Kollektiv p.i.s.o. 16
Venezuela. Welcome to our Revolution. Innenansichten des bolivarianischen Prozesses
© München November 2004 Gegen den Strom Schwanthaler Straße 139 80339 München
[email protected] Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 3-9809970-1-4 Inhalt & Form: Kollektiv p.i.s.o. 16 Gesetzt in: Fenice BT Druck: Druckwerk München Titel- und Rückenfoto: El Valle, Caracas Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten. Alle Übersetzungen sind Eigenübersetzungen. Eigentumsvorbehalt: Dieses Buch bleibt Eigentum des Absenders bis zur Aushändigung an den/die GefangeneN. Zur Habenahme ist keine Aushändigung im Sinne dieses Eigentumsvorbehaltes. Im Falle der Nichtaushändigung ist das Buch unter Angabe von Gründen an den Absender zurück zu senden. Nachdruck unter Angabe der Quelle erwünscht.
Editorial
Im September 2004 bereisten wir – d.h. Aktivistinnen und Aktivisten aus verschiedenen Strömungen der antikapitalistischen und internationalistischen Linken – vier Wochen Venezuela. Diese Publikation fasst die Gespräche und Eindrücke dieser Informationsreise zusammen. Den Schwerpunkt bilden dabei 18 Interviews, die wir mit verschiedenen Protagonistinnen und Protagonisten des „revolutionären Prozesses“ (wie von ihnen die Transformation der venezolanischen Gesellschaft bezeichnet wird) führten. Ergänzt werden sie durch eigene Texte, die unseres Erachtens zum besseren Verständnis der Interviews beitragen und zentrale Begriffe (wie beispielsweise den der Misiones) zu erklären versuchen. Ferner wollen wir wichtige Standpunkte dokumentieren sowie durch einen längeren Einführungstext einen Überblick über den Stand und die Dynamik des Prozesses geben. Wir haben uns zu dieser Form entschieden, da wir der Meinung sind, dass zunächst das Informations-Defizit bezüglich der „bolivarianischen Revolution“ angegangen werden muss, bevor eine Diskussion, die diesen Prozess „bewertet“, begonnen werden kann. Die Interviews sorgen für Informationen – in doppelter Hinsicht: Zum einen werden darin die Erfolge, Beschränkungen und Widersprüche des bisherigen Transformationsprozesses beschrieben, andererseits dokumentieren sie auch die Motivationen und Per-
spektiven der Protagonistinnen und Protagonisten. Dabei galt unser Schwerpunkt den Prozessen der sozialen Selbstorganisierung – folglich waren rund die Hälfte der Interviewten Aktivistinnen und Aktivisten aus Basisorganisationen, alternativen Medien, sozialen Netzwerken, Gewerkschaften und bäuerlichen Organisationen. Diese Schwerpunktsetzung (sowie die zeitliche Beschränkung der Reise) führten natürlich dazu, dass bestimmte wichtige Aspekte entweder nur am Rand behandelt werden beziehungsweise ganz unter den Tisch gefallen sind. Dazu zählen unter anderem eine profunde Auseinandersetzung mit den wirtschaftlichen Konzepten der Regierung Chávez sowie eine kritische Beschreibung der Rolle des Militärs und des Präsidenten in diesem Prozess. Gänzlich fehlen Einschätzungen der gesellschaftlichen Realität beispielsweise von Seiten linker Frauenorganisationen und von Vertreterinnen und Vertretern der indigenen und afro-venezolanischen Bevölkerungsgruppen. Wir hoffen, dass dieses Manko positive Konsequenzen hervorbringen wird – dass diese Lektüre Andere dazu motiviert, sich umfassender mit dem Prozess der Veränderung in Venezuela auseinander zu setzen. Kollektiv p.i.s.o. 16 München und Stuttgart Oktober 2004
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Wir bedanken uns bei allen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern und bei Christof, Dario, Eduardo, Eno, Ester, Felix, Hedwig, Ingrid, Kris, Leonardo, Liane, M.d.æ., Maria Virginia, Martina, Raul sowie beim Druckwerk München, dem Kulturladen Westend, dem Netzwerk München und dem Ökumenischen Büro München.
Inhalt
Einleitendes
7 Welcome to our Revolution 12 Von Bolívar zur bolivarianischen Revolution Ein kurzer Abriss der venezolanischen Geschichte
Barrios & Basis
22 Soweit das Auge reicht Die Barrios von Caracas
24 Ich halte nichts von politischen Parteien Interview mit Adriana Scovino
33 Aufbruchstimmung im besetzten Kino Das „Alameda“ in San Agustín
Misiones & Soziales
38 In sozialer Mission Die Sozialprogramme der venezolanischen Regierung
43 Die sozialen Schulden einlösen Interview mit Alexis Motta
47 Das Ziel ist eine integrale Ausbildung Interview mit Mirelva Martínez
49 Gemüsekooperativen am Stadtrand Das Vuelvan Caras-Projekt Tacagua Vieja
52 Ein Teil des wirtschaftlichen Transformationsplans
Interview mit Luis Guillermo Carcía
57 Das ist Teil unseres Lernprozesses Interview mit Leonardo Raymond
59 Wir sind hier ein Schaufenster Interview mit Noralí Verenzuela
Arbeit & Kapital
64 Informeller Sektor und Schwerindustrie Arbeitswelten und gewerkschaftliche Organisierung
66 Was mich optimistisch macht, ist das Verhalten der Leute Interview mit Stalin Pérez Borges
78 Venezuelas industrieller Osten
Die junge Geschichte von Ciudad Guayana
82 Die Neoliberalen werden nicht zurückkehren
Interview mit Natalina Aveto, Andrés Rengel und Angel Silva Ruiz
90 Erdöl, Erdöl, Erdöl
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Inhalt
92 Ich sehe keinen Widerspruch darin, dass PDVSA in soziale Bereiche investiert Interview mit Omar Bravo, Carolina Mendoza und Janett Heredia
Land & Freiheit
98 Gegen den Großgrundbesitz Die bolivarianische Landwirtschaftspolitik
101 Horror für die Oligarchie
Interview mit Franklin Gonzalez
109 Wir müssen viele Traditionen zurückgewinnen Interview mit José Guariguata
Medien & Kommunikation
114 Die Revolution wird nicht gesendet Der Kampf um die Medien
116 Ein Phänomen in der Presselandschaft Interview mit Servando García Ponce
119 Die Leute haben ein Recht darauf, die Medien zu nutzen Interview mit Juana Catalina Guzman
Netzwerke & Organisierung
125 Um das Problem der Armut zu lösen, muss den Armen mehr Macht gegeben werden Interview mit German Ferrer
130 Eine Frage der politischen Kultur Interview mit José Guariguata
136 Die große Aufgabe ist die Vertiefung des Prozesses Interview mit Eduardo Daza
Kritik & Konzepte
147 Alle Macht dem Volke Interview mit Felipe Perez
150 Eine Demonstration in Caracas 153 Nach meinem Geschmack zu militärisch Interview mit Clemente Scotto
157 Wie es bisher gelaufen ist, kann es nicht weitergehen Interview mit Roland Denis und Antonia Cipollone
Anhang
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Einleitendes
Welcome to our Revolution Der englischsprachige Willkommensgruß stammt von einem Aktivisten aus dem besetzten Kino „Alameda“ von San Agustín, einem der unzähligen armen Stadtviertel von Caracas. Ein Willkommensgruß der symptomatisch ist – viele Menschen begreifen den gegenwärtigen Transformationsprozess der venezolanischen Gesellschaft als ihre Revolution, nicht als ein Projekt politischer Parteien oder des Präsidenten Hugo Chávez. Entsprechend ist auch die Bereitwilligkeit zur und die Offenheit der Diskussion über die Veränderungen in Venezuela. Glühende Verteidigerinnen und Verteidiger des revolutionären Prozesses scheuen sich nicht, über dessen Defizite und inneren Widersprüche zu sprechen. Und Widersprüche gibt es viele. Bereits der Versuch, die sogenannte „bolivarianische Revolution“ in Kategorien zu fassen, die kompatibel zu linken Diskursen in Deutschland sind, ist schwierig: Befindet sich Venezuela bereits in einem revolutionären Transformationsprozess? Oder lässt sich die politische Realität besser als Situation beschreiben, in der sich die innergesellschaftlichen Widersprüche stetig verschärfen und in naher Zukunft zu einer weitergehenden Umwälzung führen werden? Oder sind beide
Prozesse, der der Transformation wie der der Zuspitzung gleichzeitig vorzufinden, je nach gesellschaftlichem Bereich? Und welche Bereiche sind diesen Prozessen unterworfen – und welche (bislang) nicht? Oder gibt es Anzeichen dafür, dass sich der bolivarianische Prozess letztlich auf einige Sozialreformen beschränken wird und weitergehende Ansätze keine Möglichkeit auf Durchsetzung haben? Partizipative und protagonistische Demokratie Die wichtigste Fragestellung innerhalb der bolivarianischen Revolution ist momentan zweifelsohne die der politischen Repräsentanz der Bevölkerung. Mit der Verfassung von 1999 (siehe nachfolgenden Artikel) wurde von der Mehrheit der Venezolanerinnen und Venezolaner der Weg hin zu einer „partizipativen und protagonistischen Demokratie“ gewählt. D.h. mit der traditionellen, der bürgerlich-repräsentativen Demokratie, die sich in Venezuela in Form eines klientelistischen ZweiParteien-Systems manifestierte, wurde gebrochen. Elemente direkter Demokratie und eines imperativen Mandats (das sich unter anderem in der Möglichkeit ausdrückt, alle politischen Funktionsträgerinnen und Funktionsträger vorzeitig abwählen zu können) befinden sich seither ebenso im Aufbau wie lokale und regionale basisdemokratische
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Einleitendes
„Platz der Tupamaros“ in dem Stadtteil „23 de Enero“ im Westen von Caracas
Strukturen, innerhalb derer die Bevölkerung ihre Geschicke selbst in die Hand nimmt. Dabei verläuft dieser Prozess keineswegs widerspruchsfrei, besteht der venezolanische Staatsapparat in den mittleren und unteren Ebenen der Verwaltungen und Ministerien doch weitgehend aus den gleichen Angestellten wie vor 1999. Hinzu kommt, dass es auch innerhalb des bolivarianischen Lagers Kräfte gibt, die versuchen, die alten Strukturen mit neuem Anstrich in die neue Republik hinüber zu retten. Vor allem die linken Parteien, die Kommunistische Partei und die linkssozialdemokratischen Organisationen PPT und „Podemos“ stehen mit ihrem überproportionalen Einfluss in den Ministerien im Zentrum der Kritik seitens linker Basisbewegungen. Eine Kritik, die mitunter in offene Konfrontation mündet. So zuletzt geschehen anlässlich der Nominierung der boliva-
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rianischen Kandidatinnen und Kandidaten für die Regionalwahlen, als diese von oben herab – von Chávez und den Spitzen der Parteien – unter Umgehung der Basisorganisationen bestimmt wurden. Aber auch in neugeschaffenen Strukturen, wie beispielsweise dem linken Gewerkschaftsdachverband UNT ist der Einfluss derjenigen unübersehbar, die ihre in den alten Strukturen begonnenen Funktionärskarrieren jetzt unter bolivarianischem Label fortsetzen wollen. Und schließlich hat sich in manchen administrativen Bereichen in personeller und struktureller Hinsicht bislang fast nichts verändert – so in der staatlichen Schwerindustrie. Ausdruck finden diese Widersprüche einerseits in den stärker werdenden Anstrengungen von Basisorganisationen und sozialen Netzwerken, Rätestrukturen aufzubauen, die zunehmend die Aufgaben und Ressourcen des Staatsapparates übernehmen sollen. Andererseits führen sie auch zu alternativen Konzepten von staatlicher Sozial- und Infrastrukturpolitik. Beispielsweise wurden die sogenannten Misiones (landesweite Kampagnen und Programme vor allem mit sozialen Aufgaben) explizit außerhalb der bisherigen Ministerialbürokratie angesiedelt. Der Apparat wird als nicht Willens oder nicht in der Lage angesehen, solche Aufgaben zu erfüllen. Gleichzeitig stützt sich die Umsetzung dieser Programme jedoch oftmals auf die Strukturen der staatlichen Industrie und des Militärs, die zwar logistisch in der
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Lage sind, die Aufgaben zu bewältigen, andererseits aber gerade keine Strukturen sind, in denen sich die partizipative Demokratie bereits durchgesetzt hat. Aufbau sozialer Infrastruktur Weitgehend unabhängig von diesen Widersprüchen stehen die Misiones im Zentrum des zweiten wichtigen Transformationsvorhabens der bolivarianischen Revolution – des Aufbaus eines allen Gesellschaftsschichten zugänglichen Bildungs- und Gesundheitswesens. Vor allem die Misión Barrio Adentro, in deren Rahmen mehrere Tausend Ärztinnen und Ärzte (vornehmlich aus Cuba) in den Armenvierteln der Großstädte wie in marginalisierten ländlichen Gebieten wohnen und arbeiten, steht für einen Paradigmenwechsel und gehört zu den unumstritten populärsten Maßnahmen der Regierung Chávez. Weitere Misiones im Bildungsbereich sowie zusätzliche Reformen in diesem Sektor – wozu der Aufbau von sogenannten bolivarianischen Schulen und Hochschulen zählt – zielen auf eine umfassende Erhöhung des Ausbildungsgrades der Bevölkerung. Auch auf diesem Gebiet gab es in den vergangenen anderthalb Jahren zum Teil spektakuläre Erfolge: so gilt der Analphabetismus in Venezuela nahezu als ausgelöscht, nachdem im Rahmen der Misión Robinson rund 1,3 Millionen Menschen alphabetisiert wurden. Letztendlich haben die Bildungsprogramme das langfristige Ziel, mittels gezielter Förderung
und Weiterbildungsmaßnahmen einen alternativen produktiven Sektor zu entwickeln. Gemischte Wirtschaft Dabei ist bislang – anders als in der Frage der Repräsentanz und der sozialen Infrastruktur – vom revolutionären Prozess im ökonomischen Bereich wenig erkennbar, viele Vorhaben sind erst in der Diskussions- und Planungsphase. Offiziell verfolgt die venezolanische Regierung ein Konzept einer gemischten Wirtschaft, d.h. sowohl der staatliche Sektor als auch die Privatwirtschaft werden gefördert. Der Schwerpunkt soll in den nächsten Jahren jedoch auf den Aufbau eines Netzes von Kooperativen im landwirtschaftlichen und handwerklichindustriellen Bereich gelegt werden. Damit sollen – neben dem Prozess der sozialen Organisierung – vor allem zwei Ziele erreicht werden: eine umfangreiche Importsubstituierung, vor allem bei Lebensmitteln, und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Dieses Konzept einer gemischten Wirtschaft ist jedoch auch sehr umstritten. In erster Linie, was die Einbindung der Privatwirtschaft in das Entwicklungskonzept betrifft. Zwar wird mehrheitlich das Verfassungsrecht auf Privateigentum akzeptiert, aber vor allem Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sehen die Gefahr, dass eine Annäherung zwischen Unternehmen und Regierung Einschnitte in die sozialen Rechte der Beschäftigten mit sich bringen würde (beziehungsweise dass Rechte, die den Arbeite-
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rinnen und Arbeitern laut Verfassung zustünden, aber noch nicht umgesetzt wurden, auf Eis gelegt würden). Neben diesen Widersprüchen spielt in der Ablehnung einer Einbindung des Privatkapitals auch der politisch-historische Fakt eine Rolle, dass die venezolanischen Unternehmerinnen und Unternehmer in ihrer Mehrzahl den Putschversuch im April 2002 gegen die Regierung Chávez unterstützten. Aber auch das Konzept einer staatlichen Industrie wird bezüglich der demokratischen Kontrollmöglichkeiten hinterfragt. Gerade weil es bislang keine Änderungen in der Struktur der Unternehmen gegeben hat, beziehungsweise sich – wie bei dem staatlichen Ölkonzern PDVSA – die Änderungen auf den Austausch der Führungsebene beschränkten, versuchen vor allem linke Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, die Diskussion über die Kontrolle der Produktion durch die Arbeitenden zu forcieren. Sie setzen sich damit auch innerhalb der eigenen Organisationen von Konzepten ab, die eine Partizipation auf eine gemeinschaftliche Betriebsleitung von Belegschaftsvertretung und Konzernleitung beschränkt sehen wollen. Ungelöste Landfrage Der vielleicht wichtigste und am weitesten zugespitzte Kampf im ökonomischen Bereich vollzieht sich derzeit aber in Bezug auf die Landfrage. Seit Ende 2001 gibt es in Venezuela ein Landgesetz, das sich ausdrücklich zum Ziel gesetzt hat, den Großgrundbesitz abzuschaffen. Real
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geschehen ist bis heute aber wenig. Zwar wurden rund zwei Millionen Hektar Land an Kooperativen übergeben – das Land stammt aber fast ausschließlich aus Staatsbesitz. Der Großgrundbesitz als wirtschaftliches, politisches und teilweise auch paramilitärisches Machtverhältnis ist nach wie vor unangetastet. Vor diesem Hintergrund und angesichts von rund 90 in den vergangenen Jahren ermordeten Aktivistinnen und Aktivisten von bäuerlichen Organisationen, entstehen jetzt Vorschläge zur bewaffneten Selbstorganisierung der Landbevölkerung. Kampf um Hegemonie Ein vierter Bereich, in dem von einem Transformationsprozess beziehungsweise von einer permanenten Zuspitzung der Widersprüche gesprochen werden kann, ist der kulturelle Bereich, und hier vor allem der Mediensektor. Noch bis vor kurzem herrschte hier eine fast ungebrochene Dominanz der bürgerlich-oppositionellen Medien. Ein Zustand, der sich Schritt für Schritt ändert. Aber auch auf diesem Gebiet gibt es im bolivarianischen Lager einen Widerstreit der Konzepte. Auf der einen Seite wird versucht, der medialen Übermacht der Opposition mit der Ausweitung staatlicher Informationsangebote entgegen zu wirken. Und auf dem Zeitungsmarkt versucht sich seit einem Jahr die Zeitung VEA erfolgreich als linke Alternative an den Kiosken zu etablieren. Neben diesen Ansätzen, innerhalb durchgesetzter Medienformen progressive Inhalte
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zu verbreiten, gibt es aber auch eine Vielzahl alternativer Projekte. Vor allem Stadtteil-Radios stehen für den Versuch, das herkömmliche Schema zu durchbrechen, dass es auf der einen Seite Leute gibt, die Nachrichten produzieren und auf der anderen Seite welche, die Nachrichten konsumieren. Sie versuchen partizipative Medien für Basisbewegungen zu schaffen. Anders als in den anderen gesellschaftlichen Bereichen fällt im Mediensektor jedoch auf, dass die Protagonistinnen und Protagonisten der unterschiedlichen Konzepte – zumindest momentan – sich gegenseitig solidarisch unterstützen: Staatssender bilden Redakteurinnen und Redakteure für Stadtteil-Radios aus, Leute aus alternativen Medien helfen andererseits beim Aufbau staatlicher Sender. Und schließlich gibt es in der bolivarianischen Republik Venezuela ein Gesetz, das alternativen Medien ein Anrecht auf Unterstützung von staatlicher Seite gibt. Ein offener Prozess Eine Prognose zu wagen, wie sich der bolivarianische Prozess in den kommenden Jahren entwickelt, wäre spekulativ – zu dynamisch und zu widerspruchsvoll ist dieser Prozess. Als Momentaufnahme lässt sich feststellen, dass die Basisbewegungen im Laufe dieser, ihrer Revolution an Bedeutung und Selbstvertrauen gewonnen haben. Nicht zuletzt aufgrund der Einschätzung, dass sie das eigentliche Rückgrat der Revolution sind, dass es die Basis aus den Armenvierteln
war, die den rechten Putschversuch im April 2002 scheitern ließ, und dass es die organisierten Arbeiterinnen und Arbeiter waren, die während des von der rechten Opposition im Winter 2002/2003 ausgerufenen „Streiks“ die Produktion gegen den Willen der Geschäftsleitungen am Laufen hielten. Und schließlich war es auch den Stimmen der Menschen aus den Armenvierteln zu verdanken, dass Chávez in dem Referendum vom August 2004 eindeutig als Präsident im Amt bestätigt wurde. Obgleich die Widersprüche und Beschränkungen gewichtig sind, die der bolivarianische Prozess in sich trägt, sollte Eines nicht unter den Tisch fallen: Dieser Prozess umfasst in seinen Extremen zwei politische Visionen. Die eine könnte am ehesten als links-sozialdemokratisches Modell beschrieben werden, das eine eigenständige kapitalistische Entwicklung mit umfangreichen sozialen Zugeständnissen an die marginalisierten Bevölkerungsgruppen verbinden will. Das andere Extrem formuliert die Forderung nach einer grundlegend anderen Gesellschaft, nach einer rätedemokratischen Gemeinschaft mit demokratischer Kontrolle über die Produktion. Es ist lange her, dass in einem Land die Frage praktisch gestellt werden konnte nach einem politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungsprozess, der von solchen „Wahlmöglichkeiten“ gekennzeichnet war. Ebenso lange ist es auch her, dass Menschen jemanden begrüßen konnten mit den Worten: „Welcome to our Revolution“. n
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Von Bolívar zur bolivarianischen Revolution. Ein kurzer Abriss der venezolanischen Geschichte Der unbestritten wichtigste Referenzpunkt in der Geschichte Venezuelas ist der Unabhängigkeitskrieg und sein wichtigster Protagonist Simón Bolívar, El Libertador, der „Befreier“ Lateinamerikas. Bolívars Verdienst war es, den Unabhängigkeitsbestrebungen der kreolischen Oberschicht in den Kolonien eine soziale Komponente zu geben. Hatten die Aufstände zuvor oft den Charakter von Auseinandersetzungen zwischen den Eliten, umfasste Bolívars Konzept unter anderem die Abschaffung der Sklaverei, wodurch sich die soziale Basis der Unabhängigkeitsbestrebung deutlich verbreiterte. In den Unabhängigkeitskriegen zwischen 1810 und 1821 bezwangen die Truppen unter der Führung Bolívars die spanischen Einheiten. 1819 entstand die unabhängige Republik Groß-Kolumbien (das heutige Venezuela war ein Teil davon). Doch während Bolívar auf militärischem Gebiet erfolgreich war, scheiterte sein wichtigstes politisches Projekt: die Einheit Lateinamerikas. Bolívar hatte zum Schluss keinen politischen Einfluss mehr und starb politisch isoliert und vereinsamt 1830 in Santa Marta im
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heutigen Kolumbien. Wenige Tage nach seinem Tod 1830 sagten sich die venezolanischen Eliten von Großkolumbien los. Bolívar ist heute uneingeschränkt der „Nationalheld“ Venezuelas, Konservative wie Progressive versuchen, die historische Person und seine Erfolge für sich zu vereinnahmen – bis hin zur Proklamierung der „bolivarianischen“ Republik vor vier Jahren. Für viele Linke in Venezuela gilt Bolívar darüber hinaus als Visionär des antiimperialistischen Kampfes – nicht nur weil er die Führungsfigur des Unabhängigkeitskrieges war und die lateinamerikanische Einheit verwirklichen wollte, sondern weil er bereits offen von den Gefahren sprach, die von den damals neu entstandenen Vereinigten Staaten in Zukunft für den amerikanischen Kontinent ausgehen würden. Neben Bolívar zählt heute Simón Rodríguez zu den wichtigsten Personen dieser Epoche. Rodríguez war Bolívars Lehrer und gilt als einer der fortschrittlichsten Pädagogen seiner Zeit. Seine Ideen über den Aufbau eines Bildungswesens, das allen offen zu stehen hat sowie über
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die Wichtigkeit der Bildung für die demokratische Entwicklung der Gesellschaft, spiegeln sich heute in der Bildungspolitik Venezuelas wider. Caudillos und Diktatoren Nach der Unabhängigkeit brachen – wie in vielen anderen Ländern Lateinamerikas auch – die unterschiedlichen Klassen- und Einzelinteressen offen zu Tage. Fast das gesamte 19. Jahrhundert hindurch gab es in Venezuela Aufstände und Bürgerkriege. Zumeist ging es um Einflusssphären von lokalen Eliten, der Caudillos, die über bewaffnete Einheiten verfügten – aber auch große soziale Revolten prägten das Bild. Bis heute ist der bewaffnete Aufstand der Landbevölkerung Mitte des 19. Jahrhunderts gegen den Großgrundbesitz und für eine Landreform im Bewusstsein. Der Anführer der Revolte, Ezequiel Zamora, genießt – zumindest inner-
halb der venezolanischen Linken – hohes Ansehen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das Land „befriedet“ – die Diktatur von General Juan Vicente Gómez stellte mit repressiven Mitteln die Macht des Zentralstaates her. In den 27 Jahren, in denen Gómez an der Macht war, wurden bedeutende Erdölvorkommen in Venezuela entdeckt und es begann deren kommerzielle Ausbeutung. Auch nach der Ära Gómez 1935 wechselten sich – mit einer kurzen Unterbrechung – diktatorische Regimes an der Regierung ab. Demokratie und Proporz 1958 kam es zu einem erfolgreichen Volksaufstand gegen den Diktator Marcos Pérez Jiménez, angeführt von der sozialdemokratischen AD und der Kommunistischen Partei. Nach dem Sturz Jiménez’ suchte die AD das Bündnis mit der konservativen COPEI. Das soge-
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Wandbild im Zentrum von Caracas, das die Geschichte Venezuelas von der Eroberung durch die Spanier bis zum Caracazo 1989 thematisiert
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nannte „Punto-Fijo-Abkommen“ schrieb die zukünftige Aufteilung der staatlichen Macht zwischen diesen beiden Parteien fest. Die politischen Kräfte, die dem entgegen standen, wurden in die Illegalität gedrängt und bekämpft – vor allem sollte die Kommunistische Partei als Machtfaktor ausgeschaltet werden. Als Ergebnis dieser Politik entstand in den 60er Jahren aus den kommunistischen und anderen linken Strukturen heraus eine starke Guerillabewegung, die jedoch im Laufe des Jahrzehnts militärisch und politisch geschlagen wurde. In der ersten Regierungszeit des konservativen Präsidenten Rafael Caldera demobilisierte sich daher der Großteil der Guerilla. Im Gegenzug wurde die Kommunistische Partei wieder zugelassen. Diese verfügte zu diesem Zeitpunkt aber we-
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der über die Stärke noch über die Bindungskraft wie in den 50er Jahren. Anfang der 70er Jahre spalteten sich wichtige Teile der Linken von den KP-Strukturen ab. 1971 entstand der MAS, etwas später die „Causa R“ – beides linkssozialdemokratische Organisationen, die bis in die 90er Jahre hinein über beachtliche Mobilisierungskraft verfügten. Der Ölboom und sein Ende Die 70er Jahre gelten im Rückblick als das „goldene Jahrzehnt“, der Anstieg der Rohölpreise verschaffte dem Land (und seinen Eliten) immense Einkünfte, verschiedene Quellen sprechen von schätzungsweise 240 Milliarden US-Dollar, die zwischen 1973 und 1983 durch den Verkauf von Erdöl ins Land flossen. 1976 wurde auf Druck der Bevölkerung die Ölindustrie unter der ersten Präsidentschaft des Sozialdemokraten Carlos Andrés Pérez verstaatlicht. Das klientelistische Modell von AD und COPEI, das soziale Vergünstigungen an die Mitgliedschaft in diesen Parteien koppelte, erreichte seinen Höhepunkt und damit auch die Korruption. Auch die Modernisierungspolitik erhielt neuen Schwung und kulminierte u.a. in dem Wasserkraftwerk von Guri, das zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung 1986 mit 10.000 Megawatt das größte der Welt war. Der Ölboom sorgte aber auch dafür, dass andere Produktionszweige vernachlässigt wurden und zunehmend Waren, auch landwirtschaftliche Erzeugnisse, importiert wurden.
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Zu Beginn der 80er Jahre brachen die Öleinnahmen ein und das System kollabierte. Dabei machten nicht nur die gesunkenen Erdölpreise dem venezolanischen Staat zu schaffen, sondern auch die Tatsache, dass sich der staatliche Ölkonzern PDVSA immer mehr zu einem Staat im Staate entwickelte. Das Management des Konzern versuchte, die Einkünfte dem Zugriff des Staates (und seiner Eliten) zu entziehen, und für den eigene Vorteil zu verwenden. Es zeigte sich, dass die sozialen Konflikte in Venezuela auch in den 70er Jahren nicht gelöst wurden – trotz des Booms blieben bedeutende Teile der Bevölkerung von den Einnahmen ausgeschlossen. Mit der wirtschaftlichen Depression wuchsen die politischen Spannungen. Zeitweise etablierten sich in den 80er Jahren wieder Guerilla-Organisationen, die jedoch nie die Stärke wie in den 60ern erreichten. Der Caracazo und die Folgen 1989 wurde Carlos Andrés Pérez zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt – unter gänzlich anderen ökonomischen Rahmenbedingungen. Venezuela war zu diesem Zeitpunkt bereits hochverschuldet und die Regierung kam mit dem Internationalen Währungsfonds überein, das Land neoliberalen Strukturanpassungsprogrammen zu unterwerfen, um damit die Zahlungsfähigkeit aufrecht zu erhalten. Die Programme führten zu einer weiteren sozialen und damit auch politischen Zusspitzung: Letztendlich aus-
gelöst von der – im Zuge der Strukturanpassungen durchgesetzten – Erhöhung der Preise im öffentlichen Verkehrssystem begann der sogenannte Caracazo: Einwohnerinnen und Einwohner der armen Stadtviertel von Caracas organisierten am 27. Februar 1989 einen Aufstand, es kam zu Plünderungen und Straßenschlachten. Die Regierung Pérez gab den Befehl, den Aufstand gewaltsam niederzuschlagen. In manchen Vierteln leisteten die Einwohnerinnen und Einwohner der Guardia Nacional fast zwei Wochen lang Widerstand. Wie viele Opfer die Repression forderte, ist noch immer ungeklärt. Die Regierung sprach von einigen hundert Toten, unabhängige Quellen gingen jedoch von der zehnfachen Zahl aus.
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Die blutige Niederschlagung des Aufstandes führte einerseits zu einer endgültigen Diskreditierung der traditionellen politischen Parteien AD und COPEI, andererseits zu einer Umorientierung innerhalb der Linken in Venezuela. Jenseits der traditionellen Politikformen begannen viele Aktivistinnen und Aktivisten aus linken Strukturen sich in Basisgruppen, Kulturzentren, Nachbarschaf tsorganisationen, alternativen Medien etc. zu organisieren. Eine neue Opposition von unten sollte so gefördert werden. Gleichzeitig gärte es im Militär. Anders als in anderen Staaten setzte und setzt sich das venezolanische Militär – bis in das Offizierscorps hinein – vornehmlich aus Menschen zusammen, die aus den unteren Klassen und Schichten stammen. Einer der Gründe für diesen Unterschied liegt in der Umgestaltung der Militärschule im Jahr 1970, nach dem Zusammenbruch der linken Guerillaorganisationen. Seither ähnelt die Offiziersausbildung teilweise einem Universitätsstudium, in dem auch politische Wissenschaft und Geschichte gelehrt wird. Diese akademische Laufbahn ist auch für Leute aus den ärmeren Schichten zugänglich, für die höhere Mittel- und Oberschicht aber keine Alternative zu den Elite-Universitäten. Anfang Februar 1992 versuchten einige Einheiten – teilweise unterstützt von linken Basisorganisationen – den Putsch gegen die Regierung Pérez. Zwar scheiterte das Unterfangen, verschaffte aber den
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Beteiligten Sympathie in der armen Bevölkerung. Vor allem der Anführer des Putsches wurde zur Identifikationsfigur – Hugo Chávez. Der Zusammenbruch des politischen Systems beschleunigte sich, als Carlos Andrés Pérez wegen Korruptionsvorwürfen 1993 sein Amt niederlegen musste. Bei den darauffolgenden Wahlen setzte sich ein parteienübergreifendes Bündnis durch, das zwar von dem Konservativen Ex-Präsidenten Rafael Caldera angeführt, aber auch von linken Organisationen wie dem MAS unterstützt wurde. Letztlich führte Caldera aber nur die Politik seines Vorgängers fort und begann mit der Privatisierung der staatlichen Industrie. Ab Mitte der 90er Jahre begann der Aufbau neuer Strukturen innerhalb der Linken – der aus dem Chávez-Lager aufgebaute MVR wurde zum Sammelbecken für unterschiedliche Strömungen. Nach langer interner Diskussion entschloss sich der MVR an den Wahlen 1998 teilzunehmen und Hugo Chávez als Präsidentschaftskandidaten zu nominieren. Völlig überraschend gewann ein Bündnis aus MVR, Kommunistischer Partei, MAS und der links-sozialdemokratischen PPT die Wahlen, Chávez wurde mit 56,5 % der Stimmen Präsident. Prozess und Revolution Erstes Ziel der neuen Regierung war die institutionelle Neuorganisierung des Landes. Bis Ende 1999 wurde ein neuer Verfassungsentwurf unter Beteiligung der Be-
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völkerung erarbeitet. Kernstück dieses Verfassungsentwurfs bildeten umfangreiche Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten, die den Bürgerinnen und Bürgern größeren und direkteren Einfluss in politische und administrative Entscheidungsprozesse eröffnen. Darüber hinaus wurden explizit einige Positionen festgeschrieben, die sich gegen den neoliberalen Mainstream absetzten – beispielsweise das Verbot der Privatisierung der Bodenschätze – oder in soziale Konfliktfelder wirkten – wie die Absichtserklärung, den Großgrundbesitz abzuschaffen. Mit einer Volksabstimmung wurde die Verfassung 1999 verabschiedet. Venezuela ist seitdem eine „Bolivarianische Republik“ und versteht sich selbst als „partizipative und protagonistische Demokratie“. Während sich in den ersten Jahren der Regierung Chávez die Veränderungen hauptsächlich auf die politische Sphäre beschränkten, beschloss sie 2001 mehrere Gesetze, um die soziale Situation der marginalisierten Bevölkerung zu verbessern – unter anderem ein neues Landgesetz, das dem Verfassungsauftrag zur Beseitigung des Großgrundbesitzes Rechnung trägt. Spätestens mit der Verabschiedung dieser Gesetze wurde den nationalen Eliten Venezuelas klar, dass die Regierung Chávez vorhatte, auch in der sozialen Frage eine Transformation der Gesellschaft anzustreben. Entsprechend bildete sich ein Oppositionsblock, der sowohl die traditionellen Parteien AD und COPEI umfasste als auch die Spitze
des Gewerkschaftsdachverbandes CTV, den Verband der Unternehmerinnen und Unternehmer FEDECAMERAS sowie einige hohe Militärs. Die eigentliche Führungsrolle kam jedoch den privaten Medien zu, die glaubten, über die uneingeschränkte Hegemonie im Kommunikationsbereich zu verfügen. Verstärkung bekam dieses Bündnis bald auch von der Führung des MAS, die die Regierungskoalition mehrheitlich verließ. Putsch und „Streik“ Am 11. April 2002 putschten die oppositionellen Kräfte des Militärs. Dabei schien zunächst alles nach Plan zu laufen: die Militärs verhafteten Chávez und andere Führungspersönlichkeiten, die Medien feierten den „Sieg der Demokratie“, der FEDECAMERASVorsitzende Carmona wurde mit dem Segen der Kirche zum neuen Präsidenten bestimmt. Die neue Verfassung wurde außer Kraft gesetzt, das Parlament aufgelöst und auf den Straßen begann die Repression gegen Linke. Die Putschregierung wurde schnell von den USA, Spanien und anderen westlichen Regierungen anerkannt. In den darauf folgenden drei Tagen gelang es der Putschregierung und den Medien jedoch nicht, die Situation zu stabilisieren. Vor allem waren es die Menschen aus den Armenvierteln, die sich zur Wehr setzten. Sie verteidigten ihren Präsidenten und ihre Verfassung. Es kam zu Massendemonstrationen und schließlich zu einer Revolte in-
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nerhalb des Militärs gegen die Putschisten. Nach 60 Stunden war die Regierung Carmona bereits am Ende. Der erfolgreiche „Gegenputsch“ der Bevölkerung brachte nicht nur Chávez wieder ins Amt sondern sorgte auch für ein neues Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der Basisorganisationen. Ende 2002 unternahm die Opposition einen zweiten Versuch, die Regierung zu stürzen. Im Dezember proklamierte sie den „unbefristeten Streik“, mit dem solange die Produktion in Venezuela lahm gelegt werden sollte, bis Chávez zurücktreten würde. Vor allem die Öl-Industrie wurde in Mitleidenschaft gezogen. Manche Einrichtungen wurden tatsächlich von der Belegschaft bestreikt, denn unter den Angestellten in der staatlichen Industrie hatte die Opposition eine Basis, da diese Schicht in der alten Republik privilegiert schien. In vielen anderen Betrieben glich dieser „Streik“ einer Aussperrung. Hinzu kamen Sabotage-Akte gegen Produktionseinrichtungen. Der „Streik“ brach nach drei Monaten zusammen – viele Unternehmen, die sich ihm anschlossen, gingen bankrott. Allein die Ausfälle in der Ölförderung kosteten die venezolanische Volkswirtschaft fünf bis sieben Milliarden US$. Die offizielle Arbeitslosenquote stieg auf über 20 %. Anders als nach dem fehlgeschlagenen Putsch – als nur einige hochrangige Militärs ihren Posten verlo-
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ren – wurden die Verantwortlichen für den Streik in der Ölindustrie entlassen. Insgesamt wurden mehrere tausend Angestellte gefeuert, darunter fast das gesamte Management. Trotz der wirtschaftlich schwierigen Situation begann die Regierung 2003 ihr bislang ambitioniertestes Projekt im sozialen Bereich – die sogenannten Misiones. Die Kampagnen und Programme hatten und haben das Ziel, der marginalisierten Bevölkerungsmehrheit den kostenlosen Zugang zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen zu garantieren. „Si“ und „No“ Der bislang letzte Versuch der Opposition, Chávez zu stürzen, war das Referendum im August 2004. Entsprechend der bolivarianischen Verfassung kann jeder Mandatsträger und jede Mandatsträgerin vorzeitig abberufen werden, wenn die Mehrheit der abgegebenen Stimmen in einem Referendum dies befürwortet und wenn insgesamt mehr Menschen für die Amtsenthebung stimmen als bei der vergangenen Wahl für die entsprechende Person. Das Referendum wurde jedoch zu einer eindrucksvollen Bestätigung der Präsidentschaft von Hugo Chávez. Rund 59 % votieren mit „No“ gegen die Amtsenthebung. Vor allem in den Armenvierteln stimmten bis zu 80 % für Chávez und damit für das Voranschreiten des „bolivarianischen Prozesses“. n
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12. Oktober. Tag des indigenen Widerstands – Tag, an dem Kolumbus stürzte Im Rahmen des bolivarianischen Prozesses gibt es eine explizite Bezugnahme auf die Geschichte und die Kämpfe der Indigenas und der afro-venzolanischen Bevölkerung. Beispielsweise wird – anders als in Spanien und den meisten lateinamerikanischen Staaten – in Venezuela am 12. Oktober nicht die Ankunft von Kolumbus in Amerika gefeiert. Die Regierung Chávez änderte am 12. Oktober 2002 den Namen von „Tag der Entdeckung Amerikas“ zu „Tag des indigenen Widerstands“. Ein Jahr später wurde die Misión
Guaicaipuro ins Leben gerufen, die die verfassungsmäßigen Rechte der indigenen Bevölkerung Venezuelas garantieren soll. Der Kazike Guaicaipuro, Anführer der Teques- und Caracas Indígenas, leistete Mitte des 16. Jahrhunderts erbitterten Widerstand gegen die spanischen Eroberer. Er wurde letztendlich von spanischen Soldaten in einen Hinterhalt gelockt und getötet. Schon 2001 wurden die sterblichen Überreste Guaicaipuros symbolisch in den National-Pantheon in Caracas überführt, in dem auch Simón Bolívar und die anderen Unabhängigkeitshelden Venezuelas bestattet sind. Während am 12. Oktober 2004 Präsident Chávez die Feier-
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Photo und untenstehende Erklärung aus: pr.indymedia.org
lichkeiten mit einem Besuch im National-Pantheon eröffnete, stürzten einige Hundert Aktivistinnen und Aktivisten aus Basisbewegungen die Statue von Kolumbus an der Plaza Venezuela in Caracas. Anschließend wurde der Gestürzte zum Teatro Teresa Carreño gezogen, in dem die zentrale Veranstaltung der bolivarianischen Regierung stattfand. Dort angekommen wurde die Menge jedoch von der städtischen Polizei angegriffen und die Statue sichergestellt. Drei Aktivisten wurden festgenommen und in Untersuchungshaft überstellt. In Folge entzündete sich eine heftige Debatte in den alternativen Medien Venezuelas über die Legitimität der Aktion. Während u.a. Präsident Chávez am darauffolgenden Sonntag in seiner Sendung Aló Presidente die Festnahmen rechtfertigte und die Aktion verurteilte, fordern Basisorganisationen die Freilassung der inhaftierten drei Aktivisten oder ein Kollektivverfahren gegen alle Beteiligten.
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„Wir antworten auf die Anschuldigungen des Vandalismus, von wem auch immer sie kommen, indem wir sie völlig zurückweisen, und wir sind absolut stolz auf das, was wir getan haben. Wir haben letztendlich – in der einzigen Art wie es solche Ikonen verdienen – eines der stärksten und repräsentativsten Symbole zerstört, das für die Ausübung von Genozid, Ausbeutung, Unmenschlichkeit und den echten Vandalismus aller Imperialismen steht, die diesen Planeten mit Elend überzogen haben. In diesem Fall ist es die Eroberung und die Vernichtung von 70 Millionen Menschenleben, der UreinwohnerInnen des Kontinents Abya Yala und der Tod von mehr als 30 Millionen AfrikanerInnen, die als SklavInnen hergebracht wurden, seit dem Tag als der „Nationalheld“ Spaniens seine Füße auf diesen Boden setzte.“ (aus der Erklärung: „Wir sind alle verantwortlich ...“, unterzeichnet von über 200 Aktivistinnen und Aktivisten linker Basisorganisationen)
Barrios & Basis
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Soweit das Auge reicht. Die Barrios von Caracas Caracas liegt eingezwängt in einem Tal. Die langgezogene und sehr schmale Stadt wird an beiden Rändern durch Hügel und Berge begrenzt. In dieser geografischen Enge entfaltet die Innenstadt der Multi-Millionen-Metropole ihren widerspruchsvollen Charakter. Er besteht aus einem Meer von Hochhäusern, die ihre besten Zeiten längst hinter sich haben und durch ihren Zustand von gescheiterten Entwicklungsträumen erzählen. Der ständige Verkehrskollaps auf den Straßen macht das Bild komplett. Die Suche nach Grünflächen oder Plätzen mit Naherholungswert, schönen Gässchen oder netten Straßencafés gestaltet sich schwierig. Fußgänger müssen sich in der Innenstadt die Gehwege mit dem sogenannten „informellen Sektor“ teilen, also mit Straßenhändlern und -händlerinnen, die Waren des täglichen Bedarfs anbieten. Schon vor Jahrzehnten haben die besser Betuchten die Innenstadt verlassen, sie residieren nun in den reichen Vierteln außerhalb des lärmenden, stinkenden und engen Betonmolochs. Doch die Mehrheit der Menschen in Caracas wohnt nicht in diesen Vierteln, sondern in den Barrios, die sich aufgrund der Topographie die steilen Hügel und Berge hinaufziehen, soweit das Auge reicht.
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Im Spanischen heißt Barrio Viertel, in Venezuela aber wird Barrio umgangssprachlich für Armenviertel benutzt. Dies sind wild entstandene Siedlungen aus meist einstöckigen, einfach gemauerten und wellblechgedeckten Ranchos (Häuser in Barrios), meist ohne entwickelte Infrastruktur. Innerhalb dieser Viertel gibt es noch einmal kleinere Einheiten, die ebenfalls als Barrio bezeichnet werden. Was gemeint ist, hängt vom Kontext ab. Teilweise sind die Barrios in ihrer Struktur bereits 30 oder 40 Jahre alt – ein Produkt der Landflucht oder dem Zuzug aus anderen Städten Venezuelas in den vergangenen Jahrzehnten. Heute prägen sie das Stadtbild der Metropole Caracas, in der rund ein Drittel der Bevölkerung des Landes lebt. Meer aus Ranchos Im 23 de Enero, eines der größten und seiner kämpferischen Tradition wegen bekanntesten Barrios, ragen 20-stöckige Wohnblocks aus den 60er Jahren empor und es fällt die komplette Erschließung durch Straßen auf. Abgesehen von den vielen politischen Wandbildern erscheint es den in Europa bekannten Sozialwohnungssiedlungen durchaus ähnlich. Trotzdem bilden die Blocks in den meisten Fällen die
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Ausnahme und wirken oft recht verloren in dem Meer aus Ranchos, so als gehörten sie dort gar nicht hin. Die Viertel, die an den Bergen kleben, wo es keine Straßen gibt, sondern nur meist unbefestigte Gässchen, ohne Anschluss an ein öffentliches Wasser- und Abwassernetz, ohne Müllabfuhr und mit einer prekären Stromversorgung, bilden die Realität vieler Menschen. Die Rede ist von Stadtvierteln, die nur ansatzweise in Stadtplänen verzeichnet sind, von denen niemand genau weiß, wie viele Menschen in ihnen leben. Ein anderes, durch die Armut bedingtes Problem vieler Barrios, ist die Gewalt, die oft im Zusammenhang mit Drogen auftritt. Drogenhandel ist ein sehr wesentlicher Faktor in der Ökonomie der Barrios, 30 Morde an einem Wochenende sind in Caracas durchaus nichts Ungewöhnliches. Wandbilder und Parolen Andererseits blicken manche Barrios auch auf eine von sozialen und politischen Kämpfen geprägte Geschichte zurück. Und gerade jetzt sind viele Barrios stark politisiert, was sich allein optisch durch Wandbilder, Plakate und gesprühte Parolen ausdrückt. Die Leute organisieren sich in Basisinitiativen, sie treten für ihre Interessen ein und es konnten auch erste Erfolge erzielt werden. Augenfällig wird dies z.B. bei der Misión Barrio Adentro oder bei der Misión Robinson, die beide davon leben, dass die Betroffenen an der Ausführung auf regionaler Ebene beteiligt sind und nicht ein-
fach ein Programm vorgesetzt bekommen.1 Hier baut die Regierung auf bereits bestehende Prozesse der Selbstorganisierung auf. Trotzdem sind die Basisinitiativen politisch selbstständig und nicht bloße Ausführungsorgane von Regierungsprogrammen, wie es in der bürgerlichen Presse – in Venezuela wie in der BRD – häufig dargestellt wird. Politischer Faktor Gewachsen durch diese Prozesse bildet die marginalisierte Bevölkerung der Barrios heute eine starke politische Macht, an der absehbar nicht mehr ohne weiteres vorbeizukommen sein wird. So waren es auch in der Hauptsache die Menschen aus den Armenvierteln, die im April 2002 die Putschisten verjagten und den Weg frei machten für eine Fortsetzung der Regierung Chávez. Auch beim Referendum im August 2004 zur Abwahl des Präsidenten war der entscheidende Faktor für das Scheitern der Opposition die Mobilisierung in den Barrios. Natürlich laufen diese Entwicklungen nicht widerspruchsfrei. Es ist aber ein deutlicher Wind in Richtung Emanzipation spürbar. Und die Forderungen schonen auch die Regierung nicht, in deren Reihen sich Arroganz der Macht und Korruption breitzumachen scheinen. Noch steht die Unterstützung weiter Teile der Bevölkerung für die Regierung nicht ernsthaft zur Debatte, aber das ist keine sichere Bank. Die Bewegung für politische und ökonomische Teilhabe ist allgegenwärtig. n
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1 Zu den Misiones siehe das folgende Kapitel „Misiones & Soziales“
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Ich halte nichts von politischen Parteien. Interview mit Adriana Scovino
Adriana Scovino Promotora cultural im Casa Cultural, Calle 13 im Barrio El Valle, Caracas
1 Sozialarbeiterin, „Kulturkoordinatorin“, wobei der Begriff Kultur auch soziales und politisches Arbeiten beinhaltet 2 A. Scovino verwendet den Begriff „El Valle“ in mehrfacher Hinsicht: für den Teil in dem sie arbeitet und für den gesamten Bezirk
Du arbeitest im Centro Cultural im Barrio El Valle. Wie würdest Du Deine Arbeit beschreiben? Zuerst einmal bin ich Promotora cultural1 und ich arbeite seit 18 Jahren in der Comunidad El Valle2. Hier leben knapp 500 Familien, die durchschnittlich aus fünf Personen bestehen, also etwa 2.500 Menschen. Ich gebe hier Kurse und mache Fort- und Weiterbildungen für die Comunidad. Als ich dort anfing gab es schon eine Kulturgruppe, der ich mich anschloss. Ich stamme nicht aus einem Barrio und kannte die Arbeit dort gar nicht. Ich kam aus einem Prozess der Kulturarbeit, der auf nationaler Ebene in Seminaren stattfand. Aber ich fand es sehr schön und interessant, die Dinge, die ich bisher nur theoretisch unterrichtete, in der Praxis auszuprobieren. Zum Beispiel sprachen wir in den Workshops auf nationaler Ebene viel über kulturelle Untersuchungen, Planungen und Organisierung, analysierten alles detailliert und bei der Arbeit im Barrio konnte ich dann die Sachen, die ich bisher nur erklärt hatte, umsetzen. Ich bin auf eine Gruppe gestoßen, die eine stark lokal bezogene Arbeit machte – mit viel Kreativität und Kontinuität. Ich unterstütze dabei die Sichtweise, die über das
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Barrio hinausgeht und bringe konkrete Methoden, „kulturelle Werkzeuge“ und künstlerische Aspekte mit ein, nicht im Sinne von hoher Kunst, sondern in Form von Kommunikation. Das ist nicht zufällig. Ein wichtiger Aspekt der Arbeit ist, einen kulturellen Ausdruck der Comunidad zu finden, in Form von Stadtteilzeitungen, Comics, Plakaten, Wandzeitungen, Theater, Malkursen, also verschiedene Formen der Kommunikation, in die ich mich einbringe. Seit 18 Jahren mache ich nun ungefähr die gleiche Art der Arbeit, auch in den letzten fünf Jahren hat sich nicht viel verändert, zumindest was meine Arbeit im Barrio betrifft, nur einige Ziele und Aktivitäten haben sich geändert. Formal sind wir im Centro Cultural im Augenblick sechs Personen, aber gewöhnlich beteiligen sich ungefähr 15 Personen und im Gesundheitskomitee sind es auch etwa 15. Die alltägliche Arbeit im Barrio Was waren denn bisher die Schwerpunkte Deiner Arbeit? Zwei wichtige Elemente meiner Arbeit waren bislang: Die Förderung des Lesens und der Aufbau des Centro Cultural mit der Comu-
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nidad. Eine wichtige Zusammenarbeit gab es mit der banco del libro (Bücherbank) hier, einer Pionierinstitution bei der Verbreitung des Lesens. Wir haben auch viel mit Kindern und ihren Müttern gearbeitet, um sie mit Büchern und Literatur zu versorgen. Als ich hierherkam, war dieses Zentrum eine kleine Hütte, so wie die in denen die Leute leben, ein rancho3 aus Holz kurz vor dem Zusammenbrechen, deswegen musste es auch neu aufgebaut werden. Eine enge Zusammenarbeit gab es dabei mit der Architekturfakultät der Universität, so ist auch das Zentrum entstanden. Weitere Elemente sind die Zusammenarbeit und der Austausch mit anderen kulturellen Gruppen auf kommunaler und Landesebene, d.h. ein Austausch mit anderen Gruppen im Bezirk El Valle, aber auch mit Gruppen aus Caracas und anderen Bundesstaaten des Landes. Dadurch ist unsere Arbeit im Barrio gekennzeichnet, wir arbeiten lokal, aber werden durch den regionalen und landesweiten Austausch gestärkt. Die Unterstützung ist die methodische Erfahrung, die wir dadurch in unserer Arbeit haben, die aus der Erfahrung der landesweiten Zusammenarbeit mit den verschiedenen Gruppen kommt und die Artikulation möglich macht. Ein weiterer wichtiger Ansatz in den vergangenen Jahren war die kulturelle Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, auch als politischer Entwicklungsansatz. Ein sehr dynamischer Bereich der Anforderungen
und Notwendigkeiten. In so einem Barrio fehlen einfach die Freizeitmöglichkeiten, Platz zum Herumlaufen, die muchachos wollen Basketball oder Volleyball spielen, alle möglichen Spiele, deswegen suchen wir auch immer nach Räumen und Orten, wo so etwas möglich ist. Viele unserer Projekte, bei denen wir versuchten Unterstützung zu bekommen, haben sich auf diese Art der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bezogen. In den letzten fünf Jahren haben wir dann versucht, neben den erwähnten allgemeinen Arbeiten, der Arbeit mit Kindern, der Verbreitung von Lektüre und dem Aufbau des Zentrums auch neue Räume zu schaffen durch konkrete Arbeiten wie den Bau von Treppen4. Wir haben nie ein festes Programm gehabt, wie etwa eine Institution. Das ist auch der Grund warum wir immer ein Problem hatten, Mittel zu bekommen, denn die Institutionen, die sie vergeben, verlangen, dass du ein festes, dauerhaftes Programm hast. Uns ist aber lieber, einen Plan zu machen, der sich daran orientiert, was als Problem in der Comunidad auftaucht. Die großen Probleme: Wasser, Müll, Gesundheit Was sind denn die dringlichsten Probleme im Barrio und welche Rolle spielt dabei das Centro Cultural? Das sind die Probleme der Versorgung mit öffentlichen Dienstleistungen. Dabei ist das Problem der Trinkwasserversorgung das wichtigste. Seit dem Jahr 2000 be-
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3 Venezolanische Bezeichnung für ein typisches Haus in einem Barrio 4 Das Barrio liegt an einem Hang, es gibt meist nur Pfade, die bei starkem Regen nur mit Mühe begehbar sind
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schäftigen wir uns mit dieser Problematik, diese Erfahrung der Untersuchung der Realität war sehr interessant. Die Bedürfnisse festzustellen war auch ein Auftrag (der Comunidad) an uns, wir sollten das übernehmen. Durch diese Untersuchung haben sich aber auch unsere Kontakte mit den NachbarBarrios verstärkt. Dabei haben wir auch versucht, die Kinder und Jugendlichen in diese Aktivität mit einem Lied über das Wasser einzubinden. Aber insgesamt war die Beschäftigung mit dieser Problematik so stark, dass wir dadurch auch weniger Zeit für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hatten. Ein weiteres Problem war und ist der Müll. Unten am Hang war eine große Müllhalde, wir haben den Müll aufgesammelt und die Halde ist jetzt verschwunden. Aber der Müll ist ein Dauerproblem, es ist nicht besonders sauber hier, überall liegt Müll herum, auch das Abwasser fließt immer wieder irgendwo herunter. Neben Wasser und Müll ist dann der Wohnraum der nächste wichtige Faktor, der auch dazu führte, dass die Regierung 2002 zwei Programme startete, die Programme Avispa und Reviva. Ich erinnere mich nicht mehr, wieso das Programm Avispa (Wespe) genannt wurde, es war ein Programm zum Abriss und Wiederaufbau von Häusern, Reviva (Neubelebung) dagegen ein Renovierungsprogramm. Eine Initiative der Nachbarn wollte dann, dass diese Programme auch im Viertel eingeführt werden. Sie baten das
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Centro Cultural um Unterstützung, da es nötig war, im ganzen Barrio eine Erhebung über die Wohnungssituation durchzuführen. Wir hatten vorher schon die Untersuchung über die Wasserproblematik gemacht, später zur Gesundheit, nun eine über die Wohnbedingungen. Wir haben eine Regierung der Untersuchungen und Erhebungen! Aber wir haben die Aufgabe mit der Comunidad übernommen und ungefähr 40 Leute haben sich daran beteiligt, von Haus zu Haus zu gehen und die Nachbarn zu befragen. Die meisten haben so etwas zum ersten Mal gemacht, eigentlich machen die Leute das nicht gerne, bei den Nachbarn anzuklopfen und Fragen zu stellen. Wir hatten schon gewisse Befürchtungen und waren zurückhaltend, denn alle Programme der Regierung kommen immer sehr schnell und inzwischen wissen wir, dass es nicht immer gut ist, wenn alles so schnell geht, denn alle schreien dann nur: „Ich möchte es auch haben!“ ... Und dann kam ein Modell, eine Art Pilotprojekt wurde vorgestellt, ein paar Häuser wurden hergerichtet, hübsch gestrichen. Aber wir wussten, dass nach dieser Präsentation noch eine große organisatorische Anstrengung für die Comunidad bevorstand, dass alles nicht so einfach ist, wie es scheint. Wir wussten das auch aus den Erfahrungen, die wir mit der Wasserthematik gemacht hatten. Auch wenn es eine lebenswichtige Sache ist, war es nicht einfach, die Nachbarn mit einzubeziehen, z.B. in die Wartungsarbeiten wie das Reparieren von Leitungen.
