Thomas Hax-Schoppenhorst
Wenn die Seele Achterbahn fährt Krisensituationen von Jugendlichen erkennen und verstehen
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Immer mehr Jugendliche leiden an Ängsten, Essstörungen oder Depressionen. Sie leiden besonders unter instabilen Beziehungen, Werteverlust und wirtschaftlichen Problemen der heutigen Welt. Dieses Buch hilft Eltern und Lehrern, die Ursachen für Krisen zu erkennen und mit Verständnis darauf zu reagieren. ISBN: 3-7975-0105-6 Verlag: Neukirchener Verlagshaus Erscheinungsjahr: 2005 Umschlaggestaltung: Hartmut Namislow
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Der Schritt in das Erwachsenendasein wird zunehmend für viele Jugendliche zum Problem. Ökonomische Konflikte, Arbeitslosigkeit, instabile Beziehungen in den Familien und der Verlust verbindlicher Werte führen zu Orientierungslosigkeit und sogar Krankheit. Ärzte und Psychologen melden steigende Zahlen von jungen Menschen, die z.B. unter Ängsten, Depressionen und Essstörungen leiden; in den Schulen gefährdet eine zunehmende Gewaltbereitschaft von Schülern einen reibungslosen Unterricht. Eltern sowie Lehrer stehen dieser Entwicklung häufig hilflos gegenüber. Das Buch stellt verständlich aktuelle Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie und Jugendpsychiatrie vor und vermittelt einen Einblick in Symptome bzw. Ursachen von Krisen im Jugendalter. Leserinnen und Leser erhalten wertvolle Hinweise und gelangen so zu mehr Verständnis für die Betroffenen.
Autor Thomas Hax-Schoppenhorst ist seit 1987 pädagogischer Mitarbeiter an den Rheinischen Kliniken in Düren; Dozent für Entwicklungspsychologie an der dortigen Fachschule für Ergotherapie; Autor mehrerer Sach- und Fachbücher.
Thomas Hax-Schoppenhorst
We n n d i e S e e l e Achterbahn fährt Krisensituationen von Jugendlichen erkennen und verstehen
NEUKIRCHENER VERLAGSHAUS
© Neukirchener Verlagshaus 2005 Verlagsgesellschaft des Erziehungsvereins mbH, Neukirchen-Vluyn Umschlaggestaltung: Hartmut Namislow Gesamtherstellung: Fuck Druck, Koblenz Printed in Germany ISBN 3-7975-0105-6 Best.-Nr. 600.105
Inhalt Einleitung ............................................................................ 7 1 Pubertät und Adoleszenz ................................................. 13 2. Jugend in Deutschland – eine Übersicht .................... 23 3 Wie gesund sind unsere Jugendlichen? ....................... 35 4 Psychische Probleme und Auffälligkeiten................... 39 5 Achterbahnfahrten der Seele ....................................... 51 5.1 Eine leise Krankheit – die Depression ...................... 52 5.2 Kalter Schweiß und Herzrasen – die Angst .............. 75 5.3 Zu wenig, zu viel, unkontrolliertdie Essstörung ....... 99 5.3.1 Die Magersucht ................................................ 102 5.3.2 Die Ess-Brech-Sucht ......................................... 113 5.3.3 Übergewicht oder Adipositas ........................... 120 6 Dazugehören, vergessen – Jugend und Alkoholkonsum .......................................................................................... 147 7 Möglichkeiten der professionellen Hilfe.................... 158 8 Ausblick – ein Plädoyer für eine Sinn stiftende Kindheit........................................................................... 162 Literatur .......................................................................... 165
Einleitung Am 29. April 2005 berichtet die Aachener Lokalpresse von dem tragischen Freitod des 13 Jahre alten Siebtklässlers Jakob. Dieser hatte sich wenige Tage zuvor im Elternhaus erhängt. Jakob hinterließ keinen Abschiedsbrief; Eltern, Lehrer sowie Mitschüler reagieren fassungslos, sprachlos. „Lieber Jakob, warum hast du das getan? Was ging in deinem Kopf und deinem Herzen vor?“ Fragen wie diese und andere sind auf einer Gedenktafel an der Schule zu lesen. Am Rande der Bolzwiese des Schulhofes, auf der Jakob in den Pausen mit seinen Freunden Fußball spielte, pflanzen Klassen- und Schulkameraden einen jungen Kirschbaum. Seine Klasse 7b verabschiedet sich in einer Todesanzeige mit ergreifenden Worten: „Jakob, dein Lachen werden die Sterne im Himmel sein. Jakob, du schickst uns die Sonne auf die Erde. Jakob, dein Mond zeigt uns in der Nacht den Weg.“ Der Direktor des angesehenen Gymnasiums, das Jakob ohne größere Probleme besuchte, ringt um eine Erklärung, findet sie letztlich jedoch nicht: kein Liebeskummer, kein zerrüttetes Elternhaus, keine Versagensängste, kein Mobbing, keine Drohung; Jakob war intellektuell und mit seinem Frohsinn mehr als integriert. „Er verhielt sich in und nach der Schule ganz normal und war wie immer“, resümiert der erfahrene Pädagoge. Die Mutter kann in ihrer Trauer nur feststellen: „Natürlich hatte Jakob Probleme wie jeder andere pubertierende 13-jährige auch. Wir haben versucht, ihm Wege aufzuzeigen.“ Im Vorfeld der Trauerfeier nährt ein Zitat von Jakob weitere Spekulationen: „Das Schlimmste, was es gibt, ist der Tod. Aber der ist auch nicht schlimm.“ Das Gefühl, das 7
Unerklärbare dennoch erklären zu wollen, löst Empfindungen von Ohnmacht und Verzweiflung aus. Die Worte des Religionslehrers auf der Gedenkfeier stellen einen Versuch dar, auf ein Leben nach dem Tod von Jakob vorzubereiten: „Ein Stück der Tiefenstruktur, an der wir zu diesem Anlass mit den Schülerinnen und Schülern arbeiten, ist die, dass es im Leben und Alltag Situationen gibt, die unerklärbar sind und bleiben. Dieser Ansatz steht gewissermaßen im Gegensatz zur Schule – dort und auch sonst lernen wir ja, in Kausalitäten zu leben und zu denken. Wir fragen nach unserer Mitverantwortung, spüren, dass das Leben weitergeht. Wir wissen aber nicht, wie – ohne Jakob.“ 250 Kinder und Jugendliche nehmen Abschied von Jakob, darunter auch die Schwester und der Bruder aus den Klassen 10 und 11. Ein Lied der „Toten Hosen“ wird eingespielt – jenes Lied, das Jakob auch bei seinem Freitod auflegte. Nachrichten wie diese werden uns fast täglich über die Medien mit höchst unterschiedlichen Motiven präsentiert; häufig ist Sensationsgier die treibende Kraft. In diesem speziellen Fall war jedoch der Berichterstattung eine intensive Absprache mit den Eltern des Jungen vorausgegangen. Ein solches Vorgehen zeugt von Seriosität der Redaktion und von dem nachvollziehbaren Bedürfnis der Eltern, dass über diese Tragödie nach Möglichkeit mit Respekt und großer Sachlichkeit berichtet wird. Folgerichtig rückt die Zeitung dann auch das lokale Ereignis in einen beklemmenden bundesweiten Kontext: Den alarmierenden Zahlen zum Trotz gilt der Freitod von Kindern bzw. Jugendlichen als Tabuthema. Die Hans-Weinberger-Akademie in München berichtet, dass sich in Deutschland täglich drei Kinder und Jugendliche umbringen; die Zahl der Suizidversuche ist mit 40 noch weit höher, und die Zahl der Dunkelziffer wird um ein 8
Vielfaches größer geschätzt, weil Eltern aus Angst vor Schuldzuweisung den Selbstmord als Unfall hinstellen. Als häufigste Ursachen von Freitod nennt die Akademie Vernachlässigung, Misstrauen, ständige Kritik, Angst fördernde Erziehung, zu hohe Leistungserwartung sowie gestörte Familienverhältnisse. Jakobs früher Tod stellt die schlimmstmögliche Wendung im Verlauf von Krisen dar. Wenn auch nicht alle mit dem Freitod der Betroffenen enden, so sind jüngste Meldungen über Ausmaß und Verlauf von seelischen Notlagen junger Menschen alarmierend. Der Trend ist eindeutig steigend. Bereits nach dem 9. Jugendmedizinkongress 2003 in Weimar wandten sich die Verantwortlichen mit ernüchternden Erkenntnissen an die Öffentlichkeit: Während ca. 80 % der Jugendlichen die für die Phase der Pubertät typischen Befindlichkeiten überwinden, ohne krankhafte Störungen zu entwickeln, können bei fast 20 % der Jugendlichen Störungen beschrieben werden, die oft zu erschreckenden Resultaten führen. Im Juni 2005 schlug die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Alarm, da Jugendliche in Deutschland immer mehr Alkohol trinken. Der durchschnittliche Alkoholkonsum zwischen 12 und 15 Jahren ist zwischen 2001 und 2004 um fast die Hälfte auf knapp 21 Gramm gestiegen. Mehr als ein Drittel der Jugendlichen von 12 bis 25 Jahren praktiziert sogar regelmäßiges Rauschtrinken, bei dem mindestens fünf Gläser nacheinander getrunken werden. Das Durchschnittsalter für den ersten Alkoholrausch liegt bei 15,5 Jahren. Damit nimmt Deutschland einen traurigen vierten Platz im europäischen Vergleich ein. Junge Menschen in Deutschland rauchen und trinken zu viel, sie sind häufig entschieden zu dick, sie zeigen sich in zunehmendem Maße aggressiv bzw. gewaltbereit. Die Praxen von Kinder- und Jugendpsychiatern, die in der Regel 9
immer noch deutlich zu spät aufgesucht werden, klagen über Termindruck, und schließlich gewinnen Beobachter den Eindruck, dass die Liste möglicher Auffälligkeiten und Störungen immer länger wird; diese reicht von A wie Angststörungen und Anorexie bis hin zu Z wie Zwangsstörungen. Der Seelenfrieden einer beträchtlichen Zahl von Jugendlichen ist in Gefahr – die Seele von Millionen fährt Achterbahn. Ein Entwicklungspsychologe aus Köln bezeichnete einmal provokativ das Jugendalter als schlimmste Krankheit. Auf eindringliche Weise wollte er darauf aufmerksam machen, dass speziell der Übergang zum Erwachsenwerden von Gefahren und Irritationen überschattet ist. Unter sich ständig ändernden gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben Jugendliche ein immenses Maß von Entwicklungsaufgaben zu absolvieren. Verbunden mit den sie nicht minder fordernden und verunsichernden körperlichen Reifungsprozessen müssen sie sich neu positionieren. Während ältere und alte Menschen bittere Klagen führen über die Unzuverlässigkeit der heutigen Jugend und rückblickend die eigene Jugend verklären, zeigt sich eine wachsende Zahl von Jugendlichen weniger begeistert von der vermeintlich schönsten Zeit des Lebens. Verhaltensauffälligkeiten und seelische Störungen können verstanden werden als Reaktion auf gescheiterte oder aktuell scheiternde Anpassungsprozesse in der Phase von Pubertät bzw. Adoleszenz. Dieses Buch will etwas mehr Licht ins Dunkel bringen und somit Interessierte – Eltern, Pädagogen oder in der Jugendarbeit Tätige – mit aktuellen Erkenntnissen aus der Entwicklungspsychologie bzw. der Jugendpsychiatrie vertraut machen. Dabei wäre es überhaupt nicht zu leisten, einen kompletten Überblick über alle zu beobachtenden Auffälligkeiten oder Störungen zu geben; vielmehr sollen jene 10
schwerpunktmäßig ausführlicher dargestellt werden, die in den Medien und in der Fachpresse immer wieder Erwähnung finden, somit von besonderer Relevanz sind. Es handelt sich hierbei um Depressionen, Angststörungen, Essstörungen und aggressives bzw. gewaltbereites Verhalten bei Jugendlichen. Bevor jedoch gezielt auf Symptome und mögliche Reaktionen eingegangen werden kann, ist es unerlässlich, die Rahmenbedingungen zu klären. Dies bedeutet, dass sich Leserinnen und Leser zunächst mit den Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen sowie den aktuellen Einflüssen bzw. Veränderungen vertraut machen sollten, die im Kontext Jugend und Familie von Bedeutung sind. Eine intensive Auseinandersetzung hiermit bildet die Grundlage für ein tiefer gehendes Verständnis von Krisen im Jugendalter. Gegen Ende des Buches wird noch in besonderer Weise ein von Beginn an zum Scheitern verurteilter Versuch thematisiert, Krisen in den Griff zu bekommen: Das Problem des Jugendalkoholismus steht mit Blick auf Möglichkeiten der Prävention im Mittelpunkt der Darstellung. Schon der berühmte Entwicklungspsychologe Erik H. Erikson verwies sinngemäß mit Nachdruck darauf, dass der Jugendliche im Idealfall Anerkennung, Wertschätzung und Förderung aller Kompetenzen erfährt, für die in der früheren und späteren Kindheit mit Liebe, Kreativität und aller Energie durch die Halt, Orientierung und Struktur gebenden Bezugspersonen, an erster Stelle die Eltern, die Grundsteine gelegt wurden. Ein kurzes Plädoyer für eine Verständnis, Zuspruch gewährende und Neugier nicht unterbindende Kindheit bildet daher den folgerichtigen, konsequenten Abschluss. Schließlich sei auf ein Definitionsproblem hingewiesen: Der Jugend geht bekanntlich die Kindheit voraus. In der umfangreichen Literatur finden sich sehr verschiedene 11
Sichtweisen; mal ist von der späten Kindheit die Rede, die andere Autoren wiederum als frühe Jugend bezeichnen. Die Grenzen sind fließend. Die Gewissheit, dass jedwede Schematisierung bzw. Skalierung mitunter mehr Fragen als Antworten mit sich bringt, sei zu Beginn Leserinnen und Lesern mitgeteilt. Zur Wahrung der Übersichtlichkeit werden daher Altersangaben als Orientierungsgrößen verstanden und Schnittstellen klar benannt. Die Entwicklung von psychischen Krisen bei Jugendlichen kann unmittelbar, wie bereits erwähnt, mit dem Erleben der Spannungen und Konflikte in dieser Entwicklungsphase und mit den massiven gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zusammenhängen. Es wäre aber als kurzsichtig zu bezeichnen, vorausgegangene Ereignisse außer Acht zu lassen. Daher wird besonders im Zusammenhang mit Erklärungsversuchen auf Aspekte der Säuglingsforschung und der Kindheit ausdrücklich und auch ausführlich eingegangen.
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1 Pubertät und Adoleszenz Über diese Phase in der Entwicklung junger Menschen wird hinreichend gelästert und gescherzt. Eltern tauschen sich mit blumigen Worten über die großen Herausforderungen aus, die das Zusammenleben mit einem pubertierenden Kind mit sich bringt, Lehrerinnen und Lehrer betreten gleich zu Beginn des Unterrichts sichtlich angespannt jene Klassen, in denen pubertierende Jugendliche oft genug den Ton angeben und das Lernklima gefährden. Die unschöne Vokabel vom Zickenalarm ist in aller Munde und beweist wenig Verständnis für die anstehenden Veränderungen im Leben eines jungen Mädchens. Die Pubertät steht gewissermaßen in schlechtem Ruf. Dieser resultiert aus den oftmals heftigen Erlebnissen und Erfahrungen, die mit der Zeit verbunden sind, in der die Kinder wachsen und die Erwachsenen schwieriger werden, wie immer wieder scherzend angemerkt wird. Aus der Distanz betrachtet stellt sich die Pubertät jedoch als Zeitraum tief greifender biologischer, psychologischer und sozialer Veränderungsprozesse dar. Von der Adoleszenz spricht man, indem man nicht nur auf das Ereignis der Pubertät abzielt, sondern eine zeitlich länger gestreckte Phase einer Altersgruppe im Blickfeld hat, die in der Umgangssprache unter dem Begriff Jugendliche zusammengefasst wird. In der Literatur herrscht folgende Definition der Adoleszenz nach dem Alter vor: frühe Phase mittlere Phase späte Phase
10./11. – 14. Lebensjahr 14. – 16./17. Lebensjahr 16./17. – 21. Lebensjahr
Die körperlichen Entwicklungsprozesse in der Pubertät sind 13
mannigfaltig. Während einer Periode von ca. 2 – 4 Jahren kommt es zu einem deutlichen Wachstumsschub. Die sexuelle Reifung zeigt sich bei Mädchen mit dem Wachstum der Gebärmutter, der Brustentwicklung, der Schambehaarung und dem Eintreten der ersten Regelblutung. Allgemein wird davon ausgegangen, dass die Pubertät bei Mädchen früher einsetzt als bei Jungen. Bei diesen ist die Pubertät etwas schwerer definierbar. Mit der Größenzunahme der Hoden beginnt die Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale, dann folgen Schambehaarung und Peniswachstum; das Erwachen des sexuellen Verlangens, der Stimmbruch und die Bildung reifer Samenzellen sind weitere Merkmale der Reifung bei Jungen. Grundsätzlich gilt, dass die Pubertät sich deutlich früher ereignet als noch vor hundert Jahren, als sie noch im Mittel drei Jahre später einsetzte. „Wenn eine unbekannte Lebenslust erwacht. Wenn einem das Leben mal offen, mal verschlossen erscheint und die Zeit bald rasend schnell vergeht, bald schleicht und wenn man kichern kann wie nie zuvor, dann steckt man drin: in der Pubertät. Nicht mehr Kind, noch nicht erwachsen.“ (Text aus einer Wandzeitung einer Dürener Schule) Die Pubertät ist also als längere und zudem differenzierte Phase mit zeitlich offenen Grenzen zu verstehen. Hierbei sind die mit den physiologischen Entwicklungsschüben verbundenen sozialen und psychischen Prozesse nicht punktuell anzugeben, da die jeweiligen Rahmenbedingungen und das individuelle Erleben höchst unterschiedlich ausfallen. Fest steht, dass mit Beendigung der unmittelbaren Pubertät deren emotionale Folgen keineswegs als bewältigt gelten dürfen. 14
Was aber macht die Pubertät zu einer emotional höchst belasteten und zugleich belastenden Zeit? Es ist nicht nur die Zeit der intensiven Auseinandersetzung mit den körperlichen Veränderungen, es ist vielmehr auch der Beginn des sich zögerlich gestaltenden und von großen Hindernissen versperrten Wegs in die Welt der Erwachsenen. Die anstehenden Veränderungen und der Abschied von der Kindheit sind verstandesmäßig nur schwer zu integrieren. Um als unabhängiger und selbstständiger zu gelten, müssen Jugendliche sich nach und nach von ihren Eltern, ihren ehemals wichtigsten Liebesobjekten, lösen. Es kann zu demonstrativer Gleichgültigkeit gegenüber den Eltern und sogar zur Herabsetzung dieser als unnütz und unfähig kommen. Die Pubertät ist die Phase der Gefühlslabilität und des Protestes; Empfindlichkeit wird von übertriebener Selbstkritik abgelöst. Kinder zeigen sich aus der Sicht der Erwachsenen als bockiger, zerstörerischer, grausamer, rücksichtsloser, unmoralischer und schmutziger. Sie zeigen auf diese spektakuläre Weise, dass sie im Begriff sind, anders zu werden; zugleich ist ihr bemängeltes Verhalten nicht selten eben Ausdruck von Verunsicherung und gleichzeitig erlebter Aufbruchsstimmung. Mit der gesteigerten Selbstwahrnehmung bei der Veränderung des Körperbildes fühlen sich Jugendliche beunruhigt, ein verstärktes Schamgefühl setzt ein, das Intimitätsbedürfnis nimmt zu. Oft wird der Körper als peinlich empfunden, die Betroffenen zeigen sich unsicher, ob und wie sie auf ihre Umgebung wirken. Die Ambivalenz zwischen Ablehnung und Annahme der eigenen Körperlichkeit kann zu tragischen Versuchen der Veränderung des Körperbildes führen (Pubertätsmagersucht, s. u.). Generell ist festzuhalten, dass Jungen zumindest die körperlichen Veränderungsprozesse in der Pubertät weniger 15
dramatisch erleben als Mädchen. Jungen haben offensichtlich seltener Einbrüche in ihrem Selbstwertgefühl und werden in Bezug auf ihre körperliche Erscheinung weniger verunsichert. Während Jungen häufig mit Stolz auf die Entwicklung eines männlichen Körpers reagieren, hadern Mädchen mit der eintretenden Gewichtszunahme und mit dem Umbau des Körpergewebes mit mehr Fetteinlagerungen. Jungen und Mädchen erleben also die Krise des Heranwachsens aus unterschiedlichen Blickwinkeln, zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichen Ausdrucksformen. Während zum Beispiel Essstörungen, willentlich herbeigeführte Körperverletzungen (Ritzen) und allgemein depressive Reaktionen bei Mädchen und jungen Frauen überwiegen, sind Alkoholkonsum, Aggressionen bis hin zu Gewalt oder selbst- und fremdgefährdendes Fahrverhalten eher bei Jungen und jungen Männern zu finden. Für die Gestaltung eines eigenen Lebensentwurfs bekommen die Beziehungen zu Gleichaltrigen bis zur Aufnahme von Intimbeziehungen in der späteren Adoleszenz eine besondere Bedeutung. Die Begegnung mit anderen Jugendlichen gestattet ein Ausloten von Rollen- und Identitätsmustern. Solche Beziehungen gestalten sich jedoch nicht immer konflikt- und risikofrei: Das Gefühl, zu der von den Medien so oft propagierten informellen Jugend-Kultur am Ende doch nicht dazuzugehören, von ihr ausgegrenzt zu sein, kann als bedrückend und gar bedrohlich erlebt werden. Mit der Hinwendung zu Leitfiguren wie Sportlern, Schauspielern oder Idolen der Popkultur dokumentieren junge Menschen ihren Willen, sich anderen – häufig auch die Autorität von Eltern und Lehrern in Frage stellenden – Lebensentwürfen zu öffnen und ihre Träume von einem Leben in Autonomie und Wohlergehen zuzulassen. Hierbei erleben sie Allmachtsphantasien und zugleich den Wunsch nach Grenzerfahrungen. 16
Schließlich ist die Entwicklung eigener moralischer Werte von großer Wichtigkeit: Häufig wollen Jugendliche alles besser machen, was zu hitzigen Debatten mit Älteren über Pseudomoral, Korruption und Verlogenheit führen kann. Bereits im Übergangsraum zum Jugendalter absolvieren Kinder wichtige Entwicklungsaufgaben (Erwartungen und Anforderungen an Personen einer bestimmten Altersgruppe), die ihnen den Weg in die zunehmende Verselbstständigung ebnen: • In der Gestaltung des Alltags, in der Organisation individueller Freizeit, im Umgang mit dem Taschengeld und auch in der Gestaltung der Beziehung zum anderen Geschlecht (der erste Besuch in der Diskothek, der erste Kuss) werden erste erfolgreiche Gehversuche absolviert. • Mit neuen außerfamiliären Kontakten kann ein zunehmendes Maß an sozialer Selbstständigkeit erreicht werden. • Durch die Entwicklung erster, zaghafter Vorstellungen vom eigenen Leben und die Suche nach dem zukünftigen Platz in der Gesellschaft erhöht sich der Grad allmählich wachsender Individualität. Das beginnende Jugendalter ist dabei zugleich gekennzeichnet durch die Zuwendung zur eigenen Person, die gewissermaßen als Ausleuchten und Kennen lernen des sich verändernden Wesens von Innen zu interpretieren ist. Dabei nimmt die Blickwendung auf die eigene Persönlichkeit bei Mädchen bereits vom 12. Lebensjahr an stark und kontinuierlich zu. Jungen zeigen sich in dieser Innenwendung deutlich zurückhaltender. Wohnort, soziale und geografische Herkunft, Geschlecht, die besuchte Schulform, der soziale Status und das Alter nehmen maßgeblich Einfluss auf Verlauf und Ergebnis die17
ser Entwicklungsaufgaben, die in der späteren Jugendphase umfangreicher und (noch) schwieriger werden. Zu betonen ist, dass es fast generell zu einer Krise unterschiedlicher Dimension zwischen Schule und Heranwachsenden kommt. Der junge Mensch erkennt, dass Veränderungen unausweichlich sind, er nimmt die Anpassungsleistung, die ihm nun über einen langen Zeitraum abverlangt wird, als Chance und Irritation zugleich. Als besonders gravierend wird zweifelsfrei die sich anbahnende Aufgabe des vollständigen und von beiden Seiten akzeptierten Abhängigkeitsverhältnisses materieller, emotionaler und sozialer Natur zu den Eltern erlebt. Dieses war bislang durch einen uneingeschränkten großen, steuernden und kontrollierenden Einfluss durch die Eltern auf das Leben der Kinder geprägt. Mit diesem kurzen Überblick dürfte deutlich geworden sein, dass Pubertät und Adoleszenz in der Tat zu den bewegenden, irritierenden und zugleich herausfordernden Lebensabschnitten gehören. Keinem Lebensabschnitt fehlt es an Chancen und auch Krisen, jedoch gilt dem Abenteuer Jugend völlig zu Recht mittlerweile und endlich höchste Aufmerksamkeit, denn mit der Frage nach den Chancen und Gefahren im Jugendalter beschäftigen sich Eltern wie Lehrerinnen und Lehrer zwangsläufig auch mit der Frage nach der Zukunft unserer Gesellschaft. Der Körper heranwachsender Menschen wird in der Literatur als Bühne bezeichnet, auf der Konflikte, Spannungen und ungeklärte Fragen inszeniert werden. So erstaunt es nicht, dass einerseits Jugendliche zur Somatisierung von bewussten oder unbewussten emotionalen Problemen neigen (z. B. Spannungskopfschmerzen, Magenbeschwerden, Rückenschmerzen und undefinierbare Bauchschmerzen), dass aber auch andererseits unmittelbare seelische Störungen bzw. auffälliges Verhalten zunehmen und als Reaktion und Hilferuf verstanden werden. 18
Studien haben deutlich gezeigt, dass nicht unbedingt von einer gravierenden Labilisierung in Verhalten und Seelenleben der älteren Kinder die Rede sein kann; die meisten von ihnen weisen sogar noch eine Festigung der individuellen Selbstwahrnehmung und Selbstzufriedenheit bei Kindern zwischen 12 und 14 Jahren auf. Andererseits ist zu belegen, dass sich bei Mädchen ab dem 13. Lebensjahr nach und nach eine Destabilisierung von emotionaler Selbstkontrolle und das Abnehmen der individuellen Selbstakzeptanz herauskristallisieren kann; bei Jungen ist eine solche kritische Wende erst mit einer Verzögerung von ca. zwei Jahren zu beobachten. Emotionale Selbstkontrolle und individuelle Selbstakzeptanz sind, wie später ausführlich darzustellen sein wird, Schlüsselbegriffe bei der Beantwortung der Frage, wie es zu psychischen Störungen in dieser Altersphase kommen kann. „Die Kindheit und die Jugend gibt es nicht. Beide sind durch gesellschaftliche Zuordnung zu sozialen Schichten, zu Regionen, zu Jugendkulturen, zu gesellschaftlichen Moden und durch oft recht unterschiedliche Verhaltensmuster sowie psychosoziale Faktoren definiert. Endet das Kindsein mit der ersten Menstruation oder den ersten nächtlichen Samenergüssen? Endet Jugend mit 18 oder 21 Lebensjahren? Früher konnten 21 – 23-jährige Erwachsene auf eine abgeschlossene Berufsausbildung zurückblicken, hatten eine bereits stabilisierte politische Weltanschauung und zumindest begonnen, eine stabile Partnerschaft oder Ehe einzugehen. Heute ist vieles offener und unabgeschlossener. Ausbildungen dauern länger, sind bezogen auf das mögliche Berufsziel unsicherer geworden. Das lebenslange Lernen setzt sich wirklich durch ( … ) Einerseits werden bestimmte Bedürfnisse von Kindern 19
und Jugendlichen ignoriert (z. B. im Wohnbau, im Straßenverkehr), andererseits erleben wir die totale Kommerzialisierung der Kinder und Jugendlichen durch die Wirtschaft. Einerseits ging es den Kindern und Jugendlichen noch nie so gut wie heute ( … ), andererseits tauchen neuartige psychosomatische und psychosoziale Krankheiten und Beschwerden auf. ( … ) Einige besonders sensible Kinder und Jugendliche reagieren auf alle diese entwicklungsgefährdenden Faktoren mit einer Art von ’Diktatur der Bedürftigkeit’, flüchten in Traumwelten oder verschaffen sich durch Clownereien, Radau, Aggression und Gewalt sowie durch andere Formen auffälligen Verhaltens Luft.“ (Dr. Klaus Volker) Wieso aber zeigen sich gerade an dieser Nahtstelle zwischen familiärer Geborgenheit bzw. Orientierung und dem wachsenden Freiraum junger Menschen Brüche und Gefährdungen? Wieso scheint ein Prinzip, das über Jahrzehnte mehr oder minder reibungslos funktioniert hat, nicht mehr so reibungslos zu funktionieren? Es hängt offensichtlich damit zusammen, dass die Verunsicherung schon längst Einzug gehalten hat in ein System, das heftigen Turbulenzen ausgesetzt zu sein scheint: die Familie. Familien sind im Wandel! Tendenzen der Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen haben in unserer Gesellschaft zu einer Art Wettstreit zwischen der traditionellen Lebensform Ehe und Familie und anderen, kinderlosen Lebenszusammenhängen geführt. Es gilt festzuhalten: • Die Zahl der Geburten geht stetig zurück. Die Klage über eine Vergreisung unserer Gesellschaft ist in aller Munde. • Immer mehr Ehen in Deutschland werden geschieden. • Die Heiratshäufigkeit nimmt ab. 20
• Die Zahl der Kinder, die nicht in einer klassischen Familie leben (Vater, Mutter und leibliche Kinder) hat stark zugenommen, viele davon werden nur von einem Elternteil betreut. • Gerade Familien mit mehreren Kindern und Alleinerziehende sind ökonomisch stark belastet. • Kinder können unter bestimmten Umständen ein Armutsrisiko für die Erwachsenen darstellen; die Kinder selbst sind diesem Risiko ausgesetzt – ca. 15 % der Kinder in Deutschland leben in Armut. Am meisten betroffen sind die Kinder, die in Ein-Elternteil-Familien leben. • Die sozialökonomisch Schwachen werden zunehmend von Arbeit, Bildung und Gesundheit ausgeschlossen. Momentan sind fast fünf Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos. Somit leben wir derzeit in der bedenklichen Situation, dass sich zu der Irritation, die zweifelsfrei neben allen positiven Begleiterscheinungen jeden Jugendlichen in der langen Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenstatus ereilt, die Irritation vieler Eltern gesellt. Kritiker bemängeln, dass die Familie das bringen und ersetzen soll, was im gesellschaftlichen Leben nicht (mehr) erreichbar scheint: soziale Bindung und sozialen Rückhalt, Gegenseitigkeit und existenzielles Vertrauen. Damit steht die Familie heute unter einem erhöhten Druck; Belastungen der Einzelnen sollen kompensiert werden, was jedoch viele Familien überfordert. Pubertät bzw. Adoleszenz sind Entwicklungsphasen, die – unabhängig von den jeweiligen Rahmenbedingungen – in besonderer Weise von den Erwachsenen mit Wachsamkeit und Sensibilität begleitet werden sollten. Jede Form der Destabilisierung der Eltern muss als Gefährdung des bitter nötigen Dialogs zwischen Heranwachsenden und Erwachsenen gelten. Um aber nicht die schwindende Sicherheit nur 21
jenen anzulasten, die in ökonomischer Hinsicht in Bedrängnis geraten sind: Die Flucht in die vermeintlichen Segnungen des Materiellen stellt eine ganz andere, unter Umständen nicht weniger problematische Verunsicherung dar; der haltlose Konsum ist vielfach Ausdruck eines sinnentleerten Lebens. Auch diese Form des Vorbilds bietet jenen wenig Schutz, die Unterstützung, Verständnis und Wohlwollen suchen.
