Diane Ehrensaft
Wenn Eltern zu sehr... Warum Kinder alles bekommen, aber nicht das, was sie wirklich brauchen
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Diane Ehrensaft
Wenn Eltern zu sehr... Warum Kinder alles bekommen, aber nicht das, was sie wirklich brauchen
s&c by AnyBody Vergöttert, verwöhnt, überfordert - nur allzu gut meinen es Eltern der neuen Generation vor; Wunsch- und Luxuskindern mit ihren Sprößlingen. Diane Ehrensaft zeigt in diesem Buch das Dilemma moderner Elternschaft auf und weist Lösungswege aus den Sackgassen der »perfekten« Erziehung. ISBN 3-608-91997-X Originalausgabe»Spoiling Childhood. How Well-Meaning Parents Are Giving Children Too Much But Not What They Need« Aus dem Amerikanischen von Sonja Schuhmacher und Rita Seuß 2000 Klett-Cotta Umschlag: Finken & Bumiller, Stuttgart, unter Verwendung eines Fotos von Stuart McClymont
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Autor Diane Ehrensaft, selbst Mutter zweier Kinder, ist Professorin für Psychologie am Wright Institute, Berkeley, und Kindertherapeutin in San Francisco.
Zur Erinnerung an Peter K. Hawley, den wunderbaren Vater eines Vaters
Inhalt Dank ........................................................................................................5 Vorwort....................................................................................................8 1 Eltern werden ist nicht schwer............................................................15 2 Seine Majestät, das Baby ....................................................................44 3 Mit dem Baby sind wir drei, oder bin ich das Baby?..........................72 4 Die Schuldgefühle der Eltern............................................................108 5 »Mein Sohn, der Arzt«......................................................................131 6 Verwöhnen zum Erfolg.....................................................................165 7 Wenn Eltern um Liebe schachern .....................................................201 8 Kleine Erwachsene ...........................................................................233 9 Die Rettung der Kindheit..................................................................263 Anmerkungen ......................................................................................281
Dank Es ist schwierig, alle Personen namentlich zu erwähnen, die an der Entstehung dieses Buches im weitesten Sinn beteiligt waren. Denn vieles, was ich über Eltern und Kinder gelernt habe, verdanke ich dem glücklichen Umstand, so viele wunderbaren Familien kennengelernt zu haben. Daher möchte ich als erstes all den Eltern meinen Dank aussprechen, die mir Erfahrungen ihres Lebens mitgeteilt haben, sei es im Rahmen meiner wissenschaftlichen Tätigkeit, im Beratungsgespräch, in persönlicher Freundschaft oder im kollegialen Gespräch. Zu noch größerem Dank fühle ich mich den Kindern verpflichtet, mit denen ich während der Arbeit an diesem Buch zu tun hatte Kinder, die zu mir in Behandlung kamen, die Freunde meiner eigenen Kinder, die Kinder aus meiner Verwandtschaft und alle, die über all die Jahre Teil meiner »fiktiven« Großfamilie geworden sind. Von den Personen, die mir behilflich waren, dieses Buch fertigzustellen, danke ich insbesondere Barbara Waterman für ihre sorgfältige und aufmerksame Lektüre des Manuskripts und die zahllosen Diskussionen, die wir beim Sushi-Essen über Kinder und Selbstverwirklichung geführt haben. Ich danke Marcy Whitebook für ihre wertvollen Anregungen als Mutter und als Expertin für die Entwicklung und Erziehung von Kindern. Sie war und ist mir eine anregende Gesprächspartnerin und eine gute Freundin, seit wir 1973 in The Children's Group zusammengearbeitet haben. Ronald Elson danke ich für die wohlwollende Lektüre meines Manuskripts und seinen kritischen Blick als Vater und als Psychiater. Er war mir ein lebendiger Beweis dafür, daß man auch in Streßzeiten ein guter Vater sein kann. Dies ist ja auch das Thema dieses Buches. Anne Bernstein war nicht nur eine kluge und scharfsinnige Leserin meines Buches, sie ist auch eine Kollegin und gute -5-
Freundin, von der ich gelernt habe, Kinder nicht losgelöst, sondern als Teil einer Familie zu sehen. Gail Kaufman, meine Weggefährtin in der Zeit der Mutterschaft, hat mir vermittelt, daß ein Buch nicht nur geschrieben, sondern auch gelesen werden muß. Eine Person verdient meinen besonderen Dank, und zwar in so vielerlei Hinsicht, daß ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Lillian Rubin hat nicht nur das Vorwort zu diesem Buch geschrieben, sie hat mich auch mit allen Kräften unterstützt und nur die höchsten Maßstäbe gelten lassen, die sie auch an sich selbst anlegt. Sie hat jedes Wort in jeder Entstehungsphase dieses Buches aufmerksam gelesen, und sie ist die beste Freundin und Kritikerin, die man sich nur wünschen kann - nicht nur, wenn man an einem Buch schreibt. Ein weiterer Personenkreis war äußerst anregend für mich und hat mir viele Einsichten über Eltern und Kinder eröffnet. Es sind die Menschen, mit denen ich in den vergangenen Jahrzehnten in der therapeutischen Praxis zusammengearbeitet habe. Besonders herzlich danke ich Gloria Lawrence für ihren Humor, ihr Engagement und ihren Einblick in das Leben von Kindern und Familien, den sie Woche für Woche mitteilte. Dieser Dank gilt auch den Kindern meiner Beratungsgruppe (Victor Bonfilio, Eileen Keller, Joan Pechanec, Bonnie Rottier und Stephen Walrod), ohne die ich niemals all diese Erkenntnisse über Kinder und über die Eltern, die sie großziehen, gewonnen hätte. Meine Lektorin im Verlag The Guilford Press, Kitty Moore, hat große Verdienste am Zustandekommen dieses Buches. Sie ließ nicht locker, bis ich schließlich auf dem rechten Weg war. Das tat sie mit viel Wärme, mit Scharfblick und mit enormer Überzeugungskraft. Sie ist die Lektorin, von der wir alle träumen, und ich danke ihr für ihre Präsenz, ihre Hartnäckigkeit, ihre Klugheit und ihr Einfühlungsvermögen. Den wichtigsten Dank habe ich mir bis zum Schluß -6-
aufgehoben. Ich danke meiner Tochter Rebecca EhrensaftHawley und meinem Sohn Jesse Ehrensaft-Hawley für ihre unaussprechliche Liebe, für ihre Fröhlichkeit und dafür, daß sie mir gezeigt haben, daß trotz all unserer Schwächen und Fehlschläge aus unseren Kindern wunderbare Menschen werden können. Last not least danke ich dem Vater meiner Kinder, meinem Mann Jim Hawley, der nicht nur das Manuskript in all seinen Entstehungsphasen gelesen und kritisiert hat, sondern der mir stets zur Seite stand, und sei es mitten in der Nacht, wenn mir ein Gedanke durch den Kopf ging. Ein besseres Beispiel für einen guten Vater und Partner in der Kindererziehung kenne ich nicht. Mit ihm habe ich die wunderbare Erfahrung geteilt, Kinder zu erziehen.
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Vorwort »Und wer erzieht die Kinder?« Diese Frage stellen sich besorgte Amerikaner, seit immer mehr Frauen berufstätig sind. Diane Ehrensaft gibt uns darauf die Antwort: Es sind - wie eh und je - die Eltern, die die Kinder erziehen. Die entscheidende Frage, so betont sie, lautet nicht, wer die Kinder erzieht, sondern wie sie erzogen werden. Sind heutige Mütter und Väter tatsächlich so narzißtisch und ichsüchtig, wie es Experten beklagen? Oder sind sie im Gegenteil übertrieben besorgt und nachsichtig, wie in den Medien immer wieder behauptet wird? Weder das eine noch das andere und doch beides zusammen, meint Dr. Ehrensaft in ihrer umfassenden und faszinierenden Analyse der Probleme von Eltern in den neunziger Jahren. Auch wenn die Frage immer wieder anders formuliert wurde, das Problem, wie wir unsere Kinder erziehen sollen, hat die Amerikaner im 20. Jahrhundert stark beschäftigt. In den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg glaubte man, Kinder seien ausschließlich von Es-Impulsen bestimmt und warteten nur darauf, der elterlichen und sozialen Kontrolle unterstellt zu werden. In den Handbüchern zur Kindererziehung wurde vor allem das kindliche Verhalten erörtert, und die Eltern erhielten Anweisungen, wie sie ihr Kind den jeweils geltenden sozialen Normen entsprechend zu erziehen hatten. Die Kinder traten in eine Welt ein, in der sich alles um die Erwachsenen drehte, und sie sollten ihren Platz darin einnehmen, ohne die Großen, die das Sagen hatten, in ihrer Lebensführung zu stören. Es existierte ein relativ starres und einfaches System von Regeln und Erwartungen, angefangen damit, wann ein Säugling zu essen und zu schlafen und wann er sauber zu sein hatte, bis hin zu der Frage, wann und unter welchen Umständen es einem Kind im Beisein Erwachsener erlaubt war, den Mund aufzumachen. -8-
In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich unsere Sicht der Kindheit grundlegend. Jetzt ging es nicht mehr vorrangig darum, Kontrolle über die Kinder auszuüben. Die Psychologen begannen, über die kindliche Entwicklung nachzudenken, und fragten sich, was man von einem Kind in einem bestimmten Alter und in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung erwarten durfte. Das Ergebnis waren moderne Theorien der kindlichen Entwicklung, bei denen Psychologen die physiologischen und neurologischen Entwicklungsprozesse des Säuglings und Kleinkinds mit der Präzision von Geographen erforschten, die ein unbekanntes Terrain erkunden. Bald kamen Ratgeberbücher auf den Markt, die den Müttern und Väter genau sagten, was sie in der jeweiligen Entwicklungsphase ihres Kindes erwarten durften. Die Eltern studierten den Bestseller Child Development1 von Arnold Gesell und Frances Ilg und kontrollierten, ob das Kind genau aufs Stichwort lächeln, sich zum »richtigen« Zeitpunkt drehen, aufrecht sitzen, gehen und sprechen konnte. Die Mütter, fast immer die ersten Bezugspersonen des Kindes, tauschten sich aus und hofften, daß die Entwicklung ihres Kindes den neuen Normen entsprach. Von der Sorge um die körperliche und neurologische Entwicklung des Kindes bis zur Sorge um sein seelisches Wohlbefinden war es nur ein kleiner Schritt. Bald erteilte Benjamin Spock, der maßgebliche Kinderarzt der Vereinigten Staaten, den Eltern Ratschläge zu allen möglichen Problemen: wie man Masern erkennt oder wann die zarte Psyche eines Kindes fachmännischer Behandlung bedarf. Unter Berufung auf die neuen Theorien der kindlichen Entwicklung warnte er die Väter und Mütter vor psychischen Schäden für das Kind, wenn sie zu hohe Erwartungen an ihren Sprößling stellten. Die Welt drehte sich nun nicht mehr nur um Erwachsene. Kinder wurden zum Mittelpunkt des Familienlebens und der elterlichen Fürsorge. Die kindliche Welt wurde nach außen hin -9-
abgeschirmt. Das Kind selbst - und nicht mehr die Eltern entschied jetzt darüber, wann es aß, schlief oder aufs Töpfchen ging. Wurde früher erwartet, daß man die Kinder sah, aber nicht hörte, blieben die Eltern jetzt oft stumm, während die Kleinen zu sehen und zu hören waren. Beinahe über Nacht, so scheint es, wurde die Vorstellung, man dürfe dem Kind nicht den Stock ersparen und dürfe es nicht verwöhnen, von der Angst abgelöst, dem Kind durch den Stock oder eine entsprechende verbale Maßregelung einen unheilbaren Schaden zuzufügen. »Nachsicht« lautete die neue Devise. In dieser Zeit (in den frühen fünfziger Jahren) machte ich meine ersten Erfahrungen mit den Konsequenzen einer extremen Nachsicht. Ich besuchte eine Freundin, und wir saßen gemütlich in der Küche und plauderten, bis ihr Vierjähriger, der bis dahin geschlafen hatte, hereinkam und ihre Aufmerksamkeit forderte. Als seine Mutter nicht sofort reagierte, lief er zu ihr und fing an, mit seinen kleinen Fäusten in ihr Gesicht und auf ihre Brust zu trommeln. Er ließ sich nicht beruhigen. Vielmehr steigerte sich seine Wut so sehr, daß er zum Küchenschrank lief, ein Messer aus der Schublade nahm und es quer durch den Raum schleuderte, haarscharf an meinem Ohr vorbei. Im ersten Augenblick war ich sprachlos, dann wurde ich wütend. Aber meine Freundin nahm ihren Sohn sanft in die Arme und meinte ohne auch nur den Hauch eines Tadels: »Er ist nur eifersüchtig auf dich, denn er mag es nicht, wenn ich nicht ganz für ihn da bin.« Die Ära der elterlichen Toleranz mündete beinahe zwangsläufig in die Kinderrechtsbewegung. Im Zuge der Befreiungsbewegungen der sechziger und siebziger Jahre wurden auch die Kinder auf die Liste der unterdrückten Minderheiten gesetzt. Ihre Fürsprecher vertraten die Auffassung, Kinder seien kleine Erwachsene, die nicht gehört wurden und nicht über ihr eigenes Schicksal bestimmen durften. Aus dem zarten schutzbedürftigen Kind, das unablässig Fürsorge und -10-
Zuwendung brauchte - das Kind, das (wie man in den fünfziger Jahre sagte) durch falsches oder gedankenloses Verhalten der Eltern und Erzieher »traumatisiert« wurde -, wurde ein eigenständig Handelnder. Das Kind, so glaubte man jetzt, sollte gesellschaftlich gleichberechtigt sein, und die Regeln und Grenzziehungen Erwachsener seien eine unnötige Einschränkung der kindlichen Freiheit. Dies mag eine extreme Haltung sein, aber diese Vorstellung hat in abgeschwächter Form das Selbstverständnis der Eltern so stark geprägt, daß viele es bis heute nicht wagen, einem Kind Vorschriften zu machen. Statt dessen treten sie mit dem Kind in einen »sokratischen Dialog auf Kleinkindniveau«, wie es einmal jemand formulierte. Sie lehnen jede Form der elterlichen Autorität ab, schreiben dem Kind nicht vor, wann es ins Bett gehen soll, und überlassen es ihm selbst, ob es in die Schule geht oder daheim bleibt. »Gut, dann sagst du mir jetzt, was du für richtig hältst«, fordern heutige Eltern ihre Kinder auf und hoffen, daß das Kind die »richtige« Antwort gibt. Seit fünfzig Jahren geraten wir immer weiter in die - wie Diane Ehrensaft es nennt - »Krise des Elternseins«, die sich aus den verwirrenden und widersprüchlichen Definitionen von Kindheit ergibt. Die Krise verschärft sich, weil wir nicht entscheiden können, ob unsere Kinder schon kleine Erwachsene sind, die nur noch körperlich wachsen und so groß werden müssen wie wir, oder ob sie unschuldige, hilflose Babys sind, die ständig Fürsorge und Schutz benötigen. Unfähig, dieses Dilemma zu lösen, haben wir, wie Diane Ehrensaft so brillant darlegt, diese beiden widerstreitenden Vorstellungen miteinander vermischt und den »KindErwachsenen« geschaffen. Dies ist Diane Ehrensafts anschauliche Bezeichnung für Kinder, die als halb Baby und halb Erwachsener doppelt gefährdet sind - eine Einschätzung, die Eltern und Psychologen teilen. Das Ergebnis, so zeigt uns Diane Ehrensaft klar und deutlich, ist eine Generation -11-
orientierungsloser, von Schuldgefühlen gepeinigter Erwachsener, die ihre Kinder nach Strich und Faden verwöhnen und verhätscheln, es aber gleichzeitig zulassen, ja ihre Kinder dazu anhalten, »komplizierte Entscheidungen zu treffen und Aufgaben zu übernehmen, mit denen zuweilen selbst ein Dreißigjähriger überfordert ist«. Anhand zahlreicher Fallbeispiele aus ihrer langjährigen Praxis als Kinderpsychologin legt sie dar, was es für Kinder bedeutet, wenn sie in einem Augenblick wie schutzbedürftige Kleinkinder und im nächsten Augenblick wie Erwachsene behandelt werden, die eigenständig Entscheidungen zu treffen haben. Wie ein verzweifelter Achtjähriger einmal bemerkte, der bat, man möge seinen Eltern doch klarmachen, daß er kein Baby mehr sei: »Könnten Sie ihnen aber auch sagen, sie sollen aufhören, mit mir zu reden, als wäre ich zwanzig?« In diesem klugen, wunderbaren Buch übermittelt Diane Ehrensaft den Eltern genau diese Botschaft, nicht mehr und nicht weniger - und trotzdem eine ganze Menge mehr. Ein Leser, sei es Vater oder Mutter, Erziehungsberater oder Kinderpsychologe, wird auf diesen Seiten zahlreiche einfühlsame und kluge Ratschläge finden. Dennoch ist dieses Buch mehr als nur ein praktischer Erziehungsratgeber. Denn anders als viele »Experten«, die die Familie von ihrem jeweiligen sozialen und institutionellen Zusammenhang losgelöst und als frei im Raum schwebenden Organismus betrachten, analysiert Diane Ehrensaft auch die vielfältigen Bezüge zwischen Familie und Gesellschaft. Sie lehnt die harschen und kritischen Stimmen ab, die lauthals das Scheitern der familiären Werte ausrufen und den Mangel an Disziplin in der Kindererziehung beklagen. Vielmehr geht es ihr darum, das soziale Umfeld des Familienlebens und die psychischen Folgen zu verstehen, die sich daraus ergeben. So weiß sie beispielsweise aus Erfahrung, daß sich Eltern, die ganztags arbeiten, schuldig fühlen, weil sie ihren Kindern nicht -12-
genügend Zuwendung schenken. Sie weiß auch, daß diese Schuldgefühle zur Überkompensierung führen, nicht selten zum Schaden des Kindes. Sie weiß auch um die wachsenden sozialen und wirtschaftlichen Anforderungen und Belastungen und die Angst vor einer Ungewissen und gefährlichen Zukunft. Eltern fragen sich, was sie in der heutigen Zeit für ihre Kinder tun können, um ihnen den Weg in eine glückliche Zukunft zu ebnen, und ihre Unsicherheit wächst. Diese Angst führt im Extremfall dazu, daß Eltern, noch bevor ihr Kind geboren ist, alles daransetzen, ihm im gesellschaftlichen Konkurrenzkampf Vorteile zu verschaffen. In diesem Buch greift Diane Ehrensaft Probleme auf, mit denen Eltern heute konfrontiert sind: Wie grenzen wir unsere Bedürfnisse von den Bedürfnissen unserer Kinder ab? Wie können wir dafür sorgen, daß unsere Kinder ein glückliches und erfolgreiches Leben führen? Was dürfen wir von unserem Kind seinem jeweiligen Alter entsprechend erwarten? Wann sollten wir den Wünschen eines Kindes nachgeben? Wann sollen wir nein sagen, und wie schaffen wir es, an diesem Nein auch festzuhalten? Wie können wir Kinder erziehen, die uns von sich aus Liebe und Zuneigung, aber auch Respekt entgegenbringen? Wenn Eltern zu sehr... Warum Kinder alles bekommen, aber nicht das, was sie wirklich brauchen ist ein Buch, das Eltern, Kinderpsychologen und Erziehungsberater immer wieder gern zur Hand nehmen werden. Es enthält zahlreiche amüsante und lustige, aber auch traurige Geschichten von Kindern und ihren Eltern, es erzählt von den Schwierigkeiten, mit denen Väter und Mütter heute konfrontiert sind, und sucht nach Mitteln und Wegen, in einer sich rasch verändernden Welt Kinder zu erziehen. Ohne den analytischen Scharfblick zu opfern, erhebt Diane Ehrensaft mitfühlend, nachdenklich und nicht ohne Humor ihre Stimme und weist uns die Richtung. Sie zeigt uns, wie wir uns als Eltern bewähren können, und analysiert die Zusammenhänge so, daß wir auch etwas über uns selbst -13-
erfahren. Dr. Lillian B. Rubin San Francisco, Kalifornien
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1 Eltern werden ist nicht schwer
Die meisten von uns, die kleine Kinder haben, entstammen einer Generation, die zum Grübeln, zum Überreagieren und zum Überanalysieren neigt... Man hat uns eingebleut, daß wir nicht nur perfekte Eltern sein können, sondern es auch sein müssen...Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich bin bereit, wieder in die Niederungen der Realität hinabzusteigen. Joan Ryan1 Die erste Anregung, dieses Buch zu schreiben, erhielt ich in einem gänzlich unverfänglichen Augenblick, als ich bei Freunden zum Essen eingeladen war. Ihre Fünfjährige, das Kind nicht mehr ganz junger Eltern, flitzte mit ihrem Dreirad um den Eßtisch herum. Mir verging Hören und Sehen. Weder konnte ich einen klaren Gedanken fassen, noch war ich in der Lage, den Erwachsenen oder den älteren Kinder am Tisch zuzuhören. »Warum lassen sie bloß zu, daß Miranda einen solchen Krach macht?« fragte ich mich. »Warum greift denn niemand ein?« Niemand griff ein. Schließlich tat ich es - unter den entsetzten Blicken von Mirandas Eltern. Ich bat Miranda freundlich, sich doch ein anderes, weniger lautes Spielzeug zu suchen, damit wir unsere Tischnachbarn verstehen könnten. Sie setzte sich auf das Schaukelpferd, das direkt neben dem Tisch stand und dessen Federung quietschte. Ich gab auf. Später überlegte ich, wer dieses Kind für meine Freunde eigentlich war. Warum ließen sie zu, daß es ihr Leben auf diese Weise bestimmte und sie einer solchen Geräuschkulisse aussetzte? Sie waren doch sonst ganz vernünftige Menschen. Warum ließen sie zu, daß ihr Kind, ein reizendes kleines Mädchen, uns allen solche Kopfschmerzen -15-
verursachte? Mein Nachdenken brachte mir zu Bewußtsein, daß in unserer Kultur tiefgreifende Umwälzungen im Gange sind, die einer Erklärung bedürfen. Die Frage, was es heutzutage bedeutet, Eltern zu sein, ließ mich nicht los. Was liegt hier im argen? Wie können wir verändern, was verändert werden muß? Unser Erziehungsstil ist aus dem Gleichgewicht geraten, und die Erklärungen, die der amerikanischen Öffentlichkeit dafür angeboten wurden, stellten mich nicht zufrieden. Kurz vor seinem Tod erklärte der bekannte Kinderpsychologe Bruno Bettelheim: »Ich glaube, es wächst im Augenblick eine sehr ichbezogene Generation heran, weil die Eltern ihren Kindern nicht genug von sich selbst geben - ich meine nicht Zeit, sondern Gefühle. Diese Kinder werden sich genau wie ihre Eltern auf sich selbst konzentrieren.«2 Hören Sie aber einmal solchen »ichbezogenen« Müttern und Vätern genau zu, zum Beispiel einer alleinerziehenden Mutter mit einem kleinen Kind: »Als ich wieder anfing zu arbeiten, zählte ich die Stunden, die Rachel und ich tatsächlich miteinander verbrachten, als wollte ich eine magische Zahl beschwören, die alles wieder gutmachen würde. Auf dem Weg vom Büro nach Hause geriet ich jedesmal in Panik, wenn der Zug außerplanmäßig irgendwo auf der Strecke anhielt. Denn das bedeutete, daß ich noch weniger Zeit für meine Tochter hatte.«3 Diese Mutter ist nicht gerade begeistert davon, daß sie soviel Zeit fern von ihrem Kind verbringen muß. Sie quält sich nicht mit der Frage, was sie ihrem Kind nicht geben will, sondern damit, was sie ihm nicht geben kann, nämlich mehr von sich. An dem Bild der angeblich so ichbezogenen Eltern stimmt etwas nicht. Ich als Mutter fühle mich dadurch zu Unrecht abgestempelt. Es ist unfair gegenüber Rachels Mutter, gegenüber mir und gegenüber den Eltern, die ich kenne. Aber wie sähe eine treffendere Beschreibung heutigen Elternseins aus? Ich nahm mir vor, dieser Frage nachzugehen.
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Das Paradox des Elterndaseins Angeblich stehen für die heutigen Eltern ihr Beruf und ihr eigenes Ich im Vordergrund, gleichzeitig sind sie aber in extremem Maß auf ihre Kinder fixiert. Psychologen, Politiker, Medienkritiker und Experten aller Art werfen Müttern und Vätern vor, sie seien ichsüchtig und nachsichtig, abwesend und überbetulich, verantwortungslos und überengagiert, ahnungslos und übergescheit. Auf der anderen Seite hält man den Eltern vor, sie würden ihr eigenes Glück, ihre Interessen und ihre Bedürfnisse an die erste Stelle setzen und das Glück ihrer Kinder als zweitrangig betrachten oder überhaupt nicht berücksichtigen. Eltern verbringen heute sehr viel Zeit fern von ihren Kindern (zumeist am Arbeitsplatz). Daher glaubt man, daß sie ihren Beruf und ihre Hobbys höher stellen als die Beschäftigung mit ihren Söhnen und Töchtern. Die Sorglosigkeit, mit der sie sich scheiden lassen - offenbar ohne Rücksicht auf das Wohlergehen der Kinder -, gilt als weiterer Beleg für ihre Ichsucht. Eltern beschäftigen sich viel zu sehr mit sich selbst, lassen ihre Kinder links liegen, lassen sie verwahrlosen und erziehen damit eine Generation von ungezogenen, hoffnungslos verlorenen Rüpeln. Immer mehr Frauen mit Kindern unter fünf Jahren kehren ins Berufsleben zurück, und die Berichte mehren sich, die belegen sollen, daß diese Mütter durch ihre Abwesenheit ihren Säuglingen und Kleinkindern dauerhaft Schaden zufügen. Staatliche Mittel für Schulen und Ausbildung werden drastisch gekürzt, und gleichzeitig will man uns weismachen, daß der schulische Erfolg des Kindes einzig und allein vom Engagement der Eltern und nicht von der Schule abhängt und daß die meisten Eltern die Ausbildung ihrer Kinder nicht ausreichend fördern. Doch im gleichen Atemzug sagen diese Kritiker den Eltern, insbesondere den Mittelschichteltern: »Euer eigentliches -17-
Problem besteht darin, daß ihr gegenüber euren Kindern zu nachsichtig seid. Ihr verwöhnt sie. Ihr überschüttet sie mit materiellen Gütern, erfüllt ihnen jeden Wunsch, sagt nie nein und schickt sie auf teure Schulen, auch wenn ihr es euch gar nicht leisten könnt.« Moderne Eltern werden als übertrieben fürsorglich charakterisiert; man sagt, daß sie ihre Kinder in noch nie dagewesener Weise verhätscheln, hegen und pflegen. Beispiel: die kleine Miranda, die mit dem Dreirad durchs Zimmer saust. Die Eltern bieten ihren Kindern Freundschaft an, statt ihnen zu sagen, wo es langgeht. Sie behandeln ihre Kinder wie Prinzen und Prinzessinnen und rüsten sie für den Erfolg, noch bevor sie überhaupt das Licht der Welt erblicken. Meine jahrelange Erfahrung als Kindertherapeutin hat mir gezeigt, daß eine solche Verhätschelung für die Kinder ebenso verheerende Folgen hat wie eine allzu große Ichbezogenheit der Eltern. Dann nämlich nehmen sich die Kinder selbst allzu wichtig, und es fällt ihnen schwer, mit Gleichaltrigen auszukommen. Das Wörtchen »nein« ist ihnen unbekannt. Sie stehen unter dem Druck und dem Zwang, etwas zu leisten, damit sich ihre Eltern freuen. Sie halten sich irrtümlich für unabhängig und autonom. Sie sind nur dann glücklich, wenn sie im Mittelpunkt stehen. Es fehlt ihnen an Mitgefühl. In ihren späteren partnerschaftlichen Beziehungen werden sie Schwierigkeiten bekommen und nie ein authentisches Selbstgefühl entwickeln. Und es droht ihnen die Gefahr, narzißtisch zu werden. Hier möchte ich innehalten und die irritierende Frage stellen, mit der wir als Eltern heute konfrontiert sind: Wie kann ein und denselben Eltern einmal der Vorwurf gemacht werden, extrem ichzentriert und selbstsüchtig zu sein, und gleichzeitig behauptet werden, sie wären in einem Maße wie nie zuvor in der Geschichte der Moderne auf das Kind konzentriert und nachgiebig? Ist beides zusammen überhaupt möglich? Ja, es ist möglich. Diesem Paradox geht dieses Buch nach. -18-
Anhand zahlreicher Beispiele werden wir sehen, daß wir eine Generation von ichbezogenen Eltern sind, die ihrem persönlichen Glück breiten Raum geben. Und doch strengen wir uns gleichzeitig enorm an, gute Väter und Mütter zu sein, die alles daransetzen, ihren Kindern das Beste zu bieten. Es ist diese verhängnisvolle Kombination, die die Gefahr in sich birgt, unseren Sprößlingen ihre Kindheit gründlich zu vermasseln. Doch wer ist dieses »Wir«, von dem ich hier spreche? Dieses Buch ist die Geschichte der gebildeten Mittelschichteltern, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geboren sind. Es ist die Geschichte berufstätiger Frauen und Männer, denen ihre berufliche Karriere und ihre Familie gleichermaßen am Herzen liegen, die Geschichte von Eltern, die jede Menge Bücher über Kindererziehung lesen, und von solchen, die diese Bücher schreiben. Es ist die Geschichte von Menschen, die sich die größte Mühe geben, gute Eltern zu sein, und von solchen, die sich um ihre Kinder kümmern wollen, aber furchtbar wenig Zeit für sie erübrigen können. Wie die Mutter, von der oben die Rede war, hetzen sie zwischen Arbeitsplatz und Wohnung hin und her. Hin- und hergerissen zwischen dem Gefühl, Supereitern zu sein, und dem, kläglich versagt zu haben, könnte ihre Geschichte uns alle wachrütteln, die wir gerade die Schwelle zum 21. Jahrhundert überschreiten. Denn betroffen sind keineswegs nur Eltern mit beschränkten materiellen Möglichkeiten, sondern auch solche mit einer guten Ausbildung, genug Geld und einer hohen Motivation, die sich verzweifelt abmühen, ihre Kinder vernünftig zu erziehen. Die orientierungslosen Eltern Der zehnjährige Jeremy, ein kleingewachsener Junge mit funkelnden Augen und einem engelsgleichen Lächeln, ist ein -19-
frühreifes Kind, außergewöhnlich klug und äußerst redegewandt. Er ist es gewohnt, immer und überall zu sagen, was er sagen will. Den Satz »Unterbrich mich nicht« hat Jeremy noch nie gehört. Er äußert, was er will, und bekommt für gewöhnlich seine Wünsche erfüllt. Unterstützt von ihrem neuen Ehemann, der selbst einschlägige Erfahrungen als Vater hat, ist Jeremys Mutter mit ihrer Geduld am Ende. Nach einer Einkaufstour, nur eineinhalb Kilometer von ihrer Wohnung entfernt, weigert sich Jeremy standhaft, ins Auto einzusteigen. Seine Mutter droht ihm Konsequenzen an. Jeremy zeigt sich unbeeindruckt. Schließlich fahren seine Mutter und Greg, der Stiefvater, los und lassen den verblüfften Jeremy einfach stehen, der jetzt den langen Weg nach Hause zu Fuß zurücklegen muß. Jeremy erzählt mir von seinem Strafmarsch und platzt auf einmal heraus: »Meine Mutter ist die gemeinste Mutter auf der Welt. Wären doch nur Sie meine Mutter, Sie sind so nett!« Worauf ich ihn frage: »Jeremy, wenn du deine Mutter gewesen wärst, was hättest du in dieser Situation gemacht?« Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, erwidert er: »Greg hätte mich in den Kofferraum stecken und tüchtig verprügeln sollen.« Jeremy, seine Mutter und Greg bemühen sich gemeinsam, Jeremys Kindheit zu bewältigen. Das Beispiel zeigt die Verwirrung und Unsicherheit, die heutige Eltern bei der Kindererziehung erleben. Es macht aber auch uns Kinder- und Familientherapeuten auf eine Situation aufmerksam, vor der wir nicht mehr länger die Augen verschließen können. Die Kindererziehung steckt in der Krise. Die heutigen Mütter und Väter, denen man Ichbezogenheit und allzu große Nachgiebigkeit vorwirft, könnten durchaus als eine Generation von Rabeneltern in die Geschichte eingehen. Diesen Ruf haben sie aber nicht verdient. Wir sind nicht schlechtere oder ichbezogenere Eltern als die Mütter und Väter früherer Generationen. Vielmehr fehlt es uns, wie Jeremys Mutter und Stiefvater, an Orientierung. Wir leben in einer Zeit -20-
des Umbruchs der Familienstrukturen. In weniger als einer Generation zerfiel die moderne Kleinfamilie, in der der Vater das Geld verdiente und die Mutter sich um den Haushalt kümmerte. Diese einst übliche Form des Zusammenlebens wird in den Vereinigten Staaten heute nur noch von einer relativ kleinen Minderheit praktiziert. Heute gehen Mütter und Väter jeden Tag für viele Stunden zur Arbeit. Manche Familien haben keinen Vater, andere keine Mutter. Wir stehen vor der schwierigen Aufgabe, die nächste Generation erziehen zu müssen, während sich die Bedingungen innerhalb wie außerhalb der Familie rasch verändern. Die Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Kindererziehung sind also nicht besonders günstig. Die Gestaltung des Berufslebens, der radikale Wandel des Familienlebens, die Unwägbarkeiten in Umwelt, Gesellschaft und Politik, die Jagd nach Profit und das geringe Ansehen der Familie in der heutigen Gesellschaft - all dies hat weitreichende psychische Auswirkungen auf die Männer und Frauen, die heute Kinder in die Welt setzen und erziehen. Neben der rauhen gesellschaftlichen Realität sind es jedoch auch die Konflikte, Ängste, Ansichten und Gefühle der Eltern, die bei der Kindererziehung eine Rolle spielen. Deren seelische Befindlichkeit und die Bedingungen der Gesellschaft, in der wir leben, sind eng miteinander verwoben und machen eine erfolgreiche Kindererziehung zu einer nahezu übermenschlichen, kaum zu bewältigenden Aufgabe. Im Eifer des Gefechts erkennen wir nicht, daß die Probleme der Kindererziehung nicht nur die Eltern angehen, sondern auf der Ebene der Gesellschaft als ganzer angesiedelt sind. Die Gesellschaft kann die Aufgabe, die nächste Generation heranzubilden, nicht bewältigen und hat die Erziehungsziele und den Weg, der zum Ziel führt, aus den Augen verloren. Offenbar hat heute niemand mehr eine klare Vorstellung, ob es besser ist, willensstarke Individuen heranzubilden oder Menschen mit -21-
Teamgeist, die bereit sind, mit anderen zu kooperieren. Und niemand ist sich mehr im klaren darüber, wie wir das eine oder andere Ziel erreichen können: durch aufopfernde Liebe oder durch Strenge; durch Freiheit oder feste Regeln, durch Belohnung oder Strafe. Eltern sein war nie eine leichte Aufgabe, doch die Herausforderungen, vor denen die Eltern heute stehen, kannten weder deren Mütter und Väter noch deren Großväter und Großmütter. Amerikanische Eltern der dreißiger Jahre hatten die Wirtschaftskrise zu bewältigen. Mütter und Väter der vierziger Jahre erlebten den Zweiten Weltkrieg: Die Männer mußten in den Krieg ziehen, die Frauen schwer arbeiten; und als dann die Männer aus dem Krieg heimkehrten, sollten die Frauen wieder in ihre angestammte Hausfrauenrolle zurückfinden. In den fünfziger Jahren wurde die moderne Kleinfamilie verherrlicht und der Mythos einer idealen Partnerschaft hochgehalten: Die Mutter war Hausfrau, und der Vater stand mit beiden Beinen im Berufsleben. Diese Generation erlebte den Kalten Krieg und die Angst, daß sie und ihre Kinder durch einen Atompilz ausgelöscht würden. Doch in allen drei Jahrzehnten herrschte jeweils eine eindeutige Direktive bezüglich der Kindererziehung: in den dreißiger Jahren die Vorstellung, man müsse den Kindern bestimmte Verhaltensmuster antrainieren; in den vierziger und fünfziger Jahren der von Benjamin Spock propagierte permissivere Ansatz. Solche Direktiven fehlen heute. Von der heutigen Elterngeneration wird erwartet, daß die Mutter berufstätig ist und gleichzeitig den Haushalt »schmeißt«; daß der Vater in der Firma Karriere macht, aber auch seine Aufgaben als Erzieher erfüllt. Die Familie, die beide Partner gründen, ist mit großer Wahrscheinlichkeit nicht identisch mit der Familie, die die Kinder verlassen werden, wenn sie groß sind. Bei den dramatischen Veränderungen der sozialen Bedingungen und der Familienstrukturen sind sich nicht einmal die angeblichen -22-
Experten einig, welche Erziehung die richtige ist. Müttern und Vätern fehlt es also an einer klaren Orientierung für die Zeit, in der sie Kinder zu erziehen haben. Sie schwanken vielmehr verzweifelt zwischen verschiedenen Erziehungsstilen hin und her: wechseln von permissiv zu autoritär, von demokratisch zu autokratisch, von nachgiebig zu streng. Im täglichen Leben stehen wir immer wieder vor dem Dilemma, den Bedürfnissen unserer Kinder gerecht zu werden und gleichzeitig ein echtes Familienleben aufzubauen. Die geschiedene Mutter einer 17jährigen hat die »Kontrolle« über ihre Tochter verloren. Alexis will die Freiheiten, nicht aber die Pflichten einer Erwachsenen; sie verlangt Taschengeld und möchte kommen und gehen, wann sie will; sie möchte sich aus dem Kühlschrank bedienen, im Haushalt aber nur dann mithelfen, wenn sie Lust dazu hat. Ihr Zimmer sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Cynthia Adams, Alexis' Mutter, ist wütend auf ihre Tochter, hat aber Angst, daß Alexis sich von ihr abwenden, ja von zu Hause weglaufen würde, sobald sie Forderungen an sie stellt. Ihr Wohnungsnachbar Byron Smith gibt jeder Laune seines siebenjährigen Sohnes Sammy nach, um ihn dafür zu entschädigen, daß er als Vater oft berufsbedingt unterwegs ist. Der Vater legt Sammy ans Herz, sich während seiner Abwesenheit wie ein Mann zu benehmen. Und Verwandte der Smiths am anderen Ende der Stadt haben für ihre Tochter im Vorschulalter Leselernkarten gekauft, um sie in ihrer Entwicklung zu fördern. Doch dann lasen sie einen warnenden Artikel, daß bei so frühen Anforderungen das Kind später Angstzustände bekommen könnte. Cynthia Adams, Byron Smith und seine Verwandten sind verwirrt. Es fehlen ihnen vernünftige Anleitungen und Hilfestellungen bei der Kindererziehung. Überfordert in Beruf und Familie, machen sie den verzweifelten Versuch, sich selbst und ihren Kindern gerecht zu werden. Damit stehen sie nicht allein. Als Therapeutin erfuhr ich von den Sorgen und Nöten -23-
heutiger Mütter und Väter, befragte Männer und Frauen, die gemeinsam Kinder erziehen, beobachtete die Eltern in meinem Wohnviertel, verfolgte die Medien, las Fachzeitschriften und machte meine eigenen Erfahrungen als Mutter dieser Generation - bis ich es an der Zeit fand, die Unsicherheiten und Ängste der Eltern zur Sprache zu bringen, Schlüsse daraus zu ziehen, den Eltern einen Weg aus ihrer Zwickmühle zu weisen und mögliche Lösungen für das Paradox des ichbezogenen/nachgiebigen Elternverhaltens aufzuzeigen. Während der Arbeit an diesem Buch leitete ich einen Elternworkshop. In einer Sitzung stand eine Teilnehmerin auf und fragte beinahe verzweifelt: »Können Sie mir sagen, warum sich unsere Generation als Eltern derart unsicher fühlt? Was sollen wir tun?« Ich hoffe, dieses Buch bietet uns allen eine Antwort auf die Frage dieser Mutter. Elternsein wie nie zuvor November 1981. Völlig erschöpft komme ich nach Hause. Ich habe einen Zehn-Stunden-Tag hinter mir, was ich hasse, was sich manchmal aber nicht vermeiden läßt. Am nächsten Tag steht mir eine wichtige Arbeitssitzung bevor. Meine Tochter will mir die neuen Schritte vorführen, die sie im Tanzkurs gelernt hat. Mein Sohn ist am Boden zerstört, weil er sich im Kindergarten mit seinen beiden besten Freunden gestritten hat. Er ist im Moment der Außenseiter, weil er kein Pferdenarr ist wie die anderen. Morgen, fällt mir spät ein, hat meine Tochter ihren »Autorentag« in der Schule, und die Eltern sind eingeladen, die literarischen Schöpfungen ihrer Sprößlinge zu begutachten. Meine Tochter möchte natürlich, daß ich komme. Ich möchte es auch. Einer meiner Patienten befindet sich in einem so kritischen Zustand, daß er in der Nacht womöglich ins Krankenhaus eingeliefert werden muß. Ich weiß nicht, wie ich -24-
das alles schaffen soll. Mir ist nach Weinen zumute. Ich weine. Keine Zeit, die Eltern zu spielen Der Grund für meine Tränen ist der erste der vier Hauptfaktoren, die das Elternsein heute zu einer besonderen und zugleich qualvollen Aufgabe machen: Die Zeit, die Eltern heute für ihre Kinder erübrigen können, ist dramatisch geschrumpft. Entgegen allen Vorhersagen, Amerika werde sich zu einer Freizeitgesellschaft entwickeln, ist die Arbeitszeit in den vergangenen zwanzig Jahren erheblich länger geworden. Im selben Zeitraum ist die Zahl der berufstätigen Mütter der Mittelschicht drastisch gestiegen.4 Trotzdem tragen die Eltern heute nicht weniger Verantwortung für ihre Kinder als die Mütter und Väter vor ihnen. Verwandte sind selten bereit einzuspringen, entweder weil die räumliche Entfernung zu groß ist oder weil die Großeltern selbst noch im Berufsleben stehen. Genau wie ich und wie die Mutter, die die Haltestellen der UBahn auf dem Nachhauseweg zählt, geht uns die Luft aus in unserem verzweifelten Bemühen, (noch ein bißchen mehr) Zeit und Energie für unsere Familie und für unsere Kinder herauszuholen. Mag sein, daß wir eine Generation von gehetzten Kindern großziehen, die von der Tagesbetreuung zur Schule und wieder zur Tagesbetreuung und von einer Aktivität zur anderen gezerrt werden. Doch es ist auch nicht zu leugnen, daß wir eine Generation gehetzter Eltern sind, die einerseits als Eltern perfekt sein sollen, andererseits aber kläglich wenig Zeit haben, diese Aufgabe zu erfüllen. Um die Menschen zu beschwichtigen, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen und gleichzeitig Kinder großziehen (was für die Mehrzahl der heutigen Mütter und Väter gilt), haben wir uns auf den Begriff der »qualitativen Zeit« kapriziert: Wieviel Zeit wir haben, spielt keine Rolle, -25-
solange es sich um »gute« Zeit handelt. Bleibt trotzdem die traurige Tatsache, daß wir schlicht und einfach wenig Zeit haben, die wir mit unseren Kindern verbringen können. Wir haben keine andere Wahl, wir müssen unsere Kinder in Hektik und aufs Geratewohl erziehen. Angst um die Zukunft unserer Kinder Der zweite entscheidende Faktor, mit dem heutige Eltern konfrontiert sind, ist ihre tiefgreifende Skepsis. Sie wagen kaum zu hoffen, daß ihre Kinder eine glückliche Zukunft vor sich haben. Die zweite Hälfte der vierziger Jahre, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, war für die damaligen jungen Mütter und Väter von der Hoffnung auf Wohlstand und vom Glauben an unbegrenzte Möglichkeiten geprägt - eine Erwartung, die sich auf ihre Kinder übertrug. Diese Kinder wurden in einer Zeit des Wohlstands und des wirtschaftlichen Aufschwungs groß, in der man durch harte und weniger harte Arbeit Erfolge erzielen konnte. Gemessen an der Gesamtbevölkerung besuchten damals prozentual mehr junge Erwachsene als je zuvor ein College. Die Kinder von damals sind inzwischen erwachsen geworden und mußten feststellen, daß sich ihre Hoffnungen nicht erfüllt haben. Am Ende des 20. Jahrhunderts sieht die Zukunft alles andere als rosig aus. In den Städten wimmelt es von Obdachlosen. Die Kinder, groß geworden, können den Lebensstandard ihrer Eltern nicht halten.5 Wir haben Angst um unsere Kinder. Wir haben die Hoffnung aufgegeben, daß wir ihnen eine bessere Welt bieten können. Unser Vertrauen in die Zukunft wird noch mehr erschüttert, wenn wir die Welt betrachten, in der unsere Kinder heute leben: An allen Ecken und Enden werden Kinderhilfsprogramme der Regierung gestrichen, die Qualität der schulischen Ausbildung sinkt, eine angemessene Tagesbetreuung für Kinder wird immer seltener, -26-
Gewalt eskaliert allerorten, und die steigende Selbstmordrate amerikanischer Jugendlicher zeigt uns, daß der Tod nicht nur an die Tür älterer Menschen klopft. Martin sitzt in meiner Therapie und ist verzweifelt. Er hat eine 15jährige Tochter, die eine zwar überdurchschnittliche, aber nicht besonders motivierte Schülerin ist. Er selbst ist ein erfolgreicher Anwalt. Eben hat er mit einem alten Studienfreund zu Mittag gegessen, dessen Tochter ihr Englischstudium an einer Eliteuniversität mit Auszeichnung abgeschlossen hat. Sie hat zwei Jahre lang vergeblich einen Job als Lektoratsassistentin gesucht und arbeitet jetzt als Sekretärin. Der Sohn eines anderen Freundes ist nach dem Collegeabschluß wieder zu seinen Eltern gezogen, weil er sich bei seinem derzeitigen Gehalt keine eigene Wohnung leisten kann. Martin ist den Tränen nahe. Er hat seine Tochter immer ermutigt, nach den Sternen zu greifen, aber jetzt befürchtet er, daß sie nie einen Fuß auf den Boden bekommen wird. Auch die Kinder machen sich Sorgen, weniger über ihre Zukunft als über ihr gegenwärtiges Leben. Gretchen, heute ein Teenager, kam zum erstenmal mit Angstzuständen zu mir, als sie sieben war. Nachdem sie ihre Probleme überwunden hatte, verbrachte sie eine glückliche und erfüllte Kindheit und Jugend. Jetzt besucht sie eine große staatliche High-School; sie war eine tüchtige Schülerin, bis ein guter Freund von ihr von einem Freund erschossen wurde, der mit dem Gewehr seines Vaters spielte. Gretchen sucht mich auf, weil sie wieder Angst hat. Der Tod ihres Freundes ist zwar das auslösende Moment, doch sie erzählt Geschichten von Mitschülern, die Selbstmordversuche hinter sich haben, von drogensüchtigen Bekannten, von Teenagern, die von den Eltern aus dem Haus geworfen wurden, von einem Lehrer, der ihr einen Kugelschreiber ins Gesicht geschleudert hat. Sie hat ihren Eltern alles erzählt, und ihnen wurde schmerzlich bewußt, daß sie auch als Angehörige der Mittelschicht ihre Tochter keineswegs vor den Gefahren -27-
schützen konnten, denen Kinder und Jugendliche heute ausgesetzt sind. Brüchige Familienstrukturen Solche Sorgen werden durch einen dritten Faktor vertieft, mit dem Eltern heutzutage konfrontiert werden: Kinder sind häufig die einzig konstante familiäre Bindung Erwachsener. Selten nehmen Mann und Frau heute noch ernst, was sie bei der Hochzeit geschworen haben: »... bis daß der Tod euch scheidet«. Nahezu 50 Prozent der Ehen enden mit Trennung und Scheidung. Anders als in der Vergangenheit sind die Kinder nicht mehr der Kitt, der die Familien zusammenhält. Viele Partner mit Kindern entschließen sich, eine Ehe zu beenden, in der sie keine Erfüllung mehr finden. Andere betrachten Zwietracht und Streit in der Ehe zu Recht als schädlich für die Kinder. Für viele Eltern sind Kinder die einzige dauerhafte Bindung in ihrem Leben. Da ledige Mütter (trotz des Drucks rechtsgerichteter Kreise) heute nicht mehr wie früher gebrandmarkt werden, entscheiden sich viele Frauen ganz bewußt gegen Ehe oder Partnerschaft und möchten ihr Kind lieber von Anfang an allein erziehen. Anderen bleibt keine andere Wahl, und nicht mehr ganz junge Frauen erfüllen sich ihren Kinderwunsch, bevor die biologische Uhr unwiderruflich abgelaufen ist. Das bedeutet, daß Ehepartner oder Partner in der Kindererziehung kommen und gehen oder ganz fehlen, während Söhne und Tochter bleiben. Da es große Familienverbände und stabile Nachbarschaftsbeziehungen nicht mehr gibt, klammern wir uns um so mehr an unsere Kinder und verlassen uns ganz auf sie. Sie geben uns ein Gefühl der Zusammengehörigkeit ein Heilmittel gegen die wachsende Zersplitterung des Alltagslebens in den Vereinigten Staaten. Wir suchen bei unseren Kindern Stabilität und Kontinuität; von ihnen erhoffen -28-
wir uns die Gewißheit, daß uns jemand wirklich liebt und daß wir nicht allein sind. Und die Vorstellung, daß ihnen etwas zustößt, ist uns unerträglich. Eine Mutter ruft mich an, um mit mir die Besuchsregelung zu besprechen, die sie mit ihrem Exmann für den gemeinsamen neunjährigen Sohn ausgehandelt hat. Sie hatten Jordan adoptiert, als er vier Jahre alt war, und gehofft, mit diesem Schritt ihre gefährdete Ehe zu retten. Doch durch die Adoption wurde alles nur noch schlimmer. Lana, die Mutter, hatte nach der Scheidung das Sorgerecht für Jordan erhalten. Oft hat sie mich am Abend angerufen und mich um Rat gefragt, völlig erschöpft von der Anstrengung, zwei Jobs und ihre Aufgabe als alleinerziehende Mutter miteinander zu vereinbaren, und verbittert über das Scheitern ihrer Ehe. Manchmal machte Jordan sie mit seinen Ansprüchen so nervös, daß sie in ihm nur noch ihren Peiniger sah. In zwei Tagen soll Jordan zu einem zweieinhalbwöchigen Besuch bei seinen Großeltern aufbrechen. Ich begrüße das und sage, so hätte sie endlich einmal zwei Wochen Ruhe - eine kleine Verschnaufpause von der täglichen Last einer alleinerziehenden Mutter. Doch Lana fühlt sich vollkommen mißverstanden und meint verärgert: »Ganz im Gegenteil. Ich weiß gar nicht, wie ich hier ohne Jordan zurechtkommen soll. Und wenn ihm etwas zustößt? Er ist alles, was ich habe. Ich habe solche Angst vor dem Alleinsein.« Das Peter-Pan-Syndrom Ein vierter Faktor, mit dem die Eltern von heute konfrontiert sind, ist schließlich unsere eigene Psyche. Unsere Generation zögert und ziert sich, die Schwelle zum Erwachsensein zu überschreiten - ein einzigartiges Phänomen. Wir leiden am Peter-Pan-Syndrom eines Kindes, das sich weigert, erwachsen zu werden, oder das nicht glauben kann, einmal erwachsen zu -29-
sein. Wir leben in einer Spannung zwischen Erwachsensein und Kindheit, die uns nicht losläßt, auch wenn wir selbst längst Eltern sind. In der Geschichte von Peter Pan, wie sie von James M. Barrie erzählt wird, hat die Hauptfigur viele Kinder, die Verlorenen Jungen, die man ihm als Kleinkinder ins Nimmerland geschickt hat. Sie waren aus dem Kinderwagen gefallen, während das Kindermädchen anderweitig beschäftigt war, und von ihren Familien nicht abgeholt worden. Peter war als der »Häuptling« bemüht, den Buben ein guter Vater zu sein, und er holte sogar eine Mutter für sie aus London, Wendy, das Stereotyp des weiblichen Geschlechts, die alle Klischees einer Mutter erfüllte. Doch der Plan funktionierte nicht. Peters Vorstellungen von einer kindzentrierten und von Kindern beherrschten Familiengemeinschaft, in der die Kinder tun konnten, was sie wollten, vertrug sich nicht mit den Normen und Werten der wohlanständigen viktorianischen Gesellschaft, die Wendy verinnerlicht hatte. Wendy kehrte in ihre Heimat zurück, wo sie so, wie sie wollte, leben konnte, und nahm die Verlorenen Jungen mit, während Peter starrköpfig und unbelehrbar im Nimmerland blieb, in dem die Kinder frei sind und nie erwachsen werden. Wie Peter Pan mit Wendy, so haben auch die zeitgenössischen Peter Pans ein Problem: Die Welt, die sie sich als Jugendliche ausgemalt haben, hat wenig mit der Wirklichkeit zu tun, in der sie als Eltern zum Jahrhundertwechsel leben ein Widerspruch, der so kraß ist wie der zwischen Nimmerland und dem viktorianischen England. Unsere Generation ist mit der Aussicht auf mühelosen Erfolg und Glück aufgewachsen und mußte feststellen, daß Erfolg, Glück und eine stabile Familie nicht so leicht zu haben sind und daß alles seinen Preis hat. Obwohl wir uns gewünscht hatten, niemals erwachsen zu werden, ist es schließlich doch soweit gekommen. Alice Kahn, eine Zeitungskolumnistin um die Vierzig, beschreibt unser -30-
Problem folgendermaßen: »Das Alter, in dem Menschen früherer Generationen erwachsen zu sein hatten, sich einen Job suchen und sich einen ordentlichen Haarschnitt zulegen mußten, erreichte meine Generation Ende der sechziger Jahre. Wir hatten Schonfrist. Uns, den über Zwanzigjährigen, eröffneten sich ganz neue Möglichkeiten, unsere Eltern zur Verzweiflung zu bringen. Arbeit, so sagten wir, sei etwas für Lohnsklaven. Erwachsenwerden etwas für Spießer, Haareschneiden etwas für Lackaffen.«6 Das Peter-Pan-Syndrom hat jedoch nicht nur die Generation erfaßt, die in den sechziger Jahren erwachsen wurde. Es trifft auch auf die Jugend nach ihnen zu, die einen kulturellen Wertewandel erlebte und dem Konsum, dem persönlichen Glück und der sofortigen Bedürfnisbefriedigung höchste Priorität einräumte. Und es trifft auf die meisten Menschen zu, die heute Kinder haben. Das Peter-Pan-Syndrom schließt aber keineswegs aus, daß man berufstätig ist, hart arbeitet und die Pflichten eines Erwachsenen auf sich nimmt. Das Bemerkenswerte an der PeterPan-Generation ist vielmehr, daß sie gleichzeitig an ihrem Glauben an jugendliches Glück und ewige Jugend festhält. Was geschieht also, wenn die Peter Pans von heute selbst Kinder haben? Kahn zufolge ist »damit die schöne Zeit vorbei. ›Warte nur, bis du eigene Kinder hast‹ , hatten unsere Eltern gesagt, und jetzt wissen wir, warum.« Die schöne Zeit ist tatsächlich vorbei, aber was steht uns bevor? Elternsein und Kindheit im Wandel Nicht nur die Rolle der Eltern wird heute neu definiert, man sieht auch die Kindheit mit anderen Augen. Die Vorstellung davon, was Kindheit sei, ist eng mit der jeweiligen Kultur verbunden und verändert sich von Epoche zu Epoche und von Gesellschaft zu Gesellschaft. Das afrikanische -31-
Mädchen, das mit fünf Jahren auf seine jüngeren Geschwister aufpassen muß, solange die Eltern auf dem Feld arbeiten, unterscheidet sich grundlegend von dem fünfjährigen amerikanischen Kindergartenkind mit dem Wohnungsschlüssel um den Hals, das von seinen berufstätigen Eltern nicht beaufsichtigt, also vernachlässigt wird. Das Kind der viktorianischen Epoche, das zwar gesehen, aber nicht gehört werden durfte, hat nichts gemeinsam mit dem Kind Ende des 20. Jahrhunderts, dem besorgte Erwachsene aufmerksam zuhören. Da ist es nur folgerichtig, daß sich mit der Neugestaltung der Elternrolle und den Umwälzungen in der Familie und im sozialen Leben auch unsere Vorstellung davon verändert, was ein Kind ist. Ein Elternpaar sucht mich auf, um sich für seinen achtjährige Sohn Rat zu holen, der einen inneren Widerstand gegen die Schule entwickelt hat. Joshua, so erfahre ich, hat von seinen Eltern gehört, daß der amerikanische Präsident Bush mit Atomwaffen die ganze Welt in die Luft sprengen kann. Ich erfahre, daß Joshuas Mutter ihren Sohn bittet, selbst mit dem Schulrektor eine ermäßigte Gebühr für die Tagesschule auszuhandeln. Weiterhin höre ich, daß Joshuas Eltern nach der Lektüre von Zeitschriftenartikeln und dem Rat von »Experten« zu dem Schluß kamen, ihr Vierjähriger sei emotional reif dafür, die Geburt seines Schwesterchens mitzuerleben. Und tatsächlich war er dabei, als sein Schwesterchen zur Welt kam. Später erfahre ich auch, daß Joshuas Mutter der Meinung ist, ihr Sohn könne es nicht verkraften, eine Woche auf einen Termin bei mir zu warten, eine Wartezeit, um die er im übrigen selbst gebeten hat. Er würde sich, meinte sie, »betrogen« fühlen, denn wenn er etwas haben wolle, erwarte er es auf der Stelle. Diese Eltern wollen ihrem Sohn nicht zumuten, eine Weile zu warten, bis seine Wünsche erfüllt werden, klären ihn aber umfassend über die Gefahren einer atomaren Katastrophe auf. Joshuas Eltern sind nicht die einzigen, die so denken. Und -32-
ihre Einstellung ist höchstwahrscheinlich die Ursache für Joshuas derzeitige Identitätskrise. Mit großer Fassung erzählt mir dieser außergewöhnlich ernste Junge bei unserem ersten (von seinen Eltern arrangierten) Treffen, daß er mit acht Jahren in der Lage ist, alle seine Probleme selbst zu lösen, und daß er keine Hilfe von mir benötige, vielen Dank. In der folgenden Sitzung, um die er selbst gebeten hat, sitzt er verkrampft und verängstigt da, seine Augenlider zucken nervös, und er ringt die Hände wie ein kleiner alter Mann, aber mit einem Kindergesicht. Er hat sich umentschieden, er kann nun doch meine Hilfe gebrauchen, und er möchte mit mir ganz privat sprechen. Er bittet mich, seinen Eltern zu sagen, sie möchten doch aufhören, ihn ständig zu bevormunden, und sie sollten nicht glauben, er könne aus eigener Kraft nichts zustande bringen. Dann fügt er noch hinzu: »Könnten Sie ihnen aber auch sagen, sie sollen aufhören, mit mir zu reden, als wäre ich zwanzig?« Juliet war der festen Überzeugung, ihre zweijährige Tochter Dorothy sei in der Lage, selbst zu entscheiden, ob sie ihre Spielsachen mit anderen Kindern teilen will oder nicht. Gleichzeitig fütterte sie Dorothy aber noch. Als Dorothy sieben war, griff Juliet nie ein, wenn ihre Tochter ihre kleinere Schwester herumkommandierte oder bei anderen Kindern ihren Kopf durchzusetzen versuchte. Nach ihrer Meinung sind Kinder genau wie Erwachsene in der Lage, allein zurechtzukommen, und man darf ihnen nicht dreinreden. Aber Juliet bat Dorothy nie, im Haushalt mitzuhelfen, denn eine Siebenjährige sei viel zu jung, um eine solche Verantwortung zu tragen. In dem einen Augenblick finden wir, daß unser Kind in der Lage ist, komplizierte Entscheidungen zu treffen oder Aufgaben zu übernehmen, mit denen zuweilen selbst ein 30jähriger überfordert wäre. Martine trägt ihrer dreijährigen Tochter Laurel auf, ihren Vater doch selbst zu bitten, nicht ohne Schlafanzug zu schlafen, wenn sie bei ihm zu Besuch ist. Doch im nächsten -33-
Augenblick behandeln wir unsere Kinder wie hilflose Wickelkinder und fürchten um ihre kindliche Seele, wenn wir ihnen nicht jeden Wunsch erfüllen. Wenn die kleine Laurel in der Nacht drei- oder viermal nach dem Fläschchen schreit, steht Martine jedesmal auf und gibt es ihr, was Mutter wie Tochter um wertvollen Schlaf bringt. Oft hört man die besorgte Feststellung, die Kindheit verschwinde immer mehr. Im Fernsehen, im Kino und in den Geschichten aus dem wirklichen Leben kommen Kinder heute kaum mehr vor. Statt dessen haben wir es mit kleinen Erwachsenen zu tun. Da ist beispielsweise das Bild der lächelnden siebenjährigen Jessica Dubroff, wenige Minuten vor ihrem tragischen Tod bei einem Flugzeugabsturz im Jahr 1996, das sich unserem Gedächtnis eingeprägt hat. Jessica wollte einen Rekord aufstellen als der jüngste Flugzeugpilot, der allein durch die Vereinigten Staaten fliegt. Geschmack und Stil von Kindern und Erwachsenen sind ununterscheidbar geworden. Mutter und Tochter bummeln in identischen Nike-Schuhen und Designerjeans Hand in Hand durch Greenwich Village. Vater und Sohn geraten darüber in Streit, wer die neue Rolling-StonesKassette zuerst hören darf. Bedenklichere Beispiele sind der steigende Alkoholkonsum und der Drogenmißbrauch, der frühe Geschlechtsverkehr und die wachsende Kriminalität bei Jugendlichen - Phänomene, die zeigen, daß die Kindheit als eigenständiger Lebensabschnitt immer mehr verschwindet.7 Kinder wollen immer früher erwachsen werden, und dieser Trend hält an. Zweijährige haben heute bereits eine eigene Pausenbrotbox, Siebenjährige ihre eigene Monatskarte für den Bus und 14jährige ihre eigenen Kondome. In seinem populären Buch Das gehetzte Kind setzt sich David Elkind damit auseinander, wie Kinder heute unter dem Druck stehen, Leistung zu bringen, erfolgreich zu sein, sich beliebt zu machen und schnell erwachsen zu werden. Die Eltern sind von ihren eigenen Sorgen und Nöten in Anspruch genommen und -34-
leiden, stärker als Eltern früherer Generationen, unter Angst, Einsamkeit und Unsicherheit. Daher versuchen Väter und Mütter, ihr Selbstwertgefühl zu steigern, indem sie frühreife und leistungsbereite Söhne und Töchter erziehen. Bei einer flüchtigen Durchsicht von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln aus dem Zeitraum zwischen 1987 und 1988 stoße ich auf folgende Titel: »Superbabys sind keine glücklichen Babys« - »Haben Kinder heute keine Zeit mehr, einfach nur Kinder zu sein?« - »Das Burnout-Syndrom der Superbabys« »Die Aufregung um das gehetzte Kind« - »Die Kinder der superschnellen Eltern« - »Kids auf der Überholspur« - »Mit Tempo 100 in die Pubertät«. Eine Flut solcher Artikel belegt, daß nicht nur Elkind, sondern eine wachsende Zahl von Gesellschaftskritikern wach werden und die Gefahren erkennen, denen solche »Kids auf der Überholspur« ausgesetzt sind. Wenn die Kindheit tatsächlich immer mehr verschwindet, haben wir wahrhaft Grund zur Sorge, denn die beschleunigte Entwicklung des Kindes kann für dessen Wachstum und Reifung nur von Nachteil sein. Paradoxerweise aber trat mit dem Verschwinden der Kindheit eine milliardenschwere Industrie auf den Plan, um dieses Phänomen zu bedienen. Es gibt Kinderzahncremes, AerobicAusrüstung für Kinder, und in Manhattan gibt es sogar eine Bank für Kinder. Marketing- und Werbeexperten investieren unendlich viel Zeit in Kampagnen zur Erforschung und Befriedigung der speziellen Bedürfnisse von Kindern. Noch bevor die Kinder selbst in der Lage sind, aus einem Konsumangebot auszuwählen, ist die Beeinflussung schon voll im Gange: Sie werden in teure, futuristische Kinderwagen gesteckt, die die Eltern glauben, kaufen zu müssen. Das Big Business entwirft und reflektiert ein Bild des Kindes als eines hochkomplizierten Wesens, das ganz spezielle Bedürfnisse und Wünsche hat. Sollte die Kindheit tatsächlich verschwinden, so würde das für kapitalistische Unternehmen ungeheure -35-
finanzielle Verluste bedeuten. Doch wie kann man vom Verschwinden der Kindheit sprechen, wo sie doch in Wirklichkeit länger dauert als je zuvor? Schon Kleinkinder werden zuweilen dazu angehalten, lesen und Klavier spielen zu lernen. Aber die Eltern haben es offenbar nicht eilig, ihre Kinder am Ende der Teenagerzeit in die Selbständigkeit zu entlassen. Wir hetzen zwar unsere Söhne und Töchter im Eiltempo durch ihre Kindheit und Jugend, doch kurz vor der Zielgeraden bremsen wir sie ab. Im Unterschied zu früheren Generationen sind heutige Kinder auch noch als junge Erwachsene von ihren Eltern abhängig. Mit dem Ende der Schulzeit ist die Aus- und Weiterbildung für viele junge Frauen und Männer längst nicht abgeschlossen, und sie sind noch in einem Alter finanziell abhängig, in dem ihre eigenen Eltern und Großeltern selbst schon Kinder hatten und einen festen Platz im Arbeitsleben einnahmen. Auch für die Hochschulabsolventen, die keine weitere Fachausbildung machen, ist es bei den steigenden Lebenshaltungskosten nahezu unmöglich, ohne Unterstützung durch das Elternhaus auf eigenen Beinen zu stehen. Es verhält sich also keineswegs einfach so, daß die Kinder entweder durch ihre Kindheit gehetzt oder infantilisiert werden. Gehetzte, auf Leistung getrimmte »Superkids« - das ist nur die eine Seite der Medaille. Dieselben Kinder, die man auf der einen Seite hetzt und auf Höchstleistung trimmt, verhätschelt, behütet, hegt und pflegt man auf der anderen Seite. Das tun aber keineswegs selbstsüchtige oder nachlässige, sondern orientierungslose Eltern, die keine klare Vorstellung davon haben, was ein Kind ist, und sich nicht bewußt sind, welche Zerreißprobe es für ein Kind bedeutet, einerseits gehetzt und andererseits gebremst und zurückgehalten zu werden. Daher ist die Kindheit heute merkwürdigerweise zugleich kürzer und länger. Heutige Eltern machen sich ein Bild von der Kindheit, das -36-
eine doppelte Gefahr in sich birgt: auf der einen Seite das raffinierte, früh auf Hochleistung getrimmte Kind und auf der anderen das unschuldige, hilflose Baby. Dieses Bild hat sich derart verfestigt, daß es auch dann nicht aus unseren Köpfen verschwindet, wenn unsere Kinder erwachsen werden. Ich halte meinen 19jährigen Sohn durchaus für fähig, den akademischen Anforderungen seines Studiums zu genügen. Ich traue ihm zu, selbständig durch die Welt zu reisen. Aber ich muß mir immer wieder in Erinnerung rufen, daß er alt genug ist, sich auch selbst um seine Allergiespritzen zu kümmern, sein Flugticket selbst zu buchen und sich im Restaurant sein Essen selbst zu bestellen. Heutige Eltern haben eine sehr diffuse Wahrnehmung von ihrem Kind. Einerseits ist es für sie ein autonomes Individuum auf dem Weg zu Reife und Mündigkeit, andererseits ein unschuldiges, abhängiges oder primitives kleines Wesen, das Fürsorge und Schutz benötigt. Für dieses Phänomen habe ich den Begriff »Kind-Erwachsener« geprägt. »Kind-Erwachsener« beschreibt meiner Ansicht nach am besten, wie Kinder heute von Eltern und Erziehungsberatern gesehen werden. Ich meine, daß unter anderem diese Vorstellung dazu führt, daß wir den Kindern ihre Kindheit verderben. Mir fällt das Beispiel einer Kontroverse zwischen Erziehungsfachleuten ein: Vor kurzem schlug der Board of Education in Palo Alto, Kalifornien, vor, Vorschulkinder über die Ansteckungsgefahren von AIDS aufzuklären, um ihre Ängste vor der Immunschwächekrankheit zu zerstreuen. 22 der 24 Kindergärtnerinnen in diesem Distrikt legten umgehend Protest gegen diesen Plan ein. Nach Meinung des Vorsitzenden des Board of Education »leben Kinder nicht in einer hermetisch abgeschlossenen Welt«. Doch aus der Perspektive der Erzieherinnen wird den »Kindern damit bereits in jungen Jahren ihre Unschuld genommen, und sie werden mit Problemen konfrontiert, die eher Jugendliche betreffen«. In ihrem Protestbrief schrieben die Erzieherinnen weiter: »Wir wissen, -37-
daß sich die Zeiten geändert haben. Unsere Gesellschaft hat das Wesentliche der Kindheit im Laufe der Zeit immer mehr zerstört.« Die Erzieherinnen waren also der Meinung, daß durch die Aufklärung über die Gefahren von AIDS Ängste nicht genommen, sondern vielmehr gesteigert würden.9 Der Konflikt spitzte sich zu auf die Frage, inwieweit Kinder überhaupt »aufgeklärt« werden sollen. Der Vorsitzende des Erziehungsausschusses erinnerte sich an seine eigene Kindheit und an seine Angst, als er im Radio Berichte oder Diskussionen über den Nationalsozialismus in Deutschland hörte und von seinen Eltern nicht erklärt bekam, was dort geschah. Ihm lag daran, Kindern die Angst zu nehmen, die heute nicht mehr den Holocaust, sondern die Seuche AIDS betrifft. Diesem gutgemeinten Vorstoß lag die Annahme zugrunde, daß Kinder Bescheid wissen wollen, daß sie ein Recht darauf haben, Bescheid zu wissen, und daß Wissen beruhigt. Die Erzieherinnen, die tagtäglich mit diesen Kindern umgehen, sehen es jedoch nicht als ihre Aufgabe an, Kinder aufzuklären. Für sie ist der Kindergarten ein geschützter Raum, in dem Kinder behütet werden und eine Zeitlang von den Sorgen und Nöten des Erwachsenenlebens abgeschirmt sind. Diese Auseinandersetzung zeigt, wie gespalten unser Bild von der Kindheit ist. Auf der einen Seite betrachten wir das Kind als schnuckeliges, unschuldiges Engelchen, das ausgelassen herumtollt; auf der anderen Seite als kleinen Erwachsenen, als hochentwickeltes und reifes Individuum in kindlicher Gestalt. Für die Eltern ergeben sich daraus eine Reihe von Konflikten: Ist die zweijährige Sarah tatsächlich reif für die Kinderkrippe, oder ist sie noch zu klein, um tagsüber von fremden Leuten betreut zu werden? Ist es zulässig, daß der achtjährige Seth Protest einlegt, wenn die Eltern den Ferienort auswählen? Kann die zehnjährige Monica nach der Schule allein zu Hause bleiben, oder sollte sie besser wie bisher nach der Schule zur Großmutter gehen? Darf der 15jährige Pat selbst entscheiden, wann er -38-
abends nach Hause kommt? Wir sollten die Vorstellung von dem Kind-Erwachsenen durch ein Konzept ersetzen, das mitberücksichtigt, daß Kinder weitaus mehr können, als wir ihnen bisher zugetraut haben. Wir sollten aber gleichzeitig nicht aus den Augen verlieren, daß sie noch mitten in der Entwicklung stecken und nicht mit Erwachsenen verglichen werden können. Die Entwicklung des Kindes vom Kleinkind zum Jugendlichen und zum Erwachsenen muß daher immer wieder neu beurteilt werden. Wenn wir das nicht tun, bleiben wir in dem grotesken Bild des KindErwachsenen gefangen. Dieses neue, zwitterhafte Bild des Kindes spiegelt die Ratlosigkeit der Eltern, ist aber auch ein Schlüssel, um den Kode des heutigen schwierigen Elterndaseins und der verdorbenen Kindheit zu knacken. Der erste Schritt ist die Frage, wie eine Mutter oder ein Vater ein solches Zwitterwesen erziehen kann. Der Schlüssel zur Veränderung Wir Eltern erziehen unsere Kinder nicht nach soziologischen Gesichtspunkten. Erziehung ist vielmehr eine sehr persönliche psychologische Erfahrung. Wir denken nicht kritisch an die Kürzungen im Bildungsbudget, wenn uns nachmittags um halb vier am Arbeitsplatz ein aufgeregter Anruf unseres Sohnes erreicht, der über die Hausaufgaben jammert, die er zu erledigen hat. Vielmehr vergessen wir unsere eigenen Pflichten und setzen uns am Telefon mit den Hausaufgaben unseres Sohnes auseinander. Wir denken nicht über die Kürzungen der staatlichen Mittel nach. Nein, wir raufen uns die Haare und machen uns Vorwürfe, daß wir nicht bei ihm sein und ihm helfen können. Wir fragen uns, was wir falsch gemacht haben, weil unser Kind die Mathematikaufgabe nicht begreift, und wir überlegen, wie wir unsere eigene Arbeit schaffen, bevor wir -39-
pünktlich um 17.15 Uhr unsere Tochter in der Kindertagesstätte abholen. Wir denken auch nicht an Psychologie, wenn wir unsere Kinder erziehen. Wir haben ja kaum Zeit, um uns in unsere eigene Psyche, in unsere eigenen Gefühle, Gedanken und Phantasien zu vertiefen. Häufig sind wir uns nicht einmal bewußt, daß wir einmal übertrieben nachsichtig und dann wieder ganz auf uns selbst konzentriert sind. Dieses ständige Schwanken geht unbewußt vor sich. Wir haben wenig Zeit, unser Innenleben zu erforschen, und während wir uns bemühen, die täglich anfallenden Aufgaben zu bewältigen, bleibt uns oft unser eigenes Inneres verschlossen. Auch das macht es uns nicht leichter, heute Eltern zu sein. Gewiß, wenn wir uns unablässig mit uns selbst beschäftigen würden, verlöre unsere Beziehung zu unseren Kindern jede Spontaneität, und wir würden uns allzu gekünstelt und befangen verhalten. Trotzdem kann es sinnvoll sein, die Rätsel zu durchleuchten, vor denen wir als Eltern stehen. Wir wissen, daß etwas nicht stimmt, wir fürchten, daß wir unseren Söhnen und Töchtern die Kindheit vermasseln, doch wir sind wie gelähmt, weil wir nicht wissen, wo unsere Verwirrung eigentlich ihren Ursprung hat. In meiner therapeutischen Arbeit halte ich mich an die Prämisse, daß Einsicht der Schlüssel zur Veränderung ist. Wir müssen uns also das Unbewußte bewußtmachen und für unsere Verwirrung Erklärungen finden. Ich lade die Leserinnen und Leser ein, sich auf diese Prämisse einzulassen und mitzuhelfen, eine Verbindung zwischen den Aussagen in diesem Buch und den eigenen Erfahrungen herzustellen, damit die Verwirrungen heutigen Elterndaseins ans Licht kommen. So wie der Feminismus die kollektiven Erfahrungen von Frauen ans Licht gebracht hat, hoffe ich, die Verwirrungen der Eltern lösen und zeigen zu können, daß Kindererziehung nicht zuletzt auch ein soziales Phänomen ist, das viele Menschen teilen, und daß wir -40-
alle zusammen in der Lage sind, bessere Lösungen zu finden. Wir dürfen uns weder als Spielball in einem größeren sozialen Zusammenhang noch als Opfer einer größeren sozialen Ordnung betrachten. Es gibt äußere Bedingungen, auf die wir wenig Einfluß haben und die uns das Leben als Eltern schwermachen: Die Möglichkeiten für unsere Kinder schwinden, und die finanziellen Belastungen für Familien mit Kindern wachsen. Doch wenn wir als Eltern eine gewisse persönliche Verantwortung für unsere schwierige Situation übernehmen, dann können wir auch die Initiative ergreifen und das Schicksal selbst in die Hand nehmen, den gesunden Menschenverstand walten lassen und Kinder großziehen, die sich wohlfühlen. Alle Mütter und Väter, die Kinder zu erziehen haben, machen die Erfahrung, wie schwierig ihre Aufgabe geworden ist. In diesem Buch möchte ich die Probleme des Elternseins und der verdorbenen Kindheit analysieren und Lösungen aufzeigen. Ich betrachte das Hineinwachsen der Eltern in ihre neue Rolle und Aufgabe; ihre Träume und Hoffnungen für ihre Kinder; ihre besonderen Konflikte bei der Erziehung eines Kindes, aus dem einmal ein erfolgreicher, selbstbewußter und liebevoller Mensch werden soll; und ich betrachte die Auswirkungen der elterlichen Fürsorge, Konflikte und Erfahrungen auf die Kinder. Ich beschäftige mich weiterhin mit den Problemen des »KindErwachsenen« und dem Zusammenhang zwischen dem »KindErwachsenen« und dem Paradox der ichbezogenen und gleichzeitig allzu nachsichtigen Eltern. Ich möchte zwei zentrale Aspekte des Elternseins heute herausgreifen: die Sorge um die Leistungen unserer Kinder und die Probleme mit unserer eigenen Autorität. Am Ende dieses Buches hoffe ich, das Rätsel der Kindererziehung, von dem wir ausgegangen sind, gelöst zu haben: Wie kann ein und dieselbe Elterngeneration in höchstem Maße ichbezogen und narzißtisch sein und gleichzeitig ihre Kinder verhätscheln und in nie gekannter Weise mit Fürsorge überschütten? -41-
An den Anfang dieses Buches stellte ich ein Zitat von Joan Ryan, Kolumnistin des San Francisco Chronicle und eine Mutter, die uns auf den Boden der Tatsachen zurückholen möchte. Sie rät all den Eltern, die zum Überanalysieren neigen, »aufzuhören, Artikel in Redbook und McCall zu lesen, die Überschriften tragen wie: ›Zehn Methoden, um Wutausbrüche in den Griff zu bekommen‹ oder ›Zehn einfache Schritte, um bessere Eltern zu werden‹. Es ist töricht zu glauben, daß es ein Patentrezept gibt.« Besser, so meint sie, wäre es, »sich aufsein eigenes Gespür zu verlassen. Vielleicht benötigen wir gar keine Regeln für Eltern.«10 Leider sind unsere Instinkte im Verwirrspiel der Konflikte abgestumpft, die wir heute als Eltern zu bewältigen haben. Ich teile allerdings Joan Ryans Skepsis gegenüber Checklisten und Zehn-Punkte-Programmen. Das vorliegende Buch ist keine Handlungsanleitung in diesem Sinne. Sie werden am Ende des jeweiligen Kapitels keine Anweisungen oder Regeln finden. Alle, die Kinder haben, möchte ich aber dazu einladen, beim Lesen dieses Buches über die eigenen Erfahrungen als Mutter oder Vater nachzudenken und zu sehen, was dabei herauskommt. Die Lösungen, die ich anbiete, sind stets eingebettet in Geschichten und Gedanken über alternative Wege zu einem Verständnis der eigenen Kinder und der eigenen Situation als Vater und Mutter. Kehren wir zurück ins Wohnzimmer meiner Freundin und zu Miranda auf ihrem Dreirad. Ich wäre über Mirandas Eltern weniger entsetzt gewesen, wenn sie gemerkt hätten, daß es unvernünftig und keineswegs in Mirandas Interesse war, das Kind im Namen der freien Entfaltung seiner Kreativität und Autonomie tun zu lassen, was es wollte. Sie hätten eingreifen und Miranda bitten können aufzuhören, aber sie sahen in ihr nur ein süßes Engelchen, dem man nichts abschlagen oder das man keinesfalls steuern und beeinflussen durfte. Bestimmt hätten sie Miranda aufgefordert, auf andere -42-
Rücksicht zu nehmen, wenn sie erkannt hätten, daß ihre Tochter zwar zeigen wollte: ich bin der Mittelpunkt des Universums, aber ich nehme auch in Kauf, daß mich jemand aus meiner Ichzentriertheit herausholt. Und schließlich hätten sie Miranda einen Gefallen getan, wenn sie sich klargemacht hätten, daß sie auf diese Weise einem Machtkampf mit Miranda nur auswichen. Sie beruhigten ihr schlechtes Gewissen, daß sie sich nicht genügend um ihr Kind kümmerten und zuweilen gar keine liebevollen, großzügigen und verständnisvollen Eltern waren. Wenn sie Miranda aufgefordert hätten, sich ein weniger geräuschvolles Spielzeug zu suchen, so hätte sie gelernt, sich gegenüber anderen rücksichtsvoll und aufgeschlossen zu zeigen und aus ihrer sehr egozentrischen Tretmühle herauszukommen. Dann hätten sie uns allen ein ungestörtes Dinner ermöglicht, und meine eigenen (schon etwas älteren) Kinder hätten nicht gefragt: »Mama, warum haben sie nur erlaubt, daß Miranda das tut?« Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie anstrengend es sein kann, gesunde Kinder großzuziehen. Die Kapitel dieses Buches sollen Licht auf äußere Umstände und persönliche Erfahrungen mit der Kindererziehung heute werfen. Denn nur, wenn wir unsere Situation besser verstehen und verändern, können wir den Schwierigkeiten begegnen, die sich uns und künftigen Elterngenerationen stellen.