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Als bei der Erhebung 2002 dann herauskam, wie die Bedingungen sind, was getan werden muss, um die Wohnungen zu reparieren, ist der Mut der Leute schnell gesunken. Aber dann ist er auch schnell wieder gestiegen, als die Misión Barrio Adentro (ins Barrio hinein)5 kam. Die Anwesenheit der cubanischen Ärzte ist etwas sehr Konkretes, ein Arzt in der Comunidad. Durch dieses Gesundheitsprogramm wurde auch erreicht, dass sich zwei Gesundheitskomitees gebildet haben. Seit eineinhalb Jahren existieren diese Komitees nun und das Centro Cultural ist durch einige Mitglieder am Komitee Calle 13 beteiligt. Das ist unsere Arbeit im Augenblick. Wir glauben, dass wir neue Räume geöffnet haben: Zum Einen durch die Arbeit mit dem Wasserprojekt, durch die Arbeit in den Gesundheitskomitees und zum Anderen dadurch, dass wir durch regelmäßige, systematische Treffen – seit vier Jahren mit dem Wasserprojekt und seit eineinhalb Jahren mit dem Gesundheitsthema – eine Orientierung geben konnten. Diese Treffen gehen auch über die Nachbarschaft hinaus, es gibt Treffen mit anderen Comunidades aus dem Bezirk El Valle, dort wo es ebenfalls solche Gruppen gibt. Das Wohnungsprojekt dagegen hatte keinen Erfolg, es wäre eine riesige organisatorische Anstrengung nötig gewesen. Beide Programme, Avispa und Reviva, waren ein ziemlicher Misserfolg für die Regierung, und das nicht nur hier, sondern in vielen Barrios.
Sind bei der Planung der Misiones Strukturen wie das Centro Cultural oder andere Gruppen aus dem Barrio miteinbezogen, oder werden sie angekündigt und sind dann einfach da, werden wie Fallschirme aus einem Flugzeug abgeworfen? Die Regierung strukturiert alle Programme der Misiones. Sie sind nicht zusammen mit den Leuten entworfen, obwohl sie natürlich eine Antwort auf die Bedürfnisse der Leute sind und akzeptiert werden. Es sind umfangreiche Pakete, die die Regierung versucht umzusetzen, sobald sie beschlossen sind. Wie ihr wisst, beteiligen wir uns auf nationaler Ebene an einem Kollektiv das sich Churuata nennt, ein
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Überblick über einen (kleinen) Teil des Stadtteils El Valle in Caracas
5 Zu den Misiones siehe Kapitel „Misiones & Soziales“
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wissenschaftliches Kollektiv, und eine der Analysen ergab, dass eine erzwungene Planung meist einen Fehlschlag produziert. Wir sehen diese Gefahr, wenn keine Zeit ist, das Volk zur Partizipation zu erziehen. Wenn die Programme einfach so aus der Luft kommen, sind sie zum Scheitern verurteilt. Wenn die Programme so schnell eingeführt werden, dann entstehen sofort enorme organisatorische Anforderungen, es kommt ein Gesundheitsprogramm und damit die Organisierung, gleich darauf ein Wohnungsprogramm usw.
6 Auf Initiative der Regierung vor dem Referendum am 15. August 2004 gebildete Gruppen, die in den Barrios die Bedeutung des Referendums erklärten und natürlich Wahlkampf für Chávez machten 7 El Proceso: In Venezuela die Bezeichnung für die „bolivarianische Revolution“ seit der Wahl von Chávez zum Präsidenten 1998
Gibt es politische Organisationen, die im Barrio aktiv sind? Beteiligen sie sich an den Aktivitäten des Centro Cultural? Gab es einen Austausch, z.B. zwischen den Patrouillen6 und dem Centro Cultural vor dem Referendum? Im Barrio gibt es keine politischen Organisationen. Seit Jahren ist es so. Es gab einzelne Aktivisten aus rechten Parteien, aber ohne politische Struktur. Die Patrouillen setzten sich aus Leuten zusammen, die weder Erfahrung in politischer noch in Stadtteilarbeit hatten. Aber es war sehr schön zu sehen, dass diese Leute, die ja überhaupt keine Erfahrung hatten, auch sehr diszipliniert sein können. Es war ein interessantes Ereignis von Organisierung – nennen wir sie politisch –, denn wir haben nichts konkretes an den Häusern gemacht oder Essen verteilt. Es war ein politisches Ereignis, es ging um die Verteidigung des Präsidenten.
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Ist es möglich zu sagen, dass der Prozess7 der Grund für diese größere Aktivität ist? Ja, viele neue Leute beteiligen sich hier an diesen neuen Wahlprozessen und an den neuen sozialen Programmen, viele Leute gehen zu Kursen der Misión Robinson und Ribas, auch zu Vuelvan Caras-Projekten oder zu Kursen bei einem Institut, das technisch-handwerkliche Ausbildungen anbietet. Gibt es allgemein das Problem, dass politische Gruppen versuchen, die sozialen Räume bei den Programmen für sich zu besetzen? Bei allen Sozialprogrammen versuchen politische Parteien, sie zu kontrollieren. Das ist ein Problem. Die Koordinationsstellen werden durch Aktivisten aus den Parteien besetzt. Das ist eine sehr direkte Art, Einfluss zu nehmen. Die indirekte Art ist, dass sie diejenigen, die von den Programmen profitieren, versuchen zu überreden, in die Partei einzutreten. Das ist alles etwas schwierig. Ich halte nichts von politischen Parteien. Gewalt und Drogen: Los Malandros Wie gehen die Comunidad und das Centro Cultural mit dem Problem der Gewalt und dem Drogenhandel im Barrio um? Die Leute leben täglich mit der Gewalt und den Drogen und machen meist die Augen zu. Die Jugendlichen stammen ja aus den Familien hier, deswegen werden sie auch nicht angegangen. Jede Familie will
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ihre Kinder beschützen, oft lassen sie sie nicht weggehen, um sie dadurch zu beschützen. Die Leute haben Kritik, aber keine Mittel, etwas gegen diese Probleme zu unternehmen. Dabei spielt dann auch das Centro Cultural eine wichtige Rolle, mit Informations- und Freizeitangeboten für Kinder und Jugendliche auch über das Barrio hinaus. Wir machen aber z.B. keine Drogenpräventionsworkshops, damit sich die, die Drogen konsumieren oder verkaufen, nicht angegriffen fühlen. Wir wollen ihnen eher ein positives Angebot machen, wir bieten Freizeit- oder kulturelle Aktivitäten an. Welche Drogen werden denn konsumiert? Marihuana, el bazuko, la piedra (Crack) und verschiedene Kokainderivate, die mit anderen Substanzen gemischt sind und viel, viel billiger als Kokain sind. Aber im Augenblick wird am meisten piedra konsumiert – und Marihuana. Ich glaube bazuko ist ähnlich wie Crack, nur nicht so stark. Und auch der Konsum von Schnaps ist ziemlich hoch. Was aber – glaube ich – mehr Schaden anrichtet, ist das Nichtstun. Sie verlassen die Schule und flüchten sich ins Barrio und dort ist nichts zu tun. Sie hängen herum, spielen mit Pistolen und die einzigen Aktivitäten sind irgendwelche Auseinandersetzungen mit Banden aus benachbarten Barrios. Das ist auch eine Kultur. Aber wir werden von ihnen respektiert und manchmal kommen sie auch, um Zuspruch, Verständnis
zu bekommen. Aber das hier ist noch ein Barrio mit einem sehr niedrigen Gewaltniveau. Ihr habt die Salsagruppe gesehen, viele davon sind alte Gangster (los malandros). Sie sind alt geworden, aber die meisten Gangster sterben früh. Natürlich ändern viele, wenn sie ein gewis-
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Straßenbild in El Valle, Caracas
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ses Alter haben, ihre Einstellung, bedrohen dann nicht mehr jeden gleich mit dem Tod, der ihnen blöd kommt und lassen das ganze „ich bin der Tollste-Gehabe“. Der Chef der Gang hier ist 25 Jahre alt, er kam zu uns und erzählte, er möchte aufhören, er hatte es satt, die ganze Zeit um sein Leben fürchten zu müssen und bat uns um Hilfe bei der Suche nach Arbeit. Er war dann ganz glücklich, dass er für Chávez stimmen konnte, denn das bedeutete, dass er nicht im Polizeiregister ist. Er dachte, dass die Polizei alles über ihn wisse. Die Polizei hat ihn tatsächlich auch schon gesucht, entweder um ihn umzubringen oder einzusperren. Das ist die Praxis der Polizei hier, die Gangster einfach umzubringen. Häufig bringen sich die Gangster aber gegenseitig um. Solche Morde Rancho in El Valle mit Wandbild gegen das Oppositionsreferendum
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kommen häufig vor und sind natürlich furchtbar, aber immer noch besser, als die Polizei zu rufen. Wir wollen die Polizei hier nicht haben. Die Gangster kennen wir von klein auf, mit all‘ ihren Problemen, ihrer Entwicklung und deshalb wollen wir sie nicht der Polizei ausliefern. Arbeitslosigkeit, „Tiger töten“ und Volksküchen Wie hoch ist die Arbeitslosigkeit im Barrio und was arbeiten die, die Arbeit haben? Die Arbeitslosigkeit ist ziemlich hoch. Es gibt hier diejenigen Leute, die nur sehr schwer überhaupt Arbeit finden und es gibt andere die zeitlich begrenzte Jobs haben. Hier sagen sie dazu „Tiger töten“. Einen Tiger zu töten kann einen Monat, eine Woche oder nur einen Tag dauern.
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In welchen Bereichen arbeiten die Leute? Im eigenen Viertel sind das Bauarbeiten an Häusern, Trägerarbeiten, z.B. jemand hat Baumaterial gekauft und bezahlt nun dafür, dass die Sachen hochgetragen werden oder auch Umzüge, Müllentsorgung. Das ist praktisch alles. Eine andere Arbeitsquelle im eigenen Viertel sind Miniläden in den Häusern, wobei Bier, Kaugummi, Kekse und Süßigkeiten verkauft werden, hier sagen sie Chichería8 dazu. Dann gibt es noch den Verkauf von Gasflaschen und die Kriminellen verkaufen Drogen. Außerhalb des Viertels arbeiten die Leute auf dem Großmarkt, im Mercado Mayor del Coche. Dort ist der wichtigste Markt von Caracas, es ist nicht sehr weit, Coche ist der Nachbarbezirk. Viele aus El Valle arbeiten dort als Träger (z.B. Verladen von Obst- und Gemüsekisten) und Hilfsarbeiter. Eine weitere wichtige Arbeitsquelle in dieser Gegend ist ein Müllsammelunternehmen. Sind das nicht alles Männerarbeiten, was arbeiten denn die Frauen? Nein, was das Müllsammeln betrifft nicht, da gibt es Straßenkehrer und Straßenkehrerinnen, Männer und Frauen, ebenso bei der Müllabfuhr. Dann arbeiten noch einige, auch im Bezirk Coche, in einem Privatunternehmen namens Osbuca und auch im Krankenhaus in Coche. Dann gibt es auch noch Leute, die als Hausangestellte arbeiten oder im formellen oder informel-
len Handelssektor, einige ganz wenige als Angestellte in Büros oder Banken. Dann arbeiten welche im Transportwesen als Fahrer, in Kooperativen von hier oder auch als angestellte Busfahrer. Ein anderer Arbeitsbereich ist noch der Staat. Gibt es eigentlich eine staatliche Unterstützung für Arbeitslose? Es gibt ein Gesetz, nach dem müssen alle, die Arbeit haben einen bestimmten Prozentsatz ihres Lohns abgeben, es heißt Paro Forzoso9. Aber für diejenigen, die arbeitslos sind und es bleiben, gibt es nichts. Es ist eine Art persönliche Prävention und die ohne Arbeit haben natürlich keinerlei Prävention. Für die Arbeitslosen und Armen gibt es nur die Solidarität der Familie – und die „Tiger“. Reale materielle Verbesserungen Hat der Prozess in den letzten Jahren eine reale materielle Verbesserung für die Bevölkerung im Barrio zur Folge gehabt? Wenigstens einen Arzt im Viertel zu haben, ist eine reale, sehr konkrete Verbesserung, denn die Krankenhäuser hier sind überfüllt und haben gar nicht die Kapazitäten, so viele Menschen zu behandeln. Und hier auf dem Hügel zu wohnen, heißt auch immer erst runterzugehen, den Bus zu nehmen, bis zu einem Krankenhaus zu fahren. Das gleiche gilt für den Bildungsbereich, das Lernen wiederaufnehmen zu können, Lesen und Schreiben lernen zu können.
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8 Chichería: Südamerikanische Bezeichnung für kleine Läden oder Bierkneipen in armen Stadtteilen (überwiegend in den Andenstaaten verwendet). Abgeleitet von la chicha: Maisbier 9 Paro Forzoso nennt sich die zeitlich begrenzte Arbeitslosenunterstützung in Venezuela. Für 18 Wochen werden 60 % des durchschnittlichen sozialversicherungspflichtigen Lohns der letzten 50 Wochen gezahlt. Die Zeit verlängert sich auf 26 Wochen, wenn Fort- und Weiterbildungskurse besucht werden. (www.ivss. gov.ve/paro_ forzoso)
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Die Mehrheit der Kinder im Barrio geht zur Schule. Die Regierung hat die Einschreibegebühren in den Schulen abgeschafft, die es vorher gab und die Unterstützung für die Kinder in den Schulen erhöht. Und obwohl das Wohnungsprogramm insgesamt kein Erfolg war, haben einige Leute neue Häuser. Die Regierung hat viel neuen Wohnraum geschaffen, ein Teil davon wurde auch sehr schnell nach der großen Tragödie der Überschwemmungen von 1999 für die Betroffenen gebaut. Auch die Mercales (subventionierter, alternativer Lebensmittelverkauf) sind eine konkrete Verbesserung, weil die Nahrungsmittel dort viel billiger sind. Es gibt auch ein neues Programm, Teil von Barrio Adentro, das sind die Casas de la alimentación (Volksküchen), dort ist das Essen umsonst. Es ist so, dass es in einigen Barrios gut funktioniert und in anderen gar nicht. Die Volksküchen werden von den Ärzten zusammen mit den Gesundheitskomitees organisiert und die Leute, die kochen, werden für diese Arbeit nicht bezahlt, sie bekommen Unterstützung für die Teilnahme an den Bildungsprogrammen. Deswegen ist es nicht einfach Freiwillige zu finden, die bereit sind, jeden Tag zu kochen. Bei uns im Barrio funktioniert die Volksküche nicht besonders gut, weil die Politik der Bezirksregierung (gobierno parroquial) darin verwoben ist, Einfluss nimmt aus Eitelkeit und wahltaktischen Gründen. Die Personen, die im Barrio dann die
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Verantwortung dafür übernommen haben, machen es nicht besonders gut, sie sind nicht gut vorbereitet darauf, sie sind schlecht organisiert, sie wollen das übernehmen, aber es ist nur Opportunismus. Sie arbeiten schlecht, das Essen ist sehr schlecht und die Leute kritisieren das. Jedenfalls glaube ich, dass man bei all diesen Dingen vorsichtig sein muss. Essen zu verschenken ist auch gefährlich, weil hier in diesem Land schon immer viel über Geschenke funktioniert hat: Korruption, Erleichterungen, ohne Mühe etwas zu bekommen. Das hat auch mit der Situation zu tun, in einem Erdölland zu leben. Es hieß immer, es gibt Geld für Alle, der Staat verteilte Geschenke. Aber das ist natürlich nur die eine Seite. Für die Armen dagegen war es immer mühevoll zu überleben. Sind die Löhne in den letzten Jahren gestiegen? Ja, im Allgemeinen haben sie sich etwas gebessert, zumindest für die staatlichen Lehrer, die jetzt überhaupt ihren Lohn bekommen und dass die geschuldeten Löhne nachgezahlt werden. Die alten Regierungen ließen die Lehrer ein Jahr oder länger auf ihr Geld warten. Auch die Renten wurden erhöht. Die Löhne der öffentlichen Angestellten bei den Kommunen, in den Ministerien, bei der gesamten Bürokratie dagegen sind kaum gestiegen. Auch zahlen alle Misiones den Teilnehmern eine Unterstützung, ein Stipendium. n
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Aufbruchstimmung im besetzten Kino. Das „Alameda“ in San Agustín Caracas, 8. September 2004 – Die schmale Fußgängerbrücke führt über die achtspurige Stadtautobahn Francisco Fajardo und einen kanalisierten Fluss in das Barrio San Agustín. Hinter uns liegt das Durcheinander der Innenstadt von Caracas und der modernistische Monumentalkomplex des Parque Central. Eine Betonburg, die Ende der 1970er Jahre angeblich genau an dieser Stelle errichtet wurde, um den Ausblick aus der Innenstadt auf das überwiegend von Afro-Venezolanerinnen und Afro-Venezolanern bewohnte Armenviertel San Agustín zu versperren. Auf der anderen Seite der Brücke stehen eingezwängt zwischen Stadtautobahn und einem steilen Hang einige schmale, vielleicht 20stöckige Mietshäuser, das Barrio Hornos de Cal. Parallel zu Fluss und Stadtautobahn führt eine noch asphaltierte Straße in den Sektor Marín, Teil des Barrios San Agustín del Sur. Linkerhand ziehen sich nun überwiegend unverputzte kleine Ziegelhäuser den Hang hinauf, sogenannte ranchos. Ein für Caracas typischer Anblick. Unzählige Barrios wuchsen in den letzten Jahrzehnten die Hügel und Berghänge rund um die in einem relativ schmalen Tal gelegene Stadt hinauf.
San Agustín gilt als sehr arm; Kriminalität, Drogen und Gewalt, das sind nicht nur Klischees. Etliche selbstorganisierte Initiativen im Stadtteil, wie etwa die Coordinadora „¡La calle es de los niños! (Koordination: Die Straße gehört den Kindern) arbeiten deswegen seit vielen Jahren mit Kindern und Jugendlichen im Sinne einer Gewaltprävention und organisieren mit sehr begrenzten Mitteln unter anderem Fotografieworkshops oder Ferienfahrten. Dies sind aber nicht die einzigen Organisierungen von unten. Am 13. April 2004 entschieden die BewohnerInnen von San Agustín del Sur in einer Stadtteilversammlung, ein ehemaliges Kino für die Zwecke ihrer Comunidad zu besetzen. Das große Gebäude am Fuße des Viertels stammt aus der Zeit der Diktatur von Marcos Pérez Jiménez (1948-1958), wurde zu Beginn als Theater-Varieté genutzt und anschließend zum Kino umgebaut. Ende der 1970er Jahre schloss auch das Kino und seitdem war das Teatro Alameda Lager für alte Filmrollen und Reparaturwerkstatt für Kinosessel. Das Gebäude verfiel zusehends und in den letzten vier Jahren passierte dort gar nichts mehr. Da der Platz in San Agustín für so-
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1 Bekannte lateinamerikanische Künstlerinnen und Künstler der 1940er und 1950er Jahre 2 Räumungen sind in Caracas bei Besetzungen dieser Art nicht zu befürchten. Im Gegenteil sind sie eher Vorzeigeprojekte, gewünschte Selbstorganisierung. 3 Zu den Misiones siehe das Kapitel „Misiones & Soziales“
ziale Aktivitäten äußerst begrenzt ist, wurde nun das baufällige Kino in eine Casa Cultural umgewandelt. „In diesem Theater traten zu seiner Zeit Catinflas, Benny Moré, Sonia López und Pedro Infante auf1. Der Eintritt kostete einen Bolívar und es gehörte zu den drei angesehensten Theatern des Landes. Mit der Zeit verfiel alles, bis die Comunidad beschloss, sich das Theater wieder anzueignen,“2 berichtet Victor Sequeira, der Coordinador de la Casa Cultural San Agustín del Sur. Anschließend führt er durch das mehrstöckige Haus und erläutert die verschiedenen Initiativen und Nutzungspläne. Bisher ist eigentlich nur das Erdgeschoss wirklich in Gebrauch. Stadtteilversammlungen finden hier statt und ein begrenztes Angebot kann organisiert werden, wie etwa ein Programm für Kinder jeden Sonntag und unregelmäßig Kulturveranstaltungen.
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In einer kleinen, frisch gestrichenen Halle im Eingangsbereich hängen Schwarz-Weiß-Fotografien aus den Straßen von San Agustín, ein Nachbarraum wird als Büro der verschiedenen Misiones3 genutzt. In einem Regal stapeln sich die Lernvideos der Alphabetisierungskampagne Misión Robinson, von hier werden sie an andere Ausbildungsorte im Barrio verteilt und es wird auch unterrichtet. Ein von der Regierung bezahlter Lehrer koordiniert zusammen mit Leuten des Zentrums die Anmeldungen und Einschreibungen und versucht im Viertel Leute für die Teilnahme an den Bildungskampagnen zu gewinnen. Er erzählt von der großen Skepsis auf die die mehrstufigen, auf jeweils ein bis zwei Jahre angelegten Misiones anfangs gestoßen sind. Inzwischen melden sich aber immer noch Leute für den ersten Kurs an, eigentlich schon zu spät, da die Bildungskampagne ursprünglich nicht als dauerhafte Alternative zum staatlichen Bil-
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dungssystem gedacht war. Auch die Misión Identidad hat in dem kleinen Büro ihren Schreibtisch. Hier können sich Menschen, die bisher offiziell nicht existiert haben, registrieren lassen und auch Ausweise werden ausgegeben. Bis vor einigen Jahren lebten schätzungsweise bis zu fünf Millionen VenezolanerInnen ohne irgendwelche Papiere. Noch hat sich nicht viel Substanzielles verändert, immer noch prägt Hunger und Arbeitslosigkeit das Viertel, erklärt der Lehrer zum Abschluss. Aber die Leute treffen sich, tauschen sich aus, entfalten Aktivitäten, wollen Dinge verändern und wollen vor allem nicht zurück in die Vergangenheit. Er spricht von Hoffnung und vom Klassenkampf. Hinter einem Vorhang befindet sich ein großer Raum mit Plastikstühlen für Filmvorführungen, die Sala Carlos Orta, benannt nach dem dieses Jahr verstorbenen berühmten Tänzer und Choreographen, der in diesem Viertel geboren wurde. Der rechteckige Nachbarraum mit hoch gelegenen kleinen Fenstern heißt Salón Madera, es sollen noch Spiegel eingebaut und Parkett verlegt werden, ein zukünftiger Ballettund Tanzübungsraum. Der Name des Salons ist eine Hommage an die legendäre Grupo Madera, deren Mitglieder aus San Agustín del Sur stammten und am 15. August 1980 bei einem tragischen Bootsunfall im Rio Orinoco im Süden Venezuelas ertranken. Auch der 1986 bei einem Autounfall gestorbene hoch geschätzte venezolanische kommunistische Liedermacher Ali Primera
widmete der Gruppe ein Lied, erklärt Victor. Im letzten schon renovierten Raum im Erdgeschoss, in dem in den Nationalfarben gestrichenen Salón Bandera (Fahnensaal) läuft ein Fernseher, an einem kleinen Kiosk werden Süßigkeiten und Getränke verkauft. Im ersten Stock sollen nach der Renovierung verschiedene Misiones ihre Büros erhalten. Ein kommunales Radio ist geplant, ein Informationszentrum mit Fernsehern, Video und Internetzugang, ein Übungsraum für Musikerinnen und Musiker und Behandlungsräume für
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Das besetzte Teatro Alameda
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die cubanischen ÄrztInnen, die bisher in einem kleinen Raum im Erdgeschoss praktizieren. Während wir zwischen Regalen, in denen noch die verstaubten Plüschsessel gestapelt sind, den alten Kinosaal durchqueren, erzählt Victor von der Nacht vor dem Referendum am 15. August. Um drei Uhr morgens sei schon das ganze Viertel auf den Beinen gewesen, um zum Abstimmen zu gehen. Alte und Kranke wurden zu den Wahllokalen gefahren. Er zeigt noch einen kleinen kahlen Raum, in dem eine unabhängige spanische Das Barrio San Agustín in Caracas
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Wahlbeobachterdelegation übernachtete. In San Agustín stimmten schließlich 61,04 % mit Nein und 38,96 % mit Ja, im Municipio Libertador, zu dem San Agustín gehört und das einen Großteil der Stadt Caracas einschließt, votierten 56,04 % mit Nein gegen die Amtsenthebung von Präsident Chávez und 43,96 % mit Ja für seinen Rücktritt. Dort, wo früher die Leinwand des Kinos war, ist inzwischen eine Wand gezogen, um mehr Platz für Projekte zu schaffen, wie etwa eine Schneiderei im Rahmen der Misión Vuelvan Caras. Auf dem Weg nach unten begegnet uns Cruz, ein ehemaliger Guerrillero, wie wir später erfahren, der uns im Vorbeigehen in Englisch zuruft: „Welcome to our revolution!“ und anschließend noch ergänzend hinzufügt: „Our revolution in the revolution.“, eine Anspielung auf die zur Zeit vor allem von Basisgruppen formulierte Forderung, den Prozess zu vertiefen, „die Revolution in der Revolution“ zu starten. Die Kinovergangenheit dagegen hat bei allen Plänen keine Chance gegen die Aufbruchsstimmung der Gegenwart. Das vorgefundene 35mm-Filmlager gibt es nicht mehr. Ein Haufen alter Filmplakate liegt noch herum. Victor wühlt etwas gelangweilt in ihm herum, zieht einige heraus und bietet sie als Erinnerung an. Bis auf die in Venezuela produzierten Filme, Kinderfilme und einige ausgewählte andere, wie „Malcolm X“ von Spike Lee, hätten sie alles weggeschmissen. n
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In sozialer Mission. Die Sozialprogramme der venezolanischen Regierung Waren die ersten Jahre der Regierung Chávez hauptsächlich von Veränderungen im politischen Bereich und durch die Diskussion einer neuen Verfassungsordnung geprägt, wird spätestens seit Beginn 2003 der Fokus auf strukturelle Änderungen in der Sozialpolitik gelegt. Vor allem die sogenannten Misiones spielen heute eine zentrale Rolle bei dem Versuch, auch der marginalisierten Bevölkerung soziale Grundrechte – wie Gesundheit, Bildung, Wohnung und Ernährung – zu garantieren. In die Barrios hinein Der größte Erfolg, der bislang erzielt wurde, war der Aufbau einer medizinischen Grundversorgung in vielen Orten, die bislang davon ausgeschlossen blieben. Im April 2003 startete auf Initiative von Freddy Bernal – Bürgermeisters von Libertador, dem Innenstadtbereich von Caracas – ein Pilotprojekt, in dessen Rahmen zunächst die medizinischen Bedingungen in den Barrios von Libertador evaluiert und erste Gesundheitskomitees gebildet wurden. Gleichzeitig wurden die ersten Ärztinnen und Ärzte für ihren Einsatz in den Vierteln vorbereitet. Das Konzept sah vor, dass diese in den
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Barrios leben und arbeiten sollten, um so eine umfassendere medizinische Betreuung, die auch sozioökonomische, kulturelle und ökologische Faktoren mit einbezieht, zu garantieren. Zu einem solchen Engagement waren nahezu keine Ärztinnen und Ärzte aus Venezuela bereit. Als Angehörige der höheren Gesellschaftsschichten hatten sie in der Regel weder etwas mit solchen Sozialprogrammen am Hut, noch würden sie auch nur einen Schritt in ein Armenviertel tun, das in ihrer Vorstellungswelt lediglich eine Ansammlung von Kriminellen darstellt. Entsprechend startete das Programm, das den Namen Barrio Adentro bekam, mit der Unterstützung von Fachkräften aus Cuba. Zusammen mit den Gesundheitskomitees, die sich aus Einwohnerinnen und Einwohnern der Viertel zusammen setzten, begannen sie mit dem Aufbau einer wohnortnahen Basisversorgung. Barrio Adentro wurde zum Erfolg. Schon bald gab es in anderen Regionen gleiche Projekte. Bereits Ende 2003 arbeiteten über 10.000 Ärztinnen und Ärzte – immer noch vornehmlich aus Cuba – in entsprechenden Einrichtungen. Jede und jeder von ihnen betreute durchschnittlich 250 Familien und ver-
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suchte, mit Sprechstunden, Gesundheitserziehung, Hausbesuchen und Beratung von lokalen Institutionen die medizinische Situation zu verbessern. Im Dezember 2003 wurden die einzelnen Programme in der Misión Barrio Adentro zusammen gefasst. Für die Koordinierung der einzelnen Aktivitäten ist seither eine Präsidential-Kommission verantwortlich, der neben dem Gesundheitsminister u.a. auch Freddy Bernal, der PDVSA-Chef Alí Rodríguez sowie der Stabschef der Streitkräfte angehört. Der staatliche Ölkonzern und das Militär sollen vor allem logistische Arbeit leisten. Seitens der Streitkräfte wurden beispielsweise in den ersten sechs Monaten der Misión über 1.300 Tonnen Medikamente und 1.000 Tonnen medizinisches Gerät verteilt – vieles davon in abgelegene Gebiete, die auch nur mit Spezialfahrzeugen erreichbar sind. 1 Dies ist auch nötig für die Realisierung der zweiten Phase der Misión, die gerade begonnen hat. Zur Zeit entstehen überall in den Barrios Gesundheitsposten, die geräumiger sind und bessere Diagnosemöglichkeiten bieten als die meisten Behandlungsräume, die bisher in den Barrios errichtet wurden. In einer dritten Phase soll schließlich ein flächendeckendes Netz von dezentralen Kliniken aufgebaut werden. Mittlerweile finden die Erfolge der Misión Barrio Adentro internationale Anerkennung, zuletzt bei der UN-Konferenz zur Bekämpfung von Armut. Die Aussage von Hugo Chá-
vez im Juli 2004, Barrio Adentro habe bislang über 16.000 Menschen das Leben gerettet, ist naturgemäß schwer zu überprüfen. Belegt ist indes, dass zwischen April 2003 und Juli 2004 im Rahmen von Barrio Adentro rund 43 Millionen Consultas (Sprechstunden), 6 Millionen Hausbesuche und knapp 8 Millionen Behandlungen durchgeführt wurden.2 Laut Regierung haben dank Barrio Adentro jetzt 17 der 23 Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner einen direkten und kostenlosen Zugang zu medizinischer Versorgung. Anstieg des Bildungsniveaus Neben den Aktivitäten im Gesundheitssektor haben die Misiones im Bildungsbereich bislang die größten Veränderungen hervorgebracht. Auch auf diesem Gebiet stand die Regierung Chávez vor einem katastrophalen Erbe: Millionen waren aus dem formalen Bildungssystem ganz oder teilweise ausgeschlossen. Am deutlichsten zeigte sich dies an den über ein bis zwei Millionen Menschen, die noch vor kurzem weder lesen noch schreiben konnten. Als Sofortmaßnahme rief die Regierung die Misión Robinson3 ins Leben. Mit modernen pädagogischen und technischen Mitteln ausgestattet, startete diese Misión im Sommer 2003. Ein Jahr später wurde Zwischenbilanz gezogen: Rund 1,3 Millionen Menschen wurden bis dato alphabetisiert. Bis Ende 2004 hofft die venezolanische Regierung, den Analphabetismus in Venezuela beseitigt zu haben.
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1 nach: Diario de Caracas, 16.7.2004 2 Ministerio de Comunicación e Información, 26.7.2004 3 benannt nach dem Pseudonym Samuel Robinson, das Simón Rodríguez, einer der wichtigsten Köpfe der Unabhängigkeitsbewegung Anfang des 19. Jahrhunderts, während seines Exils in Jamaica wählte
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4 benannt nach den Generälen des Unabhängigkeitskrieges José Felix Ribas und Antonio José de Sucre 5 [Dem Feind] sich wieder zuwenden – benannt nach einem militärischen Schachzug, mit dem es 1819 den Unabhängigkeitstruppen gelang, mehrere Schlachten zu gewinnen
Die Misiones im Bildungsbereich beschränken sich nicht nur auf die Alphabetisierung. Versucht wird, auf möglichst allen Bildungsniveaus, Menschen einzubinden, denen bislang ein Zugang verschlossen war. Entsprechend läuft momentan auch die Misión Robinson II an, in deren Rahmen Jugendliche und Erwachsene den Abschluss der Primaria (Grundschule) nachholen können. Ferner sind die Misiones Ribas und Sucre4 angelaufen, die – bei Ribas – den Abschluss der weiterführenden Secundaria zum Ziel haben, bei Sucre den Zugang zur Hochschulbildung. Allen Misiones ist gemeinsam, dass sie ein wohnortnahes Bildungsangebot zum Ziel haben. D.h. genauso wie die Dozentinnen und Dozenten der Alphabetisierungskampagne in die entlegensten Gebiete des Landes gegangen sind wird im höheren Bildungsbereich versucht, die Einrichtungen zu dezentralisieren. Bis Ende 2005 sollen beispielsweise über das ganze Land verteilt 200 kommunale Universitäten aufgebaut werden. Ein weiteres Charakteristikum dieser Misiones ist, dass die Teilnehmenden – teilweise oder alle – eine staatliche Förderung von knapp 100 US$ erhalten, um eine Grundversorgung sicher zu stellen und ihnen somit die Teilnahme an den Kursen zu ermöglichen. Alternative Wirtschaft Neben diesen „klassischen“ Sozialprogrammen wird auch versucht, mit Hilfe von Misiones einen alternativen Wirtschaftsbereich aufzubau-
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en. Dabei spielt die Misión Vuelvan Caras5 eine Schlüsselrolle. Etwa 400.000 Menschen beteiligen sich gegenwärtig an diesem Programm, das die berufliche Bildung zum Ziel hat. Da es sich bei den Teilnehmenden hauptsächlich um Erwerbslose handelt, erhalten diese ebenfalls eine staatliche Förderung, die zumindest zur Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse ausreicht. In unterschiedlichen Kursen wird versucht, den Leuten zum Einen berufliche Grundlagen zu vermitteln, zum Anderen einen Organisierungsprozess in Kooperativen zu fördern. Schließlich sollen die Absolventinnen und Absolventen in Zukunft Produktionskooperativen im landwirtschaftlichen und handwerklich-industriellen Bereich betreiben. Dadurch – und durch günstige staatliche Kredite – soll schrittweise ein alternativer Wirtschaftssektor entstehen, der sowohl den Menschen ein Einkommen sichern soll als auch die Abhängigkeit Venezuelas von Importen verringern soll. Letztendlich soll aus diesem Produktionssektor auch ein alternativer Markt beliefert werden. Derzeit ist die venezolanische Regierung dabei, im Rahmen der gleichnamigen Misión sogenannte Mercál-Läden in den armen Stadtteilen und ländlichen Gebieten zu errichten. In diesen Läden werden hauptsächlich Grundnahrungsmittel und Güter des täglichen Bedarfs günstiger angeboten als in kommerziellen Läden. Dadurch erhofft sich die Regierung eine Verbesserung der Ernährungssituation in diesen Gebieten.
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Zurückdrängen der Bürokratie Neben den erwähnten Beispielen gibt es noch weitere Misiones auf wichtigen sozial-politischen Feldern: Die Misión Vivienda will den Wohnungsbau fördern; die Misión Identidad hilft den Menschen dabei, einen Ausweis und andere Papiere zu bekommen und damit ihren Status zu legalisieren; die Misión Miranda versucht Reservistinnen und Reservisten der Streitkräfte zu organisieren; die Misión Piar unterstützt die Verbesserung der Lebensverhältnisse für Arbeiterinnen und Arbeiter in Bergwerken und die Misión Guaicaipuro soll die Rechte der indigenen Bevölkerung stärken. Alle Misiones haben eines gemeinsam: Sie wurden außerhalb der eigentlich zuständigen Ministerien angesiedelt. Zwar sind diese durchaus in die Umsetzung einzelner Programme eingebunden, die Verantwortung trägt jedoch eine jeweils eigene, vom Präsidenten eingesetzte Kommission. Begründet wird dies mit der Unwilligkeit beziehungsweise Unfähigkeit des alten bürokratischen Apparates, solche Misiones durchzuführen. Mitunter werden auch neue Ministerien ins Leben gerufen, die – praktisch als Parallelstruktur zu den traditionellen Ministerien – die Arbeit der Misiones koordinieren. Dazu zählt beispielsweise das „Ministerium für höhere Bildung“, das für die Misión Sucre zuständig ist, oder das von Chávez im September 2004 angekündigte „Ministerium für soziale Wirtschaft“, das alle Ak-
tivitäten rund um die Misión Vuelvan Caras koordinieren soll. Aufbau von Partizipationsmöglichkeiten Theoretisch versucht die Regierung, die Misiones partizipativ, d.h. unter Einbeziehung der von den Programmen betroffenen Bevölkerung zu gestalten. Richtig zu funktionieren scheint dies bislang lediglich in der Misión Barrio Adentro, in der den Gesundheitskomitees der Comunidad eine zentrale Rolle zukommt. Andere Misiones leiden (noch) unter einem naheliegenden Widerspruch: Werden die Projekte von staatlicher Seite einfach von
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oben durchgesetzt, so müssen sich die Verantwortlichen der berechtigten Kritik aussetzen, sie agierten paternalistisch. Wird andererseits für die Umsetzung von Programmen die Selbstorganisierung der Comunidad zur Voraussetzung gemacht, greift dies zum Teil Organisierungsprozessen vor6. Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich die Misiones. Aber trotz dieses Widerspruchs und der Tatsache, dass auch in der täglichen Praxis manches schief läuft, sind sie äußerst populär. Schließlich machen sich deren Erfolge sehr unmittelbar bemerkbar – jemand kann jetzt lesen oder eine Universität besuchen, es gibt plötzlich einen Arzt im Viertel, Lebensmittel werden billiger etc.
6 siehe dazu: Interview mit Adriana Scovino im Kapitel „Barrios & Basis“ 7 Ministerio de Comunicación e Información, 20.9.2004
Neue staatliche Systeme Neben den Misiones – die in manchen Bereichen auch den Charakter von Sofortmaßnahmen haben – versucht die Regierung Chávez andere längerfristige Änderungen innerhalb der staatlichen Sozialsysteme anzugehen. Als ein Beispiel sei der Bildungsbereich genannt. Schritt für Schritt wird versucht, die herkömmlichen Bildungseinrichtungen durch neue, sogenannte „bolivarianische“ Schulen und Universitäten zu ersetzen. Das Neue an diesen Einrichtungen sind zunächst die pädagogischen Konzepte. „Bolivarianische Schulen“ sind Ganztagsschulen, in denen die Kinder zum Einen Freiraum für kulturelle Aktivitäten bekommen, zum Anderen kümmert sich die Schule gegebenenfalls auch
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um die Ernährung. Ebenso wird Wert darauf gelegt, dass sich die Lerninhalte an den konkreten Bedürfnissen der Comunidad orientieren, in der die Schule liegt. Bislang wurde das Konzept – auch aufgrund von Widerstand innerhalb des Staatsapparates – in erster Linie dort umgesetzt, wo neue Schulen aufgebaut wurden. Trotzdem gibt es mittlerweile etwa 3.500 dieser Einrichtungen mit mehr als 700.000 Schülerinnen und Schülern7. Ähnliches gilt im Prinzip auch für die neu entstandenen „bolivarianischen Universitäten“ – auch hier geht es um eine umfassendere, über den fachlichen Aspekt hinausgehende Bildung; und auch hier sollen Möglichkeiten für die Comunidad geschaffen werden, auf die Inhalte der Ausbildung Einfluss zu nehmen. Und noch eines ist ihnen gemeinsam: Ihre Umsetzung stößt auf Widerstand beim alten Establishment und teilweise im Staatsapparat. So fürchten vor allem die traditionellen Universitäten um ihre üppigen staatlichen Zuwendungen. Und die „bolivarianischen Universitäten“ sind schließlich auch der Anfang vom Ende einer Universitätsausbildung, die nur den oberen gesellschaftlichen Schichten offen steht. Zum Studienbeginn im September 2004 rechnete deren Rektorin María Egilda Castellanos damit, dass rund 20.000 Studierende – vornehmlich aus unteren Schichten – an der neuen Universität eingeschrieben sein werden. n
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Die sozialen Schulden einlösen. Interview mit Alexis Motta Was ist der Inhalt der Misión Sucre? Die Misión Sucre entstand aufgrund der Notwendigkeiten, die das traditionelle System der höheren Bildung hervorbrachte. Dieses System hatte einen ausschließenden Charakter. Das Ziel der Misión ist, Bedingungen zu schaffen, die es der größtmöglichen Zahl von Personen in Venezuela ermöglicht, eine qualitativ hochwertige und effiziente höhere Bildung zu erwerben. Und das selbstverständlich kostenlos, ohne Einschreibe- oder Studiengebühren. Darüber hinaus gibt es Programme, die sich vom traditionellen Bildungssystem unterscheiden – sie stehen für ein breiteres, mehr an der Praxis und den Bedürfnissen der Comunidades orientiertes System. Und vor allem mit einem menschlicheren Ansatz. Die bolivarianische Revolution hat als einen ihrer Grundsätze den Frieden, aber den Frieden, der mit sozialer Gerechtigkeit verknüpft ist. Bei allen Misiones, wie auch bei der Misión Sucre geht es um diesen Punkt: Ohne soziale Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden. Auf dem Gebiet der höheren Bildung heißt dies, neue soziale Bedingungen zu schaffen, die allen etwas ermöglichen, was früher nicht erreichbar war.
Die „sozialen Schulden“ des zurückliegenden politischen Systems in Venezuela sind sehr groß. Die Misiones haben das Ziel, diese Schulden einzulösen – auf dem Gebiet des Gesundheitswesens, der Bildung und der Ernährung. Jetzt haben wir die Vorstellung, die Misiones im Bildungsbereich zusammenzuführen. Wir wollen einen „Kanal“ schaffen, damit sich eine Misión an die folgende anschließt. D.h. ein Schüler schließt eine Stufe ab und geht auf die nächste. Es geht darum, das Bildungsniveau aller Venezolaner in allen Bereichen anzuheben. Wir sprechen aber von einem Land, in dem 80 % der Bevölkerung in Armut leben. Für sie hat die bolivarianische Regierung auch in der Misión Sucre einen Beitrag zur finanziellen Unterstützung entwickelt. Die Studenten sollen in der Regel umgerechnet etwa 100 US$ im Monat erhalten. Handelt es sich dabei um einen Plan oder ist dies alles bereits umgesetzt? Die Misión Sucre wurde genau vor einem Jahr auf Grundlage eines nationalen Dekretes gegründet. Es gab einen Zensus, der belegte, dass es 500.000 Personen gibt, die – trotz Qualifikation – niemals die
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Alexis Motta Leitender Angestellter der Misión Sucre
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Möglichkeit hatten, höhere Bildungseinrichtungen zu besuchen. Und diese Personen wurden in vier Gruppen eingeteilt, um das Programm zeitlich zu staffeln. Im November 2003 war die erste Gruppe dran, von denen 30.000 ein Stipendium von etwa 100 US$ pro Monat bekamen. Wir gehen davon aus, dass wir Ende diesen Jahres 100.000 Stipendien vergeben haben werden. Das Programm funktioniert folgendermaßen: Die erste Etappe der Misión Sucre ist ein Vorbereitungskurs auf die Universität. Die zweite Etappe besteht darin, dass die Leute an die Universität gehen.
1 Venezuela ist in 23 Bundesstaaten, den Distrito Federal (Caracas) und eine Dependencia Federal (mehrere Inselgruppen) aufgeteilt
Die Leute können dann jede Universität besuchen? Wer die beiden Etappen der Misión durchläuft, ist an der Universität eingeschrieben, das sind bis jetzt 53.000 Leute. Vor zwei Monaten, also am 1. August begann das neue Studienjahr. Dabei ist ein Problem, dass in einem Studiengang allein 25.000 Studierende anfingen. In Venezuela gibt es sehr wenige Universitäten, in denen alle Fächer angeboten werden. Daher ist auch die Kommunalisierung der Studiengänge eine Vision von uns. In Venezuela gibt 24 Bundesstaaten1, die sind wiederum in 335 Landkreise aufgeteilt. Und dort wollen wir universitäre Dörfer aufbauen. Ziel ist also, dass es in jedem Landkreis eine Universität gibt, um dort zu studieren. In 2004 wurden 40 entsprechende Gebäude errichtet und für 2005 sind 160 weitere geplant.
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Die Misiones liegen außerhalb des alten administrativen Systems des Staates. Wie funktioniert das? Die traditionelle Struktur, mit ihrer eigenen Charakteristik und Praxis, wird umgangen. Die Misiones sind wie ein Bypass und haben eine parallele Struktur. Da wir uns in einer friedlichen Revolution befinden, müssen wir die vorhandenen Strukturen akzeptieren, aber gleichzeitig parallel neue aufbauen. Ist es also Teil der Misiones, solche neuen Strukturen zu schaffen? Jede einzelne von ihnen hat einen eigenen Charakter. Beispielsweise ist die Misión Barrio Adentro direkt den einzelnen Comunidades unterstellt. Die Vorschläge kamen direkt aus den Barrios, wie der Wunsch, dass Ärzte in die Barrios kommen. Die cubanischen Ärzte wurden dann auch direkt über die Bürgermeisterämter eingesetzt. Und jetzt wollen die Leute die Ärzte natürlich nicht mehr missen. Wie läuft die Misión Sucre konkret ab? Es gibt zwei Teile innerhalb dieser Misión, wobei der erste schon funktioniert und der andere noch nicht. Der erste aber auch erst seit ungefähr einem Monat. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass dieses Programm für Leute entwickelt wurde, die schon lange aus dem formalen Bildungsweg ausgeschlossen sind, 15 bis 20 Jahre ohne zu studieren. Es sollen die Kenntnisse vermittelt werden, die den Leuten fehlen, weil sie solange aus der schulischen
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Praxis rausgefallen sind. Um sie darauf vorzubereiten, dass sie wieder einsteigen können. Das ist der erste Schritt, der PIU (Programa de Iniciación universitaria; universitäres Einstiegsprogramm) heißt. Den Unterricht leitet ein Facilitador, ein Tutor. Unterstützt wird er von einem Professor. Jeder Facilitador hat 30 Schüler. Und zehn Facilitadores werden von einem Professor betreut. Auf der administrativen Seite gibt es eine Koordination der Facilitadores, auf Landesebene sind es 24 Koordinatoren, die aus dem Rat der Facilitadores hervorgehen. Die Schüler und die Facilitadores erhalten ein Stipendium in Höhe von 160.000 Bolivares pro Monat. Der Professor und die Koordinatoren erhalten etwa das Doppelte. Welche Einflussmöglichkeiten haben die Leute, die die Misión besuchen? Die Schüler sind die hauptsächlichen Akteure. Beispielsweise werden die Stipendien unter den Schülern aufgeteilt. Wie funktioniert das? Die Schüler werden in Sektionen mit je 30 Person aufgeteilt, die dann zehn Stipendien erhalten. Und jede Sektion muss dann entscheiden, wer von ihnen ein Stipendium erhält bzw. wie sie aufgeteilt werden. Das nennen wir dann „soziale Kontrolle“. Es gibt zwar Maßstäbe, entlang derer entschieden werden kann – ist jemand arbeitslos, ist eine Frau alleinstehend und hat Kinder. Trotzdem entscheiden die Schüler, wer
das Stipendium erhält. Und das alles läuft seit einem Monat. Die Entscheidung, wer das Stipendium erhält, wird dem Koordinator per email mitgeteilt. Und der Koordinator zahlt alle auf einmal aus. Und so haben wir eine bessere Kontrolle und es geht auch schneller. Wer bezahlt die Leute? Es ist die Aufgabe der Stiftung der Misión Sucre, diese Stipendien auszubezahlen. Aber das ganze ist vom Ministerium abhängig, das die Gelder an die Stiftung überweist. Obwohl das ganze ja eine Parallelstruktur ist, kommt das Geld vom Ministerium? Es handelt sich dabei um ein neues Ministerium. Vor fünf Jahren gab es das Bildungsministerium, das für Bildung, Kultur und Sport zuständig war. Und jetzt sind es drei Ministerien. Das Ministerium für höhere Bildung, das auch für die Misión Sucre zuständig ist. Daneben das Ministerium für Kultur und das Ministerium für Bildung und Sport. Ebenso wurde das alte „Gesetz über die Universitäten“ vom „Gesetz über die höhere Bildung“ abgelöst. Das alte Gesetz hatte zwei Organisationen vorgesehen, zum einen die Oficina de Planificación del Sector universitario und den Consejo nacional de la Universidad, die für die universitären Angelegenheiten zuständig waren. Dafür ist jetzt das Ministerium für höhere Bildung zuständig. Es ist ein sehr machtvolles Ministerium, immerhin besuchen insgesamt rund eine Million Leute höhere
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2 Laut venezolanischer Statistikbehörde besuchten im Jahr 2000 knapp 400.000 Personen öffentliche Universitäten, 120.000 PrivatUniversitäten. 60.000 waren an öffentlichen technischen Hochschulen eingeschrieben, 110.000 an privaten. Weitere 100.000 Personen besuchen andere Einrichtungen, wie z.B. Kunstakademien, politechnische Hochschulen usw.
