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Zu diesem Buch «Es geht in diesem Roman nicht um Verzicht oder Schuldgefühle, nicht um Mitleid oder Pflichtbewußtsein. Im Vordergrund stehen nicht moralische Fragen, sondern zwei Arten zu lieben. ‹Victor lieben heißt, nichts für morgen aufzusparen›, überlegt Hilary. Mit viel Einfühlungsvermögen, aber ohne jedes Pathos beschreibt Marti Leimbach, wie die tödliche Krankheit im Leben eines jungen Menschen immer mehr die Oberhand gewinnt und wie der Betroffene und seine engste Umgebung damit umgehen. Es ist ihr geglückt, jeden Anklang an Rührseligkeit zu vermeiden und ihre Figuren nicht zu Helden zu stilisieren. Auch daß der Roman am Ende noch eine überraschende Wendung nimmt, macht ihn zu einem vielversprechenden Debüt im Bereich der Unterhaltungsliteratur.» («Hannoversche Allgemeine Zeitung»)
Autor Marti Leimbach wuchs in Maryland auf, 1987 graduierte sie am Radcliffe College. Ihren vorliegenden ersten Roman schrieb sie, während sie an einem «Writers Program» der University of California teilnahm. Mehrere ihrer Kurzgeschichten wurden mit Preisen ausgezeichnet. Die Verfilmung von «Wen die Götter lieben» mit Julia Roberts läuft bei uns unter dem Titel «Entscheidung aus Liebe».
Marti Leimbach Wen die Götter lieben Roman
Deutsch von Cornelia Holfelder-von der Tann und Gesine Strempel
Rowohlt
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
s&c by Ute77
166. -195- Tausend August 1992 Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Oktober 1991 Die Originalausgabe erschien 1990 unter dem Titel «Dying Young» im Verlag Doubleday, New York Umschlaggestaltung Britta Lembke Umschlagfoto: Julia Roberts und Campbell Scott in der Verfilmung des Romans durch Joel Schumacher Mit freundlicher Genehmigung der Twentieth Century-Fox of Germany Copyright © 1990 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «Dying Young» Copyright © 1990 by Marti Leimbach Alle deutschen Rechte vorbehalten Satz aus der Aldus (Linotronic 500) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 990-ISBN 3 49913000 9
Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben. Menander
Für meine Mutter, Mary Leimbach. Und für Jay
Eins Endlich sehe ich Gordon: Er läßt die Verandatür des Hauses seiner Mutter hinter sich zufallen und sucht in der Hosentasche nach dem Autoschlüssel seines Mercury. Er weiß nicht, daß ich ihn beobachte, daß ich in meinem Auto sitze und das Autoradio laufen lasse, was auf die Batterie geht, daß ich im Morgengrauen aufgewacht bin, weil ich einfach sehen wollte, was jemand wie Gordon morgens um halb acht macht. Im Radio spielen sie Heavy Metal - christlichen Heavy Metal. Der Leadsänger brüllt abstoßend verbohrt: «Jesus loves you.» Gordons Anblick läßt mich erstarren, sein Gesichtsausdruck, seine Bewegungen, fünfundvierzig Minuten nachdem er aufgestanden ist, die Art, wie er zu seinem abgeschlossenen Auto geht und mit den vereisten Scheiben fertig wird. Er trägt Jeans, ein Sweatshirt mit dem Aufdruck irgendeines Jazzfestivals auf der Brust, eine Daunenjacke, deren Reißverschluß offensteht, und Schnürstiefel mit Schnürsenkeln aus Leder. Seine Winterkleidung unterstreicht seine Größe. Er zieht den Eiskratzer mit schnellen Strichen über die Windschutzscheibe. Er steht an der Autotür, vor einem Haus, das so gepflegt ist, daß es in einen Fotoessay über Villen in Neuengland passen würde, er ist ein Wunder an Normalität, und ich bin so dankbar. Gordon stellt einen Fuß auf die Matte unter dem Fahrersitz und ruft: «Tosh, Tosh, komm her, Hund», und wartet auf Tosh, die über den Rasen auf die offene Tür zurennt. Tosh spurtet auf den Beifahrersitz, und Gordon sieht auf seine Uhr, dann auf das Haus und verschwindet mit langen Schritten hinter der Verandatür des alten grau-weißen Gebäudes im Kolonialstil, das seinen Eltern gehört. Im Radio singt der Chor: «God is 7
above you, below you, besides you...», und der Hund und ich starren uns durch die Seitenfenster neugierig in die Augen. Tosh hat mich entdeckt, was ich als Omen dafür nehme, daß auch Gordon mich sehen wird. Tosh fängt an zu bellen, und ich höre das heisere Jaulen aus dem Auto, sehe, wie Toshs Atem sich wie Nebel auf den Scheiben niederschlägt, sehe ihre weichen aufgestellten Ohren. Sie möchte spielen. Sie erkennt mich wieder, weil Gordon und ich letzte Woche mit ihr am Strand waren, und sie denkt wahrscheinlich, daß ich hier bin, um aufs neue mit ihr durch den weichen Sand zu jagen und sie Tennisbälle aus der Brandung holen zu lassen. Ich beschließe, sie nicht anzuschauen. Ich stelle das Radio ganz leise, lege mich auf die Vordersitze und warte darauf, daß Tosh mit Bellen aufhört. Als Gordon kommt und sie beschwichtigt, denke ich darüber nach, wie beruhigend seine Stimme ist - sogar ein aufgeregter Schäferhund läßt sich von einer so friedlichen Stimme besänftigen. Er sagt: «Was hast du denn, Tosh? Braves Mädchen, leg dich hin, so ist es gut... », und, so komisch das auch klingt, fühle ich mich irgendwie getröstet, als ob er mit mir geredet hätte. Für einen Moment stelle ich mir vor, daß ich Tosh heiße, nicht Hilary, ich lasse meinen Kopf auf das Vinyl des Beifahrersitzes sinken und mich von seiner Stimme beruhigen. Nicht zum erstenmal an diesem Morgen frage ich mich, was ich hier zu 1suchen habe, was ich damit bezwecke und warum sich überhaupt ein Mensch in aller Frühe aus dem Bett quält, nur um zu sehen, wie ein Typ die fünfzig Meter von seinem Haus zu seinem Auto zurücklegt. Weder bin ich verrückt, noch bin ich in Gordon verliebt... Und obwohl es mich interessiert, wie er sich der Welt zeigt, wenn er gerade aufgewacht ist, seine verschwollenen Augen am frühen Morgen, sein glatt nach hinten gekämmtes nasses Haar, gibt es weniger umständliche Wege, Details dieser Art über einen Mann herauszufinden. Vielleicht wollte ich einfach 8
meinen Tag damit beginnen, jemand anderen zu beobachten als Victor oder mich, jemanden, der ein normales Leben führt und der es genießt, hier zu sein, der absichtlich hierhergekommen ist, nach Hull, Massachusetts, und wieder gehen wird, ohne daß es Probleme gibt. Ich höre Gordons sanfte Stimme, die leiser wird, als er die Autotür schließt. Das Geräusch, wie das Auto angelassen wird, erreicht mich. Ich höre, wie erst der Rückwärtsgang, dann der erste Gang eingelegt wird. Und noch ehe ich den Kopf hebe, weiß ich vom Knirschen der Reifen, daß Gordon weg ist. Ich bin überzeugt davon, daß man sein Leben jeden Augenblick verändert - vielleicht nicht absichtlich -, aber daß irgend etwas, was man tut, dem Weg, auf dem man sich befindet, eine andere, unwiderrufliche Richtung gibt. Wenn ich nie auf die Anzeige in der Zeitung geantwortet hätte, hätte ich Victor nicht kennengelernt, mich nicht in ihn verliebt und wäre nie nach Hull gezogen. Ich hätte Gordon nicht kennengelernt. Vielleicht hätte ich jemand anderen gefunden und mich in ihn verliebt, einen Pferdezüchter aus Wyoming vielleicht, und dann wäre ich jetzt dort. Darüber dachte ich gestern nach, als Gordon und ich in dem Wald hinter seinem Haus Holz für den Kamin sammelten. Unsere Stiefel knirschten auf dem vereisten Weg, den gefrorenen, zerfetzten Blättern. Wir traten Klumpen aus Eis vom Ufer eines halb zugefrorenen Flusses los. Wir taten so, als wären es Gletscher, die in der Antarktis schmolzen, als wären wir Zeugen einer langsamen Zerstörung der Welt, als würden Florida, Cape Cod und Hull bald überflutet sein. Wir sammelten einen Stapel Holz, setzten uns auf die RedwoodVeranda seines Elternhauses und prüften, welche Zweige trocken genug waren, daß wir sie nehmen konnten. « Das ist also dein Job - dich um Victor zu kümmern ? » fragte er. 9
«Nein, das war mein Job. So haben wir uns kennengelernt. Dann haben wir uns verliebt.» «Die Menschen verlieben sich nicht einfach so, oder ?» fragte Gordon. «Hat Liebe nicht immer Gründe ?» «Ich arbeite nicht mehr für Victor. Ich bin bei ihm, weil ich bei ihm sein will. Das hat nichts damit zu tun, daß er krank ist», habe ich zu Gordon gesagt. Dann fragte ich: «Was für Gründe?» Gordon hockte auf der Terrasse und zerknickte einen dünnen Zweig. Er sagte: «Hast du Lust, ins Haus zu kommen und mit mir zusammen ein Feuer zu machen ?» Das war der entscheidende Punkt, der Moment, der alles verändern konnte. Zunächst habe ich ihm nicht geantwortet. Ich überlegte, ob er die Frage wiederholen würde, aber er sagte nichts. Er sah zu mir hoch, und ich stellte mir vor, wie er vor dem Kamin kauert und ein Stück Holz nachlegt. Ich stellte mir das Feuer vor, das wir mit unserer Sammlung feuchter Zweige machen. Ein niederes, laut knisterndes Feuer. Ich stellte mir vor, daß Gordon und ich uns vor dem Kamin lieben, ich spüre die Wärme des Feuers auf meinem Schenkel, meiner Schulter, einer Hälfte meines Gesichts. Und danach setze ich mich auf und starre in die Flammen, und Gordon sitzt neben oder hinter mir, sein Gesicht in meinem Haar. Schließlich schüttelte ich den Kopf. Nein. Ich befinde mich in einem Zustand beunruhigender Unentschlossenheit. Gestern habe ich Gordon abgewiesen, als er mir etwas anbot, und heute bin ich um ihn herum wie ein verschüttetes Stück Vergangenheit. Und doch weiß ich nicht, ob ich überhaupt irgend etwas mit ihm zu tun haben will. Ich bin Victors Freundin, etwas, was mich stolz und ängstlich zugleich macht. Ich laufe umher und hoffe, daß es mir gelingt, einen Beschluß zu fassen, während ich die glanzlose Routine meiner Tage und Nächte abspule. Nie passiert irgend etwas. 10
Offenbar mache ich nach außen einen normalen Eindruck. Als ich den Waschsalon betrete, bin ich einfach noch jemand mit einem Korb voller schmutziger Wäsche und einer Dollarnote für den Wechselautomaten. Ich sehe nicht wie eine Frau aus, die gerade eine Stunde lang zusammengerollt in der kalten Muschel eines Autos zugebracht hat, sondern wie eine, die sich ihrer Verantwortung voll bewußt ist, wenn sie Wäsche nach Farben sortiert. Der Waschsalon ist eine dieser Münzwäschereien, die immer geöffnet sind. Zigarettenkippen von Kunden der vergangenen Nacht liegen zertreten auf dem Linoleum. Alle Wände sind leuchtend zitronengelb gestrichen, bis auf die Front, die ganz aus Glas ist. Heute sind keine anderen Kunden da. Nur ich und die Verkaufsautomaten. Ein Cola-Automat, ein SüßigkeitenAutomat und ein Automat, der verschiedene Markenwaschmittel, Bleichmittel und Weichmacher verkauft. An der hinteren Wand stehen zwei Videospiele, eines kommt von der Firma, die Gordon gehört. Eine Firmengruppe, die Videospiele und Software für Kids entwickelt. Das Spiel heißt Allen Turf, und der Spieler muß in einer Welt von Robotern leben, die Laserkanonen schwenken und versuchen, den Spieler zu töten. Die Tiere, die zu diesen Robotern gehören, sind auch mörderisch, kleine Kreaturen, die wie Käfer aussehen, um ihre Herren herumschwirren und sie vor dem Feuer der Feinde schützen, indem sie anfliegende Raketen mit ihren blinkenden Zauberantennen zerstören. Interessanterweise eröffnen die Roboter erst das Feuer, wenn sie von dem Spieler beschossen werden, eine ziemlich neue Variante bei Videospielen, glaube ich. Ich warte darauf, daß der Trockner fertig wird. Ich beobachte den sanften Taumel von Victors Boxershorts, meinem Rollkragenpullover, seinen schwarzen Socken, meinen gelben. Ich denke, wie kann ich erwägen, einen Mann zu verlassen, dessen Sachen auf so intime Weise zusammen mit meinen 11
trocknen. Alien Turf blinkt mich mit seinen hellen Lichtern an, will mich zum Spielen verführen. Ich werfe einen Quarter ein, dann noch einen. Ich spiele, während der Trockner sich dreht. Ich bin zwölfmal von Robotern unterschiedlichster Dienstgrade getötet worden, ehe die Wäsche fertig ist. Ich richte unter ihren Tieren ein Blutbad an. Victor zu belügen ist leicht. Er ist selbstbewußt und stürmisch aber voller Vertrauen. Ich glaube nicht, daß Victor irgend etwas von mir und Gordon ahnt. In jüngster Zeit habe ich allerdings in seiner Stimme eine Andeutung von Eifersucht, einen leisen Verdacht herausgehört, aber vielleicht schmeichle ich mir auch. Ich bin nicht blöd. Ich habe darüber nachgedacht. Ich muß nicht Freud heißen, um zu wissen, daß meine derzeitige Beziehung festgefahren ist, wenn ich mit dem Auto losfahre, um einem möglichen Liebhaber aufzulauern. Aber Victor schläft viel. Wenn ich es schlau anstellen würde, könnte ich ein komplettes zweites Leben führen, und er würde es nicht merken, vielleicht führe ich es bereits. Es kommt mir so vor, als würde er immer entweder gerade aufwachen, nach einem kurzen Schlaf aufstehen oder gähnen - entweder in Erwartung einer Ruhepause oder weil er gerade nach einer stundenlangen Ruhepause zu sich kommt. So als ob er sich ständig anschickt, wieder ins Bett zu gehen. Er steht immer unter dem Druck, noch etwas abzuschließen - meistens das Kapitel eines Buches -, ehe er wieder schlafen muß. Er quetscht sein Leben in die engen Grenzen, die seine Krankheit ihm setzt. Wir leben seit drei Monaten in Hull. Wir sind aus einem einzigen, ganz speziellen Grund hier: Victor erlaubt seiner Leukämie, von seinem Körper Besitz zu ergreifen. Ich mag Hull nicht. Ehe wir hierherzogen, habe ich im Atlas unter Ostküste der Vereinigten Staaten nachgeschlagen und es gefunden, es hat die Form eines gesunden Blinddarms und 12
hängt an Massachusetts. Hull ist ruhiger als Boston; im Winter leben hier vor allem Fischer oder Rentner, jedenfalls drängen sie sich Victor und mir nicht auf. Victor gibt zu, daß Hull seine Schwächen hat, behauptet aber, daß es ein diskreter Ort zum Sterben ist. Und da hat er recht. Wir wohnen im Dachgeschoß eines viktorianischen Hauses, das in einer kleinen, nur teilweise gepflasterten Straße steht, in der die Fenster der anderen Häuser den Winter über mit Brettern verschalt sind. Die Miete ist niedrig, weil keine Saison ist, und Victor sagt, daß das Meer ihn beruhigt, und natürlich ist die Straße ruhig, weil hier niemand weiter wohnt. Wir haben uns auf dieser Halbinsel eingeigelt. Sie ist nach Norden gekrümmt, und von der äußersten Spitze sind es nur vierzig Minuten mit dem Schiff über den Atlantik bis nach Boston Harbor. Und trotzdem empfinde ich die Verbindung zwischen mir und der Stadt, in der ich immer gelebt habe, als so schwach wie den dünnen Hals der Halbinsel auf der Karte als ob die kleinste Bewegung der Erde, jeder Sturm, jede Druckschwankung Hull von der Küste abtrennen könnte und ich dann für immer zwischen unbewohnten Häusern und Hinterhöfen, die voller salzzerfressener Autos stehen, leben müßte. Vielleicht werde ich eines Tages aus unserem diamantförmigen Fenster blicken und nur die grünen donnernden Wellen sehen und kein Schiff, das mich nach Hause bringt. Wir wohnen in einem großen ausgebauten Dachgeschoß mit schrägen Wänden. Es besteht aus einem einzigen Raum, der aber sehr groß ist, mit einer abgeteilten Küche. Wir haben es möbliert gemietet, und deshalb sind wir von einer merkwürdig zusammengewürfelten Einrichtung umgeben, nicht zueinander passenden Stühlen und Tischen, die unterschiedlichen Stilrichtungen angehören. Es sind schöne Möbel aus Nußbaum und Mahagoni; die Couch ist mit Roßhaar gepolstert. Aber alles ist in einem schlechten Zustand, verschrammt, 13
angesplittert und rissig. Ich habe den Eindruck, daß die Einrichtung früher mal zu einer sehr schönen, durchstilisierten und verschwenderisch eingerichteten Wohnung gehört hat, die vor langer Zeit aufgelöst wurde. Die Rosen auf dem Chintz sind zu einem rostigen Braun verblaßt, das genauso düster ist wie die Thriftshops und Heilsarmee-Läden, aus denen die Möbel stammen und wo sie unvermeidlich wieder landen werden. Der Schrank riecht nach einer Mixtur aus Mehltau, Mottenkugeln und Ameisenvertilgungsmittel. Er beherbergt eine Halogenleuchte, einen Stapel Armeedecken, für die wir keine Verwendung haben, und Styroporschachteln. Außerdem einen Haufen Bilder, die an der Wand hingen. Fotos, schwarzweiß, von irgendwelchen Müttern und Tanten und Großvätern. Stattliche Menschen in würdevoll hochgeschlossenen Blusen und steifen grauen Kragen. Als ich sie von den Wänden nahm, sah ich, daß die Stellen, wo die Rahmen gehangen hatten, dunkler waren als die übrige Wand. Nachdem ich sie übereinandergestapelt und in einer Ecke des Schrankes verstaut hatte, kam ich mir merkwürdig schuldig vor, als ob ich gegen einen alten Ehrenkodex verstoßen hätte. Wir haben viele Vasen, die ich manchmal mit Gräsern und Blumen fülle. Wir haben einen blinden Spiegel in einem Messingrahmen, Wandlampen mit trickreichen Schaltern, die wie Türknöpfe aussehen. Wir haben ein Fenster mit Meeresblick und einen Queen-Anne-Stuhl für die Aussicht. Und natürlich die vielen Bücher von Victor, die an einer abblätternden aquamarinblauen Wand auf Brettern und Ziegelsteinen stehen. Als ich nach Hause komme, schläft Victor. Sein sehniger Arm liegt über seinem Gesicht. Ich beobachte die leichte Wellenbewegung der Decken, wenn er einatmet. Ich beobachte sein schlafendes Gesicht, seine entspannten Glieder. Dann
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klingelt der Wecker, erfüllt den Raum mit einem irrsinnigen elektronischen Pfeifton. Ich lange hinüber und stelle ihn ab. «Hast du den Wecker gestellt?» fragt Victor. Seine Lippen bewegen sich, aber sein übriger Körper bleibt völlig bewegungslos. Seine Augen sind geschlossen, und sein Atem geht tief und regelmäßig. Er sieht gähnend zu mir hoch und gibt sich große Mühe, mich ohne Brille scharf ins Visier zu bekommen. Seine Augen sind olivgrün-grau. Ohne Brille sind sie so schön, daß man sich wundert, daß er Augen wie diese überhaupt zum Sehen benutzen kann. «Nein», sage ich. «Müssen Gespenster gewesen sein», sagt er. Er befeuchtet seine Lippen, greift zum Nachttisch und nimmt seine Brille. «Komm zu mir ins Bett.» Ich gleite neben ihn. Ich schmecke Salz und abgestandenen Rauch in seinen Haaren. Er fiebert. Ich kann inzwischen seine Temperatur ohne Fieberthermometer bestimmen und schätze, daß er 38.5 hat. «Wo bist du heute morgen gewesen ?» sagt Victor. «Ich habe gewaschen.» «Um diese Zeit?» «Ich wollte sowieso einen Kaffee trinken gehen.» Victor küßt mich, dann schmatzt er. Er sagt: «Nein, meine Süße, du hast keinen Kaffee getrunken. Rück nicht weg, bleib in meinen Armen. Du fühlst dich kalt an, weil du draußen gewesen bist. Mir ist so heiß, ich könnte dich schmelzen, mir ist so heiß, daß ich dich in meinen Armen zerschmelzen könnte.» «Ich bin spazierengefahren. Zum Meer.» «Du hättest mich mitnehmen können.» «Du hast geschlafen.» «Feigling», sagt Victor. Der Wind weht heftig an die Fenster. Ich konzentriere mich auf das exakte Geräusch der Fensterscheiben unter seinem Ansturm. 15
«Dein Atemrhythmus hat sich verändert», sagt Victor. Seine Hand streicht meine Wirbelsäule hoch und krault mich sanft zwischen den Schulterblättern. «Ich habe gelesen, daß sich der Atem verändert, wenn man lügt.» Der Wind läßt einen langen Zweig des Ahornbaumes gegen das Fenster schlagen. Das Geräusch hört sich an wie ein Klopfen oder Kratzen. Der Zweig raschelt in dem Efeu, der an der einen Seite des Hauses wächst. Es stört mich, ich möchte ihn entweder abschneiden oder den Wind abstellen. Nach einer langen Pause sagt Victor: «Ich bin heute morgen sehr früh nach unten gegangen, um nachzusehen, ob das Auto noch da ist. Du warst nicht im Bett, und ich hatte ein komisches Gefühl, so als ob du für immer verschwunden wärst. Als ob du nie existiert hättest.» «Victor...» sage ich entschuldigend. «Ich würde nie einfach so aufstehen und dich verlassen.» «Ich habe dich nicht verlassen, Liebling.» «Natürlich hast du das», sagt Victor. Ich stehe auf und gehe in die Küche. Es hat keinen Zweck, mich mit Victor zu streiten. Es war dumm von mir, seine Intuition zu unterschätzen. Ich bin wütend und gleichzeitig beschämt. Trotzdem will ich mir seine Vorwürfe nicht anhören. In Situationen wie diesen gibt es nur eine Möglichkeit, nämlich alles abzustreiten. Anstatt mit Victor über Gordon zu reden, hocke ich mich vor die Unterschränke in unserer Küche, als ob ich nach einer Pfanne suchen wolle. Ich mache viel Lärm mit den Töpfen und Marmeladendosen, so daß ich Victor nicht verstehen kann, der im Zimmer nebenan tobt. «Hast du mich verstanden, Hilary ?» schreit er. «Ich rede mit dir, würdest du mir wohl für einen Moment zuhören ?» Ich gehe ins Zimmer zurück und sehe Victor unverwandt an. Er setzt sich auf, schlägt die Bettdecke zurück und starrt wütend zurück. Ich habe ein Geschirrtuch in der Hand, das ich über die Schulter werfe. Er sieht mich mit nervtötender 16
Ausdauer an, und ich verschränke die Arme. Victor greift nach einer Zigarette und klopft das Ende auf dem Nachttisch fest. Er steckt sie sich zwischen die Lippen. Er streicht ein Streichholz an und hält es lange zwischen den Fingern, ehe er sie anzündet. «Ich glaube nicht, daß du im geringsten Gefahr läufst, den Nobelpreis zu bekommen», sagt Victor langsam und überlegt, «aber ich nehme doch an, daß du intelligent genug sein wirst, mich nicht zu belügen.» «Ich lüge nicht», sage ich. Zu mir sage ich: Bleib ruhig. Victor kämpft. Victor geht es nicht gut. Jeder von uns behält seine Sorgen für sich, und wir haben inzwischen gelernt, die Zeichen der Angst beim anderen zu erkennen. Seine Krankheit fängt an, ihm Schmerzen zu bereiten. In einer Schublade liegt eine kleine Dosis Morphium, daneben ein weiteres Rezept, ein sehr offiziell aussehendes Stück Papier, mit dem schwer zu entziffernden Gekritzel eines Arztes und seiner hingeworfenen Unterschrift. Es wartet wie die unbeschriebene Seite eines Tagebuchs. «Warum stehen diese Blumen hier?» fragt Victor und berührt eine Vase mit Nelken und Lilien neben seinem Bett. «Weil sie schön sind.» «Warum hast du sie hierhergestellt?» fragt er. «Du wirst es nicht für möglich halten, Victor, aber die meisten Menschen finden Blumen schön.» «Na, ich nicht», sagt Victor. «Ich hasse diese Blumen. Sie sind seit anderthalb Wochen frisch. Es ist unnatürlich, daß Blumen so lange leben. Mir würden sie viel besser gefallen, wenn sie tot wären.» Victor packt die Blumen bei den Stielen und gießt das schale Wasser aus der Vase auf den Boden. Dann stellt er die Blumen wieder in die leere Vase. «Wollen wir doch mal sehen, wie lange ihr euch so haltet», sagt Victor zu den Blumen. Er langt auf den Boden hinunter und hebt eine Flasche Alkohol zum Einreihen hoch. Er 17
schraubt den Verschluß auf und gießt einen Tropfen der klaren Flüssigkeit auf den Stengel einer rosa Nelke. «Würdest du bitte aufhören, lebende Pflanzen zu foltern?» sage ich. «Riech mal», sagt er. Er steckt sich die Zigarette zwischen die Zähne und hält mir die Nelken hin. «Riechst du etwas ?» Ich stecke meine Nase in die Blumen und atme tief ein. «Es riecht nach Blumen und Alkohol», sage ich. «Es riecht nach Krankenhaus und Tod», sagt Victor und bläst eine Rauchwolke in die Luft. Wir schweigen zusammen. Victor drückt seine Zigarette aus und pult unter seinem Daumennagel. Dann faltet er die Hände über dem Bauch. Er sieht mich aufmerksam an. Ich gehe zum Bett und setze mich im Schneidersitz neben ihn. Mein Körper wirft einen Schatten auf sein Gesicht. Heute geht es ihm einigermaßen. Wenn es Victor gutgeht, kritisiert er mich mehr. Letzte Woche explodierte er wegen der Bücher, die ich las. Er riß seine Bücher aus den Regalen, warf sie auf die Couch und sagte: «Lies zur Abwechslung mal etwas Richtiges. Kant, Schopenhauer, Wittgenstein, Nietzsche! Lacan, Jung, Freud, zum Donnerwetter!» Die Worte, die ich zu meiner Verteidigung vorbrachte, prallten an ihm ab. Ich spielte mit meinen Haaren und wartete, daß es vorbeiging. Andere Tage sind viel ruhiger. An anderen Tagen bleibt er im Bett. Oft haben wir aber auch bessere Zeiten gehabt. Wenn wir zum Beispiel bis spät in die Nacht aufblieben und er von früher erzählte, ehe er so krank wurde. Er erzählte mir von seiner Kindheit - hochkarätige Details aus einer Welt des Wohlstands. Interessante Geschichten, aber interessant auf die gleiche Weise, wie selbst das abgenutzteste Märchen fesselnd wird, wenn es dir von jemandem erzählt wird, der behauptet, daß es wahr ist. Ich habe soviel Reichtum nie für möglich gehalten, bis Victor mir davon erzählt hat. Ich hatte keine Vorstellung davon, was Leuten mit Geld alles einfällt und wie es sie 18
pervertiert. Victor wurde die Welt zu Füßen gelegt wie ein Ei von Faberge, wie ein Geschenk, über das er sich für immer freuen und das er auspacken sollte. Er hat die Stimme und das Auftreten eines reichen Mannes. Er hat diese unangreifbare Eleganz, das, was man wohl Klasse nennt. In den Stunden zwischen zwei und fünf Uhr morgens hat Victor mir Dinge erklärt, von denen ich noch nie gehört hatte - über Menschen, deren Träume die Kindheit überdauern, und den großen Unterschieden zwischen dem, was ich für die Wirklichkeit gehalten habe, und dem, was tatsächlich das standesgemäße Leben der Reichen ausmacht. Unter normalen Umständen würde sich jemand wie Victor mit jemandem wie mir niemals abgeben. «Laß mich zu dir ins Bett», sage ich. Ich schlüpfe unter die Bettdecke und spüre Victors Wärme, die feuchten Flecken nach einer Nacht, in der er wieder geschwitzt hat. Scheu wendet Victor sich ab. Ich ziehe ihn zu mir und küsse ihn hinter das Ohr. Ich nehme eine Strähne Haar zwischen meine Zähne und ziepe spielerisch daran. «Verzeih mir», sagt Victor schließlich. «Alles in Ordnung», sage ich und drücke ihn. «Wie hältst du es bloß mit mir aus?» sagt Victor. «Warte, sag nichts. Weißt du, Hils, du machst mich so wütend, ich verstehe nicht, wieso überhaupt. Ich weiß, daß das verrückt ist, aber - bitte, werd jetzt nicht sauer, aber ich muß einfach wissen, warum du das Eis vergessen hast, als du das letzte Mal einkaufen warst. Willst du, daß ich noch dünner werde ?» «Natürlich nicht. Ich habe es einfach vergessen.» «Ist das wahr?» Ihn durchläuft ein Schauer, wie immer, wenn er Fieber hat. «Ja», sage ich. «Du bist ein guter Mensch, Hilary. Weißt du, daß ich wirklich glaube, daß du ein guter Mensch bist ?» «Wirklich?» 19
«Ja», sagt Victor. «Und ich bin auch gut zu dir.» Wir fangen an, uns zu lieben. Aber es dauert viele Minuten, bis ich das merke. So verhalten sind unsere Bewegungen. Als ob wir uns an die Liebe nur anschleichen würden, während wir uns lieben. Es ist ein ungeplanter Akt, etwas, das sich allmählich zwischen uns vollzieht, so als ob wir jederzeit auch wieder damit aufhören könnten. Victors Leidenschaft entfaltet sich langsam, aber sie ist anhaltend. Wir gleiten miteinander wie die Bilder in einem Traum. Als ob die Schwerkraft aufgehoben wäre, als ob wir unter Wasser wären. Wir warten darauf, daß unsere Körper sich von selbst aneinanderdrängen. Wir warten darauf, daß das Drängen unserer Liebe ihr Ziel erreicht. Später schläft er wieder. Ich stehe auf und sammle die Zeitschriften, Mineralwasserbüchsen und Zeitungen zusammen. Aus Versehen trete ich auf das Telefon, das mitten im Zimmer steht. Die verhedderte Strippe liegt auf der Erde, zwischen dem Müll. Ich folge der Strippe bis zur Telefonbuchse, entwirre sie, befreie sie aus Stuhlbeinen, ziehe sie unter aufgeschlagenen Büchern und kleinen Geschirrbergen heraus. Ich zerre sie unter einem Kasten mit Milchflaschen hervor und stolpere fast über eine Lampe, als ich sie hinter einem Tisch hervorangle. Ich stelle das Telefon wieder auf seinen Platz auf die Anrichte in der Küche, gehe mit dem Nelkenstrauß vom Nachttisch ins Bad und fülle die Vase wieder mit Wasser. Die Blumen sehen gut aus auf dem Waschbecken. Blumen im Badezimmer sind Luxus. Ich ziehe mich aus und hänge die Sachen über den Handtuchhalter. Ich sehe in den Spiegel. Ich teile mir das Spiegelbild mit den Lilien und bewundere, wie die Nelken meine rosige Haut zur Geltung bringen. Ich sehe in den Spiegel und muß zugeben, daß ich nicht alt aussehe, auch wenn ich mich alt fühle. Ich bin nicht gerade schlank. Mein Herz pumpt seit siebenundzwanzig Jahren gesundes Blut durch 20
meinen Körper. Ich habe eine schöne Haut und hübsche breite Schultern. Mein Haar glänzt noch wie bei einem siebenjährigen Mädchen, und ich habe ein sympathisches Gesicht. In diesem technisch unvollkommenen Haus ist unsere Dusche absolut funktionstüchtig. Jeden Morgen genieße ich den nie endenden Strom heißen Wassers. Außerdem ist sie außerordentlich laut, alle anderen Geräusche außerhalb dieser engen Zelle sind nicht mehr zu hören. Ich wasche mir die Haare und schäume sie gerade ein, als ich durch den Lärm, den die Dusche macht, das laute Dröhnen von zwei Gewehrschüssen höre. Ich springe aus der Dusche, wickle mich in ein Handtuch und schreie Victor an. Dann gehe ich zu Victor, der am Fenster steht. Er steht dort in seiner Unterwäsche und richtet die Kimme des Gewehrs auf dem Fensterbrett aus. Er besitzt eine alte doppelläufige RemingtonFlinte, die er seine Rattenflinte nennt, weil er sie nur zum Rattenschießen benutzt. Er hat das Radio auf eine Country- und Western-Station eingestellt. Zu den Klängen des schwermütigen Liebesliedes eines Cowgirls schnippt Victor die Patronenhülsen auf den Rasen, zwei Stock tiefer. «Zum Rattenschießen ist es noch zu früh», sage ich zu ihm. «Es ist wirklich noch sehr früh. » Als er das letzte Mal auf Ratten schoß, kamen zwei Polizeiwagen und eine Feuerwehr. Ich hoffte, daß sie es ihm verbieten würden, aber die Polizei war von seinem Gewehr sehr beeindruckt, und die Feuerwehrleute klatschten ihm Beifall. «Ich glaube, ich habe eine getroffen », schreit Victor. Er zieht das Gewehr zurück und steht vor mir, sein Gesicht strahlt. Neben ihm das lange Gewehr, die Doppelläufe abgeknickt, für die nächste Runde. « Du hast eine erwischt? Wo? »
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«Da», sagt er und zeigt mit dem Finger. «In dem Stapel Holz am Zaun hausen sie. Vielleicht haben sie dort sogar ihr Nest. Ich habe sie mit meinem Gewehr erschreckt. Siehst du den Fellklumpen? Das ist ein vorwitziger Bursche, der beschloß, seinen Unterschlupf zu verlassen und ihn tapfer gegen die schwere Artillerie des Feindes zu verteidigen.» «Das ist Laub», sage ich. «Laub! Wieso Laub? Mein Gott. Das ist Laub», schmollt Victor. «Verdammt, ich habe gar nichts getroffen.» «Können wir die Ratten nicht einfach einen Tag länger leben lassen», sage ich. Durch das offene Fenster weht ein kalter Wind herein. Ich friere unter meinem Handtuch. «Ratten stinken und sind Überträger von Krankheiten. Außerdem fressen sie Babies. Du solltest stolz sein, daß ich diese Biester bekämpfe. Willst du wirklich Tiere retten, die sich von kleinen Kindern ernähren?» «Die Ratten, die es in unserem Haus gibt, fressen keine Babies. Sie fressen fast überhaupt nichts. Sie sind in Wirklichkeit schrecklich unterernährte Ratten», sage ich. «Jetzt verstehe ich», sagt Victor und hält mir das Gewehr hin, «du willst auch mal. Ich glucke immer auf der Rattenflinte. Hier, sie gehört dir.» «Ich will deine Rattenflinte nicht», sage ich. «Ich will, daß du aufhörst, auf wildlebende Tiere zu schießen.» «Hilary, diese Tiere wirst du nicht auf der nationalen Liste geschützter Tierarten finden. Ratten sind Ungeziefer. Stell dir vor, es wären riesige Kakerlaken.» «Sie haben ein Fell», sage ich. «Du bist ein hoffnungsloser Fall», sagt Victor. Er zieht sein Unterhemd zurecht und geht wieder ans Fenster, er drückt den Gewehrkolben an seine Schulter, kneift ein Auge zu, visiert den langen Lauf entlang und gibt noch einen Schuß in die Luft ab.
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Ich nehme die Jeans von der Heizung und ziehe sie an. Victor spannt beide Abzüge und feuert zweimal durch das Fenster. Das macht einen Riesenlärm. Ich halte mir die Ohren zu und suche nach einem Pullover. Die Flinte donnert wieder, und ich höre Victor schreien. «Knapp daneben!» Er drückt noch einmal ab, und die Kraft des Schusses bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Die Remington hat ein 16-mm-Kaliber, eine schwere Waffe, und Victor ist kein erfahrener Schütze. Ich stehe an einem Ende des Raumes, an die Wand gelehnt, und beobachte ihn. Zu meiner Rechten befindet sich Victors Schreibtisch, der mit Papieren und aufgeschlagenen Büchern übersät ist. Auf einem riesigen altenglischen Wörterbuch sind Tintenflecken von einem defekten Füller. «Gib dir Mühe, kein Nachbarskind zu verletzen», sage ich zu Victor. «Wir haben keine Nachbarn», sagt er. «Ach, sei bitte vorsichtig. » Victor hebt die Hand und salutiert. Dann konzentriert er sich wieder auf seine Schießübungen. Er kniet sich vor das Fenster. Er lädt durch und spannt den Abzug. Ich habe den Eindruck, daß er kaum zielt. Durch den Rückschlag prallt das Gewehr gegen seine Schulter. Er knickt den Lauf ab und lädt Patronen nach. «Hör mal, Victor, das reicht jetzt», sage ich. «Es sind doch nur Ratten», sagt Victor. «Los, hör schon auf. » «Sieh fern, oder mach sonstwas.» Ich gehe zum Fenster und tippe Victor an. Er ignoriert mich, hockt sich auf die Fersen und gibt noch einen Schuß ab. «Ich meine es ernst, Victor. Es stört mich wirklich.» «Wer bist du denn!» schreit Victor. Er läßt das Gewehr sinken, sein Gesicht ist rot, der Mund zusammengekniffen, er ist wütend. «Du willst nicht, daß ich auf Ratten schieße; was soll ich deiner Meinung nach tun? Mein Testament machen?» 23
«Der Teufel soll dich holen», sage ich. Victor steht auf, öffnet den Mund und kommt auf mich zu. Sein wütendes Gesicht ist mir fremd. Ich weiche bis zur Wand zurück. Er starrt mich an, dann geht er wieder ans Fenster und hebt das Gewehr. «Warum machst du das?» sage ich. «Ich hasse es. Wenn du herumballerst, hasse ich dich.» «Sieh mal, es ist einfach eine kleine Verschiebung. Wenn ich ein Nyanga wäre, würde ich jetzt mit einer Nashornvogelmaske herumtanzen. Aber ich bin ein Neuengländer, deshalb schieße ich Ratten», sagt er. «Hör auf!» schreie ich ihn an. «Warum kannst du nicht den Mund halten?» sagt Victor und zielt aus dem Fenster, ob auf Ratten oder den leeren Himmel, weiß ich nicht. Ich stürze mich auf das Gewehr, stoße den Lauf Richtung Decke. Victor entwindet sich mir, kämpft um das Gewehr. «Was soll das?» schreit Victor. Seine Finger umklammern den Kolben. Er schubst mich mit den Schultern zur Seite. «Geh aus dem Weg!» schreit er. Er zerrt an dem Gewehr und quetscht meinen Finger gegen die Abzugssicherung. Ich schreie und ziehe meine Hand weg. Der Kolben kracht in die Scheibe, das Glas fliegt in alle Richtungen. «Hast du noch nicht genug?» sage ich. Schmelzendes Eis rutscht durch ein faustgroßes Loch und rinnt am Holzrahmen des Fensters nach innen. «Nein, habe ich nicht.» «Sieh mal, was du mit meinem Finger gemacht hast», sage ich und halte ihn hoch, damit er ihn sehen kann. Auf der einen Seite des Fingernagels ist eine Schwellung. Er stellt das Gewehr ab und sieht meine verletzte Hand an. Dann nimmt er eine dreieckige Glasscherbe vom Fußboden auf und stößt sich das Glas mit einer einzigen Bewegung tief in die
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Handfläche, spaltet die Haut in zwei rosa Hälften. Tief in der Wunde bildet sich ein roter Strich. «Was soll das ?» frage ich. «Nichts. Ich blute.» «Du bist verrückt», sage ich. Das Blut kommt in dicken Tropfen, bildet einen Halbmond auf seiner Handfläche. «Ich gehe», sage ich und wende mich ab. Ich greife meinen Mantel, klemme ihn unter den Arm und suche nach meinen Turnschuhen. Ich schlüpfe an der Tür schnell in sie hinein und mache mir nicht die Mühe, sie zuzubinden. «Hils», sagt Victor, als ich die Tür öffne. Er kommt zu mir, nimmt mein Handgelenk und küßt es. «Es tut mir leid. Geh nicht weg. Bitte, geh nicht weg. Bleib bei mir. Bleib, und wir vertragen uns wieder. Ich werde alles tun. Ich werde das Fenster reparieren. Ich werde mich bei den Ratten entschuldigen.» Ich sehe auf mein Handgelenk. Wo er mich angefaßt hat, ist Blut. Victors Mund ist rot verschmiert. Er hält seine blutende Hand von sich weg. Auf dem Fußboden sind hellrote dicke Flecken. «Nein, ich muß gehen. Ich muß weggehen. Ich mache mich verrückt. Ich mache dich verrückt.» «Paß auf, ich bin nicht verrückt», sagt er. «Ich bin ein Arschloch. Ich mache solche idiotischen Sachen, das ist meine Natur. Warum, glaubst du, wollte ich jemanden dafür bezahlen, daß er mit mir lebt ? Ich wußte, daß es kein Zuckerschlecken werden würde. Du willst nicht, daß ich Ratten töte? Ich werde keine Ratten mehr töten.» «Nein, nur zu, töte sie alle», sage ich zu Victor. «Töte sie alle.» Ich finde Gordon am Hafen. Er ist auf seinem Boot, einer zehn Meter langen Schaluppe, die er seinem Vater im vergangenen 25
Jahr geschenkt hat, nachdem Alien Turf auf den Markt kam. Er beugt sich konzentriert über die Pumpe. Tosh liegt auf dem Quai, auf Gordons gelbem Regenmantel. Sie knabbert an ihrem Schwanz. Gordon balanciert auf einem Knie und läßt die Pumpe laufen. Seine Wangen sind flammend rot, und seine Stiefel haben dunkle Flecken vom Wasser. Tosh sieht mich zuerst und hört auf, auf ihrem Schwanz herumzukauen, damit sie mit ihm wedeln kann. Dann sieht Gordon zu mir hoch. Er kneift entweder die Augen zusammen, oder er lächelt, ich kann es nicht erkennen. Er stellt die Pumpe ab und lehnt sich zurück. «Woher wußtest du, daß ich hier bin?» fragt er. «Ich habe es mir gedacht.» «Wie geht es dir?» «Wie geht es dir?» sage ich. «Wie geht es Victor?» Ich schaue auf den Hafen und den körnigen blauen Himmel, die Reihen der Boote unter ihren Persenningen, das morsche Pier. «Ach, es geht ihm gut.» «Schläft er?» sagt Gordon. «Er tötet Ratten», sage ich. «Wir haben uns wieder gestritten.» «Ist irgendwas zu Bruch gegangen?» «Ja», sage ich. «Das Fenster.» Seit wir zusammenwohnen, haben Victor und ich mehrere größere Schäden in unserem Haushalt verursacht - Folgen unserer Auseinandersetzungen. Bis jetzt haben wir eine Ecke der Kaminumrandung abgebrochen, eine Schranktür eingeschlagen, eine elektrische Leitung von der Wand abgerissen und vom Staubsauber den Schlauch. Ich habe es Gordon erzählt, der das komisch, aber auch traurig findet. «Ich habe heute morgen an dich gedacht. Ich hatte so ein komisches Gefühl, so als ob du auf dem Weg zu mir wärst.» Gordons Stimme klingt leicht erstaunt. Er zögert bei jedem 26
Wort, weil er versucht, es mir genau zu erklären. «Irgendwie habe ich mit dir gerechnet.» Ich frage mich, ob Gordon mit mir spielt, und verspüre den Drang, damit herauszuplatzen, daß er ganz genau wisse, daß ich heute morgen vor seinem Haus geparkt habe. Und daß er sich darauf nichts einzubilden brauche. «So ein Zufall, was?» sagt Gordon und lächelt ein verschmitztes, jungenhaftes Lächeln. Ich bin sicher, daß Gordon mir nicht sagen wird, daß er mich in meinem Auto gesehen hat. Er wird mich erst noch ein bißchen herausfordern, wissen wollen, wie ich darauf reagiere. Er will, daß ich es ihm beichte, und ich könnte ihm dafür den Hals umdrehen. «Gordon», fange ich an. «Es ist nicht so, wie du denkst.» «Oh, ich weiß. Ich glaube nicht an PSI-Kräfte und solche Sachen», sagt Gordon. Er streckt die Hand aus und streichelt Tosh. «Ich kann noch nicht mal guten Gewissens sagen, ich hätte je ein Dejá-vu-Erlebnis gehabt. Aber trotzdem, ganz ohne Hokuspokus, ich will dir einfach nur sagen, daß ich an dich gedacht habe.» Ich bin ein schlechter Mensch. Ich denke immer gleich das Schlimmste. In dieser Hinsicht sind Victor und ich haargenau gleich. Victor hätte ebenfalls gedacht, daß Gordon von Anfang an wußte, daß ich in dem Auto war, und Victor hätte auch nach einem Hintersinn in seinen Worten gesucht, einer Falle. Ich fühle mich schuldig, weil ich glaube, daß ich das Vertrauen, das jemand wie Gordon in mich setzt, nicht verdiene. Ich meine, warum sollte er so offen sein und so bereit, das Gute in mir zu sehen, wenn es so aussieht, als ob ich ihn dauernd angreife und versuche, ihn wegen irgendwelcher Gemeinheiten zu demütigen? Wir sitzen in einer Nische in Cappys Restaurant & Pub, in einem der ältesten Häuser von Hull. Im neunzehnten 27
Jahrhundert war es ein Postamt und davor eine Pferdestation. Seine derzeitige Bedeutung als Restaurant verdankt es den Bemühungen Cappys, der es zu einem populären Treffpunkt für die Touristen im Sommer gemacht hat. Und in diesem Moment, da ich an einem Tisch sitze, von dem aus ich auf den Hafen sehen kann, spüre ich etwas von dem Optimismus, der die Sommermonate begleitet. Aber es ist November. Ich kann fast den Wind durch die Fensterscheiben von Cappys Restaurant spüren. Cappy sieht aus wie ein hartgekochtes Ei. Außerdem ist er völlig kahl, bis auf einen stahlgrauen Haarkranz, der sich auf seinem Kopf kräuselt. In der Saison ist Cappy fast nie da. Er stellt seine Söhne an, die das Restaurant führen, und flieht nach Marthas Vineyard. Aber in den Wintermonaten ist er immer in seinem Restaurant, das gleichzeitig die abendliche Stammkneipe der Ortsansässigen ist. Er beschäftigt sich, indem er die Bierkästen übereinanderstapelt, Kaffeebohnen mischt und mit den Fischern redet, die über Mittag die Handvoll Barhocker einnehmen. «Was machst du mit dem Haus deiner Eltern ?» fragt Cappy Gordon. Er hat eine Schürze seiner Exfrau umgebunden und eine Kanne Kaffee in der Hand. «Hier, Schätzchen, nimm noch etwas», sagt er zu mir und füllt meinen Becher auf. Vorn auf seiner Schürze stehen die Worte: «Hot Mama. » «Ich repariere ein paar Sachen», sagt Gordon. «Jetzt? Mitten im Winter?» «Sie kommen im Frühjahr wieder, so ist es am einfachsten.» «Ich dachte, du hättest eine feste Arbeit», sagt Cappy. «Ich dachte, daß du diese elektronischen Dinger da baust.» «Ich baue sie nicht mehr selber», sagt Gordon. «Du solltest arbeiten gehen und nicht zu Hause rumhängen», sagt Cappy. Er zwinkert mir zu. Er langt mit einem unbehaarten, schwabbeligen Arm hinter sich und zieht sich einen Stuhl vom Nebentisch heran. Cappy bezeichnet alle 28
Häuser auf Hull als «Zuhause», obwohl er wissen muß, daß viele Leute, die auf Hull ein Haus haben, ihre Wohnungen in der Stadt als ihr richtiges Zuhause ansehen. «Ich bleibe nur ein paar Wochen», sagt Gordon. Er hat einen Teller mit Toast vor sich stehen und bestreicht die Scheiben mit Butter. «Jedenfalls schön, daß du da bist, Junge», sagt Cappy. Er nimmt die Kaffeekanne und gießt etwas Kaffee in Gordons Becher, obwohl er noch dreiviertel voll ist. Zum erstenmal merke ich, daß Cappy eine enorme Hitze ausstrahlt, als ob er einen Hochofen in der Brust hätte. Vielleicht passiert das, wenn man lange in einem kalten Klima lebt. Vielleicht entwickelt man dann einen inneren Heizmechanismus - etwas, das man an- und abstellen kann, eine Überlebenstechnik. Natürlich ist Cappy sehr dick. Vielleicht ist es für ihn schon eine ständige Kraftanstrengung, einfach nur aufrecht zu stehen. «Wo ist Victor?» will Cappy wissen. «Warum war er so lange nicht hier ? » «Er fühlt sich nicht wohl», sage ich. Ich erinnere mich nicht, ob Cappy weiß, wie krank Victor ist. Ich kann mir nie merken, wer es bereits weiß, wer es wissen darf und wer nicht. Victor ist nach Hull gezogen, weil er anonym sein wollte. Und bis jetzt sind wir noch ziemlich anonym. Aber womit Victor nicht gerechnet hat, ist, daß die Winterbewohner in einem Ort wie Hull auch ihren Spaß haben wollen. Jemand wie Victor kann da ein gefundenes Fressen sein und Anlaß für jede Menge Klatsch und Tratsch abgeben. Und wenn Victor will, kann er ununterbrochen darüber reden, daß er auf den Tod wartet, wie er es gern ausdrückt. Aber ich weiß nicht, ob er es Cappy gesagt hat. Ich will nichts riskieren. Vielleicht weiß Cappy schon, daß Victor krank ist - aber ich würde nicht darauf wetten, und ich will es ihm nicht sagen.
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«Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, sagte er, daß es ihm nicht so gut gehen würde», sagt Cappy. «Sehr schade. Er fehlt mir, wenn er nicht da ist. Man kann gut mit ihm reden, er ist ein wahres Genie.» Gordon nickt und steckt sich den letzten Happen Toast in den Mund. Er beobachtet Cappy interessiert, und einen kurzen, komischen Augenblick lang fühle ich mich, wie sich eine junge Mutter fühlen mag, wenn die Kindergärtnerin ihrem Mann erzählt, was für ein kluges Kind sie beide haben. «Als er das letzte Mal hier war, hat er über die Gefangenen in den Konzentrationslagern der Nazis geredet. Wie sie gefoltert worden sind und wer dafür verantwortlich war und wie ihre Leichen in Gruben gestapelt wurden, nachdem man sie vergast hatte», sagt Cappy. Ich sehe zu Gordon hinüber und merke, daß er nicht weiterkaut. «Victor faszinieren die verschiedenen Gesichter des Todes und des Schmerzes», sage ich. Cappy fährt fort: «Er sagte, diese Lager seien wie Schweineställe gewesen, und die Juden hätten kein Wasser gehabt und keine Medikamente und nichts zu essen. Und sie wurden zur Arbeit gezwungen, und sie wurden geschlagen und...» «Ja, Cappy, das wissen wir», sagt Gordon. «Ja, aber nicht so genau wie Victor. Er kennt sogar die deutschen Bezeichnungen für solche Sachen. Er kann dir Unterschiede zwischen einzelnen Lagern erklären: Treblinka im Gegensatz zu Auschwitz.» «Du hast wohl mitgeschrieben, Cap?» sagt Gordon. Cappy sitzt gerade. Er faßt unter das Oberteil seiner Schürze und berührt einen Kugelschreiber in seiner Hemdtasche. «Seit Victor hier war, habe ich ein bißchen gelesen. Ich möchte wissen, was er von den Büchern hält, die ich über Kriegsverbrecher gelesen habe. Was sollen wir Victors 30
Meinung nach mit den ganzen Kriegsverbrechern machen?» fragt Cappy mich. «Das weiß ich nicht», sage ich. «Ist er eigentlich Professor, oder was ?» fragt Cappy. «Nein», sage ich. Victor ist kein Professor. Er hat nicht promoviert. Er hat im fünften Studienjahr Philosophie studiert, als er beschloß, die Chemotherapie abzubrechen. «Hat er dir erzählt, wie sich die Juden zusammengeschlossen haben?» «Nein», sage ich. Tatsächlich hat er mir genau das Gegenteil erzählt. Er hat mir erzählt, daß es viele Konzentrationslager gegeben hat, in denen die Opfer sich Teile von SSOffiziersuniformen zusammenstahlen und sie auf ihre eigene Kleidung nähten. Dann versuchten sie, die SS-Offiziere nachzuahmen - gaben Befehle, verunglimpften den Judaismus und schlugen sogar Mitgefangene -, bis sie von echten SSOffizieren erwischt und gefoltert wurden, wegen Beleidigung von SS-Offizieren. Diese Geschichte erzählte er mir an einem Tag, an dem ihm, weil er seine Medizin nicht mehr einnahm, so übel war, daß er sich auf dem Vordersitz unseres Autos übergeben mußte, und dann im Bad und später im Bett. Er erzählte sie mir, als ich mir mittags eine Büchse CampbellSuppe warm machte, und er sagte, daß ihm von dem Geruch wieder übel würde. «Also, das war so», sagt Cappy. «Auch als die Juden nichts zu essen hatten und kein Trinkwasser, kein Waschwasser, kein Verbandszeug für ihre Wunden - also auch in der tiefsten Hölle -, haben sie zusammengehalten. Sie haben zum Beispiel die Hälfte ihres Brotes oder ihrer Zigarette abgegeben. Er sagte, daß manchmal ein kräftigerer Mann für einen schwächeren gearbeitet hat, daß Mütter, die ihre Babies verloren hatten, ihre Muttermilch den Männern gaben, die zu krank waren, um feste Nahrung zu sich zu nehmen.»
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«Das glaube ich nicht», sagt Gordon. «Ich wette, sie hatten überhaupt keine Muttermilch. Dazu waren sie zu unterernährt.» «Was weißt du denn schon? Du baust diese FirlefanzDinger», sagt Cappy. «Halt den Mund und trink deinen Kaffee. Victor ist ein Genie. Richte ihm das aus, Schätzchen», sagt er zu mir. Gordon und ich tauschen einen langen, peinlich berührten Blick. «Ich baue weder irgendwelche Dinger noch Firlefanz. Wir entwickeln Videospiele», sagt Gordon. Cappy beugt sich zu uns rüber und nimmt zwei Drittel des Tisches ein. «Sie haben alles geteilt und zusammen gelitten. Heute legen wir uns nicht mehr für andere krumm, oder? Wir legen uns auf den Rücken wie tote Eidechsen und schauen zu, wie die Sonne tagtäglich auf- und untergeht. » «Müssen wir uns jetzt eine Predigt anhören ?» sagt Gordon. Aber Cappy beachtet ihn nicht. Er ist nicht mehr zu bremsen. «Das wird unser Untergang sein», sagt er. «Weißt du warum? Victor hat mich darauf gebracht: Er sagte, niemand, der in einem solchen Lager gewesen ist und mit dem Tod konfrontiert war, konnte ohne Hilfe überleben. Fürsorge für die anderen war ebenso lebenswichtig wie Nahrung, Wasser, Medikamente oder Gott, ‹Überleben ist ein kollektiver Akt›.» Cappy stößt seinen Zeigefinger bekräftigend gegen die Tischplatte. Als Richter würde er zu der Sorte gehören, die verschnörkelte Urteilssprüche ablassen und bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit ihrem Hämmerchen auftrumpfen. «Das hat Victor gelesen », sage ich. Ich sage nicht, daß Victor ein T-Shirt mit diesem Slogan hat. Hinten steht dann: «Freie Fahrt für Freie Unternehmer. » Ich sehe Gordon an und möchte ihn beschützen. Dann sehe ich nicht ein, warum ich ihn beschützen sollte. Er wird nicht angegriffen. Niemand wird angegriffen. Ein Gespräch am Vormittag - eine ganz alltägliche Angelegenheit. 32
«Das ist egal», sagt Cappy. «Wenn du im Krieg gewesen wärst, wüßtest du, daß er recht hat. » «Victor war nie im Krieg», sage ich. «Das ist richtig», sagt Cappy. «Und er weiß es trotzdem. Das ist genau der Punkt.» Als wir aus Cappys Restaurant kommen, ist meine gute Laune verflogen. Manchmal, wenn ich mit dem Auto auf einer Straße fahre oder wenn ich beim Bäcker Brötchen kaufe, stelle ich mir vor, daß Victor hinter mir steht oder auf dem Rücksitz sitzt oder durchs Fenster sieht und mich beobachtet. Als ob er überall dabei wäre, obwohl er in letzter Zeit viel im Bett liegt. Im Geist sehe ich immer sein Bild vor mir. In den unmöglichsten Situationen leuchtet sein Gesicht vor mir auf. Und während Gordon und ich durch den Jachthafen zum Anlegeplatz seines Bootes gehen, sehe ich dauernd Victor vor meinem inneren Auge. Ich stelle mir vor, wie er auf einem Barhocker bei Cappy hockt, mit übereinandergeschlagenen dünnen Beinen und einer Zigarette. Ich sehe sein lockiges Haar, das im Schein der Gaslampen glänzt. Er lehnt sich zurück, atmet tief ein und friert, zieht immer noch die Luft ein, mit schmalen Augen. Er fängt an zu reden, die Worte kommen perfekt aus seinem Mund, wie wohlerzogene Kinder. Ich stelle mir vor, daß er Gordon und mich beobachtet, wie wir zum Boot zurücktrotten, sein Gesicht ist rot geworden, seine Mundwinkel ziehen sich nach unten, die Wut ballt sich in seiner Brust zusammen. Und so lasse ich mich ständig kontrollieren. «Mußt du heute viel erledigen ?» Ich zucke mit den Achseln und weiche einem Sandhaufen aus. «Willst du mich loswerden?» frage ich. «Nein», sagt Gordon. Er bleibt stehen und sieht mich an. «Nein, ich will, daß du noch bleibst. Aber ich dachte, ich sollte dich indirekt darum bitten. Weißt du, wie das geht? Ich denke, ich möchte, daß sie noch bleibt, aber dann denke ich, na ja, sie 33
hat vielleicht etwas anderes vor und sagt, daß sie keine Zeit hat. Also frage ich dich, ob du noch etwas erledigen mußt. Damit hast du die Möglichkeit, etwas Höfliches und Plausibles zu sagen. » Gordon holt tief Luft und atmet wieder aus. «Also, Hils, möchtest du dich mit einer höflichen und nachvollziehbaren Begründung verabschieden?» «Ich habe ein schlechtes Gewissen», gestehe ich. «Ich bitte dich nicht, mit mir wegzurennen - ich würde nur gern wissen, ob wir noch etwas zusammen machen wollen, würdest du zum Beispiel etwas machen wollen, was Spaß nacht ?» Ich kann mich schrecklich schlecht entscheiden», sage ich. ich muß daran denken, daß Victor immer sagt, daß ich mich nicht entscheiden kann, und dabei die Augen verdreht und ich mir dann wie eine Vierjährige vorkomme. «Was könnte uns denn ‹Spaß› machen?» Gordon lacht, und es geht mir besser. Ich lache sogar auch ein bißchen. Ich zucke mit den Achseln und sage: «Wirklich, ich weiß nicht, was Spaß macht. Und du ? Im Ernst, Gordon, weißt du etwas, was wir zusammen machen können, etwas, was Spaß macht ?» «Ja», sagt Gordon. «Ich glaube schon.»
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Zwei Die Fähre, auf der ich noch nie gewesen bin, legt in einem Teil des Hafens ab, der Pemberton heißt, und kommt vierzig Minuten später am Long Wharf-Pier in Boston an. Ich kenne ihren Fahrplan auswendig, weil ich jeden Morgen ihr Nebelhorn tuten höre. Gordon und ich sind auf dem Elf-UhrBoot, stehen auf dem Oberdeck, ganz allein - kein Wunder, denn der Seewind bläst so stark, daß kein halbwegs vernünftiger Mensch sich auf die bunten Plastikbänke setzen würde, die in Blöcken auf den Holzplanken verteilt sind. Gordon hat die Hände unter die Pulloverärmel gesteckt, und ich habe die Kapuze meines Parkas auf. Wir haben uns, ehe wir aufs Schiff gegangen sind, im Imbiß einen Beutel M & Ms gekauft, und mir obliegt es jetzt, sie unter uns aufzuteilen. «Ah, mir bitte den braunen», sagt Gordon. «Du kannst den gelben haben. » Er wendet sich ab und atmet gierig die Luft ein. Er genießt sie. Gordon liebt alles, was im Freien stattfindet. Im Frühjahr klettert er, hat er mir erzählt. Er geht Windsurfen am Nantasket-Strand. Neulich kam im Fernsehen eine Sendung über Drachenflieger, und ich war schon fast darauf gefaßt, gleich Gordon zu sehen, wie er von einem Berghang aus startet und sich, unter den gigantischen Flügeln eines Drachens hängend, in die Luft schwingt. «Findest du Neuengland nicht toll, wenn die Sonne scheint?» fragt Gordon. Er schaut mit zusammengekniffenen Augen zum Himmel empor. «Doch, sicher, wenn sie scheint - was sie jetzt gerade nicht tut», sage ich.
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«Sie scheint doch. Schau dir den Himmel an, die Möwen, die Sonne. Herrlich ist das.» Der Himmel ist marmoriert von Wolken. Gerade als Gordon «herrlich» sagt, schiebt sich wieder eine davon vor die Sonne. «Zu früh gefreut, Gordon. » «Na gut, aber schau doch, wie dramatisch jetzt alles aussieht: die stählerne Reling vor der aufgewühlten See, die Möwen, die mit dem dunklen Himmel verschmelzen, der Leuchtturm dahinten in der Ferne, der Wind. Richtig abenteuerlich», sagt Gordon. Ich schaue jetzt zum Bug der Fähre und denke, wie seltsam das ist, so auf Boston zuzufahren. Seit Wochen will ich hin, vielleicht sogar schon seit Monaten. Manchmal stelle ich mir die wimmelnden Straßen der Back Bay vor, die Lichter entlang des Charles River, das Prudential Center, Copley Place, die Restaurants, wo ich nach der Arbeit mit Freunden zum Essen hingegangen bin, und male mir aus, was wohl in dieser Minute dort in der Stadt vor sich geht. Es kann passieren, daß ich mich gerade über die Hecke vor unserem Haus beuge, die wuchernden Äste stutze und die welken Blätter herausziehe und plötzlich denke, welche Farbe wohl dieses Jahr die Weihnachtsbeleuchtung im Common haben mag und ob das Eis auf dem Teich wohl schon trägt. Haben die Leute in meiner alten Wohnung schon die lose Kachel in der Küche entdeckt? Den Riß im Fliegenfenster? Riechen die Medizinschränke noch immer so? «Frierst du?» fragt Gordon, und natürlich ist mir kalt. Meine Unterlippe ist aufgesprungen, und ich kann es nicht lassen, darauf herumzubeißen. Gordon legt den Arm um mich und drückt meine Schulter. «Möchtest du unter Deck gehen? Da drunten gibt es Tische, und es ist wärmer.» Ich bewege keinen Muskel. Ich wage es sowenig, mich unter seinem Arm zu rühren, wie ein Krankenhauspatient an seinem 36
Infusionsschlauch. Ich verharre so reglos unter dem Gewicht dieses Arms, daß man mich für tot halten könnte. Ich sage: «Nimm noch eins.» «Kein rotes. Ich habe gehört, sie sollen krebserregend sein.» «Sie stellen gar keine roten mehr her. Außerdem ist alles krebserregend», sage ich. Ich zupfe mit den Zähnen an meiner Lippe. Sie ist so tief eingerissen, daß sie brennt. Ich wende mich zu Gordon hin. Ich sehe ihn jetzt direkt an. «Einmal haben Victor und ich einen ganzen Stapel Medizin- und Ernährungsbücher und noch ein paar Zeitschriftenartikel aus der Bibliothek durchgeforstet und eine Liste aller Nahrungsmittel und Zusätze zusammengestellt, die angeblich krebserregend sind. Das hat uns eine halbe Woche gekostet. Ich glaube, es waren sogar vier Tage. Und unsere Liste war immer noch sehr unvollständig. Dann haben wir die Haushaltsprodukte aufgelistet, Sachen wie Shampoos und WCReiniger. Das hat zwei Tage gekostet - aber wir hatten ja auch schon Routine. Weißt du, daß es mir immer noch unheimlich ist, Deos zu benutzen? Ich bin überzeugt davon, daß sie bei Frauen Brustkrebs hervorrufen.» «Tun sie das?» «Wer weiß das schon?» sage ich. «Vielleicht wirken ja die Fasern dieses Mantels gerade in diesem Augenblick krebserregend.» Gordon spielt mit dem braunen M&M, das ich ihm in die Hand habe fallen lassen. Er dreht und wendet es und befingert den Aufdruck «M&M». «Kein gutes Thema, hm ?» sagt Gordon. Ich schüttle den Kopf. «Nein, das macht mir nichts aus. Victor und ich sprechen dauernd darüber. Du rauchst nicht, oder ? Ich rauche immer Zigaretten, wenn ich abends lange aufsitze.» «Tagsüber nie ?» «Normalerweise nicht.» 37
«Du bist eine heimliche Raucherin», sagt Gordon in gespielt apodiktischem Ton. Er verzieht den Mund und lächelt dabei leicht, und ich bewundere sein Aussehen. Gordon verfügt über ein wundervolles Mienenspiel, zumal es nicht einstudiert ist. Er hat einen breiten Mund, der zu beiden Seiten hin verschieden geschwungen ist, eine strahlende Haut und eine schön gebogene Nase. «Victor weiß, daß ich rauche.» «Ich verstehe nicht, wie du dich vor Deos fürchten und gleichzeitig rauchen kannst», sagt Gordon neunmalklug. «Ich habe mal einen Arzt gefragt, was in seinen Augen das schlagendste Argument gegen das Rauchen ist. Er hat mir erklärt, daß man dreiunddreißig Prozent aller Krebserkrankungen auf das Zigarettenrauchen zurückführen kann. Weißt du, was das heißt?» Gordon schüttelt den Kopf. Ich gebe ihm noch ein paar Schokolinsen und sage dann: «Das heißt, daß für siebenundsechzig Prozent kein Zusammenhang nachweisbar ist. Außerdem habe ich nicht wirklich Angst vor Deos. Ich habe das nur so gesagt.» «Wie ist das», fragt Gordon schüchtern, «so zu leben, wie du lebst? Weißt du, gestern abend war ich zu Hause und habe ferngesehen, einen Spielfilm oder so was, und dann kam zwischendrin so ein Werbespot - der übliche Kram, für irgendwelche Frühstücksflocken. Da saß diese junge Mutter vielleicht fünf Jahre älter als du - am Frühstückstisch und um sie herum lauter Kinder. Man sah einen Mann, der sich gerade die Krawatte band oder so was, und die ganze Kinderschar und vielleicht auch noch einen Hund. Kannst du dir die Szene vorstellen? Jedenfalls habe ich den ganzen Spot über gedacht, arme Hilary, hat nichts von alledem. Kein Eßzimmer zum Frühstücken, keine... hm, na ja... keine Küchengeräte.» «Wie kommst du darauf, daß ich das wollen könnte?» frage ich.
