bin mir ziemlich sicher, daß sie den Weg zum Totenschein ebnete, indem sie ihren Mann eine Woche vor seinem Tod zum Arzt schickte. Das Herz eines Trinkers ist leicht zu erregen. Aspirintabletten, aufgelöst in Sodawasser, sind nahezu geschmacklos. Aber sie dürften Mühe haben, ihr etwas nachzuwei sen. Mr. Stenson tut mir irgendwie leid. Ich habe so viel über den englischen Humor gehört. Jetzt verstehe ich. Ich hatte nicht gedacht, daß er so makaber sein kann, aber es gefällt mir. Es ist pikant. Sokrates!« Er kicher te leise in sich hinein. »Es ist wirklich sehr komisch.«
140
Der Fall des Gentleman-Dichters
Erst nachdem der Mörder von Felton Spenser verur teilt worden war, fand sich Kommissar Mercer von New Scotland Yard endgültig damit ab, daß Dr. Jan Czissar sich gelegentlich in die Arbeit seiner Abtei lung einmischte. Schon allein aus diesem Grund wäre dieser Fall berichtenswert. Die Verwandlung eines Kriminalkommissars in einen gewöhnlichen Men schen muß als großer Sieg der Vernunft über die Macht der Gewohnheit gelten. Der Fall ist aber noch aus einem anderen Grund interessant – nicht nur für Kriminalisten ganz allgemein, sondern speziell auch für all jene, die sich mit dem Gedanken tragen, einen Mord zu begehen. Der Fall zeigte nämlich, daß die Grundvoraussetzung für einen perfekten Mord die Allwissenheit eines Gottes ist. Vom Tode Felton Spensers erfuhr die Öffentlichkeit eines Januarabends durch die BBC-Nachrichten. »Wir bedauern«, sagte der Sprecher mit Trauerstimme, »be kanntgeben zu müssen, daß der Dichter Felton Spenser heute abend im Alter von dreiundfünfzig in London verstorben ist. Obschon aus Manchester gebürtig, ver brachte Mr. Spenser die ersten Lebensjahre in der Graf schaft Flint, und so sind viele seiner Gedichte denn auch Lobgesänge auf die Schönheit dieser Landschaft. Seine erste Gedichtsammlung, Das barmherzige Licht, erschien im Jahre 1909. Der mit Spenser befreundete 141
Kritiker Marshall Grieve erklärte heute abend: ›Er war ein Gentleman im Edwardianischen Sinne. Er war ein Mensch, der keine Feinde hatte. Seine Verse besaßen eine ruhige Klarheit, wie man sie heutzutage kaum noch findet, und sie flossen so natürlich und heiter dahin wie die Wellen seines geliebten Dee.‹« Das war alles. Den Morgenzeitungen blieb es über lassen, zu enthüllen, daß Felton Spenser von seinem Freund, dem Autor und Kritiker Marshall Grieve, er schossen in seiner Wohnung in Bloomsbury aufge funden worden war, auf dem Boden neben ihm ein Revolver, und daß er in letzter Zeit an Depressionen gelitten habe. Weitere Einzelheiten erfuhr Kommissar Mercer durch Inspektor Denton. Felton Spenser hatte im obersten Stockwerk eines modernisierten Hauses gewohnt. Im Erdgeschoß wohnten die Lobbs, eine Schneiderin und ihr Mann. Im ersten Stock wohnte Mr. Marshall Grieve. Die Wohnung im zweiten Stock stand leer. Die Wohnung des Toten im dritten Stock bestand aus zwei großen Zimmern, einem Schlafzimmer und einem Wohn zimmer, mit noch einem kleineren Zimmer, das als Arbeitszimmer diente, sowie Küche und Bad. Die Leiche war im Wohnzimmer gefunden worden. Gegen achtzehn Uhr dreißig an jenem Abend war oben im Haus ein Schuß zu hören gewesen. Der Mann der Schneiderin, Mr. Lobb, der gerade von der Arbeit gekommen war, lief zur Wohnungstür. Im selben Moment war Mr. Grieve, der den Schuß ebenfalls ge hört hatte, an seiner Tür ein Stockwerk höher erschie 142
nen. Die Männer waren sodann gemeinsam nach oben gegangen. Nachdem sie die mit einem Sicherheitsschloß ver sehene Tür der Spenserschen Wohnung aufgebrochen hatten, fanden sie Spenser auf dem Sofa, halb sitzend, halb liegend, die Arme ausgestreckt und die Hände abgewinkelt, als hätte er im Todeskampf die Sofakante packen wollen. Die Leiche wirkte verkrampft. Die Wunde am Kopf deutete darauf hin, daß der Schuß aus drei bis fünf Zentimetern Entfernung abgegeben worden war. Grieve sagte aus, daß Spenser seit einiger Zeit unter heftigen Depressionen litt. Seiner Ansicht nach kamen mehrere Gründe dafür in Frage. Spenser war über die Reaktion auf einen Gedichtband, der ein Jahr zuvor er schienen war, sehr enttäuscht gewesen. Er hatte außer dem finanzielle Schwierigkeiten gehabt. Gelebt hatte er nicht von seinen Gedichten, sondern von einem kleinen Vermögen, das ihm seine Frau hinterlassen hatte. Grie ve glaubte, daß er mit seinem Kapital spekuliert habe. Freunden hatte er auch schon größere Summen gelie hen. Grieve hatte ihn am Todestag gesehen. Spenser hatte ihm erklärt, daß seine Situation nicht besonders rosig sei und daß er anderntags seinen Anwalt aufsu chen wolle, um einen Teil der Gelder wieder einzutrei ben. Diese Darstellung wurde von dem betreffenden Anwalt bestätigt. Spenser habe ihn an seinem Todestag kurz vor siebzehn Uhr angerufen und um einen Ter min für den folgenden Tag gebeten. Bei der Waffe, berichtete Denton, handelte es sich 143
um einen nicht angemeldeten, alten französischen Zündnadelrevolver. Spenser konnte ihn sich auf ver schiedenen Wegen beschafft haben. Dasselbe galt für die Munition. Aus dem Revolver war nur ein Schuß abgegeben worden. Anhand der Markierungen an der Kugel, die aus dem Kopf des Toten entfernt worden war, konnte zweifelsfrei bewiesen werden, daß sie aus dieser Waffe abgefeuert worden war. Auffällig an die ser Waffe waren einige Kratzer an der Mündung des Laufs, die den Schluß zuließen, daß irgendwann ein Schalldämpfer verwendet worden war. In der Woh nung war kein Schalldämpfer gefunden worden. Laut medizinischem Gutachten deutete alles an der Wunde auf eine Selbsttötung hin. An diesem Fall war nach Dentons Ansicht nur eine einzige Sache merkwürdig, und zwar ein Briefentwurf, der unbeendet auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer lag. Er war mit Bleistift geschrieben und oft verbessert, als hätte der Schreiber großen Wert auf die richtigen Worte gelegt. Der Text lautete: »Der Hinweis, daß ich die Sache meinem Anwalt übergeben werde, wenn das Geld nicht bis heute an mich zurückgezahlt ist, war, wie ich Dir gestern er klärte, durchaus ernst gemeint. Du hast es vorgezo gen, mein Angebot auszuschlagen. Ich habe folglich meinen Anwalt eingeschaltet. Muß ich betonen, daß ich, wenn ich es mir leisten könnte, die ganze leidige Geschichte am liebsten ignorieren würde? Hiermit fordere ich Dich also auf, mir das Geld zurückzuge ben, und verbleibe …« Hier endete der Brief. 144
Mercer dachte nach. »Sieht ziemlich eindeutig aus«, sagte er schließlich. »Laut Grieve hat er Geld verlie hen. Sieht ganz so aus, als hätte er selbst in der Klem me gesteckt und einen Teil wieder zurückhaben wol len. Was sagen seine Kontounterlagen?« Denton studierte seine Notizen. »Also, er hat tat sächlich einiges verloren. Er hat ein paar dubiose Ak tienpakete gekauft, die sich als wertlos erwiesen. Vor sechs Monaten hob er fünfhundert in bar ab. Viel leicht war das der Kredit, den er zurückhaben wollte. Komisch nur, daß er das Geld bar ausgezahlt hat. Ich konnte auch keine Notiz finden, an wen es gegangen ist. So wie seine Wohnung aussieht, würde ich sagen, daß er jemand war, der sich die Pfeife mit wichtigen Papieren anzündet. Aber diesen Brief fand ich doch etwas seltsam. Warum sollte er mitten beim Schreiben aufstehen und sich erschießen?« Mercer schürzte die Lippen. »Schon mal was von Impulshandlung gehört, Denton? Fünfzig Prozent al ler Selbstmorde passieren auf diese Weise. ›Suizid im Zustand psychischer Verwirrung‹, so lautet die For mel. Irgendeine Lebensversicherung?« »Nichts dergleichen gefunden, Sir. In Flint lebt ein erbberechtigter Cousin. Testamentsvollstrecker sind Grieve und der Anwalt.« »Grieve ist wichtig. Wie wird er sich im Zeu genstand machen?« »Gut. Sieht aus wie ein Erzbischof und spricht auch wie einer.« »Na schön, Denton. Ich überlasse Ihnen die Sache.« 145
Und Denton blieb sie überlassen – zunächst. Erst am Tag vor der Obduktion meldete sich Dr. Czissar in Mercers Büro. Mercers Entschuldigung, daß er keine Zeit für Dr. Czissar habe, entsprach für einmal der Wahrheit. Er sollte an einer Besprechung mit dem Chef teilnehmen, und so überließ er es Denton, den tschechischen ExKriminalbeamten zu empfangen. Während der Besprechung bedauerte er immer wieder, daß er den Doktor nicht gebeten hatte, et was zu warten, um selbst mit ihm sprechen zu kön nen. Seit jenem ersten Mal, als Dr. Czissar mit einem Empfehlungsschreiben eines hohen Politikers vom Innenministerium in New Scotland Yard erschienen war, hatte er Mercer viermal aufgesucht. Und jedes Mal hatte sein Erscheinen die katastrophalsten Fol gen gehabt – in Form von unwiderlegbaren Bewei sen, daß er, Dr. Czissar, einen Fall richtig lösen konnte, während Kommissar Mercer völlig falsch lag. Als Mercer schließlich in sein Büro zurückkehrte, wartete Denton schon auf ihn, und der Ausdruck hoffnungsloser Resignation, der auf Dentons Gesicht lag, verriet ihm alles, was er über Dr. Czissars Besuch wissen wollte. Wieder einmal war das Schlimmste pas siert. Ihm blieb jetzt nur noch, die bevorstehende Demütigung mit möglichst steinernem Gesicht zu er tragen. Er biß die Zähne zusammen. »Ah, Denton!« Er schlenderte zu seinem Schreib tisch. »Sind Sie Dr. Czissar losgeworden?« 146
Denton straffte die Schultern. »Nein, Sir«, sagte er hölzern. »Er wartet unten auf Sie.« »Aber ich hatte Sie doch gebeten, ihn zu empfan gen.« »Habe ich auch, Sir. Aber als ich hörte, was er zu sagen hatte, dachte ich, es wäre besser, wenn er wartet, bis Sie zurück sind. Es geht um den Fall Spenser. Ich glaube, ich habe ziemlichen Mist gebaut. Es war Mord.« Mercer setzte sich langsam hin. »Das soll vermut lich heißen, daß es nach Dr. Czissars Ansicht Mord war?« »Keine Ansichtssache, Sir. Der Fall ist sonnenklar. Von dem befreundeten Reporter, der ihm manchmal seinen Presseausweis leiht, bekam er einen Teil der Beweise. Ich habe ihm die übrigen gegeben. Er hat so fort durchgeblickt. Mit ein bißchen Grips hätte auch ich es sofort erkennen müssen. Er ist verdammt schlau.« Mercer schluckte die Worte hinunter, die ihm auf der Zunge lagen. »Na schön«, sagte er. »Bringen Sie Dr. Czissar herein.« Dr. Czissar betrat das Zimmer genau so, wie er es schon viele Male zuvor getan hatte – Tausende von Malen, wie es Mercer schien. Kaum eingetreten, schlug er die Hacken zusammen, hielt den Regen schirm wie ein Gewehr an die Hosennaht, verbeugte sich und verkündete laut: »Dr. Jan Czissar, Polizei präsidium Prag. Zu Diensten!« Für Mercer war das schon so vertraut wie die Me 147
lodie eines verhaßten Songs. Steif sagte er: »Guten Tag, Doktor! Ich höre, Sie wollen uns etwas über den Fall Spenser mitteilen?« Dr. Czissars blasses Gesicht entspannte sich ein wenig. Sein hochgewachsener, massiger Körper nahm unter dem langen, grauen Regenmantel die übliche gebeugte Haltung ein. Die braunen Kuhaugen strahl ten hinter den dicken Brillengläsern. »Sie haben keine Zeit«, sagte er schüchtern. »Es ist nur eine Kleinig keit.« »Sie glauben also, daß Mr. Felton Spenser ermordet wurde?« Die Kuhaugen wurden größer. »O ja, das ist richtig, Kommissar Mercer. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich mich in dieser Angelegenheit an Sie wenden sollte. Die Fakten, auf denen meine Theorie gründet, erfuhr ich von einem Reporter, der mir Dinge erzählt, die mich für das Buch interessieren, an dem ich arbeite. Es ist ein Werk über Gerichtsmedizin. Aber ich war un sicher, bis Inspektor Denton erklärte, daß meine In formationen korrekt sind. Sehen Sie, es ist äußerst wichtig, in diesen Dingen genau zu sein. Man hatte mir gesagt, daß die Leiche in einem Zustand der kata leptischen Totenstarre aufgefunden worden war und daß der Revolver auf dem Fußboden neben dem Sofa lag. Die Totenstarre wurde mir beschrieben. Außer dem erfuhr ich, daß die Fingerabdrücke auf dem Re volver verschmiert und undeutlich waren. Ausgehend von den Informationen, über die ich verfüge, stand für mich fest, daß Mr. Spenser ermordet wurde.« 148
»Und darf ich fragen warum, Doktor?« Dr. Czissar räusperte sich und schluckte laut. »Kataleptische Leichenstarre«, dozierte er, als sprä che er vor Studenten, »ist eine zum Zeitpunkt des Todes plötzlich eintretende Verhärtung der Mus keln; diese Verhärtung ruft eine Starre hervor, die so lange anhält, bis der weniger ausgeprägte rigor mor tis eintritt. Die Gliedmaßen des Toten behalten da her eine ganze Weile die Stellung bei, in der sie sich unmittelbar vor dem Tod befanden. Leichenstarre kommt am häufigsten dann vor, wenn der Tod von einer heftigen Störung des Nervensystems begleitet wird. In vielen Fällen von Selbstmord, wo der Be treffende sich in den Kopf schießt, ist die Starre so stark, daß sich die Waffe nur mit allergrößter Kraft aus dem Griff des Toten lösen läßt.« Mercer lächelte schief. »Und trotz Leichenstarre wurde der Revolver auf der Erde gefunden. Wollen Sie darauf hinaus? Ich fürchte, Doktor, als Beweis für einen Mord können wir das nicht akzeptieren. Lei chenstarre kann sich nach sehr kurzer Zeit legen. Die Tatsache, daß sich die Waffe nicht in der Hand des Toten befand, ist kein Beweis, daß er den Schuß nicht abgegeben hat. Also …« »Richtig«, unterbrach ihn Dr. Czissar. »Aber dar auf wollte ich nicht hinaus, Herr Kommissar. Laut dem medizinischen Gutachten, von dem mir der In spektor freundlicherweise berichtet hat, befand sich die Leiche noch in einem Zustand der Totenstarre, als sie eine Stunde nach Auffindung untersucht wurde. 149
Die Finger beider Hände waren leicht gekrümmt, und beide Hände waren angewinkelt, fast im rechten Win kel zum Unterarm. Aber überlegen wir doch einmal« – er rieb sich mit einem dünnen Finger die rechte Schläfe – »überlegen wir einmal, was Totenstarre ei gentlich heißt. Die Muskeln bleiben in der Haltung, wie sie unmittelbar vor dem Tod bestand. Also. Mr. Spenser hielt unmittelbar vor dem Tod die rechte Hand fast im rechten Winkel zum Unterarm. Und die Finger dieser Hand waren leicht gekrümmt. Bei einer solchen Handhaltung, Kommissar Mercer, kann man unmöglich einen Revolver an den Kopf setzen und abdrücken.« Mercer blickte rasch zu Denton. »Sie haben die Leiche doch gesehen, bevor sie abgeholt wurde. Teilen Sie Dr. Czissars Auffassung?« »Ja, Sir«, meinte Denton kleinlaut. »Ich hätte es selbst erkennen müssen, aber leider weiß ich nicht viel über Totenstarre.« »Das verlangt auch niemand von Ihnen, Inspektor«, sagte Dr. Czissar freundlich. »Solche Dinge muß man lernen. Aus der Haltung der Hände muß man aber noch eine andere Schlußfolgerung ziehen. Es steht au ßer Zweifel, daß Mr. Spenser im Begriff war, sich vom Sofa zu erheben, als er erschossen wurde. Die Haltung seiner Hände läßt nur den Schluß zu, daß er sich ab stützen und aufstehen wollte. So erklärt sich auch die eigentümliche Haltung der Leiche.« »So erklärt sich eigentlich alles«, sagte Mercer, »nur die Identität des Mörders nicht.« 150
Die Kuhaugen strahlten. »Auch das ist geklärt, Herr Kommissar. Sobald Inspektor Denton mich über die Beweislage informiert hatte, wurde mir klar, was pas siert ist.« Mercer hielt sich mühsam zurück. »Und was ist passiert?« Dr. Czissars volle Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. Er richtete sich auf, räusperte sich, schluckte laut und rief: »Passen Sie auf!« Von allen Angewohnheiten Dr. Czissars war es die se, die Mercer am meisten aufbrachte. Er lehnte sich zurück. »Ja, bitte?« »Zunächst einmal müssen wir berücksichtigen, daß, laut Aussage der Schneiderin, niemand das Haus ver lassen hat, nachdem Mr. Spenser getötet worden war. Der Mörder befand sich also noch im Haus, als die Polizei eintraf. Von Inspektor Denton erfuhr ich au ßerdem, daß das gesamte Haus, einschließlich der leerstehenden Wohnung im zweiten Stock, von den Polizeibeamten durchsucht wurde. Der Mörder war also eine der drei Personen, die sich zu diesem Zeit punkt im Haus aufhielten – die Schneiderin Mrs. Lobb, ihr Mann, der nach Hause kam, bevor der Schuß zu hören war, und Mr. Grieve. Aber wer der drei war’s? Mr. Lobb gibt an, er sei, nachdem er den Schuß ge hört hatte, zu seiner Wohnungstür gelaufen und habe die Treppe hinaufgeschaut, wo er Mr. Grieve aus sei ner Wohnungstür treten sah. Beide sind dann zum Tatort hinaufgegangen. Wenn diese beiden unschuldig 151
sind und die Wahrheit sagen, dann haben wir eine ab surde Situation; denn wenn keiner von ihnen Mr. Spenser erschossen hat, dann war es Mrs. Lobb, ob wohl sie, als der Schuß fiel, im Erdgeschoß war. Also unmöglich. Auch die beiden Männer können ihn un möglich erschossen haben, es sei denn, sie lügen. Eine zweite Absurdität. Daraus ergibt sich der Schluß, daß irgend jemand sehr raffiniert vorgegangen ist. Aber wie wurde der Mord verübt?« Dr. Czissars Kuhaugen guckten kläglich. »Wie? Wir haben einen einzigen Anhaltspunkt. Die mikroskopi sche Untersuchung des Revolverlaufs ergab deutlich, daß irgendwann einmal ein Schalldämpfer aufgesetzt worden war. Aber in Mr. Spensers Wohnung findet sich kein Schalldämpfer. Wir sollten ihn dort auch nicht zu finden hoffen, denn der Revolver gehört dem Mörder. Vielleicht hat der Mörder den Schalldämpfer? Ich glaube, ja. Denn nur so können wir erklären, daß, als der Schuß fiel, keiner der Verdächtigen in Mr. Spensers Zimmer war.« »Aber«, rief Mercer dazwischen, »wenn ein Schall dämpfer verwendet wurde, hätte man doch gar keinen Schuß gehört. Es wurde aber einer gehört!« Dr. Czissar lächelte. »Wir müssen also davon aus gehen, daß zwei Schüsse abgegeben wurden – einer, der tödlich wirkte, und ein zweiter, der gehört werden sollte.« »Aber aus dem Revolver, mit dem Spenser getötet wurde, ist nur ein Schuß abgegeben worden.« »O ja, Herr Kommissar, das stimmt. Aber ich ver 152
mute, daß der Mord mit zwei Waffen verübt wurde. Ich glaube, daß Mr. Grieve, bewaffnet mit dem Re volver, den Sie gefunden haben, gegen sechs Uhr oder auch schon früher in Mr. Spensers Wohnung gegan gen ist. Dort hat er den Schalldämpfer aufgesetzt, und im entscheidenden Moment schoß er Mr. Spenser in den Kopf. Daraufhin entfernte er den Schalldämpfer, wischte die Fingerabdrücke auf dem Revolver weg und ließ ihn neben Mr. Spenser auf dem Boden liegen. Er ging wieder in seine Wohnung zurück und ver steckte den Schalldämpfer. Dann wartete er so lange, bis Mr. Lobb von der Arbeit nach Hause kam, nahm einen zweiten Revolver, ging in die leere Wohnung und gab einen zweiten, aber blinden Schuß ab. Mr. Lobb – er wird ein äußerst wichtiger Zeuge für die Anklage sein – sagt aus, daß er, als er den Schuß hörte, zur Tür lief und Mr. Grieve aus seiner Woh nung kommen sah. Das klingt nach einer sehr schnel len Reaktion, aber es hat sicher etwas länger gedauert, als er dachte. Er hat vermutlich seine Frau angeguckt, sie gefragt, was das für ein Geräusch war, und ist erst dann zur Tür gegangen. Aber selbst wenige Sekunden hätten Mr. Grieve gereicht, um den Schuß abzugeben, die paar Stufen hinunterzulaufen und so zu tun, als käme er gerade zur Wohnungstür heraus.« »Ich ahnte schon, daß Sie Grieve im Verdacht ha ben«, sagte Mercer, »aber darf ich Sie daran erinnern, daß dies alles Mutmaßungen sind? Wo ist der Beweis? Was für ein Motiv hatte Grieve?« »Den Beweis«, sagte Dr. Czissar seelenruhig, »wer 153
den Sie in Mr. Grieves Wohnung finden – den Schall dämpfer, den zweiten Revolver und vielleicht Zünd nadelpatronen. Aus Angst, dabei gesehen zu werden, wird er diese Dinge noch nicht weggeworfen haben. Außerdem schlage ich vor, daß Mr. Lobb, der Mann der Schneiderin, aufgefordert wird, in seinem Zimmer zu sitzen und auf zwei Schüsse zu hören: einen, der in Mr. Spensers Zimmer aus der Mordwaffe abgegeben wird, und einen zweiten, einen blinden, der in der lee ren Wohnung abgefeuert wird. Er wird bestimmt schwören, daß er den zweiten Schuß gehört hat. Die beiden Geräusche werden völlig unterschiedlich sein. Was das Motiv angeht, so schlage ich vor, daß Sie Mr. Grieves Finanzen überprüfen. Vor einigen Mona ten hob Mr. Spenser fünfhundert Pfund in bar von seinem Konto ab. Ich bin ziemlich sicher, daß Mr. Grieve die Summe bekam. Während wir auf Sie warte ten, Herr Kommissar, habe ich dem Inspektor klarge macht, daß es gut wäre, wenn wir mehr über Mr. Grieves Finanzen wüßten. Es stellt sich heraus, daß Mr. Grieve mit Arbeiten für eine Wochenzeitschrift ein wenig Geld verdient. Er ist außerdem ein noch nicht entlasteter Gemeinschuldner. Er dürfte es daher vorgezogen haben, eine so große Summe in bar zu be kommen statt in Form eines Schecks. Außerdem be hauptet er nur, daß Mr. Spenser großzügig Geld ver liehen hat. Für mich steht außer Zweifel, daß Mr. Grieve das Geld bekam, um es in Mr. Spensers Auftrag anzulegen, und daß er es in die eigene Tasche gesteckt hat. Vielleicht werden Sie einen Teil des Geldes in der 154
Wohnung finden. Mr. Spenser war ihm auf die Schli che gekommen und drohte, ihn anzuzeigen. Der Brief, den er schrieb, war an Mr. Grieve gerichtet. Aber Mr. Grieve wartete diesen Brief nicht erst ab. Er beschloß, Mr. Spenser umzubringen. Da er diesen alten Revolver nebst Schalldämpfer besaß, drängte sich die Methode von selbst auf. Aber er ist dumm, wie alle schlauen Verbrecher. Er trifft eine Feststellung über seinen toten Freund. ›Ein Mann, der keine Feinde hat‹, sagt er. Eigenartig, so etwas zu sagen. Wenige von uns haben Feinde. Doch wenn wir erkennen, daß Mr. Grieve den Eindruck erzeugen will, als habe sich sein Freund das Leben genommen, dann wird es klar.« Dr. Czissar seufzte und erhob sich. »Es war sehr freundlich von Ihnen, mich zu empfangen, Herr Kommissar Mercer. Guten Tag.« »Einen Moment, Doktor.« Mercer war aufgestanden. Was immer er sagen mochte, es würde an seiner Niederlage nichts ändern, und das wußte er. Die Hoffnung, eines Tages werde sich herausstellen, daß Dr. Czissar ebensowenig un fehlbar sei wie alle anderen Menschen, war zu oft ent täuscht worden, als daß sie ihn noch zu trösten ver mochte. Er tat das einzige, was er in dieser Situation noch tun konnte. »Wir sind Ihnen sehr dankbar, Doktor«, sagte er. »Ihre Hilfe wird uns immer willkommen sein.« Dr. Czissars blasses Gesicht errötete. »Sie sind zu liebenswürdig«, stammelte er. Und dann, dieses eine Mal, ließ ihn sein etwas unorthodoxes, altvaterisches 155
Englisch im Stich. »Es ist mir eine große …«, sagte er und verstummte. »Es ist mir …«, hob er wieder an. Er kam nicht weiter und gab den Versuch auf. Hochro ten Gesichts, schlug er die Hacken zusammen und verbeugte sich erst vor dem einen und dann vor dem anderen. »… eine Ehre«, sagte er. Und dann war er verschwunden. »Er hat seinen Regenschirm vergessen«, sagte Denton. »Vielleicht kommt er irgendwann zurück, um ihn zu holen.«
Mitte
Bis ich wieder eine Erzählung schrieb, vergingen fünfundzwanzig Jahre. Fünf davon brachte ich in der Armee zu. Für mich war es ein ereignisreicher Krieg, und anschließend ging ich für eine Weile als Dreh buchschreiber und Produzent zum Film. Als Produ zent war ich nicht sehr erfolgreich, dafür aber als Drehbuchautor. Ein Drehbuch, das ich für einen Ea ling-Film geschrieben hatte, wurde immerhin für ei nen Oscar nominiert. Daß die American Academy ei nen britischen Autor für ein Drehbuch zu einem briti schen Film auszeichnete, war damals sehr ungewöhn lich. Ich fühlte mich geschmeichelt und hätte mich auch ermutigt fühlen sollen, war mir aber in den fünf ziger Jahren schon nicht mehr sicher, ob ein Schrift steller, der vor allem gelesen werden wollte, auch noch nebenher für den Film arbeiten sollte. Ich hatte wieder angefangen, Romane zu schreiben, und obwohl ich inzwischen Freunde in der Filmindustrie hatte, mit denen ich gern zusammenarbeitete, fühlte ich mich dem verwöhnten Buchhalter und seinem laienpredi genden Boss, der das Kommando zu führen versuchte, in keiner Weise verpflichtet. Die Kinder waren herangewachsen und nach Ame 159
rika zurückgekehrt. Louise arbeitete wieder als Mo dezeichnerm. Nach dem Verkauf des Hauses am Pelham Crescent konnte ich die rückständige Einkommenssteuer be zahlen, und wir hätten neu anfangen können, taten es aber nicht. Der Suezkanal sollte in Kürze wieder geöffnet wer den. Wir fuhren nach Marseille und reisten von dort an Bord eines Schiffes der Messageries Maritimes nach Südostasien. Auf einem Dampfer des Rotterdamsche Lloyd, der mit holländischen Kolonialflüchtlingen aus Java vollgestopft war, kehrten wir zurück. Im Roten Meer verlor das Schiff ein Schraubenblatt, und mit re duzierter Geschwindigkeit ging es heimwärts. Es war keine freudige Rückkehr. Ein paar Monate später trennte sich Louise von mir. Es war eine »ein vernehmliche« Scheidung, das heißt, wir waren uns der guten Zeiten ebenso bewußt wie der Tatsache, daß wir uns verändert hatten. Achtzehn Jahre waren wir verheiratet gewesen. Mit dem Erlös des Hauses am Pelham Crescent und nach dem Verkauf der Filmrechte an einem Roman war nicht nur genügend Geld für die rückständige Einkommenssteuer da, wir konnten Louise auch ein Apartment in New York kaufen. Sie nahm die Möbel, die ihr gefielen. Ich stellte meine Bücher und den Schreibtisch bei einer Lagerfirma unter und zog in ei ne möblierte Wohnung. Dort schrieb ich das Buch zu einem Film, dem ersten, wie sich herausstellte, einer neuen Welle von Katastrophenfilmen. Ich schrieb 160
auch das erste Kapitel eines Romans, der später unter dem Titel Waffenschmuggel erschien. Und dann wur de ich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, nach Holly wood zu gehen und dort zu arbeiten. Es war nicht die erste Anfrage. Kurz nach dem Krieg, noch vor dem Beginn von McCarthys Hexen jagd, war mir bei mehreren teuren Mittagessen versi chert worden, daß mich in Kalifornien ein Vermögen erwartete. Die Lockvögel, von Leland Hayward bis zu Irving (Swifty) Lazar, waren charmant und mitun ter sogar amüsant gewesen, doch ich hatte mich im mer gesträubt. Ich wußte, daß ich als Erzähler und Drehbuchautor in Amerika bekannter war als in Eng land, aber ich liebte England damals und glaubte an seine Zukunft. Ich hatte mit dafür gekämpft, daß Att lee an die Regierung gekommen war, Michael Foot war mein Freund, und über ihn hatte ich Nye Bevan kennengelernt. Bevan versuchte zwar eine halbe Stun de lang oder noch länger, mich zu überreden, ein Drehbuch zu einem Film über das Geheimnis der Ju nius-Briefe zu schreiben, doch in diesem Moment wa ren wir beide nicht ganz nüchtern, und immerhin hat te schon Dumas alte politische Skandale in Frankreich zu spannenden Romanen verarbeitet. Auch die Franzosen, erinnerte ich mich, hatten großartige Filme für französischsprachige Zuschauer gemacht, ohne sich oder das französische Theater zu korrumpieren, das dem französischen Film seine talen tiertesten Schauspieler und Regisseure lieferte. Viele Drehbuchautoren waren in erster Linie Dichter. In 161
