Nellie, deren Mutter die Familie verließ, hat eine schwere Zeit hinter sich. Ihr Vertrauen in Liebe und Verlässlichkeit ...
17 downloads
202 Views
624KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nellie, deren Mutter die Familie verließ, hat eine schwere Zeit hinter sich. Ihr Vertrauen in Liebe und Verlässlichkeit sind so stark erschütter worden, dass sie das Lachen verlernt hat. Doch seit sie in dem Heim für behinderte Kinder arbeitet, den Kummer, aber auch die Hilfsbereitschaft und die Zuversicht anderer erlebt, get es aufwärts. Und dass sich ausgerechtnet der umschwärmte George für sie interessiert, ist natürlich super – bis George offen zeigt, was er wirklich von ihr will und Nellie so auf eine harte Probe stellt… Originalausgabe „Three Summers On“ 1987 by CORA Verlag
Band 168 (162) 1987
Scanned & corrected by SPACY Diese digitale Version ist FREEWARE und nicht für den Verkauf bestimmt
-1-
Jill Young WENN DIE SONNE WIEDER LACHT
Fast drei Jahre ist es her, dass Nellies Mutter die Familie verließ, doch Nellie hat den Schlag bis heute nicht verwunden. Ganz langsam nur kehren Vertrauen und Lachen in ihr Leben zurück. Besonders seit sie in einem Heim für behinderte Kinder arbeitet. Die Liebe und die Hilfsbereitschaft, die ihr dort auf Schritt und Tritt begegnen, machen Nellie stark. Und da sich auch noch der umschwärmte Dan für sie interessiert, findet sie natürlich super! Aber trotzdem ist es nicht George, der schließlich ihr Herz erobert – auch wenn der sympathische, schon lange in Nellie verliebte Jim fest davon überzeugt ist, dass kein anderer als George bei Nellie landen kann…
-2-
1. KAPITEL „Du schaffst es, Nellie", sagte Mark. Dann tat er etwas Erstaunliches. Er küßte mich. Nicht auf den Mund oder irgendwie leidenschaftlich, nur auf die Wange. Trotzdem flippte ich beinah aus. Wir standen unter der hohlen Eiche, in der wir uns als Kinder immer versteckt hatten, und ich hätte vor Glück weinen können. „Hoffentlich hast du recht", meinte ich, nachdem ich meine Sprache wiedergefunden hatte. „Natürlich habe ich recht. Du wirst mal ganz groß rauskommen, wart’s nur ab." „Glaubst du wirklich?" „Ich glaube es nicht nur, ich weiß es. Du hast in den letzten paar Monaten enorme Fortschritte gemacht. Wenn es so weitergeht, brauchst du dir wegen deiner Noten nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Und nächstes Jahr um diese Zeit kannst du dann schon deinen Abschluß in Angriff nehmen. Nur damit du es weißt: ich bin wirklich stolz auf dich." Er lächelte, und mein Herz schlug einen Purzelbaum. „Eines Tages werde ich damit angeben können, die berühmte Nellie Carter gekannt zu haben." Ich kicherte verlegen und schwang mich auf einen tief herabhängenden Ast. Was soll man auch sagen,. wenn einem der Mann, den man ausgesprochen gern hat, solche Komplimente macht? Mark steckte den Autoschlüssel ins Türschloß. „Hast du für diesen Sommer etwas Besonderes vor?" -3-
Einen Augenblick lang glaubte ich, er würde vorschlagen, daß wir gemeinsam, etwas unternehmen sollten. Doch der Gedanke war zu verrückt. Ich war erst sechzehn, er siebenundzwanzig und dazu der bestaussehende Mann in ganz Hobleigh. Abgesehen davon war er der Sozialarbeiter, den man mir zugewiesen hatte, nachdem Mom weggelaufen war. Er sollte mich dazu bewegen, wieder zur Schule zu gehen, was ihm bisher allerdings nicht gelungen war. „Ich weiß noch nicht genau, was ich mache", antwortete ich. „Dad hatte da so eine Idee. Er meinte, ich soll bei Freunden von Mrs. Lawton in Dorset arbeiten." „Wirklich? Ich kenne Peggy Lawton und ihr Antiquitätengeschäft gut." „Das in Dorset ist ein Ferienheim für behinderte Kinder. Mark hörte auf, mit den Wagenschlüsseln herumzuspielen, und sah mich nachdenklich an. „Das wäre eine gute Erfahrung für dich. „Ja, kann sein." Mißmutig scharrte ich mit dem Turnschuh in der Erde herum. „Was gefällt dir denn nicht an der Schule?" Ich zuckte mit den Achseln., ,,Eigentlich nichts." Ich konnte ihm ja schlecht sagen, daß ich lieber in Hobleigh geblieben wäre, weil dann wenigstens eine kleine Chance bestand, ihm im Einkaufszentrum oder in der Sportanlage zu begegnen. „Fährst du über die Ferien weg?“ fragte ich in der Hoffnung, er würde nein sagen. ,,Darauf kannst du Gift nehmen!" Seine blauen Augen funkelten. „Nach Kreta. Schwimmen, windsurfen, faul in den Tavernen und am Strand herumlungern. Das braucht der Mensch nach einem harten Winter." Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Da wünsche ich dir -4-
viel Spaß." „Danke." Er setzte sich in den Wagen und kurbelte. die Scheibe herunter. „Übrigens, was ich dir noch sagen wollte: du mußt an deinem ersten Schultag im Herbst nicht. allein zur Schule gehen. Mylady werden von Tür zu Tür chauffiert. Ich zog eine Grimasse. „Geführt, meinst du, und zwar gefesselt, geknebelt und in Handschellen." Eine Weile schaute er mich nur an. Dann meinte er: „Niemand zwingt dich, wieder in die Schule zu gehen, Nellie, aber wenn du vorankommen willst, hast du in einer Klasse bessere Chancen als zu Hause mit einem Privatlehrer, selbst mit einem so guten, wie Mr. Steadman." „Ich sehe nicht ein, warum." Natürlich wußte ich, daß er recht hatte, aber so konnte ich ihn vielleicht noch eine Zeitlang aufhalten. Wenn er, erst einmal abgefahren war, würde ich ihn für beinahe zwei. Monate nicht mehr sehen. Mit einem gespielten Seufzer fuhr, er sich durch das dichte blonde Haar. „Wir haben das doch alles schon zigmal durchgekaut. In der Klasse kannst du dich mit den anderen messen; kannst mit ihnen diskutieren. Du hast jetzt fast drei Jahre allein gearbeitet, nun wird es Zeit, daß du wieder richtig einsteigst und lernst, mit dem fertigzuwerden. Darin hast du dem Psychiater zugestimmt. Du mußt wenigstens den Versuch machen, zurück zur. Schule zu gehen, bevor du einen ständigen Komplex bekommst wegen na ja, eben wegen all dem, was dich vor drei Jahren krank gemacht hat. Und wenn du erst einmal das große. Geld verdienst..." „Haha", unterbrach ich ihn. „Sehr witzig. Geh und versprüh deinen Witz in den Tavernen. Vielleicht können die anderen Touristen darüber lachen.“ Er grinste. „Du bist nicht so stark, wie du gern scheinen -5-
willst. In mancher Hinsicht bist du eine kleine Hochstaplerin. Trotzdem hab ich gern mit dir gearbeitet. Du warst eine phantastische Patientin, und ich werde deine zukünftigen Erfolge im Auge behalten:" „Falls es welche geben sollte." „Ich glaube nicht, daß du dir deswegen Sorgen machen mußt." Lachend hob er die Hand zu einem Abschiedsgruß, ließ den Motor an und stob davon. Dabei wirbelte der Wagen eine dicke Staubwolke auf. Ich schlenderte den Pfad zurück und dachte über den Kuß nach. Warum ausgerechnet heute? Mark hatte mich noch nie zuvor geküßt. Es sah beinah nach einem endgültigen Abschied aus. Natürlich, beruhigte ich mich selbst, schließlich ist er schon halb auf dem Weg nach Kreta, und ich will nach Dorset. Ich schloß die Augen und rief mir noch einmal das Gefühl der Nähe in Erinnerung, den Duft seines Rasierwassers und die Berührung seiner Lippen auf meiner Wange. Ich war selig. Doch als ich dann ins Haus ging, fühlte ich mich schon wieder irgendwie unbehaglich. Dad machte gerade in der Küche Tee. Eines muß man ihm zugute halten: In den drei Jahren ohne Mom hat er sich vor keiner Hausarbeit gedrückt und auch nie von mir erwartet, daß ich alles allein mache, obwohl die meisten Männer in Hobleigh nach der Arbeit wie tot vor dem Fernseher lagen, bis man ihnen den Tee vorsetzte. Bevor Mom weglief, war Dad genauso gewesen, und vielleicht hatte sie es einfach satt gehabt, ihn zu bedienen. Keine Ahnung. Jedenfalls dachte ich oft an sie. Das Schlimmste dabei war die Ungewißheit Ich wußte ja nicht einmal, ob sie noch am Leben war. Manchmal wünschte ich ihr fast den Tod für das, was sie uns mit ihrem Abgang angetan hatte. Dad ist schließlich kein Ungeheuer. Er ist ein -6-
ruhiger Typ und sieht nicht mal schlecht aus, wenn man hagere blonde Männer mit schmalem, ausdrucksvollem Gesicht mag. Er ist auch stärker als es scheint, richtig drahtig eben. Das Problem ist, daß er kaum jemals etwas sagt. Man könnte meinen, er habe bei seiner Geburt ein Schweigegelübde abgelegt. Mom dagegen redete immer wie ein Wasserfall. Man mußte sie buchstäblich überschreien, wenn man gehört werden wollte. Dad kümmerte das nicht. Er ignorierte Mom einfach, und das machte sie natürlich rasend. Ich hab selbst gesehen, wie sie ihm beim Frühstück seine Cornflakes mit Milch und allem drum und dran über den Kopf kippte. Er wischte sich das Zeug ab, nahm seine Jacke und ging. Eine Sekunde später war ich ebenfalls draußen, denn wenn Mom in diesem Zustand war, kam man ihr besser nicht in die Quere. Dad arbeitete bei der Eisenhandlung Pierce in der Hauptstraße. Mr. Pierce sagte immer scherzhaft; daß er sein Gewicht in Eisenspänen wert sei. Deshalb aber mal um eine Gehaltserhöhung zu bitten, lehnte Dad rundweg ab. Wenn ich ihn darauf ansprach, murmelte er nur etwas davon, daß er froh sein könne, mit seinen zweiundfünfzig Jahren eine feste Arbeit zu haben. Ehrlich gesagt, solche Bemerkungen regen mich auf. Wie üblich übernahm ich auch an diesem Abend freiwillig das Salatwaschen, da ich beim Essen nicht den halben Garten zwischen den Zähnen haben wollte. „Hast du noch einmal über dieses Heim für behinderte Kinder nachgedacht?" fragte Dad, als wir uns an den Tisch setzten. Ich zuckte mit den Schultern. „Ein bißchen." Dann wiederholte ich Marks Worte: „Ist vielleicht eine gute Erfahrung." Mein Vater sah mich scharf an. Offenbar war er sich -7-
nicht sicher, ob ich das ernst meinte oder ihn nur auf den Arm nehmen wollte. Ich tat so, als würde ich es nicht merken. In Gedanken sah ich Mark vor mir, die Hand mit dem glänzenden goldenen Siegelring zum Abschied erhoben. Moment mal! Irgend etwas stimmte hier nicht. Hatte er den Ring schon früher gehabt? Bestimmt. Vielleicht war er mir nur nicht aufgefallen. Man trug nicht plötzlich neue Ringe, wenn man nicht Geburtstag hatte oder etwas Ähnliches: Marks Geburtstag war erst im Dezember. Und noch etwas fiel mir auf. Er hatte nicht „bis bald" gesagt, wie sonst immer. Aber er hatte gewitzelt, daß er mich am ersten Tag zur Schule fahren würde, und das kam schließlich auf dasselbe heraus. „Ich würde gern wissen, wann ich mit der Arbeit bei Mrs. Lawtons Freunden anfangen könnte", überlegte ich laut. Dad suchte nach dem Sportteil der Lokalzeitung. „Wenn du es wirklich ernst meinst, gehst du am besten zu ihr ins Geschäft und fragst sie." „Natürlich meine ich es ernst. Aber wie ist es mit dir? Kommst du ohne mich zurecht? Sechs Wochen sind eine lange Zeit." Er schnaubte verächtlich. „Es wird so glatt gehen wie Rizinusöl durch einen Kanarienvogel." „Dad! Mußte das sein?" Ehrlich, manchmal war mein Vater unmöglich! Ich spähte durchs Fenster in Mrs. Lawtons Antiquitätengeschäft. Die alte Dame war in dem winzigen Büro hinter dem Ausstellungsraum mit irgendeiner Arbeit beschäftigt. Nachdem ich mein Rad abgeschlossen hatte, -8-
läutete ich an der Tür. Sie machte sofort auf, ohne vorher nachzuschauen, wer es war. Wirklich dumm von ihr. Schließlich hätte auch alles mögliche Gesindel vor der Tür stehen können. „Nellie, was für eine Überraschung!" Sie führte sich auf, als sei ich eine lang verschollene Verwandte oder so. „Du kommst genau richtig. Ich hab heute morgen einen Früchtekuchen gebacken." Am liebsten wäre ich gleich wieder umgekehrt. Mrs. Lawsons Früchtekuchen waren in ganz Hobleigh berüchtigt. Sie tauchten überall auf, sogar auf der örtlichen Antiquitätenmesse. Ich weiß nicht, wer sie kauft, denn man kann sie nur als Türpuffer verwenden. Trotzdem folgte ich ihr in die Küche, während sie mir vorschwärmte, wie hübsch ich geworden sei.. Unnötig zu sagen, daß mir das runterging wie Öl. Wer hört so etwas nicht gern? „Du hast die wundervollen grünen Augen und das blonde Haar deiner Mutter, Nellie, du Glücklicher Und von deinem Vater hast du die langen Beine. Ich wette, du läufst wie ein Hase.“ Darin hatte sie recht. Im Laufen war ich gut, aber ich, wünschte, sie hätte Mom nicht erwähnt. Ich haßte es, wenn die Leute so taten, als sei alles in Ordnung in unserer Familie. Andererseits wußte ich, daß Mrs. Lawton es nicht so meinte. Normalerweise mißtraue ich Leuten, die einem schmeicheln, weil man nie weiß, was dahintersteckt. Mrs. Lawton ist eine Ausnahme, sie ist okay. Ihr Mann war vor ungefähr sechs Monaten gestorben, und seitdem redete sie noch mehr als früher. Ich glaube, sie war einsam. Auf dem Küchentisch thronte der berühmte Früchtekuchen. „Ich mach uns eine Tasse Tee dazu", sagte Mrs. Lawton. „Vielen Dank, aber ich hab gerade Tee getrunken", -9-
wehrte ich ab. Ich wollte die alte Dame ja nicht kränken. Sie sah enttäuscht aus. „Sag bloß, du magst, meinen Kuchen nicht." „Doch, doch, natürlich mag ich ihn", antwortete ich feige. „Nur bin ich schon ziemlich satt." „Ein Stück wirst du bestimmt schaffen." Damit schnitt sie mir ein Stück von der Größe der Westminster Abtei ab. Stolz führte sie mich in ihr Wohnzimmer, das mit alten Fotografien und tausend Nippsachen auf winzigen Tischen vollgestopft war. Es roch nach Blumen und Möbelpolitur. Überall lagen abgefallene Blütenblätter, so daß es aussah, als stünden die Möbel in einem See aus gelbem Konfetti. „Gibt es einen besonderen Grund für deinen Besuch?" fragte sie schließlich, nachdem wir es uns mit den Tellern auf den Knien so gutes eben ging bequem gemacht hatten. „Ja. Wenn der Job in dem Ferienheim für behinderte Kinder noch zu haben ist, würde ich ihn gern annehmen. „Das freut mich", rief sie und wippte aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her. Ich beobachtete sie leicht beunruhigt, denn sie brachte gut fünfundneunzig Kilo auf die Waage, und der Stuhl war mindestens 200 Jahre alt. „Es wird dir dort bestimmt gefallen. Du mußt zwar hart arbeiten, aber ich habe das Gefühl, daß du mit den Kindern gut zurechtkommen wirst. Und Freundinnen findest du sicher auch bald, da einige Mädchen aus dem Ort ebenfalls für Bill und Jane arbeiten. Magst du Ziegenmilchjoghurt?" „Ziegenmilchjoghurt?" Beinahe hätte ich mich an einer verbrannten Rosine verschluckt. „Ich weiß nicht recht." „Er schmeckt köstlich Sie machen ihn in Finchings selbst. Der Ort liegt übrigens direkt am Meer, so daß du in deiner Freizeit schwimmen gehen kannst. Ach, Kind, es wird dir guttun, ein paar Wochen wegzukommen. - 10 -
Ich haßte es, wenn mich jemand „Kind“ nannte, aber Mrs. Lawton konnte ich einfach nicht böse sein. „Wann soll ich denn dort anfangen?" fragte ich: „Sobald wie möglich, nehme ich an. Ich werde mich erkundigen und dir Bescheid sagen. Ich kann dich auch hinfahren, dann muß dein Vater sich nicht extra frei nehmen. Sieht mein Garten nicht phantastisch aus?" Die alte Dame hatte die verwirrende Angewohnheit, urplötzlich das Thema zu wechseln. Man mußte praktisch Gedanken lesen können, wenn man ihr folgen wollte. „Er ist wunderschön", stimmte ich ihr mit einem Blick durch die Glastüren zu. Was ich sah, waren Massen verwildeter Rosen und riesige Büsche mit blauem Rittersporn auf beiden Seiten eines lavendelgesäumten Pfades. Straford, der getigerte Kater, kam den Weg entlanggeschlichen. Heimtückisch beobachtete er einen unschuldigen Schmetterling. Ich hätte am liebsten meinen Kuchen nach ihm geworfen. „Wie schön, daß du zum Herbst wieder zur Schule gehen kannst"; sagte Mrs. Lawton gerade und wischte sich ein paar Kuchenkrümel von der Brust. „Obwohl du die Besuche von Mark Field bestimmt vermissen wirst. Er ist so ein netter Junge. Mir wird er auch fehlen, wenn er jetzt heiratet und nach Leeds geht." „Leeds? Mark?" Ich mußte mich wohl verhört haben. „Ja, seine Verlobte wohnt dort. Sie ist Lehrerin, und die beiden gehen davon aus, daß es für ihn einfacher ist, dort einen Job im Sozialdienst zu finden als für sie hier einen als Lehrerin.: Natürlich tut er alles für sie. Denk nur daran, wieviel Zeit er dir während deiner Krankheit gewidmet hat. Ich fürchte, es wird schwer werden, einen Ersatz für ihn zu finden. Von diesem jungen Mann wird man noch hören, denk an meine Worte." - 11 -
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Entschuldigen Sie, Mrs. Lawton, aber Sie müssen da etwas falsch verstanden haben. Mark Field fährt zwar bald nach Kreta, aber danach kommt er bestimmt nach Hobleigh zurück. Er bringt mich am ersten Schultag zur Schule, weil ich mich allein wahrscheinlich nicht trauen würde. Das weiß er, wir haben darüber geredet, verstehen Sie? Er hat es mir versprochen. Es ist alles abgemacht." Mrs. Lawtons Gesicht fiel irgendwie in sich zusammen. Rasch legte sie die Hand auf den Mund, wie um zu verhindern, daß ihr noch mehr entschlüpfte. An ihrem Finger glänzte ein breiter goldener Ring, und plötzlich hatte ich Marks Ring wieder vor Augen, der mir aufgefallen war, als er mir zum Abschied zuwinkte. „Es ist alles abgemacht", wiederholte ich laut. Trotzdem rollten mir dicke Tränen übers Gesicht und tropften auf meinen neuen Rock. Mein Teller fiel aufs Parkett, wo er in tausend Stücke zerbrach. „Ach, mein Liebes." Mrs. Lawton sank auf die Knie und versuchte, mich in die Arme zu ziehen. Ich stieß sie weg und schrie: „Es war abgemacht. Verstehen Sie nicht? Das ist alles ein Mißverständnis. Er hat es mir versprochen!" Auch alte Frauen können ziemlich stark sein, wenn sie wollen. Mrs. Lawton packte mich in einer eisernen Umarmung. „Es ist alles meine Schuld. Es ist alles meine Schuld", sagte sie mindestens: hundertmal. „Ich hatte ja keine Ahnung, daß du es nicht weißt. Keine Ahnung." Auch das wiederholte sie zigmal. „Du wirst darüber wegkommen, Liebes. Mit der Zeit wirst du es schaffen. Oje, was für eine ungeschickte alte Frau ich; doch bin!" Ich weinte heftiger als zuvor. Vermutlich, weil ich mich in Mrs. Lawtons Armen warm, weich und sicher fühlte und mich das an Mom erinnerte, obwohl mich Mom nie so - 12 -
geküßt und umarmt hat. So etwas nannte sie rührselig. Jedenfalls heulte ich mir die Augen aus, während Mrs. Lawton sich alle möglichen Schimpfnamen gab, bis ich mich schließlich beruhigte und sie mich losließ. Ihr Haar war ganz zerzaust, und die Augen glänzten feucht. „Es tut mir leid wegen des Tellers", brachte ich mühsam hervor. „Ich werde ihn von meinem ersten Gehalt bezahlen." Nun sah sie noch unglücklicher aus. „Das wirst du natürlich nicht tun. Ich werde mir nie verzeihen, so mit der Neuigkeit herausgeplatzt zu sein. Nach allem, was du durchgemacht hast." Damit meinte sie vermutlich Moms Verschwinden und meinen Zusammenbruch. „Er hätte es mir sagen sollen. Mark hätte mir sagen müssen, daß er weggeht." „Wahrscheinlich hatte er seine Gründe; weshalb. er es nicht tat. Vielleicht wußte er, daß es dich aufregen würde, und hat einfach kalte Füße bekommen. Das ist ja auch verständlich. Wenn du erst wieder zur Schule gehst, wirst du merken, daß du ihn nicht mehr brauchst." Sie verstand es nicht. Man konnte ihr keinen Vorwurf machen, sie war eben alt. Liebe und was damit zusammenhing, mußte für sie längst vergangene Geschichte sein. Aber ich brauchte Mark.. Ich mußte mit ihm sprechen können und dabei das Gefühl haben, daß er wirklich zuhörte und sich Gedanken machte. Ich brauchte die paar Stunden in der Woche, die ich in den letzten drei Jahren mit ihm verbracht hatte. Das war schließlich nicht zuviel verlangt. Sollte jetzt alles vorbei sein? Alles, was meinem Leben nach Moms Abgang einen Sinn gegeben und es wieder erträglich gemacht hatte?, Ich fühlte mich leer und - 13 -
ausgebrannt; aber ich spürte auch eine heimliche Wut in mir hochsteigen. Bevor sie zu groß wurde und sich Luft machte, mußte ich verschwinden. „Ich gehe jetzt besser", sagte ich, und stand abrupt auf. Auch Mrs. Lawton rappelte sich hoch. „Bist du sicher, daß du in Ordnung bist?" Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Ja, es geht mir gut, wirklich." So recht überzeugt schien sie nicht. „Ich schaue morgen mal bei euch vorbei und sage dir, wann du in Finchings anfangen kannst." Wollte ich das wirklich noch? „Nun, ich ..." „Du wirst doch jetzt keinen Rückzieher machen, oder?" „Ich weiß nicht. Nein, ich glaube nicht." „So ist es gut. Vergiß nicht, was Mark Field alles für dich, getan. hat. Jetzt heiratet er das Mädchen, das er liebt, und geht nach Leeds, um dort anderen Leuten zu helfen. Du mußt versuchen, dich mit ihm zu freuen, Nellie. Das kannst du doch, nicht wahr?" Ich nickte nur und verabschiedete mich dann rasch. Ich mußte allein sein. Anstatt direkt nach Hause zu radeln, fuhr ich zum Sportplatz und setzte mich auf die Stufen des Pavillons. Es duftete durchdringend nach frisch gemähtem Gras. Hinter den Wohnblöcken am anderen Ende des Platzes ging die Sonne unter. Langsam sank sie zwischen die Dächer, als sei Gott oder sonstwer zu müde, sie weiter zu halten. Mark hätte es mir wirklich sagen sollen. Es war gemein, mich absichtlich glauben zu lassen, daß er im Herbst wieder hier sein würde. Ich hasse Leute, die einem etwas vormachen, während sie es die ganze Zeit besser wissen. Für mich ist das Betrug. Na gut, ich konnte auch betrügen. Ich würde mein Wort brechen und nicht wieder zur Schule - 14 -
gehen. Schließlich war ich sechzehn und konnte abgehen, wann immer ich wollte. So stand es im Gesetz.* Wenn Mark soviel Wert darauf legte, daß ich gute Noten bekam und große Leistungen vollbrachte, hätte er bleiben müssen und mir dabei helfen. Jetzt würde er nie damit angeben können, die berühmte Nellie Carter zu kennen. Im Gegenteil, er war verantwortlich für eine weitere Arbeitslose, und wenn er von meinem verpfuschten Leben hörte, um so besser. „Oh, Mark", flüsterte ich, „bitte vergiß mich nicht." Die Sonne war untergegangen. Irgendwo in den Schatten schrie eine Eule. Ich fühlte mich unverstanden und allein in einer feindlichen Welt.