Bildungseinrichtungen2. Ein weiteres Problem war, dass die autonomen staatlichen Universitäten Geld bekamen, über das sie keine Rechenschaft ablegen mussten. Und wenn man die Haushalte von all‘ diesen Unis zusammenzählt, dann summiert sich das auf einen Betrag, der so groß ist wie der Staatshaushalt von Bolivien. Das sind 26 große Universitäten. Es handelt sich um Billionen von Bolivares. Nehmen wir das Beispiel von einer einzigen Universität, die Universidad Central in Caracas. Im vergangenen Jahr, in 2003, hatte das Bürgermeisteramt von Libertador der Universität 365 Milliarden Bolivares überwiesen, das sind etwa 180 Millionen US$. Diese Universität hat 50.000 Studenten. Was machten sie mit dem Geld? Ich gehe davon aus, dass die Hälfte des Geldes für die Professoren ausgegeben wurde – und für die Bürokratie. Wir kalkulieren, dass
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wir für die Misión Sucre, an der immerhin eine halbe Million teilnehmen, nur etwa 30 % des früheren Haushalts benötigen. Das hier ist ein neues System der Bildung. Das ist eine ganz andere Struktur, als die an den alten Universitäten. Zum Beispiel, dass Du dort studieren kannst, wo du arbeitest, wo du lebst. Das hängt mit der Kommunalisierung der Universitäten zusammen. Ja genau. Aber noch etwas dazu, warum die Universitäten diese Privilegien haben. Die Universitäten entwickelten sich in Universitäten der Reichen. Der Anteil der armen Bevölkerung betrug nur 8 bis 10 %. Es gibt eine Universität, die Universität Simón Bolívar, die ganz speziell für die Reichen ist und dort werden die Kapazitäten gar nicht ausgeschöpft. Die Uni hätte Platz für 16.000 Studenten und eingeschrieben sind nur 8.000. n
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Das Ziel ist eine integrale Ausbildung. Interview mit Mirelva Martínez Seit wann gibt es das Projekt der bolivarianischen Schulen und wie weit ist es fortgeschritten? Das Projekt begann mit der Präsidentschaft von Hugo Chávez. Im September und Oktober 1999 haben sich die Leute getroffen, die die pädagogischen Vorgaben erarbeiteten. Heute gibt es allein im Bundesstaat Bolívar 229 dieser Schulen, wobei ihre Verteilung sehr ungleichmäßig ist. Die meisten entstanden in den Grenzregionen und in den Regionen, in denen indigene Bevölkerung lebt. Allesamt Gebiete, die über Jahre hinweg vernachlässigt wurden. Dass in diesen marginalisierten Gebieten zuerst begonnen wurde, ist Teil des strategischen Planes der Regierung im Bildungssektor. Worin unterscheiden sich die bolivarianischen Schulen von den herkömmlichen? Ihr Ziel ist eine integrale Ausbildung, die neben einem pädagogischen Teil auch einen kulturellen Aspekt hat – und einen Teil, der die Ernährung betrifft, ein „bolivarianisches Schulernährungsprogramm“. In dessen Rahmen erhalten die Kinder drei Mahlzeiten: Frühstück, Mittagessen und eine Zwischenmahlzeit am Nachmittag. Dieses Ernährungsprogramm hat aber auch einen pä-
dagogischen Teil. Die Lehrer essen zusammen mit den Schülern im Unterrichtsraum und sprechen mit ihnen über Ernährungsgewohnheiten, die Nährstoffe in den Lebensmitteln und wie bestimmte Lebensmittel gegebenenfalls durch andere ersetzt werden können. Dieses Ernährungsprogramm hat noch einen weiteren Aspekt: Wir fördern die Bildung von lokalen Kooperativen, die die Lebensmittel für die Schulen anbauen. Das Geld soll in die lokale Ökonomie fließen. Das geht momentan natürlich vor allem in den ländlichen Gebieten. In städtischen Regionen sind wir oft gezwungen, auf vorhandene Versorgungsstrukturen zurückzugreifen. Ein zweiter großer Unterschied besteht in den Partizipationsmöglichkeiten. Es gibt Einwohner-Versammlungen, in denen der Teil des Lehrplans erarbeitet wird, der den gemeinschaftlichen Teil der Ausbildung betrifft. Dies passiert immer zu Beginn des Schuljahres, so dass die Umsetzung der vorjährigen Beschlüsse und die Pläne für das neue Schuljahr besprochen werden. Welche Bereiche sind von den Entscheidungen betroffen? Der gemeinschaftliche Teil der Bildung umfasst mehrere Sektoren.
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Mirelva Martínez BereichsKoordinatorin für die bolivarianischen Schulen in Ciudad Bolívar
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Einer davon ist beispielsweise der Gesundheitsbereich – hier geht es darum, dass die Schulen mit anderen Strukturen und vorhandenen Gesundheitskomitees zusammenarbeiten, unter anderem um Kurse zur Gesundheitsvorsorge durchzuführen oder Schulungen, die dazu dienen, die Ausbreitung von Dengue1 zu verhindern etc.
1 Dengue: Durch Stechmücken übertragene Infektionskrankheit 2 Yuca: Stärkehaltige Wurzel, Bestandteil der traditionellen venezolanischen Küche
Wie verhält sich dieser Teil zu den landesweit vorgegebenen Lehrplänen? Es gibt einen landesweiten Lehrplan, der die Vermittlung einer Grundbildung vorschreibt, d.h. Mathematik, Spanisch, Geografie usw. Daneben gibt es einen flexiblen Teil, der lokal von den Gemeinden bestimmt werden kann. Wobei wir Wert darauf legen, dass auch in den vorgegebenen Fächern der regionale und lokale Bezug hergestellt wird, beispielsweise dass die Flora und Fauna des Bundesstaates Bolívar in den naturwissenschaftlichen Unterricht einfließt. Und vor allem, dass der Unterricht Bezug nimmt auf die sozialen Realitäten. In diesem Zusammenhang haben einige der Schulen auch einen produktiven Aspekt. Manche Schulen sind in eine lokal spezifische Lebensmittelproduktion eingebunden, andere produzieren im Rahmen des Unterrichts organischen Dünger für den Yuca-Anbau2. Und schließlich gibt es auch eine bolivarianische Schule in diesem Bundesstaat, die als Teil der naturwissenschaftlichen Ausbildung in der 6. Klasse Chemieprodukte herstellt. In den
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Schullabors werden Chlor für die Wasseraufbereitung und Desinfektionsmittel hergestellt – für den Eigenbedarf der Schule und für die Gemeinschaft. n
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Gemüsekooperativen am Stadtrand. Das Vuelvan CarasProjekt Tacagua Vieja Caracas, Parque Central, einer der vielen Ein- und Ausgänge des riesigen Komplexes. Es ist 7 Uhr morgens und schon ziemlich warm. Putzkolonnen sind unterwegs. Aus Thermoskannen wird gesüßter Kaffee in kleinen Pappbechern verkauft. Irgendwo hier sollte ein Bus abfahren, der Journalistinnen und Journalisten auf Einladung des Handelsund Produktionsministeriums in das ungefähr 200 km entfernte Campo de Carabobo transportieren soll, um ein Vuelvan Caras-Projekt zu besichtigen. Der Bus steht aber eingeparkt in einer Garage, außerdem wurde der Plan geändert. Präsident Chávez war vergangenen Sonntag in seiner Sendung Aló Presidente in einem Vuelvan Caras-Projekt in der Umgebung von Caracas. Dies ist nun das neue Ziel. Mit einiger Verspätung geht die Fahrt über die Stadtautobahn Richtung Flughafen, der sich 1.000 Höhenmeter tiefer direkt an der Küste befindet. Eine dreiviertel Stunde hinunter ans Meer. Die Autobahn führt durch die Vororte, immer wieder Barrios an den Hängen, auf der anderen Seite des Tales sind Terrassen für landwirtschaftlichen Anbau zu erkennen, daneben ist in ein Feld ein riesiges NO geschnitten. Die landwirtschaftlichen Projekte, die besucht werden
sollen, liegen an der Peripherie von Caracas an Hängen und in Tälern. Im März 2004 begann das Projekt in Tacagua Vieja, im Dezember 2004 ist geplant, die erste Phase abzuschließen. 350 Männer und Frauen sollen dann in der Lage sein, nachdem sie verschiedene Kurse besucht und die Felder angelegt haben, in 16 Kooperativen Gemüse anzubauen und zu vertreiben. Die zweite Phase der Produktion und Spezialisierung der Kooperativen läuft bis August 2005. Gleichzeitig besuchen die meisten der Teilnehmenden auch Kurse der Misiones Robinson und Ribas. Nur mit Militärfahrzeugen erreichbar Auf etwa halber Strecke zwischen Caracas und der Küste muss das Transportmittel gewechselt werden. Der alte Schulbus ist nicht geeignet für die kleinen, steilen Straßen und Wege, die zu den Projekten führen. Zwei kleine, geländegängige Militärtransporter stehen am Straßenrand bereit. Das venezolanische Heer ist u.a. für den Transport der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Vuelvan CarasProjekte und deren Produkte zuständig, heute fahren sie die Journalistinnen und Journalisten und uns.
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Urbarmachung der Hänge um Caracas
Ein seltsames Gefühl. Fragen über die Rolle des Militärs im Proceso drängen sich auf. Bevor es losgeht erklärt der verantwortliche Major Leonardo Raymond anhand einer Karte die Infrastruktur der Gegend und die Tätigkeiten des Militärs im Rahmen der Projekte: „Uns kommt die Aufgabe zu, aus jedem Kurs eine Kooperative von 20 bis 25 Menschen zu formen. Momentan haben wir hier erst die Hälfte der ersten Etappe zurückgelegt und beginnen mit dem Projekt des Aufbaus der Kooperativen.“ Es hört sich alles ganz selbstverständlich an, die grundsätzliche Skepsis bleibt aber trotzdem. Das erste Projekt in Araguaney besteht aus einigen kleinen Feldern, überwiegend Salat und Tomaten. Die 18 Teilnehmenden besuchen gerade einen der Kurse, die technische und landwirtschaftliche Grundkenntnisse vermitteln. Insgesamt stehen 650 Hektar Land für die verschiedenen Gruppen in dieser Zone zur Verfügung. Ergänzend zum Gemüseanbau ist noch eine Hühnerfarm geplant. Das Ziel
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ist, alle 40 Tage 100.000 Hühner und 400.000 Eier zu produzieren. Bislang ist allerdings nur der Boden planiert. Das nächste Projekt, La Manguera, liegt an einem steilen Hang. 30 bis 40 Männer und Frauen verschiedenen Alters in blauen Overalls, roten T-shirts und roten Baseballkappen bearbeiten in sengender Mittagshitze den Boden. Der Hang ist erst frisch vom Buschwerk gerodet. Mit Steinen, Stöcken und Ästen werden schmale Terrassen angelegt, die Werkzeuge sind einige Schaufeln, Spitzhacken und die eigenen Hände. Kritische Anmerkungen Die Arbeit wird für ein Gespräch mit den JournalistInnen unterbrochen. Es bilden sich einige Grüppchen und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Projektes nutzen die Gelegenheit, ihren Ärger gegenüber den Leuten vom Ministerium Luft zu machen. Eine junge schwarze Frau ist die Wortführerin und zählt etliche Dinge auf, die nicht oder nur schlecht funktionieren. Es geht um die mangelhafte Infrastruktur, fehlende Kinderbetreuung, verzögerte Auszahlung der Unterstützung und vor allem um die ungewisse Zukunft. Sie haben den Hang gerodet und bearbeiten den Boden, aber was passiert, wenn die Laufzeit des Projektes vorbei ist? Die Journaille hört sich die Beschwerden an, fragt nach, macht sich Notizen – konkrete Antworten erwartet offensichtlich niemand. Aber die Ministeriumsangehörigen versuchen nicht, die Probleme herunterzuspielen. Damit ha-
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ben sich unsere Befürchtungen, nur ein Vorzeigeprojekt präsentiert zu bekommen, zerstreut. Ungefähr fünfzehn holprige Minuten entfernt, am Ende eines schmalen, kleinen Tals liegt Loma de Chávez, ein weiteres Projekt. Hier bearbeitet eine Gruppe einige Hektar Land, verschiedenste Gemüsearten werden angebaut: Zwiebeln, Tomaten, Brokkoli, Auberginen, Chili, Karotten, Rettiche. Die Stimmung hier ist anders, lockerer, vielleicht wirkt es auch so, weil keine Beschwerden vorgebracht werden. Stattdessen umringen etliche junge Frauen flirtend und scherzend den Major. Nicht weit von diesem Projekt beginnen die Ausläufer der Vorortbarrios von Caracas. Die Militärfahrzeuge bewältigen die enorme Steigung an das obere Ende einer Ansiedlung problemlos. Hier oben gibt es Mittagessen für die Leute aus den Projekten. Mehrere Dutzend blau und rot gekleidete Männer und Frauen stehen und sitzen im Schatten zwischen Bananenpflanzungen und Avocadobäumen und ruhen sich aus. Es gibt Reis mit Gemüse, schwarze Bohnen, etwas Salat und ein Stück gebratenes Fleisch, ein sättigendes Mahl. Beim Essen ergeben sich Gespräche über verschiedene Ernährungstraditionen, dabei stellt sich heraus, dass Etliche aus dem Nachbarland Kolumbien eingewandert sind. Eigentlich nicht erstaunlich, da inzwischen fast zehn Prozent der venezolanischen Bevölkerung aus Kolumbien stammen. n
Nueva Caracas: Das Projekt Fabricio Ojeda1 Im Westen von Caracas, im Bezirk Catia, begannen im Mai 2004 auf einem ehemaligen Industriegelände des staalichen Erdölkonzerns PDVSA die Bauarbeiten für ein Mammutprojekt. In Diskussionen zwischen PDVSA, Ministerium und den Comunidades der Umgebung wurden im Verlauf des letzten Jahres die Bedürfnisse ermittelt. Inzwischen wurde eine „Volksklinik“ im Sinne der zweiten Stufe der Misión Barrio Adentro errichtet, eine Schuhfabrik mit 120 und eine Textilfabrik mit 200 Arbeitsplätzen für Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Vuelvan Caras-Projekten. Daneben entstanden Sportplätze, ein Mercál-Laden, ein Centro Cultural und ein zentraler Platz. Ungefähr sechs Millonen Dollar investierten PDVSA und das Ministerium für Energie und Minen bislang. Die Bauarbeiten werden von Kooperativen aus umliegenden Bezirken ausgeführt. Geplant sind außerdem ein Stadtteilradio, Infozentren, eine bolivarianische Schule, ein Kindergarten, ein Altenheim, eine „Volksküche“ und eine Bibliothek. Weiter sollen in Zukunft auf dem Gelände noch Hühner-, Geflügelund Kaninchenfarmen entstehen. Geschätzte 3.000 Arbeitsplätze sollen dadurch geschaffen werden.
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Fabricio Ojeda (1929-1966): Journalist, Politiker und Guerillero. Als Präsident der Junta Patriótica spielte er eine wichtige Rolle beim Sturz des Diktators Marcos Pérez Jiménez 1958, anschließend war er Abgeordneter für Caracas im Parlament. Später gründete er mit anderen die F.A.L.N. (Frente Armado de Liberación Nacional), wurde dann verhaftet und von einem Kriegsgericht zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. 1966 wurde er im Gefängnis ermordet.
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Ein Teil des wirtschaftlichen Transformationsplans. Interview mit Luis Guillermo García
Luis Guillermo García Generaldirektor für Information und Öffentlichkeitsarbeit im Ministerium für Produktion und Handel
Seit wann existiert die Misión Vuelvan Caras und was sind die Ziele? Vuelvan Caras wird seit ungefähr sechs Monaten umgesetzt. Die Misión ist Teil eines langfristigen Programms zur Umgestaltung des Produktionsmodells. D.h. seit dem Antritt der bolivarianischen Regierung wurde der notwendige Paradigmenwechsel im Bereich der Produktion, der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, angegangen. Man muss verstehen, dass in Venezuela, wie in vielen anderen Ländern auch, das Modell vorherrschte, dass die wirtschaftlichen Eliten auch die Wirtschaftspolitik des Landes bestimmten, mit dem Ergebnis, dass diese Politik dem Nutzen dieser Eliten diente. Die bolivarianische Regierung will in ihrem Modell dieses Verhältnis umkehren. Jetzt soll die Gesellschaft die Rahmenbedingungen definieren und die Regierung als politisches Organ die praktischen Leitlinien, an die sich auch die Wirtschaft halten muss. D.h. früher hatten die Unternehmer und Unternehmerinnen des Landes die Kontrolle über die Wirtschaft, heute sind sie Teil des ökonomischen Prozesses, den die
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Gesellschaft mittels der Regierung vorgibt. Die Regierung ist lediglich ein Instrument der Gesellschaft. Dies berücksichtigend soll Vuelvan Caras dazu beitragen, das Ziel der Umgestaltung zu erreichen. Eine der wichtigsten Aufgaben der Misión ist, die Leute zur produktiven Arbeit zu befähigen. Und vor allem in Gebieten, in denen ein Potential für eine wirtschaftliche Entwicklung vorhanden ist. Wir sprechen beispielsweise von „Kernen für eine endogene Entwicklung“. D.h. es geht darum, die Menschen an ihren Wohnorten weiter zu bilden, damit die lokale Wirtschaft wächst. Die Leute sollen nicht wegziehen müssen, weil sie nur in der nächsten Stadt einen Job in einer Fabrik oder einem Laden finden. Sondern sie sollen in ihrem eigenen Umfeld Möglichkeiten entdecken, um die Wirtschaft zu entwickeln. An dem Ort, an dem wir uns gerade befinden, lernen die Leute, wie bestimmte Gemüsearten und Pflanzen kultiviert werden, die auch natürlich hier vorkommen. Und da hier sehr viel Land ungenutzt ist und gleichzeitig viele Menschen keine Arbeit haben, was machen wir? Wir suchen Leute, die in der Lage sind, andere in land-
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wirtschaftlichen Fragen weiter zu bilden, suchen geeignetes Land für die Ausbildung, unterstützen die Beteiligten mit finanziellen Mitteln und helfen den Menschen dabei, nach der Ausbildung Kooperativen zu gründen, entsprechend ihrer eigenen Ideen und Bedürfnisse. Im Rahmen von Vuelvan Caras bekommen diese Kooperativen öffentliche Kredite, die ihnen eine Entwicklung ermöglichen. D.h. das ist ein Plan, der die Leute aus ihrer Unwissenheit herausholen, sie für die Arbeit ausbilden soll. Sie werden wirtschaftlich unabhängig, indem sie ihr eigenes Unternehmen in Form einer Kooperative aufbauen und somit nicht von irgendeinem Unternehmer abhängig sind. Sie werden das Land dort kultivieren, von wo sie herstammen, bei ihren Familien. Die Produkte sollen in den nationalen Markt fließen und im Rahmen der lateinamerikanischen wirtschaftlichen Integration auch in andere Länder exportiert werden. Vuelvan Caras ist Teil des wirtschaftlichen Transformationsplans, der von den Bedürfnissen der Menschen ausgeht. Es ist ein Bildungsprozess, der die Venezolaner fühlen lässt, das sie die Macht in ihren Händen halten, dass sie die Hände in die Erde stecken müssen, um die Macht zu erhalten. Diese Misión ist sehr jung. Gibt es heute bereits Untersuchungen über Erfolge und Misserfolge, die in den ersten Monaten auftraten? Das ist eine schwer zu beantwortende Frage, wie der Zustand in
jedem einzelnen Entwicklungskern ist. Diese Misión wird von einer Präsidential-Kommission geführt, die verschiedensten Ministerien sind eingebunden: das Landwirtschaftsministerium, das Ministerium für Produktion und Handel, das Planungs- und Entwicklungsministerium, das Bildungsministerium, das Energieministerium und auch das Verteidigungsministerium, denn die Armee spielt in der Koordinierung eine wichtige Rolle. Es ist daher ein integraler Plan, an dem eine Vielzahl von Institutionen teilnehmen, jedes mit verschiedenen Schwerpunkten. Das Landwirtschaftsministerium beispielsweise hat den Schwerpunkt in der Landwirtschaft, das Ministerium für Produktion und Handel die Schwerpunkte Industrie und Tourismus. Daher sammelt jede Institution ihre eigenen Erfahrungen, je nach Arbeitsfeld. Entsprechend werden die einzelnen Entwicklungskerne betrachtet, als Orte in Entwicklung, die als „Freiluft-Schulen“ fungieren, in denen die Leute das Arbeiten erlernen. Erlernen, die Erde zu bearbeiten, das Metall zu bearbeiten, ein Gästehaus zu betreiben etc. D.h. es gibt viele Entwicklungskerne im Land, und jeder Kern hat eine unterschiedliche Entwicklung, manche sind schneller, manche sind langsamer. Aber wir wissen, dass es bereits knapp 400.000 Teilnehmer an den Weiterbildungsprogrammen gibt. Die Leute bekommen eine Unterstützung von etwa 100 US$ im Monat, die ihnen die Teilnahme an den Kursen ermöglichen soll. Manchmal
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gibt es Verzögerungen bei der Auszahlung, aber die Leute bekommen das Geld, damit ein Minimum abgedeckt ist, was die Menschen zum Essen und Wohnen brauchen und damit sie sich wirklich der Ausbildung widmen können. Das ist der erste Schritt, dass die Leute merken, dass in sie „investiert“ wird, eine soziale Investition. Mittlerweile gibt es auch schon funktionierende Kooperativen, einige haben schon Kredite erhalten und es gibt schon einen Prozess der Verbreitung. Klar, es ist alles noch sehr jung. Aber an dem Ort, an dem wir uns befinden, werden bereits 600 Hektar von den Leuten bearbeitet, die hier ausgebildet wurden. Und gerade im landwirtschaftlichen Bereich braucht alles seine Zeit. Wir sind in einem Prozess, aber die Leute sind davon überzeugt, dass sie die Lösung in ihren Händen haben. Das ist der erste Erfolg, dass die Leute die Möglichkeit zur Arbeit haben und sie sich dadurch weiterbilden. Gibt es keinen Widerspruch zwischen den langfristigen Ansätzen der Misión und den unmittelbaren, existenziellen Bedürfnissen vor allem der Landbevölkerung, die ja teilweise unter ärmsten Bedingungen lebt? Deshalb beinhaltet die Misión Vuelvan Caras ja auch diese Unterstützung von 100 US$ im Monat. Das ist Geld, dass sie vorher nicht erhielten als sie arbeitslos waren. Das ist eine Unterstützung, damit sie sich weiterbilden. Damit können sie ihre drängendsten Probleme
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und die ihrer Familien lösen und die Schulungen besuchen und danach fangen sie an, in ihrer eigenen gemeinschaftlichen Organisation, der Kooperative, zu arbeiten. Und dann gibt es auch Kredite, d.h. in dem Moment, in dem sie zu arbeiten beginnen, erhalten sie ein Einkommen, das ihre Basisbedürfnisse abdeckt und ihnen die Möglichkeiten zum wirtschaftlichen Wachstum gibt. Der Schwerpunkt von Vuelvan Caras liegt im Aufbau von Kooperativen. In anderen Ländern, die dies versuchten, gab es vor allem in den ländlichen Regionen den Widerspruch, dass viele Leute aus der Tradition heraus lieber ihr eigenes Stück Land gehabt hätten. Existiert dieser Widerspruch hier auch? Man muss bedenken, dass hier in Venezuela ein großer Teil des Landes sich in Händen von Großkapitalisten befindet, daneben gibt es noch große Besitztümer des Staates. Die Regierung findet jetzt heraus, wo sich brachliegendes Land befindet, um es zu verteilen, damit alle Bauern am Grundeigentum beteiligt werden. Aber die Landvergabe wird mit dem Ziel verknüpft, Kooperativen und kleine und mittlere Produktionsbetriebe zu errichten. Das ist nicht einfach, da aber viele Bauern zuvor noch nie über Land verfügten und sie jetzt das Land übergeben bekommen, entsteht offensichtlich eine Situation, die eine Haltung der Solidarität und Zusammenarbeit hervorbringt. Früher hatten sie nichts, heute etwas, das aber verbunden ist mit
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den Werten der Partizipation und Solidarität. Man kann durchaus sehen, wie die Leute sich in Versammlungen einbringen, sie möchten zusammen mit anderen arbeiten. Natürlich bedarf es noch der Bildung auf sozialem und politischem Gebiet, damit sie auch den Wert dieser Zusammenarbeit in Gruppen kennen. Präsident Chávez hat vor Kurzem die Bildung eines Ministeriums für die Economía Popular angekündigt, um Projekte wie Vuelvan Caras zu fördern. Was halten Sie davon? Dieses neue Ministerium ist die Weiterentwicklung von Vuelvan Caras. Die Misión ist von einer Präsidential-Kommission ins Leben gerufen worden, und an der Umsetzung
sind mehrere Ministerien beteiligt. Jetzt soll das neue Ministerium die Hauptverantwortung für Vuelvan Caras bekommen, beispielsweise soll die Aufsichtsbehörde für Kooperativen in das Ministerium eingegliedert werden. Das Ziel ist, die Misión zu vertiefen, und entsprechend wird es auch ein Budget bekommen und über die nötigen Ressourcen verfügen. Warum werden die Misiones außerhalb des Verantwortungsbereichs der traditionellen Ministerien angesiedelt? Die bolivarianische Regierung von Venezuela hat als ihren wichtigsten Bezugspunkt die bolivarianische Verfassung. Darin ist festgeschrieben, dass die Bevölkerung Besuch eines Vuelvan CarasProjektes in der Nähe von Caracas
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aktiv am Aufbau des Landes teilnehmen soll. Sie soll nicht darauf warten, dass die Regierung alles erledigt, sondern im Gegenteil, die Regierung soll es erleichtern, dass die Leute am Aufbau partizipieren. Nun hat die Regierung einige Ministerien mit den alten Strukturen geerbt, und es wurde klar, dass diese Strukturen nicht geeignet sind, das Land unter Beteiligung der Leute aufzubauen. Die Ministerien sind so wie sie sind, damit lässt sich nicht die größtmögliche Partizipation der Leute erzielen. Dieses Problem sehend hat der Präsident entschieden, Kommissionen zu initiieren, die die Misiones als multidisziplinäre Projekte ins Leben riefen, die die Beteiligung der Gesellschaft suchen. Es ist kein Projekt, das allein von einem Büro aus geleitet werden kann. Man muss zu den Orten fahren, wo die Menschen leben, um von dort aus die Umgestaltung des Landes anzugehen. Die einzelnen Ministerien können das nicht, sie müssen untereinander und mit den Menschen zusammenarbeiten. Daher heißt es auch, den Menschen die Macht zu geben, damit sie ihr eigenes Land aufbauen können. Die Strukturen der Ministerien sind aber auch intern umstritten, es wird sogar von der Möglichkeit gesprochen, dass es eines Tages keine Ministerien mehr geben wird, sondern nur noch Misiones. Misiones, die sich um die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung kümmern. So wie es heute ja schon passiert: Die Misión Robinson, um Lesen und Schreiben
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zu lehren, die Misión Robinson II, die die begonnene Ausbildung weiterführt, die Misión Ribas, die die Mittelstufen-Ausbildung umfasst, die Misión Sucre, die die höhere Bildung zum Ziel hat, die Misión Barrio Adentro, die das Gesundheitswesen in die entfernteste Gemeinde bringt, die Misión Piar, die sich um die Bergwerke und Minenarbeiter kümmert, um auch auf diesem Gebiet eine nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen. Und dann eben auch Vuelvan Caras, die die anderen Misiones zusammenführt. Die Leute, die die Bildungsprogramme durchlaufen haben, lernen hier gleichzeitig, ihre Kenntnisse produktiv anzuwenden. Dies kann nicht in einem Ministerium gemacht werden, es ist ein integrierter Ansatz, an dem sich viele beteiligen, beispielsweise auch [der staatliche Ölkonzern] PDVSA, die viele Ressourcen zur Verfügung stellen. Wie jemand mal sagte, es geht darum, Erdöl zu säen, um eine Entwicklung im landwirtschaftlichen Bereich zu ernten und eine Unabhängigkeit im Ernährungssektor zu erreichen. Viele Dinge wurden importiert, da wir uns das dank des Erdöls leisten konnten. Wir sind uns bewusst, dass wir noch über viel Erdöl verfügen, und deshalb müssen wir es jetzt nutzen, die Leute auszubilden, um ökonomisch unabhängig zu werden. Die Konzentration auf das Erdöl hat viel Schaden gebracht, aber nun nutzen wir es für die Ausbildung, um andere Märkte und andere Produktionsmöglichkeiten zu entwickeln. n
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Das ist Teil unseres Lernprozesses. Interview mit Leonardo Raymond Uns erscheint es ungewöhnlich, dass das Militär soziale Projekte unterstützt. Was ist dessen Aufgabe in diesen Projekten? In der Verfassung steht, dass die Armee zur Entwicklung des Landes beitragen soll. Und nach meiner persönlichen Meinung ist die Mehrheit der Armeeangehörigen zufrieden mit dieser Aufgabenstellung – dass wir mal die Kasernen verlassen und zur Entwicklung und zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung beitragen können. Das bedeutet, dass es durch solche Projekte auch innerhalb der Streitkräfte eine Entwicklung gibt? Selbstverständlich lernen wir auch dabei und nicht allein die Leute hier. Wir haben ein Grundwissen und das Hilfsmittel, das uns vielleicht am meisten nützt, sind die Führungsqualitäten, die wir im Zuge des Dienstes innerhalb der Armee bekommen. Das nützt Dir viel in der Arbeit mit den Gemeinden, da es hier vor allem an Leitungsstrukturen mangelt. In aller Bescheidenheit fühle ich mich, als wären die Leute hier in gewissem Sinne meine Soldaten. Nicht in einem kriegerischen Sinne, sondern ich versuche Hilfsmittel, die ich aus den Kasernen kenne, auch hier anzuwenden. Mir
geht es darum, dass die Leute ihr Geld, ihr Essen und ihre Arbeitskleidung erhalten und sich in dem Projekt wohlfühlen. Aber es ist doch ein Widerspruch. Einerseits werden Partizipationsmöglichkeiten für die Leute geschaffen, andererseits ist die Armee aber eine Einrichtung, die auf Befehl und Gehorsam beruht. Das ist ein sehr preußisches Bild vom Militär, dass die Armeeangehörigen geführt werden müssen. Meiner Meinung nach müssen wir flexibel sein und uns der Situation anpassen. Sie können hier jeden fragen, es wird kein Druck ausgeübt, nach dem Motto „Ich befehle und ihr gehorcht“. Das ist Teil unseres Lernprozesses. In der Kaserne sind wir an das System von Befehl und Gehorsam gewöhnt. Hier ist es anders. Wenn ich hier einen Befehl gebe, dann gehorcht ein Teil, ein anderer nicht und wieder andere fangen zu diskutieren an. Das Wichtigste ist, die Mehrheit zu überzeugen. Alle zufrieden zu stellen, geht nicht. Wenn Sie in diesem Projekt arbeiten, sind Sie noch immer Teil der militärischen Struktur?
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Leonardo Raymond Major der venezolanischen Armee und Produktionskoordinator für das Vuelvan Caras-Projekt Tacagua Vieja
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re die Zusammenarbeit mit den Programmen und Misiones auf diesem Gebiet.
Anbau von Nahrungsmitteln im Rahmen der Misión Vuelvan Caras
Nein. Ich arbeite hier als Koordinator für die Produktion, als Dozent und fülle Leitungsaufgaben aus. Die Leute hier sind die Ausgeschlossenen der Ausgeschlossenen. Ich arbeite auch mit, damit die Leute Personalausweise und Geburtsurkunden bekommen. Ein Politiker hat gestern gesagt, dass es nicht möglich sei, dass Leute mit 18 Jahren keine Papiere besitzen. Aber es ist möglich. Hier haben die Menschen nicht die Mittel, sich eine Fahrkarte zu kaufen, um sich die Papiere zu besorgen. Die Leute existieren offiziell nicht. Das ist ein ernstes Problem. Was machen Sie als Koordinator für die Produktion? Es geht im Moment um logistische Aufgaben, um die Bereitstellung der LKWs. Wenn die Produktion anläuft, werde ich mich beispielsweise auch um die Belieferung der Mercál-Läden und der anderen Institutionen, die Lebensmittel kaufen, kümmern. Darüber hinaus habe ich noch Aufgaben im Bereich des Gesundheitswesens und koordinie-
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Sind die Streitkräfte auch in anderen Misiones aktiv? Selbstverständlich sind die Streitkräfte an allen Misiones beteiligt – in der Misión Robinson, Ribas und Sucre – oft als Dozenten und Supervisoren. Auch bei der Misión Mercál arbeiten wir mit. Dies ist aber nicht die Militarisierung der Bevölkerung. Es geht darum, dem Militär ein menschliches Gesicht zu geben. Wenn wir hier in die Dörfer gehen, wollen wir die Leute nicht in Militärs verwandeln. Im Gegenteil, das staatsbürgerliche Bewusstsein wird gestärkt, das während des Militärdienstes in den Hintergrund getreten ist. Aber wir sind sowohl vor als auch nach dem Militärdienst Bürger des Landes, haben eine Familie, Eltern, Geschwister, Kinder, die auch Bürger sind. Daran muss man einfach denken. Ohne den Bezug zur Familie haben Soldaten vielleicht ein anderes Denken, sie fühlen sich als Söldner. Aber wenn wir in diesem Prozess mitarbeiten, beginnen wir bei unseren Familien, denn viele unserer Familien sind auch notleidend. In diesem Punkt unterscheidet sich unsere Armee wahrscheinlich von der Mehrzahl der anderen Armeen der Welt, wo die Mehrheit der Militärs ein Art Kaste bildet und aus wohlhabenden Klassen und der Oligarchie kommt. Hier kommen die Streitkräfte aus den unteren Klassen und deshalb ist unser Denken wahrscheinlich anders. n
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Wir sind hier ein Schaufenster. Interview mit Noralí Verenzuela Wie ist es dazu gekommen, dass hier mitten in Caracas Gemüse angebaut wird? Es war ein Vorschlag der Regierung und ging auf einen Staatsbesuch von Präsident Chávez in Cuba zurück. Dort sah er innerhalb der Städte genau solche Gemüsegärten und er schlug der FAO vor, der Organisation für Ernährung innerhalb der Vereinten Nationen, solche Projekte in internationalem Rahmen zu fördern. Es ging dann darum, im Zuge dieses agro-urbanen Projektes
ein geeignetes Grundstück zu finden – und dieses Grundstück lag brach, es wurde nicht genutzt. Es war ein Drogenumschlagplatz, ein Platz der Jugendbanden, alles voller Müll. Seitens des Zentrums Simón Bolívar, das ebenfalls eine staatliche Einrichtung ist, wurde vorgeschlagen, hier die ersten Anpflanzungen innerhalb der Stadt zu machen. Am 28. März 2002 wurde diese Anlage hier eingeweiht. Davor wurde bereits ein anderes Projekt des organischen Anbaus in einem Militärareal realiBereits bevor die Regierung Chávez mit dem Versuch begann, mittels der Misión Vuelvan Caras einen alternativen Produktionssektor aufzubauen, gab es verschiedene Projekte mit der selben Zielsetzung. Das – im wahrsten Sinne – sichtbarste dieser Projekte sind die Gärten für organischen Gemüseanbau im Parque Central, mitten im urbanen Zentrum von Caracas. Dabei hat die Lage der Gärten durchaus einen symbolischen Charakter, dokumentiert sie doch den sozialen Konflikt: Direkt neben den Gemüsebeeten befinden sich die Tennisplätze des Luxushotels Caracas Hilton.
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Noralí Verenzuela Angestellte des Organoponico Boliva I im Parque Central, Caracas
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siert. Und mittlerweile gibt es hier nebenan eine weitere, etwas größere Anpflanzung. Was war die Motivation für ein solches Programm? Es ist ein Spezialprogramm hin zur Ernährungsautonomie. Auf der einen Seite geht es darum, innerhalb dieser überbevölkerten Stadt Gemüse als Lebensmittel bereitzustellen, auf der anderen Seite ist es auch der Versuch, auf den Einsatz von Chemie beim Anbau zu verzichten. Wie sind die Leute, die hier arbeiten, zu diesem Projekt gekommen? Über dieses Projekt redeten am Anfang nur die Leute aus dem Erziehungs- und dem Arbeitsministerium. Einer von ihnen kam aus dem Viertel San Agustín, das hier in der Nähe ist, und er schlug vor, dass hier Leute aus der Umgebung arbeiten sollten. Und deshalb kommen viele, die hier arbeiten, aus San Agustín. Ich selbst wohne zwar nicht dort, aber meine Familie lebt dort. Wie seid ihr hier organisiert? Ist das hier eine Kooperative oder seid ihr angestellt? Wir sind noch Angestellte des Zentrums Simón Bolívar, des Grundstückseigentümers. Da wir fast alle Leute sind, die zuvor keine Erfahrungen im landwirtschaftlichen Bereich hatten, ist der Plan, dass wir eine bestimmte Zeit lang ausgebildet werden und wir danach eine Kooperative gründen, die dann alles eigenverantwortlich weiter führt.
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Was haben die Leute gemacht, bevor sie „städtische Bäuerinnen und Bauern“ wurden? Lediglich diejenigen von uns, die aus dem Landesinneren kommen, haben Erfahrung in diesem Bereich, die Leute aus Caracas haben alle irgendwas anderes gemacht. Ich hatte beispielsweise, bevor ich hier begonnen habe, noch nie etwas mit Landwirtschaft zu tun, ich habe früher im Tourismusbereich gearbeitet, in einem Reisebüro. Stell’ dir das vor, und jetzt bearbeite ich hier das Land! Für wen produziert ihr, wer kauft das Gemüse? Leute aus der Umgebung, aus San Agustín und den andern Vierteln hier. Hinzu kommen noch die Leute, die in den beiden Türmen des Parque Central arbeiten, in denen ja viele Ministerien untergebracht sind. Ist das Projekt hier auch in die Misión Mercál eingegliedert? Ja, es ist ein Ziel dieses Projektes, die Misión Mercál und die bolivarianischen Schulen zu unterstützen. Aber wir sind hier ein Schaufenster, ein Beispiel für alle anderen. Um im großen Umfang zu verkaufen und Schulen beliefern zu können sind wir zu klein. Letztendlich bebauen wir hier weniger als einen halben Hektar und verkaufen daher alles nur an die Nachbarschaft. Wie viele solcher Anbauprojekte mit organischem Dünger gibt es mittlerweile?
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In der Stadt Caracas zwei, dazu kommen noch fünf in Militärzonen. Außerhalb von Caracas gibt es solche Projekte in mehreren Teilen des Landes, unter anderem in den Bundesstaaten Miranda, Portuguesa, Bolívar, Zulia, Nueva Esparta und Amazonas. Ihr arbeitet mit organischem Dünger. Wo bekommt ihr ihn hier in der Stadt her? Wir kompostieren hier die Pflanzenrückstände. Außerdem werden wir aus der Umgebung beliefert, und auch mit Abfallprodukten aus der Zuckerrohrverarbeitung im Westen des Landes. Trägt sich dieser Anbau selbst oder werdet ihr als „Schaufenster“ subventioniert? Es trägt sich, das Zentrum Simón Bolívar bezahlt uns mit den Einkünften aus dem Verkauf. Wir bekommen hier den gesetzlichen Mindestlohn plus eines Nachtzuschlags für diejenigen, die in der Nacht hier arbeiten. Darüber hinaus wird der Gewinn, den das Projekt abwirft, geteilt. Fünfzig Prozent behält das Zentrum Simón Bolívar, fünfzig Prozent erhalten wir. Wie viele Leute arbeiten hier insgesamt? Wir sind zehn. Im Laufe des Projektes kommen aber immer wieder Agrar-Ingenieure zu Besuch. Entweder sind sie von der FAO oder aus Cuba, die im Rahmen eines bilateralen Abkommens zu uns kommen. Zur Zeit arbeitet eine cubanische
Ingenieurin mit uns, und gerade ist ein Bewässerungsspezialist angekommen. Wir haben hier immer Leute, die uns beraten. Das bedeutet, dass es hier ständig Weiterbildungen gibt. Es gibt Schulungen über Landwirtschaft, Bewässerung und über die Bekämpfung von Schädlingen. Ich finde das toll. Als ich vor anderthalb Jahren hier angefangen habe, wusste ich nichts. Ich habe viel gelernt – vor allem, was die praktische Arbeit betrifft. Mich persönlich bringt das weiter, denn ich werde jetzt an der Bolivarianischen Universität studieren, wo es seit Kurzem das Studienfach Ökologie gibt – und ich bin hier nicht die Einzige, die das machen wird. n
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Gemüseanbau vor der Kulisse des Parque Central
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Informeller Sektor und Schwerindustrie. Arbeitswelten und gewerkschaftliche Organisierung Der allererste Eindruck in Venezuela ist, dass die überwiegende Mehrzahl der Beschäftigten im informellen Sektor arbeitet. Straßenverkäuferinnen, Schuhputzer, die „Tigertöter“ – die Bezeichnung der Bewohnerinnen und Bewohner aus den Barrios für Gelegenheitsjobs, und dann diejenigen aus den kleinen Werkstätten … Dem gegenüber stehen die Beschäftigten in den riesigen, in ihrer Mehrzahl staatlichen Industrieunternehmen der Ölindustrie, des Erzabbaus, Aluminium- und Stahlwerke. Ein relativ kleines Industrieproletariat – sozialversichert, mit Tariflöhnen, geregelten Arbeitszeiten, oftmals Werkswohnungen, Kindergärten für den Nachwuchs, etc. Daneben sind Hunderttausende in staatlichen, kommunalen Behörden, im privaten Dienstleistungssektor und in den öffentlichen Versorgungsunternehmen beschäftigt. Der erste Eindruck relativiert sich: Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung versucht ihr Dasein mit Arbeiten im informellen Sektor zu fristen. Die offizielle Arbeitslosenrate beträgt 15 Prozent. Der Großteil der venezolanischen Einnahmen werden von einem
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sehr kleinen Teil der Arbeiterklasse erwirtschaftet. Fast die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts und große Teile der Exporterlöse werden von den Beschäftigten in der Erdölindustrie erbracht. Selbstverständlich wurde die Alimentierung der Oligarchie (wie auch die heutigen sozialen Programme) nur davon bezahlt. Die Profiteure dieses Reichtums waren in der Vergangenheit das Privatkapital, das subventioniert wurde, die jeweiligen Regierenden, ihre Parteien und Günstlinge. Auch der Ausbau der staatlichen Schwerindustrie wurde von den Einnahmen aus dem Erdölsektor finanziert. In so einem gesellschaftlichen Zustand konnte es auch gar nicht ausbleiben, dass die mit einer der beiden traditionellen politischen Parteien, der sozialdemokratischen AD, verquickte Gewerkschaft, CTV, selbst vor die Hunde ging. Sowohl bei dem Putschversuch im April 2002 wie auch bei dem „Streik“ Ende 2002 gegen die Chávez-Regierung, war der Gewerkschaftsdachverband CTV neben den bürgerlichen Parteien, rechten Militärs, der Kirche, bürgerlichen Medien und dem Unternehmerverband
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einer der Akteure. Das war für die fortschrittlichen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter der berühmte Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte. Sie gründeten den neuen Dachverband UNT. Der „Streik“ wird von Vielen in Venezuela als „Quasi-Aussperrung“ dargestellt. Sicher haben die Unternehmer in vielen Fällen ihre Betriebe zugesperrt, in ebenso vielen Fällen haben Beschäftigte in verschiedenen Bereichen trotzdem die Produktion und den Betrieb in Eigeninitiative aufrecht erhalten. Es gibt aber auch Beispiele, wie in Teilen der Erdölindustrie, wo auch Technikerinnen und Techniker, Verwaltungsangestellte und Arbeiterinnen und Arbeiter gestreikt haben. In der Folge wurde nicht nur die Geschäftsführung von PDVSA entlassen, sondern auch viele der Beschäftigten, die an dem Streik beteiligt waren. Eine sehr harte Strafe, zumal gleichzeitig die meisten der reaktionären Putschisten straffrei ausgingen. Früher wurde die staatliche Erdölgesellschaft PDVSA als „Staat im Staat“ kritisiert. Auch heute ist vieles kritisch zu sehen. So beispielsweise bei einer Erdölraffinerie in Punto Fijo, im Nordwesten des Landes. Das örtliche Management der Gesellschaft gibt die Anzahl der Beschäftigten mit etwa 3.000 an, die vor allem in der Verwaltung und Prozessbeobachtung und -steuerung arbeiten. Es ist natürlich klar, dass es in einer Anlage von solcher Größe in fast gleicher Anzahl auch Arbeiterinnen und Arbeiter bedarf, die die permanent notwen-
digen Reparatur- und Wartungsarbeiten durchführen müssen. Nicht anders als sonst in der Welt wurden diese Tätigkeiten während der letzten Jahrzehnte ausgegliedert und an die Subunternehmer vergeben. Der neue Vorstand erteilt nun die Aufträge, wenn möglich, an Kooperativen, die oftmals aus ehemaligen Beschäftigten der Subunternehmer bestehen. Die Entscheidung des alten Vorstandes, sich nur noch auf das „Kerngeschäft“ zu konzentrieren, wurde nicht rückgängig gemacht, sondern etwas „sozialer“ gestaltet. Dass die Löhne und sozialen Leistungen für diese ausgegliederten Beschäftigten – ob Angestellte eines Subunternehmers oder Kollektivmitglieder – nicht die der Festangestellten sind, versteht sich. Zu dieser widersprüchlichen Lage passt auch, dass die Beschäftigten der Erdölindustrie, die während der Sabotageaktionen der Unternehmer die Produktion aufrecht erhielten, nun zwei ihrer Vertreter in die neue Geschäftsleitung entsenden dürfen und sich scheinbar damit zufrieden geben. Diskussionen darüber, wer über die Produktion bestimmt, wie in Zukunft produziert werden soll, wem die Produktionsmittel gehören und gehören sollten, werden in der Gesellschaft offensichtlich nicht breit geführt. Es herrscht aber Konsens darüber, dass neben den privatkapitalistischen und staatlichen, kollektive Eigentumsformen gefördert, und die öffentlichen Betriebe nicht privatisiert werden. n
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Was mich optimistisch macht, ist das Verhalten der Leute. Interview mit Stalin Pérez Borges
Stalin Pérez Borges Mitglied der nationalen Koordination der Unión Nacional de Trabajadores (UNT)
Wann wurde die UNT gegründet, was waren die Gründe für diese Entscheidung? Die UNT wurde am 5. April 2003 gegründet. Die endgültige Entscheidung dafür war eine Folge des Streiks, der Sabotage im Ölsektor zwischen Dezember 2002 und Februar 2003. Die CTV – die Confederación de Trabajadores de Venezuela –, die der damals größte Gewerkschaftsdachverband war, spielte in diesem Streik eine aktive, organisierende Rolle, genauso wie zuvor während der Putsches im April 2002. Obwohl die CTV der größte Dachverband war, hatte sie vor allem in den letzten Jahren keine große Unterstützung mehr seitens der Arbeiter. Die Ablehnung und der Hass gegen die CTV vertiefte sich, als sie sich an der Putschregierung beteiligte und sich mit dem Unternehmerverband FEDECAMERA verbündete. Zwischen April 2002, dem Putschversuch und dem Beginn des Streiks wurde innerhalb der klassenbewussten Organisationen die Diskussion verstärkt, ob man weiter in der CTV bleiben oder sie verlassen soll. Die Frage spaltete schon lange die Kräfte, die den Prozess unterstützten, der sich seit der Regierungsübernahme
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von Chávez 1998 entwickelte. Bereits im Rahmen des verfassungsgebenden Prozesses gab es eine Befragung der Leute, mit dem Ziel, der Gewerkschaft eine neue Legitimierung zu geben – schließlich gab es in der CTV weder Befragung noch Wahlen, die Posten wurden zwischen den einzelnen politischen Fraktionen aufgeteilt. Noch im November 2001 gab es ein landesweites Treffen mit dem Ziel der Gründung eines neuen unabhängigen Dachverbandes. Es war eine sehr harte Diskussion innerhalb der FBT - der Fuerza Bolivariana de Trabajadores –, in der sich zu diesem Zeitpunkt die Gewerkschaften organisierten, die den Prozess unterstützten. Schließlich gab es eine sehr knappe Mehrheit der Gewerkschaftsführer, der auch ich angehörte, die sich gegen die Gründung eines neuen Dachverbandes zu diesem Zeitpunkt aussprach. Wir glaubten, dass dieser Verband zu sehr an die Regierungspolitik gekoppelt wäre und wir deshalb den Kampf innerhalb der CTV auszutragen hätten, damit die Arbeiter eine eindeutig unabhängige Organisation behielten. Während des Öl-Streiks begannen die Arbeiter sich trotz dieser Entscheidung außerhalb der CTV-
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Strukturen zu organisieren. Dadurch wurden wir gezwungen, zu reagieren und uns der CTV entgegenzustellen. Wir, d.h. Gewerkschafter, die aus verschiedenen politischen Organisationen stammen, die gegen den Streik waren und den Prozess unterstützen. Leute aus der FBT, Mitglieder der MVR, der Kommunistischen Partei, der Liga Socialista aber auch Unabhängige. Wir schlossen eine Übereinkunft mit Gewerkschaftern aus dem öffentlichen Dienst, die einer christlich-sozialen Strömung innerhalb der CTV angehörten, darunter der Vorsitzende der Angestellten der Metro von Caracas. Außerdem schloss sich Machuca, ein Führer der wichtigsten Metallarbeitergewerkschaft in Ciudad Guayana an. Zusammen mit der FBT beschlossen sie, den neuen Dachverband zu gründen. Unterstützt wurde diese Gründung auch von vielen kleineren linksradikalen Arbeiterorganisationen aus verschiedenen Teilen des Landes, wie beispielsweise dem Bloque Sindical Clasista, aus dem ich komme. Eine bürokratische Übereinkunft Wie darf man sich diesen Prozess der Gründung vorstellen? Schließlich waren es ja Organisationen und Personen mit sehr unterschiedlichen Zielsetzungen, die sich da zusammenschlossen. Das war eine bürokratische Übereinkunft. Die FBT einerseits und die anderen Gewerkschaftsvertreter andererseits waren ungefähr gleich
stark. Wobei beispielsweise der zuvor erwähnte Gewerkschaftsführer aus dem Metallsektor sich der UNT anschloss mit der Vorstellung, er würde zum Präsidenten des Dachverbandes gewählt. Das lehnten wir ab, da wir eine horizontale Struktur im Vorstand wollten. Letztendlich war diese von den Arbeitern geforderte Gründung ein bürokratisches Übereinkommen zwischen verschiedenen Gewerkschaften, eine Wahl der Gremien durch die Basis fand nicht statt. Dieses Problems waren wir uns bewusst, und daher gab es den Beschluss, innerhalb eines Jahres freie und demokratische Wahlen durchzuführen. Aber die gesellschaftliche Wirklichkeit, die von der Konfrontation zwischen den Kräften der alten Parteien und der CTV einerseits und den Prozess-unterstützenden Kräften andererseits geprägt ist, hat dieses Vorhaben bis heute torpediert. Wie reagierten die Leute auf die Gründung der UNT? Unmittelbar nach der Gründung im April 2003 war unsere erste Diskussion, ob wir unabhängig von der Regierung eine zentrale, landesweite 1. Mai-Demonstration durchführen sollten oder nicht. Der Teil innerhalb der UNT, der aus den bürokratischen Strukturen der CTV gekommen war, sprach sich dagegen aus. Die Leute aus der FBT und den linken Organisationen bestanden hingegen auf einer Demonstration, auf der sowohl die us-amerikanische Einmischung als auch die Politik der Unternehmen kritisiert
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Werkstatt in Caracas
1 Venezuela ist in 23 Bundesstaaten, den Distrito Federal (Caracas) und eine Dependencia Federal (mehrere Inselgruppen) aufgeteilt
werden sollte. Die Kritiker der Demonstration argumentierten, dass wir zu wenig Kraft hätten, nur sehr wenig Leute kämen und wir deshalb ein schlechtes Bild in der Öffentlichkeit abgeben würden. Wir sagten, dass sie die Realität im Land nicht verstünden, und dass diese Demonstration von außerordentlicher Bedeutung sei. Wir rechneten mit zwischen 200.000 und 500.000 Teilnehmern. Und obwohl nur unser Flügel richtig für die Demonstration mobilisierte, wurde es eine enorme Demonstration. Nach unseren Berechnungen nahmen zwischen 500.000 und 700.000 Menschen daran teil, andere Schätzungen sprechen von bis zu einer Million. Nach dieser Demonstration war es beeindruckend zu sehen, wie der Aufbau der UNT voranschritt. Dies war weniger den Fähigkeiten der Leitung geschuldet als dem Drängen unterschiedlicher Gewerkschaften und gewerkschaftlicher Zusammenschlüsse, UNT beizutreten. Ein Phänomen, das bis heute andauert. Wir haben aus den entferntesten Teilen des Landes Aufnahmeanträge von Gewerkschaften, die sich direkt an die Zentrale richten, obgleich sie sich eigentlich auf
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Ebene der Bundesstaaten organisieren müssten. Im Laufe des Ölstreiks sind viele Unternehmen zusammengebrochen und viele Leute entlassen worden. Wir haben uns an sieben Betriebsbesetzungen beteiligt, um die Arbeiter zu unterstützen. Drei von den Fabriken sind immer noch besetzt, eine große papierverarbeitende Fabrik, eine Maschinenbau-Fabrik und ein italienisches Unternehmen, in dem Granit verarbeitet wird. Wir haben viele Mobilisierungen in den Jahren 2003 und 2004 durchgeführt, inklusive Protestaktionen vor dem Präsidentenpalast und vor den Ministerien. Bereits nach einem Jahr war die UNT in 19 der 25 Bundesstaaten1 vertreten, heute sind wir es in 24. Und wird sind größer als die CTV. Der wichtigste Gewerkschaftsverband Venezuelas In welchen Sektoren seid ihr vertreten? Wir vertreten rund 95 % des öffentlichen Dienstes, der mit 700.000 Beschäftigten einer der größten des Landes ist, den gesamten Sektor der Energieerzeugung mit rund 30.000 Beschäftigten, ferner sind wir im Transportwesen, der pharmazeutischen Industrie, dem Ernährungssektor, der Metallverarbeitung vertreten und in 90 % des Baugewerbes. Auch sind fast alle Gewerkschaften, die in den großen Privatkonzernen arbeiten, bei uns organisiert. Ebenso die der großen transnationalen Konzerne der
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Automobilindustrie, bei Ford, General Motors, Mitsubishi und Toyota. Lediglich bei DaimlerChrysler sind wir noch nicht. Obwohl wir dort meiner Meinung nach die Mehrheit der Arbeiter hinter uns hätten, hat es die Führung der dort dominierenden Gewerkschaft, die noch der CTV angehört, bislang geschafft, mit zweifelhaften Verfahrenstricks die Aufstellung einer alternativen Liste zu den internen Wahlen zu verhindern. Darüber hinaus sind bei uns auch noch die Gewerkschaften von Coca Cola, Pepsi, Firestone, des Lebensmittelkonzerns Polar usw. organisiert. Um ein Beispiel für die Bedeutung von UNT zu geben: In den ersten vier Monaten des Jahres wurden in Venezuela insgesamt Tarifverträge für 877.593 Personen abgeschlossen, 97 % davon wurden von UNTGewerkschaften unterschrieben, 0,5 % von der CTV und der Rest von unabhängigen Gewerkschaften. Trotzdem erkennt die CTV bis heute nicht an, dass wir die Organisation sind, die die meisten Beschäftigten vertritt. Es hat auch bis zur diesjährigen Vollversammlung der ILO gedauert, dass wir international als wichtigster Repräsentant der venezolanischen Arbeiter anerkannt wurden, nachdem sich die ILO letztes Jahr wegen der zugespitzten politischen Situation in Venezuela nicht festlegen wollte. Trotzdem versteht es CTV immer noch, außerhalb Venezuelas gegen die venezolanische Regierung und die UNT Stimmung zu machen.