England war uns erklärt worden, daß wir Filme ma chen müßten, die den amerikanischen Markt erobern und Dollars bringen würden. Das, hörten wir, sei nicht besonders schwer; wir sprächen dieselbe Sprache wie unsere Vettern überm großen Teich. Wir seien im Krieg heldenhafte Verbündete gewesen und hätten ge meinsam den Kampf um die Befreiung Europas ge führt. Fragt sie nur in Madison, Ohio, dem Herzen Amerikas! Am Ende setzten wir uns aber nur in den »Filmkunstkinos« der Großstädte durch, und wahr scheinlich auch nicht mehr als italienische Filme mit englischen Untertiteln. Die McCarthy-Tribunale und die schwarzen Listen bewirkten andererseits, daß vertriebene Drehbuchau toren und Regisseure Europa zu einem Zentrum in ternationalen Filmschaffens machten. Die besten rein amerikanischen Filme wurden nach wie vor in Hollywood gedreht. Die Tage der Studio giganten und der verzweigten Monopole, zu denen sie gehörten, waren jedoch gezählt. Das Fernsehen und die amerikanischen Kartellgesetze machten ihnen den Garaus. Das erste Studio, das sich wieder erholte, war Uni versal, und zwar mit Hilfe der Talentagentur mca, die es aufkaufte und daraus eine Fabrik für Fernsehpro duktionen machte, die erste ihrer Art. Ich wußte nur andeutungsweise von dieser Ent wicklung. Meine Erfahrung mit dem Fernsehen be schränkte sich auf die Verfilmung eines meiner Ro mane durch eine der großen kommerziellen Produkti 162
onsfirmen. Ich war bei einigen Proben anwesend – es sollte »live« gesendet werden – und fand die ganze Sa che ziemlich deprimierend. Man erklärte mir, daß es viel zu teuer sei, die Proben zu filmen und das Materi al dann zusammenzuschneiden. Ich war überrascht, als Alfred Hitchcock, der seinerzeit bei Universal eine Folge von 60-Minuten-Filmen unter dem Titel Suspi cion machte, mich bat, ein Originaldrehbuch für diese Reihe zu schreiben. Es gab bei diesen Episoden natür lich keine Serienfiguren – die einzelnen Beiträge hat ten das Format eines kurzen Dreiakters –, und natür lich kam die Einladung nicht von dem großen Mann persönlich. Joan Harrison, seine Produzentin, vergab die Aufträge, so auch an mich. Ich nannte meinen Bei trag The Eye of Truth, Joseph Cotten und der junge George Peppard spielten darin die Hauptrollen. Es kam in Amerika gut an und bewirkte wohl, daß man sich bei mgm an mich erinnerte. Mein Produzent in den Studios von Culver City war Julian Blaustein, einer jener neuen, halb unabhän gigen Produzenten, die für mgm den Kampf um die Gunst der Zuschauer führen sollten, die den Kinos und Autokinos fernblieben, um dem Vergnügen des Farbfernsehens zu huldigen. Der gräßliche Louis B. Mayer war längst verschwunden, und Studioboss war inzwischen Sol Siegel, aber Drehbuchschreiber bekamen noch immer Büros in der Autorenetage des Irving-Thalberg-Building zugewiesen und mußten noch immer um Sondererlaubnis bitten, wenn sie zu Hause arbeiten wollten. Der Tag war noch nicht ver 163
gessen, als William Faulkner von Thalberg zu einer dringenden Drehbuchbesprechung gebeten worden war und man feststellte, daß er zu Hause in Oxford (Mississippi) war, dreitausend Kilometer entfernt. Man hatte überhaupt nichts vergessen. Es war noch immer Brauch, daß ein für viel Geld angeheuerter englischer Drehbuchautor bei Arbeitsaufnahme erst einmal von den Bossen im Kasino im vierten Stock in spiziert wurde. Nur dieses eine Mal wurde er dorthin zum Essen eingeladen, und er durfte den Mund nur aufmachen, wenn er gefragt wurde. Das Essen war langweilig, es gab keinen Wein (Produzenten hatten eine kleine Bar in ihren Büros), und der einzige für mich interessante Mensch dort (abgesehen von meiner Eskorte) war Arthur Freed, der alle großen mgmMusicals produziert hatte. Er war aber nur zum Essen da und nickte mir nur einmal zu. Geprüft wurde ich von Eddie Mannix, der früher Thalbergs troubleshoo ter gewesen und der Älteste der Anwesenden war. »Wo wollen Sie wohnen?« »Ich werde ein Haus am Camden Drive mieten.« »Das an der Ecke des Siebenhunderter-Blocks, wo Vincente Minnelli gewohnt hat?« »Richtig.« »Schon mal die Geschichte von William Faulkner gehört, der zu Hause gearbeitet hat, obwohl er auf un serer Gehaltsliste stand?« Es war eine der ältesten Geschichten in Hollywood, aber ich muß wohl zu lässig gesagt haben, daß ich sie kannte. Er sah mich scharf an. 164
»Autoren kommen und gehen«, sagte er. »Hat Ih nen schon mal jemand gesagt, daß diese Hornochsen bei Western Electric eine große Industrie kaputtge macht haben, als sie mit dem Tonfilm anfingen?« »Ich habe es gehört.« »Hoffentlich. Viele Leute finden noch immer, daß das stimmt.« »Wenn du etwas über den Stummfilm wissen willst«, sagte mein Produzent, »Eddie weiß, wo die ganzen Leichen liegen. Aber jetzt sollten wir wieder an die Arbeit gehen.« Draußen sagte er: »Noch einmal werden sie dich nicht so rannehmen.« Julian Blaustein war Harvardianer, und sein be kanntester Film seinerzeit war Der gebrochene Pfeil (Broken Arrow) mit James Stewart in der Hauptrolle. Dem Film, zu dem ich das Drehbuch liefern sollte, lag ein Roman von Hammond Innes mit dem Titel Die den Tod nicht fürchten (The Wreck of the Mary Dea re) zugrunde. Gary Cooper spielte darin einen üblen Kapitän, der von Versicherungsschwindlern als Sün denbock benutzt wird. Es ging um seinen Kampf, sei nen Ruf als zuverlässiger Kapitän wiederzuerlangen. Es war ein Film in der alten mgm-Tradition, mit einer guten Besetzung unter der Regie von Michael Ander son; und es war ein Flop, vielleicht nicht kommerziell, aber ich sah nur die Schwachstellen. Ich glaube, wir hatten den falschen Star. Die Rolle verlangte einen zornigeren, hungrigeren und gesünderen Schauspieler als Gary Cooper. Der arme alte Coop hatte es mit der 165
Prostata. Statt leidenschaftlicher Kämpfe sah man nur müde Verzweiflung. Man konnte es der Frau nicht verdenken, daß sie ihn am Ende nicht haben wollte. Das war nicht der Gary Cooper von Zwölf Uhr mit tags (High Noon) oder Mr. Deeds geht in die Stadt (Mr. Deeds Goes to Town). Er trat nur noch in einem Film auf, dann starb er. In Culver City war mgm noch einen Schritt weiter in die falsche Richtung gegangen. Sol Siegels neue Strategie bestand darin, alte Hits neu zu verfilmen. Sogar ich wußte, daß das nicht funktionierte. In bezug auf Remakes waren sich alle einig, daß man die guten Filme wiederholte und nicht die erfolgreichen. Mo numentalschinken wie Ben Hur und Die Zehn Gebote konnten neu verfilmt werden, weil sie sich technisch immer verbessern ließen. Die künstlerische Entwick lung stand auf einem anderen Blatt. Von Dashiell Hammetts Malteser Falke hatte Warner Brothers zwei mittelmäßige B-Filme produziert, ehe die Fassung mit Humphrey Bogart und Mary Astor, die 1941 unter der Regie von John Huston entstand, sich als Klassi ker des Genres herausstellte. Erfolge dieser Art sind nicht planbar. Julian Blaustein, der ein Remake des alten Stummfilmhits Die Vier Apokalyptischen Reiter produzieren sollte, wollte die Handlung aus dem Er sten in den Zweiten Weltkrieg verlegen. Im Vorführ raum des Thalberg-Building zeigte er mir die alte Fas sung. Ich hatte diesen Film zum ersten Mal als Zwölfjäh riger während der Sommerferien in Broadstairs gese 166
hen. Mit diesem Film erlangte Rudolph Valentino in ternationale Bekanntheit, und ich erinnerte mich an einige seiner Auftritte, vor allem aber an die Kriegs szenen. Mir schien, daß man die Figur des tanzenden Playboys, den Valentino spielte, nicht in die Zeit des Zweiten Weltkriegs verlegen konnte; und wenn die Helden und Frankreich sich verändert hatten, so galt das auch für die Feinde. Ein geläuterter Playboy in der Résistance? Sicher, warum nicht? Aber ich wollte es nicht schreiben. Ich war der Weltkriegsepen über drüssig, selbst der aufrichtigen. Julian war enttäuscht von mir und hat mich nie wieder gebeten, für ihn zu arbeiten. Ich kehrte zur Arbeit an Waffenschmuggel zurück und legte die Prüfung für einen regulären kaliforni schen Führerschein ab. Ich schloß Freundschaften. Im selben Jahr heiratete ich Joan Harrison. Joan hatte am St. Hugh’s College in Oxford Sozi alwissenschaften studiert und war 1938 mit den Hitchcocks (Hitch, Alma und Tochter Pat) nach Hol lywood gekommen, um für Selznick an Rebecca zu arbeiten. Sie hatte Drehbücher für andere HitchcockFilme geschrieben, namentlich Mord (Foreign Cor respondent), ging dann aber als freie Produzentin zu rko. Dort machte sie mehrere erfolgreiche Filme, un ter anderen mit Robert Montgomery, ehe Howard Hughes das Studio kaufte und ein Ultimatum stellte. Gerichtet war es an alle freien Produzenten, aber ge meint war Joan Harrison. In Zukunft, so Hughes, würde es in allen rko-Filmen nur noch zweierlei ge 167
ben, Sex und Gewalt. Frauen in Führungspositionen konnte er nicht leiden. Joan hatte den Wink verstan den und ging als Fernsehproduzentin nach New York. Als mca Universal übernahm, lud Hitch sie ein, zurückzukommen und seine Fernsehproduktionen zu übernehmen. Sie war eine renommierte Produzentin, was in Hollywood bekanntlich etwas heißen will; jah relang arbeitete sie für Hitchcocks Fernsehproduktio nen. Sie verpflichtete Drehbuchautoren, Regisseure und Schauspieler für Arbeiten, in denen sie ihre Ta lente am besten zeigen konnten. Einige große Karrie ren fingen in einer Hitchcock-Show an. Joan war eine bedeutende Persönlichkeit in Hollywood. Diese Bedeutung hatte ihre Nachteile, wie ich bald herausfinden sollte. In West Los Angeles und Umge bung waren die Leute, die in offizieller Funktion mit der Öffentlichkeit zu tun hatten, die Angestellten in kommunalen und staatlichen Behörden, immer sehr höflich und hilfsbereit – offenbar gehörte das zu ih rem Job; gewählte Beamte hielten gern die Hand über ihre Klientel. Aber ihre Freundlichkeit war nicht ganz selbstlos. Wenn der Beamte auf dem Formular den Namen sah und fragte: »Sind Sie der Schriftsteller?«, mußte man kein literarisches Interesse vermuten. Der Beamte überlegte wahrscheinlich, ob die Tatsache, daß diese prominente Person vor ihm stand, einen Anruf bei den Klatschkolumnistinnen Hedda Hopper oder Louella Parsons lohnte. Anträge auf Heiratserlaubnis hatten möglicherweise Nachrichtenwert, aber die Prä liminarien konnten ebenso aufschlußreiche Hinweise 168
liefern. Im Staat Kalifornien mußten sich die Brautleute damals einem Wassermann-Test unterziehen, um nachzuweisen, daß sie keine Syphilis hatten, und die Tests mußten von staatlich anerkannten Pathologen durchgeführt werden. Aus naheliegenden Gründen ging man nicht in dieselbe Klinik. Wesentlich einfacher war die Ausstellung der eigentlichen Heiratserlaubnis mit den Namen beider Partner, weil man nicht persön lich erscheinen mußte – man konnte sich von einem Anwalt vertreten lassen – und weil die Urkunde nicht von der Stadt, sondern vom County Los Angeles, tau send Quadratkilometer groß, ausgestellt wurde. Ein Ju stitiar von Universal, der Joan mochte und meine Bü cher gut fand, schickte zwei seiner Assistenten hinaus in eine Wüstenstadt in der Nähe von Bakersfield, wo es einen Beamten gab, der aus irgendeinem mysteriösen Grund als absolut diskret und vertrauenswürdig galt. Die Assistenten, bewaffnet mit beglaubigten Kopien meines englischen Scheidungsurteils und unseren Was sermann-Testergebnissen, hatten keinerlei Probleme. Die eigentliche Trauung sollte in San Francisco statt finden. Hitch, der als Brautführer vorgesehen war, ar rangierte alles. Sein Anwalt dort hatte soviel Einfluß, daß er einen Richter am Superior Court überreden konnte, auf seine samstägliche Golfpartie zu verzichten und sein Büro im Rathaus aufzuschließen. Es mußte ein Samstag sein, weil wir nur übers Wochenende von den Studios frei bekamen. Der Anwalt reservierte im Mark Hopkins Hotel eine Suite auf meinen Namen. Die Geheimhaltungsmaßnahmen waren sehr streng. 169
Ich selbst war es, der alles vermasselte. Das »Mäd chen« – das heißt, die Frau, die täglich zu uns kam und saubermachte – kaufte ein und sorgte dafür, daß der Kühlschrank immer voll war. Sie war etwa fünf zig, ruhig und zuverlässig, und ihr alter Buick machte sich sehr viel besser in der Auffahrt als mein gemiete ter Chevrolet. Ich wußte, daß sie bei Central Casting geführt wurde und gelegentlich als Komparsin arbei tete und noch andere Jobs hatte, aber das war bei Dienstmädchen in Beverly Hills üblich. Was ich nicht wußte, war, daß sie alle, ganz gleich, was sie sonst noch taten, als Zuträger für die Klatschkolumnisten arbeiteten; sie wurden nach Leistung bezahlt, und zwar sehr gut. Sie waren Profis. An jenem Freitag hatte ich nur die übliche Ein kaufsliste ein wenig geändert und das Mädchen gebe ten, in dem guten Delicatessen am Beverly Drive ge räucherten Lachs zu besorgen. Sie fragte, ob ich den Champagner und den geräucherten Lachs für Samstag oder Sonntag haben wollte. Sonntag, sagte ich, wenn ich aus San Francisco zurückkäme. Den besten Champagner gebe es im Santa Glen-Market, ob ich den besten wollte? Ja. Das war alles. Eine Stunde spä ter bekam Joan im Studio einen Anruf von Louella Parsons. Sie wolle exklusiv über die Hochzeit berich ten. Wenn wir einverstanden seien, würde sie zusehen, daß alles glatt lief; andernfalls würde es vermutlich etwas holprig werden. Joan war sofort einverstanden; sie fand schon immer, daß Louella nicht ganz so fies war wie Hedda Hopper. 170
Louellas Zusage schien mir doch etwas unzutref fend; direkt holprig wurde es nicht, aber ein paar Stol persteine waren doch eingebaut. Hitch, der mit Alma Trauzeuge sein sollte, hatte die Hochzeit mit Blick auf den potentiellen Unterhaltungswert so raffiniert orga nisiert, als wären wir Cary Grant und Ingrid Bergman. Was Joan und ich allerdings nicht bedacht hat ten, war die Tatsache, daß das Rathaus in San Francis co, wo unsere Trauung stattfinden sollte, samstags normalerweise geschlossen war und daß die breite Treppe und der mächtige Portikus am Wochenende Treffpunkt von Trinkern, Junkies und Pennern war. Getrunken wurde ein süßer kalifornischer Fusel, dem billiger Schnaps zugesetzt war und der einen ganz ei genen Geruch hatte. Der Richter war, wegen der ent gangenen Golfpartie, bei seinem Eintreffen ausgespro chen schlechtgelaunt. Seine Stimmung besserte sich jedoch, als er Hitch erkannte und die vielen Fotogra fen sah. Im Verlauf der Trauzeremonie hob sich seine Laune, und schließlich erklärte er sich sogar bereit, für alle Fotografen, die noch Filmmaterial übrig hatten, die Zeremonie zu wiederholen. Ich lehnte dieses An gebot jedoch ab, unterstützt darin von Hitch, der sei ne eigene Leica mitgebracht hatte und das glückliche Paar draußen auf der Freitreppe inmitten der Betrun kenen fotografieren wollte. Als wir unsere Suite im Mark Hopkins erreichten und die Freunde begrüßten, die von Los Angeles herübergeflogen waren, um mit uns zu feiern, brauchten wir einen anständigen Drink. Dem Richter und ein, zwei Fotografen ging es ähn 171
lich. Der Richter, der bald nicht mehr nüchtern war, rief seine Frau an, sie solle kommen und mitfeiern. Gott sei Dank lehnte sie ab. Aber er ging als letzter. Es war ein langer Tag. Um drei Uhr nachts wurde ich vom Telefon aus dem Schlaf gerissen. Es war der ›Daily Express‹ in London. Sie hätten den Bericht von Louella Parsons gelesen, ob es wahr sei, daß ich wieder geheiratet ha be? Protestierend wies ich darauf hin, daß es Sonn tagmorgen drei Uhr sei. Sie sagten, es sei Sonntag, früher Abend, und der ›Express‹ sei doch immer sehr nett zu mir gewesen. Und Joan Harrison, sei sie nicht mal mit Clark Gable verheiratet gewesen? Nein, ich sei ihr erster Mann. Ja, sie habe manchmal mit Charlie Chaplin Tennis gespielt, sie sei eine gute Doppelspie lerin, und er habe gern gewonnen. Einige Tage später kamen die Zeitungsausschnitte aus England. Der ›Daily Express‹ hatte ein großes Bild von Joan in Clark Gables Armen gebracht; sie im Ballkleid, er im Frack. Das jährliche Galadiner der American Academy war, bevor es vom Fernsehen übertragen wurde, eine stilvollere und insgesamt at traktivere Veranstaltung. Das Foto von Joan war gut, und sie war über sein Wiederauftauchen nicht böse. Als unser Mietvertrag für das Haus am Camden Drive ablief, kauften wir ein kleines Haus in Bel Air. Joan hatte noch ein paar Möbel von einem Haus in den Holmby Hills, das ihr einmal gehört hatte. Ich ließ mir aus England die Bücher und den Schreibtisch kommen. 172
Jeder Kinogänger weiß, wie Los Angeles aussieht; er hat es in den Hollywoodfilmen gesehen, er hat die mickerigen Palmen gesehen und weiß vielleicht, daß es keine Dattel- oder Kokosnußpalmen sind. Aber er hat auch die Bermudagrasflächen gesehen, die blühenden Oleander und die Bougainvilleen; er hat die hohen Farne gesehen, die Orangenhaine und die Swimming pools. Es sieht aus wie auf Ansichtskarten von einem subtropischen Paradies. Die Ansichtskarten lügen; ei nige Pflanzen mögen subtropisch sein, aber ein Para dies war es nie; es war und ist eine Wüste. Bis 1939, als der vierhundert Kilometer lange Los Angeles Aque duct fertiggestellt war und Wasser aus dem Owens Ri ver Lake und dem Colorado River in die Reservoire von Los Angeles fließen konnte, kam frisches Wasser nur aus ein paar artesischen Brunnen, die von den Ölgesellschaften und den großen Zitrusproduzenten an gelegt worden waren. Das moderne Los Angeles ist ein Produkt seines Aquädukts, des Wassers aus dem Owen River und eines Wasserleitungssystems, an das jedes Gebäude und jeder Haushalt der Stadt ange schlossen ist. Hier wird Laub und Dreck nicht mit dem Besen, sondern mit dem Wasserschlauch besei tigt. Um den Garten zu bewässern, stellt man die Sprinkleranlage an. Wasser ist nur dann teuer, wenn man den Swimmingpool vollaufen läßt; die wahren Kosten verursachen die anschließenden Wartungsar beiten. Unser Haus stand am oberen Ende einer steil an steigenden Sackgasse, die von der Stone Canyon Road 173
abging, anderthalb Kilometer vom Bel Air Hotel ent fernt. Es war 1940 gebaut worden, als jedes Haus in dieser Gegend anders aussah als das Nachbarhaus, als Hausarchitekten in erster Linie Landschaftsarchitek ten und Arbeitskräfte billig waren. Bevor das Haus gebaut wurde, hatte man die Canyonwand weiter oberhalb terrassiert, mit säuberlich angelegten Wegen und Rohsteinmauern abgesichert und mit Farn und Kamelien bepflanzt. Einen Swimmingpool hatten wir nicht, aber das Haus war in dem schönen zweige schossigen Monterey-Stil errichtet, der sich an der Küste nördlich der Monterey-Halbinsel herausgebil det hatte. Es paßte besser in diese Gegend als die spa nischen Haciendas und Adobes, die aus Mexiko stammten. In einem Canyon von Los Angeles hatte solch ein Haus jedoch seine Nachteile. Kalifornische Meteorologen pflegten darüber zu klagen, daß es kein Wetter vorherzusagen gebe, son dern nur ein Klima, das man beschreiben könne. Wet terberichte waren tatsächlich monoton, aber das Kli ma war durchaus für Überraschungen gut. Der Winter kam nicht immer dann, wenn er kommen sollte, im ersten Viertel des Jahres, wenn pazifische Sturmtiefs ein bißchen Regen brachten. Manchmal zogen die Stürme nördlich oder südlich an Kalifornien vorbei; manchmal brachen sie mit aller Macht herein, und aus den üblichen paar Zentimetern Niederschlag wurde ein Tropensturm, der katastrophale Erdrutsche und Fluten auslöste und die Canyons in reißende Ströme verwandelte. Manchmal kam der Winter aber über 174
haupt nicht. Das erste Weihnachten, das wir in unse rem Haus in Bei Air verbrachten, war so ein Fall. Der November, mit Tagestemperaturen um 35 Grad, ist in LA oft der heißeste Monat des Jahres. Im Dezember wird es dann etwas kühler, so daß die Weihnachtsde korationen am Wilshire Boulevard nicht ganz so ab surd wirken. In jenem Dezember blieb das Thermo meter tagsüber in den Dreißigern und schien auch nicht sinken zu wollen. Der übliche Temperaturrück gang von zwanzig Grad, der nach Sonnenuntergang eintrat, sobald die kühle Nachtluft die Canyonhänge hinunterwehte, blieb aus; dafür sorgte ein warmer Santana aus dem innerkalifornischen Bergland. Zu Sil vester waren wir bei den Lederers eingeladen. Ihre Party war ein Muß, und auch alle unsere Freunde würden kommen. Abendkleidung war obligatorisch. Allerdings hatte ich nur meinen englischen Smoking dabei, der für das englische Klima gemacht war. Ich setzte mich also in Hemdsärmeln ans Steuer. In der Ebene von Beverly Hills war es ein kleines bißchen kühler, aber nur ein kleines bißchen. Ende Januar fie len dann ein paar Regentropfen, nichts Aufregendes; dann gab es zehn Monate lang keinen Regen. Das übrige Jahr hatten wir viel Arbeit. Joan produ zierte zwei Fernsehshows, die Sechzig-MinutenSendungen für die Reihe »Alfred Hitchcock Presents« und »Suspicion«. Ich selbst hatte mich rechtzeitig aus dem Chaos von Marlon Brandos Meuterei auf der Bounty verabschiedet und einen Roman angefangen, der den Titel Topkapi trug. Ich wußte, daß in den Ca 175
nyons von Los Angeles immer Waldbrandgefahr be stand. Ein Jahr zuvor war im Laurel Canyon, unweit West Hollywood, ein Feuer ausgebrochen, bei dem Aldous Huxley sein Haus und wichtige Papiere verlo ren hatte. Ich schrieb noch immer mit der Hand und ließ die Rohentwürfe abtippen. Jemand hatte mir ge raten, meine Manuskripte in einem feuersicheren Safe aufzubewahren. Ich legte mir also einen solchen Safe zu und glaubte, nicht mehr an die Brandgefahr denken zu müssen. Montag, der 6. November 1961, fing sehr schön an. Es war heiß, aber trocken, und in der klaren Luft konnte man meilenweit sehen. Kurz nach acht ver ließ Joan wie üblich das Haus, um via San Fernando Valley zu den Universal Studios in North Holly wood zu fahren. Ich ging nach oben in mein Arbeits zimmer und begann zu schreiben. Bald darauf kam eine Frau, die für mich tippte. Ich hatte für meinen Londoner Verlag einen Band mit Erzählungen zu sammengestellt, und das fertige Manuskript war in Arbeit. Die Frau setzte sich mit der Schreibmaschine in den schattigen Teil der Veranda. Der Santana blies schon heftiger, das Thermometer zeigte fünfunddrei ßig Grad und stieg noch immer. Der Santana ist ein Wüstenwind, der, wie der Mi stral und der Schirokko, zu bestimmten Jahreszeiten auftritt und ähnliche Auswirkungen auf die Menschen hat. Die Leute werden reizbar und launisch. Blut druck und Puls steigen; es kommt sehr viel schneller zu Streit und Aggression. Ich war nicht überrascht, als 176
die Sekretärin sagte, sie habe mit einer Freundin in Laurel Canyon telefoniert, die erzählt habe, daß drü ben im Tal ein Waldbrand ausgebrochen sei. Diese Freundin, sagte sie, sei in großer Angst, weil sie an diesem Tag kein Auto habe und allein sei. Ich sagte, sie könne ruhig zu ihr fahren und das Manuskript mitnehmen; sie könne die Arbeit zu Hause fertigstel len, wenn sie wolle. Im nächsten Moment war sie schon verschwunden. Ich ging wieder an meine Arbeit, wurde aber kurz darauf erneut gestört. Nellie, unsere Haushälterin, kam hoch und berichtete, daß der lokale CBS-Sender einen größeren Waldbrand gemeldet habe. Angefan gen habe es irgendwo bei Sherman Oaks, ein Bulldo zer sei gegen einen Felsen geschrammt und habe dabei Funken geschlagen. Das Feuer sei zwölf Kilometer entfernt, aber der Santana sei inzwischen ziemlich stark. Ich fragte Nellie, ob sie besorgt sei. Sie sagte Nein, hielt es aber für ratsam, die Sprinkleranlage ein zuschalten. An diesem Tag würde unser Gärtner nicht kommen, aber sie kannte sich aus. Sie würde auch den Gartenschlauch bereitlegen, für alle Fälle. Ich sagte, in Ordnung, und ging wieder an meine Arbeit. Das war kurz nach neun Uhr. Gegen halb zehn kam Nellie wieder hoch und meldete, daß das Dach des Hauses Feuer gefangen habe. Das Monterey-Haus war ein zweigeschossiges Ge bäude, dessen gemauertes Erdgeschoß zum Schutz vor Erdbeben oft durch Stahlträger verstärkt war; das Ober geschoß war mit Schindeln verkleidet und hatte einen 177
schönen Balkon, den ein breites, schräges Dach vor der Sonne schützte. Das Dach war mit Schindeln gedeckt, aber nicht solchen aus billigem gebrannten Ton, sondern aus einem teuren Hartholz, meistens alter Eiche. Das Dach selbst brannte noch nicht. Der Santana, der jetzt mit 100 Stundenkilometern oder mehr dahin fegte, trug brennende Gegenstände durch die Luft. Was auf unserem Dach brannte, war ein großer Ast, den der Wind aus dem Garten eines brennenden Hau ses etwa einen halben Kilometer entfernt herbeige weht hatte. Wir befanden uns mitten in der Bahn eines Feuersturms. Nellie Williams wußte genausowenig ich, was da eigentlich vorging. Nellie, die in Stepney geboren und aufgewachsen und gelernte Köchin war, hatte die Londoner Bombennächte erlebt und wußte, wie man sich bei Gefahr verhielt, ohne in Panik auszubrechen: man nahm alle Wertgegenstände, die man tragen konnte, und schaffte sie in den nächstgelegenen Schutzraum. Ich versuchte, das Feuer auf dem Dach mit dem Wasserschlauch zu löschen. Zunächst war noch genug Druck da, so daß ich den brennenden Ast erreichte, aber es dauerte nicht lange. Bald kamen nur noch ein paar nutzlose Tropfen aus dem Schlauch. Ein Nachbar, der etwas weiter unterhalb wohnte, hatte ein flaches Asphaltdach, auf dem man stehen konnte, aber ohne Wasser brauchte er einen Besen, um die bren nenden Teile wegzufegen. Inzwischen brannte unser schräges Dach schon an mehreren Stellen. Es wurde Zeit zu gehen. 178
Nur die Garagen brannten noch nicht. Sie waren etwa zehn Meter unterhalb des Hauses und unterhalb des wütenden Luftstroms, der das Feuer in Richtung Pazifikküste trug. Die Flammen, hieß es im Radio, bewegten sich mit einer Geschwindigkeit von 5 Hek tar pro Minute über das bergige Buschland oberhalb von uns. Ein halber Hektar ausgedörrtes Sumachland brennt so gut wie zwanzig Hektoliter verschüttetes Benzin, und der Sog der Flammen verwandelte das Singen des Santana in ein Geheul. Aber der Sturm heulte über unsere Garagen hinweg. Nellie und ich saßen zwischen unseren Autos und guckten zu, wie das Haus brannte. Der Rauch machte uns zu schaffen. Nellie hatte, unter anderem, eine halbe Flasche Wod ka aus dem Haus geholt. Normalerweise trank sie nicht, aber jetzt machte sie eine Ausnahme: und sie war es, die mich daran erinnerte, daß ich Dinge zu er ledigen hatte. »Ich habe Mrs. Amblers Pelzmantel und Juwelen herausgeschafft«, sagte sie, »und in der Waschmaschi ne war ein Nachthemd von ihr, aber Sie sollten schon mal an ein Hotel denken. Auf die Feuerwehr brau chen Sie nicht zu warten! Wenn sie kommen würde, wäre sie schon vor einer Stunde gekommen. Und was könnte sie schon tun? Es gibt ja kein Wasser. Um mich machen Sie sich mal keine Sorgen, ich ziehe zu Rose.« Rose war ihre Schwester, eine tüchtige Hausange stellte, die ein Apartment hatte und zweifellos das ge rettete Nachthemd bügeln würde, ehe Joan es benö 179
tigte. Ich ging zu dem Mann mit dem Flachdach hin unter und fragte ihn, ob sein Telefon noch funktio nierte. Er stellte es mir zur Verfügung, erklärte aber, daß es sinnlos sei, bei der Feuerwehr anzurufen. Ich hatte kein Adreßbuch, aber die Nummer der Univer sal Studios kannte ich auswendig. Joan hatte natürlich von dem Feuer gehört, wußte aber nicht, daß wir be troffen waren. Ich bat sie, uns im Bei Air Hotel unter zubringen, es sei das nächste. Fünf Minuten später meldete sie sich wieder und erklärte, daß das Bei Air seine Angestellten evakuiert habe, sie habe aber den letzten freien Bungalow im Beverly Hills Hotel ge bucht. Ich sagte, daß ich so bald wie möglich bei ihr sein würde; und dann fiel mir ein, sie zu bitten, unse ren Verwalter anzurufen und ihm unsere Lage zu schildern. Sie sagte, seine Nummer stehe in unseren Adreßbüchern. Ich mußte Joan eröffnen, daß wir, so fern Nellie sie nicht gerettet hatte, keine mehr hatten. Die für uns wichtigen Leute standen nicht im Tele fonbuch. Der Mann mit dem Flachdach war inzwischen her untergekommen. Er bot mir ein Bier an, das ich dank bar trank, und einen Erdnußbuttersandwich, dem sich meine verräucherte Kehle widersetzte. Eine Radio stimme warnte alle, die noch in Bei Air waren, ihren Besitz nicht unbeaufsichtigt zu lassen. Schon wurde von ersten Plünderungen berichtet. Das Feuer hatte offenbar den Sepulveda Freeway übersprungen und Brentwood erreicht. Ich ging wieder zu Nellie in die Garage zurück. 180