* In den USA besteht Schulpflicht nur bis 16 Jahre
- 15 -
2. KAPITEL Als ich noch klein war, fuhren wir manchmal im Sommer für eine- Woche nach Blackpool. Mom liebte die Stadt wegen des riesigen Vergnügungsparks dort. Steile Achterbahnen und andere lebensgefährliche Karussells hatten es ihr angetan, und ich glaube, sie verachtete mich, weil ich lieber zu dem Ruderteich für Kinder ging. Diese Aufenthalte in Blackpool waren die einzigen Gelegenheiten, wo ich je von Zuhause weg war, und deshalb war es ein komisches Gefühl, Hobleigh jetzt für ganze sechs Wochen zu verlassen. Nachdem wir ungefähr eine Stunde gefahren waren, sagte Mrs. Lawton: „Du bist so still heute, Nellie. Bist du nervös?" „Nein", log ich. „Es ist einfach zu heiß zum Sprechen." Die Straße vor uns schien zu flimmern, und die Luft, die durch das offene Seitenfenster des Wagens kam, war heiß wie ein Wüstenwind. ,,Am Meer wird es wundervoll sein", schwärmte sie, als wir vor einer Ampel im Zentrum einer belebten Stadt hielten. „Ja", stimmte ich geistesabwesend zu. Ich beobachtete die Leute auf der Straße, die Frauen, die Kinderwagen mit molligen Babys vor sich herschoben, und die Kinder auf der Bank bei einer Bushaltestelle, die Eiskrem lutschten. Plötzlich bekam ich einen unbändigen Appetit auf Himbeereis, aber ich traute mich nicht, Mrs. Lawton zu - 16 -
bitten anzuhalten. Um mich abzulenken, stellte ich ihr eine Frage, die ich schon lang hatte loswerden wollen. „Übrigens, haben Sie Bill und Jane von mir erzählt?" „Was sollte ich erzählt haben?" „Na ja, daß Mom weggelaufen ist und ich nicht mehr in der Schule war und all das." Sie sah mich erschrocken an. „Natürlich nicht, das geht sie doch nichts an. Im Herbst gehst du ja wieder zur Schule, und alles ist Schnee von gestern." Ich antwortete nicht. Mein Entschluß, nicht wieder in die Schule zu gehen, stand fest, aber bis jetzt hatte ich niemandem etwas davon gesagt. Dad lag so viel daran, daß ich meinen Abschluß machte und später aufs College ging, daß er sich fürchterlich aufgeregt hätte. Ich hielt es für besser, mir zuerst einen Job zu suchen und alles zu regeln, bevor ich mit ihm darüber sprach. Wir konnten das Meer riechen, lang bevor wir es sahen. Ich steckte den Kopf aus dem Fenster und sog die herrliche Luft ein. Und plötzlich, nach einer Kurve, lag es vor uns, eine funkelnde, mit weißen Schaumkronen gesprenkelte Wasserfläche: Bald verschwand es wieder hinter einer weiteren Kurve, aber schon der kurze Blick darauf war aufregend genug gewesen, um jedes Verlangen nach, Himbeereis zu verdrängen. „Ich beneide dich", sagte Mrs. Lawton. „Ich würde diesen wunderbaren Sommer auch lieber in Finchings verbringen," „Um den Kindern die Nase zu putzen und Ziegenmilchjoghurt zu machen?" fragte ich scheinheilig. Sie lachte. „Nein, ich würde im Schatten liegen und mir von dir Limonade bringen lassen. Die private Auffahrt der Finchings war ungefähr eine - 17 -
Meile lang, und während der alte Wagen über die Schlaglöcher holperte, erhaschte ich zwischen den Bäumen auf der linken Wegseite einen Blick auf Wasser. „Ist das ein See?" fragte ich. Mrs. Lawton lächelte geheimnisvoll. „Ich verrate nichts. So hast du das Vergnügen, alles selbst zu entdecken. Das Haus war aus roten Ziegelsteinen gebaut und hatte eine Menge fast mannshoher Fenster. An der Mauer rankten sich tiefgelbe Rosen hoch. Mein erster Gedanke war, wie schön ein solches Zuhause wäre. Wir fuhren um das Haus herum auf einen gepflasterten Hof. Noch bevor der Wagen zum Stehen kam, erschienen zwei Leute in der Haustür und liefen auf uns zu. Die Frau war schlank und dunkelhaarig. Über ihre Jeans trug sie ein langes blauweißgestreiftes Hemd. Der Mann war eher dick, das Haar lichtete sich schon etwas, und die Augen waren von einem wäßrigen Blau. Er trug ebenfalls Jeans, machte darin aber, offen gestanden, keine allzu gute Figur. Er riß die Autotür auf und. schloß Mrs. Lawton in die Arme. „Peggie, Darling, wie schön, daß du da bist. Sieht sie nicht blendend aus, Jane?" „Ja, wirklich", stimmte Jane zu und küßte Mrs. Lawton leicht auf die gerötete Wange. ,,Ach, ihr Schmeichler", sagte die alte Dame, doch sie freute sich ganz offensichtlich über das Kompliment. Jetzt wandte Jane sich mir zu. „Und du mußt Nellie sein." Ich nickte und lächelte, wußte aber nicht, was ich sagen sollte. Wortlos stieg ich aus dem Wagen und zog meinen Koffer vom Rücksitz. Bills rundes, fröhliches Gesicht gefiel mir. Was ich von der blassen Jane halten sollte, wußte ich nicht so recht. Sie stand da und begutachtete mich von oben bis unten, als sei ich ein preisgekröntes - 18 -
Pferd oder so. „Sie sieht nicht sehr kräftig aus", meinte sie schließlich. „Darüber reden wir in einer Woche wieder, .wenn sie etwas zugenommen hat", sagte Bill und nahm meinen 'Koffer. „Arme Nellie." Mrs. Lawton lachte. „Sie muß denken, ihr wollt sie hier Schwerstarbeit leisten lassen. Jane lächelte mir freundlich zu, und plötzlich sagte mir mein Instinkt, daß mit ihr leichter auszukommen war als mit Bill. Mein Zimmer lag über den umgebauten Ställen nicht weit vom Haus, und Bill trug meinen Koffer hinüber, während Jane Mrs. Lawton ins Haus führte. Er stieß eine Tür am Ende einer schmalen Treppe auf. „Das ist dein Zimmer", sagte er und stellte den Koffer ab. ;,Hoffentlich fühlst du dich hier nicht zu einsam." Es war ein kleines, spärlich möbliertes Zimmer mit einem Boden aus Korkplatten, einem Bett mit einer geblümten Tagesdecke darauf, einer Kommode, einem Schreibtisch und einem Stuhl mit einem Sitz aus Korbgeflecht. „Deine Sachen kannst du hier aufhängen." Bill zog einen gemusterten Vorhang beiseite. „Tut mir leid, daß wir dir nicht mehr Luxus bieten können, aber schließlich führen wir kein Hotel." „Es ist toll", sagte ich, und ich meinte es ehrlich. Er schien froh zu sein, daß es mir gefiel. „Dann mach es dir gemütlich. Wenn du ausgepackt hast, komm rüber ins Haus. Beim Essen wirst du dann die Kinder kennenlernen. Sie wissen, daß du kommst, und platzen vor Neugierde. Bis zum Abendessen hast du ein bißchen Zeit, dich einzugewöhnen, und umzuschauen. Beim Essen wird wieder viel los sein, da wären wir dann froh über deine - 19 -
Hilfe." Nachdem er gegangen war, setzte ich mich erst mal aufs Bett und wippte vergnügt auf und ab. Ein Zimmer für mich allein in diesem alten Stallgebäude: Was für ein Glück! Zum erstenmal in meinem Leben war ich ganz auf mich gestellt, und ich würde das Beste daraus machen. Schnell räumte ich meine Sachen ein und zog mir einen weißen Baumwollrock und ein türkisfarbenes Sonnentop an. Im stillen segnete ich Dad für seine Großzügigkeit in Sachen Kleidung. Vor dem Spiegel bürstete ich mein halblanges blondes Haar, bis es schön locker fiel. Ich überlegte kurz, ob ich mir die Augen etwas schminken sollte, entschied mich dann aber dagegen. Das war nun wirklich nicht nötig. Auf meine großen blauen Augen konnte ich stolz sein, die brauchten kein Make-up. Ich benutzte auch nie Rouge, weil meine Haut immer rosig war, manchmal fast zu rosig. Danach stellte ich mich an das niedrige Fenster und sah auf den Hof hinunter. Früher, als noch Pferde in den Boxen standen, waren da unten sicher die Reitknechte und Stallburschen herumgelaufen, hatten gerufen, gelacht und geflucht. Man hatte das Stampfen der Hufe auf dem Pflaster gehört und die dampfenden Pferdeleiber gerochen. Jetzt war es so still, daß man das sanfte Gurren der Tauben in ihrem Schlag auf dem Dach hören konnte. In den Ställen waren Gartengeräte und leichte landwirtschaftliche Maschinen untergebracht. Ob man mir wohl erlauben würde, Traktor fahren zu lernen? Während ich aus dem Fenster schaute, überquerte ein Junge von ungefähr achtzehn oder neunzehn Jahren den Hof. Er trug eine dunkelblaue Arbeitshose. Das glatte schwarze Haar glänzte in der Sonne. Sein Gesicht und die Hände und Arme waren gebräunt wie bei. jemand, der sich - 20 -
oft im Freien aufhält. Als habe er meinen Blick gespürt, sah er zum Fenster herauf, und wir starrten uns sekundenlang an. Er hatte große dunkle Augen und schaute so verdutzt, daß ich schließlich lachen mußte. Ich konnte nichts dagegen machen, er sah einfach zu komisch aus. Darauf runzelte er die Stirn, nahm einen leeren Eimer und stapfte durch den Torbogen davon. Der Speisesaal war einer der Räume mit den hohen Fenstern auf der Vorderseite des Hauses. Wie alle Zimmer in Finchings war auch er nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Es lag kein Teppich auf dem kahlen Dielenboden, und wir saßen an runden, resopalbeschichteten Tischen. Die Kinder, es waren ungefähr ein Dutzend, saßen. zu dritt oder zu viert jeweils mit einem Mitglied des Personals am Tisch. Die Erwachsenen halfen vor allem den schwerer behinderten Kindern. An meinem Tisch waren außer Jane zwei mongoloide Mädchen von ungefähr zehn oder elf Jahren und ein hübscher kleiner Junge, der blind und taub war und den Kopf nicht richtig aufrecht halten konnte. Ihm mußte natürlich beim Essen geholfen werden. Zuerst verstand ich die Mädchen nicht, aber Jane übersetzte für mich, und nach einer Weile konnte ich ihren Bemerkungen mehr oder weniger folgen. Diane faßte über den Tisch hinweg immer nach meiner Hand, und ich hätte sie ihr gern gegeben, aber Jane sagte fest, daß wir jetzt essen sollten und später Händchen halten könnten. Rachel war scheuer. Sie sah mich nur immer unter langen braunen Wimpern hervor an und kicherte. Das war - 21 -
so drollig, daß ich auch bald; lachen mußte, worauf Diane und Jane ebenfalls anfingen. Ricky muß unsere Schwingungen gespürt haben, denn er brach auch in Gelächter aus und schlug dabei mit seinem Löffel auf den Teller. Wir waren ein sehr lauter Tisch. Einige der Kinder hatten so schwere Behinderungen, daß ich hätte weinen können, wenn ich sie anschaute. Doch das ging schnell vorbei, denn sie waren so glücklich. Es war nicht schlimm, wenn sie ihre Tassen umstießen oder Essen auf den Boden fallen ließen. Niemand störte sich daran, und am Ende der Mahlzeit fühlte ich mich ganz zu Hause und wußte, der Aufenthalt in Finchings würde mir gefallen Nach dem Essen brach Mrs. Lawton auf. Ich begleitete sie zu ihrem Wagen. Darin herrschte eine Hitze wie im Backofen, und wir machten erst mal alle Türen auf, um etwas Luft hineinzulassen., „Also, Nellie, glaubst du, daß du dich hier wohlfühlen wirst?" fragte sie besorgt. „Bestimmt, die Kinder sind so süß." „Und wirst du auch mit Bill und Jane auskommen? Du darfst, dir nichts daraus machen, wenn sie dich mal anfahren. Manchmal sind sie ziemlich im Streß." „Machen Sie sich keine Sorgen, das verstehe ich schon." „Dann ist es ja gut. Tu einfach dein Bestes. „Das werde ich. Und, Mrs. Lawton, vielen Dank für alles." Sie küßte mich auf die Wange und stieg in den Wagen. Ich machte die Tür hinter ihr zu. „Auf Wiedersehen, Nellie." Ich winkte wie verrückt und rannte hinter dem klapprigen Morris her, bis er, hinter einer Kurve verschwand. Plötzlich fühlte ich mich sehr allein. In der fremden Umgebung kam ich mir vor wie ein Nichts, der - 22 -
Gnade von Jane und Bill und den Kindern ausgeliefert. Als ich während des ;Mittagessens aus dem Fenster sah, hatte ich es kaum erwarten können, die Gegend auszukundschaften, aber jetzt war mir die Lust vergangen. Es war niemand da, mit dem ich hätte sprechen können. Die Kinder waren alle im Bett, und das Personal machte eine wohlverdiente Pause, so daß ich für ein oder zwei Stunden ganz auf mich allein angewiesen war. Ich lehnte mich über das eiserne Geländer und beobachtete einige braunweiße Schafe, die das spärliche Gras auf der Weide abfraßen. Ein schmutziger Schafbock mit geschwungenen Hörnern kam angriffslustig auf mich zu, wandte sich dann aber wieder ab, um weiterzufressen. Einen Moment lang stellte, ich mir vor, daß das alles mir gehören würde, das alte Haus, die Felder, die Schafe und Ziegen, einfach alles. Nächste Woche lasse ich die Schlaglöcher in der Auffahrt füllen, träumte ich vor mich hin. Und dann lasse ich die Ställe ausräumen und stelle wieder Pferde hinein. Ich werde eine weiße Araberstute haben, die ich jeden Tag im Park reite. Diese Phantasien waren für eine Weile ja ganz nett, aber auf die Dauer ist es langweilig, sich mit sich selbst zu unterhalten. Deshalb stieg ich über das Geländer und schlenderte über das Feld auf eine hohe Backsteinmauer zu. Vom Boden her duftete es nach Sommer, eine Mischung aus Erde, Gras und Blumen. Ich schaute mich um. Das Haus lag versteckt zwischen den Bäumen am Fuß des Hügels, und da war auch wieder der See, auf den ich bei der Ankunft schon einen kurzen Blick hatte werfen können. Er schimmerte einladend unter einem. tiefblauen Himmel. Ich liebe Wasser, deshalb war ich schon drauf und dran, den Hügel wieder hinunterzustürmen, doch erst einmal wollte ich - 23 -
herausfinden, was auf der anderen Seite der geheimnisvollen Mauer lag. Sie war ungefähr drei Meter hoch, und der einzige Eingang war eine schwere Tür. Ich drückte die Klinke fest hinunter und ging erwartungsvoll hinein. Die Tür fiel hinter mir zu. Ich befand mich im alten Küchengarten. Es war ein ziemlich trübseliger Ort. Knorrige Obstbäume mit fleckigen Äpfeln und Birnen lehnten sich an die Mauer. An der Ostseite stand ein halb zerfallenes Treibhaus. Die Hälfte des Gartens bestand aus Gemüsebeeten. Da wuchsen Karotten, Erbsen, Bohnen usw. Die andere Hälfte wurde von etwa einem Dutzend schmutzigbrauner Hühner bevölkert, die mechanisch auf dem Boden, herumpickten und kratzten. Ich hätte besser gleich zum See gehen sollen, aber da ich immer alles genau kennenlernen will, beschloß ich, mich umzusehen, bevor ich ging.. Ich schaute in den Hühnerstall und entdeckte fünf Eier und eine alte Henne, die hartnäckig auf zwei weiteren Eiern saß. Als ich sie wegscheuchte, flatterte und kreischte sie entrüstet. Im Treibhaus fand ich zu meiner Überraschung Zwergpfirsichbäume und Weintrauben, die trotz der Lücken im Glas gediehen. Ich nahm mir vor, sie im Auge zu behalten. Sonst gab es wirklich nichts mehr zusehen, also ging ich zurück zur Tür und suchte nach der Klinke. Unglaublich, aber da war keine. Irritiert steckte ich die Finger durch das Loch, wo sie hätte sein sollen, spürte aber nur die abblätternde Farbe auf der Außenseite. Irgendwo mußte die Klinke, die ich beim Hereinkommen benutzt hatte, doch sein! Aber da war nichts. Ich ging noch einmal durch den Garten, in der Hoffnung, - 24 -
einen von einem Obstbaum oder Beerenstrauch verdeckten zweiten Ausgang zu finden. Vergeblich. Also kehrte ich zur Tür zurück und warf mich verzweifelt dagegen. Alles, was dabei heraus kam, waren blaue Flecken an der Schulter. In meinem Magen meldete sich eine vertraute Übelkeit, und mein Herz fing an zu pochen wie damals, bevor ich krank wurde. Natürlich wußte ich sofort, daß es Panik war. Dr. Stobart hatte mir beigebracht, die Symptome zu erkennen, aber sie waren schon so lang nicht mehr aufgetreten, daß ich geglaubt hatte, sie würden nicht mehr wiederkommen. Wenn ich mich jetzt nicht in den Griff bekam, würde ich bald anfangen zu schwitzen und zu zittern, und der Himmel weiß, was sonst noch. Im schlimmsten. Fall konnte ich in meine Krankheit zurückfallen. Dieser Gedanke brachte mich zu mir wie eine kalte Dusche. Ich setzte mich im Schatten der Mauer auf den Boden und versuchte ganz bewußt, alle Gedanken aus meinem Kopf zu verdrängen. Ich ließ Arme und Beine hängen, wie es mir gezeigt worden war. Immerhin, überlegte ich, gibt es im Garten jede Menge zu essen, so daß ich nicht verhungern würde. Die Hitze war drückend. Kein Luftzug brachte Kühlung. Sogar die Hühner schienen ihre Energie für den Abend aufzusparen. Vielleicht könnte ich auf einen Obstbaum klettern und von dort aus irgendwie über die Mauer kommen. Aber alle oberen Äste sahen schwach aus, und auch von da oben wäre der Mauerrand noch immer außer Reichweite. Das Übelkeitsgefühl stieg wieder in mir hoch. Um es zu unterdrücken fing ich an, ein Gedicht aufzusagen, das ich mit meinem Lehrer behandelt hatte. Es war ein beruhigendes und zuversichtliches Gedicht, und, gerade als ich den letzten Vers rezitiert hatte, bellte draußen vor der Mauer ein Hund, und ich hörte eine - 25 -
Stimme. „Sei still, Plod, du Idiot." Einen Moment lang war ich so erleichtert, daß ich nur dasaß und lächelte, dann jedoch sprang ich auf und rief: „Hey! Ich bin hier eingeschlossen. Können Sie mich rauslassen?" Der Hund bellte wieder. Dann schwang die schwere Tür tatsächlich auf, und herein kam der Junge, den ich auf dem Hof gesehen hatte. Ihm folgte ein junger schwarzer Neufundländer. Einen Augenblick lang starrten der Junge und ich uns an, wie schon am Vormittag durch mein Schlafzimmerfenster. „Ich wollte mich ein bißchen umsehen", stammelte ich und mußte plötzlich an meinen kurzen Rock und das knappe Top denken. Man fühlt sich ein bißchen komisch in solchen Sachen, wenn einem jemand in voller Arbeitskluft gegenübersteht. Er grinste. „Es ist ganz einfach herauszukommen. Man muß nur an dem Seil draußen an der Tür ziehen." Ich merkte, daß ich rot wurde. „Das habe ich gar nicht gesehen." Er schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. „Das war ziemlich unvorsichtig, nicht? Und wenn ich nun nicht vorbeigekommen wäre?" Herausfordernd hob ich das Kinn. „Dann hätte ich eben um Hilfe gerufen." „Ach, ja? Und wer, glaubst du, hätte dich hören können?" „Ich weiß nicht", antwortete ich unsicher. „Bill oder Jane, nehme ich an." „So weit weg vom Haus? Warum nicht gleich der Mann im Mond? Langsam wurde ich sauer. „Wenn du für den Garten - 26 -
zuständig bist, könntest du innen an der Tür ja auch mal eine richtige Klinke anbringen. Seine Augenbrauen verschwanden unter dem Pony. „Wozu? Hier kommt nie jemand Fremdes herein. Und weißt du auch wieso?" „Nein." „Weil", klärte er mich übertrieben liebenswürdig auf, „draußen deutlich ‚Privat’ steht und die meisten Leute lesen können." Er winkte mich nach draußen, damit ich mich selbst davon überzeugen konnte. „Deutlich ist das nicht gerade. Ein Wunder, daß keine Kinder hier reingeraten. „Sie haben eben mehr Vernunft." Um meine Beschämung zu verbergen, bückte ich mich und spielte mit dem Hund, der mir gleich mit der langen rosa Zunge die Hand leckte. „Du bist ein guter Junge, Plod. Wem gehört er?" „Mir. Übrigens, was, um alles in der Welt, hast du hier die ganze Zeit gemacht?" Ich sah hoch. „Die ganze Zeit?" Er errötete plötzlich, drehte sich um und stapfte in Richtung Hühnerstall. Ich lief ihm nach. „Die ganze Zeit?" wiederholte ich. ,,Du hast mich hineingehen sehen, nicht? Und du hast gewartet. und gedacht, daß ich irgendwann schon um Hilfe rufen würde. Aber als ich das nicht tat, wurdest du neugierig und kamst, um nachzusehen.“ Da blieb erstehen und lächelte verlegen. „Der Angeklagte bekennt sich in allen Punkten für schuldig, Euer Ehren." Ich holte tief Luft. ;,Das ist das gemeinste ..." „Ja, ziemlich gemein", unterbrach er mich. „Aber ich - 27 -
wußte, daß dir nichts passieren kann hier drin, und wollte dir einen Denkzettel, verpassen." Natürlich konnte er nicht wissen, daß ich krank gewesen war und mich immer noch ganz schrecklich fühlte, wenn ich irgendwo eingeschlossen war. Ich war wohl ganz bleich und außerdem schweißgebadet, denn plötzlich sah er mich scharf an. „Du bist doch in Ordnung, oder?" Ich bin nicht aggressiv wie meine Mutter, die auch auf Big Ben losgehen würde, wenn er sie ärgerte. Also begnügte ich mich damit, ihn Wütend anzufunkeln. „Du bist doch nicht etwa ein Gast, oder?" Auf einmal schien er weniger selbstbewußt. „Wer weiß? Vielleicht bin ich ein sehr wichtiger Gast, und du wirst Schwierigkeiten kriegen. „Dann wärst du der erste Gast, dem man das Zimmer über den Ställen gegeben hätte", antwortete er lachend und ging weiter. „Falls es dich interessiert, ich bin Nellie Carter", rief ich ihm nach. „Und ich werde hier ein paar Wochen aushelfen." Sofort drehte er sich um und kam zurück. „Das freut mich. Ich bin Jim Blair, und ich helfe nicht aus, sondern arbeite hier. Deshalb kann ich auch nicht ewig hier rumstehen." Er hob eine Hand. „Bis dann. Komm mit, Plod." Doch Plod, der in mir wohl eine neue und willige Spielkameradin gerochen hatte, kam von dem Loch, das er gegraben hatte, auf mich zugesprungen und blieb, zitternd vor Erwartung vor mir stehen. Ich hob einen Zweig auf und warf ihn über den Pfad. Er jagte hinterher. „Plod!" rief Jim ärgerlich, aber der Hund gehorchte ihm nicht. Ich verkniff mir ein Lächeln und schlenderte zur Tür. - 28 -
Plod folgte mit dem Zweig im Maul. An der Mauer drehte ich mich um. „Wenn du die Eier einsammelst", sagte ich zuckersüß, „interessiert es dich vielleicht, daß du eine Bruthenne hast." Damit verließ ich den Garten, während der Hund aufgeregt um mich herumsprang. Ich nahm ihm den Zweig weg und schleuderte ihn weit in die Wiese, dann lief ich den mit Butterblumen und Gänseblümchen bestandenen Abhang hinunter. Die Sonne brannte mir auf die nackten Schultern. Über der ganzen Landschaft hing der süße Duft eines Julitages. Ich sprang über das Geländer, ging zum See und verdrängte Jim Blair aus meinen Gedanken. Zumindest versuchte ich es.
- 29 -
3. KAPITEL Die Arbeit in Finchings war so anstrengend und so anders als alles, was ich bisher getan hatte, daß ich oft nahe dran war aufzugeben. Wenn Marion Glease nicht gewesen wäre, hätte ich es bestimmt keine Woche ausgehalten. Glücklicherweise war sie die erste; die ich am Montagmorgen traf. Ich stieß mit dem großen schlanken Mädchen auf der Treppe zusammen. Sie hatte dichtes schwarzes Kraushaar und zeigte beim Lachen herrliche Zähne. „Hallo! Du bist sicher die Neue", rief sie. „Richtig.." Ich rieb mir den Knöchel. „Ich heiße Marion." „Nellie." „Dann komm mit, Nellie, sonst verspäten wir uns." Rasch lief sie vor mir die Treppe hinunter. „Am Montag müssen wir uns allein um das Frühstück kümmern, weil Jane und Bill anderes zu tun haben." Kurz darauf war ich damit beschäftigt, Cornflakes in offene Münder zu löffeln und verschüttete Milch aufzuwischen. Der Lärm war unbeschreiblich. Einige der Kinder wurden recht ungeduldig,, wenn sie zu lang auf ihr Essen warten mußten. Für mich war es das reine Chaos, aber Marion blieb völlig gelassen, machte trockene Witze und half überall, wo es nötig war. Die Kinder respektierten sie und vertrauten ihr offensichtlich und gehorchten ohne Widerrede. An diesem ersten Morgen habe ich eine Menge - 30 -
von Marion gelernt. Nach dem Essen brachten wir die Kinder zur Toilette. Darüber gehe ich besser schnell hinweg, denn, ehrlich gesagt, es war nicht sehr angenehm. Einige von ihnen machten noch in die Hose und mußten Windeln tragen, was bei einem Säugling ja in Ordnung ist, aber nicht bei einem älteren Kind. Sich an diesen Teil der Arbeit zu gewöhnen, war ganz schön hart. Marion machte die ganze Schmutzarbeit, während ich nur hilflos herumstand und zusah. „Widerlich, nicht?" sagte sie fröhlich, als die Prozedur vorbei war und wir uns die Hände wuschen. „Mach dir nichts draus. Betrachte sie einfach als Babys, denn einige sind das wirklich. Sie reagieren auf Nahrung, Wärme, Lachen und eine feste Hand. Sie brauchen auch Ansporn, das ist überhaupt das Wichtigste." Sie klang so erfahren. „Wie lang arbeitest du schon hier?" fragte ich. „Seit ich dreizehn bin also; jetzt vier Jahre. Früher hab ich während der Ferien und an den Wochenenden hier gearbeitet. Als ich dann mit der Schule fertig war, stellten Jane und Bill mich fest an." „Wohnst du zu Hause?" „Ja. Mom nimmt im Sommer Pensionsgäste auf, und ich helfe Ihr so gut ich kann." „Willst du immer hierbleiben oder irgendwann mal wegziehen und etwas anderes machen?" Sie schien überrascht. „Was denn anderes?“ „Ich weiß nicht. Du könntest Friseuse werden oder Sekretärin oder so." „Ach, so etwas. Nein, ich mag die Kinder, und Jane und Bill behandeln mich sehr gut. Ich bleibe Finchings mein Leben lang erhalten, oder zumindest solange, bis ich - 31 -
heirate." Sie lächelte unsicher. „Das heißt, wenn mich jemals einer will." „Natürlich wird dich einer wollen sagte ich entschieden. Aus der Art, wie sie vornübergebeugt ging und ihr Haar ins Gesicht fallen ließ, war mir schon klargeworden, daß sie einen Komplex wegen ihrer Größe und ihres Aussehens hatte. Das war wirklich dumm, denn sie hatte große braune Augen, ein offenes Gesicht und war lebhaft und attraktiv. Anscheinend hatte sie bisher nicht viel Glück mit Jungen gehabt. Was das betraf, konnten wir uns die Hand geben. Allerdings war ich die letzten drei Jahre so in meiner Beziehung zu Mark aufgegangen, daß ich mir kaum Gedanken über andere Jungen gemacht hatte. „Ich will noch lang nicht heiraten", sagte ich. „Hast du einen festen Freund?" Neugierig schaute sie mich an. Plötzlich wurde mir wieder sehr schmerzhaft bewußt, was ich verloren hatte. „Ich hatte einen Freund", antwortete ich traurig, „aber er hat sich mit einer anderen verlobt." Ich log nicht absichtlich, denn ich hatte Mark immer als meinen Freund betrachtet, und die Worte schlüpften mir einfach so heraus. In Marions ausdrucksvollen Augen stand Mitgefühl. „Wie schrecklich für dich. Aus der Tasche meiner Jeans zog ich ein verknittertes Foto, das ich immer mit mir herumtrug. „Das wurde letzten Sommer aufgenommen." „Er sieht phantastisch aus. Wie alt ist er?" „Siebenundzwanzig." Das schien Eindruck zu machen. „Er muß ein Mädchen mit Geld heiraten", fuhr ich fort. „Seine Eltern bestehen darauf." Sie pfiff durch die Zähne. „Das muß schlimm für dich - 32 -
sein." „Ja." Meine Augen füllten sich mit Tränen. „Sie ist zwar reich, aber er liebt sie nicht wirklich. Er liebt mich.“ Rasch blinzelte ich die Tränen weg. „Sei mir nicht böse, aber ich möchte nicht mehr darüber sprechen." Als wir die Kinder nach draußen zum Spielen brachten, überlegte ich, warum ich das alles gesagt hatte. Marions Mitgefühl hatte mir gut getan, und dann hatte ich nach der ersten Lüge einfach nicht mehr aufhören können. Jetzt war es zu spät, alles zurückzunehmen. Eigentlich war es sowieso egal. Schließlich war Mark ein für allemal aus meinem Leben verschwunden. Oh, Mark... Es gab in Finchings soviel zu tun, daß die erste Woche wie im Flug verging. Von sieben Uhr morgens, wenn ich half, die Kinder anzuziehen und ihre oft schmutzigen Betten zu wechseln, bis acht Uhr abends, wenn wir sie alle wieder schlafen legten, hatte ich kaum einen Augenblick für mich allein. Am Anfang fiel ich jeden Abend todmüde ins Bett und fragte mich, wie ich freiwillig so etwas hatte auf mich nehmen können. Aber mit der Zeit gewöhnte ich mich daran und fing an, die Kinder nicht mehr nur als unterschiedlich behindert, sondern als eigenständige Persönlichkeiten kennenzulernen. Rachel, zum Beispiel, die gleich am ersten Tag mit uns am Tisch gesessen hatte, war mir damals so glücklich vorgekommen. Doch manchmal fand ich sie an den unmöglichsten Plätzen im Haus, wo sie weinte, als würde ihr kleines Herz brechen. Niemand wußte, warum, und sie selbst wahrscheinlich am allerwenigsten. Wenn ich sie dann in die Arme nahm und ihr Stevie Wonders neuesten Hit - 33 -
vorsang, wurde sie bald wieder fröhlich, lachte und bewegte sich zur Musik: Einige der Kinder waren geistig zurückgeblieben und konnten nicht ausdrücken, was ihnen fehlte. Ohne einen sechsten Sinn, der einen warnte, wenn irgend etwas nicht stimmte, war man verloren. Eines Morgens half ich gerade im großen Spielzimmer drei Kindern bei ihrer Fingermalerei, als ich das Splittern von Glas, und einen Schrei hörte. Ich fuhr herum und sah, daß der siebenjährige Ben mit der Faust eine Fensterscheibe durchschlagen hatte, weil der fünfjährige Rory ihm draußen Grimassen geschnitten hatte. Ben wurde schnell zum Arzt gebracht. Der nähte den Schnitt am Handgelenk mit vier Stichen, wonach sich der Junge erstaunlich schnell erholte. Ich erwartete schon, entlassen zu werden, doch Bill und Jane zeigten Verständnis. „Ich weiß, wie schwierig das ist, aber du darfst dich nicht so sehr mit einzelnen Kindern beschäftigen, daß du die anderen aus den Augen verlierst war Janes einziger Kommentar. Ich versprach, in Zukunft besser aufzupassen. Mein erster Eindruck von Jane und Bill bestätigte sich in jeder Hinsicht. Wenn Jane etwas sagte, hatte das Hand und Fuß, und da sie sich immer klar ausdrückte, wußte man, was sie von einem erwartete. Sie war auch eine gute Zuhörerin. Jederzeit konnte ich mit einem Problem zu ihr kommen. Sie ließ dann alles stehen und liegen und widmete mir ihre volle Aufmerksamkeit. Zwar reagierte sie manchmal heftig, aber sie war niemals launisch, und ich spürte, daß ich für sie ein Mensch war und nicht nur ein zusätzliches Paar Hände. Bill war ganz anders. Er entspannte sich nie, sondern wirbelte ständig herum, wobei er unaufhörlich redete. - 34 -
Zusammen mit Jean, einer Frau aus dem Dorf, bereitete er die meisten Mahlzeiten zu, und er war launisch und temperamentvoll wie ein Meisterkoch. Deshalb nahm ich mich vor ihm etwas in acht. Bald lernte ich jedoch, seine Stimmungen zu erkennen und mich entsprechend zu verhalten. Schließlich hatte ich das jahrelang bei Mom praktiziert. Marion war meine Hauptstütze. Je besser ich sie kennenlernte, desto lieber mochte ich sie, und desto mehr lachten wir miteinander. Als ich ungefähr zehn Tage in Finchings war, lud sie mich ein, sie an meinem freien Tag zu Hause zu besuchen. Ich erzählte Bill und Jane beim Abendessen davon. Jane nickte zustimmend. „Ich bin so froh, daß ihr beide gut miteinander auskommt. Marion ist wirklich nett. Ich wüßte nicht, was wir ohne sie anfangen sollten." „Es ist nur schade um ihre Brüder", sagte Bill. Ich horchte auf. „Wieso, was ist mit ihnen?" „Einer ist arbeitslos", antwortete Jane. „Eigentlich hat er nicht gearbeitet, seit er mit der Schule fertig ist. Aber das ist wohl kaum seine Schuld." Bill zog eine Augenbraue hoch. „Wirklich nicht? Die Lokalzeitung ist voller langweiliger oder schmutziger Jobs. Als wir die Schlaglöcher in der Auffahrt auffüllen lassen wollten, haben wir uns an den Jugendclub gewandt. Aber meinst du, einer von den Typen dort hätte Interesse gezeigt? Meiner Meinung nach geht Mister Glease lieber stempeln, als für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten. Und der jüngere Bruder ist auch nicht besser." „Ach, komm, Bill", protestierte Jane: „Sei doch fair. Nick Glease hatte einen Unfall, der seine Chancen als Profifußballer zunichte machte. Mit Fußball kannst du - 35 -
heute genauso viel Geld verdienen wie in der Filmbranche. Er wird schon darüber wegkommen, man muß ihm nur etwas Zeit lassen." „Was ist denn passiert?" fragte ich-, als ich mit Bill die Suppenteller abräumte und das kalte Hühnchen und den Salat auf den Tisch stellte. Jane war sitzen geblieben. So war sie immer, tagsüber ein Energiebündel, aber schlapp wie ein welkes Blatt, wenn die Kinder erst einmal alle im Bett waren. „Nick Glease war immer sehr flink auf den Beinen begann sie nachdenklich. „Schon als Krabbelkind kam er schneller vorwärts als andere Kinder seines Alters. Sein Vater, ein begeisterter Fußballamateur, merkte das bald und schenkte dem Jungen einen Fußball, als er drei Jahre alt war. Nick kickte ständig herum, und Ted war ganz glücklich über das Talent seines Sohnes. ‚Eines Tages wird mein Junge so berühmt sein wie George Best', sagte er immer. Natürlich hielten alle seine Freunde Ted für verrückt, aber er ließ sich nicht davon abbringen. Übrigens hat mir das alles Mrs. Glease erzählt, als sie noch für uns arbeitete. Jetzt hat sie ja die Pension aufgemacht. Teds Zuversicht war gerechtfertigt, denn Nick wurde besser und besser, bis schließlich der Fußballverband Interesse an ihm zeigte. Letztes Jahr wurde Nick ausgewählt, zusammen mit den hoffnungsvollsten Talenten in der neuen Schule des Fußballverbandes in Lilleshall zu trainieren. Diesen September sollte er dort anfangen." Sie sprach nicht weiter. „Und?" fragte, ich ungeduldig. „Ted Glease starb an einem Herzanfall, während er mit Nick trainierte." „Armer Nick.". Ich seufzte. „Sie waren alle arm dran. Wie du dir denken kannst, war - 36 -
die ganze, Familie völlig fertig. Mrs. Glease sah aus wie eine wandelnde Leiche. Die meiste Arbeit blieb an Marion hängen, obwohl sie genauso litt wie alle anderen. George, ihr älterer Bruder, war absolut keine Hilfe, und Nick kletterte für eine Mutprobe aufs Schuldach, fiel herunter und brach sich beide Beine an vier Stellen." „Und vorbei war es mit dem Fußball?" „Ja, zumindest vorbei mit Lilleshall. Ich fürchte, Nick wird für George Best nie eine Konkurrenz sein. Er kann noch nicht einmal richtig gehen." „Nach all dem muß es für ihn in der Schule ziemlich schwierig sein", sagte ich mitfühlend. Bill schnaubte verächtlich. „Er hatte nicht den Mumm, wieder hinzugehen." „Bill, du bist sehr ungerecht", sagte Jane. „Sicher wird er wieder hingehen, wenn er ganz gesund ist.“ „Die Schulbehörde hat ihn schon vor drei Monaten für gesund erklärt. Wenn er im nächsten Schuljahr nicht erscheint, haben sie angedroht, ihn auf eine Sonderschule zu schicken. An dem Unfall trägt der Junge ganz allein die Schuld." Ärgerlich funkelte Jane ihn an. „Wie kann man nur so engstirnig sein! Du unterschätzt vollkommen die Wirkung von Teds Tod auf seine Familie. Er war eine ausgesprochen starke Persönlichkeit. Als er so plötzlich starb, brach für sie alles zusammen. Ich begreife nicht, warum man Nick keinen Privatlehrer gibt, bis er seinen Mitschülern wieder gegenübertreten kann. Schließlich tun das andere Schulbehörden auch, warum nicht unsere? „Privatlehrer!" höhnte Bill. „Das ist natürlich eine sehr bequeme. Lösung. Kein Wunder, daß die Kosten für Bildung und Erziehung ins Unermeßliche steigen. Der Junge sollte wieder zur Schule gehen, wo er die nötige - 37 -
Hilfe bekommt." Er schüttelte den Kopf und ging hinaus: Seine Haltung zu dieser Angelegenheit war klar. Während der Unterhaltung hatte sich mein Magen verkrampft. Wenn Bill so wenig von Privatlehrern hielt, war es wohl besser, meine eigene verunglückte Schulzeit nicht zu erwähnen und allen diesbezüglichen Fragen aus dem Weg zu gehen. Jetzt, wo ich gerade anfing, meinen Aufenthalt in Finchings zu genießen, wollte ich nicht wegen Nick Glease und meines Schulkomplexes mit Bill aneinandergeraten. Jane muß wohl gespürt haben, wie unbehaglich ich mich fühlte, denn sie lächelte beruhigend und sagte: ,,Bill meint es nicht so. Aber die meisten Kinder hier werden nie in den Genuß einer Ausbildung kommen, die sonst jeder als selbstverständlich ansieht, und es ärgert ihn, wenn jemand absichtlich seine Chancen wegwirft." Ich nickte und steckte ein, großes Stück Brot in den Mund, damit ich nicht antworten mußte. Das Leben schien voller Fallen zu sein, und ich war gerade knapp an einer vorbeigegangen. Das reichte, um mich nervös zu machen.
