Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation starben in den letzten Jahren mehr Menschen von eigener Hand als durch Krieg und Verbrechen. Jamison untersucht das Phänomen Selbstmord in all seinen Aspekten: Sie gibt den Stand der medizinischen, neurologischen, genetischen und psychologischen Forschung wieder, zieht literarische Zeugnisse, Tagebücher und Abschiedsbriefe von Seneca bis Virginia Woolf heran und wertet Biografien und gerichtsmedizinische Akten aus. Sie diskutiert Gründe, Methoden und Schauplätze von Selbstmorden, bezieht ihre eigene manisch-depressive Krankheit mit ein und endet mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für das Leben.
Kay Redfield Jamison ist Professorin für Psychiatrie an der Johns Hopkins University School of Medicine und hat diverse wissenschaftliche Abhandlungen über psychische Krankheiten und suizidales Verhalten verfasst.
Kay Redfield Jamison Wenn es dunkel wird Zum Verständnis des Selbstmordes
Aus dem Amerikanischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber
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Berliner Taschenbuch Verlag
Der Abdruck der Textpassagen von Virginia Woolf auf S. 86 f. und S. 159 erfolgt mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlags, Frankfurt a. M., der Abdruck des Gedichts »Gespräch eines Mannes mit seiner Seele« auf S. 77 f. mit freundlicher Genehmigung des Philipp Reclam jun. Verlags, Ditzingen.
Oktober 2002 BvT Berliner Taschenbuch Verlags GmbH, Berlin, ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel Night Falls Fast: Understanding Suicide bei Alfred A. Knopf, New York. © 1999 by Kay Redfield Jamison Für die deutsche Ausgabe © 2000 Siedler Verlag, Berlin Lektorat: Andrea Böltken Register: Frank Zimmer, Berlin Umschlaggestaltung: Nina Rothfos und Patrick Gabler, Hamburg unter Verwendung eines Details des Gemäldes »Meeresküste bei Mondschein«, um 1810, von Friedrich Schinkel © Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nationalgalerie, Foto: Jörg P. Anders Gesetzt aus der Sabon von Ditta Ahmadi, Berlin Druck und Buchbinder: Elsnerdruck, Berlin Printed in Germany • ISBN 3-442-76088-7
Für meinen Mann Richard Jed Wyatt in Liebe und meinen Bruder Dean T. Jamison, der die Dunkelheit in Schach hielt.
Inhalt
Prolog
9
I
Bei lebendigem Leib begraben Eine Einführung
15
1
In nächster Nähe ist der Tod Geschichte und Überblick
17
2
Wie ist ein Herz in Aufruhr zu messen? Definitionen und Größenordnungen
32
Essay: Dieses Leben, dieser Tod
56
II
Nur die Hoffnung ist dahin Psychologie und Psychopathologie
73
3
Leg ab den Bernstein und lösch die Lampe Zur Psychologie des Selbstmordes
75
4
Die Bürde der Verzweiflung Zur Psychopathologie des Selbstmordes
99
5
Was macht es schon, ob Strick, ob Gürtel Methoden und Schauplätze
128
Essay: Das Löwengehege
150
III
Qualen der Natur, Flecken von Blut Zur Biologie des Selbstmordes
157
6
Ein Sprung in tiefe Wasser Genetische und evolutionäre Aspekte
159
7
Das Blut des Todes Neurobiologie und Neuropathologie
177
Essay: Die Färbung der Ereignisse Zum Tod von Meriwether Lewis
206
IV
Ein Schutzwall gegen den Tod Selbstmordprävention
225
8
Gewisse magische Eigenschaften Behandlung und Prävention
227
9
Wir als Gesellschaft Das Gesundheitswesen
256
10
Die Wunde halb verschlossen Die Hinterbliebenen
282
Epilog Danksagung
301 305
Anhang Anmerkungen Adressen Register
309 311 401 405
Prolog
Meist wurden es lange Abende in den Bistro Gardens von Beverly Hills, und eine sommerliche, wohlig träge Stimmung breitete sich aus. Ich war häufig dort, als ich noch in Los Angeles lebte, zusammen mit meinem Freund Jack Ryan, und ich bestellte jedes Mal DungenessKrabben und einen Scotch auf Eis. Nicht jedes Mal, aber immer wieder nutzte Jack die Gelegenheit und sprach davon, dass wir doch heiraten sollten. Allein der Gedanke jedoch barg so viele mögliche Katastrophen, dass keiner von uns diese Idee wirklich ernsthaft verfolgte. Aber unsere Freundschaft nahmen wir ernst. An jenem besonderen Abend hatte ich meine Krabben bis auf den letzten Rest ausgepult und ausgesogen und bemerkte plötzlich, wie ich die Eiswürfel in meinem Whiskyglas nervös kreisen und klingeln ließ. Unsere Unterhaltung machte mich unruhig, ich fühlte mich alles andere als wohl. Wir sprachen über Selbstmord und kamen dazu, einander einen heiligen Eid zu schwören: Wenn einer von uns je wieder intensiv an Selbstmord denken sollte, wollten wir uns bei Jack in Cape Cod treffen. Derjenige von uns, der gerade keine Selbstmordabsichten hegte, sollte eine Woche Zeit haben, den anderen zu überreden, sich nicht umzubringen, eine Woche, um alle verfügbaren Gründe zu mobilisieren, warum der andere wieder Lithium nehmen sollte. (Damals waren wir der Meinung, dass die Selbstmordgefahr beim Absetzen von Lithium am größten sei. Wir waren beide manisch-depressiv und setzten das Lithium hin und wieder ab, obwohl uns oft und zu Recht geraten wurde, dies nicht zu tun.) Eine Woche Zeit, um den anderen zu überreden, sich in eine Klinik einweisen zu lassen, um dem anderen ins Gewissen zu reden und ihm den Schaden und den Schmerz vor Augen zu führen, die wir unseren Familien mit einem Selbstmord unweigerlich zufügen würden. In dieser Woche wollten wir, einer des anderen Geisel, am Strand spazieren gehen und den anderen daran erinnern, wie oft wir, über
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zeugt, am Ende unserer Hoffnung angelangt zu sein, dann doch irgendwie zurückgefunden hatten. Wer, wenn nicht der, der diesen Punkt einmal erreicht hat, könnte einen anderen besser von diesem Abgrund zurückholen? Wir hatten beide sehr intime Erfahrungen mit dem Selbstmord gemacht, jeder auf seine ganz persönliche Weise. Wir dachten, wir wüssten, wie wir verhindern könnten, dass irgendwann auf unserem Totenschein Selbstmord als Todesursache stünde. Wir glaubten, eine Woche müsste ausreichen, um Argumente für das Leben beizubringen. Sollte uns das nicht gelingen, so hatten wir es immerhin versucht. Und weil wir jahrelange Erfahrungen hatten mit einem Leben, bei dem plötzliche und impulsive Entschlüsse eine große Rolle spielen, und daher wüssten, wie schnell und endgültig ein Selbstmordimpuls sein kann, vereinbarten wir auch, dass wir uns niemals eine Pistole anschaffen würden. Außerdem schworen wir, unter allen Umständen dafür zu sorgen, dass auch kein anderer in dem Haus, in dem wir lebten, eine Waffe besitzen würde. »Cheers«, sagten wir gleichzeitig und ließen Eis und Gläser klingen. Wir besiegelten unseren Ausflug in die Welt der Pläne und rationaler Überlegungen. Doch ich hatte meine Zweifel. Ich hörte uns Einzelheiten besprechen, trug zu einigen Klarstellungen bei, trank meinen Scotch und ließ meinen Blick über die weiß schimmernden Lichter in den Gärten um uns herum schweifen. Über wen machten wir uns lustig? Niemals, bei keinem meiner anhaltenden Anfälle von suizidaler Depression war ich willens oder in der Lage gewesen, zum Telefon zu greifen und einen Freund um Hilfe zu bitten. Nicht ein einziges Mal. Das war völlig ausgeschlossen. Wie also konnte ich mir ernsthaft vorstellen, dass ich Jack anrufen, einen Flug buchen, zum Flughafen fahren, ein Auto mieten und den Weg zu seinem Haus am Kap finden würde ? Nicht weniger absurd erschien es, dass Jack unseren Plan in die Tat umsetzen würde, obwohl er immerhin wohlhabend war und andere die praktischen Dinge erledigen lassen konnte. Je mehr ich über unsere Abmachung nachdachte, desto skeptischer wurde ich. Ich muss es der Suggestionskraft, der zwischen uns schwingenden Energie und Begeisterung, ja der unendlichen Fähigkeit zur Selbsttäuschung, die uns als manischen Temperamenten eigen war, zuschreiben, dass wir, als die Souffles zum Nachtisch aufgetragen wurden, felsenfest davon überzeugt waren, unser Pakt werde hal
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ten. Er würde mich anrufen, ich würde ihn anrufen, wir würden den schwarzen Ritter ausmanövrieren und davonjagen. Wenn der schwarze Ritter allerdings nur einmal eine Chance gehabt hat, dann bleibt er gewöhnlich im Spiel. Und so kam es. Viele Jahre später – Jack war schon lange verheiratet, und ich war nach Washington gezogen – erreichte mich ein Anruf aus Kalifornien: Jack habe sich eine Pistole an die Schläfe gesetzt, so erzählte mir ein Mitglied seiner Familie. Jack hatte sich umgebracht. Keine Woche in Cape Cod, keine Chance, es ihm auszureden. Ein Mann, der erfinderisch genug war, tausend Patente zu erwerben und dies für so grundverschiedene Erfindungen wie die Hawk- und Sparrow-Raketensysteme des US-Verteidigungsministeriums, für Spielsachen, mit denen Millionen von Kindern auf der ganzen Welt spielen, und für Geräte, die in fast jedem amerikanischen Haushalt benutzt werden; ein Mann, der in Yale studiert hatte und der das Leben liebte – dieser bemerkenswerte Mann mit seiner reichen Vorstellungskraft war nicht erfinderisch genug gewesen: Für sich sah er nur eine Lösung und starb einen gewaltsamen Tod durch die eigene Hand. Jacks Selbstmord hat mich sehr erschüttert, aber ich war nicht überrascht. Es wunderte mich auch nicht, dass er nicht angerufen hatte. Seit unserem Pakt in den Bistro Gardens war ich selbst mehrere Male sehr nahe daran gewesen, mir das Leben zu nehmen – und ich hätte ihn bestimmt nicht angerufen, hatte noch nicht einmal daran gedacht, ihn anzurufen. Der Drang zum Selbstmord lässt sich nicht durch die Versprechen, die man sich an einem Sommerabend gibt, bändigen, man kann ihm nicht mit Plänen beikommen, die man in lichten Momenten und in guter Absicht entwirft. Leider weiß ich das. Seit über zwanzig Jahren beschäftige ich mich beruflich mit dem Phänomen des Selbstmordes; persönlich verfolgt mich dieses Problem noch sehr viel länger. Ich habe einen tiefen, durch schreckliche Erfahrungen erworbenen Respekt vor diesem Drang, vor seiner Macht, die eigene Person zu untergraben, zu überwältigen, zu überlisten, zu verheeren und zu zerstören. Patienten, die ich als Ärztin, Wissenschaftlerin und Lehrerin betreut oder beraten habe, haben sich aufgehängt, erschossen oder erstickt, haben sich Treppenhäuser hinunter oder aus dem Fenster oder von Brücken hinabgestürzt; es waren Menschen, die Gift oder Tabletten genommen, sich mit Abgasen umgebracht oder sich
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das Handgelenk aufgeschnitten oder die Kehle durchtrennt haben. Auch enge Freunde, Kommilitonen, Kollegen und Kinder von Kollegen haben dies oder Ähnliches getan. Die meisten dieser Opfer waren jung und litten unter einer schweren psychischen Krankheit. Alle hinterließen sie unvorstellbaren Kummer und unlösbare Schuldgefühle. Wie so viele, die an einer manisch-depressiven Erkrankung leiden, habe ich den Selbstmord auch auf ganz persönliche und furchtbare Weise kennen gelernt, und ich kann den Verlust einer fundamentalen Unschuld bis auf den Tag zurückverfolgen, an dem ich zum ersten Mal im Selbstmord die einzige Möglichkeit gesehen habe, meinen unerträglichen seelischen Schmerzen zu entrinnen. Bis dahin hatte ich mein Leben ganz selbstverständlich als leicht empfunden, und ich hegte die großartigsten Erwartungen an dieses Leben. Der Tod war für mich etwas völlig Abstraktes, nie bin ich auf die Idee gekommen, der Tod könnte etwas sein, das man bewusst herbeiführt oder sucht. Ich war siebzehn, mitten in meiner ersten Depression, als ich mit dem Selbstmord auf eine andere als die für eine Heranwachsende übliche existenzielle Weise bekannt wurde. Während meines letzten High-School-Jahres dachte ich mehrere Monate lang fast täglich darüber nach, ob, wann, wo und wie ich mich umbringen könnte. Ich lernte, den anderen ein Gesicht zu zeigen, das meinen tatsächlichen seelischen Zustand verbarg, ich suchte und fand in zwei nahe gelegenen Hochhäusern ungesicherte Treppenhäuser, ich bekam heraus, wann der morgendliche Verkehr am dichtesten war, und übte, die Pistole meines Vaters zu laden. Mein alltägliches Leben damals – Sport, Schule, Schreiben, Freunde, Pläne fürs College –, alles versank rasch in einer schwarzen Nacht. Alles erschien mir lächerlich, ich spürte nur das Hohle an meiner Existenz und lavierte mich durch, so gut es ging. Doch allmählich, Schicht um Schicht, hob sich die Depression, und als meine Abschlussprüfungen nahten, fühlte ich mich monatelang wohl. Der Drang hatte sich in tiefere Bereiche zurückgezogen, Selbstmord war wieder undenkbar geworden. Weil ich mit meinem bösen Geist in privatester Abgeschlossenheit verkehrte, hatte niemand, der mir nahe stand, eine wirkliche Vorstellung von meiner psychischen Verfassung. Zwischen der inneren Erfahrung und meiner Darstellung nach außen klaffte ein Abgrund, und die Perfektion, mit der es mir gelang, nach außen
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hin einen überzeugenden gefestigten Eindruck zu erwecken, war äußerst erschreckend. Mit den Jahren verschlimmerte sich meine manisch-depressive Krankheit, und die Realität eines frühen Todes durch eigene Hand wurde zur gefährlichen Unterströmung in meinem täglichen Tun und Treiben. Dann nahm ich, als ich achtundzwanzig war und eine verheerende manische Phase durchlitten hatte, auf die ein besonders langer und gewaltsamer depressiver Schub folgte, eine starke Überdosis Lithium. Ich wollte sterben, ohne Wenn und Aber, und ich wäre auch beinahe gestorben. Tod durch Selbstmord war zur Möglichkeit, vielleicht sogar zur Wahrscheinlichkeit in meinem Leben geworden. Unter den gegebenen Umständen – ich arbeitete seit kurzem an einer Fakultät für akademische Psychiatrie – war der Schritt von der persönlichen Erfahrung zur klinischen und wissenschaftlichen Forschung nicht groß. Ich las über meine Krankheit, was mir zur Verfügung stand, las, was ich finden konnte, über die psychologischen und biologischen Determinanten des Selbstmordes. Wie ein Dompteur, der die Intelligenz und die Bewegungen des Tigers studiert, den er zähmen will, wie ein Pilot, der lernt, mit der Dynamik von Wind und Luft umzugehen, so erforschte ich die Krankheit, die mich ergriffen hatte, und ihren möglichen Endpunkt. Ich lernte, so gut und so weit ich konnte, die Stimmungen des Todes kennen.
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I Bei lebendigem Leib begraben Eine Einführung
Umgeben von tausend Gefahren, müde, kraftlos, vor tausend Schrecken zitternd, bin ich (...) in einem Sarg aus Fleisch bei lebendigem Leib begraben. WILLIAM COWPER
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Der englische Dichter William Cowper (1731 bis 1800) hat mehrere Male versucht, sich zu vergiften, zu erstechen oder zu erhängen. Die Zeilen, wie er selbst sagt, »geschrieben während einer Periode des Wahnsinns«, wurden nach einem Selbstmordversuch verfasst.
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Kapitel l
In nächster Nähe ist der Tod Geschichte und Überblick
Ein schmales Messer durchschneidet die Sehnen des Nackens, und ist jenes Mittelglied, welches Kopf und Hals verbindet, durchschnitten worden, dann stürzt die ganze Köpermasse zu Boden. Der belebende Hauch hat seine Stätte nicht in der Tiefe, und es bedarf nicht schlechtweg des Schwertes, um ihn herauszuholen. Man hat nicht nötig, durch eine tiefe Wunde die inneren Organe zu erkunden: in nächster Nähe ist der Tod. (...) Mag nun eine Schlinge den Schlund zuschnüren oder das Wasser den Atem absperren, oder mag einer durch Sturz mit dem Kopf auf harten Boden zerschmettert worden sein, oder mag der Andrang der lodernden Flammen einem den Atemzug abgeschnitten haben, was es auch sei, es folgt ein schleuniges Ende. SENECA1
Niemand weiß, wer der Erste war, der seine Kehle mit einem Stück Feuerstein aufgeschlitzt, der eine Hand voll giftiger Beeren genommen hat oder während des Kampfes den Speer mit Absicht sinken ließ. Ebenso wenig wissen wir, wer zuerst, von den Kräften seines Inneren plötzlich überwältigt oder nach reiflicher Überlegung, von einer Klippe sprang, ohne Nahrung in einen Schneesturm hinauslief oder in See stach, um nicht mehr zurückzukehren. Der Tod war, wie Seneca schreibt, immer in nächster Nähe, aber es bleibt ein Geheimnis, warum der Erste, der Hand an sich legte, diese Tat beging: War es ein plötzlicher Impuls, eine lange Krankheit? Oder hat eine innere Stimme den Tod befohlen? War Scham oder die drohende Gefangennahme durch einen feindlichen Stamm der Grund? Waren es Verzweiflung oder Erschöpfung? Vielleicht auch der Druck, den die anderen, aus Sorge um die gemeinsamen Vorräte an Nahrung und Land, ausübten? Wir wissen es nicht. – 17 –
Wahrscheinlich war Homo sapiens gar nicht der Erste, der an Selbstmord dachte oder im Gedanken daran handelte. Aus Sicht der Evolution wäre diese Annahme auch einigermaßen willkürlich, immerhin waren die Hominiden vor uns bereits hoch entwickelt. Nach allem, was wir wissen, waren schon die Cro-Magnon-Menschen geschickte Jäger, sie konnten Klingen und Speere herstellen, drehten Seile, nutzten das Feuer und erfanden intelligente und bemerkenswerte Kunstwerke und Bestattungsrituale.2 Und vor ihnen lebte der Homo neanderthalensis, und auch in Horden jagende Affen wie zum Beispiel Schimpansen kennen Aggression und soziales Verhalten; auch sie können komplexe Werkzeuge herstellen.3 An welchem Punkt der Entwicklung trat die Selbstwahrnehmung ins Bewusstsein? Seit wann gibt es die überlegte Absicht, sich durch den Tod den Grenzbereichen extremer Rücksichtslosigkeit und ungestümer, das Leben bedrohender Risiken zu entziehen? Gewalt und Rücksichtslosigkeit, der vollkommene Rückzug aus dem sozialen Leben und Selbstverstümmelung sind, wie wir sehen werden, nicht auf unsere Art beschränkt. Möglicherweise aber ist es der Selbstmord. Wir werden nie erfahren, wer der Erste war, der sich umgebracht hat, ob es ein Mann war oder eine Frau, warum und wie er oder sie das getan hat. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass sich die Tat, sobald sie einmal geschehen war und andere davon Kenntnis erhielten, wiederholte – zum einen, weil Gründe und Mittel integrale Bestandteile der psychischen und physischen Umwelt blieben, zum anderen, weil Tiere und Menschen sehr weitgehend durch Nachahmung lernen. Selbstmord ist auf gefährliche Weise ansteckend; als letztes Mittel, um unüberwindlich drängende Probleme zu lösen, hat er für anfällige Naturen einen nicht zu leugnenden Reiz. Die ersten Selbstmorde wird es evolutionsgeschichtlich sehr früh gegeben haben; historische Quellen dazu sind wesentlich jünger. Was man in den verschiedenen Gesellschaften über den Selbstmord dachte, wird aus deren Literatur, aus Gesetzen und religiösen Sanktionen deutlich. Solche Quellen lassen erkennen, wie sich die kollektiven Reaktionen auf das Phänomen des Selbstmordes entwickelt haben, die von Akzeptanz und Wertschätzung bis zu dessen Ausgrenzung als Sünde oder Verbrechen reichen; man hat Selbstmord aber auch als Folge widriger Umstände oder pathologischer Geisteszustände begriffen.
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Bei den einzelnen Kulturen finden sich ganz unterschiedliche Einstellungen zum Selbstmord. Einige – wie die Innuit, die Norweger, die Samoaner oder die Crow-Indianer – haben das »altruistische« Selbstopfer von Alten und Kranken akzeptiert und sogar dazu ermuntert.4 Bei den Yuit-Innuit auf der Insel St. Lawrence waren die Verwandten verpflichtet, dem Selbstmord eines Familienmitgliedes beizuwohnen, sobald er oder sie dies drei Mal verlangt hatte. Die Person, die den Tod durch die eigene Hand suchte, kleidete sich in ein rituelles Gewand und wurde dann auf einem »Zerstörungsplatz«, der eigens zu diesem Zweck an einem abgelegenen Ort eingerichtet war, getötet.5 Einige Gesellschaften stimmten, um die gemeinsamen Vorräte zu schonen oder, wenn sie nomadisch lebten, unbehindert durch Kranke und Alte weiterziehen zu können, dem Selbstmord stillschweigend oder auch ausdrücklich zu. Die Selbstmorde, von denen im Alten Testament berichtet wird, hatten keine kulturellen oder religiösen Sanktionen zur Folge; das Gleiche gilt für den Selbstmord des Judas Ischariot, den einzigen Fall, von dem das Neue Testament erzählt. Die ablehnende Einstellung zum Selbstmord entwickelte sich erst allmählich im Frühchristentum. Meistens wurde der Tod durch eigene Hand, wie bei den von Homer porträtierten alten Griechen, als Ehrensache betrachtet: als Handlung, mit der man der Gefangennahme durch Feinde zuvorkommen, Sühne für eine Missetat leisten oder es vermeiden wollte, ein religiöses oder philosophisches Prinzip zu verletzen.6 Hannibal zum Beispiel nahm lieber Gift, als sich in Gefangenschaft zu begeben und entehren zu lassen, das Gleiche gilt für Demosthenes, Cassius, Brutus, Cato und unzählige andere. Sokrates weigerte sich, seine Lehre und seine Überzeugungen zu widerrufen, und trank den Schierlingsbecher. Die Gladiatoren rammten sich Holzstöcke oder Speere in die Kehle oder zwangen ihren Kopf in die Speichen von fahrenden Wagen, um Zeitpunkt und Art ihres Todes nicht anderen zu überlassen.7 Bei den antiken Griechen finden wir verschiedene Ansichten zum Selbstmord. Für die Stoiker und die Epikureer hatte jedes Individuum das Recht, Mittel und Zeitpunkt des eigenen Todes selbst zu bestimmen. Andere wiederum akzeptierten diese Vorstellung nicht. In Theben und Athen verstieß ein Selbstmord zwar nicht gegen das Gesetz, doch wurde, wer sich selbst umbrachte, nicht nach dem Ritus bestattet, und die Hand, die die Tat beging, wurde abgehackt. Aristoteles sah im Selbstmord einen Akt der
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Feigheit, die sich auch gegen den Staat richte; der gleichen Auffassung war Pythagoras. (Obwohl dieser sich, wie Heraklit berichtet, zu Tode hungerte.) Nach römischem Recht war Selbstmord sanktioniert, und Besitz und Ländereien eines Selbstmörders durften nicht vererbt werden. Die katholische Kirche war von Anfang an gegen den Selbstmord und kodifizierte das Verbot im sechsten und siebenten Jahrhundert bei Strafe der Exkommunikation und der Verweigerung einer kirchlichen Bestattung.8 Selbstmord sei in keinem Fall gerechtfertigt, schrieb Augustinus in einer Lehrschrift für die Kirche, denn er verletze das sechste Gebot: »Du sollst nicht töten.«9 Bei den Juden durften für Selbstmörder die Totengebete nicht gesprochen werden, die Hinterbliebenen sollten keine Trauergewänder tragen, und die Beerdigung durfte in der Regel nur in einem abgeschiedenen Teil des Friedhofs stattfinden, damit nicht »der Übeltäter neben dem Rechtschaffenen« begraben werde.10 Im Semachot, einem rabbinischen Text über Tod und Trauer, heißt es: »Wer sich selbst willentlich zerstört, dem bereiten wir kein Begräbnis. Wir zerreißen nicht unsere Kleider und entblößen nicht die Schultern aus Trauer und sprechen keine Lobpreisungen für ihn.«11 Mit der Zeit begegnete man einem Selbstmord, der in einem Zustand geistiger Verwirrung verübt worden war, verständnisvoller und mit Mitgefühl. »Die allgemeine Regel«, heißt es bei einem jüdischen Gelehrten, »ist die, dass man im Falle eines Todes durch Selbstmord alles zur Ehre der Überlebenden tut, man wird sie besuchen und trösten, aber man tut nichts zu Ehren des Toten, außer dass man ihn beerdigt.«12 Nach islamischem Recht gilt Selbstmord als ein ebenso schweres Verbrechen wie Mord.13 Strenge religiöse und rechtliche Sanktionen gegen den Selbstmord sind kaum verwunderlich; Selbstmord ist eine dramatische, scheinbar unerklärliche, erschreckende, oft gewaltsame und potenziell ansteckende Todesart, und es wäre merkwürdig, wenn eine Gesellschaft darauf nicht reagieren würde. Vor fast siebenhundert Jahren wies Dante in seiner Schilderung des Inferno den Selbstmördern ein besonders grausames Schicksal zu. Sie finden ihre Strafe im siebenten Kreis der Hölle; verdammt zu ewiger Ruhelosigkeit, ist ihr Leiden unendlich: Ohne Erbarmen fressen die Harpyien von ihren in blutende Bäume verwandelten Körpern.
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Wer sich in »wahnhafter Gewalt« selbst umgebracht hat, darf im Unterschied zu den anderen Höllenbewohnern nicht einmal seine frühere menschliche Gestalt bewahren. Im zivilen Leben wurden die Leichname von Selbstmördern entweiht, und man suchte deren schlechten Einfluss auf die Lebenden abzuwehren, indem man den toten Körper wegschaffte und ihn mit seinem möglicherweise gefährlichen Geist einsperrte. In vielen Ländern wurden diese Toten des Nachts unter Weggabelungen vergraben. Man glaubte, der stärkere Verkehr an solchen Kreuzwegen werde »die Leichname unten halten«;14 wegen der sich überschneidenden Straßen sei es außerdem für ihren Geist schwieriger, den Weg nach Hause zurückzufinden. In den Anfangsjahren des Staates Massachusetts kippte man Wagenladungen voller Steine auf die Kreuzungen, unter denen Selbstmörder begraben waren.15 Es war durchaus üblich, dem Selbstmörder einen Holzpfahl durch das Herz zu treiben; eine Praxis, die einen Wissenschaftler an das ganz ähnliche Schicksal eines Mörders aus dem vierzehnten Jahrhundert erinnert hat, dessen Körper vor einigen Jahren in einem schwedischen Torfmoor entdeckt wurde. Die Häscher des Mörders hatten Birkenstöcke durch seinen Rücken, seine Seite und sein Herz getrieben, damit er nicht »wandeln« konnte; dann versenkten sie ihn in der nicht ganz unvernünftigen Annahme, dass er nun nicht mehr entkommen könne, in einem Fenn genau dort, wo vier Kirchspiele aneinander grenzten.16 Die Finnen glaubten, es sei für die Lebenden unmöglich, mit dem Toten Frieden zu schließen. Weil sie im Selbstmord eine ganz plötzliche Handlung sahen, wurde die Seele des Selbstmörders als »besonders ruhelos und spukhaft« betrachtet. Man wollte die Leiche mit besonderer Eile und Vorsicht loswerden:
Der Verstorbene wurde nach seinem Tod so schnell wie möglich gewaschen und in die Totengewänder gekleidet. Männliche Verstorbene wurden von Männern, weibliche von Frauen gewaschen. Epileptiker, Wahnsinnige und Selbstmörder wurden gar nicht gewaschen; vielmehr wurden sie auf dem Bauch liegend und in den Kleidern, die sie im Augenblick ihres Todes trugen, beerdigt. Man hob sie mit Feuerhaken in den Sarg, nicht mit bloßen Händen, denn man fürchtete, dass von dem Toten Krankheiten und Verwünschungen auf die Familie übergehen könnten.
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Bis ins frühe neunzehnte Jahrhundert währte der Brauch, Selbstmörder ohne jede Feierlichkeit zu beerdigen. Die Gräber lagen jenseits der Friedhofsmauern, oft an entlegenen Stellen im Wald. Weit verbreitet war der Glaube, der Leichnam eines Selbstmörders wiege besonders schwer. Unter den einfachen Leuten gingen zahllose Geschichten um, dass nicht einmal ein Pferd den Sarg eines Selbstmörders wegziehen könne.17
In Frankreich wurde der Körper eines Selbstmörders mit dem Kopf nach unten durch die Straßen geschleift und dann an einem Galgen aufgehängt. Ende des siebzehnten Jahrhunderts verlangte das französische Strafrecht, den Leichnam in die Kloake oder auf den städtischen Müllplatz zu werfen.18 Die Kirche nahm keine Beerdigung von Selbstmördern vor, und sie durften auch nicht auf geweihtem Grund begraben werden. In manchen Regionen Deutschlands wurden die Leichname von Selbstmördern in Fässer gesteckt, die man die Flüsse hinuntertreiben ließ, damit sie nicht wieder nach Hause zurückkehren konnten.19 In frühen norwegischen Gesetzen war vorgeschrieben, dass die Körper von Selbstmördern mit denen anderer Verbrecher im Wald zu begraben seien oder »bei Ebbe dort, wo das Meer sich mit dem grünen Torf trifft«.20 Selbstmord wurde schlicht und einfach als »eine irreparable Handlung« betrachtet.21 Mit der Zeit lockerten sich die religiösen und rechtlichen Sanktionen. Zwar vertraten viele Theologen weiterhin die Ansicht, Selbstmord zähle zu den unverzeihlichsten Sünden – für Martin Luther zum Beispiel war der Selbstmord ein Werk des Satans, die Puritaner hielten den Tod durch eigene Hand für abscheulich und verächtlich, für eine »Unterwerfung unter den Satan«.22 John Wesley erklärte, die Körper von Selbstmördern gehörten »an den Pranger und (...) sollen dort verrotten«.23 Wortreich zogen Philosophen wie Locke, Rousseau und später Kierkegaard gegen jede Art gesellschaftlicher oder religiöser Akzeptanz des Suizids zu Felde. Die Rechtssysteme und die Öffentlichkeit jedoch betrachteten den Selbstmord zunehmend eher als Handlung eines aus dem Gleichgewicht geratenen Geistes denn als eine Folge von Schwäche oder als Sünde. So wurden die Leichname nicht mehr, zur Isolation verdammt, auf Kreuzungen begraben, sondern an der Nordseite des Friedhofs, in räumlicher Nähe von Nichtchristen und anderen nicht anerkannten Mitgliedern der Gesellschaft: bei den Exkommunizierten, den ungetauften
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Kindern und hingerichteten Schwerverbrechern.24 Im Jahr 1621 erschien Robert Burtons viel gelesene und einflussreiche Schrift The Anatomy of Melancholy, in der die engen Verbindungen zwischen Wahnsinn, Melancholie und Selbstmord voller Mitgefühl beschrieben werden. Burton warb um Nachsicht für diejenigen, die so verzweifelt und erregt sind, dass sie sich selbst umbringen. Fünfundzwanzig Jahre später erschien Biathanatos, eine weitere Epoche machende Abhandlung über den Selbstmord, geschrieben von John Donne, dem Dichter und weithin bekannten Dekan der Londoner St. Paul's Cathedral. Der Selbstmord sei, so Donne, zumindest gelegentlich gerechtfertigt, er verlange menschliches Verständnis. Zugleich sei er eine rein persönliche Angelegenheit: »Wann immer ein Kummer mich überfällt«, so bekannte er im Vorwort, »deucht mich, ich trüge die Schlüssel zu meinem Gefängnis in meiner eigenen Hand, und kein Heilmittel bietet sich meinem Herzen so bald dar wie mein Schwert.«25 Zwei hervorragende Darstellungen aus jüngster Zeit26 arbeiten die ähnlichen Muster heraus, die sich in den Einstellungen und Gesetzen zum Selbstmord in England und den Vereinigten Staaten entwickelt haben. In Cry of Pain berichtet Mark Williams, dass man in England Mitte des siebzehnten Jahrhunderts weniger als zehn Prozent der Selbstmorde als non compos mentis beurteilte, als Taten, die im Zustand des Wahnsinns geschehen waren. Um 1690 bereits war dieser Anteil auf 30 Prozent gestiegen und um 1710 lag er bei 40 Prozent. Um 1800 schließlich wurden alle Selbstmorde als Taten aus geistiger Verwirrung betrachtet.27 Die Puritaner in Massachusetts und andere frühe Siedler in Nordamerika behandelten Selbstmörder im Allgemeinen nicht nur als Sünder, sondern auch als Verbrecher; mit der Zeit jedoch änderten sich sowohl die öffentliche Einstellung als auch die Gesetze. Wie Howard Kushner in American Suicide gezeigt hat, entschieden in den sieben Jahrzehnten von 1730 bis 1800 die Bostoner Leichenbeschauer in einem von zwei bis drei als Schwerverbrechen betrachteten Selbstmordfällen auf non compos mentis. Zwischen 1801 und 1828 schnellte die Rate hoch: Nun wurde in zwei von drei Selbstmordfällen geistige Verwirrung als Ursache angeführt und nur in einem auf Schwerverbrechen plädiert; gegen Ende des Jahrhunderts dann wurde in der Regel auf non compos mentis entschieden.28 (Eine historisch interessante Einzelheit: Den wahrscheinlich ersten Selbstmord
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Selbstmord unter den englischen Siedlern in Massachusetts hat Dorothy Bradford begangen, die mit der Mayflower nach Amerika kam und mit William Bradford, dem späteren Gouverneur von Plymouth Colony, verheiratet war. Dorothy Bradford ging angeblich »zufällig über Bord« und ertrank in Cape Cod Harbor;29 nach Ansicht des Historikers Samuel Eliot Morison und anderer jedoch war dieser Tod eine überlegte Handlung und kein Unglück. Bradford selbst erwähnte den Tod seiner Frau in seinem Bericht über die Anfänge der Kolonie nicht.30) Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert wurde der Selbstmord in den meisten Ländern formell entkriminalisiert;31 in England und Wales allerdings blieb er bis 1961, in Irland bis 1993 ein Verbrechen. Zwar ist das öffentliche Verständnis für den Selbstmord in den letzten Jahren gewachsen, doch geht man dabei lange nicht so weit, wie die Erkenntnisse medizinischer und psychologischer Forschung reichen. Noch heute hört man die harschen, jahrhundertealten Anschauungen über den Selbstmord, im öffentlichen Sozialwesen ebenso wie im privaten Bereich. In meiner Ausgabe des Book of Common Prayer zum Beispiel wird man vor dem Abschnitt mit Gebeten, die am Grab zu sprechen sind – eingeleitet mit den tröstlichen und zugleich altehrwürdigen Worten: »Ich bin die Auferstehung und das Leben. (...) O Tod, wo ist dein Stachel?«32 –, an die archaischen Tabus und Ausschlusspraktiken erinnert: Die Gottesdienstordnung für die Totenbestattung, so heißt es unmissverständlich, »gilt nicht für diejenigen, die ungetauft oder als Exkommunizierte sterben oder gewaltsam Hand an sich gelegt haben«.33 Die Geschichte der Gesetze, Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber Selbstmördern lässt zumindest die Komplexität des Phänomens ermessen. Der Suizid ist nicht nur eine Handlung gegen sich selbst, sondern auch ein gewaltsamer Eingriff in das Leben anderer. Es ist unbegreiflich, wenn sich junge Menschen töten; es ist furchtbar, wenn sich alte Menschen umbringen; es ist unerklärlich, wenn körperlich gesunde oder erfolgreiche Menschen Hand an sich legen; und zu schnell und glatt sind die Erklärungen, wenn kranke oder erfolglose Menschen sich das Leben genommen haben. Es gibt über den Selbstmord weder einfache Theorien, noch gibt es unveränderliche Gesetzmäßigkeiten, mit denen er sich voraussagen ließe; kein Weg wurde bisher gefunden, um Herz und
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Gemüt derjenigen zu heilen und zu beruhigen, die auf so furchtbare Weise zurückgelassen werden. Was wir nicht wissen, tötet. Gleichwohl wissen wir eine ganze Menge über den Selbstmord. So kennen wir zum Beispiel viele der Faktoren, die einen Menschen zum Selbstmord prädisponieren – Erbanlagen, schwere psychische Erkrankungen, ein impulsives oder gewalttätiges Temperament –, und wir wissen auch, dass es bestimmte Ereignisse oder Umstände in einem Leben gibt, die auf besonders fatale Weise mit diesen Dispositionen in Wechselwirkung treten: Misserfolge oder Unglück in der Liebe, wirtschaftliche und berufliche Schwierigkeiten, Konflikte mit dem Gesetz, Krankheiten, die zu Tod oder Behinderung führen, unerträglich schamvolle Situationen, der übermäßige Konsum von Alkohol, Drogen und Medikamenten. Auch wissen wir viel darüber, wer Selbstmord begeht, kennen die anfälligsten Altersgruppen, die sozialen Hintergründe und das Geschlecht der am meisten Gefährdeten; und wir wissen Bescheid über das Wie, das Wo und das Wann des Selbstmordes: über die Methoden, die benutzt, und über die Orte, Zeiten und Jahreszeiten, die dafür ausgesucht werden. Sehr wenig jedoch wissen wir darüber, warum sich Menschen das Leben nehmen. Psychische Zustände, komplexe Motive und feine biologische Unterschiede sind schon bei lebenden Personen schwer genug zu erfassen; sie bei denen nachzuweisen, die Selbstmord begangen haben, und die Rolle darzustellen, die sie für diesen Entschluss spielen, ist bei weitem schwieriger. Die Forschungsliteratur über den Selbstmord zeigt denn auch, wie komplex und zugleich inkonsistent und fehlerhaft unser Verständnis ist, obwohl man seit Jahrhunderten versucht, diese unbegreifliche Tat zu erklären. Wer mit dieser Literatur vertraut ist – mit rund fünfzehntausend wissenschaftlichen und klinischen Aufsätzen und Artikeln allein aus den letzten dreißig Jahren und Hunderten von Büchern und Monografien –, wird von der Tiefe und Breite des vorhandenen Wissens nicht unbeeindruckt bleiben. Weder eines noch fünf Bücher reichen aus, um das Beste aus der historischen Literatur oder aus den anregendsten neuen naturwissenschaftlichen und psychologischen Studien zu erfassen. Als ich Wenn es dunkel wird schrieb, war ich mir dessen bewusst, und ich habe großen Respekt vor der Arbeit früherer Autoren und Forscher. Ich suchte nach einem Weg, bei dem ich eine individuelle Perspektive beibehalten konnte: Ich wollte auf die
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Psychologie des Selbstmordes Gewicht legen und die Erklärungen und Erfahrungen derjenigen extensiv nutzen, die ernsthaft versucht haben, sich umzubringen, oder es tatsächlich getan haben; zugleich wollte ich diese individuelle Perspektive jedoch fest in den Wissenschaften Psychopathologie, Genetik, Psychopharmakologie und Neurobiologie verankern. Man kann sich so schnell auf das individuelle Leben und den individuellen Tod fixieren, dass man die außerordentlichen Fortschritte, die Naturwissenschaften und Medizin in den letzten Jahren gemacht haben, aus den Augen verliert – Fortschritte, die schweres Leiden lindern und Leben retten können. Ebenso leicht kann man sich in so aufregende Zusammenhänge wie die Jagd nach Genen, die visualisierenden Methoden der Hirnforschung oder die Stoffwechselwege des Serotonins stürzen, bis man schließlich vergisst, was der englische Dichter und Kritiker A. Alvarez festhielt: Selbstmord ist nicht nur ein »überaus empfindliches und vertracktes Thema«, sondern auch ein Problem, »dem man mit Nerven und Sinnen nachspüren muss«.34 Am Ende eines Jahrhunderts, das so reich an Literatur, an medizinischer, psychologischer und naturwissenschaftlicher Forschung ist, sollte es nicht notwendig sein, willkürliche Grenzlinien zwischen einer humanistischen Betrachtungsweise der individuellen komplexen Situationen einerseits und den klinischen und wissenschaftlichen Untersuchungen und Erklärungen andererseits zu ziehen. Dass beides zusammengehört, ist offensichtlich. Gleichwohl lässt sich nicht von der Hand weisen, dass es eine solche Maginotlinie gibt. Vielen wird der eher sinnliche Reiz der Komplexität –der Reiz des Einzigartigen, den psychologische Fallgeschichten haben, besonders wenn sie mit soziologischen und kulturtheoretischen Erklärungen verbunden sind – viel interessanter erscheinen als statistische Befunde aus Berichten von Untersuchungsrichtern oder DNS-Modelle. Doch ist der Ansatz, sich auf das komplexe psychische Geschehen zu konzentrieren, wenn dafür psychopathologische, genetische oder andere biologische Faktoren vernachlässigt werden, ebenso zum Scheitern verurteilt wie ein Rückgriff auf biologische Ursachen und Vorgehensweisen, bei dem die ganze Breite von individuell unterschiedlichen Erfahrungen, Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Temperamenten außer Betracht bleibt. Wer hauptsächlich an Kulturund Geisteswissenschaften interessiert ist, wird es spannender finden, etwas über psychische Konflikte und soziale Ursachen
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des Selbstmordes zu lesen – Dinge, die natürlich ganz wesentlich sind, wenn man verstehen will, was Selbstmord ist. Doch sind diese Faktoren allein nicht übermäßig hilfreich, wenn es darum geht, den unnötig frühen Tod eines Menschen vorauszusagen oder zu verhindern. Als existenzielles Problem ist der Selbstmord ein ganz wesentliches Thema für Philosophen, Schriftsteller und Theologen; er ist ein bedeutsames Problem für die meisten von uns, was immer wir glauben oder nicht glauben. Albert Camus, um nur einen zu nennen, war der Überzeugung: »Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie.«35 Auch wenn sich dieses Buch im Wesentlichen mit der Psychologie des Selbstmordes beschäftigt, behandelt es außerdem medizinische und gesellschaftliche Probleme. Vor allem geht es der Frage nach, warum sich jemand das Leben nimmt, warum der Selbstmord zu den wichtigsten Problemen des Gesundheitswesens gehört und wie er verhindert werden kann. Im Zentrum dieses Buches steht der Selbstmord von Menschen, die jünger sind als vierzig Jahre, womit jedoch das furchtbare Problem des Selbstmordes älterer Menschen keineswegs verharmlost werden soll. Zahlreiche Studien36 haben gezeigt, dass Depressionen – die Hauptursache für Selbstmord in allen Altersgruppen – bei älteren Menschen nicht angemessen behandelt werden und dass die Selbstmordraten bei älteren Menschen alarmierend hoch sind.37 Aber der Selbstmord in den älteren Altersgruppen ist ein Thema für ein eigenes Buch, und viele Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem geriatrischen Selbstmord stellen – der »rationale« und vom Arzt unterstützte Selbstmord38 vor allem bei Krankheiten, die zu Behinderungen führen oder lebensbedrohlich sind –, sind für junge Leute viel weniger relevant. Der Selbstmord junger Menschen, dessen Rate sich in den letzten 45 Jahren mindestens verdreifacht hat, ist unbestreitbar eines der ernstesten Probleme des Gesundheitswesens.39 Selbstmord ist in den Vereinigten Staaten die dritthäufigste Todesursache bei jungen Leuten und die zweithäufigste bei Collegestudenten. Im National College Health Risk Behavior Survey, 1995 verfasst von den Centers for Disease Control and Prevention, wurde festgestellt, dass einer von zehn Collegestudenten im Jahr vor der Befragung in Erwägung gezogen hatte, sich das Leben zu nehmen; die meisten hatten sogar konkrete Pläne gemacht.40
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Die Zahlen für die High Schools, erhoben 1997, sind noch Besorgnis erregender.41 Zwanzig Prozent der Schüler gaben an, im vorangegangenen Jahr ernsthaft erwogen zu haben, sich umzubringen, und die meisten hatten sich bereits genauer überlegt, wie sie vorgehen wollten. Fast zehn Prozent hatten im genannten Zeitraum tatsächlich einen Selbstmordversuch unternommen. In einem Drittel dieser Fälle wurde medizinische Versorgung erforderlich. Diese Zahlen haben sich gegenüber Erhebungen aus den Jahren 1995 und 1993 nur unwesentlich geändert.42 Natürlich besteht ein Unterschied zwischen Berichten über Selbstmordgedanken oder -pläne und tatsächlichen Selbstmordversuchen. Und wieder etwas anderes ist es, ob jemand einen Selbstmordversuch unternimmt oder ob er oder sie tatsächlich stirbt. Trotzdem ist der Versuch, sich zu töten, der beste Prädiktor für einen Selbstmord, darum geben diese Zahlen Grund zur Besorgnis. Schließlich ist Selbstmord eine der Haupt-Todesursachen bei jungen Menschen. Vielleicht lässt sich das Ausmaß dieser Gefährdung junger Menschen am besten verdeutlichen, wenn man die Selbstmordrate in dieser Altersgruppe in den Vereinigten Staaten während der letzten vierzig Jahre mit zwei anderen, in der Öffentlichkeit stark beachteten Todesursachen von jungen Männern im gleichen Zeitraum vergleicht: dem Vietnamkrieg und der AIDS-Epidemie. In der folgenden Grafik43 habe ich für jede dieser drei Ursachen die Zahl der Todesfälle von Männern unter 35 Jahren eingetragen. Durch alle drei – Selbstmord, Krieg, AIDS – sind unverhältnismäßig viele junge Männer umgekommen. Ob Krieg, Krankheit oder Selbstmord: Jeder Tod eines jungen Mannes dieser Altersgruppe ist furchtbar. Der Vietnamkrieg forderte einen erschreckend hohen Blutzoll, aber er war nach zwölf Jahren zu Ende. Vergleicht man die Zahl der amerikanischen Kriegsopfer im Alter unter fünfunddreißig Jahren zwischen 1961 und 1973, der offiziellen Dauer des Vietnamkriegs, mit Todesfällen durch Selbstmord in der gleichen Altersgruppe und im gleichen Zeitraum, dann zeigt sich, dass die Anzahl der Selbstmorde (101732) fast doppelt so hoch war wie die der Kriegstoten (54708). Die meisten durch den Vietnamkrieg verursachten Todesfälle ereigneten sich allerdings nur in einem Teil dieses Zeitraums (1966-1970). Ein Vergleich zwischen den Selbstmordopfern und AIDS-Toten für den Zeitraum von 1987 bis 1996 zeigt, dass durch Selbstmord
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fast fünfzehntausend junge Männer mehr umkamen als durch AIDS. (Die Zahl der HlV-Infizierten, die sich in diesem Zeitraum das Leben nahmen, ist nicht sehr hoch.) Die AIDS-Epidemie forderte in den letzten Jahren in Amerika glücklicherweise weniger Todesopfer, was auf das Zusammenwirken von Therapien und öffentlichen Aufklärungskampagnen zurückzuführen ist. (Im bereits zitierten National College Health Risk Behavior Survey von 1995 wurde bezeichnenderweise festgestellt, dass nahezu die Hälfte der Collegestudenten Aufklärung über das HIV-Ansteckungsrisiko und über Mittel, es zu senken, erhalten hatte, weniger als zwanzig Prozent dagegen entsprechende Informationen über die Verringerung der Selbstmordgefahr.) Die Selbstmordrate jedoch ist unvermindert hoch, und es gibt wenig Anhaltspunkte dafür, dass sie abnimmt. Die Grafik zeigt, wie stark die Zahl der Selbstmordopfer unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen seit Mitte der fünfziger Jahre gestiegen ist.
Männliche Tote (35 Jahre alt oder jünger)
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Mögliche Gründe dafür – genauere Untersuchungen durch Richter und Gerichtsmediziner; ein leichterer Zugang zu besonders tödlichen Mitteln wie Schusswaffen; lebensgeschichtlich früherer Gebrauch von Alkohol und Drogen; ein, bezogen auf das Alter, früheres Ausbrechen von schweren psychischen Erkrankungen; die steigende Rate von Depressionserkrankungen – werden später ausführlicher diskutiert. Jedes Jahr bringen sich dreißigtausend Amerikaner um,44 und fast eine halbe Million Menschen unternimmt einen ernsthaften Selbstmordversuch, der medizinische Rettungsmaßnahmen erforderlich macht. Kriege kommen und gehen; Epidemien kommen und gehen; aber der Selbstmord ist, bis jetzt jedenfalls, geblieben. Aus welchem Grund? Was kann man dagegen unternehmen? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt dieses Buches: zu verstehen, warum sich Menschen umbringen, und herauszufinden, was Ärzte, Psychologen, Schulen und Universitäten, Eltern und die Gesellschaft tun können, um diesem Elend ein Ende zu setzen. Der öffentliche Aufruhr über die Kriegsopfer und die AIDS-Toten war viel sichtbarer und wirkungsvoller als die Stimmen, die versuchen, sich im Namen der Selbstmordopfer Gehör zu verschaffen. Doch der Schrecken und die Verzweiflung, die ein Selbstmord auslöst, sind nicht weniger real. Selbstmord ist eine besonders furchtbare Todesart: Das seelische Leiden, das zu ihm führt, ist in der Regel lang anhaltend, intensiv und ohne Linderung. Es gibt, um den akuten Schmerz zu beheben, kein Morphinäquivalent, und der Tod ist meistens gewaltsam und grässlich. Das Leiden der Selbstmordgefährdeten spielt sich in strikter Privatheit ab und kann sich nicht äußern: Die hilflosen Familienmitglieder, Freunde und Kollegen müssen mit einer fast unergründlichen Art des Verlustes und mit Schuld fertig werden. Ein Selbstmord hat Verwirrung und Verwüstung zur Folge – in einem Maß, das jeder Beschreibung spottet. Das anglikanische Gebetbuch, das die Selbstmörder von der feierlichen Beerdigung ausschließt, spricht an anderer Stelle von dem »Frieden, den die Welt nicht geben kann«. Dieser Friede ist es, der jenseits der suizidalen Geistesverfassung liegt. In The Anatomy of Melancholy schrieb Robert Burton:
In der Melancholie ist »der Keim des Feuers. (...) Tagsüber ängstigen sie sich ständig vor irgendetwas Entsetzlichem, und wie
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auseinandergetriebene Pferde einen an sie gefesselten Menschen, so reißen Argwohn, Angst, Kummer, Sorge, Mißmut und Schande den Melancholiker in Stücke. (...) Sie haben keine Stunde, keine Minute Ruhe, sondern sitzen auch gegen ihren Willen ständig bei ihren Problemen, die ihnen nicht aus dem Kopf wollen. Dieses Grübeln zermalmt ihre Seele, sie leiden ohne Unterlaß. (...) Und inmitten dieser verdrießlichen Lebensumstände, gegen die sich kein Heilmittel und kein Trost finden läßt, suchen sie schließlich Erlösung durch den Tod. (...) (Es) bleibt diesen Menschen nichts anderes übrig, als zu ihren eigenen Schlächtern zu werden und sich selbst hinzurichten.45
Mit unserem heutigen Wissen ist es möglich, Trost zu spenden und Abhilfe zu schaffen, um dieser Schlächterei wenigstens teilweise ein Ende zu setzen. Die meisten Selbstmorde, wenn auch keineswegs alle, können verhütet werden. Die Kluft zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir tun, ist tödlich.
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Kapitel 2
Wie ist ein Herz in Aufruhr zu messen? Definitionen und Größenordnungen
Was für eine Aufgabe ist das, einen Blitz mit einem Zollstock zu messen und den Aufruhr des Herzens mit einem Zirkel. NORMAN MACCAIG
Niemand wird es einfach finden, den Selbstmord zu definieren oder zu klassifizieren, und es ist wirklich nicht leicht. Der Tod durch eigene Hand resultiert letztlich aus einem Bündel unbekannter Motive, komplexer psychologischer Gegebenheiten und Ungewisser Umstände; er greift zugleich so nachdrücklich in die Rechte, die Ängste und die Verzweiflung der Lebenden ein, dass er durch wissenschaftlich scharf definierte Kategorien kaum begrifflich zu fassen und auch mit den gewiss oft tiefgründigen, aber auch umständlichen Ausführungen von Linguisten und Philosophen nicht angemessen zu beschreiben ist. Trotzdem ist es, wie Henry Romilly Fedden 1938 bemerkt hat, wichtig, »die schwer bestimmbaren Grenzen des Selbstmordes zu entdecken«. Die indische Witwe, die ihrem verstorbenen Mann auf den Scheiterhaufen folge, sei nicht »mit dem einsamen Menschen zu vergleichen, der sich in seiner Dachstube aufhängt«.1 Die alten Griechen benutzten betont aktive und entschiedene Wendungen, um den Akt der Selbsttötung zu beschreiben: Selbstmörder, so heißt es in altgriechischen Texten, »brechen das Leben ab«, »reißen den Tod an sich«, »tun sich Gewalt an«, »verlassen das Licht« oder »schlachten sich ab«.2 Doch hat man die Tat mit solchen und ähnlichen Worten nicht wirklich definiert, sondern nur beschrieben. Über Jahrhunderte hinweg, in unzähligen Büchern und wissenschaftlichen Abhandlungen, haben wir unterschiedliche und kontroverse Definitionen und Klassifikationssysteme hervorgebracht, die immer wieder verändert und umgestellt wurden.3 Arbeitet man sich durch diese schier unendliche Liste von medizinischen, – 32 –
philosophischen und soziologischen Versuchen zur Klassifizierung des Selbstmordes hindurch, macht sich eine Art intellektueller Lähmung bemerkbar. Alle Klassifikationssysteme und Nomenklaturen verfehlen ihren Gegenstand mehr oder weniger, und in allen oder fast allen finden sich brauchbare und oft einzigartige Einsichten.4 Um etwas Klarheit und Systematik in die Sache zu bringen, habe ich mich der Kriterien bedient, die von den Centers for Disease Control and Prevention (eine Behörde des United States Public Health Service in Atlanta) für die amtliche Feststellung eines Todes durch Selbstmord aufgestellt wurden; Kriterien, die Wissenschaftlern und Beamten des staatlichen Gesundheitswesens, aber auch Untersuchungsrichtern und Medizinern als Leitfaden dienen. Selbstmord wird da kurz und bündig definiert als »Tod durch Verletzung, Einnahme von Gift oder Ersticken, wobei (explizit oder implizit) erwiesen ist, dass die Verletzung selbst verursacht wurde und dass der oder die Verstorbene die Absicht hatte, sich durch eigene Hand das Leben zu nehmen«.5 Noch lapidarer definiert die Weltgesundheitsorganisation Selbstmord als »suizidalen Akt mit tödlichem Ausgang«, wobei dieser Akt verstanden wird als eine »selbst verursachte Verletzung, die mit der Absicht verbunden ist, sich das Leben zu nehmen«; diese Definition liegt vielen internationalen Studien über den Selbstmord zu Grunde.6 Gesellschaft, Medizin und Familienangehörige wollen genau wissen, ob ein unnatürlicher Tod auf einen Unfall, auf Mord oder auf Selbstmord zurückzuführen ist. Die Familien müssen soweit wie möglich die Wahrheit wissen, wenn sie mit diesem Ereignis zurechtkommen wollen; sie brauchen medizinische und genetische Informationen, wenn es um die Entscheidung geht, ob sich andere Familienangehörige einer Behandlung unterziehen sollten. Auch rechtliche und finanzielle Fragen können von Bedeutung sein, so etwa Eigentumsrechte, Bestimmung der Zurechnungsfähigkeit bei Vermögensstreitigkeiten, Lebensversicherungen, Pensionen, Abfindungen für Arbeitnehmer, Prozesse wegen ärztlicher Kunstfehler und Produktqualitätsklagen.7 Genaue Selbstmordstatistiken sind darüber hinaus wichtig für die Forschung im öffentlichen Gesundheitswesen, das im Sinne der Vorsorge Trends und Korrelationen zwischen Todesfällen und Krankheiten herausfinden muss. (Frühere Schätzungen gingen davon aus, dass die Selbstmordraten, die auf Daten von Untersuchungsrichtern und Medizinern basierten,
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um 25 bis 50 Prozent zu niedrig angesetzt waren;8 jüngeren Studien zufolge ist diese Quote auf unter zehn Prozent zurückgegangen.9) Ob ein Selbstmord geschehen ist, ist nicht in jedem Fall schwer zu erkennen. Viele Anzeichen sind unmissverständlich: Eine Waffe liegt in der Nähe, typische Schmauchspuren werden gefunden, ein Brief wurde hinterlassen, und es gibt Unterlagen über psychiatrische Behandlungen oder frühere Selbstmordversuche. Aber es kommt auch häufig vor, dass die Beweise aus Autopsiebefunden, toxikologischen Untersuchungen, psychologischen Nachforschungen und Aussagen der Angehörigen oder Zeugen, die dabei waren, als der Tod eintrat, zusammengetragen werden müssen, um den Nachweis zu erbringen, dass der Tod tatsächlich von eigener Hand herbeigeführt wurde und in der Absicht des Verstorbenen lag. Die meisten Mediziner und Untersuchungsrichter, die derartige Untersuchungen vornehmen, benutzen die wissenschaftlichen und vom Gesundheitsministerium veröffentlichten Leitlinien, in denen die Beweise dafür, dass der oder die Verstorbene sich töten wollte oder zu sterben wünschte, im Einzelnen erläutert werden. Der Beweis muss entweder ausdrücklich sein, es muss also eine verbale oder nonverbale Absichtserklärung vorhanden sein, dass der oder die Betreffende sich umbringen wollte. Oder es muss einen impliziten oder indirekten Beweis geben: so etwa »Vorbereitungen zum Tod, die im Kontext des Lebens, das der Verstorbene geführt hat, unangemessen oder unerwartet sind; Äußerungen des Abschiednehmens oder des Wunsches zu sterben oder über den bevorstehenden Tod; Äußerungen der Hoffnungslosigkeit; Äußerungen im Zusammenhang mit starken seelischen oder körperlichen Schmerzen oder Qualen; Handlungen, um sich Informationen über Mittel zu beschaffen oder um Verhaltensweisen einzuüben, die den Tod herbeiführen können; Vorkehrungen, um Rettungsmaßnahmen zu vermeiden; Hinweise, dass der Verstorbene die Wirkung von Mitteln, die zum Tod führen können, kannte; frühere Selbstmordversuche; stark belastende Ereignisse oder bedeutende Verluste (aktuelle oder drohende); ernste Depressionen oder Geistesgestörtheit«.10 Medizinische und psychologische Kriterien können nur einen begrenzten Bereich erfassen; für die Zuverlässigkeit von Selbstmordstatistiken spielen indes noch viele andere Faktoren eine Rolle. Die Beamten, die die Berichte schreiben, sind entweder Mediziner,
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die nicht nur praktische Ärzte sind, sondern auch eine gründliche Ausbildung in forensischer Medizin haben, oder sie sind Untersuchungsrichter oder gewählte Beamte; besonders Letztere lassen sich möglicherweise durch die religiösen Belange einer Familie, ihre mögliche Stigmatisierung durch die Gemeinde oder Nachbarschaft – die den Angehörigen die Schuld geben – und von möglichen finanziellen Rückwirkungen auf die Hinterbliebenen beeindrucken. Auch der eigene religiöse Hintergrund kann die Entscheidungen von Untersuchungsrichtern oder Medizinern beeinflussen. (Aus kanadischen Studien geht hervor, dass katholische Mediziner, die mit den einschlägigen Untersuchungen betraut sind, in ihrem Bericht seltener auf Selbstmord plädieren als nicht-katholische. Religiöse Auffassungen und Sanktionen sind offenbar nach wie vor von Bedeutung, wenn zu entscheiden ist, ob ein unnatürlicher Tod als Selbstmord oder als Unfall zu betrachten ist.11) Auch kulturelle Einstellungen und Praktiken wirken sich aus. Ein Forschungsprojekt hat gezeigt, dass dänische Untersuchungsrichter, denen dasselbe Fallmaterial vorlag wie ihren englischen Kollegen, bei zweifelhaften Todesfällen sehr viel häufiger als jene auf Selbstmord erkannten.12 Dieser Unterschied, so die Autoren der Studie, sei zumindest teilweise darauf zurückzuführen, dass die Feststellung der Todesursache in Dänemark in einem medizinischen und nicht in einem rechtlichen Kontext erfolgt und dass der Selbstmord in England bis 1961 als Verbrechen galt, in Dänemark dagegen nur bis 1866. Außerdem glauben die Dänen, dass die psychischen Krankheiten, die dem Selbstmord zu Grunde liegen – Depression, manisch-depressive Erkrankung und Schizophrenie –, und infolgedessen auch der Selbstmord in Dänemark weniger stigmatisierende Bedeutung haben als in England. Auch die Tötungsart beeinflusst das Urteil. Untersuchungsrichter und Mediziner, die mit der Autopsie betraut sind, betrachten zum Beispiel einen Tod durch Erhängen im Allgemeinen als ein ziemlich sicheres Zeichen für Selbstmord.13 Das gilt ebenso für Todesfälle durch Vergiftung mit Kohlenmonoxid aus dem Autoauspuff, durch Ersticken mit Hilfe von Plastiktüten, durch das Aufschneiden der Pulsadern oder das Aufschlitzen der Kehle. Todesfälle durch Ertrinken sind dagegen viel schwieriger einzustufen, denn sie können auf Unfall, Mord oder Selbstmord zurückzuführen sein. Tatsächlich gehen die meisten Todesfälle durch Ertrinken auf einen Unfall zurück,14 die Untersuchung aber kann problematisch sein,
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wie der Soziologe Maxwell Atkinson in der folgenden Geschichte zeigt, einer Polizeiversion von Hearts, in der die Leiche wie die PikKönigin von einem Untersuchungsbezirk zum anderen weitergereicht wird:
Denn es ist schwer, sich vorzustellen, wie jemand hängen kann, wenn er sich nicht selbst in diese Lage gebracht hat, aber ebenso leicht ist es, sich auszumalen, wie Leute in ein Gewässer rutschen, hineinfallen oder gestoßen werden, aus dem sie dann als Leichen wieder herausgefischt werden. Die Schwierigkeiten, die sich daraus für die Untersuchung und die Feststellung eines definitiven Urteils ergeben, sind wahrscheinlich einer der Gründe für eine Vorgehensweise, von der mir einmal ein Polizist erzählt hat. Dieser Mann hat am Ufer eines Flusses mit starker Strömung Dienst getan, der die Grenze zwischen zwei Polizeirevieren bildete. Es sei, so erklärte er mir, des öfteren vorgekommen, dass die Polizei eine Leiche fand, die auf ihrer Flussseite angespült worden war, und sie ins Wasser zurückstieß, so dass die Strömung sie auf der anderen Seite anschwemmte und daraufhin »die vom anderen Revier zusehen mussten, was sie mit ihr anfangen sollten«. Die aber dachten vermutlich ähnlich und machten dasselbe, so dass eine Leiche mehrmals hin- und zurücktrieb, bis sie schließlich herausgeholt und untersucht wurde.15
Auch wenn Autos außer Kontrolle geraten, in denen nur eine Person sitzt,16 oder wenn unterschiedlich große und schwere Fahrzeuge zusammenstoßen, lassen die Todesfälle verschiedene Deutungen offen, dasselbe gilt für bestimmte Todesarten von Fußgängern oder von Menschen, die von hoch gelegenen Punkten herunterstürzen. Am unsichersten ist die Feststellung der Todesursache, wenn Gift oder Tabletten in Überdosen genommen wurden, denn in diesem Bereich gibt es sehr viele unterschiedliche Fallgeschichten, und die Umstände sind meistens äußerst undurchsichtig.17 Anders als bei Todesfällen durch Erhängen, Ertrinken, Schussverletzungen oder Stürzen aus großer Höhe muss ein Tod durch Vergiften noch nicht einmal unnatürlich erscheinen, so dass der Untersuchungsrichter oder das medizinische Untersuchungspersonal gar nicht erst aufmerksam werden.18 Gilt ein Tod nicht als unerwartet (was auf junge Leute zum Beispiel zutrifft), kann eine Überdosis durchaus ein Unfall sein
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Bei vielen Todesfällen durch Tabletten ist es schwer, eine Selbstmordabsicht zu unterstellen. Durch psychische Krankheiten, vor allem depressiver Art, kann der Geist umnebelt sein, so dass vielleicht aus Versehen zu viele Tabletten eingenommen werden. Oder die Betreffenden haben keine eindeutige Absicht zu sterben, unterschätzen aber die mögliche letale Wirkung eines Medikaments oder seine Wirkung im Zusammenhang mit Alkohol oder anderen Arzneimitteln. In solchen Fällen kann, wie auch bei anderen zweifelhaften Todesfällen und ihren Umständen, eine Untersuchung des Lebens und des Todes des Verstorbenen, eine so genannte psychologische Autopsie, die entscheidenden Informationen über dessen Absicht und geistige Verfassung erbringen. Eine psychologische Autopsie wird von einer Einzelperson oder einem »Selbstmordteam« vorgenommen. Ausführliche Befragungen von Familienangehörigen, Freunden, Ärzten und Kollegen des Verstorbenen sollen klären, ob eine Absicht zu sterben vorlag beziehungsweise in welchem Umfang der Tod selbst verschuldet war. Als Erster hat Gregory Zilboorg diese Technik angewandt, damals in einer offenen, wenig systematisierten Form für eine psychoanalytische Studie über New Yorker Polizeibeamte, die Selbstmord begangen hatten.19 Das Verfahren wurde in den USA entwickelt und vor allem dort benutzt, aber auch Forscher in Europa, Südamerika, Australien und Asien machen davon Gebrauch. In den fünfziger Jahren erarbeitete Eli Robins, Psychiater an der Washington University School of Medicine, ein standardisiertes Befragungsraster und benutzte es für eine Untersuchung von 134 aufeinander folgenden Selbstmordfällen in St. Louis. Von der Stadtverwaltung in Auftrag gegeben, gilt diese Untersuchung inzwischen als Klassiker der Psychiatrie und ist noch immer ein klarer Beweis dafür, dass bei Selbstmördern fast durchweg eine psychische Krankheit im Spiel ist.20 Norman Farberow, Robert Litman und Edwin Shneidman vom Los Angeles Suicide Prevention Center bauten dann in Zusammenarbeit mit Theodore Curphey, dem damaligen leitenden medizinischen Untersuchungsbeauftragten von Los Angeles County, die psychologische Autopsie Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre am entschiedensten zur klinischen und wissenschaftlichen Forschungsmethode aus.21 Mit der »Todesforschung« oder psychologischen Autopsie verfolgten sie das Ziel, die mentale Verfassung des Opfers vor seinem Tod zu rekonstruieren. Die Mitglieder
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des Selbstmordteams interviewen Freunde, Familienangehörige und Ärzte des Opfers und sprechen dabei eine ganze Reihe von Themen an: die Ursache des Todes beziehungsweise die Methode, mit der er herbeigeführt wurde; die medizinische und psychiatrische Geschichte des Opfers; den familiären Hintergrund; Persönlichkeit und Lebensstil des Opfers und seine typischen Reaktionsmuster im Hinblick auf Stress, emotionale Umbrüche und »Ungleichgewichtsperioden«, auf Streitigkeiten, Drucksituationen, Spannungen oder Schwierigkeiten in den Tagen, Wochen oder Monaten vor dem Tod; die Art der persönlichen Beziehungen, die das Opfer hatte; Tod oder Selbstmord betreffende Fantasien, Träume, Gedanken oder Vorahnungen, die das Opfer zum Ausdruck gebracht hat; Veränderungen in persönlichen oder beruflichen Gewohnheiten und im Ernährungs- und Sexualverhalten; Informationen über Aufschwünge, Erfolge oder Pläne; Fragen, die eine Absicht zu Tage fördern oder aber klären können, wie schwer wiegend suizidale Gedanken und Verhaltensweisen einzustufen sind; schließlich die Reaktionen der Befragten auf den Tod des Opfers.22 Aus diesen Informationen und einer detaillierten Untersuchung des Todes selbst rekonstruiert das Selbstmordteam die letzten Tage des Opfers und übergibt diesen Bericht samt Befunden dem Untersuchungsrichter oder dem Gerichtsmediziner. In offenkundig zweifelhaften Fällen lautet die Empfehlung oft auf Selbstmord; in anderen Fällen führt die Beweislage zu der Entscheidung, dass es sich um einen Unfall gehandelt haben muss. Der folgende Fall, der anschaulich zeigt, welche Fragen gestellt werden und wie die Untersuchung vor sich geht, stammt aus den Akten des Los Angeles Suicide Prevention Center. Zunächst hielt das Selbstmordteam diesen Todesfall für einen Selbstmord; nach der psychologischen Autopsie jedoch empfahl es eine Entscheidung auf Unfall:
In praktisch jedem Amtssitz eines Untersuchungsrichters wird ein Tod durch russisches Roulette automatisch als Selbstmord betrachtet. Es gibt jetzt juristische Präzedenzfälle für solche amtlichen Bescheinigungen. Weil sich das Selbstmordteam mit dieser Todesart besonders beschäftigt hatte, übergab ihm der zuständige Untersuchungsrichter einen entsprechenden Fall zur Untersuchung – mit einem höchst erstaunlichen Ergebnis, wie sich zeigen sollte. Durch die Interviews kam heraus, dass das Opfer, ein
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28-jähriger Mann und Armeeveteran, eine Sammlung von Revolvern besaß, die er in einem einwandfreien und einsatzbereiten Zustand hielt. Sein bester Freund gab an, eine Lieblingsbeschäftigung des Opfers auf Partys sei es gewesen, russisches Roulette zu spielen (nach den üblichen Regeln, nämlich mit einer geladenen Kammer in der Trommel); dies habe der Freund in den vergangenen Jahren buchstäblich Dutzende von Malen getan. Daraufhin fragte das Selbstmordteam nach der psychischen Verfassung des Mannes: War er psychotisch oder wollte er sich umbringen? Eine Antwort ergab sich aus den Interviews mit der Witwe: Das Opfer hatte ihr gesagt, es könne sich nicht verletzen, denn es schaue sich die Waffe stets genau an, um sicherzugehen, dass sich die Kugel nicht in einer tödlichen Position befinde, wenn es schieße. Sei die Kugel eine Nute links von der Kimme gewesen, habe er die Trommel nochmals rotieren lassen. Es gab also keine Selbstmordgedanken, kein Anzeichen für eine Depression, eine Psychose oder einen krankhaften Gedankengang. Was war geschehen? Das Selbstmordteam wusste, dass der Tod in einer anderen Wohnung eingetreten war. Auf Befragen stellte sich heraus, dass er sich mit einem Revolver erschossen hatte, der dem Gastgeber des Abends gehörte. Besondere Bedeutung hatte anscheinend der Umstand, dass seine Sammlung ausschließlich aus Revolvern von Smith and Wesson bestand, während die Waffe, mit der er sich getötet hatte, ein Colt war. Diese beiden Waffenarten funktionieren unterschiedlich, das heißt, die Trommel einer Smith and Wesson dreht sich im Uhrzeigersinn. Man nahm nun an, dass das Opfer, das die Lage der Kugel untersuchte und feststellte, dass sie sich eine Kammer rechts von der Kimme befand, glaubte, ein Todesschuss sei nicht möglich, während es in Wirklichkeit, als es den Hahn zog, die Kugel in die tödliche Position brachte und sofort tot war. Da keine Anzeichen für suizidale Affekte oder Neigungen zu Selbstmordfantasien festzustellen waren und es die Informationen über die beiden verschiedenen Revolvertypen gab, empfahl das Selbstmordteam, diesen Todesfall als Unfall zu betrachten. Ein Mitglied des Teams nannte ihn einen Fall von sowjetischem Roulette, das heißt russisches Roulette, bei dem betrogen wird.23
Die psychologische Autopsie wird sowohl von Untersuchungsrichtern als auch von medizinischen Untersuchungsbeauftragten
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in vielfach modifizierten und unterschiedlich standardisierten Formen häufig zur Aufklärung von Selbstmorden eingesetzt.24 Besonders hilfreich ist das Verfahren, wenn man feststellen will, wie viel Psychopathologie und Selbstmord miteinander zu tun haben.25 Selbstmord markiert den Schlusspunkt eines Kontinuums von suizidalen Gedanken und Verhaltensweisen. Dieses Kontinuum reicht von riskantem Verhalten über Selbstmordgedanken in verschiedenen Ausprägungen und Intensitäten bis zu Selbstmordversuchen und der Tat selbst. Selbstmordversuche sind nicht nur Handlungen, die von einem mehr oder minder klaren Todeswunsch bestimmt sind, sondern auch solche, bei denen diese Absicht fehlt (Handlungen etwa, die den Anschein erwecken, als wolle jemand sich umbringen, um damit andere Zwecke zu erreichen). Riskantes Verhalten ist in diesem Zusammenhang von einiger Bedeutung, doch lässt sich die Absicht dahinter fast immer nur spekulativ erfassen. Die Gefahr kann unmittelbar sein wie beim Fallschirmspringen oder fern liegen wie beim Rauchen oder rücksichtslosem Autofahren. Zu diesen indirekten oder »subintentionalen« Todesfällen – von Shneidman definiert als Tode, »bei deren Herbeiführung der Verstorbene eine verdeckte, partielle, latente, unbewusste Rolle gespielt hat«26 – rechnen Kliniker oder Forscher je nach Auffassung alle möglichen Verhaltensweisen: vom chronischen Alkoholkonsum oder Drogenmissbrauch27 über riskante Sportarten bis zu ungeschütztem Sex mit Partnern, bei denen ein hohes HIV-Risiko besteht, vom Umgang mit Giftschlangen bis zur Erregung von Menschen, von denen man weiß, dass sie zu Wutanfällen neigen und leicht gewalttätig werden (so genannter Opfermord). Auch Selbstmordvorstellungen und -gedanken sind begrifflich schwer einzugrenzen und zu fassen, treten jedoch in Untersuchungen und quantitativen Verfahren eher zu Tage. Auf Selbstmordgedanken trifft man in jeder Altersgruppe, die untersucht worden ist, aber wie viele Menschen Selbstmordgedanken zugeben, ist abhängig von den Fragen, die gestellt werden. Vor allem der zeitliche Rahmen beeinflusst die Ergebnisse: In einigen Studien werden entsprechende Fragen nur im Hinblick auf die letzte Woche gestellt, andere fragen, ob Selbstmordgedanken im vergangenen Jahr aufgetreten sind, wieder andere wollen wissen, ob der oder die Befragte überhaupt
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jemals an Selbstmord gedacht hat. Die Interviewer fragen auch nach der Häufigkeit von Selbstmordgedanken – treten sie selten, gelegentlich, häufig, täglich, mehrmals täglich auf – und nach der Intensität dieser Gedanken. Vor 25 Jahren haben der Psychiater Gene Paykel und seine Kollegen im Rahmen einer Gemeindestudie über suizidales Denken und Verhalten über 7000 Menschen in New Haven, Connecticut, befragt.28 Durch diese Studie wurden höchst private Gedanken öffentlich bekannt. Über zehn Prozent der Befragten gaben an, sie hätten irgendwann einmal in ihrem Leben das Gefühl gehabt, dass »das Leben nicht lebenswert« sei; eine ähnlich große Anzahl äußerte sich dahingehend, dass sie hin und wieder »wünschten, sie wären tot«. Fünf Prozent hatten daran gedacht, sich das Leben zu nehmen, die meisten davon ernsthaft. Jeder Hundertste hatte schon einmal einen Selbstmordversuch unternommen. Vor etwa zwanzig Jahren begann das National Institute of Mental Health mit der umfangreichsten Untersuchung über Art und Ausmaß psychischer Störungen in der amerikanischen Bevölkerung, die jemals vorgenommen wurde.29 Mehr als 20000 Menschen aus fünf Einzugsgebieten – Baltimore (Maryland), Piedmont County (North Carolina), Los Angeles (Kalifornien), New Haven (Connecticut) und St. Louis (Missouri) – wurden ausführlich interviewt. Die vier Fragen zum Selbstmord ähnelten denen von Paykel und seinen Kollegen, waren allerdings insofern spezifischer, als die Selbstmordgedanken für eine Spanne von zwei Wochen virulent gewesen sein sollten. Von den 18 500 Personen, die die Fragen nach suizidalen Gedanken beantworteten, gaben elf Prozent an, sie hätten sich irgendwann einmal im Leben so schlecht gefühlt, dass sie daran gedacht hätten, sich umzubringen; drei Prozent hatten einen oder mehrere Selbstmordversuche unternommen.30 Wie diese beiden Untersuchungen haben auch andere Gemeindestudien erbracht, dass zwischen fünf und fünfzehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung schon ein- oder mehrmals daran gedacht hatten, ihrem Leben ein Ende zu setzen.31 Von Collegestudenten, die auf gleiche oder ähnliche Art befragt wurden, sind ebenso hohe oder höhere Raten bekannt. In der umfassendsten Studie über Universitäts- und Collegestudenten, dem National College Health Risk Behavior Survey von 1995 (der schon erwähnten Untersuchung der Centers for Disease Control and Prevention), wurden 4600 Collegestudenten aus den ganzen
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Vereinigten Staaten befragt. Zehn Prozent von ihnen gaben an, sie hätten im Jahr vor der Untersuchung ernsthaft daran gedacht, sich das Leben zu nehmen, sieben Prozent hatten entsprechende Pläne gemacht.32 Auch andere Untersuchungen aus den Vereinigten Staaten, aus Europa und Afrika zeigen, dass zwischen 20 und 65 Prozent aller Collegestudenten schwach ausgeprägte bis ernsthafte Selbstmordvorstellungen hegen.33 Ebenso beunruhigend hoch sind entsprechende Zahlen, die unter High-School-Schülern erhoben wurden.34 Der im letzten Kapitel zitierte Youth Risk Behavior Survey von 1997 erfasste über 16000 Schüler der neunten bis zwölften Klasse (Fünfzehn- bis Achtzehnjährige) aus den ganzen USA. Immerhin 20 Prozent – jeder fünfte – gaben an, sie hätten im letzten Jahr einen Selbstmordversuch »ernsthaft erwogen«; 16 Prozent hatten sich einen Plan zurechtgelegt. Dabei war der Anteil der Mädchen, die einen Selbstmordversuch in Betracht gezogen oder geplant hatten, höher als der der Jungen, das Gleiche galt für hispanische Schüler im Verhältnis zu weißen oder afroamerikanischen. Zwei weitere Studien über Schüler amerikanischer High-Schools bestätigen, dass Selbstmordfantasien in dieser Gruppe alles andere als marginal sind: Über 50 Prozent der New Yorker Schüler gaben an, daran gedacht zu haben, »sich das Leben zu nehmen«,35 und 20 Prozent der Schüler aus Oregon schilderten, wie sie über einen längeren Zeitraum in mal mehr, mal weniger ernsthafter Weise an Selbstmord gedacht hätten.36 Studien aus Europa und anderen Teilen von Nordamerika kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Fünf Prozent der französischen Jungen im Alter von fünfzehn bis achtzehn Jahren und zehn Prozent der gleichaltrigen Mädchen gaben an, sie hätten im vergangenen Jahr »ziemlich oft oder sehr oft« an Selbstmord gedacht.37 In Kanada hatten sich zehn Prozent der Oberschüler in der Woche, die der Befragung vorausging, wenigstens ein Mal Gedanken über Selbstmord gemacht.38 Eine andere kanadische Studie über eine etwas jüngere Altersgruppe (Zwölf- bis Sechzehnjährige) ergab, dass Selbstmordgedanken bei Mädchen im Alter von vierzehn bis sechzehn Jahren doppelt so häufig auftraten wie zu der Zeit, als sie zwölf oder dreizehn waren (die Rate stieg von 7,5 auf 14,5 Prozent). Bei den Jungen war das Gegenteil der Fall; in den entsprechenden Altersgruppen fiel die Rate von 6,7 auf 3,3 Prozent.39 Aus diesen Unterschieden zwischen den Geschlechtern wird ersichtlich, dass Depressionen
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bei Mädchen und Frauen häufiger auftreten, worüber noch ausführlich zu reden sein wird. Diese Statistiken sind beunruhigend, zumal ein großer Unterschied besteht zwischen dem, was die Kinder erzählen, und dem, was die Eltern bemerken.40 In einer Untersuchung über suizidales Verhalten bei Mädchen gaben fünfzehn Prozent der Kinder an, sie hätten an Selbstmord gedacht oder sich suizidal verhalten. Aber nur wenige Eltern wussten etwas davon. Auch die Eltern von Jungen wissen häufig nicht Bescheid über das, was in ihren Söhnen vorgeht. Im Allgemeinen unterschätzen Eltern das Ausmaß von depressiven Stimmungen bei ihren heranwachsenden Kindern.41 Es ist natürlich verständlich, dass Eltern nicht glauben wollen, ihren Kindern könne es so schlecht gehen, dass sie sich wünschen, tot zu sein, und doch ist dies bei vielen Kindern der Fall. Cynthia Pfeffer, Kinderpsychiaterin an der Cornell University, hat festgestellt, dass über zehn Prozent eines Samples von »normalen« Schulkindern, das heißt von Kindern, die nie psychiatrisch auffällige Symptome gezeigt hatten oder psychisch krank gewesen waren, von suizidalen Impulsen berichteten. Ein Kind aus ihrer Studie, ein zehnjähriges Mädchen, beschrieb ihre Gedanken und Qualen genau: »Ich denke oft daran, mich umzubringen. Das begann, als ich fast von einem Auto überfahren worden wäre. Nun möchte ich mir das Leben nehmen. Ich denke daran, mich mit einem Messer zu erstechen. Wenn meine Mutter mich anschreit, dann denke ich, dass sie mich nicht liebt. Ich mache mir große Sorgen um meine Familie. Mama ist immer depressiv, und manchmal sagt sie, sie wird bald sterben. Mein Bruder wird oft sehr böse, ohne dass er einen Grund hat. Er hat letztes Jahr versucht, sich umzubringen, und musste ins Krankenhaus. Mama war auch schon einmal im Krankenhaus. Ich mache mir große Sorgen wegen meiner Familie. Ich mache mir Sorgen, dass sich keiner um mich kümmert, wenn ihnen etwas passiert. Das macht mich sehr traurig.« Ein anderes Kind, ein zehnjähriger Junge, schilderte seine Gedanken ebenfalls sehr genau und anschaulich: »Ich möchte mich verletzen, wenn ich wütend werde und mich ärgere. Ich schlage meinen Kopf oder mit den Fäusten gegen die Wand. Ich wünschte, ich wäre tot. Ich denke oft darüber nach, wie ich mich umbringen soll. Vielleicht fahre ich nach Frankreich, um mich guillotinieren zu lassen. Das würde schnell gehen und täte nicht weh. Sich zu erschießen oder zu erstechen ist zu qualvoll. Ein Mal tauchte ich meinen Kopf
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in einen Wasserabfluss, da bekam ich Angst. Meine Großmutter fand mich. Ich sagte ihr, ich hätte mein Gesicht gewaschen. Mama war schockiert, als sie das hörte. Sie fing an zu weinen. Sie macht sich viele Sorgen und sieht immer traurig aus.«42 In den meisten Fällen führen Selbstmordfantasien, auch wenn sie oft schrecklich sind und Anlass zur Sorge geben, weder zu einem Selbstmordversuch noch tatsächlich zum Selbstmord; aber manchmal passiert es eben doch. Die Grenze zwischen suizidalen Gedanken und entsprechenden Handlungen ist nicht so eindeutig, wie es scheinen mag. Ein möglicherweise tödlicher Impuls kann unterbrochen werden, bevor die Handlung ausgeführt wird, oder es kommt ein Versuch zu Stande, der nicht besonders ernst gemeint und gefährlich ist, weil das Opfer erwartet, entdeckt zu werden und mit dem Leben davonzukommen. Oft wollen diese Menschen beides, leben und sterben. Die selbstmörderische Handlung ist von Ambivalenz geprägt. Einige wollen verschwinden, aber nur für eine Weile. Manchmal werden auch Selbstmorddrohungen oder -versuche dazu benutzt, jemandem eine Kränkung oder Zurückweisung »heimzuzahlen« oder um die Änderung einer Entscheidung oder eines Verhaltens zu erzwingen. Oft werden Selbstmordversuche abgestritten oder heruntergespielt, wenn die Krise und der Schmerz vorüber sind. Der Schriftsteller Evelyn Waugh zum Beispiel musste, als er Anfang zwanzig war, zwei große berufliche Rückschläge hinnehmen. Es handelte sich um äußerst kritische Besprechungen seiner Arbeit, die er nicht verkraften zu können glaubte. Todunglücklich entschloss er sich, Schluss zu machen. Als er Jahre später von seinem Selbstmordversuch erzählte, fragte er sich, wie viel von dem, was er getan hatte, »wirklich« war und wie viel nur »Theater«:
Eines Nachts (...) ging ich hinunter zum Strand, mein ganzes Denken drehte sich um den Tod. Ich zog mich aus und schwamm hinaus. Hatte ich wirklich die Absicht, mich zu ertränken? Ich hatte das im Sinn und hinterließ bei meinen Kleidern einen Zettel mit dem Zitat von Euripides, in dem es um das Meer geht, das alles Ungemach der Menschen wegwäscht. Ich hatte mir die Mühe gemacht, in meiner Schulausgabe nachzuschlagen, die Akzente und alles. (...) Heute kann ich nicht sagen, wie viel echte
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Verzweiflung und wirkliches Wollen bei diesem Ausflug dabei waren und wie viel Theater. Es war eine wundervolle Nacht, der Mond sah aus, als hätte er einen Buckel. Ich schwamm langsam hinaus, aber lange bevor ich den Punkt ohne Wiederkehr erreicht hatte, schreckte den Kerl aus Shropshire ein Schmerz an der Schulter auf. Ich war mit einer Qualle zusammengestoßen. Noch ein paar Züge und ein zweiter, noch schmerzhafterer Stich. Die ruhige See war voll von diesen Kreaturen. Ein Omen? Ein Zeichen, das mich wieder zur Vernunft bringen sollte (...)? Ich kehrte um und schwamm auf der Spur des Mondes zurück zum Strand. (...) Es war mir ernst mit meinem Vorhaben gewesen, daher hatte ich kein Handtuch mitgebracht. Mit einiger Mühe zog ich mich an, dann zerriss ich den großspurigen Wisch mit dem klassischen Spruch in kleine Fetzen und warf sie ins Meer, das, um seines Reinigungsamtes zu walten, mit einem stärkeren Wellengang auf die raue Küste zurollte, als Euripides ihn wohl jemals erlebt hat. Dann kletterte ich den steilen Hügel hinauf, hinter dem all die Jahre lagen, die noch kommen sollten.43
Nicht nur Waugh hatte seine Schwierigkeiten mit Absicht und Handlung. Es gibt tatsächlich keine genaue Definition eines so genannten Selbstmordversuchs,44 genauso wenig wie allgemein anerkannte Kriterien zur Bestimmung oder Klassifizierung verschiedener Abstufungen der medizinischen Gefährlichkeit eines Selbstmordversuchs. Kliniker und Forscher, die die Ernsthaftigkeit eines Entschlusses zum Selbstmord feststellen wollen oder den Auftrag haben, die medizinischen Komplikationen, die sich aus einer suizidalen Handlung ergeben, in ihrem Umfang zu bestimmen, müssen viele Faktoren berücksichtigen. Aaron T. Beck und seine Kollegen von der University of Pennsylvania haben eine Skala für Patienten entwickelt, die einen Selbstmordversuch unternommen und überlebt haben.45 Die klinischen Beobachtungen und die Fragen, die gestellt werden – ob die Handlung an einem abgeschiedenen Ort stattgefunden hat, wie genau zuvor geplant wurde, welche Gründe es für den Versuch gab –, vermitteln einen Eindruck davon, was Kliniker und Wissenschaftler interessiert, wenn sie sich mit dem Problem der Selbstmordabsicht und -planung befassen.
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Skalierung der Selbstmordabsicht (für Patienten, die einen Versuch unternommen haben)
I. Objektive Umstände des Selbstmordversuchs 1.
Isolierung 0. In Anwesenheit anderer Personen 1. In der Nähe beziehungsweise in Sicht- oder Hörweite von anderen Personen 2. Nicht in der Nähe beziehungsweise in Sicht- oder Hörweite von anderen Personen
2.
Bestimmung des Zeitpunkts 0. Eine Intervention ist wahrscheinlich 1. Eine Intervention ist nicht wahrscheinlich 2. Eine Intervention ist sehr unwahrscheinlich
3.
Vorkehrungen gegen eine Entdeckung/Intervention 0. Keine Vorkehrungen 1. Passive Vorkehrungen (zum Beispiel zu vermeiden, dass man in Kontakt mit anderen Personen kommt, aber nichts zu unternehmen, um eine Intervention zu verhindern; sich allein in einem Raum aufzuhalten, ohne die Tür abzuschließen) 2. Aktive Vorkehrungen (abgeschlossene Tür)
4.
Maßnahmen, um während des Selbstmordversuchs oder danach Hilfe zu erhalten 0. Mitteilung an eine mögliche Hilfsperson 1. Kontakt zu einer möglichen Hilfsperson, aber keine besondere Mitteilung 2. Kein Kontakt oder keine Mitteilung
5.
Vorbereitungen für den Todesfall (zum Beispiel Testament, Schenkungen, Versicherungen) 0. Keine 1. Daran gedacht oder einiges unternommen 2. Definitive Pläne gemacht oder alles Nötige unternommen
6.
Aktive Vorbereitungen des Versuchs 0. Keine 1. Minimale bis mäßige 2. Ausgedehnte – 46 –
7.
Abschiedsbrief 0. Keiner 1. Brief geschrieben, aber vernichtet; Brief in Erwägung gezogen 2. Brief vorhanden
8.
Mitteilung der Absicht vor dem Versuch 0. Keine 1. Unklare Mitteilung 2. Eindeutige Mitteilung
9.
Zweck des Versuchs 0. Wunsch, etwas durchzusetzen, Aufmerksamkeit zu erregen, sich zu rächen 1. Verbindungen aus »0« und »2« 2. Wunsch zu verschwinden, ein Ende zu machen, Probleme zu lösen
II. Selbstauskunft
10. Erwartungen in Bezug auf einen möglichen tödlichen Ausgang 0. Tödlicher Ausgang unwahrscheinlich 1. Tödlicher Ausgang möglich, aber nicht wahrscheinlich 2. Tödlicher Ausgang wahrscheinlich oder sicher 11. Vorstellungen über die Tödlichkeit der Methode 0. Weniger gefährlich als gedacht 1. Unsicher, ob Methode zum Tod führt 2. Mindestens so tödlich wie gedacht 12. Ernsthaftigkeit des Versuchs 0. ein ernsthafter Versuch, aus dem Leben zu scheiden 1. Unsicher über die Ernsthaftigkeit 2. Ernsthafter Versuch, sich das Leben zu nehmen 13. Einstellung zum Überleben/Sterben 0. Wollte nicht sterben 1. Verbindungen aus »0« und »2« 2. Wollte sterben 14. Vorstellungen über medizinische Rettungsmöglichkeiten 0. Tod unwahrscheinlich, wenn ärztliche Hilfe einträfe 1. Unsicher, ob Tod durch ärztliche Hilfe vermeidbar 2. Tod sicher, auch bei ärztlicher Hilfe – 47 –
15. Intensität der vorausgegangenen Überlegungen 0. Keine; impulsiv 1. Selbstmord bis drei Stunden vorher überlegt 2. Länger als drei Stunden vorher überlegt III. Andere Aspekte (in der Auswertung nicht berücksichtigt) 16. Reaktionen auf den Versuch 0. Versuch bereut; Gefühl, eine Dummheit gemacht zu haben; Gefühl der Scham (Zutreffendes ankreuzen) 1. Akzeptiert den Versuch und sein Scheitern 2. Bedauert das Scheitern des Versuchs 17. Vorstellungen zum Tod 0. Leben nach dem Tod, Wiedersehen von Verstorbenen 1. Endloser Schlaf, Dunkelheit, Ende aller Dinge 2. Keine Vorstellungen oder Gedanken über den Tod 18. Anzahl früherer Versuche 0. Keiner 1. Einer oder zwei 2. Drei oder mehr 19. Verhältnis zwischen Alkoholkonsum und Versuch 0. Etwas Alkohol vorher, aber nicht im Hinblick auf den Versuch, nicht ausreichend für Einschränkung von Urteilsfähigkeit und Realitätskontrolle 1. Alkoholkonsum ausreichend für Einschränkung von Urteilsfähigkeit, Realitätskontrolle und Verantwortlichkeit 2. Gezielter Alkoholkonsum, um Durchführung des Versuchs zu erleichtern 20. Verhältnis zwischen Medikamenten und Versuch (Narkotika, Halluzinogene et cetera, wenn Medikamenteneinnahme nicht die Selbstmordmethode war) 0. Leichte Medikamenteneinnahme vorher, aber nicht bezogen auf Selbstmordversuch, nicht ausreichend für Einschränkung von Urteilsfähigkeit und Realitätskontrolle 1. Medikamenteneinnahme ausreichend für Einschränkung von Urteilsfähigkeit, Realitätskontrolle und Verantwortlichkeit
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2.
Gezielte Medikamenteneinnahme, um Durchführung des Versuchs zu erleichtern
Bemerkung: Antworten, die eine starke Selbstmordabsicht anzeigen, sind fett gedruckt. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Aaron T. Beck, M. D., University Professor of Psychiatry, University of Pennsylvania.
Zusätzlich zu solchen Fragebögen, die die Intensität des Todeswunsches erfassen sollen, gibt es eine Reihe von klinischen und forschungspraktischen Messverfahren zur genaueren Bestimmung der medizinischen Bedeutung eines Selbstmordversuchs.46 Schusswaffen und Erhängen sind mit großer Wahrscheinlichkeit tödlich, und es ist schwer, etwas dagegen zu unternehmen, während die Einnahme von Gift zum Beispiel nicht so leicht tödliche Folgen hat und besser zu behandeln ist. (Ob eine bestimmte Methode tödliche Folgen hat, hängt auch von der Qualität der ärztlichen Hilfe ab. In entwickelten Ländern, wo es in der Regel Notfallärzte gibt, ist ein Tod durch Vergiften weniger wahrscheinlich als in den ärmeren Regionen der Welt, wo tödliche Pestizide für die Landwirtschaft überall zu haben sind, die medizinische Versorgung jedoch schlecht ist.) Der durch einen Selbstmordversuch entstandene gesundheitliche Schaden lässt sich unter anderem durch den Bewusstseinszustand, das Ausmaß bleibender Verletzungen, die durch den Versuch verursacht wurden, und den Umfang und die Art der erforderlichen ärztlichen Maßnahmen messen (zum Beispiel ambulante oder stationäre Versorgung oder Intensivstation). Da die Ansichten über das, was einen Selbstmordversuch ausmacht, weit auseinandergehen, ist es nicht erstaunlich, dass Schätzungen über die Häufigkeit von Selbstmordversuchen sehr unterschiedlich sind. Forschungen in Europa, Nordamerika, Australien, dem Nahen und dem Fernen Osten belegen, dass zwischen einem und vier Prozent aller Erwachsenen irgendwann in ihrem Leben einen Selbstmordversuch unternommen haben.47 Bei Jugendlichen ist die Rate höher und variiert stärker: zwischen zwei und zehn Prozent der jungen Menschen auf der ganzen Welt geben an, dass sie schon einmal versucht hätten, sich das Leben zu nehmen; darunter sind viele, die es mehr als ein Mal versucht haben.48 Es ist nicht klar, warum diese Raten zwischen den einzelnen Altersgruppen so differieren, obwohl es einige Erklärungsversuche gibt.