Das ganze Haus stand jetzt in Flammen, und ich kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie das obere Geschoß auf das untere krachte. Zum Glück gab es auf Garagenhöhe einen Wasserhahn, aus dem noch immer sauberes Wasser tröpfelte, so daß man etwas trinken und sich das Gesicht erfrischen konnte. Der Wind und der Sog des Feuers stellten jetzt komische Sachen an, und mit einem Mal stand der ganze Hügel über uns in Flammen. Seinerzeit gab es dort noch kei ne Häuser; es war wildes, mit Gestrüpp bedecktes Land mit ein paar einzelnen, verkrüppelten Bäumen. Wir wußten, daß es dort wilde Tiere gab, denn nachts heulten die Koyoten, und der Drahtzaun, der die Re he und Hirsche fernhalten sollte, war oft beschädigt, aber meistens zeigten sich die Tiere nicht. Jetzt liefen sie alle um ihr Leben, den Canyon hinunter. Zuerst das Wild, bald auch Kaninchen und dann Tiere, die ich nicht erkannte, wieselartige Geschöpfe, Wildkat zen und Ratten. Viele der Tiere hatten in ihrem Pelz Feuer gefangen, und wo immer sie hinliefen, fingen neue Brände an. Ich machte mir allmählich Sorgen wegen des Garagendachs. Wir hatten einen kurzen Wasserschlauch dort, den der Gärtner benutzte, wenn er den Vorplatz von Blättern säubern wollte, aber der Wasserdruck reichte nicht aus, um weitere Brand bomben, die durch die Luft angesegelt kamen, un schädlich zu machen. Wir konnten nur warten und hoffen. Eine plärrende Radiostimme warnte noch immer vor Plünderern. Ich fragte Nellie, was sie davon hielt. 181
»Dummes Zeug«, sagte sie. »Abgesehen von uns gibt es nur zwei Sorten von Leuten in Bei Air, die mo torisiert sind, die Gärtner und die SwimmingpoolWartungsleute. Die Gärtner sind Mexikaner oder Ja paner; die Wartungsleute sind meistens Weiße. Es sind die Schwarzen, vor denen die Polizei Angst hat. Sie wissen, wenn die Schwarzen hier auftauchen, dann müssen sie die Armee rufen.« Mir schien, daß sie übertrieb. Das war zwei Jahre vor den ersten großen Unruhen in Los Angeles und der Verwüstung von Watts. Mir schien die Klausel in unserem Vertrag, die besagte, daß wir das Haus nicht an einen »Äthiopier« verkaufen durften, ein kurioses Überbleibsel einer längst vergangenen Zeit zu sein. Ich hatte mich geirrt. Die Einwanderungsbehörde verwendete noch immer denselben Euphemismus für »Schwarzer« und »Neger«. Er war normal in Bei Air, so normal wie die hohe Brandgefahr und so normal wie der Ärger, der inzwischen auch mich packte, wenn ich sah, wie gaffende Touristen ihre glühenden Kippen aus dem Autofenster in das Gebüsch am Stra ßenrand warfen. Gegen drei Uhr nachmittags tauchte der erste Feu erwehrmann bei uns auf, ein älterer Mann mit einem rauchgeschwärzten Gesicht, durch das sich Schweiß bäche zogen. Um zwanzig vor neun hatten wir Feuer gemeldet. Er schaute bei allen vorbei, die angerufen hatten. Dafür, daß uns niemand geholfen hatte, ent schuldigte er sich nicht, und ich schnitt das Thema auch nicht an. Ich fragte ihn, wie viele Häuser auf sei 182
ner Liste standen. »Knapp zweihundert«, sagte er. »Aber es kommen noch immer welche hinzu.« Seine Stimme klang wie meine, rauchig, krächzend. In eini gen Stadtteilen hatte es jedes Haus erwischt, in ande ren, wie draußen bei uns, war das Feuer gesprungen. Aus seiner Sicht war das Haus ein Totalverlust. Wie es mit Plünderern aussehe. Er sagte, von Plündereien ha be er noch nichts gehört. In Zsa Zsa Gabors Villa habe es Probleme gegeben. Sie sei nicht anwesend, und die Polizei von Bei Air habe einen vermeintlichen Souve nirjäger gefaßt. Er habe sich als Student entpuppt, der ein Fan von ihr war und das Tafelsilber aus der Villa geschafft und es in den Swimmingpool geworfen hat te. Keine schlechte Idee, wenn man einen Pool hatte. Überhaupt der beste Ort, wenn das Haus in Flammen stand. Ich erzählte ihm von meinem feuerfesten Safe, und er warf einen Blick auf die paar geretteten Habse ligkeiten, bestehend aus Joans Pelzmantel und drei Bildern. Zwei Trompe-l’œils von Venard, aus dem Besitz von Lesley Branch, die uns zur sicheren Ver wahrung übergeben worden waren, und ein Bild von John Pier, das wir erst in diesem Jahr gekauft hatten und das uns schon ans Herz gewachsen war. »Wegen Plünderern würde ich mir keine Sorgen machen«, sagte der Feuerwehrmann, »aber ich würde den Pelzmantel wegschaffen, sonst stinkt er ewig nach Rauch. Und ich würde hier nicht bleiben. Die Polizei sperrt die Zufahrten nach Bei Air. Wenn Sie raus kommen, wird man Sie heute nicht mehr hineinlassen. Aber das wollen Sie bestimmt nicht, oder? Es wird 183
mindestens vierundzwanzig Stunden dauern, bis es hier soweit abgekühlt ist, daß man an den Safe kann.« Wenig später brach Nellie auf, sie packte Joans Sa chen in ihr Auto und versprach, unseren Grund stücksverwalter anzurufen und ihm auszurichten, was der Feuerwehrmann gesagt hatte. Ich blieb bis Ein bruch der Dunkelheit, döste in meinem Auto vor mich hin und trank gelegentlich etwas Wasser. Mitt lerweile ging es mir ziemlich schlecht, und Dexter, der Sohn eines vom Feuer verschonten Nachbarn, fuhr mich zum Beverly Hills Hotel. Dort fand ich, daß alles, was getan werden konnte, getan war. Joan hatte mir eine Zahnbürste, Rasiersa chen und frische Unterwäsche gekauft. Nellie hatte sich der Hilfe Dudley Walkers versichert, eines Eng länders, der früher bei Barbara Hutton als Kammer diener gearbeitet hatte, dann bei Lance Reventlow, ih rem Sohn, und schließlich, nachdem der junge Herr bei einem Autorennen ums Leben gekommen war, sich als freischaffender Butler etabliert hatte. Er war genau der Richtige für Notfälle. Ich fand mich vorü bergehend im Besitz eines Sulka-Morgenmantels, ei nes Seidenpyjamas und von Slippern, die mit einem Monogramm versehen waren. Das Monogramm war nicht meines, aber die Slipper paßten. Ich konnte ge rade noch meine Sachen ausziehen und mich unter die Dusche stellen, als ich ohnmächtig wurde. Im Bett kam ich wieder zu mir. Ein Arzt hörte und klopfte meine Brust ab. »Verzögerter Schock«, sagte er, »Sie sind ohnmächtig geworden. Nichts Ernstes, 184
aber das Schlucken wird Ihnen ein paar Tage schwer fallen. Ich gebe Ihnen jetzt eine Spritze, und Sie wer den ein paar Stunden schlafen. Wenn Sie aufwachen, werden Sie Hunger haben. Ich würde Ihnen etwas Leichtes empfehlen, etwa Rühreier, Kartoffelpüree und Kaffee. Sobald Sie gegessen haben, werden Sie gleich wieder einschlafen und bis zum nächsten Mor gen durchschlafen.« Die Spritze wirkte wie angekündigt. Als ich zum ersten Mal aufwachte, stellte ich fest, daß Dudley da gewesen war und alle dreckigen Sachen mitgenommen hatte; sie würden am nächsten Tag sauber daliegen. Ich habe nie herausgefunden, wie die Spritze hieß, die so gut wirkte. Das kratzige Gefühl im Hals war weg, und ich vergaß, danach zu fragen. Außerdem hatte ich andere Sorgen. Zwei Tage nach dem Feuer war die Anzahl der völlig zerstörten Häuser auf vierhundertundvierundachtzig gestiegen. Mit unserem Grundstücksverwalter fuhr ich hinaus, um die Überreste zu inspizieren und Fotos für die Versicherung und für den Antrag auf Steuererlaß zu machen. Wir waren natürlich unterver sichert, wie alle anderen auch, und in dem kaliforni schen Immobilienboom jener Zeit bedeutete das, daß unser zerstörtes Haus das Zweifache des Kaufpreises wert gewesen war und das Vierfache der Versiche rungssumme. Irgendwann würden wir uns entscheiden müssen, ob wir das Haus wiederaufbauen wollten. Doch in diesem Moment interessierten mich nur der Safe und das Manuskript, das darin lag. 185
Der Safe, der sich im oberen Geschoß befunden hatte, war durch das Erdgeschoß bis unter die Stahl träger des Fundaments gefallen. Der Schlüssel, den ich im Safe hatte stecken lassen – das Ding sollte ja Schutz vor Brand, nicht vor Diebstahl sein –, war während des Sturzes abgebrochen. Der Safe selbst war intakt. Unser Verwalter meinte, daß man die Safeknacker ho len müßte. Zwei Tage später kamen sie. Sie waren ein ein drucksvolles Team, ernste Männer in makellos saube ren, himmelblauen Overalls, auf denen, vorn und hin ten, in weißen Buchstaben das Wort bonded über dem Firmennamen prangte. Auch ihre Fahrzeuge waren eindrucksvoll: gepanzerte Kleintransporter, von denen der eine einen Kompressor zog, der andere einen Ge nerator, der mit seiner Energie Eisenbeton binnen Se kunden zu Butter schmelzen konnte. Die Fahrzeuge und die Geräte waren tipptopp, die Männer nicht we niger. Zwei liefen mit mir zu den Ruinen hoch, und ich zeigte ihnen den herabgestürzten Safe. »Was ist drin?« fragte der Ältere. »Irgendwas Schweres?« »Papiere.« Mit Hilfe von zwei Tragegurten hievten sie ihn, mit der Tür nach oben, auf die Veranda. Der Ältere unter suchte das abgebrochene Schlüsselende, nickte dann seinem Kollegen zu, der zum Lieferwagen ging und Geräte herbeiholte – Geräte zum Aufbrechen von Schlössern, wie ich hoffte –, doch er brachte bloß ein langes Brecheisen und einen Vorschlaghammer. Das 186
Brecheisen setzte er an der Scharnierseite der Tür an. Der Ältere nahm den Hammer und versetzte dem Ei sen einen kräftigen Schlag. Die Safetür flog auf, und wir sahen eine Masse von grauer Asche, die sich bei Berührung in feinen Staub verwandelte. Der einzige erkennbare Gegenstand war mein britischer Paß. Der blaue Deckel war schwarzbraun, aber mein Name war noch lesbar. »Es hieß, er sei feuersicher«, beschwerte ich mich. »Nein«, sagte der Safeknacker und wies auf eine Codenummer, die auf dem Firmenschild eingeprägt war. »Das bedeutet feuerfest. Dieser Kasten kann eine halbe Stunde lang fünfhundert Grad aushalten. Der hier war mehr als sechs Stunden lang tausend Grad ausgesetzt. Schauen Sie mal, der Stahlträger dort. Er ist ganz krumm, fast geschmolzen. Diese Papiere ha ben nicht gebrannt – dafür war nicht genügend Luft drin –, sondern vor sich hingeschwelt.« Ich nahm den Paß, um ihn beim britischen Konsu lat vorzeigen zu können, falls man den Verlust bewie sen haben wollte. Mit den Überresten von Topkapi verschwendete ich meine Zeit gar nicht erst. Joan und ich hatten beschlossen, über Weihnachten nach Eng land zu fahren und unsere Verwandten zu besuchen. Vorher mußten wir allerdings ein neues Quartier fin den. Das Beverly Hill Hotel hatte uns zwar gute Dienste geleistet, doch es war unglaublich teuer. Wir brauchten ein möbliertes Haus, und zwar möglichst schnell. Andere Obdachlose aus Bei Air und Brent wood suchten Ähnliches. Wir nahmen das erste Haus, 187
das groß genug und in dieser Woche beziehbar war. Es befand sich am North Roxbury Drive und sah von außen ganz harmlos aus. Innen gab es jede Menge grelles Pink. Mein Arbeitszimmer war früher einmal das Schlafzimmer eines jungen Mädchens gewesen, das Puppen gesammelt hatte, die massenhaft in Glas kästen an der Wand hingen. Ich konnte an ihnen keine historischen oder künstlerischen Qualitäten entdek ken; es waren simple Puppen aus der Spielzeugabtei lung eines Kaufhauses, die nach den fünfziger Jahren aussahen. Ich wollte sie von der Wand nehmen, doch sie standen auf der Inventarliste und erfreuten sich, wie ich erfuhr, der besonderen Wertschätzung der Hausbesitzer. Nellie, die etwas von alten Puppen verstand, meinte, daß sie nichts taugten, fand aber amüsant, daß ich mit ihnen würde leben müssen. Sie hatte einen Yorkshire-Terrier namens Winston, gegen dessen durchdringendes Gekläff ich mehr als einmal protestiert hatte. Die Auswirkungen des Rauchs, den ich eingeatmet hatte, waren mehr oder weniger ver gessen, aber das Verlustgefühl, mit dem ich kämpfte, war neu für mich. Ich registrierte, daß ich mich selt sam verhielt. In Hollywood wird viel gearbeitet, und es werden weniger rauschende Feste gefeiert, als die Legende es will. Aber irgendwo in der Nachbarschaft gibt es im mer eine kleine Party, wo der Hausherr Spareribs grillt und die Gäste sich Jambalaya auftun. An einem dieser meist sehr gemütlichen Abende erkundigte sich die Gastgeberin beim Abschied nach unserem Verlust. 188
Wir waren diese Frage fast schon gewöhnt. Eigentlich interessierte die Leute nur, wie gut wir versichert wa ren und wie langweilig unsere Feuersbrunstgeschichte wohl war. Wir konnten die Dame beruhigen: Die Re gierung wollte sich großzügig zeigen; alle Verluste, die nicht von der Versicherung gedeckt waren, würden wir von der Steuer absetzen können. Damit war die Dame zufrieden, doch der Gastgeber sah die Sache anders. Er war ein alter Drehbuchautor, und Stücke von ihm wurden an englischsprachigen Bühnen auf der ganzen Welt aufgeführt; er taugte für meine Be griffe nicht besonders viel, aber er war ein Profi. Er sah an Joan vorbei und guckte mich an. »Wirklich Pech, die Sache mit dem Thomas-Hope-Sideboard, das Joan letztes Jahr bei Sotheby’s gekauft hat«, sagte er. »Aber was ist mit deinen Büchern, die du verloren hast? Du kannst die Kosten absetzen, du kannst dir neue kaufen, aber du kannst sie nicht ersetzen. Du wirst ganz von vorn anfangen müssen. Hier« – er hol te ein Buch aus dem Regal – »du kannst damit anfan gen. Ich habe noch ein zweites Exemplar davon. Alles Gute!« Es war Roget’s Thesaurus, ein Nachschlagewerk, das ich noch nie verwendet oder gemocht hatte. Mir war schon lange klar, daß der Griff zum Roget’s, um ein Synonym oder eine alternative Ausdrucksmög lichkeit zu finden, immer ein deutliches Indiz dafür war, daß ich nicht genau wußte, was ich sagen wollte. Für klaren Ausdruck war ein gutes Wörterbuch sehr viel nützlicher. Roget’s war etwas für Kreuzworträt 189
selfreunde und Leute, die für eine Vorstandssitzung eine Rede schreiben müssen. Es war sicher gut gemeint, und ein freundliches, dankbares Lächeln wäre eine angemessene Reaktion gewesen. Statt dessen brach ich in Tränen aus. Es dau erte nicht lange, aber es war sehr peinlich. Jahre später erzählte mir der Mann mit dem doppelten Roget’s, daß er mich in diesem Moment als Schriftsteller abge schrieben habe, daß ich ein Psychofall in der guten, alten Hollywoodtradition geworden sei. Joan schob meinen Lapsus dankenswerterweise auf die Tatsache, daß wir schon vor der Party getrunken hatten. Obwohl sie der Verlust des Thomas-HopeSideboards tatsächlich schmerzte, traf sie der Verlust ihrer Familiendokumente und anderer privater Dinge sehr viel mehr. Ich verstand das. Bücher konnte man schließlich ersetzen, und es war ja auch nicht so, als hätte ich Raritäten oder Erstausgaben gesammelt. Trotzdem war ich genauso durcheinander wie sie. Ich erinnerte mich jedoch an die Zeit vor dem Krieg, zwanzig Jahre war das her oder noch länger, als ich stolz darauf gewesen war, außer einem Wörterbuch, Papier, einem Bleistiftanspitzer und einem Koffer nichts zu besitzen. Jetzt war ich wieder in dieser Lage. Was war daran so schlimm? In London dachte ich wieder an Topkapi, ohne daß ich vorgehabt hätte, mich des Geschriebenen zu erin nern und es ein zweites Mal zu schreiben. Meine Bücher habe ich nie entworfen, jedenfalls nicht schriftlich. Ich habe sie anfangs meist, nebelhaft, 190
als Reise betrachtet, die von Figuren unternommen wird, die allesamt erbrochene und wieder zusammenge fügte Bestandteile von mir sind. Manchmal, in einem fortgeschrittenen Stadium, bin ich des Reisens müde. Wenn die Figuren nicht richtig lebendig werden, selbst nach reichlichen Verbesserungen, gebe ich die ganze Sache auf. Ein solcher Entschluß wird nicht leichthin gefaßt, und aus Sorge davor, daß ich später vielleicht schwach werde und versuche, ein bereits als tot deklariertes Projekt wieder aufzuwärmen, habe ich das Manuskript gewöhnlich vernichtet. In diesem Fall war der Vernichtungsbeschluß ohne mein Zutun gefallen, und obschon das Ding unzweifel haft tot war, gefiel mir die Art nicht, in der es zu Tode gekommen war. Wenn hier etwas vernichtet werden sollte, dann wollte ich es selbst tun. Natürlich suchte ich nach einem Schuldigen, nach jemandem, den ich be strafen konnte. Ich fand nur mich selbst, den Dumm kopf, der an Märchen glaubte, den Clown, der feuerfe ste Safes kaufte. Nun gut! Der Clown muß die Schmach ertragen, die er verdient hat. Topkapi würde wieder auferstehen, aber es würde ein autobiographi scher Roman werden, schlimmer noch, eine Komödie. Arthur Abdel Simpson, Zuhälter, Kuppler, Frem denführer, Pornograph und kleiner Dieb, war mein Double für die Rolle des Clown-Helden, und er vertrat mich gut. Natürlich bin ich nicht der erste Schriftstel ler, der sich, indem er Komödien schreibt, aus seinen Depressionen herauszieht, aber ich bin einer der Glücklicheren gewesen. Lesern von Unterhaltungsro 191
manen gefällt es nicht, wenn ein Autor, der ihnen ver traut ist, plötzlich das Genre wechselt und mit anderer Stimme zu ihnen spricht. Normalerweise wohlgesinnte Kritiker taten Topkapi als Verirrung ab. In Europa da gegen gewann ich Leser. Der Roman wurde erfolgreich verfilmt, und Peter Ustinov in der Rolle meines uner hörten Arthur Abdel Simpson bekam einen Oscar. In Frankreich und Italien verkaufte sich das Buch erst durch den Film. Wir bauten ein neues Haus mit einem Flachdach und einem kleinen Swimmingpool, der uns beim nächsten Brand als Wasserreservoir dienen sollte. Einmal monatlich überprüfte ich die Pumpen. Das Haus war nicht schlecht, aber es gefiel uns längst nicht so gut wie das alte. Wir gingen jetzt öfter auf Reisen, innerhalb der Vereinigten Staaten in Sachen Film, au ßerhalb, um die weniger bekannten Länder des nörd lichen Südamerika, Surinam, Guyana und Venezuela, zu sehen und zu riechen. Während unseres Aufent halts in Georgetown, der Hauptstadt Guyanas, starb Sir Winston Churchill, wir trugen uns in das Kondo lenzbuch ein, das in einem Schilderhäuschen vor dem Regierungssitz ausgelegt war. Daraufhin wurden wir zu einer Vorstellung des Little Theatre Club von Georgetown eingeladen. Der Informationsminister war dort Mitglied. Es war ein faszinierender Abend. Guyana mit sei ner gemischten Bevölkerung machte gerade die ersten mühsamen Gehversuche als politisch unabhängiger Staat. Es gab zwei große ethnische Gruppen: die 192
schwarzen Nachkommen afrikanischer Sklaven und die braunen Nachkommen indischer Vertragsarbeiter, die die Engländer nach dem Verbot der Sklaverei impor tiert hatten. Im Laufe der hundert Jahre, die seitdem vergangen sind, haben diese beiden Gruppen getrennt voneinander gelebt und sich entwickelt. Die afrikani schen Schwarzen wurden Ärzte, Anwälte und gingen in die Verwaltung, während die Inder vor allem Ge schäftsleute wurden und sich aufs Geldverdienen kon zentrierten. Die Schwarzen waren überwiegend Chri sten, und die Juristen unter ihnen, die Richter und An wälte, trugen Perücken wie ihre Kollegen in London. Die Braunen waren meistens Hindus, und auf ihren Häusern wehten Fahnen zur Ehre von Mutter Indien, obgleich keiner von ihnen je dort gewesen war. Diese »Mehrheiten« lebten in benachbarten Vierteln von Georgetown. Britisches Militär mußte herbeigerufen werden, um die gewalttätigen Auseinandersetzungen dort zu beenden. Die Polizei war eher eine Gendarme rie, in der Angehörige der portugiesischen und chinesi schen Minderheit vertreten waren und angeblich sogar ein paar Engländer. Guyana war ein großes Land, und das bergige Landesinnere mit seinen Regenwäldern war größtenteils noch unerforscht. Wegen Diamantenvor kommen in der Grenzregion schwelte seit sechzig Jah ren oder noch länger ein Konflikt mit Venezuela. Der Streit würde noch einmal sechzig Jahre dauern. Der Little Theatre Club führte an diesem Abend vier Stük ke auf. Zwei waren aus dem Samuel-FrenchVerzeichnis von Einaktern, die für Laiengruppen frei 193
gegeben waren, die beiden anderen stammten von ein heimischen Autoren und wurden zum ersten Mal auf geführt. Eines der veröffentlichten Stücke war von Em lyn Williams, und anfangs hoffte ich, seine Qualität würde mir als Maßstab zur Beurteilung der anderen dienen können. Es war ein frühes Stück, das von dem Kampf eines jungen Walisers handelte, der sich von zu Hause abnabeln und aus seinem Dorf wegziehen will. Ich erkannte das Thema wieder; es war ein Porträt von Emlyn als junger Mann, lange bevor er The Corn is Green schrieb. Es war schon seltsam, einen Stations vorsteher im ländlichen Wales von einem Chinesen ge spielt zu sehen und zu hören und seinen eigensinnigen Sohn von einem schwarzen Afrikaner, der doppelt so groß war, aber in diesem Theater stimmte alles. Das galt auch für die anderen drei Stücke. Der Haken war nur, daß es immer um dasselbe Thema ging: jeder mit Wurzeln in Georgetown wollte fort. Die aufgeführten Stücke waren entweder ausländische Parabeln zu die sem Thema oder kraftvolle einheimische Interpretatio nen. Es hätte langweilig werden können, doch die Be setzung war so eigenwillig, daß man das Geschehen auf der Bühne fasziniert verfolgte. Laiengruppen haben meist Mühe mit der Besetzung von Rollen. In George town schien es dieses Problem nicht zu geben. Wenn der Schauspieler das Manuskript lesen konnte, bekam er die Rolle, unabhängig von Rasse, Farbe, Gestalt oder Körpergröße. Rassenhaß mochte es in den Vorstädten geben, aber im Little Theatre von Georgetown herrsch te eindrucksvolle Harmonie. 194
Nach der Vorstellung fand eine große Party statt, zu der wir in ein prächtiges Haus eingeladen wurden. Gastgeberin war eine bemerkenswert schöne, junge Schwarze, die so etwas wie der Spiritus rector des Theaterclubs war. Ihr Mann war jung, weiß und ein Manager in der karibischen Filiale einer Londoner Handelsfirma. Ich gratulierte ihm zu dem Abend und seinem Haus. Er nickte düster und blickte zu seiner Frau, die am anderen Ende des Raums stand und um schwärmter Mittelpunkt der Party war. »Sie macht ei ne tolle Arbeit«, sagte er, »aber wir wollen weg von hier.« »Aus dem Haus?« Joan und ich waren im herunter gekommenen Park Hotel abgestiegen. »Nein, fort aus Guyana.« Es war wie eine Szene aus einem der Stücke. »Hier gibt es keine Zukunft. Das sieht doch jeder.« »Wo wollen Sie hin? Zurück nach England?« »Um Gottes willen, nein. In die Staaten.« »Und wo da?« Er nahm mich beiseite und schenkte nach. »Also, ich habe mit vielen Automenschen in den Staaten ge schäftlich zu tun, Ford und General Motors. Wir könnten uns Detroit vorstellen. Sie leben und arbeiten doch in Amerika, was sagen Sie dazu?« Ich überlegte fieberhaft. Das war Mitte der sechzi ger Jahre. Martin Luther King hatte »einen Traum« gehabt, und mit der Bürgerrechtsbewegung ging es langsam voran, vor allem in den Südstaaten, wo der Widerstand am heftigsten gewesen war. Hätte er Los 195
Angeles gesagt, hätte ich einigermaßen überzeugt sa gen können, daß mir San Francisco günstiger erschie ne, oder besser noch: Seattle. General Motors hatte dort eine lkw-Fabrik, und ein weißer Manager mit ei ner intelligenten schwarzen Frau aus Guyana mochte ungewöhnlich, aber gesellschaftlich durchaus akzep tabel sein. Bei Detroit war ich mir nicht sicher. Also sagte ich lahm, daß ich an seiner Stelle nach Detroit gehen und mich erst einmal umsehen würde, welche beruflichen Aussichten es dort für ausländische Ma nager gebe. Joan staunte, als ich ihr später davon erzählte. »Sie werden nirgends hingehen«, sagte sie. »Die Frau hat mir erzählt, daß das Haus an seinen Job ge bunden ist. Außerdem dürfen sie kein Geld ausführen. Seattle? Die Leute da oben sind nicht verrückt. Sie würden vielleicht sie nehmen oder ihn, aber nicht bei de zusammen. Hier haben sie es besser. Hier wird es ihm gutgehen, solange sie bei ihm bleibt.« Auf dem Flughafen von LA wurden wir nach der Paßkontrolle von einer höheren Beamtin der Einwan derungsbehörde angesprochen; sie studierte noch ein mal unsere Pässe und unsere Green Cards. Sie war groß, schwarz und hatte eine kultivierte Stimme. »Mrs. Ambler, Sie halten sich seit 1938 in den USA auf, und Sie, Mr. Ambler, seit 1958. Sie sind jetzt lange genug hier. Wie kommt es, daß Sie sich noch nicht um eine Einbürgerung bemüht haben? Können Sie sich nicht dazu entschließen, oder ist es Ihnen egal?« Joan sagte, daß wir irgendwie nie dazu kämen. Die 196
Beamtin entließ uns mit einem kühlen Kopfnicken. Sie wußte so gut wie wir, daß für britische Staatsangehö rige, die in den USA Steuern und Sozialversicherung zahlten, die Frage der Staatsangehörigkeit keine Rolle spielte. Man konnte natürlich nicht wählen, aber wir hatten Lyndon B. Johnson die Hand geschüttelt und waren Richard M. Nixon vorgestellt worden und hat ten daher kein Interesse zu wählen. Solange man nicht sehr, sehr reich war und im Ölgeschäft oder in der Rindfleischbranche tätig war, und zwar in einem sol chen Maß, daß man mit Abschreibungen ganz legal ein paar Millionen extra machen konnte, war es im Grunde egal, welche Staatsangehörigkeit man besaß. Wenn man natürlich aus einer mittelamerikanischen Zuckerrepublik oder aus Osteuropa oder aus einem Land wie Vietnam kam, sah die Sache ganz anders aus. In Kalifornien lassen sich verantwortungsbewußte Autofahrer – fast schon automatisch – in regelmäßigen Abständen den Führerschein verlängern. Man muß dabei zu einer Augenuntersuchung, und zu meiner großen Überraschung bestand ich eines Tages den Test nicht. Daraufhin mußte ich eine Brille tragen. Ich mußte auch Schreibmaschine lernen. Jahrelanges Schreiben mit der Hand hatte irgendwelche Nacken wirbel beeinträchtigt. Das Schreiben mit der rechten Hand bereitete mir Schmerzen. Mühsam schrieb ich einen ganzen Roman mit der Linken. Es gab in den mgm-Studios einen Chiropraktiker namens Doc Mit chell, von dem ich abhängig wurde. Joan war die Ar beit fürs Fernsehen leid und wollte wieder zum Film 197
zurück. Die besten englischsprachigen Filme wurden mittlerweile in Europa gedreht. Als Studentin war Joan an der Sorbonne und in Oxford gewesen. Wir beide gingen auf die Sechzig zu. Vielleicht wurde es Zeit, daß wir uns nach neuen Betätigungsfeldern um sahen. Der Kuhhandel war eine der Arbeiten, die ich mit der linken Hand schrieb. Es begann als politischer Thriller, der in Mittelamerika spielte, und als Experi ment. Früher hätte ich das Ding vernichtet, wenn es sich nicht entwickelt hätte. Nach dem Brand war ich vorsichtiger geworden. Als ein Londoner Lektor, George Hardinge, eine Erzählung von mir haben wollte, die noch nirgends erschienen war, sah ich mir das Experiment an und stellte fest, daß ich ExPräsident Fuentes noch immer leiden konnte. Latein amerika hat zu viele Militärdiktatoren gehabt. Fuentes ist natürlich ein Gauner, aber kein Ungeheuer, wäre auch nie eines geworden. Er ist ein Lügner, ein Betrü ger, ein Politiker und ein guter Familienvater.