- 38 -
4. KAPITEL Als ich am nächsten Morgen aufwachte, schien die Sonne durch mein Fenster. Ich blieb noch eine Weile liegen und genoß das Gefühl, daß ich herumtrödeln konnte und nicht zum Haus hinüber hetzen mußte, um beim Frühstück und beim Bettenmachen zu helfen. Dann stand ich auf, sah meine Sachen durch und entschied mich für meine neue rosa Baumwollhose und ein weißes Top. Ich steckte mir eine dunkelrote Plastikspange ins Haar, packte mein Schwimmzeug und ein Handtuch in meine Strandtasche und ging in die Küche hinüber. Alle waren schon bei der Arbeit, so daß ich den ganzen Raum für mich allein hatte. Erst jetzt merkte ich, wie sehr mir ein bißchen Ruhe gefehlt hatte. Nach einem herrlich einsamen Frühstück und einem kurzen Blick in den Unterhaltungsteil der Zeitung schlenderte ich gemächlich die Auffahrt hinunter zur Bushaltestelle. Die Busse fuhren nur jede Stunde, und ich hatte gerade einen verpaßt. Eine Tasse Kaffee zuviel, dachte ich bedauernd und schaute dem davonfahrenden Bus nach. Ich konnte mir nun aussuchen, ob ich die drei Meilen in die Stadt zu Fuß gehen auf Anhalter machen oder wieder nach Hause marschieren, und auf den nächsten Bus warten wollte. Noch während ich überlegte, hielt neben mir ein alter Lieferwagen, und Jim Blair steckte den Kopf aus dem Fenster. - 39 -
„Du hast wohl den Bus verpaßt?" fragte er und grinste dämlich. „Nein", antwortete ich sarkastisch. „Ich bin extra gekommen, um ihn vorbeifahren zu sehen. Ich sehe mir gern Busse an, ob du es glaubst oder nicht." „Dann willst du also nicht mitgenommen werden?" Ich musterte das Fahrzeug skeptisch. „In diesem alten Ding? Ich dachte, du bist damit unterwegs zum Schrottplatz." „Wenn du mit willst, steig ein", bot er an. Natürlich wollte ich. Was blieb mir viel übrig? Ich schlug die klapprige Tür zu und überlegte, warum Jim Blair mich immer etwas nervös machte. Nach unserer Begegnung im Gemüsegarten hatte ich ihn nicht mehr oft gesehen, aber jedesmal, wenn wir uns trafen, hatte ich das Gefühl, daß er mich heimlich auslachte, weil ich mich an diesem Tag so dumm angestellt hatte. „Hast du heute deinen freien Tag?" fragte er, während wir in Richtung Stadt fuhren. „Ja." „Dachte ich mir. Du siehst so aufgedonnert aus." „Was, in diesen alten Sachen?" Ich wischte einen nicht vorhandenen Schmutzfleck von meiner neuen Hose. „Normalerweise trägst du doch Jeans, oder?" Also hatte er darauf geachtet, wie ich angezogen war. Es gab immer wieder Wunder. Jim Blair hatte den Ruf, Mädchen zu meiden wie die Pest. Marion und die anderen fanden, daß er auf eine gewisse Art sehr attraktiv war, aber leider schrecklich schüchtern und auch ein bißchen schwer von Begriff. Doch da täuschten sie sich. Die funkelnden Augen unter dem Pony verrieten, daß er alles andere als schwer von Begriff war. Was sein gutes Aussehen betraf, mochten sie recht - 40 -
haben, aber ich träumte noch immer jede Nacht von Mark und zweifelte ernsthaft daran, daß ich mich je für einen anderen Mann interessieren würde. „Was hast du in der Stadt vor?" erkundigte er sich. „Marion Glease hat mich zum Mittagessen eingeladen, aber ich bin ein bißchen, früh dran, deshalb wollte ich vorher noch schwimmen gehen oder mich in den Geschäften umsehen." „Ich habe ein paar Einkäufe zu erledigen. Wenn du nichts Besseres zu tun hast, könnte ich deine Hilfe gebrauchen. Diese Aufforderung war zwar nicht gerade galant, aber ich konnte schlecht ablehnen, nachdem er mich mitgenommen hatte. „Was brauchst du denn?" fragte ich. „Ein Geburtstagsgeschenk für meinen Dad." Innerlich stöhnte ich. Was hatte ich nicht alles mitgemacht, wenn Dad ein Geschenk für Mom kaufen wollte! In der Zeit, in der wir auf der Suche nach dem idealen Geschenk von Geschäft zu Geschäft gelaufen sind, hätten wir ein zehnbändiges Lexikon zweimal lesen können. Jim stellte den Wagen in einem Parkhaus ab, und wir gingen durch eine Passage auf die Hauptgeschäftsstraße. In der Stadt war die Hitze noch schlimmer als auf dem Land, und ich sehnte mich nach dem Strand und nach Wasser. Warum mußte Jims Vater auch Geburtstag haben! „Was willst du deinem Dad denn schenken?" Ich heuchelte Interesse. „Was hältst du von einem Paar Hausschuhen?" „Langweilig." „Wirklich? Ich dachte, Mädchen mögen Kleidung." - 41 -
„Hausschuhe sind keine Kleidung, sondern nur Fußbedeckungen. Warum schenkst du ihm nicht einen hübschen Pullover oder so etwas?" „Weil er ihn nur in der Schublade lassen und seine alten tragen würde." „Und wie wäre es mit einem guten Buch?" „Er liest nur landwirtschaftliche Zeitschriften." „Oder etwas Alkoholisches?" „Er macht seinen Wein selbst." „Aber er wird doch wohl irgendein Hobby haben!“ Inzwischen klang ich so gereizt, wie ich mich fühlte. Die Hitze machte mich fertig. „Dad arbeitet gern im Garten, dann kommt er ins Haus und zieht seine Hausschuhe an. Und die sind inzwischen abgetragen." „Dann kaufen wir ihm eben welche." Ich gab es auf. Jim dirigierte mich in ein Schuhgeschäft. „Ich brauche deine Hilfe wegen der Farbe. Ich habe kein gutes Gefühl für Farben, aber du schon, wenn man deine Sachen ansieht." So, da mußte er mich also sehr genau betrachtet haben. Interessant. Ich suchte kirschrote Hausschuhe aus. Sie waren aus Leder und ziemlich teuer. „Hoffentlich gefallen sie ihm", sagte ich, als, wir aus dem Geschäft kamen: „Angenommen, erträgt sie nicht?" „Dann wird er barfuß gehen müssen", antwortete Jim gelassen. „Seine alten habe ich nämlich heute morgen verbrannt." Ich sah ihn überrascht an. „Wird er deswegen nicht böse sein?" Er zuckte die Schultern. „Wenn zwei Leute zusammenleben, gibt es gewisse Grenzen, was die - 42 -
Lebensdauer von Schuhen betrifft. Die Latschen haben gestunken." Wir brachen beide in Gelächter aus. Als wir uns wieder beruhigt hatten, gingen wir in ein Cafe und bestellten zwei Eiskaffee. Jim bezahlte für mich. „Kommst du mit deinem Dad gut aus?" fragte ich und aß genüßlich die kühle, süße Eiskrem. „Wir müssen miteinander auskommen, denn wir führen das Geschäft zusammen. Wir helfen auf den Farmen beim Pflügen, mit den Traktoren, beim Heckenschneiden und all so etwas. Momentan sind wir sehr mit der Ernte beschäftigt." „Aber ich dachte, du arbeitest für Bill und Jane?" Er lachte. „Ganz und gar nicht. Unser Haus liegt auf ihrem Grundstück, und sie haben uns als Pächter übernommen. Sie waren immer sehr fair, deshalb helfe ich ihnen so oft wie möglich." „Jim Blair!" Anklagend zeigte ich mit dem Eislöffel auf ihn. ;,Dann hast du also doch geholfen, als wir uns im Küchengarten getroffen haben." Er hatte wenigstens den Anstand, rot zu werden und etwas verlegen, drein zusehen. „Okay, aber du sahst so sehr von dir überzeugt aus, daß...“ „Überzeugt von mir?" unterbrach ich ihn. „Ich hatte da drinnen wirklich Angst." Er hob beschwichtigend die Hand. „Schon gut, ich habe einen Fehler gemacht, und es tut mir leid. Können wir das jetzt alles vergessen und von vorn anfangen?" „Einverstanden", sagte ich lahm. „Wenn du versprichst, so etwas nicht wieder zu tun." „Versprochen." Wir sahen uns an. Es war, als hätten wir gerade eine Art - 43 -
Pakt geschlossen, der mit dem Zwischenfall im Garten nichts zu tun hatte. Eigentlich wußte ich gar nicht, was das für ein Pakt war, aber danach schien es, als würden wir uns schon ewig kennen. Jim sah auf seine Uhr. ;,Ich mache mich jetzt besser auf den Weg. Das ist das Gute daran, wenn man selbständig ist, keiner feuert einen, wenn man die Mittagspause überzieht." Vor Marions Haus setzte er mich ab und ich sah dem wegfahrenden Wagen nach. Ich mochte Jim zwar jetzt schon lieber als vorher, aber er hatte die verwirrende Angewohnheit, einen anzusehen, als würde er einen besser kennen als man sich selbst. Eigentlich dumm, denn schließlich kennt sich doch jeder selbst am besten, oder nicht? Marion war in ihrem Zimmer gerade dabei, sich die Nägel zu lackieren. Ihr Kassettenrecorder lief mit voller Lautstärke; so daß ich warten mußte, bis die Musik vorbei war, bevor ich ihr von Jim erzählen konnte. „Er hatte die ganze Zeit vor, seinem Vater Hausschuhe zu kaufen", sagte ich. „Warum wollte er dann, daß ich mitkomme?" Marion schraubte das Nagellackfläschchen zu. „Mädchen, du wirst Geschichte machen. Jim Blair hat dich gern." „Mach keine Witze." Sie sah sich im Spiegel an. „Das habe ich ernst gemeint.. Wenn mich doch auch jemand mögen würde. Jemand, den ich genauso gern haben könnte, und nicht nur dieser Idiot auf der anderen Straßenseite, der mir immer schöne Augen macht." - 44 -
„Das kommt schon noch. Es passiert, wenn man es am wenigsten erwartet, so sagt man jedenfalls." „Vielleicht bin, ich zu altmodisch. Mit meinen Klamotten und so." Es lag mir auf der Zunge, ihr recht zugeben, aber ich verbiß mir die Bemerkung. Die Gleases hatten ein schweres Jahr hinter sich, und es fehlte wahrscheinlich an allen Ecken und Enden. Ich wußte, daß Marion den Großteil ihres Gehaltes ihrer Mutter gab, deshalb konnte für Kleidung nicht viel Geld übrig sein. Aber wenn sie bei den Jungen nicht ankam, lag das sicher nicht allein daran, daß sie sich anzog wie jemand, der doppelt so alt war. Schuld konnte auch die einladende und gleichzeitig hoffnungslose Miene sein, die sie immer aufsetzte, wenn Jungen in der Nähe waren. Mir kam es vor, als wolle sie einerseits auf sich aufmerksam machen, erwartete aber gleichzeitig, weggestoßen zu werden wie ein streunender Hund. „Vielleicht sollte ich mir das Haar färben", überlegte sie laut und zupfte an ihrer Naturkrause. Ich dachte über die Idee nach. „Das würde dich vielleicht etwas aufmöbeln.“ „Du klingst nicht gerade überzeugt" „Vielleicht sieht es ja auch scheußlich aus." Sie nickte düster. „Ja, was dann?" Mir war klar, daß ich sie irgendwie aufheitern mußte, deshalb zog ich sie vom Bett hoch. „Gehen wir zu Boots und sehen, was sie an Haartönungsmitteln haben. Wenn wir etwas Tolles finden, kaufen wir es und probieren es einfach mal aus.“ Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. „Du bist ein toller Kumpel, Nellie. Ich bin so froh, dass du nach Finchings gekommen bist.“ Das tat mir wirklich gut, denn alle meine Freundschaften - 45 -
waren im Sand verlaufen, als ich von der Schule ging. Obwohl ich das jetzt bedauerte, wusste ich nicht, wie ich sie wieder aufleben lassen konnte. Man kann schließlich nicht einfach anrufen und sagen: „Hallo, Sally, ich weiß, dass ich mich drei Jahre nicht gemeldet habe, aber jetzt möchte ich wieder deine Freundin sein.“ Deshalb war eine neue Freundin ein großes Ereignis in meinem Leben. Marion und ich beschlossen, etwas zu essen, bevor wir zu Boots gingen. Unten in der Küche saß schon ein Junge am Tisch. An seinem Stuhl lehnte ein Paar Krücken. „Nick, das ist Nellie“, sagte Marion, als wir uns setzten. Nick warf mir aus haselnussbraunen Augen einen misstrauischen Blick zu und nickte nur kurz. Er war mager und blaß, als würde er das Haus nie verlassen. Auf seinem Gesicht lag ein mürrischer und gleichzeitig aggressiver Ausdruck. „Hi“, begrüße ich ihn. „Ich hab schon viel von dir gehört, Nick.“ Er schaute mich verächtlich an. „Das glaube ich.“ Mrs. Glease rettete die Situation, indem sie einen Teller Hackbraten mit Erbsen vor mir hinstellte. „Ich weiß, es ist ein bisschen heiß für falschen Hasen, aber er muß gegessen werden.“ „Sieht gut aus“, antwortete ich und meinte es auch so. Sie strahlte vor Freude. Mit dem krausen braunen Haar, den rosigen Wangen und lebhaften Augen sah Mrs. Glease nett und hausbacken aus. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass sie seit kurzem Witwe war, wäre ich nie darauf gekommen, so fröhlich und munter wirkte sie. Trotz des missmutigen Nick hatte ich den Endruck, dass diese Familie fest zusammenhielt, und obwohl ich mich bei ihnen wohlfühlte, spürte ich eine leichte Eifersucht. Warum - 46 -
konnte ich nicht zu so einer Familie gehören? Mrs. Gleases Stimme riß mich aus meinen Gedanken. „Marion arbeitet sehr gern mit den Kindern in Finchings. Ich bin froh, dass sie etwas Sinnvolles tut und nicht gelangweilt in einer albernen Botique herumsteht. Ich nehme an, deine Mutter denkt genauso.“ Es entstand eine peinliche Pause. Ich würgte meinen Bissen Hackbraten hinunter, dann antwortete ich: „Mom ist tot. Sie hatte vor drei Jahren einen Autounfall.“ Alle am Tisch schwiegen betroffen. Sogar Nick hörte auf zu essen. Ich tat so, als hätte ich ihre Reaktion nicht bemerkt. „Arme Kleine“, sagte Mrs. Glease schließlich. „Wir können dir das gut nachfühlen. Der Tod meines Mannes hat uns alle sehr mitgenommen. Vermutlich hat dir Marion davon erzählt. Hast du noch Geschwister?“ Ich schüttele den Kopf. „Nein, Dad und ich sind jetzt allein. Aber wir kommen ganz gut zurecht.“ „Ja das Leben geht eben weiter, ob man will oder nicht. Eine Familie ohne Vater ist eine Sache, aber ohne Mutter…“ Ich versuchte ein Lächeln. „Nun, ja…“ „Du musst dies als dein Zuhause betrachten, solange du hier bist. Versprichst du mir das?“ „Danke, das ist wirklich sehr nett von Ihnen.“ „Das bedeutet, dass du beim Abwaschen mithelfen musst“, meinte Marion grinsend. Nick sagte nichts, aber er gab mir das letzte Stück Hackbraten, eine Geste, die mehr als Worte verriet. Nun hatte ich schon wieder gelogen. Und diesmal war es eine noch größere Lüge, als die, die ich Marion über Mark aufgetischt hatte. Es wurde langsam zur Gewohnheit, und - 47 -
ich fühlte mich ganz elend deswegen. Früher hatte ich Mom manchmal angeschwindelt, um mich. vor den Folgen ihres aufbrausenden Temperaments zu schützen, deshalb. kamen mir die Lügen jetzt relativ leicht von den Lippen. Nicht daß mir das Spaß machte, aber ich hatte einfach keine Lust, in Einzelheiten über Moms Flucht in die Freiheit oder wie immer man es eigentlich nennen wollte zu gehen. Der Tod war etwas Endgültiges, und vermutlich würde niemand mehr ein Wort darüber verlieren. Eine treulose Mutter dagegen gab immer wieder Anlaß zu peinlichen Fragen. Nach dem. Essen forderte Nick mich zu meiner Überraschung auf, mit ihm Dame zu spielen. „Mach nur", sagte Marion. „Es langweilt ihn, mit mir oder Mom zu spielen, weil er uns immer schlägt." Während Marion und Mrs. Glease abwuschen und den Tee für die Pensionsgäste machten, saßen Nick und ich uns am Damebrett gegenüber. Er spielte sehr gut, das mußte man ihm lassen, aber während meiner Krankheit hatten Brettspiele zur Therapie gehört, deshalb war ich ein würdiger Gegner. Am Anfang ärgerte es ihn, wenn ich ihn schlug, aber ich überging seine Verstimmung einfach. Schließlich gewann er ein paar Spiele hintereinander, und seine Stimmung hob sich. „Mit dir zu spielen, macht mehr Spaß als mit Marion oder Mom", gab er widerstrebend zu. „Sie konzentrieren sich nicht.“ „Mit deinen Schulkameraden würde es wahrscheinlich noch mehr Spaß machen", sagte ich beiläufig. Er setzte gerade die Steine neu, und ich sah, wie seine schmalen Schultern sich verkrampften. „Ich geh zur Zeit nicht zur Schule." - 48 -
„Ach, und warum nicht?" „Wegen meiner Beine. Ich kann noch nicht wieder richtig laufen." Ich nickte mitfühlend, obwohl ich beobachtet hatte, daß er zum Schrank hinübergegangen war und das Spiel herausgeholt hatte, ohne seine Krücken zu benutzen. Es machte ihm zwar Mühe, aber er hatte es ohne Hilfe hin und zurück geschafft. Bill hatte also recht gehabt. Nick hätte zur Schule gehen können, wenn er gewollt hätte. Aber er wollte nicht, und ich fragte mich, warum. Ich machte den ersten Zug. „Bekommst du von der Schule Hausaufgaben?" ,,Ja. Unsere Nachbarin war Lehrerin und hat mir ein bißchen geholfen, aber sie ist weggezogen, und jetzt ist niemand mehr da." „Das muß ziemlich langweilig sein." „Ist es auch." „Wann darfst du wieder zur Schule gehen?" „Weiß nicht." „Eben bist du recht gut gelaufen." ,,Nein, ich habe beide .Beine gebrochen." Er sah stolz hoch. „An vier Stellen." „Ich hab davon gehört." „Es ist ein Wunder, daß ich nicht für immer ein Krüppel bleibe." E nahm mir einen Stein weg. „Du bist nicht bei der Sache." Ich versuchte es auf eine andere Tour. „Daß du nicht nach Lilleshall gehen konntest, war bestimmt ein Hammer für dich." Auf einmal schlug er mit der Faust auf das Brett, daß alle Steine durcheinander purzelten. „Ich will darüber nicht reden!" - 49 -
„Schon gut, geh doch nicht gleich auf die Palme." Zugegeben, es war ziemlich ungeschickt von mir, gleich so loszupreschen. Ich stand auf, ging ans Fenster hinüber und hob den Batistvorhang. Das Gras in dem kleinen Vorgarten war von der Hitze braun geworden, und die Rosen vor der Ligusterhecke ließen die Köpfe hängen. Auf der Straße spielten ein paar Kinder Fußball. Wenn ein Auto kam, wichen sie schnell auf den Fußgängerweg aus. Das mußte Nick, der früher zweifellos der Star der Gruppe gewesen war, ständig daran erinnern, daß er nun nie ein berühmter Fußballer werden würde. Hätte ich nicht wegen Mom geschwindelt, hätte ich ihm jetzt meine eigene Geschichte erzählen können. Das hätte ihm vielleicht, aber nur vielleicht, geholfen. Zwar lösen die Probleme anderer Leute nicht die eigenen, doch man sieht wenigstens, daß man nicht der einzige ist, der Sorgen hat. Allerdings bin ich die letzte, die ihm in Sachen Schule einen Rat geben darf, überlegte ich schuldbewußt. Auch ich war vollkommen wiederhergestellt und trotzdem genau wie er entschlossen, nicht zur Schule zu gehen. Langsam ließ ich den Vorhang aus den Fingern fallen. Wie hatte ich nur den Nerv haben können, so mit Nick zu reden? Dazu hatte ich wirklich kein Recht.
- 50 -
5. KAPITEL Ich ging zum Tisch zurück und sammelte die verstreuten Spielsteine, auf. Mir war bewußt, daß mich Nick, der zusammengesunken in seinem Stuhl saß, mißmutig beobachtete. Plötzlich ging die Haustür, und eine Stimme rief: „Gibt es etwas zu essen, Mom? Ich bin halb verhungert." Nach ein paar gedämpften Worten in der Küche wurde die Tür zum Wohnzimmer aufgestoßen, und auf der Schwelle stand ein Junge von ungefähr achtzehn Jahren. Er sah gut aus, hatte welliges braunes Haar und haselnußbraune Augen. Marion oder Mrs. Glease sah er kaum ähnlich, dafür um so mehr Nick. Bis auf die breiten Schultern und das selbstbewußte Auftreten war er eine größere Version seines Bruders. Er kam an den Tisch und zerzauste unsanft Nicks Haar. „Wieder mal einen Wutanfall gehabt, Brüderchen?" „Laß mich in Ruhe", knurrte Nick, nahm seine Krücken und humpelte aus dem Zimmer. „Ich bin George", stellte der Junge sich vor. „Hi", antwortete ich nicht eben, freundlich. „Statt hier nur herumzustehen, hilf mir lieber, die Bausteine einzusammeln. Einer liegt direkt vor deinem Fuß." Ich war richtig wütend, weil er Nick so geringschätzig behandelt hatte. Und ich wäre jede Wette eingegangen, daß er das die ganze Zeit über tat. Eine feine Art, Nick zu helfen. Er zuckte mit den Achseln. Ab und zu habe ich nichts - 51 -
dagegen, einem hübschen Mädchen zu helfen," Damit ging er in die Hocke und starrte mich weiter an, bis ich ganz verlegen wurde. Die ganze Situation war mir ausgesprochen peinlich. So sollte man sich nicht verhalten, wenn man jemand zum ersten Mal begegnet, dachte ich. Dieser George• sah sogar noch besser aus als Mark und schien vor Lebensfreude und aufgestauter Energie fast zu platzen. Es ist schwierig, seine Wirkung auf mich zu beschreiben. Ich wußte nur, daß ich mich von ihm angezogen fühlte wie von einer Art Magnet. Er trug ein knallrotes T-Shirt, mit einem schwarzen Einsatz, schwarze Jeans und am Handgelenk eine protzige Digitaluhr. „Du bist also Nellie und arbeitest mit meiner Schwester in dieser Klapsmühle." „Es ist keine Klapsmühle", fuhr ich ihn an. Er lachte spöttisch. „Du läßt dich genauso leicht auf die Palme bringen wie Marion." „Schön, wenn es dir Spaß macht.“ Ich warf den letzten Stein in die Schachtel, klappte sie zu und stand auf. Er war nicht viel größer als ich, aber sehr muskulös. Er, nicht Nick, hätte der Fußballer sein sollen, dachte ich, während ich mich nach einem Platz für die Schachtel umsah. Ohne mich aus den Augen zu lassen, nahm er sie mir ab und stellte sie auf den Tisch. „Du bist viel zu hübsch, um so die Stirn zu runzeln", sagte er mit vor Schmalz triefender Stimme. Ich mußte kichern, und bevor ich wußte, wie mir geschah, hatte er mich gepackt und küßte mich leidenschaftlich. Und das im Wohnzimmer seiner Mutter! Über seine Schulter hinweg sah ich ängstlich zur Tür. Wenn jetzt jemand hereinkäme, müßte ich vor Verlegenheit in den Boden versinken. Endlich ließ er mich los. Benommen trat ich einen - 52 -
Schritt zurück, aber bevor ich wieder richtig zu mir kommen konnte, hatte er meine Hand gepackt und zog mich in den Flur. „Ich mache mit Nellie eine kleine Spritztour", rief er in Richtung Küche. Dann nahm er zwei Motorradhelme vom Garderobenständer. Einen davon gab er mir. Ein paar Minuten später brausten wir die Uferstraße entlang. Etwas krampfhaft hielt ich mich an George fest. Ich war noch nie auf einem Motorrad mitgefahren, und es machte mich nervös, daß wir so knapp an Bussen, Fahrrädern, Kinderwagen und Fußgängern vorbeirasten. George riß die Maschine mal nach rechts, mal nach links und schoß um die Ecken, daß Kinder und Hunde in alle Richtungen davonstoben. Endlich verlangsamte er das Tempo, und wir hielten bei einer Bank an der Strandpromenade. Wir nahmen die Helme ab und setzten uns auf die Bank. Mein Herz pochte, und meine Haut prickelte vom Wind. Ich fühlte mich unglaublich lebendig und stark. Vor uns lag einladend das Meer, auf der Wasseroberfläche glitzerten kleine weiße Schaumkronen. Kinder und Erwachsene aller Altersstufen planschten im Wasser herum, spielten Ball oder warfen Stöckchen für die Hunde. Alle sahen aus wie Spielzeugfiguren, und ich fühlte mich so überlegen. Fast hatte ich den Eindruck, als könne ich die Szenerie mit einem einzigen Augenzwinkern verändern. Dieser Gedanke faszinierte mich so, daß ich erst wieder an George dachte, als er mich in die Rippen stieß. „Hast du was gesagt?" Er lachte. „Träumerin! Ich hab dich gefragt, ob dir die Fahrt gefallen hat. „Klar. Nur die ersten paar Minuten waren schlimm.„Die - 53 -
meisten Mädchen wären vor Angst gestorben. „Tatsächlich?" „Ja, du bist ganz schön mutig. Ich hab alles aus der Maschine herausgeholt." Er nahm meine Hand, aber ich reagierte nicht. Was zuviel ist, ist zuviel, dachte ich. Schließlich hatten wir uns gerade erst kennengelernt, und mir war so etwas noch nicht passiert. George räusperte sich. „Nellie? Hast du einen... Ich meine, gibt es da einen Jungen? Also, du weißt schon." Ich zögerte. „Eigentlich nicht." „Was soll das heißen?" „Das heißt nein." ,,Dann könnten wir uns doch gelegentlich treffen, zu einer Motorradfahrt oder so." „Warum nicht?" Das sagte ich zwar ganz ruhig, aber mein Herz klopfte heftig. Passierte das alles tatsächlich mir? „Großartig." Ich bekam die volle Wirkung seines verführerischen Lächelns zu spüren, dann fand ich mich plötzlich in seinen Armen wieder. Er küßte mich wie wild, und ich erwiderte seine Küsse. Das ging so lang, bis seine Hände auf Wanderschaft gingen. Da schob ich ihn weg. „Hey, so nicht!“ „Okay", meinte er lachend, „aber man wird doch noch ein bißchen Spaß haben dürfen." „Ich hatte meinen Spaß, also laß uns gehen." Damit sprang ich auf, Als wir die Helme aufsetzten, sagte er: „Auf dem Heimweg müssen wir noch ein paar Glimmstengel besorgen." Nachdem er wieder wie ein Irrer durch die Stadt gerast war, hielt er vor einem Tabakwarengeschäft. Er klopfte seine Taschen ab. „Mist! Jetzt hab ich mein Geld in der anderen Jacke- gelassen. Hast du welches dabei?" - 54 -
„Klar." Ich fischte ein paar Scheine aus der Tasche. Als er aus dem Laden kam, gab er mir das Wechselgeld zurück. „Danke, Nellie, du bekommst es wieder." Zu Hause begrüßte uns Marion mit einer etwas säuerlichen Miene, und ich konnte ihr keinen Vorwurf machen. Schließlich hatte sie mich eingeladen, den Tag mit ihr zu verbringen, nicht mit George. „Es ist zu spät, noch wegen des Haartönungsmittels zu Boots zu gehen, wenn wir rechtzeitig im Kino sein wollen." „Tut mir leid, Marion", antwortete ich schuldbewußt. George hängte die Helme auf Und kam zu uns in die Küche. „Habe ich da etwas von Kino gehört? Welchen Film seht ihr euch denn an?" Marion funkelte ihn böse an. „Was gerade läuft. Und du kommst nicht mit, denn ich werde nicht für dich bezahlen." „Das geht schon in Ordnung", meinte er fröhlich. „Mom leiht mir das Geld." „Er ist einfach gräßlich", schäumte sie, als er weg war. „Immer zieht er Mom das Geld aus der Tasche. Leih ihm bloß nie etwas." „Er würde mich nicht darum bitten", sagte ich leichthin. Sie lachte verächtlich. „Sei dir da nur nicht zu sicher. George würde seinen eigenen Schatten anpumpen." Das wußte ich bereits, doch, ehrlich gesagt, es machte mir nichts aus. Im Kino sorgte ich dafür, daß Marion zwischen mir und George saß. Etwas sagte mir, daß er seine Hände nicht bei sich behalten würde, und ich wollte es mir mit Marion nicht noch mehr verderben. Wir sahen eine Komödie mit Nel - 55 -
Brooks und lachten alle sehr. Nach der Vorstellung gingen wir zurück zu den Gleases zum Abendessen. Als ich mich verabschieden wollte, gerieten sich Marion und George darüber in die Haare, ob ich mit dem Bus oder dem Motorrad fahren sollte. „Es sind über fünf Meilen", meinte Marion. „Sie wird völlig durchgepustet.“ „Quatsch, es wird ihr gefallen", widersprach George. „Ich leihe ihr meine Windjacke." „Deine ist ihr doch viel zu groß", mischte sich nun auch Nick ein. „Sie kann eine von mir haben. Inzwischen kam ich mir vor wie ein Päckchen, das zugeschnürt und verschickt werden sollte. Nicht, daß mich das ärgerte, im Gegenteil, es tat gut, einmal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Schließlich verpaßte man mir eine Schutzbrille und eine warme Jacke, und George schaffte die fünf Meilen in wenig mehr als fünf Minuten. Als wir in die Auffahrt einbogen, hielt er an und stieg ab. „Du hast es doch nicht eilig, oder?" Ich sah auf die Uhr. Es war halb zehn. „Allzu spät sollte ich nicht kommen." „Aber wir haben doch noch Zeit für eine Zigarette? „Du meinst, du hast noch Zeit. Ich rauche nicht." ,,Das habe ich schon gemerkt. Wovor hast du Angst, vor Krebs etwa?" „Ja. Und Bronchitis. Und Herzinfarkt. Du weißt schon, solche harmlosen Krankheiten eben." Er stützte das Motorrad ab, und wir setzten uns unter einem Baum ins Gras. George legte einen Arm um meine Schultern. Irgendwie fühlte ich mich unbehaglich. Vielleicht hätte ich gleich ins Haus gehen und mich nicht auf diese - 56 -
„Zigarettenpause" einlassen sollen. „Entspann dich", flüsterte er in mein linkes Ohr. „Deine Schultern sind so steif wie eine Stuhllehne. Ich wand mich verlegen. „Ich dachte, du wollest eine Zigarette rauchen." „Okay, okay." Er ließ den Arm sinken, nahm eine Zigarette aus der Packung und steckte sie an. „Reden wir einfach ein bißchen", schlug er vor. „Du kannst mich alles über mich fragen." „Warum sollte ich alles über dich wissen wollen?" Er grinste. „Weil die meisten Mädchen das wollen. Es muß an meiner magnetischen Anziehungskraft liegen." „Du bist der; eingebildetste Kerl, den ich kenne“ antwortete ich lachend. „Soll das heißen, du findest mich nicht unwiderstehlich?" „Ganz sicher nicht, aber...“ Ich zögerte, bevor ich weiterredete. „Eines: hätte ich doch gern gewußt." „Hab ich es nicht gesagt!" Triumphierend sah er mich an. „Macht es dir etwas aus, daß du arbeitslos bist?" „Ach, das. Manchmal langweile ich mich ein bißchen, und es wäre toll, wenn ich mehr Geld hätte, aber im großen und ganzen, nein. Warum?" „Reine Neugierde." „Ich hab in der Schule genug geschuftet. Und wohin hat mich das gebracht? Jetzt mache ich erst mal schöne lange Ferien. Irgendwann werd ich schon etwas finden, obwohl ich nicht weiß, was." „Interessierst du dich für etwas besonders?" „Klar." Ich spürte wieder seinen Arm um meine Schultern. „Hübsche Mädchen." „George, ich habe es ernst gemeint. - 57 -
„Dann sei weniger ernst. Du klingst schon wie meine Mutter." „Du hast gesagt, ich könnte fragen." „Sieh es doch einmal so: Es hat nie eine höhere Arbeitslosigkeit gegeben. Millionen Leute würden ihre Großmutter verkaufen, wenn sie dafür einen Job kriegen würden. Da ist es doch ein Glück, daß Leute wie ich den anderen nicht die Arbeit wegnehmen wollen." „Aber was machst du denn den ganzen Tag?" „Ich komme herum antwortete er ausweichend. „Treffe mich mit meinen Kumpels, ärgere meinen kleinen Bruder und so etwas." „Das klingt nicht sehr spaßig." „Hör mal", sagte er, und seine Stimme klang gereizt, „jeder hält mir Vorträge darüber, daß ich mir einen Job suchen soll. Langsam habe ich die Schnauze voll davon. Ihr könnt euch eure guten Ratschläge alle sonstwohin stecken." „Du hast eine reizende Ausdrucksweise." „Und du wohl empfindliche Ohren." „So ist es. „Dann sollten wir beide in Zukunft das Thema Arbeit vermeiden." Es folgte ein peinliches Schweigen, und ich sah wieder auf die Uhr. „Also, danke, daß du mich hergebracht hast. Ich muß jetzt gehen." Er drehte mich so, daß ich ihm ins Gesicht sehen müßte. „Treffen wir uns am Samstag? Du willst mich doch wiedersehen, oder nicht?" „Ich glaube schon", murmelte ich unsicher. Er hatte mich tatsächlich so durcheinandergebracht, daß ich nicht mehr wußte, was ich wollte. Unsere Nasen berührten sich jetzt fast. „Natürlich willst du", flüsterte er, die Lippen an meinem - 58 -
Mund. „Und ich auch, deshalb…" Der Rest des Satzes ging in einem langen, fordernden Kuß unter. Und plötzlich fand ich mich ausgestreckt mit George über mir im Gras wieder. „Hey, laß das!" Ich stieß ihn kräftig gegen die Brust, so daß er von mir wegrollte. Blitzschnell stand, ich auf und trat auf die Straße. „Tschüß, George, bis Samstag." „Warte! Soll ich dich nicht fahren?" „Nein, danke. Ich gehe lieber zu Fuß." Er zuckte die Schultern, marschierte zu seinem Motorrad und kickte die Stütze weg. Dann setzte er den Helm auf und verschwand in einer Wolke aus Staub und Abgasen. Langsam ging ich die Auffahrt hinauf. Hundert Meter vor mir war eine einsame Gestalt ebenfalls auf dem Weg zum Haus. Ich sah genauer hin und erkannte Jim Blair: Er mußte genau in dem Moment vorbeigekommen sein, als wir im Gras herumschmusten. Nicht, daß mich das sehr störte. Ich wollte nur nicht, daß Bill oder Jane davon erfuhren. Sie wären vermutlich nicht sehr begeistert von einer Angestellten, die auf ihrem Grundstück ungeniert mit einem Jungen herumschäkerte, von .dem sie nichts hielten, und noch dazu so, daß jeder Vorbeikommende es sehen konnte. Daraus könnten sie auf mangelndes Verantwortungsbewußtsein und schlimmeres schließen. Als ich zum Haus kam, war Jim verschwunden, aber ich nahm mir vor, mich bald mit ihm auszusprechen. In den nächsten Tagen gab es noch mehr Arbeit als gewöhnlich. Rachel, mein heimlicher Liebling, wurde krank. Sie war schon seit einiger Zeit müde und teilnahmslos gewesen, deshalb holte Jane den Arzt. Er konnte nicht viel finden, aber dann bekam sie Fieber, und wir brachten sie ins Krankenzimmer und begannen eine Kur - 59 -
mit Antibiotika. Weil Rachel sich einsam fühlte und nach ihren Freunden weinte, bestimmte Jane, daß ich bei ihr bleiben sollte, bis es ihr wieder besser ging. Die Tabletten halfen schnell, aber Rachel mußte das Bett hüten, und es war keine leichte Aufgabe, sie abzulenken und bei Laune zu halten. Manchmal hätte ich am liebsten aufgegeben; doch dann gab es wieder Momente, die mich für meine Mühe belohnten. Leider war es oft ziemlich langweilig. Man könnte es als Herausforderung betrachten, sich von morgens bis abends um ein behindertes Kind zu kümmern, aber nach meiner. Erfahrung besteht der schwierigste Teil der Arbeit darin, das Gähnen zu unterdrücken. Ich bekam eine Ahnung davon, wie es sein mußte, die Mutter eines Kindes wie Rachel zu sein. So sehr man es auch liebt, bekommt man doch hin und wieder Lust, es irgendwohin abzuschieben und für eine Weile einfach zu vergessen. Dann hatte man natürlich Schuldgefühle wegen solcher lieblosen Gedanken. Kein Wunder, daß die Leute froh über Orte wie Finchings waren. Wir retteten hier sicher nicht nur Ehen, sondern auch das seelische Gleichgewicht einiger Eltern. Wenn Rachel mal für eine halbe Stunde eingenickt war, lief ich im Garten herum, um etwas von meiner überschüssigen Energie loszuwerden. Oft saß ich auch nur träumend am offenen Fenster. Das fantastische Wetter hielt an. Die Wiesen wären verdorrt, und wir waren knapp an Wasser. Wegen der Kinder brachte das beträchtliche Probleme mit sich, aber nie beklagte sich jemand. Ich fragte mich oft, ob sie wohl zu Hause auch so schönes Wetter hatten und wie Dad allein zurechtkam. Dann dachte ich auch über Mom und Dad nach, über Moms Verschwinden und meine Krankheit, doch es schmerzte - 60 -
nicht mehr so wie früher. Ich blieb ganz ruhig dabei. In der Erinnerung erschienen mir Mom und Dad wie zwei Fremde, die nichts gemeinsam hatten und für eine endlose Reise in ein Zugabteil eingesperrt waren. Ich erinnerte mich an die gespannte, nervenaufreibende Atmosphäre um meine frustrierte Mutter und an Dads sture Weigerung, sich davon beeinflussen zu lassen. Doch ich hatte darunter gelitten. Der bloße Anblick der zusammengepreßten Lippen mit der Zigarette im Mundwinkel genügte schon, um mich in Schweiß ausbrechen zu lassen. Wenn ich jetzt daran zurückdachte, fragte ich mich, ob nicht die unglücklichen Jahre vor Moms Verschwinden eher der Grund für meinen Zusammenbruch waren als die Lücke, die sie danach hinterließ. Arme Mom. Die Ehe mit Dad muß die Hölle für sie, gewesen sein. Sie war das hübscheste und intelligenteste Mädchen in ihrem Dorf gewesen. Der Himmel weiß, wie sie auf Dad verfiel. Vielleicht fühlte sie sich von ihm angezogen, weil er stark und ruhig war. Als sie ihren Fehler erkannte, war ich schon unterwegs. Sie saß in der Falle und mußte heiraten. Das alles hatte sie mir einmal erzählt, als sie wegen irgend etwas wütend war. Ich hatte jetzt zwar keine Komplexe, weil meine Eltern wegen mir heiraten mußten, aber ich war fest entschlossen, nicht in dieselbe Falle zu tappen. Nein, danke, wahrhaftig nicht.