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Myrna Weissman, eine psychiatrische Epidemiologin an der Columbia University in New York, hat festgestellt, dass sich die Häufigkeit von Selbstmordversuchen in den letzten Jahrzehnten verdoppelt bis verdreifacht hat.49 Das mag zum Teil an einem »Kohorteneffekt« liegen, das heißt an einer Zunahme von suizidalem Verhalten und depressiven Zuständen bei Angehörigen der jüngeren Jahrgänge; darauf werde ich später ausführlicher zurückkommen. Denkbar wäre auch eine mit dem Alter zunehmende Tendenz zum Vergessen oder zum Herunterspielen von Selbstmordversuchen.50 So geht aus einer australischen Studie hervor, dass 40 Prozent der Befragten, die angegeben hatten, dass sie schon einmal an Selbstmord gedacht hätten, vier Jahre später auf die gleiche Frage antworteten, dies sei ihnen niemals in den Sinn gekommen. Weniger ernsthafte Selbstmordversuche werden wahrscheinlich auch leichter vergessen, und natürlich beenden einige von denen, die einen Selbstmordversuch unternommen haben, als sie jung waren, ihr Leben, bevor sie je erwachsen werden. Oder vielleicht geben junge Leute suizidales Verhalten einfach bereitwilliger zu. Es ist nicht klar, in welcher Relation Selbstmordversuche und Selbstmord stehen. Man schätzt, dass etwa zehn bis 25 Selbstmordversuche auf einen vollzogenen Selbstmord kommen.51 Viele, wenn nicht die meisten Menschen, die sich umbringen wollen, versuchen es mehrmals.52 Sowohl bei Selbstmordversuchen als auch bei Selbstmorden spielt die Geschlechtszugehörigkeit eine Rolle. In den Vereinigten Staaten unternehmen Frauen zwei bis drei Mal so viele Selbstmordversuche wie Männer. Dagegen töten sich Männer statistisch vier Mal häufiger als Frauen.53 Die Gründe dafür sind komplex54 und werden in diesem Buch an verschiedenen Stellen behandelt; zum Teil jedoch wird diese Diskrepanz an der unterschiedlichen Häufigkeit der verschiedenen psychischen Krankheiten liegen, die mit Selbstmord und Selbstmordversuchen verbunden sind. Frauen und Mädchen leiden zum Beispiel mindestens doppelt so häufig an Depressionen wie Männer,55 worauf wahrscheinlich die höhere Rate von Selbstmordversuchen zurückzuführen ist. Die bei Frauen höhere Rate von depressiven Zuständen wird durch viele Studien belegt, die große internationale Untersuchung unter der Leitung von Myrna Weissman eingeschlossen. In allen zehn Ländern, die sie mit ihren Kollegen untersuchte – die Vereinigten Staaten, Kanada, Puerto Rico, Frankreich, West-
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Deutschland, Italien, Libanon, Taiwan, Korea und Neuseeland –, waren Depressionen bei Frauen viel weiter verbreitet als bei Männern; die Raten für manisch-depressive Zustände dagegen lagen bei beiden Geschlechtern gleich hoch.56 Zwar sind depressive Zustände bei Frauen verbreiteter, aber diese Zustände haben im Vergleich mit den Männern wahrscheinlich weniger impulsive und gewaltsame Folgen. Deshalb greifen Frauen auch zu weniger gewaltsamen und gefährlichen Methoden wie etwa Vergiften. Außerdem empfinden Männer einen »gescheiterten« Selbstmordversuch eher als Blamage. Frauen wiederum erinnern sich genauer an die Versuche, die sie unternommen haben, und machen detailliertere Aussagen.57 Männer, die möglicherweise an Depressionen mit ausgeprägteren aggressiven Anteilen und rasch wechselnden Zuständen leiden, bemühen sich bei psychischen Problemen in der Regel seltener um ärztliche Hilfe. Außerdem erhöhen sie oft die Selbstmordgefahr durch den Gebrauch von Alkohol und Medikamenten oder sie sind im Besitz von Schusswaffen. (Das ist nicht erst seit kurzem so, wie wir noch sehen werden, wenn wir im Einzelnen auf Selbstmordmethoden zu sprechen kommen. In der ersten Ausgabe des American Journal of Insanity aus dem Jahr 1845 wird berichtet, dass mehr als zwei Drittel der männlichen Selbstmörder gewaltsame und äußerst tödliche Mittel benutzten – Waffen, Durchschneiden der Kehle, Erhängen –, während nur ein Drittel der Frauen zu solchen Methoden griff.58) Die Methode, die bei einem Selbstmordversuch angewandt wird, hat natürlich einen entscheidenden Einfluss darauf, ob die betreffende Person am Leben bleibt oder stirbt. China, auf das 1990 vierzig Prozent der Selbstmordtoten in der ganzen Welt entfielen, ist das einzige größere Land, in dem etwa gleich viele Frauen wie Männer durch Selbstmord sterben. Neben anderen sozialen Faktoren spielt sicher der hohe Anteil der Landbevölkerung und deren problemloser Zugang zu tödlichen Pestiziden eine Rolle, während die Notfallmedizin wenig entwickelt ist, so dass in China Tod durch Vergiften viel häufiger vorkommt als in westlichen Ländern. Ein beträchtlicher Teil derjenigen, die tatsächlich Selbstmord begehen, hat zuvor bereits entsprechende Versuche unternommen:59 Nach Langzeitnachfolgestudien (zehn bis vierzig Jahre) bringen
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sich zwischen zehn bis fünfzehn Prozent derjenigen, die einen oder mehrere Selbstmordversuche unternommen haben, irgendwann tatsächlich um.60 Die Prognosen darüber, wer irgendwann tatsächlich Selbstmord begehen wird, zählen zu den schwierigsten, frustrierendsten und bedeutsamsten Kapiteln der klinischen Praxis.61 Die Grenzen zwischen Denken, Handeln und der tödlichen Handlung sind fließender, Ungewisser und gefährlicher, als man glaubt, wie Robert Lowell in den Schlussversen seines Gedichts »Suicide« treffend zum Ausdruck gebracht hat: Verdiene ich Anerkennung, wenn ich nicht versucht habe, mich umzubringen – oder fürchte ich nur, diese exotische Handlung wird zur Pfuscherei, da ich nicht weiß, dass Fehler durch Übung zu beheben sind, wie unsere ersten Familienfotos, ohne Köpfe, mit abgeschnittenen Köpfen, verwackelt oder überblendet durch Blitzlicht?62 Etwa 30000 Amerikaner sterben jedes Jahr durch Selbstmord,63 überall auf der Welt fordert suizidales Verhalten entsetzlich viele Menschenleben. Nach einer Schätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO)64 war bei 1,8 Prozent der weltweit 54 Millionen Sterbefälle im Jahr 1998 Selbstmord die Todesursache. Bei jungen Menschen lag diese Rate noch höher. In der folgenden Grafik sind die zehn wichtigsten Todesursachen bei Männern und Frauen im Alter von fünfzehn bis vierundvierzig Jahren aufgeführt. Danach ist Selbstmord bei Frauen in dieser Altersgruppe die zweitwichtigste Todesursache und die viertwichtigste bei Männern. In jedem Fall ist Selbstmord ein zentrales Problem des Gesundheitswesens. In den letzten fünfzig Jahren sind die Selbstmordraten für junge Menschen weltweit gestiegen. Der rapide Anstieg vor allem bei den unter Fünfundzwanzigjährigen ist ein großes Problem für Ärzte, Wissenschaftler und das öffentliche Gesundheitswesen. Britische Wissenschaftler untersuchten von Anfang der sechziger bis in die siebziger Jahre hinein die Veränderungen der Selbstmordraten bei Jugendlichen in achtzehn Ländern. In fast allen diesen Ländern stellten sie eine bedeutende Zunahme fest.65 Vom Karolinska Institut
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Die weltweit wichtigsten Todesursachen bei Frauen und Männern im Alter von 15 bis 44 Jahren.67
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Institut in Stockholm wurden Selbstmordmuster über einen Zeitraum von dreißig Jahren, von 1952 bis 1981, untersucht und festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein zwanzigjähriger Mann vor Erreichen seines fünfundzwanzigsten Lebensjahres Selbstmord begeht, um 260 Prozent gestiegen war. In den Vereinigten Staaten hat die Selbstmordrate bei zehn- bis vierzehnjährigen Kindern zwischen 1980 und 1992 um 120 Prozent zugenommen. 1995 starben mehr Jugendliche und junge Erwachsene an Selbstmord als an Krebs, Herzkrankheiten, AIDS, Lungenentzündung, Grippe, Geburtsschäden und Schlaganfällen zusammen. Es sind, so der leitende Gerichtsmediziner von Maryland, »zu viele und zu junge Leute«. Der deutliche, auch von vielen anderen Wissenschaftlern festgestellte Trend zu höheren Selbstmordraten in jüngeren Altersgruppen hat umfangreiche Spekulationen und Forschungen ausgelöst, um den Ursachen auf den Grund zu kommen.66 Zum Teil ist der Anstieg vermutlich auf exaktere Berichte zurückzuführen; Untersuchungsrichter und Gerichtsmediziner beurteilen heute einige gewaltsame Todesfälle von jungen Leuten eher als Selbstmorde denn als Unfälle oder unbestimmbare Todesfälle. Außerdem haben junge Leute heute leichter und früher Zugang zu Schusswaffen, Alkohol und Drogen, was zum Anstieg der Selbstmordrate in dieser Altersgruppe beiträgt. Es wird auch vermutet, dass auf Grund von neurologischen Schäden am Fötus durch Ernährungsmängel oder den Gebrauch von Alkohol, Nikotin oder Kokain während der Schwangerschaft die Zahl der Kinder mit Stimmungslagen und Verhaltensmustern, die mit Selbstmord verbunden sind, zunimmt. (Amerikanische und finnische Studien von 1999 haben herausgefunden, dass Mütter, die während der Schwangerschaft rauchen, das Risiko von gewalttätigem Verhalten, Impulsivität und Suchtstörungen bei ihren Kindern erhöhen.68) Das Nervensystem von Frühgeborenen, die früher gestorben wären und heute überleben, kann wegen ihres geringen Gewichts anfälliger sein. Ein weiterer Grund für das Ansteigen der Selbstmordraten ist die erfolgreiche psychiatrische Medikamentation, die es vielen psychisch kranken Menschen ermöglicht, zu heiraten und Kinder zu bekommen, was sie früher nicht getan hätten; auch dies könnte dazu beitragen, dass gerade die psychischen Erkrankungen zugenommen haben, die besonders zu Selbstmordgefährdungen führen, nämlich Depression, manische Depression und Schizophrenie.
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Eine der am häufigsten genannten Ursachen für den Anstieg der Selbstmordrate bei jungen Leuten ist die Tatsache, dass das Durchschnittsalter, in dem die Pubertät einsetzt, in den letzten Jahrzehnten erheblich gesunken ist, so dass auch die depressiven Zustände früher einsetzen. Außerdem deutet vieles darauf hin, dass im Lauf der letzten Jahre die Depressionen insgesamt zugenommen haben. Weil Depressionen und andere psychische Erkrankungen oft wesentlich an Selbstmorden beteiligt sind, wenden wir uns nun diesen Störungen zu, die schreckliche Verzweiflungszustände, Verwirrung, Hoffnungslosigkeit und rücksichtslose Impulsivität hervorrufen.
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Dieses Leben, dieser Tod
Entzückte Lust an Einsamkeit Trieb in die Wolken mich zum Streit; Ich wog es alles, bedacht es klar: Vergebliche Müh die künftigen Jahr Wie die vergangnen; in Schwebe bot Sich dieses Leben, dieser Tod. WILLIAM BUTLER YEATS1
Es gibt einen Moment, an dem einem das Herz stehen bleibt, während man das Video anschaut; an dem man wünscht, man könnte es seinem Besitzer zurückgeben und vergessen, was man gesehen hat. Man kennt das Ende der Geschichte; man weiß, was getan ist, ist getan; und doch ist das alles furchtbar traurig, trauriger, als man gedacht hat. Es fällt schwer, das Video anzuschauen, aber es ist ebenso unmöglich, es nicht anzuschauen, und vor allem ist es schrecklich zu wissen, was am Ende steht. Wie wahrscheinlich in hundert anderen Videos auch, die an diesem Tag aufgenommen wurden, ist eine Landschaft zu sehen, die Rampartberge in den Rocky Mountains von Colorado; sie bilden die Kulisse für die von Menschen geschaffenen grobkantigen und dreieckigen Gebäude der U.S. Air Force Academy. Ruckartig streicht die Kamera weiter über die Landschaft, die Leute und das Ereignis des Tages und richtet sich schließlich auf den Paradeplatz, auf dem, dicht gedrängt, Kadetten in ihren blauen Jacken, weißen Hosen, weißen Handschuhen und goldenen Schärpen marschieren. Fast eintausend neu ernannte Offiziere. Bis auf einen. Der Einmarsch endet, und die Kadetten nehmen einer nach dem anderen ihr Zeugnis entgegen, salutieren und kehren zu ihren Plätzen zurück. Jeder Name ein Augenblick, jeder flotte Gruß eine Übung in aufgestautem Enthusiasmus. Langsam zoomt sich die Kamera an die Gesichter heran, das Bild wird persönlicher, und ein Name wird gerufen. Laute anerkennende Rufe ertönen, nach den Reaktionen der Kameraden muss der junge Mann außerordentlich beliebt sein; ein Kadett hatte ihn als den meistgeachteten Abschlussschüler der
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Akademie bezeichnet, und seine Abteilung bekannte sich einmütig zu ihm als ihrem Anführer. Der junge Mann nimmt sein Zeugnis, legt seine mit dem Handschuh bekleidete Hand an den Hut und grüßt schnell und zackig. Er lächelt charmant und ansteckend, man versteht die herzliche und lautstarke Reaktion seiner Schulkameraden. Nicht dieser Augenblick ist es, in dem einem das Herz stillsteht, obwohl sich eine gewisse Melancholie in das Lächeln des jungen Mannes hineinstiehlt. Dieser Moment kommt erst später, wenn alle Namen aufgerufen sind und alle salutiert haben. Aufmarschplatz und Stadion sind von den harten, martialischen Klängen der Luftwaffenhymne erfüllt, als plötzlich tausend frisch gebackene Leutnants ihren Kopf in den Nacken werfen, um die F-16-Jagdbomber zu beobachten, die in enger Formation über ihre Köpfe hinwegrasen, die traditionelle Flugschau zu Ehren der neuen Offiziere der Akademie. Noch bevor die Kondensstreifen der Jäger verblasst sind, bricht ein Höllenlärm aus, Hunderte von weißen Hüten fliegen hoch in die Luft und wirbeln als weiße Flecken am Himmel. In Hochrufen und Umarmungen geht die letzte Spur militärischer Ordnung unter. Die Kamera richtet sich noch einmal auf den jungen Mann, dessen sich langsam ausbreitendes Lächeln etwas so Faszinierendes hatte und dessen Auftritt die spontane Herzlichkeit und die Hochrufe seiner Schulkameraden hervorgerufen hatte. Wie sie hatte auch er die Jäger über ihren Köpfen beobachtet und seinen Hut in die Luft geworfen. Dies nun ist der Moment, in dem einem das Herz wirklich stockt – sein Gesicht zeigt eine leise Verwirrung, die frösteln macht. Er scheint unsicher, als wüsste er nicht, was er als Nächstes tun soll, es ist, als wäre er durch eine Glaswand von dem Treiben um ihn herum getrennt. Das ist ein Bild, das wehtut, denn man kennt das Ende der Geschichte; es ist fast unerträglich, denn man weiß, dass in diesem Augenblick in gewisser Weise dieses Ende seinen Anfang nimmt. Der junge Mann, Drew Sopirak, kehrte an dem Abend seiner Abschlussfeier nicht zur Air Force Academy zurück, er erhielt auch nicht die Ernennungsurkunde zum Offizier. Jahrelang hatte er davon geträumt, Pilot zu werden, er war einer der besten der Flugschule gewesen, und sollte doch sein Pilotenabzeichen nie bekommen. Er verließ an diesem Abend die Feier, um an einen Ort zurückzukehren, an dem ihn niemand vermutet hätte: in die psychiatrische Abteilung
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eines nahe gelegenen Militärhospitals. Dort versuchte er das Geschick zu ergründen, das ihn nun erfasst hatte. Anders als das, was ihm zuvor widerfahren war – Tage der Liebe, des Glücks und der Kraft –, war dies ein Albtraum, das Gefühl, alles verloren zu haben. Es traf ihn unerwartet, und zuletzt konnte er es nicht ertragen. Erfolg, so scheint es, reichte als Lehrmeister nicht aus. Auch gute Freunde und eine liebevolle Familie nicht. Drew Sopirak hatte all dies in reichlichem Maße. Er war, wie alle seine Freunde und Lehrer bestätigten, herzlich, lebhaft und ungeheuer beliebt bei seinen Kameraden, eine geborene Führernatur, »drop-dead gorgeous«, jemand, dem niemand ein Fremder war. »Er hatte etwas Besonderes«, sagte ein Freund. »Ich weiß nicht, ob man sagen kann, warum er so toll war – er war es einfach.« Er hielt die Rede auf der Abschlussfeier seiner High-School in Wilmington, Delaware, er war Klassensprecher in der Unter- und in der Oberstufe, war Homecoming King, Kapitän seiner Sportmannschaften und spielte mitreißend die Rolle des »Mole« in einer Gemeindeaufführung von The Wind in the Willows. Niemand war überrascht, als er sowohl von West Point als auch von der Air Force Academy ein Angebot bekam. Drew wählte die Air Force Academy, eine leichte Entscheidung für einen Achtzehnjährigen, der sich für alles, was fliegt, leidenschaftlich interessiert, der davon träumt und alles daran setzt, Pilot zu werden. Aber achtzehn Monate nach dem Ende seiner Ausbildung auf der Akademie fand er sein Leben so qualvoll und seine Zukunft so düster, dass er in ein Waffengeschäft ging, einen 38er Revolver kaufte und abdrückte. Nachdem der Schuss nicht losgegangen war, drückte er noch einmal ab. Er war 23 Jahre alt: Der Weg nach unten war lang, und er ging ihn rasch.
Minds of men fashioned a crate of thunder, Sent it high into the blue; Hands of men blasted the world asunder; How they lived God only knew! Souls of men, dreaming of skies to conquer Gave us wings, ever to soar! Keep the wings level and true. »United States Air Force Song«2
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Die Luftwaffe hatte Drew auf viele Dinge vorbereitet, die er sich vom Leben erwartete, auf den Wahnsinn indes nicht; wie sollte sie auch. Als seine Psyche ein paar Wochen nach dem Abgang von der Akademie zusammenbrach, konnte er daher auf nichts zurückgreifen. Das Überlebenstraining, das er absolviert hatte, half ihm nicht durch die zerreißende Manie und das unvermeidlich folgende Ausbrennen hindurch. Er verlor erst seinen Verstand und dann sein Offizierspatent, verloren waren seine Träume und sein Leben. Wieder einmal zeigte sich, dass die manische Depression ein Feind ist, der sich außer Schussweite befindet und auf den die üblichen Gefechtsregeln nicht zutreffen. Drew erzählte später, dass seine Gedanken ab und zu mit ihm durchgegangen waren und dass er zeitweise depressiv war, bevor ihn der erste manische Schub erfasste. Damals hatte er das für sich behalten. Er war der Letzte, von dem seine Freunde erwartet hätten, dass er in psychotische Zustände geraten würde oder in die Psychiatrie müsste. Aber das gänzlich Unerwartete und Sinnlose daran ist doch nicht so überraschend, wenn man sich klar macht, welche Krankheit es war, der Drew schließlich erlag. Manisch-depressive Erkrankungen treffen gewöhnlich junge Menschen, häufig im College-Alter, und sie treffen nicht selten die scheinbar Unschlagbaren – die Siegertypen, die energisch sind und auf der Schule viel Erfolg haben. Drews bis dahin stets hervorragende schulische Leistungen hatten in den letzten Monaten an der Air Force Academy sehr nachgelassen. Seinem Mitbewohner fiel auf, dass er damals begann, Dinge zu sagen, die »keinen Sinn ergaben«; seine Mutter bemerkte mit wachsender Besorgnis, dass er »paranoid klang«, wenn sie mit ihm telefonierte. Nach seiner eigenen Auskunft war er sehr euphorisch, er schlief wenig und manchmal gar nicht. Auf dem Höhepunkt seiner Schlaflosigkeit – und in zunehmend manischem Zustand – glaubte Drew schließlich, die Lösungen für viele, wenn nicht die meisten Probleme auf der Welt zu kennen und ein Bote Gottes zu sein. Er machte Entwürfe für ein Superraumschiff, die weniger mit dem zu tun hatten, was er über Flugzeugbau gelernt hatte, als vielmehr mit seinen neuen und wahnhaften Erkenntnissen über UFOs. Das Raumschiff verfügte seinen Zeichnungen und Beschreibungen zufolge über rasch rotierende Lampen, eine auf mysteriöse Art wachsende Energiequelle, »eine neue Art von Synergie« aus Trockeneis und Plasma, und ein merkwürdiges
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Kraftfeld, von dem ein Strömungspuls ausging, der den Flugkörper irgendwie »schieben« sollte. Die Entwürfe sind unverständlich – und unzusammenhängend, was manisches Denken oft ist –, aber die Bemerkungen und Zeichnungen hatten für Drew, als er sich im April 1994 in einem akuten Zustand von Größenwahn damit beschäftigte, offensichtlich eine enorme Bedeutung. In seinen wirren Aufzeichnungen vergraben und verloren, findet sich auch ein quälender persönlicher und prophetischer Satz: »Du wirst nicht glücklich sein«, hatte er an sich selbst geschrieben. »Du wirst unter einer großen Belastung stehen – wegen etwas Wichtigem.« Es gibt keinen Hinweis, woher diese Belastung kommen sollte. Als er Anfang Juni in den Bergen war, hörte er die Stimme Gottes, die ihm sagte, er solle sich »reinigen«; auf diesen Befehl hin zog er sich aus und lief nackt durch die Wälder. Später begab er sich, verängstigt, verwirrt und übersät mit Schnittwunden und blauen Flecken und von dem Gedanken gepeinigt, dass das Ende der Welt bevorstehe, zum Haus eines Geistlichen. Dessen Frau wickelte ihn in eine Decke, und dann wurde er, völlig verwirrt, mitten in einem akuten psychotischen Schub, ins Air Force Academy Hospital gebracht. Am nächsten Morgen kamen noch paranoide Wahnvorstellungen hinzu, er war außer sich vor Angst, dass es an der Akademie russische Spione gebe, die von seinem Superflugzeug gehört hätten und »ihn kriegen« wollten. Er wurde in das Fitzsimons Army Medical Hospital verlegt. Die Militärärzte, die Drew untersuchten, leisteten sorgfältige psychiatrische Arbeit, sie waren strenge Mediziner, doch voller Mitgefühl. Eine Tomographie seines Gehirns wurde gemacht, um auszuschließen, dass ein Tumor im Spiel war oder eine Gefäßerkrankung ein manieartiges Syndrom ausgelöst hatte; sein Urin wurde auf Medikamente untersucht, die paranoide und manische sowie Erregungszustände bewirken können, Neurologen und Internisten wurden konsultiert. In Drews Familiengeschichte finden sich zahlreiche Fälle manisch-depressiver (bipolarer) Erkrankung, und die Ärzte schlössen, dass auch er geradezu lehrbuchhaft diese Krankheit durchmachte. Der Bericht verzeichnet, dass er viele Freunde hatte, ein sehr guter Schüler war und ein ausgezeichneter Kadett. »Seine Vergangenheit«, schrieb einer seiner Ärzte, »zeichnet sich dadurch aus, dass er auf jedem Gebiet, mit dem er sich befasste, Hervorragendes leistete.«
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Drew wurde auf Lithium gesetzt, und innerhalb von zwei oder drei Tagen ging es ihm entschieden besser. Nach neun Tagen im Krankenhaus hatte er keine Wahnvorstellungen mehr, nur einmal geriet er in Angst, weil er befürchtete, dass man einen chirurgischen Eingriff bei ihm vornehmen könnte, um »wichtige Informationen aus seinem Kopf zu entfernen«. Er war in der Lage, an der Abschlussfeier der Akademie teilzunehmen, aber nach ein paar Tagen musste er zur weiteren Behandlung zur Andrews Air Force Base in der Nähe von Washington, D. C., ausgeflogen werden. Vor seiner Verlegung trat ein medizinischer Ausschuss zusammen, der aus drei Militärärzten bestand. Ihr in der notwendigerweise unpersönlichen Sprache der Medizin und des Militärs geschriebener Abschlussbericht setzte Drews Zukunftsplänen ein Ende: Das Offizierspatent wurde ihm verweigert, er verlor seinen Ausbildungsplatz in der Fliegerschule, konnte also weder Offizier noch Pilot werden. »Der Untersuchte erfüllt auf Grund psychischer Störungen mit psychotischen Merkmalen nicht die medizinischen Voraussetzungen für den Offiziersrang«, so der Bericht des Ausschusses. Der Chefarzt stimmte dem zu: »Ich empfehle aus medizinischen Gründen mit Nachdruck, diesen Kadetten nicht einzustellen.« Drews aktiver Militärdienst war vorüber. Der Kampf mit seiner Geisteskrankheit allerdings begann jetzt erst. Drew musste noch drei Wochen im Krankenhaus von Andrews bleiben. Der für die Einweisung zuständige Arzt, der die frühere Diagnose auf bipolare manisch-depressive Erkrankung teilte, beobachtete an Drew immer noch leicht paranoide Zustände, Angst und dass er »sich große Mühe gab, zu verstehen, was mit ihm vorging«. Ihm fiel auch Drews Perfektionismus auf (eine Eigenschaft, die von vielen, die ihn kannten, hervorgehoben wurde) sowie die Tatsache, dass er sich schuldig fühlte, weil er seiner Familie mit seiner Krankheit Probleme bereite. Aus den Aufzeichnungen von Ärzten und Pflegern, die ihn während seines Krankenhausaufenthalts behandelten und versorgten, geht hervor, dass Drew darum kämpfte, sein in Stücke zerfallenes Leben wieder zusammenzusetzen und Anfänge für eine Zukunft zusammenzubasteln. Er sprach über die Möglichkeit, einen Doktorgrad in Flugzeugbau zu erwerben, Lehrer zu werden oder vielleicht, so überlegte er in einer weniger optimistischen Stimmung, am Strand zu arbeiten. Er wusste es nicht, es war noch zu früh, etwas zu sagen. Große Sorgen machte ihm die Rückzahlung der Ausbildungskosten,
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die er der Luftwaffe schuldig zu sein glaubte. Aber vor allem anderen bemühte er sich darum, seine Krankheit und die Medikamente zu verstehen, die er zu ihrer Behandlung einnahm. Drews Aufenthalt im Krankenhaus von Andrews war schwierig, weil sich die verheerenden Folgen seiner Krankheit abzuzeichnen begannen und weil aus seinem Krankenbericht klar hervorgeht, dass er an einer ernsthaften Form von manischer Depression litt. Am zweiten Tag im Krankenhaus fand ihn jemand vom Pflegepersonal tief deprimiert in einer fötalen Schaukelhaltung vor. Er schien Angst zu haben. Seine Angst, so sagte er, komme aus dem Gefühl, dass er gefoltert werde und sterben müsse. Alle fünfzehn Minuten kam jemand, um nach ihm zu sehen; ständig war jemand vom Pflegepersonal da, um seine Sicherheit zu überwachen und zu beobachten, was er tat. Seine Stimmungen änderten sich schnell und gewaltsam. Einige Tage später äußerte er gegenüber den anderen Mitgliedern in seiner Gruppentherapie, er habe die Lösung für alle Probleme der Welt, ein paar Stunden später weinte er und hatte Angst, die Kontrolle über seine rasenden Gedanken zu verlieren. Doch Drews Zustand besserte sich allmählich. Anfang Juli bekam er am Wochenende zwei Tage Ausgang, um seine Eltern zu besuchen. Als er ins Krankenhaus zurückkam, war er ärgerlich und aufgeregt, weil er auf die Station zurück musste; er schlug um sich und schrie die Pfleger an: »Nein! Ich bleibe nicht! Nein!« Als eine halbe Stunde später ein Pfleger in sein Zimmer kam, lag Drew im Bett und sagte in einem schrecklichen Tonfall: »Es geht mir gut. Es war nur so hart, wieder zurückzukommen.« Nach einigen Stunden war er erneut erregt. Der Pfleger beobachtete, wie Drew mit hochrotem Gesicht im Korridor unruhig auf und ab ging. Nach einer weiteren Viertelstunde war er aus dem Krankenhaus verschwunden – die Flucht wurde ihm sicher durch das Überlebenstraining der Air Force Academy erleichtert – und unterwegs zu seinen Eltern in Delaware. Er stieg durch ein Hinterfenster ins Haus ein; am nächsten Morgen fanden ihn seine Eltern schlafend in seinem Bett. Seine Mutter rief im Krankenhaus an, um mitzuteilen, dass sie Drew gefunden hätten und dass ihn ein Telefonanruf sehr aufgeregt habe. Ein Mitpatient, der mit ihm auf der psychiatrischen Station des Fitzsimons Army Medical Center gewesen war, hatte einen Selbstmordversuch begangen und war wieder ins Krankenhaus
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eingeliefert worden. Unter diesen Umständen glaubten die Eltern, es sei besser, wenn Drew in der Nähe seines Zuhauses psychiatrisch behandelt würde. Drew kehrte Anfang Juli 1994 nach Hause zurück, und seine Eltern sorgten dafür, dass er eine private psychiatrische Versorgung bekam. Er war noch immer psychisch labil und quälte sich mit Vorwürfen, weil er die Luftwaffe verlassen musste. Aber er machte doch langsame und stetige Fortschritte, und im Hochsommer trainierte er wieder und spielte Tennis. Zwischendurch hatte er noch einmal eine kurze Zeit lang Wahnvorstellungen und litt wieder unter Schlaflosigkeit, aber insgesamt ging es ihm entschieden besser. Im November wechselte er den Psychiater, und dieser verschrieb ihm zusätzlich zu dem Lithium, das er schon nahm, ein weiteres antipsychotisches Medikament. Sowohl Drew als auch sein Arzt stellten fest, dass sich seine Stimmung und sein Denken dramatisch verbesserten, und diese Ansicht teilten auch seine Eltern. Zwischen Ende 1994 und August 1995 blieb Drews Zustand stabil, und er zeigte keine psychotischen Symptome. Er arbeitete zwanzig Stunden pro Woche bei einer Bank, war körperlich aktiv und sprach davon, auf eine Hochschule zu gehen. Obwohl er gelegentlich den Wunsch äußerte, die Medikamente abzusetzen, weil er hoffte, eines Tages vielleicht doch noch im zivilen Luftverkehr fliegen zu können, nahm er seine Tabletten vorschriftsmäßig ein. Aber Drews Wut über das Stigma, als das er seine manisch-depressive Krankheit empfand, war sehr stark, und er konnte mit Freunden oder neuen Bekannten nicht darüber sprechen. »Es ist das Letzte, worüber ich reden möchte, aber im Allgemeinen kommt doch die Rede darauf, wenn ich neue Leute kennen lerne oder mit Freunden in Bars oder auf Partys gehe«, vertraute er seinem Psychiater an. Er trank nie mehr als ein oder zwei Bier und wurde dann gefragt, warum er nur so wenig trinke. Auch wollte man von ihm wissen, warum er nicht mehr bei der Air Force sei, und er war zu verlegen, um die Wahrheit zu sagen, und musste andere Erklärungen erfinden. Seinen Freunden fiel auf, dass er über seine Probleme nicht reden wollte. Einer, der mit ihm zur High School gegangen war und ihn wie viele andere auch als »Mr. Everything« beschrieb, sagte: »Er war immer noch lustig und wollte sich vergnügen. Ich hatte keine Ahnung, was in seinem Kopf vorging.« Ein anderer enger Freund, der immer noch »nach Erklärungen sucht« und »gar nichts versteht«,
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meinte, Drew habe sich verändert, nachdem er von der Akademie zurückgekehrt sei. Er sei ein sehr liebevoller Mensch gewesen, der »leidenschaftlich gern lebte«, dann sei etwas falsch gelaufen, doch Drew habe nicht darüber reden wollen: »Er hatte eine Menge Geheimnisse.« Trotzdem hingen Drew und seine Freunde eng zusammen und unternahmen viel. Sie hörten die Musik von U 2, gingen auf Rockkonzerte und an den Strand, spielten Tennis, Volleyball und Basketball, pfiffen und johlten mit bei Eishockeyspielen und besuchten Partys, auf denen sie neue Mädchen zu treffen hofften. Aber Drew blieb tief verstört und war felsenfest davon überzeugt, dass er diejenigen, die ihm am meisten bedeuteten, enttäuscht habe. »Drew war nicht verbittert«, sagte seine Mutter, »aber er war enttäuscht und machte sich Vorwürfe. Er hatte das Gefühl, alle im Stich gelassen zu haben, die jüngeren Kadetten, seine Freunde und die Air Force. Er fürchtete, die Ausbildungskosten nicht zurückzahlen zu können. Es fiel ihm auch schwer zu erklären, warum er zu Hause lebte. Er habe doch alle Bestimmungen der Air Force eingehalten, doch es hätte ihm nichts genützt. Er schämte sich, weil er krank war.« Wie bei manisch-depressiven Kranken häufig der Fall, hatte auch Drew große Probleme damit, seine Krankheit anzuerkennen. »Wir haben ihm gesagt, dass viele Leute mit bipolaren Störungen zurechtgekommen sind«, erklärte seine Mutter, »aber er hörte nicht auf uns.« Im November 1995 setzte Drew seine Medikamente ab und gab seine Arbeitsstelle auf. Kurze Zeit sah es so aus, als ob alles gut ginge. Er besuchte mit zwei anderen Freunden einen Kameraden an der University of Connecticut, und einer der beiden berichtete: »Drew war großartig – er lernte viele Leute kennen, brach einigen Mädchen das Herz und war überhaupt ganz der alte Drew.« Aber dieser Freund sagte auch: »Das war das letzte Mal, dass ich Drew glücklich sah.« Drew ging es rasch immer schlechter. »In dieser Zeit habe ich erkannt, was Drew durchmachen musste«, schrieb ein Freund. »Wir unterhielten uns stundenlang über seine Jesus-Erscheinungen, seine UFO-Theorien und diese Sachen. Aber in allen seinen depressiven Momenten behielt er doch seinen Sinn für Humor.« Ein anderer Freund sagte über Drews Wunsch nach Privatheit: »Ich nehme an, dass er von der Air Force gebrochen zurückkam. Er konnte es gut verstecken. Ich wusste nur, dass seine Flügel irgendwie gestutzt
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waren und dass ich nicht darauf zu sprechen kommen sollte – er wollte nicht darüber reden. Es war so, als ob er niemanden in Unruhe versetzen wollte.« Drews zunehmend verlorener Kampf mit seiner manisch-depressiven Krankheit verstörte seine Freunde, die ihn so lange gekannt, geliebt und bewundert hatten, tief. Er war ihr Anführer gewesen, charakterstark und eine überaus freundliche Persönlichkeit: Er sei, sagte einer von ihnen, »ein prachtvoller Mensch« gewesen, »ein Freund, wie man es sich zu sein wünscht, ein Mann, von dem die Frauen träumen und der von den Männern bewundert, geachtet und fast immer zum Freund gemacht wird«. Den Kampf eines solchen Menschen um seine Gesundheit aus der Nähe zu erleben war für seine Freunde kaum auszuhalten und bereitete ihnen den größten Kummer. Drew war glücklich mit diesen Freunden, und sie waren es mit ihm; ihre Reaktionen auf seine Krankheit gehen einem deshalb um so mehr zu Herzen. Einer von ihnen, der Drew besonders nahe stand, schrieb:
Ich versuchte, mit ihm zu reden, aber die Gespräche machten mir Angst und brachten mich durcheinander. Er redete oft im Kreis oder sinnloses Zeug oder versuchte mir klar zu machen, dass seine Freunde etwas gegen ihn hätten. Er beschrieb mir in entsetzlichen Einzelheiten, was ihm durch den Kopf ging, das meiste davon möchte ich lieber nicht wiederholen. Ich weiß einfach nicht, wie ich diese schrecklichen Sachen wiedergeben soll, und irgendwie glaube ich, es ist meine Pflicht, seine Ehre und seinen Namen zu schützen. Er würde für mich dasselbe tun. Nachdem man ihm gesagt hatte, er litte an bipolaren Störungen, und ich mir vorzustellen versuchte, was für schreckliche Dinge in seinem Kopf vorgingen, wusste ich, dass er nie mehr derselbe sein würde. Aber mir wäre nicht im Traum eingefallen, dass er Selbstmord begehen könnte. Es war einfach nicht möglich. Monatelang, nachdem er aus dem Krankenhaus gekommen war, erzählten Drew und seine Familie niemandem etwas außer meiner Familie und mir. Wir wollten ihn schützen und dachten wahrscheinlich, sein Zustand würde sich bessern, und wir müssten nie darüber reden. Aber Drews Zustand besserte sich nicht, und je mehr Zeit verging, desto klarer wurde mir, dass er nie wieder gesund werden würde.
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Drew nahm mal sein Lithium und dann wieder nicht. Ich glaube, er wollte nie recht wahrhaben, dass er es brauchte. Er wollte es sich selbst nicht eingestehen. Aber Monat um Monat verging, und ich merkte, dass die Krankheit einen Teil von Drews Seele gestohlen hatte. Sie nahm einen Teil von seiner Persönlichkeit weg und von seiner Liebe zum Leben. Ich kann mich noch daran erinnern, als er ins Krankenhaus nach D. C. kam und ich ihn dort besuchte. Seine Mutter war zum Abendessen gegangen, und er bettete seinen Kopf in meinen Schoß und lag da wie ein Embryo. Ich sah das Gesicht des Menschen, den ich als Drew kannte, aber ich hörte eine andere Kreatur. In seiner Schale schien etwas anderes zu leben. Etwas anderes, nicht Drew selbst, sprach aus ihm oder trieb ihn zu seinem seltsamen, beunruhigenden Tun. Als er seinen Kopf rieb, als ob er seine Gedanken irgendwie zurechtrücken wollte, sah ich ihn an und fragte mich, wohin mein Freund verschwunden war. Das Ungeheuer in ihm hatte die Macht übernommen. Er war ausgezehrt und seit Wochen unrasiert. Seine Haut war ganz blass, seine Wangen waren eingesunken, und jede Bewegung schien ihm Schmerzen zu bereiten. Ich kannte den Menschen nicht, der er geworden war. Je mehr er redete, desto größer wurde meine Angst um ihn. Als ich an diesem Abend nach Hause kam, weinte ich zwei Stunden lang ununterbrochen. Nie habe ich im Gesicht eines Menschen einen solchen Horror gesehen wie an diesem Abend.«
Im Dezember ging es Drew zusehends schlechter. Seine Depressionen wurden schlimmer, und er schloss sich immer mehr ab. Die Päckchen, die er Weihnachten bekam, blieben unausgewickelt in seinem Zimmer, und erst nach langem Zureden ging er mit seinen Freunden aus. Nur Musik und ausgedehnte Bäder, die er in dem verzweifelten Versuch nahm, seine Erregung zu dämpfen, verschafften ihm zeitweise Erleichterung. Anfang Januar 1996 hatte sich Drew von fast allen zurückgezogen. Am Ende lag er katatonisch im Bett. Er wurde als Notfall und ohne seine Zustimmung in ein örtliches Krankenhaus eingeliefert. Zu diesem Zeitpunkt war er stumm, seine Augen waren geschlossen, völlig regungslos lag er auf der Trage. Die Ärzte gaben ihm ein antipsychotisches Medikament, das rasch wirkte: So schnell, dass er am nächsten Tag aus der geschlossenen Station entwich und sich durch einen der schlimmsten Schneestürme seit Menschengedenken
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nach Hause durchschlug. Er wurde zum Krankenhaus zurückgebracht, wo er zehn Tage blieb. In dieser Zeit notierte sein Arzt, dass sich sein Zustand »etwas besserte«, dass er aber »weiterhin damit kämpfte, sich als jemanden anzuerkennen, der krank ist«. Drews Krankenbericht zeigt das übliche schreckliche Bild. Bei der Einlieferung beschrieb er sich dem Pfleger gegenüber als »hoffnungslos«. Zu seinem Arbeitsleben gibt es nur den Vermerk: »Arbeitslos – arbeitete in einer Bank. Abgeschlossene Ausbildung bei der Air Force Academy.« In gerade einmal anderthalb Jahren war ein junger Mann mit einer großen Zukunft aus der Welt der Akademiker und Leistungssportler, der Offiziere und Gentlemen hinabgestürzt auf die Ebene von »arbeitslos« und »hoffnungslos«. Die zerstörerische Kraft der manischen Depression kannte keine Gnade. Während seines Aufenthalts im Krankenhaus sollte Drew aufschreiben, wie er sich sein Leben vorstelle, wenn er wieder gesund sei. Er betonte, er wolle kein Mitleid und keine medizinische Behandlung. Bei einem psychologischen Standardtest kreuzte er die verzweifeltsten Antwortmöglichkeiten an: »Ich bin so traurig oder unglücklich, dass ich es nicht aushalte.« – »Ich bin in einer ausweglosen Situation.« Er kreuzte auch den Satz an: »Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, sehe ich nur Misserfolge«, und die vielleicht schrecklichste Formulierung: »Ich habe Selbstmordgedanken, aber ich werde sie nicht ausführen.« Fünf Tage, bevor er sich umbrachte, wurde Drew als ambulanter Patient entlassen. Niemand weiß, was er zu dieser Zeit dachte oder fühlte, aber er hinterließ verstreute Notizen und Tagebucheintragungen. Aus ihnen kann man entnehmen, wie er, so die Worte der Mutter, »entschwand«. Das Geschriebene ist rätselhaft, idiosynkratisch, so als schlüge er um sich; manchmal ist ein Zusammenhang zu erkennen, aber meistens macht sich die verwirrende Präsenz der Psychose bemerkbar. Er notierte ungewöhnliche Träume, Koinzidenzen und Ereignisse, man spürt, wie ein Verstand sich verzweifelt bemüht, einen Halt zu finden. Er berichtet von fallenden Sternen, von Träumen von Adlern und von der Hölle, von Wirbelstürmen, Blitzen, Jets, dem Tod. Die Instruktionen, die er sich selbst gab, sollten ihn zwingen, sich auszuruhen, zu beten, sich zu entspannen, sich zu konzentrieren und Frieden zu finden. Er hatte Angst, dass sein »alter Glaube« zurückkäme, und er klagte: »Ich bat Gott um Hilfe. Ich habe seine
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Hilfe nicht verdient. Denn ich habe Gott verflucht, bevor ich ihn um Hilfe bat.« Wie sein schriftlicher Nachlass zeigt, spürte er, dass er eine Welt verloren hatte, dass er sein Selbst verloren hatte und sämtliche Hoffnung dazu. Er ist voller Schuldgefühle angesichts der Schmerzen, die er anderen zufügt, besonders seiner Familie, und lang und breit zählt er die Probleme auf, denen er sich zu stellen habe: Er müsse seine Schulden zurückzahlen, er habe seine Freundin verloren, müsse die Medikamente nehmen, müsse die Ärzte aufsuchen. Er ist überzeugt, dass alle »in mir jemanden sehen, der bis an sein Lebensende krank sein wird«. Aber er notiert auch: »Niemand kennt die besonderen Erfahrungen, die ich gemacht habe – daher werden sie niemals hören, was ich ihnen zu sagen habe.« Der letzte Eintrag im Tagebuch zeigt seine durchgängige Ambivalenz gegenüber seiner Krankheit: »Krank oder nicht? – Die Medikamente vermindern die Symptome, aber ich will glücklich sein.« In seinem Exemplar von Moral Issues in Philosophy, einem für den Unterricht bestimmten Lehrbuch, das Drew las, als er an der Air Force Academy zum ersten Mal krank wurde, sind verschiedene Sätze und Ideen mit verschiedenen Farben hervorgehoben und unterstrichen. Den Satz: »Es gibt so etwas wie ein nicht lebenswertes Leben« hat er unterstrichen und mehrmals eingekreist, dasselbe tat er mit jenem anderen: »Es ist grausam, einen Menschen sich im letzten Stadium des Todeskampfes monatelang quälen zu lassen.« Und beim letzten von Drew unterstrichenen Satz läuft es einem kalt den Rücken hinunter: »Es gibt die moralische Pflicht, das Leben eines Geisteskranken zu beenden, der unter einer qualvollen und unheilbaren Krankheit leidet.«
Die Seelen der Gerechten aber sind in Gottes Hand, und keine Marter kann sie mehr berühren. Zwar schien es in der Toren Augen, als wären sie gestorben, und als ein Unheil ward ihr Ende eingeschätzt, ihr Scheiden von uns weg als Untergang; sie aber sind im Frieden. Buch der Weisheit 3,1-3, verlesen auf Drews Trauerfeier
Ein paar Tage vor Drews Tod besuchten ihn zwei seiner engsten Freunde. Sie wussten nicht, dass es das letzte Mal sein würde. Drew,
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vor kurzem aus dem Krankenhaus entlassen, war, wie einer der beiden berichtet, »unrasiert, von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet und sehr düster und verschlossen. Ich weiß nicht, ob er sich zu diesem Zeitpunkt schon entschlossen hatte oder noch nicht. Alles, was ich sagen kann, ist, dass er nicht lachte oder lächelte. Als wir an diesem Abend weggingen, sagte er doch tatsächlich: ›Ich liebe euch, Jungs.‹ Es war ziemlich merkwürdig, und ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Er spürte das und sagte noch einmal: ›Ich liebe euch wirklich, Jungs‹, und schloss die Tür. Soweit ich weiß, war dies der letzte Satz, den er zu irgendjemandem sagte.« Am 27. Januar verließ Drew Sopirak das Haus seiner Eltern in Wilmington und fuhr zu einem Waffengeschäft. Im Staat Delaware gibt es für den Kauf von Waffen keine Wartefrist; der Angestellte verkaufte ihm ohne weiteres einen 38er Revolver. Ein paar Stunden später hat sich Drew erschossen. Die Polizei teilte seinen Eltern mit, sein Leichnam sei in seinem Jeep an der Auffahrt zum Pennsylvania Turnpike gefunden worden, etwa vierzig Minuten Fahrtzeit von zu Hause entfernt. »Wir waren so oft auf diesem Turnpike«, sagte Drews Mutter. »Unsere beiden Familien leben im Gebiet von Pittsburgh. Diese Autobahn hätte ihn zu Großeltern, Tanten, Onkeln und Vettern gebracht und zu seinem Bruder an der Penn State. Er hat es einfach nicht mehr gepackt. Er muss dort alle Hoffnung verloren haben.« Die Familie musste das Unvorstellbare tun: Drews Körper im Leichenschauhaus identifizieren, Familienangehörige und Freunde benachrichtigen, sich um die Beerdigung und den Gottesdienst kümmern, um ihn trauern, ihn vermissen. Drews Eltern und sein jüngerer Bruder bekamen außerordentlich viele Kondolenzschreiben von Drews Freunden und Lehrern aus der High-School, seinen Mitkadetten und Lehrern der Air Force Academy und von Eltern der Freunde. Wenn man diese Schreiben liest, fällt auf, wie viele als Dank abgefasst waren: Danksagungen für sein Leben, seine Gegenwart, seine Wärme, die Anerkennung seiner Lebendigkeit, seiner Freundschaft und seines Einflusses. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie traurig es mich macht zu wissen, dass die Welt nun einen ihrer großen Mitspieler verloren hat«, schrieb ein Freund. Dann heißt es: »Ovid schrieb einmal: ›Willkommen sei dieser Schmerz, denn eines Tages wird er dir nützlich sein.‹ Ich weiß nicht, inwieweit das für Sie im Hinblick auf
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Ihren Verlust zutrifft, aber ich weiß, dass es mich jedes Mal, wenn ich an Drew denke, schmerzt. Welch wundervolles Geschenk Sie uns allen mit Drew gemacht haben. Danke.« Ein anderer schrieb einfach: »Möge es ein Trost für Sie sein, dass er in diesem Leben wirklich geliebt wurde.« Einer von Drews Lehrern, der an der Air Force Academy Luftfahrttechnik lehrte, schrieb: »Ich habe seine Krankheit nie richtig verstanden, und er hat sie nie als Entschuldigung benutzt. Ich kann mich an die meisten Namen der vielen hundert Studenten, die ich in meinem Fach hatte, nicht erinnern, aber an einige schon. Drew war einer, an den man sich erinnert. Drew war etwas Besonderes. Drew zählte. Ich bin stolz, ihn gekannt zu haben.« Solche trostreichen Worte waren eine Hilfe, aber zuletzt mussten Drews Familie und seine Freunde doch selbst eine Antwort auf die Frage finden, warum er etwas so Unbegreifliches und Endgültiges getan hatte. Ein Freund versuchte eine Erklärung:
Ich sage das nicht oft, aber nachdem ich ihn so lange habe leiden sehen, stelle ich mir vor, dass der Selbstmord eine Heilung für seinen Schmerz war. Ich kann ihm seine Entscheidung nicht übel nehmen, und ebenso wenig weiß ich, ob ich die Kraft gehabt hätte, so lange wie Drew durchzuhalten. Viele wussten nicht, was er erdulden musste, und er ließ wenige nahe genug an sich heran, damit sie es sehen konnten. Aber diejenigen von uns, die ihn liebten und seine Qual miterlebten, werden ihm keinen Vorwurf machen, dass er dieses Leben hinter sich ließ. Dennoch hasse ich seine Krankheit und wünschte, ich könnte wenigstens noch ein einziges Mal hören, wie er mit seinem Jeep und der laut aufgedrehten Musik von U2 zu mir heraufbraust, und sehen, wie er braungebrannt und toll aussehend aus dem Auto herausspringt, um mich zu einer Fahrt durch das Tal abzuholen. Ich werde nie mehr der Gleiche sein. Niemand von uns, die ihn kennen, wird der bleiben, der er einmal war. Aber ich weiß, es war ein Segen für mich, einen Menschen wie Drew gekannt zu haben. Ein solches Geschenk wird nur wenigen Menschen zuteil.
Drews Familie, deren Wärme und deren Verständnis in einer gerechteren Welt mehr als ausreichend gewesen wären, um ihn am Leben zu erhalten, konnten es mit einer so erbarmungslosen und zerstörerischen Krankheit nicht aufnehmen. Ihre Traueranzeige – 70 –
endet mit einer einfühlsamen, knappen Feststellung: »Am 27. Januar 1996 nahm Drew sich das Leben. Er hatte aufgehört, seine Medikamente zu nehmen. Seine Krankheit entwickelte sich schneller als seine Bereitschaft, sie zu akzeptieren.« An dem Weihnachtsfest, bevor Drew von der Akademie abging, hatte er ein kleines Geschenk für seine Eltern unter den Weihnachtsbaum gelegt; es wurde als Letztes ausgepackt. In der Schachtel fanden sie die Schulterklappen für die Leutnantsuniform, die sie ihm an die Schultern heften sollten, wenn er in sechs Monaten seine Ernennung zum Offizier erhalten würde. Alle Kadetten in seiner Staffel erhielten ihre Ernennungen und Schulterklappen im Juni. Alle, außer Drew. Seine Eltern versuchten das dadurch gutzumachen, dass sie ihm die ungetragenen Schulterklappen an dem Tag seiner Beerdigung in die Hände legten.
And He will raise you up on eagle's wings, Bear you on the breath of dawn, Make you to shine like the sun, And hold you in the palm of this hand. You need not fear the terror of the night.3
Die Trauerfeier in der Air Force Academy fand an einem schönen, frischen und sonnigen Februartag statt. Die Flaggen der Akademie standen auf Halbmast, und in der Kapelle drängten sich junge Männer und Frauen in Uniform. Wie ein Mann erhoben sie sich, als zur Eröffnung die Hymne »Auf Adlers Schwingen« gesungen wurde, und hörten ihren Kameraden unter den Offizieren und Kadetten zu, die Stellen aus dem Alten und Neuen Testament verlasen. Der Geistliche sprach von Drews Führungsqualitäten und davon, wie er für so viele in seiner Klasse zum Vorbild geworden war. Sichtlich bewegt sagte er: »Ich glaube nicht, dass wir ermessen können, wie viele Qualen, wie viel Aufruhr in seinem Herzen und wie viel Angst Drew infolge seiner Krankheit ausstehen musste.« Einer nach dem anderen gingen fünf Kadetten und Offiziere – traurig, jung, besonnen und voller Kummer – zur Kanzel, um ihre Abschiedsreden zu halten. Ein Unterleutnant, ein enger Freund von Drew, war quälend gesprächig: »Diese Kapelle hat eine große Bedeutung in meinem Leben. Vor sechs Jahren trat ich als ängstlicher Neuling durch diese Tür. Vor anderthalb Jahren ging ich als ein
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glücklicher, frisch verheirateter Mann durch diese Tür hinaus. Heute kehre ich traurig hierher zurück, weil ich von einem Freund Abschied nehmen muss.« Der junge Offizier machte eine Pause, seine Trauer war spürbar. Er beendete seine Rede mit einem Trinkspruch auf die Piloten der Air Force, den er, Drew und ihre Mitkadetten an dem Abend ausgebracht hatten, als sie von der Akademie ihre Schulabzeichen entgegengenommen hatten. Der Trinkspruch war ursprünglich auf General Billy Mitchell gemünzt, den legendären Flieger und Befehlshaber der amerikanischen Luftwaffe im Ersten Weltkrieg:
As we soar among them there, We're sure to hear his plea, To take care my friend, Watch your six And do one more roll (...) Just for me.4
Die Trauergemeinde erhob sich zum Schlusslied: »We will run and not grow weary / For our God will be our strength, / And we will fly like the eagle, / We will rise again.«5 Einer nach dem anderen verließen die jungen Männer und Frauen die dreieckige Kapelle. Damit endet die Videoaufnahme; sie ist entsetzlich traurig, trauriger, als man es sich vorgestellt hat. Das Einzige, was mir durch den Kopf ging, war ein Satz, den ein Militärgeistlicher vor vielen Jahren gesagt hatte: »Ich weiß nicht, warum so junge Männer sterben müssen. Man meint, es müsste Gott das Herz brechen.«
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II Nur die Hoffnung ist dahin Psychologie und Psychopathologie
Wäre doch Hoffnung – nicht Gesundheit, nicht Freude Denn sie können kommen und wieder gehen Wie eine kurze Stunde bezeugt – Nur die Hoffnung ist dahin. EDWARD THOMAS
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Der Dichter Edward Thomas (1878-1917) schrieb im Alter von 29 Jahren an seine Frau: Da saß ich und dachte daran, wie ich mich selbst töten könnte. In meinem Revolver war noch genau eine Kugel. Ich konnte mich nicht erhängen. Und obwohl ich daran dachte, mir in Wheatham die Kehle mit einem Rasiermesser zu durchtrennen, hatte ich nicht die Kraft, dorthin zu gehen. Später lief ich aus dem Haus und überlegte, welche Folgen mein Selbstmord haben würde. Ich glaube, mir war das gleichgültig. Derartige Gedanken kamen mir drei oder vier Jahre lang mindestens ein Mal in der Woche, und sehr häufig in den letzten sieben Jahren.
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Kapitel 3
Leg ab den Bernstein und lösch die Lampe Zur Psychologie des Selbstmordes
Es ist Zeit, den Bernstein abzulegen, Zeit, die Worte auszutauschen, Zeit, die Lampe zu löschen über der Tür (...) MARINA ZWETAJEWA1
Der Junge kritzelte etwas auf einen Zettel, den er sich ans Hemd heftete. Dann ging er hinüber zur anderen Seite des Zimmers und erhängte sich genau gegenüber vom Weihnachtsbaum der Familie an einem Deckenbalken. Die Nachricht war kurz: »Fröhliche Weihnachten«. Die Eltern haben diese Botschaft nie vergessen und auch nie verstanden. Kein Selbstmord gleicht einem anderen. Jeder ist etwas ganz eigenes, unverständlich und schrecklich. Dem, der ihn beging, wird der Selbstmord als die letzte und beste von vielen schlechten Möglichkeiten erschienen sein, und jeder Versuch der Lebenden, diesen Grenzbereich zu erkunden, kann nur eine Ahnung liefern und zum Verrücktwerden lückenhaft sein. Es ist wenig, was Freunden oder Familienangehörigen, Ärzten oder Wissenschaftlern bleibt: Gesprächsfetzen, Erinnerungen an ein vollkommen normales, im Rückblick aber verdächtiges Verhalten, eine beiläufige Notiz oder ein Tagebucheintrag, Nachgedanken zu unserer eigenen Beziehung zu dem Toten, Bruchstücke, die von Schuldgefühlen oder Wut oder den furchtbaren Verlust überlagert und darum erst recht nicht zu verstehen sind. Wir bleiben zurück mit der Weihnachtsbotschaft dieses Jungen. Sollen verstehen, was eine Mutter von drei Kindern auf den Computerbildschirm geschrieben hat: »Ich liebe euch. Es tut mir leid. Lernt fleißig.« Sollen den erfolgreichen Geschäftsmann verstehen, der vor einen U-Bahnzug springt, den brillanten Doktoranden, der sich mit Zyankali aus seinem Labor – 75 –
umbringt; den viel versprechenden farbigen Jungen, der mit fünfzehn Jahren seinen Tod provoziert, indem er mit einer Spielzeugpistole auf einen Polizisten zielt. Was wir begreifen können, ist äußerst wenig: Wieder und wieder lesen wir die letzten Zeichen und Botschaften, doch das erstickte Leben lässt sich nicht zurückholen. Sosehr wir uns wünschen, wir könnten die psychische Welt des Selbstmörders rekonstruieren – was uns sichtbar wird, bleibt stets indirekt und ungenügend: Die Individualität von Geist und Gemüt ist eine unüberwindliche Schranke. Jeder hat gute Gründe für einen Selbstmord, so zumindest muss es denen erscheinen, die ihn suchen. Die meisten Menschen finden bessere Gründe dafür, am Leben zu bleiben, und damit wird alles nur noch komplizierter. Doch ist der Selbstmord keine ganz und gar private Handlung, er ist nicht völlig idiosynkratisch oder unvorhersehbar. Es gibt Möglichkeiten, die Voraussetzungen eines Selbstmordes psychologisch zu verstehen. Selbst wenn wir damit die gewünschte allerletzte Klarheit nicht erreichen, bekommen wir doch eine Grundlage, auf der wir aufbauen können. Abschiedsschreiben von Selbstmördern – ein offensichtlicher Ausgangspunkt – versprechen oft mehr, als sie halten. Man sollte annehmen, nichts komme der Wahrheit näher als Nachrichten und Briefe, die Selbstmörder hinterlassen haben, aber das ist nicht der Fall. Unsere Vorstellungen davon, wie sich Menschen im Angesicht ihres Todes fühlen müssen und wie sie handeln, gehen über das, was sie wirklich tun, und über die Gründe dafür hinaus. Ed Shneidman zum Beispiel, der als Fachmann gilt, teilt angesichts der oft so enttäuschenden Banalität letzter Mitteilungen nicht die verbreitete Hoffnung, dass die Aufzeichnungen aus den letzten Augenblicken eines Lebens eine tiefe oder tragische Sicht des Sterbens bieten. »Abschiedsbriefe ähneln oftmals Parodien von Postkarten, die man von einer Reise zum Grand Canyon, den Katakomben oder den Pyramiden nach Hause schickt – man tut es eigentlich nur pro forma, ohne die Großartigkeit der beschriebenen Szenerie oder die Tiefe der menschlichen Gefühle, die man doch in solchen Situationen am Werk vermutet, widerzuspiegeln.«2 Natürlich kann man einwenden, dass die meisten Menschen, die sich entschließen, ihrem Leben ein Ende zu setzen, die Fähigkeit verloren haben, die Dinge tief oder groß zu empfinden, profunde
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oder originelle Überlegungen anzustellen oder die Welt anders als grau in grau zu sehen. Grenzerfahrungen, dunkle und völlig im Innern ablaufende Handlungen oder Vorgänge in Worte zu fassen ist schon für tatkräftige und aktive Geister schwierig genug: Wie also sollten Menschen, die deprimiert, verwirrt und hoffnungslos sind, die unter Zwängen leiden, beredsam sein? Natürlich werden Mitteilungen von Selbstmördern, wenn sie aufschlussreich sind oder starke Einsichten enthalten, häufig zitiert, eben weil sie einen einzigartigen Einblick in die Mentalität von Selbstmördern gewähren. Diese Mitteilungen mögen eindrucksvoll, fesselnd oder von bissigem Humor sein, typisch sind sie nicht. Überhaupt hinterlassen nur wenige Selbstmörder Abschiedsschreiben. Das geschieht vielleicht in einem von vier Fällen,3 und es ist nicht klar, ob diese Nachrichten für den emotionalen Zustand, für Motive und Erfahrungen auch derjenigen repräsentativ sind, die nichts hinterlassen. Vor viertausend Jahren verewigte ein Ägypter seine Verzweiflung in einer Erzählung und vier kurzen Gedichten. Dieses PapyrusDokument, das sich in einem Berliner Museum befindet, ist wohl der älteste Abschiedsbrief eines Selbstmörders, der uns zugänglich ist; der britische Psychiater Chris Thomas hält die Texte für Grübeleien eines zutiefst depressiven, wahrscheinlich psychotischen Geistes. Im zweiten dieser vier Gedichte bringt der antike Schreiber sein Elend in Bildern seiner Epoche zum Ausdruck:
Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, mehr als der Gestank von Aasgeiern an Sommertagen, wenn der Himmel glüht. Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, mehr als der Gestank von Krokodilen, als ein ganzer Wohnplatz von Krokodilen. Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, mehr als eine Ehefrau, über die man Lügen verbreitet wegen eines Mannes.
Später geht er von der Qual seines Lebens zur Verlockung des Todes über:
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Der Tod steht heute vor mir wie der Duft von Weihrauch, wie Sitzen unter dem Segel am Tag des Windes. Der Tod steht heute vor mir wie der Duft der Lotosblüten, wie Wohnen am Rand der Trunkenheit. Der Tod steht heute vor mir wie der Wunsch eines Menschen, sein Heim wiederzusehen, nachdem er viele Jahre in Gefangenschaft verbrachte.4
Seitdem haben Selbstmörder Nachrichten, geschrieben mit Tinte, Farbe, Bleistift, Kreide oder Blut, hinterlassen. Der französische Künstler Jules Pascin schnitt sich die Pulsadern auf und kritzelte mit seinem Blut eine kurze Botschaft – »Lucy, pardonnez-moi«. Dann erhängte er sich. Der russische Dichter Sergej Jessenin war gerade dreißig Jahre alt, als er sich an einem Heizungsrohr aufknüpfte – unter der Decke eines Zimmers, das sich in völliger Unordnung befand, übersät mit seinen Habseligkeiten und in Fetzen gerissenen Manuskripten. Einen Tag, bevor er sich umbrachte, schrieb er ein ganzes Gedicht mit seinem eigenen Blut:
Nun leb wohl, mein Freund, auf Wiedersehen. Dich, mein Guter, schließ ich in mein Herz. Vorbestimmtes Auseinandergehen – es verspricht ein Treffen anderwärts. Nun leb wohl, gräm dich nicht meinetwegen, spar dir Händedruck und Rederei, – sterben ist nicht neu in diesem Leben, doch auch leben ist nicht grade neu.5
Die meisten Abschiedsbriefe sind weniger dramatisch. Manche benutzten die Worte anderer, obwohl sie selbst Dichter waren. Paul Celan zum Beispiel unterstrich einen Satz aus einer Hölderlinbiografie – »Manchmal wird dieser Genius dunkel und versinkt in den bitteren Brunnen seines Herzens«6 – und ertränkte sich anschließend in der Seine. Andere hinterlassen umfangreichere Aufzeichnungen ihrer Gedanken. Das Tagebuch von Cesare Pavese aus seinem letzten – 78 –
Lebensjahr ist eine grenzenlose Leidensgeschichte. »Die Kadenz des Leidens hat begonnen. Jeden Abend, beim Dunkelwerden, Druck auf dem Herzen – bis zur Nacht.« Dann, später, nicht lange bevor er sich umbrachte: »Jetzt überflutet der Schmerz auch den Morgen.«7 Abschiedsbriefe können unterschiedlich lang sein. Jan O'Donnell von der Oxford University und seine Kollegen haben Abschiedsbriefe von Menschen untersucht, die sich im Londoner U-Bahnnetz umbrachten, und festgestellt, dass ihr Umfang von siebzehn Worten, auf einen Fahrschein gekritzelt, bis zu einem achthundert Worte umfassenden »Essay« reicht, »einem Bewusstseinsstrom, der im Verlauf einer Stunde auf einer Bank in einer U-Bahnstation geschrieben wurde und mit einer Schilderung der letzten Schritte zum Gleis und der Vorbereitungen auf die Ankunft des Zuges endet«.8 Die durchschnittliche Anzahl von Worten in den untersuchten Abschiedsbriefen entspricht in etwa der Anzahl der Wörter in diesem Absatz. Viele Abschiedsbriefe sind kurz und enthalten nur eine Warnung an diejenigen, die die Leiche finden werden. »VORSICHT! ZYANIDGAS IM BAD« zum Beispiel oder: »KEIN ZUTRITT. Ruft Paramedics / den Notdienst an.«9 Ebenso findet man detaillierte Anweisungen oder Bitten, was mit dem Leichnam geschehen, was den Kindern oder Eltern über den Selbstmord gesagt, wie das Vermögen verteilt werden oder was mit Katze oder Hund geschehen soll. Die Gründe, die für den Selbstmord angegeben werden, sind oft vage und lassen die zunehmende Qual und Erschöpfung nur ahnen. »Ich konnte es nicht länger ertragen.« – »Ich bin lebensmüde.« – »Es hat keinen Sinn mehr weiterzumachen.« Was dahinter steht, wird nicht näher ausgeführt.10 Jüngere Jugendliche sind, wenn sie die Motive ihres Selbstmordes oder ihre Wünsche in Bezug auf ihren Leichnam und ihre Besitztümer benennen, weniger genau als ältere und als Erwachsene.11 Beide Gruppen von Jugendlichen hinterlassen seltener Abschiedsschreiben als Erwachsene, doch machen sie häufig den ausdrücklichen Versuch, ihre Eltern, Brüder und Schwestern von einer Schuld an ihrem Selbstmord freizusprechen. So schrieb ein zwanzigjähriges Mädchen, das von einem Bürogebäude heruntersprang: »Niemand hat Schuld an meiner Tat. Es ist nur so, dass ich mich mit dem Leben selbst nicht versöhnen konnte. Gott sei meiner Seele gnädig.«12 In den meisten Abschiedsbriefen erscheint über die Hinterbliebenen
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nur Gutes.13 Aber wenn der Ton feindselig ist, dann kann das atemberaubend sein. Ein Mann, dessen Frau sich in seinen Bruder verliebt hatte, hielt einen Gasschlauch in seinen Mund; bevor er starb, schrieb er seiner Frau: »Ich habe Dich geliebt, aber ich sterbe voller Hass auf Dich und meinen Bruder.« Auf die Rückseite eines Fotos seiner Frau schrieb er: »Das ist das Bild einer anderen Frau – des Mädchens, das ich glaubte, geheiratet zu haben. Mögest Du Dich immer daran erinnern, dass ich Dich einst geliebt habe und dass ich Dich hasste, als ich starb.«14 Ähnlich feindselige Gefühle finden sich in einem anderen Brief: »Ich hasse Dich und Deine ganze Familie, und ich hoffe, dass Eure Seele keinen Frieden finden wird. Ich hoffe, ich werde dieses Haus heimsuchen, solange Ihr hier lebt, und ich wünsche Euch alles Übel dieser Welt.« [Im Original ein beredter Schreibfehler: »I hope, you never have piece of mind«.15] Zum Glück sind derart bittere Abschiedsbriefe selten. Im Allgemeinen sind die Briefe konkret und stereotyp.16 Man hat in einer ganzen Reihe von Untersuchungen echte mit simulierten Abschiedsbriefen verglichen. Letztere wurden von Versuchspersonen geschrieben, die (unterschieden nach Alter, Geschlecht, gesellschaftlichem Status) aufgefordert worden waren, ein Schreiben abzufassen, wie sie es tun würden, wenn sie einen Selbstmord planten. Die echten Briefe oder Mitteilungen gehen viel mehr in Einzelheiten; vor allem, wenn Direktiven erteilt werden, wie mit der Hinterlassenschaft oder mit Versicherungspolicen zu verfahren sei. Sie drehen sich stärker um den Schmerz und das Leid, das die Autoren mit ihrer Tat hervorrufen werden, sie sind neutraler im Ton, obwohl sie den psychischen Schmerz deutlicher zum Ausdruck bringen, und schließlich gebrauchen sie häufiger das Wort »Liebe«. Die simulierten Abschiedsbriefe dagegen beschäftigen sich eher mit den Umständen und den Gedanken, die zu dem (vorgestellten) Selbstmord führten, sie kommen häufiger auf den Akt des Selbstmordes zu sprechen und verbrämen Tod und Selbstmord öfter durch euphemistische Redewendungen. Selbst unter größten psychischen Qualen finden manche Menschen, bevor sie sich umbringen, noch die Zeit, um ihren Hinterbliebenen detaillierte Anweisungen zu geben. So schrieb zum Beispiel ein vierzehnjähriges Mädchen, bevor es sich in der Küche mit Gas das Leben nahm, folgenden Abschiedsbrief:
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Wen es auch betreffen mag: Wenn ich in meiner Kindheit sterbe, ist dies mein letzter Wille. Ich habe kein Geld außer $ 2,95 auf der Bank und ein bisschen in Briefmarken. Das soll Robert C., mein Neffe, erhalten. Meine Kleider sollen für wohltätige Zwecke weggegeben werden oder an Menschen, die sie haben wollen. Wenn ich aufgebahrt werde, möchte ich etwas Blaues anhaben. Wenn ich eine feierliche Beerdigung bekomme, sollen alle meine Freunde und Verwandten eingeladen werden. Meiner Mutter gebe ich alles, was ich habe und besitze. Mich hat niemand getötet. Ich möchte sterben. Ich habe mir das Leben genommen.17
Im Jahr 1931 nahm ein fünfundzwanzigjähriger Mann, der arbeitslos war und niedergeschlagen, weil er seine junge Frau zur Prostitution gezwungen hatte, damit beide etwas zum Leben hatten, Gift und starb. In seinem Abschiedsbrief heißt es unter anderem:
Liebe, liebe Betty, oh, wie ich Dich liebe, aber ich bin nicht der richtige Mann für Dich oder für das Leben. Ich habe gerade das tödlichste Gift genommen, das es gibt, und wenn Du diesen Brief liest, werde ich Gott sei Dank gegangen sein. Ich gebe Peggy [Bettys Hund] der Wirtin, sie soll sie für Dich halten, und einen Dollar für Futter bis Donnerstag, und ich habe auch gerade das Zimmer bis Donnerstag bezahlt. Die Quittung liegt bei. Ich bringe auch $ 23,00 in bar hinüber zur Jugendstrafanstalt, dazu deinen Ring, meinen Ring und meine Uhr, die Sachen sollen sie Dir geben, wenn Du rauskommst. Ich habe der Wirtin gesagt, dass ich diese Woche nicht hier bin, aber dass Du Montag wahrscheinlich zurück bist, für den Fall, dass Du nicht hier bist, habe ich ihr die Telefonnummer des Rechtsanwalts gegeben und ihr gesagt, sie solle ihn bitten, Dich zu besuchen, und sie wissen lassen, was Du mit den Sachen machen willst. Ich schreibe ihm auch einen Brief und erzähle ihm von dem Geld und den Ringen, die ich zu Dir hinüberbringe, und ich gebe ihm auch die Anweisung, dass er Dich nach Hause schicken soll oder zu meiner Mutter, wo immer Du auch hin willst.18
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Eine ganz andere Art von Anweisungen und Erklärungen hinterließ Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ein Engländer, der wegen Schulden im örtlichen Gefängnis saß. Er war davon überzeugt, dass er die Mitgottheit war, ein Sohn von Gott und Elias. Man hatte ihm das Rasiermesser nicht abgenommen, obwohl jedermann wusste, dass er verrückt war, und so wurde er an Kehle und Unterleib mit Schnittwunden tot aufgefunden. Er hinterließ Briefe an den Gefängnisdirektor, den Leichenbeschauer und seine Frau. Man sieht seine Geistesgestörtheit, aber trotz seiner Wahnvorstellungen war er in der Lage, den Überbringern der Todesnachricht an seine Frau abzuverlangen, dass sie dies mit besonderer und wohlüberlegter Sorgfalt tun sollten. An den Gefängnisdirektor schrieb er:
Ich bin Mr. Herschell, dem Geistlichen, bekannt, und er wird bestimmt den Brief an meine Frau persönlich überbringen. Ich möchte jedoch meinem Wunsch Ausdruck geben und es vollständig ihm überlassen, ob er sich dazu bereitfinden will oder nicht, ganz wie es ihm beliebt. Ich möchte ihn auch bitten, Dr. Williams zu fragen, ob er ihn begleiten wolle mit dem Elf-Uhr-Zug nach Newham, dort müssten sie einen Wagen zu Mrs. Jolly in Littledean nehmen und sie bitten, sie zu meiner Frau nach Cinderford zu begleiten. Sollte sie nicht zu Hause sein, dann wird sie in Drybrook bei meiner Schwester sein, wohin sie sich dann begeben und meiner Frau die Nachricht so sanft wie möglich überbringen müssten. Ich glaube, Dr. Herschell wird meiner Bitte nachkommen, wenn er meine sterbend verfasste Bestätigung liest, dass ich der lang erwartete Messias für sein Volk bin.19
Im Brief an den Leichenbeschauer kommt er auf die gerichtsmedizinische Untersuchung zu sprechen, die seiner Meinung nach vorgenommen würde, und lässt noch weniger Zweifel an seinem Geisteszustand:
Auf der einen Seite haben Sie die feierliche Versicherung, dass ich Gottes Sohn bin – das Lamm, das geschlachtet wurde vor Grundlegung der Welt, und auf der anderen Seite die bedrückende und schreckliche Tatsache, dass ich durch meine eigene Hand gestorben bin. Sie werden sicher nicht wagen, einen Urteilsspruch auf
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zeitweilige geistige Umnachtung zu fällen, da die Tat, so wie sie vollbracht worden ist, in jeder Hinsicht überlegt, vorbedacht und vorherbestimmt war und da meine Auferstehung von den Toten nach drei Tagen und drei Nächten ein solches Urteil als schändliche Verleumdung und Gotteslästerung bloßstellen würde.20
Wenige Abschiedsbriefe sind so unverhohlen seltsam oder psychotisch; die meisten enthalten keine Hinweise auf wirres oder wahnhaftes Denken. Aber wie wir sehen werden, sind Selbstmorde in den allermeisten Fällen auf psychische Krankheiten zurückzuführen, und deshalb ist es nicht erstaunlich, dass die meisten der hinterlassenen Mitteilungen und Aufzeichnungen das Elend erkennen lassen, die sich immer höher türmende Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit, in die solche Zustände führen. Eine akute Geisteskrankheit ist mit Qualen und Gefahren verbunden, mit einer chronischen Niedergeschlagenheit, die daher rührt, dass man mit der Krankheit leben und ständig befürchten muss, dass sie wiederkehrt. Die Angst, die durch Depression, manische Depression, Schizophrenie und die anderen schweren psychischen Störungen entsteht, kann gar nicht übertrieben dargestellt werden. Leiden, Hoffnungslosigkeit, Erregung und Scham mischen sich mit dem quälenden Bewusstsein von dem nicht wiedergutzumachenden Schaden, den die Krankheit Freunden, der Familie und dem eigenen Leben antut. Es ist eine tödliche Mischung. Eine Frau schrieb in ihrem Abschiedsbrief über ihren erfolglosen Kampf mit der Geisteskrankheit:
Ich wünschte, ich könnte es erklären, so dass es jemand verstehen würde. Aber ich fürchte, ich kann es nicht in Worte fassen. Es ist diese schwere, überwältigende Verzweiflung – dass man vor allem Angst hat. Lebensangst. Eine innere Leere bis zu gänzlicher Dumpfheit. Es ist, als ob innerlich schon etwas tot ist. Mein ganzes Sein hat sich seit Monaten in diese Leere zurückgezogen. Alle waren so gut zu mir – haben sich solche Mühe gegeben. Ich wünschte von Herzen, ich wäre anders, um meiner Familie willen. Dass ich meine Familie verletze, ist das Schlimmste, und dieses
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Schuldgefühl kämpfte mit dem Teil von mir, der nichts anderes wollte, als zu verschwinden. Da ist sicher noch ein letzter Lebensfunke, aber ich spüre ihn nicht. Obwohl es mir in letzter Zeit angeblich »besser« gehen soll – die Stimme in meinem Kopf, die mich verrückt macht, ist lauter als je zuvor. Anscheinend kann nichts und niemand zu ihr vordringen. Ich halte es nicht mehr aus. Ich glaube, da ist etwas psychologisch verknotet – verkehrt, das die Oberhand gewonnen hat und das ich nicht mehr bekämpfen kann. Ich wünschte, ich könnte verschwinden, ohne jemanden zu verletzen. Es tut mir leid.21
Eine zweiundvierzig Jahre alte Frau, die sich erschossen hat, hinterließ einen langen Brief, in dem sie ihren Charakter verteidigte und die Presse bat, aus ihrem Tod keine Sensation zu machen. Wie viele Geisteskranke machte sie sich Sorgen über die Folgen, die ihre Krankheit auf andere haben würde, in diesem Fall auf ihre Mutter. »Ich werde ihr mit diesen kaputten Nerven nicht mehr von Nutzen sein. Niemand, der die äußerste Entmutigung nicht erlebt hat, die ein nervöser Zusammenbruch mit sich bringt, darf sich zum Richter aufschwingen, denn er kann nicht ermessen, dass das allein einen Menschen zu dem Wunsch bringen kann zu sterben. «22 Benjamin Haydon, ein britischer Maler aus dem neunzehnten Jahrhundert, machte für seine letzten Worte Anleihen bei Shakespeare. Er hatte eine lange Geschichte von heftigen manisch-depressiven Zuständen hinter sich, war erregt und schlaflos. Der Mann schlitzte sich die Kehle auf und schoss sich anschließend eine Kugel in den Kopf. Sein Tagebuch war geöffnet, der letzte Eintrag lautete:
21. – Schrecklich geschlafen. Tiefbekümmert gebetet, in großer Erregung aufgestanden. 22. – Gott vergebe mir. Amen. Finis von B. R. Haydon »Auf die Folter dieser harten Welt spannt mich nicht länger.« 23
Shakespeare, König Lear
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Die »Nerven«, Erregungszustände, Hoffnungslosigkeit und ein ständiger mentaler Leidensdruck sind die üblichen Themen von Abschiedsbriefen. Der japanische Schriftsteller Ryuunosuke Akutagawa, der paranoid war und an Wahnvorstellungen litt (unter anderem glaubte er, dass in seinem Essen Maden seien), nahm im Alter von fünfunddreißig Jahren eine Überdosis Schlaftabletten. »Die Welt, in der ich jetzt lebe«, schrieb er, »ist ein Universum von kranken Nerven, durchsichtig wie Eis. (...) Natürlich möchte ich nicht sterben, aber das Leben ist ein Leiden.«24 Auch James Whale, der Regisseur von The Invisible Man, Journey's End und den klassischen Frankenstein-Filmen, sprach in seinem Abschiedsbrief, adressiert an ALLE DIE ICH LIEBE, von Nerven und Leiden:
Trauert nicht um mich. Meine Nerven sind völlig kaputt, das letzte Jahr habe ich Tag und Nacht im Todeskampf verbracht –wenn ich keine Schlaftabletten nahm –, und tagsüber fand ich nur Frieden, wenn ich mich mit Tabletten vollstopfte. Ich hatte ein wundervolles Leben, aber es ist zu Ende, meine Nerven werden schlimmer, und ich fürchte, sie werden mich woanders hinbringen müssen. [Er war wegen eines Nervenzusammenbruchs im Krankenhaus und bekam eine Schocktherapie.] Also verzeiht mir bitte, ihr alle, die ich liebe, und möge auch Gott mir vergeben, aber ich kann diesen Kampf nicht mehr ertragen, und es ist besser so für alle. (...) Ich mache niemandem einen Vorwurf – ich habe wunderbare Freunde, sie tun für mich, was sie können. (...) Ich habe mir ein Jahr lang große Mühe gegeben und alles versucht, was in meiner Macht steht, aber innen drin sieht es immer schlimmer aus, also nehmt es als Trost zu wissen, dass ich nicht mehr leiden werde.25
Obwohl er eine krankhafte Angst vor Wasser hatte, ertränkte er sich in seinem Swimmingpool. Sein Leben lang hatte es ihm der schwarze Humor angetan; passend dazu ließ er am Rand des Schwimmbeckens ein Buch mit dem Titel Don't Go Near the Water liegen. Das Bewusstsein, dass eine schwere Geisteskrankheit großen Schaden anrichtet – sowohl bei dem Kranken selbst als auch bei anderen –, und die Angst, dass sie jederzeit wiederkommen kann, spielen bei vielen Selbstmorden eine entscheidende Rolle.26 Intelli – 85 –
gente und gebildete Schizophreniepatienten beispielsweise, die eher abstrakt denken können und besser über ihre Krankheit Bescheid wissen als weniger gebildete, nehmen sich auch eher das Leben. Wer in jungen Jahren im Zusammenleben und in der Schule seine Sache gut macht und dann von so verheerenden Krankheiten wie Schizophrenie oder manischer Depression heimgesucht wird, der scheint für Schreckensvisionen von geistigem Zerfall und chronischem Kranksein besonders empfänglich zu sein. Solche Menschen erleben mit, wie ihre Träume verloren gehen und welchen Schaden sie ihren Freunden, Familienangehörigen und sich selbst unweigerlich zufügen. Randall Jarrell hat seiner Frau die kumulativen Auswirkungen seiner manischen Depression mit folgenden Worten geschildert: »Es war so komisch (...) als ob mich Feen entführt und an meiner Stelle einen Holzklotz hinterlassen hätten.«27 Er beschreibt, wie sich das Gefühl ausbreitet, nur noch ein Schatten seiner selbst zu sein, ohne jede Hoffnung, ein Gefühl des Versagens und der Scham und eine furchtbare Angst, dass die Krankheit wiederkommen könne. Für andere ist allein die Tatsache, dass die Krankheit tatsächlich zurückgekehrt ist, unerträglich; schon ein Mal ist zu viel. Virginia Woolf, die an psychotischen Manien und Depressionen litt, schrieb in dem ersten von zwei Abschiedsbriefen an ihren Mann:
Ich bin sicher, dass ich wieder wahnsinnig werde: Ich weiß, dass wir nicht noch eine dieser grauenhaften Zeiten durchstehen können. Und dieses Mal werde ich mich nicht erholen. Ich fange an, Stimmen zu hören, und kann mich nicht konzentrieren. So werde ich jetzt tun, was mir das Beste zu sein scheint.28
Wenige Tage später schrieb sie den zweiten Brief, und wieder gab sie ihren Wahnvorstellungen die Schuld an ihrem Selbstmord.
Mein Liebster, ich möchte Dir sagen, dass Du mich vollständig glücklich gemacht hast. Niemand hätte mehr tun können, als Du getan hast. Bitte, glaube das. Doch ich weiß, dass ich all dies niemals überwinden werde: und ich vergeude fortwährend Dein Leben. Es ist dieser Wahnsinn. Das kann mir niemand ausreden. Du kannst arbeiten, und es wird
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Dir viel besser gehen ohne mich. Du siehst, ich kann noch nicht einmal dies hier schreiben, das zeigt, wie Recht ich habe. Alles, was ich sagen will, ist, dass wir, bis diese Krankheit kam, vollkommen glücklich waren. Und dies nur wegen Dir. Niemand hätte so gut sein können, wie Du es warst, vom ersten Tag an bis heute. Alle wissen das. V. Würdest Du alle meine Aufzeichnungen vernichten ?29
Danach füllte Virginia Woolf ihre Taschen mit schweren Steinen und stieg in den Fluss. Wenn man das Leben eines Selbstmörders betrachtet, ist man versucht, in den Entschluss ein ungeheuer komplexes Gewebe von Gründen hineinzulesen, und natürlich ist dies gerechtfertigt. Nicht eine Krankheit allein und kein einmaliges Ereignis verursacht den Selbstmord, und niemals wird man alle, ja noch nicht einmal die meisten Motive in Erfahrung bringen, die einen Menschen dazu treiben, sich das Leben zu nehmen. Aber fast immer ist ein psychopathologischer Grund vorhanden, der lebensgefährlich ist. Liebe, Erfolg und Freundschaft reichen nicht immer aus, um die Qualen und das Zerstörende einer schweren Geisteskrankheit aufzufangen. Genau dies wollte der amerikanische Künstler Ralph Barton in seinem Abschiedsbrief erklären:
Jeder, der mich kannte und davon hört, wird eine andere Erklärung finden, warum ich es getan habe. Diese Erklärungen werden alle dramatisch sein – und völlig falsch. Jeder vernünftige Arzt weiß, dass die Gründe für Selbstmord immer psychopathologischer Natur sind. Schwierigkeiten im Leben beschleunigen nur das Eintreten des Ereignisses – und der wahre Selbstmörder fabriziert seine Schwierigkeiten selbst. Ich habe kaum wirkliche Schwierigkeiten gehabt. Im Gegenteil, ich habe ein im Vergleich ungewöhnlich glänzendes Leben geführt. Und ich erfuhr mehr Zuneigung und Anerkennung, als mir zustehen. Die charmantesten, intelligentesten und bedeutendsten Menschen, die ich kannte, mochten mich – auch die Liste meiner Feinde ist schmeichelhaft für mich. Ich war immer kerngesund. Aber seit meiner Kindheit litt ich an einer Schwermut, die in den letzten fünf Jahren Symptome zu zeigen begann, die eindeutig auf manische Depression hinweisen. Sie hat verhindert, dass ich meine Talente voll – 87 –
ausschöpfen konnte, und in den letzten drei Jahren hat sie das Arbeiten überhaupt zu einer Tortur werden lassen. Sie hat es mir unmöglich gemacht, die einfachen Freuden des Lebens zu genießen, die anderen Menschen durch das Leben helfen. Ich lief von Frau zu Frau, von Haus zu Haus und von Land zu Land in dem lächerlichen Versuch, mir selbst zu entkommen. Damit, fürchte ich, habe ich viele Menschen, die mich liebten, unglücklich gemacht.30
Barton zog seinen Pyjama und einen silbernen Morgenmantel an, legte sich ins Bett, schlug eine Darstellung des menschlichen Herzens aus Gray's Anatomy auf und schoss sich in den Kopf. Schwierigkeiten im Leben beschleunigen den Selbstmord nur, schrieb Barton; sie verursachen ihn nicht. Viele Anhaltspunkte sprechen dafür, dass er Recht hat. Aber welche Schwierigkeiten beschleunigen diesen Prozess am meisten ? Und warum ? Die Schicksalsschläge, Todesfälle oder Scheidungen, die für Selbstmorde verantwortlich gemacht werden, sind Unglücksfälle und Enttäuschungen, die jeden von uns erwarten. Doch nur wenige bringen sich deshalb um. Am besten beschreibt A. Alvarez die zugespitzt persönliche Deutung, die suizidal veranlagte Menschen solchen Ereignissen geben:
Die von Selbstmördern aufgeführten Gründe sind meist recht beiläufige Bemerkungen. Bestenfalls mildern sie die Schuldgefühle der Hinterbliebenen, beschwichtigen harmlose Gemüter und bestärken die Soziologen in ihrer endlosen Suche nach überzeugenden Kategorien und Theorien. Diese Gründe gleichen einem alltäglichen Grenzzwischenfall, der einen großen Krieg auslöst. Die wirklichen Motive, die einen Menschen dazu treiben, sich das Leben zu nehmen, sind anderer Natur; sie gehören der abwegigen, widerspruchsvollen, labyrinthischen und dem Blick meist verborgenen Innenwelt an.31
Jede Kultur hat unterschiedliche Motive zum Selbstmord betont. Im antiken Rom waren, nach Anton van Hooff, Scham, Kummer und Verzweiflung die Hauptgründe für junge Männer, sich das Leben zu nehmen.32 Im neunzehnten Jahrhundert untersuchte und klassifizierte Brierre de Boismont die Ursachen und Motive von fast fünftausend – 88 –
Selbstmorden in Frankreich und kam zu dem Schluss, dass Wahnsinn und Alkoholismus die Wichtigsten seien, gefolgt von unheilbaren Krankheiten, »Kummer und Enttäuschung« und »enttäuschter Liebe«.33 Nach Enrico Morselli, der, ebenfalls im neunzehnten Jahrhundert, europäische Statistiken ausgewertet hat, sind die meisten Selbstmorde auf Wahnsinn zurückzuführen; als weitere Gründe nannte er, in der Reihenfolge ihrer Bedeutung, »Lebensmüdigkeit«, »Leidenschaften« und »Laster«. Weiter unten in der Liste und verblüffend menschlich in der Wortwahl führte er auf: »Verzweiflung – Gründe unbekannt und unterschiedlich.« Im zwanzigsten Jahrhundert fanden spezifischere Erkenntnisse, wenn auch nicht unbedingt mit einem größeren Ausdrucksvermögen formuliert, Eingang in die Debatte über die Motive von Selbstmorden. In den letzten Jahren haben sich Psychologen und Psychiater verstärkt mit dem Verhältnis zwischen »Lebensereignissen« – einer verqueren, blutleeren Phrase für Katastrophen und herzzerreißende Erlebnisse – und dem Ausbruch von psychischen Krankheiten wie Depression, Manie und Schizophrenie beschäftigt. Lebensereignisse können natürlich auch positiv sein (zum Beispiel Heirat oder Beförderung), aber die meisten Forscher haben sich auf negative Ereignisse wie Krankheiten, Scheidung oder Trennung, Tod oder Krankheit in der Familie, familiäre Streitigkeiten und finanzielle oder Arbeitsprobleme konzentriert. Die Annahme, dass aufreibende Ereignisse eine psychische Krankheit auslösen oder verschlimmern, ist in vieler Hinsicht gerechtfertigt. Ist die vorhandene Krankheit oder die biologische Disposition stark ausgeprägt, können solche Ereignisse auch beim Selbstmord eine Rolle spielen. Man weiß, dass Stress sich nicht nur auf das Immunsystem des Körpers auswirkt und die Produktion von Stresshormonen zur Folge hat, sondern auch den Schlaf- und Wachzyklus beeinflusst (der seinerseits eine entscheidende Rolle in der Pathophysiologie von Manien und Depressionen spielt). Tom Wehr und seine Kollegen vom National Institute of Mental Health haben beispielsweise gezeigt, dass psychischer Stress, bestimmte Medikamente und Krankheiten sowie starke Licht- und Temperaturschwankungen zu Störungen der Tagesrhythmen führen können;34 derartige Störungen können ihrerseits bei genetisch bedingt anfälligen Personen Manie oder Depression auslösen. Doch besteht keine direkte Relation zwischen Lebensereignissen,
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Stress und Erkrankungen einerseits und einem psychiatrischen Krankheitsbild andererseits. Ist ein Mensch manisch oder depressiv, dann nicht nur auf Grund bestimmter bedeutsamer Ereignisse, die ihm widerfahren sind.35 Manisch-Depressive stehen in einer ausgeprägten Wechselwirkung mit der Außenwelt und den Menschen ihrer Umgebung: Oft schrecken sie ihre Mitmenschen durch Wut, Rückzug oder gewalttätiges Verhalten ab, und es kommt zu Entfremdungsprozessen oder zu einem Verhalten, das zur Scheidung oder zum Verlust des Arbeitsplatzes führt. Was als Ursache eines Rückfalls erscheint, kann durch die Krankheit selbst hervorgebracht worden sein. (So gibt es auch keine ausgeprägte Relation zwischen Arbeitslosigkeit und Selbstmord.36 Andererseits können heftiges Trinken, Geisteskrankheiten und Persönlichkeitsstörungen natürlich dazu führen, dass man seinen Arbeitsplatz verliert.) Die kausalen Beziehungen zeigen sich als Wechselwirkungen, hinzu kommt noch, dass depressive oder psychotische Menschen auf Stress ganz anders reagieren als gesunde. Dementsprechend haben viele Forscher ihre Untersuchungen auf so genannte unabhängige Lebensereignisse wie Todesfälle oder schwere Krankheiten in der Familie beschränkt. Im Unterschied zu »Ereignissen« wie Scheidungen oder finanziellen Problemen, die von einer Geisteskrankheit beeinflusst sein können, treten unabhängige Lebensereignisse eher »zufällig« ein. Die Untersuchungen zeigen, dass dem Ausbruch manischer und schizophrener Episoden meistens eine deutliche Zunahme von Lebensereignissen vorausgeht,37 wobei der Einfluss von psychosozialem Stress in späteren Stadien der manisch-depressiven Erkrankung allerdings wieder abnimmt (oft verläuft die Krankheit dann in einem eigenen Rhythmus).38 Patienten mit gestörten Stimmungszuständen sind im Allgemeinen häufiger von aufreibenden Lebensereignissen betroffen als Schizophrene.39 Die Psychologin Sherry Johnson und ihre Kollegen von der Brown University fanden heraus, dass negative Lebensereignisse bei manisch-depressiven Patienten nicht nur eine höhere Rückfallquote zur Folge haben, sondern dass diese nach solchen Ereignissen auch längere Zeit benötigen, um sich von ihren depressiven oder manischen Schüben zu erholen. Ohne gravierende Stressursachen brauchen sie dazu etwa vier Monate. Gehen dem Rückfall jedoch bedeutsame negative Lebensereignisse voraus, dann dauert es im Schnitt knapp elf Monate, bis sie wieder ins Gleichgewicht finden.40 Diese fast drei Mal längere Erholungsdauer
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ist nicht nur eine qualvolle Zeit für die Patienten und ihre Familien, in dieser Zeit besteht auch eine erhöhte Selbstmordgefahr. Einem Selbstmord geht oft ein plötzliches aufwühlendes Ereignis oder eine Katastrophe voraus,41 aber über Art und Ausmaß der Krise, die solche Ereignisse hervorrufen, wissen wir wenig. Sicher besteht die größte Gefahr in der explosiven Wirkung, die das Ereignis für den mentalen Zustand hat. Doch letzten Endes wirkt sich jeder psychische Stress anders aus, die Folgen hängen von den Lebenserfahrungen eines Menschen ab, davon, wie leicht er an Mittel zum Selbstmord herankommt, wie groß seine Hoffnungslosigkeit ist. Eine Rolle spielt auch, an welcher Geisteskrankheit er leidet und wie stark diese ausgeprägt ist. Zum Beispiel gehen den Selbstmorden von Alkoholund Drogenabhängigen häufiger Schwierigkeiten und Konflikte in persönlichen Beziehungen oder drohende Verhaftungen oder Straferfolgungen voraus als den Selbstmorden von Depressiven.42 (Manchmal liegen die Gründe für Verzweiflungszustände auch jenseits unserer Vorstellungskraft. Ein sechsjähriges Mädchen, das sich aus einem fahrenden Auto stürzen wollte, sagte, als sie in eine psychiatrische Klinik gebracht wurde: »Ich habe Hunger. Ich beiße Leute und versuche, sie aufzuessen. Ich bin ein schlechtes Mädchen und sollte deshalb sterben.«43) Auch die Geschlechtszugehörigkeit spielt eine Rolle. In einer umfangreichen finnischen Studie44 wurden die Partner von Selbstmördern gefragt, was ihrer Meinung nach die Gründe für den Suizid gewesen seien. Für Frauen wurde als wichtigster Grund eine schwere Geisteskrankheit genannt, für Männer dagegen eine körperliche Krankheit. Für beide Gruppen wurden auch persönliche Zerwürfnisse als einflussreicher zusätzlicher Faktor angegeben. Unterschiede auf Grund der Geschlechtszugehörigkeit gibt es auch in jüngerem Alter. Jungen oder männliche Jugendliche durchleben in den vierundzwanzig Stunden vor ihrem Selbstmord häufiger als Mädchen ein krisenhaftes Ereignis.45 Besonders verbreitet sind abgebrochene Beziehungen zu Freundinnen, Disziplinprobleme oder Schwierigkeiten mit der Justiz (zum Beispiel ein Schulverweis oder eine Vorladung vor das Jugendgericht), demütigende Vorfälle, öffentliches Versagen oder eine Zurückweisung. David Shaffer, Kinderpsychiater an der Columbia University in New York, hat festgestellt, dass viele männliche Jugendliche, die sich das Leben
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nehmen, nicht nur depressiv sind, sondern auch aggressiv, impulsiv und von lebhaftem Temperament; häufig trinken sie viel, nehmen Drogen und haben Schwierigkeiten in ihren Beziehungen zu anderen.46 Viele Ärzte und Wissenschaftler teilen diese Ansicht. Bei solchen Jugendlichen sind depressive Krankheiten in Verbindung mit Drogenmissbrauch verbreitet – eine kritische Mischung, wenn ein unangenehmes oder quälendes Ereignis hinzukommt. Dass die meisten Eltern die Anzeichen einer Depression und Selbstmordgedanken bei ihren heranwachsenden Kindern nicht bemerken, macht die Sache nur schlimmer.47 Aus jüngeren Untersuchungen geht hervor, dass Jugendliche, die unter Depressionen leiden, eher zum Selbstmord neigen, wenn sie das Erwachsenenalter erreichen, als solche, die keine psychischen Krankheiten haben.48 Ein weiteres verbreitetes Profil eines jugendlichen Selbstmörders ist der leistungsstarke, ängstliche oder depressive Perfektionist. In solchen Fällen können wirkliche oder eingebildete Rückschläge und Misserfolge einen Selbstmord herbeiführen. Es ist natürlich oft schwierig festzustellen, wie ernst der psychopathologische Befund und das mentale Leiden von Kindern oder Jugendlichen wirklich sind, weil sie in der Regel normal erscheinen, anderen gefallen und keine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollen. Die wirklichen Gründe für den Selbstmord entziehen sich. Folgendes Gedicht schrieb ein fünfzehnjähriger Junge zwei Jahre, bevor er sich umbrachte:
Einmal (...) schrieb er ein Gedicht. Und er nannte es »Chops«, weil so sein Hund hieß, denn darum ging es und weiter nichts. Und der Lehrer gab ihm eine »Eins« und einen goldenen Stern. Und seine Mutter hängte es an die Küchentür und las es allen Tanten vor. Einmal (...) schrieb er ein anderes Gedicht. Und nannte es »Unschuld mit Fragezeichen«, weil so sein Kummer hieß denn darum ging es und weiter nichts.