Der Kuhhandel
Ex-Präsident Fuentes zeichnet sich durch eine Be sonderheit aus. Seit er sich aus der Politik zurückge zogen hat, wollen ihn mehr Leute umbringen als zu jener Zeit, da er an der Macht war. Er versteht das nicht und ist empört. Er begreift nicht, daß Männer wie General Perez einem mit der Zeit vielleicht verzeihen, daß man sie bestohlen, aber niemals verzeihen können, daß man sie lächerlich gemacht hat. Der Staatsstreich, durch den Fuentes und seine Re gierung der Partei der Sozialen Aktion gestürzt wur den, war gut organisiert und vergleichsweise unblutig. Bei den Anführern des Putsches handelte es sich hauptsächlich um Offiziere des Heeres, die sich aber mit Gesinnungsgenossen in Luftwaffe und Marine verständigt und den stillschweigenden Segen der Kir che hatten. Schon vorher war ein Preis für die Koope ration des Polizeichefs vereinbart worden, und mit seiner Hilfe hatte man Listen mit den Namen linker Abgeordneter, militanter Gewerkschaftsfunktionäre, regierungstreuer Journalisten, auf Kuba ausgebildeter Agenten und anderer unerwünschter Personen aufge stellt, deren sofortige Verhaftung ratsam erschien. Ähnliche Maßnahmen waren in den größeren Pro 199
vinzstädten getroffen worden. Obgleich die Ver schwörer politisch keineswegs am gleichen Strang zo gen, war es ihnen dieses eine Mal doch gelungen, ihre Meinungsverschiedenheiten dem gemeinsamen Ziel unterzuordnen. Was später auch kommen mochte, ei nes stand fest: Wenn das Land vor Korruption, kom munistischer Unterwanderung, Anarchie, Bankrott, Bürgerkrieg und am Ende sogar einer ausländischen Militärintervention bewahrt werden sollte, dann muß te Präsident Fuentes gehen. Eines Septemberabends war es soweit. Die Taktik der »Befreiungsfront« folgte dem fast schon traditionellen Schema eines Putsches, der vom Militär getragen wird und, wenn überhaupt, nur bei einzelnen Gruppen der Bevölkerung und desorientier ten, leicht bewaffneten Garnisonen auf Widerstand stößt. Bei Einbruch der Dunkelheit rollten zwei Panzer brigaden in die Hauptstadt, begleitet von Truppen transportern, auf denen ein Fallschirmjägerregiment, Fernmeldeeinheiten und eine Pionierkompanie saßen. Nach etwas mehr als einer Stunde waren die wichtig sten Stellungen eingenommen. Die Luftwaffe hatte mittlerweile den Internationalen Flughafen besetzt und geschlossen und im Abfertigungsgebäude eine Kommandozentrale eingerichtet. Nun begann eine In fanteriedivision in die Stadt vorzurücken, um die Un ruhen niederzuschlagen, mit denen gerechnet wurde, sobald die Nachricht vom Putsch und den gleichzeitig erfolgenden Massenverhaftungen die dicht bevölker 200
ten Slumviertel erreichen würde, in denen besonders viele Anhänger von Fuentes lebten. Kurz nach 20.30 Uhr erreichten eine Panzerabtei lung und ein Trupp Fallschirmjäger den Präsidenten palast. Die Palastwache leistete eine Viertelstunde lang Widerstand und büßte es mit acht Verwundeten. »Zur Vermeidung weiteren Blutvergießens« erteilte Präsi dent Fuentes persönlich dem Kommandanten den Be fehl, sich zu ergeben. Als dies dem Anführer des Putsches, General Perez, gemeldet wurde, fuhr er zum Palast, begleitet von fünf hohen Mitgliedern des Rates der Befreiungsfront, darunter auch dem Polizeichef, und nicht weniger als drei ausländischen Pressevertretern. Diese waren schon von einem Adjutanten aus der Jockey-Club-Bar geholt und kurz über Ziele und Absichten der Befrei ungsfront informiert worden. General Perez wollte sich dem Ausland möglichst schnell als großmütiger, vernünftiger und verantwortungsvoller Mann präsen tieren, dessen Regime einer sofortigen diplomatischen Anerkennung würdig sei. Was die Journalisten über das Gespräch zwischen Präsident Fuentes und General Perez und über den sich daraus ergebenden, inzwischen berüchtigten »Kuhhandel« berichteten, stimmte im wesentlichen überein. Zuerst sahen sie in diesem Arrangement bloß ein weiteres Beispiel jener zivilisierten, merkwürdig ritterlichen Vereinbarungen des »Leben und Leben lassens«, die als Zeugnis dafür, daß selbst in Zeiten von Chaos und Anarchie an Mitgefühl und Augen 201
maß festgehalten wird, die lange, dunkle Geschichte lateinamerikanischer Revolutionen so oft mit ihrem Licht erfüllt haben. Daß die drei Journalisten, durch weg erfahrene Männer, dieses Arrangement falsch ver standen, kann man ihnen nicht vorwerfen. Sie wußten, wie jedermann, daß Fuentes listig und außerordentlich verlogen war. Ihr einziger Fehler bestand in der An nahme, alle Beteiligten hätten Fuentes’ List und Ver logenheit einkalkuliert und seien sich über ihr Tun völlig im klaren gewesen. Es war ihnen jedoch ent gangen, daß diese ansonsten vorsichtigen und nüch ternen Offiziere sich an dem Tempo und Ausmaß ih rer ersten Erfolge derart berauscht hatten, daß sie bei ihrer Ankunft im Präsidentenpalast schon nicht mehr klar denken konnten. Präsident Fuentes empfing General Perez und die anderen Vertreter der Befreiungsfront in dem prunk vollen Sitzungssaal, in den er von den Fallschirmjä gern, die ihn verhaftet hatten, gebracht worden war. Bei ihm befanden sich all diejenigen, die sich zum Zeitpunkt seiner Verhaftung im Luftschutzraum des Palastes aufgehalten hatten. Es waren dies der Kom mandeur der Palastwache, der Butler des Präsidenten, der Hausmeister, zwei Diener sowie der Klempner, der für die Installationen des Palastes zuständig war, außerdem der Minister für Öffentliche Wohlfahrt, der Minister für Agrarbildung, der Minister für Justiz und der schon etwas ältere Chef der Präsidialkanzlei. Der Minister für Öffentliche Wohlfahrt hatte aus dem Keller eine Flasche Cognac mitgebracht und verfolgte 202
die anschließende Konfrontation mit starrem Lächeln. Agrarbildung und Justiz hielten an ihrer verwirrten und entrüsteten Miene fest, beschränkten ihren münd lichen Protest aber auf vorsichtiges Gemurmel. Der schmallippige, jugendliche Hauptmann, der die Fall schirmjäger befehligte, hielt seine Maschinenpistole so, als würde er nur allzu gern von ihr Gebrauch machen. Nur der Präsident wirkte ruhig. Als General Perez und seine Leute aus dem Vorzimmer hereinkamen, erhob er sich mit einem fast ärgerlichen Achselzucken, als hätte ihn ein hartnäckiger Besucher bei einer Partie Bridge gestört. Seine Gelassenheit war nur teilweise aufgesetzt. Er wußte sehr wohl, daß General Perez großen Wert auf die Meinung der ausländischen Öffentlichkeit legte, und in dem Pulk der Eintretenden hatte er sofort die Presseleute erkannt. Diese hätte man nicht mitge bracht, wenn unmittelbare Gewalt gegen seine Person geplant gewesen wäre. Seine Verärgerung jedoch war echt. Er ärgerte sich über sich selbst. Seit Wochen wußte er, daß ein Putsch vorbereitet wurde, und schon vor einem Monat hatte er seine Frau mit den Kindern und seine Geliebte vor sichtshalber außer Landes geschickt. Sie befanden sich jetzt in Washington, und er hatte seinen öffentlich be kundeten Wunsch, persönlich an der Konferenz der Organisation Amerikanischer Staaten teilzunehmen, als Vorwand benutzen und sich zu seiner Familie ab setzen wollen. Seine Spitzel hatten berichtet, daß der Putsch zweifellos während seiner Abwesenheit statt 203
finden würde. Da er sich fünf Jahre zuvor auf ähnliche Weise an die Macht geputscht hatte, schien ihm dieser Bericht durchaus glaubhaft. Jetzt stand er dumm da. Ob seine Agenten ihn be wußt getäuscht hatten oder nicht, spielte in diesem Moment keine Rolle. Irgend jemand hatte einen Feh ler gemacht, der ihm gewiß mehr als nur vorüberge hende Unannehmlichkeiten einbringen würde. Wenn er diesen Fehler nicht unverzüglich wettmachen konnte, indem er sich innerhalb der nächsten Stunden ins Ausland absetzte, würde es ihn die Freiheit, wahr scheinlich sogar das Leben kosten. Nicht zum ersten Mal befand er sich in Todesge fahr. Die körperlichen und psychischen Reaktionen, die damit einhergingen, waren ihm vertraut, und er beschloß, sie zu ignorieren. Als General Perez auf ihn zukam, ließ er keine Regung erkennen. Er nickte nur höflich und wartete darauf, was der General vorbrin gen würde. Diesem schien es die Sprache verschlagen zu haben. Außerdem schwitzte er. Da es sein erster Putsch war, litt er zweifellos an Lampenfieber und flüchtete sich in militärische Formen. Er schlug die Hacken zusam men, nahm Haltung an und starrte auf das linke Ohr des Präsidenten. »Wir sind …«, begann er mit rauher Stimme, räus perte sich dann und korrigierte sich. »Ich und die ande ren Mitglieder des Rates der Befreiungsfront sind ge kommen, um Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß der Ausnahmezustand verhängt worden ist.« 204
Der Präsident nickte höflich. »Ich danke Ihnen für diesen Hinweis, Herr General. Da die Telefonverbin dungen unterbrochen sind, bin ich natürlich sehr dar an interessiert, zu erfahren, was hier vorgeht. Diese Herren dort« – er zeigte auf die Fallschirmjäger – »waren mir gegenüber nicht sehr gesprächig.« Ohne darauf einzugehen, fuhr der General fort, als verlese er eine Proklamation. Tatsächlich zitierte er aus der Presseerklärung, die den Journalisten bereits ausge händigt worden war. »Auf Befehl des Rates der Befrei ungsfront«, sagte er, »haben die Streitkräfte die Kon trolle über sämtliche Organe der Regierung übernom men. Wie es die Verfassung vorschreibt, werden Sie hiermit aufgefordert, Ihren Rücktritt bekanntzugeben.« Der Präsident guckte erstaunt. »Sie besitzen die Unverschämtheit, diese Meuterei auf die Verfassung zu stützen?« Zum ersten Mal, seit er den Saal betreten hatte, ent spannte sich der General ein wenig. »Es gibt einen Präzedenzfall. Niemand weiß das besser als Sie. Sie haben ihn durch die Legalisierung Ihrer eigenen Machtergreifung selbst geschaffen. Muß ich Sie an den Wortlaut des Verfassungsartikels erinnern? ›Ist der gewählte Präsident aufgrund eines Gebrechens, physi scher oder psychischer Natur, oder infolge Abwesen heit nicht imstande, sein verfassungsmäßiges Amt auszuüben, so kann ein Ausschuß, der die Interessen der Nation vertritt, seinen Rücktritt verlangen, und er ist befugt …‹« Der Präsident wedelte schon lange ungeduldig mit 205
der Hand. Wütend fuhr er jetzt dazwischen: »Ja, ja, ich weiß. Mein Vorgänger hat sich außerhalb des Lan des aufgehalten. Für mich gilt das aber nicht. Ich bin auch nicht krank, weder physisch noch psychisch. Es besteht keine rechtliche Grundlage, die es Ihnen er laubt, meinen Rücktritt zu fordern.« »Keine rechtliche Grundlage?« General Perez konn te mittlerweile schmunzeln. Er deutete auf die Fall schirmjäger. »Sind Sie in der Lage, das Amt des Präsi denten auszuüben. Hm? Wenn ja, dann versuchen Sie es doch.« Der Präsident tat, als denke er nach. Bis jetzt war das Gespräch mehr oder weniger nach seiner Erwar tung verlaufen; doch die nächsten Züge würden ent scheidend für ihn sein. Um seine Gedanken zu sam meln, trat er an ein Fenster und drehte sich nach einer Weile wieder um. Alle Blicke lagen auf ihm. Er spürte, wie die Span nung im Saal wuchs. Merkwürdig, dachte er, ich bin ein Gefangener, bin ihnen völlig ausgeliefert, und doch warten sie darauf, daß ich einen Entschluß fasse, eine Entscheidung treffe, wo es nichts zu entscheiden gibt. Es war absurd. Er sollte ihnen ein völlig irratio nales Schuldgefühl nehmen. Den Segen der Kirche hatten sie schon. Jetzt sehnten sich die armen Idioten auch noch nach dem Segen des Gesetzes. Na schön. Sie sollen ihn bekommen, aber nicht umsonst. Er wandte sich wieder an General Perez. »Eine unter Zwang abgegebene Rücktrittserklärung wäre rechtlich ungültig«, sagte er. 206
Der General warf dem Polizeichef einen Blick zu. »Du bist doch Anwalt, Raymundo. Wer vertritt hier das Gesetz?« »Der Rat der Befreiungsfront, Herr General.« Perez wandte sich wieder an den Präsidenten. »Se hen Sie, es gibt keine technischen Schwierigkeiten. Das erforderliche Schriftstück haben wir auch schon vorbereitet.« Sein Adjutant hielt eine schwarze Ledermappe hoch. Zögernd sah der Präsident von einem Gesicht zum arideren, als hoffte er, wider Erwarten ein freundli ches zu finden. Schließlich zuckte er mit den Schul tern. »Ich werde das Dokument durchlesen«, sagte er kühl und ging auf den Kabinettstisch zu. Dabei schien er sich seiner Mitgefangenen zu erinnern. Plötzlich blieb er stehen. »Müssen neben den Auslandskorrespondenten auch noch meine Kollegen und Bediensteten Zeugen mei ner Demütigung sein?« fragte er verbittert. General Perez winkte den Hauptmann der Fall schirmjäger zu sich. »Bringen Sie die Männer in ein anderes Zimmer. Postieren Sie Wachen vor den Eingängen.« Der Präsident wartete, bis die Gruppe aus dem Luftschutzkeller nach draußen eskortiert worden war, und setzte sich dann an den Tisch. Der Adjutant öff nete die Mappe, entnahm ihr ein mit grüner Kordel verschnürtes Dokument und legte es dem Präsidenten vor. 207
Dieser tat, als studiere er das Dokument sorgfältig. In Wahrheit ließ ihn der Inhalt kalt. Er wollte einfach die Spannung noch etwas steigern und die anderen Anwesenden glauben machen, sie hätten ihr Ziel fast erreicht. Drei Minuten lang war Totenstille im Raum, unter brochen nur durch das ferne Geräusch von Maschinen pistolensalven, das offenbar aus den südlichen Stadt vierteln herüberdrang. Unter den Anwesenden entstand eine leichte Unruhe; jemand räusperte sich nervös. Wieder fielen Schüsse. Der Präsident achtete nicht dar auf. Zum drittenmal las er das Schriftstück durch, legte es dann hin und lehnte sich zurück. Der Adjutant hielt ihm einen Füllfederhalter zum Unterschreiben hin; der Präsident ignorierte ihn und sah sich nach General Perez um. »Sie haben von Rücktritt gesprochen«, sagte er. »Davon, daß es zugleich eine Beichte sein soll, war keine Rede.« »Eine Beichte? Das ist kaum der Fall«, erwiderte der General trocken. »Wir erwarten nicht, daß Sie sich freiwillig bezichtigen. Es geht uns nur um ein Einge ständnis von Inkompetenz. Bei einem Staatsoberhaupt ist das noch kein Verbrechen.« »Angenommen, ich unterschreibe dieses Papier«, sagte der Präsident leise lächelnd, »welche Behand lung hätte ich dann zu gewärtigen? Eine Gefängnis zelle vielleicht und anschließend einen sorgfältig in szenierten Schauprozeß? Oder bloß eine Kugel in den Kopf und ein namenloses Grab?« 208
Der General wurde rot. »Wir sind angetreten, um den Machtmißbrauch zu beenden, und nicht, um ihn nachzuahmen. Sobald Sie unterschrieben haben, wer den Sie zu Ihrem früheren Haus in der Provinz Ala zan gebracht. Dort werden Sie sich fürs erste aufhal ten müssen, und der Gouverneur der Provinz wird dafür sorgen, daß Sie sich daran halten. Abgesehen von dieser Einschränkung können Sie sich nach Belie ben frei bewegen. Selbstverständlich darf Ihre Familie zu Ihnen ziehen.« »Sie erwähnen mein Haus in der Provinz Alazan. Wie sieht es mit meinem übrigen Privatbesitz aus?« »Was Sie bei Ihrem Amtsantritt besaßen, dürfen Sie behalten.« »Aha.« Der Präsident stand auf und entfernte sich vom Tisch. »Ich werde Ihnen morgen meine Ent scheidung mitteilen«, erklärte er beiläufig. Die Stille, die nun eintrat, dauerte nicht lange, doch einer der Journalisten berichtete später, es sei eine der lautesten gewesen, die er je gehört habe. Ein anderer erinnerte sich, daß er plötzlich den Duft eines großen Straußes tropischer Blumen bemerkte, der auf einem Tischchen neben der Tür stand. Inzwischen war der Präsident wieder ans Fenster getreten. General Perez ging zwei Schritte auf ihn zu und blieb dann stehen. »Sie müssen sich sofort entscheiden! Sie müssen so fort unterschreiben!« bellte er. Der Präsident drehte sich um. »Wieso? Warum so fort?« 209
Die Antwort kam vom Chef der Polizei: »Weil wir es wollen, du Hurensohn!« brüllte er. Auf einmal brüllten ihn alle an. Ein Offizier war so erregt, daß er die Pistole zog. Nur mit Mühe konnte der General die Ruhe wiederherstellen. Der Präsident beachtete sie nicht weiter. Er behielt General Perez im Auge, aber eigentlich waren es die Journalisten, an die er seine Worte richtete. Sobald sich der Lärm gelegt hatte, sagte er laut: »Ich habe Sie etwas gefragt, Herr General. Warum jetzt? Wozu die se Eile? Meine Frage ist berechtigt. Wenn Sie das Land, wie Sie behaupten, tatsächlich kontrollieren, was haben Sie dann von mir zu befürchten? Oder ist Ihre Kontrolle vielleicht doch nicht so vollständig und effektiv, wie Sie uns glauben machen wollen?« Der General mußte einen weiteren Wutanfall seiner Kollegen verhindern, bevor er antworten konnte. Er selbst war von bewundernswerter Gelassenheit. Seine Reaktion war ruhig und überlegt. »Ich will Ihnen genau sagen, was wir kontrollieren, damit Sie selbst urteilen können«, erklärte er. »Zu nächst einmal haben sich alle Provinzgarnisonen, Luftwaffenstützpunkte und Polizeiposten auf unsere Seite gestellt, ebenso fünf von acht Provinzgouverneu ren. Die übrigen drei – Sie haben gewiß erraten, um wen es sich handelt – sind unschädlich gemacht und durch Militärgouverneure ersetzt worden. All das dürf te Sie nicht besonders überraschen. Abgesehen von der Hauptstadt und den Bergbaugebieten hatten Sie nie viel Anhang.« 210
Der Präsident nickte. »Dummheit läßt sich manchmal geographisch festmachen«, sagte er. »Nun zur Hauptstadt. Wir kontrollieren die militäri schen und zivilen Flugplätze, den Marinestützpunkt, das gesamte Kommunikationswesen, die Telefonver bindungen, den Rundfunk und das Fernsehen, die Kraftwerke, sämtliche Treibstoffdepots, die wichtig sten Durchgangsstraßen, alle Regierungsgebäude und Polizeiwachen sowie die Redaktionen und Druckereien von ›El Correo‹ und ›La Gaceta‹.« Er sah auf die Uhr. »Im Zusammenhang mit den Sendestationen möchte ich darauf hinweisen, daß der Fernsehsender zwar vo rübergehend stillgelegt wurde, der Rundfunk aber in Bälde eine Erklärung der Befreiungsfront durchgeben wird, die ich vor zwei Tagen auf Band gesprochen ha be. Wie gesagt, alles ist jetzt in unserer Hand.« Der Präsident lächelte und warf den Pressevertre tern einen vielsagenden Blick zu. »Haben Sie auch die sumideri im Griff, Herr General?« Sumideri, übersetzt: Abwässer oder Kanalisation, war der umgangssprachliche Ausdruck für die Elendsviertel im Süden der Stadt. Der General zögerte nur einen Moment: »Die süd lichen Stadtviertel werden wirkungsvoll in Schach gehalten. Diese Aufgabe obliegt der Ersten Infanterie division, die durch die Dritte Panzerbrigade verstärkt wurde.« »Aha.« Der Präsident sah wieder zu den Journali sten. »Es kann also jeden Augenblick zum Bürger krieg kommen.« 211
Mit einer raschen Handbewegung brachte der Gene ral seine erregten Kollegen zum Schweigen. »Wir sind durchaus bereit, jede Gewalt auf Seiten der Bevölke rung mit fester Hand niederzuschlagen«, erklärte er. »Darauf können Sie sich verlassen.« »Ja«, sagte der Präsident bitter. »Bürgerkrieg ist kaum der richtige Ausdruck für das geplante Massa ker an der unbewaffneten Zivilbevölkerung.« Plötz lich drehte er sich um und wandte sich mit harter Stimme an die Pressevertreter: »Meine Herren, Sie sind Zeugen dieser Farce. Bitte vergessen Sie es nicht und bringen Sie es der zivilisierten Welt zur Kenntnis. Diese Leute verlangen, daß ich als Staatsoberhaupt zu rücktrete. Mehr wollen sie nicht. Warum? Weil drau ßen auf den Straßen der Stadt ihre Panzer und Ma schinengewehre bereitstehen, um mit der Abschlach tung von Tausenden von Männern und Frauen zu be ginnen, die als meine loyalen Anhänger ihre Stimme zum Protest erheben werden. Und um diese Men schen auf die Straßen zu bringen, genügt es, ihnen meine Rücktrittserklärung wie eine Handvoll Dreck ins Gesicht zu schleudern!« General Perez konnte nicht mehr an sich halten. »Das ist eine Lüge!« schrie er. Der Präsident wandte sich schroff an ihn. »Glauben Sie etwa, die Leute werden nicht auf die Straße gehen? Warum sonst werden sie in Schach gehalten, wie Sie es nennen? Warum? Weil die Leute zu mir halten und nur auf mich hören werden.« Ein triumphierender Zug trat auf General Perez’ 212
wütendes Gesicht. »Dann wird das Blut der Massen an Ihren Händen kleben!« brüllte er. Mit dem Zeige finger fuchtelte er vor den Journalisten herum. »Sie haben gehört, was er gesagt hat. Die Leute tun, was er sagt. Er ist also verantwortlich, wenn sie Widerstand leisten, nicht wir. Er wird die Männer und Frauen auf dem Gewissen haben. Er soll es leugnen.« Diesmal erwiderte der Präsident nichts. Er stand einfach da und sah sich verblüfft um, wie ein Boxer, der ausgezählt wurde und taumelnd wieder aufsteht und noch nicht begriffen hat, daß der Kampf aus ist. Endlich ging er langsam zum Kabinettstisch, setzte sich schwerfällig hin und begrub das Gesicht in den Händen. Niemand sonst bewegte sich. Schließlich hob der Präsident den Kopf und sah die anderen sorgenvoll an. »Sie haben recht«, sagte er leise, »die Leute halten zu mir, und sie werden meinen Anweisungen folgen. Die Verantwortung liegt bei mir. Ich akzeptiere sie. Es darf kein sinnloses Blutvergießen geben. Ich denke, es ist meine Pflicht, die Leute von Protestkundgebungen abzuhalten.« Einen Moment starrten ihn alle ungläubig an. Der Polizeichef wollte etwas sagen, hielt aber inne, als er dem Blick des Generals begegnete. Wenn es dem Mann ernst war, durfte man sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. General Perez trat vor den Präsidenten. »Ich glaube zwar, daß nicht einmal Sie in einer solchen Situation 213
leichtfertig daherreden, aber ich muß Sie dennoch fra gen, ob Sie es ernst meinen.« Der Präsident nickte geistesabwesend. »Ich brauche etwa eine Stunde, um meine Erklärung abzufassen. Es gibt eine direkte Leitung zwischen dem Palast und dem Radiosender, und die erforderlichen Apparate sind auch vorhanden. Der Rundfunk könnte eine Aufzeichnung übertragen.« Er lächelte kläglich. »Un ter den gegebenen Umständen dürfte Ihnen eine Bandaufzeichnung vermutlich lieber sein als eine Li ve-Ausstrahlung.« »Jawohl.« Der General wollte an seinen Triumph noch nicht recht glauben. »Woher wollen Sie wissen, daß man Ihnen gehorcht?« fragte er. Der Präsident überlegte, bevor er antwortete. »Der eine oder andere wird natürlich zu erregt sein, als daß er mir gehorchen würde«, sagte er. »Sofern die Trup penkommandanten aber angewiesen werden, sich zu rückzuhalten, könnte die Zahl der Opfer auf ein Mi nimum beschränkt bleiben.« Er sah den Polizeichef an. »Auch im Hinblick auf Verhaftungen sollte mit Mäßigung vorgegangen werden. Aber die Mehrheit wird wohl auf mich hören.« Er hielt inne. »Die Leute müssen unbedingt glauben, daß ich als freier Mann zu ihnen spreche und nicht aus Angst, weil man mir eine Pistole an den Kopf setzt.« »Diese Versicherung kann ich selbst geben«, sagte der General. Daß er einen so naiven Vorschlag ma chen konnte, beweist nur, wie verwirrt er zu diesem Zeitpunkt war. 214
Der Präsident hob die Augenbrauen. »Mit Verlaub, Herr General, daß die Leute ausgerechnet Ihnen glau ben sollen, kann man ihnen nicht zumuten. Und die Nachricht, daß ich in der Provinz Alazan faktisch un ter Hausarrest stehe, wird sie auch nicht gerade über zeugen.« »Was schlagen Sie statt dessen vor? Hier in der Hauptstadt können Sie ja nicht bleiben.« »Nein, natürlich nicht.« Der Präsident lehnte sich zurück. Er gab sich ganz staatsmännisch. »Es ist klar«, sagte er, »daß wir für einen geordneten und verant wortungsbewußten Machtwechsel sorgen müssen. Ich werde selbstverständlich zurücktreten, um der Befrei ungsfront Platz zu machen. Ich muß aber sagen, daß mir, wenn ich Sie wäre, eine weitere Anwesenheit meiner Person im Land unklug erschiene. Die Leute, zu denen ich heute abend sprechen soll, werden sich nur beruhigen, weil sie mir ergeben sind. Und ihre Loyalität wird so lange anhalten, wie sie ihr Ausdruck geben können. Es wäre wirklich besser, wenn Sie mich gehen ließen. Sobald ich zu meinen Leuten gespro chen habe, sollten Sie mich baldmöglichst außer Lan des schicken.« »Exil?« Der Polizeichef hatte jetzt das Wort ergrif fen. »Wenn wir Sie ins Exil schicken, sieht das nicht besser aus als Hausarrest in Alazan. Möglicherweise schlimmer.« »Genau.« Der Präsident nickte zustimmend. »Die Lösung, die ich vorschlage, sieht folgendermaßen aus: Ich erkläre öffentlich, daß ich meinem Volk, meiner 215
Nation und der Befreiungsfront weiterhin dienen werde, allerdings in einer anderen Funktion und im Ausland. Der Posten unseres Botschafters in Nicara gua ist derzeit nicht besetzt. Das wäre ein geeignetes Amt. Ich schlage vor, daß ich nach der Aufzeichnung meiner Erklärung sofort das Land verlasse und meine Stelle antrete.« Die anschließende Diskussion war nicht mehr so heftig wie die vorangegangenen Debatten. Die An spannung der letzten vierundzwanzig Stunden war General Perez und seinen Kollegen anzumerken; sie waren müde. Und das Gewehrfeuer im Süden wurde immer heftiger. Die Zeit wurde knapp. Ein Journalist machte den General darauf aufmerksam. »Herr General«, sagte er zu Perez, »ist Ihnen klar, daß das Volk ohnehin auf die Straße geht, wenn er nicht bald zu ihm spricht?« Auch der Präsident erkannte, daß Eile geboten war, wollte sich aber nicht drängen lassen. Er wies darauf hin, daß protokollarische Fragen geklärt werden müß ten, bevor er seinen Aufruf an das Volk richten könne. Insbesondere müsse seine Rücktrittserklärung um formuliert werden. Da er nunmehr zum Botschafter in Nicaragua ernannt werden solle, müßten die im vor liegenden Entwurf erwähnten Verweise auf seine In kompetenz natürlich gestrichen werden. Und auch gewisse andere Stellen, die als Angriff auf seine per sönliche Integrität verstanden werden könnten. Am Ende schrieb der Präsident seine Rücktrittser klärung selbst. Es war ein einfaches, aber sorgfältig 216
formuliertes Dokument. Seine Radioansprache dage gen kritzelte er auf einen Notizblock, während Tech niker, die in aller Eile von einem Jeep aus dem Haupt gebäude des Senders herbeigeholt worden waren, im Vorzimmer ihre Aufnahmegeräte installierten. Unterdessen war die Telefonverbindung zum Palast wiederhergestellt und der Chef der Präsidialkanzlei aus der Haft herbeigeschafft worden, damit er in sei nem Büro an die Arbeit gehen konnte. Zunächst mußte er mit dem nicaraguanischen Bot schafter Verbindung aufnehmen, ihm einen diskret zen sierten Lagebericht übermitteln und ihn ersuchen, ge mäß Artikel 8 der Panamerikanischen Charta unverzüg lich festzustellen, ob Ex-Präsident Fuentes als Botschaf ter in Nicaragua genehm wäre. Der nicaraguanische Botschafter versprach, persönlich mit dem Außenmini ster in Managua zu telefonieren und sich anschließend wieder zu melden. Persönlich und inoffiziell glaubte er, daß der geplanten Ernennung nichts im Wege stünde. Unter Vermittlung des Offiziers, der die Luftwaffe in der Junta vertrat, sprach der Chef der Präsidial kanzlei mit dem befehlshabenden Offizier am Interna tionalen Flughafen. Er erfuhr, daß von den beiden Li nienmaschinen, die im Laufe des Abends am Weiter flug gehindert worden waren, die eine ursprünglich nach Caracas, die andere, ein Jet der kolumbianischen Avianca, nach Mexiko-Stadt hatte fliegen wollen. Zum Glück war schon ein Vizekonsul vom kolumbiani schen Generalkonsulat, der vom Piloten der AviancaMaschine herbeigerufen worden war, um gegen das 217
Startverbot zu protestieren, im Flughafen anwesend. Der Kanzleichef sprach mit dem Vizekonsul, der dar aufhin erklärte, daß die Avianca bereit sei, ExPräsident Fuentes als Passagier nach Mexiko-Stadt zu befördern, falls ihm die mexikanische Regierung die Einreise erlaube. Ein kurzer Anruf in der mexikani schen Botschaft nebst Hinweis, daß Fuentes mexika nisches Territorium nur im Transit nach Nicaragua betreten werde, um dort seinen Posten als akkreditier ter diplomatischer Vertreter anzutreten, und die Ge nehmigung war erteilt. Der Präsident besaß schon einen Diplomatenpaß, der für seine neue Aufgabe nur noch geringfügig geän dert werden mußte. Fuentes brauchte jetzt nur mehr die Bestätigung des nicaraguanischen Botschafters, daß Managua ihn akkreditieren werde. Binnen einer Stunde hatte die Regierung von Nicaragua, in dem Glauben, beiden Seiten damit einen Dienst zu erweisen, eine po sitive Antwort übermittelt. Der Weg war frei. Präsident Fuentes machte zwei Bandaufnahmen seines Appells an seine Anhänger; die eine war für den Rundfunk bestimmt, die andere zur Verbreitung in den Elendsvierteln durch Lautsprecherwagen. Dann unterzeichnete er seine Rücktrittserklärung und wur de zum Flughafen hinausgefahren, eskortiert von Panzerwagen, die General Perez bereitgestellt hatte. Kurz nach Mitternacht startete die Maschine mit Ex-Präsident Fuentes an Bord. Fünf Stunden später landete sie in Mexiko-Stadt. 218
Die Meldung vom Staatsstreich der Befreiungs front, vom freiwilligen Rücktritt des Präsidenten und seiner Ernennung zum Botschafter war von allen in ternationalen Nachrichtenagenturen verbreitet wor den, so daß Fuentes bei seiner Ankunft von Reportern erwartet wurde. Ungeachtet der frühen Stunde war auch ein Protokollbeamter des Außenministeriums er schienen. Fuentes gab den Reportern gegenüber eine kurze Erklärung ab, in der er seinen Rücktritt bestä tigte. Auf seine Ernennung zum Botschafter in Nica ragua ging er nicht näher ein. Anschließend fuhr er zu einem Hotel in der Stadt. Unterwegs fragte er den Protokollbeamten, ob es genehm sei, wenn er im Lau fe des Tages beim Außenminister vorspreche. Der Beamte war ein wenig verwundert. Da Bot schafter Fuentes sich lediglich auf der Durchreise be fand, wäre eine kurze Grußadresse an den Minister die einzige Höflichkeitsgeste gewesen, die man von ihm erwartet hätte. Andererseits waren die Umstände, unter denen sich der Präsident plötzlich in einen Bot schafter verwandelt hatte, recht ungewöhnlich, und möglicherweise würde der Minister gern hören, was Fuentes zu dem Thema zu sagen hatte. Er versprach, sich so bald es ging mit dem Privatsekretär des Mini sters in Verbindung zu setzen. Um fünf Uhr nachmittags wurde Fuentes vom Mi nister empfangen. Die beiden kannten einander schon, da sie sich auf Konferenzen der Organisation Amerikanischer Staa ten und auch bei dem Staatsbesuch begegnet waren, 219
den Fuentes kurz nach seiner Machtergreifung nach Mexiko unternommen hatte. Es zeugte von der gro ßen Höflichkeit und der Selbstbeherrschung des Mi nisters, daß Fuentes sich einbilden konnte, ihm sym pathisch zu sein. Tatsächlich betrachtete er Fuentes mit Abneigung und Mißbilligung, und er war nicht im mindesten überrascht oder bestürzt gewesen, als er vom Staatsstreich der Befreiungsfront erfuhr. Mit Be lustigung hatte er jedoch verfolgt, wie Fuentes es verstand, sich nicht nur lebend, sondern sogar ausge stattet mit diplomatischer Immunität aus der Affäre zu ziehen. Seine Abneigung gegen diesen Menschen wurde dadurch etwas gemildert. Er war, zugegeben, ein faszinierender Schurke. Nach dem Austausch der Begrüßungsfloskeln er kundigte sich der Minister höflich, ob er dem Bot schafter während seines Aufenthalts in Mexiko in ir gendeiner Weise behilflich sein könne. Fuentes neigte den Kopf. »Das ist sehr liebenswür dig von Ihnen«, sagte er würdevoll. »Es gibt tatsäch lich etwas.« »Sprechen Sie es nur aus.« »Vielen Dank.« Botschafter Fuentes richtete sich etwas auf. »Ich möchte als Flüchtling anerkannt wer den und ersuche hiermit formell um politisches Asyl in den Vereinigten Staaten von Mexiko.« Der Minister starrte ihn eine Weile an. Dann lächel te er. »Sie belieben zu scherzen, Herr Botschafter.« »Nein, keineswegs.« 220
Der Minister war verwirrt, und in seiner Verwir rung brachte er den naheliegendsten Einwand, der ihm einfiel, zum Ausdruck: »Sie sind bei uns zwar nicht akkreditiert, aber nach den Bestimmungen der Panamerikanischen Charta genießen Sie in den Vereinigten Staaten von Mexiko ohnehin den Status und alle Privilegien eines Diplo maten.« Diese Feststellung sollte er später bereuen. Botschafter Fuentes hat seinen Posten in Nicaragua nie angetreten. Eine der ersten Amtshandlungen von General Perez’ Regierung bestand darin, eine Kommission unter Lei tung eines Wirtschaftswissenschaftlers von der Boli var-Universität einzusetzen, die die finanzielle Verfas sung der Republik untersuchen sollte. Diese Kommission stellte schon nach wenigen Ta gen fest, daß Ex-Präsident Fuentes im Laufe der letz ten drei Jahre 500-Peseta-Banknoten im Gesamtwert von hundert Millionen Dollar hatte drucken lassen und daß zwanzig von diesen hundert Millionen nicht durch die Bücher gegangen waren. Daraufhin wurde der Gouverneur der National bank verhaftet, ein alter Mann, der fast sein ganzes Leben im Nationalarchiv zugebracht und dort Materi al für eine wissenschaftliche Arbeit über die Land schenkungen während der spanischen Kolonialzeit zusammengetragen hatte. Er war von Fuentes berufen worden. Vom Bankgeschäft verstand er nichts. Er hat 221
te bloß die Anordnungen des Finanzministers ausge führt. Fuentes war sein eigener Finanzminister gewesen. Als er von Journalisten hierzu befragt wurde, erklärte er, er sei über die Enthüllungen der Kommission schockiert und erstaunt. Er habe keine Ahnung, wo die fehlenden zwanzig Millionen sein könnten. Bedauerlicherweise konnte er sich dabei ein Lächeln nicht ganz verkneifen. Fuentes führt kein sehr ruhiges Leben im Exil. Während seiner fünfjährigen Amtszeit als Präsident wurde nur ein einziger ernsthafter Anschlag auf ihn verübt. Seitdem er zurückgetreten ist, sich nicht mehr mit Politik befaßt und im Ausland lebt, sind nicht we niger als drei Anschläge auf ihn verübt worden. Zwei fellos wird es auch weiterhin Attentate geben. Außer dem mußte er sich schon mit zwei Auslieferungsbegeh ren und mehreren Zivilklagen herumschlagen, bei de nen es um seine europäischen Bankkonten ging. Er ist selbstverständlich reich und kann es sich lei sten, sich durch Leibwächter und Rechtsanwälte weit gehend zu schützen; doch er hat sich keineswegs mit der Lage abgefunden. Gern weist er darauf hin, daß andere Männer in seiner Stellung noch größere Ver mögen angehäuft hätten. Außerdem habe es unter ihm keine übertrieben brutale Unterdrückung gegeben. Er sei kein Trujillo, kein Batista, kein Porfirio Diaz. Warum also werde er verfolgt und schikaniert? Ex-Präsident Fuentes versteht das noch immer nicht und ist empört.