- 61 -
6. KAPITEL Nach einer Woche war Rachel auf dem Weg der Besserung und durfte wieder mit den anderen Kindern spielen. Ich war froh, zu meiner üblichen Arbeit zurückzukommen, besonders weil ich da wieder öfter mit Marion reden konnte. „Ich soll dir etwas von George ausrichten", sagte sie während unserer Kaffeepause. „Er holt dich morgen um sechs ab." „Okay." Über den Rand ihres Bechers hinweg sah sie mich an. „Laß die Sache mit ihm nicht zu ernst werden, ja?" „Sei bitte nicht eifersüchtig, Marion. Es gibt keinen Grund dazu, du bist meine Freundin. Mit ihm ist das etwas anderes. Sie nickte. „Ich weiß. Zugegeben, zuerst war ich ein bißchen sauer, aber ich hab bald gemerkt, wie dumm das war. Das Problem ist, George hatte schon früher immer mal wieder etwas mit Freundinnen von mir, und ich will einfach nicht, daß er dir weh tut.“ „Das wird er nicht, ich verspreche es.“ „Okay, aber er kann ein richtiger Teufel sein, also paß auf." „In Ordnung." Ich atmete erleichtert auf, froh, daß ich dieses Gespräch hinter mir hatte. Ein paar Minuten später kam der Briefträger und brachte - 62 -
einen Brief von Dad. Mein Vater schrieb höchst ungern, deshalb war ich gespannt, was los war. Als ich den Umschlag aufriß, fiel ein Zeitungsausschnitt heraus. Daran hing eine kurze Notiz von Dad. Liebe Nellie, dachte, dies interessiert Dich vielleicht. Hoffe, daß alles in Ordnung ist. Mußte letzte Woche die Katze zum Tierarzt bringen, Fellknäuel verschluckt wie üblich. Alles Liebe, Dein Dad Der Ausschnitt war aus unserer Lokalzeitung. Ich faltete ihn auf und sah vor mir einen strahlenden Mark, Arm in Arm mit einer atemberaubenden Blondine im Hochzeitskleid. Die Bildunterschrift lautete: „Mr. und Mrs. Mark Field auf den Stufen der Kirche in St. Mary in Leeds nach ihrer Trauung am 18. Juli". Der Artikel dazu enthielt eine Menge Geschwafel über Marks Beliebtheit und daß alle ihm und Jackie viel Glück in ihrer neuen Heimat wünschten. Natürlich hatte ich damit gerechnet, das früher oder später zu erfahren, aber auf meine Reaktion war ich nicht gefaßt gewesen. Die Fotografie verschwamm vor meinen Augen, und ich spürte ein Würgen im Hals. Wie blind stolperte, ich in den Garten und hinunter zum See, wo ich mich in das hohe Gras fallen ließ und mir die Augen ausheulte. Als keine Tränen mehr kamen und ich nur noch von einem gelegentlichen trockenen Schluchzer geschüttelt wurde, fühlte ich mich von der warmen, sonnendurchtränkten Erde merkwürdig getröstet. Allmählich bemerkte ich die winzigen Insekten, die vor - 63 -
meinen Augen im Gras herumwuselten. Für sie mußte ich wie ein Riese erscheinen, und ich fragte mich, wie viele ihrer Behausungen ich wohl mit meinem großen Körper schon zerdrückt hatte. Das Leben ist nicht leicht, dachte ich, weder für Mädchen noch für Spinnen. Auf einmal hörte ich jemanden laut pfeifend den Pfad entlangkommen. Bevor ich mich bemerkbar machen konnte, stolperte Jim Blair über mich. Er trug ein Paar Ruder auf der Schulter. „Mensch, hast du mich erschreckt", sagte er. Ich setzte mich auf und versuchte ein Lächeln. ,,Tut mir leid." Irritiert legte er die Ruder ins Gras und beugte sich zu mir herunter. „Was ist los? Du siehst aus wie sieben Tage Regenwetter." „Nichts", schnüffelte ich. „Ich bekomme einen Schnupfen, das ist alles." Er nickte mitfühlend. „Pech für dich. Würdest du dich nach einer Bootsfahrt besser fühlen?" Ich brachte ein schwaches Lachen zustande. „Das könnte man ja mal ausprobieren." Etwas verlegen stand ich auf, stopfte den Zeitungsausschnitt in die Tasche, wischte mir das Gras vom Rock und folgte Jim den Weg hinunter. Bei einem behelfsmäßigen Landungssteg war an einem Pfahl ein altes Ruderboot festgemacht. Auf meinen Erkundungsgängen durch den Park war ich schon früher hier vorbeigekommen und hatte mich gefragt, wer es wohl benutzte. „Steig ein“, forderte Jim mich auf. Ich sprang hinein, und sofort begann das Ding wie - 64 -
verrückt zu schaukeln. „Paß auf, daß du nicht kenterst." Jim reichte mir die Ruder. „Kannst du rudern?" „Natürlich." Ich legte, die schweren Ruder in die Metallführungen auf beiden Seiten, des Bootes. „Okay." Damit machte er das Seil los und warf es zu mir ins Boot. „Also dann, viel Spaß." Und er ging pfeifend davon. Ungläubig starrte ich ihm nach. „Hey, kommst du nicht mit?" Er drehte sich um. „Ich dachte, du willst vielleicht allein sein." Der Abstand zwischen mir und dem Landungssteg vergrößerte sich immer mehr. Langsam wurde ich nervös „Nein. Weißt du, so toll sind meine Ruderkünste nun auch wieder nicht." „Kannst du schwimmen?" „Ja, aber...“ „Wenn nicht, solltest du lieber ruhig sitzenbleiben, damit das Boot nicht so schaukelt." Ich wagte kaum noch zu atmen. Der Abstand zum Ufer war inzwischen beträchtlich. „Tatsache ist, daß ich noch nie in so einem Boot gesessen habe und nicht weiß, was ich tun soll." „Das ist etwas anderes", sagte Jim und kam zurück. „Ich dachte, du könntest rudern. Aber da muß ich mich wohl verhört haben." Nachdenklich faßte er sich ans Kinn. „Wie hole ich dich jetzt bloß wieder zurück?" Ich warf ihm das Tau zu. „Damit natürlich." Er fing es auf und stand dann da wie ein Dorftrottel; „Ach ja, daran habe ich gar nicht gedacht." Selbstverständlich machte er sich über mich lustig; aber ich ging nicht darauf ein. Nachdem er das Boot an Land gezogen hatte, stieg er ein - 65 -
und setzte sich auf den Sitz mir gegenüber. „Willst du nicht rudern?" fragte ich. „Nein, du ruderst", bestimmte, er und wickelte das Seil ordentlich auf. „Das hier nennt man übrigens Fangleine." „Tatsächlich?" „Diese Dinger, in denen die Ruder liegen, sind die Klampen: Ich sitze im Heck, und das spitze Ende heißt Bug." „Verblüffend", bemerkte ich trocken. Ich war ziemlich sauer Natürlich hatte ich angenommen, daß er rudern würde. Doch er rekelte sich im Heck, während ich mich ungeschickt mit den verflixten Rudern abplagte. Dieses alte Boot zu bewegen, war, als wolle man einen Doppeldeckerbus ohne Reifen manövrieren. Ich hieb abwechselnd auf Wasserpflanzen und Seerosen ein oder verfehlte das Wasser ganz, wobei ich fast rückwärts vom Sitz fiel. Aber ich wußte, daß Jim nur darauf wartete, daß ich aufgab. Also biß ich die Zähne zusammen und rackerte mich weiter ab. Rudern konnte schließlich nicht so schwer sein, man mußte nur den Trick heraushaben. Irgendwie brachte ich es fertig, uns in ein regelrechtes Dickicht von Wasserlilien heinein zu rudern. Ich konnte drücken und ziehen wie ich wollte, ich bekam den Kahn nicht wieder flott. „Leg die Ruder ein", sagte Jim schließlich. „Was meinst du? „Zieh sie, zurück in die Ruderklampen." „Warum?" „Weil sie sonst ins Wasser rutschen", erklärte er geduldig. „Dann müsstest du ihnen hinterherschwimmen. Du kannst schwimmen, ja?" „Das habe ich doch gesagt." „Hast du. Hoffen wir für dich, daß du besser schwimmst - 66 -
als ruderst." Er sah über den Rand des Boots ins Wasser. „Willst du noch einmal versuchen, uns hier herauszuholen?“ „Nein, mach du das.“ Wir tauschten die Plätze. Mit ein paar kräftigen Schlägen bekam Jim uns frei, und wir glitten schnell über die spiegelnde Wasseroberfläche. „Für eine Landratte hast du es gar nicht so schlecht gemacht“, meinte er. Ich spritzte ihn naß. Er sah nett aus, wenn er lächelte. Kaum zu glauben, dass so ein dunkler Typ Engländer war. Mit den schwarzen Augen und der gebräunten Haut hätte man ihn eher für einen Italiener oder Franzosen gehalten. Als wir uns so über Belanglosigkeiten unterhielten, überkam mich ein wohltuendes Gefühl der Sicherheit. Das hatte nichts mit Jims fachmännischem Umgang mit dem Boot zu tun, sondern mit mir selbst. Es war ein Gefühl von Frieden, Ruhe und Zuversicht, das ich nicht genau beschreiben kann. Ich wusste nur, dass ich das Bedürfnis hatte, ihm von Marks Heirat zu erzählen. „Mich hat’s heute schon schwer gebeutelt“, begann ich, während ich meine Hand ins kühle Wasser hielt. Jim antwortete nicht sofort. „Willst du darüber sprechen?“ fragte er schließlich. Wollte ich? Jetzt, wo ich davon angefangen hatte, war ich mir nicht mehr so sicher. Als ich noch darüber nachdachte, passierte etwas Erstaunliches. Mir war, als stünde ein Teil von mir plötzlich am Ufer und würde uns beide in dem Boot mitten auf dem See beobachten. Ganz deutlich konnte ich mein blondes Haar und das gelbe T-Shirt erkennen. Jim hatte die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt. Um uns herum - 67 -
glitzerte die mit weißen, rosa und roten Blüten gesprenkelt Wasserfläche. Die Büsche auf der Insel in der Mitte des Sees warfen kurze dunkle Schatten, und die dichtbelaubten Bäume am anderen Ufer hoben sich scharf gegen den blauen Himmel ab. Alles war ruhig. Selbst die sonst so geschäftigen Wasservögel und Moorhünhner schienen in der stillstehenden Zeit gefangen zu sein. Dann war der Zauber vorbei und ich befand mich wieder in meinem Körper im Boot, wo Jim und ich uns gegenseitig anstarrten. „Bist du in Ordnung?“ fragte Jim. „Ja, nur eben…“ „Was?“ „Ach nichts.“ Er sollte mich nicht für übergeschnappt halten. Ich fühlte in meiner Tasche nach dem Zeitungsausschnitt, zog ihn heraus und betrachtete das Foto. „Jemand, den ich sehr gern habe, hat vor ein paar Tagen geheiratet.“ Er griff nach dem Ausschnitt, sah ihn kurz an und gab ihn mir dann zurück. „Dein Freund?“ „Nicht direkt. Er hat mich als Sozialarbeier betreut, nachdem ich eine Art Zusammenbruch hatte.“ Jim schien nicht erschrocken. Er nickte nur langsam. „Solche Leute können einem sehr wichtig werden. Man wird von ihnen abhängig.“ „Das stimmt“, bestätigte ich eifrig. „Weißt du, nachdem Mom weg war, hatte ich niemanden mehr und fühlte mich so scheußlich. Mark war nett zu mir, und ich…“ Ich konnte nicht weitersprechen. Nach einem Moment sagte Jim leise: „Für mich war es auch schrecklich, als meine Mutter starb. Ich weiß, wie du dich fühlst.“ - 68 -
Ich hätte ihn jetzt in dem Glauben lassen können, dass meine Mutter auch tot war, aber plötzlich hatte ich das dringende Bedürfnis, wenigstens einmal die Wahrheit zu sagen. „Sie ist nicht tot. Als ich eines Tages von der Schule nach Hause kam, war sie weg. Einfach verschwunden,. Nach ein paar Tagen wandte Dad sich an die Polizei, die Nachforschungen anstellen wollte. Aber sie haben uns gleich gesagt, dass sie nicht viel unternehmen können. Jeden Tag verlassen Leute ihre Familie, und man kann sie nicht daran hindern. Wir sollten uns keine Sorgen machen. Vermutlich würde sie wie die meisten zurückkommen, wenn sie genug hätte.“ „Erzähl weiter.“ „Das war’s. sie hat nie angerufen, geschrieben oder sich sonst irgendwie gemeldet.“ „Und wo ist sie jetzt?“ „Keine Ahnung.“ Er schwieg einen Augenblick, den Blick in die Ferne gerichtet. „Die Arme, sie muß sehr unglücklich gewesen sein." „Wie bitte? Und was ist mit uns? Mein Dad ist ganz abgemagert, und ich bin beinah durchgedreht." „Ja, für euch war es natürlich auch schlimm." Ihm schienen die Worte zu fehlen, doch ich spürte sein Mitgefühl und fühlte mich etwas getröstet. „Ich hab bisher mit niemand darüber gesprochen", gestand ich. „Außer mit dem Arzt und Mark." „Dem Sozialarbeiter?" „Ja." „Laß mich noch einmal das Foto sehen." Ich gab ihm den Zeitungsausschnitt, und er studierte ihn so aufmerksam, als hätte er das Hochzeitspaar tatsächlich - 69 -
vor sich und nicht nur eine Fotografie. „Er hat Geschmack, was Frauen betrifft", verkündete er schließlich. „Und er sieht aus wie einer, der weiß, was er will." „Er ist kein Karrieretyp oder so etwas“, verteidigte ich Mark gegen die versteckte Kritik. Jim gab mir den Ausschnitt ein zweites Mal zurück. „Es ist nicht falsch, ehrgeizig zu sein. Mich beunruhigt nur, daß manche Leute vor nichts zurückschrecken, um ihre Ziele zu erreichen. „Dann hast du keinen Ehrgeiz?" „Doch, natürlich." „Wonach?" „Das Übliche, denke ich. Geld, Sicherheit, Glück. Verstehst du, ich möchte unser Geschäft ausbauen, eine breitere Leistungspalette anbieten, aber Dad ist nicht begeistert von der Idee. Ich würde mich gern für einen staatlich geförderten Managerkurs anmelden, doch er will nichts davon wissen." Resigniert zuckte Jim mit den Achseln. „Es gibt noch mehr im Leben als geschäftlichen Erfolg." „Und das wäre?" Wahrscheinlich war ich die einzige in Finchings, die sich je richtig mit Jim unterhalten hatte. Er durfte jetzt nicht aufhören. „Ich möchte dich nicht langweilen." „Wenn du mich langweilst, spring ich ins Wasser", versprach ich. „Ich glaube, zu viele Leute sind so damit beschäftigt, ‚weiterzukommen', daß sie darüber zu leben vergessen: Am Ende eines Tages, eines Monats, eines Jahres blicken sie zurück auf Termine, Auseinandersetzungen, Reisen und nicht viel mehr. Ein paar Bier in der Kneipe, ein Gespräch mit Kumpels. Ich möchte nicht so werden." Vor meinen Augen erschien ein unerfreuliches Bild von - 70 -
Dad, wie er den ganzen Tag im Eisenwarengeschäft nach Mr. Pierces Pfeife tanzte und abends dann vor dem Fernseher döste. So wollte ich auch nicht leben. „Wie stellst du dir dein Leben vor?" fragte ich. Jim zupfte sich nachdenklich am Ohr. „Es ist schwer, vielleicht sogar unmöglich, es in Worte zu fassen, aber du weißt doch, daß man sich manchmal aller Dinge um einen herum voll bewußt ist. Anders als sonst, meine ich. Alles scheint fest umrissen und kristallklar." „Ja, ja!" Ich saß auf der äußersten Kante meines Sitzes. Also passierte ihm das auch. „Man hört und sieht alles, Türenschlagen, Gespräche, aber man spürt eine andere Dimension. Obwohl man sie weder sehen noch hören kann, existiert sie. Ich rede Unsinn, was?" „Sprich. weiter." „Für ein paar Sekunden sieht man alles ganz klar und fühlt sich in jeder Hinsicht lebendig und offen für das, was auf der Welt vorgeht. Wenn einem das passiert, hat man das Gefühl, daß man. einen kurzen Einblick in das Geheimnis des Lebens selbst bekommen hat. Allerdings kommt es nicht allzu häufig vor." Während er sprach, hatte sich sein Gesicht auf merkwürdige Weise verändert. „Weiter", flüsterte ich. „Das war's." Sein Gesicht nahm wieder den normalen Ausdruck an. „Mein wirklicher Ehrgeiz ist, jede Minute voll auszuleben und nicht eine Sekunde in dem halbbewußten Zustand zu verbringen, in dem so viele Leute dahindämmern." „Das ist Langeweile. Jeder langweilt sich hin und wieder", warf ich vorsichtig ein. „Du doch sicher auch." „Klar, oft. Obwohl ich glaube, daß man Langeweile nur - 71 -
hat, wenn man nicht genug Interesse für die Dinge um einen herum aufbringen kann. Aber auch negativen Gefühlen kann man nicht ausweichen, sondern muß sie akzeptieren. Zum Glück bleibt nichts so, wie es ist, und auch Langeweile, Ärger oder Trauer dauern nicht ewig." „Als Mom wegging, war ich einige Tage lang richtig erleichtert", gab ich zu. „Dann war ich besorgt, später wütend, und schließlich wurde ich krank. Ich konnte nicht mehr zur Schule und auch nicht woandershin gehen, weil mir ständig schwindlig wurde und übel. Und ich konnte nicht aufhören zu weinen. Deshalb entschied man, daß etwas getan werden mußte, und schickte mir Mark." Ich lehnte mich über den Bootsrand, damit Jim die Tränen in meinen Augen nicht sah. Er begann wieder zu rudern. Das sanfte Gleiten des Boots und das Geräusch, das die Ruderblätter beim Eintauchen ins Wasser verursachten, beruhigten mich. Bald geriet ich in eine Art Trance. Mom und Mark und alle meine anderen Sorgen existierten nicht länger. Mein Bewußtsein registrierte nur noch die Sonne auf meinem Rücken, das kühle Wasser zwischen meinen Fingern und Jims starke braune Arme, die die Ruder bewegten. Zwischen uns schien alles so richtig und einfach, als würden wir uns schon tausend Jahre kennen. Eine Wolke schob sich vor die Sonne. Ich wußte nicht, ob Minuten oder Stunden vergangen waren. „Wir gehen jetzt besser", meinte Jim und kletterte aufs Ufer zu. „Ich habe heute nachmittag eine Verabredung mit einem Kunden." Plötzlich fiel mir etwas Wichtiges ein. ,,Übrigens; Jim, ich muß mit dir noch wegen neulich reden." Er sah mich verständnislos an, während ich mich vor Verlegenheit wand. „Du weißt schon, als du die Auffahrt hinaufgegangen bist." - 72 -
„Ach, du sprichst von dem Abend, als ich den alten Harry. besucht habe. Worum geht es?" Er sprang auf den Landungssteg und machte das Boot fest. Ich folgte ihm. „Du hast uns wahrscheinlich gesehen." „Ach, du warst das? Ja, ich habe George Glease mit irgendeinem Mädchen im Gebüsch herumalbern sehen. Ich wußte nicht, daß du es warst." Es war zwar peinlich, aber ich mußte es genau wissen. „Dann kennst du George also?" „Klar, wir sind zusammen zur Schule gegangen. Dicke Freunde waren wir allerdings nie." Er schulterte die Ruder und trat auf den Weg. „An deiner Stelle wäre, ich ein bißchen vorsichtig mit ihm." ,,In welcher Hinsicht?" „Du weißt genau, in welcher Hinsicht, Nellie. Sei nicht albern. So unerfahren bist du doch nicht." „Danke für den Rat“ erwiderte ich gereizt. Warum wollte bloß jeder meine Beziehung zu George verhindern? Jim nickte mir noch kurz zu und schlenderte dann pfeifend davon. Ich wandte mich in die entgegengesetzte Richtung und überlegte, ob es richtig gewesen war, mir alles von der Seele zu reden. Wenn man anderen Leuten etwas von sich erzählt, kann man ihnen ebenso gut ein geladenes Gewehr in die Hand geben. Andererseits muß man sich schließlich ab und zu jemandem anvertrauen, oder nicht?
