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Kriminalroman
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Bevor Heinrich Küpper, Weinhändler in einer rheinischen Stadt,...
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Kriminalroman
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Bevor Heinrich Küpper, Weinhändler in einer rheinischen Stadt, verunglückte, hatte er noch mit Clemens Schweizer telefoniert, und der, Redakteur des „Stadtboten“, ist sicher, daß sein Freund keineswegs betrunken war. Ausgerechnet Küpper, der jede Menge vertragen konnte! Schweizer gibt diesen Hinweis der Kriminalpolizei. Man kann doch nicht einfach die Ursachen eines Unfalls ermitteln wollen, wenn alles so aussteht, als wäre Heinrich Küpper einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Aber Kommissar Munter wirft dem Redakteur Sensationsgier vor, der lediglich „Rummel“ machen wolle. Der Journalist entschließt sich, die ehemaligen Klassenkameraden Küppers aufzusuchen, mit denen dieser in der Unglücksnacht im Hotel „Esplanade“ gefeiert hatte. Warum wollte er mit denen ein Hühnchen rupfen, wo sie doch alle über Jahre teuren Wein von ihm bezogen hatten? Der Studienrat, der Pfarrer, der Schrotthändler, der Versicherungsboß, der Schauspieler – alles ehrenwerte Männer. Welches Interesse können sie gehabt haben, den Weinhändler aus dem Weg zu räumen?
Karl Heinz Berger Wein für ehrenwerte Männer
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Verlag Das Neue Berlin
Alle Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten aus Vergangenheit und Gegenwart sowie mit lebenden oder schon gestorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
1. Ich lernte ihn auf der Tribüne kennen. Der FC machte an dem Tag eine miese Figur. Nichts war geblieben von der Manier, mit der er eine Woche zuvor die Jugoslawen geschlagen hatte. Neumann, der Linksaußen der Nationalmannschaft, den die Fans Garrincha nannten, weil er genauso krumme Beine hatte wie der Mann aus Brasilien, kam mit seinem sonst immer beklatschten alten Trick – Ball rechts am Verteidiger vorbei und dann links durchlaufen – nicht zurecht. Und Vogelsangs lange Pässe trudelten immer wieder einem Gegenspieler vor die Füße. Er saß neben mir, den Oberkörper weit nach vorn gebeugt und die Daumen in die Fäuste verkrampft. Wahrscheinlich hatte er schweißnasse Handflächen. Den Typ kenne ich: schmalbrüstig, lang, mit Ansatz zu Bauch und halber Glatze. Wahrscheinlich hatte er nie richtig mit einem Ball umgehen können und würde mit der Spitze stoßen, wenn er kicken müßte, obwohl er sicherlich alles darüber wußte, was bei den Journalisten „Ballbehandlung“ heißt. Als die Gäste, eine Mannschaft aus dem Süden, die in der vergangenen Saison mit Not dem Abstieg aus der Bundesliga entgangen waren, ihr drittes Tor schossen, stöhnte er laut. Dabei kehrte er mir für eine Sekunde das Gesicht zu, das vor Erregung und Enttäuschung ganz verkrampft war. Die Augen blickten groß und starr, der Mund war zum Strich verzogen. So sehen Kinder aus, wenn man mit ihnen schimpft, und sie fühlen sich im Recht. Ein Coca-Verkäufer mit seinem Bauchladen drängte sich an uns vorbei und unterbrach den Kontakt. Das war mir lieb, schließlich hatte ich Notizen zu machen: „73. Min. Mayer aus halbrechter Position, 15 m Torentfernung. Herbig falsch postiert. Winneken über7
laufen.“ Winneken ist der Libero beim FC, und er spielte an dem Tag genauso schlecht wie alle anderen vom Team. Plötzlich sprach er mich an. „Ist das nicht eine Schande“, sagte er. Er sah gequält um die schiefstehende Nase aus. Sicherlich hatte er zwei verschiedene Profile. „Und das bei zehn Mark Eintritt!“ Ich sagte mitfühlend: „Wirklich eine Schande.“ Dabei hatte ich doch keinen Pfennig Eintritt bezahlt. Aber das sagte ich ihm nicht. Warum auch? Ein richtiges Gespräch kam nicht zustande. Ab und zu machte er eine Bemerkung, und ich brummte etwas dazu, immer im Ton der Zustimmung. Ich konnte mich auf kein Gespräch einlassen; ich mußte meine Notizen machen. Während die da unten die letzte Viertelstunde lustlos runterspielten, formulierte ich in Gedanken schon Sätze. Das mache ich immer so. Wenn der Eindruck noch frisch ist, lege ich mir Sätze zurecht, die dann beim Schreiben auf Abruf kommen. Ich habe zuwenig Phantasie und viel zuwenig Routine als Sportreporter, um Stunden später noch die wichtigen Situationen in halbwegs originelle Sätze bringen zu können. Der Sportredakteur meint sowieso, ich hätte nicht den richtigen Drive für einen Journalisten. Er gibt mir ja auch selten Gelegenheit, mir ein paar Mark nebenbei zu verdienen. Nur wenn samstags wirklich kein anderer aufzutreiben ist, ruft er mich an. „Aber bringen Sie mir um Gottes willen ein bißchen Farbe in den Salat“, sagte er dann immer. Und wenn ich meine hundertzwanzig Zeilen für die Sonntagsausgabe abgeliefert habe, liest Munke – so heißt er – sie mit Stöhnen und fuhrwerkt mit seinem impertinent grünen Kugelschreiber in ihnen rum. Ich sitze auf der Besucherseite seines Schreibtischs und rutsche auf meinem Stuhl hin und her, und er bedenkt 8
mich alle Minuten mit einem Blick, der in Kummer schwimmt. An diesem Samstag hatte er mir wieder mal Gelegenheit geboten, der Ebbe in meiner Kasse abzuhelfen. Als zweiter Lokalredakteur in einer Regionalzeitung kann man keine Reichtümer erwerben, da ist man froh, wenn einem ab und zu ein Fünfziger in die Brieftasche rutscht. An diesem Samstag war mir der Auftrag wie ein Geschenk des Himmels vorgekommen. Ich war nämlich buchstäblich am Ende mit meinem Geld, wie immer in den letzten Tagen vor Ultimo. Montag morgen, dachte ich, kannst du dir den Mammon abholen. Der Gedanke machte mich ein bißchen fröhlich, obwohl unser Verein so entsetzlich schlecht spielte. Im Gedränge nach dem Spiel verloren wir uns aus den Augen. Ich sah ihn erst wieder, als er am Türschloß seines Autos herumfingerte. „Sind Sie mit dem Auto hier, oder kann ich Sie ein Stück in die Stadt rein mitnehmen?“ fragte er, und er fragte so selbstverständlich, als hätten wir uns nicht gerade erst kennengelernt und nur ein paar Worte miteinander gewechselt. „Ich fahre Richtung Baumtor.“ Der Gedanke an die überfüllte Linie siebenundzwanzig machte mir die Aussicht, im Wagen zu fahren, angenehm. Außerdem war es kalt, zu kalt für Oktober, und ich hatte nur meinen Trenchcoat an. „Das wäre nett von Ihnen“, sagte ich und bemühte mich, sowenig wie möglich von der Freude über das Angebot in die Stimme zu legen. Als wir saßen, stellte er sich vor. „Küpper.“ „Angenehm. Schweizer.“ Ich versuchte eine Verbeugung und stieß dabei mit den Knien gegen das Armaturenbrett. Am Baumtor fragte er mich, wo er mich absetzen könnte. Ich nannte ihm die Adresse unserer Redaktion und 9
sagte, ich müßte noch einen Bericht über das Spiel schreiben. Da war er plötzlich interessiert. „Sie sind Journalist?“ Mir war, als hätte er das Flackern in den Augen, das ich schon oft bei Leuten, die nicht vom Bau sind, beobachtet habe, wenn ich ihnen meinen Beruf verrate. „Ist ja sehr schön.“ Ich fürchtete, gleich würde die Fragerei losgehen: Wie fühlen Sie sich denn so, wenn Sie über andere schreiben? Aber er sagte nichts dergleichen. Er fuhr mich in die Brüderstraße, und das nahm bei dem zähfließenden Samstagabendverkehr seine Aufmerksamkeit ganz in Anspruch. „Dauert’s lange?“ wollte er wissen, als wir vor der Einfahrt zur Druckerei hielten. „Zwei, drei Stunden oder so … Ich muß ja noch schreiben.“ „Haben Sie Lust auf ein Bier hinterher?“ Ich zögerte. Ich hatte kein Geld. „Wir können auch zu mir gehen. Ich habe selber eine Kneipe“, sagte er, und der zweite Satz klang fast wie eine Entschuldigung. Da horchte ich auf. Ich mag Wirte, sie stecken immer voller Geschichten. „Wohin soll ich kommen?“ „Spießergasse zwölf. Können Sie gar nicht verfehlen.“ Zweieinhalb Stunden später, nachdem ich den knurrigen Munke glücklich hinter mich gebracht hatte, war ich ziemlich enttäuscht. Küppers Kneipe entpuppte sich nämlich als eine Weingroßhandlung in einem zweistöckigen, ziemlich schäbigen und schmalen Haus, dem man ansah, daß es nach dem Krieg wiederaufgebaut worden war, und das kein bißchen Glanz dadurch gewonnen hatte. Der Weinhandlung war eine Probierstube angeschlossen, eines von den trostlosen Lokalen, die durch Holztäfelung, dilettantische Ölbilder von 10
trinkenden Mönchen und schießenden Förstern mit Hund und allerlei Zinngeschirr Gemütlichkeit vortäuschen. Natürlich saß man an blankgescheuerten Eichentischen und natürlich auf harten Bauernstühlen, die einem nach einer halben Stunde Kreuzschmerzen anhexen. Aber die Unterhaltung mit Küpper war vorzüglich. Er trank nur Bier, große Flaschen Urquell, die ihm seine Haushälterin aus der Küche hereinbrachte. Mir wurde Wein vorgesetzt, anscheinend eine gute Marke aus der Gegend von Dürkheim. Ob er wirklich gut war, kann ich nicht beurteilen, weil ich sozusagen von Haus aus Schnapstrinker bin: Mein Vater ist Meister in der größten Destillation der Stadt gewesen, und Korn gehörte bei uns zu Haus wie Kaffee und Weihwasser im Kesselchen neben der Schlafzimmertür zum Alltäglichen. Ich hätte ja auch mit Bier vorliebgenommen. Aber er wollte mir wahrscheinlich mit dem Wein etwas besonders Gutes antun. Wenn ich ihn später besuchte, habe ich auch Bier bekommen. Damit kein falscher Eindruck wegen dem „später“ entsteht: Ich habe ihn im ganzen nur eine Woche gekannt und ihn dreimal besucht. Mir schien, er mochte mich. Deshalb bin ich auch wieder hingegangen und habe ihm zugehört, wenn er erzählte. Er erzählte ohne Pause, wenn er ein bestimmtes Quantum getrunken hatte, erzählte von allem, was ihm in den Sinn kam. Und ihm kam viel in den Sinn. Die Stunden in der Probierstube vergesse ich mein Lebtag nicht. Maria Klein, die Haushälterin bei ihm war, saß dann dunkelhaarig und schön in der Ecke, unter einem bunten Druck, auf dem dargestellt war, wie ein feister Mann in Kutte in der einen Hand ein Glas mit Wein prüfend vor die Augen hält, 11
während er sich mit der anderen in den Röcken einer anscheinend kreischenden Magd verheddert. Ich hockte ihm gegenüber am Tisch. Ab und zu stand er auf, als ob er im Stehen und Herumlaufen besser sprechen könnte. Küpper war ein verquerer Denker. Beim Anblick eines Streichholzes konnte er auf einen Waldbrand kommen, den er irgendwo zu bekämpfen geholfen hatte; sagte ich etwas über die Bekömmlichkeit von Milch, gleich lieferte er eine Geschichte ab, in der ein alter Milchmann an der Schwindsucht gestorben war, weil er sich aus lauter Gesundheitsfanatismus von nichts anderem als von Milch ernährt hatte; auf Marias gelegentliche Bemerkung zum Wetter setzte er Betrachtungen über eine Flutkatastrophe in Indien und ähnliches. Dabei hatte das alles nichts mit landläufigem Pessimismus zu tun, schon deshalb nicht, weil er die abstrusesten Storys mit so viel Charme vortrug, daß man nicht anders konnte, als über sie zu lachen. Am liebsten erzählte er vom Krieg, doch nicht so wie die Männer, für die der Dreck unvergeßlich ist, weil sie nichts Imponierenderes erlebt haben. Da gab es andere Töne, die er anklingen ließ. „So ein Scheißkrieg“, sagte er, „bringt einem bei, wie man das Leben von hinten packen kann.“ Und Maria nickte andächtig dazu, als hätte sie einen Satz aus dem Römerbrief gehört. Das hat er übrigens bei meinem zweiten Besuch gesagt, an dem Dienstagabend, als wir anderthalb Kästen Pilsner austranken: er einen Kasten, ich den halben. Es war schon spät, daran erinnere ich mich noch genau, und Küpper hatte zuvor eine Geschichte von seinem Großvater vom Stapel gelassen und behauptet, der sei so geizig gewesen, daß er die steinerne Trittstufe vorm Laden, als sie von den vielen Füßen eine ziemliche Delle zeigte, nicht ersetzen, sondern einfach umdrehen ließ. 12