Fortsetzung folgt
224
Von Kalifornien aus zogen wir in die französische Schweiz. Clarens, unser Ruhesitz, liegt ganz am östlichen Ende des Genfersees im Kanton Waadt, einer Region, die im Mittelalter das Land der Grafen (Vert et Rouge) von Savoyen war. Diese Grafen bauten die Burgen von Chillon und La Tour-de-Peilz, um ihr Territorium vor den Einfällen des wilden Bergstam mes zu schützen, der aus dem Gebiet des heutigen Kantons Bern und des Berner Oberlands kam. Bern und seine Repräsentanten, die Bischöfe von Bern und Sion, blieben zweihundert Jahre, bis, um einen lokalen Historiker zu zitieren, »ce fut enfin, en 1798, la Révo lution vaudoise. Le Pays de Vaud devint un canton suisse et reste un pays.« Doch erst zehn Jahre später konnten sich die Ber ner dazu durchringen, die Unabhängigkeit des Kan tons Waadt anzuerkennen, und es brauchte einen Na poleon, um die Trennung durchzusetzen. Die helveti schen Stämme haben immer argwöhnisch über ihre Grenzen gewacht. Selbst die römischen Legionen, ziemlich harte Burschen, fanden es sinnvoller, helveti sches Gebiet zu umgehen, als sich den Strapazen eines Durchmarsches auszusetzen. Für Ausländer wie Joan 225
und mich war Bern die Bundeshauptstadt, in der die Botschaften und Generalkonsulate ansässig sind und wo es ein wunderschönes Museum gibt, das immer ei nen Besuch lohnt. Für die Waadtländer indes war das Wort Bern immer auch eine Erinnerung an alte Zei ten. Auf diesen Umstand machte mich, völlig unab sichtlich, der örtliche garagiste aufmerksam, bei dem ich ein neues Auto bestellt hatte. Bis es soweit war, benutzte ich Mietwagen, die ich am Genfer Flughafen auslieh. Unsere Möbel und die anderen Dinge waren noch auf einem Containerschiff unterwegs, und so lange Joan an einem Paramount-Film arbeitete, pen delte ich zwischen London und Clarens. Das inkrimi nierte Auto war mein drittes Mietauto, ich wußte nicht einmal, welches Modell es war. Ich hielt also, um zu tanken und mich zu erkundigen, wann mein eige nes Auto geliefert würde. Dummerweise hatte ich eine Sonderausstattung geordert – Sitze aus echtem Leder. Der garagiste ließ mir keine Chance, irgendwelche Fragen zu stellen – kaum war ich vorgefahren, kam er schon aus seinem Büro und begrüßte mich. »Ah, monsieur«, rief er, »vous êtes bernois maintentant.« Er schmunzelte dabei. Offensichtlich war es ein Witz, den ich nicht verstanden hatte. Ich fragte ihn, was es war. Er zeigte auf das Nummernschild des Mietwagens. Mit Ausnahme von Zollnummernschil dern hat jeder Kanton sein eigenes Kennzeichen. BE steht für Bern. Ich mochte den garagiste. Wir waren etwa gleichaltrig, er hatte seinen Militärdienst bei der Artillerie geleistet. Am Revers trug er eine kleine An 226
stecknadel in Form eines Feldgeschützes. Sie erinnerte mich an das Abzeichen der Royal Artillery, das ich während der Militärzeit an meiner Mütze getragen hatte. Außerdem hatte ich eine Weile in einem nord irischen Regiment gedient und dort gelernt, Anspie lungen auf einen Tick oder ein Vorurteil zu verstehen, ohne dumme Fragen zu stellen. Im Waadtland emp fahl es sich für Ausländer, Autos mit französischem oder italienischem oder englischem Kennzeichen zu fahren. Gegenüber Touristen sind die Waadtländer unend lich nachsichtig. Von Ausländern, die sich in ihrem Kanton niederlassen wollen, verlangen sie jedoch Rücksicht auf ihre Empfindlichkeiten. Als ich in mei nem Supermarkt einmal Glühbirnen einkaufte – wel cher Tourist benötigt schon Sechzig-Watt-Birnen – und beim Abzählen von Kleingeld das französische quatre-vingt-dix für neunzig benutzte, wurde ich von der strengen Matrone an der Kasse laut verbessert: »Non, monsieur, non. Ici nous sommes des Suisses et des Vaudois. Les Français disent quatre-vingt-dix. Bien. Ils sont Français. Ici nous sommes des Vaudois et nous disons nonante. C’est beaucoup plus simple. D’accord?« »D’accord, madame.« Für sie war die Révolution von 1789 letztendlich vaudoise gewesen. Hinfort sagte ich huitante und nonante wie alle anderen auch. Von der Uferstraße aus hat man einen ungewöhn lich schönen Blick auf den Hafen von Clarens. Au ßerhalb der Saison oder bei schlechtem Wetter, wenn 227
die Dinghy-Segel eingerollt sind und die Zehn-MeterPlutokraten sich in ihren Kabinen mit Fleischfondue den Bauch vollschlagen, sind Jachthäfen ja eher triste Orte. Nicht so Clarens. Auf dem Genfersee können unversehens heftige Stürme auftreten, die für jedes Schiff, das kleiner ist als ein Ozeandampfer, recht ge fährlich sind. In unserem ersten Jahr kenterte ein französischer Ausflugsdampfer in einem Unwetter. Unter den Ertrunkenen war auch eine Gruppe von Kindern, die einen Schulausflug machten. Clarens ist einer der wenigen geschützten Häfen am Nordufer. Das verdankt er der Ile de Salagnon, einer kleinen vorgelagerten Insel mit ein paar Pappeln, einer italie nischen Villa und einem verfallenen Bootsschuppen. Niemand wohnte in der Villa, die angeblich einem rei chen Zürcher gehörte und von Ratten bevölkert war. Die Insel schützt, ungeachtet der Ratten, die Zufahrt zum Hafen, die zwischen der steinernen Mole, heute Port du Basset genannt, und der steilen Landzunge liegt, die nach Westen hin Schutz bietet. Am Port du Basset befindet sich eine Ansammlung von Schiffsbe darfshandlungen, Segelschuppen und Werkstätten für die Wochenendkapitäne, die jugendlichen Rennboot fahrer und die Touristen, die ihre Boote auf Anhän gern transportieren und sie gegen Bezahlung ins Was ser hieven und wieder herausholen lassen. Der Posten der Hafenpolizei sitzt in einem modernen Gebäude auf der anderen Seite des Hafens, neben der überdach ten Anlegestelle, wo die Patrouillenboote und die Ret tungskreuzer zum Einsatz bereitstehen. Abgesehen 228
von ungeschickten Seglern, die bei Sommerstürmen vor dem Tod gerettet werden mußten, beobachtete man die skandinavischen Hippies auf ihren gemieteten Motorbooten. Das war nicht immer leicht; unter den harmlosen Haschischrauchern waren manchmal Leute mit lsd. lsd wurde, wie erinnerlich, erstmals in der Schweiz synthetisch hergestellt, und die kommerzielle Produktion lag in den Händen eines Basler Pharma konzerns. Das war kein Küchen-lsd, sondern echte Ware. Wir wohnten am Chemin de l’Ile de Salagnon 1, ei nem kleinen Neubau von großem Charme. Unsere Nachbarn waren ein belgischer Stahlmensch und seine Frau, und im Erdgeschoß wohnte ein ebenfalls pen sionierter Schweizer Pionieroberst. In der Schweizer Armee gibt es nicht sehr viele Oberste, und dieser, der sein Leben lang Kasernen und Bergfestungen gebaut hatte, war leicht exzentrisch. Er war ein begeisterter Hobbygärtner und trug bei der Arbeit gern einen ro ten Fez mit Seidentroddel. Seine Gattin, eine gutaus sehende und kultivierte Frau, war außerdem ängstlich. Der Oberst war herzkrank. René, der belgische Stahlmensch, hielt nicht viel von Soldaten; im Ersten Weltkrieg hatte er zu vielen als Chauffeur gedient. René war der geborene Geschäftsmann. Er bezog fünf verschiedene Renten von weltweit operierenden Stahl konzernen. Er und seine Frau Yvonne sprachen die meisten europäischen Sprachen, aber die besten Jahre ihres Lebens hatten sie in New York in einer geräu migen Firmenwohnung an der Park Avenue ver 229
bracht. Doch das war gestern. Heute hatten sie, so wie wir und Monsieur le Colonel, einen weiten Blick auf den See und die schneebedeckten Dentsdu-Midi da hinter: eine Ansichtskartenaussicht, die wir meist ignorierten. Näher und sehr viel interessanter waren die Vorgänge im Hafen, die Segelboote, ihre Besitzer und die Vögel: Schwäne, Stockenten, Bläßhühner und Bonaparte-Möwen mit schwarzen Dreiecken auf dem Kopf, die aussahen wie der Hut, den der Kaiser bei der Schlacht von Marengo getragen hatte. Am Ende des Sees, hinter Villeneuve, lag ein breites Delta, wo die junge Rhone, von den Hochalpen her unterkommend, in den Genfersee mündet. Ein Teil dieses Deltas war ein Reservat für Wasservögel, und gelegentlich erschienen seltsame und kunterbunte Be sucher bei uns. Sie waren nicht willkommen; unsere Schwäne konnten sehr unangenehm werden, und so fern der Besucher nicht sehr groß war, setzten ihm die Bläßhühner zu. Bläßhühner sind nicht verrückt, aber sie verhalten sich oft so. Bonapartemöwen dagegen sind sittsam, sie streiten und kreischen nicht so wie Heringsmöwen. Natürlich gibt es keine Heringe im Genfersee, und die Flußbarsche, die dort gefangen werden, versetzen keine Möwe in Aufregung. Die Barschfilets, die in den Restaurants angeboten werden, stammen aus Fischfarmen oben in den Bergen. Das Leben war anders, vielleicht sogar besser, als die Gra fen von Savoyen noch in ihren Burgen hausten und die Ackertiere ihrer Leibeigenen das Seewasser trin ken konnten. 230
Abgesehen von der steinernen Hafenmole und klei nen Häusern wie dem unseren, hat sich in Clarens nicht viel verändert. Es dient noch immer als sicherer Hafen. Als im neunzehnten Jahrhundert die ersten Passagierdampfer auf dem See den Verkehr aufnah men, wurde die Landungsbrücke von Clarens weiter zur Rue du Lac hin gebaut, in größerer Nähe zu den Geschäften des Ortes und dem neuen Schlachthof. Clarens taucht auf den Seiten der Geschichte nicht oft auf. Paulus Krüger, der erste Präsident der Buren republik Transvaal, floh bei Ausbruch des Buren kriegs nach Clarens und starb dort 1904. Der KrügerNationalpark und der Goldrand sind nach ihm be nannt. Das Haus, in dem er starb, das heutige Krüger haus, ist einen Steinwurf vom Port du Basset entfernt; früher war an der Tür ein Schild mit Hinweisen für Besucher. Vielleicht gibt es noch immer jemanden, der das Messing poliert. Für mich sehr viel interessanter war die Frage, wo Igor Strawinsky während der un geheuer produktiven Jahre vor dem Ersten Weltkrieg gewohnt und gearbeitet haben mochte. Es gibt eine Fotografie von ihm aus dem Jahre 1915, aufgenom men im Garten einer Villa in Ouchy, direkt am See ufer; sie zeigt außerdem Léonid Massine, Léon Bakst und andere berühmte russische Ballettänzer; Stra winsky selbst wohnte aber in Clarens, entweder in der Rue Gambetta oder in einem großen Hause, in dem heute eine private Mädchenschule untergebracht ist. Zumindest wurde das bis in die siebziger Jahre hinein behauptet, als der Komponist in New York starb. In 231
Clarens wurde dann eingeräumt, daß Strawinsky in jenen entscheidenden Jahren, in denen Der Feuervogel und Sacre du Printemps entstanden sind, in mehreren Häusern wohnte, daß die meisten aber wahrscheinlich in der Rue Gambetta waren oder unweit davon; je denfalls in allernächster Nähe, denn es war beschlos sen worden, eine Straße nach ihm zu benennen, zu Ehren dieses Künstlers und speziell zu Ehren von Clarens. Rues Gambettas gab es dutzendfach in der Gegend: eine Rue Stravinsky wäre eine bleibende Auszeichnung. Der Beschluß wurde nicht umgesetzt. Das örtliche Strawinsky-Komitee stellte fest, daß man einen Stra ßennamen nicht ohne die Genehmigung der überge ordneten Gemeindeverwaltung ändern konnte. Die betreffende Behörde sitzt in Montreux, einem neurei chen Kurort, der auf einem Schuttkegel errichtet war und wegen seines zweitklassigen Jazzfestivals und des nicht weniger unangenehmen Fernsehwettbewerbs »Goldene Rose« bereits einschlägig bekannt ist. Mon treux hat sein Kasino verloren – der jugoslawische Brandstifter ist, nachdem er es in Schutt und Asche gelegt hat, kühn mit dem Nachtzug nach Italien ent kommen –, und das neue internationale Kongreßzen trum war noch nicht bezahlt. Interessiert an jeder Form von Publicity, die Montreux ein gewisses kultu relles Ansehen verschaffen könnte, stahl man Clarens den Namen Strawinsky. Aus der Rue du Casino wur de die Rue Stravinsky. Dieser schändliche Coup sorgte für nachhaltige 232
Empörung in Clarens. Wenn Montreux billig Rekla me für sich machen wolle, so habe man doch selber geeignetes Material, genauso russischstämmig übri gens. Warum nicht eine Rue Nabokov? Der Autor der Lolita hatte sich dort im sechsten Stock des Palace Hotel einquartiert. Gewiß, er lebte noch und führte ein zurückgezogenes Leben, aber man hätte die Um benennung ohne sein Wissen beschließen und sie ihm dann an seinem nächsten Geburtstag zum Geschenk machen können. Oder Noel Coward oben in Les Avants; dieser Ortsteil gehörte verwaltungsmäßig ebenso zu Montreux wie Clarens. Es war Madame Pettiloup vom Dorfladen, die mich in dieser Sache aufklärte. Personen, nach denen im Waadtland eine Straße benannt wurde, hatten tot zu sein, so tot wie Gambetta. Clarens hätte eine Statue oder eine Büste von Strawinsky aufstellen sollen, so wie Vevey eine Statue von Charlie Chaplin aufstelle, obschon er in Corsier wohne, das zu Vevey gehört, und noch lebe. Ob ich wisse, daß hier in Clarens ein berühmter engli scher Schriftsteller unter uns lebe? Er heiße Cronin, A. J. Cronin, und sei einer ihrer besten Kunden. Er habe ein sehr schönes Haus oben in Baugy, sei aber schon sehr alt und empfange keine Fremden. Madame Pettiloup war in den Achtzigern, und Dr. Cronin war vermutlich noch älter. Wenn Joan chez Pettiloup ein kaufte, ging es rascher als bei mir; sie wurde nie von Madame Pettiloup persönlich bedient, sondern immer von einer ihrer jungen, fröhlichen, flinken Schwieger töchter. 233
Zwölf Jahre oder noch länger gingen wir auf Rei sen, wir lernten Neues kennen, wir arbeiteten und wa ren gern mit Freunden zusammen. Joan war wegen ih rer Arbeit natürlich oft unterwegs. Ich hatte es einfa cher. Während unserer Schweizer Jahre schrieb ich fünf Romane und erfuhr viel über das europäische Verlagswesen. Mein erster guter französischer Über setzer stammte aus Paris, er zog später mit seiner Fa milie nach Clarens. Mein deutschsprachiger Verleger, Daniel Keel, lebt und arbeitet in Zürich. Er und seine Frau Anna sind mir noch heute wertvolle Freunde. Unsere unmittelbaren Nachbarn in Clarens, René und Yvonne Thieren, waren reizende Menschen, und die gelegentlichen Ausflüge mit ihnen machten uns großes Vergnügen. Meistens besuchten wir eines der ausgezeichneten Restaurants in Genf und Umgebung, zu denen René noch aus seiner Zeit als Stahlmanager gute Kontakte hatte. Auf französische Weine wird in der Schweiz zwar Zoll erhoben, doch die Grenze zwi schen Frankreich und dem Kanton Genf läßt sich kaum lückenlos überwachen. Zollfreier Champagner der besseren Sorte wird, oder wurde, zu einem gängi gen Preis angeboten. René kannte sich da aus. Im Re staurant war immer schon ein Tisch für uns reserviert. Das Auto stellten wir draußen ab. Nach einem ausge zeichneten Mittagessen und nachdem die Geldfrage mit dem Restaurantbesitzer geklärt war, fuhren wir mit sechs Kisten Champagner im Kofferraum nach Clarens zurück. René und Yvonne nahmen vier, wir zwei. Von unserer unterirdischen Garage führte ein 234
Gang in unseren Keller, und wir hatten auch einen Einkaufswagen. Das einzige Problem bei diesen Aus flügen war die Frage, wessen Auto wir nahmen. René, wenngleich in anderer Hinsicht ein guter Mensch, war ein miserabler Fahrer. Er liebte amerika nische Schlitten und fuhr nicht nur flott, sondern ge radezu selbstmörderisch. Er achtete nicht auf rote Ampeln und hupte ungeduldig, wenn vor ihm jemand allzu vorsichtig fuhr. Er brüllte und machte beleidi gende Gesten. Seine Frau Yvonne, obschon als Beifah rerin gnadenlos, schaffte es nicht, ihn zur Mäßigung anzuhalten. Was immer sie sagte, er schien nichts zu hören. Sie saß hinten, weil sie nicht gern vorne saß. Sie entstammte einer belgischen Adelsfamilie und hatte als Kind gelernt, in einem Landaulett zu sitzen und dem Kutscher durch ein Sprechrohr Anweisungen zu erteilen. Leider hatte sie diese Gewohnheit nicht abge legt. Wenn ich fuhr und Yvonne mit Joan hinten saß, ging der Monolog weiter. Mich mußte sie jedoch nicht zu Vorsicht ermahnen, bei mir wechselte sie dauernd die Spur und fuhr dicht auf (»Schnell, Eric, er schafft’s noch bei Gelb«), doch das war immer noch besser als Renés furchtbare Raserei. Natürlich verursachte er viele, zum Teil schlimme Unfälle. Deshalb hatte er so oft ein neues Auto und deshalb mußte er seinen Führerschein immer wieder abgeben. Aber nur bei einem einzigen Unfall erlitt er so schwere Verletzungen, daß er ein paar Tage im Krankenhaus verbringen mußte. Bei der Gelegenheit stellte sich heraus, daß er Darmkrebs hatte. Er war 235
weit über achtzig; er überstand die erste Operation ganz gut, kaufte sich einen neuen, noch schnelleren Buick und lud mich zu einer Demonstrationsfahrt ein. Bleich und zitternd kehrte ich zurück, und obwohl es noch früh am Tag war, brauchte ich einen Cognac. Joan prophezeite, daß René bald wieder einen Unfall bauen und dann seinen Führerschein endgültig los sein würde. Sie hatte sich geirrt; es war der Krebs, der ihn am Ende besiegte. Ganz plötzlich schienen Verwandte und Freunde, einer nach dem anderen, wegzusterben, als wäre die Pest über uns hereingebrochen. Joan und ich inspizier ten wochenlang private Pflegeheime in Südostengland, um eines zu finden, wo meine Mutter ihr siebenund achtzigstes Jahr einigermaßen behaglich verbringen konnte. Schließlich fanden wir ein relativ akzeptables, aber meine Mutter starb noch vor Ende dieses Jahres. Dann trat Joans hundertjährige Mutter ab. Kaum war sie unter der Erde – Joan war noch in Iver Heath bei ihrer Schwester –, starb René im Krankenhaus von Montreux. Ich schrieb gerade an einem Roman mit dem Titel Doktor Frigo und konnte keine Unterbrechung ge brauchen. Manche Leute gehen angeblich gern zu Be erdigungen, finden sie irgendwie tröstlich. Das kann ich von mir nicht sagen. Ich weine entweder und brin ge damit die anderen Trauergäste in Verlegenheit, oder ich werde von dem unwiderstehlichen Verlangen gepackt, loszukichern, und verletze sie damit. Ob eine Beerdigung für mich in Tränen oder Gekicher endet, 236
hängt in gewissem Maße natürlich von dem Verstor benen ab; ein Todesfall muß für die Angehörigen nicht immer ein grenzenloser Schmerz sein, sondern kann auch ein geteilter Schmerz sein, wie wir ihn etwa verspüren, wenn ein Künstler stirbt, selbst wenn er seine besten Tage längst hinter sich hat. Die Versu chung, in Lachen auszubrechen, stellt sich vor allem dann ein, wenn die Selbstgefälligkeit der Lebenden, besonders des Geistlichen, plötzlich deutlicher wird als irgendein Gedanke an den Toten. Renés Begräbnis war ein Erlebnis sondergleichen. Von Anfang an lief alles schief. Da Yvonne, die Haupttrauernde, keine männlichen Angehörigen hatte, bat sie mich, als ihr Begleiter zu fungieren. Ich hatte vermutet, daß einer von Renés Bankiers diese Aufgabe übernehmen würde, doch Yvonne sagte, nein, René habe an mich gedacht. Ich glaubte ihr nicht, aber eine Diskussion darüber kam natürlich nicht in Frage. Ich erschien rechtzeitig, die anderen Trauergäste waren schon versammelt. Yvonne begann, Anweisungen zu erteilen. Der blu mengeschmückte Leichenwagen mit dem Toten stehe in der Kapelle des Krankenhauses. Dort würde sich der Trauerzug formieren. Im Wagen dahinter würde sie mit mir sitzen. Die anderen Gäste sollten uns bitte folgen. Alles klar? Also dann, auf geht’s. Sie war wie der in der Park Avenue. Der Bestattungsunternehmer holte sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. In der Gemeinde Montreux, sagte er, sei es Trauergästen nicht gestattet, 237
dem Sarg en cortège zu folgen. Der Leichenwagen ha be mit normaler Geschwindigkeit zu fahren und sich an die üblichen Verkehrsvorschriften zu halten, und nur ein Auto dürfe dicht hinter ihm herfahren. Die übrigen Trauergäste müßten sich unabhängig vonein ander zum Krematorium von Vevey begeben, wo sie zweifellos vor dem Sarg eintreffen würden. Leichen wagen mit Särgen und Blumen dürften die Hauptstra ßen am Ufer nicht benutzen, weil sie den Verkehr be hinderten. Sie müßten vielmehr die weiter oberhalb gelegenen Nebenstraßen benutzen. Yvonne protestierte. Das sei unerhört. Die Gemein deverwaltung müsse das Verbot aufheben. Wisse man nicht, wer René sei, wer sie sei? René sei sechsundacht zig; einem Mann dieses Alters ein würdevolles Begräb nis zu verweigern, sei eine Schande. Er würde es nicht zulassen. Man müsse gehörig auf den Putz hauen. Jemand erklärte sich bereit, die Gendarmerie anzu rufen und sie zu bitten, eine Motorradeskorte bis an den Stadtrand von Montreux zu stellen. Der Bestat tungsunternehmer wies darauf hin, daß in Vevey die gleichen Vorschriften gälten. Yvonne goß sich einen großen Whisky ein, setzte sich trotzig hin und wartete. Der Bestattungsunternehmer machte einen neuen Ver such. Vielleicht wisse Madame nicht, daß im Kremato rium von Vevey immer viel Betrieb sei und Termine im voraus vereinbart werden müßten. Wenn der Termin nicht eingehalten werde, würde man sie von der Liste streichen. Außerdem würde der Leichenwagen für eine spätere Bestattung benötigt. Er sah erst auf seine Uhr 238
und blickte dann hilfesuchend in die Runde. Yvonne holte tief Luft. »Dann wird der Sarg mit meinem René eben wieder in die Krankenhauskapelle gebracht. Wir werden dann entscheiden, was zu tun ist.« Der Bestattungsunternehmer holte ebenfalls tief Luft und ging zum Telefon. Der Mann, der mit der Gendarmerie gesprochen hatte, kam in diesem Mo ment zurück und berichtete, daß er nichts erreicht ha be. Der Bestattungsunternehmer verkündete laut und deutlich, wie das Krankenhaus auf den Antrag, René wieder aufzunehmen, reagiert habe: »Das Krankenhaus lehnt es ab, sich mit der Angele genheit überhaupt zu befassen. Der Verstorbene ist für die Einäscherung vorbereitet worden und muß unverzüglich eingeäschert werden, andernfalls wollen sie die Polizei benachrichtigen.« Yvonne trank ihren Whisky aus und stand wieder auf, eindrucksvoll in der Niederlage. »Deinen Arm, Eric«, sagte sie stolz. Ich reichte ihr meinen Arm, wir gingen hinunter und stiegen in das Auto des Bestat tungsunternehmers. Alles weitere spielte sich in slapstickartigem Tempo ab. Der Bestattungsunternehmer hatte die Wahrheit gesagt. Uns blieben nur noch Minuten, und wir wür den unseren Platz auf der Liste verlieren. Der Lei chenwagen schoß im Karacho aus dem Krankenhaus, Yvonne und ich im Wagen dahinter. Die Nebenstra ßen waren oft nicht mehr als schmale Gassen, und der Chauffeur fuhr wie der Teufel. Yvonne wurde immer 239
erregter, und jedesmal, wenn wir an einem Traktor um Haaresbreite vorbeisausten, jauchzte sie auf. Sie holte wieder tief Luft und sah mich mit glänzenden Augen an. »Renés letzte Fahrt!« rief sie, und es klang wie ein Western von John Ford. In letzter Sekunde erreichten wir das Krematorium und konnten gerade noch verhindern, daß die nächste Trauergemeinde unseren Platz einnahm. Sie mußten warten. Yvonne war es egal. Während Renés Trauer gäste in die Kapelle strömten, nahm Yvonne meinen Arm und folgte dem Sarg bis ans hintere Ende des Krematoriums. »Wir müssen uns von René verab schieden«, sagte sie. »Allons.« Als wir den Leichenwagen einholten, trugen der Bestattungsunternehmer und seine Leute gerade die Kränze durch eine Hintertür der Kapelle, und drei al te Männer in Arbeitskluft hoben den Sarg auf ein wackliges Metallwägelchen. Verwirrt sahen sie, daß Yvonne in ihr Territorium eindrang. Sie rief laut »Re né«, und fast schien es, als wollte sie sich über den Sarg werfen, dessen schmales Ende schon auf dem Wagen war. Der Alte, der den Wagen hielt, wich zu rück, das Gefährt kippte, und der hölzerne Sargdeckel rutschte seitlich herunter. Er war nicht festgeschraubt gewesen, und ich sah nun auch, warum. Der Hart holzkasten war bloß Attrappe; in den Verbrennungs ofen würde man den inneren Sarg schieben, der aus weißem Styropor bestand, jenem Material, mit dem elektronische Geräte wie Videorecorder oder Compu ter verpackt werden. Unglücklicherweise lag der Dek 240
kel des inneren Sargs ebenfalls nur locker auf – Einzu äschernde müssen von einer amtlichen Identifikati onsbescheinigung begleitet sein –, und während einer der Männer den herab rutschenden Holzdeckel noch festhalten wollte, stieß er den Plastikdeckel völlig bei seite. Im selben Moment zog der dritte Mann den Wagen aus der Gefahrenzone, so daß der Sarg hinfiel. Yvonne rief wieder »René«, und tatsächlich, da stand er vor uns. Naja, fast. Er trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Po pelinhemd und eine Chavetkrawatte. Die Hände lagen schön gefaltet auf der Brust, die Augen waren ge schlossen, und der Mund hatte sich zu einer kleinen Schnute verzogen. Ich hatte diesen Ausdruck schon früher gesehen, wenn ein Wein, den zu besorgen ihn viel Mühe gekostet hatte, korkig schmeckte oder wenn der Oberst auf dem Rasen genau unter dem Thierenschen Balkon Tischtennis spielte. Diese Schnute war aber eher eine Reaktion auf Inkompetenz als auf Pech oder Verrücktheiten. Schließlich konnte man eine andere Flasche Wein öffnen, und man konn te warten und hoffen, daß der Hausarzt des Obersten, dieser Dummkopf, ihm erklären würde, daß schnelles Tischtennisspielen mit jugendlichen Gegnern nur zu einem baldigen Herzinfarkt führen werde. Wenn es aber um krasse Inkompetenz ging, konnte man die Betreffenden nur feuern. In seinem Berufsleben war das immer wieder passiert, sogar ihm selbst. Die An gestellten ignorierte man, und die wirklich unfähigen Manager warf man raus. 241
Die Angestellten im Krematorium von Vevey war fen uns rasch und höflich hinaus. Sie waren Verrückte und Empörung gewöhnt. Als die Kassette mit der Bachkantate verklungen war, hatte der Bestattungsun ternehmer seinen Zeitplan fast aufgeholt. Kein Geist licher, welcher Konfession auch immer, war anwe send. René und Yvonne waren seit jeher Agnostiker gewesen. Die Kantate war gespielt worden, um eine gewisse Zeitspanne zu überbrücken und um den Ein druck zu erzeugen, als sei schon jetzt von dem Ver storbenen nur noch die Asche übrig. Natürlich auch, um den Abschied würdevoll zu gestalten. Die Ban kiers blieben nicht zu den Lachsbrötchen und dem Champagner, den es anschließend gab; nachdem die Formalitäten vorbei waren, überließen sie die Sache lieber dem Anwalt. In Kalifornien war es üblich, daß Personen unseres Al ters alljährlich zum Arzt gingen und sich untersuchen ließen. Es war ein richtiges Ritual, über das natürlich gewitzelt wurde. Uralt war der Witz von dem Mann, der sich untersuchen läßt – Herz, Lunge, Leber, Niere, Blut und zentrales Nervensystem –, erfährt, daß alles in Ordnung ist, die Praxis verläßt und, während er auf den Lift wartet, an einer schweren Koronarthrombose stirbt. Es war bestimmt eine wahre Geschichte, und alle schmunzelten, aber trotzdem gingen alle zu ihrem jährlichen Checkup. Wenn irgend etwas unklar war und der Patient es sich leisten konnte, wurde er zu ei ner wirklich umfassenden Untersuchung in die Mayo 242
Klinik oder eine der anderen großen Spezialkliniken geschickt. Die Versicherungen glaubten an das Checkup-Verfahren. Nicht daran zu glauben war, als wür de man sich die Zähne nicht putzen oder als würde man nicht glauben, daß Vorbeugen besser als Heilen sei. In der Schweiz, wie in den anderen europäischen Ländern, geht man zum Arzt, wenn man nicht genau weiß, was einem fehlt, oder wenn man Schmerzen hat, die man nicht selbst kurieren kann. Man möchte eine Diagnose bekommen und will entweder behandelt oder aber beruhigt werden. Natürlich hilft es, und man spart auch Zeit, wenn der Arzt einen schon kennt, aber eine Kopie der Ergebnisse der letztjähri gen Vorsorgeuntersuchung ist noch keine Krankenge schichte. Joan war diese amerikanische Art gewöhnt, und ich habe sie, während ich dort lebte, ebenfalls akzeptiert. Wir wurden in derselben Woche von einem Vertrau ensarzt der Versicherung untersucht. Wir waren gleich alt und beide berufstätig. Joan wurde in die Ka tegorie A1 eingestuft, während ich als nicht versiche rungsfähig bezeichnet wurde. Diese Entscheidung wurde lediglich mit versicherungsstatistischen Er kenntnissen begründet. Fraglos sah Joan besser aus als ich, und durch ein Stethoskop hörte sie sich vermut lich auch besser an. Wir waren Anfang siebzig, als sich ihr Zustand ver schlechterte. Joan hatte die Filmrechte an einer Erzäh lung von H. E. Bates erworben und den Theaterregis seur Peter Hall gebeten, gemeinsam mit ihr das Dreh 243
buch zu schreiben. Die Hauptrolle sollte James Mason spielen, der in der Schweiz unser Nachbar geworden war. Joans Krankheit entwickelte sich »schleichend«. Ich war diesem Wort in der medizinischen Literatur schon öfter begegnet und hatte mich gefragt, welchen Nutzen ein so melodramatisches Adjektiv – laut Wörterbuch »hinterhältig, -listig, (heim-)tückisch, schleichend« – für die Medizin haben mochte. Inzwischen weiß ich es. Joans Krankheit brach heimlich und unbemerkt aus; sie hatte nicht einmal einen Namen. In jenem Frühling fuhren wir für eine Weile nach Los Angeles und quartierten uns in einem kleinen Hotel am Wilshire Boulevard ein, unweit des Country Clubs. Wir hörten, daß der Arzt, der als der beste Diagnostiker galt, in Beverly Hill praktizierte. Er war Billy Wilders Arzt, und da Billy mit uns befreundet war, erklärte sich der Doktor freundlicherweise bereit, Joans Fall zu übernehmen. Zwei Wochen lang wurden Untersuchungen angestellt, die teilweise schon in London durchgeführt worden waren, aber eine ein deutige Diagnose bekamen wir nicht. Der letzte und bedeutendste Dienst, den dieser Arzt uns leistete, be stand darin, unserem Londoner Hausarzt einen Brief zu schreiben, in dem er seinen Befund übermittelte und empfahl, einen Neurologen hinzuzuziehen. Mög licherweise liege ein Gehirntumor vor. Der Computertomograph wurde in England ent wickelt und dort erstmals eingesetzt. Dieser Apparat ermöglichte, unter anderem, eine schnelle und umfas 244
sende radiologische Untersuchung des Gehirns. Als wir in jenem Frühjahr aus Los Angeles nach Europa zurückkehrten, wußten wir noch nichts von der Computertomographie, unser Hausarzt aber sehr wohl; er wußte auch, wie man an eine dieser seltenen Maschinen herankam, und er kannte einen Neurolo gen, der die Ergebnisse würde auswerten können. Joan und ich fuhren zum University College Hos pital, um zu hören, was dieser Facharzt zu sagen hatte. Er war, und ist, jemand, der kein Blatt vor den Mund nimmt. »Die gute Nachricht ist, daß es kein Gehirntumor ist.« Die weniger gute Nachricht war, daß es trotzdem deutlich erkennbare Gehirnschädigungen gab. Ursa che unbekannt, wie bei anderen Krankheiten dieser Art auch; Schädigungen, wie sie bei den üblichen Fäl len von Altersdemenz wie Alzheimer, Pick und Creutzfeldt-Jakob zu beobachten sind. Wenn die Ur sache für derartige Atrophien bekannt ist, kann ein Medikament entwickelt werden. Bis dahin blieb uns nur eines: Pflege und weitgehende Schonung. Das ist fast fünfzehn Jahre her. Die Pflege wird von professionellen Helfern geleistet, aber die Tapferkeit muß Joan ganz allein aufbringen. Wir verkauften das Haus in der Schweiz. Krankenpflege ist in der Mutter sprache leichter zu bewerkstelligen. Es war sonderbar, wieder in England zu leben. Zu erst gab es so viel, woran man sich gewöhnen mußte; und in London, besonders in der Umgebung der Mut 245
ter der Parlamente, lag ein unangenehmer Gestank in der Luft, der an ein billiges Deodorant erinnerte. Was da so stank, waren Vertuschungsmanöver und andere pr-Aktionen, und solcher Unrat hätte beseitigt wer den müssen, aber die Engländer glaubten aus Ge wohnheit daran, daß es Korruption und Verkommen heit in hohen Ämtern nur im Ausland gebe, und trotz aller gegenteiligen Beweise hielt man an dem Glauben fest. Noch tiefer saß die Neigung der Briten zu grundlo ser nationaler Selbstbeweihräucherung. Der moderne Jugendkult als Phänomen des zwan zigsten Jahrhunderts wurde von Soziologen entdeckt, die Mitte der dreißiger Jahre im Amerika des New Deal arbeiteten. Bald erkannte man jedoch, daß Madi son/Ohio, wo die ersten Feldstudien und Erhebungen durchgeführt worden waren, nicht nur für den Mittle ren Westen typisch war, sondern für die meisten Städ te und Großstädte der Vereinigten Staaten; überall in Amerika begegnete man diesem Teenagerphänomen, das von unmittelbarer wirtschaftlicher Bedeutung war. Als zwanzig Jahre später das gleiche Teenager phänomen in England auftauchte, wurde es nicht als vorhersehbare Nebenwirkung der Marshallplanhilfe betrachtet, die ins Land floß, sondern als britischer Geniestreich gefeiert, neue soziale Institutionen aus dem Boden zu stampfen. Was im Nachkriegsengland passierte, war Jahre zu vor im Amerika des New Deal passiert: die kleinen Angestellten waren plötzlich reich geworden, und ihre 246
halbwüchsigen Kinder stellten fest, daß sie Geld hat ten und ausgeben konnten. Der Unterschied zwischen den beiden Entwicklungen bestand in der Musik, die dazu erklang. Die amerikanischen Kids hatten den Big-Band-Sound und 78er Schallplatten. Die jungen Engländer hatten Rock ’n ’Roll, Popgruppen und 45er Singles. Die amerikanischen Kids jener ersten Genera tion waren in den Zweiten Weltkrieg gezogen. Die britischen Kids, befreit durch die Pille, sahen einer Zukunft immerwährender Jugend entgegen. Aus den Swinging Sixties wurden die wilden Siebziger. In den Achtzigern fingen übergewichtige Aufsteiger im Bank- und Börsengeschäft an, sich als Yuppies zu be zeichnen. Mit Erleichterung konnte man feststellen, daß britische Züge nicht mehr pünktlich fuhren; eini ge Vertreter der alten Brigade hatten offenbar noch genug Mumm, nach Vorschrift zu arbeiten. Der Detection Club existierte nach wie vor, und anscheinend gehörte ich noch immer zu seinen Mit gliedern. Ich war 1952 aufgenommen worden, als Do rothy L. Sayers den Vorsitz führte, auch wenn sie ihr Amt nicht mehr aktiv ausübte. Andernfalls wäre ich wohl nicht aufgenommen, ja nicht einmal vorgeschla gen worden. Ich schrieb Thriller und keine Detektiv romane, und bei meiner Einführung hätte ich ganz be stimmt nicht feierlich geschworen, »dem Leser nie mals wichtige Hinweise vorzuenthalten«. Genauge nommen wurde ich auch nicht eingeführt: ich wurde vorgeschlagen und akzeptiert – allerdings habe ich vergessen, wer mich vorgeschlagen hat. Es muß ein 247
Mitglied gewesen sein, das ich schon kannte – entwe der John Dickson Carr, Michael Gilbert oder Julian Symons –, und jemand, der wußte, daß ich nicht dazu taugte, törichte Eide zu leisten. Am Detection Club ge fiel mir die freundliche und lockere Atmosphäre der Versammlungen – was man von den meisten Schrift stellertreffen nicht unbedingt sagen kann. Zum Glück für mich erschien Miss Sayers nicht mehr zu den Sit zungen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir uns in irgendeiner Sache einig gewesen wären. Es ist mir immer eine Freude gewesen, Julian Symons wiederzu sehen. Mit ihm und seiner Frau Kathleen wird fast je de Zusammenkunft ein Vergnügen. Ich erinnere mich besonders an ein Wochenende in Berlin. Die schreck liche Mauer stand noch immer, und wir waren, mit der Unterstützung, Ermutigung und dem Segen des British Council, angereist, um zu zeigen, daß engli sche Thrillerautoren Anteil nahmen und daß wir, wenn es denn eine magische Posaune gäbe, deren Klang die Mauer zum Einsturz bringen würde, sofort hineinblasen würden. Statt dessen sprachen wir zu den Berlinern und sie zu uns. Ich hätte nicht gedacht, daß es mir soviel Spaß machen würde. Dafür sorgte Julian, der als Moderator auf dem Podium saß. Als der De tection Club mich bat, zur Feier seines achtzigsten Geburtstages eine kurze Detektivgeschichte zu schreiben, war ich gern bereit, es zu versuchen. Wer hat Blagden Cole umgebracht? ist eigentlich keine Detektivgeschichte; keines der Gründungsmit glieder des Detection Club hätte sie als solche akzep 248
tiert. Julian Symons fand sie ganz witzig, und ich habe hier und da kleine Änderungen vorgenommen; nicht um den Geist Dorothy Sayers’ zu besänftigen, son dern aus der Überzeugung, daß alle Änderungen, die der Autor selbst vornimmt, die Sache nur verbessern können.