- 73 -
7. KAPITEL Zum Mittagessen war ich zurück im Haus. Obwohl ich ein paar Stunden Arbeit geschwänzt hatte, fragte mich niemand, wo ich gewesen war. Marion warf mir mitfühlende Blicke zu, sagte aber auch nichts. Wir verbrachten den Nachmittag mit den Kindern am Strand und hatten alle Hände voll zu tun, sie zu beschäftigen und aufzupassen, daß keines ertrank. Roy Somers, zum Beispiel, wäre immer weiter ins Wasser hineingekrabbelt, wenn ich ihn nicht aufgehalten hätte. Janice Toms dagegen schrie jedesmal wie am Spieß, wenn sie ins Wasser sollte. Marion und ich bauten unzählige Sandburgen, füllten zig Eimer mit Wasser, warfen mit Gummibällen auf Konservenbüchsen und pusteten Schwimmgürtel auf, bis wir vom Meer und Strand die Nase voll hatten. Später luden wir alle unsere Schützlinge in den. Bus und fuhren müde; aber glücklich zurück. Die Kinder ins Bett zu bringen, machte diesmal keine Schwierigkeiten. Sie schliefen sofort ein, sobald ihr Kopf das Kissen berührte. Beim Abendessen war es in Finchings am schönsten. Das Eßzimmer lag nach Westen, und die Abende waren so warm, daß immer die Fenster offen standen. Man hatte den Eindruck, als würde man im Garten essen. Es war schön zuzusehen, wie die Schatten länger wurden und die Sonne langsam unterging. Dann im Halbdunkel wurde man sich des starken Duftes der Blumen ringsum erst richtig bewußt. - 74 -
Da kein anderer Helfer im Hause wohnte, aß ich nur mit Bill und Jane zu Abend. Mit der Zeit hatten wir eine gewisse Routine entwickelt. Bill kochte das Essen, ich deckte den Tisch, und Jane schrieb ihre Berichte. Ich räumte dann die Teller ab, während Bill den nächsten Gang, servierte. Nach dem Essen war es meine Aufgabe, den riesigen Geschirrspüler einzuräumen und in der Küche sauberzumachen. Ich mochte Jane noch immer lieber als Bill, weil sie sich mehr Mühe gab, mich. kennenzulernen. Bill hatte sehr festgefahrene Ansichten über alles und jeden, und ich hatte ein wenig Angst, seinen Vorstellungen nicht zu entsprechen. Keiner von beiden hatte mir bisher persönliche Fragen gestellt, obwohl sie oft wissen wollten, was ich vom Leben im, allgemeinen dachte. Deshalb war ich völlig überrascht, als Jane an diesem Abend mit meiner Mutter anfing. „Du mußt Bill und mich für ziemlich herzlos halten, weil wir kein Wort über deine Mutter verloren haben.," ' „Mom?" fragte ich vorsichtig. „Ja, dieser Autounfall muß für dich und deinen Vater ein furchtbarer Schock gewesen sein. Wir waren sehr bestürzt, als Marion uns davon erzählte. Ich weiß nicht genau warum, aber wir sind beide davon ausgegangen, daß du noch beide Elternteile hast. Peggy Lawton hätte es uns sagen müssen." „Ich habe sie gebeten, das nicht zu: tun", antwortete ich schnell. Bill sah Jane an. „Da hast du es. Ich hab dir gleich gesagt, daß sie sicher nicht darüber sprechen will." „Das werden wir auch nicht", entgegnete Jane. „Aber wir können Nellie wenigstens sagen, daß wir verstehen, wie sie - 75 -
sich fühlt." Dabei dachte sie bestimmt an meine zweistündige Abwesenheit am Vormittag. „Jetzt werde nicht rührselig, Liebling." Bill war diese Unterhaltung offensichtlich peinlich. Noch etwas Salat, Nellie?" Ich war ihm dankbar, daß er das Thema gewechselt hatte. Anscheinend hatte Jane Marion gefragt, was mit mir los war, nachdem ich während der Kaffeepause aus dem Zimmer gestürzt war. Und Marion hatte mein Davonlaufen wohl mit dem Brief und irgendwie auch mit dem Tod meiner Mutter bei einem Autounfall in Zusammenhang gebracht. Jetzt wußte also jeder Bescheid, und ich mußte bei meiner Geschichte bleiben. Von nun an war ich besonders vorsichtig mit allem, was ich sagte, damit ich mich nicht in meinem Netz aus Lügen verstrickte. Jim Blair war der einzige, der mich auffliegen lassen konnte. Warum hatte ich nur den Mund nicht gehalten? Ich war doch sonst nicht der Typ, der seine Sorgen überall herumerzählt wie einige andere in der Schule. Also warum um alles in der Welt hatte ich mich Jim anvertraut? Ich konnte ihm nur aus dem Weg gehen und hoffen, daß er es vergaß. Ihm ganz auszuweichen, war natürlich unmöglich. Entweder kam er in die Küche, wenn ich dabei half, das Essen vorzubereiten, oder wir sahen uns im Garten, wo ich mit den Kindern spielte. Ich begrüßte ihn dann immer mit einem strahlenden Lächeln und machte, daß ich weg kam. Er versuchte nie, mich aufzuhalten, und bald gelang es mir beinahe, mir einzureden, es habe den Vormittag am See nie gegeben. Allerdings nur beinahe. Wenn ich ihn manchmal im Park sah, hatte ich den verrückten Wunsch, ihm nachzulaufen - 76 -
und irgendwie das seltsame Einvernehmen zwischen uns wiederherzustellen. Aber vermutlich hatte er inzwischen das Märchen von Moms tödlichem Unfall gehört und hielt mich entweder für verrückt oder für eine pathologische Lügnerin. Zum Glück hatte ich nicht viel Zeit, ,darüber nachzugrübeln, denn abends kam meistens George mit seinem Motorrad. Bill war deutlich anzusehen, daß er ihn nicht mochte. Um Ärger zu vermeiden, gingen wir deshalb immer aus. Ich hätte sehr gern einige Abende bei ihm zu Hause verbracht, doch George wollte sich mit seinen Freunden im Spielsalon treffen. Dort flipperten die Jungen stundenlang an den Automaten, während wir Mädchen herumstanden und versuchten, unsere Langeweile zu verbergen. Offen gestanden hatte ich mit niemandem aus der Clique viel gemeinsam. Die Jungen betrachteten mich als Georges Eigentum und ließen mich in Ruhe. Die Mädchen dagegen machten kein Hehl daraus, daß sie mich für verrückt hielten, weil ich mich in Finchings abschuftete, statt mir wie sie von der Arbeitslosenunterstützung ein schönes Leben zu machen. Fairerweise muß ich sagen, daß die meisten von ihnen versucht hatten, einen Job zu finden. Aber keine hatte eine entsprechende Ausbildung, um in dem harten Kampf um die wenigen freien Stellen eine Chance zu haben. Wenn wir aus dem Spielsalon kamen, gingen wir gewöhnlich in eines der Cafes auf der Strandpromenade. Es war abgemacht, daß wir ab wechselnd zahlten, aber ich schien öfter an die Reihe zu kommen als die anderen. „Du bist die einzige, die arbeitet, also kannst du es dir leisten", pflegte George vergnügt zu sagen. Dann flüsterte er mir ins Ohr: ,,Ich mach es nachher wieder gut, Puppe." - 77 -
Das bedeutete immer, daß wir auf dem Heimweg an einem Feld anhielten und herumschmusten. Das hieß er fummelte an mir herum, und ich versuchte mehr oder weniger hartnäckig; ihn abzuwehren. Obwohl es eine anstrengende halbe Stunde war, gefiel mir dieser Teil des Abends am besten. Ich war wirklich verknallt in George und fühlte mich bei seinen Küssen im siebten Himmel. Hätte ich nicht so eine dumme Angst gehabt, hätte ich ihn auch weiter gehen lassen. Aber ich tat es nicht, und er schien auch so ganz glücklich zu sein. Also nahm ich selbstverständlich an, daß zwischen uns alles wunderbar lief. Das war allerdings vor dem Mitternachtspicknick. Die ganze Clique brach um zehn Uhr abends auf. Marion war auch dabei. Es war eine helle Mondscheinnacht, und als wir unter lautem Getöse mit den Motorrädern davonfuhren, dachte ich, wie aufregend das Leben doch im Vergleich zum letzten Jahr geworden war. Wir hatten uns schon vorher eine felsige Bucht außerhalb der Stadt ausgesucht, wo es unwahrscheinlich war, daß uns ein übereifriger Polizist wegen Ruhestörung festnahm. Wir stellten die Motorräder ab und brachten die Sachen für das Picknick, Decken und Kassetten über ein abfallendes Feld an den Rand der Klippe. Jemand entdeckte einen Pfad hinunter zum Wasser. Unter dem Murren und Fluchen der Jungen und dem Gekreisch und Gekicher der Mädchen rutschten wir über die bröckelnde Kalkschicht. Unten angekommen, breiteten wir die Decken aus und legten eine Kassette von Michael Jackson ein. Wir erzählten uns blöde Witze und alberten herum. Ich hatte - 78 -
den Eindruck, daß alle sich ein bißchen unwohl fühlten. Ohne ihre Motorräder und die Spielautomaten schienen sich die Jungen etwas verloren vorzukommen. Die Mädchen versuchten, die ungewohnte Situation durch Reden zu überspielen. Obwohl die meisten von ihnen ihr Leben lang an der Küste gewohnt hatten, übte das in der Dunkelheit leise plätschernde Wasser keinerlei Anziehung auf sie aus. Ich glaubte, sie hatten Angst davor, denn trotz der schwülen Nacht wagte sich keiner hinein. Ich konnte es kaum glauben. „Kommst du mit ins Wasser?" fragte ich George. „Du machst wohl Witze", sagte er und zog an seiner Zigarette. Also verschwand ich hinter einem Felsen, zog mich bis auf den Bikini aus und lief hinunter in das seichte Wasser. Es war noch warm und umschmeichelte sanft meinen Körper, während ich auf dem silbrigen Band des Mondlichtes hinausschwamm. Dann legte ich mich auf den Rücken, sah hinauf zu den Sternen und ließ mich treiben. Vielleicht würde ich auf einer Südseeinsel stranden. Plötzlich hörte ich hinter mir lautes Platschen und eine Stimme. „Nellie?" George hatte sich also doch noch durchgerungen. Ich trat Wasser, während er zu mir schwamm. „Was, zum Teufel, hast du dir eigentlich dabei gedacht?" herrschte er mich an. „Wovon sprichst du?" „Wir haben uns die Lunge aus dem Hals geschrien. Hast du uns nicht gehört?" „Nein, was ist los?" „Wir dachten, du seist ertrunken, das ist alles. Marion hatte schreckliche Angst um dich." „Tut mir leid", sagte ich zerknirscht. „Daran habe ich - 79 -
nicht gedacht." „George?" rief in diesem Moment eine Stimme vom Strand. „Ist alles in Ordnung?" „Ja, alles klar." Es tut mir wirklich leid", wiederholte ich. Meine Entschuldigung schien George etwas zu besänftigen. „Schon gut. Ich wußte, daß dir nichts passiert ist, und hab mir deshalb keine Sorgen gemacht. Komm, schwimmen wir rüber in die nächste Bucht und sehen sie uns an." Jetzt im nachhinein weiß ich, daß es dumm von mir war, ihm zu folgen. George und ich halbnackt im Mondschein am Strand, das mußte ja Schwierigkeiten geben. Aber der Rest der Gesellschaft würde sich inzwischen wohl auch pärchenweise verzogen haben. Deshalb war ich nicht besonders beunruhigt, als wir aus dem Wasser kamen und er sofort voll loslegte. Doch nach einer Weile wurde es mir zuviel, und weil er kein Nein als Antwort akzeptierte, schob ich ihn weg und lief zurück ins flache Wasser. Er stand auf und begann, mit kleinen Steinen nach mir zu werfen. Nur selten verfehlte er sein Ziel, und die Steinchen stachen wie Nadeln auf meiner Haut. Er schien wirklich wütend zu sein. „Ich verstehe dich nicht", beklagte er sich. „Zuerst machst du begeistert mit, und dann wehrst du mich ab wie eine Wildkatze. Was ist los mit dir?" „Nichts, also laß mich in Ruhe." Er hörte auf, mit Steinchen zu werfen. „Wir müssen uns endlich mal aussprechen." „Worüber?" „Das weißt du genau. Aber so können wir nicht reden." „Ich möchte zu den anderen zurück. Mir ist kalt." „Ich wärme dich schon." - 80 -
„Das kann ich mir denken." „Nein, im Ernst. Ich muß dir etwas sagen, das dich freuen wird." „Laß uns gehen, George." „Wenn ich es dir gesagt habe." Ich gab nach. „Also gut, aber keine faulen Tricks." Ich ging auf den Strand zurück, und wir setzten uns einander gegenüber auf die Steine. „Du verlangst doch immer von mir, daß ich mir einen Job suche", begann er. „Das stimmt nicht." „Gut, aber du glaubst, daß ich es nicht ernsthaft genug versuche." Ich lachte. „Seit wann kümmert es dich, was ich denke?" „Da irrst du dich gewaltig. Um es kurz zu machen, ich glaube, ich habe einen Job." „Ist nicht wahr! Was denn?" „Als Kellner bei Pit's." „Super. Da freut deine Mutter sich doch sicher wahnsinnig darüber." „Sie weiß es noch nicht. Außer dir habe ich es noch niemand erzählt, weil es noch nicht ganz sicher ist." „Wann bekommst du Bescheid? „In ein paar Tagen. Was sagst du nun zu deinem kleinen George? Habe ich jetzt nicht eine Belohnung verdient?" Er nahm meine Hand und zog mich an sich. „Laß mich, George." „Ich habe es nur für dich getan", flüsterte er mit dem Mund auf meinen Lippen. „Warte, bitte." „Nein, ich hab schon viel zu lang gewartet." „Hör mir mal zu." Ich packte seine Hände und hielt sie fest. Weißt, du eigentlich, daß wir nie miteinander reden? Richtig reden, meine ich. Du treibst dich immer mit dem - 81 -
Haufen dort drüben herum. Nur auf dem Motorrad oder in einem Kornfeld auf dem Heimweg nach Finchings sind wir allein. Aber im Grund sind wir uns immer noch fremd. Wir wissen beide überhaupt nichts voneinander." Er schüttelte meine Hände ab. „Worüber willst du denn reden? Ich bin hier, du bist hier. Das genügt doch, oder?" Ich seufzte. Wie konnte ich ihm begreiflich machen, daß ich genug hatte von dem Spielsalon, von Bowling und dem sinnlosen Herumhängen mit der Clique. „Nein, das genügt nicht", antwortete ich. „Siehst du das nicht ein?“ „Nein." Ich gab auf. Er würde es nie kapieren. Deshalb sagte ich nur noch: „Und außerdem bin ich noch nicht bereit für eine ernsthafte Beziehung. Schließlich bin ich erst sechzehn." „Wer hat etwas von einer ernsthaften Beziehung gesagt?" „Aber wenn du und ich ... Wäre es dann nichts Ernsthaftes?" Er lachte. „Wo lebst du eigentlich? Sieh dich doch mal um. Glaubst du, Bob und Sandra wollen, für immer zusammenbleiben? Oder Jeff und Rose? Sie ist erst fünfzehn." „Soll das heißen, sie alle...?" „Natürlich, du Dummerchen. Was ist denn schon dabei? Alle Leute tun es.“ Ja, Leute wie meine Mutter, die dann ein Kind bekamen und weder aus noch ein wußten. „Ich muß noch etwas darüber nachdenken“, sagte ich. George stand auf. „Dein Problem ist, daß du zuviel denkst. Jedenfalls hat es keinen Sinn, weiter hier zu bleiben. Gehen wir zurück zu den anderen." Damit tauchte er ins Wasser und schwamm auf die andere Bucht zu. - 82 -
Eine volle Minute lang blieb ich reglos am Strand sitzen und starrte George nach. Noch nie hatte ich mich so allein gefühlt, nicht einmal, als Mom davongelaufen war. Es half nichts, mir einzureden, daß er mir gleichgültig war, weil es nicht stimmte. Mit ihm zusammenzusein, war so ähnlich wie sich an einem offenen Feuer zu wärmen. Es gefiel mir, und ich genoß das Element der Gefahr in unserer Beziehung, das Gefühl, daß ich selbst Feuer fangen könnte, wenn ich mich zu nah an die Glut heranwagte. Aber nach dieser Unterhaltung war klar, daß er keine Geduld mehr hatte und es so nicht weitergehen konnte. Ich mußte mich entscheiden. Alles hing von mir ab, und ich wußte im Moment wirklich nicht, was ich tun sollte. Drüben in der anderen Bucht hatte Jeff ein Feuer gemacht und briet Würstchen. Aus dem Kassettenrecorder dröhnte die Musik von Frankie Goes To Hollywood, und alle schienen sich gut zu unterhalten. Marion und ihr Begleiter waren als einzige nicht beim Schmusen, deshalb setzte ich mich zu ihr, nachdem ich mich angezogen hatte. George löste Jeff am Grill ab. „Gefällt es dir hier?" fragte ich Marion. Sie deutete auf Pete, ihren Begleiter, der in der Nähe auf den Steinen ausgestreckt lag. „Ja, ich amüsiere mich großartig." Dabei, hatte sie plötzlich Tränen in den Augen. „Was stimmt bloß nicht mit mir, Nellie?" flüsterte sie. Ich drückte ihr mitfühlend die Hand. ,,Nichts, du hast eben einen Trottel erwischt." „Dann sind alle Trottel, mit denen ich ausgehe. Arme Marion. Sie hatte immer diese Schwierigkeiten mit Jungen. Normalerweise machte sie Witze darüber, aber im Innern tat es höllisch weh. Aus irgendeinem Grund mochten die Jungen sie einfach nicht. Natürlich war sie - 83 -
größer als die meisten von ihnen und unvorteilhaft angezogen, aber meiner Meinung nach hätte das nichts ausgemacht, wenn sie nur etwas selbstbewußter gewesen wäre. Das war sie nur bei den Kindern in Finchings. Hätte sie diese Selbstsicherheit auch sonst an den Tag gelegt, hätte bald alles ganz anders ausgesehen, dessen war ich mir sicher. „Vielleicht können wir dir eine andere Frisur verpassen", schlug ich vor, „und ein paar neue Sachen kaufen. Nimm es mir nicht übel, aber manchmal siehst du aus, als würdest du die abgelegten Sachen deiner Mutter tragen." Sie verzog das Gesicht. „Du hast ja recht. Was Kleidung betrifft, habe ich nie viel Geschmack gehabt, aber das ist nicht das einzige Problem. Es hapert am Geld. Ich konnte nur zwanzig Pfund sparen." „Das kriegen wir schon hin. Ich habe auch etwas gespart und leihe es dir gern. Du kannst es mir zurückgeben, wenn du wieder bei Kasse bist. „Das wirst du nicht tun, Nellie!" „Natürlich werde ich." „Aber das kann ich unmöglich annehmen." „Dann muß ich es dir wohl in den Hals stopfen, was?" In diesem, Moment ließ Pete einen lauten Schnarcher ertönen. „Hörst du die Musik der Berge?" fragte Marion, und wir brachen beide in Gelächter aus.
- 84 -
8. KAPITEL Während der nächsten zwei Tage waren wir mit den Reisevorbereitungen für diejenigen Kinder beschäftigt, die nach ihren Ferien jetzt wieder nach Hause fuhren. Es machte mich traurig, vor allem weil ich wußte, daß die Mütter der meisten von ihnen zu viele eigene Probleme hatten, um den Kindern die Zuwendung zu geben, die sie brauchten. Da Rachels Mutter noch im Krankenhaus war, willigte Jane ein, sie noch länger dazubehalten. Darüber freuten wir uns, denn wir hatten Rachel alle sehr liebgewonnen. Die neuen Kinder lebten sich innerhalb, einer Woche gut ein. Jane verlangte vom Personal, sich jeden Tag Zeit dafür zu nehmen, die Kinder persönlich kennenzulernen. Während der Kaffee- und Teepausen verglichen wir dann unsere Eindrücke. Hin und wieder fiel einem von uns etwas an einem bestimmten Kind auf, was allen anderen entgangen war. Das war dann ein schönes Gefühl für denjenigen. Jane hatte die Begabung, jeden spüren zu lassen, daß er einen wertvollen Beitrag zum Leben in Finchings leistete. Allerdings war auch viel Routinearbeit dabei, und da Bettenmachen und Kartoffelschälen das Gehirn nicht gerade sehr beanspruchen, hatte ich viel Zeit, um über mein großes Problem nachzudenken. Weil ich offensichtlich andere Vorstellungen von einer guten Beziehung hatte als George, konnte ich nicht hoffen, ihn länger zu halten. - 85 -
Wenn ich andererseits mitmachte, würde er sich womöglich nehmen, was er haben wollte, und sich dann nach etwas Neuem umsehen. Ich steckte ganz schön in der Klemme. Ganz kurz überlegte ich, was meine Mutter mir wohl nach ihrer eigenen Erfahrung geraten hätte. Doch sie hätte vermutlich nur geschimpft, weshalb ich sie, selbst wenn das möglich gewesen wäre, nie ins Vertrauen gezogen hätte. Bald nach der Ankunft der neuen Kinder nahmen Marion und ich, uns einen Tag frei und gingen einkaufen. Mit den zwanzig Pfund, die sie gespart hatte, und den zwanzig, die ich ihr leihen wollte, glaubten wir, sie toll herausstaffieren zu können. Das war allerdings, bevor wir die Preise gesehen hatten. Nach langem Hin und Her entschieden wir uns für ein Paar flache rote Schuhe, ein rotes Sommerkleid, eine leichte schwarze Leinenhose, ein poppiges Hemd und einen roten Baumwollblazer, den wir ganz unten im Wühltisch eines Second-hand-Geschäfts, fanden. Zu Hause in ihrem Zimmer probierte sie dann alles an. Ich konnte uns beide im Spiegel sehen und überlegte, warum ich in einem einfachen Baumwollrock und Top gut aussah, während Marion es fertigbrachte, in beinah derselben Aufmachung altmodisch zu erscheinen. Zugegeben, sie hatte lange Arme und Beine und widerspenstiges Haar, aber es lag nicht nur daran. Es hatte etwas mit der bedrückten Miene zu tun, die sie ständig aufsetzte. Wenn man darüber nachdachte, war das auch nicht weiter verwunderlich, denn das Leben hatte Marion viel schlechter behandelt als mich. Einmal, war ihr Vater nicht nur verschwunden, sondern gestorben. Als ob das noch nicht schlimm genug wäre, hatte Nick sich eine glänzende Karriere verscherzt und sich beinah selbst umgebracht. - 86 -
George, der seiner Mutter in dieser schweren Zeit eigentlich hätte beistehen sollen, war weiter mit seinen Kumpels herumgezogen, und hatte sich von jedem Geld geliehen. Ich war zwar in ihn verliebt, aber das machte mich nicht blind für seine Fehler. Es blieb Marion, überlassen, ihre Familie sowohl gefühlsmäßig als auch finanziell wieder aufzurichten. Kein Wunder, daß sie das alles belastete. Was sie brauchte, war eine neue innere Einstellung zu sich selbst. Das würde die äußeren Probleme zwar nicht lösen, sie aber vielleicht aufheitern und auch andere Leute, vor allem Jungen, dazu bringen,. sie in einem anderen Licht zu sehen. Im Moment war sie mit sich selbst ziemlich zufrieden. „Sehe ich nicht aus wie ein Mannequin?" fragte sie und drehte sich in der schwarzen Hose und dem bunten Hemd vor dem Spiegel. „Halt dich gerade und zeig der Welt, daß du auch Busen hast." Sie kicherte. „Hab ich aber nicht." „Versuch es. „So?" Sie warf sich in die Brust. „Ja, schon besser. Ein Paar Mückenstiche sind immer noch besser - als gar nichts. Ich drückte meinen eigenen Busen heraus, bis er sich unter dem Top abzeichnete. „Meiner ist größer als deiner", sagte sie. „Wetten, daß nicht?" „Wetten, daß doch!" Wir stolzierten mit geschwellter Brust im Zimmer herum, bis wir vor Lachen fast umkippten. Als wir uns wieder beruhigt hatten, sah Marion sich noch einmal im Spiegel an. ,,Die Sachen sind in Ordnung, aber was; soll ich mit dem Rest anstellen?" - 87 -
Ich musterte sie kritisch. „Dein Gesicht ist im Grund okay. Die Augenbrauen müßten noch sorgfältiger gezupft werden, und du solltest das Rouge weglassen. Das Problem ist dein Haar' Es ist so wild und widerspenstig. Du brauchst dringend eine neue Frisur." Traurig schüttelte Marion den Kopf. „Keine Chance, ich bin völlig abgebrannt. Hey, warte mal!" Sie drehte sich um und sah mich mit glänzenden Augen an. „Könntest du es nicht schneiden?" „Ich? Du bist verrückt! Ich hab bisher nur Dad das Haar geschnitten, und das ist kinderleicht, weil er nicht viel hat." „Versuch es doch mal, Nellie. Bitte." „Und wenn du nachher absolut scheußlich aussiehst? „Dann ist es meine Schuld, weil ich dich darum gebeten habe." „Ich weiß nicht so; recht." „Sei kein Frosch." „Also gut.“ Sie setzte sich hin, ich legte ihr ein Handtuch um die Schultern und nahm widerstrebend die Schere, die sie mir hinhielt. „Das wird vermutlich das Ende einer wunderbaren Freundschaft sein", sagte ich und ergriff eine Strähne. „Aber du hast es so gewollt. Fangen wir an.“ Marions Haar fühlte sich an wie Stahlwolle. Ich band es auf dem Oberkopf zusammen und schnitt einfach den ganzen Wusch ab. Dabei biß ich mir vor Konzentration fast die Lippen blutig. Zu meinen Füßen häuften sich die abgeschnittenen Locken. Ich kam mir vor, als würde ich eine Nonne auf ihre letzten Gelübde vorbereiten. Immer wenn ich zögerte, sagte Marion: „Mach weiter. Schneid noch ein Stück ab." Als ich die eine Seite in Form schnitt, passierte etwas Interessantes. Je mehr Haare fielen, desto deutlicher kam Marions hübsche, herzförmige Gesichtsform mit den hohen - 88 -
Backenknochen heraus. Ich arbeitete mit zunehmender Begeisterung, bis ich schließlich das Werk für vollendet erklärte. So, wie ich mich fühlte, muß auch Michelangelo sich gefühlt haben, nachdem er seinen David geschaffen hatte. Marion hatte jetzt noch knapp fünf Zentimeter Haare auf dem Kopf und war eine richtige Schönheit. „Ich kann's nicht fassen." Sie drehte und wendete den Kopf auf dem graziösesten Hals, den ich je gesehen hatte. „Du kannst wirklich zaubern, Nellie." Ich war selbst wie vom Donner gerührt. „Es hätte nicht geklappt„ wenn du glattes Haar hättest", gab ich zu. „Deine Krause hat ihren eigenen Willen, deshalb kann man gar nichts falsch machen." „Trotzdem bist du eine Künstlerin." „Manchmal gelingt mir eben auch etwas", meinte ich bescheiden. Wir waren gerade dabei, die Unordnung in ihrem Zimmer aufzuräumen, als Marion plötzlich, sagte: „Zwischen dir und George stimmt etwas nicht, habe ich recht?" „Wie kommst du denn darauf?" Marion zuckte mit den Achseln. „Ich kenne euch beide eben gut. Und ich glaube auch den Grund für eure Schwierigkeiten zukennen:" Statt einer Antwort errötete ich tief. Marion merkte es natürlich sofort. „Ich möchte einfach nicht, daß er dir weh tut", sagte sie. „Hast du es schon einmal getan?" „Was soll ich getan haben?" Als ob ich nicht genau wüßte, was sie meinte. „Du weißt schon." Ich war gerade dabei, ein Büschel Haare in den Abfalleimer zu stopfen, und setzte mich auf die Fersen. - 89 -
Schließlich hatte ich mit jemandem darüber reden wollen, warum nicht mit Marion? „Also gut: Nein. Und du?" „Leider hatte ich bis jetzt noch keine Gelegenheit", antwortete sie grinsend. Mir war nicht nach Lachen zumute. „Marion, ich mach mir solche Sorgen", platzte ich heraus. „Ich habe das Gefühl, daß er mich bald fallen läßt, wenn ich nicht tue, was er verlangt.“ Ich brauchte dringend einen Rat, doch sie antwortete nicht, sondern betrachtete sich nur im Spiegel, als könne sie immer noch nicht glauben, was sie sah. Vielleicht hatte sie. mich gar nicht gehört. Plötzlich schwang sie auf ihrem Stuhl herum. „Du wärst schön blöd, wenn du dich so erpressen lassen würdest." „Und wenn ich es tief im Innern, selbst wollte?“ „Ist es so?" „Ein Teil von mir will es schon." Sie schnitt eine Grimasse. „Das ist der Teil, vor dem wir immer gewarnt werden. Wie steht es mit dem anderen Teil?" „Der weiß nicht, was er tun soll." „Würde es dir sehr viel ausmachen, wenn es zwischen euch aus wäre?" Ich nickte wortlos. Es tat schon weh, daran zu denken, geschweige denn, davon zu sprechen. Da sie merkte; wie mies ich mich fühlte, bohrte sie nicht weiter. Was konnte sie auch sagen? Eine; ganze Weile saßen wir nur da und starrten in die Luft. Niemand kann einem wirklich raten, wenn es um etwas so Grundsätzliches wie Sex geht. Das muß jeder für sich selbst entscheiden. Schließlich stand Marion auf. „Paß nur auf, daß du dich nicht zu etwas hinreißen läßt, was du hinterher bereust. Und jetzt wollen wir hinuntergehen und die Familie mit der neuen Marion - 90 -
überraschen. Nick ist zur Zeit ziemlich schlecht gelaunt. Es wird ihm guttun, mal wieder richtig zu lachen." In den Tagen nach Marions erstaunlicher Verwandlung wuchs meine Angst um George. Er zeichnete sich durch Abwesenheit aus, und ich verbrachte die Abende gähnend vor dem Fernseher oder sah zu, wie die Schwalben auf der Suche nach Insekten über den Swimmingpool glitten. „Gehst du heute abend nicht aus?" fragte Bill immer scheinheilig. „Nein", antwortete ich dazu betont gleichgültig. In seinem Blick war ‚ich habe es dir ja gleich gesagt’ zu lesen, und Ich hatte große Lust, ihm sein Boeuf á la Dingsbums in das selbstzufriedene Gesicht zu werfen. Ich fühlte mich ziemlich mies. Obwohl ich mir etwas Schöneres vorstellen konnte, als ständig im Spielsalon herumzugammeln, war ein Abend mit George dort immer noch besser, als allein in Finchings herumzusitzen. Offen gestanden glaubte ich nicht, daß es wirklich aus war, dazu war er bei unserem letzten Treffen zu leidenschaftlich gewesen. Ich hatte eher den Verdacht, daß er mir nur zeigen wollte, wie es wäre, wenn er tatsächlich nicht mehr auftauchen würde. Es war auf jeden Fall die ruheloseste und traurigste Woche meines bisherigen Aufenthalts. Eines Abends lag ich auf den von der Sonne erwärmten, Steinen am Pool und las wieder einmal einen Krimi, als Jim Blair erschien. Er winkte mir fröhlich zu, zog sich bis auf die Badehose aus und sprang ins Wasser. Ich sah zu, wie er kraftvoll seine Bahnen zog, und dachte; wie zielstrebig er in allem war. Wenn Jim schwamm, schwamm er, und nichts - 91 -
sonst. So war es auch beim Rudern gewesen. Und wenn er mit den Kindern spielte, war er voll bei der Sache, als sei er einer von ihnen. Ich mochte seine Art. Nach zwanzig Minuten kletterte er aus dem, Pool, schüttelte sich wie Plod, wenn er im Meer gewesen war, und setzte sich neben mich. „Was liest du da?" „Dick Francis." Ich zeigte ihm den Einband. „Liest du viel?" „Nur wenn ich nichts Besseres zu tun habe." „Dann langweilst du dich also. Wo ist dein Freund?" „Ich weiß nicht, wovon du sprichst“ antwortete ich kühl „Von unserem Lothario hier im Ort, George Glease." . Ich hatte keine Ahnung, wer Lothario war, aber es schien kein Kompliment zu sein. „Wahrscheinlich hat er seine neue Stelle angetreten. Da muß er abends arbeiten." „George und arbeiten?" Jim zog ungläubig die Augenbrauen hoch. „Was macht er denn?" „Kellner bei Pit's. Er schüttelte den Kopf. „Das kann nicht sein. Archie Stobbs hat letzte Woche dort angefangen. Ich weiß das, weil er ein Freund von mir ist." „George hat es aber gesagt." Sicher war es allerdings nicht gewesen. Er sollte noch Bescheid erhalten. Dann hat er den Job vielleicht doch nicht bekommen meinte ich lahm. Jim streckte sich auf den Steinen aus. „Archie hat schon seit drei Wochen die Zusage. Du mußt da etwas falsch verstanden haben." Das konnte genauso wenig sein. Warum hatte George mir vorgemacht, er würde den Job bekommen? Sollte ich glauben, daß er im Grund seines Herzens ein guter Kerl war, und mich vertrauensvoll in seine Arme werfen, oder wollte er nur sein Selbstbewußtsein heben? So lang - 92 -
arbeitslos zu sein, mußte einem einen ziemlichen Knacks geben, selbst wenn man so von sich überzeugt war wie George. Von Marion wußte ich, daß er sich nach der Schule um mehrere Stellen beworben hatte. Als jedoch nur Absagen kamen, gab er es auf. Mir hat er einmal erzählt, er würde gern in London arbeiten. Was für eine Arbeit ihm vorschwebte, sagte er allerdings nicht. Seltsamerweise tat er mir plötzlich leid, nachdem ich noch vor ein paar Minuten mich selbst bemitleidet hatte. Irgendwie war ich von Georges Lüge wegen des Jobs gerührt. Ich muß ziemlich lange geschwiegen haben, denn Jim schnippte mit den Fingern vor meiner Nase. „Einen Penny für deine Gedanken." Lächelnd schüttelte ich den Kopf. „Das sind sie nicht wert." Er setzte sich auf und rubbelte sich mit seinem Handtuch das Haar trocken. Dann kämmte er es mit den Fingern zurück. Der Pony fiel ihm wie ein glänzender schwarzer Vorhang wieder in die Stirn, und ich hatte den dringenden Wunsch, ihn zu berühren, um herauszufinden, ob er wirklich so seidig war, wie er aussah. Natürlich tat ich es nicht. Ich mag zwar impulsiv sein, aber verrückt bin ich nicht. „In Braywell ist Jahrmarkt", sagte Jim gerade. „Wollen wir morgen abend hingehen?" „Morgen?" Samstags hatte ich immer mit George etwas unternommen. „Wäre doch mal was anderes als Krimis lesen." Obwohl ich mir nichts aus Jahrmärkten machte, war es eine willkommene Abwechslung. Ich hatte es satt, herumzuhängen und auf George zu warten. „Okay," - 93 -
„Gut. Jim zog seine Hose an und legte sich das Handtuch über die Schulter. „Ich hole dich um sieben vor dem Haus ab. Es wäre schön, wenn du die sexy rosa Hose tragen würdest." Ich wurde rot. Wenn Jim so etwas sagte, brachte mich das immer durcheinander, weil es bedeutete, daß er mich viel genauer ansah, als ich dachte. Nachdem er weg war, schwamm ich ein paar Längen im Pool und überlegte, wie er sich wohl bei einer Verabredung verhalten würde. Um die Wahrheit zu sagen, machte mich der Gedanke ziemlich nervös. Jim hatte nun einmal diese Wirkung auf mich. Ich wußte auch nicht, warum. Zu der rosa Baumwollhose trug ich ein passendes TShirt in einem etwas helleren Ton und leuchtend pinkfarbene Ohrclips. Ein prüfender Blick in den Spiegel sagte mir, daß ich mit meinem Aussehen zufrieden sein konnte. „Du wirst auf dem Jahrmarkt Aufsehen erregen", meinte, Jim, als ich aus dem Haus kam. „Du nicht", gab ich zurück und musterte vorwurfsvoll seine schmutzige Arbeitskleidung: „Tut mir leid, aber ich hatte noch keine Zeit zum Umziehen. Wir fahren erst zu mir nach Hause. Du kannst dich ja mit Dad unterhalten, während ich mich fein mache." Jim wohnte mit seinem Vater in einem kleinen Landhaus etwa hundert Meter hinter dem Kinderheim. Das Haus war nicht so hübsch, wie es hätte sein können. Offen gesagt, war es etwas verwahrlost: Die Fensterrahmen und Türen hätten einen neuen Anstrich vertragen, und obwohl der Rasen gepflegt war, wirkte er so ganz ohne Blumen traurig und langweilig. Hinter dem Haus gab es einen Gemüsegarten. Dort trafen wir Mr. Blair, der in Hemdsärmeln eifrig um die Stangenbohnen herumhackte. - 94 -
„Dad, das ist Nellie", stellte Jim mich vor. „Ich hab dir schon von ihr erzählt." Ich schluckte. Was hatte er seinem Vater erzählt? Etwas von Mom oder Mark? Mr. Blair nahm seine Pfeife aus dem Mund und lächelte mich freundlich an. „Natürlich, du bist das Mädel, das sich so, aufopfernd um das kranke Kind, Rachel hieß es wohl, gekümmert hat. Erleichtert atmete ich auf. „Ja, Rachel, sie ist noch bei uns, weil ihre Mutter im Krankenhaus liegt." Er nickte. „Es ist eine große Gabe, gut mit solchen Kindern umgehen zu können. Ich wäre dazu nicht fähig, so leid sie mir tun." „Es sind Menschen wie wir alle, nur haben sie eben besondere Probleme." „Mag sein, und trotzdem." „Dad, würdest du dich um Nellie kümmern, während ich dieses dreckige Zeug ausziehe?" bat Jim. „Mit Vergnügen." Mr. Blair lehnte seine Hacke gegen einen Baum und blinzelte mir zu. „Laß dir nur Zeit, Junge." Wir setzten uns auf eine wacklige Gartenbank unter einem Apfelbaum; und Mr. Blair rauchte zufrieden-seine Pfeife. Er war kräftig und untersetzt. Über dem geröteten Gesicht wellte sich dichtes graues Haar. Er wirkte sehr englisch und ähnelte Jim nicht im geringsten. „Bist du in der Stadt aufgewachsen, Nellie?" fragte er nach einer Weile. „Nein, ich hab immer auf dem Land gelebt." „Tatsächlich? Du siehst aus wie ein Stadtmädchen, wenn ich das sagen darf." „Das liegt wahrscheinlich an der Kleidung, an den Ohrringen und so." - 95 -
„Kann sein. Meine Frau hatte auch gern schöne Kleider. Ich mußte alle ihre hübschen Sachen weggeben, als sie starb. Es ist immer noch ein komisches Gefühl, keine Frau im Haus zu haben." „Vielleicht sollten Sie wieder heiraten", schlug ich vor. „Soll das ein Antrag sein?" „Wir können ja in zehn Jahren noch mal darüber reden." Wir lachten beide. Mr. Blair klopfte seine Pfeife auf der Armlehne der Bank aus und blies ein paarmal durch das Rohr. „Du hast wenigstens Sinn für Humor." „Manchmal", antwortete ich mit einem schiefen Lächeln. „Das geht uns allen so. Wenn ich an einem kalten Winterabend nach Hause komme und selbst das Feuer anzünden und mir Tee machen muß, ist es mit meinem Sinn für Humor auch nicht sehr weit her, das kann ich dir sagen." „Ich verstehe Sie sehr gut." „Obwohl Jim mir natürlich eine große Hilfe ist", räumte Mr. Blair. ein. „Er leistet mir Gesellschaft und tut immer seinen Teil der Arbeit. Ich könnte mich eigentlich nicht über: ihn beklagen, wenn er nicht diese Flausen wegen des Geschäftes im Kopf hätte." Er seufzte tief. „Was für Flausen?" fragte ich, da er das Thema nun einmal aufgebracht hatte. „Er will expandieren, in mehr Maschinen investieren, Werbung machen und ähnlichen Unsinn. „Ist das wirklich Unsinn?" Er sah mich durchdringend an. „Natürlich, Mädchen. Es geht uns auch so gut. Wir sind zwar nicht reich, aber wir haben, was wir brauchen, und sind soweit ganz glücklich.; Warum sollen wir unser ganzes Leben lang nur arbeiten?" „Junge Leute brauchen eine Herausforderung", warf ich - 96 -
vorsichtig ein. „Sie können Jim keinen Vorwurf daraus machen, daß er mehr vom Leben verlangt als Sie." „Es ist ein Risiko, weißt du. Wir müßten bei der Bank einen Kredit aufnehmen und all' das. Ich habe niemals jemandem Geld geschuldet und will jetzt nicht mehr damit anfangen. Und überhaupt ist das alles so kompliziert, daß ich gar nicht wüßte, wo ich anfangen sollte." „Wenn Jim diesen Managementkurs machen würde, wüßte er genau Bescheid, und Sie bräuchten sich keine Sorgen zu machen. „Das hat er mir auch gesagt. Leider sind wir deshalb schon einige Male aneinandergeraten. Und, ich möchte nicht mehr darüber sprechen, weil es nur zu Streit führt. Dazu ist das Leben zu kurz." Bekümmert blies er noch einmal geräuschvoll durch seine Pfeife. „Ich weiß gar nicht, warum ich dir das alles erzähle. Eigentlich sollte ich dich mit geistreichen Bemerkungen unterhalten." „Diese Sache beschäftigt Sie eben sehr." Er nickte. „Es ist nicht leicht, dem Sohn die Zügel zu überlassen." „Das verstehe ich schon, aber..." Ich stockte. Einerseits wollte ich ihn beruhigen, andererseits aber auch nicht zuviel von dem preisgeben, was Jim mir erzählt hatte. „Ja?" Er wandte sich mir zu, und plötzlich hatte ich das Gefühl, daß das, was ich zu sagen hatte, sehr wichtig war und alle, selbst mich, angehen könnte. „Ich bin mir ziemlich sicher, daß Jim weiß, was er will. Er denkt nach und stürzt sich nicht unüberlegt in eine Sache. Wenigstens sehe ich ihn so, obwohl ich ihn natürlich nicht sehr gut kenne." Das war zwar keine sehr tiefgründige. Bemerkung, aber sie schien Mr. Blair zufriedenzustellen. Er nickte ein paarmal, stopfte dann seine Pfeife in die Tasche und stand - 97 -
auf. „Vielleicht sollte ich noch einmal mit ihm darüber reden. Was würdest du jetzt zu einem Schluck Stachelbeerwein sagen? Ich habe' ihn vor einem Jahr angesetzt, und er dürfte jetzt trinkbar sein.“ „Stachelbeerwein? Warum nicht? Schließlich sollte man alles einmal probieren.“ „Dad hat einen Narren an dir gefressen", meinte Jim, als wir unterwegs zum Jahrmarkt waren. „Woher willst du das wissen? „Er sagte, du hast ein kluges Köpfchen. Und dann hat er den Stachelbeerwein rausgerückt. Du kannst dich geehrt fühlen." „Er macht sich Sorgen um deine Zukunft." Jim verzog das Gesicht. „Das hat er gesagt? Und was hast du ihm geantwortet?" „Daß du dir alles genau überlegt hättest und wüßtest, was du tust." „Das war nett von dir." „Er will noch einmal mit dir darüber sprechen.“ „Tatsächlich? Das ist immerhin schon ein Fortschritt. Er hat sich wochenlang geweigert, über das Thema zu diskutieren." „Würde er allein fertigwerden, während du den Kurs machst?" Überrascht sah Jim mich an. „Du hast es wirklich raus, den Nagel auf den Kopf zu treffen. Ja, er würde es schaffen, aber in ein paar Jahren wird er zu alt sein, deshalb muß ich sobald wie möglich damit anfangen." „Ich habe das Gefühl, daß er diesmal auf dich hören wird." Jim lächelte mir dankbar zu. „Du scheinst eine große - 98 -
Hilfe gewesen zu sein. Danke." „Schon gut", sagte ich betont gleichgültig, obwohl ich mich sehr über seine Worte freute.