„Das nenne ich, dem Leben ein Schnippchen schlagen. Das können die Leute alle nicht mehr. Die kaufen den teuersten Kram, weil sie keinen Blick mehr dafür haben, was gut und was schlecht ist. Die müssen sich eben nach dem Preis richten. Armseliges Pack. Vor zwanzig Jahren war das noch ganz anders. Im Krieg zum Beispiel.“ Und dann sagte er das vom Leben, das man im Krieg von hinten packen lernte. Er sprach viel von sich, von seiner Vergangenheit an dem Abend, auch von scheußlichen Erlebnissen an den Fronten, auf seine Manier natürlich, die einem nah heranholte, was geschehen war, und einen doch davon distanzierte. Selbst als er den Tod seiner Eltern schilderte, übrigens so schilderte, als hätte er neben ihnen gesessen, als die Bombe in das Haus Spießergasse Nummer zwölf schlug und bis in den Keller klatschte, und nicht schon in einem Camp der Amerikaner irgendwo in der Wallonie, selbst bei der Gelegenheit blieb er Erzähler: phantasiereich und gelassen. „So ging ihr Wohlstand zum Teufel, und sie gingen zum lieben Gott“, sagte er. Und dann: „Hoffentlich sind sie da heil angekommen.“ Das klang wie der Schluß eines Märchens, wenn der Erzähler die Lust verloren hat, seine Story langsam austrudeln zu lassen, weil er durstig geworden ist. Und er setzte eine Pilsner-Flasche an den Mund – er benutzte nie ein Glas – und trank sie halb leer, ohne den Adamsapfel bewegen zu müssen. Dann lief er in der kleinen Probierstube auf und ab, ganz ohne Schlenker und als hätte er noch nicht ein Dutzend Flaschen Bier im Leib. Und beim Hinundhergehen erzählte er weiter, von seiner Zeit in französischer Gefangenschaft, als er im Bergwerk arbeiten mußte und halbwegs anständiges Essen bekommen hatte, besseres jedenfalls als in den Lagern, in 13
denen er sich vorher rumgetrieben hatte; und von den ersten Nachkriegsjahren, als er nicht in die Stadt zurück wollte und in einem Weinnest an der Mosel in einer Sektkellerei arbeitete und wie er sich da an Wein übergetrunken habe und wie die meisten Winzer und Kellerleute auf Bier umgestiegen sei. Ich fühlte mich wohl bei ihm, auch dann, wenn er den Schlauen rauskehrte und mit Eifer erzählte, wie er den und diesen geprellt hatte, den Schwarzhändler zum Beispiel, dem er siebenundvierzig einen Posten echten Schinkenhäger in original Tonkruken angedreht hatte, die allerdings zu zwei Dritteln mit Gips ausgegossen waren, oder den Mann von der Steuerfahndung, der drei Tage in seinen Büchern rumgestöbert hatte, ohne den offensichtlichen Widerspruch zwischen den doch anscheinend recht beschränkten Einnahmen und den beträchtlichen Ausgaben klären zu können. „Mut muß man haben“, sagte er zum letzten Fall, „und Witterung.“ Dabei faßte er an seine schiefgestellte Nase, und Maria Klein lächelte versonnen dazu, als ob sie sehr genau wüßte, wie gut es bei ihm um Mut und Witterung bestellt wäre. Bei solchen Verwegenheiten kommt mich immer ein leises inneres Bibbern an. Und doch fühlte ich mich wohl bei ihm. Wahrscheinlich, weil er mehr Selbstvertrauen hatte als. ich, so viel Selbstvertrauen, daß es überschwappte und ich auch ein bißchen davon abbekam. Ich trank also Bier und hörte allem zu, was er auf der Platte hatte. Natürlich merkte man, daß er seine Geschichten nicht zum ersten Mal zum besten gab. Dazu waren sie zu sehr abgeschliffen, schön glatt und griffig wie Kiesel, die ein paar Jahrtausende in einem Fluß gelegen haben. Er wußte, wo er die retardierenden Momente einsetzen und wie weit er sie ausdehnen durfte, 14
wann er sich raffen mußte, wie man Pointen plazierte und wie man auf eine Pointe noch eine draufknallte. Bei einer Zeitung wie der unseren legte man auf so etwas wenig Wert, auch nicht in dem so vielgerühmten Feuilleton unseres Blatts, wo heute noch Dr. phil. et theol. Xaver Fuhrmanns stockfleckig gewordene Geistreichigkeiten der zwanziger Jahre als der letzte Schrei gelten. Und darum genoß ich seine Geschichten. Man kann mich meinetwegen für einfältig halten, daß ich dem Gerede eines Weinhändlers so viel Raum gebe und so viel Gewicht beimesse; aber ehe mich einer einen Spinner nennt, hätte er sich Küpper einmal anhören müssen. Seine Lehrergeschichten zum Beispiel. Das waren nicht einfach Erinnerungen an ältere Männer mit Macken. Mindestens eine halbe Stunde lang legte er am Beispiel seiner Schule – es war das Paulus-Gymnasium hinter Sankt Aposteln – das wie geschmiert funktionierende System von Unterdrückung und Untertanenerziehung bloß, einfach so, anhand von Geschichten. Dabei standen uns, Maria, die das doch schon oft gehört haben mußte, und mir, abwechselnd Tränen vom Lachen und von der Wut in den Augen. Er nannte einen Namen: Frobenius. An dem Dienstag hörte ich ihn zum ersten Mal, und ich habe, als ich den Mann dann kennenlernte, zu Heinrich Küppers Charakterbeschreibung nichts mehr hinzuzufügen gehabt. „Frobenius war der mieseste Pauker“, sagte er. „Er hat sich immer einen Idealisten genannt, weil er nicht rauchte und die ‚Germania‘ für den Höhepunkt der antiken Literatur hielt. Wenn er die erste Stunde hatte, riß er alle Fenster auf, und wir mußten aus den Bänken und Rumpfbeuge und Armschwenken vorführen. Danach ging es los: Wie beweist Lessing am Riccaud de la Marlinière die Minderwertigkeit 15
des französischen Charakters? Oder: Das Faustische im deutschen Menschen. Wir kamen kaum zu Wort, und wenn er dann eine halbe Stunde seinen Seim von sich gegeben hatte, stand ihm der Sabber in beiden Mundwinkeln, und er furzte leise und stinkend vor Begeisterung, nie laut, wie der alte Mühlensiepen bei seinen chemischen Experimenten.“ Er lachte nicht. Frobenius war ihm kein Lachen wert, das ganze Gymnasium nicht. „Und dann gab es welche, die sahen ihn an mit Augen, die vor Begeisterung blöd waren, wenn er von der Sendung des deutschen Geistes sprach. Und Shakespeare hat er mangels Masse gleich dazugeschlagen. ‚Schüttelspeer hieß dieser Mann‘, sagte er, ‚und wie Speerschütteln sind seine Dramen.‘ Balzac war für ihn ein Schwein, Heine ein zersetzendes Element, Tolstoi ein stumpfsinniger Bauer, der vor lauter Onanie Gehirnerweichung bekommen hat. Er sagte übrigens statt Onanie ‚Selbstbefleckung‘, das klang nach was. Dabei sah er so aus, als wäre er selbst in Sparta gewesen und hätte da das Wichsen gelernt.“ Während ich grinste und Maria so tat, als müßte sie eine Haarsträhne hinter die Ohren streifen, nahm er einen wütenden Schluck aus der Flasche. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über die Lippen und sagte: „Das Schwein denkt heute noch an mich.“ Das sagte er ganz unpathetisch, eher pfiffig, und er verzog die wasserblauen Augen zu Schlitzen. Vergebens wartete ich darauf, daß er noch etwas von Frobenius sagte. Aber er machte ein Gesicht, als hätte er schon zuviel von sich gegeben. Seine Augen rundeten sich wieder, und er fuhr fort mit einer Anekdote von einem Schüler, der mit dem Religionslehrer aneinandergerasselt war, weil er dem im Beichtstuhl gestanden hatte, er habe in päpstlichen Gewässern Seeraub betrieben. Aber er lachte nicht über den Witz. Wahrscheinlich dachte er noch an Frobenius. 16
Ich trank noch einen Schluck Bier, aus dem Glas natürlich, und weil eine Pause im Gespräch war, die Maria dazu nutzte, in die Küche zu gehen und neue Flaschen zu holen, versuchte ich es auch mit ein paar Schulerinnerungen. Aber ich hatte den Eindruck, Küpper hörte nicht zu. Plötzlich sagte er, als ich dabei war, ihm von meiner ersten Zigarette im Lokus der Schule zu erzählen: „Kennen Sie das, Schweizer, wenn man als Kind immer an den Rand gedrängt wird? Ich meine, wenn die anderen einen nicht für voll nehmen, weil man keine Kniewelle am Reck fertigbringt. Damals war so was eine Schande. Die Kletterstange, die Ringe, der Barren, da zeigte sich, wer man war. In Latein hatte ich immer eine Eins, und in Geschichte war ich nicht schlecht. Aber ich kam die Stange nicht mal bis zur Hälfte rauf. Und am Reck hing ich wie eine schwangere Wanze. Das hat der Sportlehrer gesagt.“ Es klang, als sei er noch immer bekümmert, daß er ein schlechter Turner gewesen war. „Wenn Mannschaften ausgewählt wurden, Völkerball oder Fußball, immer stand ich als letzter in der Mitte und wurde der Partei zugeschlagen, der noch einer fehlte, und die steckte mich dann an eine Stelle, wo ich nichts falsch machen konnte. Ich weiß, warum Sie lächeln. Weil ich jetzt fast zu jedem Heimspiel vom FC gehe. Vielleicht tu’ ich das, weil ich niemals einen Ball so treten konnte, daß er dahin flog, wohin ich ihn haben wollte.“ Mein Gott, dachte ich, ich habe doch gar nicht gelächelt. Ist der aber empfindlich! „Die anderen haben mich auch ausgelacht, die Holzköpfe, denen ihr bißchen Verstand in die Bizepse gerutscht war. Hart wie Kruppstahl, flink wie die Wiesel, dumm wie Bohnenstroh.“ Er lachte unfroh. Dann sagte 17
er: „Ach, Scheiße“ und trank wieder. „Jedenfalls: Wer zuletzt lacht, lacht am besten.“ Unvermittelt setzte er sich mir gegenüber und sah mich zwei, drei Sekunden lang schweigend an, als wollte er testen, ob ich auch einer von der Sorte Burschen war, unter denen er so viel gelitten hatte und noch litt. Maria brachte Bier. Zur Abwechslung stand ich jetzt auf und ging ein paar Schritte. Die dekorativen Fäßchen an der Längswand mit den absichtlich altertümlich gehaltenen weißen Emailleschildchen über den Zapfhähnen machten einen trostlosen Eindruck. So etwas erinnert mich immer an Filmdekoration. Ich klopfte gegen das Fäßchen mit dem Schild „Malaga“. Das Fäßchen klang hohl. „Alles Attrappen“, sagte Küpper und trat neben mich. „Die paar Leute, die auf einen Schoppen hier reinkommen, werden aus der Flasche bedient.“ „Geht wohl nicht gut, das Geschäft?“ „Es ernährt seinen Mann.“ Die Floskel klang wie eingelernt. „Viel brauchen wir ja nicht, Maria und ich. Stimmt’s, Maria?“ Maria sagte: „Ja.“ Ich weiß nicht mehr, warum ich kurz darauf ging. Wahrscheinlich war mir seine Verstimmung auf den Magen geschlagen. „Kommen Sie am Freitagabend doch mal vorbei“, sagte er zum Abschied. „Wir sind dann wieder unter uns.“