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2. Jugend in Deutschland – eine Übersicht Was meinen wir konkret, wenn von der Jugend in Deutschland die Rede ist? Das Deutsche Jugendinstitut in München lieferte im Jahre 2002 diesbezüglich interessante und aufschlussreiche Hintergründe. In Deutschland leben derzeit ca. 15 Millionen Jugendliche unter 18 Jahren, davon sind ca. 11 Millionen unter 14. Erweitert man die Zahl um alle, die noch bei ihren Eltern leben, so kommt man auf gut 21 Millionen ledige Kinder, Jugendliche und Heranwachsende, die in ca. 12 Millionen Familienhaushalten leben. Ungefähr 80 % leben mit ihren beiden Eltern zusammen, die miteinander verheiratet sind (aber nicht in allen Fällen die leiblichen Eltern sind); jedes fünfte Kind lebt mit einem einzelnen Elternteil zusammen. Rund 5 % der Eltern sind geschieden; viele von ihnen haben wieder geheiratet. Ca. 850000 Kinder und Jugendliche unter 18 haben einen Stiefvater bzw. eine Stiefmutter; die Zahl der Stiefkinder entspricht etwa 6 % der jugendlichen Bevölkerung unter 18 Jahren. Während 40 % der Alleinerziehenden in relativer Armut leben, verfügen viele Kinder und Jugendliche über so viel Geld, dass sie in der Welt des Konsums wie Erwachsene auftreten und als solche anerkannt werden. Beispielsweise stellte das Münchener Marktforschungsinstitut iconKids & youth noch im Frühjahr 2005 fest, dass Kinder und Jugendliche pro Jahr 2,5 Milliarden Euro für ihre Handys ausgeben; allein 190 Millionen Euro entfallen dabei auf das Herunterladen von Spielen und Klingeltönen. Am meisten Geld investieren die jungen Menschen zwischen 6 und 19 Jahren allerdings mit 3,4 Milliarden Euro in 23
Bekleidung und modische Accessoires. Für das Ausgehen geben sie 2,3 Milliarden Euro aus. Trotz der andauernd schwierigen Konjunkturlage haben nach Einschätzung des Instituts Kinder und Jugendliche immer mehr Geld zur Verfügung. Ihnen standen im laufenden Jahr 19 Milliarden Euro zur Verfügung – etwa 600 Millionen Euro mehr als im Jahr 2004. Das Institut verschwieg aber auch nicht Aspekte einer sich entwickelnden Zwei-Klassen-Gesellschaft: 10 % der Kinder bzw. Jugendlichen im Alter zwischen 10 und 14 Jahren bekommen kein regelmäßiges Taschengeld. Das Deutsche Jugendinstitut sieht zwei Ströme in der aktuellen Entwicklung: Einerseits haben viele Jugendliche mehr und bessere Möglichkeiten, ihre Pubertätsphase gut zu bewältigen, andererseits sehen sich viele mit Anforderungen konfrontiert, die frühere Jugendgenerationen in dieser Form nicht kannten. Die Verschlechterung der ökonomischen Lage macht den dort tätigen Forschern eher mehr Kopfzerbrechen als zum Beispiel die aktuellen Scheidungstrends. „Die Gewinnung der Identität wird als der Kernkonflikt des Jugendalters verstanden, denn das von der Gesellschaft angebotene Weltbild wird systematisch nach seiner Deutungsleistung abgefragt, wobei Defizite und Leerstellen, Widersprüche und Ambivalenzen Ausgangspunkt und Auslöser für heftige Orientierungs- und Selbstwertkrisen sein können. Die Suche nach der eigenen Identität ist somit ein phasenspezifisches Charakteristikum des menschlichen Entwicklungsprozesses, das in der gegebenen Form typisch und charakteristisch für das Jugendalter ist und in der Regel in dieser Form auch nur im Jugendalter auftritt.“ (Werner Stangl) Dass sich die Grenzen zwischen Kindheit und ErwachsenSein im Laufe der letzten Jahrzehnte verschoben haben, 24
zeigt sich im besonderen Maße auf dem Gebiet der Sexualmoral. Eine Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung lässt diesbezüglich klare Schlüsse zu: Zwei Drittel der Jungen und fast die Hälfte der Mädchen unter den Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 17 Jahren haben bereits Masturbationserfahrungen; drei Viertel der Befragten beider Geschlechter haben den ersten Kuss schon mit 12 bis 13 Jahren erlebt. Die Zahl der Jugendlichen, die bereits Geschlechtsverkehr hatten, verdoppelt sich mit jedem Lebensjahr – von den 14-jährigen Mädchen und Jungen sind es 7 %, von den 15-jährigen 15 %, von den 16-jährigen 30 %, von den 17-jährigen Jungen 59 % und von den gleichaltrigen Mädchen schon 65 %. Wurden die Eltern- und Großelterngenerationen also noch streng unter dem Gebot des vorehelichen Sexualverbots erzogen, zeigen sich Erziehende in diesen Fragen freizügig bzw. verständnisvoll. „Zudem muss berücksichtigt werden, dass Kinder heutzutage eher reif werden als noch vor wenigen Jahrzehnten. Spätestens mit Ende der Grundschulzeit sind sie im herkömmlichen Sinne Jugendliche – das allerdings bleiben sie dann unter bestimmten und auch sehr neuen Bedingungen sehr lange Zeit. Diese deutliche Verkürzung einer Kinderzeit, wie sie sich in zahlreichen sowohl somatischen als auch psychischen Befunden dokumentiert, bedeutet, dass Eltern und Erzieher die Kinder in kürzester Zeit dahin führen und anleiten müssen, dass sie in den wesentlichen Punkten ihres Lebens – wenn auch unter Beratung durch den Erwachsenen – eigenverantwortlich zu handeln in der Lage sind. Sie können es sich nicht mehr leisten, ihre Kinder wie früher kindlich zu halten. Wer mit dem Versuch, sein Kind im Sinne eigener Wertvorstellungen zu beeinflussen, zu spät kommt, der bestraft das Kind.“ 25
(Dr. Wilhelm Rotthaus, Chefarzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie an den Rheinischen Kliniken Viersen) So begrüßenswert die Hinwendung zu mehr Freiheiten und Aufklärung sicherlich auch sein mag, so klar beschreibbar sind die unzweifelhaften Schattenseiten dieser Entwicklung. Während die Angst vor Unverständnis oder gar Bestrafung der Eltern weitestgehend gewichen ist, drohen jungen Menschen neue Ängste: Der Konkurrenzgedanke, der quälende Maßstab, immer besser sein zu müssen als die anderen, hat auch die familiären bzw. intimen Beziehungen erreicht. Hierzu einige Trends: • Erotik und Attraktivität sind stetig präsentes Thema in den Medien. • Sexualität wird zu einem Mittel von Selbstdarstellung und Angeberei. • Schulöffentlichkeit und Freizeit bieten Bühnen und Publikum für sexuelle Selbstdarstellung. • Eine ganze Industrie weckt mit erotischer bzw. anzüglicher Werbung und mit Produkten, die Schönheit und ewige Jugend versprechen, Erwartungen an die Sexualität. • Sexualität wird präsentiert als entscheidende Quelle des Lebensglücks und der sozialen Anerkennung. Speziell Kinder und Jugendliche sind mit dieser Entwicklung hoffnungslos überfordert. Müssen sie in Erfahrung bringen, dass Anerkennung und Glück sehr wohl von anderen Beziehungen abhängen als von sexuellen, erleben sie maßlose Enttäuschungen. Für diese jedoch machen sie in erster Linie ihr eigenes Versagen verantwortlich. Schnell leiden sie unter ihrer vermeintlichen mangelnden Attraktivität, wobei sie in den Gruppen der Gleichaltrigen durch stän26
dige Erneuerung ihres Outfits versuchen, nicht ins Abseits zu geraten. Jugendliche, die bei der sexuellen Konkurrenz nicht mithalten können, gelten schnell als Loser oder als Versager. Entwicklungen wie diese könnten den voreiligen Schluss nahe legen, die Jugendlichen von heute wären nicht mehr romantisch veranlagt. Dies ist ein Trugschluss, denn die Mehrheit unserer Jugendlichen glaubt noch immer an die wahre Liebe. Unsere Jugend ist noch genauso romantisch wie ihre Großeltern! Wo steht die Jugend heute? Was denkt sie, wofür kämpft sie? Was ist ihr lieb und teuer? Wovor fürchtet sie sich? Worunter leidet sie? Befragungen und Erhebungen bieten aufschlussreiche Informationen, die eine Art Hintergrundfolie für die Frage liefern: Was macht unsere Jugend krank? Welchen Gruppen unter den Jugendlichen sollte unsere besondere Aufmerksamkeit gelten? Die 14. Shell-Jugendstudie bezeichnet die Jugend von heute als pragmatisch und zielorientiert. Sie mixt sich in einem Wertecocktail, was ihr passend erscheint: Fleiß und Macht, Familie und Sicherheit, Kreativität und Lebensstandard – alles scheint gleichzeitig zu gehen. Das Interesse an der Politik ist in der Jugend rückläufig, nur noch 34 % der Heranwachsenden bezeichnen sich als politisch interessiert. Ältere, gut ausgebildete Jugendliche würden sich eher für politische Belange einsetzen, die jüngeren sind im Zuge ihres Reifungsprozesses vorrangig mit sich selbst beschäftigt und zögern sogar bei einer Teilnahme an der Bundestagswahl. Dennoch hält die Mehrheit der Jugendlichen die Demokratie für eine gute Staatsform, wenn auch das Vertrauen in politische Parteien, in die Bundesregierung, in Kirchen, Gewerkschaften und Bürgerinitiativen eher mäßig ist. 37 % der Befragten halten keine der momentan im Bundestag und 27
in den Länderparlamenten vertretenen Parteien für kompetent genug, um die wirtschaftlichen und sozialen Probleme zufrieden stellend in den Griff zu bekommen. Dem politischen Extremismus erteilt die Mehrheit eine klare Absage. Obwohl Heranwachsende in der momentanen gesellschaftlichen Lage höheren Leistungsanforderungen ausgesetzt sind als noch vor 20 Jahren, sieht die Mehrheit der Jugend ihre Zukunft positiv und stellt sich den Herausforderungen in Schule und auf dem Arbeitsmarkt. Die Null-Bock-Stimmung gilt als überwunden, die Jugend signalisiert Leistungsbereitschaft, der Aufstieg soll dem Ausstieg weichen. Fleiß ist wieder gefragt; während in den 80er Jahren nur 62 % Fleiß und Ehrgeiz für bedeutsam hielten, sind es heute 75 %. Das Streben nach Sicherheit, Macht und Einfluss ist bei der Jugend hoch im Kurs. Mädchen gelten in unseren Tagen als ehrgeiziger und selbstbewusster, sie wollen Karriere machen, selbstständig werden und Verantwortung übernehmen. Im schulischen Bereich haben sie die Jungen bereits überholt – mehr Mädchen als Jungen wollen eine höhere Schulbildung erreichen; insgesamt strebt die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler das Abitur bzw. eine fachgebundene Hochschulreife an. Die Familie hat für Jugendliche einen hohen Stellenwert. 75 % der weiblichen und 65 % der männlichen Befragten brauchen sie, um im Leben glücklich zu werden; über zwei Drittel der Kinder wollen später eigene Kinder haben. Karriere und Familie schließen sich nach Auffassung der meisten jungen Menschen nicht aus. Die Verfasser der Studie betonen den Erfolgsfaktor Bildung, wobei den neuen Zeitgeist insbesondere solche Jugendliche verkörpern, die in Schule, Ausbildung und Beruf erfolgreich sind. Benachteiligt fühlen sich hingegen Jugendliche, die ein geringes Bildungsniveau aufweisen: Sie haben 28
schlechtere Chancen und zeigen sich mit ihrer gegenwärtigen Lebenssituation wenig zufrieden. Aufschlussreich mit Blick auf Konfliktfelder und Spannungssituationen zeigt sich die Studie in ihrer Unterscheidung zwischen vier Typen von Heranwachsenden, die sich den gesellschaftlichen Herausforderungen in sehr unterschiedlicher Weise stellen: • Die selbstbewussten Macher, eine Aufsteigergruppe aus der breiten sozialen Mitte und in beiden Geschlechtern gleichermaßen vertreten, sind ehrgeizig, streben nach Einfluss und einer produktiven gesellschaftlichen Entwicklung. Sie konnten von einem fördernden und fordernden Erziehungsstil profitieren. Ihnen ist soziales Engagement zwar wichtig, die persönliche Leistung aber hat Vorrang. • Die pragmatischen Idealisten stammen aus bildungsbürgerlichen Schichten und sind zu 60 % weiblich. Sie konzentrieren sich auf die ideelle Seite des Lebens und engagieren sich für andere Menschen und die Umwelt. Sie zeigen sich selbstbewusster, stehen ohne ideologische Scheuklappen für Recht und Ordnung und stellen sich dem Leistungswettbewerb. • Die zögerlichen Unauffälligen kommen mit den Leistungsanforderungen in Schule und Beruf weniger gut zurecht. Sie sehen verstärkt skeptisch in die Zukunft und reagieren häufig mit Resignation und Apathie. • Auch die robusten Materialisten, eine vorwiegend männliche Gruppe, zeigen in Schule und Beruf größere Schwierigkeiten, demonstrieren aber äußerliche Stärke. Um ans Ziel zu gelangen, setzen sie ihre Ellenbogen ein und übertreten im Zweifelsfall auch gesellschaftliche Regeln. Sie blicken auf sozial Schwächere, Ausländer und Randgruppen herab. Ein kleiner Teil von ihnen neigt zu politischem Radikalismus. 29
Es wird als zentrale Aufgabe der Gesellschaft gesehen, die beiden zuletzt genannten Gruppen zu integrieren. Studien wie diese geben Trends wieder. Dabei darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass es in der Natur der Sache bei Befragungen liegt, dass sie sich über Absichtserklärungen und momentane Wahrnehmungen speisen. Es sei daher festgehalten: Wenn auch offenkundig die Mehrheit der deutschen Jugendlichen mit ihrer Lebenssituation zufrieden zu sein scheint, so werden die formulierten Zukunftserwartungen von hohen Leistungsanforderungen und damit zwangsläufig von diffusem oder offen ausgetragenem Wettbewerb dominiert. Stabile Erziehungsverhältnisse, ein förderndes Klima und schulischer Erfolg erweisen sich als Schlüssel zum Glück. „Die Erwachsenen müssen zunächst einmal im Leben der Jugendlichen gegenwärtig sein und bleiben, sich nicht aus ihm zurückziehen. Nur dann können sie die Welt der Heranwachsenden verstehen lernen und Rechte und Pflichten innerhalb der Familie neu mit ihnen aushandeln. Dabei muss das Gespräch mit dem jungen Menschen auf gleicher Augenhöhe, in aller Offenheit, in gegenseitiger Achtung und Freundschaft geführt werden. Nur dann haben Eltern und Erzieher eine gute Chance, den Heranwachsenden innerlich zu erreichen, in einen inneren Dialog mit ihm zu kommen. ( … ) Fühlt sich der junge Mensch vom Erwachsenen ernst genommen und erfasst, wird er dessen reifere Sicht vom Leben und der Welt nicht reflexartig abwehren und abwerten, sondern sie in seine Überlegungen und seine Lebensplanung mit einbeziehen.“ (Sebastian Foderi)
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Dem Lebenskontext Schule wird allerorten hohe Priorität im Zusammenhang mit Lebenszufriedenheit und damit seelischem Wohlergehen eingeräumt. Daher ist ein gezielter Blick auf diesen erforderlich. Gut 10 Millionen Schülerinnen und Schüler lernen täglich an allgemein bildenden Schulen in Deutschland. Ca. 3,5 Millionen davon gehen zur Grundschule, 1,5 Millionen zur Hauptschule, ca. 1,25 Millionen zur Realschule, eine halbe Million Schüler besuchen integrierte Gesamtschulen, Freie Waldorfschulen und Abendschulen. Ca. 2,3 Millionen sind Gymnasiasten, davon befinden sich 1,5 Millionen in den Klassenstufen 5 – 10, 60000 an den Integrierten Gesamtschulen (Klassenstufen 11 – 13), nicht ganz 12000 an Freien Waldorfschulen und fast 30000 an Abendgymnasien bzw. Kollegs. Hinzu kommen ca. 2,5 Millionen an beruflichen Schulen, davon 1,7 Millionen im so genannten Dualen System, dies sind also Lehrlinge, die neben ihrer praktischen Ausbildung zeitweise eine Berufsschule besuchen. Dazu kommen 1,5 Millionen Studierende an Universitäten und Fachhochschulen; jährlich gibt es fast 250000 Studienanfänger, wobei die aktuellen Diskussionen und Entscheidungen zu bundesweiten Studiengebühren mittelfristig Wandlungen bewirken dürften. Theoretisch haben alle Schülerinnen und Schüler gleiche Rechte, gleiche Pflichten und vor allem gleiche Chancen. Die individuellen Leistungen werden gerecht und sachgerecht benotet. Jeder Schüler, jede Schülerin ist für das persönliche Fortkommen zuständig. Befragt man Schülerinnen und Schüler, so zeichnet sich ein anderes Bild ab. Viele von ihnen sehen sich unter großen Druck gesetzt durch hohe Erwartungen ehrgeiziger Eltern und schrecken vor der Urteilsgewalt von Lehrerinnen und Lehrern zurück. Gute Noten gelten immer mehr als relative Aussichten auf einen Ausbildungsplatz bzw. auf ein mögli31
ches Studium. Schüler sind daher gehalten, für die Noten zu lernen. So ist der Alltag gekennzeichnet durch das konkurrierende Lernen für den Notenvergleich. Daraus ergibt sich oftmals ein Dauerstress im Kampf um Ansehen bei den Lehrern. Um auf der Erfolgsleiter oben zu bleiben, entwickeln sich Schülerinnen und Schüler nicht selten zu Anpassungskünstlern. In einem Klima, in dem zwischen brauchbar und unbrauchbar für das kommende (oder auch ausbleibende) Arbeitsleben bewusst oder unbewusst unterschieden wird, lernt es sich eher schlecht. Schülerinnen und Schüler, die den gesetzten Erwartungen nicht gerecht werden und schlechte Noten nach Hause tragen, sehen sich oft als Opfer einer ungerechten Beurteilung durch die Lehrer und pflegen Zeit ihres Lebens einen regelrechten Lehrerhass. Völlig deprimierend ist die Situation an jenen Schulen, die schon längst aus dem Raster heraus gefallen sind, die sich mit den eher Perspektivlosen befassen müssen. In diesem Zusammenhang ist an erster Stelle die Hauptschule zu nennen, die oft als Restschule bezeichnet wird. Hier ringen Pädagoginnen und Pädagogen um Perspektiven für ihre Schülerschaft, der aber nur sehr begrenzt Chancen im Erwerbsleben eingeräumt werden. Hier scheinen sich jene zu sammeln, die als auffällig, unbelehrbar und unwillig gelten bzw. – aus verschiedenen Motiven – mit diesem Etikett versehen werden. Ob nun Gymnasium, Real-, Gesamt- oder Hauptschule: Die Schule ist mit unterschiedlichen Vorzeichen vielfach ein Ort offenkundiger und versteckter Spannungen, ein Ort der Konkurrenz und des Neids, auch ein Ort der Angst und kaschierter Traurigkeit. Finanziell in der Regel unterversorgt und von Eltern zum Familienersatz gekürt, ist und bleibt er wahrscheinlich auch ein Ort der überfrachteten Erwartungen. Zu allem Überfluss lähmen immer wiederkehrende 32
Nörgeleien über Faulheit sowie grenzenlose Freiheiten und Freizeiten bei den Lehrern einen Blick auf die Zukunftswerkstatt Schule und ignorieren dabei hohen Idealismus und hohes Engagement der meisten Schulpädagogen. „Wir sind Väter, Mütter, wohlwollende Geschwister, Freunde, Richter, Polizisten, Verteidiger, Sozialarbeiter, Dolmetscher, Seelenklempner und Beichtväter – alles in einem. Wer sich damit arrangieren kann, der erntet auch Früchte bei der Arbeit. Aber es ist und bleibt ein täglicher Kampf.“ (ein Hauptschullehrer) „Nachdenklich stimmen mich fast zementierte Lebenspläne von Eltern, die schon viel früher wissen, welchen Weg ihre Kinder nehmen sollen, als die Kinder selbst. Wenn mal eine Zeugnisnote schlechter als gut ist, dann gibt es schon lange Gesichter. Um das zu verhindern, wird ein Bezahlungssystem eingeführt – es gibt also Geld für gute Noten. Diese Orientierung an ausschließlich materiellen Werten quittieren viele Schülerinnen und Schüler mit Anpassung, ich habe aber den Eindruck, dass sie zugleich großen Druck verspüren.“ (eine Gymnasiallehrerin) Fassen wir die bislang gewonnenen Erkenntnisse zusammen. Das Jugendalter ist eine sich durch die Veränderungen der Rahmenbedingungen zeitlich mehr und mehr ausdehnende, ereignisreiche, fordernde und emotional belastende Phase. Jugendliche von heute gewinnen zunehmend später den Erwachsenenstatus; dies hängt damit zusammen, dass sie sich in einer Art Warteschleife befinden, da entweder eine Verselbstständigung durch eigene Arbeit ausbleibt oder 33
sich ein Studium der schulischen Ausbildung anschließt. Für viele ist die Jugend mehr zu einer lustvollen Lebensphase als zu einer Reifungs- und Übungsphase geworden; solange es stützende Maßnahmen durch finanziell unabhängige Eltern erlauben, kann der harte Alltag des Erwachsenendaseins auf sich warten lassen. Das Leben von Jugendlichen heute ist stark gegenwartsorientiert, das Sofort-Genuss-Prinzip bereitet Eltern entweder Kopfzerbrechen, oder es wird stillschweigend akzeptiert bzw. durch den Lebenswandel der Erziehenden sogar noch unterstützt. Ein beträchtlicher Teil der Jugendlichen kann bereits an Wohlstand und Luxus teilhaben und ist nur bedingt gezwungen, dies über die Schaffung von Selbstständigkeit zu erreichen. Der junge, kräftige, dynamische und leistungsfähige Mensch ist Leitbild und Idealtypus unserer Gesellschaft geworden. Der Anspruch der Älteren, mit Weisheit und Klugheit die Jüngeren anzuleiten, scheint längst schon an seine Grenzen gestoßen. Jugendliche in Deutschland stellen sich mit unterschiedlichem Erfolg dieser Entwicklung, profitieren von ihr oder leiden unter ihr. Ökonomische, familiäre und schulische Aspekte erweisen sich als zentrale Faktoren bei der erfolgreichen Bewältigung von Entwicklungsaufgaben. Wachsende Verunsicherungen, Leistungsdruck, Konkurrenzkampf und ausbleibende Zuwendung können sich negativ auf das seelische Wohlergehen junger Menschen auswirken; hierbei können erfolgreiche wie auch erfolglose Jugendliche Schaden nehmen – die Gesichter ihres Leids sind nur verschieden.
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3 Wie gesund sind unsere Jugendlichen? Ein leitender Mitarbeiter einer großen Krankenkasse scherzte vor geraumer Zeit bitter über das Gesundheitsverhalten der Jugend. Sein sinngemäßes Fazit: So krank wie unsere heute 13 oder 15 Jahre alten Kinder mit 40 sind, können die heute 40 Jahre alten Erwachsenen bei mittelmäßig gesundheitsbewusster Lebensweise bis zu ihrem 70. Geburtstag gar nicht mehr werden. Diese geradezu zynische Polemik hat einen ernsten Hintergrund, den es kurz zu beschreiben gilt. Es ist in der Tat zum Beispiel ein erschreckender Anstieg der Diabetes II (Zuckerkrankheit) schon bei Jugendlichen zu beobachten. Ärzte führen dies in erster Linie auf mangelnde Bewegung (Übergewicht) und auf mangelhafte Ernährung zurück. Fettleibigkeit bei jungen Menschen führt zudem zu früh einsetzenden Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems. Die Zahl der Haltungsschäden steigt ebenso bereits bei Jugendlichen. Deutschlands Jugend ist mit sich selber eher unzufrieden, raucht stark und prügelt sich überdurchschnittlich oft. Das ist das Ergebnis einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unter 160000 Jugendlichen in 35 europäischen Ländern. Beim Konsum von Zigaretten sind die deutschen Jugendlichen sogar Europameister. 25 % der 15-jährigen deutschen Jungen und 27 % der gleichaltrigen Mädchen gaben demnach an, jeden Tag zu rauchen. Zigaretten- und Alkoholkonsum wird in der Jugendforschung als besonders eindeutiger Hinweis auf eine hohe Lebensunzufriedenheit gewertet. Jugendliche, die zur Zigarette greifen, stehen unter 35
intensivem Druck, sich als interessante Persönlichkeiten zu profilieren. Gemäß einer Repräsentativerhebung aus dem Jahre 2001 der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in der Altersgruppe der 12- bis 25-Jährigen haben 92 % der Befragten schon einmal Alkohol probiert oder mehr oder wenig häufig getrunken. Etwa ein Drittel nimmt regelmäßig Alkohol zu sich; 11 % trinken mehrmals in der Woche. Alkoholrauscherfahrungen sind bei den 16- bis 17-Jährigen am weitesten verbreitet. Zugenommen hat die Zahl von Trinkexzessen, dem so genannten binge-drinking, bei dem in kurzer Zeit große Mengen Alkohol bis zur (völligen) Trunkenheit konsumiert werden. Mindestens 27 % der 12- bis 25-Jährigen haben in ihrem Leben zumindest einmal illegale Drogen genommen, die weitaus meisten, nämlich 26 %, Cannabis, 4 % haben schon einmal Ecstasy genommen, 3 % Amphetamine, 2 % LSD, 2 % Kokain, 0,3 % Heroin, 0,2 % Crack. Männliche Jugendliche haben dabei eher Drogenerfahrung als weibliche. Langfristig gesehen ist der Drogenkonsum konstant, wobei sich Phasen mit mehr oder weniger Konsum abwechseln. Angestiegen ist die Zahl der Cannabis-Erfahrungen, wobei das Einstiegsalter für Cannabis im Durchschnitt von 17,5 Jahren auf 16,7 Jahre abnahm. Die Bereitschaft, Cannabis abzulehnen, ist deutlich zurückgegangen. Speziell der Konsum von Alkohol und Zigaretten schwankt phasenweise – dies hängt unmittelbar mit den gezielten Informationskampagnen zusammen, die in den letzten Jahren durchgeführt wurden. Unabhängig von graduellen Zunahmen oder Abnahmen ist in diesem Zusammenhang ein anderer Hinweis wichtig: Die hier genannten Drogen gelten als psychoaktive Substanzen! Ihr Konsum – oder zumindest die bloße Tatsache des Konsumierens – wirkt sich also in verschiedenen Weisen auf das psychische Erle36
ben, auf die Befindlichkeit des Konsumenten aus: berauschend, entlastend, befreiend, enthemmend, benebelnd, … Grenzen öffnend. Verkürzt bedeutet dies: Der Konsumierende tut seiner Seele auf tragische Weise etwas vermeintlich Gutes. Drogenkonsum ist somit als weitere Form der Achterbahnfahrten der Seele zu werten. Die o. g. Studie der WHO ergab ferner, dass Mobbing und Schlägereien in Deutschland weit verbreitet sind. Jeder dritte Jugendliche gab an, im vergangenen Jahr (2003) an mindestens einer Form aggressiven Verhaltens beteiligt oder auch Opfer gewesen zu sein. Bei den 13- und 15-Jährigen rangiert Deutschland unter den vier Ländern mit der höchsten Mobbingquote. Dies trifft auch auf wiederholte Schikanen gegenüber Mitschülern zu. Mindestens 5 % der Mädchen und Jungen bis zum 18. Lebensjahr benötigen wegen seelischer Leiden eine ärztliche Behandlung, weitere 10 bis 13 % sind deutlich verhaltensauffällig. Dies meldete die Deutsche Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie. Sie schätzt, dass rund eine Million Kinder und Jugendliche psychisch krank oder psychosomatisch krank und behandlungsbedürftig sind. Eine Untersuchung der Universitätsklinik Heidelberg ergab, dass die Zahl der Kinder mit psychischen Problemen bereits während der Grundschulzeit wächst. Die Trends sind steigend. Etwa jeder fünfte Jugendliche gerät in der Pubertät in eine psychische Krise. Stark zugenommen haben in den vergangenen 20 Jahren Magersucht und andere Essstörungen sowie Angsterkrankungen. 4 % der jungen Leute leiden unter starken Depressionen – bis zu 4000 Jugendliche setzten im Jahr 2004 ihrem Leben ein Ende. Bestimmte (psychische) Störungen kommen in einigen Schulformen öfter vor als in anderen. So werden bei Realschülern am häufigsten Angst- und depressive Störungen 37
sowie oppositionelles Trotzverhalten festgestellt. Gesamtund Berufsschüler weisen die höchste Rate für Alkohol- und Drogenkonsum auf. Im Sozialverhalten sind es meistens die Hauptschüler, die auffallen.
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4 Psychische Probleme und Auffälligkeiten Ein Beinbruch ist am Gips zu erkennen, Masern sorgen für markante Flecken im Gesicht, und Magenkranke trinken diverse Tees. Körperliche Leiden oder Krankheiten sind mehr oder minder offen zu erkennen. Die Betroffenen sprechen in der Regel offen darüber und erfahren auf diese Weise Trost und Würdigung ihres Leidens, ja vielfach Aufwertung: Wer es am Herzen hat, der hat sich in der Regel zu sehr mit Terminen belasten lassen, die im Rücken Geplagten haben sich überhoben. Gänzlich anders verhält es sich mit seelischen Problemen. Zunächst gilt in unserer Gesellschaft bedauerlicherweise fast noch immer das Schweigegebot:. Darüber spricht man nicht, es ist peinlich; die Sorge, als nicht belastbar zu gelten, ist immens. Durch solche Wertungen und Verhaltensweisen wird jedoch das Problem eher größer – nicht kleiner. Eine weitere Verschärfung tritt ein, wenn es nicht die Erwachsenen sind, denen etwas auf der Seele liegt, sondern deren Kinder. Die meisten Eltern gehen mit Fug und Recht davon aus, dass sie mit Geburt ihres Sprösslings ihr Bestes gegeben, Zeit investiert und hohe Energie aufgebracht haben. Viele Handlungen und Entscheidungen sind von dem einzigen Gedanken beseelt: Das Kind soll es gut haben! Speziell die ersten Jahre der Elternschaft gleichen einer Kette von Erfolgsereignissen: Das Kind läuft, das Kind spricht, es kommt in den Kindergarten, in der Schule lernt es Lesen und Schreiben … Mit Eintritt des Jugendlichenalters bzw. der Pubertät 39
müssen nicht nur die Kinder Abschied nehmen von der grenzenlosen Rundumversorgung durch Mutter und Vater, auch die Eltern müssen sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass Probleme auftauchen, dass nicht mehr alles reibungslos verläuft. Konnten in der Grundschulzeit vielleicht bereits aufkeimende Probleme verdrängt oder kompensiert werden, so drohen jetzt Enttäuschungen, Streitigkeiten, schlaflose Nächte, die von der großen Sorge geprägt sind, etwas falsch gemacht zu haben. Die meisten psychischen Probleme sind nicht durch eine Ursache allein bedingt! Der Jugendliche zeigt sich also nicht auffällig oder gar gestört, weil der Vater zu streng, die Mutter zu ignorant, der Lehrer zu ungerecht oder der Fernseher zu oft eingeschaltet war. So verständlich die möglichst schnelle Suche nach der Wurzel des Übels – das man dann möglichst wie einen Lichtschalter auszuschalten versucht – auch sein mag: Es ist immer ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren, das letztendlich zu Problemen im Verhalten oder im Erleben eines jungen Menschen führt. Bevor also einseitig die Schuldfrage gestellt wird, sollten sich Betroffene auf den mutigen Weg begeben, Details ins Auge zu nehmen, so belastend und beschämend dies unter Umständen auch ist. In der Wissenschaft herrscht Einigkeit darüber, dass bei der Entwicklung psychischer Probleme drei Hauptursachen zu nennen sind: • Unser Erbgut bestimmt nicht nur körperliche Merkmale wie Haar- und Augenfarbe, sondern auch psychische Merkmale werden durch unsere Gene mitbestimmt. Hierbei gestalten sich die Vererbungswege allerdings komplizierter als bei der Ausbildung körperlicher Merkmale. Es gibt also Erbanlagen, die das Risiko zur Entwicklung von Auffälligkeiten erhöhen können. Dies gilt zum Beispiel, 40
wie noch genauer zu beschreiben sein wird, für die Depression. Menschen sind demzufolge durch ihr Erbgut in unterschiedlichen Graden auch verwundbar für seelische Störungen. • Schädigungen des Gehirns können die Ursache für psychische Auffälligkeiten sein bzw. deren Entstehung begünstigen. Verletzungen durch einen Unfall oder Beeinträchtigungen bei der Geburt bzw. Erkrankungen (Hirnhautentzündungen) wären hier zu nennen. • Den verschiedenen Umwelteinflüssen ist schließlich große Bedeutung beizumessen. Neben der Familie wirken bekanntlich Kindergarten, Schule und Gleichaltrigengruppen auf das Kind ein. Außerdem sehen Ärzte und Wissenschaftler auch in den Belastungen der Umwelt durch Lärm oder Schadstoffe ein Gefährdungspotenzial. In dieser Einschätzung ist jedoch Vorsicht vor voreiligen Schlüssen geboten. Neigte man vor wenigen Jahrzehnten noch dazu, der Umwelt schlechterdings alle Fehlentwicklungen anzulasten, so weiß man heute, dass Kinder auch trotz schlechter Rahmenbedingungen in ihrer Umwelt gute Entwicklungen genommen haben; dies wird u. a. mit zuvor gemachten positiven Bindungserfahrungen in der frühen Kindheit erklärt, durch die viele negative Einflüsse in der Folgezeit kompensiert werden konnten. Wann aber kann bzw. muss von einer seelischen Störung gesprochen werden? Wann ist es ratsam, die gemachten Beobachtungen unter Beratung von Experten weiter zu vertiefen, um gegebenenfalls Schritte einzuleiten? Was die einen als noch normal bezeichnen, ist für andere vielleicht schon unnormal oder gar verrückt. Je stärker ein Problem ausgeprägt ist, umso eher muss es als Auffälligkeit gewertet werden. Zur Vertiefung anfallender Einschätzungen seien nun 41
grundsätzliche Überlegungen skizziert, die Eltern wie Pädagogen Anhaltspunkte geben können. Eine seelische Störung kann dann vorliegen, wenn Verhalten und Erleben eines Jugendlichen mit Blick auf Alter, Geschlecht und Erwartungen der Gesellschaft offensichtlich von der Norm abweichen und/oder wenn es dadurch zu starken Beeinträchtigungen kommt. Dazu einige Beispiele und Erläuterungen. • Ein kleines Kind, das sich nicht von seinen Eltern trennen will oder kann, zeigt die für diese Altersstufe typischen Trennungsängste, die keinen Anlass zu großer Sorge geben. Zeigt ein jugendliches Mädchen zum Beispiel eben diese und will mit aller Gewalt den Weggang der Eltern verhindern, um nicht von Panik heimgesucht zu werden, so ist ein Hinterfragen durchaus am Platze! • Dass Kinder und Jugendliche ab und zu über den fälligen Schulbesuch nörgeln und sich lustlos zeigen, gehört zu jeder Schullaufbahn. Klagen jedoch Jungen oder Mädchen unaufhaltsam über den schulischen Alltag, fallen sie durch Schwänzen auf oder äußern sie regelmäßig diffuse körperliche Symptome, so sollte Rat eingeholt werden! • Müssen Eltern die Erfahrung machen, dass das Problem, das ihr Kind plagt, zum Verlust von Sozialkontakten führt, wenn also wichtige Kontakte in der Gruppe der Gleichaltrigen nicht mehr möglich sind, so ist es an der Zeit, das Verhalten nicht nur als vorübergehende Unpässlichkeit zu deuten! • Ist der Kontakt des Jugendlichen weitaus mehr als von einem befristeten Groll auf die Eltern überschattet, sondern hat vielmehr große, lang anhaltende Sprachlosigkeit Einzug gehalten, so ist dies unter Umständen mehr als die vielfach zitierte Bockigkeit. 42
• Fällt ein Schüler wiederholte Male in der Schule durch zerstörerisches Verhalten auf, so ist Eile geboten! Auf der Basis der Grundmerkmale Normabweichung und Beeinträchtigung muss also im Einzelfall darüber befunden werden, ob eine seelische Störung vorliegt. Voreilige Hektik ist ebenso fehl am Platze wie Verharmlosung. Ergänzend zu den o. g. Hauptursachen sei schließlich das Mehrebenenmodell seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen skizziert. Dieses findet in der wissenschaftlichen Diskussion uneingeschränkten Zuspruch und gibt Laien sowie Pädagogen Orientierung. Seelische Störungen sind durch folgende Faktoren bedingt: • Biologische Faktoren Erblich Konstitutionell Körperlich • Psychosoziale Faktoren Person des Kindes/Jugendlichen Familie Schule Gleichaltrige • Aktuelle Lebensumstände Merkmale der Situation wie Scheidung, Tod, … • Gesellschaftliche Faktoren Soziale Schicht Ökologie (Stadt/Land) Fremde Kulturen 43
„Wenn Eltern ahnen, dass ihr Kind eine psychische Auffälligkeit entwickelt haben könnte, wollen sie es oft zunächst nicht wahr haben. Eltern sollten ohne falschen Stolz professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Das Problem zu ignorieren bedeutet für viele Kinder massive psychische Probleme im Erwachsenenalter.“ (Prof. Franz Resch, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie) Jugendliche haben, wie zuvor bereits ausgeführt, eine Fülle von Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Die seelischen und körperlichen Veränderungen während der Pubertät müssen innerlich verarbeitet und akzeptiert werden. Neue und zugleich höhere Anforderungen in Schule und Berufsausbildung sind zu bestehen. Der Abschied von der pflichtfreien Kindheit ist mit Trauer verbunden. Die eigene Identität als Mann oder Frau muss entwickelt werden. Die Beziehungen zur Herkunftsfamilie gilt es neu zu gestalten, neue Rücksichten müssen eingeübt werden. Die gegebenen Gefahren der neuen Freiheiten (Sucht) müssen erkannt, und Abwehrverhalten dagegen muss erlernt werden. Das Selbstbild und eigene Zukunftsperspektiven müssen erarbeitet werden. Schließlich muss der Jugendliche gegenüber Gesellschaft und Staat Stellung beziehen und soziale Verantwortung übernehmen. Trotz dieser Verunsicherungen ist das Jugendalter (noch) nicht durch eine besondere Häufung von psychischen Schwierigkeiten gekennzeichnet. Jedoch haben Jugendliche meistens Hemmungen, das wirkliche Ausmaß ihrer Ängste, Konflikte, Sorgen und Schwierigkeiten einzugestehen, sodass es vielfach zu einer Unterschätzung der tatsächlichen seelischen Belastungen kommen kann. Damit aber nimmt oft eine schwierige Entwicklung ihren Lauf. Der Weg zu Veränderung und ggf. Behandlung ist ein 44
weiter. Vielfach quälen sich Eltern im Verborgenen, was mit ihrem Kind geschehen ist. Sie fühlen sich hin und her gerissen zwischen Gefühlen der Ohnmacht auf der einen und Wut auf der anderen Seite. Der jeweilige Hintergrund des merkwürdigen Verhaltens ihres Sohnes oder ihrer Tochter wird oft erst nach längerer Zeit offenbar. Von daher ist es ratsam, unter allen Umständen möglichst nahe am Geschehen zu bleiben, ohne dem jungen Menschen das Gefühl zu vermitteln, man wolle ihn aushorchen, bedrängen. Jungen und Mädchen in seelisch instabilen Situationen nehmen in der Regel sehr wohl wahr, dass sie ihr Umfeld belasten. In manchen Fällen kommen Gefühle von Schuld auf – auch wenn das konkrete Verhalten gegenüber Eltern und auch Lehrern als schroff und abweisend zu bezeichnen ist. Unabhängig von der Frage, ob nun eine konkrete Störung Hintergrund der aufkommenden Probleme ist oder ob es sich um eine entwicklungsbedingte Unpässlichkeit handelt, gibt es grundsätzliche Empfehlungen an Erziehende für den Umgang mit ihrem Gegenüber: • Suchen Sie mit Ihrem Sohn/Ihrer Tochter das Gespräch!