Wer hat Blagden Cole umgebracht?
Felix Everard Cole, der englische Maler, der seine Werke mit Blag oder Blagden Cole signierte, ist seit über sechzig Jahren tot, wird aber erst jetzt als einer der Großen unseres Jahrhunderts anerkannt. Im Kata log der Retrospektive, die letztes Jahr in der Royal Academy stattfand, wird diese verspätete Würdigung auf recht diffuse Weise entschuldigt. Er war ein Zeichner wie Constantin Guys, der von Monet bewundert und von Baudelaire ge priesen wurde. Als Maler stand er, wie andere junge Spätimpressionisten der Julianischen Schu le, im Schatten Puvis de Chavannes’, näherte sich aber schon bald Vuillards Intimismus an. Er stu dierte sogar eine Zeitlang bei dem Synthesisten Paul Sérusier, dessen Einfluß zum späteren Reichtum seiner Palette und dem Charme seiner an Bonnard erinnernden Interieurs beigetragen haben mag. Gleichwohl fand er erst als Porträt maler zu wahrer Erfüllung; und vielleicht ist es seinem kommerziellen Erfolg als Maler von Schauspielern zuzuschreiben, daß man sich in der Beurteilung seines Gesamtwerks lange Zeit nicht festlegen mochte. Er starb, unter absurden und 250
mysteriösen Umständen, auf der Höhe seiner Schaffenskraft. Und so weiter. Jetzt soll, gottlob, eine erste autorisierte Biographie erscheinen. Absurd ist aber wohl kaum der adäquate Ausdruck für einen aus nächster Nähe abgefeuerten Gewehr schuß. Der Katalogautor irrt auch, wenn er annimmt, daß kommerzieller Erfolg einen Maler gefährde. Die jenigen, die sich mit dem Ansehen verstorbener Künstler beschäftigen – Kunsthistoriker, Kuratoren, Gutachter von Auktionshäusern –, sind selten Morali sten, aber sie nehmen sich und ihre Arbeit ernst. Sie halten nichts von dem raschen Urteil der Öffentlich keit. Es ärgert sie, daß über Kunst so geschrieben oder gesprochen wird, als sei sie ein Zweig des Showge schäfts oder der Modebranche. Sie sind natürlich in tellektuelle Snobs, aber sie sind nicht dumm. Heutzu tage gibt es nur wenige gute Künstler, die sich der Aufmerksamkeit der Presse entziehen oder es zumin dest ernsthaft versucht haben. Publicity bringt mei stens Aufträge. Doch der junge Blagden Cole war ge legentlich zu weit gegangen. Er hatte Bekanntheit und Skandal um ihrer selbst willen gesucht, und zwar in jener Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als die Massen blätter begannen, ihren Einfluß auf die ganze Nation auszudehnen. Sie setzten auf Alltägliches, klar und entschieden präsentiert. Für Harmsworths ›Daily Mail‹ waren kenntnisreiche Witzbolde wie Blag Cole 251
von unschätzbarem Wert. Wenn Blag über Clive Bell und die Contemporary Art Society spottete, konnten die Leser seine Witze verstehen. Wenn Bloomsbury sich mit der Bemerkung wehrte, Blag Coles Talent be schränke sich auf die »lukrative Masche, reichen Kauf leuten ein interessantes Aussehen zu geben«, so wurde auch das von der ›Mail‹ gebracht. Einige ihrer eifrig sten Leser waren Kaufleute. Blag errang bestenfalls traurige Berühmtheit. Etwa in dieser Zeit ging Blagden Cole dazu über, seine Werke mit »Blag« zu signieren. Seine richtigen Vornamen hatte er nie leiden können. Felix war die Hommage seiner Mutter, einer Klavierlehrerin, an Mendelssohn, einen ihrer Lieblingskomponisten. Ihr Mädchenname war Blagden, und Blagden Cole klang und las sich viel interessanter als Felix Cole. Die Kurzform Blag entwickelte sich nach dem Tod seiner Schwester Cécile, die nach der zweiten Lieblingskom ponistin Chaminade benannt worden war. Blag war mit einem langen a auszusprechen, wie blague, das französische Wort für »Witz« oder »Scherz«. In jenen frühen Jahren machte er sich noch andere Leute zu Feinden, und nicht nur im Bloomsbury-Kreis. Als of fizieller Maler des britischen Expeditionskorps bei Sa loniki löste er selbst einen diplomatischen Zwischen fall aus. Die Orient-Armee, deren Hauptquartier sich in Saloniki befand, war eine multinationale Truppe. Ihr gehörten, neben zwei britischen Divisionen – haupt sächlich Überlebenden von Gallipoli – auch franzö 252
sische, serbische, italienische und griechische Einhei ten an. Oberbefehlshaber war General Sarrail, ein jovialer Franzose mit soldatischem Auftreten und einer bemerkenswerten Vorliebe für politische Intri gen. Zusammen mit seiner Geliebten, einer schönen russischen Prinzessin mit einer bemerkenswerten Vorliebe für Hüte, wohnte er prunkvoll in einem kleinen Schloß. Die Soldaten kampierten am Rande der Malariasümpfe des Vardar-Tals und wurden von Stechmückenfieber und Durchfall geplagt. Eine gro ße bulgarische Armee hatte sich in den Bergen ver schanzt, und wenn die meisten alliierten Verluste auch auf Krankheiten zurückzuführen waren, so trugen die bulgarischen Heckenschützen doch nicht unwesentlich zur Gesamtzahl bei. Die Truppenmo ral war miserabel; die Soldaten fühlten sich, nicht ohne Grund, verlassen. Die Fronterlebnisse des Generals beschränkten sich auf Besuche im Cercle Militaire, einem französischen Offiziersclub in der Nähe des Hauptquartiers. In die sem Club erfuhr Blag von einem Korrespondenten der Nachrichtenagentur Havas von einer für den Vierzehn ten Juli angesetzten Truppenparade. Man erwartete, daß Sarrails erlauchte Mätresse, trotz Warnungen aus Paris, die Dame sei eine Spionin König Ferdinands von Bulgarien, neben dem General auf der Tribüne stehen würde. Fotografen seien zwar nicht zugelassen, aber wer würde schon auf einen Zeichner in britischer Uniform achten, der am Rand des Paradefelds sitzt? Niemand beachtete ihn, und die Tuschzeichnung, 253
die Blag nach seiner Skizze anfertigte, ging heimlich mit italienischer Kurierpost an das Havas-Büro in Pa ris. Das Magazin ›L’Illustration‹ druckte sie ganzseitig ab. Man wagte die Veröffentlichung, zum einen weil die Zeichnung stark an die besten Arbeiten von Guy erinnerte, zum andern weil Havas (wahrheitsgemäß) erklärt hatte, daß keiner der alliierten Zensoren in Sa loniki gegen die Zeichnung Einwände erhoben habe, und weil man außerdem glaubte, daß der neue Pre mierminister Clemenceau gegen britische Kritik an ei nem französischen General, den er bekanntermaßen verachtete, nichts einwenden würde. Die Zeichnung zeigt Sarrail beim Abnehmen der Parade senegalesischer Infanterie. Er steht salutierend in einer offenen Kutsche. Über ihm wippen die Federn eines gigantischen Hutes, der natürlich seiner Prinzessin gehörte. Sie steht in ihrer ganzen majestätischen Pracht dicht hinter ihm und hält schützend ihren Parasol über ihn. Die englische Bildunterschrift lautet »General Sarrail inspiziert seine Präsidialgarde«, die Signatur »Blag d’après Guys«. Doch leider hatte Clemenceau etwas einzuwenden, sogar sehr viel. Der britische Premierminister hatte ihm genau in diesem Moment einen Brief über Saloni ki geschrieben und darin nicht nur (wie alle anderen auch) Sarrails militärische Kompetenz in Frage ge stellt, sondern unverschämterweise auch noch be hauptet, daß die britischen und französischen Koloni altruppen des Expeditionsheeres besser an der West front eingesetzt würden – als Ersatz für die französi 254
schen Divisionen, die unlängst gemeutert hatten. Zu sammen mit Blags Zeichnung und seiner beleidigen den Verwendung des Wortes »Präsidialgarde« roch die ganze Affäre nach einer gezielten Provokation und einer Demütigung für Frankreich. Der französische Geheimdienst sah das ähnlich und machte den briti schen Geheimdienst in Athen dafür verantwortlich. Nur den Engländern konnte es einfallen, den offiziel len Zeichner ihrer Truppen dazu zu benutzen, die französischen Verbündeten zu diskreditieren. Blag wurde ein Kriegsgerichtsverfahren angedroht, doch er log sich aus der Affäre. Er behauptete, der Cercle Militaire habe die Zeichnung bei ihm bestellt, um sie neben die anderen Bilder im Kasino zu hängen, und da er Ehrenmitglied des Cercle sei, habe er sofort zugestimmt. Daß die Zeichnung nach Frankreich ge schmuggelt und in ›L’Illustration‹ veröffentlicht wor den sei, dafür könne er nichts. Der britische Kom mandant, selbst gelegentlich Gast im Cercle, bestätigte das Urteil der Untersuchungskommission, die Blag freigesprochen hatte. Von Seiten des Militärs bestand nun keine Gefahr mehr, aber der Skandal war ja fast ausschließlich politischer Natur gewesen, und die Po litiker waren nicht geneigt, die Posse einfach zu über gehen. Jedenfalls wurde Blag als amtlicher Zeichner der Armee ab- und nach England zurückberufen. Dort war aus Sir Alfred Harmsworth inzwischen Lord Northcliffe geworden, und seine ›Daily Mail‹ hatte sich zu einer einflußreichen Macht im Lande entwickelt. Blags alte Redaktionsbekanntschaften wa 255
ren nicht sonderlich erfreut über das Wiedersehen, auch dann nicht, als er ihnen die Wahrheit über die Affäre Sarrail erzählte. Höheren Ortes war verfügt worden, daß Blag als »Bolshie« zu betrachten sei – ei ne neue Bezeichnung damals für all diejenigen, die als aufsässig galten. Überdies war Sarrail bereits von Ge neral Franchet d’Espèrey abgelöst worden, der nicht in einem Palast wohnte und keine Geliebte hatte. Blag wurde empfohlen, sich in acht zu nehmen und etwas demonstrativ Patriotisches zu malen, etwa ein königli ches Porträt. Nein, einen Auftrag dazu würde er im Moment natürlich nicht bekommen, die beschmutzte Weste müsse erst wieder reingewaschen werden. Viel leicht sollte er freiwillig ein Bild für eine Wohltätig keitsorganisation malen, für die Quäker beispielsweise oder für das Rote Kreuz. Blag leuchtete die Idee durchaus ein, und er bat dar um, einem Mitglied des Komitees vom Roten Kreuz vorgestellt zu werden. Man verschaffte ihm das Entree. Doch das Ergebnis entsprach keineswegs dem, was man erhofft hatte. Blag hatte seinerzeit, als er nach Hause geschickt worden war, sämtliche Skizzenbücher mitgenommen, und niemand hatte versucht, ihn daran zu hindern, nicht einmal die Zensoren im Hauptquar tier. Nun trug er also die Skizzenbücher zum Roten Kreuz. Er hatte etwas anzubieten und einen Vorschlag zu machen. Wenn das Komitee vom Roten Kreuz un ter den hunderten von Skizzen einhundert auswählte, würde er, Blag, einhundert Bilder daraus anfertigen, die meisten auf großformatigem Karton, Tuschzeich 256
nungen, Gouachen, aber auch Pastelle. Mit diesen hundert Bildern würde man eine internationale Aus stellung organisieren können, deren Erlös dem Roten Kreuz zukommen sollte. Daß daraus ein so spektakulärer Erfolg wurde, lag nur teilweise an Blag und seinen Arbeiten. Der Zeit punkt war einfach günstig, denn im Spätsommer 1918 kam die vergessene Orient-Armee zu ihrem Recht. Die Gesichter, die Blag 1917 gezeichnet hatte, waren die Gesichter der Männer, die sich ein Jahr später durch den Balkan kämpften und die erste Kapitulation einer Achsenmacht erzwangen. Es waren die Gesichter von Franzosen und Engländern, von Chasseurs alpins und South Wales Borderers, von Männern der Scottish Bri gade und marokkanischer Kavallerie, von Piloten des 47. Geschwaders der raf, die den Kosturino-Paß ein nahmen, und von Spahis, die ihre Pferde an der Struma tränkten. Der Ausstellungskatalog wurde ein begehrtes Sammlerobjekt, das bei Wohltätigkeitsauktionen hohe Preise erzielte. Blag wurde berühmt. Ein exzentrischer englischer Adliger versuchte, ihn wegen Mißbrauchs des Urheberrechts der Krone vor Gericht zu bringen. Die Franzosen ernannten ihn zum Mitglied der Ehren legion. In London wurde ihm der Posten des offiziellen Malers der Pariser Friedenskonferenz angeboten. Er lehnte ab mit der Begründung, daß das Schauspiel alli ierter Politiker, die Aufmarschpläne für die Schlachten des nächsten Krieges entwarfen, etwas für Karikaturi sten sei. Er werde sich wieder auf die Porträtmalerei konzentrieren. 257
Das tat er dann auch. In den zwanziger Jahren war er fraglos der populärste Porträtmaler. Auch das Thea ter hatte es ihm angetan. Er zeichnete ein Ballett für Diaghilew und schuf mit Komisartschewskij das Büh nenbild für eine Produktion des Peer Gynt. Er expe rimentierte mit der Lithographie. Es kann sein, daß er sich übernahm und daß einige seiner Arbeiten aus die ser Zeit nicht von bester Qualität sind. Die meisten waren es aber, und im letzten Lebensjahr war er sehr, sehr gut. Er starb tatsächlich »auf der Höhe seiner Schaffenskraft«. Nur die Art und die mysteriösen Um stände seines Todes haben diese Tatsache verschleiert. Doch sein Werk hat die lange Prüfung der Experten überstanden, und sein Rang steht endlich fest. Sein häßlicher Tod gilt nicht mehr als Eingeständnis künst lerischen Scheiterns, wie etwa im Fall Benjamin Hay dons, sondern als freiwillige Beendigung eines Lebens, dessen seelische Qualen unerträglich geworden waren. So zumindest sehen es die Gelehrten. Nicht aber sein Biograph. Nun werden also von diesem weniger anspruchsvollen Wahrheitssucher die alten Lügen und die alten Leiden wieder hervorgekramt und aufge wärmt. Wie man hört, schreibt er unter einem anderen Namen Thriller; er ist von edler Gesinnung, ein Mora list. Er sagt, als der einzige noch lebende Zeuge und weil Blag mich zuletzt gezeichnet hat, sei ich mora lisch verpflichtet, mich auszusprechen. Er sagt nicht »auspacken«, aber so ist es gemeint. Ich hatte so etwas erwartet, seit das Bild mit dem ver räterischen Datum letztes Jahr bei Christie’s aufge 258
taucht war und diesen hohen Erlös erzielt hatte. Ich hatte gehofft, wie alte Leute es eben tun, daß ich tot sein würde, ehe jemand anfangen könnte, Fragen zu stellen, und daß die Sache meinen Nachlaßverwaltern überlassen bliebe. Doch der Biograph fordert mich auf, mich »auszusprechen«. Vor ein paar Jahren bat mich ein Verleger, einen Artikel über Blags letzte Ta ge zu schreiben, und ich habe sofort abgelehnt. Ich bin durchaus für die Wahrheit, aber mein Medium ist das Theater. Dennoch haben alte Menschen ein Be dürfnis, sich zu erleichtern, das so stark sein kann, wie das Bedürfnis, ein Schuldbekenntnis abzulegen. In meiner Kindheit lernte ich Blag als einen Freund der Familie kennen. Nach dem Tod meines Vaters kümmerte sich Blag ein paar Wochen um uns. Meine Eltern, Harry und Kitty Blagden, waren Schauspieler, die die meiste Zeit auf Tournee waren oder an Provinzbühnen spielten. Mein Bruder und ich wohnten bei Großmutter Blagden in Clapham, und dort hörten wir den ganzen Klatsch, wenn unsere El tern zu Hause waren und pausierten. Im Herbst 1919, der Versailler Vertrag war gerade unterzeichnet, stan den sie in Birmingham auf der Bühne. Sie spielten un ter anderem in Ibsens Gespenstern, das zu jener Zeit noch immer ein kühnes Stück war. Mutter spielte die Regina und Vater den Pastor Manders. Der Bischof wetterte gegen das Stück. Es war ein Riesenerfolg. Neben dem Theater stand das städtische Museum, dessen Kurator ein Bühnennarr war. Dieser Mann stellte die Verbindung zwischen Blagden Cole und der 259
Inszenierung der Gespenster her, in der meine Eltern mitspielten. In einem Teil des Museums wurden sei nerzeit moderne Porträts ausgestellt, darunter auch ein Porträt, das Cole von seiner Mutter angefertigt hatte. Das Bild war signiert, aber undatiert. Nur der Kurator wußte, daß auf der Rückseite der Leinwand die Worte »Mrs. Alving, porträtiert von ihrem Sohn Osvald« standen, daneben die Jahreszahl 1912. In jenem Jahr waren die Gespenster erstmals an ei ner Londoner Bühne aufgeführt worden. Das Stück hatte die Zuschauer zutiefst schockiert, denn das Thema Erbkrankheit war bis dahin völlig tabu gewe sen. Bei Ibsen ist es ein Symbol für moralische Ver kommenheit, auch wenn er dabei offensichtlich an an geborene Syphilis gedacht hat. Ein Künstler, der ein Porträt seiner Mutter als Mrs. Alvings todgeweihter Sohn Osvald signierte – das war ziemlich starker To bak. Mein Vater kannte Blag schon recht gut. Sie hat ten sich 1917, als alles vor die Hunde ging, im Lazarett von Saloniki kennengelernt, wo mein Vater, ein Subal ternoffizier der Welsh Fusiliers, als Rekonvaleszent lag. Durch sein freundschaftliches Verhältnis zu Blag und einem der Ärzte wußte er immerhin, daß Blag glaubte, das potentielle Opfer einer Krankheit zu sein, die »in der Familie liegt«. In Birmingham versuchten meine Eltern, den Thea terdirektor dazu zu bringen, die amüsante kleine Ent deckung des Kurators zu vergessen, aber umsonst. Blag war eine Berühmtheit, und das Museum konnte die Publicity gebrauchen. Eine Londoner Zeitung über 260
nahm die Story von den Lokalblättern und bat Blag um einen Kommentar. Er bestritt, etwas von der Inschrift auf der Rückseite des Porträts zu wissen, und behaup tete, sich nicht einmal genau an das Bild erinnern zu können. Er wolle seine Mutter fragen, was damit pas siert sei. Er freue sich aber zu hören, daß sein alter Kriegskamerad Harry Blagden den Krieg überlebt ha be. Nein, kein Verwandter, nur derselbe Familienname. Prima Schauspieler, dieser Harry. Er selbst habe vor, nach Birmingham zu fahren und sich das Stück anzu sehen. Er fuhr in der darauffolgenden Woche. Er sah nicht die Gespenster, sondern die Komödie von Frederick Lonsdale, die alternierend gegeben wurde. Mein Vater war erleichtert. Blags Behauptung, er wisse nichts von der Inschrift, hatte er nicht geglaubt. Er wußte, daß 1912 für Blag in mehr als einer Hinsicht ein schlimmes Jahr gewesen war. Er hatte gehört, wie Blag einem aufgeschlossenen Arzt im Lazarett von Saloniki alles erzählt hatte. Im Frühjahr 1912 war Blags Schwester Cécile in einer Irrenanstalt gestorben; Blag hatte ihren langsamen Tod miterlebt. Der Gedanke, daß Blag im Parkett sitzt und die Schlußszene der Gespenster sieht, Osvald in der Mitte der Bühne, von Regina verlassen und nur von seiner Mutter beobachtet, die nach der Sonne ruft, während er in Irrsinn versinkt, wäre uner träglich gewesen. Meine Mutter konnte Blag von Anfang an gut lei den. »Sie sprachen natürlich über den Krieg und dar über, daß Amöbenruhr und Malaria für einen Schau 261
spieler immer noch besser sind, als einen Arm oder ein Bein zu verlieren. Blag wußte aber, warum dein Vater keine Hauptrollen spielte. Er wußte, daß Harrys Krankheit schlimmer als ernst war. Er meinte, wir Blagdens sollten Sanitätskommissionen nicht trauen. Er sagte, die einzige Medizin, von der diese Leute et was verstehen, ist die Pensionstabelle für Invalide. Und er hatte recht. Er wußte alles über die Blagdens und welcher Zweig woher kam. Seiner kam aus Lan cashire. Die Familie deines Vaters kam, wie du weißt, über London aus Yorkshire.« »Aber Blagden hieß doch die Familie seiner Mut ter.« »Sein Vater hatte keine nennenswerte Familie. Er taugte sowieso nichts. Als Blag gerade sechs war, setzte sich Mr. Cole wortlos nach Amerika ab und starb dort. Die alte Mrs. Cole schlug sich als Musiklehrerin durch, aber gelebt haben sie von dem Textilgeschäft der Blag dens. So ist Blag ja auch zur Kunst gekommen. Er ging nach Manchester auf die Kunstakademie, um dort Tex tildesign zu studieren.« »War sein Vater Künstler – der, der abgehauen ist?« »Nein. Er war Klavierstimmer von Beruf. Ich glau be, er hat nebenher auch Versicherungen verkauft. Blag spricht nicht gern über ihn.« Das war kurz nach dem Tod meines Vaters im Jahre 1922. Er war an einer undiagnostizierten Diabetes ge storben, nicht an den Beschwerden, die man an ihm behandelt hatte. Nicht, daß es für ihn etwas geändert hätte. Die Entdeckung des Insulins kam etwas zu spät 262
für ihn. Es war ein schreckliches Jahr, aber auch ein für unsere Zukunft entscheidendes. Großmutter brauchte Geld, um uns alle durchzufüttern. Mutter hatte fabelhafte Beine und konnte sich auf einer gro ßen Bühne wunderbar bewegen. Ihr war früher schon angeboten worden, in Pantomimen zu spielen, aber wegen meines Vaters hatte sie abgelehnt. Jetzt nahm sie an. Ihre erste Hauptrolle war der Königssohn in Cin derella, einer Moss Empire-Produktion, die im Grand in Leeds aufgeführt wurde. In diesem Zusammenhang zeigte sich, was für ein guter Freund Blag war. Die Aufführung wurde in London geprobt, aber die Ko stümproben fanden in Leeds statt. Blag sprach mit den pr-Leuten der Londoner Zentrale, und es wurde ver einbart, daß er zu den Licht- und Kostümproben nach Leeds kommen würde. Dort fertigte er Skizzen und Zeichnungen von allen wichtigen Darstellern an. Es waren Zeichnungen, wie sie Toulouse-Lautrec ge macht hätte – einfach, melancholisch und von wun derbarer Eleganz. Besonders schön war die Zeichnung von Kitty Blagden als Königssohn. Der ›Bystander‹, ein Londoner Magazin, das über die Welt der jungen Schickeria berichtete, brachte eine ganzseitige Abbil dung. Kittys Agent sagte immer, er habe sie nur durch geschickten Einsatz dieser Zeichnung an die WestEnd-Bühnen vermittelt. Ob mit oder ohne Agent, sie bekam allmählich schmeichelhafte Rollen in Musicals und dann in einer Reihe von Revuen. Blag lebte auf dem Land, ganz in der Nähe von 263
London, und ein, zwei Jahre lang sahen wir ihn ziem lich oft. Nachdem er meine Mutter einmal zum Lunch ins ›Savoy‹ eingeladen hatte, war es mein Bruder, der sie am Abend kühn fragte, ob sie und Blag heiraten wollten. Hätte ich eine solche Frage zu stellen gewagt, wäre ich wegen meiner Unverschämtheit getadelt worden. Meinem Bruder wurde nur gesagt, er solle keine dummen Fragen stellen und brav seine Schulaufgaben machen. Großmutter war bei ihrer donnerstäglichen Whistrunde. Wir saßen am Küchentisch, ich aß zu Abend, meine Mutter nahm, bevor sie ins Theater aufbrach, nur eine Tasse Tee und einen Sandwich zu sich. Sowie mein Bruder gegangen war, warf sie mir einen Blick zu. »Hast du ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt, Charlie? Nein? Woher hat er’s dann? Aus ›Peg’s Paper‹?« »Er hat mich gefragt, ich wußte nicht, was ich ant worten sollte. Ich weiß es noch immer nicht.« »Naja, vielleicht sollte ich es dir sagen. Die Antwort ist: Nein. Blag möchte zwar gern heiraten, aber nicht die Witwe seines alten Freundes, selbst wenn sie ein verstanden wäre. Er braucht eine junge Frau, mit der er sich amüsieren kann. Das könnte er haben, aber er sucht etwas anderes. Er sucht eine junge Frau, die ihm Kinder schenkt – und das geht nicht, das darf er nicht.« »Sünden der Väter? Gespenster?« »Nicht die Sünden, an die du denkst. Man kann noch andere Dinge vererben, nicht nur Geschlechts 264
krankheiten, Dinge, die seit Generationen in einer Familie vorkommen, zum Beispiel rotes Haar oder blaues Blut. Nur, manche davon sind tödlich. Die Krankheit, die auf Blag wartet, heißt Huntingtonsche Chorea, aber bei Tisch möchte ich lieber nicht dar über sprechen.« »Du hast gesagt, sie wartet auf ihn. Weiß er es?« »Nicht mit Bestimmtheit. Seinen Vater erwischte es, als er in den Vierzigern war. Dessen Mutter starb, als er noch ein Baby war. Blags Schwester war erst dreißig. Er hat es am längsten geschafft. Wenn es nur Syphilis wäre, könnte er einen Bluttest machen lassen. Aber es gibt keinen Test für Huntington, und viel leicht trägt er die Krankheit in sich. Das brauchst du deinem Bruder natürlich nicht alles zu erzählen. Weiß der Himmel, was für Märchen er sonst erfindet. Das meiste hat mir dein Vater erzählt.« Sie sah auf ihre Uhr. »Dabei fällt mir ein: Vor ungefähr einem Jahr schickte Blag deinem Vater ein Exposé für ein Thea terstück. Er möchte es gern zurückhaben, falls es noch unter den Papieren ist, die uns das Pflegeheim ge schickt hat. Ich habe aber keine Lust, in den Papieren deines Vaters herumzustöbern. Du bist jetzt der Mann im Haus. Du wirst es schon finden. Es ist bestimmt in einem der großen Koffer. Ich muß los, bin schon spät dran.« Ich fand das Exposé schließlich zwischen seinen Militärpapieren und einem Kriegstagebuch. Geschrie ben war es auf zwei Briefbögen von der Elm Park Farm. Der Arbeitstitel von Blags Stück lautete A Re 265
spectable Woman’s Guide to Murder, und zugrunde lag ihm das Leben einer Madeleine Smith. Sie war 1857 angeklagt worden, ihren Liebhaber vergiftet zu haben, entging dem Galgen durch ihre unerschütter lich sittsame Erscheinung, heiratete mehrere Male und lebte glücklich bis in die zwanziger Jahre hinein. Was mir allerdings zuerst auffiel, war das gefaltete Papier, das an das Exposé geheftet war. Ich löste die Klam mer, faltete das Papier auseinander und sah, daß es sich um eine Reproduktion des berühmten Porträts des Kabarettsängers Aristide Bruant von ToulouseLautrec handelte. Am Rand stieß ich auf eine Notiz in Blags Handschrift: »Du hast mich gefragt, warum ich nie Selbstbildnis se mache. Hier ist ein Grund. Ich habe Bruant nie ge sehen oder singen hören und ich habe nie so einen weiten schwarzen Umhang mit rotem Schal getragen. Viel zu melodramatisch. Aber ich muß zugeben, daß mir dieses leicht napoleonische Profil irgendwie ähn lich ist. Je älter ich werde, desto stärker wird mir die Ähnlichkeit bewußt.« Es war in der Tat eine bemerkenswerte Ähnlichkeit. Zweifellos war der Umhang ein Kunstgriff, um die kurzen Beine und den Bauch zu verbergen. Blag brauchte das nicht. Er war groß und schlank. Doch das Bruantsche Profil stimmte genau. Ich nahm mir wieder das Exposé vor. Auf der zweiten Seite hatte mein Vater am unteren Rand hingekritzelt: »Madeleine Smith ist eine interessante Figur, und es hat mehrere Versuche gegeben, ihr Leben zu dramati 266
sieren. Momentan will ein Produzent in Hollywood einen Film über sie machen. Sie ist dagegen. Sie lebt inzwischen in Amerika, ist über neunzig, noch immer sehr sittsam, und bringt jeden vor Gericht, der das Gegenteil behauptet. Warte noch eine Weile. Der Stoff ist auch noch später interessant.« Ich steckte das Exposé in einen Briefumschlag, adressierte ihn an Blag, Elm Park Farm, bei Pinner, Middlesex und überlegte, ob es nicht eine billige Mög lichkeit gäbe, den Brief persönlich abzuliefern, statt ihn per Post zu schicken. Ich war neugierig auf Elm Park Farm. Meine Mutter war manchmal übers Wo chenende dort gewesen und ganz begeistert zurückge kommen. »Es ist weder ein Park noch eine Farm«, er klärte sie einmal. »Früher war es beides. Da sieht man, was ein guter Architekt aus einem ummauerten Gar ten, viktorianischen Stallungen und einem ausge brannten Regency-Haus machen kann.« Für Gäste fand sie es »herrlich komfortabel«, auch wenn sie die alte Mrs. Cole, die »ewige Musiklehrerin«, nicht be sonders mochte. Aber Tante Alice, ihre Schwester, war in Ordnung. »Liebt Tweed. Golfspielerin.« Zum Glück erinnerte ich mich noch an etwas ande res, das meine Mutter gesagt hatte. »Man kommt ganz leicht dorthin. Du nimmst die Metropolitan Line bis Pinner, dort wirst du von einem Taxi abgeholt. Oder du fährst bis Rickmansworth und nimmst einen Bus.« Ich schickte Blag das Exposé zusammen mit dem Tou louse-Lautrec-Plakat und tröstete mich mit dem Tage buch. 267
Es ging darin nicht um den Krieg, sondern um die Bemühungen eines Berufsschauspielers, eine Kommis sion der Welsh Fusiliers dazu zu bringen, in Nordgrie chenland eine Divisionskapelle aufzustellen. Das war immer dann, wenn er nicht gerade im Feldlazarett lag. Es gab lange Listen mit den Namen derer, die ihm vorgespielt hatten, und mit seinem Kommentar – mei stens »untaugl.«. Dabei war durchaus auch die eine oder andere Entdeckung, wie etwa »Corporal Hughes R. schöner Bariton, besser als Pianist, kann vom Blatt spielen und transponieren«. Die Zeit im Lazarett schien im großen und ganzen angenehmer gewesen zu sein. Die Ärzte hatten ein eigenes Kasinozelt, zu dem er Zutritt bekam: Ein Schauspieler, der witzige Ge schichten erzählen kann, ist immer willkommen. Hier lernte er Blag kennen, der im Lazarett viel gezeichnet hatte. Blag war beliebt im Kasino, weil er dem Stab all die Gerüchte hinterbrachte, die er bei den Italienern und Franzosen aufschnappte. Und er fachsimpelte gern mit den Ärzten. Sie hatten nichts dagegen, denn für einen Laien wußte er ziemlich viel, besonders über Krankheiten des zentralen Nervensystems. Zum The ma Geburt konnte er aber dummes Zeug reden. An ei nem feuchtfröhlichen Abend, es war der 25. Januar und die sogenannte Burns Night (zu Ehren des schot tischen Nationaldichters Robert Burns), hielt mein Va ter einen Dialog zwischen Blag und dem schottischen Oberarzt fest. Blag: »Jock, ich schwör’s, Hand aufs Herz, ich bin 268
zwei Monate zu früh gekommen und habe neun Pfund gewogen.« Arzt: »Du kannst deine Hand sonstwohin legen, Blag, alter Junge, aber beides geht nicht. Neun Pfund, meinetwegen, aber dann warst du keine Frühgeburt. Wenn du aber eine Frühgeburt warst, dann hast du keine neun Pfund gewogen. Wer hat dir dieses Mär chen erzählt? Eine Hebamme? Ah, diese Klatschwei ber reden einem doch nur immer nach dem Mund.« Blags Antwort bestand darin, daß er sich vom Essens tisch erhob und wortlos das Kasino verließ. Mein Va ter schrieb dazu, daß sich Blag nur dieses einzige Mal ein bißchen danebenbenommen habe. Da es Burns Night war, fiel es keinem der anwesenden Schotten weiter auf. An einem solchen Abend war damit zu rechnen, daß sich jeder danebenbenahm. »Armer Blag«, schrieb mein Vater, »er muß genau gewußt ha ben, an welchem Tag seine Eltern geheiratet haben.« Warum arm? Schließlich fragte ich meine Mutter. Sie seufzte. »Also wirklich, Charlie, das liegt doch auf der Hand. Wenn irgend etwas in der Familie liegt, selbst etwas Unbedeutendes, dann will man doch wis sen, wie man als Baby war. Selbst in normalen Famili en wird in bezug auf diese Dinge viel gelogen und her umgeeiert. Wenn er mit neun Pfund zur Welt ge kommen ist, sagt der Arzt, dann war er keine Frühge burt. Mutter Cole war also neun Monate schwanger mit ihm. Sie war schon bei der Hochzeit schwanger. So was kommt in den besten Familien vor. Es war ei 269