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2 Seine Majestät, das Baby
Das Kind soll es besser haben als seine Eltern, es soll den Notwendigkeiten, die man als im Leben herrschend erkannt hat, nicht unterworfen sein. Krankheit, Tod, Verzicht auf Genuß, Einschränkung des eigenen Willens sollen für das Kind nicht gelten, die Gesetze der Natur wie der Gesellschaft vor ihm haltmachen, es soll wirklich wieder Mittelpunkt und Kern der Schöpfung sein. His Majesty the Baby. Sigmund Freud Vor ein paar Jahren forderte ich eine Gruppe von 35 Müttern unterschiedlicher sozialer, wirtschaftlicher und ethnischer Herkunft auf, an ihre eigene Kindheit zurückzudenken und nachzuzählen, in wie vielen Zimmern in ihrem Elternhaus Kinderkleidung, Spielsachen, Bilderbücher und anderes aufbewahrt wurden. Die überwältigende Mehrheit dieser Frauen, die alle zwischen 25 und 45 Jahre alt waren, nannten die Zahl Eins. Dann forderte ich sie auf, darüber nachzudenken, wie viele Zimmer in ihrer eigenen Wohnung heute voll waren mit Kinderkleidung, Spielzeug und anderen Sachen, die den Kindern gehörten oder die sie gebastelt hatten. Ein schuldbewußtes Kichern war zu hören, als sie einstimmig antworteten: »Fast alle Zimmer.« Eine Frau erzählte sogar, daß sie eigens einen Schuppen neben dem Haus habe bauen lassen, um darin die ausrangierten Spielsachen ihres Sohnes unterzubringen. An diesem Beispiel zeigt sich nicht nur, daß heutige Eltern bereit sind, ihren Kindern jeden materiellen Wunsch zu erfüllen. Wenn das Kind heute nicht nur sein eigenes Zimmer beansprucht, sondern sich über die ganze Wohnung ausbreitet, -44-
ist dies ein Ausdruck dafür, daß alles um diese Generation von Kindern kreist. Man könnte sogar sagen, daß wir unsere Kinder regelrecht überbewerten. Die Tatsache, daß wir ihnen (anders als unsere Eltern uns) soviel Platz zugestehen, zeugt von dieser Überbewertung, die für die heutige Elterngeneration typisch ist. Sie ist mit ein Grund dafür, warum wir heute mit der Elternrolle so große Schwierigkeiten haben. Wenn man bei Leslie zu Hause anruft und sich der Anrufbeantworter einschaltet, hört man die Stimme ihrer vierjährigen Tochter Magda. Der Anrufer wird von Magda begrüßt, Magda singt ein Liedchen, wartet ein paar Sekunden und sagt dann »Auf Wiederhören«. Für einen Anrufer dauert dies alles furchtbar lange. Magdas Eltern haben sich zwei Jahre zuvor getrennt. Bevor Magda zur Welt kam, hatten ihre Eltern eine liebevolle und innige Beziehung zueinander. Als dann Magda da war, durfte sie ihre Eltern voll und ganz in Beschlag nehmen. Die Mutter nahm auch das kleinste Anzeichen von Unbehagen sehr ernst. Deshalb schlief Magda auch jede Nacht bei ihrer Mutter im Bett. Matthew, der Vater des Kindes, bekam ein anderes Bett zugewiesen. Magda, ein Einzelkind, wurde nie auch nur einen Moment aus den Augen gelassen. Da Mama und Papa selbständig waren und eine eigene Buchhaltungsfirma hatten, nahmen sie Magda in den ersten beiden Jahre zur Arbeit mit. Die Bedürfnisse des Töchterchens hatten stets Vorrang, berufliche Verpflichtungen wurden zurückgestellt. Schließlich zerbrach die Ehe, weil neben der Betreuung des Kindes für ein gemeinsames Leben der Partner kein Platz mehr war. Der Psychologe, der für die dreijährige Magda und ihre Eltern nach der Scheidung ein Gutachten erstellte, betonte, daß Leslie und Matthew ihrem wohlbehüteten, übersprudelnden Kind liebevolle und aufopferungsbereite Eltern waren. Aber sie hatten Magda vergöttert, und es bestand die Gefahr, daß das Kind auf dem Entwicklungsstand einer Zweijährigen stehenblieb und erwartete, daß sich auch in Zukunft immer alles nur um sie -45-
drehte. Sollen wir die Aktivitäten unserer Kinder wieder auf ein einziges Zimmer im Haus beschränken oder unsere eigenen Bedürfnisse über die des Säuglings und Kleinkinds stellen? Natürlich nicht, aber wir täten gut daran, uns klarzumachen, daß unsere Kinder, ihre sieben Sachen und ihre Psyche unser Haus und unsere ganze Existenz beherrschen, und das mit unserem Einverständnis. Leslies und Matthews Ehe hätte vielleicht gerettet werden können, und Magdas Entwicklung wäre nicht gefährdet gewesen, wenn schon früher jemand den Eltern zu Hilfe gekommen wäre. Nicht nur Leslie und Matthew, wir alle benötigen Hilfe, um uns klarzumachen, daß wir unseren Kindern einen zu hohen Stellenwert einräumen. In einem ersten Schritt können wir prüfen, weshalb wir unsere Kindern überbewerten, wie wir das tun und warum es wichtig ist, daran etwas zu ändern. Heutige Eltern, so meint der außenstehende Betrachter, sehen in ihren Kindern etwas ganz Besonderes und behandeln sie wie königliche Hoheiten. Sigmund Freud zufolge ist es bezeichnend, daß frischgebackene Mütter und Väter ihren kleinen Sprößling als ›Seine Majestät, das Baby‹ betrachten.2 Wir ergreifen die Gelegenheit beim Schöpf und versuchen, an diesem kleinen Lebewesen, das von uns abstammt und in der Welt einmal an unsere Stelle treten wird, das wiedergutzumachen, was unsere eigenen Eltern an uns versäumt haben. Daher malen wir uns in den glühendsten Farben aus, was aus unseren Kinder einmal werden soll und was sie in ihrem Leben alles erreichen werden. Doch heutige Mittelschichteltern sind mit ihren Phantasien womöglich über das Ziel hinausgeschossen. Bücher mit Titeln wie »The Too Precious Child«3 (Das allzu wertvolle Kind) zeigen, daß man zumindest in Fachkreisen über diese Entwicklung beunruhigt ist. Kinderpsychologen warnen uns davor, das Kind zu vergöttern und zuzulassen, daß es jeden Winkel des Hauses in Beschlag nimmt und noch viel -46-
einzigartiger und »erhabener« ist, als es sich Freud vor über achtzig Jahren hätte träumen lassen, als er zum erstenmal von »Seiner Majestät, dem Baby« sprach. Das Problem besteht nicht darin, daß sich im Leben der Eltern alles um das Kind dreht. Problematisch ist vielmehr, daß die Eltern ihr Kind in den Mittelpunkt stellen, weil sie selbst extrem narzißtisch sind. Sie sind von ihrer Großartigkeit und Einzigartigkeit so überzeugt, daß sie diese Gefühle auf ihr Kind übertragen, indem sie es in den Himmel heben - genau wie sich selbst. Das Baby - der Stoff, aus dem die Träume sind Betrachten wir zunächst einmal die Einstellung heutiger Eltern gegenüber ihren Kleinen. Abgesehen von der Tatsache, daß sich die Kinder überall im Haus breitmachen dürfen welche Belege haben wir noch dafür, daß heutige Eltern ihren Kindern einen zu hohen Stellenwert einräumen? Manche Eltern der Mittelschicht benutzen ihr Neugeborenes dazu, aller Welt ihren eigenen gesellschaftlichen Status kundzutun. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts prangerten die Medien die verschwenderische Großzügigkeit der Eltern an. Die Business Week berichtete von einer 27jährigen Mutter, die ihrem acht Monate alten Sohn sage und schreibe 25 Jogginganzüge, einen Smoking und einen 90 Dollar teuren Kordanzug kaufte. »Das muß sein«, meinte sie, »mein Sohn ist ein Stück von mir, und es macht mir Spaß, ihn herauszuputzen.«4 Diese Mutter ist ein krasses Beispiel, und seit der Rezession der neunziger Jahre, als es galt, den Gürtel enger zu schnallen, sind kaum mehr so extreme Fälle von Luxusbesessenheit bekannt geworden. Dennoch haben manche Babys auch heute noch so viel »anregenden« Krimskrams in ihren Bettchen liegen, daß sie in Spielsachen buchstäblich versinken. Eine Einjährige trägt an ihrem ersten Geburtstag ein -47-
80 Dollar teures Kleidchen von Laura Ashley. Auch finanziell nicht so gut gestellte Eltern opfern einen großen Teil ihres Einkommens der Ausstaffierung ihrer Kinder. Was sehen Eltern in ihren Kindern, wenn sie sich zu einer solcher Verschwendung hinreißen lassen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir das Elternsein zunächst einmal im sozialen Kontext betrachten. Viele Mittelschichteltern von heute waren schon mehrere Jahre erwachsen, bevor sie Kinder bekamen. Manche haben sich zunächst einmal ihrer beruflichen Karriere gewidmet und ein paar Jahre der Freiheit genossen - ein typisches Kennzeichen der Peter-Pan-Generation, die niemals erwachsen werden wollte. Manche behaupteten, überhaupt keine Kinder zu wollen, weil Kinder ihren beruflichen Ambitionen in die Quere kämen. Erst später, mit dreißig oder vierzig, als die biologische Uhr immer lauter tickte und sie begannen, sich über ihr Leben Gedanken zu machen, stellte sich der Kinderwunsch ein. Wenn zumindest teilweise gilt, daß man sich durch eigene Kinder Unsterblichkeit sichert, kann eine Midlife-Crisis aufrüttelnd wirken. Plötzlich wird einem klar, daß man sterben oder unfruchtbar werden kann, ohne die Chance genutzt zu haben, Nachkommen zu zeugen und sich damit ein Weiterleben zu sichern. In den Vereinigten Staaten wurden 1985 3,7 Millionen Babys geboren (die höchste Zahl innerhalb der letzten 20 Jahre).5 Die Mehrheit dieser Elterngeneration bekam ihr erstes Kind erst nach dem 30. Lebensjahr. Die Zahl der Frauen, die 35 Jahre alt oder älter waren, als sie ihr erstes Baby zur Welt brachten, hat sich zwischen den späten siebziger und den späten achtziger Jahren vervierfacht.6 Während die einen ihren Kinderwunsch aufschoben, fanden andere nicht den geeigneten Partner für ein Kind. Angesichts scheiternder Beziehungen bezweifelten wieder andere, ob eine Partnerschaft für sie überhaupt ein gangbarer Weg war. Sie mußten sich als alleinerziehende Mütter und Väter mit praktischen, emotionalen und nicht selten auch moralischen Problemen herumschlagen. -48-
In früheren Generationen bekam man möglichst bald nach der Heirat Kinder. Alles andere galt als bedenkliche Abnormität; man vermutete dahinter Eheprobleme oder eine bedauernswerte Unfruchtbarkeit. Das ist heute anders. Uns stehen viele Alternativen offen, und die Entscheidung, ob man Kinder will oder nicht, wird zu einem echten Problem, dem manchmal eine völlig überzogene Bedeutung beigemessen wird. Im Jahr 1989 erschien im San Francisco Examiner eine Anzeige für ein Seminar, gesponsert von der Kinderklinik von San Francisco, das den Titel trug: »Alles über Babys«. Es ging dabei jedoch nicht um die Frage, wo man am besten Windeln kauft oder was man tun kann, wenn das Baby Blähungen bekommt. Der Vormittag dieser Veranstaltung war vielmehr dem Thema »Schwangerschaft und Mutterschaft nach fünfunddreißig« gewidmet. »Sie sind über fünfunddreißig«, hieß es in der Anzeige, »und tragen sich mit dem Gedanken, Kinder zu bekommen - eine weitreichende Entscheidung, die dramatische Veränderungen des Lebensstils mit sich bringt. Doch auch die emotionale Tragweite und gesundheitliche Risiken müssen bedacht werden.«7 Wenn man die Entscheidung für eigene Kinder als einen Schritt von enormer Tragweite betrachtet, muß ein »Baby« zumindest theoretisch - als eine überlebensgroße Aufgabe erscheinen, als ein Wesen, das im guten oder schlechten Sinn über die Zukunft der Eltern entscheidet. Eine solche Einstellung gegenüber Kindern findet sich nicht nur bei älteren Vätern und Müttern, die ihren Kinderwunsch lange aufgeschoben haben. Sie durchdringt vielmehr das Bewußtsein von Erwachsenen jeden Alters. Hat man sich einmal entschlossen, diesen »großen Schritt« zu wagen, muß man sich einreden, daß die Mühe lohnt und daß man für seine Anstrengung auch etwas bekommt. Die 33jährige Sylvia erwartet ein Baby. Jeden Morgen nach dem Aufwachen plaudert sie ein wenig mit ihrem Ungeborenen, und auf ihrem Nachttisch stapeln sich acht verschiedene Bücher -49-
darüber, wie man ein glückliches und gesundes Baby großzieht. Sylvias Mann Larry hat die Ultraschallaufnahmen des werdenden Kindes auf Posterformat vergrößern lassen und Kopien des Videobandes mit den Ultraschallaufnahmen an Großeltern, Tanten und Onkel verschickt. Vier verschiedene Babypartys sind in Vorbereitung. Sylvias und Larrys Aktivitäten zur Feier der bevorstehenden Geburt werden von dem kulturellen Umfeld, in dem sie leben, gefördert: Es gibt eigene Läden, eigene Parfüms und Pflegeartikel für Säuglinge und Kleinkinder; es gibt jede Menge Ratgeberbücher mit Empfehlungen für Mütter und Väter, wie sie ihre Kinder erziehen sollen. Paradoxerweise ist in den späten achtziger Jahren in den Vereinigten Staaten zwar die Geburtenrate gestiegen, doch gleichzeitig herrscht die Vorstellung, Babys seien ein seltenes, kostbares Gut. Der Nachmittag des oben erwähnten Seminars »Alles über Babys« war dem Thema Unfruchtbarkeit gewidmet: »Sie möchten gerne ein Kind, können aber keins bekommen.« Die Verschiebung des Kinderwunsches auf später, die verbesserten Möglichkeiten mechanischer oder chemischer Empfängnisverhütung sowie zwar nachlässig kontrollierte, aber beängstigend schädigende Umwelteinflüsse (beispielsweise durch Dauerbestrahlung mit einer wenn auch niedrigen Radioaktivität) haben dazu geführt, daß immer mehr Frauen und Männer unfruchtbar sind. Manche Paare haben medizinische oder chirurgische Eingriffe hinter sich, und es hat Jahre gedauert, bis es endlich geklappt hat. Andere, die noch nicht einmal versucht haben, ein Kind zu zeugen, befürchten, daß dies auch ihr Schicksal sein könnte. Bei vielen Paaren schlagen alle Bemühungen fehl, so daß sie die Hoffnung auf ein eigenes Kind aufgeben müssen. Trotz der Möglichkeit künstlicher Befruchtung, trotz InvitroFertilisation, Eispende und Ersatzmutterschaft, trotz der althergebrachten Möglichkeit der Adoption wagen Frauen und -50-
Männer mit Kinderwunsch oft nicht mehr zu hoffen, daß sie doch noch ein eigenes Kind bekommen. Da die Abtreibung freigegeben, die Empfängnisverhütung erleichtert wird und alleinerziehende Mütter eher akzeptiert werden, ist die Zahl der zur Adoption freigegebenen Babys aus dem eigenen Land oder Kulturkreis zurückgegangen. Die Kosten für die neuen Reproduktionstechnologien und der zeitliche, medizinische und emotionale Aufwand sind hoch, die Erfolgsquote aber ist relativ niedrig. Da es schwierig erscheint, überhaupt ein Baby zu bekommen, stellt sich ein weiteres Gefühl ein, das das Elternsein heute noch stärker bestimmt: Etwas, das schwer zu bekommen ist, wird um so höher geschätzt, und daher werden Babys als etwas so Kostbares betrachtet. Dieses kostbare Gut Baby kann man sich kaufen, wenn man eine Leihmutter bezahlen oder gegen hohe Geldsummen einen privaten Adoptionsvermittlungsdienst beauftragen kann. Das kostbare Gut Baby kann aber auch durch jahrelange körperliche Schmerzen, psychische Qualen und geplünderte Sparbücher erkauft sein. Und das kostbare Gut Baby wird von all denen neidvoll betrachtet, die es nicht geschafft haben. Ob es auf »altmodische« Art und Weise, durch Adoption oder durch moderne Fortpflanzungstechnologien zustande gekommen ist - ein Kind zu haben wird heute als ein außerordentliches Phänomen angesehen, das keineswegs selbstverständlich ist. Noch ehe heute ein Baby geboren und zum Objekt elterlicher Phantasien von ungeahnten Möglichkeiten und grenzenloser Freiheit geworden ist, wird es in den Rang einer königlichen Hoheit erhoben. Die Überzeugung der Eltern, daß die Empfängnis ein sensationelles Ereignis ist, verleiht dem Kind höhere Weihen. Und der Krönung des Kindes folgt die Vorstellung auf dem Fuß, daß das Neugeborene das Leben all derer tiefgreifend verändern wird, die nur darauf warten, dem gekrönten Haupt zu dienen. -51-
Wen mag es da noch wundern, wenn der rote Teppich ausgerollt wird, um das Neugeborene gebührend zu empfangen und es von nun ab und für alle Zeit als einen kostbaren Schatz zu behandeln? Aus Sylvias und Larrys gefeiertem Embryo wird sich ein Kind entwickeln, dessen Gekritzel die Wände des Hauses zieren und dessen kleinste Schritte man andächtig verfolgen wird. Dieses Kind wird es später einmal schwer haben, wenn es erkennen muß, daß nicht immer im Leben seine Wünsche und Bedürfnisse sofort erfüllt werden und nicht jede Willensäußerung mit großem Beifall aufgenommen wird. Wenn man Sylvia und Larry vor der Geburt ihres Kindes geraten hätte, der »natürlichen« Geburt mit gedämpften Erwartungen entgegenzusehen, und wenn man sie davor gewarnt hätte, daß ein derartiger Wirbel dem Kind eine geheure Macht verschafft, hätten sie womöglich ihren Überschwang zu bremsen versucht. Wenn es nicht perfekt ist, dann »machen wir's kaputt« Wenn ein ersehntes Kind ein so kostbares Gut ist, werden sich die Eltern, wenn es soweit ist, ein Kind ganz ohne Fehl und Makel wünschen. In diesem Wunsch werden die Eltern von der modernen Naturwissenschaft unterstützt, die entdeckt hat, daß man Mutter Natur durchaus ins Handwerk pfuschen kann, um Perfektion zu erreichen. Mittels modernster Technologien sind wir heute in der Lage, genetische Anomalien früh zu erkennen, das Geschlecht eines Ungeborenen vorauszusagen und Mißbildungen und möglicherweise gefährlichen Abnormitäten schon im Mutterleib entgegenzuwirken. Der wissenschaftliche Fortschritt will uns glauben machen, daß das Geschick des neugeborenen Kindes heute praktisch in unserer Hand liegt. Der Satz »Man muß nehmen, was einem gegeben ist, und das Beste daraus machen« hat längst seine Gültigkeit verloren. Mit dem Zugang zu neuen -52-
technologischen Möglichkeiten können wir das Leben eines schwer mißgebildeten oder anomalen Fötus beenden. Wir können aber auch versuchen, leichtere Mängel zu beheben. Eine sechsjährige kleine Freundin von mir sagte zu ihrem Vater, als die Fruchtwasseruntersuchung ihrer schwangeren Mutter bevorstand: »Jetzt verstehe ich. Wenn mit dem Baby nicht alles in Ordnung ist, nehmen wir es heraus und machen es kaputt.« Ob die Wissenschaft nun die Psyche beeinflußt, ob die Psyche der Naturwissenschaft die Richtung vorgibt oder ob zwischen beiden eine Wechselwirkung besteht - wir müssen uns auf jeden Fall mit den praktischen Folgen auseinandersetzen. Mütter, Väter und Kinder kommen heute an der modernen Technologie gar nicht mehr vorbei, die Schwangerschaft und Geburt von einem natürlichen Vorgang in einen medizinischen, auf Perfektion abzielenden Prozeß verwandelt hat. Und allmählich wird unser Denken von der Vorstellung bestimmt: »Wenn mit dem Baby etwas nicht stimmt, bringe es in Ordnung oder nimm es heraus und mach es kaputt.« Dieses neue Bewußtsein führt dazu, daß werdende Eltern darüber nachdenken, ob sie nicht eine Schwangerschaft abbrechen sollen, die in eine tragische Geburt mit lebenslangen Folgen für das Kind und die Familie zu münden droht. Sie sollen das Recht haben, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und fundierte Entscheidungen über das Leben zu treffen, das sie in die Welt setzen wollen. Wir gewinnen gleichsam Zugang zum Mutterleib und können Veränderungen am Baby vornehmen, noch ehe es geboren ist. Doch wie so oft bei derart diffizilen Angelegenheiten bringt diese neue Sorglosigkeit (»mach es kaputt«) auch die dunkle Seite unseres Perfektionsdrangs zum Vorschein. Gelegentlich hören wir Sensationsmeldungen von Eltern, die ihr behindertes oder adoptiertes Kind aussetzen, weil sie mit der Erziehung überfordert sind.8 Als Kinderpsychologin beobachte ich das Phänomen auch in meiner Praxis. Kürzlich beriet ich eine -53-
Kollegin im Fall einer Familie, die ihre zehnjährigen Nichte zur Adoption freigeben wollte. Sie hatte das Mädchen in der Absicht aufgenommen, es später zu adoptieren. Aber das Mädchen entsprach nicht ganz ihren Vorstellungen. Es war verhaltensgestört und die meiste Zeit ziemlich mißmutig. Auch in der Schule erbrachte es keine besonders guten Leistungen. Zu seinen neuen Eltern hatte es eine weniger enge Bindungen entwickelt als erhofft. Auch die Therapie hatte bei dem Mädchen nicht erwartungsgemäß angeschlagen. Die Wirklichkeit stimmte mit den hochfliegenden Vorstellungen der Eltern nicht überein, die alles besser, anders und großartiger hatten machen wollen, als sie das Mädchen zwei Jahre zuvor zu sich genommen hatten. Meine Kollegin bezweifelte, ob es ihr gelingen werde, die Familie umzustimmen. Dazu hätte sie die Wunschvorstellungen der Eltern und ihre Motivation, ihre Nichte als eigenes Kind zu adoptieren, untersuchen müssen. Sie hätte prüfen müssen, welche tiefere Bedeutung das offensichtlich widerborstige Verhalten des Mädchens hatte. Sie hätte es als Signal für sein Unbehagen verstehen müssen, als Protest gegenüber allem, was ihm bis dahin widerfahren war, und als Härtetest für die neuen Eltern. Sie hätte das Paar auffordern müssen, realistischere Erwartungen an das Kind und ihre Beziehung zu ihm zu stellen. Die neuen Eltern hätten den Traum aufgeben müssen, das Kind nach ihren Vorstellungen umgestalten zu können. Dazu waren sie aber nicht bereit. Die Psychologin Miriam Elson spricht von dem emotionalen Schock, der Eltern trifft, wenn ihr Kind mit einem angeborenen Fehler zur Welt kommt. Dieses schwere narzißtische Trauma der Eltern geht einher mit einem tiefen Verlust des Selbstwertgefühls.9 Durch die neuen medizinischen Technologien und die akribische Kontrolle des Gesundheitszustands des noch ungeborenen Kindes mit Hilfe aller möglichen Apparaturen und Untersuchungen steigt die Wahrscheinlichkeit für ein solches Trauma und eine solche -54-
Enttäuschung. Denn jetzt erfahren wir viel mehr über die Unvollkommenheiten unseres Kindes. Dank moderner Technologie überleben heute weit mehr Säuglinge mit angeborenen Mängeln als früher. Die Angst, daß das eigene Kind mit Fehlern behaftet sein könnte, schleicht sich bereits dann ein, wenn der Embryo bei der Ultraschalluntersuchung auf dem Bildschirm zu sehen ist. Fruchtwasseruntersuchung und andere Vorsorgeuntersuchungen im Mutterleib machen es beinahe schon zur Normalität, daß werdende Eltern über Wochen hinweg in der Angst leben, daß etwas nicht stimmen könnte, bis endlich die Testergebnisse über den Gesundheitszustand ihres Babys vorliegen. Entsprechend macht auch die neue Ideologie der Geburtstechnologie - der Glaube, daß viele Krankheiten frühzeitig zu erkennen und zu behandeln sind oder ihr Ausbruch verhindert werden kann - heutigen Mittelschichteltern schwer zu schaffen. Sie bilden sich ein, sie hätten es in der Hand, ob sie ein makelloses Baby bekommen. Wir glauben nicht mehr wie frühere Generationen (und ärmere Bevölkerungsgruppen auch heute noch), daß man nichts tun könne und eben einfach das Baby akzeptieren müsse, das zur Welt kommt - auch ein krankes Baby oder ein Baby, das möglicherweise stirbt, bevor es groß geworden ist. Diese Einstellung hat eine Schutzfunktion, die nun wegfällt. Die Eltern erwarten ein Kind, das sie auf jeden Fall überlebt, und ihr Perfektionsdrang wird ständig von Katastrophenangst überschattet. Esther und Barry sind hingerissen von ihrer kleinen Tochter Myrna, ihrem süßen runden Gesichtchen, ihrer schnellen Auffassungsgabe und ihrem Charme. Aber der Herzmonitor, an den man Esther beim Einsetzen der Wehen angeschlossen hat, hatte minutenlang beunruhigende Ausschläge aufgezeichnet, bevor der Arzt sich zum Kaiserschnitt entschloß. Die neugeborene Myrna hatte hervorragende Apgar-Werte, nur hatte sie bei der Geburt etwas zuwenig Sauerstoff bekommen. An -55-
Esther und Barry nagt nun die Angst, daß dieses Geburtstrauma später einmal zu Lernstörungen führen könnte. Um diese Ängste abzuwehren, schmieden die Eltern hochfliegende Pläne einer traumhaften Zukunft für Myrna und unterdrücken die düsteren Bedenken, die sie insgeheim hegen. Eine typische Situation, in der eine winzige Information zu etwas Monströsem aufgebläht wird und die »aufgeklärte« Geburt dazu führt, daß die Eltern im Kniefall vor »Seiner Majestät, dem Baby« erstarren, weil sie nur allzugut wissen, was alles schiefgehen kann. Medizinische Technologie und moderne Psychologie warnen vor möglichen Risiken, wecken aber gleichzeitig die Erwartung, daß die Eltern ein Kind ohne jeden Makel bekommen können. Die moderne Geburtsmedizin nährt die Vorstellung, daß Eltern in den natürlichen Entwicklungsprozeß ihres Kindes eingreifen können. Die Psychologie nimmt den Ball auf, indem sie der Annahme das Wort redet, persönliche Entwicklung und Verbesserung könnten aus eigener Kraft erreicht werden. Belastet von dem Gefühl, daß sie eingreifen können und müssen, falls in der embryonalen Entwicklung tatsächlich etwas schiefgeht, treiben die Eltern die Vergötterung des Babys noch weiter. Denn jetzt dient sie ihnen als psychische Absicherung gegen eine mißglückte Entwicklung ihres Kindes. Diese überzogenen Vorstellungen vom Baby als »Seiner Majestät«, die den Konflikt zwischen Perfektion und Katastrophe abwehren sollen, werden auch nach der Geburt des Kindes weitergesponnen. Sie beherrschen unser Denken während der gesamten Zeit der Kindererziehung, wenn wir erkennen, daß nicht nur Störungen in der embryonalen Entwicklung, sondern eine unwirtliche Welt die Gesundheit und das Wohlbefinden unserer Kinder bedroht. Hillary Clinton, eine Fürsprecherin der Kinderrechte, weist uns darauf hin: »Wo ich hinsehe, droht Kindern Gefahr: von Gewalt und Vernachlässigung, von auseinanderbrechenden Familien, von der Versuchung durch Alkohol, Tabak, Sex und -56-
Drogenmißbrauch, von Habsucht, Materialismus und geistiger Leere. Diese Probleme sind nicht neu, aber sie sind uns über den Kopf gewachsen.«10 Tiffany stammt aus einer traditionsreichen Musikerfamilie. Sie ist selbst Musikerin, steht aber völlig mittellos da. Ihre Tochter Tamika ist gleichfalls musikalisch begabt und spielt mehrere Instrumente. Tiffany träumt davon, daß ihre Tochter ein Stipendium für die Julliard School of Music erhält. Sie möchte ihrer Tochter den Kampf ersparen, den sie selbst ausgefochten hat, um eine musikalische Ausbildung zu erhalten. Während ihrer gesamten High-School-Zeit hatte sie zwei Jobs, und als Gegenleistung für Violinstunden, die sie erhielt, putzte sie im Haushalt der Lehrerin. Sie setzte es durch, daß ihre Tochter eine staatliche Schule außerhalb ihres Wohnbezirks besuchen konnte, die einen hervorragenden Musikunterricht bot. Einen privaten Musiklehrer kann sie nicht bezahlen. Vor einer Woche erhielt sie eine Mitteilung von der Schule, daß der Musikunterricht aufgrund von Budgetkürzungen vom Lehrplan gestrichen wird. Als sie diese Woche die Zeitung aufschlug, las sie von drastischen staatlichen Kürzungen im Bereich der Künste. Sie ist in Tränen aufgelöst. Wie kann sie jemals realisieren, was sie sich für ihre Tochter erträumt? Wenn unsere »zweite Chance« - der Traum, unseren Rindern ein besseres Leben zu bieten, als wir selbst es hatten vereitelt wird, werden wir von heftigen Schuldgefühlen gepeinigt, weil es nicht in unserer Macht steht, unseren Kindern etwas Besseres zu bieten, weil wir Teil des kollektiven Ganzen sind, das für die ganze Misere verantwortlich ist, und weil wir es besser haben als unsere Kinder. Unsere Schuldgefühle und die beunruhigenden Gedanken versuchen wir zu kompensieren, indem wir unseren Kindern einen noch höheren Stellenwert einräumen. Wir stellen sie ganz bewußt um so stärker in den Mittelpunkt, je mehr wir erleben müssen, daß die Gesellschaft die Kinder an den Rand drängt. -57-
Die Vorstellung vom wertvollen und perfekten Kind soll uns in dem Glauben bestärken, daß die Welt zu unseren Kindern doch nicht so schlecht ist, wie wir fürchten. Genauso hat sich Tiffany angesichts der leeren Kassen eines Systems verhalten, in dem Musik nicht mehr viel gilt. Statt ihre Träume für eine strahlende Zukunft Tamikas zu begraben, hat sie diese noch weiter hochgeschraubt. Ihre Phantasie machte aus der musikalisch begabten Tamika ein kleines Genie. In den folgenden Monaten übte Tiffany mit ihrer Tochter täglich viele Stunden Klavier und Violine - trotz der Proteste des Kindes, das alles sei ihm zuviel. Stundenlang suchte Tiffany im Internet nach Adressen und Förderungsmöglichkeiten für musikalisch begabte Kinder. Jeden Morgen nach dem Aufstehen malte sie ihrer Tochter eine strahlende Zukunft als Virtuosin aus. Und jeden Abend ging sie mit der Angst zu Bett, daß die musikalische Zukunft ihrer Tochter durch äußere Kräfte zunichte gemacht werden könnte. Mittelschichteltern müssen sich heute nicht mehr darum sorgen, ob ihr Kind physisch überlebt. Ihr Bestreben ist einzig und allein, ihren Kindern eine glückliche und vielversprechende Zukunft zu bescheren. Sie betrachten ihr Kind als etwas Besonderes und lassen dies das Kind auch spüren." Doch unter der Oberfläche dieses Glücksstrebens lauert die Angst, daß ein solches Glück, ja sogar das blanke Überleben keineswegs garantiert ist. Auch diese Kinder sterben an plötzlichem Kindstod, an Krebs und anderen unheilbaren Krankheiten, kommen bei Unfällen, durch Gewalttaten und Selbstmord ums Leben. Und viele Kinder sind unglücklich. Dennoch wird den Eltern eingeredet, daß sie die einzigen wären, die für die Zukunft ihres Kindes letztlich die Verantwortung tragen. Wenn die erforderliche Zeit oder die unterstützenden sozialen Strukturen fehlen, die die Zukunft ihrer Kinder sichern, stehen die Eltern mit ihren peinigenden Ängsten ganz allein da.
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Narzißmus Eine weitere Komponente der Überbewertung der Kinder ist der elterliche Narzißmus. Es scheint, daß erst er die Eltern dazu bringt, über die kleinste Unvollkommenheit ihres Sprößlings beunruhigt zu sein, jeden seiner Schritte zu verklären und enttäuscht zu sein, wenn irgend etwas das Bild des fehlerfreien Kindes stört. Als wir geboren wurden, erlebten wir uns als den Mittelpunkt des Universums und erwarteten, daß alles sich nur um uns dreht. Das nennt man in der Fachsprache »primärer Narzißmus«. Als wir größer wurden, legten wir diesen frühen Narzißmus ab und lernten, daß wir nehmen und geben müssen. Wir bauten eine Beziehung zur Welt auf und entwickelten die Fähigkeit, für die Menschen in unserem Umkreis zu sorgen. Wenn wir Eltern werden, erhalten wir sozusagen die Möglichkeit, noch einmal narzißtisch zu werden, ohne daß es unserem Ruf schadet. Sigmund Freud drückte dies im Zusammenhang mit »Seiner Majestät, dem Baby« so aus: »Wenn man die Einstellung zärtlicher Eltern gegen ihre Kinder ins Auge faßt, muß man sie als Wiederaufleben und Reproduktion des eigenen, längst aufgegebenen Narzißmus erkennen.«12 Dieser Narzißmus kommt in den hochfliegenden Plänen zum Ausdruck, die wir für unsere Kinder hegen. Ich bezeichne das als »normalen elterlichen Narzißmus«. Er läßt den früheren Zustand Wiederaufleben, als sich die Welt ausschließlich um uns drehte und wir das Gefühl hatten, daß nichts zählt außer uns. Nur sind diese Gefühle jetzt auf das eigene Baby gerichtet und nicht auf uns. Dieser Reaktivierung unseres frühkindlichen Narzißmus ist es zuzuschreiben, daß wir unser Kind überbewerten. Der normale elterliche Narzißmus zeigt sich etwa bei der Mutter, die hoffnungsvoll und glücklich ihren vier Monate alten -59-
Sohn liebevoll in den Armen wiegt. Er zeigt sich bei dem Vater, der ein erfolgreiches und glückliches Leben für seine Tochter erträumt, während er sie vor dem Lärm im Zimmer nebenan abschirmt. Wir dürfen durchaus für unser Kind ein Leben voll ungeahnter Möglichkeiten erträumen, solange wir nicht den Bezug zur Wirklichkeit verlieren. Wir dürfen unseren eigenen frühkindlichen Narzißmus neu erleben, solange wir gleichzeitig das Kind als eigenständiges Wesen betrachten, das Zuwendung und Aufmerksamkeit braucht, und solange wir unserem Kind helfen, fürsorgliche Fähigkeiten zu entwickeln, die aus ihm eines Tages eine gute Mutter oder einen guten Vater machen werden. Mit anderen Worten: Ein gewisses Maß an Narzißmus ist bei Eltern durchaus positiv. Es ist etwas völlig Normales und bei allen guten Eltern zu beobachten. Heutigen Eltern aber wird der Vorwurf gemacht, sie seien übermäßig narzißtisch und hätten den frühkindlichen Narzißmus (die Lebensphase, in der sie nur mit sich selbst beschäftigt waren) nie ganz aufgegeben. Überschreiten die Eltern die Grenzen des normalen elterlichen Narzißmus, wenn sie ihre Babys, die Majestäten unserer Zeit, in dieser Welt begrüßen? Eltern früherer Generationen bekamen häufig den Vorwurf zu hören, sie drängten ihre Kinder, das zu erreichen, was sie selbst nicht geschafft haben, um sich in deren Erfolg zu sonnen. Aber heute wird eine ganze Elterngeneration nicht nur ein paar wenige pathologische Fälle - als narzißtisch betrachtet. Von ihren eigenen Bedürfnissen voll und ganz beherrscht, saugen sie ihre Kinder gleichsam in ihr Erwachsenenleben ein, statt ihnen eigenen Spielraum zu geben. Sie heben die Kinder in den Himmel, um ihr eigenes Geltungsbedürfnis zu befriedigen. Und schon wird ihnen das Etikett »Narzißmus« angeheftet. Frederick und Jocelyn suchen mich zur Beratung auf. Sie sind beide hochgebildete Akademiker. Sie haben eine dicke Mappe mitgebracht, in der die neuesten Glanzleistungen ihres Kindes -60-
verzeichnet sind, dazu Fotos, die zeigen, wie hübsch ihre Tochter ist. Kristen ist erst vier. Ihre Eltern möchten ihr den Weg zum Erfolg ebnen, und sie sind überzeugt, daß sie später einmal Konzertpianistin wird wie ihr Großvater. Sie staunen darüber, was für ein strahlendes Sternchen sie da in die Welt gesetzt haben, und sind voller Zuversicht, daß sie ihr all das bieten können, was sie selbst nie hatten. Es gibt nur ein kleines Problem. Immer wenn Kristen zum Musikunterricht muß, fängt sie an zu toben. Ob ich ihr nicht helfen könne, das zu überwinden? Frederick und sie erkannten schließlich, daß die Tobsuchtsanfälle ihrer Tochter viel eher ein Hilferuf waren als ein Krankheitssymptom, das behandelt werden mußte, und daß sie extremen Druck auf ihr Kind ausübten, und begannen, über ihre ichsüchtigen Wünsche für das Kind nachzudenken. Ich bat sie, jeder für sich einmal zu überlegen, wer Kristen wirklich war, und sich dann darüber auszutauschen. Sie sollten sich keine Gedanken machen, was Kristen tun sollte, sondern beobachten, welche Vorlieben und Abneigungen sie zeigte, welchen Tagesrhythmus sie hatte, was sie glücklich und traurig machte und was sie für ein Mensch war. Das Ziel der Therapie bestand darin, daß die Eltern Kristen als kleines Mädchen sahen und keine Göttin aus ihr machten. Das fiel ihnen sehr schwer, weil ihr Blick anfangs durch ihre überzogenen Pläne für das Kind getrübt wurde. Aber im Laufe der Zeit wurden sie immer mehr in die Lage versetzt, den Schleier ihrer Zukunftsvisionen für das Kind zu lüften, einen Schritt zurückzutreten und zu erkennen, daß Kristen in ihrer eigenen Phantasiewelt ungestört leben und mit kleinen Figuren selbsterfundene Dramen durchspielen wollte. Statt die Wutanfälle zu behandeln, meldeten die Eltern Kristen vom Musikunterricht ab, und die Tobsuchtsanfälle verschwanden. Indem die Eltern miteinander und mit einem Dritten (nämlich mit mir) arbeiteten, gelang es ihnen schließlich, eine größere Sensibilität für ihr Kind als einem zwar kleinen, -61-
aber eigenständigen Menschen zu entwickeln, der eigene Wünsche und Bedürfnisse hat. Später, wenn Kristen selbst den Wunsch dazu äußerte, würde für Musikunterricht noch genügend Zeit bleiben. Aber die meisten Eltern, mit denen ich zu tun habe, sind anders als Frederick und Jocelyn. Sie passen nicht in das einfache Grundmuster narzißtischer Eltern, die ihr Kind zur Mehrung des eigenen Ruhms in den Himmel heben. Bei den meisten ist die Sache viel komplizierter. Don und Gloria träumen davon, daß ihr fünfjähriges Söhnchen eines Tages ein so erfolgreicher Tennisstar wird wie sein Vater. Sie machen sich jedoch Sorgen, daß durch die Zangengeburt womöglich der Teil seines Gehirns geschädigt sein könnte, der im Tennis für die Laufgeschwindigkeit und die Koordination zwischen Händen und Augen zuständig ist. Sie vermuten, daß er eher Strafverteidiger wird wie sein Großvater. Denn er liebt das gesprochene Wort und die öffentliche Rede - mit dem Couchtisch als Podium. Aber sie sind skeptisch, ob er es je scharren wird, da weder Vater noch Mutter jene Gesprächskultur beherrschen, die seine forensischen Fähigkeiten fördern könnte. Don und Gloria, deren hochfliegende Pläne von Zweifeln angenagt sind, sind eher typisch für die Eltern, die meine Beratung suchen. Wenn nichts unternommen wird, wird Dons und Glorias kleiner Sohn Daniel früher oder später Probleme bekommen. Seine Eltern suchten mich auf, weil Daniel Schlafstörungen hatte und bei jeder Kleinigkeit von seinen Eltern Hilfe erbat. Er wollte alles perfekt machen, traute sich aber nicht zu, es allein zu schaffen. Er gab schnell auf, sobald es schwierig zu werden drohte. Er hatte die Spannung zwischen den Träumen und Sorgen seiner Eltern intuitiv erfaßt und sie allmählich verinnerlicht. Seine Symptome deuteten auf eine beginnende Angstneurose hin. Wie im Fall von Kristen hielt ich es auch hier für wichtiger, -62-
mit Daniels Eltern zu arbeiten als mit Daniel. Aber Don und Gloria gaben mir eine härtere Nuß zu knacken als Frederick und Jocelyn. Ihre weitreichenden Hoffnungen und Ängste waren unentwirrbar miteinander verstrickt und tief in ihrer Psyche verankert. Ich diagnostizierte eine »Verletzung des normalen elterlichen Narzißmus«, wie ich es nenne. Unsere Generation ist mit der Erwartung aufgewachsen, alles zu bekommen, was sie will. Wir träumen davon, daß unsere Kinder einmal Tennisasse oder Anwälte werden, und sind ganz verzweifelt bei dem Gedanken, daß diese unsere Träume womöglich nicht in Erfüllung gehen. Gleichzeitig werden unsere Träume durch die Schreckensvision drohenden Unheils zunichte gemacht - im Fall von Don und Gloria durch die Angst vor möglichen Geburtsschädigungen oder mangelnder Anregung durch die Eltern, die oft für ihr Kind nicht verfügbar waren. Das zweischneidige Schwert des medizinischen Fortschritts, der einerseits nur strahlende Erfolge verspricht, andererseits mögliche Schädigungen vorhersagt, sowie die wachsenden Zukunftsängste unserer Zeit machten die Phantasien von Don und Gloria zunichte. Auf der Ebene des Unbewußten war das für Don und Gloria ein Angriff auf ihren elterlichen Narzißmus, auf den sie doch mit der Geburt eines Kindes eigentlich ein Anrecht hatten. In ihrem Fall sah ich die einzige Möglichkeit darin, ihnen diese Spannung zwischen Traum und möglichem Unheil bewußtzumachen. Anders als bei Frederick und Jocelyn, die ihr narzißtisches Verhalten gegenüber ihrem Kind ungebremst ausleben konnten, glaubten Don und Gloria, nicht »narzißtisch« sein zu dürfen, das heißt, ihren Phantasien für ihren kleinen Sohn freien Lauf zu lassen. Diese Wunschträume wurden durch die Vorstellung möglichen Unglücks ständig gedämpft. Meine vorrangige Aufgabe bestand darin, ihre Schuldgefühle direkt anzugehen. In der ersten Sitzung sprachen sie ausschließlich davon, auf welche Weise sie ihrem Sohn -63-
entweder selbst geschadet oder ihn möglichen Schädigungen schutzlos ausgesetzt hatten. Ich bat sie, doch einmal all das Gute zu bedenken, das sie für ihren Sohn getan hatten. Das war wie eine Erleuchtung für sie. Erstaunlicherweise hatten sie noch nie darüber nachgedacht. Ich bat sie auch, darauf zu achten, in welcher Form sie ihre Ängste und Sorgen an ihren Sohn weitergaben. Das nahm mehrere Wochen in Anspruch, aber mit der Zeit erkannten sie, daß die Kehrseite des ständig um Hilfe bittenden Daniel ihr eigenes Verhalten war: ihr gespanntes Beobachten, ob er diesmal das, was er begonnen hatte, erfolgreich zu Ende bringen werde. Sie fingen an, ihm mehr Luft zum Atmen zu geben. Erst dann erfolgte der nächste Schritt, der ähnlich verlief wie das, worauf ich mich bei Frederick und Jocelyn schon von Anfang an konzentriert hatte. Wie sahen ihre Wunschvorstellungen von Daniel aus? Worin hatten sie ihren Ursprung? Und ob es denn so schlimm sei, wenn Daniel diese Träume nicht erfüllte? Womöglich, so gab ich ihnen zu bedenken, waren sie zu sehr damit beschäftigt, jeden seiner Schritte überzubewerten und sich und Daniel davon zu überzeugen, daß er perfekt sei und einer Katastrophe entgehen werde. Da wurden sie wütend auf mich und verteidigten sich: Sie versuchten doch nur, Daniel gute Startbedingungen zu verschaffen und sein Selbstbewußtsein zu stärken. Aber als ich fragte, ob das denn zum Erfolg führe, wurden sie still und dachten über ihr Verhalten nach. Wir beschäftigten uns mit ihrer verhängnisvollen Mischung aus Bewunderung und Sorge. Sie ließen ihre Ängste und ihre überzogenen Phantasien für Daniel los, ermutigten ihn, vieles selbständig zu Ende zu bringen, und betonten, daß es viel mehr darauf ankäme, Spaß zu haben, als darauf, alles perfekt zu machen. Mit der Zeit wurde Daniel davon erlöst, Brennpunkt aller Hoffnungen und Ängste seiner Eltern zu sein. Seine Angstsymptome verschwanden allmählich, und er konnte nachts besser schlafen. Ohne Hilfestellung von -64-
außen verstricken sich Eltern wie Don und Gloria immer mehr in das Netzwerk widersprüchlicher Kräfte, die Verletzung ihres normalen elterlichen Narzißmus verstärkt sich und kann bisweilen Züge eines pathologischen Narzißmus annehmen. Auf der einen Seite erschweren es die heutigen Arbeitsstrukturen in der westlichen Welt den Eltern, nicht sich, sondern die Kinder in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit zu rücken. Am Beispiel einer Kollegin sei dies verdeutlicht. Der American Board of Child and Family Psychiatry lehnte es zunächst ab, ihre Zeit als Assistenzarzt in der Psychiatrie anzuerkennen (die Entscheidung wurde später zurückgenommen). Die Begründung lautete, sie erfülle nicht den Standard der üblichen zweijährigen Ausbildung. Sie hatte ihre Assistenzzeit auf vier Jahre verteilt und nur halbtags gearbeitet, um sich die übrige Zeit um ihre beiden kleinen Kinder kümmern zu können. Die Ironie liegt darin, daß ihre Arbeitsteilung zwischen Psychiatrie und Mutterschaft von einer Organisation nicht anerkannt wurde, die sich das psychische Wohlbefinden von Kindern und Familien zum Ziel gesetzt hat. Ihr Arbeitsumfeld forderte sie zu mehr Narzißmus auf und bestrafte sie, weil sie sich mehr um ihre Kinder kümmern wollte, statt sich ausschließlich auf ihre berufliche Karriere zu konzentrieren. Die Gesellschaft verlangte also erst einmal von ihr, sich auf sich selbst zu konzentrieren und nicht auf ihre Kinder. Auf der anderen Seite herrscht ein starker innerer Druck. Da sind zum einen die Anspruchshaltung der Eltern und ihre narzißtischen Tendenzen. Diese Elterngeneration wollte nicht erwachsen werden; sie wuchs in der stark verinnerlichten Überzeugung auf, alles haben zu können. Der geringste Hinweis darauf, daß für die Kinder womöglich die Zukunft nicht immer rosig sein wird, macht Eltern heute schwer zu schaffen. Doch neben den narzißtischen Tendenzen und Ansprüchen gibt es etwas, das ich internalisierte »soziale Angst« nennen möchte. Sie ist der emotionale Preis, den wir für den technologischen -65-
Fortschritt in der Medizin und für eine Psychologie zu zahlen haben, die behauptet, Perfektion liege allein in unserer Hand. Die internalisierte soziale Angst ist nicht das Streben nach persönlicher Erfüllung, sondern in ihr schlägt sich die elterliche Sorge nieder, daß die Welt, in die unsere Kinder hineingeboren werden, voller Gefahren ist und keinerlei Sicherheiten bietet. Die vor allem von Bruno Bettelheim und David Elkind vorgetragene und heute allgemein verbreitete These lautet, daß die Unsicherheit der Eltern in ihrer Elternrolle und hinsichtlich der Welt zu Ichzentriertheit und Konzentration auf die eigenen Bedürfnisse führe. Und zwangsläufig können diese Eltern nicht mehr auf ihre Kinder und deren Bedürfnisse eingehen.13 Ich halte das jedoch für eine sehr einseitige Sicht des Elterndaseins. In meiner beruflichen Praxis habe ich mit Eltern zu tun, die in ihrem Kampf mit solchen Unsicherheiten durchaus nicht völlig auf sich konzentriert sind, sondern verzweifelt Schutzmaßnahmen ergreifen, um ihren Kindern alle nur erdenklichen Chancen im Leben zu bieten. Viel häufiger beobachte ich die internalisierte soziale Angst der Eltern, die dazu führt, daß sie als Kompensation für eine drohende Katastrophe das Kind vergöttern. Manchmal äußert sich diese Überschätzung als Überfürsorglichkeit und Überängstlichkeit (»Du gehst mir nicht allein aus dem Haus«; »ich muß immer genau wissen, was du tust«). Manchmal übt ein Elternteil Druck aus und drängt (»Mach bitte alles richtig, damit ich mir um dich keine Sorgen machen muß«). Zuweilen überschätzen wir unsere Kinder, um die Angst zu beschwichtigen, daß sie in einer Gesellschaft untergehen könnten, die wir selbst nicht für »gut genug« halten. Hier kann sich aber auch zeigen, daß ein Elternteil nicht gut genug ist und selbstsüchtig nur auf seinen Anteil am Erfolg bedacht ist. Die Überschätzung des Kindes ist die Folge der Ängste und Befürchtungen der Eltern, nicht die Folge ihres Allmachtsgefühls und ihrer Ichbezogenheit. -66-
Die Wunde heilen Eine Wunde möchte heilen. Wenn wir ständig damit beschäftigt sind, unsere Kinder über den vermeintlichen Abgrund zu balancieren, in dem die Ungeheuer lauern, verwehren wir ihnen die Chance, auf dem Boden der Wirklichkeit zu stehen. Hoch erhaben über den Mühseligkeiten der Welt werden sie in dem Bewußtsein groß, es gebe kein Leid in der Welt und alles stehe zu ihrer freien Verfügung. Doch damit sind sie schlecht auf die Welt vorbereitet, in der sie einmal bestehen sollen. Und sie sind auf dem besten Weg, selbst krankhaft narzißtisch zu werden. Und wenn ein Kind, wie beispielsweise der kleine Daniel, das Mißverhältnis zwischen Traum und Bedrohung spürt, so ist das Ergebnis dieser von Ängsten getriebenen Überschätzung ein von Ängsten getriebenes Kind. Gegen dieses Syndrom müssen wir etwas tun, wenn wir nicht wollen, daß die Generation nach uns ihre tägliche Pille gegen Magengeschwüre schlucken muß. Wie mich meine jungen Patienten und gelegentlich auch meine eigenen Kinder gelehrt haben, besteht der erste Schritt, die Wunde zu heilen, darin, »sich aufzuheitern« und »alles nicht so eng zu sehen«. Wenn wir uns all die Gefahren vor Augen halten, von denen unsere Kinder bedroht sind, könnten die düsteren Ahnungen tatsächlich einmal Wirklichkeit werden. Aber die Zukunft unserer Kinder sieht letztlich gar nicht so schlecht aus. Ich denke an die Geburt meines ersten Kindes. Während der extrem langen Wehen versuchte ich, die Atem- und Entspannungsübungen zu machen, die ich so sorgfältig geübt hatte. Dann trat eine ältere englische Hebamme ihre Schicht an. Freundlich, aber bestimmt sagte sie zu mir und meinem Mann: »Mein Gott, Sie machen sich ja fix und fertig mit diesen -67-
Atemübungen. Hören Sie auf damit, machen Sie einen Spaziergang rüber in die Säuglingsabteilung und schauen Sie sich die Babys an.« Im ersten Moment wirkte das auf mich nicht gerade aufmunternd. Da stand ich mit meinem pochenden, dicken Bauch vor den vielen entzückenden Säuglingen, Tränen liefen mir übers Gesicht, und leise schluchzend sagte ich: »Meins wird nie rauskommen.« Aber nach einer Weile gelang es mir, mich zu entspannen, und ich schöpfte Hoffnung, daß auch ich solch ein gesundes Baby zur Welt bringen würde. Ich war dieser Hebamme immer sehr dankbar. Was ich von ihr gelernt habe, wende ich in der Behandlung der internalisierten sozialen Angst bei Eltern an. Ich versuche, einen Prozeß in Gang zu setzen, in dem die Eltern sich von dem Alptraum einer drohenden Katastrophe befreien können. Wenn es mir gelingt, ihnen bei der Überwindung ihrer psychischen »Hyperventilation« zu helfen, werden sie vielleicht erkennen, daß ihr Kind durchaus alle Chancen hat, erfolgreich und glücklich zu werden. Ich bringe sie zum Nachdenken darüber, daß viele ihrer Sorgen nur die bange Beschäftigung mit Dingen sind, die passieren könnten, die aber höchstwahrscheinlich nie passieren werden. Die meisten Kinder sind robust genug, die Höhen und Tiefen der Kindheit unversehrt zu überstehen. Auch in einer Gesellschaft, die ihnen nicht gerade freundlich gesinnt ist, haben die meisten Kinder ein Dach über dem Kopf, genießen eine ordentliche Ausbildung und haben beruflich und privat viele Chancen. Es ist besser, sich mit den Problemen zu beschäftigen, die unmittelbar gelöst werden müssen, statt sich den Kopf über Dinge zu zerbrechen, die gar nicht zur Debatte stehen. Das Ziel der Therapie ist es, sich von dem Alpträumen und von dem Zwang zu befreien, unser Kind - gleichsam als Versicherungspolice gegen mögliche Bedrohung überzubewerten. Mindestens einmal im Monat ruft mich eine Freundin an. Sie ist jedesmal außer sich über ein vermeintliches Mißgeschick, das -68-
der einen oder anderen ihrer beiden Töchter passiert ist, die sie für sehr begabt hält. Jedesmal ist sie in Tränen aufgelöst, weil sie davon überzeugt ist, die Zukunft ihrer Kinder sei verspielt, weil entweder der Lehrer nichts taugt, das Kind leichte Lernschwierigkeiten hat oder nicht ganz so viele Freundinnen hat, wie es sich die Mutter erträumt. Die Mutter bildet sich ein, alles wäre besser, wenn sie ihre Töchter in eine Schule für Hochbegabte geschickt hätte - für die Kinder täglich zwei Stunden mehr Fahrzeit. Jedesmal muß ich auf sie einreden, zunächst einmal, indem ich für ihre Aufregung Verständnis zeige, dann, indem ich ihr Lösungsvorschläge für das bevorstehende Problem anbiete. Erst dann kann ich sagen, daß ich glaube, auf lange Sicht werde die betreffende Tochter ihre »Krise« heil und gesund überstehen. Aber um aufrichtig zu sein, ich halte mich zurück mit dem, was ich wirklich denke, denn ich bin ihre Freundin und nicht ihre Therapeutin. Ich habe den Eindruck, daß sie unerreichbar ist für das, was ich ihr gern vermitteln möchte: »Deinen Kindern geht es gar nicht so schlecht. Bei ihnen klappt doch alles gut, verglichen mit dem, was ich Woche für Woche in meinem Sprechzimmer erlebe. Also hör auf, dich zu zermürben, entspann dich und freu dich an ihnen.« Positives Denken und Heiterkeit sind nur der erste Schritt. Anschließend geht es darum, die Überschätzung abzubauen. Das heißt, wir bauen einen inneren Bremsmechanismus ein und beginnen umzudenken. Diesen Prozeß konnte ich bei Jocelyn und Frederick in Gang setzen: Sie hören auf, Kristen mit Musikstunden zu traktieren, und konzentrieren sich darauf, wer das Kind wirklich ist, was es möchte und was nicht. Eine andere Möglichkeit zeigt der Fall von Don und Gloria, die ihrem Sohn Daniel schließlich mehr Luft zum Atmen lassen und akzeptieren, daß es besser ist, etwas halb zu machen, als ängstlich um eine Perfektion bemüht zu sein, die man am Ende doch nicht erreicht. -69-
Ich möchte uns alle ermuntern, darüber nachzudenken, ob nicht auch wir unsere Kinder überschätzen - mit verheerenden Folgen. Wir sollten uns einmal von außen betrachten und überlegen, wie wir das tun. Stanley sprach über seinen vierjährigen Sohn nur in den höchsten Tönen. Der kleine Aaron konnte unglaublich gut Ski fahren, er hatte ein phänomenales musikalisches Gehör und war genial beim Puzzlespiel. Wir nahmen Stanleys Beschreibungen seines Sohnes auf Band auf. Würde es ihm gefallen, wenn ein anderer ständig so über ihn spräche, insbesondere ein Mensch, der ihm sehr nahe steht? Sich selbst zuzuhören und sich in die Lage seines Sohnes zu versetzen öffnete Stanley die Augen dafür, unter welch enormem Druck er mit seiner Lobhudelei seinen kleinen Sohn setzte. Er entdeckte, daß Fürsorglichkeit nicht dasselbe ist wie Überschätzung und daß seine Form der Überschätzung in Wirklichkeit eine Vernachlässigung war, weil er Aarons kleines Ich und seine wirklichen Bedürfnisse gar nicht zur Kenntnis nahm. Wenn er diese Schwärmerei weiter betrieben hätte, dann hätte er nur seine eigenen narzißtischen Bedürfnisse und internalisierten Ängste ausgelebt, statt Aaron zu helfen, ein robuster und selbstbewußter Junge zu werden, der mit dem zufrieden war, was er tun konnte, statt ständig damit konfrontiert zu werden, was andere ihm zutrauten oder abverlangten. Aarons Sorge, ob er diesen Ansprüchen gerecht wurde und es anderen recht machte, hätte leicht dazu führen können, daß er entweder ein »falsches« Selbst oder ein übertriebenes Selbstwertgefühl entwickelte, das sich aus den Lobeshymnen seines Vaters nährte. Manchmal bitte ich die Eltern, beim Nachdenken über ihren bisherigen Umgang mit dem Kind im Geist jedesmal »Eure Majestät« hinzuzufügen. Wenn der Zusatz paßt, so ist das ein Signal dafür, daß sie ihr Kind überschätzen. Der nächste Schritt ist schwieriger: Wenn wir versuchen, eine selbstbewußte Haltung zu entwickeln und uns jedesmal zu ermahnen, -70-
»innezuhalten«, sobald wir den inneren Zwang verspüren, unsere Kinder zu kleinen Göttern zu machen. Uns klarzumachen, daß wir unseren Kindern schaden, wenn wir an unserer Selbstzentriertheit und unseren Ängsten festhalten, reicht oft schon, um von unserer Überbewertung abzulassen. In anderen Fällen müssen sich beide Elternteile zusammentun, um beim jeweils anderen (und bei sich selbst) nach Anzeichen dafür zu forschen, daß sie zwischen hochfliegenden Träumen und Horrorszenarios hin- und herschwanken und jeden Schritt des Kindes in seiner Bedeutung aufbauschen.
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3 Mit dem Baby sind wir drei, oder bin ich das Baby?