Natürlich haben gerade Jugendliche in der Pubertät die Tendenz, sich von ihren Eltern abzugrenzen. Im Grunde ist dies doch nur Indiz dafür, dass das Kind neuen Sichtweisen, auch neuen Vorbildern in seinem Leben Raum gibt. Es gehört zu dieser Lebensspanne unzweifelhaft dazu, dass die Werte der Eltern über Bord geworfen oder gehörig hinterfragt werden. Akzeptieren Sie, wenn Sohn oder Tochter nicht alles mitteilen. Es ist völlig in Ordnung, dass Ihr Kind Geheimnisse hat. Rechnen Sie mit versteckten Botschaften – dies gilt im besonderen Maße im Fall einer ausgebildeten seelischen 45
Störung. Versteckte Botschaften sind Ausdruck der verworrenen, unklaren Stimmungslage oder Ausdruck einer verständlichen Scheu, Dinge beim Namen zu nennen. So wird ein sechzehnjähriger Sohn seinen Vater nicht unmittelbar mit der Botschaft konfrontieren, dass er ein Übermaß an Angst empfindet. Er wird vielmehr Umwege nehmen, um zum Beispiel herauszufinden, wann und ob der Vater auch einmal (oder mehrfach) besonders ängstlich war. Ebenso wird eine fünfzehnjährige Tochter ein Gespräch mit ihren Eltern wohl kaum mit der Wahrnehmung beginnen, sie sei entschieden zu dick. Kalkulieren Sie also Scham und hohe Unsicherheit auf Seiten Ihres Kindes ein. Fallen Sie nicht mit der Tür ins Haus, werten Sie nicht, hören Sie sich jede Mitteilung aufmerksam an. Signalisieren Sie dabei weder überschwängliches Mitleid noch Unverständnis. Halten Sie sich mit voreiligen Lösungen nach Möglichkeit zurück. Zeigen Sie durch Ihr offenes Ohr, dass Sie für Ihr Kind da sind. Takt und Tempo des Gesprächs – so es stattfindet – bestimmt Ihr Kind. •
Stellen Sie sich allen aufkommenden Konflikten!
Die Zeit der Jugend und damit des Übergangs ist eine von großen und kleinen Auseinandersetzungen geprägte. Aufkommende Impulsivität sollte Sie nicht veranlassen, mit gleichen Mitteln zu reagieren oder gar dem Kind mangelnden Respekt vorzuwerfen. In dieser Zeit wird die Sprache rauer! Kalkulieren Sie dabei die versteckte Verzweiflung und Wut Ihres Sohnes oder Ihrer Tochter mit ein; sie kann der Motor für diese Kämpfe sein. Nehmen Sie andererseits (wüste) Beschimpfungen nicht hin oder reagieren Sie nicht darauf, indem Sie das Maß der Unverschämtheiten nur noch potenzieren. In jedwedem Krisenzustand kann und muss ein 46
Kind die Botschaft hinnehmen können, dass es zu weit gegangen ist; eine Ausnahme bilden unter Umständen schwerste psychische Erkrankungen. •
Zeigen Sie den Mut zu Grenzen!
Söhne oder Töchter, die nicht mit ihnen gesteckten Grenzen experimentieren, sie hinterfragen oder sie brüskiert zu verwerfen versuchen, gibt es eigentlich nicht! Solche Rangeleien sind wichtiger Bestandteil des Selbstfindungsprozesses. Lassen Sie sich nicht mit dem Argument in Bedrängnis bringen, dass Sie sicherlich auch in Ihrer Jugendzeit Grenzen missachtet haben. Grenzsetzungen sind Orientierungen; sie machen unmissverständlich klar, wo Verständnis und Geduld ihr Ende nehmen, wo Gefahren drohen. Sollten Sie aber das Gefühl entwickeln, dass Ihre dem Kind gesteckten Grenzen zu starr sind, scheuen Sie nicht den Vergleich mit Geboten und Verboten Ihnen bekannter Eltern bzw. der Eltern der Klassenkameradinnen und Klassenkameraden Ihrer Kinder. Grenzen lassen sich zudem aufheben, sobald der Eindruck entsteht, dass neue Freiheiten vertretbar erscheinen. Vermeiden Sie allerdings unter allen Umständen ein Grenzsteindomino, bei dem es nur des Kippens eines ersten Steines bedarf, um alle Verbindlichkeiten zum Umstürzen zu bringen. •
Bieten Sie Hilfe an!
Ihr Kind sollte zu jeder Zeit wissen, dass es sich an Sie wenden kann! Selbst wenn es dies ausschlagen sollte, aus welchen Gründen auch immer, sollten Sie dazu bereit sein. Ihr Kind weiß nie so genau, ob und wann es nicht doch auf dieses Angebot zurückkommen wird. Tragen Sie Ihr Angebot sachlich und ohne jede Theatralik vor. Wecken Sie kei47
nesfalls das Gefühl, Ihr Kind würde Sie enttäuschen, falls es sich doch nicht an Sie wenden sollte. Unterstützen Sie zugleich, wenn Ihr Kind auch vertrauenswürdige Ansprechpartner außerhalb der unmittelbaren Familie hat. Manchmal sind es die eigenen Großeltern oder die Eltern eines Schulfreundes, zu dem der Kontakt gut ist. Reagieren Sie nicht mit Neid auf diesen Umstand. Es ist natürlich, dass es neben der Ihren auch andere gute Adressen gibt. •
Achten Sie auf die Kontakte!
Wie bereits erwähnt, wächst der Einfluss anderer Freundinnen und Freunde mit den Jahren. Dies wirkt sich in der Regel positiv aus. Pflegen jedoch Sohn oder Tochter häufigen Kontakt zu anderen Jugendlichen mit Problemen, so kann sich dies ungünstig auswirken. Sie sollten also über die Kontakte im Bilde sein. Natürlich sind Sie weder Polizisten noch Detektive: Wenn Ihr Kind bemerkt, dass Sie ihm argwöhnend hinterher spionieren, wird es nach Möglichkeit blocken und unter Umständen nicht ganz zu Unrecht empört reagieren. Achten Sie, wenn möglich, auf nachvollziehbare Beweggründe für Ihre Skepsis. Es reicht in der Tat nicht, Kleidung, Haarpracht oder den Beruf des Vaters eines Freundes als Beweis für Untauglichkeit anzuführen. Sind Sie sich hingegen sicher, dass ein bestimmter Kontakt Ihrem Kind nicht gut tut, so teilen Sie dies klar mit. Begründen Sie Ihre Wahrnehmung, lassen Sie Vorwürfe außen vor. Stellen Sie keine Ultimaten und drohen Sie nicht! Je nachvollziehbarer Ihr Statement ausfällt, umso eher wird man Ihnen zuhören.
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• Suchen Sie professionelle Hilfe, wenn Sie nicht weiter wissen!
Zunächst einmal unabhängig von der Frage, ob das Verhalten Ihrer Tochter oder Ihres Sohnes Störungscharakter hat oder nicht: Erziehung ist in der heutigen Zeit ein hartes Brot. Einfach war dies nie, aber die Zahl der Störfelder wächst. Sollten Sie also mit den zuerst genannten Empfehlungen keinen Erfolg erzielen, sollte sich bei Ihrem Kind nichts grundlegend ändern oder bessern, dann betrachten Sie es unter keinen Umständen als Versagen, sich Hilfe holen zu müssen! Oft werden Versuche unternommen, Probleme mit anderen, befreundeten Eltern zu besprechen. Solche Schritte können entlasten, und manchmal sind Tipps von anderen Erziehenden auch Gold wert. Doch: Sind Sie sich sicher, dass Sie frei über das, was Sie erleben und sich fragen, mit guten Freunden reden können? Außerdem sind in schwierigen Lagen auch schnell gute Bekannte mit ihrem Latein am Ende oder geben Empfehlungen auf dem Hintergrund der Erfahrungen mit ihren Kindern. Das kann passen, es muss aber nicht passen, denn zum Glück ist jedes Kind verschieden. Die hier gemachten ersten Empfehlungen gelten generell für schwierige Situationen im Umgang mit Jugendlichen, die Ihnen Kopfzerbrechen bereiten. Bei den nun zu thematisierenden Störungen werden weitere Ratschläge gegeben, die unmittelbar auf das Störungsbild zugeschnitten sind. Zu weiteren Fragen nach therapeutischer Hilfe finden sich noch hilfreiche Hinweise am Ende des Buches. In dem folgenden, umfangreichen Kapitel soll nun auf spezielle psychische Problemlagen bzw. Störungen im Detail eingegangen werden. Es sind dies die Depressionen, 49
Angststörungen, Essstörungen und das dissoziale Verhalten. Die Auswahl erfolgte in dieser Weise, da es die in den letzten Jahren immer wieder erstgenannten Störungen sind, bei denen es außerdem eine steigende Tendenz zu verzeichnen gibt. Der Verzicht auf die Beschreibung anderer Störungen hängt ausschließlich damit zusammen, dass ein Ratgeber wie dieser auch vom Umfang her Grenzen hat. Zur Wahrung der Übersichtlichkeit wird eine klare Struktur in der Darstellung eingehalten: Einem oder mehreren Fallbeispielen schließt sich eine exakte Beschreibung der Symptomatik bzw. des Verhaltens an; es folgen Erklärungen zu den Ursachen und Empfehlungen, wie Eltern und Pädagogen auf das Problem reagieren könnten. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist eine lebendige Wissenschaft. In allen Teilen der Bundesrepublik arbeiten Ärzte und Psychologen an der Gewinnung neuer Erkenntnisse und der Entwicklung hilfreicher Behandlungskonzepte. Selbstverständlich gibt es auch in dieser Disziplin verschiedene Schulen, anders gelagerte Konzepte und differierende Theorien zum Status von Jugendlichen in unserer Zeit. Es wäre unmöglich, allen aktuellen Strömungen gerecht werden zu wollen. Mit diesem Buch kann es nur um einen groben, wenn auch korrekten Überblick gehen. Welches Konzept schließlich im Einzelfall zum Tragen kommt, würde im Fall einer Behandlung ohnehin nach eingehender Beschäftigung entschieden.
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5 Achterbahnfahrten der Seele Eine Fahrt mit der Achterbahn gehört selbst in technologisch hoch entwickelten Zeiten noch immer zu den spannendsten Ereignissen eines Besuches auf der Kirmes. Atemberaubendes Tempo, unterbrochen durch langsame, von Herzklopfen begleitete Steigungsfahrten, zieht Jung und Alt in den Bann. Gerade junge Menschen sind es, die oft wochenlang vorher laut oder still und heimlich darüber nachdenken, ob sie sich denn in diesem Jahr zu dieser Fahrt durchringen können. Den häufig langen Wartezeiten an den Kassen folgt das eigentliche Ereignis – das dann allzu schnell beendet ist. Nach dem Ausstieg erleben die meisten Erleichterung. Sie sind aufgewühlt von dem heftigen Auf und Ab. Viele haben das Gefühl, dass in ihrem Innern aber auch nichts mehr an seinem Platze ist. Manchmal, zum Glück äußerst selten, geschehen unvorhergesehene Dinge: Mitfahrende vertragen das Tempo nicht, ein technischer Defekt lässt einen der Wagen trotz höchster Sicherheitsauflagen aus der Spur geraten … Bilder und Vergleiche helfen bei der Vertiefung von Verständnis, wenn sie auch nicht immer den Kern erfassen. Das Jugendalter bzw. aufkommende Krisen von Jugendlichen seien hier, die Wahl des Buchtitels macht es bereits deutlich, mit einer Achterbahnfahrt verglichen. Leserinnen und Leser mögen dieses Bild vertiefen oder es verwerfen. Einen großen Unterschied gilt es jedoch zu erwähnen: Die Achterbahnfahrt geschieht zumeist freiwillig, aus Spaß am Nervenkitzel. In Krisen begibt sich kein junger Mensch freiwillig, sie ereilen ihn und verlangen ihm alles ab. 51
5.1 Eine leise Krankheit – die Depression Fallbeispiel Linda, 15 Jahre alt, hat es seit Monaten schwer mit sich und ihrer Umwelt. Ständig wird sie geplagt von dem bohrenden Gefühl, dass niemand sie mehr leiden mag. Stundenlang sitzt sie auf ihrem Zimmer und fragt sich, welchen Sinn ihr Leben hat. Sie zeigt sich an nichts mehr interessiert und klagt über große Müdigkeit, da sie in der Nacht schlecht schläft und manchmal das Gefühl hat, überhaupt nicht geschlafen zu haben. In den Morgenstunden liegt sie hellwach in ihrem Bett, während die übrigen Familienmitglieder noch fest schlafen. Linda fühlt sich allein, obwohl unweit von ihr Eltern und Geschwister friedlich schlummern. Immer wieder klagt Linda über innere Leere; sie sieht am helllichten Tag alles düster. Jeder Gang fällt ihr schwer. In der Schule zeigt sie sich desinteressiert, die Leistungen lassen nach. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler machen sich manchmal lustig über sie und bezeichnen sie als nervig zickig und verbohrt. Lindas Eltern sind ratlos. Sie plagen sich mit Vorwürfen und zeigen zugleich phasenweise Unverständnis, da es Linda doch an nichts fehlt. Ihnen fällt es sehr schwer, auf ihr Kind zuzugehen. Linda weicht aus, manchmal geht sie mit Tränen in den Augen auf ihr Zimmer. Linda leidet unter einer Depression. Jeder von uns kennt das Gefühl, mal nicht so recht bei Laune zu sein. Wir fühlen uns matt, niedergeschlagen, müde und auch gereizt. Wir wollen wenig von der Welt wissen und ziehen uns zurück. Solche Erfahrungen sind Bestandteil 52
unseres Lebens. Entscheidend ist daran, dass derartige Phasen zum Glück auch wieder vergehen! In den meisten Fällen ist es sogar so, dass wir uns nach solchen Momenten des Zurückziehens in das Schneckenhaus deutlich besser fühlen. Wir zeigen uns interessierter, motivierter und gekräftigt. Das Leben kann weitergehen. Depressive Verstimmungen haben ihren Sinn, sind aus biologischer Sicht sogar durchaus wichtig, da sie dem Körper die Möglichkeit geben, sich zu regenerieren. Gänzlich normal sind diese depressiven Reaktionen, wenn ein plötzliches Ereignis in unser Leben tritt, das uns vorübergehend aus der Bahn wirft. Trennung oder der Tod eines lieben Menschen, der Verlust des Arbeitsplatzes sind solche Ereignisse, nach denen nichts mehr so zu sein scheint, wie es einmal war. Momente der Trauer und der Niedergeschlagenheit sind die zwingende Konsequenz. Der Körper würde sich geradezu selbst verraten, wollte er mit voller Leistungskraft reagieren und so tun, als sei nichts gewesen! Eine depressive Stimmung wird dann zur Störung, wenn sie über einen langen Zeitraum mit großer Intensität zu beobachten ist und gleichzeitig auch die Gedanken, Gefühle, Verhaltensweisen und Vorgänge in unserem Körper verändert sind. Über lange Zeit waren Fachleute der Meinung, dass Kinder und Jugendliche nicht an einer Depression erkranken können. Diese Haltung wurde mittlerweile aufgegeben. In Bezug auf den Schweregrad wird zwischen leichten, mittelschweren und schweren Depressionen unterschieden, die jeweils andere Formen der Behandlung nach sich ziehen. Behandlungsbedürftige Depressionen werden im Kindesund Jugendalter noch immer sehr selten erkannt und diagnostiziert. Typische Anzeichen sind auf verschiedenen Ebenen erkennbar bzw. beschreibbar: 53
• In der Stimmung Es zeigen sich Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Entwicklungstypische Merkmale sind bei Jugendlichen auch gereiztes Verhalten, hohe Irritierbarkeit, launisches Auftreten, grantiges Kontern und unablässige Nörgeleien. • Im Verhalten Die Betroffenen zeigen fehlendes Interesse an Dingen und Aktivitäten, die ihnen früher durchaus Freude bereitet haben. Sie neigen mitunter zu Tränenausbrüchen und Weinen. Der Gesichtsausdruck ist verarmt. Oft ist ein völliger Rückzug von Beziehungen in der Familie und vom Freundeskreis zu beobachten. Das leiseste Wort der Kritik kann schon eine heftige Ärgerreaktion auslösen. • In der Schule Es stellen sich Denk- und Konzentrationsstörungen ein. Vielfach bleiben die Schülerinnen und Schüler hinter ihren möglichen Fähigkeiten zurück. Umfangreiche Schulschwierigkeiten bis hin zur Schulverweigerung sorgen für Spannungen. • Im körperlichen Bereich Jugendliche mit Depressionen klagen über Müdigkeit und Energielosigkeit. Sie haben Schlafstörungen bzw. ein gesteigertes Schlafbedürfnis. Ihr Appetit ist entweder stark vermindert oder deutlich gesteigert. Sie klagen über MagenDarm-Beschwerden oder andere Symptome. • In der Gedankenwelt Das Selbstwertgefühl ist ausgesprochen niedrig. Die Betroffenen haben kaum noch Zutrauen in die eigenen Fähigkei54
ten, sie hängen pessimistischen Gedanken an, fühlen sich hilflos und von Schuldgefühlen gepeinigt, die Ergebnis negativer Selbstzuschreibungsprozesse sind. In Extremfällen kommen Gefühle auf, nicht mehr leben zu wollen. Selbstmordgedanken setzen ein. Von einer Depression spricht man dann, wenn mehrere der hier aufgelisteten Beobachtungen gleichzeitig und mit großer Intensität über einen bestimmten Zeitraum vorhanden sind. Auslöser einer Depression können belastende Lebensumstände wie Trennung der Eltern, längere Trennung von einem Elternteil, Umzug oder Verlust wichtiger Bezugspersonen, Gewalterfahrungen und sexueller Missbrauch, chronischer schulischer Leistungsstress, Überforderung oder Ausgrenzung aus der Gruppe der Gleichaltrigen sein. Depressionen können aber auch ohne offensichtliche Auslöser oder erst längere Zeit nach belastenden Ereignissen auftreten. Mit der Pubertät weisen etwa 4 – 8 % der Kinder im Schulalter Symptome einer Großen Depression auf; bei ihnen zeigen sich über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen die beschriebenen Erlebens- und Verhaltensweisen. Im Alter von 18 Jahren haben bereits mehr als 15 % eine Phase einer solchen Depression erlitten. An chronischen Depressionen, bei denen (wenn auch in abgeschwächter Form) die Symptome über mindestens ein Jahr auftreten, leiden ca. 2 – 6 % der Jugendlichen. Im Alter von 18 Jahren haben bereits mehr als 5 % eine längere Phase einer chronischen Stimmungsbeeinträchtigung erlebt. Ab dem 15. Lebensjahr sind Mädchen deutlich häufiger von Depressionen betroffenen als Jungen; die Auftretensrate ist fast doppelt so hoch. Mädchen erleben in der Regel auch schwerere depressive Episoden. Untersuchungsergebnisse von Langzeitstudien zeigen 55
deutlich, dass sich bei Nichtbehandlung depressive Störungen verfestigen und im Lebenslauf immer wieder auftreten. Kinder und Jugendliche mit einer depressiven Störung tragen ein erhebliches Risiko, auch im weiteren Verlauf unter anhaltender und wiederkehrender Depression sowie anderen psychischen Störungen und Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Lebensbereichen zu leiden. Das Risiko eines Rückfalls ist groß und liegt zwischen 25 % nach einem Jahr und 75 % nach fünf Jahren. Das Zeitalter der jugendlichen Melancholie ist schon vielfach beschrieben worden. Tatsache ist, dass die 15- bis 24-Jährigen ein deutlich höheres Depressionsrisiko haben. Zudem ist unbestritten, dass sich das Alter bei Beginn der Störung bei jüngeren Jugendlichen nach vorne verschiebt. Immer mehr Jüngere leiden demzufolge unter einer Depression. Das Max-Planck-Institut in München sieht in der Zunahme depressiver Störungen in den vergangenen Jahren sogar epidemische Züge; die Verdopplung depressiver Erkrankungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen führen Vertreter des Instituts u. a. auf die veränderten Bedingungen des Aufwachsens heute zurück. Erschwerend für die Erstellung einer Diagnose ist die Tatsache, dass die Erscheinungsbilder einer Depression sehr vielfältig und entwicklungsabhängig sind. Außerdem treten Depressionen häufig gemeinsam mit anderen Verhaltensund Erlebnisproblemen auf: • Angststörungen (gehen den Depressionen auch häufig voraus), • Aggression, oppositionelles Trotzverhalten sowie Gesetzesverstöße, • Überaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen, • Essstörungen, 56
• Drogen- oder Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit, • genannte somatoforme Störungen (Magen-DarmStörungen u.a.). Depressionen sind leise Störungen. Erst dann, wenn sich emotionale Störungszeichen, die sich zu einem großen Teil auf der Gefühls- und Gedankenebene abspielen, deutlich im körperlichen Bereich oder im Verhalten zeigen und in emotionalen Krisen zuspitzen, werden sie in der Regel wahrgenommen! Der Umgang mit depressiven Jugendlichen (s. u.) gestaltet sich nicht einfach. Oft sind es jedoch auch die Einstellungen der Erwachsenen, die ein angemessenes Auftreten verhindern. Für gewöhnlich tun sich Erwachsene schon schwer, Depressionen bei Verwandten und Bekannten im Erwachsenenalter ernst zu nehmen. Sie stehen, so sie überhaupt über das Problem informiert wurden, den Betroffenen peinlich berührt und hilflos gegenüber, sie reagieren mit Allerweltsfloskeln oder lästern in Abwesenheit der Erkrankten über deren Weinerlichkeit, Bequemlichkeit oder fehlenden Willen. Sie weichen dem Depressiven nach Möglichkeit aus, da sie es kaum ertragen können, einen Menschen in einer derartigen Gemütslage zu sehen – eine für den Betroffenen unter Umständen verletzende und tragische Reaktion, zugleich auch eine menschliche oder erklärbare, denn Depressionen sind quälend. Wie schwer mag es dann für manchen Erwachsenen sein, seinem Kind depressives Erleben zuzubilligen? So ist es häufig anzutreffen, dass Eltern den emotionalen Druck, den das Kind erlebt, herunterspielen. Sie halten die starken Gefühlsäußerungen des Jugendlichen für völlig übertrieben, was zur Folge hat, dass sich Sohn oder Tochter erst recht nicht verstanden fühlen und sich vermehrt zurückziehen. 57
Manchmal ist es auch so, dass Eltern auf Grund eigener (Beziehungs-) Probleme nicht in der Lage sind, sich auf die Probleme ihres Kindes in angemessener Weise einzulassen. Das Kind erfährt auf diese Weise nicht einmal ansatzweise eine angemessene Reaktion. Die größte Hürde dürfte für viele Eltern damit zu nehmen sein, die Störung des Kindes zu akzeptieren – also anzunehmen, dass es in der Familie eine Depression gibt! Damit einher geht das Schutzverhalten vieler Eltern, die schnell dazu neigen, die unerwünschte Entwicklung anderen zuzuschieben. In solchen Fällen wird dann zum Beispiel einsetzendes Schulschwänzen mit dem schon stets inkompetenten Lehrer X in Verbindung gebracht, der es nie so richtig verstand, die Schülerinnen und Schüler für seinen Unterricht zu begeistern. „Hintergründe und Ursachen von Depressionen sind vielfältig. Man stellt sich das am besten so vor: Die depressive Reaktionsfähigkeit eines Menschen ist im Grunde genommen etwas ganz Ähnliches wie die Fähigkeit, bei Infekten Fieber zu produzieren. Das ist eigentlich eine sehr sinnvolle Einrichtung der Natur. Sie zwingt den Menschen zur Kurskorrektur. Als Ursache oder Auslöser für depressive Entwicklungen von Kindern und Jugendlichen in der Schule kommt Folgendes in Betracht: Eine wachsende Zahl von Schulkindern hat in ihrer sozialen Entwicklung überwiegend eine Zweierbeziehung erlebt. Diese Kinder haben nicht gelernt, sich in einer Gruppe zu behaupten und sich an der Gleichaltrigengruppe zu orientieren. Sie erleben Schule als Stressor, was bei ihnen auf Dauer Depressionen auslösen kann. Zweitens wirkt sich in der Schule zunehmend die Weltsicht der Eltern aus, wonach Lebenserfolg vom Schultyp und Leitungsstatus abhängt. Diese Sichtweise führt zu chroni58
scher Überforderung vieler Schüler, die möglichst hohe Schulabschlüsse bringen müssen. Drittens begreifen Lehrkräfte manchmal nicht, dass das soziale Überleben in der Gruppe für Kinder im Schulalltag oft viel wichtiger ist als ihr Zensurenniveau. Sie merken nicht, dass ein Kind ausgegrenzt oder ständig gehänselt wird und als Folge eine Depression entwickelt. Viertens wird häufig unterschätzt, wie negativ sich problematische, meist depressive, desorganisierte Lehrerpersönlichkeiten auf Schüler auswirken können.“ (Dr. Ulrich Rabenschlag) Familiären und schulischen Zusammenhängen werden in der Forschung einhellig Schlüsselfunktionen bei der Entwicklung von Störungen eingeräumt. Daher sei nun auf diese für Jugendliche bedeutenden Sozialisationsinstanzen etwas ausführlicher eingegangen. Es wäre sicherlich völlig vereinfacht, wollte man behaupten, ein problematisches Elternhaus bedinge gewissermaßen automatisch eine Depression. Auch Kinder in intakten und erfolgreichen Familien können depressiv werden. Somit sind die Umstände, die zu einer solchen Störung führen können, weitaus komplexer. Sicher ist, dass Kinder und Jugendliche, in deren Familien Konflikte vorherrschend sind, deutlich eher gefährdet sind. Konflikte gibt es in jeder Familie; sie stellen sich immer wieder ein. Wichtig scheint jedoch für das Erleben der Jugendlichen zu sein, in welcher Weise mit Konflikten verfahren wird. Familien, in denen weniger unterstützend und in einem eher spärlichen Kommunikationsstil mit Problemen verfahren wird, unterstützen damit ein Klima, das die Seele auf Dauer belastet. In der Pubertät ist in aller Regel das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern angespannter als in den Zeiten zuvor. 59
Kommt zu diesem Reizklima ein ohnehin wenig wohlwollender Stil des Umgangs miteinander hinzu, so wird es für alle Beteiligten noch schwerer. Jugendliche, die in Kindeszeiten ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern hatten, das von Verständnis und Aufmerksamkeit geprägt war, durchleben erfahrungsgemäß die Pubertät als nicht so konfliktträchtig. Dies spricht für eine Fortsetzung oder zumindest für die Gewährleistung eines Erziehungsklimas, das vom Prinzip des Miteinander-Redens geprägt ist! Somit gilt: Die Aushandlungsfamilie, wie es der bekannte Entwicklungspsychologe Fend einmal formulierte, hat bessere Chancen! Nicht zu vergessen ist, dass die betroffenen Jugendlichen grundsätzlich ihre Familien als angespannter und konfliktreicher erleben als andere Familien. Es kann selbst in intakten Familien jedoch passieren, dass auf Grund der ständigen Reibungen Kinder von ihren Eltern – als Reaktion auf die unerwartete Streitlust und unerklärliche Unzufriedenheit – immer wiederkehrende negative Rückmeldungen erfahren, die dauerhafte Selbstwertkränkungen bewirken. Dies wäre ein klassisches Beispiel für einen Aufschaukelungsprozess. In Familien mit depressiven Kindern herrscht oft ein strafendes und kontrollierendes Erziehungsklima vor. Damit einher gehen wutgefärbte Angriffe gegen das Kind, was dem Selbstwertgefühl drastisch schadet. Solche Eltern machen emotionale Zuwendung von dem blinden Gehorsam des Kindes abhängig. Undemokratisches Erziehungsverhalten kann den Nährboden für Depressionen darstellen. Schließlich sei noch auf den Aspekt der Gestaltung des Alltagslebens in Familien hingewiesen. Depressive Jugendliche berichten, dass ihre Eltern sehr wenig oder nichts mit ihnen unternehmen. Das heutige Berufsleben bringt ein hohes Maß an Verpflichtungen und Terminüberschneidungen mit sich. Eltern sind daher froh, wenn sich ihre Kinder wenig fordernd zei60
gen, was das familiäre Miteinander belangt. Sie werten voreilig die Zurückhaltung oder gar Zurückweisung ihrer Kinder als grundsätzlichen Wunsch, allein gelassen zu werden. Bleiben Missverständnisse dieser Art unangesprochen, so entwickelt sich schnell ein feindseliges Klima, das Kinder und Jugendliche dann auch schnell auf die Außenwelt übertragen. Gemeinsame Aktivitäten aber können Entspannung und Klarheit bringen und Kommunikationsstörungen die Spitze nehmen. Der Anteil von Kindern mit depressiver Problematik an den Regelschulen ist beachtlich. Es ist davon auszugehen, dass sich in jeder normalen Schulklasse etwa 2-3 Schülerinnen und Schüler mit einer mehr oder minder stark ausgeprägten depressiven Symptomatik befinden! Die Mehrzahl von ihnen bleibt auch heute noch unentdeckt. Bei Kindern mit Lernschwierigkeiten sind Depressionen häufiger anzutreffen. Die Bewältigung der Schülerrolle stellt eine zentrale Aufgabe des Kindes- und Jugendalters dar. Schulischer Misserfolg aber gilt als großer Risikofaktor für die Entwicklung von Depressionen. Schulschwierigkeiten mit einer depressiven Störung in Verbindung zu setzen, setzt voraus, dass die Leistungen der betroffenen Schüler unerwarteterweise und nicht durch andere Umstände erklärbar von den sonst üblichen Leistungen abweichen und auch im Verhalten Kennzeichen einer depressiven Reaktion festzustellen sind. Vor allem die Übergänge von der einen Schulform zur anderen sind zentrale Stellen der Selbstwertentwicklung und der Entfaltung von Kompetenzgefühlen. Mit dem Moment der Entwicklung von Überforderungsgefühlen setzt eine lang anhaltende psychische Belastung ein, die in Angst und Depression münden kann. Das Selbsterleben depressiver Schülerinnen und Schüler ist negativ gefärbt. So bedroht eine schlechte Bewertung, 61
auf die sie höchst sensibel reagieren, ihr inneres Gleichgewicht; einmaliges Versagen wird generalisiert. Schülerinnen und Schüler mit depressiven Störungen neigen zu Verzerrungen der Wirklichkeit, werten den Schulalltag in seiner Gesamtheit häufig als unerträglich und flüchten vor Vergleichsprozessen jedweder Art. Im Grunde kann Schule ihrem hohen Bedürfnis nach Anerkennung und Beachtung nicht entsprechen; zugleich geraten sie mit Mitschülerinnen und Mitschülern in Konflikte, da sie als anders gelten. Solche und andere Formen des Erlebens stellen betroffene Jugendliche unter extremen Druck. Mitunter reagieren sie darauf, indem sie die Kontrolle verlieren oder in die innere Emigration gehen. Ausbleibender sozialer Akzeptanz bzw. soziale Ausgrenzung kann eine tiefer gehende Depression auf dem Fuße folgen. Die Beurteilung von depressiven Tendenzen ist somit hoch komplex. Es ist schwierig, eindeutige Faktoren zu benennen, die letztendlich in eine Störung münden. Es können die erwähnten großen Schwierigkeiten und Ereignisse verantwortlich gemacht werden, es kann jedoch sehr wohl der tägliche kleine Ärger sein, der dazu führt. In diesem Zusammenhang schafft die Erklärung der depressiven Spirale weitergehende Klarheit. Prozesse der sozialen Isolierung und der Nichtbewältigung von Aufgaben führen in ihrer Konsequenz zu weiteren emotionalen Belastungen und verschlechtern die ohnehin beeinträchtigte Befindlichkeit des Jugendlichen. Die Stufen dieser Spirale stellen sich wie folgt dar: 1. Der Jugendliche fühlt sich niedergeschlagen … 2. Er hat keine positiven Erlebnisse … 3. Seine Stimmung wird schlechter, er tut nur das Nötigste … 4. Er hat fast nichts mehr, an dem er sich erfreuen kann … 62
5. Die Stimmung hat ihren Nullpunkt erreicht, alles wird zuviel. Gelangen wir nun zu allgemeinen Erklärungsansätzen für die Entstehung depressiver Störungen. Das Spektrum der Ansätze ist breit. An dieser Stelle sei auf das entwicklungsorientierte Störungskonzept verwiesen, das Eltern umfangreiche Einsichten bietet. Es geht von folgenden Überlegungen aus: • Die moderne Säuglingsforschung ist zu dem Schluss gekommen, dass Säuglinge bereits mit unterschiedlichen Entwicklungsvoraussetzungen geboren werden; besondere Bedeutung haben in diesem Zusammenhang die jeweiligen Temperamentsfaktoren und die Fähigkeit zur Regulation der Affekte. Es gibt daher Menschen, die mit einer Tendenz zu negativen Emotionen und zur leichten Aktivierbarkeit eines Systems der Vermeidung zur Welt kommen. • Der von Geburt an kompetente Säugling tritt mit der ersten Minute seines Lebens in Kontakt bzw. Interaktion mit seiner Umwelt, vorrangig mit seinen Bezugspersonen. Dabei macht er reale und von ihm emotional bewertete Erfahrungen, die die Grundlage bilden für sein eigenes Selbst-Verständnis, für seinen Bezug zur Welt. Mit diesen frühen Interaktionsprozessen entwickelt sich vor allem die soziale Rückversicherung des Kindes. Den Eltern kommt als zentralen Bezugspersonen die Aufgabe zu, das Kind bei der Regulation seiner Emotionen zu unterstützen. Bezugspersonen, die die emotionalen Spannungen ihrer Kinder nicht angemessen herunterregulieren oder sie überregulieren, versetzen diese in einen permanenten Spannungszustand, der Quelle von Entwicklungsstörungen sein kann. Auf der anderen Seite kann durch Über63
behütung/Überfürsorge jegliche Emotionsäußerung des Kindes herunterreguliert werden: Das Kind läuft Gefahr, eine autonome Erregungssteuerung gar nicht zu erlernen. • Bindung ist eine Qualität der gegenseitigen Beziehung, die vor allem in den ersten Lebensmonaten zu einer Bezugsperson aufgebaut wird. Die Erfahrung einer sicheren Bindung ist die Grundlage für die Entwicklung späterer sozialer Beziehungen. Gestörte Bindungsprozesse können Schwierigkeiten in der sozialen und emotionalen Entwicklung eines Kindes nach sich ziehen. Unsicher gebundene Kinder fühlen sich schnell ungeliebt, ihr Selbstwertgefühl ist mäßig entwickelt, es gelingt ihnen sehr schlecht, Emotionen zu regulieren und kompetent mit Stress jedweder Art umzugehen. Probleme im Umgang mit negativen Gefühlen können dazu führen, dass sich das Kind geradezu überschwemmt fühlt. • Entsprechend den Lebenserfahrungen, die ein Mensch insbesondere in seinen ersten Lebensjahren macht, entwickelt er eine Grundüberzeugung darüber, inwieweit das Leben Sinn hat, ob es überhaupt eine Möglichkeit gibt, etwas vorauszusehen oder zu kontrollieren, ob es sich lohnt, sich zu engagieren bzw. für etwas einzusetzen. Damit verbunden ist die grundsätzliche Frage, in welchem Umfang es einem Menschen gelungen ist bzw. gelingt, auf seine Fähigkeiten und verfügbaren Mittel zu vertrauen bzw. gesetzte Ziele auch durch Überwindung von Hindernissen zu erreichen. Das Erleben von Selbstwirksamkeit ist der entscheidende Faktor! Die Ergebnisse der Säuglingsforschung haben gezeigt, dass die Wurzeln für die Entstehung des Selbstwirksamkeitserlebens schon in der Zeit zwischen dem 6. und dem 9. Lebensmonat liegen! Fehlendes Kontroll- oder Selbstwirksamkeitserleben aber führt zu Stress, zu erlernter Hilflosigkeit, zu Gefühlen von kompletter Handlungsunfähigkeit! 64
• Jedes Individuum hat im Verlauf seines Lebens die mehrfach erwähnten Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Zusätzlich ergeben sich immer wieder neue Belastungsfaktoren, die es zu meistern gilt. Risiko- und Schutzfaktoren sind dabei besonders in Kindheit und Jugend zu berücksichtigen. Ihr Vorhandensein bzw. ihr Fehlen wirken sich nachweislich auf Verhinderung bzw. Entstehen einer Störung aus. Als Schutzfaktoren in personaler und sozialer Hinsicht gelten: - Kognitive Kompetenzen, - Fantasie, - die Erfahrung vom Sinn und einer Bedeutung der eigenen Existenz, - körperliche Attraktivität, - die Existenz mindestens einer stabilen emotionalen Beziehung zu einer primären Bezugsperson, - Bindungsfähigkeit, - ein emotional warmes, offenes und klar strukturiertes Erziehungsverhalten der Bezugspersonen, - soziale Unterstützung außerhalb der Familie durch andere Erwachsene, - Einbindung in Gleichaltrigengruppen, - sichere sozioökonomische und gute schulische Bedingungen. Die Einleitung dieses Buches machte den tragischen Freitod des Jungen aus dem Aachener Raum zum Thema. Der empirisch ermittelte Tatbestand, dass der Suizid zu den häufigsten Todesursachen im Jugendalter gehört, lässt Beobachter aus nachvollziehbaren Gründen aufschrecken. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht jeder Freitod eines Jugendlichen vorher als solcher deklariert wurde. Es muss zusätzlich von suizidalen Neigungen bzw. von suizidalem Verhalten ausgegangen werden, das weit verbreitet ist und auch tödlich 65
enden kann. Hier ist zum Beispiel das unverantwortliche Fahrverhalten junger Führerscheinbesitzer an erster Steile zu nennen. Es ist kaum oder nur schwer zu klären, inwiefern extrem risikobereites Fahren mit dem Gedanken verbunden war, dass sich das Leben doch nicht mehr lohnt. Untersuchungen belegen, dass die Zahl der Suizidversuche etwa um das Dreißigfache höher liegt als die Zahl der gelungenen Suizide. Unumstritten ist, dass es im Jugendalter zu einem drastischen Anstieg von Selbsttötungen und Selbsttötungsversuchen kommt. Das Jugendalter ist neben allen positiven Entwicklungen auch ein Alter der negativen Zukunftserwartungen und der generellen Angst, dem Leben nicht mehr gewachsen zu sein. Zu den allgemeinen Risikofaktoren gehören neben der Depressivität Gehemmtheit, lang anhaltende Gefühle der Hilf- und Hoffnungslosigkeit, Affektlabilität, übersteigerte Ängstlichkeit, die so genannten posttraumatischen Zustände (Erleben nach einem schwerwiegenden Ereignis wie der Tod eines lieben Menschen, sexuelle Gewalt … ) und alle schweren psychiatrischen Störungen. 40 % aller Suizide und Suizidversuche im Jugendalter gehen auf depressive und Angststörungen zurück, 20 % auf die dissozialen Störungen; Selbsttötungen im Zusammenspiel mit hohem Alkoholkonsum sind ebenfalls häufig. Kein Jugendlicher bringt sich unvermittelt um. Diesem Schritt gehen oft Monate der suizidalen Stimmungen und Gedanken voraus. Das Problem liegt in erster Linie darin, dass wir nur schwer in Erfahrung bringen können, welche Gedanken konkret jemand hegt. Im Allgemeinen stellen familiäre Konflikte, Probleme in der Partnerschaft und Schulprobleme die wichtigsten Auslösefaktoren für einen Suizid dar! Geradezu typisch für Selbsttötungen sind die sich in vielen Fällen einstellenden bohrenden Fragen nach den Ursa66
chen. Gerade Angehörige und enge Freundinnen und Freunde würden gerne einen klar beschreibbaren Auslöser isolieren können, um sich überhaupt irgendwann mit dem Gedanken vertraut machen zu können, dass ein lieber Mensch seinem Leben ein Ende gesetzt hat. Suizidanlässe dürfen aber keineswegs mit Suizidursachen verwechselt werden! Der Anlass wird oftmals zum Auslöser – es ist der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Ein für Außenstehende noch so geringfügiges Ereignis kann die Bereitschaft zur Selbsttötung verstärken. Jugendliche kündigen den geplanten Suizid häufig im Voraus an. Wenn es schon einmal zu einer solchen negativen Entwicklung gekommen ist, ist dies ist somit die Phase in der Begleitung eines gefährdeten Jugendlichen, in der besondere Aufmerksamkeit gefragt ist. Dabei ist es völlig falsch, davon auszugehen, dass derjenige, der vom Suizid redet, sich in der Regel nicht umbringt. Als Warnsignale können gewertet werden: - ein plötzliches Verschenken lieb gewonnener Dinge, - Äußerungen wie: „Es wäre besser, wenn es mich nicht mehr gäbe!“ oder „Mich will ja ohnehin keiner haben!“, - wiederholtes Weglaufen von zu Hause, ohne dass der konkrete Grund erarbeitet werden kann, - Aufgabe von Verabredungen, Hobbys und Aktivitäten, - Schulverweigerung mit Blockade gegenüber allen Vermittlungsversuchen, - das Verfassen von kleinen Mitteilungen und Briefen, die stark negativ und traurig gefärbt sind bzw. versteckte Appelle beinhalten, - die Bevorzugung von Filmen oder Liedern extrem düsteren Inhalts, - starke Vernachlässigung des eigenen Aussehens, - Schulversagen und 67
- übermäßiger Konsum von Drogen und Alkohol. Das frühzeitige Erkennen von Signalen und Alarmzeichen gehört also zu den entscheidenden Möglichkeiten, suizidales Verhalten zu verhindern. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass mit ihrem Erkennen schon eine Entwicklung ihren Lauf genommen hat, die als sehr ernsthaft zu bezeichnen ist. Vorbeugen ist demzufolge die beste Medizin. Wer auch nur den Verdacht hat, dass ein Kind oder ein Jugendlicher aus dem unmittelbaren Umfeld Suizidgedanken hegt, der sei unter allen Umständen alarmiert. Es geht darum, schnell wirksame Hilfe einzufordern, ohne den Betroffenen in verstärkende Verwirrung zu bringen. Mit dem Hinweis auf Aspekte der Vorsorge soll nun wieder die Depression im Vordergrund der Betrachtungen stehen. Bevor unmittelbare Tipps formuliert werden, sollen Fragen an Erziehende Orientierung geben. Die aufrichtige Beantwortung dieser kann in dem Bemühen unterstützen, depressiven Entwicklungen vorzubeugen: 1.