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2. Am Freitag hatte er Geburtstag. Nachdem ich gegen acht gekommen war, drehte er den Schlüssel in der Ladentür hinter mir herum. „Wir gehen nach hinten“, sagte er. „Da ist es gemütlicher.“ „Hinten“, das war eine Art Wohnzimmer mit einem Rollsekretär in einer Ecke. Sonst gab es nichts, was Gefallen oder Mißfallen hätte erregen können: drei grünbezogene Polstersessel ohne Armlehnen, eine ebenso gepolsterte Sitzbank, ein helleichenes Büfett, auf dem Fotografien und Schnapsflaschen standen, ein Schränkchen für Gläser, ein Ausziehtisch, eins von den modernen Klavieren, die wie Eierkisten aussehen, ein Teewagen. An den Wänden die üblichen Drucke nach van Gogh und Gauguin. Der Blick blieb nirgends hängen. Auf dem Tisch stand eine Torte mit einer aufgespritzten Vierundvierzig. „Sie haben Geburtstag?“ fragte ich. „Nicht der Rede wert“, sagte er und fuchtelte mit der rechten Hand herum, wohl damit ich sie ihm nicht drücken konnte. „Meinen Glückwunsch.“ „Danke.“ Er wies auf einen der grünen Sessel. „Vielleicht einen Bommerlunder zum Anwärmen?“ Ich trank einen Bommerlunder zum Anwärmen und überlegte dabei, was ich sagen sollte. Es kam nur das übliche heraus: „Na, wie fühlt man sich denn so, wenn man zwei Vieren auf die Torte gespritzt bekommt?“ „Besser als mit zweiundzwanzig“, sagte er ernsthaft. „Da lagen wir hinter Aachen, und die Amis wollten durch. Wenn Sie wissen, was das heißt. Den ganzen Tag über Jabos und Artillerie. Ich hatte vergessen, daß mein Geburtstag war. Abends kam der Spieß und brachte mir eine Schachtel Zigaretten und eine Flasche Schnaps. Die 19
Flasche ist mir bei einem Einschlag aus der Hand gepustet worden. Und am nächsten Tag haben die Amis mich geschnappt.“ Er machte eine Pause. „Aber davon haben Sie ja Gott sei Dank keine Ahnung.“ Das war die einzige Anspielung auf den Krieg an diesem Abend. Nach ein paar Schnäpsen – Küpper trank Bier wie immer – brachte Maria den üblichen Teller mit Schnittchen, auch Krabbensalat, Kartoffelsalat mit Würstchen. Küpper schien sehr zufrieden zu sein, aß viel und machte Maria Komplimente, weil sie, wie von Frauenzeitschriften immer wieder empfohlen, Bananen und Ananas in den Krabbensalat geschnitten hatte. Maria nahm die Komplimente wie selbstverständlich hin. Sie trug ein großgeblümtes Kleid mit tiefem Ausschnitt, der ihre großen Brüste sehr schön betonte. Sie war fröhlich, sagte aber so wenig wie immer und ging regelmäßig in die Küche nach Bier. Die Unterhaltung bestritt Küpper wieder selber. An dem Abend war hauptsächlich der Wiederaufbau des Hauses und der väterlichen Weinhandlung nach dem Krieg dran, und in seinem Mund wurde auch eine so langweilige Angelegenheit amüsant. Gegen zwölf war ich ziemlich betrunken und wollte gehen. Aber Küpper drückte mich in den Sessel zurück. „Bleiben Sie“, sagte er. „So jung kommen wir nicht mehr zusammen.“ Dann bot er mir das Du an, und das gab Gelegenheit, noch einen zu heben. „Auf alles, was wir lieben“, sagte er laut wie ein Drummer nach einer Jam-Session. „Darauf“, sagte ich und hatte Mühe, mein Glas durch seinen gehenkelten Arm zu bringen. „Ich heiße Clemens.“ „Der Sanftmütige.“ Die Übersetzung kam automatisch. Der Kuß auf meine Backe war erstaunlich trocken. 20
„Ich heiße Heinrich. Und das ist Maria, mein guter Geist. Sagt du zueinander, Kinder.“ Maria war auch nicht mehr ganz nüchtern und preßte mich heftig gegen ihren Busen, ehe wir die Lippen aufeinanderpflanzten. Sie roch gut, nach Schweiß und einem Parfüm, das ich nicht kannte. Heinrich setzte sich ans Klavier und spielte. Er spielte erstaunlich flott und sang auch dann und wann mit einem dünnen Bariton dazu: „Du holde Kunst“ und „So ein Tag, so wunderschön wie heute“. Alles durcheinander. Ich konnte die Augen kaum offenhalten. In der Redaktion hatte es viel Arbeit gegeben, mit einem Artikel zum zehnjährigen Dienstjubiläum des Stadtdirektors, der dem Sekretär des hohen Herrn nicht gefallen hatte und also umgeschrieben werden mußte. Als Küpper mit Klavierspielen aufhörte, war ich eingeschlafen. Er weckte mich. „Wohlauf, die Luft weht frisch und rein“, trompetete er. Und als ich erschrocken die Augen aufriß, beugte er sein gerötetes Gesicht zu mir hinunter. „Wirst du denn nie müde?“ fragte ich. „Bier hält mich munter.“ Und wahrscheinlich um zu beweisen, wie munter er war, zog er das eine Bein hoch und stand eine Minute lang auf dem anderen, ohne zu zittern und zu wanken. Dabei rezitierte er das schöne Gedicht: „Freund Adebar, der arme Wicht, der kennt des Lebens Freuden nicht …“ „Kommst du morgen mit auf den Platz?“ fragte ich, um ihn von seinem Kraftakt abzulenken. „Der FC gegen Kickers. Zwei Heimspiele hintereinander. Die Gelegenheit hat man nicht oft.“ Er stand wieder auf zwei Beinen. „Geht nicht“, sagte er. „Morgen ist Abitur-Feier. Fünf 21
fromme junge Leute aus meiner Klasse wollen mich sehen, um mit mir die fünfundzwanzigste Wiederkehr des Tages zu begehen, an dem man uns bestätigt hat, daß wir reif wären. Das Datum stimmt zwar nicht, aber wenigstens das Jahr, und im Juni, als wir eigentlich hätten feiern müssen, paßte es den Herren nicht. – Ich glaube“, fuhr er nach einer winzigen Pause fort, „es wird ganz lustig werden.“ Wie er das sagte, klang es aber nicht lustig, eher gespannt und ein bißchen hämisch. „Ich habe da noch ein Hühnchen zu rupfen, in aller Freundschaft natürlich, mit den Zackigen.“ Verdunkelten sich seine wasserhellen Augen? Er setzte die Flasche an, und als er sie wieder auf den Tisch stellte, sah er für eine Sekunde betrunken aus. „Arschlöcher“, sagte er. Doch dann fing er sich. „Clemens, du armer Unterhund von einem Hilfsredakteur. Wenn die nicht brav sind, geb’ ich dir was, nach dem sich alle Zeitungen die Finger lecken würden.“ Er ließ sich in den nächsten Sessel sacken, schloß die Augen, und seine erstaunlich dürren Finger lagen schlaff auf den Oberschenkeln. Maria ging von hinten an ihn heran, strich ihm übers Haar. Dabei sah sie verwirrt zu ihm hinunter. Als Küpper die Augen aufschlug, stand ich schon im Mantel und sagte: „Schade, daß du nicht mitkommst.“ „Ruf mal an, so gegen zehn, im ‚Esplanade‘“, sagte er müde. „Da sitzen wir. Geschlossene Gesellschaft. Vielleicht ist die Scheiße dann schon vorbei, und wir können noch einen abbeißen, irgendwo, wo’s schön ist.“ In der kühlen Nachtluft fühlte ich erst, wieviel ich getrunken hatte. Am Samstagnachmittag regnete es. Die geschlossene Wolkendecke hing tief und verhinderte, daß die Abgase der chemischen Fabrik sich verzogen, so daß die ganze südli22
che Stadt nach faulen Eiern stank. Auch überm Stadion standen die Gase und verbiesterten Spielern wie Zuschauern das Atmen. Ich fand schon deshalb keinen Gefallen an dem Spiel und machte lustlos meine Notizen. Um fünf war ich in der Redaktion. Nachdem ich meinen Artikel fertig hatte, war ich zu müde, mich über Munke aufzuregen, der meine Zeilen durchmuffelte. Ich hatte Kopfschmerzen. Zu allem Unglück maulte auch noch Fräulein Winterstein, die eulenäugige Sekretärin, daß ich mich schon seit Wochen nicht mehr um sie gekümmert hätte. „Ich bin beschäftigt, Schatz“, sagte ich und bemühte mich, soviel Gequältsein wie möglich in die Stimme zu legen. „Nächste Woche …“ Sie hob beide Augenbrauen auf einmal. Sie glaubte mir nicht. Ich griff mir meinen Mantel und machte, daß ich rauskam. In den „Windfang“, der gleich um die Ecke liegt und wo man trotzdem keine Kollegen trifft, weil da nicht das richtige Publikum verkehrt. Es war erst halb acht. Was sollte ich mit dem angebrochenen Abend anfangen? Bei Hinrichs Billard spielen? Schlafen? Die Dame von vorgestern anrufen und fragen, ob ihr Mann schon zurückgekommen sei? Ich hatte zu nichts Lust. Wenn Küpper in seiner Budike gewesen wäre … Aber der war ja im „Esplanade“, wo die Flasche Mosel viermal so teuer ist wie im Geschäft. Das war ja auch ein feines Gymnasium, das er besucht hatte. Da gehörte es sich, daß man sich im „Esplanade“ traf, nach fünfundzwanzig Jahren, bei Kerzenlicht und Damast. Ob ich da mal anrief? Ich kaute an der zweiten Frikadelle, die mindestens schon seit drei Tagen in dem elektrisch gekühlten Hungerturm ihr Dasein gefristet hatte. Ich trank mein siebentes Bier, meinen siebenten Korn. Das ist die Menge, bei der ich anfange, unternehmungslustig zu werden. Ich 23
blätterte in meinem Notizbuch die Telefonnummern durch, fand aber nichts, wonach mir der Sinn stand. Das Programm vom „Atrium“ hing mir vor der Nase: „Goldfinger“ und dazu eine asiatische Fratze, die sich grinsend über eine Blondine beugte, von der mindestens drei Pfund Brust und das Doppelte an Schenkelfleisch zu sehen war. Daneben prangte eine Sektreklame. Wer trank im „Windfang“ schon Matthäus Müller? Herr Frey, der Wirt, kam mit dem nächsten Gedeck angewackelt. Er war früher mal Ringer und geht noch immer so, als ob er einem Gegner Angst einjagen müßte. „Zum Wohl, Herr Schweizer“, sagte er. „War’s ein gutes Spiel?“ „So lala.“ Er blieb stehen, wollte mehr hören. „Haben Sie die Nummer vom ‚Esplanade‘?“ Er sah mich an, als ob ich seiner Frau einen unanständigen Antrag gemacht hätte. Dann schüttelte er den Kopf und ging hinter die Theke. Ich hörte noch etwas wie „immer hoch hinaus“ oder „Hochstapler“. „Sieben-zwo-vier-zwo-drei-acht-sieben“, rief er zu mir hinüber, nachdem er im Telefonbuch herumgestöbert hatte. Ich wählte die Nummer. Eine Frauenstimme, offensichtlich die Dame vom Empfang, meldete sich. „Könnte ich wohl Herrn Küpper sprechen?“ „Wen?“ Das klang wie Tochter aus besserem Haus, die es eigentlich gar nicht nötig hat, einen Hörer in die Hand zu nehmen. „Das ist nämlich so …“ Ich erklärte der Dame die näheren Umstände, sprach von geschlossener Gesellschaft und so weiter. „Das muß einer von den Herren im Rheingrafenstübchen sein. Moment. Ich lege nach oben.“ Klappern von Absätzen und Tellern, Rauschen, ver24
schwommene Stimmen. Dann Stille. Das Rheingrafenstübchen schien irgendwo am Oberrhein zu liegen. Dann eine männliche Stimme: „Hier Rheingrafenstübchen.“ „Ich möchte Herrn Küpper sprechen. Der ist bei Ihnen, in einer geschlossenen Gesellschaft.“ „Moment. Ich sehe mal nach.“ Wieder Pause, wieder verschwommenes Geräusch. „Hier ist Küpper.“ „Heinrich, ich langweile mich. Bist du nicht bald fertig?“ „Der Kindergarten von Halbgreisen ist noch nicht besoffen genug. Die sind noch nicht soweit. Ich kann noch nicht weg.“ Seine Stimme klang, als ob er den ganzen Abend Kakao von der Heilsarmee zu trinken bekommen hätte. „Wo bist du?“ „Im ‚Windfang‘, wo es die exquisiten Frikadellen gibt.“ Der Scherz war verschwendet, vielleicht kannte er ihn schon. „Setz dich doch in den ‚Würfelbecher‘“, sagte er. „Sobald ich kann, komme ich. Hier ist ein komischer Vogel zugeflogen. Ganz unerwartet.“ Er lachte plötzlich unbändig. „Die unheilige Familie hat unerwartet Zuwachs bekommen. Das muß ich dir erzählen.“ „Welcher komische Vogel?“ wollte ich wissen. „Setz dich in den ‚Würfelbecher‘“, wiederholte er nur. „Ich muß hier noch ein paar Takte reden.“ Unvermittelt für mich, legte er auf. Der „Würfelbecher“ liegt am Ochsenmarkt und ist Anlegeplatz für die, die nach der Polizeistunde noch einen Hafen suchen. Um die Zeit, in der ich anrief, ist er gewöhnlich leer und langweilig. Aber von da zum „Esplanade“ ist es nur ein Katzensprung: zwei Häuser. 25