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«Vielleicht willst du's ja gar nicht», sagt Gordon mit einem verlegenen Lachen. «Ich kann mir nur nicht recht vorstellen, wie man dazu kommt, so zu leben - und warum, letztlich. Ich meine, wie ist das, so zu leben?» «Wie - so ? Um der Wahrheit die Ehre zu geben, Gordon, es gibt in dieser Wohnung ein paar Küchengeräte.» Gordon nickt verlegen. «Ich kann dein Fenster reparieren, wenn du willst», sagt er. «Nein danke. Es ist ja nur ein Loch. Victor kann es zukleben.» Gordon nimmt den Arm von meiner Schulter. Er reibt sich die Hände, um sie warm zu kriegen. Er sieht verwirrt aus und ein bißchen bange, als rechne er damit, bei einer wichtigen Prüfung durchzufallen. Er stützt das Kinn auf die Hände und seufzt. Er sieht so besorgt aus, daß es mich gleichzeitig bezaubert und irritiert. «Ich könnte es ja verstehen, wenn du ihn schon gekannt hättest, ehe er krank wurde», sagt Gordon in einem Ton, als hätte er sich lange den Kopf darüber zerbrochen. «Dann wäre es ja ganz einleuchtend. Aber du hast ihn ja erst kennengelernt, als er schon krank war. Du wußtest ja schon, daß er sterben muß.» Ich denke darüber nach. Dann sage ich: «Ich denke immer, daß ich Dinge, die mir in meinem Leben begegnen, isolieren kann - daß ich verhindern kann, daß sie mich treffen. Daß Victor sterben wird - ich weiß nicht, ich glaube, ich mache mir etwas vor. Kinder können das eher verstehen. Sie wissen, daß die Gutenachtgeschichte oder die Fernsehsendung, die sie vor dem Schlafengehen sehen, ihre Träume beeinflussen wird.» «Wie kannst du es aushalten zu wissen, daß er sterben wird ?» fragt Gordon. Sein Mund ist starr. Er sieht mich unverwandt an. «Ach, weißt du, manchmal sehe ich ihn gar nicht als jemanden, der sterben muß. Er hängt so am Leben. Manchmal 39
vergesse ich, was wirklich los ist. Ich stelle mir vor, daß wir ein gemeinsames Projekt haben - was ja auch in gewisser Weise stimmt», sage ich. «Manchmal denke ich, wir kriegen ein Kind zusammen.» «Kriegt ihr eins?» fragt Gordon eindringlich. «Ich glaube nicht. » Ich schaue übers Meer und merke, daß die grauen Schatten in der Ferne Gebäude sind und daß wir uns Boston nähern. «Weißt du es denn nicht ?» «Ich glaube nicht, daß ich schwanger bin, Gordon, beruhige dich.» «Hilary, schlaft ihr miteinander, Victor und du?» Gordon hat sein Gesicht so dicht an meins herangeneigt, als wolle er mich küssen. Aber sein Gesicht ist ganz ernst, klinisch. Ich sehe Gordon im Gynäkologenkittel vor mir, ein Stethoskop um den Hals und ein Plastikmodell der weiblichen Genitalien über sich auf einem Bücherbord. «Ja», sage ich. «Natürlich.» «Und ihr verhütet nicht ?» «Nicht direkt, nein. Ich glaube, ich habe zu Dingen wie Geburt und Tod eine etwas andere Einstellung als die meisten anderen Leute. Für mich sind das Dinge, die einfach passieren», sage ich. Was ich nicht sage, ist, daß mich der Gedanke traurig macht, Verhütungsmittel zu benutzen. Um das zu verstehen, muß man wohl Victor erlebt haben, wenn er Liebe macht. Er ist dann nicht Victor. Er ist jemand, den ich schon mein Leben lang hätte lieben können, wenn ich ihn gekannt hätte. Victor kann nur Liebe machen, wenn er Liebe empfindet - er kann sie nicht vortäuschen, und er kann nicht aus anderen Motiven mit jemandem schlafen. Ich bin mit Leuten zusammengewesen, die so en passant ins Bett hüpfen, wie sie zwischen den Mahlzeiten essen. Victor hat gar nicht die Kraft, Sex als Lückenfüller zu benutzen. Und all diese Sachen, die scharfmachen - das Verlangen, den eigenen Körper zu 40
sehen, wie er mit einem anderen Liebe macht, die kleinen Machtkämpfe, der Drang, jemanden zu beherrschen oder von jemandem beherrscht zu werden -, das alles bewirkt bei Victor gar nichts. Sie gehören zu seinen bevorzugten Gesprächsthemen, aber sein Schwanz will nicht so wie sein Kopf. Er wird von etwas anderem gesteuert, etwas Zartem tief in seinem Inneren - einem inneren Victor, dem ich in großen Abständen freudig guten Tag sage. Wie könnte ich es da fertigbringen, ihn und mich darauf zu stoßen, daß mein Leben länger dauern wird als seins, indem ich meine Vorkehrungen gegen das Leben treffe, das er vielleicht noch zeugen könnte. «Ich will mich an die Reling stellen und gucken», sage ich. «Ich will sehen, wie wir in Boston ankommen.» Ich gehe zwischen den Blöcken aus Sitzbänken hindurch und stelle mir kurz vor, wie dieses graue, nasse Deck im Sommer aussehen mag, wenn alles besetzt ist mit Leuten in abgeschnittenen Jeans und losen Hawaii-Hemden, Mädchen in rückenfreien Tops und Kindern mit zu großen Sonnenbrillen. An der Reling halte ich Ausschau. Unter mir sehe ich große Wellenberge und einzelne Stellen im Wasser, die gegen den gewaltigen Sog der See anwirbeln. Eine Bonbontüte tanzt auf den Wogen, und merkwürdigerweise entzückt mich dieser Anblick. Durch das Geräusch des Windes und das Stampfen der Maschinen im Schiffsbauch höre ich Gordons Schritte, so stetig und unaufhaltsam wie unsere Annäherung an Boston. Gordon steht zu meiner Rechten, ein wenig hinter mir, die Augen geradeaus gerichtet, als schätze er die Entfernung zwischen uns und den vielen kleinen Inseln, die den Anfang der Hafeneinfahrt markieren. Ich habe mir ausgemalt, wie ich mit dieser Fähre fahre und auf diese Inseln schaue, die Quallen neben dem Schiff treiben sehe, dicht unter der Oberfläche des verschmutzten Wassers. In vielen Tagträumen habe ich beobachtet, wie wir in Boston festmachen, habe ich dem hohlen Klang meiner Schritte auf 41
dem Pier gelauscht, bin ich an der Tafel am Long Wharf vorbeigegangen, die die Leute auffordert, sich auf die Fähren zu begeben. Wenn Victor und ich eine besonders schlechte Woche hatten - er so schlecht dran war, daß er nichts allein machen konnte, oder wir uns gestritten hatten oder der Wagen im Eimer war und die ganze Zeit nur Graupel und eisiger Schneewind herrschten -, dann habe ich oft gedacht, welche Befreiung es wäre, einfach die Fähre zu nehmen und zu verschwinden Wenn ich das tiefe Horn des Schiffes die Abfahrt signalisieren hörte, überlegte ich, ob es mich vielleicht auffordern wollte, mich nach Boston davonzumachen, mich zurückzuziehen wie ein Fisch in einen Korallenstock. Einfach zu gehen. Aber jetzt, da ich an Bord der Fähre stehe und das Wasser unter ihrem plumpen Rumpf hindurchgleiten sehe und die Möwen wie ein Mobile in der Luft hängen, habe ich ein Gefühl wie beim Verklingen der letzten Note einer Symphonie. «Habe ich etwas Falsches gesagt?» fragt Gordon. «Nein, natürlich nicht», antworte ich ihm. «Was könntest du schon Falsches gesagt haben ?» Aber was könnte er schon Richtiges gesagt haben ? Gewicht hat für mich das, was Victor sagt, nicht Gordon. Ich habe mich selbst neu erfahren durch eine Situation zwischen Victor und mir, mit der Gordon nichts zu tun hat. Was ich hören will, kommt als leises Flüstern übers Kopfkissen, in einer Mansarde dort hinter mir. Ich vermisse einen Menschen in einer winzigen Wohnung, von der ich sage, daß ich sie hasse, was auch oft wirklich stimmt. Gordon steht schweigend neben mir und wartet. Ich bin mir seiner Gegenwart bewußt, auf die gleiche befangene Weise, wie ein Fremder auf einem Bahnhof sich seiner Fremdheit bewußt ist. Ja, ich kann jetzt nach Boston fahren, in die Stadt gehen, die vertraute Szenerie betrachten, durch die Straßen gehen, mit denen sich meine Geschichte verbindet und die der ganzen Nation. Aber es kann nicht so sein, wie ich es mir ausgemalt habe. Diese Straßen gehören 42
jetzt anderen. Der Freedom Trail ist gesäumt von Geschäften und Bürogebäuden. Wer verschwendet schon auf dem Weg zur Arbeit einen Gedanken auf die Gründerväter? Ein Besuch ist nur ein Besuch. Gordons Hand auf meiner ist nur eine Hand. Die Gischt und das Schreien der Möwen sind nur Geräusche, und ich lausche auf jemanden, der still in einem Bett schläft, das jetzt auch meins ist. Es ist einfach, in einer Stadt zu sein, die man liebt, auch wenn man mit einem Mann zusammen ist, den man kaum kennt. Ich tue so, als könnten die besonderen Reize Bostons, die kopfsteingepflasterten Straßen von Beacon Hill, das North End mit seinen unerschöpflichen Vorräten an frischen Cannolis und seinen festlichen Hochzeits-Schaufenstern, das State House, Faneuil Hall - all die Dinge, die Boston zu Boston machen -, irgendwie aus Gordon und mir ein Paar werden lassen, uns die gemeinsame Geschichte verleihen, die wir nicht haben. Wir wandern die Reihen der Verkaufsstände entlang, spekulieren darüber, welche Sorte Mensch wohl eine Marionette aus Muscheln kauft, Haarreifen mit Antennen darauf, Dosen mit Raum-Spray Marke «Liebesduft» oder Aschenbecher in der Form von Krebsen mit wippenden Stielaugen. Wir werfen einem Blinden, der auf einem Akkordeon spielt und dazu «Georgia On My Mind» singt, einen Dollar hin. Wir erstehen einen Luftballon. Ein Slush Puppy. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, daß wir uns gut kennen. Wir kennen die gleichen Straßenmusiker, U-BahnLinien, Clam-Chowder-Imbisse. Ich kann mir einreden, daß die aufgereihten Verkaufsstände gemeinsame Erlebnisse sind, die uns verbinden. Und in gewisser Weise sind sie das ja auch. Er ist in Brookline groß geworden, einem netten Viertel mit vielen baumgesäumten Straßen, die noble Namen tragen wie «Chilton Way» oder «Linden Circle». Ich war Klassenbeste an einer drittklassigen High School und schaffte es, an die Boston 43
University zu kommen, ein privates College, eine dieser egalisierenden Institutionen, und dort Naturwissenschaften zu studieren. Inzwischen wünschte ich allerdings, ich hätte Philosophie studiert wie Victor, der eine viel angesehenere Universität besucht hat. Aber ein Philosophiestudium schien mir völlig außer Reichweite. Ich dachte, ich müßte mir zuerst ein völlig neues Vokabular aneignen, mir angewöhnen, die «Rs» auszusprechen, mich erst würdig erweisen, etwas zu studieren, was jemandem wie Victor ganz selbstverständlich zufiel. Ich landete schließlich als Tierarzthelferin in dem Vorort Cambridge. Dort blieb ich zwei Jahre, in denen ich Hunden Zylinder um die Schnauzen schnallte, damit sie sich nicht die Nähte aufbissen, Katzen beim Impfen festhielt, Kotproben in Lösungen gab und die Käfige der Kaninchen und jungen Katzen saubermachte. Ich glaube sogar, mich erinnern zu können, daß ich Gordon eines Morgens in der U-Bahn gesehen habe. Wir hätten uns damals kennenlernen können, während wir eng zusammengedrängt an den Haltestangen standen und die Bahn unter der Charles Street entlangratterte. Oder auch an irgendeinem der anderen Orte, an denen wir heute vorbeigekommen sind. Gordon hätte sein Bier in der Black Rose trinken oder neben mir im Kreis der Zuschauer bei einer Break-Dance-Darbietung stehen oder sich an einem Samstag Äpfel an den Ständen am Haymarket aussuchen können. Er hätte Tosh in die Praxis bringen, mit ihr den blendendweißen Untersuchungsraum betreten können, wo ich weiß Gott wie viele Stunden meines Lebens damit zubrachte, hilflosen, verängstigten Tieren Thermometer in den After zu stecken. Wir schauen einem Pantomimen zu, vor einem Ziegelsteinbau, der The Marketplace heißt. Die Menge starrt staunend auf den imaginären gläsernen Raum, in dem er gefangen ist. Er ist ganz in Schwarz und Weiß gekleidet, bis auf eine leuchtend 44
lindgrüne Kappe. Er sagt kein Wort, und doch habe ich das Gefühl, ihn zu belauschen. Seine stille Welt voller gläserner Hindernisse, die ihn zum Stolpern bringen, ihm den Weg versperren, ihn ratlos machen, erscheint mir so privat, als eine Sphäre, in die wir keinen Einblick haben sollten. Ich wende mich schließlich ab, schaue zum Himmel empor, wo die Wolken so dünn sind wie ein sehr altes Tuch. Der Pantomime beendet seine Show und erntet Applaus. Seinen Mund bedeckt ein aufgemalter tiefschwarzer Strich. Er biegt sich an den Seiten nach oben, als der Pantomime lächelt und die Dollarnoten einsammelt. Wir sitzen auf einer braungestrichenen Bank. Die Graffiti auf der braunen Farbe drehen sich allesamt um Liebe: Frank liebt Julie, Mimi will Ben, T. J. plus S. K. Telefonnummern, ungelenk eingeritzte Herzen, ein Smiley-Aufkleber. Wir trinken Limonade an einem Stand, wo sie die Zitronen frisch pressen. Sie jagt mir einen Schauer bis in die Zehenspitzen. Ich klaue Sachen. Ich habe Angst, daß Gordon mir in die Parkataschen greift und den ganzen Krimskrams findet, den ich dort versteckt habe: ein glitzriges Windrädchen, ein T-Shirt mit Enten und dem weißen Aufdruck «Boston» auf der Brust, ein Tütchen warme Cashewnüsse, einen eisernen Briefbeschwerer in der Form und Farbe eines gekochten Hummers. Einem Teil von mir ist das völlig schnuppe, aber ein anderer Teil meiner Psyche, der tiefer sitzt und weniger leicht zu beruhigen ist, schlägt sich mit der Angst herum, daß er mir auf die Schliche kommen und mich einfach hier, mitten auf dem Bürgersteig, stehenlassen könnte. Ich habe immer schon geklaut. Es gibt Dinge, bei denen ich mir gar nicht mehr vorstellen kann, dafür zu bezahlen, so oft habe ich sie schon mitgehen lassen. Ohrringe zum Beispiel. Ich sacke Gewürze im Supermarkt ein. Illustrierte und Schokoriegel. Ausgeflippte Stifte im Schreibwarenladen. Ich 45
nehme Sachen mit, die ich eigentlich gar nicht haben will. Es würde mich total nervös machen, etwas zu klauen, woran mir wirklich liegt, etwas, das vermißt werden könnte. Aber bei den Goldkettchen, die in der Schmuckwarenabteilung an einem Plastikständer hängen - wer sollte da schon eins vermissen ? Oder einen elektronischen Reisewecker, der so winzig ist, daß man ihn in der Handtasche nicht findet ? Also, warum nicht ? Ich denke an meine Missetaten. Ich weiß, es ist unrecht, und ich schäme mich, aber als wir bei einer Bäckerei um die Ecke biegen, lasse ich ein Schlüsselkettchen von einem Straßenstand mitgehen. Victor weiß davon. Ich habe einmal in einem Waschsalon ein Hemd mitgehen lassen, und weil ich ein Pechvogel war, war natürlich der Name der Besitzerin im Kragen eingenäht. Sobald ich jetzt irgendein neues Kinkerlitzchen habe - einen kleinen Dino aus der «Familie Feuerstein» zum Aufziehen oder ein Stempelset, von dem er weiß, daß ich es nie haben wollte -, fragt er mich sofort, ob ich es geklaut habe. Wenn er mich einen Schokoriegel essen sieht, fragt er: «Geschenkt gekriegt?», und ich nicke. Diese Klausucht hat meinen Eltern lange Jahre schwer zu schaffen gemacht - seit meine Mutter, als ich vier war, in meiner Manteltasche ein Päckchen Kaugummi fand, dessen Herkunft sich niemand erklären konnte. Meinen Vater bestürzte meine Klauerei sehr, vor allem meine Angewohnheit, Sachen für andere mitgehen zu lassen, die ihn in die moralische Zwickmühle brachte, sich eine angemessene Strafe für ein kleines Mädchen auszudenken, das seinem Dad zum Geburtstag ein goldenes Feuerzeug geklaut hatte. Später, nachdem meine Eltern dann geschieden und völlig entzweit waren, klaute ich in beiden Haushalten. Ich verpflanzte Dinge von einer Wohnung in die andere. Ich stellte den Lieblingsbierkrug meines Vaters in die Glasvitrine meiner Mutter. Ich legte das Adreßbuch meiner Mutter in den Postkorb 46
auf dem Schreibtisch meines Vaters. Ich deponierte Krawattennadeln auf Mutters Bücherbord, ihren Nagellack in Vaters Medizinschränkchen, sein Aftershave in ihrer Nachttischschublade. Ich wollte, daß sie wieder zusammenkommen sollten, aber statt dessen heiratete mein Vater eine neue Frau. Er zog sogar in ein richtiges Haus, keine Etagenwohnung. Als ich in der Junior High School war, stahl ich einmal ein Nachthemd meiner Mutter und hängte es dann in den Wandschrank in Vaters neuem Haus. Seine Frau sah es, und er rief mich an und schleuderte mir seinen ganzen geballten Zorn durchs Telefon an den Kopf. Von da an besuchte ich meinen Vater nicht mehr. «Hilary?» sagt Gordon und berührt mich an der Schulter. Wir sind auf dem Weg aus Faneuil Hall an einem Fußgängerüberweg stehengeblieben. Ich reiße mich zusammen und hebe an, mich für meine Geistesabwesenheit zu entschuldigen. Gordon will keine Entschuldigungen. Er will lieber mein Haar hinters Ohr zurückstreichen. Er ist sehr mitfühlend und erträgt meine langen Schweigephasen, als seien sie nun mal eine unumgängliche Bedingung, wenn er mit mir Zusammensein will - was sie wohl auch sind. Im Union Oyster House sitzen wir uns an einem breiten Tisch gegenüber. Wir bestellen Chowder und Bier. Wir spielen ein Spiel, das darin besteht, uns gegenseitig Austern-Cracker in die Suppenschale zu werfen. Ich treffe oft daneben, und schließlich hat Gordon lauter Crackerkrümel auf dem Schoß. Gordon fragt mich über meine Familie aus. Ich drücke mich, indem ich so tue, als sei ich ganz auf das Spiel konzentriert. Er insistiert, also erzähle ich ihm Lügen. Ich erzähle ihm, daß ich aus einer riesigen Familie komme, daß wir zu Hause lauter Mädchen waren und daß mein Vater die Wettervorhersage auf Kanal Vier macht. Ich erzähle ihm, ich sei mit zwölf in Spanien
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gewesen und seither ganz versessen auf Paella. Ich sage, ich hätte schon etliche Winter in Bonair verbracht. «Oh, Hilary», sagt Gordon, indem er die Stirn in Falten zieht. Er nimmt meine beiden Hände in seine und sagt: «Ich finde die, die du wirklich bist, schon umwerfend genug.» Wir gehen ins Aquarium. Auf meinen Vorschlag hin. Nicht, weil ich so ein Fisch-Fan bin, sondern weil die Fische eine Möglichkeit sind, sich nicht unterhalten zu müssen, und weil ich allmählich im unausbleiblichen Schweigen der Unoffenheit versacke. Ich merke, daß ich nur die Wahl habe, entweder damit herauszurücken, wie unwohl mir bei dieser ganzen Sache ist, die wie die Anbahnungsphase einer Liebesgeschichte aussieht, oder aber den Mund zu halten. Ich könnte sagen: Du willst reden, Gordon, also reden wir. Vielleicht sollten wir wirklich reden. Ich merke, daß ich dich immer mehr mag, und ich lebe, wie du weißt, mit einem anderen Mann zusammen. Aber das wäre absurd, weil Gordon ja ganz offenkundig meine Lebenssituation kennt, und ich denke, er kann wohl selbst abschätzen, was es bedeutet, sich mit einer Frau einzulassen, die mit jemand anderem zusammen ist. Ich könnte sagen: Paß mal auf, Gordon. Die erotische Seite unserer Beziehung wird sich in Grenzen halten müssen, weil ich Victor nicht hintergehen werde. Aber wenn ich das sage, werde ich mich ewig dafür hassen, daß ich so voreilig und so defensiv reagiert habe. So zickig. Es ist doch gar nicht erwiesen, daß Gordon überhaupt mit mir schlafen möchte oder daß er es tun würde, selbst wenn er es wollte. Leidenschaft kann man auch zügeln. Er stellt mich jedenfalls nicht vor die Entscheidung. Warum also sollte ich vorpreschen und schon im voraus nein sagen? Und würde ich wirklich nein sagen? Vielleicht - ich glaube, ich würde es tun -, aber wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, 48
daß ich einfach gar nichts sagen und nur anfangen würde, mein Hemd aufzuknöpfen? Wenn es keine angemessenen Worte gibt oder keine Worte, die sich mit den Regeln des Anstands vereinbaren lassen, dann verstumme ich. Hunderte von Worten kommen mir in den Sinn, während wir an den Schaubecken vorbeischlendern, alle hoffnungslos untauglich. Ich male die Buchstaben mit der Zunge an den Gaumen. Ich male B-I-T-T-E, ohne genau zu wissen, worum ich bitte, ob ich will, daß Gordon mich bei den Schultern packt und schüttelt, bis ich wieder zur Besinnung komme, daß er mich erweicht, mit Versprechungen oder womit auch immer - oder ob ich will, daß Gordon verschwindet wie der graue Thunfisch in dem Becken vor uns, der sich unseren Blicken entzogen hat und jetzt in der Spalte zwischen zwei Felsbrocken steht. Ich staune über Gordons Ausgeglichenheit: Wenn er in einem Aquarium ist, betrachtet er die Fische. Er studiert die Schildchen unter den einzelnen Schaubecken und nimmt auf, was die Bostoner Ichthyologen über die Geschichte der Meerestiere zu sagen haben. Gerade liest er die Zeilen unter einem Glaskasten, der offenbar einen fossilen prähistorischen Fisch zeigt. Gordon ist nicht so wie ich, die ich im Aquarium lande, weil ich versuche, der zwischenmenschlichen Interaktion zu entfliehen, und die ich mich dann mit der Intensität einer Besessenen auf genau das konzentriere, was der nächste Dialogfetzen zwischen uns sein könnte. Ich atme tief aus und beschließe, ganz im Jetzt und Hier zu sein, im Aquarium, und die Fische zu betrachten, die Erläuterungen zu den verschiedenen Typen der SalzwasserNutzfische zu lesen. Aquaristische Gedanken zu denken. Wenn Victor ein Fisch wäre, welche Art Fisch wäre er dann? Das große Hauptbecken in der Mitte des Saals, in dem wir uns befinden, enthält eine Meeresschildkröte, einen Schwertfisch, mehrere Aale, einen großen flossenschlagenden 49
Stachelrochen, etwas, das ich für einen Barrakuda halte, und einen ziemlich verfettet aussehenden Hai. Dem Hai ähnelt Victor nicht, dafür ist er zu dünn. Vielleicht dem Barrakuda. Ich stelle mir Victors Gesicht vor, wenn er sein spitzes Koboldskinn vorstrecken und die unteren Zähne entblößen würde, aber ich kann ihn immer noch nicht als Barrakuda sehen. Und als Aal schon gar nicht. Die Aale drängen sich alle in einer Ecke des Beckens zusammen. Sie haben kurze, breite Köpfe, dürre, lange Hälse, schnappende Mäuler und Augenhöhlen, die zu groß sind für ihre blasigen, traurig hinter dem Glas hervorstarrenden Augäpfel. Sie sehen aus wie monströse Kaulquappen, wie Totengeister, wie Seegespenster. So ist Victor überhaupt nicht. Wie könnte er je so häßlich sein? Wie könnte jemand wie Victor je so aussehen? Warum stecken sie überhaupt so abstoßende Geschöpfe in ein Glasbecken, um sie zur Schau zu stellen? Wissen sie denn nicht, daß die Aale aussehen wie der Tod persönlich? «Gordon», sage ich, «können wir nicht gehen?» Gordon steht auf der anderen Seite des Raums vor einer Wand mit lauter kleinen Aquarien. «Genug?» sagt er und schaut mich an. Die Fische in den Bassins drüben bei ihm sind klein und pfeilschnell. Von da, wo ich stehe, sind sie nur verschwimmende Farben zwischen Luftblasen. Der Aal mit dem dünnsten Hals öffnet das Maul so weit, daß man die Sehnen am Hals sehen kann, der dabei noch länger wird. Man könnte meinen, er gähnt, so wie er das Maul aufreißt, oder er stößt ein Geheul aus, das das Wasser erstickt. Auf der Rückfahrt nach Hull sind meine Füße so kalt, daß ich Gordon erkläre, wir müßten unter Deck gehen. Ihm ist es recht. Er nimmt meinen Arm und führt mich die Treppe hinunter. Wir finden einen Fenstertisch, und Gordon sagt, er geht uns einen Kaffee holen. Er kommt wieder, mit
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dampfenden Styroportassen, und schnippt ein Tütchen M&Ms über den Tisch. «Danke», sage ich. «Kannst du's für mich aufmachen? Meine Hände sind zu kalt.» Gordon nimmt meine Hände zwischen seine und reibt sie. «Arme Hände», sagt er. Er reibt sie wie wild, haucht sie an und reibt weiter. «Halt sie über deinen Kaffee.» Ich tue es. Einen Moment lang habe ich das Gefühl, ich würde alles tun, was Gordon sagt. Bei Gordon scheint immer alles zu funktionieren. Sein Auto zum Beispiel. Der Motor ist verblüffend sauber, und Gordon führt sorgfältig Buch über seine Ölwechsel, mit Datum und Kilometerstand. Die Innereien meines Autos kann man schon gar nicht mehr als solche identifizieren. Wenn man die Haube öffnen würde, ohne zu wissen, daß es sich um den Motorraum eines Autos handelt, könnte man gerade noch sagen, daß dieser ganze Wirrwarr von Schläuchen, verbogenem Metall und Dreck offenbar «irgendeine Apparatur» darstellt. Gordon dagegen kann alles zum Funktionieren bringen. Er kann das Haus seiner Eltern renovieren, einen Fernseher reparieren, einen Wagen zum Anspringen bringen, meine Hände wieder warm machen. Außerdem scheint Gordon klare, gesunde Beziehungen zu Menschen zu haben, während Victor und ich immer in einem einzigen emotionalen Wirrwarr zu leben scheinen, nie recht wissen, was wirklich Sache ist, und immer davon ausgehen, daß nichts so ist, wie es sich darstellt. Das Offensichtliche ist uns einfach zu offensichtlich. Wir müssen immer tiefer buddeln. Wir wenden unsere Worte nach innen. Gordon dagegen nimmt immer alles ganz gelassen, geht stets vom Positivsten aus, dringt nie unter die Oberfläche vor, solange sie einigermaßen in Ordnung scheint. Man könnte ihm das leicht als Oberflächlichkeit ankreiden, aber in vielen Fällen hat er ganz einfach recht. Mir scheint, daß Gordon im Gegensatz zu 51
allen Leuten, die ich sonst kenne, das Leben als eine prima Sache begreift und es als solche zu leben gedenkt. Wenn Gordon jetzt, in diesem Moment, zu mir sagen würde, laß Victor und komm zu mir, könnte ich nichts anderes antworten als: He, warum nicht. Ich lasse M&Ms in unseren Kaffeetassen schmelzen. Gordon schaut interessiert zu. Er zeigt auf meine Tasse und meint: «Guck mal, ein Klecks Gelb.» In meiner Tasse ist die Schokolade geschmolzen und nur ein gelber Ring zurückgeblieben. Wir probieren es mit den anderen Farben: Orange, Braun, Grün, und sehen zu, wie sich die Schokolade auflöst und nur ihre Süße hinterläßt. Auf der ganzen Rückfahrt, bis nach Hull, spüre ich bei Gordon eine Zärtlichkeit, die genauso unsichtbar ist wie Schokolade im Kaffee. Am Parkplatz auf dem Pemberton-Pier wendet sich Gordon mir zu. Es ist noch nicht spät, aber die Sonne ist schon hinterm Horizont verschwunden. In der Luft liegt der anheimelnde Geruch vieler Kaminfeuer. Die Luft riecht nach Rauch und Schnee, auch wenn der Boden nackt ist. Gordon lehnt an der geschlossenen Tür meines Autos, die Arme vor der Brust verschränkt. Er starrt in seine Ellbogenbeuge und sagt: «Eines Morgens war ich auf dem Weg zur Arbeit. Ich war spät dran. Auf dem Highway wurde der Verkehr endlich dünner, und ich nahm eine Ausfahrt schneller als erlaubt. Da habe ich eine Katze erwischt, eine rotgetigerte.» Er hält inne, mit schmerzerfülltem Gesicht. Er zieht mit der Stiefelspitze Kreise im Kies. «Du hast eine Katze erwischt», sage ich. «Und?» Gordon guckt weg, den Mund zu einer düsteren Grimasse verzogen. Dann schaut er mich an. Er atmet tief ein und spricht weiter. «Als ich ausstieg, um nach ihr zu sehen, merkte ich, daß sie noch lebte. Ihre Schwanzspitze zuckte, und in ihren Augen 52
standen Panik und Verzweiflung. Ich hatte Termine, für die ich sowieso schon zu spät dran war. Ich hätte sie in die Tierklinik bringen sollen oder einen Spaten holen und sie erschlagen. Irgend etwas tun. Aber ich habe nichts getan. Ich bin wieder ins Auto gestiegen und weitergefahren. Weißt du, es ist vielleicht keine Riesensache, aber ich mußte monatelang jeden Tag an die Katze denken. Jeden gottverdammten Tag. In meinen Träumen habe ich sie tausendmal gerettet.» Ich stelle mir die Katze vor, wie sie voller Entsetzen genau in Gordons helle Augen starrt. Ich stelle mir vor, wie sie die Welt auf sich einstürzen sieht, eine einzige rotierende Pein. «Warum erzählst du mir das?» frage ich. «Weil ich glaube, daß ich dich verstehe. Und weil ich mir wünsche, daß du mir eines Tages auch von dir erzählst», sagt Gordon. Er legt mir die Hände auf die Schulter, als wolle er mich küssen, tut es dann aber doch nicht. Ich steige in mein Auto. Ich pumpe mit dem Gaspedal und drehe den Schlüssel, um den Motor zu überlisten, damit er anspringt. Gordon steht draußen. Er sieht so klug aus, so mitfühlend. So einladend. Ich frage mich, ob wir wohl Freunde bleiben werden oder ob er sich in Luft auflösen oder untertauchen oder auf irgendeine Weise weniger wichtig für mich werden wird. Ich frage mich, ob wir ein Liebespaar sein werden. Ich fahre bewußt langsam aus dem Hafenparkplatz hinaus, hupe und winke hinüber zu Gordon, der lächelnd dasteht und in mir den Wunsch weckt zurückzulächeln, und ich fühle mich schlecht, weil ich es nicht kann.
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Drei In
der Haustür treffe ich Olivia Birkle, die einzige weitere Bewohnerin in unserem Haus. Eine dünne schwarze, etwa siebzigjährige Frau, eckig und steif wie ein Papierfächer. Sie hat ihr Haar zu einem Großmutterknoten auf dem Kopf festgesteckt. Trockenes krauses Haar, glatt nach hinten gekämmt und mit Haargel geglättet. Sie lächelt vorsichtig, sie lächelt immer vorsichtig, als ob sie Angst hätte, daß man ihrer zarten, zerbrechlichen Seele ein Leid antun wolle oder über Nacht irgend etwas passiert wäre und du nun nicht mehr ihre Freundin bist. Aber ich schenke ihr ein herzliches Lächeln, und sie entspannt sich, ihre Angst schwindet. Manchmal gelingt es mir, anderen Menschen ein Gefühl der Sicherheit zu geben. «Hilary!» sagt sie und hebt die Hand. Sie sagt meinen Namen wie eine gute Nachricht. «Komm und unterhalte dich mit mir.» Sie nimmt meinen Ellbogen und geht mit steifen, eckigen Schritten in die Wohnung im Parterre, in der sie wohnt. Sie trägt ein sauberes, steif gestärktes Kleid mit einer großen Krawattenschleife und blaugoldenen Nadelstreifen. Wir setzen uns auf die Couch, und sie erzählt mir, wie sehr sie sich freut, mich zu sehen, wie hübsch der Pullover ist, den ich anhabe. Sie fragt nach Victor und sagt, daß er ein Held ist, weil er die Ratten tötet. Ich widerspreche ihr nicht. Ich sage nicht, daß ich glaube, daß er überhaupt keine Ratte getötet, sondern ziellos in die Luft geschossen hat. Sie erzählt kurz von ihrer Tochter, deren schönes Jungmädchengesicht von einem jahrzehntealten Foto strahlt, 54
das auf dem Kaminsims steht. Sie sagt, daß ihre Enkelkinder schön wie die Rosen sind. Endlich gelingt es mir, unter wortreichen Entschuldigungen, zu gehen. Und es bricht mir das Herz, als sie an der Türschwelle eine Zeile aus einem Lied singt, in dem es darum geht, daß Gott die jungen Frauen beschützt, und mir einen kurzen, schnellen Kuß auf die Wange gibt, mit einem Geräusch, als ob ein Streichholz angestrichen würde. Auf dem Weg nach oben höre ich schon im voraus Victors Fragen. Er hat vielleicht den ganzen Vormittag über auf Ratten geschossen und, als er keine Munition mehr hatte, mit Steinen auf sie gezielt. Vielleicht sogar vom Hof aus. Vielleicht hat er versucht, sie auszuräuchern. Ich wünschte, wir hätten Nachbarn, die sich über ihn beschweren würden. Ich habe überlegt, ob ich mich selber anonym bei der Polizei beschweren soll. Damit etwas passiert. Mrs. Birkle war meine einzige Hoffnung, und sie sagt, daß sie Victors Geballere auf die Ratten bewundert, es begrüßt, daß es dem Wohl der Gemeinde dient. Ich finde, daß er damit aufhören soll, ehe er irgendeine Garage in die Luft jagt. Ich schätze, daß Victor nach dem Rattenmord den ganzen Nachmittag geschlafen hat, ein Sandwich gegessen hat, sich unwohl fühlte, einen Artikel las, die Zeiger der Uhr beobachtete. Vielleicht wollte er heute irgendwohin fahren zum Markt oder einfach zur Küstenstraße, um das Meer zu sehen. Vielleicht hat er zärtlich an mich gedacht, vielleicht sogar leidenschaftlich. Vielleicht ist er jetzt wütend auf mich. Er wird mich fragen, wo ich gewesen bin. Er wird sich wünschen, auch einfach nachmittags irgendwohin fahren zu können, so wie ich, ohne gleich erschöpft zu sein, ohne sich noch lange danach erholen zu müssen. Er wird schweigend essen und dabei kalkulieren, welchen Eindruck das auf mich macht. Wenn wir schlafen gehen, werde ich mein Bein über 55
seins legen, und er wird vielleicht erstarren und wegrutschen. Oder nachgeben und sich an mich schmiegen wie ein Kätzchen an die Mutter. Wir werden vielleicht schweigend miteinander schlafen oder einfach nur so daliegen, vor uns hin dösen, unsere Glieder bequem arrangieren, flüstern, unsere Meinungsverschiedenheiten beiseite schieben und die simplen Freuden annehmen, die ein anderer Körper zu bieten hat. Und am nächsten Morgen wird unsere Wut wie durch Zauberei tief nach unten gesunken und fast verschwunden sein. Als ich am letzten Treppenabsatz angekommen bin, höre ich Geräusche aus unserer Wohnung. Victors Lachen, Stühle, die über den Fußboden geschoben werden, die schrille Stimme einer Frau. Das erstaunt mich sehr - daß wir überhaupt Besuch haben. Ich überlege fieberhaft, wer sie sein könnte. Victor haßt fast alle Menschen. Er beschimpft die Bibliothekarin, die versucht, ihm bei der Suche eines Buches behilflich zu sein. Er ist unhöflich zu den Postbeamten. Einmal ist er beinahe festgenommen worden, weil er einen Verkehrspolizisten anschrie, der mich angehalten hatte, weil ich mit einer ungültigen Plakette fuhr. Trotzdem hat Victor die besseren Manieren, und er ist viel klüger, gewandter und zurückhaltender als ich. Victor hat eine Präsenz, die unnachahmlich ist. Seine größte Anziehungskraft liegt darin, daß er einem beibringt, daß Zeit etwas Wichtiges ist. Irgendwie gelingt es ihm, bewußt zu machen, daß sich Geschichte hier und jetzt vollzieht, daß die Stunden sich zu deinem Leben verweben und daß du selbst das Muster bestimmst. Das ist eine großartige und wirkungsvolle Begabung. Ich stehe vor unserer Tür und atme den staubig modrigen Geruch ein, der sich nur in sehr alten Häusern und nur am Meer finden läßt. Ich höre Victors Stimme, die irgend etwas auf altgriechisch sagt, und nun weiß ich es todsicher; denn der einzige Mensch außer Victor, den ich kenne und der solche 56
Rekurse auf das Altertum versteht, ist Estelle Whittier. Sie wohnt in Hingham, einer vornehmen Gegend südlich von Boston, in einem herrlichen Tudorhaus, einem Symbol blühenden Wohlstands. Und Estelle selber ist eine außergewöhnliche und auffallende Person. Sie hat eine verrückte rosa Sonnenbrille aus Plastik, die sie aufsetzt, wenn sie aus irgendwelchen Gründen gezwungen ist, bei Tageslicht das Haus zu verlassen. Mitten im Satz wechselt sie plötzlich ins Deutsche oder Italienische. Sie hat eine Leidenschaft für Gärten mit Skulpturen und antike Vogelkäfige, in denen sie makellos gefiederte, kunstvoll ausgestopfte Vögel hält. Ich kenne all die Geschichten über ihr reiches Leben, das sie mit drei verschiedenen, mittlerweile verstorbenen Ehemännern gelebt hat, und das Kind, das auf absurde, völlig groteske Weise umgekommen ist - indem es seine dreijährigen Finger in eine Steckdose steckte. Victor betet diese Frau an. Und obwohl ich gut mit ihr auskomme, wundere ich mich über seine Hochachtung. Vielleicht erinnert sie ihn an seine Familie - eine gutsituierte Bostoner Familie, von der er sich für immer losgesagt hat. Victor behauptet, daß ihm weder sein Vater fehle noch dessen Geld. Daß er Geld hasse. Und daß er seinen Vater hasse. Estelles Karriere bestand darin, daß sie reiche Männer heiratete. Sie verwöhnt Victor auf eine mütterliche Weise. In Restaurants rührt sie Zucker in seinen Kaffee und bezahlt die Rechnung. Zwischen ihnen besteht eine Bindung, die ich nicht verstehe, aber es fällt mir nicht schwer, mir einen kleinen Victor vorzustellen, der mit zarten Wangen und auf seinen fetten unsicheren Beinchen durch Estelles riesiges Haus tapst. Ich sehe, wie er vor einer Steckdose steht und den Finger ausstreckt. «Wenn man vom Teufel redet!» sagt Victor, als ich eintrete. Er trägt ein Tweedjackett und Jeans, hat die Haare glatt nach hinten gekämmt und ein Glas Wein in der Hand. Der Alkohol 57
ist seinem Gesicht anzusehen, seine Wangen sind tiefrot, sein eckiges Gesicht wirkt dadurch leicht dämonisch und sehr anziehend. Ich sehe, daß er die Schnittwunde verbunden hat. Auf der Innenseite der Hand klebt ein weißes Pflaster. «Hilary, wo bist du gewesen?» sagt Victor. «Du weißt doch, daß heute Veterans Day ist. Hast du etwa geglaubt, ich würde diesen Gedenktag ohne dich feiern?» Estelle strahlt Victor an und sagt: «Hahaha», das ist ihr merkwürdiges, charakteristisches Lachen. Dann winkt sie und wirft mir eine Kußhand zu. «Oh, Glanz und Gloria, Hilary, du errötest wie eine Braut.» Estelle muß sich gerade das Haar gefärbt haben. Es leuchtet zartrosa im Lampenschein. Sie hat dazu passenden Lippenstift aufgetragen und sich in ein Gewand gehüllt, von dem ich mir vorstellen kann, daß sie es vor Jahren auf einer Reise in die Berge irgendeines lateinamerikanischen Landes gekauft hat. Der Rock ist ein grell gemusterter wollener Wickelrock, der ihr bis zu den Knöcheln reicht, und dazu trägt sie einen passenden Poncho. Sie ist eine winzig kleine Frau, zart wie alte Spitze und von ähnlich melancholischer Schönheit. «Ich hoffe, du hast nichts dagegen, daß ich hier eingebrochen bin und dir den Mann gestohlen habe», sagt sie. Sie hat alle ihre Klunker angelegt - drei Finger jeder Hand sind schwer beladen mit Steinen, die weder gut geschliffen noch besonders gefaßt sind. Als sie mit der Hand in meine Richtung winkt, frage ich mich nicht zum erstenmal, wie sie diese winzigen gekrümmten Finger, die ihr doppeltes und dreifaches Gewicht an Juwelen tragen müssen, überhaupt noch bewegen kann. «Er ist so bezaubernd, Hilary, und er betet dich an. Wir haben gerade über dich gesprochen, nicht wahr, Victor?» sagt Estelle. «O ja. Wir haben über dich geredet», sagt Victor, «und über vergiftete Nahrungsmittel und Flugzeugkatastrophen und das Ozonloch.» 58
«Er macht Witze», sagt Estelle. «Victor, sei nicht so uncharmant.» Und zu mir sagt sie: «Er hat davon geschwärmt, was für eine wundervolle Frau er hat.» Victor sagt: «Hilary, ich würde dich gern küssen, aber wenn du erlaubst, möchte ich lieber sitzen bleiben - weißt du, ich wie soll ich das sagen, ohne den Anstand zu verletzen, also, mir war den ganzen Tag übel. Sehr übel, und es wäre doch ziemlich schrecklich, wenn ich in dem Moment, in dem du mich zur Begrüßung küßt, wieder zusammenklappen würde, wie ein Kanarienvogel, der mitten im Lied erschossen wird.» Estelle sitzt gerade, die Hände im Schoß gefaltet wie eine Mutter auf einer Elternversammlung. «Es tut mir so leid, Hilary», sagt sie und amüsiert sich unter scheu niedergeschlagenen Augen. «Es sieht so aus, als hätte ich deinen Victor betrunken gemacht. Ich weiß nicht, was es sonst sein könnte.-» «Beruhige dich», sage ich zu Estelle. «So ist er immer.» Ich stehe hinter Victor, beuge mich hinunter und schlinge meine Arme um seine Mitte. «Hallo, mein Schatz», sage ich in seinen Nacken. «Ich bin nicht betrunken. Ich versuche, mir einen guten Rat zu holen, wie ich es vermeiden kann, Leute mit einer uncharmanten Krankheit zu belästigen. Die Menschen mögen es nicht, wenn sie an die eigene Sterblichkeit erinnert werden oder an meine. Sie sind beleidigt, wenn sie fragen, was ich für den Sommer plane und ich antworte: ‹Meine Beerdigung. ›» «Also Victor, du wirst doch nicht begraben werden wollen!» sagt Estelle und schwenkt ihr Glas. Sie ist dick geschminkt. Die Lampe beleuchtet ihre gemalten Augenbrauen, ihre Stirn glänzt. «Wie schrecklich!» sagt sie und hustet. «Das ist absolut schlechter Geschmack! Eine Einäscherung ist viel besser. Ich habe alle meine Ehemänner einäschern lassen. Und dann habe
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ich sie beerdigt. Etwas anderes kommt für mich nicht in Frage.» «Wird man mit oder ohne Bekleidung eingeäschert?» fragt Victor. Ich krümme mich und überlege, was ich mir anderes anhören könnte. Ob ich den telefonischen Wetterbericht anwählen und der Ansage lauschen soll, dieser überlauten Bandaufnahme, die sich ständig wiederholt? Ich lasse meinen Mantel im Stuhl zurück und gehe in die Küche, um Tee zu kochen. Victor wird in der nächsten Stunde etwas Warmes und Aufputschendes trinken wollen. Er kann den Zustand der Trunkenheit, der ihm Vergessen bringt, nur kurze Zeit ertragen. Dann bekommt er schreckliche Angst, in seinem sumpfigen, klebrigen Gefühlswirrwarr zu ertrinken. Ich habe meine eigenen Theorien darüber, warum Victor trinkt. Ich vermute, daß Victor den Tod antesten will. Er stellt sich vor, daß er sein Bewußtsein auslöschen und die Kontrolle über seinen Lebensmotor abschalten kann. Dann kann er in der Leere schmoren und sich vorstellen, daß der Tod eine Art Trunkenheit sei. Es liegt auf der Hand, daß dies ein sehr unzureichender Todestest ist. Schließlich kann man sich auch nicht durch ein ausgiebiges Bad in der Badewanne auf ein Surfwochenende in Honolulu vorbereiten. Aber Victor scheint zu Ergebnissen zu kommen. Manchmal ist er sehr betrunken und liegt still im Sessel, und ich kann seine Gedanken geradezu fühlen. Und ich bin drauf und dran, ihn anzusprechen und zu sagen: «Hör auf, Victor. Hör auf, dich selbst zu quälen. Der Tod wird sowieso ganz anders sein.» Aber dann wird Victor mich mit einem Ausdruck in den Augen ansehen, den ich von Patienten kenne, die auf den Tragen in Unfallstationen liegen. Er wird mich bitten, ihm einen Becher Kaffee oder einen starken Tee zu machen. Dann sitzen wir neben der Teekanne, starren auf die dunklen Fensterscheiben und machen keinen Versuch, draußen irgend etwas zu 60
erkennen, die Umrisse der Wolken, den Mond. Wir sind zusammen, blicken ins Leere, halten uns an unseren Teetassen fest. Schluck für Schluck kommt Victor wieder zu mir zurück, und nach einiger Zeit zeige ich auf das Licht, das sich im Meer spiegelt, und Victor ist in der Lage, mit dem Kopf zu nicken und zu sagen: «Ja, es ist schön.» Und dann hat er sich wieder gefangen und kann weitermachen. Ich zünde den Ofen an und höre Victor sagen: «Stimmt, ich glaube, ich sollte nicht immer sagen, daß ich gleich sterben werde. Schließlich sollte ich schon vor Monaten sterben. Sieh mal. Mein dichtes Haar. Ich habe die Chemotherapie nun schon lange abgesetzt und bin sehr lebendig. Hilary bestimmt nicht, oder, Hils?» Ich lehne am Küchenschrank und warte darauf, daß das Wasser kocht. «Hilary!» ruft Victor, und dann kommt er in die Küche, seine Schritte sind schwer, der Reverskragen seines Jacketts unordentlich. Er umarmt mich heftig und ungeschickt, preßt seinen Mund an mein Ohr und sagt mit zuckersüßer Stimme: «Oh, mein kleiner Liebling, mein kostbarer Engel...» Ich küsse ihn auf die Wange; Ich richte den Aufschlag seines Jacketts. «Möchtest du einen Tee, Victor?» frage ich. «Nein, keinen Tee! Wieso Tee? Warum nicht Wein. Warum willst du nicht mit mir trinken. Komm schon!» sagt er und zieht mich wieder ins Wohnzimmer. «Warum soll sich meine Frau nicht mit mir einen antrinken?» «Ihr habt geheiratet?» sagt Estelle und zieht die Augenbrauen hoch. «Meine Lieben, wie konventionell und wie nett.» «Nein, wir haben nicht geheiratet», sage ich. «Wir sind so gut wie verheiratet. Wie heißt es doch in dem heiligen Schwur: Bis daß der Tod euch scheidet. So wird es auch bei uns sein.»
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Ich sehe die beiden leeren Weinflaschen auf dem Tisch, eine teure Sorte, die Estelle mitgebracht haben muß, um Victor eine Freude zu machen. Diese Frau mit ihren arthritischen Händen und ihrem falschen Gebiß kann unmöglich sehr viel davon getrunken haben. Also muß Victor den Wein ausgetrunken haben, das heißt, daß Victor sehr betrunken sein muß. Aber wenn er dabei so süß ist, wenn er so nah bei mir steht, die Arme um mich legt, sein Bein an meinem Bein, sein Gesicht an meinem Gesicht, dann habe ich wirklich nichts dagegen einzuwenden, daß er betrunken ist. Ich lasse ihn ganz nah an mich heran. Ich drücke seine Hand. Ich sehe ihm in die Augen. «Ich glaube, das stimmt», sage ich. Victor gibt mir einen nassen Kuß auf die Wange und setzt sich dann Estelle gegenüber. Er nimmt eine neue Flasche Wein und bearbeitet sie mit dem Korkenzieher. Ich sitze in dem Sessel am Fenster. Ich kann das Meer hören, das an die Felsen kracht. Ich überlege, was dieser tobenden See standhalten könnte. Gibt es einen Fisch in den Behältern des Aquariums, der in der rauhen Wintersee überleben könnte? «Estelle, du bist ganz schön alt, nicht wahr?» sagt Victor, der jetzt ruhiger und nachdenklicher ist. Er beugt sich aufmerksam vor. «Noch nicht alt genug. Ich freue mich auf das Greisenalter.» «Es ist gut, daß du nicht jung gestorben bist», sagt Victor. «Wer hätte mir dann bewiesen, daß man auch prachtvoll altern kann.» «Genau», sagt Estelle. «Diese Falten in deinem Gesicht!» sagt Victor. «Victor!» sage ich. «Oh, hab dich nicht so, Hilary, sieh dir das Gesicht dieser Frau an. Die Falten, die sich in ihre Stirn eingegraben haben, die Bögen, die sie über den Augen bilden. Ist das nicht schön? Überlege dir doch mal, wieviel Mühe es gekostet haben muß, diese Falten so und nicht anders in ein Gesicht zu zeichnen 62
über viele, viele Jahre hinweg müssen sich Tausende von Bewegungen immer wiederholen, um auch nur eine einzige erkennbare Linie einzugraben.» Der Korken kommt mit einem Knall aus der Flasche, und Victor gießt ein. «Ein Jammer, daß ich nie sehen werde, wie ich altere. Alle anderen haben die Möglichkeit zu beobachten, wie die Natur ihren Körper verändert, und für mich ist schon nach dreiunddreißig Jahren Altern Schluß. Das kann man noch nicht als Altern bezeichnen. Das ist nichts. Das ist doch überhaupt gar nichts. Was kann man über dreiunddreißig Jahre schon sagen? Ich bin reifer geworden - mehr nicht. Ich bin erwachsen geworden, mein Körper ist ausgewachsen, ich kann jemanden töten oder selber getötet werden. Ich kann mich fortpflanzen. Ich bin wie ein Lachs, der japsend stromaufwärts geschwommen ist.» Victor lehnt sich zur Seite, seine Schulter ruht auf der Sofalehne, seine Arme sind schlaff, und er atmet japsend ein und aus. Er streckt seine Zunge heraus, rollt die Augen und röchelt. Dann setzt er sich wieder gerade hin. Und sagt: «Lachse leben so lange, bis sie ausgewachsen sind, dann laichen sie, und anschließend sterben sie.» «O ja! Das habe ich im Fernsehen in ‹Wild Kingdom› gesehen!» sagt Estelle. «Ich habe keine Kinder. Ich werde nicht sehen, wie mein Sohn seinen Ödipuskomplex entwickelt. Ich werde keine Gelegenheit haben, eine Neurose durch unerbittliches Sauberkeitstraining hervorzurufen. Was für eine Verschwendung. Was für eine schreckliche Enttäuschung. Ich habe mir immer vorgestellt, daß ich mal ein alter Herr werde. Damit habe ich fest gerechnet.» «Ist dein Vater ein würdiger alter Herr?» fragt Estelle mit derart unverhohlener Neugier, daß es mir peinlich ist.
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«Könnten wir, bitte, nicht über meinen Vater sprechen?» sagt Victor und bekleckert seine Hose mit Wein, als er versucht, mir ein Glas an meinen Platz zu bringen. «Mein Lieber, du wirst deinen Vater wiedersehen. Und zwar bald», sagt Estelle. «Das weiß ich, weil ich die Karten befragt habe.» Estelle hat in ihrer Handtasche ein altes handgemaltes Tarotspiel, das mich fasziniert und zugleich ängstigt. »Das bezweifle ich nicht», sagt Victor und lacht wie über einen außerordentlich gelungenen Witz. «Daran zweifle ich überhaupt nicht.» «Und mach dir keine Sorgen über das Sterben», sagt Estelle. «Der Übergang wird sehr leicht für dich sein. Du bekommst viel Hilfe von der anderen Seite.» «Trinken wir auf die andere Seite», sagt Victor und hebt sein Glas. Er trinkt es in einem Zug aus, dann schlägt er das Glas mit Schwung gegen die Kaminumrandung. Estelle ist erschrocken und fährt sich mit ihrer kleinen weißen Hand an die Brust. Ich sehe Victor an, der den langen Stiel des Weinglases in der Hand hält. Oben thront der gezackte Rest des Kelches. Einen Moment lang sieht er so aus, als ob er mit einem präsentierten Gewehr eine Schlacht eröffnen oder das Signal für den Beginn einer Kreuzfahrt um die Welt geben wolle. Ich denke an Gordon auf dem Bug der Fähre nach Boston, wie er sich entspannt über die Reling beugt, nach vorn blickt, mit vom Wind geröteten Wangen, den grauen Horizont absucht und in der kleinen gedrängten Skyline einzelne Gebäude ausmacht. «Victor, du willst dir doch nicht die Hand aufschlitzen, oder?» sage ich mit einem Blick auf das Glas. Ich sage es in einem Ton, als ob es mir eigentlich egal ist, ob er sich aufschlitzt oder nicht, als ob ich Schnittwunden langweilig und albern fände. Ich sage es in diesem Ton, obwohl ich weiß, daß
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Victor wirklich sehr betrunken ist und daß mich jede noch so kleine Wunde, die er sich zufügt, in Panik versetzen würde. «Ich mache gar nichts», sagt Victor. «Ich taufe mich nur für die andere Seite!» Der Tod tut nicht weh, erzählt Estelle. Der Tod ist kein Tod. Es gibt keinen Tod, es gibt nur eine Transformation. Unser Leben besteht aus vielen Transformationen des Körpers. Erst sind wir Babies, sind Sklaven unseres Körpers. Wir weinen und zahnen und spucken. Als Kinder haben wir scheinbar gelernt, unseren Körper zu beherrschen, aber die Pubertät verändert alles aufs neue, und wieder entgleitet uns der Körper. «Dann sind wir erwachsen und fühlen uns stark. Aber auch das verändert sich. Die Schwangerschaft ist eine Veränderung wir können sie nicht beeinflussen. Mit dem Alter ist es genauso. Mein Körper ist nicht mehr mein Körper. Immer wenn ich mich ansehe, erwarte ich, etwas völlig anderes zu sehen. Manchmal sehe ich in den Spiegel und denke: Wem gehören diese Arme, an denen das Fett herunterhängt. Wem gehören diese Runzeln unter den Augen?» «Sie gehören zu deiner Persönlichkeit», sagt Victor. «Nur sehr entfernt», sagt Estelle. «Jedenfalls ist der Tod eine weitere Transformation in einer langen Kette von Veränderungen, mehr nicht.» Sie trinkt ihren Tee und hinterläßt einen Halbmond aus rosa Lippenstift am Tassenrand. Es ist spät geworden. Wir sind alle müde. Victor sagt, daß er Kopfschmerzen habe. Er lehnt sich zurück und gähnt ab und an. Der Tisch ist mit Zigarettenschachteln, zerknüllten Servietten, Gläsern und Tellern mit Kuchenkrümeln übersät. Estelle sitzt unbeweglich da. In ihrem Kleid wirkt sie eher bezogen als angezogen. Sie erzählt, daß diese Sachen von irgendwelchen peruanischen Indianern stammen. «Woran glaubst du, Hilary?» fragt Estelle. «Du meinst, ob ich an Gott glaube?» 65
«Es muß nicht Gott sein. Irgend etwas. Du wirst doch an irgend etwas glauben.» Ich denke nach. Ich bin schon öfter danach gefragt worden. Ich war mal eine Zeitlang in einem Anwaltsbüro beschäftigt, wo fast alle Angestellten Quäker waren. Auf dem Harvard Square stehen im Sommer immer Leute auf Kisten und predigen von ihrem jeweiligen Gott. Manchmal mache ich mich über sie lustig und behaupte, daß ich ihrer Kirche nicht beitreten könne, weil ich meine eigene Religion hätte. Manchmal frage ich sie, ob sie ein Mitglied meiner Kirche werden wollen. Aber ich habe mich nie wirklich nach einer festgelegten Glaubensrichtung gesehnt. Ich glaube, daß ich an gar nichts glaube, obwohl ich nicht wage, das zuzugeben. Ich sehe Estelle an und zucke die Achseln, nicht weil ich nicht weiß, was ich antworten soll, sondern weil ich nicht weiß, wie ich es formulieren soll. Ich kann ihr weder den Namen einer Kirche noch den einer Gruppe sagen, die meine Weltsicht vertreten. «An gar nichts», sage ich schließlich, und Estelle schluckt das. «Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?» fragt sie. Ich habe Estelle oft darüber predigen hören, daß wir alle frühere und zukünftige Leben haben. Victor bittet sie ständig, von den verschiedenen Leben, die sie gelebt haben will, zu erzählen. Ich finde dieses Thema einigermaßen grotesk - nicht nur, weil Victor so krank ist. Mir kommt es wie eine Form der Verleugnung vor, so als ob eine Schwäche in Stärke verwandelt und zur Religion oder Philosophie erhoben würde. «Daran glaube ich überhaupt nicht», sage ich und halte meine Tasse Tee in der Hand, warte darauf, daß sie abkühlt. «Trink deinen Tee aus, und dann dreh die Tasse um», sagt Estelle leise und deutlich. «Ich möchte in den Teeblättern lesen.»
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«Du wirst ihr doch nicht die Zukunft in Gegenwart ihres sterbenden Mannes weissagen wollen?» fragt Victor. Er läßt seinen Tee in der Tasse kreisen. «Mein Lieber», sagt Estelle. «Darüber sprachen wir bereits.» Wenn Estelle redet, wackelt sie leicht mit dem Kopf, und die rosa Löckchen wippen auf ihrer Stirn. Sie muß beim Sprechen sehr bewußt ihre Lippen bewegen. Aber ihre Worte klingen sanft. Estelle kann stundenlang leise und deutlich reden. Ich merke, wie ich mich auf die weißen und gelben Zähne ihres Unterkiefers konzentriere, auf die Schnute, die sie mit der Oberlippe zieht, wenn sie das «r» in Hilary ausspricht. Ich habe ihre Anweisung befolgt. Ich habe meinen Tee ausgetrunken und die Tasse umgedreht auf die Untertasse gestellt. «Hilary ist eine gute Seele», sagt Estelle. «Das steht nicht in den Teeblättern, aber das weiß ich. Victor, du hast eine gute Seele in ihr gefunden. Es ist so bestimmt, daß sie bei dir sein wird, wenn du hinübergehst. Du kennst sie vielleicht in einer anderen Gestalt aus einem anderen Leben. Jetzt gib mir die Tasse, meine Liebe, und wir werden sehen, was die Teeblätter sagen.» «Ich weiß nicht, warum ich das mache, ich glaube nicht an Wahrsagerei oder das Schicksal, und manchmal glaube ich auch nicht an die Zukunft», sage ich. «Du glaubst nicht an die Zukunft, weil du mit mir zusammen bist», sagt Victor. «Als Kind habe ich die Olympischen Spiele im Fernsehen gesehen. Meine Mutter sagte, daß sie alle vier Jahre stattfänden, und ich konnte mir nicht vorstellen, daß ich noch vier Jahre leben und wieder welche sehen würde.» «Vielleicht bist du in einem früheren Leben als Kind gestorben», sagt Estelle. «Meine arme kleine Hilary», sagt Victor ernsthaft. «Im Moment bist du verwirrt», sagt Estelle und guckt in meine Tasse. «Du bist richtig durcheinander, steht hier. Aber, 67
schau mal, hier ist ein Pferdekopf. Pferde sind sehr gut, meine Liebe. Siehst du diesen Kopf hier? Victor, erkennst du den Kopf?» Estelle hält die Tasse schräg in Victors Richtung. «Nein, welches Pferd? Ich sehe kein Pferd. Ich sehe viele Teeblätter.» Estelle sieht ihn ungläubig an. «Also, mein Lieber, das ist doch sonnenklar. Hier siehst du die beiden kleinen Ohren. Und dicht daneben ist ein Kaninchen. Ein Kaninchen bedeutet Glück. Hier, das Pferd kommt aus einem Stall, deswegen sehen wir nur seinen Kopf. Du verläßt irgend etwas. Hilary, meine Liebe, du beginnst eine neue Phase, und zwar eine gute. Vielleicht hast du einen Mann kennengelernt?» zieht Estelle mich auf. «Sieht er gut aus?» «Nein, habe ich nicht», sage ich. «Weißt du das genau», sagt Estelle und zieht die Augenbrauen hoch. Ich sehe zu Victor, der unhöflich und nervig mit dem Teelöffel auf den Tisch klopft. «Ja», sage ich. Estelle kann unmöglich etwas von Gordon wissen. Außerdem gibt es nichts zu wissen. Es ist nichts passiert. Vielleicht ist da der Ansatz zu einer Liebesgeschichte, aber es hat sich noch nichts entwickelt... Noch nicht einmal ein erster Kuß, noch nicht mal verführerische Worte, nur ungezügelte Gedanken, reine Phantasie. Ganz abgesehen davon, daß mir Teeblätter keine Geständnisse entlocken würden. «Deine Zukunft jedenfalls sieht sehr gut aus», sagt Estelle. Mein Magen dreht sich wie ein elektrischer Ventilator. Ich sehe Victor an, der etwas beleidigt aussieht. Ich möchte etwas sagen, etwas Versöhnliches. Aber plötzlich wird sein Gesicht wieder hart. Er wendet sich an Estelle. «Es regt mich auf, daß jemand, der so im Leben steht wie du, Estelle, seine Energien auf braune Punkte in einer Tasse
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verschwendet. Das ärgert mich. Niemand kann die Zukunft voraussagen.» «Aber Victor, sagst du nicht deine eigene Zukunft ständig voraus?» sagt Estelle. Victor zieht wütend an seiner Zigarette. «Den Tod braucht man nicht zu weissagen. Der Tod kommt bestimmt.» «Gut, akzeptiert», sagt Estelle und sieht aus wie der Vorsitzende einer Kommission nach einer erfolgreichen nachmittäglichen Sitzung. «Dann haben wir ja etwas erreicht. Jetzt muß ich gehen. Hilary, du kannst mich nach unten bringen, wenn du möchtest, und du, Victor, gehst gleich ins Bett. Kommt mich morgen nachmittag besuchen - alle beide zum Tee. Kommt nicht zu spät, Tee gibt es um halb vier.» «Noch mehr Teeblätter?» sagt Victor. «Das halte ich nicht aus.» «Nein», sagt Estelle und unterdrückt ein Lachen. «Das ist bei dir nicht mehr nötig.» Sie nimmt meinen Arm und zieht sich von der Couch hoch. Langsam gehe ich mit ihr zur Tür, und als wir die Treppe hinter uns bringen - langsam, Stufe für Stufe, knacken ihre Gelenke. Beim zweiten Treppenabsatz wird sie geschmeidiger, und ich habe einen Moment lang eine Ahnung von einer viel jüngeren Estelle. Einer Estelle, die so alt ist wie ich oder wie Victor. Vor der Veranda helfe ich ihr ins Auto, und sie läßt den Motor aufheulen und donnert die Straße hinunter. Ich warte, bis das Auto nicht mehr zu sehen ist, und gehe müde wieder nach oben. Victor steht in Boxershorts da und putzt sich die Zähne. Ich stehe neben ihm im Bad und nehme meine Zahnbürste. Er dreht mir den Rücken zu, und ich berühre seine nackte Schulter. Aber er will mich nicht ansehen. Er starrt die Wand an und fuhrwerkt mit der Zahnbürste im Mund herum. Ich frage ihn, was los ist, und er spuckt ins Waschbecken. Ich sage: «Bitte, Victor», und er wischt sich mit dem Handtuch das
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Gesicht ab. Als ich ins Bett komme, schläft er oder tut so, als schliefe er. Die Fähre tutet sechsmal lang in den Morgenhimmel. Ich habe von einem Ungeheuer geträumt, das man im Meer gefangen hat. Es wurde herausgezogen und saß am Ufer, und der Wind zerrte an seiner grauen Haut, bis seine Kiemen nicht mehr atmeten und es seine riesigen Augen schloß. Neben mir hatte Victor einen Alptraum. Es stieß etwas mit den Händen weg. Victor beugt sich über mich, sein Gesicht ist über meinem. Als ich meine Augen öffne, sehe ich als allererstes Victors großes stoppeliges Gesicht, das über mir schwebt. Es ist spät am Vormittag. Die Sonne wirft ein langes Viereck auf den Fußboden. Ich frage mich, ob Victor mich schon lange im Schlaf beobachtet, was er gerade gedacht hat, ehe ich aufgewacht bin, ob er sich vorstellt, was ich träume. Ich will mir die Augen reiben und stoße ungeschickt an Victors Kinn. Er nimmt meine Hand und drückt sie auf das Kissen. Er streicht mit dem Zeigefinger über meinen Hals und mein Schlüsselbein und verstärkt an verschiedenen Punkten den Druck, als suche er nach bestimmten Stellen, direkt unter meiner Haut, und sieht mir dabei unentwegt in die Augen. «Du hast dich gestern überhaupt nicht um mich gekümmert», sagt Victor. «Ich habe heute nacht von einem Seeungeheuer geträumt», sage ich. «Gestern ging es mir so gut, daß ich gern etwas mit dir unternommen hätte», sagt er. Er berührt die Haut über meinem Brustkasten. «Und ich war nicht da.» Ich versuche ein Lächeln, es gerät schief. Ich konzentriere mich ganz darauf, welches Bild ich Victor biete, wie er wohl meine Stimmung und die dahinterliegenden Gedanken wahrnimmt. Es ist wie in einem 70
Theaterstück. Zu meiner Darstellungskunst gehört, daß ich in meine Worte und Gesten ein starkes Wohlwollen lege und Freundlichkeit. Außerdem versuche ich, Victor als großherzigen Menschen zu sehen, versuche, seine Gesten in ein Mäntelchen der Intimität und der Liebe zu hüllen, sein Gesicht über mir als das Gesicht des Geliebten zu sehen. Ich gebe mir jede nur erdenkliche Mühe, seine Worte als Worte zu nehmen, die ohne Bosheit an mich gerichtet werden, ohne Hintergedanken, nur zum Zweck der Information. «Nein», sagt Victor. «Du warst nicht hier.» Seine Brille rutscht ihm etwas herunter, aber er achtet nicht darauf. Er starrt mich an, als wäre ich eine Petrischale mit einer unbekannten Bakterienkultur, als ob er an mir jede Sekunde etwas ablesen könne, ein Zeichen, einen Hinweis, eine neue Erkenntnis. «Und heute willst du zu Hause bleiben?» sage ich. Victor läßt sich auf seine linke Seite fallen und zieht meine Hand unter die Decke. Er legt meine flache Hand auf sein Brustbein, führt sie dann in kreisenden Bewegungen hinunter zu seinem Bauch. «Und was hast du heute vor?» sagt er. Er preßt meine Hand auf seinen Bauch. «Verrätst du mir das ?» «Gegen fünf will Cappy mit mir zu einer Gärtnerei in Scituate fahren, um einen Weihnachtsbaum zu kaufen.» «Im November?» «Ich muß rechtzeitig einen bestellen.» «Warum so weit fahren ?» sagt Victor. «Gibt es keine Weihnachtsbäume in der Stadt?» «Die sind schon geschlagen. Die in Scituate haben Wurzeln und leben.» «Und wenn ich keinen Weihnachtsbaum will, der lebt? Warum sollte ich mir einen lebenden Baum in die Wohnung stellen ? Damit er mir die Luft zum Atmen nimmt?» Ich sehe ihn an.