2.
Inwiefern nutzen wir den Erziehungsalltag mit unseren Kindern, über Gefühle zu reden und sie zu benennen? Halten wir uns zurück in der voreiligen Bewertung dieser? Vermitteln wir unserem Gegenüber den glaubhaften Eindruck, dass wir Gefühle sehr ernst nehmen? Haben wir die geeigneten Mittel, auf Gefühlsäußerungen adäquat einzugehen, indem wir sie weder herunterspielen noch sie wegzudrücken versuchen? Vermitteln wir ausreichend Hinweise, wie belastende Gefühle in den Griff zu bekommen sind? Zeigen wir gleichzeitig klare Grenzen, wenn ein Kind die falschen Mittel (z. B. das Schlagen) wählt, seinen negativen Gefühlen Ausdruck zu verleihen? In welcher Weise reagieren wir selbst bei Konflikten? 68
3.
4.
5.
6.
7. 8.
9.
Vermitteln wir unseren Kindern, dass wir grundsätzlich wenig Bereitschaft zeigen, uns diesen zu stellen? Bewerten wir sie voreilig als konstruiert und daher völlig unnötig? Zeigen wir selbst im Konfliktfall schnell Symptome der Überlastung bzw. des Verdrängens? Verbinden wir mit aufkommenden Spannungen, die häufig mit Kritik verbunden sind, indirekte Bestrafungsmechanismen, indem wir uns grenzenlos enttäuscht oder gar wütend zeigen? Haben wir die nötige Geduld, eine Krise gemeinsam mit unserem Kind durchzustehen? Oder machen wir uns und unseren Kindern Druck? Akzeptieren wir, dass in jeder Erziehung grundsätzlich Fehler gemacht werden, die dann auch zur Sprache kommen können? Wie gehen wir grundsätzlich mit Anerkennung um? Achten wir darauf, unsere Kinder im ausreichenden Maße zu loben? Signalisieren wir ihnen im alltäglichen Miteinander, dass wir sie schätzen, dass wir auch mit ihren kleineren und größeren Schwächen leben können und wollen? Hüten wir uns zugleich vor einer Inflation des Lobs, die eine realistische Selbsteinschätzung des Kindes nur blockiert? Können wir unserem Kind Ermutigung zusprechen, und sind dabei Erfolge zu verzeichnen? Ermutigen wir dabei auch zu einem Verhalten, das der Lernsituation und seinen Kompetenzen angemessen ist? Bieten wir unserem Kind den regelmäßigen Raum, mit uns überhaupt ins Gespräch zu kommen? Zeigen wir Bereitschaft zu Selbstkritik, oder verstehen wir uns eher als wissende, allmächtige und damit unfehlbare Erziehungsinstanz, der es unter allen Umständen Respekt zu zollen gilt? Wie gehen wir insbesondere mit Gefühlen von Trauer, 69
Ärger und Wut um? Geben wir diesen Gefühlen Raum? 10. Neigen wir dazu, Stress, den wir erleben, auf unsere Kinder zu übertragen, sie gar dafür indirekt verantwortlich zu machen? Ist das Kind bereits in den Brunnen gefallen, so gibt es klare Vorgaben, den unmittelbaren Umgang mit einem depressiven Kind oder Jugendlichen zu gestalten. Dieser Ratschläge sollte man sich annehmen und zugleich Rat und Hilfe einholen. Denn: Depressionen verschwinden nicht von selbst! Bevor therapeutische Schritte, über deren Art und Ausmaß im Einzelfall entschieden werden muss, eingeleitet werden, kann man den Betroffenen durch bedachtes Auftreten Halt geben: • Nehmen Sie sich die Zeit, die Ihr Kind braucht! Jugendliche mit Depressionen haben sehr oft das Gefühl, dass sie allen zur Last fallen. In dieser Phase hilft es ihnen, das Gefühl zu bekommen, dass auf Sie als Erziehende Verlass ist. Ein solches Gefühl kann sich aber nur entwickeln oder wieder einstellen, wenn die nötige Zeit aufgebracht wird. Nicht selten entwickeln sich auch depressive Verstimmungen, weil eben das Gefühl im Raum steht, dass niemand Zeit aufbringen will. • Schrecken Sie nicht davor zurück, Ihr Kind unmittelbar auf das Problem anzusprechen! Bieten Sie, wie oben bereits erwähnt, Ihre Hilfe an. Dringen Sie dabei nicht zu sehr in Ihr Kind ein. Die Botschaft genügt zumeist. Ihr Sohn/Ihre Tochter wird sich dann an Sie wenden, wenn es soweit ist. Den Zeitpunkt sollte aber Ihr Kind bestimmen können. • Meiden Sie unter allen Umständen Botschaften wie: „Reiß dich zusammen!“, „Sei doch nicht so faul!“, „Unternimm doch mal endlich etwas, du kommst ja kaum aus 70
dem Haus heraus!“, „Kann doch alles nicht so schlimm sein!“, „Was kannst du dir denn in deinen jungen Jahren schon für Sorgen machen?“, „Sei nicht undankbar, du hast doch alles, dir fehlt es an nichts!“, … • Denken Sie gezielt darüber nach, in welcher Weise Sie das Selbstbewusstsein Ihres Kindes stärken können! • Fördern Sie Kontakte Ihres Kindes mit Gleichaltrigen. • Helfen Sie bei der Überwindung von Schwarz-WeißDenken! Den meisten Jungendlichen gelingt es nur sehr schwer, ihr Denken in diesen schwarz-weißen Kategorien zu überwinden. Sie neigen dazu, alles abgrundtief schlecht zu finden. Begeben Sie sich mit ihnen auf die Suche nach den Grautönen, wenn schon nicht alles super sein kann. Denken Sie daran, dass ein einziges schlechtes Ereignis schon bewirken kann, dass Ihr Kind dies als endgültige Bestätigung sieht: Nichts lohnt mehr! So sind es häufig eine schlechte Note oder eine Zurückweisung im Freundeskreis, die zum Anlass genommen werden, die Welt in noch düstereren Farben zu sehen. Da der Zusammenhang mit schulischen Problemen wiederholt hervorgehoben wurde, schließen sich nun unmittelbare Empfehlungen an Lehrerinnen und Lehrern an, denn ihre Wahrnehmung und ihre Reaktion wirken sich häufig entscheidend bei der Fragestellung aus, ob auf eine depressive Entwicklung frühzeitig reagiert wird: •
Suchen Sie das Gespräch mit den Eltern! Berücksichtigen Sie dabei, dass Sie sich auf ein höchst sensibles Gebiet begeben. Der Respekt vor einer solchen Gesprächssituation sollte Sie jedoch nicht veranlassen, den Kontakt zu meiden. Bevor Sie nach der momentanen familiären Situation fragen, stellen Sie in allen Einzelheiten dar, welche Beobachtungen Sie 71
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gemacht haben. Vermeiden Sie jede Diagnosestellung oder auch nur die Vermutung einer Diagnose, denn das ist das Gebiet der Experten. Suchen Sie vielmehr Einigkeit mit den Eltern in der Wahrnehmung, dass es dem betroffenen Schüler/der Schülerin schlecht geht. Erfragen Sie Hintergründe, die Sie im unmittelbaren Unterrichtsgeschehen nicht in der ausreichenden Weise wahrnehmen konnten. Versuchen Sie vor allem zu klären, ob das Kind Symptome der (schulischen) Überforderung auch im Elternhaus zu erkennen gab. Klären Sie ab, ob vielleicht Geschehnisse außerhalb des direkten Unterrichts eine Rolle spielen könnten. Wird das betroffene Kind von Mitschülern z. B. ausgegrenzt oder gehänselt (Mobbing)? Vermeiden Sie jede Wortwahl, die bei den Eltern den Eindruck aufkommen lassen könnte, sie hätten aus Unvermögen oder Gleichgültigkeit etwas versäumt. Solche und andere irritierenden Erkenntnisse lassen sich in einer späteren Beratung viel besser auffangen. Bieten Sie sich als Bündnispartner im Interesse des Kindes an. Lassen Sie dabei aber auch Freiraum für Rückfragen. Halten Sie das Gespräch dahingehend offen, dass die Eltern weitergehende Schritte mit Ihnen gemeinsam überdenken bzw. einleiten. Versuchen Sie das Vertrauen des Jugendlichen zu gewinnen! Zeigen Sie sich dabei behutsam und geduldig, denn Vertrauen – so es sich nicht ohnehin schon entwickelt hat – braucht Zeit. Achten Sie dabei darauf, dass Mitschülerinnen und Mitschüler nicht den Eindruck gewinnen, Sie würden sich um einen Problemfall kümmern. Wählen Sie nach Möglichkeit Unterrichtsformen, die etwas den Zeitdruck von dem Betroffenen nehmen 72
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und ihn nicht über Gebühr der Konkurrenzsituation von Unterricht aussetzen. Damit schaffen Sie Ruhezonen in einer ohnehin hektischen Grundsituation. Erfahrene Pädagoginnen und Pädagogen empfehlen in diesem Zusammenhang immer wieder Formen der Freiarbeit, die Luft schafft. Trainieren Sie die Selbstsicherheit des Jugendlichen! Geben Sie ihm z. B. dem Alter angemessene Sonderaufgaben, die es ihm ermöglichen, wieder etwas Boden unter den Füßen zu spüren. Stellen Sie dabei ohne Bedenken besondere Leistungen durchaus heraus. Sorgen Sie nach Möglichkeit für Ruhe im Klassenzimmer! Das ist in den Augen vieler aktiver Lehrerinnen und Lehrer ein frommer Wunsch. Bedenken Sie jedoch, dass Konzentrationsstörungen und erhöhte Aktivität Ausdruck einer depressiven Verstimmung oder Störung sein können. Nicht immer sind es die dummen und faulen Schüler, die einfach nicht verstehen wollen, dass der Ernst des Lebens die Einhaltung gewisser Spielregeln erfordert. Berücksichtigen Sie bei Ihren Bemühungen, dass Entspannungsübungen, leichte Rollenspiele und das Arbeiten im gestalterischen Bereich zwar arbeitsintensiv sein können und nicht in jeden Stundenplan passen, dass aber ihre Verwirklichung das Lernklima insgesamt positiv beeinflussen kann. Der depressive Jugendliche wird es Ihnen wortlos danken. Nehmen Sie in besonderer Weise alle stetig wiederkehrenden negativen Selbstbeschreibungen des jugendlichen Schülers wahr und sehr ernst – sie könnten der Hintergrund einer suizidalen Absicht sein. Binden Sie depressiv erscheinende Schüler und Schülerinnen nach Möglichkeit gezielt in die Klas73
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sengemeinschaft ein. Achten Sie darauf, dass sie Aufgaben erhalten, denen sie in Anlehnung an ihren Entwicklungsstand gewachsen sein müssten. Suchen Sie ggf. das Gespräch mit einem Schulpsychologen oder mit einem Kinder- und Jugendpsychiater.
„Die Arbeit mit depressiven jugendlichen und deren Eltern erfordert ein hohes Maß an Fingerspitzengefühl und Geduld. Oft ist auch der Hintergrund zu klären, ob bei einem Elternteil eine Depression vorliegt bzw. vorlag. Wir wissen nämlich, dass solche Erwachsenen die depressive Botschaft gewissermaßen an ihre Kinder weitergeben. Daher empfiehlt es sich in den meisten Fällen, bei der Behandlung das gesamte Familiensystem einzubeziehen. Dies wiederum ist mit großer Scheu bei den Familien verbunden, da sie befürchten, ein ganzes Haus könnte ins Wanken geraten.“ (Thomas Rauch, Diplom-Psychologe)
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5.2 Kalter Schweiß und Herzrasen– die Angst Fallbeispiel Nach einem aufregenden Tag in der Schule ist der 17jährige Peter bei drückender Schwüle im Bus auf dem Weg nach Hause. Der Gang zur Schule fällt ihm seit geraumer Zeit nicht leicht, da die Noten schlechter geworden sind. Eltern und Lehrer, so empfindet es Peter, nörgeln nur an ihm herum. Seine Freundin zeigt sich in den letzten Wochen verschlossen und sagt Treffen ab. Derzeit gibt es viel Unordnung in Peters Leben. Mit jeder Haltestelle füllt sich der Bus mehr und mehr. Die aufkommenden Gerüche empfindet Peter heute als besonders belästigend. Nähe – ein hinzu gestiegener Junge ungefähr gleichen Alters bedrängt Peter auf seinem Platz und macht großen Lärm – ist ihm sehr unangenehm. Die Hitze wird immer unerträglicher. Autos hupen unaufhörlich, die Menschen auf den Straßen wirken hektisch und gereizt. Peter wird übel. Kalte Schauer laufen über seinen Rücken. Sein Herz klopft bis zum Hals. Peter verspürt erst ein Kribbeln in Armen und Beinen, dann wird ihm schwindelig. Die Übelkeit nimmt zu. Peter verspürt Enge in der Brust. Die Kehle schnürt sich zu. Peter bekommt das Gefühl, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden. Verkrampft krallt er sich in das Sitzpolster. Die Blicke der Mitfahrenden machen ihn noch unsicherer. Peter glaubt zu ersticken, er schnappt nach Luft und atmet immer heftiger. Nichts hilft! Peter hält es nicht mehr aus. An der nächsten Haltestelle verlässt er fluchtartig den Bus. An der Halteselle auf unsicheren Beinen stehend, merkt er, dass alles etwas nachlässt. Nur langsam wird Peter ruhiger, nur 75
langsam gewinnt er wieder etwas Klarheit. Völlig verunsichert geht er auf wackeligen Beinen zu Fuß nach Hause. Dort zeigt er sich wortkarg, ist bedrückt. Peter geht früh schlafen. In der Nacht wacht er auf. Sein Herz klopft wieder. Peter begreift die Welt nicht und macht sich große Sorgen, dass es am nächsten Tag weiter geht. Peter hatte eine Panikattacke. Diese Form der Angststörung ist bei pubertierenden Jugendlichen sehr verbreitet. Sie bereitet den Betroffenen anhaltende Sorgen und verändert ihr gesamtes Leben. Die häufigsten Panik bewirkenden Faktoren sind Tod, Krankheit, Trennungen, Beziehungsprobleme oder schulische Überforderung. Panikattacken sind als Ausdruck von übermäßigem Stress zu interpretieren; sie sind eine (gesunde) Alarmreaktion bei lang anhaltender Überforderung. Wissenschaftler der Universität Bremen mussten im Rahmen einer Befragung bereits im Jahre 1999 die Feststellung machen, dass 18,6 % der Befragten schon einmal starke Angst davor hatten, mit anderen zu sprechen, dass sie schon einmal einen Angst- oder Panikanfall hatten oder sich über mindestens einen Monat lang ängstlich, beklommen und angespannt gefühlt haben. Andere Studien gehen davon aus, dass ca. 15 % der jugendlichen Schüler unter Ängsten leiden, 9-14 % der Schüler weisen körperliche Symptome ohne körperliche Ursachen auf. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie unterscheidet man im Wesentlichen fünf Angststörungen: • • • • •
Panikstörung Generalisierte Angststörung Agoraphobie (Platzangst) Spezifische Phobien Soziale Phobien 76
Im alltagssprachlichen Gebrauch wird zwischen Furcht und Angst unterschieden. Furcht empfindet der Mensch vor bestimmten Objekten und Situationen. So fürchten sich viele vor Hunden, Spinnen oder auch Mäusen, andere fürchten große Höhen oder das Fahren durch Tunnel. Zeigt man sich nicht mehr in der Lage, diese Furcht in den Griff zu bekommen, bekommt die Furcht krankhafte Züge – sie wird zur so genannten Phobie. Krankhafte Ängste werden als Angststörungen bezeichnet. Folgende Faktoren müssen gegeben sein, damit von einer Störung die Rede sein kann: • Es geht keine reale Bedrohung von einem Objekt oder einer Situation aus. • Selbst mit Beseitigung einer realen Bedrohung leidet der Betroffene. • Dieses Leid ist lang andauernd und stark. • Es gelingt nicht, das Ausmaß bzw. das Auftreten von Angst unter Kontrolle zu bringen. • Die erlebten körperlichen Symptome werden als große Belastung empfunden. • Im Laufe der Zeit ängstigen sich die Betroffenen bereits vor dem erneuten Auftreten bestimmter erlebter Ängste (Erwartungsangst). • Es fehlen Möglichkeiten, sich in angemessener Form zu beruhigen, man ist also hilflos den Ängsten ausgeliefert. • Mit zunehmender Angstkarriere werden Angst auslösende Situationen oder Objekte/Personen gemieden; man begibt sich zum Beispiel nicht mehr auf einen hohen Turm, weil sich beim letzten Besuch auf einem solchen heftige Ängste einstellten. • Die Aktivitäten des Alltags werden im zunehmenden Umfang eingeschränkt, weil immer mehr Situationen gemieden werden – soziale Isolation ist häufig die Folge. 77
Menschen können außerdem mit heftigen Angstzuständen reagieren, wenn sich krankhafte Prozesse im Gehirn abgespielt haben (z. B. die Epilepsie); sie können ausufernde Ängste zeigen, wenn sie eine schwere seelische Erschütterung wie einen Autounfall, einen Banküberfall oder eine Vergewaltigung erleben mussten. Oft jedoch ist der Teufelskreis der Angst durch Fehleinschätzungen in Gang gesetzt worden. Panikattacken führen weder zum Tode, noch lassen sie jemanden verrückt werden – dennoch erweisen sie sich als sehr belastende Störung. Daher bietet es sich an, sich zunächst mit grundsätzlichen Überlegen vertiefter auseinander zu setzen. Angst gehört zum Leben wie alle anderen menschlichen Gefühle auch. Freude, Liebe, Wut und Trauer bezeichnen wir schnell als Bestandteile des menschlichen Daseins – bei der Angst zeigen sich Vorbehalte dieser Sichtweise. Wir reagieren mit Angst auf tatsächliche oder vorgestellte Gefahren. Niemand würde unbekümmert auf ein Raubtier zugehen oder sich in ein Auto ohne Bremsen setzen: Im Angesicht des bedrohlich brüllenden Raubtiers würden wir – soweit noch möglich – die Flucht ergreifen oder, die Situation in der Vorstellung durchspielend, grundsätzlich jene Areale meiden, in denen Löwen, Tiger oder Pumas leben. Eine vernünftige Entscheidung! Bei einem bremsenlosen Auto würde uns der Verstand zur Hilfe eilen; wir würden schlussfolgern, dass eine Fahrt damit tödlich enden könnte – und einen hohen Bogen um das Gefährt machen. Eine Angstreaktion ist biologisch festgelegt; unsere Vorfahren wurden dadurch schon sinnvoll vor den Gefährdungen ihres Lebens geschützt. Ohne Angst würden wir wahrscheinlich nicht lange leben können, denn wir würden in Windeseile Opfer ständiger Selbstüberschätzungen. Somit ist Angst eine Kraft, die uns davor schützt, Dinge zu tun, die wir nicht abschätzen können. 78
Bis zu einem gewissen Grade kann sich auch die körperliche Alarmreaktion, die durch Angst eingeleitet wird, positiv für uns auswirken: Laufen wir zum Beispiel wegen nachlässigen Verhaltens am Arbeitsplatz Gefahr, diesen zu verlieren oder abgemahnt zu werden, veranlassen uns nächtliche Hitzewallungen und Herzklopfen dazu, unser Auftreten am Arbeitsplatz zu überdenken und in Zukunft zuverlässiger zu sein. Angst kann also ein Motor sein, sich zu schützen und Veränderungen in Angriff zu nehmen. Im Laufe der Entwicklung durchlebt jeder Mensch besonders intensive Phasen der Angst. In der Regel gelingt aber deren Überwindung, und eine weiter gereifte Persönlichkeit geht aus diesem Angsterleben hervor. Jedes Kind zum Beispiel erlebt Angst vor Fremden oder Angst vor der Trennung von den Eltern; hierbei ist es die schwierige Aufgabe der Erziehenden, diese und andere Ängste zuzulassen und dem Kind Hilfestellungen anzubieten, um die Angst zu überwinden. Gelänge dies nicht, würden wir die Eltern nie verlassen und Fremde gänzlich meiden. Es ist unmöglich, alle möglichen oder denkbaren Gefährdungen im Leben auszuschließen. Der Mensch zeigt sich als lebensfähig, wenn er unvermeidbare Ängste vor Krankheit, Verlust, Tod und Bedrohung durch Gewalt, Terror oder Krieg akzeptiert, sich in ausreichender Form davor schützt und trotzdem im Leben bleibt, ihm nicht ausweicht. Realistische Gefahren vermag er dabei einzuschätzen und entsprechend darauf zu reagieren. Doch nicht immer funktioniert dieses Prinzip: Viele Menschen nehmen einmal erlebte heftige Angst zum Anlass, sie unter allen Umständen aus ihrem Leben verbannen zu wollen. Dieser Versuch endet in einem Leben, das schnell seinen Lebenswert verliert. Angst führt zu messbaren körperlichen Reaktionen und Empfindungen. So raste im oben genannten Beispiel Peters 79
Herz, er schwitzte, seine Kehle schnürte sich zu. Im Grunde stellt sich der Körper mit Reaktionen wie Beschleunigung der Pulsfrequenz, Blutdruckanstieg, Beschleunigung der Atmung oder Muskelanspannung auf eine nötige Kampfreaktion ein – der Körper wird aktiviert, um schneller davonlaufen zu können, um sich mit aller Kraft gegen eine Bedrohung wehren zu können. Vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden mag dies sinnvoll gewesen sein, um vor gefährlichen Tieren schnell die Flucht ergreifen zu können. In unseren Tagen sind die gefährlichen Tiere eher spärlich vertreten – heute haben diese andere Namen, andere Gesichter, und manchmal nehmen sie lediglich in den Köpfen angsterfüllter Menschen Raum ein. Warum dies so ist, lässt sich sehr anschaulich durch eine exakte Beschreibung der körperlichen Reaktionen bei Angst erklären, denn gerade die sind es, die zu schaffen machen. Bei Angst ist mit unterschiedlichen Graden von Intensität der gesamte Körper in Aufruhr: Die Pumpleistung des Herzens wird erhöht und erweitert die Herzkranzgefäße, damit steigert sich der Blutkreislauf. Das Blut wird fünfmal schneller durch den Körper gepumpt, ist dabei stark angereichert mit Sauerstoff und Nährstoffen und gelangt u. a. zu den Skelettmuskeln, damit der Körper auf Kampf und Flucht vorbereitet ist. In Einzelfällen kann es zu durch schnelles Umschalten auf bis zu 180 Herzschlägen pro Minute zu ungefährlichen Rhythmusstörungen kommen; manchmal verkrampfen sich sogar die Herzkranzgefäße, was Druckgefühle in der Brust zur Folge hat. Symptome wie diese sind bei einem gesunden Herzen völlig harmlos und vergehen bald wieder. Dennoch bewerten die meisten Menschen solche als gefährlich und ziehen nicht in Betracht, dass sie im Zusammenhang mit ihrer Angst, ihrer Wut oder dem aufgekommenen Stress stehen. Schwindel, Kopfschmerzen, Ohrensausen und Flimmern 80
vor den Augen können auf die vorübergehende Steigerung des Blutdrucks zurückzuführen sein. Obwohl dies ständig befürchtet wird, ist es eben auf Grund der Steigerung des Blutdrucks kaum möglich, dass man bei lang anhaltender Angst in Ohnmacht fällt. Auch Erscheinungen wie Bauchschmerzen, eine blasse und kalte Haut, Kribbeln in Armen und Beinen sowie das Nachlassen des Appetits lassen sich auf relativ simple Weise erklären: Bei Angst schaltet der Körper automatisch auf die bessere Durchblutung durch Erweiterung der Blutgefäße jener Organe um, die dem Überleben dienen. Während zum Beispiel Herz und Lunge einen kräftigen Versorgungsschub erfahren, reduziert sich die Versorgung von Haut, Magen und Darm durch eine Verengung der Blutgefäße. Auch das Gehirn kann zu Beginn einer Angstreaktion mit Blut und Sauerstoff unterversorgt werden: Gefühle von Schwindel und der völligen Denklähmung sind die Konsequenz. Wird die Muskulatur vermehrt mit Blut versorgt, ist aber andererseits eine Fluchtreaktion nicht möglich, staut sich das Blut in der Muskulatur – man hat das Gefühl, nicht auf den eigenen Beine zu stehen oder nicht vom Fleck zu kommen. Gesunde Menschen tätigen in der Minute ca. 14 Atemzüge. In Angstsituation intensiviert sich die Atmung beträchtlich, da der Köper meint, mehr Sauerstoff aufnehmen zu müssen. Viele Menschen atmen dabei vermehrt durch den Mund bzw. entwickeln die so genannte Brustatmung. Mit dieser falschen Atmung wird sehr viel Sauerstoff eingeatmet und zu viel Kohlendioxid ausgeatmet. Der Kohlendioxidabfall bewirkt einen Mangel an Kalium im Blut, was wiederum zu einer Verkrampfung der Muskeln führt. Diese Anspannung der Muskeln führt zu Verengung der Blutgefäße – Taubheitsgefühle, Krämpfe in Lippen und Händen, das Empfinden von Kribbeln können die Folgen sein. 81
Angst schnürt durch Verkrampfung des oberen Teils der Speiseröhre die Kehle zusammen, sie vermindert den Speichelfluss und bewirkt Mundtrockenheit; sie vermindert die Hauttemperatur durch die Verengung der Blutgefäße der Haut, sie führt zu einer erhöhten Schweißdurchlässigkeit der Haut und lässt Schweißtropfen auf der Stirn erscheinen, sie beschleunigt den Stoffwechsel, lässt den Blutzuckerspiegel ansteigen und erweitert schließlich die Pupillen, um mehr Licht durchzulassen. Kurzum: Sie führt zu einer vermehrten Ausschüttung der Stresshormone, die den Körper in vielfältiger Weise aktivieren. Die Hormone des Nebennierenmarks (Adrenalin/Noradrenalin) leiten in kürzester Zeit eine Aktivierung des sympathischen Nervensystems ein – der Gegenspieler dieses für Leistung und Aktivität zuständigen Nervensystems, das parasympathische Nervensystem, kommt nicht zum Zuge. Hormone der Nebennierenrinde (Kortisol/Kortison) werden bei zeitlich lang anhaltender Angst aktiv und helfen dem Körper bei der Bewältigung längerer Angst- bzw. Stresszustände. Körperliche Begleiterscheinungen von Angst wird niemand völlig unkommentiert und ohne Bewertung hinnehmen. Abgesehen davon, dass Angst als sehr unangenehm empfunden wird, erleben wir sie als generelle Bedrohung. Betroffene haben Angst, völlig die Kontrolle zu verlieren, ernsthaft erkrankt zu sein oder zu erkranken; sie fürchten sich, andere könnten ihren Zustand erkennen und sie auslachen. Bohrende Fragen stellen sich ein … Es ist deutlich geworden, dass Angstentwicklungen in einem engen Zusammenhang mit der individuellen Bewertung der Symptome stehen. Die Vorstellungsfähigkeit eines Menschen nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. Es ist nicht übertrieben, wenn resümiert wird, dass Angst in der Regel im Kopf entsteht, dass also die Gedanken darüber, was als gefährlich angesehen wird, entscheidend sein können. 82
Das zu Beginn dieses Kapitels angeführte Beispiel bezog sich auf die auch von Jugendlichen häufig erlebten Panikattacken. Nunmehr soll auf die Aspekte der Platzangst, der sozialen Ängste bei Jugendlichen und auf die Schulangst bzw. Schulphobie eingegangen werden. Von Platzangst oder Agoraphobie wird dann gesprochen, wenn bestimmte Orte oder Situationen gemieden werden oder ein Aufenthalt an diesen bzw. ein Verweilen in diesen nur unter großer Anspannung zu ertragen ist. So halten sich die Betroffenen von großen Menschenansammlungen und öffentlichen Plätzen fern, sie meiden Kino- oder Theaterbesuche sowie Reisen ohne Begleitung an weit von zu Hause entfernte Orte. Generell halten sich Menschen mit Platzangst von Orten fern, wo sie mit Eintreten von Angstgefühlen hilflos werden oder auffallen könnten bzw. wo sie nur schwer der peinlichen Situation entrinnen könnten. Große Angst bereitet allein die Vorstellung, die Kontrolle zu verlieren. Das Verlassen eines sicheren Ortes scheint das zentrale Moment bei Platzängsten zu sein. Man fühlt sich eingeengt und hat zugleich starke Angst, anderen Menschen, die man nicht kennt, ausgeliefert zu sein. Wer Platzangst verspürt, weiß in der Regel, dass Vermeidung übertrieben und sogar unvernünftig ist, denn im Laufe der Zeit erweitert sich der Katalog gemiedener Orte und Situationen. Dennoch entwickeln viele Menschen in dieser Hinsicht beeindruckende Hartnäckigkeit, um unter keinen Umständen an Plätze oder Orte zu gelangen, die ihnen Angst machen; sie entwickeln eine Fülle von Tricks, um ihren Mitmenschen ihr Leid zu verheimlichen, weil sie sich schämen, darüber zu sprechen. Eine stark ausgeprägte Erwartungsangst macht es ihnen fast unmöglich, auch nur einen Versuch zu wagen, das eingespielte Verhalten zu durchbrechen. 83
Platzangst entwickelt sich häufig aus einem panikähnlichen Erleben, das in einer bestimmten Situation auftrat – in großen Geschäften, in Warteschlangen oder, wie das Beispiel von Peter gezeigt hat, in überfüllten Bussen. Der Aufenthalt an diesen oder anderen Orten bekommt plötzlich bedrohlichen Charakter, weil die Erinnerung an die ursprüngliche Angstsituation aufkommt. Die Angst vor einer panikähnlichen Symptomatik oder die Angst vor sozialer Auffälligkeit sind erkennbar die beiden Arten von Ängsten, die Platzängsten zu Grunde liegen. Wie aber ist gezielter zwischen Platzängsten und sozialen Ängsten zu unterscheiden? Was unterscheidet die soziale Angst von einer einfachen Schüchternheit? Manchmal sind die Übergänge fließend bzw. manchmal treten diese Ängste in Kombination auf. Während Menschen mit Platzängsten eine Ansammlung ihnen unbekannter Menschen fürchten und Angst verspüren, die Situation nicht rechtzeitig verlassen zu können, fürchten Menschen mit sozialen Ängsten vielmehr ihnen bekannte Personen und deren abwertende Kritik. Der sozial Ängstliche zeigt sich beruhigt, wenn an einem Ort keine Bekannten sind; Menschen mit Platzangst verunsichert dies. Der von Platzangst Geplagte, der keine sozialen Ängste entwickelt hat, macht sich ständig Sorgen um sein leibliches und seelisches Wohlbefinden, hegt aber kaum Gedanken an die Bewertung seines Verhaltens durch andere Menschen mit sozialen Ängsten sorgen sich mehr um die von außen scheinbar klar sichtbaren körperlichen Symptome wie Schwitzen, Zittern oder Erröten, während bei Menschen mit Platzangst die Gedanken um körperlich als bedrohlich erlebte Symptome wie Herzrasen oder Atemnot kreisen. Ein bestimmtes Ausmaß an sozialen Ängsten ist gerade bei Jugendlichen völlig normal! Soziale Ängste treten im Jugendalter in der Regel dann auf, wenn typische Entwick84