Sie argumentieren damit, dass in Venezuela die Regierung die gewerkschaftlichen Rechte missachte, da sie in die Bereiche, in denen die CTV dominiert, Leute schicke, um die Bildung anderer Gewerkschaften zu fördern. Dem muss entgegnet werden, dass diese Gewerkschaften auf Initiative der Arbeiter gebildet wurden. Das Gesetz erlaubt es, dass 20 Beschäftigte einer Firma eine Betriebsgewerkschaft bilden dürfen, mit 40 Beschäftigten eine Bereichsgewerkschaft. Diese Möglichkeit gab es früher nicht, in diesem Bereich herrschte eine Diktatur, weder die Regierung noch die CTV ließ das zu. Es ist aber nicht die Regierung, die in den Firmen Gewerkschaften installiert, es sind Arbeiter in Eigeninitiative. Einer der eher unbekannten Aspekte der Gewerkschaftsgeschichte in diesem Land ist, dass tatsächlich im gewerkschaftlichen Bereich eine Diktatur herrschte. Ein Beispiel von vielen ist der Fahrzeugbau in Carabobo. Der Typ, der die entsprechende Gewerkschaft in diesem Bereich leitete, verfügte über eine bewaffnete Gruppe, die Leute zusammenschlug, die missliebige Flugblätter innerhalb der Fabrik verteilten. Er lebte wie ein König, hatte seine Häuser, Geliebte und Bodyguards. Momentan macht die CTV noch eine Kampagne innerhalb der ILO bezüglich der leitenden Angestellten, die nach dem Streik bei PDVSA entlassen wurden. Diese haben eine Gewerkschaft gebildet, die sich Gente del Petróleo nennt.
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Sie sagen, die Regierung habe die Arbeitsrechte verletzt und jetzt kommt auch eine ILO-Delegation, um dies zu überprüfen. Wir haben ein Interesse daran, dass die Delegation kommt, damit sie die Wirklichkeit kennen lernt. Wir hoffen, dass sie in die Firmen gehen, dort wo die Arbeiter sind. Würden sie das machen, so wäre dies für uns wertvoller als eine eigene internationale Kampagne. Die einzige Gefahr, die besteht, ist, dass es der CTV gelingt, dass die Leute nur die CTV-Zentrale kennen lernen und damit nur deren Sichtweise. Aber natürlich heißen wir die Delegation der ILO hier herzlich willkommen, wann immer sie kommen, um mit ihnen zu diskutieren, was innerhalb der Gewerkschaftsbewegung in Venezuela passiert. Wir werden auch zeigen, dass wir sowohl nach unserem Programm als auch in unserem Agieren ein demokratischer und klassenbewusster Zusammenschluss sind und unabhängig von der Regierung und den politischen Parteien.
2 Aufstand der Einwohner und Einwohnerinnen der Armenviertel von Caracas im Februar 1989, der blutig niedergeschlagen wurde
Kritik an der Regierung Wie würden Sie das Verhältnis von UNT zur Regierung Chávez beschreiben? Wir haben sehr wohl den Prozess die ganze Zeit verteidigt und haben dies auch zum Referendum gemacht, indem wir für das „Nein“ geworben haben. Das erfüllt uns auch mit Stolz, denn mit dem Referendum wollten sie ja nicht nur das Mandat des Präsidenten aufheben, sondern den ganzen revolutionä-
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ren Prozess. Das ist ein Prozess, der ja nicht mit der Präsidentschaft von Chávez begonnen hat, sondern schon früher, 1989, mit dem Caracazo2 – Chávez ist ein Produkt der Krise seit 1989. Der Prozess hat sich immer weiter vertieft und es ist klar, dass wir hier auf Seiten dieser Regierung sind. Dieser revolutionäre Prozess ist breit und sehr demokratisch. Wenn jetzt Chávez nach dem gewonnenen Referendum beginnt, eine politische Annäherung an die Unternehmer zu suchen und anfängt, ihnen Zugeständnisse auf Kosten von Errungenschaften der Arbeiter zu machen, dann wird er auch Probleme mit der Gewerkschaftsbewegung bekommen. Das Gefühl, ein Subjekt der Entwicklung zu sein, ist unter den Arbeitern an der Basis sehr ausgeprägt. Und jetzt gibt es ein Problem innerhalb des Chavismus’ bezüglich der bevorstehenden Regionalwahlen. Die Kandidaten wurden in ihrer Mehrheit von Chávez und der MVR ausgewählt, und trotzdem werden viele von ihnen kritisch hinterfragt. An manchen Orten wurden Gegenkandidaten benannt. Und auch als Chávez forderte, dass die Kräfte, die ihn unterstützen, die offizielle Kandidatur stärken und die Gegenvorschläge zurück ziehen sollten, haben sich trotzdem einige geweigert. Das einzige, was eine größere Krise verhindert, ist das Bewusstsein über den gemeinsamen Gegner. Es herrscht gewissermaßen eine von außen aufgezwungene Disziplin, der sich einige unterordnen, andere jedoch nicht.
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Die Position der UNT ist es, dass die Kandidaten von der Basis bestimmt werden und nicht von Chávez und auch nicht von den ihn unterstützenden Parteien. Unglücklicherweise sind die Wahlen bereits Ende nächsten Monats und daher ist zuwenig Zeit, diesen Kampf auszutragen. Zur Zeit beschäftigten uns auch die Diskussionen und die Vereinbarungen, die die Regierung mit den Unternehmern schließt. Viele für die Arbeiter wichtige Dinge stehen da auf dem Spiel. So wurde vereinbart, dass die Regierung den Unternehmen in großem Umfang Kredite gewährt, aber trotzdem wollen die Unternehmer, dass die Regierung das anstehende Gesetz zur Sozialversicherung ändert. Dieses Gesetz ist ein guter Schritt nach vorne, bislang wurde es aber aus Rücksicht auf die Unternehmen noch nicht umgesetzt. Wir befürchten, dass die Regierung in dieser Frage immer weiter zurückweicht und die Umsetzungen des Gesetzes zurückstellt. Momentan werden in Kommissionen der Nationalversammlung mit den verschiedenen Sektoren noch weitere Reformen im Bereich der Arbeitsgesetzgebung mit dem Ziel diskutiert, die verfassungsmäßigen Garantien bezüglich der sozialen und wirtschaftlichen Rechte zu erfüllen. Jetzt gibt es die Angst, dass auch diese Reformen dem Druck der Unternehmer zum Opfer fallen. Aber auch auf einem anderen Gebiet machen die Unternehmer Druck – bei den Abfindungen. In Venezuela bekommen die Beschäftigten, wenn
sie eine Firma nach 15 oder 20 Jahren verlassen, eine Abfindung, die sich nach Arbeitsjahren und dem letzten Gehalt berechnet. Diese Abfindung ist der wichtigste Teil der Altersversorgung. Im Rahmen von neoliberalen Reformen hat die Regierung von Caldera, der vor Chávez Präsident war, 1997 die maximale Anrechnungszeit von 20 auf 10 Jahre begrenzt, und der zur Berechnung herangezogenene Verdienst richtete sich nun nach den in jedem Jahr erzielten Einkommen. Das hat zu erheblichen Einkommensausfällen für die Arbeiter geführt. Dass damals die CTV dieser Verschlechterung zustimmte, war auch einer der wichtigsten Gründe dafür, dass sich die Arbeiter von der CTV abwendeten. Eine der wenigen, bislang von Chávez durchgesetzten realen Verbesserungen war die Rückgängigmachung dieses Beschlusses. Ein weiterer dringender Punkt, zu dem wir die Leute momentan mobilisieren, ist das Dekret über den Kündigungsschutz, das in den letzten Jahren angewandt wurde. In der Auseinandersetzung mit den Unternehmen schützte die Regierung die Arbeiter vor Kündigungen, indem sie alle sechs Monate das Dekret zum Kündigungsschutz verlängerte. Darin wurden Beschäftigte, die weniger als 600.000 Bolívares3 verdienen generell vor Kündigungen geschützt. Die Unternehmen fordern jetzt, dass dies aufhört. Da wir fürchten, dass die Gespräche mit den Unternehmern Auswirkungen auf die Rechte der Be-
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3 Entspricht umgerechnet rund 250 Euro
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schäftigten haben, fordern wir als Erstes, dass die Absprachen publik gemacht werden. Es gibt ja die negativen Erfahrungen von Konzessionen zur Ausbeutung von Erdgasvorkommen, die an internationale Konzerne wie Texaco vergeben wurden. Auch hier kennen die Leute bislang die Einzelheiten der Verträge nicht. Wir sind gegen ein solches Vorgehen – man darf keine Verträge unterzeichnen, deren Inhalt nicht öffentlich bekannt ist.
4 Área de Libre Comercio para las Américas – vor allem von den Vereinigten Staaten forcierte und in Lateinamerika umstrittene Freihandelszone von Alaska bis Feuerland 5 Maßnahmenpaket der USA zur militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung der rechtsgerichteten kolumbianischen Regierung
Verteidigung des Prozesses Trotz dieser Befürchtungen und Kritik scheint die Regierung Chávez bei den Beschäftigten außerordentlich populär zu sein? Die Mehrheit der Arbeiter steht auf Seiten des Prozesses. Sieben von zehn haben bei dem Referendum mit No, d.h. für die Fortsetzung der Präsidentschaft von Chávez gestimmt. Wir wollen, dass viele der Veränderungen, die angegangen wurden, weiter entwickelt werden. Beispielsweise in der Frage des Schutzes vor Kündigungen, der neuen Sozialversicherungsgesetzgebung, die ja schon existiert aber noch nicht umgesetzt wird. Und dann gibt es noch den Aspekt der Privatisierungen. Im Gegensatz zu allen anderen Regierungen in Lateinamerika hat diese die Privatisierungen gestoppt. Auch hier hatten die Vorgängerregierungen viele Bereiche privatisiert: die Telekommunikationssparte, die Fluggesellschaft, die Eisenhüttenwerke und es gab den Plan, die Stromerzeugung, die rest-
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liche Schwerindustrie und auch PDVSA zu privatisieren. Dagegen ist jetzt die Regierung Chávez. Ferner können wir feststellen, dass die Regierung gegen das geplante Freihandelsabkommen ALCA4 ist, dass Chávez gegen die Invasion in Afghanistan und den Irak war und sich dem sogenannten Plan Colombia5 entgegenstellt. Aber es ist klar, dass wir die No-Kampagne unterstützt haben, nicht weil wir bestimmte Diskurse hören wollen, sondern weil wir Taten sehen wollen. Wir halten es auch für einen Fortschritt, dass momentan eine Wiederaneignung der antiimperialistischen Traditionen innerhalb eines großen Teils der Arbeiterklasse stattfindet. Dieser Prozess wird durch den Präsidenten gefördert, der dieses antiimperialistische Bewusstsein mit der bolivarianischen Vision einer lateinamerikanischen Integration verbindet. Aber das Außergewöhnliche an diesem Prozess ist, dass jetzt die Basisbewegungen die Möglichkeit haben, über Versammlungen an den Entscheidungen, die sie betreffen, zu partizipieren. Jetzt gibt es ein Gesetz über die „soziale Kontrolle“, das der Gemeinschaft die Möglichkeit gibt, sowohl den Haushalt als auch die Amtsführung der öffentlichen Mandatsträger zu überwachen. Was jenseits dieser politischen Fragen zur Popularität der Regierung entscheidend beiträgt, sind natürlich auch die Misiones im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Obwohl wir das alles würdigen, kritisieren wir trotzdem an ver-
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schiedenen Punkten öffentlich die Regierung. Innerhalb der Regierung und der Ministerien gibt es viele Funktionäre, die in Korruption verwickelt sind. Ein Umstand, den sich jetzt auch die Opposition zu nutze macht, und eine Kampagne gegen diese Korruption startet. Auch wurden nur einige wenige Führungsleute ausgetauscht, obgleich es dort Leute gibt, die in den Unternehmerstreik verwickelt waren, der das Land destabilisieren sollte. Die Regierung hat bislang auch noch keine umfangreichen Programme zur Schaffung von Arbeitsplätzen – wir würden uns wünschen, dass sie dieses Ziel aggressiver verfolgt. Unabhängig von den Spätfolgen, die die Sabotage der Unternehmer, d.h. ihr Streik, noch hat, müsste die Arbeitslosenquote niedriger sein, schließlich erleben wir gerade einen Boom bei den Ölpreisen. Man muss der Opposition und der CTV ja nicht unbedingt glauben, dass die Quote bei 20 % liegt, aber auch die offizielle Quote von 16 % ist sehr hoch. Misión Cruz Villegas Bei der Vielzahl von Aufgaben, kommen da notwendige interne Prozesse – beispielsweise die anstehenden innergewerkschaftlichen Wahlen – nicht zu kurz? Die UNT bereitet sich gerade auf drei grundlegende Dinge vor. Erstens darauf, dass Ende diesen Jahren oder Anfang nächsten Jahres Wahlen durch die Basis stattfinden. Dabei gibt es aber auch interne Widersprüche, vor allem mit dem Teil der Funktionäre,
die von CTV in die UNT gewechselt sind. Bereits im Frühjahr gab es Auseinandersetzungen. Ursprünglich gab es ja den Beschluss, dass die Leitung nur provisorisch für ein Jahr gewählt worden war. Entsprechend fordert der klassenbewusste Flügel seit längerem die Durchführung der Wahlen. Dabei stoßen wir aber auf Widerstand aus der eigenen Gewerkschaftszentrale und anstatt sich an der Vorbereitung der Wahlen zu beteiligen, versuchen manche, diese zu sabotieren. Es gab auch schon den Fall, dass uns der Zutritt zu Gewerkschaftsräumen verweigert wurde und Einzelne massive Drohungen erhielten.
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Erdöl-Raffinerie bei Punto Fijo
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Das erinnert an den Stil der alten CTV? Es ist das gleiche Verhalten. Aber die Leute kommen ja auch aus der CTV. Diese Kräfte suchen gerade das Bündnis mit der Metallgewerkschaft von Machuca und bieten diesem an, ihn zum Präsidenten zu wählen. Dieses Bündnis setzt sich aus sehr bekannten Gewerkschaftsführern zusammen, nicht nur aus dem Metall-, sondern auch aus dem öffentlichen Sektor. Trotzdem sind die Basis und die Mehrzahl der Gewerkschaften zumindest im öffentlichen Dienst auf unserer Seite. Aber das Problem mit den Leuten, die noch immer den Führungsstil der CTV pflegen, hoffen wir mit den Wahlen zu lösen. Die zweite wichtige Aufgabe, vor der UNT steht, ist die Weiterbildung in den Gewerkschaften und deren Konsolidierung. In Anlehnung an die Misiones, die die Regierung durchführt, haben wir jetzt die Misión Cruz Villegas ins Leben gerufen, die nach einem alten Gewerkschaftsführer benannt ist, der aus der Kommunistischen Partei kam. In dieser Misión geht es um die Ausbildung der neuen Gewerkschaftsfunktionäre, die alle in politischer Hinsicht und was die Gewerkschaftsarbeit betrifft, weitgehend unerfahren sind. Dies ist auch nicht verwunderlich, schließlich gab es in den alten Gewerkschaften 10, 20, bis zu 40 Jahre lang keine Wahlen und entsprechend auch keine gewerkschaftliche Schulung der Leute. Sie hatten ja Angst, dass die Leute dann Wahlen einfordern wür-
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den. Daher haben die Leute nur eine geringe politische Bildung, was für uns ein Risiko ist, denn schließlich gibt es hier auch die Tradition, dass die Unternehmer versuchen, einzelne Funktionäre zu kaufen und zu korrumpieren. Nächste Woche werden wir ein viertägiges Seminar in der „Universität der lateinamerikanischen Arbeiter“ in San António durchführen. Ebenso gibt es einen Plan zur Zusammenarbeit mit öffentlichen Universitäten, um verstärkt die gewerkschaftliche Bildung voranzutreiben. Mit anderen Gewerkschaftsverbänden in Argentinien und hauptsächlich Kolumbien haben wir bereits die Möglichkeit von Austauschprogrammen diskutiert, in deren Verlauf neue Funktionäre für den Zeitraum eines Monats in das jeweils andere Land fahren und die dortige Praxis kennen lernen. Die zweite Zielsetzung der Misión ist, zu garantieren, dass die Beitritte in die UNT formal korrekt abgeschlossen werden. Viele sind bereits bei uns organisiert, haben aber immer noch nicht die entsprechenden Unterlagen erhalten. Welchen Schwerpunkt haben die Schulungen, geht es mehr um juristische Fragen oder auch um politische Theorien? Um Alles, sowohl um politische und gewerkschaftliche Fragen als auch um das Arbeitsrecht. Im aktuellen Bildungsprogramm geht es zum Einen um die bolivarianische Verfassung und die Rechte der Arbeiter und in einem weiteren Teil
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um Kurse zur Verhandlungsführung, d.h. wie soziale Forderungen gestellt werden. Aber wir wollen in allen Bereichen Schulungen machen, schließlich handelt es sich hier um eine sehr, sehr junge Gewerkschaft, wo noch Vieles fehlt. Als neue Gewerkschaft sind wir auch damit konfrontiert, dass der Organisierungsgrad der Beschäftigten relativ gering ist. Lediglich 20 % sind gewerkschaftlich organisiert. Gerade weil in Kleinbetrieben bis zu 20 Arbeiter keine Gewerkschaft vertreten ist, gibt es dort auch ein Klima der Rechtsfreiheit. Mit unserem Bildungsprogramm wollen wir auch in Bereiche hineinwirken, in denen es bislang keine Gewerkschaften gibt. Was wir auch noch nicht haben – und damit bin ich bei dem dritten Punkt der dringendsten Aufgaben ist ein richtiges Statut. Es gibt nur ein provisorisches. Bei unserem ersten landesweiten Kongress war
aufgrund der Programmdiskussion keine Zeit dafür. Momentan wird überall an der Basis ein Entwurf diskutiert und im Oktober soll eine Konferenz das Thema behandeln. Revolution in der Revolution Eine zentrale Forderung von linken Basisorganisationen ist die nach der „Revolution in der Revolution“ beziehungsweise nach einer „Vertiefung der Revolution“. Was beinhaltet diese Forderung aus eurer Sicht? Diese Forderungen vertritt auch die UNT. Für uns geht es zunächst darum, dass angegangene Veränderungen auch durchgesetzt werden, beispielsweise die Gesetze zum Kündigungsschutz oder zur Sozialversicherung. Nach unserer Meinung agiert die Regierung gegenüber den Unternehmern in einer schlechten Art und Weise, sie scheint nicht fähig, die Sachen durchzusetzen. Deshalb kritisieren wir die Regierung auch heftig. Auch beEisenerzVerarbeitung bei Ciudad Guayana
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züglich des progressiven Landgesetzes, das die Frage von Landund Kreditvergaben beinhaltet und von den Unternehmern stark angegriffen wird, fordern wir dessen Umsetzung. Oder bei den Vuelvan Caras-Projekten, in deren Verlauf Leute beruflich weitergebildet werden, glauben wir, dass die Leute danach einen Arbeitsplatz haben müssen. All das hat mit der sogenannten „Vertiefung der Revolution“ zu tun. Es geht darum, in dem Prozess voranzuschreiten, damit die Arbeiter davon profitieren. Was den Gesundheitsbereich betrifft, muss die Regierung eine Versorgung garantieren, die über die Arbeit der Ärzte im Rahmen von Barrio Adentro hinausgeht. Für die Verwaltung der Krankenhäuser sind heute die Bundesstaaten verantwortlich, mit der Folge, dass sie in einem schrecklichen Zustand sind, es keine gute Behandlung gibt, und wer es sich leisten kann, lässt sich lieber in einer Privatklinik behandeln. Und deshalb bedeutet es für uns auch, die Revolution zu vertiefen, dass die Regierung garantiert, dass die bestehenden und neuerrichteten Krankenhäuser ihre Aufgaben erfüllen können. Eine grundlegende Vertiefung der Revolution für die Arbeiter und für UNT ist, dass den Arbeitern die Rolle zukommt, die sie sich während des Öl-Streiks erkämpft haben. Es waren die Arbeiter, die die Produktion aufrecht erhalten haben. Es gab einen Moment, in dem die Ölarbeiter die Kontrolle über PDVSA hatten. Schließlich hat die Regierung
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zwei Führer der Ölarbeiter in die neue Geschäftsleitung von PDVSA berufen, aber wir meinen, dass die Arbeiter die gesamte Kontrolle über die Produktion in der Öl- und der Schwerindustrie haben sollten. Das klingt nach einem halben Sozialismus. Na gut, die Leute wissen, dass wir ein anderes Gesellschaftssystem brauchen, um Arbeit, Würde und Demokratie zu garantieren. Dazu taugt der Kapitalismus nicht. Das Problem ist meines Erachtens, dass die Verfassung das Recht auf Privateigentum an Produktionsmitteln ebenso garantiert wie die Einhaltung internationaler Vereinbarungen, die die Vorgängerregierungen abschlossen. Ein weiterer Punkt, was die Vertiefung der Revolution betrifft, ist, dass die Regierung die Konfrontation mit den Kräften scheut, die für die gewalttätigen Zusammenstöße, den Putsch und den Streik verantwortlich waren. Obwohl diese Firmenzusammenbrüche und Entlassungen nach sich zogen und es sogar Tote gegeben hat, wurde bislang praktisch niemand zur Verantwortung gezogen und verurteilt. Lediglich ein Bürgermeister aus einem Mittelstandsviertel, der an der Belagerung der kubanischen Botschaft teilnahm, wurde bislang verurteilt und ein Militär, der mit einem Megaphon in einer Kaserne zur Rebellion aufrief. Aber sonst? Die, mit denen gerade verhandelt wird, sind die Gleichen, die den Putsch und den Öl-Streik angeführt haben.
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Kommt ihr mit diesen Forderungen nicht in einen offenen Widerspruch zur Regierung? Natürlich, aber die Basis will das. Es ist die gleiche Basis, die die Regierung während des Putsches und des Streiks stützte. Wer stand Chávez denn zur Seite? Während des Putsches vor allem die Leute aus den Armenvierteln und während des Streiks die Arbeiter, Basisorganisationen und die Sektoren der Streitkräfte, die ihn unterstützten. Konkreter Optimismus Wie optimistisch seid ihr, dass sich eure Forderungen und Ziele durchsetzen lassen? Sind dies langfristige Ziele oder können sie heute konkret erstritten werden? Ich bin optimistisch, aber nicht in dem Sinne eines festen „historischen Optimismus’“, wie er in intellektuellen, revolutionären Diskussionen zu finden ist. Was mich ganz persönlich optimistisch macht, ist das Verhalten der Leute, das sie ganz konkret heute an den Tag legen. Beispielsweise die Diskussionen, ob sie zu den Regionalwahlen gehen sollen oder nicht. Diese Diskussion ist sehr wichtig, weil lang geglaubt wurde, dass alles von Chávez abhängt – jetzt kritisieren die Leute ihn. In dem Maße, in dem die Leute ihre Forderungen beispielweise bezüglich des Kündigungsschutzes oder der Sozialversicherung durchsetzen, wird auch ihre eigene Stärke klar. Denn sie sind es, die nach 1989 einen Sieg nach dem anderen erkämpft haben, damit ihre eigene Regierung an die Macht kommt.
Mich interessieren deshalb Chávez und seine Regierung viel weniger als das Verhalten der Leute. Schließlich haben sie ihn dorthin gebracht. Natürlich gibt es viele objektive und subjektive Hindernisse: Wir sind in Auseinandersetzungen mit den Unternehmern, mit dem Imperialismus und mit Medien, die immer noch großen Einfluss haben. Auch die Amtsführung und die politische Ausrichtung der Regierung Chávez führt nicht zu einer, direkt von der Basis gewählten, Arbeiterregierung. Und wir müssen uns mit den Leuten auseinander setzen, die wir noch nicht überzeugen konnten. Aber der Prozess hat bereits bewiesen, dass er sich dem Imperialismus in den Weg stellen kann. Es ist ein tagtäglicher Kampf und selbstverständlich sind wir nicht die Einzigen, die versuchen, die Leute zu beeinflussen. Uns steht eine sehr mächtige Propaganda-Maschine gegenüber: 23 Fernsehsender, 100 Tageszeitungen und rund 500 Radiostationen, die ein permanentes Bombardement entfachen. Auf der anderen Seite gibt es gerade mal zwei staatliche Fernsehkanäle, wovon einer schlecht ist, und die in Eigeninitiative neu entstandenen alternativen Medien, die den Prozess unterstützen. Angesichts dessen wurde schon viel erreicht. Ich will nicht sagen, dass eine Massenbewegung unbesiegbar ist, aber die Niederlagen, die wir bislang im Laufe des Prozesses hinnehmen mussten, waren wenige. n
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Venezuelas industrieller Osten. Die junge Geschichte von Ciudad Guayana Die Fakten haben wir Gesprächen mit Clemente Scotto, linker Aktivist, der Ende Oktober 2004 zum Bürgermeister von Caroní gewählt wurde, ein Amt, das er bereits Anfang der 90er Jahre inne hatte Angel Silva Ruiz, Generalsekretär der Gewerkschaft im Energiesektor des Bundesstaates Bolívar Natalina Aceto und Andrés Rengel, Gewerkschaft der Fachkräfte bei VENALUM entnommen.
Am Anfang stand ein großer Entwicklungsplan. Zu Beginn der 60er Jahre beschloss die venezolanische Regierung im Gebiet des Zusammenflusses von Caroní und Orinoco im Bundesstaat Bolívar ein Schwerindustrie-Zentrum zu errichten. Hintergrund war der beginnende Aufbau von riesigen Wasserkraftwerken am Unterlauf des Caroní. Die dort erzeugte Energie sollte in möglichst großen Umfang ortsnah, ohne Leitungsverluste verbraucht werden. Neben Eisenhütten und Industriehäfen entstand auch eines der größten Aluminiumwerke der Welt. Heute produziert das 2.900-Megawatt-Wasserkraftwerk von Macagua fast ausschließlich für den lokalen Bedarf – allein der Aluminiumhersteller VENALUM verbraucht ebensoviel Energie wie die Hauptstadt Caracas. Mit dem Aufbau der Industrie entstand eine neue Stadt. Aus den Kleinstädten Puerto Ordaz und San Felix entstand am Zusammenfluss von Orinoco und Caroní Ciudad Guayana. Lebten 1961 dort lediglich 25.000 Menschen, so ist Ciudad Guayana heute mit rund 700.000 Einwohnerinnen und Einwohnern eine der größten Städte des Landes. Auch der Aufbau der Stadt sollte ebenso planmäßig erfolgen wie
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der der Industrie. In Puerto Ordaz wurde – ähnlich wie zeitgleich in Brasilia – eine Stadt am Reißbrett entworfen, mit großen Avenidas, Parkanlagen, Hochhäusern und Einkaufszentren. Entsprechend dem städtebaulichen „State of the Art“ der 60er Jahre sollte Wohnraum für die benötigten Fachkräfte, Angestellten, Ingenieurinnen und Ingenieure entstehen. Die soziale Realität war jedoch eine andere. Es kamen nicht nur die geplanten, gut ausgebildeten Facharbeiterinnen und -arbeiter, Ciudad Guayana wurde auch zum Magneten für ungelernte Arbeitssuchende aus allen Regionen des Landes, die hofften, als Hilfskräfte eine Anstellung zu finden. In San Felix entstand die „Gegenstadt“, das arme Auffangbecken, in dem heute doppelt so viele Menschen Leben als in Puerto Ordaz. Zentrum des venezolanischen Industrie-Proletariats Die Schwerindustrie entwickelte sich schnell zum Zentrum der venezolanischen ArbeiterInnen-Bewegung. Dies wurde auch dadurch begünstigt, dass den Arbeiterinnen und Arbeiter in Ciudad Guayana zunächst mehr Freiraum zugestanden wurde als in anderen Teilen
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des Landes. Sie waren ein zu wichtiger Faktor im Entwicklungsplan, als dass sie gänzlich ignoriert hätten werden können. Stand die ArbeiterInnen-Bewegung in den 60er Jahren noch unter der Hegemonie der rechts-sozialdemokratischen AD und des einzigen Gewerkschaftsdachverbandes CTV, änderte sich dies in den folgenden Jahren. Die Neuformierung der venezolanischen Linken nach der politischen und militärischen Niederlage der Guerilla, die Wiederzulassung der Kommunistischen Partei, die Diskussionsund Organisierungsprozesse, die in der Bildung neuer politischer Bewegungen mündeten, ging einher mit dem Bruch vieler Arbeiterinnen und Arbeiter mit der klientelistischen Politik der AD.
Ausdruck dieses neuen Selbstbewusstseins waren große Arbeitskämpfe. Sie kulminierten im Streik von 1971, als die Beschäftigten SIDOR bestreikten, die staatliche Eisenhütte in Ciudad Guayana und damals der wichtigste Schwerindustrie-Komplex des Landes. Zwei Monate lang wurde die Produktion lahmgelegt. Dieses neue Selbstbewusstsein beantwortete der venezolanische Staat mit Repression. Der Streik bei SIDOR wurde vom Militär beendet, das sowohl die Fabrik als auch die Stadt besetzte. Von den damals 5.100 Beschäftigten wurden 540 entlassen und auf schwarze Listen gesetzt, damit sie auch in keinem anderen Betrieb eine Anstellung finden konnten. Für wenige Jahre gelang es mit repressiven Mitteln die Arbeiterinnen und Arbeiter der Schwerindustrie zu befrieden – jedoch bereits Mitte der 70er Jahre
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bildeten sich neue Strukturen und neue Arbeitskämpfe. Parallel dazu wuchs der Einfluss der Linken auch innerhalb der offiziellen und ausschließlich zugelassenen Gewerkschaften. 1981 gewann die Linke die innergewerkschaftlichen Wahlen in wichtigen Industriesektoren Ciudad Guayanas. Auch hierauf war die Antwort repressiv: der Dachverband CTV annullierte die Wahlen und setzte von oben eine neue Gewerkschaftsführung ein. Ein Fakt, der die Sympathie der Beschäftigten für die gewerkschaftliche Linke noch anwachsen ließ. Aufstieg und Fall der „Causa R“ Parallel zu dieser betrieblichen und gewerkschaftlichen Entwicklung wuchs auch der Einfluss der Linken in der politischen Sphäre – vor allem verbunden mit dem Aufstieg der „Causa R“. Aus einem Spaltprodukt der venezolanischen KP hervorgegangen, wurde die „Causa R“ in den 80er und 90er Jahren zur stärksten Kraft der parlamentaristischen Linken in Ciudad Guayana. Anfang der 90er Jahre gewann sie sowohl die Gouverneurswahlen im Bundesstaat Bolívar als auch das Bürgermeisteramt des Kreises Caroní, zu dem auch Ciudad Guayana zählt. Ciudad Guayana wurde die erste Stadt, in der ein partizipativer Haushalt aufgestellt wurde, d.h. die Bevölkerung hatte direkten Einfluss auf die Verwendung der öffentlichen Mittel. Ein Ansatz, der später in anderen Städten, wie im brasilianischen Porto Alegre, aufgegrif-
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fen wurde und heute ein Kernstück in den bolivarianischen Vorschlägen zur Kommunalpolitik bildet. Der Niedergang der „Causa R“ begann Mitte der 90er Jahre, als innerparteilich die Differenzen wuchsen zwischen radikalen Kräften und denjenigen, die eine Teilhabe im Rahmen des klientelistischen politischen Systems in Venezuela anstrebten. Auch zeigte sich die „Causa R“ unfähig, eine eindeutige Ablehnung der neoliberalen Privatisierungspolitik – die vor allem gegen die staatliche Schwerindustrie gerichtet war – zu formulieren, wodurch sie ihre eigene Basis verprellte. 1997 kam es zum endgültigen Bruch, die „Causa R“ verschwand in die Bedeutungslosigkeit. Solidarität mit der Regierung Chávez In das Vakuum stieß 1998 die bolivarianische Bewegung von Hugo Chávez. Vor allem seine prinzipielle Ablehnung der Privatisierungspolitik verschaffte ihm Sympathie. Die bis 1998 von den Regierungen Andrés Pérez und Caldera durchgeführten Privatisierungen trafen zuerst die Beschäftigten. Allein bei SIDOR wurde nach der Privatisierung die Belegschaft von zuletzt über 20.000 auf rund 4.000 reduziert. Chávez versprach das Ende der Privatisierungen und umfangreiche Investitionen in den staatlichen Produktionssektoren – Versprechungen, die eingehalten wurden. Folglich zeigte sich ein Großteil der Arbeiterinnen und Arbeiter mit der Regierung Chávez solida-
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risch, als die Opposition – zusammen mit der Führung des Gewerkschaftsbunds CTV – im Dezember 2002 zum unbefristeten Streik aufrief. Anders als in einzelnen Sektoren der Ölindustrie lief die Produktion in den staatlichen Industrien in Ciudad Guayana weiter. Mehr noch, als die Verknappung von Gas drohte die Aluminiumproduktion zum Erliegen zu bringen, waren es die Beschäftigten von VENALUM, die selbstorganisiert die Gasversorgung des Werkes organisierten – zusammen mit Kolleginnen und Kollegen von PDVSA. Wobei auch angemerkt werden muss, dass die Opposition mit dem Aufruf, die Aluminiumwerke zu bestreiken, auch Beschäftigte gegen sich aufbrachte, die keine Sympathie für die Regierung Chávez hegten. Technisch gesehen hätte die Unterbrechung der Produktion und damit einhergehend das Aushärten des Aluminiums in den Anlagen einen Schaden verursacht, dessen Behebung zumindest anderthalb Jahre in Anspruch genommen hätte. Ein Umstand, der die Leute um ihre berufliche Zukunft bangen ließ, sollte der Streikaufruf befolgt werden. Diese durchaus unterschiedlichen Motivationen, sich nicht am Streik zu beteiligen (sowie die politische Ausrichtung der Gewerkschaften), drückten sich auch darin aus, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter ihre de-facto-Macht über Teile der Produktion, die sie in den drei Monaten des Oppositionsstreiks innehatten, wieder an die Geschäftsleitung abgaben. Anstelle einer direkten Kontrolle der Produktion
durch die Arbeitenden setzen die Gewerkschaften auf die in der Verfassung vorgesehene Cogestión, die gemeinschaftliche Leitung des Betriebs durch Belegschaft und Geschäftsleitung. Wobei bis heute noch unklar ist, wie die Cogestión aussehen soll. Denn obgleich in der Verfassung formuliert, wurden in den staatlichen Schwerindustrien noch immer keine Strukturen und Gremien geschaffen, die die Partizipation der Belegschaft ermöglichen. Obwohl also tatsächlich in der Frage der demokratischen Kontrolle der Produktion der venezolanischen Schwerindustrie bislang nichts erreicht wurde, scheint die Hoffnung in den bolivarianischen Prozess weiter ungebrochen. Zuletzt drückte sich diese beim Referendum aus, das die Opposition zur Amtsenthebung von Chávez initiierte. Über 66 % der Bevölkerung des Bundesstaates stimmten für den Präsidenten, sieben Prozent mehr als im Landesdurchschnitt. n
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Staumauer des Wasserkraftwerkes Macagua
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Die Neoliberalen werden nicht zurückkehren. Interview mit Natalina Aveto, Andrés Rengel und Angel Silva Ruiz*
Natalina Aveto
Andrés Rengel Gewerkschaft der Fachkräfte bei VENALUM
Angel Silva Ruiz Generalsekretär der Gewerkschaft des Energiesektors im Bundesstaat Bolívar
* Zwei leitende Angestellte von CVG-Betrieben waren ebenfalls anwesend
Was hat sich seit dem Amtsantritt von Chávez für die Gewerkschaften verändert? NATALINA AVETO: Bevor Chávez Präsident wurde, sollten alle Unternehmen privatisiert und verkauft werden. Wir sprechen hier für die Aluminiumgewerkschaft. Wir haben drei mal die Versuche sabotiert als der Aluminiumsektor privatisiert werden sollte. Als Chávez dann an die Macht kam, verkündete er auf einer Versammlung, dass die Betriebe allen Venezolanern gehören und nicht privatisiert werden. Das war die erste Veränderung für uns und die Arbeiter. Vor Chávez forderten wir als Gewerkschaftsbewegung kollektive Beratungen, Kooperativen und die Partizipation der Arbeiter in den Betrieben. Das war eine Sache, die Chávez verstand und heute gibt es viele Kooperativen, nicht nur bei VENALUM, sondern in vielen Betrieben des Staates. Die Partizipation der Bürger und der Arbeiter war eine wichtige Entwicklung für unser Land. Obwohl es auch heute immer noch Personen gibt, die zwar auf der Seite des Prozesses stehen, aber denen es schwer fällt, diesen Teil der Partizipation zu akzeptieren, die Cogestión Laboral (gemein-
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same Betriebsführung), das bedeutet die Partizipation aller Arbeiter im Arbeitsbereich. ANDRÉS RENGEL: Wir Arbeiter unterscheiden heute zwischen dem Prozess und der Vergangenheit: Die Regierungen der letzten 40 Jahre waren völlig neoliberal. Sie verkauften VIASA (die ehemalige nationale venezolanische Fluglinie), verkauften die Zuckerfabriken und auch die Werften, alles verkauften sie. Das betraf auch die Arbeiter hier in Guayana. Beispielsweise bei dem hiesigen Unternehmen SIDOR. Früher waren 22.000 Arbeiter in diesem Betrieb, heute sind es 4.000. Das Unternehmen FESILVEN (Empresas Ferrosilicios de Venezuela) wurde auch verkauft, dort waren 2.000 Leute beschäftigt, es blieben 400. Dieser Privatisierungsprozess in Guayana ist gestoppt. Diese Neoliberalen werden hier nicht zurückkehren. Als der Präsident in eine unserer Versammlungen kam, sagte er: „Lasst uns das Land zurückgewinnen. Diese Unternehmen werden nicht privatisiert, werden nicht an die Transnationalen übergeben.“ Da wussten wir Gewerkschafter und Arbeiter, dass der Präsident keine leeren Versprechungen gemacht hatte,
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dass er das Land nicht verkaufen wird, sondern die Rückeroberung begonnen hat. Zum Beispiel geht es gerade um die Rückeroberung der Zuckerfabriken und von VIASA. NATALINA AVETO: Als die „neue“ Corporación Venezolana de Guayana (CVG)1 entstand, waren die Aluminiumwerke durch den Prozess der Privatisierungen ziemlich marode. Nachdem General Francisco Rangel Gomez im Jahr 2000 neuer Präsident von CVG wurde, erholte sich das Unternehmen und es begann wieder, Gewinne zu machen. Das wurde durch die Zusammenarbeit von Gewerkschaft, Unternehmen und Arbeitern erreicht. Seit kurzem gibt es sogar Produktionsrekorde. Selbst im Jahr 2002 erhöhte sich die Produktion, trotz Putsch und Erdölstreik von 430.000 auf 436.000 Tonnen. 2003 wurde die gleiche Menge produziert und dieses Jahr werden über 444.000 Tonnen produziert werden. Welchen Einfluss hatte der sogenannte Erdölstreik auf die Industrien in Ciudad Guayana? NATALINA AVETO: Im Jahr des Putsches 2002 hatte die oppositonelle Gewerkschaft CTV die Arbeiter zum Streik aufgerufen, aber die Arbeiter entschieden sich dagegen. Als dann im Dezember der Erdölstreik begann, entwickelte sich bald ein Problem, als die Gasversorgung kurz davor war, zusammenzubrechen. Für den Aluminiumsektor ist Gas sehr wichtig, ohne Gas können wir nicht produzieren. Als uns noch eine Woche Zeit zu produzieren blieb,
riefen wir die Arbeiter zu einer Versammlung zusammen. Sie entschieden, Kontakt mit den Arbeitern in Anaco aufzunehmen, in der Stadt, in der das Zentrum der Gasverteilung von PDVSA ist, und fragten, was notwendig ist, um die Gasversorgung aufrecht zu erhalten. Wir fuhren mit Bussen dorthin. Sie brauchten Techniker, wir hatten Techniker, die sich mit den Anlagen auskannten, um die Gasversorgung gewährleisten zu können. Es war nicht einfach, da in Anaco die Leute aggressiv waren, sie belästigten auch einige Arbeiter, aber am nächsten Tag wurde wieder Gas an alle Betriebe in Guayana geliefert. Das war auch nötig, denn wenn der Prozess der Aluminiumerzeugung einmal gestoppt ist, dauert es bis zu zwei Jahre, bis die Anlagen wieder hochgefahren werden können. Das hätte für die Arbeiter auch bedeutet, dass sie ihre Arbeit verlieren. Deswegen fuhren die Arbeiter von VENALUM nach Anaco, auch die, die von Präsident Chávez nicht überzeugt sind. Sie verteidigten ihre Arbeitsplätze. Die Informationen, die weltweit verbreitet wurden, dass alle Betriebe hier bestreikt wurden, waren falsch. Die Arbeiter hier streikten nie. Im Gegenteil, es gab einige Arbeiter, die im Urlaub waren und zu ihrem Betrieb fuhren und sagten: „Wenn ihr uns braucht, sind wir da, oder wenn PDVSA uns braucht, hier sind wir.“ Die Opposition wollte diese Stadt brechen, denn diese Stadt hat nie gestreikt, hier wurde weiter produziert. Im Dezember und Januar lebten wir wie in ei-
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1 Zusammenschluss der staatlichen Industrien in Ciudad Guayana
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nem anderen Land. Caracas ist eine Sache – Puerto Ordaz und auch die Städte in der Umgebung von Caracas streikten nicht. Als dann das Benzin knapp wurde, fuhren die Arbeiter zu der Anlage, von der aus die Tanklastwägen das Benzin verteilen. Der Chef dort sagte, es gibt keine Lastwägen, um das Benzin zu transportieren. Wir legten uns mit ihm an und sagten: „Wenn du nicht willst, dann haben wir Leute, die sich auskennen und wir werden nicht ohne Benzin zurückfahren.“ Als er sah, wie die Leute in die Laster kletterten, um sie mitzunehmen, änderte er seine Meinung und sagte, dass er seinen Leuten anweisen wird, die Wägen zu betanken. So haben wir diese Verteilungsanlage von Benzin zwischen Ciudad Bolívar und Guayana verteidigt und deswegen hatten wir auch immer Benzin. Was sind denn Arbeitsschwerpunkte der Gewerkschaft heute? NATALINA AVETO: Um die Lebensbedingungen der Arbeiter zu verbessern, haben wir als Gewerkschaft begonnen, Wohnungen zu bauen. Wir haben inzwischen 232 Wohnungen übergeben. Anfang nächsten Jahres werden wir weitere 125 übergeben, 225 sind konkret geplant und für weitere 400 stehen die Mittel bereit. Wir können die Wohnungen ungefähr zehn Prozent unter dem Marktpreis anbieten, denn wir verkaufen die Wohnungen zum Selbstkostenpreis. Ein anderes Projekt, das wir für die Regierung entwickeln, hat zum Ziel die Ranchos durch Häuser zu ersetzen. Ein Modell ist schon zu besich-
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tigen. Ein anderes Ziel ist, die Rolle der Gewerkschaften zu verändern, sie sollen nicht mehr allein auf die Arbeitswelt beschränkt sein, sondern die Gewerkschaften sollen sich in die Comunidades integrieren. Das ist eine der Sachen, in die wir viel Zeit investieren, aber es ist nicht einfach. ANDRÉS RENGEL: Wir als Gewerkschaft beteiligen uns auch an den Misiones, hauptsächlich an der Misión Barrio Adentro. Auch die Staatsunternehmen hier in Guayana unterstützen Barrio Adentro. Mit einigen dieser Konzepte haben die deutschen Gewerkschaften schlechte Erfahrungen gemacht, in den 1970er Jahren hatten sie eine eigene Bank, groß angelegte Wohnungsbauprogramme, einen eigenen Verlag, eine Supermarktkette – es endete in einer völlig undurchsichtigen Struktur. Die Gewerkschaftsunternehmen wurden hierarchisch geführt und waren korrupt. Kennt ihr solche Erfahrungen ? ANGEL SILVA RUIZ: In Venezuela passierte etwas ähnliches. Der venezolanische Staat gab Macht ab und übergab einige Geschäftsbereiche den Gewerkschaften, z.B. die Partizipation an den Banken, am Wohnungsbau, am Tourismus und sogar an der Außenpolitik. Warum? Hier gibt es zwei Kammern, den Senat und das Parlament, in denen die Gewerkschaftsbewegung ihren Einfluss erhöhte. Eine ihrer zentralen Aktivitäten war, im Ausland ihre Sicht der Dinge internationalen Organisationen zu präsentieren.
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Der Zweck war, dass die internationalen Organisationen das System von AD und COPEI weiter akzeptierten und sie an der Macht blieben. Ein anderes wichtiges Element war ihre absolute Macht über die venezolanische Ökonomie, vor allem im Bereich der Landwirtschaft. Es gab z.B. eine Bauernorganisation, aber viele Mittel kamen nie bei den Bauern an, sondern blieben beim Großgrundbesitz. Wie sah der Einfluss von CTV hier in den Staatsbetrieben aus? ANGEL SILVA RUIZ: Auch bei CVG war die Gewerkschaft mächtig. Die Gouverneure wurden damals nicht direkt von der Bevölkerung gewählt. Der Präsident hat die Posten verteilt. Der Kuchen wurde aufgeteilt. Hier im Bundesstaat Bolívar ist das ganz häufig geschehen. Auch in den Betrieben von CVG galt dieses System, im Aluminumund Elektrobereich, auch bei der Privatisierung von SIDOR oder in den Bergwerken.