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Und der Lehrer gab ihm eine »Eins« und fixierte ihn mit einem seltsamen Blick. Und seine Mutter hängte es nicht an die Küchentür, weil er es ihr nicht zeigte. Einmal, um drei Uhr morgens, (...) versuchte er noch ein Gedicht und gab ihm keinen Namen, absolut nichts, denn darum ging es und weiter nichts. Und er gab sich selbst eine »Eins« und einen Schnitt an beiden feuchten Handgelenken, und er hängte es an die Badezimmertür, weil er es zur Küche nicht mehr schaffte.49
Psychischer Schmerz oder Stress allein – so groß Verlust oder Enttäuschung, Scham oder Zurückweisung auch gewesen sein mögen – sind selten ein ausreichender Grund für einen Selbstmord. Der Entschluss zu sterben lässt sich in hohem Maße darauf zurückführen, dass Ereignisse in einen ganz bestimmten Zusammenhang gesetzt werden; der gesunde Verstand dagegen konstruiert in der Regel keine Ereignisse, die so verheerend sind, dass sie einen Selbstmord rechtfertigen. Stress und Schmerz sind relativ und höchst subjektive Erfahrungen. Es gibt Menschen, die unter Stress aufblühen und ohne diesen nicht wissen, was sie tun sollen; Chaos und emotionale Umbrüche gehören zu ihrem psychischen Wohlbefinden. Viele Selbstmordgefährdete – zum Beispiel Menschen mit depressiven oder manisch-depressiven Erkrankungen – kommen zwischen den Krankheitsschüben außerordentlich gut mit sich zurecht, selbst wenn sie unter starkem Druck stehen, unsicher sind oder immer wieder emotionale oder finanzielle Rückschläge erleiden. Die Depression erschüttert diese Fähigkeit. Wird die geistige Flexibilität und Anpassungsfähigkeit von einer Geisteskrankheit, von Alkohol- oder Drogenmissbrauch oder anderen psychiatrisch auffälligen Störungen untergraben, dann gerät die Abwehr in Gefahr. Ähnlich einem angeschlagenen Immunsystem, das für bestimmte Infektionen anfällig ist, ist ein kranker Geist angreifbar durch die Wechselfälle des Lebens. Die Schnelligkeit und Flexibilität eines gesunden Geistes, der Glaube oder die Hoffnung, dass sich die Dinge vielleicht von selbst regeln, sind Ressourcen, die psychisch Kranke verloren haben. Es ist bekannt, dass die Unfähigkeit, flüssig zu denken, klar zu
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überlegen oder hoffnungsvoll in die Zukunft zu sehen, eine Konstellation herbeiführen kann, die alle Merkmale einer Depression hat. Man weiß auch, dass bei den meisten Selbstmorden Depressionen entscheidend sind. Neuropsychologen und Ärzte haben festgestellt, dass depressive Menschen langsamer denken, sich leichter ablenken lassen, bei geistigen Aufgaben schneller ermüden und darüber klagen, dass ihr Gedächtnis zu wünschen übrig lässt.50 Depressive Patienten erinnern sich eher an negative Erfahrungen und Fehlschläge, und ihnen kommen eher Worte mit einem depressiven als solche mit positivem Kontext in den Sinn. Auch unterschätzen sie eher ihre Erfolgschancen, wenn sie eine bestimmte Aufgabe übernehmen und erledigen sollen. Die geschwächten kognitiven Funktionen akut depressiver Patienten finden sich auch bei stark selbstmordgefährdeten Patienten, vor allem bei denen, die kurz zuvor einen Selbstmordversuch unternommen haben. Selbstmordgefährdete Patienten finden nicht so leicht Lösungen, wenn sie mit Problemen konfrontiert werden.51 Ihr Denken ist zwanghafter und rigider, die Optionen, die sie wahrnehmen, verengen sich auf gefährliche Weise,52 bis schließlich der Tod als einzige Alternative erscheint – manchmal sogar nicht nur als einzige, sondern auch als höchst verführerische und romantische Alternative. Das geht zum Beispiel aus den Zeichnungen einer neunzehnjährigen Collegestudentin hervor, die sie ihrem Psychologen gab. Sie illustrieren den Selbstmord als ein ruhiges Ende der Qual, als einlullende Alternative zu den Problemen des Lebens. In psychologischen Tests beschreiben suizidale Patienten ihre Erfahrungen auf negative, vage und diffuse Weise und blicken mit einem Gefühl der Orientierungslosigkeit und Verzweiflung in die Zukunft.53 Werden sie aufgefordert, an Dinge zu denken, die sie für die Zukunft erwarten, dann fällt ihnen viel weniger ein als Menschen ohne Neigung zum Selbstmord.54 Oft hält nur ein Gefühl der Verantwortung gegenüber Familienangehörigen oder die Sorge wegen der Folgen, die ein Selbstmord für ihre Kinder haben würde, solche Menschen am Leben, die ansonsten einen starken Wunsch verspüren, ihr Leben zu beenden.55 Sind Menschen selbstmordgefährdet, ist ihr Denken paralysiert, sie haben kaum Zukunftsvorstellungen oder buchstäblich gar keine. Ihre Stimmung ist verzweifelt, und ihr gesamtes mentales Leben ist von tiefer Hoffnungslosigkeit durchdrungen. Die Zukunft kann nicht von
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Zeichnungen einer neunzehnjährigen Collegestudentin57
der Gegenwart gelöst werden, und diese ist derart qualvoll, dass es überhaupt keinen Trost gibt. »Das ist mein letztes Experiment«, schrieb ein junger Chemiker in seinem Abschiedsbrief. »Wenn es eine ewige Qual gibt, die schlimmer ist als meine, dann müsste man sie mir zeigen.«56 Dieses Gefühl einer unbezwingbaren, hoffnungslosen und durch und durch negativen Einstellung zur Zukunft ist eines der sichersten Anzeichen für einen drohenden Selbstmord. Aaron Beck und seine Kollegen von der University of Pennsylvania haben in einer Reihe von Studien gezeigt, dass Hoffnungslosigkeit sowohl bei stationären
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als auch bei ambulanten Patienten, die an Depression leiden, in einer engen Beziehung zur Selbstmordgefahr steht.58 Zum gleichen Ergebnis kam Jan Fawcett vom Chicagoer Rush-Presbyterian Hospital in seinen Langzeitstudien über Anzeichen für Selbstmordgefährdung.59 Depression ist so lange erträglich, wie der Glaube erhalten bleibt, dass sich die Situation bessern wird. Bricht dieser Glaube zusammen oder verschwindet ganz, dann wird der Selbstmord zu einer Option, die in den Bereich des Möglichen rückt. Am 29. Oktober 1995 tötete sich die zwanzigjährige Dawn Renee Befano, eine begabte, frei schaffende Journalistin aus Maryland, die seit Jahren unter schweren Depressionen litt. Sie hinterließ 22 Tagebücher, die als unveröffentlichte Manuskripte vorliegen. Auszüge aus dem Tagebuch, das sie in den Wochen vor ihrem Tod geschrieben hat, zeigen, wie unerträglich ihr die Welt geworden war, wie ihre Zukunftsvorstellungen zusammenschrumpften, bis nichts mehr von ihnen übrig blieb, und wie ihr gesamtes Fühlen und Denken von einer quälenden, alles überflutenden Hoffnungslosigkeit ergriffen wurde.
9. Oktober So wie ich mich jetzt fühle, halte ich es keinen Monat länger aus. Ich bezweifle nicht, dass ich braune Augen habe, und ich bezweifle nicht mein Schicksal: Ich werde mir innerhalb eines Monats das Leben nehmen, wenn ich nicht bald Erleichterung verspüre. Ich werde immer müder, immer verzweifelter. Ich bin dabei zu sterben. Ich weiß, dass ich sterbe, und ich weiß, dass es durch meine eigene Hand geschehen wird. (...) Ich bin unendlich müde, und alle Menschen um mich herum sind meiner Krankheit müde.
10. Oktober Draußen ist die Welt frisch und von einem klaren Blau, erfrischendes Herbstwetter, wunderschönes Wetter. Mir geht es verdammt schlecht, ich bin gefangen in einem schwarzen freien Fall. Durch den Gegensatz wird beides noch extremer. Auf eine merkwürdige Weise aber bin ich ruhig, ich habe mich in mein Schicksal ergeben. Wenn es mir Ende November nicht besser geht, werde ich den Tod dem Wahnsinn vorziehen.
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So oder so wird Ende des nächsten Monats alles vorbei sein. Es wird alles vorbei und erledigt sein. Mir wird alles zur Qual. Ich möchte nicht mehr leben, aber ich muss durchhalten bis zu der deadline, die ich mir gesetzt habe.
11. Oktober Ich habe Angst. Was wird es sein, Tod oder Wahnsinn? Wenn ich ehrlich bin, dann kann ich mir nicht so recht vorstellen, dieses Leben noch zwei Wochen auszuhalten. Noch mehr Strafe ertrage ich nicht. Wenn ich sterbe, hinterlasse ich nur diese Tagebücher. (...) Ich glaube, ich werde keinen Abschiedsbrief schreiben, diese Tagebücher sind mehr als genug.
17. Oktober Ich kann nicht denken. Alles ist durcheinander. Ich möchte in einen tiefen Schlaf versinken, verschwinden. Ich bin so müde. Es ist so unendlich anstrengend, sich um alles zu kümmern. Immer tiefer dringt der Nebel in mich ein. Ich will einfach nur, dass die Welt mich in Ruhe lässt, aber sie dringt in mich hinein durch Ritzen und Spalten. Ich kann nichts dafür. Dieser verdammte Nebel breitet sich weiter aus. Wahnsinnig. Dieses Warten ist wirklich eine Geduldsprobe. Ich halte es nicht länger aus. Ich will es nicht aushalten müssen. Keiner, mit dem ich zu tun habe, wollte das. Niemand.
20. Oktober Siehe, ich bin ein dürrer Baum. Jesaja 23, Vers 3.
23. Oktober Ich möchte sterben. Heute fühle ich mich noch anfälliger als sonst. Ich vergehe vor Schmerz, die Qual ist überwältigend. Letzte Nacht wollte ich mich im See ertränken, nachdem im Haus alle schlafen gegangen waren, aber ich habe es geschafft, diesem Impuls nicht nachzugeben und zu schlafen. Als ich aufwachte, war der Drang weg. Heute Morgen ist er wieder da. Mein Leben ist die Hölle, tagaus, tagein. Jeden Tag breche ich ein bisschen mehr zusammen. Ich werde zerfressen, Stück für Stück, Zelle um Zelle, Perle um Perle. Es geht mir einfach nicht besser. »Besser« ist etwas, das mir ganz fremd ist, ich komme da nicht hin. Sie können es mit
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Akupunktur oder mit ECT versuchen, sie können eine Defrontalisation machen, aber es hilft alles nichts. Ich bin ein hoffnungsloser Fall. Ich habe meinen Engel verloren. Ich habe meinen Verstand verloren. Die Tage sind zu lang und zu schwer; meine Knochen brechen unter dem Gewicht dieser Tage zusammen.
24. Oktober Ich bin krank, so krank. So unmöglich krank...
28. Oktober Das ist es also, was im Tibetanischen Totenbuch »bardo« heißt, die Zeit zwischen den Leben. Ich finde keinen Geschmack am Leben, weil ich zwischen den Leben bin. Eine optimistischere Art, mit den Dingen umzugehen, anstatt einfach zu sagen: »Ich will nicht leben.« (...) Ich gehe nicht mehr ins Krankenhaus. Ich werde einfach ins Wasser gehen. Der Schmerz ist zur Folter geworden, er hört überhaupt nicht mehr auf. Er ist jenseits von Zeit und Wirklichkeit und nicht zu ertragen. Heute nehme ich eine Überdosis, aber ich möchte nicht krank sein, ich möchte einfach tot sein.60
Am nächsten Morgen erwachte Dawn früh. Sie saß am Küchentisch, aß ein Müsli und beschäftigte sich mit dem Kreuzworträtsel aus der Zeitung. Kurz darauf ging sie aus der Küche und wurde nicht mehr lebend gesehen. Sie hatte ihr Bett ordentlich gemacht, erzählt ihre Mutter. »Auf dem Fußboden war ein Stapel von dreizehn Büchern aus der Bibliothek, und die Sachen aus ihrem Rucksack, auch die Schlüssel, ein bisschen Geld und ihren Führerschein hatte sie in einen großen Umschlag gesteckt. Auf ihrem Bett hatte sie den Kristall-Rosenkranz ihrer Urgroßmutter ausgebreitet.« Ihr Körper wurde erst Monate später in einem See gefunden.
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Kapitel 4 Die Bürde der Verzweiflung Zur Psychopathologie des Selbstmordes
Gefühle vergißt man leicht. Hätte ich es mit einer Phantasiegestalt zu tun, so würde ich es wohl um der Glaubhaftigkeit willen nötig finden, daß der junge Mann zögert, dann den Revolver wieder in den Schrank zurücklegt, und nach einer Weile widerstrebend und voll Angst von neuem danach greift, wenn die Bürde der Langeweile und Verzweiflung zu schwer wird. In Wirklichkeit gab es kein Zögern. GRAHAM GREENE 1
»Das Unglück ist wie ein Bazillus, den ich in mir habe, solange ich denken kann«, schrieb Graham Greene. »Und manchmal regt er sich.«2 Als Greene dieses Gefühl nicht mehr ertragen konnte, griff er zuerst zum Messer, dann nahm er Gift und schließlich eine Schusswaffe. Schon in jungen Jahren wurde er von einer pathologischen Verzweiflung befallen, die sein Leben lang immer wieder kam, in Zyklen – wie es für die manische Depression typisch ist –und mit einer gefährlichen, durch Alkohol gesteigerten und selbstmörderischen Wildheit. In seinen Memoiren Eine Art Leben beschrieb Greene seine frühen Begegnungen mit der suizidalen Depression und seine eskalierenden Versuche, sich zu betäuben oder zu sterben, um sie loszuwerden:
Nach dem mißlungenen Versuch, mein Bein aufzuschneiden, erprobte ich andere Fluchtwege. Einmal, am Abend vor Trimesterbeginn, trank ich zu Hause in dem dunklen Winkel neben dem Wäscheschrank, der in rotes, mephistophelisches Dämmerlicht getaucht war, ein bißchen Fixierlösung, weil ich sie irrigerweise für giftig hielt. Ein andermal leerte ich das blaue Glasfläschchen mit den Tropfen gegen mein Heufieber, die ein wenig Kokain enthielten und deshalb wahrscheinlich meine Verzweiflung linderten. Ein paar – 99 –
Tollkirschen, die ich auf der Gemeindewiese pflückte und aß, zeigten nur eine leicht narkotische Wirkung, und einmal, als ein Ferientag seinem Ende zuging, schluckte ich zwanzig Aspirintabletten, bevor ich in das verlassene Schulbad schwimmen ging.3
Waren das »wirkliche« Selbstmordversuche, verzweifelte Gesten oder bloß dramatische Reaktionen auf eine normale kindliche Schwermut? Diese Frage drängt sich auf, wenn man sieht, was dieser frühreife und empfindsame Schuljunge getan hat: Inwieweit sind diese Handlungen auf sein Temperament zurückzuführen (das sprunghafte und fein gesponnene Temperament eines Kindes, das ein großer Schriftsteller werden sollte)? Welchen Anteil hatten Reaktionen auf schmerzliche und schwierige Umstände, und in welchem Ausmaß war seine Geisteskrankheit daran beteiligt, die manische Depression, die Greene offen zugab und die in seiner Familie vorkam ? Immerhin verfolgten ihn seine Selbstmordgedanken auch dann noch, als er älter wurde. Mit neunzehn nahm er den Revolver seines Bruders aus dem Schrank im gemeinsamen Schlafzimmer –»teilnahmslos; ich war wie ein Film im Fixierbad«4 – und ging in einen Buchenwald:
Ich setzte den Lauf an mein rechtes Ohr und zog durch. Es klickte leise, und als ich die Trommel betrachtete, sah ich, daß der Revolver jetzt schußbereit war. Bei der nächsten Kammer hätte es mich erwischt. (...) Ich verschaffte mir dieses Erlebnis noch einige Male. (...) Wieder den Revolver hinter den Rücken gehalten, die Trommel dreht sich, dann rasch und verstohlen unter den schwarz aufragenden Winterbäumen den Lauf an mein Ohr und abgedrückt.5
Greene hat sich schließlich doch nicht umgebracht. Aber die Möglichkeit eines Selbstmordes bestand sein ganzes Leben hindurch und blieb die scheinbar beste und endgültige Antwort auf Leere und Überdruss. Er führte einen ständigen Kampf gegen seine schwarzen Depressionen, gegen »das Elend und die Hoffnungslosigkeit der Jahre«, wie er sich ausdrückte. Als Gegenmittel gegen seinen ausgebluteten Zustand trank er viel, hatte seine perverse Freude am
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russischen Roulette und unternahm gefährliche Reisen in unsichere Regionen und Kriegsgebiete. Der Selbstmord ist ein höchst individueller Akt und zugleich ein stereotyper und vielen Menschen, die an schweren psychischen Erkrankungen leiden, gemeinsamer Endpunkt. Es gibt keine Krankheit und keine Umstände, die zwangsläufig zum Selbstmord führen, aber es gibt Anfälligkeiten, Krankheiten und Ereignisse, die bestimmte Menschen eher als andere in den Selbstmord treiben. Bei den meisten Selbstmorden stehen psychopathologische Zustände oder Geisteskrankheiten im Hintergrund; einige davon weisen einen besonders ausgeprägten Zusammenhang mit dem Tod durch eigene Hand auf: Stimmungsstörungen (Depression und manische Depression), Schizophrenie, Borderline- und antisoziale Persönlichkeitsstörungen, Alkohol-, Medikamenten- und Drogenmissbrauch. Zahlreiche Untersuchungen in Europa, den Vereinigten Staaten, Australien und Asien haben gezeigt, dass Menschen, die Hand an sich legen, in aller Regel von schweren Psychopathologien betroffen sind; alle bedeutenden Studien, die bis heute gemacht wurden, kommen zu dem Ergebnis, dass bei 90 bis 95 Prozent der Menschen, die sich das Leben nahmen, eine diagnostizierbare psychische Krankheit vorlag.6 Hohe Raten psychopathologischer Befunde wurden auch bei Menschen festgestellt, die ernsthafte Selbstmordversuche unternommen haben.7 Die folgende Darstellung, die auf eine von Clare Harris und Brian Barraclough in England durchgeführte Untersuchung zurückgeht, gibt einen Überblick über die psychischen Krankheiten mit einem hohen Selbstmordrisiko.8 In dieser Untersuchung wurden die Ergebnisse von 250 klinischen Studien analysiert und die Anzahl der Selbstmorde bei Menschen mit bestimmten Geisteskrankheiten mit der Anzahl der Selbstmorde in der Gesamtbevölkerung verglichen. Um zum Beispiel das Selbstmordrisiko bei Schizophrenie zu bestimmen, wurden 38 Studien aus dreizehn Ländern herangezogen; insgesamt wurde die Selbstmordrate bei über 30000 Schizophreniepatienten mit der Selbstmordrate in der Gesamtbevölkerung verglichen. Aus der Grafik geht hervor, dass bei Schizophreniekranken die Selbstmordrate acht Mal höher liegt als im gesellschaftlichen Durchschnitt. Am gefährdetsten sind Personen, die bereits einen oder mehrere Selbstmordversuche unternommen haben; bei ihnen ist das Risiko 38 Mal höher als im Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Auch Stim-
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Selbstmordrisiko bei ausgewählten psychischen und nichtpsychischen Krankheiten
mungsstörungen und Drogenmissbrauch zeigen eine hohe Korrelation: Menschen, die an Depressionen leiden oder von verschreibungspflichtigen Medikamenten abhängig sind (Sedativa, Schlaftabletten, angsthemmende Mitteln), begehen mit einer zwanzig Mal höheren Wahrscheinlichkeit Selbstmord, als es im Bevölkerungsdurchschnitt der Fall ist, und bei manisch Depressiven (bipolaren Störungen) liegt die Rate fünfzehn Mal höher. Bei Tablettenabhängigen ist die Selbstmordrate zwar höher als bei Alkoholabhängigen, doch ist Alkoholmissbrauch viel weiter verbreitet, daher ist auch die Zahl der – 102 –
Selbstmorde größer. Außerdem sind Menschen mit depressiven Störungen häufig auch alkoholabhängig, und schließlich wird Alkohol oft in Verbindung mit anderen Tötungsmitteln eingesetzt, wenn es zum Selbstmord kommt. Am auffälligsten an dieser Zusammenfassung verschiedener Studien ist die Tatsache, dass Selbstmorde bei psychischen Krankheiten so viel häufiger vorkommen als bei schweren nichtpsychischen wie der Huntington-Chorea, der multiplen Sklerose und Krebs. Es ist merkwürdig, dass diese Krankheiten, die so oft mit starken Schmerzen, Entstellungen, einer Einschränkung von Würde und Unabhängigkeit verbunden sind und häufig in den Tod führen, so wenig Selbstmordfolgen haben. Bei den meisten nichtpsychischen Krankheiten sind keine erhöhten Selbstmordraten festzustellen. Zwar sind Menschen, die sich das Leben nehmen, häufig körperlich krank, aber das trifft auch auf diejenigen zu, die sich nicht umbringen. Einer Untersuchung über psychiatrisch behandelte Patienten zufolge litt ein Drittel der Patienten, die sich das Leben nahmen, an nichtpsychischen Krankheiten, der Anteil dieser Krankheiten jedoch ist bei den Patienten, die keinen Selbstmord begingen, ebenso hoch oder sogar noch höher.9 Daran zeigt sich zweierlei: Erstens ist, von Ausnahmen abgesehen, fast jeder, der körperlich krank ist und daraufhin Selbstmord begeht, auch psychisch krank.10 Zweitens haben Krankheitszustände, die mit einem deutlich höheren Selbstmordrisiko verbunden sind – Huntington-Chorea, multiple Sklerose, Rückenmarksverletzungen, HIV/AIDS, Gehirntumore und Kehlkopfkrebs – ihren Ursprung in Fehlfunktionen des Gehirns und des übrigen Nervensystems oder beeinflussen dieses stark.11 Solche Krankheiten können erhebliche Stimmungsschwankungen verursachen und manchmal zur Demenz führen. Andere Krankheiten, zum Beispiel von Herz und Lunge, können äußerst schmerzhaft sein, führen möglicherweise zu Behinderungen oder zum Tod, erhöhen aber nicht das Selbstmordrisiko. (Einige Therapien, so etwa Bypass-Operationen oder bestimmte Medikamente gegen Bluthochdruck, können allerdings bei besonders anfälligen Menschen schwere, auch suizidale Depressionen auslösen.) Da das Hauptaugenmerk dieses Buches auf dem Selbstmord bei relativ jungen und körperlich gesunden Menschen liegt, sind Fragen zu Selbstmorden im Zusammenhang mit tödlich verlaufenden Krankheiten weniger relevant als im Hinblick auf Selbstmorde bei
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älteren Menschen. Gleichwohl bleibt hervorzuheben, dass Selbstmorde oder Selbstmordversuche bei körperlich kranken Menschen meistens auf eine gleichzeitig vorhandene Depression zurückzuführen sind. Der einzige Zustand, der anscheinend vor Selbstmord schützt, ist die Schwangerschaft, betrifft also junge oder relativ junge Frauen. Während der Schwangerschaft und im ersten Jahr danach sinkt das Selbstmordrisiko um das Drei- bis Achtfache.12 Die Krankheiten, die am ehesten zu Selbstmorden führen, sind psychische Störungen. Und bei keiner dieser Krankheiten ist die Gefahr eines Selbstmordes größer als bei den Stimmungsstörungen: der Depression und der manischen Depression. Stimmungsstörungen, oder Stimmungsstörungen in Zusammenhang mit Alkohol- und Drogenmissbrauch, sind bei weitem am häufigsten mit Selbstmord verbunden. Irgendeine Form von Depression findet sich bei fast allen Selbstmördern. Zwischen 30 und 70 Prozent aller Selbstmörder sind Opfer von Stimmungsstörungen, und diese Rate ist noch höher, wenn die Depression mit Alkohol- oder Drogenmissbrauch einhergeht. In ihren schweren Formen lähmt die Depression alle vitalen Kräfte, die uns zu Menschen machen; sie führt dazu, dass die von ihr Betroffenen trübsinnig werden, verzweifeln und erstarren. Sie bewirkt einen Zustand der Leere, der Müdigkeit, die Kranken sind überanstrengt und heftig erregt, sie sind ohne Hoffnung und außerstande, irgendetwas zu leisten. Die Depression schafft eine Welt, in der es, mit den Worten von A. Alvarez, »keine Luft und keinen Ausgang«13 gibt. Das Leben wird blutleer und antriebslos, gleichwohl ist der Kranke präsent genug, um Schrecken und Qualen zu spüren, die ihn ersticken. Alle Zusammenhänge, Bedeutungen und Beziehungen gehen verloren, alles ist dunkel und abgeschnitten von jeglichem Gefühl. Das Hineinschlittern in diese Sinnlosigkeit vollzieht sich zunächst allmählich, dann aber in immer schnellerem Tempo. Das Denken, das von der Depression ebenso in Mitleidenschaft gezogen wird wie die Stimmung, ist schwach und kränklich, konfus und stumpf, die Gedanken kreisen um sich selbst, führen zu Grübeleien und Selbstbestrafungen. Der Körper ist müde bis auf die Knochen, es ist kein Wille vorhanden, alles kostet immense Kraft, und nichts scheint der Mühe wert. Die Kranken können nicht durchschlafen, wissen nicht richtig, ob sie geschlafen haben oder nicht, oder der Schlaf ist tief wie der Tod. Wie ein flüchtiges Gas dringt eine
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reizbare Erschöpfung in jede Ritze des Denkens und Handelns. Fünf Jahre vor ihrem Selbstmord beschrieb Sylvia Plath, wie die Depression in sie einsickerte und ihre Lebensgeister abschnürte: »Ich kämpfte gegen Depressionen an und kämpfe immer noch (...) Im Moment durchflutet mich die Verzweiflung, beinahe Hysterie, als würde ich ersticken, als säße eine große, mächtige Eule auf meiner Brust, griffe mit ihren Klauen mein Herz und presse es fest zusammen.«14 Der englische Schriftsteller Alan Garner schilderte den kalten Terror am Anfang seines manisch-depressiven Zusammenbruchs etwas anders, doch Horror und Erstickungsgefühle sind auch hier spürbar:
Das nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich in der Küche stand, in der sonnendurchfluteten Küche, und über ein grünes Tal mit einem Bach und Bäumen blickte, und dann erlosch das Licht. Ich konnte noch sehen, aber wie durch einen dunklen Filter. Und mein Solarplexus war taub. Ein merkwürdiges Ding auf dem Boden, ein Stück Metallschrott, das eines der Kinder liegen gelassen hatte, forderte mich auf, es aufzuheben. Es war zylindrisch geformt und stachelig und hatte einen kleinen Kurbelgriff. Ich drehte die Kurbel. Es war das Innere einer billigen Spieldose, es klimperte seine paar Noten immer wieder herunter, und ich konnte nicht aufhören. Mit jeder Drehung wurde das Licht trüber, und das taube Gefühl in meinem Solarplexus verbreitete sich in meinem Körper. Als es meinen Kopf erreichte, begann ich zu weinen vor Schrecken über die Leere in mir und die Leere der Welt. Eine Szene aus Eisensteins »Alexander Newski« überschwemmte mein Gehirn: die schreckliche Passage, in der Newski die teutonischen Ritter auf den zugefrorenen See lockt, das Eis bricht, und ihre gesichtslose Rüstung zieht sie nach unten. Die Mäntel schwimmen auf dem Wasser, bevor sie hinuntergezogen werden, Hände klammern sich an den Eisschollen fest, die daraufhin umkippen und die Ritter unter sich begraben. Diese Hilflosigkeit, Kälte und Schrecken ergriffen mich. Ich war allein im Haus, und den ganzen Nachmittag drehte ich an dem kaputten Spielzeug, dessen Geklingel zu dem Geräusch wurde, das das Eis machte. Mein Körper war so schwer wie die Rüstungen und die von Wasser vollgesogenen Mäntel, als ich unter das Eis rutschte.
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Als die Familie nach Hause kam, lag ich auf der Küchenbank, eingerollt wie ein Embryo, ohne mich zu bewegen oder zu reden, bis ich um Mitternacht ins Bett ging. Der Schlaf war Bewusstlosigkeit ohne Ruhe. (...) Ich war unfähig zu einem Gefühl. Fühlte nur, dass ich unfähig war, überhaupt etwas zu fühlen. Ich war wertlos. Ich vergiftete den Planeten.15
Den Horror einer tiefen Depression und die Hoffnungslosigkeit, von der er gewöhnlich begleitet ist, kann sich keiner ausmalen, der ihn nicht erlebt hat. Die Verzweiflung spielt sich völlig im Inneren ab, sie lässt sich gar nicht klar und anderen verständlich darstellen. Dem Romanschriftsteller William Styron, der über seinen Kampf mit einer selbstmörderischen Depression berichtet, ist es immerhin zum Teil gelungen, die schlimme, unentrinnbare Qual, die zum Selbstmord führen kann, anschaulich zu beschreiben:
Ich hatte erkannt, dass auf geheimnisvolle Weise, weit entfernt von jeder alltäglichen Erfahrung, das graue Nieseln des Schreckens, das die Depression hervorruft, die Form körperlicher Schmerzen annehmen kann. Doch handelt es sich nicht um einen unmittelbar identifizierbaren Schmerz wie etwa bei einem Knochenbruch. Es träfe den Sachverhalt genauer, wenn man sagte, durch einen üblen Trick, den die im kranken Gehirn mitwohnende Psyche diesem spielt, gleicht die Verzweiflung dem diabolischen Unbehagen, das man empfindet, wenn man in einem grässlich überheizten Zimmer eingeschlossen ist. Und weil kein Lufthauch lindernd in diesen Hexenkessel dringt, weil es keinen Ausweg aus diesem erstickenden Gefängnis gibt, ist es nur natürlich, wenn das Opfer unablässig an Bewusstlosigkeit zu denken beginnt.16
Manie ist etwas ganz anderes als Melancholie. »Das Blut«, so der österreichische Komponist Hugo Wolf, »wird zu einem Feuerstrom«,17 die Gedanken überstürzen sich und springen von einem Thema zum anderen. Man befindet sich in einer äußerst gehobenen Stimmung, ist aber zugleich von einer heftigen, wilden Reizbarkeit. Man ist, so formulierte es Robert Lowell, »unermüdlich, auf verrückte Weise sanguinisch, bedroht und bedrohlich.«18 Das Denken ist expansiv, es vollzieht sich reibungslos und erstaunlich rasch, man – 106 –
redet schnell und ist nicht zu bremsen, und die Sinne sind geschärft, engagiert und reagieren heftig auf alles, was vor sich geht. Das Fließende des manischen Denkens ist gepaart mit einem verführerischen, oft psychotischen Gefühl einer kosmischen Beziehung zwischen Ideen und Ereignissen. (Für viele Patienten ist es hart, dieses glanzvoll-verwirrende Dahinrasen der euphorischen Manie aufzugeben.) Der russische Dichter Welimir Chlebnikow – der äußerst exzentrisch und launisch und eine Zeit lang in einer psychiatrischen Anstalt war und der von Majakowski als der »Kolumbus neuer dichterischer Kontinente (...) einer unserer Meister« gefeiert wurde19 – glaubte, er habe »Gleichungen für die Sterne, Gleichungen für Stimmen, Gleichungen für Gedanken, Gleichungen für Geburt und Tod«. Er war sicher, dass ein Meister der Zahlen alles miteinander verbinden könne:
Söhne des Westens und Ostens, sie drohen einander durch die Jahrhunderte über ein und derselben Beute, und ihre grimmigen Wellen des Wassers der Völker sind geteilt durch die 11-te Potenz der Drei, doppelt genommen, zwei Wellenschläge des Meers. Wenn wir die Zeit von der Seite aus sehen könnten, so sähen wir diese beiden Jahre wie zwei aufeinander zujagende schreckliche Wogen, mit der Antwortkraft von Frage und Antwort. Jede Lehre findet ihre Lanze und ihren Kriegssattel für ihren Ruhm. Die kalte Lehre Platons, seine luftigen gedachten Schatten, die Götter der Dinge, und die Lehre, nicht zu leben, sondern nur meinen zu leben, das Gesetz von der Seelenwanderung und die süße jenseitige Welt Mohammeds, die wie der Traum eines Gutsbesitzers ist: voll von leibeigenen Mädchen im Stile Brjullovs, es fehlen nur die Schulterstücke und die lange türkische Pfeife – welch ein »Ja« und »Nein«! Auch diese beiden geistigen Willensordnungen sind getrennt durch 311 + 311 Jahre. Dort noch ein bißchen, und vom Menschen bleibt nur noch eine Zahl, hier noch ein bißchen, und: »Wieviel die Nacht?« »Traurig, öde, meine Seele!« Glauben nur an den Geist, Glauben nur an den Körper. Diese beiden negativen Glauben sind durch die Drei als Grundzahl miteinander verwandt.20
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Im manischen Zustand verfügt man über enorme Energien, ist ruhelos und hat wenig Lust oder Bedarf zu schlafen. Man verhält sich ziellos, sprunghaft und hitzig und oft gewalttätig, man trinkt viel, ist sexuell aktiv und gibt viel Geld aus. Bei schweren manischen Zuständen kann es zu visuellen und akustischen Halluzinationen und zu Größenfantasien und Verfolgungswahn kommen. Paranoia, Wutanfälle und Verzweiflung sind häufige Begleiterscheinungen des manischen Ausdehnungsdrangs. Diese enge Verbindung von Paranoia und Dunkelheit im Zentrum der Manie kommt in der Reaktion eines meiner Patienten auf die leere Karte im Thematischen Apperzeptionstest deutlich zum Ausdruck. In diesem psychologischen Test wird der Patient aufgefordert, zu dem, was er auf der Karte sieht, eine Geschichte zu erzählen. Der zum Zeitpunkt des Tests fünfundzwanzig Jahre alte Patient war wegen akuter Manie ins Krankenhaus eingewiesen worden. Die Geschichte, die er hastig und ohne Pause von sich gab – wohlgemerkt als Antwort auf eine leere Karte –, ist voller paranoider Obertöne, offen psychotisch und zeigt mit Hoffnung gemischte depressive Züge:
Die ist wirklich leer, aber sie hat ein paar Flecken. Auf ihr sind viele Bazillen, deshalb halte ich sie nicht nahe an mein Gesicht. Mit ein bisschen Farbe sähe sie besser aus. Da fehlt jede Farbe, aber ein bisschen Farbe hat sie doch. Ich habe mich mit dem Helden identifiziert, ich habe Angst vor Bazillen. Lithiumfarben. Die Umrisse von Schmetterlingen. Viel Symmetrie, viele Gegenstücke. Bonbonfarbene Scheiße. Ich habe das Gefühl, unfreiwillig im Nebel festgehalten zu werden, ich sehe nicht viel Blau. Ich sehe keine Blumen. Ein Typ sieht ein paar schwarze Typen und komische Figuren, er folgt dem Mann, und sie finden eine Zivilisation, sie gehen wie Roboter, bis sie sie finden. Sie entkommen und entdecken viele Geheimnisse, die mit der Falle zu tun haben. Sie werden von der Polizei verfolgt, finden einen Typen, der wie Gott aussieht, der festgenommen wurde, weil er Sex mit seiner Frau hatte, die künstlich befruchtet war. In dem Nebel ist viel Elektroschock für das Herz, viele Homosexuelle und grüne und graue Leute sind da, die durch den Nebel zu einem Irrenhaus fuhren. Sie tauchten draußen in der Welt auf und sahen zum ersten Mal in hundert Jahren die Sonne.
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Die manische Depression – bei der die Depression durch Phasen der Manie (die schwer oder leicht sein können) unterbrochen wird – ist weniger verbreitet als die Depression, aber auch sie kommt häufig vor. An schweren Formen dieser Krankheit leidet etwa ein Prozent der Bevölkerung, zwischen zwei oder drei Prozent sind von milderen Erscheinungsformen betroffen.21 Das Durchschnittsalter, in dem sie zum Ausbruch kommt, achtzehn Jahre, liegt erheblich unter dem von schweren Depressionen, die sich in einem Durchschnittsalter von sechsundzwanzig Jahren zum ersten Mal bemerkbar machen. Im Unterschied zur Depression, die bei Frauen mindestens doppelt so häufig auftritt wie bei Männern,22 ist die manische Depression bei Männern und Frauen in etwa gleich weit verbreitet. Die bipolare Erkrankung ist im Allgemeinen eine schwerere Störung als die Depression allein, sie kehrt häufiger wieder und hat eine weitaus stärkere genetische Komponente.23 Auch ist sie häufiger als die Depression von Drogen- oder Alkoholmissbrauch begleitet (fast zwei Drittel der manisch-depressiven Kranken haben ernste Alkohol- oder Drogenprobleme, bei depressiven Kranken dagegen gilt das nur für ein Viertel). Im Verlauf dieser beiden Stimmungsstörungen kommt es unverhältnismäßig oft zu Selbstmordversuchen.24 Wenigstens zwanzig Prozent der Kranken mit schweren Depressionen unternehmen einen Selbstmordversuch, und fast die Hälfte der Patienten mit bipolaren Störungen versuchen mindestens ein Mal, sich das Leben zu nehmen. Die Selbstmordversuche dieser Kranken sind ernsthafter als die derjenigen, die nicht mit Depressionen zu tun haben; selbst wenn häufig nicht gewaltsame Methoden wie Drogen- oder Tablettenüberdosen benutzt werden, zeigen diese Versuche, dass sie genauer geplant sind und ein stärkerer Wunsch zu sterben dahinter steht.25 Die höchste Selbstmordgefahr bei Menschen mit Stimmungsstörungen besteht dann, wenn ihre Depression sehr schwer ist und deshalb eine Einweisung ins Krankenhaus erforderlich war oder wenn sie bereits einen Selbstmordversuch unternommen haben.26 Milde oder mäßige Depressionen können zwar qualvoll sein und zur völligen Erschöpfung führen, aber das Selbstmordrisiko ist in diesen Fällen nicht so hoch.27 Schwedische Forscher haben einmal die Bevölkerung einer ganzen ländlichen Region psychiatrisch erfasst und die geistige Gesundheit dieser Menschen fünfzehn bis 25 Jahre lang beobachtet. Bei fast allen Männern, die sich in diesem Zeitraum das Leben
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nahmen, war zu Beginn eine depressive Erkrankung diagnostiziert worden. Die Selbstmordrate bei Männern ohne psychische Krankheiten betrug 8,3 auf 100000, bei den Depressiven 650. Die direkte Relation zwischen der Schwere der Depression und der Häufigkeit von Selbstmorden war das beeindruckendste Ergebnis dieser Studie. Von den Personen, die mit milden Depressionen zu tun hatten, beging keiner Selbstmord (wobei die Depressionen, die von den schwedischen Ärzten als »mild« bezeichnet wurden, noch schwer genug sind, um das Aktivitätsniveau der Kranken radikal zu senken), während bei den als mäßig depressiv Diagnostizierten die Rate auf 220 pro 100000 und bei schweren depressiven Krankheiten (die als solche definiert waren, bei denen die Realitätsprüfung, oft in psychotischem Ausmaß, beeinträchtigt ist) auf 3900 pro 100000 anstieg.28 Die Schwere einer Depression ist – besonders, wenn sie mit körperlichen Erregungszuständen, Alkohol- oder Drogengebrauch und schweren emotionalen Erschütterungen, Verlusten oder Enttäuschungen verbunden ist – ein deutlich signifikanterer Indikator für einen möglichen Selbstmord als die Diagnose einer Depression allein.29 Bei schweren Depressionen kommt es etwas häufiger zum Selbstmord als bei bipolaren Erkrankungen,30 allerdings stellt sich oft heraus, dass Menschen, bei denen eine Depression diagnostiziert wurde, auch an milden Formen von Manie leiden;31 über diese so genannten Hypomanien berichten die Patienten selbst im Allgemeinen nicht, sie werden oft auch von den Ärzten nicht erkannt oder in psychologischen Autopsien nicht festgestellt. Bei diesen milden manischen Phasen – die in der Regel durch eine hohe Energieverausgabung, wenig Schlaf und eine ausgeprägte Reizbarkeit gekennzeichnet sind – spielen oft zusätzlich Alkohol- und Drogenprobleme, chaotische Lebensstile und die unvorschriftsmäßige Einnahme der Medikamente eine Rolle. Sind bei längeren depressiven Phasen der Krankheit Reizbarkeit und Drogenmissbrauch im Spiel, können sich diese unbeständigen Elemente zu einer besonders tödlichen Kombination von Auslösern verbinden. Die heftigen Erregungszustände bei manchen suizidal depressiven Patienten sind nicht zu erkennen, wenn sie nicht ganz genau beobachtet werden oder keine persönlichen Erfahrungen vorliegen. Diese Erscheinungen von Hochspannung, von starker Ruhelosigkeit und Krankhaftigkeit sind besonders bei der bipolaren Krankheit in Phasen von Mischzuständen verbreitet. Solche Mischzustände, die
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sich grob als das gleichzeitige Auftreten von sowohl depressiven als auch manischen Symptomen definieren lassen, können als selbstständige klinische Form (wie Manie und Depression) in Erscheinung treten oder als Übergangsphänomene, wenn eine Phase der Krankheit in die andere übergeht oder sich mit ihr vermischt. Sie treten besonders häufig auf, wenn sich eine Depression zur Manie hochschaukelt, wenn in einer Depression eine Manie zum Erliegen kommt oder wenn eine Depression in normales Verhalten übergeht. Ende des neunzehnten Jahrhunderts beschrieb der Psychiater Emil Kraepelin die heftigen Verzweiflungszustände seiner manisch-depressiven Patienten:
Vielfach versuchen die Kranken daher, sich auszuhungern, zu erhängen, sich die Pulsadern aufzuschneiden; sie bitten, sie zu verbrennen, lebendig zu begraben, in den Wald hinauszujagen und dort umkommen zu lassen. (...) Einer meiner Kranken schlug mit dem Halse so oft auf die Schneide eines am Boden aufgestellten Stemmeisens, bis sie durch die ganzen Weichteile hindurch in den Wirbelkörper eindrang.32
Verhalten und Stimmung sind in solchen Phasen unbeständig und unberechenbar. Jede Symptomkombination ist möglich. Die im Hinblick auf einen Selbstmord gefährlichste ist die Mischung aus depressiver Stimmung, krankhaftem Trinken und einem forcierten, hocherregbaren Energieniveau. Häufig sind Paranoia, extreme Reizbarkeit, unregelmäßiger Schlaf, schweres Trinken und Tobsuchtsanfälle mit dieser besonderen Variante eines Mischzustands, einem äußerst unangenehmen und gefährlichen Zustand, verbunden.33 Die überschüssige Energie produziert eine Art geistzerrüttender Erregung, eine »furchtbare Energie«, wie die Dichterin Anne Sexton schrieb:
Ich gehe von einem Zimmer zum anderen und versuche mir zu überlegen, was ich tun könnte – eine Weile tue ich etwas, ich backe Plätzchen oder putze das Bad – ich mache das Bett – ich gehe ans Telefon – aber die ganze Zeit habe ich diese furchtbare Energie in mir, und nichts scheint dagegen zu helfen. (...) Ich gehe im Zimmer auf und ab – hin und her – und fühle mich wie ein Tiger im Käfig.34
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Auch Edgar Allan Poe beschrieb in einem Brief kurz nach seinen» Selbstmordversuch einen Zustand »schrecklicher Erregung«:
Ich ging zu Bett & weinte eine lange, lange scheußliche Nacht der Verzweiflung durch – Als der Tag anbrach, stand ich auf & bemühte mich, meinen Geist durch einen raschen Spaziergang in der kalten, scharfen Luft zu beruhigen – aber es half alles nichts – der Dämon quälte mich immer noch. Ich KANN NICHT leben (...) wenn es mir nicht gelingt, diese schreckliche Erregung zu bändigen, die, wenn sie andauert, entweder mein Leben zerstören oder mich hoffnungslos wahnsinnig machen wird.35
Bei Menschen, die solche Mischzustände durchmachen müssen, sei es als depressive Manien oder als Depressionen mit gesteigerten Erregungszuständen, besteht eine erhöhte Selbstmordgefahr.36 Die Manie tötet selten – und wenn, dann meistens deshalb, weil ein Patient die Wahnvorstellung hat, er könne fliegen, auf Wasser laufen oder einen bewaffneten Polizisten ungestraft angreifen. Es ist fraglich, ob in solchen Situationen eine ausdrückliche Absicht besteht, sich das Leben zu nehmen. Als die modernen Medikamente noch nicht zur Verfügung standen, starben viele akut manische Patienten an Erschöpfung, an Herzschlag oder an Infektionen von unbemerkten und unbehandelten Wunden an den Füßen, die sie sich zum Beispiel bei langen Barfußmärschen zuzogen. Bei Kraepelin findet sich eine Beschreibung des frenetischen Verhaltens seiner manischen Patienten:
Der Kranke kann nicht lange still sitzen oder liegen, springt aus dem Bett, läuft herum, hüpft, tanzt, steigt auf Tische und Bänke, hängt Bilder ab. Er drängt hinaus, entkleidet sich, neckt die Mitkranken, taucht, plätschert und spritzt im Bade. (...) Dazwischen schieben sich (...) Entladungen der inneren Unruhe (...), Wackeln des Oberkörpers, Herumwälzen, Wedeln und Fuchteln mit den Armen, Verdrehen der Glieder, Reiben des Kopfes, Auf- und Niederschnellen, Streichen, Wischen, Zucken, Klatschen und Trommeln. (...) Der Ausgang im Tod (...) kann durch einfache Erschöpfung mit Versagen des Herzens (Kollaps) bei lang dauernder, heftiger Erregung mit Schlafstörung und ungenügender Ernährung, durch Verletzungen mit nachfolgender Blutvergiftung (...) herbeigeführt werden.37 – 112 –
Psychosen, die bei Stimmungsstörungen auftreten und bei denen es zu Halluzinationen oder Wahnvorstellungen kommt, stehen in keiner so ausgeprägten Relation zum Selbstmordrisiko wie schwere Depressionen oder Mischzustände.38 In einigen Studien wurde bei depressiven Patienten mit psychotischen Erscheinungen eine erhöhte Selbstmordgefahr festgestellt, aber dieser Befund ist nicht allgemein anerkannt. Auch bei schwer depressiven Patienten mit akustischen Halluzinationen, die Stimmen hören, die ihnen befehlen, sich umzuringen, liegt die Selbstmordrate nicht höher.39 Wohl aber verwenden Psychotiker gewaltsamere und ausgefallenere Methoden.40 Depressive oder manisch-depressive Menschen begehen häufig in der Frühzeit ihrer Erkrankung, oft nach der ersten Attacke einer schweren Depression oder nach ihrer Entlassung aus der Psychiatrie, Selbstmord oder unternehmen einen Selbstmordversuch.41 Die Gründe dafür sind nicht klar, sicher spielen die geringe Erfahrung mit Depressionen, die Unsicherheit über persönliche und berufliche Rückwirkungen und die Angst vor einer möglichen Wiederkehr der Krankheit eine Rolle. Eine angemessene Behandlung ist Glückssache, und selbst mit Hilfe der besten Ärzte dauert es lange, bis sich eine Wirkung zeigt. Die Menschen warten häufig, bis sie schwer krank sind, bevor sie sich behandeln lassen, und sind dann oft nicht mehr in der Lage, die Behandlung so lange durchzustehen, bis sie sich gut genug fühlen, um weiterzuleben. Beunruhigenderweise ist eine der höchsten Risikoperioden für einen Selbstmord die Zeit der Erholung nach einer Depression.42 Der Übergang von Hoffnungslosigkeit, Lethargie und Verzweiflung zu einer ausgeglichenen Stimmung und dem normalen Leben steckt voller Gefahren: Gerade in dieser Zeit kommt es häufig zu Mischzuständen, raschen Stimmungswechseln, Energiestörungen und Unterbrechungen des Schlafs. Es können auch schwere Enttäuschungen eintreten, wenn das ungleichmäßige Muster der Erholung erst dazu führt, dass man sich gut fühlt, und man dann wieder krank wird. Die wiederkehrende Willensstärke und Vitalität – eigentlich Zeichen der Genesung – können zum Auslöser für das Ausagieren eingefrorener suizidaler Gedanken und Wünsche werden. Es fällt manchmal schwer, zwischen tatsächlichen Heilungsprozessen und impulsiven Selbstmorden zu unterscheiden, zu denen es in besonders hoffnungslosen Augenblicken kommt. In einer Studie werden beispielsweise klinische Beobachtungen von Patienten, die
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sich kurze Zeit später umbrachten, mit entsprechendem Material von Patienten verglichen, die etwa gleich alt waren und dieselben Diagnosen hatten, sich aber nicht das Leben genommen haben. Die Selbstmörder wurden von ihren Ärzten als ruhiger beschrieben, sie hätten sich »in einer besseren Verfassung« befunden als diejenigen, die sich nicht umbrachten. Fast ein Drittel der Patienten in psychiatrischen Krankenhäusern wirken auf ihre Ärzte, Familienangehörigen oder Freunde in den Minuten oder Stunden, bevor sie sich das Leben nehmen, »normal«. Diese scheinbare Ruhe vor der Sturm kann verschiedene Ursachen haben: Die selbstmordgefährdeten Patienten haben während ihres Genesungsprozesses möglicherweise eine echte Ruhephase erlebt, fallen aber dann plötzlich in eine schwere Depression oder geraten in einen Mischzustand. Oder sie werden ruhiger, weil sie entschlossen sind, sich zu töten, und sich erleichtert fühlen, weil sie der Angst und der Qual, weiterleben zu müssen, entkommen. Oder sie täuschen ihre Ärzte und Familienangehörigen, um sich ungestört auf ihren Selbstmord vorbereiten zu können. Solche Täuschungsversuche sind seit Jahrhunderten bekannt. Zu denen, die darauf aufmerksam gemacht haben, zählt der große Arzt, Erzieher und Patriot Benjamin Rush aus Philadelphia, Oberstabsarzt der kontinentalen Armee und Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung:
Man muss sorgfältig zwischen einer Rückkehr des gesunden Menschenverstandes und einer gewissen Schläue unterscheiden, die es den Leuten für kurze Zeit erlaubt, sich korrekt zu verhalten und zu reden und damit ihre Pfleger zu täuschen, um vorzeitig aus ihrem Gewahrsam entlassen zu werden. Um die Übel zu vermeiden, die aus einem solchen Fehler entstehen können, sollten sie während ihrer Rekonvaleszenz sorgfältig beobachtet und nicht entlassen werden, solange ihre Genesung nicht mehrere Wochen lang durch normales Reden und Verhalten unter Beweis gestellt wurde. Im Pennsylvania Hospital kam es drei Mal zum Selbstmord von Patienten, die kurz zuvor entlassen worden waren und deshalb gerade die Glückwünsche ihrer Freunde zu ihrer Genesung entgegennahmen.43
Stimmungsstörungen führen zwar häufiger zum Selbstmord als andere psychische Krankheiten, aber auch bei Schizophrenie, einer furchtbaren psychotischen Krankheit, kommt er oft vor. – 114 –
»Dies ist ein Abschiedsbrief«, schrieb der Dichter und Komponist Ivor Gurney im Juni 1918 an einen Freund. »Ich fürchte, ich rutsche ab und werde zu einem Wrack – und ich weiß, Dir wäre es lieber, ich wäre tot als wahnsinnig (...) Möge Gott Dich belohnen und mir vergeben.« Gurney lag zu dieser Zeit in einem Militärkrankenhaus, nachdem ein »nervöser Zusammenbruch auf Grund eines anhaltenden Schocks durch eine Granatenexplosion« festgestellt worden war. Daraufhin geriet er in akute Selbstmordgefahr und begann einen langen, schrecklichen Abstieg in eine paranoide Schizophrenie. Er drohte mehrmals, sich umzubringen, und unternahm mindestens zwei Versuche, ein Mal mit einer Überdosis der Sedativa, die ihm sein Arzt gegeben hatte, und das andere Mal mit Gas. Seine Qualen waren unerträglich. Er hörte Stimmen, die ihm befahlen, sich das Leben zu nehmen, und war überzeugt davon, dass er mit elektrischen Wellen aus dem Radio bombardiert würde. Seine Wahnvorstellungen hielten an, ebenso die Stimmen, die ihn bedrohten und quälten. Gurneys Arzt beschrieb dessen Zustand folgendermaßen:
Die Elektrizität manifestiert sich hauptsächlich in Gedanken. Worte werden ihm mitgeteilt. Sie sind oft bedrohlich oder von obszönem und sexuellem Inhalt. Er hört viele Arten von Stimmen. Er sieht Dinge, wenn er wach ist, Gesichter usw., die er erkennt. Sein Inneres ist völlig durcheinander. Er kann seine Gedanken nicht auf seine Arbeit richten. (...) Was den Selbstmord anbetrifft, so hatte er solche Qualen im Kopf, dass er lieber sterben wollte.44
An Gurneys psychischem Zustand änderte sich kaum etwas, und er blieb von 1922 bis zu seinem Tod im Jahre 1937 fast ununterbrochen in der Anstalt. Er ließ die Qualen, die er litt, in seine Dichtung eingehen. »Es ist eine furchtbare Hölle in mir«, heißt es in einem seiner Gedichte aus der Anstalt. »Und nichts hilft. (...) Ich bete um den Tod, Tod, Tod.«45 In einem anderen verkündete er: »Da ist einer, der jeden Tag zu sterben wünscht (...) der um die Gnade des Todes betet.«46 Schizophrenie ist die schwerste und beängstigendste psychische Krankheit.47 Wie die manische Depression tritt sie in relativ jungen Jahren auf (um die zwanzig), sie ist genetisch verursacht, wenn auch nicht so deutlich wie die bipolare Störung, sie ist relativ verbreitet
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(ungefähr ein Prozent der Bevölkerung ist davon betroffen) und hat verheerende Folgen für Beziehungen, Ausbildungspläne und Zukunftsvorstellungen. Wird sie nicht behandelt, verschlimmert sie sich mit der Zeit. Meistens tritt eine fortschreitende Entfremdung von Freunden und Familienangehörigen ein. Selbstmord kommt bei Schizophrenie zwar seltener vor als bei Stimmungsstörungen, aber doch so häufig, dass sie als tödliche Krankheit zu betrachten ist – tödlich und quälend, denn sie treibt ein böses Spiel mit den Sinnen, der Vernunft, den Emotionen und dem zum Handeln Notwendigen. Es ist eine bösartige Krankheit, etwa zehn Prozent der Kranken enden durch Selbstmord.48 Halluzinationen, Wahrnehmung von Dingen, die nicht existieren, und Wahnvorstellungen, also falsche Überzeugungen, die bestehen bleiben, auch wenn eindeutig das Gegenteil bewiesen ist, machen nur einen Teil des Schreckens aus, der typisch ist für Schizophrenie. Häufig zerfließt die gesamte visuelle und emotionale Welt in einen dunklen, grenzenlosen Horror. Auch akustische Halluzinationen, vor allem das Hören von Stimmen, sind weit verbreitet. Die Stimmen sind drohend, verurteilend und fordernd. Sie können überall sein: nah oder fern, im Herzen oder im Kopf, in der Nase, im Unterleib oder in der äußeren Welt: in Vögeln, im Telefon, im Fernsehen oder im Internet. Meistens ist das, was die Stimmen sagen, beunruhigend, manchmal auch unverständlich. Manchmal spricht nur eine Stimme, manchmal findet ein Gespräch oder ein Streit zwischen zwei Stimmen statt, manchmal hören die Kranken nur Gekreische und Getöse aus Tönen und Worten. Visuelle Halluzinationen sind nicht so häufig wie akustische, aber sie sind ebenso wandlungsfähig. Emil Kraepelin, ein kluger Beobachter von psychotischen Zuständen bei Manie und Schizophrenie, nennt Beispiele von visuellen Verzerrungen und Halluzinationen, die seine schizophrenen Patienten erlebten: Sie sahen Totenköpfe, Heilige aus dem Jenseits, Purzelbaum schlagende Clowns, schwarze Raubvögel, die über ihren Köpfen kreisten, den Kaiser von China, Schlangen im Essen, Martin Luther, Flammen, rote und weiße Mäuse in einem Herzen, zwei Schildkröten auf der Schulter. Sie sahen und hörten schreckliche Dinge.49 Die Ärztin und Wissenschaftlerin Carol North, zur Zeit an der medizinischen Fakultät der Washington University in St. Louis, hat die furchtbaren Halluzinationen, bizarren Wahnvorstellungen und
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Wahrnehmungsverzerrungen ihrer eigenen schizophrenen Welt beschrieben. In der folgenden Stelle geht es um ihre Erfahrungen im Ruheraum der Krankenhausstation:
Ich lag stundenlang bewegungslos auf einer Plastikmatte, bis ich ganz steif wurde. Aus dem Abfluss mitten in dem Betonboden kamen rülpsend raue Stimmen hervor, die mich auslachten und mich mit schmutzigen Namen riefen, welche an den kotzgrünen Kachelwänden mehrmals widerhallten, bis sie erstarben. Zwischendurch erschienen Dämonenfratzen auf der anderen Seite des Türfensters, die mich beobachteten wie ein Reptil hinter dem Glasfenster eines Zoos. Zuerst dachte ich, die Gesichter gehörten zu den Pflegern, die zur Kontrolle kamen, dann war ich der Meinung, es wären die Gesichter der Stimmen, die sich mit mir treffen wollten. Später fragte ich mich, ob die Gesichter überhaupt da waren oder ob sie nicht wieder nur ein Produkt meines verstörten Geistes waren. Ich war in einer Vorhölle gefangen oder in einem Fegefeuer und wartete auf meinen Platz in der Anderen Welt. Ach, wie sehr wünschte ich, dass etwas geschehen und meine trostlose Lage beenden möge. Wie durch Zauberei ging die acht Zentimeter dicke Tür auf. »Carol.« Dr. Falmouths Stimme. »Ich möchte mit Ihnen sprechen.« »Sprechen (...), brechen, blechen, preschen, dreschen, rächen«, hallten die Stimmen wider und bildeten Reime auf Dr. Falmouths Worte. Diese verschlüsselte Botschaft bedeutete, dass wir nun mit überschneller Geschwindigkeit zur Sonne flogen. Wir waren aus der speziellen Relativität auf- und in die speziell-spezielle Relativität eingetaucht. Mein Körper war elektrisch geladen, er summte und brummte: ein Brummen in sechzig Kreisen, das als Leitermaterial in einem Kommunikationsnetzwerk fungierte, mit dem vierzig Milliarden Botschaften zwischen parallelen Universen und anderen Welten hin und her gesendet werden konnten. Wenn ich ihre Botschaften nicht überbringen und zusammenhalten würde, würden alle diese Systeme im Chaos zusammenbrechen. Dr. Falmouth wäre kaum imstande, sich gegen diese Furcht erregenden Kräfte vor uns zu behaupten. Dr. Falmouth hob meinen Arm hoch.
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Meine Finger schlossen sich zu einer neuen Form, sie machten sich bereit, Strahlen in vieldimensionale Räume abzufeuern.50
Auch grob unorganisiertes Verhalten und eine unorganisierte Sprache sind Merkmale der Schizophrenie; das Reden verliert Zusammenhang und Bedeutung. Der allmählich fortschreitende geistige Verfall ist fast unvorstellbar, diesen Vorgang zu beobachten schier unerträglich. Diese Angst vor der Welt, dieses Ausgeschlossensein von ihr und dieses Gepeinigtwerden von Stimmen, das Leben zwischen verzerrten Grimassen, Formen und Farben, die Beständigkeit und das Vertrauen in seinen Verstand zu verlieren: Die meisten Menschen, die solche Qualen durchleiden müssen, sind außerstande, darüber zu reden. Robert Bayley, ein an Schizophrenie erkrankter Patient, hat immerhin versucht, seine furchtbaren tagtäglichen Kämpfe in Worte zu fassen:
Fast ständig leide ich unter fürchterlichen Qualen. Die Stimmen und Visionen, die man in diesem Zustand gewöhnlich wahrnimmt, dringen in meinen Alltag ein und verwirren mich. Die Stimmen sind vornehmlich destruktiv, sie reden in fremden Sprachen drauflos oder befehlen mir in schrillem Ton, irgendwelche gewalttätigen Handlungen auszuführen. Sie verfolgen mich, indem sie unablässig Kommentare abgeben und alles ins Lächerliche ziehen, um mich zu täuschen und aus dem Gleichgewicht zu bringen und mich in eine lähmende Paranoia zu stürzen. Ihre Befehle lassen keinen Widerstand zu und lösten Phasen aus, in denen ich mich suizidal verhielt und mir selbst Gewalt antat. Ich lief vor schnell fahrende Autos und schnitt mir die Schlagadern auf, dabei fühlte ich, wie dieser Zwang mein Leben zerstörte. Wenn sie gar nicht locker ließen, dann bestand überhaupt keine Wahlmöglichkeit mehr, und ich fühlte mich gemartert und ausgetrocknet. Ich höre auch verzerrte Töne und Klänge, die aus dem Innersten meines Gehirns hervorkommen. Manchmal brechen diese Töne aus dem Nichts hervor, während die Stimmen fortfahren, mich in eine wahnsinnige innere Welt zu stoßen. Die Visionen sind außerordentlich lebendig, sind erschreckend und bestürzend. In Zeiten eines solchen Trommelfeuers verwandeln sich zum Beispiel Pflastersteine in dämonische Fratzen, die vor meinen versteinerten Augen zerspringen. Menschen, mit denen
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ich in Berührung komme, verformen sich manchmal grotesk, ihre Haut pellt sich ab, und ihre Muskeln und Organe treten hervor, während sie auseinander fallen.51
Verzerrte Wahrnehmungen der Realität sind nicht die einzige Ursache der Qual. Es breitet sich zugleich eine bösartige Apathie aus, und die Gefühle, die andere als intensiv oder vergnüglich erleben, sind für Schizophrene flach und abgestumpft. Der Verstand, das Gedächtnis und die Fähigkeit zur Konzentration und zum logischen Denken sind wie zerfressen. (Hirnaufnahmen zeigen denn auch deutliche Unterschiede in Struktur und Funktionsweise zwischen Schizophrenen und Nicht-Schizophrenen.) Diese Symptome sind zwar teilweise die Gleichen wie bei der Depression, aber sie sind im Allgemeinen permanent vorhanden und gehen nicht zeitweilig zurück. Oft treten auch gleichzeitig Stimmungsstörungen auf52: Mindestens ein Viertel der Schizophreniekranken leidet an einer ernsten Depression, wodurch sich die Selbstmordgefahr beträchtlich erhöht.53 Schizophrene, die Selbstmord begehen, sind wie die Patienten, die an Stimmungsstörungen leiden, häufig depressiv, sehr reizbar und ruhelos.54 Oft liegt auch ein früherer Selbstmordversuch vor. (Etwa 30 bis 40 Prozent der Schizophreniekranken unternehmen mindestens ein Mal einen Selbstmordversuch;55 wie bei den Depressionen ist ein mindestens einmaliger Selbstmordversuch die häufigste Voraussetzung für einen Selbstmord.56) Meistens befinden sie sich in einem frühen Stadium ihrer Krankheit57 oder wurden kurz zuvor aus einem psychiatrischen Krankenhaus entlassen.58 Halluzinationen und Wahnvorstellungen tragen natürlich wesentlich zu den Leiden psychotischer Patienten bei, aber welche Rolle sie für das Zustandekommen eines Selbstmords spielen, ist nicht geklärt.59 Auch andere psychiatrisch auffällige Zustände, vor allem Angstzustände und die Borderline- und antisozialen Persönlichkeitsstörungen, sind mit einem überdurchschnittlichen Selbstmordrisiko verbunden. (Bei den Essstörungen wie der Anorexie und der Bulimie kommt es häufig zu medizinischen Komplikationen und Todesfällen, aber über die Selbstmordrate ist nichts Genaues bekannt.60 Eine Durchsicht von über dreißig Untersuchungen zu dieser Frage ergab, dass rund ein Prozent der Personen mit Essstörungen durch Selbstmord sterben.61)
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Dagegen erhöhen Angstzustände, besonders wenn sie von Panikattacken oder schweren Depressionen begleitet sind, mit Sicherheit die Selbstmordgefahr.62 Die bezeichnenden Symptome dieser Störungen – übermäßige Angst und Sorge, Schlafstörungen, Muskelspannung, Reizbarkeit, Müdigkeit und Ruhelosigkeit – halten oft lange an.63 Auch sind häufig Symptome einer Depression zu verzeichnen. Unter dem Einfluss von Panikattacken kommt es vermehrt zu Selbstmorden oder Selbstmordversuchen, aber wie groß dieser Einfluss auf die Selbstmordrate ist, konnte trotz der lebhaften Debatte, die über diese Frage zur Zeit geführt wird, bisher nicht geklärt werden.64 Diese Attacken sind zeitlich begrenzte Anfälle intensiver Angstgefühle und Beschwerden, begleitet von abrupten Ausbrüchen verschiedener unangenehmer körperlicher und mentaler Symptome wie Herzklopfen, Schwitzen, Schüttelfrost, Atemnot, Brustschmerzen und einer akuten Angst zu sterben oder den Verstand zu verlieren. Diese Symptome führen oft dazu, dass die betreffenden Personen zur Notaufnahme ins Krankenhaus kommen, weil sie einen Herzanfall befürchten. Treten solche Panikattacken häufig auf, können sie ein Gefühl der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit bewirken oder zu einer selbst auferlegten sozialen Isolierung führen, um Situationen zu vermeiden, die solche Zustände auslösen könnten. Schwere Angstzustände sind wie schwere Erregungszustände ein Prädiktor für eine erhöhte Selbstmordgefahr.65 Überraschenderweise und im Gegensatz zu den anderen schweren psychischen Krankheiten scheinen Zwangshandlungen, Zwangsneurosen und -psychosen kein erhöhtes Selbstmordrisiko im Gefolge zu haben. Die hartnäckigen und lästigen Gedanken, die Impulse und Wiederholungszwänge, die diese Krankheit kennzeichnen – wie Händewaschen, bis die Hände ganz rau werden, Zählzwang oder wiederholtes Überprüfen von geschlossenen Türen –, sind nicht nur die Ursache von heftigen Leidenszuständen, sondern sie verschlingen auch viel Zeit (oft mehrere Stunden täglich) und bringen häufig den gesamten Alltag durcheinander. Dennoch kommen die meisten Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass derartige Störungen nicht auffallend häufig mit Selbstmord enden66 – es sei denn, sie sind ausgesprochen schwer oder mit Depressionen verbunden.67 Bei der letzten umfangreichen Kategorie von psychiatrisch auffälligen Zuständen, den so genannten Persönlichkeitsstörungen, gibt
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es vor allem zwei typische Syndrome, die zu einer unverhältnismäßig hohen Zahl von Selbstmorden führen. Die Borderline-Störung lässt sich grob definieren als eine psychische Struktur, die durch stürmische Beziehungen und impulsives, selbstzerstörerisches Verhalten gekennzeichnet ist; zu den Symptomen zählen instabile Arbeitsverhältnisse, ein chronisches Gefühl der Leere und die Angst, verlassen zu werden, intensive Perioden von Wut und Ärger, rasche Stimmungsschwankungen, das Aufschneiden der Pulsadern, Hautabschürfen oder Verbrennungen, das Schlagen mit dem Kopf gegen die Wand, selbst beigebrachte Schnittwunden und suizidales Verhalten. Die antisozialen Persönlichkeitsstörungen, die häufig als Verhaltensstörungen in der Kindheit beginnen, sind gekennzeichnet durch Missachtung der Rechte von anderen, einen Mangel an Empathie, aggressives Verhalten, pathologisches Lügen, eine geringe oder überhaupt nicht vorhandene Fähigkeit, Mitleid und Reue zu empfinden, und physische Grausamkeit.68 Diese Störungen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht (so sind zum Beispiel die antisozialen Persönlichkeitsstörungen bei Männern drei Mal so weit verbreitet wie bei Frauen, beim Borderline ist es umgekehrt), aber sie haben auch vieles gemeinsam. In beiden Fällen handelt es sich um familiäre Störungen, das heißt, Verwandte ersten Grades (Eltern, Geschwister und Kinder) leiden häufiger an diesen Krankheiten, als es durchschnittlich der Fall ist. Beide Syndrome treten häufig auf und zeigen die Tendenz, mit der Zeit an Heftigkeit zu verlieren. Die weiteren den antisozialen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen gemeinsamen Züge sind vermutlich für ein erhöhtes Selbstmordrisiko verantwortlich: ein ausgesprochen impulsives Verhalten, unkontrollierbare Wutausbrüche, häufige körperliche Auseinandersetzungen oder grundlose Angriffe auf andere Personen, rücksichtsloses Verhalten wie eine mit hohen Risiken verbundene sexuelle Promiskuität oder Drogenmissbrauch, ein labiles Stimmungsverhalten und starke Reizbarkeit. Die extreme Labilität von Stimmung und Verhalten in Verbindung mit dem diagnostischen Merkmal eines manipulativen Verhaltens und der Missachtung der Gefühle und Rechte anderer Menschen ist der sichere Garant dafür, dass die Beziehungen konfliktreich werden, das persönliche Leben verarmt und einsam wird, dass es zu beruflichem Chaos, zu Arbeitslosigkeit und Gefängnishaft kommt. Rücksichtsloses und gewalttätiges Verhalten, mit dem wir uns in
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den nächsten Kapiteln ausführlicher beschäftigen, werden immer wieder mit Selbstmord und ernsthaften Selbstmordversuchen psychisch Kranker in Verbindung gebracht. Wenn die für Borderlineund antisoziale Persönlichkeitsstörungen typischen labilen Elemente69 zusammen mit Depressionen, Alkoholismus oder Drogenmissbrauch auftreten, kann diese Kombination explosiv, außerordentlich gefährlich und tödlich sein. Fast drei Viertel der Borderline-Kranken unternehmen mindestens ein Mal einen Selbstmordversuch, und fünf bis zehn Prozent begehen tatsächlich Selbstmord.70 Bei diesen Patienten hat das suizidale Verhalten mehr mit den Konflikten in ihren Beziehungen zu anderen Menschen zu tun als bei Depressiven, Schizophrenen oder manisch Depressiven. Borderline-Patienten sind ausnehmend sensibel, was tatsächliche oder eingebildete Zurückweisungen angeht, und ihre depressive Stimmung, die allerdings im Allgemeinen nicht lange anhält, steht in einem viel größeren reaktiven Verhältnis zu Rückschlägen in Beziehungen. (Oft kommt es dann in Anwesenheit einer anderen Person zum Selbstmord. Einer Untersuchung zufolge werden über 40 Prozent der Selbstmorde von Borderline-Kranken im Beisein von anderen Personen begangen,71 bei anderen Diagnosen ist dies nur bei etwa 15 Prozent der Fall.) Von Howard Wishnie, einem Arzt, der viel mit Borderline-Patienten arbeitet, stammt die Beschreibung einer zweiunddreißigjährigen Mutter von drei Kindern, die wegen Depression und kurzer psychotischer Episoden ins Krankenhaus kam:
In den ersten Stunden nach ihrer Aufnahme machte sie den Eindruck einer geschmackvoll gekleideten, attraktiven jungen Frau, die mit dem Krankenhauspersonal und den Patienten gut zurechtkam. Es gab keinen objektiven Anhaltspunkt für eine Depression. Am Wochenende betrank sie sich und nahm Überdosen von Sedativa. Als sie am Montag wieder im Krankenhaus erschien, wurden die Medikamente sofort abgesetzt. Die Patientin unternahm eine Reihe von Versuchen, wieder an ihre Medikamente zu gelangen, und wollte nicht einsehen, dass ihr unsachgemäßer Gebrauch der Medikamente ein ausreichender Grund für deren Absetzung sein könnte. Montag Nachmittag machte sie dem Therapeuten offen sexuelle Angebote. Ihre Erscheinung und ihr Verhalten waren desorganisierter und ausgefallener geworden. Der Therapeut versuchte, der Patientin die raschen Veränderungen
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ihres Auftretens und ihres mentalen Zustands als Anzeichen ihrer »Krankheit« zu erklären, aber sie zeigte kein Verständnis. Als sie darauf hinwies, dass ihre Fähigkeit, mit ihrem Leben fertig zu werden und mit ihren starken Gefühlen umzugehen, vor ihrer Einweisung ins Krankenhaus offenbar größer gewesen sei, wurde sie wütend und sagte, sie würde in ein anderes Krankenhaus gehen, wo die Ärzte sie besser verstünden und weniger distanziert wären. Sie stürmte aus seinem Sprechzimmer und verließ das Gebäude. Ein paar Minuten später ging auch der Therapeut aus seinem Zimmer. Nach zehn Minuten kam er zurück und traf auf die Patientin, die in einer Blutlache stand. Sie hatte das Fenster zertrümmert und sich mit den Scherben Schnittwunden beigebracht. Einige Monate später erklärte sie: »Ich dachte, Sie wären in Ihrem Büro für mich da, auch als ich sagte, ich würde gehen. Ich wusste, Sie würden da sein. Als Sie nicht da waren, sah ich plötzlich das Gesicht meines Vaters auf dem Glas und auf mich zukommen. Auf seinem Gesicht erschien eine große Träne. Da drehte sich mir alles, und ich schmiss die Bilder zum Fenster hinaus.« Am gleichen Tag, als eine Besprechung mit dem Mann der Patientin stattfand, kam es zu einer weiteren kurzen psychotischen Episode. Trotz der von der Patientin unter Beweis gestellten Fähigkeit zur Regression wurden die Bedingungen für Behandlung und Krankenhausaufenthalt noch einmal klargestellt: Die Patientin sei für ihr Verhalten verantwortlich. Die Patientin erzählte ihrem Mann daraufhin von dem gleichgültigen Verhalten des Arztes ihr gegenüber. Als das nichts nutzte, um andere Behandlungsbedingungen zu erwirken, warf sich die Patientin auf den Boden, biss ins Stuhlbein und gab absonderliche Klageschreie von sich. Er riss sie weg und sagte ärgerlich, ihr Verhalten zeige deutlich, wie nötig sie eine intensive Behandlung habe und wie unfähig sie sei, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Der Therapeut blieb bei seiner Meinung, und die Patientin erschien nun, als sei sie in Trance. Sie verließ mit ihrem Mann das Sprechzimmer, um ein anderes Krankenhaus aufzusuchen. Eine Stunde später rief die Patientin den Therapeuten an. Sie sprach klar und direkt, wie bei ihrer Aufnahme. Sie sagte: »Doktor, ich bin einverstanden.« Sie war zu einer Fortsetzung der eingangs festgelegten Behandlung bereit. Daraufhin wurde sie sofort
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entlassen und kam die nächsten anderthalb Jahre in ambulante Behandlung. In den folgenden Therapiesitzungen kam es noch einige Male zu kurzen psychotischen Episoden. Sie hatten alle mit wirklichen oder vermuteten Objektverlusten zu tun. Als der Verlust identifiziert wurde, brach in derselben Behandlungsstunde die Psychose aus. Hätte man diese Patientin nur in diesen regressiven Zuständen gesehen, ohne die vorangegangenen Erfolge zu kennen, wäre sie leicht als schizophren zu diagnostizieren gewesen. Der Hauptpunkt ihrer aktuellen Diagnose war die offene und dramatische Erörterung von Symptomen, die mit der Mobilisierung von vielen Leuten in ihrer Umgebung zu ihren Gunsten einherging.72
Die psychischen Zustände, von denen bisher die Rede war – Stimmungsstörungen, Schizophrenie, Angstzustände und Persönlichkeitsstörungen –, sind nicht nur quälende und schreckliche Krankheiten, sondern sie haben auch weitreichende und gewöhnlich entfremdende und destabilisierende Auswirkungen auf die Fähigkeit der Betreffenden, Beziehungen einzugehen, die ihnen etwas bedeuten, einer befriedigenden und finanziell einträglichen Arbeit nachzugehen und daran zu glauben, dass das Leben lebenswert sei. Alle diese Störungen werden sehr viel schlimmer, wenn sie mit Alkohol- oder Drogenmissbrauch verbunden sind. Schizophrenie, Stimmungsstörungen, Angstzustände und Persönlichkeitsstörungen sind nicht die einzigen Ursachen von Selbstmorden. Auch Alkohol- und Drogenmissbrauch fordert einen furchtbaren Tribut, sei es durch den Missbrauch selbst oder, was häufiger der Fall ist, in Verbindung mit Depression und anderen psychischen Krankheiten. Drogen- und Medikamentenmissbrauch beginnt wie die manische Depression und die Schizophrenie meistens in jungen Jahren, oft schon in der Adoleszenz oder mit Anfang zwanzig, und wenn er zur Gewohnheit geworden ist, dann geht er zumeist weiter, ohne dass sich viel dagegen unternehmen lässt. Obwohl sie persönlich, finanziell, gesellschaftlich, rechtlich und beruflich in massive, häufig irreversible Probleme geraten, nehmen Menschen mit Alkoholoder Drogenproblemen die Substanzen zu sich, die sie zerstören. Es ist nicht immer leicht, die Abhängigkeit von Drogen oder
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Alkohol von den krankhaften Depressionen zu trennen, die dem Missbrauch vorausgehen, ihn begleiten oder auf ihn folgen. Beide bringen Stimmungs-, Denk-, Verhaltens-, Schlaf- und Essstörungen mit sich. Der Alkoholismus kann die meisten Symptome der Depression verursachen, auf lange Perioden heftigen Trinkens können ernsthafte Depressionen folgen. Die Gründe dafür liegen zum Teil auf der Hand, teilweise sind sie schwer zu erkennen.73 Psychische Krankheiten wie Depression, Manie und Schizophrenie sind quälend und schrecklich. Drogen und Alkohol können eine Zeit lang das Gefühl der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit dämpfen. Das Trinken nimmt nicht nur in Zuständen der Depression zu, sondern hat vor allem dann krankhafte Züge, wenn Manien vorliegen oder gemischte Erregungszustände. Dann kommt es leicht zum Gebrauch von Alkohol oder Medikamenten wie Sedativa und Schlaftabletten, um die Ruhelosigkeit einzudämmen, schlafen zu können und die unangenehmen Gefühle, die diese psychischen und physischen Zustände begleiten, für wie kurze Zeit auch immer zuzudecken. Auf eigene Faust eingenommene Medikamente, die bei beunruhigenden Gedanken und düsteren Stimmungen Abhilfe schaffen sollen, werden oft gezielt eingesetzt. Viele Depressive nehmen zum Beispiel Kokain nicht nur als Antidepressivum – auch wenn es ungeheuer kostspielig und letzten Endes schädlich ist –, sondern auch, wenn sie zugleich manische Neigungen haben, um milde Manien herbeizuführen oder bestehende zu verlängern. Opium dient seit Jahrhunderten dazu, sich einzulullen und zu betäuben, und Alkohol, der pharmakologisch eigentlich depressive Wirkungen hat und häufig nur kurze, immer wieder unterbrochene Schlafperioden zulässt, wird von Millionen Menschen benutzt, um das augenblickliche Dasein auszulöschen, der Depression zu entwischen und gefühllos zu werden. Der Missbrauch von Alkohol, Medikamenten bzw. Drogen einerseits und psychische Krankheiten andererseits beeinflussen und verstärken sich wechselseitig. Drogen werden seit Jahrtausenden in der ganzen Welt benutzt, um mit Angstzuständen, Unruhe, Depressionen und Psychosen fertig zu werden. Vergorenes Getreide, gerollte Cocablätter und der Saft der Mohnblume sind die am weitesten verbreiteten Mittel, um die Angst zu verjagen, die abgestumpften Sinne wieder zum Leben zu erwecken, Ruhe ins Denken oder lästige Stimmen zum Verstummen zu bringen. Der Gebrauch solcher
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Drogen war immer riskant. Ihre Wirkung besteht darin, die feine Abstimmung des Gehirns zu verändern und das Bewusstsein einzudämmen. Werden sie über lange Zeiträume hinweg genommen, können sie die empfindliche Chemie des Gehirns verändern und beschädigen. Sie gefährden die Beziehungen und die berufliche Situation der Abhängigen und Süchtigen, sie schaden deren Gesundheit und Selbstachtung. Werden Alkohol und Drogen eingesetzt, um mit den Qualen von Geisteskrankheiten fertig zu werden, verschlimmern sie diese meistens nur.74 Ob sie unabhängig voneinander oder zusammen zur Wirkung gelangen, in jedem Fall können sie akute psychotische Schübe herbeiführen und dazu beitragen, dass sich der gesamte Krankheitsverlauf verschlechtert; sie untergraben die Bereitschaft des Patienten, sich um eine gute ärztliche Versorgung zu kümmern, und sabotieren die Wirksamkeit der vorgeschriebenen Behandlung. Drogenmissbrauch ist, als lüde man eine Pistole mit zusätzlichen Kugeln. Drogen lockern auf, aber zugleich erhöhen sie die Risikobereitschaft und fördern gewalttätiges und impulsives Verhalten. Bei suizidalen Menschen kann dies tödliche Folgen haben. Das trifft auch auf die wilden Stimmungsschwankungen zu, die häufig mit dem Missbrauch von Drogen oder mit dem Entzug einhergehen. Angesichts eingeschränkter Urteilskraft, durcheinander geratener oder zerstörter persönlicher Beziehungen und einem sich ständig steigernden Verlangen nach Drogen, weil diese mit der Zeit immer weniger gut wirken, ist es nicht erstaunlich, dass Drogen- und Alkoholmissbrauch in Verbindung mit psychopathologischen Zuständen ein ausgesprochen günstiges Klima für einen Selbstmord schafft. In der Forschung wird im Großen und Ganzen die Auffassung vertreten, dass bei Menschen, die gleichzeitig krank und abhängig sind, die Krankheit den Suchtstörungen normalerweise vorausgeht.75 Edgar Allan Poe, dem die Besänftigung von turbulenten Stimmungen mit Hilfe von Wein und Cidre nicht fremd war, bemerkte einmal: »Ich bin konstitutionell empfindlich – ungewöhnlich nervös. Ich wurde wahnsinnig, hatte aber immer wieder lange Perioden, in denen ich mich auf eine furchtbare Art und Weise gesund fühlte. Während der Anfälle von absoluter Bewusstlosigkeit trank ich, Gott weiß wie viel und wie lange. Meine Feinde schrieben meinen Wahnsinn natürlich dem Alkohol zu und nicht den Alkohol dem Wahnsinn.«76 Damit ist alles gesagt.
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Unglücklicherweise treten Geisteskrankheiten und Alkoholismus oder Drogenmissbrauch oft zusammen auf. Zwei Drittel der manisch Depressiven und ein Viertel der Depressiven haben erhebliche Alkohol- oder Drogenprobleme; bei Schizophrenen ist der Anteil ungefähr gleich hoch.77 Kommt beides zusammen, nimmt die Selbstmordgefahr gefährlich zu.78 An den meisten Selbstmorden ist eine Kombination von Alkohol und Depression beteiligt. Drogen und Stimmungsstörungen befördern sich gegenseitig: Allein sind sie furchtbar, gemeinsam tödlich. Der Dichter John Berryman, der sowohl wegen seines Alkoholismus als auch wegen seiner manischen Depression immer wieder in klinischer Behandlung war, sah, wie sein Trinken und seine Geisteskrankheit die Grundlagen seines Lebens, seiner Ehe, seiner Freundschaften und seines Schreibens zu zerstören drohten. Zwei Jahre, bevor er seinem Leben mit dem Sprung von einer Brücke ein Ende setzte – so wie es bereits sein Vater und eine Tante getan hatten –, schrieb er über die Aussichtslosigkeit seines geistigen Zustands. Als er nach einer wilden Sauferei und einer unüberlegten sexuellen Affäre nach Hause zurückkam, sah er sich mit seiner Frau, einem Vertreter der Universität, an der er lehrte, und Polizeibeamten konfrontiert, die ihn festnehmen und in eine psychiatrische Klinik einliefern wollten:
Er wusste, dass er im Hausflur stand. Seine Frau betrachtete ihn mit kalten Augen, ihr Arm war ausgestreckt und hielt ein kurzes Glas – etwas kleiner, als er es mochte. Zwei Polizisten zu ihrer Linken. Sein Dekan mit Ehefrau irgendwo rechts davon. (...) Das Mädchen war weg. Er blickte seiner Frau in die Augen und hörte sie sagen: »Das ist der letzte Schluck, den du jemals zu dir nehmen wirst.« Und als er aus irgendeinem Bereich seines zerfledderten Geistes sagte: »Schieb es dir sonst wohin«, hatte er zugleich das zermürbende und apokalyptische Gefühl, dass sie vielleicht Recht hatte.79
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Kapitel 5 Was macht es schon, ob Strick, ob Gürtel Methoden und Schauplätze
Da wir nur einmal sterben können, was macht es schon, Ob Strick, ob Gürtel, Gift, Pistole oder Schwert, Langsame Auszehrung oder jähes Platzen Einer Ader in den edlen Teilen Das Elend dieses Lebens uns verkürzen? Der Ursachen sind viele, die Wirkung ist sich gleich: Sie alle führen zu demselben Ende. THOMAS CHATTERTON1
Die besonderen Umstände eines Selbstmordes wecken seltsame Fantasien. Nicht nur die ungewöhnlichen und auffälligen, sondern auch die banalsten Arten der Selbsttötung lassen uns keine Ruhe, und aus Methode und Ort, auf die die Wahl fiel, ziehen wir Rückschlüsse auf die Angst und die Lebensmüdigkeit, die der Tat vorausgingen. Wir messen der Logistik der Handlung – dem Sichaufhängen im Wald, dem Aufschlitzen der Kehle im Bad – eine Bedeutung bei, weil wir hoffen, auf diese Weise hinter einen unzugänglichen Geisteszustand zu kommen. Aber es ist nur eine Hand voll Methoden – Erschießen, Springen, Vergiften, Gas, Erhängen, Ertränken –, die bei fast allen Selbstmorden angewandt werden. Über die Arten, sich umzubringen, hat sich schon Seneca im ersten Jahrhundert geäußert:
Blicke nur um dich, überall findet sich ein Ende für dein Leid. Siehst du jene steile Höhe? Dort führt ein Weg zur Freiheit. Siehst du dort das Meer, dort den Fluss, dort den Brunnen? Tief unten im Grunde sitzt da die Freiheit. Siehst du jenen niedrigen, verdorrten, kümmerlichen Baum? Da hängt die Freiheit. Siehst du deine Kehle, deine Gurgel, dein Herz? (...) Suchst du nach einem Weg zur Freiheit? Jede Ader an deinem Körper bietet ihn.2 – 128 –
Doch war es, wie Sherwin Nuland, leitender Arzt in Yale und Schriftsteller, gezeigt hat, als Seneca schließlich versuchte, sich umzubringen, schwieriger, als er gedacht oder anderen geraten hatte: »Er stieß sich einen Dolch in die Schlagader am Arm, aber das Blut kam nicht so schnell, wie er wollte, daher schnitt er sich auch die Venen an seinen Beinen und den Knien auf. Als das auch noch nicht genügte, schluckte er Gift, wiederum vergeblich.«3 Schließlich trat der Tod durch Ersticken in einem Dampfbad ein. Bei den meisten Menschen, die wenig persönliche Erfahrung mit der trüben Hoffnungslosigkeit haben, die dem Selbstmord zu Grunde liegt, ruft der Akt in seinem blanken Schrecken Angst und Furcht hervor. Wer jedoch die Hoffnungslosigkeit kennt, der kann sich über die verschiedenen Möglichkeiten, sich zu töten, auch mit grimmigem Humor auslassen. Dorothy Parkers »Résumé« ist ein besonders bissiger und berühmter Beitrag zu diesem Thema:
Klingen schmerzen, Flüsse sind nass, Säuren ätzen, und Drogen verursachen Krämpfe. Waffen sind gegen das Gesetz, Schlingen geben nach, Gas stinkt, also kannst du auch gleich am Leben bleiben.4
Dorothy Parker hielt sich an das, was sie schrieb. Bei ihrem ersten Selbstmordversuch schnitt sie sich die Adern mit einer Rasierklinge auf, beim zweiten nahm sie eine Überdosis Veronal und das dritte Mal Barbiturate. Sie litt häufig unter schrecklichen Depressionen, die auch nicht zu lindern waren, wenn sie viel trank, gleichwohl war sie in der Lage, ihren tödlichen Humor zu gebrauchen, um von ihren Qualen abzulenken, zumindest im Beisein ihrer Freunde. Ihre Biografin Marion Meade erfasst den tiefschwarzen Humor der Parker genau:
Als sich Dorothy so weit erholt hatte, dass sie Besucher empfangen konnte, bereitete sie sich auf ihren Auftritt vor. Sie sah zwar noch blass aus und fühlte sich geschwächt vom vielen Weinen, aber trotzdem begrüßte sie ihre Freunde vom Runden Tisch mit einem vergnügten Lachen und ihrem üblichen Sperrfeuer aus Worten mit – 129 –
vier Buchstaben. Um ihre bandagierten Handgelenke waren blassblaue Bänder gewickelt, und sie winkte ausgelassen, als wollte sie voller Stolz ein Paar Diamantarmbänder von Cartier vorführen. Hätte sie ihre Verzweiflung offen gezeigt, wäre den Freunden das Ausmaß ihres Leidens nicht entgangen, und sie hätten vermutlich in einer angemesseneren Weise reagiert. Aber Dorothy brachte sie zum Lachen, so dass sie sich erleichtert fühlen konnten.5
Die ein Jahr später als die Parker geborene Edna St. Vincent Millay lebte ganz anders, aber auch sie verbrachte viel Zeit in psychiatrischen Kliniken und schrieb mit Galgenhumor gewürzte Verse über den Selbstmord. Ihr Gedicht »I Know a Hundred Ways to Die« fand merkwürdigerweise Eingang in eine Gedichtsammlung für junge Leute.
Ich kenne hundert Todesarten. Oft dacht' ich, ich probiere eine: unter die Räder eines Lastwagens, dort lege ich mich hin. Auch könnte ich von einer Brücke springen – aber dergleichen ist zu schlimm für Straßenkehrer und die Männer, die die Meere säubern. Es gibt auch Gifte, die ich nehmen könnte. Oft dachte ich, ich könnt's versuchen. Doch Mutter kauft sie für den Abfluss, es wär' Verschwendung, wenn ich davon tränke.6
Die Millay und die Parker nahmen in rasch hingeworfenen Versen die üblichen Selbstmordmethoden aufs Korn, aber Notärzte, Polizisten, Leichenbestatter, Psychiater und Gerichtsmediziner wissen von viel grässlicheren Mitteln zu berichten, sich das Leben zu nehmen. In seinem 1840 erschienenen Buch The Anatomy of Suicide beschrieb der Arzt Forbes Winslow, wie ein Mann sich mit seiner Brille zu Tode stach, ein anderer sich den Bären im Pariser Jardin du Roi zum Fraß vorwarf, und wieder ein anderer sich am Klöppel einer Dorfkirchenglocke aufhängte. Ein von seiner Geliebten betrogener
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Franzose rief seinen Diener und sagte ihm, er werde sich das Leben nehmen. Er trug ihm auf, aus seinem Fett eine Kerze zu machen und sie »anzuzünden und zu seiner Geliebten zu bringen«. In seinem Abschiedsbrief an sie schrieb er: »Er habe lange für sie gebrannt, nun möge sie sehen, dass seine Flammen Wirklichkeit waren, denn die Kerze, in deren Schein sie diesen Brief lese, bestehe aus Teilen seines elenden Körpers.« Dann brachte er sich um.7 Einige Jahrzehnte später berichtete der Superintendent der New Yorker Irrenanstalt von Patienten, die Selbstmord begangen hatten, indem sie kochendes Wasser tranken, sich Besenstiele in die Kehle rammten, Stopfnadeln in den Unterleib bohrten oder Leder und Eisen schluckten.8 Es gibt Selbstmörder, die in Vulkane springen, sich zu Tode hungern, sich Truthahnknochen in die Kehle stechen, Dynamit, heiße Kohlen, Unterwäsche oder Bettzeug schlucken, sich mit ihren eigenen Haaren erdrosseln, sich mit Elektrobohrern Löcher in den Kopf bohren, ohne Vorräte und leicht bekleidet in den Schnee gehen, ihren Hals in einen Schraubstock spannen, ihre eigene Enthauptung bewerkstelligen und sich jede nur denkbare Substanz injizieren, sei es Luft, Erdnussbutter, Gift, Quecksilber oder Mayonnaise. Sie fliegen mit Jagdbombern gegen Berge, setzen sich Schwarze Witwen auf den Bauch, ertränken sich in Bier- oder Essigfässern und ersticken sich in Kühlschränken und Vorratskisten. Ein Patient von Karl Menninger versuchte sich mehrmals umzubringen, indem er reine Salzsäure trank, aber er überstand diese Versuche und starb schließlich, nachdem er entzündete Feuerwerkskörper geschluckt hatte.9 Henry Romilly Fedden, der in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts über den Selbstmord schrieb, berichtet von einer Polin, die »vier Löffel, drei Messer, neunzehn Münzen, zwanzig Nägel, sieben Fensterangeln, ein Messingkreuz, einhundertundeine Stecknadeln, einen Stein, drei Glasscherben und zwei Perlen von ihrem Rosenkranz«10 geschluckt hatte. Eine andere Frau, eine Pariserin, setzte hundert Blutegel auf ihren Körper. In letzter Zeit hört man häufiger von Männern, die sich absichtlich mit dem AIDS-Virus infizieren,11 und von anderen, die Polizeibeamte provozieren, um sich töten zu lassen; eine Praxis, die der Polizei als »Selbstmord durch Polizeiaktion« bekannt ist. Dieses vertrackte Endspiel ist mittlerweile, nachdem es in der New York Times
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beschrieben wurde, für fast zehn Prozent der Polizeischießereien mit tödlichem Ausgang in den USA verantwortlich.12 Polizeibeamte, aber auch die Mitarbeiter von Bestattungsunternehmen und Gerichtsmediziner sind die ersten Zeugen von haarsträubenden Sterbeszenen. Ein solcher Anblick ist, wenn Drogen im Spiel waren oder sich jemand ertränkte, furchtbar, doch die Szenen brennen sich regelrecht ins Gedächtnis, wenn besonders bizarre oder gewaltsame Methoden gebraucht wurden. In seinem Buch The Undertaking berichtet der Dichter und Bestattungsunternehmer Thomas Lynch von einem entsetzlichen Selbstmord, um den er sich zu kümmern hatte:
Der betrogene Hausherr war aufgeblieben und trank, nachdem seine Frau verkündet hatte, sie wolle sich noch Lockenwickler ins Haar drehen und dann zu Bett gehen. Dies war ein intimer Code zwischen ihnen, der bedeutete, dass sie nicht mit ihm schlafen, sondern sich für den Chef morgen schön machen wollte. Er leerte die Flasche Dunphy's Irish und plünderte ihren Valiumvorrat, dann ging er zu der Schublade, wo zwischen Oster-, Thanksgiving- und Weihnachtssachen das elektrische Tranchiermesser von Black & Decker lag. Er steckte den Stecker in die Steckdose an der Wand auf seiner Bettseite, wickelte sich ein Tuch um Mund und Kiefer, damit er keinen Laut von sich geben konnte, legte sich neben sie, setzte das surrende Messer an seine Kehle, schnitt die beiden aufsteigenden Halsschlagadern und die Speiseröhre halb durch und stellte dann das Messer ab. Sie wachte nicht auf, weder als er ins Bett kam und das Messer anstellte noch durch irgendein anderes Geräusch. Was sie aufweckte und ihr zunächst wie ein Traum vorkam, war vielmehr die Wärme seines Blutes, das von seinen durchschnittenen Adern die Wand hochspritzte, sie und ihre Haarwickler durchnässte und das Bettzeug, die Matratze und die Bettfederung durchweichte und auf den Teppich unter dem Bett tropfte.13
Diese ungewöhnlichen Selbstmordmethoden sind nicht nur Belege dafür, auf was für verrückte Ideen man kommen kann, um sich das Leben zu nehmen – sie zeigen vor allem, wie verzweifelt und entschlossen ein suizidaler Geist sein kann. Gerade in solchen bizarren Einfällen wird, wenn man so sagen kann, der Akt selbst greifbarer. Diese Methoden sind der blanke Horror, doch sie gewähren einen – 132 –
Einblick in einen ansonsten unvorstellbaren Zustand des Jammers und des Wahnsinns. Die Logistik des Selbstmordes unterschied sich im Altertum nicht wesentlich von der in den Jahrhunderten danach. Im Allgemeinen wurden Waffen benutzt – Messer, Schwert (der »römische Tod«), Rasiermesser, Skalpell und Dolch –, außerdem Erhängen, Springen und die Einnahme von Giften wie Schierling, Opium oder anderen Drogen. Oft hungerten sich die Römer auch zu Tode, verbrannten sich oder provozierten andere, sie zu töten (ähnlich dem modernen »Selbstmord durch Polizeiaktion«). Nach Anton van Hooff, einem der besten Kenner der Selbstmordpraktiken in der klassischen Antike, nahmen sich in Rom weitaus mehr Männer das Leben als Frauen, das ist heute nicht anders. Nur in den alten Mythen begehen mehr Frauen Selbstmord.14 Obwohl sich auch in römischer Zeit viele junge Leute durch Erhängen das Leben nahmen, galt diese Methode als »unrein« und schändlich, der ehrenvolle Weg zu sterben war der, bei dem Waffen benutzt wurden. Das gilt schon für Euripides, den van Hooff zitiert:
Nein, lieber tot! In Schönheit will ich sterben. Abscheulich ist's, am Strick sich aufzuhängen. Für Sklaven selbst gilt es als unanständig. Ein Dolchstich nimmt sich gleich viel besser aus. Jetzt ist die rechte Zeit, jetzt will ich's tun.15
In den folgenden Jahrhunderten blieben Waffen die verbreitetsten Mittel zum Selbstmord. Als Schusswaffen gebräuchlicher wurden, lösten sie Messer und Schwert als bevorzugte Waffen ab. Nach wie vor erhängten sich viele Selbstmordkandidaten, und immer mehr Menschen ertränkten sich oder nahmen Gift. Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren in Frankreich, England und Preußen Erhängen und Vergiften, danach dann Ertrinken die wesentlichen Methoden, aus dem Leben zu scheiden. Aber es gab auch bedeutende kulturelle Unterschiede. In Russland bevorzugte man den Tod durch Erhängen, in Italien, Frankreich und Preußen waren Schusswaffen besonders beliebt, in England und Irland dagegen griff man häufiger auf ein breites Sortiment von Drogen und Giften zurück wie Blausäure, ätzende Säuren, Quecksilber, Opium, Laudanum, Zyankali, Arsen,
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Ungeziefervernichtungsmittel, Chloroform, Strychnin und Belladonna. In Amerika waren zu derselben Zeit nach den Schusswaffen Gift und Leuchtgas die gebräuchlichsten Mittel.16 Auch gingen die Menschen in Flüsse und Meere oder in Teiche und Seen in städtischen Parks (wie dem Serpentine im Londoner Hyde Park, in dem sich viele ertränkten, so auch die erste Frau von Percy Bysshe Shelley), um sich das Leben zu nehmen; eine Todesart, die in Literatur und Folklore düster romantisiert wurde. In diesem Jahrhundert beschrieb Längsten Hughes die Verlockung des Flusses in seinem lakonischen Gedicht »Suicide's Note«:
Das ruhige kühle Antlitz des Flusses bat mich um einen Kuss.17
Auch der Soziologe Emile Durkheim wies im Jahr 1897 auf national unterschiedliche Präferenzen hin: »So hat also jedes Volk seine bevorzugte Todesart, und deren Rangordnung ändert sich kaum.«18 Einwanderer bewahrten, wohin sie auch gingen, die Vorliebe ihres Herkunftslandes für bestimmte Methoden, zumindest solange sie in ihren neuen Heimatländern noch nicht assimiliert waren. »Auch wenn sie von ihrem Land weg sind«, schrieb Morselli, »behalten die Engländer und Iren ihre Vorliebe für Gift und Pistole, während die Deutschen sich lieber den Strick nehmen.«19 Mit der Zeit übernahmen die deutschen Einwanderer aber auch die bevorzugten Selbstmordmethoden in Nordamerika und gingen zu Gift und Schusswaffen über; ebenso passten sich die englischen, schottischen und irischen Einwanderer in Australien den Selbstmordgewohnheiten ihres neuen Heimatlandes an.20 Die Methoden können auch innerhalb eines Landes nach Regionen variieren. In Belgien wird zum Beispiel im Süden eher Gift benutzt, während in den Waldgebieten Schusswaffen bevorzugt werden, weil es hier eine ausgeprägtere Kulturgeschichte der Jagd gibt. In Brüssel mit seinen Hochbauten wird häufiger der Sprung in den Tod praktiziert.21 In weiten Teilen Indiens sind Gift und Strick die populärsten Selbstmordmethoden; nur im Punjab legen sich 55 Prozent der Selbstmörder auf Eisenbahnschienen oder werfen sich vor einen Zug.22
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Natürlich ändern sich die Methoden auch mit der Zeit. So kam eine Untersuchung über Selbstmordmethoden in sechzehn Ländern für den Zeitraum zwischen 1960 und 198023 zu dem Ergebnis, dass die Zahl der Todesfälle durch Gas aus dem heimischen Herd zurückging, während die Selbstmorde durch Auspuffgas, Erhängen und Schusswaffen zunahmen. Im Gebrauch von Gift, Schnittwunden und Ertränken waren keine Veränderungen festzustellen. Der Rückgang von Selbstmorden durch Gas war dadurch bedingt, dass der Anteil von Kohlenmonoxid im Gas herabgesetzt wurde, so dass es nicht mehr so leicht tödlich wirkte. Dabei stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die geringere Verfügbarkeit von bestimmten Mitteln – wie Gas, verschreibungspflichtigen Medikamenten oder Schusswaffen – auf die Selbstmordrate hätte. Käme es zu einem absoluten Rückgang der Selbstmordzahlen oder würden die Menschen nur zu anderen Mitteln greifen? Auf diese Frage werden wir später, im Zusammenhang mit den politischen Möglichkeiten der Selbstmordprävention, zurückkommen. In den USA werden heutzutage bei über 60 Prozent aller Selbstmordfälle Schusswaffen benutzt, damit liegt das Erschießen weit vor allen anderen Methoden. Strangulieren (Erhängen, Strangulieren, Ersticken) und Überdosen (Drogen, Medikamente, Gifte) machen zusammen weitere 25 Prozent aus. Die übrigen Selbstmorde geschehen durch Inhalieren von Gasen oder Dämpfen, Springen, Schnittwunden und Ertrinken. Was gibt den Ausschlag für die Wahl der Methode? Entscheidet der Selbstmörder pragmatisch, hält er sich an Symbole oder ahmt er nach? Wird eine Methode gewählt, weil sie leicht zu realisieren oder vergleichsweise schmerzlos ist, oder soll sie der letzte Reflex eines Lebensstils oder einer bestimmten Art von Verzweiflung sein? In seinem Abschiedsbrief nannte der japanische Schriftsteller Ryuunosuke Akutagawa einige Gründe für seine Wahl:
Zunächst überlegte ich, wie ich sterben könnte, ohne zu leiden. Zu diesem Zweck ist Erhängen wahrscheinlich am besten, aber wenn ich mir jemanden vorstelle, der sich erhängt hat, dann fühle ich einen ästhetischen Schauder, (...) sich zu ertränken ist auch nicht gut, weil (...) man dabei mehr leidet, als wenn man sich erhängt. Vor einen fahrenden Zug zu springen ist ebenfalls ekelhaft. Ein Pistole oder ein Messer sind auch nichts für mich, weil meine
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Hand zittert. Wenn man von einem hohen Gebäude springt, bietet man einen abscheulichen Anblick. Nach diesen Überlegungen habe ich mich für Tabletten entschieden. Das heißt länger zu leiden, als wenn man sich erhängt, aber es hat Vorteile. Mein Körper würde besser aussehen, und die Gefahr, dass es schief geht, ist nicht so groß wie bei anderen Methoden. Der einzige Nachteil ist die Schwierigkeit, Tabletten aufzutreiben. Da ich mich entschlossen habe, Tabletten zu nehmen, bemühe ich mich, bei jeder Gelegenheit, die sich mir bietet, welche zu bekommen. Zugleich versuche ich, mehr über Medikamente in Erfahrung zu bringen. Dann habe ich darüber nachgedacht, wo ich mir das Leben nehmen könnte. Meine Familienangehörigen müssen von dem leben, was ich ihnen hinterlasse. Meine Besitztümer sind ein 100 tsubo [331 m2] großes Stück Land, mein Haus, die Tantiemen aus meinen Büchern und Ersparnisse in Höhe von 2000 Yen. Wenn ich mir in meinem Haus das Leben nehme, sinkt sein Wert. Ich möchte auf eine Art Selbstmord begehen, bei der mein Körper mit Ausnahme von meinen Familienangehörigen von so wenigen wie möglich gesehen wird.24
Man hat den verschiedenen Selbstmordmethoden symbolische Bedeutungen gegeben und sie lebhaft interpretiert – so nahm Karl Menninger an, sich zu ertränken repräsentiere den Wunsch, in den Mutterleib zurückzukehren; Freud überlegte, ob die Mittel, sich das Leben zu nehmen, sexuelle Wunscherfüllungen repräsentierten (sich zu vergiften deute auf den Wunsch hin, schwanger zu werden, sich zu ertränken, ein Kind zu tragen, und sich von einem hochgelegenen Ort in die Tiefe zu stürzen, von einem Kind entbunden zu werden, wobei Freud keine Angaben darüber machte, ob diese Interpretationen auf beide Geschlechter anwendbar sind)25 –, aber der Einfallsreichtum, der in solchen Deutungen steckt, scheint doch über beweisbare Tatsachen hinauszugehen. Persönlichkeitsmerkmale, die bei Personen, die sich einige Monate oder Jahre später das Leben nahmen, mit Hilfe von psychologischen Standardtests erhoben wurden, korrelierten nicht mit der Selbstmordmethode, die sie gewählt hatten.26 Ebenso wenig sind zwischen Menschen, die sich erschießen oder vergiften, in die Tiefe springen, sich erhängen oder ertränken, Intelligenzunterschiede festzustellen.