lungsaufgaben des Lebensabschnitts nicht ausreichend bewältigt wurden. Dies ist im besonderen Maße der Fall, wenn die Ablösung vom Elternhaus in Form von mehr Selbstständigkeit noch ausbleibt, wenn der Eintritt in die berufliche Orientierung Schwierigkeiten bereitet, wenn es an der Integration in die Gruppe der Gleichaltrigen mangelt oder wenn die Kontaktfähigkeit zum anderen Geschlecht noch nicht hinreichend ausgeprägt ist. Der Jugendliche ist bekanntlich auf der Suche nach einem verbindlichen Maßstab für sein eigenes Handeln. Dies bedingt eine erhöhte Empfindsamkeit für kritische Reaktionen, die aus der Umwelt kommen können. Jugendliche vergleichen durchaus selbstkritisch ihre eigenen Einstellungen oder Verhaltensweisen mit denen ihrer Alterskollegen, erleben dabei Bestätigung, aber auch Frustrationen, weil andere besser oder weiter sein können. Anderssein oder anders Handeln aber kann Angst machen! Soziale Ängste können im Zusammenhang stehen mit noch nicht ausreichend ausgebildetem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. Viele Jugendliche sind gefährdet, auf der Suche nach ihrem eigenen Wert und ihren eigenen Zielvorgaben Leistungsaspekte und Statussymbole in den Vordergrund zu rücken. Auf diese Weise bekommen gute Noten, ein attraktives Äußeres, körperliche Stärke, besondere Kleidung sowie der Besitz bestimmter technischer Güter eine besondere Macht. Als geeignetes Beispiel bietet sich an dieser Stelle das ungeminderte Ringen um das stets aktuelle PC-Modell an. Gerade bei Jungen ist der Besitz eines leistungsfähigen, mit den neuesten und besten technischen Daten ausgestatteten PCs ein in sozialer Hinsicht bedeutender Faktor. Zügig geraten sie in einen kaum zu stoppenden Wettkampf mit ihren Freunden, wer die beste Maschine besitzt. Personalcomputer 85
sind, so eine weit verbreitete, aber nicht ungerechtfertigte Polemik, bereits technisch veraltet, wenn man mit ihnen das Geschäft verlässt! Hinzu kommen immer wieder weitere Finessen der Computerspiel-Industrie, durch neue Anforderungen neuen Bedarf zu schaffen; der ultraleistungsstarken Grafikkarte X folgt schnell, allzu schnell die megastarke, die alle vorherigen Modelle in den Schatten stellt – und mit ihnen die betrübten Besitzer überholter Technologie … Selbst wenn ein Jugendlicher sich bescheiden zeigt und Zufriedenheit mit dem signalisiert, was er hat, wird ihm schnell der ständige Vergleichskampf zu schaffen machen. Die Gesetze der kurzen Dialoge auf dem Pausenhof in der Schule sind ebenso simpel wie beängstigend: Wer alte Technik besitzt, ist schnell ein Loser, und ein solcher ist man schnell, wenn der Vater nicht genug Kohle nach Hause trägt. Der Druck, mit Überanpassung an die Gruppe der Gleichaltrigen soziale Anerkennung zu gewinnen, kann auf dem Weg zur eigenen Identität mehr als hinderlich sein. Schnell quittieren die in diesen Leistungswettbewerb Geworfenen mangelhafte Erfolgserlebnisse mit verallgemeinernden negativen Selbsteinschätzungen – sie fühlen sich zu dick, zu blass, zu ungeschickt – Menschen mit sozialen Ängsten möchten es allen recht machen! Der Lebensumwelt eines Jugendlichen kommt also Bedeutung in der Entwicklung von sozialen Ängsten zu – es sind mitnichten ausschließlich die individuellen Probleme eines Kindes! Soziale Ängste werden im Jugendalter auf drei Ebenen beschrieben: • Es bestehen grundlegende soziale Ängste. Bestimmte Entwicklungsbedingungen, insbesondere im Elternhaus, haben deren Ausbildung begünstigt. Ein ängstliches Vermeidungsverhalten ist hinderlich bei der Entwicklung 86
von sozialen Fähigkeiten. Größere Erwartungsängste und leichte Verletzlichkeit verstärken nur den sozialen Rückzug. Eine Konfrontation mit bestimmten sozialen Anforderungen löst körperliche Symptome aus, die panikartige Züge tragen können. • Bestimmte Lebensbedingungen haben die Entwicklung sozialer Fertigkeiten verhindert und zu einer sozialen Phobie geführt. Zum Beispiel können berufsbedingte mehrfache Umzüge die Entwicklung dringend nötiger Sozialkontakte verhindern oder zerstören; Umschulungen haben dabei das Selbstvertrauen des Jugendlichen in sein Können merklich erschüttert. Weiterhin können schwere Erkrankungen mit langen Krankenhausaufenthalten oder kontaktarme Eltern die Entwicklung von Sozialkontakten verhindern. Soziale Ängste können aber auch bei zuvor durchaus gut integrierten Personen nach länger anhaltender Platzangst oder nach einer schwereren Depression auftreten. • Der scheinbaren sozialen Angst liegt eine Depression zu Grunde. Bislang völlig unauffällige Jugendliche entwickeln erst im Zuge ihrer Depression starkes Rückzugsverhalten und erhöhte soziale Ängstlichkeit. Depressiv bedingter Antriebsmangel und ein starkes Absinken des Selbstwertgefühls sind die Auslöser. Bei solchen sozialen Ängsten gilt es, die depressive Symptomatik als vorrangig zu betrachten. Bei Kindern bzw. Jugendlichen zeigen sich soziale Ängste am häufigsten in Form der Schulangst und der Prüfungsangst. Fallbeispiel Die 16-jährige Linda besucht treu und brav und dem Wunsch ihrer Eltern entsprechend weiterhin ein Gymna87
sium mit gutem Ruf, obwohl sie sich sehr wohl eine Berufslaufbahn vorstellen kann, die kein Studium voraussetzt. Ihr Vater ist erfolgreicher Arzt, die Mutter ist Rechtsanwältin – die meisten in der Verwandtschaft haben eine vergleichbare Berufslaufbahn genommen. Im Grunde kann sich Linda einen akademischen Beruf vorstellen, jedoch hat sie in einigen Fächern besondere Schwierigkeiten. Da diese von den Ehern mit Argwohn kommentiert werden, wächst in Linda die Angst vor Versagen. Linda entwickelt eine Vielzahl psychovegetativer Beschwerden, die sie immer öfter daran hindern, am Unterricht regelmäßig teilzunehmen. Hiermit aber verstärkt sich der Druck. Geht Linda zur Schule, so erlebt sie mit sich steigernder Heftigkeit Ängste, etwas verpasst zu haben, nie mehr den Anschluss zu finden, weitere schlechte Noten in den Fächern zu bekommen, die ihr bis dahin keine Sorgen machten. Die Eltern betrachten die Entwicklung mit Unverständnis; der Vater glaubt nur medizinisch zu erhebenden Befunden und wirft nach Feststellung der körperlichen Gesundheit durch einen Kollegen seiner Tochter vor, sie stelle sich an. Die Mutter zeigt sich verzweifelt und verweist auch noch fälschlicherweise auf die Geschwister von Linda, die keine Probleme machen. Linda beginnt ihre körperlichen Symptome zu pflegen, um kein Zeugnis wegen mangelnder Teilnahme am Unterricht zu erhalten. So umgeht sie ein Zeugnis mit schlechten Noten, um die Eltern nicht zu sehr zu enttäuschen. Neben der oben aufgeführten Tatsache, dass eine nicht den Neigungen und Begabungen des Jugendlichen entsprechende Schulart und übermäßige Leistungsanforderungen durch die Eltern Schulängste hervorrufen können, sind als weitere mögliche Faktoren zu nennen: 88
• übermäßiger Leistungsehrgeiz des Schülers, • Überforderung oder Ablehnung durch eine bestimmte Lehrperson, wobei gerade das Gefühl der Ablehnung oft auf ausräumbaren Missverständnissen beruht, • Außenseiterdasein in der Klassengemeinschaft, • nicht bewältigte Sticheleien durch Mitschülerinnen und Mitschüler, auf die wegen unzureichenden sozialen Fähigkeiten nicht eindeutig reagiert werden kann. Schulängstliche Kinder und Jugendliche klagen verstärkt über Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Fieberschübe und auch Essstörungen. In den meisten Fällen treten diese Beschwerden bereits zu Hause auf, sie steigern sich auf dem Weg zur Schule; in der Schule erreichen sie unter Umständen ein solches Ausmaß, dass sie den Unterricht abbrechen müssen und nach Hause zurückgeschickt werden. Es kommt zu der beschriebenen wiederholten Abwesenheit vom Unterricht, die wiederum neue Nöte mit sich bringt. Den Betroffenen fehlt es an der Erfahrung, dass ihre Beschwerden nach einer Phase der Gewöhnung sehr wohl nachlassen können. Fallbeispiel Seit langer Zeit hegt Maria den Wunsch, ein Studium als Juristin zu absolvieren. Ihr bisheriger Schulweg gab Anlass zu der Hoffnung, dass sie mit guten Abiturnoten den Zugang zu diesem Studium würde erreichen können. Mit Nahen der letzten Phase vor dem Abitur jedoch kennt sich Maria nicht wieder. Plötzlich ergreift sie die Angst, die Zeit der sehr guten und guten Noten könnte vorbei sein. Lehrerinnen und Lehrern will sie unverändert als eine der besten Schülerinnen im Kurs gefallen und sorgt sich um deren Zuspruch und Lob. Außerdem machen ihr kritische Bemerkungen ihrer Konkurrentinnen zuneh89
mend zu schaffen; sie gibt den Sticheleien plötzlich mehr Bedeutung und fragt sich, ob sie vielleicht doch nicht fähig ist. Nächtliche Phantasien plagen sie, bei denen sie in der Prüfung einen völligen Blackout erlebt und alles zusammenfällt. Im Zuge dieser Entwicklung ändert sich Marias Essverhalten drastisch; sie isst kaum noch etwas und magert ab. Maria leidet unter Leistungs- und Prüfungsängsten. Diese haben ihren Ursprung in der Angst vor negativer Bewertung und Beurteilung. Prüfungen sind immer mit Bewertungen verbunden. Schlechte oder kritische Bewertungen wirken sich mit unterschiedlicher Gewichtung auf das Selbstwertgefühl aus. Ist eine jugendliche Schülerin wie Maria daran gewöhnt, in erster Linie über ihre Leistungen als liebenswert oder wertvoll zu gelten, so muss zwangläufig jeder Leistungseinbruch Gefahr bedeuten. Anerkennung durch unsere Mitmenschen ist ein Lebenselixier. Bleibt sie aus, treten Sorgen und Ängste auf den Plan. Mündliche und schriftliche Prüfungen, Lehrabschlussprüfungen, Führerscheinprüfungen, Einstellungsgespräche, auch sportliche Wettkämpfe, Vorträge und Aufführungen setzen Jugendliche Bewertungsängsten aus. Hierbei wird Angst auf zwei Ebenen erlebt. Zunächst machen sich Ängste in der Zeit der Vorbereitung auf eine bestimmte Prüfung breit. Die zu Prüfenden überkommen immer wieder neue Gedanken, was am eigentlichen Tag der Prüfung geschehen könnte. Dabei nimmt das Ausmaß der befürchteten Katastrophen mehr und mehr bedrückende Dimensionen an. Eine solche Grundhaltung lähmt die Lern- bzw. Aufnahmebereitschaft, lässt bereits Erlerntes in Vergessenheit geraten und verleitet zu diversen Formen der Ablenkung. Die Betroffenen spielen immer wieder den Gedanken durch, ob und 90
in welcher Weise sie sich durch Krankheit oder andere Entschuldigungen vor der Prüfung drücken können. Gelangt ein Prüfling dennoch ans Ziel, indem er zumindest zur Prüfung erscheint, beeinträchtigen ihn vielfache körperliche Symptome. Er wirkt angespannt, verliert den roten Faden, missversteht die abwartenden und unter Umständen wohlwollenden Blicke seiner Prüfer als Zeichen der Ungeduld und der Skepsis und begibt sich damit in eine Spirale der sich ständig mit anderen Argumenten speisenden Selbstabwertung. Am Ende ist im Extremfall der Prüfling nur noch mit der Beobachtung seiner Person und kaum noch mit den Inhalten der Prüfung beschäftigt. Versuche, die Anspannung zu überspielen oder zu unterdrücken, verkrampfen ihn nur noch mehr! Gefühle der Unruhe und Anspannung bei Prüfungen sind völlig normal und harmlos. Ein gewisses Quantum dieser kann sogar Flügel verleihen. Dass Prüfungsängste durchaus das Leben begleiten können, ohne zu schlimmen Konsequenzen zu führen, bestätigen die glaubwürdigen Bekenntnisse erfolgreicher Schauspielerinnen und Schauspieler zu lebenslangem Lampenfieber. Hinzu kommt, dass erlebte innere Aufregung in Prüfungssituationen für andere Menschen, auch für Prüfer, meistens nicht so deutlich zu erkennen ist; erst recht wird sie von diesen nicht negativ oder gar als Unvermögen bewertet. Erst wenn der Prüfling so starke Anspannung verspürt, dass es nach subjektivem Empfinden unerträglich wird, lassen sich auch für Außenstehende Symptome der Angst erkennen: plötzliches Aufstehen, permanentes Hüsteln oder Kratzen, heftiges Gestikulieren … Aber auch in diesen Momenten zeigen die meisten Prüfer Verständnis und versuchen, mit geeigneten Mitteln die Aufregung ihres Gegenübers zu reduzieren. Entscheidend sind unverkennbar die innere Einstellung 91
des Prüflings zur Situation und dessen Ressourcen, mit aufkommenden Gefühlen angemessen umzugehen. Die Liste möglicher Ängste ist lang. Ihre Entstehung hat, wie zu beschreiben war, sehr verschiedene Hintergründe. Ihnen auf die Spur zu kommen, statt sie zu unterdrücken, ist vorrangige Aufgabe. Eltern wie Pädagogen sind in besonderer Weise gefragt, in erster Linie mit Verständnis und nicht mit Abwertung zu reagieren. Nicht selten haben Jugendliche sogar ihre Ängste durch Beobachtung ihrer Eltern gelernt. Studien belegen, dass in Familien, in denen ein Elternteil unter starken Ängsten leidet, die Kinder ebenfalls ängstlicher reagieren als andere Kinder. Es stellt sich die Frage, in welcher Weise Eltern und auch Lehrerinnen und Lehrer reagieren bzw. einen Jugendlichen begleiten oder stützen können, sollten ihn erkennbar und nachhaltig verschiedene Ängste plagen. Mögliche Reaktionen sind abhängig von der jeweils dominierenden Angst. In Ergänzung zu den bereits dargelegten grundsätzlichen Überlegungen können Empfehlungen ausgesprochen werden, die eine Erschwerung des Störungsbildes verzögern oder stoppen, Linderung verschaffen oder einfach dem betroffenen jungen Menschen das Gefühl vermitteln, mit seinem Problem nicht allein zu sein. Im Fall von wiederkehrenden Panikattacken sowie bei allen weiteren, von starken Symptomen begleiteten Ängsten sollte zu Beginn eine ärztliche Untersuchung stehen, um sicher zu sein, dass keine körperliche Erkrankung die Ursache für Angst ist! Blutdruckschwankungen, Veränderungen des Blutzuckerspiegels oder Erkrankungen der Schilddrüse können zum Beispiel im Spiel sein. Leidet der Jugendliche an einer Panikerkrankung oder unter Platzängsten, so sind die folgenden Aspekte in der Begleitung zu beachten: 92
• Eltern sollten unter keinen Umständen jedwede Angst als nicht angebracht oder gar als unmännlich (Jungen) bzw. typisch (Mädchen) bezeichnen. • Der Jugendliche sollte von Beginn an aufgemuntert werden, gerade die Orte nicht zu meiden, an denen er erstmalig Angst entwickelt hat! Es ist nachgewiesen, dass sich gerade die genauen Bedingungen und Ereignisse der ersten Panikattacke in der Wahrnehmung festsetzen. Es wird daher auch im Rahmen einer möglichen späteren Therapie genau aufzuschlüsseln sein, welche Bedingungsfelder konkret das Aufkommen von Angst hatte. Angst fällt eben nicht aus heiterem Himmel, sie ist vielmehr das Endprodukt einer Verkettung ungünstiger Rahmenbedingungen. • Er soll zudem angeregt werden, sein Vermeidungsverhalten nicht auf immer mehr Orte und Anlässe zu übertragen; dies würde den Handlungsspielraum auf dramatische Weise eingrenzen. • Nach Möglichkeit soll der Jugendliche auch (zunächst in Begleitung, dann ohne) jene Orte gezielt aufsuchen, die ihm Angst machen. • Grundsätzlich soll er Gefühle wie Angst, Wut, Ärger oder Traurigkeit (mehr) zulassen. Dabei wird er merken, dass diese ihn in Wallung versetzen und sehr wohl körperliche Symptome hervorrufen können. Gefühle aber, so lehrt die Erfahrung, bringen nicht um! • Jede Form der körperlichen Aktivierung sollte mit allen Mitteln unterstützt werden! Viele Panikpatienten minimieren ihre körperlichen Aktivitäten, da sie befürchten, sie könnten doch an der hohen Belastung sterben. Dies zeigt sehr deutlich, dass sie in Bezug auf körperliche Prozesse völlig übersensibilisiert wurden. Während von Panikerleben freie Menschen die deutliche Steigerung der Pulsfrequenz nach Erklimmen von drei oder vier 93
Stockwerken gelassen und als normale Reaktion hinnehmen, würde im gleichen Fall ein Mensch mit Panikattacken darin bereits eine Bedrohung sehen – die Angst, mit dem hohen Puls unmittelbar verbunden, setzt jede Vernunft außer Kraft. Angstkranke Jugendliche sollten sich prinzipiell sportlich betätigen oder sich bewegungsfreudig zeigen. Die Einschätzung von Körperprozessen normalisiert sich auf diesem Wege recht schnell. • Wenn das notwendige Interesse gegeben ist, sollten Jugendliche animiert werden, eine Art Angsttagebuch zu schreiben. Dies könnte ihnen helfen, ihre Gedanken zu sortieren, Fortschritte festzuhalten und Pläne für ein Leben mit weniger Angst zu schmieden. Das Tagebuch ist eines der wenigen Mittel, durch das man ungefiltert die Wahrheit sagen kann, da es sonst keiner liest; es ist das Medium des ungeschminkten Auslotens der Gefühle. • In Gesprächen sollte immer wieder der hilfreiche Hinweis gegeben werden, dass es kein Leben ohne Angst gibt. Aus der Verzweiflung heraus wollen viele die Angst endgültig aus ihrem Leben verbannen. Hierbei neigen sie zu Verzerrungen der Wahrnehmung des Lebens ihrer Mitmenschen, die keine Angst kennen. Es sollte die Umkehrung der Perspektive angeregt werden: Es gilt nicht gegen die Angst zu kämpfen, sondern für mehr Freiheiten! • Den für Angstsituationen typischen Selbstgesprächen äußerst negativer Färbung sollten solche positiven Inhalts gegenübergestellt werden: Aus ich kann das nicht wird schnell ich schaffe das! Panikattacken und Platzängste erweisen sich unter Umständen als schwierig zu behandelnde Störung. Von daher sollte schnell daran gedacht werden, professionelle Hilfe einzuholen. Störungen wie diese lassen sich oft mit verhaltensthera94
peutischen Mitteln beheben. Über derartige Fachkenntnisse verfügen ausgebildete Psychologen oder auch Ärzte. Bei den sozialen Ängsten geht es in erster Linie um die exakte Klärung des aktuellen Lebenszusammenhangs eines Jugendlichen. Eltern sind gut beraten, sich im Detail vor Augen zu führen, wo ihr Kind gerade steht, welche Entwicklungen es genommen hat, welche Aufgaben und Wünsche noch offen stehen. Hierbei können und müssen sie sich fragen, ob und in welcher Form das bisherige Erziehungsverhalten sich hemmend auf die Entwicklung von Sohn oder Tochter ausgewirkt haben könnte. Wurden dem Kind ausreichende Möglichkeiten gegeben, zu sich selbst zu finden? Hat es seinen ganz persönlichen Platz eingenommen in der Familie und im Freundeskreis? Erfährt es alle erforderlichen Unterstützungen auf der Suche nach Neuem? Was die Bewältigung des Alltags angeht, so können die gegebenen Empfehlungen zum Umgang mit der Platzangst auch hier Anwendung finden. Übungen, der Angst die Stirn zu zeigen, sind immer angebracht. Letztendlich jedoch darf nicht in Vergessenheit geraten, dass soziale Ängste auch Ausdruck mangelnder Selbstsicherheit sind. Die Antwort auf die Frage, was ein Kind selbstsicherer machen könnte, ist nicht pauschal zu beantworten. Diesbezügliche Ideen und Impulse entwickeln sich nur durch ein genaues Hinschauen, durch das gemeinsame Gespräch und durch eine selbstkritische Würdigung des Gewesenen. Sehr konkret dagegen lassen sich die Empfehlungen in Bezug auf Schulängste und Prüfungsängste formulieren. Hier geht es um eine möglichst baldige und effiziente Verbesserung eines wenig befriedigenden Ist-Zustands: • Gehen Sie als Eltern das Problem der Schulangst nicht isoliert an! Ihr Wunsch, dass Ihr Kind nach Möglichkeit 95
die Schule erfolgreich absolviert, damit es eine gute Zukunft hat, ist nur zu gut nachvollziehbar. Dass Sie dabei bislang alles gegeben haben, wird niemand in Frage stellen. Es ist aber durchaus möglich, dass sich Entwicklungen eingestellt haben, auf die Sie nur begrenzt Einfluss nehmen können. Es ist auch möglich, dass Sie mit Ihrem Kind über schulische Belange gewissermaßen in zwei Sprachen sprechen, dass also nicht (mehr) klar ist, was Ihr Kind kann und will und was Sie sich erwünschen. Ebenso ist es wahrscheinlich, dass Sie viel zu wenig von dem wissen, was den Alltag Ihres Kindes an der Schule ausmacht. Um näher am Geschehen zu sein, ohne Ihr Kind in Bedrängnis zu bringen, um die Voraussetzungen und aktuellen Schwierigkeiten besser einschätzen zu können, sollten Sie ein Bündnis anstreben. Sprechen Sie also zunächst in aller Offenheit mit dem Klassenlehrer oder der Klassenlehrerin. Teilen Sie Ihre Beobachtungen mit, fragen Sie aber auch gezielt nach den Eindrücken derer, die Ihr Kind unterrichten. Im gemeinsamen Gespräch werden Sie dann weitere Schritte einleiten. Bei dieser Gelegenheit werden Sie dann auch über eine erweiterte Zusammenarbeit mit dem Schularzt, dem Schulpsychologen oder externen Therapeuten befinden können. • Zeigen Sie sich, wenn Sie mit den Lehrkräften eine zufrieden stellende und die Interessen Ihres Kindes wahrende Vereinbarung getroffen haben, wenig kompromissbereit, falls Ihr Kind immer wieder den Versuch machen sollte, durch Kränkeln den Schulbesuch ausfallen lassen zu wollen. Schaffen Sie keinen Schonraum, der Ihr Kind nur in weitere Probleme stürzt. • Sollte sich herausstellen, dass die Ursache für Schulangst ausschließlich in der Überforderung Ihres Kindes liegt, der Sie bislang keine Aufmerksamkeit schenken konnten 96
• Leidet Ihr Kind unter Prüfungsängsten, so vermitteln Sie ihm stets, dass Sie es unabhängig von seinen Leistungen mögen. Das heißt nicht, dass Sie keine guten Noten erwarten oder zumindest erhoffen dürfen – Sie machen lediglich Liebe und Zuwendung nicht davon abhängig. • Rufen Sie Ihrem Sohn oder Ihrer Tochter immer wieder in Erinnerung, was er bzw. sie in der Vergangenheit bereits geschafft hat. In aktuellem Prüfungsstress geht schnell der Blick für stattgefundene Erfolge verloren. Durchbrechen Sie damit die Denkweise des ÜberhauptNichts-Könnens. • Zeigen Sie sich fähig zu Fahrplanänderungen. Sollten sich auf längere Sicht keine Erfolge einstellen, so denken Sie mit Ihrem Kind und den Lehrern oder Ausbildern darüber nach, auf welche Weise Entlastungen geschaffen werden können, die dann die Basis für neue Erfolge sind. • Vermeiden Sie jede perfektionistische Leistungshaltung. • Stützen Sie die Sichtweise, dass Aufregung zu jeder Prüfung dazugehört. Sie gilt es also nicht auszuschalten, vielmehr sollte sie eher als Motor und nicht als Bremse gesehen werden. Erich Kästner hat einmal das Leben als lebensgefährlich bezeichnet. Humorvolle Lebensweisheiten wie diese beinhalten wichtige Wahrheiten: Der Mensch muss sich mit Beginn seines Lebens immer wieder damit vertraut machen, dass er nicht ewig lebt, dass Tag für Tag Gefahren drohen, die seinem Dasein ein jähes Ende setzen könnten. Ein Anerkennen dieser unumstößlichen Tatsache bedeutet mehr Freiheit, mehr Spielraum im Leben. Dennoch erlebt der Mensch Angst, da er sich nur schwer mit der eigenen Sterblichkeit arrangieren kann. Diese als 97
gegeben anzunehmen, ist eine Kunst, die Menschen – wenn überhaupt – im hohen Alter beherrschen. Jugendliche leben, dies wurde deutlich, im Jetzt. Die mit diesem Lebensgefühl verbundene Energie werden sie benötigen, um sich den auf sie zukommenden Aufgaben zu stellen. Und obwohl sie sich ihrer Endzeitigkeit allenfalls punktuell bewusst werden, erleben sie vielfach Angst. Ist es die Angst, schon vor Beginn eines Lebens in Autonomie und Zufriedenheit mit Chancenlosigkeit, Lieblosigkeit oder Hoffnungslosigkeit in überbordendem Maße konfrontiert zu werden? Ist es die Angst, im allgemeinen Wettbewerb unserer Tage unterzugehen? Die Ängste unserer Jugendlichen verlangen nach Antworten.
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5.3 Zu wenig, zu viel, unkontrolliert – die Essstörung Fallbeispiel Auf den „Pro-Ana“- Seiten im Internet tauschen sich junge Mädchen aus, die die Essstörung verherrlichen. Diejenigen, die dazu gehören wollen, müssen sich einer harten Prüfung unterziehen. Wer die Grenze von 45 Kilo bei einer Größe von 1,70 Metern erreicht hat, bekommt sechs leuchtende Sterne. Hinter „Pro-Ana“ verbirgt sich ein düsteres Portal, das Magersucht als Lebensstil und nicht als Krankheit proklamiert. Das Lied „Dicke“ von Marius Müller-Westernhagen, Gedichte über das Hungern und prominente Vorbilder wie Twiggy und Model Kate Moss gehören zur Religion der Schlankheitsfanatikerinnen. Die Internetseitenbetreiber leiten den Namen „Pro-Ana“ von der medizinischen Fachbezeichnung anorexia nervosa ab, wobei „Ana“ für anorexia steht. Hier holen sich jugendliche Mädchen aktuelle Tipps, um ihrer Magersucht Auftrieb und Unterstützung durch Gleichgesinnte zu geben. Mit beispiellosem Fanatismus zelebrieren die „Pro-Anas“ ihre Selbstzerstörung und geben sich mit einem Glaubensbekenntnis die nötigen Gebote, um erfolgreich zu bleiben, um durchzuhalten. Dort heißt es u. a.: „Ich glaube an die Kontrolle, die einzig wahre Kraft, mächtig genug, um Ordnung in mein vom Chaos bestimmtes Leben zu bringen. ( … ) Ich glaube, dass ich die wertloseste, gemeinste und nutzloseste Person bin, die jemals auf diesem Planeten existiert hat, und dass ich es nicht wert bin, von jemandem Beachtung und Aufmerksamkeit zu bekommen. ( … ) Ich glaube an meine Waage als Messinstrument meines täglichen Erfolges und Mis99
serfolges. ( … ) Ich glaube an die Hölle, denn ich lebe in ihr.“ Zweiflerinnen können sich im Forum neue Energie für ihr schädigendes Verhalten verschaffen:„Hunger schmeckt am besten!“, „Nenne mir einen Grund dick zu sein, und ich nenne dir 1000 Gründe dünn zu sein!“, „Essen ist eine hinterlistige Verführung!“ Und auch für diejenigen, die im Rahmen eines Therapieversuches mit behandelnden Ärzten Gewichtsverträge abgeschlossen haben, um nicht zu sehr abzumagern, können sich nach Rückfällen Tipps holen, wie man dies verheimlichen kann: „Zwei Liter Mineralwasser trinken vor dem Gang zur Waage, und das Gewicht ist in einem akzeptablen Bereich!“ Einige seriöse Provider haben bereits „Pro-Ana“ wegen Verherrlichung der Magersucht aus dem Netz geworfen … Eine Studie der Friedrich-Schiller-Universität Jena besagt, dass mittlerweile jede dritte Schülerin an einer Frühform der Essstörung leidet. Heutzutage leiden auch immer mehr junge Männer unter einer solchen; der Anteil wird auf 15 – 20 % geschätzt. Unter dem Begriff Essstörungen versteht man im Wesentlichen drei Krankheitsbilder: Magersucht (Anorexie oder Anorexia nervosa), Ess-Brech-Sucht (Bulimie oder Bulimia nervosa) und Übergewicht oder Adipositas. Einige Autoren gehen noch gezielt auf die Ess-Sucht (Binge-Eating-Order) ein. Manchmal gibt es auch Mischformen: Das heißt, Magersüchtige können auch Heißhungerattacken bekommen. Oder Bulimikerinnen erleben eine Phase der Magersucht. Doch 100
egal, wie sich die Krankheit äußert, es sind immer seelische Gründe, die das Essverhalten so dramatisch entgleisen lassen. Allen Essgestörten ist gemeinsam, dass das lebensnotwendige Essen ein erhebliches psychosomatisches Problem mit schweren körperlichen psychischen und auch sozialen Konsequenzen geworden ist. Somit sei auf den folgenden Seiten auf die jeweilige Symptomatik und auf die Frage nach den genauen Ursachen eingegangen.