Das ist hier geschehen, aber ich glaube, es gibt kein Land, das mit diesem Phänomen fertig wurde und außerdem ist es das ABC des Neoliberalismus, so wie von Margret Thatcher eingeführt und auch von Tony Blair beibehalten. Das ist der sogenannte dritte Weg. Was heute in der Welt versucht wird, ist der vierte Weg, hier der bolivarianische Prozess. Wie sind solche Entwicklungen zu vermeiden? ANGEL SILVA RUIZ: Wir haben seit Anfang 1999 die Möglichkeit zu kontrollieren und zu überwachen, dass der Prozess in den Händen der Bevölkerung, des Volkes bleibt. Da ist zuerst die direkte und protagonistische Partizipation des Volkes, niemand wird ausgeschlossen, weder die Comunidades, noch die Barrios, die Arbeiter, die Hausfrauen, die Arbeitslosen, die Techniker, die Fachleute. Das erlaubt, die gerade angelaufenen Projekte direkt und schnell, in Form von sozialer KonSIDOR: Nach der Privatisierung verloren 80 % der Beschäftigten ihren Job
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2 „Noch ist nicht gestorben, was schon am Sterben war und noch ist nicht auf die Welt gekommen, was schon geboren ist.“ 3 Freihandelsabkommen zwischen Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay. 4 Área de Libre Comercio de las Américas: gesamt-amerikanische Freihandelszone
trolle, zu überwachen. Auch werden im vierten Kapitel der Verfassung die Bürgerrechte gestärkt. Es gibt bis nach unten, wie in einer Pyramide, eine Serie von Partizipationsformen, Regeln, Gesetze, Statuten, Normen, die den Bürger in seinem Verhalten leiten. Die Angst besteht bei denen, die 40 Jahre an der Macht waren. Denn wenn die Gesetze angewandt werden, die Bürgerrechte sich durchgesetzt haben, dann glaube ich, dass die Leute eine Antwort darauf haben wollen, wohin das ganze Geld in diesem reichen Land verschwunden ist. Hinsichtlich der Fähigkeit der Venezolaner, die Verfassung aufzunehmen und in die Praxis umzusetzen sagte der Präsident: que no ha muerto lo que estaba muriendo y no ha terminado naciendo lo que ha nacido2, das bezieht sich auf die Verfassung von 1961, die durch die neue ersetzt wurde. Viele Geschäftsführungen, viele Minister, viele Abgeordnete, viele Gewerkschafter und ein kleiner Teil der Bevölkerung leben immer noch nach der Verfassung von 1961 und nicht nach der von 1999. Die Opposition befürchtet genau das, eben dass die alte Verfassung nicht mehr angewandt wird. Die neue Verfassung lässt zu, dass es in allen gesellschaftlichen Bereichen vorangeht. Wir hatten 30 schlechte Jahre. Inzwischen werden für die Rentner und Pensionäre, für das Personal die Schulden zurückgezahlt. Das alles haben wir erreicht durch die Partizipation der Arbeiter,
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Techniker, Fachleute und durch direkte Verhandlungen mit den Unternehmern. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass wir, die Arbeiter, während den Verhandlungen zur Integration Venezuelas in den Mercosur3 zum ersten Mal Partizipationsmöglichkeiten hatten, eine Stimme innnerhalb des Diskussionprozzeses. Früher gab es keine Partizipation. Wir Arbeiter im Bundesstaat Bolívar haben zusammen mit den Arbeitern Venezuelas einen Austausch mit anderen Arbeitern weltweit erreicht. Heute diskutieren wir über ALCA4. Wir haben Gespräche in anderen Ländern wie Cuba, Mexico, mit Italien, Brasilien, Ecuador, Kolumbien, Peru geführt. Diskussionen, die es möglich machen können, einen gemeinsamen Standpunkt der Arbeiter zu entwickeln und die es uns erlauben, die Grenzen für Techniker und Fachleute zu öffnen. Tatsächlich gibt es eine Vereinbarung, unterschrieben von Venezuela und Argentinien und Venezuela und Kolumbien, also die Techniker, die Kolumbien benötigt und Venezuela hat, können dann auch dorthin gehen. Wie sah die Partizipation der Arbeiter bei den Verhandlungen zum Mercosur aus? Gab es Versammlungen? ANGEL SILVA RUIZ: Nein, wir haben eine Vetretung der Arbeiter hier ins Leben gerufen und es wurde eine präsidentiale Komission benannt, eine multidisziplinäre Komission, die innerhalb der Regierung fungierte,
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eine Art Verbindungskomission. Wir glauben, dass wir Arbeiter nach den nächsten Präsidentschaftswahlen, egal wen sie als Beauftragten für das Lateinamerikanische Parlament auswählen, gleichfalls einen Kollegen von uns auswählen werden, der zum Mercosur geht. Das sind gerade Übergangsformen. Wir haben dort eine Repräsentation erreicht und wir können von einer Stärkung in diesem Prozess sprechen. Ich möchte etwas erklären. In der spanischen und italienischen Presse werden wir als Gewerkschaftsbewegung des Oficialismo5 bezeichnet. Das sind wir nicht. Wir sind eine autonome Gewerkschaft, mit der Fähigkeit zu denken, mit einer Meinung und mit Kultur, die keine Konflikte in Venezuela schaffen wird, weil wir zuerst den Dialog suchen. Das venezolanische Volk, die von unten, denen es schlechter geht als uns, hatten niemals eine Regierung wie heute. Das wollen wir unterstützen. Wir glauben, dass der Präsident der Republik von großem Nutzen für die Nation ist. Tatsächlich ist er ein Beispiel für die Welt. Als Chávez Präsident der Republik wurde, sind wir zusammengekommen und es hat der Prozess des Dialoges begonnen. Heutzutage haben wir in Guayana Gewerkschaften, die mit dem Präsidenten der Republik sympathisieren, aber sich ihrer Rechte bewusst sind und sie auch einfordern. Diese Gewerkschaften sind nie unterdrückt worden. Auch haben wir heute, dank der Verfassung, eine Armee, die durch diesen Sieg der Menschlichkeit, der in ganz
Lateinamerika gesehen wird, an der Seite der Techniker, der Basisökonomien, an der Seite des Volkes und der Bauern steht. Garantiert die Verfassung eigentlich das Recht auf Streik? ANGEL SILVA RUIZ: Ja, mehr als jemals zuvor. Zusätzlich gibt es in der Verfassung den Artikel 89, erster und zweiter Absatz, in denen steht, dass die Rechte der Arbeiter unwiderrufbar sind. Das bedeutet, wer auch immer, in welcher Form auch immer etwas unterzeichnet, das die Rechte der Arbeiter verletzt, dann ist es ungültig. Deine Kollegin hat erzählt, dass es während des „Streiks“ eine große Mobilisierung der Arbeiterinnen und Arbeiter gab, Anlagen und Betriebe besetzt wurden, um die Produktion aufrecht zu erhalten. Sie hatten zu diesem Zeitpunkt offensichtlich die Macht in den Betrieben und mehr Macht als heute. Die Bedingungen der Arbeiterinnen und Arbeiter bei CVG heute sind schlechter als in diesem Moment. Stimmt ihr dieser Beschreibung zu? ANGEL SILVA RUIZ: In diesem Veränderungsprozess orientieren wir uns am Präsidenten der Republik, es geht darum, die Macht innerhalb von CVG zu demokratisieren. Wir haben Angestellte mit großen Fähigkeiten, die einiges für Venezuela gemacht haben, es wäre eine verschwendete Gelegenheit, sie nicht ins „Stammhaus“ einzubinden. Die Beteiligung der Angestellten findet in erster Linie im Rahmen der
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5 Lateinamerikanische Bezeichnung für Gruppen, Personen oder Organisationen, die die eigene Regierung unterstützen
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Verfassung statt, in zweiter Linie im Rahmen des Prozesses. Das ist sehr wichtig. Wir glauben, dass sich CVG mehr auf das Volk zu bewegen sollte, ähnlich wie PDVSA es gemacht hat, weil CVG hat diese Ressourcen. Innerhalb der Betriebe muss in einer diskutierten und organisierten Form über die Cogestión verhandelt werden. Und die direkte Form der Partizipation der Arbeiter muss Teil der Verhandlungen sein. Das heißt, im Augenblick existiert keine direkte Form der Partizipation der Arbeiterinnen und Arbeiter bei CVG? ANGEL SILVA RUIZ: Nein, aber es gibt einen Prozess in Venezuela, der definieren soll welche Stimme die Arbeiter im Arbeitsbereich haben sollen, aber er ist noch sehr klein, eine sehr schüchterne Partizipation. Es wurde eine Diskussion eröffnet über Fragen wie: Was ist Produktivität? Wer kauft meine Produkte? Was ist der Wert der Produkte? Was ist die reale Partizipation im Produktionsprozess? Wenn wir das erreicht haben, glauben wir, dass sich das Gefühl für das Eigentum erhöhen wird, das Gefühl von Zugehörigkeit. Das ist sehr wichtig, weil es uns auch eine ehrlichere Ökonomie der Betriebe erlaubt und es wird von Vorteil für die Arbeiter sein, in ihrer Gesamtheit. Mit dem Ziel, dass sich die Arbeiter, wenn sie mehr Gefühl dafür entwickelt haben, was Produktivität und Produktion ist, auch mehr
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Macht von der Geschäftsführung nehmen? ANGEL SILVA RUIZ: Das ist die Bedingung des Prozesses. Wir haben aber mehrheitlich eine Geschäftsführung, die ehrlich, fleißig, von unten geformt ist und uns in dem Prozess begleitet. ANDRÉS RENGEL: Ich möchte noch einige wichtige Dinge anfügen, wie die Arbeiter in diesem revolutionären Prozess gewachsen sind. Erstens ist das der Wandel von einem neoliberalen zu einem humanistischen Modell, einige sagen auch Bolivarismus, andere Kommunismus oder Sozialismus. Wir glauben, dass es in erster Linie ein humanistisches Modell ist, weil es den Arbeitern jeden Tag besser geht. Im Jahr 2000 beschlossen der Präsident der Republik und der Ministerrat 99 Gesetze und zwei Gesetze waren fundamental für die Transformation der Gesellschaft. Das waren einmal das Landgesetz und das Fischereigesetz. Damit begannen auch die Versuche der Bourgeosie, die Regierung zu stürzen. Wir wissen, dass mit dem Prozess der Transformation folgendes für die Arbeiter vorangebracht wurde: Wir kämpften vier Jahre lang (mit der alten Regierung) um den Abschluss eines Kollektivvertrags, als Chávez kam, unterzeichnete er sofort den Vertrag. Und nicht nur unseren, es gab ungefähr 600 andere nicht abgeschlossene Kollektivverträge. Diese Regierung hat den Abschluss von Kollektivverträgen demokratisiert und im Augenblick gibt es weder eingefrore-
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ne noch zurückgestellte Abschlüsse. Für uns als Gewerkschaften sind diese Kollektivverträge fundamental. Die Kollektivverträge sind ein echtes Element der Transformation dieses Prozesses. Im Augenblick haben wir Arbeiter eine große Mobilisierungsfähigkeit und ein starkes Bewusstsein, das sich etwa an den großen Demonstrationen zum Ersten Mai zeigt. Ein weiterer wichtiger Punkt für uns Arbeiter ist der Artikel 95 der Verfassung, der beinhaltet, dass sich alle Arbeiter eines Betriebes einer Gewerkschaft anschließen können, in anderen Ländern existieren Begrenzungen, in Venezuela können alle der Gewerkschaft beitreten. Ein Beispiel. Wir sind alle Profesionales Universitarios und sind der Gewerkschaft beigetreten und wir haben Vorgesetzte und eine Geschäftsführung, die auch in der Gewerkschaft sind. Die Cogestión Laboral hat ihr Fundament in der Verfassung und in den Staatsunternehmen gibt es gerade eine Diskussion über die Mitverantwortung aller Arbeiter der Industrie. Dies ist letztendlich eine tiefgehende Transformation der Strukturen der Unternehmen. Damit können auch Angehörige der Opposition, Gegner des Oficialismo gezwungen werden, die Verfassung anzuwenden. Das ist einfach der Unterschied, den wir heute haben. Aber nicht alles läuft so gut. Es gibt Sachen, die wir als Arbeiter sehen, denen wir entgegentreten müssen, z.B. der Arbeitslosigkeit, die sowohl die Arbeiter als auch uns
Gewerkschaften betrifft. Die Regierung hier in Guayana hat einige Projekte in die Diskussion gebracht, wie die Erweiterung von Firmen, die Erweiterung von VENALUM, des Elektrowerks in Caroní, die Eröffnung der Mine La Cristina, wobei die Schaffung von 3.000 bis 4.000 Arbeitsplätzen erwartet wird. Indirekt werden 10.000 neue Arbeitsplätze im Bundesstaat Bolívar erwartet. Andere Projekte auf Landesebene, um die Ökonomie zu stimulieren und die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, sind der großangelegte Wohnungsbau. Die Zunahme der Arbeitslosigkeit ist ein Ergebnis des Erdölstreiks 2002/2003. Sie stieg nach dem „Streik“ von 12 % auf 18 %, einige sagen auch 21 %. Im Augenblick ist die Arbeitslosenrate bei 14,8 %. Wir glauben, dass es möglich ist, ohne Störungen durch die Opposition, durch ruhiges Regieren, die Arbeitslosigkeit so zu senken, dass sie beherrschbar wird. Um abzuschließen: die erste Phase des Prozesses bezieht sich auf die 80 % der Bevölkerung, die hier unter schlechten Bedingungen leben, deswegen spricht der Präsident auch immer von den Armen. Von der zweiten Phase des Prozesses soll die Mittelklasse profitieren, die dritte Phase betrifft alle, Mittelklasse und auch Oberschicht. Niemand wird ausgeschlossen. Das ist in der Verfassung begründet und jeden Sonntag informiert der Präsident sein Volk darüber, was gemacht wird und wohin wir gehen. n
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Erdöl, Erdöl, Erdöl.
1 Nach dem „Gesetz über Kohlenwasserstoffe“ von 1943 hätten aber die Förderanlagen 1984 sowieso entschädigungslos an den venezolanischen Staat übergeben werden müssen 2 Noch heute kostet ein Liter Benzin in Venezuela nur circa vier Cent und ist damit wesentlich billiger als eine Literflasche Trinkwasser
Seit in den 1920er Jahren das Erdöl den Kakao als wichtigstes Exportgut ablöste, bestimmte das Erdöl immer wieder die Entwicklung des Landes. Heute werden einige der weltweit größten Erdölreserven in Venezuela vermutet, die Förderanlagen und Raffinerien finden sich im ganzen Land verstreut. Unter der Präsidentschaft des AD Politikers Carlos Andres Pérez wurde die Erdölindustrie Venezuelas 1976 verstaatlicht und PDVSA gegründet. Der neue Erdölkonzern war nun der größte und wichtigste Betrieb des Landes. Der venezolanische Staat wollte vom Ölpreisboom der frühen 1970er Jahre profitieren. Der Widerstand der Eigentümer (Exxon, Mobil und Shell) blieb gering, da die zu zahlenden Steuern schon seit Anfang der 1970er Jahre relativ hoch waren. 1974 gingen 80 % der Einnahmen aus dem Erdölgeschäft an den venezolanischen Staat.1 Die alte Geschäftsführung von PDVSA wurde bei der Verstaatlichung allerdings nicht ausgetauscht. Zunächst stiegen die Einnahmen des Staates weiter stark an und Pérez profilierte sich mit einigen populären Maßnahmen, wie Lebensmittelsubventionen und Niedrigpreise für Benzin und Transport.2 Im folgenden Jahrzehnt bestand aber die
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Unternehmenspolitik von PDVSA vorwiegend darin, sich den steuerlichen Verpflichtungen zu entziehen. Während sich PDVSA zum Staat im Staate entwickelte, scheiterte Pérez mit dem großangelegten Entwicklungsprojekt La Gran Venezuela, da es auf der falschen Annahme beruhte, dass die Ölpreise weiter steigen würden. Ein Großteil der Erdöleinnahmen verschwand in diesen Jahren, ohne nachhaltige Auswirkungen auf Ökonomie und Lebensbedingungen der venezolanischen Bevölkerung zu haben. Nach dem zweiten Ölpreisverfall 1982 begann PDVSA ihre Unternehmenspolitik der Internationalisierung. Der Geschäftsbereich wurde deutlich ausgedehnt und der Konzern kaufte Anteile etwa an Raffinerien weltweit. Das Ziel war, Gewinne außerhalb Venezuelas zu erwirtschaften und sicherzustellen, dass die Regierung keinen Zugriff auf den Profit hatte. Verschiedene Tricks wurden angewandt, wie etwa die Lieferung von Erdöl unterhalb des Marktpreises an Tochterunternehmen im Ausland. Gleichzeitig stiegen die Auslandsschulden Venezuelas enorm an. Korruption und undurchsichtige Strukturen prägten das Bild von PDVSA. Der Konzern war inzwischen ein Selbstbedienungsladen der venezolanischen Eliten und
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zu einem völlig eigenständigen Machtfaktor innerhalb der venezolanischen Gesellschaft geworden. Die Nutznießer waren u. a. das nationale Kapital, eine aufgeblähte Staats- und Gewerkschaftsbürokratie und die Politikerinnen und Politiker der regierenden Parteien. Als der Sozialdemokrat Pérez 1989 zum zweiten mal Präsident wurde, verkündete er eine große Wende. Diese bedeutete einen neoliberalen Kurs durchzusetzen und die venezolanische Industrie für internationale Übernahmen und Beteiligungen zu öffnen. Im Falle der staatlichen Erdölindustrie hieß dies eine schleichende Reprivatisierung in Form von „Serviceverträgen“ mit Laufzeiten bis zu 20 Jahren oder Joint Ventures mit Shell, Exxon, Mobil und anderen. Die vorher schon geringe Kontrollmöglichkeit durch das Energieund Bergbauministerium wurde durch neu eingeführte Regulationsstrukturen weitgehend umgangen. 1998 flossen nur noch 20 % der Erlöse aus dem Erdölgeschäft an den venezolanischen Staat. Als eine erste Maßnahme stellte Chávez den drittgrößten Erdölkonzern der Welt unter die Aufsicht des neuen Ölministeriums und erließ ein Ölgesetz, welches u.a. eine Mindestbeteiligung von 51 % bei neuen Joint Ventures vorschreibt. Aber erst nach dem Erdölstreik von 2002/03 wurde ein Großteil der Führungsebene bei PDVSA entlassen und der
Konzern in Folge unter staatliche Kontrolle gebracht. Das OPEC-Gründungsmitglied Venezuela förderte 2003 etwa drei Millionen Barrel am Tag und ist damit vergleichbar mit Ländern wie Norwegen, China oder dem Iran. Der Anteil an der Weltproduktion beträgt rund 3,5 %. Die USA beziehen etwa ein Siebtel ihrer Ölimporte aus Venezuela, das damit den drittwichtigsten Lieferanten stellt. Die Erlöse Venezuelas aus dem Erdölgeschäft werden heute auf etwa 20 Milliarden US-Dollar jährlich geschätzt, was in etwa 40 % der Staatseinnahmen entspricht.
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Ich sehe keinen Widerspruch darin, dass PDVSA in soziale Bereiche investiert. Interview mit Omar Bravo, Carolina Mendoza und Janett Heredia
Omar Bravo Technischer Leiter
Carolina Mendoza Prozessingenieurin
Janett Heredia Verantwortliche für Öffentlichkeitsarbeit im PDVSABetrieb Centro de Refinación Paraguaná (CRP)
Früher sagte man, die PDVSA sei ein Staat im Staat, fast ohne öffentliche Kontrolle. Heute heißt es, dass man versucht, sich diesen Betrieb wieder anzueignen, nicht nur in einem technischen Sinn, sondern in einem politisch-sozialen Sinn. Was genau hat sich nun geändert in den letzten Monaten? OMAR BRAVO: Also ich denke, dass dieser Wechsel positiv gewesen ist. Früher waren wir praktisch eine Elite. Und ich denke, früher habe ich einfach nur hier gearbeitet, habe mich um die Erziehung meiner Kinder gekümmert und das war es. Und heute, so wie ich das verstehe, muss ich auch für die soziale Entwicklung zusammen mit meinen Kollegen, mit meinen Mitbürgern, mit dem Rest der Gesellschaft arbeiten. Und das scheint mir recht gut zu sein, dass PDVSA sich in der sozialen Entwicklung engagiert, denn wir sind keine Insel. Wir sind auch Teil des Landes. Bezüglich der Kontrolle weiß ich nicht wirklich, ob es früher Kontrolle gab oder nicht, aber wir waren eine Insel. Und nun sind wir Teil vom Ganzen. Und mir scheint, dass die Entwicklung des
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Landes einen sehr hohen Stellenwert hat und wir können dabei helfen. Wenn wir schon wissen, wie Arbeit gut gemacht werden kann, dann können wir das auch für das ganze Land tun. Der Rest des Landes betrachtet uns als einen Spiegel und will das dann nachmachen, und das erscheint mir sehr gut. CAROLINA MENDOZA: Es ist eine richtige Wahrnehmung, dass dieses Unternehmen ein Staat im Staate war. Und heute gibt es eine Vision in Richtung des gesamten Landes, der Gemeinschaft, die wir aufrecht erhalten sollen. Und die ganze Hilfe, die das Unternehmen gibt, geht in Schlüsselbereiche wie Ausbildung, Unterstützung an die Gemeinden, Unterstützung für die Misiones, Unterstützung an andere Sektoren, die nicht einfach zu finanzieren sind. Und ein anderer Aspekt unserer Teilhabe an diesem Prozess ist, dass wir nicht nur die Lebensqualität erhöhen, sondern auch im Umweltbereich aktiv sind – wir halten die Umweltauflagen ein können und kümmern uns auch im die Dekontamination der Bucht von Maracaibo.
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OMAR BRAVO: Heute kümmern wir uns wesentlich mehr um den Umweltschutz als früher. Früher war das oft so, wenn wir Vorschläge zum Umweltschutz einreichten, dann wurde uns in Caracas das Geld dafür zusammengestrichen, bzw. die Argumentation vorgebracht, dass es dafür kein Geld gibt. An dem Streik von 2002/2003 beteiligte sich fast die gesamte Geschäftsleitung, die danach entlassen wurde. Wir können uns kaum vorstellen, wie die alle ersetzt wurden, wie so ein großer Betrieb ohne Fachkräfte läuft. Wie funktioniert das? OMAR BRAVO: Ich kann Euch da nur das Beispiel von hier, von diesem Teilbetrieb, von CRP, erzählen. Wir hatten da Glück, denn hier blieb etwa die Hälfte der Belegschaft erhalten. In anderen Betrieben wurden wesentlich mehr Leute nach dem Streik entlassen, in einem Teilbetrieb, Palito, blieben von 2.000 Arbeitern nur 45 übrig. Bei uns ging diese Auseinandersetzung wesentlich weicher über die Bühne. Außerdem kam jemand als Geschäftsführer, der alles kannte. Er war schon pensioniert, kehrte während des Streiks zurück und übernahm die komplette Geschäftsleitung. Heute ist er Vizepräsident der gesamten PDVSA. Er kam am 16. Dezember und leitete den ganzen Betrieb von CRP. Das war sehr gut, das war eine große Hilfe. Was waren die Konsequenzen des Streiks? Auf der einen Seite hat es einen Wechsel der Führung gege-
ben und auf der anderen Seite sollen die Partizipationsmöglichkeiten der Beschäftigten ausgeweitet werden, um zu verhindern, dass sich eine neue Elite bildet. Gibt es diese neuen Formen der Geschäftsleitung bei PDVSA? Und wie funktionieren sie? OMAR BRAVO: Ich kann das nur aus meiner Warte beschreiben. Wenn wir eine Person fest einstellen – im Normalfall stellen wir Leute für ein Jahr befristet ein und danach wird entschieden, ob sie fest angestellt werden – wenn wir also jemanden fest anstellen, reden wir mit dieser Person darüber, dass sie ihre Einfachheit bewahren soll. Wir wollen wissen, wie diese Person die Gesellschaft sieht, damit sie kein Elite-Bewusstsein entwickelt, so wie es früher passiert ist. Wir versuchen, dass die Comunidad stolz auf diese Leute ist. Ich habe z.B. einen Kollegen, der früher den Hass der Nachbarn auf sich zog, weil er bei PDVSA beschäftigt war, weil er Teil der Elite war. Ich sage also zu meinen Leuten, dass sie weiterhin einfache Leute bleiben sollen. CAROLINA MENDOZA: Es gab auch einen Wechsel in der Mentalität der Geschäftsleitung von CRP. Früher gab es eine Abgrenzung zwischen den leitenden, den mittleren Angestellten und den Arbeitern. Heute gibt es bspw. keine Unterschiede mehr bei den Clubs1 von PDVSA. Früher gab es spezielle Clubs für die leitenden Angestellten, die mittleren Angestellten und die Arbeiter. Jeder Arbeiter kann heute selbst entscheiden, in welchen Club er geht. Und heutzutage macht PDVSA auch
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1 betriebseigene Erholungsanlagen
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Veranstaltungen, damit die unterschiedlichen Ebenen zusammen kommen. Und das gleiche gilt für die Schulen. Die Kinder der Arbeiter gehen heute mit den Kindern der leitenden Angestellten in die gleiche Schule. Früher gab es unterschiedliche Schulen. Auch hier können sie heute entscheiden, in welche Schule die Kinder geschickt werden. Und das alles sehe ich als sehr positive Dinge an. Wurden Strukturen für direkte Partizipation der Beschäftigten geschaffen? Gibt es beispielsweise Vertreterinnen oder Vertreter der Beschäftigten in der Geschäftsleitung? OMAR BRAVO: Hier bei CRP nicht. Im Vorstand der Gesamt-PDVSA gibt es zwei Vertreter der Arbeiter. Wir haben gelesen, dass die Politik von PDVSA die war, viele Verträge mit und Beteiligungen an anderen Firmen abzuschließen, vor allem mit Firmen im Ausland, die hohe Kosten verursachen, damit die Gewinne möglichst klein gehalten werden und damit keine Steuern an den venezolanischen Staat abgeführt werden müssen. Hat sich hier etwas geändert? Wurden diese Verträge und Beteiligungen rückgängig gemacht? OMAR BRAVO: Da sehe ich mich nicht in der Lage, die Frage zu beantworten. Über diese Zusammenhänge habe ich zu geringe Kenntnisse. Aber es gibt den Vertrag mit dem hiesigen Elektrizitätswerk, das einem US-amerikanischen Unternehmen gehört und uns überteuerte Abnahmebedingungen auferlegt, diesen
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Vertrag können wir nicht rückgängig machen, der läuft noch 20 Jahre. Und da gibt es noch mehrere solcher schlechten Verträge. Was ist die Rolle von PDVSA in den sozialen Projekten? Welcher Gedanke steckt dahinter, dass ein Erdölunternehmen in diesen Bereichen investiert. OMAR BRAVO: Vielleicht mag das für Außenstehende komisch sein. Ich sehe da aber keine Widersprüche, dass ein Unternehmen wie PDVSA in ein Geschäft wie das des Erdöls investiert und auch in soziale Projekte und die Entwicklung des Landes. Das sind keine antagonistischen Widersprüche, das geht zusammen. Früher wurde nur in den Geschäftsbereich investiert und nichts in den sozialen Bereich, in die soziale Entwicklung. Wie funktioniert das? Für uns ist das schon recht seltsam, dass sich ein Unternehmen um soziale Belange kümmert. Wer entscheidet über die Projekte, die PDVSA unterstützt? OMAR BRAVO: Das wird auf der Ebene des Vorstandes entschieden. Es wird eine Menge Geld bereitgestellt für eine neue Abteilung von PDVSA, die Abteilung für soziale Entwicklung. Und mit diesem Budget werden Projekte der Comunidad gefördert. Diese Abteilung hat im Moment ein jährliches Budget von zwei Milliarden US$. Das haben wir jetzt richtig verstanden: zwei Milliarden US$ für soziale Entwicklung?
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OMAR BRAVO: Ja, zwei Milliarden US$.
cón werden. Das ist das, was wir als CRP machen.
Gibt es über die Verwendung dieser Mittel statistisches Material? OMAR BRAVO: Nein noch nicht, diese Abteilung hat ja gerade erst angefangen zu arbeiten. Aber eines der Vorhaben, von denen ich weiß, ist der Bau eines neuen Kohle-Elektrizitätswerkes in Maracaibo. Das wird die Versorgung des Bundesstaates Zulia verbessern. Ein anderes Projekt ist eine Wasseraufbereitungsanlage.
Ganz verstehen wir die Aufteilung zwischen PDVSA hier, PDVSA landesweit und CRP noch nicht. Alle beteiligen sich an den sozialen Projekten, aber jeder macht eigene Sachen? OMAR BRAVO: Die PDVSA-Zentrale gibt uns Geld aus der Abteilung für soziale Entwicklung und die CRP entscheiden über die Projekte hier.
In Caracas haben wir die bolivarianische Universität besucht, die in einem Gebäude untergebracht ist, das früher PDVSA gehörte. War das nun ein Geschenk von PDVSA an die Universität oder wird das nur vermietet? OMAR BRAVO: Das ist etwas, das wir ein Comodaco nennen. Das ist wenn Du einer anderen Person etwas überlässt, die dieses für eine bestimmte Zeit nutzt. Und nach dieser Zeit bekommst Du es wieder zurück. In dieser Zeit fallen aber keine Miet-, Leih- oder sonstige Kosten für den Nutzer an. Beteiligt sich CRP selbst auch an sozialen Programmen hier in der Gegend? OMAR BRAVO: Wir beteiligen uns hier an der Misión Barrio Adentro. Und wir bauen hier 20 Module, d.h. Arztpraxen, Arztstationen für dieses Projekt. Also mit 20 Modulen fangen wir an. Ich glaube, es sollen insgesamt 48 im ganzen Bundesstaat Fal-
Wie hoch ist euer Budget? OMAR BRAVO: Das kann ich nicht sagen. Ich glaube aber, dass die Ausgaben für die Misión Barrio Adentro etwa 2 Millionen US$ betragen. Auf der anderen Seite haben wir die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit, die auch mit der Comunidad zusammenarbeitet, z.B. mit den Krankenhäusern. JANETT HEREDIA: Ich arbeite ja in diesem Bereich und kann das aus sehr persönlichen Erfahrungen beschreiben. Die Leitung der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit hat ein Arbeitsgebiet, das für soziale Investitionen zuständig ist. Und über diese Abteilung werden Zuschüsse verwaltet – auch für die Misión Vuelvan Caras, die dafür gedacht ist, Leute wiedre in das Arbeitsleben zu integrieren. Wir arbeiten aber auch mit anderen Misiones zusammen, wie mit Barrio Adentro und Ribas. Wie unterstützt CRP diese Projekte? Stellt CRP Infrastruktur zur Verfügung oder finanzielle Unterstützung oder bietet CRP selbst Weiterbildungsmaßnahmen an?
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JANETT HEREDIA: Wir bieten Unterstützung auf ganz unterschiedliche Weise an. Beispielsweise wird die Barrio Adentro mit Infrastrukturmaßnahmen und finanziellen Mitteln unterstützt. Diese Misión ist für die medizinische Erstversorgung zuständig. Wir machen das, weil es in der Gesellschaft große Ungleichheiten im Zugang zu medizinischer Versorgung gibt. Die Misión Ribas unterstützen wir vor allem mit der Koordination der Misión. Ribas stellt die Folgestufe der Misión Robinson dar und entspricht der Sekundarstufe. Mit dieser Misión soll den Menschen die Möglichkeit gegeben werden, den Schulabschluss nachzuholen. Auch die Misión Vuelvan Caras unterstützen wir hauptsächlich durch logistische Arbeit, durch Öffentlichkeitsarbeit und durch die Stärkung der Kooperativen als neue soziale Bewegung. Im Falle der Öffentlichkeitsarbeit bieten wir vor allem Kurse an. Der Grundgedanke ist, den Leuten zu vermitteln, wie sie sich organisieren können. D.h. ein Großkonzern, ein internationales Unternehmen wie PDVSA fördert die Gründung von Kooperativen? OMAR BRAVO: Es ist sehr wichtig, die Leute darin zu unterstützen, sich zu organisieren. Dahingehend, dass sich der Reichtum verteilt. Dass er sich nicht nur in wenigen Händen befindet. JANETT HEREDIA: Es ist so, dass CRP mit Kooperativen Verträge ab-
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schließt, z.B. in den Küchen der Kantine und bei Dienstleistungen aber auch im technischen Bereich der Wartungsarbeiten. Sind das Leute, die früher bei PDVSA festangestellt waren? OMAR BRAVO: Früher war es so, dass Wartungsarbeiten an Firmen vergeben wurden, die Kontraktarbeiter angestellt hatten. Und nun können sich die Kontraktarbeiter zusammenschließen und eine Kooperative gründen, die dann den Auftrag erhält. Und so können sie an den Gewinnen teilhaben. Werden diese Leute, die zukünftig die Kooperativen bilden, von PDVSA ausgebildet? JANETT HEREDIA: Nein. Die Leute, die sich in den Kooperativen zusammentun, haben ja schon lange für PDVSA gearbeitet. Es geht darum, die Leute aus ihren nachteiligen Arbeitsverhältnissen herauszuholen. OMAR BRAVO: Das sind Leute, die schon eine Ausbildung haben, verschiedenste Berufe. Und nun werden sie darin unterstützt und ausgebildet, dass sie sich zusammenschließen und Kooperativen gründen. Und PDVSA schließt dann direkt mit den Kooperativen Verträge. Und nicht mit einem Firmeninhaber. Diese Firmeninhaber, die bislang die Verträge bekommen haben, werden darüber sicher nicht sehr glücklich sein. OMAR BRAVO: Klar, das werden sie nicht sein. n
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Gegen den Großgrundbesitz. Die bolivarianische Landwirtschaftspolitik Im Rahmen des bolivarianischen Prozesses nehmen die kleinen und mittleren Bäuerinnen und Bauern und die Landlosen eine besondere Rolle ein. Der Agrarsektor ist möglicherweise derjenige, in dem am unmittelbarsten die bestehenden Wirtschaftsstrukturen und Eigentumsverhältnisse angegriffen werden. Die Verteilung von Land an die unteren Schichten führt zu heftigen Verteidigungskämpfen seitens der Großgrundbesitzer. Obwohl die Maßnahmen bei weitem noch nicht das angestrebte Maß erreicht haben und bis zum September 2004 fast ausschließlich staatliches Land verteilt wurde, sehen sich Bäuerinnen und Bauern einer organisierten Repression ausgesetzt. Neben den Morden, die bezahlte Killer, die bei Großgrundbesitzern unter Vertrag stehen, ständig begehen, kommt es in letzter Zeit vor allem in den Grenzregionen vermehrt zu Übergriffen, deren Urheber kolumbianische Paramilitärs sind. Auf der anderen Seite steht eine Landbevölkerung, die nur zu einem kleinen Teil organisiert ist. Die ländlichen Regionen wurden lange Zeit wirtschaftlich, kulturell und sozial völlig vernachlässigt. Mit der Ausbeutung des Öls und der Abschaffung staatlicher Hilfen in der Landwirtschaft und trotz einer
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Landreform im Jahr 1961 wanderte die Bevölkerung in die Städte, in erster Linie nach Caracas, ab. Von den 25 Mio. EinwohnerInnen Venezuelas leben heute nach Angaben der Regierung 93 % in Städten. Die Folgen sind große Armut und Arbeitslosigkeit in den städtischen Ballungsräumen, das Fehlen einer funktionierenden Infrastruktur in den ländlichen Gebieten und eine kaum nennenswerte landwirtschaftliche Lebensmittelproduktion. 5 % des Einkommens werden in der Landwirtschaft erzielt (zum Vergleich: in Brasilien sind es 10 %). Förderung alternativer Wirtschaftsformen Seit 2002 ist ein neues Landgesetz in Kraft, das den Großgrundbesitz ächtet, Werkzeuge zu seiner Beseitigung bereitstellt, die Lebensbedingungen der Landbevölkerung wesentlich verbessern soll und alternativen Wirtschaftsformen in Form von Kooperativen eine besondere Förderung garantiert. Zu den erklärten Zielen gehört aber auch die häufig erwähnte Nahrungsmittelsicherheit, die Venezuela unabhängig machen soll von Lebensmitteleinfuhren. Die Regierungspolitik sieht vor, die Vergabe von Land an Koope-
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rativen, Kleinproduzentinnen und Kleinproduzenten mit Krediten, technischer Unterstützung, Ausrüstung und Schulungen zu begleiten. Zugleich gibt es Programme zur Entwicklung der Infrastruktur. Verschiedene Maßnahmen greifen ineinander und vor allem die Misiones Vuelvan Caras und Mercál spielen bei der Entwicklung des Landes eine wichtige Rolle. Wie in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen gibt es auch hier Probleme mit der Umsetzung der Programme, wofür zum größten Teil die Bürokratie und korrupte Funktionäre verantwortlich gemacht werden. Juristische Auseinandersetzung Die Opposition als politische Vertretung des Großgrundbesitzes versucht natürlich, diese Politik zu sabotieren. Der oberste Gerichtshof hat zum Beispiel zwei Artikel des Landgesetzes für verfassungswidrig erklärt, die die entschädigungslose Beschlagnahme von widerrechtlich angeeignetem Land regeln, das nicht kultiviert ist und Bauernkollektiven die Nutzung desselben für eine begrenzte Zeit erlauben. Nach Angaben des Landwirtschaftsministers Arnoldo Márquez sind von 35 Millionen Hektar Staatsland 25 Millionen vom Großgrundbesitz okkupiert. Trotzdem wurden laut dem Ministerium für Landwirtschaft bis November 2004 2,8 Millionen Hektar Land an 16.000 Familien verteilt und fast 69.000 Titel vergeben. n
Gesetz über Land und landwirtschaftliche Entwicklung (Auszug aus der Gesetzesbegründung) Die Verfassung der Bolivarianischen Republik Venezuelas legt, an der Stelle an der es um das sozio-ökonomische System des Landes geht, besonderen Wert auf die Landwirtschaft als strategische Basis für eine nachhaltige ländliche Entwicklung. Der Wert des landwirtschaftlichen Bereiches beschränkt sich nicht auf die positiven wirtschaftlichen Auswirkungen auf die nationale Produktion, sondern begründet sich aus seinem Anteil an der menschlichen und sozialen Entwicklung der Bevölkerung. In diesen verfassungsmäßigen Vorgaben äußert sich die grundsätzliche Entscheidung des Präsidenten, einen demokratischen und sozialen Staat auf der Grundlage von Gesetz und Gerechtigkeit zu errichten, in dem – anders als in den liberalen Staaten – Boden und Eigentum nicht das Privileg einiger Weniger sind, sondern der gesamten Bevölkerung zur Verfügung stehen (...). So sind Einrichtungen, die der sozialen Solidarität entgegenstehen wie der Großgrundbesitz, durch diese Grundregeln ausdrücklich verurteilt. Ebenso ist vorgesehen, dass die nötigen Maßnahmen im Bereich der Finanzen, der Kommerzialisierung, des Techno-
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logietransfers, des Grundbesitzes, der Infrastruktur, handwerklicher Ausbildung etc. ergriffen werden, um die Entwicklung des Agrarsektors sicher zu stellen. Auch im Rahmen der alten Verfassung war die Sorge für eine solide landwirtschaftliche Entwicklung augenfällig. Dies besagt das bis heute gültige Gesetz über die Agrarreform von 1960. Damals war die übliche Form des Eigentums am größten Teil der kultivierbaren Flächen der Großgrundbesitz, der sich als kontraproduktiv für die Landwirtschaft erwies, die zu fördern er vorgab. Die Agrarreform hat mehr oder weniger erfolgreich einen Prozess zur Auflösung des Großgrundbesitzes und zum Antrieb der Landwirtschaft in Gang gesetzt, indem den Bauern das Land, das sie bewirtschafteten, übergeben wurde. Über vier Jahrzehnte später ist die Notwendigkeit eines neuen gesetzlichen Rahmens, der modern und den neuen Gegebenheiten des Landes angepasst ist (...) offensichtlich, da das Gesetz über die Agrarreform in einer völlig anderen Epoche verkündet wurde und als juristische Basis der landwirtschaftlichen Entwicklung unangemessen ist. Das Gesetz über Land und landwirtschaftliche Entwicklung stellt den neuen legalen Rahmen dar, in dem die verfassungsmäßigen Werte der sozialen Entwicklung vertieft und konkret umgesetzt werden. Dafür wird (...) eine
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gerechte Verteilung des Reichtums vorgenommen und eine strategische, demokratische und partizipative Planung aufgestellt. In diesem Sinne und in Einklang mit Artikel 307 der Verfassung werden alle nötigen Maßnahmen in die Wege geleitet, die der vollständigen Abschaffung des Großgrundbesitzes dienen, als ungerechtes, dem allgemeinen Interesse und dem sozialen Frieden entgegenstehendes System. Ein weiteres Ziel im Rahmen des Gesetzes ist die Bewahrung der Biodiversität, die wirkungsvolle Umsetzung des Rechtes auf Umweltschutz und Ernährung und die Nahrungsmittelsicherheit dieser und künftiger Generationen. Als besonders wichtig erweist sich dabei Alles, was mit der Nahrungsmittelsicherheit zusammenhängt, als in der Verfassung festgeschriebenem Grundsatz.
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Horror für die Oligarchie. Interview mit Franklin Gonzalez Wer ist in der FNCEZ organisiert, seit wann gibt es sie und was waren die Gründe für ihre Bildung? Notwendig wurde unsere Organisierung, weil die Landwirtschaftspolitik der früheren Regierungen zum einen zur Spaltung der Bauern führte, zum anderen ihnen die Existenzgrundlage entzog. Sie wurde auch notwendig, weil auf dem Land die Voraussetzungen für die Produktion, wie Landmaschinen, Saatgut, Dünger, Kredite fehlten. Überhaupt fehlte die Infrastruktur. Bevor Chávez an die Macht kam wurden die ländlichen Gebiete völlig vernachlässigt, es gab keine medizinische Versorgung und Bildungsmöglichkeiten fehlten. Wir mussten uns auch organisieren und eine Front bilden, damit wir nicht zersplittert und vereinzelt sind und die Kraft haben, gegen die zu kämpfen, die die Macht und das Geld haben, und um der Basis eine Stimme zu verleihen. Wir haben unsere Organisation nach Ezequiel Zamora benannt, weil er für uns ein Vorbild ist. Ezequiel Zamora war während des Föderationskrieges zwischen 1850 und 1860 aktiv, 1860 ist er ermordet worden. Er hat drei grundlegende Prinzipien vertreten. Eins davon war „freies Land und freie Menschen“. Deshalb haben sich die Bauern seiner Armee angeschlos-
sen, sie bestand praktisch nur aus Bauern. Es ging nicht nur darum, eine bestimmte Regierung usw. zu stürzen, die Botschaft lautete „freies Land“. Das hieß für die Leute, dass jeder von dem Land, das in wenigen Händen konzentriert war, seinen Anteil bekäme, wenn sie diesen Krieg gewinnen würden. Das zweite wichtige Prinzip Zamoras war der Schlachtruf: „Horror für die Oligarchie“. Seine Bauernarmee übte Terror gegen die Großgrundbesitzer aus, brannte die Landgüter – teilweise mit Bewohnern darin – nieder und verbreitete damit wie beabsichtigt Angst und Schrecken unter der Oligarchie. Das ist nicht unbedingt als etwas Schlechtes anzusehen, wir halten diese Vorgehensweise für die damalige Zeit und den damaligen Konflikt für gerechtfertigt und korrekt. Der dritte Punkt ist, dass Zamora eine sehr demokratische Haltung hatte. 1856 startete er eine Kampagne – mit Plakaten, Flugblättern usw., auch das waren Mittel seines Kampfes – dafür, dass die Regierenden in freien Wahlen bestimmt werden, an denen alle teilnehmen können. Es war damals natürlich so, dass die Regierenden eingesetzt wurden und die Bauern nichts zu melden hatten. Wir glauben, dass diese ganzen Vorstellun-
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Franklin Gonzalez Nationaler Koordinator der Frente Nacional Campesino Ezequiel Zamora (FNCEZ)
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1 Die Legende von Florentino und dem Teufel stammt aus den Llanos und handelt von dem Kampf zwischen dem Sänger Florentino und dem Teufel, den Florentino gewinnt.
gen von Ezequiel Zamora auch heute – zwar in anderem Kontext – in gewisser Weise weiterhin Gültigkeit besitzen. Deswegen der Name der Organisation. Die Frente wurde von Leuten aus der Basis gebildet. Leuten aus Kooperativen, der Bauernbewegung, Kleinproduzenten. Wir sind davon überzeugt, dass Veränderungen und Organisierungsprozesse nur von der Basis ausgehen können und an der Basis funktionieren müssen. Deswegen sind auch die Leute in der Frente Menschen, die direkte Basisarbeit machen. Sie sind Teil der Basis, gehören sozusagen zu den ganzen unsichtbaren Führungspersonen, die an der Basis Impulse geben, organisieren etc., aber nach außen nicht sichtbar sind. Die Frente hat daher auch keinen Vorsitzenden oder so etwas, sondern ist horizontal strukturiert. Es gibt auf den verschiedenen Ebenen, lokal, regional und national, jeweils Koordinationen, aber keine Führung oder Leitung in diesem Sinne. Dazu muss ich allerdings bemerken, dass das noch nicht immer so funktioniert wie es sollte. An manchen Orten weniger, an anderen mehr, aber es ist die Richtung die wir haben und von der wir glauben, dass sie richtig ist. Unsere Idee ist eben, diese Basisorganisierung voranzutreiben. Seit kurzem gibt es ein neues Landgesetz. Wie wurde es bisher umgesetzt? Das Landgesetz wurde 2001 in Santa Inés de Barinas verkündet. Das ist ein historischer Ort,
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denn Ezequiel Zamora hat hier mit seiner Volksarmee der Bauern eine wichtige Schlacht gegen die Oligarchie gewonnen. Santa Inés liegt in den Llanos (die Ebenen im Westen des Landes), dort wo die meisten Kleinbauern leben. So wurde ein Bezug zu unserem Leben hergestellt, zu unseren Bräuchen, zu unserer Kultur, die Leute erfuhren, woher wir kommen. Auch in der Kampagne vor dem Referendum wurde die Mythologie von „Florentino und dem Teufel“1 aufgegriffen, die aus den Llanos kommt. Bevor wir darüber reden, was das Landgesetz ist, muss man über die Landreform von 1961 reden. Trotz ihrer Korruptheit hat die Regierung damals tatsächlich Land verteilt. Aber nicht als Teil einer umfassenden Politik, begleitet von günstigen Krediten, technischer Unterstützung, Saatgut, Maschinen, etc. Denn selbst wenn eine Bauernfamilie 100 Hektar Land erhielt, konnte sie – ohne Mittel, ohne Werkzeuge und Maschinen – tatsächlich nicht mehr als drei bis vier Hektar von Hand bearbeiten. Was passierte also mit dem Rest – das Land wurde verkauft. Auf diese Weise kauften Großgrundbesitzer riesige Flächen auf, bezahlten den Leuten das Minimum und vertrieben die Bewohner. Oft zäunten sie auch mehr Land ein, als sie gekauft hatten und verjagten die Leute aus dem Gebiet oder speisten sie mit Almosen ab. Sie kamen häufig auch mit gefälschten Besitzurkunden für dieses Land. Die Bauern waren gezwungen, in die Städte zu ziehen,
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Hunger zu leiden, ohne Arbeit und ohne Land. Die wenigen, die blieben, wurden in die schlechtesten Ecken verdrängt, an die Flussufer, in die Berge oder in den Wald, also auf Land, das schwer zu bebauen und unfruchtbar ist. Der Rest ist eben in die Stadt gegangen, um dort Arbeit zu suchen, was zu dem städtischen Chaos beitrug, der Konzentration der Bevölkerung usw. Das waren die Wirkungen der damaligen Landreform. Die kleinen Bauern, die ärmsten Schichten haben den ganzen Druck abbekommen. Als Chávez an die Regierung kam hat ein Prozess begonnen. Ein Prozess, der unter anderem den Vorschlag für ein Gesetz hervorbrachte – das „Gesetz über das Land und die landwirtschaftliche Entwicklung“. Es wurde von uns sehr begrüßt, da es Dingen einen gesetzlichen Rahmen gibt, die uns auf dem Land nützen – die Verteilung von Land zum Beispiel und den Kampf gegen den Großgrundbesitz, den das Gesetz auch zum Ausdruck bringt. Großgrundbesitz ist laut Gesetz 5.000 Hektar und mehr, aber Land der sechsten oder siebten Kategorie. Es gibt hier eine Klassifikation des Landes. Land der sechsten oder siebten Klasse ist schlechter Boden, für die Viehzucht, manchmal für Reisanbau geeignet, da er sehr feucht ist. Bei Land der Klasse A1 sind 100 Hektar Großgrundbesitz, das ist das beste Land, das beispielsweise für den Maisanbau geeignet ist.
Durch dieses Landgesetz sehen wir, dass die Landwirtschaftspolitik zumindest stimmig und umfassend ist. Für die Bauern, die in Kooperativen organisiert sind, ist es auf jeden Fall von Nutzen. Sie erhalten Zugang zu Land, einige haben Titel darauf, womit es ihnen niemand mehr wegnehmen kann. Zum Beispiel gibt es die Fondos Zamoranos. In den Fondos Zamoranos geht es um die Umsetzung einer endogenen Entwicklung. Das sind Kooperativen, in denen die Leute produzieren, Häuser bauen, sich mit dem Gesundheitsproblem beschäftigen, die Bildung organisieren, also ein integrales Modell, eine endogene Entwicklung. Bis jetzt gibt es landesweit 35 Fondos in verschiedenen Staaten. Ihre Größe variiert, einige haben 1.400 Hektar, andere 2.000, wieder andere 3.000. Und hier bringt diese ganzheitliche Politik viele Vorteile: Land, Maschinen, Kredite, etc. Bis jetzt (2002 bis 2004) wurden ungefähr 2.269.000 Hektar Land verteilt. Davon sind allerdings nur 10% bis 15% aus dem ehemaligen Großgrundbesitz, der Rest ist staatliches Land oder Land, auf dem die Leute schon waren, für das sie jetzt Titel bekommen haben. Der Großgrundbesitz ist also noch intakt. Wie reagiert der Großgrundbesitz auf das Gesetz? Die Landbesitzer, die Großgrundbesitzer sind natürlich die Feinde dieses Prozesses. In den Medien, die sie privat betreiben, ziehen sie gegen das Gesetz zu Felde, mit Aus-
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sagen wie, es herrsche eine Diktatur, ihnen würde ihr Land geraubt und sie würden enteignet. Sie bezeichnen uns, die Bauern, als Invasoren. Man muss fragen wer da wirklich die Invasoren sind. Es gibt Leute, die in Venezuela 50.000, 100.000, 500.000 oder eine Million Hektar Land besitzen, aber noch nicht einmal Venezolaner sind. Mehr als eine Million Hektar gehören zum Beispiel Engländern. Sie hatten nie ein Interesse, auf dem Land zu produzieren. Diese riesigen Flächen liegen brach und sind unproduktiv, oder es wird kommerziell abgeholzt. Außerdem haben wir Informationen über Landebahnen, wir wissen auch wo sie sind, wo nachts Flugzeuge landen, wo sie Drogenhandel betreiben. Sie nutzen das Land für den Drogenhandel, holzen ab und außerdem befinden sich dort Ausbildungslager für ihre bezahlten Killer, die die Bauern umbringen. Die Großgrundbesitzer haben einen – nennnen wir‘s mal Widerstand – aufgebaut und, schmerzlich für uns, mittlerweile fast 90 Compañeros umgebracht. Und das, obwohl der Kampf nicht sehr hart war und der Großgrundbesitz kaum angetastet wurde. Es wurde ja hauptsächlich Staatsland verteilt. Wenn sich der Kampf gegen den Großgrundbesitz jetzt radikalisiert, seitens der Regierung und auch von uns als sozialer Bewegung, wird ihr Widerstand wachsen. Die Folge wird sein, dass wir gezwungen sind, nicht nur unser Land, sondern auch unser Leben zu verteidigen, denn sie ermorden uns.
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Deswegen denken wir, dass wir Schritte unternehmen müssen denn es gibt ein Sicherheitsproblem. In der Verfassung gibt es einen Artikel nach der neuen Verteidigungsdoktrin, der besagt, dass die Verteidigung der Nation eine gemeinsame Angelegenheit der Armee und der organisierten Bevölkerung ist. Die Leute sind in sozialen und produktiven Zusammenschlüssen, in landwirtschaftlichen Kooperativen, leben in Familien etc. Wie also diese Sicherheitskooperativen aufbauen? Unser Vorschlag sind Volksverteidigungszirkel, die sich mit der Armee koordinieren. Ist die Situation im ganzen Land dieselbe oder gibt es regionale Unterschiede? Die größten Schwierigkeiten gibt es in der Gegend südlich des Maracaibo-Sees, im Staat Zulia hinsichtlich der Zahl der ermordeten Compañeros. Dort ist der Kampf am härtesten und dort sind allein zwanzig Bauern umgebracht worden. Das hat verschiedene Gründe, erstens ist der Boden dort der fruchtbarste im ganzen Land. Ein Hektar Land, der anderswo 1,5 Millionen Bolivares kostet, ist dort vier bis fünf Millionen wert. Ein riesiger Unterschied. Fast 60.000 Hektar Ackerland liegen dort und fast der ganze Boden gehört dem Staat, ist aber von Großgrundbesitzern okkupiert. Außerdem ist es eine Ölregion. Es wird vermutet, dass es dort Öl gibt und das macht das Land wertvoll. Und schließlich ist es die Grenzregion mit Kolumbien und
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damit eine Gegend des Drogenhandels. Es heisst, dass einige dieser Banden, die Bauern ermorden, Paramilitärs aus Kolumbien sind. Gibt es dafür Beweise, oder sind das Vermutungen? Es gibt zwei Sachen. Gewöhnlich setzen die Großgrundbesitzer so genannte Campovolantes ein. 15 – 20 Personen, die auf der Finca sind und bei ihnen unter Vertrag stehen. Sie sind in der Umgebung der Fincas unterwegs und haben den Befehl zu schießen. Das ist die Normalität. Sie heuern auch Killer an, teilweise auch in anderen Bundesstaaten, die sie dann woanders einsetzen. Darunter sind einzelne Paramilitärs, oder sie bekommen Unterstützung durch sie, aber sie sind nicht wie eine Armee organisiert. Und den Paramilitarismus, die größte Repression, gibt es auch, und der hat seine Wurzeln zweifellos in Kolumbien. Vor kurzem wurden in Caracas auf einer Finca der oberen Mittelschicht 130 Paramilitärs festgenommen, deren Absicht es war, Verwirrung zu stiften und den Konflikt anzuheizen. Wenn das schon in Caracas so ist, wie muss es dann erst an der Grenze sein. Als letztes Jahr in Portuguesa (Bundesstaat im Westen) ein Bauernaktivist umgebracht wurde, machte Chávez in Aló presidente den Vorschlag eines gemeinsamen Landkommandos von Guardia Nacional und Armee, das gegen die Morde vorgehen sollte. Dies wurde aber nicht beach-
tet und weiter verfolgt. Es ist allerdings auch die Frage, gegen wen sie kämpfen würden – gegen die oder gegen uns. Es gibt eine Gruppe in der Guardia Nacional, die die Bodyguards für die Großgrundbesitzer macht. Die Idee hatte also ihre Vor- und Nachteile. Wir meinen, dass unser eigener Vorschlag auf der Grundlage der neuen Verteidigungsdoktrin besser ist. Wir sind Teil des organisierten Volkes, des Netzes, das die Volksverteidigung übernehmen sollte. Dazu muss es eine Koordination mit den Streitkräften geben. Wir haben schließlich die ganzen Informationen, wir wissen wer kommt, wer geht, wer sich wo aufhält, wir leben dort. In welcher Form sind die Basisorganisationen einbezogen in die Umsetzung des Landgesetzes, was sind eure Vorschläge? Seit kurzem beschäftigt uns ein juristisches Problem. Der oberste Gerichtshof hat zwei Artikel aus dem Landgesetz annulliert. Es handelt sich dabei um denselben korrupten Gerichtshof, der beschlossen hat, dass der Putsch 2002 keiner war. Jetzt geht es um eine Reform des Landgesetzes. Wir sind der Meinung, dass diese nur in Form einer Befragung, indem die Bauern zu Rate gezogen werden, gemacht werden kann. Und nicht, wie von anderer Seite vorgeschlagen, im Parlament durch die vier Abgeordneten, die Experten auf diesem Gebiet sind. Wir als Frente wollen, dass es eine öffentliche Diskussion
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darum gibt, einen gesetzgebenden Prozess, der von unten, von den Bauern kommt. Die Volksversammlung der Bauern sollte die Vorschläge machen. Wir begrüßen es natürlich, dass die neue Republik auch einen Raum schafft für Verfassungsänderungen, aber dafür gibt es drei Wege. Erstens angestoßen durch den Präsidenten, zweitens durch das Parlament und drittens durch Volksbefragungen. Wir wollen natürlich den dritten Weg, die Volksbefragung und die öffentliche Debatte, denn das ist das Werkzeug, das garantiert, dass sich die Partizipation des Volkes vertieft, konkreter und direkter wird. Das gilt für alle Sektoren, nicht nur die Bauern, für Studenten, für Arbeiter, die comunidades ... Und noch etwas. Der Präsident hat dem Militär befohlen, in allen Staaten Informationen über den Großgrundbesitz zu sammeln. Das sehen wir durchaus gerne und wir sind an diesen Informationen sehr interessiert: Wie heißen die Leute
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mit Vor- und Nachnamen, wo sind die Großgrundbesitzer, was machen sie mit dem Land, wie beuten sie es aus. Deswegen haben wir vorgeschlagen, dass wir mit einbezogen werden. Dazu gab es bereits ein Treffen zwischen einem Major der Armee und Compañeros aus verschiedenen Staaten. Bis jetzt haben wir keine große Rolle gespielt in dem Demokratisierungsprozess der Agrarpolitik und mitgeredet bei Problemen wie der Landverteilung, Unterstützung mit Maschinen etc. Wir schlagen deshalb einen Weg der konstruktiven Kritik vor, als Form der Mitwirkung an Entscheidungen, die bis jetzt ausschließlich in den Ministerien und Behörden gefällt wurden. Wir wollen, dass dieser Prozess sich öffnet und die Bewegung der Bauern einbezieht. Wir wollen an der Diskussion über die Landpolitik beteiligt sein. Eine weitere Sache ist die Verteilung von Maschinen und Krediten. Es scheint, als ob sie nicht immer an die Basis gelangen, an die Kooperativen, sondern Leuten zugute kommen, die ohnehin reicher sind. Das ist ein Problem der Bürokratie und bestimmter Funktionäre auf den entsprechenden Posten. Wir machen deshalb gerade eine landesweite Erhebung und befragen die Leute und Kooperativen darüber, wer Kredite bekommt, warum Kooperativen keine Kredite erhalten etc. Diese Informationen tragen wir zusammen und werden sie an den Präsidenten weiterleiten. n
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Gesetz über Land und landwirtschaftliche Entwicklung (Auszug) Artikel 1: Das vorliegende Gesetz soll die Basis für eine umfassende und nachhaltige Entwicklung des Landes bilden. Es versteht sich als Fundament für die menschliche Entwicklung und das ökonomische Wachstum im landwirtschaftlichen Sektor auf der Grundlage einer gerechten Verteilung der Reichtümer und einer strategischen, demokratischen und partizipativen Planung, die den Großgrundbesitz als ungerechtes, gegen das allgemeine Interesse und den sozialen Frieden auf dem Land gerichtetes System eliminiert und die Artenvielfalt, die Nahrungsmittelsicherheit und die Umsetzung des Rechts auf Umweltschutz und des Rechts auf Nahrungsmittel dieser und zukünftiger Generationen sichert. Artikel 4: Kollektive Betriebe der landwirtschaftlichen Produktion werden auf der Basis von Zusammenarbeit und gegenseitiger Solidarität errichtet, indem das kooperative, kollektive, gemeinschaftliche System besonders gefördert wird. In diesem Sinne wird kollektiver Grund anhand der Organisation und Bestimmung der Produktionsgüter, der Organisierung der Menschen in der kollektiven Arbeit und der Entwicklung der Selbstverwaltung der kollektiven Betriebe gestaltet.