Es war tatsächlich nichts los. Vor Langeweile spielte ich erst ein bißchen am Groschenautomat herum. Dann las ich die „Frankfurter Allgemeine“, die am Zeitungsstock hing. Nach einer Stunde war ich bei den Annoncen: „Vierzigerin, vollschlank, brünett … Miethaus in vornehmer Lage … Zuschriften nur mit Ganzbild.“ Als die Sirene vom Polizeiauto aufheulte, hatte ich ein komisches Gefühl im Magen. Das Auto stoppte in unmittelbarer Nähe. „Ich geh’ nur mal raus“, sagte ich zu der Bedienung. „Ich lasse meinen Mantel hier.“ Das Mädchen kannte mich, musterte aber trotzdem meinen Mantel am Haken, als taxierte sie, ob er die Zeche wert wäre. „Okay“, sagte sie dann. Sie mußte sich verschätzt haben. Vor dem vornehmen „Esplanade“ ging es sehr unvornehm zu. Aus einem Volkswagen mit Blaulicht auf dem Dach zwängten sich ein paar Zivilisten. Zwei uniformierte Posten standen schon an der Tür. Einer hielt mir den steifen Arm als Barriere vor die Brust, als ich durch wollte. „Presse“, sagte ich und fummelte nach meinem Ausweis, fand ihn auch glücklich. Der Uniformierte sah erst das Papier, dann mich, dann seinen Kumpan, dann einen Zivilisten mit Robin-Hood-Hütchen und Lodenmantel an. Der nahm mir den Ausweis aus der Hand und vertiefte sich in meine fotografische Porträtstudie vom Automaten. „Vom ‚Stadtboten‘?“ sagte er. „Vom ‚Stadtboten‘,“ sagte ich. „Passiert.“ Wie im Dreißigjährigen Krieg. Im Foyer stand das nächste Hindernis. Ein schwarzgekleideter Mann mit weißem Haar und dem Blick eines Fisches an Land, der sehr aristokratisch aussah, hatte sich vor der Schwingtür postiert. 26
„Sie wünschen?“ „Ins Rheingrafenstübchen will ich.“ Da trugen sie ihn schon heraus, auf einer Bahre. Der vornehme Weißhaarige trat zur Seite und hielt die Tür offen. Das Leintuch war verrutscht. Ich sah in Küppers Gesicht. Es war kaum wiederzuerkennen, ganz von Schürfungen und Blut entstellt. Ein Arm mit verkrampften Fingern pendelte kurz über der Erde. Mir war, als hätte mir einer in den Magen getreten. „Fehlt ihm was?“ fragte ich den Schwarzgekleideten, nur um etwas zu sagen. Der Fischblick wurde intensiver. „Ich meine: Ich kenne ihn.“ Ich war konfus, trat von einem Bein aufs andere, sah in das entstellte Gesicht, bis jemand es wieder zudeckte. Der im Lodenmantel kam auf mich zu: „Sie kennen ihn? Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?“ „Schweizer vom ‚Stadtboten‘“, sagte ich und wedelte ihm wieder mit dem Presseausweis vor der Nase herum. „Das Ding haben Sie mir schon mal gezeigt. Sie sind rein zufällig hier, was?“ Der glaubte erst einmal nichts. „Küpper ist mein Freund.“ Er nahm das Hütchen ab und hatte eine Glatze. Er sagte: „War.“ „Ist er tot?“ Er sah mich an, als ob er an meinem Verstand zweifelte. „Ich meine: Wieso ist er tot?“ Ein langer Dünner mit Spitzbart und Köfferchen, der neben der Bahre gegangen war, ging auf den Lodenmantel zu. „In zwei Stunden haben Sie das Ergebnis“, sagte er. „Scheint ein einfacher Fall zu sein. Ist nämlich gefallen, haha, vom fünften Stock.“ In Ermangelung eines Bauches, mit dem er beim Lachen hätte wackeln können, zuckte er mit den Schultern. „Also in zwei Stunden.“ Er latschte davon. 27
Ich konnte mich nicht an den Gedanken gewöhnen, daß Küpper tot war. Die Übelkeit stieg in mir hoch, allmählich und unaufhaltsam. Ich hätte viel für einen Stuhl gegeben oder für ein Klosettbecken. Aber der Glatzköpfige sorgte dafür, daß ich abgelenkt wurde. „Wollten Sie auch zu der Gesellschaft?“ fragte er. Ich verstand nicht auf Anhieb, was er von mir wollte. „Na, zu der Abitur-Feier.“ „Ich habe nie Abitur gemacht.“ „Und was suchen Sie hier?“ „Ich habe nebenan auf Küpper gewartet. Im ‚Würfelbecher‘.“ Er zog die Augen zu Schlitzen zusammen. „Wir waren verabredet.“ Er gab sich einen Ruck. Das sah aus wie Schluß jetzt mit der Gemütlichkeit! „Kommissar Munter“, sagte er und hielt mir für den Bruchteil einer Sekunde seine Karte vor. „Ich glaube, wir müssen uns noch unterhalten. Gehen Sie einstweilen zu den anderen.“ Mit einer Kopfbewegung winkte er einen Uniformierten heran. „Nach oben den Mann“, sagte er, und der Polizist begleitete mich in den Fahrstuhl. Im fünften Stock stiegen wir aus. „Da drüben ’rein“, sagte der Polizist und wies mit Schwung auf eine Tür, als hätte er einen beachtlichen Verkehr zu regulieren. Über der Tür stand in schmiedeeisernen gotischen Lettern „Rheingrafenstübchen“. Das Interieur paßte zu dem Namen: Spitzbogenfenster, niedrige Balkendecke, Lampen an schweren Ketten, mit denen man Autos hätte abschleppen können, an den weißgekalkten Wänden Stiche vom Mäuseturm, vom Wormser Münster, von irgendeiner Burgruine … Fünf Männer standen an den Wänden herum, obwohl mindestens ein Dutzend Stühle unbesetzt war. Einer saß. Er war alt wie Adenauer und auch so ledern wie der und dürr. 28
„Guten Abend allerseits“, sagte ich. Keine Antwort. Die Männer an den Wänden antworteten nicht, blieben stocksteif stehen, als ob sie auf ihre Erschießung warteten. Sie sahen mich nicht einmal an. Der Alte auf dem Stuhl hatte mich anscheinend gar nicht bemerkt. Er hatte das Kinn auf die silberne Zwinge eines Ebenholzstockes gelegt und starrte vor sich hin. Wie er so dasaß, sah er wirklich aus wie ein Vogel, wenn auch nicht gerade wie ein komischer, wie Heinrich am Telefon gesagt hatte, eher wie ein Geier, der im Lauf eines langen Lebens einen Haufen Federn hatte lassen müssen. Das ist sie also, dachte ich, die unheilige Familie. Sie schienen es alle zu etwas gebracht zu haben, das sah man an den Anzügen. Nur einer, so ein Graumelierter mit strähnigem Haar, trug Braun mit Nadelstreifen und eine grüne Krawatte. Der war sicher Primus gewesen und führte jetzt Bücher oder schrieb welche. Ich setzte mich und musterte sie. Gestandene Kerle allesamt, klein und mittelgroß, einer mit einem künstlichen Arm, dessen hölzerne Hand mit Leder überzogen war. Ein anderer mit Brille und Kommißschnitt war womöglich Geistlicher. Er hatte nämlich keinen Schlips zum schwarzen Anzug umgebunden, sondern den weißen Hemdkragen über den schwarzen Pullover geschlagen. Früher hat man die Leute gleich am römischen Kragen erkannt, dachte ich. An dem Rest fiel nichts auf. Der war vielleicht Arzt, der Rechtsanwalt, der dritte so eine Art Dior. Sie konnten aber auch alle etwas ganz anderes sein; unsere freiheitliche Gesellschaft macht ja die Leute einander ähnlich. Das nennt man Demokratie. Später stellte sich heraus, daß der, den ich für einen Arzt gehalten hatte, Schauspieler war, der Dior war Direktor von einem Versicherungskonzern und der mit dem Holzarm Schrotthändler. Nur bei dem Geistlichen hat29
te ich nicht danebengetippt. Der war Pfarrer an Sankt Maria von den Sieben Schmerzen. Dem schlecht angezogenen Graumelierten hätte ich nicht zugetraut, daß er nicht Primus gewesen war. Wegen schlechter Abiturnoten und weil er aus einer Kreisleiterfamilie stammte, hatte er unmittelbar nach dem Krieg nicht studieren können und war Zahntechniker geworden. Sie sahen alle blaß aus. Das konnte aber auch an der Beleuchtung liegen. Und wenn es wirklich der Schreck war: Wer wollte es ihnen verdenken? Nachdem ich genug von dem Vermutungsspielchen hatte, versuchte ich mich zu sammeln. Das klingt hochgestochen, aber ich war wirklich so zerfahren, daß ich mich nach ein bißchen Alleinsein sehnte. Wieso war Heinrich tot? Wie war er gestorben? Das Fragenkarussell wurde durch den Glatzköpfigen gestoppt. Er trat ins Rheingrafenstübchen, wie ein Schauspieler, dem der Inspizient einen Schubs gegeben hat, auf die Bühne kommt. „Na, dann wollen wir mal“, trompetete er und rieb sich die Hände. Wir wurden nach draußen geschickt, wo wir gut bewacht herumstanden. Der Alte konnte im Stuhl sitzen bleiben; er kam auch als erster an die Reihe. Nach knapp fünf Minuten war er wieder draußen, und die anderen sagten im Chor „Auf Wiedersehen, Herr Studienrat“ und deuteten Verbeugungen an, als er in den Lift stieg. An der Aufzugtür drehte er sich noch einmal um und hob salutierend den Stock. Es sah aus, als gäbe er ein Signal. Heinrich hatte recht: Das war ein komischer Vogel. „Scheußliche Sache“, sagte er dabei mit fistelnder Greisenstimme. „Müssen uns bald mal wiedersehen, meine Herren.“ 30
Die anderen blieben noch kürzer im Rheingrafenstübchen. Offensichtlich hatten sie nichts wesentlich Neues auszusagen, oder sie drückten sich weniger umständlich aus als der Alte. Stumm, wie sie vor der Vernehmung nebeneinander gestanden hatten, stellten sie sich wieder nebeneinander auf. „Herr Schweizer.“ Kommissar Munter hielt die Tür auf, und ich quetschte mich an ihm vorbei. Er roch nach Pfeifensud und Zwiebeln. „Setzen Sie sich.“ Er hielt ein Notizbuch in der Hand und blickte einige Augenblicke hinein. Dabei klopfte er sich mit dem oberen Ende des Kugelschreibers gegen die bräunlichgelben Zähne. So sehen Wetter aus, die sich noch nicht schlüssig sind, auf welchen Gaul sie setzen sollen. Dann sagte er, ohne von dem Büchlein aufzublicken: „Sie sind also zufällig hier vorbeigekommen.“ „Ich war mit Herrn Küpper verabredet, nebenan im ‚Würfelbecher‘.“ „Das haben Sie mir schon mal gesagt.“ Er klickte wieder mit dem Kugelschreiber gegen die Zähne. „Hatte Küpper Feinde?“ fragte er unvermittelt. „Feinde?“ Er setzte die Miene eines ungeduldigen Lehrers auf. „Ja, Feinde“, sagte er. „Das weiß ich nicht.“ „Aber Sie waren doch sein Freund.“ „Noch nicht lange genug, um seine Feinde zu kennen, wenn er welche gehabt hat.“ „Sehr gut.“ Ich wußte nicht, ob das ein Lob für mich war oder ob er es einfach so vor sich hin gesagt hatte. Er sah nämlich aus, als ob er gar nicht zufrieden mit mir wäre. Oder mit sich? „Küpper ist nämlich rausgegangen“, sagte er. „Auf 31
den Dachgarten. Und ist runtergefallen.“ Er blickte dabei in sein Notizbuch mit blauem Deckel, als müßte er diese simplen Tatsachen ablesen. „Das Parapett ist ungefähr eins vierzig hoch.“ Er sah auf, sah mich an und wiederholte dann: „Also Feinde hatte er nicht, sagen Sie.“ „Ich habe gesagt, ich wüßte es nicht.“ „Ja, stimmt.“ Er nickte beiläufig, kratzte mit einem Zeigefinger auf der Glatze herum. „Das wär’s denn wohl vorläufig.“ „Was haben denn die anderen Männer gesagt?“ fragte ich. „Die?“ Er blätterte in dem Büchlein. „Daß er rausgegangen ist. Sie hätten das gar nicht so richtig mitgekriegt, weil die Unterhaltung so interessant war.“ „Und keiner ist mit ihm rausgegangen? Ich meine, ihm hätte doch übel sein können.“ „Keiner.“ Mit einer entschlossenen Bewegung klappte er das Buch zu. „Das wär’s erst mal“, sagte er noch einmal und stand auf. Er wartete offensichtlich darauf, daß ich den Raum verließ. Als ich sitzen blieb, sagte er: „Bestellen Sie meinem Kollegen vor der Tür, er soll reinkommen.“ Küppers alt gewordene Schulkameraden waren schon weg, als ich aus dem Rheingrafenstübchen kam. Ich sagte dem Mann an der Tür Bescheid. In einer Ecke saß an einem Tischchen mit Tellern und Bestecks ein Mann mit einem Kellnergesicht, wahrscheinlich der Etagenober. Vielleicht hatte der Küpper ans Telefon gerufen. Er sog hastig an seiner Zigarette, und sein altes Gesicht war blaß über dem schwarzen Frack. Ich ging auf ihn zu und fragte: „Haben Sie den Mann aus der Tür kommen sehen?“ 32