Deshalb werden gute Eltern ihr Verhalten und ihre Reaktionen, Lob und Tadel - und beides ist in der Erziehung gleich wichtig und notwendig - stets auch danach richten, wie ihr Kind eine Situation erlebt. Sie werden sich bemühen, die Dinge zwar vom Erwachsenenstandpunkt aus zu beurteilen, aber auch den völlig anderen Standpunkt des Kindes dabei nicht zu übergehen, und werden sich bei ihren Reaktionen darauf einstellen. Sie werden versuchen, beiden Standpunkten gerecht zu werden, und sie werden verstehen, daß das Kind durch seine mangelnde Reife die Dinge anders sieht als sie. Bruno Bettelheim1 Der normale elterliche Narzißmus ist bei heutigen Eltern verletzt. Während sie ihre Kinder erziehen, bemühen sie sich tapfer, diese Wunde zu heilen und nicht nur gute, sondern bessere Eltern zu sein. Das Besondere an diesem Bemühen besteht darin, das Leben so auszubalancieren, daß es ihnen wie auch ihren Kindern guttut. Die heutige Elterngeneration hat es, glaube ich, besonders schwer, ihre Bedürfnisse von denen des Babys zu trennen. Sie ist zwischen zwei Extremen hin- und hergerissen: der Fürsorge für ihr Kind als dem Mittelpunkt des Universums, und der Unfähigkeit, die Söhne und Tochter unabhängig von den eigenen Bedürfnissen zu sehen. Gute Väter und Mütter entwickeln schon frühzeitig ein Gespür dafür, wo das eigene Ich endet und das Ich des anderen beginnt. Diese Fähigkeit wird gleichzeitig mit der Loslösung von unserem frühkindlichen solipsistischen und ichbezogenen -72-
Zustand entwickelt. Leider wirken heutzutage äußere und innere Kräfte diesen Bemühungen der Eltern um eine klare Abgrenzung von ihren Kindern entgegen, für Eltern eine zusätzliche Gefahr. Früher waren Vater- und Mutterschaft die letzte Stufe auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Das ist heute nicht mehr der Fall. Es gibt verschiedene Wege zum Erwachsenwerden, und das traditionelle Modell des verheirateten Paares mit zwei Kindern und einem Pkw ist nicht mehr das einzig gültige. Im Gegenteil, heute werden Kinder vielfach als Entwicklungshindernis auf dem Weg zum Erwachsenwerden betrachtet, weil sie der Karriere und dem beruflichen Erfolg im Weg stehen. Das wird Ihnen jede Mutter bestätigen, die darum kämpft, Kinder und Beruf in Einklang zu bringen. »Zuerst kommt die Liebe, dann die Ehe und dann Susie im Kinderwagen« - das ist heute nicht mehr unbedingt der Lauf der Dinge, und die meisten Eltern, die einen Kinderwagen vor sich herschieben, sind berufstätig. Und so hat das »Wunschkind«, das heute zur Welt kommt, für Vater und Mutter eine völlig andere Bedeutung als das Kind früherer Zeiten, mit dem man sich eben abzufinden hatte. Ist das Baby erst einmal geboren, stehen die Eltern vor der schwierigen Aufgabe, zugleich ihren Bedürfnissen als Erwachsene und denen der Kinder gerecht zu werden. Es geht nicht nur um den Drahtseilakt zwischen beruflicher Laufbahn und Familie. Psychologisch gesehen, müssen sich Mütter und Väter heute jeder auf seine Weise damit auseinandersetzen, wo die Grenze zwischen ihnen und ihren Kindern verläuft. Moira sieht die einzige Möglichkeit, eine Verschnaufpause von ihrer Aufgabe als Mutter einzulegen, darin, daß sie eine Zeitlang ohne Kinder verreist, manchmal bis nach Übersee. Wenn sie nach einem anstrengenden Arbeitstag als Dozentin an einem städtischen College nach Hause kommt, ist sie den Tränen nahe, wenn eins ihrer Kinder anfängt zu weinen. Der -73-
Schmerz ihrer Kinder ist ihr eigener Schmerz. Sie macht sich unablässig Sorgen um sie, und sie geht davon aus, daß sich auch die Kinder Gedanken machen. Als einer ihrer Söhne nicht in die Schule seiner Wahl aufgenommen wurde, glaubte sie, eine Welt würde für ihn zusammenbrechen. Aber offenbar machte es ihm gar nicht soviel aus. Während sie also einerseits ihre Kinder überfürsorglich bemuttert, flüchtet sie andererseits vor ihnen für sie die einzige Möglichkeit, sich psychisch von ihnen abzugrenzen. Joel, von Beruf Anlageberater, ist geschieden und hat einen achtjährigen Sohn namens Richard. Jeden Mittwochabend gehen Vater und Sohn zusammen aus und essen in einem feinen Restaurant in ihrem Stadtviertel. Richard darf sich ausnahmslos jedes Gericht auf der Speisekarte bestellen. Nach einem kurzen Gespräch über Richards Schultag erzählt Joel seinem Sohn in aller Ausführlichkeit von seinem Tag im Büro, von den Klienten, die ihm zu schaffen machen, von den Witzeleien im Büro und der weltwirtschaftlichen Entwicklung. Er glaubt, daß das für Richard hochinteressant ist. Richard sagt mir etwas anderes: daß er seinem Vater zuliebe zwar aufmerksam zuhört, aber es langweilt ihn eigentlich furchtbar. Viel lieber würde er einfach unterwegs einen Hamburger essen. Moira und Joel brauchen Hilfe, um klarere Grenzen zu ziehen und ein besseres Gleichgewicht zwischen dem Kind und dem eigenen Ich herzustellen, wenn ihre Kinder charaktervolle und selbständige junge Erwachsene werden sollen. Die psychologische Arithmetik war einst sehr klar: wie es in dem alten Lied heißt: »Just Molly and me, and baby makes three« (»Nur Molly und ich, dazu noch das Baby, dann sind wir zu dritt«). Aber heutige Eltern wissen nicht genau, ob das Baby der Dritte beziehungsweise (im Fall von alleinerziehenden Müttern und Vätern) Zweite im Bund ist oder ob »das Baby zum eigenen Ich gehört«. Eltern haben zu allen Zeiten erfahren, daß sich (besonders in den ersten Monaten nach der Geburt) die Grenzen -74-
zwischen ihnen und ihrem Baby verwischen, und wir werden sehen, daß das Problem heutiger Eltern die völlige Aufhebung dieser Grenze ist. All die Jahre, in denen wir unsere Kinder erziehen, quälen wir uns damit herum, eine klare Abgrenzung zu ihnen zu schaffen, und wir müssen uns die Frage gefallen lassen: »Für wen tue ich das, für mich oder für mein Kind?« Das Gleichgewicht zwischen mir und dem Baby In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigte sich die Psychologie schwerpunktmäßig mit der Ich-Entwicklung in der Gesellschaft. Psychoanalytiker, Psychologen und Entwicklungspsychologen sind der Frage nachgegangen: »Wie wird aus einem Baby ein vollständiger und unabhängiger Mensch?« Unter dem deutlichen Einfluß der sie umgebenden Welt reflektierten alle diese Fachleute über den wachsenden gesellschaftlichen Druck auf die Entwicklung des individuellen Ich als selbständige Einheit und als Rückzugsort in einer Gesellschaft, in der die Großfamilie und die Gemeinschaft immer mehr an Bedeutung verlieren. Eine treffende Metapher für das moderne »individualisierte Dasein« ist das packende Bild eines allein im Weltall dahintreibenden Fötus aus dem Film 2007, Odyssee im Weltall, der in den sechziger Jahren ein großer Kinohit wurde. Der Kinderarzt und Psychiater Donald W. Winnicott beschrieb die Ich-Bezogenheit als entscheidend für die Entwicklung von Individualität.2 Die Psychoanalytikerin und Forscherin Margaret Mahler sprach vom Loslösungs- und Individuationsprozeß, an dessen Ende ein klar umrissenes, eigenständiges Selbst stehe.3 Heinz Kohut begründete eine neue Schule der amerikanischen Psychoanalyse, die er »Psychologie des Selbst« nannte. Er postulierte, daß jedes Leben danach -75-
strebe, ein Gefühl für das Selbst zu entwickeln.4 In jüngerer Zeit führte Daniel Stern Kohuts Theorie weiter und legte ein Schema der Entwicklung vor, demzufolge sich das Leben um vier verschiedene Bereiche des Selbst organisiert.5 Aber im Unterschied zu dem Baby in dem Science-FictionFilm 2007 entwickelt sich das Ich nicht isoliert im luftleeren Raum. Wir erfahren, wer wir sind, indem wir mit den Menschen, die uns am nächsten stehen, Beziehungen aufnehmen, angefangen mit unseren Eltern. Eltern und Kind stehen dabei in einem dialektischen Prozeß: Das Kind muß sich von anderen abgrenzen, um erfolgreich mit ihnen in Beziehung treten zu können. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die eine Seite dieses dialektischen Prozesses (die Abgrenzung zu anderen) und damit die persönlichen Grenzen besonders betont. Fachleute und Laien sprachen von den Grenzen zwischen dem Ich und den anderen, zwischen Eltern und Kind, zwischen Realität und Phantasie. Es wurde allgemeiner Sprachgebrauch, einem nahestehenden Menschen zu sagen: »Ich brauche meinen Freiraum.« In unserer Gesellschaft herrschte die Angst, durch die Verletzung der persönlichen Grenzen würde das eigene Ich erstickt oder ausgelöscht. Die Leute reagierten leicht gereizt, wenn es darum ging, sich von anderen abzugrenzen - was nicht immer so einfach war. Diese Gereiztheit ließ das Pendel zurückschwingen. In den späten sechziger Jahren stieg die Scheidungsrate in den Vereinigten Staaten sprunghaft an, und die Peter-PanGeneration betrachtete mit Skepsis die möglichen Fallstricke, die in einer festen Beziehung lauerten. Aber bald erkannten sie, daß die einzige Alternative die Einsamkeit war. Wenn man vor festen Beziehungen immer nur davonläuft und stets darauf bedacht ist, daß niemand in den eigenen privaten Freiraum eindringt, wird man niemals persönliche Beziehungen aufbauen können und wird sich isoliert und leer fühlen. Die Angst vor -76-
Beziehungslosigkeit wurde genauso groß wie die Angst, seine Individualität zu verlieren. Heute, in unserer Zeit, müssen wir feststellen, daß die Erwachsenen in dem Alter, wenn die Entscheidung für ein Kind ansteht, in einen Dauerkonflikt geraten: Auf der einen Seite sind sie bemüht, intensive Beziehungen aufzubauen, auf der anderen Seite sind sie darauf bedacht, ihre Individualität zu schützen. Dies bezeichnet die Psychoanalytikerin Jessica Benjamin in ihrem Buch Die Fesseln der Liebe als Spannung zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung - eine Dialektik im Entwicklungsprozeß, die wir, so meint sie, alle zu bewältigen haben. Wir möchten, daß unser Ich anerkannt wird, und wir möchten andere anerkennen; allerdings wollen wir, nur um akzeptiert zu werden, nicht hinnehmen, daß unsere eigene Individualität ausgelöscht wird.6 Auch unsere Beziehung zu unseren Kindern ist von diesem unserem Konflikt betroffen. Spiegelbilder Die meisten Eltern heute sind sich nicht bewußt, daß es mit der Geburt eines Kindes zum Konflikt zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und denen des Babys kommt. Wie Generationen von Eltern vor ihnen schwärmen sie voller Glück von der unkomplizierten Liebe zu ihrem Kind. Eine junge Mutter sagt: »Unsere einzige Aufgabe in der Welt besteht darin, dieses zarte und knuddelige süße, kleine Baby im Arm zu halten, und es ist so ein wunderbares Gefühl, wie es sich an mich anschmiegt, wenn ich es stille. Es ist das Gefühl einer Verbundenheit, die man sich sein Leben lang erträumt hat. Ein Baby bedeutet die Aufhebung der eigenen Grenzen.«7 Das ist zweifellos die Schilderung vollkommenen Mutterglücks; gleichzeitig zeigt sich aber auch, wie sehr diese Mutter in der Beziehung zu ihrem Baby auf sich selbst und ihren eigenen Nutzen bedacht ist. Diese -77-
Mutter attestiert dem Baby besondere Kräfte - sie beziehen sich aber nicht auf das Baby, sondern auf sich selbst, die Mutter: »Das Baby verwandelt alles, alle prosaischnüchternen Erfahrungen, in etwas Magisches.« Hier zeigt sich jene Überbewertung des Babys, auf die Freud hingewiesen hat. Aber statt von den Besonderheiten des Babys schwärmt diese Mutter von der wunderbaren Erfahrung, die das Baby für sie selbst bedeutet. Winnicott widmete sich eingehend der Frage, was Eltern tun können, damit ihr Kind ein gesundes und ganzheitliches Individuum wird, das ein sicheres Gespür für seine Einzigartigkeit hat. Um dieses Ziel zu erreichen, muß die Mutter oder der Vater schon sehr früh als »Spiegel« für das Kind fungieren. Wenn es seiner Mutter oder seinem Vater ins Gesicht schaut, sucht das Baby, und sei es noch so klein, im Blick seiner Eltern, in deren Gesichtsausdruck und Reaktionen nach einer Widerspiegelung seiner selbst. Eltern sollen »widerspiegeln«, was sie in dem Baby sehen, indem sie die Laute des Babys nachahmen, zurücklächeln, wenn es lächelt, und so weiter. Im Verlauf dieses Prozesses beginnt der Säugling ein sicheres Gespür für das zu entwickeln, was er ist; es wird, wie es bei Winnicott heißt, »eine Kontinuität des Seins« in ihm aufgebaut, und die Eigenschaften seines Selbst werden auf natürliche Weise weiterentwickelt. Wenn das Kind größer und reifer wird und ein besseres Gefühl für die Abgrenzung zwischen sich selbst und den anderen entwickelt, ist es nicht mehr so sehr darauf angewiesen, daß seine Eltern als Spiegel fungieren. Dann nimmt es sie verstärkt als eigenständige Individuen wahr. Wenn die einjährige Jasmine aus ihrem Mittagsschlaf erwacht, wartet ihr Vater Tony schon darauf, daß sie anfängt, vor sich hinzusummen, und das summt er dann nach. Es ist ein einfaches Liedchen in E-Moll. Wenn sie nach dem Aufwachen noch schläfrig ist, ändert er seine Taktik; dann wiegt er sie sanft in seinen Armen und murmelt dabei: »Jasmine fällt es heute so -78-
schwer aufzuwachen.« Manchmal, wenn er keine Zeit und andere Sorgen hat, wartet er nicht auf ihre Signale, sondern nimmt sie heraus und wechselt rasch ihre Windel. Aber dabei hat er kein gutes Gefühl; auch Jasmine gefällt das ganz und gar nicht. Doch das passiert selten, denn Tony liegt sehr viel daran, die Zeit, die er mit Jasmine verbringt, von eigenen Problemen und Belastungen so frei wie möglich zu halten. Als Jasmine älter wird, reagiert Tony nicht mehr sofort auf jede Regung seiner Tochter. Aber es gelingt ihm immer, Jasmine zu »spiegeln«, wenn er spürt, daß es wichtig ist, ihr Anerkennung zu geben und ihr kleines Ich zu stärken. Als sie ihm im Alter von vier Jahren mitteilt, sie möchte später einmal Astronautin und Präsidentin werden, antwortet er nicht, daß das für ein kleines Mädchen schrecklich viel auf einmal ist. Er lobt sie aber auch nicht für ihre großartige Phantasie. Vielmehr setzt er sich zu ihr ans Bett und hört ihr aufmerksam zu, wenn sie ihm ihre Träume erzählt. In seinem wohlwollenden Blick und in der Ermunterung, weiterzuerzählen, spiegelt er Jasmines eigene Aufregung. Tonys Verhalten ist vorbildlich für eine gute Spiegelung. Wenn es aber den Eltern - anders als Tony - nicht gelingt, ein Spiegel zu sein, sondern wenn sie dem Kind ihre eigenen Bedürfnisse, Gefühle und Sorgen aufladen, findet das Baby, wenn es seinem Vater oder seiner Mutter ins Gesicht blickt, nicht sich selbst darin gespiegelt, sondern erblickt nur den anderen. Da es aber damit rechnet, daß die Eltern ein Spiegel seiner selbst sind und ihm auf diese Weise helfen zu entdecken, wer es ist, wird es enttäuscht, wenn es nur den anderen erblickt. Dadurch entsteht in ihm das Gefühl, er besitze gar kein eigenes Ich und nur der andere sei real. Um in einer Zeit psychisch zu überleben, in der es von der Fürsorge Erwachsener vollkommen abhängig ist, hat es keine andere Wahl, als sich den Bedürfnissen und Stimmungen seiner Eltern anzupassen. Es kann eigene Bedürfnisse und Stimmungen nicht ausprobieren. In -79-
der Folge wird es sich falsch entwickeln, es wird nach außen hin gute Miene machen, glaubt aber in Wirklichkeit nicht daran, eine echte und authentische Persönlichkeit zu sein, deren Gefühle von innen kommen und die nicht nur auf Druck von außen reagiert.8 Diese alarmierende Erfahrung machen wir auch in der therapeutischen Arbeit mit Kleinkindern und ihren an Depressionen leidenden Eltern. Das Kind, das anfangs lächelt und Laute von sich gibt, wird im Laufe der Zeit immer abwesender und ausdrucksloser, wenn es seine Mutter oder seinen Vater anblickt und keine Reaktion erfährt, sondern nur Abwesenheit anstelle von Aufmerksamkeit, Traurigkeit anstelle einer fröhlichen Reaktion auf sein Lächeln oder die Laute, die es macht. Es gibt keinen Vater und keine Mutter auf der Welt, die nicht gelegentlich ihr Baby mit einer solchen Miene anblicken. Aber wenn dies zu einem gewohnheitsmäßigen Grundmuster wird, bekommen wir Therapeuten Babys zu Gesicht, die noch nicht einmal sprechen können und doch schon ihrem eigenen Daseinsgefühl Gewalt antun, um sich jenem Zerrbild anzugleichen, das ihnen ihre an Depression leidenden Eltern als Spiegel vorhalten. Doch dabei handelt es sich nicht ausschließlich um ein Problem von Eltern, die an Depressionen leiden. Letty war geradezu euphorisch, als ihr erstes Kind zur Welt kam. Sie selbst ist energisch und lebhaft und nimmt die Welt mit Begeisterung und Optimismus wahr. Wie es häufig der Fall ist, hatte ihr kleiner Sohn Drew ein völlig anderes Temperament; er war eher zurückhaltend und schwer für irgend etwas zu begeistern. Wenn er aus seinem Mittagsschlaf erwachte, stürmte seine Mutter herein, holte ihn aus dem Bettchen, sprach mit ihm und schaukelte ihn auf ihren Knien. Oft eilte sie plötzlich herbei, kitzelte den in seinem Laufstall vor sich hindösenden kleinen Sohn am Bauch oder an den Zehen. Schon im Alter von einem -80-
Jahr kapselte er sich regelrecht ab, um die Zudringlichkeiten seiner Mutter abzuwehren. Mit vier äußerte er, er wolle Krankenschwester werden, wenn er groß sei. »Warum möchtest du Krankenschwester werden, wo du doch ein toller Arzt werden könntest?« fragte sie in der Hoffnung, ihn damit auf Gedanken zu bringen, die einem Jungen eher entsprechen, seinen Horizont erweitern und sein Selbstwertgefühl fördern. Er bekam nie die Gelegenheit, von den wunderbaren Dingen zu erzählen, die Krankenschwestern in den Geschichten taten, die seine Kindergärtnerin vorlas, und die er auch tun wollte, wenn er groß war. Leider war es Letty nicht gelungen, ihr Kind gut zu spiegeln. Eine gute Spiegelung erfordert einen behutsamen und geschickten Balanceakt zwischen dem eigenen Selbst und dem anderen: indem man sein ganzes Sein einbringt, aber dabei stets auf das Kind bezogen bleibt. Gerade diese Spiegelfunktion macht heutigen Eltern besonders schwer zu schaffen. Die junge Mutter, von der oben die Rede war und die von der Liebe zu ihrem Baby erzählt, betrachtet ihr Kind und ist dabei voll Entzücken über sich selbst statt über ihr Kind. Das verheißt nichts Gutes und könnte der Auslöser dafür sein, daß der Spiegel einen Sprung bekommt. Es kann auch dazu fuhren, daß das Kind der Spiegel für seine Mutter wird und nicht umgekehrt. Statt dem Kind eine Widerspiegelung seiner selbst zu ermöglichen, ist die Mutter bestrebt, sich selbst in ihrem Kind wiederzufinden. Als eine Generation, die darum kämpft herauszufinden, ob wir selbst oder das Baby im Zentrum stehen, sind wir auch für solche Umkehrungen anfällig. Wir sind aber keineswegs die erste Generation, die mit diesem Problem zu kämpfen hat. Eine Erfahrung, die ich selbst in der High-School machte, bleibt mir unvergeßlich. Ich machte bei einer Theateraufführung mit. Eine meiner Mitspielerinnen, die ziemlich gut tanzen konnte, war selbst die Tochter einer Tänzerin. Ihre Mutter erschien zu jeder Probe. Nach der -81-
Generalprobe, direkt nach dem Auftritt ihrer Tochter, verlor diese Mutter vollkommen die Beherrschung. Sie lief durch den Zuschauerraum auf die Bühne zu und rief selig: »Sie ist genau wie ich, genau wie ich.« Wir standen alle mit offenem Mund da und schauten sie erstaunt an - nicht weil eine Mutter solche Gefühle hatte (denn ich glaube, daß viele Mutter so empfinden), sondern weil sie ihre Gefühle so offen zeigte. Der mütterliche Übereifer, der hier ungehemmt zum Ausdruck kam, und der unverhohlene Wunsch nach einem perfekten Ebenbild waren für mich eine erschütternde Erfahrung. Schlimm waren die Folgen, denn meine Freundin bekam während des Studiums einen »Nervenzusammenbruch«. Michael, der elfjährige Sohn geschiedener Eltern, gibt ein Buch mit Kurzgeschichten zurück, das ihm sein Vater gekauft hat. Bei einem Einkaufsbummel mit seiner Mutter hat er ein anderes Buch gefunden, das umfangreicher ist und eher seinen Vorstellungen entspricht. Er sagt zur Mutter, er befürchte, der Vater könne ärgerlich werden, weil er das getan habe. Die Mutter versichert ihm, daß sein Vater zwar manchmal explodiere, aber diesmal bestimmt nicht ärgerlich werde. Im Gegenteil, er werde sich darüber freuen, weil es zeige, daß Michael ein Büchernarr sei wie sein Vater. Michael ist skeptisch, und zitternd vor Angst ruft er seinen Vater an, um ihm mitzuteilen, daß er das Buch zurückgegeben hat, und zu erklären, weshalb. Freudestrahlend kommt er vom Telefon herein. Genau wie seine Mutter vorhergesagt hat, ist es seinem Vater nur recht. Er meinte nur: »Gut, du bist also ein Büchernarr genau wie ich.« Für Michael war das im Augenblick zwar eine Erleichterung, aber auf lange Sicht könnte es ihn in der Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit gefährden, wenn er merkt, daß er für Papa ein Spiegel sein muß, um seine Gunst zu gewinnen und zu vermeiden, daß er ärgerlich wird. Bei diesen Eltern, die eine Generation auseinanderliegen, hat sich die Spiegelung umgekehrt. In beiden Fällen meinen die -82-
Eltern, das Kind sei ein genaues Spiegelbild dessen, was sie selbst zu sein glauben; in einem Fall ist es der Vater, der sich als Büchernarr sieht, im anderen Fall die Mutter, die früher einmal Tänzerin war. Die überschwengliche Freude des Vaters über einen Sohn, der ganz der Vater ist (Michaels Geschichte), ist kein Ausnahmephänomen, sondern zeichnet ein typisches Bild heutigen Elternseins. Umkehrspiegelungen sind heute so normal geworden, daß es schon niemandem mehr auffällt, sondern als ganz gewöhnlicher Aspekt einer Eltern-Kind-Beziehung betrachtet wird. Sie wecken nicht einmal mehr Erstaunen, wie es mir im Fall der Mutter meiner Freundin erging. Mitte der neunziger Jahre lesen wir im Untertitel einer Kolumne der Elternzeitschrift Parenting: »Ein Vater sucht im Gesicht seines Neugeborenen sich selbst«9. Und eine Mutter beschreibt ihre Beziehung zu ihrer kleinen Tochter mit unverhohlenem Stolz: »Allison erweist mir vielleicht nicht den Respekt, den ich meiner Mutter erwiesen habe, aber ich habe nie wie meine Eltern sein wollen. Und Allison interessiert sich heute schon für den Umweltschutz genau wie ich« (Hervorhebung von mir).10 »Genau wie ich« bedeutet genau dasselbe wie »Sieh mir in die Augen, und du wirst darin dich selbst gespiegelt finden.« Spiegelungsprobleme gibt es auch dann, wenn Eltern auf ihre Kinder nicht nur das projizieren, was sie sind, sondern das, was sie gerne wären, wenn sie noch einmal die Möglichkeit dazu hätten. Im Jahr 1993 erschien im New York Times Magazine auf der ersten Seite ein provozierender Artikel von Lucinda Franks, in dem sie »Kleine große Leute« beschrieb, den »kleinen Erwachsenen« als die eine Seite des Phänomens des »KindErwachsenen«. Franks beschrieb die Gründe dafür, daß Eltern eine Generation von übergescheiten, anspruchsvollen Kindern erziehen, die manchmal ziemlich frühreif sind. Und sie meint, daß wir, die Elterngeneration, die in der Zeit des Vietnamkriegs aufgewachsen ist, die Fehler unserer Eltern nicht wiederholen -83-
und »die Kinder erziehen wollen, die wir selbst gerne gewesen wären«. Es muß eine furchtbare Belastung sein, die Person werden zu müssen, die die Eltern selbst gern geworden wären. Als Kind wollte ich unbedingt ein Musikinstrument erlernen. Ich flehte meine Eltern an, aber sie lehnten ab, weil ich schon Tanzstunden nahm. Wie viele andere Kinder habe auch ich mir geschworen, dies später meinen eigenen Kindern nicht anzutun. Ich wurde erwachsen. Ich bekam eigene Kinder. Und ich schickte sie in den Musikunterricht (was mir versagt geblieben war). Nur: Meine Kinder haßten Musikunterricht. Es war nie ihr eigener Wunsch, ein Instrument zu erlernen. Es ist leicht, gute Ratschläge zu erteilen, aber wenn ich noch einmal die Wahl hätte, würde ich mir sehr genau Rechenschaft darüber ablegen, warum ich unbedingt will, daß meine Kinder Musikunterricht nehmen. Wenn ich damals gewußt hätte, welche Gefahren die Umkehrspiegelung mit sich bringt, wäre mir klar geworden, daß ich nur die Enttäuschungen meiner eigenen Kindheit wiedergutmachen wollte und dabei die Individualität meines Sohnes und meiner Tochter ganz aus dem Blick verlor. Ich habe nur meine eigenen Bedürfnisse in sie hineinprojiziert. Ich glaube, in diesem Fall hätte allein schon die Erforschung meiner tieferen Beweggründe ausgereicht, um mich zu bremsen. Denn was ich tat, hat die Entwicklung meiner Kinder eher behindert als gefördert, zumindest was die Musik betrifft. Wenn ich mich hätte zurücknehmen können, hätten sie vielleicht sogar von sich aus ein Instrument lernen wollen dann, weil sie selbst Lust dazu hatten. Du bist mein Sonnenschein - manchmal Ein Phänomen, das mit der Umkehrspiegelung einhergeht, ist der ständig wechselnde Stellenwert des Kindes im Leben seiner -84-
Eltern. Eine Kollegin erzählte mir von einer 52jährigen Mutter, die nahezu alles, was ihre fünfjährige Adoptivtochter tut, mit der Videokamera filmt. In ihrem Computer hat sie das Auf und Ab, die Höhen und Tiefen ihres Kindes akribisch genau dokumentiert. Unter Berufung auf die Autoren des Buches The Too Precious Child könnten wir sagen, daß diese Mutter in der Tat einen kostbaren Menschen geschaffen hat, einen Menschen, der »allzu wichtig, allzu besonders ist und allzusehr im Mittelpunkt der elterlichen Aufmerksamkeit steht«.12 Aber dann erfahren wir, daß sich diese Mutter drei Wochen oder länger von ihrem Kind trennt, um ihre eigene Mutter in einem anderen Bundesstaat zu besuchen. Als die Tochter von meiner Kollegin aufgefordert wurde, drei Wünsche zu äußern, sagte sie, sie habe nur einen: »Ich möchte bei meiner Mama sein. Sie fehlt mir so.« Diese Mutter benötigt Hilfe, um die Widersprüche und Extreme in ihrem Verhalten und in ihrer Einstellung gegenüber ihrer Tochter zu erkennen; einmal dreht sich alles viel zu sehr, ein andermal nicht genügend um das Kind. Sinnvoller wäre ein Mittelweg: Die Mutter sollte häufiger zu Hause sein, gleichzeitig aber ihre Tochter weniger in den Himmel heben. Hier zeigt sich, daß es im Fall des überbewerteten Kindes eine Kehrseite der Medaille gibt. Man zeichnet jeden seiner Schritte auf Video auf, überläßt es dann aber mehrere Wochen lang sich selbst. Väter kümmern sich nicht um ihre Kinder oder lassen sie nach einer Scheidung im Stich. Das überbewertete und überschätzte Kind ist gleichzeitig das übergangene Kind. Dies ist ein wichtiger Aspekt beim Phänomen des KindErwachsenen. Die Eltern betrachten das Kind einmal als süßes Engelchen und dann wieder als kleinen Erwachsenen. Sie sind zwischen der Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse und den Bedürfnissen ihres Kindes hin- und hergerissen. In diesem unaufhörlichen Hin und Her wandelt sich ständig auch die Bedeutung, die das Kind für sie besitzt. Wirtschaftlich gesehen sind Kinder heutzutage eher eine -85-
Belastung als ein Aktivposten. Sie tragen nichts mehr zum Familieneinkommen bei wie noch im 19. Jahrhundert. Sie sind nicht mehr wie in früheren Zeiten eine Altersabsicherung für die Eltern. Im Gegenteil: Sie kosten ihre Eltern eine Menge Geld. In den Vereinigten Staaten kostet die Erziehung eines Kindes schätzungsweise 171 000 bis 265 000 Dollar.13 Im Gegensatz zu anderen Industrieländern gewährt die Regierung wenig oder gar keine Unterstützung. Vor hundert Jahren hatten Ehepaare viele Kinder, die selbstverständlich mit anpacken konnten. Heute zögern die meisten Eltern, mehr als zwei Kinder in die Welt zu setzen, zum einen, weil es ihnen an der nötigen Zeit fehlt, sich um mehr Kinder zu kümmern, zum anderen, weil sie sich ein drittes oder viertes Kind nicht leisten können.14 Heute, da Kinder für ihre Familie keinen wirtschaftlichen Nutzen mehr haben, müssen wir die Bedeutung eines Kindes anders fassen. Nehmen wir zunächst einmal an, daß Menschen schon aus stammesgeschichtlichen Gründen bestrebt sind, sich fortzupflanzen und zu vermehren, so erscheint es auch psychologisch einleuchtend, daß wir diesem Bestreben Wert und Bedeutung zuschreiben. Kinder sind heute nicht mehr unvermeidlich, sondern Wunschkinder. Daher muß die Entscheidung für ein Kind und die damit verbundene finanzielle Belastung für die Familie besser begründet werden insbesondere in einer Gesellschaft, für die Geld ein Fetisch ist und in der Investitionen lohnen müssen. Der triftigste Grund (der menschliche Fortpflanzungstrieb, die Weitergabe des eigenen Namens oder der Erbmasse und der Beitrag für die nächste Generation) reicht allein nicht aus. Der Wert eines Kindes zeigt sich ganz unmittelbar in der Liebe, Freude und inneren Verbundenheit, die es uns schenkt. Als langfristige Investition betrachtet, bringen Kinder finanziell nichts ein. Was wir indes zurückbekommen, ist ein erfolgreiches Kind, das sich in der Welt einen Namen macht und in seinem Leben den Eltern etwas von dem zurückspiegelt, was sie selbst -86-
sozial und psychisch eingesetzt haben. Aber wie läßt sich das auf ein Kind übertragen, das zu Hause ein Videostar ist, dann aber von der Mutter lange Zeit alleingelassen wird und sie schmerzlich vermißt? Eine Autorin und Mutter beschreibt den ersten Aspekt dieses Phänomens folgendermaßen: »Meine Generation... hat dem Kult der Kinderanbetung eine neue Dimension verliehen. Als ich schwanger war, hat sich eine Freundin über mich lustig gemacht, weil ich meine Wohnung auf den Kopf gestellt und ein Kinderbett gekauft habe, das groß genug war für drei. ›Man könnte meinen, du bringt einen Cäsar zur Welt.‹ « Diese Mutter erzählt weiter, daß sie die Zeichnungen ihres vierjährigen Joshua überall im Haus aufgehängt hat und der Sohn daraufhin zu ihr sagte: ›Mama, man könnte meinen, unser Haus wäre Joshuas Metropolitan Museum!«*15 Sie ist sich bewußt, daß sie in ihrem Übereifer ihr Kind zum Mittelpunkt des Universums gemacht hat. Statistisch gesehen, verbringen Eltern in den Vereinigten Staaten heute deutlich weniger Zeit mit ihren Kindern als vor 2 5 Jahren. Wenn das auch auf diese Mutter zutrifft, hat sie wahrscheinlich weitaus weniger Zeit (bis zu 40 Prozent weniger) für ihren kleinen Cäsar als ihre Eltern für sie, als sie klein war. Und sie macht wahrscheinlich kürzer Ferien mit ihrem Kind und ißt seltener zusammen mit ihm zu Abend als ihre eigenen Eltern mit ihr, als sie ein Kind war, und das nicht, weil sie sich anderweitig amüsiert, sondern weil sie und ihr Mann außer Haus arbeiten. Sie arbeitet, um jene sechsstellige Summe zu verdienen, die man heute braucht, um in unserer Gesellschaft ein Kind großzuziehen. Diese Mutter hat sich - wie viele ihrer Altersgenossinnen vielleicht bewußt dafür entschieden, ein Kind zu haben, aber jetzt wird ihr plötzlich schmerzlich klar, daß ihr wenig Zeit bleibt, das Kind zu erziehen. Es dreht sich also nicht mehr alles bedingungslos um das Kind. Die Eltern versuchen dafür einen Ausgleich zu -87-
schaffen, indem sie das Kind vergöttern. Joshua und seine Altersgenossen haben dafür ebenfalls einen Preis zu bezahlen: Sie werden einmal als Superstar behandelt, und ein andermal sitzen sie mutterseelenallein zu Hause. Das Kind steht einmal im Rampenlicht, ein andermal ganz am Rand. Eine Mutter erzählt, daß sie rund 10000 Fotos von ihrem vierjährigen Kind besitzt: »Wenn jemand wissen will, was dann und dann mit meinem Kind los war, kann ich ein entsprechendes Foto zeigen«. Wie im Fall der Mutter mit der Videokamera und den umfangreichen Computerausdrucken ist eine derart obsessive Konzentration auf das Kind mit Sicherheit unnatürlich und ungesund. Aber dann erfahren wir, daß nicht die Mutter, sondern diverse Babysitter auf Bitten der Mutter alle diese Aufnahmen gemacht haben. Auf diese Weise macht es die berufstätige Mutter wett, daß sie so wenig Zeit für das Kind hat.16 Wenn sie die ersten Schritte ihres Kindes versäumt hat, so hat sie zumindest filmisch alles dokumentiert. Das Kind ist ihr lieb und teuer, aber allzuoft sieht sie es nur durch die Kameralinse. Das Kind ist der Sonnenschein der Eltern - und das Kind ist kaum mehr als ein Schatten. Das ist eine verheerende Kombination. Eltern glauben, daß ihr Kind etwas Kostbares ist, aber sie haben nur selten mit dem kostbaren Kind zu tun, für das sie sich bewußt entschieden haben. Vielleicht steigt das Kind in seinem Wert, je seltener die Eltern mit ihm zusammen sind. Anna Quindlen, Kolumnistin der New York Times, bringt das Dilemma der Eltern treffend zum Ausdruck: »Da ich mich nun einmal entschieden habe, einen Großteil des Tages nicht bei meinem Kind zu sein, muß ich mich notgedrungen mit ein paar schlichten Tatsachen abfinden. Eine davon ist, daß mir manches Schöne entgeht. Oft ist es bestimmt sehr lustig, mein Kind stellt Fragen, und bedeutende Augenblicke vergehen, ohne daß ich sie miterlebe... -88-
Manchmal habe ich das Gefühl, daß ich mich nicht zu sehr, sondern zuwenig anstrenge, und, offengestanden, von der Perspektive des Kindes aus gesehen, weiß ich nicht, was schlimmer ist.«17 Beides ist schlimm, ob die Eltern sich nun bewußt dafür entscheiden, außer Haus zu arbeiten, oder ob sie dazu gezwungen sind, weil sie Geld verdienen müssen. Wie kommt es dazu, daß sie sich einerseits zu sehr und andererseits nicht genügend anstrengen? Wenn dieser Mutter ihre Kinder nicht soviel bedeuteten, würde sie sich nicht so fieberhaft bemühen, ihre Abwesenheit dadurch auszugleichen, daß sie möglichst viele wertvolle Augenblicke mit ihren Kindern zusammen erlebt. Es wäre ihr gleichgültig. Aber wenn ihr an den Kindern wirklich so viel läge, hätte sie dann nicht eine Möglichkeit finden können, mehr Zeit mit ihnen zu verbringen? Für das Baby oder für mich? Ein Vater flitzt mit seinem Töchterchen vorbei, Schweiß steht ihm auf der Stirn, er ist hochrot im Gesicht und ganz außer Atem. Ist etwas passiert? Nein, im Gegenteil. Er joggt mit seiner Kleinen, die in ihrem »Jogger« sicher angeschnallt ist, einem großen, dreirädrigen Kinderwagen, der eigens dafür konstruiert ist, daß Mama oder Papa ihn beim Joggen vor sich herschieben. Warum nicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen? Das Baby ist an der frischen Luft, und gleichzeitig betätigt man sich sportlich - in einem mit Arbeit überlasteten Alltag, der keine Muße erlaubt! Für Papa oder Mama mag das eine tolle Sache sein, wenn es gelingt, Joggen und Kinderwagenschieben miteinander zu verbinden. Aber ich frage mich, was es für das Kind bedeutet, die Welt in Rekordgeschwindigkeit an sich vorbeifliegen zu sehen - in einer Phase des Lebens, an die wir -89-
wehmütig als eine unwiederbringlich verlorene Zeit träumerischer Erkundungen und geruhsamen, streßfreien Spiels zurückdenken. Babys haben - wie königliche Hoheiten - ein gemächliches Tempo der Fortbewegung. Die teuren Jogger-Kinderwagen entsprechen diesem Tempo kaum. Das Baby wird gehetzt. Trotzdem verkaufen sich diese Sportkinderwagen ungewöhnlich gut, und die Käufer sind liebevolle, fürsorgliche Eltern. Tausende junger Mütter und Väter überall im Land lassen ihre Kinder nachts bei sich im Bett schlafen - womöglich dieselben Eltern, die tagsüber ihre Kinder im Sportkinderwagen joggend durch die Gegend hetzen. Der gute Ratschlag lautet aber: Legen Sie Ihr Kind in sein eigenes Bett, von Anfang an. Hören wir dazu den amerikanischen Doyen der Kindererziehung, Benjamin Spock: »Ich meine, daß ein Kind, das nachts ins Bett der Eltern krabbelt, umgehend wieder in sein eigenes Bett getragen werden sollte - und dies so häufig wie nötig.«18 Traditionelle Gesellschaften betrachten es als barbarisch, einen Säugling oder ein Kind in seinen Fähigkeiten zu überfordern und ihm eine vorzeitige Unabhängigkeit aufzuzwingen, die ihm nur schaden kann.19 Und auch viele moderne Eltern sehen das so; sie opfern das Ehebett und machen es zur Schlafstätte für die ganze Familie, obwohl ihnen ihr Kinderarzt oder das Handbuch der Kindererziehung etwas anderes empfehlen. Ein solches Opfer ist leicht ein Vorwand, um sexuelle Intimität zu vermeiden. In einer Kultur, in der sexuelles Verlangen nach der Geburt eines Kindes offenbar rapide schwindet, ist ein Kind im Ehebett gewiß eine bessere Ausrede als das ewige »Heute nicht, mein Schatz, ich habe Kopfschmerzen«. Das Baby im eigenen Bett schlafen zu lassen kann auch sehr praktisch sein, denn dann muß man nachts nicht aufstehen, um es zu füttern. Erschöpft von einem Tagesplan, der zu dicht gedrängt ist, um den Anforderungen von Beruf und -90-
Familie gerecht zu werden, fallen Eltern abends oft todmüde ins Bett. Statt immer wieder aufstehen zu müssen, um das Baby im Zimmer nebenan zu versorgen, ist es überaus bequem, das Kleine zwischen Mama und Papa ins Ehebett zu legen. Dadurch gewinnt man wertvolle Minuten des Schlafs - eine große Verlockung für überlastete Eltern. Das Baby ins eigene Bett zu legen kann aber auch den Anspruch ausdrücken, perfekte Eltern sein zu wollen: Denn Väter und Mütter sind fest davon überzeugt, daß dies für ihr Baby am besten sei und ein frühkindliches Trauma verhindere. Ein Paar ist vielleicht felsenfest davon überzeugt, daß es für sein Baby besser ist, wenn es sich über Dr. Spocks Ratschlag hinwegsetzt und sein Baby im Ehebett schlafen läßt. Die tieferen Beweggründe aber könnten durchaus im Wunsch der Eltern nach körperlicher Wärme und Nähe zu suchen sein. Ein Paar hat sich beispielsweise bewußt dafür entschieden, den Bedürfnissen ihres Kindes nach Schutz und Geborgenheit entgegenzukommen, statt es vorzeitig zur Selbständigkeit zu erziehen. Im Grunde aber wollen sie nur ihr schlechtes Gewissen beruhigen, das sich melden würde, wenn sie ihrem Kind alle Wünsche versagten. Sie reden sich ein oder versichern ihrem Kinderarzt, daß sie ihr Kind deshalb in ihr eigenes Bett bringen, weil sie zuerst an ihr Kind denken. Aber wenn sie sich Rechenschaft ablegen würden, würden sie erkennen, daß sie es deshalb tun, weil sie für alles andere einfach zu erschöpft sind. Hier handelt es sich um einen Konflikt zwischen bewußtem Denken, das den Vorteil des Kindes in den Vordergrund stellt, und unbewußten Motiven, die unseren eigenen Bedürfnissen Rechnung tragen. Fast jede soziale Interaktion besteht darin, daß man etwas gleichzeitig für sich selbst und für einen anderen tut. Wir sitzen stundenlang am Bett unseres kranken Kindes, weil wir unser Kind lieben und wissen, daß es uns ganz besonders dann braucht, wenn es krank ist. Gleichzeitig aber tun wir es, weil wir uns dann als gute Eltern fühlen. Zwischen den beiden -91-
Handlungsmotiven besteht kein Widerspruch, vielmehr ergänzen sie einander in idealer Weise. Die Zwickmühle heute besteht darin, daß sich viele unserer Erfahrungen als Eltern nicht mehr so ideal ergänzen. Wir möchten so gern gute Väter und Mütter sein, aber die auf das eigene Ich und die auf andere gerichteten Handlungsmotive widersprechen einander. Das macht uns enormes Kopfzerbrechen und führt zu Konflikten zwischen Unbewußtem und Bewußtsein. Betrachten wir noch einmal das Beispiel der Mütter und Väter, die ihre Kinder im Ehebett schlafen lassen. Judys und Marks Tochter Cecilia ist jetzt drei Jahre alt und schläft immer noch meistens neben Mama oder Papa oder zwischen beiden. Oft legt sie sich abends ins eigene Bett, wacht aber auf, wenn sie schlecht träumt, und geht dann ins elterliche Bett. Judy findet nichts dabei, solange es ihrem Kind guttut, aber ihr Mann Mark ist gar nicht begeistert davon. Da die Eltern immer seltener miteinander schlafen und ihre Nachtruhe ständig von ihrer Tochter gestört wird, sucht er psychologische Beratung. Judy und Mark meinen, sie seien sich in den Grundsätzen der Erziehung ihrer Tochter uneins. Aber im Lauf unserer Gespräche erfahre ich, daß Mark vor allem darüber beunruhigt ist, daß es zwischen Judy und der kleinen Cecilia keine klaren Grenzen gibt. Er glaubt nicht, daß Judy wirklich überzeugt ist, es sei besser, wenn Cecilia im Ehebett schläft. Er meint, sie möchte eine Mutter sein, die ihrem Kind nichts abschlägt. Judy kontert, indem sie Mark vorwirft, er denke immer zuerst an sich. Sie wirft ihm vor, er wolle Cecilia nur deshalb in ihr Bett zurückschicken, weil er nachts seine Ruhe und die Möglichkeit haben möchte, mit seiner Frau zu schlafen; nur nach außen hin tue er so, als ginge es ihm um Cecilias Selbständigkeit. Er hätte doch wissen müssen, daß man eine Zeitlang auf Sex verzichten muß, wenn man Kinder hat. Judy und Mark haben Schwierigkeiten, die eigenen und Cecilias Bedürfnisse in Einklang zu bringen, weichen dem -92-
Problem aber aus, indem sie sich gegenseitig Vorwürfe machen. Um sie aus diesem Dilemma herauszuführen, mußte ich sie zunächst bitten, damit aufzuhören, sich gegenseitig mit Vorwürfen zu überhäufen. Ich forderte sie auf, sich statt dessen auf sich selbst zu konzentrieren und frei zu äußern, wie sie sich fühlten, wenn Cecilia zu ihnen ins Bett kam. j Dann führte ich Einzelgespräche mit ihnen, um herauszufinden, wann sie nur ihre eigenen Bedürfnisse im Blick hatten und wann sie die Entwicklung, die Bedürfnisse und Erfahrungen ihrer Tochter in den Mittelpunkt stellten. In gewisser Weise ist diese Unterscheidung so schwierig wie die Trennung der Farbe Grün in die Grundfarben Blau und Gelb: Die Farben scheinen immer wieder ineinanderzufließen. Meine Aufgabe bestand darin, sie zu trennen. Judy und Mark hatten tatsächlich unterschiedliche Auffassungen über Kindererziehung. Dies lag zum einen an der unterschiedlichen kulturellen Herkunft der beiden. Wichtiger für ihre Konflikte aber waren ihre eigenen ängstlichen Bemühungen, ihre eigenen Bedürfnissen und die des Kindes miteinander zu vereinbaren und gleichzeitig voneinander zu unterscheiden. Als sie damit aufhörten, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen, und begannen, sich ihrer eigenen Ängste bewußt zu werden, stellte sich heraus, daß Mark recht hatte. Judy hatte das Bedürfnis, ihrem Kind keinen Wunsch abzuschlagen - aus Angst, von Cecilia abgelehnt zu werden. Dieses Bedürfnis machte es ihr unmöglich, ihr Kind ins eigene Bett zurückzuschicken, obwohl sie doch den verzweifelten Wunsch verspürte, ungestört zu schlafen. Doch auch Judy hatte recht. Mark zeigte manchmal wenig Geduld mit Cecilia und sagte, sie solle »nicht aus der Reihe tanzen« und sich dem Leben ihrer Eltern anpassen, wodurch Cecilia völlig überfordert war. In einem waren sich Judy und Mark allerdings einig: Sie wollten das Beste für ihr Kind. Durch die »Trennung der Farben« fanden Judy und Mark eine Antwort auf die Frage: -93-
»Für wen tue ich das, für mich oder für mein Baby?« Dann erarbeiteten wir gemeinsam praktische Strategien für die Nacht, um Cecilia zu beruhigen, wenn sie aufwachte, und sie in ihr eigenes Bett zurückzubringen. Da Cecilia von Geburt an einen unruhigen Schlaf hatte und oft aufwachte (was eher auf Veranlagung beruhte als auf dem Verhalten der Eltern), mußte insbesondere Mark mehr Verständnis für Cecilias entwicklungsbedingte Schlafstörungen aufbringen. Das bedeutete möglicherweise, daß die Eltern noch häufiger - wenn auch nicht im eigenen Bett - in ihrem Schlaf gestört wurden. Und Judy mußte sich mit ihrem Wunsch auseinandersetzen, eine perfekte Mutter zu sein, die nicht nein sagen konnte. Schließlich unterstützte sie das Kind, damit es die positive Erfahrung machen konnte, nachts geborgen und sicher in seinem eigenen Bett zu schlafen. Wem nützt es? In ihrem Balanceakt zwischen dem eigenen Ich und dem anderen ertappen sich Eltern häufig dabei, daß sie gar nicht darüber nachdenken, was für ihr Kind das Beste ist, sondern ausrechnen, wieviel sie ihrem Kind zumuten können. »Wenn dreimal pro Woche abends eine Babysitterin kommt, während ich nach der Arbeit die Abendschule besuche, ist das für meine Tochter nicht weiter tragisch. Sie mag die Babysitterin.« »Zwischen drei und sechs Uhr abends bei verschlossener Tür allein zu Hause zu bleiben ist für meinen Sohn nicht so schrecklich schlimm. Er kennt die Notrufhummer.« Um ihre Bedenken zu zerstreuen, daß sie nicht das Beste, sondern das Zumutbare für ihr Kind wählen, suchen die Eltern oft nach einer rationalen Begründung, obwohl ein ganz anderes Motiv dahintersteckt. Eine Mutter mit drei Kindern meint, es sei förderlich für ihre Kinder, daß sie und ihr Mann berufstätig sind. -94-
Vom Wall Street Journal befragt, sagt sie: »Ich glaube, daß Kinder eine gewisse Distanz zu ihren Eltern brauchen. Es ist wichtig, daß Kinder Fehler machen, diese Fehler zugeben und aus ihnen lernen. Positiv an meiner Berufstätigkeit ist, glaube ich, daß die Kinder lernen, selbständig zu werden, und mit den Entscheidungen zufrieden sind, die sie treffen.« Aber die Kinder sagen etwas ganz anderes: »Manchmal möchten wir mit ihr reden, wenn wir von der Schule heimkommen, und dann nervt es, daß wir nur mit ihr telefonieren können. Obwohl sie ganz in der Nähe arbeitet, kommt sie nur schwer weg. Wenn wir krank wären oder so, würde sie uns natürlich abholen, aber das wäre recht schwierig.« Ihre andere Töchter meint: »Ich erinnere mich, wenn du mittags nach Hause gekommen bist, warst du zehn Minuten da und bist dann gleich wieder zur Arbeit gegangen.« Diese Mutter behauptet, sie und ihr Mann hätten »Wert darauf gelegt, den Kindern zu zeigen, daß sie nicht der Karriere geopfert werden«. Doch die Kinder sagen, daß sie zu kurz gekommen sind. Die Mutter beharrt darauf, daß es richtig war, was sie getan hat. Es fällt ihr schwer zuzugeben, daß sie auch sich selbst an die erste Stelle gesetzt hat. In Wahrheit war es ihr ungeheuer wichtig, Karriere zu machen (was bewundernswert und durchaus zu rechtfertigen ist); ihre Kinder haben davon profitiert, aber auch darunter gelitten, daß Vater und Mutter berufstätig und selten zu Hause waren.20 Andere Eltern sind sich sehr wohl bewußt, daß sie in mancher Hinsicht ihre Kinder nicht an die erste Stelle setzen, aber sie haben das Gefühl, daß ihnen nichts anderes übrigbleibt. Sie arbeiten viele Stunden am Tag außer Haus, nicht weil sie Karriere machen wollen, sondern aus finanzieller Not. Oft sind sie gezwungen, ihre Kinder unter nicht gerade idealen Bedingungen aufwachsen zu lassen. Mehrere große Unternehmen haben für Eltern, die in Nachtschicht arbeiten, eine eigene Kinderbetreuung geschaffen. Wenn die Eltern mit ihrer Schicht anfangen, bringen sie ihre -95-
Kinder in die Betreuungsstätte. In dieser Einrichtung werden Kinder im Vorschulalter abends möglichst lange wachgehalten, damit sie am nächsten Morgen lange schlafen und ihre Eltern nach der Nachtschicht zu ihrem Schlaf kommen. »Da Firmen, die Nachtschicht- oder Rund-um-die-Uhr-Betrieb haben, ihren Beschäftigten eine Kinderbetreuung anbieten, damit sie stabile Leistungen erbringen«, schreibt ein Journalist, »werden immer mehr Kinder in solchen Einrichtungen zu einem unruhigen und unregelmäßigen Schlaf gezwungen, nur damit die Eltern weiterhin in Nachtschicht arbeiten können.« Die Eltern, die dazu befragt wurden, waren durchaus nicht glücklich darüber, daß nicht sie, sondern die Kindergärtnerinnen ihre Kinder allabendlich ins Bett brachten, aber sie hatten keine andere Wahl. Die älteren Kinder beklagten sich darüber, wie anstrengend es ist, 24 Stunden am Tag mit anderen Kindern zusammen zu sein und nach der Schule auch noch abends von Fremden beaufsichtigt zu werden. Die Mutter eines Vierjährigen drückte das so aus: »Das ist doch kein Leben. Es ist so schön, wenn man sein Kind baden, ihm Geschichten vorlesen und es ins Bett bringen kann. Das ist etwas ganz Besonderes. Ich vermisse es, meine Kinder bemuttern zu können.«21 Diese Eltern sind zumindest ehrlicher als die Karriereeltern, die nur von den Vorteilen sprechen, die ihre Berufstätigkeit und die Fremdbetreuung ihren Kindern bringt. Sie wissen, daß diese Regelung ihren Kindern viel abverlangt, aber es bleibt ihnen nichts anderes übrig, wenn sie ihren Arbeitsplatz nicht verlieren wollen. Sie machen sich nichts vor. Aber auch sie müssen mit den Schuldgefühlen und der Angst fertigwerden, daß sie sich wichtiger nehmen als ihr Kind. Dieser Konflikt ist für Mütter besonders bitter, denn im Unterschied zu Vätern bestand ihre traditionelle Aufgabe von jeher darin, die Kinder an die erste Stelle zu setzen. Mit der Zeit werden auch sie sich gedrängt fühlen, sich einzureden, wie positiv eine solche Regelung ist. Wir wissen sehr genau, daß es unsere Aufgabe als Eltern ist, -96-
die Bedürfnisse unserer Kinder wichtiger zu nehmen als unsere eigenen und auf die Gedanken und Gefühle unserer Kinder Rücksicht zu nehmen. Wir müssen uns klarmachen, daß ein Kind nicht so selbständig ist wie ein Erwachsener und deshalb unsere Zuwendung und Aufmerksamkeit dringend benötigt, auch wenn auf diese Weise unsere eigenen Interessen ins Hintertreffen geraten. Unsere Generation hat den Leitsatz verinnerlicht: »Tu das, was dir guttut«. Doch er stellt uns als Eltern vor ein Dilemma, insbesondere in einer Gesellschaft, in der Opferbereitschaft nicht viel zählt. Wenn man tut, was einem guttut, kann dies zu Lasten unserer Kinder gehen. Sylvia Hewlett, die Verfasserin des Buches When the Bough Breaks: The Cost of Neglecting Our Children, schreibt, daß »unsere Kinder darunter leiden, daß wir uns zu unserem eigenen Ich hingezogen fühlen«.22 Wir sind so sehr mit unserer inneren Welt und unseren eigenen Ambitionen beschäftigt, daß wir zwischen Selbsterfüllung und dem Wohlergehen unserer Familie einen faulen Kompromiß eingehen. Die Leidtragenden sind die Kinder, die um jene Zuwendung betrogen werden, die nötig ist, damit sie sich wohlfühlen und unter optimalen Bedingungen aufwachsen. Die Konzentration auf das, was dem Kind guttut, wird zusätzlich dadurch erschwert, daß sich die Grenzen verwischen, die in der Geschichte die Kindheit vom Erwachsenendasein trennten. Der Leitsatz einer ganzen Generation lautet, daß niemand die gesellschaftlichen Verpflichtungen eines Erwachsenen übernehmen sollte, der sich nicht dazu berufen fühlt, sei er nun achtzig, fünfzig oder vierzig Jahre alt. Diese »Jugendmentalität« wurde mir während eines Dinners bei einem alten Freund vor Augen geführt. Ein 42jähriger Mann, ein sehr erfolgreicher Anwalt, mit einer Frau um die Dreißig fest liiert, sagte uns, er sei sich nicht sicher, ob er schon so weit sei, ein Kind großzuziehen. Wenn nicht mit zweiundvierzig, wann -97-
dann? Wir wurden in einer Zeit erwachsen, als an die Stelle des Gartens der Kindheit der Jungbrunnen trat (»Wenn ich jung und vital bleibe, kann ich ewig leben«). Kinder dürfen Dinge tun, für die sie viel zu klein sind, und Erwachsene dürfen sich wie Jugendliche aufführen. Manchmal ist es schwierig, Eltern rein äußerlich von ihren Kindern zu unterscheiden. Melanie, einundvierzig, kommt mit Sweatshirt, Jeans und Baseballmütze zur Elternberatung. Während sie wartet, setzt sie sich im Gang auf den Fußboden statt im Wartezimmer auf einen Stuhl. Sie ist selbständig und betreibt eine eigene Firma mit mehreren Angestellten. Ihr Sohn Calvin ist genauso gekleidet. Auch er hat das Gefühl, sein eigener Boß zu sein. Mit sieben möchte er selbst entscheiden, ob er sich am Unterricht beteiligt oder nicht. Er möchte nicht, daß irgend jemand ihm sagt, was er zu tun hat. Er gebraucht großtönende Worte und spricht sehr geschraubt. Da die Grenzen zwischen Erwachsensem und Kindheit diffus sind, kümmern wir Eltern uns oft viel zu stark um die Angelegenheiten unserer Kinder. Denn wir lassen uns gerne in unsere eigene Kindheit und Jugend zurückversetzen, die wir auf dem Weg ins Erwachsenendasein nur widerwillig aufgegeben haben. Entweder gehen wir in dem auf, was unsere Kinder erleben, oder wir erheben unsere Kinder in den Status von Erwachsenen. So oder so erleben wir sie als Gleichgestellte. Die Medienöffentlichkeit hat blitzschnell darauf reagiert und macht sich das Peter-Pan-Gefühl heutiger Eltern für ihre Zwecke zunutze. Im Jahr 1993 warb Volvo mit folgendem Slogan für seine Autos: »Für alle, die eine Familie haben, aber sich nicht etablieren wollen.« Und weiter heißt es: »Für alle, die noch Kinder sind, obwohl sie selbst welche haben...« Als Angehörige der akademisch gebildeten Mittelschicht haben wir uns eingebildet, wir hätten einen Volvo gekauft, weil er ein sicheres Auto ist und unsere Kinder besser schützt. Davon ist in dem Werbespot nicht die Rede. Vielmehr wird an unser -98-
narzißtisches Vergnügen appelliert. Kurz vor seinem Tod hat Bruno Bettelheim die amerikanischen Eltern scharf angegriffen und ihnen vorgeworfen, sie seien schuld an der Unsicherheit, ob sie etwas für ihre Kinder oder für sich selbst tun. Über heutige Mütter und Väter sagte er in einem Interview: »Sie wollen nur kleine Erwachsene. Daher haben wir auch so viele kindische Erwachsene, die nur spielen wollen.«23 Mit anderen Worten, Eltern wollen, daß ihre Kinder für sich selbst sorgen, damit sich die ichbezogenen Erwachsenen weiter austoben können und nicht von einem abhängigen und hilfsbedürftigen Kind gestört werden. Bettelheims Vorwurf erscheint allzu hart, aber er sprach nicht von der Schuld der Eltern, sondern von ihrer Verwirrung: Sind sie nun Erwachsene oder Kinder? Was sind ihre Sprößlinge, Erwachsene oder Kinder? Und worin besteht überhaupt der Unterschied zwischen beiden? Was uns bedrängt, sind die Projektionen unserer eigenen Kindheit. Wir stehen unter dem Einfluß einer Kultur der sofortigen Wunschbefriedigung. Daß die Grenzen zwischen Erwachsensein und Kindheit heute durchlässig geworden sind, verwirrt uns. Wir sind frustriert durch die Anforderungen von außen, etwa durch die schwierigen Arbeitsbedingungen, die es uns unmöglich machen, die guten Väter und Mütter zu sein, die wir gern wären. Angesichts dieser unterschwelligen Bedrängnisse suchen wir nach inneren Orientierungshilfen, die uns bei unserem Balanceakt zwischen uns selbst und unserem Kind hilfreich sein könnten. Eine Mutter und ein Vater kommen zur Beratung, weil ihr sechsjähriges Tochterchen Samantha in der Schule »nicht mitkommt«. Sie hat keine Lust zu lernen, ist gegenüber anderen Kindern schüchtern und würde am liebsten zu Hause bleiben und gar nicht zur Schule gehen. Sie kann Frustrationen nur schwer verkraften und fängt gleich an zu weinen, wenn der Reißverschluß ihres Anoraks klemmt. Wir hören, daß sie jede -99-
Nacht im Bett ihrer Eltern schläft, was sie schon immer getan hat. Samanthas Eltern verteidigen diese Praxis, indem sie die westliche Kultur angreifen, die, wie sie sagen, in ihrem Selbständigkeitswahn egoistisch und isolationistisch ist. Geduldig klären sie die Beraterin darüber auf, daß in zahlreichen anderen Kulturen Kinder und Eltern ganz selbstverständlich ein Bett miteinander teilen, ohne daß es schlimme Folgen hätte. Außerdem, so sagen sie, sei unsere Gesellschaft weltweit die einzige »abweichende« Gesellschaft, die Kinder zwinge, von ihren Eltern getrennt zu schlafen. Die Therapeutin ihrerseits weist die Eltern darauf hin, daß das Töchterchen leider nicht in einer dieser anderen Kulturen aufwächst. Vielmehr braucht das Kind Hilfe, um in seiner eigenen Kultur zurechtzukommen, in der erwartet wird, daß eine Sechsjährige außer Haus geht und manchmal große Entfernungen zurücklegt, um für ein paar Stunden täglich die Schule zu besuchen. Dazu muß sie ein bestimmtes Maß an Selbständigkeit entwickeln - ein Prozeß, den ihre Eltern offenbar behindern, indem sie die Tochter verhätscheln, statt sie anzuhalten, sich »ihrem Alter entsprechend« zu verhalten, wie kulturell bedingt diese Regeln auch sein mögen. Die Therapeutin forscht weiter und entdeckt den wahren Grund dafür, daß das Kind ständig bei den Eltern schläft. Die Mutter hatte eine chronische Angst vor plötzlichem Kindstod und hat auch jetzt noch das Gefühl, daß die einzige Möglichkeit, das Kind davor zu schützen, darin besteht, es nachts ins elterliche Bett zu holen. Obwohl Sechsjährige niemals den plötzlichen Kindstod erleiden, will sie nichts riskieren. So wie die Dinge liegen, lauern genügend Gefahren. Nach einer Weile gelingt es der Therapeutin, Mutter und Vater zu der Einsicht zu führen, daß ihr auf den ersten Blick fürsorgliches Verhalten an den wirklichen Bedürfnissen und Wünschen ihrer Tochter vorbeigeht. Ohne es zu wissen, sind Mama und Papa daran gescheitert, ihrer Tochter die Autonomie -100-
zu geben, die sie braucht, um Freundschaften zu schließen und sich in der Klasse wohlzufühlen. Durch die Hilfe einer verständnisvollen Beraterin sind sie jetzt erstmals in der Lage, Samantha als eigenständigen Menschen zu betrachten - als eine Sechsjährige, die sich vom Elternhaus löst, um in der Schule und unter Gleichaltrigen ihren Weg zu finden. Bald schläft Samantha in ihrem eigenen Bett, sie überwindet ihre Schulangst; auch zu Hause verläuft das Leben für alle glücklicher. Kleider machen Leute Die Verwirrung zwischen dem Baby und dem eigenen Ich sowie Umkehr und Verzerrung der Spiegelung lassen sich besonders gut am Beispiel der Garderobe aufzeigen, die Eltern für ihre Kinder auswählen. Ihnen macht es einen Riesenspaß, ihre Kleinen in die Miniaturausführung von Erwachsenenkleidern zu stecken. »Erwachsenenkleider für Kinder sind so süß«, sagt eine Mutter, »dieser Versuchung kann man kaum widerstehen. Ich kann es gar nicht erwarten, wenn Freunde zum Essen kommen und ich meinen Kleinen in einem Mini-Boss vorführen kann.«24 Worin besteht der unwiderstehliche Reiz für diese Mutter? Was glaubt sie, werden ihre Freunde denken und empfinden, wenn ihr kleiner Sohn todschick herausgeputzt die Szene betritt? Das Kind wird als die Miniaturausgabe eines Erwachsenen präsentiert, aber eigentlich ist das herausgeputzte kleine Wesen kein kleiner Mann und keine kleine Frau, sondern eher ein Püppchen, das den Wohlstand, den Geschmack und die Phantasien der Eltern zum Ausdruck bringt. Wie eine leblose Puppe, so hat auch dieser Kleine keinen eigenen Willen und Wunsch in bezug auf seine Kleidung. Er ist vielmehr das willenlose Objekt der Marotten seiner Eltern. Die »MiniaturErwachsenen«-Garderobe von Babys weckt wahrscheinlich den -101-
Kitzel, den kleine Kinder empfinden, wenn sie ihre Haustiere, ihre Hunde und Katzen, in ihre eigenen Babykleider stecken. Das Kind macht aus dem Haustier einen Menschen; die Eltern machen aus dem Kind eine Miniaturausgabe ihrer selbst. Dies wiederum hat zur Folge, daß die Individualität des Kindes und seine Eigenständigkeit geleugnet werden. Diese Grenzverwischung zwischen dem Baby und der eigenen Person behindert die Entwicklung einer kindlichen Authentizität, weil das Kind buchstäblich zum Spiegel des Vaters oder der Mutter wird. Der Reiz, den es für Eltern bedeutet, ihre Kleinen herauszuputzen, hat viele Ursachen. Meist steckt dahinter der Wunsch, in das Gesicht des Kindes wie in einen Spiegel zu blicken und sich selbst darin reflektiert zu sehen. Und natürlich sind solche Erwachsenenkleider für Kinder nicht zuletzt auch ein Statussymbol: Man kann zeigen, wieviel Geld man für seine Kinder ausgibt. Doch die gleiche Funktion kann auch ein handgearbeitetes, weißes Spitzenkleidchen mit dazu passenden bestickten Socken erfüllen. Aber wenn Eltern ihren Kindern, die noch nicht einmal richtig laufen können, kleine Smokings, Jogginganzüge oder Sportschuhe vom Markenhersteller kaufen, wollen sie sich in dem so herausgeputzten Kleinen wiedererkennen. Hier zeigt sich erneut, wie sich in unserer heutigen Kultur die Grenzen zwischen Erwachsensein und Kindheit verwischen. Philippe Aries schreibt, daß es in früheren Epochen zwischen Erwachsenenkleidern und Kinderkleidern keine klare Unterscheidung gab. Erst in der Neuzeit, seit der Renaissance, entwickelte sich die Kindheit als eigenständiger Lebensabschnitt, und der Übergang von der frühen zur späten Kindheit und zum Erwachsenensein wurde jetzt auch in der Kleidung klar markiert.25 Anfang des 20. Jahrhunderts trugen beispielsweise amerikanische Jungen Kniebundhosen und erst ab der Pubertät Hosen mit langen Beinen. Seit den fünfziger -102-
Jahren wurden die Kleidernormen für Erwachsene und Kinder in Frage gestellt. Kinder dürfen, ja sollen Kleider tragen, die in der Vergangenheit ausschließlich für Erwachsene bestimmt waren. Umgekehrt fangen Erwachsene an, Kleider zu tragen, die, historisch gesehen, der Jugend vorbehalten waren. Die Grenzen verwischen sich also in beide Richtungen: Kinder kleiden sich wie Erwachsene und Erwachsene wie Kinder. Die zehnjährige Lauren leiht sich Mamas Spitzenmieder, und Mama leiht sich Laurens übergroßes Sweatshirt mit dem Oakland A-Label darauf. Da es keine Grenzen mehr gibt, steht es Vater und Mutter frei, das Kind so zu kleiden, wie es ihnen gefällt. Oft ist es auch die mangelnde Distanz - die Vorstellung, daß das Baby nicht der Dritte im Bunde, sondern tatsächlich mit »mir« identisch ist -, die Eltern dazu veranlaßt, ihre Kinder wie Erwachsene zu kleiden. Das Kind, das nicht als Spiegelung, sondern als Erweiterung des eigenen Ichs wahrgenommen wird, soll genauso aussehen »wie ich«. Die Mutter, die es gar nicht erwarten kann, ihren Gästen ihren herausgeputzten Sohn vorzustellen, hat den Eindruck, daß sich die erstaunten Ausrufe ihrer Freunde ebenso an sie richten wie an ihr Baby: »Ich bin du, und du bist ich«. Wie reagieren die Kultur und auch die Kinder selbst auf das Phänomen, daß Knirpse wie Erwachsene angezogen sind? Zwischen 1989 und 1993 erschienen folgende Artikel in der amerikanischen Presse: »Kinder wollen in der Schule Erwachsenenmode tragen«; »Power-Klamotten für Kinder: Schulkinder suchen ihre Identität in den Kleidern ihrer Wahl«; »Zu vieles zu früh zeigen: Wo sind Pullover und Overalls geblieben?«26 Kinder rebellieren schon im Vorschulalter gegen die Kleidung, die ihre Eltern für sie auswählen, und wissen sehr genau, wie sie sich kleiden wollen: nämlich als kleine Erwachsene. Was der Rockstar, der derzeit »in« ist, trägt, wollen sie auch haben. Das könnte ein Symptom dafür sein, daß Kinder außer Kontrolle geraten sind. Sie haben es so eilig, erwachsen -103-
zu werden, daß die Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kindern um die Kleider anfangen, noch bevor die Kinder die Milchzähne verlieren. Und sie sind sexuell so frühreif, daß sie sich mit sieben wie eine Sexbombe herrichten dürfen. Kinder von heute fordern früher als vorausgegangene Generationen Selbstbestimmung, und eine Ursache dafür liegt sicher darin, daß wir die eine Seite des Kind-Erwachsenen, nämlich den kleinen Erwachsenen, in den Vordergrund stellen. Dabei ist interessant, daß die Kinder sich ausgerechnet die Kleidung als wichtige Kampfarena ausgesucht haben. Gewiß, wir leben in einer Kultur, in der Kleidung die soziale Stellung zum Ausdruck bringt, und wer wir sind, wird sehr stark dadurch reflektiert, wie wir uns kleiden. Aber vielleicht rebellieren die Kinder dadurch, daß sie sich schon frühzeitig die Kleidung als Streitthema aussuchen, auch gegen das zuvor beschriebene Phänomen der Umkehrspiegelung, bei dem Eltern in ihrer Ichbezogenheit Spaß daran hatten, ihre Säuglinge und Kleinkinder als ihr Ebenbild zu kleiden. Die Kinder wollen nicht mehr das Spiegelbild ihrer Eltern sein, sondern sich selbst darstellen. Gleichzeitig aber müssen sie sich dem Spiegelbild anpassen, das sie von ihren Eltern erhalten - eine Widerspiegelung, die schon in den ersten Lebensmonaten beginnt, wenn die Kinder als kleine Erwachsene herausgeputzt werden. Diese Kinder werden auch später Kleidung bevorzugen, die sie erwachsen aussehen läßt, aber eben nicht im Stil ihrer Eltern. Rhema wurde von ihrer Mutter vergöttert. Als sie ein kleines Kind war, kaufte ihr die Mutter eine ganze Kollektion von Laura-Ashley-Kleidern und beobachtete begeistert, wenn die kleine Rheema in ihrem Kleidchen die Treppe herunterkam. Ihre Mama kaufte sich selbst oft das identische Modell für Erwachsene und strahlte, wenn sie beide im Partnerlook auftraten. Rheema liebte ihre Mutter sehr und genoß diese Augenblicke des Glücks. Aber dann kam sie in die Pubertät, und -104-
es ging ihr auf, daß die Mutter in ihrer jungen, hübschen Tochter ein Spiegelbild ihrer selbst zu finden hoffte. Rheema legte ihre Kleider und Spitzenstrumpfhosen ab und trug von nun an nur noch zerschlissene Jeans und ausgebleichte T-Shirts. Auch jetzt noch, mit Anfang Zwanzig, ist das ihr Lieblingsoutfit. Sie hat sich geschworen, nie wieder ein Kleid zu tragen. Ich glaube nicht, daß Rheemas Entscheidung ihrem Herzenswunsch entspricht. Ihr Verhalten ist vielmehr immer noch eine Reaktion auf den Einfluß ihrer Mutter. Sie beharrt auf ihrem Recht, für sich selbst zu entscheiden. Sie ist so sehr damit beschäftigt, sich abzugrenzen, daß sie nicht die Freiheit hat, unvoreingenommen über Kleidung und - was noch wichtiger ist - über ihren Lebensstil nachzudenken. Wenn ich mit Rheema und ihrer Mutter hätte arbeiten können, als Rheema noch ein Kind war, hätte ich vielleicht die Kleidervorlieben ihrer Mutter als symptomatisch für eine verzerrte Spiegelung erkannt und der Mutter helfen können, das zu korrigieren. Dann hätte sich Rheema als eigenständige kleine Persönlichkeit sehen können und nicht als Widerspiegelung oder Erweiterung ihrer Mutter. Und Rheema wäre keine orientierungslose junge Erwachsene geworden, sondern hätte zu sich selbst gefunden. Mütter kontra Väter Den Lesern und Leserinnen ist wahrscheinlich nicht entgangen, daß alle Kleidergeschichten von Müttern und nicht von Vätern handelten. Den Vätern liegt tatsächlich nicht soviel an der Kleidung ihrer Kinder wie den Müttern. Eltern werden zwar oft nach dem äußeren Erscheinungsbild ihres Kindes beurteilt, aber es kommt bestimmt niemand auf die Idee zu sagen: »Dein Vater zieht dich aber komisch an.« Der Satz »Deine Mutter zieht dich aber komisch an« war dagegen von jeher eine beliebte Methode, einen Spielkameraden -105-
niederzumachen. Mit anderen Worten, es ist immer die Mutter, an der man herumkritisiert. Aber unterschwellig sind neben dem sozialen Druck noch andere Kräfte am Werk, die genausoviel zum Unterschied im Verhalten der Geschlechter beitragen. Mütter haben häufiger als Väter das Gefühl, daß ihre Kinder eine Erweiterung ihres Ich sind. Nimmt man die Tatsache hinzu, daß in unserer Kultur Frauen mehr Wert auf Kleidung legen als Männer, so ist verständlich, warum Mütter sich eher dafür begeistern, ihre Kinder modisch herauszuputzen. Für Väter hat Kleidung keine vergleichbare Bedeutung. Statt »Kleider machen Leute« könnte man sagen: »Kleider machen Mütter«. Das unterschiedliche Interesse von Vätern und Müttern beim Ausstaffieren der Kinder verweist uns auf einen generelleren Unterschied zwischen Müttern und Vätern. Müttern fällt es schwerer, zwischen sich und dem Baby zu unterscheiden und zwischen den eigenen Bedürfhissen und denen des Babys einen Ausgleich zu schaffen. Nancy Chodorow hat uns erstmals darauf aufmerksam gemacht, daß Männer und Frauen unterschiedliche Persönlichkeitsstrukturen und unterschiedliche Fähigkeiten haben, mit anderen in Kontakt zu treten. Dies beruht auf der Erfahrung, in den ersten Lebensmonaten und -Jahren von einem Elternteil des gleichen Geschlechts (bei Mädchen) bzw. des anderen Geschlechts (bei Jungen) betreut worden zu sein. Die Männer erleben sich als • unabhängiger und eigenständiger, die Frauen als kommunikativer und mehr auf andere bezogen.27 Diese Unterschiede lassen sich daran aufzeigen, wie Mütter bzw. Väter ihre Kinder versorgen. Meine eigene Arbeit mit Eltern, die sich die Arbeit der Kindererziehung teilen, hat mir gezeigt, daß Frauen im allgemeinen tatsächlich enger mit ihren Kindern verbunden sind. Väter dagegen sind eher in der Lage, Distanz zu halten und die Grenze zwischen sich und dem Kind wahrzunehmen. Andererseits gibt es bei den Männern eine deutlichere Neigung -106-
zum Narzißmus. Sie konzentrieren sich nicht so sehr darauf, was sie für das Kind tun können, sondern darauf, was das Kind für sie tun kann. Wenn ihr Baby schreit, geht es der Mutter durch Mark und Bein. Einem Vater fällt es leichter zu sagen: »Was fehlt ihm denn? Was können wir dagegen tun?« Aber wenn ein Vater merkt, was für einen besonderen Stellenwert er in den Augen seines Kindes hat, freut er sich und wird geradezu euphorisch, weil ihm aufgeht, daß er geliebt und bewundert wird. Auch eine Mutter freut sich darüber, aber sie betrachtet es als normale Erfahrung einer Mutter. Väter wie Mütter kämpfen auf unterschiedliche Weise damit, die Spiegelung nicht umkippen zu lassen und den Balanceakt zwischen sich und dem Baby zu meistern. Ein Vater ist eher bereit, seine Bedürfnisse ebenso wichtig zu nehmen wie die des Babys, ja, sie über die des Babys zu stellen oder sich selbst an dessen Stelle zu setzen. Eine Mutter hat mehr als ein Vater damit zu kämpfen, zwischen sich und dem Baby eine Grenze zu ziehen und ihre Eigenständigkeit zu wahren.