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«Na schön, einverstanden, Hilary», sagt Victor. «Ich habe nur etwas dagegen, daß du mich vor vollendete Tatsachen stellst.» Er läßt meine Hand los und dreht sich weg. Ich streichle seinen Nacken, fahre mit meiner Hand sanft über seine Schultern und dann den Rücken hinunter. Victor ist sehr dünn. Wenn er nackt ist, ist jeder Muskel und jeder Wirbelknochen alarmierend deutlich zu sehen. Man kann gut erkennen, wie jeder Knochen zentimeterweise zu seiner vollen Länge beiträgt, wie die Schulterblätter an jeder Seite angeordnet sind, wie unterschiedlich sich seine Haut auf seinem Hals, seinem Po, seiner Wirbelsäule anfühlt: über Muskeln straff, weich über Fettgewebe, hart über den Knochen. «Kannst du dich noch erinnern, wie du mich kennengelernt hast ?» sagt Victor nach einer Weile. «Du warst kahl», sage ich. Ich lege meine Hand auf sein Haar, ergreife ein Büschel und ziehe vorsichtig daran. «Und das sah nicht gut aus. Ich habe dich angestarrt, du sahst aus wie ein riesiges Vogelküken. Wie ein Fischadler hast du ausgesehen.» «Wie ein Fischadler?» sagt Victor und macht ein Geräusch, als ob er lache. «Ja.» «Na, wenigstens nicht wie ein Pelikan.» «Nein. Nur ein alter Mensch kann wie ein Pelikan aussehen», sage ich. «Als ich in der Onkologie lag, gab es überhaupt nur Pelikane», sagt er. Ich muß lächeln. Ich rücke so nah an Victor, daß ich fast über ihm liege. «Ich werde nie wieder in ein Krankenhaus gehen», sagt Victor mit trotziger Zufriedenheit. «Als du zum erstenmal meine Wohnung in Boston gesehen hast, was hast du da gedacht?» 72
«Ich war beeindruckt. Ich dachte, daß du ein Künstler sein mußt, weil du ein visueller Typ zu sein schienst. Die Wände waren nicht kahl wie in anderen Junggesellenwohnungen. Du hattest Stiche, Diplome, afrikanische Masken, antike Kerzenleuchter an den Wänden. Ich mochte deine Küche, daß du die Kupfertöpfe wirklich benutzt hast, es waren schöne, angelaufene Einzelstücke. Ich mochte deine silbergerahmten Familienfotos. Ich mochte den Zuckerlöffel mit dem silbernen Engel als Stiel.» «Und meine Bücher?» «Deine Bücher haben mich nicht interessiert», sage ich. «Deswegen wären wir im richtigen Leben nie ein Paar geworden», sagt Victor. Er wartet. «Das ist das richtige Leben», sage ich. «Nein», sagt Victor nur. Er seufzt. «Erzähl mir, was du in der ersten Woche von mir gedacht hast. War ich interessant für dich? Hast du den Menschen in mir wahrgenommen oder nur, daß ich krank war?» «Den Menschen», sage ich. «Damals war ich auch dicker.» «Nicht viel. Vielleicht gar nicht.» «Du kennst die Bilder. Du weißt, wie ich früher ausgesehen habe.» «Ja», sage ich. Ich habe in seinem Zimmer in Boston gesessen und in den Seiten seines Lebens, das auf meinen Knien lag, geblättert. «Wer von meinen Freunden hätte dir am besten gefallen ?» fragt Victor. Ich überlege einen Moment. Dutzende von Fotos erscheinen vor meinem inneren Auge. Gruppen von Menschen, die in einem Restaurant feiern, Fotos, die auf Parties aufgenommen wurden, beim Angeln in Montauk, im Hafen, beim Einlaufen der Schiffe. Ich habe so viel von seinen Freunden gehört und wie sie sich kennengelernt haben oder wie die Freundschaft 73
auseinanderging oder wie die Freunde in einen anderen Bundesstaat zogen, weil sie dort einen Job bekamen, oder in andere Länder, daß ich das Gefühl habe, daß ich mich sehr vertraulich mit Victors verflossenen Freundinnen, seinen Professoren, seinen Schulfreunden unterhalten könnte, so als würde ich Victor genauso lange kennen wie sie, als hätte weder Victor noch ich eine Geschichte gehabt, ehe wir zusammen waren. «Gregg», sage ich schließlich. «Mir hätte Gregg gefallen.» «Gregg ist ein guter Kerl. Er wird zu meiner Beerdigung kommen», sagt Victor. «Dann kannst du ihn kennenlernen.» Plötzlich bekomme ich eine Ahnung von den Dingen, die danach kommen, die auf die Zeit nach Victors Tod folgen werden. Die vielen lächelnden Gesichter aus den prallvollen Fotoalben werden bei diesem einen Ereignis lebendig werden. Ich erlebe einen plötzlichen Ansturm von - wovon? Nicht von Erinnerungen; denn es ist noch nichts geschehen. Aber ich merke wieder einmal, daß diese Menschen in den Fotoalben wirklich existieren und daß sie eine Zukunft haben. Die Welt dreht sich jeden Tag und schiebt uns ein Stück weiter, auch wenn wir uns auf die Hinterbeine stellen und uns widersetzen. Ich werde eines Tages die Gesichter aus den Alben sehen, und Victor wird es nicht mehr geben. «Sprich nicht so», sage ich. «Ich will Gregg nicht kennenlernen.» «Er sieht sehr gut aus », sagt Victor. «Du könntest es schlimmer treffen.» Ich stelle mir vor, daß die Fotoalben vom Regal fallen und es Gesichter regnet. «Victor», sage ich, «könnten wir die Rattenflinte weggeben?» «Was? Sie verkaufen?» «Ja. Oder verschenken. Oder wegwerfen. Darf die Müllabfuhr Gewehre mitnehmen?» 74
«Wir werden meine Rattenflinte nicht wegwerfen», sagt Victor bestimmt. Ich werfe einen Blick auf seine verletzte Hand. Ich nehme sie in meine Hand und spüre, daß sie ganz heiß ist, entweder ist sie entzündet, oder sie heilt, ich weiß es nicht genau. «Du siehst zu gut aus, um dir Verletzungen beizubringen. Das steht dir nicht», sage ich. «Findest du, daß ich gut aussehe? Ich meine, auf den Fotos. Habe ich dir da gefallen?» sagt Victor. «Ja, ich finde, daß du auch jetzt sehr gut aussiehst.» «Mach dich nicht über mich lustig.» «Ich sage die Wahrheit», sage ich. Als ich mit Gordon über den Long Wharf gegangen bin, habe ich Gordons Körperhaltung bewundert, seinen schönen Gang, seine langen schnellen Schritte, die die Erde unter ihm verschlingen. Aber gleichzeitig habe ich sehnsüchtig an Victor gedacht, dessen Bewegungen nie so entschlossen und schnell sind. Victor geht gerade und mit perfekter Anmut, wie ein Tänzer, wie ein Engel. Als ob er an Fäden vom Himmel hinge, die ihn hochzögen. «Ich finde dich schön», sage ich. Victor atmet kurz ein und hält die Luft an. «Wenn dich jemand fragt, ob du einen Freund hast, sagst du gleich nein oder sagst du: ‹Ja, aber er stirbt?›» «Die Leute fragen mich nicht, ob ich einen Freund habe.» Victor dreht sich auf die Seite und sieht mich an. «Ich frage dich, Hilary», sagt er. «Hast du einen Freund?» «Ja», sage ich. «Dich.» Ich sage es freudig, aber ich habe ein schrecklich schlechtes Gewissen. «Nur mich?» Ich nicke. «Hilary, manchmal wünsche ich, daß du mir eine andere Antwort gibst. Ich habe immer das Gefühl, daß ich dich nur geliehen habe und daß ich dich zurückgeben muß. Aber das 75
werde ich nicht. Ich werde es dir schwermachen. Du wirst das alles mit mir zusammen durchleiden müssen.» Ich nicke, nicht weil ich seiner Meinung bin, sondern um ihm zu zeigen, daß ich begriffen habe. «Du schönes Mädchen», sagt Victor und umarmt mich. «Was habe ich bloß gemacht?»
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Vier Nach
meiner Tätigkeit als Tierarzthelferin und ehe ich auf Victors Annonce im Boston Globe antwortete, lebte ich kurze Zeit bei meiner Mutter. Sie hat ein mit senffarbenem Teppichboden ausgelegtes Zwei-Zimmer-Appartement in der Nähe des Bostoner Flughafens. Es hat Ähnlichkeit mit einer Schuhschachtel und liegt im rechten Flügel eines nicht allzu hohen Appartementhauses.« Darüber befinden sich noch vier, darunter drei identisch geschnittene Einheiten. Ich finde Mutters «Einheit» gräßlich, aber sie hält mir immer vor, daß sie doch das zweite Zimmer hat und ich mein Geld lieber sparen solle, als es für überflüssige Mietzahlungen hinauszuwerfen. Ich zog also bei ihr ein, wobei ich meinen Besuch auf einen Monat befristete. Es war von vornherein als vorübergehende Lösung gedacht. Ich hatte die vage Hoffnung, ich könnte vielleicht auf der Abendschule ein paar Fortgeschrittenenkurse in Chemie machen und mich dann wieder für Tiermedizin bewerben diesmal mit den nötigen Voraussetzungen: Hochschulreife in Chemie und mehrjährige Praxis in einer Tierklinik. Meine Selbstzweifel waren immer noch da. Sie bezogen sich nicht auf etwas Spezielles, weil ich nie auf irgendeinem Gebiet ausgesprochen schwach gewesen war. Ich hatte nur immer noch nicht das tiefsitzende, diffuse Gefühl abzuschütteln vermocht, daß ich der Tiermedizin oder irgendeinem anderen Elitestudium einfach nicht gewachsen sein würde. Ich ging und gehe irgendwie noch immer davon aus, daß solche Dinge für andere da sind, daß ich davon gewissermaßen von Geburt her ausgeschlossen bin, weil ich als Person einfach nicht dafür tauge. 77
Meine Mutter erlegte sich eine ganze Reihe täglicher Pflichten auf, um mir den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Richtige Mahlzeiten kochen, meine Wäsche erledigen, Zettelchen auf meinem Schreibtisch deponieren, um mich an den Ablauf der Bewerbungsfristen für Tiermedizin zu erinnern. Ich bekam die beste Steppdecke und eine neue Leselampe übers Bett, eine nagelneue kirschrote Zahnbürste. Ein ganzes Sortiment Vitaminpillen zur täglichen Einnahme. Bei ihrer Arbeit auf der Postannahmestelle hat meine Mutter dafür Sorge zu tragen, daß sämtliche Briefe und Päckchen korrekt frankiert sind und den postalischen Normen entsprechen. In den vergangenen neun Jahren hat sie sich nur zweimal vertan. Sie steht jeden Morgen um Punkt sieben Uhr auf, und solange sie mich unter ihrer Fuchtel hatte, versäumte sie es nicht, mich darauf hinzuweisen, wie wichtig «ein guter Start in den Tag» sei, auch wenn ich nie kapiert habe, wofür ein solcher Start gut sein sollte. Sie riet mir, stets den Ball im Auge zu behalten - was immer das bedeuten mochte. Ich hatte keine Ahnung, welchen Ball ich im Auge hätte behalten sollen, ja nicht einmal, wie dieser Ball hätte aussehen können. Ich hätte am liebsten gesagt: «Mutter, ich weiß noch nicht mal, welchen Ball», aber ich sagte nichts. Sie schnitt Artikel über Karrierefrauen aus Zeitschriften aus und klebte sie mit Tesafilm an den Badezimmerspiegel. Dabei war jedesmal das unvermeidliche Foto einer schicken Frau mit cleveren Augen und einem New Yorker Gesicht. Es waren immer Frauen, die ich nie kennenlernen würde, die, wenn es sie überhaupt gab, in einer anderen Welt lebten als ich oder ganz und gar unsichtbar waren. Aber meine Mutter beharrte darauf, daß ich eine dieser Musterfrauen aus den Illustrierten werden konnte und mußte. Sie fragte mich, was mein berufliches Ziel sei, wo ich mit meinem Leben hinwolle und was mein nächster «Schritt» sein würde. Sie unterbrach, was immer sie gerade tat, um mit mir 78
über diese «wichtigen Dinge», wie sie es nannte, zu reden. Sie schüttelte mißbilligend den Kopf, wenn sie mich dabei erwischte, wie ich «Jeopardy» im Fernsehen anschaute. Sie stellte mich sogar in der Badewanne, um sich darüber zu ergehen, was die Töchter anderer Mütter machten, wen sie geheiratet hatten, wie prächtig ihre Kinder geraten waren. Sie fragte mich, was ich vorhätte, wie mein Plan aussähe. Sie fragte mich auch, wieso ich mir das teure Parfüm leisten könne, das auf dem Waschbeckenrand stand, obwohl sie genau wußte, daß ich es geklaut hatte. Ich dachte, bis zu Semesterbeginn würde ich es schon schaffen, ihre erzieherischen Bemühungen zu ignorieren. Nach etwa drei Wochen saß ich wieder einmal am Tisch in der winzigen Küche mit den platzsparenden Errungenschaften (der Kaffeemaschine, die an der Unterseite eines Hängeschranks befestigt ist, dem Mini-Kühlschrank und ganzen Schränken voller Dreh-Etageren). Meine Mutter erging sich in Tiraden darüber, wie andere Leute ihr Leben vertaten, wobei sie durchblicken ließ, was sie Besseres mit all der Zeit angefangen hätte, als sie auf Nachbarn, Exfreunde und entfernte Verwandte zu vergeuden. So, als seien ihre vierundsechzig Jahre nichts gewesen. Sie marschierte zwischen Spüle und Kühlschrank auf und ab, und ich wußte, jeden Augenblick konnte sie über mich losziehen, mein Versagen, meine Untüchtigkeit, die mich für immer an die Sorte Wohnungen ketten würde, in der wir von jeher gewohnt hatten, in Flughafennähe, unter dem Donnergetöse der Jets. Ich las gerade die Kleinanzeigen des Boston Globe und hoffte mit dem ganzen Glauben eines Menschen, der um Gesundung betet, auf irgendeine wundersame Wende in meinem «verkorksten» Leben. Und da war Victors Annonce: klein, korrekt und präzise formuliert. Er suchte jemanden, der ihm helfen sollte, eine Krankheit durchzustehen, gegen Unterkunft und ein kleines Entgelt. Und während meine Mutter 79
vor mir stand, einen Mixbecher schüttelte und mich warnte, daß schon bald alles vorbei sein würde, daß mein Leben an mir vorüberziehen würde, ohne daß etwas dabei herauskäme, da befand ich, daß es nur eine Verbesserung sein konnte, mit jemand anderem zusammenzuleben, egal, ob derjenige krank oder gesund war. Seht ihr, wie die Dinge manchmal zustande kommen? Victor war, als unsere Lebenswege sich endlich kreuzten, gerade seit einer Woche wieder zu Hause, nach einem langen und offenbar traumatischen Aufenthalt in der onkologischen Abteilung des Massachusetts General Hospital. Er war dabei, sein Leben so umzuorganisieren, daß er künftig ohne medizinische Betreuung zurechtkommen könnte. Er hatte es satt, gegen die Krankheit anzukämpfen, und war entmutigt. Jedes Jahr brachte er mehr Zeit in Krankenhäusern zu. Er erklärte es seinen Freunden, aber sie insistierten, daß er sich weiterbehandeln lassen solle. Sie versuchten, ihn zu überreden, und steigerten sich so in ihre Argumentation hinein, daß ab und zu Schwestern ins Zimmer gestürzt kamen, weil sie dachten, es sei etwas passiert. Die ganzen Vorhaltungen änderten nichts an Victors Entschluß. Der einzige Erfolg war, daß das selbstgerechte Geschwätz ihn seinen Freunden so entfremdete, daß er schließlich gar keinen Besuch mehr empfangen wollte. Was genau in Victors Kopf vor sich ging, als er da in der Klinik lag und den Abbruch der Behandlung erwog, weiß ich nicht. Er hat mir nur einmal erklärt, er habe schließlich beschlossen, das Kranksein nicht mehr länger mitzuspielen. Alles Weitere seinem natürlichen Lauf zu überlassen, statt, wie er es formulierte, «nur noch als Krankheit zu existieren». Die vielen Krankenhausaufenthalte hatten bei ihm schließlich das Gefühl hervorgerufen, daß sein Körper selbst dem Krankenhaus gehöre, den weißen Zimmern, den durchsichtigen Schläuchen, dem Schwärm von Ärzten, deren umgehängte Stethoskope ihre Statussymbole waren, so wie seines das 80
Krankenblatt war. Das mobilisierte schließlich in ihm den Willen, es ihnen zu zeigen, diesen weißen Ärzten, ihnen ein Schnippchen zu schlagen, indem er ihnen seinen Körper entzog, auch wenn es seine Überlebenschancen verringerte. Der Punkt ist, sagt Victor, daß der Selbsterhaltungstrieb nur so lange funktioniert, wie man noch das Gefühl hat, daß da ein Selbst ist, das man erhalten kann. Nachdem er das Krankenhaus verlassen hatte, beantragte Victor eine neue Telefonnummer, deren Abdruck im Telefonbuch er untersagte. Er gab dem Ehemaligen-Register der Universitätsverwaltung eine falsche Adresse an und entfernte den Namen von seinem Briefkasten. Ich kann nicht wirklich nachvollziehen, was das heißt - mit solcher Entschlossenheit einen einsamen Sprung ins Ungewisse zu tun und sich dabei so clever gegen jede Einmischung abzusichern. Aber Victor war schon lange krank. Ich vergesse immer wieder, wann genau die Leukämie bei ihm festgestellt worden war, aber es war irgendwann während seiner College-Zeit gewesen, als er noch geglaubt hatte, daß man alles auf der Welt in den Griff bekommen könne, wenn man es nur hartnäckig genug versuche. Als er noch sicher gewesen war, daß entartete Blutkörperchen sich genauso bezwingen ließen wie PhysikEinführungskurse oder ein Kater am Sonntagmorgen. Eines Abends, als wir beide, Victor und ich, an einem Feuer am Strand von Hull saßen, puzzelten wir all die Ereignisse zusammen, die uns schließlich zueinander geführt hatten. «Das Tolle an dir ist», sagte Victor, «daß du nicht versuchst, mich zu kontrollieren. Daß du mich mit meiner Krankheit so umgehen läßt, wie ich will. Meine Eltern haben mein ganzes Leben lang versucht, mich zu kontrollieren. Weißt du, es gab nur ein Thema, über das sie sich je gestritten haben, und das war die Frage, mit welcher Methode sie mich am besten unter ihrer Fuchtel halten könnten. Meine Mutter war im Vorteil, weil sie nicht arbeiten mußte. Außerdem hatte sie viel Humor. 81
Ihre Stimme war munter und melodisch und klang immer, als sei sie kurz davor loszulachen. Sie war so gewitzt, daß sie fast alles bekam, was sie wollte, sogar meine Kooperation. Dad mußte dauernd weg, um sich mit irgendwelchen Anwälten oder Buchhaltern zu treffen. Er hatte alle Hände voll zu tun, um zu erhalten, was wir bereits besaßen. Geld, Grundeigentum, Aktien, ein kompliziertes Mischvermögen - ich weiß es auch nicht so genau. Nach Moms Tod fing er an zu trinken. Er stritt sich mit seinen Buchhaltern herum und mit den Finanzbeamten. Als ich krank wurde, fing er an, wie ein Wahnsinniger Geld auszugeben - für völlig abwegige Sachen. Er kaufte zum Beispiel einen Hubschrauber...» Victors Vater begann, sich in Victors Leben einzumischen. Er versuchte, ihn für das Haus zu interessieren, für das Geld, die Parties, zu denen sie eingeladen wurden. Er versuchte, ihn dazu zu bekommen, daß er Umgang mit den richtigen Leuten pflegte, in Boston, Marblehead, Hingham, wo er wohl gelebt haben würde, hätte er nicht beschlossen, sich von dieser Welt abzuschotten. Mr. Geddes ging an Victors Kleiderschrank und maß seine Sachen aus, damit er ihm welche kaufen konnte. Er verfluchte die Tatsache, daß Victors Leidenschaft Bücher waren und er nicht die geeigneten Titel für ihn aussuchen konnte. «Es war ein Elend», sagte Victor. «Er sah mich mit seinen traurigen Augen an, und ich wußte genau, was er dachte. Er suchte mein Äußeres auf irgendwelche Verfallssymptome hin ab. Er starrte mich ganz merkwürdig an, als könne ich mich jeden Moment vor seinen Augen in Luft auflösen. Ich wurde es schließlich leid, und es zog nicht mehr. Ich verabscheute ihn einfach nur. Der Bruch zwischen uns war eigentlich keiner. Es war ein allmählicher, aber nachhaltiger Entfremdungsprozeß. Und mein Vater war mehr als aktiv, was meine Behandlung anging. Er führte sich auf wie ein Feldwebel. Wenn ich
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wirklich damit aufhören wollte, mußte ich ihn aus meinem Leben verbannen.» Wir saßen in Sweatshirts und Jeans im Sand, aßen gegrillte Hähnchen und warfen die Knochen in unser Strandfeuer. Es war eine wunderbare Nacht, mit einer sanften Brise, die die Flammen hoch auflodern ließ. Keiner von uns hatte damit gerechnet, daß sich ein ernsthaftes Gespräch zwischen uns entspinnen würde, aber er erzählte mir von dem alten Sandsteinhaus, in dem er aufgewachsen war, den zwei Stockwerken mit freudlosen Räumen, dem gespenstischen Dachboden, wo die Hinterlassenschaften seiner Vorfahren lagerten, die vor Jahrzehnten dort gewohnt hatten. Ich schaute ins Feuer und sah die kleinen Eichentische vor mir, gerade groß genug für eine Blumenvase oder eine Lampe mit schmeichelndem Schummerlicht. Ich sah Victor als kleines Kind, wie er zwischen den Beinen der original englischen Beistelltische und Eßzimmerstühle herumkrabbelte. Victor, das Gesicht gegen die Buntglasscheiben gepreßt, umgeben von Spitzengardinen in stumpfem Weiß und altehrwürdigen, verschlissenen Teppichen auf knarrenden Böden. Victor vor Vitrinen mit blauem Porzellangeschirr, auf Zehenspitzen stehend, steif und hoch aufgereckt wie ein StaffordshireTerrier, während seine Mutter ihm den Unterschied zwischen Platztellern und Eßtellern erklärte, die Geschichte der Wassergläser, der Mokkatassen, den Weg der kostbaren Gegenstände durch die Generationen. Ich träumte vom melodischen Lachen seiner Mutter, ihrer sommersprossigen Haut, die Victor geerbt hatte, und stellte mir vor, wie sie mit zusammengekniffenen Augen nach Flecken auf den Kristallgläsern suchte, eines davon in die Sonne hielt. Und ich sah Mr. Geddes vor mir, von seinem Sohn verlassen, allein in den sterilen Räumen mit den staubigen Tischchen, wütend auf Victors bösartiges Blut. Ich dachte daran, wie Victor ihn «aus seinem Leben verbannt» hatte, und 83
sah hinaus auf das tintige Meer vor Hull. Ich dachte über den Sand nach, der unter jedem Anprall des Wassers ein bißchen weniger wurde, dachte, wie alles Ewige sich allmählich vollzog und wie in jedem Moment, auch jetzt, hier an unserem fröhlichen Feuer, alles im Vergehen begriffen war. «Ich höre dich so gern reden», sagte ich. Ich lehnte mich an ihn und fühlte sein Sweatshirt in meinem Nacken. Eine Bierflasche, die zu dicht beim Feuer lag, zerbrach in sechs Teile. Er legte den Arm um meinen Bauch. «Ich kann mich nicht so mit Worten ausdrücken wie du», sagte ich. «Manchmal habe ich in Gesprächen das Gefühl, daß ich einfach nicht mithalten kann.» «Da drinnen», sagte er, indem er mit dem Finger an meine Schläfe tippte, «bist du sehr eloquent.» In letzter Zeit habe ich oft ein Gefühl, als ob die Zeit irgendwie zu rasen beginnt und alles über den Haufen fegt, wie ein Tornado - auf einem Kurs, den nur sie kennt. Diese Panik überfällt mich in den seltsamsten Situationen mit einer Wucht und einer Eindringlichkeit, die ich kaum in Worte fassen kann. Ich kann es nur so beschreiben: Wir stehen in einer der unübersichtlicheren Abteilungen des Star-Supermarktes, bei den Spezialitäten, und mir ist, als ob meine Muskeln gleich meine Haut zersprengen. Jede Ader tritt aus der Oberfläche meines Körpers hervor, und mein Herz hat sich in meiner Brust aufgebläht wie ein Luftballon und quetscht mir die Lunge zusammen. Victor merkt nichts von meiner Unruhe. Er ist vollauf damit beschäftigt, Senf auszusuchen. Er unterzieht zwei Gläser einer eingehenden Prüfung, vergleicht routiniert Zutaten und Zubereitung. Victor läßt bei der Auswahl von Nahrungsmitteln immer große Sorgfalt walten - wohl deshalb, weil er viel Zeit in die Essenszubereitung investiert und ein guter Koch ist, auch wenn er ißt wie ein Spatz. 84
Ein junger Bursche in einer Schürze stapelt hinten an der Wand Chilidosen ins Regal. Der Fleischer steht hinter seiner Glastheke und packt Fleisch in adrettes weißes Papier. Ich sehe zu, wie Victor seinen Senf aussucht, und mich überkommt ein heimeliges Wohlgefühl. Ich fühle mich geborgen, so, wie wenn wir zusammen kochen, ich am Spülbecken Karotten schabe und Victor abschmeckt, was er auf dem Herd stehen hat. Diese Momente - wenn Victor gut drauf ist und nicht versucht, mich zu belehren, wieso die Demokratie eine Farce ist oder warum unser Bildungswesen jede Hoffnung auf Fortschritt zunichte macht oder warum die Umwelt zum Teufel gehen wird, egal, was der einzelne tut diese Momente sind es, die das Zusammenleben mit Victor befriedigend machen. Victor erzählt dann von seiner Kindheit, wie sich die verschiedenen Akzente der New Yorker entwickelt oder warum die Eingeborenen auf Hawaii Captain Cook getötet haben, und ich bin glücklich. Einfach glücklich. Für andere mag das langweilig klingen. Vielleicht möchten die meisten Paare nicht zu Hause kochen, sondern lieber zum Essen ausgehen, mit Freunden etwas unternehmen. Manchmal will ich das auch. Aber solche friedlichen Momente mit Victor sind rare, kostbare Ereignisse. Ihm einfach nur zuzusehen, wie er sich im Gang des Supermarkts bewegt, ihn überhaupt nur zu sehen bringt mich langsam wieder zu mir selbst zurück. Ich fühle mich wie ein Fallschirmspringer, der durch Meilen leeren Himmels einer sanften Landung entgegenschwebt. Ich berühre Victor an der Schulter. Er lächelt mich an, um dann seine Aufmerksamkeit wieder dem Bord mit den Senfgläsern zuzuwenden. «Mich fasziniert dieser gelbe Senf in Plastikflaschen», sagt Victor. «Ich habe noch nie so was gekauft. Aber weißt du, es hat schon etwas sehr Amerikanisches. Vielleicht sollte ich mich unter die Liebhaber von gelbem Senf einreihen.» 85
«Wie fühlst du dich?» frage ich Victor. Aber eigentlich frage ich mich selbst. Wie fühlst du dich, Hilary Atkinson? Du hattest gerade einen akuten Angstanfall, möchtest du ein Glas Wasser? Möchtest du dich ein bißchen hinlegen? «Prima. Weißt du, selbst wenn ich nur den einfachen Senf kaufe, sollte ich vielleicht noch eine andere Sorte mitnehmen, weil ich mir nicht vorstellen kann, das gelbe Zeug wirklich zu essen. Ich will es nur im Regal stehen haben, als Zeichen meiner Bereitschaft, mich damit anzufreunden.» Victor hält mir mehrere Gläser Senf zur Begutachtung hin. «Mich verwirrt diese Riesenauswahl. Ich beuge mich deinem Urteil», sagt er, um mich zu erheitern. Ich lächle, fühle mich weniger beklommen, fast schon großherziger Stimmung. Eine Frau mit einem dicken Pferdeschwanz und einem kleinen Kind im Einkaufswagen läßt ein Glas Pfefferminzgelee in ihren Korb fallen. Das Kind trägt Turnschuhe mit Snoopy-Gesichtern drauf. An seinem Handgelenk ist ein blauer Luftballon festgebunden. Ich will gerade antworten, daß wir alle Senfsorten kaufen sollen, alle Sorten Chutney, Pickles und Gewürze, die es gibt, wenn ihm das Freude macht. Aber die Worte bleiben mir im Hals stecken, weil mein Blick auf einen Mann fällt, dessen Haar mich beunruhigend an Gordon erinnert. Er steht vor einer Insel aus Weinflaschen, zwei Meter entfernt von der Stelle, wo der junge Chilidosen-Stapler am Werk ist. Er nimmt eine Flasche hoch, studiert das Etikett, stellt sie dann wieder ins Regal und nimmt eine andere heraus. «Alles in Ordnung, Hilary?» fragt Victor. «Ja», sage ich. Der Mann wendet den Kopf, und ich erkenne Gordons klares Profil, die ziemlich lange, leicht gebogene Nase, die volle Oberlippe. Gordon trägt einen grauen taillierten Mantel mit einem breiten, hochstehenden Kragen, der ihn größer macht und seinem jungen Gesicht etwas Klassisches gibt. «Laß uns zur Fleischabteilung gehen», sage ich. Ich 86
denke, wenn Gordon Wein kauft, wird es ihm vielleicht auch einfallen, sich bei den Spezialitäten umzutun, und in diesem Fall kreuzt er unseren Weg. «Was hältst du von Paté?» fragt Victor. « Pimientos? Peperoncini in Streifen?» «Ich weiß noch nicht mal, was das ist.» Ich packe Victor am Ellbogen und schiebe den Wagen in den rückwärtigen Teil des Geschäfts. «Das Einkaufen macht keinen Spaß, wenn du so drängelst, Hilary. Du weißt doch, ich liebe Lebensmittelgeschäfte. Dieses kleine Vergnügen könntest du mir doch wenigstens gönnen. Und außerdem weißt du ganz genau, was Peperoncini sind.» Victor dreht mich zu sich. Er sieht mich streng an und schüttelt mich am Arm, als riefe er ein Kind zur Ordnung. «Hilary?» sagt er. Ich schaue über Victors Schulter und sehe Gordon, der mich ruhig ansieht, in der einen Hand einen Bordeaux. Einen Augenblick lang scheint er zu fragen: Warum versteckst du dich? Dann schaut er weg. Er nimmt eine zweite Flasche Wein aus dem Regal und geht in die entgegengesetzte Richtung davon. Ich stelle unsere Einkäufe aufs Band. Das Glas Senf liegt ganz unten im Wagen. Das unangenehme Gefühl, das mich am Senfregal überfallen hat, habe ich etliche Gänge hinter mir gelassen - aber ich bin immer noch zittrig, so wie wenn man knapp einem Verkehrsunfall entgangen ist oder wenn man zu schnell auf dem Highway fährt und an einem Polizisten vorbeikommt, der einem aus irgendeinem rätselhaften Grund keinen Strafzettel verpaßt. Ich habe zwar nichts getan, aber ich habe Angst, daß ich erwischt werde. Ich bin keine Verbrecherin, aber ich habe Angst, daß ich kriminalisiert werde.
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Ich konzentriere mich auf die Sachen, lege jeden Artikel einzeln aufs Band und tippe im Geist mit: Joghurt 1 Dollar 69, Shampoo 2 Dollar 15, Tiefkühlerbsen 85 Cent, Tomaten 89 Cent das Pfund. «Laß mich raten, warum du nicht wolltest, daß wir Pimientos und Oliven mitnehmen. Mal überlegen...» sagt Victor, wobei er so tut, als grüble er. Er streicht sich den Schnurrbart und zuckt zusammen, als täte es weh, so scharf nachzudenken. »Ich hab's!» ruft er, als sei ihm die Erleuchtung gekommen. «Weil deine Familie zu arm war. Pimientos und Oliven erinnern dich an deine entbehrungsreiche Kindheit. Das hatten wir schon alles, mein Herz soll bluten, ist es das, was du willst?» «Victor...» Ich verfrachte eine Riesenpackung Eiscreme auf das Band, eine Dose Chili, Alufolie. «Nicht Victflfo! Victor!» korrigiert er meine Aussprache. «Sprich das ‹r›. R, r, wie wenn ein Motor anspringt.» «Laß das», sage ich. Victor steht hinter dem Einkaufswagen und beobachtet mich so aufmerksam, wie er vielleicht ein Schachturnier verfolgen würde. Ich kann schon fast spüren, wie sich in seiner Kehle eine neue kritische Bemerkung formiert. Während ich eine Schachtel mit Käsewaffeln zwischen das Geschirrspülmittel und die Chips-Ahoi-Plätzchen bette, warte ich auf seinen Kommentar. Victor wendet den Kopf zur Seite und mustert mich jetzt von diesem Blickwinkel aus, während ich Schachteln, Dosen und Plastikbehälter aufs Band packe. Ich frage mich, was er an mir aussetzen wird, an meinem Äußeren oder an dem, was ich tue. Wird er sich beschweren, daß meine Haare unordentlich aussehen, daß meine Schnürsenkel offen sind, daß ich kaltherzig und unsensibel bin oder zu emotional? Victor ist ein Genie im Finden von Dingen, an denen er herumkritteln kann. Mir schmeichelt, daß er immerhin zögert. «Du mußt die schweren Sachen zuerst einpacken. Waschpulver, Dosen, Milch und so was», sagt Victor 88
schließlich. «Sonst werden die Eier und die Tomaten total zerquetscht.» Ich kann mir nicht helfen, ich lache los. «Lach nur, Hilary», sagt er. «Immer mußt du etwas Widerwärtiges machen!» «Ach, gib Ruhe, Victor», sage ich. «Es macht dir Spaß, mich zu ärgern, stimmt's ?» «Du hast angefangen», sage ich, obwohl ich mir da nicht so sicher bin. «Ich habe nur einen Vorschlag gewagt. Vorschlagen heißt soviel wie: zu bedenken geben, als Anregung unterbreiten, zur Prüfung anheimstellen. Angesichts dieser Definitionen scheint es mir unzulässig, aus meinen Worten eine persönliche Kriegserklärung herauszulesen», sagt Victor. Es widert mich an, wenn er mit solchen Begriffsdefinitionen kommt und mir irgend etwas hinspuckt, was Autorität suggerieren soll. Manchmal tischt er mir die ganze Etymologie irgendwelcher Wörter auf, die er benutzt, oder er zitiert Plato. In solchen Situationen frage ich mich wirklich, was ich von diesem Mann will. Ich sage mir, daß er einfach gräßlich ist, daß es an einem solchen Ekel nichts zu bewundern gibt und daß ich nur hoffen kann, nie so zu werden wie er. Diese Gedanken ersticken mein Lachen. Ich stehe mit unbewegtem Gesicht vor ihm und warte ab, was als nächstes kommt. Victors Gesicht färbt sich dunkler, und er legt wieder los. «Was ist nur mit dir los?» sagt er. «Kapierst du nicht, daß ich dir nur einen freundschaftlichen Rat geben will?» «Freundschaftlich!» sage ich. Er unterzieht mich einem langen, musternden Blick, wie ein Spielführer den Kapitän der gegnerischen Mannschaft. «Es bringt nichts, sich mit dir auseinanderzusetzen, Hilary. Du mußt immer das letzte Wort haben. Es ist offenbar ein Naturgesetz, daß du immer recht hast. Warum nehmen wir
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denn Karotten mit? Du weißt doch, daß ich Karotten verabscheue.» «Weil ich sie mag. Ich finde Karotten einfach toll.» «Dann rate ich dir, die ganzen verdammten Karotten aufzuessen», sagt Victor. Das ist einfach stark. Ich lache, ein Lachen, das tief aus dem Bauch kommt, und wende mich ab, die Hand vors Gesicht gepreßt. Es ist einfach zuviel. Ich pruste so laut los, daß die anderen Kunden uns interessiert betrachten. Ich schütte mich regelrecht aus vor Lachen. Victor packt mich am Arm und schüttelt mich. Ich bin auf der Stelle still und gedemütigt. Hausfrauen mit Babies bleiben an unserer Kasse stehen und starren mich mißbilligend an. Und schon ist das Problem wieder da: Ich möchte Victor auf den Fuß stampfen, ihm etwas an den Kopf werfen oder ihn in die Magengrube boxen. Ich möchte ihm ernstlich weh tun. Ich möchte ihm am liebsten eine in die Fresse schlagen. Aber sobald ich so etwas denke, noch in der gleichen Sekunde, überkommen mich Schuldgefühle, ist mir, als ob ich etwas Unrechtes und Verabscheuenswertes tue, weil Victor doch so krank ist und in letzter Zeit noch mehr abgenommen hat. Außerdem ist mir aufgefallen, daß das Weiße in seinen Augen nicht richtig weiß ist und die Haut unter seinen Augen lilarot verfärbt. Ich möchte Victor so gern vor allem beschützen, auch vor seinem eigenen kranken Körper. Ich möchte mich an ihn pressen und einen Teil meiner Gesundheit auf ihn übertragen. Die Ungerechtigkeit ist so offensichtlich: Ich bin ein Ausbund an Gesundheit - rote Backen, klare Haut, nicht mal meine Lippen sind aufgesprungen. Ich bin keine Schönheit, aber ich bin so vollkommen und so unvollkommen wie am Tag meiner Geburt. Wenn ich Victor etwas Böses antun will, ist das irgendwie ganz besonders schlimm. Und Gordon, der jetzt an einer anderen Kasse angelangt ist, packt seinen Einkaufskorb aus und sieht mich an. Sein 90
Gesichtsausdruck ist nicht eindeutig interpretierbar. Ich glaube nicht, daß er gesehen hat, wie Victor mich schüttelte, aber ich bin mir nicht sicher. Er sieht so gut aus, so anziehend, und natürlich fühle ich mich von ihm angezogen, und zugleich schäme ich mich entsetzlich. Ich küsse Victor. Ich presse die Lippen auf seinen zornigen Mund, und er weicht verblüfft einen Schritt zurück, läßt meine Arme los, und sein Mund wird langsam wieder weich und sanft. Jetzt ist die Verlegenheit auf seiner Seite. Er macht sich von mir los und marschiert rasch zum Ausgang. Ich stehe allein da, mit zwei Taschen voller Einkäufe. Es tut mir jetzt leid, daß ich so mit ihm aneinandergeraten bin. Ich hoffe, es geht wieder vorbei und er verzeiht mir mein heimliches Verbrechen, den Wunsch, ihm etwas antun zu wollen. Ich bin mir sicher, daß er es weiß und daß ich ihm weh getan habe. Ich bin mir sicher, daß er Gordons Gegenwart ahnt, wie Vögel den Sturm ahnen. Ich schaue Gordon nicht einmal an, obwohl ich weiß, daß er mich beobachtet. Ich will einfach nur verschwinden, ich will, daß alles verschwindet. Ich wünschte, die Sache zwischen Victor und mir hätte nie begonnen. Oder sie würde nie enden. Und einen Augenblick lang mache ich mich des größten aller gedanklichen Verbrechen schuldig: Ich wünsche mir, wir würden beide sterben, Victor und ich, weil es der einzige Ausweg scheint und wir es beide verdient haben.
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Fünf Auf dem Weg zu Estelle fahren wir auf der Küstenstraße über mehrere Brücken, kommen an einem historischen Gasthof vorbei, der jetzt ein Restaurant ist, an einem Flippercenter, das im Winter geschlossen hat, und an einem Laden, der alles mögliche Zubehör für Dartspiele verkauft. Dann müssen wir uns hinter einem Spirituosenladen durchschlängeln und die Straße 228 nach Hingham nehmen. Estelle wohnt hoch oben auf einem steil ansteigenden Berg, ich muß einen niedrigen Gang einlegen, und das Auto hoppelt. Das Auto ist nicht in Ordnung. Ich habe es für vierhundert Dollar von einem Jungen gekauft, der behauptete, sein Großvater hätte es gefahren. Es ist ein weißes Oldsmobile mit einem Mosaik von Rostflecken. Es sieht aus, als hätte es unter Beschuß gestanden. Auf den linken Kotflügel ist mit Filzstift eine riesige Ratte gemalt, die sich nicht entfernen läßt. Hinten kleben immer noch Aufkleber, die ich nicht abbekommen habe. Der Junge, dem das Auto gehörte, hat sie zerschnitten und zu absurden Botschaften zusammengesetzt. Wenn ich mit dem Auto unterwegs bin, lesen die Autofahrer hinter mir: «Ich bremse auch für Waffen», «Hupen Sie im Fall Ihres Todes», «Marines fordern Sie auf, das Küssen zu unterlassen», «Motorräder sind gute Yachten», «Stoppt Jesus». Ich habe geschabt und geschabt, aber das Fahren mit diesem Auto ist immer noch peinlich. Victor sieht gut aus. Er trägt ein gestreiftes Hemd, eine Paisleykrawatte, die er mehrmals im Rückspiegel richtet, ehe er sie unbehelligt an seiner Brust liegen läßt. Er ist nervös, spielt mit seinen Manschettenknöpfen und biegt an den Drahtbügeln seiner Brille, damit sie ihm nicht von der Nase rutscht. Ständig kommt er mit dem Knie an die Schaltung. Sein blauer Blazer, 92
der in die Reinigung muß, liegt zusammengefaltet in seinem Schoß, auf seinem Mantel. Ich vermute, daß er Fieber hat, sonst würde er wenigstens den Blazer überziehen, vielleicht sogar den Mantel, aber ich will nichts sagen. Ich bin schon froh, daß wir unsere Einkäufe nach Hause gebracht und, ohne uns zu streiten, eingeräumt haben. Er hat nicht mit den Türen geknallt. Ich habe keine Kaffeebohnen gemahlen, um ihm nicht zuhören zu müssen. Wir haben aber im Grunde auch nicht geredet. Er hat meistens auf dem Bett gelegen. Ich habe das Glas mit einer Muschelsammlung vom Küchenregal genommen und die Muscheln auf dem Tisch ausgebreitet. Ich weiß nichts über Muscheln, aber ich sammle sie am Strand und hebe sie auf. Manchmal betrachte ich die Schalen und frage mich, wie die Lebewesen wohl aussehen, von denen sie stammen. Victor ist unterwegs sehr still geworden. Er läßt seine Kleidung in Ruh. Er steckt seine Brille in seine Hemdtasche und faltet die Hände im Schoß. Ich störe ihn nicht, mache ihn nicht auf die Schar Enten aufmerksam, die auf dem Weir River landen und dabei mit ihren Flügeln Wasser in die Luft aufwirbeln. Ich frage ihn nicht, ob er glaubt, daß das Geräusch, das der Motor macht, bedeutet, daß ich das Auto in die Werkstatt bringen muß. Ich weiche Schlaglöchern und vereisten Stellen aus, immer wenn ich schalten muß, berühren meine Hände Victors Knie. Er sitzt schlaff auf seinem Platz, sein Kopf rollt an der Scheibe hin und her, er hat die Augen geschlossen, und seine in sich zusammengesunkene Haltung macht mir Angst. Ich könnte fragen, wie es ihm geht, aber ich kenne die Antwort. Wir fahren schweigend, aber es kommt mir nicht so vor, denn mir gehen tausend Fragen durch den Kopf und tausend Antworten, die Victor geben würde. Manchmal habe ich das Gefühl, daß ich Victor so gut kenne, daß ich mir eine Unterhaltung zwischen uns genauso ausdenken könnte, wie sie wirklich 93
ablaufen würde. Dann gibt es wieder Momente, in denen mir bewußt wird, daß ich ihn überhaupt nicht kenne, daß wir uns wirklich sehr fremd sind und daß es nur einer dieser Zufälle des Lebens ist, daß wir zusammen sind, so erstaunlich wie die Tatsache, daß man sich an Eis verbrennen oder daß es regnen kann, auch wenn die Sonne scheint, oder daß Kinder vor ihren Eltern sterben. «Hier», sagt Victor, «hier links rein.» Ich fahre durch das riesige schmiedeeiserne Tor zu Estelles Haus, fahre langsam an den Platanen vorbei, die die kiesbestreute Einfahrt säumen. Das Haus ist ein riesiges, efeubewachsenes Tudorhaus mit einem grauen Schieferdach und einer steinernen Treppe, die zu einer großen Flügeltür aus Holz führt. Ich kenne das Haus ein wenig, weil ich mich mit seiner Besitzerin ein paarmal darüber unterhalten habe. Ganze Teile des Hauses wurden aus Kent, England, herübergebracht. Die großen Balken in der Küche und in der Eingangshalle stammen aus einem Landhaus aus dem sechzehnten Jahrhundert, und die Dachschindeln wurden von mehreren englischen Dachdeckern gelegt, die einen Monat lang in Wohnwagen hausten, während sie das Tudorhaus mit viereckigen Schieferplatten krönten. Der Stil des Hauses ist die Verkörperung einer «Geschichte», die Estelle erfunden hat und in regelmäßigen Abständen revidiert. Die Idee ist, daß die Teile des Hauses, die aus Stein sind, der Hof und der imitierte English Pub, die «Original»-Überreste eines englischen Landhauses seien, das einer aristokratischen Familie um 1550 gehörte, und der Salon mit dem William-and-Mary-Nußbaumschreibtisch mit doppeltem Aufsatz und den Bücherregalen voller klassischer Literatur an der Südseite des Hauses angebaut wurde, als die (fiktive) Familie irgendwann im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert größer wurde. Die Möbel suggerieren recht und schlecht neunzehntes Jahrhundert, obwohl der Kamin und die 94
Türrahmen selbstverständlich mit schmiedeeisernen Verzierungen versehen wurden, die an den «Ursprung» des Hauses erinnern sollen. Bis auf die Balken und das Dach stammt alles ausschließlich aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Dieses Haus ist vor allem Ausdruck von Estelles Persönlichkeit. Im Garten liegen ihre drei Ehemänner begraben, drei abgeschlossene Phasen ihres Lebens. Und irgendwie ist das Haus auch witzig. Ich bewundere die kiesbestreute Einfahrt. Ich mag es, wie das Auto darüberrumpelt. Ich mag das dunkle satte Grün der Tannenbäume und Hecken, die Efeudecke, die die riesige Front des Tudorhauses bedeckt, sie auflockert und anheimelnd macht. Ich mag das Laubdach der Platanen, unter dem wir zu einem Nebenhaus fahren, das früher vielleicht eine Remise war, wo ich anhalte und lausche, weil ich wissen möchte, ob die Atmosphäre, die Estelles Haus umgibt, einen besonderen Klang, eine besondere Aura hat. Seine Weitläufigkeit überwältigt mich, seine Ungewöhnlichkeit, die immer noch spürbar ist, obwohl es in unsere vertraute amerikanische Erde verpflanzt wurde. Mich fasziniert seine PseudoAltehrwürdigkeit, der Mythos seiner Herrin und Erbauerin. Ich drehe mich zu Victor um, der mich anstarrt. Er hat das Kinn in die Hand gestützt, als ob er über irgend etwas nachdächte. Er ist wieder munter und sitzt gerade und aufrecht da in seinen untadeligen Sachen. Er reibt sich mit der Hand langsam über die Wangenknochen. «Darf ich dir etwas sagen?» sagt Victor. Er atmet tief aus. «Darf ich dir sagen, daß ich, wenn ich nicht sterben müßte, mein Leben darauf verwenden würde, dich richtig lieben zu lernen?» Estelle, wird uns gesagt, erwartet uns auf der hinteren Veranda. Man nimmt uns unsere Mäntel ab, und wir werden durch die riesige Eingangshalle geführt, über uns die imposanten uralten 95
Balken und die kinoleinwandgroßen Wände, die in Rosa und Pfirsichgelb von Hand ausgemalt worden sind. Estelle sitzt wie festgefroren auf einem Stuhl in ihrer verglasten Veranda, als warte sie darauf, von jemandem fotografiert zu werden. Sie hat ihr Haar zitronengelb umgefärbt und eine erwartungsfrohe Miene aufgesetzt. Auf ihrem Schoß liegen unfertige Papierblumen. Auf dem Tisch vor ihr steht eine Schachtel mit leuchtend rosa und rotem Papier und ein paar fertigen Blumen. Zwei riesige Hunde einer mir völlig unbekannten Rasse richten sich nervös auf, als Victor und ich hereinkommen. Sie haben hängende Backen und spitze Ohren, die Mäuler sind wie ein großes umgedrehtes V. Estelle sagt: «Keine Aufregung, meine Süßen, das sind Freunde.» Die Hunde sind unruhig: Einer zieht die Pfote an, um aufzustehen, und bekommt einen Schlag auf die Nase. «Sitz!» sagt Estelle scharf. «Annabel, meine Liebe, würdest du bitte die beiden Wildfänge entfernen?» Annabel sieht in ihrer grauweißen Uniform sehr züchtig aus. Sie greift mit jeder Hand in ein Halsband. Die Krallen der Hunde schleifen über das Parkett, und die Metallanhänger an ihren nietenbesetzten Lederhalsbändern klimpern bei jedem Schaukeln ihres Hinterteils. Einer dreht seinen massigen breiten Kopf und sieht mich gelangweilt an, ehe Annabel beide durch die Tür zieht. «Ihr habt euch aber beide schöngemacht!» sagt Estelle und sieht Victor und mich prüfend an. Ihr Lidstrich, der im Ton zu der merkwürdigen Zitronenfarbe ihres Haares paßt, läuft in einer gezackten Linie am unteren Lid entlang, und ihr Gesicht ist ausgesprochen nachlässig gepudert. Trotzdem sieht sie bezaubernd aus. Ihr merkwürdig angemaltes Gesicht unterstreicht ihren Charme, sie sieht aus, als sei sie ein Geschenk, das ausgepackt werden will, oder ein Körbchen mit Ostereiern. «Einen schöneren Tag hätten wir uns für unseren Tee nicht aussuchen können, nicht wahr ? Die Sonne scheint
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sogar! Ich habe überlegt, ob wir den Tee auf der Veranda trinken sollen, um die Sonne zu genießen, solange sie scheint.» «Das wäre reizend», sagt Victor. Überrascht lege ich den Kopf zur Seite. Victor sagt nie Worte wie «reizend». Das Wort paßt zu Estelle. Bei ihm hört sich «reizend» lächerlich an. Victors Worte sind «gräßlich» oder «erbärmlich» oder «bissig» oder «geistlos», aber niemals «reizend». Warum meint er, jetzt wie sie sprechen zu müssen? Ich habe mich bemüht, Victors Ausdrucksweise nachzuahmen. Ich würde mich sehr gerne so ausdrücken wie er, nicht nur meinen Bostoner Dialekt loswerden, sondern so souverän mit Worten umgehen können wie Victor. Nicht, weil er perfekt reden kann, sondern weil die Worte, mit denen er die Welt beschreibt, genau seine komplizierte Persönlichkeit spiegeln. Meine Art, mich zu unterhalten, ist, verglichen damit, irreführend simpel, in meinem Kopf stapeln sich die unbenutzten Wörter. «Wie geht es dir, Hilary, meine Liebe? Setz dich», sagt Estelle. Ich nehme an einem niedrigen Tisch Platz, auf dem ein silbernes Tee-Set auf einem Tischtuch steht. Auf einem langen Tablett liegen winzige dreieckige belegte Brote, bunt garniert mit Radieschen und Petersilie und halbmondförmigen Apfelsinenscheiben. Sie wirken so vornehm auf dem silbernen Tablett, daß ich ganz nervös werde. Ich hoffe, daß meine Haare ordentlich aussehen. Ich habe sie zu einem französischen Zopf geflochten. Ich habe meinen Rock gebügelt, bis er von selber dampfte. «Unser Victor sieht schlecht aus. Hast du ihn auch richtig gepflegt?» «Bitte?» sage ich und lege eine Hand an ein Ohr. «Das habe ich nicht verstanden.» Meine Aufmerksamkeit gilt dem Rasen, der einen riesigen Blumengarten umschließt und mit Statuen aus Stein übersät ist: eine Vogeltränke, ein kleines Kaninchen, ein Engel. Ein 97
efeubewachsenes Gartenhäuschen steht neben einem zugefrorenen Teich und einem quadratischen Irrgarten, der so aussieht wie die Irrgärten der Königinnen und Könige Englands, mit hohen Hecken, die die Wege abteilen. «Du hast Victor vernachlässigt. Er sieht schrecklich aus, nicht wahr, Victor ? Victor, steh nicht herum wie eine verlorene Seele. Setz dich.» Estelle ist sehr fordernd. Sie gibt ihre Anweisungen beiläufig und selbstbewußt wie eine Kaiserin. «Du fühlst dich nicht wohl, nicht wahr? Möchtest du dich hinlegen?» «Nein, es geht mir gut. Mir ist heiß. Das ist alles», sagt Victor. Auf seiner Oberlippe stehen Schweißperlen. «Wenn du erlaubst, würde ich mir gern die Jacke ausziehen.» «Alles in Ordnung, Victor?» sage ich. «Ich gehe nur ins Bad. Ich bin gleich wieder da», sagt Victor und geht schnell ins Haus. «Mein Gott, es geht ihm aber gar nicht gut», sagt Estelle. Ihr Gesicht wird weich vor Mitleid, und einen Moment lang kann ich mir Estelle als Mutter oder als Ehefrau vorstellen. Das dauert nur einen Augenblick, dann ist der Ausdruck wieder verschwunden. Sie verwandelt sich wieder in eine Respektsperson für mich, ihr Platz ist wieder unter den berühmten Persönlichkeiten und Orten einer Welt, die ich nur aus Bildbänden und Lexika kenne. «Vor kurzem ging es ihm noch sehr gut. Wahrscheinlich ist er müde. Wir hatten Stress im Supermarkt.» «Tee?» fragt Estelle und füllt eine Porzellantasse, die in denselben Farben leuchtet wie die Blumen, die sie fabriziert. Sie gießt schwungvoll ein, die Tülle hoch über der Tasse. Dann räuspert sie sich, sieht mich mit weisen Augen an und sagt: «Das Problem ist, daß Victor sich von einer so jungen und gesunden Person wie dir nichts vorschreiben lassen will. Er wird einkaufen gehen oder Dinge erledigen wollen, als ob er genauso gesund und kräftig wäre wie du, was er natürlich nicht 98
ist. Du kannst ihn nicht daran hindern, meine Liebe, er fühlt sich in seiner Männlichkeit bedroht. Jedenfalls ist die Verantwortung für dich zu groß, du kannst nicht auf ihn aufpassen.» Ich bewundere Estelles langen Rock, ein wollenes Plaid, das aus Schottland oder England stammen muß. Ihre Perlenbluse ist auch sehr schön und läßt ihr gelbes Haar fast erträglich erscheinen, läßt es beinahe natürlich wirken, so wie Augen manchmal violettblau oder gelb sein können. «Sehnst du dich nicht nach anderen Dingen?» fragt Estelle. Sie nimmt vom Tablett ein rundes Sandwich ohne Rinde, das so groß ist wie ein Silberdollar, und reicht es mir auf einem Teller. «Gilt das nicht für jeden?» frage ich. Ich schlage ein Bein über das andere. Ich versuche, normal auszusehen. Estelle sagt: « Du bist eine recht bemerkenswerte junge Frau, weißt du das ?» «Gut, der Tee», sage ich. Estelle sieht an mir vorbei und lächelt wie ein Honigkuchenpferd. «Ah, der andere Herr ist eingetroffen!» Ich drehe mich um und sehe Gordon, er hat ein Tweedjackett an und eine Krawatte umgebunden, und unter dem Arm hat er eine Flasche Bordeaux und irgendeine andere Spirituose, etwas Dunkles und Kostbares. «Ich weiß, daß Teezeit ist, aber ich habe etwas Port mitgebracht», sagt er. «Und etwas Wein, wenn wir genug vom Port haben.» Er küßt Estelle auf die Wange. «Du weißt, was ich gern habe, nicht wahr, mein Lieber?» sagt Estelle und legt ihre Hand auf Gordons Ärmel. «Hilary, Liebes, ich möchte dir meinen Neffen Gordon vorstellen.» Ich bin... erstaunt. Gordon sagt: «Ich habe dich schon mal gesehen. Wo war das? Im Supermarkt?» «Ja, stimmt», stottere ich. 99
So muß sich ein Torhüter fühlen, der plötzlich aus heiterem Himmel den Ball im Netz hat. «Ich wußte nicht, daß du einen Neffen hast, Estelle», sage ich. «Oh, Gordon ist kein echter Neffe. Er gehört nur zu den Alteingesessenen hier. Ich kenne Gordon, seit er als kleiner Junge am Strand gespielt hat. Er könnte mein Neffe sein oder, mehr noch, mein Sohn.» Ich drehe mich um und sehe Victor, der durch die Halle kommt. Estelle setzt ein Lächeln auf und folgt ihm mit den Augen, bis er bei uns auf der Veranda angelangt ist. Ich überlege fieberhaft, ob sie etwas von mir und Gordon wissen kann. Kann sie etwas wissen? Wir haben uns in den kurzen zwei Wochen, die er hier ist, nur sehr, sehr selten getroffen. Wo kann sie uns zusammen gesehen haben? Am Strand? Hat sie in einem Restaurant am Strand gesessen und uns an dem Nachmittag beobachtet, als wir mit Tosh gerannt sind? Hat sie ihn in meinem Auto an einem Stopschild gesehen? Oder durch das Fenster in Cappys Pub? Oder beim Besteigen der Fähre nach Boston? Hat ihr jemand von uns erzählt? Hat Cappy ihr etwas erzählt? Und wieso weiß Cappy etwas? Gibt es überhaupt irgend etwas zu erzählen? Victor tritt ein. Gordon steht auf, und sie schütteln sich die Hände. «Kennst du Gordon?» fragt Estelle. «Hilary kennt ihn offensichtlich. » «Nein, ich kenne ihn nicht», sagt Victor und lächelt kurz. « Seit wann kennst du Gordon ?» fragt er mich. «Wir sind uns einmal begegnet. Im Supermarkt», sage ich. «Ah», sagt Victor. «Beim Einkaufen.» Wir lassen den Tee stehen und trinken Port. Wir machen ziemlich lahm Konversation. Victor fragt Estelle, wo sie den Messingleuchter aufgetrieben hat, der in der Eingangshalle 100
hängt, und sie sagt, daß es sich um eine Imitation eines Leuchters handelt, der in der Berkeley-Kapelle der Kathedrale von Bristol hängt. Außerdem hat Victor, wie er sagt, bemerkt, daß das Mädchen eine Sammlung gebrannter Tonschalen und Becher abstaubt. Ob das Harvest-Töpferei sei? Ja, antwortet Estelle und zieht die Augenbrauen hoch, weil Victor das erkannt hat. Er datiert noch ein paar andere Antiquitäten, die sie gesammelt hat, zeigt seine Bewunderung für diese Stücke, und sie scheint über diese Artigkeiten milde erfreut zu lächeln. «Gordon, dieser Port ist sehr gut», sagt Victor, «aber ich hasse Port.» «Nimm Wein, Victor», sagt Estelle. «Es gibt auch Wein.» Victor geht zu Annabel nach draußen und bestellt bei ihr einen Scotch ohne alles. Annabel bringt ihn auf einem Tablett. Victor sagt: «Annabel, seit wann kennst du Gordon?» «Ich weiß nicht. Seit einem Jahr?» sagt Annabel. Neben ihrem Lächeln verblaßt jedes andere Lächeln im ganzen Land. «Ich zahle dir mehr Lohn als Estelle, wenn du dich zu uns setzt und mit uns trinkst.» «Annabel ist keine Sklavin, Victor», sagt Estelle. Sie sieht indigniert aus. «Ich trinke nicht», sagt Annabel entschuldigend. Jetzt bin ich diejenige, die sauer ist. Victor und Gordon werden Freunde - oder Feinde, das weiß ich nicht so genau. Victor lobt Gordons Tweedjackett. Fragt ihn nach seinem Schneider, sagt, daß er ein Fan von Allen Turf ist - was gelogen ist. «Ich warte schon lange auf den richtigen Zeitpunkt, um mir einen Rechner zu kaufen», sagt Victor, «aber sie bringen immer wieder irgend etwas Neues auf den Markt.» «Das stimmt», sagt Gordon und nickt zustimmend. Locker balanciert er den Drink auf seinen Knien. Victor nebelt sein Gesicht mit Zigarettenrauch ein.
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«Und ich glaube, ich hätte gern ein System mit einer größeren Kapazität als bei einem üblichen IBM PC.» «Du kannst einen mit einer Festplatte nehmen, 386-Modular Bios System, einen VAX...» schlägt Gordon vor und beugt sich zu ihm. «Ich glaube, ich brauche keinen eigenen Rechner, ich brauche eigentlich mein eigenes Universum, in das ich meine eigenen Daten, mein eigenes Programm einspeisen und bearbeiten kann...» «Die Datenverarbeitung ist für die moderne Technologie kein Problem mehr. Auch nicht die Programme.» «Natürlich nicht», sagt Victor. Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, daß das Teetablett erzittert. «Da hast du recht, Gordon, aber es ist alles zu langsam. Häufige Kontakte mit nicht seßhaften Galaxien zum Beispiel können zu unerwarteten Verzögerungen führen.» «Du machst Witze», sagt Gordon. «Deine Art gefällt mir», sagt Victor, «du gefällst mir so gut, daß ich noch einen Schluck von deinem lausigen Port nehme.» «Es ist mir eine Ehre.» «Dir wird schlecht werden», sagt Estelle und gießt sein Glas voll. Der Ausblick von der Veranda ist erstaunlich. Wir starren alle auf Estelles makellosen Rasen, auf dem noch ein paar Skulpturen stehen, die ich nicht gleich gesehen habe. Ein künstliches Reh, das an einer Seite des Teichs äst, bei einem künstlichen Wasserfall, der jetzt gefroren ist. Außerdem eine Gruppe von Tieren, die Estelle als «Erdtiere» bezeichnet. Ein Backenhörnchen, ein Stachelschwein, ein Igel, ein Eichhörnchen. «Warum kein Ameisenbär?» frage ich. «Oder ein Meerschweinchen», sagt Gordon. Victor sieht Gordon an. «Ein Meerschweinchen?» fragt er. 102
«Ich liebe vor allem den Garten», sagt Estelle, nachdem sie uns das Haus gezeigt hat. Wir kehren zu unseren Plätzen auf der Veranda zurück, und Estelle gießt mir eine frische Tasse Tee ein. Ich bin nervös, deshalb esse ich. Ich esse das ganze Tablett mit den aufwendig belegten Broten leer. «Der Garten ist das einzige, was ich an dem Haus wirklich liebe, glaube ich», sagt Estelle. «Zwei meiner Ehemänner sind unter den Azaleensträuchern begraben. Und einer liegt an der Stelle zwischen den beiden Föhren. Ihre Urnen natürlich.» «Die Wahl des Ortes ist aufschlußreich», sagt Victor. «Ich wäre beispielsweise beleidigt, wenn du mich unter dem Vogelfutterhäuschen beerdigen würdest.» Es dauert eine Minute, bis Estelle schaltet. Sie schüttelt den Kopf und schnalzt mit der Zunge. «Es ist überraschend, hier einen englischen Garten zu sehen, nicht wahr? Mich haben diese Gärten immer schon fasziniert. Vielleicht habe ich in einem früheren Leben mal einen gehabt», sagt Estelle. Sie knifft wieder ihre Papierblumen. Sie klappt einen Zipfel eines Fuchsienblütenblatts um und zieht den Kniff mit dem Daumennagel nach. «Der Garten ist sehr schön», sage ich. «Wirklich», sagt Victor. Annabel kommt mit einem neuen Glas auf einem Tablett, und Victor sagt ihr, daß sie gleich die ganze verdammte Flasche bringen kann. «Dieses Haus ist voller Überraschungen », sagt Gordon. «Ich hätte gern so ein Haus.» Victor sieht aus dem Fenster, dann sieht er Estelle scharf an. «Ich beantrage, daß jemand die ‹Erdtiere› zum Leben erweckt. Es ist ein Verbrechen, daß du sie in Stein verwandelt hast.» «Hier hast du eine Blume», sagt Estelle und reicht ihm eine Rose. «In Schlössern gibt es Irrgärten, oder?» sagt Gordon. Victor sagt: «Ich dachte, da gibt es nur Steuereintreiber.» 103
«Du machst dich über den schönsten Teil meines Besitzes lustig», schmollt Estelle. «Oh, Estelle», sagt Victor im Brustton der Überzeugung, «es ist ein ganz reizender Irrgarten. Ich bin froh, daß ich endlich mal einen zu Gesicht bekomme. Sehr beeindruckend. Und sehr altmodisch.» «Er ist vor fünfundzwanzig Jahren angelegt worden. Hat man schon mal von einem Tudorgarten aus dem ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert gehört ? Das ist wie ein Whirlpool in Cäsars Schlafzimmer. Nämlich ein Ding der Unmöglichkeit. Aber das ist das Wunderbare an unserer Gegenwart - wir können sie verändern. Den Irrgarten gibt es!» «Ich liebe deinen Glenfiddich», sagt Victor. «Gordon hat sich in dem Irrgarten verlaufen, stimmt's, Gordon?» sagt Estelle und tätschelt Gordons Hand. «Vor Jahren, das ist Jahre her», sagt Gordon. Victor starrt in den Garten. Er braucht nichts zu sagen. Ich weiß gleich, daß er versucht, den Schwierigkeitsgrad von Estelles Irrgarten abzuschätzen. «Das sieht nicht so kompliziert aus», sagt er. «Aber nur von hier oben, mein Lieber», sagt Estelle. «Wenn du die Durchgänge sehen kannst, ist es natürlich einfach. Von oben betrachtet muß es einfach aussehen. Aber wenn du erst einmal unten bist, zwischen den grünen Wänden, dann wirst du dir ziemlich verloren vorkommen, mein Lieber, das kann ich dir versichern.» «Das glaube ich nicht», sagt Victor und läßt die Flüssigkeit in seinem Glas kreisen. «Na, dann probier es», sagt Estelle. «Versuch dein Glück. Es sieht so aus, als ob du eine Herausforderung brauchst.» «Ich glaube, ja», sagt Victor. Er trinkt sein Glas aus und stellt es auf den Tisch. Er sieht sich den Irrgarten auf dem Rasen lange an, und ich frage mich, ob er versucht, sich die
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Durchgänge einzuprägen. Dann stopft er sich das Hemd tiefer in die Hose und sagt: «Kommst du mit, Gordon?» «Ich bleibe hier und leiste den beiden Gesellschaft», sagt er, womit er mich und Estelle meint. Er legt seinen Arm hinten auf meine Stuhllehne. «Gib es zu!» sagt Victor lachend. «Du hast dich mit deinem schrecklichen Port vergiftet.» Er boxt Gordon in den Oberarm, und Gordon macht eine komische Geste der Abwehr. «Vorsicht», sagt Gordon, nachdem er fast auf Victors bandagierte Hand geschlagen hätte. Victor öffnet die Verandatür, die nach draußen führt, und ein kalter Wind fegt herein. Als er die Tür hinter sich schließt, ruft er zum Abschied: «Auf in den Kampf!» «Hilary, möchtest du noch ein Brot?» fragt Estelle. Ich sehe auf das Tablett, das ich geleert habe, und schüttle den Kopf. «Dann noch ein bißchen Tee?» sagt Estelle. Sie sammelt die verstreuten Papierblumenköpfe ein und legt sie in eine Reihe. Dann macht sie einen ordentlichen Stapel aus den grünen Strohstengeln, ehe sie nach der Teekanne greift. Ich sehe Victor, der mit langen, gleichmäßigen Schritten Estelles Rasen hinunterläuft. Der Wind fängt sich hinten in seinem Hemd. Als er den Irrgarten betritt, schieße ich vom Stuhl hoch und stoße an die Teetasse, die Estelle mir gerade reichen will. «Dein Rock!» sagt Estelle. Auf meinem Rock ist vorn ein großer, langer nasser Fleck. Gordon sieht mich mit einem Ausdruck an, den ich nicht einordnen kann. Es könnte Mitleid sein, oder Begehren. «Victor hat keinen Mantel an», sage ich. «Und wenn schon», sagt Estelle. «Aber sieh mal, wie gekonnt er sich durch die Büsche schlägt! Victor ist sehr intelligent. Ein sehr intelligenter junger Mann. Ich würde ihn so gern behalten, einfach nur, um zu sehen, wie er mit der Welt fertig wird.» 105
«Wo sind die Mäntel?» frage ich. «Annabel hat sie weggehängt, meine Liebe, nun setz dich wieder hin, und ich werde sie bringen lassen, wenn du willst.» Estelle klingelt mit einer Glocke. «Annabel, meine Liebe, würdest du Hilarys und Victors Mäntel bringen ?» sagt sie. «Meinen auch», sagt Gordon. «Du bist sehr ritterlich», sagt Estelle. Gordon sieht weg. Estelle sagt: « Es ist wirklich ziemlich sinnlos, daß ihr versucht, ihn zu finden. Außerdem ist es seine Schuld, daß er halbnackt rausgegangen ist.» Ich möchte keine große Sache draus machen. Ich will nicht allen den Spaß verderben. Aber mir macht es etwas aus, wenn Victor sich erkältet. Mir macht es etwas aus, wenn er krank ist. Es ist mir wirklich egal, was andere von mir denken, ob sie mich überängstlich finden. Ich meine, es trifft mich schon, aber ich werde so oft kritisiert, daß ich mich davon nicht irritieren lasse. Victor ist in der südwestlichen Ecke des Irrgartens und rennt durch einen Durchlaß in der Hecke. Ich versuche mir den Irrgarten fotografisch genau einzuprägen. Ich schließe die Augen, stelle mir die Wege vor, dann öffne ich die Augen wieder, vergleiche meine Erinnerung mit dem wirklichen Irrgarten vor meinen Augen. «Das wird dir nichts nützen», sagt Estelle. «Meine Liebe, ich kenne viele, viele Leute, die das auch gemacht haben. Ich besitze diesen Irrgarten seit über zwei Jahrzehnten. Jeder versucht, ihn auswendig zu lernen. Sie zeichnen ihn sich auf und können ihn trotzdem nicht behalten. Wenn du erst einmal drin bist, entgleiten dir alle rationalen Pläne, die du dir zurechtgelegt hast, und du rennst darin herum wie jedes Geschöpf Gottes - genau wie eine Maus oder wie ein Kaninchen.»