Er hielt mich offensichtlich für einen von Kommissar Munters Schnüfflergarde. Er legte die Zigarette in den Aschenbecher und stand auf und war so verkrampft ungezwungen, wie man es nur vor der Polizei ist. „Ich habe Ihrem Kollegen schon gesagt, ich war unten. Die Herren hatten plötzlich Hunger bekommen und mich mit einer Riesenbestellung in die Küche geschickt. Hummer und so was war dabei. Das dauert seine Zeit, mit Abkochen und so, verstehen Sie?“ „Ich verstehe“, sagte ich. Warum sollen Leute nicht auch in der Nacht Hunger kriegen, Appetit auf Hummer? „Und als Sie wieder raufkamen?“ „Da habe ich den Herren gesagt, daß einer der Herren in den Hof gefallen ist. Ich stand nämlich an einem der Küchenfenster, als der Herr aufschlug. Gesehen habe ich nichts, aber das Geräusch, wissen Sie … Ich sagte zu Max – das ist unser Chefkoch, und der war gerade mit dem Vieh, mit dem Hummer, meine ich, beschäftigt –, ich sagte also zu Max: ‚Was war das?‘ Als ob jemand mit einem Peitschenstiel auf einen vollen Sandsack geschlagen hätte. Ich hab’ das ja noch nie gehört, wenn einer mit einem Peitschenstiel auf einen vollen Sandsack schlägt, aber so ungefähr muß das klingen, ja, und dann bin ich in den Hof gegangen und hab’ den Herrn gefunden. Der bewegte sich nicht mehr. Der ganze Kopf war geborsten. Er lag auf dem Bauch und die Arme von sich gestreckt, und das eine Bein war angewinkelt, so ungefähr.“ Er machte mir vor, wie Küpper im Hof gelegen hatte, krallte zwei Hände in die Luft und hob das gebeugte rechte Bein zehn Zentimeter über den Boden und sah aus, als wollte er einen von den Fruchtbarkeitstänzen aufführen, die man in Expeditionsfilmen immer vorgesetzt bekommt. „Ja, und dann bin ich zur Direktion gelaufen und dann mit 33
dem Lift hier raufgefahren, um den Herren Bescheid zu sagen. Na, die waren vielleicht aus dem Häuschen.“ „Das kann ich mir vorstellen“, sagte ich. „Und haben sie etwas gesagt?“ „Zuerst nicht. Sie guckten nur ganz erschrocken. Sahen vor sich hin oder sahen sich an. Und alle waren aufgestanden. Nur der alte Herr nicht, der den ganzen Abend nur Selters getrunken hat. Der fragte dann auch: ‚Ist er tot?‘ Und ich sagte: ‚Den flickt keiner mehr zusammen.‘ So war das.“ So war das also. Die simpelste Geschichte von der Welt: Ein Mann fällt vom Dach. Daß ich den Mann gekannt und gemocht hatte, machte die Sache nicht aufregender. Höchstens für mich. „Wenn Sie auch mal auf den Dachgarten gehen wollen …“ Er deutete auf eine halbe Treppe von höchstens fünf Stufen. „Jetzt im Herbst ist da ja nichts los. Aber im Sommer werden Tische da oben aufgestellt, und Samstagabends wird auch getanzt.“ Das Dach des Hotels war flach, nur in der Mitte erhob sich ein klotziger Aufbau, wahrscheinlich von der Airconditioning-Apparatur. „Im Sommer werden hier bunte Steinchen ausgestreut“, erklärte der Kellner hinter mir, „damit die Gäste denken, sie sitzen in einem Garten. Und Kübel mit Gewächsen werden aufgestellt und große Schirme gegen die Sonne …“ Ich hörte nicht weiter auf das Geschwätz des Mannes und ging quer über das von gestreutem Sand leise knirschende Dach zu der Seite hinüber, von der aus man auf die Straße sehen konnte. Das Parapett ging mir bis zum Brustbeinansatz. Wenn ich mich leicht vorbeugte, konnte ich das gegenüberliegende Trottoir se34
hen. Wer hier runterfallen wollte, der mußte sich erst einmal auf die Brüstung setzen. Runterfallen wollte? Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, daß Küpper sich freiwillig in den Hof gestürzt haben könnte. Ich wischte ihn sofort weg. Der nicht. So einer wie Küpper machte nicht ein solches Spektakel, nur weil er keine Lust mehr am Leben hat. Und dann: Warum hätte er das tun sollen? Ich hatte doch eine Stunde vorher noch mit ihm telefoniert. So, wie er gesprochen hatte, spricht keiner, der Schluß machen will. Der Kellner stand an der Hofseite des Dachgartens. Ich ging langsam zu ihm hinüber. „Hier muß er runtergefallen sein“, sagte er und deutete auf eine Stelle des Parapetts. Ein Fremdenführer hätte eine Sehenswürdigkeit in Geste und Tonfall nicht nachdrücklicher vorstellen können. Außergewöhnliches war nicht zu sehen, nicht mal die berühmten Kratzer, aus denen Detektive immer so viel schließen können. Ich trat auch hier bis an die Mauer heran; sie reichte mir wieder bis zum Brustbein. In den engen Hof konnte man nur bis zur Höhe der erleuchteten Fenster des zweiten Stocks sehen. Der Kellner erwartete offensichtlich, daß ich etwas sagte. Aber mir war nur kalt in dem Oktoberwind, dreißig Meter überm Erdboden. Mir fiel ein, daß mein Trenchcoat noch immer im „Würfelbecher“ hing. Ich ging zur Treppe zurück, hinter mir kam der Kellner. „So was ist immer peinlich für ein Haus“, sagte er. „Ja. Peinlich ist es.“ Ich nickte dem Kellner zu, Dank für seine Bemühung und Abschied in einem. Die Serviererin im „Würfelbecher“ wollte mich in ein Gespräch ziehen, als ich zahlte. Ob ich auch gehört hätte, 35
daß im „Esplanade“ einer vom Dach gestürzt sei. Ich sagte „Nein“ und ging aus dem Lokal. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich durch die Straßen gelaufen bin, ohne darauf achtzugeben, wohin ich ging. Jedenfalls landete ich kurz vor Mitternacht in einer Kneipe am Stadtrand, wo früher die Leute von der Landwirtschaft lebten und in langen Joppen und Hüten auf den Köpfen vorm Tresen standen und Grünen tranken. Jetzt sind hier Hochhäuser mit Appartements für Junggesellen, die sich die langen Abende nach dem Fernsehen mit einem Bier in der alten Kneipe vertreiben. Hier zum ersten Mal fiel mir Maria Klein ein. Den ganzen langen Weg über hatte ich an Küpper gedacht, hatte ich unsere wenigen Gespräche noch einmal fast Wort für Wort durchgekaut und war dabei doch mit keinem Gedankenfetzen an Maria hängengeblieben. Heinrich Küpper und immer nur Heinrich Küpper war mir im Kopf rumgegangen, und ich hatte ihn vor mir gesehen, körperlich, sein Gesicht, seinen Ansatz zum Schmerbauch, seine dürren Finger. Wie hatte ich da Maria vergessen können? Ich sah auf meine Uhr. Es war kurz vor eins, und wenn auch Maria in dieser Nacht wahrscheinlich kaum zum Schlafen kommen würde, schien es mir doch zu spät, noch einen Besuch zu machen. Ich trank einen Korn und machte mich dann auf den Heimweg.
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3. Meine 2-Zimmer-Altneubauwohnung in der Walraffstraße ist alles andere als komfortabel, noch weniger repräsentativ, dazu fehlt es mir an der nötigen Bewegungsfreiheit, wie meine Mutter immer gesagt hat, wenn sie meinte, sie hätte nicht genug Geld. Die größte Pracht geht von einem Set von Polstermöbel aus, adriablau und mit gelben Borten abgesetzt. Heute ist ja der blaue Flausch ziemlich schäbig geworden, damals aber strahlten die guten Stücke noch im Glanz ihrer Anilinfarben, und ich freute mich noch jedesmal daran, wenn ich ins Wohnzimmer kam. Sonst gab es kaum etwas in meinem Wohnzimmer, das der Beachtung wert gewesen wäre. Etwa der damals schon unmoderne Nierentisch, der so dünne Beine hatte, daß man sich kaum traute, eine volle Teekanne draufzusetzen? Oder der alte Schreibtisch, dessen Platte über und über mit Kratzern und tief eingefressenen Ringen von Tassen und Gläsern bedeckt war und den ich, weil er so unansehnlich geworden war, meinen „Arbeitstisch“ nannte, so als wär’s eine Hobelbank oder ein Schneidertisch? Oder die drei Bücherkästen, die nicht sehr fest an der Wand hingen und die damals zehn Dutzend Romane und ein paar journalistische Fachbücher enthielten? Mein Auge jedenfalls ruhte damals mit Wohlgefallen nur auf der Polstergarnitur, auf keinem anderen Möbel, besonders nicht in dieser Nacht. Ich kroch ins Bett meines noch weniger repräsentativen Schlafzimmers, machte das Licht aus und schlief doch lange nicht ein. Bilder schaukelten mir durchs Hirn, unscharfe Bilder von Menschen, deren Gesichter nur für Momente zu erkennen waren. Und ich hörte Küppers Stimme, auch sie undeutlich, fast murmelnd, hörte Maria Klein sprechen, und sie sagte viel mehr, als ich sie jemals sagen gehört hatte; sie sagte, sie hätte das alles kommen 37
sehen, und es wäre ein sehr riskantes Spiel gewesen, auf das Küpper sich eingelassen hatte. Ich fragte mich noch, wieso ich da einfach Schlüsse zog, die darüber hinausgingen, was ich wissen konnte. Dann dämmerte ich hinüber. Ich schlief schlecht und wachte früh auf und fühlte mich, als ob ich gar nicht geschlafen hatte. Und ich wachte mit dem Gefühl auf, als würde der Tag Überraschendes bringen. Doch zunächst ereignete sich nichts als nach dem Frühstück ein Anruf aus der Redaktion. Vilshofen, der erste Lokalredakteur, war am Apparat. Ich hatte mein freies Wochenende und wollte schon, als ich seine heisere bayrische Stimme hörte, mit einer wenig schönen Bemerkung den Hörer wieder auf die Gabel legen. Doch nach „Guten Morgen“ und dem ersten Satz hörte ich zu. „Da ist ein Mann vom ‚Esplanade‘-Dach gestürzt“, sagte er, „gestern abend. Der Polizeibericht ist vor zwei Stunden in der Redaktion eingetroffen.“ „Und?“ „Ich habe im Präsidium angerufen.“ Pause. „Da sagte man mir, es wäre gestern schon einer vom ‚Stadtboten‘ am Unglücksort gewesen. Könnten Sie mir unter Umständen vielleicht verraten, wer’s war?“ Ich spürte förmlich das Lauern in Vilshofens heiserer Bayernstimme. „Ja“, sagte ich. „Habe ich es mir doch gedacht.“ „Ein Journalist muß eben überall sein, wo etwas los ist.“ „Lassen Sie den Schmarren“, sagte er verärgert. „Sonst sind Sie nicht so supergescheit, und man muß Sie mit der Nase auf Neuigkeiten stoßen. Aber wenn Sie schon mal zufällig an einem Ort sind, wo etwas passiert, dann könnten Sie auch an die Leute denken, die für Ihre 38
Frühstückssemmeln sorgen.“ „Aber ohne Butter, verehrter Chef.“ „Wie meinen?“ „Daß Sie recht haben.“ „Dann tun Sie mal was“, sagte er so grämlich, als ob ich ein Riesensalär bezöge und für die Zeitung noch nie eine Zeile geschrieben hätte. „Erkundigen Sie sich, wer der Mann war, ob sein Tod liebe Angehörige verwaist zurückläßt, ob er so bekannt war, daß ein kleiner Nekrolog in Frage kommt, et cetera et cetera. Gehen Sie mal in seine Wohnung: Spießergasse zwölf. Der Mann soll dort eine Weinhandlung betrieben haben.“ Ein Glück, daß ich kein Fersehtelefon hatte, sonst hätte mein Grinsen Vilshofen vom Stuhl gefegt. „Ich habe mein freies Wochenende“, sagte ich. „Mann, ein Journalist ist immer im Dienst.“ Das war der siebte von den zehn „Grundsätzen für die Arbeit eines Journalisten“, die unser verehrter Chefredakteur in Mußestunden für uns gehäkelt hatte. „Zu Befehl!“ schnarrte ich in die Sprechmuschel. „Also beeilen Sie sich bitte. Um fünf ist Redaktionsschluß.“ Das letzte sagte er, als wäre ich ein Landwirt, dem bei einer Besichtigung des Verlags Arbeitsprinzipien erklärt werden. Dann legte er auf. Ich stand noch einige Sekunden unschlüssig, den Hörer in der Hand. Ich hatte Maria sowieso besuchen wollen. Vielleicht war es ganz gut, wenn ich sozusagen in offiziöser Eigenschaft bei ihr aufkreuzte. Das konnte das Ganze weniger neugierig und zudringlich erscheinen lassen. Ich zog den besseren von meinen beiden Anzügen an, den mit dem dezenten Karo, und überlegte eine Sekunde lang, ob ich eine schwarze Krawatte umbinden sollte, entschied mich aber dann doch für die Silbergraue, Marke 39