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4 Die Schuldgefühle der Eltern
Wann werde ich es einmal richtig genießen können, daß ich eine Tochter habe?... Wann werde ich mehr Zeit haben, mehr tun zu können, als sie immer nur zu bestrafen? Weil ich berufstätig bin... habe ich Rachel um ein »normales Leben« betrogen... Nach diesem Abend wurde es für mich noch schwieriger, Rachel mit jemandem allein zu lassen, wenn ich nicht arbeitete, und sei es nur für ein paar Stunden... Ich konnte meine Tochter unmöglich allein lassen, wir verbrachten sowieso schon sehr wenig Zeit miteinander. Regina Dickerson1 Es ist höchste Zeit, folgendes Rätsel zu lösen: Wie kann es sein, daß diese Elterngeneration einerseits angeblich ihre eigenen Bedürfnisse zu sehr in den Vordergrund stellt und andererseits allzusehr auf ihre Kinder fixiert sein soll? Die Lösung heißt: Schuldgefühle. Schuld wird in der Psychologie als bedrängter Seelenzustand gedeutet, dem ein innerer Konflikt zugrunde liegt. Sie ist ein Seelenzustand, in dem wir versuchen, Wiedergutmachung zu leisten, herauszufinden, was falsch gelaufen ist, und Abbitte zu leisten, wenn wir jemanden verletzt haben. Es gibt keinen Begriff, der die Seelenlage der Mittelschichteltern besser trifft. Sie haben alles darangesetzt, ihre Ziele (Karriere, Geld, Glück) zu erreichen (manchmal auf Kosten ihrer Kinder), verhalten sich aber gleichzeitig so, als stünde ihren Kindern eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten offen. Diese Eltern erfüllen ihren Söhnen und Töchtern jeden kleinsten Wunsch. Sie machen mit -108-
ihren Kindern und für sie Hausaufgaben, sie lassen sich von ihnen beschimpfen. Und dann drehen sie sich um und lassen ihre Kinder lange, viel zu lange allein, um ihrer Arbeit oder ihren Freizeitbeschäftigungen nachzugehen. Dabei sind sie ständig in Unruhe und finden keinen Frieden bei dem, was sie gerade tun, sei es für ihre Kinder, sei es für sich selbst. Innerlich zerrissen, laufen sie gleichzeitig in zwei Richtungen, um beidem gerecht zu werden: sich und ihren Kindern - und für beide wollen sie zuviel. Das bezeichne ich als »Erziehung auf der Grundlage von Schuldgefühlen«. Darin besteht die größte Gefahr, die Eltern heute zu bewältigen haben, und es erfordert unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Das Klagelied der Eltern Im Frühjahr 1990 kamen zwei Elternpaare an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zu mir in die Sprechstunde. Das erste Paar, Sarah und Dan, hat seiner neunjährigen Tochter Amanda ein gewaltiges Pensum an außerschulischen Aktivitäten und Zusatzunterricht aufgeladen. Amanda hat sich das alles nicht gewünscht, und sie hat auch keine sonderlich große Lust dazu, aber Sarah und Dan finden, sie »sollte« es tun. Doch das ist nicht der Grund, weshalb sie zu mir gekommen sind. Sie sind beunruhigt, weil Amanda oft aggressiv wird. Als Einzelkind, das von Vater und Mutter sehr verwöhnt wird, ist Amanda zu Hause einfach frech. Sie sagt ihrem Vater und ihrer Mutter ins Gesicht, sie seien die Dümmsten auf der Welt. Zu ihrer Mutter sagt sie: »Da kannst du verdammt nochmal lange warten, bevor ich diese Scheißhausaufgaben mache.« Die energische Sarah, Mitte Dreißig, meint mit einer Mischung aus Staunen, Entsetzen und Verwunderung: »Wir hätten es nie gewagt, so mit unseren Eltern zu sprechen! Wie kann sie sich das nur erlauben?« Tags darauf kommt das zweite Elternpaar, Michael und -109-
Cynthia, zur Beratung. Beide sind warmherzig, liebevoll und hängen sehr an ihrem Sohn und ihrer Tochter. Sie haben jedoch einen anstrengenden Beruf und beschäftigen mehrere Babysitter für ihre Kinder. Jeden Abend gibt es mit dem zehnjährigen Robert Streit wegen der Hausaufgaben. Jeden Morgen kommt es wegen irgend etwas anderem zur Auseinandersetzung mit ihm. Die Eltern sehen müde und verstört aus. Cynthia erzählt von einem Traum, in dem eine Flutwelle auf ihr Haus zurast und sie hinwegzuspülen droht. Sie weiß, daß diese Flutwelle Robert ist. Michael, selbst in der Psychiatrie tätig, hat sich umgehört. Er hat alle Erwachsenen, mit denen er in der vergangenen Woche zu tun hatte, gefragt, ob ihre eigenen Eltern jemals Hausaufgaben mit ihnen gemacht hätten, als sie klein waren. Kein einziger, erfährt er. »Wir sind die erste Elterngeneration«, sagt er, »die sich so intensiv mit den Hausaufgaben ihrer Kinder befaßt. Wir sind alle sehr gut ausgebildet und möchten dasselbe auch für unsere Kinder. Aber was wir da tun, ist wirklich verrückt.« Das ist die Klage der Mittelschichteltern unserer Generation. Es spielt keine Rolle, ob unsere Kinder ein, zehn oder siebzehn Jahre alt sind. Als wir erwachsen wurden, hatten wir einen Traum. Wir dachten, wir könnten, wenn wir mit unseren Kindern sprechen, ihnen zuhören, sie ernst nehmen und neben unserer Aufgabe als Eltern ein eigenes Leben führen, die Fehler unserer Eltern vermeiden und Kinder großziehen, die uns lieben, uns nahestehen und trotzdem selbständig, selbstbewußt und für die Herausforderungen des Lebens gewappnet sind. Wir wollten nicht für unsere Kinder leben, sondern mit ihnen. Wir haben es gut gemeint, aber es klappt nicht ganz so, wie wir es uns vorgestellt haben. Wir haben keineswegs einen höheren Bewußtseinsstand und haben keine engere Bindung zu unseren Kindern entwickelt - statt dessen herrscht Verwirrung. Und unsere Kinder haben nicht das Gefühl, daß wir ihnen zuhören; deshalb nehmen sie sich manchmal Freiheiten heraus -110-
und fahren uns über den Mund. Wir haben es gut gemeint, aber unser Traum war voller Widersprüche. Kinder möchten nicht mit ihren Eltern zusammenleben, sie möchten, daß ihre Eltern für sie sorgen. Unser Weg aus dem Durcheinander besteht darin, daß wir den Traum, mit unseren Kinder zu leben, aufgeben und eine realistischere Vorstellung davon entwickeln, wie wir unseren Kindern gemäß ihrem Alter und ihrem Entwicklungsstand Zuwendung und Fürsorge geben können. Aber dafür müssen wir uns genügend Zeit nehmen. Maria hat eine achtjährige Tochter, Anna. Sie hat sich geschworen, Anna nie damit abzufertigen, sie solle endlich aufhören zu quengeln, wie es ihre eigene Mutter bei ihr tat. Sie hat sich vorgenommen, Anna zuzuhören, sie aussprechen zu lassen und ihr das Gefühl zu geben, daß sie als Mutter immer für sie da ist. Das, so fand sie, war das mindeste, was sie für ihre Tochter tun konnte, wenn sie sie gegen Abend nach einem langen Arbeitstag von der Kindertagesstätte abholte. Eines Tages geriet sie auf dem Heimweg im Auto mit ihrer Tochter in einen Streit und schrie das Kind an. Sie war entsetzt, daß es dazu gekommen war und daß sie nicht die nötige Geduld aufgebracht hatte, Anna zuzuhören. Aber um ihr wobei zuzuhören? Auf dem Heimweg hatte Maria ihre Tochter daran erinnert, daß sie an diesem Wochenende ihr Pfadfinderprojekt zu Ende bringen müsse, weil nächste Woche Verwandte aus einer anderen Stadt zu Besuch kämen. Anna wandte ein, Maria habe ihr versprochen, sie könne sich bis nächstes Wochenende Zeit damit lassen. Daraufhin meinte Maria, das hätte sie ihr nie versprochen und es sei auch völlig unmöglich, weil dann die Gäste immer noch da seien. Anna ließ nicht locker: »Du hast es mir aber versprochen, Mama.« Maria erklärte ruhig und verständnisvoll, daß ihr das Mißverständnis leid tue, Anna aber das Projekt an diesem Wochenende zu Ende bringen müsse, weil die Familie während der Woche etwas anderes vorhabe. Anna brach daraufhin in -111-
Tränen aus: »Aber du hast es mir versprochen, Mama, du hast es mir versprochen.« Maria wiederholte, was sie schon gesagt hatte, sie entschuldigte sich für das Mißverständnis, legte aber dar, wie die Dinge standen. Anna geriet in Panik und fing an zu schreien: »Mama, du hörst mir nicht zu!« Und so ging es auf dem ganzen Heimweg hin und her, bis Maria explodierte und Anna verängstigt zusammenzuckte. Maria suchte mich auf, weil sie glaubte, ihrer Tochter mit ihrem Verhalten einen Schaden fürs Leben zugefügt zu haben. Ich versicherte ihr, daß die seelische Wunde bald verheilt sein werde und keine schlimmen Folgen hätte. Ich könne es aber verstehen, daß sie diese Art von Streit nicht noch einmal erleben wolle. Im Lauf des Gesprächs wurde klar, daß es zu dieser Eskalation gar nicht erst gekommen wäre, wenn Maria nicht den Ehrgeiz hätte, als gute Mutter stets verständnisvoll zuzuhören und auf die Gefühle ihres Kindes Rücksicht zu nehmen. Maria mußte vielmehr einsehen, daß ein achtjähriges Kind manchmal in die Schranken gewiesen werden und lernen muß, daß im Leben nicht immer alles nach seinem Kopf geht, auch wenn es sich um ein Mißverständnis handelt. Maria erfuhr außerdem, daß Achtjährige gern aufbegehren, weil sie neue Formen der Selbständigkeit und der Abgrenzung von ihren Eltern ausprobieren wollen. Wenn Maria auf dem Heimweg mit ihrer Tochter das gewußt hätte, hätte sie Annas Klage über das Mißverständnis anhören, an ihrer eigenen Forderung jedoch festhalten und dann sagen können: »Ende der Diskussion.« Weiterhin: Wenn Maria nicht ständig ein schlechtes Gewissen hätte, weil sie nicht genügend Zeit für ihre Tochter erübrigt, hätte sie es ertragen, ihre Tochter einmal zu enttäuschen, um ein dauerhaftes psychisches Chaos zu vermeiden. Wir müssen also nicht nur unsere Idealvorstellung von uns als »perfekten Eltern« hinterfragen, sondern uns auch mit dem auseinandersetzen, was uns im Berufsleben und im Umgang mit uns selbst zu schaffen macht und uns von unseren Kindern entfremdet. Dann werden -112-
wir nicht mehr sagen müssen: »Was wir da tun, ist verrückt.« Wir versuchen verzweifelt, die Löcher im Sicherheitsnetz des guten Lebens zu flicken, das wir unseren Kindern bieten wollten, und sie vor dem Absturz schützen. Diese Löcher glauben wir mitverursacht zu haben, weil wir zuviel arbeiten und zuwenig Zeit für unsere Kinder haben. Fieberhaft bemühen wir uns, auszugleichen und wiedergutzumachen, was wir ihnen nicht geben können. Wir sind am Ideal der »perfekten Eltern« gescheitert und erziehen statt dessen auf der Grundlage von Schuldgefühlen. Das ist kennzeichnend für eine Elterngeneration, die selbstbezogen und nachgiebig zugleich ist. Elternsein und schlechtes Gewissen Grace, eine temperamentvolle, intelligente Mutter Anfang Vierzig, sitzt während der Familientherapie eingeschüchtert da. Dough, ihr 17jähriger Sohn, ist völlig durcheinander, aber er ist endlich in der Lage, das, was ihn bedrückt, in Worte zu fassen. Während Dough spricht, bewegt Grace den Mund, als seien es ihre Worte, und sie ist in Gedanken so sehr dabei, daß sie es gar nicht bemerkt. Dough ist ihr ältestes und liebstes Kind, und er war ein geradezu musterhafter kleiner Junge. Aber mit der Pubertät brach für ihn eine Welt zusammen, wie es heutzutage bei vielen Jugendlichen der Fall ist. Seine schulischen Leistungen wurden schwächer. Er probierte Drogen aus und kam tagelang nicht aus dem Bett. Je mehr er sein Gleichgewicht verlor, um so mehr bemühte sich Grace darum, alles wieder ins Lot zu bringen. Je schlimmer Doughs seelischer Kummer wurde, desto mehr hatte seine Mutter das Gefühl, ihr selbst werde ein Messer ins Herz gestoßen. Ihre berufliche Karriere litt, und sie wurde krank. Je mehr sie für ihn tat, desto mehr glaubte sie tun zu müssen immer quälte sie das schlechte Gewissen, nicht genug getan zu -113-
haben. Grace hatte eine besonders schwere Familienkrise zu bewältigen, aber wie ihr geht es im Grunde genommen heute vielen Eltern, die eine intensive, scheinbar aufopferungsvolle Beziehung zu ihren Kindern pflegen. Das Phänomen ist bei Müttern häufiger anzutreffen als bei Vätern, doch im Laufe meiner Arbeit mit Eltern, die sich die Erziehung ihrer Kinder teilen, habe ich gesehen, daß beide dazu neigen, ihre Kinder während der gemeinsamen Stunden keinen Augenblick in Ruhe zu lassen.2 Die Eltern nehmen sich das Diktum von der »qualitativen Zeit« als Entschädigung für die »mangelnde Zeit« zu Herzen und sind bemüht, jeden Augenblick, den sie mit ihren Kindern verbringen, optimal zu nutzen, ihren Kindern alle möglichen Anregungen zu geben und ihnen ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn die Eltern ihre Kinder gemeinsam erziehen und nach einem anstrengenden Arbeitstag beide zu Hause sind, teilen sie sich nicht die elterlichen Pflichten, sondern stürzen sich gemeinsam auf die Kinder. Nicht zwei Hände, sondern vier füttern das Baby. Nicht einer, sondern zwei bieten sich an, mit dem Kind Monopoly zu spielen. Mutter und Vater lauschen andächtig, wenn die Tochter ein neues Klavierstück vorspielt, auch wenn dabei die Suppe überkocht. Diese, wie ich es nenne, »Rundum-Versorgung«, halte ich für einen Fallstrick der gemeinsamen Kinderbetreuung, denn dadurch wird das Kind gleichsam emotional erstickt. Die »Rundum-Versorgung« findet sich aber nicht nur in Familien, in denen Vater und Mutter gemeinsam für die Kindererziehung zuständig sind. Zugegeben, immer noch sind viele Väter häufig abwesend, nehmen kaum Anteil am Familienleben oder überlassen den Müttern vollständig die »zweite Schicht«. Aber wenn ich Freunde und ihre Familien beobachte, auf meine Erfahrungen als Therapeutin zurückgreife und Studien sowie das Bild von der Familie einbeziehe, das in -114-
den Medien gezeichnet wird, zeigt sich deutlich, daß sich heutige Eltern der amerikanischen Mittelschicht in extremem Maße in das Innenleben und die praktische Existenz ihrer Kinder einmischen. Das Wall Street Journal berichtet über eine Umfrage der Roper Organization unter Erwachsenen Anfang der neunziger Jahre, die Kinder zwischen sieben und siebzehn haben. Demnach unternehmen Eltern mit ihren Kindern weit mehr als Eltern Mitte der siebziger Jahre: »Einfach gesagt, haben Eltern heute ein stärkeres Bewußtsein dafür, daß sie Eltern sind, als noch vor zehn Jahren.«3 Und das trotz der Tatsache, daß Mütter und Väter heute weniger Zeit für ihre Kinder erübrigen können. Die Eltern brüten jeden Abend mit ihren Kindern über den Hausaufgaben. Sie machen jedes Unterrichtsfach zu ihrem Herzensanliegen und opfern ihre wertvolle Zeit dafür, die idealen Nachhilfelehrer zu finden und ihrem Kind in jeder Hinsicht das Beste zu bieten. Wenn Sally mit ihrer Freundin Joanna Streit hat, wollen ihre Eltern nicht nur haargenau wissen, was passiert ist; sie helfen ihr nicht nur, eine Lösung zu finden, und trösten sie in ihren verletzten Gefühlen. Vielmehr greifen sie nach dem Telefon, sie rufen Joannas Eltern an und diskutieren zu viert über Sallys und Joannas Problem. Mütter tun das vielleicht häufiger als Väter, aber Väter sind durchaus nicht dagegen gefeit. Aus der Sicht eines Kindes fehlt die Möglichkeit, auch einmal allein zu sein, ihm fehlt der Freiraum, um sich selbständig mit seinen Problemen zu beschäftigen und Lösungen dafür zu finden. Bald verlassen sich die Kinder voll und ganz darauf, daß die Eltern alles für sie erledigen. Sie wachsen in der Erwartung auf, daß sich alle immer vorrangig um sie kümmern: Lehrer, Betreuer, Verwandte, ja sogar Freunde. Daher fällt es manchen Kindern dieser überfürsorglichen Eltern so schwer, in der Schule zurechtzukommen, selbst in einer kleinen Klasse mit fünfzehn Schülern. Sie erwarten immer sofortige Anerkennung und -115-
Aufmerksamkeit vom Lehrer, auch wenn er gerade etwas anderes zu tun hat. Warum auch nicht? Die eigenen Eltern haben auch viel um die Ohren, lassen aber alles stehen und liegen, wenn es um die Kinder geht. Die Lösung des Problems erscheint einfach: mehr Abstand der Eltern und mehr Freiraum für die Kinder. Doch das ist leichter gesagt als getan, denn die Schuldgefühle, die das Verhalten von uns Eltern bestimmen, sitzen so tief, sind unbewußt und trotzdem so beherrschend, daß es uns oft nicht gelingt, uns zurückzuhalten. Wenn wir lernen, uns unsere Schuld einzugestehen und sie zu bewältigen, fällt es uns leichter, uns als Eltern angemessen zu verhalten, das heißt auch, unsere Zuwendung besser zu dosieren. Zum einen müssen wir uns klarmachen, daß Schuldgefühle das treibende Motiv unseres Handelns sind. Schuld manifestiert sich nicht nur in der »Rundum-Versorgung«, sondern auch darin, daß die heutige Elterngeneration ihre Kinder unendlich verwöhnt, in psychologischer wie in materieller Hinsicht. Erstaunt über den materiellen Luxus heutiger Kinder, erzählt mir eine Kollegin von ihrem erwachsenen Stiefsohn und dessen Tochter Molly. Molly gehört zu jenen Kindern, die mehr Spielsachen besitzen als ein Spielwarenladen, außerdem Schleifchen, Söckchen und andere Accessoires, die jeweils zu ihren vielen Kleidern und Puppen passen. Wie Maria im Fall Annas, so haben auch Mollys Eltern für ihre sechsjährige Tochter stets ein offenes Ohr. Sie versuchen, Mollys Gedanken und Gefühle ernst zu nehmen und sie als eigenständigen Menschen zu behandeln. Aber all diese gutgemeinten Bemühungen gehen in eine falsche Richtung. Molly muß keinerlei Verantwortung übernehmen, sie muß weder ihr Spielzeug aufräumen noch kleinere Aufgaben im Haushalt übernehmen. Was Molly will, bekommt sie ohne Wenn und Aber. Wenn Papa sie zu Bett bringt, sie jedoch lieber die Mami bei sich hätte, bekommt sie ihren Willen. Wenn sie nicht mehr -116-
essen will und statt dessen lieber möchte, daß alle zusammen singen, wird ihr auch dieser Wunsch erfüllt, auch wenn dabei das Essen kalt oder die Unterhaltung der Erwachsenen gestört wird. Maureen, die Mutter einer Neunjährigen, ruft mich an und berichtet, daß sie mit ihrer Tochter ihre Ex-Schwiegereltern in Chicago besuchen wolle. Die Schwiegermutter hat eben angerufen und gesagt, sie würde die beiden gern zum Essen ausführen, aber nur wenn Celine etwas zum Anlaß Passendes, ein Kleid oder einen Hosenanzug, trage. Maureen ist in heller Aufregung und sehr wütend auf ihre Schwiegereltern. Sie sagt, daß Celine sich anziehen kann, was sie will, solange es sauber ist, und daß sie ihr schon seit über vier Jahren diesbezüglich keine Vorschriften mehr macht. Wie verschroben Celines Kleidergeschmack auch immer ist, Maureen läßt es ihr durchgehen. Meist trägt ihre Tochter kurze Tops, weite T-Shirts und zerrissene Leggings. Sie befürchtet, daß die Bitte der Großmutter Celine wütend machen wird. Maureen spielt mit dem Gedanken, die Reise abzusagen, auf die sie sich sehr gefreut hat; sie findet, ihre Schwiegermutter sei unfair gegenüber Celine. Sie überlegt es sich dann doch anders. Aber als es soweit ist, weigert sich Celine, zum Essen mitzukommen, und besteht darauf, daß ihre Großmutter ihr einen Babysitter besorgt, statt die Demütigung auf sich zu nehmen und sich dem Anlaß entsprechend zu kleiden. Die Eltern dieser verwöhnten Kinder müssen doch einem anderen Elterntyp angehören als jene, die ihren Kindern ab einem bestimmten Alter einen Haustürschlüssel in die Hand drücken und ihnen eine Mahlzeit aus der Gefriertruhe auf den Tisch stellen, während sie selbst an Geschäftsessen teilnehmen; die ihre Kinder in exklusive Restaurants mit gediegener Atmosphäre mitnehmen, weil sie selbst dort gerne essen gehen; oder die ihre Kinder unter Druck setzen, den Eltern zuliebe perfekt zu sein. Nein, im Gegenteil: Molly wird von ihren Eltern -117-
zu allen Dinnerpartys mitgeschleppt. Und Celine muß sich mit den ständig wechselnden Männerbekanntschaften ihrer alleinerziehenden Mutter arrangieren. Ichbezogenheit und die tiefe Überzeugung, daß man stets das tun sollte, wozu man Lust verspürt, können dazu führen, daß man das rechte Maß verliert. Auch Eltern, die beruflich im Streß stehen, überfordert sind und zuwenig Zeit haben, nehmen sich häufig wichtiger als das Kind. Das wollen die Eltern dann ausgleichen, indem sie ihr Kind verwöhnen oder bevormunden. Das ist das wesentliche Kennzeichen einer von Schuldgefühlen geprägten Erziehung. Dieses Schuldgefühl läßt die Eltern ständig befürchten, ihrer Aufgabe nicht gerecht zu werden, und so entsteht das verrückte Bild von Eltern, die zu sehr auf sich selbst und zu sehr auf ihre Kinder konzentriert sind. Die Berufstätigkeit ist, äußerlich gesehen, der Hauptfaktor einer Erziehung, die von Schuldgefühlen überschattet wird. Alle Bemühungen von Eltern, ihre Sache gut zu machen, sind unter den heutigen Arbeitsbedingungen in Amerika zum Scheitern verurteilt. Seit einiger Zeit regt sich Protest gegen Arbeitsverhältnisse, die die Eltern zwingen, ihre Kinder sich selbst zu überlassen und viele Stunden am Tag außer Haus zu sein. 1991 berichtete Juliet Schor in ihrem Buch The Overworked American, daß erstmals, seit Umfragen zu diesem Thema durchgeführt werden, die meisten Amerikaner angeben, sie seien bereit, auf einen Teil ihres Einkommens zu verzichten, um mehr Zeit für sich und ihre Familie zu haben.4 Das Wall Street Journal brachte 1990 einen Artikel unter der Überschrift »Careers Start Giving in to Family Needs« (»Berufskarrieren werden zunehmend den Bedürfnissen der Familie untergeordnet«). Darin heißt es, daß »die Generation der Workaholics darum bemüht ist, ihr Familienleben wieder ins rechte Lot zu bringen«. Dies gelte »besonders für die Frauen der Babyboom-Generation von Anfang 30 bis Anfang 40, die spät Mutter werden und weniger Kinder bekommen. Sie wollen jetzt -118-
in ihren Nachwuchs genausoviel Energie investieren wie in ihre berufliche Karriere«.5 Aber nicht nur Frauen, auch Männer bemühen sich um einen besseren Ausgleich zwischen Beruf und Familie. Eine 1990 von der Los Angeles Times durchgeführte Umfrage ergab, daß 40 Prozent der Väter und 80 Prozent der Mütter angaben, sie würden aufhören zu arbeiten, wenn sie es sich leisten könnten, zu Hause zu bleiben und ihre Kinder großzuziehen.6 Obwohl es hier immer noch einen großen Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt, ist immerhin beachtlich, daß ein so hoher Prozentsatz von Männern es sich zumindest theoretisch vorstellen kann, zu Hause zu bleiben und ein Kind zu erziehen. Eine 1990 von Time/CNN durchgeführte Untersuchung ergab, daß 89 Prozent von 500 Befragten auf die Frage nach den Prioritäten in ihrem Leben antworteten, es sei ihnen wichtig, Zeit mit der Familie zu verbringen.7 Als ein erfolgreicher Investmentbanker seine hochdotierte Position an der Wall Street aufgab, um mehr Zeit für seine siebenjährige Tochter zu haben, erhielt er über 1000 Briefe von Menschen, die ihm zu diesem Schritt gratulierten.8 Doch noch kann sich die große Mehrheit der Eltern den Luxus, ihren Beruf aufzugeben, nicht leisten. Theoretische Einstellung und praktisches Verhalten stimmen außerdem nicht immer überein. Die Eltern geben zwar an, daß sie mehr Zeit für ihre Kinder haben möchten, aber wenn sie tatsächlich die Möglichkeit hätten, weniger zu arbeiten oder ihren Job ganz an den Nagel zu hängen, sähe die Sache vielleicht anders aus. Das Bedürfnis nach Sicherheit und der Stellenwert, den die Arbeit in ihrem Leben einnimmt, könnten im konkreten Fall den Ausschlag geben. Aber die Eltern wissen genau, daß die heutige Situation einem guten Familienleben nicht zuträglich ist, ob sie daraus Konsequenzen ziehen oder nicht. Eine große Zahl junger Leute, die nachfolgende Elterngeneration, räumt der Familie gegenüber dem Beruf einen -119-
noch größeren Stellenwert ein. Die Leiterin einer Stellenvermittlung in einer kommunalen Wirtschaftshochschule ist erstaunt über den Gesinnungswandel männlicher und weiblicher Studenten Ende Zwanzig, die in den letzten Jahren zu ihr zur Beratung kamen. Der »Yuppie« ist tot. Studentinnen und Studenten stehen heute vor einem Dilemma. Sie streben nicht mehr nach Erfolg, sondern wollen eine Arbeit, die ihnen ein normales Familienleben erlaubt. Die Männer akzeptieren, daß ihre Frau ebenfalls berufstätig ist, und sind bereit, sich an der Kindererziehung zu beteiligen. Viele Studenten lehnen es ab, sich bei den großen Unternehmen zu bewerben, deren Arbeitsbedingungen unmenschlich und zermürbend sind, wie sie sagen. Sie beobachten, wie sich Männer und Frauen, die zehn oder zwanzig Jahre älter sind als sie selbst, in ihrem Beruf abrackern und wie wenig Zeit ihnen für ihre Familie bleibt. Deshalb sagen sie mit Entschiedenheit: »Das ist nichts für mich!« Juliet Schors Untersuchungen bestätigen diesen Wandel: »Männer und Frauen, besonders jüngere, stellen heute andere Erwartungen an Familie und Beruf. Sie räumen mit der Vorstellung auf, daß Männer die Familie ernähren und Frauen die ›zweite Schicht‹ im Haushalt übernehmen müssen eine Tendenz, die auf ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen Arbeit und Familie hoffen läßt.«9 Doch wer bereits in der Tretmühle steckt und Kinder hat, erkennt oft nicht, daß auch er die Möglichkeit hat zu sagen: »Das ist nichts für mich.« Wenn man erst einmal unter diesem Druck steht, hat man das Gefühl, man müsse ein bestimmtes Einkommen nach Hause bringen, um ein gewisses Maß an Wohlstand und Sicherheit aufrechtzuhalten und seinen Kindern eine gute Zukunft zu bieten. Zwei gute Freunde von mir - sie haben drei Kinder und üben einen sehr zeitaufwendigen, aufreibenden Beruf aus brechen unter der Belastung beinahe zusammen. Sie haben ständig -120-
Schulden, denn sie müssen nicht nur die laufenden Kosten für das Haus und die Schule bezahlen; sie sparen auch noch für den späteren Collegebesuch der Kinder. Das zweite Kind zeigt zu Hause und in der Schule alarmierende Streßsymptome. Die Lehrerin hat die Eltern in die Sprechstunde gebeten und ihre Bedenken geäußert. Erst der Hilferuf des kleinen Mädchens hat meine Freunde veranlaßt, innezuhalten und nachzudenken, wie sie ihm helfen könnten. Bis dahin hatten sie geglaubt, sie müßten nur immer so weitermachen, weil es ja letztlich dem Glück und Wohlbefinden der ganzen Familie zugute käme. Das Problem war nur, daß keiner glücklich war und sich auch keiner so richtig wohlfühlte. Glücklicherweise liegt beiden Elternteilen sehr viel an ihren Kindern, und beide haben einen Beruf, in dem sie sich ihre Arbeitszeit selbst einteilen können. Sie werden in Zukunft weniger arbeiten, auch wenn dann noch weniger Geld für Zusatzunterricht, Reisen und Privatschulen zur Verfügung steht. Was tun die meisten Eltern in einer solchen Situation? Nicht alle sind beruflich so flexibel wie meine Freunde. Halten Sie einen Augenblick inne und denken Sie über ihre eigenen Gefühle nach, oder versuchen Sie sich vorzustellen, wie sich Eltern fühlen, die einen anstrengenden ganztägigen Beruf ausüben, der ihre ganze Energie fordert, die außerdem Kinder haben, für die sie wenig Zeit erübrigen können. Stellen wir uns folgende Situation vor: Ihr Kind kommt mit einem Brief des Lehrers nach Hause, in dem steht, die Leistungen Ihres Kindes in Rechnen seien unterdurchschnittlich. Der Lehrer fordert Sie auf, sich mit Ihrem Kind hinzusetzen und das Einmaleins zu büffeln, und er führt an, wieviel Zeit die anderen Eltern in der Klasse durchschnittlich aufwenden, um mit ihrem Kind zu üben. Was damit implizit gesagt wird: Sie haben nicht genug getan. Sie erfahren, daß es Ihre Schuld ist, wenn Ihr Kind den Anforderungen nicht gewachsen ist, weil Sie nicht für eine entspannte häusliche Atmosphäre sorgen. Sie -121-
selbst haben seit Wochen keine ruhige Minute gehabt und waren von Ihrem Beruf, der Kindererziehung und den Haushaltspflichten rund um die Uhr in Anspruch genommen. Familienzeitschriften und Ratgeberbücher versichern Ihnen, daß Sie die Zeit, die Sie außer Haus verbringen, durch »qualitative Zeit« aufwiegen können, die Sie ausschließlich Ihrem Kind widmen. In aller Regel sind diese kostbaren Momente mit Mama oder Papa von hektischer Betriebsamkeit ausgefüllt, die dem Kind Freude bringen sollen. Die andere Art von Zeit, der Alltagsrhythmus, in dem Kind und Erwachsener lernen, einen bestimmten Zeitraum angenehm miteinander zu verbringen (wovon ein Teil schlicht »unausgefüllte« Zeit ist, etwa wenn Vater oder Mutter anderweitig beschäftigt sind oder das Kind in Ruhe gelassen wird), ist in der Tat knapp bemessen. Auch wenn sie knapp bemessen ist, so ist »unausgefüllte« Zeit manchmal besser als die »betriebsame« Zeit und dem seelischen Wohlbefinden der Eltern und des Kindes zuträglicher. Amy und Fred kommen zu mir, weil sie wegen ihres sechsjährigen Sohnes Felix Rat suchen. Beide haben einen langen Arbeitstag hinter sich und können abends nur wenige Stunden erübrigen, die sie mit ihrer Familie verbringen. Amy ist wütend auf Fred, weil er in der kurzen Zeit, die er mit Felix verbringt, das Kind in sein Zimmer gehen und tun läßt, was es will. Mama hat das Gefühl, daß Fred seinen Sohn vernachlässigt; da er sowieso schon wenig Zeit für ihn erübrigen kann, könnte er das bißchen gemeinsame Zeit doch wenigstens mit ihm spielen und für ihn da sein. Genau darum bemüht sich Amy. Fred ist seinerseits ärgerlich und meint, daß Felix eben einfach gern allein in seinem Zimmer sei und ihm das besser gefalle als alles andere. Ich muß mich anstrengen, um die Wogen zu glätten und beide zu veranlassen, den Standpunkt des jeweils anderen zu verstehen, und um dann die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was Felix will und braucht, und zwar über das hinaus, was die Eltern für Felix wollen. Amy sieht ein, daß auch -122-
die »unausgefüllte« Zeit nicht verkehrt ist. Fred erkennt, daß er, der ein Einzelgänger ist, in der gemeinsamen »qualitativen Zeit« seinem Sohn helfen könnte, indem er etwas mit ihm unternimmt, statt zuzulassen, daß sich Felix zurückzieht. Mama mußte mehr »unausgefüllte« Zeit, Papa mehr »kindbezogene« Zeit für das Kind erübrigen. Doch auch wenn es den Eltern gelingt, zwischen betriebsamer Zeit und unausgefüllter Zeit ein Gleichgewicht herzustellen, wissen sie im Grunde genau, daß sie mit falscher Münze zahlen. Wie in jeder Beziehung zwischen Menschen, die sich lieben, braucht es Zeit, damit etwas gedeihen kann. Und Eltern haben diese Zeit für ihre Kinder nun einmal nicht zur Verfügung. Sie sind daher gezwungen, ihre gesamte elterliche Zuwendung in einen Fingerhut von kurzen Augenblicken zu packen. Von Schuldgefühlen geplagt, daß sie den ganzen Tag fern von ihren Kindern am Arbeitsplatz verbringen, möchten sie vermeiden, daß ihre Kinder böse auf sie sind, wenn sie abends nach Hause kommen. Sie befürchten, daß ihre Kinder unter der Abwesenheit der Eltern gelitten haben. Da sie zu einer Generation gehören, die nicht glaubt, daß sie oder ihre Kinder es verdient haben zu leiden oder daß man dem Leiden auch etwas Gutes abgewinnen kann, werden ihre Schuldgefühle immer heftiger, und dann bieten sie Entschädigungen an. Sie möchten, daß sich ihre Kinder mit der Situation abfinden, sie wünschen sich ein Signal, daß es nicht so furchtbar schlimm ist, wenn sie so lange abwesend sind. Daher schaffen sie für ihre Kinder ein Märchenland ohne Regeln und Pflichten: Das Kind ist abends Prinz oder Prinzessin. »Wir verlangen ihnen schon so viel ab (weil wir so oft nicht da sind), wie können wir da noch mehr von ihnen fordern (wenn wir bei ihnen sind)?« Das ist das Leitprinzip von Müttern und Vätern, die von Schuldgefühlen getrieben werden. In diesem Märchenland ersetzen Mütter und Väter bedenkenlos die Zeit durch materielle Dinge. Mollys Zimmer ist -123-
mit Spielzeug und Kleidern vollgestopft. So manch ein Einkaufsbummel ist ein Schwelgen in Konsum, damit alle sehen können, was sich die Eltern leisten können. Aber auch viele Eltern, die nur knapp über die Runden kommen und trotzdem dafür sorgen, daß ihr Kind die neuesten Computerspiele hat, weil »es das mindeste ist, was wir tun können«, lassen sich von Schuldgefühlen leiten. »Selbstfindung« und »Selbstverwirklichung« können mit der Erziehung eines Kindes kollidieren. Und das wissen wir im Grunde auch. In der therapeutischen Praxis wird zwischen »ichgerechtem« und »ichwidrigem« Verhalten unterschieden. Ichgerechtes Verhalten führt nicht zu inneren Konflikten, sondern steht in Harmonie mit den Wurzeln unseres Seins und unseren tiefsten Wünschen und Bedürfnissen. Das heißt aber noch lange nicht, daß es gesundes Verhalten ist. Es heißt nur, daß es uns nicht weh tut. Ein Beispiel gibt die geschiedene Mutter, die mich verständnislos anschaut, als ich ihr erkläre, ihr vierjähriger Sohn leide sehr darunter, daß seine Mutter so wenig Zeit für ihn hat. »Was ist denn das Problem?« gibt sie mir zur Antwort. »Die meisten Mütter arbeiten doch von morgens um sieben bis abends um acht? Wollen Sie mir ein schlechtes Gewissen einreden?« Ichwidriges Verhalten dagegen ist ein Verhalten, das uns quält und uns das Gefühl gibt, daß wir diesen Teil unserer selbst nicht mögen und uns lieber anders verhalten würden, wie zum Beispiel die Mutter, die sich an ihrem Arbeitsplatz mit dem Gedanken herumquält, daß ihr Kind so viel Zeit in der Tagesstätte verbringt. Ich denke, daß die meisten von uns als Eltern an ichwidrigem Verhalten leiden. Wie wir mit unseren Kindern umgehen, behagt uns nicht. Der prekäre Balanceakt zwischen unseren Bedürfnissen und Wünschen und den Bedürfnissen und Wünschen unserer Kinder macht uns schwer zu schaffen. Die goldene Regel des Strebens nach Glück hilft uns nicht weiter, sie belastet uns eher. -124-
Es gibt genügend Raum für uns und für unsere Kinder, auch wenn wir herzlich wenig Zeit für sie haben. Aber wir müssen bereit sein, zurückzustecken und einzusehen, daß unsere goldene Regel nicht immer anwendbar ist. Wir - und auch unsere Kinder - können nicht alles haben. Und das Leben ist kein reines Zuckerschlecken. Es bedeutet Glück, aber auch Traurigkeit; Erfüllung, aber auch Enttäuschung. Es vermittelt Freude, aber auch Leid. Womöglich werden meine Freunde mit den drei Kindern, von denen bereits die Rede war, den Höhepunkt ihrer beruflichen Karriere nicht so rasch erreichen. Aber der Lohn dafür, daß sie ihre beruflichen Aktivitäten zurückstecken, ist eine emotional gesündere Tochter. Dank der Notsignale des Kindes bietet sich ihnen die Gelegenheit, über die ständigen Schuldgefühle in der Elternrolle hinwegzukommen. Zunächst wird sich das schlechte Gewissen schmerzlich bemerkbar machen, wenn sie den kaum zu bewerkstelligenden Balanceakt zwischen dem für ihr Kind schädlichen Zuviel und Zuwenig kritisch betrachten. Dann aber werden sie Mittel und Wege finden, den Schaden wirklich wiedergutzumachen, und nicht wie besessen versuchen, ihrer Tochter durch Rundum-Versorgung oder übergroße Nachsicht zu helfen. Diese Wiedergutmachung bringt es mit sich, daß ihre Tochter (wie auch die beiden anderen Kinder) ein geruhsameres Leben führen und mehr Zeit mit Mama und Papa verbringen kann. Und wenn die psychologische Schuldtheorie stimmt, wird diese echte Wiedergutmachung die Schuldgefühle lindern und den Konflikt lösen, der dieser Schuld zugrunde liegt: den Konflikt zwischen dem Gefühl, selbst alles haben und zugleich dem Kind alles geben zu wollen. Betreuung per Piepser Die Schuldgefühle der Eltern sind tatsächlich eine Frage von -125-
Zeit und Raum. Wenn die Eltern mit den Kindern zusammen sind, vergöttern sie sie. Alle Augen sind auf sie gerichtet. Kein Wunsch wird ihnen abgeschlagen, und keine Forderungen werden an sie gestellt. Die Eltern geben »zuviel«. Aber dadurch wird nicht die Tatsache aufgehoben, daß Eltern zuviel Zeit außer Haus verbringen, um anderen Interessen nachzugehen. In dieser Zeit geben sie ihren Kindern »zuwenig« Zuwendung. Immer wieder habe ich beobachtet, wie wohlmeinende Eltern die Tatsache, daß sie so wenig Zeit für die Kinder haben, durch eine verlockende Alternative auszugleichen suchen: Sie sind mittels Piepser erreichbar. Viele berufstätige Eltern tragen elektronische Piepser bei sich, damit das Kind sie in dringenden Fällen anfunken kann. Das ist eine praktische Lösung für Eltern, die nicht immer ein Telefon in der Nähe haben und deren Kinder nach der Schule viele Stunden allein sind. Es steckt noch etwas anderes dahinter: Wenn die Eltern schon nicht persönlich da sein können, so sind sie wenigstens elektronisch jederzeit abrufbar. Catherine ist Dozentin an einer städtischen Universität. Sie trägt einen Piepser bei sich, damit ihre neunjährige Tochter Barbara sie jederzeit erreichen kann, aber sie hat ihr eingeschärft, nur im äußersten Notfall anzurufen. In den anderen Fällen solle sie sich mit ihrem Großvater in Verbindung setzen, der fast immer da ist und gerne hilft. Catherine ist mitten in einer Vorlesung. Ihr Piepser ertönt. Catherine unterbricht ihre Vorlesung und eilt mit klopfendem Herzen und auf eine Katastrophe gefaßt zum Telefon. Es ist ihre Tochter. Barbara ist zu Hause, sie fühlt sich nicht gut. Warum sie nicht ihren Großvater angerufen habe, wie sie es ihr gesagt hat? tadelt Catherine. Sie wollte einfach gern mit ihrer Mami sprechen, gibt Barbara zurück. Catherine ist außer sich vor Wut, sie hat ihre Vorlesung unterbrochen, ihre berufliche Sphäre wurde verletzt. Ihre Studenten, allesamt in ersten Studienjahr, die eben erst das Elternhaus verlassen haben, finden es gut, daß Catherine einen »Mamipiepser« hat, und haben nichts dagegen, daß sie die -126-
Vorlesung unterbricht, wenn ihre Tochter sie braucht. Catherine trägt ihren Piepser weiterhin mit sich herum, und es wird wahrscheinlich noch viele derartige Anrufe geben. Melissa besucht die Abschlußklasse der High-School. Ihre Mutter arbeitet in der Psychiatrie. Melissa ist wütend, weil ihre Mutter keinen Piepser hat, obwohl diese ihren Anrufbeantworter stündlich abhört. Melissa kann nicht jederzeit mit ihrer Mutter sprechen, wenn sie möchte. Das sei aber dringend nötig, meint sie. Wenn sie nun die Erlaubnis braucht, um mit einer Freundin nach San Francisco zu fahren, oder wenn sie mit ihr reden muß, weil in der Schule alles schiefging? Melissa will nicht lockerlassen, bis ihre Mutter sich bereit erklärt, sich einen Piepser anzuschaffen. Das ist das mindeste, was sie für ihre Tochter tun kann, wenn sie schon ganztags ihrem Beruf nachgeht. Wir sehen, daß sich Kinder beschweren, weil sie ihre Eltern, besonders die Mutter, nicht oft genug sehen. (Es wäre interessant festzustellen, wie viele Väter im Vergleich zu den Müttern einen Piepser haben.) Gleichzeitig sehen wir in Catherines Entscheidung, einen Piepser zu tragen, und Melissas Forderung, ihre Mutter solle sich einen kaufen, mißglückte, ungenügende und übermäßige elterliche Zuwendung in einem. Die Eltern sind zu selten bei ihren Kindern, aber gleichzeitig gibt es keine Grenzen mehr zwischen Kind und Eltern, und die Kinder dürfen die Aufmerksamkeit ihrer Eltern immer und überall fordern. Ich halte das für einen jener verzweifelten Versuche der Eltern, ihre Schuld wiedergutzumachen. Ein besserer Ausgleich wäre es, wenn sie mehr zu Hause wären, ihre Kinder aber nicht übermäßig verhätscheln würden, so daß es gar nicht zu der Erwartung kommt, Mama und Papa müßten stets »auf Abruf bereitstehen«. Die Schuldgefühle der Eltern und die »Kind-Erwachsenen« -127-
Elterliche Schuldgefühle sind eng verknüpft mit dem Image des modernen Kindes, des sogenannten »Kind-Erwachsenen«. Meistens ist die Erziehung bei gleichzeitigen Schuldgefühlen für das ambivalente Bild verantwortlich, das wir von unserem Kind haben: halb das süße Engelchen und halb der kleine Erwachsene. Selbst wenn Eltern, die beruflich oder anderweitig beschäftigt sind, einen Piepser haben, werden sie sich damit beruhigen, daß ihr Kind auch ohne sie (das heißt, ohne elterliche Aufmerksamkeit, Fürsorge und Schutz) gut zurechtkommt. Um ihr schlechtes Gewissen zu ertragen, müssen sich die Eltern ein Bild von ihrem Kind zurechtlegen, das ihr Vertrauen in seine Selbständigkeit stärkt und die eigene Schuld lindert. Der eine Pol des Kind-Erwachsenen, der kleine Erwachsene, ist dafür das ideale Bild. Man stellt sich vor, daß es dem Kind gar nichts ausmache, um sechs Uhr abends ungeduldig an der Tür der Tagesstätte zu warten, einen Schlüssel um den Hals zu tragen und nach der Schule allein zu Hause zu sein oder sich drei Abende in der Woche sein Abendessen in der Mikrowelle selbst zuzubereiten. Diese Sicht des Kindes als kleiner Erwachsener verleitet die Eltern zu glauben, daß den Kleinen dieselben Dinge Spaß machen wie den Großen, die ständig dem Glück hinterherjagen. Sie meinen, das Kind amüsiere sich bei Dinnerpartys bis spät in die Nacht und finde Gefallen an einem dicht gedrängten Tagesablauf - wie sie selbst. Aber die Vorstellung vom kleinen Erwachsenen ist nur eine Notlösung, nur ein weiterer verzweifelter Versuch der Wiedergutmachung. Das schlechte Gewissen, weil wir zuwenig Zeit haben und dem Kind nicht genügend bieten, bricht sich schließlich Bahn, und wir Eltern öffnen die Augen und sehen ein Kind, das schwach und hilflos ist und Fürsorge und Zuwendung braucht - das süße Engelchen, der zweite Pol des KindErwachsenen. Das Kind ist jetzt plötzlich nicht mehr der kleine -128-
Erwachsene, der während der Abwesenheit der Eltern sein Leben selbst in die Hand nimmt, sondern wird zum pflege- und schutzbedürftigen Säugling. Unser schlechtes Gewissen verlagert sich jetzt auf die Vorstellung vom süßen Engelchen, für das wir das Märchenland der »zweiten Schicht« aufbauen. Wenn wir unsere armen Babys schon nicht während unserer Abwesenheit von den Unwägbarkeiten der Außenwelt abschirmen können, so können wir doch wenigstens zu Hause für sie ein konfliktfreies Klima schaffen. Als Rebecca ein Jahr alt war, gaben sie ihre Eltern fünf Vormittage in der Woche in eine Kinderkrippe, während sie selbst an ihrer Dissertation im Fach Medizin arbeiteten. Rebecca tat sich nicht leicht mit dieser Regelung. Jeden Morgen klammerte sie sich an ihre Eltern, wenn sie von ihnen in der Kinderkrippe abgeliefert wurde. Jeden Morgen weinte sie und weigerte sich, ihr blaues Jäckchen auszuziehen, ganz gleich, wie warm es war. Oft trafen ihre Eltern sie mit rotem Gesicht, schwitzend und verschüchtert an, wenn sie sie abends abholten. Aber sie redeten sich ein, daß diese Regelung Rebecca guttue. Sie würde sich mit der Zeit schon daran gewöhnen, und es würde ihr gut bekommen, mit Gleichaltrigen und auch mit anderen Erwachsenen umzugehen, statt den ganzen Tag zu Hause zu sein. Sie waren der ehrlichen Überzeugung, daß Rebecca sich an die Situation gewöhnen werde, auch wenn sie das kleine blaue Jäckchen den ganzen Tag anbehielt. Rebeccas Eltern schlössen unterdessen ihre Dissertation ab. Bis zum Alter von sechs Jahren begehrte Rebecca allabendlich sofort auf, wenn ihre Eltern sie auch nur einen Augenblick allein ließen. Sie wollte nicht nur einen Elternteil, sondern beide bei sich haben. Sie wollte, daß sich ihre Eltern mit ihr beschäftigten, und sie wollte, daß es ihren Eltern Spaß machte, sich mit ihr zu beschäftigen. Nachts weckte sie die Eltern mehrmals auf, um getröstet zu werden und nicht allein zu sein. Sie ließen es geschehen, denn sie glaubten, daß ihr -129-
Tochterchen abends ganz besonders empfindsam und feinfühlig sei und daher besondere Zuwendung brauche. Sie sahen keinen Widerspruch in ihrer Wahrnehmung von Rebecca tagsüber und von Rebecca abends. Jahre später (Rebecca ist inzwischen eine junge Frau) blicken die Eltern zurück und bedauern, daß sie keine andere Regelung gefunden haben. Sie erkennen, daß die Kinderkrippe eine zu große Belastung für Rebecca war und daß sie in Anbetracht ihres Temperaments und ihrer seelischen Bedürfnisse besser eine Tagesmutter zu Hause angestellt hätten. Sie bedauern, daß sie ihrer Tochter nicht mehr von der »unausgefüllten« Zeit gaben, von der oben die Rede war, und ihr nicht halfen, ihre eigenen inneren Kraftreserven zu mobilisieren. Sie sind beide der Meinung, daß sie nachts, wenn Rebecca aufwachte, zu nachgiebig waren und daß sie ihr hätten vermitteln müssen, daß die Nacht zum Schlafen da ist und der Tag dafür, Probleme zu lösen. Ich kann bezeugen, wie sehr Rebeccas Eltern dies bedauern, denn diese Eltern sind mein Mann und ich. Als berufstätige Eltern wünschen wir uns heute, wir hätten unsere Schuldgefühle damals besser erkannt und nicht versucht, an unserem Kind etwas wiedergutzumachen, indem wir ihm abends und nachts jeden Wunsch erfüllten. Dann wären wir Rebecca besser gerecht geworden. Wir fühlen uns nicht deswegen schuldig, weil wir zwischen zuviel und zuwenig elterlicher Zuwendung hin- und hergerissen sind. Im Gegenteil. Es ist unser Schuldgefühl, das dieses Hinund Hergerissensein verursacht. Das Hin und Her ist das Symptom, die Schuld ist die Krankheit. Daher besteht die Lösung des Problems darin, das Schuldgefühl in Angriff zu nehmen. Wenn wir nicht bereit sind, der eigentlichen Krankheit zu Leibe zu rücken, werden die Symptome in immer wieder neuer Gestalt auftauchen.
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5 »Mein Sohn, der Arzt«
Wir alle neigen dazu, unsere Kinder für die intelligentesten, hübschesten und außergewöhnlichsten auf der Welt zu halten. Und wir haben Angst, daß uns etwas von ihrer Besonderheit entgeht und daß wir aus Versehen nicht alle ihre Fähigkeiten zur Entfaltung bringen. Michael Schwartzman1 Mütter und Väter sind heute in der Lage, die Entwicklung ihres Kindes vorherzubestimmen, noch bevor es den Mutterschoß verlassen hat. Das Sonogramm, auf Video aufgezeichnet, dient überall in Amerika als neue Art der häuslichen Unterhaltung. Werdende Mütter und Väter, Verwandte und enge Freunde der Familie sitzen vor dem Fernseher und bestaunen Bewegungen, Aussehen und Gestalt des ahnungslosen kleinen Lebewesens, das noch im Entstehen ist. Schon der Fötus hat sich von einer abstrakten Vorstellung, von einer halluzinatorischen Vision in eine lebensfähige und sichtbare Person verwandelt. Wenn der Arzt dann auch noch das Geschlecht des Babys bestimmt hat, können die Eltern anfangen, konkrete geschlechtsspezifische Erwartungen zu formulieren, die sie an den kleinen Mann oder die kleine Frau haben. Der Wettlauf beginnt. Die Eltern wünschen sich ein vollkommenes Kind. Jetzt müssen sie herausfinden, was das ist und wie sie dazu kommen. Noch bevor unsere Kinder geboren werden, träumen wir von ihren künftigen Erfolgen. Wenn sie dann zur Welt kommen, fühlen wir uns gezwungen, sie in diese Richtung zu beeinflussen. -131-
In der jüdischen Kultur meiner Kindheit sagte man in scherzhafter Anspielung: »Mein Sohn, der Arzt«. Die erste Generation der amerikanischen Juden erkannte, daß sie ihren Söhnen in den Vereinigten Staaten den Weg zu Erfolg und Ansehen am besten ebneten, wenn sie diese Medizin studieren ließen. Der entsprechende Slogan für die Tochter lautete: »Such dir einen netten Arzt als Mann.« Die Zeiten haben sich geändert. Wegen der bevorstehenden Reformen im amerikanischen Gesundheitswesen ist zu vermuten, daß für einen jungen Erwachsenen heute der Arztberuf nicht mehr unbedingt die lukrativste und prestigeträchtigste Karriere verspricht. Jungen jüdischen Erwachsenen stehen zahlreiche andere Wege zum Erfolg offen. Aber die Vorstellung, daß es die Kinder einmal zu etwas bringen sollen, wie sie in meiner eigenen Kindheit weit verbreitet war, hat sich heute nicht nur verstärkt, sie ist bis in den hintersten Winkel der amerikanischen Gesellschaft vorgedrungen. Der einzige Unterschied ist, daß das Kind schon weitaus früher angehalten wird, erfolgreich zu sein, und daß das Diktum »Mein Sohn, der...« heute auch auf die Tochter ausgedehnt wird. Und so sind wir bei »Mein Sohn, der Arzt« angelangt. Der ständige Konkurrenzkampf Ein Elternpaar suchte mich wegen seiner einjährigen Tochter auf. Das vordergründige Problem war die Suche nach einer geeigneten Vorschule, die das Kind in zwei Jahren besuchen sollte. Das hatte man mir bereits am Telefon gesagt. Dieses reichlich ungewöhnliche Problem machte mich neugierig, und ich wollte mehr über die Hintergründe dieser Familie erfahren. Die Mutter wirkte nervös und abgespannt, der Vater etwas desorientiert. Sie quälte sich mit Vorwürfen, daß sie bei der Suche nach einer Vorschule für ihre Töchter alles falsch mache, und wollte sich bei mir Rat holen. Sie hatte von anderen Eltern -132-
gehört, daß man frühzeitig mit der Suche beginnen müsse, weil für eine wachsende Zahl von Kindern nur eine begrenzte Zahl von Plätzen zur Verfügung stehe. Atemlos sagte sie: »Wenn Arielle nicht die richtige Vorschule findet, ist sie nicht für eine gute Grundschule qualifiziert, und dann hat sie Nachteile in der High-School und auf dem College, die nicht mehr aufzuholen sind.« Leise schluchzend fuhr sie fort: »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Es ist unser erstes Kind. Und ich hasse diesen ganzen Druck. Ich finde es entsetzlich, für mich und für mein Kind. Aber ich kann mich dem nicht entziehen, denn alle anderen machen es genauso, und ich will mein Kind nicht im Regen stehenlassen.« Der Vater schwieg dazu, wie es Männer häufig bei solchen Beratungsgesprächen tun. Er machte sich Sorgen um seine Frau und wußte nicht so recht, was er von der ganzen Sache halten sollte. Diese Mutter brauchte vordergründig zunächst einmal eine Bestätigung dafür, daß alles, was sie unternahm, richtig war, daß sie tatsächlich alle geeigneten Vorschulen gesichtet hatte und daß ihre Sorgen berechtigt waren. Doch sie spiegelte nur die Gefühle vieler anderer Eltern wider, etwa der Mutter des vierjährigen Andrew, die erfahren hatte, daß ein Vierjähriger in ihrem Wohnviertel einen Privatlehrer hatte, der ihm Mathematik und Lesen beibrachte. »Das macht mich ganz nervös«, meinte sie. »Wenn andere Kinder Privatlehrer haben, braucht dann Andrew auch einen?«2 Ich stimmte der Ansicht von Arielles Mutter zu, daß es in der Tat besser wäre, wenn wir uns von dem Druck befreien und wenn unsere Söhne und Töchter einfach nur die kleinen Kinder sein könnten, die sie sein sollen. Aber ich wußte, daß sie all ihre Bedenken und Selbstvorwürfe nicht ohne weiteres über Bord werfen und ihre verzweifelten Versuche aufgeben würde, mit den anderen Eltern gleichzuziehen, um ihrer Tochter eine optimale, leistungsorientierte Kindheit zu bieten. Sie spürte, daß sie von einer Strömung mitgerissen wurde, die stärker war als -133-
sie und ich, zumal in unserer Kultur die allgemeine Unsicherheit und Angst in bezug auf Arbeit, Familie, Politik und Wirtschaft wächst. Obwohl sie zu Recht das Gefühl hatte, dies müsse anders sein, glaubte sie, daß sie es sich nicht leisten könnte, gegen den Strom zu schwimmen, der sie und ihre Tochter in Richtung Erwachsenwerden vorwärtstrug. Obwohl sie merkte, daß es »verrückt ist, was wir da tun«, meinte sie, die Situation sei außer Kontrolle geraten. Die einzige Möglichkeit zu gewährleisten, daß ihr Töchterchen den Kopf über Wasser halten konnte, sah sie darin, es in die besten Schulen der Stadt zu schicken. Ich wußte, daß meine vordergründige Beschwichtigung keineswegs dazu beitrug, das tieferliegende Problem dieser Familie zu lösen. Auch hatte ich das dumpfe Gefühl, nicht zum Kern des Problems vorgedrungen zu sein. Ohne fremde Hilfe und unter dem zweifachen Druck von außen und von innen bestand bei dieser Mutter die Gefahr des »chronischen Elternangst-Syndroms«, falls man von einer solchen Diagnose sprechen kann. Wegen der Passivität ihres Mannes und der fehlenden Klarheit darüber, welche Leistungen ein Kleinkind zu erbringen hatte, wurde ihre Angst nur noch schlimmer. Arielles Eltern verließen die Beratung mit dem Gefühl, genau das bekommen zu haben, was sie gewollt hatten: eine Bestätigung dafür, daß sie die richtigen Vorschulen ins Auge gefaßt hatten. An einem weiteren Termin waren sie nicht interessiert. Da es mir nicht gelungen war, mit ihnen den nächsten Schritt zu tun, war ich mit meiner Beratung unzufrieden. Vielleicht hatte ich die Sache zu leicht genommen, hatte zuviel Verständnis gezeigt und die Mutter allzu sehr bestätigt, statt ihre Einstellung kritisch zu hinterfragen; aber deswegen hatte sie mich ja nicht aufgesucht. Und ich kam zu dem (wie ich heute glaube, falschen) Schluß, daß sie für etwas anderes als die Frage nach der richtigen Vorschule für ihre Tochter gar nicht aufgeschlossen gewesen wäre. -134-
Nachdem die Eltern gegangen waren, saß ich da und dachte: »Sie kommen mit Sicherheit wieder, wenn sie mit den Leistungen ihres Kindes unzufrieden und unsicher sind, ob sie ihrer Tochter zum Erfolg verhelfen können.« Vielleicht böte sich dann noch einmal die Chance anzusprechen, wie sie sich diesem Wettlauf entziehen könnten - später, wenn sie offener wären oder sich lange genug den Kopf zerbrochen hätten. Vielleicht würde ihnen dann klar, daß das Leben ihrer Tochter gut war, so wie es war, auch wenn sie nicht die allerbeste Vorschule und später nicht das Top-College besuchte. Möglicherweise wäre das sogar besser, damit ihre Tochter ihren eigenen Weg finden könnte, statt den von anderen vorgezeichneten Weg des Perfektionismus zu gehen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht rechtzeitig eingeschritten war, und ich überlegte, wieviel glücklicher sich diese Eltern doch fühlen würden, wenn sie ihre Ängste ablegen und sich die Freiheit nehmen könnten, sich an ihrer kleinen Tochter einfach nur zu freuen. Die ideale Lösung für die Probleme dieser und anderer Familien wäre, daß alle gleichzeitig »die Gewehre niederlegten« und somit der Krieg zu Ende wäre. Aber keiner möchte das Risiko eingehen, als erster Frieden zu schließen. Also stärken Eltern ihre Position, indem sie ihre Kinder antreiben, sie auf Leistung trimmen, sie in alle möglichen Schulen schicken, ihnen Kurse und Nachhilfeunterricht bieten und ihnen kulturelle Angebote machen, um ihre Zukunftschancen zu verbessern. Die Sorge, ob es unsere Kinder »schaffen« werden, raubt uns den gesunden Menschenverstand und läßt selbst die vernünftigsten Eltern irre werden. Diese Angst ist die Triebfeder dafür, daß wir unsere Kinder derart unter Druck setzen und durch ihre Kindheit hetzen. Neurotische und überängstliche Eltern hat es immer gegeben, aber diese Ängste haben jetzt geradezu epidemische Ausmaße erreicht und dazu geführt, den Kindern immer mehr Leistung abzuverlangen. Der Inhalt dieser -135-
Anforderungen ist in jeder Familie unterschiedlich. Die einen wollen aus ihrem Kind ein Mathematikgenie machen, die anderen einen umfassend gebildeten Renaissancegelehrten. Aber unabhängig von der inhaltlichen Ausrichtung ist das Ziel stets dasselbe: Das Kind soll an die Spitze. Allerdings ist es geradezu eine Binsenweisheit der Psychologie, daß Angst Schuldgefühle nährt und umgekehrt. Die Eltern machen sich Sorgen um die Zukunft ihres Kindes. Doch immer sind auch Schuldgefühle mit im Spiel, das schlechte Gewissen, wir hätten als Eltern versagt und den Kindern kein gesundes Selbstvertrauen eingeflößt - eine Aufgabe, die Eltern sehr ernst nehmen und für die sie eine große Verantwortung empfinden. Welche Art von Perfektion schwebt uns vor? Vor langer Zeit galt das Kind als das perfekte Kind, das man zwar sehen, aber nicht hören konnte. Wenn wir in die zwanziger Jahre zurückgehen, finden wir folgende Beschreibung des idealen Kindes: »Das ideale Kind ist eines, das nie weint, wenn es nicht, bildlich gesprochen, geradezu mit einer Nadel gestochen wird,... das so an Höflichkeit, Sorgfalt und Sauberkeit gewöhnt ist, daß Erwachsene es gern wenigstens einen Teil des Tages um sich haben mögen,... das ißt, was man ihm vorsetzt, das schläft und ruht, wenn man es zum Schlafen oder Ausruhen ins Bett legt,... und das endlich gewappnet mit gleichmäßiger Arbeit und gepflegtem Gefühlsleben zur Vollreife heranwächst, derart, daß kein Mißgeschick es je ganz zu Boden werfen kann.«3 Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Eltern, von denen hier die Rede ist, sich über ein solches Kind freuen würden. In ihren Augen wäre es unterdrückt, depressiv, unsicher und phantasielos. Das vollkommene Kind von heute soll nach dem -136-
Willen der Eltern zufrieden, kompetent, selbstsicher und kommunikativ sein und eine überragende Begabung in mindestens einem, wenn nicht mehreren Bereichen des Lebens aufweisen. Ein genaueres Bild von diesem »perfekten Kind« vermittelt uns ein Vater, der glaubt, sein Kind entspräche dieser Idealvorstellung nicht. Anthony ist 50, sein Sohn Jordan neun. Anthony und seine Frau stehen in engem Kontakt mit einem anderen Ehepaar in ihrer Stadt, dessen Sohn Brandon ebenfalls neun Jahr alt ist. Nach Anthonys Ansicht ist Brandon ohne Fehl und Tadel, während sein eigener Sohn Jordan ihm nichts recht machen kann. Brandon spielt ausgezeichnet Klavier und widmet sich jeden Tag eine Stunde lang seinen religiösen Pflichten. Anthonys Sohn ist immer noch bei der Tonleiter und übt nur unter Zwang. Brandon spielt gern Baseball. Anthonys Sohn zieht sich lieber in sein Zimmer zurück. Brandon ist extrovertiert und selbstbeherrscht. Jordan ist überempfindlich. Brandon ist fleißig, Jordan ist faul und hängt den ganzen Tag nur träge herum. Jordans Vater hat keinen Blick für das sanfte, liebenswürdige Wesen seines Sohnes, für die Fähigkeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen, für das Interesse an Modelleisenbahnen, Modellflugzeugen und -autos und für den Erfindungsreichtum, wenn er sich zum Beispiel aus Blechdosen und Löffeln seine eigenen Musikinstrumente bastelt. Er glaubt, diese Eigenschaften seien in der heutigen Welt unnütz. Anthonys Schilderung zufolge ist Brandon, der Sohn seines Freundes, fleißig, vielseitig gebildet und selbstsicher - mit einem Wort: perfekt. Seinen eigenen Sohn, der introvertiert, verträumt und kreativ ist, hält er dagegen für einen Versager. Anthony ist vom modernen Streben nach Erfolg besessen, der seiner Meinung nach einem grüblerisch veranlagten und introvertierten Kind versagt bleibt. Statt sich an Jordans positiven Eigenschaften zu freuen, übersieht er sie lieber. Denn sie entsprechen nicht dem Idealbild, das er sich von seinem -137-
Sohn macht, oder den Qualitäten, die sein Sohn seiner Meinung nach haben muß, um es in der Welt zu etwas zu bringen. (Ich sollte erwähnen, daß Anthony auch an sich selbst strenge Maßstäbe anlegt und seine eigenen Leistungen im Vergleich zu anderen geringschätzt.) Anthony braucht eine völlig neue »Grundausrichtung«, die es ihm ermöglicht, seine Vorstellungen von »Erfolg« für sein Kind ohne Vorbehalte zu überdenken. Er muß sich klarmachen, daß seine überängstliche, negative Einstellung gegenüber dem, was Jordan kann und leistet, genau jenes Scheitern heraufbeschwört, das er so sehr furchtet. Denn unterschwellig (aber auch offen) untergräbt er auf diese Weise das Selbstbewußtsein seines Sohnes. Kinder haben ein sehr feines Gespür dafür, wenn sie den Kriterien des »vollkommenen« Kindes nicht entsprechen. Madeline ist 17 und strahlend, gefühlvoll und lebensprühend. Aber zu Beginn ihres letzten Jahres an der High-School hatte sie eine schwere Krise. Sie zog sich von ihren Freundinnen zurück und machte mit ihrem Freund Schluß. Sie verlor immer mehr das Interesse an der Schule. Unter Tränen erklärte sie ihrer Mutter, sie sei nichts und habe nichts, was sie gegenüber anderen auszeichne. Sie sei eine Null. Ihre Mutter versuchte sie zu beruhigen, aber ohne Erfolg. Madeline hatte nur den einen Satz ihres Vaters im Ohr: »Sei ein Star.« Sie wollte sich gerade für das College bewerben. Im allgemeinen sagen die Berater den College-Bewerbern und -Bewerberinnen, daß das Auswahlkomitee beim Bewerber nach etwas Einzigartigem und Besonderem sucht. Madeline hielt sich aber für völlig unbedeutend. Doch diese »Null« wurde von fast allen Colleges akzeptiert, bei denen sie sich bewarb. Aber das änderte nichts an Madelines Angst, eine Versagerin zu sein. Glück und Erfolg sind die beiden Schlüsselbegriffe für das moderne Ideal des perfekten Kindes. Erfolg wird dabei als eine Leistung im intellektuellen und künstlerischen Bereich, in den zwischenmenschlichen Beziehungen, im äußeren Auftreten und -138-
der charakterlichen Entwicklung gesehen. Die Eltern müssen heute nicht mehr wie ihre Vorfahren darum bangen, ob ihre Kinder unheilbare Krankheiten und verheerende Seuchen überleben. Dies gibt ihnen die Freiheit, statt des nackten Überlebens für ihre Kinder Erfolg und Glück ins Auge zu fassen. Doch ständig lauern neue Bedrohungen. Das Überleben ist heute nicht mehr durch Kinderkrankheiten gefährdet, sondern durch Drogen und Gewalt, durch Krankheiten, die beim Geschlechtsverkehr übertragen werden, und durch selbstzerstörerische Tendenzen. Diese allgegenwärtigen Bedrohungen des Überlebens überschatten das Streben nach Erfolg und Glück. Während der Zeit der Kindererziehung ist unser Glücksstreben ständigen Bedrohungen ausgesetzt seit den Tagen nach der Geburt, an denen unser hochfliegender elterlicher Narzißmus verletzt wurde. Wir streben nach Perfektion; und wir fürchten die Zerstörung. Woher kommt die Perfektion? Anthony beklagte sich, daß sein neunjähriger Sohn Jordan nicht seinen Vorstellungen entsprach. Man konnte glauben, er halte sein Kind für eine Katastrophe und für einen totalen Versager. Aber so einfach war die Sache nicht. Als ich mit ihm gemeinsam den Ursachen seiner Enttäuschung über Jordan nachging, brauchten wir nur ein bißchen an der Oberfläche zu kratzen, bis ein Schwall von Selbstvorwürfen herauskam. Anthony bezichtigte sich schonungslos, er selbst sei schuld an den Mängeln seines Kindes. Er verglich sich mit Brandons Vater, den er als perfekten Vater betrachtete, im Vergleich dazu aber sah er sich selbst als grob nachlässig und absolut untauglich an. Er hielt sich selbst für mittelmäßig, unsportlich, überkritisch und ungeschickt im Umgang mit Menschen. Unfähig, sich -139-
unabhängig von seinem Sohn zu betrachten, meinte er, die Mängel seines Kindes rührten einzig und allein daher, daß er ein mit Mängeln behafteter und unfähiger Vater sei. Wenn aber er ein unfähiger Vater war, war selbstverständlich auch sein Kind unfähig. Mag Anthony auch von seiner Schuld felsenfest überzeugt sein, die Wissenschaft hat diese Frage keineswegs klar beantwortet. In Fachkreisen herrscht keine Einigkeit darüber, welche Faktoren dafür verantwortlich sind, wie sich ein Kind entwickelt; Vererbung steht gegen Erziehung und Umwelt. Es gibt zwei Grundmodelle der Kindheit. Das eine betrachtet das Kind als Tabula rasa, der die Eltern und die Gesellschaft ihren Stempel aufdrücken, womit sie das Kind aus dem völligen Nichts zu etwas machen. Der Verhaltenspsychologe John B. Watson war der wohl bekannteste Vertreter dieser These. Er behauptete, er könne aus jedem Kind den Menschen machen, den er wolle, sei es einen Rechtsanwalt, einen Künstler, einen Bettler oder einen Dieb.4 Der Verhaltensforscher B. F. Skinner übernahm die Theorie und zog seine eigene Tochter in der Skinner-Box groß, einer total kontrollierten Welt.5 Dem anderen Modell zufolge ist das Neugeborene ein vorgeformtes Lebewesen. Das Kind gleicht einer Pflanze, die sich nur noch entfalten muß. Die Verantwortung der sozialen Umgebung besteht darin, der Pflanze Nahrung zu geben. In den vierziger Jahren vertraten Entwicklungspsychologen wie Gesell und Ilg dieses Modell eines kontinuierlichen und automatischen Reifungsprozesses beim Kind.6 Form und Größe des Lebewesens sind schon im Keim vorgegeben. Die Natur und nicht Erziehung und Umwelt ist die Triebkraft der kindlichen Entwicklung. Die Eltern beobachten lediglich als Zuschauer den selbständig ablaufenden Prozeß. Die Akkulturation kann gegenüber dem vorprogrammierten Reifungsprozeß nie die Oberhand gewinnen. Aus dieser Betrachtungsweise sind verschiedene Entwicklungstheorien hervorgegangen, nach denen -140-
der Mensch in seiner Entwicklung in universell gültiger, vorgegebener und automatischer Progression von einer Stufe zur nächsten fortschreitet. Wie bei vielen Aspekten der Pädagogik in den USA heute hat sich auch aus dem Tabularasa-Modell und dem Reifungsmodell der kindlichen Entwicklung eine Mischform entwickelt; danach sind Natur und Erziehung/Umwelt unauflöslich miteinander verflochten. Heute ist man der Ansicht, daß die Entwicklung des Menschen immer ein Miteinander von Veranlagung und Einfluß der Umwelt ist, in der das Kind aufwächst. Eine depressive Mutter bekommt ein ängstliches Baby; umgekehrt kann aber auch ein Baby, das von seiner Veranlagung her unruhig ist, die Mutter depressiv machen. Veranlagung und Umwelt sind untrennbar miteinander verwoben und stehen in Wechselwirkung zueinander. Dieses Modell, das dem Kind eine aktive Rolle in seiner Entwicklung zubilligt und ihm und seiner Umwelt die Kraft der Veränderung und Formbarkeit zuschreibt, ist sehr solide und ausgewogen; es erklärt die Entwicklung eines Menschen von der Geburt bis zur Reife. Aber bei dem praktischen Versuch, die Entwicklung ihrer Töchter, Söhne und Klienten zu verstehen, scheinen Eltern wie Kinderpsychologen unfähig, an diesem ganzheitlichen Modell konsequent festzuhalten, das Natur und Erziehung berücksichtigt. In der Praxis hat sich das reziproke Modell zu einem schroffen Gegeneinander von Akkulturation und Veranlagung entwickelt. Wir sind wie benommen von dem ständigen Hin und Her zwischen den beiden Polen der erblichen Veranlagung und der Umwelteinflüsse. Einmal lesen wir in einer Zeitschrift von neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, denen zufolge mindestens 75 Prozent der Intelligenz in den Genen fixiert sind, dann blättern wir um und erfahren, daß die intellektuellen Fähigkeiten des Kindes allein von dem Willen und der Bereitschaft der Eltern abhängig sind, die Hausaufgaben zu kontrollieren. Wir sind in der Zwickmühle, weil wir nicht -141-
wissen, was tatsächlich zur Perfektion führt und welche Ursachen das Scheitern hat. Im Lauf meiner therapeutischen Tätigkeit habe ich festgestellt, daß ich selbst immer wieder von einem Extrem zum anderen springen muß. Eine Mutter und ein Vater suchen mich auf und berichten, daß ihre Tochter ein kleiner Tyrann ist und ihnen das Leben zur Hölle macht, weil sie sich weigert, abends ins Bett zu gehen, nicht ißt, was auf den Tisch kommt, ihren Eltern keine freie Minute gönnt und auf niemanden Rücksicht nimmt. Jenelle ist drei Jahre alt. Ich versuche, den Eltern behutsam klarzumachen, daß Jenelle nicht als kleiner Tyrann zur Welt gekommen ist, sondern daß sie sich auf die Botschaften der Umwelt, die Erwartungen und die Gefühle einstellt, die ihr Mama und Papa, sei es bewußt oder unbewußt, übermittelt haben. Und die Botschaft lautet, daß sie tun kann, was sie will, daß man ihr keine Grenzen setzt, daß sie mit Weinen alles erreichen kann und daß es nie jemandem auch nur in den Sinn gekommen ist, sich ihren Ansprüchen zu widersetzen. Die Eltern (besonders der Vater) sind sehr wütend auf ihr »verzogenes« Kind und reagieren zunehmend mit Ablehnung und Strafen. Unbewußt ist diese Wut vielleicht eine Abwehr des schlechten Gewissens und des Gefühls, als Erzieher versagt zu haben. Auf einer bewußten Ebene sind Jenelles Eltern jedoch gewiß davon ausgegangen, daß Jenelle eben einfach so ist - ein geborener Quälgeist. Ich mußte sie daran erinnern, daß sie selbst durch ihr eigenes nachgiebiges Verhalten als Eltern diese Situation heraufbeschworen hatten und daß Jenelle nicht dafür verantwortlich gemacht werden konnte. Schließlich hatte sie nicht darum gebeten, ein verzogenes Kind zu werden. Die Eltern konnten ihre Wut auf Jenelle indes als ein Warnsignal dafür auffassen, daß sich etwas ändern mußte. Tatsächlich bestand Hoffnung, daß sich Jenelles Verhalten änderte - vorausgesetzt, sie gingen anders mit ihr um, setzten ihr Grenzen und akzeptierten, daß es Jenelle keineswegs schadete, wenn man ihr -142-
nicht alle ihre Wünsche erfüllte. In derselben Woche suchte mich eine Familie wegen der schulischen Verhaltensprobleme ihres Fünfjährigen auf. Rashid hatte eine angeborene Verhaltensstörung unbekannten Ursprungs, die dem Autismus sehr ähnlich, aber nicht eindeutig diagnostizierbar war. Er tat sich schwer, mit anderen Kindern in Kontakt zu treten, und ging oft wild und aggressiv auf andere Kinder zu, obwohl er eigentlich nur Freundschaft schließen wollte. Die Eltern zerbrachen sich den Kopf darüber, was sie oder auch die Vorschule falsch machten. Dieses Kind war intellektuell begabt. Warum tat es sich im sozialen Umgang so schwer? Ich mußte immer wieder betonen, daß Rashids Probleme mit Gleichaltrigen durch die neurologische Komponente seiner Verhaltensstörung bedingt waren. Die Eltern konnten zwar durchaus dazu beitragen, diese Unfähigkeit oder Dysfunktion zu mildern, aber sie konnten ihren kleinen Sohn nicht antreiben, anders auf seine soziale Umgebung zuzugehen. Für die soziale Kommunikation brauchte Rashid sehr viel mehr Zeit als für die Lösung intellektueller Aufgaben, die für ihn kein Problem darstellten. Es war für die Eltern nicht leicht, sich auf diesen Aspekt der langsamen Reifung im Verhalten ihres Sohnes einzustellen, denn sie mußten sich mit der entmutigenden Schlußfolgerung abfinden, daß es nicht in ihrer Hand lag, aus Rashid ein normales Kind zu machen. In einer Kultur, die Vervollkommnung aus eigener Kraft glorifiziert, ist das besonders schwer zu verkraften. Außerdem waren die Eltern zutiefst überzeugt, selbst für Rashids Probleme verantwortlich zu sein, nicht weil sie glaubten, ihm ihre eigenen genetischen Mängel vererbt zu haben, sondern weil die Vorstellung vom Kind als unbeschriebenem Blatt so tief in ihnen verwurzelt war. Als sie begannen, ihre Vorstellung von sich und ihrem Kind zu verändern, vollzog sich auch mit Rashid eine dramatische Veränderung. Ich bat sie, sich vorzustellen, Rashid wäre von Geburt an schwerhörig. Sein Geburtsfehler bestand jedoch in -143-