Artikel 7: Dieses Gesetzes definiert Großgrundbesitz als brachliegendes, nicht kultiviertes Land der Kategorien 6 und 7, das 5.000 Hektar überschreitet. Artikel 11: Die durch das Nationale Landinstitut zugeteilten Parzellen können als Sicherheit für Kredite nur in Form der Ernte eingesetzt werden und nach vorhergehender Genehmigung durch die regionalen Landbehörden. Es können darauf keine Hypotheken oder Belastungen irgendeiner Form aufgenommen werden. Es bedarf einer schriftlichen Urkunde, um Land verpfänden zu können. Artikel 12: Das Recht auf Zuteilung von Land hat jede Person, die zur Arbeit auf dem Land in der Lage ist (...) Für die Landwirtschaft geeignetes Land, das Eigentum des Nationalen Landinstituts ist, kann dauerhaft vergeben werden, indem dem Bauern oder der Bäuerin das Recht auf landwirtschaftliches Eigentum übertragen wird. Es berechtigt den Bauern oder die Bäuerin, den Ertrag zu nutzen und zu genießen. Das Recht auf landwirtschaftliches Eigentum ist vererbbar an die gesetzlichen Nachkommen, aber es kann in keiner Weise veräußert werden. Artikel 36: Das Nationale Landinstitut ergreift Maßnahmen, die angemessen sind, alles Land in produktive Wirtschaftseinheiten zu verwandeln. Es kann Land aus
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seinem Eigentum einziehen, das verwildert oder nicht kultiviert ist. Artikel 72: Die Beseitigung des Großgrundbesitzes wird durch dieses Gesetz zur Angelegenheit des Gemeinwohls und zum gesellschaftlichen Interesse erklärt, im Einklang mit Artikel 307 der Verfassung der Bolivarianischen Republik Venezuelas. In diesem Sinne wird das Nationale Landinstitut privaten Besitz enteignen, der benötigt wird für eine nachhaltige Planung des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens, um sein ernährungstechnisches Potential zu sichern.
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Artikel 74: Nicht enteignet werden können Grundstücke der Klasse 1 oder ihre Äquivalente anderer Klassen, die nicht mehr als 100 Hektar betragen, und solche, die nicht mehr als 5.000 Hektar betragen der Klassen 6 und 7 oder ihre Äquivalente. Klassifikation der landwirtschaftlichen Nutzung des Bodens in absteigender Reihenfolge nach Qualität und seiner Eignung für die Nahrungsmittelsicherheit: Nutzung: Klassen: Ackerbau 1, 2, 3, 4 Viehzucht 5 ,6 Wald 7, 8 Schutzgebiete 9 Tourismus 10
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Wir müssen viele Traditionen zurückgewinnen. Interview mit José Guariguata* Wir haben gelesen, dass Venezuela das urbanisierteste Land Lateinamerikas sei. Die erste Frage bezieht sich auf Deine Arbeit im ländlichen Bereich im Bundesstaat Bolívar. Ist die ländliche Entwicklung eine ökonomische Entwicklung auf landesweiter Ebene? Oder sind das punktuelle Sachen für die Situation marginalisierter Menschen? Was sind die Konzepte für die ländliche Entwicklung? Es gibt zwei Konzepte. Eines nimmt sich der ländlichen Entwicklung an. Es stimmt, dass viele Leute in Städten wohnen und ihre landwirtschaftlichen Fähigkeiten verlernt und verloren haben. Aus einer strategischen Überlegung heraus müssen wir jedoch diesen Prozess der ländlichen Entwicklung anschieben. Das werden wir nicht sofort lösen können, aber Schritt für Schritt entwickeln wir eine Plattform, die es uns in der Zukunft erlauben wird, autark zu sein. Und dafür ist auch das zweite Konzept, das eine nachhaltige ländliche Entwicklung betrifft, das heißt eine Entwicklung für uns selbst, auf landesweiter Ebene. Aber das Problem des Agrar- und Nahrungsmittelbereichs ist nicht nur eins der ländlichen Regionen. Es gibt auch Projekte im städtischen
Bereich, im Moment noch sehr punktuelle, sie sollen sich aber ausweiten. Es gibt hier einige Erfahrungen mit Gärten, mit Anbauflächen, die organisch gedüngt werden. Die Idee ist also, nicht nur den Agrar- und Nahrungsmittelbereich auf dem Land auszuweiten, sondern auch in den Städten. Diese Konzepte gehen weiter, als nur die ländliche Entwicklung in Betracht zu ziehen. Es ist ein Konzept der selbsttragenden Entwicklung im Agrar- und Nahrungsmittelbereich auf Grundlage der nationalen Souveränität. Was zeichnet die Wichtigkeit in diesem Sektor aus? Ein Grund hat damit zu tun, dass wir bislang eine monoproduktive Ökonomie haben, d.h. Erdölproduktion. Wir wollen für das Land einen anderen ökonomischen Sektor entwickeln und das ist der Agrarund Nahrungsmittelbereich. Um in der Nahrungsmittelversorgung nachhaltig unabhängig zu werden, müssen wir die Exklusivität der Erdölproduktion überwinden. Ein weiterer Grund der ländlichen Entwicklung hat etwas mit der Kultur zu tun. Wir müssen wieder viele Traditionen der handwerklichen Produktion zurückgewinnen,
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José Guariguata Koordinator des Red Social Guayana
* In diesem Kapitel ist der erste Teil des Interviews mit José Guariguata dokumentiert. Der zweite Teil findet sich im Kapitel „Netzwerke & Organisierung“
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und diese traditionellen Produktionsformen mit den heute existierenden technologischen Produktionsmethoden verknüpfen. Diese beiden Formen gilt es zu vereinen, um damit die Entwicklung im Agrar- und Nahrungsmittelbereich zu vertiefen. Auch das hat mit der nationalen Souveränität zu tun. In diesem kulturellen Sinn gilt es auch, Werte zurückzugewinnen, die eigentlich mit dem ländlichen Leben zusammenhängen. Um ein Beispiel zu nennen, in Venezuela gab es die Tradition der Cayapa, d.h. eine ganze Dorfgemeinschaft, alle Nachbarn, alle, die dort wohnten, machten zusammen die Conuco. D.h. sie brachten zusammen die Ernte ein, sie bauten zusammen ein Haus, sie bauten zusammen einen neuen Weg. Das ist eine indigene Tradition und genauso eine der Schwarzen. Die alten Kulturen zu retten bedeutet auch, diese Werte des Zusammenlebens zu retten. Das hat etwas mit unserem politischen Konzept von Entwicklung zu tun. Das ist die Partizipation und die Form, wie Entscheidungen getroffen werden und die kollektive Art der Arbeit. Außerdem sind um die Agrarproduktion ein Konglomerat von Verhaltensweisen, des Zusammenlebens, der Werte angelegt, die das venezolanische Volk als seine identifiziert. Und das ist im Prozess der Verstädterung verlorengegangen. Das heißt, aufs Land zurückzukehren, zum land- und viehwirtschaftlichen Leben zurückzukehren, bedeutet auch, diese Werte wiederzuerlangen.
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Ein anderer Grund für die ländliche Entwicklung hat etwas mit dem Landbesitz zu tun. Ein Grund für viele Leute vom Land in die Stadt zu gehen, war, dass sie kein Land besaßen. Das Land ist in den Händen der Großgrundbesitzer. Eine Weise, das Land wieder zurückzugewinnen, ist also, auf’s Land zurückzukehren und dort zu produzieren. Wir müssen Verhältnisse schaffen, neue Formen der Produktion und des Zusammenlebens, die es den Menschen erlauben, sich dort einzurichten und niederzulassen und die gleichen „Wohltaten“ zu erhalten wie die Leute in der Stadt. Dazu gehört, dass sie Zugang zu Bildung auf allen Ebenen und natürlich zu Grundleistungen wie Wasser, Strom, Telefon etc. haben. Wenn wir das erreichen – und wir sind überzeugt, dass wir das erreichen – dann können wir garantieren, dass ein Gleichgewicht zwischen der ländlichen und städtischen Bevölkerung entsteht. Die räumliche Verteilung der Bevölkerung ist fundamental. Je mehr Menschen die ländlichen Gebiete bewohnen, desto mehr kontrollieren wir von unserem Territorium. Und damit verhindern wir die Rückkehr des Großgrundbesitzes. Gibt es schon Erfahrungen mit der Umsetzung, gibt es konkrete Projekte? Im Moment laufen schon die Kredite für die Kooperativen an und das kostet ganz schöne Mühen, aber es ermöglicht Investitionen im Agrarbereich. Früher, in der vierten Republik, vergaben sie auch Kre-
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dite, aber diese Kredite wurden unter den Parteifreunden aufgeteilt. Sie kamen jedenfalls nicht bei den Kleinbauern an. Heute sind die Kreditvergaben demokratisiert worden und das heißt, sie kommen dort an. Genauso müssen auch die alten Bewässerungsanlagen wieder angeeignet werden. Die wurden während der Zeit der repräsentativen Demokratie vernachlässigt. Und auch da gibt es nun staatliche Programme, für die Erhaltung und den Ausbau von Quellen, von Flüssen, von Auffangbecken. Es kostet uns sehr große Anstrengung, unsere Bewässerung aufrecht zu erhalten. Sie ist eine natürliche Quelle, dient aber der Landwirtschaft. Ein anderes Problem ist, dass die landwirtschaftlich produzierten Güter nicht in die Städte kommen, weil die Verkehrsverbindungen so schlecht sind. Oder wenn sie in die Städte kommen, dann mit einem sehr hohen Aufschlag. Der venezolanische Staat will sich darum kümmern, dass die Verkehrswege ausgebaut werden, dass der Zugang zu den Produkten erleichtert wird, die unsere Bauern herstellen. Eine weitere Voraussetzung für den Prozess ist die Bereitstellung von Grundleistungen, von Strom, von Schulen. Hier gibt es eine andere strategische Überlegung. Die bolivarianischen Schulen im ländlichen Bereich sind der Versuch, den Schülern Werkzeuge an die Hand zu geben, die es ihnen ermöglichen, nicht nur im kulturellen Bereich etwas zu lernen, sondern auch im produktiven. Das
nennen wir „das pädagogische Projekt der Klassenzimmer“. Die Schulen haben z.B. einen Bereich der Yuca-Produktion als ein Teil der Ausbildung. Es gibt auch ein neues Programm des Bildungsministeriums, das auf Initiative der Lehrer vor Ort entstand, das sich der „produktive Kalender“ nennt. Der Kalender besteht darin, dass all‘ die Kenntnisse, die die Bauern besaßen, sich wieder angeeignet werden. Beispielsweise die Aussaat entlang des Mondkalenders, der verschiedenen Jahreszeiten. Auf dieser Grundlage haben sie eine Studie entwickelt, bzw. den „produktiven Kalender“, der die unterschiedlichen produktiven Phasen einer Gemeinde zusammenfasst. Das heißt, dass jeder Kalender anders ist in den jeweils unterschiedlichen Gemeinden. Er hängt von der jeweiligen Art der Produktion der einzelnen Gemeinde ab. Das ist kein Projekt, das von oben aufgedrückt wird, sondern er wird von der jeweiligen Gemeinde angenommen. Um dieses Projekt herum gibt es verschiedene Ansätze, z.B. die Aulas ecologicas para la identidad productiva (ökologische Klassenzimmer für die produktive Identität), die ich initiiert habe. Das ist ein Modell, das mit den Vorschlägen der „endogenen Entwicklungskerne“ korrespondiert. Wir haben ein Modell der Gesellschaft, das schon in der Schule leben soll, das Klassenzimmer soll der Gesellschaft entsprechen. D.h. es soll kein Klassenzimmer sein, in dem gelehrt und gelernt wird, sondern in dem gelebt wird. Das öko-
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logische Klassenzimmer besteht aus drei Teilen. Der erste Teil ist Forschung und Untersuchung, der zweite die Evaluierung und der dritte Teil ist die Organisation der Werte im Leben, das Zusammenleben. Die Phasen können auch gleichzeitig ablaufen. Die erste Phase ist die Erforschung der Produktivität des Landes, die Bearbeitung des Landes, die Erforschung der Geschichte der Gemeinde, die Erforschung der Flora und Fauna, der Quellen des Lebens, wie das Wasser. Die Kinder setzen danach dieses Wissen um. Sie produzieren landwirtschaftliche Güter, produzieren Märchen und Geschichten, Süßigkeiten, Nachschlagewerke, Rezepte. Es ist sowohl eine handwerkliche wie auch eine
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intellektuelle Produktion. In der dritten Phase nehmen die Kinder an einer Ruta ecologica (ökologischer Weg) teil, d.h. sie fahren durch das Land und tauschen sich mit anderen Kindern aus. Dabei lernen sie die Geographie kennen, andere Arten zu produzieren und sie tauschen ihre Erfahrungen mit anderen aus. Dieses pädagogische Modell, das wir kreiert haben, korrespondiert mit dem Modell der endogenen, nachhaltigen Entwicklung. Das ist der Weg, wie wir Bürger bilden können, die innerhalb der nächsten 10 oder 15 Jahren die Bürger der endogenen, nachhaltigen Gesellschaft sein werden, einer produktiven fünften Republik. n
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Medien & Kommunikation
Die Revolution wird nicht gesendet. Der Kampf um die Medien
1 siehe Bibliographie und Filmverzeichnis im Anhang
Linker Medienkritik folgend, haben bürgerliche Medien die Aufgabe das herrschende System zu stabilisieren. Sie nehmen diese Aufgabe schon alleine deshalb wahr, weil sie sich zu weiten Teilen in privater Hand befinden und damit eigene Kapitalinteressen verfolgen. Gut nachvollziehen lässt sich das an Hand von Leuten wie Berlusconi oder Sendern wie FOX. In Venezuela stellt sich die Situation anders dar. Hier sind die privaten Medien in ihrer Mehrheit damit befasst. den Prozess zu destabilisieren und aktiv zu bekämpfen. Natürlich spielen dabei journalistischer Anspruch und „Objektivität“ eine stark untergeordnete Rolle. Wie in vielen Ländern ist auch in Venezuela das Fernsehen das wichtigste Massenmedium. Dabei gibt es eine Vielzahl privater Angebote und zwei staatliche Sender. Das ist auch die politische Trennungslinie. Viele Menschen in Venezuela sehen aber die privaten Medien nicht nur als Sprachrohr der Opposition, sondern als deren eigentlichen Kopf. Sie sind mächtige Kapitalgesellschaften, die ihren Einfluss hemmungslos dazu nutzen, die Regierung offen zu bekämpfen. Diese Einschätzung lässt sich anhand des gescheiterten Putsches
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gegen die Regierung Chávez im April 2002 eindrücklich nachvollziehen. Hier war die verzerrte Darstellung der Realität eine wichtige Waffe der Putschisten, wenn nicht die wichtigste Waffe. So wurde in Form von Fernsehbildern der Eindruck erweckt, Anhängerinnen und Anhänger der Regierung würden friedliche Demonstranten der Opposition massenhaft zusammenschießen. Zwar fielen tatsächlich Schüsse, es gibt aber deutliche Hinweise darauf, dass diese von oppositionellen Polizeieinheiten abgegeben wurden, um die Situation zu eskalieren. In der medialen Darstellung wurden die Schüsse anschließend Chávez-Anhängern in die Schuhe geschoben. Es ist die klassische Taktik der Provokation, die hier zur Anwendung kam. Die verzerrte Darstellung durch bewusst gewählte Einstellungen und Auslassungen ist in dem Film „The Revolution will not be televised“1 gut dokumentiert. Neue Akteure in der Medienlandschaft Anhand des Putsches lässt sich auch die Rolle eines anderen Akteurs der venezolanischen Medienlandschaft erklären. Während das Staatsfernsehen durch die Putschisten abgeschaltet wur-
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de und die privaten Anstalten logen oder schlicht gar nichts über die Situation berichteten (einige zeigten während der Kämpfe auf der Straße Zeichentrickfilme), gelang es Basisinitiativen eine derart starke Mobilisierung zu erreichen, dass die Putschisten schon nach wenigen Stunden die Flucht antreten mussten. Medien dieser Mobilisierung waren Flugblätter, Internetseiten und die Freien Radios, also die Radios, die unter der Kontrolle der Selbstorganisationsstrukturen aus den Barrios stehen. Es gibt also in der Medienlandschaft drei zu unterscheidende Strukturen. Dies sind die privaten Presseund Rundfunk-Unternehmen, die staatlichen Rundfunkanstalten und die regierungsnahen Presseorgane und schließlich unabhängige Basismedien, hauptsächlich in Form von Internetseiten und Radioinitiativen. Eine deutliche Trennung zwischen den staatlichen Medien und den unabhängigen ist aber in vielen Fällen nicht erkennbar. Es gibt personelle Überschneidungen und der venezolanische Staat unterstützt den Aufbau von unabhängigen Medieninitiativen, indem er den Basisinitiativen die technische Ausrüstung für den Radiobetrieb stellt und auch an Schulungen der Aktivistinnen und Aktivisten beteiligt ist. Im Vergleich zu 2002 stellt sich die Medienlandschaft heute verändert dar. Die Dominanz der oppositionellen Presse im Tageszeitungsmarkt konnte gebrochen werden.
Aló Presidente Außerdem spielt die jeden Sonntag auf dem staatlichen Kanal Canal 8 ausgestrahlte Sendung Aló Presidente in der politischen Landschaft Venezuelas eine wichtige Rolle. Ihr Inhalt besteht aus zum Teil äußerst langwierigen Stellungnahmen des Präsidenten zu Fragen der Tagespolitik und Grundsatzfragen des Regierungsprogramms. Ergänzt werden diese Stellungnahmen durch Interviews und kurze Reportagen. Außerdem erfüllt Aló Presidente die Funktion von Presseerklärungen des Präsidenten und wird in der Presse regelmäßig breit besprochen. Diese Sendung muss oft für die CaudilloVorwürfe gegen Chávez herhalten, und tatsächlich gilt es kritisch zu betrachten, dass dem Präsidenten des Landes ein derart privilegiertes Sendeformat zur eigenen Verfügung steht. n
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Zeitungsstand im Zentrum von Caracas
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Ein Phänomen in der Presselandschaft. Interview mit Servando García Ponce
Servando García Ponce Mitglied des Redaktionsrats der Tageszeitung VEA
Wie ist der Erfolg der VEA zu erklären? Ähnliche Projekte, die den Aufbau einer bolivarianischen Presse zum Ziel hatten, sind in der Vergangenheit ja gescheitert. Es gibt heute tatsächlich eine breite bolivarianische Presse. Neben VEA und den freien Radios sind dies vor allem verschiedene Wochenzeitungen, die im ganzen Land und in den Barrios vertrieben werden. Insgesamt beträgt die wöchentliche Auflage der bolivarianischen Presse rund 700.000 Exemplare. Die Tageszeitung VEA hat genau vor einem Jahr, am 12. September 2003, begonnen. Sie wird von einer Kooperative von Journalistinnen und Journalisten herausgegeben und von einigen unabhängigen Unternehmern unterstützt. Diese Unternehmen sehen einen Markt in den sechs Millionen Menschen, die sich in dem Referendum als Bolivarianer definiert haben. Das sind potentielle Leser, die von den anderen Medien nicht erreicht werden. In diese Lücke ist VEA gestoßen, die alternative Informationen nicht nur über venezolanische sondern auch über internationale Themen verbreitet. Das passierte vor dem Hintergrund, dass sich die Mehrheit der Zeitungen in Händen der Oligarchie und internationaler Konzerne befin-
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den, die Nachrichten nur verfälscht wiedergeben bzw. über bestimmte Dinge, die im Land passieren, überhaupt nicht berichten. Nicht nur die Presse, sondern auch die Radio- und Fernsehunternehmen haben sich in eine politische Partei verwandelt, die im Dienste der Opposition, des Großkapitals und der Vereinigten Staaten steht. VEA trat an als die Stimme des revolutionären bolivarianischen Prozesses. Wir haben mit einer Auflage von 30.000 Exemplaren begonnen, was für eine neu auf den Markt kommende Zeitung sehr hoch ist. Doch VEA ist ein Phänomen in der Presselandschaft des Landes, denn bereits nach kurzer Zeit stieg die Auflage auf 60.000 Stück und mittlerweile liegt sie bei 80.000 Exemplaren, womit sie nach der Últimas Noticias bereits die zweitgrößte Tageszeitung des Landes ist. Unser nächstes Ziel ist eine Auflage von täglich 100.000 Stück. Ab Januar haben wir als erste Zeitung eine eigene Rotationsmaschine mit der bis zu 150.000 Exemplare möglich sind. Gleichzeitig zum steilen Anstieg der Auflage von VEA sind die großen traditionellen Zeitungen wie El Nacional oder El Universal abgestürzt. Beispielsweise ist El Nacional von über 100.000 Exemplaren auf
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rund 30.000 eingebrochen. Nahezu alle Zeitungen befinden sich momentan in einer schweren Krise, mit Ausnahme von uns und Últimas Noticias. Das bedeutet, dass die Leute es satt haben, Zeitungen zu lesen, deren einziges Ziel es ist, sich gegen Präsident Chávez zu verschwören. Selbst in den Vierteln der Mittelschicht im Osten von Caracas steigt unsere Auflage, weil auch dort die Leute wissen wollen, was im Land und in der Welt passiert. Dabei ist VEA nicht nur eine politische Zeitung, sondern deckt alle Bereiche ab: von der Politik über Wirtschafts- und Kulturnachrichten und von Sportberichten bis hin zum Kreuzworträtsel. Dabei achten wir darauf, dass die Artikel kurz sind, damit wir möglichst viele Themen abdecken können. Auf den beiden Mittelseiten veröffentlichen wir immer Reportagen mit ideologischem Hintergrund, beispielsweise über die weltweiten Kämpfe gegen das Imperium, die Befreiungsbewegungen oder das Projekt der lateinamerikanischen Einheit ... Ein wichtiger Aspekt ist, darüber aufzuklären, was gerade im Irak passiert aber auch in Palästina. In den meisten Zeitungen wird darüber nichts geschrieben. Morgen werden wir beispielsweise die Nachricht drucken, dass mittlerweile über tausend US-Soldaten im Irak gefallen sind. Wir berichten viel über den Widerstand gegen die Besatzung im Irak oder in Afghanistan und wollen vor allem Meldungen verbreiten, die sich auf Kämpfe der Bevölkerung in verschiedenen Ländern beziehen.
Wer sind die Leserinnen und Leser von VEA? Hauptsächlich die armen Leute, die Leute aus den Barrios, die Arbeiter und Bauern, aber die Zeitung wird auch in der Mittelschicht gelesen. Aber wir haben auch Leser aus intellektuellen Kreisen. Jeden Sonntag veröffentlichen wir eine Kulturbeilage, hinzu kommen Extraseiten über historische Ereignisse und die politische Geschichte des Landes. Als sich zum Beispiel der Todestag von Che Guevara jährte, widmeten wir ihm die Mittelseiten. Was ist die Aufgabe einer großen Zeitung wie VEA innerhalb des bolivarianischen Prozesses? Das wichtigste Ziel von VEA ist es, die Ziele des bolivarianischen revolutionären Prozesses zu verbreiten, die Errungenschaften der Regierung auf dem Gebiet der Bildung, dem Sozialwesen, dem Wohnungsbau, der Misiones herauszustellen. Über diese Errungenschaften findet man nichts in anderen Medien. Solche Informationen werden eben in VEA publiziert und es ist für die Leute interessant zu erfahren, dass es so etwas gibt. Innerhalb des „bolivarianischen revolutionären Prozesses“ existieren unterschiedliche politische Vorstellungen und wohl auch Widersprüche. Wie geht ihr damit um? Eine Schlüsselaufgabe von VEA ist es, in der Bevölkerung ideologiebildend und organisierend innerhalb des bolivarianischen Revolutionsprozesses zu wirken. Wie gehen wir
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nun mit den Widersprüchen innerhalb der verschiedenen Gruppen des Bolivarismus‘ um? Im Rahmen des revolutionären Prozesses sind die Widersprüche nicht ideologischer Art, sondern wir bezeichnen sie vor allem als ein Problem von einzelnen Protagonisten innerhalb des Prozesses, die Karriere machen wollen – als Minister, als Abgeordnete, als Bürgermeister. Wir kämpfen dafür, dass dies nicht passiert, dass dieses Problem verschwindet. Dabei können wir auch auf Erfolge verweisen. Beispielweise hat sich im Vorfeld des Referendums am 15. August ein gemeinsamer, einheitlicher Block gebildet, in dem die einzelnen Parteien nicht mehr sichtbar waren. Die Bildung eines solchen einheitlichen Blocks ist eines unserer Ziele, wobei man auch sagen muss, dass Streitereien und Pöstchenwirtschaft nicht verwunderlich sind, handelt es sich doch um eine sehr junge Revolution, die knapp 5 Jahre alt ist. Wir versuchen, politische Kräfte zu schaffen, die diese Situation überwinden können. Ihr habt den Anspruch, die zentrale Stimme der Bewegung zu werden, haben da die anderen alternativen Medien einen Platz neben VEA? Natürlich haben alternative Medien aus den Barrios einen Platz bei uns, manche von ihnen treffen sich auch in unseren Räumen. VEA versteht sich als eine Art „Flugzeugträger“, von dem aus diese Medien agieren können. Wir versuchen, die Ansichten der Basisbewegungen zu veröffentlichen – drei Redakteure
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sind dafür zuständig, Leute von Basisbewegungen zu empfangen und ihre Beschwerden und Kritiken aufzunehmen und zu veröffentlichen. Wie versucht VEA, die Misiones der Regierung zu unterstützen? Wir nutzen dazu das Medium von Beilagen, mit denen wir sonntags Themen aus den Bereichen Bildung, Kultur, Politik und Wirtschaft aufgreifen. Was beispielsweise die bolivarianischen Universitäten angeht, so verteidigen wir diese Einrichtung ständig gegen jene Kräfte, die den Bildungsbereich privatisieren wollen, sobald sie an die Regierung kämen. Aber momentan passiert ja genau das Gegenteil. Das Bildungswesen wird entprivatisiert. Vor Euren Redaktionsräumen befinden sich Wachpersonen. Gibt es eine Bedrohung? Es gibt eine Bedrohung. So wurde am 13. August versucht, die Produktion für die nächsten beiden Ausgaben zu sabotieren. Leute haben sich in die DTP-Abteilung eingeschleust, von wo aus die Daten direkt in die Druckerei geschickt werden. Die fertigen Seiten verschwanden und konnten nicht übermittelt werden. Das Ganze ist nur dadurch aufgeflogen, weil in den Redaktionsräumen zufällig ein Gespräch aufgezeichnet wurde, in dem sich die Saboteure abgesprochen haben. Darüber hinaus erfuhren wir von einem geplanten Sprengstoffanschlag auf die Redaktionsräume, seitdem werden wir hier von Reservisten der Streitkräfte beschützt. n
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Die Leute haben ein Recht darauf, die Medien zu nutzen. Interview mit Juana Catalina Guzman Wann und mit welcher Motivation hast Du begonnen, in alternativen Medien zu arbeiten? Ich habe vor drei Jahren bei einem Comunity-Radio namens Radio Catia Libre angefangen. Ein Radio, das nach internen Schwierigkeiten verschwand und sich später in Radio Rebelde umgewandelt hat. Seitdem arbeite ich in den unterschiedlichsten alternativen Medien. Für mich sind die gemeinschaftlichen Medien eine alternative zu den kommerziellen Medien, die aus der Notwendigkeit entstanden sind, die Leute darüber zu informieren, was tatsächlich passiert, vor allem innerhalb der Barrios. Gerade beim Putschversuch hat sich die Notwendigkeit besonders gezeigt, da damals die privaten, kommerziellen Medien die Menschen nicht informieren wollten. Freie Radios gab es auch schon vor Beginn des bolivarianischen Prozesses. Wie hat sich deren Situation in den vergangenen Jahren verändert? Klar gab es einige der Radios schon länger. Sie haben in der Illegalität gearbeitet. Entsprechend gab es auch regelmäßige Repres-
sionen gegen die Verantwortlichen, Leute wurden verhaftet und verurteilt. Dazu kamen Einschüchterungsmaßnahmen. Bei einem illegalen Sender, der nur Musik sendete, sind Leute der Policía Municipal (PM) eingebrochen und haben versucht, die Platten zu stehlen. Heute gibt es diese Repression nicht mehr. Es gibt jetzt im Gegenteil ein Gesetz, das alternative Medien fördert. Wie viele freie Radios gibt es heute in Caracas und was für eine Reichweite haben die einzelnen Sender? Wieviele Radios es gibt, das weiß ich nicht genau. Ich kenne zwischen 10 und 15. Die Sender strahlen in einem Bereich von etwa zwei bis vier Kilometer aus, d.h. sie sind auf einzelne Viertel beschränkt. Wie würdest du die Aufgaben von alternativen Medien heute beschreiben? Meiner Ansicht nach besitzen sie im wesentlichen drei Aufgaben. Die erste ist, die Gemeinschaft zu bilden, Wissen und Informationen weiter zu geben, um damit das Recht auszuüben, zu informieren und informiert zu werden. Die zweite ist,
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Juana Catalina Guzman Journalistin und soziale Aktivistin
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auf nationaler und internationaler Ebene zu informieren, was glücklicherweise dank der Vernetzung möglich ist. Und schließlich geht es um die Verteidigung des Raumes, den die alternativen Radios durch den bolivarianischen Prozess gewonnen haben. Ein wichtiger Aspekt soll die Partizipation der Comunidad in diesen Medienprojekten sein. Wie funktioniert das? Die Leute aus der Comunidad haben ein Recht darauf, die Medien zu nutzen. D.h. wenn jemand ein Programm gemacht hat und es senden will oder über eine Veranstaltung oder einen Workshop berichten will, so hat er ein Recht darauf. Mehr noch, die Sender müssen ihm auch beispielsweise ein Aufnahmegerät oder eine Videokamera zur Verfügung stellen und ihn in die Bedienung einweisen. Die einzige Anforderung ist, dass der Beitrag über Themen geht, die die Gemeinschaft betreffen. Beispielsweise bietet CatiaTV, ein freier TVSender, der zur Zeit auf Betreiben des rechten Bürgermeisters von Caracas, Peña, keinen Sendeplatz hat, trotzdem regelmäßige Workshops für die Leute aus der Comunidad an, damit sie ihre eigenen Beiträge aufnehmen und schneiden können. Jetzt gibt es eine Übereinkunft zwischen CatiaTV und dem staatlichen Kultursender Vive TV, der Beiträge übernimmt und landesweit sendet. Was passiert, wenn der Inhalt der Sendung beispielsweise rassi-
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stisch ist, wird der Beitrag in den alternativen Medien trotzdem gesendet? Nein. Sollte es tatsächlich einmal dazu kommen, dass die Leute in dem Sender ein Programm beispielsweise wegen rassistischer oder sexistischer Inhalte nicht senden wollen, hat die Versammlung der Comunidad das letzte Wort. In meiner Arbeit ist das aber bisher noch nie vorgekommen. Woher kommt eigentlich die doch recht teure Ausrüstung der Sender? Früher gab es Sammlungen in den Vierteln oder Spenden von internationalen Organisationen. Heute kann man sich an staatliche Stellen wenden. Wenn eine Gemeinschaft ein Radio aufmachen will, so muss sie bei staatlichen Institutionen, beispielsweise dem Ministerium für Kommunikation und Information, einen Antrag stellen. Wird dieser angenommen, so werden von staatlicher Seite nicht nur die Frequenzen zugeteilt, sondern der Sender erhält auch die notwendige Ausrüstung. Wenn jemand schon eine Ausrüstung hat, so kann er sich das sparen. Er kann gleich auf Sendung gehen, das ist zwar illegal, aber das wird nicht verfolgt, da ComunitySender im allgemeinen Interesse sind. Gibt es Bedrohungen beispielsweise von Seiten der PM gegen freie Medien? Die gab es, aber sie haben stark abgenommen. Eigentlich werden wir in Ruhe gelassen. Ab und zu gibt
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es eine andere Art von Bedrohung, der sich einzelne Sender ausgesetzt sehen. Vor kurzem gab es den Fall eines Stadtteil-Radios, das meinte, jetzt nicht mehr für die Comunidad zu produzieren und ihr Radio zu kommerzialisieren. Jetzt gibt es den Vorschlag, dass die Bewohner die Räume des Radios besetzen und die Struktur übernehmen. Wie ist das Verhältnis von alternativen Medien zu den staatlichen Fernseh- und Radiostationen, gibt es Überschneidungen oder Konkurrenz? Theorie ... Als Nutzer von Telekommunikationsdienstleistung hat jede Person das Recht: [...] Individuell oder kollektiv ihr Recht auf freie und pluralistische Kommunikation auszuüben und dabei in den Genuss angemessener Bedingungen zu kommen, um im Rahmen des Gesetzes nicht-kommerzielle Gemeinschaftsradios und -fernsehsender zu gründen. (Art. 12 des Telekommunikationsgesetzes vom 28. März 2002) ... und Praxis Der Minister für Kommunikation und Information, Andrés Izarra, erklärte, dass die venezolanische Regierung technische Geräte für Basisradios und freie Fernsehsender überreichen werde. Nach Angaben des Ministers würden die Geräte durch
Konkurrenz gibt es keine, die alternativen Medien haben eine ganz andere Funktion als die staatlichen. Überschneidungen personeller Art gibt es viele. Beispielsweise ist eine der Macherinnen eines alternativen Comunity-Fernsehens, von CatiaTV jetzt Chefin vom staatlichen Kulturkanal Vive TV. Auch beim staatlichen Radio arbeiten Leute von alternativen Sendern, ebenso bilden die staatlichen Sender Leute aus, die dann in alternativen Medien arbeiten, geben solchen Leuten auch einen Raum. Ich selbst mache beispielsweise seit sechs Monaten ein die Kommission für Telekommunikation (Comisión Nacional de Telecomunicaciones) übergeben und reichen für 100 Radio- und 28 Fernsehsender. Izarra machte diese Aussage während einer Geldübergabe und 23 Frequenzverteilungen für Basisradios und freie Fernsehsender. Der Minister sagte, „es ist eine große Freude, dass dieses Vorhaben konkretisiert werden konnte, obwohl es nach dem Putschversuch im Jahr 2002 zunächst utopisch schien, dass Basismedien zum Thema und deren Notwendigkeit in der Bevölkerung diskutiert werden würde. Doch zwei Jahre später sehen wir, dass wir große Fortschritte gemacht und eine bedeutende Entwicklung hinter uns haben.” (aus: poonal, Oktober 2004)
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Programm beim staatlichen Radio, in dem es um die Situation der Landbevölkerung geht. Obwohl ich keine ausgebildete Journalistin bin. Hinzu kommt, dass das staatliche Radio einmal pro Woche Sendungen von freien Medien übernimmt und diese dann landesweit ausstrahlt. Kannst Du auch im staatlichen Radio alles senden oder gibt es Einschränkungen? Wir sind unabhängig. Wenn ich ein Programm machen will, dann muss ich das mit dem RedaktionsKollektiv absprechen. Das ist mitunter anstrengend genug. So will ich seit langem eine Sendung über die Rechte von Frauen in ländlichen Regionen machen, was meine Herren Kollegen aber immer zu verzögern wissen. Mit der Institution des staatlichen Radios bin ich nur einmal in Konflikt geraten. Im Zusammenhang mit den Morden an Bäuerinnen und Bauern durch Paramilitärs habe ich von der Notwendigkeit der Selbstbewaffnung der Landbevölkerung berichtet. Das war dann doch zuviel, ich durfte das nicht senden, da es angeblich ein Aufruf zur Gewalt war.
1 Nationaler Zusammenschluss der freien kommunitären und alternativen Radios
Neben alternativen Zeitungen, Radios und Fernsehprojekten gibt es auch viele unabhängige Webseiten und Webradios. Haben die Leute aus den Barrios überhaupt Zugang zu diesem Medium? Auch hier im 23 de Enero gibt es mittlerweile Internet-Cafés. Klar, die kosten Geld. Darüber hinaus gibt es staatliche Infocentros, die einen ko-
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stenlosen Zugang ermöglichen und die Leute auch im Umgang mit dem Internet einweisen. In den ländlichen Gebieten sieht das anders aus, dort ist das Radio immer noch das wichtigste Informationsmedium. Gibt es Pläne zur Vernetzung der alternativen Medien, damit auch deren Reichweite vergrößert wird? Es gibt einen Zusammenschluss, die Asociación National de Medios Comunitarios Libres y Alternativas1, in der rund 300 Sender, Zeitungen und Webpages organisiert sind. Es gibt Pläne, eine gemeinsame Plattform zu entwickeln. In anderen Ländern gibt es die alternative Internet-Plattform Indymedia. Gibt es Pläne, Indymedia oder etwas ähnliches auch in Venezuela aufzubauen? Es wäre sehr wichtig, wenn es so etwas wie Indymedia auch in Venezuela gäbe, ein offenes Informationsmedium, auf das alle zugreifen können, ob sie jetzt für oder gegen Chávez sind. Es gab auch schon zwei Organisationen, die Indymedia in Venezuela aufbauen wollten. Jenseits der Frage, ob sie sich dabei besonders geschickt angestellt haben, stellten diejenigen Bedingungen, die darüber entscheiden, wer in die internationale Indymedia-Struktur aufgenommen wird. So müssen es Basisorganisationen sein, die politisch neutral sind, weder auf Seiten der Opposition noch auf Seiten des Prozesses stehen. Solche Basisorganisationen gibt es zur Zeit in Venezuela jedoch nicht. n
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Augenfälligstes Produkt des bolivarianischen Prozesses sind die voranschreitenden Organisierungsprozesse innerhalb der venezolanischen Bevölkerung. Selbstverständlich gab es Stadtteilinitiativen, alternative Medien und andere soziale und politische Basisorganisationen in den Barrios bereits vor 1998, die Regierung Chávez ist zum Teil auch deren Produkt. In den vergangenen Jahren vervielfältigte sich jedoch die Anzahl solcher Basisorganisationen. Damit wuchs nicht nur deren Bedeutung im politischen Alltag, sie sind auch Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins. Diese Organisationen sind in ihrer Mehrheit Zusammenschlüsse von Menschen, die bis vor kurzem weitgehend politisch, sozial und kulturell ausgeschlossen waren. Dieser Prozess wird von der Regierung Chávez bewusst gefördert: soziale Projekte sind an Organisierungsprozesse an der Basis geknüpft, Eigentum und Kredite werden zumeist nur an Kooperativen übergeben und ein „Gesetz über die lokalen Räte zur öffentlichen Planung“ spricht Barrio-Organisationen ein Mitbestimmungsrecht über die Verwendung öffentlicher Haushaltsmittel zu. Die „soziale Kontrolle“, die Überwachung des Staates durch die Bevölkerung, ist ein Schlüsselbegriff im bolivarianischen Diskurs. Diese neuen Räume zu nutzen und die Leute zur aktiven Teilnahme zu ermuntern, ist das erste Ziel der Basiszusammenschlüsse.
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Gleichzeitig werden auch darüber hinaus gehende Ansprüche diskutiert und formuliert. In dem Maße, in dem sich überregionale Netzwerkstrukturen entwickeln, wird der Ruf nach basisdemokratischer Mitbestimmung in allen – lokalen, regionalen wie nationalen – Entscheidungsprozessen lauter. Und schließlich gewinnen auch die politischen Ansätze praktisch an Bedeutung, die in der fortschreitenden Vernetzung von Basisorganisationen einen Aufbruch sehen hin zu einer neuen Form von politischer Gesellschaft, in der solche Organisationen bestimmend und nicht nur mitbestimmend wirken. Damit werden letztendlich Konflikte mit dem Teil der Regierung und der sie unterstützenden Parteien unausweichlich, die das politische Projekt des Bolivarianismus‘ auf das parlamentaristische Repräsentationsmodell beschränkt wissen wollen. Demgegenüber steht aber das Bewusstsein, dass diese Organisationen und Netzwerke die eigentliche Basis der bolivarianischen Revolution demokratisch repräsentieren. Und dass es nur mit einer solchen Form basisdemokratischer Organisierung möglich sein wird, die Revolution auch in Zukunft zu verteidigen und zu vertiefen. Sei es gegen die bürgerliche Opposition oder auch gegen die Machtansprüche einzelner Personen und Parteien innerhalb des bolivarianischen Lagers. n
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Um das Problem der Armut zu lösen, muss den Armen mehr Macht gegeben werden. Interview mit German Ferrer Aus welchen Zusammenhängen ist ANROS entstanden? Der Werdegang von ANROS ist eng mit dem Prozess der Veränderung in Venezuela verbunden. Ursprünglich waren wir eine Gruppe von Personen, die 1998 den Präsidentenwahlkampf von Hugo Chávez unterstützte. Danach haben wir als Personen, die in Basiskollektiven aktiv sind, den Prozess der „Verfassungsgebenden Versammlung“ unterstützt. Unser Ziel war es, über einen Zeitraum von sechs Monaten, Basisgruppen und Gemeinschaften dahingehend zu unterstützen, ihre Vorschläge für die „Verfassungsgebende Versammlung“ zu erarbeiten. Ein Schwerpunkt bildete dabei die Zusammenarbeit mit den indigenen Bewegungen in Venezuela. Offiziell gründete sich ANROS dann im Dezember 2000. Entsprechend der Möglichkeiten, die die neue Verfassung bot, formulierten wir als unser Hauptanliegen die Stärkung der Einflussmöglichkeiten der Basisbewegungen, der Zivilgesellschaft auf staatliche Programme. Unsere Vorschläge haben wir gemeinsam mit verschiedenen Basisgruppen aus dem sozialen, kulturellen und ökologischen Bereich
erarbeitet. Daraus ist ANROS als landesweit aktives Kollektiv entstanden, das in jedem Bundesstaat unabhängige Strukturen besitzt und von insgesamt etwa 300 bis 400 Gruppen getragen wird. Ein wichtiger Referenzpunkt Eurer Arbeit ist das Konzept der Gobiernos Comunitarios (gemeinschaftliche Regierungen). Was ist darunter zu verstehen? German Ferrer: Das Ziel dieser Gobiernos Comunitarios ist, dass die Comunidades ihre Interessen selbst artikulieren, um eine Organisationsform zu schaffen, die in der Lage ist, deren spezifische Probleme zu lösen. Im Rahmen von Einwohner-Versammlungen in den Barrios sollen die Menschen direkt ihre Sprecher bestimmen. In diesen Versammlungen sollen gemeinsam die Probleme und Aufgaben des Viertels evaluiert werden. Dabei geht es auch darum, herauszufinden, wer welche Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt, wer beispielsweise in der Landwirtschaft oder im Bildungswesen arbeitet. Dieses Potential gilt es zu erkennen und nutzbar zu machen für den Aufbau neuer Strukturen, wie beispielswei-
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German Ferrer Sprecher der Asociación Nacional de Redes y Organizaciones Sociales (ANROS)
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se Kollektive, die helfen sollen, die Situation zu verbessern. Ebenso soll in den Versammlungen der Rahmen definiert werden, innerhalb dessen mit spezifischen Problemen, beispielsweise im Bildungssektor, im Gesundheitswesen, in Fragen der Sicherheit etc., umgegangen werden soll. Und schließlich sollen auf Basis des Evaluierungsprozesses Delegierte bestimmt werden, die in die „Lokalen Räte für öffentliche Planung“ entsandt werden. Nach unseren Vorstellungen sollten diese Räte dann die Verfügungsgewalt über den Gemeindeetat besitzen. Nur soweit gehen die momentanen Gesetze, deshalb streben wir eine Veränderung des bestehenden Gesetzes über die lokalen Räte an, um die Partizipationsmöglichkeit im Etatbereich zu erweitern. Mit diesen Vorschlägen werdet ihr nicht nur Zuspruch ernten? Natürlich stoßen wir dabei auf Widerstand bei Leuten, die noch die alte Idee im Kopf haben, dass der Etat in den Händen von Institutionen monopolisiert bleiben soll und nicht, wie wir meinen, sozialisiert werden muss, damit die Leute direkt über dessen Verwendung bestimmen können. Es kommt dabei durchaus vor, dass Bürgermeister, die aus der gleichen politischen Richtung kommen wie wir, solche neue Formen der Basisbeteiligung nicht akzeptieren wollen. Im Endeffekt geht es uns darum, die Partizipationsmöglichkeiten stetig zu erweitern, es geht um mehr Demokratie.
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Wir glauben, dass es ein großer Schritt wäre, wenn sich die Menschen die Instrumente selbst aneignen, die es ihnen erlauben, ihre Situation zu verbessern. Entsprechend einem Slogan von Hugo Chávez: „Um das Problem der Armut zu lösen, muss den Armen mehr Macht gegeben werden.“ Ein sehr guter Slogan. Aber er verlangt nach tiefgreifenden Veränderungen ... Was wir hier vorschlagen, ist weder der Sozialismus noch der Kommunismus. Das ist außerhalb des Rahmens, den die Verfassung vorgibt. Dort wird ja auch das Recht auf Privateigentum garantiert. Wogegen wir sind, ist die wirtschaftliche Monopolisierung. Anstelle der Konzentration des Gewinns in den Händen Weniger, geht es darum, mittels Kooperativen und Zusammenschlüssen von Produzenten den Gewinn jetzt gerechter zu verteilen. Und es geht um Solidarität, um Partizipation und um die Schaffung horizontaler Diskussions- und Entscheidungsstrukturen. Ein Ausdruck solcher Strukturen war ja auch das Referendum vom 15. August, das einmalig in der Welt war. Sicherlich ist dieser Prozess verbesserungsfähig, er entwickelt sich stetig weiter. Wir reden hier von einer Revolution, wir sind uns bewusst, dass dies ein revolutionärer Prozess ist. Sie ist aber weder die russische Revolution, noch die chinesische Revolution – wir befinden uns innerhalb eines anderen Modells. Es gibt keine Sowjetunion
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mehr, die in der Vergangenheit viele Länder unterstützte. Wir sind heute allein und müssen uns mit unseren eigenen Kräften verteidigen. Momentan befinden wir uns gerade im Prozess der Herausbildung einer eigenen politischen Theorie, die sich aus verschiedenen Denkmodellen speist. Daher haben wir hier einerseits Formen kapitalistischer Produktion, gleichzeitig aber auch eine marxistische Analyse der Situation. Daneben spielt der religiöse Einfluss eine starke Rolle. Und natürlich stammen viele grundlegende Werte von den Protagonisten des Unabhängigkeitskampfes – von Bolívar, Miranda, Zamora und von Simón Rodríguez. Schließlich gibt es auch Einfluss indigener Denkmodelle, vor allem was das Verhältnis zur Natur betrifft. Und das in einem Land, das zu den größten Erdölexporteuren zählt? Wir sind dazu gezwungen, die Erdölproduktion dazu zu nutzen, eine Wirtschaft aufzubauen, die nicht mehr vom Erdöl abhängt. In diesem Zusammenhang ist es eines der wichtigsten Ziele, eine Ernährungssouveränität zu erlangen, d.h. unabhängig von Lebensmittelimporten zu werden. Denn obgleich Venezuela über die fünftgrößten Süßwasserreserven der Welt verfügt und auch vorzügliche klimatische Bedingungen für die Landwirtschaft herrschen, hat die Fixierung auf das Erdöl dazu geführt, dass wir eine „Landwirtschaft der Häfen“ haben, d.h., dass ein
Großteil der Lebensmittel importiert werden muss. Bis zum Jahr 2000 produzierte der Erdölsektor zwar Jahr für Jahr im Umfang von rund 57 Milliarden US$, im Land geblieben sind aber lediglich 10 Milliarden. Mit dem, was wir jetzt mehr zur Verfügung haben, versuchen wir das Land zu entwickeln und die historische Schuld zu begleichen, die gegenüber den Armen und Ausgeschlossenen besteht, zum Beispiel mit den Misiones im Bereich der Bildung, des Gesundheitswesens und des Wohnungsbaus. Ferner sind wir gerade dabei, den Großgrundbesitz zu beseitigen. Grundbesitz über 5.000 ha ist nur noch dann gestattet, wenn das Land auch bebaut wird. Ist dies nicht der Fall, so wird das Land entweder mit sehr hohen Abgaben belastet oder es wird enteignet. All‘ das hat natürlich zur Konsequenz, dass es starke Widersprüche mit dem Großkapital in Venezuela gibt, die sich im Putschversuch, im Ölstreik und in den ganzen Problemen, die wir mit der Opposition haben, ausdrücken. n
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23 de Enero, Caracas
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Verfassung der Bolivarianischen Republik Venezuela (Auszug) Artikel 62: Alle Bürger und Bürgerinnen haben das Recht, frei an den politischen Angelegenheiten zu partizipieren, direkt oder über ihre gewählten Repräsentanten und Repräsentantinnen. Die Partizipation des Volkes bei der Gestaltung, Ausführung und Kontrolle der öffentlichen Leitung ist das notwendige Mittel, um den Protagonismus zu erreichen, der seine ganze Entwicklung garantiert, sowohl individuell als auch kollektiv. Es ist die Pflicht des Staates und die Aufgabe der Gesellschaft, die Schaffung der vorteilhaftesten Bedingungen für seine Ausübung zu ermöglichen. Artikel 70: Die Mittel der Partizipation und des Protagonismus der Bevölkerung in Ausübung ihrer Souveränität sind: Im Politischen u. a. Wahl der öffentlichen Ämter, das Referendum, die öffentliche Anhörung, die Abwahl der Mandatsträger, legislative, verfassungsmäßige und verfassungsgebende Initiativen, die öffentliche Gemeinderatssitzung und die Versammlung der Bürger und Bürgerinnen, deren Entscheidungen einen verpflichtenden Charakter haben werden. Im Sozialen und der Wirtschaft: Die Instanzen der bürgerlichen Aufmerksamkeit, die Selbstverwaltung, die Mitbestimmung,
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die Kooperativen in all‘ ihren Formen, eingeschlossen die mit finanziellem Charakter, die Sparkassen, die gemeinschaftlichen Firmen und andere Formen von Zusammenschlüssen, die von den Werten der gegenseitigen Kooperation und Solidarität geleitet werden. … Artikel 132: Jede Person hat die Aufgabe, ihrer sozialen Verantwortung nachzukommen und solidarisch am politischen, zivilen und gemeinschaftlichen Leben des Landes zu partizipieren, die Menschenrechte, als ein Fundament des demokratischen Zusammenlebens und des sozialen Friedens, fördernd und verteidigend. Artikel 158: Die Dezentralisierung, als nationale Politik, soll die Demokratie vertiefen, indem sie die Macht der Bevölkerung stärkt und die besten Voraussetzungen schafft sowohl für die Ausführung der Demokratie als auch für die wirksame und leistungsfähige Erbringung des staatlichen Auftrags. Artikel 182: Der Rat der lokalen öffentlichen Planung, präsidiert vom Bürgermeister oder der Bürgermeisterin und gebildet von den Räten, dem Präsidenten oder der Präsidentin des Gemeindeausschusses und Repräsentanten und Repräsentantinnen der nachbarschaftlichen Organisationen und anderer der organisierten Gemeinschaft, wird in Übereinstimmung mit den
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Anordnungen, die das Gesetz bestimmt, gebildet. Artikel 184: Das Gesetz wird offene und flexible Mechanismen einrichten, damit die Bundesstaaten und die Gemeinden dezentralisiert werden und sie den Gemeinschaften und den nachbarschaftlich organisierten Gruppen die Dienstleistungen übertragen, die diese unter vorhergehendem Nachweis ihrer Fähigkeit, diese zu erbringen, leiten werden. Es werden gefördert: 1. die Übergabe der Dienstleistungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wohnungsbau, Sport, Kultur, Sozialprogramme, Umwelt, Aufrechterhaltung der Industriegebiete, Aufrechterhaltung der urbanisierten Gebiete, nachbarschaftliche Vorsorge und Schutz, Bau von Bauwerken und die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen. Mit diesem Ziel können Abkommen verabschiedet werden, deren Inhalte an den Prinzipien der Interdependenz, Koordination, Kooperation und Gleichwertigkeit orientiert sind.
arbeitung der entsprechenden Investitionsplanungen betraut sind, sowie an der Ausführung, der Evaluierung und der Kontrolle der (Bau)werke, der sozialen Programme und der öffentlichen Dienstleistungen in ihrem Gerichtsbezirk. 3. die Partizipation in den wirtschaftlichen Prozessen, die sozialökonomische Prozesse befördert, wie solche der Kooperativen, Sparkassen, Zusammenschlüsse auf Gegenseitigkeit und andere. 4. die Partizipation der Arbeiter und Arbeiterinnen und die der Kommunen in der Leitung der öffentlichen Unternehmen, mit Hilfe von selbstverwalteten und mitbestimmenden Mechanismen. 5. die Bildung von Organisationen, Kooperativen und kommunalen Dienstleistungsunternehmen als Quelle von Arbeitsplätzen und sozialem Wohlstand, deren Dauerhaftigkeit durch das Entwerfen von Politiken der Partizipation gestärkt wird.