Krupp-Subdirektor, und fand, ich sähe gut aus. Der schwarze Schlips wäre vielleicht doch zu aufdringlich gewesen. Ich gehörte nun einmal nicht zur Familie, auch wenn mir Heinrich Küpper vor zwei Tagen das Du angeboten hatte. In der Spießergasse zwölf herrschte nicht eine Stimmung der Auflösung, wie ich befürchtet hatte. Zunächst einmal war es so: Mir öffnete eine Frau in Schwarz, die ich nicht kannte, und starrte mich an. An ihren hellen Augen und der langen schmalen Nase erkannte ich sofort, daß sie Martha sein müßte, Heinrichs ältere Schwester, auch wenn außerdem keine Familienähnlichkeiten festzustellen waren. Küpper hatte sie in seinen Monologen einige Male erwähnt. Einen Augenblick später tauchte hinter ihr Maria auf, wieder in ihrem Kleid mit den großen Blumen und dem großen Ausschnitt. Ihre Gesichtsfarbe war fahl, aber das konnte auch am Licht des grauen Tages liegen. „Das ist Clemens“, sagte sie im Rücken von Küppers Schwester, „Clemens Schweizer, ein Freund von Heinrich. Das ist Frau Wiskirchen, Heinrichs Schwester.“ „Guten Tag“, sagte ich und wußte nicht, wie ich fortfahren sollte. Hätte ich der fremden Frau die Hand drücken sollen: Mein herzliches Beileid? Am liebsten wäre ich einfach in die Probierstube getreten. Aber sie blieb in der Tür stehen und starrte mich weiter an, ohne Marias Erklärung mit einem Lidschlag zu bedenken. So sagte ich das, was mir gerade einfiel, und das war nicht gerade das klügste: „Es tut mir leid.“ Die Frau neigte leicht den Kopf und gab mir den Weg frei, indem sie einen Schritt zur Seite machte. Ich nahm den Hut ab und ging auf Maria zu. Dabei fiel mir auf, daß sie zu dem bunten Kleid schwarze Strümpfe und feste 40
schwarze Schuhe trug, was ziemlich grotesk aussah, durch den Kontrast aber auch reizvoll wirkte. „Er ist noch im Schauhaus“, sagte sie, „ich habe ihn heute früh gesehen.“ Es schüttelte sie leicht. „Man hat mir gesagt, du wärst gestern abend dabeigewesen.“ Ihr „Du“ klang mir fremd in den Ohren. „Ja, ich war in der Nähe, als es passierte.“ „Mein Bruder war kein Selbstmörder“, sagte Frau Wiskirchen unvermittelt und hart. Ich drehte mich zu ihr. Ihre Nase war weiß, ihre Lippen waren zum Strich verzogen. „Das denken sie doch alle.“ „Er ist von einem Dach auf den Hof gestürzt“, sagte ich. „Ein Küpper bringt sich nicht um. Das wäre ja noch schöner!“ Und das letzte klang, als hätte sie gesagt: Das hätte noch gefehlt! Jetzt mischte sich Maria ein. „Davon hat niemand gesprochen“, sagte sie. Die beiden Damen schienen sich nicht gerade zu lieben. Die Blicke, mit denen sie einander musterten, hätten kleine Löcher in der Haut hinterlassen müssen. Mir wurde der Kragen zu eng, und um aus der Verlegenheit zu kommen, wies ich auf einen der Stühle. „Darf ich?“ Frau Wiskirchen ignorierte meine Frage, Maria nickte. Bei Tageslicht machte die Probierstube einen öden Eindruck. Am Haken neben der Tür zur Privatwohnung hing eine Hausjacke mit Husarenverschnürung. „Möchten Sie etwas trinken?“ Heinrichs Schwester schien das Kommando schon übernommen zu haben. „Herr Schweizer trinkt am liebsten Bier“, sagte Maria. Das war ihre Art zu zeigen, daß sie diejenige war, die besser Bescheid wüßte. Dann ging sie in die Küche. Frau Wiskirchen setzte sich mir gegenüber an den Tisch. Jetzt bemerkte ich, daß sie eigentlich eine schon 41
alternde Frau war, mit feinen Falten rund um die Augen und mit tiefen, groben am Hals. Sie sah müde aus, und ihre Hände auf dem Tisch zitterten leicht. „Ich bin vor drei Stunden erst eingetroffen“, sagte sie. „Ich wohne in Brechthoven.“ Brechthoven ist ein Ort, in dem Bauern und Rentiers leben, und es liegt ungefähr fünfzig Kilometer von unserer Stadt entfernt. Ich kannte das Nest. Als sich da die grausige Geschichte mit dem Witwer ereignete, der mit einer Pulle Blausäure seine sämtlichen Kinder und Kühe vergiftete, war ich von der Zeitung hingeschickt worden. „Muß mich ja schließlich um Heinrichs Sachen kümmern.“ Das klang so, als wollte sie seine Socken und Unterhosen stopfen. „Fräulein Klein ist mir dabei eine große Hilfe.“ Jetzt erst ging mir auf, daß Maria in der Bedrouille war. Ob Heinrich für sie gesorgt hatte? Von der Frau da würde sie nicht viel zu erwarten haben. Fräulein Klein ist mir dabei eine große Hilfe … Mir kroch eine Gänsehaut über den Rücken, als ich mich in Marias Situation hineindachte. „Fräulein Klein war Ihrem Bruder eine große Hilfe“, sagte ich, „und mehr als das.“ „Ich weiß“, sagte Frau Wiskirchen. Sie sah mich erwartungsvoll an, ob ich dieser landläufigen Aussage etwas hinzusetzen würde. Ich setzte nichts hinzu. Ich fragte: „Wissen Sie, ob es irgend jemanden gab, der Ihrem Bruder nicht grün war?“ „Grün?“ „Entschuldigen Sie.“ Mir wurde siedendheiß, und ich schluckte einmal heftig. „Ich meinte: Können Sie sich vorstellen, daß jemand Ihren Bruder nicht mochte?“ „Ja.“ Das Wort war wie ein Knall. Aus der Tür zur Küche sah ich Maria auftreten, eine große Bierflasche in der 42
Hand. „Ich mochte ihn nicht“, sagte Frau Wiskirchen wie eine Lehrerin, die den Eltern eines Kindes mitteilt, ihr Sohn sei unausstehlich. „Nicht mehr. Er ist mir in den letzten Jahren, seit er wieder in der Stadt lebte, völlig entfremdet worden. Auch meinem Mann. Man konnte kaum mehr mit ihm reden. Wissen Sie“, sie warf von unten einen Blick auf Maria, die sich am Flaschenverschluß zu schaffen machte, „früher war Heinrich eine Seele von einem Menschen. Früher war er ganz anders, da konnte man ihn noch lenken.“ Ich sah ihr in die Augen und glaubte ihr aufs Wort. Dann sah ich Maria an und wußte, daß die schreckliche Klage ihr galt. „Auch noch in der Pubertät“ – sie sagte wirklich „Pubertät“ – „war er umgänglich. Ich erinnere mich an den einen Tag, an dem wir …“ Ich stellte meine Ohren auf Durchzug. Hätte ich doch nur nicht so ein Gespräch angefangen, dachte ich und ließ meine Blicke über Marias Busenansatz spazieren, als sie sich zu mir hinunterbeugte und mir Bier eingoß, und ich schnupperte Gemisch von Parfüm und Schweiß. Es hat keinen Zweck, Geschwister zu befragen, wenn man etwas über jemanden erfahren will. Da rülpst so viel hoch, so viel Unverdautes aus der Kindheit, und zwei Dutzend Murmeln, um die der eine den anderen einmal betrogen hat, können die Rolle einer nicht wiedergutzumachenden Beleidigung spielen. Während ich meine Blicke ausschickte und meine Nasenflügel blähte, hörte ich die Kaskade von Worten an meinem Ohr vorbeifallen: freundlicher Junge, fast scheu, nie mit Straßenbanden gezogen, wenn er auch manchmal erstaunliche Anzeichen von Eigensinn und fast hinterhältig zu nennenden Trotz an den Tag gelegt habe, in der Schule gut bis auf Leibesübungen. (Gott, diese Wortwahl! dachte ich.) Marias Augen und ihr 43
Mund kommentierten die Suade lautlos. Wir Männer, stelle ich mir vor, kennen ja gar nicht die Abneigung, die zwischen Frau und Frau weben kann. An dem Morgen habe ich ein bißchen davon zu spüren bekommen, am Rand. Die eine jammerte auf rechthaberische Art darüber, daß ihr Bruder nicht ein blödes Kind geblieben war; die andere wußte, daß der Mann, den die eine nicht kannte, ein Mann gewesen war, den zu lieben sich gelohnt hatte, und das gab ihr ein Übergewicht, auch wenn sie, wie es aussah, durch Küppers Tod ohne Stütze und Mittel zurückgeblieben war. Frau Wiskirchen war dahin gekommen, ihre Entfremdung vom Bruder während der letzten zehn Jahre schlechtem Umgang zuzuschreiben; da sagte Maria: „Unsinn.“ Sie sagte es ohne Leidenschaft, mehr feststellend. Die Luft im Zimmer war zu dick zum Atmen geworden. Doch es ereignete sich vorerst gar nichts. „Sie müssen es ja besser wissen“, das war alles, was Frau Wiskirchen sagte. Sie stand auf und ging aus der Probierstube. Ich trank lustlos von meinem Bier. „Den braven Heinrich hat es nie gegeben“, sagte Maria. In ihrer Stimme war so etwas wie die Schadenfreude des Wissenden, der dem Ratenden weit voraus ist. „Was für einen Heinrich hat es denn gegeben?“ „Nur den einen“, sagte sie. „Der gestern abend von einem Dach gestürzt ist.“ „Oder gesprungen ist?“ „Oder gestoßen worden ist?“ Ich hatte das nicht sagen wollen. Jetzt fürchtete ich, Maria würde protestieren. Doch sie setzte sich nur und sah mich still aus ihren braunen Rheinpfalzaugen an. „Ich glaube, du hast ihn doch nicht richtig gekannt“, sagte sie dann. 44
„Wer waren die Männer, mit denen er sich getroffen hat?“ „Ehemalige Schulkameraden“, sagte sie. „Das weißt du doch. Und seine Kunden sind sie gewesen.“ „Kunden? Alle fünf? Und der Alte dazu?“ Als wäre ihr ein Wort zuviel herausgerutscht, antwortete sie schnell und wie nebenbei: „Na ja, Kunden alle sechs. Wie andere auch.“ „Wie andere auch? Was haben sie denn gekauft?“ „Was soll man in einer Weinhandlung schon kaufen?“ sagte sie unsicher. „Jedenfalls war es nett von ihnen, alle bei ihrem alten Schulfreund zu kaufen. Vielleicht haben sie sich dazu verabredet, um Heinrich zu helfen“, sagte ich und beobachtete Maria. Sie blickte auf die Tischplatte, fuhr mit einem Finger die Holzmaserung entlang. „Heinrichs Geschäft ging doch wohl nicht besonders gut?“ Sie sah hoch. „Was soll die Fragerei?“ Ihre Stimme war noch dunkler geworden, fast heiser. „Wir … ich meine, Heinrich konnte gut leben.“ Frau Wiskirchen kam wieder in die Probierstube. Man sah es ihr an, daß sie sich draußen gesammelt hatte. Ihre Miene war gesetzt, ihre Bewegungen wirkten wie abgezirkelt. Jetzt stand Maria sofort vom Stuhl auf und ging hinaus, Das war deutlich. Doch Frau Wiskirchen ließ sich keine Verärgerung anmerken. „Für sie wird es noch schwer werden“, sagte sie mit einer Kopfbewegung zur Tür hin. „Er hat ihr nichts hinterlassen.“ „Entschuldigen Sie die Frage: Gab’s denn etwas Nennenswertes zu hinterlassen? Er machte auf mich nicht gerade den Eindruck von Wohlhabenheit.“ Frau Wiskirchen überhörte meinen Einwurf. „Natürlich 45
werde ich sie nicht auf die Straße setzen“, sagte sie. „Fräulein Klein hat meinem Bruder immerhin viel bedeutet.“ Dann folgte eine längliche Auslassung darüber, daß man den Willen von lieben Toten respektieren müsse. Das endete mit der Feststellung: „Aber schließlich war es auch sein Wille, Fräulein Klein nicht extra zu bedenken.“ „Ehe man von einem Dach fällt, kommt man in den wenigsten Fällen dazu, seinen Willen aufs Papier zu bringen.“ Ich las ihr von den Augen ab, was sie von mir dachte. Aber es war mir egal, was sie von mir dachte. Ich fühlte mich auf unerklärliche Weise beunruhigt, und das allein zählte in diesem Augenblick. Am liebsten wäre ich ins Wohnzimmer gegangen und hätte den häßlichen Sekretär aufgemacht und in ihm herumgestöbert. Vielleicht war da etwas zu finden. Was? Ich wußte es nicht, ich war einfach nur aufgestört davon, daß ein Mann, den ich eine Woche gekannt hatte, vom Dach gefallen war. Plötzlich spürte ich Appetit auf eine Zigarette, obwohl ich schon seit mehr als zwei Jahren nicht mehr rauchte, und wußte, daß ich wieder in die alte Angewohnheit zurückfallen würde, wenn ich mir jetzt eine ansteckte. Aber auch das war mir in diesem Augenblick gleichgültig. Wenn Frau Wiskirchen mir eine Zigarette angeboten hätte, würde ich wieder angefangen haben. Aber sie bot mir nichts an, redete auch nicht mit mir. Sie tat, als studierte sie die Schildchen an den Faßattrappen und kehrte mir dabei den Rücken zu. Ich hatte Muße, wieder einmal über das Problem nachzudenken, daß ältere Frauen oft noch eine passable Rückfront zu bieten haben. Dann hörte ich mich sprechen. Offenbar hatte sich mein Bewußtsein für Sekunden gespalten. Während der eine Teil noch mit den Beinen und den rückwärtigen Rundungen der 46