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Draußen fegt mir der Wind die Kapuze auf die Schulter. Die Sonne scheint sehr hell, und ich muß die Augen zukneifen, als ich den Hügel hinunter zum Irrgarten renne. Der Hügel ist weich, ganz anders als das trockene und gefrorene Gras in Hull, und ich meine, die weiche Erde unter meinen Füßen zu spüren. Dann merke ich, daß der Rasen nicht echt ist, daß es Kunstrasen ist, wie auf einem Fußballfeld. Der Rasen ist genauso künstlich wie Estelles Haar. Gordon läuft neben mir. Er ist so groß, er erinnert mich an eine bestimmte Spinnenart, so lang sind seine Beine. «Hat man es sehr gemerkt?» fragt Gordon. «Was?» «Ich kann es kaum aushalten», sagt er. «Ich begehre dich so sehr.» Schweigend gehen wir den Hügel hinunter. «Victor!» rufe ich, als wir die Mauer des Irrgartens erreicht haben. Aber der Wind nimmt meine Worte und reißt sie fort. Als ich die zweite Silbe rufe, kann ich meine Stimme schon nicht mehr hören. Gordon rüttelt an der Hecke, die der Mauer entlang wächst, um Victors Aufmerksamkeit zu erregen. Er ruft Victors Namen, und ich merke, wie merkwürdig er aus seinem Mund klingt. Dann verlasse ich Gordon und betrete den Irrgarten durch eine Öffnung, die vielleicht der Haupteingang ist, aber ich weiß es nicht. Auf dem Weg liegt ein Durcheinander von Schmutz und Tannennadeln und abgestorbenen Blättern. Ich kann Victors Schritte hören, sie klingen nicht sehr weit weg, und ich bin erleichtert und komme mir gleichzeitig etwas dumm vor. «Victor», sage ich. «Ich habe deinen Mantel und deine Handschuhe. Sag mir, wo du bist, und ich bringe sie dir.» Er antwortet nicht. Vielleicht waren es Gordons Schritte, die ich gehört habe. Ich frage mich, ob Gordon tatsächlich nach
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Victor sucht oder ob er nur so tut, mir zuliebe. Dann verbanne ich Gordon aus meinen Gedanken. Ich fange an, die Gänge abzugehen, und versuche, durch die winzigen Löcher der Hecken zu spähen, um ein Stück von Victors Ärmel zu erhaschen, das Spiegeln seiner Brillengläser, seiner Uhr. Ich suche unter den Hecken hindurch nach seinen Schuhen, nach einer Staubwolke, die er vielleicht auf dem Weg aufgewirbelt hat. Aber ich sehe ihn nicht. Der Wind wird stärker, und ich höre deutlich das Rascheln trockener Blätter und Zweige. Ich versuche, so hoch zu springen, daß ich über die Hecke sehen kann, aber das gelingt mir nicht. Ich schließe die Augen und vergegenwärtige mir das Bild des Irrgartens, wie ich ihn von Estelles Glasveranda aus gesehen habe. Die Wege bilden Vierecke, und manche davon sind so verschoben, daß sie zwar ein Viereck zu sein scheinen, in Wirklichkeit aber in einen anderen Weg münden. Sie haben alle Öffnungen, die in einen anderen Teil des Irrgartens führen, nur daß manche in einer Sackgasse enden, andere aus dem Irrgarten heraus und nicht in sein Zentrum hinein führen. Victor würde nach dem Zentrum suchen, und er würde es natürlich finden, weil er zu den Menschen gehört, die jeden Intelligenztest bestehen, Puzzles und Anagramme und, wie ich annehme, auch Irrgärten. Ich habe keine Veranlassung zu glauben, daß ich mich in einem Irrgarten zurechtfinden könnte, denn ich kann wenn überhaupt einfache Kreuzworträtsel lösen, und das auch nur wenn mir jemand hilft. Ich bin wütend, weil ich Victor nicht finden kann wieder einmal suchen muß. Es scheint, daß ich ständig im Leben, ganz besonders aber in meinem Leben mit Victor, etwas zu erreichen versuche, es aber nie ganz schaffe. Ich komme nach Hause, und Victor liegt auf dem Bett. Aber er ist nicht wirklich anwesend. Es ist so, als ob sich in dem Moment, in dem ich durch die Tür komme, Victors Anwesenheit verflüchtigt. An 108
die Stelle dessen, was er ist, tritt das, was ich in ihm sehe. Das geht mir genauso, wenn ich allein zu Hause bin (was selten vorkommt). Ich lese vielleicht gerade oder koche. Oder vielleicht schneide ich meine Fußnägel. Aber in dem Moment, in dem Victor zur Tür hereinkommt, bin ich nicht mehr da. Er verdrängt mich wie Wasser. Ich fließe plötzlich. Wir saugen uns gegenseitig auf und umkreisen uns wie Monde. Letzte Nacht ist er, lange ehe es hell wurde, aufgestanden. Es ging ihm so schlecht, daß er nicht schlafen konnte, oder vielleicht dachte er über seine Krankheit nach. Ich weiß es nicht Ich berührte seine Schultern, als er in die Schwärze unseres Filters starrte, und er drehte seinen Kopf. Ich sah seine blassen Lippen und seine Augen, die mich suchten. Er sah mich direkt an und schien mich immer noch zu suchen. Schließlich entdeckte ich doch die Spur einer Verbindung zwischen uns, denn ich sah, daß sich in seinem Gesicht meine eigene Angst spiegelte. «Gewonnen!» höre ich, und Victor steht vor mir. Er lächelt ein verwegenes Lächeln, wie ein Sportler oder ein Gangster. Er wirft den Kopf zurück und lacht, als ob er es sehr komisch fände, mich hier zu entdecken. Ich weiß, daß ich lächerlich aussehe: mein Rock hat einen Teefleck, mein französischer Zopf hat sich aufgelöst und hängt schief. Ich weiß, daß er lacht, weil ich alles so ernst nehme und hysterisch bin, weil er eine kleine Tour durch den Irrgarten macht. Und obwohl ich genau weiß, daß ich ihm aus gutem Grund und weil ich ihn wirklich liebe und mir Sorgen um ihn mache seinen Mantel bringen wollte, weiß ich auch, daß gute Absichten und «Freundlichkeit» bei Victor keinen hohen Stellenwert haben. Und wenn ich diese Qualitäten wirklich schätzen würde, dann hätte ich bei Victor nichts verloren. «Lach du nur», sage ich. «Und wie kommen wir hier wieder raus?» «Was hast du?» «Hier ist dein Mantel. Ich hatte genug.» 109
«Was habe ich denn getan?» sagt Victor mit einer anklagenden Handbewegung. «Hilary, was ist in dich gefahren? Stimmt etwas nicht? Ich wollte dir gerade sagen, wie schön du bist. Und jetzt? Du weinst? Du bist so schön, wenn du weinst.» Wir treffen Gordon vor dem Irrgarten, wo er in seiner geduldigen Art auf uns wartet. Ich bin immer noch wütend, aber meine Hysterie hat sich gelegt, ich bin nur noch verdrossen. Als wir wieder bei der Veranda sind, lachen Victor und Gordon zusammen. Gordon erzählt, wie er sich in dem Irrgarten verlaufen hat, als er dreizehn war, und wie er und seine Freunde später darin Wettrennen veranstaltet haben. Beleidigt setze ich mich. Ich bin verärgert. Ich sehe niemanden an. Ich bitte um einen Scotch. «Hilary trinkt ihren Scotch», verkündet Victor. «Sie haßt Scotch. Wenn sie Scotch trinkt, ist das ein selbstquälerischer Akt.» Plötzlich schäme ich mich, weniger wegen dieser Bemerkung von Victor als wegen meines eigenen Verhaltens, das bei Victor diesen Kommentar ausgelöst hat. Außerdem bin ich wütend, weil er recht hat. Mein Blick fällt auf das silberne Tee-Set, die zarten Tassen mit dem Rosenmuster, die verschiedenen Untertassen, Gabeln, Teelöffel, und ich bemerke das merkwürdige Mißverhältnis zwischen meiner Wut und diesen lieblichen Gegenständen. Estelle hat einen Strauß ihrer handgemachten Blumen in einen Korb gestellt, wo sie wirklich sehr schön aussehen. Victor sitzt aufrecht, seine Magerkeit verleiht ihm ein vergeistigtes Aussehen, andere Männer, dickere Männer, können nie so aussehen. Offensichtlich habe ich Victor beschämt, das heißt, genauer, er schämt sich für mich, denn er sieht uns nie als Paar, und deshalb fühlt er sich auch nicht verantwortlich für meine Handlungen. Estelle dagegen sieht ziemlich erfreut aus, so als
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ob die Lottozahlen bekanntgegeben würden und jede Zahl genau mit den Zahlen auf ihrem Schein übereinstimme. «Sie ist sauer auf dich, Victor», sagt Estelle. Sie dreht ihr Gesicht in die Sonne und reckt ihren Hals wie eine Katze. «Victor, wollen wir uns nicht von Estelle verabschieden? Wir müssen jetzt wirklich gehen. Es ist schon spät.» «Gehen? Jetzt?» sagt Estelle. «Warum wollt ihr gehen? Es ist doch ein schöner Nachmittag, und wir unterhalten uns doch gut, nicht wahr? Deine Laune wird wieder besser werden, Hilary, meine Liebe, warte ein wenig.» Irgend etwas in meinem Gesicht bewirkt, daß Estelle ihre Meinung ändert. Sie sagt: «Also, wenn ihr wirklich weg müßt.» Gordon starrt mich derart unverhohlen an, daß ich ihm am liebsten die Augen auskratzen würde. Estelle streicht sich den Rock glatt und nimmt den Korb mit den Papierblumen. «Willst du mal sehen, wie sie sich an eurem Fenster machen?» Ich nehme den Korb und danke ihr. Als Estelle sich in ihrem Stuhl zurücklehnt und mit einer neuen Blume anfängt, frage ich mich, wie es für sie sein mag, allein in diesem großen Haus zu leben. Wie verändert sich Estelle, wenn wir alle gegangen sind? «Ist das nicht hübsch ?» sagt Victor. «Estelle, das ist wirklich sehr nett von dir.» «Hilary ist ein wirklich liebes Mädchen, nicht wahr, Gordon ?» «Ja», sagt Gordon und nickt bestätigend. «Das ist sie. Das ist sie.» «Hilary, du siehst absolut lächerlich aus, wenn du so herumstehst», sagt Victor. «Setz dich wieder hin und reiß dich zusammen. Trink einen Schluck Tee und benimm dich wie ein zivilisierter Mensch.» Ich bring ihn um. Ich bring dich um, Victor. Du bist ein abscheulicher, gräßlicher vermeckerter Zwerg. Ich habe genug.
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Wenn du noch ein Wort sagst, werde ich dich in Mundwasser ertränken und durch den Fleischwolf drehen. «Ich möchte lieber gehen, Victor. Willst du mitkommen?» frage ich. «Wenn du mich schon fragst - nein, ich möchte nicht gehen. Ich glaube, ich bleibe hier und unterhalte mich weiter. Außerdem, bist du nicht verabredet, um eine Besorgung zu machen?» «Das weißt du ganz genau. Ich gehe einen Weihnachtsbaum kaufen.» «Natürlich. Einen Weihnachtsbaum. Wie nett», sagt Estelle. Sie sagt, daß sie Victor später nach Hause bringen wird, und bittet mich eindringlich, sie bald wieder zu besuchen. Ich bedanke mich noch einmal und nicke Gordon zu. «Hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen», sagt Gordon. Er grinst und kippelt wie ein Schuljunge mit seinem Stuhl. «Es ist ein Gewinn, Hilary Atkinsons Bekanntschaft gemacht zu haben.» «Vergiß die Blumen nicht», sagt Estelle und weist mit dem Kopf auf den Korb mit den Papierrosen. Annabel erscheint in der Tür, und Estelle bittet sie, mich hinauszubegleiten. Ich folge Annabel in die Halle und merke auf einmal, daß Victor bei mir ist. Ich bleibe stehen und sehe ihn an. Er steht dicht neben mir. «Wenn du gehen willst, dann geh», sagt Victor. «Aber du wirst es schwer haben, mir nachzuweisen, daß ich irgend etwas außergewöhnlich Gräßliches gemacht habe, um dich zu ärgern. » Ich suche nach einer Antwort. Ich versuche, mir vorzustellen, wie es ist, Herrin eines so riesigen Hauses zu sein, eine Frau, die Autorität besitzt wie Estelle. Wie wunderbar es sein muß, so selbstbewußt zu sein, rosa oder grüne Haare zu tragen oder jahrhundertealte Kunstperlen aus Mexiko, Macht zu haben. 112
«Ich hasse dich, Victor. Du bist ein solches Schwein. Du warst gemein zu Gordon.» «Was geht dich das an? Außerdem mag ich ihn. Du bist nur sauer, weil du den Tee über deinen Rock geschüttet hast. Habe ich recht? Los, Hils, habe ich recht oder nicht?» Selbstverständlich hast du recht, denke ich. Du wirst schon sehen, was dir das bringt, daß du recht hast. «Ich gehe, Victor.» «Dann geh doch», sagt er und dreht sich um. Ich folge Annabel durch die Halle, vorbei an dem Plunder, mit dem Estelle angegeben hat, als sie uns ihr Haus zeigte. An Regalen mit Spode-Porzellan und einer Sammlung viktorianischer Gläser vor einem Fenster, an einer Standuhr an der Treppe. Ich betrachte Annabels Rücken und die steife weiße Schleife auf ihrem grauen Kleid. Ich denke, was für einen winzigen Po sie hat, was für eine wohlgeformte, athletische junge Frau sich unter dieser langweiligen grauen Baumwolle verbirgt. Ich denke sogar, daß sie sehr nett ist, obwohl ich weiß, daß sie nur ihren Job tut. Nichts in ihrem Verhalten läßt erkennen, daß zwischen Victor und ihr etwas Ungewöhnliches vorgefallen ist. Sie ist diskret verschwunden, als Victor in der Halle mit mir redete, was ich ihr hoch anrechne. Sie ist sehr freundlich, übersieht, daß ich nervös bin, daß mein Rock naß ist und die Haare sich aus meinem sorgfältig geflochtenen Zopf lösen. «Annabel», sage ich, und sie bleibt stehen und dreht sich zu mir um. Ich sehe ihre Augen. Sie sind groß und dunkel. Sie hat sich die Wimpern mit Wimperntusche getuscht. Sie sind zart nach oben gebogen, wie Fliegenbeine. Sie ist jünger als ich, aber nicht sehr viel. Sie könnte die jüngere Schwester meiner Mitbewohnerin im College sein oder jemand, den ich auf dem Rang einer Zuschauertribüne bei einem Ballspiel kennenlerne. Wir würden zusammen einen Kaffee trinken, und sie würde mir von ihren Verehrern erzählen und von ihrer Familie. Aber 113
hier, wo sie mich durch Estelles Haus geleitet, haben wir einander nichts zu sagen. Wir dürfen uns eigentlich überhaupt nicht miteinander unterhalten, und jetzt, wo sie vor mir hergeht, fällt mir auch nichts ein, was ich zu ihr sagen könnte. «Annabel, vielen Dank für deine Mühe», bringe ich dann schließlich doch heraus. «Keine Ursache», sagt sie und lächelt ihr wunderbares Lächeln. Sie geht weiter. Ihr Haar unter den Nadeln, mit denen sie den Knoten zusammensteckt, ist lang und dunkel. Das, was ich von ihrer Figur sehe, sagt mir, daß sie in Jeans und T-Shirt eine Schönheit wäre. In jedem Kleid, oder ganz ohne Kleider. Ich frage mich, wie sie und Gordon als Paar aussehen würden. Oder sie und Victor. «Annabel», fange ich wieder an. «Wohnst du in der Nähe?» «Ich wohne hier», sagt sie und zeigt auf den Boden. «In diesem Haus.» «Bist du hier glücklich?» frage ich, dann habe ich Angst, daß ich das Falsche gesagt habe. «Ich meine, gefällt es dir?» «Mein Zimmer ist sehr groß.» «Lebt deine Familie auch in der Nähe?» «In Brockton», sagt sie. «Ich verdiene mir Geld, um weiter aufs College gehen zu können.» «Das freut mich», sage ich. «Ich meine, daß du aufs College gehen willst.» Ein paar Schritte weiter sage ich: «Ist die Arbeit hier schwer ?» «Schwer ? Nein, nein. Gar nicht. Ich arbeite nur vier Tage die Woche, die anderen drei bin ich bei meinem Freund in Boston.» Das finde ich gut, daß die schöne Annabel einen Freund in Boston hat. Sie hat jemanden, der es zu schätzen weiß, wie sorgfältig sie ihre Wimpern mit Wimperntusche tuscht, so daß sie lang und dicht aussehen, ohne falsch zu wirken. Ich bin froh, daß Annabel mit dem Schiff von Long Wharf einer 114
Umarmung entgegenfahren kann, daß es Paare gibt, die sich ganz normal lieben können, daß es so schöne junge Frauen wie Annabel gibt, daß sie ein großes Zimmer hat, eine schmale Taille, einen athletischen Gang. Daß sie den hübschen Namen Annabel trägt. «Das ist ja schön», sage ich, als Annabel die Eingangstür öffnet. Wir geben uns die Hand. Sie hat sehr zarte Hände, Hände, wie ich sie immer gern gehabt hätte, schmale Hände mit langen Fingern und ovalen Nägeln. Und ihr Händedruck ist fest. Ich schüttle ihre Hand, dann steige ich ins Auto, und sie winkt mir nach. Die ganze Einfahrt hinunter muß ich an Annabel denken und lächeln. Aber sobald ich wieder in Hull bin, auf der zugigen Straße, die an der Küste entlangführt, und in der Straße, die zu dem Haus führt, in dem Victor und ich wohnen, habe ich ein so schlechtes Gewissen Victor gegenüber, daß ich fast platze. Ich überlege, daß er mich wahrscheinlich strafen wird, indem er nicht mit mir redet, ich denke, wie unglücklich er mit mir ist, wie unglücklich ich ihn mache, wie ich ihn dazu gebracht habe, mich zu hassen, nur weil ich versuche, ihn dazu zu bewegen, mich zu lieben, und wie wenig Kontrolle ich immer noch über mich selbst und meine Gefühle habe. Ich überlege, ob ich diese Szene zwischen Victor und mir provoziert habe, damit unser Bündnis platzt, noch ehe es sein vorbestimmtes Ziel erreicht hat. Ich überlege auch, ob ich es darauf anlege, daß Victor mich schlecht behandelt, damit ich es rechtfertigen kann, eine Affäre mit einem anderen Mann anzufangen, damit ich Victor völlig legitim verlassen kann und eine Entscheidung legitimiere, die man nicht legitimieren kann, weil es eine persönliche Entscheidung ist, weil es kein Richtig oder Falsch in persönlichen Beziehungen gibt. Und weil unsere Beziehung eine Beziehung ist, die von ihrer ganzen Struktur her außerhalb jeglicher Gesetze steht.
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Sechs Sobald ich durch die Wohnungstür getreten bin, knöpfe ich mein Hemd auf und lasse es zu Boden gleiten. Die Wohnung ist unordentlich und kalt. Ich stelle den Heizstrahler an, finde ein Paar Jeans und einen Pullover von Victor. Ich wandere auf und ab und überlege, was ich tun soll. Ich sammle herumliegendes Zeug ein: eine Frühstücksschale, einen halb aufgegessenen Schokoriegel, einen Möbelprospekt, einen überquellenden Aschenbecher. Ich weiß nicht wohin damit und stelle alles auf der Spüle ab. Ich plaziere Estelles Blumen neben Victors Sessel und stelle mir vor, wie sie in der Morgensonne aussehen werden. Ich wandere wieder auf und ab. Ich überlege, was ich noch tun könnte. Ich sammle herumliegende Stifte ein, dreckige Teelöffel, Cellophanpackungen von Salzbrezeln. Ich stecke Streichholzbriefchen und unidentifizierbare Schlüssel in einen Tonkrug. Ich bin ganz allein, ich kann tun und lassen, was ich will. Ich könnte in den nächsten Laden gehen, vier Töpfe orangerote Farben kaufen und die Wohnung in den Planeten Mars verwandeln'. Ich könnte eine Riesenpackung Eiskrem holen und jede Menge Schokokekse und mich halbtot fressen. Ich könnte mir Chemikalien kaufen und irreversible Dinge mit meinen Haaren anstellen. Ich könnte in Victors persönlichen Sachen stöbern, um etwas über sein früheres Leben herauszufinden, vor meiner Zeit. Aber da gibt es nichts Neues herauszufinden. Victors Leben liegt ja schon so offen vor mir wie eine aufgeschnittene Melone. Ich weiß alles. Eine Stunde lang sitze
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ich am Fenster, in Victors Sessel, und schaue einfach nur vor mich hin. Victor hat einen Stapel Bücher neben seinem Sessel liegen. Er besitzt eine kleine Sammlung von Erstausgaben. Einige fangen schon an zu modern. Ich nehme einen Band HeideggerSchriften in die Hand, blättere ihn flüchtig durch und versuche, die kryptischen Bleistiftnotizen zu entziffern, die Victor in Druckbuchstaben an den Rand gekritzelt hat, als er noch auf der Schule war. Ich schaue auf das Deckblatt. Da steht: «Victor Geddes. Bitte zurückgeben.» Und darunter eine Adresse, Commonwealth Avenue. Eine niedrige Hausnummer, das heißt Nähe Boston Garden. Das muß das Haus sein, wo Victor aufgewachsen ist und wo sein Vater immer noch wohnt. Diese fünf Dinge weiß ich über Victors Vater: Er denkt, wenn etwas erst einmal anfängt kaputtzugehen, wird der Verfall unweigerlich fortschreiten. Deshalb würde er eher sein Auto verkaufen und sich ein neues kaufen, als die Wasserpumpe reparieren zu lassen. Er sitzt in seinem Allerheiligsten, einem großen Arbeitszimmer in seinem Haus, vor einem Schreibtisch, der mit allen möglichen Papieren übersät ist, und formt Enten und Frösche und Grashüpfer aus Kinderknete. Als Victor fünf war, hat sein Vater ihm erlaubt, Spaghetti mit einem Strohhalm von der Tischplatte zu essen. Victors Mutter schenkte er zu ihrem letzten Geburtstag, ehe sie starb, ein CB-Funkgerät. Als kleiner Junge ließ Victor einmal sein Lieblingsstofftier im Park liegen. Sein Vater suchte bis elf Uhr nachts im strömenden Regen mit der Taschenlampe danach. Das alles hat mir Victor erzählt. Ich gehe zum Schreibtisch und ziehe die oberste Schublade auf. Ich wühle mich durch Notizblöcke, Einkaufszettel, kaputte Scheren, zwei halbaufgedröselte Garnrollen, einen Haifischzahn, ein Mini-Slinky, eine funkelnagelneue Taschenlampe, noch in der Verpackung, und Briefpapier mit dem Briefkopf der Universität. Ich finde den mit einem 117
Gummiband zusammengehaltenen Stapel von Briefen, die Victor aufbewahrt hat, und durchforste ihn nach Umschlägen mit der Commonwealth Avenue-Adresse als Absenderangabe. Der Stapel enthält vor allem Karten mit Genesungswünschen aus der Zeit seines letzten Klinikaufenthalts. Dann sind da noch eine Hochzeitseinladung für den vergangenen September, eine Geburtsanzeige, eine Adressenänderungs-Mitteilung und ein Lotterielos. Schließlich finde ich etwas mit dem Absender Commonwealth Avenue. Es ist ein kleiner blauer Umschlag mit schwacher Schreibmaschinenschrift darauf, Victors alter Bostoner Adresse. Drinnen steckt ein gefaltetes Florpostblatt mit einem kurzen Brief seines Vaters. Die Schrift ist blaß und voller Tippfehler. Der Brief nimmt Bezug auf einen Streit zwischen Victor und seinem Vater im Krankenhaus, kurz nachdem Victor verkündet hatte, er wolle die Therapie nicht mehr fortsetzen. Es folgen ein eindringlicher Appell an Victors Vernunft und dann der Hinweis, daß immer noch ungeahnte Dinge möglich sind, solange man die Hoffnung nicht sinken läßt. Schließlich wird der Ton sanfter, und es schließt sich die flehentliche Bitte an, Victor möge doch noch einmal alles überdenken und Bescheid geben, wo er sich derzeit aufhalte. Zum Schluß heißt es: «Victor, mein Leben lang konnte ich, wenn ich unglücklich war, an Dich denken und an die Freude, die Du mir geschenkt hast. Vielleicht hat Dein Entschluß, die Behandlung nicht fortzusetzen, damit zu tun, daß Du solche Freude nie empfunden hast. Könntest Du mich nicht anrufen? Könnten wir nicht versuchen, einen neuen Anfang zu machen?» Ich weiß, daß Victor diesen Brief nie beantwortet hat, und dieses sture Schweigen macht mich betroffen. Ich stöbere noch einmal in der Schublade, ziehe ein einfaches Blatt Notizpapier hervor und verfasse selbst eine kurze Botschaft an Victors Vater. Ich schreibe:
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Lieber Mr. Geddes, Sie kennen mich nicht, aber ich kümmere mich derzeit um Ihren Sohn. Es geht ihm soweit gut. Vielleicht wird er Sie anrufen - wenn es mir gelingt, ihn dazu zu bringen. Hilary Atkinson Nein, einen Brief kann man das kaum nennen. Aber er kann daraus wenigstens entnehmen, daß Victor okay ist. Er wird froh über diese wenigen Zeilen sein, das weiß ich. Und ich fühle mich irgendwie gut und rechtschaffen, während ich das Blatt zusammenfalte, in einen einfachen Umschlag stecke, adressiere und frankiere. Ich betrachte den fertigen Brief und bin stolz. Aber dann passiert etwas: Mein Zutrauen verläßt mich. Ich sitze eine ganze Weile am Schreibtisch und überlege, ob ich den Brief abschicken soll. Mrs. Birkle ruft mich an. Ihre Stimme ist so piepsig wie ein Flüstern aus weiter Ferne. Sie sagt: «Es tut mir schrecklich leid, daß ich Sie belästige, Liebes, aber wenn Sie mir vielleicht helfen könnten...» Ich lasse sie den Satz nicht zu Ende führen. Ich unterbreche sie mit einem Schwall von Beteuerungen, daß ich gleich da sein werde. Ich gehe zu ihr runter, und sie öffnet mir. Ihre glatte, sandbraune Haut ist um die Augen herum verquollen und leicht gerötet. Ihre Lippen sind schmal und starr. Sie sagt mit schwacher Stimme: «Ich habe den Fernseher umgeworfen.» Und tatsächlich liegt im Wohnzimmer der Fernsehapparat auf dem Teppich, inmitten von Glassplittern. «Ach, das tut mir leid.» Meine Worte kommen wie ein Stakkato heraus, wie Morsezeichen. «Ich habe den Teppich gesaugt, und dabei hat sich der Staubsauger in der Schnur des Fernsehers verheddert. Ich will ja nicht, daß Sie sich schneiden, aber wenn Sie mir helfen
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könnten, ihn in den Flur hinauszuschaffen, damit die Männer ihn mitnehmen können.» Ich frage mich, welche Männer sie meint - die von der Müllabfuhr? Glaubt sie denn, daß die ins Haus kommen, um sie von ihrem kaputten Fernseher zu befreien? «Klar», sage ich, «mache ich.» Ich postiere mich hinter dem Gerät, um es aufzurichten. Mrs. Birkle besteht darauf, mir zu helfen. Sie beugt sich über den Apparat, und ich sage, nein, sie soll sich hinsetzen, ich schaffe es schon. Ich rede auf sie ein, sage ihr, sie soll sich nicht überanstrengen. Ich erzähle ihr, daß ich schon doppelt so große Fernseher durch die Gegend transportiert habe. «Ist das ein großer Fernseher?» fragt Mrs. Birkle. «Ja», sage ich. «Ein Riesending. Ein toller Apparat.» Ich schleppe ihn in die Diele, unter Hinterlassung einer Spur von Glas und Röhren und Drähten. Nachdem ich den letzten Glassplitter von Mrs. Birkles Teppich gesaugt habe, legt sie mir eine glatte, kühle Hand auf die Wange. Sie verschwindet für ein paar Minuten in der Küche und kommt wieder heraus mit einer halbvollen Pfanne Fudge, das sie mir aufdrängt. Das letzte, worauf ich scharf bin, ist, mit Cappy einen Weihnachtsbaum kaufen zu gehen, aber ich beschließe trotzdem, mich fertigzumachen. Ich entflechte mein Haar vor dem Badezimmerspiegel und bürste es kurz durch. Ich wasche mir das Gesicht und fette mir die Lippen mit Lippenpomade ein. Dann denke ich, ich sollte mir vielleicht die Wimpern tuschen, so wie Annabel, und ich krame im Toilettenschränkchen, finde die Wimperntusche und trage sie sorgfältig auf. Natürlich sieht es nicht so aus wie bei Annabel. Meine Wimpern reichen, wenn ich sie hochschlage, nicht bis zu meinen Augenbrauen, und sie tauchen meine Augen nicht in geheimnisvollen Schatten, wenn ich sie etwas senke. Trotzdem sehe ich so besser aus. Ich sehe vielleicht sogar gut genug aus 120
für einen Lidstrich und womöglich auch ein bißchen Lippenstift. Aber ich besitze weder Eyeliner noch Lippenstift. Ich besitze einen stumpfen taubengrauen Khol-Stift, aber keinen Spitzer. Ich besitze giftgrünen Lidschatten, ein Gratispröbchen. Ich besitze ein ganz klein wenig Rouge, gerade genug für eine Wange. Verdammt, laß das Gesicht, denke ich, konzentrier dich auf die Haare. Mein Haar leidet noch unter den Nachwirkungen des Nachmittags im strammen Zopf. Es ist ein einziges Gekräusel. Ich raffe es hinten zusammen und erwäge, es hochzustecken. Aber das wäre zuviel Mühe, und außerdem verleiht das Lockengekringel meinem Gesicht etwas Dramatisches. Es gefällt mir so gut, daß ich es nicht weiter ausbürste. Ich schaue in den Spiegel und versuche, mir vorzustellen, daß mein Spiegelbild kein Spiegelbild ist, sondern ein anderer Mensch aus Fleisch und Blut. Ich versuche, mich so wahrzunehmen, als sei ich jemand anderes, eine Fremde. Ich denke: interessante Augen, gräulich, links mit einem braunen Fleck nahe der Pupille. Ich finde, der Fleck sieht aus wie ein Fehler, wie auf einem ausgemalten Bild in einem Malbuch, bei dem das Kind sich mittendrin doch für eine andere Farbe entschieden hat. Aber mein Haar, mit all den Wellen, hat einen gewissen Charme. Es ist, auf seine wilde Art, hübsch. Ich ziehe Victors Pullover aus und stöbere einen von mir auf, einen dünnen, der nicht annähernd warm genug ist, aber besser aussieht. Dann vertausche ich die Jeans gegen eine gefütterte Tuchhose mit Bügelfalten und Gürtel. Ich kremple sie unten um und schlüpfe in ein Paar modische Socken. Ich ziehe Schuhe an, in denen meine Füße kleiner wirken. Lege ein Armband um. Ich schaue wieder in den Spiegel und befinde, daß ich ganz gut aussehe. Gut genug, um etwas Schickeres zu unternehmen, als einen Weihnachtsbaum zu erstehen. Ich könnte mich mit Freunden treffen, um etwas trinken zu gehen,
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oder einen alten Verwandten besuchen - oder zu einem Rendezvous gehen. Ich tue so, als wären die endlosen, dunklen Straßen von Hull die hellerleuchteten Kreuzungen der Newbury Street in Boston. Ich betrete einen Kramladen und erstehe ein Feuerzeug in den Mannschaftsfarben der Red Sox. Ich rauche eine Zigarette nach der anderen, entlocke meinem neuen Feuerzeug Flammen. Ich bin high und etwas schwindlig vom Nikotin, als ich einen Briefkasten am Straßenrand sehe. Ich bleibe stehen, etwa sechstausend Zweifel an dem, was ich tue, steigen in mir auf, und dann werfe ich den Brief an Mr. Geddes ein. Als ich das hohle Geräusch der Briefkastenklappe höre, denke ich: Gut gemacht. Im Auto zünde ich mir eine neue Zigarette an, öffne das Fenster einen Spaltbreit. Die Kälte macht mir nichts aus. Ich drehe das Radio an und singe mit - aus vollem Hals. Ich hämmere auf den Knöpfen herum und suche einen fetzigen Rock 'n' Roll. Ich drehe mit dem Daumen am Klangregler, um den Ton möglichst klar zu kriegen. Ich fahre an der Kuppel eines weißgekalkten Wasserturms vorüber, der jetzt, im schwachen Licht des frühen Abends, grau aussieht. Er ruht auf seinen acht Beinen wie ein Riesenkrake, und ich winke ihm zu. Noch ehe ich vor dem Restaurant angekommen bin und durch die Scheibe hineinspähe, weiß ich, was ich da mache. Als ich eintrete, diesmal mit Handtasche statt Rucksack und den Parka überm Arm, wende ich mich überrascht Gordon zu, als hätte ich nicht damit gerechnet, ihn hier zu treffen. Ich lächle und sage laut: «Hallo!» «Du bist's», sagt Gordon. «Ich bin's», zwitschere ich. «Du siehst aus...» Gordons Satz mündet in eine Geste, die es mir überläßt, ihn zu Ende zu führen. «Danke», sage ich. 122
«Wo ist Victor?» fragt Gordon. «Immer noch bei Estelle?» «Ich nehme es an. Wann bist du gegangen?» «Kurz nach dir. Ich habe ihm angeboten, ihn heimzufahren. Ich finde Victor sehr nett», sagt Gordon, als überrasche ihn diese Tatsache selbst. Ich höre das Klappern von Töpfen, und mir fällt Cappy ein, der dort hinten in der Küche herumwirtschaftet. Durch das Dreiecksfenster der Schwingtür sehe ich ihn, mit seiner Schürze und aufgerollten Hemdsärmeln. Er nimmt gerade ein paar schartige Backformen aus der Spüle und stapelt sie weg. Ich möchte mich mit Gordon davonstehlen. Ich würde gern in ein richtig gutes Restaurant gehen und etwas Außergewöhnliches essen. Irgend etwas Exotisches, das man mit den Händen essen muß. Ich möchte mir einen Schwips antrinken, eine verrückte Spritztour durch den Schneesturm machen, irgend etwas erleben, worüber man lachen kann, wenn es vorbei ist, und wovon man sich hinterher erholen muß. Und das möchte ich mit Gordon tun. Ihm zuerst an einem Tisch gegenübersitzen und später dann zwischen Kissen mit ihm reden. «Estelle bringt ihn nachher heim», sage ich. Ich sehe Gordon an. Er hat noch immer seine Tweedjacke an, und das Haar fällt ihm ein bißchen über die Augenbrauen, und ich fühle mich wie ein Kind, das danach fiebert, noch ein letztes Weihnachtsgeschenk auspacken zu dürfen. «Ich bin hier, weil ich mit Cappy einen Weihnachtsbaum aussuchen will. Ich brauche seinen Lieferwagen, um ihn nach Hause zu schaffen. Aber das muß nicht unbedingt jetzt sein», sage ich. «Ich könnte auch wieder gehen.» «Warum?» «Laß uns zu dir gehen», sage ich. Ich zwinkere vielsagend und fühle die Wimperntusche auf meinen Wimpern, eine federleichte Last, die mich an Annabel denken läßt. Ich schaue Gordon an und bilde mir ein, daß meine Augen genauso braun 123
sind wie die von Annabel, daß er, wenn er mich anschaut, eine Frau sieht, die genauso ist wie Annabel, so lebhaft und fröhlich. Auf diese Weise beginne ich, mich attraktiv zu fühlen. Ich fange an, mir Gordon ohne Hemd vorzustellen. Und so fahren wir los. Ich bin nur die Beifahrerin und in der peinlicheren Situation, weil ich schweigend und untätig dasitzen muß. Der Fahrer kann sich notfalls immer noch auf die Straße konzentrieren oder wenigstens so tun. Aber der Beifahrer, was hat der schon zu tun? Daneben zu sitzen, das ist alles, und vielleicht noch, den Fahrer zu unterhalten. Aber das kann ich nicht. Mir ist nicht nach Konversation zumute. Ich sage nichts, weil ich Angst habe, wenn ich den Mund aufmache, wird das stillschweigende Einverständnis zwischen Gordon und mir dahinschwinden wie Nebel, der sich verzieht, und wir werden wieder in der ganzen Klarheit unseres Getrenntseins und der Begrenztheit unserer Gefühle dasitzen. Und vielleicht empfindet Gordon ja genauso. Vielleicht denkt er, daß er jetzt still sein muß, daß dieser ganze Akt schweigend vollzogen werden muß, wie ein richtiges Geheimnis, daß man nicht darüber sprechen darf, nicht einmal ganz am Anfang. Gordon läßt sein Tapedeck eine Kassette auswerfen und steckt sie wieder in ihre Plastikhülle. Die Bewegung ist so abrupt in der Zelle des Wagens, daß mein Magen einen Sprung tut. Es ist wie der Einbruch von etwas Neuem, der einen Kommentar oder zumindest eine Kenntnisnahme erheischt. Aber ich bleibe standhaft. Ich schaue aus dem Seitenfenster auf die vorbeifliegenden Telefonmasten. Einen Moment lang scheint es fast, als ob die Welt sich im Tempo der dahinsausenden Masten bewegt und wir, Gordon und ich, reglos auf der Stelle verharren wie Steine im Wasser. Wir sind schon ein abgebrühter Haufen. Victor beschließt, seine Chemotherapie abzubrechen. Ich lasse mich für einen 124
Abend mit Gordon ein. Irgendwo auf dieser Welt ist ein Familienvater gerade dabei, Selbstmordpläne zu schmieden und sie dann doch wieder fallenzulassen. Irgendwo wird ein unerwünschtes Kind geboren. Gibt eine Sekretärin ihren Job auf, um endlich zu machen, was sie sich schon immer gewünscht hat. Nimmt ein Halbwüchsiger zum erstenmal eine Gitarre in die Hand. Ich könnte Gordon sagen, er solle mich zum Pier fahren. Ich könnte die Fähre nach Boston nehmen und von da aus ein Flugzeug, sagen wir, nach Phoenix, und kein Mensch in Phoenix würde auch nur etwas von meiner Vergangenheit ahnen. Ich könnte dort im Westen ein ganz anderer Mensch werden. Ich könnte mir völlig neue Hobbies zulegen und allen Leuten, die ich kennenlerne, erzählen, daß ich sie schon lange habe. Ich könnte mit wechselnden Männern ins Bett gehen und so tun, als hätte ich es immer schon so gehalten. Ich könnte den Männern erklären: «Ich mag den Ausdruck ‹Abenteuer für eine Nacht› nicht. Für mich ist das jedesmal eine umfassende und vollwertige Erfahrung.» Wann habe ich das letzte Mal mit Victor geschlafen ? Vor einer Woche. Nein, vor sechs Tagen. Ich erinnere mich: Ich lag im Bett und schlief fest, so fest, daß ich zuerst immer wieder eingeschlafen bin. Er zog die Decken weg und berührte meine Brüste. Er sah mich nicht an, sondern schaute nur auf meine Brustwarzen, beobachtete, wie sie auf seine Fingerspitzen und seine Zunge reagierten. Und dann war seine Hand zwischen meinen Beinen, und ich war wach, aber immer noch nicht richtig. Dann war er in mir, und ich war plötzlich so hellwach, als hätte ein Feueralarm geschrillt, während er auf mich heruntersah und langsam die Hüften bewegte. «Baby», sagte er, indem er mir mit den Fingern durchs Haar fuhr, «du müßtest dich sehen.»
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Ich begann schweigend, mich mit ihm zu bewegen, aber er ließ seine Hand nach unten gleiten und hielt mein Becken fest und sagte: «Nein, tu einfach gar nichts.» Er sah mich immer weiter an, als wolle er sich mein Bild einprägen. Ich weiß noch genau, daß mir war, als sei alles um uns herum eingefroren, als würde es weder dunkler noch heller, als sei alles erstarrt - als setze die Zeit erst wieder in dem Moment ein, in dem Victor kam, in einem schweigenden, mühelosen Orgasmus. Und als er zur Seite rollte, den Arm noch über meinem Bauch, wünschte ich, er würde sich wieder auf mich legen, wir könnten die Zeit noch einmal anhalten, in der Schwebe zwischen Nacht und Morgen verharren, wie die Zeiger einer Uhr um Mitternacht. Versteht ihr, ich erlebe Victor immer als etwas, was ich nicht festhalten kann, wie Wasser in meiner Hand, das entweder verdunstet oder durch die Ritzen zwischen meinen Fingern rinnt. Aber in dem Moment fühlte ich ihn wie einen Teil von mir, so unabänderlich zu mir gehörig wie meine Fingerabdrücke. Als wir so zusammen waren, durchblitzte mich ein Gefühl, als sei ich Victor oder Victor ich, als hätten wir in dieser Verschmelzung ein Naturgesetz überwunden, als würden wir uns künftig auch über andere unverbrüchliche Gesetze hinwegsetzen können. Dann war schlagartig alles wieder normal. Victor schlief ein. Ich betrachtete sein schlafendes Gesicht. Ich dachte, du müßtest dich sehen können. Gordon streckt beide Arme zu mir herüber, und ich erschrecke, nicht so sehr, weil er mich anfaßt, sondern weil ich gar nicht mitbekommen habe, daß er angehalten hat, und eine Sekunde lang glaube, er hätte einfach das Steuer losgelassen und wir würden gleich gegen den nächsten Telefonmasten rasen. Aber jetzt sehe ich, daß wir in der Einfahrt stehen, die ich ihn in den letzten zweieinhalb Wochen so oft habe entlangkommen sehen, wenn ich ihn beobachtet habe. Der Motor ist abgestellt, die 126
Handbremse angezogen. Gordon nimmt mit der einen Hand mein Haar zur Seite und küßt mich auf den Nacken. Seine Lippen sind fordernd. Ich frage mich, ob seine Küsse wohl rote Flecken auf meiner Haut hinterlassen. Ich frage mich, ob er mich so auch auf den Mund küssen wird. Ich überlege. Was erwartet er jetzt von mir? Wie soll ich ihn berühren? Denkt er, wir tun es im Auto? Auf einmal sind da tausend Sachen, die ich ihn fragen möchte. Ich möchte wissen, auf welcher High School er war, wie seine Freunde heißen, seine Lieblingsbücher, wie er die letzten zehn Jahre seines Lebens zugebracht hat. Ich will ihn kennen. Irgendwo macht sich ein junger Hund aus seinem neuen Zuhause davon und streunt los, um nie wieder gefunden zu werden. Sticht ein Dampfer in See, mit winkenden Passagieren an Bord. Setzt ein junger Pilot nervös zu seiner ersten Landung an. Stehen die NASA-Leute kurz vor einer neuen Entdeckung. Ich stelle mir vor, daß ich eines Tages, wenn ich tot bin, irgendwo anders sein werde und dann vielleicht mit einem anderen Toten beim Kartenspiel sitze und sage: «Mit dreiundzwanzig wollte ich Tiermedizin studieren, aber ich wurde nicht angenommen ... Mit siebenundzwanzig verliebte ich mich in einen Mann namens Victor, und dann lernte ich einen Mann namens Gordon kennen...» Manchmal glaube ich, ich werde meine Lebensgeschichte nie geordnet erzählen können, weil das Leben ja immer weitergeht und man es nicht objektiv darstellen kann. Ich könnte es versuchen, aber das ist wie der Versuch, eine unendlich große Glasscheibe hochzuheben - ich kriege es nicht zu fassen. Woher soll ich wissen, ob ich das Richtige tue, wenn ich jetzt die Vordertür hinter mir zufallen lasse und Gordons Haus betrete? Vielleicht wird ja, wenn ich tot bin, meine Seele irgendwo sitzen und in der Lage sein, exakt zu beurteilen, wo ich Fehler gemacht habe. Vielleicht werden sich mir ja in einem anderen Leben 127
einem von denen, die wir alle, wie Estelle schwört, noch vor uns haben - die Geheimnisse erschließen: das Geheimnis, wie man das Richtige tut, und das Wissen, daß man das Richtige tun kann. Ich finde es sehr schwierig, Entscheidungen zu treffen. Entscheidungssituationen sind immer isolierte Augenblicke, und mir fehlen die Kriterien. In allem, was Victor betrifft, ist das Entscheiden einfacher. Ich weiß, daß er sterben wird, die medizinischen Experten haben es versichert, und an Victors Körper kann man ablesen, daß diese Versicherung sich allmählich erfüllt. Für alles, was mit Victor zusammenhängt, gibt es einen Rahmen. Ich kenne das Ende. Aber jetzt, mit Gordon ? Woher soll ich wissen, wie das alles enden wird, und was verändert dieser Augenblick, in dem er mich, neben dem Plattenspieler, auf seinen Körper zieht? Wir hören alte Blues-Songs auf einer Anlage, die so groß und imposant ist und so einschüchternd high-tech-mäßig, daß sie in dem kleinen Schlafzimmer wie ein Monument wirkt. Sein Schlafzimmerteppich ist immergrün-blau. Die Vorhänge passen zum Teppich und werden von blauen Schleifen zurückgehalten. Die Tapete ist mit blauen Schmetterlingen bedruckt. Dieses Zimmer hätte es eigentlich verdient, daß darin ausgebreitete Brettspiele auf dem Fußboden lägen, Mikado-Stäbchen oder Lego-Steine, und nicht zwei Menschen, die einander aus den Kleidern schälen, sich herumwälzen und immer wieder neu umarmen. Er küßt mich, und ich bin eine Schauspielerin, lasse meine Zunge wie die einer Liebenden agieren. Und dann, plötzlich, bin ich eine Liebende. Ich bin voller erregter Spannung und greife nach dem Reißverschluß seiner Jeans. Ich ziehe meinen Pulli mit einer raschen Bewegung über den Kopf. Ich lange hinter meinen Rücken und öffne den Verschluß meines Büstenhalters. Ich höre ein Stöhnen und merke dann, daß es aus mir kam. Gordon sagt: «Hilary!», aber ich reagiere nicht. Da packt 128
Gordon meine Handgelenke. Er zieht meine Hände nach vorne, und ich schaue ihn an. Sein Griff ist kräftig. «Langsam», sagt er und läßt mich wieder los. Dann küßt er mich. Er küßt meinen Nacken. Wir fangen noch mal von vorn an. Es gibt da ein Wesen, das oft in meinen Träumen auftaucht. Ein kleines Mädchen, vielleicht elf. Mausiges Kringelhaar, das beim Laufen wippt. Eine strammsitzende, schlichte Brille, eine abgeschlagene Ecke an einem Zahn. «Ich glaube, sie ist die Tochter, die ich eines Tages haben werde», sage ich zu Gordon. Ich bin, nach der Liebe mit ihm, gar nicht mehr richtig da. Die Worte kommen langsam und verschwommen aus mir heraus, als stünde ich unter Drogen. «Erzähl weiter», sagt Gordon. Er verabreicht mir eine Superde-Luxe-Massage. Ich liege bäuchlings auf seinem Teppich, höre der peruanischen Volksmusik zu. Die Platte ist alt und verkratzt, und manchmal hüpft der Saphir, aber trotz dieser Beeinträchtigungen erreichen mich die langen, süßen Töne, die Resonanz handgemachter Blasinstrumente. Eine Flöte. Eine Maultrommel. Die schmerzlichen Klänge der Bergeinsamkeit, der Sehnsucht, der Liebe. «Weißt du, in den meisten meiner Träume braucht sie irgendwelche Hilfe. Sie hat sich in einer großen Stadt verlaufen, oder sie sitzt in einem Auto ohne Lenkrad oder ohne Bremsen.» Gordon hält eine Flasche Babyöl in der Hand, eine unschuldige, durchsichtige Flasche mit einer blaßrosa Verschlußkappe. Er läßt lauter Öltröpfchen auf meinen Rücken fallen, von der Schulter bis zum Schenkelansatz. Er verreibt sie auf meiner Haut, preßt seine Finger zwischen die Muskelstränge auf meinem Rücken. «Hat sie eine besonders ausgeprägte Rückenmuskulatur?» fragt er. 129
«Ach, sie ist nicht ich», sage ich. Ich wende den Kopf und schaue Gordon an. Er trägt knappe weiße Shorts. Die Muskeln an seinen Oberarmen sind hart von der Bewegung seiner Hände. «Wenn du meinst», sagt er. «Sie ist also ständig in Schwierigkeiten und braucht was ? Schutz?» «Nein, das kann man so nicht sagen. In meinen Träumen kann niemand sonst ihr helfen. Sie braucht ganz speziell mich.» Gordon beugt sich zu mir herunter. Er küßt mich auf den Rand meines Ohrs. Er streicht mit dem Kinn über meinen Hinterkopf. Dann umarmt er mich. «Braucht sie nicht manchmal auch jemand anderen, Hilary?»
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Sieben Ich stelle den Wecker auf Mitternacht, aber das ist unnötig. Ich kann nicht einschlafen, bevor Victor nicht zu Hause ist. Seit Stunden liege ich im Bett, lausche dem Summen des Kühlschranks, dem Heizlüfter, der anspringt und ausgeht, dem Brummen der Flugzeuge am Himmel. Ich überdenke die letzten Ereignisse, gehe alles noch einmal durch. Ich versuche, hinter den Sinn zu kommen. Ich gebe mir große Mühe. Ich bin kurz nach zehn nach Hause gekommen, ich war wund, hatte ein schlechtes Gewissen, war bezaubert. Meine Unterwäsche hatte ich blindlings in meine Tasche gestopft. Es schneite in großen Flocken. Ich hatte mich minutenlang in den knöchelhohen Schnee gestellt, bis meine Schuhe durchgeweicht waren, um Victor weismachen zu können, daß ich lange spazierengegangen sei. Ich wich Mrs. Birkles kaputtem Fernseher aus und schlich die Treppe hoch. Ich machte die Wohnungstür auf und blieb wartend stehen, lauschte auf Victors Atem. Aber Victor war nicht zu Hause. Ich stopfte meine Kleider hinten in den Schrank und seifte jeden Zentimeter meines Körpers mit dem Waschlappen ab. Ich wusch mein Haar, die Kopfhaut, die Ohren. Ich schrubbte, bis ich nichts mehr fühlte. Im Spiegel suchte ich mein Gesicht nach Bartspuren ab. Ich betupfte mich mit Victors After Shave, schließlich klopfte ich es mir in Bauch und Schenkel ein. Ich zog ein Pyjamaoberteil von Victor und seine Boxershorts an und lag wartend im Bett, horchte auf das unregelmäßige Stöhnen des Nebelhorns von Pemberton Pier. Ich hatte große Sehnsucht nach Victor. Ich sehnte mich nach Victor, so wie ein Mensch in Marokko sich nach Schatten sehnt.
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Manchmal ist mein Bedürfnis nach Victor so stark, daß ich nicht mehr weiß, wie es war, als er noch nicht zu mir gehörte, als er noch nicht Teil meines Lebens war, so wie jetzt, als noch nicht jeder meiner Gedanken davon beeinflußt war, was er wohl denken mochte, als ich ihn noch nicht in mir hatte. Ich schäme mich deshalb vor mir selber, ich schäme mich, daß ich diesen Riß habe, eine Unvollständigkeit, die es jemandem wie Victor ermöglicht, von mir Besitz zu ergreifen. Und daß aus diesem Riß auch mein Verlangen nach Gordon kommt. Und merkwürdigerweise empfinde ich auch Dankbarkeit. Es ist spät, sehr spät, als ich seinen Schlüssel im Schloß höre, das Quietschen unserer Tür, und den Schatten seines Körpers auf den Holzdielen sehe. Ich möchte, daß er mir versichert, daß sich nichts geändert hat. Ich weiß natürlich, daß sich etwas geändert hat, aber nur in dem Sinn, daß eine bestimmte Information an die Oberfläche gekommen ist. Ich bin noch derselbe Mensch, der ich war, ehe ich mit Gordon geschlafen habe, aber jetzt, wo ich es wirklich getan habe, ist dieser Mensch, der ich bin, erkennbarer geworden - als ob ich mich selber mehr beachtet hätte. Ich muß nicht länger das Bild von der guten und selbstlosen Seele vor mir aufrechterhalten, die ich nicht bin. Ich habe den Weg zu einer realistischeren Selbsteinschätzung gefunden, zu einer Grauzone, einem Sumpf von Zwiespältigkeiten und verworrenen Gefühlen, die mir mehr entsprechen als die Rolle der hingebungsvollen und treuen Geliebten Victors, die nie zu mir gepaßt hat. Victors dünner Körper gleitet durch die schmale Öffnung der Eingangstür. Er versucht, das Knarren der Dielen zu dämpfen, und macht die Tür leise hinter sich zu. Er hält seine Schuhe in der Hand. Erst als er die Tür des Badezimmers hinter sich geschlossen hat, macht er Licht und läßt nur ein Rinnsal aus
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dem Wasserhahn, um sich damit die Zähne zu putzen. Er kann sehr leise sein. Er kann sehr rücksichtsvoll sein. Er muß wissen, daß irgend etwas geschehen ist. Er weiß nichts von Gordon und mir, aber er ahnt etwas. Es durchdringt die ganze Wohnung. Hell wie eine Leuchtreklame. Sie verkündet meine Beziehung zu Gordon wie ein New Yorker Premierenereignis. Ich habe das Gefühl, daß es überall in der Luft liegt, daß wir darin schwimmen. Ich schreie mein Geständnis mit jedem Atemzug heraus, es tropft aus jeder Pore. Liebende haben einen Code, sprechen eine gemeinsame Sprache, ohne die genaue Grammatik zu kennen. Victor hängt seinen Blazer über den Schreibtischstuhl und läßt seine Hose herunterfallen. Er knöpft sein Hemd auf und beobachtet mich. Er schlüpft unter die Decke und riecht nach Scotch und Schnee. Ich habe ein merkwürdiges Gefühl. Ich möchte es ihm erzählen. Ich bin so überwältigt von dem Gefühl, ihn betrogen zu haben, daß mir ist, als ob ich gleich überfließe, daß die Worte sich von selbst aussprechen, als ob sie ihre Bedeutung kennen und darauf bestehen, gehört zu werden. Ich mache im Bett Platz für Victor. Es ist sehr dunkel, und ich kann das Meer hören. Victors Oberkörper hebt und senkt sich neben mir. Er weiß, daß ich wach bin. Er küßt mich, und dann legt er den Kopf auf meine Schulter. «Bist du von mir enttäuscht, Hils?» sagt er. Da ist sie wieder, diese verborgene Stimme, die nun wieder herauskommt, diese süße Stimme, die ich so selten hören darf, die Stimme der Zärtlichkeit, der Liebe, der Geständnisse-, die Stimme, die er hat, wenn er in seinen Erinnerungen kramt und Geschichten aus seiner Kindheit erzählt, die Stimme, die ich suche, nach der ich mich sehne und die ich nie finden kann, bis er sie mir schenkt.
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Er streckt seine Hand aus, glättet mein Haar auf den Kissen und streichelt meine Schulter. «Du mußt denken, daß ich dir das Leben absichtlich noch schwerer machen will. Daß ich mich übernehme, trinke und ohne Mantel in die Kälte gehe, nur um dich zu ärgern.» Er spricht von unserer Auseinandersetzung bei Estelle. Für ihn ist zwischen uns seitdem nichts weiter passiert. Ich habe die Worte, die er vor Stunden bei Estelle zu mir gesagt hat, fast schon wieder vergessen. An ihre Stelle sind meine Erinnerungen an die Fahrt zu Cappys Restaurant getreten, daran, wie ich meinen Pullover ausziehe, an Gordon, der atemlos neben mir liegt, an die unangenehme Fahrt nach Hause. Ich muß mir große Mühe geben, um mich an die anderen Szenen zu erinnern: an den Irrgarten, an Victor in Hemdsärmeln, an meinen Versuch, ihn zu finden, an mein Gefühl der Demütigung. Ja, ich erinnere mich daran, aber es kommt mir so bedeutungslos vor wie eine rote Ampel auf einer menschenleeren Kreuzung. «Ich mache das nicht, um dich früher verlassen zu können», sagt Victor. «Ich mache das nicht, um noch kränker zu werden und deine Arbeit zunichte zu machen, ich will die Vitaminpillen nicht lächerlich machen oder die Diät und alles andere.» «Ich weiß», sage ich. «Ich will nicht sterben, Hilary», sagt er. Ich nehme ihn fest in die Arme. Ich spüre seinen Atem auf meinem Hals. Ich wiege ihn. Ich will ihn tief in mir verstecken. Ich will uns beide verstecken. Mitten in der Nacht höre ich, fast wie im Traum, Victor fragen: «Was hältst du von Estelles Philosophie?» Ich halte meine Augen geschlossen. Ich bewege mich nicht. Ich überlasse mich dem Halbschlaf und gewähre Victors Stimme Einlaß in meine Gedanken. Ich überlege, ob er schon lange wach ist und über Estelles Theorie von unseren früheren Leben nachdenkt, über ihre kühne Behauptung, daß wir alle eine Zukunft haben, die bis in alle Ewigkeit reicht. Sie hat uns 134
erzählt, daß sie mal ein Farmer in England gewesen sei und die Grenzen ihres Besitzes auf einem Pferd namens Franklin abgeritten habe. Sie hat uns erzählt, daß sie in einem anderen Leben eine schöne Frau gewesen sei, ein «Weibsbild», ein weiblicher Casanova. Sie hat mich allen Ernstes gefragt, wer ich früher einmal gewesen sei, woran ich mich erinnern könne. «Ich glaube nicht daran, Victor», sage ich zärtlich zu ihm. Draußen heult der Wind und rüttelt an den Mauern unseres Hauses. «Du glaubst nicht daran, daß du früher schon einmal gelebt hast?» «Nein.» «Na, überleg doch mal», sagt Victor, «was könntest du früher vielleicht gewesen sein?» «Vielleicht war ich die Hülle eines Maiskolbens», sage ich und küsse sein Haar. «Vielleicht war ich ein Planet, den niemand entdeckt hat.» Ich schlafe unruhig, ich habe Alpträume, von denen ich nur noch Fetzen erinnern kann, ich wache auf, weil es an der Tür klingelt. «Mein Gott», sage ich, «unten klingelt jemand.» Victor öffnet langsam die Augen. Er ist weiß wie das Kissen. Sein Anblick erschreckt mich. «Victor!» «Was ist denn», sagt er, ohne den Kopf zu bewegen. Selbst seine Sommersprossen sind verblaßt, als ob sie gebleicht worden wären. Seine Rippen zeichnen sich auf seinem Rücken ab, und er liegt regungslos da. «Schon gut», sage ich. Der Anblick seiner gelben Augen und der aschfahlen Haut über seinen Schläfen macht mich traurig. «Ich gehe zur Tür.» Ich stehe auf. Mir ist schwindlig. Ich sehe Victor an. Sein Gesicht versinkt in den Kissen. Sein kupferrotes Haar ist die 135
einzige Farbe an ihm, es leuchtet in einem makabren Rot, wie Blut, das die weiße Brust eines Soldaten rötet. Ich habe vergessen, daß wir eine Türklingel besitzen - so lange habe ich sie nicht mehr gehört. Ich finde ein paar Jeans, ziehe sie an und merke dann, daß sie Victor gehören. Seine Jeans sind mir zu eng. Das kann man sich kaum vorstellen, aber es stimmt. Ich kann sie zumachen, aber nur mit Mühe und Not. Als ich aus der Tür gehe, werfe ich einen Blick zurück auf Victor, der die Augen wieder geschlossen hat. Ich gehe die Stufen hinunter. Die Kälte des Treppenhauses ist erfrischend. Das Licht leuchtet durch die Flurfenster. Strahlendweißes Licht. Ich öffne die Tür, und draußen steht Gordon mit vor Kälte geröteten Wangen und einem Stapel Kaminholz im Arm. «Bist du verrückt geworden?» sage ich. Der Wind peitscht mir kalt ins Gesicht. «Ich dachte, ihr würdet euch vielleicht über das Holz freuen.» Wir stehen uns gegenüber, er vor der Tür, ich zitternd in der Tür. «Okay», sage ich. «Komm rein.» Ich lasse ihn vor mir die Treppe hochsteigen. Ich starre auf seine Stiefel, die Stufe für Stufe nehmen. Ich bewundere seine breiten Schultern. «Ich wollte sehen, wie du lebst», sagt Gordon. «Ich lebe mit Victor zusammen.» Auf dem Treppenabsatz sage ich: «Noch eine höher.» Die Tür zu unserer Wohnung steht einen Spaltbreit offen. Ich sage: «Hier ist es. Warte hier. Ich sehe nach, ob Victor schon aufgestanden ist.» «Bin ich zu früh gekommen ?» sagt Gordon. Er ist leicht außer Atem, sein Gesicht ist gerötet. Seine beladenen Arme umschlingen das Holz. Gordon flüstert: «Ich mußte dich sehen», und legt die Stirn in Falten.
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Ich schlüpfe durch die Tür und sehe Victor, der im Bett liegt und sich die Augen zuhält. «Ich darf nicht mehr trinken», sagt er. «Das darf niemals, niemals wieder passieren. Warum hast du mir das erlaubt, Hilary ? Du weißt, wie mir das schadet.» «Vielleicht ist es gar nicht der Alkohol», sage ich. Victor nimmt die Hände weg und sieht mich leicht erstaunt an. «Wer hat geklingelt?» fragt er. «Gordon. Er steht jetzt im Flur und hat eine Ladung Holz mitgebracht.» «Oh», sagt Victor. «Was will er denn?» «Er will uns das Holz schenken», sage ich. «Was? Ein Geschenk? Oh, oh, dann muß ich sofort aufstehen», sagt Victor. Er stützt sich auf einen Arm und will aufstehen, aber der Arm knickt weg. Er stützt sich auf einen Ellenbogen und wartet. Er scheint sich zu konzentrieren. Er bewegt sich nicht. «Hilary», sagt er schließlich. Als ob er eine Entdeckung gemacht hätte, verkündet er schließlich: «Es geht mir nicht gut.» Eine Stunde später ist Victor immer noch nicht aufgestanden. Aber er hat ein Flanellhemd an und sitzt im Bett. Gordon sitzt am Fußende des Betts und hat einen Teller mit Frühstück auf den Knien. Ich sitze dicht am Kamin und spüre die Wärme der niedrigen Flammen. Das ist das erste Mal, seit wir hier wohnen, daß wir den Kamin benutzen. Es ist seit langem auch wieder das erste Mal, daß ich French Toast gemacht habe, Victors Lieblingsfrühstück. Ich habe frisches Weißbrot genommen, das ich beim Bäcker gekauft habe, und ich muß zugeben, daß es ziemlich gut schmeckt. Victor kann nichts essen. Heute morgen wird ihm von allem übel. Selbst die Zahnpasta, sagt er, schmeckt zu sehr nach Essen.
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«Okay», sagt Victor zu Gordon. «Laß mich raten, was du am 4. Juli vor zehn Jahren gemacht hast. Warte mal, du bist - wie alt? Drei Jahre jünger als ich. Ah, du Baby. Du hast dir das Feuerwerk angesehen.» «Natürlich war ich auf der Promenade», sagt Gordon. «Das ist nicht schwer zu erraten.» «Okay, du warst nicht allein auf der Promenade.» Victor zieht die Augenbrauen zusammen und denkt nach. «Sondern mit deiner Freundin, die, wie du viele Monate später herausbekommen wirst, gehofft hat, daß du in dieser Nacht mit ihr schlafen würdest - was du aber nicht getan hast.» «Doch, das habe ich», sagt Gordon. Er lehnt sich zurück, hebt einen Finger: «Es war atemberaubend.» «Daran erinnerst du dich? Es ist schon so lange her, und er erinnert sich!» sagt Victor. « Es muß wirklich atemberaubend gewesen sein!» Ich reiche Victor ein Glas Orangensaft, und er sieht es an, als wäre es radioaktiv. «Wir haben uns hinter dem Bootshaus der Boston University geliebt, auf dem Weg zwischen den beiden Enden des Radwegs. Das Feuerwerk ging los. Ein Himmel voller krönender Höhepunkte.» «Wow », sage ich. «Und mich macht es schon an, wenn wir es in einem anderen Zimmer treiben.» «Wir haben kein anderes Zimmer», sagt Victor. Ich gehe zum Kamin und wende mit einem Stück Anbrennholz einen Scheit um. Dann setze ich mich im Schneidersitz hin und puste in die Flammen, spüre ihre ungleichmäßige Wärme. Ich denke, daß die Leute den Sommer überbewerten und daß es nichts Schöneres gibt, als morgens zu Hause zu sitzen und den Duft von Eichenholz zu riechen. «Jetzt bist du an der Reihe», sagt Gordon zu mir. «Was hast du am 4. Juli vor zehn Jahren gemacht ?» 138
Ich denke kurz nach, aber ich kann mich nicht genau erinnern, was ich gemacht habe. «Das war in dem Jahr, ehe ich aufs College ging. Ich war in Mexiko, das erklärt, warum ich mich an den 4. Juli nicht richtig erinnern kann. Weil der 4. Juli in Mexiko ein Tag wie jeder andere ist.» «Was hast du in Mexiko gemacht?» fragt Victor. «Das ist eine lange Geschichte. Meine Mutter und mein Vater, die schon lange getrennt lebten, hatten sich endlich scheiden lassen. Meine Mutter - okay, meine Mutter ist verrückt. Sie schickte uns zu unserem Vater. Er ist Automechaniker und bekam den Auftrag, bei einem Autorennen in Mexiko zu arbeiten. Also ließ er uns bei einer Frau, die blind war und in einem Farmhaus an der Nordküste lebte. Sie hatte einen sehr langen Namen. Er hörte sich an wie eine Krankheit, deshalb nannten wir sie Mrs. C. Sie kam aus den Südstaaten und sprach in diesem singenden Dialekt. Sie machte sich über unsere Art zu sprechen lustig. Sie setzte sich mit meinem kleinen Bruder in die Küche, und er mußte immer wiederholen: ‹Popcorn mit brauner Butter› und ‹Parke deine Karre am Harvard Yard›. » «Ach du lieber Gott», sagt Victor, aber man merkt, daß er die Geschichte komisch findet. «Popco'n mit b'aune Butte'», imitiert er. «Ich hätte sie umgebracht», sagt Gordon. «Ach, das glaube ich nicht», sage ich. «Sie war Ende sechzig und blind, und sie hatte einen Mann, eigentlich war es ihr Exmann, der im ersten Stock ihres Hauses wohnte. Ich glaube, als sie sich scheiden ließen, schaffte sie es nicht, ihn zum Auszug zu bewegen. Er zog und zog nicht aus, und Mrs. C. war auf alle möglichen Hilfsmittel angewiesen, um sich fortbewegen zu können, sie hatte einen Stock und ein Laufgerät mit Rollen. Sie hatte eine Hüfte gebrochen, die notdürftig wieder zusammengeflickt worden war - ihr Mann hatte sie runtergestoßen, jedenfalls hat sie das erzählt...»
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Gordon verschluckt sich an einer Weißbrotkruste. «Er hat sie gestoßen ?» sagt er. «Sie haben sich dauernd gestritten. Sie wollte, daß er Miete zahlt.» Victor sagt: «Er hat sie wegen der Miete die Treppe hinuntergestoßen?» «Wer kann das schon genau sagen - jedenfalls fand sie, daß er Miete zahlen solle. Sie sagte, warum sollte er umsonst bei ihr wohnen dürfen? Das Gericht hatte ihr das Haus zugesprochen. Mindestens einmal täglich kletterte sie die Stufen hoch und schlug ihn mit ihrem Stock. Und er rächte sich an ihr. Ich konnte ihn eigentlich gut leiden. Er stellte ihre Nahrungsmittel im Kühlschrank um, tauschte ihre Seife gegen ein Stück Knete aus, entfernte den Knopf für die Lautstärke von ihrem Fernseher, solche Sachen.» «Das glaube ich nicht!» sagt Gordon. «Das hast du dir ausgedacht», sagt Victor. «Erzähl, was ist geschehen? Wie bist du nach Mexiko gekommen?» «Na ja, darum geht es. Eines Tages ist Mr. C. gestorben.» Das finden Victor und Gordon beide sehr komisch. Victor reißt die Augen auf, lacht laut los und sieht Gordon an, der in seinen Ärmel lacht. «Und Mrs. C. kam aufgeregt die Treppe herunter und befahl meinem Bruder und mir nachzusehen. Er ist im Schlaf gestorben.» Gordon hört auf zu lachen. Sein Gesicht wird traurig, sein Mund schmal. «Wie traurig», sagt er. «Na ja, wenigstens hatte sie endlich ihr Haus für sich allein», sagt Victor. Er sieht zur Seite und verzieht den Mund, als dächte er über die Vorteile der Einsamkeit nach. «Nein», sage ich. «Sie sagte, daß sie es nicht ertragen könne, dort allein zu wohnen. Sie verkaufte das Haus, und wir mußten weg. Wir hätten zu meiner Mutter ziehen und bei ihr den Sommer verbringen können. Aber mein Vater war in Mexiko, 140
und mein Bruder war vierzehn und ein Autonarr, also gingen wir nach Mexiko.» «Das ist stark», sagt Victor. «Weißt du, was aus Mrs. C. geworden ist?» sagt Gordon. «Habt ihr euren Vater gefunden?» sagt Victor. «Ich habe gehört, daß Mrs. C. nach Montgomery, Alabama, gezogen ist, und meinen Vater, nein, den haben wir nicht gefunden.» «Wie habt ihr Kinder die Reise nach Mexiko bezahlt?» «Einfach so», sage ich. Mein Bruder war ein reicher kleiner Teenager. Er hat an mehreren Junior Highschools mit Drogen gehandelt. Jetzt dealt er in Arizona. Er ist reich und er ist ein Lump. Seine Frau heißt Sarah. Sie reitet und - das finde ich das allerabscheulichste - sie geben den Pferden auch Drogen. «Dann kannst du bestimmt ein bißchen Spanisch», sagt Gordon, und ich nicke. «Das habe ich nicht gewußt», sagt Victor erstaunt. «Das habe ich überhaupt nicht gewußt.» Wir sind bei der zweiten Runde French Toast, und Victor hat endlich Hunger. «Für mich auch einen!» ruft er. Wir haben den ganzen Vormittag geredet. Victors Gesicht sieht sehr viel frischer aus, und er wirkt... glücklich, so glücklich, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Er sieht aus, als wäre er irgendwie richtig bei sich. Ich folge Gordon in die Küche und bemerke bewundernd seine aufrechte Haltung, seine langen Schritte. Ich zeige ihm, wo die Sachen in der Küche sind. Die Küche ist winzig, mit vier kleinen Schränken, einem Gasherd, der mal vor Jahren modern war, einem ausladenden weißen Kühlschrank, der innen völlig vereist ist, und einem altmodischen Büchsenöffner. Er hängt an der Wand mit dem Klapptisch und 141
unserem einzigen Fenster. Die Küche ist winzig wie ein Kinderschuh. Gordon verquirlt die Eier mit der Milch und weicht darin das Brot ein. Dann legt er es in die Pfanne und läßt es in der Butter brutzeln. «Stört es dich immer noch, daß ich gekommen bin?» fragt er und konzentriert sich auf die Pfanne. «Wer sagt, daß mich dein Besuch gestört hat?» «Hör auf, Hilary, das weiß ich.» Seine Stimme klingt leise und kraftvoll und angenehm. Ich sage: «Ich bin sehr glücklich, daß du hier bist. Victor mag dich.» «Victor mag mich. Und ich mag ihn. Und ich mag dich.» «Warum bist du gekommen?» «Ich wollte wissen, wie du lebst. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie du mit ihm lebst. Ich habe dauernd darüber nachgedacht. Was macht diese hübsche Frau in diesem traurigen alten Haus und mit einem solchen Mann?» «Und was denkst du jetzt?» «Jetzt denke ich, daß wir alle ganz schön in der Tinte sitzen.» Die Pfanne zischt, und Gordon wendet schnell das Brot. Die gebratene Seite ist gelblichbraun gesprenkelt, einfach perfekt. «Ich muß dauernd an gestern abend denken...» sagt Gordon. «Pst!» Er flüstert: «In meinem Kopf läuft ständig derselbe Film ab. Ich denke nur an dich.» «Du denkst auch immer noch an ein Mädchen, mit dem du eine Stunde hinter einem Bootshaus in Boston verbracht hast.» «Ich habe diese Frau geheiratet», sagt Gordon. «Ich bin jetzt noch mit ihr verheiratet.» Jetzt sehe ich klarer. Natürlich ist er verheiratet. Warum sollte er nicht verheiratet sein? «Wo ist sie?» sage ich. 142
«Sie hat mich verlassen», sagt Gordon. Dann kommt Victor in die Küche. «Seht ihr», sagt er lächelnd. «Ich bin aufgestanden.» Und da ist er, er ist etwas wacklig auf den Beinen und lehnt sich an die Anrichte. Gordon will ihn stützen, aber Victor ignoriert ihn. Vor Anstrengung wird er ganz steif. Er sagt: «Ich habe einen schlimmen Kater. Ich bin wie gerädert.» In Gordons Keller gibt es ein kleines, dunkel getäfeltes Zimmer mit einer einzigen, hellen gelben Glühbirne. Sein «Wasserzimmer», wie er es nennt. In den Regalen sind seine Sachen für das Meer. Wasserski, Tauchermasken, Schwimmflossen. An einer Wand stehen fünf Angeln. Hinten befinden sich zwei Rettungsringe, ein Stapel aus schmutzigorange-gelben Schwimmwesten, eine Werkzeugkiste, eine Isoliertasche, in der Heißes heiß und Kaltes kalt bleibt, ein Sortiment Angelhaken mit Federn und Schwimmern in leuchtenden Farben. Über der Tür hängt ein ausgestopfter Fisch, ein Thunfisch, den Gordon vor einem Jahr gefangen hat. Victor ist zu Hause und liest. Als ich ging, gab er, während er eine Seite umdrehte, ein Geräusch von sich, das sich wie «Auf Wiedersehen» anhörte. Gordons Nähe macht mich nervös, aber ich bin von ihm fasziniert. Alles in seinem «Wasserzimmer» fasziniert mich, wie eine Sammlung in einem außergewöhnlichen Museum. In einem samtausgeschlagenen Zedernholzkästchen liegt eine Taucheruhr. Die Uhr hat ein dickes schwarzes Armband und ein helleuchtendes Zifferblatt unter einem dick gewölbten, festen Glas. Rund um das Zifferblatt stehen zusätzliche Zahlen, Gordon erklärt mir, wie sie abgelesen werden. «Jede Zahl hat eine bestimmte Bedeutung», sagt er und dreht die Uhr in der Hand.