- 99 -
9. KAPITEL Wir hörten die Musik vom Jahrmarkt schon, als wir auf dem Parkplatz aus dem Lieferwagen stiegen. „Ich mag den Octopus und die ganzen schnellen Dinger nicht", sagte ich, damit Jim gleich wußte, wo er mit mir dran war. „Dann fahr eben nicht damit", antwortete er nüchtern. „Du bist schließlich hier, um dich zu amüsieren, oder?" „Ja." Erinnerungen an Blackpool stürmten auf mich ein. Mom, die in der Achterbahn wie eine Verrückte kreischte, Dad, der gelangweilt und resigniert herumstand, ich selbst, irgendwie beschämt bei den Ruderbooten. Warum war ich bloß heute abend mitgekommen? Unwillkürlich lief mir ein Schauer über den Rücken. „Kalt?" fragte Jim und legte mir den Arm um die Schultern. „Nein, mir ist nur gerade etwas eingefallen." „Das kann keine sehr angenehme Erinnerung gewesen sein." „War es nicht, also vergessen wir es." Der Jahrmarkt fand am Strand statt und war nur ein Bruchteil so groß wie der Vergnügungspark in Blackpool. Trotzdem gab es alles, was man von einem Jahrmarkt erwartete: Buden, wo Süßigkeiten, Puppen und Kuscheltiere verkauft wurden, ein Kettenkarussell, Schiffsschaukeln, den unvermeidlichen Octopus, eine Geisterbahn, ein Riesenrad, ein Spiegellabyrinth und der - 100 -
Himmel weiß, was noch alles. Da es Samstagabend war, drängten sich überall die Leute, standen an den Kassen Schlange, rempelten und lachten. Die drückende Schwüle trieb uns direkt zum Eiskremständ. ,,Ist es hier immer so voll?" fragte ich, als ich mein Himbeereis hatte. „In der Ferienzeit schon." Jim tippte mit der freien Hand auf meine Schultertasche. „Paß auf, daß dir die nicht geklaut wird." „Wollen wir mit der Geisterbahn fahren?" schlug ich vor. „Ich dachte, du magst so etwas nicht." „Nein, ich vertrage nur große Höhen und Geschwindigkeiten nicht, wie auf der Achterbahn und im Riesenrad." Jim kaufte Karten, und wir stiegen in einen der kleinen Wagen. Im Nu waren wir in den dunklen Gängen, fuhren unter klebrigen Spinnennetzen hindurch und um scharfe Kurven in glitschige Gummifinger hinein, die unsere Haare zu packen schienen, während ein schauriges Gelächter durch den Tunnel nachhallte. Das Tempo verlangsamte sich an einer Stelle, wo in trübem Rotlicht ein Skelett an einem blattlosen Baum hing. Dann wieder schienen wir von einer brüllenden Indianerhorde angegriffen zu werden. Schließlich tauchten wir in einen See, wobei überall um uns herum Wasser aufspritzte. Obwohl das alles natürlich nicht echt war, machte es mir doch etwas Angst, und ich merkte, daß ich mich schutzsuchend an Jim klammerte. Der legte den Arm um meine Schultern, und ich kuschelte mich enger an ihn, wenn mich etwas erschreckte. Als wir wieder nach draußen fuhren, nahm er den Arm weg, und ich setzte mich auf. - 101 -
„Hat es dir gefallen?" fragte er. Ich nickte glücklich. „Es war richtig unheimlich, nicht?" Er grinste. „Ja, wirklich unheimlich." „Du machst dich über mich lustig!" „Du bist eben so drollig", antwortete er, und an seinem Ton merkte ich, daß es eine Art Kompliment war. „Wollen wir jetzt zum Entenschießen gehen?" Ich sprang aus dem Zug. „Du scheinst ja langsam auf Touren zu kommen", stöhnte er. Am Schießstand hatte jeder sechs Schuß, und Jim traf sechs der vorbeisausenden Metallenten. Unnötig zu sagen, daß ich jedesmal weit vorbeischoß. Für seine sechs Treffer bekam Jim einen Goldfisch in einem Plastikbehälter, den wir dem Mann am Strand zur Aufbewahrung zurückließen. Danach fuhren wir Autoscooter, rammten uns gegenseitig und alle anderen um uns herum ebenfalls. Es machte. Spaß. Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie. lustig so ein Jahrmarkt sein konnte, wenn man nur machte, was einem gefiel. Als wir genug hatten, kauften wir uns zwei Büchsen Cola und setzten uns am Rand des Platzes in den Sand. Es war noch hell, doch vom Meer her kroch schon die Dämmerung herauf. Hinter uns funkelten die bunten Lichter des Jahrmarktes, und vor uns rollten die blaugrauen Wellen zum Horizont, um sich dort mit dem blaugrauen Himmel zu vermischen. Hier und da sah man die Lichter eines Fischerboots. „Es ist komisch", sagte ich schließlich. „Ich hatte immer ein ungutes Gefühl bei solchen Volksfesten, aber von heute an wird das anders sein." Jim legte seine Hand auf meine. - 102 -
„Ich bin froh, daß du Spaß hast. In letzter Zeit hast du etwas niedergeschlagen ausgesehen." „Ja, aber das ist jetzt alles vorbei", antwortete ich. Noch nie im Leben hatte ich eine schnellere und unerwartetere Entscheidung getroffen. Ich sprach den Gedanken schon aus, bevor ich ihn richtig zu Ende gedacht hatte, und als die Worte erst einmal heraus waren, wußte ich, daß ich sie nicht mehr zurücknehmen würde. Ich war fertig mit George Glease. Es gab nichts an ihm auszusetzen, und abgesehen davon, daß er mich die ganze letzte Woche allein gelassen hatte,. hatte er mich auch nicht schlecht behandelt. Aber ich konnte dieses ganze Getue um Sex einfach nicht mehr ertragen. Ganz plötzlich lag mir nichts mehr an George, ohne daß ich hätte erklären können, warum. Vielleicht hatte es etwas mit Jim zu tun, doch ich war noch nicht bereit, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. „Lassen wir uns von Madame Rosa die Zukunft voraussagen", schlug ich vor. „Ich bezahle." „Kommt nicht in Frage." „Bis jetzt; hast du alles bezahlt." „Wessen Idee war dieser Ausflug?" „Deine, aber... „Nichts aber", unterbrach er mich. „Ich gehe nicht oft mit Mädchen aus, aber wenn, dann lade ich sie auch ein. Ich weiß, daß es altmodisch ist und die Frauenbewegung mich wahrscheinlich auf dem Scheiterhaufen verbrennen würde, aber so bin ich nun mal. Okay?" „Dann bist du also zu stolz, um dich von mir einladen zu lassen?" „Nein, wenn ich es mir einmal nicht mehr leisten kann und du dann mehr Geld hast, laß ich dich bezahlen." Es würden also weitere Verabredungen folgen! Ich warf Jim einen verstohlenen Blick zu. Obwohl er so viel älter - 103 -
und reifer schien als jeder andere Junge, war ich nicht mehr nervös in seiner Gegenwart. Nicht zum ersten Mal überlegte ich, warum er sich eigentlich mit mir abgab. Er beugte sich vor und kitzelte mich mit einem Grashalm an der Nase. „Also los! Wenn du etwas über deine Zukunft wissen willst, sollten wir uns. jetzt besser anstellen.“ Wir fanden Madame Rosas rotgelben Zigeunerwagen schnell. Wie die Kinder standen wir Hand in Hand davor und blickten erwartungsvoll auf den Perlenvorhang vor dem Eingang. „Ab mit dir", sagte Jim, als wir an der Reihe waren. „Du zuerst." Er zog spöttisch eine Augenbraue hoch. „Du hast doch nicht etwa Angst?" „Nein, aber du bist älter als ich." „Schönheit geht vor Alter." Ich gab ihm einen leichten Stoß. „Hör auf herumzublödeln und geh." Er seufzte. „Ins Tal des Todes ritt..." „Los, Jim!" „Okay, aber lauf mir nicht weg, ja?" Damit sprang er die Stufen hinauf. „Jim! Ich wußte nicht, warum ich gerufen hatte, aber als er sich mit funkelnden Augen zu mir umdrehte, schlug mein Herz einen Purzelbaum. Echt. Mir war, als würde ich Jim aus einem früheren oder anderen Leben kennen und hätte nur darauf gewartet, ihm wieder zu begegnen. Gleichzeitig hatte ich den verzweifelten Wunsch, ihn daran zu hindern, in den Wagen zu gehen. Ich hatte eine zugegeben - kindische Angst, daß er dann nie wieder herauskäme. „Ja?" sagte er. Ich schluckte, weil ich wußte, wie dumm und - 104 -
unvernünftig ich war. „Ach, nichts." Er wartete noch einen Augenblick, winkte mir dann fröhlich zu und verschwand im Wagen. Mit einem unguten Gefühl starrte ich auf die schaukelnden Perlenschnüre. Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter. Ich fuhr herum und sah mich George Glease gegenüber. George war mit der üblichen Clique zum Jahrmarkt gekommen, mit Bob, Mick, Jack und ihren Mädchen. Außerdem waren noch einige dabei, die ich nicht kannte. Sie standen da, mampften Popcorn und sahen mich an. Die Atmosphäre knisterte vor Spannung. „Wir haben dich beobachtet", sagte George. „Hast du dich gut unterhalten?" „Ja." Anthea kicherte. „Mit diesem Bauerntölpel?" Ich beachtete sie nicht. Sie hatte sowieso häßliche Beine. „Jim und ich sind zusammen zur Schule gegangen", fuhr George fort. „Wir waren in derselben Klasse. Wußtest du das?" „Er hat es mir erzählt. „Darauf wette ich." Er zwinkerte Mick zu. „Was er ihr wohl noch erzählt hat?" George deutete mit dem Daumen auf Madame Rosas Wohnwagen. „Dort drin ist er gut aufgehoben, also komm mit uns in die Geisterbahn." „War ich schon." „Wie wär's dann mit den Boxautos?". „Sind wir auch schon gefahren. Überhaupt würde ich lieber auf Jim warten." Ich stieg auf die erste Stufe, um mir eine bessere Position zu verschaffen. - 105 -
George kam näher. „Ich wollte schon früher zu dir kommen. Gut, daß ich es nicht getan habe, was?" „Ja, es hätte dir nur den Abend verdorben." „Komm schon, Nellie." Er schenkte mir sein berühmtes Lächeln. „Amüsieren wir uns ein bißchen." „Nein, danke." „Du bist doch nicht sauer, weil ich letzte Woche nicht vorbeigekommen bin? Ich war beschäftigt, weißt du." „Hinter der Bar bei Pit's, nehme ich an?" Wir sahen uns feindselig an. Schließlich zuckte George mit den Achsein. „Ich habe den Job eben nicht bekommen. Na und?" „Du hast dich, gar nicht darum beworben, weil Archie Stobbs den Job schon hatte. Also, was sollte das alles?" Er wurde rot. Fast tat er mir schon wieder leid. Die Clique starrte ihn an, als würden sie ihren Ohren nicht trauen. „Reingefallen, was? Grinsend schaute er in die Runde. „Du hättest dein Gesicht sehen sollen." „Du solltest jetzt deines sehen", entgegnete ich ruhig. Alle außer George lachten. Sein Mund wurde plötzlich zu einem schmalen Strich, er packte meinen Arm und zog mich von der Treppe herunter. Bevor ich protestieren konnte, wurde ich mitgezogen, und wir alle schoben uns mit der Menge auf das Looping-Radau. „Ich kann nicht mit diesem Ding fahren rief ich und versuchte, Georges Hand abzuschütteln, aber er stritt gerade mit Mick herum, wer die Eintrittskarten bezahlen sollte, und hörte mich überhaupt nicht. Wir erreichten das Rad gerade, als die Gondeln stillstanden und die Leute ausstiegen. Sie sahen alle ziemlich benommen aus. Ein Mädchen stöhnte. ,,In dieses Ding bekommen mich keine zehn Pferde noch einmal rein." - 106 -
Ich warf einen Blick auf den langen Arm, der den Ring mit den Gondeln in die Luft hob. Wenn er abbricht, sind wir in Sekundenschnelle mausetot, schoß es mir durch den Kopf. „... sechzig Meilen in der Stunde", hörte ich jemanden sagen. Mit einem Ruck riß ich mich los. George fuhr herum. „Was ist los mit dir?" „Ich gehe da nicht rein", sagte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. Er wollte etwas erwidern, doch die Menge hinter uns drängte plötzlich nach vorn, und der Angestellte rief: „Vorwärts, Herrschaften., Es ist Platz für alle, kommen Sie." Verzweifelt versuchte ich, mich durch die Leute zu zwängen, sie standen zu dicht. Da war kein Durchkommen. „Das ist die letzte Fahrt heute", sagte George. „Deshalb ist es so voll." Wenigstens glaube ich, daß er das gesagt hat. Es herrschte ein so schrecklicher Lärm, daß man kaum sein eigenes Wort verstand. Ich zog ihn am Ärmel und wollte ihm erklären, weshalb ich solche Angst hatte, aber ich schien meine Stimme verloren zu haben. Wir wurden in eine freie Gondel geschoben. George saß hinter mir auf demselben Sitz mit den Armen um meine Taille. Es gab keine Gurte zum Anschnallen. Die hohen Seitenwände der Gondel umgaben uns wie ein Käfig. „Das steh ich nicht durch", sagte ich und: vergrub das Gesicht in den Händen. George lachte. „Es gefällt dir bestimmt. Wart's ab, bis es losgeht." „Wahrscheinlich spuck ich dich von oben bis unten voll." - 107 -
„Versuch es nur, und ich werf dich über Bord," Ich wußte zwar, daß er das nicht ernst meinte, trotzdem begann ich vor Angst mit den Zähnen zu klappern. Wenn ich jetzt zurückdenke, frage ich mich, warum ich nicht zu diesem Zeitpunkt noch ausgestiegen bin. Ich kann nur sagen, daß ich an meinem Sitz klebte und absolut unfähig war, mich zu bewegen. Die nächsten Minuten waren ohne Übertreibung die schlimmsten meines Lebens. Mit zunehmender Geschwindigkeit begann sich, das Rad zu drehen. Der große Arm hob uns in die Luft, bis es senkrecht über den verschwommenen Lichtern und den nach oben gerichteten weißen Gesichtern der Leute stand. Der Wind pfiff in meinen Ohren und wehte mir die Haare um den Kopf. Die Sterne erschienen sehr nah, und ich merkte plötzlich, daß es dunkel war. Ich versuchte, die Augen geschlossen zu halten, aber ich mußte einfach hinuntersehen. Es kam mir vor, als müßte ich jeden Moment zu Boden geschleudert und zu Brei zerschmettert werden. In meinem Kopf war ein fürchterlicher Druck, ich konnte kaum atmen. „Ich muß hier raus“ schrie ich und klammerte mich an die Stangen. „Red keinen Quatsch", sagte George in mein Ohr. „Es ist gleich vorbei." „Nein! Ich muß jetzt raus. Sofort, hörst du nicht?" Verzweifelt kämpfte ich gegen die ungewohnte Kraft an, die mich auf den Sitz drückte. George umklammerte meine Taille, und das Rad kreiste immer weiter. Ich hörte nur noch das Heulen des Windes, von entferntem Gekreisch und Gelächter unterbrochen. Einmal drehte ich mich zu George um. Dessen Gesicht hatte sich zu einem furchterregenden, teuflischen Grinsen verzerrt. Dann glaubte ich, Jims Gesicht unten in der Menge zu erkennen - 108 -
und schrie seinen Namen. Als wir endlich langsamer wurden und schließlich anhielten, war er aber nirgends zu sehen. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich meine buchstäblich: nicht bewegen, so daß George mich aus der Gondel ziehen und wie einen Kartoffelsack die Stufen hinunterschleppen mußte. Er lehnte mich gegen die Absperrung, wo ich mich auch prompt übergeben mußte. Paarweise torkelten die anderen auf uns zu. Sie schienen die Fahrt trotz allem genossen zu haben und lachten ausgelassen, bis sie mich sahen. Gerechterweise muß ich sagen, daß George tat, was er konnte, um mir zu helfen. Irgendwoher besorgte er sogar ein Glas Wasser. „Mensch, Nellie, ich wußte nicht, daß. du so reagieren würdest", meinte er schuldbewußt. „Warum hast du denn nichts gesagt?" Ungläubig starrte ich ihn an. Warum Ich nichts gesagt hatte? Ach, es hatte keinen Zweck, jetzt deswegen zu streiten. „Ich möchte zu Jim", verlangte ich benommen. George sah sich um. „Gut, du bleibst hier sitzen und entspannst dich, während ich ihn suche. Ich fühlte mich leer und schwindlig, aber erleichtert. Der Alptraum war vorbei. Wenn man mich vorher gefragt hätte, hätte ich geantwortet, daß mich ein solches Erlebnis um den Verstand bringen würde. Zu meiner großen Überraschung kam ich mir noch völlig normal vor. Mir war zwar hundeelend, aber ansonsten war mir nicht passiert. Erstaunlich. Ich mußte Kraftreserven haben, von denen ich nichts geahnt hatte. „Ich kann ihn nirgends finden", sagte George, als er zurückkam. - 109 -
„Er muß aber irgendwo sein. Bei Madame Rosa geht es doch nicht so lang." „Nein, die hat inzwischen auch geschlossen." Er grinste. „Vielleicht ist er auch bei ihr im Wagen geblieben." „Sei nicht albern", fuhr ich ihn an. „Hast du auch wirklich richtig gesucht?" fragte ich ihn ungläubig. „Natürlich. Es ist ja jetzt nicht mehr so voll. Da wäre er mir bestimmt aufgefallen." „Wie komme ich jetzt zurück nach Finchings?" „Ich bringe dich selbstverständlich nach Hause. Das tue ich doch immer, oder?" Ja, dachte ich, aber die Situation hat sich geändert. „Ich habe keinen Helm dabei." Verzweifelt sah ich mich nach Jim um. „Du weißt, daß ich immer einen in Reserve dabei habe" meinte er ungeduldig. „Komm schon, Nellie. Alle gehen jetzt. Wenn wir noch länger bleiben, müssen wir womöglich beim Aufräumen helfen." Er hatte recht. Wir waren inzwischen fast die einzigen auf dem Platz, die nichts mit dem Jahrmarkt zu tun hatten. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wo er geblieben ist", sagte ich, als wir an den geschlossenen Buden und stehenden Karussells vorbeigingen. „Ist doch auch egal." George legte den Arm um meine Schultern. Am liebsten hätte ich ihn zum Teufel geschickt. Schließlich hatte er sich tagelang nicht bei mir gemeldet. Als ich mich dann so gut es ging mit Jim unterhalten hatte, hatte er mich weggezerrt und zu dieser schrecklichen Fahrt gezwungen. Trotzdem schien er zu denken, daß zwischen uns alles beim alten sei. Offensichtlich hatte er nicht das geringste Einfühlungsvermögen. Für den Rückweg nach Finchings lieh er mir seine Jacke, - 110 -
dennoch war ich durchgefroren, als wir dort ankamen. Es war weit nach Mitternacht. Regen lag in der Luft. George hielt hinter dem Tor an und stieg von der Maschine. „Du kannst mich bis ans Haus bringen", sagte ich und blieb sitzen. „Du hast es auf einmal ziemlich eilig.“ „Natürlich, es ist schon spät." „Auf ein paar Minuten mehr oder weniger. kommt es jetzt auch nicht mehr an." „Nein, danke." „Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen? Bist du noch sauer wegen der Sache auf dem Jahrmarkt?" „Nein. „Ist es, weil ich die ganze letzte Woche weggeblieben bin?" „Du hättest zumindest anrufen können, aber das ist jetzt egal." „Was ist dann mit dir los?" Nun war der Augenblick der Wahrheit gekommen. „Ich möchte nicht mehr mit dir ausgehen", sagte ich ruhig. „Ich dachte, du seist verrückt nach mir." „Da irrst du dich. Ich glaube einfach, daß wir nicht genug gemeinsam haben. Wir haben uns nichts zu sagen."' Er stieß einen theatralischen Seufzer aus. „Immer willst du reden. Ich kann mir etwas Besseres vorstellen." „Was denn, zum Beispiel? „Komm her, dann zeig ich es dir.“ „George!" Ich war stocksauer. „Kapierst du denn nie etwas?" „Es ist dieser Affe Jim Blair, stimmt's? Du hast dich in ihn verknallt. Ich wußte es sofort, als ich euch beide zusammen auf dem Jahrmarkt sah. Wie bist du nur auf - 111 -
diesen Kerl verfallen?" „George, ich muß jetzt rein", sagte ich hastig. „Wenn Jane noch auf ist, macht sie sich schreckliche Sorgen. Er trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme. „Bitte, niemand hindert dich." Ängstlich sah ich die dunkle Auffahrt hoch. „Bringst du mich nicht, zum Haus?" „Warum, zum Teufel, sollte ich?" „Also gut." Ich glitt vom Sitz herunter. „Dann gehe ich eben allein." „Das wirst du nicht, tun." Er schob mich auf den, Sitz zurück. „Ich werde dich wohl fahren müssen, damit nicht morgen jemand deine verstümmelte Leiche im Straßengraben findet und mit die Schuld zuschiebt." „Danke, George." Ich brachte sogar ein Lächeln zustande. „Stets zu Diensten. Schließlich unterhalte ich ja ein kostenloses Taxi-Unternehmen für alle meine ExFreundinnen, nicht wahr?" Jane und Bill erwarteten mich an der Tür. Sie waren beide schon im Schlafanzug und sahen müde und ärgerlich aus. „Wo, zum Teufel, bist du gewesen?" fuhr Bill mich an: „Du hast gesagt, du würdest zu einer vernünftigen Zeit zu Hause sein. Nennst du ein Uhr morgens etwa vernünftig?" „Nein, aber..." Er ließ mich gar nicht ausreden. „Das war George Glease, der da eben wegfuhr. Ich dachte, du seist mit Jim Blair unterwegs." „Das war ich auch, aber es gab ein kleines Durcheinander." „So nennt man das also heutzutage?" „Nein, ehrlich, es war ein Mißverständnis." - 112 -
„Hör doch auf damit, Bill", mischte sich Jane ein und unterdrückte ein Gähnen. „Sie ist wieder zurück, und das allein zählt. Nellie, wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht. Deshalb sind wir jetzt natürlich etwas aufgeregt." „Es tut mir leid, wirklich. Aber es war nicht meine Schuld." „Nein, selbstverständlich nicht", schnaubte Bill. „Sicher nicht", sagte Jane besänftigend. „Jedenfalls können wir jetzt alle beruhigt ins Bett gehen." „Dieser verdammte George Glease." Bills Augen funkelten böse. „Ich könnte ihn in der Luft zerreißen." „Bill!" Beschwichtigend hob Jane die Hand. „Nellie ist müde, und wir sind es auch. Warum gehen wir nicht schlafen?" Bill gab einen grunzenden Laut von sich und stapfte ins Haus. Einen Augenblick später steckte er den Kopf wieder heraus. „Wenn sie so weitermacht, schicken wir sie nach Hause. Schließlich ist sie noch keine achtzehn, und wir sind verantwortlich für sie." Ich straffte die Schultern. „Ich finde, du könntest mich ruhig persönlich ansprechen, wenn du mir etwas zu sagen hast." Damit stolzierte ich zu meinem Zimmer über den Ställen.