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5.3.1 Die Magersucht Diese ist die am längsten bekannte Essstörung. Anorexia nervosa bedeutet ohne Appetit sein, kann also mit Appetitlosigkeit übersetzt werden. Längst nicht jeder Mensch, der untergewichtig ist, ist gleich auch magersüchtig. Lang andauernde Beschäftigung mit Nahrung und dem Körperschema („Ich habe einen dicken Bauch, zu kurze Beine und zu breite Hüften.“) ist jedoch ein durchaus ernst zu nehmender Hinweis auf eine mögliche Störung. Weitere Hinweise können sein: • Das Körpergewicht fällt mindestens 15 % unter dem der Körpergröße und dem Alter entsprechenden Minimum. • Jemand zeigt starke Angst vor Gewichtszunahme und Dickwerden, trotz Untergewichts. • Es ist ein übermäßiger Einfluss von Gewicht und Figur auf das gesamte Selbstwertgefühl unverkennbar. • Extrem fett- und kalorienarme Ernährung steht auf der Tagesordnung. • Die körperliche Aktivität wird im hohen Grade gesteigert. • Eine untere Gewichtsgrenze wird gänzlich ignoriert. • Gegen Gewicht aufbauende Maßnahmen wird heftig opponiert. • Durch Mängel in der Vitamin- und Mineralstoffzufuhr kommt es zu sich wiederholenden Kreislaufproblemen. • Muskelschwäche, Haarausfall, Wassereinlagerungen und das Absinken der Körpertemperatur machen sich bemerkbar. • Depressive Symptome und starke Gereiztheit sowie Konzentrations- und Schlafstörungen stellen sich ein. • Eine hohe Zahl von Zigaretten wird konsumiert, um durch die Wirkung der Inhaltsstoffe auch das Gewicht in Bann zu halten. 102
• Die Regelblutung bei Mädchen bleibt aus. • Die Betroffenen zeigen starke Kälteempfindlichkeit. Es gibt verschiedene Modelle, die Entstehung von Magersucht erklären zu wollen. In der psychoanalytischen Sicht ist Magersucht eine Form der Abwehr sexueller Wünsche und dient als Möglichkeit, wieder in die scheinbar heile Welt der Kindheit zurückzukehren. Als Hinweis für diese Form der Interpretation wird argumentiert, dass der Körper durch die heftige Abmagerung wieder dem eines Kindes ähnelt; die sexuelle Signalwirkung wird somit reduziert. Andere Theorien sehen in der Magersucht einen Kampf um die Selbstbehauptung. So wird hervorgehoben, dass sich in der Anorexie das Streben nach Identität und nach einer Kontrolle des eigenen Lebens zeigt. Magersüchtige, die sich in der Kindheit oft sehr überangepasst gezeigt haben, fühlen sich durch das Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem eigenen Leben beherrscht. Somit sehen sich Magersüchtige durch die Kontrolle ihres Körpers bzw. mit der Überwindung des Hungergefühls als eher eigenständige Person. Ein drittes Modell hebt schließlich den familiären Aspekt hervor. Anorexie findet sich vermehrt in Familien, die sich durch ein hohes Maß an Harmoniebedürftigkeit und Betonung des Familienzusammenhalts hervortun. In einem solchen Klima ist der Verzicht auf eigene Bedürfnisse im Grunde vorprogrammiert, Opferbereitschaft hat in diesen Familien Programm. Magersüchtige lenken mit ihrer Erkrankung von Spannungen und Konflikten ab. In der Tat stellt es sich so dar, dass die pubertäre Magersucht als ein Autonomiebestreben und als gewaltsamer Ablösungsprozess vom Elternhaus gewertet werden kann. In Familien, deren Klima von größter Fürsorge gekennzeichnet ist, fällt es Jugendlichen sehr schwer, sich zu lösen und eigene Erfahrungen zu machen. Wie sollen sie dies bewerk103
stelligen, wenn ihnen die Eltern alles abnehmen und ihnen alle Stolpersteine aus dem Wege räumen? Die betroffenen Jugendlichen sind der fertigen Lösungen überdrüssig. Es wurden symbiotische Beziehungen der Mütter zu ihren Töchtern, in der die eine nicht ohne die andere leben kann, und gefühlsmäßig völlig abwesende Väter in Familien mit magersüchtigen Jugendlichen beobachtet. „Essen ist eng mit verschiedenen Gefühlszuständen verbunden. Immer mehr Jugendliche begegnen Konflikten oftmals mit einer Veränderung des Essverhaltens. Gerade Veränderungen in der Pubertät verunsichern, schlagen auf den Magen oder führen zu Kummerspeck. Hierbei stellt das Thema Essen jedoch meist einen Ersatz für ein dahinter liegendes Problemfeld dar, das sich um Identität, Selbstbewusstsein und den Umgang mit Stress, Anspannung und Belastung dreht. Bei den meisten Jugendlichen verschwindet mit der Lösung dieser Probleme das gestörte Essverhalten. Bleiben die Probleme ungelöst, so entwickeln sich oft chronische Essstörungen, die als Magersucht, Bulimie oder Übergewicht bekannt sind. Der Übergang von gestörtem Essverhalten zur krankhaften Störung verläuft oft schleichend.“ (Christoph Hack, Diplom-Psychologe) In solchen Familien, in denen auf den ersten Blick alles perfekt läuft, wie es scheint, sollte man keine schweren seelischen Störungen vermuten. Doch speziell in Familien mit einem exponiert harmonischen Klima besteht die Gefahr der gespaltenen Kommunikation. Wenn eine Mutter mit Wut und Ärger, aber dennoch mild lächelnd ihren täglichen Pflichten nachkommt, dann stimmt auf Dauer etwas nicht. Gleiches gilt für den Vater, der zu allem Ja und Amen sagt, im Grunde aber nur seine Ruhe haben will und in Gedanken 104
völlig woanders ist. Das Kleid der Harmonie passt nicht zu den wahren Gefühlen, die durchaus von Resignation, Enttäuschung und Verärgerung getragen sein können. Wo haben in solchen Familien Bekundungen von Überlastung oder vom Willen, etwas Abstand nötig zu haben, einen ausreichenden Raum? Kinder und Jugendliche sind in Bezug auf solche versteckten Botschaften, auf Missverhältnisse zwischen Gesagtem und Erlebten hoch sensibel – das gilt im besonderen Maße für magersüchtige Kinder. Das Kind lernt im Grunde über Jahre die gleiche Botschaft: Wenn das, was in meiner Familie gesagt wird, nichts mit dem zu tun hat, was die einzelnen Familienmitglieder offensichtlich fühlen, dann kann ich bald meinen eigenen Gefühlen nicht mehr trauen! Das Kind bekommt den Eindruck, falsch zu fühlen. Kinder dieser Familien entwickeln zugleich schnell das Gefühl, für Spannungen und Unwohlsein in der Familie verantwortlich oder gar schuldig zu sein. Speziell in Familien, in denen die Eltern – verdeckt oder offen – Trennungsabsichten hegen, ist dies zu beobachten. Das Wort Perfektionismus wird in Familien dieser Art sehr groß geschrieben! Die Mutter ist eine perfekte Gastgeberin, das Haus blitzt in allen Ecken vor Sauberkeit, die Stimme am Telefon ist stets freundlich; die Mutter ist rund um die Uhr im Einsatz, kennt keine Pausen, scheut keine Krankheiten und achtet auf saubere Kleidung, gute Noten und den guten Ruf von Mann und Kindern. Der Vater ist ein harter Arbeiter, der keinen Feierabend kennt. Er tut selbstverständlich alles für die Familie, ist allenfalls zurückhaltend, weil in Gedanken, wird aber nie ausfallend, da dies die Harmonie gefährden könnte. Jeder geht in dieser Familie an seine Grenzen und lächelt dabei. Magersüchtige Kinder und Jugendliche leben in diesem Klima, sie lernen durch dieses Klima. Sie haben es perfekt 105
verinnerlicht, der paradoxen Botschaft der Eltern zu folgen, Tochter bzw. Sohn zu bleiben (= lieb, unauffällig und bescheiden) und gleichzeitig später als erwachsene Personen eigenständig leben zu sollen. Demzufolge ist ihr Verhalten in der Weise konsequent: Auch sie haben es gelernt zu verzichten, sie sind perfektionistisch und buchen Anerkennung über Leistung. Sie sind in aller Regel sehr gute Schülerinnen und können selbst bei körperlicher Auszehrung leistungsbereit bleiben. Sie leugnen ihre Bedürfnisse nach Nahrung, Entspannung und Ruhe. Auf diese Weise fühlen sie sich unbesiegbar und autonom! Fasten und Abmagerung machen bei ihnen die lebenserhaltende Identität aus. Ohne dieses Verhalten bleiben nur Unsicherheit, Leere, Ohnmacht, Verzweiflung und Hilflosigkeit zurück. Es wäre nun aber zu kurz geschlossen, wollte man schlussfolgern, aus den oben beschriebenen Familien müssten zwangsläufig essgestörte Kinder hervorgehen. Essgestörte glauben grundsätzlich, mit ihrem Schlanksein könnten sie alle Probleme in den Griff bekommen; mit der Tatsache, dünn zu sein, sei die Lösung aller weiteren Schwierigkeiten verbunden. Der Kontakt zu ihrem Körper ist verloren gegangen – es ist ihr Kopf, der sie steuert und kontrolliert. Auf diese Weise wird der Körper zum Feind; diesen gilt es regelrecht zu bekämpfen, da er unersättlich zu sein scheint. Kontrolle als Voraussetzung für Unabhängigkeit. Um in diesem Kampf gegenüber anderen Mitmenschen nicht sonderlich aufzufallen, bedienen sich die Magersüchtigen wirksamer Tricks. So kochen sie gern und viel für andere, um als normale Esser zu erscheinen; sie selbst essen dabei (fast) nichts und hüllen ihre Störung in Argumente wie: „Ich habe beim Kochen schon so viel genascht.“ 106
Außerdem steht die Entwicklung der Magersucht im letzten Jahrzehnt in deutlichem Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. So trägt die Werbe- und Schönheitsindustrie sicherlich einen Teil zum Entstehen von Essstörungen bei. Magersucht stellt nach Einschätzungen von Experten die tragische Übertreibung des Schönheitsund Schlankheitsideals dar. Schließlich sollte noch eine Problematik Erwähnung finden, die aus dem Begriff Magersucht bereits hervorgeht. Der Begriff Sucht ist definiert als das zwanghafte Verhalten nach einer Droge (= stoffgebundene Sucht) oder einem Verhalten (= stoffungebundene Sucht). Ziel des Süchtigen ist es, die derzeit als unangenehm empfundene Befindlichkeit in eine angenehme, entlastete zu verändern. Alkoholsucht, Heroinsucht, Sexsucht, Spielsucht … Magersucht. Hierbei geht es den Süchtigen immer um eine Flucht und ein Ausweichen vor scheinbar unlösbaren Konflikten. Süchtige haben dabei auch positiven Gewinn von ihrer Sucht: tiefe emotionale Erfahrungen, das Gefühl großer Befriedigung und das Gefühl des Eins-Seins mit sich. Das gilt wohl auch für die Magersucht. Ein solcher Gewinn macht es nicht leicht, die Süchte in den Griff zu bekommen. Viele Süchtige, auch die Magersüchtigen, möchten zwar ihrer Sucht ein Ende setzen, ob sie aber bereit sind, das damit verbundene seelische Problem zu lösen, ist eine weitere Frage. Alarmzeichen … den Tag mit bangem Blick auf die Waage beginnen. … die Kalorienzahl fast aller Lebensmittel auswendig wissen und über den Tag zusammenzählen. … stets zu wissen, was und wie viel man essen darf und dass man auf keinen Fall das essen darf, was man möchte … immer davon träumen, was passiert, „wenn ich erst richtig schlank bin“. 107
(aus: „Gut drauf“, Broschüre der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) Essstörungen bei Jungen sind oft schwerer aufzudecken. Die davon Betroffenen schämen sich, an einer Frauenkrankheit zu leiden. So sind sie hochgradig bemüht, ihre Erkrankung zu verheimlichen und in Behandlung zu gehen. Eine Befragung des Instituts für Medizinische Psychologie der Universität Jena ergab, dass immerhin 21 % der befragten jungen Männer schon einmal eine Diät absolviert haben. Im Gegensatz zu den Mädchen, die vielfach aus kosmetischen Gründen abnehmen wollen, wollen essgestörte Jungen Fett ab- und Muskeln aufbauen. Charakteristisch Trends für Essstörungen bei Jungen sind: • Sie betreiben eine Leistungssportart, in der bestimmte Gewichtsklassen einzuhalten sind. • Sie haben Probleme und Ängste bezüglich ihrer Sexualität und sexueller Identität. • Ihr Ideal des Körperbildes entspricht dem von Athleten. • Sie zeigen im täglichen Umgang eher abhängiges, passivaggressives Verhalten. • Ihre Bindung zur Mutter ist vielfach enger als die zum Vater. • Vor Beginn der Essstörung waren viele von ihnen übergewichtig. • Sie zeigen selbstzerstörerisches Verhalten und Persönlichkeitsstörungen. • Sie neigen zu Depressionen und Alkoholabhängigkeit. Was aber gilt es zu tun, wenn in Familien magersüchtige Jugendliche alle übrigen Familienmitglieder vor Fragen stellen? Gibt es eine Möglichkeit, sich diesem schwerwiegen108
den Problem in konstruktiver Weise zu stellen? Worauf sollen Erwachsene oder auch Lehrerinnen und Lehrer achten? Gibt es falsche Weisen im Umgang mit Magersucht? Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) hat sich in besonderer Weise solcher Fragen angenommen und richtet ihre ausführlichen Empfehlungen an Mütter, Väter, Geschwister, Angehörige, Freunde und Lehrer. Mütter werden aus nachvollziehbaren Gründen als erstes Ziel im Kopf haben, dass ihr Kind zunächst einmal kräftig an Gewicht zulegen muss, um wieder gesund zu werden. Diese Haltung sollte nach Ansicht der BZgA und vieler Kinder- und Jugendpsychiater schnellstmöglich aufgegeben werden. Vielmehr sollte der erste Schritt darin bestehen, Unterstützung und Beratung einzuholen! Selbsthilfegruppen für Angehörige und Beratungsstellen sind hier vor allem zu nennen. Zudem sollten gerade Mütter folgende Regeln verinnerlichen: • Sie sollten sich ausführlich über die Symptomatik informieren. • Die Erkrankung sollte weder dramatisiert noch verharmlost werden. • Betroffene Jugendliche sollten frühzeitig angehalten werden, regelmäßig einen Arzt zu besuchen, auch wenn lebensbedrohliches Untergewicht erst bei Unterschreitung der 40-Kilogramm-Grenze eintritt. • Im Falle einer Behandlung sollte eine Einmischung gänzlich ausbleiben. • Betroffenen sollte verboten werden, sich ständig in der Küche aufzuhalten und für andere zu kochen. • Die Erwachsenen sollten für sich in Anspruch nehmen, getrennt zu essen, wenn sie die Situation unerträglich finden. 109
• Hierbei sollten jedoch Vorgehensweise bzw. Gründe unmissverständlich erklärt werden. • Gespräche über das Essen, Essensmengen und Körpergewicht sollten nicht stattfinden. • Die Jugendlichen sollten in regelmäßigen Abständen wohlwollend-appellativ darüber in Kenntnis gesetzt werden, dass sie die Verantwortung für ihren Körper tragen. • Es sollte keine Bereitschaft signalisiert werden, für endlose Gespräche zum Thema zur Verfügung zu stehen; vielmehr sollten diese klar begrenzt werden. Finden sie statt, so sollte größte Offenheit gelten: Eltern dürfen durchaus sagen, was sie zu dem Thema denken, wie (schlecht) sie sich fühlen und dass sie sich beraten lassen. Hierbei sollte das von Respekt und Klarheit getragene Gespräch als Chance gesehen werden, eine neue Form des Miteinanders in der Familie einzuüben. • Die schlechte Befindlichkeit des Kindes sollte nicht zum Maßstab für die eigene Befindlichkeit werden; es darf also einer Mutter gut gehen, auch wenn es der Tochter zum Beispiel schlecht geht. • Die Macht der Magersüchtigen sollte nicht unterschätzt werden. Mit ihrer Schwäche, sich nichts Gutes tun zu können, stützen sie das Klima, dass sich niemand in der Familie etwas Gutes tut. Gerade Mütter werden jedoch mit einer solchen Erkrankung ihres Kindes stark gefordert. Sie sollten damit beginnen, sich zur Entlastung (wieder) etwas Gutes zu tun. • Die eigene Bedürftigkeit sollte nicht mehr unter allen Umständen versteckt bzw. verneint werden. • Es sollte der Mut aufgebracht werden zu zeigen, dass man keineswegs perfekt ist. Es hat sich gezeigt, dass Väter in besonderer Weise ihre Probleme mit einem magersüchtigen Kind haben. Das ge110
samte Geschehen begreifen sie nicht, sie können sich nicht erklären, was das Verhalten von Sohn oder Tochter mit Krankheit zu tun hat. Mit den Müttern finden sie keine Einigkeit, wie mit dem Kind umzugehen ist. Doch auch Väter können und müssen ihren Beitrag leisten! Dieser besteht zu Beginn darin, dass auch sie sich umfassend und ohne Scheu mit dem Thema beschäftigen. Zudem sollten Väter bedenken: • Zynische Bemerkungen über die Störung schädigen das gesamte Klima. • Das Schönheitsideal sollte einer kritischen Prüfung unterzogen werden; nicht selten wecken Väter durch Kommentare beim gemeinschaftlichen Fernsehen zum Beispiel Bedenken der Töchter gegenüber ihrem Aussehen. • Sohn oder Tochter sollten nicht in die Rolle der Ehefrau schlüpfen und zu den besseren Unterhaltern oder gar Köchen werden. • Ungesunde Koalitionen sollten vermieden werden; in manchen Fällen verbünden sich das magersüchtige Kind und ein Elternteil gegen den anderen Elternteil. • Wenn auch unterschiedliche Meinungen statthaft sind – in Fragen zur Magersucht sollten Vater und Mutter an einem Strang ziehen und sich nicht als unterschiedliche Bündnispartner dem Kind anbieten. • Das Rückzugsbedürfnis von Jugendlichen sollte respektiert werden. • Gerade Väter sollten in solchen Krisen darüber nachdenken, ob nicht längst die Zeit gekommen ist, mal wieder etwas mit ihrem Kind allein zu unternehmen. • Im Falle einer Familientherapie sind es besonders die Väter, die sich verschlossen zeigen. Sie können nur schwer einsehen, dass hiermit Hilfe möglich wird. Dennoch sollten sie versuchen zu verstehen. 111
• Väter haben in der Regel in emotionaler Hinsicht etwas mehr Abstand von ihren Kindern als die Mütter. Dieser Umstand kann auch als Vorteil dienen: Väter können ihre Kinder sachlicher mit ihrer Kenntnis über die Magersucht konfrontieren und diese anhalten, etwas zu unternehmen. • Das Wort Therapie sollte nicht abfällig gebraucht werden. • Gehen Sohn oder Tochter zu einer Therapie, so sollten keine Fragen zu Inhalt oder Verlauf gestellt werden – bei allem Verständnis für dahinter verborgene Neugier bzw. Anteilnahme. Auf die Möglichkeiten des Erkennens und des Umgehens mit Essstörungen im schulischen Kontext wird am Ende dieses Kapitels zusammenfassend hingewiesen.
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5.3.2 Die Ess-Brech-Sucht Bulimie bedeutet in der sprachlichen Übersetzung Stierhunger. Im Gegensatz zur Magersucht bleibt die Bulimie in sehr vielen Fällen für längere Zeit unerkannt; das Gewicht der Betroffenen verändert sich weniger markant. Besonders unter jungen Mädchen ist diese Störung weit verbreitet, jedoch wird sie in den wenigsten Fällen im Frühstadium erkannt. Menschen mit einer Bulimie führen im wahrsten Sinn des Wortes ein Doppelleben: Aus Angst vor einem eventuellen Dickwerden bzw. aus Scham vor bereits bestehenden Fettpolstern nimmt die gedankliche Beschäftigung mit der Figur und mit Essen einen so großen Raum ein, dass sie sich bereits als Jugendliche ein gezügeltes Essverhalten angewöhnen. Sie sind der Auffassung, nach dem Erreichen eines Wunschgewichts – obwohl die meisten von ihnen sogar schlank sind – wieder ein normales Leben führen zu können. Nach außen führen sie zumeist ein perfektes Fassadenleben, doch inoffiziell ist ihr Dasein eher unkontrolliert – es ekelt sie an. Der Hunger wird solange unterdrückt, bis er sich in einem Anfall von Heißhunger entlädt. Unmittelbar danach wollen jedoch Bulimiker das Geschehene ungeschehen machen: Durch Bewirken von Erbrechen und/oder den Einsatz von Abführ- und Entwässerungsmitteln wollen sie verhindern, dass die erhebliche Kalorienzufuhr ihre körperlichen Spuren hinterlässt. Zusätzlich entscheiden sich viele von ihnen für extreme sportliche Beschäftigung, um noch mehr Kalorien zu verbrennen. Die sozialen Folgen der Bulimie sind gravierend. Die Betroffenen geraten in das soziale Abseits und klagen über depressive Verstimmungen. Um ungehindert und vor allem 113
nicht beobachtet den Heißhungerattacken nachgehen zu können, lassen sie ihre übrigen Interessen gänzlich außer Acht und vernachlässigen Kontakte zu anderen Menschen. Um eine Bulimia nervosa diagnostizieren zu können, weisen Arzte und Psychologen auf folgende Kriterien hin: • Mindestens zwei Heißhungerattacken pro Woche über drei Monate, • Aufnahme großer Mengen leicht zu verzehrender, kalorienreicher Nahrungsmittel (Kuchen, Schokolade, Chips, … ), • das Gefühl, während der Heißhungeranfälle keine Kontrolle darüber zu haben, • das Ungeschehen-Machen danach durch selbst bewirktes Erbrechen und Medikamentenmissbrauch, • andauernde und übertriebene Beschäftigung mit der Figur, • krankhafte Furcht davor, dick zu werden, • sehr scharf definierte, äußerst niedrige persönliche Gewichtswerte, • Einkauf großer Mengen billiger, schnell verzehrbarer Lebensmittel, • deutliche Veränderungen des Körpergewichts, • keine geregelten Mahlzeiten, • kontrolliertes Essverhalten in der Öffentlichkeit, • Auswahl von Light- und fettarmen Produkten für jene Mahlzeiten, die offiziell gegessen werden und im Körper bleiben. Die langfristigen Folgeschäden von Bulimie können dramatisch sein. Neben den seelischen Schäden in Gestalt von Abwertung (bis hin zum Selbsthass) und Depressionen und den finanziellen Schäden durch den hohen Nahrungsmittelkonsum leidet der Körper unter Umständen erheblich; Zahnschmelzschäden, Speiseröhreneinrisse (häufiges Erbrechen), 114
Magenwandperforationen, Nierenschäden und Herzrhythmusstörungen durch Elektrolytenentgleisungen sind die Folge. Anfällig für eine Störung dieser Art sind grundsätzlich Familien, in denen Suchtverhalten auftritt. Zudem spielt jedwede Form von Perfektionismus eine entscheidende Rolle. Dieser quält die Betroffenen nicht nur in Bezug auf ihren Körper, sondern auch in anderen Lebensbereichen hat das Gefühl, nicht gut und nicht schön genug zu sein, schon längst Einzug gehalten. Jugendliche in Schule und Ausbildung halten die Fassade zwar mit großer Energie aufrecht, innerlich plagt sie jedoch der Eindruck, dass es ihnen an vielem mangelt. Sie haben im Grunde nie so recht gelernt, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen und gegenüber anderen zu vertreten. Ihre Abhängigkeit von anderen ist sehr groß, Trennungsängste plagen sie. Um nicht ausgegrenzt zu werden, orientieren sie sich an den Bedürfnissen anderer und sind empfänglich für deren Erwartungen. Es ist im bisherigen Verlauf des Buches wiederholte Male darauf hingewiesen worden, dass Jugendliche, in diesem Zusammenhang im besonderen Maße Mädchen, in der Übergangsphase zum Erwachsenwerden speziell die körperlichen Veränderungen sehr aufmerksam wahrnehmen und beobachten. Nicht zuletzt durch die in den Medien verbreiteten Schönheitsideale, die in Gleichaltrigengruppen unkritisch multipliziert werden, nimmt die Sorge vor einem unerwünschten Ansteigen des Körpergewichts großen Raum ein. Was die Aufrechterhaltung bzw. Sicherung von Selbstwertgefühlen anbelangt, ist somit Bestätigung und Zuspruch von Seiten der Eltern gefragt. Ein oder zwei Pfund mehr machen noch keinen schlechten Menschen … Es hat sich jedoch gezeigt, dass gerade die familiäre Situation bei Jugendlichen mit einer Ess-Brech-Sucht von großer Unsicherheit geprägt ist. Zu mindestens einem El115
ternteil besteht eine unsichere Bindung. Oft haben Verlustereignisse wie Tod oder Trennung die emotionale Ausgangslage verschärft. Ähnlich wie bei den Familien Magersüchtiger (viele bulimische Frauen waren früher einmal magersüchtig … ) charakterisieren Konfliktvermeidung und Kontrolle das familiäre Klima. Indirekte Abwertungen und gegenseitige Beschuldigungen nehmen breiten Raum ein. In einem solchen Klima scheint ein hohes Maß an Kontrolle der eigenen Gefühle überlebensnotwendig. Wie nun sollte sich der Umgang zwischen Eltern und Jugendlichen gestalten? Hierbei ist in Rechnung zu stellen, dass die oben skizzierten familiären Kommunikationsprobleme und eingefahrenen Handlungsmuster nur bedingt bewusst sind. Familien mit bulimischen Kindern müssen somit erst lernen, einen konstruktive Weise des Umgangs miteinander zu erreichen. Die nun aufgelisteten Empfehlungen können daher lediglich eine erste Orientierung sein. Grundsätzlich sind die Möglichkeiten, einem an EssBrech-Sucht erkrankten Jugendlichen zu helfen, begrenzt. Betroffene Eltern werden auch in diesem Fall ohne Unterstützung kaum auskommen. Eltern sollten die eingetretenen Veränderungen und die mit der Sucht verbundenen Unannehmlichkeiten nicht ständig in den Vordergrund rücken. Das Problem ist Sohn oder Tochter peinlich genug. Es hilft auch wenig, dem Kind immer wieder vor Augen zu führen, dass seine Figur doch völlig normal oder in Ordnung ist. Logische Erklärungen und gutes Zureden greifen nicht. Druck und Zwang sind keine guten Ratgeber. Gute Ratgeber sieht die BZgA viel eher in einer grundsätzlichen Überprüfung der Kommunikation in der Familie. Leitfragen können hierbei sein: 116
• Sind Mutter oder Vater das Sprachrohr in der Familie? Sind sie somit Verkünder/in aller Weisheiten, was den familiären Alltag und die emotionale Befindlichkeit ihrer Mitglieder angeht? Werden auf diesem Wege Gefühle der Kinder zum Beispiel überrollt bzw. als nicht maßgebend erachtet? • Wie viele Kompromisse schließt die Mutter aus ihrem Rollenverständnis heraus um des lieben Friedens willen? • Wer darf in dieser Familie die Grenzen setzen? • Ist klar, wer in der Familie wofür zuständig ist? Zudem gelten die auch im Zusammenhang mit der Magersucht formulierten Klarheiten bei der Gestaltung des Miteinanders. Wenn also auch familiäre Beziehungsprobleme der Hintergrund der Bulimie sein mögen, so hat sich keines der Familienmitglieder durch falsche Toleranz auf falschem Wege zu entschuldigen. Behutsam gestaltetes Kontrollverhalten (z. B. Kontrolle der Speisevorräte) kann für Klarheit sorgen. Der Weg zum Arzt wird jedoch dem Kind nicht erspart bleiben. Darauf sollten Eltern drängen! Die Binge-Eating-Disorder (BED), die Ess-Sucht, ist von allen Essstörungen noch am wenigsten erforscht. Binge bedeutet schlingen. Sie unterscheidet sich im Wesentlichen von der Bulimie darin, dass keine kompensatorischen Maßnahmen wie Sport, Hungern oder Erbrechen ergriffen werden. Binge Eating ist eine seelisch bedingte Essstörung, die meist mit Übergewicht oder Adipositas verbunden ist. Hieraus ist nicht zu schlussfolgern, dass Übergewichtige, wie später noch aufzuzeigen ist, automatisch darunter leiden. Binge-Eating kann also auch bei Normalgewichtigen beobachtet werden. Essen ist für die Esssüchtigen eine quälende und schuldbeladene Handlung, da Essen eine geradezu magische An117
ziehungskraft hat, der nicht zu widerstehen ist. Auch hier dreht sich alles um Essen und um Nicht-Essen. Die Betroffenen essen zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten. Gegenüber Außenstehenden sind sie eher zurückhaltend und verhalten sich sogar diätbewusst! Die Ess-Sucht ist oft mit psychischen Störungen wie Depressionen, Angststörungen oder Persönlichkeitsstörungen verbunden. Warnzeichen von Essstörungen in der Schule erkennen Orientierende Fragen: Trägt die Schülerin verhüllende oder warme Kleidung? (Verstecken des Körpers/Frieren) Hat sie blaue Hände oder Lippen? (Kälteempfindlichkeit) Kaut sie ständig Kaugummi? (Betäubung des Hungergefühls) Fällt sie durch Gewichtsschwankungen grundsätzlich auf, hat sie in der letzten Zeit stark abgenommen? Muss sie während des Unterrichts sehr häufig zur Toilette? (Missbrauch von Abführmitteln) Hat sie Hamsterbacken, obwohl sie dünn ist? (geschwollene Speicheldrüsen) Ist sie häufig mit den Gedanken woanders? (Konzentrationsstörungen) Kann sie schlecht still sitzen? (Bewegungsdrang zur Verbrennung von Kalorien) Vergleicht sie ihre Figur häufig mit anderen? Verausgabt sie sich im Sportunterricht bis zur völligen Erschöpfung? Friert sie häufig und schnell? Hat sie beim Sport Schwächeanfälle, die heruntergespielt werden? Wird sie beim heimlichen Essen erwischt? (Bulimie) 118
Hat sie Zahnprobleme? (Bulimie) Hat sie Bissspuren und/oder Rötungen an der führenden Hand? (Bissreflex bei selbst ausgelöstem Erbrechen) (Servicestelle für Gesundheitsbildung im Österreichischen Jugendrotkreuz)
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5.3.3 Übergewicht oder Adipositas Bereits Kinder leiden unter dem Druck, dünn und schön sein zu müssen. Die Ergebnisse repräsentativer Studien aus den USA und Europa zeigen, dass ca. 25 % der Mädchen im Alter zwischen sieben und zehn Jahren glauben, dass Dünnsein den Schlüssel zum Erfolg darstellt. 33 % der gleichaltrigen Jungen sind der Meinung, dass dies auch für Männer gilt. Gleichzeitig hat sich die Tendenz zur kindlichen Adipositas in den letzten 15 Jahren verdoppelt. Die Weltgesundheitsorganisation hat in diesem Zusammenhang von einer globalen Epidemie gesprochen. Die Begriffe Übergewicht und Adipositas werde häufig synonym verwandt, bezeichnen jedoch nicht dasselbe. Adipositas liegt nur bei einem beträchtlichen Übergewicht vor – und zwar dann, wenn der so genannte Body Maß Index (BMI) über 30 und höher liegt. Der BMI errechnet sich nach der Formel: Körpergewicht (gemessen in Kilogramm) geteilt durch Körperlänge (gemessen in Meter) zum Quadrat. Wer also 79 Kilo schwer ist, hat bei einer Größe von 1,82 einen BMI von 23, 84, denn 79: 1,82 x 1,82 = 23,84. Am Beispiel des Übergewichts zeigt sich anschaulich, wie schwierig es mitunter ist, zwischen Kindern und Jugendlichen in Bezug auf Entwicklungskriterien zu trennen. Es wäre wenig hilfreich, das Übergewicht von Jugendlichen zu beklagen, ohne die Vorgeschichte einzubeziehen. Dicke Jugendliche waren in der Regel dicke Kinder … Während adipöse Kinder ihr Dasein noch in einem relativen Schonraum fristen und meistens nur – was schlimm und traurig genug ist – in der Schule wegen ihrer Körperfülle gehänselt werden, stellt das massive Übergewicht im Jugendalter gerade in sozialer Hinsicht ein erhebliches Problem dar. Erfahren adipöse Kinder in der Regel – wenn dies auch völlig falsch ist – von ihren Müttern die nötige Ent120
schädigung in Gestalt weiterer Kalorien für erlittene Demütigungen, so gleicht das Leben eines stark übergewichtigen Jugendlichen einem Spießrutenlauf; die völlige Isolation (bzw. die Verbannung in die Gruppe der ebenfalls Dicken) folgt zumeist. Oft wird behauptet, dass übergewichtige Kinder und Jugendliche schlicht und ergreifend zu viel essen. Durchaus aber gibt es solche, die nicht mehr essen als andere! Es ist davon auszugehen, dass der Energieverbrauch gegenüber anderen Kindern erniedrigt ist. Bei ihren alltäglichen Aktivitäten verbrauchen also solche Kinder weniger Energie; unter Umständen bewegen sie sich auch weniger. Bei einem anderen Teil übergewichtiger Kinder und Jugendlicher liegt aber in der Tat eine überdurchschnittliche Kalorienzufuhr vor Eine dritte Gruppe isst zu viel und bewegt sich zu wenig. Die Ursachen für Übergewicht und Adipositas sind also sehr verschieden. Eine Erkenntnis aus der Ernährungswissenschaft ist in diesem Zusammenhang von großer Wichtigkeit: Wer mehr isst, als er verbraucht, der wird eindeutig dicker. Umgekehrt gilt auch: Wer weniger verbraucht, als er isst, der wird ebenfalls dicker. Der Energiestoffwechsel und der Energieverbrauch stehen bei Gesunden im Gleichgewicht. Eine Energiebilanz ist dann ausgeglichen, wenn die zugeführte Energie in Form von Nahrung dem Grundumsatz (= Arbeit der Organe, Atmung und Kreislauf), der durch das Essen freiwerdenden Wärme und dem Leistungsumsatz (= Energiebedarf durch Bewegung) entspricht. So können bereits kleine Irritationen der Energiebilanz – wenn sie täglich fortbestehen – mittelfristig zu einer erheblichen Gewichtszunahme führen. 50 Kilokalorien (= etwa eine Praline) zuviel am Tag können, auf das Jahr hochgerechnet, zu einer 121
Gewichtszunahme von mehr als vier Kilogramm führen! Vielfach ist zu hören, der Grundumsatz bei Übergewichtigen sei niedriger als bei Normalgewichtigen – daher würden sie wenig Energie verbrennen. Dabei trifft exakt das Gegenteil zu. Da diese Menschen übergewichtig sind, haben sie einen höheren Grundumsatz; sie haben wesentlich mehr fettfreie Masse, die den Grundumsatz bedingt. Bezieht man jedoch den Energieverbrauch auf die fettfreie Masse, so ergeben sich individuelle Unterschiede. Es gibt eine Gruppe von übergewichtigen Menschen, die einen für ihre fettfreie Masse erniedrigten Energieverbrauch aufweisen. Übergewichtige und adipöse Menschen sind in den verschiedensten Diäten überaus erfahren. Diese erweisen sich jedoch als Bumerang, da nach einer Phase massiver Ernährungseinschränkung oft die Gewichtszunahme folgt. Die Ursache liegt in dem häufig erwähnten Jojo-Effekt: Der Körper schaltet in Zeiten geringer Kalorienzufuhr auf Sparflamme. Der Körper lernt, wesentliche Funktionen mit geringer Energiezufuhr zu meistern. Er stellt sich jedoch keineswegs spontan wieder auf die dann wieder eintretende Kalorienzufuhr ein! Er verharrt vielmehr auf seinem niedrigen Niveau, bis die alten Fettdepots wieder aufgefüllt sind. Die sind bittere Erfahrungen, die auch schon so manche Eltern mit ihren übergewichtigen Kindern und Jugendlichen machen mussten. Übergewicht aber macht langfristig krank, sehr krank! Daher – und nicht nur deshalb – sollte seine Entstehung nach Möglichkeit verhindert werden. (Gesundheits-) Probleme Übergewicht führt zu: Bluthochdruck, koronaren Herzkrankheiten, Diabetes mellitus Typ II, 122
Schlafapnoe, Fettleber, Wirbelsäulensynäromen, Überbelastung der Gelenke, erhöhtem Risiko für Brust-, Prostata- und Gallenblasenkarzinom, vermindertem Selbstbewusstsein, sozialer Isolation, Schwierigkeiten im Beruf, verminderter Beweglichkeit, andauernden Schmerzen. Dicke Eltern haben nicht selten auch dicke Kinder, das lässt sich mit Hilfe von Studien belegen. Es ist erwiesen, dass die Erbanlagen eine mindestens ebenso prägende Rolle spielen wie die Umwelt. Den Einfluss des Erbgutes schätzen Forscher auf 40 – 70 %; bei 80 % stark fettleibiger Kinder ist mindestens ein Elternteil dick, bei 30 % sind es beide Eltern. Eltern leben das Übergewicht also vor; die Essgewohnheiten in solchen Familien sind dementsprechend ausgerichtet. Worin aber liegen weitere Gründe dafür, dass Kinder und Jugendliche übermäßig essen, das Falsche zu sich nehmen oder sich nicht hinreichend bewegen? Bei vielen Jugendlichen lassen sich sehr wohl spezifische Auslöser für das Übermaß feststellen. Traurigkeit, Stress, Ängstlichkeit, Überforderung, Langeweile, Frust und Zurückgestoßensein sind die häufig genannten Gründe. Für andere Jugendliche sind die aufgetretenen Schulschwierigkeiten der Grund, warum sie alles in sich hineinfressen. Außerdem sind die deutlich veränderten Essgewohnheiten zu nennen, die Kinder und Jugendliche gewissermaßen schleichend ins Übergewicht befördern. An jeder Ecke fin123
det sich in unseren Tagen ein Kiosk, eine Döner-Bude oder eine Hamburger-Kette. Die Kühlregale in den Supermärkten sind prall gefüllt mit kleinen angeblich gesunden, aber zugleich sehr stark zuckerhaltigen Snacks der berühmte SoftDrink mit dem geschwungenen rotweißen Schriftzug hat die Welt erobert und versorgt seine willigen jungen Konsumenten, die in sein wollen, mit jeder Flasche mit Unmengen von Zucker. Würstchen, Eis, Pommes – die Verführungen nehmen kein Ende! Doppelverdienende Eltern mit unterschiedlichen Arbeitszeiten können sich nur selten zu gemeinsamen Zeiten mit ihren Kindern an einem Tisch zusammensetzen; statt eines Pausenbrotes gibt es etwas Kleingeld, das dann in der Schule in Süßigkeiten oder fettreiche Donuts umgemünzt wird. Den ganz Eiligen bieten meterlange Kühlregale Pizzen und Baguettes mit Schinken und Käse, die dann hervorgeholt werden, wenn die Zeit nicht reicht. Und Zeit ist knapp in unseren Familien … Kinder, das steht fest, wollen sich bewegen. Damit schulen sie ihre motorischen Fähigkeiten. Raufen, Hüpfen, Springen, Laufen – jede dieser Aktionen gilt als Input für das menschliche Bewegungsgedächtnis. So stellt das Kind auf der Grundlage seiner motorischen Erfahrungen Bewegungsabläufe zurecht, die es bei Bedarf abrufen kann. Leider jedoch nehmen die motorischen Fähigkeiten der Menschen ab. Im Jahre 2003 zeigten Schuleingangsuntersuchungen aus München, dass nur noch 30 % der einzuschulenden Kinder einen Purzelbaum im ersten Anlauf schafften. Eine Studie mit 1500 Grundschulkindern aus 33 Schulen in München im Jahre 2002 zeigte, dass nur 25 % der Münchener Schüler 1996 die Ausdauerleistung von 1976 erreichten. Viele Schülerinnen und Schüler zeigten Probleme beim Laufen, Klettern, Werfen, Springen. Aus diesen Eingangs124
untersuchungen ging auch hervor, dass 20 % der Kinder Übergewicht hatten, 60 % zeigten Haltungsschäden. 44 % der Viertklässler klagten über gelegentliche, 8 % über ständige Rückenschmerzen; 40 % hatten fein- oder grobmotorische Koordinationsschwächen. Zeigten im Jahre 1991 noch 2,1 % der Schüler Verhaltensauffälligkeiten, so waren es im Rahmen dieser Untersuchungen im Jahr 2000 schon 11,3 %. Das Bewegungstalent von Kindern ist in den letzten zehn Jahren stetig gesunken. Die Ursache hierin liegt nicht darin, dass der Bewegungsdrang der Kinder abgenommen hat! Der Deutsche Kinderschutzbund warnt vor voreiligen Schlüssen und liefert zugleich eine von vielen möglichen Erklärungen: Der Straßenverkehr nimmt im gleichen Maße zu, wie Freiflächen, auf denen Kinder spielen können, schwinden. Im Jahre 1999 nannten nach einer Umfrage nur noch 13 % aller Kinder die Strafte als passenden Ort zum Spielen – die Tendenz ist weiter fallend. Der kindliche Spieltrieb aber gibt nicht so schnell klein bei und sucht Alternativen. Diese findet er auch: Der Medienkonsum steigt, ein Drittel aller Kinder sieht im Schnitt mehr als zwei Stunden am Tag fern. Ergänzt wird das Programm durch die tägliche Dosis an Video- und Computerspielen. Diese sind jedoch in keiner Weise geeignet, den Bewegungsmangel zu kompensieren. Das Gegenteil ist der Fall, denn durch realitätsnahe Animationen entfällt die Notwendigkeit, sich den Kräfte zehrenden Bewegungsabläufen draußen zu stellen. Was bringt das Bolzen in engen Einfahrten und auf matschigen Wiesen, wenn im warmen Zimmer weltmeisterliche Leistungen im bequemen Sessel abgerufen werden können? Mit Bewegungsarmut geht Fettleibigkeit einher. Falsche, einseitige Ernährung potenziert das Problem. Es ist deutlich geworden, dass übergewichtige Jugendli125
che eine Vorgeschichte haben – es ist die Vorgeschichte der dicken Kinder. Schwergewichtige Jugendliche sind im Kreise ihrer Alterskollegen Außenseiter. Schnell reagieren sie auf diesen Ausgrenzungsprozess, indem sie eine eigene Kultur pflegen, alle Bemühungen um eine bessere Figur resigniert einstellen und sich unter Ihresgleichen ein schönes Leben machen. Der Alltag übergewichtiger Jugendlicher ist ein trister und gefährlicher zugleich. Es gilt als gesichert, dass übergewichtige Kinder oft in Familien aufwachsen, in denen ein entmutigendes Erziehungsklima vorherrschend ist. Kinder solcher Familien werden tragischerweise grundsätzlich in ihren Fähigkeiten unterschätzt, ihre Mobilität wird nicht in ausreichendem Maße gefördert. Das für diese Familien typische Klima einer generellen Unzufriedenheit erstickt alle Veränderungsimpulse. Psychologen meinen beobachten zu können, dass die Väter in solchen Familien eher die schwächere Position innehaben, während die Mutter das Regiment führt. Die Mütter leiden jedoch im Grunde unter den wenig aktivierenden Vätern, unter deren fehlendem Ehrgeiz und stecken alle Energie – sowie alle Kalorien und Videospiele – in ihre Kinder, damit es ihnen zumindest gut geht. Der Dick und Dünn e. V. in Berlin nennt einige Denkmuster und Verhaltensweisen, die als charakteristisch für Übergewichtige und ihre Familien gelten: In den Herkunftsfamilien der Übergewichtigen war es oft Tradition, Essen als Belohnung einzusetzen, sodass schnell die Grundhaltung aufkam, man könne sich generell mit Essen etwas Gutes tun. Es wurde gelernt, Einsamkeit, innere Leere, Langeweile, Spannungen und Frustrationen jedweder Art mit Essen zu überwinden. Dicksein hat bei vielen Menschen die Funktion des emo126