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Ein königsblauer Taucheranzug mit gelben Streifen liegt unordentlich in einer Ecke. «Er ist wie eine Muschelschale», sage ich und berühre den Taucheranzug. Er hat ganz entfernt etwas von menschlicher Haut an sich. «Das ist aber anders als eine Muschelschale», sagt Gordon. Ich stelle mir Gordon in seinem Taucheranzug vor, wie er Sauerstoff aus der Flasche einatmet, mit den großen Wellen kämpft, dann in das kühle Wasser eintaucht und im dunkelgrünen Frieden versinkt. Wir gehen an den Strand und suchen Venusmuscheln. Sie sind groß, handgroß. Bei Ebbe säumen sie den Strand. Die Möwen stürzen sich auf sie und picken sich die offenen, die sterbenden Muscheln heraus. Sie fliegen hoch über den Wellen, lassen die Muscheln auf die Felsen fallen, hinterlassen riesige Haufen von zerbrochenen Muscheln. Gordon und ich nehmen nur die Muscheln, die fest zu sind. Wir werfen sie in einen Plastikeimer. «Hier ist eine Scheidenmuschel», sagt Gordon und zeigt mir eine schmale, rechteckige Muschel. «Siehst du diese Scharniere? Ich habe noch nie eine Scheidenmuschel gegessen. Hey, wußtest du, daß Meeresalgen schneller wachsen als andere Pflanzen?» Wir finden eine Muschel nach der anderen. Der Eimer ist schwer. Der Plastikgriff biegt sich unter dem Gewicht von zehn Muscheln. «Zu Hause habe ich ein paar Muscheln», sage ich. «Eine Muschelsammlung?» «Nein, keine Muschelsammlung. Nur ein paar Muscheln.» Gordon bückt sich und klaubt zwei Muscheln aus dem Sand. «Das hier», sagt er und zeigt mir eine braune Muschel, die halb so groß ist wie ein Silberdollar, «ist eine Mondmuschel. Irgendwann hat eine Mondschnecke dieses Haus gebaut. Jede dieser Windungen ist Teil einer Spirale.» 144
«So eine habe ich zu Hause», sage ich, «aber ich wußte nicht, wie sie heißt.» «Es gibt Muscheln, die so ähnlich aussehen. Es gibt junge Mondmuscheln, die kleiner und ganz weiß sind. Es gibt gefleckte Mondmuscheln und gezackte Mondmuscheln. Ich werde mir mal deine Sammlung ansehen müssen.» «Es ist keine Sammlung. Ich habe nur ein paar.» «Du hast bestimmt die schönsten Muscheln, die je an der Küste von Hull gefunden wurden», zieht Gordon mich auf. Er streckt mir seine Hand entgegen. «Hier hast du eine Strandschnecke.» Ich stecke die Muscheln in die Tasche, und Gordon legt seinen Arm um mich. Wir gehen gegen den starken Seewind an, ganz dicht am Wasser entlang. Wir sehen viele andere Muscheln, die Gordon mir zum Teil erklärt. Er erzählt, daß die Seeschnecken sich von anderen Seeschnecken ernähren, indem sie ein Loch durch deren Schale bohren, mit einem speziellen Bohrzahn, der bei Weichtieren Raspelzunge genannt wird. Wir sehen Scheren von Hummern und Krabben. Eine halbtote Krabbe bewegt kraftlos ein Bein. «Diese Hummerschere hat wahrscheinlich einem fünf Jahre alten Hummer gehört», sagt Gordon und deutet auf eine daumengroße Schere. «Einem Hummer, der jetzt tot ist.» «Oder einem, der nur noch eine Schere hat.» Wir lieben uns in seinem Haus, und diesmal ist es Liebe. In der mit Süßwasser gefüllten Wanne spucken unsere Muscheln ihren Sand aus. Um fünf Uhr ist das Tageslicht weg. Wir kochen die Muscheln in einem großen Topf und beobachten, wie sie sich wie blühende Blumen öffnen. Wir nehmen sie aus den Schalen und hacken sie fein. Wir beträufeln sie mit Zitrone und Gewürzen.
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Später liegen wir wieder im Bett und essen unser Muschelragout. Gordon und ich machen einen Spaziergang, der Schnee knirscht unter unseren Füßen. Ich habe meine Füße in den Schuhen gegen die Nässe mit Plastiktüten umwickelt. Gordon hat seine Hände tief in den Taschen vergraben und seine Pudelmütze fast bis über die Augen gezogen. Über seinen Schaftstiefeln bauschen sich die Jeans an seinen Knien. Unser Atem bildet kleine Nebelwolken. Wir gehen über zwei Graslandzungen, zwei Endmoränen, die ein Weg über die Bucht hinweg verbindet. Um uns herum ist Wasser. Wir können die schmale Halbinsel von Hull sehen und dahinter das Meer. Da sind Nadelbäume und Eichen und ungepflasterte Straßen, die um und über die Hügel führen. Gordon hat einen langen Wanderstock in der Hand. Er klopft damit auf seine Stiefelspitzen, und manchmal zieht er ihn im Schnee hinter sich her. Er erklärt mir die verschiedenen Eichenarten, den Unterschied zwischen Schwarzeiche und Weißeiche. Er erzählt mir von den Krüppeleichen, die in jungen Jahren viele Eicheln tragen. Er erzählt von der einzigartigen Vegetation des Küstenstreifens, von den Marschen, die tiefer im Land liegen, den Auswirkungen der Stürme. «Hull wurde 1644 gegründet, aber noch früher haben hier Indianer gelebt. Sie nannten es Natascot», sagt Gordon. «Ist es nicht merkwürdig zu wissen, daß hier früher Indianer gelebt haben und jetzt nicht mehr? Daß diese Gegend Natascot geheißen hat und jetzt Hull heißt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß sie anders heißen könnte.» Ich stelle mir Hull ohne Häuser vor, ohne Straßen. Nur die endlose Weite des Meeres, Pechkiefern, weißer Sand. Mir fällt ein, daß Victor mir einmal erzählt hat, daß sich die Meerestemperatur wieder absenken könnte, auch wenn so viel 146
vom Treibhauseffekt geredet wird, und daß dann in ein paar Jahrhunderten für unseren Planeten eine neue Eiszeit anbrechen könnte. «Ich entwickle immer eine starke Beziehung zu dem Haus, in dem ich wohne, und kann mich schlecht umstellen», sagt Gordon. «Meine Frau hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie sich von mir trennte, und sie wollte mir unser Haus überlassen. Aber ich mußte einfach ausziehen, ich konnte dort nicht wohnen bleiben. Aus jeder Ecke schallte mir ihr Name entgegen. Ich sage dir, für mich roch sogar die Farbe an der Wand nach ihr.» «Das kann ich verstehen», sage ich. Ich weiß, wie merkwürdig es mir vorkommt, daß vor uns je Leute in Victors und meiner Wohnung gelebt haben und daß nach uns wieder jemand dort einziehen wird. Ich denke an die Eiszeit vor fünfzehntausend Jahren und daß all das, was wir unter Zivilisation verstehen, in der relativ kurzen Zeit zwischen zwei Eiszeiten entstanden ist. «Hast du als Kind immer in ein und demselben Haus gewohnt ?» fragt Gordon. «Nein», sage ich. «Meine Eltern zogen beide um, als sie sich trennten.» «Ein Beweis für das, was ich meine», sagt Gordon. «Warum, glaubst du, haben sie sich getrennt? Wenn ich das fragen darf? Manchmal frage ich mich, wie Leute sich trennen können, die soviel zusammen erlebt haben.» «Ich hatte eine Schwester», sage ich. «Sie ist gestorben, als sie vier war. An irgendeiner Herzkrankheit. Ich war noch ein Baby, ich habe sie nicht gekannt. Ich bekam noch die Flasche, als meine Eltern erleben mußten, wie ihr erstgeborenes Kind nicht mehr rennen, nicht mehr laufen konnte. Als sie tot war, ließen sie ihr Zimmer so wie es war. Sie räumten weder ihre Spielsachen weg, noch machten sie die Schränke und Schubladen leer, sie betraten ihr Zimmer dreieinhalb Jahre lang 147
nicht. Als ich in den Kindergarten kam, machten sie daraus eine Wäschekammer.» «Wie grauenhaft», sagt Gordon. «O ja», sage ich. «Mich hat es nie wirklich bedrückt, weil ich sie nie gekannt habe, aber ich bin sicher, daß es zum Ende der Ehe meiner Eltern beigetragen hat. Besser gesagt, die Art, wie sie damit umgegangen sind. Das hat ihre Ehe zerfressen, bis nichts mehr übriggeblieben ist.» «So wird es gewesen sein, Hilary. Das ist sehr hart...» Die Erde wird jedes Jahr kälter. Victor hat gesagt, daß das Klima vor siebentausend Jahren wärmer war als heute. «Sie haben noch nicht mal ihr Bett gemacht», erzähle ich Gordon. «Wie hieß deine Schwester?» «Janice», sage ich. «Es war das Zimmer von Janice.»
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Acht Wir sind in einem Lokal namens «The Tavern», in dem ich noch nie war, unten, wo das Pool-Billard steht. Ich habe meinen schlitzohrigen Tag. Ich überlasse es Gordon und Victor, darum zu spielen, wer die Getränke bezahlt, und schieße nur ein paar Kugeln durch die Gegend. Die beiden sind sich ebenbürtig. Gordon steht über den Tisch gebeugt, den Körper in der Hüfte um fünfundvierzig Grad abgewinkelt. So bleibt er die ganze Zeit stehen, während er den Stoß ausführt und die Kugel rollt. Er stößt die Kugel hart an und spielt mehrfach über die Bande. Victor liegt das Loch an der Seite des Tisches am meisten. Er hat eine merkwürdige Art, das Queue zu halten, aber er befördert die Kugeln mit konstanter Regelmäßigkeit ins Loch. Er kalkuliert die geometrischen Zusammenhänge sehr genau und zieht beim Stoßen das Kinn an die Brust. Ich schaue ihnen zu, bis ich mein Bier ausgetrunken habe. Dann sage ich: «Jetzt laßt uns mal um einen richtigen Einsatz spielen.» Ich trage einen Rock, obwohl es kalt ist an diesem Abend. Richtig kalt. Und schneit. Mrs. Birkle hat mir ein Paar Stiefel geschenkt, altmodische Oma-Stiefeletten, die gerade bis über den Knöchel reichen. Ich war bei ihr unten und habe versucht, ihr meinen kleinen tragbaren Schwarzweißfernseher aufzudrängen. Sie wollte ihn nicht nehmen. Sie fuchtelte abwehrend mit der Hand und kicherte in den Kragen ihres Kleides. Sie wies den Fernseher zurück, bestand aber darauf, daß ich ihre Stiefel nahm. Für sie sind es nur ein paar alte abgelegte Dinger. Für mich sind sie topmodisch. Die Stiefel sehen viel zu toll aus, um an meinen Füßen zu stecken. 149
Ich habe etwas abgenommen. Ich kann einfach nicht essen, während Victor Pfund um Pfund verliert. Gordon sagt, ich sehe prima aus. Er meint, ich sei jetzt nicht nur schlank, sondern richtig grazil. Ich war gestern nachmittag mit ihm unter der Dusche, und er meinte: «Es gibt nichts Schöneres, als dich nackt zu sehen.» Ich nehme ein Queue vom Ständer und ziele damit ein bißchen auf dem Tisch herum. Ich kreide es gut ein und ködere Victor mit ein paar Sprüchen über meine Billardkünste. «Du willst richtig um Geld spielen ? Gut», sagt Victor. «Ich halte mit.» Er geht hinüber zu den Stühlen, wo Gordon sitzt und sein Bier zu Ende trinkt. «Hilary hält sich für den großen Superstar», sagt Victor. Er legt die Kugeln hin, und ich liefere ein schwaches Spiel ich treffe, sooft ich kann, daneben. Ich will Victor diese Runde mühelos gewinnen lassen. Er liegt die ganze Zeit um etwa fünf Kugeln vorn. Er spielt sich auf, nimmt absichtlich die schwierigeren Kugeln, damit ich noch aufholen kann. Einmal hält er das Queue beim Stoßen hinterm Rücken. Er erklärt, ich solle besser nicht trinken, wenn ich um Geld spielen wolle. «Dein Spiel», sage ich schließlich, als die achte Kugel in ein Eckloch plumpst. Ich gebe einen langen Seufzer von mir und sage: «Verdoppeln wir den Einsatz. Los, komm. Ich habe Geld.» Er guckt mich an, als sei ich übergeschnappt. Als ich frage, ob ich anstoßen kann, sagt er: «Es ist ja dein Geld. » Victor sammelt die Kugeln ein und sortiert sie in volle und halbe. Er schiebt das Kugeldreieck über den Tisch und rüttelt die Kugeln in ihre Position. Er reckt die Arme über den Kopf und knackt mit den Fingern. «Ich dachte, du hättest gesagt, du kannst Billard spielen?» zieht er mich auf. Ich lege einen Wahnsinnsanstoß hin, der zwei Kugeln im Loch landen läßt. Ich spiele die Halben, die über den ganzen Tisch verteilt daliegen. Ich befördere eine läppische Kugel mit 150
einem Slice ins Loch und schicke den Stoßball um den Tisch, um ein paar günstig liegende Kugeln in der Ecke abzuräumen. Victors Kugeln liegen alle auf einem Haufen, und meine rollen mit wunderbarer Präzision geradewegs in die Eck- und Seitenlöcher. Ich schaffe sechs, ehe ich abgeben muß. Victor locht eine ein. Dann ich wieder eine. Gordon trinkt sein Bier und schaut neugierig zu. Jeder Treffer, den ich lande, scheint ihn zu freuen. Er lächelt ein wenig, als Victor danebentrifft und die Nummer dreizehn - meine Kugel - streift und genau ins Eckloch befördert. Ich kenne kein Pardon. Ich will gewinnen. Ich nehme Victor zwei Spiele hintereinander ab. Ein wahres Gemetzel. Er geht mit Pauken und Trompeten baden. Wir gehen nach oben. Dort spielt eine Country-Band eine langsame Hank-Williams-Nummer. Victor wendet sich mir zu, die Arme einladend geöffnet. Ich schmiege mich an ihn und tanze mit geschlossenen Augen, den Kopf an seiner Schulter. Er drückt mich fest an sich und wiegt sich in den Hüften. Wir tanzen immer näher an die Band heran, direkt vor die Lautsprecher, so daß ich die Musik im Nacken spüre. Sie ist so laut, daß der Fußboden mitzuvibrieren scheint. Victor küßt mich aufs Ohr. Er sagt: «Du Gaunerin. Du abgefeimtes Biest.» Victor entdeckt ein Sortiment Videospiele und fragt, welche von Gordon sind. Gordon zeigt auf eins mit Namen WeltraumCatch, bei dem der Spieler eine außerirdische Version von Hulk Hogan bezwingen muß. «Es ist ein blödes Spiel», sagt Gordon, «spiel es nicht.» Aber Victor läßt sich nicht davon abhalten und bringt vierzig Minuten damit zu, einen Vierteldollar nach dem anderen einzuwerfen. Gordon sitzt auf einem Barhocker und gießt sich Bier aus einer Flasche in ein großes, eisgekühltes Glas. Er schenkt es zu voll, und der Schaum quillt über den Rand. Er streift ihn ab und leckt sich dann die Finger. Er sagt: «Tanz mit mir.»
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Die Band spielt Oldies, aber nur ein eingeschränktes Repertoire. Es gibt einen Burschen, der die Country-Songs auf der Gitarre schrammelt, und eine Sängerin, vielleicht neunzehn, in einem engen Schlauchkleid, mit Augen, groß wie Dominosteine, die Songs von Grace Slick und Marianne Faithful zum besten gibt. Sie schmettert «White Rabbit» mit einer wilden Reibeisenstimme. Gordon und ich nehmen mitten auf der Tanzfläche Aufstellung, schaffen uns Platz unter den vielen Paaren. Wir tun ein paar gehemmte Schritte, wissen nicht recht, wie eng wir tanzen sollen. Er sagt: «Und wenn ich jetzt noch nie mit dir geschlafen hätte, wenn wir das erste Mal zusammen aus wären und es keinen Victor gäbe, wie würden wir dann tanzen? So weit auseinander? Oder so? Wo hätte ich dann meine Hände, auf deinen Hüften oder auf deinen Schultern?» «Auf meinen Schultern», sage ich. «Hmm, stimmt wohl», sagt Gordon lächelnd. Er verlagert seine Hände. Er schaut an die Decke und vollführt einen übertriebenen Schwenk nach links. Er sagt: «Ich hätte Angst, dir zu nahe zu treten. Ich würde mich die ganze Zeit fragen, was du wohl von mir denkst. Ich wäre weniger betrunken, vorsichtiger ... eifrig bemüht, dir zu gefallen.» «Du brauchst nicht mit uns zu kommen, wenn es dir Probleme macht», sage ich. Aber insgeheim bin ich froh. Noch nie, seit ich ihn kenne, war Victor so offensichtlich bereit, glücklich zu sein, wie in diesen letzten fünf Tagen, in denen Gordon mit von der Partie war. Gestern abend haben sie bis spät in die Nacht Karten gespielt. Victor hatte eine Kiste Zigarren gekauft, laut Aufschrift aus der Dominikanischen Republik, und beide qualmten das Zimmer voll, mit schweren Schwaden von Zigarrenrauch. Gordon hatte eine BaseballMütze auf, Schild nach hinten. So etwa um drei Uhr morgens verzogen sie sich in die Küche, damit ich schlafen gehen konnte. Als ich gegen Morgen kurz aufstand, um aufs Klo zu 152
gehen, waren sie immer noch am Spielen. Eine Kanne mit dampfendem Kaffee stand auf der Herdplatte. An Victors Tischende türmte sich ein Riesenhaufen Jetons. «Wer hat denn hier Probleme?» fragt Gordon. «Ich sage doch nur, was ich nicht tun würde, wenn wir das erste Mal zusammen weg wären.» Er schwenkt mich heftig herum und gräbt mir das Kinn nahe beim Hals in die Schulter. «Ich würde dich zum Beispiel nicht an mich ziehen, um unauffällig deine Brustwarzen fühlen zu können.» «Gordon!» Ich schaue auf, in sein verschlagen grinsendes Gesicht. Er sieht über meinen Kopf weg und lächelt. «Keine Bange», sagt Gordon. «Wir bewegen uns im Schutz der Menge.» «Ich mag nicht mehr tanzen», sage ich, indem ich einen Schritt von ihm zurücktrete. «Ach, Hils, tut mir leid...» setzt er an. «Nein, nicht deswegen.»Ich schaue durch den Raum zu Victor hinüber, der mit dem Videospiel beschäftigt ist. Das Lokal ist dunkel getäfelt, mit Sitzbezügen und Teppichen aus rotem Plüsch. Es ist so schummrig, daß Victor nur ein Schemen ist. «Ich mag nur das Lied nicht», sage ich. Ich sage Victor, daß ich zum Friseur gehe. Er sitzt in seinem Sessel, ein Buch auf den Knien, und liest mit gerunzelter Stirn. Er hat ein rosa-weiß gestreiftes Hemd an, das sich über seinem eingesunkenen Bauch pludert und die Scharlachfarbe seiner Wangen hervorhebt. Das Fieber gibt ihm etwas Rosiges. Die Krankheit lügt. «Hast du gehört?» sage ich. «Ich gehe weg.» «Was?» sagt er, ohne aufzuschauen. Manchmal denke ich, daß Bücher für ihn das sind, was Beißringe für Babies sind. Vor vielen Monaten, erinnere ich
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mich, als er noch mehr Energie hatte, schlief ich nach der Liebe meist ein, während er oft noch die Leselampe anknipste. «Ich will mir die Haare schneiden lassen.» Er nickt. «Willst du mitkommen?» frage ich, aber Victor schüttelt den Kopf. Er sagt: «Wenn du schon unterwegs bist, kannst du mir ein paar Sachen mitbringen ? Karottensaft, Kelp-Tabletten, Meeresalgen ...» Er schaut in sein Buch. «Und Leber.» Ich hocke auf dem Fußboden und schnüre meine Stiefel, stecke die Unterhosenbeine in die Socken. In den langen Unterhosen fühlen sich meine Beine steif und unbeweglich an. Ich drehe meine Haare zusammen, lasse sie unter einer Wollmütze verschwinden und sehne innerlich den Frühling herbei. «Und braunen Reis auch noch», setzt er mit erhobenem Finger hinzu. «Was willst du denn mit dem ganzen Zeug?» «Eine neue Diät. Das hier ist so ein Naturheilkundebuch... Ich stelle gerade meinen eigenen Behandlungsplan gegen Krebs auf.» Victor sieht ein bißchen verlegen drein. Er wendet sich mir zu und erklärt: «Hier heißt es, daß die Erfolgsquote bei Patienten unter vierzig am höchsten ist. Das heißt, ich habe alle Chancen.» «Zeig mal her», sage ich. Ich nehme das Buch und überfliege das Inhaltsverzeichnis. Erstes Kapitel: Was sind Krebszellen? Zweites Kapitel: Die chemischen Vorgänge bei der Zellteilung; Drittes Kapitel: Wie läßt sich das Zellwachstum bremsen? Viertes Kapitel: Ernährung bei Krebs; Fünftes Kapitel: Psyche und Gesundheit; Sechstes Kapitel: Die Krankheit in den Griff kriegen. Der Titel des Buchs lautet: Heilung durch die Kraft des Denkens. Es ist von zwei Medizinern verfaßt. Das Foto auf der Rückseite zeigt die beiden lachenden Autoren in ihren Ärztekitteln, strahlend und optimistisch wie Gäste auf einer
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Hochzeit. Als hätte nie eine Begegnung mit Krebs oder Krebspatienten ihr heiteres Dasein getrübt. In den ersten beiden Monaten, die ich mit Victor zusammen war, mußte ich riesige Vitamintabletten in seiner Suppe auflösen, damit er sie zu sich nahm, ohne es zu merken. Und jetzt sitzt er da und liest Gesundheitsratgeber, will er Algen haben. «Woher hast du das Buch?» «Gordon hat es mir gegeben.» «Gordon?» «Ja. Er hat gestern angerufen und gemeint, er hätte ein Buch für mich. Also habe ich gesagt: ‹ Bring es doch her›, und das hat er dann getan.» «Wie lange war er denn da?» «Weiß nicht. Er hat nur das Buch vorbeigebracht.» «Und das war alles, worüber ihr geredet habt? Das Buch?» «Wir haben nicht geredet. Er ist reingekommen, hat sich einmal umgesehen, mir das Buch in die Hand gedrückt und ist wieder gegangen. Er hatte einen Hund dabei und wollte ihn nicht länger im Auto lassen. Er hat nach dir gefragt, und ich habe ihm gesagt, du seist zur Reinigung gegangen, Hemden wegbringen. So war's doch, oder?» Auf dem Weg in die Stadt denke ich darüber nach, daß Gordon Victor das Buch gegeben hat. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Gordon dieses Werk in irgendeiner Weise ernst nimmt. Aber natürlich ist es typisch Gordon, auch in der aussichtslosesten Situation noch einen Hoffnungsschimmer zu entdecken. Daß Victor auch nur ein Wort von dem glaubt, was in einem solchen Buch steht, ist allerdings mehr als seltsam. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich Victor je ein Buch habe lesen sehen, das noch im Handel ist, und schon gar keins in der Art von Heilung durch die Kraft des Denkens. Es muß ihm sehr schlecht gehen, anders ist es nicht zu erklären. 155
Gordon hat Victor ein Buch gebracht. So gut sind sie schon befreundet, daß einer beim anderen vorbeikommt, um ihm ein Buch zu bringen. Gordon ist dabei, das Dach seines Hauses zu reparieren. Jeden Tag können wir sein Gehämmer hören, wenn wir aus dem Fenster horchen. Victor hat mir gesagt, er habe sich schon immer gewünscht, ein Haus zu haben und zu lernen, wie man es instand setzt. Er sagt, er möge es, Gordons Hämmern zu hören. Es sei so stetig wie das Schlagen eines Herzens. Von den Sachen, die Victor bestellt hat, finde ich die Leber, den Sellerie und den Karottensaft und schließlich, in einer Apotheke, auch die Kelp-Tabletten. Algen sind nirgends aufzutreiben. Ich gehe in alle möglichen Geschäfte, frage Kassiererinnen und Geschäftsführer, wo ich Meeresalgen bekomme. Hull ist auf drei Seiten von Meer umgeben, aber nirgends gibt es Algen zu kaufen. Ich steigere mich in eine irrationale Panik hinein. Ich rede mir ein, daß alles, was in dem neuen Gesundheitsbuch steht, absolut nichts bringt ohne das einzig echte Heilmittel, das ich nicht finde. Ich rede mir ein, daß die Algen der Katalysator sind, der bewirkt, daß die Verbindung von chemischen Substanzen zustande kommt, die wichtig ist, um den Krebs zu besiegen. Daß ohne sie der Karottensaft, die Leber und der Seetang ihre krebsbekämpfende Wirkung nicht entfalten können und deshalb überhaupt nichts nützen. Ich rotiere, gehe in noch mehr Läden, aber ohne Erfolg. Auf der Rückbank meines Wagens stapeln sich die Tüten, aber Algen habe ich immer noch nicht. Meine Parkataschen beulen sich von Konserven, die ich geklaut habe: Baby-Shrimps, Kaviar, Räucherhering, winzige Champignons in Gläsern. Ich hätte sie nicht mitgehen lassen, wenn ich mehr Geld dabei gehabt hätte. Es war mir zu umständlich, erst noch auf die Bank zu gehen. Ich habe einen Käsekuchen für Victor erstanden, Cashewnüsse, Erdnußbutter.
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Einen « Kraft-Milk-Shake mit über tausend Kalorien» in einer lila Dose. Schokolade. Ich gehe zu einem Herrenfriseur. Das ist billiger, und man bekommt dort einen guten Schnitt. Ich sitze auf dem breiten, gepolsterten Friseurstuhl. Der Mann mit der Schere ist der Besitzer des Salons. Er macht eine Bemerkung darüber, daß normalerweise keine jungen Frauen bei ihm auf dem Stuhl sitzen. Er hebt mein Haar strähnenweise hoch und läßt es wieder über meine Schultern fallen. Ich habe ihm gesagt, er soll es eine Handbreit über der Schulter abschneiden, dort, wo die Wirbelsäule auf den Schädel trifft. Ich höre das hurtige Schnippeln der Schere in meinem Nacken. Ich fühle die fetten Daumen des Friseurs hinter meinem Ohr, am Knick meines Unterkiefers, auf meiner Kopfhaut. Mein Haar fällt zu Boden, Büschel von Honigbraun und Blond. Auf den Fliesen sieht es fremd aus, wie Haare von jemand anderem. Ich denke, daß es später zusammengefegt werden wird, ein braunes Knäuel im Mülleimer. Ich stelle mir vor, wie es sich mit anderen Haaren vermischen wird. Ich sehe grüne Müllsäcke vor mir, vollgestopft mit Haaren. Haare im Müllauto, der Geruch von verbrennendem Haar auf der Müllkippe. Ich stelle mir meinen Schädel vor, eine perfekte glatte Eierschale. Der Friseur besprüht mein Haar mit Wasser, damit der Schnitt gleichmäßiger wird. Er kämmt die nassen Strähnen durch. Er nimmt die Schere und arbeitet sich damit rings um meinen Kopf herum. Die Flügel der Schere schwirren so schnell wie die eines Kolibris. Ich stelle mir Stapel von haarlosen Schaufensterpuppen vor, mit Kreide aufs Pflaster gemalte Umrisse menschlicher Gestalten, das Haar ein glatter weißer Strich. «Nicht bewegen!» sagt der Friseur. Dem Akzent nach kommt er irgendwo anders her. Ich bemühe mich, ganz still zu halten, balanciere den Kopf genau zwischen den Schultern. Bei 157
jedem Scherengeräusch zucke ich innerlich zusammen. Die Schere ist jetzt genau über meinen Augen. Ich rühre mich nicht. Die Finger des Friseurs liegen jetzt flach auf meiner Stirn. Vor lauter Konzentration guckt er ganz finster. Er stützt mein Kinn mit dem Daumen. Er nimmt die Schere weg und rollt meinen Kopf nach allen Seiten. Endlich ist er fertig mit mir. Ich brauche Gordon. Ich brauche ihn, also fahre ich zu ihm. Ich lenke meinen Wagen durch die Stadt und lege einen niedrigen Gang ein, um die Hügel zu erklimmen. Als ich nur noch ein paar Häuserblocks von seinem Haus entfernt bin, kurble ich das Fenster herunter, um sein Gehämmer hören zu können. Aber es hämmert nicht. Heute ist eine Säge zu hören. Sie jault protestierend auf, wenn sie ins Holz geführt wird. Sie tönt über ganz Hull hinweg. Ich lausche ihr durch das noch immer geöffnete Fenster, und die Luft streicht kühl über mein Gesicht, weht mein frischgeschnittenes Haar nach hinten. Es verströmt alle möglichen Düfte, wie frischgemähtes Gras. Befreit vom Gewicht seiner bisherigen Länge, lockt es sich zu feinen kleinen Wellen. Als ich in die Einfahrt einbiege, heult Gordons Säge noch ein letztes Mal auf, dann ist sie still. Er lehnt ihren metallenen Körper behutsam gegen einen Holzstoß. Sein Lächeln ist wie eine vertraute Landschaft nach einer langen Reise. Wie lange geht das jetzt schon so? Die Tage verstreichen, markiert durch Besuche bei Gordon. Es gibt Tage mit Gordon und Tage ohne Gordon. Dienstag: kein Gordon. Mittwoch: Gordon zum Essen da; Victor und er je in einer Ecke des Sofas wie zwei Puppen. Donnerstag: Gordon und ich unter einer Steppdecke. Wir haben uns aneinandergeschmiegt, uns ineinander verschlungen, uns übereinander gekugelt, uns Mittagessen gekocht. Uns geliebt. Heute, Freitag, ist die zweite Woche um. 158
Und schon ist alles anders. Schon bewegt sich alles. Gordon wartet, bis wir drinnen sind. Dann küßt er mich. Er steht vor mir und mustert mich, als wäre ich sein Spiegelbild. Er knöpft die beiden obersten Knöpfe meiner Bluse auf und fährt mit der Hand in die Öffnung. Er läßt seine Finger über meine Brüste gleiten, über mein Schlüsselbein, meinen Hals. Er zupft an meinem Haar. Er legt den Kopf schief und zieht eine Augenbraue hoch. «Ich war beim Friseur», sage ich. Er streift mir das Hemd von der einen Schulter, dann von der anderen. Seine Augen wandern über mich hinweg. Er betrachtet meinen Bauch, meine Brüste, mein Gesicht. Als sei ich ein Gemälde. Von Gordons Haus aus kann man das Meer nicht sehen. Hinterm Haus liegt erst ein kleines Stück Wiese, dann ausgedehnte Waldflächen. Ständig hört man ein leises Rascheln und Knacken von Blättern, Ästen, Zweigen und Eiszapfen. Wir wandern die schmalen Waldwege entlang, über Tannennadelteppiche und Schneeflecken. Wir gehen Hand in Hand. Die Tannenzweige biegen sich unter der Last des Schnees. Wir gehen langsam, mit schweren Stiefelschritten. Alles ist reglos, gefroren, starr. Ich bin jetzt soweit, daß ich alles erfahren möchte, von seiner Frau, seiner Familie in Boston, seinen Kindern, falls er welche hat. Ich will alles über sie wissen, sie mir vorstellen können, sie sogar gern haben. Ich bin ja eigentlich keine Konkurrenz. Wie sollte ich denn konkurrieren, bei meinem seltsamen Lebenswandel? Ich, die ich mich einem anderen Mann verschrieben habe, dessen Bedürfnisse nicht seine eigenen sind, sondern die jenes Fremden, der sein Körper für ihn geworden ist. Gordon weiß das. Mein Leben liegt offen vor ihm. Genau wie der Wald birgt es Interessantes und Immergleiches. Mein Leben, mein Winterschlaf mit Victor. 159
Gordon drückt meine Hand. Er beobachtet mich. Alle paar Schritte schaut er zu mir herüber. Er wird mir alles über sich erzählen, jede Einzelheit, wenn ich danach frage. Er wird mir meinen Winterschlaf lassen. Er wird Victors Freund sein, wenn es nötig ist, und meiner. Über all das haben wir uns wortlos verständigt. Victor schaut durchs Fenster und bewundert den Schnee, der glatt und glänzend in der warmen Nachmittagssonne liegt. Er sagt, er hätte Lust, Schlittenfahren zu gehen, und ruft Gordon an. Die Nummer weiß er auswendig. Gordon ist einverstanden, und wir packen uns ein, in mehrere Schichten Socken und lange Unterhosen und Hemden. Victor ist ganz aufgeregt, als wir zu Gordons Haus fahren. Er dreht das Radio an und schlägt lauf dem Armaturenbrett den Soulrhythmus mit. Er sagt, er fühle sich sehr gut, sein Blut sei besser, fast normal. Er steigt aus dem Auto und zieht mich den Fußweg zu Gordons Vordertür entlang. Als wir an dem Holzstoß und der verstummten gelben Säge vorbeikommen, fühle ich mich fast so, als hätte ich bereits gebeichtet, seltsam erleichtert und zugleich ziemlich flau. Gordon öffnet die Tür, in den gleichen Sachen, die er auch am Vormittag getragen hat. «Prima! Los geht's!» Vorn Victor, dann ich, dann Gordon. Wir klammern uns aneinander fest. Der Schlitten saust den Hang hinunter wie ein Floß einen Wasserfall. Wir lachen und kreischen. Unsere Gesichter sind naß vom Schnee. «Achtung!» brüllt Gordon. Victor lenkt den Schlitten um eine Kuhle herum. Trotzdem kommen wir aus dem Gleichgewicht. Mein Magen krampft sich zusammen, als wir auf eine Kufe kippen. Wir schreien, der Schnee unter uns kommt in Bewegung, schwappt wie eine Welle über den Schlittenrand hoch. Gordons Arm liegt fest um meine Brust. 160
Ich klammere mich panisch an Victor. Der Schnee ist eine mächtige Woge, fliegt uns in die Augen und blendet uns. Dann sind wir wieder in der Waagerechten, rasant schießen wir dahin. Wir vollführen eine Kurve nach rechts, über einen Huppel, der sich erst als solcher entpuppt, als wir über ihn hinwegrauschen. Ich fühle, wie meine Stimme in mir emporsteigt, als wir über den Hügel fliegen. Der Schlitten scheint außer Kontrolle. Victor vollführt einen Schlenker nach links, dann nach rechts. Mein Gesicht hat eine Schneedusche abbekommen. «Keine Angst!» schreit Victor. Der Schlitten gewinnt wieder an Tempo. «Ich bin ein Genie im Schlittenfahren!» Dann werden wir endlich langsamer. Alles ist still. Ich höre das angenehme Geräusch gewachster Holzkufen auf Schnee. Die Tannen, die Büsche, das Mäuerchen am Rand der Bahn, alles ist wieder klar umrissen. Bei Cappy sitzen wir an einem Tisch unter einer gerahmten Karte der Ostküstenregion, auf der die Wassertiefen von Florida bis Maine farblich markiert sind. Wir sitzen dicht am Kaminfeuer, das bullert und knackt, während wir heiße RumToddies trinken. Das heißt, Gordon und ich trinken RumToddies. Victor hat sich einen Grapefruitsaft bestellt. Als Cappy die Getränke gebracht hat, hat er Victors Saft mit einem so angewiderten Gesicht hingestellt, als wäre es Lebertran. Victor schnürt seine Stiefel auf und kickt sie unter den Tisch. Er reibt sich die Füße und lehnt sich dann mit geschlossenen Augen zurück. «Das war toll», sagt er. «Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal Schlittenfahren war.» «Ich auch nicht», sage ich. «Ist euch klar, daß das bestimmt zwanzig Jahre her ist ?» sagt Victor. «So lange? Zwanzig Jahre?» sagte Gordon.
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«Ich kann es gar nicht fassen. Zwanzig Jahre habe ich mir das entgehen lassen. Jeden Winter war mir irgendwie so, als ob ich etwas verpaßt hätte, aber ich wußte nicht was.» So reden wir eine Zeitlang. Gordon erzählt uns, wie er sich einmal beim Wandern in den White Mountains in New Hampshire verirrt habe. Victor sagt, er sei mit einer früheren Freundin in Nepal gewesen und sei dort tagelang durch jede Menge Schnee gestapft. Er schildert die Gasthäuser mit den kleinen Zimmerchen, die man für fünfzig Cents pro Nacht haben konnte, die Riesenteller mit dampfendem Reis. Er führt uns vor, wie ihm eine alte Inderin eine Locke abgeschnitten hat, weil sie der feine rötliche Blondton so beeindruckte und sie sie in einem Glas am Fenster aufheben wollte. Wir bestellen noch eine Runde Toddies und Saft. Cappy bringt die Getränke und setzt sich zu uns. Er hat blaue Hosen an, ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt und eine Schürze mit einem Spritzer von irgend etwas Gelbem quer über dem Latz. Er war wohl gerade am Kochen. Auf seinem Gesicht stehen Schweißperlen. Dieser Mann ist ein wandelnder Hochofen. Ich frage mich, was Cappy wohl im Sommer macht, wenn es heiß ist. Wie übersteht er das nur? Dann fällt mir ein, daß er die Kneipe im Sommer seinem Sohn übergibt und selbst an den Strand geht. Ich sehe ihn vor mir, flach auf dem Rücken. Sein Bauch, der sich bläht wie ein Luftballon, droht ihn emporzuheben, über den Strand, über die Wellen, die neben ihm auf den Sand schwappen, ihn in die Lüfte zu entführen, der Sonne entgegen. Cappy als Raumschiff. Cappy in der Erdumlaufbahn. «Was ist mit dir, Vic?» fragt Cappy. «Du siehst aus wie das leibhaftige Elend, und du trinkst nichts. Was hast du, bist du krank?» «Nein», sagt Victor. «Ich bin schon auf dem Weg der Besserung. Ich war krank. Sehr krank.»
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Victor lacht. Ich schaue Gordon an. Gordon schaut Victor an. Also schaue ich auch Victor an. «Was war denn los mit dir?» fragt Cappy. «Ich sag doch, ich war krank», sagt Victor. Er nimmt einen Schluck von seinem Saft. «Ich hatte eine gräßliche Krankheit, von der alle dachten, sie würde mich umbringen. Ich stand schon mit einem Fuß im Grab.» «Und was ist dann passiert?» fragt Cappy. «Was hat dir geholfen?» «Das hier», sagt Victor und zeigt auf sein Glas. «Der Saft hat mir geholfen. Ich verdanke mein Leben der guten Grapefruit. » «Schlauer Bursche», sagt Cappy. «Wann reden wir mal weiter über den Krieg? Ich habe was über die Nazis gelesen. Ein Buch, in dem steht, daß die USA wußten, wo die Konzentrationslager waren, aber trotzdem die Eisenbahnlinien nicht bombardieren wollten.» «Stimmt das ?» frage ich. «So steht es in dem Buch», sagt Cappy. «Ja, es stimmt», sagt Victor. «Wir wollten die Juden nicht retten. Das heißt, so kann man es nicht sagen. Unsere Politiker wollten sie nicht retten. Die Mächtigen der Welt wollten es nicht.» «Ach, geh», sagt Gordon. «Das glaube ich nicht.» «Das glaubst du nicht ?» fragt Victor mit emporgezogenen Augenbrauen. «Was glaubst du nicht? Daß die Regierung von diesem Völkermord wußte oder daß es sie nicht kümmerte?» «Letzteres», sagt Gordon. «Kein Wunder, daß du so ein fröhlicher Mensch bist», sagt Victor, indem er mit seinem Glas an das von Gordon stößt. «Kein Wunder, daß es Spaß macht, mit dir zusammenzusein.» Victor legt eine Bach-Platte auf und sagt, er will sich ein bißchen hinlegen. Ich sage, das ist eine gute Idee; Gordon und ich werden Essen machen. Ich koche Fettucini, während 163
Gordon Champignons in der Pfanne anbrät und Brokkoli mit Ingwer andünstet. Wir spielen, daß wir berühmte Meisterköche sind, und sprechen mit französischem Akzent. Wir albern herum und ducken uns vor den heißen Ölspritzern. Als Vorgeschmack auf unser Festmahl probieren wir von allem. Wir haben Blaubeeren und Schokolade. Wir haben Kerzen und Wein. Ich bringe die Pasta ins Zimmer, einen dampfenden weißen Haufen. Gordon folgt mir mit dem Gemüse und der Sauce. Victor ist zu müde zum Essen. Er liegt bäuchlings auf dem Bett, in voller Montur. Ich bringe ihm einen Teller, aber er schüttelt nur den Kopf. Ich trage sein Essen in die Küche zurück, wo es vor sich hin wartet und kalt wird. Ich sage: «Victor, können wir irgendwas für dich tun?» Er stöhnt nur: «Eßt einfach.» Gordon und ich sitzen am Tisch, vor Tellern mit viel zuviel Essen darauf. Ich puste die Kerzen aus und knipse eine kleine Lampe an. Wir versuchen zu essen, sehen aber beide zu Victor hinüber. Gordon steht auf, geht zu Victor und zieht ihm die Schuhe aus. Ich wickle Pasta um die Gabel, lege dann die Gabel hin. Wir stehen beide auf und gehen hinüber zum Bett. Ich knie mich auf die Matratze und drehe Victor behutsam um. Er murmelt irgend etwas, seine Hand streift meine Schulter. Victor ist so dünn, daß es keine Mühe macht, ihn umzudrehen. Seine Beckenknochen stehen hervor wie bei einem jungen Mädchen. Ich schaue Gordon an und komme mir plötzlich obszön vor. Gordon stützt Victor. Ich packe seinen Pullover am Bündchen und ziehe ihn ihm über den Kopf. Wir knöpfen Victors Hemd auf. Ich zögere, mir ist der Gedanke peinlich, daß Gordon Victor nackt sieht - als wäre ich es, die entblößt würde, oder ein Teil von mir, den er noch nicht gesehen hat. Nach einigem inneren Hin und Her schaue ich auf Victor herab und öffne dann hastig, als hätte ich es eilig, seinen Gürtel. Gordon nimmt ihm die Uhr ab. Ich ziehe den Reißverschluß 164
seiner Jeans auf. Gordon streift ihm die Socken von den Füßen. Ich lege seine Hose über einen Stuhl. Gordon hebt ihn wie ein Kind hoch, während ich die Decken unter ihm zurückschlage. Ein grauer Tag, ein Sonnabend. Die Kirchenglocken läuten, mit tiefem, hallendem Klang. Victor liegt im Bett. Er liest weder, noch schläft er. «Da heiratet jemand», sagt er.
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Neun Gordons
Badezimmer sieht aus wie eine gut sortierte Apotheke. Dort stehen an die hundert Medizinfläschchen, halbvoll mit winzigen Tabletten und pastellfarbenen Kapseln in Lindgrün, Gelb, Rosa. Das ist der Grund, warum ich hier bin: der Inhalt der Flaschen in seinem Badezimmer. Denn Victor hat in letzter Zeit mehr Schmerzen. Eine Handvoll Aspirin pro Tag. Gordon hilft mir bei der Auswahl. Er sitzt auf dem Klodeckel. «Metalazone?» sage ich. Er schüttelt den Kopf. «Für Mutters Blutdruck», sagt er. «Aldomet?» «Für Vaters Blutdruck.» «Hydrodiuril?» «Auch Vaters.» «Clondine?» «Menopause», sagt er. «Mutters.» «Was ist mit den weißen hier?» sage ich und hebe ein großes Glas mit kalkigen Tabletten hoch. «Die sind gut», sagt Victor und nickt. «Gegen Rückenschmerzen. Die habe ich als Jugendlicher eingeworfen.» «Sind sie stark?» «Ich bekam davon Nasenbluten», lacht er. «Als meine Mutter dahinterkam, drohte sie mir mit einer Drogenklinik.» Ich stecke die Tabletten ein und hebe die nächste Flasche hoch. «Was ist damit? Mellaril», sage ich und halte sie ihm hin. «Auf jeden Fall», sagt Gordon. «Die Antidepressiva meiner Frau. Nimm beide Flaschen.» 166
Ich wache in der Stellung eines Embryos auf und liege allein im Bett. Wo ist Victor? Ich richte mich auf, stoße die Decken weg. Das Fenster ist geöffnet. Die Luft ist eiskalt. Die beiden Heizlüfter sind voll aufgedreht, vergebens. Ich stoße mir den kleinen Zeh am Tisch. Ich renne humpelnd in die Küche, suche nach Victor. Ich reiße die Tür zum Badezimmer auf, die an die Kacheln knallt. Ich öffne die Eingangstür und sehe in ein verlassenes Treppenhaus. Ich gehe zurück in die Wohnung und nähere mich ängstlich und ahnungsvoll dem Fenster. Ich krümme mich bei dem Gedanken, ihn unten liegen sehen zu müssen, aber ich zwinge mich hinunterzusehen. Der Wind läßt meine Augen tränen. Zwei Hunde, beide schwarz, rennen am Strand entlang, bleiben ab und an stehen und heben das Bein über den Algen. Ich höre in meinem Rücken ein Geräusch und ziehe den Kopf wieder herein. Victor schließt die Tür und zieht an den Fingern seiner Handschuhe. Er hat eine Zeitung unter dem Arm. «Bist du verrückt geworden! » sage ich zu Victor. Der Wind verweht mein Haar, peitscht es um meinen Hals. Victor kommt zu mir und schließt das Fenster. «Ich habe den Toast verbrannt», sagt er. Ich ordne die Muscheln auf dem Rand der Spüle. Ich überlege, ob Muscheln wohl altern und brüchig werden. Ich frage mich, ob sich ihre Farbe verändert oder ob sie mit der Zeit dünner werden. Ich nehme ein Vergrößerungsglas und untersuche eine graue Jakobsmuschel. Victor kommt herein und greift unter die Spüle, kramt darin herum und zieht ein Stück Filz und eine Reinigungsflüssigkeit heraus. «Ich will das Gewehr reinigen», sagt Victor. «Heißt das, daß du schießen willst?» frage ich und blicke weiter durch die Lupe. Die Muschel schillert. Die Ränder sind 167
dunkel wie ein Fischschwanz, in der Mitte ist sie lilagrau mit einer perlmuttfarbenen Wolke. «Wenn du nämlich schießen willst, werde ich meinen Ohren einen Gefallen tun und woanders hingehen.» «Nein, nur ölen und reinigen », sagt Victor. Ich fahre mit der Lupe über die aufgereihten Muscheln auf der Anrichte. Am Außenrand der Lupe entdecke ich eine Ameise, eine kleine rote, die mit steifen, krummen, in die Luft gereckten Beinen tot auf dem Rücken liegt. Ihr zangenförmiges Maul sieht im Vergrößerungsglas gefährlich groß aus. «Was siehst du gerade ?» fragt Victor. Ich bewege die Lupe von der Ameise weg. «Nichts», sage ich. Ich sammle meine Muscheln ein, lege sie wieder in die Kleenexschachtel zurück, in der ich sie aufbewahre. «Nicht doch, Liebling», sagt Victor und nimmt meine Hand. Vor seiner Brust hängt der lange Lauf des Gewehrs. «Das war nur eine Frage.» Er führt mich ins Zimmer und setzt sich auf das Sofa. Er zieht mich neben sich und küßt mich auf den Mund. Er legt seine Hand unter mein Kinn, und wir küssen uns lange. «Weißt du, die große Zeit der Schießgewehre ist wirklich vorbei», sagt Victor schließlich. «Ende des achtzehnten und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts lagen die Dinge anders. Die Jagdsaison war länger und die Abschußquoten höher. Aber heutzutage ist eine Doppellaufflinte, wie ich sie habe, ziemlich sinnlos.» «Was willst du damit sagen?» «Daß ich sie loswerden will.» «Was willst du mit ihr machen? Sie einmotten?» frage ich. «Ich dachte, daß wir einfach da draußen, wo die Ratten ihre stinkenden kleinen Nester haben, ein Loch buddeln und so was wie ein Begräbnis veranstalten sollten. Eine kleine Feier im engsten Familienkreis. Du, ich, die Nagetiere», sagt Victor. Er blickt auf seine Hände hinunter. Die Hand, in die er sich vor 168
Wochen geschnitten hat, ist jetzt verheilt. Zurückgeblieben ist eine große halbmondförmige Narbe. «Auch die Munition?» sage ich, und Victor nickt. Draußen blendet die Morgensonne auf dem Schnee. Victor gräbt mit einer rostigen Schaufel in der Erde. Ich bearbeite den Boden mit einer Hacke, reiße dicke dunkle Erdklumpen und Steine heraus. Der Schnee hat die Oberfläche des Bodens aufgeweicht, aber darunter ist er hart. Außerdem weht der Wind so heftig, daß ich dankbar bin, daß es so etwas wie Gänsedaunen und lange Unterhosen gibt. «Es ist kalt!» schreie ich gegen den Wind an. Die Winter in Hull sind immer windig, wie ich jetzt weiß. Ein paar Monate lang ist die Halbinsel entweder windstill oder stürmisch, eine Zwischenstufe gibt es nicht. Und innerhalb weniger Stunden kann das Wetter sich verändern, von sturmgepeitschten Ästen zu unbeweglichem Nebel. «Wenn du das schon als kalt empfindest», sagt Victor. «In der Antarktis arbeiten die Wissenschaftler bei fünfzig Grad unter Null. Ein Atemzug durch den Mund kann die Lunge platzen lassen. Lachen ist grundsätzlich zu vermeiden. Wenn du dich also das nächste Mal über die Kälte beschwerst, denk an die Menschen in der Antarktis.» Ich sehe Victor an. Ein unterdrücktes Lachen umspielt seinen ernsten Mund. Er legt das Gewehr in die Grube, die wir gegraben haben, und schüttet sie mit Erde auf. «Ist das Gewehr sehr wertvoll?» frage ich. «Es ist ein Sammlerstück», sagt Victor. «Vielleicht hätten wir es nicht verbuddeln sollen», sage ich. «Das Gewehr hat dich aufgeregt, stimmt's?» sagt er. Ich sehe auf den Streifen Erde und denke, sollte irgend jemand jemals diese antike Remington finden, wird er ewig fragen, wie sie in den Hinterhof eines verfallenen Hauses gekommen ist. Ich nicke, ja, es hat mich ziemlich aufgeregt. 169
«Dann ist Schluß mit dem Gewehr», sagt Victor und versetzt dem Gewehrgrab einen leichten Tritt mit der Zehenspitze. Ich sehe prüfend in Victors Gesicht, sehe seine runden Augen, sein Lächeln. Er hat sich einen Schal um den Hals gebunden und eine Biberfellmütze tief über die Augen gezogen. Langsam, wie in Zeitlupe, kommt er auf mich zu, schlingt seine Arme um meine Schultern und legt seinen Mund auf meine Stirn. Ich höre nur das laute Heulen des Windes und Victors sanften Atem. Victor umarmt mich, vielleicht denkt er gar nichts, oder vielleicht hat er Angst, daß ich ihn verlassen könnte. Ich sitze seit zwanzig Minuten im Auto und warte, und Gordon ist immer noch nicht gekommen. Mein Blick schweift über das grüne Wasser der Bucht. In Küstennähe ist es zu riesigen Eisschollen aus Salzwasser gefroren. Ein abgestellter Kran ragt neben einer Reihe von Booten auf, die an Land gezogen worden sind. Seine ineinander verkrallten Greifer sehen aus wie die Zähne eines schlafenden Tieres. Im Autoradio läuft eine Sendung, in der Leute anrufen und ihre Meinung zu UFOS sagen können. Ein Mann sagt, daß er schon mehrere Male ein UFO gesehen hat, und zwar immer dasselbe. Eine Frau ruft an und sagt, daß sich die Außerirdischen in ihrem Kopf unterhalten würden. Irgendein Spaßvogel ruft an und behauptet, er sei der Außerirdische im Kopf der Frau, aus dem er gern befreit werden würde. Ein anderer Anrufer sagt, daß wir die Atmosphäre säubern oder die Erde mit einer Kuppel überziehen müßten, damit die Außerirdischen nicht mehr landen könnten. Die Frau mit den Außerirdischen im Gehirn sagt, das sei eine gute Idee. Ich stelle das Radio ab, sitze in der Stille und warte, sehe ab und zu in den Rückspiegel, ob ich Gordons Auto entdecken kann. Endlich sehe ich ihn weit hinten kommen, er fährt den Hügel hinunter und biegt in den Parkplatz des Hafens ein. Er 170
entschuldigt sich wortreich, als ich zu ihm ins Auto steige. Ich sage ihm, daß mir das Warten nichts ausgemacht hätte und daß sich der Mann über die Frau mit den Außerirdischen im Kopf lustig gemacht hat. Ich erzähle ihm, daß ich manchmal nichts weiter will, als dem wirbelnden Eis in der Bucht zuzusehen oder über das winterliche Meer und seine hohen dunklen Wellen zu blicken. Manchmal will ich nichts weiter, als ein bißchen allein sein. Gordon küßt mich und schiebt eine Kassette in den Recorder. «Erst füttern wir den Hund. Dann fahren wir los», sagt er. Der hohe Ton einer Geige klingt durch das Auto. Tosh ist ein kluger Hund. Sie weiß, daß wir von ihr sprechen. Ich höre, wie sie hinten auf dem Sitzkissen mit ihrem schweren Schwanz wedelt. Ich klettere über den Sitz zu ihr nach hinten, rede mit ihr, kraule das weiche Fell unter ihrer Schnauze. Ich sage: «Na, wie geht es uns heute, Miss Tosh», und sie legt ihre Vorderpfoten auf meinen Schoß und leckt mein Gesicht. Wir fahren zu Gordon, und ich bewundere, wie er die Küche gekachelt hat. Er hat die hellbeigen Kacheln perfekt in die Fläche der Anrichte eingepaßt. Eine Arbeit, die genau die Geduld und Sorgfalt erfordert, zu der ich nicht fähig bin. Gordon erklärt, daß er noch die Glasur auftragen muß, damit sie glänzen und leichter sauberzuhalten sind. Er sagt auch, daß er sich fragt, warum er soviel Zeit in ein Haus steckt, das nicht ihm gehört, sondern seinen Eltern, die weder an der alten Oberfläche der Anrichte etwas auszusetzen hatten noch an dem Schloß der Haustür, noch am Abfluß des Badezimmers im Erdgeschoß, Dinge, die Gordon ebenfalls erneuert hat. Sie waren sogar wütend, als sie hörten, daß er am Schornstein die langen Ranken des Efeus, die in den Himmel wuchsen, gekappt hat. Aber Gordon sagt, daß ihm das egal sei. Er weiß, was an dem Haus reparaturbedürftig ist. Wahrscheinlich würden seine 171
Eltern noch nicht mal einen Unterschied bemerken, wenn sie im Sommer wiederkämen. In seinem Wohnzimmer steht Mrs. Birkles Farbfernseher auf dem Kaffeetisch. Ich habe Gordon gebeten, ihn mitzunehmen, und er hat versprochen, ihn zu reparieren. Gordon ruft mich in die Küche. Er füllt mit einem Löffel Hundefutter in einen grauen Napf. Er lächelt und zeigt mit dem Kinn auf das große Fenster, das auf den Wald hinausgeht. Draußen balgen sich zwei Eichelhäher. «Was für eine Aufregung», sagt Gordon. Wir geben Tosh zu fressen, die sich darüber freut, aber als wir ohne sie weggehen, hinterhersieht, als ob wir sie verraten hätten. Als wir aus der Einfahrt fahren, sehe ich im großen Fenster des Wohnzimmers, wie Tosh ihren Kopf durch die Vorhänge schiebt. Die Fahrt an der Küste entlang zieht sich hin. Wir fahren einen Weihnachtsbaum kaufen. Ich schnüre meine Schuhe auf und stelle meine Füße direkt unter die Heizung. Dann lehne ich mich zurück und sehe zu Gordon hin. Er ist so groß, daß sein Kopf fast an die Decke des Autos stößt. Gordons Haar ist ein bißchen länger geworden und fällt ihm mit einem unnachahmlichen Schwung nach einer Seite über die Stirn. Die Baumschule ist die, von der mir Cappy vor über einem Monat erzählt hat. Cappy muß heute hinfahren, weil er Geräte für seine Kneipe holen will, und ich habe mich dort mit ihm verabredet. Er wird den Baum für mich auf seinem Pritschenwagen mitnehmen. Gordon meinte, daß er mitkommen wolle. Er sagte, wir treffen uns am Hafen, was hieß, daß er nicht wollte, daß Victor mitkommt. Es gibt keine Schwierigkeiten mit Victor, aber ich glaube, daß Gordon einen Vorwand brauchte, um einen Tag mit mir allein zu verbringen, ohne Victor, der in unserem Dreiergespann die ausgeprägteste und wortgewandteste Persönlichkeit ist. 172
Außerdem habe ich schon vermutet, daß Gordon mir etwas erzählen will, was, wie sich herausstellt, auch stimmt. Zur Einleitung stellt er den Kassettenrecorder aus. Dann seufzt er und beginnt. «Okay. Freddy ist Künstlerin.» In meiner Vorstellung trägt sie einen efeugrünen Mantel, der ihr bis zu den Knöcheln reicht. Sie trägt eine rubinrote Brosche und modischen EthnoSchmuck: eine lange mexikanische Halskette aus Leguankrallen. «Sie arbeitet mit Ton. Sie macht diese kleinen Sachen aus Ton», sagt Gordon. «Sie ist fast einen halben Meter kleiner als ich. Sie ist nie gern Hand in Hand mit mir gegangen, weil sie sich dann noch kleiner vorkäme, sagte sie.» Ich sehe weiße Skulpturen aus Ton in runden embryonalen Formen, und Freddie, die sich über sie beugt. Freddy mit zarten Knochen, schmalen Hüften, gepflegten kleinen Füßen mit lackierten Fußnägeln. Ich sehe Gordon und Freddy, die mit Tosh an einem Frühlingsabend Spazierengehen. «Welche Haarfarbe?» frage ich. «Ich glaube, man würde Braun sagen, aber mit einem Stich ins Rötliche», sagt Gordon. Ich sehe schimmerndes Mahagoni. Ich sehe einen zarten weißen Hals und eine Schildpattsonnenbrille. «Wir hatten ein Haus - in Summerville. Die Hälfte eines Hauses, das dem Bundesstaat gehört.» Ich stelle mir ein Wohnzimmer vor, das in ein großes Atelier umgewandelt worden ist. Freddy trägt nur eine Pyjamajacke von Gordon und schwarze Strümpfe und glitzernde Socken. Sie kniet neben einem Glastisch, auf dem sie ihre Arbeiten ausgebreitet hat. An ihren Händen klebt nasser Ton. Als ich nachbohre, gibt Gordon zu, daß er auf Freddys Skulpturen eifersüchtig gewesen ist. Er sagt: «Sie hatte sie überall auf dem Fußboden ausgebreitet, sie trockneten auf Zeitungen und zerrissenen 173
Einkaufstüten und auf Bettlaken, die noch gut waren. Ich weiß nicht warum, aber das hat mich geärgert.» Freddy ist sommersprossig, und an einem Unabhängigkeitstag, als sie ihm die Splitter aus dem Knie zog, versprach er ihr, sie zu heiraten. «Ich habe eine Tochter, die Raleigh heißt. Es ist nicht wirklich meine Tochter», erzählt er mir. Wir sind einem Ast ausgewichen, der auf die Straße gefallen ist. Er hat dort so lange gelegen, daß der Schnee ihn sanft eingehüllt hat, unter ihm die nackte Straße. Ich stelle mir vor, wie Freddy einen Elefanten formt, einen Bären, eine Entenschar und eine große Giraffe mit elegantem Hals. Ich sehe sie auf Zehenspitzen an dem Kinderbett vorbeigehen, in dem das Kind schläft, und ihre neuen Skulpturen auf einem Tisch arrangieren. «Hier ist ein Bild», sagt Gordon und wirft mir seine Brieftasche hin. Unter starrem Plastik strahlt Raleigh mich an. Dickes schwarzes Haar, dichte, hochgewölbte Augenbrauen. Sie hat noch alle ihre Milchzähne und ein Doppelkinn und trägt ein helles Kleid mit Puffärmeln. «Eines Nachmittags kam ich nach Hause, und er war bei uns. Raleighs Vater. Auch ein Künstler. Ich kannte ihn von Ausstellungen her. Er malt riesige Bilder. Ein Bild hat er Freddie geschenkt, und ich habe mir nichts dabei gedacht. Es hing seit fünf Monaten über dem Kamin, und ich hatte keine Ahnung. Er steht da in meinem Wohnzimmer, und ich sage: ‹Was machst du denn hier?› Er sagt, er wolle ein paar von Freddies Skulpturen für eine Ausstellung holen. Ich sage: ‹Wieso hast du einen Schlüssel ?›, und er starrt erstaunt auf seine Hand, als ob die Schneekönigin ihn dort hineingelegt hätte. Dann kam Freddy und hatte eine Flasche Wein dabei.» Ich stelle sie mir sehr hübsch vor, wie einen Regenbogen, eine Frau in einem rosenroten Kleid, die nach Aprikosenseife 174
duftet, mit frisch gewaschenen Haaren, die ihr bis zur Schulter reichen. An der Tür kullert ihr die Flasche Wein aus der Hand. «Da hast du dich von ihr getrennt ?» «Nein, ich habe mit Alien Turf viel Geld verdient, bin in einen Verein für Sportkletterer eingetreten, habe einen chinesischen Kochkurs belegt, habe mich an Märschen gegen den Hunger beteiligt.» «Es hat dir nichts ausgemacht?» sage ich. «Das weiß ich nicht so genau. Wir hatten die üblichen alltäglichen Probleme. Freddie arbeitete weiter an ihren Skulpturen. Ich fuhr das Baby im Park spazieren. Ich hatte auf einmal viel Geld und spielte den Vater. Doch, es machte mir etwas aus. Ich hatte eine Freundin. Sie hatte einen Freund. Einen neuen, einen Arzt, der Bert hieß. Ich hatte wieder eine neue Freundin. Sie zog mit Bert zusammen. Bert hat einen riesigen Mund», sagt Gordon. «Er sieht aus wie eine dänische Dogge mit diesem Mund.» Als ich ihn frage, sagt er, daß ihm vor allem seine Tochter fehlt, die er, obwohl sie nicht sein Kind ist, als seine Tochter ansieht. Wir fahren an vielen Häusern vorbei und an großen Anwesen, Ländereien mit holländischen Türen und makellosen, gefliesten Wegen. Ich überlege, wie Gordons Haus in Sommerville aussehen mag, und stelle mir Gordon und ein dunkelhaariges Kind vor, die zusammen einen Schneemann bauen. In meiner Vorstellung läßt Gordon das Kind auf seinen Knien reiten, und sie will auf den Arm, er hebt sie in die Luft, und ihr Körper ruht auf seinen großen Handflächen. Raleigh schwebt hoch über seinem Kopf, sie lacht, ihre dunklen Augen leuchten. Aber dann wird sie ihm von irgendeiner unsichtbaren Kraft entrissen, irgendein Naturgesetz zieht sie von ihm weg. Und sie entschwebt rückwärts über die Wipfel der Bäume und hinter einen lavendelfarbenen Horizont, schreit tonlos nach Gordon, 175
streckt die Arme nach ihm aus. Er steht hoffnungslos festgenagelt neben dem eiskalten Schneemann und sieht in das schmerzverzerrte Gesicht seiner Tochter. «Das soll Bert sein», sage ich zu Gordon. Ich habe mich mit dem Rücken an die Tür gelehnt und meine Füße in Gordons Schoß gelegt. Ich ziehe mit den Fingern meinen Mund an beiden Seiten nach oben. Wir kommen an einem Ausschank für Apfelmost vorbei, einer Pferdefarm, einer Wasseraufbereitungsanlage. In einem Stadtzentrum fahren wir unter weihnachtlichen Lichterketten hindurch. Im Schaufenster einer Apotheke tanzen zwei rotweiß gestreifte Spazierstöcke aus Zucker zum Rhythmus eines Metronoms. Eine Straßenlaterne ist mit einem Weihnachtsmann geschmückt, der vom Wind heftig geschüttelt wird. Unvermittelt sagt Gordon: «Ich wette, daß du Victor nicht so lieben würdest, wenn er gesund wäre.» «Ich glaube, daß du nicht so nett zu ihm wärst, wenn er gesund wäre», verteidige ich mich. «Dann müßte ich nicht so verflucht freundlich sein!» «Ach, hör doch auf», sage ich und wende mich ab. Die Sonne macht einen letzten Versuch, den heringsgrauen Himmel aufzuhellen. «Verzeih mir», sagt Gordon nach einer Weile. Er fährt an den Straßenrand und zieht die Handbremse. Er sieht mich an, fährt sich heftig mit den Händen über das Gesicht und sagt: «Weißt du, daß ich den Kerl richtig gut leiden kann? Ich möchte vorbehaltlos mit ihm reden können, ich möchte, daß es ihm gutgeht, ich möchte ihm helfen, seine Qualen zu ertragen. Aber wenn ich mich mit Victor unterhalte, dann kann ich nichts weiter als Witze reißen und mich seinen Fragen anpassen. »
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Gordon legt seine Arme und seinen Kopf auf das Steuer. Ich zerzause ihm das Haar mit den Fingern. Er zieht mich an sich, ich spüre seinen festen Griff auf meinem Rücken. «Bin ich kein Mensch mehr, oder kann es irgendwie doch sein, daß das, was wir tun, in Ordnung ist ?» flüstert Gordon an meinem Hals. Ich bin erstaunt und plötzlich den Tränen nahe. Ich möchte weinen, weil unser Leben so verworren und so kompliziert ist und weil es unerträglich ist, in einem Alter zu sein, in dem alles Schreckliche, selbst der Tod, durch die Sexualität an Schrecken verliert. Ich möchte Raleigh vom Himmel reißen und in Gordons Arme legen, damit er sie sehen kann, damit sie bei ihm sein kann. Ich möchte ihm versichern können, nein, was wir machen, ist nicht schlecht. Wie können wir entscheiden, wie wir uns richtig verhalten sollen, wenn alles um uns herum zerfließt wie auslaufendes Öl, auf dem jeder Schritt zu einer sinnlosen Farce wird ? Seit Wochen habe ich mich nicht mehr wie ein lebendiger Mensch gefühlt, sondern wie ein Geist. Wir sind wie drei Geister. Wir irren zwischen unseren Häusern umher und suchen nach einem Ort, an dem wir zu Hause sein können. Aber gleichzeitig müssen wir gegen den Strom einer Welt ankämpfen, die durch unsere Lügen unwirklich geworden ist. Als wir von der Hauptstraße abbiegen, wird die Straße schlechter. Wir fahren an mehreren Baufahrzeugen vorbei, die mit blinkenden Lichtern die Straße abteilen. Sie entfernen Äste und Eiszapfen, die herunterzufallen drohen. Nach einer Meile kommt ein Holzschild, auf dem «Breathstone Farm» steht. Neben dem Schild ist ein viereckiges Pappschild befestigt, auf das mit Neonfilzer «Bäume mit Wurzeln» geschrieben wurde. Die Einfahrt ist voller Schlaglöcher und von tiefen Reifenspuren durchzogen. Es hat geregnet, und der Schnee hat
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sich in schmutzigen Schneematsch verwandelt. Gordons Auto rumpelt über die lange Einfahrt. Wir parken vor einem großen Haufen aus Schnee und Laub, die Mischung sieht aus wie ein riesiges Eis mit Schokoladensplittern. Der Parkplatz - wenn man ihn als solchen bezeichnen will - ist matschig und voller Pfützen. Dort stehen ein paar Lastwagen und ein goldener Mercedes mit einer Girlande über dem Kühlergrill. Alle vier Reifen des Mercedes sind voller Matsch. Neben dem Mercedes steht Cappys Pritschenwagen, mit getrocknetem Matsch an der Tür, wie nach einer Explosion. Ein freigeschaufelter Weg geht vom Parkplatz ab. Wir beeilen uns, zu einem rotweiß gestreiften Zelt und dem mit einer Lichterkette markierten Feld von Bäumen zu kommen. Das Feld wird von Scheinwerfern beleuchtet. Der Schnee sieht gegen das Grün besonders weiß aus. Die Hügel dahinter stehen voller Nadelbäume. Die Luft riecht durchdringend nach Weihnachten. Der Weg ist glitschig, der Boden ist von dem Gewicht der vielen Kunden aufgeweicht. Gordons Lederstiefel sind für dieses Gelände gut geeignet, aber ich komme mir in meinen Turnschuhen ziemlich dumm vor. Sie sinken ein und fallen mir bei jedem Schritt fast von den Füßen. Ich muß beinahe schlittern, wie ein Kind, das zum erstenmal auf Schlittschuhen steht, und ich bin froh, als wir endlich am Zelt angekommen sind. Die Öffnung des Zelts ist groß wie eine Garageneinfahrt, und drinnen sitzt ein riesiger bärtiger Mann an einem Picknicktisch und kaut auf seiner Pfeife herum. Der Mann salutiert militärisch und sagt: « Sie wollen einen Baum kaufen?» «Ja», sage ich. «Wir sind mit jemandem verabredet.» «Cappy?» fragt er. Seine Hände sind braun wie Borke, mit vielen Narben. Ein Daumennagel ist lila verfärbt. «Er ist in der
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Scheune. Wir haben ein lahmes Pferd, um das er sich kümmert. Ich bin Walt.» Walt bietet uns einen Platz am Tisch an. Es gibt einen Heizlüfter, der an einen Generator angeschlossen ist, und ich wärme meine nassen Füße. «Cappy sagt, daß Sie Tierärztin sind. Stimmt das?» fragt Walt. Mit seinem langen behaarten Gesicht sieht er aus wie ein Pilger. Sein Haar ist stahlgrau, im Nacken lang, sein Mund schmal, wie bei einem Pilger. «Ich habe jahrelang bei einem Tierarzt gearbeitet. Aber ich bin keine Tierärztin», sage ich. Ich spüre den mir vertrauten Drang, ihn zu belügen, zu sagen, daß ich Tierärztin sei. Etwas, was ich schon seit Jahren sein will. Seit ich denken kann. Aber ich habe absolut keine Ahnung von Tiermedizin. Ich verstehe nur die Anweisungen, die mir von jemand gegeben werden, der was davon versteht. «Würden Sie sich mein Pferd einmal ansehen? Ich habe es vor drei Monaten gekauft. Seitdem lahmt es.» Aus dem hellerleuchteten Weihnachtsbaumfeld kommt eine kleine Familie, zweifellos die Eigentümer des Mercedes, sie sehen nicht aus wie eine Familie, sondern wie die Reklamefamilie schlechthin. Der Vater hat eine weiße Fichte geschultert, seine Töchter berühren die wippenden Äste und suchen die Erde nach Tannenzapfen ab. Eine schöne Frau mit sanften großen Augen bewundert den Baum, den ihr Mann trägt. Ein paar Schritte hinter ihnen kommt ein Junge, vielleicht dreizehn Jahre alt, mit einer Axt in der Hand und Arbeitshandschuhen, die er in die Hosentasche gesteckt hat. Er lehnt die Axt an das kurze Ende des Picknicktisches und zählt der Mercedesfamilie aus einem Bündel Scheine das Wechselgeld ab. «Hast du Einer für einen Fünfer?» fragt er Walt. Walt sieht in seinem Bündel nach und zählt vier knisternde Eindollarnoten ab. Dann hält er ihm eine Hand voll mit glänzendem Silber hin, 179
und der Junge sucht sich vier Quarter heraus. «Danke, Dad», sagt der Junge und folgt der Mercedesfamilie. Mr. Mercedes, der Vater, dreht sich um und winkt Walt zu, der mit dem Kopf nickt und «Auf Wiedersehen» sagt. Walt sieht ihnen nach und nimmt einen langen Zug aus seiner Pfeife. «Dieser Mann kommt seit drei Jahren hierher und kauft einen Baum. Jedesmal kommt er mit einer neuen Frau. Ich weiß nicht, warum er ausgerechnet zu uns kommt. Unsere Bäume leben, sage ich zu ihm. Aber er besteht jedesmal darauf, daß wir für ihn einen abhacken.» Walt schüttelt den Kopf und stößt eine Rauchwolke in die Luft. «Wollen Sie sich mein Pferd ansehen?» «Ich glaube, daß ich für Ihr Pferd nichts tun kann», sage ich zu ihm. «Nein?» sagt Walt und lehnt sich zurück. Etwas Tabak fällt auf seinen Bart, und er schnippt die braunen Krümel mit zwei Fingern von seinem Kinn. Der Weg zur Scheune ist naß und extrem uneben von den Pferdehufen, die in den Matsch eingesunken sind. Ich passe sorgsam auf, vermeide die tiefsten Stellen und gehe sehr vorsichtig. «Was ist los?» sagt Walt. «Die Stiefel vergessen?» Ich besitze viele Schuhe und die eleganten Stiefeletten, die Mrs. Birkle mir geschenkt hat, aber ich habe kein anständiges Paar richtiger Arbeitsstiefel. Das ist eigentlich völlig unerheblich, aber aus irgendeinem Grund verstärkt mein unpassendes Schuhwerk noch mein Gefühl, daß ich mich lächerlich mache, wenn ich denke, daß ich dem Mann vielleicht helfen könnte herauszufinden, was sein Pferd am Bein hat. Gordon macht seine üblichen langen Schritte, Walt bewegt sich in einem einigermaßen angepaßten Tempo, und ich sinke ein, schlittere herum, krampfe meine Zehen zusammen und hoffe, daß ich nicht aus den dünnen
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Turnschuhen rutsche. Dann sehe ich Cappy, der durch den Matsch auf uns zu balanciert. «Hey, hey», sagt Walt, als Cappy näher kommt. «Was machst du denn hier?» sagt Cappy zu Gordon. In seiner Manteltasche steckt ein Bier. «Ich habe Hilary hergefahren», sagt Gordon. «Soweit ich weiß, kann sie selber fahren», sagt Cappy. Er sieht Gordon an und trinkt einen Schluck Bier. «Ich weiß, daß sie fahren kann», sagt Gordon eisig. «O ja, das kann ich mir vorstellen», sagt Cappy. Er wendet sich an mich: « Wo ist Victor?» «Zu Hause.» «Irgend jemand hat dem Pferd die Hufe zu sehr beschnitten, als sie ihm die Eisen draufgeschlagen haben», sagt Cappy zu Walt. «Du mußt einen Metzger als Schmied haben. Ich habe ihm die Eisen abgenommen. Laß den alten Knaben eine Weile im Matsch stehen, und es wird ihm wieder besser gehen.» Das ist ein einfacher Ratschlag, wie ihn ein Tierarzt manchmal geben kann und manchmal auch nicht. Eine verläßliche Beurteilung, auf der Grundlage von Erfahrungen, die über Jahre hinweg gesammelt wurden. Cappy, der Kneipenbesitzer, hat mir Jahrzehnte an Wissen voraus. Auf dem Weg zurück zum Zelt legt mir Cappy seine schwere Hand auf die Schulter und beugt sich tief zu meinem Ohr hinunter. «Estelle hat mir heute morgen etwas über Victor erzählt. Sag mir, daß das nicht wahr ist.» Ich rutsche durch den Matsch. Ich reiße meinen Knöchel aus dem Modder hinter mir. Ich bestätige ihm, was er über Victor erfahren hat, und beobachte, wie sich Cappys Gesicht noch weiter verfinstert. Er schüttelt traurig den Kopf, und ich starre zu Boden. Ich gehe in Walts Haus auf die Toilette und wandere auf einem Kiesweg zurück. Ich habe eine Taschenlampe. Der Himmel ist 181
saphirblau. Unter den Scheinwerfern kann ich Cappy, Walt und Gordon neben dem Pritschenwagen stehen sehen. Mein neuer Weihnachtsbaum liegt auf der Seite wie ein Unfallopfer. Die Wurzel unten am Stamm ist mit weißem Stoff umwickelt. Unten am Stamm ist er mit weißem Stoff verbunden. Der Baum ist so groß, daß sie die Ladung auf dem Laster umstellen müssen. Gordon steht auf der Ladefläche der Pritsche und stemmt sich mit den Schultern gegen ein hüfthohes Aluminiumfaß, das sich kaum bewegt. «Schieb es nach hinten!» brüllt Cappy Gordon an. Das Faß bewegt sich langsam, ich höre, wie Metall auf Metall kratzt. «Komm runter, Gordon. Walt, könntest du mir bitte helfen», höre ich Cappy sagen. Walt nimmt ein Paar Handschuhe aus seiner Tasche und hievt sich auf den Laster. «Geh aus dem Weg, Gordon», sagt Cappy. «Schon gut, ich schaffe es.» «Warum kommst du nicht einfach runter?» «Ich habe dir gesagt, daß ich es schaffe.» «Ich wette, Victor fragt sich, wo sie ist. Dein Freund Victor, erinnerst du dich?» sagt Cappy. «Halt den Mund», sagt Gordon und schwingt sich über die Klappe des Lastwagens. Als ich in den hellerleuchteten Kreis des Scheinwerferlichts trete, tut Cappy so, als sähe er mich nicht, und Gordon schaut er nicht an. Gordon schaltet die Scheinwerfer an und schlängelt sich aus der Einfahrt. Sein Gesicht ist düster, und er sitzt zusammengesunken auf seinem Sitz. Ich sitze neben ihm und lehne meine Wange an seinen Oberarm. «Cappy war der erste Mensch, dem ich erzählt habe, daß ich heiraten werde. Meine Eltern waren im Sommerhaus und wir riefen dort an, aber niemand nahm ab. Deshalb rief ich in der
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Kneipe an, und Cappy war am Telefon. Wir sagten es ihm, und dann sagten wir es meiner Familie.» «Kennt Cappy Freddy?» frage ich. «Natürlich. Natürlich kennt er sie. Jeder kennt jeden. Ich möchte gern anhalten und etwas trinken. Hast du etwas dagegen, wenn wir irgendwo anhalten?» Am liebsten würde ich sagen, daß ich etwas dagegen habe, weil ich Victor schon zu lange allein gelassen habe und es an der Zeit ist, nach Hause zu gehen. Aber das kann ich nicht sagen. Nicht, nachdem Cappy Gordon so schlecht behandelt hat. Also sage ich: «Ja, laß uns etwas trinken.» Ein paar Meilen fahren wir noch auf der dunklen Straße, dann sehen wir die Lichter einer Stadt. Es ist Weihnachten. Das ist nicht zu übersehen. Jedes Geschäft ist mit einer bunten Lichterkette geschmückt. Auf einem kleinen Stück Gras, eingerahmt von vielen kleinen Geschäften, steht ein lebensgroßer Weihnachtsmann mit zwölf braunen Rentieren. Er wird von einem Bündel von Strahlern angeleuchtet, die die Schatten auf seinem Weihnachtsmanngesicht vertiefen. Ich muß an Walt denken, an sein dunkles Gesicht und an seinen schönen jungen Sohn. Ich überlege, wie Walt wohl leben mag, ob er eine Frau hat, und wenn ja, ob sie glücklich sind. Ich kenne mich mit den Menschen nicht mehr aus. Die Mercedesfamilie hatte auf mich auch einen vollkommenen Eindruck gemacht, und natürlich konnte das so nicht stimmen. Nicht mit drei Ehefrauen in drei Jahren. Walt kam mir glücklich vor, aber der Schein konnte trügen. Wenn ich Gordon und mich sehen könnte, wie wir aus dem Auto steigen, zwei junge Leute, die Hand in Hand unter einer weihnachtlichen Lichterkette stehen, würde ich nicht denken, daß die beiden glücklich sind?