einem Handikap seiner sozialen Fähigkeiten. So wie wir schwerhörigen Kindern beibringen, sich durch Zeichen zu verständigen oder dem Gegenüber die Worte von den Lippen abzulesen, und ihnen Hörhilfen geben, so benötigte auch Rashid Anleitungen und Hilfsmittel, um eine bessere Beziehung zu seiner Außenwelt aufzubauen, statt einfach sich selbst überlassen zu bleiben oder Dinge tun zu müssen, die ihn in seinen Fähigkeiten überforderten. Wir erarbeiteten einen Plan, der Rashid helfen sollte, mit Gleichaltrigen erfolgreicher in Kontakt zu treten. Seine Eltern und die Schule würden ihn manchmal ein wenig ermutigen müssen, aber nur um ihm mehr Schwung zu geben, nicht um ihm sein Schicksal und seine Zukunft aus der Hand zu nehmen. Rashid machte spürbare Fortschritte, und jetzt waren seine Eltern auch in der Lage, ihr Zusammensein mit dem Kind zu genießen, statt sich ständig mit Vorwürfen zu quälen. Sein Handikap vermittelte ihnen nun nicht mehr das Gefühl, sie seien gescheitert, sondern rief ihnen die traurige, gleichzeitig aber auch beruhigende Tatsache in Erinnerung, daß Rashids Probleme auf seiner Veranlagung beruhten; sie taten alles, was in ihrer Macht stand, um ihm bei seinen Kommunikationsschwierigkeiten zu helfen. In den neunziger Jahren wurden schließlich im Rahmen des interaktiven Modells der menschlichen Entwicklung Vererbung und Genetik wieder mehr in den Vordergrund gerückt - eine Neugewichtung, die für Eltern, die ein Kind wie Rashid haben, hilfreich sein könnte. Das Kind wird als von Geburt an bereits geprägtes Lebewesen betrachtet: »Ein neugeborenes Kind ist kein formloser Klumpen, dem von Eltern oder anderen Gestalt gegeben wird... Die Gene sind nicht der einzige Bestandteil in der Persönlichkeitssuppe, sie sind nur der Brühwürfel, der den Suppenfond bildet. Dies müßte für Eltern wie Kinder eine befreiende Botschaft sein.«7 Die Reifung aus sich selbst heraus bildet die Grundlage, die Akkulturation leistet die Feinabstimmung. -144-
Studien an eineiigen Zwillingen lieferten den entscheidenden Beweis dafür, daß bestimmte Persönlichkeitsmerkmale tatsächlich ererbt und nicht im Laufe der Sozialisation erworben sind. An der Universität von Minnesota wurden getrennt aufgewachsene ein- und zweieiige Zwillinge verglichen, mit dem Resultat, daß bei bestimmten Aspekten der Persönlichkeit wie soziale Kompetenz, Traditionsverbundenheit, Streßreaktion, Aggression und Schadensabwehr die genetische Komponente eine große Rolle spielt. Eineiige Zwillinge, die identische genetische Strukturen besitzen, wiesen die meisten Übereinstimmungen bei diesen Persönlichkeitsaspekten auf, auch wenn die Kinder in sehr unterschiedlicher Umgebung aufwuchsen.8 Andere Untersuchungen zeigen, daß manche Kinder eine angeborene Widerstandskraft besitzen, mißliche Umstände ohne nennenswerten psychischen Schaden zu überstehen. Zu den weiteren relevanten Eigenschaften gehören die Fähigkeit, sich Bezugspersonen zu suchen, besondere Begabungen und Interessen, eine reiche Phantasie, Ausdauer sowie die Fähigkeit, sich nach einem Rückschlag in der Entwicklung rasch wieder zu fangen.9 Zwischen Kind und Umwelt besteht nach diesem Modell eine Wechselwirkung, und die Entwicklungspsychologie betont neuerdings, daß das Kind seine Umgebung aktiv gestaltet. Man will uns in Erinnerung rufen, daß nicht nur die Eltern das Kind erziehen, sondern daß umgekehrt auch das Kind die Personen erzieht, die es betreuen. Das ist ein Signal an alle Eltern, daß nicht nur sie allein dafür verantwortlich sind, was für ein Mensch ihr Kind ist oder was aus ihm wird. Sie können jedoch das angeborene Potential des Kindes fördern und weiterentwickeln. Mit diesem Bewußtsein kann der Vater eines Dreijährigen sagen: »Wir schätzen Martin so, wie er ist, ohne Gewissensbisse und ohne die Angst, daß alles Sonderbare an ihm auf mangelnde elterliche Zuwendung zurückgeht, die nur die ungelösten Kindheitskonflikte der Eltern -145-
spiegelt.«10 Aber ist das für Eltern tatsächlich eine befreiende Botschaft? Und wird sie von der Mehrheit der Eltern überhaupt zur Kenntnis genommen? Die tröstenden Worte, daß das Kind im gleichen Maße seine Eltern erzieht wie die Eltern das Kind, verhallen ungehört in einem gesellschaftlichen Milieu, das die Eltern schonungslos dafür verantwortlich macht, was am Ende aus ihrem Kind wird. Eines Morgens schaltete ich im Auto unterwegs zur Praxis einen lokalen Radiosender ein. Binnen 15 Minuten wurde ich darüber aufgeklärt, daß die Eltern an den schlechten Schulnoten der Kinder schuld seien, weil sie die Hausaufgaben ihrer Kinder nicht kontrollierten. Die Eltern seien auch für das zunehmende Übergewicht von Kindern verantwortlich, weil sie es versäumten, ihre Sprößlinge richtig zu ernähren und zu sportlicher Betätigung anzuhalten. Meine eigenen Kinder sind nicht dick, und sie bringen auch keine schlechten Noten nach Hause. Trotzdem war ich über diese Feststellung maßlos empört. Obwohl mir niemand zuhörte, fragte ich wütend: »Und was ist mit den enormen Etatkürzungen für die Schulen? Was mit den beschämend niedrigen Lehrergehältern? Was mit dem Fastfood, das den Kindern in Schulcafeterias und Einkaufszentren angeboten wird? Und was mit dem Fastfood, das als praktische und erschwingliche Mahlzeit für Kinder angepriesen wird, wenn Vater und Mutter keine Zeit haben, selbst zu kochen, oder gezwungen sind, ihre Kinder nach der Schule sich selbst zu überlassen? Und was ist mit den Eltern, die sich gesundes Essen für ihre Kinder nicht leisten können?« Ich kannte die Antwort auf meine Fragen. In diesem Land müssen alles die Eltern ausbaden. Beispielsweise schreibt eine Reporterin des Time Magazine einen Artikel über zunehmende psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen und schließt mit der Bemerkung: »So notwendig und hilfreich eine [psychotherapeutische] Behandlung ist, es wäre sinnvoller, den -146-
seelischen Nöten Jugendlicher vorzubeugen und erst einmal das Umfeld zu verbessern, in dem sie aufwachsen. Das Wichtigste ist, daß die Eltern sich mehr Zeit für ihre Söhne und Tochter nehmen und ihnen die Aufmerksamkeit und Liebe schenken, die sie brauchen. Wenn das nicht geschieht, werden immer mehr Kinder mit psychischen Problemen zu kämpfen haben.«" Kein Zweifel, die Eltern sollten ihren Kindern mehr Zeit widmen. Sie wissen selbst sehr genau, wie wenig Zeit sie für ihre Kinder übrig haben. Aber eine Gesellschaft, die sich nicht gerade in vorbildlicher Weise um ihre Kinder kümmert, sollte bereit sein, wenigstens einen Teil der Schuld für die seelischen Nöte dieser Kinder auf sich zu nehmen. Es ist nicht verwunderlich, daß heute so viele Eltern so schnell bereit sind, ihren Kindern Konzentrationsschwäche zu attestieren. Sie legen es ja nicht darauf an, ihre Söhne und Tochter abzustempeln und mit Medikamenten vollzustopfen. Konzentrationsschwäche ist eine neurologische Erkrankung, an der die Eltern nicht schuld sind. Sie kann allerdings genetisch vererbt werden oder bei der Geburt durch ein Gehirntrauma entstehen. Wenigstens ist diesmal die Erziehung nicht daran schuld. Trotz der zahlreichen, gut dokumentierten Untersuchungen zeigen sich Therapeuten und Berater in aller Regel unbeeindruckt von Berichten über die vererbten Begabungen oder Defizite bei Kindern. Sie verfochten von jeher die These, daß die kindliche Entwicklung vor allem durch die Umwelt geprägt werde. Angefangen mit der »schizophrenogenen Mutter« der fünfziger Jahre, werden alle Ursachen für die kindlichen Fehlentwicklungen bei der Mutter gesucht. Wie ein Therapeut meinte: »Ich kann mich nicht erinnern, es jemals mit einer Mutter zu tun gehabt zu haben (ob sie nun reich oder arm war oder aus der Mittelschicht stammte), die nicht ihre eigenen geheimen Theorien darüber hatte, wie ihre eigenen Verhaltensweisen, Vorlieben oder Gefühle ihren Kindern -147-
schwer geschadet haben.«12 Diese Schuldzuweisung an die Mutter hat sich heute leider nur insofern verändert, als auch Väter großzügig miteinbezogen werden. Die Eltern, denen die ganze Schuld zugeschoben wird, fühlen sich wahrscheinlich ähnlich wie Alice im Wunderland, als sie an den Hof der Königin kommt. Als ob sie von den Autoritäten spräche, die über die Eltern richten, ruft Alice aus: »Bei dem Spiel geht es nicht mit rechten Dingen zu, und alle streiten so furchtbar, daß man sein eigenes Wort nicht mehr versteht - und Regeln gibt es anscheinend überhaupt keine, oder wenn es welche gibt, hält sich keiner daran.« Die Königin kennt aber tatsächlich eine Regel, und sie heißt: »Kopf ab!«13 Für Mütter und Väter lautet die Anklage: uneingeschränkte Schuld, Angst, wiederholtes Versagen bei den Erziehungsaufgaben und mangelnde soziale Unterstützung, um entstandenen Schaden wiedergutzumachen. Und das Urteil lautet folgerichtig: schuldig. Schuldig, weil sie dem Kind durch mangelnde Zuwendung, Egoismus, Verhätschelung, Unfähigkeit oder Unwissenheit angeblich Schaden zugefügt haben. Wenn die Eltern schuld sind, daß ihr Kind schweren Schaden leidet, muß der Umkehrschluß lauten, daß die Eltern ihr Kind auch zur Perfektion führen können. Wie die Therapeuten, so zeigen sich auch die Eltern unbeeindruckt von der These, das Kind sei ein vollentwickeltes Pflänzchen, das nur noch gut bewässert werden muß. Nach ihrer Ansicht ist es keine Frage, wem das Kind seine Vollkommenheit zu verdanken hat: ihnen. Wir können es heutzutage nicht ertragen, einem Schicksal unterworfen zu sein. Man mag uns noch so viele Untersuchungen über die ererbte Prägung des Kindes vorlegen, wir hören nicht auf zu glauben, wir könnten die Natur ignorieren und Mittel und Wege finden, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Elaines und Dons Sohn Peter kann seine Körperbewegungen nur schwer koordinieren. Niemand weiß, warum, aber er hat -148-
diese Störung seit frühester Kindheit. Im Laufe der Jahre waren die Eltern mit ihm bei allen möglichen Ärzten, Physiotherapeuten, Beschäftigungstherapeuten, Spezialisten für sensorische Integration, bei Orthopäden und Krankengymnasten. Sie haben alle Möglichkeiten ausgeschöpft, aber Peter kann nach wie vor seine Bewegungen nur schwer koordinieren. Trotzdem haben sie nicht die Hoffnung aufgegeben, daß es für ihn eine Heilung gibt, wenn nicht heute, dann morgen. Und die Spezialisten haben ihren Anteil daran, indem sie die Eltern ermutigen, nicht aufzugeben. Pygmalion Wer das perfekte Kind erziehen will, weiß sehr genau, daß seine Chancen denkbar schlecht stehen. Eine Umfrage des San Francisco Chronicle aus dem Jahr 1991 ergab, daß 84 Prozent von 600 Bewohnern der Bay-Region der Meinung waren, es sei inzwischen schwieriger, Kinder zu erziehen, als noch in der Generation ihrer Eltern: »Es klafft eine größere Diskrepanz zwischen dem, was wir glauben, tun zu müssen, und dem, was wir realistischerweise tun können. Die Anforderungen der Außenwelt sind gestiegen, ebenso auch die Erwartungen, die an gute Väter und Mütter gestellt werden.«14 Die Ansprüche an »gute Eltern« sind rasch gestiegen. Gleichzeitig haben sich die Möglichkeiten, diesen Ansprüchen gerecht zu werden, drastisch verringert. Aber wie Professor Higgins im Fall von Eliza Doolittle sind Eltern nur allzu bereit, sich ins Zeug zu legen, um aus ihren Kindern ein möglichst elegantes und wortgewandtes Wesen zu machen. Wir schlagen alle Warnungen in den Wind. Wie Alice Miller zutreffend bemerkt: »Sobald das Kind als Eigentum erlebt wird, mit dem man bestimmte Ziele anstrebt, sobald man sich seiner bemächtigt, wird sein lebendiges Wachstum gewaltsam unterbrochen.«15 Unser Kind ist nicht unser Eigentum, sondern eine Aufgabe, und wir wollen uns -149-
seiner nicht bemächtigen, sondern Unterstützung, Führung und Ermutigung anbieten. Aber wo ziehen wir die Grenze zwischen echter Hilfe und egoistischer Machtausübung? Ein Vater hat es in einer therapeutischen Sitzung einmal ganz offen gesagt: »Es ist sehr wichtig, daß wir unseren Kindern den bestmöglichen Lebensstandard bieten.« Deshalb schickt dieser Vater seine drei Kinder auch auf die teuersten Privatschulen der Gegend. Als eine andere Mutter erfuhr, daß ihr Sohn nicht in den Kindergarten ihrer Wahl aufgenommen wurde, weil er auf der Warteliste zu weit unten stand, brach sie in Tränen aus und verbrachte schlaflose Nächte: »Ich hatte das Gefühl, als ob man mich bei der Harvard-Universität abgewiesen hätte. Ich hatte das Gefühl, völlig versagt zu haben, und ich zerbrach mir den Kopf darüber, was ich falsch gemacht hatte. Es war verrückt.«16 Wenn die Alarmglocke läutet und wir uns sagen: »Was wir da tun, ist verrückt«, können wir uns u. a. durch Fragen nach dem wirklichen Stellenwert einer solchen Ablehnung und nach unseren positiven Möglichkeiten, die neue Situation positiv zu gestalten, aus dem Teufelskreis der Angst befreien. Auch wenn es mechanistisch oder simpel klingen mag: Nach meiner Erfahrung erlauben uns solche Fragen und dazu noch die psychologischen Einsichten über die Schuldgefühle der Eltern und das chronische Angstsyndrom, unser Denken in sinnvolle Bahnen zu lenken. Wenn wir in einen inneren Dialog mit uns selbst treten und eine neue Strategie (»weniger Druck«) wählen, wird es uns nicht nur gelingen, unsere Einstellungen und Gefühle, sondern auch unser Verhalten gegenüber unseren Kindern zu verändern. So bekommen wir allmählich ein Gefühl für das Machbare, für das, was wir wirklich beitragen können, damit unsere Kinder glücklich und erfolgreich werden. Perfektion im Angebot
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Auch dem Druck des Marktes müssen wir uns entziehen. Eine schnell wachsende Industrie für Lernspiele bombardiert uns mit angeblich Wachstums- und entwicklungsfördernden Angeboten, noch bevor das Kind geboren ist. Werdenden Müttern wird ein Gerät empfohlen, das sie sich um den Bauch schnallen sollen. Es gibt komplizierte Klangmuster an das Baby im Mutterleib ab. Die Entwicklung des Fötus soll angeregt werden, indem das Nervensystem des Ungeborenen Impulse und sein Gehirn den ultimativen Kick bekommt. Das Gerät kostet rund 250 Dollar. Eine Mutter berichtet, der Klanggürtel gebe ihrem Kind »jede nur erdenkliche Möglichkeit, seine Denkvorgänge anzukurbeln«.17 Andere schwangere Frauen greifen zu schlichteren Mitteln, indem sie Lautsprecher an ihren Bauch halten, um die musikalische Veranlagung ihres Fötus zu stimulieren. Leselernkarten für neun Monate alte Kinder werden angeboten und Lernvideos für Kinder, die noch nicht einmal ein Jahr alt sind.18 Eine Firma, die Lernspielzeug für Babys herstellt, wirbt für ihr »Stirn-Mobile« folgendermaßen: »... ein ausgeklügeltes Mobile, das Ihr Baby aufgeweckter, zufriedener und ruhiger macht.« Ihr Double Feature mit einem Spiegel auf der einen und einem Meerespanorama auf der anderen Seite bietet »dem Baby doppelt so viele Spielmöglichkeiten und verdoppelt damit auch den Kaufwert«. Auf dem Karton heißt es: »Untersuchungen haben gezeigt, daß Säuglinge in einer visuell anregenden Umgebung zielstrebiger und im Wachzustand ruhiger und aufmerksamer sind als Säuglinge, denen diese Stimulation fehlt... Babys, die derartige Anregungen bekommen, sind in ihrer Entwicklung anderen Babys voraus, die in einer weniger anregenden Umgebung aufwachsen.«19 Wissenschaftler bestätigen dies. Dr. Craig Ramey von der Universität von Alabama berichtete im Jahr 1996 in der American Academy for the Advancement of Science, daß ein Baby, das schon ab der sechsten Woche Anregungen bekomme, bei Intelligenztests um -151-
15 bis 30 Prozent besser abschneide. Das sorgte für Schlagzeilen in den Zeitungen.20 Lernspielzeug für Babys wird vor allem von ehrgeizigen Eltern gekauft, die zwar Geld, aber keine Zeit haben, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen. Infolge von Berichten über zweijährige Eiskunstläuferinnen und Kinder im Vorschulalter, die bereits Schachchampions sind, herrscht heute ein neues Bewußtsein dafür, was Kinder alles leisten können, wenn man ihnen nur die Möglichkeit gibt und sie ermuntert, angefangen mit raffinierten Spielzeugtelefonen und teuren extravaganten Spiegeln. Hier wird das Kind wieder als »kleiner Erwachsener« gesehen. Die Spielzeugindustrie ist nur allzu gern bereit, die Vision des neuen Superbabys zu propagieren: »Unter der Aufsicht von Supermamas und Superpapas verfügt das Superbaby über die allerneuesten Sachen, über das beste Leselernmaterial. Sein Bettchen ist mit dem optimalen Lernspielzeug so vollgestopft, daß es kaum mehr Platz zum Schlafen findet.«21 Den teuer erkauften Superanregungen für das Superbaby entspricht auf der Elternseite eine Flut von Ratgeberliteratur zum Thema Kindererziehung, mit der sich heutige Eltern weiterbilden sollen. Wir täten jedoch besser daran, wenn wir unseren Geldbeutel schonten und uns mehr auf die alten Töpfe, Pfannen und Schnüre verließen, die schlichtweg Spaß garantieren. Unsere Kinder haben später noch jede Menge Zeit und Gelegenheit, ihre Intelligenz zu trainieren. Ehrgeizige Eltern, dressierte Kinder Wir bekommen einen Dankesbrief von einem Kollegen meines Mannes. Wir haben seiner kleinen Tochter ein Musikspielzeug geschickt. In dem Brief heißt es: »Mein Papa meint, das ist das allerbeste Lied zum Skifahren. Ich meine das -152-
Lied, das aus dem Zug erklingt, den ihr mir geschenkt habt: This old man, this old man... Papa sagt, das Lied hat er selbst beim Skifahren immer gesungen. Verrückt ist das. Und es gefällt mir sehr. Vielleicht werde ich bald ein kleiner Mozart und spiele dann meine eigenen Kompositionen. Kommt mich doch mal besuchen. Ich krabble schon viel. Das macht es wirklich viel einfacher, überallhin zu kommen. Viele Grüße, Erica. Meine Mama und mein Papa sagen auch einen schönen Gruß.« So witzig und nett dieser Brief auch ist, die unterschwellige Botschaft, die er enthält, entgeht uns nicht und läßt uns erschauern. Erzählt dieser Brief von den unschuldigen Träumereien eines Vaters mit einem normalen elterlichen Narzißmus? Sind es also verständliche und annehmbare Phantasien? Oder zeigen sich hier die überzogenen Erwartungen eines Vaters, der seine kleine Tochter schon als Wunderkind sieht, noch bevor sie den Windeln entwachsen ist? In Manhattan wird ein Kurs »Französisch für die Allerkleinsten« angeboten. Ein dreieinhalbjähriges Mädchen nahm an diesem Unterricht bereits eineinhalb Jahre lang teil. Ihre Mutter wollte ihr die Möglichkeit geben, zweisprachig aufzuwachsen. Sie selbst hatte in ihrer Jugend sechs Jahre lang erfolglos versucht, Französisch zu lernen. Auch wollte sie ihrer Töchter eine gewisse Weltoffenheit vermitteln; sie sollte nicht im Hinterhof, auf dem Dachboden oder im Keller spielen, sondern etwas Sinnvolles machen: »Wie sollte sie sich denn beschäftigen? Einfach nur herumsitzen und den ganzen Tag spielen, sieben Tage die Woche?«22 Das wäre für ein zweijähriges Kind gar keine schlechte Idee, aber der ehrgeizigen Mutter schwebte etwas anderes vor: Ihr Töchterchen sollte intellektuell etwas leisten. Mit fünf Jahren, so hoffte sie, werde die Kleine das Sprachgenie sein, zu dem sie selbst es nie gebracht hatte. Am 4. Juli 1988 druckte der New Yorker einen Cartoon ab, der ein Baby in seinem Laufstall zeigt, in dem keine Spielsachen -153-
liegen, sondern ein ans Netz angeschlossener Computer, mit dem es herumspielen kann. Solche Kinder werden heute als »Kinder auf der Überholspur« bezeichnet. Sie bekommen mit einem Jahr Leselernkarten, mit zwei Jahren Musikunterricht, mit drei können sie fließend lesen. Ihre Eltern meinen, ihr Kind müsse es weit bringen, Großwerden sei gleichbedeutend mit Lernen und Lernen gleichbedeutend mit Leistung. Eine Mutter stutzt und meint: »Wir lassen ihnen kaum Zeit und verplanen ihren Tag mit allen möglichen Terminen - seien es Verabredungen zum Spielen, Kurse oder ›bereichernde‹ Erfahrungen wie Camping und Skifahren. Ich frage mich, was ihnen später noch zu entdecken bleibt? Wir haben ihnen in wenigen Jahren alles gezeigt, was wir selbst erst mit dreißig lieben und schätzen gelernt haben. Mein Mann hat erst im College Karate gelernt, ich habe mit zwanzig angefangen, TaiChi zu lernen, aber unser Sohn hat schon mit fünf den orangenen Gürtel.«23 Ein Kollege sitzt mir beim Mittagessen gegenüber und erzählt, daß sein vierjähriger Sohn Alex bald KeybordUnterricht bekommen soll. Ihm ist aufgefallen, daß bei seinem Sohn die Feinmotorik, insbesondere die Fingerfertigkeit, relativ schwach ausgebildet ist. Er möchte diesen Mangel ausgleichen und seinem Sohn die Möglichkeit geben, ein kleiner Mozart zu werden - so wie Erica. Dem Vater ist es ernst mit seiner Sorge um das Kind, aber es ist, als wäre der Sohn eine komplizierte Maschine, die von einem abgöttisch liebenden Vater mikroskopisch genau untersucht wird, um zu gewährleisten, daß jeder einzelne Mechanismus perfekt justiert und geeicht ist. Kein Gedanke wurde daran verschwendet, ob seinem Sohn der Keybord-Unterricht auch Spaß machen wird. Das war völlig unerheblich. Der Unterricht soll ihm und seiner Zukunft nützen. Spaß ist völlig aus dem Blick geraten oder erscheint belanglos gegenüber dem Bildungsangebot, das wir unseren Kindern schuldig zu sein glauben. Ich glaube nicht, daß unsere Kinder -154-
uns das danken werden. Ich habe alle diese Beispiele angeführt, um zu zeigen, wie sehr amerikanische Mittelschichteltern in einem Teufelskreis des ängstlichen Leistungsdenkens gefangen sind und versuchen, ihre Kinder auf Perfektion zu trimmen. Aber man darf nicht meinen, dieses Leistungsdenken werde nur von den Eltern forciert. Hier ist die Geschichte eines 13jährigen Mädchens, das sich in San Francisco an einer High-School bewarb. Die Mutter erzählte mir, daß sie ihr Kind zum Auswahlgespräch in die Schule brachte und dabei war, als ihr Kind befragt wurde. Der Gesprächsleiter fragte die Achtkläßlerin, welches Hauptfach sie später im College wählen würde. Sharon, die Tochter, sah ihr Gegenüber verständnislos an; dann suchte sie den Blick ihrer Mutter, unsicher, was sie antworten sollte. Nancy, die Mutter, war sprachlos und saß mit offenem Mund da. Sie konnte ihrer Tochter nicht helfen. Der Gesprächsleiter klärte Sharon darüber auf, daß an dieser High-School ein Schwerpunkt des Unterrichts auf der Berufsorientierung liege. Nancy mußte nach diesem Gespräch stundenlang auf ihre Tochter einreden und sie überzeugen, daß es in der unteren Klasse der High-School absolut ausreiche, sich mit Freunden zu treffen, Hausarbeiten zu schreiben und für die Rechte der Mädchen an der Schule einzutreten. Es bestand kein Anlaß, sich mit dreizehn darüber den Kopf zu zerbrechen, welchen Beruf sie mit dreißig einmal ergreifen würde. Hätte Nancy die Wahl gehabt, hätte sie die Bewerbung ihrer Tochter von dieser Schule zurückgezogen. Aber für sie als alleinerziehende Mutter mit einem geringeren Einkommen war die einzige Alternative die staatliche HighSchool vor Ort, die zu wenig Lehrer und zu große Klassen hatte. Schließlich nahm sie ihr Schicksal selbst in die Hand und zog in ein anderes Stadtviertel mit einem besseren Schulangebot. Bedauerlicherweise wird nicht nur von Seiten der Eltern Druck auf die Kinder ausgeübt, sondern von der ganzen Gesellschaft und das erscheint uns inzwischen schon als normal. -155-
Ein 13 jähriger Junge hatte mit seiner Verwandtschaft dasselbe Problem wie Sharon. Sein Onkel löcherte ihn bei einem Familienbesuch an der Ostküste ständig mit Fragen zum College. Ob er mit seinem Onkel Yale besichtigen wolle? Ob er bei seinem Besuch in Boston dortige Colleges angeschaut habe? Der Junge erwiderte entschieden: »Nein, ganz bestimmt nicht.« Der Onkel wurde wütend, ließ aber nicht locker: »Interessiert dich dann vielleicht Stanford?« Bis es dem Jungen zuviel wurde und er sagte: »Ich gehe doch erst in die achte Klasse.« Zu Beginn der Pubertät, in einer Zeit, in der sich amerikanische Kinder früherer Generationen vielleicht über ihren entstehenden Busen oder den Stimmbruch Gedanken machten, müssen Kinder heute erklären, was sie im College als Hauptfach wählen wollen, und sich über die Berufswahl den Kopf zerbrechen. Die Gesellschaft zeigt sich beunruhigt über die Orientierungslosigkeit der Jugend. Man erkennt, daß unserer Jugend bei ihrem Eintritt ins Erwachsenenleben nur noch begrenzte Möglichkeiten offenstehen, doch soziale und öffentliche Institutionen stellen wachsende Leistungsanforderungen und Ansprüche an die Jugendlichen zur Absicherung der nächsten Generation. Dieser Druck ist auch für den veränderten Stellenwert der Kindheit kennzeichnend. Sobald wir anfangen, uns um die Zukunft unserer Kinder Sorgen zu machen, sehen wir in ihnen nur noch kleine Erwachsene. Hier zeigt sich auch, wie sehr Erwachsene dazu neigen, ihre Ängste und den eigenen Leistungsdruck auf ihre Kinder zu übertragen, die nicht einmal halb so alt sind wie sie selbst und ihrer Entwicklung entsprechend andere Bedürfnisse und Vorlieben haben. Dies ist ein klassisches Beispiel dafür, wie stark die Grenzen zwischen Erwachsensein und Kindheit verwischt sind - eine Entwicklung, die niemandem zugute kommt. Noch bevor unsere Kinder in die High-School kommen, werden sie mit dem geballten Leistungsdruck von selten der -156-
Eltern und der sozialen Institutionen konfrontiert. Werfen wir nur einmal einen Blick auf die Vorschul-Bewegung, die Anfang der achtziger Jahre entstand. Das Erziehungs- und Bildungssystem war im Umbruch, und nun wurde Vorschulkindern das abverlangt, was bis dahin Aufgabe der Erstkläßler war: Lesen, Schreiben und einfaches Rechnen. Statt mit Bauklötzen zu spielen, mußten Kindergartenkinder jetzt am Schreibtisch sitzen und büffeln. Man hat eingewandt, diese erhöhten Anforderungen seien die Folge davon, daß so viele Kinder heute Vorschulkurse besuchen und, wenn sie dann in die Schule kommen, bereits lesen und schreiben können. Doch das erklärt nicht, warum so viele Fünfjährige heute von den Vorschulen abgewiesen werden und man ihnen sagt, sie sollten mit sechs wiederkommen, wenn sie »reif« für den Vorschulunterricht seien. Als ich Anfang der fünfziger Jahre den Kindergarten besuchte, war man »reif«, wenn man vor einem bestimmten Stichtag im Herbst seinen fünften Geburtstag hatte. Das war eine rein formale Regelung. Heute müssen überall in den Vereinigten Staaten Kinder für die Aufnahme in die Vorschule eine Vielzahl von Aufgaben und Tests lösen. Wenn sich dabei herausstellt, daß das Kind nicht reif genug ist, wird es um ein Jahr zurückgestellt. Die Erziehungsbehörden sagen den Eltern, sie sollten ihrem Kind »noch ein weiteres Jahr Kindheit gönnen«.24 Es ist zu bezweifeln, ob es den Erziehern wirklich vorrangig darum geht, den Kindern ihre Kindheit zu gönnen und sie um eine Weile zu verlängern. Wenn dies ihr Hauptanliegen gewesen wäre, dann hätten sie den Kindergarten so belassen, wie er traditionell war: ein Ort, wo gespielt wird, wo es etwas zu entdecken gibt und wo Kinder mit den Grundregeln des Schulalltags vertraut werden. Statt dessen erleben wir eine verhängnisvolle Entwicklung: Der Schwerpunkt wird auf die kognitiven Fähigkeiten gelegt, und statt zu spielen müssen die -157-
Kinder büffeln. Diese Entwicklung wird von Eltern wie Erziehern gefördert. Sie wollen zeigen, daß unsere Kinder zu einem früheren Zeitpunkt mehr und bessere Leistungen erbringen, wenn wir sie entsprechend trainieren. Die Wurzeln dieser Entwicklung liegen in den späten fünfziger Jahren. Nachdem die Sowjets ihren Sputnik ins Weltall geschickt hatten, fühlten sich die Amerikaner herausgefordert, mit den Russen gleichzuziehen, und legten im Klima des Kalten Kriegs ihr Augenmerk besonders auf das Bildungssystem. In den neunziger Jahren sind wir ernüchtert durch Untersuchungen, die zeigen, daß Kinder, die schon im Kindergartenalter lesen können, mit neun Jahren desillusioniert und gelangweilt sind und, sofern sie von Erwachsenen schon früh auf Leistung getrimmt werden, später unter Schulangst leiden. Kinder, die man zu früh zu vielen Anregungen aussetzt, sind anfällig für Streß, für Magen- und Kopfschmerzen, Eß- und Schlafstörungen und haben wenig Selbstvertrauen.25 Doch leider sind die meisten Eltern von solchen Untersuchungsergebnissen nicht sonderlich beeindruckt, und wenn sie es sind, gewinnt trotzdem die Sorge um die Leistung der Kinder die Oberhand. Daß die Vorschulreife tatsächlich nur ein Euphemismus für unsere Leistungsbesessenheit ist, zeigt sich bei vielen Eltern, die heute ihr Kind freiwillig erst ein Jahr später in die Vorschule schicken. Manche Eltern tun dies, um ihre Kinder vor unangemessenem Lerndruck zu schützen, der für sie mit den neuartigen Lehrplänen für die Vorschule, den vielen Aufnahmetests und Auswahlgesprächen verbunden ist. Sie hören von einer Mutter, die an einem Informationsabend in der Vorschule teilnimmt, bei dem der Lehrer den Eltern dringend abrät, ihre Kinder allzusehr unter Druck zu setzen - um dann zu erleben, daß derselbe Lehrer gleich am ersten Tag dem Sohn jede Menge Hausaufgaben aufgibt.26 Das lehnen sie für ihr eigenes Kind ab. -158-
Andere Eltern verfolgen andere Ziele: Wenn sie ihr Kind erst ein Jahr später in die Vorschule schicken, so ihr Kalkül, wird es leistungsbereiter sein und später in der Schule zu den Besten der Klasse gehören. Sie haben von Untersuchungen gehört, die belegen, daß ein Kind, das erst mit sechs Jahren in die Vorschule kommt, während der gesamten Schulzeit bessere Noten und Leistungen erbringt als Kinder, die schon mit fünf die Vorschule absolvierten.27 Natürlich geht dieses Kalkül der Eltern dann nicht auf, wenn sich herausstellt, daß die anderen Kinder beim Eintritt in die Vorschule ebenso alt und reif sind wie das ihre. Ihr Traum jedoch ist es, ihren gut entwickelten Sechsjährigen in einer Klasse von weniger reifen und weniger entwickelten Fünfjährigen brillieren zu sehen. Von dem Erfolg in der Vorschule hängt es ab, ob das Kind das Zeug zum Einserschüler hat, und davon wiederum hängt die Chance ab, einen optimalen Studienplatz zu bekommen. In beiden Fällen bei den Eltern, die ihr Kind schützen, wie auch bei denen, die es zur Leistung drängen steht hinter dem freiwilligen Zurückstellen ihres Kindes von der Vorschule der Kult des erfolgreichen Kindes. Das Schulsystem verstärkt die Leistungsangst, die die Eltern bereits verinnerlicht haben. Ist es dann ein Wunder, daß Eltern so bereitwillig mitmachen, wenn es darum geht, ihr Kind zu frühem Lernen und frühzeitiger Leistung anzutreiben? »Manchmal«, so eine Mutter, »habe ich das Gefühl, daß wir ein Kopf-an-Kopf-Rennen veranstalten, bei dem es darum geht, wer im Jahr 2025 der perfekteste und vielseitigste Mensch auf der Welt ist, und daß wir bereits jetzt in den Startlöchern sitzen«.28 Den Knoten aus Angst, Schuld und Ehrgeiz lösen Zwei Frauen aus meinem Bekanntenkreis sind begnadete Erzieherinnen, sie sind in ihrem Bereich anerkannt und werden -159-
hoch geschätzt für ihr hervorragendes Gespür für die Bedürfnisse der Kinder und für ihre Fähigkeit, das »Kind als ganzes« zu berücksichtigen. Aber wenn es um ihre eigenen Kinder geht, sind beide Mütter blind. Die eine schickt ihre beiden Kinder auf die besten Privatschulen in der Bay-Region - Schulen, bei denen andere Kinder Jahre auf die Zulassung warten müssen oder es überhaupt nie schaffen. Und trotzdem beklagt sie sich ständig über die Schulen. Eines ihrer Kinder langweilt sich in Mathematik. Das andere hat einen Stundenplan, den die Mutter als trocken und unausgewogen empfindet. Weder sie noch ihr Mann ist mit den Schulen zufrieden. Sie machen sich unablässig Sorgen, daß ihre beiden Kinder nicht das bekommen, was sie brauchen. Die andere Mutter ist dabei, Anmeldeformulare für die Vorschule auszufüllen: In der Vorschule ihrer ersten Wahl kommen auf zehn Plätze dreihundert Bewerber. Sie läßt mich nicht in Ruhe damit. Sie überlegt, ob sie auf dem Anmeldebogen unter der Frage nach den Eigenschaften ihrer Tochter »Wildfang« eintragen soll, aber sie weiß nicht, ob das Emilys Chancen erhöht oder ihr eher schadet. Auch möchte die Mutter, daß die Schule erkennt, was für ein besonderes Kind Emily ist. Ein Vater ruft mich in heller Aufregung an, weil sein Sohn soeben den Bescheid bekommen hat, daß er von keiner der High-Schools aufgenommen wird, für die er sich beworben hat. Die Eltern hatten den Sohn seit seinem zweiten Lebensjahr intensiv auf die High-School vorbereitet. Er bekam alle möglichen Nachhilfe- und Unterrichtskurse, auch solche, von denen man sich kaum eine Vorstellung machen kann. Der Sohn hatte Privatlehrer, die ihm begleitend zum Schulunterricht individuellen Zusatzunterricht erteilten. Seit er ein Kleinkind war, hatten ihn seine Eltern als ein »sehr besonderes Kind« gefördert, das von seiner Umgebung akzeptiert und ermuntert wurde. Der Sohn hatte tatsächlich zahlreiche Begabungen, doch -160-
das trifft auf viele Kinder zu. Die Schulen, für die er sich beworben hatte, meinten das auch. Bald nach dem entnervten Anruf des Vaters hatte ich auch Gelegenheit, mit der Mutter zu sprechen. Zu der Enttäuschung und dem Schock über die erfolglosen Bewerbungen ihres Sohnes kam das Schuldgefühl, daß sie und ihr Mann vielleicht nicht genug getan hätten: seine Bewerbungen mit ihm durchzugehen, seine Vorbereitungen für die Aufnahmeprüfung sorgfältiger zu kontrollieren und ihn stärker anzutreiben. Ihr Mann erinnerte sich an die Enttäuschungen und Fehlschläge seiner eigenen Kindheit und fühlte sich schuldig, daß es ihm nicht gelungen war, sein Kind davor zu bewahren. Die Folge: Sie setzten ihren Sohn noch stärker unter Druck. Wenn sie nicht von ihrer Schuld und ihrer Angst so geblendet gewesen wären und nicht nur die Ablehnung seitens der Schule gesehen, sondern darüber nachgedacht hätten, daß ihr Kind ihnen eine sehr wichtige Botschaft übermitteln wollte, wäre es für die Eltern und für das Kind besser ausgegangen. Der Sohn hatte sich bei seiner Bewerbung tatsächlich nicht viel Mühe gegeben, weil er den ständigen Druck satt hatte und ein seinem Temperament entsprechend langsameres Tempo einschlagen wollte. Vielleicht hätte ihm der Besuch an der städtischen High-School besser getan, weil er dann nicht ständig mit anderen »vollkommenen« Kindern zusammen gewesen wäre und sein Tempo selbst hätte bestimmen können. Vielleicht hatte er nicht den gleichen Ehrgeiz wie seine Eltern. Vielleicht behagten ihm die Verhältnisse an der Schule der oberen Mittelschicht ganz und gar nicht, in der man mit Einsern im Schulzeugnis und Stipendien prahlen konnte wie anderswo mit Schnappmessern und Rasierapparaten. Vielleicht hätten seine Eltern einsehen können, daß sie einerseits zuviel getan hatten, indem sie ihn unter Druck setzten, sein Bestes zu geben, andererseits aber zuwenig: nämlich ihm zuzuhören und zu fragen, was er selbst wollte. -161-
Diese Eltern blieben nicht untätig in ihrer Opferrolle befangen, sondern taten (mit Erfolg) alles, was in ihrer Macht stand, um die Absage der Schulen rückgängig zu machen. Ich hätte eine andere Lösung vorgeschlagen: Ich hätte angeregt, darüber nachzudenken, ob sie angesichts dieser Situation nicht auch anders mit ihrem Sohn umgehen konnten. Denn vielleicht würde er ja einen anderen Weg einschlagen, wenn er nicht die allerbeste High-School besuchte. Laut und deutlich vernehme ich den Einwand: »Unser Sohn wird dann womöglich faul, wenn er keinen Druck von außen verspürt. Es geht doch darum, ihm alle Optionen offenzuhalten. Wenn wir ihm dabei nicht helfen, verbauen wir ihm seine Zukunft.« Selbstverständlich möchten wir unseren Kindern helfen, ihr Potential voll auszuschöpfen, und ihnen alle nur erdenklichen Chancen geben. Unser größtes Problem in unserem Streben nach Perfektion für unsere Kinder besteht jedoch darin, zwischen echter Hilfe und übereifrigem Druck zu unterscheiden. Das ist eine heikle Aufgabe, weil die Grenzen oft unscharf sind. Mein Mann und ich haben uns oft über die, wie wir finden, haarfeine Grenze zwischen Helfen und Unter-Druck-Setzen auseinandergesetzt. Noch heute verdrehen meine erwachsenen Kinder die Augen, wenn sie den Satz hören: »Wir möchten dir alle Möglichkeiten offenhalten.« Und doch ist das unser Maßstab, um zu entscheiden, wann wir einschreiten und »helfen« und wann wir uns besser zurückhalten sollten, weil wir Druck ausüben, der eher uns als ihnen nützt. Aber zuerst müssen wir uns die Frage stellen: »Welche Erwartungen stellen wir an unsere Kinder? Und sind diese Erwartungen realistisch?« Aus Untersuchungen und aus eigener Erfahrung wissen wir, daß ein Mensch tatsächlich mehr leistet, wenn man höhere Erwartungen an ihn stellt. Aber dies gilt nur innerhalb gewisser Grenzen, und oft zeigen sich negative Folgen. So erzählte mir beispielsweise eine Mutter, sie habe ihrem Sohn gesagt, nur wenn er Zwei plus als Durchschnittsnote im Zeugnis habe, dürfe -162-
er seinen Führerschein machen. Leider war dieser Junge, gemessen an seinen schulischen Fähigkeiten zu diesem Zeitpunkt und den Maßstäben seiner Schule (Drei galt als eine durchaus respektable Note), kein Zweierschüler. Er konnte die Anforderungen also nicht erfüllen. Es wäre besser gewesen, ihm ein realistischeres Ziel zu setzen und ihm dann dabei zu helfen, dieses Ziel zu erreichen, statt ihn zu überfordern und ihn dann damit zu konfrontieren, daß er den Führerschein nicht machen durfte. Bei neun-, zehnjährigen Kindern, die sehr früh dazu angehalten wurden, lesen zu lernen und schulische Leistungen zu erbringen, ist ein Scheitern geradezu vorprogrammiert, denn sie verlieren später schnell das Interesse am Lernen. Im Bemühen darum, zwischen echter Hilfe und Druck in meiner eigenen Familie zu unterscheiden, überlegen mein Mann und ich zunächst einmal, ob unsere Erwartungen realistisch sind. Dann fragen wir uns, ob nur wir das wollen oder ob es auch unsere Kinder wollen (oder brauchen). Im Lauf der Zeit haben wir gelernt, daß wir manchmal einfach nur sagen mußten: »Es ist gut für sie, genau wie das Zähneputzen, auch wenn sie es nicht wollen.« Aber in anderen Fällen müssen wir sehr genau hinhören, wenn sie anfangen, sich zu widersetzen (zum Beispiel ständig »vergessen«, Geige zu üben), oder wenn die »Hilfe« in einen Machtkampf ausartet, zu Wutanfällen oder schlechter Stimmung führt. Wo wir die Grenze zwischen Hilfe und Zwang ziehen, hängt sicherlich von dem jeweiligen Kind, von der jeweiligen Situation und nicht zuletzt auch vom Temperament der Eltern ab. Aber wie auch immer, die Selbstprüfung, ob wir unsere Kinder nicht zu stark unter Druck setzen, ist ein gutes Korrektiv, um zu vermeiden, daß wir dem Pygmalion-Effekt unterliegen und unser Kind auf Perfektion drillen. Es ist besser, es als einen Zweig zu betrachten, den man nicht überbiegen darf, als Kind, das, wie begabt es auch immer ist, mit seinen Stärken und Schwächen in einer unvollkommenen Welt zurechtkommen -163-
muß. Dann können wir unsere chronische elterliche Angst zügeln und unserem Kind Raum geben - unserem Kind und nicht dem Arzt, der es einmal werden soll. Es ist für uns als Außenstehende einfach, den Eltern den fachmännischen Rat zu erteilen, daß es dem Kind nicht guttut, es zu stark unter Druck zu setzen. Aber wenn man als Eltern mitten im Geschehen steht, helfen einem weder das innere Gespür noch die gesellschaftlichen Gepflogenheiten, Antworten auf die Frage zu finden: »Für wen tue ich das eigentlich, für mich oder für mein Kind?« Solange wir davon ausgehen, daß die Eltern ihr Kind nur um ihres eigenen Narzißmus willen unter Druck setzen, werden wir der Totalität und Komplexität der elterlichen Erfahrung nicht gerecht. Narzißmus und Perfektionismus gibt es mit Sicherheit. Aber wenn wir uns vor Augen halten, daß Mütter und Väter dieser Generation ihrem eigenen Urteil als Eltern nicht trauen, können wir uns in sie hineinversetzen oder zumindest ihre Leistungsbesessenheit bezüglich ihrer Kinder besser verstehen. Es erfordert Mut, aus dem Wettlauf um Sozialprestige auszusteigen und zwischen echter Hilfe und Unter-Druck-Setzen zu unterscheiden. Es erfordert den Willen, nicht nur die Erfolge unserer Kinder, sondern auch ihre Mißerfolge zu betrachten und uns zu fragen, wer sie sind und was sie uns über ihre eigenen Lebensvorstellungen mitteilen wollen.
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6 Verwöhnen zum Erfolg
Alle diese Entwicklungstriebe können gefordert oder unterdrückt werden, je nach der Haltung der Erwachsenen. Der Trieb nach Autonomie kann gestärkt werden, indem den Kindern Gelegenheiten geboten werden, neue Fähigkeiten auszuprobieren, bis sie beherrscht werden. Doch ebenso kann der Reifungsprozeß behindert und der Wille zum Lernen unterdrückt werden, wenn die Eltern oder die Lehrer die Kinder unnötigerweise bevormunden und beherrschen, indem sie die Aktivitäten für jede freie Minute vorschreiben. Benjamin Spock1 Eltern, die ihre Kinder antreiben, schaffen das neuartige Phänomen »Mein Sohn, der Arzt« - ein kleines Kind, das Großartiges leistet. Mit zwei Jahren kann die Tochter bereits Leselernkarten für Anfänger lesen. Schon der Vierjährige spielt Geige und tritt in Mozarts Fußstapfen. Wenn es nur darum ginge, daß Eltern zuviel von ihren Kindern fordern, wären wir hier am Ende angelangt. Viele setzen hier tatsächlich den Schlußpunkt. Wir könnten noch ein Nachwort anfügen und die Eltern erinnern, daß sie kleine Kinder und keine kleinen Akademiker haben, und damit wäre die Sache erledigt. Leider verhält es sich nicht so einfach. Wenn es um die Leistungen ihrer Kinder geht, sind Eltern nicht nur treibende Kraft. Sie begehen auch den Fehler, ihre Kinder in den Himmel zu heben und ihnen das Gefühl zu geben, sie würden ständig große Leistungen und Wundertaten vollbringen. Eltern wollen, daß ihre Kinder ein gutes Selbstwertgefühl entwickeln. Um das zu erreichen, nehmen sie ihren Kindern immer wieder Aufgaben -165-
aus der Hand und erledigen sie selbst. Sie überschätzen die großen und kleinen Leistungen ihrer Kinder, unterschätzen aber gleichzeitig, daß Kinder selbständig handeln können und wollen. In diesem Fall treiben Eltern ihre Kinder nicht an, sondern verwöhnen sie, um sie zum Erfolg zu führen. Die Tochter hat eine Mathematikprüfung. Ihre Mutter bleibt die ganze Nacht auf, um mit ihr zu lernen. Ein Vater bringt seinem Dreijährigen bei, sich selbst die Schnürsenkel zu binden. Um die neue Großtat des Sohns zu feiern, steigt eine Party mit Luftballons. Übereifrig nehmen Eltern an den Leistungen ihrer Kinder Anteil. Sie mühen sich wie besessen, das Selbstwertgefühl ihrer Kinder zu stärken. Das Ergebnis: Einerseits werden die Kinder auf Leistung getrimmt, andererseits nimmt man ihnen alle Schwierigkeiten ab. Gerade das ist so gefährlich an der gegenwärtigen Epidemie der chronischen elterlichen Ängste im Ringen um Vollkommenheit. Reichen wir Kindern die Hand Zunächst gilt es zu verstehen, daß sich in der Einstellung vieler Eltern ein sehr merkwürdiges Phänomen zeigt, das die ungute Glorifizierung kindlicher Leistungen widerspiegelt und verstärkt. Ich spreche von der neuen »Selbstwert«-Bewegung, die inzwischen in den Vereinigten Staaten so populär ist und uns im täglichen Umgang mit Kindern stark beeinflußt: Wir sind fest entschlossen, Menschen heranzuziehen, die mit sich und ihrem Leben zufrieden sind. Die neue Ethik des »Selbstwertgefühls« ist überall anzutreffen, von großen Firmen bis hinunter zum Kindergarten. Manager lernen, das Selbstwertgefühl ihrer Mitarbeiter aufzubauen. Lehrer befassen sich mit den Mechanismen der positiven Verstärkung. Man konzentriert sich darauf, sich positiv zu fühlen und in einem unterstützenden Umfeld sein -166-
volles Potential auszuschöpfen. Wir wollen um jeden Preis verhindern, daß sich jemand wegen seiner Leistungen schlecht fühlt, ganz gleich, welches Leistungsniveau er tatsächlich erreicht. Angestrebt werden Selbstvertrauen und ein gutes Selbstgefühl, die als Voraussetzung für den Erfolg gelten. Auf Kinder angewandt, gewinnt diese Ethik gewisse Besonderheiten, über die es sich nachzudenken lohnt. Es hat den Anschein, daß die Eltern und das ganze Land unseren Kindern ein Lied vorsingen, bei dem Text und Melodie nicht zusammenpassen. Wenn wir uns und unsere Kinder ansehen, läßt sich das Gefühl nicht leugnen, daß auf dem Weg an die Spitze der Pyramide ein mörderischer Wettbewerb tobt, während gleichzeitig die Chancen schrumpfen. Dennoch behaupten wir, wettbewerbsorientierte Beziehungen in Gesellschaft und Arbeitswelt seien destruktiv und unproduktiv und sollten durch mehr »Benutzerfreundlichkeit« und eine kooperative Haltung ersetzt werden. Also konzentrieren wir uns auf Worte und Taten, die das Selbstgefühl fördern und unterstützen, während alle zur Musik des erbarmungslosen Wettbewerbs tanzen. In unserer Beziehung zu Kindern führt die Ethik des »Selbstwertgefühls« dazu, daß bei der Rechtschreibprüfung jedes Kind einen Stern erhält, und nicht nur die Besten. Auszeichnungen und hohes Lob für jeden, der es versucht, sind die neue Norm der positiven Verstärkung. Nicht nur der beste Spieler erhält eine Trophäe, sondern jeder im Team, einfach weil er mitgemacht hat. Die Stärkung des Selbstwertgefühls beginnt schon im Kleinkindalter, wenn die ersten Schritte und jedes neugelernte Wort mit großem Jubel und Applaus bedacht werden. Ein kleines Mädchen ißt seinen Teller leer, und der ganze Tisch stimmt ein Freudenlied an. Es gibt Töpfchen zu kaufen, bei denen die Nationalhymne erklingt, wenn das Kind sein Geschäft erledigt hat. Vom Standpunkt des Kindes wird jede alltägliche Leistung -167-
ein bedeutsames Ereignis, das man mit Pauken und Trompeten begrüßt. Einerseits läßt man die Kinder nichts Wichtiges selbst erledigen, andererseits wird jeder kleine Fortschritt gefeiert wie die Besteigung des Mount Everest. Das Zimmer von Jugendlichen sieht oft aus wie eine Trophäensammlung eine Medaille für die Teilnahme an einem Zeltlager, eine Urkunde für den Beitritt zu den Pfadfindern, eine Schleife, weil zum Malwettbewerb der Schule ein Bild eingereicht wurde. Die Smilies, Sternchen und Beifallsstürme erhält man dafür, daß man auf der Welt ist, und nicht für echte Leistungen. Sinn und Zweck der Selbstwertbewegung ist es, die Kinder mit Lob zu überschütten, um ihr Selbstbewußtsein zu stärken und ihnen Erfolgserlebnisse zu ermöglichen. Doch diese Strategie kann nur dann das Selbstvertrauen stärken, wenn die Kinder die Heuchelei nicht durchschauen. Nach meiner Erfahrung merken viele Kinder, was los ist, können aber nicht unterscheiden, wann sie tatsächlich etwas zustande bringen und wann nicht. Und wenn die Kinder die Heuchelei nicht erkennen, laufen sie Gefahr, sich maßlos zu überschätzen, weil sie ja ständig für Spitzenleistungen ausgezeichnet werden. Die Strategie der Steigerung des Selbstwertgefühls verhindert auch die Einsicht, daß es immer Leute gibt, die auf einem Gebiet besser sind als man selbst, was völlig in Ordnung ist. Man hat zwar die Aufgabe, sich ins Zeug zu legen, sollte aber auch das Vergnügen nicht vergessen, und eines Tages erhält man Anerkennung oder eine Trophäe auf dem Gebiet, auf dem man wirklich gut ist. Dr. Harold Stevenson von der Universität von Michigan hat in einer Studie festgestellt, daß amerikanische Kinder Schülern in Japan, Taiwan und China weit voraus sind, was ihre Selbsteinschätzung im Fach Mathematik betrifft. Schön zu wissen, daß wir unseren Kindern ein so positives Selbstgefühl vermittelt haben. Doch leider wird dieser Eindruck durch die Tatsache getrübt, daß amerikanische Schülerinnen und Schüler -168-
in ihren tatsächlichen Leistungen im Vergleich zu den genannten Gruppen miserabel abschneiden.2 Marilyn brachte ihre neunjährige Tochter Tiffany zur Therapiesitzung. Als ich beide im Wartezimmer begrüßte, drückte Marilyn ihrer Tochter eifrig ein Blatt Papier in die Hand und forderte sie auf, es mir in der Stunde zu zeigen. Widerstrebend nahm Tiffany das Blatt und ging in mein Büro. Ich fragte sie freundlich, ob sie es mir zeigen wolle. »Eigentlich nicht«, antwortete sie. Dann fragte ich, ob sie sich über ihre Mutter ärgere, weil sie sie gedrängt hatte, das Blatt Papier mitzubringen. »Eigentlich nicht«, wiederholte sie mit ausdrucksloser Stimme. Ich äußerte meine Vermutung, daß es sich um eine Urkunde für irgendwelche Leistungen handele, daß sie aber nicht darauf aus sei, mir davon zu erzählen, und wir könnten es dabei belassen. Aber dann beschloß sie, doch darüber zu sprechen. Es war eine Ehrenurkunde aus der Turnstunde. Jeder war für irgendeine besondere Übung damit ausgezeichnet worden. Tiffany hatte die ihre erhalten, weil sie den Schneidersitz beherrschte. Doch das irritierte sie, weil jeder in der Klasse mit überkreuzten Beinen dasitzen konnte. Ich fragte sie, wie sie selbst ihre Leistungen im Turnen beurteile und worauf sie besonders stolz sei. Sie sagte, sie hätte keine Ahnung. Je länger wir darüber sprachen, desto entnervter und erschöpfter wirkte Tiffany. Im Grunde turnte sie gerne, und in den letzten Monaten hatte sie mir mit Begeisterung vorgeführt, was sie alles gelernt hatte. Ich hatte den Eindruck, daß sie tatsächlich eine begabte Turnerin und durchaus motiviert war, den Sportunterricht weiter zu besuchen und sich zu verbessern. Doch in ihrem Fall hatte die Verleihung von Auszeichnungen das Bewußtsein für die eigenen Leistungen nicht gestärkt, sondern geschwächt. Die Turnlehrerin wollte wahrscheinlich, daß jedes Kind seine Fortschritte positiv sah, und hoffte wohl, mit der Urkundenvergabe den Wettbewerb und die Entstehung einer -169-
leistungsorientierten »Rangordnung« zu vermeiden. Mir fiel ein, wie begeistert Marilyn über die Auszeichnung ihrer Tochter gewesen war. Das Problem war nur, daß sich die kleine Empfängerin nicht darüber freute. Bei meiner nächsten Sitzung mit Marilyn und ihrem Mann Donald schilderte ich meinen Eindruck, daß Tiffany durch die Urkunde eher den Mut verloren hatte, statt neuen Schwung zu bekommen. Ich warf die Frage auf, ob das System der Lehrerin den Kindern oder wenigstens Tiffany etwas brachte. Mir kam in Erinnerung, wie sich meine eigene Tochter früher im Sportunterricht Medaillen verdient hatte. Das war einige Jahre her, bevor dieses Land vom Trend der Steigerung des Selbstwertgefühls erfaßt wurde. Wenn die Kinder ein bestimmtes Leistungsniveau erreicht hatten, erhielten sie die nächste Medaille - ähnlich wie die Frei- und Fahrtenschwimmerabzeichen der Wasserwacht. Meine Tochter freute sich über ihr Können und hat die Medaillen noch heute an der Wand hängen. Von diesen Erinnerungen erzählte ich den Eltern. Marilyn und Donald hatten die Sache noch nie aus diesem Blickwinkel betrachtet, und sie folgten sogar dem Vorbild der Sportlehrerin und gaben Tiffany allwöchentlich eine Belohnung für jedes neue Kunststück, das sie beim Turnen gelernt hatte, ob sie es nun beherrschte oder nicht. Zunächst hatten sie Einwände gegen meinen Vorschlag, die Verteilung von Belohnungen im Unterricht und zu Hause zu überdenken, weil sie nicht den Wettbewerb wiedereinführen und Tiffany entmutigen wollten. Doch dann gab ich zu bedenken, daß das zur Zeit praktizierte »Selbstwert«-System seinen Zweck nicht erfüllte, zumindest konnte es Entmutigung nicht verhindern. Sie dachten eine Weile darüber nach und besprachen schließlich zu Hause das Belohnungssystem im Sport mit ihrer Tochter. Tiffany wiederholte, was sie mir erzählt hatte. Auf meine Empfehlung sprachen sie gemeinsam mit Tiffany mit der Sportlehrerin, die -170-
sehr freundlich und verständnisvoll reagierte. Obwohl sie an ihrem System festhielt und den Wettbewerb nicht wiedereinführen wollte, setzte sie sich von nun an regelmäßig mit Tiffany zusammen und besprach mit ihr ihre besonderen Stärken als Turnerin, aber auch die Übungen, an denen sie noch arbeiten mußte. Auch zu Hause war einiges zu tun. Nach meiner Ansicht war Tiffany eine gute Kandidatin für meine Methode mit den beiden Körben; auf dem einen steht »gut«, auf dem anderen »nicht so gut«, und diese Methode kann tatsächlich etwas zur Stärkung des Selbstvertrauens beitragen. Marilyn und Donald sollten Tiffany bitten, sich zwei Körbe vorzustellen, den »guten« und den »nicht so guten«. Dann sollte sie entscheiden, welche von ihren sportlichen Leistungen sie gern in den guten Korb und welche sie in den anderen Korb legen würde. Auf diese Weise wurde ihr klar, daß es tatsächlich Übungen gab, die sie nach eigenem Urteil gut machte, auch wenn ihr die Urkunden bedeutungslos erschienen. Außerdem half ihr diese Methode einzuschätzen, an welchen Übungen sie gern weiterarbeiten wollte. Zu Anfang kann diese Selbstbeurteilung einem Kind schwerfallen, weil es die eigenen Leistungen nicht klar erkennt. Doch die Eltern können hier helfen, indem sie sich dazusetzen, selbst Körbe für ihr Kind zusammenstellen und dabei seine Erfolge und Leistungen ehrlich beurteilen. Damit diese Übung auf Tiffany nicht bedrohlich wirkte, sollten die Eltern auch Körbe für ihre eigenen Leistungen füllen. So sah Tiffany, daß nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene manches gut können und anderes nicht perfekt zustande bringen - und daß das ganz normal ist. Auf diese Weise konnten sich auch Marilyn und Donald darin üben, echte Leistungen von falschen Lorbeeren zu unterscheiden. Bei der nächsten Sitzung berichteten Donald und Marilyn, daß Tiffany die Übung mit den Körben freudig ausführte und sogar darauf bestand, zwei echte Körbe an einen bestimmten Platz zu -171-
stellen, damit die ganze Familie das Spiel mit den Körben auf den verschiedensten Gebieten erproben konnte. Besonderen Spaß machte es ihr, die Leistungen (und Fehler) ihrer Eltern zu beurteilen, so daß für sie die eigenen Unzulänglichkeiten leichter zu ertragen waren. Paradoxerweise entstand dadurch nicht mehr Wettbewerbsgeist, sondern Tiffany lernte, sich über ihre eigenen Leistungen und Fähigkeiten wirklich zu freuen, und ließ andere großzügig an diesem Gefühl teilhaben. Joan und Jim hatten einen Sohn, Jason, der seit seinem sechsten Lebensjahr Posaune lernte. Beide ermutigten ihn und ließen ihn bei jeder Familienfeier vorspielen, wo er großen Applaus erntete. Für die Eltern war er ein kleines Musikgenie. Als er in die High-School kam, bewarb er sich bei der JugendJazzband der Gemeinde. Das kleine Musikgenie hatte viel Konkurrenz und scheiterte. Der Brief mit der Absage traf ein, während er in der Schule war. Seine Eltern versteckten den Brief und riefen mich in heller Aufregung an. Bestimmt handle es sich um einen Irrtum. Der Bandleader hatte Jason ermutigt, sich zu bewerben. Jason würde am Boden zerstört sein, wenn er hörte, daß man ihn nicht genommen hatte. Sie wollten sofort den Bandleader anrufen und sich für ihren Sohn einsetzen. Gemeinsam mit ihnen untersuchte ich, warum sie so heftig reagierten und wie sich das auf Jason auswirken konnte. Waren sie Jasons wegen enttäuscht, oder ging es ihnen um ihre eigenen Gefühle? Ich warf die Frage auf, ob es tatsächlich der Weltuntergang wäre, wenn Jason bei der Band nicht mitmachte. Vielleicht wäre es besser, wenn Joan und Jini, statt hinter den Kulissen für Jason zu intervenieren, ihm helfen würden, mit unvermeidlichen Enttäuschungen fertigzuwerden. Denn es kann immer geschehen, daß man nicht aufgenommen wird, obwohl man auf einem Gebiet recht gut ist. Die harte Wirklichkeit war, daß sich ein anderer beworben hatte, der einfach ein bißchen besser war, und daß Jason es beim nächsten Vorspieltermin noch einmal versuchen sollte, weil er letztlich ein guter -172-
Posaunist war. Ich weiß nicht, ob meine Anregung die Sorge der Eltern tatsächlich gemildert hat, aber immerhin nahmen sich Joan und Jim noch ein wenig Zeit zum Nachdenken, bevor sie handelten. Mit etwas Abstand erkannten sie, daß ihr übereifriger Applaus für Jasons Erfolge bei ihrem Kind nur Ängste weckte, so daß es Frustrationen nicht ertrug und übertrieben sensibel auf seine Eltern und deren Sorgen wegen seiner Leistungen reagierte. Das hielt sie davon ab, sich vorschnell einzuschalten, um die Sache für ihn in Ordnung zu bringen. Sie rissen sich zusammen und überreichten Jason zähneknirschend, aber ohne Kommentar den Brief mit der Absage. Sie stellten fest, daß Jason es weniger schwer nahm als erwartet und ganz bestimmt nicht so schwer wie sie selbst. Das Verschwinden des Spiels Wenn wir unsere Kinder auf Erfolg und Selbstvertrauen trimmen, konzentrieren wir unser Lob auf eine einzige bedeutende Eigenschaft - die kognitive Frühreife der Kinder. Das Kind, das schneller liest, Algebra früher begreift und Piagets formales Stadium der kognitiven Entwicklung, die begriffliche Intelligenz, früher erreicht, wird zum Inbegriff des erfolgreichen, selbstbewußten Kindes. Selbst die Liedchen, die Kinder singen, dienen nicht mehr dem reinen Vergnügen, sondern sollen zeigen, wie begabt und musikalisch ein Kind ist. Gewiß ist die Kindheit nicht verschwunden, doch Eltern, die sich erfolgreiche Kinder wünschen, sind im Begriff, dem wichtigsten Grundpfeiler der Kindheit, dem Spiel, den Garaus zu machen. In ihrem Buch The Superbaby Syndrom bringt Jean Fitzpatrick das Problem auf den Punkt: »Seit den sechziger Jahren mißverstehen viele Eltern Maria Montessoris Schlagwort ›Das Spiel ist die Arbeit des Kindes‹ als Aufforderung, ihre Kinder statt Versteckenspielen Schwerarbeit leisten zu lassen.«3 -173-
Da sich die Grenzen zwischen Kindheit und Erwachsensein immer mehr verwischen, wenden Erwachsene die Maßstäbe ihrer Welt jetzt auch auf die Welt der Kinder an: das Arbeitsethos der Produktivität, Terminvorgaben, Tagesplanung und Leistungszuschläge. Da das Familienleben wenig Ruhe und Beschaulichkeit bietet, auf den Straßen nicht mehr gefahrlos gespielt werden kann und die Spielgefährten oft über die ganze Stadt und die Vororte verstreut wohnen, ist die »Verabredung zum Spielen« an die Stelle des spontanen Vergnügens getreten. Kinder haben kaum noch Gelegenheit, draußen auf den Gehsteigen Kinderspiele zu spielen, ihre Umgebung zu erforschen oder einfach Zeit in ihrem Zimmer zu verbringen. Dem übervollen Terminplan der Eltern entspricht der überfrachtete Tagesablauf, den sie für ihre Kinder planen. Früher glaubte man, daß Kinder seelische Schwierigkeiten bekämen, wenn sie zuviel Freizeit hätten. Jetzt sieht es eher so aus, als wären sie gefährdet, weil sie keine Zeit mehr haben. Nicht nur Kinder, auch Erwachsene leiden unter der Verdrängung des Spiels aus dem Alltag. In den Vereinigten Staaten haben Berufstätige einen unglaublich langen Arbeitstag und sehr wenig Urlaub. Eltern, die versuchen, Erwerbsarbeit und Familie zu vereinbaren, klagen häufig, daß sie keine Muße mehr finden. Es bleibt keine Zeit zum Nachdenken oder zum Nichtstun. Die Kinder werden in den Wahn hineingerissen, aus jeder Minute möglichst viel herausholen zu müssen. Eine Mutter hat mir von der kleinen Freundin ihrer Tochter erzählt, einem sechsjährigen Mädchen aus einer übertrieben leistungsbewußten Familie, die das Kind zu allen nur denkbaren Aktivitäten angemeldet hatte. Aus reiner Neugier fragte die Mutter die Freundin ihrer Tochter: »Spielst du eigentlich mit Barbiepuppen?« Das kleine Mädchen antwortete mit Nachdruck: »Aber nein, ich habe viel zu viel zu tun, um mit -174-
Barbiepuppen zu spielen.«4 Das Glück unserer Kinder hat einen sehr hohen Stellenwert für uns, aber wir haben aus dem Blick verloren, was für das Glück nötig ist. Trotz erheblicher, durch Herkunft und Nationalität bedingter Unterschiede gibt es so etwas wie eine universelle »eigentliche Kindheit«. Das »eigentliche Kind« fühlt sich wohl, spielt gut, arbeitet gut, ißt gut, denkt gut, kommt gut zurecht, genießt das Leben und erwartet das Beste.5 Leider wird in der neuen Erziehungspraxis der zweite Faktor, das Spiel, vollkommen übersehen. Zunächst muß geklärt werden, was überhaupt gemeint ist, wenn wir von »Spiel« sprechen. Es ist mehr als Kästchenhüpfen, Murmelnspielen oder »Tun wir so, als ob...«. Das sind Beschäftigungen, auf die Kinder zurückgreifen, wenn wir ihnen den Freiraum geben, ihren Körper, ihre Umgebung, ihre Gedanken und Gefühle und ihre Phantasie zu erforschen. Aber das Spiel als psychische Erfahrung und als ein Beitrag zur Entwicklung ist ein viel tiefgründigeres Phänomen. Das Spiel schafft die Voraussetzungen für Kreativität im Leben. Kreativität beeinflußt unsere Haltung gegenüber der Welt, so daß wir nicht nur so auf die Dinge reagieren, wie wir sie buchstäblich sehen, sondern in die Erfahrung eine subjektive Bedeutung hineinlegen, die unserer eigenen Vorstellungskraft entspringt. Das Spiel beginnt, wenn wir als Babys mit unseren Eltern interagieren und dabei einen psychologischen Raum schaffen, in dem wir einen Aspekt des Lebens neu erfahren, der weder »in mir« noch »außerhalb von mir« ist, sondern sich irgendwo dazwischen bewegt. Ein ideales Beispiel aus der frühen Kindheit ist der Teddybär oder die Schmusedecke. Das Baby schreibt dem Objekt eine besondere Bedeutung zu, so daß es den Trost durch Mutter oder Vater ersetzt. Wenn das Baby befragt werden könnte, würde es natürlich wissen, daß die Decke letztlich nur ein Stück Stoff ist. Aber dem Baby ist gleichzeitig völlig klar, daß die Decke weit -175-
mehr als nur ein Stück Stoff ist. Die Eltern stellen das bald ebenfalls fest, wenn das Objekt bei einem längeren Familienausflug vergessen wird und das Baby herzzerreißend schreit. Dieses »Übergangsobjekt« ist ein besonderer Besitz, der in einem Maße Trost und Beistand bietet, wie kein anderes lebloses Objekt es könnte. Und niemand außer dem Kind selbst kann dem Objekt eine solche Bedeutung verleihen. Es gehört in den Spielbereich des Kindes. Für das heranwachsende Kind ist das Spiel eine kreative Erfahrung. Es nimmt Raum und Zeit in Anspruch. Für das Kind ist es höchst real. Das Kind geht dazu über, in der Welt in besonderer Weise zu handeln und dabei ein Machtgefühl zu erleben - es nimmt Dinge aus dem Alltagsleben und verleiht ihnen eine besondere persönliche Bedeutung. Das Kind greift nach einem Holzklotz und verwandelt ihn in einen Laster, einfach indem es »wrumwrumwrum« macht. Für den außenstehenden Beobachter ist der Klotz einfach ein Stück Holz. Aber für das Kind hat dieses Objekt vorübergehend imaginäre Räder, Scheibenwischer und einen Motor. Eine Stunde später wird dasselbe Kind das Phantasieauto vielleicht unbekümmert fallenlassen, da es ja nur ein Holzklotz ist, aber im Augenblick ist es ein heiliges Objekt. Das so definierte Spiel ist universell und fördert das Wachstum und damit die Gesundheit. Wenn es nicht behindert wird, ist es etwas ganz Natürliches; es ermöglicht uns später, mit unseren Mitmenschen intensive und sinnvolle Beziehungen einzugehen, zur Kultur, in der wir leben, beizutragen, uns auszudrücken und ein robustes Selbstgefühl als ein Subjekt zu entwickeln, das die Welt gestalten kann. Außerdem ermöglicht das Spiel uns, inmitten der Anforderungen des täglichen Lebens eine Atempause einzulegen, indem wir durch Tagträume, Phantasien, schrullige oder kreative Tätigkeiten Entspannung finden. Ohne das Spiel bleibt uns nur noch die starre Anpassung und Erfüllung äußerer Anforderungen. Wir nehmen dann das -176-
reiche, vielgestaltige Innenleben nicht wahr, das uns erst den Wert des Lebens fühlen läßt, statt es als zwecklose Übung zu sehen. Das beobachten wir bei dem Typ des Workaholic, der sich nur darauf versteht, einen Zwölf-Stunden-Tag im Büro zu gestalten, dann heimkommt, um Geschäftstelefonate zu fuhren, und am nächsten Morgen aufwacht, um im selben Trott weiterzumachen. Doch dieser Mensch beklagt sich unaufhörlich, wie überarbeitet und leer er sich fühlt. Dasselbe beobachten wir bei der 14jährigen Magersüchtigen, die sich nur darauf versteht, glatte Einser zu schreiben, sich nur um ihre guten Noten sorgt und ihr Leben in den Griff bekommen will, indem sie die Kalorienzufuhr kontrolliert. Wenn wir unsere Kinder für jede Heldentat mit Ruhm und Ehre überschütten, erreichen wir womöglich genau das Gegenteil unserer Absicht, die Entwicklung, die Kreativität und Gesundheit unserer Kinder zu fördern. Es wurde Alarm geschlagen, weil amerikanische Kinder kaum noch Gelegenheit zum Spielen haben. Da man übergroßen Wert darauf legt, daß sich Kinder möglichst früh formale Lernfähigkeiten aneignen, und da sie für jede Leistung eine Belohnung erhalten, sind das freie Spiel und die Phantasie im Kurs gesunken und werden nur noch in zweiter Linie gefördert. Wir lassen das Bedürfnis der Kinder außer acht, zu grübeln, nachzudenken oder einfach »nichts« zu tun, und sind wie besessen davon, sie anzuspornen und ihnen mehr und mehr Möglichkeiten zu bieten, um ihre kognitive Entwicklung voranzubringen. Zum Beispiel berichtet Fisher-Price, daß Spielsachen für Fünf- bis Sechsjährige regelmäßig für Drei- und Vierjährige gekauft werden.6 Ich muß auch an eine Kollegin denken, die mir anvertraute, sie sei ganz verzweifelt, weil sich ihre Tochter mit billigen Verkleidungsspielen beschäftige, statt Monopoly zu spielen und so ihren Verstand zu schärfen. Dafür würde das Kind Lob erhalten. Und erst letzte Woche fand ich in der Lokalzeitung die Karikatur einer Mutter, die eine Leselernkarte für Kleinkinder in -177-
die Höhe hält und dabei einen Brief ihres Kindes liest: »Nach reiflicher Überlegung und Selbsterforschung bin ich zu dem Schluß gekommen, daß ich vorläufig einen gewissen intellektuellen Sättigungsgrad erreicht habe. Deshalb ersuche ich um eine vorübergehende kurze Verschnaufpause von den Leselernkarten. Hochachtungsvoll, das Baby.«7 Produktivität und Spitzenleistungen werden bei Kindern höher geschätzt als eigene Erfahrungen und Entdeckungen, schrullige, phantasievolle Einfalle und Gefühle. Wir alle wünschen uns kreative Kinder, doch wir haben aus dem Blick verloren, wie Kreativität geweckt werden kann. Manchmal wollen Kinder einfach nur da sein, sie wollen nicht angespornt, nicht von einem Kurs zum nächsten gefahren werden, der ihr Weiterkommen und ihre Entwicklung fördern soll. Läßt man ihnen ab und zu Zeit zum eigenständigen Spiel, werden sie tatsächlich rasch vorankommen, ohne daß man ihre Entwicklung durch ausgefeilte Lernprogramme beschleunigen und ihnen für jede Leistung eine Auszeichnung geben müßte. Alles, was wir bereitstellen müssen, sind Zeit und Freiraum zum Spielen. In meiner therapeutischen Praxis begegnen mir immer häufiger Kinder, die das Spielen verlernt haben. Besonders deutlich ist mir ein zehnjähriger Junge in Erinnerung, der wegen Angstgefühlen und Verhaltensproblemen zu mir kam; Ursache waren die Scheidung seiner Eltern sechs Jahre zuvor und die chronischen Spannungen in ihrer Beziehung. Jonathan war ein unwiderstehlich hübsches Kind, gut angezogen, brav, strahlte jedoch eine tiefe Traurigkeit aus. Bei unserer ersten Sitzung war er sehr entgegenkommend. Er zeichnete die Bilder, die ich ihn zu zeichnen bat, beantwortete meine Fragen, erzählte Geschichten zu den Bildkarten, die ich ihm zeigte, und tat alles nach Vorschrift. Kein einziges Mal erforschte er aus eigenem Antrieb das Spielzimmer. Am Ende der Stunde erhob er sich feierlich, schüttelte mir die Hand und sagte: »Vielen Dank, Dr. Ehrensaft. Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen. Und -178-
ich freue mich sehr darauf, diesen Samstag mit meiner Mutter in die Oper zu gehen.« Als er mein Büro verließ, stand ich da und war sprachlos. Ich wußte nicht, ob dieses Kind die Fähigkeit zu spielen verloren oder ob es sie nie besessen hatte. Aber seine eingeengte Spontaneität, seine Traurigkeit und sein Mangel an Vitalität waren überdeutlich zu spüren. Einige Monate später, mitten in der Therapie, war Jonathan in der Lage, die Zeit der Trennung seiner Eltern noch einmal zu durchleben. Jetzt gab es für dieses Kind keine Oper und kein »Vielen Dank, Dr. Ehrensaft« mehr. Es jagte mich bei einem Pseudo-Baseball-Spiel durch den Raum, und wenn es mich abfing, biß es mich ins Bein. Alle möglichen und unmöglichen Bürogegenstände und Stofftiere wurden zu Start- und Zielpunkten. Gutturale Laute und Tierstimmen waren zu hören. Es quietschte vor Vergnügen. Jonathan hatte spielen gelernt. Jonathans Eltern hatten es gut mit ihm gemeint. Sie hatten einen kulturellen Umkreis, in dem Kurse, Training und strukturierte Tätigkeiten für Kinder gutgeheißen wurden. Sie meinten, er würde sich gut fühlen, wenn sie ihm Zugang zu allem eröffneten, was unsere Kultur zu bieten hatte, und seinen Horizont so weit wie möglich ausdehnten. Aber letztlich wollte er sich nur in seinem Zimmer verkriechen, Tagträumen nachhängen und mit seinem geliebten Stoffnashorn spielen, das ihm durchaus als »Übergangsobjekt« diente und den Eltern teil repräsentierte, der ihm fehlte. Durch unsere gemeinsame Arbeit stellten Jonathans Eltern fest, daß sie noch andere Möglichkeiten hatten. Nicht nur meine therapeutische Beziehung zu Jonathan, sondern auch die veränderte Haltung seiner Eltern führte dazu, daß er seine Fähigkeit zu spielen wiederentdeckte. Im wesentlichen handelte es sich um eine Veränderung ihrer Wertvorstellungen. Ich erklärte ihnen rundheraus, Jonathan leide an Adultomorphismus. Er gebärdete sich wie ein kleiner Erwachsener, aber das war nur eine Fassade für ihn und für andere. Er litt an einer Einengung -179-