tionalen Schutzes und der Abgrenzung (z. B. bei dahinter liegender Angst vor Sexualität). Bei vielen Männern wird Dicksein noch immer mit Macht assoziiert. Mythen, Vorurteile und Volksweisheiten stehen bei dicken Menschen hoch im Kurs: „Wer arbeitet, der soll auch tüchtig essen!“, „Liebe geht durch den Magen.“, „Die Nerven müssen in Fett schwimmen!“, „Iss, dass du was wirst!“, … Worauf sollte nun in Zukunft geachtet werden, um Kinder und Jugendliche in dem Bestreben zu unterstützen, das Übergewicht abzubauen? Jugendliche entfernen sich aus den genannten guten Gründen immer mehr vom Elternhaus. Damit geht auch einher, dass sie sich den Kontroll- oder Stützmöglichkeiten durch ihre Familien entziehen. Somit können sie sich fast unbeobachtet einer Ernährungsweise verschreiben, die ihnen passt. Dass sie in dieser Hinsicht nicht immer unbedingt die richtige Wahl treffen, zeigen die langen Schlangen an den Kassen der Fast-Food-Ketten. Junk Food ist Kult, ist zugleich auch der Inbegriff von no chance – zumindest bei sehr vielen. In diesem Zusammenhang kommt den Schulen die letzte Chance zu, mit entsprechenden Unterrichtsreihen in den Fächern Hauswirtschaft, Biologie oder auch Gesellschaftslehre dennoch auf eingefahrene Ernährungsmuster korrigierend einzuwirken. Da die Grenzen dieses Buches durch eine zufrieden stellend erschöpfende Bearbeitung der Ernährungsproblematik sicherlich gesprengt würden, wird im Anhang auf Materialien hingewiesen, die eine Vertiefung des Themas im schulischen Kontext ermöglichen. Lernt Hans nimmer mehr das, was Hänschen nicht gelernt hat? Die Frage ist schwer zu beantworten. Familien haben auch in unseren wirren Zeiten Vorbildfunktion. Daher seien abschließend Empfehlungen gegeben, auf welche Weise Esskultur wieder Einzug halten könnte – besonders in die Familien mit übergewichtigen Kindern bzw. Jugendlichen: 127
• Die Familie sollte mindestens einmal am Tag zum gemeinsamen Essen zusammenkommen. Die jeweilige Mahlzeit sollte vorher abgesprochen werden. Die Mikrowelle bleibt zu diesem Anlass geschlossen. Zwar sollten nicht schulmeisterlich überflüssige Fette und Kohlenhydrate bei der Auswahl des gemeinsamen Mahls benannt werden, jedoch sollte das servierte Essen ernährungsphysiologisch vertretbar sein: viel Gemüse, wenig Fett! • Familien sollten wieder lernen, dass Essen ein soziales Ereignis ist. Neben der Nahrungsaufnahme nimmt die Unterhaltung zentralen Raum ein. Das ist in den Anfängen sicherlich nicht einfach, aber es kommt auf einen oder mehrere Versuche an. • Beim Essen sollte sich jede(r) das auf den Teller tun, was sie/er auch wirklich essen will. • Das Frühstück nimmt zentralen Stellenwert in der Entwicklung bzw. Begünstigung von Fehlernährung ein. Ein Auslassen begünstigt Heißhunger in der Mittagszeit. Oft werden dann größere Mengen als nötig eingenommen. Deshalb sollte ein Frühstück nie ausbleiben; nach Möglichkeit sollte es Müsli oder zumindest Vollkorn-, kein Weißbrot bieten. • Kleine, gesunde Zwischenmahlzeiten halten den Körper gesund. Drei Hauptmahlzeiten, unterbrochen von drei kleinen Zwischenmahlzeiten, sind allemal besser und gesünder als zwei herunter geschlungene, deftige Hauptmahlzeiten! • Das Tischgebet sollte wieder eingeführt werden! In nichtchristlichen Familien kann ein kurzer Satz gesprochen werden, der deutlich macht, dass Essen nicht selbstverständlich ist. Einerseits sollten wir wieder lernen, uns die Begrenzung der Ressourcen unserer Erde bewusst zu werden, andererseits lernen wir, für einen kurzen Augen128
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blick in Ruhe und Besinnung zu verweilen. Es ist kein Zufall, dass Jugendliche für das Verb essen die Vokabeln spachteln, futtern und reinhauen gerne wählen, sind sie doch Ausdruck einer Grundhaltung: zieh rein, hau weg, mach voran. Kochkurse aller Art haben etwas Geselliges! Man kann sie als Erwachsener, aber auch unter Begleitung von Kindern und Jugendlichen absolvieren. Ganz nebenbei lernt man, zwischen Gesundem und weniger Gesundem zu unterscheiden. Wer die Scheu überwindet, wird schnell Freu(n)de gewinnen. Das Einkaufen von Lebensmitteln sollte strukturierter erfolgen. Sicherlich ist der Alltag vieler Familien darauf ausgerichtet, dass mal eben auf dem Weg von A nach B der Kofferraum gefüllt wird. Werden die Einkäufe besser geplant und auf bestimmte Tage bzw. Zeiten gelegt, ist im Vorfeld leichter zwischen dem zu unterscheiden, was nötig und was nicht nötig ist – dick macht. Außerdem laden die flinken Einkäufe geradezu dazu ein, den Einkaufswagen mit Dickmachern zu füllen. An den Kassen lauern erfahrungsgemäß die größten Gefahren: Schokoriegel und Bonbons in Hülle und Fülle. In besonderer Weise sollte das Trinkverhalten von Kindern und Jugendlichen besser gesteuert werden. Was diesbezüglich auf dem Flüssigkeitswege an überflüssigen Kalorien in den Mägen der Kinder landet, ist erschreckend. Zuckerhaltigen Limonaden sollte grundsätzlich eine Absage erteilt werden. Abgesehen davon: Ein Übermaß von Zucker steht im Verdacht, depressive Symptome zu bewirken, von der Gefäß zerstörenden Wirkung ganz abgesehen. Grundsätzlich sollten alle bewegungsfeindlichen Beschäftigungen zeitlich eingegrenzt werden. Computer, Fernsehen, Gameboy – alles in Maßen! 80 % der Kinder 129
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und Jugendlichen zwischen 11 und 14 Jahren bezeichnen das Fernsehen als ihre Lieblingsbeschäftigung! Der sitzenden Tätigkeit sollten bewegungsfreudige Aktivitäten folgen. Spaziergänge sind Balsam für die Seele – auch für die Seele von Kindern und Jugendlichen. Beim Fernsehen sollten keine zusätzlichen Knabbereien eingenommen werden. Keine Chips, keine Salzstangen, keine Schokolade! Eltern sollten ihre übergewichtigen Kinder und Jugendlichen nicht hätscheln, gar Dickerchen rufen oder ihnen mit einem Lächeln in die Speckrollen kneifen. Zugleich sollten sie sich unter allen Umständen davor hüten, ihrer Missbilligung von Übergewicht in verbaler oder nonverbaler Weise Ausdruck zu verleihen. Kinder und Jugendliche leiden unter ihrem Gewicht – körperlich und seelisch; sie brauchen sachgemäße, positive Begleitung und das lebendige Vorbild, wollen sie es schaffen, an Gewicht zu verlieren. Übergewichtige Väter oder Mütter sollten von Beginn an auf jede Schuldfrage verzichten. Sie haben sich irgendwann aus erklärbaren Gründen für ein wenig figurfreundliches Verhalten entschieden oder waren selbst Kinder übergewichtiger Eltern, deren schlechtem Vorbild sie wiederum gefolgt sind. Eine Veränderung des Ernährungsverhaltens sollte daher ohne seelischen Ballast, sehr wohl aber mit vielen Ballaststoffen angegangen werden. Eine positive Grundhaltung kann auch die betroffenen Kinder neugierig machen. Der Besuch bei der Ernährungsberatung (hier informieren die Krankenkassen gern und umfangreich) ist allen Diäten vorzuziehen, ganz besonders den radikalen Abmagerungskuren. Dr. Ingrid Kiefer vom Zentrum für Public Health am In130
stitut für Sozialmedizin der Universität Wien, plädiert für eine spezielle Form der Ernährung für Kinder, damit später aus dicken Kindern keine dicken Jugendlichen bzw. Erwachsenen werden. Kinder haben aus ihrer Sicht auf Grund ihres Wachstums ganz spezifische Anforderungen an die Ernährung. Eine richtige, bedarfsgerechte, jedoch auch bedürfnisgerechte Ernährung ist die Grundlage für das Wachstum, die Entwicklung und die Gesundheit. Die tägliche Nahrung muss den Ansprüchen des wachsenden Organismus gerecht werden, sowohl hinsichtlich Quantität als auch in der Qualität. Das Kindesalter erfordert eine adäquate Versorgung mit Energie, Eiweiß, Vitaminen und Mineralstoffen. Das tatsächliche Ernährungsverhalten bedingt jedoch eine Diskrepanz zwischen der empfohlenen Zufuhr und der tatsächlichen Nährstoffaufnahme. Besonders bei den Vitaminen D, E und Folsäure, aber auch bei den Mineralstoffen Kalzium, Magnesium, Eisen, Zink und Jod bestehen Defizite. Genauso wie bei der Zufuhr von Ballaststoffen und der Zufuhr von komplexen Kohlenhydraten. Kritisch sind auch die Fettqualität und die zu hohe Aufnahme von Cholesterin und Purinen zu sehen. Kinder unterscheiden sich, so Frau Dr. Kiefer, von Erwachsenen sowohl im Bedarf von Mikround Makronährstoffen als auch in ihrem Essverhalten! Sie bevorzugen mehrere, kleinere Mahlzeiten, essen immer wieder unterschiedliche Mengen und verlangen ständig nach ihren Lieblingsspeisen. Sie haben eine ausgesprochene Vorliebe für bunte, insbesondere rote und gelbe Lebensmittel. Von Geburt an verfügen sie über ein gut funktionierendes Hunger- und Sättigungsregulierungssystem, lernen aber meist schnell, dass Essen nicht nur sättigt, sondern auch tröstet, Langeweile und Kummer vertreibt. Wird das Essen noch zusätzlich als Belohnung oder Trostmittel eingesetzt, verhindert man die Entwicklung einer vernünftigen Einstellung zum Essen und fördert eine Bevorzugung eben jener 131
Lebensmittel, die als Belohnung dienen oder eine besondere Zuwendung von Seiten Erwachsener liefern. Diese Nahrungsmittel sind aber die besonders süßen, die besonders fetten – eben klassische Dickmacher! Kinder sollten nach Auffassung der engagierten Expertin früh lernen, mit dem großen Lebensmittelangebot umzugehen, um bei der Auswahl Verantwortung zu übernehmen. Dabei gilt: Je größer das Nahrungsmittelangebot bereits im Vorschulalter ist, desto vielfältiger essen sie als Jugendliche und Erwachsene! Prinzipiell sollten keine speziellen Lebensmittel verboten werden. Siegfried Pater, Buchautor und Filmemacher aus Bonn, hat sich sehr ausführlich mit dem Dickmacher Nr. 1 unter den Jugendlichen, der berühmten koffeinhaltigen, dunkelbraunen Brause mit den beiden Cs beschäftigt. Er arbeitet mit Schulen, Ernährungswissenschaftlern und Ministerien zusammen, die es gerne sehen, wenn die Jugend sich mit einem Übermaß an Zucker zurückhält. Doch das ist nicht leicht, denn die Brause aus Amerika ist mehr als eine Brause – sie zu trinken ist ein ganzes Lebensgefühl! Sie ist einmalig, unvergleichbar! Ist sie wirklich so einmalig, so unvergleichbar? Pater macht den Test vor Schulklassen. Dabei hat er neben dem Original sechs weitere Gläser mit Cola-Getränken gefüllt, die Supermärkte unter verschiedenen Namen anbieten. Der größte Weltkonkurrent der Atlanta-Brause ist auch darunter … „Wenn diese eine Cola wirklich so einmalig ist, dann müsstet Ihr sie auch schnell und sicher von dem übrigen Gebräu unterscheiden können!“ ruft er provozierend in den Raum. „Wer traut sich?“ Drei selbstsichere Kenner ihrer Brause treten nach vorne und machen den Test. Ergebnis. Keiner landet einen Treffer! Die einmalige Brause ist und bleibt eine einmalige, dick machende Illusion! 132
Kein Jugendlicher wird sich in seinem Dicksein gefallen! Fast alle Jugendlichen schützen sich mit ihrem Übergewicht vor Verletzungen ihrer empfindlichen Seele. Normalgewicht, nicht Model-Gewicht ist der Schlüssel zu mehr Zufriedenheit und Selbstwertgefühl.
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5.3.4 Streit, kaputte Scheiben, blaue Augen – das dissoziale Verhalten Aggressives Verhalten in der Schule In der letzten Stunde des Biologieunterrichts der Klasse 8 einer Hauptschule im Kreis Aachen zeigt sich die Lehrerin aus verständlichen Gründen erbost. Ein Schüler stört permanent mit lautem Schreien den Unterricht, läuft trotz wiederholter Verbote durch den Klassenraum und schlägt zwei Mitschülern, den Schwachen in der Klassengemeinschaft, heftig in den Nacken; zwischenzeitig kehrt er an seinen Platz zurück und spielt mit seinem Handy, dessen Benutzung während des Unterrichts der couragierte Direktor der Schule bereits vor Monaten untersagt hat. Die Lehrerin – engagiert, bei den Schülern respektiert, im Kollegium geschätzt und selbst Mutter von zwei jugendlichen Kindern – zieht alle Register. Sie mahnt, appelliert, zeigt klare Regeln auf. Nichts fruchtet! Der Schüler zeigt sich ignorant, kontert verbal aggressiv, benutzt derbe Schimpfworte. Der Schüler, so eine Regel, muss schließlich den Klassenraum verlassen, um den Trainingsraum aufzusuchen. Dieser wurde eigens für Störfälle eingerichtet; hier müssen notorische Verweigerer in sich gehen, aufschreiben, warum sie sich in der auffälligen Weise gezeigt haben. Alles wird dokumentiert. Die Schule hat einen guten Ruf in der Region. Es ist das allgemein akzeptierte Gebot im Kollegium, einen Schüler/eine Schülerin nie aufzugeben. Der Konflikt mit dem Schüler setzt sich auch in anderen Unterrichtsstunden fort. Die Eltern werden zitiert. Völlig irritiert sitzen sie kleinlaut beim Direktor im Büro, der an die Spielregeln erinnert und ihnen ins Gewissen redet. Die Mutter ist den Tränen nahe:„Ja, der … war schon immer so, … wir wissen bald auch nicht mehr …“ Der 134
Vater unterbricht: „Undankbar ist der Kerl, der hat doch alles! Beim nächsten Mal sagen Sie mir eher Bescheid, dann bekommt er eine Tracht Prügel und drei Wochen Hausarrest!“ Alltag an einer Hauptschule. Die Jugend steht in dem schlechten Ruf, weitaus aggressiver, unsozialer und gewaltbereiter zu sein, als es vor Jahren noch der Fall war. Täglich schrecken uns Meldungen von kriminellen Delikten, Raufereien und Schlägereien sowie von bedenklich stimmenden emotionslosen Reaktionsweisen von Jugendlichen im Kontext von Gewalthandlungen auf; „Jugendgang schaut tatenlos zu!“ titelte zum Beispiel am 15. Juli 2005 eine Kölner Zeitung, nachdem in einem Vorort der Großstadt drei Heranwachsende einen Rentner blutig geschlagen und zehn weitere Jugendliche grölend und klatschend daneben gestanden hatten. Ist die Jugend verroht? Läuft sie aus dem Ruder? Folgt sie nur den unsozialen Vorbildern einer nicht minder verrohten Erwachsenenwelt, die Gewalt längst als legitimes Mittel stillschweigend akzeptiert hat? Welche Ursachen lassen sich nennen? Diskussionen zu dieser Thematik füllen ganze Buchreihen in den Bibliotheken und Fernsehabende. An dieser Stelle kann es nur leistbar sein, auf normale aggressive Verhaltensweisen von Jugendlichen hinzuweisen und jene zu benennen, die Anlass zur Sorge und Intervention geben. Wann also ist aggressives und dissoziales Verhalten Ausdruck einer Störung? Vor allem: Wann können wir von einem dissozialen Verhalten sprechen, das die Entwicklung eines jungen Menschen nachhaltig negativ beeinflusst? Oppositionelles Trotzverhalten, kleine Diebstähle (= dissozial), aggressive Verhaltensweisen wie Treten, Beißen oder Schlagen kommen bei der Mehrheit von Kindern in 135
bestimmten Lebensabschnitten vor, ohne dass von schweren Verhaltensstörungen die Rede sein muss. Bilder dieser Art kennt jeder aus dem Kindergarten, wenn zum Beispiel das Wegnehmen von Spielgegenständen für Tumult sorgt. Im Laufe der Entwicklung gelingt es der Mehrzahl, aggressive und antisoziale Impulse gut oder besser unter Kontrolle zu bekommen; dies setzt allerdings eine entsprechende Anleitung und kompetente Erziehung voraus. Der angemessene, die körperliche Unversehrtheit und den Besitz des Gegenübers wahrende Umgang mit aggressiven Impulsen ist ein zentrales Moment in der Einschätzung intrapsychischer Reifung. Sind aggressive, dissoziale und oppositionellaufsässige Verhaltensweisen eines Kindes oder eines Jugendlichen an der Tagesordnung, so ist eine Störung des Sozialverhaltens gegeben. Bei ca. 4-5 % der Kinder und Jugendlichen können solche Störungen beobachtet werden, wobei Jungen viermal häufiger als Mädchen betroffen sind. Je früher dies zu erkennen ist, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, eine solche Störung ausreichend zu behandeln! Die Gefahr einer chronischen Störung sollte Anlass zu früher Intervention und vor allem zu Prävention sein. Zur klaren Unterscheidung seien nun typische Merkmale genannt: Oppositionelles Trotzverhalten ist gekennzeichnet von schnell auftretender Ärgerlichkeit, von dem ständigen Widersetzen gegen Anweisungen und Regeln, dem absichtlichen Verärgern Dritter, den häufigen Schuldzuweisungen der eigenen Fehler an andere, von Boshaftigkeit, hoher Empfindlichkeit, leicht auftretender Verärgerung, schnellem Beleidigt-Sein und von der Tendenz, jemandem etwas nachzutragen. Aggressives Verhalten ist oft gegenüber Menschen und Tie136
ren zu beobachten. Kinder und Jugendliche verletzen die Rechte der anderen, sie halten Regeln und Normen nicht ihrem Alter entsprechend ein. Kinder mit exponiert aggressivem Verhalten bedrohen andere häufig, sie schlagen mit Gegenständen nach ihnen oder schüchtern sie ein. In manchen Fällen kommt es zu körperlichen Grausamkeiten und auch zum Erzwingen sexueller Handlungen. Dissoziales Verhalten wird in der Regel erst im Jugendalter beobachtet. Die betreffenden Jugendlichen zerstören mutwillig das Eigentum anderer, sie beschmieren Hauswände, brechen ein, sie knacken Autos, tätigen Ladendiebstähle und lügen, um Vorteile zu erzielen. Auch das häufige Schwänzen in der Schule wird als dissozial bezeichnet. Nun sollten sich Eltern und Lehrer davor hüten, schnell den Sohn oder die Tochter in eine Schublade zu stecken. Mit solchen vorschnellen Stigmatisierungen kann eine nicht gewünschte Entwicklung ihren Anfang nehmen. Anderseits ist unbestritten, dass oppositionelles, aggressives und dissoziales Verhalten den familiären Frieden und auch den schulischen Erfolg gefährden können. Um sinnvoll trennen zu können, ist das besondere Augenmerk darauf zu richten, wie oft und in welchem zeitlichen Rahmen ein solches Verhalten auftritt. Brenzlig wird es, müssen Eltern oder Lehrer zu der Erkenntnis gelangen, dass sie bei einem Jugendlichen über längere Zeit (also Wochen und Monate) intensiv Auffälligkeiten feststellen, die sogar in mehreren Lebensbereichen auftreten! Aggressives Verhalten ist dabei kein isoliert zu betrachtendes Phänomen. Nicht selten kann man parallel zu diesem beobachten, dass die betroffenen Jugendlichen massive Probleme in der Schule haben, dass sie oft von Gleichaltrigen abgelehnt werden dass ihr Selbstwert recht instabil ist, 137
dass sie zu Depressionen neigen dass ihre Beziehungen zu wichtigen Bezugspersonen belastet sind und dass große Konflikte mit den Eltern im Spiel sind. Hiermit wenden wir uns der Frage nach den Ursachen für Störungen des Verhaltens zu. Selbstverständlich haben Kinder und Jugendliche durchaus verschiedene Temperamente. Dies ist schon früh in Kindergarten und Schule festzustellen, wenn Erzieher und Erzieherinnen vom Zappelphilipp sprechen oder die Eltern wiederholt zitieren müssen, weil mal wieder etwas – gegen alle Vereinbarung und Belehrung – zu Bruch gegangen ist. So sind sich Wissenschaftler in der Beurteilung einig, dass es die bereits erwähnten biologischen Merkmale gibt. Die so genannten hyperkinetischen Kinder der Kindergärten zeigen auch später oft ein höheres Maß aggressiven oder dissozialen Verhaltens. Je früher dissoziales Verhalten in der Entwicklung eines Menschen zu beobachten ist, umso stärker scheinen Erbeinflüsse vorzuliegen. je später jedoch ein solches Verhalten zu beobachten ist, desto größer sind die Einflüsse der Umwelt auf das Individuum. Zu den bedeutendsten Einflussfaktoren mit der Gefahr erhöhter Straffälligkeit, die von der Umgebung ausgehen, gehören: Armut, schlechte Wohnbedingungen, Vernachlässigung, unangemessene Erziehungspraktiken, Trennungen, gehäufte Konflikte unter den Eltern und Misshandlungen. Positive Eigenschaften können jedoch negative Umwelteinflüsse mindern! Es drohen diejenigen nicht abzustürzen, die widrigen Familienverhältnissen weniger stark ausgesetzt sind, die weniger Kontakte zu antisozialen, kriminellen Gleichaltrigen haben, die sich nicht schnell kritiklos zeigen und die über eine höhere Intelligenz verfügen. 138
Deutlich wird bei der intensiven Beschäftigung mit in dieser Hinsicht auffälligen Kindern und Jugendlichen, dass sowohl ein Übermaß an Ge- und Verboten als auch eine unzureichende Orientierung durch deren Fehlen aggressives Verhalten bei Kindern und Jugendlichen begünstigt. Eltern, die ihren Kindern vermehrt negative Rückmeldungen geben, ständig nörgeln, häufig strafen, wenig Beachtung schenken, sie permanent mit überzogenen Erwartungen überhäufen oder selbst schnell erregbar sind, schüren das Aggressionsniveau ihrer Sprösslinge! Des Weiteren ist der Konsumterror als begünstigender Faktor zu nennen. Es ist an verschiedenen Stellen dieses Buches auf die Dominanz des Besitzdenkens hingewiesen worden. Jugendliche geraten schnell in den Sog des Besitzen-Müssens, um nicht ausgegrenzt zu werden. Allein diese ständige innere Anspannung kann bereits aggressiv machen. Hinzu kommt jedoch, dass viele Erwachsene, selbst – so sie es vermögen – muntere Konsumentinnen und Konsumenten, ihre Kinder bereitwillig in das Karussell der schönen Dinge setzen, um ihr Gewissen zu beruhigen oder um schlicht und ergreifend ihre Ruhe zu haben. Das Gebot des Immer mehr schafft aber nachweislich neue Begehrlichkeiten, neue Abhängigkeiten, neue Anspannung. Materielles wird in Unmengen geboten, die Wertschätzung für die kleinen Dinge des Alltags geht nach und nach verloren. Eine Erwartungshaltung macht sich gerade bei Jugendlichen breit, die dann schnell schon kleine Leistungen im Haushalt mit Geschenken quittiert sehen wollen. Was bekomm ich dafür? … Die Folge ist ein Schonraum, der nur so lange funktioniert, wie das Geld reicht; der bereits dann ins Wanken gerät, wenn einmal Forderungen und Anforderungen im Raum stehen. Der verwöhnte Jugendliche ist schnell an seinen Grenzen angekommen, produziert Misserfolge – und zeigt sich zunehmend gereizt, aggressiv. 139
Fernsehen – im kritischen Licht • 3000 Studien der letzten 40 Jahre kommen zu dem Ergebnis, dass das Fernsehen einen schädlichen Einfluss auf Kinder und Jugendliche ausübt. • Der 42. Deutsche Ärztekongress in Berlin stellt fest, dass Gewalt im Fernsehen eindeutig aufpeitschend und keineswegs entlastend ist. • Der hessische Elternverband beklagt, dass 70 Tote täglich im Fernsehen ein Furcht erregendes Beispiel sind. • Lehrer klagen über eine steigende Montagshysterie vieler Kinder, die am Wochenende gesehene Gewaltszenen in der Schule nachspielen-, sie nennen als Ursache die schlechte Verfassung in den Familien, woraus eine Vereinsamung der Kinder und unkontrollierter Fernsehkonsum resultieren. • Alle Kinder, die überdurchschnittlich viel fernsehen, geraten in eine gewisse Abhängigkeit, wenn der Fernseher zur hauptsächlichen Freizeitaktivität wird. Durch diese früh erlernte Sucht sind sie auch später nachweislich anfälliger für Süchte wie zum Beispiel ständiges Naschen von Süßigkeiten, Rauchen, Alkoholkonsum oder Konsum anderer Drogen. Die Möglichkeiten von Eltern sind andererseits begrenzt, denn es ist davon auszugehen, dass schon mit Beginn des Jugendalters der Einfluss der Gleichaltrigen stärker ist als die Vorbildfunktion der Eltern. Dennoch ist es kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen, weil ohnehin die Umwelt alles entscheidet. Denn es sind speziell die in ihrer Entwicklung gefährdeten Kinder und Jugendlichen, die schnell, sehr schnell in jenen Gruppen von Gleichaltrigen ihre neue Heimat finden, die sich durch abweichendes Verhalten, also auch durch hohes Aggressionsverhalten hervortun. 140
Viele Eltern fühlen sich im Umgang mit aggressiven Kindern und Jugendlichen hilflos. Nicht selten lassen sie sich auf sinnlose Machtkämpfe ein, hadern mit sich, weil sie den Eindruck gewinnen, die Zügel zu locker gelassen zu haben oder resignieren in der Weise, dass sie bekunden, nicht mehr viel tun zu können, da der Einfluss von außen ohnehin größer wird. Es ist jedoch nie zu spät, einen anderen Kurs einzuschlagen bzw. neue Verbindlichkeiten zu schaffen. Jugendliche brauchen Aufgaben neben allen Freiräumen! Bekommen sie das Gefühl, mitgestalten zu können, so wird ihr aggressives Verhalten unter Umständen abnehmen. Der Verlust von sozialer Anerkennung in der Gruppe der Gleichaltrigen, in der Familie und später auch am Ausbildungsplatz muss zwangsläufig frustrieren und Aggressionen steigern. Es ist hart genug, wenn sich Jugendliche unserer Tage mit dem Gedanken vertraut machen müssen, dass sie einiges zu verlieren haben: eine berufliche Perspektive, materielle Sicherheiten (ohne im Überfluss zu leben) … Fatal wäre es, würde diese Verlustangst in das Bewusstsein umschlagen, ohnehin nichts mehr zu verlieren zu haben. Wenn auch die erwähnte Shell-Studie feststellt, dass die no-future-Generation nicht mehr in dem Maße existiert, wie es vor Jahren der Fall war, so könnten zukünftig wieder vermehrt Jugendliche mit einer solchen Grundhaltung reagieren, wenn sich herausstellt, dass Perspektiven ausbleiben. Selten gab es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland so viele fehlende Ausbildungsplätze wie derzeit! Allein in Nordrhein-Westfalen suchten im Sommer 2005 immerhin 43370 junge Leute eine Lehrstelle, es gab aber nur 15660 unbesetzte Ausbildungsplätze. Mit der damit verbundenen Hoffnungslosigkeit könnten so manche Dämme brechen. Das Leben in Familien, die um Sicherheit und Orientie141
rung ringen müssen, ist oft von Gereiztheit, Verachtung und Verbitterung über die verpassten Chancen bzw. die ausbleibende Gerechtigkeit geprägt. Arbeitslosigkeit und auch Armut bedingen eheliche Konflikte, Alkoholmissbrauch und andere Spannungen. Solche Krisenentwicklungen, aber auch berufliche Überforderung der Eltern verhindern oder erschweren eine Erziehung in Ruhe und relativer Gelassenheit. Erst recht erschweren sie den Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die sich bereits schon auffällig zeigen. Computerspiele kritisch gesehen • Der Psychologieprofessor Hugo Schmale von der Universität Hamburg hat bei Berufseignungstests festgestellt, dass Jugendliche heute eine um 30 % höhere Wahrnehmungsgeschwindigkeit haben als vor zwanzig Jahren, und zwar visuell wie akustisch. Sie könnten sich in einer immer schneller werdenden Welt also rascher orientieren. Er stellte zugleich aber auch einen Rückgang bei anderen Intelligenzfähigkeiten wie dem Abstraktionsvermögen fest. Die jugendlichen zeigten Probleme bei Lösungen, die Denkprozesse bzw. längere Zeit beanspruchen. Schmale stellte eine Überbetonung des rein technischen und linearen Denkens und einen Rückgang an Fantasie und Kreativität fest. Dieses Phänomen sei zum Beispiel durch die vorgegebenen Strukturen in Computerspielen bedingt. • Kinder- und Jugendpsychiater stellen einen Zusammenhang zwischen Hyperaktivität bzw. aggressivem Verhalten und den durch Computerspiele hervorgerufenen permanenten visuellen Reizen her. In welcher Form kann es gelingen, das aggressive Verhalten zu bändigen? Hier haben die alten, bekannten Regeln, die 142
für Erziehung generell als goldene Regeln gelten, im besonderen Maße Vorrang: Lob, eine positive Beziehung zum Kind/Jugendlichen, klare Regeln und konsequentes Verhalten erweisen sich als Gegenmittel, als Bremsfaktoren für aggressives und dissoziales Verhalten. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Störungen des Sozialverhaltens bei Kindern und Jugendlichen eine eher ungünstige Prognose haben. Solche Störungen sind in der Kindheit und Jugend häufiger als im Erwachsenenalter zu beobachten. Wenn es einen Rückgang zu verzeichnen gibt, dann liegt dieser am Übergang vom Jugendalter in das junge Erwachsenenalter; dabei zeigt sich die geringste Zurückbildung der verschiedenen Symptome der Störung beim Merkmal Aggressivität! Immerhin ein knappes Drittel der Kinder und Jugendlichen mit einer Störung des sozialen Verhaltens entwickelt im Erwachsenenalter einen so genannte dissoziale Persönlichkeitsstörung. Diese gilt als schwer therapierbare Form der Störung; u. a. viele psychisch kranke Straftäter (forensische Patienten) werden mit dieser Diagnose in den Maßregelvollzug überstellt. Es ist also durchaus Eile geboten, will man einer bedenklichen Entwicklung Einhalt gebieten. „Das Problem der Kinder, die aggressives Verhalten zeigen und zu Gewalt neigen, lässt sich als Selbstregulationstörung beschreiben. Die eigene Gewaltausübung dient in den meisten Fällen der Erhaltung des Selbst ( … ). Der Akt der Gewalt ist ein ohnmächtiger Versuch, z. B. das Gefühl von vorausgegangener Selbsterniedrigung auszugleichen. ( … ) Diese gefährdeten Kinder weisen meistens Entwicklungsdefizite auf, die auf der Verhaltensebene als mangelnde Impulskontrolle, Schwierigkeiten im Umgang mit Ärger und Wut und als Empathiemangel zu charakterisieren sind. Der Empathiemangel 143
der Kinder zeigt sich in der Schwierigkeit, sich in die Gefühle, Ängste und auch die Schmerzen anderer Kinder einfühlen zu können.“ (Prof. Dr. Manfred Cierpka, Universität Heidelberg) Eine exakte Einschätzung des Verhaltens von Kindern bzw. Jugendlichen ist Voraussetzung für die Feststellung, ob eine Störung im engeren Sinne vorliegt. Vor voreiligen Schlüssen muss also deutlich gewarnt werden. Vielmehr wird von Kinder- und Jugendpsychiatern empfohlen, zunächst mit Blick auf die Beobachtungskriterien Wut, Streitverhalten, Regelverstöße, Schuldzuweisungen, Reizbarkeit, Zorn, Schikanierung, Tierquälerei, Diebstahl, Schulschwänzen, Eigentumszerstörung, Benutzung von Waffen oder waffenähnlichen Gegenständen sowie seelische Grausamkeiten nüchtern zu bilanzieren. Hier können im Bedarfsfall Eltern und Lehrerinnen und Lehrer sinnvoll kooperieren, da sie in der Kombination einen großen Teil des Alltags des Jugendlichen überblicken können. Gelangt man zu einer Häufung beobachtbarer Kriterien und sind diese über einen längeren Zeitraum in mehreren Zusammenhängen (Familie + Schule + Freizeit) festzustellen, so ist Handeln erforderlich. Die an dem Prozess Beteiligten sollten Beratungsstellen aufsuchen oder andere Fachkräfte einschalten! Da an den Schulen aggressives, dissoziales Verhalten immer wieder Schwierigkeiten bereitet, sei noch einmal gezielt die Frage aufgeworfen, welche Phänomene in Bezug auf die einzelnen Schulformen zu beobachten sind. Bezieht man die Aussagen auf das allgemeine Auftreten von Gewalt an Schulen, so bleibt festzuhalten, dass nicht alle Schularten gleichermaßen davon betroffen sind. Am stärksten betroffen sind neben besonderen Schulformen wie Schulen für Lernbehinderte die Hauptschulen; am wenigsten Gewalt ist insgesamt an den Gymnasien festzustellen. Mit 144
Blick auf das Ausmaß an Gewalt lassen sich eindeutige Unterschiede festmachen. Physische Gewalt gegen Personen ist am stärksten an Hauptschulen verbreitet, diese werden gefolgt von den Realschulen und den Berufsschulen. An den Gymnasien ist physische Gewalt gegen Personen am geringsten vertreten. Bei der Gewalt gegen Sachen sind die Unterschiede zwischen den Schularten geringer. Diese Gewaltform ist an den Berufsschulen nur geringfügig stärker verbreitet als an den Haupt- und Realschulen. Psychische Gewalt wird an den Realschulen ausgeübt, an den Berufs- und Hauptschulen geringfügig seltener. An den Gymnasien ist auch bei psychischer Gewalt das Ausmaß erheblich geringer. Von verbaler Gewalt sind schließlich die Realschulen am stärksten betroffen. Die Hauptschulen sind demzufolge bei physischer Gewalt gegen Personen Spitzenreiter, Realschulen bei psychischer Gewalt sowie bei verbaler Gewalt und die Berufsschulen bei der Gewalt gegen Sachen. Anzumerken ist allerdings auch, dass bei den Gymnasien die Werte – abgesehen von der psychischen Gewalt – in den letzten Jahren im Vergleich zu einer Erhebung im Jahre 1994 deutlich angestiegen sind. Der Umgang mit diesem Phänomen erfordert Geduld und Kreativität bei allen beteiligten Pädagogen. Dass sehr wohl Verhaltens- und Einstellungsveränderungen zu bewirken sind, belegt ein Mut machendes Beispiel der Hauptschule in Düren-Birkesdorf. Dort hatten im Sommer 2005 zehn junge Schüler ein Training absolviert, das von der Sozialarbeiterin der Schule, einem Kriminalhauptkommissar vom Kommissariat Vorbeugung der Dürener Polizei und zwei AntiGewalt-Trainern durchgeführt wurde. Richtig motiviert war zu Beginn des ersten Trainings so recht keiner der jungen Teilnehmer im Alter zwischen 12 und 14 Jahren. Die Kursleitung hatte somit zunächst einmal den Weg für dieses Projekt zu ebnen. Sie starteten mit ihren Schützlingen eine 145
abenteuerliche Reise. Ziel dieser Reise war es, aus dumm cool nach Möglichkeit schlau cool zu machen. Gemeinsam mit ihren Trainern verbrachten die Jugendlichen ein Wochenende in der Eifel. Dort wurde, mit Motorsäge und Äxten ausgerüstet, Feuerholz geschlagen, und die Gruppe musste sich insgesamt selbst versorgen. Auch galt es, sich an vereinbarte Regeln zu halten und vor allem immer wieder das eigene Verhalten zu reflektieren. Mit Rollenspielen zum Thema Provokation, mit Kämpfen nach Regeln und vielen Übungen zum Thema Gefühle wuchs die Gruppe nach und nach zusammen. Die Teilnehmer des Trainings kamen aus vier unterschiedlichen Klassen der sechsten Jahrgangsstufe und waren bisher an ihrer Schule durch vermehrte Gewaltbereitschaft immer wieder negativ aufgefallen. Nicht selten endet der Weg solcher Jungen an der Sonderschule oder auf der Straße. Es mangelt in diesen Fällen an der Fähigkeit, mit anderen Menschen respektvoll umzugehen, sich an Absprachen und gewisse Regeln zu halten, Verantwortung zu übernehmen und/oder Kontrolle über Gefühle zu haben und sich ohne Hilfe von Gewalt mitteilen zu können. Die wesentlichen Merkmale für ein gutes und soziales Miteinander sind für viele der Schüler absolutes Neuland! Die Maßnahme zeigte Erfolg! Im feierlichen Rahmen durfte jeder Teilnehmer ein Zertifikat in Augenschein nehmen. Da abgewartet werden soll, ob sich das Erlernte von den Sorgenkindern auch in den Alltag übertragen lässt, werden die Zertifikate jedoch erst nach einer Bewährungszeit von einem weiteren Schulhalbjahr endgültig ausgehändigt. T-Shirts mit dem Aufdruck Ich hab’s geschafft – Cool Down 2005 gab es allerdings zum sofortigen Mitnehmen. Die Eltern zeigten sich zu Recht stolz. Da Düren eine Stadt der Schulen ist, wird dieses Beispiel sicherlich und hoffentlich Schule machen. 146
6 Dazugehören, vergessen – Jugend und Alkoholkonsum Fallbeispiel Frank, 16 Jahre alt, ist ein eher ruhiger Vertreter. Im Vergleich zu seinen beiden weiblichen Geschwistern, 10 und 13 Jahre alt, ist er deutlich zurückhaltender. Die Eltern, beide beruflich stark engagiert, bezeichnen ihn stets als den Vernünftigeren. An der Realschule, die Frank besucht, gilt er auch als scheuer, mittelmäßiger Schüler. Sport gehört zu seinen großen Schwächen, hier muss er so manche Lästerei von Mitschülern hinnehmen. Frank ist deswegen öfter verstimmt. Der Vater, selbst großer Anhänger des Fußballs, kommentiert dies einsilbig er scheint enttäuscht, dass Frank hier keine Talente entwickelt. Die Mutter lässt ihren Sohn gewähren; ihr Hauptinteresse liegt darin, dass der Alltag läuft. Frank findet an den Wochenenden zaghaften Anschluss an eine Gruppe Gleichaltriger, die sich im Umfeld eines Kiosks trifft. Die Jungen, von denen er einige aus der Schule kennt, sind zwar nicht unbedingt sein Fall, in Ermangelung echter Alternativen macht er aber mit. Natürlich sind Fußball und die Mädchen die Hauptthemen! Frank kann nicht so recht mitreden, eine Freundin hat er noch nicht. Bei den Treffen kursieren immer häufiger alkoholische Getränke. Zunächst Bier in Dosen, dann Schärferes. Frank hat bislang die Finger vom Alkohol gelassen. Zu Hause wird darauf geachtet, dass nur an Wochenenden oder zu Festen mal ein Gläschen getrunken wird. Der Vater ist in diversen Vereinen, wo ganz gern ein Bierchen gestemmt wird. Frank lehnt den Schluck aus der Pulle ab, wird jedoch 147
sogleich von seinen neuen Freunden belächelt. Worte wie Memme, Feigling und Weichei machen ihm mehr zu schaffen, als er zu erkennen gibt. Frank hat keinen, mit dem er reden kann. Da er sicher ist, von den Eltern beschimpft zu werden, wenn er Alkohol trinkt, bleibt er zunächst standhaft. Eines Tages jedoch trinkt Frank mit. Er hält den Druck nicht mehr aus, will auch mal etwas schaffen. Die Jugendlichen zeigen sich beeindruckt. Frank quittiert die Anerkennung seiner Mitstreiter durch wiederholte Griffe zur Flasche. Schulterklopfen, wohlwollendes Grinsen, … Frank ist dabei! Immer häufiger macht Frank mit, obwohl er kaum Alkohol verträgt. An einem Wochenende kennt Frank kein Maß mehr. Unter tosendem Applaus seiner Kollegen trinkt er einen Flachmann in einem Zug aus. Frank ist nach einigen vorausgegangenen Schlucken Bier ziemlich angetrunken. Die Eltern überschütten ihn mit Vorwürfen, als er am späteren Abend nach Hause kommt und sich übergeben muss. Der bei Jugendlichen häufig zu verzeichnende frühe Alkoholkonsum war bereits zu Beginn Thema. Es folgen einige Sachinformationen und Erklärungsversuche, welche Funktion Alkohol in Bezug auf Selbstwertkrisen bei Jugendlichen einnehmen kann. Zuvor soll jedoch auf die gesundheitlichen Auswirkungen eingegangen werden. Eine grobe Bilanz sollte schon hellhörig machen: • Alkohol wirkt toxisch auf das Nervengewebe des ungeborenen Kindes. • Alkoholgenuss in der Schwangerschaft kann geistige und körperliche Behinderungen wie Minderwuchs, Herzfehler oder Entwicklungsstörungen des Gehirns bewirken. 148
• Zwei Esslöffel Schnaps können bei Kindern schwere Vergiftungen hervorrufen. • Es gibt kein Organsystem, das nicht durch Alkoholmissbrauch in Mitleidenschaft gezogen wird. Jugendliche sind hier besonders gefährdet, da die Reifung des Gehirns bis etwa zum 17. Lebensjahr dauert. • Je früher Kinder oder Jugendliche Alkohol trinken, umso größer ist die Gefahr des gewohnheitsmäßigen oder sogar abhängigen Konsumverhaltens. • Alkoholmissbrauch bewirkt u. a. epileptische Anfälle, Gedächtnisstörungen, schwere Depressionen, Sprachstörungen, Schlafstörungen, Störungen des Knochenmarks, hochgradige Angst, Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen, Fettleber, Tumore in Mund, Rachen, Darm und Speiseröhre. Alkohol, chemisch im Grunde Ethylalkohol, ist in unserer Gesellschaft eine weitgehend akzeptierte Alltagsdroge. Seit Jahrtausenden wird Alkohol zu unterschiedlichen Anlässen als Genussmittel konsumiert. Alkohol steht auch in dem Ruf, ein Nahrungsmittel zu sein. Im Sommer 2005 machten Politiker in Bayern auf sich aufmerksam, als sie die Senkung der Mehrwertsteuer für Bier forderten, weil dies ein Nahrungsmittel sei. Alkohol, und dieser Gesichtspunkt soll im Vordergrund stehen, ist aber zugleich eine psychoaktive Substanz! Das Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit verbietet den Verkauf und die Abgabe alkoholischer Getränke an Jugendliche unter 16 bzw. unter 18 Jahren. Die Abhängigkeit von Alkohol gilt als Krankheit. Kennzeichen eines solchen Abhängigkeitssyndroms sind: • Das Auftreten von Entzugserscheinungen. • Veränderungen in der Toleranz von Alkohol (Betroffene 149
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können nach und nach mehr Alkohol konsumieren). Alkohol wird zur Linderung von Entzugserscheinungen eingesetzt. Der Wunsch, Alkohol zu trinken, entwickelt sich bis zum Zwang. Es gelingt Betroffenen zunehmend schlechter, den Konsum zu kontrollieren. Alkohol wird bei allen sich bietenden Gelegenheiten getrunken, später auch tagsüber heimlich konsumiert. Der Konsum steht im Mittelpunkt aller Interessen; alle anderen Interessen finden immer weniger Berücksichtigung; die Betroffenen geraten zunehmend ins gesellschaftliche Abseits. Alkohol wird gegen alle Vernunft und wider besseres Wissen um die schädlichen Folgen konsumiert. Es ist eine psychische Abhängigkeit gegeben, die immer wieder zu Alkoholgenuss führt.