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Aber eine Reihe von Faktoren spielt zweifellos eine Rolle bei der Wahl der Methode. Zunächst einmal muss die Methode praktikabel sein.27 In Ländern wie den Vereinigten Staaten, wo man an Schusswaffen leicht herankommt, und in Berufsgruppen, die wie Polizei oder Militär einfachen Zugang zu Schusswaffen haben, werden diese unverhältnismäßig häufig benutzt. Wo giftige Pflanzen und Früchte wachsen – wie die giftigen geflügelten Samen des gelben Oleanders in Sri Lanka oder die tödlich giftige Sachasandia-Frucht in Argentinien – oder wo hochgiftige antibakterielle Mittel, Pestizide und andere agrochemische Produkte frei benutzt werden wie in China, Singapur, West-Samoa, Sri Lanka, Guayana, Indien und vielen anderen Ländern, zeigen die Selbsttötungen, wie einfach es ist, an diese Dinge heranzukommen. Wo Eisenbahnen und Untergrundbahnen fahren und andere Mittel nicht so leicht aufzutreiben sind, wo es Meere, Flüsse und Klippen gibt oder Hochhäuser stehen, gehen Menschen, die sterben wollen, dorthin. Ärzte und Chemiker, die Zugang zu tödlichen Chemikalien haben, werden häufiger davon Gebrauch machen als Menschen, die nicht an sie herankommen oder sie nicht kennen. Und weil Patienten in psychiatrischen Kliniken nichts mit Dingen zu tun haben dürfen, die üblicherweise als Mittel für einen Selbstmord dienen, sind sie gezwungen, Schnürsenkel, Kleiderbügel und Bettlaken zu benutzen oder sich mit einem raschen Sprung in ein ungesichertes Treppenhaus hinabzustürzen. Patienten, die sich in ambulanter Behandlung befinden und schwere Medikamente (wie Antidepressiva, Lithium oder Barbiturate) verschrieben bekommen, können sich mit diesen vergiften.28 Doch die Wahl der Methode richtet sich nicht nur nach der Zugänglichkeit. Bedeutsam für den Entscheidungsprozess ist auch, ob der gewählte Akt als mit Sicherheit tödlich eingeschätzt wird. Springen, Erhängen oder Erschießen zum Beispiel lassen wenig Spielraum, entdeckt und gerettet zu werden. Und sie lassen auch nicht die Möglichkeit offen, es sich noch einmal anders zu überlegen. Bei anderen Methoden wie der Einnahme von Überdosen oder der Zufügung von Schnittwunden liegt ein gewisser Zeitraum zwischen dem Akt und dem Tod. Der Versuch kann entdeckt werden, oder man kann selbst versuchen, Hilfe zu holen; das gilt besonders für Gebiete mit zahlreichen Unfallkrankenhäusern, die über hoch entwickelte medizinische Notdienste verfügen. Die Beurteilung der Effektivität einer Methode ist jedoch sehr
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subjektiv. Bei einer Befragung von forensischen Pathologen, in der es um die Rangfolge der Tödlichkeit von 28 Selbstmordmethoden ging, wurden an den ersten Stellen Erschießen, Zyankali, Sprengstoff, das Springen vor einen Zug und das Springen aus großer Höhe genannt. Diese Einstufung wurde von allen befragten Experten im Wesentlichen geteilt.29 Nichtfachleute dagegen kamen zu ganz anderen Rangfolgen. Sie überschätzten (im Vergleich zu den Pathologen) die Wirkung von Überdosen verschreibungspflichtiger Medikamente und Schnittwunden an den Pulsadern; sie unterschätzten die tödliche Wirkung des Erschießens. Frauen überschätzten ganz allgemein die tödlichen Folgen der meisten Methoden, besonders der Einnahme von Überdosen, woraus sich schließen lässt, dass viel mehr Frauen, die Überdosen überlebt haben, wirklich sterben wollten, als gemeinhin angenommen wird. Außerdem hat sich gezeigt, dass viele die tödliche Wirkung von bestimmten Selbstmordmethoden überhaupt falsch einschätzen. Amerikanische Jugendliche, die leicht an freiverkäufliche Medikamente herankommen – die für fast die Hälfte der von ihnen genommenen Überdosen verantwortlich sind –, unterschätzen deren Toxizität im Allgemeinen beträchtlich.30 Frauen machen in der Regel von weniger gewaltsamen und endgültigen Mitteln Gebrauch, obwohl sie seit einigen Jahren vermehrt auch zu Schusswaffen greifen. Eine Untersuchung aus den siebziger Jahren kam zu dem Ergebnis, dass sowohl Frauen als auch Männer Medikamente und Gifte als die »annehmbarste« Form des Selbstmordes betrachten, wobei die Männer allerdings fanden, dass Schusswaffen »männlicher«, wirkungsvoller und leichter zu handhaben seien.31 Die Vorliebe der Frauen für Medikamente und Gift hat damit zu tun, dass diese Todesart für schmerzlos gehalten wird und dass sie zugänglicher und leichter anzuwenden sind. Als weiterer Grund dafür, dass Frauen nicht gewaltsame Selbstmordmethoden vorziehen, wird auch die Angst vor Entstellungen genannt, aber dafür gibt es wenig Anhaltspunkte.32 Das Alter spielt bei der Wahl der Methode ebenfalls eine Rolle.33 Wie im Altertum ist auch heute noch bei jungen Leuten das Erhängen häufiger. Sie springen aber auch aus großer Höhe oder vor fahrende Züge. Schusswaffen werden von Jungen wie von Alten benutzt, inzwischen steigt bei den Jungen diese Rate. Auch Art und Ausmaß der Psychopathologie beeinflussen außerdem die Wahl einer
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Methode. Schwerkranke Patienten neigen eher dazu, sich zu opfern, zum Beispiel vor einen fahrenden Zug zu springen, oder sich besonders ausgefallene und entstellende Todesarten auszusuchen.34 Es gibt auch Menschen, die bestimmte Methoden vermeiden, weil sie Angst haben, sie könnten das Leben oder das psychische Wohlbefinden anderer gefährden: Sie vergiften sich zum Beispiel nicht mit Kohlenmonoxid, weil das Gas an Orte gelangen kann, an denen andere Menschen leben, sie nehmen kein Zyankali, weil Spuren davon auf ihren Lippen eventuellen Helfern, die möglicherweise eine Mundzu-Mund-Beatmung vornehmen, schaden könnten; sie springen nicht irgendwo hinunter, weil sie auf andere Menschen fallen könnten; sie nehmen Abstand davon, sich zu erschießen oder zu springen, weil die sichtbaren Folgen traumatische Auswirkungen für die Hinterbliebenen haben könnten. Die meisten Selbstmörder sind allerdings zu solchen altruistischen Überlegungen gar nicht in der Lage, weil sie zu sehr leiden, aus einem übermächtigen Impuls heraus handeln oder nicht klar denken können. Was daher für die Hinterbliebenen wie Wut oder böswilliges Verhalten erscheinen mag – ein schlimm entstellter Körper an einem vertrauten oder intimen Ort –, ist vielleicht nichts anderes als ein überstürzter Akt der Verzweiflung. Rache und Wut können an den Umständen, die zum Selbstmord führen, beteiligt sein, meistens aber ist dies wohl nicht der Fall. Es ist so gut wie unmöglich, schrieb schon Morselli vor über hundert Jahren, die »manchmal ehrenvollen und gewichtigen, manchmal schändlichen und gedankenlosen Gründe herauszufinden, warum ein Selbstmörder sich in seinem eigenen Bett die Kehle durchschneidet oder sich im hintersten Winkel des Hauses erstickt«.35 Symbole und Anregungen von außen spielen bei den Umständen, die zum Selbstmord führen, ebenfalls eine Rolle. Louis Dublin, der ehemalige Chefstatistiker der Metropolitan Life Insurance Company und als solcher sehr interessiert an den Wahrscheinlichkeitsbedingungen und der Prävention von Selbstmorden, schrieb über die »psychische Konstellation und den persönlichen Symbolismus«36 der Einzelnen. Das Denken, das Gedächtnis und die Wünsche von Selbstmördern werden nicht nur von irrationalen Antrieben bestimmt, sondern auch von einer persönlichen Ästhetik und privaten Bedeutungen beeinflusst. Berichte über Selbstmorde anderer Personen gehen darin ein, Berichte, die in Zeitungen und im Fernsehen, in Büchern
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und Filmen häufig übertrieben oder romantisiert werden. So werden manche Methoden und Tatorte zu »Selbstmordmagneten« und ziehen nicht nur die impulsiven und akut gestörten Täter an, sondern auch die chronisch Selbstmordgefährdeten. Der Sprung in einen Fluss oder das Meer hatte schon immer eine ästhetische und praktische Anziehungskraft. Die Griechen – angeblich auch Sappho und Phobos – sprangen von den Klippen von Leukas in den Tod; auch die Brücken und Uferbefestigungen des Tibers und des Euphrats zogen Selbstmörder an. In jüngerer Zeit war die Themse besonders attraktiv, um 1840 stürzten sich fast fünfzehn Prozent aller Selbstmörder in London von der Waterloo Bridge. Von den Romantikern wurde das Hinauslaufen ins Meer merkwürdigerweise als »leichter Tod« gepriesen. Sich zu ertränken hatte sich im neunzehnten Jahrhundert in Paris so sehr verbreitet, dass die Stadt den Fischern für jeden Körper, den sie aus den Gewässern holten, eine Belohnung zahlte, um hygienische Probleme zu vermeiden. In Beachy Head, den Klippen am östlichen Ausläufer der South Downs an der englischen Küste, soll es seit dem sechsten Jahrhundert Selbstmorde gegeben haben. In den letzten Jahren ist die Zahl der an dieser Stelle verübten Selbstmorde stark gestiegen, was wohl auf eine intensive Berichterstattung in den Medien zurückzuführen ist. Zwischen 1965 und 1979 stürzten sich 120 Menschen von den Klippen in Sussex. Britische Forscher sind der Ansicht, dass die Publicity, die den Selbstmorden von Beachy Head zuteil wurde, viele andere auf denselben Gedanken brachte. Sie nennen das Beispiel eines sechsundfünfzigjährigen Mannes, der in einem Krankenhaus, in dem er sich von einem Selbstmordversuch durch eine Überdosis erholte, einen Zeitungsbericht über die Flut von Selbstmorden in Beachy Head mit der Bemerkung kommentierte: »Es ist schon komisch, dass sie solche Sachen in der Zeitung bringen, so dass Leute wie ich davon erfahren.« Zwei Wochen später machte er sich nach Beachy Head auf und sprang in den Tod.37 (Auch das Springen von öffentlichen Gebäuden – vom Eiffelturm in Paris, St. Peter in Rom, dem Dom von Mailand, Giottos Campa-nile in Florenz, dem Empire State Building in New York – hatte eine ansteckende Wirkung, so dass an vielen dieser Gebäude Sicherheitsvorkehrungen getroffen wurden.) Die öffentliche Aufmerksamkeit, die sich auf bestimmte Selbst
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mordarten und -schauplätze richtet, hat bei anfälligen Personen sicher einen Einfluss auf die Wahl der Methode.38 Die Samen des gelben Oleanders waren als Mittel zum Selbstmord vor 1983 in Sri Lanka unbekannt. Zeitungsberichte und ein südindischer Film sowie die leichte Zugänglichkeit der Pflanzen trugen dazu bei, dass die Zahl der Vergiftungen in den folgenden Jahren um ein Vielfaches anstieg. Ebenfalls durch Zeitungsberichte wurde auf den Fidschi-Inseln die enorm tödliche Wirkung des Unkrautvernichtungsmittels Paraquat bekannt, von dem ein Löffel voll genügt, um einen Menschen zu töten. Durch einen indischen Film wurde ein Wasserfall bei Hogenakal in Südindien berühmt, Fernsehen und Zeitungen berichteten über Menschen, die von Apartmenthochhäusern in Takashimadaira bei Tokio und von Parkhochhäusern in Australien sprangen. 1991 erschien Final Exit, der Bestseller von Derek Humphry, der eine Reihe verschiedener Selbstmordarten in allen Einzelheiten präsentierte (vor allem die Methode, sich mit einer Plastiktüte zu ersticken); im folgenden Jahr nahm diese Art der Selbsttötung um 31 Prozent zu. Die Gesamtzahl der Selbstmorde sei nicht gestiegen, darum, so Peter Marzuk und seine Kollegen vom Cornell University Medical College in New York, müsse sich das Bekanntwerden dieser besonders tödlichen Methode wahrscheinlich vor allem auf impulsive und ambivalente Menschen ausgewirkt haben. Sie schlagen zu Recht vor, dass Ärzte bei der Einschätzung des Selbstmordrisikos nicht nur nach Handlungen fragen sollten, die besonderen Anlass zur Sorge geben, etwa ob der Patient einen Abschiedsbrief geschrieben oder sein Testament gemacht habe, sondern ob er auch Literatur über Euthanasie erhalten und gelesen habe oder einmal bei einem Selbstmord dabei gewesen sei.39 In den Jahren 1978 und 1979 kam es in England und Wales zu einer Epidemie von Selbstmorden durch Selbstverbrennungen, nachdem eine vierundzwanzigjährige australische Erbin, die, bevor sie ihre Drohung wahr machen und sich auf dem Parliament Square umbringen konnte, aus England ausgewiesen wurde und sich dann vor dem Völkerbundpalast in Genf selbst verbrannte. Drei Tage später nahm sich ein Direktor von Fortnum and Mason in ähnlicher Weise am Themseufer bei Windsor das Leben. Gegen Monatsende war es zu zehn Selbstopferungen gekommen, und innerhalb eines Jahres hatten sich 62 Menschen durch Selbstverbrennung das Leben genommen. Diese Zahl unterschied sich beträchtlich von den durchschnittlich
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23 Selbstverbrennungen, die sich zwischen 1963 und 1978 jährlich ereigneten (in keinem Jahr waren es mehr als 35). Die umfangreiche Berichterstattung über diese Selbstopferungen veranlasste Ärzte und Wissenschaftler zu der Forderung nach einer Art freiwilliger Selbstbeschränkung von Seiten der Presse: »In einer freien Gesellschaft besteht ein Konflikt zwischen der Notwendigkeit einer freien Presse und ihrer Praxis, über erschreckende Todesfälle zum Zweck der Unterhaltung zu berichten.«40 Der Tod durch Selbstverbrennung dürfe nicht romantisiert werden. Er trete keineswegs schnell und schmerzlos ein, und nur ein Drittel derjenigen, die sich in Brand setzten, würden sofort sterben. Ein weiteres Drittel lebe noch länger als vierundzwanzig Stunden, und generell müssten die Opfer enorme Schmerzen erleiden. Am Fuß des Berges Fuji, des höchsten Berges in Japan, der eine heilige Stätte ist, erhebt sich Jukai, das »Meer der Bäume«, ein dichter Wald auf einem Lavaplateau, das nicht besiedelt ist und durch das so gut wie keine Straßen führen. Der erste schriftlich erwähnte Selbstmord in Jukai ereignete sich im vierzehnten Jahrhundert; seit dieser Zeit lockte der dichte »Schwarzwald« Hunderte in den Tod. Es sei, so Takahaski vom Yamanashi Medical College, der fast mythische Glaube verbreitet, dass man aus dem Wald nicht mehr herausfinde, wenn man erst einmal drin sei: Auf Grund der magnetischen Zusammensetzung der feurigen Lava sei ein Kompass praktisch nutzlos, und weil die Sicht gegen Null gehe, könne man sich auch nicht an der Sonne oder an den Sternen orientieren.41 Anfang der sechziger Jahre beschrieb ein populärer japanischer Schriftsteller in einem Bestsellerroman den Versuch der Heldin, sich das Leben zu nehmen, indem sie in diesen Wald lief. Ihrem Beispiel folgten Massen von Menschen, angestachelt außerdem durch Fernsehen, Filme, Zeitungen und Zeitschriften. Um potenzielle Selbstmörder zu retten, müssten regelmäßige Polizeistreifen eingerichtet werden, und mittlerweile werden im Frühjahr und im Herbst umfangreiche Suchaktionen nach Leichen durchgeführt. Immer noch sterben jährlich etwa dreißig Personen in diesem Wald, die meisten durch Erhängen oder durch eine Überdosis, einige töten sich auch mit Kohlenmonoxid oder sterben durch Erfrieren oder vor Entkräftung. Von all den Schauplätzen, die in Literatur oder Medien auf roman
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tische Weise verherrlicht werden, haben vor allem zwei die Fantasie von Öffentlichkeit und Selbstmördern auf fatale Weise beflügelt: der Berg Mihara auf der japanischen Insel Oshima und die Golden Gate Bridge in San Francisco. Der Mihara, ein aktiver Vulkan, war fast gänzlich unbekannt, bis zwei Schulfreundinnen aus einem Oberschichtinstitut in Tokio im Januar 1933 bis zum Rand des Kraters kletterten. Meiko Ukei, mit vierundzwanzig Jahren die Ältere der beiden, kündigte ihrer Freundin an, sie werde sich in den Vulkan stürzen: Sie werde sofort zu Asche verglühen und in Rauch und Schönheit zum Himmel steigen. Nachdem sie ihrer Freundin das Versprechen abgerungen hatte, niemandem etwas davon zu erzählen, sprang sie. Masako Tomita war erst einundzwanzig und verständlicherweise außerstande, das Versprechen zu halten. Sie vertraute sich einer anderen Freundin an. Diese wiederum drängte Masako, auch sie zum Berg Mihara zu führen, wo sie »Meiko durch das Tor des Mihara ins Paradies folgen« wolle. Masako konnte ihre Freundin nicht von diesem Plan abbringen, und Anfang Februar kletterten die beiden jungen Frauen auf die Spitze des Vulkans. Die Freundin sprang allein, Masako kehrte zurück, und bald wurde die Geschichte zu einem großen Ereignis im kulturellen Leben Japans. Menschen reisten in Scharen zum Mihara. Man musste den kleinen Dampfer durch ein größeres Schiff ersetzen, um den Andrang der vielen Neugierigen zu bewältigen. An einem Sonntag im April, nicht lange nach dem Tod der beiden jungen Frauen, sprangen sechs Menschen in den Vulkan; 25 weitere mussten mit physischer Gewalt daran gehindert werden, es den anderen gleichzutun. Die Touristen standen Schlange, um die Selbstmorde zu beobachten, die nun mehrere Male die Woche vorkamen. Gegen Ende des Jahres hatten sich mindestens 140 Menschen umgebracht. Im folgenden Jahr, 1934, stürzten sich über 160 Menschen in den Tod, und weitere 1200 mussten von der Polizei daran gehindert werden, ihrem Beispiel zu folgen. Im Januar 1935 stürzten sich im Abstand von nur zehn Minuten drei junge Männer in den Tod. Die Polizei hielt rund um die Uhr Wache am Krater, und ein hoher Stacheldrahtzaun wurde gezogen; dennoch töteten sich 1936 mehr als 600 Menschen im Mihara. Am Krater und in dessen Umgebung machte sich eine makabre, surreale Atmosphäre breit, wie sich bei Edward Ellis und George Allen in Traitor Within nachlesen lässt:
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Die Selbstmordepidemie brachte Oshima einen wirtschaftlichen Aufschwung, der dem Grundstückswahn in Florida 1925/26 vergleichbar ist. Der öde, desolate Flecken verwandelte sich in eine Mischung aus nationalem Heiligtum, Coney Island, Atlantic City und den Niagarafällen. Die Bevölkerung der Insel nahm sprunghaft zu. Innerhalb von zwei Jahren eröffneten vierzehn Hotels und zwanzig Restaurants. Pferde wurden auf die Insel geholt, um die Touristen auf den Gipfel des Mihara zu bringen. Fünf Taxibetriebe nahmen ihr Geschäft auf. 1935 war die Zahl der Fotografen auf der Insel von zwei auf 47 gestiegen. Am Rande des Kraters eröffnete ein Postamt, außerdem eine Art Vergnügungspark, eine 400 Meter lange Rutschbahn den Abhang des Mihara hinunter, um den Besuchern den endgültigen Nervenkitzel zu verschaffen. (...) Die Schifffahrtsgesellschaft der Bucht von Tokio ersetzte die Kiku Maru durch zwei neue große Schiffe und zahlte eine sechsprozentige Dividende auf ihre Aktien; in den vorausgegangenen dreieinhalb Jahren waren die Aktionäre noch leer ausgegangen. Der Geschäftsbericht verzeichnete einen Nettogewinn von 280000 Dollar. Ein Teil dieser Einnahmen wurde durch eine spektakuläre Unternehmung erzielt, um die die Schifffahrtsgesellschaft die bestehenden Attraktionen von Mihara bereicherte. Die Gesellschaft hatte drei Kamele importiert, um die Touristen durch den meilenweiten vulkanischen Wüstenstreifen rund um den Krater des Mihara zu transportieren. Die meisten Japaner hatten solche Tiere noch nie gesehen, und so wurden sie augenblicklich zu einem lukrativen Erfolg. Um sich gegen den Vorwurf zu wehren, sie wolle vom Selbstmord profitieren, verkaufte die Gesellschaft nur Hin- und Rückfahrkarten nach Oshima. Die Regierung stärkte der Gesellschaft mit einem Gesetz den Rücken, das den Verkauf von Fahrkarten nur für die Hinfahrt unter Strafe stellte. Unauffällig gekleidete Männer mischten sich mit dem Auftrag unter die Passagiere, jeden zu verhaften, der ihrer Meinung nach auf Selbstmord aus war.42
Der Zugang zum Berg wurde schließlich gesperrt, doch bis dahin hatten sich mindestens eintausend Menschen in den Krater gestürzt. Ungefähr ein Jahr später wurde auf der anderen Seite des Pazifiks die Golden Gate Bridge eingeweiht. Der anmutige Bau, der die Bucht von
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San Francisco, eine der schönsten Gegenden der Welt, überspannte, lockte bald mit ähnlichem Sirenengesang wie der Mihara. Drei Monate, nachdem die Brücke im Mai 1937 eröffnet worden war, sprang der Erste von über tausend, nach anderen Schätzungen fast zweitausend Menschen in die Tiefe. Von der Golden Gate Bridge in den Tod zu springen gehörte bald zur amerikanischen Folklore, ebenso wie der Mihara in das kulturelle Bewusstsein der Japaner eingesickert war. Die Psychologen Richard Seiden und Mary Spence von der University of California in Berkeley haben gezeigt, wie die Brücke bald zum Bestandteil stehender Redewendungen und Mythen wurde.43 Wenn der Stress zu groß wird, so zitieren sie die Einwohner der Stadt, »dann kann man immer noch von der Brücke springen«. Die Busfahrer der Gray Line Tour von San Francisco erwähnten die Selbstmorde von der Golden Gate Bridge auf Stadtrundfahrten als touristische Attraktivität, und es gab sogar Ansichtskarten mit Witzen zu diesem Thema. Einem Bericht des San Francisco Chronicle zufolge wurde eine Lotterie veranstaltet, deren Mitspieler Wetten abschlossen, wann der nächste von der Brücke springen werde. Der Sprung von der Brücke, ein Sturz von 80 Metern in die Tiefe, ist mit fast hundertprozentiger Sicherheit tödlich. Der Aufprall auf dem Wasser ist so hart, dass die großen Blutgefäße reißen, das zentrale Nervensystem zerstört wird und die Wirbelsäule bricht. Manche sind durch Ertrinken umgekommen und einer durch einen Hai, aber die meisten starben bereits durch den Aufschlag auf das Wasser. Durch die Erschütterung platzen die inneren Organe regelrecht »auseinander«, wie sich ein Arzt ausdrückte, der die Todesursachen bei den Selbstmordopfern untersuchte.44 Tatsächlich überlebt nur etwa ein Prozent der Springer. David Rosen, Psychiater an der San Francisco Medical School, University of California, interviewte sechs Überlebende, und alle gaben an, dass für sie nur die Brücke als Ort für einen Selbstmord in Frage kam. »Entweder die Golden Gate Bridge oder gar nicht«, sagte einer; ein anderer meinte: »Sie hat Klasse, etwas Graziöses und Wunderschönes. Die Golden Gate Bridge ist da, für jeden zugänglich, und sie hat etwas mit Selbstmord zu tun.«45 Ein Mann, der an Depressionen litt, betonte ebenfalls die Zugänglichkeit der Brücke. In dem Abschiedsbrief, den er hinterließ, bevor er von der Brücke sprang, fragte er: »Warum macht ihr es so leicht?«46
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Alle Überlebenden unterstützten den Plan zum Bau einer Selbstmordschranke, einen Plan, gegen den sich die Verwaltung der Brücke bis vor kurzem sperrte.47 Auch sprachen sich die meisten Überlebenden dafür aus, etwas gegen die Romantisierung des Selbstmordes durch einen Sprung von der Brücke zu unternehmen. Einer von ihnen sagte etwas naiv, wenn auch verständlich: »Die Zeitungsherausgeber sollten freiwillig alle Presseberichte über die Selbstmorde von der Golden Gate Bridge einstellen – mir ist der Einfall auf Grund der ausgedehnten Darstellungen der Presse gekommen.« Dieser Vorschlag ist diskutabel, aber das Thema ist kompliziert. Wir werden uns noch ausführlicher damit beschäftigen. Viel häufiger als an berühmten öffentlichen oder ausgefallenen Schauplätzen jedoch bringen sich Leute in psychiatrischen Kliniken um. Etwa fünf bis zehn Prozent aller Selbstmorde ereignen sich in Kliniken und Krankenhäusern.48 Es mag befremdlich erscheinen, dass so viele Selbstmorde an Orten vorkommen, die die Patienten gerade davor bewahren sollen, sich etwas anzutun. Aber in vielerlei Hinsicht ist dieser Sachverhalt nicht merkwürdiger als die Tatsache, dass Intensivstationen oder onkologische Stationen hohe Sterberaten aufzuweisen haben. Psychiatrische Kliniken kümmern sich um die Schwerkranken und die am stärksten Selbstmordgefährdeten. Ein üblicher Grund für die Einweisung in eine psychiatrische Klinik ist ein Selbstmordversuch, und dieser ist, wie wir gesehen haben, die häufigste Voraussetzung für einen tatsächlichen Selbstmord. Ein erhebliches Selbstmordrisiko zählt außerdem zu den wenigen Gründen, die einen zwangsweisen Klinikaufenthalt rechtfertigen. Auch wenn das medizinische Personal viele Vorkehrungen treffen kann, um Patienten zu schützen; eine vollständige Sicherheit ist nicht zu gewährleisten, wenn die Privatsphäre und die persönliche Freiheit nicht in unannehmbarer Weise verletzt werden sollen. Wie man zwischen den bürgerlichen Freiheiten und der Erhaltung des Lebens abwägen soll, ist umstritten. Akut selbstmordgefährdete Patienten stehen unter genauer Beobachtung, häufig kommen sie in eine geschlossene Abteilung. Hier sind die Fenster gewöhnlich aus bruchsicherem Glas und nicht zu öffnen, elektrische Zuleitungen so kurz wie möglich, und es werden Haken und Duschstangen benutzt, die schon bei geringer Belastung brechen. Die Patienten werden nach
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scharfen Gegenständen und Medikamenten durchsucht, Streichhölzer, Feuerzeuge, Nagellackentferner, Spiegel, Flaschen, Scheren, Gürtel und Schnürsenkel werden aus ihrem Besitz entfernt. Die Beobachtung selbstmordgefährdeter Patienten ist umfassend, abgestuft indes je nach Einstufung des Risikos. In einer Eins-zu-einsBeobachtung wird der Patient ständig überwacht und auch beim Duschen oder dem Gang auf die Toilette begleitet. Die Bewachung kann ganz unmittelbar sein, manchmal auf Armlänge, damit der Pfleger auf eine plötzliche oder impulsive Bewegung schnell reagieren kann. Es kommt auch vor, dass ein Pfleger zwei oder drei selbstmordgefährdete Patienten gleichzeitig beobachtet. Wenn die Gefahr nachzulassen scheint, wird der Patient auf Fünf-, Fünfzehn- oder Dreißigminutenkontrollen eingestellt. Das Pflegepersonal überwacht dann Aufenthaltsort und Befinden des Patienten in gewissen Abständen, aber nicht kontinuierlich. Wären selbstmordgefährdete Patienten in der Lage oder willens, die Schwere ihrer Selbstmordgedanken und -pläne zu artikulieren, wäre die Gefahr nicht so groß. Aber das ist nicht der Fall. Das klinische Bild von Patienten, die entschlossen sind zu sterben, hat eine große Variationsbreite. Sie können sich flink bewegen, und aus der Verzweiflung erwächst eine große Findigkeit. Der Psychiater Emil Kraepelin schrieb in seinem klassischen Text:
Nur allzuoft verstehen es die Kranken, ihre Selbstmordabsichten hinter einem anscheinend heiteren Wesen zu verbergen, um dann die Durchführung ihrer Absicht im geeigneten Augenblicke planmäßig vorzubereiten. Die ihnen zu Gebote stehenden Möglichkeiten sind zahlreiche. Sie können sich, indem sie die Wachsamkeit ihrer Umgebung täuschen, in der Badewanne ertränken, an der Türklinke, an irgendeiner vorspringenden Ecke im Aborte erhängen, ja selbst sich im Bette unter der Decke mit einem Handtuche oder Leinenstreifen erdrosseln; sie können Nadeln, Nägel, Glasscherben, ja ganze Löffel verschlucken, irgendeine Arznei austrinken, Schlafpulver aufsparen, um sie dann mit einem Male zu nehmen, sich die Treppe hinunterstürzen, den Schädel mit einem schweren Gegenstande zertrümmern usf. Eine Kranke wußte durch Zwischenstecken von Papier zu verhindern, daß der obere, unvergitterte Teil eines Fensters richtig geschlossen wurde, und stürzte sich dann in einem unbewachten Augenblicke aus dem zweiten
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Stock hinunter; eine andere, die kurz vor ihrer Entlassung stand, entnahm, als sie sich wenige Minuten allein in der Spülküche befand, dem aus Nachlässigkeit nicht verschlossenen Schranke ein Fläschchen mit Spiritus und ein Streichholz, übergoß sich und zündete sich an.49
In den dreißiger Jahren beschrieben Gerald Jameison und James Wall vom Bloomingdale Hospital in New York State die verschiedenen Methoden, die Patienten ihres Krankenhauses benutzten: Schnüre um den Hals, zwei Halstücher, die an Rohre in der Toilette gebunden wurden, drei an der Angel der Toilettentür befestigte Taschentücher, ein um die Kehle geschlungener und dann an einem Schiebefenster befestigter Vorhang, mit Rasierern oder Fensterglas beigebrachte Schnittwunden an der Kehle, und eine mit einer Scherbe von einem Wasserglas aufgeschnittene Oberschenkelarterie.50 (Sylvia Plath, die nach einem fast tödlich verlaufenen Selbstmordversuch ins Krankenhaus kam, beschrieb in ihrem autobiografischen Roman Die Glasglocke, wie hellwach suizidale Gedankengänge sein können: »Ein grün gekleidetes Mädchen deckte den Tisch für das Abendessen. Ich registrierte die Tatsache, dass es da wirkliche Gläser gab, im hintersten Bewusstsein, wie ein Eichhörnchen eine NUSS versteckt. Im städtischen Krankenhaus hatten wir aus Papiertassen getrunken und hatten keine Messer gehabt, um das Fleisch zu schneiden.«51) Erhängen und Springen sind die häufigsten Selbstmordmethoden von Psychiatriepatienten,52 und die Überwachung durch das Pflegepersonal ist keine Garantie gegen selbst beigebrachte Verletzungen oder Selbstmord. Die Psychiater Jan Fawcett und Katie Busch haben in einer in Chicago durchgeführten Untersuchung über Patienten, die im Krankenhaus Selbstmord begingen, herausgefunden, dass über 40 Prozent von ihnen zu dem Zeitpunkt, als sie sich umbrachten, alle fünfzehn Minuten kontrolliert wurden. Immerhin 70 Prozent von ihnen hatten Selbstmordgedanken oder -pläne zuvor bestritten.53 Zum Klinikalltag der Behandlung schwerkranker und selbstmordgefährdeter Patienten gehört, dass bei jedem Schritt schwierige klinische Entscheidungen zu treffen sind. Wann kann ein Patient aus der ständigen Beobachtung durch das Pflegepersonal entlassen und auf eine Fünfzehn- oder Dreißigminutenkontrolle gesetzt werden? An welchem Punkt kann ein Patient ohne Begleitung die Station
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verlassen oder die Erlaubnis erhalten, das Wochenende zu Hause zu verbringen? Prognosen müssen nicht zutreffend sein, Patienten, die wirklich sterben wollen, verstellen sich. Aus der Forschung geht hervor, dass über die Hälfte der Patienten, die sich in psychiatrischen Kliniken umgebracht haben, vom Pflegepersonal oder von den Ärzten zum Zeitpunkt des Selbstmordes als »klinisch auf dem Wege der Besserung« beschrieben wurde.54 Tatsächlich wurde über die Hälfte derjenigen, die sich auf der Station oder unmittelbar nach der Entlassung aus dem Krankenhaus das Leben nahmen, zum Zeitpunkt der Aufnahme als nicht suizidal eingestuft. Besonders hoch ist das Risiko in den ersten Tagen im Krankenhaus und kurz vor der Entlassung. Vor dem Verlassen des Krankenhauses kommen häufig Ängste hoch, ob die Familie oder die Freunde nicht ablehnend reagieren werden, ob man nicht sehr einsam sein wird; häufig ist der klinische Verlauf der Krankheit noch stürmisch (und durch starke Stimmungsschwankungen und durch äußerst unangenehme Zustände der Ruhelosigkeit, Erregung und Reizbarkeit gekennzeichnet), viele machen sich Sorgen um ihre Arbeitsstelle, fürchten, arbeitslos zu werden, fragen sich, ob sie sich außerhalb des Krankenhauses überhaupt noch zurechtfinden können. Manche Patienten stecken in dem Dilemma, dass es ihnen zu gut geht, um im Krankenhaus zu bleiben, und zu schlecht, um mit den Realitäten und Belastungen des Lebens draußen fertig zu werden; sie werden dort mit persönlichen und ökonomischen Folgen ihrer schweren Geisteskrankheit zu kämpfen haben – angesichts dessen kann sie leicht ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit überwältigen, und sie nehmen sich das Leben. Krankenhäuser können Schutz bieten und medizinische Versorgung gewähren und sie können das Leben von vielen selbstmordgefährdeten Menschen retten. Aber sie können nicht alle retten.
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Das Löwengehege
An meinem Käfig geht die Welt vorbei und schenkt mir keinen Blick. RANDALL JARRRELL, »The Woman at the Washington Zoo«1
Als Todesursache stellte der Gerichtsmediziner Selbstmord fest: Die Frau hatte schwere Verletzungen von scharfen und stumpfen Schnitten und Prellungen, zugleich viel Blut und feines Gewebe verloren. Das stimmte zweifellos. Tatsächlich war die sechsunddreißigjährige Frau mit ihrem langen dunklen Haar aber von einem oder sogar von den beiden Löwen in einem Außengehege des Nationalzoos in Washington zerfleischt und zerrissen worden. Zerfleischt, mit all den Schreckensbildern, die dazugehören und von denen das Publikum nicht loskam. Nicht: Verletzung durch einen stumpfen Gegenstand. Nicht: Verlust von feinem Gewebe. Eine Frau war gewaltsam gestorben, und zwar auf eine ausgesucht bestürzende Art. Ihr vom Durchschwimmen eines acht Meter breiten Grabens – eine von mehreren Barrieren, die die Besucher von den vier Zentner schweren Großkatzen trennen – noch feuchter Körper wurde an einem kalten Märzmorgen des Jahres 1995 von einem Mitarbeiter des Zoos gefunden. Die Frau lag mit dem Gesicht nach oben und war so verstümmelt, dass sie nicht zu identifizieren war. Für einen Wintertag war sie relativ leicht gekleidet. Sie lag auf einer Grasterrasse in der Nähe der Stelle, an der die Löwen gefüttert wurden; Hände und Arme waren abgebissen. Der ganze Körper war von Bisswunden bedeckt. »Mit Sicherheit trat der Tod nicht sofort ein«, meinte der Gerichtsmediziner – mit schrecklicher Sicherheit. Über die unmittelbare Todesursache konnte kein Zweifel bestehen. Die Löwen, ein junges Männchen und ein älteres Weibchen, reagierten auf den Eindringling in ihr Territorium, wie man es von ihnen erwartet. Ob sie neugierig waren oder sich bedroht fühlten, ihr Instinkt sorgte jedenfalls dafür, dass die Sache tödlich endete.2
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Niemand bezweifelte, dass die starken und gefährlichen Fleischfresser die junge Frau getötet hatten. Die Fragen, die die Hauptstadt des Landes einen oder zwei Tage lang in Atem hielten, waren andere: Wer war die Frau? Und warum das? Das große Interesse der Öffentlichkeit an den makabren Umständen, unter denen die Frau umgekommen war, führte natürlich zu allerhand Spekulationen: War es Selbstmord? Oder Mord? War sie zufällig in das Löwengehege hineingeraten? Die Umstände dieses Todes waren so ausgefallen und so grauenvoll, dass sie die dunkelsten und primitivsten Fantasien wach riefen. Fünf Beiträge widmete die Washington Post3 diesem Ereignis; in einem brachte der Journalist Phil McCombs den Schock, den diese Tat in der Stadt ausgelöst hatte, auf den Punkt.
Plötzlich war diese Stadt der glatten Diplomaten mit ihrem falschen Lächeln und ihren kaum verhüllten Krallen, diese Stadt, in der Arafat und Rabin sich die Hand schütteln und Lobbyisten mit sanften Worten unter Eid bezeugen konnten, ihre tödlichen Produkte seien völlig harmlos, dieser Ort, an dem sorgfältig überlegte Volten und Wendungen, geschickt verdeckte Motive und der bürokratische Tod an der Tagesordnung sind, wie elektrisiert von dieser wilden Schlächterei. (...) Dieser Tod war in gewisser Hinsicht zu einfach für Washington. Gestern Nachmittag [zwei Tage nach den Berichten über den Todesfall] äußerte in den Hörersendungen mindestens ein Anrufer die Vermutung, das traurige Ereignis im Zoo müsse etwas mit den Untersuchungen in der Whitewater-Affäre zu tun haben.4
Die Polizei stellte im Verlauf ihrer Ermittlungen die Überlegung an, dass die Entscheidung der Frau, sich das Löwengehege auszusuchen, etwas mit ihren religiösen Vorstellungen zu tun gehabt haben könnte. Immerhin ließen sich im alten Rom die Christen zum Zeichen ihres Glaubens den Löwen vorwerfen, und im Alten Testament hatte Daniel seine Glaubensprüfung im Rachen des Löwen triumphierend und unbeschadet überstanden. Nach dem, was später über die Geschichte der toten Frau bekannt wurde, war diese Überlegung nicht unvernünftiger als andere, denn, wie spätere Untersuchungen ergaben, gehörte ihr Geist nicht ganz ihr selbst. Sie teilte ihn mit Stimmen und Visionen und anderen absonderlichen Nebenerscheinungen des Wahnsinns. – 151 –
Da befahl der König, dass man Daniel herbrächte; und sie warfen ihn zu den Löwen in den Graben. Der König aber sprach zu Daniel: Dein Gott, dem du ohne Unterlaß dienst, der helfe dir! Und sie brachten einen Stein, den legten sie vor die Tür am Graben; den versiegelte der König mit seinem Ring und mit dem Ring seiner Gewaltigen. Daniel 6, 17-18
Die Frau hatte nicht viel hinterlassen, aus dem etwas zu entnehmen war. Neben ihrer Leiche fanden die Ermittler einen Walkman von Sony, in den eine Kassette mit »House of Love«, gesungen von der christlichen Sängerin Amy Grant, eingelegt war. Nicht weit von der Stelle entfernt, an der die Löwen sie getötet hatten, lag eine Haarspange auf dem Boden. In einen Schuh war eine Geldüberweisung eingenäht, und in eine Tasche hatte sie einen Geschäftsbrief gestopft. Ein Abschiedsbrief und Fingerabdrücke wurden nicht gefunden. Anhand einer Dauerkarte für die Buslinien der Arkansas Transit Authority konnte die tote Frau als Margaret Davis King identifiziert werden, die sich auf der Durchreise von Little Rock befand. Drei Tage vor ihrem Tod hatte sie sich ein Zimmer in einem billigen Hotel im Nordwesten von Washington genommen. Die Polizei fand dort später einen Koffer und einige religiöse Schriften. Über die letzten Tage ihres Lebens war wenig in Erfahrung zu bringen, außer dass sie am späten Nachmittag des Tages vor ihrem Tod dem U.S. District Court einen merkwürdigen Besuch abgestattet hatte. Nach Aussage des Beamten, der ihr behilflich war, wollte sie einen Prozess führen, um ihre Tochter wiederzubekommen. Dem Beamten war schnell klar, dass Margaret King psychisch gestört war; sie behauptete, sie sei die Schwester von Jesus Christus und zusammen mit Jesus im gleichen Haus wie Präsident Clinton aufgewachsen. Dieser solle sich zu ihren Gunsten in die Auseinandersetzung um das Sorgerecht für ihr Kind einschalten. Dem Bericht des Beamten zufolge war Margaret King eine »gepflegte, attraktive und redegewandte« Frau, und obwohl sie in großer Erregung gewesen sei, habe sie sich »beherrschen« können. Sie sei »sehr ruhig« erschienen. Sie zitierte aus der Bibel, um ihrer Bitte Nachdruck zu verleihen, und presste ein Paket Papiere an ihre Brust.
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Sie verließ das Gericht um fünf Uhr nachmittags, und niemand weiß, was sie danach tat, wohin sie ging, bis sie den Zoo betrat und sich zum Raubtierhaus begab. Vielleicht zögerte sie, aber von einem bestimmten Punkt an muss sie entschlossen genug gewesen sein, um über eine mehr als einen Meter hohe Barriere zu klettern, eine schmutzige Pufferzone zu durchqueren, einen drei Meter tiefen Abhang hinunterzurutschen und durch den Graben zu der Wiese zu schwimmen, auf der sich die Löwen aufhalten. Wer war sie? Und warum das? Der Gerichtsmediziner und die Journalisten fanden heraus, dass Margaret Davis King zwei Mal verheiratet und Mutter von drei Kindern war; sie war bei der U.S. Navy gewesen und in Ehren entlassen worden. Sie lebte ohne festen Wohnsitz und litt an paranoider Schizophrenie. Im Laufe der Jahre war sie in psychiatrische Kliniken in Kalifornien, Georgia und Arkansas eingewiesen worden. Gelegentlich behauptete sie nicht nur, die Schwester von Jesus Christus, sondern dieser selbst zu sein. Um Letzteres zu beweisen, pflegte sie ihre Hände zu zeigen, an denen die Löcher von der Kreuzigung zu sehen sein sollten. Sie gab auch an, direkte Botschaften von Gott zu empfangen, sie rief Leute im ganzen Land an und befahl ihnen, ihre Häuser und Arbeitsstellen zu verlassen und ihr zu folgen. Gott, so versicherte sie ihnen, werde für ihre Reise aufkommen. Sie war wegen Drohungen und tätlicher Angriffe festgenommen worden. Nach Aussagen des Sheriffbüros in Arkansas ging sie ein Mal mit einem Besenstiel auf einen Polizeibeamten los und drohte einem anderen, ihn zu erschießen. Sie kam ins Krankenhaus und wurde entlassen, kam erneut ins Krankenhaus und wurde wieder entlassen. Sie bekam Medikamente verschrieben, die sie eine Weile nahm und dann wieder absetzte. Sie hatte keine Gewalt über ihre Gedanken und litt unter unerträglichen Stimmungs- und Energieschwankungen. Allmählich wurde ihr Leben wie das von Tausenden anderer Menschen, die an Schizophrenie erkrankt sind; schließlich gehörte sie zum städtischen Bodensatz, zu den psychisch Kranken, die ohne festen Wohnsitz sind.
Und ehe [die Männer] auf den Boden herabkamen, ergriffen sie die Löwen und zermalmten alle ihre Gebeine. Daniel 6,24
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Wir in den USA haben, allen Ansprüchen unserer Zivilisation zum Trotz, zugelassen, dass sich dieser Bodensatz ansammeln konnte; wir haben zugelassen, dass er mit Psychotikern und Arbeitsunfähigen aufgefüllt wurde, wir haben ihre Hoffnungslosigkeit hingenommen und uns nicht darum gekümmert, was sie brauchen, um zu überleben. Wir haben die psychisch Schwerkranken auf unsere Straßen entlassen; inzwischen machen sie ein Drittel bis die Hälfte aller Obdachlosen aus.5 Sie stören die Menschen, denen es gut geht und die ihnen auf der Straße begegnen, sie bereiten der Stadtverwaltung Kopfzerbrechen. Wir fühlen uns unwohl mit ihnen, aber nicht so unwohl, dass wir sie schützten, ihnen eine Wohnung gäben, für ihre Krankenversicherung sorgten, uns um sie kümmerten oder sie heilten. Sie sterben auf der Straße, auf Parkplätzen, in Unterkünften für Obdachlose oder in leer stehenden Gebäuden, im Park oder auf dem Bürgersteig. Sie sterben früher als wir,6 und sie sterben an Ursachen, die uns im Allgemeinen nicht betreffen: Tuberkulose, HIV/AIDS, Hepatitis B, Alkoholismus, Drogenmissbrauch und Verletzungen. Fast zehn Prozent von ihnen begehen Selbstmord. Die Entscheidung, Psychiatriepatienten frei herumlaufen zu lassen, war nicht böswillig, sie war nur gedankenlos und unüberlegt. Der 1963 von Präsident Kennedy unterzeichnete Community Mental Health Centers Act war als Maßnahme gegen die Massenverwahrung von psychisch schwer gestörten Personen in großen Einrichtungen gedacht. Man hoffte, dass die damals gerade auf dem Markt erhältlichen antipsychotischen und antidepressiven Medikamente die Patienten in die Lage versetzen würden, in ihre Wohnviertel zurückzukehren, und man nahm an – zu optimistisch, wie sich herausstellte –, dass sich die Gemeinden dieser Patienten annehmen würden. Die Gesellschaft hielt sich selbst zum Narren. Richard Wyatt, Chef der Neuropsychiatrie des National Institute of Mental Health, hat zusammen mit anderen Ärzten und Wissenschaftlern die Durchführung dieser folgenreichen Sozialpolitik, die ohne wissenschaftliche Grundlage war, heftig kritisiert. In einem Leitartikel für Science schrieb er 1986:
Die amerikanische Obdachlosenkrise begann 1963 mit der gesetzlich vorgeschriebenen Auflösung der psychiatrischen Anstalten. (...) Hunderttausende an Schizophrenie, Stimmungsstörungen, Alkoholismus und schweren Persönlichkeitsstörungen erkrankter
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Patienten wurden aus großen Einrichtungen entlassen. Ohne diese Einrichtungen schufen diese Menschen ihre eigenen Gemeinschaften, die auf Isolation, Entfremdung, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung beruhen. Die ehemaligen Bewohner von Einrichtungen mit festen Strukturen wurden per Gesetz zu Obdachlosen. Zu dieser Situation kam es, weil eine soziale Bewegung, nahezu ohne jede wissenschaftliche Grundlage, zur offiziellen Politik wurde. Bemerkenswerterweise gab es zu dem Zeitpunkt, als das Gesetz verabschiedet wurde, nur eine in England durchgeführte wissenschaftliche Pilotstudie. Das Land nahm ein nobles, aber nicht realisierbares und letztlich nicht zu rechtfertigendes Projekt in Angriff, weil die notwendigen Forschungen fehlten.7
Niemand, der sich mit der Behandlung von Schizophrenen oder mit Menschen beschäftigt, die wegen psychischer Krankheiten obdachlos wurden, wird den Anspruch erheben, die Lösung für so komplizierte und furchtbare Probleme zu kennen. Und niemand kann sagen, warum Margaret Davis King, eine obdachlose und schizophrene Frau, die an Wahnvorstellungen litt und wohl nie das Sorgerecht für ihre Kinder bekommen hätte, ihrem Leben ein Ende setzte. Das öffentliche Interesse an ihrem Tod schwand schnell; auf Washingtoner Dinnerpartys kursierten bald Witze über Löwen und Selbstmord. Die Hauptstadt machte weiter wie gewohnt. Margaret King war unbekannt, sie wurde wenig betrauert und noch weniger verstanden. Warum starb sie? War sie verzweifelt und ohne jede Hoffnung oder, von einem psychotischen Hochgefühl beseelt, jenseits von Angst und Schrecken? Warum suchte sie sich eine so grauenvolle Art zu sterben aus? Wir wissen es nicht, wir kennen sie nicht. Sie hinterließ nur eine schwache Spur, die Ahnung einer menschlichen Mitteilung. Und die Löwen im Zoo hinterließen im öffentlichen Gedächtnis eine vielleicht noch schwächere Spur, eine flüchtige Ahnung von gerade einem der weltweit eine Million Selbstmorde in jenem Jahr.
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III Qualen der Natur, Flecken von Blut Zur Biologie des Selbstmordes
Und doch vertrauen wir, dass etwas Gutes von allem Übel ist das letzte Ziel, von Qualen der Natur und Flecken von Blut, des Wollens Sünde und des Zweifels Fehl. ALFRED LORD TENNYSON
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Generation für Generation gab es in der Familie Tennyson Fälle von schwerer Melancholie, unkontrollierbaren Wutausbrüchen und manischer Depression. Alfred Lord Tennyson (1809-1892) bezog sich auf das »schwarze Blut« in seiner Familie, das Thema Selbstmord, suizidale Verzweiflungszustände und vererbter Wahnsinn stehen im Mittelpunkt einiger seiner ergreifendsten Gedichte.
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Kapitel 6 Ein Sprung in tiefe Wasser Genetische und evolutionäre Aspekte
Es handelte sich, wie er sagte, um ein konstitutionell bedingtes, ein Familienübel, eines, für das ein Heilmittel zu finden er verzweifelte. EDGAR ALLAN POE1 Aber es ist immer eine Frage, ob ich diesen Trübsinn wirklich loswerden möchte. (...) Diese 9 Wochen sind wie ein Sprung in tiefe Wasser. (...) Man taucht unter & nichts schützt einen vor dem Angriff der Wahrheit.
VIRGINIA WOOLF2
Genau ein Jahr, bevor General Robert E. Lee sich mit der konföderierten Armee von Nord-Virginia bei Appomattox Court House General Ulysses S. Grant ergab, hielt Professor John Ordronaux vor den Studenten des Columbia College in New York eine große Vorlesung. Menschliches Verhalten, sagte er, sei nicht immer das Spiegelbild der menschlichen Vernunft. Die ursprünglichen Instinkte, »sosehr sie auch durch Kultur und Intellekt verändert sind oder durch Umstände, die ihren Ausdruck nicht zulassen, unterdrückt werden, sind nie ganz zu beseitigen«. Die Natur, fügte er, Francis Bacon zitierend, hinzu, »ist oft verborgen, manchmal überwunden und selten ausgelöscht«.3 Obwohl Ordronaux wie alle seine Kollegen und Mitbürger vom Bürgerkrieg sehr betroffen war, kam er in seiner Vorlesung nicht darauf zu sprechen. Er sprach über die irrationalen und gewaltsamen Ursachen eines inneren Krieges, über Kräfte, die offenbar von einer Generation auf die nächste übergehen. In aller Ausführlichkeit und mit einiger Heftigkeit sammelte er Argumente für die Erblichkeit des Selbstmordes. Wie viele andere Ärzte um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, die psychische Krankheiten behandelten, war er von der Veranlagung zum Wahnsinn und zum Selbstmord beeindruckt: – 159 –
Die Erfahrung zeigt, dass die Frage des Temperaments sehr viel mit dem Problem des Selbstmordes zu tun hat. Während sanguinische und plethorische Menschen eine Veranlagung zum erhöhten Blutdruck haben und in manische Zustände geraten können, wobei sie oft in eine plötzliche Raserei gegen andere oder gegen sich selbst verfallen, nimmt die Veranlagung zum Selbstmord bei nervösen, reizbaren und lymphatischen Temperamenten gewöhnlich eine chronische und hartnäckige Form an. Bei ihnen bricht die krankhafte Tendenz leicht durch und lässt sich nur schwer beseitigen; und wenn sie als eine Anlage schlummert, die durch Vererbung weitergegeben wurde, braucht sie nur eine geringfügige Aufregung als Auslöser, um sich zur voll ausgebildeten Krankheit zu entwickeln. Tatsächlich ist der erbliche Einfluss beim Selbstmord so mächtig, dass nicht weniger als ein Sechstel aller bekannten Fälle direkt darauf zurückverfolgt werden konnten.4
Es ist nicht ganz klar, wie der Professor auf diese Zahl kam, denn damals gab es noch keine verlässlichen statistischen Daten; sie sind im Übrigen auch heute nicht viel zuverlässiger. Jedenfalls glaubte man lange – nämlich über zweitausend Jahre –, dass Wahnsinn und Selbstmord familiär vererbt werden. Fünfundzwanzig Jahre zuvor, im Jahr 1840, sagte der britische Arzt Forbes Winslow unmissverständlich:
Was den Selbstmord betrifft, so gibt es keine besser belegte Tatsache als die seines erblichen Charakters. Von allen Krankheiten, die die verschiedenen Organe befallen können, gibt es keine, die häufiger von einer Generation zur anderen weitergegeben werden als die Erkrankungen des Gehirns. Die Veranlagung zum Selbstmord muss natürlich nicht in jeder Generation zum Ausdruck kommen; oft übergeht sie die eine und tritt in der nächsten auf. Das Gleiche gilt für Wahnsinn, der nicht mit dieser Neigung einhergeht.5
Auch Benjamin Rush, Professor der Medizin an der University of Pennsylvania, war von den erblichen Aspekten des Selbstmordes beeindruckt und nahm in sein weit verbreitetes und einflussreiches, 1812 erschienenes Lehrbuch Medical Inquiries and Oberservations upon the Diseases of the Mind den Brief eines Kollegen auf, der von Selbstmord bei eineiigen Zwillingen berichtet: – 160 –
Hauptmann C. L. und Hauptmann J. L. waren Zwillinge, und einander in Haltung und Erscheinung so ähnlich, dass es für Außenstehende äußerst schwierig war, sie auseinander zu halten. Selbst ihre Freunde ließen sich oft täuschen. Ihre Gewohnheiten und Manieren waren ebenfalls ganz ähnlich. Viele drollige Geschichten wurden über Leute erzählt, die sie verwechselten. Beide waren gleichzeitig in die amerikanische Revolutionsarmee eingetreten. Beide waren Offiziere und dienten ehrenhaft im Krieg. Sie waren freundlich, gesellig und in jeder Hinsicht Ehrenmänner. Sie lebten glücklich mit ihren Familien, hatten liebenswerte Frauen und Kinder und eigenen Landbesitz. Einige Zeit nach dem Krieg zog Hauptmann J. in den Staat Vermont, während Hauptmann C. in Greenfield [Massachusetts], in der Nähe von Deerfield, blieb, über 300 Kilometer von seinem Bruder entfernt. Im Laufe von drei Jahren zeigten sich bei beiden vorübergehende partielle Störungen, die sich aber nicht zu Manien steigerten oder in Melancholie umschlugen. Sie machten einen gehetzten und verwirrten Eindruck, blieben aber die ganze Zeit über arbeitsfähig. Vor etwa zwei Jahren wurde Hauptmann J. nach seiner Rückkehr von der Generalversammlung von Vermont, deren Mitglied er war, frühmorgens mit von eigener Hand von Ohr zu Ohr durchschnittener Kehle in seinem Zimmer tot aufgefunden. Er war einige Tage vor dieser tödlichen Katastrophe melancholisch gewesen und hatte am Abend vor dem Vorfall über Beschwerden geklagt. Vor etwa zehn Tagen entdeckte Hauptmann C. aus Greenfield Anzeichen von Melancholie bei sich und äußerte die Befürchtung, sich selbst zu zerstören. Am frühen Morgen des fünften Juni stand er auf und schlug seiner Frau vor, ihn bei einem Ausritt zu begleiten. Er rasierte sich wie gewöhnlich, reinigte sein Rasiermesser und ging in ein angrenzendes Zimmer, um es dort, wie seine Frau annahm, zu verwahren. Kurz darauf hörte sie ein Geräusch wie von Wasser oder Blut, das auf den Fußboden tropft. Sie eilte in den Raum, aber er war nicht mehr zu retten. Er hatte mit dem Rasiermesser seine Kehle durchtrennt und war kurz darauf gestorben. Die Mutter dieser beiden Herren, eine betagte Dame, befindet sich jetzt in einem Zustand der Verwirrung, und ihre beiden Schwestern, die einzigen Überlebenden der Familie, haben mehrere Jahre unter denselben Beschwerden gelitten.6
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Dass Selbstmord familiär bedingt sei, zog sich wie ein Faden durch einen Großteil der Literatur des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Im Juni 1906 hielt Charles Pilgrim, der Vorsitzende der New York Commission on Lunacy, einen Vortrag vor der American Medico-Psychological Association in Boston. Darin erklärte er: »Nichts ist gewisser als die Tatsache, dass die Neigung zum Selbstmord erblich ist. Diese Neigung ist nicht nur dazu angetan, bei den Nachkommen ebenfalls aufzutreten, sondern nicht selten tritt sie auch in demselben Alter auf wie bei dem betreffenden Elternteil, und es werden dieselben Mittel gesucht, die zur Erfüllung dieses Zweckes dienlich sein sollen.« Dann ging er einen beunruhigenden Schritt weiter: »Daher erscheint es vernünftig, von den Bemühungen unseres Berufsstandes, die Ehe zu verhindern, wenn Anzeichen für eine erbliche Belastung bestehen, nur Gutes zu erwarten.«7 In dieser Zeit erschienen auch verschiedene Stammbäume von stark mit Selbstmord belasteten Familien in der medizinischen Fachliteratur. Zwei britische Ärzte veröffentlichten einen über vier Generationen reichenden Stammbaum einer Familie von Seeleuten, in der es viele Selbstmorde und Fälle von Wahnsinn gegeben hatte: von 65 Familienmitgliedern hatten sich sechs das Leben genommen und vier damit gedroht; acht waren »erheblich geistesgestört«, und sechs waren »Idioten oder wahnsinnig«. Die Sprache der Ärzte lässt keine Zweifel an ihren Ansichten: »Die bösen Folgen im Fall der Familie C(2) liegen besonders auf der Hand, denn hier hat sich ein schwer betroffener Vater mit einer Gewohnheitstrinkerin zusammengetan. (...) Zwei Vettern haben sich mit der schnellen Selbstmordmethode ein Ende gesetzt, die Anstalt wird die Familie C(2) vor weiterem Unglück schützen, die antisozialen Tendenzen der Familie C(3) werden die Chancen der Fortpflanzung vermindern, und Familie C(5) hat einen schlechten Anfang gemacht, sie wird zweifellos in den Anstaltsunterlagen erscheinen.«8 Im Jahr 1901 berichtete die Zeitschrift Medical Record über eine noch alarmierendere Konzentration von Selbstmorden in einer Familie:
Ein Mann namens Edgar Jay Briggs, der sich auf seiner Farm bei Deanbury, Connecticut, vor einigen Tagen erhängte, war fast das letzte überlebende Mitglied einer Familie, die sich praktisch
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durch Selbstmord ausgerottet hat. Die Geschichte der Selbstzerstörung in dieser Familie erstreckt sich über einen Zeitraum von über fünfzig Jahren, und in dieser Zeit haben sich mindestens einundzwanzig direkte Nachkommen und Angehörige von Seitenlinien der ersten Selbstmörder bei den Briggs das Leben genommen. Darunter befanden sich der Urgroßvater, der Großvater, der Vater, der Bruder und zwei Schwestern des gerade Verstorbenen.9
Kürzlich wurden aus dem Irak fünf Selbstmorde gemeldet – vier durch Selbstopfer, einer durch Erschießen –, die von zwei Schwestern, einem Bruder und zwei Neffen einer Frau begangen wurden; Letztere hatte einen Selbstmordversuch unternommen, indem sie sich mit Kerosin übergoss und ein Streichholz entzündete.10 In der medizinischen Literatur sind viele andere »Selbstmordfamilien« angeführt worden,11 aber so traurig diese Fälle auch sind, einen Beweis für eine genetische Grundlage des Selbstmordes liefern sie nicht. Solche ungewöhnlichen Fallgeschichten sind für wissenschaftliche Veröffentlichungen von Interesse, wobei auch andere Faktoren eine Rolle spielen mögen – etwa die Erkenntnis, dass eine Familie selbstmordgefährdet ist oder dass ein Familienmitglied durch das Verhalten eines anderen darauf aufmerksam wird, dass Selbstmord eine mögliche oder gar wünschenswerte Art ist, mit den Problemen des Lebens oder mit Krankheiten fertig zu werden. Eine biologische Disposition gegen psychologische Einflüsse abzugrenzen ist schwierig. Und wenn man annimmt, dass die Erblichkeit oder zumindest die teilweise Erblichkeit des Selbstmordes nachweisbar ist, tauchen sofort neue Fragen auf: Was genau wird von einer Generation zur anderen genetisch weitergegeben? Gibt es spezielle Gene, die zu suizidalem Verhalten disponieren? Oder ist eine stärkere Tendenz zum Selbstmord nur auf die Weitergabe von genetischen Dispositionen für psychiatrisch auffällige Zustände – wie Depression, manische Depression, Schizophrenie und Alkoholismus – zurückzuführen? Sie stehen in enger Relation zum Selbstmord und haben alle, insbesondere die Stimmungsstörungen, eine ausgeprägte genetische Grundlage.12 Gibt es spezielle Gene, die in Beziehung zu bestimmten Temperamenten – wie Impulsivität, Aggressivität und Gewaltbereitschaft – stehen, welche ebenfalls häufig zum Selbstmord führen? Eine besonders tödliche Kombination genetisch bedingter Neigungen kann
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sich durchaus dann ergeben, wenn zu einem unbeständigen Temperament eine Manie, eine Psychose oder Alkoholismus hinzukommt oder durch diese ausgelöst wird. In Medizin und Naturwissenschaften wurden verschiedene Strategien entwickelt, um erbliche Effekte von Umwelteinflüssen zu unterscheiden: Familienstudien, die familiäre Muster von Selbstmorden und Selbstmordversuchen überprüfen; Zwillingsstudien, die die Selbstmordraten bei ein- und zweieiigen Zwillingen vergleichen; Adoptionsstudien, die versuchen, auf das Problem des Verhältnisses zwischen Anlage und Umwelt eine Antwort zu geben, indem sie Selbstmorde adoptierter Personen mit denen ihrer biologischen und adoptierten Verwandten vergleichen; und molekulargenetische Studien, die nach bestimmten genetischen Veränderungen bei Selbstmördern suchen. Jede dieser Strategien liefert uns andere Informationen. Es liegen etwa dreißig Familienstudien über den Selbstmord vor,13 und fast alle, die in den letzten Jahren abgeschlossen wurden, stellten eine erheblich höhere Rate von Selbstmorden und Selbstmordverhalten bei Familienangehörigen von Personen fest, die Selbstmord begingen oder ernsthafte Versuche unternahmen. Aus Studien über Kinder und Erwachsene und über Patienten mit psychischen Störungen geht hervor, dass Personen, die sich das Leben nehmen, drei Mal häufiger eine entsprechende Familiengeschichte haben als die, die sich nicht umbringen. Gerade wenn besonders gewaltsame Selbstmordmethoden – wie Erschießen, Erhängen oder Springen – gewählt wurden, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich in der Familiengeschichte bereits ähnliche Fälle finden.14 Eine bedeutende und interessante Familienstudie über Selbstmord wurde von Janice Egeland und James Sussex bei den Old Order Amish durchgeführt, einer konservativen protestantischen Sekte, die sich im frühen achtzehnten Jahrhundert im Südosten Pennsylvanias niederließ.15 Die Amish sind eine bäuerliche, geschlossene Gemeinschaft, die sich gegen viele Risikofaktoren, mit denen die städtische Kultur normalerweise zu tun hat, schützt. Alkohol ist verboten, schwere Verbrechen kommen im Grunde nicht vor, ebenso wenig Einsamkeit und Isolation, weil die Amish in Großfamilien leben, die in einem Haus wohnen. Soziale Unterstützung gibt es reichlich, und die Arbeitslosigkeit ist unbedeutend. Selbstmord – für die Amish eine »abscheuliche Sünde« oder »jene schreckliche Tat« – ist gesell
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schaftlich nicht akzeptiert und unterliegt strengen Sanktionen; bis vor kurzem wurden Gemeindemitglieder, die sich umbrachten, außerhalb des Friedhofs beigesetzt. Die Amish besitzen ausgedehnte genealogische und medizinische Unterlagen über ihre Vorfahren, die dreißig Generationen zurückreichen. So konnten Egeland und Sussex alle Selbstmorde identifizieren, die in den hundert Jahren zwischen 1880 und 1980 vorkamen. Bei 25 von 26 bestätigten Selbstmorden (92 Prozent) wurde die Diagnose Depression oder manische Depression gestellt (natürlich haben einige der aufgeführten Symptome manischen Verhaltens einen kulturellen Hintergrund; außer den traditionellen diagnostischen Kriterien wurden auch Auffälligkeiten wie »zu wildes Reiten und Fahren mit der Kutsche«, »Kauf und Gebrauch von Maschinen und anderen weltlichen Dingen« oder »übermäßiger Gebrauch des öffentlichen Telefons« genannt),16 und die meisten spielten sich in Familien ab, die durch viele Generationen hindurch mit Stimmungsstörungen zu tun hatten. Zwanzig der 26 Selbstmorde wurden durch Erhängen verübt, vier durch Erschießen und zwei durch Ertränken. Die meisten Selbstmörder waren relativ jung, verheiratet und hatten Kinder. Der aufregendste und wissenschaftlich interessanteste Befund dieser Studie ist die Tatsache, dass sich die Selbstmorde in wenigen Familien zugetragen hatten. 73 Prozent der Selbstmorde spielten sich in gerade einmal vier Familien ab, die nur 16 Prozent der AmishGemeinde ausmachten. Die Selbstmorde traten gehäuft in Familien mit Stimmungsstörungen auf, aber die meisten Familien mit schweren Belastungen durch Stimmungsstörungen wiesen keine Häufung von Selbstmorden auf. Diese Tendenz zum gehäuften Auftreten von Selbstmorden in einigen von Depressionen und manischen Depressionen stark betroffenen Familien, während sich in vielen anderen, ebenfalls von Stimmungsstörungen stark betroffenen Familien niemand das Leben nimmt, wurde durch eine spätere Studie aus Österreich bestätigt.17 Solche Familienstudien legen einen genetischen Einfluss auf das Selbstmordverhalten nahe, aber Beweise dafür erbringen sie nicht. Denn die Häufung von Selbstmorden in einer Familie kann auch auf andere, nichtgenetische Faktoren zurückzuführen sein: Ein Kind, dessen Eltern sich umbringen, kann unter dem Verlust extrem leiden und, wenn es eine Anlage zur Depression hat, ähnlich reagieren. Auf Familienangehörige, die Zeugen von Gewalt oder Selbstmord wurden,
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können solche Erlebnisse tödliche Rückwirkungen haben; ein Selbstmord kann ein weiteres Familienmitglied auf die Idee bringen, sich auf diesem Weg von starken Schmerzen, Entbehrungen oder übergroßen Belastungen zu befreien. Eine Möglichkeit, umweltbedingte und psychologische Effekte von genetischen Effekten zu unterscheiden, ist ein Vergleich zwischen Selbstmordraten bei eineiigen und zweieiigen Zwillingen. Eineiige Zwillinge haben identisches genetisches Material. Zweieiige Zwillinge haben nur die Hälfte ihrer Gene gemeinsam (in dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nicht von anderen Geschwistern). Wenn genetische Einflüsse bestehen, müsste bei eineiigen Zwillingen eine viel höhere Konkordanzrate bei Selbstmorden vorliegen – wenn ein Zwilling sich umbringt, tut der andere es auch – als bei zweieiigen Zwillingen. Diese Annahme lässt sich bestätigen. Die meisten Veröffentlichungen über die Genetik des Selbstmordes stammen von Alec Roy, einem Psychiater am Veterans Administration Hospital in New Jersey. Er hat vor kurzem alle Zwillingsstudien, die in der psychiatrischen Literatur veröffentlicht wurden, durchgesehen und ist auf fast vierhundert Paare gestoßen, bei denen mindestens einer der beiden Zwillinge Selbstmord beging.18 Von den 129 eineiigen Zwillingspaaren begingen siebzehn Selbstmord und von den 270 zweieiigen Paaren nur zwei. Unter statistischen Gesichtspunkten ist dies eine höchst signifikante Differenz. In einer weiteren Studie über versuchten Selbstmord fand Roy, dass fast 40 Prozent der eineiigen Zwillinge, von denen einer sich das Leben genommen hatte, einen Selbstmordversuch unternahmen, während dies bei keinem der überlebenden zweieiigen Zwillinge der Fall war.19 In einer australischen Untersuchung aus jüngerer Zeit kam man zum gleichen Ergebnis: Hatte ein eineiiger Zwilling einen ernsthaften Selbstmordversuch unternommen, taten fast 25 Prozent der Mitzwillinge dasselbe; im Falle zweieiiger Zwillinge passierte das nicht. Man könnte, so die Autoren, den Einwand erheben, eineiige Zwillinge seien psychologisch und sozial enger verbunden als zweieiige – sie würden häufiger gleich gekleidet und auf dieselbe Art und Weise behandelt –, dies sei allerdings bei zweieiigen Zwillingen im Großen und Ganzen auch nicht anders. Die Konkordanzrate für Selbstmord bei eineiigen Zwillingen, die etwa fünfzehn Prozent beträgt, führt zu mehreren Überlegungen. Zunächst ist sie zwar viel höher als bei zweieiigen Zwillingen, aber sie ist nicht übermäßig hoch. Auch bei vollständiger genetischer Gleich
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heit sind die Chancen überwältigend groß, dass sich, wenn ein eineiiger Zwilling Selbstmord begeht, der andere nicht auch umbringt. Zum zweiten ist die Konkordanzrate für Selbstmord bei eineiigen Zwillingen weitaus niedriger als die für manische Depression (70 bis 100 Prozent, je nachdem, ob Selbstmord und wiederkehrende Depressionen als konkordante Diagnosen behandelt werden)20 oder für Schizophrenie.21 Der genetische Einfluss kann bei schweren psychischen Krankheiten einfach größer sein als bei Selbstmord. Es ist sogar möglich, dass die verheerenden Auswirkungen des Selbstmordes auf den überlebenden Zwilling die Chance, dass er oder sie auch Selbstmord begeht, vermindern, weil entweder sein Empfinden für den psychischen Schmerz, den man anderen zufügt, zunimmt, oder weil er sich nun intensiver um eine adäquate medizinische Behandlung kümmert. Die Befunde aus den Zwillingsstudien bieten unzweifelhaft Anhaltspunkte für einen genetischen Effekt, aber die Familiendynamik und andere psychologische Fragen lassen keine eindeutige Interpretation zu. Eine Möglichkeit, die Umwelteinflüsse von den genetischen Einflüssen noch weiter zu isolieren, ist die Adoptionsstudie. Menschen, die adoptiert worden sind, teilen mit ihren biologischen Eltern ihre Gene, aber nicht ihre Umwelt, während sie umgekehrt mit ihren Adoptiveltern die Umwelt, aber nicht die Gene gemeinsam haben. Die Adoption ist daher der Ausgangspunkt für ein einzigartiges natürliches Experiment. Wenn es einen signifikanten genetischen Einfluss auf den Selbstmord gibt, dann ist bei den biologischen Eltern von Adoptierten, die Selbstmord begehen, eine viel höhere Selbstmordrate zu erwarten als bei den Adoptiveltern. Genau das haben zwei Studien in Dänemark belegt, einem Land, in dem seit Jahren ausgezeichnete und umfassende medizinische Unterlagen geführt werden. Die erste Studie, die auf der Grundlage von allen zwischen 1924 und 1947 in Kopenhagen durchgeführten Adoptionen basiert, ermittelte 57 Adoptierte, die Selbstmord begingen.22 Diese 57 Adoptierten wurden mit einer Kontrollgruppe von anderen Adoptierten nach Faktoren wie Alter, Geschlecht, der sozialen Schicht und der Dauer von Aufenthalten in Einrichtungen oder bei ihren biologischen Eltern verglichen. Eine ausführliche Untersuchung der Todesursachen bei den biologischen Verwandten ergab, dass zwölf biologische Verwandte der Adoptierten, die Selbstmord begingen, sich ebenfalls das Leben genommen hatten; bei den Adoptierten, die keinen
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Selbstmord begangen hatten, waren es dagegen nur zwei (dies ist eine statistisch hoch signifikante Differenz). Von den Adoptivverwandten sowohl der Selbstmord- als auch der Kontrollgruppe hatte keiner Selbstmord begangen. Die Autoren der Studie fanden heraus, dass nur sechs der zwölf biologischen Verwandten, die Selbstmord begingen, Kontakt zu psychiatrischen Diensten hatten, und schlossen daraus, dass die genetische Disposition für Selbstmord zumindest in gewissem Umfang von schweren psychischen Störungen unabhängig ist. Das mag zutreffen oder auch nicht. Aus den USA weiß man jedenfalls, dass über die Hälfte derjenigen, die nach den diagnostischen Kriterien an Stimmungsstörungen leiden, keine psychiatrische Behandlung bekommen.23 In einer zweiten Studie über dänische Adoptierte wurden 71 Personen ermittelt, die unter Stimmungsstörungen litten. Diese wurden mit 71 Adoptierten ohne psychische Krankheiten verglichen. Von den biologischen Verwandten beider Gruppen brachten sich neunzehn um; fünfzehn der Selbstmorde hatten sich bei den Verwandten der Adoptierten mit depressiven oder manisch-depressiven Erkrankungen zugetragen. Besonders hoch war die Selbstmordrate bei den biologischen Verwandten derjenigen Adoptierten, deren depressive Phasen sehr impulsiv verliefen.24 Alles in allem bieten die Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien starke Argumente für einen genetischen Einfluss auf Selbstmord und suizidales Verhalten. Die Gene sind natürlich nur ein Teil des verwirrenden Phänomens Selbstmord, aber wenn sie mit bestimmten psychologischen und umweltbedingten Elementen zusammenfallen, können sie, wie wir sehen werden, den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. Wenn Selbstmord und vor allem die Krankheiten, die am häufigsten mit ihm verbunden sind – Depression, manische Depression, Schizophrenie und Alkoholismus –, eine genetische Grundlage haben, stellt sich natürlich die Frage, warum sie – mit all der Qual, die sie verursachen, der Lebensuntüchtigkeit und dem frühzeitigen Tod – im Genpool mit so hohen Raten überleben. Gibt es einen evolutionären Grund für Selbstmord, oder handelt es sich lediglich um zufällige Verbindungen und Anordnungen in der DNA-Kette? Ist Selbstmord das Resultat einer Tod bringenden Wechselwirkung zwischen einer Welt voller Zwänge und einer anfälligen Konstitution, oder gibt es etwas Gemeinsames, das beides, Leben und Tod, steuert? Vollzieht sich der Selbstmord immer bewusst, und ist er deshalb eine rein
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menschliche Verhaltensweise, oder teilen wir die Fähigkeit zur Selbstzerstörung mit anderen Lebewesen? Wie also passt der Selbstmord in die Natur? Die Vorstellung, Selbstmord sei ein bewusster Akt und infolgedessen ein rein menschliches Phänomen, liegt zwar auf der Hand; gleichwohl bleiben damit einige Fragen unbeantwortet, wie die Psychiater Ivor Jones und Brian Barraclough deutlich machen:
In vergleichenden Verhaltensstudien von Tieren und Menschen ist der Selbstmord ein spezielles Problem: Der Mensch kann sich seinen Tod vorstellen und ihn herbeiführen, wozu kein Tier fähig ist. In diesem Sinn ist der Selbstmord eine rein humanspezifische Erscheinung. Das würde aber heißen, dass die Prozesse, die zum Selbstmord führen, rational sind, und das trifft nicht unbedingt zu: Die Depression, die an den meisten Selbstmorden beteiligt ist, schränkt die Fähigkeit zu rationalem Denken ein und löst zugleich suizidale Impulse aus. Unserer Ansicht nach ist der Selbstmord vielleicht nur deshalb ein rein menschliches Phänomen, weil wir ihn so definieren; das heißt, wenn wir Selbstmord als eine destruktive Handlung definieren würden, die jemand sich selbst antut und die zum Tod führt, dann gäbe es durchaus Analogien in der Tierwelt. Dennoch unterscheidet sich sogar bei dieser Definition der menschliche Selbstmord von der auch bei anderen Lebewesen zu beobachtenden Fähigkeit zur Selbstzerstörung: Der Mensch kann das Ereignis verschieben, das Tier nicht. Es sieht also so aus, als sei das tierische Verhalten für das Problem des Selbstmordes nur insofern von Bedeutung, als es eine Komponente zeigt – eine Disposition zur Selbstzerstörung –, zu der andere, rein menschliche Komponenten hinzukommen.25
Es ist unbestritten, dass bestimmte Tierarten unter akuten Stressbedingungen – Isolation, Überbevölkerung, Enge, Veränderungen der Lebensbedingungen – sich selbst großen Schaden oder sogar den Tod zufügen können. Sie nagen sich ein Bein oder einen Schwanz durch, sie hacken sich die Augen aus oder sie schlagen unablässig mit dem Kopf gegen die Wände ihres Geheges. Von Tieren, die in zoologischen Gärten gehalten werden, wie etwa Hirschen, Löwen, Hyänen und Schakalen, von einigen in Gefangenschaft lebenden Primatenarten, von Mäusen, Ratten, Kraken, Opossums, Schnabeltieren und von vielen anderen Tierarten ist bekannt, dass sie sich schwere – 169 –
Verletzungen zufügen und sich sogar umbringen können.26 Die Makaken-Affen schlagen sich den Kopf ein und bringen sich mit Zähnen und Klauen schwere Verletzungen bei. Hausschweine und verschiedene Wildtierarten unternehmen oft gewaltsame Versuche zu entfliehen, wenn sie gefangen oder woanders untergebracht werden. Kommen sie nicht frei, werden manche von ihnen völlig apathisch. Nerze, die auf Farmen in Käfigen gehalten werden, nagen ihre Schwänze durch.27 Zu den schwersten Selbstverstümmelungen bei Tieren kommt es offenbar dann, wenn ein übermäßig beengt oder isoliert lebendes Tier in akuten Stress gerät, was einen Zustand heftigster Erregung, Aggressivität und Frustration herbeiführen kann. »In allen bekannten Fällen«, so Ivor Jones, »treten schwere selbstverursachte Verletzungen und auch Schlagen mit dem Kopf zusammen mit akuten Erregungszuständen auf.«28 Solche Zustände von Erregung und Frustration resultieren offenbar aus den Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, Veränderungen der gewohnten Fütterungs- und Pflegebedingungen oder dem Mangel an sozialen und sexuellen Kontakten. Akute Erregungszustände können auch chirurgisch oder pharmakologisch bedingt sein, wenn Läsionen im Gehirn verursacht oder Medikamente und Alkohol verabreicht werden.29 Bis zu einem gewissen Grad ist selbstdestruktives Verhalten bei Tieren ein Ersatz für die normalerweise gegen andere Tiere gerichtete Aggressivität oder für die Energie, die anderenfalls für das Überleben in der Natur gebraucht wurde. Es scheint das akute Erregungsniveau zu senken, wenn die Tiere sich selbst Verletzungen beibringen, ganz ähnlich, wie dies bei Menschen, die unter bestimmten psychischen Krankheiten (wie Borderline-Störungen) leiden, die Spannung abbaut. Auch bei Menschen kann strenge Isolation oder Bewegungseinschränkung zu vergleichbarem destruktivem Verhalten führen. Es kommt vor, dass sich Gefangene ihre Zehen, Finger oder Genitalien abschneiden oder den Bauch aufschlitzen.30 Bei wild lebenden Tierarten kann Überbevölkerung zu selbstdestruktivem und selbstmörderischem Verhalten führen. Zum Beispiel fangen Ratten an, sich völlig anomal zu verhalten, wenn ihre Population für die Umwelt, in der sie leben, zu groß wird.31 Sie werden aggressiv und sterben früher, die Fruchtbarkeit nimmt ab, damit sich die Bevölkerungszahl an die knapper werdenden Res
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sourcen anpasst; auch die mütterlichen Versorgungsleistungen wie der Nestbau zum Beispiel werden schlechter. Bei Fröschen, Alligatoren und anderen Tierarten kann Kannibalismus auftreten, wenn sie zu dicht aufeinander leben.32 Schneehasen, die an übervölkerten Plätzen gelebt haben und an sichere Orte mit ausreichend Wasser und Nahrung gebracht werden, sterben trotzdem häufig an Stress und Nahrungsverweigerung.33 Über längere Zeiträume währende psychopathologische Zustände sind bei Tieren im Unterschied zu Menschen kaum zu beobachten, weil solche Tiere, darauf haben der Primatologe Henry Harlow und seine Kollegen hingewiesen, in der Natur nicht lange überleben.34 Die Lemminge, die Vorzeigetiere für Selbstmord, nehmen sich nicht wirklich das Leben.35 Sie verlassen dicht bevölkerte Gebiete, und viele sterben auf ihren Wanderungen zu neuen, weniger bevölkerten Plätzen. Dies ist der unumgängliche Preis für ihren Aufbruch in neue Gebiete. Sie vergrößern damit ihre territoriale Reichweite und ihre genetische Diversifizierung, was für die Art von Vorteil ist, wenn auch nicht für jedes einzelne Tier: Der »Selbstmord der Lemminge im Meer« hat nichts mit Selbstmord zu tun. Es gibt auch Arten, die in anderer Hinsicht riskante Verhaltensweisen zeigen. Vor Jahren trat der Harvard-Biologe E. O. Wilson mit der Behauptung hervor, dass es Fälle von »altruistischem« Verhalten bei bestimmten Spezies gebe, die ihre Behausung oder ihre Nahrung zu Gunsten von engen Verwandten opfern. Durch die vergrößerten Überlebenschancen des Nachwuchses steigen die Überlebenschancen der familiären Gene. Bei sozialen Insekten zum Beispiel kann der Schutz der Gruppe durch Soldatenwespen oder -ameisen für das einzelne Tier den Tod bedeuten, aber es hilft damit der Gruppe zu überleben. Herdentiere wie Bisons oder Elche schützen ihre Jungen, indem sie diese mit älteren und stärkeren Tieren aus der Gruppe umgeben. Die Berggorillas, die in kleinen Gruppen unterwegs sind, setzen untergeordnete Männchen ein, um die Kleinen und die Weibchen zu schützen. Diese Tiere halten am Rand der Gruppe Wache oder stellen sich zwischen die Raubtiere und die schwächsten Mitglieder und befinden sich dadurch in ständiger Verletzungs- und Todesgefahr. Bei den meisten Arten gibt es wie beim Menschen ein breites Spektrum von Fähigkeiten und Bereitschaft, solche Risiken auf sich zu nehmen. Manche Tiere bewegen sich schneller und sind
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neugieriger, impulsiver und ruheloser als andere. Sie sind energisch, zupackend und aggressiv, und es zieht sie zu neuen Gebieten, Futterquellen und Gefährten. Andere warten, stehen im Hintergrund, bewegen sich eher in Gemeinschaft und agieren weniger kraftvoll. Die verschiedenen Stile und Temperamente nutzen der Gruppe, sie kann auf diese Weise je nach den Umständen vorwärts stoßen oder sich zurückziehen und ihre kollektiven Energien verausgaben oder einsparen. Ähnlich wie Tiere sind auch Menschen verschieden in ihren Fähigkeiten und Temperamenten. Angepasstes kann rasch in schlecht angepasstes Verhalten umschlagen, vielleicht ein unvermeidlicher Preis, der für ein biologisches System zu zahlen ist, das die Fähigkeit beibehält, seine Reaktionen – Flucht, Aggression, Kooperation – schnell zu wechseln, um in veränderlichen und gefährlichen Umwelten zu überleben. Die Balance zwischen angepasstem und pathologischem Verhalten ist oft schwankend, und unter evolutionären Gesichtspunkten erscheint es sinnvoll, dass dies so ist. In seinen Studien über den Serengeti-Löwen und seine Beute machte George Schaller die Beobachtung, dass »ein galoppierendes Tier in einem prekären Gleichgewicht lebt«: Schnelligkeit ist notwendig, um sein Leben zu retten, aber sie ist auch mit dem Risiko verbunden, es zu verlieren.36 Die Aggressivität kann ebenfalls gefährliche Überschüsse produzieren. Dazu schreibt E. O. Wilson in On Human Nature:
Es gibt bei Menschen eine starke Disposition, unter bestimmten Bedingungen in eine tiefe, irrationale Feindseligkeit zu verfallen. Die Feindseligkeit kann sich mit gefährlicher Leichtigkeit selbst potenzieren und Fluchtreaktionen auslösen, die sich unter Umständen schnell zu psychischen Störungen und gewalttätigem Verhalten entwickeln. Aggressivität ist nicht mit einer Flüssigkeit zu vergleichen, die einen ständigen Druck auf die Wände ihres Behälters ausübt, sie ist auch nicht so etwas wie ein Sortiment von aktiven Ingredienzen, die in ein leeres Gefäß geschüttet werden. Sie ist eher einer vorhandenen Mixtur von Chemikalien vergleichbar, die durch bestimmte Katalysatoren transformiert wird, die später hinzugesetzt, erhitzt und aufgerührt werden. (...) (Menschen) haben eine starke Disposition, auf Bedrohungen von außen mit unvernünftigem Hass zu reagieren und ihre Feindseligkeit so weit zu steigern, dass die Ursache der Bedrohung durch die
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Errichtung einer ausgedehnten, Achtung gebietenden Sicherheitszone ausgeschaltet wird.37
Wir sind also zu extremen Verhaltensweisen fähig, die uns sowohl nützen als auch schaden können. Zu diesen Extremen gehören nicht nur Wut und Aggressivität, sondern auch Zustände von Trauer und Ekstase, Trägheit und überschießender Energie, Dumpfheit und Tatendrang. Aber warum überlebt die Neigung zum Selbstmord? Warum bleiben die Gene und die unbeständige Gehirnchemie, auf denen das Potenzial für suizidales Verhalten beruht, in unserer genetischen Ausstattung erhalten? Ist Selbstmord ein Preis, den wir für Diversität zu zahlen haben? Steht das rücksichtslose und impulsive Verhalten, das häufig mit Selbstmord verbunden ist, im Zusammenhang mit Fähigkeiten, die zum Überleben der Spezies beitragen? Oder haben diese Pathologien überhaupt keinen adaptiven Wert? Auch wenn ein Zustand weit verbreitet ist, muss dies nicht heißen, dass er für Anpassungszwecke notwendig ist. Das neue Forschungsgebiet der evolutionären Psychiatrie38 beschäftigt sich mit der in unserem Zusammenhang wichtigen Frage, warum sich schwere psychische Erkrankungen – Schizophrenie, manische Depression und Depression – beim Menschen erhalten. Dass sich die Gene, die für Schizophrenie – eine furchtbare, äußerst aufzehrende und quälende Krankheit – verantwortlich sind, erhalten, ist in der Tat erstaunlich. Es wäre doch zu erwarten, dass unsere Natur im Laufe von Zehntausenden von Jahren einen Schutz gegen eine derart schlecht angepasste genetische Mutation ausgebildet oder sie überhaupt eliminiert hätte. Aber die Schizophrenie stirbt nicht aus, im Gegenteil, sie kommt sogar relativ häufig vor, immerhin bei einem Prozent der Bevölkerung. Warum? Eine Antwort lautet, dass dieselben kognitiven und sozialen Verhaltensweisen, die in ihrer extremen Form das Leben des Schizophrenen beeinträchtigen oder zerstören – bizarres und unberechenbares Denken, merkwürdig veränderte Aufmerksamkeitsmuster, Paranoia, Widerstandskraft gegen körperliche Schmerzen, überempfindliche Wahrnehmungszustände, intensive Vorahnungen, soziale Isolation, Widerstandskraft gegen bestimmte Entzün-dungszustände –, in ihren milderen Formen (Wachsamkeit, innovatives Denken, erhöhte Aufmerksamkeit für Gefahren) nicht nur für Individuen von Vorteil sind, sondern auch für die Art.39 Timothy
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Crow, ein Psychiater in Oxford, hat die interessante und kontrovers diskutierte These aufgestellt, dass Sprache und Psychose einen gemeinsamen evolutionären Ursprung haben: Schizophrenie sei möglicherweise der Preis, den der Homo sapiens dafür zahlt, dass er sprechen kann.40 Dass Stimmungsstörungen sowohl individuell als auch sozial von Vorteil sein können, leuchtet eher ein. Wird Depression definiert als Einfrieren der Energie, wenn Ressourcen knapp werden, als Reduktion von Aktivität, wenn bedrohliche Situationen bestehen, gegen die nichts zu machen ist, oder als Verlangsamung oder Einstellung des Sexualverhaltens, wenn die Umweltbedingungen schlecht sind, ist sie in Zeiten der Veränderung oder großer Belastungen keine überraschende biologische Reaktion.41 In milden Formen kann sie als Alarmsignal für andere Tiere dienen, sich ebenso zu verhalten, oder die soziale Hierarchie stabilisieren, wenn weniger dominierende Tiere sich den dominierenden unterordnen, um ihre Chancen zu erhöhen, zu überleben und sich fortzupflanzen.42 Das Unzufriedene und Dunkle, das die depressive Verfassung auszeichnet, kann außerdem – auf künstlerischem oder philosophischem Gebiet – eine nützliche Perspektive für die kollektive soziale Aufmerksamkeit schaffen. Den stärksten Anhaltspunkt für eine mögliche Beziehung zwischen den spärlichen Anpassungsgewinnen durch eine schwere Krankheit einerseits und Selbstmord andererseits liefern bestimmte Elemente in Temperament, Kognition und Verhalten, die mit der manischen Depression einhergehen. Die amerikanische Dichterin Anne Sexton, die sich nach einem langen Kampf mit einer manischen Depression und dem Alkohol das Leben nahm, schrieb in einem Gedicht, dass der hochfliegende Ikarus
(...) nach oben schaut und gefangen ist, sich wundersam einbohrt in dies heiße Auge. Dass er ins Meer stürzt, wen kümmert's ?43
Das »wundersame Sich-Einbohren« in die Sonne und der Rücksturz ins Meer ist ein eindrucksvolles Bild für das gefährliche Verhältnis zwischen Forscherdrang und Rücksichtslosigkeit. Die Manie ist, wie wir wissen, zwar ein aggressiver und unbeständiger, aber auch ein kreativer Zustand voller ansteckender Begeisterung und Energie. Bestimmte Seiten der Manie – Furchtlosigkeit, schnelle und weit
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ausgreifende Gedankengänge, größenwahnsinnige Stimmungen und Ideen, eine durch nichts zu erschütternde Gewissheit und Risikobereitschaft – haben eine zerstörerische und zugleich schöpferische Macht. Wenn der unter Hochspannung stehende manische Geist früher oder später langsamer wird und die Stimmung depressiv absinkt, dann kann das tödliche Folgen haben. Häufig steht der Selbstmord am Ende eines kurzen, gewaltsamen und doch gelegentlich fruchtbaren Lebens. Kühnheit und Gewalt des manischen Temperaments haben ihren Preis, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass mildere Formen der manischen Depression für das Individuum, die Familie und die Gesellschaft im Ganzen gewinnbringend sind. (Ich wurde in einem Interview einmal gefragt, ob der Erste, der einen Speer ins Herz eines Mastodons warf, nicht ein manischer Typ war. Vielleicht ist das Mastodon umgekommen, er aber vielleicht auch.) Verschiedentlich sind Untersuchungen zu dem Ergebnis gekommen, dass manischdepressive Patienten und ihre Verwandten ungewöhnlich kreativ und akademisch erfolgreich sind.44 In über zwanzig Studien wurde festgestellt, dass der Anteil unter Depression oder manischer Depression Leidender bei sehr kreativen Menschen viel höher liegt als im Bevölkerungsdurchschnitt.45 Natürlich muss man nicht unter Stimmungsstörungen leiden, um große Taten zu vollbringen, und die meisten Menschen, die darunter leiden, vollbringen keine großen Taten. Das Überraschende ist, dass kreative Menschen unverhältnismäßig häufig mit solchen Zuständen zu tun haben. Das Gleiche gilt für den Selbstmord. Sehr kreative oder erfolgreiche Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler und Geschäftsleute begehen häufiger Selbstmord als der Bevölkerungsdurchschnitt. Meistens steht eine Depression, eine manische Depression oder mit diesen Stimmungsstörungen verbundener Alkoholismus dahinter. Percy Bysshe Shelley, der in jungen Jahren einen Selbstmordversuch unternahm, schrieb: »Doch siehe, welch schöne Ordnung aus dem Staub und dem Blut dieses wilden Chaos hervorgegangen ist«46 – möglicherweise hat er Recht. Wenn extreme Emotionen und Denkvorgänge von einem disziplinierten Geist und einer hoch entwickelten Vorstellungskraft zusammengehalten werden, können sie im Bereich der Kunst, der Wissenschaft oder der Wirtschaft Hervorragendes leisten. Aber ein Leiden, das für künstlerisches Schaffen von Vorteil sein mag oder einem geistigen Leben seine Richtung gibt –