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Zehn Als ich zu unserer Wohnung zurückkomme, ist es schon spät. Der Mond steht hoch am Himmel, und ich stapfe müde die Treppe hinauf. Dann bleibe ich stehen. Ich horche. Aus unserer Wohnung kommen Geräusche. Während ich weiter hinaufsteige, höre ich, wie etwas über den Fußboden geschoben wird, das laute Klatsch herunterfallender Bücher und das Knarzen von Holzschubladen, die bis zum Anschlag aufgerissen werden. Zuerst denke ich, oha, ein Einbrecher in unserer Wohnung. Besser, ich drehe um und verschwinde. Rufe die Polizei. Dann denke ich, daß der Einbrecher womöglich Victor in seiner Gewalt hat, und vielleicht hat er ja auf ihn geschossen oder ihn an einen Stuhl gefesselt. Ich kann Victor nicht allein da drin lassen - wenn ich mir vorstelle, was ihm alles passieren könnte! Victor ist genau der Typ, einen Einbrecher zu ärgern. Oder auch mehrere Einbrecher. Victor bringt es fertig, spitze Bemerkungen loszulassen oder auch einfach nur zornig und unbeugsam dazusitzen. Sich nicht durch ihre Pistolen einschüchtern zu lassen. Zu erklären: «He, ich bin ein todkranker Mann. Glaubt ihr, ihr könnt mir Angst machen?» Ich höre ein lautes Rumsen und nehme drei Stufen auf einmal. Dann bleibe ich stehen. Ich gehe wieder einen Treppenabsatz zurück. Ich denke, wenn da wirklich Einbrecher in der Wohnung sind, was könnte ich für Victor tun? Dann steige ich wieder hinauf. Ich schaue auf unsere Wohnungstür, auf den kleinen grünen Kranz, den ich gestern aufgehängt habe. Das Schloß ist unversehrt. Trotzdem bin ich, als ich die Tür öffne, darauf gefaßt, mich drei Männern in schwarzen Lederklamotten gegenüber zu sehen. Aber da sind keine 184
Männer. Da steht nur Victor, die Hände in die schmalen Hüften gestemmt. Mitten im Zimmer, zu Füßen des Betts, liegt unsere gesamte Habe. Ein Berg von Zeug - ein Regenschirm, Milchkästen, eine Verlängerungsschnur, stapelweise Bücher, ein Fön, ein offener Koffer, Zeitungen. Victor hat den Inhalt seiner Schreibtischschublade in eine Plastikmülltonne gekippt, und da liegt ein Matchsack, vollgestopft mit Kleidern. «Was geht hier vor ?» frage ich, aber mir stehen die Tränen in den Augen. Es ist offensichtlich, was hier vorgeht. Victor packt seine Sachen, unser beider Sachen. Halb will ich die Antwort gar nicht wissen. Will ich seine Worte nicht hören, seine Stimme, die mir sagt, daß er weiß, wo ich gewesen bin, und daß ich einen anderen habe... einen anderen, jetzt... wie kann ich nur? Er stapft im Zimmer auf und ab. Die Jeans wirken riesig an ihm, und er zittert. Ich lasse ihn nicht aus den Augen. Ich beobachte ihn so genau, wie ein Trapez-Artist die Bewegungen seines Partners verfolgt. Vor lauter Hinschauen vergesse ich fast das Atmen. «Sag endlich was!» sage ich, obwohl in meinem Hinterkopf eine Stimme gellt: Nicht, Hilary, laß ihn nicht reden! Es soll nicht losgehen! Victor antwortet nicht. Statt dessen verschwindet er im Bad. Im Bad brennt kein Licht, und als ich hinter ihm herstürze, stolpere ich fast über ihn. Er steht über die Kloschüssel gebeugt und übergibt sich. Auf seinem Hemd ist eine breite Schweißbahn vom Kragen bis zum Kreuz, und bei jedem Würgen fühle ich seine Rippen so scharf hervortreten, als wollten sie sich durch die Haut bohren. Ich stehe da, die Hände auf seinem schweißnassen Rücken, und spüre, wie sein Körper sich müht und versteift. Er hat keine Kraft mehr und läßt sich auf die Knie sinken. Seine eine Hand umklammert noch immer das Waschbecken. Er will etwas sagen, aber das Würgen erstickt seine Worte. Er sagt... nichts. Er streckt eine Hand 185
nach hinten und umfaßt meinen Fußknöchel. Das ganze Bad stinkt wie der übelste Winkel eines U-Bahnhofs. Ich beuge mich über Victor, mein Gesicht ist dicht über seinem Haar. Als ich nahe genug bin, kann ich seinen normalen Geruch, den Victor-Geruch, unter dem Gestank nach Schweiß und Erbrochenem ausmachen. «Es... kommt... nichts... mehr... raus», sagt er. Er legt einen Arm über die Kloschüssel und bettet den Kopf darauf. Ich streiche leicht über sein feuchtes Haar. Am Haaransatz liegen seine Locken platt an der Stirn an. Ein Schweißtropfen rinnt seitlich der Nase herunter. «Wie lange geht das schon so?» frage ich. Ich halte ihm ein Handtuch vor den Mund, damit er hineinhusten kann. «Stunden.» Ich sehe Victor vor mir, den ganzen Nachmittag elend und allein. Mir ist, als hätte man mir inwendig alles herausgeschlagen, so daß da nur noch ein Hohlraum ist, wie bei einem Haus, das saniert wird und von dem nur noch das Skelett steht. Ich komme mir vor wie eine Vandalin. Ich war die drei Einbrecher in unserer Wohnung. Ich habe Victor an einen Stuhl gefesselt, ihm mit einer Pistole den Mund blutig geschlagen. Dann sehe ich, daß Victor wirklich aus dem Mund blutet. Ich halte das Handtuch so, daß Licht aus den anderen Zimmern darauf fällt. Es hat rotbraune Flecken. Sie machen mir Angst. Sie sind so beängstigend wie die kerzengerade Säule eines Wirbelsturms am Horizont. Ich frage mich, ob ich es Victor sagen soll. Muß er wissen, daß in seinem Erbrochenen Blut ist? Dann denke ich, wie offen Victor über seine Krankheit spricht, daß gerade sein rationaler Umgang damit das Traurigste und Zynischste an der ganzen Sache ist. Außerdem brauche ich ihm nicht zu sagen, daß da Blut ist. Er kann es sicher schmecken. Er fragt sich wahrscheinlich, ob er es mir sagen soll.
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«Verdammt, Hilary», sagt Victor. Er streckt den Arm aus, packt mich an einem Haarbüschel und zieht mich direkt an sein Gesicht. «Du sollst hier sein und für mich dasein.» Mich überkommt der verzweifelte Drang, ihm zu antworten, ihm alles zu sagen, ihn mit tröstenden, lindernden Worten zu überschütten. Ich will mich aufreißen, ihn in mein Innerstes sehen lassen, ihn alles sehen lassen, was ich für ihn empfinde, was ich nicht aussprechen kann. «Du sollst dich um mich kümmern.» Er spricht langsam, artikuliert die Worte mühsam. Ich nicke und presse mich an ihn. Es dauert viele Minuten, bis er die Kraft zum Aufstehen hat. Als er endlich im Bett liegt, sorgsam zugedeckt, schließt er die Augen, und ich bleibe noch eine Weile bei ihm sitzen und kühle ihm die Stirn mit einem Waschlappen. Er ist jetzt ganz ruhig, sein Gesicht entspannt. Ich muß daran denken, wie schön er an dem Abend aussah, als wir uns das erste Mal küßten, beim Dock am Long Wharf. Jemand ließ ein Spielzeugboot fahren, und wir sahen zu, wie es gegen die langgezogenen Wellen ankämpfte. Ich muß an unsere Versprechen denken, die ausgesprochenen und die unausgesprochenen, und an das, was noch hätte sein können. Ich frage mich, ob wir wohl Kinder miteinander bekommen hätten. Und dann komme ich mir seltsam pervers vor, weil ich in Wahrheit froh bin, daß wir keine Kinder haben. Ich bin froh, daß ich seine Eltern und seine Freunde nicht kenne und niemanden werde trösten müssen, wenn er stirbt. Weil ich nicht glaube, daß ich noch irgend jemanden trösten kann. Nicht jetzt. Nicht nach alledem. Als Victor eingeschlafen ist, schleiche ich in die Küche. Ich habe schrecklichen Hunger, aber das einzig Eßbare, was ich im Kühlschrank finde, ist eine Art komplizierter Salat aus Reis und roter Bete, der zu Victors neuer Diät gehört. Und noch 187
anderes Obst und Gemüse - ausgefallenes Zeug wie Rhabarber. Außerdem entdecke ich eine halbe Stange Lakritze, noch in ihrer Verpackung. Eine geschälte Zwiebel, einen Doughnut, ein hartes Ei in einer Schüssel mit Eierkrem. Ich suche etwas Simples wie Erdnußbutter. Ich finde ein Glas hinter den Vitaminen im Hängeschrank und habe Mühe, den hohen Deckel aufzuschrauben. Ich gieße mir ein Glas Milch ein, trinke es aus und gieße das Glas wieder voll. Ich bestreiche mir Toast mit Erdnußbutter und esse hastig, im Stehen, als könne mir jemand mein Essen wegnehmen oder als täte ich etwas Unrechtes. Das Bad stinkt, also mache ich es sauber. Ich bin ganz leise. Ich lasse das Wasser nur in einem ganz dünnen Strahl ins Waschbecken laufen. Als das Becken voll ist, gebe ich Salmiak hinein. Ich schrubbe Klo und Waschbecken mit einer Bürste, die ich im Badezimmerschrank finde. Ich kratze mit den Fingernägeln. Alles in dieser Wohnung ist so alt. Im Boden der Kloschüssel ist ein Netz von feinen Sprüngen. Sie bilden komplizierte Gebilde, wie Korallenstöcke. Ich schrubbe, so gründlich ich kann, versuche, das Schwarze aus den Sprüngen herauszubekommen. Immer grimmiger bearbeite ich das Porzellan. Ich stehe über die Kloschüssel gebückt, völlig außer Atem. Der Salmiakgeist ist stark. Die Bürste fällt mir aus der Hand, und ich setze mich unsanft auf den Boden. Ich sehe Seifenblasen über die Klobrille gleiten. Ich trockne mir die Hände an meinen Jeans ab und inspiziere, was Victor angerichtet hat. Das Bad ist leer - nichts mehr drin als weißes Porzellan. Selbst die Zahnbürsten sind weg. Aber als ich den Haufen aus unseren Sachen auf dem Fußboden betrachte, denke ich, gut, da habe ich morgen etwas zu tun. Und ich denke auch, daß ich am liebsten alles wegwerfen würde. Irgendwie habe ich diese seltsame Macke, immer einen Anflug von Befriedigung zu verspüren, wenn ich etwas verliere. Einmal ist während eines Fluges mein Gepäck 188
in Newark verlorengegangen. Eigentlich hätte ich stinksauer sein müssen. Aber ich dachte nur, wie frei ich mich fühlte, mit nichts als meinem Rucksack und meiner Brieftasche. Ohne irgend etwas anderes verwalten zu müssen als mich selbst. Dann tauchten meine Sachen wieder auf, sie brachten sie mir in einem Lieferwagen, und das war auch okay. Von dem Haufen, den Victor da aufgetürmt hat, gehört mir fast nichts. Ein Polohemd und ein Sweatshirt mit abgerissenem Halsbündchen. Ein Roman von Henry James, den ich nie gelesen habe. Ein paar Neon-Marker. Ich besitze nicht viel. Wer soviel umzieht wie ich, verliert mit der Zeit alles, was er besitzt. Ich gehe zu dem Haufen und ziehe den kleinen Schwarzweiß-Portable hervor - den, den ich Mrs. Birkle leihen wollte und den sie nicht haben will - und postiere ihn auf einem Milchflaschenkasten, so daß ich ihn vom Bett aus sehen kann. Ich will bei Victor sitzen, der jetzt schläft. Ich kann bei ihm sein und fernsehen - eine gute Idee. Aber ich weiß nicht, was ich sehen will. Von den Shows, die kommen, kenne ich keine. Was ich sehen will, sind Shows, die es nicht mehr gibt, die ich in meiner Kindheit gesehen habe. Simple Sachen. Die Dick Van Dyke-Show wäre genau das richtige. Vielleicht gibt es ja einen Dokumentarfilm über Tiere oder einen Spätfilm. Aber als ich anschalte, kommen Nachrichten. Sie zeigen Winterszenen aus allen möglichen Gegenden der Vereinigten Staaten. In der Gegend von Chicago tobt ein Blizzard. Man sieht eine Straße voller verlassener Autos. Sie zeigen einen friedlichen Bilderbuch-Schneehimmel auf dem Land in Maryland, über gemütlichen, einladenden Farmhäusern. Und dazu natürlich, als Kontrast, Bilder von der Küste Floridas, wo die kühlen Meereswogen Hunderten von Sonnenhungrigen in der Nachmittagshitze eine willkommene Abkühlung bieten. Jetzt kommt etwas über einen Fallschirmspringer in Südkalifornien. Er hatte sich eine Kamera umgeschnallt, um 189
seinen Sprung aus über dreitausend Metern Höhe zu filmen. Der Sprecher erklärt mit seiner unerschütterlichen Automatenstimme, daß der Springer beim Absprung aus dem Flugzeug vergessen hatte, seinen Fallschirm richtig zu befestigen. Schon nach wenigen Metern hätten sich die Gurte gelöst und der Mann sei Tausende von Metern in die Tiefe gestürzt, die laufende Kamera vor sich. Beim Zusehen krampft sich mein Magen zu einem Klumpen zusammen. Das Schlimmste ist, daß sie den ganzen Originalfilm zeigen, den aus der Kamera, die der Springer dabei hatte. Man sieht den perfekten Anfang, herrliche Bilder vom Elsinore-See aus der Sicht des Fallschirmspringers, Aufnahmen von den anderen Springern, die im freien Fall aus dem Flugzeug purzeln, dann unter dem Rund ihres Schirms im Raum schweben. Man spürt etwas von dem eindrucksvollen Erlebnis, durch die Atmosphäre hinunter zu segeln, bekommt ein ganz anderes Raumgefühl, eine andere Perspektive. Die Kamera schwenkt hinunter zur Erde. Und dann ein jäher Ruck, als der Springer merkt, daß er keinen Fallschirm hat. Seine Hände fuchteln vor der Kamera herum, er richtet sie auf die schreienden, gestikulierenden Menschen in der schwarzen Türöffnung des Flugzeugs. Dann sieht man seine Füße. Die langsam hin und her schwankende Erde unter ihm. Dann ein barmherziger Schnitt. Zurück ins Nachrichtenstudio. Victor bewegt sich im Schlaf und murmelt etwas. Ich schalte den Fernseher aus und lege mich neben ihn aufs Bett. Ein starker Geruch geht von ihm aus. Ich bin froh, daß er wach wird, obwohl ich weiß, daß der Schlaf ihm gut tut. Der Film hat mich beunruhigt. Ich bin nervös und zittrig. Ich schmiege mich an Victor, und sein Arm legt sich über mich. «Ich glaube, ich muß ein paar Entscheidungen treffen», sagt er in mein Ohr. «Es geht offenbar wirklich los.» «Vielleicht hast du ja auch nur eine Grippe», sage ich. «Wie alle Leute.» 190
Victor knurrt abwehrend. «Ist ja nicht das erste Mal, daß es mir so geht. Nur war es noch nie so schlimm.» Ich habe immer noch den Film über den Fallschirmspringer im Kopf, sehe ihn immer wieder von vorn ablaufen. Ich sehe die verzweifelt wedelnden Hände, das viele Blau, das da plötzlich ist - die ganze Welt ein einziger Himmel. «Es kann doch sein, daß du etwas gegessen hast, das dir nicht bekommen ist», sage ich. Ich spreche laut in sein Ohr. «Das kannst du doch nicht wissen.» Ich umfasse seinen Oberarm mit der Hand und drücke ihn fest. So fest, daß es bestimmt schon fast weh tut. Ich küsse ihn in den Nacken, berühre seine Haut eine ganze Weile mit den Zähnen. Ich überlege, was ich noch sagen kann. Ich will plötzlich, daß er neben mir sitzt. Ich will sein Gesicht sehen, seine Kraft spüren. Ich wünschte, er würde mich unter sich ziehen und mich lieben. Ich will, daß er schreit, sich bewegt, mich an den Haaren packt, wie vorhin im Bad. Daß er irgend etwas tut. Aber er regt sich nicht. Er schläft schon wieder - den Arm schlaff um meine Taille. Das Problem ist: Ich bin kein bißchen müde. Ich bin hellwach, aufgedreht, fast berauscht vor Energie. Vielleicht liegt es am Salmiakgeist. Ich kann nicht schlafen und weiß, daß ich Victor wecken werde, wenn ich anfange, in der Wohnung herumzulaufen. Ich habe überlegt, was ich tun kann, ohne Lärm zu machen. Ich gehe in die Küche und stehe vor der Arbeitsplatte, einen Neon-Marker in der Hand. Ich male eine orangefarbene Bordüre um den Telefonblock, den wir nie benutzen. Ich finde Victors Zigaretten und rauche ein paar davon, versuche, einen Rauchring durch einen anderen hindurchzublasen. Ich trenne eine Werbeseite aus einer Illustrierten und reiße das lächelnde Gesicht der Maybelline-Dame in kleine Fetzen. Dann versuche ich, die Fetzchen wieder zusammenzupuzzeln. Ich wische den 191
Dreck von meinen Turnschuhen und trockne die Gummisohlen mit einem Stück Küchenpapier. Ich höre das Dröhnen von Düsenflugzeugen und gehe ans Fenster. Ich sehe sie vorbeischießen, die Positionslichter zwei Diamanten, die mit jeder Meile blasser werden. Ich beschließe, einen Spaziergang zu machen. Ich werde zum Strand gehen, fürchterlich frieren, mit einer Taschenlampe über den kalten Sand marschieren und die langen Stränge von getrocknetem Seetang betrachten, die kaputten Muscheln, die Steine, die auf den ersten Blick wie Krebse aussehen. Ich werde die eisige Luft atmen und mich so müde machen. Ich werfe rasch meinen Mantel über, ziehe den Stecker des Fernsehers aus der Dose und schlüpfe aus der Wohnung, das Gerät unter dem Arm. Ich haste die drei Treppenabsätze zu Mrs. Birkles Tür hinunter und wage es dann plötzlich nicht anzuklopfen. Ich finde einen Bleistiftstummel in meiner Manteltasche und schreibe eine Notiz auf die Rückseite einer Supermarkt-Quittung: «Mrs. Birkle, Victor und ich haben jetzt einen neuen Fernseher und wollen nicht zwei bei uns herumstehen haben. Hätten Sie vielleicht Verwendung für diesen Apparat? Es würde uns sehr freuen.» Ich stelle den Fernseher neben ihre Tür und verlasse das Haus. Es ist kalt, grimmig kalt. Mrs. Birkles Schlafzimmerlicht brennt, und das kommt mir verdächtig vor. Warum sollte eine alte Frau so spät noch wach sein? Vielleicht ist sie ja krank, oder es ist etwas passiert. Es ist über eine Woche her, daß wir das letzte Mal miteinander geredet haben. Mich überkommt ein Anflug von Schuldgefühl und zugleich der Drang, mich zu vergewissern, daß Mrs. Birkle noch am Leben ist. Ich beschließe, einen Blick in ihr Zimmer zu werfen, ducke mich unterm Geländer der Vordertreppe durch und gelange zwischen das Haus und die Büsche. Ich drücke mich an der Hauswand entlang, wobei ich viel zuviel Lärm mache, und versuche, die Zweige davon abzuhalten, sich in mein Gesicht 192
zu bohren. Ich lege die Hände auf den Fenstersims und ziehe mich, mit den Füßen an der Hauswand Halt suchend, nach oben. Ihr Schlafzimmer ist eine grüne Schachtel mit einem hohen, schmalen Bett darin und einem Stapel Hutschachteln in einer Ecke neben einer Kommode. Weiße bestickte Decken zieren sämtliche Tische, das Nachtschränkchen, die Spiegelkommode. Mrs. Birkle sitzt in einem safrangelben Morgenrock mit blauer Blumenstickerei auf der Ecke ihres Betts, mit gefalteten Händen und geradem Rücken, und starrt auf das Sortiment von Fotos, das an der Wand eine Art Muster bildet. Ihr dünner Hals ist nach vorn gereckt, und die Oma-Brille sitzt tief auf ihrer Nase. Ihr Haar fällt in grauschwarzen, platten Strähnen herunter. Ums Gesicht ist es mit Haarklemmen zurückgesteckt. Solange ich es schaffe, mich zu ihrem Fenster hochzustützen, sitzt sie völlig reglos da. Das Meer ist wild bewegt. Ich gehe ganz dicht am Rand entlang, da, wo das Wasser über den Sand schwappt. Es kommt nicht bis zu meinen Füßen, aber ich höre es. Ich betrachte den leeren Strand und kann mir, wenn auch nur kurz, die Erde vorstellen, wie sie vor langer Zeit gewesen sein soll, eine arglose Welt ohne Menschen. Weiter vor mir, linker Hand, ragt ein dunkler Haufen auf, und ich denke einen Moment lang, da liegt ein toter Mensch im Sand. Es stellt sich aber heraus, daß es kein Mensch ist, sondern ein Seehund, dem ein Hai den Schwanz abgebissen hat. Was von seinem dunklen Körper noch übrig ist, ist aufgedunsen und halb verwest. Ich mache einen großen Bogen um ihn herum. Das Meer spült andauernd totes Getier an, vor allem im Winter, wenn es so heftig stürmt. Mir ist schon der Geruch von Fischen in die Nase gestiegen, die seit Tagen tot und halb im Sand vergraben waren. Es ist mir schon passiert, daß ich etwas gegriffen habe, was ich für eine Muschel hielt, und den Schnabel einer Möwe in der Hand hielt. 193
Man meint immer, es müsse schön und erholsam sein, am Meer zu leben. Und das ist es wohl auch. Aber der Strand ist vor allem übersät mit Fischen, denen eine wichtige Flosse fehlt, mit Bierflaschen und Tampon-Hülsen, die viele Meilen übers Meer getrieben sind. Ich komme an zersplittertem Holz von Hummerfallen vorbei, an Fetzen von Fischernetzen und einem kurzen, zerschlissenen Stück Tau. Und doch ist es nachts auch sehr schön hier draußen. Ich bewundere voller Ehrfurcht die Szenerie, das Glitzern der Sterne, die weiße Gischt, die über den Sand geweht wird, die schwarzen Wellen. Die Seemöwen sind schnelle Schatten vor dem dunklen Himmel. Der Mond steht hoch und ist wie aus Marmor. Wir haben Menschen dort hinaufgeschossen, und die Welt hat mit angehaltenem Atem zugesehen, wie sie bei Nassau Bay wieder ins Meer klatschten. Das Ereignis überschattete in jenem Jahr meinen Geburtstag, weil die ganze Familie vor dem Fernseher saß und sich Apollo 11 ansah. Ich bin in einer Zeit solch verheißungsvoller Unternehmungen aufgewachsen, in einer Welt voller Satelliten und Computer. Ich finde es interessant, daß heute, da wir uns dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts nähern, nur noch der Feuerstoß beim Start einer Rakete Zuschauer anzuziehen vermag, und auch das nur, wenn ich einmal diese zynische Behauptung wagen darf, weil sich ja, während die gewaltigen Triebwerke die Startrampe in Feuerwolken hüllen, vor aller Augen ein Desaster abspielen könnte. Im Jahr 1969 dagegen durchwühlte ich FrühstücksflockenSchachteln nach der Prämie: fluoreszierende Aufkleber mit Raumfahrtmotiven. An meinem Bettpfosten klebte schon fast die komplette Serie: die Saturn V, die Eagle-Mondlandefähre und die Explorer-Sonde. Ich sah sie im Dunkeln leuchten wie Glühwürmchen. Ich sah zu, wie die Leuchtzeiger meines Weckers die Stunden wegtickten, und fragte mich, an welchem 194
Punkt ihrer Weltraumexkursion die Astronauten wohl gerade waren, dort oben, hundertundsechstausend Seemeilen weit weg, wo es keine Atmosphäre gab und man daher nicht einmal die Sterne funkeln sah. Natürlich ist die Erde auch eine Art Raumschiff, das langsam seine Bahn durch die Milchstraße zieht. Meine Aufgabe wäre es ebenfalls, Erkenntnisse zu sammeln, so wie die Astronauten Mondgestein sammeln. Etwas zu schaffen, vorwärtszukommen. Statt dessen konzentriere ich mich auf Victor, sein Erleben, seinen Tod. Ich glaube nicht, daß ich durch das Zusammensein mit Victor mehr über den Tod gelernt habe - nur mehr über Victor, der sterben wird. In letzter Zeit kann ich kaum mit ihm reden. Der Tod, der drohend über ihm schwebt, läßt mich mitten im Satz verstummen. Ich fühle, wie mir die Worte weggezerrt werden, wie Astronauten, die von ihrem Raumschiff weggerissen werden und elend durchs All taumeln. Alles erscheint mir so ausweglos und übermächtig. So unwirklich und unnatürlich wie das sterile Weiß des Mondbodens. Ich gehe über die Anlegestege und stelle mir Gordon vor, wie er auf seinem Boot steht und die Taue säuberlich aufrollt. Ich gehe den Pier entlang, horche auf meine Schritte, die auf den grauen Planken hohl klingen. Ich stelle mir vor, wie voll es hier im Sommer ist, wie die vielen Menschen ihre braunen Arme und Beine über den Rand des Stegs baumeln lassen, Quallen mit Muschelschalen steinigen, in ihre Eiswaffeln lachen. Ich gehe bis zum äußersten Ende des Piers. Ich weiß, daß das gefährlich ist. Die See ist gewaltig. Sie könnte mich glatt von meinem Ausguck fegen und wie eine Angelschnur durch die Luft schleudern. Ich könnte, auf den Wellen hüpfend, davongetragen werden. Eine ganze Weile betrachte ich den blinkenden Leuchtturm, versuche, in den aufblitzenden Lichtstrahlen einen Sinn zu entdecken. Ich betrachte die Brechung des Mondlichts in den vielen verschiedenen Ebenen 195
des Wassers. Das Meer ist so verführerisch wie ein Freund, der dich zu dunklen Sachen verleiten will. Ich stehe am äußersten Rand meines Lebens. Schließlich wende ich mich ab. Ich gehe jetzt landeinwärts. Ich folge den Windungen der verschlafenen Straße. Sie ist spärlich von kleinen gelben Lampen erleuchtet und so vereist, daß ihre Oberfläche wie verspiegelt aussieht. Etwas flitzt über den Gehweg. Ich denke, es ist eine Katze, und erkenne dann den dünnen, drahtartigen Schwanz einer Ratte. Ich muß an Victors Rattenflinte denken, das antike Stück, das er schon ewig besessen hat, das er geölt und poliert hat. Jetzt liegt es in der feuchten Erde und rostet vor sich hin. Das habe ich, auf meine stille Art, erzwungen. An einer Kreuzung trete ich das Eis auf einer Pfütze ein, bereue es aber gleich. Wasser dringt durch meine Schuhe, und das Eis ist so hart, daß es mir weh tut. Die meisten Häuser hier stehen den Winter über leer. Man hat ihre Fenster mit Brettern vernagelt und sie ansonsten Wind und Wetter preisgegeben. Der Schnee vieler Wochen lastet schwer auf ihren Dächern. Was wird mit uns sein, wenn diese Häuser wieder bewohnt sind? Wenn die Bretter vor den Fenstern wieder abgenommen werden, damit die salzige Brise durch die Gardinen wehen und die Papiere auf den Schreibtischen durcheinanderwirbeln kann? Wo werden wir sein, wir drei, wenn die Sonne auf den weißen Sand am Strand herunterbrennt und die Wälder hinter Gordons Haus von grünen Gewächsen strotzen werden, die die Wege zuwuchern und die feuchte Luft zwischen ihren nassen Blättern festhalten? Als ich noch klein war, ging ich einmal am späten Nachmittag mit meiner besten Freundin durch ein parkartiges Gelände. Wir hielten uns eine Zeitlang an einem Bach auf, gruben am Ufer Lehm aus und fingen Salamander mit den Händen. Wir bauten aus Steinen und Lehm Fischfallen. Wir versuchten, Steine übers Wasser hüpfen zu lassen. Dann wurde 196
es dunkel. Das Wasser spiegelte unsere Gesichter nicht mehr. Die vertrauten Bäume, die die Wege säumten, waren gar nicht mehr vertraut. Aus dem Wald kamen sonderbare Geräusche. Wir standen am Ufer des Bachs und faßten einen Entschluß. Wir beschlossen, uns bei der Hand zu nehmen und loszurennen - nicht stehenzubleiben und uns nicht loszulassen. Ich weiß noch, daß ich später immer gedacht habe, das sei gemeint mit «treu zusammenhalten». Ich dachte, daß Treue etwas ist, das zwei Menschen ganz tief drinnen verbindet und erst sichtbar wird, wenn es hart auf hart geht. Jetzt habe ich auch wieder das Gefühl, daß ich durch den Wald renne - diesmal mit Victor. Nur daß ich diesmal zwischendurch stehengeblieben bin. Ich habe seine Hand losgelassen und wanke ein bißchen. Ich merke jetzt, daß ich nie ganz begriffen habe, was er von mir wollte. Ich habe nicht kapiert, daß auch ich ihm den Entschluß zum Sterben zugestehen muß. Und jetzt stehe ich vor Gordons Haus, wo ich wohl die ganze Zeit schon hinwollte. Hier drinnen, in dieser Schachtel aus Räumen, befindet sich der Anlaß für meine Untreue, mein schlafender Geliebter. Ich gehe den Eingangsweg entlang, auf das Licht zu, das die weißen Bretter der Veranda erhellt. Dann trete ich neben den Weg, wobei meine Schuhe auf dem zusammengesunkenen Schnee knirschen, und schaue durch ein Fenster. Ein Wohnzimmer. Die Vorhänge sind zugezogen, aber ich erkenne schemenhaft die Einrichtung. Ich arbeite mich hinüber auf die rechte Seite des Hauses und versuche, Gordons Schlafzimmerfenster zu finden. Ich stehe auf einer eisernen Trommel, die im Sommer einen Gartenschlauch beherbergt. Drinnen sehe ich ein Bad, mit einem eingesteckten Nachtlicht, das in der Ecke glimmt wie ein Zündholz. Ich springe von der Trommel und dringe weiter vor, indem ich mich an den spitzen Zweigen der Sträucher entlangdrücke. Sie schaben fürchterlich laut über meinen Parka, aber ich sehe, ja, das ist sein 197
Schlafzimmer. Mein Blick fällt auf seine Digitaluhr. Die Ziffern sagen: drei Uhr achtunddreißig. Ich erkenne Gordons lange Gestalt unter einer Daunendecke. Gordon regt sich, das Schattenmuster auf der Decke verändert sich. Er zieht ein Bein an und streckt es dann wieder. Er scheint im Traum zu laufen. Ich dringe zur Rückseite des Hauses vor, wo das Küchenfenster auf den ausgedehnten Wald hinausgeht. Der Wind fegt um das Haus, und meine Hände in meinen Taschen sind kalt. Ich spüre mein Gesicht nicht mehr, es ist, als wäre ich gesichtslos, mumifiziert, ein Geist, der nachts um Häuser spukt. Ich stehe auf Zehenspitzen, recke mich, um in die Küche sehen zu können. Licht von einer Leuchtstoffröhre unter einer Hängeschrankzeile scheint zwischen den auf dem Fenstersims aufgereihten Gipsund Putzeimern hindurch. Geschirrspülmittel in einer fröhlichen gelben Flasche läßt mich an den Frühling denken. Das Fenster ist nicht verriegelt; ich könnte leicht hineinschlüpfen. Und genau das will ich plötzlich. Ich will in das Haus, in dem Gordon wohnt. Ich will darin herumlaufen. Ich stehe in Gordons stiller Küche, lese die Etiketten der Gewürze auf einem Holzbord. Da stehen Rosmarin, weißer Pfeffer, Nelken, Senfkörner. Dann höre ich Toshs Krallen auf den Dielen. Sie kommt, wie ein Ungetüm knurrend, in Richtung Küche und bellt einmal leise und hohl. Sie bleibt in der Tür stehen, erkennt mich und wedelt mit dem Schwanz. Sie senkt den Kopf, kommt angekrochen und schmiegt ihren Kopf an meine Knie. Ich knipse die Taschenlampe an, die ja, wie mir einfällt, in meiner Tasche steckt. Es ist nur eine Minileuchte, zum Wegwerfen, aber ich kann damit in die Speisekammer schauen. Ich lasse den Lichtstrahl über die Fächer gleiten: Reihen von Suppendosen, Schachteln mit Nudeln, diverse 198
Soßenmischungen, Dosen mit Spargel und Palmherzen. Auf dem untersten Bord stehen Reinigungsmittel, jedes mit dem Prädikat «strahlend» auf dem Etikett. Da liegt ein Paket mit blauen Putzschwämmen und ein neuer Mop-Kopf, noch in Plastik. Alles ist so sehr so, wie ich mir ein richtiges Heim vorstelle, so ordentlich, daß ich mir vorkomme wie in einem Werbespot. Außerdem fühle ich mich genau wie beim Klauen, obwohl ich nicht einmal einen Bleistift von Gordon mitgehen lassen würde. Es ist nur das Verletzen von Regeln, der innere Drang, dem ich nachgebe. Es ist nur, daß ich heimlich durchs Wohnzimmer schleiche, gespannt auf die leiseste Vibration der Glastischchen lausche, während ich an ihnen vorübergehe. Es ist nur, daß ich diesen Raum sehe, wie er ist - nicht mein Wohnzimmer und im Moment niemandes Wohnzimmer. Nur ein Raum, wie er ist. Im Flur finde ich einen Wäscheschrank. Dort lagern Kopfkissen und Reserve-Wolldecken und stapelweise saubere Bettwäsche, ordentlich gefaltet und nach Farben sortiert. Ich fahnde nach einer Spur von Gordon, die der Waschmaschine entgangen ist. Ich gehe ins Bad und öffne vorsichtig einen Toilettenschrank. Ich betrachte fasziniert die schmalen Fächer mit Deo, Zahnpasta, Rasierern und Aspirinfläschchen. Die Blutdruckmedikamente von Gordons Eltern, das Nitroglyzerin, das seiner inzwischen verstorbenen Großmutter gehört hat. Und dann stehe ich vor Gordons Schlafzimmer. Ich lausche auf seinen Atem, starre angestrengt durch das Dunkel, versuche, seine Silhouette unter der Decke auszumachen. Ich schaue durchs Fenster nach draußen und stelle mir vor, wie ich dort aufgetaucht bin, das Gesicht an der Scheibe. Ich weiß, das Ganze ist verrückt. Aber es ist genau das gleiche, wie draußen im Auto zu sitzen und ihn beim Verlassen des Hauses zu beobachten. Einfach ein Mittel, um mich zu erden, eine Möglichkeit, zu sehen, wie andere Leute leben. 199
Diese Regelübertretungen sind für mich eine Fluchtmöglichkeit. Mit Victors drohendem Tod zu leben heißt, ständig damit konfrontiert zu sein, darauf zu reagieren, Rücksicht zu nehmen. Dieser drohende Tod ergreift von uns Besitz wie ein Gespenst, beeinflußt unser ganzes Erleben. Er ist ständig präsent, beim Essen, wenn wir die Treppe hinaufgehen. Und inzwischen frage ich mich, ob Victor sich vielleicht sogar nach ihm sehnt. Ein Mensch mit Angst vor offenen Räumen kann nicht aus dem Fenster eines hohen Gebäudes schauen. Auch nur über eine hohe Brücke zu fahren ist schon ein Problem für sich. Aber wenn dieser Mensch mit einem offenen Fenster und der weiten Landschaft dahinter konfrontiert ist, wird er nervös und schwitzend und vor sich hin murmelnd am Fensterbrett stehen und den Sog des Horizonts fühlen, und sein Körper wird sich ohne Rücksicht auf die Gefahr hinausbeugen. Ich gehe auf Gordon zu, mit leisen Mondfahrerschritten. Irgendwie erscheinen mir Victor und unsere Wohnung so weit weg, irgendwo auf einem anderen Stern, auf den ich nie mehr zurückkehren kann. Ein Auto fährt vorbei, beleuchtet einen Moment die Bettdecke, wirft Lichtflächen an die Wand. «Hilary?» sagt Gordon. Er stützt sich auf einen Ellbogen. «Hilary, bist du's?» «Mhm», sage ich, schüchtern einen Schritt zurückweichend. Tosh kommt winselnd an die Tür. Dann schleicht sie sich wieder davon. «Ist was passiert?» fragt er. Er knipst die Leselampe an und schaut blinzelnd zu mir herüber. Auf seinem Gesicht sind Abdrücke von den Falten des Kissenbezugs. Das Haar hängt ihm in die Augen. «Victor ging es schlecht», sage ich. «Sonst noch was?» «Schlechter als sonst. Er hat Blut erbrochen.»
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Gordon setzt sich auf. Die Decke rutscht ihm auf den Schoß hinunter. Er stopft sich ein Kissen in den Rücken und sitzt aufrecht da. Sein nackter Oberkörper ragt aus einem Nest von Decken, und er sieht sehr jung aus. «Kann ich irgend etwas tun?» Ich schüttle den Kopf. «Magst du ins Bett kommen?» «Nein.» «Hilary, warum bist du gekommen?» Ich weiß keine Antwort. Ich zucke die Achseln, komme mir so idiotisch vor, wünsche, ich könnte mich einfach verdrücken. «Ich mache mir Sorgen um dich», sagt Gordon, wobei er sich zu mir vorbeugt. Er ergreift mein Handgelenk, zieht mich zu sich. «Komm ins Bett.» «Nein, Gordon, nicht...» setze ich an. «Was willst du denn dann tun?» fragt er, und es klingt herausfordernd. «Schau mal, du kommst doch nicht drum herum. Stell dich doch einfach der Tatsache, daß du zwei Männer liebst, und komm ins Bett. Es ist vier Uhr morgens. Du bist doch nicht zum Reden hergekommen.» «Ich will zu Victors Vater», sage ich und rekonstruiere die Adresse, an die ich den Brief geschickt habe. «Ich weiß, wo er wohnt. Commonwealth Avenue. Ich will ihm sagen, er soll Victor holen und ins Krankenhaus bringen.» Gordon läßt mein Handgelenk los und lehnt sich wieder gegen das Kissen. «Das wird Victor aber nicht wollen», sagt er sanft. «Das ist genau das, was er zu vermeiden versucht.» «Aber irgendwas muß passieren», sage ich. Ich zittere. Die Worte kommen als stoßweises Gestammel aus mir heraus. «Er wiegt sich ja nicht mal mehr. Er läßt mich seine Temperatur nicht mehr messen. Er kocht irgendwelche Sachen nach den Rezepten aus dem Buch, das du ihm gegeben hast, und kann sie dann nicht essen. Er schwitzt und klappert die ganze Nacht. Ich habe ihn dabei ertappt, wie er die Medizinvorräte 201
durchwühlt hat, und er war auf der Suche nach dem Morphium.» «Sch-sch», sagt Gordon, indem er mich aufs Bett herunterzieht. Er öffnet den Reißverschluß meines Parkas, und ich merke plötzlich, daß mir heiß ist. Fürchterlich heiß. Mein Mund ist ausgedörrt. Mein Parka wird mir ausgezogen, dann mein Pullover, und ich höre meine Schuhe auf den Boden plumpsen. Gordon packt mich in die Decke. Er sitzt über mir und wiegt mich in den Armen und redet mit mir. Er flüstert: «Gut, dann hol seinen Dad, wenn du meinst, daß es etwas hilft.» Ich nehme Gordon lauter Versprechen ab. Er muß mir versprechen, daß er Victor nichts von uns erzählt, daß er ihm nicht sagt, wo ich heute nacht gewesen bin und wohin ich will. Ich lasse ihn versprechen, daß er wach bleibt, während ich schlafe, daß er mich in einer Stunde weckt, daß er morgen früh in unsere Wohnung geht und nach Victor sieht, daß er dafür sorgt, daß Victor Saft mit Salz trinkt. Als letztes sage ich noch irgend etwas über die Gefahr der Dehydration, wirres Zeug über Hitzschlag und Bergsteigen und Astronauten, die Wasser verschütten, das dann als amorpher Klumpen in ihrem Raumschiff herumschwebt. Ich schlafe rasch ein, obwohl ich dagegen ankämpfe. Ich träume, daß ich wieder wach bin und auf einmal genau weiß, was zu tun ist. Im Traum stehe ich auf, ziehe mich an und laufe schnell zu Victor, um ihm zu sagen, was ich weiß.
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Elf Gordon drängt mir seinen dicken Pullover auf und macht mir einen Kaffee. Er sitzt am Frühstückstisch. Er hat seinen weißen flauschigen Bademantel an, seine Füße stecken in warmgefütterten Hausschuhen und er ist unrasiert. Er sieht richtig süß aus. Liebenswert, umgänglich, eher wie ein zu groß geratener Teenager als wie ein erwachsener Mann. Er liest mir aus der Lokalzeitung vor, der Hull-Nantasket Times. Die Zeitung druckt einmal pro Woche lokale Pressemitteilungen der Polizei ab: Polizei-Officer Breaveman berichtet, daß die Post eines Einwohners von Hull ungeöffnet und in einem Briefumschlag im Müll gefunden worden ist. Männer haben in einem Boot vor Point Allerton Enten geschossen. Eine Frau aus Hull bringt einen Familienstreit zur Anzeige. Ein Hauseigentümer in der C Street meldet eine streunende Katze in seinem Keller. Gordon liest mir die Meldungen vor, während ich meinen Mantel und meine Handschuhe anziehe. Er liest vor: «‹Ein Einwohner aus Oceanspray zeigt die Zerstörung seiner Topfpflanzen an. Mehrere Jugendliche, die an einer Straßenecke in der Nähe gestellt wurden und in deren Taschen sich Tonscherben fanden, wurden verhört. Sie versprachen, die zerbrochenen Töpfe zu ersetzen. › Fühlst du dich nicht ungeheuer sicher mit dieser Gewißheit, daß sogar das Leben unserer Zimmerpflanzen pflichtschuldigst geschützt wird?» «Was soll ich machen, wenn sein Vater nicht zu Hause ist?» sage ich, und Gordon zuckt die Achseln. «Weiß du, wenn du zu mir gehören würdest, könnten wir jeden Morgen zusammen frühstücken», sagt Gordon. «Ich
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würde dir aus der Zeitung vorlesen. Ich würde dich informieren.» Er lacht. Die Hull-Nantasket Times ist ein großgedrucktes dünnes Blättchen. Führende Politiker der Welt können sich über die wichtigsten internationalen Themen streiten, trotzdem wird es ihnen nicht unbedingt gelingen, in die Seiten dieses Blättchens Einzug zu halten. «Hör mal», sagt Gordon, «sie behaupten, daß Autounfälle und Krebs - nach Herzkrankheiten - die häufigsten Todesursachen sind.» «Ich habe in letzter Zeit schon häufiger daran gedacht, mehr Auto zu fahren», sage ich. «Hey, damit scherzt man nicht», sagt Gordon und reicht mir meinen Schal. «Scherzt hier jemand?» Ich werde die Sechs-Uhr-zehn-Fähre nach Boston nehmen, ich bin immer noch fest entschlossen. Ich kann mich an einen Traum während meines kurzen Schlafs erinnern, der mich noch in meinem Willen bestärkt hat, Victors Vater aufzusuchen. Er war sehr kurz, aber ich habe hinterher nichts weiter geträumt und davor auch nichts. Im Traum stand ich in unserem Appartement. Alles war dunkelblau gestrichen, und das Licht tanzte auf den Wänden wie die Schatten auf den Wellen. Ich wühlte in Victors Kleidungsstücken, ordnete seine Jeans und Flanellhemden. Ich drückte seine Sachen an mein Gesicht, ich konnte ihn deutlich riechen. Aber er war weg. Er war verschwunden, hatte mir nur das leere Appartement hinterlassen und seine vielen Habseligkeiten, die seinen Geruch trugen. Auf dem Parkplatz schaltet Gordon die Scheinwerfer aus und fragt noch einmal, ob ich wolle, daß er mitkomme. «Nein», sage ich, «ich will, daß du zu Victor gehst.» Er will wissen, wie er Victor meine Abwesenheit erklären soll. 204
«Sag ihm, daß ich nach Boston gefahren bin, mehr nicht. Sag ihm nicht, warum. Nur, daß ich weg bin.» Ich merke, das ist keine Antwort. Genauer gesagt, Gordon gegenüber wird sich Victor damit wohl zufriedengeben, aber bis ich wieder zu Hause bin, muß ich mir noch eine sehr gute Begründung für meinen Ausflug einfallen lassen. Gordon begleitet mich bis ans Ende des Piers, wir küssen uns zum Abschied an der Rampe, und dann besteige ich die Fähre. Ich gehe unter Deck, wo es eine Coffee-Bar und ein paar Tische gibt. Für die meisten Pendler ist es noch zu früh, es ist kaum jemand an Bord. In der riesigen Halle sind vielleicht dreißig Menschen, alles Pendler, die Zeitung lesen. Das Wasser ist heute besonders unruhig und einige Passagiere blicken hoch, wenn die Fähre extrem schlingert. Ein paar falten ihre Zeitungen zusammen und gehen schnell zur Treppe, die zum untersten Deck führt, wo man den Seegang weniger spürt. Die Coffee-Bar hat noch nicht geöffnet. Mein Pech, ich habe nämlich brüllenden Hunger. Ich setze mich hin, schwitze in meinem Parka und Gordons schwerem Seemannspullover und fange an, mich auszupellen. Die Handschuhe stecke ich zusammen mit der Mütze, die Gordon mir geliehen hat, in die Tasche. Ich lege den Parka vor mir auf den Tisch, wo er aussieht wie ein Paket auf einer Untersuchungsliege, und deponiere den Pullover obendrauf. Ich suche in meinen Jeans nach meiner Brieftasche und fische eine Fünfdollarnote heraus, für den Fall, daß die Coffee-Bar aufmacht. Dann lege ich meinen Kopf auf das Kleiderpolster auf dem Tisch und schlafe fast sofort ein. Ich wache auf und sehe in ein Gesicht, ein brutales, grobes Gesicht mit eingefallenen Wangen, einem schiefen Mund und einer großen flachen Nase. Eine dieser üblen Gestalten, wie sie einen immer wieder mal an öffentlichen Orten verfolgen. Immer taucht irgendwo in der Menge so ein Gesicht auf, das dich daran erinnert, daß auch du so hättest werden können, 205
aber, Gott sei Dank, nicht geworden bist. Ich möchte nicht unfreundlich reagieren, aber er spuckt mich mit irgendwelchen Worten voll, es klingt wie eine Warnung. Ich verstehe ihn nicht. Ich setze mich aufrecht hin, weiche ihm aus, und er packt mich am Kragen, so wie man einen Hund am Halsband greift. Ich denke, was für eine blöde Art, jemanden zu berauben. Was für ein unfähiger Krimineller. Meine Faust umklammert noch immer den Schein für die Doughnuts. Ich halte ihm die fünf Dollar hin, aber er beachtet sie nicht, er zerrt weiter an meinem Hemdkragen. Er hebt mich von meinem Platz. Die Halle ist leer. Die Passagiere sind verschwunden, haben mich mit diesem glubschäugigen Kriminellen allein gelassen, der auch noch eine schwere Sprachbehinderung hat. Ich verspüre ein merkwürdiges Schaukeln, als ob die Fähre sich nicht vorwärts bewegen, sondern nur hin- und herschlingern würde. Die Bewegung ist schwer einzuschätzen, denn ich kämpfe mit meinem Belästiger, trommle auf seine Brust, schlage auf seinen faltigen Specknacken ein. Er hat mich im Schwitzkasten und zieht mich aus der Halle, ich trete ihn. Er sagt die ganze Zeit irgend etwas, aber ich kann ihn nicht verstehen. Ich schreie. Ich schreie um Hilfe. Der Kerl ist stark, er tut mir weh. Er hat meinen Kopf zwischen seinem Arm und seinem Körper eingequetscht. Dann sehe ich, daß er unter seinem anderen Arm meinen Parka und den Pullover trägt, und ich höre auf zu schreien und versuche zu überlegen, warum er mein Zeug mitschleppt. Dann dämmert es mir, daß er nicht versucht, mich zu berauben, daß er mir überhaupt nichts tun will. Ich höre auf, um mich zu treten, und er lockert seinen Griff. Er lockert ihn so weit, daß ich beide Füße auf den Boden stellen kann. «Lady», sagt er atemlos. Er fängt an zu stottern, versucht, das Wort «das» herauszubringen. «D-d-das Schiff s-s-s-», er macht eine Pause, schlägt sich mit der Hand auf den Mund, bestraft sich selbst und versucht es noch einmal. 206
«Das Sch-sch-schiff s-s-s...» «Sinkt?» sage ich. «Das Schiff sinkt?» «Ja», sagt er erleichtert. Er ist ein Riese, vielleicht zwei Meter groß. Geschickt stößt er die Tür auf und hält mir die Öffnung des Pullovers hin, so daß ich ihn überziehen kann. Er hält mir einen Handschuh hin, damit ich reinschlüpfen kann. Ich ziehe die Mütze tief über die Augen, und wir verlassen die Halle und betreten von der Längsseite her das Deck. Er geht außen, so daß ich innen gehen kann und vor den spritzenden Wellen einigermaßen geschützt bin. Hier draußen höre ich die Möwen und das Meer, Radiolautsprecher und strenge Männerstimmen, die über Megaphone Anweisungen durchgeben. «Sie f-f-forderten alle zum Verlassen des Schiffs auf. A-AAber Sie haben es nicht gehört.» Vom Bug der Fähre dringt Lärm herüber. Die aufgeregten Stimmen der Passagiere, ein klatschendes Tau. Ein Scheinwerfer erhellt die Wasseroberfläche, und als wir näher kommen, sehe ich, daß ein Rettungsboot der Küstenwache seitlich an der Fähre angelegt hat, zwischen den beiden Schiffen liegt eine Gangway. In einiger Entfernung sehe ich noch ein Schiff der Küstenwache, vollbesetzt mit Pendlern, die jetzt gelbe Rettungswesten über ihren Wintermänteln tragen. Ein Mädchen in Jeans kämpft mit ihrer Rettungsweste, die ihr offensichtlich zu groß ist. Der Wind reißt an ihren dunklen Haaren, und sie streicht sich die Strähnen aus den Augen. Das Schiff fährt in östliche Richtung, es kehrt nach Hull zurück und wird kleiner, während die Sonne langsam aus dem Meer steigt. Der Mann, den ich als gewalttätigen Räuber verdächtigt habe, behält mich im Auge, als sei ich ein Wertpaket, das er auszuliefern hat und mit dem er sehr vorsichtig umgehen muß. Ich überlege: Warum hat der Mann sich um mich gekümmert? Er gehört nicht zur Küstenwache. Er trägt keine Uniform. Er trägt einen Kapuzenpullover unter einem orangefarbenen 207
Poncho. Unter einem Nasenloch hat er viele Warzen. Außerdem hat er einen merkwürdigen Gang. Er schwankt bei jedem Schritt nach links oder rechts. Plötzlich wird mir klar, daß mit dem Mann etwas nicht stimmt, nicht, daß er geistig zurückgeblieben wäre - aber irgend etwas stimmt nicht mit ihm. Diese Erkenntnis läßt mich steif werden, mit einemmal fühle ich mich beklommen. Wir sind am Bug angekommen, ein Offizier reicht uns die Rettungswesten und befiehlt uns mit erfahrener seemännischer Stimme aufzupassen, wenn wir auf die kurze Verbindungsbrücke treten. Ich brauche die Brücke kaum, sondern springe in das Rettungsfahrzeug (dieser Name steht auf den Versorgungskisten und unten auf meiner Rettungsweste) der Küstenwache und finde einen Sitzplatz. Ich sehe nach oben, ich warte auf den Mann, der mich von der Fähre geschleppt hat. Ich will mich bedanken und ihn fragen, wie er heißt. Ich möchte mich für mein Benehmen, meine Gegenwehr, entschuldigen. Aber ein weiteres Küstenboot legt seitlich an und lädt Passagiere ein. Das Boot, in dem ich bin, legt von der Fähre ab und treibt mehrere Meter weg. Ich stürze nach vorn, aber ein Offizier sagt, daß ich mich setzen soll. Ich winke meinem Räuber, aber er sieht mich nicht. Dann sind wir weg. Wir sind wieder in Hull. Uns ist kalt, und wir werden in die Küstenwachtstation getrieben. Sie sagen, daß wir uns hinsetzen sollen, und geben uns - nicht zu fassen - Fertigkakao in Pappbechern mit Plastikgriffen. Kakao, als ob wir Grundschüler wären, die von einem Schlittschuhausflug heimkehren. Die Küstenwachtstation ist in einem verwelkten Braunton gestrichen und wie ein Büro eingerichtet, mit großen Holzregalen an den Wänden. Es gibt mehrere Türen, die geschlossen sind. Dahinter befinden sich vielleicht die Büros der höheren Chargen, außerdem gibt es eine lange Reihe von 208
Bänken mit zerschlissenen blauen Polstern. Ein paar Kapitänsstühle stehen dekorativ in der Gegend herum. An der Wand hängen bunte Drucke mit den verschiedenen Typen von Küstenwachtbooten, sie dokumentieren die Anfänge der Küstenwacht in Hull, ihre vielen selbstlosen lebensrettenden Einsätze seit Beginn der Besiedlung von Hull, als die Kaufleute und die Fischer täglich nach Boston fuhren, um Waren zu kaufen und zu verkaufen. Sie zeigen das erste Rettungsboot, das Nantasket hieß und im Heimatmuseum der Stadt ausgestellt ist. Unter einer Glasglocke neben einem Bürofenster thront ein alter Sextant. Das Hauptbüro, ein winziger Raum, der vom Wartezimmer durch eine Fensterwand abgeteilt ist, wirkt viel zu klein für das große Funkgerät, das ein gutes Drittel des Zimmers beansprucht. Sie sind höflich. Wir werden schon erwartet, ihre gestärkten blauen Uniformen sind steif, ihre Walkie-Talkies quasseln an ihren Hüften. Polizisten machen mir immer eine höllische Angst. Schon als Kind hat mich ihr Anblick versteinern lassen. Ich habe Angst, daß sie mich ins Gefängnis sperren. Daß ich aufgrund irgendeines kleinen Verfahrensfehlers eingekerkert werde. Und daß ich, aufgrund weiterer Verfahrensfehler, für Monate, vielleicht sogar für Jahre, im Gefängnis sitze, bis meine Zelle mir zu einer traurigen Heimat geworden ist, so wie jeder Ort zur Heimat wird, wenn man nur lange genug bleibt. Ein bärtiger Mann in einem Regenmantel lehnt sich steif an eine Wand. Einen Moment lang denke ich, daß er ein Exhibitionist ist. Nicht hier und jetzt, sondern früher, irgendwann. Und hier, in der Küstenwachtstation, umgeben von uniformierten Männern, hat er, genau wie ich, Angst wegen seiner früheren Verbrechen. Alle meine Diebstähle, die vielen gestohlenen Sachen, die ich in meine Manteltaschen gesteckt habe, ziehen in einer bedrückenden Parade an mir vorbei. Eine Frau, die vielleicht so alt ist wie ich, trägt einen eleganten Wollmantel und spielt mit ihrer Halskette aus 209
Glasperlen. Sie sieht auf die Uhr, denkt - was mag sie denken? An ihre Arbeit, die sie versäumt, weil die Fähre untergeht? Die Frau erwidert meinen Blick, und einen schockierenden Moment lang treffen sich unsere Augen, und ich denke - mein Gott, ich würde zu gern wissen, was sie sieht, wenn sie mich sieht. Wir sind die Unfallopfer und sollen einen Fragebogen ausfüllen, aber es gibt nicht genug Stifte und keine Schreibunterlagen. Ich warte auf einen Stift und versuche dann, das Formular auf den Knien auszufüllen. Ich habe mich in einer Ecke vor den Polizisten versteckt und beuge mich über mein Formular, suche nach den entsprechenden Kästchen für Geschlecht, Größe und Familienstand. Das Formular ist in dieser unglaublich kleinen Schrift gedruckt. Die Fotokopie einer Fotokopie. Man kann es kaum entziffern, geschweige denn in die kleinen leeren Zwischenräume die geforderte Information quetschen. Ich überlege gerade, wie ich hier rauskommen könnte, als die Polizei, als ob sie meine Gedanken gelesen hätte, bekanntgibt, daß die Formulare ausgefüllt werden müssen, ehe wir gehen können. Außerdem sollen wir alle im Krankenhaus untersucht werden - ich weiß nicht, warum. Und ich höre die Sirenen der Rettungswagen und weiß, daß sie es ernst meinen. Ich weiß unsere Postleitzahl nicht auswendig und versuche gerade, mich an sie zu erinnern. Ich blicke auf und sehe meinen Räuber, mit einem Formular auf seinem gewaltigen Schoß. Er hat den Stift in den Mund gesteckt und sitzt genauso ratlos da wie ich. Ich rutsche über die lange Bank hinweg zu ihm, und er sieht mich an wie eine alte Schulfreundin. Ich blicke über seine Schulter auf das Formular. Er hat keine einzige Zeile ausgefüllt. «Blödes Formular, was?» sage ich. «Wie heißen Sie?»