2. die Partizipation der Kommunen und der Staatsbürger und Staatsbürgerinnen, mit Hilfe von nachbarschaftlichen Zusammenschlüssen und Nichtregierungsorganisationen, an der Formulierung von Investitionsvorschlägen gegenüber den staatlichen und kommunalen Autoritäten, die mit der Aus-
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Eine Frage der politischen Kultur. Interview mit José Guariguata*
José Guariguata Koordinator des Red Social Guayana
* In diesem Kapitel ist der zweite Teil des Interviews mit José Guariguata dokumentiert. Der erste Teil befindet sich im Kapitel „Land & Freiheit“
Es wurde uns gesagt, dass Du einer der Köpfe bist, der die Idee des Gobierno comunitario (gemeinschaftliche Regierung) in die Welt gesetzt hat. Was sind die politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen, um dieses Modell einzusetzen. Uns scheint es sehr schwierig, dass eine Person, die zehn oder zwölf Stunden gearbeitet hat, noch in der Lage ist, sich politisch zu organisieren mit der Funktion der sozialen Kontrolle. Die Leute beteiligen sich bei den Versammlungen, die nach Feierabend stattfinden. Es ist so, dass die Leute Lust haben, sich zu informieren, sich mit ihren Ideen zu beteiligen, sie haben Interesse daran, ihr politisches Recht in Anspruch zu nehmen. Das hat vor fünf Jahre nicht stattgefunden. In den Aussagen, die die Leute heute machen, sagen sie, „vor einem Jahr kannte ich nicht einmal meinen Nachbarn und heute kenne ich ihn. Vor ein paar Jahren haben wir nicht in Gruppen zusammen gearbeitet und heute tun wir das. Vor einem Jahr sagte ich, ich und meine Familie, und heute sage ich, ich und die Anderen.“ Es hat eine Veränderung in den Verhaltensweisen, in der politischen Kultur, stattgefunden. Eine Veränderung in
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der Partizipation der Leute. Bezüglich der Sozialprogramme hat eine qualitative Veränderung der Politik stattgefunden. Nach und nach werden sie immer mehr von den Leuten selbst kontrolliert. Und das Programm, das am weitesten fortgeschritten ist, ist die Misión Barrio Adentro. Das ist ein Modell in diesem Sinn. Und trotzdem glaube ich, dass man diese politische Qualität vertiefen muss in dem, was die Cogestión (Gemeinsame Leitung) ist. Und es gibt noch eine sehr wichtige Zeitspanne, zwischen dem 1. Juli und dem 15. August diesen Jahres. Die sechs Wochen vor dem Referendum ... Genau. Da hat ein Großteil der Leute aus den Comunidades maximal fünf Stunden pro Nacht geschlafen. Fünf Stunden deshalb, weil sie sich jeden Abend in Versammlungen getroffen haben, gearbeitet haben. In den letzten Tagen, dem 13., 14. und 15. August haben sie sich eigentlich nur noch getroffen und nichts anderes mehr getan. Das heißt, die Leute beteiligen sich. Und klar, es gibt ganz unterschiedliche Grade der Beteiligung. Manche nehmen mehr daran teil, andere we-
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niger. Und es gibt auch welche, die eigentlich nicht zu irgendwelchen Treffen gehen aber den Prozess unterstützen. Zum Konzept der Selbstorganisierung. An erster Stelle ist das eine Frage der politischen Kultur. Wir hier in Venezuela kommen aus einer politischen Kultur der Parteien und der Institutionen, die alle auf einer vertikalen Grundlage agierten. Sie waren alle hierarchisch konstituiert. Dieser Prozess, aus der konstituierten Macht eine konstituierende Macht zu bilden, impliziert eine Änderung in der Kultur der Organisierung; das heißt, das Modell der abhängigen, hierarchischen Organisierung, deren Funktionieren die politischen Parteien reproduzieren, hinter sich zu lassen, hin zu einem autonomen Organisierungsmodell der Bevölkerung. Und das ist in der Verfassung festgelegt, vor allem in den Artikeln: 62, 70, 132, 158, 182, 184. Diese Form der Partizipation ist nur möglich unter der Bedingung, dass eine neue politische Kultur der Organisierung entsteht. Heute hat die Bevölkerung die größte Partizipationsmöglichkeit, dies bedeutet aber auch, dass es Organisationen bedarf, die davon Gebrauch machen. Und das ist ein kulturelles Problem, ein kultureller Übergang, in dem wir gerade leben. Aber wenn es um die Art und Weise der Organisierung geht, kommt es häufiger vor, dass Leute Organisationsformen vorschlagen, die noch aus der vierten Republik kommen. In der Frage der Notwendigkeit von Partizipation ist die Be-
völkerung unterschiedlicher Meinung. Der Präsident unterstützt die Partizipation und auch die Verfassung tut das, aber dem gegenüber stehen die Modelle der Organisierung, die die Partizipation begrenzen. Beispielsweise wenn eine Kooperative gegründet wird, wird sie nach den gleichen, alten Strukturen gegründet. Sie nennt sich zwar Kooperative, aber es gibt einen Vorsitzenden, einen Vizevorsitzenden und es werden die gleichen alten Muster reproduziert. Und das Gleiche passiert in den bolivarianischen Zirkeln, mit dem Koordinator, dem Subkoordinator etc. Das sind vertikale Strukturen. Aber es geht darum, andere Modelle zu kreieren, die den Leuten ihre Beteiligung ermöglichen. Die jüngste Erfahrung mit den Patrullas der UBE kommt diesem anderen Modell am nächsten. Dort haben sich die Leute massenhaft zusammengetan. Und das ist schon eine Antwort auf die Notwendigkeit von Partizipation. Wir denken allerdings, dass man das besser strukturieren und der Partizipation eine organisatorische Grundlage geben muss. Diese Grundlage nennen wir Gobierno Comunitario. Das ist eine selbstorganisierte Regierung. Dieser Gobierno comunitario erlaubt es, zwei Organisationsmodelle miteinander zu vergleichen. Das eine Modell, das komplett horizontal angelegt ist und das andere, das vertikal ist. Wir denken, dass die Selbstregierung der Comunidades damit anfängt, dass sich die Leute über ihre Form, ihre Normen des Zusammenlebens
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einig werden. Beispielsweise in einem Barrio oder einem kleinen Dorf einigen sich die Nachbarn darauf, wie dort gelebt werden soll. Und das ist ein Akt des politischen Reifeprozesses, der staatsbürgerlichen Reife. Das ist ein kultureller Sprung. Diese nachbarschaftlichen Vereinbarungen nennen wir Reglamiento de Convivencia Vencinal (Regeln des nachbarschaftlichen Zusammenlebens). Das ist ein Instrument, sich gemeinsam zu einigen. Ein anderes Instrument für die nachbarschaftlichen Einigungsprozesse ist der Plan del Desarrollo integral de la Comunidad (integraler Entwicklungsplan der Gemeinschaft). Das Ziel, das eine Comunidad hat, beispielsweise, dass bis zu einem bestimmten Datum etwas Bestimmtes fertig sein soll, soll in Übereinstimmung mit dem nationalen Entwicklungsplan für Soziales, Wirtschaft und Entwicklung stehen. Das heißt, es kann nicht sein, dass der autonome Entwicklungsplan der Comunidades dem strategischen nationalen Entwicklungsplan entgegensteht. Selbstverständlich muss dieser nationale Plan den Bedürfnissen der Comunidades nachkommen und den Fähigkeiten der Bevölkerung. Und es geht auch um die Mitbestimmung der Comunidades bei den staatlichen Planungen. Aber das wichtigste ist die Selbstverwaltung. Das bedeutet nicht, dass die Comunidad sich von den anderen abgrenzen sollte, sondern dass es ein Netz der Gobiernos Comunitarios gibt, das sich auf der Ebene der grö-
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ßeren Einheiten – der Gemeinde, der Stadt – äußert, das in Verbindung mit dem Rest des Staates steht, institutionalisiert. Sie sollen sich im Consejo local de Planificación público (lokaler Rat öffentlicher Planung) äußern. Wir glauben, dass dies die Basis für das Funktionieren der lokalen Räte ist. Sie sollen Ausdruck der Bürgerversammlungen sein. In anderen Worten: Poder Popular, Volksmacht. Und der dritte Aspekt des Gobierno Comunitario ist der Consejo de Gobierno comunitario (Rat der gemeinschaftlichen Regierung), der durch Sprecher aus all‘ den Projekten, den Organisationen der Comunidad gebildet wird. Der Rat setzt sich z.B. zusammen aus je einem Sprecher der Misiones Barrio Adentro, Vuelvan Caras und Ribas, der Kulturgruppe, der Gesundheitskommission, der Kooperativen, einfach ein Sprecher aus jeder Organisation. Dieser Rat ist dann der Nachbarschaftsversammlung, den Einwohnern rechenschaftspflichtig. Und das erlaubt dann das, was wir soziale Kontrolle nennen. In der vierten Republik war die einzige Kontrolle die institutionelle. Es haben also nicht alle kontrolliert. Der Gobierno comunitario ist auch eine Instanz der Kontrolle der eigenen Führung. Für uns ist das eine Erfahrung des Übergangs, des kulturellen Übergangs zu einer neuen politischen Kultur. Das ist natürlich auch eine ideologische Frage, denn der Rat setzt sich aus Leuten zusammen, die aus vertikalen Strukturen kommen. Aber in diesem Rat, in dieser Mannschaft gibt es hori-
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zontale Strukturen. Alle stehen auf der gleichen Stufe, der gleichen Hierarchieebene und haben die gleichen Voraussetzungen. Und so können die Leute vergleichen zwischen den hierarchischen Beziehungen in ihren Projekten und dem Modell, das einen horizontalen Zusammenhang darstellt. Dadurch können sie entscheiden und das reflektieren. Und mit der Reflektion fängt die Kultur der Repräsentation an, sich in eine partizipativere Kultur, in eine Erfahrung der Organisierung zu verwandeln. Für uns ist das der institutionelle Übergang, der aber von hier unten, von der Basis ausgeht. Es scheint uns, dass es bei den Rätestrukturen um die Frage von Gegenmacht geht. Ist das Ziel, die alten Strukturen abzuschaffen? So, dass irgendwann Räte-Strukturen den neuen Staat bilden? Ja, da geht es um eine neue Macht, um die Volksmacht. Das ist ganz klar. Deswegen reden wir ja von einem Übergang. Dem Übergang zwischen dem alten und dem neuen Staat. Wir wissen nicht, wie
der neue Staat sein wird, weil das eine Entscheidung ist, die die Bevölkerung treffen muss. Es geht darum, was dieser Übergang ist. Wir alle kennen den alten Staat. Aber wir kennen den neuen nicht. Das ist ein kollektiver Aufbau durch alle. Aber wir wissen, wie wir den alten Staat überwinden können, um einen neuen zu errichten. Deshalb ist die Volksmacht eine konstituierende Macht, sie konstituiert einen neuen Staat. Sie steht im Widerspruch zur konstituierten Macht, die existiert. Und der politische Protagonismus drückt sich darin aus, dass die Bevölkerung über die neue Institutionalität entscheidet. Dafür gibt es zwei konzeptionelle Motive, eines davon ist die bolivarianische Ideologie. Wir planten den Gobierno Comunitario deshalb, weil wir glauben, dass es eine ideologische Basis des Prozesses gibt, das Denken von Simón Bolívar, das Denken von Simón Rodríguez und das Denken von Ezequiel Zamora, aber auch Ursprünge aus der afro-caribischen Kultur. Und auch die indio-amerikanische Kultur KooperativenVersammlung in Ciudad Bolívar
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ist ein Bestandteil dieser Ideologie genauso wie der Marxismus und die Theologie der Befreiung, also nicht die konservative christliche Lehre, die Umweltschutzbewegung und all‘ die Strömungen der neu entstandenen sozialen Bewegungen, wie der Konstruktivismus, die Anthropologie, die neu entstandenen Sozialwissenschaften. Deswegen ist der Prozess sehr breit und sehr pluralistisch und nicht homogen. Mit dieser ganzen Breite, die wir darstellen, bauen wir alle zusammen die neue Ideologie. Und danach den neuen Staat. Es ist besser, dass die neue Ideologie noch nicht fertig ist und es ist besser, dass der neue Staat noch nicht gebildet ist, sondern dass die Bevölkerung als Protagonistin sich diese Ideologie und den neuen Staat selbst bildet. Das andere Konzept ist die Entwicklung des Bewusstseins. Wir gehen davon aus, dass es fünf Ebenen des Bewusstseins gibt. Die erste Ebene, die Ebene des Naiven, ist die, wenn die Leute das Vorgefundene einfach reproduzieren. Die zweite Ebene, die der Kritik, ist dann gegeben, wenn die Leute anfangen, den Status Quo zu hinterfragen. Aber auf dieser Ebene wird der Staat nicht transformiert. Dafür benötigt man ein politisches Bewusstsein, Ebene drei, und das ist ein Bewusstsein der Macht. Wenn wir heute davon reden, dass Gobiernos Comunitarios durchgesetzt werden sollen, glauben wir, dass man hierfür ein politisches Bewusstsein benötigt, dass man damit Macht schafft. Und die vier-
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te Ebene des Bewusstseins ist die Ebene der Strategie. Chávez hat eine strategische Vision, aber es ist nicht ausreichend, dass der Präsident so eine Vision hat. Sondern die ganze Bevölkerung muss so ein strategisches Bewusstsein haben. Die Bevölkerung fängt beispielsweise an, sich vorzustellen, was in fünf, in zehn, in fünfzehn Jahren sein wird. Das ist das, was andere mit dem Begriff der Nachhaltigkeit meinen, also eine ökologische Vision. Und die fünfte Ebene des Bewusstseins ist das transzendentale Bewusstsein. Das hat mit Religiösität zu tun, mit dem Glauben, mit dem spirituellen Leben der Bevölkerung. In unserem Fall ist das das spirituelle Leben und die Lebensweise der Schwarzen, der Amerindias, der Afro-Cariben und der Christen. Auch das mestizische Sein hat etwas Spirituelles. Das hat natürlich nichts mit einer genetischen Veranlagung zu tun, das ist nichts Biologisches, sondern etwas Kulturelles. Und diese Spiritualität hatte schon immer etwas Subversives und war revolutionär, da es eine Spiritualität der Befreiung ist, eine Spiritualität der Freiheit. Der Schwarze ist von Natur aus ein freier Mensch, der Indio genauso und die christliche Lehre ist eine Lehre der Befreiung. Und das alles macht die Ebene des transzendentalen Bewusstseins aus. Wir glauben, dass die Bevölkerung in Venezuela diese fünf Ebenen des Bewusstseins besitzt, aber sie sind nicht gleich stark. Und heute leben die meisten auf der naiven Ebene oder der Kritik-Ebene.
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Das heißt wir haben es noch nicht geschafft, auf die Ebene des politischen Bewusstseins zu gelangen. Nichtsdestotrotz haben wir etwas vom politischen Bewusstsein, Ideen dieses Bewusstseins. Und wir leben auch einige Erfahrungen des strategischen Bewusstseins und des transzendentalen. Aber in diesem Moment befinden wir uns im Übergang vom naiven zum kritischen Bewusstsein. Wie weit finden sich die Ansätze anderer emanzipativer Bewegungen in euren Konzepten wieder? Das was hier im Moment passiert, ist die Vereinigung der Ideen und Träume aus den 60er Jahren. Wir haben unsere Vorfahren. Ihr wisst, dass in den 60er Jahren verschiedene Dinge geschahen, der Mai 68 in Paris, die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten, angeführt von Martin Luther King, die Hippie-Bewegung, das Zweite Vatikanische Konzil, das den innerkirchlichen Diskurs veränderte, die Kulturrevolution in China. Und diese ganzen Ereignisse schafften eine andere Welt, vor allem eine bessere Welt. Dies basierte vor allem auf Werten, die Losung war z.B. „make love not war“. Es war dieser Geist, der sich dem Krieg entgegenstellte, der andere Wege an Stelle der Kriegsführung suchte, Friede statt Krieg. Und ich glaube, dass die heutige Revolution die Vereinigung der damaligen Vorkommnisse, der damaligen Träume ist. Die Kämpfe in den 60er Jahren kosteten sehr viel Blut, das waren sehr mutige Leute.
Und wir bedauern es sehr, dass sie nicht unter uns sein können, da sie ihr Leben für diesen Prozess ließen, ohne es zu wissen, ohne zu wissen, dass es heute diesen Prozess gibt. Klar gab es auch noch welche in den 70er und 80er Jahren aber kaum noch in den 80er und 90er Jahren. Die meisten Märtyrer gab es in den 60er Jahren aber nicht nur hier in Venezuela sondern in ganz Lateinamerika. Es waren unzählige, z.B. Präsident Allende in Chile. Wir kennen hier die Geschichte von Chile und die von Nicaragua. Und dadurch sind wir vorbereitet und werden nicht die gleichen Fehler machen, in die gleichen Fallen laufen. Und Gott-sei-Dank haben wir einen Präsidenten wie Chávez, der fähig ist, uns zu helfen, der die Komplexität dieses Prozesses versteht. Und er lernte die Lektionen, die die Geschichte von Chile und Nicaragua aufgaben. n
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Die große Aufgabe ist die Vertiefung des Prozesses. Interview mit Eduardo Daza
Eduardo Daza Aktivist der Asociación Nacional de Redes y Organizaciones Sociales (ANROS)
Du warst bis vor kurzem Verantwortlicher für internationale Angelegenheiten bei ANROS. Was bedeutet das, was waren Deine Aufgaben? Die Idee ist, uns vor allem mit lateinamerikanischen Basisgruppen zu vernetzen. Wir haben beispielsweise Kontakte zu Basisbewegungen in Kolumbien. Im Bundesstaat Zulia waren vor kurzem Leute aus Kolumbien, die die Sozialcharta vorantreiben. Mit ihnen arbeiten wir zusammen am Aufbau der Solidarität an der Basis. In Brasilien gibt es alte Kontakte auf gewerkschaftlicher Ebene, in der Verhüttungsindustrie, und zur Landlosenbewegung. In Ecuador haben wir Beziehungen zum Movimiento Pachakutik (Indigenabewegung) und mit einer Studentengruppe der Universität in Guayaquil. Die Verbindung zu den Studenten ist sehr naheliegend, weil in den 60er Jahren viele venezolanische Studenten an den Aufständen in Guayaquil teilgenommen haben. In Argentinien haben wir sehr feste Beziehungen zu Basisgruppen, zu Stadtteilgruppen und auch zur Piquetero-Bewegung. Und Leute von ANROS sind dabei, die Idee eines bolivarianischen Volkskongresses umzusetzen. German Ferrer, nationaler Koordinator von ANROS und jetzt
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auch Mitglied der Direktion für internationale Angelegenheiten des MVR, hat auf politischer Ebene Verbindungen zum Beispiel mit Chile oder mit dem Frente Amplio in Uruguay, wobei der Schwerpunkt seiner Arbeit dennoch auf den Basisbewegungen liegt. Im Juli 2004 fand in Quito als Vorbereitung zum Weltsozialforum das lateinamerikanische Sozialforum statt, und wir arbeiten jetzt an der Organisation eines venezolanischen Sozialforums, als Ort der Begegnung der verschiedenen sozialen Bewegungen. Das ist etwas, das hier noch nicht verstanden wird. Paradoxerweise suchen die Leute die Macht. Die Leute, die im Staat sind, versuchen sich die Organisationen anzueignen. Und dem wollen wir entgegenwirken. Was sind Deine aktuellen Aufgaben bei ANROS? Demnächst werde ich das nationale Institut für ländliche Entwicklung bei einem Kanalisationsprojekt in Cuenca unterstützen, das 11.000 Familien zugute kommen soll. Die Mittel und die technische Ausstattung sind vorhanden, es gibt die Ingenieure, aber es gibt keine Einigung mit den Comunidades. Ausgerechnet unsere Compañeros
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streiten sich um die technische Leitung. Außerdem soll ich unser Team verstärken, in der Gegend von Valle de la Pasqua, El Tigre, Anaco und Zaraza, das sind Orte, die zwischen 60.000 und 215.000 Einwohner haben. Als Verantwortlicher für Finanzen ist meine primäre Aufgabe zur Zeit die Unterstützung von zwei Kandidaten, die Mitglieder von ANROS sind. Clemente Scotto wurde von den Comandos Maisanta1 für das Bürgermeisteramt von Caroní vorgeschlagen und José Guerras für Rio Caribe. Das setzt voraus, dass ich an einem Punkt in der Mitte bin, zwischen den beiden Städten, um mich von dort aus um die finanziellen Mittel zu kümmern. Dieselbe Aufgabe hat auch ein Compañero im Bundesstaat Mérida. Dort sind fünf der Bürgermeisterkandidaten Mitglieder von ANROS. Welche Rolle sollen die ANROSLeute als Bürgermeister spielen. Wie definiert ihr deren Aufgabe, wo werden die Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen? Sie alle kommen nicht aus politischen Parteien, das war der Drehund Angelpunkt, um die Einheit zu garantieren. Trotzdem unterstützen wir die Parteien in der sozialen Arbeit. In allen Rathäusern, in denen wir vertreten sind, führen wir Verhandlungen darüber, dass die Comunidades an den Haushalten beteiligt werden. Damit ist gemeint, dass die Leute den Haushalt selbst verwalten, ebenso die Bildung und den öf-
fentlichen Dienst. Und das ist möglich. Wir glauben, dass Venezuela nach sechs Jahren Chávez-Regierung eine größere Präsenz der sozialen Organisationen in den kommunalen Dienstleistungen braucht. Wir sehen mit tiefer Trauer, dass die große Mehrheit der bolivarianischen Bürgermeister und Würdenträger dieses Prozesses sich immer noch in derselben Art und Weise verhält, wie zu Zeiten, als die alten Parteien an der Macht waren. Sie haben den Prozess noch nicht verstanden. Wir haben dem Präsidenten dazu einen Vorschlag übergeben. Es fehlt die Koordination der Institutionen untereinander, zumindest der der Exekutive und das muss korrespondieren damit, dass auf lokaler Ebene die Organisation von den Leuten übernommen wird. Wir schaffen es zur Zeit zumindest die Leute zu gewinnen, die keiner Partei angehören. Clemente Scotto, der in der PPT war – und es nicht mehr ist –, ist vor allem Mitglied der Basisbewegung und als solches hat er ein Programm aufgestellt, das Dinge wie die Organisation der Müllabfuhr, der Schulen und eben die Verwaltung der Haushalte direkt an die Comunidades überträgt. Ein ähnliches Programm hat José Guerras. In Mérida ist es anders, Mérida ist eine überwiegend ländliche, bäuerliche Gegend. Die Orte dort sind völlig abgelegen. Nicht selten müssen die Leute zwölf Stunden fahren, um irgendwo hinzukommen, weil die Straßen fehlen. Unser Programm hier sieht vor, aus den Rat-
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1 Die Comandos Maisanta wurden im Vorfeld des Referendums gebildet mit dem Ziel, die verschiedenen Aktivitäten zu koordinieren. Sie organisierten die sog. Patrullas, die in den Barrios unterwegs waren, um die Leute für Chávez zu mobilisieren, sie hielten Kontakt zu den Wahlbeobachtern und Wahlbeobachterinnen und führten verschiedene Erhebungen durch, um einen Wahlbetrug auszuschließen. Sie lösten sich nach dem Referendum nicht auf und sind weiter in der sozialen Arbeit aktiv.
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häusern heraus die Produktion zu fördern und alles was damit zusammenhängt. Die Leute produzieren ohne jede westliche Technologie. Beispielsweise gewinnen sie ihre Elektrizität, indem sie Wasserfälle nutzen, um Wasserräder aus Holz zu betreiben. Sie sind keine Konsumenten im westlichen Sinne. Worum es hier also geht, ist eine Entwicklung zu unterstützen, die zum Ziel hat, das Wissen der Vorfahren zu sammeln und zu nutzen, das in Venezuela verbreitet war, bevor es Öl gab. Ein Beispiel in diesem Zusammenhang: Der Maracaibosee ist das größte Süßwasserreservoir auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Von 1901 bis 1941, als schon Öl gefördert wurde, waren die Staatseinkünfte aus der Fischerei größer als die aus dem Öl. In diesem Fall ist das Öl alles andere als ein Segen, eher schon ein Fluch. Weil wir uns seinetwegen nicht mehr mit dem Fischfang beschäftigen und obendrein der See verschmutzt wird. Venezuela war Partner von Peru, Ecuador, Kolumbien und Panama in der großkolumbianischen Flotte. Heute haben Peru, Chile, Ecuador, Kolumbien und Panama eine ziemlich große Fischereiflotte, aber Venezuela nimmt wegen seiner Erdölgeschäfte nicht daran teil und ist völlig abhängig. Wir haben nicht einmal Schiffe, weil wir keine Schiffsindustrie entwickelt haben. Wir lehnen keine Hilfe ab, die dem Lebensstil der USA oder Westeuropas entstammt. Es ist aber eine Tatsache, dass von dem Moment
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an, wo das Ökonomische sich der Kultur aufgezwungen hat, die Konsequenzen für das landwirtschaftliche Venezuela katastrophal waren. Wir produzieren nicht mehr unsere eigenen Lebensmittel und vor dem Öl haben wir sie produziert. Wir brauchen keine teuren Traktoren. Früher haben wir mit einfachen Werkzeugen – mit Holzpflügen – genügend Nahrungsmittel für ganz Venezuela produziert und darüber hinaus Kaffee, Mais und Bohnen exportiert. Jetzt haben wir die modernen, raffinierten Maschinen und müssen 73 % der Nahrungsmittel importieren. Während früher wahrscheinlich die meisten Leute in der Landwirtschaft gearbeitet haben, leben heute im Großraum Caracas um die 10 Millionen Menschen. Um so eine Metropole mit Lebensmitteln zu versorgen braucht es eine industrialisierte Landwirtschaft. Bevor ich darauf eingehe kurz vorweg. In Venezuela hat die demografische Entwicklung viel mit der Ökonomie zu tun. Ciudad Guayana existiert zum Beispiel erst seit 50 Jahren. Die Stadt ist, wie Brasilia, an der Universität in Harvard am Reißbrett geplant worden. Trotzdem gibt es dort große Gegensätze zwischen den Stadtteilen: San Felix, das voller Armut ist und Puerto Ordaz, das eine Gegend der Mittelklasse und der Technokraten ist. Genauso verhält es sich in Punto Fijo und in Maracaibo. Während der Ölkrisen in den Jahren 1981 bis 1983, 1987 und 1995, als der
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Ölpreis auf 6,90 US$ pro Barrel sank, waren diese Städte leer und die Leute gingen auf‘s Land. Es ist eine relativ neue Entwicklung, dass die Leute massenhaft in die Städte gezogen sind und zwar wegen der Vernachlässigung des Landes. Eine Vorahnung auf das neoliberale Modell hat die Demontage der Infrastruktur des Ministeriums für Landwirtschaft und Viehzucht gegeben. Zwischen 1958 und 1967 gab es noch Techniker, Berater und Landwirtschaftsschulen, aber all‘ das wurde abgeschafft. Während der ersten Regierung des Christsozialen Rafael Calderas wurden die technischen Schulen geschlossen. Die Menschen ziehen natürlich dorthin, wo sie eine Lösung ihrer Probleme und bessere Lebensbedingungen erwarten. Es ist kein Zufall, dass die Vuelvan Caras-Projekte in der Umgebung erfolgreich sind und die Leute aufs Land zurückkehren. Wir haben eine Politik, die darauf ausgerichtet ist und eine Regierung, die an der Entwicklung der nötigen Infrastruktur arbeitet. Um auf die Frage zurückzukommen: Es gibt einen Entwicklungsplan für einige Städte auf einer Achse entlang des Orinoco namens „Entwicklung des Alto-Llano“. Er sieht den Aufbau der Infrastruktur, Wohnungsbauprogramme und den Aufbau von Dienstleistungen vor, mit dem Ziel, dort mehr Leute anzusiedeln. Es ist zwar eine Zone, wo hauptsächlich agroindustriell Getreide produziert wird, aber es soll nicht nur die Industrie entwickelt werden, sondern auch die traditio-
nelle Landwirtschaft. Das ist wichtig, denn es schafft Arbeitsplätze für viele Menschen. Die Wasserversorgung in dieser Gegend kostet ein Hundertstel von dem, was aufgewendet werden muss, um Caracas mit Wasser zu versorgen. Am Rande von Caracas gibt es Schlafstädte, die keine dreißig Jahre alt sind. In einem dieser Bezirke, der fünf Comunidades umfasst, leben 450.000 Menschen. Wenn man nachts mit dem Flugzeug nach Caracas kommt sieht man eine einzige erleuchtete Linie bis Barquisimeto. 37 % der venezolanischen Bevölkerung leben auf 4 % des Territoriums. Das kann nicht sein, das ist widersinnig. Wie realistisch ist es, dass die Leute, die urbanisiert sind, in Städten aufgewachsen sind, auf‘s Land ziehen und einen solch enormen kulturellen Wechsel in Kauf nehmen? Um das zu erreichen, ist nicht nur die politische Richtung wichtig, ausschlaggebend ist vor allem die soziale Arbeit. Es gibt einen Plan, den das Ministerium für Planung und Entwicklung ausgearbeitet hat. Er hat fünf Achsen, die ökonomische, soziale, territoriale, internationale und die politische. Diese Achsen geben die Richtung vor für die Arbeit in den Ministerien und Behörden. Vorausgesetzt, dass alle Leute, die den Prozess unterstützen, sich danach richten. In territorialer Hinsicht ist die Orientierung die, dass die Leute ins Landesinnere ziehen, um das venezolanische Territorium zu besie-
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Zentrum von Caracas
deln. Das klingt nicht so einfach und ist es auch nicht, aber unter der einfachen Voraussetzung, dass es dort die besten Arbeitsmöglichkeiten gibt, werden die Leute nach und nach dorthin ziehen. Wenn heute ein Mittelklassekind einen Abschluss macht und in Caracas keine Stelle findet, geht es ins Landesinnere. Vor demselben Hintergrund ist damals Ciudad Guayana gebaut worden, es ging darum, Caracas zu dekonzentrieren. 700.000 Leute sind in den fünfzig Jahren seines Bestehens nach Puerto Ordaz gezogen. Es gibt auch andere konkrete Fälle, in Barquisimeto hat sich die Einwohnerzahl verdreifacht. Und Barquisimeto hat keine Ölwirtschaft, es lebt von der Landwirtschaft und vom Handel. In Barquisimeto ist die Kooperativenbewegung im Landesvergleich am größten. Der Großmarkt ist eine Kooperative und von dort kommen alle Produkte für Caracas. Die Frage ist, ob sich diese Ent-
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wicklung wiederholen lässt auf der Achse, von der ich spreche. Ein weiterer Ansatz ist die Nutzung des Orinoco. In Ciudad Guayana wird der Fluss ausschließlich von der Industrie genutzt. Aber überall auf der Welt sind die Flüsse auch Zentren der Kommunikation. Seit neun Monaten gibt es jetzt zwei neue Projekte, um den Tourismus zu fördern, in Form von Ausflugsschiffen, die von den Comunidades betrieben werden. Außerdem wird gerade die zweite Brücke gebaut und ein Holzverarbeitungsbetrieb, der 900 Arbeitsplätze bietet. Und rund 4,9 Millionen Hektar aufgeforsteter Wald, der bislang industriell genutzt wird, sollen jetzt auch die Entwicklung der Weiterverarbeitung auf niedrigerer Ebene ermöglichen. Der Mensch zieht dorthin, wo er am besten leben kann. Die Menschen im Vuelvan Caras-Projekt an der Autobahn Caracas–La Guaira gehören zu den ersten Leuten, die weg-
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ziehen. Ausgestattet mit Krediten und technischer Unterstützung werden sie Fondos Zamoranos gründen. All‘ diese Dinge greifen ineinander. Aber es ist ohne Zweifel eine titanische Aufgabe. Trotzdem, die ehemals kleinen Dörfer dehnen sich aus und nicht nur Caracas wächst nicht weiter, die Landflucht ist zur Zeit auf jeden Fall gestoppt. Du warst kürzlich in Deutschland auf Informationsreise. Was waren Deine Eindrücke dort? Der primäre Grund war, Informationen zu verbreiten. In Deutschland, in Holland, überall, wo ich war macht die Presse das nicht. Ich habe zum Beispiel besorgte e-mails aus Deutschland erhalten, wie wohl das Referendum ausgeht. Die Wahrnehmung Venezuelas in der Welt hat sich verändert mit diesem Prozess. Die Feinde bleiben, die machen weiter, aber es eröffnen sich neue Möglichkeiten in verschiedenen Beziehungen mit dem Ausland. In verschiedenen europäischen Ländern wie Spanien, Holland, Deutschland, Österreich gibt es eine Öffnung gegenüber Venezuela. Das ist auch das Bestreben des MVR, dessen Verantwortlicher für Außenbeziehungen ich früher war. Im deutschen und im europäischen Parlament gibt es eine kleine Lobby von Leuten, die uns unterstützen und eine Freundschaftskommission ins Leben gerufen haben. Uns hat es große Sorgen bereitet, dass der Tourismus aus Deutschland, der bedeutend war, abgerissen ist. Wir haben jetzt Kontakte zu verschiedenen
Leuten geknüpft, um den Tourismus wieder anzukurbeln. Es gibt viele Leute, die hierher kommen, um zu sehen, was hier passiert. In Bochum habe ich zum Beispiel Ärzte kennen gelernt, die nach Venezuela kommen wollen. Sie stehen mittlerweile in direktem Kontakt zum Ministerium für Gesundheit und soziale Entwicklung. Gleichzeitig haben sich interessante Gelegenheiten in Deutschland ergeben, die gar nicht geplant waren: Elf Universitäten haben Ansätze für eine Zusammenarbeit mit Venezuela entworfen. Mittlerweile kümmert sich das Ministerium für höhere Bildung um Kontakt und Austausch zwischen den bolivarianischen Unis und den deutschen Universitäten. Daneben hatte ich Kontakt mit Gewerkschaften, unter anderem mit Gewerkschaftern, die sich sehr darum bemühen, das Bild Venezuelas in der ILO zu verbessern und denen es gelungen ist, die Leute für Venezuela zu interessieren. Ende Juli sollte es in der ILO eine Abstimmung darüber geben, ob eine Entscheidung gegen Venezuela im Moment des Referendums aufrecht erhalten wird oder nicht, und sie wurde gestoppt. Dafür traten auch Gewerkschaften aus Österreich und Spanien ein. Als ich losfuhr, war es ein Anliegen des MVR alle Kontakte, die sich bieten, wahrzunehmen, also in allen gesellschaftlichen Bereichen, nicht nur mit Basisgruppen. Außerdem stellte ich eine ziemliche Offenheit deutscher Parteien
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2 Miraflores: Amtssitz des venezolanischen Präsidenten
Venezuela gegenüber fest. Zum Beispiel von Seiten der PDS und der DKP, die viele Treffen organisierten und von Gruppen im Umfeld der Grünen. Das war nicht nur als persönliche Erfahrung wichtig, sondern auch, um die Politik der fünften Republik bekannt zu machen. Auch die Leute der europäischen Linkspartei haben eine solidarische Position eingenommen. Diese Netze sind wichtig, damit sich etwas bewegt. Am wichtigsten waren die Erfahrungen mit den Menschen in den Städten. In Bremen blieb ich vier Tage, statt einem, und habe Kontakte zu den verschiedensten Gruppen bekommen. In Göttingen gab es eine Veranstaltung an der Uni, die bis zwei Uhr morgens dauerte, weil das Interesse so groß war – der Professor war erfreut, dass er seine Studenten zu Gesicht bekommt, die sonst nie auftauchen. In Passau war ich ziemlich überrascht, dass die Leute, die zur Veranstaltung kamen, alle ganz jung waren. Und alle hatten haufenweise Fragen, so dass auch dieses Treffen bis 3 Uhr morgens dauerte. Von den Deutschen heißt es, sie seien kühl und reserviert. Als ich nach Düsseldorf kam – die Stadt kam mir sehr reich vor und erinnerte mich an Caracas, was den großen Widerspruch zwischen Arm und Reich betrifft – habe ich die Leute verpasst, die mich vom Bahnhof abholen sollten. Ich ging Essen und lernte einen Türken oder Araber kennen, das weiß ich nicht genau, der in Venezuela gelebt hatte und ich erzählte ihm, dass ich meine Leute
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nicht finde. Er brachte mich daraufhin in ein Obdachlosenheim zum Übernachten. Die Leute dort, Obdachlose, teilweise Alkoholiker, eben Produkte der deutschen Ökonomie, erzählten mir die ganze Nacht von ihren Problemen, dem Mangel, den es gibt, von den Problemen illegaler Einwanderer, wie sie aufgespürt werden und solchen Dingen. Das war sehr aufschlussreich und eine gute Erfahrung. Ähnliches ist mir auch in Barcelona passiert, wo ich auch nicht abgeholt wurde und niemanden kannte. Dort traf ich Leute aus einem sozialen Kollektiv, die mir die Probleme der illegalen Einwanderer aus Afrika schilderten. Die Solidarität ist sehr groß. Dann wurde ich noch zu einem bundesweiten Treffen von ver.di eingeladen. Das Zusammentreffen vor allem mit den jungen Leuten, die gerade anfangen zu arbeiten und vor großen Problemen stehen, weil sie keine Arbeit finden, war sehr interessant. Sie sprachen davon, zu den Weltjugendfestspielen, die nächstes Jahr hier stattfinden, zu mobilisieren. Aus dem Grund war ich auch in Miraflores2 um daran zu erinnern, dass dieses Treffen hier sein wird und dass die venezolanische Gesellschaft, die große Menge an Besuchern empfangen muss. Als ich bei ver.di war, wurde ein Lied gesungen gegen den Faschismus und wir hatten die Idee, dieses Lied nächstes Jahr zu singen. Worin siehst Du Möglichkeiten, den Prozess von außen, von Deutschland aus, zu unterstützen?
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Es geht um Solidarität und um die Vertiefung der Beziehungen. Es gibt auch konkrete Vorschläge. Ich hatte in Deutschland Gespräche, in denen es darum ging ein Netz des „unterstützenden Tourismus“, der die soziale und politische Realität vermittelt, aufzubauen. Ein anderer Bereich sind Prozesse, die die Schaffung von Arbeitsplätzen zum Ziel haben. Teil unseres Problems ist, dass wir in Venezuela modernste Computer und modernste Technik haben, dies aber eine hohe Arbeitslosigkeit zur Folge hat. Wir haben Rohstoffe, wir haben Arbeitskräfte und unser Ziel ist es, Produkte selber zu verarbeiten und nicht nur Rohstoffe zu verkaufen. Wir suchen Allianzen nicht um Unternehmen mit großem Kapital aufzubauen, sondern Kooperativen, damit die Leute Arbeit haben und produktiv sind. Und um das zu entwickeln, einschließlich der Vermarktung der Produkte, brauchen wir die Kenntnisse. Die Deutschen sind in vielen Dingen sehr gut, haben gute Techniker und auf jeden Fall eine gute Bierproduktion. Tatsächlich gibt es Pläne für eine Brauerei. Das ist eine Sache, die nicht sehr kompliziert und schwierig ist. In verschiedenen Bereichen werden so Wege gesucht, um Arbeit zu schaffen, dazu gehört die Eisenverhüttung, der Fischfang oder die Schokoladenproduktion – wir produzieren sehr guten Kakao, aber nur für den Export. Auch die geplante trans-amazonische Eisenbahn, die von Puerto Ordaz nach Brasilien und Uruguay führen und nach neueren Planungen
auch Bolivien und Peru anschließen soll, fällt unter die Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen. Das große Problem Lateinamerikas ist, dass unsere Rohstoffe auf dem Weltmarkt nicht sehr stabil sind, wir aber keine Entwicklung nach innen haben. Um die zu erreichen müssen wir Beziehungen aufbauen. Das bedeutet, dass es um einen Transfer von Technologien auf nicht so hohem Niveau geht, die unter diesen Bedingungen Anwendung finden können. Also vor allem Leute, die handwerkliche Kenntnisse haben? Genau. Diese Kenntnisse wollen wir konzentrieren, beziehungsweise einen Wissens- und Erfahrungsaustausch schaffen, in dem die Erfahrungen der Leute und das technische Wissen gleichberechtigt behandelt werden. Wir wollen kein Kapital anhäufen, sondern Arbeit schaffen. Es ist eine Frage der Umsetzung. Ich habe das Problem der Kontamination des Maracaibosees erwähnt. Wenn wir eine Fischfangindustrie entwickeln, müssen wir den See sauber kriegen, trotz des Öls, das gefördert wird. Dasselbe gilt für Guayana. Wesentlich ist, dass die Comunidades in die Entwicklung einbezogen sind. Wir glauben, dass es am allerwichtigsten ist, an die Leute zu glauben. Zur Entwicklung des Maracaibosees wurde mit einer Untersuchung begonnen, deren besonderes Augenmerk auf die Comunidades gerichtet ist. Viele Funktionäre haben allerdings keinen Sinn
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dafür was „Gemeindearbeit“ bedeuten könnte. Chávez hat neulich die Wichtigkeit dessen betont, dass die Ministerien mit den Comunidades zusammenarbeiten. Für uns und alle, die an der Basis arbeiten, ist es wichtig, Leute zu haben, auf die wir uns verlassen können. Leute wie zum Beispiel German Ferrer, der im Präsidialbüro arbeitet. Er ist seit seiner Jugend politisch, war in der Guerilla und war politischer Gefangener. Aber viele haben im Zuge ihrer Karriere plötzlich einen Rechtsschwenk gemacht. Leute, die von sich behaupten, Teil des Prozesses zu sein, sehen keinen Widerspruch darin, sich zu bereichern und trotzdem für den Prozess zu sein. Also ist es auch immens wichtig, dass eine ideologische Stärkung stattfindet. Was ist Deine persönliche Meinung über die Zukunft dieses Prozesses? Ich meine, dass es große Erfolge gibt. Man kann beobachten, dass Leute, die sich der Opposition zurechneten, den Kampf aufgegeben haben. Dieser Prozess wird sich vertiefen oder abbrechen. Und es gibt den Willen, vorwärts zu gehen. Die große Aufgabe, vor der wir also stehen, ist die Vertiefung des Prozesses. Wie der Präsident sagte: Mit allen Wirkungen, aber im demokratischen und verfassungsmäßigen Rahmen.
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Unsere Aufgabe ist, diese Verfassung zu stärken und die soziale Organisierung zu fördern und einzubeziehen. Darauf zielt alles ab. In der Landwirtschaft haben wir wichtige Fortschritte gemacht. Und auch wenn es nicht über Nacht geht, sondern mittelfristige Projekte sind, laufen die Dinge jedenfalls in die richtige Richtung. Die Wichtigkeit dessen, dass die sozialen Organisationen sich nicht so sehr auf dem Staat ausruhen, sondern ihr eigenes Geld verdienen, um konkrete Projekte zu stützen und nicht um Geld betteln müssen, ist fundamental. Ich glaube, die Leute sind organisiert, koordinieren sich und halten so diesen Prozess aufrecht. Ich sehe, dass es möglich ist. Abgesehen davon wäre es auf internationaler, besonders auf lateinamerikanischer Ebene, ein fatales Signal, wenn wir das verlieren. Die Leute in der Volksbewegung, nicht nur in ANROS haben ein Bewusstsein darüber, was hier während des Putsches passierte. Sie treten in die Armee ein und organisieren sich angesichts der Gefahren, die noch drohen könnten. Die Leute haben gelernt, sich gegenseitig zu akzeptieren und das Sektierertum zwischen verschiedenen Gruppen hat aufgehört. Das sind Schritte zu einer Verbreiterung des Prozesses. Das sehe ich als sehr positiv an und als Vertiefung des Prozesses. Das ist meine Perspektive. n
Kritik & Konzepte
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Kritik & Konzepte
Nach dem Sieg von Hugo Chávez im Referendum vom August 2004 scheinen die Widersprüche innerhalb der Kräfte, die die bolivarianische Revolution unterstützen, stärker denn je ans Licht zu kommen. Wurde bis dahin der Transformationsprozess ständig von einer Opposition bedroht, die sogar in der Lage war, einen Militärputsch zu initiieren, so dürfte sich das gesellschaftliche Kräfteverhältnis mit dem Referendum verändert haben. Die bürgerliche Opposition ist mittlerweile zutiefst zerstritten, machtvolle Aktionen werden ihr – zumindest in absehbarer Zeit – nicht mehr zugetraut. Unter den geänderten Rahmenbedingungen fordern Aktivisten und Aktivistinnen, dass die Konflikte innerhalb des bolivarianischen Prozesses jetzt offen, ohne taktische Rücksichtnahmen, ausgetragen werden. Im Zentrum ihrer Kritik stehen vor allem die politischen Parteien, die den Prozess unterstützen. Diesen wird vorgeworfen, innerhalb der neuen Republik eine alte, klientelistische Ideologie zu reproduzieren. Es gibt Vorwürfe der Korruption und der Bildung politischer Seilschaften innerhalb der Ministerien. Hinzu kommt, dass den Parteien ein echtes Interesse an einer grundlegenden Transformation der venezolanischen Gesellschaft abgesprochen wird, da sie die Formen bürgerlicher Herrschaftsausübung verinnerlicht hätten und sie mit dem Wandel ihre Machtbasis als Regierungsparteien verlören. Die Kritik an den Parteien schließt häufig
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auch die Kritik der Regierung mit ein. Zwar wird Hugo Chávez – als unersetzbare Integrationsfigur – in der Regel noch von der generellen Kritik ausgespart, einzelne seiner Maßnahmen stoßen jedoch auf deutliche Ablehnung. Zuletzt erregte die untransparente Nominierung der Kandidatinnen und Kandidaten für die Regionalwahlen Proteste, ebenso wie Chávez’ Annäherungspolitik an die nationale Bourgeoisie. Daneben werden auch andere Strukturen hinterfragt, die in den vergangenen sechs Jahren an Bedeutung gewonnen haben. Vor allem die neue Rolle des Militärs, das in Sozial- und Infrastrukturprojekte eingebunden ist, wird ebenso kritisiert, wie der Versuch staatlicher Institutionen, Organisierungsprozesse an der Basis zu dominieren. Gleichzeitig mit der Kritik an dem Bestehenden wird die Diskussion um die Zukunft des revolutionären Prozesses geführt. Einigkeit scheint bei den linken Kritikerinnen und Kritikern dahingehend zu herrschen, dass eine gesellschaftliche Emanzipation, die über eine progressive Umverteilungspolitik im Rahmen des Kapitalismus‘ hinaus geht, nicht isoliert sondern nur im lateinamerikanischen Maßstab verwirklicht werden kann. Dass es also Konzepte bedarf, die sowohl im aktuellen Rahmen bestmögliche Bedingungen für eine demokratische und soziale Entwicklung schaffen, als auch einen Aufbruch beinhalten hin zu einer grundlegenden Umwälzung aller gesellschaftlichen Verhältnisse – nicht nur in Venezuela. n
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Alle Macht dem Volke. Interview mit Felipe Perez In einigen Minuten wird sich hier das Bündnis Conexión Social treffen. Wer gehört zu diesem Bündnis und was sind die Ziele? Zu diesem Bündnis gehören viele Gruppen des revolutionären Prozesses: die bolivarianischen Zirkel, ANROS (Zusammenschluss der sozialen Netzwerke und Organisationen), ANMCLA (Zusammenschluss der alternativen Medien), UNT (Nationale Arbeiterunion), welche die neue Organisation der revolutionären Arbeiter ist, und viele weitere. Das wichtigste Ziel dieses Bündnisses besteht darin, einen Ort der gemeinsamen Aktion in Ausübung der Volksmacht zu schaffen. Jede der beteiligten Organisationen behält ihr eigenes Profil, aber im Bereich der Volksmacht haben wir uns alle in einer Front zusammengeschlossen, um die Regierung direkt vom Volk aus anzutreiben. Dieser Raum ist kein konventioneller, diese Front ist nicht konventionell. Es gibt keine Quoten für die verschiedenen Organisationen gemäß ihrer Größe. Genauso wenig gibt es vertikale Strukturen, die einer Linie unterliegen, sondern es ist ein Raum, in dem theoretisch ein wirklicher „Kampf der Ideen“ herrscht. Es ist ein Raum der Reflexion, der Debatte und des Dialoges, in dem Strategien und Aktionen für die Transformation der Gesellschaft entwickelt werden.
Es wird das Motto “Alle Macht dem Volke” als Hauptziel verfolgt und deshalb basiert dieses Bündnis auf den Rechten der partizipativen Demokratie, die durch die Verfassung eingeführt wurden. Diese erlauben den Menschen, zumindest auf lokaler Ebene, zu planen, partizipative Haushalte aufzustellen, partizipative Führung auszuüben, die Kontrolle der Ausführung, die Auswertung, die Rechnungsprüfung vorzunehmen und die partizipative Absetzung auf der Ebene der Bürgermeister in jeder Stadt. Andererseits bauen wir ein Netzwerk von Promotoren im ganzen Land auf, die Bürgerversammlungen einberufen werden, damit diese Versammlungen anfangen, ihre direkte Funktion gegenüber der Regierung geltend zu machen. Bis jetzt existiert im Land das Gesetz über die lokalen Räte für öffentliche Planung. Beklagenswerterweise wird das Gesetz aber nicht so umgesetzt, wie es sollte. Lediglich 20 % des kommunalen Haushalts können von den Leuten kontrolliert werden. Wir denken, es sollten die ganzen 100 % sein. So wie es in Puerto Alegre in Brasilien geschieht. Es sollte ein partizipativer Haushalt sein. Wir können hier viel weiter gehen als in Brasilien, weil wir das in allen Regierungs-Funktionen umsetzen könnten. Aber wir ha-
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Felipe Perez Koordinator der Conexión Social
Kritik & Konzepte
ben das Problem, dass sich das Gesetz momentan auf die kommunalen Haushalte beschränkt. Auch sind die Räte bislang von den Bürgermeistern “entführt”, die Räte beziehen sich auf sie und nicht auf die Bürgerversammlungen. Wir wollen vorschlagen, dass die Versammlungen gemäß der Verfassung einberufen werden, dass sie verbindlich sind. Wir wollen keine unverbindlichen Versammlungen bilden, die zwar an jedem Ort existieren, aber nicht mit einander verbunden sind. Sondern wir wollen ein verbindliches Netz, eine Institution die alles zusammenführt. Beispielsweise dass die kommunalen Räte, die die Bürgerversammlungen sind, in lokalen Räten koordiniert werden, was dann eine Versammlung der Räte der organisierten Kommunen wäre. Auf der Ebene der Bundesstaaten gäbe es die Versammlung der Delegierten aus den Bundesstaaten, was ein bundesstaatlicher Kongress der Volksmacht wäre. Auf nationaler Ebene schlagen wir den Nationalkongress der partizipativen und protagonistischen Volksmacht vor, der aus den bundesweiten Delegierten zusammengesetzt wäre. Auf diese Weise hätten wir vernetzte aber auch verpflichtende Entscheidungen, die auch kohärent wären. Denn der Vorteil der Dezentralisierung auf der Ebene der Bürger ist, dass sie eine wesentlich bessere Planung, Führung, soziale Kontrolle, Auswertung usw. erlaubt, sie verbessert sehr die Führung, eliminiert die Korruption. Aber hier gibt es die Angst vor Anarchie, dass jeder
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nur für sich entscheidet, ohne einen stimmigen regionalen und landesweiten Plan zu haben. Daher schlagen wir das vor, als Strategie. Die Taktik ist folgende. Während die Gesetze sich ändern, brauchen wir zugleich revolutionäre Bürgermeister und Gouverneure. Deswegen wollen wir die Teilnahme an der Aufstellung der Kandidaten des Prozesses. Weil es viel Verrat am Prozess auf lokaler Ebene, in den Bürgermeisterämtern und Regierungen gab. Es gibt viele Korrupte, die die Ziele der Vergangenheit verfolgen und die Revolution entwürdigt haben, indem sie ihren eigenen Vorteil suchen usw. Und es gibt keine sozialen Kontrollstrukturen, die die Kontrolle über Ineffizienz und Korruption garantieren. Deswegen fordern wir die partizipative Demokratie auch bei der Benennung der Kandidaten. Artikel 67 der Verfassung besagt, dass bei der Aufstellung der Kandidaten das Volk in Vorwahlen das Recht hat, über die Kandidaten zu entscheiden. Wir zitieren diesen Artikel, damit uns die Teilnahme auch an der Auswahl der Kandidaten erlaubt wird. Auch wir wünschen, dass es Einheit gibt, aber von der Basis aus. Sie haben uns Kandidaten vom Präsidenten und vom Comando Ayacucho vorgesetzt, was den Prozess auf eine ganz verkehrte Weise vorantreibt. Sie machen Politik wie sie in der Vergangenheit gemacht wurde, mit einem Einverständnis der Postenaufteilung, die nicht den Charakter der bolivarianischen Revolution beachtet.