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»Ist das Schiffswrack denn die Ernte«, fragte Gerard Manley Hopkins, »bringt Sturm / das Korn für dich?«47 –, nutzt dem Künstler oder Denker in seinem alltäglichen Leben kaum auf dieselbe Weise. Maßloses Denken und ein Verhalten, das von den entlegensten Grenzebieten der Erfahrung bestimmt wird, führen möglicherweise zum Tod, aber manche Künstler und Forscher haben keine andere Wahl. Den Kurs zwischen einem Leben in Extremen und einem Leben in gemäßigteren Zonen zu finden ist für viele schrecklich. »Es ist nicht möglich, die Valeurs zu geben und die Farbe«, schrieb Vincent van Gogh. »Man kann nicht zur gleichen Zeit am Pol und am Äquator sein. Man muss sich entscheiden; das hoffe ich auch zu tun, und wahrscheinlich wird es die Farbe sein.«48 Der Selbstmord fordert einen hohen Tribut unter Künstlern, Schrifttellern, Wissenschaftlern, Mathematikern und anderen, die auf ihre Gesellschaft einen großen Einfluss haben. Die Selbstmordraten bei diesen Gruppen wurden in einer Reihe von Studien untersucht, die in den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Europa und Asien durchgeührt wurden. Bei hervorragenden Wissenschaftlern, Komponisten und Spitzenleuten aus der Wirtschaft liegen diese Raten fünf Mal höher als im Bevölkerungsdurchschnitt, bei Schriftstellern, vor allem Dichtern, noch höher.49 Viele Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler, die sich das Leben nahmen, sind im Anmerkungsteil aufgeführt.50 Es ist eine lange und beunruhigende Liste und bestätigt die folgenden Zeilen von Dylan Thomas:
Die Hand, die's Wasser wirbeln lässt im Pfuhl Strudelt Treibsand; sie schnürt den Wirbelwind, Holt ein mein Lebenssegeltuch.51
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Kapitel 7 Das Blut des Todes Neurobiologie und Neuropathologie
Ich habe eine Gewalt in mir, wild wie das Blut des Todes. Ich kann mich selbst umbringen – das weiß ich jetzt –, und kann sogar andere umbringen. Ich könnte eine Frau umbringen oder einen Mann verwunden, ich glaube, das könnte ich. Ich biss die Zähne zusammen, um meine Hände unter Kontrolle zu halten, aber als ich dieses unverschämte Mädchen anstarrte, blitzten blutige Sterne auf in meinem Kopf, und blutrünstig wollte ich mich auf sie [stürzen] und sie in blutige Fetzen reißen. SYLVIA PLATH1
Überall im wirren Durcheinander des Hirngewebes finden chemische Prozesse statt, in rasend schnellem Tempo, an Fasern entlang und durch Zellwände hindurch und weiter auf gordisch verschlungenen Bahnen. Hundert Milliarden Nervenzellen – jede in Verbindung mit 200000 anderen – bilden ein auf vielfältige Weise zusammenängendes, unglaublich kompliziertes Netz. Dieses drei Pfund schwere Dickicht aus grauer Substanz mit einigen tausend unterschiedlichen Zelltypen und schätzungsweise hundert Billionen Synapsen gewinnt irgendeine Ordnung aus diesem Chaos, legt die bruchstückhaften Spuren des Gedächtnisses, lässt Wünsche und Schrecken entstehen, organisiert den Schlaf, bringt Bewegung in Gang, stellt sich eine Symphonie vor oder schmiedet einen Plan zur Selbstvernichtung. Von Beginn an, ausgehend von der in jeder Zelle enthaltenen DNSArchitektur, verdankt das Gehirn seine Entwicklung nicht nur den Zehntausenden von Genen, die es geerbt hat, sondern auch der sich ständig ändernden Umwelt, in der es sich befindet. Solange es noch im Mutterleib ist, wird seine Entwicklung von den Handlungen und Erfahrungen der Mutter beeinflusst: Ob sie zu viel trinkt oder raucht,
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sich schlecht ernährt oder Drogen nimmt, ob sie mit einem schädichen Virus oder Bakterien infiziert oder starken Belastungen ausgesetzt ist, das fötale Gehirn registriert die Auswirkungen. Wenn empfindliche Gene diesen zusätzlichen Belastungen oder »zweiten Schlägen« aus der pränatalen Umwelt ausgesetzt sind, kann es zu dauerhaften Schäden kommen – geistigen Entwicklungsstörungen oder Epilepsie, vielleicht sogar Autismus oder Schizophrenie. Ist ein Kind geboren, entscheidet die Art der Stimulation, die es aus seiner Umwelt empfängt oder nicht empfängt – durch Töne, Licht, Formen, Bewegung, Ernährung, Berührung und Gerüche –, darüber, welche Gehirnzellen verkümmern und welche Netzwerke aktiv werden. Die Bildung der Schaltkreise im Gehirn, der Aufbau der Pfade und Verbindungen bleiben das ganze Leben hindurch ein Produkt aus Vererbung und Erfahrung. Der wesentliche Bestandteil des Gehirns, die Nervenzellen (oder Neuronen), kommunizieren elektrochemisch miteinander, indem sie über Fasern, so genannte Axone, Informationen versenden. Die Axone verzweigen sich in eine Anzahl von kleinen Fasern, zwischen deren Endigungen sich kleine Spalte befinden, die Synapsen, durch die die Botschaften laufen. Die elektrische Erregung einer Nervenzelle verursacht die Ausschüttung von Neurotransmittern – wie Noradrenalin, Glutamat, Acetylcholin, Dopamin und Serotonin – aus Vorratsbläschen am Ende des Neurons. Die Ausschüttung dieser Neurotransmitter in die Spalte zwischen den Nervenzellen ermöglicht den Informationstransfer von einer Zelle zur anderen. Neurotransmitter sind das Lebensblut des Gehirns, sie steuern die Interaktionen zwischen den Zellen, zwischen den verschiedenen Regionen des Gehirns und zwischen Gehirn und Körper. Niemand weiß, wie viele Transmitter es gibt oder was genau die bisher identifizierten über hundert verschiedenen Arten tun. Wir lernen die Überfülle von Transmittern, die es gibt, gerade erst kennen und wissen äußerst wenig über die verwickelten Beziehungen zwischen ihnen. Wenn sich Wissenschaftler auf eine oder zwei Substanzen unter Vernachlässigung der anderen oder der noch nicht entdeckten Stoffe konzentrieren oder die Komplexität der chemischen Wechselwirkungen im Gehirn oder an den Synapsen auf ein Minimum reduzieren wollten, so wäre das ein Riesenfehler, vergleichbar früheren, primitiven Auffassungen, geistige Verwirrung sei ein Werk des Satans oder
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werde durch ein Übermaß an Phosphor oder Dämpfen verursacht. Viele Neurotransmitter und Hormone regeln die Stimmungen und aktivieren die Verhaltensweisen, die am Selbstmord beteiligt sind. Wir können hier unmöglich alle diskutieren oder auch nur erwähnen. In unserem Zusammenhang konzentrieren wir uns daher auf nur einen der vielen Dutzend Transmitter, die bekanntermaßen bei den komplexen Vorgängen im Gehirn eine Rolle spielen, das Serotonin, das allerdings eine sehr wichtige Funktion hat und sich gut eignet, um die chemischen Prozesse im Gehirn zu veranschaulichen, die für den Selbstmord und suizidales Verhalten von Bedeutung sind. Serotonin, ein chemischer Stoff, der sowohl in Pflanzen als auch in Nervensystemen uralter wirbelloser Tiere gefunden wurde, ist überall im Körper und im Gehirn von Säugetieren und Menschen nachzuweisen. Serotonin wirkt auf verschiedene Weise: Es kontrolliert den Durchmesser der Blutgefäße, affiziert die Schmerzwahrnehmung, beeinflusst die Darmtätigkeit, spielt eine Rolle bei den entzündlichen Reaktionen des Körpers und verursacht das Verklumpen der Blutplättchen. Unter psychiatrischem und psychologischem Gesichtspunkt ist das Serotonin wichtig, weil es bei der Entstehung von Depressionen, der Schlafregulierung, dem Aggressionsverhalten sowie dem suizidalen Verhalten eine Rolle spielt. Es gibt verschiedene Anhaltspunkte dafür, dass mit Serotonin verbundene Funktionsstörungen am suizidalen Verhalten beteiligt sind. Seit längerem ist bekannt, dass die Neurotransmitter Serotonin, Noradrenalin und Dopamin mit der Entstehung von Stimmungsstörungen zu tun haben, und wir wissen ebenfalls, dass Medikamente oder Drogen, die auf diese Transmitter einwirken, eine Depression oder eine Manie auslösen beziehungsweise mildern können. Ein frühes Beispiel für dieses Phänomen ist Reserpin, ein Mittel, das aus der Pflanze Rauwolfia serpentina gewonnen wird.2 Es wurde vor Jahrhunderten in Indien als Mittel gegen Schlaflosigkeit und Wahnsinn angewendet und im zwanzigsten Jahrhundert bei Psychosen und Bluthochdruck verabreicht. Bei bestimmten Patienten zeigte es allerdings eine wenig erfreuliche Wirkung: Sie fielen in eine tiefe Depression. Wie sich später herausstellte, war diese Wirkung auf einen dramatischen Abbau von Serotonin, Dopamin und Noradrenalin im Gehirn zurückzuführen. Mitte der fünfziger Jahre wurde eine entgegengesetzte klinische
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Beobachtung gemacht. Patienten, die Iproniazid3 gegen Tuberkulose einnahmen, wurden plötzlich fröhlich und gerieten in Schwung; trotz ihres schlechten Zustands und düsterer Prognosen waren sie von einem unverwüstlichen Optimismus; einige wurden geradezu euphorisch. Iproniazid erlangte daraufhin weite Verbreitung als Antidepressivum. Seine Wirkungsmechanismen wurden kurz hintereinander entdeckt: Es wirkte, weil es die Aktivität der Monoaminoxidase verhinderte, eines Enzyms, das Noradrenalin, Serotonin und Dopamin abbaut, nachdem diese in den Nervensynapsen ausgeschüttet worden sind. Wird die Wirkung dieses Enzyms blockiert, erhöht sich die Konzentration der Neurotransmitter. Die Forscher erkannten, dass die Transmitterkonzentration für den Ausdruck und die Regulierung von Stimmungen zuständig ist. Bestätigt wurde diese Annahme durch die Entdeckung des Nobelpreisträgers Julius Axelrod, wonach Imipramin (ein trizyklisches Antidepressivum) dadurch wirkt, dass es die Wiederaufnahme der Neurotransmitter aus der synaptischen Spalte zurück in die Synapse, die sie ausgeschüttet hat, verhindert, so dass deren Konzentration steigt. In letzter Zeit haben Antidepressiva der »dritten Generation«, die spezifischer auf bestimmte Neurotransmitter wirken, nicht nur auf Grund ihrer großen Popularität und ihres weit verbreiteten Gebrauchs die klinische Praxis radikal verändert, sondern weitere Erkenntnisse über die Rolle erbracht, die die Transmitter für das Entstehen und Fortbestehen von Depressionen spielen. Sie werden als selektive Wiederaufnahmehemmer von Serotonin klassifiziert, wirken also in der Hauptsache dadurch, dass sie den Abtransport des Serotonins von den Synapsen blockieren. Dadurch erhöht sich die Menge des Serotonins im Gehirn. Serotonin beeinflusst außerdem impulsives, aggressives und gewalttätiges Verhalten. Wir wissen aus Untersuchungen an Nagetieren und Primaten, dass die Tiere, wenn das Serotonin verknappt oder seine Ausschüttung behindert wird, aggressiver und sprunghafter werden. Ratten mit niedrigem Serotoninspiegel greifen andere Nager an und töten sie.4 »Knockout-Mäuse« – Mäuse, denen das für die normale Serotoninfunktion notwendige Gen fehlt – greifen schneller an, werden schneller süchtig und drücken schneller und impulsiver auf Hebel.5 Auf der anderen Seite haben Ratten und andere Tiere, die auf sanftes Verhalten hin gezüchtet worden sind, einen höheren Serotoninspiegel.6
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Affen mit einem niedrigen Spiegel des Serotoninspaltprodukts 5Hydroxyindolessigsäure (5-HIES) – eines Metaboliten, von dem man annimmt, dass er die Serotoninfunktion im zentralen Nervensystem widerspiegelt – greifen andere Affen viel eher an als solche, die einen höheren Spiegel dieser Substanz aufweisen; sie steigern ihren Alkoholkonsum und gehen größere Risiken ein, indem sie zum Beispiel in großer Höhe über weite Strecken springen.7 Wird der Serotoninspiegel durch Medikamente oder die Zugabe von Tryptophan (eine Vorstufe von Serotonin) in das Futter erhöht, lässt das aggressive und impulsive Verhalten sofort nach.8 Der Psychologe J. Dee Higley und seine Kollegen von National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism verfolgten das Leben von 49 frei lebenden Rhesusaffen auf einer Insel vor der Küste von South Carolina.9 Als die Affen zwei Jahre alt waren, maßen die Wissenschaftler ihren 5-HIES-Spiegel, indem sie der Rückenmarksflüssigkeit Proben entnahmen. Die Tiere wurden in ihrem Aggressionsverhalten von ganz niedrig bis ganz hoch eingestuft, all ihre Wunden und Narben registriert. Vier Jahre später fingen die Wissenschaftler die Tiere wieder ein und untersuchten sie erneut. Elf Affen waren tot oder vermisst. Die Korrelation zwischen den überlebenden Primaten und ihrem 5-HIES-Spiegel war verblüffend. Fast die Hälfte der Affen, bei denen im Alter von zwei Jahren eine niedrige 5-HIES-Konzentration in der Rückenmarksflüssigkeit festgestellt worden war, war eines gewaltsamen Todes gestorben. Von den Affen mit einer hohen Konzentration war keiner gestorben oder vermisst. Bei niedrigem Serotoninspiegel kann also das Aggressions- und Risikoverhalten übermäßig groß werden, und die Lebenserwartung sinkt. Diese Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Serotoninspiegel und Neigung zu Gewalt sind für Menschen unmittelbar relevant, weil wir die meisten Gene, die gewalttätiges, aggressives und impulsives Verhalten beeinflussen, mit anderen in Gruppen lebenden Primaten gemeinsam haben.10 Und wie Higley und andere Primatologen betonen, gilt dies auch für entscheidende Muster in der Aufzucht des Nachwuchses und für relativ stabile Persönlichkeitsmerkmale; außerdem ähneln sich der Serotoninstoffwechsel und die chemischen Prozesse, die damit im Zusammenhang stehen.11 Die Funktionsweise des Serotonins im zentralen Nervensystem, gemessen durch den 5-HIES-Spiegel in der Rücken-marksflüssigkeit, ist offenbar ein dauerhaftes Merkmal bei Tieren und Menschen und
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korreliert mit impulsivem und aggressivem Verhalten. Interessanterweise sind Higley und seine Mitarbeiter bei ihrer Primatenforschung zu dem Ergebnis gekommen, dass niedrige Konzentrationen von 5HIES nicht mit allgemeiner Aggressivität korrelieren, sondern nur mit impulsiven und ungezügelten Formen aggressiven Verhaltens. Stark impulsives Verhalten trete in Verbindung mit »schwerer, ungezügelter Aggressivität« auf, »aber nicht mit konkurrenzhafter, kontrollierter Aggressivität, die zur Aufrechterhaltung des sozialen Status eingesetzt wird, oder mit einem aggressiven Verhalten, das nur gelegentlich außer Kontrolle gerät«.12 Primaten mit niedrigen 5-HIES-Werten sind nicht nur überdurchschnittlich aggressiv, sondern werden auch von ihrer Altersgruppe nicht richtig akzeptiert und pflanzen sich seltener fort. Oft werden sie gezwungen, getrennt von ihren Gruppen zu leben, und enden als Einzelgänger.13 Die Auswirkungen der Serotoninkonzentration auf Aggressivität und Sozialverhalten sind enorm und unter Umständen – bei besonders niedrigen Werten – lebensgefährlich. Die biologische Ausstattung und das Verhalten sowie die physische und soziale Umwelt von Tieren sind eng miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig in einer komplexen und subtilen Art und Weise, die wir gerade erst zu verstehen beginnen. Es gibt eine Reihe von Anhaltspunkten dafür, dass die Funktionsweise des Serotonins im Gehirn durch genetische und umweltbedingte Faktoren bestimmt ist. Die Gene sind sicher von Bedeutung.14 Rhesusaffen, die von ihren biologischen Eltern getrennt und von einer »Amme« aufgezogen wurden, haben ähnliche 5-HIES-Werte wie ihre biologischen Eltern. Impulsivität und Aggressivität sind bei Menschen wie bei Tieren stark erblich. Und besondere Gene (wie das Tryptophan-Hydroxylase- oder TPH-Gen), die isoliert wurden, spielen offenbar sowohl in Bezug auf den 5-HIES-Spiegel in der Rückenmarksflüssigkeit als auch im Hinblick auf impulsives Verhalten und Selbstmordversuche eine Rolle. Aber auch Aufzuchtsmuster und soziale Umwelt üben einen starken Einfluss aus. Erwachsene männliche Meerkatzen zum Beispiel zeigen eine gleichmäßige Serotoninkonzentration, solange sie in stabilen Gruppenzusammenhängen leben. Wenn sich dagegen die soziale Hierarchie in der Gruppe ändert und ein Tier in eine höhere Position aufsteigt, dann steigt auch sein Serotoninspiegel. Werden dominierende Männchen isoliert und ohne visuellen oder taktilen Kontakt mit
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anderen Gruppenmitgliedern im Käfig gehalten, fällt ihre Serotoninkonzentration um 50 Prozent. Sobald sie zu ihrer Gruppe zurückgelassen werden, steigt das Serotonin wieder auf seinen ursprünglichen Wert an.15 Untersuchungen an Rhesusaffen haben gezeigt, welche Bedeutung der mütterliche Einfluss auf die Serotoninfunktion und das soziale Verhalten hat. Werden neugeborene Affen von ihren Müttern getrennt und zusammen mit Gleichaltrigen – also ohne irgendeinen Einfluss von Seiten älterer Tiere – aufgezogen, dann hat dies verschiedene Folgen. Zunächst können sie ihre Impulse nicht so gut kontrollieren wie die Affen, die von ihren Müttern groß gezogen wurden: Ihre Aggressivität gerät viel schneller außer Kontrolle, und sie sind leichter zu übermäßigem Alkoholgenuss und aggressivem Verhalten gegenüber kleinen Affen bereit. Außerdem haben sie größere Schwierigkeiten in ihren Beziehungen zu Gleichaltrigen, sie verletzen sich leichter und werden häufiger aus der Gruppe ausgestoßen.16 Zweifellos spielt die Mutter eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Serotoninfunktionen. Das haben vor allem die Untersuchungen der 5-HIES-Werte bei Affen gezeigt, die nur mit Gleichaltrigen aufgewachsen sind; bei ihnen lagen die Werte bedeutend niedriger als bei den Affen, die von ihren Müttern aufgezogen wurden. Verabreicht man nur mit Gleichaltrigen aufwachsenden Affen Serotoninwiederaufnahmehemmer (Antidepressiva, die eine Zunahme des Serotonins im Gehirn bewirken), sinkt ihr Aggressivitätsniveau, und sie nehmen weniger Alkohol zu sich. Zwar sind die hochkomplexen chemischen Vorgänge und die miteinander in Wechselwirkung stehenden Neurotransmittersysteme mit einem einzigen Faktor wie der erweiterten oder eingeschränkten Serotoninfunktion nicht zu erklären,17 dennoch liefern diese Primatenexperimente außergewöhnlich interessante und brauchbare Hinweise, wenn man sich mit aggressivem und selbstdestruktivem Verhalten beschäftigt. Offensichtlich verhindert das Serotonin gewalttätiges, aggressives und impulsives Verhalten. Aber wie steht es mit dem Zusammenhang zwischen solchen Verhaltensweisen und Selbstmord? Diesen Zusammenhang scheint es tatsächlich zu geben. Zunächst wissen wir, dass suizidale Handlungen oft impulsiv geschehen, das heißt, sie kommen ohne viel Nachdenken und ohne Rücksicht auf die Folgen zu Stande. Bei über der Hälfte aller Selbstmordversuche wird vorher
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nicht länger als fünf Minuten überlegt,18 und sowohl Forscher und Kliniker als auch Patienten, die medizinisch ernste Selbstmordversuche überlebt haben, betonen immer wieder die Rolle, die impulsives Verhalten bei der Entscheidung zum Selbstmord spielt.19 (Auch wenn viele Selbstmordpatienten einen durchdachten Plan haben, fällt die endgültige Entscheidung oft aus dem Impuls heraus.) Graphologen, die aufgefordert werden, Abschiedsbriefe von Selbstmördern mit identischen Schreiben von Nichtselbstmördern zu vergleichen, können die beiden Gruppen ohne Schwierigkeiten unterscheiden, weil die Schrift der Selbstmörder in aller Regel sehr »impulsiv«, »aggressiv« und »erregt« ist.20 Selbstmordpatienten sind nicht nur impulsiver, sondern verhalten sich auch aggressiver als nichtsuizidale Patienten.21 In einer englischen Untersuchung wurde festgestellt, dass Selbstmörder drei Mal häufiger eine gewalttätige Vergangenheit hatten als nichtsuizidale Personen der gleichen Altersgruppe, Geschlechtszugehörigkeit und sozialen Schicht.22 Dass zwischen Gewalt und Selbstmord eine enge Beziehung besteht, wird auch durch eine Reihe von internationalen Studien bestätigt, die nachweisen, dass auf Mord oft Selbstmord folgt.23 In England und Wales zum Beispiel kommt es in 33 Prozent der Mordfälle anschließend zum Selbstmord des Täters. Die meisten anderen Länder zeigen hohe Mord-Selbstmord-Korrelationen: Dänemark (42 Prozent), Australien (22 Prozent) und Island (9 Prozent). (In Ländern mit hohen Mordquoten und leichtem Zugang zu Schusswaffen wie den Vereinigten Staaten ist diese Korrelation allerdings viel niedriger – zum Beispiel ein bis zwei Prozent in North Carolina und Los Angeles und vier Prozent in Philadelphia.) Aber nicht nur eine Relation zwischen Gewalt und Selbstmord ist nachweisbar, sondern auch eine erhöhte Reizbarkeit und Gewaltbereitschaft bei den psychischen Zuständen, die am häufigsten mit Selbstmord im Zusammenhang stehen. Zwar sind die meisten Menschen, die an Depression, manischer Depression, Schizophrenie oder Persönlichkeitsstörungen leiden, nicht überdurchschnittlich gewalttätig, aber in bestimmten Krankheitsphasen kommt es doch häufig zu gewalttätigem Verhalten. Das ist besonders bei akuten paranoiden und erregten Phasen der Schizophrenie und bei Mischzuständen im Zusammenhang mit manischer Depression sowie bei der Manie selbst der Fall. In fast der Hälfte aller manischen Episoden
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kommt es mindestens ein Mal zu einer gewalttätigen Handlung;24 verstärkt wird diese Neigung zur Gewaltanwendung meistens noch durch hohen Alkoholkonsum, der besonders häufig mit Manien einhergeht. Extreme Reizbarkeit ist ebenfalls ein Merkmal von Stimmungsstörungen, feststellbar in etwa 80 Prozent aller Phasen von Manie und Depression und fast immer bei Mischzuständen. Da offenbar ein Zusammenhang zwischen der Funktionsweise von Neurotransmittern und Depression besteht und zudem eine enge Beziehung zwischen der Serotoninfunktion und impulsivem und aggressivem Verhalten durch eine eindrucksvolle Reihe von Studien nachgewiesen wurde,25 ist es nicht überraschend, dass die klinische Forschung sich als Nächstes dem Vergleich zwischen der Serotoninfunktion bei suizidalen und nichtsuizidalen Psychiatriepatienten zuwandte. Die Ergebnisse dieser Forschungen waren unerwartet konsistent. Ein wiederholter Befund in der psychiatrischen Forschung ist der Zusammenhang zwischen Selbstmordgefährdung und niedrigen 5-HIES-Werten in der Rückenmarksflüssigkeit.26 Aus über zwanzig Untersuchungen geht hervor (auch wenn Methoden und Ergebnisse von einigen wissenschaftlich in Frage gestellt wurden27), dass bei verschiedenen diagnostischen Gruppen (Stimmungsstörungen, Alkoholismus, Persönlichkeitsstörungen und Schizophrenie) niedrige Konzentrationen von 5-HIES in der Rückenmarksflüssigkeit mit einer bedeutend höheren Selbstmordgefahr korrelieren.28 Sowohl lebenslang betont aggressives Verhalten als auch ernsthafte Selbstmordversuche stehen in Korrelation zu bestimmten Werten von 5-HIES in der Rückenmarksflüssigkeit. Marie Åsberg und ihre Kollegen am Karolinska Institut in Schweden und Wissenschaftler in anderen Ländern haben nachgewiesen, dass Patienten mit Stimmungsstörungen, die einen Selbstmordversuch unternommen und sehr niedrige Konzentrationen des Serotoninmetaboliten haben, weitaus häufiger innerhalb eines Jahres an Selbstmord sterben als Patienten mit höheren Werten.29 Möglicherweise korreliert ein niedriger Spiegel von 5-HIES in der Rückenmarksflüssigkeit während eines akuten emotionalen Erregungszustands oder einer schweren psychischen Krankheitsphase mit einer Tendenz zu impulsivem und gewalttätigem Handeln. Niedrige Konzentrationen der 5-HIES in der Rückenmarksflüssigkeit finden sich bei vielen psychiatrischen und Verhaltenssyn
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dromen,30 nicht nur bei erhöhter Selbstmordgefahr; doch die meisten von ihnen haben wie der Selbstmord mit Problemen der Impulskontrolle zu tun. Dabei geht es um Kinder, die unbändig aggressiv oder grausam zu Tieren sind; Alkoholiker, die selbst im nüchternen Zustand sehr aggressiv sind; Depressive, die sich häufig streiten, mit ihren Kollegen oder Arbeitgebern zusammenstoßen oder sporadische Kontakte mit der Polizei haben; um Menschen, die an Bulimie oder am Tourette-Syndrom leiden; triebhafte Brandstifter oder anderweitig Kriminelle. Menschen, die in hohem Maße zwanghaft oder gehemmt sind wie diejenigen, die an Anorexie oder Zwangsverhalten leiden, haben dagegen eher höhere 5-HIES-Konzentration in der Rückenmarksflüssigkeit. (Übrigens zählt Zwangsverhalten, wenn es nicht von einer schweren Depression begleitet ist, zu den wenigen schweren psychischen Krankheiten, die nicht mit einem erhöhten Selbstmordrisiko verbunden sind.) Auch Zigarettenrauchen, das bei Selbstmördern viel weiter verbreitet ist als bei nichtsuizidalen Menschen – sowie auch bei Patienten mit Schizophrenie, Alkoholismus, Depression und antisozialen Persönlichkeitsstörungen –, steht offenbar in Korrelation mit niedrigen 5-HIES-Konzentrationen.31 Es ist unklar, ob das Rauchen die Senkung des Serotoninspiegels verursacht oder ob eine Serotoninunterfunktion dafür verantwortlich ist, dass man anfängt zu rauchen oder dabei bleibt. Dass zwischen Serotonin und Selbstmord ein Zusammenhang besteht, wird ebenfalls durch Postmortem-Untersuchungen der Gehirne von Selbstmördern bestätigt.32 Man stieß auf Serotoninanomalien im präfrontalen Cortex, einem Bereich, der bei der Verhaltenshemmung eine große Rolle spielt. Eine Verminderung der Serotoninfunktionen in diesem Gehirnbereich kann eine Enthemmung zur Folge haben, die sich unter Umständen in Kurzschlusshandlungen äußert, wenn suizidale Gedanken oder Gefühle vorhanden sind. Bei solchen Hirnuntersuchungen wurde auch eine starke zahlenmäßige Reduktion der Noradrenalin-spezifischen Neuronen festgestellt, was auf eine krankhafte Störung des Noradrenalinkreislaufs zurückzuführen sein kann, eines Transmitters, der für Depressionen, die Regulierung von Schlaf und Aufmerksamkeit sowie für den Schlaf- und Wachzyklus von Bedeutung ist. Veränderungen in diesem System können durch Anomalien der Hirnentwicklung oder durch die Auswirkungen akuter oder chronischer Überbelastung hervorgerufen
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werden. Solche Zustände, etwa eine Depression, Alkoholismus oder ein verheerender emotionaler Rückschlag, können die Serotoninfunktion empfindlich stören und eine tödliche Abfolge von biologischen Ereignissen im Gehirn ins Rollen bringen. Die chemischen Wirkstoffe, die die körperlichen Reaktionen auf Stress steuern, werden hauptsächlich vom Hypothalamus, der Hypophyse und der Nebenniere erzeugt. Unter normalen Umständen führt die Ausschüttung von Stresshormonen wie Cortisol und Adrenalin zu einer erhöhten Herztätigkeit, zur Unterdrückung des Hungergefühls und zu einer erhöhten Blutzufuhr in die Muskeln, also zur Mobilisierung der Anpassungsreaktionen von Mensch und Tier auf Stress-Situationen. Wenn aber aus einem bestimmten Grund – wegen eines frühen Traumas, genetischer Faktoren, einer psychischen Krankheit – diese Stressreaktion nicht in Gang kommt, dann kann sich der Zustand verlängern und gefährliche Formen annehmen. Werden Ratten zur Zeit der Geburt starken Belastungen ausgesetzt oder zu früh von der Mutter getrennt, zeigen sie häufig Anzeichen von unheilbaren sozialen und kognitiven Schäden. Erfahren sie dagegen intensive Fürsorge der Mutter und werden häufig geleckt, sind sie später besser in der Lage, zu lernen, Neues zu erkunden und mit ihren Artgenossen umzugehen.33 Bei Menschen kann eine sowohl durch biologische Faktoren als auch durch Erfahrung ausgelöste hyperaktive Stressreaktion widrige Auswirkungen auf die Stimmung, die Immunaktivität und die Serotoninfunktion haben. Krankhafte Angst- und Erregungszustände, die bei Selbstmord eine Rolle spielen, sind häufig die Folge. Autopsien von Selbstmordopfern haben Anhaltspunkte für eine Hyperaktivität in Kerngebieten des Hypothalamus, der Hypophyse und der Nebenniere erbracht – ein weiterer Beleg für die Bedeutung von Stress im Hinblick auf Selbstmord.34 Hirnaufnahmen (wie die Positronemissionstomographie, PET), die die Anatomie und Funktionsweise des Gehirns von Patienten mit Depression, Schizophrenie oder manischer Depression aufzeichnen, haben ebenfalls wiederholt beträchtliche krankhafte Veränderungen offen gelegt. Bei bipolaren Patienten wurden zum Beispiel Vergrößerungen der Amygdala festgestellt,35 die an der Erzeugung von Emotionen und der Stimmungsregulierung beteiligt ist, ebenso vermehrt Läsionen der weißen Marksubstanz36 – so genannte Hyperintensitäten, die im Zusammenhang mit dem Wassergehalt des
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Gehirngewebes stehen – sowie eine starke Verringerung der GliaZellen, die an der Entwicklung des Gehirns mitwirken und die Nervenzellen mit Wachstumsfaktoren und Nahrung versorgen.37 Und es ist durchaus möglich, dass wiederholte Psychosen oder Depressionen die schon angeschlagene Chemie eines anfälligen Gehirns noch bedeutend mehr schädigen können. Einiges spricht dafür, dass strukturelle Veränderungen im Gehirn von chronisch schizophreniekranken Patienten im Zusammenhang mit Selbstmordversuchen stehen38 und dass Läsionen der weißen Marksubstanz bei Alzheimer-Kranken etwas mit suizidalen Gedanken zu tun haben.39 Eileen Ahearn und ihre Kollegen von der Duke University führen gerade eine Untersuchung über die Beziehung zwischen Selbstmordversuchen und Hyperintensitäten in der periventrikulären Region des Gehirns durch, einem Bereich, der unter anderem mit Stressreaktionen und biologischen Rhythmen zu tun hat.40 Studien dieser Art haben nur vorläufigen Charakter und stoßen zusätzlich auf Schwierigkeiten, weil das Gehirn durch psychiatrische Medikamente verändert sein kann, aber sie zeigen die Richtung eines zum Verständnis des Selbstmordes wichtigen Forschungsgebietes an. Geforscht wird auch über mögliche Auswirkungen von Serumlipiden wie Cholesterin und essenziellen Fettsäuren auf Depression und Selbstmord, angeregt durch Berichte, dass Menschen mit niedrigen Cholesterinwerten (die von Natur aus niedrig waren oder durch Ernährungsumstellung, mehr Bewegung oder cholesterin-senkende Medikamente zu Stande kamen) überdurchschnittlich oft durch Selbstmord sterben.41 Nicht alle Studien brachten Belege für einen Zusammenhang zwischen Selbstmord und niedrigen Cholesterinwerten, aber es waren doch so viele, dass die Fragestellung ernst zu nehmen ist.42 Einige meinen, niedrige Cholesterinwerte seien einfach nur eine Folge der eigentlichen Ursache des Selbstmordes, nämlich der Depression.43 Depressive nehmen häufig ab, und entsprechend fällt der Cholesterinspiegel. Was wie eine kausale Beziehung zwischen Cholesterinwerten und suizidalem Verhalten aussieht, ist also möglicherweise nur ein zufälliges Zusammentreffen. In einigen Studien aber wurden Gewichtsverlust und Ernährungsgewohnheiten berücksichtigt, und man fand trotzdem eine Verbindung.44 Andere Wissenschaftler wie Jay Kaplan von der Bowman Gray School of Medicine in North Carolina sind der Auffassung, dass die
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Zunahme von Cholesterin bedeutende Auswirkungen auf die Serotoninfunktion und das Verhalten habe.45 In mehreren hochinteressanten Studien über Makaken untersuchte er mit seinen Kollegen das soziale Verhalten in Verbindung mit Plasmalipiden. Zwei Jahre lang verabreichten sie den Affen eine Kost mit hohen beziehungsweise niedrigen Anteilen an gesättigtem Fett und Cholesterin. Das Verhalten der Affen wurde im Hinblick auf Flucht, Angriff, Fürsorge und soziale Isolation analysiert. Die Affen, die fettarme Nahrung bekamen, verhielten sich gewalttätiger als die anderen. Weitere Untersuchungen, von denselben Wissenschaftlern durchgeführt, bestätigten, dass cholesterinarme Kost aggressives oder antisoziales Verhalten potenziert. Dass niedrige Cholesterinwerte auch mit einer niedrigen Serotoninfunktion in Zusammenhang stehen, wurde durch andere Forscherteams ebenfalls bestätigt. Kaplan und seine Kollegen haben nun die Überlegung angestellt, dass die Beziehungen zwischen Cholesterin, Aggression und der Serotoninfunktion vielleicht eine wichtige evolutionäre Rolle spielten: War an tierischen Fetten reiche Nahrung im Überfluss vorhanden, führte die daraus folgende relativ hohe Serotoninaktivität zu einem »gleichgültig-wohlwollenden Verhalten«. In Zeiten dagegen, in denen das Futter knapp war und besonders an tierischen Fetten reiche Nahrung fehlte, löste ein niedriger Cholesterinspiegel impulsive und riskante Verhaltensweisen wie aggressives Jagen und Futtersuchen aus. Die Beziehungen zwischen Cholesterin, der Serotoninfunktion und Selbstmord sind von großer theoretischer Bedeutung und haben möglicherweise entscheidende klinische Implikationen. Allerdings lässt das bisherige Material noch keine eindeutigen Schlüsse zu, so dass es noch weiterer Forschungen bedarf. Zu den Wissenschaftlern, die die zentrale Bedeutung des Cholesterins für Depression und Selbstmord bestreiten, gehört Joseph Hibbeln vom Laboratory of Membrane Biophysics and Biochemistry der National Institutes of Health. Er ist der festen Überzeugung, dass die wichtigen Lipide, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, die essenziellen Omega-3-Fettsäuren sind,46 nicht das Cholesterin, und äußert die Vermutung, dass ein Grund für die in den letzten Jahrzehnten steigende Rate von Depression und Selbstmord auf den zunehmenden Konsum von gesättigten Fettsäuren und die damit einhergehende verminderte Zufuhr von essenziellen Omega-3-
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Fettsäuren zurückzuführen ist, die zum Beispiel in Fisch enthalten sind. Niedrige Plasmakonzentrationen dieser Fettsäuren, die selektiv in Nervengewebe konzentriert sind, stehen im Zusammenhang mit niedrigen Konzentrationen der 5-HIES in der Rückenmarksflüssigkeit. In Gesellschaften, in denen viel Fisch gegessen wird (wie zum Beispiel in Japan und Taiwan) scheint Depression weniger verbreitet zu sein – was allerdings nicht unbedingt für Selbstmord gilt – als in Gesellschaften, die wenig Fisch konsumieren (zum Beispiel Deutschland und Neuseeland).47 Paläolithische und moderne Jäger- und Sammlervölker, so argumentieren Hibbeln und andere, nahmen weniger gesättigte Fette zu sich (und dafür mehr ungesättigte) als die normalen Verbraucher heutzutage.48 Die Spezialisierung in der Landwirtschaft und der Anbau von weniger Pflanzensorten führte dazu, dass die Tiere, die uns als Nahrungsgrundlage dienen, einen entsprechend geringeren Anteil der notwendigen Fettsäuren haben. Hibbeln und andere schätzen, dass in früheren Entwicklungsperioden der Menschheit das Verhältnis von gesättigten zu ungesättigten Fetten ungefähr eins zu eins war und dass dieses Verhältnis heute fünfundzwanzig zu eins beträgt. Durch die in den letzten fünfzig Jahren weit verbreitete Flaschennahrung, die im Unterschied zur Muttermilch so gut wie keine ungesättigten Fette enthält, kann es zu feinen neurologischen Defiziten gekommen sein, die sich nicht nur auf Stimmung und Verhalten, sondern möglicherweise auch auf die Selbstmordrate auswirken. Auch die Untersuchungen zu den essenziellen Omega-3-Fettsäuren haben bislang erst zu vorläufigen Ergebnissen geführt, so dass sich ihre Bedeutung noch nicht abschließend beurteilen lässt. Forschungen über Cholesterin und essenzielle Fettsäuren haben ganz wesentlich mit Fragen zu tun, die mit der Entwicklung des Nervensystems sowie mit dem möglichen Einfluss der Ernährung auf Depression, Aggression und Selbstmord zusammenhängen. Sie könnten für die Feststellung klinischer Tatbestände und ihre Behandlung von erheblicher Relevanz sein. (So besteht vielleicht auch eine Beziehung zwischen einem geschwächten Fettsäuremetabolismus und Schizophrenie, wie der Wissenschaftler David Horrobin aus Schottland meint.49) Die Ergebnisse sind bis jetzt noch nicht definitiv, aber doch faszinierend.
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Sicher wird vieles durch unsere Biologie entschieden. Die Gene bestimmen unser Temperament, und unser Temperament wiederum beeinflusst unsere Entscheidung, welche Umwelt wir suchen oder meiden. Unser Temperament bestimmt außerdem die Art und Weise, wie wir auf die verschiedenen Umwelten reagieren und wie wir durch sie geformt werden. Wer zurückhaltend und stabil ist, für den sind Enttäuschung oder Zurückweisung, der Verlust einer Arbeitsstelle, das Ende einer Ehe oder ein sich hinziehender Anfall von Depression schmerzlich und quälend, aber nicht lebensbedrohlich. Menschen mit einem wilden und impulsiven Temperament hingegen können durch Rückschläge im Leben und Krankheiten lebensgefährlich aus der Bahn geraten. Für sie ist es manchmal so, als sei ihr Nervensystem in Kerosin getaucht: Eine heftige Auseinandersetzung mit einer geliebten Person, ein verlorenes Spiel, ein Zusammenstoß mit dem Gesetz oder der irritierende Blitz einer psychischen Krankheit können zum Zündstoff für eine Selbstmordreaktion werden. Die meisten Menschen gehen mit den gewöhnlichen, oft auch schrecklichen Belastungen und Verlusten, die das Leben mit sich bringt, gut oder einigermaßen vernünftig um. Andere dagegen greifen beim geringsten Anlass zur Pistole oder werfen ein Seil über einen Ast. Sie sind biologisch anfälliger, bei ihnen liegt die Schwelle zum Selbstmord sehr tief, und die geringfügigste Kleinigkeit kann der Auslöser sein. Bei wieder anderen ist die Schwelle vielleicht niedrig, aber nicht gefährlich niedrig; kommt dann aber Depression, Schizophrenie, Alkoholismus oder eine lähmende Angst ins Spiel, dann kann die Schwelle ruckartig fallen. Eine genetische Disposition zum Selbstmord heißt also auf keinen Fall, dass dieser unvermeidlich ist. Es heißt nur, dass bei sich häufenden Belastungen oder in einer verheerenden akuten Stresssituation der Selbstmord eher zur Option werden kann. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Selbstmord nicht vom Modell der »zwei Schläge«, das auch für andere medizinische Umstände gilt. Eine genetische Anfälligkeit für eine Herzkrankheit, für Krebs oder Asthma, für Diabetes oder die Sichelzellenanämie heißt nicht, dass die Krankheit auch wirklich ausbrechen wird. Es heißt nur, dass sie durch Verhalten oder Umwelteinflüsse, durch Rauchen, eine sitzende Tätigkeit, Ernährung, Alter oder Stress leichter ausgelöst werden kann. Je nachdem, wie stark die genetische Disposition ist, werden die betreffenden Gene angeschaltet oder eben nicht. Wenn eine
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Krankheit – wie Huntington-Chorea – ganz überwiegend von genetischen Faktoren bestimmt ist, wird sie bei demjenigen, der die betreffenden Gene in sich trägt, wahrscheinlich auch ausbrechen. Wenn dagegen die genetischen Bedingungen komplexer sind oder die Disposition nicht so stark ist (oder es einen Schutz durch andere Gene gibt), dann kommt es wohl eher auf das Verhalten und die Umwelt an, ob man krank wird oder nicht. Bei manchen Menschen ist der Selbstmord eine plötzliche Handlung, bei anderen dagegen das Ergebnis langer Überlegungen, denen eine sich immer höher auftürmende Verzweiflung oder unerträgliche Umstände zu Grunde liegen. Bei vielen ist er beides: ein jähes Handeln in einem zerfahrenen Augenblick inmitten einer Phase resignierter, suizidaler Hoffnungslosigkeit. Oft steht ein plötzlicher Tod gleichsam auf Abruf, wenn die Familiengeschichte oder die Gehirnchemie zum impulsiven Selbstmord disponiert; solche Menschen sind wie Scheiterhaufen aus trockenem Holz, ungeschützt gegen den unvermeidlichen Funkenflug, den das Leben verursacht. Haben Menschen eine Veranlagung zu ungestümem und unbeständigem Verhalten, wird ihr Hang zum Risiko sie dazu bringen, selbst die Funken zu schlagen: Sie brechen Streit vom Zaun, sie stürzen sich in den Tumult, sie suchen den Einsatz beim Spiel, gehen hart ran und können sich nie einigen. Sie sind wie die australischen Aborigines, die, wie Stephen Pyne sie in seinem Buch World Fire beschreibt, »auf diesem heißesten und trockensten von allen Kontinenten mit Vegetation (...) mit lodernden Feuerbränden, von denen die Funken regneten, herumzulaufen pflegten«.50 Es sind Menschen, die anfällig für impulsiven Selbstmord sind: Menschen, die von Natur aus unbeständig und zerbrechlich sind, die wie Katharina auf dem Rad den Schwankungen der Manie ausgeliefert sind oder die ein Leben voller Höhen und Tiefen führen, wie sie Persönlichkeitsstörungen oder Alkoholismus mit sich bringen. Andere töten sich, nachdem sie lange überlegt und lange Zeit unter Qualen, mit psychischen Krankheiten oder unter zu großen Belastungen gelebt haben. Joseph Conrad, der sich in die Brust schoss, als er jung war, und glücklicherweise überlebte, schrieb: »Selbstmord, habe ich den Verdacht, ist sehr oft die Ausgeburt bloßer geistiger Müdigkeit – kein Akt wütender Energie, sondern das letzte Symptom völligen Zusammenbruchs.«51 Für viele wird die sich immer
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höher auftürmende Verzweiflung einfach unerträglich; die im mentalen System gegen den Selbstmord eingebauten Bremsen nutzen sich ab. Man ist versucht, sich den Selbstmord, wie es die Verfasser von Nachrufen häufig tun, als eine »verständliche« Reaktion auf ein lebenswichtiges Problem wie einen finanziellen Zusammenbruch, das Scheitern einer Liebe oder eine unerträgliche Schande vorzustellen, aber solche Rückschläge können jedem widerfahren. Jeder, der kein unvorstellbar langweiliges Leben führt, der Hoffnungen hat, die erschüttert werden können, oder eine Liebe, die verloren gehen kann, der sein Leben von der Geburt bis zum Tod nicht wie in einer Blase über dem irdischen Getümmel verbringt, erlebt den Kummer und die Strapazen, die für manche zum »Grund« für ihren Tod werden. Solche kummervollen oder strapaziösen Situationen, die offenbar die Entscheidung zum Selbstmord auslösen, haben Tausende von anderen Menschen ebenso schlimm oder noch schlimmer erlebt, und sie bringen sich nicht um. Selbst wenn Menschen mit normaler geistiger Verfassung mit einem schweren Verlust oder einem Ereignis konfrontiert sind, das einen großen Schaden anrichtet, ist ihre Verfassung gegen die Möglichkeit eines Selbstmordes dennoch gut geschützt. John Mann und seine Kollegen vom New York State Psychiatric Institute haben ein »Stress-Diathese«-Modell vorgeschlagen, um die Beziehungen zwischen der biologischen Disposition zum Selbstmord und den auslösenden Umständen zu klären.52 Die Disposition zum Selbstmord wird von mehreren Faktoren bestimmt, aus deren Gesamtheit sich die Schwelle zusammensetzt, die Menschen von suizidalem Verhalten trennt. Zu diesen Faktoren gehören eine bestimmte genetische, familiär bedingte Anfälligkeit oder eine geschwächte Serotoninfunktion, bestimmte Eigenschaften des Temperaments wie Aggressivität und Impulsivität, chronischer Alkohol- und Drogenmissbrauch, chronische Krankheiten und bestimmte soziale Faktoren wie der frühe Tod eines Elternteils, soziale Isolation oder körperlicher oder sexueller Missbrauch in der Kindheit. In gewissem Umfang kann die Schwelle gegenüber suizidalem Verhalten erhöht werden, zum Beispiel durch religiöse Überzeugungen, die Anwesenheit von Kindern im Haushalt, finanzielle Sicherheit, soziale Unterstützung oder eine gute Ehe. Besteht jedoch eine starke Disposition zum Selbstmord, dann sind diese schützenden Faktoren nur von begrenztem Wert.
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Zu den Umständen, die einen Selbstmord herbeiführen und die nicht ganz zutreffend als »Auslöser« bezeichnet werden, gehören psychische Krankheiten, akute Drogen- oder Alkoholvergiftung, eine persönliche oder finanzielle Krise oder die »Ansteckung« durch einen anderen Selbstmordfall. Natürlich sind die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Schwellenfaktoren und den Auslösern sehr komplex. Jemand, der mit einer genetischen Disposition zu manischer Depression geboren ist, eine gestörte Serotoninfunktion hat und aus einer Familie mit vielen Selbstmordfällen stammt, ist außerordentlich selbstmordgefährdet. Sein Risiko wird noch größer, wenn er im depressiven oder manischen Zustand trinkt, weil er dann wahrscheinlich Probleme in seinen Beziehungen und an seiner Arbeitsstelle bekommt. Außerdem wird sich seine Krankheit dann noch verschlimmern, die Behandlung wird weniger wirksam sein, und seine Serotoninfunktion wird noch schlechter. Durch einen einzelnen Risikofaktor, gleichgültig ob es sich um einen disponierenden oder einen auslösenden Faktor handelt, mag sich die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand umbringt, nur geringfügig erhöhen. Aber manche Faktoren wie eine genetische oder eine andere biologisch bedingte Disposition, die vielleicht dazu noch mit einer schweren psychischen Störung verbunden ist, sind besonders verhängnisvoll. Wenn die Schwelle von Geburt an niedrig ist und die Auslöser ihre Wirkung tun, wird die Gefahr des Selbstmordes so hoch, dass wahrscheinlich nichts dagegen zu unternehmen ist. Dann wird ein leichter Affront oder Verlust genügen, um die tödliche Mischung zur Explosion zu bringen. Es ist wie mit Feuer: trockenes Gras und starker Wind sind an sich nur potenzielle Gefahren, Elemente der Entzündung. Schlägt jedoch ein Blitz in das Gras, dann kann es anfangen zu brennen, ehe man sich's versieht: Aus einer bloßen Möglichkeit wird eine vollendete Tatsache. Eine akute psychische Erkrankung ist der häufigste und gefährlichste Auslöser für einen Selbstmord. Die meisten Menschen, die an Depression, manischer Depression, Alkoholismus oder Schizophrenie leiden, bringen sich nicht um, wohl aber eine unverhältnismäßig große Anzahl von ihnen. Bei manchen bewirken die Merkmale der Krankheit selbst eine Senkung der Schwelle gegenüber dem Selbstmord: dann nämlich, wenn jemand an extremen Reizbarkeitszuständen
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leidet und zu impulsiven Verhaltensweisen, die mit Mischzuständen einhergehen, neigt, oder wenn bei sich aufklärenden oder verschlimmernden Depressionen physische und psychische Erregungszustände auftreten. Andere haben vielleicht gefährlich niedrige 5-HIES-Werte in der Rückenmarksflüssigkeit und ein aggressives und rücksichtsloses Temperament. Dann kann eine psychische Erkrankung eine chronische Selbstmordneigung aktivieren. Auch viele Dinge, die sich in der Umwelt eines Menschen ereignen, oder bestimmte Aspekte seines Verhaltens können eine psychische Störung auslösen oder verschlimmern. Wir haben schon gesehen, welche zentrale Rolle zum Beispiel psychischer Stress bei anfälligen Menschen spielen kann. Der gefährlichste Auslöser für eine manische Episode ist wahrscheinlich Schlafmangel, und die Manie wiederum erhöht das Risiko von Depressionen, Mischzuständen und darauf folgendem Selbstmord. Eine gravierende Schlafminderung – verursacht durch Überlastung, Kummer, eine Geburt, Zeitumstellung bei Flugreisen oder Berufstätigkeiten, die einen schnellen Wechsel der Schlafgewohnheiten erfordern (wie eine militärische Ausbildung, Schichtarbeit, Krieg oder Nachtdienst im Krankenhaus), akute jahreszeitlich bedingte Lichtveränderungen, Alkohol- oder Dro-genmissbrauch – löst schwer wiegende Veränderungen im Gehirn aus. Auch Medikamente wie Antidepressiva und Steroide können tief greifende Stimmungsveränderungen bewirken oder Zustände heftiger Erregung und Rastlosigkeit hervorrufen, ebenso Funktionsstörungen der Schilddrüse, Morbus Cushing, Herzmuskelinfarkte, postoperative Zustände, künstliche Nieren, AIDS, Kopftraumata, Schlaganfälle und Infektionen. Ernährungsbedingt niedrige Cholesterinwerte oder Defizite an essenziellen Omega-3-Fettsäuren können die Schwelle gegenüber Selbstmord ebenfalls herabsetzen, wobei nicht klar ist, in welchem Umfang. Wenn auch, wie Emil Kraepelin vor hundert Jahren schrieb, »die Anfälle des manisch-depressiven Irreseins in erstaunlichem Grade von äußeren Einwirkungen unabhängig sein können«,53 so steht doch eine komplizierte Kausalbeziehung zwischen schweren psychischen Krankheiten, Verhalten und der physischen Umwelt außer Frage. Diese Faktoren haben ihrerseits einen starken Einfluss auf eine vorhandene biologische und temperamentbedingte Selbstmordanfälligkeit. Aber es gibt noch andere maßgebende Faktoren, zum Beispiel das
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Alter. Bei Kindern unter zwölf Jahren kommt es höchst selten zum Selbstmord.54 Nur ein Prozent aller Selbstmorde ereignet sich in einem Alter unter fünfzehn Jahren, während 25 Prozent in den nächsten fünfzehn Jahren stattfinden. Was ist der Grund für diesen abrupten Anstieg? In der wissenschaftlichen Literatur wurde verschiedentlich die Hypothese aufgestellt, dass Kinder keinen Selbstmord begehen, weil sie eine recht unrealistische Auffassung vom Tod haben – über die Hälfte der Sechs- bis Elfjährigen glaube zum Beispiel, dass der Tod rückgängig zu machen sei55 –, aber warum sollte ein solcher Glaube ein Kind davor bewahren, sich das Leben zu nehmen? (Man könnte sich gerade umgekehrt vorstellen, dass es auf Grund einer solchen Auffassung vom Tod erst recht zum Selbstmord kommt.) Ernster zu nehmen ist vielleicht die Tatsache, dass die Planung und Ausführung eines Selbstmordes ein komplexes kognitives Unternehmen ist, zu dem Kinder gewöhnlich nicht fähig sind. Entscheidend bei dieser Frage ist jedoch wahrscheinlich der Umstand, dass schwere Psychopathologien (Stimmungsstörungen, Alkohol- und Drogenmissbrauch und psychotische Erkrankungen) bei Kindern sehr selten auftreten. Sie tauchen gewöhnlich erst nach der Pubertät auf. Die Pubertät, die im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren einsetzt, fällt mit dem ersten deutlichen Anstieg der Selbstmordrate zusammen. In dieser Zeit kommt es zu starken hormonellen Veränderungen, außerdem treten in diesem Alter und im Gefolge der Pubertät schwere psychische Störungen verstärkt auf. Das Durchschnittsalter für den Ausbruch einer manischen Depression liegt bei achtzehn Jahren, für Drogen- und Alkoholmissbrauch und Schizophrenie bei einundzwanzig und für schwere Depressionen bei sechsundzwanzig.56 Das verstärkte Auftreten von schweren psychischen Störungen verläuft parallel zur Erhöhung der Selbstmordrate, dadurch wird das zunehmende Alter zu einem bedeutenden Risikofaktor. Daneben spielt die Geschlechtszugehörigkeit eine wichtige Rolle.57 Auf einige Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind wir schon zu sprechen gekommen: Obwohl Frauen mehr zu depressiven Störungen neigen als Männer und häufiger Selbstmordversuche unternehmen, kommt es bei ihnen längst nicht so oft zum tatsächlichen Selbstmord. Das liegt zum Teil daran, dass Männer eine Depression häufig nicht erkennen und sich dementsprechend auch
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nicht behandeln lassen; meistens trinken sie viel mehr, wenn sie psychisch krank sind, und greifen eher zu Schusswaffen oder anderen hochgefährlichen Mitteln, um sich umzubringen. Darüber hinaus sind Impulsivität und Gewalttätigkeit, die zum Selbstmord disponieren, anscheinend eher typisch männliche Eigenschaften; allerdings sind diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Hinblick auf die Serotoninfunktionen noch nicht hinreichend untersucht. Es gibt allerdings Belege dafür, dass während der Schwangerschaft der Serotoninspiegel im Blut58 steigt und dass unter anderem deshalb die Selbstmordrate in dieser Zeit sinkt.59 (Im Unterschied zu Messungen von Serotoninkonzentrationen in der Rückenmarksflüssigkeit, die zur Bestimmung der Serotoninfunktion im Gehirn vorgenommen werden, ist der Serotoninspiegel im Blut stark von der Ernährung und anderen Faktoren abhängig.) Das Selbstmordrisiko bei Frauen im Jahr nach der Entbindung ist sehr gering.60 (Bei Frauen mit schweren psychischen Störungen allerdings ist die Gefahr eines Selbstmordes nach der Geburt viel größer.) Zur Frage, wie die verschiedenen Phasen des Menstruationszyklus die Selbstmordrate beeinflussen, liegen bislang nur widersprüchliche Forschungsergebnisse vor, gleichwohl heißt es in den meisten Untersuchungen, dass sich in der Woche vor der Monatsblutung und während der Menstruation selbst Selbstmorde, Selbstmordversuche oder Anrufe bei Einrichtungen zur Selbstmordprävention häufen.61 Eine Londoner Autopsiestudie von 23 Frauen, die sich umgebracht hatten, stellte auf Grund von Gebärmutteruntersuchungen fest, dass sich alle bis auf eine in der Lutealphase ihres Zyklus befanden (das heißt: in dem vierzehntägigen Zeitraum vor der Monatsblutung).62 Autopsien von Hindufrauen, die sich das Leben genommen hatten, indem sie sich mit Kerosin verbrannten, ergaben, dass neunzehn von 23 untersuchten Frauen zum Zeitpunkt ihres Todes ihre Blutung hatten.63 Selbstmordversuche in der ersten Woche des Menstruationszyklus hängen wahrscheinlich mit niedrigen Östrogenwerten zusammen.64 Weltweit werden die meisten Selbstmorde von Männern verübt, nicht jedoch in Malta, Ägypten, Papua Neu-Guinea, Westäthiopien und China. Im Jahr 1990 nahmen sich über 180000 Chinesinnen das Leben (gegenüber 159000 Chinesen);65 das sind mehr als die Hälfte der Selbstmorde von Frauen auf der ganzen Welt. Die meisten der fünfhundert Chinesinnen, die sich jeden Tag umbringen, sind jung,
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etwa Anfang zwanzig, und leben in ländlichen Gebieten. Die Erklärungen für eine so hohe Selbstmordrate bei jungen chinesischen Frauen sind zahlreich und kontrovers. Ein sehr logischer, wenn auch nicht allein gültiger Grund ist der leichte Zugang, den Frauen im ländlichen China zu hochgiftigen Pestiziden haben. Eine impulsive Handlung, die bei der Verwendung von Tabletten und besserer ärztlicher Versorgung weit weniger lebensbedrohlich wäre, hat unter chinesischen Bedingungen tödliche Folgen. Aus einem impulsiven Selbstmordversuch wird schnell ein Selbstmord. Als ein weiterer Grund für diese hohe Selbstmordrate wird der schnelle Wechsel zur Marktwirtschaft genannt, aber der findet nicht nur in China statt; außerdem ist nicht klar, warum die damit verbundenen Veränderungen Frauen mehr betreffen als Männer. Ferner soll es in China, wo es keine starken Sanktionen gegen Selbstmord gibt, für junge Frauen psychologisch einfacher sein, sich für den Selbstmord zu entscheiden. Soziologen haben betont, dass in der chinesischen Gesellschaft Frauen ein geringer Wert beigemessen wird, in dieser Hinsicht jedoch unterscheidet sich China nicht besonders von anderen Ländern, in denen die Selbstmordrate von Frauen viel niedriger ist. Auch familiäre Streitigkeiten, geplante Eheschließungen und andere häusliche Probleme mögen eine Rolle spielen, doch solche oder ähnliche Belastungen und Konflikte gibt es in allen Gesellschaften. Sie fungieren vielleicht als Auslöser, aber dass sie die eigentlichen Gründe für Selbstmorde sind, ist recht unwahrscheinlich. Zur Zeit wird eine lebhafte Debatte darüber geführt, in welchem Umfang psychische Störungen für die Selbstmorde verantwortlich sind. Der in Peking tätige kanadische Psychiater Michael Phillips ist der Ansicht, dass in China nur 50 Prozent der Selbstmorde im Zusammenhang mit psychischen Krankheiten stehen, während es in anderen Ländern mindestens 90 Prozent sind. Die anderen geschähen in der Mehrzahl aus dem Impuls heraus. Mit Nachdruck widerspricht dem Andrew Cheng, ein taiwanesischer Arzt, dessen Untersuchungen zu dem – weltweit bestätigten – Ergebnis kommen, dass über 95 Prozent der Selbstmorde in Taiwan mit psychischen Störungen zu tun haben. Es wird noch einige Zeit dauern, bis diese Meinungsverschiedenheiten ausgeräumt sind, aber alle Beteiligten sind sich einig, dass in China etwas geschehen muss. Vor kurzem haben
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chinesische Ärzte damit begonnen, sich auf Diagnose und Behandlung von Depressionen zu konzentrieren; der Zugang zu Pestiziden wird beschränkt; Programme zur Selbstmordprävention werden in die Wege geleitet, und jungen Mädchen zeigt man, wie sie mit den Belastungen, denen sie ausgesetzt sind, besser zurechtkommen. Wir sind, wie alles Leben, periodische Kreaturen, für unseren Rhythmus angewiesen auf die Drehung der Erde um die Sonne und des Mondes um die Erde. Unsere Gehirn- und Körperchemie schwankt in Anpassung an die Wärme- und Lichtfluktuationen auf der Erde und wahrscheinlich auch ihrer elektromagnetischen Felder. Wie bei den anderen Säugetieren verändern sich unsere Ess- und Schlafgewohnheiten und die anderen Körperfunktionen mit den Jahreszeiten entsprechend der Dauer des Tageslichts und den wechselnden Temperaturen. Eine genetisch determinierte biologische Uhr kontrolliert den Zyklus der chemischen Stoffe in unserem Gehirn und bestimmt unsere Reaktionen auf unsere physische Umwelt. Selbstmord ist keineswegs immun gegen die Auswirkungen von Tagesrhythmen und Jahreszeiten. Die meisten Selbstmorde geschehen zwischen sieben Uhr morgens und vier Uhr nachmittags,66 was ein Wissenschaftler aus dem neunzehnten Jahrhundert (der in vielen europäischen Ländern ein ähnliches Muster beobachtet hatte) damit erklärt hat, dass »Erschütterungen und Rückschläge meistens in den geschäftigsten Stunden vorkommen, und wer ohnehin krank ist von den Anstrengungen und Kümmernissen des Lebens, für den ist das Anbrechen eines neuen Tages, der kein bisschen heller ist als seine Vorgänger, oft mehr, als er ertragen kann«.67 Selbstmorde in Krankenhäusern ereignen sich meistens sehr früh am Morgen, zwischen fünf und sieben Uhr.68 Das wird zum Teil damit zu tun haben, dass auf den Stationen viel Betrieb und das Pflegepersonal sehr beschäftigt ist, aber vor allem auch mit der Tageszeitabhängigkeit von Stimmungen,69 besonders bei Depressiven und Manisch-Depressiven. Gerade bei manisch-depressiv veranlagten Menschen ist die Stimmung morgens schlecht und wird tagsüber besser. Kognitive Einschränkungen, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Konzentration, Reaktionszeiten und Körperkraft zeigen bei Stimmungsgestörten zu den verschiedenen Tageszeiten ebenfalls beträchtliche Unterschiede.70 Diese Stimmungsund kognitiven Veränderungen und ihre Beziehung zu tageszeit
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bedingten Mustern suizidalen Verhaltens werden wir im Zusammenhang mit der Gehirnchemie, die ebenfalls tageszeitlichen Schwankungen unterliegt, ausführlicher diskutieren. Für einen Zusammenhang zwischen Selbstmord und Mondzyklus71 gibt es keine Beweise, obwohl vom Mond wahrscheinlich stärkere Einflüsse auf Stimmungen und Verhalten ausgingen, als es noch keine moderne Beleuchtung gab.72 Auch zwischen Selbstmord und Geburtstagen oder Feiertagen wie Thanksgiving oder Weihnachten lässt sich kein Zusammenhang nachweisen.73 (Eine britische Untersuchung ist auf eine Zunahme von Selbstmordversuchen am Valentinstag gestoßen.) Wohl aber ist an Montagen ein deutlicher Anstieg von Selbstmorden festzustellen.74 Dieses Phänomen wurde verschiedentlich auf den Effekt der »nicht eingehaltenen Versprechen« zurückgeführt, ein Gefühl der Verzweiflung oder des Verrats, wenn sich herausstellt, dass der Beginn der neuen Woche, der auch ein psychischer Neuanfang sein sollte, sich von den Tagen davor in keiner Weise unterscheidet.75 Wer schwer depressiv oder gestört ist, fühlt sich vielleicht von den Aufgaben, die in der neuen Woche auf ihn warten und vor ihm auf seinem Schreibtisch liegen oder im Terminkalender vermerkt sind, völlig überfordert. Die jahreszeitlich bedingten Unterschiede in der Selbstmordrate gehören zu den gesichertsten Ergebnissen der Forschung. Im späten neunzehnten Jahrhundert führte Enrico Morselli in achtzehn europäischen Ländern Studien zum Selbstmord durch und stellte dabei fest, dass in siebzehn Ländern die Selbstmordrate im Frühjahr oder in den Sommermonaten am höchsten war. (Umgekehrt lag sie fast überall in den Wintermonaten am niedrigsten.76) Vor einigen Jahren habe ich mehr als sechzig Untersuchungen über saisonale Selbstmordmuster durchgesehen und bin zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen.77 Die Spitzenmonate für Selbstmord waren mit wenigen Ausnahmen das späte Frühjahr und der Sommer. Die niedrigsten Raten fanden sich ebenfalls in den Wintermonaten. Dieser Höhepunkt zwischen spätem Frühjahr und Sommer hat sich auch in Untersuchungen bestätigt, die seit meiner Durchsicht in Belgien, Finnland, Amerika und China durchgeführt wurden. Die jahreszeitlich bedingte Steigerung der Selbstmordrate korreliert also nicht mit den dunklen und düsteren Monaten, sondern mit der Helligkeit und der längeren Tageslichtdauer im Frühling und im Sommer. Zum gleichen Ergebnis kommen Studien, die in der südlichen Hemisphäre – Australien, Chile,
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Jahreszeitlich bedingte Selbstmordmuster
Uruguay, Südafrika – unternommen wurden; auch dort ist die Selbstmordrate am höchsten, wenn dort Frühjahr und Sommer ist.78 In der nördlichen Hemisphäre ist die Selbstmordrate bei Männern im April, Mai und in den Sommermonaten am höchsten,79 bei Frauen gibt es noch einen zweiten, schwächer ausgeprägten Höhepunkt in den Monaten Oktober und November. Dass die meisten Selbstmorde im Frühjahr und Sommer geschehen, lässt sich an Hand von Daten aus dem fünfzehnten Jahrhundert ebenso nachweisen wie mit solchen aus den letzten fünf Jahren. Die Grafik80 zeigt die monatliche Verteilung von Selbstmorden in verschiedenen Populationen: England 1485-1715; Europa (Frankreich, Italien, Belgien) 1840-1876; England 1865 bis 1884; fünfzehn Mitgliedsländer der Weltgesundheitsorganisation 1951-1959; Vereinigte Staaten 1980-1995. In allen Zeiten und Ländern findet sich dieselbe Verteilung: Der Gipfel der Selbstmordrate liegt in den späten
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Frühjahrs- und den Sommermonaten und ihr tiefster Punkt im Winter. Aus der Grafik geht allerdings auch hervor, dass der saisonale Effekt in früheren Jahrhunderten deutlicher ausgeprägt war – zum Beispiel in England zwischen 1485 und 1715 und in Europa zwischen 1840 und 1876 – als in heutigen Zeiten. Dieses Abflachen der Amplitude im Laufe der Jahrhunderte wurde von einer größeren dänischen Untersuchung über jahreszeitlich bedingte Selbstmordmuster in Dänemark zwischen 1835 und 1955 und von weiteren Studien aus Australien, Neuseeland, Kanada, Finnland, Ungarn, Schweden und den Vereinigten Staaten ebenfalls bestätigt.81 Erklärt wird dieses Phänomen der »Desaisonalisierung«, wie es Jürgen Aschoff vom Max-Planck-Institut genannt hat,82 vor allem mit dem Nachlassen unserer biologischen Reaktionen auf die natürliche Umwelt, bedingt durch künstliche Beleuchtung, Zentralheizung und Klimaanlage, Industrialisierung und Urbanisierung. Möglich ist auch, dass das Nachlassen jahreszeitlicher Einflüsse auf das Selbstmordverhalten in jüngster Zeit darauf zurückzuführen ist, dass Antidepressiva der saisonal abhängigen Selbstmordneigung eher entgegenwirken als jenem suizidalen Verhalten, dem diese Komponente fehlt. Emile Durkheim hat im letzten Jahrhundert festgestellt, dass die jahreszeitlichen Einflüsse auf das Selbstmordverhalten in ländlichen Gebieten größer sind als in städtischen.83 Dieser Zusammenhang bestätigte sich durch Forschungen, die vor einigen Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten und vor kurzem in Südafrika gemacht wurden. Die Urbanisierung brachte eine größere Distanz zu den Licht- und Wärmerhythmen der Natur mit sich. Elektrizität, künstliche Beleuchtung, Unterbrechungen des Schlafes (bei insgesamt kürzeren Schlafzeiten) und Zentralheizung haben dazu geführt, dass der Einfluss der Jahreszeiten auf das Gehirn und den Körper nachgelassen hat. Aber insgesamt ist der saisonale Effekt immer noch groß. Warum sinkt und steigt die Selbstmordrate je nach Jahreszeit? Und warum kommt es häufiger in den Monaten mit viel Licht und Sonne zum Selbstmord als in den trüben und regnerischen Wintermonaten? Die täglichen Zyklen von Ruhe und Aktivität sind bekanntlich stark von Veränderungen des Tageslichts und der Temperatur betroffen. Der Winterschlaf bei bestimmten Tierarten ist das sichtbarste Beispiel für diese Abhängigkeit. Bei Menschen ändern sich je nach Jahreszeit
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die Stimmung, die Energie, der Schlaf und das Verhalten, besonders bei Patienten mit Stimmungsstörungen.84 Viele neurobiologische Systeme, die für Stimmungsstörungen und vermutlich auch für Selbstmord von Bedeutung sind, zeigen ausgesprochen saisonale Muster, so zum Beispiel die Werte von Neurotransmittern, den Schlaf- und Temperaturregulatoren, von Melatonin, Testosteron, Östrogen, des Schilddrüsenhormons und anderer Hormone. Im Winter zum Beispiel, der Jahreszeit, in der die wenigsten Selbstmorde geschehen, wird verstärkt das Plasma L-Tryptophan (eine Vorstufe des Serotonins) ausgeschüttet,85 das gilt ebenso für Melatonin, die Schilddrüsenhormone und möglicherweise auch für Cholesterin, also für Stoffe, von denen man annimmt, dass sie an der Stimmungs- und Aktivierungsregulierung und der Steuerung des Schlaf- und Wachzyklus beteiligt sind. Die Auswirkungen von saisonalen Veränderungen auf Sero-tonin und andere Transmitter sind noch nicht klar.86 Von besonderer Bedeutung für die Diskussion über jahreszeitlich bedingte Muster des Selbstmordverhaltens sind die starken saisonalen Schwankungen bei schweren psychischen Störungen wie Depression, Manie und Schizophrenie. Vor über zweitausend Jahren machte Hippokrates die Beobachtung, dass die Melancholie besonders häufig im Frühjahr und im Herbst auftritt; andere antike Schriftsteller bemerkten, dass es zu manischen Attacken vornehmlich in den Sommermonaten kommt. Diese Beobachtungen sind durch die systematischere Arbeit von Wissenschaftlern in jüngster Zeit bestätigt worden. Manische Patienten, das zeigen zahlreiche Untersuchungen, suchen vor allem im späten Frühjahr und im Sommer ein Krankenhaus auf oder werden eingeliefert.87 Auch schizophrene Schübe ereignen sich vornehmlich in den Sommermonaten.88 Depressive Episoden dagegen folgen einem etwas anderen jahreszeitlichen Rhythmus.89 Überdurchschnittlich viele Krankenhausaufenthalte von depressiven Patienten lassen sich vor allem im Frühjahr und im Herbst verzeichnen. Im Falle von Depressionen ist die Einweisung ins Krankenhaus in der Regel ein deutliches Anzeichen für die Schwere der Depression – und der damit gegebenen Selbstmordgefahr – als der Beginn der depressiven Phase selbst. Viele depressive Episoden setzen im Winter ein und erreichen ihren Höhepunkt und damit ihre maximale Gefährlichkeit im frühen Frühjahr. Bei Manien dagegen müssen Einweisungen ins Krankenhaus
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unmittelbar nach dem Ausbruch einer Episode erfolgen, weil sie sich im Unterschied zu Depressionen sehr schnell entwickeln. Das saisonal schwankende Auftreten von schweren psychischen Krankheiten und Selbstmorden geht wahrscheinlich auf mehrere Faktoren zurück. Die biologischen Umstellungen, die die Veränderungen in der Temperatur und der Dauer des Tageslichts nach sich ziehen, scheinen für beide Phänomene grundlegend zu sein. Saisonale Fluktuationen in der Gehirnchemie, besonders bei der Serotoninfunktion, können schwerwiegende Auswirkungen haben, und zwar nicht nur auf suizidale Dispositionen, sondern auch auf psychopathologische Zustände wie Manien, gewalttätiges Verhalten, Depressionen und Psychosen. Das Gleiche gilt für die Folgen, die diese Zustände im Hinblick auf Selbstmord haben. Gewaltsame Selbstmorde zeigen eine größere jahreszeitliche Abhängigkeit als nicht gewaltsame;90 wie Morde und gewalttätiges Verhalten ereignen sie sich häufiger in den späten Frühjahrs- und den Sommermonaten. Darauf, dass die Jahreszeiten auf Faktoren wirken, die die Konzentration der essenziellen Omega-3-Fettsäuren beeinflussen – zum Beispiel wird in der Regel im Winter weniger Gemüse und in den Feiertagen um die Wintersonnenwende viel Fett gegessen –, hat der Wissenschaftler Joseph Hibbeln aufmerksam gemacht. Manische und schizophrene Episoden in den Sommermonaten lösen höchst unbeständige, erregte und paranoide Zustände aus, die ihrerseits zu impulsiven und gewalttätigen Handlungen und zum Selbstmord führen können. Weil die meisten Menschen, die manisch werden, vor oder nach ihrer Manie eine Depression durchmachen, sind sie gerade in diesen Zeiträumen besonders selbstmordgefährdet. Auch Mischzustände, das heißt nebeneinander bestehende Depressionen und Manien, nehmen in dieser Zeit zu. Sie aber zählen, wie schon erwähnt, zu den tödlichsten psychopathologischen Zuständen. Sie können unabhängig auftreten, wenn eine Depression in eine Manie oder wenn diese in einen normalen psychischen Zustand übergeht. Die Höhepunkte im Auftreten von Depressionen und Manien überschneiden sich im Frühjahr und im Herbst und fallen mit den Höhepunkten der Selbstmordrate zusammen. Mit Depressionen ist nicht nur ein hohes Selbstmordrisiko verbunden, wenn die Patienten in einem akuten Stadium sind, sondern auch während der langen und oft stürmischen Erholungsperioden. Selbstmorde am Ende der schlimmsten Phase einer Depression, wenn
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sich die Stimmung zu bessern scheint und die Energie zurückkehrt, sind nichts Ungewöhnliches. Das gilt auch für die frühen Stadien des Abstiegs in die Verzweiflung. Depressionen sind oft fein gemischt mit beunruhigenden manischen Symptomen, und bei genauerer klinischer Beobachtung zeigt sich häufig, dass viele Patienten, bei denen anfangs eine Depression diagnostiziert wurde, zugleich an Mischzuständen leiden. Eine schwere Depression, manische Depression oder Schizophrenie kann bei jemandem, der genetisch für Selbstmord anfällig ist, als »zweiter Schlag« wirken: Die psychotische Qual und Erregung und die biologischen Ereignisse, die sie in Gang setzen, oder die Angst und die Frustration, die sich einstellen, wenn ein Mensch erneut krank wird, können auf eine tödliche Art und Weise mit einer empfindlichen Konstitution zusammenwirken. Frühjahr und Sommer sind trügerische Begriffe, die weit mehr als der Winter zum Selbstmord treiben. Oder vielleicht dauert der Winter, wie Edward Thomas glaubte, weit über seine kalendarische Jahreszeit hinaus:
Aber diese Dinge gehören auch zum Frühling – Am Wegesrand das Gras das lang’ schon tot, nun ist es grauer noch, als es im ganzen Winter war; Ein Schneckenhaus gebleicht im Gras, ein kleiner Kiesel und ein Stückchen Kreide, der Mist des kleinen Vogels in Flecken von reinstem Weiß: All diese weißen Dinge nimmt der Mensch gern für das frühste Veilchen und sucht im Untergang des Winters nach Zeichen, die dessen Schuld begleichen, Der Nordwind bläst, und Starenschwärme, geschwätzig ohne Unterlass, sind guten Mutes in dem Dunst, der Frühling kommt, der Winter aber geht noch nicht. 91
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Die Färbung der Ereignisse: Der Tod von Meriwether Lewis
Wir schickten uns nun an, in ein Land vorzudringen, zumindest dreitausend Kilometer in der Breite, das nie eines zivilisierten Menschen Fuß betreten; was es an Gutem wie an Üblem für uns in Bereitschaft halten mochte, das musste erst das Experiment erweisen. (...) Da jedoch unser Seelenzustand uns ganz allgemein die Färbung der Ereignisse bestimmt (...) könnte ich nichts anderes sagen, als dass der Moment meiner Abfahrt zu den glücklichsten meines Lebens zählte. MERIWETHER LEWIS, 7. April 1805
Der rothaarige junge Mann aus Virginia hatte sich gründlich Gedanken über die Ausrüstung gemacht, die seine Leute mitführen sollten. Die Planung war sicher nicht einfach. Ein paar Dutzend Männer standen unmittelbar vor einer Reise, die sie 13000 Kilometer quer durch die – noch von keiner Karte erfasste – amerikanische Wildnis führen sollte. Es gab kaum etwas, woran sie sich halten konnten, um sich im Voraus ein Bild von den wechselnden Landschaften und ihrer riesigen Ausdehnung zu machen. Die Expedition überstieg alle üblichen Berechnungen und Erfahrungen, aber eben darum sollte sie am Ende auch Entdeckungen über das Land, seine Einwohner und Bodenschätze liefern, die ihresgleichen suchten. Es war zu erwarten, dass die Reise gefährlich und beschwerlich werden und dass sie länger als zwei Jahre dauern würde, doch der Leiter der Expedition ließ sich dadurch nicht entmutigen. Er hatte nicht nur das Vertrauen des Präsidenten, der ihn bestellt hatte, sondern auch den eigenen festen und begründeten Glauben an seine Fähigkeit, Männer zu führen und die wissenschaftlichen Arbeiten durchzuführen, die der Zweck des Expeditionsauftrags waren. Er hatte sich mit Umsicht und Intelligenz auf diese Reise vorbereitet, und die Chance, das unbekannte Land zu erforschen und zu kartographieren, beflügelte ihn.
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Sein Land hatte gerade, von einem Tag auf den anderen, seine Fläche verdoppelt. Am 4. Juli 1803 hatte der Kongress der Vereinigten Staaten Louisiana von Napoleon gekauft. Für siebeneinhalb Cent pro Hektar hatte die Regierung dieses riesige Territorium erworben, das sich in nur vage festgelegten Grenzen vom Mississippi bis zu den Rocky Mountains erstreckte. Schon war es für so manchen nur eine Frage der Zeit, bis Amerika über die westlichen Gebirgszüge hinausdrängen und die Grenzen der wachsenden Nation an den Pazifischen Ozean vorverlegen würde. Bis dahin galt es, das Land kennen zu lernen. Hauptmann Meriwether Lewis, der junge Mann aus Virginia, der die Pläne für die Expedition in den Westen ausgearbeitet hatte, war Offizier der amerikanischen Armee. Er hatte in der Wildnis des westlichen Grenzgebiets gelebt und war mit indianischen Kulturen wohlvertraut. Er war einen Meter achtzig groß, ruhelos, unerschrocken und überaus neugierig; und er kannte nicht nur das Leben an der Grenze, sondern auch das im Hause des Präsidenten. Zwei Wochen vor seinem Amtsantritt im Februar des Jahres 1801 hatte Thomas Jefferson Lewis in einem Brief gebeten, ihm bei »privaten Angelegenheiten des Haushalts« und, was viel versprechender klang, bei »Informationen« behilflich zu sein, »die zu erwerben der Regierung dienlich erscheint«. Lewis' »Kenntnisse des Landes im Westen, der Armee und all ihrer Interessen und inneren Zusammenhänge machen es wünschenswert«, dass er Jefferson als Privatsekretär zur Seite stehe.1 Hocherfreut nahm Meriwether Lewis die Stellung unverzüglich an, und in den folgenden zwei Jahren teilten die beiden Männer aus Virginia, die ein Altersunterschied von fast dreißig Jahren trennte, ihre Mahlzeiten, sie führten vertrauliche Gespräche und verbrachten fast täglich mehrere Stunden miteinander. Beide waren von Natur aus außerordentlich wissbegierig und beide hatten ein leidenschaftliches Interesse an der Erforschung des riesigen amerikanischen Kontinents – der junge Offizier aus purem Forscherdrang und der Präsident um der Erkenntnisse willen, die daraus gewonnen werden konnten. Im Jahre 1802 beschloss Jefferson, Lewis zum Kommandanten einer Expedition zum Pazifik zu machen. Dann stellte er dem jungen Offizier ein beachtliches Programm – es reichte von Geographie und Naturgeschichte bis zu Medizin, Botanik und Astronomie – zusammen, über das er sich kundig machen sollte.
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Jefferson knüpfte hohe Erwartungen an die Expedition nach Westen, und er hatte tausend Fragen und Wünsche: »Der Zweck Ihrer Mission«, schrieb der Präsident im Juni 1803 an Lewis, »ist die Erforschung des Missouri beziehungsweise seines Hauptarmes, durch dessen Lauf sich vielleicht eine Verbindung zum Pazifischen Ozean herstellen lässt, womit sich für die Bedürfnisse des Handels eine direkte und brauchbare Wasserstraße über die Breite dieses Kontinents ergäbe.« Lewis sollte »Breiten- und Längenangaben (...) mit großer Sorgfalt und Genauigkeit aufzeichnen« und von allen Aufzeichnungen und Beobachtungen mehrere Kopien anfertigen – eine davon »auf Papier aus Birkenrinde, welches dem Angriffe der Feuchtigkeit weniger ausgesetzt ist als gemeines Papier« –, um sich gegen Beschädigung oder Verlust abzusichern. Er sollte die Namen der indianischen Nationen ermitteln »und ihre Bevölkerungszahlen; die Ausdehnung und Grenzen ihrer Besitztümer (...) ihre Sprache, Traditionen und Wahrzeichen; ihre gewohnheitsmäßige Betätigung im Landbau, im Fischfang, in der Jagd, in der Kriegsführung und den Künsten (...) die Krankheiten, die hauptsächlich bei ihnen vorkommen, und welche Heilmittel sie verwenden (...) Besonderheiten ihrer Gesetze, Gebräuche und ihres Temperaments«. Weiterhin sollten Lewis und seine Leute Berichte anfertigen über die »Beschaffenheit des Bodens und die Form der Landschaft, über das Wachstum der Pflanzen und Nahrungsmittel (...) die häufigsten Tierarten der Gegend (...) die Minerallagerstätten (...) vulkanische Erscheinungen«. Sie waren gehalten, das Klima zu beobachten, »das Verhältnis von regnerischen, wolkigen und klaren Tagen, das Vorkommen von Gewittern, Hagel, Schnee und Eis, das Einsetzen von Frost und Tauwetter, die Zeiten, zu denen bestimmte Pflanzen Blüten oder Blätter hervortreiben oder abwerfen, die Zeiten des Auftretens bestimmter Vögel, Echsen oder Insekten«.2 Jeffersons Anweisungen an Lewis hätte kein anderer schreiben können. Donald Jackson, der Herausgeber des Briefwechsels und der Dokumente über die Lewis und Clark-Expedition, schreibt dazu: »In ihnen spiegeln sich Jahre des Studiums und des Staunens, die gesammelte Weisheit seiner Regierungskollegen und seiner Freunde aus Philadelphia; sie zeigen, wie erpicht er war, nun endlich Tatsachen über die Stony Mountains, über den Verlauf der Flüsse, die wilden Indianerstämme, die Flora und Fauna nie betretener Landstriche
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in die Hand zu bekommen, statt auf vage Vermutungen angewiesen zu sein.«3 Der Präsident hatte keinen Zweifel daran, dass er sich, wenn überhaupt auf jemanden, dann auf Meriwether Lewis zur Erfüllung dieser Vorgaben verlassen könne. »Hauptmann Lewis ist tapfer und umsichtig, er ist die Wälder gewohnt und mit indianischem Wesen und Verhalten vertraut«, schrieb Jefferson an Benjamin Rush, den angesehenen Arzt aus Philadelphia, bei dem Lewis medizinische Kenntnisse erwerben sollte, um sich während der Expedition um seine Leute kümmern zu können. »Er hat keine geregelte Ausbildung genossen, verfügt aber in hohem Maße über die Fähigkeit zu treffender Beobachtung aller Naturgegenstände, die sich ihm präsentieren werden, und wird deshalb auf seiner neuen Route nur die unbekannten unter ihnen auswählen.«4 Nach Lewis' Tod führte Jefferson die Betrachtungen über Temperament und Charakter seines Freundes weiter aus: »Keine Widrigkeit des Wetters oder der Umstände konnte ihn beirren.« Ihn habe eine Leidenschaft für »glanzvolle Unterfangen« ausgezeichnet, »Unternehmungsgeist, Kühnheit und Urteilsvermögen«, »unbeugsamen Mut« und eine »Festigkeit und Zähigkeit des Vorsatzes, von dem er durch nichts anderes als die Unmöglichkeit der Durchführung abzubringen war«. Er sei der Wahrheit »mit äußerster Gewissenhaftigkeit« verpflichtet gewesen.5 Im letzten Absatz der ungewöhnlich detaillierten Instruktionen an Lewis bittet Jefferson ihn, einen stellvertretenden Befehlshaber zu bestimmen, der, sollte Lewis im Laufe der Expedition zu Tode kommen, seine Aufgaben übernehmen könnte. Lewis entschied sich, stattdessen die Führungsposition zu teilen, und wählte William Clark, einen Offizier, den er sehr bewunderte und schätzte und unter dem er früher gedient hatte, als Partner. Im Spätsommer 1803 machte die Expedition sich auf den Weg. Die Expeditionsleiter und ihre Leute führten Angelhaken und Zelte mit sich, Moskitonetze, Whiskey und gepökeltes Schweinefleisch, Gewehre aus Pennsylvania sowie Äxte, Sextanten und Teleskope, Lampen, Kessel und Sägen. Sie waren für fast jede nur denkbare Situation ausgerüstet und hatten außerdem Tauschwaren für die Indianer im Gepäck, denen sie begegnen würden: Kisten mit Stoffen und bunten Glitzersachen – 500 Broschen, 72 Ringe, zwölf Dutzend Spiegel, drei Pfund Perlen –, Tomahawks und Messer, gestreifte Seidenbänder und Hemden aus Kattun, dazu 130 Rollen Tabak.
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Gegen Fieber und Verletzungen hatten sie Aderpressen, Lanzetten und Heiltees dabei. Auch Laudanum, das bei fast jeder Beschwerde Erleichterung verschaffte, war in den Kisten zu finden, ebenso Nelken und Muskatnuss, um den bitteren Geschmack der improvisierten Gebräue und Tonika zu überdecken, und die chininhaltige Chinarinde zur Bekämpfung von Malaria. Mit dieser Ausrüstung und ihrem Wissen waren die Männer in der Lage, Flüsse und Prärien zu überwinden, Boote zu bauen und in den Bergen zu überleben. Sie konnten Waren gegen Nahrung eintauschen und sie konnten sich verteidigen. Und zwei der Männer – Lewis und Clark – waren darüber hinaus ausgebildet, Vermessungen vorzunehmen, zu beschreiben und schriftlich festzuhalten, was sie auf ihrer Reise beobachteten. Tatsächlich hatten sie Material genug, um Geschichte zu schreiben – hundert Federkiele, ein Pfund Siegelwachs, reichlich Tintenpulver, sechs Tintenfässer und Federhalter aus Messing, mit denen sie in rotes Maroquin-Leder gebundene Reisetagebücher und ein hirschledergebundenes Feldbuch mit präzisen und fesselnden wissenschaftlichen Aufzeichnungen über ihre 28 Monate dauernde Reise quer durch den amerikanischen Kontinent füllten. Das Expeditionskorps – Lewis, Clark und ihre kleine Truppe aus Soldaten, Jägern, Waldläufern, einem Schmied, einem Koch und Zimmerleuten – drang in die noch nicht kartografierten Gebiete des Landes vor und zeichneten Landkarten, erforschten Flüsse und Berge; sie höhlten Pyramidenpappeln zu Kanus aus, trieben Handel mit den Indianern und lebten manchmal eine Zeit lang bei ihnen. Sie fingen Fische und jagten Wild. Auf ihren endlosen Märschen vermaßen sie das Gelände und die Flüsse, die sie überquerten, und nachdem sie ihre Position nach dem Stand der Sterne ermittelt hatten, nahmen sich die beiden Leiter der Expedition ihre Tagebücher vor. So entstanden detaillierte Beschreibungen der Pflanzen und Bäume, die sie entdeckt hatten, unbekannter Tiere, denen sie begegnet waren, des Verlaufs der Flüsse und der Struktur der Gebirge; sie verzeichneten auch Medikamente, die sie verabreicht, und Disziplinarmaßnahmen, die sie bei ihren Männern angewandt hatten. Die Tagebücher von Lewis und Clark sind lebendig und unmittelbar; der Leser wird förmlich hineingesogen in den unerforschten Kontinent und in die Tierwelt der nordamerikanischen Wildnis.
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Im Mai 1805, die Expedition bewegt sich den Lauf des Missouri hinauf, schreibt Lewis über das Wetter, den Geschmack von Biberschwanz und den Gang von Stachelschweinen: Donnerstag, der 2. Mai 1805 Die ganze Nacht wehte ein starker Wind, der auch heute Morgen an Heftigkeit nichts einbüßte und bei Tagesanbruch von Schneefall begleitet wurde, welcher wiederum bis etwa zehn Uhr morgens anhielt. Der Schnee blieb gut zwei und einen halben Zentimeter hoch liegen, in eigenartigem Kontrast zu dem Pflanzenwuchs, der im Vergleiche schon recht fortgeschritten war. Einige Blüten hatten sich auf der Ebene bereits geöffnet, und die Blätter der Cottonwood-Pappeln waren so groß wie Dollarmünzen. Ich schickte einige Jäger aus, die zwei Hirsche, drei Wapitis und einige Büffel töteten; des Abends schossen wir auf unserem Wege auch drei Biber längs des Ufers; diese Tiere, da sie nie gejagt werden, sind außerordentlich zutraulich – wo man sie jagt, da verlassen sie während des Tages niemals ihren Bau. Das Fleisch des Bibers wird von uns als Delikatesse angesehen; besonders den Schwanz schätze ich als höchst delikaten Leckerbissen: Wenn man ihn kocht, ähnelt er im Geschmack der frischen Zunge und erinnert an Kabeljau und ist dabei für gewöhnlich groß genug, zwei Männern eine reichliche Mahlzeit abzugeben. Freitag, der 3. Mai 1805 Wir sahen große Mengen Büffel, Wapitis, Hirsche, vor allem von der langschwänzigen Art, Antilopen oder Ziegen, Biber, Gänse, Enten, Meergänse und den einen oder anderen Schwan. Nahe der Mündung des Flusses (...) sahen wir eine ungewöhnliche Anzahl von Stachelschweinen, so dass wir beschlossen, den Fluss nach diesem Tier zu benennen, und tauften ihn demnach Porcupine River. (...) Ich watete ein Stück hinaus und begegnete zwei Stachelschweinen, die von den jungen Weiden fraßen, welche in großer Zahl auf allen Sandbänken dort wachsen; diese Tiere sind außerordentlich behäbig und nicht sehr aufmerksam, und ich kam einem von ihnen so nahe, bevor es mich wahrnahm, dass ich es mit meinem Sponton berühren konnte. – Fanden das Nest einer Wildgans inmitten von etwas Treibholz im Fluss und nahmen daraus drei Eier. Dies ist das einzige Nest, dem wir im Treibholz begegnet
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sind, für gewöhnlich haben sie ihren Platz auf der Spitze eines abgeknickten Baumes, manchmal in der Gabel eines großen Baumes, doch fast ausnahmslos in fünf bis sieben Meter oder noch größerer Höhe.6
Weder Lewis noch Clark waren professionelle Naturkundler oder Geographen, aber sie waren peinlich genau in ihren Messungen und in den Beschreibungen der Orte, an denen sie gewesen, und der Tierwelt, der sie begegnet waren. Von unterwegs schickten sie Jefferson und den Wissenschaftlern in Philadelphia das Mondgestein ihrer Tage: beinahe zweihundert verschiedene Exemplare von Bäumen und Pflanzen – Präriegräser, Johannisbeeren, Wildblumen, Beifuß, Flachs, Mariposalilien, Rottannen und Ahorn –, die den führenden Botanikern bis dahin größtenteils unbekannt gewesen waren. Sie verfrachteten Packkisten voller Wurzeln, Samen und Knollen, mit Häuten und Skeletten von Wieseln, Koyoten, Eichhörnchen, Dachsen, Vögeln, Antilopen, Dickhornschafböcken und einer Menge anderer Tiere. »Nur wenige Forscher haben sich einer größeren Aufgabe gestellt oder haben mehr Erfolg in ihrer Ausführung gehabt«, so R.D. Burroughs. »Ihre Vermessungsaufzeichnungen zeigen die größte Sorgfalt, und ihre Karten der erforschten Gebiete waren fünfzig Jahre lang die besten, die man kriegen konnte.«7 Im September 1806 beendete das Expeditionskorps seine Reise. Jeffersons ursprüngliche Hoffnung, eine Nordwest-Passage zu finden, die den Atlantik mit dem Pazifik verbindet, hatte sich nicht erfüllt; dennoch war die Forschungsreise erfolgreicher, als man es sich in den kühnsten Träumen erhofft hatte. Als Lewis und Clark und der Rest ihres Expeditionskorps in St. Louis ankamen, wurden sie mit Beifall, Bällen und nationalen Feierlichkeiten empfangen. »Niemals«, so stellte Thomas Jefferson fest, »hat ein ähnliches Ereignis größere Freude in den Vereinigten Staaten ausgelöst.«8 Für Meriwether Lewis jedoch, gerade zweiunddreißig Jahre alt, brachen nun die letzten drei, zutiefst verstörten Jahre seines Lebens an. Es sind fast zweihundert Jahre vergangen, seit Meriwether Lewis in einer Hütte, etwas über hundert Kilometer von Nashville entfernt, an Schussverletzungen starb. Die Umstände seines Todes geben jedoch noch immer zu erbitterten Kontroversen Anlass, obwohl Selbstmord die bei weitem wahrscheinlichste Erklärung für seinen Tod ist.