- 113 -
10. KAPITEL Am nächsten Morgen erschien ich erst nach neun drüben im Haus. Natürlich entschuldigte ich mich deswegen bei Jane, die die Kinder gerade für eine Bohnenpflückexpedition im Küchengarten fertigmachte. Sie sah mich besorgt an: „Du bist ziemlich bleich heute, Nellie. Ist alles in Ordnung mit dir?" „Klar", antwortete ich und machte einen doppelten Knoten in die Schnürsenkel von Roddys Turnschuhe. „Gut. Also, dann mal los." Wir führten unsere kleine Herde nach draußen und den Hügel hinauf in den gemauerten Garten. Plod kam mit uns, sprang herum, bellte wie verrückt und führte sich überhaupt auf wie ein Wilder. „Übrigens", sagte Jane, während sie die Tür mit der verwitterten Aufschrift ,Privat’ aufstieß. „Jim war vor dem Frühstück. mit den Eiern da. Er wollte sich vergewissern, daß du gut nach Hause gekommen bist. Er sagte, du seist auf dem Jahrmarkt plötzlich weg gewesen, er habe dich dann aber mit George Glease, gesehen und sich keine Sorgen mehr gemacht." „Hat er mir etwas ausrichten lassen?" „Nein. Das hast du doch wohl auch nicht im Ernst erwartet, oder? Ich persönlich fand es ziemlich hochherzig von ihm, überhaupt zu kommen und sich nach dir zu erkundigen.“ „Ja, vermutlich." - 114 -
Um ehrlich zu sein, ich ärgerte mich ein bißchen darüber, daß er sich nicht größere Mühe gegeben hatte, mich wiederzufinden, aber Jane hatte ja gerade alles erklärt. Wenn Jim mich mit George gesehen hatte, mußte er gedacht haben, ich sei freiwillig mitgegangen und habe Georges Gesellschaft der seinen vorgezogen. Was für ein Durcheinander! Ich mußte bald auf die Suche nach ihm gehen und ihm erzählen, was wirklich passiert war. Allerdings hatte ich bis nach dem Abendessen Dienst und mußte bis dahin damit warten. Mit einem Haufen behinderter Kinder Bohnen zu pflücken, kann recht anstrengend sein, besonders wenn man mit seinen Gedanken nicht bei der Sache ist. Matthew, der nur einen Arm hat und auch als „der einarmige Bandit" bekannt war, rannte dauernd mit dem Korb weg. Plod grub beharrlich Zwiebeln aus, während Philip und Mary, die „schrecklichen Zwillinge", die Hühner herumjagten. Endlich waren dann alle mit ihren verschiedenen kleinen Aufgaben beschäftigt, so daß Jane und ich mit einem wachsamen Auge auf unsere Schützlinge tatsächlich Bohnen pflücken konnten. Ich erwartete, daß sie noch etwas wegen letzter Nacht sagen würde, und nach einer Weile tat sie es auch. „Es muß ein tolles Gefühl sein, mit einem Jungen loszugehen und mit einem anderen zurückzukommen." „Mein verhängnisvoller Charme", erwiderte ich und versuchte, das Ganze so etwas ins Lächerliche zu ziehen. Allerdings vergeblich. „Jim erschien mir heute morgen etwas durcheinander", fuhr sie fort, „Nicht, daß er etwas gesagt hätte, aber du kennst ja unseren Jim, wenn er so ernst und schweigsam ist." Das kannte ich allerdings. „Es war schrecklich. Wir - 115 -
hatten soviel Spaß miteinander, bis..." Ich hörte mitten im Satz auf, weil mir plötzlich wieder der Moment vor Madame Rosas Wagen einfiel, als ich auf einmal entdeckte, daß Jim eine besondere Bedeutung für mein Leben hatte. Meine Vorahnung, daß alles mit uns schieflaufen würde, wenn er hineinginge, hatte sich bewahrheitet. „Nun?" fragte Jane und sah mich durch die Bohnenreihen an. „Was ist passiert?" Normalerweise lasse ich mich nicht gern so ausfragen, aber bei Jane war das etwas anderes. Ich vertraute ihr, und irgendwie hatte sie ein Recht, alles zu erfahren. Also gab ich ihr eine zusammenfassende Schilderung des Abends. Als; ich fertig war, sagte sie, „Sieh mal, Nellie, es geht mich zwar nichts an, aber wenn ich zwischen Jim Blair und George Glease wählen könnte, wüßte ich, für wen ich mich entscheiden würde." „Kann sein.“ Ich ging nachsehen, wo Matthew den Korb versteckt hatte. Schließlich konnte mir niemand vorschreiben, wen ich mir als Freund aussuchte, nicht einmal Jane. Nachdem wir die Bohnen gepflückt hatten, setzten wir uns mit den Kindern in den Schatten, tranken Orangensaft und aßen Kekse. Danach spielten die Kinder eines ihrer nur ihnen verständlichen Spiele. Jane und ich lehnten uns an einen alten Apfelbaum und sahen ihnen zu. „Was möchtest du aus deinem Leben eigentlich machen?" fragte Jane unvermittelt. „Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht?" Ich kaute auf einer Bohnenschote herum. „Eigentlich nicht.“ „Wie lange mußt du noch zur Schule?" „Das kommt darauf an. Ich kann jetzt abgehen, wenn ich - 116 -
will." „Gehst du nicht gern zur Schule?" Ich zögerte. Dies war der richtige Moment, ihr von Mom, meiner Krankheit und dem Privatlehrer zu erzählen, und von meiner Entscheidung .nicht wieder zur Schule zu gehen, aber irgendwie schien das alles weit entfernt und unwichtig. Ich wollte einfach nicht darüber sprechen. Im Moment war mir nichts wichtiger, als schnell Jim zu finden und das Mißverständnis der letzten Nacht aufzuklären. Jane hatte viel Einfühlungsvermögen und drängte mich nicht zum Reden. Sie sagte nur: „Wenn du mal darüber sprechen willst, findest du bei mir immer ein offenes Ohr. Bill und ich haben uns nämlich schon überlegt; was du davon halten würdest, eine Ausbildung zur Lehrerin für behinderte Kinder zu machen." Ich wurde rot. Sie hatten sich also über mich unterhalten. Ihre hohe Meinung von mir freute mich. „Müßte ich dann nicht das Abitur machen?" „Wahrscheinlich, das läßt sich herausfinden. Doch das wäre ja kein Problem für dich, oder?" „Nein", antwortete ich zögernd. Eigentlich hatte ich nicht einmal vorgehabt, einen mittleren Abschluß zu machen, geschweige denn das Abitur. Aber das brauchte man, wenn man Lehrerin werden wollte. Hätte Mark mich doch nur nicht so im Stich gelassen! Ich schloß die Augen und versuchte, mir Marks Gesicht vorzustellen, seine blauen Augen, sein Lächeln, die Art, wie er sich mit der Hand durch das blonde Haar fuhr. Aber es gelang mir nicht. Mark war in meiner Erinnerung so verschwommen wie alles, was ich in Hobleigh hinter mir gelassen hatte. Ich seufzte leise. Man konnte sich an nichts ewig klammern. Sogar meine Entschlossenheit, es allen - 117 -
heimzuzahlen, indem ich der Welt meine glänzende Zukunft vorenthielt,; bereitete mir nicht mehr das bittere Vergnügen von früher. „Ich werde es mir überlegen", versprach ich. Wenn jemand sich schon die Mühe mit wohlmeinenden Ratschlägen machte, sollte man zumindest einmal darüber nachdenken. Auch wenn man weiß, daß nichts daraus werden kann. Aus allen möglichen Gründen hatten Marion und ich uns nicht mehr richtig unterhalten können seit dem schicksalhaften Tag, als ich ihr das Haar geschnitten hatte. Schicksalhaft deshalb, weil dieser Tag Marions Leben tatsächlich veränderte. Man hätte es nicht für möglich gehalten, aber innerhalb einer Woche hatte sie einen festen Freund. Er trug den schönen Namen Jasper, wurde allerdings von seinen Freuden Jaz gerufen, und er arbeitete in dem Straßenausschank hinter dem Haus der Gleases. Marion kannte ihn, weil sie einmal in der Woche für ihre Mutter dort Bier kaufte, doch er hatte sie nie um eine Verabredung gebeten oder sonstwie Interesse an ihr gezeigt. Als sie ein paar Tage nach ihrer Verwandlung bei ihm erschien, konnte er den Blick gar nicht mehr von ihr lassen und lud sie für den Abend ins Kino ein. Mehr wußte ich auch nicht. Sooft ich sie jetzt sah, strahlte sie übers ganze Gesicht, und jedes zweite Wort war Jaz, wozu ich nur nickte und lächelte. Irgendwann würde sie schon wieder von Wolke Sieben herunterkommen. Als Jane und ich vom Garten zurückkamen, merkte ich sofort, daß mit Marion etwas nicht stimmte. Ich vermutete, - 118 -
daß sie sich mit Jaz gestritten hatte, aber es war etwas anderes. „Es geht um Nick", sagte sie. „Er will nicht aus dem Bett kommen.“ Ich lachte. „Warte nur, bis er Hunger bekommt." „Nein, es ist etwas Ernstes, Nellie. Er liegt mit dem Gesicht zur Wand und will mit niemandem sprechen. Mom ist schon ganz verzweifelt. Nicht einmal der Arzt kriegt etwas aus ihm heraus." Ich kniete mich hin, um Penny, unserem jüngsten Schützling, die Hände abzutrocknen. Sie hatte violette Augen und weizenblonde Locken. Während einer Krankheit bald nach der Geburt hatte sie einen Gehirnschaden erlitten und sich geistig nicht über das Stadium eines Krabbelkindes hinaus entwickelt. Während ich ihre kleinen Hände trockentupfte, mußte ich daran denken, welches Glück Nick gehabt hatte, seinen Unfall lebend und verhältnismäßig unversehrt überstanden zu haben. Wie leicht hätte er noch schlimmer als Penny dran sein können. Er sollte nach Finchings kommen und sich diese Kinder ansehen, dann würde er es vielleicht einsehen und dankbar sein. Plötzlich lächelte Penny, und in ihren Augen funkelte der Schalk. Sie beugte sich vor und zog kräftig an der silbernen Kette, die ich um den Hals trug. Das Kettchen riß, und Penny hielt es entzückt hoch. Wer hätte ihr böse sein können? „Soll ich mal mit Nick reden?" bot ich Marion an. „Ich glaube, er hat mich ganz gern." „Wenn du willst", antwortete sie. Aber wahrscheinlich wird es nicht viel nützen." „Hätte deine Mutter etwas dagegen?" „Bestimmt nicht. Sie ist am Ende ihrer Weisheit. - 119 -
Außerdem findet sie dich großartig." „Okay, ich komme, sobald, ich kann." Peggy gluckste und steckte den Finger in mein Nasenloch. Mit diesen Kindern macht man schon einiges mit! Nach dem Abendessen ging ich in mein Zimmer und zog einen blauweißgestreiften Rock und eine Bluse an, die ich mir für einen besonderen Anlaß aufgehoben hatte. Der Anlaß jetzt war zwar nicht besonders, aber ich wollte so gut wie möglich aussehen, wenn ich vor Jims Tür erschien, um ihm alles zu erklären. Jane war über ihre Berichte gebeugt, und Bill sah fern; als ich den Kopf durch die Tür des Arbeitszimmers steckte. „Ich gehe zu Jim", sagte ich. Die beiden sahen mich fragend an. „Nellie, bist du sicher, daß das gut ist?" fragte Jane. „Laß sie doch", meinte Bill und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Jane zuckte hilflos mit den Achseln. „Ich bleib nicht lang weg", versprach ich. „Das haben wir schon einmal gehört." Dieser Kommentar kam natürlich von Bill. Wütend schloß ich die Tür hinter mir. Er führte sich auf wie mein Gefängniswärter, nur weil ich ein einziges Mal zu spätgekommen war. Mein Ärger wurde jedoch gleich von einem Regentropfen gekühlt, der mir auf die Nase fiel. Es regnete sich rasch ein. So schnell ich konnte, lief ich die Auffahrt zum hinteren Eingang des Grundstücks hinunter. Bis ich das Tor der Blairs erreichte, goß es bereits in Strömen. Ich klopfte und wartete unter ihrer Veranda. Gleichförmig klatschte der Regen auf die Blätter, auf dem staubigen Pfad bildeten sich große Pfützen. Nach einer - 120 -
langen Trockenperiode ist Regen etwas Schönes. Er zaubert dann alle möglichen köstlichen Gerüche hervor, und alles wirkt sauber und neu. Ich genoß die paar Minuten, die ich an die Mauer gelehnt wartete. Jim und sein Vater waren zu Hause, denn ich konnte sie drinnen gedämpft. reden hören. Schließlich öffnete Mr. Blair die Tür. Er schien nicht allzu überrascht, mich zu sehen. „Hallo, Nellie. Du siehst etwas naß aus, Mädchen." „Als ich losging, fing es gerade erst an zu tröpfeln.“ „Tatsächlich? Wir hatten diesen Regen dringend nötig." Er sah über meinen Kopf hinweg in den Himmel „Wirklich nötig." „Es ist gut für das Gemüse, nicht? Die Bohnen und all das." „Ja; natürlich." Er lachte. „Und mir ersparter das Sprengen." Wollte er mich eigentlich nicht hereinbitten? „Könnte ich Jim sprechen, Mr. Blair?" „Jim? Ich weiß nicht, was er gerade treibt." „Ich halte ihn nur eine Minute auf. Es ist ziemlich wichtig." „Wichtig, sagst du?" Endlich trat er zur Seite. „Dann komm herein und trockne erst mal ein bißchen. Ich sehe nach ihm." Auf dem Tisch im Wohnzimmer standen zwei Gläser Bier, und in einer Ecke lief lautlos der Fernseher. Mr. Blair stapfte zu der anderen Tür und öffnete sie einen Spaltweit. „Jim? Nellie ist hier." Man sah Mr. Blair seine Verlegenheit an, denn während er wartete, wiegte er sich hin und her und pfiff leise vor sich hin. Dann ging die Tür auf, und Jim stand da. Er trug noch seine Arbeitskleidung. Auf der linken Wange hatte er einen riesigen blauen Fleck. Das Auge war stark geschwollen und - 121 -
begann sich auch schon zu verfärben. „Du wolltest mich sprechen" sagte er kühl. „Ja." Ich war so erschrocken über seinen Anblick, daß ich total vergessen hatte, weshalb ich gekommen war. „Was, um alles in der Welt...?" begann ich, doch er fiel mir ins Wort. „Mach dir deswegen keine Gedanken. Was willst du?" „Ich möchte dir erklären, was letzte Nacht passiert ist", erwiderte ich lahm und warf einen verlegenen Blick auf Mr. Blair, der sich immer noch hin und her wiegte und ausgesprochen unglücklich aussah. Jim trat einen Schritt vor. „Das ist nicht nötig." „Ich möchte es aber." „Mir wäre es lieber, du würdest es nicht tun!" Mr. Blair murmelte etwas vor sich hin und verließ das Zimmer. „Jim, es war wirklich nicht meine Schuld." „Natürlich nicht. Außerdem kannst du ja tun und lassen, was du willst. Stimmt's?" „Schon, aber..." „Komm, vergiß es, ja?" „Aber ich hab dir doch noch gar nicht erzählt, was los war." „Manchmal machen Worte alles nur noch schlimmer. Die Sache ist vorbei. Okay?" Ich seufzte. „Gut, wenn du es sagst." „Das wär's dann also. War sonst noch etwas?" Unglücklich schüttelte ich den Kopf. Ich hatte Angst, in Tränen auszubrechen, sobald ich den Mund aufmachte. Warum ließ er es mich nicht erklären? Warum wollte er nicht zuhören? Was war mit seinem Gesicht passiert? Hundert Fragen schossen mir durch den Kopf, während wir uns gegenüberstanden und draußen der Regen gegen die - 122 -
Scheiben trommelte. Wäre sein Gesichtsausdruck nur etwas weicher geworden, hätte ich einen weiteren Versuch gemacht. Doch bis auf das Flackern in seinem unverletzten Auge wirkte er so hart und unnachgiebig, als sei er in Stein gemeißelt. Die Wildheit in seinem Blick erschreckte mich. Einen Moment lang dachte ich sogar, er haßt mich. Ich stürzte zur Haustür. „Du wartest besser, bis es aufhört zu regnen."' Jims Stimme klang jetzt eine Spur weniger eisig: Doch das änderte nun auch nichts mehr. „Nein, danke", brachte ich mühsam heraus. „Hier bleibe ich nicht eine Minute länger." Ich riß an der Tür und rannte den schlammigen Weg hinunter, blind vor Tränen, die der Regen augenblicklich abwusch. Als ich am Haus ankam, waren meine Schuhe voller Wasser und meine Bluse für besondere Anlässe klebte an mir wie ein altes Wischtuch. Ich war wütend auf die ganze verdammte Welt und auf Jim Blair im besonderen.
- 123 -
11. KAPITEL Ich hatte nicht die geringste Lust, George zu begegnen. Da ich Marion jedoch versprochen hatte, mit Nick zu reden, klopfte ich an meinem freien Nachmittag an die Tür: der Gleases. Mrs. Glease machte mir auf. Sie war richtig mager geworden und hatte dunkle Ringe unter den Augen. „Hallo. Ich habe gerade Teewasser aufgesetzt. Mlöchtest du auch eine Tasse?“ „Ja, danke." Ich folgte ihr in die Küche. Auf dem Tisch lagen Salatblätter und hartgekochte Eier. „Am Ende des Sommers bin ich soweit, daß ich nie wieder Salat und Feriengäste sehen will", sagte sie und gab der Salatschleuder einen kräftigen Schubs. Ich setzte mich und fing an, die Eier zu schälen. „Nur weiter", zog ich sie auf. „Im Grunde lieben Sie Ihre Feriengäste doch. Sie sind die geborene Pensionswirtin, Mrs. Glease, weil Sie Menschen mögen. Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten den Sommer über nichts zu tun. Es würde Ihnen etwas fehlen." Sie nahm zwei Tassen vom Regal und goß uns Tee ein. „Wahrscheinlich hast du recht. Die Sorge um Nick macht mich im Moment einfach fertig. Ich kann mich auf nichts mehr konzentrieren und bin ständig müde.“ Sie sah wirklich erschöpft aus. Ihr sonst so duftiges Haar hatte dringend eine Wäsche nötig, und das runde Gesicht war eingefallen und zeigte Falten, die ich vorher nicht - 124 -
bemerkt hatte. „Es geht ihm also nicht besser?" fragte ich. Traurig schüttelte sie den Kopf. „Jetzt sind es schon drei Tage. Es ist nichts mit ihm anzufangen. Er liegt nur da," „Ißt er wenigstens richtig?" „Ich nehme es an, zumindest schiebt er nach dem Essen immer das leere Tablett heraus. Gestern hab ich ihm den Zimmerschlüssel weggenommen, weil er sich eingeschlossen hat." „Was sagt der Arzt dazu?" Sie rührte noch einen Löffel Zucker in ihren Tee, bevor sie antwortete. Es war bereits der vierte. „Der ist genauso ratlos wie wir. Er kann nichts finden. Nicks Beine werden immer kräftiger. Ich hab solche Angst, daß diese Verstimmung oder was immer es ist, bis zum September anhält und er sich weigert, zur Schule zu gehen. Dann würden wir ernsthafte Schwierigkeiten mit der Schulbehörde bekommen. Sie haben ihn gewarnt, aber er will ja nicht hören." Ich nippte nachdenklich an meinem Tee und versuchte, einen Anhaltspunkt für Nicks Problem zu finden. „Ist irgend etwas Besonderes vorgefallen, kurz bevor es angefangen hat?" „Ich glaube nicht." „Er war also ganz normal wie immer?" Auf ihrer Stirn erschien eine steile Falte. „Laß mich mal überlegen. Er kam spät herunter und frühstückte im vorderen Zimmer wegen der Unordnung in der Küche. Ich räumte die Gästezimmer auf, deshalb sah ich ihn erst wieder um zwölf, als George kam und wir eine Kleinigkeit aßen." Auf einmal änderte sich ihr Gesichtsausdruck, und ich hatte den Eindruck, als würde sie mich aufmerksamer ansehen. „Übrigens, George ist nicht zu Hause. Bist du seinetwegen gekommen?" - 125 -
Ich bemühte mich, meine Miene und meine Stimme unter Kontrolle zu halten: „Nein, ich bin wegen Nick gekommen: Marion arbeitet ja heute nachmittag. Da hat sie mir vorgeschlagen, hier vorbeizuschauen und ein bißchen mit ihm zu plaudern." „Das ist nett von dir, obwohl ich nicht glaube, daß du viel ausrichten kannst. George hast du in letzter Zeit nicht gesehen?" „Seit Samstag nicht mehr", antwortete ich betont fröhlich. Sie nickte. „Ich hatte mich schon gewundert, weil..." „Zurück zu Nick", unterbrach ich sie hastig. „Was ist an diesem Nachmittag noch passiert?" „Nicht viel. Ich ging einkaufen, und als ich zurückkam, war er in seinem Zimmer. Und dort ist er seitdem geblieben, soweit ich weiß." Ich trank meine Tasse leer und betrachtete versonnen die Teeblätter. Mom hatte immer. behauptet, sie könne alles Menschen, Geld, Krankheiten usw. in den Blättern sehen. Dad und ich hatten sie deswegen natürlich ausgelacht, aber es war merkwürdig, wie oft sie mit ihren Voraussagen richtig lag: Vielleicht hatte ich ja diese Gabe von ihr geerbt. Ich konzentrierte mich auf die Blätter, doch anstatt ein Muster zu bilden, hatten sie sich, zu einer festen Masse in Form eines Vierecks verklumpt. „Was macht Nick normalerweise nachmittags?" fragte ich. „Er muß doch irgendeine Beschäftigung haben." „Oh, die hat er", antwortete Mrs. Glease trocken. „Er sieht fern. Er verbringt das halbe Leben vor dem Bildschirm. Ein Wunder, daß er noch keine rechteckigen Augen hat." Fernseher! Der viereckige Blätterklumpen in meiner Tasse. Natürlich, das müßte es sein! - 126 -
Ich sprang auf. „Haben Sie eine Fernsehzeitschrift?" „Ja." „Wo ist die von letzter Woche?" „Im Wohnzimmer wahrscheinlich." „Kann ich sie mir einmal ansehen?" „Bitte, bedien dich.“ Rasch ging ich durch die Diele ins Wohnzimmer. Die aktuellen Zeitschriften lagen auf dem Tisch, die alten auf einem Regal. Ich zog die von der vergangenen Woche heraus und blätterte zu den Programmen des letzten freitags. Nachdem ich sie aufmerksam durchgesehen hatte, legte ich sie zurück und ging nachdenklich die Treppe hinauf. Ich stieg über ein Tablett mit schmutzigem Geschirr und klopfte leise an Nicks Tür: Es kam keine Antwort, also ging ich unaufgefordert hinein. Die Vorhänge waren zugezogen. Nur ein schmaler Streifen Sonnenlicht fiel auf die dunkle Gestalt im Bett. Nick wandte mir den Rücken zu, und seine Schultern wirkten in dem gestreiften Pyjama rührend schmal Das Haar war offensichtlich seit Tagen nicht mehr gekämmt worden und stand nach allen Seiten ab, wie die Stacheln eines Igels. „Nick? Ich bin es, Nellie. Darf ich hereinkommen?" Als Antwort zuckte er nur mit den Schultern. Ich trat ans Fußende des Betts. „George und ich haben uns getrennt." Weshalb ich ausgerechnet damit herausplatzte, weiß ich wirklich nicht. Vielleicht, weil ich ihn durch diese sehr persönliche Äußerung über mich dazu bringen wollte, um seinerseits etwas über sich zu sagen. Er rührte sich nicht, schielte mich aber von unten herauf an. „Es war am letzten Samstag", erzählte ich weiter. „Ich habe ihm einfach gesagt, daß ich ihn nicht wiedersehen - 127 -
will." Schweigen. Nick wandte den Blick wieder von mir ab. Die Luft in dem kleinen Zimmer war zum Schneiden. Ich ging zum Fenster. „Warum bist du dann hier?" Überrascht fuhr ich herum. Nick hatte sich zwar nicht bewegt, aber zweifellos gesprochen. Die nächsten Worte, würden von größter Bedeutung für den weiteren Verlauf unserer Unterhaltung sein. Das Problem war, daß ich nicht wußte, was ich jetzt sagen sollte. Vielleicht sollte ich ganz den Mund halten. Wer gab mir schließlich das Recht, hier bei ihm einzudringen? Warum sollte ich ihm helfen, wenn er keine, Hilfe wollte? Warum sollte ich oder sonst jemand sich in seine Schwierigkeiten einmischen? „Ich weiß es nicht", antwortete ich niedergeschlagen. „Ich hatte das Gefühl, daß ich dir irgendwie helfen könnte, aber vermutlich kann ich das nicht. Deshalb verschwinde ich wieder." Damit ging ich zur Tür und öffnete sie. „Warte, Nellie.“ Ich drehte mich um. Er saß aufrecht im Bett und sah mich aus großen Augen flehend an. Leise machte ich die Tür wieder zu und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. „Ich weiß, was mit dir los ist", sagte ich ruhig. „Du hast am Freitagnachmittag die Fernsehsendung über Lilleshall gesehen, nicht wahr? Du hast sie alle herumrennen und großartig spielen gesehen, wie du es auch gekonnt hättest, wenn nicht sogar besser. Und du hast gehört, wie die. Trainer sie tolle Burschen und zukünftige Stars nannten. Du hast gedacht, es ist einfach nicht fair. Wenn ich mir nicht die Beine gebrochen hätte, könnte ich einer von ihnen, sein. Doch die Schuld liegt ganz allein bei dir. Du weißt das und bestrafst dich jetzt dafür. Wahrscheinlich hat deine Mutter dich immer auf dein Zimmer geschickt, wenn du als kleiner - 128 -
Junge etwas angestellt hast. Habe ich recht?" Wortlos warf er sich wieder aufs Bett und vergrub das Gesicht in den Kissen. Ich schob seine Sachen von dem Stuhl neben dem Bett und setzte mich hin. „Ich weiß, wie schrecklich es für dich ist, Nick. Der Tod deines Vaters war ein furchtbarer Schlag. Marion hat mir gesagt, daß er ein großartiger Mensch war." Als er mir jetzt das Gesicht zuwandte, sah ich Tränen auf seinen Wangen. „Dad war wirklich großartig", sagte er rauh. „Warum mußte er sterben? Wir brauchten ihn. Ich brauchte ihn. Er war ein toller Trainer, und er glaubte an mich.. Er war sehr streng, wenn es ums Training ging, aber das machte mir nichts aus. Es gefiel mir sogar. Ich verstehe es einfach nicht. Er rannte noch neben mir her, und dann auf einmal...“ Ich wartete, ob er weitersprechen würde, doch er konnte nicht. Es fiel mir schwer, mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen. „Nick, du glaubst doch nicht wirklich, daß du schuld am Tod deines Vaters bist? Das kannst du doch nicht denken!" „Er war zu alt, um so herumzurennen", murmelte er in die Kissen. „Das Laufen war Teil meines. Trainings, und er kam immer mit. Er schien so fit zu sein. Ich hätte nie gedacht..." Nick brach ab. Lautlose Schluchzer schüttelten ihn. Auf der Straße bellte ein Hund, und ein Mann fluchte. Irgendwo im Zimmer summte eine Biene. „Es ist schwer, wenn man allein gelassen wird", sagte ich leise. ,,Meine Mom ist vor drei Jahren weggegangen. Vielleicht ist sie tot, ich weiß es nicht. Aber ich fühlte mich auch schuldig und einsam und verängstigt. Ich hatte eine - 129 -
Art Nervenzusammenbruch. Beinah hätten sie mich für eine Weile in die Klapsmühle gesteckt." Er richtete sich auf einem Ellbogen auf. Von seinem Kinn tropften immer noch Tränen. „Ich dachte, deine Mom sei bei einem Autounfall gestorben.“ „Den Leuten das zu erzählen ist einfacher, als sagen zu müssen, daß sie uns verlassen hat. Und das hat sie, weil sie mich und Dad nicht gern genug hatte, um zu bleiben. Aber wenn ich das erzähle, stellen die Leute immer eine Menge Fragen. Ich bin wohl nicht sehr tapfer." Nick schniefte und wischte sich mit dem Ärmel seines Pyjamas über die Augen. „Und was war danach mit dir?" „Ich wollte keine Menschen mehr sehen, keine Freunde, niemanden. Ich ging auch nicht mehr in die Schule, weil mir dort jedesmal übel wurde." „Wie mir." „So ähnlich. Schließlich bekam ich einen Privatlehrer. Er unterrichtete mich drei Jahre lang. Im Herbst soll ich. auf die Schule zurück, um einen richtigen Abschluß machen zu können." In seinen Augen glimmte Neugier auf. „Und? Wirst du gehen?“ „Wahrscheinlich. Ich brauche einen Abschluß, und den kann ich nur in der Schule kriegen."' Hatte ich das gesagt? Ich traute meinen Ohren nicht. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht die Absicht gehabt zurückzugehen. Das hatte ich zumindest geglaubt. Was hatte in meinem Unterbewußtsein stattgefunden, daß ich eine Entscheidung verkündete, von der ich überhaupt nicht wußte, daß ich sie getroffen hatte? Doch darüber konnte ich später nachdenken, jetzt war nur Nick wichtig. Inzwischen saß er aufrecht im Bett. „Ist es nicht schwierig, nach so langer Zeit zurückzugehen?" - 130 -
„Bestimmt.“ „Warum tust du es dann? Du bist über sechzehn und mußt nicht mehr zur Schule, wenn du nicht willst." „Und dann? Ich habe keine Ausbildung, und du weißt, wie schwer es ist, einen Job zu bekommen: Was sollte ich dann machen?" „Keine Ahnung. Herumgammeln, nehme ich an, wie George." „Schöne Aussichten." „Wenn du zurückgehst, werden deine Freunde vermutlich denken, du seist immer noch nicht ganz richtig im Kopf.". „Ist es wichtig, was sie denken?" Er, sah schockiert aus. „Selbstverständlich. Es sind doch deine Freunde, oder?" „Willst du deshalb nicht zur Schule zurück? Weil du in den Augen deiner Freunde nicht mehr der tolle Bursche wärst wie vor deinem Unfall?" fragte ich ihn. Er wurde rot und schaute weg. „Natürlich nicht. Ich kann nicht, weil meine Beine noch nicht in Ordnung sind. Ich muß eine Krücke benutzen." „Na und? Für deinen Kopf brauchst du ja wohl keine Krücke. Ob du es glaubst oder nicht, es gibt noch andere Dinge im Leben außer Fußball." „Und die wären?" „Was weiß ich, das muß jeder für sich selbst herausfinden, aber das kann man nicht in einem dunklen, muffigen Zimmer. Darf ich wenigstens die Vorhänge aufziehen?" Da er nicht nein sagte, stand ich auf und ließ das Sonnenlicht herein. Dann lehnte ich mich aufs Fensterbrett und sah hinunter in den Garten, wo Mrs. Glease mit ihrer Nachbarin plauderte. Anscheinend unterhielten sie sich - 131 -
über Nick, denn sie schaute hoch und bemerkte mich. Ich winkte ihr lächelnd zu und drehte mich wieder um. Etwas sehr Wichtiges mußte noch ausgesprochen werden, und Nick mußte es glauben. War er bereit dafür? Hatte er sich genug bestraft? „Genauso wenig wie ich verantwortlich bin für das, Verschwinden meiner Mutter, bist du verantwortlich für den Tod deines Vaters. Mom hatte einfach genug von uns, und dein Dad; nun, er starb eben." Nick stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich weiß nicht. Er hätte sich in seinem Alter nicht so anstrengen dürfen." „Nein", sagte ich fest. „Er ist einfach gestorben. Seine Zeit war abgelaufen. Okay?" Schweigen. „Es wäre vermutlich auch passiert, wenn er den ganzen Tag vor dem Fernseher gesessen hätte, eher noch früher." Schweigen. Ich streckte mich und gähnte. „Jetzt habe ich genug von dem Gestank hier drinnen.. Ich werde noch kurz schwimmen gehen, bevor ich mit dem Bus nach Finchings zurückfahre. ,„Warum hast du dich von George getrennt?" fragte Nick unvermittelt. Ich machte die Tür auf. ,,Weil ich das Herumlungern im Spielsalon satt habe. Ich komme mal wieder vorbei, ja?" „Okay. Er schwang die Beine über den Bettrand und griff nach seiner Jeans. „Nur daß du's weißt,. Nellie. Ich gehe im Herbst nicht wieder zur Schule. Sie müßten mich schon hintragen." Also gut, dachte ich und sprang die Treppe hinunter. Man kann nicht alles haben. Unten im Flur stieß ich beinahe mit George zusammen. Seine Nase war geschwollen, und er sah aus wie nach einer - 132 -
saftigen Schlägerei. Eine Schlägerei? O nein! Wortlos stürmte er an mir vorbei. Ich sah ihm bestürzt nach und flüchtete aus dem Haus, ohne mich von Mrs. Glease zu verabschieden. Der Schreck über Georges Anblick hatte jeden Gedanken ans Schwimmen vertrieben. Statt dessen ging ich in hellem Aufruhr direkt zur Bushaltestelle. Georges geschwollene Nase und Jims blaues Auge gingen mir nicht aus dem Sinn. Sollten sich die beiden etwa geprügelt haben? Wenn ja, mußte es mit dem Samstagabend auf dem Jahrmarkt zusammenhängen. Oh, Mann! Aber ändern konnte ich nun auch nichts mehr; deshalb versuchte ich, mich wieder auf Nick zu konzentrieren. Mit dem Fernsehprogramm hatte ich richtig gelegen. Er hatte am Freitag nachmittag mit eigenen Augen gesehen, was ihm in Lilleshall entging, und sich, von Selbstmitleid gepackt, in sein Zimmer eingeschlossen. Bis er vom Training mit seinem Vater gesprochen hatte, war ihm jedoch nicht bewußt gewesen, daß er sich zu allem, anderen auch noch die Schuld am Herzanfall seines Dads gab. Ich hatte mein Möglichstes getan, ihn davon zu überzeugen, daß er in keiner Weise dafür verantwortlich war. Aber war es mir gelungen? Immerhin war er dabei gewesen, sein Zimmer zu verlassen, und so hatte wenigstens Mrs. Glease ein Problem weniger. Was meine eigene Entscheidung, wieder zur Schule zu gehen, betraf, so war bei näherem Betrachten alles ganz einfach erklärbar. Janes Vorschlag, Lehrerin für behinderte Kinder zu werden, reizte mich. Ich hatte Freude an den Kindern. Wenn eines etwas fertigbrachte, womit wir nicht - 133 -
gerechnet hatten, war ich wirklich froh und wünschte mir, dieses Kind würde mich mit weiteren Wundertaten verblüffen. In den paar Wochen in Finchings hatte ich entdeckt, welche erstaunlichen Reserven ich hinsichtlich Toleranz und Geduld hatte. Ich konnte stundenlang bei albernen Spielen sitzen oder einem Kind zeigen, wie man Schnürsenkel zubindet. Inzwischen war ich auch Expertin dafür, Schwierigkeiten vorherzusehen und noch im Ansatz zu ersticken. Mit anderen Worten, ich schien für den Job geeignet. Natürlich war es oft langweilig, doch Bill und Jane hatten mir viel Freizeit zugestanden, damit ich mich nicht wie in einer Falle fühlte. Wenn ich den Schulabschluß schaffte, den das Bildungsministerium verlangte, konnte ich eine richtige Ausbildung beginnen. Eine andere Möglichkeit wäre die, die Schule sausen zu lassen und gleich in Finchings zu bleiben. Falls Bill und Jane jedoch aus gesundheitlichen oder, anderen Gründen Finchings in naher Zukunft schließen müßten, würde ich mit meiner geringen Erfahrung ohne allzu große Zukunftschancen in der Luft hängen. Und ich wollte nicht „herumgammeln wie George", wie Nick es so treffend ausgedrückt hatte. Meine Zeit in Finchings war fast um. Die Blätter verfärbten sich schon langsam; die Sonne hatte ihre hochsommerliche Kraft verloren. Die Wochen waren wie im Flug vergangen, und alles war wunderschön gewesen. Zeitweise hatte es sogar so ausgesehen, als würde es noch schöner, doch irgend etwas war schiefgegangen.