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«David», sagt er. «Ich k-k-kann ohne meine Brille nicht 1-1lesen.» «Ich werde es für Sie ausfüllen.» Ich sage ihm meinen Namen, und er bringt, mit einem Lächeln und ohne zu stottern, ein perfektes Hilary zustande. Er heißt David Alexander Kennedy, ein eindrucksvoller Name. Ich erfahre, unter anderem, daß er in Hull wohnt, alleinstehend ist und sechsundzwanzig Jahre alt, was mich traurig macht, denn er sieht viel älter aus. Seine nächste Angehörige ist seine Mutter, Sybil, deren Telefonnummer im Büro mit einer 800 beginnt. Er ist nicht verletzt worden, und er weiß seine Sozialversicherungsnummer nicht auswendig. «Meine kenne ich auch nicht auswendig», lüge ich. Ich beschließe, Davids Gesicht doch nicht so häßlich zu finden, jedenfalls nicht, wenn er lächelt. Die Menschen stellen sich am Ausgang an, die Polizei sammelt die Formulare ein, und die Passagiere müssen dann den Krankenpflegern folgen, die mit den Rettungswagen angekommen sind. «Ich werde nicht in den Rettungswagen einsteigen», sage ich zu David. Er sieht mich traurig an, so, als ob das falsch sei. «Es geht mir gut», sage ich zu ihm. «Sie haben mich gerettet. » Ich gehe ans Fenster und zähle sieben Rettungswagen, sie sind groß, so groß wie Lastwagen. Die Leute werden ziemlich zügig verladen. Dann wirft einer der Männer die hinteren Türen zu, und die Rettungswagen fahren einer nach dem anderen los, mit blinkenden Lichtern, aber ohne Sirene. Es ist sowieso niemand verletzt worden. Aber vor der Tür tut sich etwas. Draußen steht eine Menschenmenge, und ein Fernsehteam mit schwarzen Kameras ist auch da. David tippt mir auf die Schulter und zeigt auf die Schlange der Leute, die ihre Formulare abgeben. Ich nicke ihm zu und sage, daß ich gleich nachkommen werde. 211
Ich werde nicht in das Krankenhaus gehen. Ich weiß nicht mal, wo es hier ein Krankenhaus gibt. Ganz hinten am Ende der Glaswand sehe ich ein Schild, auf dem Ausgang steht, und ich schlendere wie von ungefähr dorthin, tue so, als ob ich noch das Unfallformular studieren würde. Ich klopfe mir mit dem Stift auf die Wange, damit jeder sieht, wie sehr ich mich konzentriere. Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. Als ich an der Tür bin, lehne ich mit dem Rücken dagegen, als wüßte ich nicht, daß es ein Ausgang ist. Ein junger Mann hinter der Glaswand lächelt mir zu, ich lächle zurück und starre dann wieder auf mein Formular. Aber er beobachtet mich weiter. Er hat einen superkurzen Bürstenhaarschnitt und eine winzige Nase, die wie ein kleines Paket aussieht. Eine Brille mit dicken Froschaugengläsern. Er kann nicht älter als zwanzig sein. Zu meinem Glück beauftragt ihn ein älterer Beamter damit, irgend etwas aus einer Kartei herauszusuchen, und er fängt an, in einer der Metallschubladen herumzuwühlen, die sich an der Wand befinden. Ohne ein Geräusch zu machen, drehe ich an dem Türknopf und verschwinde, schäme mich meiner selbst, fühle mich schuldig, weil ich unfähig bin, diese Angelegenheit so wie die anderen Leute hier hinter mich zu bringen. Ich schließe die Tür äußerst sanft, lasse den Türknopf wieder geräuschlos einschnappen. Ich bin ein Flüchtling. Eine Straftäterin. Ein verkommenes Subjekt, ein Stinktier, ein Insekt, ein Wurm. Ich stehe auf einer Treppe aus Zement. Es riecht feucht nach Keller, ein Eisengeländer säumt acht Stufen nach oben und nach unten, nach einer Drehung kommen noch einmal acht Stufen. Ich fliege die Treppe hinunter, meine Füße schweben über die Stufen. Schließlich stehe ich vor einer Metalltür, die in einem merkwürdigen hellen Wasserblau gestrichen ist. Über dem Türgriff befinden sich eine Alarmanlage und ein Schild, auf dem steht: SIRENE SCHRILLT BEIM ÖFFNEN DER TÜR. 212
Ich gehe ganz nah mit dem Gesicht heran, versuche herauszufinden, wie der Mechanismus funktioniert, der die Alarmanlage in Gang setzt. Ich hoffe, daß ich sie irgendwie außer Betrieb setzen kann, so wie in Mission Impossible, aber ich komme auf keine erfolgversprechende Lösung. Vielleicht sollte ich doch ins Krankenhaus gehen. Sie könnten sich davon überzeugen, daß mit mir alles in Ordnung ist, und dann könnte ich schnell zu Victors Vater nach Boston fahren. Bleibt noch das Problem, daß ich soviel Zeit verloren habe und Victor den ganzen Tag allein und krank zu Hause ist. Widerstrebend gehe ich wieder die Treppe zum Büro der Küstenwache hinauf. Ich muß mich geschlagen geben. Die Ereignisse der vergangenen Nacht verfolgen mich. Victor, der sich übergeben mußte, unsere Habseligkeiten, die er wie Müll auf einen Haufen geworfen hat, Mrs. Birkle in ihrem Schlafzimmer, der Fallschirmspringer. Dann fallen mir die vergangenen Monate ein, historische Monate, in denen Victor noch nicht so von seiner Krankheit gezeichnet war. Ich sehe Victor und mich unter einem Silberahorn, die Herbstblätter regnen auf uns herab und rascheln unter unseren Schuhen. Ich sehe ihn am Vormittag unseres Einzugs, wie er eine Kiste mit Büchern die Treppen zu unserer Wohnung hochzieht. Ich sehe ihn im Waschsalon, wie er meine Unterwäsche sorgfältig zusammenfaltet und auf einen Haufen legt. Dann drehe ich mich um, nehme drei Stufen auf einmal und schieße durch die aquamarinblaue Tür. Der schrille Ton der Alarmanlage ist ohrenbetäubend. Ich dachte, die Tür würde nach draußen führen, aber sie führt in einen von einer Lampe nur schwach erhellten engen Gang mit einem Zementfußboden. Der Klang der Alarmsirene jagt mich durch den Gang, und dann renne ich durch einen anderen Gang, der nach rechts abgeht. Alle zehn oder fünfzehn Meter
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kommt eine Tür. Ich probiere, ob eine aufgeht, aber sie sind alle verschlossen. Ich denke, Scheiße, Scheiße, Scheiße. Dann sehe ich endlich eine Treppe, auf die von oben ein schwacher Streifen Tageslicht fällt. Sie führt nach draußen. Ich stoße die Tür auf, und als ich auf der Wasserseite der Küstenwachtstation ans Tageslicht krieche, füllt sich meine Lunge mit einem Schwall kalter Luft. Ich scheuche einen Schwärm Möwen auf, die in einer lärmenden, kreischenden Wolke auffliegen. Von der anderen Seite des Gebäudes höre ich Stimmen, also renne ich auf den Quai und verstecke mich hinter einem der Küstenwachtboote. Schließlich wird die Alarmsirene ausgestellt. Alle, die in der Küstenwachtstation waren, stehen jetzt auf dem Parkplatz, und ein Wagen der Feuerwehr fährt durch die Straße und muß den Rettungswagen ausweichen, als er in die Einfahrt einbiegt. Die Polizisten sammeln immer noch Unfallformulare ein. Die Blinkleuchten flackern blau und rot über dem leuchtenden Schnee. Ein Fernsehreporter ruft seinem Team mit lauter Stimme Anweisungen zu, und die Leute schultern ihre Kameras und versuchen, nichts zu verpassen. Einige haben Tüten mit Doughnuts und Kaffee. Ich verlasse meinen Platz bei den Booten und gehe frech über den Schnee. Ich habe das Gefühl, als würden mich alle anstarren, als wäre ich der erste Soldat einer feindlichen Armee, aber niemand beachtet mich. Ich stehe in der Zuschauermenge, die die Küstenwachtstation beobachtet, als ob sie sich jeden Moment in Luft auflösen könnte. Ich frage eine Frau in einem Webpelzmantel, was passiert sei. Sie sagt, daß eine Fähre in der Bucht gesunken sei und daß sie den ganzen Morgen über die Leute aus dem Wasser gefischt hätten. Ein Mann neben ihr, vielleicht ihr Mann, sagt, nein, sie hätten niemanden aus dem Wasser gefischt. An Bord der Fähre sei ein Feuer ausgebrochen, und
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die Leute hätten eine Rauchvergiftung. Ein Jugendlicher in einer Motorradlederjacke sagt, nein, es war eine Bombe. Wir bleiben eine ganze Weile so stehen. Ich äußere die Vermutung, daß die Maschine ausgefallen sei oder daß sie unter Wasser auf ein Riff gelaufen seien, was, wie sich später herausstellt, auch der Fall gewesen ist. Ich sage, daß die Fähre vielleicht nur leicht beschädigt sei, daß sie aber trotzdem die Küstenwache ausgeschickt hätten. Davon wollen die Leute nichts wissen. Die Dame im Pelz bläst die Wangen auf und sagt, das stimme nicht. Okay, sage ich, vielleicht hat jemand das Schiff gekapert, und der Kapitän hat ihn niedergerungen, während die Mannschaft die Passagiere in die Rettungsboote verfrachtet hat. Der Jugendliche mit dem Motorrad beißt sich auf die Unterlippe und denkt darüber nach. Nach ein paar Minuten mache ich mich auf den Heimweg. Ich biege in unsere Straße ein und spiele mit meinen Autoschlüsseln. Ich werde gute anderthalb Stunden brauchen, wenn ich im Berufsverkehr nach Boston fahren will. Vielleicht noch länger. Ich bin jetzt vierzig Minuten gelaufen, habe meinen Atemwolken hinterhergesehen, meine Zehen frieren in meinen Turnschuhen. Mein Auto ist auf der einen Seite so verrostet, daß es zweifarbig aussieht. Ich nähere mich ihm wie einem fremden Auto und sehe wieder, wie häßlich es ist. Die Ratte über dem Steuerrad sieht aus, als ob sie gerade vergiftet worden wäre. Manche Stellen sind so rostig, daß man hindurchsehen kann. Ich will gerade einsteigen, als ich eine Bewegung an der Hecke sehe. In einem der Mülleimer ist ein Waschbär. Er hält sich mit den Hinterbeinen am oberen Rand des Eimers fest, sein Kopf steckt in der Mülltonne. Sein geringelter Schwanz wippt auf und nieder, und seine scharfen Waschbärenkrallen verursachen ein metallisches Schaben auf dem Aluminium. Ich 215
weiß, daß ich ihn verjagen müßte, aber sein rundes Hinterteil und der witzige Schwanz sehen so niedlich aus, wie er auf dem dünnen Rand der Mülltonne balanciert, daß ich den Drang bekämpfe, ihn spielerisch anzustupsen. Ich verlasse das Auto und gehe so nah an den Waschbären heran, daß ich sein langes Winterfell deutlich erkenne. Nach einer Minute dreht er den Kopf, eine Eierschale in seiner schmalen Schnauze. Er zieht den Kopf ein, sein Gesicht wird von dem schwarzen Fell fast ganz verdeckt. Als er mich sieht, springt er von dem Eimer, meine Anwesenheit macht ihm Angst, gleichzeitig zögert er, seine Beute fahrenzulassen. Der Müll, den er aus dem Eimer geholt hat, liegt verstreut auf der Erde, und er versucht, sich noch eine Pizzaschachtel zu schnappen, ehe er sich trollt. Er verschwindet hinter einer Hecke. Ich sammle den Müll ein, den er verstreut hat - leere Thunfischbüchsen, zerknüllte Kleenextücher, ein Stück fettiger Alufolie. Hühnerknochen von einem Essen, das wir vor drei Tagen gegessen haben, liegen herum und ein leeres Glas Apfelsauce. Dann finde ich unter einem ekligen vergammelten Stück Käse einen zusammengedrehten Ball aus Klebestreifen, etwa so groß wie ein Silberdollar. Ich ziehe den Klebestreifen auseinander, der Klebstoff klebt an meinen Fingern. Innen drin ist ein Bündel glänzender feiner Nadeln. Ich nehme eine, halte sie vorsichtig zwischen zwei Fingern und starre auf ihre hohle Spitze. Dann zerbreche ich sie in zwei Teile und wickle sie wieder in den Klebestreifen. Es sind Morphiumnadeln. Victor hat sich Injektionen gegeben. Ich renne ins Haus. «Victor!» schreie ich, als ich zur Tür hineinstürze. Er sitzt auf dem Bett, hat einen Becher mit Kaffee in der Hand und sieht die Morgennachrichten.
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«Mrs. Birkle wollte den Fernseher nicht annehmen», sagt er. «Sie hat mir gesagt, ich soll dir ausrichten, daß sie dich, sprechen möchte.» Im Fernsehen zeigen sie Aufnahmen von der KüstenwachtStation. Die Kamera zeigt, wie die Leute in die Rettungswägen einsteigen und winken, ehe die Türen geschlossen werden. Ich stehe mit geballten Fäusten vor dem Fernseher und schreie in Victors überraschtes Gesicht. «Victor, du hast mir nichts von dem Morphium gesagt! Du hast mir nichts gesagt. Das ist unfair. Ich habe ein Recht, es zu wissen!» Er starrt mich ausdruckslos an, dann sieht er weg, als hätte er mich überhaupt nicht gesehen. Er trinkt einen Schluck Kaffee. «Du bist ein Schwein!» sage ich. «Du bist ein Schwein, wenn du vor mir etwas versteckst. Etwas Wichtiges versteckst. Wie kannst du es nur wagen! Warum hast du es mir verschwiegen?» Ich packe ihn am Hemd und ziehe ihn zu mir. «Du bist zu meinem Vater gefahren», sagt Victor. Er hat die Zähne fest zusammengebissen. Ein Muskel auf seiner Wange zuckt, dann ist er ruhig. «Ich bin nirgendwo gewesen», sage ich. «Gordon war sehr aufgeregt. Er ist heute früh hergekommen und war fast in Panik. Wir haben die Küstenwacht angerufen und das Krankenhaus. Sie haben keine Unterlagen von dir.» «Das beweist, daß ich nicht gefahren bin», sage ich. «Die Maschine der Fähre ist explodiert. Ich dachte, daß du im Atlantik ertrunken wärst», sagt Victor, «als du zu meinem Vater fahren wolltest.» «Bin ich aber nicht.» «Ja, leider.» Ich springe ihn an. Ich boxe ihn in die Brust, und er versetzt mir einen heftigen Stoß unter das Kinn, so daß ich mir auf die Zunge beiße. Ich schlage seine Arme weg. Dann haut er mir 217
seinen Kaffeebecher gegen den Wangenknochen, und der heiße Kaffee blendet mich für einen Moment. Er ist nicht so heiß, daß er mich verbrüht hat, aber ich renne in die Küche, an den Wasserhahn. Ich stehe am Ausguß, halte meinen Kopf unter das fließende Wasser und schmecke Blut in meinem Mund, und meine heißen Tränen werden vom Wasser weggespült. Als ich wieder atmen kann, fluche ich laut zwischen zusammengebissenen Zähnen. Victor kommt in die Küche und stellt den Kaffeebecher neben die Spüle, direkt vor meine Nase. Ich fege den Becher von der Anrichte, er zerschellt auf dem Fußboden. Victor steht hinter mir, und ich trete ihn heftig gegen den Knöchel. Er faßt mit seinen Händen unter meinen Mantel, und ich reiße mich von ihm los. Er reißt mir das Hemd aus der Hose und schlingt seine Arme um meine nackte Taille. Er beugt sich über mich, legt sein Gesicht auf meinen Nacken. Das Wasser strömt in einem lauten Schwall aus dem Hahn, und ich kann kaum verstehen, was Victor sagt. Er wiederholt immer wieder den gleichen Satz. Sein Körper zittert, er drückt sich an mich. Ich richte mich auf und will mich zu ihm umdrehen. Aber er schubst mich wieder zurück. Ich fühle seine nassen Tränen in meinem Nacken und erstarre vor Staunen. Er sagt immer und immer wieder: «Baby, du bist in Sicherheit.»
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Zwölf Mrs. Birkle neigt den Krug und gießt Saft in ein Glas. Dann verschwindet sie weiter hinten in der Küche, und ich kann sie von meinem Platz aus nicht mehr sehen. Ich höre das Klappen von Schranktüren, das Rascheln einer Verpackung und das leise Geräusch, das entsteht, wenn Kekse in eine Schale geschüttet werden. Sie hat mir bereits erklärt, warum sie meinen Fernseher nicht haben wollte. Sie sagte, sie hätte gleich gewußt, daß ich lüge und daß wir gar keinen zweiten hätten. Und sie meinte, daß der liebe Gott diese Art Lügen verzeihen würde. Auf dem Tisch, neben einer kunstvoll gefertigten Weihnachtskrippe, steht Mrs. Birkles Fernseher - der alte. Gordon hat ihn heute gebracht, mit neuen Farbröhren und Drähten versehen, gründlich gereinigt und mit einer makellosen neuen Glasfront. Als er ihn hereintrug, hat Mrs. Birkle geweint. Die Kühlschranktür geht auf, und sie bückt sich, wobei ihre Wirbelsäule hervortritt und ihre Beine ungelenk unter dem hochgerutschten Rocksaum hervorgucken. Sie stellt den Krug in den Eisschrank zurück. Mit vorsichtigen, zögernden Schritten bringt sie das Glas Saft und die Keksschale ins Wohnzimmer, wo ich sitze. Sie stellt das Tablett auf dem Couchtisch ab, setzt sich und streicht sich den Rock glatt. Sie sagt: «Greif zu, Mary», und schlägt sich mit der Hand auf den Mund. Mary ist ihre Tochter. Der heutige Tag gestaltet sich im großen und ganzen wie so viele Tage in letzter Zeit. Victor und ich sind zu Hause. Wir verlassen die Wohnung kaum, höchstens, um eine Zeitung zu kaufen, die Post aus dem Korb hinter unserem Briefschlitz zu 219
fischen oder eine schon leicht angesäuerte Tüte Milch durch eine frische zu ersetzen. Es ist ein stilles Beisammensein. Die Zeit, die wir zusammen verbringen, ist nicht im üblichen Sinn ausgefüllt. Victor hält sich überwiegend auf der einen Seite des Krempelhaufens auf, der noch immer einen Großteil des Zimmers ausfüllt. Er sitzt in seinem Sessel und liest. Ich liege auf dem Bett, den Kopf über die Kante gereckt, eine Zeitung und ein paar Illustrierte vor mir auf dem Fußboden. Ich durchforste die Zeitung nach Artikeln, die mich interessieren, schneide ein paar davon aus und lege sie in einen Schuhkarton mit der Aufschrift «Bei Gelegenheit lesen». Ich rätsele an den Anagrammen auf der Familienseite herum und bastle Christbaumschmuck unter Verwendung von Werbefotos und Klebstoff. Auf der Arbeitsplatte in der Küche trocknet ein Sortiment Nikoläuse und Kerzen, Schneemänner und Schlitten, Kränze, Shetlandponies und Engel vor sich hin. Der Haufen auf dem Fußboden wird allmählich kleiner, weil Victor und ich ab und zu etwas wegräumen. Als ich gestern unter der Dusche war, brachte Victor das Kästchen mit meinen Haarspangen und meinem Schmuck ins Bad und stellte es auf den Waschbeckenrand. Er ging daran, ein paar von meinen Blusen in den Kleiderschrank zu hängen und Jeans zusammenzufalten und wegzuräumen. Gestern abend wollte er eine Salatsauce anrühren, und ich habe das Gewürzbord ausgegraben, damit er Kräutersalz drantun konnte. Ich habe die Bücher in sein Regal gestellt und ihm einen neuen Notizblock neben seinen Sessel gelegt. Die Nächte sind schlimm. Victor wacht oft schweißgebadet oder vor Kälte zitternd auf. Wir beziehen jeden Morgen das Bett neu, und ich bringe die Bettwäsche zusammen mit ein paar Socken und dem einen oder anderen Handtuch zum Waschen. Zwischen uns steht es wieder besser. In den letzten drei Tagen hat das Telefon nur einmal geklingelt, und Victor hat abgenommen. Gordon natürlich. Sie 220
haben kurz miteinander geredet, dann hat Victor aufgelegt und mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, zu Gordon zu gehen und einen Film anzuschauen. Heute schläft Victor gerade, als das Telefon klingelt. Ich weiß gleich, daß es Gordon ist. Ich drehe den Hahn an der Spüle auf, damit Victor uns, falls er aufwacht, nicht so gut hören kann. Ich halte die Muschel beim Sprechen dicht an den Mund. «Ich kann dich im Moment nicht sehen», sage ich zu Gordon. «Es ist jetzt wichtig, daß ich ein paar Tage für Victor da bin.» «Du bist doch immer für Victor da», sagt Gordon. «Wann warst du schon mal nicht für ihn da?» «Du weißt, was ich meine», sage ich. Gordon seufzt am anderen Ende. «Bist du noch böse, weil ich ihm gesagt habe, daß du nach Boston wolltest, um mit seinem Vater zu sprechen? Das ist nicht fair, Hilary.» «Nein», sage ich. «Das hat damit nichts zu tun.» «Wir hatten solche Angst, daß du ertrunken sein könntest. Wir wollten seinen Vater anrufen, um herauszufinden, ob du vielleicht irgendwie anders hingekommen bist. Wir hatten ja keine Ahnung, was los war.» «Ich weiß», sage ich. «Das weiß ich doch alles.» «Treffen wir uns doch morgen im Waschsalon», sagt Gordon. Er läßt nicht locker. In seiner Stimme schwingt ein trauriger, gekünstelter Optimismus. «Ich kann dir ja Gesellschaft leisten, während der Trockner läuft.» «Woher weißt du, daß ich da hingehe?» «Weil ich dich beobachtet habe», sagt er. «Sei mir bitte nicht böse, aber ich bin dir nachgefahren.» Um sechs Uhr ruft Gordon wieder an, diesmal leicht angetrunken. Victor ist jetzt wach. Er liegt im Bett und liest. Da die Nächte so schlimm sind, sind wir in letzter Zeit dazu übergegangen, ihm abends eine winzige Dosis Morphium zu 221
spritzen, und davon ist er jetzt in einem seltsamen, friedlichen Schwebezustand. Er grinst beinahe in sein Buch und liest lange an jeder Seite. «Morgen», sage ich zu Gordon. «Jetzt kann ich nicht. Ich bin beschäftigt.» «Was machst du?» fragt Gordon. Im Hintergrund höre ich Kneipengeräusche, Stimmengewirr und laute Bierbestellungen. Ich erzähle Gordon, daß ich gerade koche, was nicht stimmt. Ich koche kein Abendessen, weil Victor noch mit einem Glas Wein und dem Rest seines Mittagessens kämpft. Ich klebe noch weitere weihnachtliche Motive, die ich aus der Zeitung ausgeschnitten habe, auf Karton. Die Arbeitsplatte in der Küche ist voller Klebstoff, Papierschnipsel und trocknendem Baumschmuck. Den fertigen habe ich mit Bändchen an den Christbaum gehängt. «Und wenn ich dir sagen würde, daß es ein Notfall ist?» sagt Gordon. «Wir leben im Dauerzustand mit Notfällen», sage ich. Ich bohre ein Loch durch den Kopf eines Spielzeug-Teddys und binde ein Goldbändchen zu einer Schleife. «Und wenn ich dir sagen würde, daß Victors Vater hier war und Erkundigungen eingezogen hat?» «Wann?» sage ich. Ich lege den Teddy hin und kratze mit einem Gabelzinken den Klebstoff von meinen Fingern. «Wo bist du? Bei Cappy?» «Im Tavern.» «Woher weißt du, daß es Victors Vater war?» «Ich weiß es, Hilary», sagt Gordon. «Er sagte, er sei auf der Suche nach Victor und wüßte, daß er sich irgendwo in Hull aufhält.» Mir fällt der Brief ein, den ich Victors Vater geschrieben habe. Natürlich ist er in Hull abgestempelt worden, und wahrscheinlich konnte er den Ortsnamen entziffern. «Daran bin ich schuld», sage ich. 222
«Hilary ist immer an allem schuld», nuschelt Gordon. «Wenn ich ganz früh ins Bett gehe, brichst du dann noch mal bei mir ein?» «Gordon...» «Angenommen, ich falle vom Dach, würdest du dann kommen und dich um mich kümmern? Angenommen, ich besaufe mich und drehe durch und verprügle dich, würdest du mich dann wollen, so wie du Victor willst? Würdest du mich wollen, Hilary?» Es ist stockdunkel, mitten in der Nacht, und es hat zweimal an der Haustür geklingelt. Ich stehe in der Zimmertür und sehe Victor an. Er schaut achselzuckend und verblüfft zurück. Auf dem einen Bein hat er eins meiner Bücher liegen, mit dem Rücken nach oben. Es ist ein Buch über Raumfahrt und Ufos. «Meinst du, das ist Gordon?» fragt er mich. «Nein, Victor», sage ich. «Das ist bestimmt dein Vater.» Ich hocke mich auf die Bettkante. Auf dem Nachttisch befinden sich das Glas mit Wein, ein Medizinfläschchen, ein halbes Glas Milch und ein Haufen benutzter Wattebäusche, gefärbt von Victors Blut. Victor hält meine Hand und zieht mit dem Zeigefinger Kreise um meine Fingerknöchel. «Ich möchte mehr über die Sachen wissen, die dich interessieren, Hils. Gestern habe ich dein Buch über Knochendeformationen bei Hunden gelesen. Sehr spannend, das mit den dänischen Doggen. Das Raumfahrt-Buch hier ist ein bißchen schwieriger», sagt er. «Und mit dem Morphium und dem Wein fällt es mir schwer, mich zu konzentrieren. Ich sehe auch alles so komisch. Sogar dein Gesicht, Hilary. Es hat ringsherum so einen Strahlenkranz aus Licht - eine Art gelbe Aura. Meinst du nicht, Estelle wäre richtig stolz auf mich, wenn ich jetzt anfange, Auren zu sehen?» Es klingelt wieder. «Ist denn alles von Gelb umgeben?» frage ich. 223
«Nein, manchmal auch von Blau oder Rosa.» Es klingelt erneut, und ich zucke zusammen. «Der Mensch ist frei geboren, und doch trifft man ihn überall in Ketten», sagt Victor. «Weißt du, wer das gesagt hat, Hilary?» Ich schüttle den Kopf. «Rousseau. Im Contrat Social, 1762. Rousseau glaubte, daß der Mensch unschuldig und gut auf die Welt kommt und auch weiter anständig und gerecht bleibt, wenn man ihm nur die Möglichkeit läßt, seinen natürlichen Regungen zu folgen. Was denkst du, Hilary? Was passiert, wenn ein Mensch seinen natürlichen Regungen folgt?» «Soll ich aufmachen, Victor?» «Folgt Gordon seinen natürlichen Regungen?» «Da mußt du ihn fragen. » «Wer hat meinen Vater angerufen, du oder Gordon ?» «Ich habe ihm geschrieben», sage ich. «Eine Frage noch, Hils», sagt Victor. Er nimmt mein Gesicht zwischen seine Hände. «Wäre es eine Erleichterung für dich, wenn ich weggehen würde? Mein Vater wird bestimmt darauf bestehen, daß ich ins Krankenhaus gehe oder irgendwo anders hin. Du mußt mir das ehrlich sagen, Hilary, weil es Krach geben wird, heute nacht, und ich sicher sein will, daß es sich auch lohnt.» Auf Victors Gesicht spiegelt sich eine ganze Welt von Gefühlen. Der Klang seiner Stimme sagt tausend Dinge. Ich setze zu einer Antwort an, merke aber selbst, daß mein Gestotter nicht verständlich ist. Worte rattern durch meinen Kopf, und ich picke die in Frage kommenden heraus. Draußen höre ich eine Eule schreien. Ich frage mich, ob das ein gutes Omen ist oder ein schlechtes. Ich sage zu Victor, daß ich nichts anderes will, als bei ihm zu sein.
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«Für mich ist das alles sehr schön so», flüstert Victor. Er lächelt wie ein Buddha und zieht mich an sich. Wir hören dem drängenden Geklingel zu. Dann läßt Victor meine Hand los. Er wendet lauschend den Kopf. «Das ganze Zimmer summt», sagt er. Unten steht Mr. Geddes im orangefarbenen Licht der Lampe über unserer Vordertür. Er trägt einen langen Wollmantel und dicke Handschuhe. Er ist ein Mann mit scharf geschnittenem Gesicht und einem grauen Lockenkranz und hat, genau wie sein Sohn, etwas Schmales und Elegantes. Ich bemerke, daß er einen schnittigen BMW draußen auf der Straße geparkt hat. Und er hat einen fürchterlichen Husten. Er lächelt höflich und hustet eine Salve in seinen Handschuh. Er sagt: «Ich suche Victor.» Ich führe Mr. Geddes die drei Treppenabsätze hinauf, höre hinter mir seinen Husten und das Geräusch seiner Schuhe auf den ausgetretenen Holzstufen. Als wir bei unserer Wohnungstür angekommen sind, ist er rot im Gesicht und außer Atem. Ich klopfe an die Tür, ehe ich hineingehe, um Victor zu signalisieren, daß wir da sind. Dann stoße ich die Tür ganz auf und registriere den Anblick unserer Wohnung mit dem Krempelhaufen beim Bett und dem überdimensionalen Weihnachtsbaum in der Ecke, der zur Hälfte mit merkwürdigen Papierbildchen dekoriert ist. Victor hat seinen Sessel so gedreht, daß er zur Tür schaut. Er sitzt mit übergeschlagenem Bein da, im Mund eine baumelnde Zigarette. Er steht auf, tut einen tiefen Lungenzug und drückt dann, weil kein Aschenbecher zur Hand ist, die Zigarette auf dem Absatz seines Schuhs aus. Er macht vier große Schritte auf uns zu, die Hand vorgestreckt. Sein Vater und er wechseln einen festen Händedruck. «Störe ich ? Komme ich ungelegen...» fragt sein Vater.
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«Nein, Dad», sagt Victor. «Setz dich. Hilary hast du schon kennengelernt?» «Ich bin Hilary», sage ich. Mr. Geddes starrt mich an, als bemerke er mich erst jetzt. «Sie kommen mir bekannt vor», sagt er. «Waren Sie schon mit Victor zusammen, ehe er...» Er hält abrupt inne und öffnet den obersten Knopf seines Mantels. Er tut einen spontanen Schritt auf Victor zu, zögert dann aber. «Wie geht es dir, mein Junge?» Ich gehe in die Küche und nehme zwei Weingläser aus dem Schrank. Der Telefonhörer liegt neben dem Apparat auf der Arbeitsplatte. Ich habe ihn, ohne es zu merken, nach Gordons letztem Anruf einfach liegenlassen. Die Leitung ist tot. Alles, was ich höre, ist ein schwaches Knacken. Ich lege den Hörer auf und spüre einen Stich im Herzen. Dann gieße ich Wein in die Gläser. Ich stelle eins davon Mr. Geddes hin, der es in einem Zug um ein Drittel leert. Victor und sein Vater gehen aufeinander los wie zwei Profis. Zwei Hochleistungsgehirne: Die Wörter kommen gar nicht schnell genug heraus. Sie stürzen sich in ein Wortgefecht, mit kurzen, gezielten Sätzen, und taxieren einander beständig, um rasch zur nächsten Parade ansetzen zu können. Sie weichen Fragen aus, verdrehen Aussagen in unbillige Forderungen. Es ist beeindruckend, wie Victor die Vorwürfe seines Vaters kontert. Trotzdem ist es hart für ihn. Da entzieht er sich dem Zugriff seines Vaters, nur um sich doch wieder in eine Auseinandersetzung verstrickt zu finden, deren Ton und Inhalt sein Vater bestimmt. Aber Victor schlägt sich gut und gewinnt schließlich die Überhand. Mr. Geddes versucht, Victor mit Ernst und Strenge beizukommen und jede Reaktion seinerseits gleich mit einem geschickt plazierten, barschen Konterhieb abzufangen. Dennoch geht Victors Lachen immer wieder auf ihn nieder. 226
Victor gelingt es, sich durch sein Gewitzel um eine eindeutige Aussage darüber herumzumogeln, wie er weiter mit seiner Krankheit umzugehen gedenkt. Aber dann kippt das Ganze um, und er scheint vor dem drohenden Tränenausbruch seines Vaters zu kapitulieren. Er fängt sich jedoch wieder und bringt seinen Vater durch neuerliche Clownerien zum Verstummen. Er geht ans Bücherregal und zieht einen dicken Band mit englischen Gedichten hervor. «Du hast doch sicher schon von J. B. S. Haldane gehört, Dad?» sagt Victor. «Von ihm gibt es nämlich ein Gedicht mit dem Titel ‹Krebs ist eine ulkige Sache›, aus dem ich dir gern ein paar Zeilen vortragen möchte, wenn du gestattest.» «Ich sehe überhaupt nichts Ulkiges...» Victor stellt sich in Pose, ein Bein vor dem anderen, und schickt sich an zu deklamieren. Er räuspert sich und hebt Aufmerksamkeit heischend einen Finger. «Homers Stimme ließ ich gern erklingen / das Enddarmkarzinom würdig zu besingen...» hebt er an. «Laß das, Victor», sagt Mr. Geddes unwirsch. «Du hast kein Enddarmkarzinom. Ich wünschte, du hättest eins.» «...nähert man sich dem Tumor / mit gebührendem Humor / so ist der Mensch, der ihm verfällt, zwar häufig nicht zu retten / doch gleiches gilt für Autofahrn und Schlaftabletten...» Mr. Geddes geht auf Victor zu und schlägt ihm das Buch aus den Händen, und schon sind sie wieder mittendrin: Mr. Geddes feuert eine ganze Kanonade von Fragen auf Victor ab, und der schießt selbstbewußt zurück. Schließlich fordert Victor die Einstellung des «Verhör«, wie er es nennt. Er weist seinen Vater darauf hin, daß er seit vielen Jahren erwachsen sei, und stellt gleich darauf jedes Feuer ein, als sein Vater auf einmal ganz klein wird und ihn anfleht, vernünftig zu sein. «Bitte!» sagt Mr. Geddes, beschwörend die Hände vorstreckend. Victor wendet sich ab.
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«Kannst du nicht mal einen Augenblick lang unsere speziellen familiären Kommunikationsmuster vergessen und mit mir reden, als sei ich ein halbwegs vernunftbegabter Mensch?» fragt Victor. Seine Finger wandern über den Couchtisch, auf der Suche nach Zigaretten. Seine Hand streift diverse Zeitschriften, einen Kaffeebecher, den Aschenbecher, seine Brieftasche, seine Schlüssel, ehe er das MarlboroPäckchen findet. «Bitte sehr», sagt Mr. Geddes, wobei er sich aufrecht vor Victor aufpflanzt. «Ganz wie du willst. Reden wir vernünftig miteinander. Dann begründe mir doch bitte vernünftig, warum du den geraden Weg ins Grab wählst.» «Es ödet mich an, Dad», sagt Victor. Er zündet sich eine Zigarette an und bläst eine Ladung Rauch über den Kopf seines Vaters weg. «Die ewige Chemotherapie, das ewige Kranksein ...» «Das ist schon eine sonderbare Gesellschaft», sagt Mr. Geddes, «in der sich die Menschen umbringen, weil sie angeödet sind.» «Ich lebe jetzt schon anderthalb Jahrzehnte mit dieser Krankheit. Du hast so was nie mitgemacht... Dir steht es überhaupt nicht zu, darüber zu urteilen.» «Du bringst dich um», sagt Mr. Geddes, wobei er mit einem zittrigen Finger auf Victor zeigt. «Es geht mir viel schlechter, als du ahnst. Außerdem sterbe ich schon zehn Jahre vor mich hin.» «Das ist nicht wahr. Es bestand immer noch Hoffnung.» «Ich kann aber nicht mehr», sagt Victor. Er zieht tief an seiner Zigarette. «Ich kann nicht mehr mit dieser ‹Hoffnung› leben. Ich bin müde.» «Herrgottnochmal!» sagt Mr. Geddes, der vornübergeklappt ist, als habe er einen Schlag in die Magengrube abgekriegt. «Zum Teufel mit deiner Müdigkeit!» Er tanzt jetzt fast vor Victor herum. Der Mop aus grauen Locken auf seinem Kopf 228
hüpft, und sein Mund verhärtet sich auf eine Weise, die mich an Victor erinnert. Ich sehe Victors Kinn in seinem Gesicht und Victors hohe, gefurchte Stirn. Er hat ein leichtes Hohlkreuz. Sein Rücken ist sanft geschwungen wie ein Kanu. Das läßt ihn irgendwie ausgehöhlt wirken, aber auch sehr jung. Er redet von neuem auf Victor ein, mit den gleichen Argumenten, mit denen er den Abend eröffnet hat. Ich bringe den Rest des Weins ins Zimmer und stelle ihn auf den Couchtisch. Dann sehe ich zu, daß ich wieder in die Küche komme, wo ich mich auf einen Hocker setze. Ich bin nervös. Ich ziehe die Schnürsenkel aus meinen Halbschuhen und fädele sie so wieder ein, daß sie ein verrücktes Muster bilden. Ich rücke die Magneten am Kühlschrank zurecht. Victors Stimme schwillt an. Er sagt: «Erzähl du mir nicht, daß ich nicht leben will! Natürlich will ich leben! Wenn ich ohne diese Krankheit leben könnte, würde ich es liebend gern wollen! Wenn ein Selbstmörder der schlimmen Situation, die ihn in den Selbstmord treibt, auch anders entgehen könnte, würde er es doch tun! Selbstmord - den ich meiner Meinung nach gar nicht begehe - ist Ausdruck eines verborgenen Lebenswillens.» «Wer sagt das?» «Arthur Schopenhauer. Ein Philosoph aus dem neunzehnten Jahrhundert.» «Was hat der schon dazu zu sagen? Damals gab es überhaupt noch keine Chemotherapie!» Ich höre ein Seufzen und sehe Victor vor mir, wie er die Augen verdreht. «Offen gestanden, Vater, finde ich, daß ich auf eine sehr zivilisierte Weise mit dem Ganzen umgehe», sagt Victor. «Dir ist das vielleicht fremd, aber Menschen aus anderen Kulturen würden das, was ich mache, gar nicht abwegig finden. Die Iglulik-Eskimos glauben zum Beispiel, daß nur ein gewaltsamer Tod ins Paradies führt.» 229
«Was für Iglu-Eskimos ? Kenne ich nicht. » «Die Iglulik-Eskimos. In ihren Augen wäre ich, wenn ich eines natürlichen Todes stürbe, zu einem Dasein in ewiger Klaustrophobie verdammt.» «Was soll daran natürlich sein, wenn jemand so jung stirbt?» sagt Victors Vater. Endlich erstirbt das Gebrüll, und ich spähe ins Zimmer. Ich sehe Victor in seinem Sessel sitzen, die Beine breit von sich gestreckt, und schlürfend aus seinem Glas trinken. Die Haut unter seinen Augen ist blau, als hätte ihm jemand zwei Veilchen verpaßt. Auf seiner Oberlippe steht Schweiß, und die Haare rings um sein Gesicht sind feucht. Er fiebert, und wahrscheinlich ist ihm auch übel. Die Wirkung der winzigen Morphiumdosis hat zweifellos nachgelassen. Es muß eine gigantische Anstrengung bedeuten, seinen Vater abzuwehren, der so unermüdlich kämpft wie ein kleiner Junge bei seinem ersten Einsatz in der Schulmannschaft. Die Luft ist dick von Zigarettenqualm, das Fenster beschlagen. Mr. Geddes spricht jetzt rasch und leise auf Victor ein. Er hält ihm vor Augen, wie leicht sich alles im Krankenhaus bewältigen lassen wird und wie froh er sein wird, daß er nicht aufgegeben hat. «Ein symptomfreies Intervall von vier Jahren, und du giltst schon als geheilt.» «Dad», erklärt Victor langsam. «Ich habe es bisher nie auch nur auf ein symptomfreies Intervall von zwei Jahren gebracht, und ich werde auf gar keinen Fall - um es noch mal zu wiederholen: auf gar keinen Fall - in die gottverdammte Klinik gehen.» Das Telefon klingelt. Victor geht in die Küche und nimmt ab. «Mr. Geddes», sage ich, «möchten Sie etwas essen?» «Nennen Sie mich bitte Richard», sagt er. «Haben Sie vielleicht einen Bourbon im Haus?» 230
Ich höre Victors Stimme aus der Küche. Er sagt: «Ich kann jetzt nicht mit dir reden, alter Freund. Mein Vater ist da und macht Terror. Ich gebe dir Hilary...» «Entschuldigen Sie mich», sage ich und gehe in die Küche. Victor hält den Hörer ein Stück vom Ohr weg. Gordon brüllt am anderen Ende: Seine Stimme dringt laut aus der Muschel. «Sprich du mit Gordon», sagt er. «Er ist betrunken. Und bitte, gib meinem Vater keinen Bourbon.» Victor steht in der Küchentür und beugt sich ins Wohnzimmer hinein. «Dad!» ruft er. «Du kriegst hier nichts mehr zu trinken. Nach diesem Glas Wein macht die Bar zu.» «Du sagst mir, ich soll nicht trinken! Seit wann bist du denn so gesundheitsbewußt? Sieh dir doch mal an, wie du hier lebst! Dieser Müllhaufen da auf dem Boden. Eine richtige Toilette besitzt ihr vermutlich gar nicht.» «Da drinnen », sagt Victor, wobei er mit dem ganzen Arm auf die Klotür weist. «Gordon», flüstere ich in den Hörer. «Gordon, ist alles in Ordnung?» «Das ist nicht richtig, was wir da machen. Es ist nicht fair», sagt Gordon. Er nuschelt und schafft es nicht, seine Lautstärke über einen Satz hinweg konstant zu halten. Im einen Moment trompetet er mir ins Ohr, und im nächsten klingt seine Stimme weit entfernt, so, als hätte der Wind seine Worte davongetragen. «Gordon, ich kann dich nicht verstehen. Halt den Hörer an den Mund.» «Ich muß es Victor sagen», sagt er. «Ich muß es tun. Er ist doch mein Freund. Er hat mich eben selbst ‹alter Freund› genannt. Ich wollte ihm sagen, daß du und ich..., daß wir ein... Wie sagt man überhaupt dazu? Aber er wollte nicht mit mir reden.» «Gordon», sage ich. Ich schaue ins Wohnzimmer und sehe Victor am Fenster stehen und hinausschauen. Ich flüstere: 231
«Gordon, das kannst du nicht tun. Du kannst Victor nicht sagen ...» «Er ist der erste Freund, den ich habe, seit...» «Gordon, wo bist du?» «Im Moment bin ich noch bei Cappy. Aber er wird mich demnächst rausschmeißen. Ich weiß gar nicht mehr, wieso ich hergekommen bin. He, Hilary? Hilary, denkst du noch dran, daß wir morgen verabredet sind?» «Ich komme jetzt sofort, Gordon. Bleib solange bei Cappy, ja?» «Wir haben doch ein Date im Waschsalon. Ein romantisches Schäferstündchen vor dem Wäschetrockner!» Ich nehme Gordon das Versprechen ab, daß er bei Cappy bleibt, und hänge ein. Im Wohnzimmer ist Victor bei einer neuen Zigarette. Er schwenkt den Wein in seinem Glas herum, ehe er trinkt. Er blickt mich verschwörerisch an, als müßten mich die Überredungsversuche seines Vaters genauso angewidert haben wie ihn. Mich nervt zwar der ganze Aufruhr, aber ich hoffe, daß Mr. Geddes irgendwie ein Wunder vollbringt und Victor seine Meinung ändert und ins Krankenhaus geht, wo er behandelt wird und wieder gesund werden kann. Aber ich weiß, daß das nie und nimmer passieren wird. Ein Blick auf Victor sagt es mir. Victor kommt auf mich zu und zieht mich an sich. Ich lege die Arme um ihn. Jeden Tag ist er kleiner in meinen Armen; die Krankheit läßt ihn schrumpfen, gibt ihm die Zerbrechlichkeit eines Greises oder eines zarten Kindes. Mr. Geddes kommt aus dem Bad und sagt: «Ach, Hilary», als hätte er mich völlig vergessen gehabt. Victor setzt sich hin. Ich hocke mich auf die Armlehne seines Sessels und vergrabe meine Hand in seinem Haar. Ich erschleiche mir eine prüfende Berührung seiner Stirn. Sie ist heiß.
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«Ich gehe noch mal weg», sage ich zu Victor. «Ich will mich vergewissern, daß Gordon heil nach Hause kommt.» «Das ist gut», sagt Victor. Er drückt meine Hand. «Dad, möchtest du jetzt aufbrechen? Die letzte Fähre geht nämlich in einer halben Stunde, das könntest du gerade noch schaffen.» «Ich gehe nicht», sagt Mr. Geddes. «Ich gehe jetzt zu Bett, Dad», sagt Victor. «Sterbende brauchen ihren Schlaf.» «Hol dich der Teufel!» schreit Mr. Geddes. «Du bist genau wie deine Mutter; du kannst einen genauso zur Verzweiflung bringen mit deinem verdammten Humor!» «Hör auf, wie ein Huhn herumzuflattern, Dad. Ich habe Mom mal gefragt, warum sie dich geheiratet hat, und sie hat gesagt, weil du so ein intelligenter, aufgeschlossener und einfühlsamer Bursche warst. Sie meinte, auf der ganzen Welt gäbe es keinen Mann, der offener für neue Sichtweisen wäre.» «Ist das wahr?» fragt Richard, jetzt fast lächelnd. «Nein», sagt Victor. Das ist der Startschuß für eine neue Gebrüllrunde. Ich nehme rasch meinen Mantel und meinen Schal und bin schon die dritte Treppe hinunter, ehe Mr. Geddes' Stimme innehält. Ich bleibe kurz an der Haustür stehen und horche. Was immer Victor sagt, er sagt es leise. Das Haus ist völlig still. Bei Cappy ist es sehr voll. Ich schiebe mich durch das Gedränge, suche Gordon. Ich finde ihn weder an einem der Tische noch in der plaudernden Gruppe in der Fensternische. Er sitzt nicht an der Bar und steht auch nicht draußen vor der Tür. Ich setze mich auf einen Barhocker und bestelle ein Bier bei Robert, der am Wochenende abends aushilft. Cappy ist beim Darts-Spielen. Er steht inmitten eines Halbkreises von Männern, von denen die meisten Mützen mit Fischerabzeichen tragen. Ich drehe den Stuhl so, daß ich Cappy
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sehen kann. Er trifft dreimal die Neun. Er geht an die Scheibe und zieht seine Pfeile aus dem Kork. Ich sage: «Nicht schlecht, Cappy.» «Hilary!» sagt Cappy. «Hat Victors Vater euch gefunden?» «O ja», sage ich. «Hey, ich suche Gordon. Ist er nicht hier?» Cappys Gesicht verdüstert sich. «Doch, der ist wohl hier. Oder war jedenfalls hier. Ich habe ihn heimgeschickt.» Cappy hält eine Handvoll Pfeile in der einen Faust und wirft sie nacheinander auf die Scheibe. «Hab ihm gesagt, er soll schleunigst machen, daß er nach Hause kommt», sagt er. Ich drehe mich auf meinem Stuhl wieder zurück, und genau in dem Moment stellt mir der Zapfer ein großes Bier hin. Ich schiebe ihm ein paar Dollar hinüber und bereue, daß ich hergekommen bin. Aber andererseits hätte ich auch nicht gut zu Hause sitzen bleiben können und darauf warten, daß Gordon Victor wieder anruft. Ich trinke hastig und überlege, was ich tun soll. Ich beobachte ein Paar am Ende der Theke. Sie hat dunkle Haare, einen Kleopatraschnitt, und ich kann aus meinem verqueren Blickwinkel sehen, daß ihre linke Wange ein Grübchen aufweist, das ihr Verehrer die ganze Zeit küßt und mit der Zunge kitzelt. Sie kichert und stupst ihn weg. Ihre Ohrringe klimpern und glitzern bei jeder Bewegung. Wenn sie das Haar zurückstreicht, kommt ein hübsches Ohr zum Vorschein, das ihren Freund veranlaßt, das Grübchen Grübchen sein zu lassen und die Stelle über ihrem Ohrring zu beknabbern. Sie lacht, duckt sich weg, schaut dann auf und genau zu mir her, mit einem flachen Lippenstiftmund, der zuerst Mißtrauen ausdrückt und sich dann zu einem Lächeln verzieht. Sie zeigt mit dem Finger auf mich und klatscht in die Hände, und ich merke, daß es Annabel ist, der grauen Arbeitskluft entronnen, in einer verführerischen weißen Bluse mit tiefem V-Ausschnitt. Sie signalisiert mir, ich solle doch herüberkommen, und ich gehorche, mein Bier in der einen 234
Hand balancierend und Mantel und Schal in der anderen. Sie umarmt mich zur Begrüßung, und ich fühle ihren flachen, schmalen Rücken und das seltsame Polsterkissen unserer Brüste zwischen uns. Ich rieche Haarspray, Parfüm, den schwachen Duft von Puder. Und ich empfinde ihre Umarmung als eine Gunst. «Das ist Lenny», sagt Annabel. Sie zeigt auf ihren Begleiter, einen großen Burschen mit einem offenen Gesicht und Augen, die so grün sind und so dicht und schwarz bewimpert, daß sie fast etwas Mädchenhaftes haben. «Wir heiraten im Frühjahr, und alle unsere Freunde sind eingeladen. Du auch!» «Ihr heiratet?» sage ich, während ich Lenny die Hand gebe. «Ich wußte ja gar nicht, daß ihr verlobt seid?» «Das sind wir auch nicht - nicht offiziell, meine ich. Aber Lenny hat jetzt einen Job in Los Angeles bekommen und will, daß ich mitgehe, und deshalb heiraten wir.» «Das ist ja prima», sage ich. «Da kommt ihr ja mitten unter die Filmstars, in Los Angeles.» Lenny lacht und entblößt dabei statt eines Schneidezahns eine Zahnlücke. Sie gibt ihm etwas Verwegenes, das mit seinen Augen kontrastiert und sie noch hübscher wirken läßt. Ein wundervolles Paar, er und Annabel. «Ich höre auf bei Estelle », sagt Annabel. «Sie zahlt mir sogar noch Extra-Weihnachtsgeld. Und weißt du, was? Ich gehe zu ihrer Weihnachtsparty, morgen abend, als Gast. Ihr müßt unbedingt kommen. Du und Victor.» «Klar», sage ich und erinnere mich wieder an die Einladung, die so hübsch war, daß ich sie als Schmuck an den Weihnachtsbaum gehängt habe. «Sagt mal, habt ihr vielleicht Gordon gesehen?» «Er wird zu der Weihnachtsparty kommen. Er kommt immer.» «Aber wißt ihr zufällig, wo er heute abend steckt?» «Er sagte, er wolle zum Waschsalon», sagt Lenny. «Ich habe ihm gesagt, daß das eine Schnapsidee ist.» Lenny hat einen so 235
ausgeprägten Bostoner Akzent, daß es sich selbst für meine Ohren komisch anhört. Ungefähr so muß mein Akzent in Victors Ohren klingen. Aber Lennys Stimme gefällt mir. Sie erinnert mich an die Kinder in der Gegend, wo ich aufgewachsen bin. Er erscheint mir als Personifizierung der Stadt. Lenny sieht aus, als müsse er Eishockey spielen. Er hat Pranken wie Eishockey-Handschuhe, und irgendwie kann ich ihn mir überhaupt nicht dort drüben vorstellen, in Los Angeles, wo es weder Eishockey gibt noch richtige Winter und wo die Leute nichts mit seinem Akzent anfangen können und mit seiner übrigen Person wahrscheinlich ebensowenig. Es hat angefangen zu schneien. Auf der Straße ist noch Eis, und durch die Schneeschicht wird es erst richtig spiegelglatt. Ich fahre vorsichtig, sehe zu, daß ich nicht scharf bremsen muß. Der Waschsalon liegt in einem Komplex von Läden, die alle geschlossen sind und dunkel, bis auf das schwache Licht der Alarmanlagen. Gordons Wagen steht ganz allein auf dem Parkplatz. Ich parke gleich daneben. Ich kann Gordon durch die Glasfront des Waschsalons sehen. Er hockt zusammengesunken auf einer der Bänke an der vorderen Wand des gelben Waschmaschinenraums. Ich sehe seinen Blondschopf und den Mantel, den er an dem Nachmittag bei Estelle anhatte, als wir uns beim Tee begegneten. Die Geschäftsführung hat an der Eingangstür ein Schild mit der Aufschrift «Fröhliche Weihnachten» aufgehängt und dazu einen Riemen aus goldgeprägtem Leder mit drei Schlittenglocken, die leise bimmeln, als ich eintrete. Gordon steht auf, öffnet den Mund, um etwas zu sagen, kommt aus dem Gleichgewicht und stützt sich dann auf einer der Maschinen ab. Die Waschmaschinen stehen in einer langen weißen Reihe, immer zwei, Rücken an Rücken. Die Trockner sind in zwei Wände eingelassen. In einem rotiert eine Ladung
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bunter Wäschestücke. Sie wirbeln im Kreis herum, und ihre Farben verschmelzen wie die auf einem Windrädchen. «Du hast mich gefunden», sagt Gordon. «Ich sitze hier und warte auf... ich weiß nicht... auf Rettung.» «Annabel und Lenny haben mir gesagt, daß du hier bist. » «Cappy hat mich rausgeschmissen», sagt Gordon. Er zieht die Schultern nach vorn und vergräbt die Hände tief in den Manteltaschen, als sei ihm kalt. Dann reckt er den Hals ganz lang und sagt, ich solle mich doch setzen, was ich auch tue. Er stapft in einem engen Kreis vor mir herum, sichtlich aufgewühlt. Er guckt, als wolle er etwas sagen, schluckt es dann aber hinunter. Er zieht eine Schnute, legt vor Anstrengung die Stirn in Falten, daß die Augenbrauen zusammenstoßen, und bohrt die Hände so tief in die Taschen, daß sein Rücken ganz rund ist. Am anderen Ende des Waschsalons produziert Allen Turf schrille synthetische Töne: Boings und Piep-Pieps und elektronisches Gewisper. Gordon tut mir leid, weil er diese peinlichen Geräusche über sich ergehen lassen muß, während er um Worte ringt. Man hört das metallische Schurren eines Reißverschlusses an der Trocknertür und das Klackern von Münzen in den Trommeln. Aber am effektvollsten mischt sich Allen Turf ein. Jede Minute ertönt das zischende Startgeräusch einer Rakete, und eine elektronische Stimme verkündet: «Sie befinden sich jetzt im Revier der Außerirdischen. Sie haben die Wahl: vernichten oder vernichtet werden...» Gordon verzieht das Gesicht, kneift die Augen zusammen. Sein Kiefermuskel spannt sich krampfartig an, und er zupft an seinen Stirnhaaren. «Siehst du die Klamotten da drin?» sagt er schließlich, auf den Trockner zeigend. «Ja», sage ich. «Keine Ahnung, wem sie gehören. Als ich reinkam, waren sie schon am Trocknen. Sie sind bestimmt seit über einer 237
Stunde fertig. Ich habe trotzdem immer weiter Münzen reingeworfen, damit das Ding weiterläuft.» «Warum?» frage ich. «Ich weiß nicht, Hilary. Ich wollte einfach, daß sie weiter rumwirbeln. Mir war wohler, wenn irgendwas passierte, während ich hier saß. Ich habe in letzter Zeit überhaupt ziemlich komische Sachen gemacht. Freddie hat mir die Scheidungspapiere geschickt. Als ich unterschreiben wollte, habe ich ‹Hilary› hingeschrieben. Heute bin ich den ganzen Tag ziellos mit dem Auto durch die Gegend gefahren - einfach nur so. Dann habe ich meine Sachen gepackt und ins Auto geladen. Ich bin Richtung Norden gefahren, bis zu dem Kreisel, wo es nach Boston abgeht. Aber ich konnte nicht abbiegen. Ich bin immer im Kreis gefahren.» Ich schaue über meine rechte Schulter nach draußen, wo unsere Autos unter ihren weißen Schneehauben immer mehr zu Zwillingen werden. «Hilary, dreh dich nicht weg!» sagt Gordon. Er dreht mich zu sich her, und ich sehe in sein rotes Gesicht, auf die hervortretenden Sehnen an seinem Hals. «Schau, ich weiß wohl, wie es eigentlich sein sollte - daß die Liebe ein Kind der Freiheit ist und daß man nicht besitzergreifend sein darf. Du wirst das vielleicht primitiv finden, aber ich weiß nicht, wie ich einen Menschen lieben soll, ohne daß er... mir gehört. Warum willst du unbedingt Victor? Was ist denn an mir verkehrt?» «Nichts ist an dir verkehrt, Gordon», sage ich. «Wir müssen es ihm auf jeden Fall sagen», sagt Gordon. «Er muß es wissen.» «Was muß er wissen?» frage ich. Ich fühle plötzlich eine schwere Last auf den Schultern, so, als hätte mir jemand einen Balken draufgepackt. «Das mit uns!» sagt Gordon. Er hockt sich vor mich hin. Er nimmt meine beiden Hände und reibt sie, als wolle er sie waschen. Er stürzt sich in einen längeren Vortrag darüber, 238
warum wir Victor alles sagen müssen, warum es unbedingt notwendig ist, daß wir jetzt, sofort, zu ihm gehen und mit ihm reden. «Wir müssen es tun, weil es richtig ist...» sagt Gordon. «Wir müssen ehrlich zu ihm sein... es ist nicht recht, wenn er stirbt, ohne Bescheid zu wissen... wenn wir Freunde sind... ich kann dir eine gemeinsame Zukunft bieten, er nicht.» Was er sagt, ist flüssig formuliert und wohlabgesichert durch jene Sorte logischer Argumentation, zu der wir alle erzogen werden. Die Entscheidung dürfte eigentlich nicht schwerfallen: alles spricht für ihn. Gordon ist wohl, wie man so schön sagt, ein guter Fang. Er ist ein richtiger, erwachsener Mann, der mit seinem Leben genau das gemacht hat, was wir alle erstreben: Er hat sich eine lukrative Existenz aufgebaut, seine Fähigkeit bewiesen, eine Frau vorbehaltlos zu lieben, seinen Eltern alles gegeben, was ein Sohn nur geben kann. Er ist jung, aber richtig erwachsen und alles in allem ein gestandener Mann, den ich zutiefst bewundern müßte. Und dennoch ist da meine eigene, eigensinnige Logik, irgendeine Instanz in mir, die fordert, daß ich meine Entscheidung in ihre Hände lege. Er wartet, daß ich etwas sage. Er wartet wie immer geduldig, aber zugleich mit der gespannten Erwartung eines Gegenübers, das sich seiner Überzeugungskraft sicher ist. «Ich sehe das anders», sage ich. «Was?» fragt Gordon, und seine Augen werden ganz weit. «Ich denke einfach nicht, daß das richtig wäre», sage ich. «Dir wäre dann vielleicht wohler, aber ich glaube nicht, daß es für Victor besser ist, wenn er weiß, daß wir etwas miteinander haben.» «Etwas miteinander haben», sagt Gordon, wobei er mir das «etwas» fast vor die Füße spuckt. Er steht auf und stapft an der Waschmaschinenzeile entlang. Der Trockner dreht noch ein letztes Mal und steht dann still, was die Geräusche, die Alien Turf fabriziert, noch lauter erscheinen läßt. Das Geblinke 239
scheint Gordons Aufmerksamkeit zu fesseln. Er steht vor dem Gerät und fischt einen Kleiderbügel aus einem Korb. Als Alien Turfs Computerstimme bei ihrem Vernichten-oder-Vernichtetwerden angelangt ist, schlägt Gordon auf den Monitor ein. Der erste Schlag trifft die Maschine genau in dem Moment, als sie Boing macht. Wieder und wieder geht der Bügel auf Alien Turf nieder. Gordon beugt sich vor, wobei er aussieht wie ein monströser Axtmörder, und drischt auf den Bildschirm ein, daß die Glassplitter fliegen. Die Maschine protestiert mit Summen und Piepen. Nach einigen weiteren Hieben wird ihre elektronische Visage schwarz und stumm. «Tut mir leid», sagt Gordon, indem er den Bügel zu Boden fallen läßt. Seine Hände sacken herunter, sein Mund steht offen, und sein Gesicht spiegelt Fassungslosigkeit, ehe es sich zu einer fast schon leeren Miene entspannt. «Kommst du mit zu mir?» sagt er. Gordon ist immer noch ziemlich betrunken, also fahre ich. Ganz vorn auf der Kante des Fahrersitzes hockend, versuche ich, durch den Schnee etwas zu erkennen. Das Schneetreiben wird so dicht, daß ich gerade noch drei Meter weit sehen kann. Bei Gordons Haus angekommen, stelle ich den Motor ab und lehne mich in meinem Sitz zurück. Ich rechne halb damit, daß Gordon mich umarmt, aber er ist schon ausgestiegen. Er öffnet meine Tür und zieht mich am Ellbogen aus dem Auto. Er nimmt mich schützend unter seinen Mantel, während wir zur Vordertür rennen, aber trotzdem stiebt mir der Schnee in die Augen. Ich muß blinzeln und versuche, die nassen Flocken wegzuwischen. Als wir drinnen sind, sind unsere Haare weiß von Schnee und unsere Gesichter so gerötet, als hätte uns jemand geohrfeigt. Die Küche ist dunkel, bis auf das schwache Licht, das unter dem Schrank hervordringt. Das Radio läuft auf voller Lautstärke. Es kommt gerade eine Diskussion über sichere Spielzeugartikel zu Weihnachten. Ich kicke meine 240
nassen Schuhe von den Füßen und lasse den Parka von meinen Schultern gleiten. Gordon wirft seinen Mantel auf einen Stuhl und lehnt sich gegen die Wand, die Hände vor der Brust verschränkt. «Bleib heute nacht hier», sagt er. Ich stelle den Herd an. Ein Flammenring lodert, während ich Wasser in den Kessel laufen lasse. Im Radio werden die zehn sichersten Spielzeugartikel des Jahres aufgelistet, danach fünf andere, die letztes Jahr an Weihnachten in mindestens einem Fall zu Verletzungen geführt haben. «Bleib die ganze Nacht bei mir», sagt Gordon. «Nur dieses eine Mal. Sag ihm, ich war so blau, daß du nicht gewagt hast, mich allein zu lassen.» «Er würde mir nie abnehmen, daß du so viel getrunken hast.» «Trotzdem», sagt Gordon. Ich setze den Kessel auf und hole zwei Becher aus dem Schrank. «Sag's ihm einfach trotzdem», sagt Gordon. Er gibt seinen Standort an der Wand auf und kommt zu mir, stellt sich hinter mich. Ich sehe zu, wie Wassertropfen außen am Kessel herunterrinnen und verdunsten, sobald sie in die Nähe der Flammen kommen. Gordon dreht mich zu sich und packt mich an den Handgelenken. Er sieht mich an, zieht mir den Pullover über den Kopf und öffnet dann die Knopfleiste seiner Jeans. Er kauert sich auf den Boden und zieht mich zu sich, unter sich. Ich liege auf dem Bauch. Er streift meine Jeans herunter und hält dabei meine Schultern fest. Der Radiosprecher spricht jetzt über die Gefahren, die Kindern durch das Verschlucken von Puppenzubehör drohen. Gordon greift unter mich und knetet meine Brust, während ein gewisser Dr. Beedlehan einen tödlichen Puppenherd-Unfall schildert. Was danach im Radio kommt, bekomme ich nicht mit. Gordon drückt mich mit seinem Gewicht zu Boden. Ich 241
spüre seinen Atem in meinem Ohr, seinen Arm unter mir. Seine Hand vor meinem Becken preßt mich gegen seine Hüften. Wir rollen beide auf dem Boden umher, stoßen gegen die stämmigen Beine des Küchentischs seiner Mutter, rumpeln zweimal gegen das Blech des Kühlschranks. Wir kugeln wieder gegen den Tisch, eine Zuckerdose fällt herunter, Glas zersplittert auf dem Fußboden. Wir rempeln die Telefonkonsole an, und der Hörer fliegt in Richtung Speisekammer. Irgendwann sagt die Tonbandstimme der Vermittlung: Kein Anschluß unter dieser Nummer. Der Teekessel dampft und pfeift über uns, der Hund kommt herein, umkreist uns einmal bellend und läuft dann ängstlich wieder ins Wohnzimmer zurück. Unter normalen Umständen wäre das alles komisch. Unter normalen Umständen würde ich nicht darum ringen, nach oben zu gelangen. Wir werden ruhiger. Neben Gordons linker Schulter sind Blutflecken auf dem Boden, und unter seinem Arm bildet sich ein dünnes Rinnsal. Ich fege das Glas mit der Hand zur Seite und sehe, daß meine Handfläche rot gepunktet ist und von Splittern glitzert. Endlich liegen wir ruhig da. Ich stehe auf und drehe das Gas aus, mache dem Pfeifen des Teekessels ein Ende. Gordon liegt auf dem Boden und sieht mir zu, wie ich den Telefonhörer einhänge und die Küchentür schließe, um den Hund auszusperren. Ich werfe meinen Pullover auf den Boden und setze mich darauf, um mir nicht noch mehr Splitter zu holen. Ich streiche Gordon das Haar aus den Augen und schaue ihn an. Ich sage: «Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, daß Victor womöglich längst alles weiß?» Auf der Heimfahrt bemühe ich mich, nicht weiter über meine Beziehung zu Gordon nachzudenken. Aber ich kann nicht anders: Alle Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, drehen sich um Dinge, die wir zusammen gemacht haben. Ich frage 242
mich, wie es kommt, daß Liebesaffären sich immer zu solch komplizierten Geschichten entwickeln. Ich frage mich, warum ich solche Reue verspüre. Wenn ich Gordon vor Victor begegnet wäre, würde ich jetzt eine Dimension von Liebe kennen und sehr wahrscheinlich glücklich damit sein: Liebe, die sich auf die Prämisse ihrer eigenen Unsterblichkeit gründet. Aber Victor hat mein Verständnis von Liebe verändert. Er hat mir das Gefühl vermittelt, daß die Zukunft einer Beziehung längst nicht so wichtig ist, wie ich früher gedacht habe. Victor lieben heißt, nichts für morgen aufzusparen. Mit ihm ist das Reich der Liebe begrenzt auf das, was sich unmittelbar zwischen uns abspielt, inmitten eines Flusses wechselnder Gefühle. Ich habe gelernt, ihn für das zu lieben, was er mir geben kann, und für das, was er mir nicht geben kann. Für die Zukunft, die er mir nicht bieten kann. Nach Victor erscheint mir Gordon als ein Zurückstecken. Unsere Beziehung ist domestiziert durch eine Logik, die sich am körperlichen Weiterleben ausrichtet, nicht am spirituellen. Es ist wahr: Als ich anfing, mich auf Gordon einzulassen, war mir dieser Aspekt der Dauer und Sicherheit sehr wichtig. Aber inzwischen heißt Weiterleben für mich etwas anderes. Wenn es aus Estelles ewigen Vorträgen über spirituelle Dinge etwas zu lernen gibt, dann das: Damit der Geist leben kann, muß er sich über unsere gewohnte Logik des Weiterlebens hinwegsetzen, unsere Vorstellungen von dem, was richtig ist, in Frage stellen. Überhaupt an ein spirituelles Leben zu glauben bedeutet, dieser neuen Logik Raum im eigenen Denken zu geben. Wenn ich Gordon liebe, so ist das nicht die Art Liebe, die er will und die er sich vorstellen kann. Und außerdem ist da Victor, mein zerbrechlicher, kleiner Victor, dessen Leben eins mit meinem geworden ist und zwischen dem und mir die Liebe einfach ist. Ich fahre die Nantasket Avenue entlang, vorbei an der Spielhalle, die jetzt im Winter geschlossen ist, dem langen Stück Strand, Hogg Island, dem Friedhof, dem Hügel mit dem 243
alten Wachturm darauf. Ich empfinde den Gedanken, Victor meine späte Rückkehr erklären zu müssen, entwürdigend. Ich kann sagen, daß ich stundenlang nach Gordon gesucht habe und dabei auf Annabel und Lenny getroffen und mit ihnen irgendwohin gegangen bin. Ich kann Gordons Vorschlag befolgen und behaupten, ihm sei es so schlecht gegangen, daß ich ihn nicht allein lassen wollte. Ich kann sagen, ich hätte zuviel getrunken und deshalb erst warten müssen, bis ich wieder etwas nüchterner war. Oder ich kann gar nichts sagen. In letzter Zeit scheint Victor bereit zu sein, mir fast alles abzunehmen, was ich sage. So, als wolle er gar keine stichhaltigen Erklärungen, als sei Wahrheit für ihn inzwischen etwas, das auf einer Ebene liegt, auf der es gleichgültig ist, ob ich ihm eine Lüge auftische oder nicht. Sobald ich in die Wohnung komme, ist ersichtlich, daß ich überhaupt nichts zu erklären brauche. Alle Lichter brennen, aber Victor schläft, auf der Bettdecke ausgestreckt. Ich gehe im Zimmer herum und knipse die Lampen aus. Ich gehe ans Fenster, um das Rouleau herunter zu lassen, und bemerke verblüfft, daß Victors Vater zusammengesunken in Victors Sessel sitzt und schläft. Aus seinem Mundwinkel läuft Speichel auf seinen Ärmel. Im Schrank liegen Armeedecken, und ich ziehe eine hervor. Sie riecht nach Mottenkugeln und Zedernholz. Die Decke schmiegt sich weich und mollig um Richard, aber er wacht von ihrem Gewicht fast auf. Er schnaubt ärgerlich und bewegt sich, aber dann faltet er sich wieder in seine Schlafposition. Als ich ins Bett steige, bin ich so behutsam, daß Victor mir fast vorkommt wie eine kleine Wunde, die ich achtsam behandle und schütze. Ich bewege mich vorsichtig, um ihn nicht zu stören. Es tut mir gut, sein langsames Atmen zu hören, auf meinem Platz neben ihm zu liegen, in diesem kleinen Zimmer, wo ich all das gelernt habe, was mir heute wichtig erscheint. Beim Einschlafen fühle ich das Gewicht neuer 244
Erkenntnis. Es ist, als ob alle Geheimnisse immer näher rücken, alle Antworten sich zu enthüllen beginnen.