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Doch Selbstmord will nicht recht zu der Vorstellung passen, die sich die Nation von einem ihrer Helden macht. Sowohl Thomas Jefferson, der zwei Jahre in größter Vertrautheit mit Lewis gelebt und ihn als einen Sohn betrachtet hatte, als auch William Clark, der für mindestens ebenso lange Zeit Führungsaufgaben, Entbehrungen und Triumphe mit ihm geteilt hatte, und alle, die während seiner letzten Tage und Stunden bei ihm waren – niemand hegte einen Zweifel, dass er sich die Verletzungen selbst zugefügt hatte. Aber die Möglichkeit, dass Lewis sich selbst getötet haben könnte, war für viele, die ihm nie begegnet waren, offenbar undenkbar. Einige von denen, die Zeugen seines Geisteszustands waren, als sein Leben sich dem Ende näherte, sprachen von Geistesgestörtheit, gerade das aber erschien vielen unvereinbar mit Tapferkeit, Ehre und erstklassiger Leistung. Verschwörungstheorien und Mordspekulationen kamen auf, um den befleckten Ruf des Forschers zu »schützen«. Doch welche Anhaltspunkte sprechen für einen Selbstmord? Wer ging davon aus, dass Lewis' Ruf der Verteidigung bedurfte? Und warum sollte Selbstmord etwas Ehrenrühriges sein und nicht einfach nur eine entsetzlich tragische Tat? Zeitgenössische Berichte über die Wochen, die Lewis' Tod vorausgingen, zeichnen ein überzeugendes Bild von einem zutiefst verzweifelten und kummervollen Mann, der trank, unvernünftig viel Geld ausgab oder investierte und dessen Verhalten zur Sorge um seine Sicherheit und sein Wohlergehen Anlass gab. Nach seiner Rückkehr aus dem Westen war er zum Gouverneur der Louisiana Territories berufen worden; seine Amtszeit wurde indes von Konflikten und fragwürdigen Entscheidungen getrübt, und er war hoffnungslos in Verzug mit der Ausarbeitung der Expeditionstagebücher. Jefferson war eindeutig verärgert. »Recht häufig kommt es vor, dass man von mir eine Stellungnahme erbittet, wann unser Werk denn nun erscheinen wird«, schrieb er an Lewis. »Ich habe jenen französischen Literaten, mit denen ich in Korrespondenz stehe, schon so lange Abschriften davon versprochen, dass ich in ihren Augen bald alle Glaubwürdigkeit verliere. Ich würde mich sehr glücklich schätzen, von Ihnen Auskunft über Ihre Erwartungen in dieser Angelegenheit zu erhalten.«9 Es war nicht das erste Mal, dass Lewis Schreibhemmungen hatte. Interessanterweise war dies stets zu besonderen Jahreszeiten der Fall, im August und/oder September, oder es zog sich bis in den Spätherbst oder den frühen Winter hin (Lewis starb Anfang Oktober
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1809). In derselben Jahreszeit, im August 1805, schrieb Lewis auch den einzigen introspektiven, ziemlich melancholischen Eintrag in sein Tagebuch:
Am heutigen Tage vollendete ich mein einunddreißigstes Lebensjahr und stellte fest, dass ich etwa die Hälfte der Zeit schon herumgebracht habe, die dem Menschen nach aller Wahrscheinlichkeit in dieser irdischen Welt beschieden ist. Ich dachte darüber nach, wie wenig, ja in der Tat sehr wenig ich bisher zur Förderung des Glücks der menschlichen Rasse oder zum Wissen der nachfolgenden Generation beigetragen. Mit Bedauern betrachtete ich die vielen Stunden, die ich träge verschwendet habe, und ich empfinde schmerzlich den Mangel jenes Wissens, das mir diese Stunden hätten geben können, hätte ich sie umsichtiger verwandt. Doch da sie nun vorüber sind und nicht zurückgeholt werden können, vertreibe ich diese finsteren Gedanken und fasse den Vorsatz, in Zukunft meine Anstrengungen zu verdoppeln und zumindest zu versuchen, diesen beiden Hauptzwecken des menschlichen Daseins zur Verwirklichung zu helfen, indem ich jene Talente in ihren Dienst stelle, mit welchen Natur und glückliche Fügung mich ausgestattet haben; das heißt, in Zukunft für die Menschheit zu leben, so wie ich bisher für mich selbst gelebt habe.10
Anfang September 1809, im Monat vor seinem Tod, brach Lewis nach Washington und Philadelphia auf, um seine finanziellen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen und an der Veröffentlichung seiner Reisetagebücher zu arbeiten. William Clark hatte versucht, Lewis bei der Regelung seiner Spesenkonten zu helfen, und machte sich offensichtlich Gedanken um Lewis' geistigen Zustand:
Einige seiner Gesetzesvorschläge [an die Regierung] sind abgelehnt worden, und dass seine Gläubiger sich kurz vor seinem Aufbruch um ihn zu scharen begannen, bekümmerte ihn sehr, was er mir in solchen Worten mitteilte, dass das Mitgefühl, welches sie in mir erweckten, noch nicht an Lebhaftigkeit verloren hat – ich glaube nicht, dass es je in Louisiana einen ehrlicheren Mann noch einen mit lautereren Absichten gegeben hat als Gouverneur Lewis. Wenn nur sein Geist weniger angespannt gewesen wäre, so hätte ich mich in bester Stimmung von ihm getrennt.11 – 214 –
Eine Woche nachdem er St. Louis verlassen hatte, verfasste Lewis ein Testament, und einige Tage später traf er in Fort Pickering (Memphis) ein. Der befehlshabende Offizier des Forts, Hauptmann Gilbert Russell, erfuhr von Lewis' Bootsbesatzung, dass dieser zwei Mal versucht hatte, sich umzubringen. Russell selbst machte die Beobachtung, dass Lewis heftig getrunken haben musste und dass er zur Zeit seiner Ankunft im Fort »geistig gestört« war. Besorgt, Lewis könnte sich das Leben nehmen, ließ der Kommandant dessen Boot entladen, damit er nicht entwischen konnte,12 außerdem hielt er ihn für mehrere Tage unter ständiger Beobachtung:
In diesem Zustand verblieb er, ohne dass es zu wesentlichen Veränderungen kam, etwa fünf Tage lang, an denen die besten und wirkungsvollsten Mittel, die zu finden waren, angewendet wurden, um sein Wohlbefinden wieder herzustellen; am sechsten oder siebenten Tag verschwanden alle Symptome der Geistesgestörtheit, und er war wieder vollständig bei Sinnen, und so blieb er zehn oder zwölf Tage. (...) Nach drei oder vier Tagen wurde er wieder von derselben geistigen Krankheit befallen. Er hatte niemanden bei sich, der wusste, wie dieser Neigung zu begegnen oder wie sie unter Kontrolle zu halten war, und so ging es täglich schlechter mit ihm, bis er im Haus von Mrs. Grinder eintraf (...) wo er sich aus Sorge, durch Feinde vernichtet zu werden, welche nur in seiner wilden Fantasie existierten, in der kaltblütigsten, verzweifeltsten und barbarischsten Weise selbst vernichtete, als er sich in dem Haus selbst überlassen war.13
Der Beauftragte der U.S.-Regierung bei den Chickasaw, James Neelly, der mit Lewis die letzten drei Wochen seines Lebens verbracht hatte, schrieb kurz nach dessen Tod an Präsident Jefferson: »Mit größtem Schmerz muss ich Sie vom Tode Seiner Exzellenz Meriwether Lewis', Gouverneur von Upper Louisiana, in Kenntnis setzen, der am Morgen des Elften augenblicklich und, wie ich bedaure, sagen zu müssen, durch Selbstmord verstarb.«14 Er berichtete, wie schon Russell, dass Lewis seit einiger Zeit phasenweise »geistig gestört« gewesen sei. Die Einzelheiten von Lewis' Selbstmord wurden später von seinem Freund, dem angesehenen Ornithologen Alexander Wilson, aufgezeichnet. Die folgende Darstellung entstand, nachdem er die Frau
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befragt hatte, in deren Gasthaus Lewis verstorben war:
Gouverneur Lewis, sagte sie, kam etwa zum Sonnenuntergang an, allein, und erkundigte sich, ob er über Nacht bleiben könne; nachdem er vom Pferd gestiegen war, brachte er den Sattel ins Haus. Er war in ein locker sitzendes, weißes Gewand mit blauen Streifen gekleidet. Auf die Frage, ob er allein reise, erwiderte er, zwei Diener folgten ihm, die bald kommen würden. Er bestellte Schnaps, trank aber wenig. Als die Diener eintrafen, fragte er nach seinem Schießpulver (...) [Er] ging vor der Tür auf und ab und sprach mit sich selbst. Zuweilen, sagte sie, schien es, als wollte er zu ihr heraufkommen, doch dann machte er plötzlich auf dem Absatz kehrt und entfernte sich, so schnell er konnte. Als das Abendessen aufgetragen war, setzte er sich zu Tisch, doch er hatte erst wenige Happen gegessen, als er hochschreckte und heftig erregt zu sich selbst sprach. (...) Er rauchte eine Zeit lang, dann verließ er seinen Platz und ging im Hof auf und ab wie zuvor. Er setzte sich mit seiner Pfeife wieder nieder, schien gesammelt und bemerkte mit einem wehmütigen Blick gen Westen, wie lieblich doch der Abend sei. Mrs. Grinder bereitete ihm sein Bett, aber er sagte, er wolle auf dem Boden schlafen, und wies den Diener an, ihm den Bärenpelz und den Bisonfellumhang zu bringen, welche umgehend für ihn ausgebreitet wurden. Und da die Abenddämmerung jetzt gekommen war, gingen die Frau in die Küche und die zwei Diener in die Scheune, die keine zweihundert Meter entfernt war. Die Küche liegt nahe bei dem Zimmer, in dem sich Lewis aufhielt, und die Frau, die durch das Verhalten ihres Gastes beunruhigt war und nicht schlafen konnte, hörte ihn auf und ab gehen, mehrere Stunden, wie sie denkt, und laut sprechen, sagt sie, »wie ein Anwalt«. Dann hörte sie einen Pistolenschuss und dass etwas schwer zu Boden stürzte, außerdem die Worte »O Herr!«. Unmittelbar danach vernahm sie erneut einen Pistolenschuss, und wenige Minuten später hörte sie ihn an ihrer Tür, wie er rief: »O gute Frau, geben Sie mir Wasser und heilen Sie meine Wunden!« Da zwischen den Balken der Blockhütte Lücken klafften, die nicht ausgestopft waren, konnte sie ihn rückwärts taumeln und gegen einen Hackstock fallen sehen, der zwischen der Küche und
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seinem Zimmer stand. Er kroch ein Stück vorwärts, dann richtete er sich an einem Baumstamm auf, wo er etwa eine Minute sitzen blieb. Dann begab er sich erneut in sein Zimmer und kam danach zur Küchentür, sprach aber nicht. Sie hörte ihn mit einer Kelle in einem Eimer kratzen, auf der Suche nach Wasser, doch es scheint, dass diese kühle Linderung dem Sterbenden verwehrt war. Sobald der Tag anbrach – und nicht früher, denn die Frau war so voller Schrecken, dass Lewis zwei Stunden lang in dieser höchst beklagenswerten Lage hatte verweilen müssen –, schickte sie, da ihr Ehemann nicht zu Hause war, zwei ihrer Kinder in die Scheune, um die Diener herbeizuholen. Als diese eintraten, fanden sie ihn auf dem Bette liegend vor. Er deckte seine Seite auf, um ihnen zu zeigen, wo die Kugel eingedrungen war. Ein Teil seiner Stirn war weggeschossen, so dass das Gehirn frei lag, aber es war nicht viel Blut geflossen. Er bat, sie möchten seine Flinte nehmen und ihn mit einem Kopfschuss töten, er würde ihnen alles Geld in seiner Kiste geben. Er sagte wiederholt: »Ich bin kein Feigling, doch ich bin so stark, so schwer zu töten.« Er flehte den Diener an, keine Furcht vor ihm zu haben, da er ihm nichts zu Leide tun werde. Nach etwa zwei Stunden, gerade, als die Sonne über die Baumwipfel stieg, hauchte er sein Leben aus.15
Hauptmann Russells Darstellung von Lewis' letzten Stunden ist noch schrecklicher. Nachdem er zwei Mal mit der Pistole auf sich selbst geschossen hatte, so berichtet Russell, »holte Lewis seine Rasiermesser aus der Mappe, in der sie sich befanden, und wurde bei Tagesanbruch von einem der Diener auf seinem Bette sitzend aufgefunden, eifrig damit beschäftigt, sich von Kopf bis Fuß mit Schnitten zu überziehen«. Obwohl die Nachricht vom Tod seines Freundes William Clark mit Schmerz erfüllte, war dieser nicht gänzlich überrascht, als er hörte, dass Lewis sich selbst getötet habe. »Ich fürchte, o ich fürchte, dass die Schwere seines Geistes ihn überwältigt hat«, schrieb er seinem Bruder zwei Wochen nach Lewis' Tod.16 Und Thomas Jefferson schrieb in einem kurzen Nachruf auf Meriwether Lewis:
Schon von Jugend an war Gouverneur Lewis das Opfer hypochondrischer [depressiver] Beschwerden. Eine Disposition dazu
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war in allen näher verwandten Zweigen der Familie seines Namens vorhanden, und unmittelbar hat er sie von seinem Vater geerbt. Seine Beschwerden waren jedoch nie so stark, dass sich die Familie darüber Sorgen machte. Während er bei mir in Washington lebte, beobachtete ich zuweilen eine tiefe Bedrücktheit seines Gemüts, doch da ich ihre Quelle in seiner Veranlagung wusste, schätzte ich ihren Verlauf dem ähnlich ein, was ich in seiner Familie schon gesehen hatte. Während der Expedition in den Westen war diesen betrüblichen Beschwerden durch den ständigen Einsatz aller körperlichen und geistigen Kräfte vorübergehend Einhalt geboten; doch nachdem er in St. Louis an den Schreibtisch gefesselt war, kehrten sie mit verdoppelter Heftigkeit zurück und begannen, seine Freunde mit ernster Besorgnis zu erfüllen. Es war im Verlaufe eines solchen Anfalls, dass er nach Washington reisen musste. (...) Um etwa drei Uhr nachts beging er die Tat, die seine Freunde in so tiefen Gram stürzte und dem Land einen seiner wertvollsten Bürger entriss. (...) Und sie beraubte die Bürger der Nation auch des Vorzugs, aus seiner eigenen Hand den Bericht (...) über die Leiden zu erhalten, die er auf sich nahm, und über die Erfolge, die er errang, um für sie die Grenzen der Wissenschaft zu erweitern und ihnen Kenntnis zu geben von diesem weiten und fruchtbaren Land, welches mit Kunst und Wissenschaft, mit Freiheit und Glück zu füllen das Schicksal ihrer Söhne sein wird.17
Viele, ich eingeschlossen, werden Jeffersons Bericht vom Ende seines Freundes als nachdenkliche und mitfühlende Darstellung vom Tod eines tapferen Mannes betrachten. Doch andere waren nicht dieser Meinung.18 Manche halten die äußeren Ereignisse von Lewis' Leben für unvereinbar mit seinem Wunsch, dieses Leben zu verlassen. Einer von diesen war Olin Dunbar Wheeler, ein Historiker und Verlagsleiter. »Es scheint unmöglich«, schreibt er, »dass ein junger Mann von 35 Jahren, Gouverneur des riesigen Louisiana-Territoriums, der sich auf dem Weg von der Hauptstadt seines Landes zu der der ganzen Nation befindet, wo er, wie er weiß, mit all dem Respekt und der Aufmerksamkeit empfangen werden wird, die seinem Amt und seinem Ruf angemessen waren, sich selbst das Leben nehmen sollte.«19 Die Biografin Flora Seymour hält in ihrem Buch von 1937 einen Selbstmord für völlig unvereinbar mit Lewis' Charakter:
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»Viele Leute nehmen an, Gouverneur Lewis – krank, niedergeschlagen und dabei, alle Hoffnung auf Gerechtigkeit aufzugeben – hätte von eigener Hand den Tod gefunden. (...) Doch die Begleiter des tapferen jungen Hauptmanns auf der langen Reise nach Westen glaubten nicht, dass dies die Lösung war. Der Meriwether Lewis, den sie kannten, hatte in einer Zeit der Prüfung weder den Mut noch den Kopf verloren.«20 Richard Dillon, ein Biograf jüngerer Zeit, treibt Seymours Argumentation noch weiter, entschlossen, Lewis' Namen vom »Verbrechen« des Selbstmordes reinzuwaschen:
Ist es wahrscheinlich, dass Selbsttötung die Ursache von Lewis' Tod war ? Keineswegs. Wenn es so etwas wie einen anti-suizidalen Typ gibt, dann wird er von Meriwether Lewis verkörpert. Er hatte das Temperament eines Kämpfers, nicht das eines Drückebergers. (...) Wohl war er sensibel, doch neurotisch war er nicht. Lewis zählt zu den positivsten Persönlichkeiten der amerikanischen Geschichte. Den Faktoren, die dagegen sprechen, dass er sich selbst das Leben nahm, wurde nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet: seiner Tapferkeit, seinem Enthusiasmus, seiner Jugend (er war fünfunddreißig Jahre alt), seinen Plänen – nachdem er seine Mutter besucht und seine Angelegenheiten in Washington in Ordnung gebracht hatte, wollte er nach St. Louis zurückkehren; er wollte mit seinem Bruder Reuben und seinem besten Freund, William Clark, ins Pelzgeschäft einsteigen. (...) In einer Demokratie wie der unseren – welcher Meriwether Lewis sich so treu verschrieben hatte – hat ein Gerichtshof einen Mann so lange eines Verbrechens für unschuldig zu halten, bis dessen Schuld bewiesen ist. Meriwether Lewis ist der Selbsttötung in Grinder's Stand, am frühen Morgen des 11. Oktober 1809, nie für schuldig befunden worden. So möge er also für NICHT SCHULDIG im Sinne der Anklage gelten – nämlich des Verbrechens des Selbstmordes.21
Auch andere haben sich in diesem Sinn geäußert: Auf Lewis' Tod »liege ein Schatten«22, oder er sei »von Ehrlosigkeit befleckt«23; es wurde auch die Ansicht vertreten, Lewis sei ermordet worden; man zweifelte sogar an Jeffersons Integrität, weil er den Schluss gezogen hatte, Lewis sei von eigener Hand gestorben. »Jeffersons Bereit – 219 –
willigkeit, Lewis' Selbstmordtod zu akzeptieren, scheint mir eine erbärmliche Art und Weise, einen Menschen zu behandeln«, schrieb der Arzt und Historiker E.G. Chuinard vor einigen Jahren.24 Der Journalist und Pulitzer-Preisträger David Leon Chandler rückt Jefferson ins Zentrum einer verwickelten Verschwörung (der Titel seines Buches lautet The Jefferson Conspiracies: A President's Role in the Assassination of Meriwether Lewis) und stellt unter anderem fest, dass »Thomas Jefferson sich in beträchtlichem Maße zum Komplizen gemacht hat, unter anderem, indem er die Selbstmordtheorie billigte. (...) Er duldete das Stigma des Selbstmordes, weil er einen größeren Skandal befürchtete.«25 Weniger finster ist die schlichte Aussage von William Clarks Sohn Meriwether Lewis Clark: Er wünsche kein Stigma »auf dem schönen Namen, den zu tragen ich die Ehre habe«. Der Mord-Selbstmord-Kontroverse liegen verschiedene Gedankengänge zu Grunde: Es sei eine Schande, durch Selbstmord zu sterben; Lewis sei zu jung oder zu erfolgreich gewesen, um sich selbst zu töten (natürlich schützt keines von beidem vor Selbstmord); Selbstmord zu begehen sei eine feige Handlung, demnach könne ein großer und tapferer Mann diese Tat nicht begangen haben. Andere führen ins Feld, dass Jefferson Lewis nicht mit der Führung der Expedition in den Westen betraut hätte, wenn er tatsächlich etwas über eine geistige Labilität bei Lewis oder in dessen Familie gewusst hätte. Dieses Argument ist durch die wiederholte Behauptung gestützt worden, dass Jefferson überhaupt nichts über Geisteskrankheiten in Lewis' Familie habe wissen können – trotz der Tatsache, dass Jefferson und Lewis zwei Jahre lang zusammenlebten und wahrscheinlich viele vertrauliche Gespräche führten, die keiner von beiden zu Papier gebracht hatte. Natürlich können wir nicht wissen, was sie sich über einander und über ihre Familien erzählt haben. Doch ist es schwer vorstellbar – es sei denn, man spinnt ein kunstvolles Netz aus Verschwörungen –, dass Jefferson etwas über Lewis und die Familie seines Vaters geschrieben hätte, wenn er es nicht für wahr hielt. (Möglicherweise hat es sogar auf beiden Seiten der Familie eine Disposition zu psychischer Labilität gegeben. Lewis' Halbbruder Dr. John Marks, der Sohn seiner Mutter aus zweiter Ehe, musste einmal wegen »geistiger Probleme« eingesperrt werden.26 Außerdem gab es eine Menge Eheschließungen zwischen der Meriwether- und der Lewis-Familie, beinahe ein Dutzend.)
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Jeffersons Vermutung, Lewis' melancholische Neigungen hätten nur geschlummert, solange ihm aktiver und physischer Einsatz abverlangt wurde, um dann später, in ruhigeren, am Schreibtisch verbrachten Phasen, zum Vorschein zu kommen, ist scharfsinnig, aufschlussreich und steht völlig in Einklang mit dem, was man über rastlose, tatkräftige und ungestüme Temperamente weiß, die einen Hang zur Verzweiflung haben. Stephen Ambrose schreibt in seiner exzellenten Meriwether-Lewis-Biografie Undaunted Courage ausführlich über Lewis' gelegentlichen Jähzorn: »Vier Mal war jedoch sein Temperament mit ihm durchgegangen, zwei Mal hatte er mit Totschlag gedroht. Sein Verhalten war unberechenbar und gefährdete die Zukunft der Expedition. (...) Er hatte ein jähzorniges Temperament, dem er zu oft nachgab. (...) [Er] konnte seine ›ungestüme‹ Leidenschaftlichkeit nicht im Zaum halten.«27 Lewis war depressiv, und in seiner Familie gab es verschiedene Fälle von Depression, er hatte ein jähzorniges Temperament und ein ruheloses Wesen, er neigte zu unmäßigem Trinken und – gegen Ende seines Lebens – zu riskanten finanziellen Transaktionen und zu einer gewissen Verantwortungslosigkeit seinen beruflichen Verpflichtungen gegenüber. Zwei Mal versuchte er, sich umzubringen, und wurde durch einen Offizierskollegen zum Schutz vor sich selbst einer strengen Bewachung unterstellt. William Clark und Thomas Jefferson, seine engsten Freunde, schenkten den Augenzeugenberichten über seine letzten Tage und Stunden Glauben, welche alle zu dem Schluss gekommen waren, dass er sich umgebracht hat. Warum dann also die verwickelten Theorien über Verschwörungen, Malaria oder auch Syphilis, die als »Erklärungen« für seinen Tod aufgeboten wurden? Es gibt kaum glaubwürdige Anhaltspunkte für eine »Jefferson-Verschwörung«; nur unplausible Spekulationen zur Unterstützung der Mordtheorie (wobei sich viele darauf gründen, dass unvermeidlichen Unstimmigkeiten zwischen den Zeugenaussagen großes Gewicht beigemessen wird); und so gut wie gar keine Anhaltspunkte für Syphilis, obwohl es möglich ist, dass er sie hatte. Es ist ebenfalls möglich, dass er an Malaria litt, da sie an der Grenze endemisch war – von einigen wurde dies als Erklärung seiner »Geistesgestörtheit« vorgetragen. Malaria cerebralis aber, das Tropenfieber, das zuweilen zu impulsiven und selbstzerstörerischen Handlungen führt, ist sehr wenig verbreitet. (Von den Malariafällen, über die es Berichte aus dem neunzehnten Jahrhundert gibt, sowie von den Zehntausenden, über die genaue Berichte aus den beiden Weltkriegen
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und dem Vietnam-Krieg vorliegen, waren weniger als zwei Prozent der Malaria cerebralis zuzuschreiben; und sie führten nur in wenigen Fällen zum Selbstmord.28) Eine medizinische Ursache für irrationales Verhalten mag für einige Historiker leichter verdaulich sein, aber wahrscheinlicher ist sie deshalb nicht. Meiner Meinung nach haben Douglass Adair und Dawson Phelps von der Oregon Historical Society die entscheidende Frage gestellt: »Offenbar waren die meisten von Lewis' Zeitgenossen, die ihn gut kannten (...) entweder nicht überrascht zu hören, dass er sich umgebracht hatte, oder sie hatten ausgesprochen überzeugende Anhaltspunkte dafür, dass sein Tod ein Selbstmord war. Spiegelt die MordTheorie vielleicht wider, wie wenig bestimmte amerikanische Gelehrte (und besonders die Spezialisten für die Westgrenze) bereit sind einzugestehen, dass ein so bedeutender Mann wie Lewis (...) in einen derart desolaten seelischen Zustand geraten oder psychisch so krank werden konnte, dass er sich umbrachte? «29 Ich denke, die Antwort darauf lautet: Ja. Wissenschaftler und Laien haben offenbar die gleichen Schwierigkeiten zu verstehen, dass ein großer Mann geistesgestört gewesen sein oder dass ein tapferer Mann sich umgebracht haben kann. Und doch widerfährt dies auch solchen Menschen. Ja, es mag nur ein schmaler Grat sein zwischen dem kühnen, ruhelosen Temperament, das Jefferson im jungen Meriwether Lewis erkannt hatte, und einer ruhelosen, tödlichen Verzweiflung. Es ist Jefferson hoch anzurechnen, dass er in der Lage war, diese Komplexität der menschlichen Natur zu begreifen, und Lewis, dass er William Clark auswählte, um Führung und Forschungsarbeit mit ihm zu teilen, einem Mann, der ihn mit seinem ausgeglichenen Wesen ergänzen konnte. In den letzten Jahren wurde immer wieder davon gesprochen, man wolle die Gebeine von Meriwether Lewis exhumieren. Dann nämlich käme die Wahrheit über seinen Tod ein für allemal ans Licht; und vielleicht wäre dem auch wirklich so. So schrieb ein Leser der Washington Post, dass »ein Schandfleck vom Namen des Forschers abgewaschen« würde, wenn bewiesen werden könnte, dass Lewis ermordet worden sei. Ich habe ein Erwiderungsschreiben an die Post gesandt: Es scheine mir sonderbar, Selbstmord als »Schandfleck« zu betrachten. Es gebe vielmehr überzeugende Argumente dafür, dass Lewis manisch-depressiv gewesen sei und sich umgebracht habe.
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Davon abgesehen habe Lewis, ganz gleich, wie er gestorben sei, ein Leben geführt, dass von bemerkenswerter Tapferkeit, von großen Leistungen und von visionärer Weitsicht geprägt war.30 Selbstmord ist kein Schandfleck auf irgendjemandes Namen – er ist eine Tragödie. Ich bin, wie viele andere, der Meinung, dass man diesem Mann den Frieden, den er gefunden hat, lassen sollte, statt ihn wieder auszugraben. Er hat sich seine Ruhe verdient. Und schließlich bleibt uns allen ja sein Leben. Lewis war, wie Ambrose schreibt, mit Leib und Seele und mit ganzem Herzen Forscher:
Er war ein Mensch von großer Energie und manchmal von einem ungezügelten Temperament, das er aber durch seine große Selbstdisziplin im Zaum halten konnte. Er trieb sich bis zur völligen Erschöpfung an, um sich dann eine Stunde Zeit zu nehmen, in der er die Ereignisse des Tages aufschrieb, und eine weitere, in der er den Himmel beobachtete. Seine Talente und Fähigkeiten waren eher breit gefächert als wirklich fundiert. Er war ein Mann, der viel wusste, der ein Boot bauen konnte und sich in allen anderen Dingen auskannte, die man in der Wildnis braucht. Er hatte Kenntnisse in den verschiedenen Zweigen der Naturwissenschaft. Er konnte ein Tier beschreiben, eine Pflanze klassifizieren, kannte die Namen der Sterne, konnte mit dem Sextanten und anderen Instrumenten umgehen, und von der Herrschaft über ein großes Land träumen. Doch auf keinem dieser Gebiete war er ein Experte oder von außerordentlicher Begabung. Wirklich einzigartig, wirklich begabt und wahrhaft groß war er als Forscher, wo all seine Talente gebraucht wurden. Am bedeutendsten waren seine Führungsqualitäten. Er war zum Führer geboren, er war dafür erzogen und in seiner Laufbahn in der Armee ausgebildet worden, und diese Fähigkeit und dieses Wissen hat er auf der Expedition in die Tat umgesetzt.31
Meriwether Lewis war ein großer Mann, und die Umstände seines Todes waren unsagbar traurig. Shakespeare trifft es mit seinen Worten über den Selbstmord des Marcus Antonius genau: »Daß nicht den Einsturz solcher Macht verkündet / Ein stärkres Krachen! Soll der Welt Erschüttrung / Nicht Löwen in der Städte Gassen treiben / Und Bürger in die Wüste ?« 32
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IV Ein Schutzwall gegen den Tod Selbstmordprävention
Doch Selbstmörder haben eine eigene Sprache. Wie Zimmerleute fragen sie nur: welches Werkzeug niemals jedoch: warum bauen. ANNE SEXTON1
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Anne Sexton (1928-1974) erhielt 1967 den PulitzerPreis für Lebe oder stirb, eine Gedichtsammlung, die auch das Gedicht enthält, aus dem das Zitat stammt. Sie unternahm verschiedene Selbstmordversuche, bis sie schließlich 1974 an einer KohlenmonoxidVergiftung starb. Auch ihre Schwester und ihre Tante begingen Selbstmord.
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Kapitel 8 Gewisse magische Eigenschaften Behandlung und Prävention
Gegen Melancholie nimm den Kopf eines Schafbocks, der sich nie mit einem Schafe eingelassen (...) koche ihn gut, die Haut zusammen mit der Wolle (...) nimm das Hirn heraus und vermische es mit diesen Spezereien: Zimt, Ingwer, Muskat, Nelken. (...) Man kann es mit Brot und Ei oder in Brühe essen. ROBERT BURTON2 Lithium (...) ist das leichteste der festen Elemente, und es ist deshalb vielleicht nicht überraschend, dass es gewisse magische Eigenschaften besitzt. G. P. HARTIGAN
Ringelblume »bewährt sich sehr bei Melancholie«, schrieb Robert Burton 1621; ebenso verhalte es sich mit Löwenzahn, Esche, Weide, Tamariske, Rosen, Veilchen, süßen Äpfeln, Wein, Tabak, Mohnsirup, Mutterkrautkamille und Sassafras. Ein Ring aus dem rechten Vorderhuf eines Esels sei »nicht gänzlich zu verachten« und »Johanniswurz, gesammelt an einem Freitag zur Stunde Jupiters«, sei »von großer Hilfe«.3 Die Behandlung der Melancholie und die Vorbeugung gegen Selbstmord haben sich weiterentwickelt, seit dafür Tamariske und Mutterkrautkamille verwendet wurden, aber noch immer gewinnen wir das Mittel aus der Natur: Lithium, ein Leichtmetall, das dritte Element des Periodensystems, ist das Medikament, das die deutlichste Wirkung zeigt. Es gibt weitere Medikamente zur Stabilisierung der Stimmungslage, zur Bekämpfung von Psychosen oder zur Unterdrückung von Angst- und Erregungszuständen sowie Impulsivität. Wir haben Antidepressiva, welche den Depressionen, die häufig für Selbstmord verantwortlich sind, massiv entgegenwirken. Wir haben Kliniken, die Schutz vor dem Wahnsinn und dem Tod durch eigene – 227 –
Hand bieten, und wir haben Psychotherapien entwickelt, die den Schmerz lindern und den Selbstmordgefährdeten helfen, durch die dunkelsten Phasen ihres Lebens zu kommen. Wir wissen viel über Selbstmordprävention, aber es ist nicht genug; und was wir wissen, setzen wir nicht so effektiv und umfassend ein, wie wir könnten. Die Ursachen des Selbstmordes liegen zum größten Teil in den Voraussetzungen, die der Einzelne durch sein Temperament mitbringt, sowie in genetisch bedingten Anfälligkeiten, in schweren psychischen Krankheiten und in akutem psychischem Stress. Sich nur an eine dieser Ursachen zu halten und die anderen dabei zu vernachlässigen, wird wahrscheinlich nicht ausreichen, um suizidales Verhalten einzudämmen. Eine Fehldiagnose, eine ungeeignete Behandlung einer möglicherweise tödlichen psychischen Erkrankung oder das Herunterspielen der Selbstmordgefährdung können tragische Konsequenzen haben, und oft genug ist es auch so. Gemeinsam können Ärzte, Patienten und Familienmitglieder die Wahrscheinlichkeit, dass es zum Selbstmord kommt, verringern, aber es ist ein schwieriges und frustrierendes Unternehmen, das viel Feingefühl erfordert. Wie lohnend es trotzdem sein kann, ist offensichtlich; weniger offensichtlich allerdings ist häufig der Weg. Wer glaubt, die Rückkehr aus suizidaler Verzweiflung sei eine einfache Reise, hat sie nie unternommen. Die meisten Menschen, die Selbstmord begehen, teilen anderen ihre Absicht ausdrücklich mit, bevor sie diese umsetzen, oft sogar wiederholt: ihrem Arzt, ihrer Familie, ihren Freunden.4 Viele andere tun es nie: Sie handeln aus einem Impuls heraus oder verschleiern ihre Pläne; sie geben sich selbst und anderen keine Chance. Doch für diejenigen, die ihren Wunsch zu sterben offen legen, ist dies ein Glück – es eröffnet zumindest die Möglichkeit von Behandlung und Prävention. Eli Robins und seine Kollegen an der Washington University School of Medicine in St. Louis kamen in ihrer wegweisenden Studie über 134 Selbstmorde zu folgendem Schluss:
Hätten wir herausgefunden, dass Selbstmord ein impulsiver, vorsatzloser Akt ohne wenigstens einigermaßen klar definierte klinische Grenzen ist, dann würde die Problematik der Prävention, bei Verwendung der gegenwärtig verfügbaren klinischen Kriterien, unüberwindliche Schwierigkeiten bereiten. Die hohe Mitteilungsrate bei Selbstmordvorstellungen deutet aber darauf hin, dass es
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sich in der Mehrzahl der Fälle um einen vorsätzlichen Akt handelt, vor dem die Betroffenen mehr oder wenig ausgiebig warnen.5
Unter klinischen Bedingungen muss die Feststellung der Selbstmordgefahr eventuellen Behandlungsversuchen einer psychischen Krankheit oder der Selbstmordprävention vorausgehen. Einen Patienten direkt über Selbstmordgedanken oder –plane zu befragen gehört wesentlich zur Erhebung einer Krankengeschichte. Zusätzlich zu geäußerten Selbstmordplänen gibt es andere wichtige Risikofaktoren, die bewertet werden müssen: das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein ernstlicher Angst-, Erregungs- oder Unruhezustände;6 Umfang, Art und Schwere von Psychopathologien; das Ausmaß an Hoffnungslosigkeit; das Auftreten oder Nichtauftreten von ernsten Schlafstörungen oder von Mischzuständen; aktueller Alkohol- oder Drogenmissbrauch; der Zugriff auf tödliche Mittel, besonders auf Schusswaffen; mangelnder Zugang zu guten Medikamenten und psychologischer Behandlung; ernsthafte Stressfaktoren in der unmittelbaren Vergangenheit wie Scheidung, Kündigung, ein Todesfall in der Familie; eine Familiengeschichte mit Fällen von suizidalem oder gewalttätigem Verhalten; soziale Isolation oder das Fehlen von Freunden und Familie; möglicherweise bevorstehende erste Episoden von Depression, manischem Verhalten oder Schizophrenie; oder kürzliche Entlassung aus einer psychiatrischen Klinik. Es ist schwierig, aber äußerst wichtig, so viel wie möglich über gewalttätiges und impulsives Verhalten eines selbstmordgefährdeten Patienten zu erfahren, weil es in Verbindung mit einer psychischen Erkrankung zum Funken für Selbstmord werden kann. Viele Patienten, vor allem Frauen, gestehen solches Verhalten nur widerwillig ein; andere, für die gewalttätige Gefühle oder Beziehungen ein integraler Bestandteil ihres Lebens sind, erkennen vielleicht gar nicht, dass ihr Verhalten so ungewöhnlich ist, dass sie es einem Arzt oder Therapeuten mitteilen müssten. Patienten muss daher die Frage gestellt werden, ob sie ein aufbrausendes oder gewalttätiges Temperament haben, ob sie häufig in stürmische Beziehungen geraten oder sich an Hass erfüllten verbalen Auseinandersetzungen beteiligen und ob sie sich oft als besonders reizbar oder impulsiv empfinden, zum Beispiel ganz plötzlich aus sozialen Situationen fliehen oder versuchen, aus fahrenden Autos zu springen.
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Entscheidungen über die Behandlung folgen aus der klinischen Bewertung der Selbstmordgefährdung und der psychiatrischen Diagnose. Der Arzt muss das unmittelbare Selbstmordrisiko einschätzen und, wenn nötig, für die Aufnahme in eine Klinik sorgen. Solch eine Einschätzung ist manchmal eindeutig, oft aber auch nicht. Häufig müssen akut selbstmordgefährdete Patienten in eine Klinik eingewiesen werden, zum einen, damit man sie schützen und schwere Geisteskrankheiten überhaupt erst diagnostizieren und behandeln kann, zum anderen, damit der psychische Zustand und die sozialen Umstände des Patienten beurteilt werden können. Die Einweisung in eine psychiatrische Klinik ist für selbstmordgefährdete Patienten im Allgemeinen ambivalent, einerseits beängstigend, andererseits mit einem Gefühl der Sicherheit verbunden. Sie ist immer noch mit einem schweren Stigma behaftet und führt oft zu persönlichen, wirtschaftlichen und beruflichen Problemen. Und wie wir gesehen haben, kann auch in einer Klinik nicht jeder Selbstmord verhindert werden. Dennoch wird in Kliniken das Leben eines Patienten häufig gerettet, und die Krankenhäuser nehmen nicht nur den Patienten, sondern auch deren Familien und Freunden die schreckliche Last der Verantwortung für das eigene Leben oder das Leben eines anderen ab. Sowohl von Patienten als auch von Ärzten wird die Einweisung zu oft als symbolische Niederlage oder als ein allerletztes Mittel bewertet und nicht als akute Notwendigkeit in einer schweren Krise. Diese Vorstellungen, die bei anderen medizinischen Beschwerden normalerweise keine Rolle spielen, sind weit verbreitet und gefährlich, und sie stehen einer zureichenden klinischen Versorgung im Wege. William Styron, der seinen Klinikaufenthalt wegen suizidaler Depression als eine »Zwischenstation, ein Fegefeuer« bezeichnet hat, bedauerte zutiefst das Zögern seines Arztes, ihn in die psychiatrische Abteilung einzuweisen:
Viele Psychiater scheinen einfach nicht in der Lage zu sein, das Wesen der tiefsitzenden Angst zu erfassen, unter der ihre Patienten zu leiden haben, sie halten im Glauben, dass die Tabletten schließlich doch anschlagen und die Patienten reagieren und sich damit die düstere Umgebung der Klinik vermeiden lasse, stur wie Ochsen an den Psychopharmaka fest. (...) Ich bin mir sicher, dass ich schon Wochen früher in eine Klinik gehört hätte. Denn in Wahrheit war die Klinik meine Rettung. Es ist schon ziemlich
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paradox, dass ich an diesem abweisenden Ort mit seinen verriegelten und vergitterten Türen und seinen trostlosen grünen Fluren – wo zehn Stockwerke tiefer Tag und Nacht Krankenwagen heulten – Ruhe finden sollte und Linderung für den Orkan in meinem Kopf, was mir auf meiner stillen Farm nicht gelungen war.7
Ob akut selbstmordgefährdete Personen eingewiesen werden oder nicht, auf jeden Fall brauchen sie intensive Pflege: zeitliche und emotionale Zuwendung von Seiten der Ärzte, gezielte und stark wirkende Medikamente, intensive psychotherapeutische und andere klinische Kontakte und eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Ärzten und den Familien und Freunden. Weiter unten werde ich mich ausführlicher mit Psychotherapie, mit der Beratung und dem Einbeziehen der Familie befassen. Hier möchte ich mich dem zuwenden, was wir über die Wirksamkeit verschiedener Arten von Medikamenten für die Selbstmordprävention wissen. Selbstmord wird gewöhnlich durch verschiedene Faktoren, »Schläge« ausgelöst – eine biologische Disposition, eine schwere psychische Krankheit und akuter Stress –, aber nur manche dieser Faktoren sind der Veränderung zugänglich. Es gibt zum Beispiel relativ wenig, was ein Arzt zur Regulierung der größten Stressfaktoren im Leben eines Patienten unternehmen kann: Sie treten zu willkürlich auf, daher sind sie schwer vorauszusagen und noch schwerer zu beherrschen. Andererseits gibt es Dinge, die man tun kann, um die zu Grunde liegende biologische Anfälligkeit für Selbstmord ebenso wie die psychischen Krankheiten, die eng mit suizidalem Verhalten in Verbindung stehen, zu beeinflussen oder zu behandeln. Lithium ist das wirkungsvollste, am gründlichsten erforschte und bestdokumentierte Medikament gegen suizidale Neigungen, das im Augenblick erhältlich ist. Es wird seit 1949 eingesetzt, um die gefährlichen Stimmungsschwankungen und das unberechenbare Verhalten unter Kontrolle zu bringen, das mit manischdepressiven Erkrankungen einhergeht, und um wiederkehrende Depressionen zu bekämpfen – Letzteres vor allem in Europa. Seine Effektivität bei der Selbstmordverhütung hängt wahrscheinlich mit seiner Wirkung auf zwei der gefährlichsten Risikofaktoren für Selbstmord zusammen: Man nimmt an, dass es in der Lage ist, den Serotoninumsatz im Gehirn zu erhöhen8 (außerdem wirkt es auch auf andere Neurotransmitter) – da
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durch werden Aggression, Erregung und Impulsivität eingedämmt9 –, und es kann manische und depressive Zustände abschwächen oder beseitigen. Kürzlich sahen Leonardo Tondo und Ross Baidessarini, zwei Forscher der Harvard Medical School, mit mir zusammen 28 veröffentlichte Behandlungsstudien durch, die mehr als 17000 Patienten mit starken Depressionen oder manisch-depressiven Erkrankungen betrafen. Bei Patienten, die nicht mit Lithium behandelt worden waren, war die Wahrscheinlichkeit eines Selbstmordes oder Selbstmordversuchs fast neun Mal so hoch wie bei den anderen.10 (In einer anderen Untersuchung stellten Tondo und seine Kollegen fest, dass suizidale Handlungen im ersten Jahr nach der Absetzung einer Lithium-Behandlung um das Sechzehnfache zunahmen.11) Eine schwedische Studie von 1999 kommt zu dem Ergebnis, dass eine Lithium-Behandlung das Selbstmordrisiko um 77 Prozent herabsetzt.12 Mit dem einschränkenden Hinweis, dass Patienten, die über mehrere Jahre Lithium einnehmen, eine selbstselektive Population bilden, stellen die Autoren fest, dass die Suizidwahrscheinlichkeit bei Patienten fünf Mal höher war, wenn sie kein Lithium nahmen. Wenn Lithium so wirksam gegen wiederkehrende manische und depressive Zustände ist und wenn es einen so starken Effekt in der Bekämpfung suizidalen Verhaltens hat, warum wird dann nicht immer, wenn schwere Stimmungsstörungen auftreten, Lithium verabreicht? Ja, warum nimmt nicht jeder Suizidgefährdete Lithium? Psychiatrische Medikamente versprechen viel, sind aber auch problematisch. Zunächst einmal spricht nicht jeder gleich gut auf Lithium an – bei manchen Menschen wirkt es nur schwach oder, was ungewöhnlicher ist, gar nicht. Andere können es aus medizinischen Gründen nicht nehmen oder finden die Nebenwirkungen unerträglich. Viele halten sich, wie wir noch sehen werden, nicht an die ärztlichen Anweisungen, nehmen also die Medikamente nicht vorschriftsgemäß ein. Viele Patienten empfinden die Behandlung mit Lithium aus verschiedenen Gründen als stigmatisierend; es wird auch als Gift betrachtet – eine Meinung, die von vielen Ärzten bestärkt wird. Diese Schwierigkeit wird in einem Leserbrief an The Lancet deutlich. »Psychiater und andere praktische Ärzte betrachten die Verwendung von Lithium als mysteriös, schwierig und – außer bei Anwendung durch Spezialisten – gefährlich«, schrieben besorgte praktische Ärzte,13 die ebenfalls feststellten, dass »die Informationen über
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Lithium von offizieller Seite von geringer Qualität und Zuverlässigkeit« seien und dass die Lithium-Konzentrationen im Blut, die von vielen Ärzten empfohlen würden, viel zu hoch und seit fünfzehn oder zwanzig Jahren überholt seien. Diese Einstellung hat sich in der klinischen Praxis stillschweigend durchgesetzt, vor allem in den USA, und zwar aus verschiedenen Gründen: Lithium erfordert eine ständige Überwachung der Blutwerte, um eine toxische Wirkung zu vermeiden, und viele Patienten sind von Nebenwirkungen betroffen – etwa von emotionaler Abstumpfung, Verlangsamung des Denkens und Koordinationsproblemen. Zum Teil wurde Lithium auch von anderen bedeutenden Fortschritten der medizinischen Forschung an den Rand gedrängt. Viele neue Medikamente zur Behandlung von Stimmungsstörungen – krampfhemmende Mittel (zuerst gegen Epilepsie eingesetzt, jetzt aber auch gegen manisch-depressive Erkrankungen) und neuere Antidepressiva, zum Beispiel Wirkstoffe, die selektiv die Wiederaufnahme von Serotonin hemmen, wie Citalopram, Fluvoxamin, Paroxetin, Fluoxetin und Sertralin – werden von praktischen Ärzten, Internisten und Psychiatern eher verabreicht. Dass diese Mittel häufiger verschrieben werden, ist im Großen und Ganzen gut, obwohl wahrscheinlich dadurch sehr effektive und relativ kostengünstige Medikamente wie Lithium – das übrigens im Allgemeinen nicht so außerordentlich schwer zu verordnen oder zu kontrollieren ist – von anderen Medikamenten zurückgedrängt werden, die besser vermarktet werden. Auch Patienten, denen mit einem stimmungsstabilisierenden Mittel wie Lithium besser gedient wäre und deren Zustand sich mit Antidepressiva vielleicht sogar verschlechtert (das heißt, ihre Episoden nehmen an Häufigkeit und Heftigkeit zu oder sie geraten in schwere Erregungs- oder Mischzustände), werden die bekannteren und leichter zu verschreibenden Antidepressiva verordnet. Oft ist es notwendig, Antidepressiva und stimmungsstabilisierende Mittel gemeinsam einzusetzen, um die besten therapeutischen Resultate zu erzielen. In den letzten Jahren haben Fortschritte der psychiatrischen Forschung die Konkurrenz auf dem höchst profitablen Markt für stimmungsverändernde Medikamente heftig angekurbelt. Patienten, die auf Lithium nicht ansprechen oder seine Einnahme ablehnen, stehen jetzt gute Alternativen zur Verfügung. Der kommerziell erfolgreichste Wirkstoff, Valproat, ein krampfhemmendes Präparat, hat
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inzwischen Lithium als das meistverschriebene Medikament bei bipolaren Störungen oder manisch-depressiven Leiden überholt. Die Verschreibungsgewohnheiten haben sich sehr geändert. Außerdem haben die Verschreibungen gegen Depressionen und bipolare Störungen in den letzten fünf Jahren stark zugenommen (bei Antidepressiva ist dieser Trend noch deutlicher). Offenbar hat sich in den Medien und in der Öffentlichkeit herumgesprochen, dass es für Stimmungsstörungen wirkungsvolle Behandlungen gibt, auch die eindrucksvolle Aufklärungsarbeit von Patientenorganisationen und nicht zuletzt die von den großen Pharma-Unternehmen finanzierten Marketing-Kampagnen von Ärzten und öffentlichen Stellen trugen dazu bei. Ob krampfhemmende Mittel (Valproat, Carbamazepin, Gabapentin, Lamotrigin und Topiramat) allerdings wirklich in der Lage sind, Selbstmord zu verhindern, ist nicht bewiesen.14 Da sie stimmungsstabilisierend wirken und gegen Erregungs- und Aggressionszustände helfen, müssten sie sich eigentlich auch auf die Selbstmordrate auswirken. In der einzigen Vergleichsstudie von Lithium und einem krampfhemmenden Mittel (Carbamazepin) erwies sich dies jedoch nicht als richtig. Deutsche Ärzte untersuchten 378 Klinikpatienten, die unter schweren Depressionen litten (die Hälfte von ihnen war manisch-depressiv), und verordneten ihnen zum Zeitpunkt ihrer Entlassung aus der Klinik nach einer Zufallsverteilung eine Behandlung entweder mit Lithium, mit Carbamazepin oder mit Amitriptylin (einem Antidepressivum). Im Lauf der folgenden zweieinhalb Jahre brachten sich fünf Patienten um, vier versuchten es ernsthaft. Alle Patienten, die sich umbrachten oder es versuchten, gehörten zu der Gruppe, die mit Carbamazepin oder einem anderen Antidepressivum behandelt wurde. Obwohl es in der Gruppe, die Lithium erhielt, in der Zeit vor der Behandlung mehr Selbstmordversuche gegeben hatte, haben die Patienten, die Lithium einnahmen, während der Behandlung keine Selbstmorde begangen oder Versuche dazu unternommen. Die Verfasser der Studie schlossen daraus, dass Lithium »möglicherweise spezifische antisuizidale Wirkungen hat, die seine prophylaktische Wirksamkeit deutlich übersteigen und die in Bezug auf suizidales Verhalten der Wirkung von Carbamazepin und Antidepressiva überlegen sind«.15 Dieselben Forscher sind der Ansicht, dass Lithium selbst jene Patienten vor Selbstmord zu schützen scheint, bei denen das Medika
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ment keinen zufriedenstellenden stimmungsausgleichenden Effekt zeigt. In einer jüngeren Studie wurden Patienten, die alle mindestens einen Selbstmordversuch hinter sich hatten, danach eingeteilt, wie sie zur Prävention von schweren depressiven Phasen auf Lithium reagierten: hervorragend, zweifelhaft und schlecht. Trotz unterschiedlicher Rückfallquoten nahmen die Selbstmordversuche in jeder Gruppe signifikant ab. Bruno Müller-Oerlinghausen von der Freien Universität Berlin fasst die Forschungsergebnisse seiner Gruppe folgendermaßen zusammen: »Die Absetzung von Lithium oder der Wechsel zu anderen Medikamenten bei Patienten, die auf Lithium nicht ansprechen, ist möglicherweise ein vernünftiger Schritt zur Optimierung der Medikamentation, aber er kann zum Tod des Patienten führen.«16 Es mag durchaus sein, dass die zukünftige Forschung Beweise für die antisuizidale Wirkung der krampfhemmenden Mittel erbringt. Sicherlich sind sie für viele Patienten eine echte und wichtige Alternative zu Lithium. Doch angesichts der vielen Studien, die zeigen, dass Lithium bei hoch gefährdeten Patienten einen Selbstmord vermeiden hilft, und vor dem Hintergrund der gravierenden Mängel jener Untersuchungen, die ebendies für krampfhemmende Mittel zu dokumentieren versuchen, ist Vorsicht geboten. Trotzdem ist die klinische Problematik komplex. Nicht jeder Depressive oder ManischDepressive ist selbstmordgefährdet. Wenn sich ein Patient weigert, Lithium zu nehmen, oder nicht darauf anspricht, dann sind krampfhemmende Mittel eine wichtige und oft angenehmere Behandlungsalternative. Lithium ist nur dann zur Selbstmordprävention geeignet, wenn Patienten es zu nehmen bereit sind und wenn sie darauf ansprechen. Dies ist nicht bei allen der Fall. Die beste Behandlungsstrategie für viele Patienten wird möglicherweise eine Kombination von Lithium als Schutz gegen Selbstmord und einem anderen Stimmungsstabilisierenden oder antipsychotischen, antidepressiven oder angsthemmenden Mittel sein. Da die Kosten von Lithium wesentlich niedriger sind als die von Valproat, spielt auch der ökonomische Faktor eine Rolle, obwohl die zusätzlichen Ausgaben für eines der neueren Antidepressiva, Antipsychotika oder krampfhemmenden Mittel häufig kosteneffizient und klinisch angezeigt sind, weil sie von den Patienten eher akzeptiert werden und damit sicherer und wirkungsvoller sind. Antidepressiva tragen nicht so offensichtlich wie Lithium zur Sen
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An Depressionen Erkrankte, die zum Zeitpunkt des Selbstmordes Antidepressiva einnahmen (in Prozent)
Antidepressiva-Gebrauch zum Zeitpunkt des Selbstmordes17
Senkung der Selbstmordrate bei, allerdings stellen sich viele praktische Probleme, wenn man den Einfluss von Antidepressiva auf die Selbstmordrate eindeutig nachweisen will. (Ein Grund dafür ist ganz einfach der, dass selbstmordgefährdete Patienten fast immer von klinischen Medikamententests ausgeschlossen sind.)18 Aber es gibt überzeugende Belege dafür, dass die neueren Antidepressiva – die serotoninspezifischen Wiederaufnahmehemmer (oder SSRIs) – nicht nur Depressionen lindern oder verhindern, sondern auch Wut und aggressives oder impulsives Verhalten dämpfen.19 Diese Wirkung ist im Hinblick auf Selbstmord von großer Bedeutung. Einige epidemiologische und klinische Studien kamen zu dem Ergebnis, dass Selbstmorde und ernsthafte Selbstmordversuche bei Patienten, die Antidepressiva einnahmen, weniger häufig sind, doch in welcher Größen
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ordnung sich diese Tendenz bewegt, ist noch unklar.20 Eindeutig ist jedoch, dass in jeder Untersuchung über Selbstmordtote nachgewiesen wurde, dass Depressionen zu selten diagnostiziert und Antidepressiva zu selten verschrieben werden. Und selbst wenn diese Mittel verschrieben werden, dann in unzureichender Dosis oder für zu kurze Zeit. Diese eklatanten Mängel in der Behandlung von Depressionen sind in der Grafik auf der gegenüberliegenden Seite dargestellt, die sieben amerikanische und europäische Studien über toxikologische Untersuchungen oder Autopsien zusammenfasst, in denen der prozentuale Anteil von an Depressionen leidenden Personen errechnet wurde, die zum Zeitpunkt ihres Selbstmordes tatsächlich Antidepressiva einnahmen. Die Mehrzahl der Patienten hatte überhaupt keine Antidepressiva genommen, und noch viel weniger hatten eine therapeutisch wirksame Menge genommen. Diese Behandlungsmängel decken sich mit Forschungsergebnissen, denen zufolge Ärzte ihren Patienten im Allgemeinen bedauerlich wenig – zu wenig – Antidepressiva und Lithium verschreiben, auch wenn diesen damit geholfen wäre.21 Verschiedene zusätzliche Interpretationen sind möglich. Die frühen Studien zeigen, dass damals mehr Personen mit Depressionsleiden zum Zeitpunkt ihres Selbstmordes Antidepressiva nahmen als in den letzten Jahren. Das liegt vielleicht daran, dass Antidepressiva früher weniger zuverlässig wirkten, oder aber daran, dass schwer selbstmordgefährdete Patienten damit ein um so tödlicheres Mittel zum Suizid in Reichweite hatten: Die trizyklischen Antidepressiva waren bei weitem toxischer als die modernen SSRIs. Außerdem wissen wir, dass es eine hohe Selbstmordrate bei Patienten mit Bipolar-II-Störungen gibt, einer Variante der manischen Depression mit ausgedehnten depressiven Perioden und kürzeren und leichteren manischen Episoden.22 Diese Patienten werden oft als Opfer rein depressiver Beschwerden fehldiagnostiziert, teilweise weil sie selbst die leichten manischen Zustände nicht als pathologisch wahrnehmen, teilweise weil Ärzte für die Differenzialdiagnose nur unzureichend ausgebildet sind. Viele Klinikärzte sind sich nicht klar darüber, dass Stimmungsschwankungen und Gereiztheit oft Anzeichen einer bipolaren Erkrankung sind, und sie fragen nicht spezifisch genug nach weiteren Schlaf-, Stimmungs- und Verhaltenssymptomen,
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die für die Diagnose wichtig wären. Den Ärzten unterläuft dieser Diagnosefehler auch deshalb, weil bei Depressionen häufiger klinische Hilfe in Anspruch genommen wird als bei leichten Manien. Bipolare manisch-depressive Erkrankungen werden in großem Ausmaß übersehen – etwa ein Drittel der Patienten wird fälschlicherweise als depressiv statt als bipolar diagnostiziert23 –, und das kann zu einer Behandlung führen, die die Krankheit mit der Zeit verschlimmert. Werden nur Antidepressiva und nicht auch Stimmungsstabilisatoren wie Lithium oder krampfhemmende Mittel verschrieben, kann es zu einem beschleunigten Auftreten von Manien und von Zuständen höchster Erregung oder potenziell suizidalen Mischzuständen kommen. Genaue Diagnosen und die angemessene Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Krankheiten sind ein weiteres gravierendes Problem. Eine Umfrage bei Kinder- und Hausärzten24 von 1999 kam zu dem Ergebnis, dass nur acht Prozent derjenigen, die Kindern Antidepressiva verschrieben, das Gefühl hatten, ihre Ausbildung reiche für die Behandlung von Depressionen bei Kindern aus. Viele Kinder, bei denen es frühzeitig zum Ausbruch eines manischdepressiven Leidens oder einer bipolaren Störung kommt, werden falsch diagnostiziert. Die Ärzte stellen Aufmerksamkeitsstörungen mit Hyperaktivität fest, weil sie manisch-depressive Symptome bei Kindern nicht erkennen oder weil sie mit deplatzierter Sensibilität auf den unterschwelligen Druck von Eltern und Lehrern reagieren, die glauben, solche Störungen seien mit einem geringeren Stigma behaftet als eine schwerere psychische Erkrankung. Obwohl es bei den Symptomen Überschneidungen gibt – Hyperaktivität, leichte Ablenkbarkeit und Gereiztheit zum Beispiel25 – und die Differenzialdiagnose schwierig ist, gibt es viele Unterscheidungsmerkmale: Bei bipolaren Kindern finden sich in den Familien häufig weitere Fälle von bipolaren Erkrankungen oder Depressionen, sie neigen stärker zu Labilität in ihren Stimmungen, zu Euphorie, Selbstüberschätzung, übermäßiger Sexualität, geringerem Schlafbedürfnis, ihre Gedanken rasen, und sie zeigen häufiger suizidales Verhalten. Ihre soziale und schulische Entwicklung vor der Krankheit ist tendenziell gut, und oft führt die Krankheit zu einem plötzlichen scharfen Knick in ihren normalen Funktionsweisen.26 Die korrekte Diagnose ist entscheidend, weil die Hauptbehandlungsmethode für Konzentrationsstörungen in der Verabreichung von Stimulantia besteht, die den Zustand eines
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Kindes mit bipolarer Störung (einer Störung, die im Allgemeinen nach stimmungsstabilisierenden Mitteln wie Lithium oder Krampfhemmern verlangt) noch verschlimmern können. Die Langzeiteffekte der gleichzeitigen Anwendung von Antidepressiva und Stimulantia bei Kindern oder Jugendlichen mit bipolaren Erkrankungen sind noch unklar, aber jedenfalls problematisch. Die Rolle, die Antidepressiva als Auslöser für suizidales Verhalten spielen, ist umstritten und noch nicht geklärt.27 Aus der Sicht der Kliniken und der öffentlichen Gesundheitsvorsorge sind die Belege dafür, dass Antidepressiva die Zahl von Selbstmordversuchen oder tatsächlichen Selbstmorden nicht erhöhen, im Allgemeinen überzeugend.28 Doch gibt es sicher Menschen, die auf die Einnahme von Antidepressiva mit Erregung, Rastlosigkeit und akuter Schlaflosigkeit reagieren. Diese Reaktion ist keineswegs ungewöhnlich, aber potenziell gefährlich, und alle Patienten müssen vor der Anwendung von Antidepressiva darauf hingewiesen werden, dass diese Nebenwirkungen auftreten können und dass sie, wenn sie auftreten, dem Arzt mitgeteilt werden müssen. (Die Hersteller von Antidepressiva fügen ihren Produktinformationen im Arzneimittelhandbuch üblicherweise folgende Warnung hinzu: »Mit Depressionen geht unmittelbar die Gefahr von Selbstmordversuchen einher, die bis zum Auftreten einer deutlichen Verbesserung des Zustands bestehen bleiben kann. Hochrisiko-Patienten, die medikamentös behandelt werden, müssen aufmerksam beobachtet werden. Rezepte [...] dürfen nur für die geringste Tablettenmenge, die für eine angemessene Behandlung des Patienten notwendig ist, verschrieben werden, um die Gefahr der Überdosierung zu vermeiden.«29 Außerdem werden Angstzustände, Nervosität, Schlaflosigkeit, Erregungszustände, Akathisie [unruhiges Umherlaufen] und die Stimulation des Zentralnervensystems als Nebenerscheinungen genannt.) Die neueren SSRIs sind zwar nicht wirksamer gegen Depressionen als die älteren trizyklischen Antidepressiva, aber sie sind für die Patienten verträglicher, weil es sich mit ihren Nebenwirkungen (Schlaflosigkeit, Erregung, Übelkeit oder sexuelle Probleme) leichter leben lässt als mit denen der trizyklischen Mittel (trockener Mund, Blutdruckschwankungen, Verstopfung oder Schwindelgefühl).30 SSRIs werden mit Erfolg auch bei selbstmordgefährdeten, alkoholabhängigen Patienten eingesetzt.31 Ihr größter klinischer Vorzug ist jedoch ihre wesentlich geringere Toxizität, wodurch sie weniger
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leicht durch eine bewusste Überdosierung zum Tod führen können. Tödliche Medikamentenüberdosen haben zum Beispiel bei britischen Frauen in den letzten zwei Jahrzehnten um ein Drittel abgenommen, obwohl die Einnahme nicht tödlicher Überdosen im gleichen Zeitraum zugenommen hat.32 Dies ist vor allem auf den inzwischen weiter verbreiteten Einsatz der neueren, weniger toxischen Antidepressiva zurückzuführen. Es gibt bei Depressionen auch andere Behandlungsmethoden. Während einige Medikamente sowohl auf die Noradrenalin- als auch auf die Serotonin-Wiederaufnahme einwirken, beeinflussen andere in erster Linie die serotonerge Neurotransmission. Viele neue Antidepressiva befinden sich im Entwicklungsstadium. (Nach einer Mitteilung der Pharmaceutical Research Manufacturers of America wurde Ende 1998 an der Entwicklung von 85 psychiatrischen Medikamenten geforscht: 23 gegen Alzheimer, 19 gegen Suchtmittelmissbrauch, 18 gegen Depression, 15 gegen Schizophrenie und zehn gegen andere Störungen.) Einige dieser Medikamente, wie die bereits existierenden SSRIs, sind so beschaffen, dass sie die Stoffwechselwege des Serotonins innerhalb des Gehirns beeinflussen; andere konzentrieren sich nicht nur auf das Serotonin, sondern auch auf eine Reihe anderer Neurotransmitter; wieder andere zielen auf unterschiedliche neurochemische Systeme, Noradrenalin eingeschlossen. Ein in Entwicklung befindliches Mittel setzt zum Beispiel das Niveau der »Substanz P« herab, eines chemischen Stoffes, der in der Amygdala und im Hypothalamus in hoher Konzentration auftritt, in den Bereichen des Gehirns also, die eng mit der Regulierung des Stimmungs- und Emotionshaushalts verknüpft sind.33 Andere Medikamente im Entwicklungsstadium können sich letztlich auf suizidales Verhalten auswirken. Einige konzentrieren sich auf den Neurotransmitter Glutamat und werden, so hofft man, das Verlangen nach Alkohol und Drogen bei Leuten, die von diesen Substanzen abhängig sind, herabsetzen. Wieder andere Mittel, die als CRH-Rezeptorantagonisten bekannt sind, wurden entwickelt, um Stressreaktionen abzuschwächen, die, wenn sie ausgeprägt und bei anfälligen Personen auftreten, Selbstmord auslösen können. Omega-3-Fettsäuren, die nach Ansicht mancher (aber keineswegs aller) Forscher sowohl bei Depression als auch bei Selbstmord eine Rolle spielen, sind in jüngster Zeit in klinischen Studien in Harvard
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getestet worden.34 Nach ihrer Entlassung aus der psychiatrischen Klinik bekamen Patienten mit bipolarem Leiden zusätzlich zu ihrer regulären Valproat- oder Lithiumdosis entweder Omega-3-Fettsäuren oder Placebos. Nach vier Monaten waren 64 Prozent der Personen, die Fettsäuren einnahmen, auch weiterhin auf dem Wege der Besserung, aber nur 19 Prozent der Placebo-Gruppe ging es noch immer gut. Die Ergebnisse waren so eindeutig, dass die Forscher sich genötigt sahen, die experimentellen Bedingungen des Blindversuchs zu unterbrechen, um die Placebo-Gruppe ebenfalls mit Omega-3-Fettsäuren behandeln zu können. Die Forschung steht zwar noch ganz am Anfang, doch zum jetzigen Zeitpunkt sind bei den Patienten der Studie keine ernsthaften unerwünschten Nebenwirkungen der Fettsäuren aufgetreten. Eine über siebzehn Jahre dauernde epidemiologische Studie über den Fischverzehr bei 265000 japanischen Erwachsenen stellte eine 19prozentige Verminderung der Selbstmordrate bei Menschen fest, die viel – an Omega-3-Fettsäuren reichen – Fisch aßen, und unterstützte damit die Fettsäuren-Hypothese über Depression.35 Die Theorie ist jedoch noch nicht bewiesen, da noch keine weiteren Forschungsergebnisse dieser Art vorliegen. Aus dem gelb blühenden Johanniskraut (Hypericum) wird ein mildes bis mäßiges Antidepressivum gewonnen und gegenwärtig in einer groß angelegten klinischen Studie untersucht, die vom Duke University Medical Center koordiniert wird. In Europa – und seit kurzem auch in den USA – ist Johanniskraut als Antidepressivum weit verbreitet, aber ob und inwieweit es suizidales Verhalten verhindert, ist unbekannt. Da es nicht als Medikament gilt, sind Reinheits- und Wirkungsgrad nicht durch die Food and Drug Administration festgelegt. Es hilft zweifellos bei Depressionen, doch da es normalerweise ohne klinische Aufsicht genommen wird, können sich verschiedene Schwierigkeiten ergeben. Viele Leute nehmen an, Johanniskraut und andere pflanzliche Mittel seien ungefährlich, weil es sich um »natürliche« Substanzen handelt (was, so könnte man hinzufügen, auch auf Lithium und Arsen zutrifft), allerdings gibt es – wenn auch nur wenige – Berichte, wonach das Kraut plötzliche Stimmungsschwankungen, Manien und Selbstmordgedanken auslöst.36 (In seltenen Fällen sind diese unerwünschten Reaktionen auch im Zusammenhang mit einer anderen ungeregelten Behandlungsart von Depressionen beobachtet worden, der Licht-Therapie.) Problematischer ist jedoch, dass nicht
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verschreibungspflichtige Mittel gegen potenziell tödliche medizinische Zustände, wie etwa schwere Depressionen, die Illusion vermitteln, dass sie schon eine Behandlung darstellten, was die Erkrankten davon abhalten kann, sich nach wirkungsvolleren Medikamenten umzusehen, falls die Depressionen oder Selbstmordgedanken nicht nachlassen. Die Antipsychotika, die bei der Behandlung von Schizophrenie und gelegentlich auch manisch-depressiven Erkrankungen zur Anwendung kommen, teilen einige der problematischen, aber auch der vielversprechenden Aspekte von Antidepressiva im Hinblick auf die Selbstmordprävention. Unsachgemäß oder ohne klinische Aufsicht eingenommen, können sie Akathisie herbeiführen, einen extrem unangenehmen Erregungszustand, der mit Muskelspannung und der Unfähigkeit still zu sitzen einhergeht (häufig sagen Patienten über diesen Zustand, sie fühlten sich, als ob sie »aus der Haut fahren« möchten).37 Doch bei vorsichtiger und mäßiger Anwendung können Antipsychotika – vor allem die in jüngerer Zeit entwickelten, die weniger Nebenwirkungen aufweisen, wie Clozapin, Risperidon und Olanzapin – die Selbstmordrate bei psychotischen Patienten verringern.38 Mit Elektrokrampftherapie (EKT), manchmal auch »Schocktherapie« genannt, werden schwer selbstmordgefährdete Patienten schon seit Jahrzehnten behandelt.39 Obwohl es kaum Nachweise gibt, dass sie einen langfristigen Einfluss auf Selbstmordtendenzen hat, führt sie bei schwer depressiven Patienten oft zu tief greifenden und kurzfristig eintretenden Verbesserungen von suizidalen Stimmungen. Patienten lebend durch eine akute suizidale Krise zu bringen hat für die klinische Praxis höchste Priorität; EKT kann nicht nur Leben retten, sondern mit ihr gewinnt man auch Zeit, um die beste langfristige Behandlungsstrategie zu entwickeln. Die EKT ist zwar die effizienteste und schnellste Behandlung bei schweren Depressionen, aber sie war stets umstritten und wird, vor allem in den USA, zu selten eingesetzt. Das hängt teilweise mit der äußerst negativen Berichterstattung über die EKT in den Medien zusammen (vor einigen Jahrzehnten wegen ihres weit verbreiteten Missbrauchs durchaus berechtigt) und vor allem mit der Verfügbarkeit und der einfachen Anwendbarkeit von Alternativen. Für viele Ärzte ist die EKT immer das letzte Mittel geblieben, selbst bei hochgradig selbstmordgefährdeten Patienten. Aus diesem Grund schreibt Jonathan Himmelhoch, Psychiater an der University of Pittsburgh: »Die
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narzisstischen Grübeleien von Psychiatern, deren politische Haltung sich über ihre klinische Erfahrung hinwegsetzt, dürfen nicht dazu führen, dass Patienten, die die heftigsten Leiden auszustehen haben, Linderung vorenthalten wird.«40 Es ist etwas Wahres an dieser Aussage, obwohl die Kontroverse über die EKT wahrscheinlich weitergehen wird. Derzeit wird eine neue, nicht invasive Behandlungstechnik, die so genannte transkraniale magnetische Stimulation, für die eine kleine, leistungsfähige elektromagnetische Spule auf der Kopfhaut angebracht wird, die starke Stromstöße ins Gehirn abgibt, an depressiven Patienten erprobt.41 Transkraniale magnetische Stimulation wirkt antidepressiv, doch die klinischen Studien zur Effizienz und Sicherheit dieser Methode sind noch in der Anfangsphase. Im Unterschied zur EKT ist bei ihr keine Betäubung notwendig, und es wird auch kein Anfall herbeigeführt; bisher sind Gedächtnisstörungen als Nebenwirkung nicht bekannt. Ob sie tatsächlich Auswirkungen auf Selbstmordgedanken und suizidales Verhalten hat, ist nicht gesichert. Medikamentöse und andere medizinische Behandlungsformen sind – oft in bemerkenswertem Umfang – wirkungsvoll, wenn es um Linderung oder Vorbeugung gegen den Schmerz und das Leiden geht, welche die schweren psychischen Erkrankungen mit sich bringen, die am engsten mit Selbstmord in Verbindung stehen. Weniger klar ist – außer bei Lithium und wahrscheinlich bei den Antidepressiva und neueren Antipsychotika –, bis zu welchem Grad sie die Chancen verringern, dass eine selbstmordgefährdete Person tatsächlich Suizid begeht. Medikamente, Einweisung in eine Klinik und EKT retten viele Leben, aber bei weitem nicht alle. Eine Psychotherapie oder eine starke therapeutische Beziehung zu einem Arzt kann ausschlaggebend dafür sein, ob ein Patient überlebt oder stirbt. Gerade der Erfolg der Psychopharmakologie bei der Behandlung von ernsten psychischen Krankheiten hat die Bedeutung der Psychotherapie für die Heilung und die Lebenserhaltung des Patienten leider auf ein Minimum herabgesetzt. Die meisten Krankenversicherungen zum Beispiel zahlen zwar für Arztvisiten – wenn auch oft nur für sehr kurze –, die der Medikamentation gewidmet sind, stellen jedoch kaum Mittel für eine Psychotherapie zur Verfügung. Trotz der umfangreichen und gelungenen Untersuchungen, mit denen Myrna Weissman und Gerald Klerman von der Yale University zeigen, dass die Kombination von Psychotherapie und Antidepressiva zur Behandlung von Depressionen
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wirkungsvoller ist als eine Behandlungsmethode allein,42 und trotz überzeugender Arbeiten von vielen Gruppen in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien, die zu dem Ergebnis kamen, dass der Krankheitsverlauf bei bipolaren und schizophrenen Patienten sich günstiger entwickelte, wenn die medikamentöse Therapie mit einer Psychotherapie verknüpft wurde,43 hält sich unter Psychiatern und Forschern die hartnäckige Überzeugung, Medikamente reichten zur Behandlung von ernsten psychischen Krankheiten aus. Zum Teil ist es verständlich, warum Patienten, die unter Depressionen, manischen Depressionen, schweren Persönlichkeitsstörungen oder Schizophrenie leiden, nicht offensiver zur Psychotherapie ermutigt werden. Psychotherapie ist kostspielig, schwierig und zeitaufwendig, sowohl in der Ausbildung wie in der Anwendung, und innerhalb des psychotherapeutischen Lagers gibt es tiefgreifende Unstimmigkeiten darüber, welche Form von Therapie bei welcher Art von Patient oder Krankheit am besten anschlägt, wie die klinische Ausbildung aussehen sollte und wie lange die Psychotherapie dauern müsste. Revierkämpfe und wirtschaftliche Konkurrenz zwischen Psychiatern und klinischen Psychologen sind notorisch und oft geprägt von Misstrauen und Ablehnung. Es war immer zu einfach, eine willkürliche Grenze zwischen psychologischen und biologischen Faktoren von psychischen Krankheiten zu ziehen, und nirgends hat sich diese Trennung zerstörerischer ausgewirkt als in der Bestimmung der Ursachen und Behandlungsmethoden von suizidalem Verhalten. Die Komplexität der psychischen Verfassung und der Hirnfunktionen bei suizidalem Verhalten erfordert zu dessen Behandlung eine ebensolche Komplexität des klinischen Denkens und Handelns. Im Allgemeinen kann eine Psychotherapie allein, wenn die zu Grunde liegende Psychopathologie oder die biologisch bedingte Anfälligkeit nicht anderweitig behandelt wird, einen schwer suizidalen Menschen nicht davon abhalten, sich umzubringen. Die Fähigkeit, eine Psychopathologie korrekt zu diagnostizieren und Patienten nötigenfalls zur medikamentösen Behandlung an Kollegen weiterzuleiten, ist eine unverzichtbare Grundlage guter klinischer Praxis. Anders zu handeln wäre fahrlässig. Die Polarisierung der Meinungen über die angemessene Behandlung von selbstmordgefährdeten Patienten erreichte 1994 einen Höhepunkt, als es zu einem Gerichtsurteil gegen den einflussreichen
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Psychiater Thomas Szasz kam, einen vehementen Kritiker des Begriffs Geisteskrankheit und Gegner der Anwendung von »Zwangsmaßnahmen« zur Verhütung von Selbstmord. Szasz' philosophische Gegnerschaft zur »erzwungenen« Selbstmordprävention gründet sich zum Teil auf seine feste Überzeugung, dass es zwischen Selbstmord und Geisteskrankheit keine Verbindung gebe – eine Überzeugung, die weder von der klinischen und wissenschaftlichen Literatur noch übrigens durch irgendwelche von Szasz selbst vorgelegten Ergebnisse gestützt wird. Seine Ansichten, die in den sechziger und siebziger Jahren eine große Anhängerschaft unter Kollegen und in der Öffentlichkeit fanden und immer noch häufig zitiert werden, sollten in seinen eigenen Worten dargestellt werden:
Warum räumen wir Psychiatern besondere Privilegien ein, bei Selbstmordgefährdung zu intervenieren? Weil, wie ich bemerkt habe, aus psychiatrischer Sicht eine Person, die mit Selbstmord droht oder ihn verübt, irrational oder geisteskrank ist, was dem Psychiater erlaubt, Doktor zu spielen und dadurch, ganz wie andere Ärzte, Leben zu retten. Und doch gibt es weder philosophisch noch empirisch eine Grundlage dafür, Selbstmord prinzipiell anders als anderes Handeln zu betrachten, etwa ob man heiratet oder sich scheiden lässt, ob man am Sabbath arbeitet, Krabben isst oder Tabak raucht. Diese und zahllose andere Dinge, die die Leute tun, sind das Ergebnis persönlicher Entscheidungen. (...) Psychiater und Patient verirren sich beide in dem existenziell-juristischen Labyrinth, das dadurch geschaffen wird, dass man Selbstmord als ein psychiatrisches Problem, ja als einen psychiatrischen Notfall behandelt. Wenn wir uns jedoch weigern, eine Rolle in diesem Drama der erzwungenen Selbstmordprävention zu übernehmen, dann kommen wir wohl oder übel zu dem Schluss, dass der Psychiater und sein suizidaler Patient einander und die Qualen reichlich verdient haben, die sie sich gegenseitig so bereitwillig zufügen.44
Wer – wie ich (und Gott sei Dank auch mein Psychiater) – die Meinung von Szasz nicht teilt und es nicht für das Gleiche hält, ob man sich umbringen oder ob man Krabben essen oder am Sabbath arbeiten will, für den war es interessant zu hören, dass Szasz sich 1994 einverstanden erklärte, an die Witwe eines seiner Patienten, eines Arztes,
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der an manisch-depressiven Zuständen gelitten und sich umgebracht hatte, 650000 Dollar zu zahlen. Szasz wurde beschuldigt, seinem Patienten im Juni 1990 geraten zu haben, kein Lithium mehr zu nehmen; im Dezember desselben Jahres erhängte sich der Arzt mit Batteriekabeln, nachdem er sich mit einem Hammer am Schädel verletzt und Schnittwunden am Hals beigebracht hatte.45 Szasz wurde vorgeworfen, »eine psychiatrisch-medizinische Pflege und Behandlung in Übereinstimmung mit den gebräuchlichen und anerkannten Standards der medizinischen Versorgung« versäumt, »nicht korrekt diagnostiziert und behandelt«, »nicht die korrekte Therapie zur Behandlung einer manisch-depressiven Erkrankung angewandt« und »keine angemessenen und korrekten ärztlichen Unterlagen geführt« zu haben. Szasz' Anwalt hielt dem entgegen, der Patient habe auf eigenen Entschluss hin aufgehört, Lithium zu nehmen, und Szasz bestritt, fahrlässig gehandelt zu haben, aber das Gericht entschied auf eine Zahlung von 650000 Dollar an die Witwe. Obwohl er dem psychiatrischen Establishment mit großem Widerwillen begegnet, war Szasz Mitglied der American Psychiatrie Association, deren Versicherung die Zahlung übernahm. Philosophische Ansichten über die Ursachen von Selbstmord sind notwendig und wichtig, man kann und sollte sie mit Leidenschaft diskutieren; ersetzen können sie die umfangreiche und ernsthafte medizinische, psychologische und naturwissenschaftliche Forschungsliteratur jedoch nicht. Die biologischen und psychopathologischen Ursachen und Behandlungsmethoden von suizidalem Verhalten zu ignorieren ist weder klinisch noch ethisch vertretbar. Ebenso wenig darf man die psychischen und sozialen Ursachen des Selbstmordes sowie den Nutzen von psychologischen und sozialen Behandlungsmethoden ignorieren. Das psychische Leiden, das ein suizidaler Zustand mit sich bringt, ist überwältigend und unerträglich. Der Therapeut müsse, wie Ned Cassem von der Harvard University betont, die Fähigkeit haben, »jemandem, der selbstmordgefährdet ist, aufmerksam zuzuhören und seine Gefühle von Verzweiflung, Depression, Angst, Wut, Einsamkeit, Leere und Sinnlosigkeit zu ertragen. Der Patient muss wissen, dass der Therapeut ihn ernst nimmt und versteht.«46 Direktheit von Seiten des Arztes ist ebenso wichtig, das heißt klare Mitteilungen über die Behandlung, die zu erwartende Behandlungsdauer, die Probleme des Heilungsprozesses und die
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Möglichkeiten, im Notfall mit dem Therapeuten in Kontakt zu treten. Morag Coate, eine englische Schriftstellerin, die an einer schwerwiegenden Psychose litt, beschrieb die Rolle ihres Arztes bei der Rettung ihres Lebens folgendermaßen:
Weil sich die Ärzte um mich kümmerten und weil einer von ihnen noch an mich glaubte, als ich an gar nichts mehr glaubte, habe ich überlebt und bin in der Lage, meine Geschichte zu erzählen. Es sind nicht nur die Ärzte, die in Notfallsituationen gefährliche Operationen durchführen oder lebensrettende Medikamente verschreiben, die zuweilen das Zünglein an der Waage zwischen Leben und Tod darstellen. Ruhig in einem Sprechzimmer zu sitzen und mit jemandem zu reden mag den meisten Leuten nicht wie ein besonders heroischer oder dramatischer Akt vorkommen – in der Medizin gibt es viele Wege, ein Leben zu retten, und dies ist einer davon.47
Die meisten Studien, die sich mit Psychotherapie oder mit einer Kombination von Psychotherapie und medikamentöser Behandlung befassen, richten ihr Hauptaugenmerk auf die Behandlung psychischer Krankheiten, und nur wenige haben sich speziell mit der Frage beschäftigt, wie sich Veränderungen im suizidalen Denken und Handeln genau feststellen lassen. Marsha Linehan, Psychologin an der University of Washington, hat vor kurzem zwanzig kontrollierte klinische Studien geprüft, in denen verschiedene Formen von Psychotherapie bei Patienten mit hohem Selbstmordrisiko angewendet wurden.48 Die meisten Untersuchungen beschäftigten sich mit Patienten, die mindestens einen Selbstmordversuch hinter sich hatten. Die psychotherapeutischen Interventionen, die am erfolgreichsten schienen, besonders bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen, konzentrierten sich auf die Veränderung spezifisch suizidaler Verhaltens- und Denkweisen. Vor allem Therapien, die auf das Erkennen und Verändern von schlecht angepasstem Verhalten und Denken zielen, sind offenbar geeignet, das Risiko, dass sich die Patienten absichtlich selbst verletzen, zu senken. Auch Keith Hawton von der University of Oxford kam in einem Überblick über Studien, die sich sowohl mit den Auswirkungen von Psychotherapien als auch mit denen von Medikamenten beschäftigten, zu viel versprechenden Ergebnissen im Hinblick auf die Veränderbarkeit von suizidalen
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Verhaltensweisen. In verschiedenen Untersuchungen wurde besonderer Wert darauf gelegt, dass die Patienten lernen, mit zwischenmenschlichen Konflikten besser umzugehen, die bei vielen einem Selbstmordversuch vorausgegangen waren.49 Es ist noch unklar, ob diese Therapien tatsächlich Selbstmord oder nur Selbstmordversuche verhindern. Psychotherapie kann nicht nur äußerst hilfreich sein, wenn es darum geht, Patienten durch furchtbare Phasen psychischen Leidens zu bringen und sie zu ermuntern, mit Selbstmordimpulsen besser umgehen zu lernen; sie ist auch dabei wichtig, die Patienten dazu zu bewegen, die Behandlung aktiv mitzutragen, was oft gar nicht so einfach ist. Der Widerstand gegen die vorschriftsmäßige Einnahme von Medikamenten oder die Einhaltung von psychotherapeutischen oder ärztlichen Terminen ist ein weit verbreitetes und manchmal lebensbedrohliches Problem. Viele Patienten lösen schon ihr erstes Rezept nicht ein, weil sie keine Medikamente nehmen wollen oder weil sie sich diese nicht leisten können; viele hören nach wenigen Tagen, Wochen oder Monaten auf, ihre Medikamente zu nehmen: Weil sie unangenehme oder schwächende Nebenwirkungen feststellen, weil sie sich gut fühlen und keine Notwendigkeit mehr sehen, die Behandlung fortzusetzen, weil sie ihre Dosierungsanweisung zu verwirrend finden oder weil sie einfach nicht glauben, dass sie eine psychische Krankheit haben. Etwa 20 Prozent aller Patienten, die langfristig Medikamente einnehmen müssen, machen dann und wann »Ferien« (das heißt, sie stellen für einen gewissen Zeitraum die Einnahme ihrer Medikamente ein);50 – manchmal mit katastrophalen Folgen, besonders bei Mitteln wie Lithium, die sich schnell abbauen. Die meisten Patienten, die unter einer chronischen Krankheit leiden, nehmen ihre Medikamente nicht besonders regelmäßig. (Zum Vergleich: Bei Epilepsie, chronischen Lungenerkrankungen, erhöhtem Blutdruck und Glaukomen werden die Verordnungen zu 50 bis 75 Prozent befolgt.51) Bei Patienten, die Antidepressiva nehmen, liegt diese Rate zwischen 65 und 80 Prozent, für Antipsychotika bei etwa 55 und für Lithium bei etwa 60 Prozent.52 (Die einzige direkte, auf ein Jahr angelegte Vergleichsstudie über die Einhaltung der ärztlichen Verordnungen von Lithium und dem krampfhemmenden Wirkstoff Valproat kam auf Raten von 59 beziehungsweise 48 Prozent.)53 Bei Patienten, die einen Selbstmordversuch unternommen haben und vom
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Personal der Notaufnahme oder Pflegern, Ärzten und Sozialarbeitern zur Nachsorge in psychiatrische Kliniken bestellt werden, halten noch weniger ihre Termine ein.54 Psychotherapie kann die Regelmäßigkeit der Medikamenteneinnahme bei psychischen Erkrankungen55 und die Einhaltung von Nachsorgeprogrammen verbessern. Diese Programme sind dazu gedacht, Patienten und ihren Familien, aber auch Notaufnahmeärzten und Pflegern zu helfen, sich klar zu machen, wie schwer wiegend ein Selbstmordversuch ist und wie notwendig es ist, die Behandlung fortzusetzen. Andere Programme fördern eine Nachsorge durch Hausbesuche oder einen fortgesetzten Kontakt durch Briefe oder Anrufe. Menschen, für die eine zukünftige Gefährdung durch suizidales Verhalten besteht, können durch solche Therapien dazu gebracht werden, dass sie eine Behandlung beginnen – und durchhalten.56 Menschen, die selbstmordgefährdet sind, weil sie in der Vergangenheit schon versucht haben, sich umzubringen, oder ernsthaft suizidal gewesen sind, weil sie psychische Krankheiten haben, welche in enger Verbindung zum Selbstmord stehen, oder in deren Familien es Fälle von Selbstmord gab, können einiges tun, um die Suizidgefahr zu verringern. Es ist ein guter Anfang, wenn sie sich über Geisteskrankheiten informieren, sich aktiv an der eigenen klinischen Versorgung beteiligen und auf die Qualität der medizinischen und psychologischen Behandlung achten.57 Es kann für Patienten und ihre Familien von Nutzen sein, sich selbst nach Büchern, Vorträgen und Selbsthilfegruppen zu erkundigen, die über Selbstmordprävention, depressive und psychotische Leiden sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch informieren. Sie sollten ihren Arzt über dessen Diagnose befragen, über Behandlung und Prognose, und wenn sie sich über mangelnde Zusammenarbeit oder die Entwicklung ihres klinischen Zustands Sorgen machen, sollten sie noch andere Meinungen einholen. Zu den Medikamenten sollte man sich, wenn möglich, schriftliche Informationen über die Präparate und ihre Nebenwirkungen geben lassen und sich erkundigen, welche dieser Nebenwirkungen dem Arzt sofort mitgeteilt werden müssen. Bestimmte Nebenwirkungen von Medikamenten oder ein plötzliches Auftreten von Symptomen psychischer Krankheiten sind gerade bei selbstmordgefährdeten Personen
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gefährdeten Personen alarmierend, und diese Symptome und Nebenwirkungen – heftige Erregungs- und Angstzustände, ausgeprägte Schlaflosigkeit, Ruhelosigkeit, Wahnvorstellungen, gewalttätige Gefühle oder Impulsivität – sollten dem Arzt offen und unverzüglich mitgeteilt werden. Verschiedene klinische Studien aus jüngerer Zeit haben gezeigt, dass es hilft, Patienten beizubringen, wie sie selbst frühe Symptome ihrer Krankheit erkennen können, und mit ihnen einen schriftlichen Plan auszuarbeiten, der genau darstellt, welche einzelnen Schritte sie in einer Notsituation, bei einem Rückfall etwa, unternehmen können, damit die Krankheit möglichst nicht so weit eskaliert, dass sie zur Klinikeinweisung, zum Verlust der Arbeitsstelle oder enger Beziehungen oder zum Selbstmord führt.58 Ist eine Person akut oder potenziell selbstmordgefährdet, sollten Schusswaffen, Rasierklingen, Alkohol, Messer, alte Medikamentenfläschchen und Gifte aus dem Haushalt entfernt werden. Medikamente, die verwendet werden könnten, um sich umzubringen, sollten nur in geringen Dosen oder unter genauer Kontrolle verschrieben werden, und von Alkohol ist abzuraten, weil dieser Schlafstörungen verschlimmern, die Urteilsfähigkeit beeinträchtigen, Misch- oder Erregungszustände erzeugen und die Wirksamkeit von Psychopharmaka herabsetzen kann. Patienten und ihre Angehörigen können sich – vor allem, weil in den letzten Jahren die Dauer der Einweisung in psychiatrische Kliniken von Jahren oder Monaten auf Tage zurückgegangen ist – leicht darüber täuschen, welch schwierige und gefährliche Zeit die Phase der Genesung nach einer schweren Depression oder Psychose ist. Patienten verlassen, oft noch immer sehr krank, die relative Sicherheit der Klinik, nur um zu ihrem zerrüttenden Leben und ihren chaotischen Stimmungsschwankungen zurückzukehren. Vor mehr als vierzig Jahren schrieb Sylvia Plath in ihrem Tagebuch: »(...) und wenn unser Leben auseinander bricht, und der hübscheste Spiegel zerbricht, ist dann nicht eine Ruhepause angebracht, ein Schritt zur Seite, um gesund zu werden?«59 Heutzutage haben allerdings nur wenige die Zeit oder die finanziellen Mittel, sich so behandeln zu lassen, wie sie es müssten, um gesund zu werden. Medikamente brauchen eine oft schmerzhaft lange Zeit, bis sie anschlagen, und die Rekonvaleszenz ist von Höhen und Tiefen geprägt und nie leicht. Ein Rückschlag nach einer Besserung kann verheerend, wenn nicht tödlich sein. Die Frustrationen und Hürden in
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dieser Zeit sind vorhersehbar, und wenn der Arzt darüber keinen Zweifel lässt, kann er sie erleichtern. Fast unvermeidlich werden auch Familienmitglieder und Freunde in die qualvolle Atmosphäre eines möglichen Selbstmordes hineingezogen. Auch sie können dann am besten helfen – und gleichzeitig sich selbst –, wenn sie genau über die klinische Situation, über die Krankheit und die Behandlungsmöglichkeiten Bescheid wissen, wenn sie sich nach realistischen Heilungsprognosen und ihrem zeitlichen Rahmen erkundigen und wenn sie Informationen und Unterstützung bei Beratungsgruppen für Patienten suchen. Ist ein Familienmitglied oder ein Freund akut selbstmordgefährdet, kann es nötig sein, diesem die Kreditkarten, die Autoschlüssel, das Scheckbuch wegzunehmen, kann es nötig sein, nicht nur Unterstützung und Solidarität zu zeigen, sondern auch eine gewisse Bestimmtheit an den Tag zu legen, wenn es darum geht, denjenigen zum Gang in eine Notaufnahme oder zum Gang in eine Tagesklinik zu bewegen. Ist die Person gewalttätig, kann es nötig werden, die Polizei zu rufen. Dies zu tun fällt schwer, aber oft ist es entscheidend. Die amerikanische National Depressive and Manic-Depressive Association, eine landesweite und von Patienten geleitete Beratungsgruppe mit Sitz in Chicago, gibt Familienangehörigen und Freunden von Selbstmordgefährdeten folgende Empfehlungen60:
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Nehmen Sie Ihren Freund / Ihre Freundin oder Ihren Familienangehörigen ernst. Bleiben Sie ruhig, aber tun Sie nicht zu wenig. Beziehen Sie andere Leute mit ein. Versuchen Sie nicht, die Krise allein zu bewältigen, gefährden Sie nicht Ihre eigene Gesundheit oder Sicherheit. Wenden Sie sich, wenn nötig, an den Notruf. Setzen Sie sich mit dem Psychiater, dem Therapeuten, der Krisenhilfegruppe oder anderen, die entsprechend ausgebildet sind, in Verbindung. Geben Sie Ihrer Sorge Ausdruck. Nennen Sie konkrete Beispiele dafür, was Sie zu der Annahme führt, dass Ihr Freund/Ihre Freundin (oder Ihr Familienangehöriger) kurz vor dem Selbstmord steht. Hören Sie aufmerksam zu. Halten Sie Augenkontakt. Benutzen Sie Körpersprache, nähern Sie sich zum Beispiel der Person oder halten Sie ihre Hand, wenn es angebracht erscheint. – 251 –
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Stellen Sie direkte Fragen. Finden Sie heraus, ob Ihr Freund / Ihre Freundin (oder Ihr Familienangehöriger) konkrete Selbstmordpläne hat. Stellen Sie wenn möglich fest, über welche Selbstmordmethode er oder sie nachdenkt. Zeigen Sie, dass Sie die Gefühle der Person anerkennen. Seien Sie einfühlsam und urteilen Sie nicht. Nehmen Sie der Person nicht die Verantwortung für ihre Handlungen ab. Beruhigen Sie die Person. Betonen Sie, dass Selbstmord eine endgültige Lösung für vorübergehende Probleme ist. Machen Sie der Person Mut und Hoffnung. Erinnern Sie Ihren Freund / Ihre Freundin oder Ihren Familienangehörigen daran, dass ihm oder ihr geholfen werden kann und dass die Dinge auch wieder besser werden. Versprechen Sie keine Verschwiegenheit. Vielleicht müssen Sie zum Schutz der geliebten Person mit deren Arzt sprechen. Geben Sie keine Versprechungen, die das Leben der geliebten Person gefährden könnten. Lassen Sie die Person möglichst nicht allein, bis Sie sicher sind, dass sie sich in den Händen kompetenter Fachleute befindet.