ne schlimme Welt, Charlie, schon zu Zeiten der guten Queen Victoria, Gott hab sie selig. Warum grinst du? Es ist nicht komisch. Die junge Emma Blagden, diese muntere kleine Musiklehrerin, hat schon früh mit al lerhand Mannsbildern herumgemacht.« »Mit dem Klavierstimmer?« »Der nebenbei als Versicherungsvertreter arbeitete? Der Huntington-Träger? Der arme Blag hat bestimmt gehofft, daß es jemand anderes war. Vor allem nach dem Tod seiner Schwester.« »Er hätte seine Mutter fragen können. Ich meine, sie hätte ihm doch die Wahrheit sagen müssen, oder?« Meine Mutter warf mir einen besonders langen Blick zu. »Weißt du was, Charlie«, sagte sie, »falls du jemals nach Elm Park Farm eingeladen wirst und du die alte Mrs. Cole kennenlernst, kannst du sie ja selbst fragen.« Mein jüngerer Bruder James kam als erster dorthin. 1926 war ein schlechtes Jahr für unsere Familie. Oma Blagden, bei der wir immer gewohnt hatten, mußte wegen einer kleineren Operation in eine Klinik. Es ging schief, und sie starb dort. Mutter trat in einer Show auf und probte schon für die nächste. Vieles war zu erledigen, etwa die Klinikrechnung, die bezahlt werden mußte, damit der Totenschein ausgestellt werden konnte. Blag half. Er regelte die Sache mit der Klinik, dann fuhr er mit mir zum Bestattungsunter nehmer, wo die Leiche aufgebahrt war. Ihm gegen über war Blag genauso bestimmt. Nur der Leichen wagen und ein Automobil für die Trauernden. Deine 270
Großmutter würde sicher einen schlichten Eichensarg haben wollen, was, Charles? und nicht diese Pseudo bronzegriffe, also bitte, die gewöhnlichen aus Mes sing. Er gab mir die Adresse seines Anwalts in Covent Garden, der das Testament eröffnen würde. Er er wähnte nicht, daß Oma es selbst aufgesetzt hatte, auf einem Formular, das sie im nächsten Schreibwarenge schäft gekauft hatte. Drei Tage später war die Bestattung. Als wir nach Hause zurückkehrten, kam Blags Anwalt hinzu und erklärte, daß Großmutter die Anweisungen auf dem Testamentsformular sorgfältig gelesen und befolgt ha be. Das Haus sei der größte Teil ihres Besitzes, und das habe sie Mutter vermacht. Für meine Mutter stellten sich zwei unmittelbare Probleme. Erstens mußte sie ei ne Haushälterin als Ersatz für Großmutter finden. Das zweite betraf mein Abschlußexamen, das in zwei Wo chen stattfinden sollte. Wenn ich die Prüfung nicht be stand, und zwar mit Auszeichnung, würde ich nicht an die Universität können, sagte meine Mutter. Sie hatte meinem Vater versprochen, daß ich mit Glanz und Gloria durchs Examen kommen und studieren würde. Sie kannte eine arbeitslose Schneiderin, der man den Haushalt für ein, zwei Wochen anvertrauen konnte, wenn man ein Auge auf den Gin hatte. Blag sagte, wenn ich für die Prüfung büffeln und auf den Gin auf passen wollte, dann hätte ja mein Bruder vielleicht Lust, eine Zeitlang bei ihm draußen zu wohnen. Das Schuljahr nähere sich seinem Ende, da würde die Schu le bestimmt ein Auge zudrücken. James wollte bloß 271
wissen, ob es draußen auf der Farm ein Klavier gab. Als meine Mutter ihn streng zurechtwies und ihm erklärte, daß Mrs. Cole zwei Klaviere besitze und daß er, wenn er sich anständig benehme, vielleicht den BroadwoodFlügel würde ausprobieren können, schenkte James Blag ein glückstrahlendes Lächeln. Mit dreizehn war mein Bruder schon ein richtiger Charmeur. Uns war natürlich längst klar, daß er musikalisch begabt war. Er war kein Wunderkind, aber doch au ßergewöhnlich talentiert. Mutter kannte Leute an der Guildhall School, und der Professor, dem James vor gespielt hatte, versicherte ihr, daß er später ein Stipen dium bekommen würde. Ein paar Wochen auf dem Land, wo er vor einem so erfahrenen und wohlwol lenden Publikum wie Mrs. Cole (selbst eine Blagden) spielen könnte, wäre ihm zweifellos förderlich. Aus James’ Sicht war es Zeitverschwendung und ein Rückschlag für seine musikalische Karriere. Die Ställe, die Ateliers und der Garten waren okay, todschick sogar, aber Mrs. Cole, Tante Alice und ihr Haus wa ren entsetzlich. »Versteh mich nicht falsch, Charlie, es ist wirklich schön dort. Es gibt einen kleinen weiden bestandenen Fluß dort und einen Weg ins Dorf. Der eigentliche Bauernhof mit seinen zweiunddreißig Hektar liegt auf der anderen Seite des Flusses. Er ge hört jetzt einem richtigen Bauern. Das alte Haus wur de im Krieg als Genesungsheim für Soldaten verwen det, die sich dort von ihrer Schützengrabenneurose erholen sollten. Jack Hunter sagte, daß diese Leute das Haus am Waffenstillstandstag in Brand setzten.« 272
»Wer bitte ist Jack Hunter?« »Er war einer der Soldaten. Er und seine Frau An nette verwalten das Haus für Blag. Annette kocht. Sie ist Belgierin.« »Und kann sie kochen?« »Naja, ich war in Mrs. Coles Haus. Dort kocht Tante Alice. Ein Mädchen aus dem Dorf putzt und macht die Betten. Der Lancashire hotpot war in Ord nung.« »Das Klavier nicht?« »Doch, doch, aber sie nicht. Kaum war ich ange kommen, meinte sie, daß sie mir Stunden geben will. Hatte mir sogar Noten eines Stückes besorgt, das ich lernen sollte.« »Chopin. Etwas Schmissiges.« »Ich konnte es mir aussuchen. Eines von Mendels sohns Liedern ohne Worte – sie nannte es die Bienen hochzeit – oder aber Kitten on the Keys von Zez Con frey. Tante Alice hatte eine Schallplatte davon. Sie sag te Ragtime dazu.« »Und, wofür hast du dich entschieden?« »Kitten. Es ist im Grunde nicht sehr schwer, aber man braucht das, was Professor Brant Fingerfertigkeit nennt. Außerdem wollte Mrs. C, daß ich das andere nehme. Sie ist komisch. Jeden Abend um sechs gibt sie ein Konzert. Der Deckel ihres Flügels ist immer hochgeklappt, und die Fenster sind immer geöffnet. Das ist die Zeit, wenn Blag auf dem Weg am Fluß zum Dorfpub geht. Sie hämmert ihm Chaminades Autumn entgegen. Sie sagt, es soll ihn an Cécile erinnern. Wer 273
ist Cécile? Er reagiert nur dann, wenn jemand bei ihm ist, Jennifer zum Beispiel oder Rowe. Dann winkt er einfach. Jack Hunter schießt Kaninchen, weil sie eine Plage sind. Wenn ich Blag wäre, würde ich ihn bitten, Mrs. C. zu erschießen. Sie hat sogar den Fingersatz für mich über die Noten geschrieben.« Ich fragte Mutter, wer Rowe und Jennifer waren. Mein Bruder hatte Elm Park Farm in eine Vorhölle verbannt. Meine Mutter klärte mich auf. »Hab ich es dir nicht erzählt? Ein Flügel des alten Stalls wurde in zwei große Ateliers mit Wohnraum umgebaut. Das eine hat Tom McGowan. Er ist Kup ferstecher und ein alter Bekannter von Blag. Jennifer, seine Tochter, führt ihm das Haus und arbeitet gele gentlich als Buchillustratorin. Nettes Mädchen. Hat ihren Verlobten an der Somme verloren. Das andere Atelier hat Ruskin Rowe. Er fotografiert. Gegenstän de, nicht Menschen. Angeblich sehr gescheit. Die At mosphäre dort ist ein bißchen wie in einem Mews in Mayfair. Ohne Blag hätte sie leicht etwas Dilettanti sches.« »Und wo ist sein Atelier?« »Hinter der Gartenmauer. So weit entfernt von sei ner Mutter und Tante Alice, wie es nur irgend geht. Du wirst sehen. Er wird dich einladen. Er hat gesagt, daß er dich gern porträtieren würde. Er sieht deinen Vater in dir. Ich übrigens auch. Du mußt unbedingt auf die Universität.« Es war nicht zu ändern. Ich mußte fleißiger arbei ten. Ein Jahr später sprang ich durch die notwendigen 274
Reifen, bestand in den richtigen Fächern und mogelte mich an einer Prüfungskommission vorbei. Im Sep tember, sobald ich achtzehn war, würde ich auf die Universität gehen und auf Kosten des Steuerzahlers Jura studieren. Meine Mutter war sehr zufrieden. Da sie in der neuen Noel-Coward-Revue mitspielte, konnte sie sich auch großzügig zeigen. Sie kaufte mir ein paar neue Hemden und Unterwäsche und be schloß, daß ich groß genug war, einen von Vaters Maßanzügen zu tragen. Sie sagte auch, daß ich Ferien machen sollte, sobald mein letzter Schultag hinter mir lag. Zwei Tage später kam Blags Einladung, und zwar in Form eines Jobangebots: Aushilfsgärtner. Der Lohn betrug zwei Pfund die Woche bei freier Kost und Logis plus Biergeld. »Aber zwei Pfund ist eine Menge«, protestierte ich. »Ich bin doch kein Gärtner!« »Das weiß er, Dummerchen! Es ist seine Art, dir ein Taschengeld zu zahlen. Und denk an das Essen! Annette kocht wie in einem französischen Bistro. Du mußt bloß dein Bett machen.« Ich wußte zwar nicht, was ein Bistro war, aber ich merkte bald, daß es mir in Elm Park Farm besser gehen würde als meinem Bruder. Ich hatte eines der Gäste zimmer über der alten Remise, mit Blick auf den Fluß, und gleich nebenan ein eigenes Badezimmer. Man betrat das Zimmer über einen Balkon, der über die ge samte Länge des Hofes reichte, vom ummauerten Gar ten bis zur »Lodge«, dem kleinen Haus mit dem Uh renturm, in dem die Hunters wohnten. Den Balkon er 275
reichte man über eine eiserne Wendeltreppe. Blag per sönlich zeigte mir den Weg. »Dieses Haus wird wie eine Pension geführt«, sagte er, »Annette ist die Wirtin. Jedes Studio, einschließlich meinem, hat eine eigene Küche, aber Künstler und Handwerker haben nicht immer Lust zu kochen. Ei nige von uns können ohnehin nicht kochen. Manch mal sitzen wir lieber in Annettes Küche, die prakti scherweise neben der Lodge liegt, wo du Jack gerade kennengelernt hast. Lunch gibt es um eins, Dinner um acht. Frühstück gibt es nicht, nur Tee und Toast. Was trinkst du, Charlie? Wein? Bier?« »Letztes Weihnachten habe ich ein Glas Sherry ge trunken.« »Ich frage, weil ich vor dem Abendessen meistens in den Dorfpub gehe und dort etwas trinke. Dein Bruder hat dir sicher davon erzählt. Ich bin gern in Gesellschaft. Du darfst in Pubs doch schon etwas trinken, hm? Bist schließlich achtzehn.« »Fast.« »Jetzt ist es fünf. Bis du ausgepackt und ein Buch zum Lesen gefunden hast, wird es so gegen sechs sein. Ich rufe dich dann.« Der Weg am Flußufer, im Schatten der Weiden, war angenehm kühl, aber als wir die Schuppentanne auf Mrs. Coles Rasen erreichten, wurde der Schatten im mer schwächer, und die Abendsonne schien uns di rekt in die Augen. Da wurde das Klavierspiel, das ich nur undeutlich gehört hatte, plötzlich ganz laut. Es war eindeutig Chaminade. Ich wußte es, weil James 276
mir am Abend zuvor auf unserem Klavier die Melodie vorgespielt hatte. Er wollte nicht, daß ich mich bla mierte, falls mich irgend jemand auf die Probe stellte. Blag stellte in diesem Moment niemanden auf die Probe, nicht einmal seine Mutter. Während des Ge hens sah ich aus den Augenwinkeln, wie er den Arm hob, um ihr zu signalisieren, daß er sie hörte. »Ich vermute, dein Bruder hat dir erzählt, was dich hier erwartet«, sagte er. »Ja, aber ich dachte, vielleicht würde ein anderes Stück gespielt. Das ist nicht das einzige von der Cha minade.« »Oh, von Zeit zu Zeit wird ein anderes Stück ge spielt. Letzte Woche war es ein Mendelssohn. Aber eigentlich ist es immer die gleiche Melodie, wenn du verstehst, was ich meine, Charlie. Übrigens hat sie deinem Bruder den Namen Zez gegeben. Nach dem Komponisten von Kitten on the Keys. Hat er’s dir er zählt?« »Nein. Er läßt sich bei seiner Musik nicht dreinre den. Im Moment schwärmt er für Schumann.« Am Ende des Weges führte ein eiserner Steg zum Bauernhof auf der anderen Seite. Dort stießen wir auf den Weg, auf dem der Bauer seine Milchkarren zur Landstraße schaffte. Zweihundert Meter weiter kamen wir auf einer zweiten Fußgängerbrücke wieder über den Fluß, in den Rosengarten hinter dem ›Angler’s Rest‹. Auf der Wiese am Ufer saßen Leute an Tischen. »Hier draußen hat man dauernd Fliegen in seinem Glas«, sagte Blag und ging mit mir hinein. 277
Es war kein Pub, sondern ein »aufgestyltes« Land gasthaus mit einem Parkplatz davor, auf dem Chauf feure neben den Autos warteten. Die Autobesitzer standen in der Saloon Bar und tranken zum Feier abend Pink Gin und Whisky. Blag nickte einigen zu, während er auf den sogenannten »Bar Parlour« zu steuerte. Hier gab es Tische und Stühle und Jagdsze nen an der Wand und ausgestopfte Fische in Glaskä sten. Eine hübsche Bedienung kam freundlich lä chelnd herein. Sie hieß Dolly, und Blag stellte mich ihr als eine Art Neffen vor. Dolly strahlte. »Bist du der Sohn von Kitty Blagden? Letzten Monat war ein tolles Bild von ihr im ›Play Pictorial‹. Was darf’s sein?« »Wie wär’s mit Cider vom Faß?« sagte Blag. »Von unserem Zeug bekommt er bestimmt Bauch schmerzen. Besser wäre ein hübscher großer Pimm’s. Wir haben frischen Borretsch. Ach ja, fast hätt ich’s vergessen.« Sie zog einen Brief aus ihrer Schürzenta sche. »Der kam heute mit der Post. Für Sie. Papa sagt, Sie hätten ihn gefragt, ob er einverstanden ist, daß Sie manchmal unsere Adresse angeben.« Sie gab ihm den Brief. »Für Sie Gin und Tonic?« »Danke, Dolly.« Er warf einen Blick auf den Brief. »Entschuldige, Charlie, ich seh lieber nach, was es ist.« Ich beobachtete ihn, wie er den Umschlag öffnete. Die Adresse war getippt. Das fand ich bemerkens wert. Zu jener Zeit war es noch nicht so üblich wie heute, Briefe mit der Maschine zu schreiben. Selbst 278
Geschäftsbriefe wurden bisweilen mit der Hand ge schrieben, Liebesbriefe immer. Aber warum ließ sich der Herr von Elm Park Farm Post an die Adresse des ›Angler’s Rest‹ schicken? Als Dolly die Getränke brachte, lag Blags Taschen kalender schon aufgeschlagen neben dem Brief. »Übernächstes Wochenende bekomme ich Besuch aus Manchester«, sagte er. »Ich kann ihn auf der Farm nicht gebrauchen. Könntet ihr ihn für ein paar Nächte unterbringen? Mr. D. J. Bristow, ein Anwalt, ziemlich seriös.« Auf dem Nachhauseweg trafen wir Jack Hunter mit einem Gewehr unter dem Arm. Er war Sergeant in der Artillerie gewesen, und in den Breeches und Gama schen, seiner Arbeitskleidung, hatte er noch immer etwas Militärisches. Er sagte, er sei im Begriff, auf dem unteren Feld Kaninchen zu schießen. »Weiß der Bauer davon?« fragte Blag. »Er wird nichts dagegen haben. Wenn sein Kuhhir te sich nicht um die Kaninchen kümmert, wird er kein frisches Gemüse mehr von uns bekommen. Es sind unsere Frühbeetkästen, die es den jungen Karnickeln besonders angetan haben. Dabei fällt mir ein, Mr. Blag, Ihre Tante Alice hat wieder Golf geübt. Hat heute abend zwei Glasscheiben im Tomatenhaus zer brochen.« »Ich dachte, Sie hätten ein Netz für sie aufgestellt.« »Sie sagt, das ist für Teeshots, nicht für kurze Ent fernungen. Passen Sie lieber auf.« Er nickte mir zu und ging weiter. 279
Ich hatte keine Mühe, Tante Alice zu erkennen. Sie war eine weißhaarige, pummelige kleine Frau mit ei nem plissierten Tweedrock, kanariengelbem Pullover und braunen, derben Schuhen mit flachen Absätzen. Sie übte gerade Chip-Shots am Rand der Wiese. An einem rohen Tisch unter der Schuppentanne, eindeu tig Herrin über alles, was in ihrem Blickfeld war, saß Mrs. Cole. Ihre rechte Hand lag auf dem mit Trod deln geschmückten Griff eines rosaroten Sonnen schirms, den sie, während wir näherkamen, über den Kopf hielt und leicht schwenkte, als wollte sie ein Taxi anhalten. Sie nicht zu beachten, wäre sehr schwierig gewesen. »Bringen wir’s hinter uns«, sagte Blag. »Das also ist Zez’ großer Bruder Charlie«, rief sie uns entgegen. »Willkommen auf Elm Park Farm, Charles Blagden.« »Vielen Dank, Mrs. Cole.« »Ich habe deinen Vater nicht kennengelernt, aber deine Mutter sagt, daß du ihm ähnlich bist, genauso hübsch. Bist du auch so musikalisch wie dein Bru der?« »Nicht im entferntesten, Mrs. Cole.« »Nicht nur gut aussehend, sondern auch beschei den. Du mußt unbedingt zum Abendessen zu mir kommen, junger Mann.« »Hör auf, Em«, rief ihre Schwester, »du schüchterst ihn ein.« Tante Alice’ Aussprache klang noch immer deutlich nach Lancashire. Mrs. Cole hatte sich wie eine 280
Spracherzieherin an einer Schauspielschule angehört. Ich war erleichtert, als Blag wieder die Initiative über nahm und mich fortzog. Mrs. Coles affektierte Art und der Pimm’s auf leeren Magen hatten einen unkon trollierbaren Brechreiz in mir ausgelöst. Zum Glück waren wir schon außer Hörweite, als es passierte. Blag fühlte mit mir. »Du hast bestimmt Hunger«, sagte er. »Annette wird zusehen, daß sich das rasch ändert.« Kartoffelsuppe mit Lauch und Hähnchen mit ge dünsteter Endivie waren eine sehr gute Antwort auf meinen Hunger, und die Tatsache, daß ich mich nach so vielen Jahren noch genau an die Speisefolge erinnere, dürfte für die Qualität von Annettes Kochkünsten sprechen. Ihre Küche war phantasievoll, aber der Schwerpunkt lag auf Hausmannskost – einfach, aber schmackhaft. Da sie für viele Personen kochte, war das ganz verständlich. Ihre »Küche« bestand aus zwei ehemaligen Ställen, die zu einem Raum umgebaut wa ren, mit vier kleinen Tischen. Diese konnten aneinan dergerückt werden, und nötigenfalls fanden zehn Per sonen Platz. Meist waren es nicht mehr als sechs oder sieben, sie und ihr Mann Jack mitgerechnet. Die beiden hatten keine Kinder. Die eigentliche Küche, wo das Es sen zubereitet wurde, war in der angrenzenden Lodge; eine Rundbogentür verband die beiden Räume. Auf einer Anrichte mit Spirituslampen und Rechauds wurde das Essen warm gehalten. Jeder, auch die Gä ste, bediente sich selbst. Ich war der einzige Gast an diesem Abend, aber die anderen Bewohner waren vollzählig da. Tom McGo 281
wan, der Kupferstecher, und seine Tochter Jennifer saßen am Nachbartisch. Rowe, der Fotograf, saß für sich allein, und ganz am anderen Ende saßen die Hun ters. Im Laufe der Jahre ist Jenny, dank Blags Porträts, ei ne ebenso legendäre Schönheit geworden wie Manets Olympia oder ein Rembrandt-Bildnis von Saskia. Da mals habe ich leider nicht mehr in ihr gesehen als eine hübsche Frau mit einem sympathischen Lächeln und einem Talent als Kinderbuchillustratorin. »Was wirst du hier anfangen?« fragte sie. »In Clap ham hättest du zweimal täglich ins Kino gehen kön nen.« »Ich hatte gehofft, er würde mir helfen, den Sep tember-Kopfsalat auszupflanzen«, rief Jack. »Stimmt’s, Sir?« »Es wurde darüber gesprochen«, räumte Blag ein. »Ich dachte, ich sollte ihm dabei helfen«, sagte Ro we, und es klang, als meinte er es ernst. »Als ich Sie daran erinnerte, Mr. Rowe, erklärten Sie, daß Sie Rückenschmerzen haben.« »Ich werde in den nächsten zwei Tagen an einem Porträt arbeiten«, sagte Blag. »Ich bin sicher, Charlie wird Ihnen gern helfen, Jack.« »Natürlich«, sagte ich. Jeder schmunzelte. Die Formalitäten waren abgehakt. Ein Aushilfsgärtner war eingestellt. Man konnte sich darauf verlassen, daß es September-Salat geben würde. »Jetzt sitzt du in der Falle«, sagte Jenny, »vormit tags von neun bis zwölf. Nachmittags können wir 282
aber ins Kino gehen, wenn du willst. Ich kann uns bis Rickmansworth fahren.« »Was gibt’s dort?« fragte ihr Vater. »Scaramouche, mit Ramon Novarro.« »Ein Gesicht wie ein Zuhälter«, sagte er und drehte sich zu mir um und sah mich an. Er hatte einen wilden Schnauzbart und ganz traurige blaue Augen. »Ich habe kurz vor dem Krieg einen Henry Blagden auf der Büh ne gesehen. Er spielte den Marchbanks in Shaws Can dida. War das dein Vater?« »Ja. Hat Ihnen das Stück gefallen?« »Das Stück, nein. Ich fand es ermüdend. Dein Vater schien in seinem Element. Komisch.« »Er hat mir gesagt, daß er die langen Textstellen sprach, als wollte er sich von einem Stottern befreien. Es nahm ihnen etwas von dem literarischen Fluch.« Er grinste. »Hier spricht der Schauspieler.« Er wandte sich wieder seinem Teller zu. »Charlie wird mal Anwalt, Tom«, sagte Blag. »Sei ne Mutter findet, er soll einen anständigen Beruf ler nen.« Alle lachten, wie bei einem Witz. Auf dem Tisch standen Wein und Wasser. Ich nahm von beidem ein wenig. Als ich an diesem Abend mein Zimmer betrat, fand ich auf dem Nachttisch einen Umschlag. Darin war ein gefalteter Zettel, in dem zwei Ein-PfundNoten steckten. Auf dem Zettel stand: »Glückwunsch zu einer geschickten Darbietung vor einem schwieri gen Publikum. Das mit dem Fluch von Candida hast du bestimmt erfunden – B.« 283
Erst mehrere Tage später sah ich Blag wieder. Sein Modell war ein bekannter Schauspieler und Regisseur, der in Henley wohnte und jeden Tag in einem dieser schönen, halboffenen Rolls-Royce herübergefahren kam, in dem bei Regen nur Fahrer und Beifahrer naß werden. Annette ließ gekühlten Chablis und Schnitt chen mit geräuchertem Lachs ins Atelier bringen. Blag machte Vorstudien. Es konnte noch tagelang so wei tergehen. Morgens arbeitete ich mit Jack Hunter, mei stens in den Gewächshäusern. Diese waren auf der andern Seite von Mrs. Coles Haus, neben dem Gemü segarten, wo Jacks Kampf mit den Kaninchen des Bauern stattfand. Sie krochen sogar unter dem Ma schendrahtzaun hindurch in die Erdbeerbeete. Jack mußte sein Gewehr parat haben. Gleich neben dem Hintereingang, wo Tante Alice ihre Golfschläger rei nigte, stand ein Besenschrank. Dort deponierte er sein Gewehr. In einer Tasche hinter der Tür waren die Pa tronenschachteln. Die Vormittage bestanden nicht nur aus Gartenar beit. Blag hatte den Hunters einen viersitzigen Mor ris-Cowley zur Verfügung gestellt, in dem sie all das einkaufen fuhren, was nicht geliefert werden konnte, beispielsweise Kühleisblöcke und Kisten mit geräu cherten Heringen von einem Fischhändler in Pinner, und Wein bei einem Großhändler in der Nähe von Watford. Jack zeigte mir, wie man Weinkisten anhob, so wie er mir gezeigt hatte, wie man mit einer schwe ren Schaufel hantierte, ohne sich weh zu tun. Die Nachmittage waren ruhig. Ich las Aldous Huxleys 284
Crome Yellow und schmökerte in alten Heften des ›London Mercury‹. Um dem Bild des Jurastudenten gerecht zu werden, hatte ich eine Ausgabe von Mait lands Verfassungsgeschichte mitgebracht, die ich anti quarisch bei Foyle’s entdeckt hatte und nun mit gro ßem Interesse las. Und natürlich ging ich mit Jenny ins Kino. Sie wäre täglich gegangen, wenn es in ver tretbarer Entfernung genügend Kinos mit abwech selndem Programm gegeben hätte. Wir fuhren in Blags Auto, dem alten Crossley, den auch Tante Alice benutzte, wenn sie zu ihrem Golfclub fuhr. Jenny war eine gute Fahrerin, aber sobald wir im Kino saßen, wurde sie hysterisch. Zumindest hatte ich diesen Ein druck. Sie fand die falschen Typen sympathisch. Als wir beispielsweise Scaramouche sahen, schwärmte sie für Lewis Stone, der den bösen Marquis spielte, ließ sich von der hölzernen Schönheit von Alice Terry, der Heldin, zu Tränen rühren, während Ramon Novarro in der Titelrolle sie völlig kalt ließ. Nachdem sie sich die Tränen abgewischt hatte und wir wieder draußen waren, wirkte sie ganz normal. Mich verwirrte das. Die von Mrs. Cole angedrohte Einladung zum Abendessen wurde von Jack überbracht. Ich konnte wählen, Freitag oder Samstag, also fragte ich ihn um Rat. »Ich würde Samstag nehmen«, sagte er. »Freitags gibt es nur high tea mit Fischfrikadellen, und außer dem kommt der neue Pfarrer. Samstags gibt es immer einen Pie von Fortnum’s.« Zuerst war es gar nicht so schlimm, wie ich be fürchtet hatte. Der Klaviervortrag schien allerdings 285
kein Ende zu nehmen. Zu dem üblichen Programm für diese Woche kam noch Raffs Kavatina. Zum ab schließenden Chaminade schenkte Tante Alice uns beiden noch ein Glas Sherry ein und brachte ihrer Schwester einen Whisky Soda. Die Deckel von Flü geln sind schwerer, als sie aussehen, aber Mrs. Cole klappte ihren mit erstaunlicher Behendigkeit zu. Dann griff sie zu ihrem Glas und setzte sich lächelnd mir gegenüber hin. »So eine nette, liebe Frau, deine Mutter«, sagte sie. »Was meinst du, hat sie schon mal überlegt, wieder zu heiraten?« Mir verschlug es die Sprache, aber Tante Alice ant wortete für mich. »Das reicht, Em«, sagte sie scharf. »Kein Wort dar über. Du hast es versprochen.« Es gab mir Zeit, mich ein wenig aufzuplustern. »Meine Mutter ist eine äußerst erfolgreiche Schauspie lerin«, sagte ich gestelzt. »Die Arbeit macht ihr Freu de. Sie hat nicht die Absicht, wieder zu heiraten. Sie hat es mir gesagt.« »Was für ein Glück du hast, daß sie dir ihre Ge heimnisse anvertraut.« »Schluß jetzt, Em. Es ist Essenszeit.« Der Pie schmeckte sehr gut, aber ich hatte keinen Appetit. Am darauffolgenden Samstag traf Mr. Bristow ein. Blag schickte Jack mit dem Morris nach Pinner, ihn vom Bahnhof abzuholen und zum ›Angler’s Rest‹ zu bringen. Annette und ich tranken gerade Tee, als Jack 286
zurückkehrte. Er war verwundert. Dieser Bristow hatte sich als kultivierter Mensch herausgestellt, Offi zierstyp. Warum mußte er im Pub absteigen? Es hätte doch noch ein Gästezimmer für ihn gegeben. Etwas allerdings war merkwürdig. Der Mann hatte zwei Koffer dabei, und einer davon, der größere, war prak tisch leer, als befände sich darin nur ein sorgfältig ver packtes Bild. War es möglicherweise eine Arbeit, die Mr. Blag identifizieren sollte? Bristow konnte eben sogut Versicherungsdetektiv wie Kunsthändler oder sogar Polizist sein. »Oder Anwalt?« fragte ich. »Ja. Natürlich würde Mr. Blag so jemanden nicht im Haus haben wollen.« Doch an jenem Tag hatte Blag für jedermann Über raschungen parat. Gegen sechs kam er aus seinem Atelier, rief mich mit lauten Schlägen gegen das eiser ne Treppengeländer aus meinem Zimmer und fragte, ob ich Lust auf einen Spaziergang zum Pub hinunter hätte. Neben ihm stand Jenny, sie hielt sich ein zer knülltes Taschentuch an die Brust und sah aus wie Alice Terry auf dem Weg zum Duell. Als ich am Fuß der Treppe ankam, warf sie mir eine Kußhand zu, rief mit erstickter Stimme »Mach’s gut!« und lief wieder in ihr Atelier. »Komm, wir nehmen mit Mr. Bristow ei nen Drink.« D. J. Bristow hatte tatsächlich etwas von einem Of fizier, für meine Begriffe aber eher Marine als Heer – der glatte, rötliche Teint, der knapp sitzende blaue Sergeanzug und der steife Kragen mit der schmalen 287
schwarzen Krawatte. Er saß an einem Tisch im Ro sengarten, vor sich ein Glas Bier, und stand auf, als er uns kommen sah. Er und Blag gaben sich die Hand, als kennen sie sich schon. Ich wurde ihm als einer der Londoner Blagdens vorgestellt. Bristow nickte lä chelnd. »Sohn von Henry? Ja, dachte ich mir schon.« Er wandte sich zu Blag. »Ist der junge Mann dein Fo tograf?« »Nein, Charlie soll mir moralisch zur Seite stehen. Der Fotograf wartet drinnen. Es ist alles bereit, er kann sofort mit dem Kopieren anfangen.« Bristow schürzte die Lippen. »Na gut, Blag, hof fentlich bist du nicht allzu enttäuscht. Ich konnte nur eines der Fotos mitbringen. Der Sekretär war sehr hilfsbereit, aber es hieß eben: eines oder keines. Diese Fotografien gehören ja quasi zum Inventar des Sit zungssaals. Und sie sind von historischer Bedeutung. Unser Mann war achtzehn Jahre Ratsherr, und es gibt fünf Gruppenfotos mit ihm, das letzte aus dem Jahr achtzehnhundertfünfundneunzig. Er war der Archi tekt der Rathauserweiterung in Preston, die in jenem Jahr fertiggestellt wurde. Ich habe mich für diese Auf nahme entschieden, weil sie am schärfsten ist und weil er auf den anderen sehr viel mehr Haare hat.« »Du hast bestimmt dein Bestes getan.« »Es war nicht einfach. Ich mußte dem Sekretär ver sprechen, daß es am Montag früh wieder an Ort und Stelle ist. Und ich mußte versprechen, daß es nicht aus dem Rahmen genommen wird. Es ist natürlich unter Glas.« 288
Blag seufzte. »Na schön, gehen wir rein und sehen es uns mal an.« Rowe wartete in dem eichengetäfelten Speisezimmer auf uns. Jack wartete draußen im Morris. Bristow ging nach oben, um die Fotografie zu holen. »Sie ist gerahmt und unter Glas«, sagte Blag, »und daran darf nichts geändert werden. Mr. Bristow wird sie nicht aus den Augen lassen.« »Ich habe einen Polarisationsfilter, mit dem ich die Spiegelung verhindern kann«, sagte Rowe, »und wenn es mit dem Filter nicht klappt, werde ich es schon an ders hinkriegen. Ist es wirklich wertvoll?« »Nur für mich. Es ist nämlich …« Er hielt inne. Bristow war zurückgekehrt. Das Foto war in Well pappe eingepackt und mit einer Kordel verschnürt, wie sie in Anwaltskanzleien verwendet wird. Der Rahmen war etwa 50 mal 30 Zentimeter, aus schwarz gebeiztem Hartholz mit Goldleiste. Das auf einem leicht vergilbten Karton aufgezogene Foto zeigte die Stufen zum Portikus eines Rathauses. Auf der Treppe standen, in zwei Neunerreihen, achtzehn festlich ge kleidete Herren, Einige derjenigen, die im Gehrock erschienen waren, trugen Koteletten. Die hintere Rei he stand zwei Stufen über der vorderen, so daß alle Personen klar zu erkennen waren. Ihre Namen waren in zwei Reihen am unteren Bildrand in feiner Schrift aufgedruckt. »Wer ist unser Mann?« fragte Rowe. Blag zeigte auf die zweite Figur von rechts in der vorderen Reihe. »Der da«, sagte er. »Councillor T. C. 289