Dame beschäftigt gewesen war, hatte der andere sich weiter in den seit gestern abend eingeschliffenen Denkbahnen bewegt. Ich sagte: „Würden Sie mir wohl erlauben, einen Blick in die Kundenkartei Ihres Bruders zu werfen? Wenn es eine solche Kundenkartei gibt.“ Sie drehte sich langsam, fast zögernd um. Ich spürte, wie mir alles Blut in den Kopf zu steigen schien und mir die Gesichtshaut eng machte. Ihre Miene zeigte weder Überraschung noch Ärger. „Wenn es Ihnen Spaß macht“, sagte sie. Keine Frage nach dem Grund für dieses doch einigermaßen seltsame Anliegen. Sie ging vor mir ins Wohnzimmer, wies auf den Sekretär. Maria war nirgends zu sehen, und nichts war von ihr zu hören. Vielleicht hatte sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen. „Ich finde mich sowieso in den Buchungen nicht zurecht“, sagte Frau Wiskirchen. „Vielleicht können Sie mir einiges erklären. Bis mein Mann kommt. Er ist nämlich auf einer Geschäftsreise.“ Sie führte mich ins Wohnzimmer und ging selbst wieder in die Probierstube. Offensichtlich hatte sie wirklich kein Interesse an dem, was ich vorhatte. Die Rollklappe des Sekretärs stand offen und entblößte einen ungeordneten Haufen von Rechnungen, Quittungen, Bestellungen, Bankbelegen und ab und zu auch einen Brief, der nicht direkt auf den Kauf und den Verkauf von Wein bezogen war. Der Papierhaufen war teilweise auf zwei Dorne aufgespießt; andere Blätter steckten in einer Mappe oder lagen lose herum. Nach zwei, drei ordnenden Handgriffen fand ich einen maschinengeschriebenen Brief, der erst vor einer Woche 47
abgeschickt war. „Lieber Freund Heinrich“, stand da, „als Vorsitzender der Verbindung ehemaliger Schüler unseres altehrwürdigen Paulus-Gymnasiums lade ich Dich herzlich zu einem gemütlichen Beisammensein ein, das wir anläßlich der 25. Wiederkehr des Tages begehen wollen, an dem die O Ib des Jahrgangs 1941 ihre Abiturprüfung bestanden hat. Treffpunkt: Samstag, den 31. Oktober, abends 8 Uhr, im Rheingrafenstübchen des Hotels ‚Esplanade‘. Mitzubringen sind: gute Laune und ein Sack voll Erinnerungen. Mit herzlichem Gruß und auf Wiedersehen in alter Frische, Dein Markus Stocksiepen“. Ein PS war in adretter, leicht entzifferbarer Handschrift angehängt: „Wir werden dann auch über die Sache reden können und hoffentlich endlich zu einer Einigung kommen. M. S.“ Ich schob den Brief beiseite, unter eine Kladde, auf der „Wareneingang“ stand. Dann begann ich die Papiere mechanisch zu sortieren: die Rechnungen, die Quittungen, die Bankbelege … Der Brief von Stocksiepen war so nichtssagend, wie solche Einladungen nun einmal sind, und mit dem Postskriptum konnte ich auch nicht viel anfangen. Es schien zwischen Küpper und Stocksiepen etwas gegeben zu haben, worüber sie sich seit langem uneinig waren und über das Stocksiepen „endlich“ zu einer Einigung kommen wollte. War es dieselbe Sache, derentwegen Küpper am Abend vor seinem Tod zu mir gesagt hatte, er habe da noch ein Hühnchen zu rupfen? „Was machen Sie denn da?“ Maria Klein siezte mich wieder. Sie sah ganz verändert aus, und erst nach ein paar Sekunden bemerkte ich, woher das kam: Sie hatte ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid angezogen, und das Schwarz machte 48
sie unwirklich. Nur Gesicht und Hände schimmerten hell, als wenn sich auch ihre Haut dem Tod des Freundes angepaßt hätte. Sie schien meine Verwirrung bemerkt zu haben. Jedenfalls fuhr sie, wesentlich weniger scharf, fort: „Ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber ich finde es sonderbar, wenn man in anderer Leute Sachen herumschnüffelt.“ „Ich schnüffle nicht“, sagte ich. „Frau Wiskirchen hat mir erlaubt, mich ein bißchen in der Kundenkartei umzusehen.“ „Ach, die.“ Ich mache Maria heute keine Vorwürfe mehr, daß sie damals nicht freundlicher zu mir gewesen ist. Aber als ich über den Papieren stand und sie mich so abkanzelte, würgte mir die Wut doch ein bißchen in der Kehle. Es dauerte einige Sekunden, bis ich wieder sprechen konnte, und ich bemühte mich, in der Art erfahrener und mit den Sünden der Welt auf Duzfuß stehender Pfarrer und Kriminalisten zu sprechen, also sanft und doch bestimmt. „Maria“, sagte ich, „vielleicht erscheine ich Ihnen als aufdringlich. Aber ich muß einiges von Ihnen wissen.“ „Sie müssen?“ Sie blickte zu Boden, als sie das sagte, auf das rot und schwarz gemusterte Bouclé. „Verstehen Sie mich richtig, Maria: Ich mochte Heinrich Küpper.“ „Wem sagen Sie das?“ „Und ich glaube nicht an einen Unfall. Ich habe mir den Dachgarten angesehen. Das Parapett ist brusthoch.“ „Heinrich war größer als Sie.“ Ich merkte, wie sie sich sperrte. „Vielleicht wollte er auch springen, wer weiß?“ „Hat er an seinem Geburtstag den Eindruck gemacht?“ Sie schwieg, und es war nicht das Schweigen, das aus der Ratlosigkeit kommt, sondern aus dem Trotz. 49
„Erinnern Sie sich, was er am Freitag zu mir gesagt hat? Er hätte ein Hühnchen zu rupfen, hat er gesagt, und er wollte mir etwas geben, nach dem sich alle Zeitungen die Finger lecken würden. ‚Wenn die nicht brav sind‘, hat er gesagt. Maria, was für ein Hühnchen gab es zu rupfen, und was wollte er mir zur Veröffentlichung geben?“ Maria schwieg. „Vielleicht können wir die Polizei auf eine Spur bringen.“ Ich versuchte es mit einem Appell an ihr staatsbürgerliches Gewissen. Es war offensichtlich nicht sehr stark ausgeprägt, denn sie sagte noch immer nichts. Doch ich merkte, wie es in ihr arbeitete. Ihre Brust hob und senkte sich merklich, und in der Stille, die jetzt im Zimmer herrschte, war ihr Atmen zu hören. Ich wartete ab, kehrte mich wieder dem Sekretär zu und tat, als wühlte ich weiter in den Papieren herum. „Ich habe Heinrich geliebt“, sagte sie. Ich drehte mich nicht um, so gern ich ihr in diesem Augenblick auch ins Gesicht gesehen hätte. Ich wartete; wie lange, weiß ich nicht. Damals schien es mir, als müßte mindestens eine Viertelstunde vergangen sein, ehe ich ihre Stimme wieder hörte. „Er ist tot, und mir ist es gleich, wie er gestorben ist. Er ist tot.“ Dann hörte ich die harte, helle Stimme von Frau Wiskirchen. „Wenn Sie die Namen von den Herren wissen wollen, mit denen er zusammen war, die können Sie von mir haben“, sagte Frau Wiskirchen. „Ich kenne sie alle, von früher her kenne ich sie noch, und ich weiß auch, was aus ihnen geworden ist, aus jedem einzelnen von ihnen.“ Jetzt wandte ich mich um. Sie hatte offenbar von der Küche her unser Gespräch belauscht. 50
„Ich kenne sie alle“, wiederholte Frau Wiskirchen, und sie begann mit leiernder Stimme, als sage sie eine Litanei auf: „Friedrich Wilhelm Frobenius, Studienrat in Ruhe;. Fritz Schneifel, Altproduktenhändler; Joseph Humbach, Pfarrer an der Kirche von den Sieben Schmerzen; Markus Stocksiepen, Direktor beim Versicherungskonzern ‚Kontinentale‘; Karl Günther Katzmann, nennt sich Karl Günther, Schauspieler ; Klaus Scharrer, Zahntechniker.“ Der Ton, in dem die Liste vorgetragen wurde, hätte mich fast zu der schönen Respons „parce nobis, domine“ verleitet. Aber das lag wohl an lang eingeübten Gewohnheiten aus der Jugend, die einem ein zweites Signalsystem einpflanzen. „Alles ehrenwerte Herren“, schloß Martha Wiskirchen, „mit denen mein Bruder zusammengekommen ist.“ Damit verließ sie das Zimmer. Maria schien erleichtert, als wir beide wieder allein waren, und ich hatte das Gefühl, sie hätte sich mir am liebsten an den Hals geworfen und ihren Tränen freien Lauf gelassen, wie es so treffend heißt. Doch sie tat nichts dergleichen. Steif, wie aufgezogen folgte sie nach einigen Sekunden Martha Wiskirchen durch die Tür zur Küche. Die Namen hatte ich natürlich nicht alle behalten, war aber durch ihre Nennung schon alert geworden. Wenn die Männer, wie Maria gesagt hatte, allesamt Kunden bei Küpper gewesen waren, dann mußten ihre Namen und Adressen doch auch In seinen Geschäftspapieren auftauchen. Also suchte ich. Im linken, abschließbaren Teil des Sekretärs, zu dem der Schlüssel steckte, fand ich die Warenausgangsbücher der letzten fünf Jahre. Doch keiner der Namen tauchte in ihnen auf. Das einzige Bemerkenswerte, das ich feststellte, war der Umstand, daß Küppers Weinhandlung wirklich nicht floriert hatte. Wie 51
einer bei dem Umsatz überhaupt hatte existieren können, war mir unerklärlich. Ich legte die Bücher wieder an ihren Platz. Dabei muß ich gegen einen Riegel, der unter der Innenkante der Schreibtischplatte angebracht war, gestoßen sein. Der löste eine Feder aus, und die wieder ließ mit einem leisen Knacken ein schmales Fach im Aufsatz aufspringen, das in Augenhöhe angebracht und so in das Furnier eingepaßt war, daß man von außen keine Fuge hatte sehen können. Man kennt diese Spielereien in alten Sekretären, durch die der Hausherr seine Geheimnisse sicher vor neugierigen Augen glaubte, deren Mechanismus jedoch in Wirklichkeit jedes halbwegs gewitzte Dienstmädchen nach dem ersten Staubwischen entdeckte, von der Gattin, die auf der Suche nach Geheimzuhaltendem war, ganz zu schweigen. In dem Fach lag ein blauer Aktendeckel mit der Aufschrift „Konto Gersdorff“. Ich schlug die Akte auf. Da fand ich sie alle, die Namen: Frobenius, Schneifel, Humbach, Stocksiepen, Katzmann, Scharrer. Jeder von ihnen stand auf einem gesonderten Blatt, und die erste Eintragung war mit dem Datum des 15. Dezember 1959 versehen: „2 Kisten Katzenbacher Gutedel à 24 Stück.“ Dem Preis nach konnte das Getränk nicht allzu gut und edel sein, das fiel sogar mir auf. Der Empfänger war Pfarrer Dr. Joseph Humbach, Mariahilfgasse 17. Noch etwas fiel mir beim Betrachten des Weinkontos des geistlichen Herrn auf: am 15. Januar 1960 waren wieder zwei Kisten angemerkt, von derselben Marke, am 15. Februar das gleiche und so fort das ganze Jahr und das folgende hindurch, und ab 1962 waren es pro Monat sogar drei Kisten Gutedel, die den Weg ins Pfarrhaus genommen hatten. Beachtlich, dachte ich, sehr beachtlich. Hochwürden ist ein kleiner Gargantua, 52