Es gibt ausgezeichnete Interessen- und Forschungsverbände, von denen viele Beratungsgruppen für Patienten und ihre Familien unterhalten und die alle aktiv mit Themen der Selbstmordprävention und psychischer Krankheiten zu tun haben. (Weitere Informationen zu diesen Gruppen finden sich im Anhang.) Oft ist es hilfreich, zu einem Zeitpunkt, da es einer selbstmordgefährdeten Person besser oder gut geht, den Arzt oder Therapeuten, Familienangehörige und Freunde zu versammeln, um sich auf den Eventualfall vorzubereiten. In einer solchen Situation wird die gefährdete Person wahrscheinlich nicht nur weniger defensiv oder verwirrt sein, sondern auch eher in der Lage, klare und spezifische Wünsche für ihre Behandlung zu äußern: An wen man sich im Notfall wendet, was andere tun können, um zu helfen, und womit sie eher schaden würden. Patienten, die in rationaler Verfassung entscheiden, dass sie im Falle erneuter Selbstmordgefahr in eine Klinik eingewiesen werden oder Antipsychotika oder Elektrokrampftherapie erhalten wollen, die aber auch wissen, dass sie im Zustand der Krankheit ihr Einverständnis dazu wahrscheinlich nicht geben würden, können in manchen Teilen der USA »Odysseus«-Erklärungen abgeben. Mit solchen Erklärungen (oder im voraus gegebenen – 252 –
Handlungsanweisungen) – die so heißen, weil sie auf die Bitte des Helden anspielen, an den Mast des Schiffes gebunden zu werden, damit er dem unwiderstehlichen Ruf der Sirenen nicht erliegt – kann der Patient im Voraus sein Einverständnis zu bestimmten Behandlungsmethoden geben. In Familien, in denen es eine Familiengeschichte von Geisteskrankheiten oder Selbstmorden gibt, können Eltern ihren möglicherweise gefährdeten Kindern helfen. Wenn sie sich über die psychiatrische Geschichte der Familie informieren, sich über Symptome und verfügbare Behandlungsmethoden erkundigen und diese offen und sachlich mit ihren Kindern besprechen, können sie dazu beitragen, dass ihre Kinder nach Hilfe suchen, wenn sie Depressionen bekommen oder anfangen, Alkohol oder Drogen zu nehmen. Jugendliche im College-Alter sind in Bezug auf psychische Krankheiten und Selbstmord besonders gefährdet, weil sich erste Episoden von depressiven Leiden oder Schizophrenie fast immer in dieser Zeit zeigen; sie sind zum ersten Mal von zu Hause fort und neuen Stresssituationen ausgesetzt, sie nehmen vielleicht in verstärktem Maße Alkohol oder Drogen oder verändern ihr Schlafverhalten radikal, was wiederum eine psychotische Episode auslösen kann. Ich bin oft erstaunt, dass viele Eltern zwar die sozialen und sportlichen Einrichtungen eines Colleges in Augenschein nehmen, die Bibliotheken und die Studentenunterkünfte besuchen und sich danach erkundigen, wie erfolgreich das College darin ist, seine Absolventen an weiterführenden Hochschulen für Jura oder Medizin oder in Doktorandenprogrammen unterzubringen, sich aber nicht darum kümmern, wie es um die Qualität und Zugänglichkeit der studentischen Gesundheitseinrichtungen bestellt ist. Soziale und psychiatrische Beratung und Einrichtungen sind an den verschiedenen Colleges von ganz unterschiedlicher Qualität, und es ist nützlich, herauszufinden, wie gut diese Einrichtungen mit Studenten umgehen können, die an einer psychischen Krankheit leiden. Außerdem empfiehlt es sich, sich von der psychiatrischen Abteilung der nächsten Lehrklinik oder medizinischen Hochschule eine Liste von Klinikärzten geben zu lassen, die kompetent und auf die Behandlung von psychischen Störungen spezialisiert sind. Patientenberatungsgruppen helfen ebenfalls durch die Weitergabe von Informationen über örtliche Kliniken, Ärzte und Hilfsgruppen. Natürlich hofft jeder, dass eine solche Liste niemals benötigt wird, gleichwohl ist es sinnvoll, sie schon im Vorfeld
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zu besorgen. Die gleichen Eltern, die sicherstellen, dass ihre Kinder über AIDS, Geschlechtskrankheiten und Drogenmissbrauch Bescheid wissen, sprechen häufig nicht mit ihnen über die Symptome von Depressionen, obwohl es sich dabei um eine häufige, potenziell tödliche und gut zu behandelnde Krankheit handelt. Zudem ist in dieser dafür anfälligen Altersklasse Selbstmord nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache. Glücklicherweise haben Studenten begonnen, ihre Kommilitonen über psychische Krankheiten selbst zu informieren. (In Universitätsund College-Verwaltungen nimmt langsam das Bewusstsein von der Häufigkeit von Geisteskrankheiten unter Studenten und Graduierten zu; aufgeschreckt durch die allzu häufigen Selbstmorde junger Leute, ergreifen sie zunehmend die Initiative.) Ich hatte das Vergnügen und das Privileg, mit Hunderten von Studenten im ganzen Land zusammenzutreffen, die oft schon seit Jahren mit schweren Depressionen, manisch-depressiven Leiden oder Alkoholismus kämpfen. Eine erschreckend große Zahl von ihnen ist an ihren Selbstmordversuchen fast gestorben. Selten haben ihre Eltern oder ihre Professoren auch nur die geringste Vorstellung vom Ausmaß ihres Leidens oder davon, was es ihnen abverlangt, einfach nur zu den Seminaren zu erscheinen, Prüfungen zu absolvieren oder Arbeiten zu schreiben. Vor kurzem bin ich mit einer Gruppe von Studenten der Harvard University zusammengetroffen, die auf dem Campus ein Programm für Studenten ins Leben gerufen haben, das sich zum Ziel gesetzt hat, über psychische Krankheiten aufzuklären. Sie organisieren Vorträge, arbeiten mit einem Professor ihres Psychiatrie-Fachbereichs zusammen, der als Berater fungiert, sie unterhalten eine Website und eine Hilfegruppe für Studenten, die an einer Geisteskrankheit leiden. Allison Kent, die Gründerin der Gruppe, ist eine mutige, lebhafte, herzliche junge Frau, die das Leid, welches ihr die eigene manischdepressive Erkrankung bereitet, zu einer Quelle der Hoffnung und Unterstützung für andere gemacht hat. Sie beschreibt ihre eigenen Erfahrungen als Studentin so:
Ich habe eine psychische Störung. Ich erinnere mich, wie ich, als ich in meinem ersten Studienjahr krank wurde, The Unofficial Guide to Life at Harvard und andere Veröffentlichungen durchblätterte und verzweifelt nach einer Gruppe für Menschen meines
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Alters suchte, die sich mit dem Thema Geisteskrankheit auseinandersetzt. Ich meine, es konnte ja wohl nicht sein, dass es eine Gesellschaft für Gedankenfreiheit, einen Texas-Club und eine Anime-Society gab und keinen, der sich mit einer so grundlegenden Frage wie der seelischen Gesundheit befasste. Aber da irrte ich mich. Das Einzige, worauf ich stieß, war die Erkenntnis, dass das Stigma, mit dem die Gesellschaft psychische Krankheiten belegt, in Harvard genauso wirksam und verbreitet ist.61 Sieh dir deine Mitstudenten eines Tages mal genau an. Du wirst feststellen, dass ich kein außergewöhnlicher Fall bin. Wir, die psychisch Kranken, leben oft im Verborgenen, aber das kann genauso gut in einem Obdachlosenheim sein wie in Harvard. Hilf uns, unsere Last leichter zu tragen, indem du dich und deine Freunde darüber informierst, wie weit verbreitet Geisteskrankheiten sind, und indem du etwas darüber lernst, wie sie erfolgreich behandelt werden können. Indem wir unsere eigene Anfälligkeit und die Anfälligkeit anderer anerkennen, machen wir es für uns alle, nicht nur für die psychisch Kranken, einfacher, in dieser Welt zu leben. Niemand sollte sich allein in den Schlaf weinen müssen.62
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Kapitel 9 Wir als Gesellschaft Das Gesundheitswesen
Wir als Gesellschaft reden nicht gern über Selbstmord. DR. DAVID SATCHER, DR. MED., PH.D., Stellv. Gesundheitsminister der Vereinigten Staaten1
Mehr als dreitausend Menschen waren im Mai 1993 zur Beerdigung von John Wilson gekommen, und Tausende von Menschen säumten die Straßen Washingtons, als sein Sarg vorbeifuhr. Wilsons Tod traf die Hauptstadt, wo er mit seiner lebhaften Intelligenz als Stadtratsvorsitzender gewirkt hatte, wie ein Schlag. Wer in Washington lebte und hoffte, dass er eines Tages zum Bürgermeister gewählt würde, hörte mit Entsetzen, dass Wilson, ein neunundvierzigjähriger, charismatischer und zupackender Mann, sich erhängt hatte. Gerüchte über jähe Temperamentsausbrüche und unberechenbares Verhalten hatten schon seit Monaten die Runde gemacht, doch sein Selbstmord war ein Schock. Er zwang die Stadt zu einer für sie ungewöhnlichen Pause nachdenklichen Schweigens inmitten ihres hektischen Treibens und warf innerhalb weniger Stunden eine ganze Reihe von Fragen auf: Wie konnte ein derart bewunderter und geschätzter Mann, elegant, lebhaft und mit scharfem Witz, eine solche, nicht wiedergutzumachende Tat begehen? War ihm überhaupt klar, wie verheerend sein Selbstmord auf diejenigen wirken musste, deren Dasein und Hoffnungen er repräsentierte – oder war ihm alles gleichgültig geworden? Würde sein Selbstmord eine Welle von Nachahmungstaten auslösen, vor allem unter der männlichen schwarzen Bevölkerung der Stadt? War er in Behandlung gewesen? Hatte er Medikamente genommen und wenn ja, welche? Und vor allem: Hätte die Gesellschaft – oder das Gesundheitssystem – Wilsons Selbstmord verhindern können? Depressionen waren John Wilson nicht fremd. Die Krankheit war in seiner Familie häufiger aufgetreten, und er selbst hatte bereits – 256 –
mindestens vier Mal versucht, sich das Leben zu nehmen – er hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten, russisches Roulette gespielt, eine Überdosis seiner Antidepressiva geschluckt und versucht, sich aufzuhängen. Während seiner letzten akuten Krankheitsphase hatten sein Psychiater, seine Familie und seine engen Freunde ihn beschworen, in eine Klinik zu gehen, doch er hatte sich geweigert. Vielleicht dachte er, es gäbe nichts, was ihm helfen könnte; außerdem hoffte er, eines Tages Bürgermeister zu werden, und er hatte das Gefühl, dass ein Klinikaufenthalt politischem Selbstmord gleichkam. Wahrscheinlich hätte er damit Recht behalten, möglicherweise auch nicht. Auf jeden Fall brachte er sich um, bevor die Stadt sich von ihrer verständnisvolleren Seite hätte zeigen können. Berichte über Wilsons letzte Wochen zeigen einen verzweifelten Menschen, der vor den Augen der Öffentlichkeit allmählich unterging. Peter Perl beschrieb seine letzten Tage in der Washington Post:
Ein konstantes Merkmal, so sagen seine Freunde, war eine graue Trübsal, für die es keine Erlösung gab, die ihn langsam überschwemmte und die Oberhand gewann. »John wurde schließlich von etwas eingeholt (...) das weit über die Frage hinausging, ob er für das Bürgermeisteramt kandidieren« oder ob er andere Karriereziele verfolgen sollte. »Seine Depressionen wurden stärker und folgten immer schneller aufeinander. (...) Er wurde finsterer, und es wurde schwerer, ihn aus seinen Depressionen aufzurütteln.« Nur einmal sprach Wilson in der Öffentlichkeit von der Qual, welche die Depression verursachte. Am 7. Mai [weniger als zwei Wochen, bevor er sich umbrachte] wich er von einer vorbereiteten Rede über Kinder und Gewalt ab und begann bei einem Treffen der D.C. Mental Health Association vor einer Gruppe von Psychiatern und anderen Fachleuten seine eigene Krankheit zu enthüllen. »Sie können in mir den Politiker sehen, Sie können in mir aber auch einen Menschen sehen, der mit Depressionen zu kämpfen hat, einer sehr schmerzvollen, sehr schwierigen Krankheit (...) [die] zu einem starken Gefühl der Verlorenheit führt, als hätte man ein Loch im Leib.« Er sprach davon, dass diese Krankheit unter der schwarzen Bevölkerung von einer besonders tödlichen Wirkung sei, weil die Menschen »russisches Roulette«
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mit ihrem Leben spielten. »Ich glaube, es sterben mehr Leute an Depressionen als an AIDS, an Herzleiden, an zu hohem Blutdruck oder an irgendetwas anderem, einfach weil ich überzeugt bin, dass Depressionen zu all diesen Krankheiten führen.« Die Hörerschaft war fassungslos, aber, so berichtet die Verbandsvorsitzende Anita Sheldon, keiner von denen, die später ein paar Worte mit Wilson wechselten, sprach mit ihm über seine Krankheit. Wilson wurde immer sonderbarer und zunehmend verdrießlich bei seinen öffentlichen Auftritten, aber die meisten Leute schrieben sein Verhalten seiner habituellen Launenhaftigkeit zu. Wilson moderierte eine Fernsehshow für einen Kabelsender in D.C., und in der Aufzeichnung seiner letzten Show sah man ihn abwechselnd lachen, stottern und wirres Zeug reden. (...) Er beendete die monatliche Sendung mit den Worten: »Wir sehen uns dann nächste Woche wieder, nehme ich an.« Auf einer Sitzung am 12. Mai im Capitol, auf der der Haushalt des District of Columbia besprochen wurde, legte er seine vorbereitete Rede beiseite – »die Leute, die diese Rede geschrieben haben, werden sterben, wenn ich sie nicht halte – also werden sie wohl sterben müssen« – und sagte stattdessen vor dem Finanzausschuss des Repräsentantenhauses von D.C.: »Herr Vorsitzender, ich stehe am Ende einer politischen Karriere, ich bin am Ende einer politischen Karriere angelangt, und ich habe dieser Regierung, wie ich denke, 18 Jahre lang gut gedient. (...) Und so komme ich heute zu Ihnen, Herr Vorsitzender, als ein müder, erschöpfter alter Mann, der sein Haar verliert, der allmählich große, große Todesangst bekommt, wenn er an die Finanzsituation des District of Columbia denkt. (...) Ich habe Angst. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.«2
Am Tag vor seinem Selbstmord führte Wilson den Vorsitz bei einer Anhörung der Stadtverwaltung, an der sehr viele Leute teilnahmen. Er war abwechselnd völlig klar und dann wieder absolut fahrig. Plötzlich bekam er, vor laufenden Fernsehkameras und einem Raum voller Leute, einen Wutausbruch und stolzierte aus der Versammlung. Dann kehrte er zurück, redete jedoch wirr und unverständlich. Trotzdem hatte zumindest einer seiner engen Freunde den Eindruck, er habe optimistisch und jovial gewirkt, »als ob es auf der Welt für ihn keine Sorgen gebe«. Als er am nächsten Tag nicht zur Arbeit erschien,
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fuhren sein Chauffeur und seine Frau zu ihm nach Hause. Er hatte sich im Keller erhängt. Er war ein ausgezeichneter Politiker und eine prominente Führungspersönlichkeit der Bürgerrechtsbewegung, und doch war der ehrgeizige und höchst erfolgreiche Sohn eines Gepäckträgers der Baltimore & Ohio Railroad von eigener Hand gestorben. Er war an Depressionen gestorben, gestorben aus Angst vor den Reaktionen der Öffentlichkeit, wenn sie von seiner psychischen Krankheit oder von einem Klinikaufenthalt erfahren würde. Und er war auch deshalb gestorben, weil es seine Krankheit für andere schwer machte, an ihn heranzukommen: Niemand wusste, wie man mit einer Figur des öffentlichen Lebens umgeht, die überdreht und unberechenbar ist. Er ist daran gestorben, dass die Gesetze über die Einweisung in die Psychiatrie zwar Bürgerrechte schützen, aber nicht notwendigerweise ein Leben. Und daran, dass wir als Gesellschaft nicht in der Lage sind, mit ernsten psychischen Krankheiten, mit Süchten oder mit Selbstmord tolerant und sachverständig umzugehen. Was hätte die Gesellschaft unternehmen können, damit es akzeptabel geworden wäre, sich in eine Klinik zu begeben ? Was hätte sie tun können, damit es unnötig und unvorstellbar gewesen wäre, stattdessen ein Seil über ein Heizungsrohr zu werfen ? Ärzte, die am besten in der Lage sein sollten, den Menschen zu helfen, zeichnen sich nicht unbedingt durch die Fähigkeit aus, sich gegenseitig oder sich selbst zu helfen. Die Selbstmordrate unter Ärzten ist doppelt so hoch wie bei anderen.3 Besonders anfällig sind Psychiater und Anästhesisten, noch gefährdeter Ärztinnen.4 Frauen aus dieser Gruppe nehmen sich drei bis fünf Mal so häufig das Leben, wie es im Durchschnitt der Bevölkerung der Fall ist.5 (Psychologinnen und Chemikerinnen haben ähnlich hohe Selbstmordraten, Lehrerinnen jedoch nicht.6) Auch Männer in diesen Berufen zeigen keine höhere Selbstmordneigung. Vielleicht handelt es sich hier um eine bestimmte Auswahl von sehr energischen, unbeständigen und oft stimmungsgestörten Frauen, die sich erfolgreich in Bereiche begeben, die von Männern dominiert sind und in denen sie sich gegen eine starke Konkurrenz behaupten müssen. Außerdem sind Frauen wahrscheinlich stärkeren Belastungen ausgesetzt, die mit der Kindererziehung, den Vorurteilen von Kollegen und Patienten und den gespaltenen Loyalitäten zwischen Privatleben und Karriere zusammenhängen.7
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In medizinischen und naturwissenschaftlichen Berufen kommen außerdem Vertrautheit mit und Zugang zu hochgradig letalen Selbstmordethoden hinzu. Meistens stehen Ärzte im Kampf mit ihrem Leiden allein. Viele bitten ungern um Hilfe oder geben nicht zu, dass sie Hilfe brauchen: Sie werden dazu ausgebildet, selbstständig zu handeln, die Verantwortung für Entscheidungen zu übernehmen, die Leben kosten oder retten können, und einen übermäßig großen Teil des Elends anderer Menschen zu schultern. Sie sind in einem geschlossenen System angesiedelt, das die Suche nach Behandlung allzu oft keineswegs unterstützt und die Macht besitzt, ärztliche Zulassungen und die Belegungsrechte für Krankenhausplätze zu verweigern oder zu widerrufen und in den ständigen Strom von Patientenüberweisungen einzugreifen. Stark süchtig machende und tödliche Drogen sind mühelos erreichbar, Stress und Depressionen sind nichts Ungewöhnliches,8 und Schlafmangel – eine Ursache für Erschöpfung und mangelnde Urteilsfähigkeit sowie ein möglicher Auslöser für psychische Krankheiten9 – ist weit verbreitet. Die Selbstversorgung mit Alkohol, Drogen oder stimmungsverändernden Medikamenten hat oft verheerende Folgen. Ärzte müssen ihre eigenen Probleme und die ihrer Kollegen erkennen und sich mit ihnen befassen, zusätzlich zu denen der Patienten, die sie behandeln. Sie müssen sich mit tief verankerten Haltungen und Vorurteilen über psychische Krankheiten und Selbstmord auseinandersetzen. Das Mitgefühl und das Wissen, das sie in die Behandlung anderer Krankheiten einbringen, ist oft nicht Bestandteil der Behandlung psychisch Kranker. Wenn Ärzte mit Suizid oder suizidalem Verhalten konfrontiert werden, finden sie es oft unbegreiflich oder bedrohlich. Sherwin Nuland, Chirurg an der Yale University, stellt zum Beispiel fest, dass die Familienangehörigen oder Freunde eines Menschen, der sich umgebracht hat, »fassungslos vor einer solchen Tat [stehen]. (...) Für die Ärzte und Pfleger, die als Erste die Leiche sehen, kommt etwas anderes hinzu. Wenn Männer und Frauen, deren Lebensaufgabe es ist, gegen Krankheit und Tod zu kämpfen, mit der Leiche eines Selbstmörders konfrontiert werden, hindert sie etwas daran, Verständnis oder Mitgefühl für diese Tat zu entwickeln. Ob sie die Sinnlosigkeit der Tat verstört oder wütend macht, auf jeden Fall scheinen sie keinen besonderen Kummer zu empfinden, wenn sie vor der Leiche stehen. Nach meiner Erfahrung gibt es nur wenige Ausnahmen von dieser Regel. Entsetzen und sogar Bedauern sind
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möglich, aber selten die echte Trauer, wie sie sich bei einem ungewollten Lebensende einstellt.«10 Und doch hat fast ein Drittel der Menschen, die sich umbringen, in der Woche und über die Hälfte innerhalb des letzten Monats vor ihrem Selbstmord einen Arzt aufgesucht.11 Die meisten sagen nicht, dass sie selbstmordgefährdet sind, und sie werden in der Regel auch nicht danach gefragt. Wie wir gesehen haben, ist es selbst für Fachärzte nicht immer einfach, selbstmordgefährdete Patienten zu erkennen und angemessen zu behandeln. Manche Ärzte sind skeptisch, ob auch Allgemeinärzte befugt sein sollten, Patienten auf Selbstmordgefährdung zu untersuchen und zu behandeln;12 andere halten an der irrtümlichen Ansicht fest, dass sie zum Selbstmord ermutigen, wenn sie ihre Patienten danach fragen. Es spricht jedoch vieles dafür, dass es eine Auswirkung auf die Selbstmordrate hätte, wenn Ärzte zur Diagnose und Behandlung von Depressionen ausgebildet wären. Anfang der achtziger Jahre führte der Schwedische Ausschuss für Prävention und Behandlung von Depressionen auf der schwedischen Insel Gotland ein Weiterbildungsprogramm für alle Allgemeinärzte ein.13 Die Ärzte besuchten Kompaktkurse über Ursachen, Klassifikation und Behandlung von Depressionskrankheiten; außerdem wurden sie in spezielleren klinischen Bereichen wie der Diagnose und Behandlung von Kindern, Jugendlichen und alten Menschen unterrichtet. Folgestudien zeigten, dass die Ärzte, die an dem intensiven Weiterbildungsprogramm teilgenommen hatten, besser in der Lage waren, bei ihren Patienten Depressionen zu identifizieren; sie gingen mit ihren Behandlungsverordnungen genauer und sachgerechter vor. Auf der Insel ging die Suizidrate stärker zurück als in Schweden insgesamt, und insbesondere der Anteil von Selbstmorden, die sich auf depressive Leiden zurückführen ließen. Zwar stellten einige Forscher die Methoden dieser Erhebung in Frage, aber die Ergebnisse machten auf viele Ärzte des öffentlichen Gesundheitswesens einen großen Eindruck. Es ermutigte sie, dass ein Fortbildungsprogramm so deutliche Auswirkungen auf eine Problematik hatte, der bis dahin viel schwerer beizukommen war als jeder anderen Haupttodesursache. Ärzte, die in häufigem und direktem Kontakt mit stark selbstmordgefährdeten Patienten stehen, können Selbstmorde offenbar besser verhindern als Allgemeinärzte. Das medizinische Personal in
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Notaufnahmen zum Beispiel behandelt Patienten, die Selbstmordversuche begangen haben und bei denen die Gefahr groß ist, dass sie sich umbringen. Die American Foundation for Suicide Prevention hat ein Plakat entworfen, das in allen Notaufnahmen in den USA ausgehängt werden soll und in dem für Nichtfachleute wie für Psychiater die klinischen Hauptwarnzeichen für Selbstmord und die Mindestmaßnahmen dargestellt werden, die Ärzte ergreifen sollten, damit es nicht dazu kommt. Wenn man diese Ärzte und Patienten erreicht, dann sind möglicherweise einige oder sogar viele Leben zu retten. Eine Flächen deckende Untersuchung von Patienten bei praktischen Ärzten hat sich dagegen als nicht besonders wirkungsvoll erwiesen; sie werden weder von den Centers for Disease Control and Prevention in den Vereinigten Staaten noch von der Canadian Task Force empfohlen, die als Institutionen eingerichtet wurden, um die Durchführbarkeit solcher Überprüfungen zu untersuchen.14 Es kann allerdings sein, dass in Zukunft routinemäßig und computergestützt Befragungen durchgeführt werden, die die begrenzte Zeit von praktischen Ärzten nicht übermäßig beanspruchen und die, wie Untersuchungen zeigen, genauere Auskünfte über Selbstmordvorstellungen und Alkoholgenuss erbringen als Befragungen durch Kliniker.15 Die Identifizierung und Behandlung von Menschen, die in hohem Maße suizidgefährdet sind, kann nicht nur durch Ärzte, sondern auch durch viele andere Personen, Organisationen und Interventionsstrategien erfolgen. Der National Depression Screening Day, anfangs ein Pilotprojekt eines örtlichen Krankenhauses in Massachusetts, erreicht seit 1991 Menschen, die von sich aus interessiert sind.16 Im Oktober jedes Jahres liegen in Kliniken, Krankenhäusern, öffentlichen Büchereien, Unternehmen und Einkaufszentren in ganz Amerika Formulare aus, die zur Erfassung von Depressionskrankheiten ausgefüllt werden können. Wenn jemand um eine Überweisung zur Behandlung bittet oder das Ergebnis, weil es eine bestimmte Punktzahl überschreitet, für eine eingehendere Untersuchung im Krankenhaus spricht, dann wird dies umgehend eingeleitet. (Zwanzig Prozent der Menschen, die sich dem Test unterziehen, leiden unter ernsten Depressionen, aber von diesen lässt sich nur jeder Zehnte behandeln.) Mehr als 400000 Menschen haben bisher an dem Programm teilgenommen. Bei vielen wurde ein hohes Selbstmordrisiko festgestellt. Als kürzlich eine ähnliche Checkliste für Depressionssymptome
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zusammen mit einer Rufnummer, unter der man sich melden konnte, in der Zeitschrift Parade veröffentlicht wurde, gingen innerhalb der folgenden zwei Wochen mehr als 100000 Anrufe ein. Nur eine kleine Minderheit der Anrufer befand sich in Behandlung. In Zukunft wird es sehr wahrscheinlich biologische Tests zur Feststellung eines Selbstmordrisikos geben.17 Ob sie spezifische genetische Marker ausfindig machen, die Serotoninfunktion messen oder die Muster neuronaler Entladung im Gehirn sichtbar machen, um so neurochemische oder anatomische Veränderungen festzustellen, die mit einem erhöhten Selbstmordrisiko einhergehen können – auch solche Tests werden im günstigsten Fall nur eine bedingte Prognose zulassen und gleichzeitig klinische und ethische Probleme nach sich ziehen. Es ist unvermeidlich, dass es bei der Interpretation der Testergebnisse zu Ungenauigkeiten kommt und zu Unsicherheiten darüber, ob sie spezifisch genug sind und Prognosen zulassen. Die Tests werden psychische Folgen für die Betreffenden und ihre Familien (und vielleicht auch berufliche und versicherungstechnische Rückwirkungen) haben, und die Kosten und die Regelung des Zugangs zu solchen Tests werden umstritten sein. Dennoch: Sollten solche biologischen Tests einmal zur Verfügung stehen und unsere Möglichkeiten der Selbstmordprognose oder der Risikobewertung verbessern, werden sie demgegenüber, was uns heute möglich ist, einen ungeheuren Fortschritt bringen. Derzeit wissen wir, dass bei bestimmten Personengruppen eine erhöhte Selbstmordgefahr besteht: bei Menschen, die bereits Selbstmordversuche unternommen haben; die an Depressionen, manischdepressiven Zuständen, Alkoholismus, Schizophrenie oder Persönlichkeitsstörungen leiden; die gerade aus psychiatrischen Kliniken entlassen worden sind; bei jungen Männern in Gefängnissen und Strafvollzugsanstalten, besonders wenn sie psychisch krank sind, wenn sie isoliert oder in überfüllten Räumlichkeiten leben müssen;18 unter Polizeibeamten;19 Spielern;20 Arbeitslosen; homosexuellen und bisexuellen Männern (bei denen das Risiko von Selbstmordversuchen, wenn auch nicht unbedingt von Selbstmorden, höher liegt);21 Indianern;22 Jugendlichen in Alaska;23 und zunehmend bei jungen männlichen Schwarzen.24 Weltweit betrachtet sind junge Frauen in China und männliche Jugendliche in Mikronesien besonders suizidgefährdet.25 Schulen, Stadtverwaltungen und nationale Regierungen haben auf
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verschiedene Art und Weise versucht, sich mit dem Problem der Selbstmordprävention bei diesen besonders gefährdeten Gruppen und in der Gesamtbevölkerung auseinanderzusetzen – mit gemischten Ergebnissen. Die meisten Unterrichtseinheiten, die die Aufmerksamkeit von Schülern auf die Selbstmordproblematik lenken wollten, waren zwar gut gemeint, aber uneffektiv und in manchen Fällen ungenau, irreführend, wenn nicht gar schädlich.26 Einige Projektleiter berichten von genaueren Kenntnissen der Kinder über die Selbstmordproblematik, andere sogar von einem Rückgang des suizidalen Verhaltens.27 Von den Regierungen Australiens, Kanadas und der Vereinigten Staaten in Auftrag gegebene Studien jedoch stellen die Brauchbarkeit der zur Zeit eingesetzten Unterrichtseinheiten, die das Bewusstsein für die Selbstmord- und Präventionsproblematik schärfen sollen, in Frage. So kommt eine australische Übersichtsstudie zu dem Schluss, dass auf Grund der Untersuchungsergebnisse »die Förderung von Unterrichtseinheiten zur Selbstmordprävention an den Schulen nicht zu befürworten ist, mit Sicherheit nicht im regulären Stundenplan der höheren Schulen«.28 Auch in Kanada legten es die Befunde nicht nahe, »ein in den Stundenplan eingebautes Programm zur Selbstmordprävention für Jugendliche zu befürworten«,29 und eine zusammenfassende amerikanische Studie fand »keine Rechtfertigung« dafür, solche Unterrichtseinheiten zum Teil des Pflichtstundenplans zu machen.30 Warum diese entmutigenden Ergebnisse? Liegt das Problem an den bisher vorhandenen Unterrichtseinheiten oder am Unterricht für diese Altersgruppe überhaupt? Identifizierbare Probleme mit den bestehenden Unterrichtseinheiten sowie verschiedene Erfolgsbeispiele lassen vermuten, dass das Potenzial für Interventionsprogramme im schulischen Rahmen bislang nicht ausgeschöpft worden ist. Eine umfangreiche und vernichtende Untersuchung der Schulprogramme, die vor einigen Jahren in The American Psychologist veröffentlicht wurde, konzentrierte sich auf einige Kritikpunkte:
Viele in den Lehrplan integrierte Unterrichtseinheiten beruhen nicht auf dem neuesten Wissensstand über Selbstmordrisikofaktoren bei Jugendlichen. Sie unterbewerten oder leugnen die Tatsache, dass die meisten Jugendlichen, die Selbstmord begehen, an einer psychischen Krankheit leiden. Bei dem Versuch, dem
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Selbstmord auf diese Weise sein Stigma zu nehmen, leisten sie vielleicht sogar einer Normalisierung dieses Verhaltens Vorschub und bauen möglicherweise schützende Tabus ab. (...) In den Programmen zur Selbstmordprävention wird die Häufigkeit von Selbstmorden bei Jugendlichen manchmal übertrieben, denn es ist ein Ziel dieser Einheiten, die Aufmerksamkeit und das Problembewusstsein zu erhöhen. (...) Die Gefahr der Übertreibung besteht darin, dass Schüler den Suizid für eine verbreitete und daher in gewisser Weise akzeptable Handlung halten können. (...) Die übertriebene Darstellung der Häufigkeit von Selbstmorden ist ein Hinweis darauf, dass die Unterrichtseinheiten der umfangreichen Literatur über den Nachahmungs- oder Ansteckungseffekt bei Suizid unter Jugendlichen keine Beachtung schenken. Ein anderer Hinweis ist der häufige Gebrauch von Print- oder visuellen Medien zur Darstellung der Fallgeschichten von Jugendlichen, die Selbstmord begangen oder versucht haben. Damit sollen Schüler darüber aufgeklärt werden, wie sie erkennen können, ob Freunde durch suizidales Verhalten gefährdet sind. Diese Methode kann jedoch den paradoxen Effekt haben, dass sich Schüler mit den in den Fallbeispielen gezeigten Problemen stark identifizieren und dazu kommen, den Selbstmord als die logische Lösung ihrer eigenen Probleme zu betrachten. (...) Auf einer ganz praktischen Ebene erreichen Programme zur Selbstmordprävention ihre Zielgruppe vielleicht überhaupt nicht, denn extrem hohe Selbstmordraten finden sich bei inhaftierten Jugendlichen, jugendlichen Ausreißern und Dropouts.31
Andere Forscher und Fachärzte haben ebenfalls an den Schulprogrammen kritisiert, dass die Zielgruppe (nämlich alle Schüler und nicht nur die, die besonders gefährdet sind) zu diffus und die Informationen über Selbstmord ungenau seien. In einer eingehenden Analyse von 115 Unterrichtseinheiten zur Selbstmordprävention bei Jugendlichen wurde festgestellt, dass sie meistens nur zwei Stunden oder weniger dauerten und sich fast ausschließlich auf ein »Streßmodell« für Selbstmord konzentrierten, Selbstmord also als eine Reaktion auf extreme Belastung darstellen und damit im Grunde genommen jeden, der überlastet ist, als potenziellen Selbstmordkandidaten auffassen. Nur vier Prozent der untersuchten Einheiten gingen davon aus, dass Selbstmord gewöhnlich als Folge einer psychischen Krankheit auftritt. Zu ihrem Erschrecken stellten die
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Forscher fest, dass »Schüler, die angaben, schon einen Selbstmord versucht zu haben (ungefähr elf Prozent der Befragten) grundsätzlich negativ auf die Lehrplaninhalte zur Selbstmordprävention reagierten. Die Mehrheit fand die Unterrichtseinheit kaum interessant oder hilfreich und fühlte sich eher beunruhigt. (...) Vergleicht man Jugendliche, die zwar einen Selbstmordversuch hinter sich, aber an keinem Schulprogramm teilgenommen hatten, mit denen, die nach ihrem Versuch auch eine solche Unterrichtseinheit absolviert hatten, dann erklärte ein größerer Anteil der Letzteren, sie würden ihre Beschäftigung mit dem Selbstmord anderen nicht mitteilen wollen; sie glaubten auch nicht, dass ein Fachmann für psychische Krankheiten ihnen helfen könnte; sie sahen im Selbstmord eine vernünftige Lösung für Probleme.«32 Bei aller Entmutigung weisen diese Befunde aber auch auf Schwierigkeiten hin, die zu lösen sind. Natürlich muss das MedizinerDiktum: »Alles vermeiden, was schadet«, allen Bemühungen zur Selbstmordprävention an Schulen zu Grunde gelegt werden. Außerdem ist es wichtig, dass die Schulverwaltungen jede Romantisierung des Selbstmordes vermeiden und dass sie das Hauptgewicht ihrer Anstrengungen in Unterrichtseinheiten und Erhebungen darauf legen, psychische Krankheiten und Suchtmittelmissbrauch zu erkennen und eine Behandlung einzuleiten. David Shaffer und seine Kollegen von der New Yorker Columbia University haben ein viel versprechendes Programm entwickelt, um unter High-School-Schülern systematisch nach Warnzeichen für Selbstmord zu suchen.33 (Dabei werden keine Vorträge über Selbstmord gehalten, und weder Lehrern noch Schülern wird die Verantwortung zugemutet, »sich als Fachleute für psychische Krankheiten zu gerieren«.) Hat ein Schüler einen kurzen Fragebogen über sich selbst ausgefüllt und lassen die Antworten erkennen, dass er oder sie möglicherweise gefährdet ist, dann wird mit ihm oder ihr ein computergestütztes diagnostisches Interview geführt. Die Computerauswertung vermittelt einen ersten diagnostischen Eindruck, der an einen Facharzt weitergereicht wird, der dann, in der dritten und letzten Phase des Prozesses, ein persönliches Gespräch mit dem Schüler führt. Auf der Basis dieses Gesprächs entscheidet der Facharzt, ob der Schüler eine Überweisung zur Behandlung erhält. Ein für solche Fälle Verantwortlicher setzt sich, falls eine Behandlung notwendig ist, mit den Eltern in Verbindung und unterstützt die Betroffenen auch bei der Nachsorge.
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Mit diesem Programm ist es gelungen, Schüler mit hohem Selbstmordrisiko zu identifizieren und einer Behandlung zuzuführen. (Von den Schülern, die während des Erhebungsprozesses als typisch depressiv erkannt wurden, war nur ein Drittel in Behandlung; von denen, die bereits einen Selbstmordversuch hinter sich hatten, nur die Hälfte.) Das Erhebungssystem wird inzwischen von weltweit mehr als siebzig Gruppen und Institutionen eingesetzt, darunter von Schulen in Südafrika und Australien sowie in den USA. Von Stadtverwaltungen organisierte Programme zur Selbstmordprävention wie die der Samaritans in England und der Suicide Prevention Centers in den USA haben keine nachweisbare Auswirkung auf die Selbstmordrate gezeigt. Eine ältere Studie hatte den Eindruck erweckt, als sei die Selbstmordrate in Städten, die Suicide Prevention Centers unterhielten,34 gesunken, aber buchstäblich jede Studie seither konnte nur geringe oder gar keine Auswirkungen feststellen.35 Dies widerspricht zwar dem, was man intuitiv vermuten würde, kommt aber auch nicht völlig überraschend: Suicide Prevention Centers und Krisen-Hotlines mögen zwar für viele Menschen eine große Hilfe sein, aber schwer Depressive oder hochgradig Selbstmordgefährdete wenden sich nur in seltenen Fällen an solche Einrichtungen. Außerdem werden viele Selbstmorde impulsiv begangen, weshalb es im Allgemeinen nicht zur Kontaktaufnahme mit anderen Menschen kommt. Eine Analyse der typischen Patienten und Anrufer bei den Suicide Prevention Centers hat gezeigt, dass die Mehrzahl zwar Hilfe braucht, aber nicht suizidal ist. Selbstmordprävention ist nicht nur ein klinisches Problem. Die Gesellschaft muss sich mit der ansteckenden Wirkung von Selbstmord, vor allem unter jungen Menschen, beschäftigen und dafür sorgen, dass eine einzelne Tragödie nicht zum Tod weiterer Menschen führt. Der Ansteckungsaspekt bei Selbstmord oder die Tendenz zum gehäuften Auftreten von Selbstmorden wird seit Jahrhunderten beobachtet und ist für manche hergebrachte Sanktion gegen den Akt der Selbsttötung zumindest teilweise verantwortlich. Selbstmordepidemien traten zum Beispiel unter Soldaten und Bürgern der griechischen und römischen Antike auf, ebenso unter den Anhängern Odins in den Gemeinwesen der Wikinger. Gelegentlich konnte das entschlossene Eingreifen eines Anführers weitere Katastrophen verhindern.
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Sechshundert Jahre vor Christus beendete zum Beispiel der römische König eine Selbstmordepidemie unter Soldaten, indem er erklärte, die Leichen aller Selbstmörder würden an Kreuze genagelt und öffentlich zur Schau gestellt. Um eine Selbstmordepidemie unter jungen griechischen Frauen zu stoppen, beschloss ein örtlicher Magistrat im vierten Jahrhundert vor Christus, dass »der Körper jeder jungen Frau, die sich erhängt hat, an demselben Seil, mit dem sie die Tat beging, nackt durch die Straßen geschleift wird«.36 Die Epidemie ebbte rasch ab. Jahrhunderte später wurde ein ähnliches Gesetz erlassen, um einer Selbstmordepidemie unter jungen Frauen in Marseille Einhalt zu gebieten. Auch hier scheint die Androhung einer öffentlichen, nackten Zurschaustellung die Welle von Selbsttötungen zum Stillstand gebracht zu haben. Ein Grenadier aus Napoleons Armee tötete sich selbst, ein weiterer folgte ihm. Napoleon reagierte schnell und erließ, um die Ausbreitung von Selbstmorden in seinen Truppen aufzuhalten, folgende Order:
Der Grenadier Groblin hat aus enttäuschter Liebe Selbstmord begangen. In anderer Hinsicht war er ein ehrenwerter Mann. Dies ist innerhalb eines Monats das zweite Vorkommnis dieser Art in diesem Corps. Der Erste Konsul weist hiermit an, im Tagesbefehl der Garde zu vermerken, dass ein Soldat zu wissen hat, wie er den Kummer und die Melancholie, die seine Leidenschaften verursachen, überwinden kann; dass ebenso viel wahrer Mut dazu gehört, Gemütsleiden zu ertragen, wie angesichts des Feuers einer Geschützbatterie ungerührt zu bleiben. Sich ohne Widerstand dem Gram zu überlassen und sich zu töten, um ihm zu entrinnen, ist, als würde man das Schlachtfeld verlassen, bevor man geschlagen ist.37
Die Order hatte Erfolg – danach wurden für lange Zeit keine Selbstmorde mehr gemeldet. Selbstmorde haben tatsächlich eine Tendenz, zur Nachahmung anzuregen, vor allem wenn der Tod viel Medienaufmerksamkeit erfährt oder romantisiert wird. Im September 1774 veröffentlichte Goethe Die Leiden des jungen Werther, den Briefroman um den jungen Mann, der sich wegen einer unerfüllten Liebe erschießt. Das Buch wurde zum Bestseller, aber auch zum Auslöser für eine Welle von Selbstmorden: Junge Männer, die an Schussverletzungen
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gestorben waren, wurden in blauen Gehröcken und gelben Westen und mit einer Ausgabe von Goethes Roman aufgefunden. Um die Epidemie zum Stillstand zu bringen, wurde das Buch in Italien, Deutschland und Dänemark verboten. 1974 führte der Soziologe David Phillips den Begriff »Werther-Effekt« ein, um das Phänomen der suizidalen Ansteckung zu beschreiben. Ansteckende Wirkung hat ein Selbstmord nicht nur auf Familienangehörige, sondern auch auf entferntere Bekannte oder Fremde. Olive Anderson beschreibt dies in ihrem Buch Suicide in Victorian and Edwardian England:
Es gibt viele Beispiele dafür, wie eine bestimmte Selbstmordmethode sich in einer Familie hält. Erfahrene Gerichtsmediziner wussten, dass ein Selbstmord zu einem weiteren der gleichen Art führen kann, und manche machten es sich zur Regel, der Familie niemals das Rasiermesser, den Becher oder die Pistole auszuhändigen, Dinge, mit denen der Selbstmord begangen wurde, selbst wenn diese darum bat, sie als Andenken behalten zu dürfen, denn ein Selbstmordinstrument übt eine gefährliche Faszination aus. War ein Selbstmord durch eine exotische Methode oder an einem besonderen Ort herbeigeführt worden, versuchten sie, die Verbreitung dieser Nachricht in der Gegend so weit wie möglich zu unterdrücken. Die Meinungen gingen auseinander, ob der Akt des Selbstmordes selbst die Folge einer »emotionalen Ansteckung« war, aber alle waren sich einig, dass die Methode oder der gewählte Ort oft das Ergebnis von Nachahmung waren. Auch blieb der Ansteckungsbereich nicht unbedingt auf die unmittelbare Nachbarschaft beschränkt. Die landesweite Aufmerksamkeit, für die die Presse mit besonders sensationellen oder »ergreifenden« Geschichten sorgte, gleichgültig wo sie sich ereignet hatten, erwies sich oft als verhängnisvoll und bedauerlich.38
Auch in den letzten Jahren hat es an Fällen von gehäuft auftretenden Selbstmorden nicht gefehlt:39 Sie ereigneten sich in psychiatrischen Krankenhäusern und Kliniken, im Alltag der nordamerikanischen Vorstädte – Piano, Texas; Leominster, Massachusetts; Clear Lake, Texas; Mankato, Minnesota; Bucks County, Pennsylvania; Fairfax County, Virginia; South Boston; New Jersey; South Dakota – und in Colleges (so ist es etwa in der Michigan State University zu sechs Selbstmorden in drei Monaten gekommen). Es gab Selbstmord – 270 –
wellen in Eskimo-Dörfern in Alaska, in kanadischen Indianer-Reservaten, in Japan, in England und in praktisch jedem Land, in dem diese Todesart registriert wird. Selbstmordhäufungen sind in erster Linie – aber keineswegs ausschließlich – ein Phänomen unter Jugendlichen. Die Mechanismen, die dabei eine Rolle spielen, sind vielfältig und umstritten. Nachahmung spielt natürlich eine wichtige Rolle, aber vermutlich führt ein Selbstmordfall nur bei einer ohnehin dafür empfänglichen Person dazu, die Hemmung gegenüber suizidalem Verhalten abzubauen oder dieses sogar auszulösen. (So wurde in einer Studie über zwei Fälle von Selbstmordhäufungen in Texas – im einen Fall begingen acht Jugendliche aus demselben Schulbezirk innerhalb eines Zeitraums von 15 Monaten Selbstmord, im anderen brachten sich sechs Jugendliche innerhalb von zwei bis drei Monaten um – festgestellt, dass diejenigen, die sich umbrachten, häufiger schon einmal einen Selbstmordversuch gemacht, mit Selbstmord gedroht oder durch selbstzerstörerische Handlungen aufgefallen waren als die Mitglieder einer Kontrollgruppe.40) Unlogische Annahmen spielen ebenfalls eine Rolle: Jugendliche stellen sich oft vor, dass sie durch ihren Tod die Beachtung oder die späte Rache finden, die ihnen im Leben verwehrt blieb, oder dass Selbstmord dadurch annehmbarer wird, dass er von berühmten und erfolgreichen Menschen begangen wurde. Manche Forscher sind der Meinung, hohe Medienaufmerksamkeit für einen Selbstmord führe zu einem Anstieg suizidalen Verhaltens, aber auch diese Auffassung ist umstritten.41 Sicher scheint zu sein, dass Jugendliche am leichtesten zu beeinflussen sind und dass der Stil der Berichterstattung – in der Presse, im Radio, im Fernsehen oder Film – dabei eine, allerdings nicht eindeutig bestimmbare, Wirkung ausübt. In Österreich wurde die Sensationsberichterstattung über Selbstmordepidemien nach Beratungen von Medienvertretern und Selbstmordexperten stark eingeschränkt. In Ungarn legt man seit Anfang der achtziger Jahre in der Berichterstattung weniger Gewicht auf prominente oder sensationelle Selbstmorde und dafür mehr auf den Zusammenhang zwischen psychischen Krankheiten und Selbstmord.42 Auch deutsche Medien gehen inzwischen stärker auf das Verhältnis zwischen Selbstmord und psychischen Störungen ein. 1994 veröffentlichten die Centers for Disease Control and Prevention einen Empfehlungskatalog für die Medien, um die Gefahr
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von Nachahmungstaten einzuschränken.43 Diese Richtlinien räumen zwar ein, dass »ein Selbstmord oft Nachrichtenwert hat und darum über ihn berichtet wird«, im Übrigen aber sollten »alle Parteien sich über die wissenschaftlich begründete Sorge im Klaren sein, wonach die mediale Darstellung von Selbstmord zur Verursachung weiterer Selbstmorde beitragen kann«, und dass »öffentliche Bedienstete und Nachrichtenmedien sorgfältig abzuwägen haben, was sie über einen Selbstmord berichten wollen«. Von den Gesundheitsbehörden wurden folgende Aspekte der Presseberichterstattung über Selbstmorde hervorgehoben, die möglicherweise ansteckend wirken:
• Vereinfachende Erklärungen. Selbstmord ist nie auf einen einzelnen Faktor oder ein singuläres Ereignis zurückzuführen, sondern er ist das Ergebnis des komplexen Zusammenspiels vieler Faktoren, und gewöhnlich ist eine ganze Reihe schon länger bestehender psychosozialer Probleme daran beteiligt. Öffentliche Bedienstete und die Medien sollten darauf hinweisen, dass das auslösende Ereignis nicht die einzige Ursache des betreffenden Selbstmordes war. Die meisten Personen, die Selbstmord begehen, tragen ihre Probleme schon lange mit sich herum, was unmittelbar nach dem Selbstmord vielleicht nicht angemessen wahrgenommen wird. Es ist nicht notwendig, alle Probleme zu nennen, die als Ursachen für einen Selbstmord in Frage kommen, aber es ist empfehlenswert, dem Vorhandensein dieser Probleme in der Darstellung Rechnung zu tragen.
• Wiederholte
oder übermäßig ausführliche Berichterstattung. Eine solche, vielleicht an prominenter Stelle vorgenommene Berichterstattung über einen Selbstmord kann dazu führen, dass gefährdete Personen, vor allem die Fünfzehn- bis Vierundzwanzigjährigen, sich noch mehr mit dem Thema Selbstmord beschäftigen als sonst. Damit wächst die Ansteckungsgefahr. Bei Informationen für die Medien sollte auf den Zusammenhang zwischen einer derartigen Berichterstattung und der Möglichkeit eines Ansteckungseffekts hingewiesen werden. Öffentliche Bedienstete und Medienvertreter sollten über alternative Berichtsmethoden für Selbstmorde mit Nachrichtenwert diskutieren. • Sensationelle Aufmachung. Die Beschäftigung der Öffentlichkeit mit dem Thema Selbstmord wird durch die Berichterstattung der Medien über entsprechende Ereignisse verstärkt. Diese
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Reaktion kann zu Ansteckung und zur Häufung von Selbstmordfällen führen. Öffentliche Bedienstete können dazu beitragen, dem Sensationsjournalismus Grenzen zu setzen, indem sie in ihren Stellungnahmen zu einem Selbstmord so wenig makabre Details wie möglich bekannt geben. Journalisten sollten der Nachricht keinen prominenten Platz einräumen und dramatische Fotos vermeiden (etwa Aufnahmen von der Beisetzung, des Schlafzimmers des Toten oder des Tatorts). • Berichte über Methoden. Die Beschreibung technischer Einzelheiten eines Selbstmordes ist zu unterlassen. Wird zum Beispiel berichtet, dass jemand an Kohlenmonoxidvergiftung gestorben ist, so steht nicht zu erwarten, dass dies schädliche Folgen hat. Wenn aber über die einzelnen Schritte berichtet wird, die notwendig sind, damit der Selbstmord gelingt, so kann das bei gefährdeten Personen suizidales Verhalten auslösen.
• Selbstmord
als Mittel, um bestimmte Ziele zu erreichen. Normalerweise ist Selbstmord die selten auftretende Handlung eines Menschen mit drückenden Problemen oder Depressionen. Wird Selbstmord als Mittel zur Lösung persönlicher Probleme dargestellt (zum Beispiel wenn eine Beziehung auseinander geht oder als Rachemaßnahme gegen elterliche Disziplin), kann er für gefährdete Personen als potenzieller Problemlösungsmechanismus in den Bereich des Möglichen rücken. Solche Faktoren sind zwar oft der Auslöser für eine suizidale Handlung, dennoch spielen fast immer auch andere, psychopathologische Probleme eine Rolle. Wird ein Selbstmord als wirksames Mittel zur Erreichung eines spezifischen Ziels präsentiert, kann er für selbstmordgefährdete Menschen zur attraktiven Lösung werden.
• Glorifizierung
von Selbstmord oder Selbstmordtoten. Die Berichterstattung droht weniger zu einer Ansteckungswelle beizutragen, wenn die Berichte über Trauerkundgebungen in der Stadt oder Gemeinde (etwa öffentliche Grabreden, Beflaggung auf Halbmast oder die Errichtung öffentlicher Denkmale) so gering wie möglich gehalten werden. Bei anfälligen Menschen entsteht leicht der Eindruck, dass die Gesellschaft auf diese Weise suizidales Verhalten ehrt und nicht einfach nur um einen Menschen trauert.
• Betonung
positiver Eigenschaften des Selbstmordtoten. Mitgefühl für die Angehörigen und Freunde führt oft dazu, dass in
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Berichten die positiven Aspekte eines Selbstmordopfers besonders betont werden. So werden zum Beispiel Aussagen von Freunden oder Lehrern zitiert, der Tote sei »ein großartiger Mensch« gewesen oder hätte »eine große Zukunft vor sich« gehabt, während man vermeidet, die Sorgen und Probleme der verstorbenen Person zu erwähnen. So werden in den Nachrichten oft Äußerungen wiedergegeben, denen es um das ehrenvolle Andenken des Toten zu tun ist. Wenn nicht zugleich die Probleme des Selbstmordopfers zur Kenntnis gebracht werden, kann Selbstmord auf andere gefährdete Personen anziehend wirken, besonders dann, wenn sie selten für ihr Verhalten Anerkennung bekommen haben.
Mit Richtlinien dieser Art und durch andere Maßnahmen haben die Centers for Disease Control and Prevention gezeigt, welche Vorteile es hat, wenn die Gesundheitsbehörden die Initiative ergreifen. Die Gesellschaft hat noch andere Möglichkeiten, Selbstmorde zu verhüten: Vor allem müsste der Zugang zu Tatwerkzeugen beschränkt werden. Viele Sicherheitsvorkehrungen, die wir heute einzuführen versuchen, sind früher bereits von anderen Kulturen angewendet worden. Olive Anderson verfolgt die Spuren der modernen Selbstmordprävention bis zu Versuchen im neunzehnten und achtzehnten Jahrhundert zurück, gesellschaftliche Maßnahmen zum Schutz von Selbstmordgefährdeten zu ergreifen.44 Bereits Ende des achtzehnten Jahrhunderts kontrollierten englische Polizisten routinemäßig Londoner Parks und Brücken, um Selbstmordversuche zu vereiteln, und Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wurden Gesetze eingeführt, die den Zugang zu Giftstoffen einschränken sollten – das ArsenGesetz von 1851 sowie das Pharmazie-Gesetz 1868 und das Gesetz über den Verkauf von Giften. Die Entwicklung neuer Technologien – Karbolsäure als Reinigungsmittel, Zyankali in der Fotografie, Gasherde, neue Pestizide, die Eisenbahn – führte unvermeidlich zu neuen Selbstmordmethoden, und die Gesetzgebung kam kaum hinterher. Den Besitz von Schusswaffen konnte man einschränken, aber Rasiermesser, Seile und Eisenbahnlinien sind nicht zu kontrollieren. Auch im zwanzigsten Jahrhundert ist vieles versucht worden: Der Kohlenmonoxidgehalt von städtischem Gas wurde drastisch reduziert, Katalysatoren wurden eingeführt, die Verschreibung von Barbituraten
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und anderen potenziell tödlichen Arzneimitteln wurde bedeutend eingeschränkt, die Forschung entwickelte Antidepressiva von geringerer Toxizität. Dadurch änderten sich zwar die Selbstmordmethoden, aber die Streitfrage bleibt, ob Selbstmordgefährdete nicht einfach nach anderen Mitteln suchen, wenn bestimmte Methoden nicht mehr greifbar sind.45 Darauf gibt es keine klare Antwort. Sicherlich haben die Entgiftung des städtischen Gases und der stärker kontrollierte Zugang zu tödlichen Arzneimitteln in einigen Ländern zur Senkung der Selbstmordrate beigetragen. Normalerweise gehen die Menschen nicht automatisch zu einer anderen Methode über, aber manche tun es eben schon. In welchem Umfang eine Selbstmordmethode durch eine andere ersetzt wird, ist ebenfalls nicht ganz klar, und Zu- oder Abnahmen von Selbstmordraten sind selten auf nur einen Faktor zurückzuführen. Während der Perestroika rief der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow eine massive, wenn auch kurzlebige Kampagne zur Senkung des Alkoholkonsums ins Leben: Die Preise schossen in die Höhe, und der Alkoholverkauf ging drastisch zurück, ebenso die Selbstmordrate – zwischen 1984 und 1988 um 35 Prozent.46 Wenn man die Auswirkungen von Alkohol auf Depressionen und impulsives Verhalten in Betracht zieht, wäre es nicht überraschend, wenn die Abnahme der Selbstmordrate nicht auch der Einschränkung des Alkoholmissbrauchs zu verdanken wäre. Im gleichen Zeitraum fanden jedoch auch außerordentliche gesellschaftliche Veränderungen in der ehemaligen UdSSR statt – Veränderungen, die dazu führten, dass in anderen Bevölkerungsteilen die Sterblichkeitsrate anstieg. Die Auswirkungen von komplexen sozialen Einflüssen auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung lassen sich nur schwer bestimmen. Um die Beschränkung des Zugangs zu Schusswaffen (und zu Alkohol) tobt ein heftiger Streit. In den Vereinigten Staaten schlagen die Leidenschaften jedes Mal hohe Wellen, wenn solche Vorschläge ins Gespräch gebracht werden. 1996 wurden 60 Prozent der Selbstmorde in den USA mit Schusswaffen begangen – diese Zahl übertraf sogar die der Morde, die mit Schusswaffen verübt wurden.47 Viele Untersuchungen erbrachten den Nachweis, dass besonders bei jungen Menschen das Selbstmordrisiko zunimmt, wenn sich Schusswaffen im Haus befinden.48 Impulsives Verhalten in Verbindung mit leicht zugänglichen Tatwerkzeugen erhöht die psychische Anfälligkeit dieser Altersgruppe.
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Vertreter der Gesundheitsbehörden, Unfallchirurgen, Notaufnahmeärzte, Gerichtsmediziner und Fachleute für psychische Krankheiten weisen immer wieder darauf hin, welch furchtbare Folgen die unkontrollierte Verbreitung von Handfeuer- und Angriffswaffen hat. Sie sind es, die sich vergeblich bemühen, die Blutungen bei Schußverletzungen zum Stillstand zu bringen, die die Totenscheine ausfüllen, die Eltern benachrichtigen und die Autopsieberichte diktieren. Die American Academy of Pediatricians, die American Pediatric Surgical Association und die American Trauma Society und andere Organisationen haben Maßnahmen ergriffen beziehungsweise vorgeschlagen, um die ständig steigenden Zahlen von Selbstmorden und Morden durch Schusswaffen in den Griff zu bekommen.49 Eine 1998 unter tausend Chirurgen und Internisten durchgeführte Umfrage ergab, dass 84 Prozent der Chirurgen und 72 Prozent der Internisten der Ansicht waren, dass Ärzte eine aktivere Rolle bei der Prävention von Schußwaffenverletzungen und den damit in Zusammenhang stehenden Selbstmorden übernehmen sollten.50 Die meisten gaben an, dass sie in diesem Bereich kaum oder gar nicht ausgebildet seien und es für wünschenswert hielten, sich mit dem Problem durch Fortbildungen vertrauter zu machen. Die amerikanische Öffentlichkeit teilt viele dieser Bedenken.51 1998 wurde eine landesweite Erhebung durchgeführt, die ergab, dass 88 Prozent der Befragten für Kindersicherungen bei Waffen waren (durch den Einbau von Abzugschlössern oder eine Sicherheit garantierende Form der Aufbewahrung von Waffen); 71 Prozent sprachen sich für Vorrichtungen an den Waffen aus, die sicherstellen, dass diese nur funktionieren, wenn die Person, auf die sie zugelassen ist, identifiziert wurde (so genannte intelligente Waffen, die sich erst abfeuern lassen, nachdem sie Fingerabdrücke, Handgröße oder ein spezifisches Radiosignal von einem Armband des Besitzers »erkannt« haben); 82 Prozent traten für Magazinsicherungen ein (die verhindern sollen, dass eine Schusswaffe abgefeuert werden kann, wenn das Magazin oder der Clip entfernt worden ist) und 73 Prozent für Vorrichtungen, die anzeigen, ob sich ein Projektil in der Kammer befindet. Das sind intelligente, wenn auch minimale Vorkehrungen, die die Gesellschaft sich auferlegen sollte. Man wird kaum eine Rechtfertigung dafür finden, wann es für ein Kind oder für einen Jugendlichen einfach sein sollte, sich umzubringen.
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Das Schwedische Landesprogramm zur Weiterentwicklung der Selbstmordprävention legt besonderes Gewicht darauf, den Zugang zu anderen »Tatwerkzeugen, die sich für Suizid eignen«, zu beschränken.52 Im Bereich der Personenbeförderung wird empfohlen, modifizierte Zündschlösser einzuführen, die sich nur entriegeln, wenn der Atem des Fahrers keinen Alkohol enthält; Vorrichtungen einzubauen, die den leerlaufenden Motor abschalten, wenn hohe KohlenmonoxidKonzentrationen registriert werden; die Abgaskontrollen auf Kohlenmonoxid auszudehnen; Auspuffsysteme zu entwickeln, die Kohlenmonoxid-Selbstmorde unmöglich machen; Airbags zur Standardausrüstung in allen Autos zu machen; die Frontpartien von Lokomotiven so zu gestalten, dass eine Person bei einem Zusammenprall zur Seite gestoßen statt überfahren wird; U-Bahn-Stationen mit einer großen Unfall- und Selbstmordhäufigkeit mit Schutzvorrichtungen auszustatten und generell Schauplätze besonders häufiger Selbstmorde (hohe Gebäude, Brücken) mit Schutzvorrichtungen (Zäunen oder Netzen) und SOS-Telefonen zu versehen. Für Schusswaffen wird empfohlen, Griffsicherungen anzubringen sowie Waffen und Munition getrennt aufzubewahren; die gesetzlichen Bedingungen des Waffenerwerbs sollten das Selbstmordrisiko berücksichtigen und den Zugang zu Waffen für selbstmordgefährdete Personen beschränken. Verschreibungspflichtige Arzneimittel schließlich sollten in ihrem toxischen Gehalt gesenkt sowie in angemessenen Verabreichungsund Verpackungsformen angeboten werden. Eine fachgerechte Folgebetreuung der Patienten müsse gewährleistet sein, und der Besitz von toxischen verschreibungspflichtigen Medikamenten für selbstmordgefährdete Personen sollte durch vorsichtige Verschreibungspraxis möglichst gering gehalten werden. Schweden hat – wie auch einige andere Länder, zum Beispiel Norwegen, Finnland, Neuseeland und Australien – eine umfassende Strategie zur Senkung der Selbstmordrate entwickelt.53 Die meisten dieser Strategien setzen vor allem auf Aufklärung der Öffentlichkeit und der Medien, auf eine erhöhte Aufmerksamkeit für Themen wie Alkoholismus, Depression und andere psychische Störungen, auf die Verbesserung ihrer Behandlung, auf die Beschränkung des Zugangs zu tödlichen Mitteln und auf eine Intensivierung der Ausbildung von Fachkräften im Gesundheitswesen und anderen Bereichen. Die Weltgesundheitsorganisation hat sechs grundlegende Schritte zur Selbstmordprävention ausgearbeitet, die vor allem den Zugang zu tod
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bringenden Mitteln erschweren sollen: effektivere Behandlung von psychischen Störungen, Kontrollregelungen für den Waffenbesitz, Entgiftung von städtischem Gas, Entgiftung von Autoabgasen, Kontrolle des Zugriffs auf toxische Substanzen und die Entdramatisierung der Selbstmordberichterstattung in den Medien.54 Vor einigen Jahren hat Großbritannien es sich bei seiner Kampagne zur Gesundheitsförderung zum Ziel gesetzt, die Selbstmordrate bis zum Jahr 2000 um 15 Prozent zu senken.55 Das Royal College of Psychiatrists organisierte unter dem Motto »Kampf der Depression« landesweite Aktionstage.56 Ziele waren die Bekämpfung des mit Depression verbundenen Stigmas, die Aufklärung der Öffentlichkeit über diese Krankheit und deren Behandlung sowie die Ermutigung von Kranken, sich im Falle depressiver Beschwerden rechtzeitig in Behandlung zu begeben. Erste Untersuchungen deuten darauf hin, dass sich die Einstellungen gegenüber Depression und psychologischen Beratungen verbessert haben, allerdings halten noch immer viele Menschen Antidepressiva für weniger wirkungsvoll als Beratungsgespräche und für potenziell suchterzeugend. Es lässt sich noch nicht sagen, welche Auswirkungen die Bemühungen der englischen Regierung und des Royal College of Psychiatrists auf die Selbstmordrate haben werden. Auch in Großbritannien stehen – wie fast überall – mehr psychiatrische Dienste zur Verfügung, als in der Öffentlichkeit bekannt ist.57 Im April 1999 veröffentlichte die Londoner Mental Health Foundation die Ergebnisse einer Umfrage unter 3000 Personen, die ausfindig machen sollten, welche Telefonnummer sie wählen müssten, wenn sie oder ein Bekannter akute psychiatrische Hilfe benötigte. Fünfzig Prozent der Befragten waren nicht in der Lage, die Nummer einer örtlichen oder landesweit tätigen Hotline oder eines örtlichen Sozialdienstes zu ermitteln; 30 Prozent fanden nicht einmal die Nummer des psychiatrischen Dienstes beim örtlichen Gesundheitsamt. In den Vereinigten Staaten wartete man mit einem Plan für eine landesweit abgestimmte Selbstmordprävention buchstäblich bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Natürlich gab es überall im Land viele ausgezeichnete Selbstmordpräventionsprogramme, nicht aber ein einheitliches Konzept oder eine dauerhafte und finanziell abgesicherte Leitstelle auf nationaler Ebene. Im Jahr 1997 brachte Senator Harry Reid aus Nevada, dessen Vater Selbstmord begangen hatte und der
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den Staat mit der höchsten Selbstmordrate des Landes vertritt, eine Beschlussvorlage im Senat ein. Sie wurde einstimmig angenommen. Darin heißt es:
Es wird beschlossen, dass der Senat: 1. den Selbstmord als nationales Problem anerkennt und erklärt, dass Selbstmordprävention eine vorrangige Staatsaufgabe ist; 2. anerkennt, dass kein Einzelprogramm oder keine Einzelanstrengung zur Selbstmordprävention auf alle Bevölkerungsteile oder Gemeinden zugeschnitten sein kann; 3. Initiativen unterstützt, die es sich zur Aufgabe machen: A. Selbstmordprävention zu betreiben; B. Menschen zu helfen, die selbstmordgefährdet sind oder Selbstmordversuche unternommen haben; C. sich für eine sichere und wirkungsvolle Behandlung von selbstmordgefährdeten Personen einzusetzen; D. Menschen zu unterstützen, die jemanden durch Selbstmord verloren haben; E. eine wirkungsvolle landesweite Strategie zur Selbstmordprävention zu entwickeln; 4. die Entwicklung und die Verbreitung von Maßnahmen unterstützt, die die Zugänglichkeit und Bezahlbarkeit von Einrichtungen zur Behandlung psychischer Störungen fördern, um allen Personen, bei dem ein Selbstmordrisiko besteht, die Nutzung solcher Einrichtungen zu ermöglichen, ohne befürchten zu müssen, deswegen stigmatisiert zu werden.58
Dieser Senatsbeschluss war ein wichtiger Anfang und gab Anstöße für Gesundheitsbehörden, Selbstmordpräventionsprogramme, Hilfsorganisationen für psychisch Erkrankte und für den phantasievollen und aktiven Zusammenschluss von selbst organisierten Nachbarschaftsprojekten im Suicide Prevention Advocacy Network, dessen Mitarbeiter zum Teil selbst Familienangehörige durch Selbstmord verloren haben. In Zusammenarbeit mit Senator Reid hat dieses Netzwerk die Initiative für ein gemeinsames Treffen der interessierten Organisationen mit dem Ziel ergriffen, eine landesweite Strategie zur Selbstmordprävention zu entwerfen. Diese Gruppen wurden unter Leitung des US-Gesundheitsministers zusammengebracht; zur Zeit ist dies David Satcher, Arzt und ehemaliger Leiter der Centers for Disease Control and Prevention.59 Satcher ist ein Mann mit ausgeprägten – 279 –
Führungsqualitäten – seine Intelligenz und sein Mitgefühl haben den Weg für den Aufbau der Koalition geebnet, die zur Entwicklung einer landesweiten Strategie zur Selbstmordprävention notwendig ist. Sein Report aus dem Jahre 1999 ist der erste Bericht zu diesem Thema, der von seiner Dienststelle im Laufe ihres zweihundertjährigen Bestehens veröffentlicht wurde.60 Der Bericht ruft dazu auf, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Problematik des Selbstmordes und seiner Behandlung zu lenken und die kommunalen und klinischen Einrichtungen sowie die Forschung auf dem Gebiet der Selbstmordprävention besser auszustatten. Die US-Regierung hat damit einen wichtigen ersten Schritt unternommen, aber ohne Unterstützung aus der Öffentlichkeit und ohne Finanzmittel vom Kongress und von den Haushalten der Bundesstaaten wird man nicht allzu weit kommen. Außerdem wird ein durchschlagender Erfolg in der Selbstmordprävention auf sich warten lassen, solange die Behandlung psychischer Krankheiten für Millionen von Amerikanern unerschwinglich und unerreichbar bleibt, weil sie nur schlecht oder überhaupt nicht krankenversichert sind, solange Krankenhausaufenthalte für Menschen mit schweren psychischen Störungen auf wenige Tage begrenzt bleiben und solange die Gesellschaft das Leiden so vieler Menschen in ihrer Mitte nicht zur Kenntnis nimmt.61 Die Straße und das Gefängnis sind einfach nicht der richtige Ort für Menschen mit psychischen Störungen. Es bleibt also für die Politiker noch immer viel zu tun. Eine steigende Zahl erfolgreicher Ansätze verspricht jedoch eine positive Entwicklung für gezielte öffentliche Initiativen. Wir müssen noch einiges darüber lernen, wie sich Selbstmorde verhüten lassen. Doch wie der Bericht des Bundesgesundheitsministers überzeugend darlegt, kann auch jetzt schon etwas getan werden. Kurz bevor er sich umbrachte, sprach der Stadtratsvorsitzende John Wilson vor der Mental Health Association über Selbstmord und psychische Krankheiten unter der schwarzen Bevölkerung. »Selbstmord ist der Killer Nummer Eins unter jungen Schwarzen, aber wir reden immer nur über bewaffnete Auseinandersetzungen. (...) Am liebsten würden wir gar nicht darüber reden. Wir müssen die Haltung Amerikas zum Problem der Depression ändern.« Wie üblich hatte er Recht.
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Ich vermisse John Wilson sehr, und ich höre ihn noch in seiner leidenschaftlichen, unnachahmlichen Art sagen: »Wir können nicht alles in Gottes Hand legen. Gott ist sehr beschäftigt.«
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Kapitel 10 Die Wunde halb verschlossen Die Hinterbliebenen
(...) Die Zeit heilt nicht. Sie lässt die Wunde halb verschlossen, Bereit, sich neu zu öffnen, und dann spürst du Schmerz, so tief wie in der ersten Stunde. ELIZABETH JENNINGS
Vor einigen Monaten hatten mein Mann und ich einen seiner alten Freunde, einen Psychiater, zum Essen eingeladen. Gegen Ende des Abends fragte er mich, woran ich arbeitete. Ich erzählte ihm, ich schriebe an einem Buch über Selbstmord. Und damit löste ich eine Reaktion aus, die mir bei diesem Thema übrigens häufig begegnet. Nach einem kurzen Augenblick des Schweigens sagte er mit der erstaunlichen Sicherheit eines Mannes, in dessen magerem Wissen über Selbstmord eine dreißigjährige Berufspraxis nicht die geringsten Spuren hinterlassen hat: »Ich wollte mich auch einmal umbringen, als ich achtzehn war. Aber ich dachte, ich kann keinen Selbstmord begehen, das ist zu schrecklich für meine Familie und für meine Freunde. Und jetzt könnte ich es erst recht nicht. Ich bin Arzt – denken Sie nur, wie das für meine Patienten wäre. Wie unglaublich selbstsüchtig!« Ein Hauch von moralischer Überlegenheit hing in der Luft. Ich trat meinem Mann unter dem Tisch gegen das Schienbein, damit er die Rechnung kommen ließ. Dann erinnerte ich seinen Freund, obwohl er das sehr wohl wusste, dass ich einige Jahre zuvor selbst beinahe bei einem Selbstmordversuch gestorben sei. Ich könne darin weder etwas Selbstsüchtiges noch etwas Selbstloses sehen. Ich hätte es einfach nicht mehr ertragen, keinen einzigen Nachmittag länger die Vorstellung aushalten können, dass ich am nächsten Morgen erwachen würde, nur um mich wieder durch einen dumpfen Tag voller schwarzer Gedanken zu quälen. Es war das Ergebnis einer schweren Krankheit, einer Krankheit, die ich offensichtlich einfach – 282 –
nicht besiegen konnte. Gleichgültig, wie viel Liebe mir von anderen entgegengebracht wurde – und ich hatte viel Liebe erfahren –, sie half mir nicht. Ich hatte den Vorteil, eine großartige Arbeit und eine Familie zu haben, die sich um mich kümmerte, aber selbst das genügte nicht, um meinen Schmerz und meine Hoffnungslosigkeit zu überwinden; keine noch so leidenschaftliche, romantische Liebe war stark genug, um daran etwas zu ändern. Leben und Wärme konnten meine Panzerung nicht mehr durchdringen. Mein Leben war ein Trümmerhaufen, das war für mich keine Frage, und ich war unbeirrbar der Überzeugung, dass meine Familie, meine Freunde und meine Patienten ohne mich besser dastehen würden. Viel war ohnehin nicht mehr von mir übrig. Mit meinem Tod, so glaubte ich, wären sie endlich frei, die Energie und die Zuwendung, die sie an mich verschwendet hatten, wieder anderen zukommen zu lassen. Und doch hatte auch unser Kollege Recht: Selbstmord ist unbeschreiblich grausam für diejenigen, die durch ihn vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Keine Mutter, kein Vater, kein Kind, kein Bruder oder keine Schwester, kein Freund, Arzt oder Patient würde dem widersprechen, und die meisten würden auch zustimmen, dass ein Selbstmord in der Tat ein selbstsüchtiger Akt ist, soweit es die Hinterbliebenen betrifft. Die meisten schreien es laut heraus oder zumindest in ihrem Inneren: »Wie konntest du mir das antun?« Sie fragen sich wieder und wieder: Warum? Was hätte ich anders machen können? Warum? Der Stachel des Todes ist, wie Arnold Toynbee schreibt, stets »für den Sterbenden weniger scharf (...) als für den Zurückbleibenden«. Dies ist »das Wesentliche in der Beziehung Leben – Tod. Der Tod trifft zwei, den Sterbenden und den Lebenden, und der Lebende trägt die Last.«1 Die Zurückbleibenden müssen schließlich mit ihren Schuldgefühlen und mit ihrer Wut fertig werden, sie müssen die guten Erinnerungen von den bösen trennen wie den Weizen von der Spreu und versuchen, die unbegreifliche Tat zu verstehen. Und vor allem sind sie es, die mit dem Verlust eines Elternteils oder eines Kindes weiterleben müssen, dessen Leben von Anfang an mit ihrem eigenen verknüpft war; mit der Trauer um einen Lebenspartner, dessen Bett, Liebe und Vertrauen sie teilten; mit dem Schmerz, eine vertraute Person verloren zu haben, mit der sie lange Tage und lange Abende der Freundschaft verbanden.
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Wie kann man, vom Standpunkt der anderen aus, Selbstmord anders als höchst selbstsüchtig, grausam und gedankenlos begreifen? Doch Vernunft, Besonnenheit und Rücksichtnahme spielen bei Suizid kaum eine Rolle, denn fast immer handelt es sich um eine irrationale Entscheidung für den scheinbar besten Weg, um dem Schmerz, der Sinnlosigkeit, den Stimmen, der Hoffnungslosigkeit zu entrinnen. Die Entscheidung zum Selbstmord ist kein flüchtiger Gedanke, den man aus Achtung vor den berechtigten Interessen anderer durch einen reinen Willensakt verscheuchen kann. Selbstmord kann die Reaktion auf langsam gewachsenes Leid sein oder durch einen augenblicklichen Impuls beschleunigt werden. Und in welchem Ausmaß eine Person, die mit dem Gedanken an Selbstmord spielt, dabei auch von der Außenwelt beeinflusst sein mag, für das Wohlergehen und die Zukunft anderer hat sie kein Empfinden mehr. Und wenn doch, dann erscheint die Zukunft der anderen in hellerem Licht, sobald ihr Leben von der Last des Kranken, Gewalttätigen oder Psychotischen befreit sein wird. Ein junger Chemiker hat das vor seinem Selbstmord in knappen Worten zum Ausdruck gebracht: »Ob Selbstmord für enge Freunde oder für Verwandte selbstsüchtig erscheint, kann ich nicht sagen, ich habe nicht einmal eine Meinung dazu. Es ist jedoch klar, dass ich, was mich selbst angeht, darüber nachgedacht habe, und ich bin zu der Entscheidung gekommen, dass ich den anderen als Toter weniger wehtun kann denn als Lebender.«2 Der Tod durch eigene Hand ist mit keinem anderen zu vergleichen, und die Hinterbliebenen, die mit ihm zurechtkommen müssen, werden mit einem Schmerz konfrontiert, der ebenfalls keinem Vergleich standhält. Was bleibt, sind der Schock und die endlosen Spekulationen: »Was wäre gewesen, wenn (...).« Was bleibt, sind die Wut und die Schuldgefühle und manchmal auch ein schreckliches Gefühl der Erleichterung, es sind die gestellten und ungestellten Fragen der anderen, die wissen wollen: Warum? Was bleibt, Schweigen – sie sind entsetzt, peinlich berührt, unfähig zu einem Beileidsbrief oder einer Umarmung oder auch nur einer Bemerkung. Was bleibt, ist die mit anderen geteilte Vermutung, dass man mehr hätte tun müssen. »Was soll ich nur ohne ihn tun?« oder: »Wie kann ich ohne sie leben?« ist die schmerzhafte Frage, die sich Angehörige und Freunde stellen. Vor zwei Jahren schrieb mir eine ältere Frau einen Brief, einen Monat nach dem Tod ihres Enkels. Er begann mit den Worten: »Mein
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Enkel hat sich erschossen. Er war einundzwanzig Jahre alt, und wir standen uns sehr nahe. Ich habe ihn mehr geliebt als mein Leben. Er hat sich zu spät in Behandlung begeben, und er nahm seine Medizin nicht. (...) Sein Tod hat eine Leere in mir hinterlassen, die nie wieder gefüllt werden kann.« Diese Leere ist das Schreckliche: Nachdem der Schock abgeklungen ist, nachdem man mit seinen Schuldgefühlen gerungen und Frieden gefunden hat, ist das, was bleibt, diese Leere, das Fehlen dieser Person. Aber das hat der Tod durch eigene Hand mit anderen Todesarten gemeinsam. Obwohl es nicht so aussehen mag, trauern Menschen, die jemanden durch Selbstmord verloren haben, in vielerlei Hinsicht nicht anders, als hätten sie einen Angehörigen oder Freund auf andere Weise verloren – durch eine chronische Krankheit, einen Unfall, einen Mord.3 Alle sind gleichermaßen betroffen von Schock, Leugnung, Wut, Depression, tiefer Einsamkeit und einem alle Lebensbereiche durchdringenden Gefühl des Verlusts. Gleichwohl hat der Selbstmord besondere Aspekte. Dieser Tod kommt oft plötzlich und unerwartet, wenn auch nicht immer: Bei etwa der Hälfte aller Selbstmorde besteht zumindest eine vage Ahnung (in einer Studie wurde zum Beispiel berichtet: »Als ich den Anruf bekam, dass er es getan hatte, war mein erster Gedanke: Jetzt ist es also passiert.«) Häufig aber hat die Familie keine Gelegenheit, sich mit der Möglichkeit des Todes vertraut zu machen, keine Gelegenheit zur Versöhnung und zum Abschied. Todesfälle werden anfangs oft abgestritten, besonders häufig aber die Art, in der sie geschehen sind: Wenn Eltern endlich den Verlust eines Kindes akzeptiert haben, kann es vorkommen, dass sie immer noch leugnen, dass es sich um einen Selbstmord gehandelt hat, vor allem dann, wenn die Kinder oder Jugendlichen noch jung waren. Vom Gerichtsmediziner des Staates Maryland erfuhr ich, dass einige Eltern selbst in Fällen, wo ein Jugendlicher einen Abschiedsbrief schreibt und durch Erhängen oder einen Kopf-schuss stirbt, darauf beharren, er sei durch einen Unfall umgekommen. (Die unvermeidliche Zweideutigkeit eines Todes durch eine Überdosis, durch Ertrinken oder durch Autounfälle, an denen nur eine Person beteiligt ist, machen es den Eltern in solchen Fällen noch schwerer, einen Selbstmord zu akzeptieren.) Auch in anderer Hinsicht ist der Albtraum unerträglich: Der Tod durch eigene Hand erfolgt oft auf gewaltsame Weise, Familienangehörige finden schwer verstümmelte Leichen oder müssen sie
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identifizieren; die Polizei wird hinzugezogen, was dem Ereignis eine beunruhigende kriminalistische Note verleiht; und Versicherungsdetektive, in deren Händen vielleicht die finanzielle Zukunft der Familie liegt, verschärfen die Situation oft durch zudringliche und beleidigende Nachforschungen. Auch ist es immer die Frage, ob nach einem Selbstmord bei Freunden und Nachbarn der gleiche Trost und die gleiche Unterstützung zu finden sind wie im Falle der meisten anderen Todesarten.4 Tatsächlich sagt ein Drittel der hinterbliebenen Angehörigen, sie fühlten sich durch den Selbstmord stigmatisiert.5 Schuldgefühle sind nach einem Selbstmord alles andere als ungewöhnlich, und Eltern, Geschwister, Kinder, Ehepartner, Freunde, Kollegen und selbst die flüchtigsten Bekannten zermürbt die Erinnerung, die endlose Rekapitulation all dessen, was man getan oder unterlassen hat: dass es zu Streitigkeiten und Kränkungen gekommen war, dass Anrufe nicht erwidert wurden, dass man den Arzt nicht benachrichtigt, Schusswaffen und Medikamente nicht aus dem Haushalt entfernt, die Einweisung in eine psychiatrische Klinik aufgeschoben oder nicht zugelassen hat. Viele Selbstmorde ereignen sich in einer ohnehin schon höchst stressbelasteten und leicht zerbrechlichen persönlichen Welt, die von Sorgen, von überzogenen Konten, von erhitzten Gemütern und Bösartigkeiten geprägt ist. Langwierige psychische Krankheiten gehen nicht sanft mit denen um, die unter ihnen leiden, aber auch nicht mit denen, die sie an anderen ertragen müssen. Wut, Misstrauen und Erre-gungszustände gehören untrennbar zu manisch-depressiven Leiden, zu Depression, Schizophrenie, Alkohol- und Drogenmissbrauch. Bei aller Liebe, die man einmal für das Selbstmordopfer empfunden haben mag – zum Zeitpunkt des Todes waren wahrscheinlich auch die wichtigsten und tragfähigsten Beziehungen verschlissen, erschöpft oder abgebrochen. Die absolute Hoffnungslosigkeit der suizidalen Depression ist ansteckend, sie macht diejenigen, die helfen möchten, selber hilflos. Zum Zeitpunkt des Selbstmordes ähneln die Opfer vielleicht nur noch entfernt den Kindern oder Ehegatten, die man einst so geliebt und in deren Gesellschaft man sich so wohlgefühlt hat. Es ist erschütternd, aber nicht überraschend, wenn jeder zehnte Angehörige zugibt, Erleichterung zu verspüren, dass der Selbstmord dem Leiden aller Betroffenen ein Ende gesetzt hat.6 In einer Studie wurden Eltern von Kindern, die bei Unfällen gestorben waren, und Eltern von Kindern, die sich
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umgebracht hatten, vergleichend gegenübergestellt. Beide Elterngruppen wurden unter anderem gefragt, ob der Tod der Kinder für die Familie auch etwas unerwartet Gutes mit sich gebracht hätte:
Eine gleich große Zahl von Eltern aus der Selbstmord- wie aus der Unfallgruppe sagten, der Tod habe auch eine positive Auswirkung auf die Familie gehabt. Dabei hatten die Eltern aus der Unfallgruppe das Gefühl, dass die Familie durch das Leid enger zusammengerückt sei. Die Eltern in der Selbstmordgruppe glaubten, dass die positive Wirkung von der Ruhe herrührte, die in ihr Leben zurückgekehrt sei, seit sie nicht mehr in ständiger Sorge leben mussten. Das war vor allem die Erfahrung von Familien, in denen es ein männliches Kind gewesen war, das an einer psychischen Erkrankung oder an Drogenabhängigkeit gelitten und damit für große Belastungen und Spannungen innerhalb der Familie gesorgt hatte. Der Selbstmord, mochte er auch noch so schmerzvoll für die Familienangehörigen gewesen sein, wurde als eine Erlösung betrachtet, und zwar sowohl für sie selbst als auch für den Sohn.7
Nach einem Selbstmord gibt es keine stille Trauer am Totenbett – er zerstört Leben und Überzeugungen, und für die Hinterbliebenen bedeutet er den Anfang einer langen, erschütternden Reise; einer Reise unter dem Stern lähmender Fragen, wie manche es bezeichnet haben. Sie meinen damit die Neigung, sich immer und immer wieder zu fragen: Warum ist es zum Selbstmord gekommen? Welche Bedeutung können wir Zurückgelassenen ihm geben? So erklärte ein Elternteil in einer Studie: »Ich wachte nachts auf, mit dem Bild vor Augen – wie er dasitzt und sich eine Pistole an den Kopf setzt. Oft wachte ich auf und suchte nach einer Antwort oder versuchte, mir vorzustellen, was ihm wohl durch den Kopf gegangen ist, als er es tat.« Ein anderer sagte einfach: »Man denkt immer darüber nach, wissen Sie? Man wacht auf und fragt sich: Warum?«8 Für Eltern von jungen Kindern ist es besonders verheerend, wenn diese sich umbringen. Über Monate, wenn nicht Jahre sind sie nicht nur vom Verlust des Kindes, sondern auch von ihren Schuldgefühlen überwältigt: dass sie ihr Kind im kritischsten Moment seines Lebens im Stich ließen, dass sie der Tiefe seines Schmerzes gegenüber
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unsensibel waren oder die letzten, entscheidenden Zeichen übersahen. Viele Väter und Mütter stellen dann immer wieder ihre Kompetenz als Eltern in Frage und leben nicht nur mit Wut und Schuldgefühlen, sondern auch mit einer tief empfundenen Scham.9 Sie haben eine panische Angst, dass noch ein weiteres Kind Selbstmord begehen könnte, und sie reagieren mit dem überstarken Bedürfnis, die lebenden Kinder mit allen Mitteln vor der Welt zu beschützen. Iris Bolton, Leiterin eines Beratungszentrums in Atlanta und Verfasserin eines Buches über den Selbstmord ihres Sohnes, beschreibt die quälenden Fragen, die sie heimsuchten, als ihr einundzwanzigjähriger Sohn an einer selbstzugefügten Schusswunde starb: »Warum? Warum war ich nicht zu Hause? Warum mein Sohn?« Sie fühlte sich, als prangte auf ihrem Auto ein großer Aufkleber: »Mein Sohn hat sich umgebracht. Ich bin eine Versagerin.« Wie viele Eltern sorgte sie sich wegen der Auswirkungen, die der Selbstmord auf ihre anderen Söhne haben mochte, und stellte fest, dass ihr Mann wesentlich privater mit seinem Schmerz umging als sie. Mit einem Pfarrer zusammen rief sie eine Hilfegruppe für Eltern ins Leben und fand darin den Neuanfang für ein Leben ohne ihren Sohn. Aber dabei lernte sie auch zu akzeptieren, dass sie, ebenso wie alle anderen Eltern von Kindern, die sich das Leben nehmen, »eine tödliche und unheilbare Wunde« hat. (Besonders Mütter sind nach dem Selbstmord eines Kindes anfällig für Depressionen: Jede fünfte zeigt innerhalb der folgenden sechs Monate deutliche Anzeichen für eine Depression.10) Sie machte außerdem die Beobachtung, dass Mütter und Väter tendenziell unterschiedlich auf einen Suizid reagieren:
In den letzten zehn Jahren bin ich vielen Müttern und Vätern begegnet, die von einem Selbstmordfall betroffen waren. Die meisten haben ähnliche Gefühle. Ein Unterschied zwischen den Geschlechtern ist, dass die Väter öfter über die verlorene Zukunft mit ihrem Kind sprechen, während die Mütter den Verlust der gegenwärtigen Zeit empfinden. Nancy Hogan, eine Krankenschwester und Lehrerin für Trauerarbeit aus Illinois, erklärt das damit, dass der Vater einen Großteil seiner Zeit bei der Arbeit außerhalb des Hauses verbringt, um für die Zukunft seines Kindes zu sorgen, und dass sein Gefühl des Verlusts zum Teil darauf beruht, dass er keine Zukunft mehr mit diesem Kind haben wird. Der Vater hat Pläne für den Universitätsabschluss seines Kindes
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gemacht oder vielleicht vor Augen gehabt, wie er seine Tochter bei ihrer Hochzeit zum Altar begleitet. Jetzt ist seine Arbeit möglicherweise völlig bedeutungslos geworden. Die Mutter hingegen war vielleicht mit den alltäglichen Angelegenheiten des Kindes beschäftigt, etwa Fahrgemeinschaften zu organisieren, sich um Kleidung, die Schule, das Basketballtraining et cetera zu kümmern. Sie hat ihre »gegenwärtige Zeit« mit dem verstorbenen Kind verloren. Für beide ist der Verlust gleichermaßen schmerzlich, aber auf unterschiedliche Weise.11 Im Vorwort zu ihrem Buch My Son... My Son... spricht Bolton das Dilemma an, mit dem sie und alle Eltern sich konfrontiert sehen, die ein Kind durch Selbstmord verlieren:
Ich weiß nicht, warum. Ich werde nie wissen, warum. Ich muss nicht wissen, warum. Ich kann es nicht akzeptieren. Aber ich muss mich entscheiden, wie ich weiterleben will.12
Bevor sie diesen Punkt erreichen, durchlaufen Eltern jedoch Phasen von akuter Ungläubigkeit, von Leiden und Verwirrung, die nur sie selbst beschreiben können. Mich verfolgen immer noch die Worte einer Kollegin, einer Freundin, deren neunzehnjähriger Sohn sich erschossen hat – sie war eine außergewöhnlich warmherzige, lebhafte und fürsorgliche Mutter, und noch unter dem Einfluss des Schocks durch den Tod ihres Sohnes sagte sie: »Ich fühle mich wie ein Muttertier: Ich suche überall nach meinem Baby.« Die Auswirkung eines Suizids auf das Leben von Brüdern und Schwestern des Opfers ist von der klinischen Forschung fast völlig außer Acht gelassen worden; ein Versäumnis, das umso bemerkenswerter erscheint, als zwischen Geschwistern eine besonders enge emotionale Bindung besteht. Außerdem sind sie auf Grund der Gene und der Umwelt, die sie mit dem Opfer teilen, möglicherweise ebenfalls suizidgefährdet. Darüber hinaus lasten nun auch das Leid und die Überängstlichkeit der erschütterten Eltern auf den übrigen Kindern. Klinisch gesehen sind Geschwister nicht nur der massiven Verlusterfahrung ausgesetzt, die der Tod eines Bruders oder einer Schwester – 289 –
mit sich bringt, sondern auch einem Gefühl von Schuld und von Verantwortlichkeit. Durch die besondere Natur des Todesfalls werden sie nicht nur leicht zu Opfern bösartiger Spekulationen und Stigmatisierungen durch andere Kinder, sondern auch zu Opfern ihres eigenen Gefühls der Verwundbarkeit, weil sie fürchten, dass ihnen das Gleiche zustoßen könnte. Eine drei Jahre währende Folgestudie über Geschwister von zwanzig Jugendlichen, die durch eigene Hand gestorben waren, kam zwar zu dem Ergebnis, dass im Großen und Ganzen zwar langfristig nur relativ wenige negative psychische Folgen bei den Kindern auftraten,13 dass sich aber in den ersten sechs Monaten nach dem Todesfall häufig Depressionen bemerkbar machten; jeder vierte fiel in eine Depression im klinischen Sinn.14 Wie zu erwarten, stellte sich heraus, dass Geschwister, in deren Biografie oder Familiengeschichte bereits psychische Störungen aufgetreten waren, überdurchschnittlich häufig unter Depressionen litten. Bei jüngeren Geschwistern trat die Wirkung deutlicher zu Tage als bei älteren – vielleicht, weil der Einfluss des älteren Kindes auf sie stärker war oder weil sie mehr Zeit zu Hause verbrachten. Auf die Frage, wie der Selbstmord eines Geschwisters sich auf sie ausgewirkt hat, antworten Jugendliche oft, sie hätten das Gefühl, sie seien auf Grund des Todesfalls »schnell erwachsen« oder »schneller reif geworden«.15 Der Selbstmord eines Jugendlichen wird oft als Ereignis mit Nachrichtenwert betrachtet, und wenn das Geschehen von den Medien in unsensibler, sensationslüsterner Weise ausgeschlachtet wird, ist das für Eltern und Geschwister häufig eine weitere Quelle von Schmerz oder Peinlichkeit. Karen Dunne-Maxim, derzeit Projektleiterin des New Jersey Central Region Youth Suicide Preven-tion Project, erinnert sich, wie schrecklich es schon für sie und ihre Familie war, als die Lokalzeitung einfach nur berichtete, ihr sechzehnjähriger Bruder Tim habe sich vor einen Nahverkehrszug »geworfen«. Da stand nichts über sein Leben, und so erschien die Art seines Todes wichtiger als der Verlust. Die Familie bat Newsday, eine Zeitung für Long Island, eine Beschreibung von Tim zu bringen, die dem entsprach, wie ihn seine Familie gekannt hatte, und die Zeitung war einverstanden: Jedes Jahr hatte er es geschafft, auf die High-School-Bestenliste zu kommen. Er war Redakteur des Junior-High-School-Jahrbuchs
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gewesen und hatte einen Antikriegsfilm gedreht, der in der Rockville Center Library aufgeführt wurde. Er erhielt Auszeichnungen für sein Cello-Spiel und war kurz zuvor mit den Pfadfindern beim Bergsteigen in der Schweiz gewesen. Er war brillant und sensibel, und wer ihn liebte, wird sich immer die Frage stellen: Warum ist er gestorben?16 Aber nicht nur über die Auswirkungen eines Selbstmordes auf die Geschwister weiß man überraschend wenig, sondern auch über die Auswirkungen auf Freunde. Es gibt so gut wie keine Literatur darüber, wie enge Freunde oder Kollegen mit dem Selbstmord eines Menschen umgehen, den sie gut gekannt oder mit dem sie zusammengearbeitet haben, oder wie sie ihn sich erklären. Anekdotisch zusammengetragene Erfahrungen und klinisches Wissen deuten darauf hin, dass Schuldgefühle eine übliche Reaktion sind. Wie ist es möglich, dass ich nicht gemerkt habe, wie deprimiert er war? Wenn ich nur angerufen (geschrieben, vorbeigeschaut) hätte! Wenn ich nur seiner Frau oder seinem Arzt davon erzählt hätte. Viele wollen auch nicht wahrhaben, dass die Todesursache Suizid war. Die meisten Menschen wissen nur wenig über Selbstmord und über die psychischen Erkrankungen, die in der Regel damit im Zusammenhang stehen, und deshalb suchen sie verzweifelt nach dem Sinn einer oft sinnlosen Tat. Unweigerlich bemüht man sich, in bestimmten Ereignissen im Leben des Verstorbenen die Ursache für den Selbstmord zu orten – in zerbrochenen oder problematischen Beziehungen, finanziellen Sorgen, Arbeitsüberlastung. In einigen Fällen nehmen Arbeitgeber die Gelegenheit wahr und klären die Belegschaft über die häufigsten Ursachen von Selbstmord und über Depressionen auf und informieren, wo man Hilfe findet, wenn man sie braucht; allerdings ist diese Reaktion leider eher ungewöhnlich. Häufiger wird die Todesursache ausgeblendet und gar nicht darüber gesprochen, und anstatt sich um genaue Informationen zu bemühen oder sie weiterzugeben und Mitgefühl zu zeigen, spekuliert man lieber. Leugnet die Familie den Selbstmord, wird für Freunde und Kollegen eine ohnehin schmerzliche Situation oft noch schlimmer. Als einer meiner Kollegen, ein bedeutender Wissenschaftler, der ein manisch-depressives Leiden hatte, sich vor einigen Jahren umbrachte, weigerte sich seine Frau in ihrer verständlichen Verzweiflung zu glauben, dass er Suizid begangen hatte. Sie ließ keinen Zweifel daran,
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dass sie bei seiner Beerdigung und bei der Gedenkfeier von Selbstmord nichts hören wollte, und sie wusste nicht, wie schwer sie es damit seinen Professorenkollegen, seinen Doktoranden und dem Laborpersonal machte, mit dem Tod ihres Mannes zurechtzukommen und ihr eigenes Leben wieder aufzunehmen. Noch ein Jahr später bereitete es den Studenten und Kollegen Schwierigkeiten, miteinander über den Selbstmord dieses ernsthaften, fantasievollen und charismatischen Mannes zu reden. Einer seiner Studenten sagte: »Er war überlebensgroß. Er gab uns Freude am Leben und an unserer Arbeit; sein Enthusiasmus erfüllte das ganze Labor. Allmählich kehre ich jetzt endlich zu meinen Experimenten zurück, aber alles kommt mir grauer vor als vorher. Ich glaube immer noch, dass es mir hätte möglich sein müssen, ihn zu retten. Er hätte das Gleiche für mich getan.« Nach einer langen Pause, in der er mit den Tränen kämpfte, sagte er: »Aber anscheinend doch nicht, oder?« Im Selbstmord eines Ehepartners ist die ganze Intensität und Komplexität der Ehe selbst enthalten, und der Verlust wird nicht nur von der Nähe in der Beziehung überschattet, sondern auch von all den Streitereien und Gewalttätigkeiten, finanziellen Zwängen oder emotionalen Rückzügen, unter denen die Beziehung in der Folge der psychischen Krankheit oder des Drogen- oder Alkoholmissbrauchs möglicherweise litt. Gab es vorher schon eheliche Probleme oder Trennungen, so verstärkt dies beim hinterbliebenen Partner gewöhnlich das ohnehin schon massive Gefühl der Schuld und der Verantwortlichkeit. Wenn man der Mensch ist, der mit dem Opfer das Bett geteilt oder dessen Kinder zur Welt gebracht hat, so ist dessen Entscheidung zum Selbstmord auch eine ganz persönliche Zurückweisung. Und weil Selbstmord bei anderen in der Regel als ein Tod gilt, den man hätte abwenden oder verhindern können, bekommen Ehegatten oft den Hauptteil des Klatsches und Tratsches in der Nachbarschaft oder der Schuldzuweisungen von Seiten der Familie zu spüren. Sich nach dem Todesfall mit der Polizei auseinandersetzen und den gar nicht so fernliegenden Verdacht eines Mordes ausräumen zu müssen, macht die Situation nicht besser. Häufig hat der Ehegatte, der sich umgebracht hat, eine lange Krankengeschichte schwerer psychischer Leiden hinter sich, die eine solche Belastung für die Ehe darstellten – auf Grund von Wut und
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Ärger, Groll, sexueller Untreue, Hoffnungslosigkeit, körperlicher und verbaler Gewalt, Entfremdung –, dass der Hinterbliebene Partner nicht nur verzweifelt ist, sondern auch ein zermürbendes Gefühl der Erleichterung verspürt. Die unmittelbare Reaktion eines Mannes nach dem Selbstmord seiner Frau, die zwölf Jahre lang unter wiederkehrenden Depressionen gelitten hatte, lässt diese Ambivalenz erkennen. »Ich hatte das merkwürdige Gefühl, drei Menschen zu sein«, sagte er. »Einer davon stand unter Schock. Der Zweite empfand eine seltsame Erleichterung: keine Psychiater mehr, keine Tabletten, Schocktherapien, Kliniken. Ein Dritter beobachtete die anderen beiden: Sieh dir diesen Narren an, wie er heult und schreit; und sieh dir bloß den anderen Narren an, der sofort in solche Erleichterung verfällt, obwohl er doch zwölf Jahre lang mit seiner Frau mitgelitten hat.«17 Obwohl bei Ehepartnern von Selbstmordopfern die eigenen Schuldgefühle und das Gefühl, für den Todesfall verantwortlich gemacht zu werden, weitaus ausgeprägter sind als bei Ehepartnern von Unfallopfern (obwohl auch diese unter plötzlichen und unerwarteten Umständen ihren Partner verlieren), werden in den meisten Untersuchungen bei beiden Gruppen ähnliche langfristige psychische Auswirkungen festgestellt.18 Den meisten Hinterbliebenen Ehepartnern gelingt es letztlich, sich mit dem Tod abzufinden, vor allem wenn sie jung sind. Nach dem Suizid durchleben sie zunächst eine Phase der Depression, heiraten dann aber häufig erneut und ziehen ihre Kinder mit geringeren Schwierigkeiten auf, als man sich vielleicht vorstellt. »Mit geringeren Schwierigkeiten« bedeutet jedoch nicht »ohne Schwierigkeiten«, und der Heilungsprozess ist ausgesprochen schwierig und langwierig. Josephine Pesaresi, eine Sozialarbeiterin aus New Jersey, blieb als Witwe mit drei Kindern im Alter von zehn, fünfzehn und sechzehn Jahren zurück, nachdem sich ihr Mann, ein Psychiater, während einer schweren Depression mit heftigen Erregungszuständen erschossen hatte. Sie beschreibt die auf den Selbstmord folgenden Tage und Monate:
Vom ersten Augenblick an wollten die Leute wissen, warum. Warum? Warum? Gott, wie ich diese Frage am Schluss hasste. Man erwartete tatsächlich von mir, ein Ereignis erklären zu können, das mir gerade das Herz herausgerissen hatte. Das Stigma, das grässliche Stigma, das mit Selbstmord verbunden ist, ver
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schummerte noch den furchtbaren Schmerz, unter dem wir litten. (...) Als ich den Verlust wirklich zu realisieren begann, kamen auch die Schuldgefühle und die Selbstvorwürfe. Ich hielt mir vor, nicht erkannt zu haben, wie schwer krank mein Mann war, und dass ich ihn nicht in eine Klinik geschickt hatte. Unsere Kinder fühlten sich schuldig wegen ihrer Beziehung zu ihm. Unser Sohn war mitten in der Pubertät und hatte oft Streit mit seinem Vater. Unsere ältere Tochter sagte, sie hätte eine Vorahnung der Katastrophe gehabt und ihrem Instinkt folgen und in der Nähe ihres Vaters bleiben sollen, statt schwimmen zu gehen. Unsere jüngere Tochter meinte, sie hätte das Zimmer, in dem ihr Vater war, nicht verlassen dürfen, um in ihrem eigenen Zimmer eine Kassette zu hören. Die Schuldgefühle und die Spekulationen des »Was wäre gewesen, wenn (...)« eskalierten und schienen kein Ende zu nehmen, besonders für mich. Meine Schwiegereltern, die uns vor dem Selbstmord sehr nahe standen, schoben mir die Schuld an der Depression meines Mannes zu und weigerten sich, unser Haus zu betreten. (...) Nach dem Tod meines Mannes schlossen meine Kinder und ich einen stillschweigenden Pakt miteinander: Wenn ich mich aus dem Loch ziehen konnte, in das ich gestürzt war, wenn ich ein paar Kleider anziehen, Essen einkaufen und sie zu ihren Unternehmungen und zur Schule fahren konnte, dann würden auch sie ihr Leben weiterführen, so gut sie konnten. Ich musste meinen Teil des Paktes aber auch erfüllen – keine Ausflüchte und keine Ersatzmütter. Wir alle litten, aber wenn auch nur einer von uns es schaffen sollte, dann mussten wir es alle zusammen schaffen. Sie achteten strikt darauf, dass ich den Vertrag einhielt. Es war eine Folter, und sie machten mich rasend, aber ich stieg in das verdammte Auto und sie auch. Es war klar, dass mein Mann mir einen gerade erst halb erledigten Job überlassen hatte, nämlich drei Kinder großzuziehen, die wir in gemeinsamer Liebe und Hingabe gezeugt hatten. Irgendwie mussten wir uns jetzt gegenseitig da hindurch helfen – und schließlich schafften wir es auch. Sogar Humor begann sich wieder in unser Leben zu schleichen. Unsere ältere Tochter gab mir eine Plakette, die ich in der Nähe meines Bettes aufbewahren sollte und auf der stand: »Sollen wir einen Fachmann holen oder stümpern wir es lieber selber hin?«19
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Für Kinder ist der Selbstmord von Vater oder Mutter ein verheerendes Ereignis, von dem sie für immer gezeichnet bleiben, doch zum größten Teil kommen sie über den Tod hinweg, ohne eine schwere oder dauerhafte Pathologie davonzutragen. Wie Erwachsene durchleben jedoch auch viele Kinder nach einem Tod durch Selbstmord tiefe Gefühle der Trauer, der Schuld und des Kummers, die unter Umständen viele Monate, wenn nicht Jahre anhalten. Wenn ein Kind zuvor bereits an psychischen Störungen litt, kann die Reaktionsphase ernst und langwierig sein. Ein elfjähriger Junge zum Beispiel wurde etwa ein Jahr nach dem Selbstmord seines Vaters vom einweisenden Arzt klinisch folgendermaßen eingestuft: »Dieser dünne, blasse, passive Junge machte einen zurückgezogenen, apathischen und leblosen Eindruck. Er ließ seinen Kopf hängen und starrte mit ausdruckslosem Blick zu Boden. Gänzlich in seinen eigenen Gedanken verloren, eröffnete er selten von sich aus ein Gespräch, und seine Antworten waren von einer qualvollen Langsamkeit. Seine Gesten zeugten von einer völligen Resignation und Niedergeschlagenheit, obwohl er ab und zu an seinem Arm oder seiner Lippe zupfte. Wenn er redete, sprach er von seiner immensen Einsamkeit, der Schuld, die er wegen des Suizids seines Vaters empfand, seiner Unfähigkeit, seiner Familie nach dem Selbstmord eine Hilfe zu sein, und von seiner eigenen Wertlosigkeit.«20 Die ersten Augenblicke, in denen es zu einer Mitteilung über die Todesumstände eines Elternteils kommt oder auch nicht, sind entscheidend für die Fähigkeit eines Kindes, den Selbstmord zu akzeptieren und zu verarbeiten. Die Sensibilität des verbliebenen Elternteils kann sehr unterschiedlich sein, wie eine in England durchgeführte Studie dokumentiert: Dem Vater, der seinen Söhnen erklärt, »Mami war sehr deprimiert, unglücklich und müde, und deshalb hat sie zu viele Tabletten geschluckt und sich das Leben genommen«, steht als anderes Extrem die Mutter gegenüber, die zu ihrem Dreijährigen sagt: »Da muss der dumme Kerl seinen Kopf in den Gasofen stecken!«21 Die Sozialarbeiterin Josephine Pesaresi sagte nur wenige Minuten nach seinem Tod zu ihren Kindern: »Er hatte eine Krankheit, die wie Krebs war und nicht geheilt werden konnte.«22 Es ist wichtig, dass Kindern die Wahrheit so schnell und so vollständig gesagt wird, wie sie es verkraften können. Bemühungen, ein Kind zu »beschützen« oder zu »behüten«, fallen fast unweigerlich auf das Kind zurück, weil es sich in diesem Fall in einem Geflecht aus
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Tatsachenverzerrungen und Falschwahrnehmungen und in einer »Verschwörung des Schweigens« wiederfindet. Werden die wahren Umstände des Todes verborgen gehalten, kommen sie oft durch Gespräche mit anderen Kindern oder durch aufgeschnappte Bemerkungen von Erwachsenen doch schnell ans Licht. Wenn ein Kind die Wahrheit erst später erfährt, kann dies zusätzlichen, unnötigen Schaden verursachen, außerdem wird das Kind daran gehindert, die Realität seiner eigenen Erfahrung oder der Erfahrung des zurückgebliebenen Elternteils zu begreifen. Christopher Lukas, Drehbuchautor und Fernsehregisseur, dessen Mutter, Großmutter, Onkel, Tante und Bruder (der Schriftsteller Anthony Lukas) sich umbrachten, beschreibt die Verschwörung des Schweigens und der Unehrlichkeit, mit welcher der Tod seiner Mutter umgeben wurde, in Silent Grief, einem Buch, das er zusammen mit dem Psychologen Henry Seiden verfasst hat:
An einem heißen Augustnachmittag des Jahres 1941, als ich sechs Jahre alt war und sie dreiunddreißig, verließ meine Mutter das Haus ihres Psychiaters in Connecticut, machte ein paar Schritte in den Garten und schnitt sich die Kehle durch. Mein Vater, ein erfolgreicher Anwalt – wenn auch ein unglücklicher Mensch –, wurde aus seinem New Yorker Büro herbeigerufen, um sich um die Tote zu kümmern. Auch meine Großmutter war an diesem Tag im Haus des Psychiaters. In jenem Sommer pflegte sie meine Mutter dorthin zu begleiten – meine Mutter hatte sich nach Jahren des Kampfes mit manisch-depressiven Schüben entschlossen, einen Psychiater aufzusuchen. Meine Großmutter – die Mutter meiner Mutter – und mein Vater waren sich uneins, was sie den Kindern sagen sollten – mir zu Hause und meinem achtjährigen Bruder, der im Ferienlager war. Mein Vater setzte sich durch: Zehn Jahre lang wurde vor uns geheim gehalten, wie meine Mutter gestorben war, obwohl all unsere Verwandten und die meisten von deren Freunden wussten, dass sie Selbstmord begangen hatte. Als ich im Alter von sechzehn Jahren endlich die Wahrheit erfuhr, saßen mein Vater und ich in einem Bahnhof, und wieder war es ein heißer Tag im August. Ich musste meinen Zug erreichen, und ich bin überzeugt, dass mein Vater diesen Moment wählte, um mir die Wahrheit zu sagen, weil er es nicht ertragen konnte, ein längeres Gespräch über das Thema zu führen.