Everard. Dieses Gesicht würde ich überall erkennen. Jetzt wollen wir mal sehen, ob Sie den guten Mann vergrößern können, hm? Na los, Rowe!« Vor lauter Erregung bekam er kaum die Wörter heraus. Auch Rowe und Bristow hatte er anscheinend angesteckt. Sie verpackten das Foto wieder und trugen es hinaus zum Auto, wo Jack wartete. Beim Einstei gen erinnerte sich Blag an mich und wandte sich um. »Trink was Starkes, Charlie«, sagte er. »Wir sehen uns im Atelier wieder.« Und dann fuhren sie los. Ich brauchte keinen Drink, sondern wollte unbe dingt mit jemandem sprechen. Es war Samstag, halb sieben, also nach der Nachmittagsvorstellung. Meine Mutter würde im Theater sein und in ihrer Garderobe einen Sandwich essen. In der Eingangshalle des ›Ang ler’s Rest‹ war eine Telefonzelle. Für Notfälle hatte ich in meinem Taschenkalender die Nummer der Künstlergarderobe notiert. Als meine Mutter merkte, daß es sich nicht um ei nen Notfall handelte, war sie sauer, gab aber zu, daß das, was ich zu berichten hatte, interessant war. »Sie hat also nicht mit dem Klavierstimmer rumge macht, sondern mit einem feschen jungen Architekten vom Rathaus.« »Kann sein.« »Was hast du denn gedacht, mit dem Prinzen von Wales? Ich muß schon sagen, Blag hat wirklich Schwein. Er hat den Vater gefunden, den er immer haben wollte, einen, der kein Träger von Huntington war. Was meinst du?« 290
»Hoffentlich.« »Was ist los, Charlie? Sprich!« »Ich finde, das Toulouse-Lautrec-Plakat von Bru ant sieht mehr nach Blag aus als dieser Mann auf dem Foto, Councillor Everard.« »Jetzt hör mal zu, Charlie. Blag hat seine Mutter einmal gefragt, warum er mit zweitem Namen Everard heißt. Sie erklärte ihm, daß es auf einem Irrtum beruhe, ein Schreibfehler des Gemeindesekretärs, der schlecht sah. Eigentlich sollte sein zweiter Name Érard sein, nach dem französischen Klavierfabrikanten. Ihr erstes Klavier, das sie von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte, war von dieser Firma. Außerdem hatte Mr. Cole als Lehrling in Érards Londoner Fabrik gearbeitet. Everard ist nur die alte nordenglische Schreibweise von Edward. Natürlich hätte sie die Geschichte mit dem Schreibfehler verheimlichen können. Hörst du mir zu, Charlie?« »Ja, Mama. Mrs. Cole wäre zu allem fähig.« »Ja, aber fang nicht an, dich in Blags und Jennys Liebesleben einzumischen oder Partei zu ergreifen. Komm nach Hause, wenn du willst. Wir schaffen es schon. Und fang nicht an, wie dein Bruder herumzu grübeln und dir Geschichten auszudenken. Ver sprichst du mir das?« »In Ordnung. Aber Jack sagt, Blag will ein Porträt von mir machen.« »Er wird dir bestimmt große Ähnlichkeit mit dei nem Vater geben. Sei brav, Schatz.« Sie legte auf. Blag sah ich erst eine gute Woche später wieder. Jack 291
erzählte, daß, nachdem Bristow mit seinem wertvollen Foto abgefahren war, Blag und die McGowans nach London gefahren waren, geschäftlich. Alle drei hatten sich im ›Brown’s Hotel‹ einquartiert. Ich wußte, was Tom McGowan machte. Er war in dem Jahr in die Aka demie aufgenommen worden, und eine Galerie in der Bond Street wollte eine Ausstellung mit Werken von ihm veranstalten. Der Bilderrahmer, der für die Galerie arbeitete, war wegen seiner Eingebildetheit bei Stechern und Lithographen nicht beliebt. Der Mann glaubte, be hauptete Tom, daß ein Bilderrahmen künstlerisch ge nauso wichtig sein könne wie das Werk, das er schmük ke, oder gar noch wichtiger. Tom rechnete damit, daß es wegen des Gesamteindrucks seiner Werke zu einer har ten Auseinandersetzung mit dem Mistkerl kommen würde. Und Jenny? Jack glaubte, daß sie ihren Verleger besuchte und sich natürlich die allerneuesten Filme an sah. Als erste kehrten die McGowans zurück. Jack holte sie mit dem Crossley vom Bahnhof ab. Sie wirkten festlich gestimmt, und Rowe war beim Abendessen kühn genug, einen Kommentar abzugeben. »Sie haben ein Kleid gekauft«, sagte er zu Jenny. »Ich weiß Be scheid. Soll es in der Kirche oder auf dem Standesamt sein?« Tom McGowan erwiderte mürrisch: »Wenn Sie wüßten, was eine Sondererlaubnis kostet, würden Sie nicht so eine blöde Frage stellen.« »Dann also das Standesamt, hm?« Ich bin sicher, daß Jack und Annette niemandem 292
etwas verrieten, aber irgendwie kam es heraus, daß bald eine Hochzeit stattfinden würde, und das Mäd chen, das Mrs. Cole im Haus half, ging zweimal die Woche auch zu den McGowans. Tante Alice muß ziemlich schnell davon erfahren haben. Als ich das Taxi aus Pinner zurückfahren hörte und Licht im Atelier sah, wußte ich, daß Blag zurückge kommen war. Am nächsten Morgen, während ich mir gerade Tee und Toast machte, hatte Jack eine Nach richt für mich. »Er will arbeiten. Er möchte, daß du ihm Modell sitzt. In Gärtnersachen. Zehn Uhr.« Ich war auch schon im Garten gewesen, um dort Unkraut zu jäten und wegen anderer Arbeiten, aber das Atelier hatte ich mir noch nie angesehen. Es war größer, als es von außen den Anschein hatte. Von der inneren Tür aus übersah man einen tiefen, hohen Raum mit einem riesigen, mindestens zehn Meter lan gen Oberlicht und hohen Fenstern mit lichtdurchläs sigen Läden zum Garten hin. Der Raum war wie lichtdurchflutet. Ein schräger Zeichentisch und Staffe leien und Arbeitstische. Auf einer Staffelei stand eine große Tafel, an der Zeichnungen und Fotos befestigt waren. Die Zeichnungen waren hauptsächlich Studien von Kopf und Händen des Schauspieler-Regisseurs. Die Fotos waren glänzend und von dort, wo ich stand, schwer zu erkennen. Blag trat durch eine Tür am anderen Ende des Ate liers. Es roch leicht nach gebratenen Räucherheringen. Dort schien seine Küche zu sein, und noch weiter da hinter sein Schlaf- und Wohnzimmer. 293
»Grüß dich, Charlie«, sagte er. »Hat alles mit dem Transport der Bilder zum Rahmenmacher geklappt?« »Mr. McGowans Kisten haben nicht alle in den Morris gepaßt.« »Ich habe Jenny ja gesagt, sie brauchen das große Auto. Wer hat ihr geholfen?« »Jack und ich. Jenny sagte, sie würden spät heim kommen, du solltest dir aber keine Sorgen machen.« »Das Rahmengeschäft ist in Fulham. Zum Dinner sind sie bei Toms Schwester in Chelsea. Was hältst du davon?« Er hatte gesehen, daß mein Blick zu dem größten Fo to auf der Pinntafel gewandert war. Es war die Vergrö ßerung, die Rowe von Everards Kopf gemacht hatte. »Von diesem unscharfen alten Abzug, erstaunlich.« »Hast recht. Charlie, setz dich bitte mal auf den Barhocker dort. Ja, der mit den Armlehnen. Und jetzt heb den Kopf ein bißchen und sieh zum Fenster hin aus. Den Kopf ein bißchen nach rechts. Was siehst du? Ein Blumenbeet, aber was für Blumen? Geranien. Gut so. Bleib ruhig sitzen, aber verkrampf dich nicht.« Er hatte ein großformatiges Zeichenpapier an einer Tafel befestigt, die auf der kleineren Staffelei stand. Die Staffelei hatte Rollen. Er stellte sie irgendwo hinter meiner linken Schulter auf und begann zu zeichnen. Zuerst mit Kohle, dann mit Kreide. Dann roch es nach Terpentin, und mit einem Schwamm betupfte er das Papier. Er ertappte mich dabei, wie ich ihm zusah, und ermahnte mich, still zu sitzen. »Locker, aber nicht be 294
wegen«, sagte er. »Ich werde dir sagen, wann du dich wieder bewegen darfst. Ich arbeite jetzt mit Pastell, verwende aber auch Terpentin. Es wird wie ein Degas aussehen.« Lange Zeit sprach er kein Wort, und der Krampf in meinem Nacken wurde schon richtig unangenehm, als plötzlich an der Tür zum Hof, durch die ich gekom men war, gehämmert wurde und eine Frau etwas rief. Blag sagte: »Du kannst einen Moment Pause ma chen, Charlie, aber steh nicht auf. Bleib, wo du bist.« Er ging zur Tür und machte auf. Den Lärm hatte Tante Alice mit einem Golfschläger veranstaltet. »Was machst du denn hier, Alice?« Sie drängte sich an ihm vorbei ins Atelier. »Das Au to«, rief sie. »Diese McGowan hat das Auto genom men. Ausgerechnet an meinem Clubtag. Sie hat kein Recht dazu.« »Ich habe es ihr erlaubt. Es gehört der Familie. Je der benutzt es.« »Die McGowans gehören nicht zur Familie.« »Sie gehören zu meiner Familie, Alice«, sagte er, »ob es dir und Mutter Herbst gefällt oder nicht.« Er sagte es sehr nachdrücklich. »Du brichst ihr das Herz«, wimmerte Alice und brach dann in Tränen aus. Das Schlimmste war vorbei. Mit ihren grauen kurzgeschnittenen Haaren, ihrem Tweedrock und den Golfschuhen wirkte ihr Kummer nicht sehr überzeugend. Blag gab ihr sein Taschen tuch, damit sie ihre Tränen trocken konnte. »Jack wird dich im Morris hinfahren«, sagte er. 295
»Aber heute abend sprichst du mit deiner Mutter? Blag, du hast es versprochen!« »Ja, ja, ich habe es versprochen. Geh jetzt, Alice, und gib Jack Bescheid!« Er schloß die Tür hinter sich und kehrte zur Staffelei zurück. »Na, Charlie«, sagte er, »dann woll’n wir mal wieder.« Er arbeitete noch eine Stunde und schickte mich dann zum Mittagessen. Er sagte, ich könne mir das Bild am nächsten Tag ansehen. Ich war spät dran und müde. Annette machte mir ein Omelett. Anschließend ging ich in mein Zimmer, um noch etwas in meinem Maitland zu lesen. Aber ich schlief ein. Als ich aufwachte, nahm ich ein Bad und zog mir Vaters Tweedanzug an. Dann ging ich zum Pub, nicht am Fluß entlang, weil ich nicht von Mutter Herbst gesehen werden wollte, sondern auf der Stra ße. Im Pub traf ich Rowe, der aus demselben Grund die Straße benutzt hatte. Ich versuchte es mit einem Gin und Ginger Ale. Wir kamen zu spät zu Annettes Abendessen zu rück, es gab ein vorzügliches Kaninchen in Weißwein mit Basilikum. Wir tranken alle reichlich Wein dazu, auch die Hunters. Nach dem Essen brachten sie mir Napoleon bei. Es war dunkel, als wir aufhörten. Um noch ein bißchen frische Luft zu schnappen, ging ich am Fluß spazieren. Als dann leichter Nieselregen ein setzte, kehrte ich rasch wieder um. Das Licht im Atelier war an und fiel auf den Hof. Ich sagte mir, daß Blag vermutlich auf Jennys Rück kehr wartete. Ich war am oberen Ende der Wendel 296
treppe angelangt, als ich den Schuß hörte. Es war ein ziemlich lauter Knall. Ich ging wieder hinunter. An der Tür fiel mir der Pulvergeruch auf. Ich rief: »Bist du da, Blag? Alles in Ordnung?« Dann trat ich ein. Er lag mit dem Rücken auf der Erde, neben der Staf felei, vor der er am Vormittag gestanden hatte, und das Blut sickerte noch immer aus den großen Wunden an Brust und Hals. Seine Hand umklammerte das gepol sterte Ende des Malstocks, den ich ihn am Morgen hat te verwenden sehen. In den wenigen Sekunden, die ich dastand und dieses gräßliche, rote blubbernde Chaos sah, hatte ich nur den einen Gedanken, daß sein Herz noch schlagen mußte. Ich stürzte in den Hof hinaus und schrie um Hilfe. Es dauerte eine Ewigkeit. Die Hunters schliefen fest und waren kaum wachzukriegen. Ich wußte, daß auch bei Rowe ein Telefon war, also brüllte ich ihm zu, er solle einen Arzt rufen. Der Lärm, den ich machte, be wirkte, daß Jack mit einem Mantel über dem Pyjama herunterkam. Ich sagte nicht »Blag hat sich erschos sen«, sondern »Blag ist erschossen worden«. Jack sag te »Allmächtiger« und stürmte zur Ateliertür. Wäh rend ich hinter ihm herlief, plapperte ich unentwegt davon, daß man einen Arzt holen müßte. Es konnten nur Minuten vergangen sein, seit ich Blag verwundet aufgefunden hatte. Jetzt, als ich das zweite Mal mit Jack kam, war alles ganz anders. Wo ich gestanden hatte, lag jetzt das Gewehr der Familie auf dem Fußboden. Jack beugte sich über die Schweinerei auf dem Fuß 297
boden. Er blickte scharf zu mir hoch. »Wenn du kot zen mußt, Charlie, dann geh am besten raus. Wir brauchen hier keinen Arzt, sondern die Polizei.« Blag hatte ein Tuch über das Porträt auf der Staffe lei geworfen. Dieses Tuch nahm Jack jetzt und legte es dem Toten über das Gesicht. Mein eigenes Gesicht blickte mich von der Staffelei her an. Wie Jack vorge schlagen hatte, ging ich nach draußen, um mich zu übergeben. Ich kotzte noch immer, als die Scheinwerfer des zu rückkehrenden Crossley in den Hof von Elm Park Farm fielen. Jenny war zurückgekehrt. Der böse Traum ging in seine Horrorphase über. Die Leichenschau fand in Isleworth statt, unweit des Krankenhauses, in dem die Obduktion durchgeführt worden war. Der Gerichtsraum, sonst eine Übungs halle der Territorialarmee, war rammelvoll, und für die Presse gab es nicht genügend Stühle. Als Leichenbeschauer amtierte ein örtlicher Beam ter des Gesundheitsdienstes mit gerichtsmedizinischen Grundkenntnissen. Ich gehörte zu den ersten Zeugen. Ich berichtete, wie ich den Schuß gehört und Blag verwundet aufgefunden hatte und wie ich zu den Hunters gelaufen war, um Hilfe zu holen. »Ist das Jack Hunter, der die Polizei benachrichtigt hat?« »Jawohl. Ich selbst konnte die Wunden nicht ver sorgen, aber Jack war im Krieg.« »Vielen Dank, Mr. Blagden, ich bin sicher, Sie ha 298
ben Ihr Möglichstes getan. Sie haben Mr. Cole am Morgen gesehen. Wie würden Sie seine Verfassung be schreiben?« »Er war ungeduldig. Er wollte keine Unterbre chungen, weder bei seiner Arbeit noch in seinem Le ben.« Das war alles. Als nächster kam Jack Hunter dran. Das meiste Interesse erregte allerdings Dr. Lionel Benton-Black, der eine Praxis in der Harley Street hatte und als Neurologe an einem Londoner Lehr krankenhaus arbeitete. Blag Cole war seit zwanzig Jahren bei ihm in Behandlung gewesen. »Um welche Krankheit ging es, Herr Doktor?« »Ich weiß es nicht genau und werde es nun auch nie erfahren. Seine Schwester war an vererbter fortschrei tender Chorea gestorben, als er zu mir überwiesen wurde. Das ist jene Krankheit des Zentralen Nerven systems, die heutzutage allgemein unter dem Namen Huntington bekannt ist. Es handelt sich um eine Erb krankheit, die durch einen oder beide Elternteile über tragen wird. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt besteht keine Möglichkeit, die Krankheit im Blut oder in einer anderen Körperflüssigkeit nachzuweisen. Es gibt Huntington-Familien – ich kenne viel zu viele von ih nen –, sie haben quasi keine Chance. Ist die Krankheit genetisch vorhanden, kann sie jederzeit ausbrechen, meistens im dritten, vierten, fünften und sechsten Le bensjahrzehnt. Es gibt Familien, in denen Huntington bis zu zehn Generationen zurückgeht. Sie gilt als die tückischste aller Erbkrankheiten. Tückisch ist zwar 299
kein wissenschaftlicher Begriff, aber ich kann verste hen, daß er in diesem Zusammenhang verwendet wird.« »Wann haben Sie den Toten zum letzten Mal gese hen?« »Vor drei Wochen. Er sagte, er habe einen sicheren Beweis dafür, daß sein Vater, erwiesener HuntingtonTräger in dieser Familie, nicht sein leiblicher Vater gewesen sei. Er behauptete, er sei unehelich gezeugt worden, bevor seine Mutter Mr. Cole geheiratet habe. Er könne daher, so seine Behauptung, nicht Träger von Huntington sein. Es gebe also keinen Grund, warum er nicht heiraten und Kinder zeugen könne.« »Haben Sie ihm geglaubt, Herr Doktor?« »Es klang sehr plausibel, und er konnte Fotos und andere Dokumente vorlegen. Wahrscheinlich alles Einbildung. Passiert oft in der Mitte des Lebens. Sie haben Fantasien. Und dann nehmen sie sich das Le ben. Besonders Männer reagieren so. Ich habe Blagden Cole gesagt, daß er eine eventuelle Heirat selbst verantworten müsse.« Das Untersuchungsergebnis lautete natürlich auf Selbstmord »im Zustand geistiger Verwirrung«. Beim Hinausgehen tippte mir jemand auf die Schul ter. »Hallo, junger Mann.« Es war Mr. Bristow. »Sie sehen aus, als könnten Sie ein Bier vertragen.« Ich freute mich, ihn wiederzusehen. Ich brauchte jemanden, dem ich mein furchtbares Geheimnis an vertrauen konnte. Nachdem ich ihm von dem Gewehr 300
erzählt hatte, das auf dem Boden gelegen hatte, als ich mit Jack Hunter zurückkam, nicht aber beim ersten Mal, nickte er. »Sie glauben nicht an Selbstmord, son dern an Mord. Was hat die Polizei dazu gesagt?« »Sie waren geduldig und freundlich. Als ich Blag mit diesen entsetzlichen Wunden fand, hätte ich na türlich einen Schock bekommen. Es sei ganz verständ lich, daß ich das Gewehr beim ersten Mal nicht gesehen habe.« »Das war es auch.« »Und verständlich war auch, daß Blag den Mal stock verkehrt herum hielt. Die Polizisten sagen, er habe mit dem Stock den Auslöser des Gewehrs betä tigt.« »Und was meinen Sie?« »Ich glaube, als er sah, wie sich das Gewehr direkt auf ihn richtete, hat er versucht, den Lauf mit dem Stock abzuwehren. Es wäre ihm beinahe gelungen. Die Wunden waren hauptsächlich auf der rechten Sei te.« Er nippte an seinem Bier. »Und wer hat das Ge wehr gehalten? Mutter Herbst?« »Blag hat sie an dem Abend aufgesucht, um sie mit dem Foto von Councillor Everard zu konfrontieren, das Sie für ihn gefunden haben, und um seine Hoch zeit anzukündigen. Als er wieder gegangen war, nahm sie das Gewehr, das bei Alices Golfschlägern steht, und folgte ihm. Sie hat ihn erschoßen. Dann ging sie, das Gewehr noch immer in der Hand, in ihr Haus zu rück. Unterwegs stieß sie auf Alice, die den Schuß ge 301
hört hatte. Alice nahm ihr das Gewehr ab und legte es im Atelier auf den Fußboden, damit wir es dort finden sollten.« »Das werden Sie nie beweisen können, junger Mann.« »Ich werde es gar nicht erst versuchen, Mr. Bri stow.« Er hatte in seiner Brieftasche herumgesucht. Nun holte er einen Abzug der Vergrößerung von Council lor Everard heraus. »Vielleicht möchten Sie das als Andenken behalten«, sagte er. »Die These, daß Eve rard Blags leiblicher Vater ist, ist etwa so plausibel wie das Selbstmordurteil, das wir gerade gehört haben. Everard heiratete zweimal, hatte aber keine Kinder. Lag vermutlich an ihm. Als junger Mann war er in der freiwilligen Kavallerie, der Yeomanry, und ein Jahr vor Blags Geburt besuchte er in Preston einen Offi ziersball, bei dem auch Miss Emma Blagden anwesend war. Das meldet der Lokalanzeiger. Mehr will ich da zu nicht sagen. Alles Gute für Ihr Studium, junger Mann. Ich darf meinen Zug in Euston nicht verpas sen.« Zu Hause zeigte ich meiner Mutter das Foto. »Der da hat nie und nimmer Blag gezeugt«, sagte sie. »Keine Ähnlichkeit. Ganz andere Knochen. Das einzige gute Porträt, das ich von Blag gesehen habe, war das von seiner Mutter. Ich meine, dieses schlim me, das er auf der Rückseite beschrieben hat, das von Ibsens Frau Alving.«
302
Über zwanzig Jahre vergingen, ehe das Thema Blagden Cole zwischen uns wieder zur Sprache kam. Mitte der fünfziger Jahre wurde ein Stück von mir in New York inszeniert, und sie kam herüber, um es sich an zusehen. Natürlich gab es viel zu erzählen. »Erinnerst du dich an diese Jenny, die Blag Cole heiraten wollte? Nach dem Selbstmord bin ich mit ihr in Kontakt geblieben. Sie hatte ein Kind von Blag. Naja, woher sollst du das alles wissen. Du warst ja nicht mehr da.« »Was ist passiert?« »Sie hatte eine Tochter. Hübsches Kind. Starb, be vor sie dreißig wurde, die Ärmste.« »Huntington?« »Ja, ich dachte, es würde dich interessieren. Mein jetziger Arzt meint, daß man in zehn, zwölf Jahren vielleicht sagen kann, ob jemand ein Träger ist. Gena nalyse, nennen sie es. Tja, mit Jenny selbst ist alles in Ordnung. Sie illustriert Kinderbücher. Ich muß aber gestehen, daß ich sie immer ein bißchen naiv gefunden habe.« Sie schwieg einen Augenblick und seufzte dann. »Naja, ist vielleicht nicht ganz fair. Du hast ge glaubt, seine Mutter habe ihn erschossen, und viel leicht hattest du recht. Aber in Wirklichkeit hat der Klavierstimmer den guten alten Blag umgebracht.«
Anhang
Personen- und Werkregister
›A Writer’s Note on his Trade‹ Ambler, Amy Madeleine, geb. Andrews (Eric Amblers Mutter) ›Ambler by Ambler‹ Anderson, Michael (* 1920; engl. Filmregisseur) ›Die Armee der Schatten‹ »Arthur Abdel Simpson« (Held aus Amblers Romanen ›Topkapi‹ und ›Schmutzige Geschichte‹) Astor, Mary, eigtl. Lucille Vasconcellos Langhanke (1906–1987; amerikan. Filmschauspielerin) Attlee, Clement Richard Earl (1883–1967; brit. Politiker, Labour Party) Atwell, Mabel Lucie (1879–1964; engl. Schriftstellerin, Illustrato rin und Designerin) Baker Eddy, Mary (1821–1910; Gründerin der Christian Science) Bakst, Léon, eigtl. Lew Samoilowitsch Rosenberg (1866–1924; russ. Maler, Bühnenbildner und Regisseur) Bates, Herbert Ernest (1905–1974; engl. Erzähler) ›Ben Hur‹ Bennett, Arnold (1867–1931; engl. Erzähler und Dramatiker) Bergman, Ingrid (1915–1982; schwed. Schauspielerin) Bevan, Nye, eigtl. Aneurin Bevan (1897–1960; brit. Politiker (La bour Party) und Gewerkschafter) Blaustein, Julian C. (* 1913; amerikan. Filmproduzent) Bogart, Humphrey DeForest (1899–1957; amerikan. Film- und Bühnenschauspieler) Boughton, Rutland (1878–1960; engl. Komponist) Brando, Marlon (* 1924; amerikan. Filmschauspieler)
307
Buchan, John (1875–1940; engl. Schriftsteller) Butler, Gerald Alfred (* 1907; engl. Schriftsteller) Carr, John Dickson (1906–1977; amerikan. Kriminalschriftsteller) Chanel, Coco, eigtl. Gabrielle Chasnel(1883–1971; franz. Mode schöpferin) Chaplin, Charles (1889–1977; engl. Filmkomiker, -autor, regisseur, -produzent) Chesterton, Gilbert Keith (1874–1936; engl. Schriftsteller) Chopin, Frédéric François (1810–1849; poln. Pianist und Kompo nist) Churchill, Sir Winston Leonard Spencer (1874–1965; engl. Politi ker, Premierminister) Cooper, Gary (1901–1961; amerikan. Filmschauspieler) ›The Corn is Green‹ Gotten, Joseph (1905–1994; amerikan. Filmschauspieler) Crombie, Louise (Amblers erste Ehefrau, amerikan. Modezeich nerin und -Journalistin) Cronin, Archibald Joseph (1896–1981; engl. Schriftsteller, Arzt) Degas, Edgar (1834–1917; franz. Maler)
›Die den Tod nicht fürchten‹
Doc Mitchell (Chiropraktiker in den mgm-Studios)
›Doktor Frigo‹
›Dr. Czissar mischt sich ein‹
Dumas, père, Alexandre (1802–1870; franz. Schriftsteller)
Du Maurier, Dame Daphne (1907–1989; engl. Schriftstellerin)
Eliot, Thomas Stearns (1888–1965; engl. Dichterund Kritiker) Érard, Sébastien (1752–1831; franz. Klavierbauer, Gründer der nach ihm benannten Klavier- und Flügelwerkstätten) ›The Eye of Truth‹ Faulkner, William (1897–1962; amerikan. Schriftsteller)
›Der Feuervogel‹
Foot, Michael (*1913; brit. Journalist und Politiker, Labour Party)
308
Ford, John, eigtl. Sean Aloysius O’Fearna (1895–1973; amerikan. Filmregisseur ir. Herkunft) ›Foreign Correspondent‹ (dt. ›Mord‹) Freed, Arthur, eigtl. Arthur Grossman (1894–1973; amerikan. Filmproduzent) Gable, Clark (1901–1960; amerikan. Filmschauspieler) Gabor, Zsa Zsa (* 1917; amerikan. Filmschauspielerin ungar. Herkunft) ›Der gebrochene Pfeil‹ Gilbert, Michael Francis (* 1912; engl. Kriminalschriftsteller, Gründungsmitglied der Crime Writers Association) Grant, Cary, eigtl. Archibald Alexander Leach (1904–1986; ameri kan. Filmschauspieler engl. Herkunft) Gross, John (ehem. Redakteur des ›Times Literary Supplement‹) Hall, Sir Peter Reginald Frederick (* 1930; engl. Theaterregisseur) Hammett, Dashiell (1894–1961; amerikan. Schriftsteller) Hammond Innes, Ralph (* 1913; engl. Schriftsteller) Harrison, Joan (Amblers zweite Ehefrau, Fernsehproduzentin) Hayward, Leland (1902–1971; amerikan. Filmproduzent) ›Here Lies‹ s. ›Ambler by Ambler‹ Hitchcock, Sir Alfred (1899–1980; engl. Filmregisseur) Hitchcock, Alma (Ehefrau Alfred Hitchcocks) Hitchcock, Pat (Hitchcocks Tochter) Hope, Thomas (1769–1831; engl. Architekt, Kunstmäzen und Möbeldesigner) Hopper, Hedda, eigtl. Elda Furry (1885–1966; amerikan. Schau spielerin, später Kolumnistin) Hughes, Howard (1905–1976; amerikan. Filmregisseur und produzent) Huston, John (1906–1987; amerikan. Filmregisseur und Schauspieler) Hutton, Barbara (zweite Ehefrau von Cary Grant, 1942–45 mit ihm verh.)
309
›The Immortal Hour‹ Inge, William Ralph (1860–1954; brit. Theologe, Dekan der St. Paul’s Cathedral, London) Innes, Ralph Hammond s. Hammond Innes, Ralph Johnson, Lyndon Baines (1908–1973; 36. Präsident der USA) ›Junius-Briefe‹ Keel, Anna (* 1940; Schweiz. Malerin) Keel, Daniel (* 1930; Amblers Verleger im deutschsprachigen Raum) King, Martin Luther (1929–1968; Führer der schwarzen Bürger rechtsbewegung in den USA) ›Kiss the Blood Off My Hands‹ Krüger, Paulus, eigtl. Kruger, genannt Ohm Krüger (1825–1904; südafrikan. Politiker) ›Der Kuhhandel‹ Lazar, Irving (Filmproduzent) Lederer, Francis (* 1906; amerikan. Schauspieler tschech. Her kunft) ›Lolita‹ »Lord Peter Wimsey« (Meisterdetektiv in Dorothy Sayers’ Kri minalromanen) Low, Sir David Alexander Cecil (1891–1963; engl. Karikaturist) Macaulay, Dame Emily Rose (1881–1958; engl. Schriftstellerin und Essayistin) McCarthy, Joseph Raymond (1909–1957; amerikan. Politiker, Re publikan. Partei) MacDonald, James Ramsay (1866–1937; engl. Politiker (Labour Party), Premierminister) Maiden, Cecil (engl. Schriftsteller) ›Der Malteser Falke‹ Mannix, Eddie (Irving-Thalbergs ehem. Troubleshooter) Masefield, John (1878–1967; engl. Dichter und Bühnenautor)
310
›Die Maske des Dimitrios‹ Mason, James (1909–1984; engl. Filmschauspieler, Nachbar Amb lers am Genfersee) Massine, Léonide, eigtl. Leonid Fjodorowitsch Mjassin (1896– 1979; russ. Tänzer und Choreograph) Mayer, Louis B., eigtl. Eliezer Mayer(1885–1957; amerikan. Film produzent russ. Herkunft) ›Meuterei auf der Bounty‹ Milne, Alan Alexander (1882–1956; Schott. Schriftsteller) Minnelli, Vincente (1903–1986; amerikan. Regisseur) Molotow, eigtl. Wjatscheslaw Michajlowitsch Skrjabin (1890–1986; Außenminister der UdSSR unter Stalin) Monet, Claude (1840–1926; franz. Maler) Montague, Charles Edward (1867–1928; engl. Schriftsteller) Montgomery, Robert (1904–1981; amerikan. Schauspieler und Regisseur) ›Mord‹
›Mr. Deeds geht in die Stadt‹
Nabokov, Vladimir (1899–1977; amerikan. Schriftsteller russ.
Herkunft) Nellie, s. Williams, Nellie Nixon, Richard Milhous (1913–1994; 37. Präsident der USA) Parsons, Louella, eigtl. Louella Oettinger (1881–1972; amerikan. Schauspielerin, später Kolumnistin) »Pater Brown« (klerikaler Meisterdetektiv in den Erzählungen G. K. Chestertons) Peppard, George (1928–1994; amerikan. Schauspieler) Pettiloup, Madame (Lebensmittelladen-Inhaberin in Clarens am Genfersee) Pollitt, Harry (1890–1960; Generalsekretär und später Vorsitzen der der Kommunistischen Partei Großbritanniens) ›Potterism‹
›Rebecca‹
Reventlow, Lance (Sohn von Barbara-Hutton)
311
Ribbentrop, Joachim von (1893–1946; dt. Reichsaußenminister unter Hitler) Rose (Nellie – Williams Schwester) ›Le Sacre du Printemps‹ Sayers, Dorothy Leigh (1893–1957; engl. Schriftstellerin) Selznick, David Oliver (1902–1965; amerikan. Filmunternehmer) Siegel, Sol C. (1903–1982; amerikan. Filmproduzent) Stewart, James, eigtl. James Maintland (* 1908; amerikan. Film schauspieler) Stone, Lewis (1879–1953; amerikan. Schauspieler) Strachey, Evelyn John (1901–1963; brit. Schriftsteller und Politi ker, Labour Party) Strawinski, Igor Fjodorowitsch (1882–1971; russ. Komponist) Symons, Julian Gustave (* 1912; engl. Schriftsteller und Kritiker) Symons, Kathleen (Julian Symons Ehefrau) Thalberg, Irving (1899–1936; amerikan. Filmproduzent dt. Her kunft) Thieren, Renéuad Yvonne (Nachbarn Amblers in Clarens am Genfersee) Toller, Ernst (1893–1939; dt. Politiker- und Schriftsteller) ›Topkapi‹ ›Der Traum‹ (›Tono Bungay‹) Ustinov, Peter (* 1921; engl. Schauspieler, Schriftsteller und Film regisseur) Valentino, Rudolph, eigtl. Rodolfo Guglielmi di Valentino d’Anton guella (1895–1926; Schauspieler des amerikan. Stummfilms) Venard, Claude (* 1913;franz. Maler) ›Die vier Apokalyptischen Reiter‹ ›Waffenschmuggel‹ Walker, Dudley (Kammerdiener von Barbara-Hutton) Walpole, Sir Hugh Seymour (1884–1941; engl. Schriftsteller, geb. in Neuseeland)
312
Weidenfeld, George (Amblers Verleger in England) Wells, Herbert George (1866–1946; engl. Schriftsteller) ›Wer hat Blagden Cole umgebracht?‹ Whistler, Rex (Illustrator) Wilder, Billy, eigtl. Samuel Wilder (* 1906; amerikan. Filmregis seur, -produzent und Drehbuchautor österr. Herkunft) Williams, Emlyn (1905–1987; walis. Schauspieler, Bühnenschrift steller und Regisseur) Williams, Nellie (Amblers engl. Haushälterin in Kalifornien) ›Die Zehn Gebote‹ ›Zwölf Uhr mittags‹
Nachweis
Die Erzählungen in diesem Band erschienen zuerst: The Army of the Shadows (Die Armee der Schatten) in The Queen’s Book of the Red Cross, Hodder and Stoughton, London 1939; Die unter dem Titel The Intrusions of Mr. Czissar (Dr. Czissar mischt sich ein) versammelten Ge schichten in verschiedenen Nummern von ›The Sketch‹, London 1940; The Blood Bargain (Der Kuhhandel) in Winter’s Crime 2, Macmillan, Ltd. London 1972- In der deutschen Übersetzung von Fritz Güttinger zuerst in: Das Diogenes Lesebuch, herausgegeben von Gerd Hartmans, Diogenes, Zürich 1973; auch in Über Eric Ambler, herausgegeben von Gerd Haff mans unter Mitarbeit von Franz Cavigelli, Dioge nes, Zürich 1979, erweiterte Neuausgabe 1989 (die Erzählung wurde für den vorliegenden Band von Matthias Fienbork neu übersetzt); The One Who Did for Blagden Cole (Wer hat Blagden Cole umgebracht?) in The Man Who, edited by H. R. F. Keating, for the Detection Club, Macmil lan, Ltd. London 1992.
315
Copyright für die Erzählungen © 1939, 1940, 1972, 1992 by Eric Ambler Copyright für die Ein- und Überleitungen sowie für die vorliegende Auswahl von Erzählungen © 1993 by Eric Ambler