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In dem Maß, in dem die Opposition schwächer wird, wachsen die Widersprüche innerhalb der Organisationen, die die Regierung unterstützen. Ist diese Wahrnehmung richtig? Und wo verlaufen die Konfliktlinien zwischen den verschiedenen bolivarianischen Sektoren? Grundsätzlich ist es richtig, dass es viele Streitpunkte in der revolutionären Bewegung gibt, aber ich würde im Wesentlichen nur zwei Sektoren unterscheiden. Die Sektoren, die den Stil der Vergangenheit pflegen, grundsätzlich korrupt, die zur Macht streben, um Arbeit zu finden und an Einkommensquellen für sich selbst zu kommen und innerhalb der Parteien des Prozesses gibt es eine Palette von diesen Verhaltensweisen. Viele von den Parteien sind korrumpiert und verhalten sich als Gruppe, setzen Personen in Ämter, wollen als Gruppe profitieren und versuchen, auf Kosten anderer zu wachsen. Einen Streit dieser Art regeln sie wie die Mafia innerhalb der Organisation. Sie haben so etwas wie Quoten der Macht und so verhalten sich auch einige. Als ich bei der PDVSA war, konnte ich das bemerken. Während des Streiks war ich Minister im Bereich der Planung und Entwicklung, ich unterstützte die partizipative Planung und ich war auch Leiter der präsidentialen Kommission für die Transformation des Staates. Ich hatte die Aufgabe, den Staat zu transformieren und die Korruption zu eliminieren, so dass nach dieser politischen Transformation des Staates die beschrie-
bene Partizipation erlaubt sein würde. Deshalb hatte ich viele Feinde, da mich die Korrupten nicht leiden konnten, weil ich eine wirkliche Bedrohung war. Es wurde eine Bewegung ins Leben gerufen und man versuchte nicht, diese Leute rauszuschmeißen, die moralischethisch korrupt waren, sondern eine Struktur zu bilden, die die Korruption durch soziale und partizipative Kontrolle eliminiert. Als ich während des Erdölstreiks den Auftrag hatte, eine Mannschaft für den Informatik-Bereich bei der PDVSA zu bilden, bemerkte ich in vielen Bereichen korruptes Verhalten. Ich habe eine Menge Freunde, die in der freien SoftwareBewegung als Hacker tätig sind. Ich habe über diese Art der solidarischen Produktion von öffentlichen Gütern geschrieben. Daher kennt man mich und ich wurde tatkräftig unterstützt bei der Errichtung der Informatik-Struktur. Als ich in das Innere Einblick hatte, bemerkte ich, dass es viele Seilschaften der PPT gab, Quoten der Macht oder Posten zu erreichen, um an Geldmittel für ihre Partei und deren Mitglieder zu kommen. Und genauso ist es in anderen Organisationen. In den Regierungen und den Bürgermeisterämtern hat man das bemerkt. Das ist ein Charakteristikum von Korruption. Die Korruption bildet die Kultur dieses Landes, in dem man durch das Erdöl schnelles Geld machen kann, quasi ein Erdöleinkommen, das traditionell untereinander aufgeteilt wird. Viele sind mit diesem Lebens-
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stil aufgewachsen und ersetzen nun die alten Eliten, wie AD und COPEI. Dieser Lebensstil hat vieles bestimmt und viele der Leute korrumpiert. Aber auf der anderen Seite gibt es die Menschen, die dieses ändern wollen, weil wir wissen, dass die Revolution sterben würde, wenn es keine Änderung gibt, denn das Ausmaß dieser Korruption würde den revolutionären Prozess vernichten. Die Lösung ist deshalb, dass die Revolution die Partizipation ist. Natürlich haben wir auch Ambitionen, die wirtschaftliche Macht zu Eine Demonstration in Caracas Caracas, Montag, 6. September, gerade in Venezuela angekommen, treffen wir uns um 10 Uhr vormittags mit Ester. Sie ist von der Conexión Social, einem neuen Zusammenschluss von verschiedenen Basisgruppen. Um halbelf soll eine Kundgebung dieses Zusammenschlusses auf der Plaza Caracas, vor der nationalen Wahlbehörde, stattfinden. Wir fahren zusammen hin. Ester kommt aus einem Außenbezirk und kennt sich in der Innenstadt nicht gut aus, so müssen wir uns durchfragen. Als wir am Kundgebungsplatz endlich ankommen, ist weit und breit keine Kundgebung zu sehen. Aber nach und nach erscheinen Leute und nach circa 45 Minuten kann die Veranstaltung beginnen. Schnell stellt sich heraus, dass sich dieser Protest gegen die „ei-
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stärken, die soziale Wirtschaft, die Kooperativen, die die ökonomische Macht haben müssen. Deswegen sprach ich von der administrativen politischen Macht des Volkes, aber diese ist naturwüchsig mit der sozialen Ökonomie verbunden. Auf jeden Fall, ist dies die Hoffnung der Revolution. Also, es gibt gar nicht so viele Widersprüche innerhalb der linken Strömungen, seien es Trotzkisten, Marxisten-Leninisten, Kommunisten, Sozialdemokraten usw. Die ideologischen Widersprüche sind nicht gene Regierung“ und die daran beteiligten Parteien richtet. Während die Anwesenden eine basisdemokratische Aufstellung der Kandidaten für die bevorstehenden Regionalwahlen fordern, bestimmten die Regierungsparteien und der Präsident dies in alter, klassischer Manier. Die Beteiligung an der Kundgebung ist nicht groß: Anfänglich sind es 30 bis 40 Menschen, aber je länger sie dauert umso mehr Leute treffen ein, so dass zum Schluss 60 bis 80 daran teilnehmen. Aber kann eine Kundgebung, an einem Arbeitstag am Vormittag mehr Leute mobilisieren? In den nächsten Tagen und Wochen stellt sich außerdem heraus, dass die Bewohnerinnen und Bewohner der Barrios, also die Basis, relativ selten in die Innenstadt kommen. Es sei denn zur Arbeit oder „der Prozess“ ist in akuter Gefahr. Die Mehrzahl der Beteiligten ist „städtisch“ gekleidet und
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so groß, es gibt eine große Einheit innerhalb von Conexión Social, die das beweist. In der großen Vielfalt der Ideologien der Linken eint uns dieses Ziel. Es gibt eine sehr starke Einheit der Leute, die seit langer Zeit aktiv in der Linken sind, um tatsächlich den revolutionären Prozess zu transformieren, damit die Leute Macht haben, als eine Etappe einer anderen möglichen Entwicklung. Danach werden die Kommunisten Dinge fordern und die Sozialisten andere, aber kurzfristig sind wir vereint im Betreiben der politischen
verwaltungstechnischen Macht des Volkes und der Forderung der sozialen Ökonomie, der Kooperativen. Was eine Art kapitalistischer Produktion ist, in dem Sinn, dass die Kooperativen auf den Markt gehen und sich auch untereinander auf diese Art in Beziehung setzen. Und es gibt die Theorie eines solidarischen Weges, die wie eine „Tripleup-Ökonomie“ funktioniert an Stelle der „Triple-down-Ökonomie“. Sie besteht, kurz gesagt, darin, das Volk wirtschaftlich zu begünstigen, mit Krediten, Häuserbau, Bildung, Ge-
weißer Hautfarbe. Die meisten Rednerinnen und Redner am Megaphon Intellektuelle. Da die Plaza Caracas ein belebter Platz ist, zieht die Versammlung schnell Passanten an, die aber deutlich Abstand halten. Die Reaktionen sind ablehnend bis abwartend. Die Leute versuchen offensichtlich herauszufinden, was das für eine Kundgebung ist und gegen wen sie sich richtet. Es wird eine Resolution verlesen und an Ort und Stelle zur Unterschrift ausgelegt. Währenddessen wird das Megaphon allen weitergereicht, die etwas zu sagen haben bzw. sagen wollen. Obwohl es in Sichtweite eine Polizeistation gibt, scheint die Polizei an dieser Menschenansammlung keinerlei Interesse zu haben. Nach der Kundgebung formiert sich ein Demonstrationszug, der aber nach wenigen Metern wieder zum Stehen kommt: Ein staatlicher Fernsehsender ist erschienen
und interviewt den ehemaligen Minister Felipe Perez an der Spitze des Zuges. Als sich die Demonstration endlich in Bewegung setzt – teilweise den Autoverkehr behindernd, teilweise durch die Fußgängerzone – wieder weit und breit keine Polizei. Das Ziel des Zuges – der Präsidentenpalast – scheint unter Demonstrierenden beliebt zu sein. Als wir dort ankommen, sind schon andere Demonstrationen da, verharren mit ihren selbstgemalten Schildern vor den Toren des Palastes. Es sind keine Oppositionellen, auch sie möchten ihre Kritik an der „eigene Regierung“ dem Präsidenten mitteilen. Als wir uns verabschieden, werden wir von einem Teilnehmer grinsend gefragt, ob wir uns in Europa eine Demonstration bis vor die Tore des Präsidentenpalastes, ohne Behinderung, ohne Bannmeile vorstellen könnten. Auch das wäre ein Ergebnis der Revolution.
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sundheit, sozialer Sicherheit, Produktionsmöglichkeiten und solidarischen Institutionen. Und das kommt dann auch den Unternehmen zu Gute, weil es die Nachfrage nach qualifizierter Arbeit erhöht. Deshalb gibt es im Moment keine großen Differenzen in der Strategie und der Taktik der Organisationen der Linken. Wir sind vereint, dieses zu fördern und nach der sozialen Entwicklung werden wir neue Formen suchen. Im Grunde ist es das, über was nachgedacht wird. Es scheint nicht leicht zu sein, die Leute gegen diese Strukturen zu mobilisieren, die sie so oft gegen die Angriffe der Opposition verteidigt haben? Gibt es Strukturen und Erfahrungen, die diese Aufgabe erleichtern? Das ist eine sehr interessante Frage, weil tatsächlich viele Leute, die sich in die staatlichen Strukturen begeben haben, sich in Feinde der Transformation des Staates verwandelt haben. Dadurch, dass sie sich dort eingerichtet haben, haben sie sich zu Komplizen der Vergeudung und der Korruption gemacht. Viele Leute zeigen in der Praxis, dass sie Feinde der Revolution sind. Und Conexión Social ist eine Organisation mit der Aufgabe der Transformation und nun sehen wir uns mit Sabotage der Leute konfrontiert, die der Prozess in die Bürgermeister- und Regierungsämter gebracht hat. Diese sabotieren unsere Treffen, sie erzählen den Leuten, dass wir Spalter seien, die die Einheit nicht unterstützen. Ihr Argu-
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ment ist, dass die Kandidaten unterstützt werden müssten, da ansonsten die Opposition gewinnen würde. Aber wir sagen, das ist kein Argument. Erstens, weil die Opposition sehr geschwächt ist, zweitens, weil mit einer Einheit von der Basis aus, die Möglichkeit zu gewinnen größer ist, weil es im Moment eine große Unzufriedenheit mit der Führung innerhalb der armen Klassen gibt. Ihre Situation hat sich noch nicht wesentlich verbessert, obwohl es Fortschritte gibt, die aber boykottiert wurden, aber in der neuen Etappe können wir weiter gehen. Nun, diese Unzufriedenheit der einfachen Leute teilen wir. Diese Basis ist die Kraft, die ausbrechen wird. Wir zählen nicht auf eine Parteien-Organisation, um gegen sie zu kämpfen. Wir kämpfen mit der Kraft der Basis, die explosiv ist und die sich Ausdruck verleihen wird. Im ganzen Land kann man Treffen, Versammlungen etc. sehen. Der Präsident bemerkt dies. Wir haben sehr viel Vertrauen in diesen Prozess. Es gibt keine grundlegenden Beispiele, in denen wir gewonnen haben, aber an punktuellen Beispielen, die wie Pilze aus dem Boden schießen, gab es Erfolge, in Vargas, in El Tigre und in anderen Städten. Es gibt eine spontane Bewegung, wir probieren das, was das Mögliche ist, aber man merkt, dass sie in den Vierteln von Caracas unzufrieden sind und dass es sehr harte Diskussionen innerhalb unserer Organisationen gibt. Es geht um Grundsätzliches an Stelle eines Caudillismus’. Wir glauben, dass wir Erfolg haben werden. n
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Nach meinem Geschmack zu militärisch. Interview mit Clemente Scotto Sie kommen aus Strukturen „klassischer“ linker Parteien, die in Venezuela, und vor allem bei den Industriearbeitern und -arbeiterinnen, in den 80er und 90er Jahren eine Basis hatten. Warum spielen Parteien in der Dynamik des revolutionären Prozesses nur eine untergeordnete Rolle? In Venezuela begann sich Ende der 80er die Krise in Bezug auf die politischen Parteien zu manifestieren. Carlos Andrés Pérez wurde zum zweiten mal gewählt, nicht weil er der AD angehörte, sondern weil er sehr charismatisch war. In dieser Zeit gab es eine politische Bewegung weg von den klientelistischen Parteien hin zu charismatischen Führern. Die Wiederwahl von Andrés Pérez war der erste Ausdruck und auch als Caldera zum zweiten mal gewählt wurde, war das nicht wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Partei, sondern vielmehr Ausdruck einer Rebellion gegen die Parteien. Und auch die Wahlen 1998 wurden von charismatischen Personen geprägt. In Irene Saenz drückte sich keine Partei aus, sondern sie war eher eine mediale Gestalt, Salas Römer ebenso und natürlich ist auch Chávez eine charismatische Person. Das hat seine gute Seite, aber darin liegen auch Schwierigkeiten und
Gefahren begründet. Es ist innerhalb des Prozesses offensichtlich, dass bestimmte Sektoren nur wenig eingebunden sind wie beispielsweise die Arbeiter. Hinzukommt, dass die politische Artikulation seitens der Arbeiter relativ wenig organisiert und eher spontan ist. Dieser Zustand trägt dazu bei, dass es schwierig ist, sowohl eine entschlossene soziale Kraft zu formieren, als auch eine feste ideologische Vision. Das gibt einer charismatischen Führung – wie sie Chávez mittels Konferenzen, Fernsehprogrammen etc. ausübt – mehr Freiraum. Auch die linken Parteien haben von den traditionellen Parteien die Strukturen geerbt und haben in diesem Sinne nur deren, auf die Führung fixierte, klientelistische Schemata wiederholt. Die Causa R, der ich angehörte, war zu Beginn ein Versuch, diese Vorstellung von Parteien selbst zu überdenken. Sie sollte eine Partei sein, die Räume für politische Mobilisierung öffnet, sozusagen eine Bewegung der Bewegungen. Aber schließlich wurde auch Causa R ein Opfer der alten, gesellschaftlich dominierenden Vorstellung, wie eine Partei zu funktionieren hat. Meiner Meinung nach gibt es heute keine Partei, in der eine grundlegende Reflektion darüber stattfindet, wie
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Clemente Scotto Ehemaliger Bürgermeister von Caroní und Kandidat für die Bürgermeisterwahlen im Oktober 2004
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die politische Organisierung in Parteien jenseits der traditionellen Vorstellungen aussehen kann. Und das ist eine Schwäche. Ferner haben wir in diesem Prozess offensichtlich eine zivil-militärische Allianz. Diese hat sicherlich ihre Vorzüge, denn um mit dem Establishment zu brechen, dessen Parteien auch über bewaffnete Möglichkeiten verfügten, war dieser feste Zusammenhalt mit den Streitkräften notwendig, da diese über die Legitimierung verfügt, Gewalt anzuwenden. Aber innerhalb der Streitkräfte gab es drei Ansätze. Erstens diejenigen, die sich als Prätorianer fühlten, die im Dienste des Herrschers dienen, daneben gab es diejenigen die das Bild einer professionellen Armee hatten, die den staatlichen Strukturen dienen. Und schließlich noch die Fraktion, die dachte, wenn der Staat der einzige Herr ist, den die Streitkräfte akzeptieren, dann müssen wir uns den Staat aneignen, damit er nicht als Herr auftreten kann. Diese unterschiedlichen Positionen gab und gibt es im Militär – zu einem bestimmten Zeitpunkt haben sich die beiden letzteren angenähert. Deshalb gibt es viele Militärs, die ihre Einbindung in zivile Einrichtungen des Staates als Möglichkeit sehen, diesen ihren Vorstellungen unterzuordnen. Das klingt nicht gerade optimistisch. Um nicht missverstanden zu werden: Glücklicherweise ist Chávez im Amt geblieben. Er hat auch viele Dinge vorangebracht. Aber man muss in
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diesem Zusammenhang sagen, dass der Prozess sehr verletzlich ist, da er immer noch zu sehr von einer einzigen Person abhängt. Klar gibt es Gruppen, die Vorschläge erarbeiten und den Präsidenten bei seinem Diskurs unterstützen, natürlich kommen dessen Vorschläge nicht von einer göttlichen Vorsehung. Aber trotzdem hat dieser Prozess immer noch große Schwächen und große Widersprüche. Inwieweit sehen Sie in neuen Strukturen wie den „Bolivarianischen Zirkeln“ ein neues Modell für linke Organisierung? Der Präsident hat bei verschiedenen Anlässen versucht, die politische Führung zu verbreitern. Trotzdem ist meine Wahrnehmung, dass die Strukturen immer noch sehr hierarchisch und nach meinem Geschmack zu militärisch sind. Beispielsweise waren die „Bolivarianischen Zirkel“ eine schöne Basisorganisation, aber die vertikale Kontrolle, die von einigen Leuten aus dem Präsidentenpalast ausgeübt wurde, raubte ihnen schließlich die Frische, mit der an bestimmte Diskussionen und Aktionen heran gegangen wurde. Auch stehen die Misiones für eine sehr interessante Entwicklung und ich glaube, dass sie in die richtige Richtung weisen. Aber auch hier führt die vielerorts durchaus positiv gesehene Präsenz des Militärs oftmals dazu, vertikale Befehlsstrukturen zu reproduzieren. Schließlich gibt es noch die Organisationsform, die sich in den letzten zwei, drei Monaten im Zusam-
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menhang mit dem Referendum entwickelt hat: die UBEs und die sogenannte „Patrouillen“, die eine aktive Organisierung der Menschen zum Ziel haben, um Diskussion und den Austausch zu fördern. In dieser Struktur gibt es sehr viel Potential für die Entwicklung neuer Organisationsformen, aber es gibt noch viel zu tun, denn auch hier besteht das Problem einer Abhängigkeit von hierarchischen Strukturen. Aber auch wenn noch viel zu tun ist, ist das Schöne an dem Ganzen, dass es sich um einen Prozess handelt – mit all‘ seinen Risiken. Der bolivarianische Prozess ist in erster Linie ein schöpferischer und der eingeschlagene Weg bietet viele Freiheiten. Es ist ein Prozess ausgehend von der formalen Demokratie und dem Impuls der realen Demokratie, der viele Widersprüche erzeugt und sicherlich die Saat gelegt hat für einen Diskurs, der hilft, das politische Bewusstsein zu schärfen. Mir erscheint der Weg sehr interessant, der mit den Misiones eingeschlagen wurde, und der jetzt auch auf der UN-Konferenz gegen die Armut Beachtung findet. Der Weg, der, um die Armut zu bekämpfen, den Armen mehr Macht gibt. Dieser Ansatz beinhaltet viele positive Perspektiven. n
Movimiento de Bases Populares (MBP) – Offener Brief an unseren Präsidenten und an die Bevölkerung (Auszüge) Mit diesem Brief wollen wir unsere Besorgnis als Volksbewegung und als revolutionäre Protagonisten des laufenden Prozesses in unserem Land öffentlich zum Ausdruck bringen. Sowohl am 13. April1 als auch während des Erdölstreiks war es die einfache, arme und marginalisierte Bevölkerung, die die Fahnen der Würde und der Rebellion aufnahm. Und es ist diese Bevölkerung, die seit langem die Konkretisierung der Versprechen einfordert: Die Vertiefung der Revolution, die tatsächliche Übergabe der Macht an das souveräne und organisierte Volk. Es reicht mit Bürokratie und Reformismus. Der Reformismus hat sich mit der kreolischen Bourgeoisie verbündet. Er handelt mit ihr vorteilhafte Bedingungen für ihre Reproduktion als soziale Klasse aus. Compañero Presidente, der Dialog muss mit der armen Bevölkerung geführt werden2. FEDECAMERAS und die Sek-
1 Tag der Niederlage des Putsches 2002 2 Anspielung an den von Hugo Chávez eingeleiteten Dialog mit dem Unternehmerlager
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toren, die geputscht haben, verweigerten der einfachen aber mutigen Bevölkerung – die Sie, Comandante unterstützt für die Hoffnung und den Traum von einer besseren Zukunft – Lebensmittel, Benzin und Gas. Sie versuchten, den Terror zu säen. Der Dialog muss mit der Basis stattfinden, mit dem Teil der Bevölkerung, der acht mal die Wahlen gewonnen hat, der sich in der UBE und den Patrouillen organisierte, der am 15. August bis morgens um drei Uhr zum Wählen ging, der die Toten zu beklagen hat. Wir teilen Ihnen unsere große Besorgnis mit angesichts dieser neuen Öffnung der Regierung, die sich für die Aussöhnung der Klassen entscheidet – die wirklichen Protagonisten der Siege werden nicht zum Dialog aufgerufen, sie werden nicht eingeladen, um ihre Vorschläge zu hören, man setzt umstandslos voraus, dass sie durch die Regierung vertreten sind, es wird in ihrem Namen gesprochen aber sie werden nicht eingeladen, damit sie für sich selbst sprchen, ohne Vermittler. Compañero Presidente, das bringt uns in der Vertiefung der Revolution nicht weiter ... es bringt uns auf einen Weg der Versöhnung und des Verrats. Man legt drei Billionen (1,5 Mrd. US$) auf der privaten Bank des putschistischen Sektors an, der die Banken während des „Streiks“ schloss und die Contra finanzierte und es wird nicht die Banca Social gestärkt. Es wer-
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den nicht die mit betrügerischem Bankrott geschlossenen Firmen enteignet, die den Arbeitern übergeben werden sollten. Wenn der Dialog kein klares Ziel hat, dann wird er nur dazu dienen, Zeit zu gewinnen, aber der offene Konflikt mit der Konterrevolution wird sich dadurch nur verlängern. Wir hoffen nicht, dass es zu spät ist, um die Revolution der Hoffnungen zu konkretisieren. Die Geduld des Volkes hat ihre Grenzen und die sozialen Revolutionen warten nicht auf ihre Anführer. Compañero Presidente, wir schicken Ihnen unsere Besorgnis, wir versichern Ihnen unsere Loyalität aber wir sagen Ihnen auch, wir, diejenigen ohne Stimme, diejenigen ohne Gesicht, wir sind nicht bereit, mit verschränkten Armen darauf zu warten, dass man unsere Hoffnungen, unsere Zukunft oder unsere Würde verhandelt oder sie uns entreißt.
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Wie es bisher gelaufen ist, kann es nicht weitergehen. Interview mit Roland Denis und Antonia Cipollone Wie würdet ihr die offensichtlichen Widersprüche zwischen den linken Parteien und den Basisgruppen charakterisieren. Was ist die Beziehung zwischen diesen Gruppen des bolivarianischen Prozesses? ROLAND DENIS: Es sind sehr schwierige Beziehungen. Weil die Geschichte sehr unterschiedlich ist. Die Parteien sind die Parteibasis, die die Regierung unterstützen. Einige entstanden unmittelbar vor den Wahlen 1998, sie bildeten sozusagen eine Wahlfront bei der Kandidatur von Hugo Chávez. Andere entstanden schon früher, aus einer Linken, die aber eher eine zurückhaltende Rolle bei den Konflikten spielte, die es im Land gab. Nachdem Hugo Chávez die Wahlen gewann, bildete sich sofort eine Front der Parteien, die es ihnen ermöglichte, Leute in die Regierung zu schicken und anzufangen, das Land zu regieren. Aber diese Parteienfront zeigte wenig Aktivität bezüglich der Transformation des Landes. Diese Parteien verwandelten sich in politische Instrumente, die sehr den alten politischen Parteien ähneln, die aus dem alten System hervorgingen, d.h. klientelistische Parteien,
deren Rolle in der Regierung, die einer bürokratischen Maschine ist. Um ein Beispiel zu nennen: Diese politischen Parteien sind nicht in der Lage, eine eindeutige Position bezüglich sehr wichtiger internationaler Probleme zu formulieren, zu denen aber jede linke Organisation Position beziehen müsste. Beispielsweise zum „kolumbianischen Problem“. Dazu haben diese Organisationen nie ihre Meinung geäußert, obwohl dort eine Diktatur herrscht, die momentan schlimmer ist als die von Pinochet. Und im Rahmen des revolutionären Prozesses haben sie immer versucht, die Volksbewegungen zu kontrollieren und haben eine Wand gebildet, die verhindern sollte, dass diese Bewegungen an die tatsächlichen Machtpositionen kommen und die verfassungsmäßige Kontrolle ausüben können. Ich will nicht sagen, dass es innerhalb der MVR keine guten Leute gibt, es gibt dort sehr gute Aktivisten, aber das sind nur kleine Gruppen. Demgegenüber haben die sozialen Bewegungen ein anderes Ziel. Die Situation hier ist nicht wie in Brasilien, wo es zu einem
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Roland Denis
Antonia Cipollone 13 de Abril
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bestimmten Zeitpunkt mit der PT eine Partei gab, die in den sozialen Kämpfen integriert war. Sondern die Bewegungen haben sich seit Anfang der 80er Jahre von den linken Parteien gelöst. Daher haben sich die Bewegungen als verstreute autonome Kollektive vor allem in den Barrios gebildet, aber auch in der Arbeiterbewegung, der Bauernbewegung, der Studentenbewegung. Und so hat sich ein Raum des Widerstands in diesem Land gebildet, der unabhängig von den Parteien ist. In den 90er Jahren haben nach schwierigen Diskussionen fast alle dieser Bewegungen beschlossen, die Kandidatur von Chávez und sein Programm zu unterstützen, vor allem das Verfassungsprinzip. Sie haben sich in den Prozess auf die Weise eingegliedert, dass sie ihn in der Gesellschaft, im Alltag umsetzten. Im Verlauf dieser fünf Jahre haben sich diese Bewegungen sehr stark entwickelt, sie sind um Tausende und Abertausende gewachsen. Es sind Landkomitees entstanden, die Bolivarianischen Zirkel, kulturelle Netzwerke, Bildungsnetze. Bis zu dem Stand, auf dem wir uns jetzt befinden, der zu Konfrontationen der Kräfte zwischen der Basis der sozialen Bewegungen und den politischen Parteien, als klientelistische Strukturen und Bürokratie, geführt hat. Ich würde dazu auch sagen, dass das Schicksal der Revolution davon abhängt, wie das ausgeht – nach dem Triumph im Referendum, der ein Katalysator für die Ausbreitung
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der Volksorganisationen war und die Mobilisierung von Tausenden bedeutete. Seitens linker Organisationen – die in der Regierung sind – existiert das Bestreben, den revolutionären Fortgang des Prozesses durch die Regierung zu neutralisieren; dass sie mehr zu einer Regierung der Verhandlungen wird – Verhandlungen mit den dominanten Sektoren der Gesellschaft einschließlich der Vereinigten Staaten. Gleichzeitig versuchen die Volksbewegungen, die immense Macht und die Siege der letzten drei Jahre auszunutzen und auf ihrer Basis die neue Gesellschaft zu errichten. Ein konkretes Thema zur Zeit ist das Problem der Kandidaten. Die Leute, allgemein die Bewegungen, sind unzufrieden mit den aufgedrückten Kandidaturen für die Bürgermeister und Gouverneure, weil das inkompetente und unfähige Leute für diese Ämter sind. Insofern sind wir in politischer Hinsicht kein Stück weitergekommen. Und das ist wirklich ein fundamentaler Widerspruch, wenn es darum geht, dass das Motto „Alle Macht dem Volk“ eingehalten werden soll. Das sehen wir beispielsweise beim Bürgermeister hier von Libertador (Caracas). Und die Position, die der Präsident Hugo Chávez hier einnimmt, ist sehr widersprüchlich. Andererseits hat er ganz wichtige Ziele, ganz wichtige Leitlinien vorgeschlagen, beispielsweise die Bewaffnung der Bevölkerung, die Entwicklung von Basisgruppen während der Kampagne gegen das Referendum und das Motto der „Revo-
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lution in der Revolution“. Diese Leitlinien, die der Präsident vorgeschlagen hat, beinhalten eine tiefgreifende Änderung innerhalb der Machtbeziehungen. Welche Rolle spielt Hugo Chávez? Ist er der Kulminationspunkt all‘ dieser Widersprüche? Ist er der einzige, der die Einheit aufrecht erhalten kann? ANTONIA CIPOLLONE: Im Moment haben wir noch nicht den lateinamerikanischen Weg des Caudillismo verlassen. Und vielleicht ist im Augenblick Chávez der, der eine gewisse Einheit aufrecht erhalten kann. Und viele Leute sind davon begeistert. Ich denke, in Lateinamerika, in ganz Lateinamerika, existiert diese Figur des Caudillo und wir befinden uns nach wie vor auf der Suche. Obwohl Chávez Militär war und ich als Anarchistin nie mit einem Militär reden würde, schafft er es, Leute zusammen zu bringen, die vorher nicht miteinander geredet haben. Und es ist richtig, dass Chávez viele Sachen vorgegeben hat, Sachen in die richtige Richtung gebracht hat. Aber darin liegt auch die Gefahr, dass – wenn er umschwenkt – auch Köpfe rollen können. Die Leute auf der Straße sehen in Chávez die einzige Möglichkeit, diesen Prozess weiterzuführen. Es ist aber wichtig, die Revolution in der Revolution voranzubringen, weil so, wie es bislang gelaufen ist, kann es nicht weitergehen. Es sind zu viele Leute in dem Prozess, die nur wegen der Sicherung ihres eigenen Pöstchens mitmachen, weil sie davon profitie-
ren aber mit einem revolutionären Prozess nichts zu tun haben. Es fiel öfter der Begriff der „Revolution in der Revolution“. Wie würdest Du bislang die Erfolge einschätzen? Waren das mehr politische Erfolge oder mehr soziale, durch die sich die ökonomische Situation der Leute verbessert hat? Oder ist es hauptsächlich die Hoffnung auf Verbesserung? ANTONIA CIPOLLONE: Es ist irgendwie das Alles. Der Prozess in Venezuela ist sehr komplex, denn er ist ja fähig, alle möglichen verschiedenen Sektoren zu vereinen. Und man kann schon sagen, dass es einige soziale Zuwendungen gibt für die Leute, die das benötigen. Und was wirklich mit Chávez eingetreten ist, ist dass er ihnen eine Stimme gegeben hat. Er hat denjenigen Sektoren ein Persönlichkeit gegeben, die vorher immer komplett ignoriert wurden, die eigentlich nicht existierten. Und die Höhe ist ja, dass das der größte Teil der Bevölkerung ist. Das Niveau der Armut ist in Venezuela sehr ausgeprägt. Und ein Problem ist, dass die anderen Schichten behaupten, dass die Armut nicht existiert. ROLAND DENIS: Es gibt einige Punkte, bei denen die Regierung anfangen konnte, die Basis zu entwickeln und Auswege aus der extremen Armut aufzuzeigen. Vor allem in den Bereichen der Gesundheit und der Ernährung. Aber die soziale Situation in Venezuela ist nicht besser aber auch nicht schlechter geworden. Venezuela ist weiterhin ein
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Land, das vom Ölmarkt abhängt. Und dieser Ölmarkt schafft Reichtümer, die monopolisiert sind. Dieser akkumulierte Reichtum bleibt aber in den Märkten hängen und nicht in den Barrios. Die Arbeitslosenrate beträgt im Moment 15 % und die generelle Situation der Comunidades ist furchtbar, was die Armut betrifft. Und es gibt andere Mittel, die entwickelt wurden, wie z.B. einige Gesetze, das Landgesetz, das Fischereigesetz. Und gerade der Fall des Fischereigesetzes ist sehr interessant, denn es verbot den großen Fangflotten in Küstennähe zu fischen. Hier durften nur noch die Kleinfischer fischen. Aber die großen Flotten haben wieder angefangen, dort zu fischen und so die Kleinfischer zu ruinieren. Dies ist eine total illegale Aktion, findet aber vor den Augen der Guardia Nacional mit Hilfe von Bestechung statt. Genauso läuft es mit dem Landgesetz. Bis jetzt wurden etwa zwei Millionen Hektar Land verteilt, es wurde wirklich viel Land verteilt. Aber dadurch, dass die Bauern keine Kredite bekommen, haben sie kein Saatgut und kein Werkzeug. Ihnen nur das Land zu geben, ohne die Werkzeuge zur Bebauung ist nicht genug. Läuft das also so ähnlich ab, wie die Landreform, die in den 60er Jahren durchgeführt wurde? ROLAND DENIS: Es könnte auf das Gleiche hinauslaufen. Außer, dass heute die Bauern kein Recht haben, das Land zu verkaufen, das ihnen übergeben wurde. Das garantiert
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zumindest, dass das Land nicht verkauft wird. Aber die ganze finanzielle Struktur funktioniert nicht für die Kleinbauern, das funktioniert nicht für den neuen Landwirt. Die rechte Opposition ist im Moment geschwächt. Im Fall der Gouverneurs- und Regionalwahlen hat sie ihre Einheit verloren. Was bedeutet diese Schwächung der Opposition für den revolutionären Prozess? Ist das ein Vorteil oder ist das eher ein Nachteil in dem Sinne, dass einige Leute der MAS oder der AD oder einige der Unternehmer sich in den politischen Prozess der linken Parteien integrieren wollen? Oder in dem Sinne, dass sich neue parteipolitische Bündnisse bilden? Existiert so eine Gefahr? ROLAND DENIS: Klar. Es gibt ja schon jetzt innerhalb der Ministerien solche Tendenzen. Beispielsweise der Planungsminister ist jemand, der genau dieses vorantreibt, mit einer Perspektive einer sozialdemokratischen Regierung. Aber in Venezuela herrschen aktuell nicht die Bedingungen, eine sozialdemokratische Regierung zu installieren. Wir haben gelesen, dass einige der Basisgruppen andere Formen der Vernetzung suchen, die wesentlich fester und enger sein sollten, als bisher. Ein bisschen mehr in der Form einer Partei oder zumindest als Avantgarde. Gibt es diese Tendenzen? Und ist es nötig, andere Formen der Organisierung zu suchen? ROLAND DENIS: Aus der Strömung aus der ich komme, haben sich zwei
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Gruppen gebildet, Nuestra América und 13 de Abril, mit dem Ziel sich auszubreiten und ein viel engeres Netz zu spannen. Und die sollen zu zwei Sachen fähig sein: Alternative, sozial funktionierende Gemeinschaften aufzubauen und Verteidigungsgemeinschaften zu bilden, was eine Bewaffnung mit einschließt. Andere haben auch probiert, Organisationen aufzubauen, Basisorganisationen, die eine sehr wichtige Arbeit auf dem Land machen, vor allem im Osten. Die wollen wir zusammenbringen aber nicht als Partei, wir haben mit Wahlen nichts zu tun. Sondern um eine Volksmacht zu bilden. Mehr fragend und mit der Fähigkeit, die Integration der eigenen Kräfte zu erhöhen. In Venezuela gab es keine Volksbewegungen, bzw. sie waren nicht sehr verbreitet. Jetzt sind wir schon eine ganze Menge, wir sind aber nicht vernetzt. Es geht also darum, uns zusammenzubringen. Bei diesen Bemühungen, die unterschiedlichen Bewegungen zusammenzubringen, was sind die verbindenden Punkte? Was sind die ideologischen Gemeinsamkeiten? ROLAND DENIS: Als erstes gilt es, den Prozess zu verteidigen. Es ist eine demokratische, lateinamerikanische Verteidigung, was den Prozess im allgemeinen inspiriert. Es ist ein Prozess jenseits von Chávez, jenseits der Regierung, ein kollektives Werk. In diesem Sinn denke ich, dass alle Bewegungen das unterstützen. Es gibt aber Bewegungen, die viel zu eng sind, die es nicht er-
lauben, Kräfte zu bündeln und sie tatsächlich in eine Kriegsmaschine zu verwandeln. Auf der anderen Seite gibt es Probleme mit der Volksmacht. In diesem Sinn probieren wir zur Zeit, Kräfte zu artikulieren, alle uns zur Verfügung stehenden Kräfte, um einen landesweiten Kongress durchzuführen. Einen Kongress von Abgesandten, Räten, der die Rolle der Gegenmacht im Land spielen soll. Wie solle es weitergehen mit dem Prozess? Befürchtet ihr nicht einen Angriff von Außen, wenn sich der Prozess radikalisiert? ANTONIA CIPOLLONE: Wir glauben, dass das eine Frage der Macht ist. Wenn die Leute endlich merken, dass sie die Macht haben und die Macht nicht irgendwo da oben ist, dann wird Chávez auch nicht mehr nötig sein. Wir dürfen nicht die gleichen Strukturen aufrecht erhalten, denn dann würden wir die gleichen Fehler wie immer machen. Im internationalen Kontext: Wir sind ein erdölproduzierendes Land, was viele Verwicklungen mit sich bringt. Das hat Vorteile aber auch Nachteile, es ist wie bei Mephisto. Denkt ihr, dass es in Venezuela möglich wäre, ein anderes Wirtschaftssystem als ein kapitalistisches zu installieren? ANTONIA CIPOLLONE: Es ist möglich, ohne Kapitalismus zu leben. Es ist eine ökonomische Frage. ROLAND DENIS: In Venezuela innerhalb der eigenen Grenzen könnten wir eine Art Sozialismus in nur ei-
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nem Land aufbauen. Aber das würde einen totalitären Staat beinhalten. Die einzige Art, einen Sozialismus aufzubauen, wäre auf Grundlage libertärer Ideen und bedürfte der Ausdehnung des Prozesses weit über die Grenzen von Venezuela hinaus. Im Moment, im Zentrum von Südamerika, Peru, Bolivien, einem Teil von Ecuador, gibt es sehr wichtige Bewegungen. Das sind für uns Bezugspunkte. Der venezolanische Prozess hängt von der lateinamerikanischen Rebellion ab. Du trägst ein T-Shirt der brasilianischen Bewegung Sem Terra. Besteht ein politischer Austausch zwischen den Basisbewegungen hier und anderen lateinamerikanischen Ländern? ROLAND DENIS: Mit Sem Terra besteht ein Austausch. Aber die Beziehungen allgemein beschränken sich hauptsächlich auf den Bereich der Campesinos. Viele Organisationen der Landarbeiter fahren nach Brasilien und auch umgekehrt. Es wurden dort Schulen der Sem Terras gegründet. Aber dieser Austausch wurde durch die brasilianische Seite sehr behindert. Ich war in Porto Alegre und habe dort die Dynamik der brasilianischen Bewegungen studiert. Das Problem ist, dass in Brasilien eine fürchterliche Debatte existiert, weil Lula nichts weitergebracht hat, absolut nichts. Ganz im Gegenteil. Zum Beispiel werden die kommunitären, die freien Radios, die es in Brasilien gibt, verfolgt. Und das ist eine sehr starke Bewegung in Brasilien.
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Die Regierung hat Brasiliens Übertragungs-Satelliten verkauft, also privatisiert und nun ist es für die freien Radios nicht mehr möglich, Satelliten-Übertragungen zu bekommen. Und es gibt auch Fraktionen der Linken, der PT, die diese verlassen haben und eine eigene Organisation gegründet haben. Hier herrscht der Kapitalismus, das ist offensichtlich. Du sagtest, dass ein libertärer Sozialismus nur in lateinamerikanischer Perspektive möglich sei. Aber was sind die aktuellen Vorschläge für Venezuela? Es gibt sowohl die sozialen Bewegungen aber auch tiefe soziale Widersprüche in diesem Land. Gibt es ein ökonomisches Modell für die bolivarianische Revolution? Beispielsweise ein „gemischtes Modell“, wie es in Nicaragua während der Zeit des Sandinsmus‘ versucht wurde. Nicht, um die sozialen Widersprüche zu lösen, sondern um sie zu verringern, in dem Spielraum, den die Entwicklung in einem einzigen Land erlaubt. ROLAND DENIS: Die einzige Alternative, die der Staat gerade kreiert hat und entwickelt, sind die Entwicklungs-Kerne, das heißt, selbstverwaltete Formen der Produktion zu entwickeln. Diese helfen nicht nur dem Staat, sondern der Staat hat Mechanismen, ihre Produkte zu verteilen, die ihnen helfen, sich zu entwickeln. Wie z.B. im Lebensmittelbereich, im Verhältnis der selbstbestimmten Produktion im Agrarbereich und dem Markt, der innerhalb der Mercál-Läden ab-
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läuft. Das ist ein Eigenmarkt des Staates. Grundsätzlich ist das die Entdeckung, die im Moment nach vorne weist, eine öffentliche Entwicklung, im Bankensektor, in der Güterverteilung. Und auf der anderen Seite sind es die selbstverwaltete Ökonomie, die die Entwicklung alternativer Technologien fördert, wie z.B. Methoden der Aussaat, Methoden der Arbeitsorganisation. Trotzdem bildet das Märkte, bildet das ein Verhältnis von Waren. Aber das Ganze kann ein Schritt vorwärts sein in eine sozialere Ökonomie. Die Bedrohung gegen den Prozess wurde durch den Putsch deutlich. Aus unserer Sicht war dieser wenig professionell organisiert, verglichen mit dem Putsch 1973 in Chile. Ist nicht zu befürchten, dass beim nächsten Putschversuch dieser wesentlich grausamer ablaufen wird? ROLAND DENIS: Nein, nein, das war ein perfekter Putsch. Er hat perfekt funktioniert. Heute fehlt ihnen die Basis, um so etwas machen zu können. Aber der Putsch war perfekt. Es gab eine Demo, eine beeindruckende, gigantische Demo von ganz Ostcaracas, der Mittelklasse, die sich selbst organisiert hatte, das waren 500.000 Leute. Der Putsch bediente sich sowohl der Medien, als auch sozialer und militärischer Elemente, in einer dreiteiligen Kombination, die perfekt war, um die Regierung zu stürzen. Aber die Regierung wollte nicht gehen. Die Putschisten glaubten an ihre Macht und deklarierten ihren Sieg. Ein erneuter Staatsstreich wie dieser wäre
sehr schwierig zu machen. Was im Moment existiert ist ein Anwachsen der Gewalt, was uns natürlich in härtere Konfrontationen bringen kann, auch innerhalb der Armee. Aber so einen Putsch zu wiederholen, einen trockenen Putsch, das ist unmöglich, weil der Großteil der Leute darauf vorbereitet wäre. Wenn der Prozess in Venezuela weiter voranschreitet, mit mit einer großen Mobilisierung der Basis, kann es sein, dass sich dieser Prozess in ein Symbol, ein Ideal verwandelt für andere Länder Lateinamerikas und für die sozialen Bewegungen? Wie das in anderen Zeiten Nicaragua oder Cuba waren. Würde dann nicht die Gefahr eines Putsches von Außen, von den Imperialisten bestehen? Ist diese Bedrohung real? ROLAND DENIS: Nein, im Moment nicht. Wenn das weitergeht, möglicherweise. Im Moment gibt es die Bedingungen nicht. Die Vereinigten Staaten haben diese Voraussetzungen nicht, um das zu tun. Der imperiale Putsch wird ausgeheckt und geplant im Zuge des Plan Colombia. Der Plan Colombia ist eine militärische Intervention in Kolumbien, aber die Militärbasen werden immer mehr an den Grenzen zu Venezuela installiert. Da könnte man den Eindruck bekommen, dass das zur Unterstützung der Paramilitärs geschieht. Ein Großteil der venezolanischen Grenze wird von Paramilitärs kontrolliert. Ist das eine Art Aufbau einer Contra? Ist das deren Option?
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ROLAND DENIS: Die Contra gibt es schon, bis jetzt sind etwa 300 führende Personen der BauernBewegung im Grenzgebiet umgebracht worden. Das ist die Art, wie sie agiert. Aber das ist nicht genügend, um dem Prozess einen vernichtenden Schlag zu versetzen. Sie würden dazu eine wesentlich bessere Leitung benötigen, aber das kann man noch nicht klar sehen. Ihr habt gesagt, dass es notwendig sei, eine Revolution in der Revolution zu machen. Logischerweise sind die Basisbewegungen die Protagonistinnen dieses Prozesses. Für uns ist es schwer vorstellbar, dass diese Bewegungen eine so lange Zeit durchhalten. Gibt es Wellen in diesem Prozess? Wie ist die aktuelle Situation? ROLAND DENIS: Man muss diese Volksmacht ausweiten. Und man muss sie über drei fundamentale Wege ausweiten: Erstens ist das die Organisierung des Kongresses, zweitens geht es darum, verschiedene juristische Klagen zu führen, bspw. bzgl. der Zentralbank, des Wahlregisters, es gibt eine Menge dieser Anzeigen. Und auf der anderen Seite die Volkskämpfe. Die Leute müssen sich die grauen Haare ausreißen und deutlich reden. In den letzten drei Jahren haben sie nicht klar das gesagt, was sie zu sagen hatten, wegen der Erpressung durch die Opposition, durch die Oligarchie. Und dadurch, dass es die Contra gibt, musste man bestimmte Bereiche in Schutz neh-
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men und konnte bestimmte innerlinke Debatten nicht führen. Dieser Zyklus muss darin münden, dass die Möglichkeit des Volkskampfes fortschreitet. Wie organisierst Du dich? Welchen Organisationen gehörst Du an? ANTONIA CIPOLLONE: In der Gruppe 13 de Abril sind wir in Netzwerken organisiert, die sich mit nachbarschaftlichen Problemen beschäftigen. Die Leute werden sich immer mehr darüber bewusst, dass sie es sind und nicht die da oben, die die Macht haben. Und wir haben da schon eine Menge Erfahrungen, denn wir sind schon lange in Netzwerken organisiert. Und es gibt Bewegung von Unten, die funktioniert. Im Moment spielt es keine Rolle, ob wir Kommunisten, Anarchisten oder Sozialdemokraten sind. Wenn man mit den Leuten in den Barrios zusammenarbeitet, herrscht dort eine Pluralität, die solche Zuschreibungen nebensächlich werden lässt. Es geht darum, gemeinsame Lösungen, gemeinsame Positionen zu finden und alle haben dort eine Stimme. Und wir sind dort nicht als Vertreter einer Ideologie sondern als Teil der Versammlungen. Die Prozesse sind wesentlich komplexer. Es herrscht dort eine große Diversität, die ganze Welt ist dort. Und das kann man nicht negieren, das ist ein Wert an sich, dass sich die Leute zusammensetzen und das ist wichtiger als die verschiedenen politischen Selbstpositionierungen. n
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Einige weiterführende Informationsmöglichkeiten zur „Bolivarianischen Revolution“ Literatur Scheer, André, Kampf um Venezuela - Hugo Chávez und die bolivarianische Revolution, Essen 2004. Wagenknecht, Sarah (Hg.), Aló Presidente – Hugo Chávez und Venezuelas Zukunft, Berlin 2004. Zelik, Raul/Bitter, Sabine/Weber, Helmut, Made in Venezuela – Notizen zur „Bolivarianischen Revolution“, Berlin/Hamburg/ Götttingen 2004.
Internet venezolanische Webseiten www.mediosbolivarianos.org (span.) www.gobiernoenlinea.ve (span.) www.red.voltaire.net/question.html (span.) www.pr.indymedia.org/features/venezuela (span./engl.) www.aporrea.org (span.) www.el23.net (span.) www.venezuealanalisis.com (engl.) www.alia2.net (span.) Webseiten deutscher Solidaritätsgruppen www.netzwerk-venezuela.de www.venezuela-avanza.de Webseiten deutscher internationalistischer Zeitschriften www.ila-bonn.de www.iz3w.org www.lateinamerikanachrichten.de
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Filme The revolution will not be televised Directed and photoraphed by Kim Bartles and Donnacha O´Brian Ireland, 2003, 74 Minuten. weitere Informationen: www.chavezthefilm.com Venezuela von unten Konzept, Interviews, Schnitt, Realisation: Dario Azzellini & Oliver Ressler, 67 Min., 2004 Eine DVD mit drei Versionen (Span. Original, mit deutschen UT, mit engl. UT) kostet inklusive Verschickung und mit Rechnung 35,- Euro. Dario Azzellini, c/o metrogap, Lausitzer Str. 10, 10999 Berlin, Germany. venezuela subterranea Juan Carlos Echeandia, 60 Minuten, Venezuela, 2001, Spanisch mit engl. UT, Beta SP. Venezuela – ein anderer Weg ist möglich von Elisabetta Andreoli, Gabriele Muzio und Max Pugh, 80 Minuten Der Film kann bestellt werden über Kanal B, Reichenbergerstrasse 121, 10999 Berlin, Tel.: 030/ 61626999 Barrios der Revolution Kanal B-Video über die bolivarianische Basis von Präsident Hugo Chávez weitere Informationen: www.kanalb.de
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Glossar 23 de Enero (23. Januar). Eines der größten Barrios von Caracas, benannt nach dem Tag des Sturzes der Jiménez-Diktatur 1958. AD Acción Democrática (Demokratische Aktion). Sozialdemokratische Partei, die zusammen mit COPEI zwischen 1959 und 1998 praktisch alle staatlichen Sektoren Venezuelas kontrollierte. ALCA Área de Libre Comercio para las Américas (Freihandelszone für die Amerikas). Geplantes Freihandelsabkommen zwischen fast allen Staaten Lateinamerikas. Aló Presidente (Hallo Präsident) Sonntägliche Fernsehsendung, die Hugo Chávez zur Präsentation der Regierungspolitik und zur Kommentierung tagespolitischer Ereignisse nutzt. Barrio Mehrfachbedeutung: Stadtteil, Armenviertel, Teile von Stadtvierteln, Nachbarschaft. Wir haben in den Interviews größtenteils den spanischen Ausdruck beibehalten. Barrio Adentro (Ins Viertel hinein). Misión zur medizinischen Grundversorgung in marginalisierten Gebieten.
Bolivares Venezolanische Währung. Ein Euro entspricht etwa 2.300 Bolivares. Caudillos Lokale Führer. Ursprünglich stammt der Begriff aus den Zeiten des Bürgerkrieges im 19. Jahrhundert. Bezeichnet in der Gegenwart charismatisch-populistische Politiker. Causa R Linkssozialdemokratische Partei, die während der 80er und 90er Jahre starken Einfluss hatte und unter anderem zeitweise den Bürgermeister von Caracas und Caroní stellte. Ende der 90er Jahre nach inneren Differenzen zerfallen und heute nahezu bedeutungslos. Teil der Opposition. Compañero Mitstreiter, Kollege, Genosse Comunidad Mehrfachbedeutung: Gemeinschaft, Gemeinde, kulturelle „Comunity“, Nachbarschaft. Wir haben in den Interviews größtenteils den spanischen Ausdruck beibehalten. COPEI Comité de Organización Política Electoral Independiente (Unabhängiges wahlpolitisches Organisationskomitee). Christdemokratische Partei, die zusammen mit AD zwischen 1959 und 1998 praktisch alle staatlichen
Sektoren Venezuelas kontrollierte. CTV Confederación de Trabajadores de Venezuela (Zusammenschluss der Arbeiter Venezuelas). Bis 2003 einziger Gewerkschaftsdachverband, politisch eng an die AD angebunden. CVG Corporación Venezolana de Guayana. Staatlicher Schwerindustrieverbund im Bundesstaat Bolívar. FAO UN-Welternährungsorganisation FBT Fuerza Bolivariana de Trabajadores (Bolivarianische Kraft der Arbeiter). Zusammenschluss regierungsnaher Gewerkschaften. FEDECAMERAS Federación de Cámeras de Comercio (Förderation der Handelskammern). Unternehmerverband, wichtige Kraft der Opposition. Finca Landgut Guardia Nacional Staatspolizei, untersteht dem Präsidenten ILO International Labour Organisation. UN-Sonderorganisation für Arbeitsbeziehungen.
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Kreolen Nachkommen der spanischen Kolonialistinnen und Kolonialisten MAS Movimiento al Socialismo (Bewegung zum Sozialismus). Anfang der 70er Jahre aus Gewerkschafts- und KP-Strukturen hervorgegangen und bis in die 90er Jahre hinein eine der einflussreichsten linken Organisationen Venezuelas. Unterstütze anfangs die Regierung Chávez, schloss sich später der Opposition an, was zur Spaltung der MAS und zur Gründung von Podemos führte. MBP Movimiento de Bases Populares. Zusammenschluss verschiedener linker Basisorganisationen. Mercál Misión, in dessen Rahmen Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs in speziellen Läden in den Barrios und anderen marginalisierten Gebieten vertrieben werden. Misiones Staatliche Kampagnen und Programme vor allem im Sozialbereich. Wir haben den spanischen Ausdruck beibehalten, da die deutsche Übersetzung „Missionen“ eine christlich-karitative Konnotation besitzt, die dem Konzept der Misiones tatsächlich widerspricht.
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MST Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra (Bewegung der Landarbeiter ohne Land) in Brasilien MVR Movimiento Quinta República (Bewegung fünfte Republik). Größte Regierungspartei. Parroquia Stadtbezirk, Zusammenschluss einzelner Barrios PCV Kommunistische Partei Venezuelas PDVSA Petróleo de Venezuela - Sociedad Anónima. Staatlicher venezolanischer Ölkonzern. Podemos (Wir können). Regierungspartei, aus einer Abspaltung der MAS hervorgegangen. Policía Municipal Stadtpolizei von Caracas. Unter der Verantwortung des Bürgermeisters von Gesamt-Caracas stehend. Eine wichtige Stütze der Opposition. PPT Patria Para Todos (Vaterland für alle). Regierungspartei, aus Strukturen der Causa R entstanden. Ranchos Einfache Häuser in Barrios
SIDOR Privatisierte Eisenhütten von Ciudad Guayana UBE Unidad de Batalla Electoral (Einheit des Wahlkampfes). Politischer Zusammenschluss von Bewohnerinnen und Bewohnern der Barrios anlässlich des Referendum im August 2004 UNT Unión Nacional de Trabajadores (Nationale Arbeiterunion). 2003 neugegründeter linksgerichteter unabhängiger Gewerkschaftsdachverband. Vuelvan Caras Misión mit dem Ziel, eine Kooperativenstruktur im landwirtschaftlichen und industriell-handwerklichen Sektor aufzubauen.