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»Warum?«, fragte ich quengelig. »Sie war krank«, antwortete mein Vater, und zwar so, dass klar war, dass er zu diesem Thema nichts weiter zu sagen hatte. Viele Jahre lang haben wir nicht wieder darüber gesprochen.23 Joshua Logan, Regisseur und Drehbuchautor der Filme Mister Roberts, South Pacific, Bus Stop und Sayonara, litt über weite Strecken seines Erwachsenenlebens unter einer manisch-depressiven Erkrankung. Nach einem seiner Klinikaufenthalte ließ er sich einen Termin bei einem neuen Psychiater geben und begann diesem die Geschichte seiner Kindheit zu erzählen:
Während ich ihm von meiner Kindheit erzählte, hörte ich mich selber sagen – beinahe so, als hätte ich es auswendig gelernt: »Mein Vater starb an einer Lungenentzündung in einem Krankenhaus in Chicago, als ich drei Jahre alt war.« Nach einer kurzen Pause sagte Dr. Moore ruhig zu mir: »Ihr Vater schnitt sich in einem Sanatorium in Chicago mit einem Taschenmesser die Kehle durch. Ich glaube, es ist Zeit, dass Sie das erfahren, Mr. Logan.« Ich war so verblüfft, dass ich ihn drei oder vier Mal bat, zu wiederholen, was er gerade gesagt hatte, dann wollte ich von ihm wissen, wie er diese Dinge wissen könne, von denen ich noch nie in meinem Leben gehört hatte. (...) Ich konnte es nicht erwarten, Dr. Moores Praxis zu verlassen. Ich nahm ein Taxi nach Hause und stürmte in die Wohnung, um meinen Onkel Will in Louisiana anzurufen. »Ja, Josh«, sagte Will, »es ist wahr.« Ich antwortete: »Aber mir haben sie immer erzählt, er sei an Lungenentzündung gestorben.« »Er starb wirklich an einer Lungenentzündung. Sie rührte von dem Blut, das aus seiner Kehle in die Lunge geflossen war.« »Aber warum hat mir das niemand gesagt? Warum hat es mir meine Mutter nicht gesagt?« »Sie wollte nicht, dass du es je erfährst, Josh. Ich kann dir nicht sagen, wieso. Vielleicht dachte sie, es wäre zu schmerzlich für dich.« »Es ist nicht schmerzlich, Will, es ist eine Erlösung, endlich die Wahrheit zu wissen. Als hätte man ein Furunkel aufgestochen und die Wunde gesäubert. Mir geht es so gut wie seit langer, langer – 297 –
Zeit nicht mehr. Jetzt lerne ich meinen Vater kennen, und zwar zum ersten Mal in meinem Leben. Zum ersten Mal fühle ich mich ihm nahe. Er muss mir sehr ähnlich gewesen sein.« »Das war er«, sagte Will. »Sehr ähnlich. Und ich hoffe, du sagst deiner Mutter nicht, dass du es weißt.«24
Für Joshua Logan, wie für manchen anderen, war die Wahrheit über den Selbstmord seines Vaters eine Erlösung. Sie half ihm, sowohl seinen Vater als auch sich selbst besser zu verstehen. Andere werden von dem Gedanken an Suizid verfolgt, sie sind besessen vom gewaltsamen Ende des Vaters oder der Mutter, voller Angst, welche Bedeutung dieser Tod wohl für ihr eigenes Leben hat. John Berryman, der sich genau wie sein Vater und dessen Schwester das Leben nahm, schrieb in seinem Gedicht »Of Suicide«: »Gedanken an Selbstmord & an meinen Vater haben mich im Griff / (...) Über Selbstmord denk ich ständig nach.«25 In einem Gedicht, das er nach Ernest Hemingways Selbstmord geschrieben hatte, hieß es: »Bewahrt uns vor Flinten & dem Selbstmord der Väter / (...) Erbarmen! mein Vater; drück nicht auf den Abzug / oder ich werde mein Leben lang leiden an deiner Wut / und töten, was du einst begannst.«26 Die eindringlichsten Worte über den Selbstmord seines Vaters finden sich in einem weiteren Gedicht aus The Dream Songs:
Der Grabstein neigt sich, blumenlos, der Tag ist fast vorüber, Ich stehe über meines Vaters Grab im Zorn, oft, oft schon zuvor ging ich auf diese schlimme Pilgerfahrt zu einem, der mich nicht besuchen kann, der seine Seite riß heraus: Ich komme wieder und verlange mehr. Ich spucke auf das Grab dieses schrecklichen Bankiers, der sich das Herz herausschoss im Morgengrauen von Florida.27
Wie überleben Menschen einen solchen unüberwindlichen Schmerz und Zorn? Wie schaffen sie es, sich von Schuld und Kummer nicht so weit zerstören zu lassen, dass sie den Rest ihres eigenen Lebens für jenes andere hingeben, das sie an den Selbstmord verloren haben? Es gibt viele Wege: die Unterstützung durch Familie und Freunde, Reli
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giosität, das Vertrauen auf die Zeit, Psychotherapie, Beratungsgespräche. Sehr nützlich sind auch Selbsthilfegruppen für Hinterbliebene. Die American Foundation for Suicide Prevention und die American Association of Suicidology sind die wichtigsten landesweit tätigen Organisationen in den Vereinigten Staaten, die nicht nur wissenschaftlich arbeiten und Hilfs- und Aufklärungsprogramme anbieten, sondern auch ein großes Netz von lokalen Hilfegruppen unterhalten. Diese Gruppen ermöglichen es Menschen, die den Selbstmord eines Freundes oder Angehörigen verarbeiten müssen, andere Menschen zu treffen, die sich in der gleichen Situation befinden, Erfahrungen und Kenntnisse auszutauschen und sich gegenseitig zu unterstützen und zu ermutigen, eine Zukunft aufzubauen, die wieder als bedeutungsvoll erfahren werden kann. Anderen zuzuhören, die die gleichen Klippen gemeistert haben, und zuletzt selbst neuen Gruppenmitgliedern zu helfen, dasselbe zu tun, ist ein unschätzbares Element in einem Lernprozess, der einen Menschen befähigt, zu überleben und ein glückliches Leben zu führen. Viele Hinterbliebene von Selbstmordopfern engagieren sich später aktiv in Aufklärungsprogrammen von Schulen und Kirchen und hoffen, damit das Bewusstsein für die Selbstmordproblematik und die psychischen Erkrankungen, die dazu führen können, zu schärfen. Andere arbeiten auf Bundesstaats- oder Landesebene daran, die Gesetzgebung zu verändern oder mehr Geldmittel für Programme der Selbstmordprävention und entsprechende Forschungsvorhaben aufzubringen. Alle versuchen, dem Furchtbaren, das ihnen widerfahren ist, etwas Gutes abzutrotzen, und den meisten gelingt das auch. Dennoch stellen sich die meisten immer wieder die Frage nach dem Warum. Darüber schreibt auch der schottische Autor Lewis Grassic Gibbon, der selbst als junger Mann einen Selbstmordversuch unternommen hat, in Sunset Song, dem ersten Buch seiner Trilogie A Scots Quair. Er schildert die Kämpfe seiner Protagonistin Chris Guthrie, die versucht, sich mit dem Selbstmord ihrer Mutter abzufinden: Genau wie das letzte Mal, als sie zum loch hinaufgeklettert war; und wann war das gewesen? Sie öffnete die Augen und dachte nach, und, müde geworden, ließ sie ihre Lider wieder sinken und stieß ein seltsames Lachen aus. Es war im Juni letzten Jahres, als sie sich und die Zwillinge vergiftet hatte.
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So lange und doch so kurz erst her, du sahst die Stunden und die Tage als eine dunkle, kalte Grube, aus der du nie entkommen konntest. Aber du warst entkommen, die schwarze klamme Feuchtigkeit war aus dem Sonnenschein verschwunden, und die Welt ging weiter, die weißen Gesichter und das Flüstern in der Grube verflogen allmählich. Nie mehr würdest du sein wie zuvor, aber die Welt ging weiter, und du gingst mit. Es war nicht nur Mutter, die mit den Zwillingen starb, etwas starb in deinem Herzen und stieg hinab zu ihr, um bei ihr zu liegen auf dem Friedhof bei der Kirche in Kinraddie – das Kind in deinem Herzen starb damals, das Kind, das glaubte, die Hügel wären ihm als Spielzeug erschaffen worden, jede Straße wäre säuberlich mit Warnschildern versehen, und Hände wären jederzeit bereit, einen vom Rand der Gefahr zurückzureißen, wenn das Spiel zu wild wurde. Das starb, und damit starb jene Chris, die in Büchern und Träumen lebte, oder vielleicht hast du sie auch in Seidenpapier eingeschlagen und sie neben den dunklen, stillen Leichnam gebettet, der deine Kindheit war. (...) Dann wusch Mistress Munro den Körper, welcher der deiner Mutter war, und kleidete ihn in ein Nachthemd, ihr bestes, das mit den blauen Bändern, das sie so viele Jahre nicht getragen hatte; sie machte sie hübsch und entzückend anzusehen, dir flossen die Tränen, als du sie so sahst, heiße Tränen, die aus deinen Augen drangen wie Blutstropfen. Doch sie versiegten schnell, man würde sterben, wenn man lange so weinte, und statt der Tränen erhob sich eine lange Klage in deinem Kopf, endlos und ohne Antwort – O Mutter, Mutter, warum hast du das getan?28
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Epilog
Ich muss naiv gewesen sein. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, wie sehr es mich verstören würde, dieses Buch zu schreiben. Schließlich wusste ich, dass das hieß, Menschen zu den schmerzvollsten und privatesten Augenblicken ihres Lebens zu befragen, und ich wusste auch, dass ich unweigerlich selbst damit konfrontiert werden würde, was Suizid für mich im Laufe der Jahre bedeutet hatte. Keine dieser Aussichten war besonders attraktiv, aber ich wollte etwas gegen die zu wenig beachtete Epidemie von Selbstmorden unternehmen, und das Einzige, was ich tun konnte, war, ein Buch darüber zu schreiben. Ich habe ein optimistisches Naturell, und von Anfang an dachte ich, dass vieles, was über den Selbstmord zu schreiben ist, auf merkwürdige Weise ermutigend sein werde. Als Ärztin war ich der Ansicht, dass es bestimmte Behandlungsmethoden gibt, die Leben retten können; ich war umgeben von Wissenschaftlern, deren Forschungsarbeit über das Gehirn ebenso erstklassig wie tiefgründig ist, und ich glaubte, dass unser grundlegendes Verständnis der Hirnbiologie auf dem Weg ist, unser Denken über psychische Erkrankungen und über Suizid radikal zu verändern; und als Dozentin für junge Ärzte und Doktoranden hatte ich das Gefühl, die Zukunft halte viel versprechende Aussichten für die intelligente und mitfühlende Pflege psychisch kranker und suizidaler Menschen bereit. An all das glaube ich noch immer. Tatsächlich glaube ich heute stärker daran als vor zwei Jahren, als ich Forschungsergebnisse für dieses Buch zusammenzutragen begann. Die wissenschaftliche Arbeit auf diesem Gebiet ist erstklassig; sie macht schnelle Fortschritte und stellt Pixel für Pixel, Gen für Gen ein hoch kompliziertes Mosaik des Gehirns zusammen. Psychologen entschlüsseln die Motive für einen Selbstmord und ermitteln immer mehr jener letzten Auslöser – die in den Lebensumständen zu finden sind –, welche das empfängliche
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Gehirn auf so gefährliche Weise in Brand stecken. Und auf der ganzen Welt, von Skandinavien bis Australien, arbeiten Menschen in den Gesundheitsbehörden an einem klar strukturierten, rationalen Strategieentwurf, um die Suizidraten drastisch zu senken. Und dennoch: Mit all diesen Bemühungen scheint man keine große Eile zu haben. In Amerika wird alle siebzehn Minuten ein Selbstmord verübt: Wo bleibt die öffentliche Sorge und Empörung? Durch die Arbeit an diesem Buch bin ich ungeduldiger geworden, gleichzeitig ist mein Verständnis für die Probleme, die einer Eindämmung des Suizids im Weg stehen, gewachsen. Ich kann die Gedanken an die Trostlosigkeit, die Verwirrung und die Schuldgefühle der Eltern, Kinder, Freunde und Kollegen jener Menschen, die sich durch eigene Hand getötet haben, nicht aus meinem Kopf verbannen, ebenso wenig wie die Autopsiefotos von Zwölfjährigen oder die High-SchoolAbschlussball-Fotos von Jugendlichen, die sich kein Jahr später eine Pistole in den Mund schieben oder aus dem obersten Stockwerk eines Studentenwohnheims springen. Ein unverstellter Blick auf die Selbstmordproblematik – die schieren Zahlen, der Schmerz, der den Weg zum Selbstmord ebnet, das Leid, das darauf folgt – ist erschütternd. Jedem Augenblick des Jubels über den Fortschritt der Wissenschaft oder den Erfolg regierungsamtlicher Unternehmungen steht die schreckliche Realität der Todesfälle selbst gegenüber: die Tode junger Menschen, gewaltsame Tode, unnötige Tode. Wie viele meiner Kollegen, die über Suizid arbeiten, habe ich wieder und wieder die Grenzen unserer Wissenschaft erkennen müssen; ich habe es einerseits als Privileg betrachtet, miterleben zu dürfen, wie gut manche Ärzte sind, war wiederum schockiert von der Gefühllosigkeit und Inkompetenz anderer. Vor allem aber hat es einen tiefen Eindruck in mir hinterlassen, wie wenig Wert unsere Gesellschaft der Rettung jener beimisst, die so verzweifelt sind, dass sie ihr Leben beenden wollen. Es ist eine gesellschaftliche Illusion, dass Selbstmord eine seltene Sache sei. Das ist er nicht. Und mit Sicherheit sind die mit Selbstmord am engsten verbundenen psychischen Krankheiten alles andere als selten. Im Gegenteil: Sie sind weit verbreitet, und anders als Krebs oder Herzerkrankungen befallen und töten sie überdurchschnittlich viele junge Menschen.
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Ein paar Wochen nachdem ich fast an einem Selbstmordversuch gestorben wäre, ging ich in die Episkopal-Kirche, die dem Campus der University of California in Los Angeles gegenüber liegt. Ich ging nicht oft dorthin, aber ich war Mitglied der Gemeinde, und weil ich durch die Tür gehen konnte, statt von sechs Leuten hindurchgetragen zu werden, wollte ich sehen, was von meinem Verhältnis zu Gott geblieben war. Um es mir leichter zu machen, kaufte ich eine Karte für ein Bach-Konzert, das in der Kapelle gegeben wurde. Ich kam früh in die Kirche; mein Geist war noch immer geschwächt und genauso angespannt und erschöpft wie mein Herz. Dennoch kniete ich nieder, trotzdem oder deswegen, und sprach in meine Hände das einzige Gebet, das ich auswendig weiß oder das mir etwas bedeutet. Der Anfang war mechanisch und leicht: »Möge Gott in meinem Herzen und in meinem Verstande sein.« Ich sagte zu mir selbst oder zu Gott: »Möge Gott in meinem Auge und in meinem Blick sein.« Trotz meiner zunehmenden geistigen Taubheit schaffte ich es durch den größten Teil des Gebets. Aber als ich zum Ende kam, war mein Kopf völlig leer. Ich quälte mich durch etwas hindurch, was als Akt der Versöhnung mit Gott begonnen hatte. Nun konnte ich die Worte nirgends finden. Eine Weile dachte ich, dass sie mir nicht einfielen, läge an den Rückständen der vergiftenden Menge Lithium, die ich genommen hatte. Doch plötzlich stiegen die letzten Zeilen in mein Bewusstsein auf: »Möge Gott in meinem Ende und in meinem Abschied sein.« Wie ein Krampf überkamen mich Scham und Trauer, wie ich sie nie zuvor gekannt hatte und seitdem nie wieder gespürt habe. Wo war Gott gewesen? Ich konnte die Frage damals nicht beantworten und kann es auch heute nicht. Was ich weiß, ist, dass ich hätte tot sein müssen und dass ich es nicht war – ich hatte Glück, ich hatte eine neue Chance zu leben bekommen, die viele andere nicht haben. Während meiner Arbeit an diesem Buch standen ein Foto und eine Zeile aus einem Gedicht auf meinem Schreibtisch. Das Foto ist das eines jungen, gutaussehenden Kadetten der Air Force Academy, der neben seinem Kampfflugzeug steht. Über den Selbstmord dieses jungen Mannes zu schreiben war wahrscheinlich der schwierigste Teil dieses Buches. Ich begann jenen Abschnitt an einem klaren Wintertag in der Bibliothek der University of St. Andrews in Schottland, wo ich jedes Jahr einige Wochen unterrichte. Ich konnte immer nur kurze
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Zeit in seiner Krankengeschichte lesen bevor ich aufstehen, zum Fenster hinübergehen und hinaus auf die Nordsee blicken musste, getrieben von dem vergeblichen Versuch, dem Ganzen einen Sinn abzutrotzen, der all den Schrecken erträglicher machen würde. Dann kehrte ich zu den ärztlichen Aufzeichnungen zurück, die das unerbittliche Fortschreiten der Krankheit nachzeichneten, die ihn töten sollte. Erst verfolgte mich das Foto, dann tröstete es mich; es war mir eine große Freude, Drew Sopirak gekannt zu haben. Die Gedichtzeile auf meinem Schreibtisch gehörte zu den Dingen, die mich wieder ins Leben zurückgezogen haben. Es ist die letzte Zeile von Douglas Dunns Disenchantments: Sieh auf die Lebenden, liebe sie, und halte durch.1
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Danksagung
Ich schulde vielen Menschen Dank für ihre Hilfe, als ich dieses Buch schrieb. Die Eltern von Drew Sopirak, Andrew und Allyn, gestatteten mir die Einsichtnahme in seine medizinischen Unterlagen. Sie sprachen mit mir und schrieben mir ausführlich über sein Leben und seinen Tod. Sie ließen mich seine schriftlichen Aufzeichnungen, seine Zeichnungen, Fotos und Bücher sehen und unterstützten meine Absicht, mit seinen Klassenkameraden und Lehrern sowie mit seinen Lehrern und Mitkadetten an der U.S. Air Force Academy zu reden. Den folgenden Personen bin ich zu Dank verpflichtet, weil sie Zeit für mich hatten, sich interviewen ließen oder mir schrieben und Erinnerungen mitteilten: Lt. Colonel Philip Bessert jr., Tom Buckley, Tarn Bui, Ellen Fitzgerald, Dr. Joseph Galema, Judy Landis, Janna Mattey, Major Stephen Pluntze, Lt. David Shoemaker, Paul und Kay Spangler, Kerri Whittaker und Stephen Wood. Eine besondere Hilfe bei der Beschaffung der wissenschaftlichen und klinischen Literatur über den Suizid waren die Mitarbeiter der National Institutes of Health Library. Ich habe auch umfangreich von der William H. Welch Medical Library of the Johns Hopkins School of Medicine profitiert, ebenso von der Georgetown University Library, der University of St. Andrews Library, der London Library (wo die Bücher über Suizid in den Regalen »Wissenschaft und Vermischtes« zwischen »Sugar« [Zucker] und »Sundials« [Sonnenuhren] eingeordnet sind), außerdem der National Gallery of Art Library in Washington, D.C., Mildred L. Amer vom Suchdienst der Library of Congress half mir, Informationen über Kongressabgeordnete zu beschaffen, die nicht eines natürlichen Todes gestorben sind. Mrs. J.M. Buckberry, Bibliothekarin und Archivarin am Royal Air Force College in England, schickte mir Material über die Geschichte und Literatur der Fliegerei.
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Dr. Alex Crosby von den Centers for Disease Control and Prevention in Atlanta, Dr. Eve Moscicki von der Epidemiologie-Abteilung des National Institute of Mental Health und Ken Kochanek, M.A., von der Abteilung Sterblichkeit des National Center for Health Statistics versorgten mich mit den neuesten Selbstmordstatistiken. Dr. Robert Gallo und Dr. Farley Cleghorn vom virologischen Institut der University of Maryland und Dr. Harry Rosenberg, Leiter der Abteilung für Sterblichkeitsstatistik der Centers for Disease Control and Prevention, stellten mir Statistiken über die AIDS-Sterbefälle zur Verfügung. Tom Campbell und Roger Jorstad vom Verteidigungsministerium besorgten mir die Daten über die Gefallenen im Vietnamkrieg. Der Rundfunkjournalist Paul Berry beschaffte mir Informations- und Videomaterial über seinen Freund John Wilson, den ehemaligen Washingtoner Stadtratsvorsitzenden. Viele Kollegen und andere Personen waren so freundlich, mir Manuskripte oder Arbeiten zu schicken, an denen sie gerade saßen. Andere wiesen mich auf neue Daten und Illustrationen hin oder teilten mir ihre Ansicht über laufende Forschungen mit. Besonderen Dank schulde ich Dr. Eileen Ahearn, Duke University Medical Center; Dr. Marie Äsberg, Karolinska Institut in Stockholm; Dr. Susan Bachus von der klinischen Abteilung für Gehirnstörungen am National Institute of Mental Health; Dr. Aaron Beck, University of Pennsylvania; Dr. Lanny Berman, American Association of Suicidology; Virginia Betts, R. N., J.D., vom Büro des US-Gesundheitsministers; Dr. Emil Coccaro, University of Chicago; Dr. Francis Collins und seinen Mitarbeitern vom National Human Genome Research Institute; Dr. Jerry Cott, National Institute of Mental Health; Dr. Joseph Coyle, Harvard Medical School; Dr. Lucy Davidson, Emory University School of Medicine; Lamia Doumato, National Gallery of Art; Karen Dünne-Maxim, R.N.; Colonel Molly Hall, U.S. Air Force; Dr. Dan Herman, New York Psychiatrie Institute; Dr. Herb Hendin vom New York Medical College und der American Foundation for Suicide Prevention; Dr. Joseph Hibbeln vom Laboratory of Membrane Biochemistry and Biophysics und dem National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism; Dr. J. Dee Higley, Primate Unit, National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism; Liz Hylton von der Washington Post; Dr. Steven Hyman, National Institute of Mental Health; Dr. Joanne Leslie, UCLA School of Public Health; Dr. John Mann, Columbia University; dem Viscount Norwich; Dr. Barbara
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Parry, University of California, San Diego; Dr. Alec Roy, Veteran Affairs Medical Center, New Jersey; Dr. David Rubinow, National Institute of Mental Health; Dr. Donald Rubenstein, Stanford University und University of Guam; Dr. Matthew Rudorfer, National Institute of Mental Health; Dr. David Shaffer, Columbia University; Dr. John Smialek, dem Obersten Gerichtsmediziner des Staates Maryland; Dr. Michael Sopher, UCLA Department of Anesthesiology, David Sturtevant, Museum of Fine Arts, Boston; Dr. Ezra Susser, New York Psychiatrie Institute; lan Tattersall, American Museum of Natural History; Dr. E. Füller Torrey von der Stanley Foundation; Dr. Tom Wehr, National Institute of Mental Health; Dr. Myrna Weissman, Columbia University, und Dr. Peter Whybrow, UCLA School of Medicine. Mein besonderer Dank gilt meinen Kollegen, die mein Manuskript sorgfältig lasen und mir zahlreiche nützliche Hinweise gaben: Dr. Samuel Barondes, University of California, San Francisco School of Medicine; Dr. Lucy Davidson, Emory University School of Medicine, Dr. Ellen Frank, University of Pittsburgh School of Medicine; Dr. Dean Jamison, UCLA School of Public Health; Dr. David Kupfer, University of Pittsburgh School of Medicine; Dr. John Mann, Columbia University, College of Physicians and Surgeons; Dr. Charles Nemeroff, Emory University School of Medicine; Dr. Norman Rosenthal, National Institute of Mental Health, und Dr. Anthony Storr aus Oxford, England. Für ihre Freundschaft und Unterstützung danke ich folgenden Personen: Dr. Daniel Auerbach, David Mahoney, Dr. Anthony Storr, Dr. und Mrs. James Ballenger, Robert Boorstin, Lucie Bryant, Dr. Raymond De Paulo und meinen anderen Kollegen an der Johns Hopkins University, Professor Douglas Dunn, Dr. Robert Faguet und Dr. Kay Faguet, Antonello und Christina Fanna, Mrs. Katharine Graham, Charles und Gwenda Hyman, Earl und Heien Kindle, Dr. Athanasio Koukopoulos, Senator George McGovern, Dr. Paul McHugh, Alain Moreau, Clarke und Wendy Oler, Victor und Harriet Potik, Senator Robert Packwood, Dr. Norman Rosenthal, Dr. Per Vestergaard, Dr. Jeremy Waletzky, Dr. und Mrs. James Watson und Professor Robert Winter. In einer schwierigen Phase gewährte mir Senator Orrin Hatch seine Freundschaft in reichlichem Maße, was mir sehr viel bedeutet hat. Das gilt auch für die Freundschaft des Musikers Mickey Newbury, dessen Texte und musikalische Arrangements mein
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Leben über dreißig Jahre lang sowohl auf traurige als auch auf wunderschöne Weise begleitet haben. Carol Janeway, meine Lektorin bei Alfred A. Knopf, hat Außerordentliches geleistet, ich könnte mir keine bessere Zusammenarbeit vorstellen. Auch Stephanie Katz, ebenfalls von Knopf, war eine große Hilfe. Ich möchte Paul Bogaards und William Loverd von Knopf danken und meiner Agentin, Maxine Groffsky. William Collins, der meine Manuskripte abgeschrieben hat, war einfach wunderbar. Silas Jones hat mir fast jeden Tag geholfen, und ich danke ihm für alles, womit er mir das Leben leichter gemacht hat. Wie immer schulde ich alles meiner Familie: meiner Mutter, Dell Jamison, meinem Vater, Marshall Jamison, Danica und Kelda Jamison, Joanne Leslie, Julian, Eliot und Leslie Jamison, Kin Bing Wu und meinem Bruder Dean Jamison. Mein Mann, Richard Wyatt, ermutigte mich, dieses Buch zu schreiben, er las jedes Kapitel, nachdem ich es geschrieben hatte, und machte ausgezeichnete wissenschaftliche und klinische Vorschläge. Er wusste, dass so ein Buch nicht einfach zu schreiben war, und er hätte nicht liebevoller und hilfreicher sein können. Ich habe großes Glück.
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Anhang
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Anmerkungen Kapitel l 1 2
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Zu Einwänden zu diesem Thema vgl. H. Hendin, Seduced by Death: Doctors, Patients and the Durch Cure, New York 1997, sowie C. F. McKhann, A Time to Die: The Place for Physician Assistance, New Haven 1999. R. N. Anderson, K. D. Kochanek und S. L. Murphy, »Advance Report of Final Mortality Statistics, 1995«, in: Monthly Vital Statistics Report 45 (II, Suppl. 2), Hyattsville, Md., 1997, DHHS Publication Nr. (PHS) 97-1120. Division of Adolescent and School Health, National Center for Chronic Disease Prevention and Health Promotion, »Youth Risk Behavior Surveillance: National College Health Risk Behavior Survey – United States, 1995«, in: Morbidity and Mortality Weekly Report 46 (1997), Nr. SS-6. »Youth Risk Behavior Surveillance – United States, 1997«, in: Morbidity and Mortality Weekly Report 47 (1997), Nr. SS-3. L. Kann, C.W. Warren, W.A. Harris, J.L. Collins, B.I. Williams, J.G. Ross und L.J. Kolbe, »Youth Risk Behavior Surveillance – United States, 1995«, in: Morbidity and Mortality Weekly Report 45 (1996), Nr. SS-4; L. Kann, C.W. Warren, W. A. Harris, J.L. Collins, K. A. Douglas, M.E. Collins, B.I. Williams, J.G. ROSS und L.J. Kolbe, »Youth Risk Behavior Surveillance – United States, 1993«, in: Morbidity and Mortality Weekly Report 44 (1995), Nr. SS-1. Zu den Toten im Vietnamkrieg: United States Department of Defense, Washington Headquarters Services, Directorate for Information Operations and Reports, Juli 1998. Zu den HIV- und Selbstmordtoten: R.N. Anderson, K.D. Kochanek und S. L. Murphy, »Report of Final Mortality Statstics, 1995«, in: Monthly Vital Statistics Report AS (II, Suppl. 2), Hyattsville, Md., 1997; weitere statistische Angaben bei Dr. Alex Crosby, Centers for Disease Control and Prevention (National Center for Health Statistics, Hyattsville, Md.); Dr. Harry Rosenberg, auch am National Center for Health Statistics. L.F. McCraig und B.J. Strussman, »National Hospital Ambulatory Care Survey: 1996. Emergency Department Summary Advance Data from Vital and Health Statistics«, Nr. 293, Hyattsville, Md., 1997. Robert Burton, Anatomie der Melancholie, München 1991, S. 325f.
Kapitel 2 1 2 3
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Essay • Dieses Leben, dieser Tod 1 2 3
W.B. Yeats »Ein irischer Flieger sieht seinen Tod voraus«, in: Gedichte, Zürich 1958, übersetzt von H. E. Herlitschka, S. 39, Zeilen 11-16. »The U. S. Air Force Song«, Zeilen 10-13,15-16, 28. Text und Musik von Robert Crawford. (Copyright 1939,1942,1951 by Carl Fischer, Inc.) »On Eagle's Wings«, Refrain und Zeile l von Vers 3. Text und Musik, 1979, New Dawn Music. Text von Michael Joncas (nach Psalm 91). – 322 –
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»One More Roll«, von Commander Jerry Coffee (Hanoi 1968). »We Will Rise Again«, Refrain. Text und Musik von David Haas, Textgrundlage Jesaja 40, 41. OCP Publications, 1985.
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Zitiert bei Viktoria Schweitzer, Tsvetaeva, New York 1992, S. 377. Die russische Dichterin Marina Zwetajewa (1892-1941) schrieb diese Zeilen sechs Monate, bevor sie sich umbrachte. Ihr Freund Boris Pasternak sagte, sie sei »entschlossen, kämpferisch, unbezähmbar« gewesen. »Im Leben wie in der Kunst griff sie zielstrebig, gierig, fast raubtierhaft nach dem Endgültigen und Bestimmten.« Ihr Werk sei »gewaltig, stürmisch« und »ein großer Triumph, eine Entdeckung für unsere heimische Poesie«. Boris Pasternak, Über mich selbst. Versuch einer Autobiographie, Frankfurt a. M. 1990, S. 66. Edwin Shneidman, In grenzenloser Unempfindlichkeit, München 1987, S. 90. In einer Durchsicht von sechzehn Studien über Abschiedsbriefe wurde festgestellt, dass etwa zehn bis 42 Prozent der Selbstmörder einen Abschiedsbrief hinterlassen; in den drei größten Untersuchungen über Selbstmorde (in denen es um 3127, 1418 bzw. 1033 Fälle geht) wird von Quoten berichtet, die 30, 23 bzw. 21 Prozent betragen. Die am häufigsten zitierte Studie über Abschiedsbriefe (E. S. Shneidman und N. L. Farberow, »Some Comparisons Between Genuine and Simulated Suicide Notes in Terms of Mowrer's Concepts of Discomfort and Relief«, in: Journal of General Psychology 56 [1957], S. 251-256) nennt die Zahl von 15 Prozent bei 721 Selbstmorden. Vgl. auch J. Tuckman, R.J. Kleiner und M. Lavell, »Emotional Content of Suicide Notes«, in: American Journal of Psychiatry 116 (1959), S. 59-63; L.B. Bourque, B. Cosand und J. Kraus, »Comparison of Male and Female Suicide in a Defined Community«, in: Journal of Community Health (1983), S. 7-17; J. A. Posener, A. LaHaye und P.N. Cheifetz, »Suicide Notes in Adolescence«, in: Canadian Journal of Psychiatry 34 (1989), S. 171-176; N. Heim und D. Lester, »Do Suicides Who Write Notes Differ from Those Who Do Not? A Study of Suicides in West Berlin«, in: Acta Psychiatrica Scandinavica 82 (1990), S. 372f.; R. Chynoweth, »The Significance of Suicide Notes«, in: Australian and New Zealand Journal of Psychiatry 11 (1997), S. 197-200. C. Thomas, »First Suicide Note?«, in: British Medical Journal, 26. Juli 1980, S. 284f. Die Übersetzung des »Gesprächs eines Mannes mit seiner Seele« (Papyrus Berlin P3024, um 1800 v.Chr.) ist entnommen aus: Altägyptische Dichtung, ausgew., übers, und erläutert von Erik Hornung, Stuttgart 1996, S. 106-109. Sergej Jessenin, Gesammelte Werke, Bd. l: Gedichte, hg. von Leonhard Kossuth, Berlin 1995, S. 295. John Felstiner, Paul Celan. Eine Biographie, München 1997, S. 363. D. Lajolo, Kadenz des Leidens. Leben und Werk des Cesare Pavese, Hamburg 1964, S. 345. I. O'Donnell, R. Farmer und J. Catalan, »Suicide Notes«, in: British Journal of Psychiatry 163 (1993), S. 45-48, S. 47. A. Leenaars, Suicide Notes: Predictive Clues and Patterns, New York 1988, S. 232, S. 255. A. Capstick, »Recognition of Emotional Disturbance and the Prevention of – 323 –
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Graham Greene, Eine An Leben, Wien/Hamburg 1971, S. 145. Graham Greene (1904-1991) litt wie sein Großvater an manischer Depression. Als Schuljunge schnitt er sich das Bein auf und versuchte, sich mit einem tödlichen Nachtschattengewächs und Aspirin zu vergiften; als Student spielte er innerhalb von sechs Monaten sechs Mal russisches Roulette. »Ich habe nie begriffen«, schrieb er in Das Ende einer Affäre, »warum die Menschen, die ohne weiteres die höchst unwahrscheinliche Vorstellung eines überpersönlichen Gottes hinzunehmen bereit sind, an der Idee eines persönlichen Teufels Anstoß nehmen.« (Das Ende einer Affäre, in: Die Kraft und die Herrlichkeit. Das Herz aller Dinge. Das Ende einer Affäre, Hamburg/Wien 1962, S. 582.) Diese Ereignisse sind in Greenes Memoiren Eine Art Leben und in Norman Sherrys Biografie The Life of Graham Greene, Bd. 1: 3904-3939, London 1989, S. 85-91 und S. 154-160, beschrieben. Graham Greene, Brief an Vivien Dayrell-Browning, 1926 (zitiert in: Norman Sherry, The Life of Graham Greene, Bd. 1: 3904-3939, New York 1989, S. 276). Graham Greene, Eine Art Leben, Wien/Hamburg, S. 98. Ibid., S. 145. Ibid., S. 147. E. Robins, G.E. Murphy, R.H. Wilkinson, S. Gassner und J. Kayes, »Some Clinical Considerations in the Prevention of Suicide Based on a Study of 134 Successful Suicides«, in: American Journal of Public Health 49 (1959), S. 888-899; T.L. Dorpat und H.S. Ripley, »A Study of Suicide in the Seattle Area«, in: Comprehensive Psychiatry l (1960), S. 349f.; B. M. Barraclough, J. Bunch, B. Nelson und P. Sainsbury, »A Hundred Cases of Suicide: Clinical Aspects«, in: British Journal of Psychiatry 125 (1974), S. 355-373; O. Hagnell und B. Rorsman, »Suicide and Endogenous Depression with Somatic Symptoms in the Lundby Study«, in: Neuropsychobiology 4 (1978), S. 180187; J. Beskow, »Suicide and Mental Disorder in Swedish Men«, in: Acta Psychiatrica Scandinavica 277 (Suppl., 1979), S. 1-138; O. Hagnell und B. Rorsman, »Suicide in the Lundby Study: A Comparative Investigation of Clinical Aspects«, in: Neuropsychobiology 5 (1979), S. 61-73; R. Chynoweth, J.I. Tonge und J. Armstrong, »Suicide in Brisbane – A Retrospective Psychosocial Study«, in: Australian and New Zealand Journal of Psychiatry 14 (1980), S. 37-45; R.C. Fowler, C. L. Rich und D. Young, »San Diego Suicide Study: II. Substance Abuse in Young Cases«, in: Archives of General Psychiatry 43 (1986), S. 962-965; D.W. Black, »The Iowa Record-Linkage Experience«, in: Suicide and Life-Threatening Behavior 19 (1989), S. 78-89; B.L. Tanney, »Mental Disorders, Psychiatric Patients, and Suicide«, in: R.W. Maris, A.L. Berman, J.T. Maltsberger und R.I. Yufit (Hg.), Assessment and Prediction of Suicide, New York 1992, S. 277-320; A.T. A. Cheng, »Mental Illness and Suicide: A Case-Control Study in East Taiwan«, in: Archives of General Psychiatry 52 (1995), S. 594-603; T. Foster, K. Gillespie und R. McClelland, »Mental Disorders and Suicide in Northern Ireland«, in: British Journal of Psychiatry 170 (1997), S. 447-452; J. Angst, F. Angst und H.H. Stassen, »Suicide Risk in Patients with Major Depressive Disorder«, in: Journal of Clinical Psychiatry (Suppl. 2,1999), S. 57-62.
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Kapitel 5 1
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Chatterton (1752-1770), ein englischer Dichter, schrieb »Suicide« einige Monate, bevor er eine tödliche Dosis Arsen schluckte. »Lasst meine angstvolle Seele los«, schrieb er nicht lange, bevor er starb, »und vergebt mir diese letzte erbärmliche Tat.« Er war siebzehn Jahre alt. Seneca, Vom Zorn, Buch III, c.15, in: Philosophische Schriften, Erstes Bändchen, Leipzig 1923, S. 169. S. B. Nuland, Wie wir sterben. Ein Ende in Würde?, Augsburg 1999, S. 242. D. Parker, The Poetry and Short Stories of Dorothy Parker, New York 1994, S. 62. M. Meade, Dorothy Parker: What Fresh Hell Is This?, New York 1989, S. 107. Edna St. Vincent Millay, Collected Poems, hg. von Norma Millay, New York 1956, S. 264. Forbes Winslow, The Anatomy of Suicide, London 1840, Neudruck Boston 1978, S. 298. J.P. Gray, »Suicide«, in: American Journal of Insanity 35 (1878), S. 37-73, S. 66. K. A. Menninger, »Psychoanalytic Aspects of Suicide«, in: International Journal of Psychoanalysis 14 (1933), S. 376-390. Henry Romilly Fedden, Suicide: A Social and Historical Study, London 1938, S. 305. R. J. Frances, T. Wikstrom und V. Alcena, »Contracting AIDS as a Means of Committing Suicide«, in: American Journal of Psychiatry 142 (1985), S. 656; D.K. Flavin, J.E. Franklin und R.J. Frances, »The Acquired Immune Deficiency Syndrome (AIDS) and Suicidal Behavior in Alcohol-Dependent Homosexual Men«, in: American Journal of Psychiatry 143 (1986), S. 1440ff. A. Feuer, »Drawing a Bead on a Baffling Endgame: Suicide by Cop«, in: New York Times, 21. Juni 1998. Thomas Lynch, The Undertaking: Life Studies from the Dismal Trade, London 1997, S. 173. Anton van Hooff, From Autothanasia to Suicide: Self-Killing in Classical Antiquity, London 1990. Euripides, Helena, Zeilen 298-303. E. Morselli, Suicide: An Essay on Comparative Moral Statistics, London 1881; Emile Durkheim, Der Selbstmord, Neuwied/Berlin 1973. Langsten Hughes, »Suicide's Note«, in: A. Rampersad und D. Roessel (Hg.), The Collected Poems of Langston Hughes, New York 1994, S. 55. Emile Durkheim, Selbstmord, a.a.O., S. 336.
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Essay • Das Löwengehege 1
Randall Jarrell (1914-1965) schrieb dieses Gedicht, als er in den fünfziger Jahren in Washington lebte. Er und seine Frau besuchten oft den Zoo, und er fuhr fast jeden Tag auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle in der Library of Congress daran vorbei. Als Jarrell nach der Hauptfigur in »The Woman at the Washington Zoo« gefragt wurde, beschrieb er sie als »unbeschreiblich« verzweifelt, »sie lebt unsichtbar in dem mechanischen Käfig ihres offiziellen Lebens, ihrem Körper; niemand füttert dieses Tier, ruft es beim Namen, steckt ein Stöckchen zu ihm durch das Gitter – der Käfig ist leer ... sie ist ihr
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eigener Käfig geworden«. (»The Woman at the Washington Zoo«, S. 319-327, wieder abgedruckt in: Randall Jarrell, Kipling, Auden & Co.: Essays and Reviews: 1935-1964, New York 1980, S. 324-325.) Jarrell erhielt den National Book Award für seine Gedichtsammlung »The Woman at the Washington Zoo«. Nachdem er 1965 wegen seiner manischen Depression und versuchten Selbstmordes im Krankenhaus war, kam er eines Nachts durch ein entgegenkommendes Auto ums Leben. Die Umstände seines Todes lösten eine umfangreiche Debatte über die Frage aus, ob es ein Unfall oder Selbstmord war. (J. Meyers »The Death of Randall Jarrell«, in: The Virginia Quarterly Review, Sommer 1982, S. 450-467; Randall ]arrell's Letters, hg. von Mary Jarrell Boston 1985; W. H. Pritchard, Randall Jarrell: A Literary Life, New York 1990; K. R. Jamison, Touched with Fire: Manic-Depressive Illness and the Artistic Temperament, New York 1993.) George B. Schaller, The Serengeti Lion: A Study of Predator-Prey Rela-tions, Chicago 1972. Die Washington Post veröffentlichte fünf Berichte über den Tod von Margaret Davis King, 6.-10. März 1995, und die Arkansas Democrat-Gazette brachte am 7., 8. und 10. März 1995 Artikel. Phil McCombs, »In the Lair of the Urban Lion«, in: Washington Post 7. März 1995. W. R. Breakey, P.J. Fischer, M. Kramer et al., »Health and Mental Health Problems of Homeless Men and Women in Baltimore«, in: Journal of the American Medical Assoctation 10 (1989), S. 1352-1357; E. Susser, R. Moore und B. Link, »Risk Factors for Homelessness«, in: American Journal of Epidemiology 15 (1993), S. 546-556; T.K.J. Craig und P.W. Timms, »Homelessness and Schizophrenia«, in: S. R. Hirsch und D.R. Weinberger (Hg.), Schizophrenia, Oxford 1995, S. 664-684. C.H. Alstrom, R. Lindelius und I. Salum, »Mortality Among Homeless Men«, in: British Journal of Addiction 70 (1975), S. 245-252; Centers for Disease Control, »Deaths Among the Homeless«, in: Mortality and Morbidity Weekly Report 36 (1987), S. 297ff.; Centers for Disease Control, »Deaths Among Homeless Persons – San Francisco, 1985-1990«, in: Mortality and Morbidity Weekly Report 40 (1991), S. 877-880; J.R. Hibbs, L. Benner, L. Klugman, R. Spencer, I. Macchia, A. K. Mellinger und D. Fife, »Mortality in a Cohort of Homeless Adults in Philadelphia«, in: New England Journal of Medicine 331 (1994), S. 304-309. R.J. Wyatt und E.G. De Renzo, »Scienceless to Homeless«, in: Science 234 (1986), S. 1309.
Kapitel 6 1
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1986; zu amerikanischen Künstlern (abstrakten Expressionisten) vgl. J.J. Schildkraut, A.J. Hirshfeld und J.M. Murphy, »Mind and Mood in Modern Art: II. Depressive Disorders, Spirituality, and Early Deaths in the Abstract Expressionist Artists of the New York School«, in: American Journal of Psychiatry 151 (1994), S. 482-488. Folgende Schriftsteller nahmen sich das Leben: Francis Ellingwood Abbott, Ryuunosuke Akutagawa, Takeo Arishima, James Robert Baker, Thomas Lovell Beddoes, Walter Benjamin, John Berryman, Charles Blount, Barcroft Boake, Tadeusz Borowski, Richard Brautigan, William Clark Brinkley, Charles Buckmaster, Eustace Budgell, Don Carpenter, Paul Celan, Thomas Chatterton, Charles Caleb Colton, Hart Crane, Thomas Creech, John Davidson, Osamu Dazai, Tove Ditlevsen, Michael Dorris, Stephen Duck, Aleksander Fadeyev, John Gould Fletcher, Romain Gary, Adam Lindsay Gordon, Richard Harris, Thomas Heggen, James Leo Herlihy, Ernest Hemingway, Ashihei Hino, Robin Hyde, William Inge, Shungetsu Ikuta, Sergej Jesenin, B. S. Johnson, Michioi Kato, Yasunari Kawabata, Bisan Kawakami, Tokoku Kitamura, Heinrich von Kleist, Arthur Koestler, Jerzy Kosinski, Letitia E. Landon, Primo Levi, Vachel Lindsay, Ross Lockridge Jr., Anthony Lukas, Philipp Mainländer F. O. Matthiessen, Wladimir Majakowskij, Charlotte Mew, Hugh Miller, Walter M. Miller Jr., Yukio Mishima, Yves Navarre, Gerard de Nerval, Arthur Nortje, John O'Brien, Cesare Pavese, Sylvia Plath, Qu Yuan, Ferdinand Raimund, Jacques Rigaut, Anne Sexton, Sir John Suckling, Eiko Tanaka, Robert Tannahill, Sara Teasdale, Frank Tilsley, John Kennedy Toole, George Trakl, Frances Vernon, Anna Wickham, Virginia Woolf, Constance Fenimore Woolson, Paolo Yashvili, Stefan Zweig und Marina Zwetajewa. Wahrscheinlich nahmen sich das Leben Robert Burton, Eugene Izzi, Randall Jarrell und Jack London. Zu den Künstlern, die sich umgebracht haben, zählen Ralph Barton, James Carroll Beckwith, Francesco Borromini, Patrick Henry Bruce, Dora Carrington, John Currie, Edward Dayes, Rosso Fiorentino (wahrscheinlich), Richard Gerstl, Mark Gertler, Vincent van Gogh, Arshile Gorky, Benjamin Haydon, William Morris Hunt, Ernst Ludwig Kirchner, Wilhelm Lehmbruck, Francois Le Moyne, Alfred Maurer, Jules Pascin, Eric Pauelson (Poulsen), Mark Rothko, Jean-Louis Sauce, Jochem Seidel, Nicolas de Stael, Pietro Testa, Henry Tilson, William Walton, Brett Whitely, Johannes Wiedewelt, Ezra Winter, Emanuel de Witte und Jacob de Wolf. (Zu Selbstmorden von älteren Malern vgl. Rudolf und Margot Wittkower, Born Under Saturn, New York 1963.) Viele andere haben Selbstmordversuche unternommen, die nicht tödlich verliefen, darunter die Schriftsteller Anna Achmatowa, A. Alvarez, James Baldwin, Konstanin Batjuschkow, Charles Baudelaire, Hayden Carruth, Joseph Conrad, William Cowper, Isak Dinesen, Afansy Fet, F. Scott Fitzgerald, Gustav Fröding, Lewis Grassic Gibbon, Maxim Gorki, Graham Greene, Nikolai Gumiljow, Ivor Gurney, Herman Hesse, J. M. R. Lenz, Osip Mandelstam, Eugene O'Neill, Dorothy Parker, Edgar Allan Poe, Laura Riding, Percy Bysshe Shelley, Francis Thompson, Evelyn Waugh und Mary Wollstonecraft, ferner die Künstler Paul Gauguin, George Innes, Frida Kahlo und Dante Gabriel Rossetti. Auch eine Reihe von hervorragenden Naturwissenschaftlern, Mathematikern und Erfindern haben Selbstmord begangen, darunter Ludwig Boltzmann, der Begründer der statistischen Mechanik, Paul
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Ehrenfest, theoretischer Physiker, Alan Turing, Mathematiker und Pionier der Computertheorie, Emil Fischer, Nobelpreisträger für Chemie, der Grundlagenforschung über Zucker und Purine betrieb und Koffein und Barbiturate synthetisierte, ferner Paul Kammerer, experimenteller Biologe, Robert Fitzroy, Kapitän der HMS Beagle, Hydrograph und Meteorologe, Wallace Carothers, Erfinder des Nylons und Miterfinder des synthetischen Gummis, Meriwether Lewis, Entdeckungsreisender, und Yataka Taniyama, Mathematiker. Die Mathematiker G. H. Hardy und Srinivasa Aaiyanger Remanujan unternahmen einen Selbstmordversuch. Dylan Thomas, »Die Kraft die durch die grüne Kapsel Blumen treibt«, in: Windabgeworfenes Licht. Gedichte, Frankfurt a. M. 1995, S. 125, Zeilen 1113.
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Sylvia Plath, Tagebucheintrag vom 11. Juni 1958, in: dies., Die Tagebücher, hg. von Frances McCullough, Frankfurt a. M. 1997. Die amerikanische Schriftstellerin Sylvia Plath schrieb in ihren Briefen, Tagebüchern, Gedichten und in ihrem autobiografischen Roman Die Glasglocke ausführlich über ihre schwarzen, gewalttätigen Stimmungen. Im Alter von knapp zwanzig Jahren unternahm sie einen fast tödlichen Selbstmordversuch, zehn Jahre später brachte sie sich mit Kohlenmonoxyd um. Die Gedichte, die sie kurz vor ihrem Tod schrieb, sind nach Ansicht Robert Lowells so etwas wie eine »Autobiografie des Fiebers«. J.M. Davis, »Central Biogenic Amines and Theories of Depression and Mania«, in: W.F. Fann, I. Karacan, A.D. Pokorny und R.L. Williams (Hg.), Phenomenology and Treatment of Depression, New York 1977. N. S. Kline, »Clinical Experience with Iproniazid (Marsilid)«, in: Journal of Clinical Experimental Psychopathology 19 (Suppl. l, 1962). L. Valzelli, S. Bernasconi und M. Dalessandro, »Effect of Tryptophan Administration on Spontaneous and P-CPA-Induced Muricidal Aggression in Laboratory Rats«, in: Pharmacological Research Communications 13 (1981), S. 891-897. D. Brunner und R. Hen, »Insights into the Neurobiology of Impulsive Behavior from Serotonin Receptor Knockout Mice«, in: Annals of the New York Academy of Sciences 836 (1997), S. 81-105. N. K. Popova, A. V. Kulikov, E. M. Nikulina, E.Y. Kozlachkova und G.B. Maslova, »Serotonin Metabolism and Serotonergic Receptors in Norway Rats Selected for Low Aggressiveness Towards Man«, in: Aggressive Behavior 17 (1991), S. 207-213. P.T. Mehlman, J.D. Higley, I. Faucher, A.A. Lilly, D.M. Taub, J. Vickers, S. J. Suomi und M. Linnoila, »Low CSF 5-HIAA Concentrations and Severe Aggression and Impaired Impulse Control in Nonhuman Primates«, in: American Journal of Psychiatry 151 (1994), S. 1485-1491. B. Chamberlain, F. R. Ervin, R. O. Pihl und S. N. Young, »The Effect of Raising or Lowering Tryptophan Levels on Aggression in Vervet Monkeys«, in: Pharmacology, Biochemistry and Behavior 28 (1987), S. 503-510; K. A. Miczek und P. Donat, »Brain 5-HT System and Inhibition of Aggressive Behavior«, in: T. Archer, P. Bevan und A. Cools (Hg.), Behavioral Pharmacology of 5-HT, Hillsdale, N.J., 1990, S. 117-144; P.T. Mehlman, J.D. Higley, – 355 –
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und M. Linnoila, »A Tryptophan Hydroxylase Gene Marker for Suicidality and Alcoholism«, in: Archives of General Psychiatry 55 (1998), S. 593-602. M.J. Raleigh, M. T. McGuire, G. L. Brammer und A. Yuwiler, »Social and Environmental Influences on Blood Serotonin Concentrations in Monkeys«, in: Archives of General Psychiatry 41 (1984), S. 405-410. Diese Studien sind zusammengefasst und besprochen in J.D. Higley und M. Linnoila, »Low Central Nervous System Serotonergic Activity is Traitlike and Correlates with Impulsive Behavior: A Nonhuman Primate Model Investigating Genetic and Environmental Influences on Neurotransmission«, in: Annals of the New York Academy of Sciences 836 (1997), S. 39-56. Der kritische Einwand der übermäßigen Vereinfachung wird gut dargestellt von G.W. Kraemer, D.E. Schmidt und M.H. Ebert, »The Behavioral Neurobiology of Self-Injurious Behavior in Rhesus Monkeys: Current Concepts and Relations to Impulsive Behavior in Humans«, in: Annals of the New York Academy of Sciences 836 (1997), S. 12-38. Eine Übersicht über acht Studien zeigt, dass ein Drittel bis vier Fünftel aller Selbstmordhandlungen ohne viele Vorüberlegungen zu Stande kamen. Die typische Zahl war zwei Drittel. Vgl. C. L. Williams, J. A. Davidson und I. Montgomery, »Impulsive Suicidal Behavior«, in: Journal of Clinical Psychology 36 (1980), S. 90-94. A. Apter, R. Plutchik und H. M. van Praag, »Anxiety, Impulsivity and Depressed Mood in Relation to Suicidal and Violent Behavior«, in: Acta Psychiatrica Scandinavica 87 (1993), S. 1-5; P. Nordström, P. Gustavsson, G. Edman und M. Åsberg, »Temperamental Vulnerability and Suicide Risk After Attempted Suicide«, in: Suicide and Life-Threatening Behavior 26 (1996), S. 380-394. C. J. Frederick, »An Investigation of Handwriting of Suicide Persons Through Suicide Notes«, in: Journal of Abnormal Psychology 73 (1968), S. 263-267. M. Weissman, K. Fox und G. L. Klerman, »Hostility and Depression Associated with Suicide Attempts«, in: American Journal of Psychiatry 130 (1973), S. 450-455; J.A. Yesavage, »Direct and Indirect Hostility and Self-Destructive Behavior by Hospitalized Depressives«, in: Acta Psychiatrica Scandinavica 68 (1983), S. 345-350; J. Angst und P. Clayton, »Premorbid Personality of Depressive, Bipolar, and Schizophrenic Patients with Special Reference to Suicidal Issues«, in: Comprehensive Psychiatry 27 (1986), S. 511-532; A.J. Botsis, C.R. Soldatos, A. Liossi, A. Kokkevi und C. N. Stephanis, »Suicide and Violence Risk: I. Relationship to Coping Styles«, in: Acta Psychiatrica Scandinavica 89 (1994), S. 92-96; M. Åsberg, »Neurotransmitters and Suicidal Behavior: The Evidence from Cerebrospinal Fluid Studies«, in: Annals of the New York Academy of Sciences 836 (1998), S. 158-181; J. J. Mann, C. Waternaux, G. L. Haas und K. M. Malone, »Toward a Clinical Model of Suicidal Behavior in Psychiatric Patients«, in: American Journal of Psychiatry 156 (1999), S. 181-189. B. M. Barraclough, J. Bunch, B. Nelson und P. Sainsbury, »A Hundred Cases of Suicide: Clinical Aspects«, in: British Journal of Psychiatry 125 (1974), S. 355-372. D.J. West, Murder Followed by Suicide, London 1966; J. Hansen und O. Bjarneson, »Homicide in Iceland«, in: Forensic Sciences 4 (1974), S. 107-117;
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Meriwether Lewis heiratete nach dem Tod von Lewis' Vater erneut. Es ist unklar, ob die geistige Labilität, die bei Dr. John Marks festgestellt wurde, von Seiten der Meriwethers oder der Marks oder von beiden herrührte. Falls sie von der Meriwether-Seite stammte und es auch auf der Lewis-Seite Fälle von geistiger Labilität gab, wäre es nicht überraschend, wenn Meriwether Lewis an einer schweren Art von Geisteskrankheit gelitten hätte. S.E. Ambrose, Undaunted Courage: Meriwether Lewis, Thomas Jefferson, and the Opening of the American West, New York 1996, S. 358, S. 481f. 28 A.T.W. Forrester, »Malaria and Insanity«, in: Lancet 1 (1920), S. 16f.; W. K. Anderson, Malaria Psychoses and Neuroses, London 1927; C.C. Turner, »The Neurologic and Psychiatric Manifestations of Malaria«, in: Southern Medical Journal 29 (1936), S. 578-586; D.H. Funkenstein, »Tertian Malaria and Anxiety«, in: Psychosomatic Medicine 11 (1949), S. 158f.; R.B. Daroff, J.J. Deller, A.J. Kastl und W.W. Blocker, »Cerebral Malaria«, in: Journal of the American Medical Association 202 (1967), S. 119-122; D.W. Mulder und A.J. Dale, »Psychoorganische Störungen bei Infektionen«, in: A.M. Freedman, H.I. Kaplan, B.J. Sadock und U.H. Peters (Hg.), Psychiatrie in Praxis und Klinik, Bd. 2: Biologische und organische Psychiatrie, Stuttgart/New York 1986, S. 461-476; W.W. Blocker, A.J. Kastl, R.B. Daroff, »The Psychiatric Manifestations of Cerebral Malaria«, in: American Journal of Psychiatry 125 (1968), S. 192-196; A.J. Kastl, R. B. Daroff, W. W. Blocker, »Psychological Testing of Cerebral Malaria Patients«, in: Journal of Nervous and Mental Disease 147 (1968), S. 553-561; R.M. Wintrob, »Malaria and the Acute Psychotic Episode«, in: Journal of Nervous and Mental Disease 156 (1973), S. 306-317; P.D. Marsden und L.J. Bruce-Chwatt, »Cerebral Malaria«, in: R.W. Hornabrook (Hg.), Topics on Tropical Neurology, Philadelphia 1975; D.A. Warrell, »Cerebral Malaria«, in: R. A. Shakir, P. K. Newman, C. M. Poser (Hg.), Tropical Neurology, London 1996, S. 213-245. Douglass Adair und Dawson Phelps, zitiert in: V. Fisher, Suicide or Murder: The Strange Death of Governor Meriwether Lewis, Chicago 1962, S. 231. E. Foxwell, Leserbrief an die Washington Post, 29. Juni 1996; K. R. Jamison, Leserbrief an die Washington Post, 6. Juli 1996. Ambrose, Undaunted Courage, S. 482. William Shakespeare, Antonius und Cleopatra, V. Aufzug, 1. Szene, übersetzt von Wolf Graf von Baudissin, unter der Redaktion von Ludwig Tieck, in: William Shakespeare, Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1924.
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Anne Sexton, »Sterben wollen«, in: All meine Lieben, Lebe oder stirb. Gedichte, Frankfurt a. M. 1996, S. 311. Robert Burton, The Anatomy of Melancholy, Bd. 2. Robert Burtons (15771640) Anatomy of Melancholy wurde 1621 erstmals veröffentlicht und ist bis heute eines der wichtigsten Bücher zu diesem Thema geblieben. Darin gestand der Verfasser ein, dass er selbst unter Melancholie leide; von anderer Seite
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wird berichtet, dass der Bruder seiner Mutter »an Melancholie starb«. Als Burton 1640 starb, ging unter seinen Studenten in Oxford das Gerücht um, er habe »seine Seele durch eine Schlinge um den Hals zum Himmel fahren lassen«. Ein anderer Zeitgenosse aus Oxford bestätigte dies: Burton habe »in jener Kammer seine Tage beschlossen, indem er sich erhängte«. Andere, die der Meinung sind, er habe nicht Selbstmord begangen, weisen darauf hin, dass Burton kein christliches Begräbnis erhalten hätte, wenn eindeutige Beweise für einen Selbstmord vorgelegen hätten. Was an den Gerüchten über seinen Selbstmord auch dran sein mag – das Epitaph, das er für seinen Grabstein verfasste, ist auf jeden Fall eine Provokation: »Für ihn, dem die Melancholie das Leben wie den Tod gab.« Michael O'Connell, Robert Burton, Boston 1986, S. 31 ff. Siehe auch Lawrence Babb, Sanity in Bedlam: A Study of Robert Burton's ›Anatomy of Melancholy‹, East Lansing 1959; Bergen Evans, mit Unterstützung von George J. Mohr, The Psychiatry of Robert Burton, New York 1972; Ruth A. Fox, The Tangled Chain: The Structure of Disorder in ›The Anatomy of Melancholy‹, Berkeley 1976. Robert Burton, The Anatomy of Melancholy, Bd. 2, Teil 2, Abschnitt 5, London 1961 (Erstausgabe 1621), S. 248-251. E. S. Shneidman und N. L. Farberow, »The Logic of Suicide«, in: E.S. Shneidman und N.L. Farberow (Hg.), Clues to Suicide, New York 1957; E. Robins, S. Gassner, J. Kayes, R.H. Wilkinson und G.E. Murphy, »The Communication of Suicidal Intent: A Study of 134 Consecutive Cases of Successful (Completed) Suicide«, in: American Journal of Psychiatry 115 (1959), S. 724-733; T.L. Dorpat und H.S. Ripley, »A Study of Suicide in the Seattle Area«, in: Comprehensive Psychiatry 1 (1960) S. 349-359; P. G. Yessler, J.J. Gibbs und H.A. Becker, »On the Communication of Suicidal Ideas: I. Some Sociological and Behavioral Considerations«, in: Archives of General Psychiatry 3 (1960), S. 612-631; K.E. Rudestam, »Stockholm and Los Angeles: A Cross-Cultural Study of the Communication of Suicidal Intent«, in: Journal of Consulting and Clinical Psychology 36 (1971), S. 8290; B.M. Barraclough, J. Bunch, B. Nelson und P. Sainsbury, »A Hundred Cases of Suicide: Clinical Aspects«, in: British Journal of Psychiatry 125 (1974), S. 355-373; J. Beskow, »Suicide and Mental Disorder in Swedish Men«, in: Acta Psychiatrica Scandinavica 277 (Suppl., 1979), S. 1-138; C.L. Rich, R.C. Fowler, L.A. Fogarty und D. Young, »San Diego Suicide Study: III. Relationships Between Diagnoses and Stressors«, in: Archives of General Psychiatry 45 (1988), S. 589-594; E.T. Isometsä, M.M. Henriksson, H.M. Aro, M.E. Heikkinen, K.I. Kuoppasalmi und J. K. Lönnqvist, »Suicide in Major Depression«, in: American Journal of Psychiatry 151 (1994), S. 530536; E.T. Isometsä, M.M. Henriksson, H.M. Aro und J.K. Lönnqvist, »Suicide in Bipolar Disorder in Finland«, in: American Journal of Psychiatry 151 (1994), S. 1020-1024. E. Robins, G.E. Murphy, R.H. Wilkinson, S. Gassner und J. Kayes, »Some Clinical Considerations in the Prevention of Suicide Based on a Study of 134 Successful Suicides«, in: American Journal of Public Health 49(1959), S. 888-899,5.897. E. S. Shneidman und N.L. Farberow (Hg.), Clues to Suicide, New York 1957; J. Fawcett, K.A. Busch, D. Jacobs, H.M. Kravitz und L. Fogg, »Suicide: A Four-Pathway Clinical-Biochemical Model«, in: Annals of the New York Academy of Sciences 836 (1997), S. 288-301.
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23 24 25 26 27 28
ment of Widows After a Sudden Death: Suicide and Non-Suicide Survivors Compared«, in: Death Education 8 (Suppl 1984), S. 91-111; D.E. McNiel, C. Hatcher und R. Reubin, »Family Survivors of Suicide and Accidental Death: Consequences for Widows«, in: Suicide and Life-Threatening Behavior 18 (1988), S. 137-148; T.W. Barrett und T.B. Scott, »Suicide Bereavement and Recovery Patterns Compared with Nonsuicide Bereavement Patterns«, in: Suicide and Life-Threatening Behavior 20 (1990), S. 1-15; M.P.H.D. Cleiren, O. Grad, A. Zavasnik und R.F.W. Diekstra, »Psychosocial Impact of Bereavement After Suicide and Fatal Traffic Accident: A Comparative Two Country Study«, in: Acta Psychiatrica Scandinavica 94 (1996), S. 37-44. J. Pesaresi, »When One of Us Is Gone«, in: E.J. Dunne, J.L. McIntosh und K. Dunne-Maxim (Hg.), Suicide and Its Aftermath, New York 1987, S. 104-108, S. 105f. A.C. Cain und I. Fast, »Children's Disturbed Reactions to Parent Suicide: Distortions of Guilt, Communication, and Identification«, in: A.C. Cain (Hg.), Survivors of Suicide, Springfield, 111., 1972, S. 93-111, S. 97. D.M. Shepherd und B.M. Barraclough, »The Aftermath of Parental Suicide for Children«, in: British Journal of Psychiatry 129 (1976), S. 267-276, S. 269. J. Pesaresi, »When One of Us Is Gone«, in: E.J. Dunne, J.L. McIntosh und K. Dunne-Maxim (Hg.), Suicide and Its Aftermath, New York 1987, S. 104-108, S. 104. C. Lukas und H. M. Seiden, Silent Grief: Living in the Wake of Suicide, Northvale, N.J., 1997, S. 3t. J. Logan, Josh: My Up and Down, In and Out Life, New York 1976, S. 386f. J. Berryman, »Of Suicide«, in: C. Thornbury (Hg.), John Berryman: Collected Poems 1937-1971, New York 1989, 1999, S. 206, Zeile 1 und 27. J. Berryman, »235«, in: The Dream Songs, New York 1969, S. 254, Zeile 7 und 16-18. J. Berryman, »384«, in: The Dream Songs, New York 1969, S. 406, Zeile 1-8. Lewis Grassic Gibbon, Sunset Song, Edinburgh 1988 (Erstveröffentlichung 1932), S. 63f.
Epilog 1
Douglas Dunn, »Disenchantments«, in: D. Dunn, Dante's Drumkit, London 1993, S. 46.
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Adressen
AGUS Angehörige um Suizid e.V. Wilhelmsplatz 2 D-95444 Bayreuth Tel.: 0921-1500380 Fax: 0921-83343 Arbeitskreis Leben (AKL) e.V. Hilfe und Kontakt in Lebenskrisen Österbergstr. 4 D-72074 Tübingen email:
[email protected] Internet: http://ak-leben.de/ DIE ARCHE Selbstmordverhütung und Hilfe in Lebenskrisen e.V. Viktoriastr. 9 D-80803 München Internet: http://www.die-arche.de/ Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung suizidalen Verhaltens Prof. Dr. med. Thomas Bronisch Max-Planck-Institut für Psychiatrie Klinisches Institut Psychiatrische Klinik Kraepelinstr. 10 D-80804 München email:
[email protected] Beratungszentrum für psychische und soziale Fragen Granatengasse 4/1 A-8020 Graz Tel.:0316-911004
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DGS Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention Hilfe in Lebenskrisen e.V. Prof. Dr. med. Werner Felber Vorsitzender Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden Fetscherstraße 74 D-01307 Dresden email:
[email protected] Internet: http://www.suizidprophylaxe.de EQUILIBRIUM Verein zur Bewältigung von Depressionen Sekretariat: Seepark / Gartenstraße 4 Postfach 4819 CH-6304 Zug Tel: 041-7287169 Internet: http://www.depressionen.ch IASR International Academy for Suicide Research Kontaktadresse: Prof. Dr. phil. Armin Schmidtke Universitäts-Nervenklinik, Universität Würzburg Füchsleinstr. 15 D-97080 Würzburg email:
[email protected] Internet: http://www.uni-wuerzburg.de/IASR/ Krisenintervention Hessenplatz 9 A-4020 Linz Tel.: 0732-2177 Krisenintervention Spitalgasse 11 A-1090 Wien Tel.:0222-4069595-0
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Krisenintervention an der Psychiatrischen Universitäts-Klinik St. Veiter Str. 47 A-9010 Klagenfurt Tel.: 0463-5382991 NEUhland Hilfen für suizidgefährdete Kinder und Jugendliche e.V. Nikolsburger Platz 6 D-10717 Berlin email:
[email protected] Internet: http://www.neuhland.de/ Österreichischer Verein für Suizidprävention, Krisenintervention und Konfliktbearbeitung (ÖVSKK) Dr. Reinhold Fartacek Ignaz-Harrer-Str. 79 A-5020 Salzburg Tel.: 0662-44384341 email:
[email protected] Schweizerische Gesellschaft für Krisenintervention und Suizidprophylaxe (SGKS) c/o Psychiatrische Universitätsklinik Wilhelm Klein-Strasse 27 CH-4025 Basel Tel: 061-3255217 Schweizerischer Verband »Die Dargebotene Hand« Krisentelefon Tel.: 143 (ganze Schweiz) Therapie-Zentrum für Suizidgefährdete Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf Prof. Paul Götze Martinistr. 52 D-20251 Hamburg email:
[email protected] Internet: http://www.uke.uni-hamburg.de/Clinics/Psych/TZS
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Register
Aborigines 192 Abschiedsbriefe 34, 47, 75-88, 95, 115, 131, 135f., 141, 145, 152, 184, 285, 323 Anm. l, Anm. 3 Adair, Douglass 222 Adoptionsstudien 167f. Afroamerikaner 256f., 264, 280 Aggression siehe Gewalttätigkeit Ägypten 77f. Ahearn, Eileen 188 AIDS 28ff., 40, 53f„ 103, 131, 154, 195, 254, 265 Air Force Academy, U.S. 56-60 Akutagawa, Ryuunosuke 85, 137f. Alkohol und Alkoholismus 25, 30, 37f., 40, 48, 51, 54, 87, 89ff., 93, 99, 101-104, 109ff., 122, 124-127, 129, 132, 154, 162ff., 168, 170, 174, 178, 181, 183-187, 191-196, 213, 215f., 221, 229, 239f., 24 9f., 253f., 260, 262, 264, 267, 275ff., 286f., 292 Allen, George 143f. Alte 19, 27, 103f., 261 Alter und Altersgruppen 19, 25, 27, 29f., 41-44, 49f., 52-55, 57, 75f., 79, 91f., 103f., 109, 113-116, 138f., 164, 191, 195f., 198 Altes Testament 19, 71, 151 Alvarez, A. 26, 88, 104 Alzheimer-Krankheit 188, 240 Ambrose, Stephen 221, 223
American Association of Suicidology 299 American Foundation for Suicide Prevention 262f., 299 American Suicide (Kushner) 23 Amish 164f. Amygdala 187, 240 Anatomy of Melancholy, The(Burton) 23, 30f., 372f.Anm. 2, Anm. 3 Anatomy of Suicide, The (Winslow) 130 Anderson, Olive 270, 274 Anglikanisches Gebetsbuch 30 Angstzustände 119f., 124 Anorexie 119, 186 Antonius und Kleopatra (Shakespeare) 223 Arbeitslosigkeit 90, 121, 149, 164, 191, 229, 250, 264 Arbeitsprobleme 89, 121, 149, 186, 195, 291 Argentinien 137 Aristoteles 19f. Åsberg, Marie 185 Aschoff, Jürgen 202 Atkinson, Maxwell 36 Augustinus 20 Australien 49, 134, 141, 192, 202, 265, 268, 277 Autopsie 33f., 37-40, 110 Autopsie, psychologische 37-40, 110 Axelrod, Julius 180 Bacon, Francis 159 Baidessarini, Ross 232
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Barraclough, Brian 101, 169 Barton, Ralph 87f. Bayley, Robert 118f. Beachy Head, Selbstmorde am 140 Beck, Aaron T. 45-49, 95 Befano, Dawn Renee 96ff. Behandlung siehe Medikamentation; Prävention; Psychotherapie Belgien 134, 200f. Berryman, John 127, 298 Bestattungssitten 19-24, 30 Beziehungen, soziale 25, 91f., 116, 121f., 124-127, 193f., 229f., 250, 273, 286, 291 siehe auch Ehepartner; Freunde Biathanatos (Donne) 23 Biologie 89, 157-205, 231, 244, 246, 264 - siehe auch Neurobiologie und Neuropathologie Blutfette 188ff., 195, 203f. Bolton, Iris 288f. Book of Common Prayer 24 Borderline-Persönlichkeitsstörungen 101, 119-124, 170, 247 Bradford, Dorothy und William 24 Brierre de Boismont, Alexandre 88 Briggs, Edgar 162f. Brutus 19 Buch der Weisheit 68 Bulimie 119, 186 Burton, Robert 23, 30f., 227, 373f. Anm. 2, Anm. 3 Busch, Katie 148 Camus, Albert 27 Carbamazepin 234
Cassem, Ned 246 Cassius 19 Cato 19 Celan, Paul 78 Centers for Desease and Prevention 27, 33, 41, 262, 271-274, 279f. Chandler, David Leon 220 Chatterton, Thomas 128, 341, Anm. l Cheng, Andrew 198 China 51, 137, 197-200, 264 Chlebnikow, Welimir 107 Cholesterin 188f.,195, 203 Chuinard, E.G. 220 Citalopram 233 Clark, Meriwether Lewis 200 Clark, William 208ff., 212ff., 217, 219-222 - siehe auch Lewis, Meriwether Clinton, William 152, 386, Anm. l Coate, Morag 247 Collegestudenten 27, 41f., 59, 94f., 253ff., 270f. Conrad, Joseph 192 Cowper, William 15f. Crow, Timothy 173f. Cry of Pain (Williams) 23 Curphey, Theodore 37f. Dänemark 35, 167f., 184, 202, 270 Daniel 151ff. Dante Alighieri 20 Demosthenes 19 Denken, manisches 106ff. Denken, suizidales 40-45, 50, 52, 74, 92, 100, 108f., lllff., 115, 130, 147f., 186, 228f., 243, 247, 262, 298 Depression 10, 23, 30f., 35, 37, 39, 43ff., 50f., 55, 77, 83,
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86-114, 119-127, 129, 145, 154f., 158f., 161, 163, 165, 167ff., 173-176, 179ff., 184196, 199f., 203ff., 214, 217f., 221f., 227-244, 246, 249ff., 253f., 259-264, 268f., 273, 275, 277f., 284ff., 288, 290f., 293ff., 330 Anm. l, 373f. Anm. 2, Anm. 3 Deutschland 22, 134, 190, 234f., 270f. Dillon, Richard 219 »Disenchantments« (Dunn) 304 Disposition (Prädisposition) 25ff., 86, 89f., 101, 159-169, 173, 191-195, 204f., 228, 231, 249f., 289 Donne, John 23 Dopamin 178ff. »Dream Songs, The« (Berryman) 298 Drogenmissbrauch 25, 30, 40, 54, 91ff., 101-104, 109f., 121f., 124-127, 178, 193-196, 229, 240, 249, 253f., 260, 267, 286f., 292 Dublin, Louis 139 Dun, Douglas 304 Dunne-Maxim, Karen 290f. Durkheim, Emile 134, 202 Egeland, Janice 164 Ehen 127, 162, 193, 198, 292f. siehe auch Ehepartner; Scheidungen Ehepartner 80ff., 86f., 108, 123, 127, 132, 161f., 258, 282f., 286, 288, 291-297 Eine Art Leben (Greene) 99f., 330 Anm. l, Anm. 3-5 Elektrokrampftherapie 85, 242f., 252, 293 Ellis, Edward 143f.
Eltern 43f., 54, 75, 79ff., 84, 92f., 98, 127, 161, 163, 165, 167, 182f., 193, 238, 253f., 267, 273, 283-289, 293-300 Ende einer Affäre, Das (Greene) 330 Anm. l Enthauptung 131 Epikureer 13 Epilepsie 21, 178, 248 Erblichkeit 25f., 33, 89f., 100, 109, 115, 158-168, 170f., 173f., 177f., 181t., 187, 190194, 199, 205, 228f., 249, 253, 264, 289f. Erdrosseln 131 Erhängen 11, 16f., 35f., 49, 51, 74, 78, 111, 128ff., 133-138, 142, 147f., 162, 164f., 191, 246, 269, 285, 373f. Anm. l Erinnerungen siehe Gedächtnis Ernährung 54, 178, 181, 188-191, 195, 197, 204 Erstechen 16, 43, 82, 130f., 135 Ersticken 11, 33, 35, 111, 129, 131, 135, 139, 141 siehe auch Kohlenmonoxidvergiftung Ertrinken 17, 35f., 43ff., 78, 85ff., 97f., 128-131, 133-136, 140, 145, 147, 165, 285 Eskimos 12, 271 Essstörungen 119, 125, 186 Euripides 44f. Euthanasie 19, 21, 141 Evolution 159, 168-176, 189ff. Fähigkeiten, kognitive 94, 174, 187, 196, 199f. Familie 33ff., 37f., 43f., 75, 7984, 86, 89, 91-94, 98, 100, 106, 114, 116, 121, 127, 136, 149, 152, 158, 161-168, 192ff., 198, 226, 228-231,
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238, 249-253, 260, 264, 270, 273, 282-300 Farberow, Norman 37f. Fawcett, Jan 96, 148 Fedden, Henry Romilly 32, 131 Fettsäuren 188ff., 195, 204, 240f. Final Exit (Humphry) 141 Finnland 54, 91, 200, 277 Fluoxetin 233 Fluvoxamin 233 Frankreich 22, 42, 88f., 133, 140, 201, 269 Freud, Sigmund 136 Freunde 37, 39, 81, 83, 85ff., 114, 116, 127, 143, 149, 228-231, 251f., 255, 257, 260, 266, 273, 282-286, 291f., 299, 302 siehe auch Beziehungen, soziale 5-Hydroxyindolessigsäure (5HIES) 181ff., 185f., 190, 195 Garner, Alan 105f. Gedächtnis 94, 119, 199, 243, 291 Gehirn 160, 170, 173ff., 177184, 186ff., 192f., 197, 199, 202, 231, 240, 243f. siehe auch Neurobiologie und Neuropathologie Genetik siehe Erblichkeit Gerichtsmedizin 33-36, 39f., 54, 82, 130, 132, 150, 153, 276 Geschlecht 25, 42f., 50-54, 80, 91 f., 109, 121, 133f., 136, 138, 196ff., 229, 240, 259f., 264, 269 Geschwister 43, 79f., 100, 160164, 166f., 289ff., 296, 300
Gesellschaft 18ff., 30, 35, 52, 54, 133f., 140-145, 154f., 164167, 256-281, 302 Gesundheitswesen, öffentliches 52, 256-281 Gewalttätigkeit 30, 108, 110-113, 121f., 126, 131f., 138, 150f, 159f, 163ff., 169-175, 177, 180-186, 189f., 192f., 195, 197, 204, 216, 229f., 236, 250, 284ff., 292f., 298, 302 Gibbon, Lewis Grassic 299f. Glasglocke, Die (Plath) 148 Glia-Zellen 188 Goethe, Johann Wolfgang 269 Golden Gate Bridge 143-146 Gorbatschow, Michail 275 Gott siehe Religion Grant, Amy 152 Grant, Ulysses S. 159 Greene, Graham 99f., 330 Anm. 1-5 Griechen (Antike) 19f., 32, 140, 268f. Großbritannien 23f., 35, 52, 79, 82ff., 133f., 140ff., 184, 200ff., 240, 244, 268, 271, 274, 278, 295 Gurney, Ivor 115 Haiattacken 145 Halluzinationen 108, 113, 115119 Hannibal 19 Harlow, Henry 171 Harris, Clare 101 Hartigan, G.P. 227 Hawton, Keith 247f. Haydon, Benjamin 84:
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Hemingway, Ernest 298 Hemisphäre, nördl. 201 Hemisphäre, südl. 201 Heraklit 20 Hibbeln, Joseph 189f., 204 High-School-Studenten 28, 42, 264-268 Higley.J. Dee 181f. Hilfegruppen 251-255, 288, 299, 401ff. Himmelhoch, Jonathan 242f. Hinterbliebene 30, 48, 80ff., 139, 282-300 Hintergrund, sozialer 25ff., 80 Hippokrates 203 Hispanics 42 Hoffnungslosigkeit 93-96, 98, 104, 113, 154, 192, 283f., 286 Hogan, Nancy 288 Hölderlin, Friedrich 78 Homer 19 Homo neanderthalensis 18 Hopkins, Gerard Manley 176 Hormone 179, 197, 203 Horrobin, David 190 Hughes, Langston 134 Humphry, Derek 141 Hyperintensitäten 187f. Hypophyse 187 Hypothalamus 187, 240
»Irish Airman Foresees His Death, An« (Yeats) 56 Islam 20 Italien 133, 201, 270 Jackson, Donald 208f. Jäger-und-Sammler-Gesellschaften 190 Jahreszeiten 199-204 Jameison, Gerald 148 Japan 141-144, 190, 241, 271 Jarrell, Randall 86, 150, 345f., Anm. l Jefferson Conspiracy, The (Chandler) 220 Jefferson, Thomas 206-209, 212f., 215, 217-222 Jennings, Elizabeth 282 Jesaja 97 Jessenin, Sergej 78 Johanniskraut 241 Johnson, Sherry 90 Jones, Ivor 169f. Judas Ischariot 19 Judentum 20 Jugendliche 43f., 49, 52-55, 76, 79ff., 91ff., 115, 124, 138, 196, 249, 261, 264-268, 271, 285, 290, 294f., 302 Jukai 142 Jurisdiktion 18ff., 22ff., 33, 35f., 38f., 91
»I Know a Hundred Ways to Die« (Millay) 130 Imipramin 180 Impulsivität 183f., 191ff., 195, 197f., 228f., 284 Indianer 207-210, 264, 271 Indien 32, 134, 137, 141, 179, 197 Inferno, Das (Dante) 20 Iproniazid 180 Irak 163
Kanada 35, 42f., 262, 265, 271 Kaplanjay 188f. Katholische Kirche 20, 35 Kehle 12, 17, 35, 51, 74, 82, 84, 128, 132, 148, 161, 296f. Kennedy, John F. 154 Kent, Allison 254f. Kierkegaard, Søren 22 Kinder 42ff., 52-55, 75, 91ff., 99f., 121f., 164f., 178, 186,
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193, 196, 238f„ 253, 259ff., 265, 276, 283-300, 302 King, Margaret Davis 152f., 155 Klerman, Gerald 243f. Kliniken, psychiatrische 146-149, 153ff., 199, 203, 227-231, 234, 240f., 243, 249-253, 264, 270, 286, 293f., 297 Kohlenmonoxidvergiftung 35, 142, 226, 273f., 277 »Kohorten-Effekt« 50 Kongress, U.S. 207, 278ff. König Lear (Shakespeare) 84 Kraepelin, Emil Ulf., 116, 147f., 195 Krankheiten, physische 19, 25, 89, 103, 112, 120, 154, 178ff., 188, 191f., 195, 221f. Krankheiten, psychische 12, 18, 20-25, 30, 33ff., 37, 39, 50f., 54f., 80-94, 96ff., 125ff., 130ff., 137ff., 146-149, 151 bis 155, 158-163, 165, 167, 184-188, 191-199, 203f., 215, 220ff., 227-231, 243 bis 246, 248f., 252-260, 264ff., 269, 271, 277-281, 286f., 291ff., 295f., 301f., 372f. Anm. 26 - siehe auch Psychopathologie; Depression; Manie und manisch-depressive (bipolare) Erkrankung; Schizophrenie Krauter 241 Kreativität 175f. Kulturen siehe Gesellschaft Künstler 175f., 354f. Anm. 50 Kushner, Howard 23 Lebe oder stirb (Sexton) 228 Lebensstil 110, 129f., 191 Lee, Robert E. 159
Leiden des jungen Werther, Die(Goethe) 269 Lemminge 171 Leukas 140 Lewis, Lucy Meriwether 372f.Anm. 26 Lewis, Meriwether 206-223, 372f. Anm. 26 Lewis, Reuben 219 Linehan, Marsha 247 Lithium 13, 227, 231-235, 237, 239, 241, 243, 246, 248, 303 Litman, Robert 37f. Locke, John 22 Logan, Joshua 297f. London 79, 134 Los Angeles Suicide Prevention Center 37-40 Lowell, Robert 52, 106 Löwen 150-155, 169, 172 Lukas, Christopher 296f. Luther, Martin 22, 116 Lynch, Thomas 132 MacCraig, Norman 32 Majakowski, Wladimir 107 Makaken 170, 189 Manie und manisch-depressive (bipolare) Erkrankung 9-13, 16, 27, 30, 34f., 50f., 55, 63f., 68, 83f., 86-90, 93f., 99114, 119-127, 149, 154f., 158, 161, 163, 165, 167, 173176, 179, 184f., 187, 192, 194ff., 199, 203ff, 222, 229, 231-235, 237ff., 241f., 244, 246, 254, 259, 264, 286, 292f., 297, 330 Anm. l manisch-depressive Irresein, Das (Kraepelin) 147f., 345 Anm. 49 Mann, John 193 Marks, John 220
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Marzuk, Peter 141 Massachusetts 21, 23f., 262 McCombs, Phil 151 Meade, Marion 129f. Medical Inquiries and Observations upon the Deseases of the Mind (Rush) 160f. Medien 140-143, 145f., 151, 153, 269-274, 277, 290f. Medikamentation 26, 89, 102f., 109f., 112, 115, 122, 125ff., 135, 137f., 147, 154, 170, 179f., 183, 188, 195, 198, 202, 227, 230-250, 257, 260, 274f., 285, 293 Meerkatzen 182 Melancholie siehe Depression Menninger, Karl 131, 136 Menstruation(szyklus) 197 Messer 99, 118, 128-133, 135, 137, 250 Mihara 143f. Millay, Edna St. Vincent 130 Mischzustände 110-114, 125, 184f., 195, 204, 229, 238 Mitchell, General William 72 Mord und Mörder 21, 40, 184, 204, 213, 219 –222, 275f., 285 Morison, Samuel Eliot 24 Morselli, Enrico 89, 134, 139, 200 Motivation 88-96, 193, 198, 301 Müller-Oerlinghausen, Bruno235 My Son... My Son (Bolton) 289 Nachahmung 18, 143ff., 194, 268-274 Napoleon I., Kaiser von Frankreich 207, 269 National College Health Risk Behavior Survey 27, 29, 41
National Depressive and ManicDepressive Association 251 National Institute of Mental Health 41, 89, 154 Nebenwirkungen 239-242, 248251 Neelly, James 215 Neues Testament 19, 71 Neurobiologie und Neuropathologie 26, 177-205, 264 Neurotransmitter 178-189, 193f., 197, 203f., 231f., 240, 264 Noradrenalin 178ff., 186, 240 North, Carol 116ff. Norwegen 19, 22, 277 Nuland, Sherwin 129, 260 Obdachlosigkeit 153ff. O'Donnell, lan 79 »Odysseus«-Erklärungen 252 »Of Suicide« (Berryman) 298 Omega-3-Fettsäuren, essenzielle 189f., 195, 204, 240f. On Human Nature (Wilson) 172f. Opfermord 40 Opfertod siehe Verbrennen Ordronaux, John 159f. Oshima 143f. Östrogen 197, 203 Ovid 69 Panikattacken 120 Paranoia 85, 108, 111, 115, 118f., 153, 173, 184, 204 Paraquat 141 Parker, Dorothy 129f. Paroxetin 233 Pascin, Jules 78 Pasternak, Boris 323 Anm. l Pavese, Cesare 78f. Paykel, Eugene 41
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Perl, Peter 257 Persönlichkeitsstörungen 90, 101, 119-124, 154, 170, 184ff., 192, 244, 247, 264 Pesaresi, Josephine 293ff. Pfeffer, Cynthia 43 Phelps, Dawson 222 Phillips, David 270 Phillips, Michael 198 Philosophie 27, 32f., 246 Phobos 140 Pilgrim, Charles 162 Plath, Sylvia 105, 148, 177, 250, 355 Anm. l Poe, Edgar Allan 112, 126, 159, 348 Anm. l Police Department, New York City 37 Polizeiaktion, Selbstmord durch 131, 133 Positivismus 108, 251f., 254f., 273f, 287 Prädisposition siehe Disposition Psychologie und Psychiatrie 26f., 30, 32, 34, 37ff, 41f., 75-98, 130, 136, 139, 145, 148, 166, 168, 179, 205, 230-234, 242255, 257, 259, 262, 271f., 276, 278, 290, 293, 296ff., 301f. Psychopathologie 26, 40, 87, 89, 91f., 99-127, 138, 170f., 203f., 229, 244, 246, 273, 330 Anm. l Psychopharmakologie siehe Medikamentation Psychosen 12f., 39, 77, 82f., 86f., 90, 113-118, 122-125, 154f., 164, 174, 179, 188, 196, 204f., 227, 242, 247, 250, 252f., 284 Psychotherapie 122ff., 228f., 231, 243f., 246-249, 299
Pulsadern 12, 35, 78, 95, 111, 118, 121, 129f., 138, 257 Puritaner 22f. Pyne, Stephen 192 Pythagoras 20 Rauchen 54, 178, 186 Reid, Senator Henry 278 Religion 18-22, 30, 35, 79-84, 115ff., 151ff., 193, 299, 303, 373 Anm. 2 Reserpin 179 »Resume« (Parker) 129 Rhesusaffen 181ff. Risikofaktoren 93-96, 101, 109113, 119ff., 126f., 146f., 149, 185ff., 194, 196f., 204f., 228232, 234-237, 239, 247-250, 252f., 261-268, 271-274, 279 Robins, Eli 37, 228 Rom (Antike) 19f., 88, 133, 268f. Romantisierung 139f., 142-146, 267, 269f., 273f. Rosen, David 145 Roulette, russisches 38f., 100, 257, 330 Anm. l Roulette, sowjetisches 39 Rousseau, Jean Jacques 22 Roy, Alec 166 Rückenmarksflüssigkeit 181ff., 185f., 190, 195, 197 Rush, Benjamin 114, 160, 209 Russell, Gilbert 215, 217 Russland 133 Ryan, Jack 9ff. Samen, geflügelte, des gelben Oleanders 137, 141 Samoa 19, 137 Sappho 140 Satcher, David 256, 279f.; 386 Anm. l Scheidungen 88ff.
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Schicksalsschläge 44, 110 Schimpansen 18 Schizophrenie 35, 55, 83, 89f., 101, 114-119, 122, 124, 127, 153ff., 163, 167f., 173f., 178, 184-188, 190, 194, 196, 203ff., 229, 240, 242, 244, 253, 264, 286 Schlaf und Schlafprobleme 89, 104, 110f., 113, 120, 125, 195, 202f., 229, 237ff., 250, 260 Schriftsteller 175f., 354f. Anm. 50 Schulen 264-268 siehe auch High-SchoolStudenten Schusswaffen 10ff., 30, 34, 36, 38f., 43, 49, 51, 54, 74, 76, 84, 88, 99ff., 128, 133-139, 163ff., 184, 191, 197, 229, 250, 269f., 274-278, 285, 287ff., 293, 298, 302, 330 Anm. l Schwangerschaft 54, 104, 136, 177f., 197 Schweden 21, 109f., 232, 261, 277 Schwerter 128, 133 Seele 20f., 25, 79 Seiden, Henry 296 Seiden, Richard 145 Selbstmord passim Selbstmordabsicht, Skalierung 4549 Selbstmordabsichten 34-41, 4549, 109f., 112, 114f., 131f., 135, 138, 147f., 184, 192, 196, 228f., 245, 284 Selbstmordauslöser 193ff., 198, 231, 271-274 Selbstmordmethoden 46ff., 128149, 274ff. Selbstmordprävention 9-12, 27,
30f., 135, 139, 146f., 149, 163f., 167, 193f., 197ff., 202, 227-256, 260-266, 274ff., 278ff., 292f. Selbstmordstatistik 27-30, 33f., 40-43, 49-55, 101-104, 109f., 115f., 119, 122, 131f., 135, 141-146, 148, 155, 160, 163168, 175f., 184f., 190, 196202, 232, 234, 236ff., 240ff., 248, 254, 261, 266ff., 275f., 278, 302 Selbstmordversuche 16, 40, 4452, 99f., 109, 111ff., 115, 118ff., 129, 131, 137f., 140, 142, 146, 148, 163f., 166, 175, 182-185, 188, 192, 196, 198, 200, 215, 221, 226, 234ff., 239, 247ff., 254, 256f., 262ff., 266ff., 271, 274, 279, 282f., 330 Anm. l, 345 Anm. l Selbstverstümmelung siehe Messer; Kehle; Handgelenk Seneca 17, 128f. Serotonin 26, 178-189, 193f., 197, 203f., 231, 239f., 264 Serotoninwiederaufnahmehemmer, selektive (SSRI) 180, 183, 233, 236f., 239f. Sertralin 233 Sexton, Anne 111, 174, 225f. Sexualität 108, 115, 122, 127, 136, 170, 174, 193, 238f., 254, 264 Seymour, Flora 218f. Shaffer, David 91, 267 Shakespeare, William 84, 223 Sheldon, Anita 258 Shelley, Percy Bysshe 134, 175 Shneidman, Edwin 37f., 40, 76 Silent Grief (Lukas und Seiden) 296f. Sokrates 19
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Sopirak, Drew 56-72, 304 Sowjetunion 275 Soziologie 26f., 33, 35f., 88 Spence, Mary 145 Sprengstoff 131, 138 Springen 11, 17, 36, 75, 79, 127131, 133-141, 143-148, 164, 302 Sri Lanka 137, 141 SSRIs siehe Serotoninwiederaufnahmehemmer, selektive Stigmatisierung 35, 63f., 68, 149, 213, 219f., 222f„ 238, 255257, 259f., 266, 269, 278, 280, 286, 290f., 293f. Stimmungsstörungen siehe Depression; Manie und manischdepressive (bipolare) Erkrankung Stimulation, transkraniale magnetische 243 Störung, bipolare siehe Manie und manisch-depressive (bipolare) Erkrankung Stress (Überlastung) 34, 38, 83ff., 87-91, 93-98, 104ff., 109f., 114-120, 125f., 129f., 135, 138f., 149, 167-171, 174, 186ff., 191f., 194f., 198f., 205, 228f., 231, 240, 242f., 246f., 249f., 253f., 259f., 264, 266, 284-287, 291f., 294f., 302 »Stress-Diathese«-Modell 193 Styron, William 106, 230f. »Substanz P« 240 Südafrika 201f., 268 »Suicide« (Lowell) 52 Suicide in Victorian and Edwardian England (Anderson) 270 »Suicide's Note« (Hughes) 134 Sünde 18, 22f., 164
Sunset Song (Gibbon) 299f. Surgeon General's Report on Suicide 280 Sussex (Klippen) 140 Sussex, James 164 Szasz, Thomas 245f. Takahashi, Yoshimoto 142 Temperament 25f., 100, 172ff., 191, 195, 209, 213-216, 218f., 221ff., 228, 302 Tennyson, Alfred Lord 157f. Tests, psychologische 94, 108, 136 Texas 270 Thematischer Apperzeptionstest 108 Thomas, Chris 77f. Thomas, Dylan 176 Thomas, Edward 73f., 205 Tibetanisches Totenbuch 98 Tod und Todesfälle 28-31, 47f., 77f„ 80, 83f., 88ff., 94, 96ff., 103, 137, 154, 229 Todesursachen 52ff. Tomita, Masako 143 Tondo, Leonardo 232 Toynbee, Arnold 283 Traitor Within (Ellis und Allen) 143f. Tryptophan 181, 203 Tryptophan-Hydroxylase (TPH) 182 Überdosen 11, 13, 36f., 48f., 85, 98ff., 109, 115, 122, 129, 132-138, 140, 142, 147, 198, 239f., 250, 257, 274f., 277, 303 Ukei, Meiko 143 Umwelt/Umgebung 165-172, 174, 182, 191f., 195, 199, 201f., 289
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Undaunted Courage (Ambrose) 221, 223 Undertaking, The (Lynch) 132 Ungarn 271 Urbanisierung 202 Valproat 233ff., 241, 248 van Gogh, Vincent 176 van Hooff, Anton 88, 133 Verbrennen 32, 111, 141f., 148, 163, 197 Vereinigte Staaten 23, 37, 134f., 137f., 168, 184, 200ff., 244, 262, 264f., 268, 271-276, 278ff. Vergiften 11, 16f., 19, 33, 35f., 49, 51, 76, 79ff., 99f., 115, 128-131, 133-139, 141f., 199, 250, 274f., 299, 330Anm. l Verhalten, altruistisches 19, 139, 171 Verhalten, frenetisches 111ff. Verhalten, riskantes 40, 121f., 125f., 181 Verhalten, soziales 46, 66, 90, 170-175, 181-185, 187-190, 193, 195, 198, 229f., 247f., 264 Verhalten, zwanghaftes 120, 186 Verhaltensstörungen 121 Verhungern 17, 20, 111, 171 Vietnam-Krieg 28, 222 Vorhersagbarkeit 51f., 96, 101, 119, 139, 148f., 261f., 266f. Wall, James 148 Washington, Nationalzoo 150153, 155, 345 Anm. l Waugh, Evelyn 44f.
Wehr, Thomas 89 Weissman, Myrna 50, 243f. Weltgesundheitsorganisation 33, 52, 201, 277f. Werther-Effekt 270 Wesley, John 22 Whale, James 85 Wheeler, Olin Dunbar 218 Williams, Mark 23 Wilson, Alexander 215ff. Wilson, E.O. 171ff. Wilson, John 256-259, 281 Winslow, Forbes 130, 160 Wishnie, Howard 122ff. Wissenschaft 32ff., 175f., 354f. Anm. 50 Wissenschaftler 175f., 354f. Anm. 50 Wolf, Hugo 106 »Woman at the Washington Zoo, The« (Jarrell) 150, 345f. Anm. l Woolf, Virginia 86f., 159, 346 Anm. 2 World Fire (Pyne) 192 Wyatt, Richard 154f. Yeats, William Butler 56 Youth Risk Behavior Surveillance Survey 42 Zeichnungen 94f. Zilboorg, Gregory 37 Züge 75, 79, 134, 137ff. Zwetajewa, Marina 75, 323 Anm. l Zwillingsstudien 160ff., 164, 166ff.
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