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Dreizehn Richard
Geddes gibt nicht auf, obwohl Victor ihn mit Gegenargumenten bombardiert und ihm droht, in einen anderen Staat zu ziehen, wenn er ihn nicht in Ruhe läßt; nicht einmal Estelles Beschwichtigungsversuche nützen etwas. Seit sechs Stunden streiten sie sich darüber, was Victor wegen seiner Krankheit zu tun hätte. Wir sitzen in Estelles kirschrotem Jeep, einem geschlossenen Cabrio ohne Rücksitz. Ich sitze im Schneidersitz auf dem Boden des Wagens, Victor gegenüber, und spüre jede Unebenheit der Straße. Estelle fährt - sie fährt schrecklich schnell - zu einer Antiquitätenauktion nach Cohasset, einer Stadt, die, laut Victor, dermaßen aufdringlich bourgeois ist, wie ich es mein Lebtag nicht mehr geboten bekommen würde. Heute morgen um neun erschienen sie bei uns in der Wohnung. «Fahren wir nicht ein bißchen sehr schnell?» sage ich. «Das erste Mal seit Jahren, daß ich so langsam fahre», sagt Estelle. Der Jeep hinterläßt eine Spur von aufgewirbeltem Schnee, Matsch und Schotter. «Victor, keines deiner Argumente spricht wirklich gegen das Krankenhaus, merkst du das nicht?» sagt Richard. «Was verstehst du denn davon?» sagt Estelle. «Es ist seine Krankheit, es ist sein Leben, seine Entscheidung, so einfach ist das.» Estelle macht einen Schlenker nach links, hupt einen anderen Fahrer an und sagt Richard, daß er sich anschnallen soll. «Kannst du überhaupt etwas sehen?» frage ich Estelle. «Ob ich etwas sehen kann ? Sicher kann ich etwas sehen. Ich sehe viel zuviel.»
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«Nach der Auktion», sagt Richard, «fahren wir zurück in die Wohnung, packen deine Sachen und fahren sofort ins Krankenhaus, ja, Victor?» Victor antwortet nicht. Statt dessen schneidet er eine Grimasse. Seine neue Taktik besteht darin, auf die Anstrengungen seines Vaters so kindisch wie nur möglich zu reagieren. Richard sieht über seine Schulter hinweg unentwegt zu Victor, der sich mit den Daumen die Ohren zuhält und mit den Händen seinem Vater zuwinkt. «Hör auf, dich wie ein Kind aufzuführen, Victor!» sagt Richard. «Nimm die Finger aus den Ohren.» «Dad, ich werde nicht ins Krankenhaus gehen. Du verkennst die Grenzen deiner Rolle als Vater. Ab einem bestimmten Alter kann ich tun, was ich möchte. Selbst das Gesetz ist auf meiner Seite.» «Hast du etwas von Gesetz gesagt?» sagt Estelle. «Hast du irgendwo Polizei gesehen? In diesem Auto funktioniert überhaupt nichts. Weder die Radarwarnanlage noch das Telefon ...» «Wenn ich mich aus dem Jeep stürzen wollte, könnte ich das», sagt Victor. «Estelle, fahr schneller, ich möchte aus dem Auto springen. Hilary, hilf mir bei der hinteren Tür.» «... noch der Allradantrieb, noch die Diebstahlsicherung ...» fährt Estelle fort. Victor balanciert auf den Knien vor der hinteren Tür des Jeeps, die keine richtige Tür ist, sondern eher eine Ladeklappe, er schiebt eine Metallverriegelung auf und wendet sich der nächsten zu. Ich weiß, daß er nur Spaß macht, weil er mir zuzwinkert und lächelt, aber es stört mich trotzdem. Es stört mich so sehr, daß ich über Richards resolute Stimme froh bin, die sagt: «Würdest du das bitte unterlassen, Victor? Weg von der Tür!» «Niemand stürzt sich aus meinem Auto», sagt Estelle.
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«Mein Versicherungsvertreter würde wahnsinnig werden. Außerdem mußt du mir bei der Auktion helfen. Das hast du mir versprochen.» «Hast du schon mal darüber nachgedacht, was du deiner Freundin zumutest?» sagt Richard. «Sieh sie dir an! Die arme Hilary ist ganz starr vor Angst.» «Mir geht es gut.» «Sie ist totenbleich», sagt Richard. «Laß sie in Ruhe, Dad. » «Ich sage doch gar nichts. Sieh in ihr Gesicht. Sieh sie dir an, Victor.» «Festhalten, Leute, wir fahren jetzt über meinen Lieblingsberg», sagt Estelle. Der Motor des Jeeps röhrt, und wir fliegen über die Kuppe. Mein Magen dreht sich, als wir auf der anderen Seite wieder hinuntersausen. Der Jeep schleudert nach rechts, dann fängt er sich. Als wir wieder in einer normalen Geschwindigkeit fahren, schiebt Victor die Verriegelung der hinteren Tür zu. Die Auktion findet in einer Grundschule im Zentrum der Postkartenidylle von Cohasset statt. Neun Klassenzimmer voller Möbel: Estelle hat einen Katalog mit einem Verzeichnis aller Gegenstände, die zur Auktion kommen. Sie will ihn nicht rausrücken. Victor drängt sich an sie heran, späht ihr über die Schulter, auf die Abbildungen und Beschreibungen der Kaffeeservice, der Kleiderschränke aus spanischem Mahagoni, der Frisierkommoden mit Spiegeln auf kunstvoll geschnitzten Nußbaumsäulen, der Rockingham-Teller und der Spieltische mit eingelegten Schachbrettern. Victor greift nach dem Katalog, aber Estelle hält ihn fest. «Ich suche nach einem repräsentablen Hochzeitsgeschenk für Annabel und Lenny», sagt Estelle. Victor sagt: «Wenn ich dir helfen soll, muß ich mir die Sachen ansehen können.» 248
Ich schlendere langsam hinter ihnen her. Ich studiere die Pinnwände mit ausgestellten Zeichnungen aus dem Kunstunterricht. Kinderzeichnungen: Fingerfarben, Collagen auf Pappe, die Themen mit dicken Filzschreiberbuchstaben darübergeschrieben. Meistens geht es um Weihnachten oder «Mein Zuhause» oder «Tiere im Zoo». Eine Penny aus der ersten Klasse hat ihr Bild «Schönheit» genannt und hat Fotos von kleinen Kindern, die Kindermode vorstellen, aufgeklebt. Craig aus der dritten Klasse hat aus der Alkoholwerbung Flaschen ausgeschnitten und fein säuberlich in gleichmäßigen Abständen nebeneinandergeklebt. Er hat um jede Marke eine Linie gezogen. Ich mache mir Sorgen um Craig. Richard bleibt an jedem der Trinkbrunnen, mit denen die Halle übersät ist, stehen und trinkt einen Schluck Wasser. Die Brunnen sind für kleine Kinder gedacht. Er muß sich tief hinunterbeugen. Ich staune, daß er in dieser Haltung trinken kann. Er wischt sich das Wasser vom Mund, und ich warte auf ihn. Er joggt zu mir her, dann bleibt er stehen und hustet hinter vorgehaltener Hand. Die Halle ist voller Menschen, lauter nett gekleidete Paare, die auf die Bilder in dem Katalog deuten und mit den Köpfen nicken. Menschen, die durch die mit Möbeln vollgestopften Klassenzimmer ziehen. Sie machen einen Bogen um Richard, der minutenlang husten muß und dann zu mir kommt. «Hilary, machen Sie sich keine Sorgen», sagt Richard. Er legt einen Arm um meine Schulter. «Ab morgen wird Victor sich wieder behandeln lassen.» In jedem Klassenzimmer ist eine bestimmte Stilrichtung ausgestellt. Estelle steckt ihren Kopf in die vierte Klasse von Mrs. Cushing und mustert den Raum voller Tische mit hohen gedrechselten Beinen. Sie wendet sich an Victor: «Könnte man aus dem Sideboard etwas machen?» Victor sieht in den Klassenraum. Er schiebt die Brille auf der Nase hoch und sieht Estelle an. 249
«Ja, mit der Axt», sagt er. Alle Besucher der Auktion sind umwerfend angezogen, riechen umwerfend, tragen umwerfend teure Uhren. Manche haben ihre Hunde dabei. Kleine französische Hunde und Yorkshire Terrier mit Schleifen im gekämmten Haar. Verwöhnte, hochgezüchtete kleine Hunde, die nicht als Wachhunde gekauft wurden. Dafür haben sie zu Hause bewaffnete Wachen. Ich gehe an zwei Frauen vorbei, die identische Perlenketten tragen und identische Frisuren mit weichen Wellen über der Stirn. Sie überlegen, ob sie eine Kommode kaufen sollen. «Ich habe keine Chance, Donald wird es merken», sagt die eine. «Ich habe immer gekauft, was ich wollte, und dann behauptet, daß Mutter es mir geschickt hätte. Aber jetzt ist sie tot. Ihr Tod ist ein schwerer Schlag für mich.» Ihre Begleiterin hat einen glänzenden, tiefrot angemalten Mund. Sie trägt einen widerspenstigen Zwergpudel, frisch vom Hundefriseur, getrimmt bis zu den kleinen Pudelpfoten, wie eine Hecken-Skulptur. Als ich an ihnen vorbeikomme, werfen sie mir argwöhnische Blicke zu, ob aus Angst, daß ich sie bei der Kommode überbieten könnte oder weil ich nicht hierhergehöre, weiß ich nicht. Ich bin nervös und ich klaue. Ich stehle aus jedem zweiten Klassenraum etwas. Nichts Großes, nichts, was ich nicht unter meinem Mantel verstecken könnte. Bis auf eine schöne, verzierte Schale. Mit der gehe ich einfach hinaus. Der Auktionator ist ein Mann mit einem mürrischen Gesicht, einem gelbweißen Haarschopf und trockenen, nikotinfleckigen Lippen. Sein Hemdkragen ist ihm zu eng. Sein Adamsapfel hüpft genau über dem Knoten seiner Krawatte. Er ruft jedes Stück einzeln auf, feuert die Bieter an.
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Er sagt: «Hier haben wir Porzellankacheln von William de Morgan. Wir haben hier eine Sammlung von Steinkrügen. Wir haben einen Norrington-Flacon aus reinem Silber, eine Kupferkasserolle, englisches Geschirr, holländische Milchkannen aus Messing. Trinkbecher mit Hundemotiven aus Staffordshire, Buttermodeln aus Sykomorenholz...» Estelle läßt Victor nicht aus den Augen. Er darf weder Wasser trinken gehen noch pinkeln. Sie umklammert seinen Arm, hält ihm den Katalog unter die Nase und sagt: «Was ist mit der Bergere da drüben?» «Häßlich und in schlechtem Zustand», sagt Victor. «Sie haben sie mit Seilen abgesperrt, als wäre sie wertvoll. Äußerst geschmacklos.» «Wieso weiß er soviel über Antiquitäten?» frage ich Richard. «Seine Mutter konnte endlos über Antiquitäten reden.» «Hat mich damit überfüttert», sagt Victor. «Aufpassen», sagt Estelle fordernd. «Es geht los.» «Wenn ich mich übergeben muß, darf ich mich dann entschuldigen?» «Wenn du dich übergeben mußt, gehst du ins Krankenhaus », sagt Richard. «Nazi», sagt Victor. Mittags wird eine Pause gemacht. Hinten in der Cafeteria, wo die Schüler ihren Lunch kaufen, können wir Croissants und guten schwarzen Kaffee, Saft und Früchtecocktails erstehen. Alles für zwei Dollar. Die Croissants, der Saft, der Früchtecocktail, der Kaffee. Ohne Unterschied. Eine einfache Rechnung. «Ich möchte von Ihrem Saft für zwei Dollar, von Ihren Croissants für zwei Dollar, von Ihrem Kaffee für zwei Dollar... » sagt Victor.
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«Ist das alles, Sir?» fragt die Frau am Tresen. Ihre Arbeitsmütze sieht wie eine Duschhaube aus. «Jetzt rechnen Sie mal vier und das Ergebnis durch zwei», sagt Victor. «Mach es nicht so kompliziert, Victor», sage ich. Ich beuge mich zu der Frau hinüber und frage mich, ob sie nicht vielleicht doch eine echte Duschmütze trägt. Ich sage: «Das Ganze zweimal, bitte.» Die Frau reicht Victor ein eierschalenweißes Papptablett. Auf dem Tablett steht in erhabenen Buchstaben: UMWELTFREUNDLICH. «Victor, soll das für Estelle und deinen Vater sein, oder bist du so hungrig? » «Spinnst du?» sagt Victor und gibt dem Croissant einen Schubs mit den Fingerspitzen. «Wo ist Victor? Die Auktion geht weiter», sagt Estelle. «Richard, geh deinen Sohn suchen. Er ist mir entkommen.» «Wahrscheinlich ist er auf der Toilette», sagt Richard. Er sitzt auf Victors Platz, blättert in dem Katalog und versucht, Estelle Ratschläge zu geben. Er sagt: «Hier, davon verstehe ich etwas. Dabei kann ich dir helfen.» «Vielleicht ist ihm nicht gut», sagt Estelle. «Ist ja klar, daß ihm ausgerechnet auf meiner Auktion schlecht werden muß.» «Wie kannst du das nur sagen?» frage ich. Außerdem mache ich mir ebenfalls Sorgen. Ich würde mich gerne streiten. Estelle klappt der Unterkiefer herunter, und Richard läßt den Katalog sinken und dreht sich zu mir um. «Ich kann dir versichern, Hilary», sagt Estelle, «daß ich eine große Bewunderin von Victor bin. Er wird nicht sterben. Er spielt nur ein bißchen mit dem Tod, wie alle jungen Männer. Richard sollte ihm ein Motorrad kaufen. Das wäre ein guter Schachzug. Zwanzig Haarnadelkurven mit hundertzwanzig
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Sachen, Schenkel fast auf der Erde, die Kronen der Bäume im Blick, das würde seine Einstellung verändern.» «Er hat Leukämie», sage ich. «Die hat er doch schon seit Jahren», sagt Estelle. «Stimmt's, Richard?» «Seit dem College», sagt Richard. Seine Nase steckt in dem Katalog. «Sobald er sich wieder behandeln läßt, wird es ihm bessergehen», sagt Estelle. «Ich unterhalte mich mit ihm nur über den Tod, weil ich weiß, daß ihm nichts Schlimmes passieren wird. Versteh mich nicht falsch. Ich habe meine Philosophie über das Leben nach dem Tod. Aber ich weiß, daß er nur so tut, als ob er sich umbringen will. Das wird ihm früher oder später zu langweilig werden. Glaubst du nicht auch, Richard?» «Ich hoffe es.» «Und an manchen Tagen ist er ganz normal, oder?» sagt Estelle. «So, als ob er eine kleine Grippe hätte.» «Wie heute, zum Beispiel», sagt Richard. «Aber ich traue dem nicht.» «Wenn er wirklich Schmerzen hat, wird er schnell genug ins Krankenhaus gehen, du wirst schon sehen», sagt Estelle und tätschelt meine Hand. «Ich habe ihn vor Schmerzen weinen sehen, ich habe gesehen, wie er auf die Matratze eingeschlagen hat, während ich die Spritze aufzog.» Ich versuche, Victor zu finden, aber ich kann ihn nirgendwo entdecken. Ich stehle noch mehr. Eine Engelsstatue, eine ziselierte Metallbrosche, Weihnachtsschmuck aus Golddraht. Ich gehe mit den Sachen nach draußen, wo der Jeep geparkt ist. Hinter dem Vordersitz habe ich meine übrige Beute versteckt, in einem schweren Beutel.
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Ich entdecke Victor, der sich hinten in Estelles Jeep ausgestreckt hat. Mit offenen Augen, Ellenbogen über der Stirn. Irgendwie muß es ihm gelungen sein, sich die Autoschlüssel aus Estelles Handtasche zu nehmen, denn er hat den Motor angelassen. Ein Klassiksender bringt Strawinsky in voller Lautstärke, und die Heizung läuft auf Hochtouren. Um Victor herum liegen die Dinge, die ich gestohlen habe: ein kleiner Kupferkessel, Mitte neunzehntes Jahrhundert, ein halbes Dutzend Parfümfläschchen aus Kristall und Sterlingsilber, ein Ciderbecher aus Staffordshire, zwei Kerzenleuchter aus Messing, silberne Anstecknadeln. Ich packe meine neuen Errungenschaften aus und mache es mir im Jeep bequem. «Du bist verrückt», sagt Victor. Er greift nach dem Kessel und läßt ihn am Griff baumeln. «Und wenn sie den Kram nun versteigern wollen, was dann? Sie sagen: Drei Ciderbecher von 1860, und dann haben sie nur zwei. Warum machst du so etwas, Hilary? Du wirst eines Tages Ärger bekommen. Hilary? Hilary? Geh nicht weg, Liebling. Ach was. Ich bin froh, daß du es genommen hast. Hast du mich verstanden? Ich bin stolz auf dich.» Ich mache die Tür wieder zu und steige zu ihm nach hinten. Victor lacht und sagt: «Ich mußte mich an einem Ernest Gimson-Schrank übergeben. Ich schwöre bei Gott, daß ich das nicht wollte...» «Estelle und dein Vater haben keine Ahnung, wie krank du bist», sage ich. «Wundert dich das? Gute Arbeit, Hils, daß du diese Sterlingsilbernadel geklaut hast. Sie ist schön, sie paßt zu dir.» «Ich wollte sie nicht tragen», sage ich. «Ich wollte sie nur haben.» «Weißt du was, du brauchst ein Ziel. Irgendeine Aufgabe, etwas Richtiges, damit es dir bessergeht. Vielleicht solltest du
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dir einen Job suchen.» Er hält die Nadel an meine Brust, betrachtet sie kritisch. «Bist du so krank, wie ich glaube?» «Kranker, mein Liebling», sagt er. «Hör zu, wenn du jemanden berauben willst, dann beraube meinen Vater.» «Ich bestehle keine Leute. Ich stehle nur in Geschäften», sage ich. «Und bei Auktionen, vielleicht.» Ich lege mich hin, stelle meine Füße auf das Reserverad und spiele mit Estelles Autotelefon. Es ist eine tolle Anlage. Man wählt eine Nummer an, und die wird ausgestrahlt. Es hört sich an, als würde es funktionieren, aber Estelle hat gesagt, es sei kaputt. Victor nimmt mir den Telefonhörer weg und tut so, als wäre er ein Polizeisergeant, der seine Streifenwagen zum Ort des Verbrechens schickt. Er gibt irgendwelche Nummern ein, drückt auf die Sendetaste und sagt: «Okay, Einheiten 23,10,4, ich möchte, daß Sie die zweite und die dritte Klasse einkreisen. Sichern Sie die Aula. Einheit 12. Ich möchte, daß die Erzieherinnen lückenlos überprüft werden. Durchsuchen Sie jede Lunchtüte, jede Federtasche. Durchsuchen Sie die Schulmappen der Sechstkläßler...» Wir umschlingen uns und schlafen zu den Klängen von Bach ein. Ich weiß nicht, welches Stück es ist, aber die Töne sind so leicht, sie klingen so natürlich wie das Rauschen des Meeres, so sanft wie der Rhythmus der Grillen in der Nacht, so beständig wie der Wind. Wir wachen auf, weil das Auto neben uns angelassen wird. «Wo sind wir?» sagt Victor. Dann sagt er: «Ach so.» Im Radio läuft Werbung für die Boston Pops. Das Funktelefon liegt neben der Gabel. Ich spähe durch die Plastikscheiben des Jeeps und sehe Estelle und Richard. Sie kommen eine Treppe herunter, gehen an Turngeräten und Schaukeln vorbei. Richard stolpert hinter
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ihr her, er trägt zwei übereinandergestapelte Pappkartons, einen bestickten Schemel und ihre Tasche. «Du bist schrecklich! » erklärt Estelle, als sie am Auto angekommen ist. «Mich einfach so sitzenzulassen!» «Du hattest ja meinen wunderbaren Vater», sagt Victor. «Er hat ein untrügliches Gefühl für die einzelnen Epochen.» «Ich habe viel zuviel bezahlt und hasse jedes einzelne Stück», sagt Estelle. Richard bugsiert die Kartons in den Jeep. Victor kniet davor und wühlt in den gekauften Sachen herum. «Die Tonsachen sind gut, das chinesische Porzellan ist schlecht», sagt Victor. «Der Spiegel ist gut.» «Alles viel zu prunkvoll, nicht wahr», sagt Estelle mit gerunzelter Stirn. «Überladen, tot. Ich finde mich auf Auktionen nie zurecht. Diese vielen Menschen, die irgendwelche Zahlen rufen, und ich kann es nicht ertragen, wenn ich verliere.» «Du hattest gar keine Chance. Die guten Sachen hat ein halbes Dutzend Händler abgesahnt. Aber seht mal, was Hilary erstanden hat», sagt Victor. Er zeigt auf eine meiner gestohlenen Antiquitäten. «Wo hast du denn diese süße Schale entdeckt», sagt Estelle bewundernd. «O Hilary, sie ist wunderschön.» Nebel zieht auf. Steht rauchgrau und unbeweglich über dem Meer. Estelle fährt langsam nach Hause, teilt sich mit Richard Brandy aus einem silbernen Flachmann. Sie sind wie zwei Teenager, die bei jedem Schluck Alkohol kichern müssen. Sie fährt so vorsichtig, daß sie nicht betrunken sein kann, und selbst wenn sie betrunken wäre, würde es mir, glaube ich, nichts ausmachen. Neben der Straße geht es siebzig Meter senkrecht hinunter bis zum Meer. Es wird sehr schnell dunkel. Ich sehe nur noch den Nebel, die dunklen Straßenlaternen, die tiefhängenden 256
Wolken. Ein Schwarm Möwen fliegt auf, und ich beobachte, wie sie zu schwarzen Punkten am Horizont werden. Victor hat sich zusammengerollt, seine Schultern schaukeln gegen meine Knie. Seine Hand liegt unter seiner Wange, auf dem Teppich des Jeeps. Er verschläft die Fahrt und unsere Unterhaltung. Er schläft trotz der Schlaglöcher und der scharfen Kurven. «Victor findet, ich solle mir einen Job suchen», sage ich. «Ihr Job ist, sich um meinen Sohn zu kümmern», sagt Richard. «Sie wissen, was ich meine.» «Kennt ihr die Geschichte von der Feldmaus, die dachte, daß sie keine gute Maus sei, weil sie im Herbst kein Getreide gesammelt und sich kein behagliches Mauseloch eingerichtet hatte, und die auch kein Talent hatte, die anderen Mäuse vor einer Katze oder einer Schlange zu warnen?» fragt Estelle. Sie nimmt einen Schluck aus dem Flachmann und gibt ihn mir zurück. «Die Geschichte kenne ich nicht», sage ich. Der Brandy brennt in meiner Kehle. Draußen, hinter den Plastikfenstern des Jeeps, donnert das Meer gleichmäßig gegen die Felsen. Weit hinten blinkt ein Leuchtturm seine verschlüsselte Botschaft. «Der Winter kam», sagt Estelle, «und die kleinen Mäuse rollten sich in ihrer Mäusehöhle und bei ihren Getreidevorräten am Herd zusammen, und die Maus, die dachte, daß sie nutzlos sei, erzählte ihnen Geschichten am Kamin. Sie erzählte ihnen Geschichten über die Ernte und wie man ein Mauseloch gräbt. Sie erzählte ihren Mäuseschwestern und -brüdern ihre Geschichten mit klarer Stimme. Und das war ihr Job.»
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Vierzehn Richard geht auf die Suche nach Blumen, die er Estelle zu ihrer Weihnachtsparty mitbringen will, und wir bleiben da. Es ist schöner zu Hause, wenn nur wir beide da sind, Victor und ich. Ich mag das Durcheinander in unserer Wohnung, in dem doch jedes Ding seinen bestimmten, nur uns bekannten Platz hat, diese Ordnung, die wir ganz selbstverständlich inmitten unseres Chaos pflegen. Ich breite ein Tischtuch auf den Boden und bügle eine Bluse. Zwischendurch fische ich mir ein paar Knusperflocken aus der hohen gelben Packung. Das Kaminfeuer riecht nach ausgebranntem Dachstuhl und Baumrinde. Um sechs Uhr ist draußen schon ein Mitternachtshimmel. Im Radio singt ein Knabenchor «Stille Nacht». Victor kommt aus der Dusche, ein Handtuch um die Lenden geschlungen. Er nimmt ein Päckchen Zigaretten vom Kaminsims, schüttelt eine heraus, steht neben mir und schaut auf mich herunter. «Weißt du, was fehlt?» sagt er durch eine Rauchwolke. «Das Gefühl grenzenloser Fülle.» Wir fangen an, uns für das Fest umzuziehen. Victor geht an den Kleiderschrank und holt eine Fliege heraus - ein Jux: Sie ist über und über mit trompeteblasenden Engelchen bedruckt. «Sie sehen gar nicht aus wie Engelchen», sage ich zu seinem Spiegelbild. «Sie sehen aus wie junge Hunde.» Ich schlüpfe in eine Strumpfhose, hautfarben, Größe: Mittel, direkt aus dem Kaufhaus, sauber und laufmaschenfrei. Ich ziehe sie hoch bis über die Hüften, bewundere, wie elegant sie sich um meine Waden schmiegt. Ich ziehe hochhackige Schuhe 258
an und stelle mich auf einen Stuhl, damit ich mein Unterteil im Badezimmerspiegel sehen kann. Victor schubbert mit der Wange über meine Kniekehle. «Faszinierend», sagt er schmeichelnd. Richard kommt aus dem Blumenladen zurück, mit einem Bund Lilien, deren Stengel mit einer lavendelfarbenen Schleife zusammengezurrt sind. Er fragt kurz, ob wir fertig sind. Das sind wir nicht. Die Socken, die Fliege, alles liegt noch auf einem Haufen auf unserem ungemachten Bett. Richard macht sich, unter einem Schwall von Entschuldigungen, sofort wieder davon und knipst das Licht aus, als er die Tür zumacht. Wir hören ihn die Treppe hinunterhasten. Victor faßt mich an auffordernd. Wir versuchen, uns zu lieben, aber es geht nicht. Statt dessen massiert er meinen Nacken. Er läßt seine Finger meine Wirbelsäule auf und ab wandern. Er erzählt mir Witze, und ich muß lachen. Wir fahren durch die Platanenallee, die zu Estelles Haus führt. Die Bäume sind mit weißen Lichterketten behängt. Sie ragen hoch empor, verdunkeln den Mond. Die Lichter geben der ganzen Szenerie etwas Phantastisches, einen Hauch von jenem Märchenglanz, der Weihnachten einmal umgab. Victor dreht sich um, beugt sich über die Sitzlehne und schaut hinaus auf die Gasse aus Lichtern hinter uns. In der einen Hand hält er seine Zigarette, in der anderen balanciert er ein silbernes Päckchen mit einer weichen, perlweißen Schleife. Es ist ein Satz Zinnbecher mit Henkeln in der Form von Jagdpeitschen. Richard hat sie heimlich beim Grundschulbasar erstanden. Er hat einen völlig überteuerten Preis dafür bezahlt, damit sie nicht zur Versteigerung kamen. Als Überraschung für Estelle, die sie bewundert hatte. Der Wagen ist erfüllt von Weihnachtsmusik. Draußen rieselt leise der Schnee.
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«Weißt du was?» sage ich zu Victor. «Dein Vater hat es auf Estelle abgesehen.» «Wie kommst du darauf? Weil er schon so früh hingegangen ist?» «Unter anderem.» «Hils, er war wahrscheinlich einfach heilfroh, daß wir noch im Bett waren. Er wollte zeitig auf der Party sein, damit er sich in Ruhe vollaufen lassen kann, ehe ich da bin.» «Meine Güte», sage ich. «Mein Vater ist doch Alkoholiker.» «Wir sind alle Alkoholiker.» Estelles bogenförmige Auffahrt steht voller Autos. Tolle Kisten, dicke Mercedesse und bullige Volvos mit ihrem snobistischen protestantisch-soliden Flair. Wagen aus Hingham, Cohasset und Beacon Hill. Dann steht da der Geddessche BMW, der dringend politurbedürftig ist, und dahinter der Rest - ganz normale Autos. «So flott wie dein Oldsmobile sind die alle miteinander nicht», sagt Victor, als wir einparken. Ich sage: «Wie kommt es, daß dein Vater säuft und mein Vater säuft und meiner dabei widerlich ist und deiner... ästhetisch?» «Soll ich dir das wirklich beantworten?» «Ja», dränge ich. «Knallhart?» Ich nicke. Victor verzieht verächtlich den Mund und reibt Daumen und Mittelfinger gegeneinander. «Geld», sagt er. Estelles Haus erstrahlt im Schmuck seiner Gäste. Ich weiß nicht, wer diese Leute sind, aber sie sind farbenprächtig wie eine Hand voller Buben, Damen und Könige. Die Kleidung der Damen reicht von Roben in glitzerndem Gold und leuchtendem Rot bis hin zum schlichten langen Wollrock mit Spitzenbluse.
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Die Anzüge der Herren wirken dagegen vergleichsweise uniform und bringen ein Moment von Stabilität in das Chaos aus leuchtenden Kleidern und buntem Lichterschmuck. Victor und ich sind ein wenig underdressed. Mein Rock wird notdürftig aufgewertet durch einen silber- und jadefarbenen Gürtel, den Estelle ersteigert hat, der sich aber für ihre magere Taille nicht eng genug stellen ließ. Außerdem trage ich die Brosche, die ich geklaut habe. Victor wollte unbedingt, daß ich sie anstecke. Victor trägt ein Jackett und ein Paar modische senffarbene Cordhosen. Aber die Hosen gehören seinem Vater und sind ihm viel zu weit. Auf den Tischen leuchten weiße Kerzen, und in drei Kaminen brennen behagliche Feuer. Zwei Räume weiter spielt eine Band Jazz-Musik. Jemand bläst ein mächtiges Saxophon. So viele lächelnde Gesichter - ich verliere für einen Moment ganz die Orientierung und treibe durch den Raum, von Victors Hand an meinem Ellbogen um die plaudernden Grüppchen herumgesteuert. Wir werden belagert von Kellnern mit Silbertabletts voller dampfender Kleinigkeiten. Sie machen mir Angst. Sie kommen immer wieder auf uns zu, mit irgend etwas Eßbarem, das ich nicht identifizieren kann. Victor hat da kein Problem. Er nimmt einen Zahnstocher und spießt sich ein Artischockenherz mit Krebsfleisch und holländischer Sauce auf. Er schlürft eine Auster. Er ist ganz scharf auf den Räucherlachs. Er ißt etwas Braunes, Fritiertes, etwas Fleischrosafarbenes in der Form eines wabbeligen Sterns und etwas, das meiner Meinung nach irgendein Käfer ist und nicht zum Essen gedacht. Er kann alle Käsesorten benennen und macht sich gleich über die stinkigste und abschreckendste her. Er versucht, mich zum Essen zu animieren, erklärt mir die rätselhaften Dinge auf den Zahnstocherspitzen. Ich stoße seinen Arm weg und flehe ihn an, still zu sein, weil es mir peinlich ist.
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Er lacht, sagt: «Schnecke!» und hält mir etwas hin, das mich veranlaßt, die Augen zuzumachen. Belinda McCann, die auf der Schwesterschule der Schule war, die Victor vor dem College besucht hat, hat ein Auge auf ihn geworfen. Sie drängt sich zwischen uns, in einem so gut wie busenfreien zinnoberroten Kleid, schüttelt den Anhänger ihrer Kette so zurecht, daß er zwischen ihren Brüsten verschwindet, und sagt: «Nun stell dich nicht so kompliziert an, Vic. Erzähl mir, was du machst.» «Ich mache gar nichts», sagt Victor. Er holt sich einen neuen Gin-Tonic von der Bar. In der Zitrone steckt ein rotes Plastikschwert. «Du bringst einfach nur Daddys Geld durch, was?» sagt Belinda. Sie lächelt, um den Hieb zu dämpfen. Sie taxiert, wie er wohl auf Victor gewirkt hat. «Nein, das tust du nicht. Das weiß ich genau. Du schwindelst!» quiekt sie. Victor sieht mich an. Ich greife nach seinem Glas und ziehe das rote Schwert aus der Zitrone. Ich stehe hinter Belinda, die einen guten halben Kopf kleiner ist als ich, und tue so, als wolle ich ihr das Schwert in den Kopf rammen. «Du Schuft! » sagt Belinda. «Nun erzähl schon.» «Ich kann nicht!» sagt Victor mit einem ratlosen Achselzucken. «Mir fehlen die Worte.» Ich halte zwei Finger als Friedenszeichen über Belindas Kopf. Ich ziehe eine Grimasse, und Victor lächelt. «Das wäre neu. Gehörst du zu diesen komplizierten Leuten, die sich in Geheimnisse hüllen? Ich erzähl dir doch auch von mir! Ich habe nach meiner Scheidung von diesem Polo-Spieler unser Haus an der Westküste verkauft. Weißt du, ich trage mich mit dem Gedanken, einen eigenen kleinen Laden aufzumachen. Vielleicht etwas in der Modebranche oder eine Kosmetikfirma. Da, jetzt weißt du alles von mir. Das ist nicht fair, Victor, ich habe dich jahrelang nicht gesehen!»
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«Weißt du, ich wollte es nicht gern gestehen», sagt Victor mit geheuchelter Aufrichtigkeit. «Ich bin unter die Guerillas gegangen. Ich operiere in Mittelamerika. Und nebenbei habe ich eine Bananenplantage.» «Sei doch nicht so, Vic!»jammert Belinda. Sie bedenkt ihn mit einem auffordernden Augenaufschlag. «Also gut, ich bin Pathologe. Willst du mal an meinen Händen riechen?» Victor sieht zu, wie Belindas Kiefer herunterklappt. «Es gibt nichts zu erzählen. Ich mache wirklich nichts.» «Tanz mit mir», haucht Belinda. Estelle hat Richard zu ihrem Galan erkoren. Nein, zu ihrem Sklaven. Sie kommandiert ihn herum: «Richard, such doch mal meinen Wein! Richard, sag der Band, sie soll nicht so laut spielen!... Richard, sag der Köchin, was immer das da ist, auf dieser Platte, es ist absolut unpassend, und sorg dafür, daß jemand es verschwinden läßt.» Er erledigt all diese Aufträge mit Geschick, aber er wird von Minute zu Minute betrunkener. Gordon zieht mich rückwärts hinter zwei ältere Herren und umarmt mich, wobei er sagt: «Rate mal, wer hier ist?» «Du riechst phantastisch», sage ich. «Und du siehst phantastisch aus. Ich beobachte dich, seit ich hier bin. Schon zwanzig Minuten schleiche ich dir hinterher. Ein Mistelzweig», sagt er und zeigt nach oben. «Tanzen wir.» Er zieht mich auf die Tanzfläche, dreht mich im Kreis und läßt mich unter seinem Arm durchwirbeln. Victor und Belinda tanzen nicht eng genug - für Belindas Geschmack jedenfalls. Sie zerrt an seinem Jackett, und er gibt - sichtlich widerstrebend - nach. Direkt vor der Band, so dicht, daß das Saxophon direkt über ihren Köpfen stöhnt, sinken Annabel und Lenny förmlich ineinander. Die Musik wird schneller, aber
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Annabel läßt ihren Kopf träumerisch auf Lennys Schulter liegen. Gordon und ich rempeln mehrere Paare an, während er mich von sich stößt, herumwirbeln läßt und hinter seinem Rücken vorbei wieder an sich zieht. Meine Schuhe sind dafür denkbar ungeeignet, und ich habe Mühe mitzuhalten. Gordon dreht so auf, daß sich ein Zuschauerkreis um uns bildet. Die Band zieht nach, indem sie ein paar Original-Swing-Nummern spielt. Estelle klatscht in die Hände und drängt Richard, sie auch herumzuwirbeln, was er auf tapsig-drollige Weise tut. Eine Sekunde lang erkenne ich, im Anlauf zu einer Doppelbrezel, Victors Gesicht, das mir zulächelt. Ich registriere flüchtig die Farben von Belindas Kleid. «Vorsicht, Hilary», ruft Victor. «Versuch nicht, dich über die physikalischen Gesetze hinwegzusetzen.» Zwischen zwei Laufburschendiensten für Estelle findet Richard die Zeit, Victor auf seine Krankheit hinzuweisen. «Kannst du mich nicht einmal in Frieden lassen, Dad, nur diesen einen Abend?» sagt Victor. «Es geht mir ausgezeichnet. Ich fühle mich absolut wohl.» «Tatsächlich?» fragt Richard mit hochgezogenen Brauen. «Hab mich nie wohler gefühlt.» «Was meinen Sie, Hilary?» fragt mich Richard. «Wie finden Sie Victor heute abend?» «Bezaubernd», sage ich, und Victor drückt meine Hand. «Herrgott, Junge!» sagt Richard und klopft ihm auf die Schulter. «Vielleicht hast du's ja geschafft.» Estelle befiehlt Richard, mit ihr zu tanzen. Richard klopft Victor noch einmal auf die Schulter und grinst breit, wobei er fleckige, zu eng stehende Zähne entblößt. Als er weg ist, sagt Victor zu mir: «Ich bin so vollgepumpt mit Drogen, daß ich mich gar nicht schlecht fühlen könnte, selbst wenn ich wollte.» Ich verziehe das Gesicht, weil ich auch schon angefangen hatte zu hoffen. 264
Annabel schleppt Lenny durch einen Dschungel weihnachtlicher Roben. Er murmelt unterwegs in einem fort: «Verzeihung.» «Sie wird mich noch ins Kittchen bringen», sagt Lenny. «Die Dame da drüben mit dem dicken Hintern in dem superkurzen Rock hat schon behauptet, ich hätte sie absichtlich angerempelt.» Victor sagt: «Ich habe von euren Plänen gehört, Lenny. Gratuliere.» «Im Mai», sagt Annabel. An ihrer Hand glitzert ein bescheidener, aber hübscher Diamant. «Du kommst doch zu unserer Hochzeit?» «Das würde ich mir nie entgehen lassen», sagt Victor und umarmt Annabel. Cappy will nicht mit Estelle tanzen, aber es bleibt ihm keine Wahl. Sie nimmt ihm seinen Teller mit Christmas-Pudding ab, seine Pfeife und sein Glas. Sie deponiert alles auf einem Teetischchen und zerrt ihn an der Gürtelschnalle auf die Tanzfläche. «Ich mache mich nur lächerlich», sagt Cappy flehend. Estelle umkreist händeklatschend den armen Cappy, der ein bißchen herumhüpft und dann Erschöpfung vorschützt. Wir drängen ihn weiterzutanzen. Gordon sagt, er sehe aus wie ein Tanzbär, und Victor meint, er sehe aus, als unterziehe er sich gerade einer Schocktherapie. «Wie wär's noch mal mit uns beiden», sagt Belinda zu Victor. Sie hat einen großen, dunkelhaarigen Mann im Schlepptau, mit einem Gesicht wie ein Boxhandschuh. Er schwänzelt immer in Hörweite um sie herum. Er bringt ihr ein-, zweimal etwas zu trinken und starrt sie an. «Belinda, darf ich vorstellen, das ist Gordon», sagt Victor. Er präsentiert Gordon, als sei er der Hauptgewinn der Quiz265
Show. «Gordon wird dir gefallen. Er kann dir erzählen, womit er seine Brötchen verdient. Er ist nur sehr bescheiden. Er sagt immer, er stellt Video-Spiele her, aber das darfst du ihm nicht glauben. Gordon ist im Begriff, die Lichtgeschwindigkeit zu erhöhen und auf diese Weise die extraterrestrische und metadimensionale Signalübermittlung zu beschleunigen. Stimmt's, Gordon?» «Ich liebe deine Freundin», sagt Gordon. «Du hast eine Freundin?» seufzt Belinda. «Was ist in dich gefahren?» sage ich laut. Ich weiß, niemand hört uns, außer dem steinernen Reh, dem Igel und dem Eichhörnchen. Wir erfrieren fast hier draußen. Estelles Garten liegt unter einem Leichentuch aus Schnee. «Ich verstehe nicht, warum du dich so aufregst», sagt Gordon. «Er hat sowieso nicht hingehört.» «Du hast es gesagt», sage ich. «Das reicht.» «Er hat es für einen Witz gehalten.» «Sehr komisch», schnappe ich. Ich zittere. Vor Kälte und vor Wut. «Irgendwann muß er es sowieso erfahren.» «Ach ja? Wann denn? Wenn du es ihm sagst?» «Das war nicht als Drohung gemeint», sagt Gordon. «Ach nein, natürlich nicht!» Die Schneeflocken, die jetzt dichter fallen, schweben in Gordons Champagnerglas. Er steht auf einer kleinen Böschung. Neben ihm komme ich mir klein und kindisch vor. «Schau, ich weiß, daß du mich liebst, aber das ist einfach hart», sagt Gordon, wobei er sein zärtlichstes Gesicht macht. Das Haar fällt ihm in die Augen, und er streicht es zurück. Dickes, glänzendes Haar. Seine Hände sind makellos. Im Dunkeln haben Estelles Erdtiere etwas Beängstigendes. «Du liebst mich doch, oder?» fragt Gordon. «Nicht, wenn du es Victor erzählst.»
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«Aber jetzt, jetzt liebst du mich doch, stimmt's, Hilary? Stimmt's, Hilary? Hilary?» Ich tanze mit Lenny. Ich tanze mit Richard. Ich schaue mich nach Victor um, weil ich mit ihm tanzen will, aber ich kann ihn nicht entdecken. Ich sehe an der Bar nach, aber da ist er nicht. Ich frage Belinda, die mich mit waidwunden Augen anschaut und ihr dummes, hübsches Köpfchen schüttelt. Ich bahne mir einen Weg durch eine Gruppe von Menschen, lauter junge Paare. Eine imposant aufgemachte grauäugige Frau steht vor einem Typen mit einer Art Schwangerschaftsbauch und erklärt: «Sie ist sicher ganz in Ordnung, nur langweilig. Die Menschen sind alle wie Werbespots, und ich warte auf den richtigen Film.» «Klar, verstehe», sagt der junge Mann. Seine dünnen Pianistenfinger tupfen ein Schminkekleckschen von einem der grauen Augen. «Mit meinem Bruder ist es genau das gleiche. Sicher, er ist exzentrisch, aber nur im Rahmen des Gefälligen.» Ich dringe zu Annabel vor und klopfe ihr auf die Schulter, frage sie, ob sie weiß, wo Victor steckt. Aber sie hat keine Ahnung. Estelle auch nicht, Cappy ebensowenig. Ich schaue in die Küche, aber auch da ist er nicht. Ich gehe nach oben, öffne scheu irgendwelche Türen und mache sie enttäuscht wieder zu. Draußen ist nichts zu sehen als noch mehr Schnee. Wieder unten, sehe ich, daß sich vor einem der Klos eine Schlange bildet. Eine Frau im Seidenkleid, mit straßbesetzten Schuhen, starrt ungeduldig auf die Klotür. Sie wirkt nicht nur ärgerlich. Sie wirkt gequält. «Es gibt noch eine Toilette, gleich bei der Küche», informiere ich sie. Die ganze Schlange stürzt den Flur hinunter. «Victor?» sage ich, indem ich anklopfe. Ich drücke die Tür auf, und da ist er, an die Wand gelehnt, Kopf im Nacken,
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Augen zu. Das Klo ist voller Erbrochenem. Seine Fliege und sein Hemd sind ramponiert. «Was ist passiert?» frage ich. «Weiß nicht. Es waren vier Typen. Sie haben mir alles weggenommen. Brieftasche, Uhr, Schnürsenkel, Kamm. Die Sauhunde», sagt er. «Sogar meine Watte haben sie mir geklaut.» «Laß uns heimgehen, Victor», sage ich. Mir ist unendlich elend zumute. «Ich habe sowieso genug von dieser Party.» An einer Stelle, unten an der Tapete, klebt Erbrochenes. Rostfarbenes Blut. «Das stimmt nicht», sagt Victor. «Ich habe dich noch nie glücklicher gesehen.» «Jetzt bin ich aber nicht mehr glücklich», sage ich. «Du siehst schlimm aus.» Victor steht lang und bleich an der Wand. Die Kleider schlottern um seinen Körper. Zum erstenmal finde ich, daß er alt aussieht - nicht wie dreiunddreißig, eher wie dreiundsechzig. Er sieht krank und alt aus und wie jemand, der sterben könnte. Richards Stimme: «Was ist los?» Er steckt seinen eckigen Kopf durch die Tür und schnappt nach Luft. «Herr des Himmels», sagt er. «Ist das Blut? So, jetzt ist es genug, Victor! Du gehst jetzt in die gottverdammte Klinik. Verflucht noch mal!» Er zwängt sich in die kleine Toilettenzelle - nur ein Klo und ein Waschbecken. Er drängt mich beiseite und bearbeitet Victor mit seinem Taschentuch. «Heilige Maria, Mutter Gottes. Gütiger Himmel», sagt er. «Laß das, Dad, hörst du?» sagt Victor, indem er seinen Vater wegstößt. «Du wirst ins Krankenhaus gehen. Ich habe genug von diesem Unsinn», sagt Richard. Ich weiß, er ist betrunken, aber in seinen Augen stehen Tränen. Er zittert. 268
«Wenn deine Mutter dich darum gebeten hätte, wärst du längst im Krankenhaus.» «Mutter hätte mich nicht darum gebeten», sagt Victor. Er schaut Richard an, dessen Gesicht vor Verzweiflung so verzerrt ist, daß er aussieht wie ein Narr. Klein und ohnmächtig. «Schon gut», sagt Victor. Er beugt sich übers Waschbecken und gibt eine braune Lache von sich. «In Ordnung, Dad. Ich gehe hin. Morgen früh.» Wir verlassen die Toilette, mitten durch die neue Schlange, die sich draußen gebildet hat. Victor hat den Arm um mich gelegt. Er riecht scheußlich und weiß es, und es ist ihm peinlich, was mir das Herz zerreißt. Wir hören einen Mann sagen: «So was Widerwärtiges!» und dann Estelles Stimme: «Ich habe ein halbes Dutzend Toiletten, mein Bester... Richard, laß eins der Mädchen kommen.» Victor und ich gehen nach oben. Wir finden eine Gästesuite, zwei Zimmer, sorgsam antik möbliert. Auf dem Bett liegen ein Steppbett und ein Spitzenüberwurf; am Fenster steht ein steifer Stuhl mit geflochtenem Sitz. Daneben liegen drei Bücher auf einem Stapel. Eines ist aufgeschlagen, bei einer Weltkarte aus dem neunzehnten Jahrhundert. Man sieht, daß hier nie jemand sitzt, geschweige denn liest. Die Lampe neben dem Stuhl ist so schummrig, daß man bei ihrem Licht gar nicht lesen kann. «Halbhimmelbett», sagt Victor, «Adam-Kleiderschrank, sehr hübsch. Oho, ein Fehler! Estelle hat einen Salonstuhl in ein Schlafzimmer gestellt.» Wir gehen ins Bad und entdecken dort eine große, geschwungene Wanne mit Kupferarmaturen und eine Schale mit kleeblattförmigen, parfümierten Gästeseifen. «Gefällt dir dieses ganze antike Zeug?» frage ich, während ich die Seife in meinen Händen hin- und herwende, daß sie schäumt. Victor lehnt am Badezimmerspiegel und sagt: «Wenn ich ein eigenes Haus hätte, wäre die Einrichtung schrottig und 269
zusammengewürfelt, so wie bei uns. Oder es gäbe gar keine Möbel. Wir würden auf dem Fußboden leben, auf Kissen.» «Du brauchst aber doch einen Schreibtisch. Wie würdest du denn arbeiten ?» «Ich würde nicht arbeiten», sagt er. Er legt seine Fliege ab und hängt sie über einen Handtuchhalter. Dann knöpft er sein Hemd auf. Kniend, ganz an den Wannenrand gepreßt, hält er das Gesicht unter den Brausehahn. Ich beuge mich über ihn und seife ihm die Schultern, den Nacken und die Brust ab. Er schluckt Wasser und spuckt. Er duckt den Kopf tiefer, so daß sein Haar naß wird. Er nimmt die Seife und schrubbt sich das Gesicht. Er richtet sich auf und fährt sich mit den Händen über das nasse Haar. Ich gebe ihm ein Handtuch, und er frottiert sich die Haare. Er tupft sich das Gesicht trocken, setzt sich auf den Wannenrand und fischt in seiner Tasche nach Zigaretten. Seine Hosen sind wasserbespritzt. Er ist knochig wie ein Vogel, seine Haut ist wie Papier. Er hält einen Arm vor sich und fährt mit der anderen Hand darüber, als gehöre der Arm jemand anderem. Sein Körper ist ihm fremd geworden und mir auch. Er zieht an seiner Zigarette, starrt auf die nackten Kacheln. Ich frage ihn, was ist, und er schließt die Augen und schweigt. «Ich wollte ja mit ihm nach Hause fahren», sage ich zu Gordon. Wir tanzen. Inzwischen spielt eine andere Band, fünf Typen; sie bringen Delta-Blues. Der Lead-Sänger, mit Bierbauch und einer herzzerreißenden Mundharmonika, legt die Stirn in Falten und schaukelt von einem Bein aufs andere, immer vor und zurück. «Ich habe ihm gesagt, daß ich das idiotisch finde, aber er wollte unbedingt allein gehen und ein Taxi nehmen. Er war nicht davon abzubringen.» Gordon tanzt langsam, eng an mich geschmiegt, und geht mit den Schultern mit. «Ich liebe dich», sagt er bittend. 270
Als ich meinen Mantel suche, sehe ich Richard. Er sitzt allein in der Bibliothek in einem Sessel und hält sich eine Serviette vor den Mund. Er schaut träumend aus dem Erkerfenster. «Sehen wir uns nachher noch?» frage ich. Er schüttelt den Kopf, als sei es eine traurige Tatsache, daß er bei Estelle bleiben werde. Oder daß er nicht einmal mehr für eine kurze Strecke fahrtauglich genug sei. «Was gibt es denn da draußen zu sehen?» frage ich, einen Fuß in den Raum hineinsetzend. Er legt die Serviette hin und seufzt lange und laut: « Schnee. Einen Irrgarten. Ein Rentier aus dem Gespann des Weihnachtsmanns», sagt er. Ich habe mich von allen verabschiedet, außer von Gordon. Ich bringe es nicht fertig. Aber er sieht mich an der Tür und zieht mich zu sich. «Es kommt mir vor, als ob du dauernd wegläufst.» «Das stimmt nicht», sage ich. «Jedesmal, wenn ich dich aus einer Tür gehen sehe, frage ich mich, ob du wiederkommst. Geh nicht weg», sagt Gordon. Sein blondes Haar hat sich über den Ohren hochgewellt, in feinen Goldkringeln. Noch nie habe ich ihn so ernst und so klar erlebt. Er sieht jung aus und traurig und unheilbar verletzt. «Ich muß nach Hause», sage ich. «Tanz noch mal mit mir», sagt er, eine Hand um meine Taille. «Bitte...» Er zieht mich an sich. Er küßt mich zwischen Kinn und Hals. «Du willst mich wohl verführen», sage ich lächelnd. «Vielleicht. Aber nicht so, wie du denkst», sagt er. «Wenn ich will, daß dich etwas verführt, dann die Erinnerung an das, was wir zusammen erlebt haben, daran, wie es war, als wir uns geliebt haben. Ich will, daß du irgendwann nachts aufwachst und das Geräusch von Haut an meiner Bettwäsche im Ohr hast und dich nach mir sehnst.» 271
Ich berühre seine Lippen mit meinen Fingern. Ich schaue ihn an, diesen Mann, der bereit war, sich mir zu geben, der mein bester Freund war. Ich bin voller stummer Entschuldigungen. «Gordon...» sage ich, und ich versuche, es zärtlich klingen zu lassen. Aber irgend etwas in meiner Stimme rutscht aus. Ich suche nach Worten, aber ich sehe schon, wie etwas in ihm zusammenbricht und erstirbt. Er schaut weg, starrt auf seine Schuhe. Er atmet schwer aus. «Du meinst, du solltest woanders sein», sagt er und läßt mich los. Die Heimfahrt ist mühsam. Schlechte Straßen, schlechte Sicht. Dort, wo die Scheibenwischer nicht hinreichen, häuft sich Schnee. Die Windschutzscheibe beschlägt, und ich muß sie immer wieder mit dem Einwickelpapier einer Portion Pommes frites freiwischen. Die neun Meilen erscheinen mir wie neunzig, und ich bin hundemüde, obwohl es erst Mitternacht ist. Die Tanzerei hat mich völlig geschafft. Der Absatz meines rechten Schuhs verhakt sich in der Fußmatte. Als ich das Auto vor unserem Haus abgestellt habe, schaffe ich es nur unter Aufbietung all meiner Willenskraft, die Tür aufzumachen und auszusteigen. Ich bin so fertig, daß ich ganz langsam zur Vordertür trotte, obwohl der eisige Schnee an meinen Beinen brennt. Ich schleppe mich die Stufen hinauf. Ich habe mehr getrunken, als ich vertrage. Beim dritten Anlauf gelingt es mir, den Schlüssel ins Schloß zu stecken. Zuerst denke ich, es liegt an mir, daß sich das Schloß nicht öffnet. Dann merke ich, daß das Drückerschloß unten offen ist. Der Riegel ist von innen vorgeschoben. Ich klopfe an die Tür und warte, daß Victor kommt und mir aufmacht, aber es tut sich nichts. Ich poche wieder, bummere schließlich gegen die Tür. Ich rufe seinen Namen. Ich gehe auf die Knie und halte die Nase an den Spalt unter der Tür. Es ist, wie ich befürchtet habe. Gas. Ich schreie, 272
hämmere auf die Tür ein. Ich ramme meine Knie gegen das Holz, und einer meiner Schuhe fliegt durchs Treppenhaus. Ich stemme mich gegen die Türfüllung, so fest, daß es mich nicht erstaunt zu sehen, wie sich das Türblatt durchbiegt, und das Krachen von splitterndem Holz zu hören. «Das kannst du nicht tun!» schreie ich. «Das kannst du doch nicht tun!» Ich schreie, bis mir die Stimme wegbleibt. Schließlich sinke ich an der Tür zu Boden. Ich heule und zittere, trommle mit den Hacken auf den Boden, beiße mir auf die Finger. Ich sage seinen Namen vor mich hin. Ich sage: «Nein...», als würde mich jemand hören. Da rührt sich drinnen etwas. Ich kreische wie ein Affe. Victor öffnet langsam die Tür. Der giftige Gasgeruch dringt ins Treppenhaus. Victor steht in der Tür, mit nacktem Oberkörper, die Hosen seines Vaters mit einem Gürtel festgezurrt. «Ich bring dich um!» schreie ich und gehe auf ihn los. Er weicht zurück, in die Wohnung hinein, und wir landen beide auf dem Fußboden, ich über ihm. Ich schlage auf ihn ein, ziehe ihn an den Haaren. Er wehrt sich ein bißchen und ergibt sich dann. Er nimmt sogar einen Boxhieb in den Magen hin, ohne auch nur die Muskeln anzuspannen. Ich richte mich auf und packe ein Weinglas, das auf dem Couchtisch steht. Ich schlage es zweimal auf den Boden. Beim ersten Mal zerbirst der Kelch, beim zweiten zersplittert der Stiel in tausend winzige Glasdolche. «Wir hauen ganz schön viel Zeug kaputt», sagt Victor. Ich umarme ihn, und er drückt mich an sich und fährt mit den Händen über meinen Rücken, als suche er etwas. «Es tut mir leid, Victor, es tut mir so leid.» Ich berühre seinen Bauch, die Stelle, auf die ich ihn eben geboxt habe, seinen Magen, der ihn erst vorhin so gequält hat. Ich küsse seine weiche Haut, die Sommersprossen, die ich meinem 273
Gedächtnis eingeprägt habe, ein flaches, dunkles Muttermal. Durch meinen Kopf wälzt sich ein Strom von Bildern, minutiöse Erinnerungen, wie er irgendwann einmal ausgesehen hat, als ich ihn ansah, ihn liebte. Tausend Victor-Facetten kreisen in mir. Ich reibe meine Wange an ihm, gehe tiefer. Während ich mit den Armen seine Hüften umfange, zerberste ich in eine einzige tiefe Qual, einen langen, klagenden Schrei. «Wenn wir hier drinnen bleiben, werden wir beide sterben», sagt Victor. Draußen auf der Treppe sitzen wir nebeneinander. Unsere Knie berühren sich. «Ich habe schon fast gehofft, du würdest irgendwann mit Gordon auf und davon gehen», sagt Victor. Er schaut mich nicht an. Er starrt konzentriert in eine Weite, die nur ihm zugänglich ist. «Wann hast du es bemerkt?» «Ach, ich weiß nicht. Ich kann es nicht an etwas Bestimmtem festmachen. Nur einmal, da waren wir drüben bei Gordon, und als ich zu dir hingesehen habe, seid ihr in der Küche gestanden, um Brote zu machen oder so was. Und du hast ihn angesehen, mit einem Blick, den ich von dir kenne. Und da dachte ich: Aha, sie haben etwas miteinander.» An der Wand hängt eine Leuchtstoffröhre an zwei Haken. Sie blinkt und summt wie eine Insektenlampe. Ich habe eine Handvoll Münzen, die ich eine nach der anderen auf die Lampe werfe, ohne zu treffen. «Du bist nicht sauer?» «Sauer?» Er sieht mich an, als seien mir plötzlich Kiemen gewachsen, und sagt: «Aber Hils, siehst du denn nicht, was ich dir angetan habe? Nach allem, was du mitgemacht hast, muß ich daherkommen und dich lieben und sterben und dich gleich mit kaputtmachen?»
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Er sieht weg. «Ich soll sauer auf dich sein? O Gott, Hilary, das kann ich nicht.» «Wenn du Bescheid wußtest, warum hast du dann nichts gesagt?» «Ich hatte Angst, ihr würdet es sein lassen», sagt Victor und dann, leiser: «Oder du würdest mich verlassen. Beides erschien mir gleich schrecklich.» Ich kippe die Münzen von einer Hand in die andere: Ein-, Fünf- und Zehncentstücke. Ich sehe sie nicht als Geld, sondern als Gegenstände aus einer fernen Welt, in der ich vor langer Zeit einmal gelebt habe, an die ich mich aber kaum noch erinnern kann. «Du könntest doch ins Krankenhaus gehen», sage ich. «Das kann ich nicht, Baby. Ich kann nicht ins Krankenhaus gehen.» «Warte doch noch bis nach Weihnachten. Warum kann ich nicht ein Weihnachten mit dir erleben?» «Leukämie», sagt Victor, «spielt sich im Knochenmark ab.» «Weihnachten ist in neun Tagen.» «Sie können Knochenmark transplantieren, aber meistens nützt es nichts. Und es tut weh, Hilary.» Victor schließt die Augen. Er zuckt zusammen. «Es tut jetzt schon weh. » «Ich habe ein Geschenk für dich. Es liegt in Mrs. Birkles Wohnung. Nichts Besonderes. Eine Erstausgabe von Jenseits von Gut und Böse.»Ich wische meine Augen an seinem Hemdsärmel trocken. Ich sage: «Knochenmark transplantieren?» «Sie versuchen, alle Markzellen abzusaugen, die normalen und die leukämischen. Sie installieren eine Hohlnadel im Becken und saugen alles Mark heraus », sagt Victor. Er sieht mich an und zieht eine Augenbraue hoch. «Du hast mir Nietzsche gekauft?» «Und was hast du dir gedacht? Daß ich spät heimkomme und dich da drinnen tot vorfinde? Herrgott noch mal, Victor!» 275
Meine Stimme rutscht immer höher. Sie ist nur noch ein Winseln. Sie klingt, als entstünde sie gleich hinter meinen Zähnen. «Und was meinst du, was ich tun soll? Ins Krankenhaus gehen und mir das Mark aus den Knochen saugen lassen, damit mich das fremde Knochenmark umbringt anstelle meines eigenen? Eine prächtige Idee! Eine verdammte Scheiß-Idee!» sagt er. Ich schmeiße die ganzen Münzen auf die Lampe. Sie prallen von der Wand zurück, Farbe rieselt. Diejenigen, die die Lampe treffen, machen Ping und lassen die Röhre hektisch flackern. «Hast du mir einen Abschiedsbrief hinterlassen?» «Nicht weinen», sagt Victor weinend. Der Morgen kommt, und Victor hilft mir, meine Sachen ins Auto zu laden. Er besteht darauf, daß ich alle seine Bücher mitnehme. Zwischen zwei und vier Uhr morgens haben wir sie eins nach dem anderen aus dem Regal genommen. Er ließ mich überall meinen Namen neben seinem auf das Deckblatt schreiben, damit sie auch wirklich mein Eigentum wurden. Er redete mit mir über Selbstmord, ganz sachlich. Fakten Victors starke Seite. Er erklärte mir, daß selbstzerstörerisches Verhalten gewöhnlich aus Schuldgefühlen erwächst, die auf die ödipale Situation zurückgehen. In seinem Fall aber natürlich nicht. Er sagte, bei den alten Griechen habe der Magistrat immer eine Portion Schierling für jeden bereitgehalten, der sterben wollte und überzeugende Gründe dafür vorbringen konnte. Er informierte mich, daß Ärzte häufiger Gift nehmen als die übrige Bevölkerung und daß Psychiater häufiger Selbstmord begehen als andere Ärzte. Er meinte, Gas bringe nichts. Ihm würde davon nur schlecht. Aber er hätte ja Beruhigungs- und Schmerztabletten, die in Kombination sicher wirkten, und viele Stunden Zeit, bis ihn jemand finden würde.
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«Schau», sagte er, als ich nichts davon hören wollte und mich über ihn warf und ihn anflehte, «selbst Pascal hat gesagt, daß es leichter ist zu sterben, als sich in Gedanken mit dem Tod auseinandersetzen zu müssen, ohne zu sterben.» «Ich kenne diesen Pascal nicht», sagte ich. «Ich weiß nicht mal, weshalb er so berühmt ist.» «Du wirst ihn kennenlernen«, sagte Victor, zuversichtlich lächelnd. Er nahm eins der Bücher und hielt es hoch. Wir planten gemeinsam, was ich jetzt machen werde. Ich werde nicht nach Boston gehen. Ich werde nicht bei meiner Mutter wohnen und nicht als Helferin in irgendeiner Tierarztpraxis arbeiten. Ich werde studieren. Ich fahre heute noch nach Pennsylvania, direkt zur Universität, fülle die Bewerbungsunterlagen aus und ersuche um einen Termin für ein Aufnahmegespräch. «Du kannst prima reden», hat Victor mir eingeimpft. «Du bist gescheit, also sei ganz locker.» Wir haben geübt, was ich sagen werde. Er hat mir gesagt, ich solle keine Angst haben. Und zum erstenmal im Leben habe ich keine. Der Morgen ist wie eine gemalte Winterlandschaft. Dicker Schnee mit einer leichten Eiskruste. Dazwischen Äste und Dächer als dunkle Formen. Der Himmel ist unglaublich blau. Als ich ins Auto steige, merke ich, daß ich nichts sehe. Die Tränen strömen mir übers Gesicht. Es ist ein lautloses Weinen. Aber es will nicht aufhören, und Victor hockt sich, ein Knie im Schnee, neben die Wagentür und nimmt mich in die Arme. Wir warten, daß die Tränen versiegen, und sie tun es. «Dein Vater wird traurig sein», sage ich. «Es wird ihm das Herz brechen.» «Sein Herz ist schon so oft gebrochen, Hils», sagt Victor. Er meint es ganz ernst; er sagt es so ruhig und sachlich wie ein Arzt, der eine Diagnose stellt. 277
«Wegen deiner Mutter?» frage ich. «Ihretwegen, ja, und wegen allem anderen. Soll ich dir sagen, was meine Mutter jetzt tun würde, wenn sie hier stünde? Sie würde meine Hände nehmen und sagen: ‹Sag deinem Vater nichts, mein Junge. Überlaß ihn mir.› Und hinterher, wenn es vorbei wäre, würde sie es ihm beibringen. Sie würde genau die richtigen Worte finden, damit er es verkraftet. Sie würde es vielleicht sogar schaffen, daß er ein Lächeln zustande bringt. Und dann, viel später erst, würde sie sich in den Wald zurückziehen, wie eine sterbende Katze, und weinen, bis die Sterne am Himmel stehen.» Ich sage: «Sag ehrlich, Victor, wie hätte ich mich dir gegenüber verhalten sollen? Hätte ich irgendwie anders sein sollen? Lustiger oder patenter oder ernsthafter?» «Du hättest öfter Blau tragen sollen», sagt Victor lächelnd. «Das betont deine Augen. Siehst du den Himmel da oben? Das ist deine Farbe.» Der Himmel über uns ist strahlend blau, stratosphärenblau, unendlichkeitsblau. Er küßt mich viele dutzendmal, bedeckt mein ganzes Gesicht mit Küssen. Er küßt mich so ausgiebig, daß ich gar nicht dazu komme, ihn zu küssen. Er gibt mir den Brief, den er mir gestern abend geschrieben hat. Er ist vierfach gefaltet und auf einer Seite mit Klebestreifen zusammengeklebt. Ich nehme ihn an mich und lasse es mir nicht nehmen, dabei noch einmal seine Hand zu berühren. Es bin nicht ich, die das Auto startet und losfährt. Es ist jemand anders. Es ist nicht Victor, der da im Rückspiegel winkt. Es ist jemand anders. Ich fahre durch Hull wie eine Fremde, oder wie jemand, der hier so zu Hause ist, daß die Vorstellung, diesen Ort zu verlassen, ganz merkwürdig ist. Ich denke an Victor, der jetzt wohl zur Haustür zurückstapft, sich den Schnee von den Stiefeln abtritt und auf seine leichtfüßige Art die Treppe hinaufsteigt. Ich sehe ihn eine Zigarette aus der 278
Hemdtasche ziehen und, draußen auf dem Treppenabsatz sitzend, rauchen. Und ich denke an Gordon, der das Haus seiner Eltern ordentlich gegen die Kälte gesichert zurücklassen und sein Bostoner Leben wiederaufnehmen wird. Ich sehe ihn Sperrholzplatten vor die Fenster nageln, das Wasser abstellen, Bettlaken über die Wohnzimmermöbel breiten. Ich frage mich, ob er wohl später irgendwann an unserem Haus vorbeifahren und denken wird, daß ich mit Victor da oben bin. Und daß er mich gern sehen würde, wenn ich nur herunterkäme. Und ich denke, was ich dafür geben würde, mit Victor dort zu sein, für immer in unserer Wohnung mit ihren unebenen Böden, ihren komischen Lampen, die nur Schummerlicht verbreiten, ihren schrägen Wänden, die ich so oft angestarrt habe, während Victor neben mir lag und schlief. Und ich frage mich, ob ich je wieder irgendwo so zu Hause sein werde. Ich sehe Victor die Zigarette ausdrücken und unsere eichene Tür betrachten. Ich sehe sein Gesicht, ein Gesicht, das ich nie zuvor bei ihm gesehen habe. Ein Alleinsein-Gesicht, lebendig und nervös, nicht für andere bestimmt. Er braucht furchtbar lange, um aufzustehen und in die Wohnung zu gehen, aber er tut es.
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