der Spontaneität und fühlte sich als Folge davon insgesamt unwohl. Daß Jonathans Eltern verblüfft waren, konnte ich ihnen am Gesicht ablesen. »Das ist das letzte, was wir Jonathan wünschen«, platzte sein Vater heraus. »Wir möchten, daß er die Freiheit hat, er selbst zu sein, und nicht versucht, uns nachzuahmen.« Seine Mutter war sich da nicht so sicher, denn ihr altkluges, intellektuelles Kind gefiel ihr recht gut, so daß sie nur ungern klein beigab. Aber sie räumte ein: »Ich glaube wirklich, daß wir beide [sie und ihr Exmann] den Fehler begangen haben, das Streben nach eigenem beruflichem Erfolg auf Jonathan zu übertragen; deshalb lassen wir ihn so hart arbeiten, wie wir selbst es tun, und loben ihn nur dafür.« Bei unserer nächsten Sitzung bat ich die Eltern, sich als Übersetzer zu betätigen und die Bedeutung von Jonathans Botschaften zu enträtseln, wenn er (1) sich trotzig in sein Zimmer zurückzog und (2) die Fassade (übertrieben fügsam, zuckersüß) aufbaute, die für die Eltern inzwischen ebenso deutlich sichtbar war wie für mich. Durch Austausch miteinander und mit mir kamen sie dahinter. Es waren zwei klare Botschaften: Hört auf und laßt mich. Laßt mich einfach ein Kind sein. Hier haben wir es mit einer Situation zu tun, in der Einsicht zu einschneidenden Verhaltensänderungen führte. Jonathans Mutter nahm ihn nicht mehr mit in die Oper. Beide Eltern reduzierten seine außerschulischen Aktivitäten. All die Kärtchen mit den Sternen wanderten in den Müll. Die Eltern sahen ein, daß Nichtstun auch eine Beschäftigung ist. Die Ergebnisse waren ebenso deutlich spürbar wie die ursprüngliche Einengung seiner Spontaneität, seine Traurigkeit und sein Mangel an Vitalität. Jonathan wirkte entspannt, zeigte Humor und Unbeschwertheit. Er war glücklich. Mehrere Jahre später nahm seine Mutter mit mir Kontakt auf und teilte mir mit, daß er die Aufnahmeprüfung für eine erstklassige Universität bestanden hatte, ein Zeichen dafür, daß Spiel und »Nichtstun« große Leistungen und akademischen Erfolg eher fördern als behindern. -180-
Eltern, die ihrem Kind Erfolg und Selbstvertrauen sichern wollen, erreichen nicht selten das genaue Gegenteil: das Kind paßt sich an die Umwelt an und findet keinen Raum für eigenes Forschen und Originalität. Das wiederum kann dazu führen, daß das Kind glaubt, nicht selbst produktiv sein zu können, und deshalb abhängig, träge und verschlossen wird und kaum schöpferische oder kreative Impulse zeigt. Das Kind hat kein echtes Erfolgserlebnis und wird in dem Glauben bestärkt, es habe nichts zu geben und müsse warten, bis ihm gegeben wird. In dieser Misere befindet sich heute das Kind, das nicht zum Spielen ermutigt wird, das seine Eltern spiegeln muß, statt von ihnen gespiegelt zu werden, das von den Eltern angespornt wird, Aufgaben zu bewältigen, wie sie die Erwachsenen vorgeben, damit es als erfolgreich gilt. Eine Korrektur ist einfach. Kinder, die arbeiten statt zu spielen, stumpfen ab. Um die Kindheit zu retten, müssen wir unsere Kinder wieder mehr spielen lassen, und die Kinder sollten nicht nur dann Rückenstärkung erhalten, wenn sie arbeiten, sondern auch wenn sie spielen. Kinder und ihre Eltern: Der Schuster und die Wichtelmänner Wenn das Spiel aus dem Alltagsleben verbannt wird und die Eltern nur die Leistungen ihrer Kinder loben, kommt es vor, daß Eltern die Sache für ihre Kinder in die Hand nehmen, um ihnen zum Erfolg zu verhelfen - eine heikle Sache. Da die Kinder keine Zeit zum Spielen haben und sehr viel zu tun haben, befürchten die Eltern, daß ihr Nachwuchs unter der Belastung zusammenbricht. Mütter und Väter fühlen sich verpflichtet, ihren Kindern zu Hilfe zu eilen. Eine Bibliothekarin schildert ein neues Phänomen: Eltern besuchen die Bücherei, um etwas für ihre Kinder -181-
»nachzuschlagen« oder, genauer gesagt, sie kommen in die Bücherei, um die Hausaufgaben ihrer Kinder zu erledigen. Sie berichtet weiter, welche Erklärungen die Eltern vorbringen, wenn sie mit Aufgaben aus der Grundschule oder der weiterführenden Schule am Pult der Bibliothekarin erscheinen: »Mein Sohn hat Football-Training.« - »Brittany hat ihren Gymnastikkurs.« - »Für eine Sechstkläßlerin ist das eine schreckliche Arbeitsbelastung.« Andere Eltern begleiten ihre Kinder in die Bücherei, nehmen aber dann die Sache in die Hand und überlassen dem Kind die Rolle des stillen Teilhabers. Ein so verhätscheltes Kind hat Erfolg, ohne selbst einen Versuch zu wagen. Die Bibliothekarin hat nur harsche Worte für diese Eltern: »Sie stecken so ehrgeizige Ziele für ihre wertvollen Sprößlinge, daß sie am Ende den Lernprozeß der Kinder behindern.«8 Wir schalten uns ein, helfen unseren Kindern, wissen aber nicht, wann wir uns wieder zurückziehen sollen, und das ist ein Problem. Gewiß brauchen manche Kinder, die ins Trudeln kommen, den Beistand und die Überwachung durch ihre Eltern, um bei der Stange zu bleiben. Mir geht es jedoch um Kinder, die tatsächlich sehr viel selbständiger arbeiten könnten, wenn sie Gelegenheit und Zeit dazu hätten. In diesem Fall ist es dringend erforderlich, daß wir uns zurückziehen, wenn wir feststellen, daß wir die Arbeit für unsere Kinder leisten und sie nur zuschauen, mitgehen oder im Hintergrund warten. Es ist Zeit, daß wir uns zurückziehen, wenn wir nicht warten, bis unsere Kinder uns um Hilfe bitten, sondern einfach die Ärmel hochkrempeln und uns an die Arbeit machen. Es ist besser, sich in aller Stille bereitzuhalten und für das Kind dazusein, wenn es Beistand braucht. Und wenn Ihre Kinder allzu gern Ihre Hilfe in Anspruch nehmen, auch wenn sie allein zurechtkämen, geben Sie ihnen doch einfach Gelegenheit, es erst einmal selbst zu versuchen, bevor Sie sich einschalten. Als Eltern verfolgen wir doch eigentlich das Ziel, die Kinder -182-
so weit zu bringen, daß sie unabhängig, ohne uns, leben und zurechtkommen können. Doch da Eltern bestrebt sind, den Kindern den Weg zu ebnen, verlieren sie dieses Ziel oder die angemessenen Mittel, es zu erreichen, oft aus den Augen. Obwohl den Eltern durchaus bewußt ist, daß ihre Kinder Kompetenz, Selbstvertrauen und Leistung beweisen müssen, um in der Welt voranzukommen, wird die entscheidende Komponente der Gleichung oft vergessen: Kompetenz, Selbstvertrauen und Leistung aus eigener Kraft. Statt dessen wird im Team gearbeitet: »Wir müssen heute abend ein Referat fertigmachen.« - »Wir haben monatelang für den Konzertabend geübt.« In einer Gesellschaft, in der die Kleinfamilie zum Hort der Nähe und des »Gemeinschaftserlebens« geworden ist, kann man solche gemeinsame Anstrengung als positiven Beweis einer Zusammenarbeit sehen, bei der die Eltern tatsächlich für die Kinder da sind. Aber bei ehrlicher Betrachtung zeigt sich, daß in der Regel mit diesem Verhalten Kinder verhätschelt werden, damit sie erfolgreich sind. Die Eltern der Mittelschicht sind meistens mit der Einstellung großgeworden, daß man Dinge, auf die es ankommt, am besten selbst erledigt. Ist dieses Gefühl mit dem starken Wunsch gekoppelt, bei den Kindern Erfolge zu sehen, gerät man leicht in Versuchung, in die Bresche zu springen und etwas für das Kind zu tun, während man gleichzeitig glaubt, man tue es mit dem Kind. Wie der Schuster legen sich Kinder abends ins Bett und wachen morgens auf, um festzustellen, daß die Wichtelmänner, nämlich die Eltern, die Arbeit für sie erledigt haben. Der Unterschied ist, daß der Schuster ein überarbeiteter und erschöpfter Erwachsener war, der das Glück hatte, daß ihm die Wichtelmänner selbstlos zu Hilfe eilten. Die Kinder hingegen, die nicht so unter Druck stehen, wären vielleicht besser dran, wenn sie sich selbst helfen müßten, damit sie lernen, ihre Schuhe selbst zu flicken. Andererseits kann es sein, daß -183-
Kindern, wie dem Schuster, mehr Arbeit aufgebürdet wird, als sie bewältigen können. Aber statt Wichtelmännchen sollten die Eltern vielleicht lieber Fürsprecher ihrer Kinder werden, die daraufhinwirken, daß ihren Sprößlingen die schwere Bürde von den Schultern genommen wird. Statt dessen finden sich Eltern oft mit allem ab und kompensieren die Belastung, indem sie den Kindern die Arbeit abnehmen. In der Absicht, die Kinder zu perfektionieren, richten Eltern oft mehr Schaden als Nutzen an, da sie hin- und herschwanken und ihre Kinder bald antreiben, bald verhätscheln. Solche Bemühungen wirken wie ein Bumerang, weil sich die gute Fee nun in ein Wichtelmännchen verwandelt und letztlich verhindert, daß die Kinder selbständig werden und ihre eigenen Fähigkeiten entfalten. Wenn es einen kritischen Punkt gibt, an dem wir uns erinnern sollten, daß wir aktiv handelnde Menschen und keine passiven Opfer unserer Umstände sind, dann bei der Frage, wie wir die Belastung unserer Kinder vermindern können. Wir haben Alternativen, wir können die außerschulischen Aktivitäten unserer Kinder zurückschrauben, wir können protestieren, wenn die Kinder mehr Hausaufgaben aufhaben, als zu schaffen sind, wir können darauf verzichten, unsere Kinder unter Druck zu setzen, wir können uns klarmachen, daß Wohlbefinden nicht mit großen Leistungen gleichzusetzen ist. Vielleicht ist das, was wir für unsere Kinder wollen, nicht das, was ihnen entspricht. Sie sind kleine Menschen, die sich entfalten, aber noch nicht geprägt sind, die Zeit und Raum brauchen, um »etwas selber zu machen«, ohne daß jemand eingreift und es für sie tut. Ein Jugendlicher, den ich kennengelernt habe, machte während seiner High-School-Zeit bemerkenswerte Fortschritte. Ungeachtet einer merklichen Lernstörung legte er sich ins Zeug und erreichte mit viel Durchhaltevermögen große schulische Erfolge. Seinen Eltern muß man zugute halten, daß sie ihm stets den Rücken stärkten und trotz seiner Lernprobleme an die -184-
Fähigkeiten ihres Sohnes glaubten. Sie stellten auch hohe Leistungsanforderungen an ihn und machten sich Sorgen, wenn er sie nicht erfüllte - außer auf einem Gebiet: Während der gesamten High-School-Zeit tippte die Mutter alle Hausarbeiten ihres Sohnes. Jetzt war es für ihn an der Zeit, von zu Hause wegzuziehen und ans College zu gehen. Computer, Textprogramme und Tippen waren ihm immer noch fremd. Was sollte er machen - seine Mutter mit ans College nehmen? Die Mutter war eingesprungen, hatte ihm geholfen, weil sie glaubte, ihr Kind habe Probleme mit der Handhabung einer Tastatur, und weil sie ihm etwas von seiner Last abnehmen wollte. Sie hatte die Arbeit für ihn erledigt, statt ihren Sohn dabei zu unterstützen, es selbst zu lernen. Mit solcher Hilfe hatte der Junge natürlich Erfolg in der Schule, aber auf Kosten seiner Unabhängigkeit. Ohne seine Mutter als Privatsekretärin war er schlecht darauf vorbereitet, von daheim auszuziehen und im Studium, wo er unentwegt Arbeiten tippen mußte, allein zurechtzukommen. Der Vergleich mit den Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern bei einem amerikanischen Indianerstamm ist aufschlußreich. In dieser Kultur sitzen die älteren Männer zusammen und diskutieren lokale Angelegenheiten. Die Kinder sind dabei, aber sie verhalten sich still und gehen vielleicht häuslichen Pflichten nach. Bei einem solchen Anlaß dreht sich ein Großvater um und bittet seine dreijährige Enkelin, die Tür zu schließen. Die Tür ist massiv und schwer zu schließen. Das kleine Mädchen versucht es, aber es gelingt ihr nicht. Der Großvater wiederholt mehrmals seine Aufforderung, die Tür zu schließen. Die anderen Männer bleiben ernst und geduldig, bis das Kind schließlich seine Aufgabe bewältigt hat. Der Großvater bedankt sich bei ihm und macht deutlich, daß es etwas ganz Besonderes für ihn getan hat. Die Erwachsenen haben geduldig gewartet und dem Kind Zeit gelassen, um seine Aufgabe erfolgreich zu Ende zu führen. Dabei haben sie darauf geachtet, -185-
das Kind nicht zu überfordern, indem sie etwas Unmögliches verlangten. Sie hatten keine Eile, waren sich jedoch über die sich entfaltenden Fähigkeiten des Kindes im klaren. Niemand griff ein und nahm ihm die Erfahrung, selbst zu entdecken, daß es die Aufgabe bewältigen und eine ihm übertragene Verantwortung erfüllen konnte. Am Ende folgte kein großer Applaus, sondern ein schlichter Dank dafür, daß es das Verlangte ausgeführt hatte.9 Wenn der Jugendliche, von dem ich erzählt habe, die wohlüberlegte Reaktion der indianischen Stammesältesten erlebt hätte statt das Durcheinander von Antreiben und Verhätscheln, das ihm zu Hause zuteil wurde, wäre ihm der Weg ins Studium und in die Selbständigkeit womöglich leichter gefallen. Auch für seine Eltern wäre es besser gewesen einzusehen, daß er durchaus fähig war, den Umgang mit einem Computer zu lernen, und daß er ohne die ständigen Dienstleistungen seiner Mutter besser zurechtkommen würde, auch wenn dabei Schweiß und Tränen flössen. Auch ein schwer behindertes Kind schöpft Mut, wenn es Selbständigkeit erreicht und seine Fähigkeiten ausbildet, so daß es sich soweit wie möglich dem Niveau der Gleichaltrigen annähert - wobei man sich auf angemessene und realistische Erwartungen beschränkt, leise Töne anschlägt und nur ein Minimum an Beifallsrufen und Applaus spendet. Wenn seine Eltern hätten umdenken können, wäre der junge Mann einer schweren Depression entgangen und hätte nicht befürchten müssen, daß er auf sich gestellt nirgends zurechtkommen werde außer im Schutzraum von Heim und Familie. Die Erfahrung mit dem Tippen der Arbeiten stand symbolisch für viele Bereiche, in denen die Eltern einerseits zuviel verlangten und andererseits zuviel für ihn taten. An diesem Beispiel zeigt sich deutlich, daß Eltern, die ihr Kind verhätscheln und gleichzeitig zu höheren Leistungen antreiben, einen verheerenden Einfluß ausüben, da sie einerseits unechte Leistungen fördern und andererseits Selbständigkeit verhindern. -186-
Mit Vollgas in die Sackgasse Noch etwas läßt sich aus der Geschichte der kleinen Indianerin und der Stammesältesten lernen. Die Aufgabe, die diesem kleinen Mädchen gestellt wird, ist ganz anders geartet als die Leistungen, die einem Kind der Mittelschicht in der Regel abverlangt werden. Die Dreijährige wurde gebeten, etwas sehr Wichtiges für die Stammesältesten zu tun. Im Gegensatz dazu werden Mittelschichtkinder oft unter Druck gesetzt, erhalten aber keine wirklich wichtige Aufgabe. Ihre Kindheit ist im wesentlichen eine lange Lehrzeit für die Zukunft. Die Kinder leisten weder einen wirtschaftlichen Beitrag für die Gesellschaft, noch tun sie etwas, was sozial relevant wäre. Es gibt weder Kühe, die man auf die Weide treiben, noch jüngere Geschwister, um die man sich kümmern müßte, und kaum Hausarbeit, die zu erledigen wäre.10 D. W. Winnicott hat betont, wie wichtig es für ein Kind ist, einen »Beitrag leisten« zu können. Damit meinte er die Möglichkeit, anderen etwas zu geben, oder allgemeiner ausgedrückt, seinen Mitmenschen einen Dienst zu erweisen. Nach seiner Theorie wurzelt dieses Bedürfnis in der frühen Kindheit, wenn der Säugling angstvoll seinen Wunsch erlebt, sich die Mutter einzuverleiben, alles von ihr zu nehmen und vielleicht sogar zu zerstören, was er liebt. Von dieser Angst wird das Kleinkind erlöst, wenn es allmählich die Zuversicht gewinnt, daß sich die Gelegenheit zur »Wiedergutmachung« bieten wird, daß es der Mutter und später dem ganzen Umfeld etwas zurückerstatten kann. Die Wiedergutmachung manifestiert sich in dem Drang des Kleinkinds, zu arbeiten und Handfertigkeiten zu erlernen. Auf diese Weise entwickelt das Kind Selbstvertrauen und hofft auf die Gelegenheit, etwas zurückgeben und einen Beitrag leisten zu können." -187-
Mit anderen Worten, wir alle haben destruktive Gefühle. Das ist ein Grundaspekt des menschlichen Daseins, und diese Gefühle richten sich zunächst gegen jene, die wir am meisten lieben. Wir finden zu seelischer Gesundheit, wenn wir Gelegenheit erhalten, diese Impulse und Ideen mit konstruktiver »Tätigkeit« und einem Beitrag für andere auszugleichen. Dieser Prozeß ist in die Erziehung der Kinder eingebettet, wenn sie die Möglichkeit erhalten, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln, die für ihre Mitmenschen wertvoll sind. Den Älteren fällt die Aufgabe zu, dafür zu sorgen, daß solche Möglichkeiten angeboten werden. Ihre Bemühungen erleichtern es den Kindern, sich in der Gemeinschaft einzusetzen. Zweifellos beschäftigen sich Kinder ständig damit, neue Fertigkeiten zu entwickeln, und lernen, sich ohne die Eltern durchs Leben zu schlagen. Aber nur selten, wenn überhaupt, bietet sich die Gelegenheit, einen echten Beitrag zu leisten oder etwas zu tun, was für die Mitmenschen unmittelbar wichtig ist. Man könnte sagen, daß die »Tätigkeit« von Kindern selbstbestimmt, ichbezogen und zukunftsorientiert ist, andererseits aber keinerlei unmittelbare Bedeutung hat. Wir konzentrieren uns mit aller Macht darauf, unsere Kinder auf die Zukunft vorzubereiten, und wir verlangen von ihnen, täglich die Hürden eines gehetzten, unruhigen Lebens zu nehmen, doch dabei übersehen wir eine ausschlaggebende Komponente der Leistung: das Bewußtsein, daß man jetzt einen bedeutsamen und wesentlichen Beitrag für die Mitmenschen leistet. Dazu fällt mir eine Reihe von Ereignissen in meiner Nachbarschaft ein. Wenn man die Straße, an der mein Büro in Oakland liegt, überquert, kommt man zu einem See mit Park. Jedes Jahr findet dort im Juni ein Festival für Kinder und Familien statt. Im Juni 1994 kam es am letzten Abend des Festivals zu Krawallen. Große Gruppen von Jugendlichen ließen sich auf Kämpfe mit der Polizei ein. Danach trafen sich Aktivisten aus der Gemeinde, Lokalpolitiker und Festivalplaner, -188-
um sich über die Vorfälle Gedanken zu machen und Wege zu finden, wie sich solche Vorkommnisse in Zukunft verhindern ließen. Sie kamen zu dem Schluß, daß den Teenagern und jungen Erwachsenen nichts übriggeblieben wäre, als Arger zu machen, weil man für sie keine Veranstaltungen angeboten hatte. In Zukunft wollten die Planer Abhilfe schaffen, indem sie ein Programm auch für junge Leute zusammenstellten. Die von anderer Seite gestellte Forderung, das Festival ganz zu streichen oder an einen anderen Ort zu verlegen, wurde abgelehnt. Selbst als sie versuchten, die Probleme mit den Jugendlichen beim Seefestival zu lösen, fiel den Veranstaltern nichts anderes ein, als für Spaß und Vergnügen zu sorgen. Man zog gar nicht erst in Erwägung, die jungen Leute in die praktische Arbeit einzubeziehen - sie hätten sich an der Organisation, den Aufbauarbeiten, der Durchführung und den Aufräumarbeiten der Veranstaltung beteiligen können. Auf diese Weise werden die Jugendlichen nur verhätschelt, niemand fordert von ihnen, einen Beitrag zu leisten, ja, sie werden nicht einmal dazu ermutigt. Eine Neunjährige wurde viele Jahre angehalten, Geige zu üben, und jetzt kann sie aufstehen und ein schönes Musikstück darbieten. Doch möglicherweise hat dieses Kind noch nie im Haushalt oder für die Familie eine Aufgabe übernommen, die von unmittelbarer Bedeutung war. Wir treiben die Kinder an, ihre Fertigkeiten auszubilden, aber nur in einem sehr engen Rahmen. Intellektuelle, sportliche und musische Fähigkeiten werden bei unseren Mittelschichtkindern stark gefördert, während anderes auf der Strecke bleibt, nämlich die »elementaren« Aufgaben, die dem Kind das Gefühl geben, etwas unmittelbar Wichtiges zu leisten, wie zum Beispiel, eine einfache Mahlzeit für die Familie zuzubereiten, beim Wäschewaschen zu helfen oder den kleinen Geschwistern beizubringen, wie man sich die Schuhe bindet. Selbst eine Vierjährige kann helfen, das Besteck auf den Eßtisch zu legen, und ein Zwölfjähriger kann eine ganze -189-
Mahlzeit planen, auch wenn sie vielleicht in Ihren Augen keinen Gipfel der kulinarischen Kunst darstellt. Wenn wir einfach nur beobachten, was unsere Kinder im Alltag tun, wenn sie spielen und miteinander umgehen, können wir die beobachteten Fähigkeiten und Interessen in altersangemessene Aufgaben umsetzen, die sinnvoll und nützlich sind. Wenn ein Kind in der Lage ist, in seinem Experimentierkasten zwei chemische Substanzen zu mischen, um synthetischen Gummi zu erhalten, sollte das Kind es auch fertigbringen, Waschmittel, Bleichmittel und Weichspüler in die entsprechenden Fächer der Waschmaschine zu geben. Hier könnte man einwerfen: »Und was ist mit den Schlüsselkindern, mit den Kindern, die oft lange Stunden allein zurechtkommen müssen, während ihre Eltern außer Haus sind?« Tatsächlich lernen diese Kinder, sich selbst zu helfen, doch fehlt ihnen dabei das Gemeinschaftsgefühl. Gewiß helfen sie ihrer Familie und wachsen zu mündigen Bürgern heran, wenn sie lernen, sich ein Essen zuzubereiten, die Tür abzuschließen und in der Wohnung zu bleiben, bis die Eltern heimkommen; sie lernen auch, wie man den Notruf wählt oder, in weniger privilegierten Familien, sich auf der Straße durchzuschlagen. Doch allzuoft wird die Verantwortung abgegeben, sobald die Eltern nach Hause kommen. Dann haben die Kinder kaum noch Gelegenheit, am gemeinschaftlichen Leben aktiv mitzuwirken. Sie sind eher damit vertraut, allein zurechtzukommen und individuelle »Überlebensstrategien« zu entwickeln, die unmittelbar nur ihnen selbst nützen. Kennzeichnend ist auch, daß viele Eltern darüber hinwegsehen, in welchem Zustand das Zimmer ihrer Kinder ist. Die Devise lautet: »Es ist ihr Zimmer, und wenn sie sich in einem Schweinestall wohlfühlen, ist das ihr gutes Recht.« Viele Mütter und Väter glauben, mit dieser Einstellung den Familienfrieden zu wahren und unnötige Auseinandersetzungen zu vermeiden. In vielen amerikanischen Haushalten hat man die -190-
Vorstellung aufgegeben, daß das Kinderzimmer Teil der Familienwohnung ist und das Kind die Verantwortung dafür trägt, in seinem kleinen Reich ein gewisses Maß an Ordnung aufrechtzuerhalten. Wenn wir unsere Kinder auffordern, einige hygienische Mindestanforderungen und Ordnungsmaßnahmen einzuhalten, die auch in der übrigen Wohnung gelten, sollte ihnen klarwerden, daß sie weder Pensionsgäste noch Königskinder sind, die keinen Finger zu rühren brauchen. Das Kinderzimmer ist kein Privatpalast, und wenn gewisse Mindestanforderungen gestellt werden, kann sich seine »Majestät, das Baby« zum Bürger einer Gemeinschaft entwickeln und ein Selbstbild als Mitglied einer größeren Gruppe aufbauen, für die er Wesentliches leistet. Nicht nur wenn das Zimmer unaufgeräumt ist, zögern wir, unsere Kinder zur Mitarbeit heranzuziehen. Am Ende des Tages werden die Kinder nicht aufgefordert, bei den Essensvorbereitungen oder beim Aufräumen zu helfen, weil sie noch eine Unmenge Hausaufgaben zu erledigen haben oder weil es laut Terminplan für Mama, Papa und die Kinder Zeit ist, sich gemeinsam ein paar schöne Stunden zu machen, wobei Arbeit jedweder Art nicht vorgesehen ist. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß wir denken, wir seien zu sehr eingespannt und zu erschöpft, um unseren Kinder ein paar hilfreiche Handgriffe zu zeigen. Man möchte meinen, gerade die überlasteten Eltern hätten ein Interesse daran, daß die Kinder mit anpacken und ihnen einen Teil der Hausarbeit abnehmen. Doch weil die Eltern Schuldgefühle haben und es bei akutem Zeitmangel oft leichter ist, etwas selbst zu erledigen, als sich auf einen ungeübten Helfer zu verlassen, wird das Kind von allen Pflichten befreit. Leider nährt diese Haltung den Mythos, daß unsere Kinder keinen wichtigen Beitrag zu leisten hätten und nichts tun könnten, um die Last für alle anderen zu erleichtern. Kinder verinnerlichen rasch das Bild, das sich andere von -191-
ihnen machen. Ich erinnere mich an ein junges Mädchen, das fest davon überzeugt war, nicht arbeiten zu müssen. Sie sagte zu mir, ihre Mutter sei wohl verrückt, wenn sie glaube, die Tochter habe Zeit, den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu spülen; mit dem Volleyballtraining, den Hausaufgaben und dem Klavierspielen habe sie genug zu tun. Warum sperre sich ihre Mutter nur gegen die Einsicht, daß sie von solchen Pflichten befreit werden müsse? Sie zögerte keine Minute, ihrer Mutter das mitzuteilen, und zweifellos nahm die Mutter von ihren Forderungen Abstand. Wenn Kinder so eingespannt und erschöpft sind, daß sie keine Zeit haben, daheim mitzuhelfen, sollten wir vielleicht etwas mehr Ausgewogenheit in ihr Leben bringen, damit für solche sinnvollen Tätigkeiten mehr Raum bleibt. Die Anspruchshaltung ist ebenso unschön wie der Streß, unter dem viele Kinder stehen. Wenn sie dagegen die außerschulischen Aktivitäten ein wenig zurückschrauben und sich mehr in der Familie und in der Nachbarschaft engagieren, gewinnen sie frühzeitig mehr Einfühlungsvermögen und wachsen zu reiferen Persönlichkeiten heran. Viele junge Leute übernehmen bezahlte Jobs. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Heranwachsenden, die stundenweise arbeiten, sprunghaft gestiegen. Heute sind doppelt so viele Jugendliche erwerbstätig wie im Jahr 1950. Einer neueren Erhebung zufolge gehen über 5 Millionen junge Menschen zwischen 12 und 17 Jahren einer Erwerbsarbeit nach.12 Es erscheint einleuchtend, daß sie in einer Zeit der Rezession und hoher Inflationsraten früher zu arbeiten anfangen. Der Vorteil besteht darin, daß sie dabei endlich Gelegenheit erhalten, durch ihre Arbeit Teil eines größeren Sozialverbands zu werden. Aber die große Mehrheit der Jugendlichen spart ihren Verdienst weder für die Zukunft, noch trägt sie etwas zum Familieneinkommen bei. In der Regel suchen sich Teenager Jobs, um ihr Taschengeld aufzubessern - der Lohn wird für -192-
Freizeitaktivitäten, Kleider, Unterhaltung und Verkehrsmittel ausgegeben. Newsweek kommentiert: »Während Wally Cleaver nachmittags Leichtathletik treibt, Basketball spielt oder mit Eddie Haskeil herumzieht, arbeitet Brandon Walsh aus der Serie ›Beverly Hills, 90210‹ als Kellner im Peach Pit, weil seine reichen Eltern meinen, so würde er Verantwortung lernen - und sich ein Mustang Kabriolett kaufen können.«13 Vielleicht lernt Brandon dadurch tatsächlich, Verantwortung zu übernehmen, aber er arbeitet nur für sich selbst und nicht für die Familie, eine »größere Sache« oder ein Ziel für die Zukunft, zum Beispiel, um sich Rücklagen fürs Studium zu schaffen. Und wenn es ihm so ergeht wie anderen Teenagern, die neben der Schule arbeiten, kann es passieren, daß seine Noten in den Keller gehen und daß er die Schule weniger ernst nimmt, so daß die Leistung, die seinen Eltern so wichtig ist, in Gefahr gerät. Die Mittelschichtkinder von heute leisten nur noch in einer Hinsicht einen Beitrag - was für ihre Entwicklung so bedeutsam wäre -, und zwar indem sie sich als Objekt elterlicher Zuneigung bereithalten und ihrer Umgebung beweisen, daß sie die Stadien der Kindheit bis zum Erwachsenwerden erfolgreich durchlaufen. Während wir auf bestimmten Gebieten Superstars heranzüchten, lassen wir zu, daß unsere Kinder in anderen Bereichen zurückbleiben. Unterdessen werden sie zu Wertgegenständen, deren Hauptbeitrag darin besteht, glücklich und perfekt zu sein. Wenn sie in dem Glauben aufwachsen, diese Stellung im Leben stehe ihnen zu, kann es sein, daß sie am Ende gar nichts mehr zustande bringen, wenn sie feststellen, daß sie weder so vollkommen sind, wie sie gerne wären, noch so glücklich, wie ihre Eltern hoffen, noch so wichtig für die Menschheit, wie man ihnen eingeimpft hat. Wer hat von seinem Kind noch nicht den Vorwurf »Warum sollte ich mir die Mühe machen zu lernen, das ist doch Zeitverschwendung« gehört? Wir kennen auch die dazugehörige Antwort: »Eines Tages wirst du das gut gebrauchen können, und -193-
deshalb ist es wichtig, jetzt daran zu arbeiten.« Oder: »Das braucht man, um ein umfassend gebildeter Mensch zu werden.« Aber vielleicht würden unsere Kinder weniger protestieren, wenn wir, statt sie ausschließlich auf die Zukunft vorzubereiten, zum Ausgleich auch Leistungen fürs Hier und Jetzt gelten lassen würden, und sei es nur etwas so Geringfügiges wie eine schwere Tür für die Stammesältesten zu schließen. Wenn wir dazu imstande sind, können wir es vermeiden, unsere Kinder auf Erfolg zu trimmen, um sie dann in eine Sackgasse laufen zu lassen. Die Folgen von Druck und Verwöhnung und was wir dagegen tun können Wir haben ausreichend Anschauungsmaterial dafür, was mit Kindern geschieht, die auf Erfolg getrimmt und vor allem um des Erfolgs willen geliebt werden. Die Kinder fühlen sich ständig unter Druck, sich anzupassen, Geschick und herausragende Fähigkeiten zu beweisen. Oft verlieren sie ihre Vitalität und Spontaneität. Zuweilen droht sogar die Gefahr einer narzißtischen oder depressiven Störung. Wenn sie heranwachsen, verlassen sie sich zu sehr auf die Bewunderung anderer oder entdecken, daß ihre Leistungen hohl und leer sind und daß sie nicht für das, was sie sind, sondern nur für das, was sie tun, geliebt werden.14 Sie entwickeln sozusagen ein »falsches Selbst«. Genau das wollen wir natürlich nicht erreichen, wenn wir versuchen, das Selbstwertgefühl unserer Kinder aufzubauen und sie zum Erfolg zu führen. Und die meisten von uns sind nicht so verblendet, von unseren Kindern zu fordern, nur unser Spiegelbild zu werden und nur für uns etwas zu leisten. Wir erwarten auch nicht, daß sie es zu ihrem Lebenszweck machen, durch ihre Erfolge unser Selbstwertgefühl zu heben. Doch wenn wir in den Teufelskreis geraten, unsere Kinder einerseits zum Erfolg zu treiben und andererseits zu verhätscheln, kann die -194-
Geschichte des Kindes mit dem »falschen Selbst« eine Warnung sein. Wir können viel tun, um zu vermeiden, daß unsere Kinder ein »falsches Selbst« entwickeln. Damit meine ich unechte Seinsund Verhaltensweisen, die ein Kind bewußt oder unbewußt übernimmt, um anderen zu gefallen. Das steht in unmittelbarem Gegensatz zu ihren wahren Gedanken, Gefühlen und Wünschen, die wesentliche Bestandteile des »wahren Selbst« darstellen, aber nicht geäußert werden. Das falsche Selbst spricht aus dem zehnjährigen Jonathan, wenn er sagt: »Vielen Dank, Dr. Ehrensaft... und ich freue mich so darauf, mit meiner Mutter in die Oper zu gehen.« Das wahre Selbst zeigt sich, wenn Jonathan Monate später in der Therapie auf allen Vieren durchs Zimmer krabbelt, lacht und quietscht, während er beim Baseballspiel mit den Stofftieren nach meinem Bein grapscht. Kindern geht es am besten, wenn man es ihnen ermöglicht, sich in ihrem eigenen Tempo zu entfalten, statt sich den Leistungserwartungen ihrer Eltern anzupassen. Wer sich an dieses Prinzip hält, trägt dazu bei, daß das wahre Selbst zum Vorschein kommt, und es wird unwahrscheinlich, daß das falsche Selbst die Oberhand gewinnt. Ebenso wichtig ist es, auf den übertriebenen Applaus zu verzichten, weil das unaufhörliche Anfeuern für das Kind nur bedeutet, daß es die Hoffnungen und Erwartungen der Eltern erfüllen soll. Es glaubt, stets Herausragendes leisten zu müssen, denn in der Regel wollen Kinder ihre Eltern zufriedenstellen und ihnen Freude bereiten. Wenn wir die echten Bedürfnisse unserer Kinder deutlicher sehen und erkennen, daß ihr Weg durch die Kindheit unbeschwerter verlaufen sollte, können wir sie von der Sorge befreien, daß wir als ihre Eltern sie nicht respektieren, wenn sie keine Spitzenleistungen erbringen. Der ständige Druck, stets der Beste sein zu müssen, nie zu versagen, immer auf der Höhe zu sein, wäre von ihnen genommen. Das Kleinkind aus der Karikatur bat um eine -195-
Verschnaufpause von den Leselernkarten. Im praktischen Leben greifen Kinder zu den verschiedensten Mitteln, um auszudrücken, daß das Erfolgsstreben nicht funktioniert. Vielleicht stellen sie sich taub, wenn sie mit den unangemessenen Leistungserwartungen oder dem übertriebenen Beifall ihrer Eltern konfrontiert werden. Oder sie wenden subtilere Methoden an, werden zerstreut, lustlos, hyperaktiv, reizbar oder ängstlich. Altere Kinder kommen vielleicht zu dem Schluß: »Das ist alles nichts für mich«, wenn ihnen klar wird, daß das Leben ihrer erfolgreichen Eltern von Ehrgeiz und ständigen Sorgen bestimmt wird. Bei diesen Botschaften, die zuweilen sogar sehr kleine Kinder aussenden, müssen wir sehr genau hinhören. Ein solches Verhalten zeigt uns, daß ein Superstar, der mit Vollgas in die Sackgasse fährt, nur unter Streß leidet, aber nicht glücklich wird, und daß hier Abhilfe geboten ist. 1994 veranstaltete ich ein Seminar für Eltern; ich bat die Teilnehmer, einen Vorfall mit ihrem Kind aufzuschreiben, bei dem sie mit ihrem Latein am Ende waren. Hier ist einer der Beiträge: »Mein Sohn ist 17 Jahre alt und besucht die High-School. Er war immer sehr fleißig und in der Schule und im Sport erfolgreich. Bei der Wahl des College, das er nächstes Jahr besuchen wird, hatte er immer sehr klare Vorstellungen, welche Schulen für ihn in Frage kommen - vor allem weil er sich als Sportler für Stipendien bewerben wollte. Wir waren anderer Ansicht, aber er hat seinen Weg weiterverfolgt. Er wurde von einigen führenden Schulen des Landes umworben, eine beneidenswerte Situation, aber in den letzten Wochen spricht er davon, daß er sich überhaupt nicht mehr für ein Stipendium bewerben will. Das war immer seine eigene Entscheidung und sein Traum gewesen. Nun müssen wir überlegen, ob wir ihn dabei unterstützen, sich nicht zu -196-
bewerben, oder ob wir ihm helfen sollen, seinen ›Tiefpunkt‹ zu überwinden und sich doch zu bewerben.« »Seine Entscheidung«, »sein Traum«, »sein Tiefpunkt«. Könnte es sein, daß der junge Mann nicht für sich so hart arbeitet, sondern um das Wohlwollen seiner Eltern zu erringen? Könnte es sein, daß ihm seine Eltern zuviel Arbeit abgenommen haben, so daß er auf ein selbständiges Leben nicht gut vorbereitet ist? Wenn er einen Tiefpunkt erreicht hat, wo liegt die Ursache für seinen Streß? Ist er so mutlos, weil ihm klar wird, wie unecht seine Bemühungen waren? Hat er Angst, daß er den Anforderungen eigentlich nicht gewachsen ist, oder ist er im Zwiespalt, ob er es überhaupt versuchen will? Und ist die Frage seiner Eltern, ob sie seinen Rückzug unterstützen oder seine ehrgeizigen Ziele vorantreiben sollen, vielleicht typisch für einen Erziehungskonflikt, der schon seit Jahren in der Familie schwelt? Keine dieser Fragen ließ sich sinnvoll beantworten, ohne mit allen Beteiligten eingehende Gespräche zu führen. Doch der leistungsstarke Jugendliche, der das Handtuch schmeißt, wenn sich die »große Chance« bietet, ist symbolisch für unsere Zeit. Wenn seine Eltern - oder auch jeder andere von uns Gelegenheit gehabt hätten, sich diese Fragen zu stellen, wären sie vielleicht gar nicht in die mißliche Lage geraten, in der sie sich jetzt befinden. Die »Bewerbung für ein Stipendium«, die ein Sinnbild für den Wettbewerb schlechthin darstellt, wäre für diesen Jungen kein so bedeutungsschweres Problem geworden. Auch wenn er sich jetzt in einem Dilemma befindet, ist es noch nicht zu spät, um die Situation zu retten. In diesem Fall würde ich die Eltern ermutigen, sich zurückzuziehen und den jungen Mann die Entscheidung, ob er sich fürs College bewirbt, allein treffen zu lassen. Wir sollten unsere Kinder weniger antreiben und sie mehr ausprobieren lassen, ihnen weniger Beifall zollen und sie mehr -197-
selbständig erledigen lassen und sollten sie gleichzeitig dazu anhalten, verstärkt einen Beitrag für andere zu leisten. Wenn uns das gelingt, können wir bei Kindern, die einerseits angetrieben, andererseits verhätschelt wurden, zwei wesentliche psychische Folgeschäden heilen: ein falsches Selbst und diffuse Ängste. Solange wir Unechtheit und Ängste fördern, indem wir zwischen Leistungsdruck und Verhätscheln hin- und herschwanken, wird dem Kind sein wahres Selbst genommen. Insbesondere verliert es die Fähigkeit, zu spielen und kreativ zu sein. Nicht nur die bewußte Abwertung des Spiels durch die Eltern, sondern vor allem die unbewußten Übertragungen von den Eltern auf das Kind - das Schwanken zwischen Leistungsdruck und Verhätschelung - verhindern, daß das Kind seine Fähigkeit zu spielen voll entwickelt. Ein Kind, das im ersten Lebensjahr zu spielen beginnt, muß in Gegenwart eines anderen allein sein können, zu Füßen eines vertrauten Erwachsenen sitzen und seinen eigenen Träumereien nachhängen können, muß dabei aber unterschwellig die sichere »Umgebung« wahrnehmen, die ihm dieser Erwachsene gibt. Heute wird den Kindern von Geburt an nur noch selten ein solcher Freiraum gewährt. Sie haben immer jemanden vor der Nase, werden angetrieben und verhätschelt und haben nie Gelegenheit, allein und unbehindert - in einer »haltenden Umgebung« - die Macht des »Eigenen« zu erleben. Wenn sie allein sind, fehlt oft die sichere Umgebung. Wenn jemand zugegen ist, haben sie selten Gelegenheit, allein zu sein. Wir müssen diese Entwicklung umkehren. Nicht nur die Eltern, sondern die Gesellschaft insgesamt muß daran arbeiten, die Welt geborgener zu gestalten und die Verbundenheit des Kindes mit der Welt zu stärken. Als Eltern können wir versuchen, mehr da zu sein als bisher, wenn wir die Möglichkeit dazu haben. Und wenn wir da sind, sollten wir unseren Kindern - in unserer Gegenwart - den Freiraum geben, allein zu sein und sich selbst zu erleben. -198-
Was »mein Sohn, der Arzt« erleidet, zeigt sich an einem rührenden Fallbeispiel. Vor einigen Jahren war ein Jugendlicher mit schulischer Leistungsangst bei mir in Therapie. Eines Tages kam Malcolm außer sich vor Sorge und voller Selbstvorwürfe in die Sitzung und erklärte: »Ich habe meine Zahnspange im Waldorf-Astoria liegenlassen.« Zur Zeit der Therapie hatten sich Malcolms Eltern plötzlich getrennt, und der Junge wurde in ein seelisches Chaos gestürzt. Seine Sorgen fanden in seiner alles durchdringenden Leistungsangst Ausdruck. Er konnte sich gar nicht genug Vorwürfe machen, weil er so verantwortungslos gewesen war, seine Zahnspange in diesem piekfeinen Hotel in New York zu vergessen, wo seine Mutter mit ihm gerade Urlaub gemacht hatte. Außerdem würde der Kieferorthopäde schrecklich sauer auf ihn sein, weil sich die Behandlung verzögerte. Er stellte sich sogar vor, er müsse mit der Behandlung wieder ganz von vorne anfangen, und malte sich lebhaft aus, was noch alles schiefgehen könnte. Er hatte seine Referate für die Schule noch nicht fertig, die er in einigen Wochen abgeben mußte. Er würde auf keinen Fall aufs College kommen, wenn er sich nicht die ganze Nacht hinsetzte und an den Referaten arbeitete. Wenn ihn kein gutes College aufnahm, würde er nie Medizin studieren können. Und wenn er nicht Medizin studieren konnte, war sein ganzes Leben verpfuscht, und das alles nur, weil er seine Zahnspange im Waldorf-Astoria vergessen hatte. Malcolms Geschichte zeigt, was Kinder durchmachen, die einerseits angetrieben, andererseits verhätschelt werden. Vielleicht bringen wir wenig Mitgefühl für den verzweifelten Malcolm auf, wenn wir sein Schicksal mit der alptraumhaften Existenz eines ruandischen Kindes vergleichen, das inmitten von Toten und Sterbenden aus seiner Heimat fliehen muß. Aber Malcolms wachsende Ängste, die harsche Selbstkritik und der Leistungsdruck sind symptomatisch für die Last, die verwöhnte, aber streßbelastete Kinder heute zu tragen haben. Sie haben nie -199-
die Möglichkeit, einfach nichts zu tun. Ihre Eltern geben ihnen nicht nur Anleitung, sondern kontrollieren und gestalten manchmal auch noch jeden einzelnen Schritt zum Erfolg. Man begreift leicht, welcher Widerspruch im Konzept des Antreibens und Verwöhnens steckt: Kinder werden durch die Kindheit gejagt, und gleichzeitig kommt die Kindheit zum Stillstand. Wenn wir Kinder antreiben, um ihre Entwicklung zu beschleunigen, zwingen wir sie, vor der Zeit Abschied von der Kindheit zu nehmen. Wir können uns den künftigen Erwachsenen vorstellen, der auf der Suche nach dem »verlorenen inneren Kind« ist und ständig den Wunsch verspürt, umzukehren und etwas nachzuholen, was er versäumt hat. Indem wir Eltern den kürzesten Weg zum Erfolg suchen, unseren kleinen Schustern als Wichtelmänner zur Hand gehen und als gute Feen ihr aufkeimendes Selbstwertgefühl steigern, nehmen wir unseren Kindern die Möglichkeit, wichtige Stufen zum Erwachsenwerden selbst zu nehmen, so daß sie später unaufhörlich nach dem Erwachsenen suchen, der sie eigentlich hätten werden sollen. Um dem vorzubeugen sollten Eltern und die Gesellschaft insgesamt den Kindern Gelegenheit geben, etwas Wichtiges zu tun, was ihrem Alter entspricht und jetzt etwas bewirkt. Wir sollten aufhören, ständig Sternchen zu verleihen und Beifall zu klatschen, und dafür stille, aber stolze Anerkennung für die Leistung geben, die unser Kind aus eigener Kraft erbringt. Ich trete dafür ein, Kindern mehr Zeit und Raum zum Spielen zu geben und nicht ausschließlich auf die kognitive Frühreife zu blicken. Wir sollten unseren Kindern nicht alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumen und statt dessen mit ihnen und nicht für sie tätig sein. Auf diese Weise können wir es unseren Kindern erleichtern, produktive Arbeit und Kreativität sinnvoll miteinander zu vereinbaren. -200-
7 Wenn Eltern um Liebe schachern
Ja, es kann sein, daß uns die jungen Leute nicht mögen, wenn wir Regeln und Normen aufstellen, und das ist wirklich schade. Aber wenn wir uns Sorgen machen, ob uns unsere Kinder mögen, stellen wir unsere Bedürfnisse über die Bedürfnisse unserer Kinder. Wenn wir versuchen, nicht die Eltern, sondern die Kumpel unserer Kinder zu sein, nehmen wir ihnen ihre wichtigste Quelle für innere Regeln, Grenzen, Normen und Kontrollen. David Elkind1 Madeline war sieben Jahre alt. In ihrer Verzweiflung, weil die Mutter böse auf sie war, brüllte Madeline: »Du haßt mich, du haßt mich!« Christina, die Mutter des kleinen Mädchens, versuchte, sie zu beruhigen: »Nein, ich hab dich lieb. Mir gefällt nur nicht, was du getan hast.« Das half nichts. Madeline schrie zurück: »Nein, du haßt mich.« Christina probierte es mit einem anderen Argument: »Madeline, bist du nicht auch manchmal wütend auf mich, weil ich etwas getan habe?« Madeline überlegte kurz, dann sagte sie: »Ja, natürlich.« - »Und hast du mich dann nicht trotzdem noch lieb?« fragte Christina nach. Ohne eine Sekunde zu zögern, erklärte Madeline: »Nein, dann hasse ich dich.« Wir haben gerade einen Wortwechsel mitangehört, bei dem »um Liebe geschachert« wird. Was Christina ihrer Tochter vermitteln wollte, war durchaus vernünftig: Sie wollte ihr den Unterschied zwischen unerwünschtem Verhalten und den Banden der Liebe deutlich machen. Doch für den Entwicklungsstand einer Siebenjährigen war Madelines Ansicht -201-
ebenso vernünftig: Wenn mir nicht gefällt, was du tust, dann mag ich dich nicht. Madeline war begrifflich noch nicht so weit, zwischen der Reaktion auf ein bestimmtes Verhalten und tieferen seelischen Bindungen unterscheiden zu können. Das alles wäre völlig in Ordnung, wenn die Eltern nicht in die Knie gehen würden, sobald sie von ihren Kindern solche schlagfertigen Antworten erhalten. Aber Madelines kindlicher Standpunkt wird immer häufiger von den Erwachsenen verinnerlicht. Wenn wir mit unseren Kindern unzufrieden sind, bedeutet das vielleicht, daß wir sie nicht richtig lieben. Noch wichtiger: Wenn wir etwas tun, was unseren Kindern mißfällt, gehen wir das Risiko ein, daß sie uns nicht mehr lieben, und dann könnten wir sie verlieren. Ein Hauptproblem des heutigen Erziehungsstils ist der neue Kompromiß zwischen Liebe und Respekt. Unsere Eltern und Großeltern haben nicht Liebe, sondern Respekt von ihren Kindern erwartet. Ein braves Kind benahm sich gut, und gute Eltern hatten Kinder, die ihrer Mutter und ihrem Vater Hochachtung entgegenbrachten, zu ihnen aufblickten und die Führungsrolle der Eltern ohne Widerspruch akzeptierten. Heute haben sich die Grenzen zwischen Erwachsenen und Kindern verwischt. Statt autoritärer Regeln herrscht im Kinderzimmer Demokratie, und Eltern fordern keinen Respekt mehr ein, sondern wollen geliebt werden. Die Liebe des Kindes zu den Eltern wird nicht mehr wie bei früheren Generationen als bedingungslos angesehen, sondern scheint an Bedingungen geknüpft, kann gewährt oder entzogen werden. Dies bedeutet eine gewaltige kulturelle und psychische Veränderung des Erziehungsstils. Heute haben gute Eltern ein Kind, das sie liebt. Schlechte Eltern haben diese Liebe verloren oder nie errungen. Gute Eltern gewinnen diese Liebe, indem sie ihr Kind respektieren. Sie fordern diesen Respekt nicht mehr (manchmal dulden sie es sogar, daß ihre Kinder sie schlagen, treten und ihnen -202-
Schimpfwörter an den Kopf werfen). Vielmehr fühlen wir Eltern uns verpflichtet, ihnen Respekt zu erweisen. Wir lassen uns von der irrigen Vorstellung leiten, wir müßten unsere Kinder stets zufriedenstellen und dürften ihnen nichts vorenthalten. Andernfalls würden sie aufhören, uns zu lieben. Die alte Faustregel »Kinder zollen Respekt, Eltern geben Liebe« ist also vollkommen umgedreht worden. Erwachsene stehen vor dem Dilemma, daß sie den Verlust der Liebe ihrer Kinder riskieren, wenn sie Mißfallen äußern, ihren Kindern etwas vorenthalten oder sie nicht mit dem gebührenden Respekt behandeln - eine schmerzliche Situation, die dazu führt, daß neuerdings »um Liebe geschachert« wird. Wir müssen uns von der Einstellung lösen, die sich eingebürgert hat, daß wir nämlich durch Respekt Liebe einhandeln können, eine Einstellung, die von unseren Schuldgefühlen in der Erziehung genährt wird und die letztlich dazu führt, daß unsere Kinder und nicht wir in der Beziehung den Ton angeben. Wer verliert wen? In der entwicklungspsychologischen und psychoanalytischen Theorie wurden Paradigmen entwickelt, die erklären, wie ein kleines Kind eine Bindung an eine Bezugsperson aufbaut. Auf der Grundlage der psychoanalytischen Theorie der Objektbeziehung wurden die inneren Erfahrungen eines Säuglings dargestellt, der sich zu einem »beziehungsfähigen« Menschen entwickelt und später lieben und gefühlsmäßige Bindungen aufbauen kann. Beim Aufbau von Objektbeziehungen werden im Lauf der Entwicklung zwei »Meilensteine« erreicht: l. die Angst vor dem Verlust des Liebesobjekts und 2. die Angst vor dem Verlust der Liebe des Liebesobjekts. Am Beginn des Lebens hat das Neugeborene keine -203-
Vorstellung davon, daß Personen wie Mutter und Vater weiterexistieren, wenn sie aus seinem Gesichtskreis verschwinden. Das gilt in bezug auf Menschen wie aufleblose Objekte. Das Baby gibt sich außerdem der trügerischen Phantasie hin, es sei allmächtig und könne Menschen herbeizaubern, wenn es sie herbeiwünscht. Im Alter von sechs Monaten begreift das Baby schließlich, daß Menschen kommen und gehen und daß sie weiterhin existieren, wenn sie gehen. Da das Kind reift und dazulernt, muß es die Phantasie aufgeben, daß es Eltern mittels Zauberkräften aus dem Nichts entstehen lassen kann. Wenn Mama, Papa oder andere verläßliche Bezugspersonen weggehen können, dann schwebt das Baby in Gefahr, sie zu verlieren, und zwar vielleicht gerade dann, wenn es sie braucht. Deshalb wird das Baby unruhig, was sich in Trennungsangst oder Fremdeln ausdrückt. Säuglinge wollen die Menschen, die nun so wichtig für ihr Überleben sind, nicht verlieren, und sie wollen auch nicht, daß diese Menschen durch andere ersetzt werden. Diese Furcht nennt man »Angst vor dem Objektverlust«.2 Im Lauf der Zeit entwickelt das Kind größere Autonomie, Unabhängigkeit und motorische Fähigkeiten. Manchmal möchte sich das Baby aufmachen und allein auf Entdeckungsreise oder Nahrungssuche gehen. Manchmal ärgert sich das Kleinkind sogar über die Eltern oder einen anderen geliebten Menschen und möchte lieber nicht bei ihnen sein. Zu Beginn des zweiten Lebensjahres wird ihm klar, daß nicht nur es selbst solche Gefühle hat, sondern daß auch die Eltern so empfinden können. Das Kind steht nun vor einem Dilemma: Wenn ich ein selbständiger kleiner Mensch sein und euch verlassen will, dann kann es sein, daß auch ihr mich verlassen wollt.3 Ihm fällt auf, daß der geliebte Mensch zwar körperlich da sein kann, aber nicht unbedingt auch seelisch ganz präsent sein muß. Oder aber der geliebte Mensch zeigt negative Gefühle, während er körperlich anwesend ist. Gerade in einer Zeit, in der das -204-
Kleinkind aufgeregt »erste Flugversuche« unternimmt, stellt sich alsbald ein neues Gefühl ein: Wenn ich »fliegen« kann, könnte ich die Liebe der Menschen verlieren, die ich liebe. Das bezeichnet man als »Angst vor dem Verlust der Liebe des Objekts«. Sie ist ein wichtiges Rüstzeug und ein unverzichtbarer Schritt auf dem Weg zur Sorge für andere. Im Laufe seiner Entwicklung arbeitet sich das Kind durch diese Ängste hindurch, und wenn alles gut geht, gewinnt es als Erwachsener die Einstellung, daß Liebe ein recht verläßlicher Gefühlsund Seinszustand ist, der auch dann Gültigkeit hat, wenn der geliebte Mensch nicht anwesend, wenn er wütend ist oder wenn man lieber allein und nicht mit ihm zusammen sein möchte. Dieses Bewußtsein versuchte Christina ihrer Töchter zu vermitteln. Einschneidende Ereignisse im Leben wie Scheidung, Tod oder ein Zerwürfnis mit einem guten Freund oder Verwandten können dieses verläßliche Liebesempfinden stören und uns in den Zustand zurückwerfen, in dem wir der primitiven Angst vor dem Verlust der Liebe des Objekts oder sogar der noch schlichteren Furcht vor dem Verlust des Objekts selbst ausgeliefert waren. Doch wenn wir die Zeit und die Möglichkeit erhalten, uns zu erholen und uns wieder zu festigen, ist zu erwarten, daß wir in unserem Verständnis und unserer Erfahrung der Liebe zum bereits erreichten Entwicklungsstand zurückfinden. In der heutigen Erziehungspraxis sind bei diesen beiden Szenarien die Rollen vertauscht. Nach wie vor sorgen sich Familienmitglieder, daß ein geliebter Mensch aufhören könnte, sie zu lieben, oder daß er es nie getan hat. Ebenso sorgen sich Familienmitglieder, einen geliebten Menschen tatsächlich zu verlieren. Doch im Entwicklungsdrama heute sind die Rollen anders verteilt. Jetzt sind die Eltern und nicht die Kinder zu den Hauptakteuren geworden, die befürchten, daß ihre Kinder sie nicht mehr lieben oder sie ganz verlassen könnten. Obwohl die Angst der Eltern offensichtlich andere Beweggründe hat als die -205-
des kleinen Kindes, ist nicht zu leugnen, daß der Spieß umgedreht wurde und die heutigen Eltern von größeren Verlustängsten geplagt werden als ihre Kinder. Woher kommt diese Angst der Eltern? Ebenso wie der Säugling nicht sicher ist, daß Mama und Papa wirklich immer für ihn da sind, haben die Eltern heute Bedenken, ob ihnen ihr Kind für immer erhalten bleibt. Familien lösen sich auf, Mütter oder Väter erziehen ihre Kinder alleine, und die Beziehung zum Kind ist oft die einzige feste Bindung, auf die ein Erwachsener sich verlassen kann. Aber selbst dieses Band ist zerbrechlich. Immer häufiger haben Kinder die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, bei welchem Elternteil sie nach der Scheidung leben möchten. In Extremsituationen weigern sich Scheidungskinder sogar, den anderen Elternteil zu besuchen, sei es, weil Spannungen bestehen, oder aus Loyalität zu dem Elternteil, bei dem das Kind lebt. In vielen Fällen ist es nicht das Kind, sondern das Gericht, das das Besuchsrecht des einen Elternteils nach der Scheidung einschränkt. Aber von diesem Phänomen, daß Kinder sich ihre Eltern aussuchen oder Eltern ihre Kinder verlieren, sind nicht nur geschiedene, sondern alle Eltern betroffen. Im Jahr 1992 wurde in Florida ein Rechtsstreit bekannt, bei dem der zwölfjährige Gregory Kingsley mit einem eigenen Anwalt vor Gericht zog, um seiner leiblichen Mutter das Sorgerecht zu entziehen, damit er von seinen Pflegeeltern adoptiert werden konnte. Zur Begründung führte er an, seine Mutter habe ihn ständig mißhandelt und vernachlässigt. Das Gericht entschied zu seinen Gunsten. Der Fall, über den das Fernsehen landesweit berichtete, wurde von der ganzen Nation gebannt verfolgt. Einige meiner kleinen Patienten kamen zu mir und fragten, ob sie sich auch von ihren Eltern »scheiden lassen« könnten. Ihre Anfragen waren offenbar von der Berichterstattung der Medien beeinflußt. Im ganzen Land erschienen im Lauf einiger Tage Schlagzeilen wie: »Sohn will -206-
die ›Scheidung‹ von Mama« - »Zwölfjähriger läßt sich von Eltern ›scheiden‹ «, und um die Ängste der Öffentlichkeit zu dämpfen: » ›Scheidung‹ von der Mutter wird keinen Trend setzen.«4 Bei der Verhandlung gab Gregory zu Protokoll, »er liebe seine leibliche Mutter nicht«. Daß die Richter seiner Mutter die elterlichen Rechte und Pflichten entzogen, wurde allgemein bekannt. Kritiker befürchteten, ganze Heerscharen unzufriedener Kinder würden versuchen, sich von ihren Eltern »scheiden zu lassen«, wenn man derartige gerichtliche Klagen seitens der Kinder zuließe. Rechtsexperten versicherten zwar der amerikanischen Öffentlichkeit, daß die Klage dieses Jugendlichen eine Ausnahme darstelle, die keineswegs eine Sturzflut leichtfertiger Klagen seitens ärgerlicher Sprößlinge nach sich ziehen werde. Aber sie übersahen dabei die konkreten Auswirkungen, die Gregory Kingsleys erfolgreicher Prozeß für die Eltern von heute hat. Ich war völlig verblüfft angesichts der vielen besorgten Eltern, die in meine Praxis kamen und sich erschüttert über die Folgerungen Gedanken machten, die sich aus Gregorys »Scheidung« ergaben; es handelte sich vor allem um Eltern, die einen Sorgerechtsprozeß gegen den Expartner hinter sich oder noch vor sich hatten. Ich beobachtete, daß die Eltern stutzten und überlegten, wie dauerhaft die Beziehung zu ihren Kindern war. Die Einzigartigkeit und die rechtlichen Besonderheiten des Falls traten in den Hintergrund, weil die Medien nur das Phänomen der »Scheidung« beleuchteten. Eltern verfolgten gespannt, wie sich der Lauf der Geschichte änderte, wie Kindern mehr Rechte eingeräumt wurden und Regierung und Gerichte verstärkt ins Familienleben eingriffen. Dieser kulturelle Wandel verband sich mit den bösen Vorahnungen der Eltern, daß ihre Kinder sie möglicherweise nicht liebten und sie verlassen wollten. In unserer Gesellschaft tritt die Liebe als Ware in den -207-
Vordergrund. Wir nehmen Liebe nicht als gegeben hin, sondern glauben, daß wir um sie kämpfen müssen. Wie wir sie gewonnen haben, können wir sie auch wieder verlieren. Wir wollen soviel davon, wie wir kriegen können. Es ist sogar vorstellbar, sie zu erkaufen. Daß Liebe also nicht bedingungslos gegeben wird, sondern von Bedingungen abhängig ist, kann unsere Beziehungen zum Partner, zu Freunden, zu unseren eigenen Eltern prägen. Er wirkt sich auch auf die Beziehung zu unseren Kindern aus. Bei diesem Liebeshandel ist die Bedrohung der Eltern-Kind-Bindung durch »Scheidung« für die Eltern eine bittere Pille. Aber »Scheidung« ist nicht der einzige Punkt, der die Angst der Eltern um die sichere Bindung an ihr Kind nährt. Die moderne Psychologie hat uns darauf aufmerksam gemacht, daß Kinder ihre Eltern nicht nur lieben, sondern sie auch ablehnen. In vergangenen Epochen lag es auf der Hand, daß das körperliche Überleben des Kindes vom Wohlwollen der Eltern abhing, und daher wäre es niemandem in den Sinn gekommen, daß Kinder jemals ihre Eltern ablehnen könnten; denn ohne die Fürsorge der Eltern waren Kinder praktisch zum Tode verurteilt. Heute aber ist das Überleben der Kinder nicht mehr so stark von den Eltern abhängig, und die Bindung beruht in erster Linie auf Gefühlen. Da die Kinder nicht mehr bei uns bleiben müssen, um zu überleben, wird es vorstellbar, daß sie sich von uns abwenden, uns nicht mehr wollen oder nicht mehr brauchen. Dank unserer neuen psychologischen Einsicht, daß Kinder ihre Eltern zuweilen ablehnen, sind wir so weit, in jedem negativen Verhalten des Kindes einen Hinweis darauf zu sehen, daß wir abgelehnt werden.5 Wenn also die dreijährige Lily in Mamas Zimmer stürmt, weil diese ihr die Haarschleife nicht richtig gebunden hat, und brüllt, sie habe die gemeinste Mami auf der Welt, quält sich Mama mit der Frage, ob sie als Mutter versagt hat und ob Lily sie nun gegen eine andere eintauschen wird, die sich besser darauf versteht, Haarschleifen zu binden. -208-
Gelegentlich kann das negative Verhalten eines Kindes tatsächlich bedeuten, daß es Mutter oder Vater ablehnt, aber solche Szenarien sind weitaus seltener, als die besorgten Eltern annehmen. Viel mehr spricht dafür, daß das Kind einfach zu erkennen gibt: »Mir gefällt nicht, was gerade passiert.« Warum quälen wir uns also mit solchen Ängsten? Da in der Eltern-Kind-Beziehung die bedingte an die Stelle der bedingungslosen Liebe getreten ist, erscheint es einleuchtend, daß Eltern aufmerksam beobachten, ob ihre Sprößlinge sie ablehnen. Aber ihre Angst wird auch von eigenen Schuldgefühlen genährt, weil sie weder die Zeit noch die Mittel bereitstellen können, um ihren Kindern ein geborgenes, gefahrloses und von Liebe erfülltes Leben zu bieten. Es ist dieselbe Angst, die sie antreibt, das perfekte Kind zu wollen, dieselbe Angst, die die Vorstellung »Mein Sohn, der Arzt« prägt. Wenn Menschen, die anderen dienen, das Gefühl haben, daß sie ihrer Pflicht nicht gerecht werden, reagieren sie sensibel auf Zeichen der Ablehnung - vor allem von den Leuten, denen sie dienen sollen. Im Falle der heutigen Eltern sind diese Leute unsere Kinder. Wir sind sehr besorgt, daß sie uns nicht lieben, weil wir ihnen nicht genügend Gründe geben, uns zu lieben. Wir sind nicht da, wenn wir da sein sollten oder wenn sie es wünschen. Wir strengen uns nicht genug an. Wir spüren, daß wir ihnen kein gutes Leben versprechen können. Deshalb fragen wir uns voller Zweifel, ob wir als Eltern »gut genug« sind. Kinder, die von ihren Eltern nicht mehr gewollt oder geliebt wurden, hat man als »Wegwerf«-Kinder bezeichnet. Jetzt greift die Furcht um sich, daß wir zu »Wegwerf«-Eltern werden könnten, daß Kinder die Mutter oder den Vater ausrangieren könnten, weil sie, die Eltern, nicht mehr geliebt oder gewollt werden. In den Angstphantasien der Eltern haben die neuen »Kind-Erwachsenen«, die vorschnell ins Erwachsenendasein getrieben wurden, scheinbar die Möglichkeit und die Macht, -209-
ihren Eltern ein solches Leid zuzufügen. Natürlich sind die psychischen Folgen, wenn Kinder ihre Eltern »wegwerfen«, geringfügig im Vergleich zu den Folgen, die Millionen von mißhandelten und vernachlässigten Kindern zu tragen haben, die von ihren Eltern fallengelassen werden. Doch die Bedrohung scheint real und sie beeinflußt negativ die Einstellung und das Verhalten von Eltern, die den Verlust des Objekts, das heißt ihres Kindes, fürchten. Um das zu vermeiden, halten sich die Eltern an den ersten Grundsatz im Schachern um Liebe: Ganz gleich, was ich tun muß: Um dich nicht zu verlieren, werde ich es tun. Noch verheerender als die Furcht, das Kind ganz zu verlieren, wirkt sich im Alltag die nagende Angst aus, nicht das Kind, sondern die Liebe des Kindes einzubüßen. Kürzlich ist die 15jährige Jane von zu Hause weggelaufen. Das war ein schwerer Schlag für ihre Eltern Paul und Victoria, die beide in Führungspositionen arbeiten und in ihrer Nachbarschaft hohes Ansehen genießen. Im Umgang mit Kollegen sicher und entschlossen, verhielten sie sich zu Hause genau umgekehrt. Stets wurden sie von der Sorge geplagt, ob sie als Eltern gut genug waren, doch um der Elternrolle gerecht zu werden, fühlten sie sich zu sehr in Anspruch genommen. Bevor Jane verschwand, hatten Paul und Victoria ihr erlaubt, bis spät in die Nacht auszubleiben oder gar nicht heimzukommen. Sie wollten ihr keinerlei Regeln auferlegen, weil sie befürchteten, von ihrer Tochter dann nicht mehr geliebt zu werden. Paradoxerweise verloren sie damit nicht nur Janes Liebe, sondern auch sie selbst. Ihre schlimmsten Befürchtungen wurden bestätigt, weil sie genau das unterließen, was ihrer Tochter gezeigt hätte, daß sie sie liebten, das, was gewährleistet hätte, daß ihr Kind dageblieben wäre, um geliebt zu werden, und was ihrem Kind ermöglicht hätte, ihre Liebe zu erwidern. Wenn sie eine Denkpause eingelegt und überlegt hätten, was dieses Kind wirklich brauchte und ob ihre Furcht, Janes Liebe zu verlieren, -210-
irgendwie real begründet war, hätte die Geschichte eine andere Wendung nehmen können. Offenbar gab Jane auf tausenderlei Weise zu verstehen, was sie von ihren Eltern wollte - sie sollten sie beachten und von etwas abhalten, was sie selbst nicht bremsen konnte. Als sie anrief und ankündigte, sie werde über Nacht nicht heimkommen, hoffte sie, daß ihre Eltern die Zügel in die Hand nehmen und sagen würden: »Kommt gar nicht in Frage, du bist um elf zu Hause.« Das hätte ihr gezeigt, daß ihre Eltern sie liebten und nicht zuließen, daß sie sich gefährlichen Situationen aussetzte. Durch diese Botschaft wäre ihr klargeworden, daß ihre Eltern wirklich für sie da waren und nicht nur die eigene Sorge ausdrückten, ob Jane immer für sie da sein werde. Wenn die Eltern erkannt hätten, daß sie tatsächlich die Möglichkeit hatten, Jane engere Grenzen zu setzen und mehr Kontrolle auszuüben, hätte es sich vermeiden lassen, daß sie von zu Hause weglief. Diese »eingreifende« Taktik anstelle der hilflosen Laissez-faire-Haltung hätte die Liebe gefestigt und verhindert, daß sich Jane schrecklich ungeliebt fühlte. Um Familien wie der von Jane zu helfen, sind im ganzen Land unter dem Slogan »Tough Love« Hilfsprojekte entstanden. Diese Projekte wenden sich an Eltern, die mit ihren Jugendlichen nicht mehr fertig werden, und wollen vermitteln, wie man Schranken und Grenzen setzt. Die Eltern lernen hier, eigene Hemmungen zu überwinden oder ihre nachlässige Haltung aufzugeben, so daß sie ihren Kindern Verhaltensrichtlinien geben können. Schon der Name »Tough Love« - »harte Liebe« - benennt die Schwierigkeiten, die Eltern von heute mit der Liebe zu ihrem Kind haben, die Schwierigkeiten mit der verordneten Medizin, die »weiche« Liebe in »harte« Liebe umzuwandeln. Doch nach wie vor werden wir Eltern von der Furcht geplagt, daß Eltern, die nicht gut genug sind, auch nicht genug geliebt werden. Von solcher Furcht beherrscht, unterwerfen wir uns dem zweiten Grundsatz des Schacherns um Liebe: Ich tue alles, -211-
was ich tun muß, damit du mich weiter liebst, weil es viele gute Gründe gibt, mich nicht zu lieben. Wozu dieser zweite Grundsatz führt, ist gut zu erkennen, wenn wir beobachten, wie heutige Eltern mit der Trennung von ihren Kindern umgehen. Es ist völlig normal, wenn sich kleine Kinder anklammern und heftig protestieren, sobald Mutter oder Vater weggehen möchten. Die Eltern deuten das Verhalten des Kindes dann vielleicht als Anzeichen dafür, daß sie etwas falsch gemacht haben. Und so kommen sie zu der Auffassung, es sei das Beste, entweder daheim zu bleiben oder das Kind mitzunehmen, wohin sie auch gehen. Immer wieder kommen Eltern zu mir und holen sich Rat, weil sie vor diesem Problem stehen: Ihr Kind »leidet Qualen«, wenn sie sich entfernen. Sollten sie vielleicht gar nicht mehr weggehen, oder nur im äußersten Notfall? Die Eltern versuchen, ihrem Kind alles zu geben, was es fordert, um seine Liebe nicht zu verlieren. Dabei übersehen sie aber, daß ihre Söhne und Töchter nur einen natürlichen und unvermeidlichen Prozeß durchmachen: Sie bekämpfen ihre Beziehungsängste, indem sie ihre kindliche Furcht zum Ausdruck bringen, die Eltern oder die Liebe ihrer Eltern zu verlieren. Gewiß kommt es auch vor, daß Kinder überfordert werden, wenn sie zu frühe, zu häufige und zu lange Trennungen aushaken müssen. In solchen Fällen muß man genau hinhören, wenn die Kinder lebhaft und hartnäckig protestieren, und Vorkehrungen treffen, um ihre Angst zu lindern. Aber solche Fälle sind hier nicht gemeint. Ich spreche von dem vorübergehenden Protest eines Kindes, das nicht in dieser Weise überfordert ist. Dieser Protest kann zwar auch sehr intensiv sein, verstummt aber in der Regel wenige Minuten nach dem Abschied. Das Kind wendet sich dann fröhlich dem nächsten Programmpunkt zu - es sei denn, es greift die eigenen Ängste der Eltern auf, die beispielsweise fünfmal umkehren, um sich ein letztes Mal zu verabschieden, oder mit besorgtem Gesicht -212-
und dem falschen Versprechen gehen, gleich wieder dazusein. Ich beobachte immer wieder, daß Eltern auf diesen vorübergehenden Protest eingehen und überlegen, ob sie liebevoll und aufmerksam genug sind. Sie bilden sich ein, die Trennung von ihrem Kind sei ein furchtbarer Fehler gewesen, und sie schwören sich, es nie wieder zu tun. Sie glauben, sie hätten dadurch die zarte Psyche des Kindes auf Dauer geschädigt und es werde sie für ihr Tun hassen. Um Ordnung in solche Situationen zu bringen, muß man sich dem zweiten Grundsatz des Schacherns um Liebe zuwenden, der lautet: Ich tue alles, was ich tun muß, damit du mich weiter liebst. Zuerst prüfe ich, ob das Kind übermäßige Anhänglichkeit oder Angst zeigt, beides Anzeichen dafür, daß das Kind Probleme hat und mehr Aufmerksamkeit braucht. In diesem Fall bleiben wir vielleicht weniger oft und lange weg oder suchen Methoden, um die Trennung zu erleichtern, wenn sie unumgänglich ist. Hilfreich ist dabei zum Beispiel: Man sorgt vor der Trennung für ein ruhiges, entspanntes Zusammensein; man hinterläßt dem Kind einen kurzen Brief oder ein Bild als »Übergangsobjekt«; man begrenzt die Dauer der Trennung; man sorgt dafür, daß ein vertrauter Erwachsener da ist, der das Kind trösten kann. Wenn der Protest jedoch allem Anschein nach vorübergehend, normal und hinnehmbar ist, bitte ich die Eltern, darüber nachzudenken, was das Anklammern und Schreien zu bedeuten hat und wie sie darauf reagieren könnten. Wenn sich das Kind an die Mutter oder den Vater klammert und fleht: »Geh nicht weg«, will es damit nicht unbedingt sagen, daß die Eltern versagt oder etwas falsch gemacht haben, sondern vielmehr, daß es sie genug liebt, um ihr Weggehen zur Kenntnis zu nehmen. Wenn die Eltern angesichts kindlicher Proteste immer klein beigeben: Wollen sie damit tatsächlich ihrem Kind helfen oder nicht vielmehr die eigenen quälenden Schuldgefühle dämpfen? Geben sie ihrem Kind unterschwellig zu verstehen, daß es zu -213-
schwach oder zu kränklich ist, um eine Zeitlang ohne die Eltern auszukommen? Um Liebe zu bekommen, muß man dem Kind nicht jeden Stein aus dem Weg räumen. Enttäuschung und Schmerz gehören zu jedem gesunden Wachstumsprozeß, wenn sie richtig dosiert und mit Unterstützung der Eltern durchlebt werden. Wenn wir unseren Kindern jede Enttäuschung ersparen, behindern wir ihre Entwicklung. Jedesmal wenn das Kind eine Trennung erfolgreich meistert und feststellt, daß die Beziehung verläßlich ist - Mama und Papa kommen tatsächlich wieder -, macht es einen Schritt nach vorn und entwickelt ein Gefühl des Vertrauens in die Liebe, die Raum und Zeit überschreitet. Wenn wir uns klarmachen, daß der Protest gegen die Trennung in den allermeisten Fällen rasch vergeht und das Leben mit dem Babysitter oder im Kindergarten bald wieder eine vergnügliche Wendung nimmt, tun wir mehr für unsere Beziehung zum Kind, als wenn wir alle Termine bis auf weiteres absagen. Was geschieht, wenn sich sowohl das Kleinkind als auch Mutter oder Vater darum sorgen, die Liebe des anderen zu verlieren? Wenn die Mitte der Kindheit erreicht ist, sieht es so aus, als hätte sich der Spieß umgedreht: Nun zittern die Eltern um die Brüchigkeit der Liebe, und die Kinder haben die Macht, Liebe zu gewähren oder zu entziehen. In dieser Konstellation zahlen alle Beteiligten drauf. Das Kind leidet, weil es ein starkes und haltendes Umfeld vermißt, in dem angemessene Grenzen gesetzt werden, in dem sich die Eltern ihrer Bindungen an das Kind sicher sind und das Kind darauf bauen kann, daß die Eltern, körperlich und seelisch, immer da sein werden. In ihrem panischen Streben nach Liebe versäumen es die Eltern, den Respekt ihres Kindes zu gewinnen, und versuchen statt dessen hektisch, dem Kind Respekt zu zollen. Das Ganze läuft darauf hinaus, daß den Kindern eine starke Leitfigur fehlt, zu der sie aufblicken können. Mit all diesen Ängsten versagen wir uns den Trost einer »unvergänglichen« Liebe, die es uns erlaubt zu entspannen, weil -214-
wir wissen, daß wir ungeachtet kleinerer oder gelegentlich auch größerer Fehler von unseren Kindern geliebt werden - auch wenn wir als Eltern nicht perfekt sind. Dann schwindet die quälende Angst, die sich einstellt, wenn wir übervorsichtig und beflissen im Dienst unserer Kinder stehen. Befriedigung gewähren oder verweigern? Das ist die Frage »Die Geschichte zweier Mütter« hieß ein Artikel in der Zeitschrift Working Mother,6 der die Spannungen zwischen einer berufstätigen und einer Vollzeit-Mutter schilderte. Die beiden Frauen waren befreundet, und beide sorgten sich um die Auswirkungen auf ihre Kinder. Die berufstätige Mutter befürchtete, ihre Kinder seien zu selbständig. Die Hausfrau befürchtete, ihre Kinder seien zu unselbständig. Die berufstätige Mutter meinte, ihre Kinder seien zu materialistisch, weil sie mit materiellen Gütern überschüttet wurden - einerseits aufgrund elterlicher Schuldgefühle, andererseits weil die Familie mit zwei Einkommen es sich leisten konnte. Die Hausfrau beobachtete ihre bereits erwachsenen Kinder und sorgte sich ebenfalls, sie seien übermäßig materialistisch, weil sie in einer Familie mit nur einem Einkommen als Heranwachsende auf manches hatten verzichten müssen. Beide plagten sich mit einer Grundfrage, wie übrigens heute die meisten Eltern: Was heißt »befriedigen«, und was heißt »vorenthalten«? Stellen wir unsere Kinder zufrieden, wenn wir ihnen vieles kaufen, oder nehmen wir ihnen damit die Möglichkeit, Wertschätzung für die höheren, ideellen Werte des Lebens zu entwickeln? Befriedigen wir das Bedürfnis unserer Kinder nach Fürsorge und Gemeinschaftserleben, wenn wir jeden Tag bei ihnen zu Hause sind, oder verhindern wir, daß sie Autonomie und Selbsthilfestrategien entwickeln? Nie war sich eine Generation so im unklaren über den Unterschied zwischen -215-