Die Familie und das soziale bzw. berufliche Umfeld können sich unterschiedlich positiv oder negativ auf die Akzeptanz von Alkohol auswirken. Dabei werden in der Suchtforschung stets besondere Gefährdungsmomente genannt, die einen Menschen – unabhängig vom Alter – zum Konsum bzw. dessen erhöhtem Konsum veranlassen können. Es sind dies: • • • • • • • •
Tod oder Suizid naher Angehöriger, Ehescheidung, Umzug, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Inhaftierung, eine schlechte Beziehung zum Vater, das generelle Fehlen einer verlässlichen Bezugsperson, 150
• unklare oder ambivalente Erziehungssituationen, • eine Schlussstellung in der Geschwisterreihe. Alkoholprobleme existieren in allen Bevölkerungsschichten und Altersgruppen. Die Gefährdung der Jugend wird einhellig als sehr groß angesehen. 48 % der Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 25 Jahren konsumieren Alkohol in Kneipen und auch in Diskotheken (37 %), weitere Orte des Konsums sind die eigene Wohnung (38 %) oder die Wohnung von Freunden/Bekannten (40 %). Etwa 80 % dieser Altersgruppe trinken im Freundeskreis, 40 % mit Eltern, Geschwistern oder Verwandten. Der erste Alkoholrausch ereignet sich bei ca. 55 % bei privaten Feiern mit Freunden, bei 12 % bei Familienfeiern. Oft trinken hierbei Mädchen in gemischten Gleichaltrigengruppen mit und unterwerfen sich der bestehenden Gruppentrinknorm, um nicht am Rande zu stehen und um von den männlichen Gruppenmitgliedern anerkannt zu werden. Als suchtkranke Mädchen greifen sie zusätzlich oder alternativ zu Medikamenten oder entwickeln Essstörungen; andere zeigen auf Grund der frühen Störung selbstverletzendes Verhalten (das so genannte Ritzen). Welche erwünschten Wirkungen sind mit dem Konsum von Alkohol bei Jugendlichen verbunden? Befragte geben als Hauptmotive zumeist an, sie wollten ihre Spannungen abbauen, Glücksgefühle erleben, sich enthemmter fühlen, ihren Mut oder ihre Männlichkeit unter Beweis stellen, einfach fun haben. Dabei betonen sie, dass Alkohol geradezu jeden Freizeitbereich erfasst habe, dass es selbstverständlich sei, in der freien Zeit Alkohol zu konsumieren, um nicht isoliert zu sein. Viele Jugendliche kommen sich komisch vor, wenn sie in geselliger Runde auf ein Bier oder andere alkoholische Getränke verzichten. 151
Zwar gibt es auch, die Ergebnisse der Jugendforschung scheinen diesen Eindruck zu stützen, breite Kreise in der deutschen Jugend, die Alkohol megaout finden und sich in der Freizeit lieber sportlich bzw. drogenfrei gesellig zeigen, jedoch gelten die zuvor beschriebenen Einstellungen und Verhaltensweisen für einen beträchtlichen Teil der Jugend. In Deutschland ist momentan von 2,7 Millionen Alkoholikern auszugehen, was bedeutet, dass mindestens 2 Millionen Kinder und Jugendliche allein durch die Alkoholabhängigkeit ihrer Eltern betroffen sind. Die Deutsche Hauptstelle gegen Suchtgefahren beklagt einen stetigen Anstieg des Alkoholkonsums bei Jugendlichen, wobei es zu Schwankungen bei der Bevorzugung oder Ablehnung bestimmter Getränke kommt. Vom Bildungsstatus her gering qualifizierte Jugendliche sind besonders betroffen. Alkohol dient Jugendlichen als Mittel des Ausprobierens, der Entfaltung und der Orientierung. Dabei bedeutet die Zugehörigkeit zu ihnen wichtigen Gleichaltrigengruppen auch, dass sie sich mit deren Symbolen, Werten, Sichtweisen und Ritualen arrangieren müssen; das Kampftrinken gehört, wie bereits beschrieben, zu beliebten Aufnahme- und Begleitritualen. Alkohol enthemmt in tragischen Fällen in einer solchen Weise, dass es zu Gewalttaten kommt; vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass jede dritte Gewalttat unter Alkoholeinfluss begangen wird. Schließlich führt gerade übermäßiger Alkoholkonsum zu schwersten Verkehrsunfällen, die von Jugendlichen verursacht werden. Alkohol ist zum Begleiter in schwierigen Lebensphasen für Jugendliche geworden. Versagensangst, Einsamkeit, depressive Verstimmungen und extreme Lebenserfahrungen wie sexueller Missbrauch oder Gewalt können den Anlass geben, in eine Scheinwelt ohne Anspannung, Missachtung, 152
Wut im Bauch oder Druck zu fliehen. Alkohol aber erschwert die Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit, statt diesen Prozess zu vereinfachen. Es wäre unrealistisch, wollte man nun den Alkohol gänzlich aus dem Leben der Jugend verbannen. Mäßiger Alkoholkonsum hat seinen Stellenwert in der Gesellschaft; ihn zu verteufeln, könnte unbeabsichtigte Folgen haben: Das Verbotene übt bekanntermaßen speziell auf junge Menschen eine magische Anziehungskraft aus … Daher sollte es in erster Linie darum gehen, dass Erwachsene sich das Problem vergegenwärtigen, den eigenen Alkoholkonsum einer kritischen Betrachtung unterziehen und jungen Menschen ein Vorbild geben bzw. sie zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit Alkohol anleiten. Speziell unter dem Gesichtspunkt, dass Alkohol in vielen Fällen als Einstiegsdroge dient (es folgen Nikotin, Cannabis und Ecstasy), sollte Prävention mit allen Mitteln betrieben werden. Wie nun können Erwachsene mit dem Problem umgehen? Einige Tipps sollten hilfreich sein: • Unterziehen Sie zunächst Ihren eigenen Alkoholkonsum einer kritischen Bilanz. Seien Sie dabei so offen wie möglich. Es hilft wenig, wenn Sie die Wirklichkeit schönreden. Es geht nicht darum, etwas an den Pranger zu stellen, sondern es geht um die Frage, in welcher Form wir als Erwachsene unseren Kindern versteckte oder offene Botschaften auf den Weg geben, was den Konsum von Alkohol anbelangt. Wie gesagt: Es muss nicht erst eine regelrechte Alkoholabhängigkeit beim Erwachsenen vorliegen, um – das geschieht dann allerdings durch außen stehende Helfer – die Karten neu zu mischen! • Überprüfen Sie, welchen Charakter von Selbstverständ153
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lichkeit Sie Alkohol in Ihrem Leben bzw. im Familienleben geben. Gehört bei Ihnen eine gute Flasche Wein zum guten Essen, oder geht es auch ohne? Muss bei Ihnen Fett in Alkohol schwimmen, damit es nicht so den Magen plagt? Neigen Sie dazu, auf den Schreck erst einmal einen zu trinken? Oder brauchen Sie jetzt erstmal einen Schluck, um das alles zu verdauen? Sprechen Sie vielleicht mit unbeabsichtigtem Respekt oder mit bagatellisierendem Lächeln von den Trinkgelagen in Ihrer Jugend? Loben Sie manchmal Leute, die kräftig was verpacken können? Hüten Sie sich vor doppelten Botschaften gegenüber ihrem Kind! Wenn Sie ohne große Debatte den Alkohol verbieten und in Reden darauf aufmerksam machen, wie ungesund er ist, passt es nicht sonderlich, wenn Sie in anderen Zusammenhängen, zum Beispiel am Arbeitsplatz, Toleranz und Wohlwollen walten lassen und dies auch noch in der Familie kundtun. Vermeiden Sie es frühzeitig, männliche Attribute unmittelbar mit Alkohol zu verknüpfen. Es gibt also sehr wohl starke, fähige Männer, die den Alkohol meiden. Zeigen Sie sich sensibel für die Wünsche und Träume Ihres Kindes. Stützen Sie die zur Erreichung notwendigen Fähigkeiten, statt gleich alles als unrealistisch abzutun. Bleiben Sie gleichzeitig Realist, indem Sie dort Grenzen aufzeigen, wo sie tatsächlich bestehen. Transportieren Sie Ihre Vorbehalte dabei in vermittelnder, nicht besserwisserischer Grundhaltung. Fragen Sie sich regelmäßig, wo Ihr Kind mit seinen Aggressionen bleibt. Hat es überhaupt Raum, diese zu artikulieren, ohne gleich zu zerstören oder zu verletzen? Bieten sich Ihrem Kind ausreichende Möglichkeiten, sich auszutoben, ohne dass es sportive Qualitäten im Trinken entfalten muss? 154
• Fragen Sie sich, wie Sie in der Familie und im Umgang mit Ihrem Ehepartner mit Wut, Enttäuschung und Ärger umgehen. Vermitteln Sie Ihrem Kind das Bild, dass solche Gefühle Sie lähmen, ersticken, dass Sie sie geradezu umbringen? • Denken Sie darüber nach, ob Sie Spannungen mit zunehmender Sprachlosigkeit quittieren! Vertreten Sie die Auffassung, dass Reden ohnehin nichts bringt? Sind Sie ein Typ, der aus dem Raum geht, wenn die Luft dick ist? • Reagieren Sie auf Ihrerseits nicht erwarteten Alkoholkonsum von Sohn oder Tochter weder mit Strafe noch ohne eine überhaupt erkennbare Reaktion. Sie sollten schon klar zeigen, dass Sie damit nicht einverstanden sind, dass sich Ihr Kind nicht an ein Gebot gehalten hat, dass Dritte unter Umständen sogar gegen ein geltendes Gesetz verstoßen haben (Abgabe von Alkohol an Jugendliche unter 16 bzw. 18 Jahren), dass Sie eine Wiederholung nicht akzeptieren wollen. Bleiben Sie jedoch sachlich und zugewandt, denn Ihr Kind reagiert vielleicht auch auf Spannungen mit Ihnen! • Verharmlosen Sie nichts! Jugendliche können innerhalb von vier Jahren von regelmäßigem Trinken über ein sich steigerndes Trinken in eine tragische Abhängigkeit geraten! Bezeichnen Sie also einen Rausch oder Vollrausch Ihres zum Beispiel 16 Jahre alten Jungen nicht als Jugendflause. • Zeigen Sie sich ohne Übertreibung interessiert am Leben Ihres Kindes. • Fördern Sie die Interessen Ihres Kindes an der Mitwirkung in Vereinen! Forschungen haben bewiesen, dass bei den Vereinsjugendlichen die Quote der täglich oder wöchentlich Alkohol konsumierenden Jugendlichen bei nur 10 % liegt, bei den so genannten Cliquen jugendlichen liegt sie mit 25 % deutlich höher. 155
• Bekennen Sie als Eltern in den Schulen Farbe! Gemeinsame Veranstaltungen von Lehrern, Eltern und Schülern können auch ohne Alkohol sehr gesellig ausfallen! • Betrachten Sie es im Gespräch mit Ihrem Kind nicht als Gewinn, wenn sie mit ihm in der Gastsstätte gemeinschaftlich das erste Bier trinken dürfen, wenn es 16 Jahre alt ist. Es gibt interessantere Kriterien für das GroßGeworden-Sein! • Treffen Sie mit jugendlichen Familienmitgliedern klare Vereinbarungen, was den Alkoholkonsum angeht! Genehmigen Sie zum Beispiel das Glas Sekt bei einer Geburtstagsfeier, verbieten Sie aber auch das Türmchensaufen und andere pubertäre Späße. • Rechnen Sie damit, dass sich Ihr Kind über Gebote hinwegsetzt! Wie Sie dann reagieren, kann unter Umständen Richtung weisend sein. Sie bewegen sich auf dem schmalen Grat zwischen Empörung und Verständnis. Wählen Sie die goldene Mitte, blockieren Sie bei Ihrem Kind nicht jedwedes Nachdenken über das Geschehene. • Akzeptieren Sie nicht alle gesellschaftlichen Trends als unumstößlich. Kommentieren Sie so zum Beispiel durchaus Werbung für Alkohol als nicht nötig. Unterstützen Sie gegebenenfalls Initiativen, wie wir sie in Bezug auf die Nikotinsucht kennen. • Achten Sie darauf, welches Konsumverhalten die Idole Ihrer Kinder in der Öffentlichkeit zur Schau stellen! Verehrt ihr Kind einen Popstar, der schon manchmal wegen seiner Sucht in der Klinik war, oder fiebert es für einen Sportler/eine Sportlerin, die keine Macht den Drogen proklamiert? • Unterstützen Sie alle Maßnahmen, die das Selbstbewusstsein Ihres Kindes stützen können: Sport, Bewegung, die Übernahme von Verantwortung in Schule und Gruppen. Fördern Sie alle kreativen Impulse (Malen, Schreiben, 156
Fotografieren), statt darauf zu verweisen, dass man in der Branche ohnehin später keine Chance hat. • Zeigen Sie sich interessiert für das Umfeld Ihres Kindes, ohne mit lästigen Fragen Ablehnung zu provozieren. • Bleiben Sie mit Ihrem Ehepartner im Gespräch über Beobachtungen, die Sie machen. Vier Augen sehen mehr als zwei. Eine Mutter hat unter Umständen eine andere Sicht der Dinge als ein Vater. • Schrecken Sie nicht davor zurück, professionelle Hilfe einzuholen, wenn Sie das Gefühl haben, dass etwas aus den Bahnen gerät. Verlassen Sie sich darauf, dass alle Gespräche, die Sie führen, vertraulich behandelt werden. „Nicht das Suchtmittel ist vornehmliche Ursache der Sucht, sondern eine Beziehungsstörung, die im Laufe der Sozialisation erworben wurde. Abhängigkeit ist ein Symptom für dahinter liegende frühe(re) Störung.“ (Plakat einer Initiative zur Suchtaufklärung)
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7 Möglichkeiten der professionellen Hilfe Entwickelt ein Jugendlicher eine der im Verlauf dieses Buches beschriebenen Störungen, so können gerade Eltern sehr schnell an ihre Grenzen gelangen. Die eingetretene Entwicklung beobachten sie, wie erwähnt, mit Scham, Verzweiflung und auch Verärgerung über Sohn oder Tochter. Sie fragen sich, welchen Anteil sie an dem Scheitern des Kindes haben, und reagieren manchmal mit überzogenen Selbstvorwürfen, manchmal mit Verdrängung. Hierbei übersehen sie nur zu schnell, dass sie zwar einen beträchtlichen Teil der Entwicklung ihres Kindes begleiten konnten, dass aber nicht alles in ihrer Macht steht. Dies wiederum heißt nicht, dass in der Beobachtung einer krisenhaften Entwicklung eines Kindes nicht auch Fehler zu Tage treten, die Erwachsene gemacht haben, die Erwachsene (immer) auch machen – neben vielen guten Dingen im Leben ihrer Lieben! Es ist also keineswegs nötig, sich zu verstecken, den Kopf in den Sand zu stecken. Betroffene Eltern übersehen sehr schnell, dass sie mit ihrem Problem nicht allein sind. Hinter der Glücksfassade so mancher Familie versteckt sich so manche Not, so manche seelische Störung. Störungen werden immer noch leichtfertig einem generellen Versagen gleichgesetzt. Darüber spricht man nicht, denn es könnte peinlich enden. Damit aber ist die erste Fehlentscheidung getroffen. Verschweigen verstärkt das Leid – das Leid der Eltern und das Leid des Kindes. Eltern sollten im Frühstadium einer bedenklichen Entwicklung zunächst für Entlastung sorgen. Dies gilt im oben 158
beschriebenen Sinne für das Kind, aber auch für die Eltern. Daher sollten sie in Gesprächen mit Vertrauenspersonen das Erlebte einbringen. In der Regel hat jeder Erwachsene zumindest eine Person seines absoluten Vertrauens. Freundinnen und Freunde hätten den Namen nicht verdient, würden sie auf schlechte Meldungen mit Rückzug oder Ablehnung reagieren. Ist diese Barriere nicht zu überwinden, so gibt es zahlreiche Hilfsangebote, die ohne Gesichtsverlust in Anspruch zu nehmen sind. An erster Stelle ist hier sicherlich die bundesweit aktive Telefonseelsorge zu nennen, die von den beiden großen Kirchen getragen wird. Hier sind über die bundeseinheitlichen Telefonnummern 0800/1.110.111 oder 1.110.222 bestens ausgebildete Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner rund um die Uhr zu erreichen. Die Gespräche sind gebührenfrei und garantiert anonym! Man muss keineswegs einer Religionsgemeinschaft angehören oder sonderlich fromm sein, um anrufen zu dürfen. Dieses etwas verstaubte Image wird der Telefonseelsorge nicht gerecht, die allen Ansprüchen an eine kompetente Beratung im vollsten Umfang entspricht. Gleiches gilt für das Kinder- und Jugendtelefon (0800/1.110.333), das betroffene Jugendliche anrufen können, und auch für das Elterntelefon (0800/1.110.550). Nun kann aber auch schnell der Punkt gekommen sein, dass eine professionelle Hilfe unumgänglich ist. Der Jugendliche braucht eine Therapie – eine Psychotherapie. Psychotherapie bedeutet wörtlich übersetzt Behandlung der Seele bzw. von seelischen Problemen. Mit ihr können effektiv und unter Anwendung verschiedener Therapieformen Störungen des Denkens, Fühlens, Erlebens und Handelns behandelt werden. Hierzu zählen psychische Störungen wie Ängste, Depressionen, Essstörungen, Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen, Süchte und Zwänge. 159
In den meisten Fällen werden psychologische Behandlungsmethoden begleitend zu medizinischen Maßnahmen eingesetzt. Vor allem dann, wenn die zu beklagende Störung schon längere Zeit anhält oder wenn sie sich erkennbar verschlimmert, sollte die professionelle Hilfe nicht mehr hinausgezögert werden. Die Behebung der mit diesem Buch beschriebenen Störungen lässt sich erfahrungsgemäß kaum ohne eine solche Hilfe bewerkstelligen. Voraussetzung für eine Psychotherapie ist allerdings, dass die Betroffenen die Bereitschaft zeigen, nach Kräften mitzuwirken, sich Fragen zu stellen. Jugendliche erleben zwar im Kontext ihrer Störung den für Therapien nötigen Leidensdruck, sie werden aber kaum die Initiative ergreifen (von den älteren Jugendlichen vielleicht abgesehen), zudem wollen sie im Kreise der Gleichaltrigen – so etwas rauskommt – nicht als verrückt oder Psycho gelten. Umso mehr ist das Umfeld, umso mehr sind Eltern und Lehrerinnen und Lehrer gefragt, stützende Funktion auszuüben. Die Erfahrung hat gezeigt, dass sehr wohl Jugendliche für eine Therapie zu gewinnen sind, sieht man einmal von stark dissozialen Jugendlichen ab, die im Extremfall vom Jugendgericht dazu gezwungen werden müssen. Ein Psychotherapeut übt Psychotherapie aus. Das kann ein Psychologe (Psychologischer Psychotherapeut) oder ein Mediziner (Ärztlicher Psychotherapeut) sein. Beide dürfen auch Kinder und Jugendliche behandeln. Es gibt, wie erwähnt, unterschiedliche therapeutische Richtungen, in denen ein Therapeut ausgebildet sein kann. Die Krankenkassen erkennen normalerweise die tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie und die Verhaltenstherapie an, d. h. sie übernehmen die Kosten. Fachleute führen seit Jahren einen intensiven Streit darüber, welche Arten der Therapie denn nun die aussichtsreichen sind. Eine 160
Entscheidung darüber können betroffene Eltern aber den konsultierten Ärzten oder Psychologen überlassen. Außerdem hilft es, sich bei den Krankenkassen Listen über erfahrene niedergelassene Therapeuten aushändigen zu lassen. Viele Psychotherapeuten arbeiten auch in den Erziehungsberatungsstellen der Städte oder bieten in Kliniken ihre Hilfe an. Neben der Psychotherapie kann eine medikamentöse Behandlung sinnvoll sein. So lindern bestimmte Medikamente starke Angstsymptome oder depressive Symptome. Die Entscheidung über deren Einsatz kommt aber ausschließlich den Fachleuten zu. So spricht zum Beispiel der behandelnde Psychologe derartige Schritte mit dem Hausarzt ab; der ärztliche Psychotherapeut kann direkt zum Rezeptblock greifen. Grundsätzlich erfolgt die Gabe von Medikamenten eher behutsam, da es nicht darum gehen kann, die Symptome nur auszuschalten.
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8 Ausblick – ein Plädoyer für eine Sinn stiftende Kindheit Seelische Störungen bei Jugendlichen sind ein ernst zu nehmendes, vielleicht bislang noch zu sehr ignoriertes gesellschaftliches Phänomen. Die Ursachen für deren Entwicklung sind mannigfaltig. Es steht zu vermuten, dass im Zuge wachsender ökonomischer Probleme, zunehmender Vereinsamung und vielfach beklagter Sinnentleerung im Leben vieler die seelische Not von Erwachsenen und auch Jugendlichen eher steigt. Mediziner, Psychologen, Pädagogen und alle im Gesundheits-, Erziehungs- und Bildungswesen engagierten Frauen und Männer stehen vor Herausforderungen, um die sie nicht zu beneiden sind. Aber auch die Eltern müssen sich stellen, Antworten suchen und Neuanfänge wagen. Solche Wendungen sind mit Tränen und Schmerzen, aber auch mit neuer Hoffnung verbunden. In verschiedenen Zusammenhängen wurde mit diesem Buch darauf hingewiesen, dass eine Trennung zwischen Kindheit und Jugend nicht immer trennscharf aufrechtzuerhalten ist. Jugendliche haben gerade erst einmal die Kindheit hinter sich gelassen und sehnen sich in manchen Momenten sicherlich in die behütete Zeit zurück. Es ist deutlich geworden, dass die Wurzeln des fehlenden Glücks bei seelisch gestörten Jugendlichen auch in der Kindheit liegen. Wem das Glück der Jugend am Herzen liegt, der muss nach dem Glück der Kinder fragen. Prof. Dr. Gerald Hüther von der Klinik und Poliklinik für 162
Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität in Göttingen ist ein renommierter Wissenschaftler, der sich vor allem mit Fragen der Hirnforschung beschäftigt hat. Er gilt als vehementer Verfechter eines Bewusstmachens der unendlich kostbaren Ressourcen von Kindern, die leider nicht immer zur Entfaltung gelangen. Da er freundlicherweise einen seiner mitreißenden Vorträge für diese Publikation zur Verfügung stellte, sei ihm das letzte Wort gegönnt. Es ist allemal herausfordernder, packender und motivierender als das Schlusswort eines Autors, Vater von zwei Kindern, 11 und 13 Jahre alt, der Recherche und des Schreibens etwas müde und irritiert, was die Zukunft unserer Jugend anbelangt, jedoch auch voller Optimismus: „Nie wieder im späteren Leben ist ein Mensch so offen für neue Erfahrungen, so neugierig, so begeisterungsfähig und so lerneifrig und kreativ wie während der Phase der frühen Kindheit. Aber dieser Schatz verkümmert allzu leicht, und allzu vielen Kindern geht ihr Entdeckergeist und ihre Lernfreude bereits verloren, bevor sie in die Schule kommen. ( … ) Damit es Kindern gelingt, sich im heutigen Wirrwarr von Anforderungen, Angeboten und Erwartungen zurechtzufinden, brauchen sie Orientierungshilfen, also äußere Vorbilder und innere Leitbilder, die ihnen Halt bieten und an denen sie ihre Entscheidungen ausrichten. Nur unter dem einfühlsamen Schutz und der kompetenten Anleitung durch erwachsene ’Vorbilder’ können Kinder vielfältige Gestaltungsangebote auch kreativ nutzen und dabei ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten erkennen und weiterentwickeln. Nur so kann im Frontalhirn ein eigenes Bild von Selbstwirksamkeit stabilisiert und für die Selbstmotivation in allen nachfolgenden Lernprozessen genutzt werden. Die Herausbildung komplexer Schaltungen im kindlichen Gehirn kann nicht gelingen, 163
- wenn Kinder in einer Welt aufwachsen, in der die Aneignung von Wissen und Bildung keinen Wert besitzt (Spaßgesellschaft), - wenn Kinder keine Gelegenheit bekommen, sich aktiv an der Gestaltung der Welt zu beteiligen (passiver Medienkonsum), - wenn Kinder keine Freiräume mehr finden, um ihre eigene Kreativität spielerisch zu entdecken (Funktionalisierung), - wenn Kinder mit Reizen überflutet, verunsichert und verängstigt werden (Überforderung), - wenn Kinder daran gehindert werden, eigene Erfahrungen zu machen bei der Bewältigung von Schwierigkeiten und Problemen (Verwöhnung), - wenn Kinder keine Anregungen erfahren und mit ihren spezifischen Bedürfnissen und Wünschen nicht wahrgenommen werden (Vernachlässigung). (…) Aber das, worauf es wirklich ankommt, damit dieser komplizierte Entwicklungsprozess im Gehirn möglichst vieler Kinder gelingt, können Hirnforscher nicht: Sie können die Verhältnisse, die Beziehungsprobleme und die Rahmenbedingungen nicht ändern, unter denen Kinder in unserer gegenwärtigen Gesellschaft aufwachsen.“
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Literatur BAACKE, D. (2003), Die 13-18-Jährigen. Einführung in die Probleme des Jugendalters. Überarbeitung: Ralf Vollbrecht. Weinheim, Basel, Berlin: Beltz (8. überarbeitete Auflage) BAER, U. (2005), Neurowissenschaft, Säuglingsforschung und Therapie. Summaries. Anregungen. Folgerungen. Reihe KompetenzKompakt (Band 1). Neukirchen-Vluyn: Affenkönig DÖPFNER, M. & LEHMKUHL, G. & HEUBROCK, D. & PETERMANN, F. (2000), Ratgeber Psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle: Hogrefe MORSCHITZKY, H. (1999), Wenn Jugendliche ängstlich sind. Ratgeber für Eltern, Lehrer und Erzieher. Wien: öbv/hpt NEVERMANN, C. & REICHER, H. (2001), Depressionen im Kindes- und Jugendalter. Erkennen. Verstehen. Helfen. München: C. H. Beck PETERMANN, F. & DÖPFNER, M. & SCHMIDT, M.H. (2001), Ratgeber Aggressives Verhalten. Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle: Hogrefe STAHR, I. & BARB-PRIEBE, I. & SCHULZ, E. (1995), Essstörungen und die Suche nach Identität. Ursachen, 165
Entwicklungen und Behandlungsmöglichkeiten. Weinheim und München: Juventa (3. Auflage) STEINHAUSEN, H.-C. (2000), Seelische Störungen im Kindes- und Jugendalter. Erkennen und verstehen. Stuttgart: Klett-Cotta (2. überarbeitete Auflage) Der Autor dankt für die freundliche Bereitstellung von Materialien und für die ausführliche Beratung: Deutsches Jugendinstitut e. V Nockherstraße 2 81541 München Tel.: 089/623060 Fax: 089/62306-162 Mail:
[email protected] Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Ostmerheimer Straße 220 51109 Köln Tel.: 0221/89920 Fax:0221/8992300 Mail:
[email protected] Am Universitätsklinikum der RWTH Aachen arbeitet ein Bereitschaftsdienst zum Thema Essstörungen. Die dort tätigen Mediziner haben sich auf dieses Gebiet spezialisiert. Der Dienst ist unter 0241/8080-138 zu erreichen. Die dort erstellten Materialien sind allen zu empfehlen, die die Thematik vertiefen wollen. Außerdem sei die Zeitschrift Faszination Seele empfohlen Herausgeber: Dr. Hans Biermann Biermann Verlag GmbH Otto-Hahn-Straße 7 50997 Köln 166
Tel: 02236/376-452 Weitere Infos über das Internet: www.psychiatrieaktuell.de Der Psychotherapie-Informationsdienst (PID) ist per Mail zu erreichen:
[email protected] Lehrerinnen und Lehrern seien die sehr aktuellen und hervorragend recherchierten Arbeitsblätter von Stangl empfohlen. Internetadresse: http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at Der Autor und Filmemacher Siegfried Pater, der gerne Einladungen an alle Schultypen annimmt und zum Thema „Soft-Drinks und die Zuckerfrage – Diabetes auf leisen Wegen“ referiert, ist telefonisch unter 0228/236484 zu erreichen (Fax: 0228/237967). Der Autor dankt ausdrücklich Herrn Eckehard Höhl aus Aachen für hilfreiche Tipps und Herrn Dr. Knauer, Leitender Arzt der Rheinischen Kliniken Düren. Der Autor ist unter
[email protected] zu erreichen.
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