- 134 -
12. KAPITEL Als ich die Haustür zumachte, kam Bill noch hektischer als sonst aus dem Arbeitszimmer gestürzt. „Nellie! Gut, daß du da bist." „Warum? Was ist denn los? Ist etwas mit: einem der Kinder?" Ich hatte Angst um Rachel, die immer noch nicht ganz gesund war. „Nein, das ist es nicht:" Er setzte sich auf die Eichenbank vor dem riesigen offenen Kamin und deutete auf den Platz neben sich. Seine Miene verriet nichts Gutes. Um ihn nicht noch mehr aufzubringen, setzte ich mich gehorsam. „Und jetzt möchte ich die Wahrheit wissen", begann er ernst. „Ist deine Mutter wirklich bei einem Autounfall ums Leben gekommen?" „Mom?" stammelte ich. „Warum?" „Keine Ausflüchte, Nellie. Ich warte." Ich schluckte. „Es könnte sein. Ich weiß es nicht." „Was soll das heißen? „Sie ist weggegangen", murmelte ich. „Einfach verschwunden. Plötzlich wurde ich wütend. „Worum geht es eigentlich? Warum dieses Verhör?“ „Weil sie hier ist", antwortete er ruhig. „Das ist der Grund." Mom saß neben Jane auf dem Sofa im Wohnzimmer. Sie standen beide auf, als Bill und ich hereinkamen. Jane kam - 135 -
schnell herüber, berührte kurz meinen Arm und verließ dann, mit Bill den Raum. Hilfesuchend drehte ich mich nach ihnen um, aber sie waren schon weg. Da erst wandte ich mich widerstrebend meiner Mutter zu. „Hallo, Nellie", sagte Mom durch eine Wolke aus Zigarettenrauch hindurch. „Du hast dich verändert. Bist gewachsen und so." „Ja." Mehr fiel mir nicht ein. Merkwürdigerweise fühlte ich nichts. Wenn ich mir diesen Moment früher ausgemalt hatte, waren wir uns immer in die Arme gefallen und hatten vor Freude geweint. Statt dessen standen wir nun hier, zehn Meter voneinander entfernt, und beäugten uns mißtrauisch wie Fremde. „Komm doch mal her und laß dich richtig ansehen", sagte sie. Ich ging zum Sofa, und wir setzten uns. Sie hatte sich noch mehr verändert als ich. Trotz des fachmännisch aufgetragenen Make-ups sah sie älter aus. Das Haar trug sie jetzt kurz und glatt, und es kam mir heller vor als früher. Der weiße Hosenanzug mit dem Satintop sollte sie wohl jünger erscheinen lassen. Der Aschenbecher auf dem Tischchen neben ihr war voller Kippen. Das zumindest hatte, sich nicht geändert. „Fühlst du dich wohl hier?" fragte sie. „Ja, es ist okay." „Diese Mrs. Dingsda scheint dich zu mögen. Allerdings war sie etwas erstaunt, mich :zu sehen. Sie lachte kurz und abgehackt. „Was, um alles in der Welt, hast du ihnen über mich erzählt? „Daß du tot bist." Mom sah mich bestürzt an. „Tot? Warum hast du das gesagt?" „Für mich warst du es." - 136 -
Das schien sie aus der Fassung zu bringen, denn sie zog ein paarmal hastig an ihrer Zigarette und klimperte nervös mit den Augenlidern. „Okay, ich hätte mich wohl mal melden sollen, aber ich dachte, du kommst besser mit Dad zurecht, wenn ich es nicht tue." „Wie rücksichtsvoll von dir." Sie nahm meine Hand. „Sei nicht gehässig, Liebling. Ich habe dich vermißt." Ich hatte ganz vergessen, wie kalt ihre Hände immer waren. Kleine, kalte Klauen. Vorsichtig entzog ich ihr meine Hand wieder. „Was führt dich her, Mom?" „Ich arbeite bei einer Antiquitätenbörse in Bournemouth. Gestern kam diese Mrs Lawton aus dem Dorf zu uns. Sie fiel beinahe in Ohnmacht, als sie mich erkannte. Immerhin hat sie mir dann gesagt, wo ich dich finden konnte, und hier bin ich. Ich hoffte, es sei eine schöne Überraschung für dich." Eine schöne Überraschung? Fast hätte ich gelacht. Wie sie das sagte, klang es, als sei sie nur vorzeitig aus dem Urlaub zurückgekommen. Sie drückte ihre Zigarette aus und nahm sofort eine neue aus der Packung. „Ich muß sagen, du scheinst dich nicht sehr über meinen Besuch zu freuen. Mrs. Lawton hat mir erzählt, daß du krank warst, aber davon merkt man nichts mehr. Du siehst sogar aus wie das blühende Leben. Was hat dir gefehlt?" „Es geht mir wieder gut", antwortete ich nur. Was für einen Sinn hatte es schließlich, in Einzelheiten zu gehen, wo sie ja offensichtlich nicht die leiseste Ahnung hatte von dem, was sie angerichtet hatte. Einen Moment lang schwiegen wir beide. „Wie geht es deinem Dad? - 137 -
„Gut. Wieder." „Was soll das heißen, wieder?" „Es ging ihm ziemlich mies, als du weg warst und kein Lebenszeichen von dir gabst." „Tatsächlich? Es geschehen doch immer wieder Wunder." „Mom! So schlimm ist er nun auch wieder nicht.“ Sie hatte wenigstens soviel Anstand, leicht beschämt dreinzusehen. „Nein. Wie ich schon sagte, ich dachte, auf die Dauer sei es so für uns leichter. Besser für uns alle, verstehst du?" Das war nun wirklich zuviel. „Besser für wen?" stieß ich hervor. „Für dich vielleicht, bestimmt nicht für uns." „Es war schwierig. Du weißt, wie die Dinge; zwischen deinem Dad und mir standen." „Ich weiß es eben nicht. Ich war erst dreizehn. Ihr wart meine Eltern. Ich hatte ein Zuhause. Natürlich merkte ich, daß ihr nicht besonders gut miteinander auskamt. Na und? Millionen Paare streiten sich. Die Eltern der meisten meiner Freunde haben Probleme. Es muß in der Natur der Menschen liegen. Wie sollte ich ahnen, daß du die große Flucht planst? Sie sah mich erstaunt an. „Du klingst so verbittert, Nellie. Das hatte ich nicht erwartet. Ich habe dich sehr vermißt und wollte dir oft schreiben, aber ich hatte Angst, daß dein Dad mich aufspüren und versuchen würde, mich zurückzuholen. Das war sicher feige von mir, aber ich konnte diese fürchterlichen Auseinandersetzungen einfach nicht mehr ertragen." „Wer hat denn diese Auseinandersetzungen provoziert, Mutter?" Es war das erste Mal, daß ich sie „Mutter" nannte. Die Anrede klang so merkwürdig und ungewohnt, daß ich - 138 -
verwirrt aufstand und zum Fenster ging. „Jetzt hör aber auf"., erwiderte sie scharf. „Es hat ziemlich viel Mut erfordert, hierherzukommen, weißt du. Wieder zu gehen ist einfach.“ „Warum tust du es dann nicht?“ Draußen schwankten Janes kostbare gefüllte Dahlien im Wind. „Jack hat vorausgesagt, daß du so reagieren würdest." Ich lehnte die Stirn gegen die Scheibe. Wie schade, daß die Rosen verblüht waren. „Wer ist Jack?" „Der Mann, den ich heiraten werde. Du wirst ihn mögen. Er restauriert antike Möbel, ist sehr nett und verrückt nach mir." Über die Schulter hinweg sah ich sie an. „Dann gehst du also nicht mehr zu Dad zurück?" „O nein." Sie klang überrascht. „Das hast du doch nicht im Ernst angenommen?" „Eigentlich nicht." Natürlich hatte ich es angenommen. Im ersten Schock über ihr plötzliches Auftauchen hatte ich uns alle einen Augenblick vor mir gesehen. Wir saßen wie früher um den Küchentisch, Dad schweigend hinter seiner Zeitung, Mom und ich über dieses und jenes plaudernd. Jetzt, wo ich wußte, daß es nie wieder so sein würde, fühlte ich mich seltsamerweise in erster Linie erleichtert. Seit Mom weg war, verlief unser Leben verhältnismäßig friedlich. Wir hatten uns an ihre Abwesenheit gewöhnt. „Glaubst du, er wird Schwierigkeiten wegen der Scheidung machen?" fragte. sie mit einer Andeutung von Nervosität in der Stimme. „Ich denke nicht." Sie seufzte erleichtert. „Ein komisches Gefühl, so mit dir zu sprechen. Wie mit einer Erwachsenen." „Ich bin erwachsen. Ich mußte ziemlich schnell erwachsen werden." - 139 -
„Das stimmt wohl. Wie oft habe ich an dich gedacht und mich gefragt, ob du wohl hübsch bist und wer dir hilft, hübsche Kleider zu kaufen und..." ...und mich über Sex aufklärt, mit mir über den Tod spricht und mich in die Arme nimmt, wenn ich traurig bin, dachte ich, während sie weiter sentimentales Zeug von sich gab. Es hatte keinen Sinn, ihr etwas erklären zu wollen. Sie würde nie verstehen, was mir; ihr, uns allen entgangen war. Sie dachte nur an Kleider, Parties und Essen in feinen Restaurants. Und an Jack, nicht zu vergessen. Gerade erzählte sie mir, wie großartig er war und daß sie ein Zimmer in ihrer Wohnung extra für mich eingerichtet hatten, damit ich bei ihnen wohnen könnte. „Du wirst sogar dein eigenes Bad haben, Nellie. Jack verdient sehr gut, weißt du. Du bekommst einen Schlüssel und kannst kommen und gehen, wann du willst. In Bournemouth ist einiges los, auch wenn manche das Gegenteil behaupten. Du wirst eine Menge Spaß haben." „Was wird aus meiner Ausbildung?" „Du bist doch sechzehn und mußt nicht mehr zur Schule. Jack hat gesagt, er lernt dich ein, dann kannst du für ihn arbeiten. Das Antiquitätengeschäft wird dir gefallen. Wenn man sich geschickt anstellt, ist da viel Geld zu machen," „Was ist mit Dad?" „Dad? Was soll mit ihm sein?" „Was wird aus ihm, wenn ich weggehe?' Sie zuckte mit den Achseln. „Er wird klarkommen. Dein Vater ist ein Einzelgänger. Eigentlich will er niemanden um sich herum haben. Das war schon immer so. Er hätte nicht heiraten sollen. Seine Mutter hat mich damals gewarnt. Allerdings hat sie mich nicht gemocht, weil ich so hübsch und beliebt war und immer einen Haufen Verehrer hatte." Ihre grünen Augen blitzten. „Ich nehme an, jetzt sind die - 140 -
Jungen hinter dir her. Hab ich recht?" Ich fühlte offene Abneigung in mir aufsteigen. „Nellie?" Mom stand auf und kam zu mir ans Fenster. „Woran denkst du? Ich wußte nie, was in Dads oder deinem Kopf vorging." „Ich denke an einen Jungen, der sich verantwortlich fühlt für den Herzanfall seines Vaters. Natürlich ist er es nicht." Irritiert trat sie wieder einen Schritt zurück. „Merkwürdig, ausgerechnet jetzt an so etwas zu denken. Fast krankhaft.“ „Eigentlich nicht." Wir standen uns gegenüber. Inzwischen war ich größer als sie, und es war ein komisches Gefühl, auf sie herabzublicken. „Ich gab mir die Schuld dafür, daß du weggingst. Immerhin hattet ihr die meisten Auseinandersetzungen wegen mir." „Aber das hatte nichts mit. dir zu tun, Liebling. Im Gegenteil. Du warst der Hauptgrund, warum ich überhaupt so lang geblieben bin. Bald nachdem ich Hobleigh den Rücken gekehrt hatte, lernte ich Jack kennen. Er war noch verheiratet, wenigstens auf dem Papier, und wir mußten uns vorsehen, bis er alles geregelt hatte." „Und ein Teenager am Hals hätte nur alles unnötig kompliziert.“ Die grünen Augen verengten sich. „Ich versuche, nicht die Geduld zu verlieren, aber das gerade war nicht sehr nett, Nellie." „Die Wahrheit ist oft unangenehm, Mutter." „Du bist zynisch. Genau wie dein Vater." „Kann sein. Deshalb bleibe ich bei ihm und gehe wieder zur Schule, anstatt das schöne Leben mit dir und Jack zu genießen." Empfindungen wie Ungläubigkeit, Ärger und Bedauern - 141 -
wechselten sich auf ihrem, Gesicht, ab. „Du vertust die Chance deines Lebens. Jack hat einen guten Namen im Antiquitätenhandel. Er reist überall herum, Frankreich, Deutschland, Amerika. Du könntest ihn begleiten und dabei die Welt kennenlernen." „Trotzdem will ich lieber erst meine Ausbildung abschließen. Ich möchte behinderte Kinder unterrichten, weißt du." ;,In so einem- Laden wie hier?" Ungläubig schaute sie sich in dem eleganten, aber spärlich möblierten Raum um. „Vielleicht, ich weiß es noch nicht. Mal sehen, was sich ergibt." „Du mußt übergeschnappt sein. Natürlich tun mir die armen Dinger leid, einige hab ich im Garten spielen sehen, aber du verbaust dir so alle Chancen." „Welche Chancen?" „Nun, erstens kann man mit dieser Art Arbeit kein Geld verdienen." „Du verstehst es einfach nicht.“ „Dann erkläre es mir." Ich seufzte. „Ich habe die Kinder gern, verstehst du? Es macht mir Freude, für sie zu sorgen, ihnen zu helfen, sie zu unterrichten. Es ist ein gutes Gefühl. Tut mir leid, aber besser kann ich es nicht erklären." Sie sah mich aufmerksam an und nickte einige Male schweigend. „Du hast es gut erklärt. Sehr gut." Dann warf sie einen Blick auf ihre Uhr, eine neue, wie ich bemerkte. „Jack wartet unten, am Tor mit dem Wagen, und ich möchte ihn nicht zu lang warten lassen. Für den Weg die Auffahrt hinunter brauche ich ohnehin noch eine ganze Weile." Sie wandte sich zur Tür. „Warte", sagte ich. „Ich komme mit." „Nein, ich gehe lieber allein." Sie versuchte - 142 -
einschwaches Lächeln. „Schließlich wird man nicht jeden Tag von der eigenen Tochter fertiggemacht." Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Entsetzt lief ich zu ihr und schlang die Arme um sie. Sie wirkte so klein und zerbrechlich. Ihr Haar roch nach Maiglöckchen und kaltem Zigarettenrauch. Einen Augenblick lang standen wir eng aneinandergepreßt da, dann schob sie mich weg, holte ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. „Was für dumme Gänse wir doch sind", sagte sie lächelnd. „Ja." Auch ich wischte mir Tränen weg. „Kommst du uns mal besuchen, Jack und mich?" „Klar, sobald ich kann. Ich kann es kaum abwarten, das Badezimmer zu benutzen." „Versprochen?" „Versprochen." ,,Okay." Sie schien beruhigt. Nach einigem Suchen zog sie eine Karte aus ihrer Handtasche. „Das ist Jacks Adresse. Du kannst mich abends fast immer erreichen." Zusammen mit der Visitenkarte drückte sie mir noch einen knisternden Schein in die Hand. „Und hier ist noch ein bißchen Taschengeld." Ich sah hinunter. Fünfzig Pfund. „Das ist viel zuviel", keuchte ich. „Ich hab dir doch gesagt, daß Jack gut verdient." „Aber..." „Los, steck schon ein. In ihrem Blick lag eine Mischung aus Ironie und Bewunderung. „Kauf etwas für diese Bruchbude hier, wenn du willst. Sie hätte es wahrhaftig nötig." Die schlanke, seltsam fremde Gestalt mit dem hellen Haar, trippelte die Auffahrt hinunter. Sie war meine Mom, - 143 -
und sie war es nicht, jedenfalls war sie nicht die, die ich gekannt hatte. Die ruhelose, reizbare Mom meiner Erinnerung gab es nicht mehr, und ich war nicht traurig darüber. Es wäre ganz interessant, die Frau kennenzulernen, die ihren Platz eingenommen hatte. Und nicht zu vergessen Jack. Vergnügt spielte ich mit der Banknote. Jetzt konnte ich Jane und Bill etwas zur Erinnerung an mich kaufen. Ich öffnete das Fenster und lehnte mich weit hinaus. ,,Auf Wiedersehen, Mom", schrie ich. Sie drehte sich um und winkte. Obwohl ich auf diese Entfernung ihr Gesicht nicht mehr erkennen konnte, bildete ich mir ein, daß sie lächelte.
- 144 -
13. KAPITEL Nachdem Mom weg war, ging ich auf mein Zimmer, streckte mich auf dem Bett aus und dachte nach. Ich war ganz ruhig. Kein rasender Puls oder sonstige Anzeichen von Aufregung. Toll fühlte ich mich zwar nicht gerade, aber auch nicht schlecht. Diese Begegnung war eine Art Neubeginn gewesen. Mom war sowohl älter als auch jünger geworden, sofern das überhaupt möglich war. Merkwürdigerweise schien sie keine wirkliche Vorstellung davon zu haben, wie sehr sie uns weh getan hatte. Sie bedauerte es nicht und hatte auch keine Gewissensbisse, weil sie uns so im Stich gelassen hatte. Gut, die Menschen sind eben verschieden. Offensichtlich war sie jetzt glücklich und führte das Leben, das sie sich immer gewünscht hatte. Ihren Rest von Gewissen hatte sie beruhigt, indem sie mich gebeten hatte, bei ihr und Jack zu leben, doch als ich ablehnte, hatte sie mich nicht gedrängt. Womöglich war sie sogar ein klein wenig erleichtert. Drei Jahre sind schließlich eine lange Zeit. Was mich betraf, war in diesen drei Jahren aus einem verängstigten Kind eine einigermaßen selbstbewußte Person mit festen Zukunftsplänen geworden, die das Restaurieren von Antiquitäten in Bournemouth nicht einschlossen. Leider waren von meinem Zusammenbruch einige Ängste zurückgeblieben, die mir vielleicht mein Leben lang erhalten bleiben würden. Doch die Ereignisse in - 145 -
Finchings hatten mir gezeigt, daß ich stark genug war, mit ihnen umzugehen. Das wirkliche Problem war in meinen. Augen Dad. Die Scheidung würde ein schrecklicher Schlag für seinen Stolz sein. Trotzdem glaubte ich, er würde sich schnell damit abfinden, wenn die Trennung erst einmal rechtskräftig war. In einem hatte Mom recht, Dad war seine eigene Gesellschaft immer noch am liebsten. Trotzdem war ich froh, daß ich zu Hause sein würde, wenn der Brief vom Rechtsanwalt kam.. Jeder braucht ab und zu jemanden, an dem er sich festhalten kann. Beim Abendessen benahmen Jane und Bill sich so unnatürlich normal, daß mir klar wurde, sie platzten beinah vor Neugierde. Um sie zu erlösen und weil ich ihnen immerhin eine Erklärung schuldete, erzählte ich ihnen alles. Ich begann mit Entschuldigungen für die Lügen über Mom, dann sprach ich von ihrem Verschwinden, meinem. Zusammenbruch, dem Privatlehrer und dem ganzen Rest. Meine Vernarrtheit in Mark erwähnte ich nicht, weil das nur mich etwas anging. Aber ich erzählte ihnen, wie ich die Nerven verloren und beschlossen hatte, nicht mehr zur Schule zu gehen, fügte jedoch gleich hinzu, daß ich es mir anders überlegt hatte und jetzt meinen Abschluß machen wollte. Danach war ich ziemlich außer Puste. „Deine Suppe wird kalt", sagte Bill. „iß auf." Ich nickte. bloß und wandte mich dann an Jane. „Du hast mich dazu gebracht. Als du vorschlugst, ich könnte doch behinderte Kinder unterrichten wie hier, merkte ich plötzlich, daß es das war, was ich tun wollte." „Du, hast es bestimmt schon die ganze Zeit über gewußt. Ich habe es nur in Worte gefaßt." „Iß, Nellie", mischte sich nun Bill wieder ein. „Ich hab - 146 -
das Zeug nicht gemacht, damit du nur da sitzt und es ansiehst." Gehorsam nahm ich meinen Löffel. „Da wäre noch etwas. Könnte ich manchmal in den Ferien kommen und helfen? Ihr werdet mir alle schrecklich fehlen, aber es wird nicht so schlimm sein, wenn ich weiß, daß ich wiederkommen kann." Bill stöhnte. „O je, müssen wir uns das antun? Nellie und ihre dramatischen Verwicklungen als Fortsetzungsgeschichte? Ich weiß nicht, ob ich das aushalte." Jane lächelte. „Nur gut, daß du ihn kennst, sonst würdest du ihn womöglich ernst nehmen. Natürlich kannst du jederzeit kommen. Wie wäre es gleich mit Weihnachten? Und wenn du jemals Rat oder Hilfe, brauchen solltest, weißt du ja, an wen du dich wenden kannst." Sie verzog das Gesicht. „Diese Suppe ist zu dick, Bill. Ich wünschte, wir hätten eine Küchenmaschine." Vor meinem geistigen Auge erschien eine Banknote. Bekam man für fünfzig Pfund eine Küchenmaschine? Nach dem Essen schlüpfte ich in eine Jacke und ging nach draußen. Es dämmerte bereits, doch ich konnte den See noch zwischen den Bäumen durchschimmern sehen. Die Wasservögel hatten sich für die Nacht sicher schon auf der Insel vor den Füchsen in Sicherheit gebracht. In ein paar Tagen würde das Leben in Finchings ohne mich weitergehen. Es war ein wunderbarer Sommer gewesen. Obwohl ich noch nie so hart gearbeitet hatte, hatte ich auch viel Spaß und Freiheit gehabt. Ich konnte kommen und gehen, wann ich wollte, meine eigenen. Pläne machen und meine eigenen Fehler. Wenn mir nur dieser eine schwerwiegende Fehler nicht unterlaufen wäre. - 147 -
Gedankenverloren setzte ich mich auf eine Bank und träumte vor mich hin. „Hast du etwas dagegen, wenn ich mich zu dir setze?" Beim Klang von Jims Stimme fuhr ich zusammen. „Nein" stotterte ich. „Natürlich nicht." Jim setzte sich ans andere Ende der Bank. In dem blauen Poloshirt und der verwaschenen Jeans sah er lässig und unheimlich attraktiv aus. Die verletzte Hälfte seines Gesichts hielt er von mir abgewandt. „Es wird jetzt früher dunkel", sagte er. Ich nickte, „Stimmt. Vor einer Woche konnte man um diese Zeit von hier aus noch die Insel im See erkennen.“ „Wir könnten sie auch jetzt sehen, wenn wir ein Stück näher rangehen würden. Möchtest du?" „Gern." Wir gingen die Terrassenstufen hinunter und schlenderten den Pfad entlang, den Bill in das hohe Gras gemäht hatte. Neben uns flog ein Fasan auf, kreischte empört und flatterte in die Bäume. Danach war alles wieder totenstill. Ich brannte darauf, Jim tausend Fragen zu stellen, doch etwas in mir riet mir, noch zu warten. Vieles an Jim verstand ich noch nicht, und auch wenn ich geduldig war und lernte, darauf zu achten, was er sagte und was nicht, würde ich ihn doch nie ganz ergründen. „Ich werde mich übrigens nächste Woche für diesen Managementkurs anmelden", erklärte er, als wir uns dem See näherten. „Dad ist damit einverstanden. Er will eine Aushilfskraft einstellen, wenn viel Betrieb ist, und ich arbeite abends und an den Wochenenden, sooft es möglich ist." „Das freut mich riesig für dich. „Finanziell gesehen wird es zwar etwas schwierig, aber Mom hat mir ein bißchen Geld hinterlassen, das uns über - 148 -
die Runden bringen wird. Dad ist jetzt ganz begeistert und hat eine Menge Zukunftspläne: Du würdest staunen." „Phantastisch." „Ich dachte, ich komme mal rüber und erzähle es dir.“ „Ich bin froh, daß du es getan hast:" Schweigend gingen wir weiter bis zum Landungssteg, wo das Boot festgemacht war. Seite an Seite blickten wir über das dunkle Wasser. Von der Insel hörte man, noch schwach die Rufe der Wasservögel. Hin und wieder sprang vor uns ein Fisch aus dem Wasser. „Meine Mutter war heute hier. Was sagst du dazu?" Erst jetzt merkte ich, wie sehr ich mich danach gesehnt hatte, ihm alles zu erzählen. Aber ich hätte nie den Mut aufgebracht, zu ihm zu gehen, aus Angst, er würde mich womöglich wieder anschnauzen. „Das muß ja ein echter Hammer für dich gewesen sein. Wie war es? Und wie fühlst du dich jetzt?" „Ganz gut, glaube ich. Eigentlich hat es mich gar nicht sehr berührt. Komisch, oder? Vor allem, nachdem ich mir dieses Wiedersehen so oft ausgemalt hatte. Sie lebt jetzt mit einem Antiquitätenhändler in Bournemouth und wollte, daß ich zu ihnen ziehe." „Machst du es?" „Nein, ich gehe nächste Woche wieder zur Schule." „So bald schon?" Ich drehte den Kopf zur Seite, und zum ersten Mal an diesem Abend sahen wir uns direkt an. Er war furchtbar zugerichtet. Die Blutergüsse hatten sich zu einem häßlichen Gelb verfärbt, die Lippe war aufgeplatzt. Es sah schrecklich aus. Einen Augenblick lang betrachtete er mich intensiv, als wolle er meine Gedanken erraten oder sich selbst dazu - 149 -
überwinden, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Dann schüttelte er hilflos den Kopf und wandte sich ab. „Es tut mir. leid, Nellie." Seine Stimme klang heiser. „Du kannst mir wahrscheinlich nie verzeihen." Ich fiel aus allen Wolken. „Und ich dachte, du kannst mir nie verzeihen!" Jetzt, wo der Bann gebrochen war, konnte ich nicht mehr aufhören zu reden. „Versteh doch, es war nicht meine Schuld, Jim. Ich wußte, daß etwas Schreckliches passieren würde, wenn du in den Wagen der Wahrsagerin gehst. Plötzlich tauchte George auf und zerrte mich in dieses gräßliche Rad. Er ließ mich einfach nicht los. Ich war wie gelähmt, weil ich doch diese furchtbare Höhenangst habe. Als alles vorbei war, mußte ich mich übergeben. Du warst verschwunden, so daß ich George bitten mußte, mich nach Hause zu bringen. Und dann war Bill noch wütend, weil ich so spät kam. Das Ganze war der reinste Alptraum." Zu meinem Entsetzen ließ ich mich auf die Bretter des Landungsstegs fallen und brach in Tränen aus. Alle aufgestauten Gefühle dieses Tages brachen hervor. Undeutlich nahm ich wahr, wie Jim sich neben mich kniete. Dann spürte ich seine Arme um mich, lehnte mich an seine Brust und heulte, bis sein Hemd ganz naß war und keine Tränen mehr kamen, sondern nur trockene Schluchzer. Meine Nase lief, und keiner von uns, beiden hatte ein Taschentuch. Deshalb riß er ein Büschel Gras aus, mit dem ich mir das Gesicht abtrocknete. Danach kuschelte ich mich in seine Arme und fühlte mich so warm und sicher, daß ich die ganze Nacht so hätte bleiben können. Trotzdem mußte ich ihn noch etwas sehr Wichtiges fragen. „Hast du dich mit George geprügelt?" Den Mund in mein Haar vergraben, nickte er. „War es wegen mir?" - 150 -
Er seufzte. „Ich fürchte ja. Ein Kumpel von mir hat gesehen, was auf' dem Jahrmarkt passiert ist, und es mir am nächsten Tag erzählt. Ich war natürlich fuchsteufelswild, weil ich zuerst gedacht hatte, du bist freiwillig mit ihm gegangen." „Nie!" protestierte ich heftig. Er zog mich noch enger an sich. „Schon gut. Ich weiß, wo George Glease sich gewöhnlich herumtreibt, also habe ich ihn aufgestöbert und ihm die Meinung gesagt. Darauf hat er mir eine gescheuert, und leider hab ich den Kopf verloren und zurückgeschlagen. Daraus wurde eine hübsche Keilerei, bei der wir beide zu Boden gingen. Wirklich hirnverbrannt. Keiner hat gewonnen. So gewinnt man nie." „Warum warst du dann so eklig, als ich zu dir kam, um alles zu erklären?" „Weil ich mich so geschämt, habe. Ich hätte an diesem Abend nie ohne dich nach Hause gehen dürfen. Aber als ich dich mit George im Rad gesehen hab, dachte ich, du amüsierst dich großartig. Ich hätte es besser wissen müssen, schließlich hattest du mir gesagt, daß du diese Dinger haßt. Ich war auch wütend auf mich selbst, weil ich mich auf diese Schlägerei eingelassen habe. Normalerweise bin ich ein friedfertiger Typ, aber wenn es hart auf hart geht, bin ich so gewalttätig wie jeder andere." Ich rückte ein Stückchen von ihm ab und streichelte mit den Fingerspitzen sanft seine verletzte Wange. Er preßte meine Handfläche gegen seine Lippen. „Du bist so süß sagte er heiser. Dann nahm er mein Gesicht in seine Hände, als sei es eine seltene und zarte Blume, und küßte mich bedächtig und hingebungsvoll. Wohlige kleine Schauer liefen mir über den Rücken, und im Bauch spürte ich ein eigenartiges Kribbeln. Nach diesem Kuß sahen wir uns lang in die Augen. Seine waren - 151 -
dunkel und geheimnisvoll wie das Wasser des Sees, und auch wenn wir den Rest unseres Lebens zusammen verbringen würden, könnte ich nie ihre schwarzen Tiefen ergründen, nie erraten, was Jim im Augenblick dachte. Vielleicht machte gerade das ihn so aufregend. Engumschlungen. gingen wir langsam zum Haus zurück. Ich versprach, die ganze freie Zeit, die mir in Finchings noch blieb, mit ihm zu verbringen. Er versprach, mit mir segeln zu gehen. Ich versprach, ihm zu schreiben, sobald ich zu Hause war und er, daß er mich besuchen kommen würde. Es gab soviel zu besprechen, daß wir für das kurze Stück vom See bis zur Haustür eine halbe Stunde brauchten. Bevor ich ins Haus ging, küßte er mich wieder. Und noch einmal. Er küßte mich, bis ich schwindelig und atemlos war. Schließlich riß ich mich los und rannte ins Haus und schlug die Tür hinter mir zu. Zum Glück war niemand in der Nähe und sah mein gerötetes Gesicht und meine vermutlich glänzenden Augen. Ich ging direkt ins Bett, ohne mich zu waschen, um nicht Jims Küsse auf meinen Lippen zu verwischen. Marion und ich verabschiedeten uns voneinander allein in meinem Zimmer. Wir heulten beide ein bißchen. „Du bist eine prima Freundin", sagte sie. „Du wirst mir fehlen.“ „Ach was", schnüffelte ich. „Du hast doch jetzt Jaz." Mit feuchten Augen lächelte sie mich an. „Klar, aber es ist nicht dasselbe. Schließlich kann ich nicht mit Jaz über Jaz reden, oder?" „Kaum. Aber wir sehen uns auf jeden Fall zu - 152 -
Weihnachten, wenn ich wiederkomme. Dann machen wir einen drauf, du und Jaz und ich und Jim." Sie runzelte zweifelnd die Stirn. „Meinst du, daß sie miteinander auskommen?“ „Wir müssen es eben ausprobieren." „Da fällt mir noch etwas ein." Umständlich zog sie einen Briefumschlag aus der Tasche. „Das ist ein Brief von Mom. Ich nehme an, sie will sich bedanken, weil du Nick geholfen hast. Weißt du, daß er einverstanden ist, wieder zur Schule zu gehen?" „Das gibt es nicht!" Vor Freude machte ich buchstäblich einen Luftsprung. „Das ist wirklich super!" „Ja. Er hat uns nicht verraten warum, aber es muß etwas mit eurem Gespräch zu tun haben. Mom ist total aus dem Häuschen. Sie ist wieder ein ganz anderer Mensch." Ich lächelte glücklich. „ Ich mag deine Mom sehr. Und...äh...wie geht es George?" fragte ich etwas verlegen. Sie kicherte. ,,Die blauen Flecken sind wieder weg. Ich hätte zu gern zugeschaut, wie er und Jim sich geprügelt haben. Immerhin kam Jim gestern vorbei, und sie gingen zusammen ein Bier trinken. Wahrscheinlich ist jetzt alles wieder eitel Freude und Sonnenschein." Das waren ja höchst erfreuliche Neuigkeiten. „Nellie!" rief Jane in diesem Moment von unten herauf. „Jim ist mit dem Wagen hier, um dich zum Bahnhof zu bringen." Die ganze Mannschaft hatte sich im Hof versammelt, um mich zu verabschieden, die Kinder, das Personal, Jane und Bill, und natürlich Plod, der wie ein Verrückter bellte und allen zwischen den Füßen herumsprang. Jane drückte mir ein kleines Päckchen in die Hand, als - 153 -
ich in den Wagen stieg. „Das ist heute mit der Post gekommen. Es sieht ziemlich aufregend aus." Sie küßte mich und schlug die Tür zu. „Auf Wiedersehen, Nellie. Bis Weihnachten.“ ,,Bis Weihnachten" schrie der ganze Chor. Die Kinder hopsten herum wie eine Herde Flöhe, Marion schluchzte ganz offen, und sogar Bill schien. gerührt, denn er warf mir eine Kußhand zu. Obwohl ich mich weit aus dem Fenster lehnte, konnte ich wegen der Tränen in meinen Augen nichts mehr sehen. Als wir auf die Straße einbogen, lehnte ich mich in den Sitz zurück und putzte mir erst mal die Nase. „Was für eine Aufregung sagte ich und mußte über mich selbst lachen. Ein warmes Glücksgefühl durchströmte mich. Es war schön zu wissen, daß sie mich alle mochten. Finchings war für mich zu einer zweiten Heimatgeworden. Und in vieler Hinsicht hatte ich dort mehr Liebe erfahren als in meinem wirklichen Zuhause. „Was ist denn in deinem Päckchen?" fragte Jim, wohl um mich abzulenken. Ich riß das Papier auf. Zum Vorschein kam eine kleine Schachtel, die mit goldenen Glocken und Bändern bedruckt war und ein Stück mit Zuckerglasur überzogenen Früchtekuchen enthielt. In England ist es Brauch, Verwandten und Freunden ein Stück von der Hochzeitstorte zu schicken. Eine Karte lag dabei mit der Aufschrift: „Mit den besten Wünschen von Mark und Jackie Field." Ich starrte das Tortenstück an. Noch vor ein paar Wochen hätte ich mir daran wahrscheinlich die Hand verbrannt wie an glühenden Kohlen. Jetzt lag es vor mir und war für mich nichts weiter als eben ein Stück trockener Früchtekuchen. „Hast du Hunger?“ fragte ich Jim. - 154 -
Er sah mich kurz von der Seite her an. „Ich bin nicht besonders wild auf Früchtekuchen." „Ich auch nicht." Ich machte die Schachtel wieder zu. „Was soll ich damit?" „Plod frißt so was für sein Leben gern." „Wunderbar. Dann gib es ihm mit den besten Wünschen von Mark und Jackie Field." Wir lachten beide, und ich stopfte Jim die Schachtel in seine Jackentasche. „Wann kommst du, um meinen Vater kennenzulernen?" fragte ich.. „Ich könnte übernächstes Wochenende kommen, aber ich bilde mir nicht ein, daß er begeistert davon ist. Er glaubt doch sicher, du seist noch etwas zu jung für einen festen Freund, oder?“ Ich verdrehte den Hals, um einen letzten. Blick auf das funkelnde Meer zu werfen, bevor wir endgültig landeinwärts abbogen. „Kann schon sein, aber er wird sich daran gewöhnen müssen." „So sehe ich es auch", antwortete Jim. ,,Alle werden sich daran gewöhnen müssen."
- ENDE -
- 155 -