Befriedigung und Entbehrung, und nie war eine Generation so von der Angst besessen, in das eine oder andere Extrem zu verfallen. Und tatsächlich hat noch nie eine Generation in der Erziehungspraxis so stark zwischen Befriedigung und Vorenthalten hin- und hergeschwankt. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte in der Erziehung der Trend, die Kinder Verzicht zu lehren und ihnen Befriedigung zu verweigern - frühe Sauberkeitserziehung, keine Masturbation, kein Sex, keine Aggression. Dann kam Freud, und seine Theorien lösten tiefgreifende Veränderungen aus. Er zeigte, welch verheerende Folgen solche Entbehrungen für die Psyche des Kindes haben konnten. In seiner Nachfolge wurden fortschrittlichere und liberalere Erziehungsmethoden gutgeheißen. Befriedigung wurde wichtiger als Verzicht. Viele glauben, daß der Höhepunkt dieser neuen Freizügigkeit in der Kindererziehung nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht wurde. Ein erster Meilenstein war das Erscheinen von Dr. Spocks Baby and Child Care im Jahr 1946 (dt. Säuglings- und Kinderpflege); das Buch erreichte inzwischen höhere Verkaufszahlen als die Bibel. Parallel zu diesem Wandel hin zu mehr Liberalität und Befriedigung verbreitete sich in der Kultur die Überzeugung, daß niemand jemals leiden sollte - weder Erwachsene noch Kinder. Diese Neuorientierung hat sich weder unkompliziert noch linear vollzogen. Gelegentlich wurde die Befriedigung zu stark in den Vordergrund gestellt und so interpretiert, als sollte dem Kind alles erlaubt werden. In der Bewegung der »freien Schulen«, in die Wege geleitet durch die Arbeit von Neill in Summerhill in den sechziger Jahren, wurde die Liberalität ins Extrem getrieben. Anfang der siebziger Jahre besuchte ich eine freie Schule in Montreal, wo ich mich lediglich als Beobachterin aufhielt. Ein etwa zehnjähriger Junge wollte seine Eltern anrufen, um ihnen mitzuteilen, wo er nach der Schule hinging. Ein paar andere Jungen spielten mit dem Telefon. Der Junge -216-
erklärte, daß er seine Eltern anrufen wolle. Die anderen Schüler beachteten ihn nicht. Jedesmal wenn er ans Telefon trat, spielten sie mit der Wählscheibe oder griffen nach dem Hörer. Sie hatten ihren Spaß. Schließlich gab der Junge auf und ging niedergeschlagen und enttäuscht weg. Kein Erwachsener griff ein. Die Mitschüler handelten nach der Devise »Tu, wozu du Lust hast« und drängten den Jungen in die Opferrolle. Die freien Schulen mit ihrer Ideologie des »Tu, wozu du Lust hast« sind ein Anachronismus der sechziger Jahre geworden. Seither haben sich die Standpunkte gemäßigt, und man geht davon aus, daß zwischen Befriedigung und Verzicht ein gesundes Gleichgewicht gefunden werden muß. Es hat sich gezeigt, daß ein Leben ohne ein Minimum an von außen auferlegtem »Verzicht« in ein anarchisches Chaos mündet so wie in dem Roman Der Herr der Fliegen von William Golding. Für die Kindererziehung heißt das, daß man Kindern nicht erlauben sollte zu tun, was sie wollen und wann sie es wollen. Denn es ist noch nicht einmal klar, ob sie das überhaupt wollen. Vielmehr hat es den Anschein, als orientierten sich die Kinder an ihren Eltern, um die richtigen Strukturen und Maßstäbe aufzubauen, so daß einerseits die Wünsche der Kinder freigesetzt, andererseits aber auch gebunden und gezügelt werden. Wenn ich Eltern berate, greife ich gern auf folgendes Bild zurück: Die Kinder müssen wissen, daß der Bus von einem Fahrer mit Führerschein gelenkt wird und daher nicht außer Kontrolle geraten kann. Als Reaktion auf die vorherrschende Haltung, jeden Wunsch der Kinder zu befriedigen, zeichnet sich eine Trendwende ab, etwa wenn Ronald Taffei, Kolumnist zu Erziehungsfragen bei der Zeitschrift McCall's, schreibt: »Die Menschen wollen nicht zu den Gepflogenheiten der vorpsychologischen Ära mit ihrer Verdrängung und Unterdrückung zurückkehren. Aber die übertriebene Gegenreaktion, die allein das Kind in den Mittelpunkt stellt und eine Generation unkontrollierbarer Kinder -217-
hervorgebracht hat, funktioniert auch nicht. Jetzt ist zu beobachten, daß ein Mittelweg zwischen den Extremen gesucht wird, wobei man mehr darauf achtet, ein Gefühl für Struktur zu schaffen, ohne dabei den Lebensgeistern der Kinder den Garaus zu machen.«7 Aber wir strengen uns gewaltig an, diesen Mittelweg zu finden, und erliegen gern der Versuchung, die Zügel schießen zu lassen. Pamela und Gordon glaubten, als Eltern versagt zu haben, wenn ihr Kind weinte. Als kleines Baby erlebte ihr Sohn Richard viel Wärme und Geborgenheit. Seine Eltern lasen ihm jeden Wunsch von den Augen ab und entfernten in aller Stille jedes Hindernis auf seinem Weg, bevor er sich daran stoßen konnte. In den ersten Monaten war dieses Verhalten seiner Eltern völlig angemessen und schien sich auszuzahlen. Seine ersten beiden Lebensjahre verliefen glückselig und idyllisch; auch das dritte Jahr blieb noch recht friedlich. Seine Eltern erfüllten ihm weiterhin jeden Wunsch. Richard lächelte viel, und Pamela und Gordon genossen ein erfülltes und glückliches Elterndasein. Aber dann kam Richard in den Kindergarten, und das Familienparadies verwandelte sich in ein Fegefeuer. Pamela und Gordon, die als Eltern nach wie vor ihr Bestes gaben und fest davon überzeugt waren, sie müßten Richard stets voll und ganz zufriedenstellen, hatten den Anschluß verpaßt. Sie hatten es versäumt, ihren Sohn den kleinen Mißerfolgserlebnissen auszusetzen, die es ihm erst ermöglicht hätten, in der Welt zurechtzukommen. Sie begriffen nicht, daß es nun angesagt war, Grenzen zu setzen und zuzulassen, daß Richard selbst einen Ausweg aus einer Situation fand, wenn er sich zu einem selbstbewußten und liebenswerten Kindergartenkind entwickeln sollte. Sie fuhren fort, ihn zu verwöhnen. Die Folge war, daß Richard nicht zurechtkam, wenn nicht alles perfekt aufeinander abgestimmt war. Er begriff nicht, warum die Erzieherin im Kindergarten, die zehn Kinder zu betreuen hatte, nicht -218-
vollkommen auf seine Bedürfnisse einging. Sein konfliktfreies häusliches Leben stand in krassem Gegensatz zum Kindergarten, der zum Kampfplatz wurde. Bald wurden auch zu Hause Schlachten ausgetragen. Niemand war mehr glücklich. Dank der Bemühungen seiner Eltern, ihn stets zufriedenzustellen, hatte Richard das nötige Rüstzeug, um sich in der Welt zurechtzufinden, nicht mitbekommen: Geduld haben, warten, bis man an der Reihe ist, mit Enttäuschungen fertig werden, Probleme lösen oder hoffen, daß es besser wird. Erschüttert und enttäuscht suchten mich Pamela und Gordon auf. Sie begriffen nicht, warum ihr »sensibler Erziehungsstil« versagt hatte. Ich fragte beide, wie sie sich fühlen würden, wenn der andere ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen würde. Wäre das wirklich schön? Pamela meinte, das würde ihr die Luft abschnüren, und Gordon stöhnte, dann könne er ja gleich wieder zu seiner Mutter ziehen. Ich bat sie zu überlegen, ob Richard das tatsächlich anders empfand. Obwohl er soviel Aufmerksamkeit lautstark verlangte, war er offenbar nicht mehr glücklich, wenn er sie bekam. Vielleicht war er aus der ersten glückseligen Zeit heraus, in der sich alles um ihn drehte, und sehnte sich jetzt nach etwas anderem. Ich bat die Eltern, ein Experiment zu machen. Sie sollten etwas auswählen, was er im Kindergarten nicht selber machen wollte und was ihm zu Hause immer abgenommen wurde. Beide entschieden sich sofort für das Anziehen der Socken und Hausschuhe, was im Kindergarten nach der Mittagsruhe zu großen Kämpfen führte. Gutgelaunt sollten sie ihn bitten, das in Zukunft selber zu machen. Wenn er lauthals Hilfe verlangte, war es Aufgabe der Eltern, ihn zunächst zu ermutigen, es selbst zu versuchen. Wenn er frustriert war oder wütend wurde, konnten sie zu ihm sagen: »Wir wissen, daß es schwer ist, aber wir glauben wirklich, daß du das schaffst.« Sie sollten sich zurückhalten und nicht eingreifen, auch wenn er forderte, daß die Eltern es für ihn taten. Nach einer Woche kamen sie wieder -219-
zu mir, um Bericht zu erstatten. Es war nicht leicht gewesen - in den ersten Tagen hatte Richard getobt wie ein wilder Bär, weil ihm die häuslichen Dienstleistungen verweigert wurden. Aber es spricht für Pamela und Gordon, daß sie hart blieben, und nach ein paar Wochen hatten sie ein Kind, daß sich stolz alleine anziehen konnte. Das war der erste Schritt auf dem langen Weg, größere Anforderungen an Richard zu stellen. Dabei half die neue Einsicht, daß ihm die Eltern keinen Schaden zufügten, sondern halfen, wenn sie ihm nicht immer seinen Willen ließen und es ihm ermöglichten, mit seinen Enttäuschungen und Mißerfolgen selber fertig zu werden. Richard merkte, daß es zu verkraften war, wenn einem hin und wieder etwas vorenthalten wurde, und er lebte sich im Kindergarten ein. Statt Paradies oder Fegefeuer begann eine eher erdgebundene friedliche Epoche zu Hause und im Kindergarten. Die liebevolle Verbindung zwischen Pamela, Gordon und Richard wurde keineswegs gelockert, sondern sogar gestärkt. Gelegentlich kommen Eltern zu mir und klagen: »Nichts können wir recht machen. Wir geben unserer Töchter alles, was sie will, und dann ist sie doch nicht zufrieden, sondern verlangt etwas anderes.« Das geschieht oft, wenn Eltern verzweifelt versuchen, an ihrem Kind etwas wiedergutzumachen, zum Beispiel nach der Trennung vom Ehepartner. Sie ärgern sich, weil sich das Kind nach allem, was sie getan haben, undankbar zeigt. Sie bemerken zwar, daß ihr Kind unglücklich ist, mißverstehen aber oft die Botschaft. Ihr Kind versucht ihnen mitzuteilen, daß sie es lassen sollen - ihr eifriges Bemühen, Liebe durch die Befriedigung sämtlicher Wünsche zu sichern, ist zum Scheitern verurteilt. Nach einer Scheidung sind Kinder in der Regel tiefunglücklich, und das läßt sich nicht ändern. Nun geht es nicht darum, das Kind mit Vergnügungen abzulenken, sondern ihm Unterstützung anzubieten, so daß es über den -220-
unausweichlichen Verlust der Familie, wie es sie kennt, hinwegkommt. Mit dem Verlust geht die Welt zwar nicht unter, aber in dieser Zeit sollte man dem Kind helfen, Widerstandskräfte zu entwickeln, statt angesichts schlimmer Umstände, die das Kind nicht ändern kann, Glück zu erzwingen. Lieben oder gehorchen Eine etwa 60jährige Frau sitzt mir gegenüber und erinnert sich an den Tod ihrer Mutter in den dreißiger Jahren, als sie noch ein Kleinkind war. Sie berichtet, daß sie und ihre ältere Schwester, die damals vier war, eines Morgens aufwachten und sahen, daß das Bett ihrer Mutter leer war. Ihre ältere Schwester rannte zum Vater und fragte: »Wo ist Mami?« Erst dann wandte sich der Vater dem leeren Bett und seinen Kindern zu und erklärte, Mama sei im Himmel. Er verlor weiter kein Wort darüber. Etwa 50 Jahre später schreibt die ältere Schwester an die jüngere: »Erinnerst du dich noch, damals stellten Kinder ihren Eltern keine Fragen. Diese waren Erwachsene, und Kinder gaben sich mit dem zufrieden, was man ihnen sagte.« Wenn heute ein Vater so mit dem Tod der Mutter umginge, würde man das bestenfalls als schlechten Erziehungsstil und schlimmstenfalls als Vernachlässigung sehen. Kinder sind in die Familienangelegenheiten einzubeziehen, und ihre Fragen müssen wahrheitsgemäß und respektvoll beantwortet werden. Wir wollen, daß unser Kinder autonom und unabhängig sind, statt Unterwürfigkeit und Gehorsam zu zeigen. Wir müssen mit ihnen reden und bereit sein, ihnen zuzuhören. Wir gehen davon aus, daß unsere Kinder etwas zu sagen haben. Und daher glauben wir, daß wir bessere Erzieher sind, als unsere Eltern es waren, liebervoller und verständnisvoller, weniger hart und streng.8 Daß wir unsere Kinder respektieren und ernst nehmen, ist -221-
gewiß sehr anerkennenswert. In unseren Augen ist es weit besser als in der »guten alten Zeit«, als Kindern keine Würde zugestanden wurde und Eltern die absolute Macht über sie hatten. Wenn wir mit gesundem Menschenverstand vorgehen und uns auf den Entwicklungsstand unserer Kinder einstellen, können wir als Zuhörende besser begreifen, was sie uns sagen wollen. Zudem gewinnen unsere Kinder die Überzeugung, daß sie uns etwas bedeuten und wir auf sie eingehen. Daniel Goleman, Kolumnist bei der New York Times, schreibt dazu: »Wissenschaftler empfehlen Eltern, die verstehen wollen, welche Sorgen ihr Kind plagen, ihrem Kind Gehör zu verschaffen; nicht alle Eltern nehmen sich die Zeit zum Zuhören.«9 Eltern werden aufgefordert, ihren Kindern »aktiv zuzuhören«, statt ihnen einfach eine Strafpredigt zu halten. Im Grunde ist dieser Ratschlag sehr vernünftig, aber von überängstlichen Eltern, die sich verzweifelt um die Gunst ihrer Kinder bemühen, kann er falsch verstanden werden. Der Rat unterstützt das neue Schachern um Liebe, entweder weil er allzu ernst genommen wird oder weil er die bereits vorhandene Tendenz begünstigt, daß wir unseren Kindern an den Lippen hängen. Im Extremfall kann der Rat dazu führen, daß das Allmachtsgefühl und die Anspruchshaltung von Kindern verstärkt und sie zu Tyrannen werden statt zu geachteten und selbstbewußten Menschen. Eltern der Mittelschicht laufen oft Gefahr, »ihren Kindern zuzuhören«, als wären sie keine Kinder mehr. Sie verfallen in das Extrem, ihre Kinder als kleine Erwachsene zu behandeln, und schreiben ihnen Vernunft und Entscheidungsfähigkeit in einem Maße zu, das zuweilen fragwürdig, wenn nicht abstrus erscheint. Eine Mutter berichtet: »Ich habe Alexis von klein auf so behandelt, als hätte sie eine eigene Meinung. Als sie sechs Monate alt war und in ihrem Bettchen saß, fragte ich sie immer, was sie als nächstes tun, was sie essen oder anziehen wolle.«10 Eltern, die demokratische Regeln einführen, verlieren oft die -222-
kognitiven Grenzen des Kindes aus den Augen. Manche Eltern wollen vernünftig mit dem Kind reden, tun aber zuweilen zuviel des Guten. Andere schätzen völlig unrealistisch ein, was ein Kind überhaupt begreifen kann. Vermutlich weiß Alexis' Mutter ganz genau, daß ein Baby von einem halben Jahr nicht aufblickt und sagt: »Heute morgen esse ich Haferflocken.« Doch wenn Alexis im Kindergartenalter ist, wird sich die Mutter vielleicht dabei ertappen, daß sie ihr ausführlich erklärt, warum es zu Thanksgiving keine Haferflocken gibt, während das Kind weder die sprachlichen Mittel noch die nötige Aufmerksamkeit aufbringt, um einen längeren Monolog zu verstehen. Und wenn Alexis zur Schule geht, kann es sein, daß sie, statt ihre Mutter für ihre durchdachten Erklärungen mehr zu lieben, einfach aufblickt und sagt: »Mama, könntest du mal zur Sache kommen?« Wir müssen unseren Drang bremsen, unsere Kinder mit wortreichen Erklärungen zu überschütten. Immer wieder gebe ich Eltern zu verstehen: »Fassen Sie sich kurz, aber seien Sie freundlich.« Margots Eltern Chris und Michelle suchten mich auf, weil die Lehrerin sich Sorgen machte, ob die Sechsjährige schwerhörig sei, da sie vieles nicht mitbekam, was die Lehrerin sagte. Ein Hörtest ergab, daß Margot einwandfrei hörte. Wo lag also das Problem? Ich nahm beobachtend am Unterricht teil und bemerkte, daß Margo »abschaltete«, sobald die Lehrerin für eine Erklärung mehr als einen Satz brauchte. Im Gegensatz dazu hörte sie alles, was ihre kleinen Freunde zu ihr sagten, ganz gleich, wie lang die Botschaft war. Ich erkundigte mich nach der Familiengeschichte und erfuhr, daß Margots Eltern sich geschworen hatten, ihr kleines Mädchen nicht so zu behandeln, wie sie selbst behandelt worden waren, nämlich nach dem Grundsatz: »Du machst das, weil ich es dir sage.« Sie hielten sich deshalb nicht nur konsequent an den Vorsatz, sehr genau zuzuhören, was ihre Tochter zu sagen hatte, sondern sie beantworteten auch ausführlich alle ihre Fragen und -223-
erklärten stets genau, was sie taten, damit Margot nie das Gefühl hatte, daß ihr etwas einfach so angetan wurde. Das bedeutete, daß in diesem Haus sehr viel gesprochen wurde, vom frühen Morgen bis spät in die Nacht. Ich beobachtete Margot zusammen mit ihren Eltern und stellte rasch fest, daß dieses unaufhörliche Gerede Margot völlig überforderte. Mit dem Wasserfall von Worten, dem sie ständig ausgesetzt war, kam sie zurecht, indem sie nur das an sich heranließ, was sie verarbeiten konnte, und die Höchstgrenze lag für sie bei einem Satz. Chris und Michelle waren so sehr damit beschäftigt, ihrem Kind ernsthaft und liebevoll zu erklären, was sie dachten und fühlten, daß es ihnen nicht auffiel, wie Margot einen glasigen Blick bekam und ein verständnisloses Gesicht machte. Was ich ihnen erklärte, gilt meiner Meinung nach für die meisten Eltern von heute: »Sie reden zuviel.« Ich riet ihnen, ihre Mitteilungen an Margot auf maximal zwei Sätze zu beschränken. Sie sollten mehr darauf achten, welche Botschaften Margot ihnen übermittelte, und sich weniger darauf konzentrieren, wie sie sich als wohlwollende und respektvolle Eltern gebärdeten. Sie versuchten es, und nachdem zu Hause deutlich weniger gesprochen wurde, war Margots »Taubheit«, wie vorauszusehen, nach einiger Zeit kuriert. Eltern geben sich die größte Mühe, ihre Kinder im Namen von Liebe und Respekt ernst zu nehmen, doch im Grunde schachern sie um deren Liebe. Hier können wir am deutlichsten beobachten, wie die Grenze zwischen Eltern und Kindern zusammenbricht. Anstelle des Rundum-Stils setzen Eltern gar keine Schranken mehr. Grenzen zwischen den Generationen gibt es nicht mehr, statt dessen sitzen Familien am runden Tisch. Offenbar hat jeder ein Wörtchen mitzureden, Hierarchien sind überholt oder politisch nicht korrekt. Bei Familienentscheidungen haben Kinder nicht nur ein Mitspracherecht, sondern können ihr Veto einlegen. Gelegentlich geben Söhne und Tochter ihren Eltern sogar -224-
Ratschläge, welche Arbeit sie annehmen oder wie sie ihre finanziellen Angelegenheiten regeln sollen. Viele Kinder nennen heute ihre Eltern beim Vornamen. Auch das gehört zur neuen Ultrademokratie in Mittelschichtfamilien, in denen Kinder gesehen, gehört und einbezogen werden, als wären sie Erwachsene. Wenn die Eltern ihre Kinder wie Freunde behandeln und nicht wie junge Menschen, die noch nicht auf eigenen Beinen stehen, hoffen sie zum einen, daß aus ihrem Kind ein überaus kreativer Mensch wird. Zum anderen meinen sie, ihr Kind werde es zu schätzen wissen, wie verständnisvoll und hilfreich sie sind, und sie daher für immer und bedingungslos lieben. Sie glauben, daß sie nur so weder die Liebe des Objekts noch das Objekt selbst verlieren. Wir sind besser beraten, wenn wir uns erinnern, daß Kinder nicht einfach kleine Erwachsene sind. Sie können tatsächlich noch nicht auf eigenen Beinen stehen. Sie sind darauf angewiesen, durch Hierarchien und Unterschiede zwischen den Generationen zu erfahren, daß sie von einem Schutzwall umgeben sind. Wenn wir uns klarmachen, daß unsere Kinder nicht nur Respekt, sondern auch Sicherheit brauchen - Schutz vor ihren eigenen Impulsen, vor ihrer Destruktivität, vor ihren zügellosen Wünschen -, dann sind wir schon einen großen Schritt weiter und brauchen nicht mehr um Liebe zu schachern. Kinder müssen ermutigt werden, sich zu behaupten, aber sie sollten auch andere wahrnehmen und achten. Sie orientieren sich an uns, um beides zu lernen. Klare Grenzen zwischen Eltern und Kind sind weitaus besser als Ultrademokratie - geeignet, um ein Gleichgewicht zwischen Selbstbehauptung und Rücksichtnahme herzustellen und um unseren Kindern zu zeigen, wie sehr wir sie lieben. Das Kind, das uns lieben soll -225-
Vor ein paar Jahren gingen mein Mann und ich spätabends in ein Lokal in der Nachbarschaft, um Kaffee zu trinken. Wir betraten das volle, verrauchte Cafe; die Mehrzahl der Gäste war zwischen 30 und 40. Da bemerkte ich ein etwa dreijähriges Kind, das am Eingang herumsprang und bald raus-, bald wieder reinlief. Mein erster Gedanke war: »Ziemlich klein, um so spät noch unterwegs zu sein.« Die Mutter stand am Eingang und plauderte mit einer Freundin. Der kleine Junge wurde immer lebhafter oder vielleicht auch aufgeregter, war ausgelassen, aber auch ein bißchen überdreht. Schließlich war es für ihn und seine Mutter Zeit heimzugehen. Seine Mutter ging auf ihn zu, er warf ihr einen herausfordernden Blick zu und entwischte in den hinteren Teil des Cafes, wo er in einer Menschengruppe untertauchte. Seine Mutter behielt ihn im Auge, ließ ihn aber noch eine ganze Weile gewähren; unterdessen rempelte er mehrere Gäste an und schoß rücksichtslos zwischen ihren Beinen umher. Er sorgte für Durcheinander, war aber glücklich. Jetzt war es aber wirklich Zeit zu gehen. Als seine Mutter auf ihn zukam, schlugen seine Freudenjauchzer rasch in Protestgeheul um. Sie packte ihn, während er energisch zu entkommen versuchte, nahm ihn hoch, setzte ihn auf ihre Hüfte und stieß dabei mit einem Mann zusammen, der eine Tasse mit heißem Kaffee trug. Mit angehaltenem Atem sah ich zu. Der Mann schrak zurück und wich geschickt aus. Die Mutter schenkte ihm keinerlei Beachtung. Sie rauschte aus dem Lokal, der Abend war für sie und ihren kleinen Freund vorüber. Während ich die Szene beobachtete, nahm ich Augenkontakt mit dem Mann auf, der die Tasse mit dem kochend heißen Kaffee hielt. Er schüttelte empört den Kopf, und als die Mutter ihm den Rücken kehrte, murmelte er ärgerlich: »Der Knirps gehört ins Bett.« Und ich muß zugeben, daß ich es ihm gut nachfühlen konnte. Diesem Kind wurde viel zu viel Freiheit und Autonomie eingeräumt, und zwar in einer Umgebung, wo es -226-
völlig unpassend, wenn nicht sogar gefährlich war, den Leuten zwischen den Beinen herumzurennen, zu treten und mit den Armen zu fuchteln (was bei Kindern völlig normal ist). Gleichzeitig fühlte ich mich schuldig, weil ich der Mutter die »Schuld« gab. Da ich nichts über ihre Lebensumstände wußte, spielte ich verschiedene Gedanken durch: »Vielleicht hat sie keinen Babysitter, und das ist für sie die einzige Möglichkeit, einmal auszugehen. Vielleicht macht sie Schichtarbeit, so daß sie nur spätabends mit ihrem Kind ausgehen kann. Wenn ich an die Generation meiner Eltern denke, ist es doch nett, daß er seine Spontaneität ausleben und in einem Cafe seinen Spaß haben kann. Was für ein Abenteuer wäre das für mich gewesen, wenn ich das als Kind hätte tun dürfen.« Aber dann fiel mir wieder ein, daß der heiße Kaffee beinahe verschüttet worden wäre und wie ärgerlich der Mann ausgesehen hatte und daß ich selbst hierhergekommen war, um spätabends die Welt der Kinder einmal hinter mir zu lassen. Ich dachte darüber nach, daß die Mutter dem Kind alles hatte durchgehen lassen, bis es wirklich Zeit zu gehen war. Obwohl sie dann doch eine endgültige Grenze hatte setzen können, fragte ich mich, ob sie ebenfalls um Liebe schacherte. An meiner intensiven Reaktion erkannte ich, wie verwirrend das Schachern um Liebe nicht nur für mich, sondern auch für andere sein mußte. Ich kam zu dem Schluß: Es ist gut, daß wir in der Erwachsenenwelt mehr Raum für unsere Kinder geschaffen haben, als es in meiner Kindheit der Fall war, daß wir aber zu weit gehen, wenn wir ihnen völlige Freiheit geben, die Szene zu beherrschen. Für unsere Kinder ist es nur eine Last, wenn wir soviel für ihre Liebe geben und so sehr fürchten, sie zu verlieren. Eltern geben ihren Kindern Autonomie und Respekt, tun dabei aber des Guten zuviel. Eine Familie suchte meine Hilfe, weil ihre zehnjährige Tochter Ashley unter Trennungsangst litt und nur in der Schule ohne ihre Eltern auskam. Zuvor war sie -227-
mit Trennungen gut zurechtgekommen. Die Eltern waren seit über einem Jahr nicht mehr ohne ihr Kind ausgegangen. Nun waren sie mit ihrer Weisheit am Ende, aber sie wollten Ashley nicht zu etwas drängen, das ein Trauma auslösen konnte. Tatsächlich fing sie immer an zu weinen und zu schreien, wenn die Eltern versuchten wegzugehen, selbst wenn ihre Großeltern da waren, bei denen sie früher immer gern geblieben war. Außerdem ließ sie es kaum zu, daß die Eltern miteinander redeten, sondern drängte sich buchstäblich dazwischen. Als ich mit Ashley sprach, schwankte sie zwischen altklugem Selbstbewußtsein und Blasiertheit, regressiven Ängsten und Weinerlichkeit hin und her. Ich nahm sie ernst, wenn sie mir erzählte, wie sehr sie sich fürchtete, wenn Mutter oder Vater nicht bei ihr waren, aber ich bemerkte auch ihren Widerstand, als ich andeutete, es sei möglich, ihr zu helfen, damit sie die Zeit ohne ihre Eltern wieder genießen könne. Ashleys Eltern hatten mir berichtet, daß die Familie ein Jahr in Asien verbracht hatte und die Eltern während dieser Zeit ihre Tochter, außer wenn sie zur Schule ging, nie allein gelassen hatten. Erst nach der Rückkehr stellten sich bei Ashley die Symptome ein. Vor der Reise hatte sie eine gesunde Entwicklung zur Selbständigkeit durchgemacht. Ich besprach mit Ashley, warum sie solche Angst hatte, ihre Eltern gehen zu lassen, und nannte ihr verschiedene Möglichkeiten: die Furcht, das Haus könnte abbrennen; die Angst, älter zu werden und in die Pubertät zu kommen; Sorgen um die Beziehung der Eltern. Jedesmal schüttelte sie entschieden den Kopf und erklärte, daß es das nicht war. Dann deutete ich an, es sei vielleicht unangenehm, auf etwas Schönes zu verzichten - die grenzenlose Aufmerksamkeit ihrer Eltern während des Aufenthalts im Ausland. Sofort nickte Ashley zustimmend. Allmählich ahnte ich, was in dieser Familie gespielt wurde. Ashley war in ihrer Entwicklung gebremst worden, weil die -228-
Eltern sie ein Jahr lang verhätschelt hatten. Nun mußten sie dafür bezahlen: Sie standen unter der Fuchtel ihrer Tochter und durften sich nie weiter als einen Steinwurf entfernen. Ashley wußte, daß sie sich vor der Schule nicht drücken konnte, daß aber die übrige Zeit freier gestaltet werden konnte. Da hier um Liebe geschachert wurde, brachte Ashley ihre Eltern dazu, bei ihr zu bleiben. Die Eltern fürchteten, ihrem Kind sonst zu schaden, und wollten es lieber nicht riskieren, daß Ashley wütend auf sie wurde, wenn sie sie allein ließen. Es bedurfte meiner therapeutischen Unterstützung, damit Trennungen allmählich wieder eingeführt wurden. Ich empfahl verschiedene Hilfsmittel, die Ashley die Trennung erleichterten (Anrufe, um nachzufragen, ob daheim alles in Ordnung war, und »Übergangsobjekte«, zum Beispiel trostspendende Zettel von ihren Eltern, auf denen stand, wie sehr sie sie liebten). Die Eltern machten außerdem deutlich, daß sie ihrer Tochter zutrauten, mit kurzen Trennungen zurechtzukommen. Sowohl Ashley als auch ihre Eltern schacherten um Liebe, und die Eltern hörten so aufmerksam hin, wenn sie sagte »Ich kann nicht, ich habe Angst«, daß sie dem Kind zwar seinen unmittelbaren Wunsch erfüllten, ihm aber die Möglichkeit nahmen, die Aufgaben zu erledigen, die im Alter von etwa 10 Jahren anstehen. Dazu gehören auch kürzere oder längere Trennungen von der Familie und vom Elternhaus. Paradoxerweise behinderten Ashleys Eltern ihr Kind, gerade weil sie seine Autonomie zu respektieren versuchten. Anders ausgedrückt, das Kind, das um Liebe schachert, läuft Gefahr, das Syndrom der »falschen Unabhängigkeit« zu entwickeln. Kinder bauen sich gern ein Haus und spielen Erwachsensein, aber das ist nur ein Spiel. Wenn wir solche Spiele zu ernst nehmen, setzen wir unsere Kinder ans Steuer, bevor sie reif dafür sind. Wir glauben zwar, daß wir unseren Kindern etwas Gutes tun, wenn wir auf ihre Wünsche und Forderungen eingehen, aber tatsächlich überfordern wir sie, -229-
wenn wir Unabhängigkeit von ihnen erwarten. Wenn wir die Kinder auf eine Ebene mit uns stellen und uns alle Mühe geben, ihre Individualität anzuerkennen und zu beweisen, daß wir nicht gegen sie sind, ist die Folge, daß wir ihnen ihre Kindheit nehmen. Wenn wir statt dessen genauer erforschen, was sie uns unterschwellig mitteilen und was sie tatsächlich von uns brauchen, dann erfahren wir, daß sie darum bitten, einfach nur kleine Kinder sein zu dürfen. Und als Kinder wollen sie sich darauf verlassen, daß die Älteren vernünftige Anforderungen an sie stellen, die sie im richtigen Tempo und nicht zu schnell voranbringen. Im Extremfall kann ein Kind unter dem Druck zusammenbrechen, der von den beiden Grundsätzen des Schacherns um Liebe ausgeht. Eine Kollegin von mir wurde gebeten, ein psychologisches Gutachten über einen Teenager abzugeben. Das Mädchen hatte plötzlich angekündigt, es wolle nicht mehr zur Schule gehen, und war bereits zwei Wochen lang zu Hause geblieben. Meine Kollegin zog mich zu Rate. Ich regte an, sie solle die Eltern fragen, warum sie dem Mädchen erlaubt hatten, daheim zu bleiben. Meine Kollegin folgte meinem Vorschlag und rief mich dann an, um mir Bericht zu erstatten. Zuerst hatten die Eltern sie vollkommen schockiert und verwirrt angesehen. Dann hatten sie ihr unumwunden erklärt: »Sie trifft alle Entscheidungen selbst. Seit sie zwei Jahre alt ist, haben wir keine Entscheidung mehr für sie getroffen, und selbst damals waren wir nicht sicher, ob es richtig ist, ihr etwas vorzuschreiben.« Von dem jungen Mädchen hörte meine Kollegin zu dem Thema folgendes: »Mein ganzes Leben lang habe ich in meiner Familie das Gefühl, daß ich Tag für Tag eine Maske trage. Jeden Abend komme ich mit meiner Maske vor dem Gesicht nach Hause.«" Wie sollte es sich im Einklang mit sich selbst fühlen, wenn seine Eltern nicht einmal einsahen, daß es noch ein Kind war, das Hilfe und Führung brauchte, und keine kleine -230-
Erwachsene, die über ihr Leben selbst entscheiden kann? Die wohlmeinenden, aber verwirrten Eltern wollten ihre Sache gut machen, indem sie die Autonomie des Mädchens achteten und ihm Freiheit einräumten. Sie schacherten um Liebe und hofften, damit die Bindung zu stärken, doch statt dessen stellte sich in der Adoleszenz eine schwere psychische Krise ein. Dem Mädchen war das Gefühl für Echtheit genommen worden; statt dessen empfand es das Leben mit den Eltern als eine einzige Farce. All das hätte sich vermeiden lassen, wenn seine Eltern schlicht und einfach Entscheidungen für das Mädchen getroffen hätten, bis es bereit war, selbst zu bestimmen. Dabei wäre darauf zu achten gewesen, daß ein gutes Gleichgewicht zwischen Autonomie und elterlichen Anweisungen herrschte, das dem jeweiligen Alter des heranwachsenden Kindes angepaßt war. Eine andere Kollegin kam mit einer ganz ähnlichen Geschichte in meine Kinderberatungsgruppe. Sie arbeitet mit einem zwölfjährigen Mädchen, das unter Trennungsangst leidet und sich weigert, zur Schule zu gehen. Die Eltern sind geschieden. Der Vater sperrt sich dagegen, seiner Tochter Anweisungen zu geben: »Das ist nicht mein Stil. Ich sage nie jemandem, was er tun soll.« Die Tochter darf entscheiden, ob sie etwas mit ihrem Vater unternimmt oder nicht, ob sie in ihrer derzeitigen Schule bleibt oder nicht, ob sie zur Therapie kommt oder nicht. Als die Therapeutin dem Vater empfiehlt, daß die Erwachsenen und nicht die Kinder die Termine festlegen sollten, stimmt er widerstrebend zu, erklärt dann aber, er wolle seinem Kind nichts aufzwingen. Meine Kollegin schildert Jeanette, die zwölfjährige Patientin, als »unechte kleine Erwachsene«. Sie berichtet, daß der Vater, der sich als »netter Kerl« geben will, seine beiden Kinder als kleine Erwachsene bezeichnet und nicht als Kinder, die Regeln und Führung brauchen. Als Reaktion darauf ist Jeanette herrisch und anspruchsvoll geworden und erwartet, daß sich alles um ihre Bedürfnisse und Wünsche dreht. Meine Kollegin schätzt sie -231-
so ein: »Jeanette ist das Kind, das nach außen hin eine kleine Erwachsene darstellt, innerlich aber orientierungslos ist.«12 Ihre Arbeit bestand darin, den Vater dazu zu bringen, seinem Kind gern etwas aufzuzwingen. Er mußte sich klarmachen, daß Nettigkeit nicht immer Trumpf ist, wenn es darum geht, ein Kind aufzuziehen, das sich gesund und sicher fühlt. Wenn das gelingt, kann meine Kollegin diesem Mädchen helfen, innerlich wie äußerlich robust zu werden, so daß sie sich nicht nur selbst behaupten kann, sondern auch die Fähigkeit entwickelt, anderen mit Rücksicht und Anteilnahme zu begegnen. Die Therapeutin sollte den Vater davon abbringen, um Liebe zu schachern, damit er ein gesünderes, ausgewogeneres Verhältnis zu seinen Kindern aufbaut. Da wir uns fortwährend abmühen, unsere Kinder zufriedenzustellen, nehmen wir ihnen oft die Möglichkeit, für sich selbst und für andere Verantwortung zu übernehmen. Aber gleichzeitig müssen sie übergroße Verantwortung tragen, weil wir ihnen so großen Respekt erweisen und ihnen so viele Zugeständnisse machen. Die Freiheiten, die wir unseren Kindern einräumen, wenn wir um Liebe schachern, zwingen sie zur Anpassung und zu einem verantwortungsvollen Verhalten, das sie auf ihrem Entwicklungsstand überfordert. Wenn Kinder in der Familie ein gleiches Stimmrecht erhalten, müssen sie lernen, Entscheidungen zu treffen, bevor sie geistig dazu in der Lage sind, und wenn sie alles selbst entscheiden dürfen, werden sie oft gezwungen, mit größter Wachsamkeit ihr eigenes Wohlergehen und ihre Interessen zu schützen - und zwar in einer Zeit, in der am besten die Eltern diese Aufgabe übernähmen.
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8 Kleine Erwachsene
Ungeachtet des Lärms um die neuen elektronischen Lernmedien und ungeachtet der anzüglichen Anzeigen, die jugendliche Sexualität ausbeuten, erleben Kinder das Leben anders als wir. Erwachsene mögen sich Kindern aufdrängen, aber Kinder leben dennoch in ihrer eigenen Welt mit ihren eigenen Wertvorstellungen... sie verdienen es, daß wir ihnen nach ihren Bedingungen zuhören und nicht nach den unseren. »For the Sake of the Children«, The New York Times Magazine, Sonderausgabe1 Bis jetzt haben wir die Herausforderung der Kindererziehung vom Standpunkt der Eltern betrachtet und sind nur kurz auf die Auswirkungen eines gefährlichen Erziehungsstils auf das Kind eingegangen. Wer sind die Kinder dieser Mütter und Väter, die zuviel tun, um auszugleichen, daß sie zuwenig tun? Was wird aus ihnen, wenn sie erwachsen werden? Es ist Zeit, das Leben aus ihrer Perspektive zu betrachten. Im Lauf der letzten zehn Jahre ist die Sorge der Eltern gewachsen, daß die Kinder heutzutage um ihre Kindheit gebracht werden. Eine Mutter beklagt den Lolita-Look unter den Mädchen: »Ich möchte ja nicht, daß sie für immer ein kleines Mädchen bleibt. Es wäre nur schön, wenn sie in ihrer Kindheit ein Kind wäre. Statt dessen ist sie einer wahnhaften Aufwertung von Körper und Schönheit ausgesetzt, die unsere ganze Kultur prägt. Die Folge ist eine heimtückische Form des vorzeitigen sexuellen Erwachens, die unseren Kindern die Jugend nimmt.«2 Man glaubt, daß den Kindern, die herausgeputzt umherstolzieren, die allein zu Hause bleiben oder dauerndem -233-
Leistungsstreß ausgesetzt sind, die Kindheit verkürzt oder ganz genommen wird. Wie merkwürdig, daß ausgerechnet die PeterPan-Generation, die sich ihre Jugend bewahren möchte, Kinder hervorgebracht haben soll, denen ihre Jugend verweigert wird. Oder ist diese Sicht falsch? 1993 erschien im New York Times Magazine eine Titelgeschichte mit der Überschrift »Kleine große Leute«. Um deutlich zu machen, was gemeint war, zeigt das Titelfoto drei Kinder - den jungen leitenden Angestellten, die kindliche Femme fatale und den kleinen Sportsfreund mit seinem Gameboy. Der Untertitel lautet: »Kleine große Leute / Sie sind frühreif, wachsen uns über den Kopf, und ihre reichen Eltern haben sich das selbst zuzuschreiben.« Die Verfasserin des Artikels, Lucinda Franks, erklärt: »Die unter Zwölfjährigen von heute, insbesondere aus Familien mit mittleren und höheren Einkommen in den amerikanischen Städten, haben offenbar die Kindheit, wie wir sie kannten, neu erfunden oder ganz übersprungen... Sie sind stolz, selbständig und willensstark; sie sind weltklug und besitzen moralischen Ernst. Diese Generation wurde dazu erzogen, Autorität in Frage zu stellen, sie glaubt nicht alles unbesehen - kurz, sie betritt die Welt der Erwachsenen, lange bevor sie erwachsen ist.«3 In zwei Punkten ist diese Darstellung der heutigen Kinder unzutreffend. Erstens haben nicht die Kinder die Kindheit neu erfunden. Sie sind nur das Produkt der Gesellschaft, die ihnen die Rahmenbedingungen der Kindheit vorgibt. Nicht die Kinder, sondern die Textilindustrie ist für das Design kindlicher Femmefatale-Kleidung verantwortlich, und nicht die Kinder, sondern ihre Eltern legen das Geld für solche Einkäufe hin. Zweitens wird hier nur eine Seite der Medaille betrachtet. Ja, die Kinder von heute werden wie kleine Erwachsene behandelt, aber gleichzeitig sieht man sie als Engelchen, die den Verpflichtungen der Erwachsenenwelt, ja sogar der traditionellen Kindheit völlig enthoben sind. Sie haben eine -234-
Kindheit, sie ist nur anders als die, die wir erlebt haben. Die Kindheit wird als ambivalent erlebt. Wie die Mütter und Väter, die ihre Kinder tagsüber drillen und abends nach Strich und Faden verwöhnen, führen auch die Kinder eine gespaltene Existenz - tagsüber sind sie unabhängige Superstars, abends verhätschelte Engelchen. Meine Kinder sind inzwischen erwachsen und aus dem Elternhaus ausgezogen, mein Jüngster studiert am College. Jetzt habe ich Zeit zum Nachdenken und kann aus einigem Abstand ihre Kindheit im Licht der Fragen betrachten, die ich in diesem Buch behandle. Die beiden Kinder, die ich aufgezogen habe zeigten oder zeigen sie Symptome des Kind-Erwachsenen, der halb Engel, halb kleiner Erwachsener ist? Dazu fallen mir zwei Begebenheiten ein. Die 12jährige Rebecca wird von ihren Großeltern in ein feines Hotelrestaurant zum Essen eingeladen. Sie kommt aus ihrem Zimmer, stolziert die Treppe hinunter, strahlend schön, in ihren ersten hochhackigen Schuhen und ihrem eleganten »Ausgehkleid«. Die hübschen Rundungen der frühen Jugend zeichnen sich ab, sie hat zum ersten Mal Makeup ausprobiert. Im Arm hält sie ihren Teddybären. Der 16jährige Jesse reist auf eigene Faust von Kalifornien nach Kenia, um den Sommer über an einem Hilfsprojekt teilzunehmen. Dort lebt er in einem kleinen Dorf allein in einem Haus mit Gleichgesinnten und hilft beim Bau einer Schule für die Dorfkinder. Zwei Jahre später ruft er uns vom College aus per Ferngespräch an, weil er nicht weiß, wie man über die Auskunft eine Telefonnummer herausbekommt. Im Grunde sind wir für ihn nach wie vor die Auskunft. Kann das wahr sein? Durch seine Reisen hat Jesse in jungen Jahren viel gelernt, was man zum Selbständigsein braucht. Aber zu Hause waren sein Vater und ich nur allzu gern bereit, ihn für die Zeit, die wir außer Haus verbrachten, zu entschädigen und ihm etwas von seiner Last abzunehmen. So kam es, daß er die -235-
Fähigkeiten, die ein Erwachsener braucht, sehr ungleichmäßig mitbekommen hat. Folglich ist Jesse jetzt ein kompetenter und weitgereister junger Mann, und gelegentlich benimmt er sich wie ein kleines Kind, das Hilfe braucht. Wir alle halten den Atem an und fragen uns, ob unsere Söhne und Töchter ihre Kindheit unbeschadet überstehen. Unsere Generation macht sich unaufhörlich Sorgen. Wenn meine Erfahrungen mit meinen eigenen Kindern andere Eltern beruhigen können, möchte ich gern davon erzählen. Obwohl meine Kinder deutliche Symptome des Kind-Erwachsenen zeigten, sind sie anständige Menschen geworden. Sie sind gescheit, mitfühlend, selbstbewußt und finden das Leben schön. Sie streben klare Ziel an, haben in ihrem Leben schon viele kulturell bereichernde Erfahrungen gemacht und wollen die Welt mitgestalten. Sie fühlen sich in der Familie geachtet und haben ein Mitspracherecht. Uns begegnen sie mit großer Liebe und Respekt. Und das, obwohl ihre Eltern der WoodstockGeneration entstammen und sich ebenso zwiespältig und schuldig fühlten wie die anderen Familien, von denen dieses Buch handelt. Zweifellos gab es auf dem Weg zum Erwachsenwerden auch Stolpersteine. Sind meine Kinder die Ausnahme und nicht die Regel? Gewiß möchte ich meine Kinder gern als etwas Besonderes sehen, aber in vieler Hinsicht sind sie auch typisch. Wenn ich beobachte, wie sie und ihre Freunde ihr Leben anpacken, möchte ich es unserer Generation hoch anrechnen, daß wir bei unseren Kindern auch etwas richtig gemacht haben. Unsere Anstrengungen, die Generationsschranken niederzureißen, unseren Kindern emotional aufgeschlossener gegenüberzutreten und ihren Wert als lebendige Wesen in der Welt anzuerkennen, haben Früchte getragen. Unsere Kinder sind wißbegierig, einfallsreich, selbstsicher, und sie finden sich in der Welt zurecht. Kinder dieser Generation, die gemerkt haben, daß man ihnen etwas zutraut -236-
und einen geachteten Platz in der Gesellschaft zubilligt, haben wunderbare Dinge zustande gebracht. Zum Beispiel haben 400 Kinder zwischen 8 und 18 Jahren eine Nachrichtensendung fürs Fernsehen entwickelt, das »Children's Express News Magazine«. Darin werden sehr brisante Themen wie Standards in psychiatrischen Kliniken für Jugendliche, politische Kampagnen, Auslandsschulden und Abtreibungsgesetze behandelt. Sie brachten eine Zeitschrift heraus, und ihre Kolumne erschien in mehreren Tageszeitungen, und sie haben einen Sammelband mit ihren besten Artikeln zusammengestellt.4 Daß der Status von Kindern gehoben wurde, hat sich gewiß positiv ausgewirkt. Gleichzeitig entstehen dadurch auch Probleme. Viele Kinder, die in meine Praxis kommen, brechen unter der Belastung zusammen, mit 10 Jahren schon erwachsen sein zu müssen. Andere wirken wie Teile eines Puzzles, das sich nicht zusammenfügt. Insbesondere denke ich an eine 14jährige, die von ihrer alleinerziehenden Mutter zu mir geschickt wurde, weil sie immer wieder alle Regeln in der Familie brach und, wenn ihre Mutter nicht da war, wilde Partys feierte. Dennoch kroch sie Nacht für Nacht gern ins Bett ihrer Mutter. Das Mädchen saß mit gekreuzten Beinen auf dem Fußboden meiner Praxis; sie trug einen Büstenhalter und ein tief ausgeschnittenes T-Shirt und spielte in vollem Ernst ein Angelspiel für Kinder »ab vier«: Femme fatale und Vierjährige in einer Person. Die Kind-Erwachsenen sind nicht in ernster Gefahr, aber sie tragen viele Risiken und sind schweren psychischen Belastungen ausgesetzt, die sich von denen unterscheiden, mit denen Kinder in den vierziger, fünfziger und frühen sechziger Jahren konfrontiert waren. In ihren jungen Jahren begegnen sie vielen Widersprüchen. Ein ganzer Markt ist entstanden, um ihre besonderen Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen, aber in der Schule stellen sie fest, daß ein weiteres Lehrplanangebot gestrichen wurde, weil für Bildung kein Geld mehr vorhanden -237-
ist. Ihre Eltern hetzen sich ab, um den Tagesablauf zu bewältigen, bringen es aber fertig, ihre Kinder übereifrig und voller Sorge zu beobachten. Wie meine Tochter vor ein paar Jahren sagte: »Du hast einfach keine Ahnung, was es heißt, heutzutage ein Kind zu sein.« Da wir jetzt über die Pendelbewegungen in der Erziehung und unsere gespaltene Vorstellung der Kindheit Bescheid wissen, können wir vielleicht etwas dazulernen. Begegnung mit einer Kind-Erwachsenen Die siebenjährige Gwendolyn wurde von ihren Eltern zu mir gebracht, weil sie zu Hause Verhaltensprobleme zeigte und in der Schule mit Gleichaltrigen nicht zurechtkam. Ihre Eltern hatten sich scheiden lassen, als sie noch recht klein war. Wenn sie ihren Willen nicht durchsetzen konnte, wurde sie auf andere Kinder wütend. Genauso verhielt sie sich bei ihren Eltern, besonders bei der Mutter. Als ich Gwendolyn kennenlernte, beeindruckten mich insbesondere zwei Dinge, die ich damals festhielt; zum einen: »Gwendolyn ist ein trauriges, kleines Mädchen, sie fühlt sich älter, als sie ist, ist sehr gescheit, hat ein großes, nachdenkliches, grüblerisches Gesicht. Aber gleichzeitig scheint sie manches durcheinanderzubringen, zum Beispiel, wenn sie mir mit großer Selbstsicherheit erzählt, sie werde täglich mit dem Bus zu einer Schule an der Grenze von Nevada fahren, falls ihr Vater nach Utah zieht, damit sie näher bei ihm ist.« Nach einiger Zeit imponierten mir ihr Fleiß und ihr Können, und so schrieb ich als zweiten Eindruck auf: »Gwendolyn ist sehr fleißig. Sie ist motiviert und zielgerichtet. Sie zeichnet mit sicherer Hand. Das ist ein Mädchen, das ›es weit bringt‹. Sie greift ohne Scheu in eine Schublade und wählt selbständig bunte Filzstifte aus. Sie kann sich hervorragend konzentrieren und läßt sich kaum ablenken.« -238-
Dann sah ich mir das Bild an, das sie gezeichnet hatte, ein Selbstporträt. Gwendolyn hatte ein überaus merkwürdiges Selbstbildnis geschaffen. Die Figur war extrem kopflastig, ein festumrissener, bunt ausgemalter Kopf und Oberkörper, doch von der Taille abwärts nur noch schwache Bleistiftstriche. Gwendolyns Gefühle sind ebenso stark wie ihr Intellekt. Aber hinsichtlich Bewegungsfähigkeit, Körperlichkeit und Spontaneität, symbolisiert durch die untere Hälfte, wirkt sie eher niedergedrückt, hilflos und kindlich. In ihrer Zeichnung sah ich die perfekte Darstellung einer Kind-Erwachsenen, die halb kleine Erwachsene, halb Baby ist. Im weiteren Kontakt mit Gwendolyn sah ich meine Wahrnehmung bestätigt. Ihr Vater erklärt mir, daß er Gwendolyn sagt, sie solle nicht weinen; das sei nur eine Form der Manipulation. Ihre Mutter möchte offenbar, daß Gwendolyn soviel wie möglich leistet, und besteht darauf, daß ihre Tochter weiterhin Klavierstunden nimmt, obwohl das Kind lieber aufhören möchte. Gleichzeitig darf Gwendolyn daheim oft den Ton angeben, und es werden ihr kaum Grenzen gesetzt. Den Eltern erkläre ich, daß Gwendolyn nach meiner Einschätzung ein Kind ist, das einerseits bis an die Grenzen seiner emotionalen und kognitiven Fähigkeiten gefordert und andererseits unnötig verhätschelt wird. Deshalb benimmt sie sich im Lauf des Tages abwechselnd wie eine Zwei- und wie eine Zwanzigjährige. Der Vater meint, die Mutter, die die Hauptlast der Erziehung trägt, lasse nicht locker und wolle das vollkommene Kind. Die Mutter hat hingegen keineswegs den Eindruck, daß sie Gwendolyn unter Druck setzt. Sie schildert das Leben mit ihrer Tochter so: »Ich sehe meine Lebensaufgabe darin, diesem Kind Freude zu machen. Ich kenne niemanden, der so viele Feste besucht wie sie.« Und Gwendolyn reagiert auf all das, indem sie sich wie ein Kleinkind benimmt, Wutanfälle bekommt und ihre Mutter anfährt: »Ich muß überhaupt nicht machen, was du sagst.« -239-
Aber über ihr eigenes Leben hat Gwendolyn viel zu sagen (Hervorhebung von mir): »Wenn sich meine Mama nicht zu sehr auf sich konzentriert, konzentriert sie sich zu sehr auf mich! Manchmal fühle ich mich wie eine Prinzessin, die für nichts verantwortlich ist, und manchmal muß ich mich um alles kümmern.« Gwendolyn hat außerdem das Gefühl, das Leben würde besser funktionieren, wenn sie und ihre Mutter gleichberechtigt wären. Diese Idee der Gleichheit hat Gwendolyn nicht aus der Luft gegriffen. Sie und ihre Mutter haben Umgangsregeln, wie zum Beispiel, einander nicht ins Wort zu fallen. Wenn eine von ihnen die Regel bricht, darf die andere eine Vorwarnung geben und, wenn die Warnung nicht beachtet wird, eine Strafe verhängen. Gwendolyn erzählt mir, sie habe versucht, die Mutter mit dem Verbot zu bestrafen, mehrere Abende lang keine Süßigkeiten zu essen, weil sie diese Regel verletzt hatte. Doch die Mutter habe gejammert: »Das ist nicht fair. Du hast keine Vorwarnung gegeben.« Als ich für Gwendolyn die Sache so interpretiere, daß es für ein kleines Mädchen eine schwere Last sein kann, wenn sie Mutter spielen und Strafen austeilen muß, während sie doch etwas anderes tun könnte, erwidert sie empört: »Aber das ist die einzige Möglichkeit, wie ich für Gleichheit sorgen und meine Mama bremsen kann.« Diese falsche Vorstellung von Gleichheit kennzeichnet Gwendolyn als die typische Kind-Erwachsene in einer modernen Familie. Das wird noch deutlicher, wenn Gwendolyn schildert, wie sie und ihre Mutter immer wieder in Streit geraten. Gwendolyn macht es mir vor: Zunächst herrscht Gleichheit - Mama und Gwendolyn sind auf derselben Ebene (Hände flach nebeneinander). Dann konzentriert sich Mama stärker auf Gwendolyn als auf sich selbst, und die Lage verschiebt sich (die Hand, die für Mama steht, erhebt sich hoch über die Hand, die für Gwendolyn steht). Dann kommt es zur Krise, und Gwendolyn »verliert die Beherrschung«, weil ihre -240-
Mutter so hoch über ihr ist. Es verwirrt mich, daß Gwendolyn schildert, der Krach fange an, wenn ihre Mutter »zu nett« sei. Ich frage, was sie damit meine. Gwendolyn versucht, es mir zu erklären. Das letzte Mal sei sie »in die Luft gegangen«, weil die Mutter in der Umkleidekabine bei Macy's ein »Getue« um die Kleider machte, die Gwendolyn anprobierte. Für Gwendolyn hieß das, die Mutter hörte auf, sie als gleichberechtigt zu behandeln, und ging mit ihr um wie mit einem Baby. Schließlich war Gwendolyn in der Umkleidekabine explodiert, weil sie das »Getue« ihrer Mutter nicht mehr aushielt. Wenn Gwendolyn in Rage kommt, zwickt sie ihre Mutter oder sie tut etwas, das sie »Zehenklopfen« nennt, ein beschönigender Ausdruck dafür, daß sie ihrer Mutter einen Fußtritt gibt. Sie glaubt, das sei gerechtfertigt, um ihre Mutter zu bremsen, obwohl sie sich danach nicht gut fühlt. Gwendolyn beklagt sich, daß ihre Mutter noch auf andere Weise die Gleichheit störe, nämlich wenn sie sich auf die Ebene eines kleinen Kindes begebe und mit Gwendolyn herumalbere, wie eine Achtjährige es tun würde (ironischerweise könnte so tatsächlich Gleichheit entstehen, weil Gwendolyn zur Zeit genau acht ist). In derselben Sitzung, in der sich Gwendolyn über die Aufhebung der Gleichheit zwischen Mutter und Tochter beschwert, schildert sie ihre Sorgen in der Schule sie hat keine Freundin und überlegt, ob die anderen Kinder sie überhaupt mögen. Gwendolyn, die Kind-Erwachsene, verwandelt sich von der kleinen Erwachsenen, die glaubt, Erwachsene und Kinder sollten gleiche Rechte haben, in eine Zweijährige und bekommt wilde Wutanfälle - das macht ihr Spaß, und sie kann den Druck ablassen, der auf ihr lastet -, und danach wird sie wieder zur kleinen Erwachsenen. Die Achtjährige, die mich selbständig anruft, um einen Termin zu vereinbaren, ist dasselbe Kind, das seine Mutter wütend anfährt. Sie ist ungemein klug für ihr Alter, -241-
und doch ist sie noch ein Baby. Als Kind, das eine Therapie braucht, steht sie vielleicht nicht stellvertretend für die meisten Kinder von heute. Wenn es ihren Eltern gelungen wäre, ein klares und stimmiges Bild von ihrer Tochter zu bekommen, wäre sie wohl nie in diesem Buch aufgetaucht. Aber ich glaube, daß ihre Geschichte, wenn auch in extremer Form, die Spannungen beleuchtet, die Kinder heute aushaken müssen, wenn sie zwischen den Polen der Kindheit pendeln, die wir für sie geschaffen haben - das Engelchen und der kleine Erwachsene. Das moderne Kind: Es schuftet selbständig und ist Prinz oder Prinzessin. Da die Zahl der Familien wächst, in denen tagsüber niemand zu Hause ist, wird viel Wert darauf gelegt, daß die Kinder Selbständigkeit entwickeln. In einschlägigen Berichten ist von Kindern unter dreizehn Jahren die Rede, die für ihre Familie einkaufen und kochen, selbständig Termine und Verabredungen ausmachen und sich ihre Kleidung selbst kaufen. Unter Fachleuten heißt diese neue Selbständigkeit nach der Schule »Selbstversorgung«.5 Da niemand für die Kinder sorgt, wenn sie versorgt werden sollten, müssen sie sich selbst helfen. In den Berichten wird jedoch meist die Tatsache unterschlagen, daß dieselben Kinder in der »zweiten Schicht«, wenn die Eltern nach einem anstrengenden Tag heimkommen, oft gar nichts mehr tun müssen. Wie Gwendolyn erklärt, verwandeln sich die selbständig Arbeitenden in Prinzen und Prinzessinnen. Diese Kinder erfahren in ihrem Leben drei wesentliche Konfliktbereiche, die sich aus ihrer Position als KindErwachsene ergeben: Sie ringen um ihr Identitätsgefühl; ihre Wünsche und Bedürfnisse geraten durcheinander oder verstummen; und ihr Gefühl der inneren Sicherheit wird durch widersprüchliche Forderungen und Schutzmaßnahmen in einer unsicheren Welt gefährdet.
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Die Überlagerung der Bilder und das wahre Selbst Wie ich bereits ausgeführt habe, ist das doppelte Bild vom Kind eine Möglichkeit, die heutige Kindheit zu verstehen: Das Bild des kleinen Erwachsenen überlagert das des Engelchens, so daß wir eine verschwommene Vorstellung von unseren Kindern haben. Das Gefühl der kindlichen Identität die Antwort auf die Frage »Wer bin ich?« - entsteht ursprünglich durch die Spiegelung seitens der Eltern: Wen sehen sie in ihrem Kind? Ist ihr Nachwuchs das Urbild eines Erwachsenen oder einfach ein kleines Kind? Wenn sich die Erwachsenen darüber nicht klar sind, dann sind es die Kinder gewiß auch nicht. Die Bildung der Identität beginnt mit der Geburt, wenn festgestellt wird, ob ein Baby männlich oder weiblich ist, wenn es einen Namen erhält und in die Kultur einer bestimmten Familie oder Lebensgemeinschaft eintritt. Weil das Kind die Erfahrungen mit der umgebenden Welt internalisiert und immer deutlicher seine eigenen inneren Mechanismen erkennt, entwickelt es das Gefühl eines einzigartigen Selbst, das sich von allen anderen unterscheidet. Dieser Vorgang läßt sich nicht beschleunigen und zieht sich durch das ganze Leben. Die Entwicklung der Identität ist während der Pubertät, wenn aus Kindern Erwachsene werden, besonders bedeutsam. In dieser Zeit erwarten andere und der Jugendliche selbst, daß er ein zuverlässiges Gefühl dafür entwickelt, wer er ist. Es wird die Kontinuität mit der bisherigen Identität gesucht, es kristallisiert sich aber auch heraus, wohin man geht und wer man als Erwachsener in der Welt sein wird. In der Zeit des Experimentierens, der Differenzierung und der Klärung sehen unsere Kinder oft aus, als wären sie desorientiert oder völlig weltfremd, während sie doch darauf hinarbeiten, ihren Platz in der Welt zu finden. Vanessa, ein frühreifes, wortgewandtes Kind von acht Jahren, -243-
kommt wutentbrannt in ihre Therapiesitzung. Ihre Mutter hat sie gebeten, im Haushalt mitzuhelfen. Vanessa brüllte sie an: »Ich mache das nur, wenn du alle meine Forderungen erfüllst.« »Wie kann es meine Mutter wagen, mich herumzukommandieren, als wäre ich ein Dienstmädchen!« entrüstet sich Vanessa. Ich frage, was passiert sei, nachdem sie ihrer Mutter ihre Bedingungen genannt hatte. Ihre Mutter sei einfach zornig geworden und habe ihr eine »Predigt« gehalten, erwidert Vanessa. Dann gab es einen verbalen Schlagabtausch. Schließlich fuhr Vanessa ihre Mutter an: »Du kannst mich nicht dazu zwingen, so oder so zu sein. Ich habe mich schon für einen bestimmten Weg entschieden. Ich ziehe mich an, wie es mir paßt, ich denke, wie es mir paßt, und überhaupt mache ich alles, wie es mir paßt.« Hier hatte ich es mit einem kleinen Mädchen zu tun, das vier bis fünf Jahre vor der Pubertät, also etwas verfrüht, die typische Identitätserklärung einer Jugendlichen abgab. Aber die Geschichte geht noch weiter. Mit fiebriger Stimme berichtet Vanessa, ihre Mutter habe sich daraufhin beruhigt und ihr erklärt, daß alle, die in der Familie zusammenleben, im Haushalt mithelfen müßten. Vanessa fiel keineswegs auf diesen Propagandatrick herein, sondern schrie ihre Mutter an: »Nein, das ist die Aufgabe der Mutter.« Sie beschwört mich, ihren Standpunkt zu verstehen und ihre Mutter daran zu hindern, so viel von ihr zu verlangen. Schließlich sei sie noch ein kleines Kind. Zwei Wochen später läßt sich Vanessa, an einem Müsliriegel kauend, in den Sessel vor meinem Schreibtisch plumpsen. Ganz munter erklärt sie mir, mit ihren acht Jahren sei sie alt genug, um übers Wochenende allein zu bleiben. Schließlich ist sie schon einmal für ein paar Stunden allein geblieben, ohne daß irgend etwas passierte. (Man kann nur vermuten, daß sie gerade den Kinohit Kevin allein zu Haus gesehen hat.) Mit Vanessa wird es nie langweilig. Einige Zeit später stürmt -244-
sie, erneut wutentbrannt, in mein Arbeitszimmer. In der Schule ärgern sie alle, und die Lehrerin unternimmt kaum etwas dagegen. Die Lehrerin sagt, Vanessa solle selbst damit fertig werden. Das ist absurd. Weiß denn die Lehrerin nicht, daß Vanessa nur ein kleines Mädchen ist, das von seinen Peinigern gnadenlos verfolgt wird (Vanessas Worte)? Ihre Lehrerin hat mir bereits mitgeteilt, daß sie von Vanessa erwartet, mehr Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen, da sie meint, Vanessa verlasse sich zu sehr darauf, daß Erwachsene ihr alles abnehmen. Aber nach Vanessas Ansicht ist die Lehrerin entweder verrückt oder sadistisch, wenn sie das Kind da draußen in der Wildnis allein läßt. Vanessa, das Mädchen mit der altklugen Ausdrucksweise, das Bücher für Erwachsene liest, seinen Weg selbst bestimmen und übers Wochenende allein bleiben will, ist auch ein Kind, dem es schwerfällt, die eigenen Impulse zu kontrollieren, das sich sehr oft einsam fühlt und von seiner Mutter mehr möchte, als es nach seinem Gefühl je bekommen kann. Vanessa hat sich auch angewöhnt, unglaubliche Geschichten zu erzählen, und behauptet, mehr zu wissen als ihre Lehrer. In einem Wutanfall kritzelt sie zu Hause unanständige Ausdrücke an den frisch gestrichenen begehbaren Wandschrank. Vanessa hat eine aufgeblasene Vorstellung von ihrer eigenen Macht und Entschlossenheit, gleichzeitig aber das Gefühl, ein einsames kleines Mädchen zu sein, das zwei imaginäre Gefährtinnen braucht: Die eine ist sehr brav, die andere sehr böse. Diese illusorischen Freundinnen leisten ihr Gesellschaft, erinnern sie aber auch an die beiden Teile ihrer selbst. Die eine Gefährtin ist sehr erwachsen, reif, hilfsbereit und kooperativ. Die andere grapscht alles an, hält sich an keinerlei Regeln und macht allen anderen das Leben zur Hölle. Gewiß können wir das als den archetypischen Kampf zwischen Gut und Böse verstehen, den jeder Mensch im Laufe seiner Entwicklung durchmacht. Aber für Vanessa wird damit auch die Spaltung -245-
und die mißlungene Integration der beiden Teile ihres Ich ausgedrückt - das altkluge vorpubertäre Mädchen und das tyrannische Kleinkind. Vanessa beschreibt uns ihr Bemühen, aus ihrem Leben als »Kind-Erwachsene« eine eigene Identität zu entwickeln. Ihre Geschichte ist sinnbildlich für die Identitätskrise der Kinder, die schleunigst groß werden sollen, dabei aber Kleinkinder bleiben dürfen. Als Jugendliche findet sie sich vielleicht unter Gleichaltrigen wieder, die unbeaufsichtigt Partys feiern dürfen, obwohl sie sehr genau wissen, daß Partys außer Kontrolle geraten können und dann niemand die Verantwortung übernimmt. Der 14jährige Josh, dem solche Erwachsenenfreiheiten eingeräumt werden, empfindet sich keineswegs als erwachsen. In der Schule liest die Klasse Romeo und Julia, und Josh bemerkt dazu: »Damals hat man von Kindern erwartet, daß sie mit 13 oder so erwachsen werden. Der Unterschied ist, daß Kinder heute nicht erwachsen werden müssen.«6 Man kann nicht behaupten, daß Josh seiner Kindheit beraubt wurde; aber er erkennt, daß sie deutlich länger dauert als die seiner Altersgenossen in früheren Jahrhunderten. Gleichzeitig hat er wesentlich mehr Freiheiten als seine Eltern in ihrer Schulzeit hatten, braucht aber keinerlei Verantwortung zu übernehmen. Wie wirkt sich das auf seine Identität aus? Sie wird gespalten: jung und weltklug auf der einen, hilflos und abhängig auf der anderen Seite. Dieses Spaltung der Identität beginnt früh und zieht sich lange hin. Das Problem des Kind-Erwachsenen ist nicht unbedingt die Entwicklung eines »falschen« Selbst, das nach außen unterwürfig und innen hohl ist, sondern eher die Entstehung einer doppelten Identität, die sich kaum in ein ganzheitliches Selbstbild integrieren läßt. Ein Selbstgefühl als kompetent, reif und selbständig existiert neben einem Selbstgefühl als unberechenbar, frei und vergnügungssüchtig. Beide können gleichermaßen real sein. Analog zum schwankenden Erziehungsstil der Eltern pendelt -246-
auch die Identität der Kinder zwischen zwei Extremen hin und her. Daß sich das Selbst erst herausbildet, wird in unserer Gesellschaft traditionell den Jugendlichen zugeschrieben. Man weiß, daß sie sich manchmal wie Zweijährige aufführen und im nächsten Augenblick wieder vernünftig und erwachsen erscheinen. Auf der Verhaltensebene sind diese Schwankungen Ausdruck der psychischen Unausgeglichenheit und der hormonellen Veränderungen bei Teenagern. Man geht davon aus, daß diese Schwankungen vorübergehen und gegen Ende der Pubertät abflauen. Innerhalb der heutigen Erziehungsstrukturen ist diese Herausbildung des Selbst nicht auf Jugendliche beschränkt. Nicht nur Teenager mit ihren hormonellen Schwankungen, sondern Kinder in jedem Alter und in allen Entwicklungsstufen sind davon betroffen. Die Herausbildung der Identität - bisher Übergangsstadium - könnte sich zum Dauerzustand entwickeln. Allerdings beobachten wir anstelle wilder pubertärer Schwankungen ein gedämpfteres Hin- und Herpendeln, das die gesamte Kindheit durchzieht. Die Identität setzt sich in der Regel aus mehreren, oft sogar scheinbar widersprüchlichen Aspekten zusammen. Diese Komplexität ist nur dann ein Problem, wenn die einzelnen Aspekte an der Schwelle zum Erwachsenwerden nicht miteinander in Einklang gebracht werden können oder wenn der junge Mensch ein ungutes inneres Ungleichgewicht empfindet. Mit unserem gefährlichen Erziehungsstil in einer von Leistungsdruck geprägten Welt sind wir dafür verantwortlich, daß unsere Kinder unter Unausgeglichenheit und Zersplitterung leiden. Dieses Gefühl der Zerrissenheit beschränkt sich jetzt nicht mehr nur auf die Pubertät, sondern reicht auch in die Kindheit und das Leben der jungen Erwachsenen hinein, als wären unsere Kinder in ihrem Selbstgefühl permanent in einem Übergangsstadium zwischen früher Kindheit und Reife gefangen. Diese Identitätskrise haben wir herbeigeführt, weil -247-
wir unser widersprüchliches Bild der Kindheit an unsere Kinder weitergeben und weil wir zu viel tun, um wiedergutzumachen, daß wir zu wenig da sind. Wenn du drei Wünsche frei hättest... Eine 13jährige schreibt über ihr Leben in den neunziger Jahren; im Vergleich dazu, wie sie eine Generation früher aufgewachsen wäre, sieht sie ihr Dasein positiv: »Ich habe wahrscheinlich mehr persönliche Freiheit, als ich vor vierzig Jahren gehabt hätte. Ich kann mehr Bücher lesen und mehr Filme sehen, als es damals möglich gewesen wäre... Als Mädchen habe ich viel mehr Freiheit. In der Schule muß ich keinen Rock tragen. Und Mädchen müssen keinen anderen Eingang benutzen als die Jungen und brauchen nicht mehr zimperlich zu sein... Auch in meinem Privatleben habe ich mehr Entscheidungsfreiheit - auch darüber, ob ich überhaupt heiraten und Kinder kriegen will.«7 Als Kind der neunziger Jahre verweist sie auf ihren gehobenen Status und ihre erweiterten Wahlmöglichkeiten. Bei einem solchen Zuwachs an Freiheit sollte man erwarten, daß die Kinder ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche besser wahrnehmen und entsprechend mehr Spaß haben, weil ihnen mehr Wahlmöglichkeiten offenstehen. Doch diese Vorstellung wird von einem Vierjährigen widerlegt: Seine Eltern sind sehr demokratisch eingestellt und unterstützen all das, was unsere 13jährige an ihrem freien Leben lobt, doch der kleine Daniel stürmt in meinen Therapieraum und brüllt: »Ich mag gar nichts in deinem Zimmer. Hier ist nichts, mit dem ich spielen will. Nein, du kannst mir nichts geben, mit dem ich spielen will, weil ich das alles nicht mag.« In der Kindertherapie wird beim ersten Gespräch dem Kind häufig die Frage gestellt: »Was würdest du dir wünschen, wenn -248-
du drei Wünsche frei hättest?« Mir ist aufgefallen, daß Kinder heute anders antworten als noch vor zehn Jahren. Früher hatten die Kinder Mühe, unter unzähligen Wünschen drei auszuwählen. Jetzt stellt sich eher das Problem, daß den Kindern nicht einmal mehr drei Wünsche einfallen. Manche Kinder antworten, sie hätten keine Wünsche. Andere sind einfach ratlos und sagen: »Mir fällt einfach nichts ein.« Daß sie sich nichts mehr ersehnen, liegt nicht nur daran, daß Kinder oft übersättigt und so viele ihrer materiellen und seelischen Bedürfnisse gestillt sind. Es ist auch ein Anzeichen dafür, daß die Gefühle, wenn es ums Wünschen geht, gedämpft, vermindert oder konfus sind. Wenn Kinder sich selbst gespalten wahrnehmen, fällt es ihnen schwer zu entscheiden, was sie tatsächlich wollen. Im Lauf ihrer Entwicklung kommt es immer wieder vor, daß sie wütend und gereizt reagieren, ihnen nichts recht ist und nichts die Lage bessern kann. Das kennen die Eltern nur zu gut. Wenn wir unsere Kinder in solchen Zeiten fragen, was sie wollen, können sie es uns nicht sagen, weil sie es selbst nicht wissen. Eine solche Mißstimmung tritt oft beim Übergang zwischen zwei Entwicklungsstufen auf. Die Kinder lassen ein Stadium hinter sich und treten in das nächste ein, wissen aber noch nicht, wie sie sich verhalten sollen. Umgangssprachlich bezeichnen wir dieses Phänomen als »Wachstumsschmerzen«. In einer solchen Übergangsphase verändert sich die Identität. Das Kind schwankt zwischen zwei Selbstgefühlen - zum Beispiel, wenn aus dem Kindergartenkind ein Schulkind wird. Vielleicht ist der Kind-Erwachsene permanent in einem Übergangsstadium gefangen. Kinder ringen unentwegt darum, in der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen festen Halt zu finden. Von frühester Kindheit an und bis zum Ende der Pubertät schwanken Kind-Erwachsene zwischen dem Zustand des Engelchens und dem des kleinen Erwachsenen. Hier führen vermehrte Freiheit und Wahlmöglichkeiten nicht dazu, daß Wünsche angeregt werden, vielmehr werden durch die -249-
permanenten (seelischen) »Wachstumsschmerzen« alle Wünsche erstickt, so daß dem Kind nicht einmal mehr drei Wünsche einfallen. Wunschgefühle kommen gar nicht auf, wenn um Liebe geschachert wird und feste Grenzen fehlen. Melissa Ludtke, die für eine Sonderausgabe der Time zu diesem Thema Kinder befragt hat, schildert die dabei gewonnenen Eindrücke: »Im Leben vieler Kinder von heute fehlt etwas. Sie suchen jemanden - Eltern, Lehrer, Geistliche -, der Grenzen setzt und für Disziplin sorgt. Ohne einen Widerstand, gegen den sie anrennen, finden sich Kinder offenbar nicht zurecht.«8 Für Kinder ist es kein Spaß, der Boß ihrer Eltern zu sein. Wenn wir ihnen keine Strukturen vorgeben, die ihnen helfen, ihre Impulse zu steuern, werden ihre Wunschgefühle entweder verpuffen, weil sie keine Richtung finden, oder in der chaotischen Entladung ungezügelter Energie explodieren, die auf nichts Bestimmtes zielt. Sarah ist zehn Jahre alt. Sie darf selbst bestimmen, wann sie ins Bett geht. Nach der Schule darf sie tun, was sie will. Sie berichtet mir, daß sie ihren Eltern freche Antworten gibt, wenn ihr danach ist. Das sei nur gerecht, weil sie sich angewöhnt hätten, auch mit ihr so zu reden. Ihr großes Problem ist, daß sie sich für nichts interessiert. Sie langweilt sich ständig, liegt oft einfach auf dem Bett und starrt an die Decke. Sie weint nicht viel, sie lacht nicht viel, sie läßt sich einfach treiben. Ihr kleiner Bruder heißt Dominick. Auch er hat ein Übermaß an Freiheit und ein Minimum an Verantwortung. Aber da er nie stillsitzt, weiß er gar nicht, was Langeweile ist. Er ist ein wahrer Wirbelwind und will stets wissen, welche aufregenden Dinge als nächstes passieren, und wenn sie dann passieren, sind sie nie aufregend genug. Dann macht er sich wieder hektisch auf die Suche nach dem nächsten Ereignis, das seine Wünsche befriedigen könnte, obwohl er nie genau zu sagen vermag, was er sich eigentlich wünscht. Sarah und Dominick gehören -250-
vielleicht bald einer Generation an, für die Freiheit bedeutet, daß man nichts mehr zu verlieren hat und daß durch Wünsche nichts zu gewinnen ist. Sich etwas zu wünschen heißt entweder, das Unbekannte zu beschwören, oder, auf etwas zu warten, das noch nicht da ist. Dafür braucht man Phantasie. Unsere Kinder leben wie in einem dahinrasenden Zug. Es bleibt ihnen kaum Zeit für die freie, geruhsame Erforschung ihrer inneren Gedanken und Erfahrungen. Die Phantasie wird unterdrückt, und mit ihr geht die Fähigkeit zu wünschen verloren - das heißt die Fähigkeit, sich in einen nicht realen Zustand zu versetzen. Das verhätschelte Kind in einer verrückten Welt Der elfjährige Robert erzählt mir aufgeregt von den Abenteuern seines Vaters, der in den sechziger Jahren allein per Anhalter durchs ganze Land fuhr. Er fragt mich über die Jugendkultur der sechziger Jahre aus, dann überlegt er einen kurzen Augenblick lang und meint schließlich: »Ich würde wirklich gern in den sechziger Jahren leben, allein schon wegen der Sicherheit, aber wegen der Technologie sind mir die Neunziger doch lieber.« Den Kindern von heute bleibt es nicht verborgen, daß die Eltern um die Sicherheit ihrer Kinder besorgt sind. Eine Mutter vergleicht die Situation ihrer vier Kinder mit ihrer eigenen Kindheit, als bis in den Abend draußen auf der Straße gespielt wurde: »Um der Sicherheit willen wandern Kinder heute von Hand zu Hand - von einem verantwortungsbewußten Erwachsenen zum anderen, von der Lehrerin zum Schülerlotsen und dann zum Babysitter, vom Fahrer der Fahrgemeinschaft zum Fußballtrainer, von der Kursleiterin beim Töpfern zum AupairMädchen -, wie wertvolle kleine Pakete werden sie von höflichen Mitarbeitern zugestellt und an der Tür gegen -251-
Unterschrift in Empfang genommen. Und wenn sie bei uns zu Hause sind, weichen sie uns nicht von der Seite, laufen an einer unsichtbaren Leine, werden verwöhnt wie Schoßhunde.«9 Die Kinder der Armen kennen solchen Luxus nicht, sondern werden in der Wohnung eingesperrt, damit sie vor der Gewalt auf der Straße sicher sind. Sam ist in ständiger Sorge um seine Sicherheit. Ein Junge in seiner Klasse ist HIV-positiv. Eine Woche lang verfolgte Sam wie gebannt die Fernsehberichte über die Entführung von Polly Klaas. Polly war nur ein Jahr älter als Sam. Jeden Tag läuft er mit Rekordgeschwindigkeit von der Schule nach Hause und schiebt, kaum hat er die Schwelle überschritten, beide Riegel der Haustür zu. Es ist eine Binsenweisheit geworden, daß unsere Kinder ständig in einem Angstzustand leben - Angst vor Gewalt, vor AIDS, vor Umweltkatastrophen, vor dem Zerbrechen der Familie. Jules Feiffer hat dies in einem Cartoon über einen kleinen Jungen treffend dargestellt:10 Erstes Bild: Ich will nicht zur Schule gehen. Zweites Bild: Ich habe Angst, daß meine Eltern ausgezogen sind, wenn ich heimkomme. Drittes Bild: Ich will nicht zum Spielen rausgehen. Viertes Bild: Ich habe Angst, daß mir niemand aufmacht, wenn ich wieder reinkomme. Fünftes Bild: Ich will nicht einschlafen. Sechstes Bild: Ich habe Angst, daß meine Eltern nicht mehr leben, wenn ich aufwache. Siebtes Bild: Ich will kein Kind sein. Achtes Bild: Kind sein heißt, 24 Stunden am Tag auf der Hut -252-
zu sein. Theopia Jackson, eine Studentin in einem meiner Seminare, schrieb in einem Bericht über Zeitungsartikel zum Thema Kinder und Gewalt: »Warum hat ein Kind das Gefühl, es sei selbst dafür verantwortlich, sich zu schützen? Wo ist heute das sichere Gefühl, von den Erwachsenen beschützt zu werden?«" Sie benannte damit den Streß, unter dem Kinder stehen, die sich in der Welt behaupten müssen - in einer Welt, deren Gefahren von den Erwachsenen nicht gebannt werden können. Ich schrieb darunter: »Nehmen Kinder ihre Kindheit heute anders wahr nicht mehr als ›Kinder-Garten‹ , in dem kleine Menschen von den großen beschützt werden, sondern als Gelände, in dem sich Kinder wie Erwachsene allein durchschlagen müssen?« Aber dann dachte ich weiter über den scheinbaren Widerspruch nach - Kinder werden jetzt besser geschützt als noch eine Generation früher oder auch nur vor zehn Jahren. Die neunjährige Adrianna darf nie draußen spielen, nicht einmal vor ihrem eigenen Haus. Vor 15 Jahren erlaubte ich meiner neunjährigen Tochter, mit ihrem kleinen Bruder zum Supermarkt um die Ecke oder zur Einkaufsstraße fünf Blocks von unserer Wohnung entfernt zu gehen. Heute kommt das für die Kinder in unserem Viertel nicht mehr in Frage - die Eltern halten es für zu gefährlich. Diese Kinder erzählen mir, was sie lernen, um sich zu schützen. Byron berichtet, wie man sich »fallen läßt und duckt«. Er verschwindet unter meinem Eßtisch, um mir zu zeigen, wie das geht. In der Schule hat er gerade an einem Trainingsprogramm teilgenommen, bei dem die Kinder üben, wie man sich im Kugelhagel fallen läßt und duckt. Ich glaube kaum, daß es ein Kind über vier gibt, das nicht weiß, wie man den Notruf wählt, wenn bei einem Unfall kein Erwachsener zugegen ist. Alle Kinder aus dem Viertel werden darauf gedrillt, wie man sich im Notfall verhält, und werden gleichzeitig -253-
vorbeugend vor aller Unbill geschützt. Diese Erfahrung verweist auf eine andere Facette ihrer gespaltenen Existenz: Gefahren ausgesetzt, sind sie entweder junge Besserwisser oder unselbständige Kleinkinder. Heather, eine sehr weit entwickelte 13jährige Patientin, erzählt mir: »Wenn ich groß bin, werde ich sagen können, ich habe die härteste Zeit in der amerikanischen Geschichte überlebt - den Zusammenbruch des Bildungssystems, Gewalt, Scheidung.« Heather besucht eine staatliche Schule, wo es Spannungen zwischen Schülern unterschiedlicher Hautfarbe gibt und wo es gelegentlich zu Gewaltausbrüchen kommt. Seit Heathers drittem Lebensjahr sind die Eltern geschieden. Nach einem Streit mit Mitschülern schluckte sie eine Überdosis frei verkäuflicher Medikamente. Andererseits wird Heather stets mit dem Auto gefahren, wenn sie Termine und Verabredungen hat, und wird wohlbehütet von der Mutter zum Vater und wieder zurückgebracht. Wie so viele Gleichaltrige wird sie rundum beschützt, aber gleichzeitig ist sie, wie sie selbst sagt - sei es aus persönlicher Erfahrung oder beeinflußt durch die unaufhörlichen Berichte in den Medien -, einer gefährlichen Welt ausgeliefert. Schätzungsweise 10 Millionen Kinder sind tagsüber oder nachmittags längere Zeit allein. 1993 wurde in Südkalifornien ein Sorgentelefon für Kinder eingerichtet, die nachmittags zwischen 3 und 5 Uhr allein zu Hause sind; in diesem Jahr gingen 15 000 Anrufe von Rindern ein.12 Unsere Kinder sind selbständig und trauen sich, allein zu telefonieren, aber sie sind auch so ängstlich und unsicher, daß sie einen Fremden anrufen, um Hilfe oder Trost zu finden. Wenn wir unsere Kinder fragen, ob sie in schweren Zeiten leben, antworten sie mit einem entschiedenen Ja. Wenn wir fragen, ob sie selbst Härten erleben, können wir auch mit einem Ja rechnen. Who's Who among American High School Students hat eine Umfrage unter mehr als 2000 Teenagern durchgeführt, -254-
die im Adressenverzeichnis stehen.13 Man darf davon ausgehen, daß es sich bei dieser Gruppe um frühreife Teenager handelt, die ihren Weg machen werden. Dennoch berichteten 45 Prozent, sie würden Gleichaltrige kennen, die einen Selbstmordversuch unternommen oder Selbstmord begangen hätten, 30 Prozent erklärten, sie hätten selbst schon über Selbstmord nachgedacht, und 4 Prozent gaben an, daß sie bereits versucht hätten, sich selbst zu töten. Die Selbstmordrate unter Teenagern, der Prozentsatz psychisch erkrankter Kinder und der Alkoholmißbrauch bei Jugendlichen steigt. Ein Bericht des Carnegie Council on Adolescent Development zeigt, daß die Selbstmordrate Jugendlicher zwischen 1980 und 1992 um 120 Prozent gestiegen ist.14 1993 erschien im Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry eine Untersuchung, die beschreibt, daß sich nach Aussage von Eltern und Lehrern im Lauf der letzten 20 Jahre die Probleme von Kindern verschlimmert haben.15 Unsere Generation hat gewiß allen Grund, auf die Kinder stolz zu sein, die wir aufgezogen haben. Aber wir müssen auch hinhören, wenn sie uns laut und deutlich sagen, woran sie leiden und wie gefährdet sie sich fühlen - nicht nur in der Außenwelt, sondern auch in der Innenwelt, wo Hoffnungen und Träume genährt werden und der Glaube an die Zukunft entsteht. Wir treffen extreme Vorkehrungen für die Sicherheit unserer Kinder, vermitteln damit aber die widersprüchliche Botschaft, daß sie in Gefahr schweben. Das stört das Wohlbefinden unserer Kinder. Kinder sind nicht dumm. Ihnen entgeht nicht, was diese Botschaft bedeutet. Sie sollen mit allem fertig werden, doch andererseits packen wir sie in Watte, um sie vor einer wahnsinnigen Welt zu schützen. So entsteht die Gefahr, daß sie die Gefühle von Wahnsinn, Angst oder Verzweiflung verinnerlichen. Wir Eltern können unsere wachsende Unruhe und Angst unter Kontrolle bringen und unseren Rindern weniger extreme Maßnahmen vorschlagen, um sich zu schützen. Wir -255-
können uns fragen, ob wir zuviel von ihnen verlangen, wenn sie sich während unserer Abwesenheit allein durchschlagen müssen. Vielleicht ließe sich das korrigieren, indem man, wenn nötig, auch für ein älteres Kind eine Betreuungskraft einstellt, die nach der Schule ins Haus kommt. Und wenn wir heimkommen, sollten wir den Impuls bremsen, unsere Kinder atemlos ans Herz zu drücken, als wären wir erleichtert, daß sie noch am Leben sind. Auf diese Weise läßt sich die widersprüchliche Botschaft auflösen, und Verwirrung, Angst und Verzweiflung, die daraus entstehen, werden gebannt. Unsere Kinder appellieren an uns, das »verrückte« Schwanken zwischen Leistungsdruck und Verwöhnen in allen Lebensbereichen aufzugeben. Das ist der beste Schutz gegen Angst und Verzweiflung. Die jugendlichen Kind-Erwachsenen und die Arbeit Die Teenager von heute arbeiten gern. Zu Beginn der neunziger Jahre war ein Drittel aller Jugendlichen zwischen 14 und 19 erwerbstätig. Und die meisten halten es so wie Jared. Jeden Tag nach der Schule hetzt er zu einer Videothek in seinem Viertel, um dort zu arbeiten. Abends um acht hetzt er dann nach Hause, um seine Hausaufgaben zu machen. Jeden zweiten Freitag bekommt er seinen Lohn. Am Samstag wird eingekauft, was das Zeug hält - er holt sich die neuesten CDs, leistet sich eine Karte für das Rockkonzert in der nächsten Woche und besorgt ein Geschenk für seine Freundin. Seine Mutter macht Überstunden, und sein Vater spart an seinen Geschäftsausgaben, weil für Jareds Studium bald ein sechsstelliger Betrag aufzubringen ist. Jared kommt nicht auf die Idee, etwas von seinem Verdienst zu diesen Kosten beizusteuern. Jareds Geschichte ist typisch für die jungen Arbeitskräfte in unserer Zeit. Ganz anders klingt die Geschichte meines Vaters vor zwei Generationen. Er wuchs zur Zeit der -256-
Weltwirtschaftskrise auf. Als Jugendlicher ging er arbeiten, um seine Familie zu unterstützen. Sein gesamtes Einkommen floß in die gemeinsame Kasse. Obwohl er ein glänzender Schüler war, konnte er sich ein Studium nicht leisten. Als er Vater wurde, wollte er seinen drei Kindern ermöglichen, was ihm selbst verwehrt gewesen war. Von uns wurde erwartet, daß wir in den Schulferien arbeiteten. Der Verdienst wurde für unsere persönlichen Ausgaben während der Zeit am College zurückgelegt. Seine Enkelkinder haben von der Ethik des »Arbeitens und Sparens« nichts mitbekommen. Von heutigen Kindern wird nicht mehr erwartet, daß sie »einen Beitrag leisten«, sie halten sich an die Ethik des »Arbeitens und Ausgebens«. Was die Jugendlichen verdienen, fließt vor allem in den Privatkonsum manche haben 50 Paar Schuhe, andere eine teure Stereo-Anlage oder ein Auto. In dieser Ethik des »Arbeitens und Ausgebens« erkennen wir die wesentlichen Züge des Kind-Erwachsenen. Wenn sich die Jugendlichen von heute einen Job besorgen, lernen sie die Macht des Geldes kennen. Da der Dienstleistungssektor wächst, finden sie leicht Arbeit in Imbißstuben oder hinter einer Ladenkasse. Doch was sie verdienen, liegt nicht lange auf der Bank, da die jungen Erwerbstätigen wie verrückt einkaufen. Mit ihrem Geld schaffen sie sich alles an, was die moderne Jugendkultur zu bieten hat. Die Jugendlichen, denen das Geld durch die Finger rinnt, haben zwar offenbar ihren Spaß, aber Eltern und Erzieher beobachten die Entwicklung mit Sorge. Besser, die Kinder gehen einer ehrlichen Arbeit nach, als daß sie versuchen, auf illegale Weise an Geld zu kommen. Aber nun haben wir Kinder, die viel Geld, aber wenig Zeit zum Lernen und sogar wenig Zeit für ihre Eltern haben, weil sie nun erwerbstätig und ständig außer Haus sind. Die Sorge wächst, daß diese Teenager die Jugend zu früh hinter sich lassen. Wie beim gehetzten Kind stellt sich auch bei den arbeitenden Jugendlichen das Problem, -257-
daß sie »zu schnell zu alt« werden. In einem Newsweek-Artikel heißt es unter dieser Überschrift: »Eltern gestehen ihren arbeitenden Kindern erstaunlich viel Autonomie zu. Kurz gesagt, ermöglicht die Arbeit bei McDonald's um die Ecke vielen Teenagern, sich von der Jugend freizukaufen.«16 Weiter heißt es, daß der Übergang von Kindheit und Schulzeit in die Erwerbstätigkeit wesentlich eher stattfindet als bei früheren Generationen. Wie eine Untersuchung über Schülerarbeit in Neuengland feststellt, ist die Folge, »daß sich die Jugendzeit verkürzt, was statistisch schwer zu erfassen ist, aber in Dutzenden von Einzelbeispielen zum Ausdruck kommt«.17 Wir kommen wieder auf die Beobachtung zurück, daß die Kindheit unserer Söhne und Tochter in gewisser Hinsicht auch schrumpft. Jugendliche, die arbeiten, geraten ebenso in Streß wie die berufstätigen Erwachsenen. Jared, der junge Mann, der in der Videothek jobbt, macht ständig einen erschöpften Eindruck. Es fällt ihm schwer, genug Zeit für Schule, Arbeit, Freunde und Familie zu finden. Es geht ihm also ähnlich wie seinen Eltern, die sich verzweifelt bemühen, Arbeit, Familie und Privatleben unter einen Hut zu bringen. Als ich Jared frage, ob er schon einmal daran gedacht hat, Geld fürs College beiseite zu legen, sagt er: »Ach nein, darum kümmern sich meine Eltern. Sie haben immer gesagt, daß sei das mindeste, was sie für mich tun können.« Lange Jahre mußten die Kinder mit vielem allein fertig werden, sie mußten allzu früh autonom werden, und nun meinen Eltern wie Kinder, es stünde den Jugendlichen als Belohnung zu, daß sie das verdiente Geld für sich behalten dürfen. In unserer Konsumkultur unterscheiden sich Teenager nicht mehr wesentlich von den jungen Erwachsenen, die nach dem Motto leben: »Gib aus, was du hast« und »Laß uns heute feiern, wer weiß, ob wir morgen noch leben«. Aber gleichzeitig sind sie mit ihrer Ethik des Arbeitens und Ausgebens ein Inbegriff des Kind-Erwachsenen. Sie arbeiten wie Erwachsene viele Stunden -258-
und schlagen dann im Süßigkeitenladen hemmungslos zu, bis sie ihren letzten Pfennig wieder los sind. Generation X? In der ersten Hälfte der neunziger Jahre entbrannte eine heftige Debatte darum, wie man die jungen Erwachsenen Anfang Zwanzig treffend bezeichnen könnte. Die Medien griffen das Schlagwort »Generation X« auf, das bei den 20jährigen selbst massiven Widerspruch geweckt hat. Die gerade erwachsen Gewordenen protestierten gegen die Unterstellung, sie kämen aus dem Nichts und hätten kein Ziel. Auch die Eigenschaften, die man ihnen zuschrieb, machten sie wütend: »Die Generation, die viel erwartet und sich kaum anstrengt«; »wichtigtuerisch, wenn nicht sogar anmaßend«18; ängstlich, wetteifernd, ohne höhere Werte, geldgierig, konservativ, einfallslos, rückwärtsgerichtet. Ganz gleich, wie wir sie nennen und wie sehr wir sie verleumden, diese jungen Männer und Frauen sind die erste Generation erwachsener KindErwachsener. Es erscheint stimmig, daß ein unklares Bild von der Kindheit zu einem unklaren Bild der jungen Erwachsenen führt, so daß wir nicht wissen, mit welchem Begriff wir sie charakterisieren sollen. Uns war nicht klar, wie wir sie als Kinder sehen sollten, und jetzt wissen wir nicht, wie wir sie als Erwachsene charakterisieren können. Ironischerweise zeigt sich die Peter-Pan-Generation nun besorgt, daß die jungen Erwachsenen in der Pubertät steckengeblieben seien. Wie schnell wir doch vergessen - auf einmal machen wir uns Gedanken, weil die 20jährigen offenbar nicht erwachsen werden wollen und vor den traditionellen Übergangsriten - einen Beruf ergreifen, heiraten, eine Familie gründen - zurückschrecken. Warum sind sie nicht wie wir, die wir ebenfalls nicht erwachsen werden wollten und trotzdem alle -259-
Rituale von Beruf, Ehe und Familie durchlaufen haben? Als meine Tochter 22 war, erzählte sie mir, daß keiner ihrer Freunde und Freundinnen nach dem College-Studium eine angemessene Arbeit gefunden hatte. Mit ihrem Studienabschluß wurden sie Kellnerinnen, Barkeeper oder schlecht bezahlte Kindermädchen. 1994 führte MTV eine Umfrage unter 16- bis 29jährigen durch; ein Drittel der jungen Leute erklärte, sie seien für ihre gegenwärtige Tätigkeit überqualifiziert, nicht einmal die Hälfte glaubte, sie hätten einen ernstzunehmenden Berufsweg eingeschlagen, und 50 Prozent bezweifelten, ob sie ihr Berufsziel je erreichen würden.19 Viele wohnen noch bei den Eltern, weil sie nicht genug verdienen, um sich eine eigene Wohnung leisten zu können. Diese jungen Leute wurden als Fünfjährige in modischen Vorschulkindergärten mit Aufnahmeprüfung abgeliefert. Als Kinder genossen sie einen Wohlstand und Komfort, von dem ihre eigenen Eltern, obwohl auch sie aus der Mittelschicht stammen, in ihrer Kindheit nicht zu träumen gewagt hätten. Aber jetzt als junge Erwachsene stoßen sie gegen die gläserne Decke zwischen den Generationen. Sie sind fest überzeugt, daß sie es wohl nie so gut haben werden wie ihre Eltern oder so gut, wie sie selbst es als Kinder hatten. Mein Sohn sagt, er glaube nicht, daß er je ein so schönes Haus haben werde wie wir. Meine Tochter erzählt, daß viele ihrer Freunde berufstätig und Mitte Zwanzig - unter der Armutsgrenze leben würden, wenn ihre Eltern sie nicht unterstützen würden. Versetzen Sie sich in einen jungen Erwachsenen, der im Jahr 1991 die Zeitung aufschlägt und liest, daß 1,4 Millionen junge Leute ein Hochschuloder Fachhochschulstudium abgeschlossen haben, während auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt Rezession herrscht und 2 Millionen Stellen gestrichen wurden. Die Hochschulabgänger dieses Jahres erlebten die schlechtesten Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie übernahmen Jobs, für die sie -260-
überqualifiziert waren, oder machten unbezahlte Praktika - das hatten sie sich nicht erträumt, als sie noch »Seine Majestät, das Baby« oder »mein Sohn, der Arzt« waren. Diese inzwischen erwachsenen Kinder haben gewiß Verständnis dafür, wenn sich Eltern um die Zukunft ihrer Kinder sorgen. Die jungen Leute haben das höchste Bildungsniveau in der Geschichte der Vereinigten Staaten, aber sie dürfen dennoch nicht nach den Sternen greifen. Zwischen dem wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit, in den ihre Eltern hineingeboren wurden, und dem heutigen Zustand der USA als geschwächte Supermacht liegen Welten. Während des Niedergangs wurde der Narzißmus der Eltern verletzt, was sich in den gedämpften Hoffnungen und Träumen der Kinder spiegelt. Eine Roper-Umfrage unter 18 bis 29jährigen aus dem Jahr 1994 ergab, daß nur 21 Prozent ihre Zukunftsaussichten als »sehr gut« einschätzten.20 Vier Jahre zuvor antworteten bei einer ähnlichen Umfrage 65 Prozent der 18- bis 29jährigen, für sie werde es schwieriger sein, sorgenfrei zu leben, als für frühere Generationen. 52 Prozent meinten, sie würden weniger Freizeit haben als ihre Vorgänger, und 53 Prozent gaben an, sie machten sich Sorgen um die Zukunft.21 Die groß gewordenen Kind-Erwachsenen wissen genausogut wie ihre Eltern, daß die Welt, in die sie hineinwachsen, nicht besonders rosig aussieht. Bei der Abschlußfeier am College meiner Tochter fand ein Studentensprecher vor den anwesenden Eltern treffende Worte für seine Generation: »Ich kenne keine Lösungen... Erinnern Sie sich an Ihre eigene Examensfeier und denken Sie sich AIDS, einen erdrückenden Schuldenberg und die gebührenpflichtige Datenautobahn hinzu... Ich glaube, man kann behaupten, daß die Lage noch nie so verwirrend war.«22 Kurz gesagt, die Hoffnungen und Träume dieser Generation zerschlagen sich angesichts der Probleme der Gesellschaft, in der sie voranzukommen versuchen. Wie die Generationen vor ihnen wollen auch diese jungen -261-
Männer und Frauen bestimmt manches anders machen als ihre Eltern. Ihre Lebensbedingungen unterscheiden sich grundlegend von denen ihrer Eltern, und in der modernen Gesellschaft führt das existentielle Ringen um eine Abgrenzung von den Älteren unausweichlich zu einem Wechselspiel von Kontinuität und Veränderung. Ein 24jähriger Hochschulabsolvent spricht für seine Generation, wenn er sagt: »Wenn ich meine Kinder großziehe, werde ich vorgehen wie meine Großeltern, das heißt viel ernster und konservativer. Ich würde meinen Kindern nie die Freiheiten geben, die ich hatte.«23
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9 Die Rettung der Kindheit
Viele Eltern - insbesondere die Mütter - leben wie Seiltänzer: Sie streben immer ein ausgewogenes Verhältnis zwischen einander widersprechenden Verpflichtungen an und wollen jedem unvorhergesehenem Ereignis, das sich zu einem Desaster ausweiten könnte, zuvorkommen - Windpocken, eine abendliche Konferenz. Am belastendsten allerdings ist wohl das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit. Es geht darauf zurück, daß eine Mutter nie ausreichend Zeit hat und nicht zielstrebig genug ist, um sich sowohl der Arbeit als auch dem Zuhause angemessen zu widmen. Penelope Leach1 Während ich an den letzten Seiten dieses Buches arbeite, ist auch meine aktive Zeit als Mutter vorüber - eine Ironie des Schicksals. Meine Tochter hat ihr Studium abgeschlossen und lebt in der eigenen Wohnung, mein Sohn ist ausgezogen, um ans College zu gehen, und ich stehe jetzt mit dem »leeren Nest« da. Aber der Ausdruck paßt nicht. Ich empfinde es eher so, daß ich auf freiem Gelände stehe. 22 Jahre lang habe ich mich bemüht, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, mit allem Streß, der dazugehört. Kopfschmerzen und Schreckensszenen sind nicht ausgeblieben, aber meine Zeit mit meinen Kindern habe ich sehr genossen. Wie angespannt das Leben mit ihnen war, wurde mir allerdings erst klar, als sie ausgezogen waren. Wie laut Musik ist, merkt man oft erst, wenn sie abgestellt wird - ähnlich empfand ich das auch. In den vier Wochen, nachdem mein Jüngster ausgezogen war, dämmerte mir, daß ich ab jetzt nur -263-
noch einen Job hatte. Ich fühlte mich weder leer, noch war ich ratlos, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte, vielmehr hatte ich das Gefühl, daß ich zum ersten Mal einen Tagesplan hatte, der in der Zeit, die mir zur Verfügung stand, zu bewältigen war. Ich hatte das überwältigende Gefühl: »Puh, das wäre geschafft.« Es tut mir leid, daß es so schnell gegangen ist. Es tut mir leid um die Zeit, die uns fehlte. Ich bedaure die Streitereien mit meinem Mann um die gerechte Aufteilung der Hausarbeit und Kinderbetreuung. Wir hatten das Glück, unsere Arbeit so frei einteilen zu können, daß wir auch tagsüber für Rebecca und Jesse Zeit hatten. Das bedeutete oft, daß wir bis spät in die Nacht arbeiten mußten. Für das, was wir hatten, bin ich dankbar, aber ich hätte mir eines gewünscht: daß unser Leben als Eltern gelassener und vernünftiger verlaufen wäre. Mein Leben als Mutter war immer ein Jonglieren mit verschiedenen Pflichten, was unmöglich gelingen konnte, denn wenn man jongliert, läßt man meistens mindestens einen Ball fallen. Ich erinnere mich an einen Vorfall in dem Jahr, bevor Jesse auszog. Ich hatte mir den Nachmittag frei gehalten, um an Wenn Eltern zu sehr... zu arbeiten. Jesse hatte früher Schulschluß, was mittwochs häufiger vorkam. Er hatte mit einem Freund gestritten und war sehr aufgeregt. Offensichtlich wollte er mit mir reden. Er saß in meinem Arbeitszimmer, schüttete mir sein Herz aus, und die Minuten verstrichen. Ich wurde unruhig, dachte an das Manuskript, das auf meinem Schreibtisch wartete. Die Arbeit mußte zwar nicht unbedingt an diesem Tag erledigt werden, aber ich wollte wenigstens zum Schreiben kommen. Da sah ich mich mit einem Mal von außen und mußte lachen. Das war der Gipfel der Ironie. Da saß ich also und schrieb ein Buch über die gestreßten Eltern, die unaufhörlich mit Arbeit und Familie jonglieren und nie das Gefühl haben, dem einen oder dem anderen gerecht zu werden. Mir erging es so wie den Leuten, die Penelope Leach in einem Vortrag vor amerikanischen Eltern und Erziehern schilderte: -264-
»Entweder Sie bleiben daheim bei den Kindern und ziehen den kürzeren, oder Sie gehen in den Beruf zurück und ziehen den kürzeren.«2 Da saß ich also und lebte den Konflikt aus, hörte meinem Sohn zu und versuchte gleichzeitig, mein Buch zu Ende zu bringen, in dem ich die mißliche Lage amerikanischer Eltern analysierte und Abhilfe zu schaffen versuchte. Sobald ich mein Verhalten von außen betrachtete, konnte ich die Kette loslassen, an der ich hin- und herpendelte. Wer zog den kürzeren? Hoffentlich niemand. Jesse bekam meine volle Aufmerksamkeit. Ich ließ mich ganz auf das Gespräch ein. Dabei ging es uns beiden gut. Er wollte reden, und ich wollte da sein, unbelastet. Mir wurde klar, daß ich noch genug Zeit hatte, um dieses Buch fertigzuschreiben, aber nur noch wenige kostbare Monate, bis Jesse auszog. Dann würde er nicht mehr jeden Mittwoch um drei in mein Zimmer platzen. Aber dahinter kam ich erst nach minutenlanger Anspannung und innerem Konflikt. Wenn Jesse 12 und nicht 17 gewesen wäre, hätte ich vielleicht nur die endlosen Monate der Ablenkung vor mir gesehen und wäre nicht so leicht bereit gewesen, ihm meine Arbeitszeit zu opfern. Wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, mir meine Zeit flexibel einteilen und zu Hause schreiben zu können, dann hätte ich mir den Luxus gar nicht leisten können, Jesse einen Teil meiner Arbeitszeit zu geben. Statt dessen hätte ich einen langen Tag im Büro verbracht und mir unaufhörlich Sorgen gemacht, daß Jesse niemanden hatte, mit dem er seine Teenagernöte teilen konnte, wenn er um drei Uhr nachmittags das leere Haus betrat. Das wußte ich, weil ich an anderen Tagen tatsächlich im Büro war und genau das empfand. Wir Eltern sind wirklich zu gestreßt. Den Streß vermindern Als ich die Arbeit an diesem Buch fast abgeschlossen hatte, -265-
stieß ich auf eine Untersuchung des Families and Work Institute in New York, die mich aufrüttelte. Die Forscher fragten Eltern, was ihre Kinder wohl auf die Frage antworten würden, was sie an der Beziehung zu den Eltern gern ändern wollten. Die Eltern erwiderten: »Sie wollen, daß ich mehr Zeit mit ihnen verbringe.« Gewiß hätte ich dasselbe gesagt. Aber als die Frage dann den Kindern direkt gestellt wurde, erhielten die Forscher eine andere Antwort: »Wir wollen, daß unsere Eltern weniger gestreßt sind, wenn sie heimkommen.«3 Seltsamerweise geben die Kinder den Experten recht, die für die »qualitative Zeit« eintreten - es spielt eigentlich keine Rolle, wieviel Zeit Sie mit Ihrem Kind verbringen, solange die gemeinsamen Stunden harmonisch verlaufen. Aber die Kinder haben gewiß ganz andere Vorstellungen von der Zeit, die sie mit ihren Eltern verbringen, als die Experten. Aus ihrer Antwort höre ich heraus: »Vielleicht habt ihr ja recht, unsere Eltern sind zu selten da, aber das ist nicht das Schlimmste. Ihr solltet sie sehen, wenn sie da sind. Unser Haushalt wird von gestreßten, erschöpften Müttern und Vätern geführt - das, und nicht der Zeitmangel, ist unser schlimmstes Problem. Bitte, bitte, sorgt dafür, daß sich unsere Eltern entspannen.« Selbst die Eltern, die ihren Kindern so viel geben, um auszugleichen, daß sie so wenig da sind, sind derart angespannt, wenn sie dieses »Geschenk« machen, daß die Kinder zu der Einstellung kommen: »Gib mir nicht noch mehr Liebe, gib mir einfach ein bißchen weniger Streß.« Ein Dorf für Kinder Hillary Clinton hat geschrieben: »Ein Kind wird von einer ganzen Dorfgemeinschaft großgezogen... Kinder gedeihen nur, wenn es ihren Familien gutgeht und wenn die ganze Gesellschaft sie ausreichend umsorgt.«4 -266-
Mein eigener Schwerpunkt war, einen Beitrag zu leisten, damit es Familien und insbesondere Eltern gutgeht. Ich habe ihre Rolle innerhalb der Dorfgemeinschaft untersucht. Dabei vergesse ich nicht, daß es am Ende immer die Kinder sind, von denen wir reden, weil Eltern nur deshalb Eltern sind, weil sie Kinder haben. Als Bewohner des Dorfes, das in unserem Fall die amerikanische Gesellschaft als ganzes ist, machen wir als Eltern die Erfahrung, daß die sozialen Kräfte in einer ständigen dialektischen Beziehung zu unserem Innenleben stehen. Wenn wir also darüber nachdenken, wie wir aus dem Kreislauf wachsender Belastungen aussteigen und unseren Kindern eine gesunde Kindheit ermöglichen können, müssen wir sowohl die äußeren als auch die inneren Bedingungen betrachten. Bestimmte Umstände entziehen sich unserem unmittelbaren Einfluß. Die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen wir erziehen, sind alles andere als günstig und müssen verändert werden, wenn wir unseren Kindern eine unbeschädigte Kindheit sichern wollen. Dafür ist eine politische Bewegung notwendig, die Kindern eine Vorrangstellung sichert und Erziehen zu einem gesellschaftlichen Anliegen macht. Aber auch innerhalb der Familie und in der eigenen Psyche kann manches zum Besseren gewendet werden. Dafür ist es notwendig, zu anderen Werten zu finden, was sich auf unser Gefühlsleben, unsere Einstellung und unser Verhalten als Eltern im Verhältnis zu unseren Kindern als unseren Nachkommen auswirkt. Kinder fordern, daß ihre Eltern entlastet werden, und die Eltern meinen, das sei nur möglich, wenn man ihnen mehr Zeit für ihre Familie zugesteht. Der Zeitmangel ruft die Streßsymptome hervor, auf die unsere Kinder reagieren. Die Kinder wollen diese Symptome lindern, die Eltern ersehnen die Heilung für die Krankheit, die hinter den Symptomen steckt. Stellen wir uns ein Dorf vor, in dem die gestreßten Eltern von heute mehr Mitgefühl und Unterstützung finden. Der Anfang -267-
wäre eine Welt mit mehr Zeit für Mütter und Väter. Die Arbeitswoche wäre kürzer; Eltern würden Mutter- und Vaterschaftsurlaub erhalten; man bekäme Arbeitsplätze mit flexibler Zeiteinteilung, Jobsharing und der Möglichkeit, daheim zu arbeiten. Außerdem erhielten Familien mit Kindern Beihilfen und Steuererleichterungen, um sie finanziell zu entlasten. Ein System wäre denkbar, das den gegenwärtigen Trend, Müttern und Vätern immer mehr Arbeit aufzubürden, umkehrt, so daß sie wieder mehr Zeit für ihre Kinder hätten. Die Arbeitswelt würde sich den Gesetzmäßigkeiten der kindlichen Entwicklung unterordnen - Kinder brauchen Bezugspersonen, die genug Zeit haben, um sie aufzuziehen -, und sie würde das Grundprinzip »guter« Elternschaft berücksichtigen: Eltern, die mehr tun, als ihren Kindern das Überleben zu sichern, brauchen ausreichend Zeit. Die Arbeitszeiten für Mütter und Väter müssen zurückgeschraubt werden, damit sie wesentlich mehr Zeit für ihre Kinder aufbringen können. In unserem neugestalteten Dorf hätten Eltern nicht nur mehr Zeit, sie würden auch weniger Druck von außen bekommen, immer mehr für ihre Kinder zu tun. Auch das würde ihren Streß vermindern. Wir als Gesellschaft hätten der Entwicklung Einhalt geboten, die bei den arbeitenden Eltern Schuldgefühle weckt oder noch mehr Forderungen an sie stellt - denn was dabei gefordert wird, können oft ebensogut andere erledigen, oder es ist gänzlich überflüssig. Wir als Eltern hätten eingesehen, daß auch wir etwas zu dem Bild der Super-Eltern beigetragen haben, die mit zerfleddertem Cape und psychisch aufgelöst »angeflogen« kommen. In unserem Dorf hätten Mütter und Väter das Bewußtsein und die Standfestigkeit gewonnen, um sich solchem Druck zu widersetzen. Sie würden den Institutionen, die sich Übergriffe leisten, entschieden entgegentreten, statt angesichts der Forderungen in Schuldgefühle zu versinken. Da wir als Gesellschaft soviel über das Leben mit Kindern -268-
dazugelernt hätten, würden wir auch einsehen, daß es ein schwerer Fehler ist, von Eltern zu verlangen, sie sollten voll dafür einstehen, wenn ihre Söhne und Töchter den Anforderungen nicht gerecht werden - als wären wir nicht alle dafür verantwortlich. In den Vereinigten Staaten ist es in letzter Zeit üblich geworden, Eltern rechtlich haftbar zu machen und sie für Missetaten ihrer Kinder bezahlen zu lassen. Kürzlich entschied ein Gericht in Illinois, eine Mutter müsse ihre Tochter, die regelmäßig die Schule schwänzte, 30 Tage lang (ganztags) zur Schule begleiten. Und das ungeachtet der Tatsache, daß die angeblich gleichgültigen Eltern bereits einen Schulwechsel arrangiert hatten, das Kind täglich die lange Strecke zu ihrer neuen Schule fuhren, psychologische Beratung für die Tochter gesucht und strenge Konsequenzen angedroht hatten, falls sie erneut dem Unterricht fernblieb. So etwas käme in unserem Dorf nicht vor. Statt dessen würden wir die Mißstände im Gesellschaftssystem beheben, die dafür verantwortlich sind, daß dieses Mädchen trotz aller Bemühungen der Eltern auf Abwege geriet. Wir würden die Eltern nicht zwingen, für alle Sünden ihres Kindes einzustehen, ob sie nun dafür verantwortlich sind oder nicht. Wenn es je so weit kommen sollte, werden Eltern von vielen Sorgen befreit sein, weil die gesamte Gesellschaft die Verantwortung für die Kinder mitträgt, statt sie den Eltern allein aufzubürden. Die Kinderbetreuung wäre besser organisiert, und es gäbe nicht nur Notlösungen, wie zum Beispiel Arbeitgeber, die so »flexibel« sind zu erlauben, daß die Eltern ihre Kinder zur Arbeit mitbringen, wenn alle Stricke reißen. Der Arbeitsplatz ist nicht auf Kinder eingerichtet, und in der postindustriellen Arbeitswelt ist es praktisch unmöglich, daß sich Mütter und Väter während der Arbeit um ihre Kinder kümmern oder daß sie, während sie sich um ihre Kinder kümmern, arbeiten. Berufstätige Eltern können sich kaum entspannen, wenn sie nicht darauf bauen können, daß ihre Kinder während ihrer -269-
Abwesenheit gut versorgt werden. All das wäre uns klar, und deshalb würden wir dafür sorgen, daß es für alle Kinder zuverlässige Einrichtungen gäbe, in denen sie lernen, wachsen und sich entwickeln könnten, während die Eltern außer Haus sind. Dort würden sie von konsequenten, fürsorglichen und kompetenten Erzieherinnen und Lehrern versorgt, die ihrerseits für ihre Arbeit angemessen bezahlt würden. Das Dorf, das ich mir vorstelle, ist kein Hirngespinst. Die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen wir leben, sind nicht unveränderlich - sie waren früher anders, und sie können sich wieder ändern. Wenn wir als Eltern auf eine Umgestaltung hinarbeiten, werden wir Teil einer größeren sozialen Bewegung, die aktiv werden kann, um Kaputtes zu reparieren und das Dorf zu schaffen, von dem wir träumen. Dazu braucht es Geduld, kollektive Verantwortung und viel Anstrengung. Bis es soweit ist, können wir zu Hause wichtige »Reparaturarbeiten« vornehmen. Das ist eine wesentliche Erfahrung, die ich dank anderer Mütter und Väter und bei der Erziehung meiner eigenen Kinder gemacht habe. Und diese Reparaturen erfordern nicht soviel Geduld, weil sie in unserem eigenen Umkreis erfolgen und wir unsere psychische Einstellung und unser Verhalten sofort ändern können. Manchmal bekommen wir von unseren Kindern zu hören, wir sollten uns »beruhigen« - von ihnen können wir viel lernen, denn sie drängen uns, etwas anders zu machen. Sie übermitteln uns nicht nur wichtige Botschaften, sie wirken ebenso aktiv auf uns ein, wie wir auf sie einwirken. Sie schaffen es mit Leichtigkeit, uns wieder auf den richtigen Weg zu bringen, wenn wir nicht so für sie sorgen, wie sie es brauchen. Sie entwickeln Symptome und veranlassen ihre Eltern, bei Erziehungsberatern, Selbsthilfegruppen, Freunden, Nachbarn und Verwandten Rat zu suchen oder einfach nachzudenken, bis das, was schiefgelaufen ist, wieder in Ordnung kommt. Sie machen es ihren Eltern mit Worten oder Taten klar, wenn das -270-
Leben aus dem Gleichgewicht gerät - wie der elfjährige Max, der einfach aus dem Zimmer geht, wenn seine Eltern anfangen, ihn mit Lob zu überschütten. Unsere Kinder zeigen uns, daß sich die Zweige eines kindlichen Baums nicht übermäßig verbiegen lassen. Ganz gleich, welche Bedeutung und welchen Rang wir der Kindheit zuschreiben, ein Kind bleibt immer ein Kind. Auch wenn das Kind kulturell und familiär geprägt wird, bewahrt es bestimmte universelle Eigenschaften. Kinder sind nicht so zerbrechlich, wie wir glauben. Wie Punchingbälle aus Gummi, die einfach zurückspringen, wenn sie im Spiel einen Hieb abbekommen, reagieren sie auf unsere Schwachpunkte als Eltern, und sie rebellieren, wenn ihnen das Wesentliche verweigert wird. Nur wenn sie zu oft in derselben Weise niedergemacht werden, sind sie in Gefahr. Das Wichtigste, was wir von ihnen lernen können, ist, daß unsere kostbaren Kinder gar nicht so zerbrechlich sind. Ein Diamant ist ein wertvoller Stein, aber er besteht aus einer der härtesten Substanzen, die in der Natur vorkommen. Wenn wir uns unsere Kinder nicht als empfindliche Blumen, sondern als Rohdiamanten vorstellen, tragen wir ihrer Widerstandskraft Rechnung und tun viel, um unsere eigenen Ängste als Eltern zu lindern. Durch meine Arbeit habe ich gelernt, daß wir uns und unseren Kindern einen Gefallen tun, wenn wir uns weniger auf den Schaden konzentrieren als auf den Glauben an die Wiedergutmachung. Leben ohne Leiden gibt es nicht, und Eltern haben ihre Schwächen. Ich habe noch nie Eltern kennengelernt, denen es nicht besser ergangen wäre, nachdem sie von der Erwartung, perfekt zu sein, erlöst waren. Statt uns unaufhörlich Vorwürfe zu machen, könnten wir uns unbefangen fragen, welche Alternativen wir haben und was wir anders machen könnten, wenn es uns mit unseren Kindern nicht gutgeht. Nach meiner Erfahrung lautet das beste Rezept für gestreßte Eltern: »Wenn Sie hinfallen, stehen Sie wieder auf, klopfen Sie sich -271-
(und Ihr Kind) ab und versuchen Sie zu vermeiden, noch einmal auf ähnliche Weise hinzufallen.« Die Wiedergutmachung, durch die ins Lot gebracht wird, was anfangs nicht gut lief, ist weit besser für die Charakterbildung, als wenn wir unseren Kindern eine konfliktfreie, idyllische, »perfekte« Kindheit böten. So lernen sie, daß im wirklichen Leben Fehler gemacht, Probleme gelöst und Aufgaben durchgearbeitet werden, und zwar ohne die Hilfe von Zauberstab, Glücksfee und Heinzelmännchen. So bleibt uns etwas Freiraum für Irrtümer. Ein Ausspruch von D. W. Winnicott hat mich als Mutter immer wieder beruhigt: Bei Menschen »geht es nicht um Perfektion. Perfektion gehört zu Maschinen.«5 In der Erziehung geht es nicht um Perfektion, sondern um Fürsorge und Aufmerksamkeit, wobei es viel Spielraum für Fehler und Verfehlungen gibt. Es ist ganz in Ordnung, wenn unsere Kinder von uns enttäuscht sind. So merken sie, daß wir auch nur Menschen sind (genau wie sie) und daß es zwischen ihnen und uns Grenzen gibt und wir andere Bedürfnisse und Wünsche haben als sie. Aber die beruhigende Wirkung seiner Worte war dahin, als ich von Winnicott und vielen anderen Psychoanalytikern hörte, daß Eltern die volle Verantwortung dafür trügen, wie gut oder wie schlecht es ihren Kindern ergeht. Ich wußte einfach nicht, wie wir gute Eltern sein sollten, während uns diese doppeldeutige Botschaft im Kopf herumschwirrte: Wenn du dich entspannst und einfach du selbst bist, machst du schon alles richtig, aber wenn etwas schiefgeht, ist es letztlich deine Schuld. Diese Botschaft möchte ich durch eine andere ersetzen: Eltern brauchen nicht perfekt zu sein, und Eltern sind nur teilweise für das verantwortlich, was gut- und was schiefgeht. Wir setzen uns selbst unter Druck, immer mehr für unsere Kinder zu tun. Diesen Druck können wir abbauen, wenn wir uns klarmachen, daß die Konstitution eines Rindes und äußere Einflüsse, die bedeutender sind als das Elternhaus, ebenfalls eine Rolle dabei -272-
spielen, was für ein Mensch unser Kind wird. Unsere Schuldgefühle helfen niemandem. Statt uns einzureden: »Ich muß perfekt sein« und »Ich bin an allem schuld«, können wir auch sagen: »Ich tue mein Bestes unter unvollkommenen Bedingungen, mit einem kleinen Menschen, der etwas ganz Besonderes, aber nicht besonders zerbrechlich ist«. Das wäre ein gewaltiger Schritt vorwärts, der uns hilft, unsere Schuldgefühle loszuwerden, unseren Streß zu vermindern und bessere Eltern zu werden. Wenn wir uns nicht an diese neue Botschaft halten, bleibt die Beziehung zu unseren Kindern verworren, weil wir glauben: »Das geschieht uns gerade recht.« Ich muß dabei an eine frisch geschiedene Mutter denken, die mir erzählt hat, ihre vierjährige Tochter sei kratzbürstig und unverschämt. Das Mädchen setzt sich über alle Verbote und Anordnungen hinweg, schlägt und tritt nach der Mutter und spuckt sie an. Die Mutter wehrt sich in keiner Weise, weil sie glaubt, sie hätte verdient, was das Kind ihr antut, weil sie ihm soviel zugemutet hat, nicht nur wegen der Scheidung, sondern auch wegen der heftigen Streitigkeiten, die vorausgegangen waren. Eltern quälen sich nicht nur mit Schuldgefühlen, sondern glauben auch noch, daß ihnen »gerade recht geschieht«, weil sie ihrem Kind das und das angetan haben. Unsere Kinder wünschen sich Eltern, die nicht so stark unter Streß stehen. Wenn wir das berücksichtigen, sollten wir uns einem radikalen Bewußtseinswandel unterziehen, uns von der Haltung verabschieden, daß uns »gerade recht« geschieht, und statt dessen »einfach machen«. Auf den ersten Seiten dieses Buches habe ich geschrieben, daß die Mehrheit der Eltern ihre Sache gut machen will. Von den Eltern selbst habe ich gelernt, daß ungeachtet aller Schwierigkeiten, vor denen Eltern heute stehen, die meisten Mütter und Väter dieses Ziel erreichen. Sie brauchen sich gar nicht in einem solchen Maße schuldig zu fühlen, und es gibt keinen Grund, von den Kindern oder von -273-
sonst jemandem Strafen einzustecken, weil sie ihre Sache nicht gut machten. Sie sind gute Eltern, weil sie ihre Kinder lieben und sich für sie einsetzen. Sie sind gute Eltern, weil sie hartnäckig sind und langfristig eine zuverlässige Bindung zu ihren Kindern aufbauen, und zwar manchmal unter sehr schwierigen Bedingungen. Noch bessere Eltern werden sie, wenn sie auf ihre intuitiven Eingebungen achten und auf die Mahnung hören »Was wir da tun, ist verrückt«, wenn sie sich mehr von ihrem Instinkt leiten lassen als von Schuldgefühlen, Ängsten oder der Idealvorstellung, was »man« tun sollte. Wenn Eltern »Macher« werden, also handeln, statt sich selbst zu geißeln, geht es nicht nur darum, »zu tun, was der Instinkt sagt«. Dazu müssen sie auch die hintersten Winkel ihrer eigene Psyche erforschen. Ich bin der Überzeugung, daß in Selbsterkenntnis und Selbsterforschung die Lösung besteht, die zu Veränderung und Heilung führt. Wir haben gesehen, daß es uns, der Generation, die schier endlos zwischen Kindheit und Erwachsenendasein schwankt, manchmal schwerfällt, eine Grenze zwischen uns und unseren Kindern zu ziehen. Sinnvoll ist hier die Frage: »Für wen tue ich das, für mich oder für mein Kind?« Diese Frage ist nicht immer leicht zu beantworten, doch wenn sich die Waage stärker in die eine oder die andere Richtung neigt, ist es ratsam, ein besseres Gleichgewicht zwischen mir und dem Kind herzustellen. Wenn sich die Waage ständig in »meine« Richtung neigt, sollten wir unser Kind und seine Bedürfnisse mehr in den Mittelpunkt rücken. Und wenn sie sich immer in die Richtung des Kindes neigt und ich gar nicht berücksichtigt werde, dann ist die Erziehung vermutlich zu nachsichtig und »selbstlos«, und es müssen mehr Grenzen gesetzt werden. Eltern, die »einfach handeln«, hören auf, um Liebe zu schachern, und vertrauen stärker auf die Liebe, die beständig da ist. Um so weit zu kommen, müssen wir uns mit unserer inneren -274-
Unruhe auseinandersetzen - dem Konflikt, der entsteht, weil wir glauben, wir hätten nicht genug Zeit für unsere Kinder und könnten nicht genug tun, um sie vor Schaden zu schützen und ihnen eine sorgenfreie Zukunft zu sichern, weil wir glauben, wir müßten das unser Leben lang wiedergutmachen. Dieser Konflikt spielt sich oft tief im Unbewußten ab. Um ihn zu klären, müssen wir ihn bewußtmachen. Die innere Unruhe kommt zustande, weil unser normaler elterlicher Narzißmus verletzt wird, weil wir übertrieben perfektionistische Ambitionen für uns und unsere Kinder hegen, weil wir uns schuldig fühlen und glauben, unseren Kindern mehr geben zu müssen, und weil wir uns manchmal tatsächlich stark auf uns selbst konzentrieren. Der Konflikt äußert sich in bestimmten Verhaltensweisen: Wir zögern, unsere Kinder zu disziplinieren, und sind andererseits allzu nachsichtig; wir verlangen oft zuwenig, um wiedergutzumachen, daß wir ihnen vieles vorenthalten müssen; und dann wieder verlangen wir zuviel, um sicherzustellen, daß unsere Kinder in einer harten Welt zurechtkommen. Nur wenn wir diesen Konflikt verarbeiten, können wir darauf verzichten, um Liebe zu schachern, und statt dessen wieder zur altmodischen bedingungslosen Liebe finden, die es uns ermöglicht, »einfach zu handeln«. Wir stecken in der Zwickmühle, weil wir zuviel tun, um wiedergutzumachen, daß wir zuwenig tun. Um uns davon zu befreien, sollten wir uns bewußtmachen, daß weniger mehr sein kann und mehr weniger. Wenn wir weniger nachgiebig sind, haben wir mehr Freude am Elternsein und an unseren Kindern. Weniger Nachsicht bringt uns mehr, nicht weniger Liebe ein. Mehr Zeit mit unseren Kindern bringt weniger Streß und weniger Angst. Das führt uns wieder zum Problem der Zeit zurück. Wir müssen uns der Tatsache stellen, daß es nicht nur die Anforderungen der Arbeitswelt sind, die dazu führen, daß wir sowenig Zeit für unsere Kinder haben. Wir dürfen uns nichts -275-
vormachen, sollten unsere Alternativen betrachten und uns fragen, ob wir wirklich alles tun müssen, was auf unserem Terminkalender steht. Ehrlich gesagt, sind wir nach wie vor eine Generation, die glaubt, alles haben zu können, auch wenn wir erleben, daß sich nicht mehr alles wunschgemäß entwickelt. Wenn wir alles haben können, wollen wir auch alles machen, und deshalb können wir oft nicht genug Zeit für unsere Kinder erübrigen. Eltern sind erschöpft. Elternsein ist anstrengend. Manchmal ist die Arbeit, so ermüdend sie sein mag, weniger anstrengend als die Forderungen unserer Kinder. Vielleicht ertappen wir uns hin und wieder dabei, daß wir uns noch ein bißchen länger als nötig im Büro aufhalten oder zusätzliche Aufgaben übernehmen, um der schwierigen Situation zu Hause zu entgehen. Wenn wir zu einer solchen Notlösung greifen und uns vor den Erziehungsaufgaben drücken, entsteht für Eltern und Kinder nur ein noch größeres psychisches Chaos. Die Kinder und ihre Bedürfnisse verschwinden nicht einfach, der Druck wächst, und die Eltern stellen fest, daß sie sich noch erschöpfter und schuldiger fühlen. Unser Leben wird leichter, wenn wir dem Drang widerstehen, uns mit der nächstbesten Notlösung zu behelfen. Mehr Zeit mit unseren Kindern, nicht weniger, reduziert den Streß und bringt Ruhe in unser Elterndasein. Das Dorf muß gewiß etwas dazu beitragen, damit wir unbeschwerte Stunden mit unseren Kindern verbringen können. Unser Beitrag besteht darin, uns nicht so zu hetzen und uns von der Vorstellung zu befreien, wir könnten alles tun. Der Weg ins 21. Jahrhundert Heute, zum Beginn des 21. Jahrhunderts, wird den Eltern unterstellt, sie hielten sich nicht mehr an den Leitsatz »Für unser -276-
Kind wollen wir das Beste«. Statt dessen werde nur noch geprüft, was man einem Kind alles zumuten kann. Doch die Realität sieht anders aus. Eltern jonglieren - nicht mit dem, was zumutbar ist, sondern mit dem, was ihnen menschenmöglich ist. Es wird darüber spekuliert, ob die Kleinfamilie, wie wir sie kennen, nach der Jahrtausendwende weiter existieren wird. Familien werden sich trennen und in neuen Konfigurationen wieder zusammenkommen, die neue Geburtentechnologie wird unzählige Methoden der Familienplanung ermöglichen, und Elternpaare werden über die Schranken von Ethik und sexueller Identität hinweg zusammenfinden. Anthropologische Forschungen und Beobachtungen in unserem eigenen Land zeigen, daß die Familie eine überraschend flexible Institution ist. Was unverzichtbar bleibt, sind jedoch zuverlässige Betreuungspersonen, die in der Familie, ganz gleich welche Struktur sie hat, für die Kinder da sind. Mit anderen Worten, Elternsein kann nicht unmodern werden. Aber wir stehen heute vor der Herausforderung, wie wir unsere Aufgabe wahrnehmen und was wir anders machen sollten, um mit der Zeit Schritt zu halten, ohne gewisse unverrückbare Grundsätze einer gesunden kindlichen Entwicklung aus dem Blick zu verlieren. Zu Anfang der neunziger Jahre herrschte große Zuversicht. Manche sprachen vom »Jahrzehnt der Eltern«. Man glaubte, die Öffentlichkeit werde größere Unterstützung für Familien und Kinder einfordern. Das Zeitalter des Narzißmus war vorbei. Es wurde vorhergesagt, daß die Gesellschaft wieder mehr in Kinder investieren werde. Wenn wir heute Bilanz ziehen, besteht kein Grund mehr zum Optimismus. Ein führender amerikanischer Kongreßabgeordneter schlägt vor, die Kinder armer, lediger Mütter in Waisenhäusern unterzubringen. Die betroffenen Mütter sollen bestraft werden, weil sie jung, mittellos und unverheiratet sind. Eltern arbeiten mehr denn je, sehen aber die Zukunft ihrer Kinder in düsteren Farben. Das Gesetz zum -277-
Erziehungsurlaub, das endlich verabschiedet wurde, ist ein erster Schritt, richtet aber noch nicht viel aus. 1995 erschien in San Francisco auf der ersten Seite einer Tageszeitung ein Artikel mit der Überschrift: »Große Mehrzahl der Tagesstätten ist mittelmäßig: eine ernüchternde Bilanz - und der Kongreß erwägt Kürzungen«.6 Es ist nicht nur Wahlkampftaktik, wenn der Präsident der Vereinigten Staaten dem Mittelstand Versprechungen macht, denn er sieht, daß es echte Probleme gibt. Der einzige Grund zum Optimismus ist die wachsende Einsicht, daß bald etwas geschehen muß, wenn wir eine Nation von gesunden Kinder und gesunden Eltern bleiben wollen. Zum Beginn des 21. Jahrhunderts müssen Maßnahmen ergriffen werden, um die Situation unserer Kinder zu verbessern, und zwar sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft insgesamt. Das Dorf, das wir uns vorstellen, wird hoffentlich das Dorf der Zukunft sein. Dann werden unsere Kinder im Mittelpunkt stehen, und statt der doppelten Identität des Kind-Erwachsenen wird ein ganzheitliches Bild des Kindes entstehen, das ganz gemächlich seinen Weg von der Kinderstube zum Erwachsenendasein macht. Mein Beitrag mit diesem Buch besteht in einer psychologischen Analyse der mißlichen Lage, in der heutige Eltern stecken. Dabei habe ich auch das gesellschaftliche Milieu betrachtet, in dem Mütter und Väter ihre Kinder erziehen. Ich glaube, daß viele der inneren Konflikte, die Eltern heute erleben, unbewußt ablaufen. Indem ich sie ans Licht bringe, hoffe ich, Mittel und Wege zur Veränderung aufzuzeigen. Wie die Nächstenliebe, so kann auch eine Revolution der Erziehung in der Familie ihren Anfang nehmen. In diesem Sinne glaube ich, daß Einsicht und der Weg von der Verwirrung zur Klarheit nachhaltige Veränderungen herbeiführen kann. Wer eine Landkarte hat, fühlt sich viel stärker als ein Reisender, der sich ohne Hilfe durch unbekanntes Gelände schlägt, in dem zahllose Gefahren zu lauern scheinen. Es gibt kein Patentrezept für die Rettung der Kindheit, und -278-
jede Familie macht ihre einzigartigen Erfahrungen. Unsere Aufgabe besteht eher darin, Situationen mit neuen Denkansätzen zu beurteilen und eine andere Haltung zur Erziehung und zu unseren Kindern anzunehmen. Ich hoffe, daß dieses Buch etwas zur Entwicklung neuer Werte beiträgt und sich unsere Einstellung und unser Verhalten ändern, so daß wir nicht länger glauben, es geschehe uns »gerade recht«, daß wir vielmehr als Eltern zu handeln wagen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß ich dieses Buch für Eltern schreibe, die so gestreßt sind, daß sie keine Zeit für ihre Kinder haben, geschweige denn dazu, ein Buch zu lesen. Aber ich stelle mir vor, daß die Erfahrung, dieses Buch zu lesen und mit anderen darüber zu sprechen, eine Veränderung einleiten könnte. Dann werden wir ein neues Selbstgefühl als Eltern entwickeln und uns frei fühlen, uns die Frage zu stellen, warum wir mit unseren Kindern tun, was wir tun, und welche Alternativen uns offenstehen. Und für jene Leser, die selbst nicht Eltern sind oder ihre Kräfte anderen Eltern widmen, wünsche ich mir, daß sie mehr Einfühlungsvermögen und ein umfassenderes Verständnis für Eltern entwickeln, die ihre Aufgabe heute unter schwierigen Bedingungen bewältigen. Zum Abschluß möchte ich den Eltern eine Botschaft mit auf den Weg geben. Die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen wir erziehen, müssen verbessert werden. Wir können uns gegenseitig helfen und über uns selbst mehr Klarheit gewinnen. Wir müssen neue Werte entwickeln, so daß wir uns als aktiv Handelnde sehen, die ihre Sache gut machen, und nicht als Opfer, die versagen. Nur so können wir die Kindheit unserer Kinder retten. Im Verhältnis zu unseren Kindern sollten wir nicht länger auf den Thron verzichten, sondern unsere Stellung als Erwachsene akzeptieren. Kinder, deren Eltern als Herrscher abgedankt haben, kommen nicht gut zurecht. Um gute Eltern zu sein, müssen wir auf jeden Fall großzügig etwas von uns geben, aber wir dürfen uns nie unseren Kindern ausliefern. Es ist -279-
hilfreich zu wissen, daß unser elterlicher Narzißmus verletzt worden ist, aber noch mehr hilft es uns, wenn wir Mittel und Wege finden, ihn zu heilen, und wenn wir aufhören zu beklagen, was aus unseren Kindern nicht werden kann, und uns statt dessen daran freuen, was sie sind. In unserer eigenen Psyche können wir das Bild des Kind-Erwachsenen zerstören und aufhören, zwischen Leistungsdruck und Verwöhnen hin- und herzupendeln. Und am wichtigsten ist: Wir brauchen mehr Zeit. Wenn uns diese Veränderungen gelingen, geht es Eltern und Kindern gut.
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Anmerkungen Vorwort 1. A. L. Gesell und F. L. Ilg (1949), Child Development, New York, Harper & Company. Kapitel 1 1. Joan Ryan, »Rules of (Keeping Them Under Your) Thumb«, San Francisco Chronicle, 2. Februar 1997, S. 10. 2. Bruno Bettelheim, zit. bei Jon Stewart, »Bruno Bettelheim«, This World, San Francisco Chronicle, 18. September 1988, S. 11. 3. Regina Dickerson, »What's the Rush?«, Working Mother, November 1987, S. 155 und 157. 4. Juliet B. Schor (1991), The Overworked American, New York, Basic Books. 5. Zur wirtschaftlichen Situation der Babyboom-Generation in den achtziger Jahren vgl. Thomas S. Luech, »Baby-Boomers; Realities vs. Dream«, The New York Times, 6. März 1986. 6. Alice Kahn, The Alice Kahn Column, »Rebel with a Tapered Cause«, San Francisco Chronicle, 17. April 1988, S. A18. 7. Vgl. dazu Neu Postman (31983), Das Verschwinden der Kindheit, Frankfurt/M., Fischer. Postman zufolge liegt die Ursache für das Verschwinden der Kindheit in den veränderten kommunikativen Bedürfnissen unserer Gesellschaft. Da wir nicht mehr auf das geschriebene Wort angewiesen sind, ist mit der Einführung der gesprochenen Mitteilung und der visuellen Bilder in Fernsehen, Radio, Kino und auf Video eine eigenständige Kategorie der Kindheit irrelevant geworden. Im Gegensatz zum Schreiben, einer Fertigkeit, die ein Kind, das noch nicht das Vernunftalter erreicht hat -281-
(mit sieben Jahren), selten besitzt, muß man fernsehen nicht erst »erlernen«, ja, man muß dafür nicht einmal sprechen können. Jeder kann fernsehen, und Kleinkinder wie Erwachsene werden zur selben Zeit mit derselben Information durch dasselbe Medium beliefert. Wenn Lesen und die Erfindung des Buchdrucks für die eigenständige Kategorie der Kindheit sorgten, indem sich zwischen denen, die lesen konnten, und denen, die nicht lesen konnten, eine Kluft auftat, so wurde mit den elektronischen Massenmedien diese Trennung und damit die Notwendigkeit, ja die Erwünschtheit eines eigenen Status für Kinder aufgehoben. 8. David Elkind (1992), Das gehetzte Kind. Werden unsere Kleinen zu schnell groß?, Bergisch Gladbach, Gustav Lübbe Verlag. 9. Diane Curates, »Kindergarten Teachers' AIDS Curriculum«, San Francisco Chronicle, 27. Januar 1989. 10. Joan Ryan, a. a. O., S. 10. Kapitel 2 1. Sigmund Freud (1914), »Zur Einführung des Narzißmus«, in: Studienausgabe, Bd. III, Psychologie des Unbewußten, Frankfurt/M., S. Fischer, 1975, S. 57. 2. Vgl. ebd. 3. Lynne H. Williams, Henry S. Berman und Louisa Rose (1987), The Too Precious Child, New York, Atheneum. 4. Jonathan B. Levine und Amy Dunkin, »Tbddlers in $90 Suits? You Gotta Be Kidding«, Business Week, 21. September 1987, S. 52. 5. Statistik nach James Hirsch, »In TV and Films, äs in Life, Babies Are in Fashion Again«, The New York Times, 12. Oktober 1987. 6. Statistik nach Martha Smytes, »Older Parents: Good for Kids?«, Time, 10. Oktober 1988. -282-
7. Anzeige in San Francisco Examiner, 15. Januar 1989. 8. Vgl. z. B. Andrea Sachs, »When the Lullabye Ends«, Time, 4. Juni 1990; Barbara Kantrowitz, »The Long Goodbye«, Newsweek, 22. Oktober 1990. 9. Miriam Elson (1984), »Parenthood and the Transformation of Narcissism«, in: Rebecca S. Cohen, Bertram J. Cohler und Sidney H. Weissman (Hg.), Parenthood: A Psychodynamic Perspective, New York, Guilford Press. 10. Hillary Rodham Clinton (1996), Welt für Kinder, Hamburg, Hoffmann und Campe, S. 13 f. 11. Vgl. Lynne H.Williams, Henry S. Berman und Louisa Rose, a. a. O. 12. Sigmund Freud, a. a. O., S. 57. 13. Vgl. Bruno Bettelheim (1987), Ein Leben für Kinder. Erziehung in unserer Zeit, Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt, und David Elkind (1992), Das gehetzte Kind, Bergisch Gladbach, Gustav Lübbe Verlag. Kapitel 3 1. Bruno Bettelheim (1987), Ein Leben für Kinder. Erziehung in unserer Zeit, Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt, S. 56. 2. Donald W. Winnicott (1974), Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, München, Kindler. 3. Margaret S. Mahler, Fred Pine und Anni Bergman (1993), Die psychische Geburt des Menschen, Frankfurt/M., Fischer. 4. Heinz Kohut (1979), Die Heilung des Selbst, Frankfurt/M., Suhrkamp. 5. Daniel Stern (1996), Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart, Klett-Cotta. 6. Jessica Benjamin (1996), Die Fesseln der Liebe, Frankfurt/M., Fischer. 7. Christina Day, »Baby Love«, Working Mother, November -283-
1986, S. 190. 8. Zur Diskussion der Spiegelfunktion vgl. Donald W. Winnicott (1979), Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart, KlettCotta. 9. Andrew Ward, »Pop Culture: A Father Searches for Himself in His Newborn's Face«, Parenting, April 1996, S. 7. 10. Lucinda Franks, »Little Big People«, The New York Times Magazine, 10. Oktober 1993, S. 34. 11. Ebd., S. 31. 12. Lynne H. Williams, Henry S. Berman und Louisa Rose (1987), The Too Precious Child, New York, Atheneum, S. XI. 13. Vgl. Sylvia Hewlett (1991), When the Bough Breaks: The Cost of Neglecting Our Children, New York, Harper Perennial. 14. Vgl. Anne Cassidy, »Why Two Kids Are Enough«, Working Mother, Februar 1990. 15. Lucinda Franks, a. a. O., S. 34. 16. Ruth Steine, »The Choices Mothers Must Make«, San Francisco Chronicle, 29. Oktober 1992, S. D3-D5. 17. Anna Quindlen, »Is ›Quality‹ Time Really as Good as a Good Time?«, The New York Times, 9. Juni 1988. 18. Benjamin Spock (1990), Eltern: Perspektiven in schwieriger Zeit, Ravensburg, Otto Maier Verlag, S. 134. 19. Melvin Konner, »Where Should Baby Sleep?«, The New York Times Magazine, S.Januar 1989. 20. Work and Family, »An American Family«, The Wall Street Journal, 21. Juni 1993, S. Rll. 21. Carol Lawson, »When Day Gare Begins with the Night Shift«, The New York Times, 14. März 1993, S. Bl. 22. Zur Erläuterung der Selbstbezogenheit bei Erwachsenen vgl. Sylvia Hewlett, a. a. O., S. 129. 23. Jon Stewart, »Bruno Bettelheim«, This World, San -284-
Francisco Chronicle, 18. September 1988, S. 9. 24. Katy Butler, »Baby Boom's ›Super-Couples‹ Have Money to Burn«, Baby Boom of the 80s [Sonderbericht], San Francisco Chronicle, 16. Oktober 1984, S. AI. 25. Philippe Aries (1975), Geschichte der Kindheit, München, Hanser Verlag. 26. Deborah Hofman, »For School, Children Want Adult Styles«, The New York Times, 28. August 1989; Mandy Behbehani, »Power Duds for Children«, San Francisco Examiner, 3. September 1989; Mary Talbot, »Showing Too Much, Too Soon«, Newsweek, 26. April 1993. 27. Nancy Chodorow (11990), Das Erbe der Mütter. Psychoanalyse und Soziologie der Geschlechter, München, Frauenoffensive. Kapitel 4 1. Regina Dickerson, »What's the Rush«, Working Mother, November 1987, S. 155. 2. Diane Ehrensaft (1987), Parenting Together: Men and Women Sharing the Care of Their Children, New York, The Free Press. 3. »More Time for Parenting Means More Stress over Work«, The Wall Street Journal, 13. März 1991. 4. Juliet B. Schor (1991), The Overworked American, New York, Basic Books. Schor berichtet von einer Umfrage im Jahr 1989, bei der fast zwei Drittel der Befragten angaben, auf einen Teil ihres Gehalts verzichten zu wollen (auf durchschnittlich 13 Prozent); ein Viertel der Befragten war nicht bereit, einen Teil ihres Einkommens zu opfern. 5. Cathy Trost und Carol Hymowitz, »Careers Start Giving in to Family Needs«, The Wall Street Journal, 18. Juni 1990. 6. Umfrage zit. bei Lynn Smith und Bob Sepchen, »Workers Carve Time with Kids«, San Francisco Chronicle, 13. August -285-
1990. 7. Janice Castro, »The Simple Life«, Time, S.April 1991. 8. Ebd. 9. Juliet B. Schor, a. a. O., S. 164. Kapitel 5 1. Michael Schwartzman (1990), The Anxious Parent, New York, Simon and Schuster, S. 276. 2. Sara Davidson, »Kids in the Fast Lane«, The New York Times Magazine, 10. Oktober 1988, S. 74. 3. John B. Watson zitiert nach Barbara Ehrenreich (1994), Angst vor dem Absturz, Reinbek, Rowohlt, S. 86f. Originalquelle: John B. Watson (1929), Psychische Erziehung im, frühen Kindesalter, Leipzig, S. XlXf. 4. Das genaue Zitat von John B. Watson, ebd., S. XIX f., lautet folgendermaßen: »Gebt mir ein Dutzend Kinder und eine Welt, in der ich sie aufziehen kann. Dann garantiere ich, daß ich jedes von ihnen auf die Besonderheit zu trainieren imstande bin, die ich möchte: Arzt, Rechtsanwalt, Künstler, Unternehmer oder auch Bettler und Dieb, ungeachtet seiner Begabung, Vorlieben, Neigungen, Fähigkeiten, seiner Berufung und der Rasse seiner Vorfahren.« 5. B. F. Skinner (1973), Wissenschaft und menschliches Verhalten, München, Kindler. 6. A. L. Gesell und F. L. Ilg (1949), Child Development, New York, Harper and Company. Dort heißt es: »Die Entwicklung einer Persönlichkeit hängt von unverwechselbaren und angeborenen Faktoren ab, die so alt und so eingefleischt sind, daß man sich nicht straflos über sie hinwegsetzen kann, auch nicht in einer hochentwickelten Kultur« (S. 37). 7. Deborah Franklin, »What a Child Is Given?« The New York Times Magazine, 3. September 1989, S. 36. 8. Nach Daniel Coleman, »Major Personality Study Finds -286-
That Traits Are Mostly Inherited«, The New York Times, I.Januar 1986. 9. Zu einer vollständigen Erörterung und Datensammlung zum Thema der Widerstandskraft von Kindern vgl. E. James Anthony und Bertram J. Cohler (Hg.; 1987), The Invulnerable Child, New York, Guilford Press. 10. Lawrence Diller, »Not Seen and Not Heard«, Family Therapy Networker, Juli/August 1991, S. 20. 11. Anastasia Touflexis, »Struggling for Sanity«, Time, S.Oktober 1990, S. 48. 12. Janna Malamud Smith, »Mothers: Tired of Taking the Rap«, The New York Times Magazine, 10. Juni 1990, S. 38. 13. Lewis Carroll (1989), Alice im Wunderland, Frankfurt/M., Insel, S. 87. 14. Torri Minton, »Bay Area Parents Feeling Frustrated«, San Francisco Chronicle, 1. Oktober 1991, S. AI. 15. Alice Miller (1979), Das Drama des begabten Kindes, Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 124 f. 16. Katy Butler, »Baby Boom's ›Supercouples‹ Have Money to Burn«, Baby Boom of the 80s [Sonderbericht], San Francisco Chronicle, 16. Oktober 1984, S. AI. 17. Emily Mitchell, »Look Who's Listening Too«, Time, 30. September 1991, S. 76. 18. Nicole Wise, »Educational TV for the Under-12-Months Set«, San Francisco Chronicle, 27. Mai 1991. 19. »What Can a Baby See?«, Wimmer-Ferguson Child Products, Copyright 1988. 20. David Perlman, »Education of Babies Shown to Boost IQs«, San Francisco Chronicle, 10. Februar 1996, S. 1. 21. Anne C. Roark, »Bringing Up Baby Is a Faddish Affair«, This World, San Francisco Examiner, 9. Oktober 1988, S. 15 und 20. -287-
22. Jane Eider, »The Superbaby Burnout Syndrome«, Education Section, The New York Times, S.Januar 1989, S. 32. 23. Sara Davidson, a. a. O., S. 52. 24. Diane Curtis, »Kindergartens Get Picky«, San Francisco Chronicle, 18. Mai 1994, S. 1. 25. David Elkind, »Miseducation«, Parents, Oktober 1987; David Elkind (1989), Wenn Eltern zuviel fordern. Die Risiken einer leistungsorientierten Früherziehung, Hamburg, Hoffinann und Campe. 26. Sara Davidson, a. a. O. 27. Sue Mittenthal, »Kindergarten: Starting Older and Wiser«, The New York Times, 20. November 1986. 28. Anna Quindlen, »You Helped Put ›Human‹ in Human Being«, The New York Times, 10. Dezember 1986, S. 17. Kapitel 6 1. Benjamin Spock (1988), Eltern: Perspektiven in schwieriger Zeit, Ravensburg: Otto Maier Verlag, S. 37. 2. Vgl. Jerry Adler mit Pat Winger, Lynda Wright, Patrick Houston, Howard Manly, Alden Cohen, »Hey, I'in Terrific«, Newsweek, 17. Februar 1992,5.46-51. 3. Jean G. Fitzpatrick (1988), The Superbaby Syndrome, New York: Harcourt Brace Jovanovich, S. 74. 4. Persönliche Mitteilung von Kitty Moore, meiner Lektorin bei The Guilford Press. 5. Siehe E.James Anthony (1992), »The Essential Human Child and His Cultural Counterparts: An Epilogue for an International Congress«, in: E. James Anthony und Colette Chiland (Hrsg.), The Child in His Family: Children in Turmoil: Tomorrow's Parents, New York: John Wiley and Sons, S. 309326. 6. »Are Children Now Lacking the Time Just to Be Kids?«, Wall Street Journal Staff Reporters, The Wall Street Journal, 19. -288-
Januar 1988. 7. Piraro, »Bizarro«, San Francisco Chronicle, 27. August 1995. 8. Donna Cole, »You Could Look It Up - But Don't«, Newsweek, 4. Oktober 1993, S. 22. 9. Diese Geschichte stammt aus der Arbeit der Anthropologin Ruth Benedict. Sie wird von E.James Anthony (siehe Anm. 5) wiedergegeben. 10. Wie in dem Buch The Too Precious Child nachzulesen ist, werden »Jugendliche heute unter Druck gesetzt, damit sie die richtige Vorschule, das richtige Computer-Camp, das richtige College besuchen, aber man verlangt selten von ihnen, etwas zu tun, das in der Alltagswelt von Bedeutung ist.« (Lynne H. Williams, Henry S. Berman und Louisa Rose [1987], The Too Precious Child, New York, Atheneum, S. 188) 11. Ausführlicher erläutert wird dies bei Donald W. Winnicott (1974), Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, München: Kindler. 12. Vgl. Steven Waldman und Karen Springen, »Too Old, Too Fast?«, Newsweek, 16. November 1992, S. 80-88. 13. Ebd., S. 80. 14. Alice Miller (1979), Das Drama des begabten Kindes, Frankfurt/M.: Suhrkamp, befaßt sich mit Kindern, die darunter leiden. Kapitel 7 1. David Elkind (1994), Ties That Stress, Cambridge, MA: Harvard University Press, S. 227. 2. Siehe Margaret S. Mahler, Fred Pine und Anni Bergmann (1993), Die psychische Geburt des Menschen, Frankfurt/M.: S. Fischer; hier wird das Konzept der Angst vor dem Verlust des Objekts und der Angst vor dem Verlust der Liebe des Objekts in der frühkindlichen Entwicklung erörtert. -289-
3. Siehe Margaret S. Mahler, Fred Pine und Anni Bergmann (vgl. Anm. 2) zur »Wiederannäherungskrise« im zweiten Lebensjahr. 4. »Boy's Bid to ›Divorce‹ Mom«, San Francisco Chronicle, 25. September 1992; Mitchell Landsberg, » ›Divorce‹ from Mother not a Likely Trend-Setter«, San Francisco Examiner, 27. September 1992. 5. Mit dem Phänomen der Angst vor der Ablehnung durch die Kinder befaßt sich Bruno Bettelheim (1987), Ein Leben für Kinder. Erziehung in unserer Zeit, Stuttgart: Deutsche VerlagsAnstalt. 6. Margaret Brownley, »A Tale of Two Mothers«, Working Mother, September 1987, S. Ulf. 7. Zitiert nach Jerry Carroll, »What to Do with the Kids?«, San Francisco Chronicle, 17. November 1993, S. B3. 8. Siehe Glenn Collins, »A Survey of Parents' Views«, The New York Times, 26. September 1986. S. Bl. 9. Daniel Goleman, »What Do Children Fear Most? Their Answers Are Surprising«, The New York Times, 17. März 1988, S. Y21. 10. Vgl. Anne Remley, »From Obedience to Independence«, Psychology Today, Oktober 1988, S. 56-59. 11. Persönliche Mitteilung von Dr. Eileen Keller, Oktober 1992. 12. Persönliche Mitteilung von Bonnie Rottier, 22. November und 6. Dezember 1993. Kapitel 8 1. »What Grown-Ups Don't Understand about What It's Like to Be a Child«, For the Sake of Children, The New York Times Magazine, Sonderausgabe, 8. Oktober 1995, S. 51. 2. Joy Overbeck, »Sex, Kids, and the Slut Look«, Newsweek, 26. Juli 1993, S.S. -290-
3. Lucinda Franks, »Little Big People«, The New York Times Magazine, 10. Oktober 1993, S. 31. 4. Lawrence Zuckerman, »Out of the Mouth of Babes«, Time, 7. November 1988. 5. Ellen Graham, »As Kids Gain The Power of the Purse, Marketing Takes Aim at Them«, The Wall Street Journal, 19. Januar 1988. 6. Interview, durchgeführt von Melissa Ludtke, Time, Sonderausgabe: Through the Eyes of Children, S.August 1988. 7. Emma Span, »This Is My Life«, Parenting, Dezember/Januar 1995, S. 108. 8. Letter from the Publisher, Time, Sonderausgabe: Through the Eyes of Children, S.August 1988. 9. Melissa Fay Greene, »Childhood Lost«, Parenting, Dezember/Januar 1995, S. 101. 10. Jules Feiffer, »This World«, San Francisco Examiner, 20. September 1992. 11. Theopia Jackson, Student Journal, Advanced Child Clinical Seminar, The Wright Institute, Dezember 1993. 12. James Willwerth, »Hello, Fm Home Alone...«, Time, I.März 1993. 13. »30% in Teen-Ager Survey Considered Suicide«, The New York Times, 14. September 1988. 14. Carnegie Council on Adolescent Development, Great Transitions, Oktober 1995. 15. Thomas M. Achenbach und Catherine T. Howell (1993), »Are American Children's Problems Getting Worse? A 13-\ear Comparison«, Journal ofthe American Academy of Child an Adolescent Psychiatry,Vo\. 32, S. 1145-1154. 16. Steven Waldman und Karen Springen, »Too Old, Too -291-
Fast?«, Newsweek, 16. November 1992, S. 81. 17. Matthew Wald, »In New England Especially, Low Unemployment Spurs a New ›Child Labor‹ «, The New York Times, 4. April 1992, S. 7. 18. Zitiert nach Nell Bernstein, die diese Behauptungen in Mademoiselle fand; vgl. Nell Bernstein, »The No-Sale Generation«, San Francisco Examiner Image Magazine, 3. Februar 1991, S. 6. 19. Ergebnisse einer Umfrage, zitiert nach Jerry Carroll, »Young People Living in ›Prozac Nation‹ «, San Francisco Chronicle, 28. September 1994. 20. Jane Bryant Quinn, »The Luck of the Xers«, Newsweek, 6. Juni 1994. 21. David M. Gross und Sophonia Scott, »Proceeding with Caution«, Time, 16. Juli 1990, S. 56-62. 22. Gregory Heller, Senior Class Speaker, the Thirty-First Commencement of Pitzer College, Claremont, California, 14. Mai 1995. 23. Zitiert nach David M. Gross und Sophonia Scott, a. a. O., S. 58. Kapitel 9 1. Penelope Leach (1996), Kinder sind die Erwachsenen von morgen. Plädoyer für eine kindgerechte Welt, München: Knaur, S. 22. 2. Zitiert bei Gwen Kinkead, »Spock, Brazelton and Now... Penelope Leach«, The New York Times Magazine, 10. April 1994, S. 54. 3. Diese Ergebnisse zitiert Sue Shellenberger, Work and Family, »Moms and Dads Are the Scariest Monsters on Any Screen«, The Wall Street Journal, 26. Oktober 1994, S. 1. 4. Hillary Rodham Clinton (1996), Welt für Kinder, Hamburg: Hoffmann und Campe, S. 13 f. -292-
5. Siehe Donald W. Winnicott (1963), »Von der Abhängigkeit zur Unabhängigkeit in der Entwicklung des Individuums«, in Reifimgsprozesse und fördernde Umwelt, München: Kindler, S. 106-119. 6. Barbara Vobedja, »Huge Majority of Day Gare Centers Called Mediocre«, San Francisco Chronicle, 6. Februar 1995, S. A3.
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