dachte ich, der Jahre hindurch Tag für Tag, bei Regen und Sonnenschein, bei der Arbeit und im Urlaub, in Freuden und beim Fasten, krank oder gesund zwei Flaschen Gutedel getrunken hat. Und dann stutzte ich abermals: Vom Januar 1964 ab hörte der Weinsegen auf; nur noch lächerliche fünfzehn Flaschen waren vermerkt, und das blieb die Jahresbilanz. Die Flut war in Tröpfeln verwandelt, der große Durst gestillt. Und er war auch während der nächsten zwei Jahre nicht mehr ausgebrochen, verharrte auf fünfzehn Flaschen in dem beachtlichen Zeitraum von zwölf Monaten. Vielleicht, überlegte ich mir, ist Dr. Humbach die Weinsauferei leid geworden, und er hat sich auf die hochprozentigen Spaßmacher umgestellt, oder seine Leber hatte ihm Dienst und Gehorsam aufgekündigt. Seltsam auf jeden Fall. Da sah ich mir die Weinkonten der übrigen groß gewordenen Schüler an, und meine Verwunderung wuchs bei den nächsten beiden Blättern, dem von Stocksiepen und dem von Schneifel. Auch hier war bis Zum Dezember 1964 ein unerhörter Weinkonsum verzeichnet. Er erreichte Höhen, die den Verdacht von schlimmem Alkoholmißbrauch hätten aufdämmern lassen können. Na ja, so ein Schrotthändler mag durstig sein und viel durstigen Besuch von Geschäftsfreunden haben. Aber daß der Durst auch dieser beiden Herren mit dem Neujahr 1964 auf zwanzig Flaschen zusammengeschrumpft war, das war mir denn doch zu bunt. Hastig überblätterte ich das übrige und war fast zufrieden, daß es in der Tendenz nicht von den bisherigen Konten abwich: Katzmann hatte seinen Verbrauch von fünfzehn Kisten auf vier Flaschen reduziert. Der Zahnklempner Scharrer trank von 1964 an sogar nur noch zwei Flaschen, genau wie der alte Steißtrommler Frobenius, von dem der Kellner im „Esplanade“ behauptet hatte, der Herr hätte nur Selters zu sich genommen. Um 53
der beiden Askese zu erklären, genügte mir ein Blick auf ihre Konten seit 1959: Sie waren ohnehin weit bescheidener im Genuß gewesen. Ich weiß nicht, ob ich schnaufend die Luft ausstieß, nachdem ich mich einigermaßen informiert hatte. Jedenfalls schwindelte mir, und ich setzte mich und schlug den Aktendeckel zu. Da sprang mich der Name an, den ich zuerst gelesen hatte: Gersdorff. Konto Gersdorff. Ich blätterte noch einmal in meinem Fund herum. Ein Kontoblatt auf den Namen Gersdorff gab es nicht. Vielleicht war das ein schon einmal gebrauchter Schnellhefter, aber als ich Namen und Adresse der seltsamen Kunden in mein Notizbuch abschrieb, fügte ich auch den Namen Gersdorff hinzu und setzte ein Fragezeichen hinter ihn. Eine halbe Stunde nachdem Maria mich allein gelassen hatte, betrat ich wieder die Probierstube. Frau Wiskirchen schien auf mich gewartet zu haben. Ihre Augen fragten: Nun? Wie sieht’s aus? „Viel Einblick geben einem die Papiere nicht“, sagte ich und wußte, daß ich nicht log. „Vielleicht läßt man mal einen Fachmann da ran.“ „Ich wollte ohnehin meinem Rechtsanwalt die Sache übertragen“, sagte sie müde. „Ich dachte nur, Sie könnten sich schon jetzt ein Bild machen.“ „Es tut mir leid.“ Damit war ich wieder bei der Floskel, mit der ich mich eingeführt hatte, und es rastete in meinem Gehirn ein Hebel ein. Ich dachte ans Weggehen. Schnell, fast hastig verabschiedete ich mich, ohne nach Maria zu fragen. Im Hinausgehen streifte mein Blick die Bierflasche auf dem Tisch, aus der ich keinen Schluck getrunken hatte. Auf der Straße atmete ich ein paarmal tief durch. Meine Beine machten von selbst vor der nächsten Kneipe halt. 54
4. In der Redaktion empfing mich Vilshofen nicht gerade freundlich, und als ich ihm ein handtellergroßes Stück Papier aus meinem Notizbuch unter die Nase legte, schnaufte er: „Ist das alles?“ „Keine Witwe mit doppeltem Boden, kein prominentes Leben, kein dickes Bankkonto“, sagte ich. „Da ist einfach einer vom Dach gefallen.“ „Sie werden es nie zu was bringen, Schweizer“, knurrte er. „Das hat mir mein Vater auch schon prophezeit, wenn ich in der Schule die Wahrheit gesagt und deswegen den Arsch voll gekriegt habe.“ Ich war schon fast wieder an der Tür, da konnte ich mir einen Zusatz nicht verkneifen: „Ich warte nur darauf, daß Sie in Pension gehen, dann steht meiner Karriere als Knickerbocker nichts mehr im Weg.“ Genau das hätte ich nicht sagen sollen, ich weiß es, und ich wußte es auch an diesem Sonntagnachmittag. Ich kannte doch seinen geheimen Wunsch, ein Kerl wie Knickerbocker werden zu wollen, und seine nie verheilende Wunde, keiner geworden zu sein. Und genau auf die Wunde hatte ich gezielt, und ich hatte ihn getroffen. „Saukerl!“ bellte er. Wenn er wütend war, wurde er erfrischend bayrisch. Dann: „Raus, Sie Depp! Lassen Sie sich so bald nicht wieder sehen!“ „Vielen Dank“, sagte ich. „Ich wollte sowieso fragen, ob ich morgen etwas später kommen kann.“ „Meinetwegen brauchen Sie überhaupt nicht mehr zu kommen.“ Ich machte meine schönste Verbeugung, ging nach Hause und sah mir drei Stunden lang das Fernsehprogramm an: Western, Sport, Politisch-Aktuelles, wieder Sport, den Anfang eines Fernsehspiels, in dem eine ge55
lähmte Dame mit einem Turnierspringer verheiratet war und es vorzüglich wegen ihres Beinleidens doch nie zu gänzlicher Harmonie mit ihrem Reitersmann brachte; dann knipste ich aus und schlief ein. Als ich gegen Mitternacht wach wurde, war ich hundemüde und doch nicht zum Weiterschlafen aufgelegt. Mit einer Kanne Kaffee setzte ich mich an meinen Nierentisch und holte mein. Notizbuch aus der Tasche. Da waren sie wieder, die sechs Namen nebst Adressen und den Mengen, die sie getrunken oder jedenfalls von Küpper gekauft hatten, bis sie alle von einem Tag auf den anderen seinen Wein nicht mehr mochten. Das sah ganz nach gemeinsam beschlossenem Boykott aus: Kameraden auch noch Jahre nach dem Tag, an dem sie ins Leben entlassen worden waren, wie der Schul-Zeus ihnen sicherlich die Situation umschrieben hatte, als er ihnen die Reifezeugnisse überreichte und sie ins Schlachten entließ. Amen. Ich schob das kleine Buch von mir weg. Ich dachte noch: Konto Gersdorff? Hat das überhaupt etwas zu bedeuten? Dann weigerte sich mein Gehirn, sich weiterhin mit Küppers Angelegenheiten zu befassen. Am Morgen, beim Rasieren, hatte mich der Gedanke wieder: Wie war Küpper umgekommen? Warum hatte er sterben müssen? Müssen? Ich stellte den elektrischen Apparat ab und setzte mich auf den Rand der Badewanne. Hatte ich nicht genug mit meinen eigenen Angelegenheiten zu tun? Mit dieser Scheiß-Zeitung, für die ich meine Zeit verplempern mußte, mit den paar Amouren, mit Korn und Bier abends, mit dem Fußball am Wochenende, mit einem Roman hin und wieder und mit dem Fernsehen jeden Tag? Küpper hatte schließlich dieses Leben nur gestreift, kaum eine Spur hinterlassen. Oder doch eine? Ich fragte mich, ob es geschehen kann, daß 56
einer in ein Leben tritt und dann einfach da ist und nicht mehr weggeht, auch wenn er nicht mehr da ist, weil er zuviel in dieses Leben hineingeschleppt hat, an Freundlichkeit zum Beispiel oder einfach nur an Persönlichkeit. Ich stellte den Apparat wieder an, und in seinem Schnurren verlor sich für eine Minute alle Überlegung. Das Rasierwasser biß und machte mich wieder wach. Was hatten Küppers Andeutungen am Geburtstagsabend zu bedeuten? Wonach würden sich alle Zeitungen die Finger lecken? Ich stand vorm Spiegel und sah mir ins Gesicht. So sah also einer aus, der möglicherweise einen Leckerbissen für die Zeitungen herbeischaffen konnte. Für ein paar Sekunden stellte ich mir vor: Vilshofen und Kaminski, der Chefredakteur, über Manuskriptseiten von mir gebeugt; und man konnte es ihnen von den Gesichtern ablesen, als sie sich wieder aufrichteten, daß sie mich unterschätzt hatten, bisher, bis ich ihnen mit dem Leckerbissen gekommen war. Ich spürte ein Kribbeln unter der Kopfhaut, das man hat, wenn etwas Bedeutendes bevorsteht oder wenn man es schon hinter sich gebracht hat. Aber das Kribbeln verging schnell, ich blickte wieder meinem Alltagsgesicht ins Auge. Und ich schämte mich ein bißchen. Warum eigentlich? Weil ich einen Moment davon geträumt hatte, nach all den Jahren Hilfsarbeit an einem Provinzblatt mal etwas größer herauszukommen? Vielleicht störte mich nur der unterschwellige Gedanke, daß so etwas auf Kosten eines Toten geschehen sollte. Clemens Schweizer, ein durchschnittlicher Bundesheini ohne Auto und mit alltäglicher Manier, die Zeit totzuschlagen, profitiert davon, daß einer nicht alltäglich gewesen ist, jedenfalls nicht so durch und durch. 57
Ich schüttelte mich wie nach einem kalten Wasserguß. So ein Morgen, vollgestopft mit den üblichen Verrichtungen, bietet kaum Gelegenheit, über das Praktische hinaus zu denken. Und das Praktischste wäre, dachte ich, wenn ich bei Kommissar Munter mal vorfühlte, wie sich übers Wochenende alles so entwickelt hatte. Ich fuhr mit der Fünf ins Polizeipräsidium. Unterwegs legte ich mir zurecht, was ich und wie ich es Munter sagen wollte. Ich durfte auf keinen Fall die Rolle des Spökenkiekers annehmen, das war mir klar. Als ich dann vor ihm stand, zum ersten Mal bei Tageslicht und in der Umgebung, in die er hineingehörte, kam er mir ganz anders vor als im „Esplanade“. Fast nur die Glatze stimmte noch. Aber das Forsche war weg. Munter war ein alter Mann mit Tränensäcken, und er hatte den säuerlichen Geruch alter Männer an sich, die Pfeife rauchen. Das ganze Zimmer war voll von dem Geruch, er schien aus dem offenen Aktenschrank zu kommen, aus dem Schreibtisch. Im ersten Moment nahm er mir den Atem. Die beiden Gummibäume am Fenster sahen seltsamerweise ganz gesund aus; ganz grün, wie Gummibäume aussehen. „Ah, der Mann vom ‚Stadtboten‘“, sagte er, als sei er überrascht und nicht schon vom Pförtner benachrichtigt worden. Dabei fuhr er sich mit der Hand ums Kinn, und das Reiben von welker Haut auf welker Haut klang, als wenn Sandpapier über Holz gerieben würde. Er sah mich aus fast wimpernlosen Augen an, und es war deutlich, daß er sich über mein Kommen nicht gerade freute. Er wirkte sehr klein hinter dem mächtigen Schreibtisch. Sein Glatzkopf schwankte leicht hin und her. „Haben Sie was Besonderes auf dem Herzen, oder wollen Sie mir nur mal guten Tag sagen?“ 58
Das sagte er wahrscheinlich zu jedem, der nicht vorgeladen ist, dachte ich. „Ich wollte nur mal guten Tag sagen.“ „Freut mich.“ Er war ungerührt und wartete, wie es weitergehen sollte. „Also kommen Sie zur Sache“, sagte er, als die Pause zu lang wurde. Ich kam zur Sache. „Ist der Obduktionsbefund schon da?“ „Unser Labor arbeitet auch am Sonntag. Wenn’s pressiert.“ „Hat es pressiert?“ „Nicht so, wie Sie vielleicht denken“, sagte er, nahm eine von dem halben Dutzend Pfeifen aus einer Holzschale auf dem Schreibtisch und schob mit Genuß einen Reiniger ins Mundstück. „Der Mann ist vom Dachgarten heruntergefallen. Der Rest für die Untersuchung war ziemlich schäbig.“ Er zog den Pfeifenwichs heraus und betrachtete die geschwärzte Baumwolle aufmerksam. „Einiges haben wir rausbekommen.“ Er bemerkte meine Spannung, sagte aber nichts weiter und wartete offensichtlich darauf, daß ich etwas fragen würde. Also fragte ich: „Was haben Sie denn herausbekommen? Etwas Wichtiges, meine ich.“ „Daß Ihr Freund stockbesoffen war.“ Er stopfte die Pfeife aus einem ledernen Beutel. „Besoffen?“ „Ja.“ Er mußte meine Überraschung bemerkt haben, denn er schickte sofort eine Erklärung hinterher: „ZwoKomma-acht Promille. Damit kann man ein Pferd einschläfern.“ „Küpper nicht“, sagte ich. „Zwo-Komma-acht Promille“, wiederholte er nur. „Bei dem Quantum kenne ich meine Frau nicht mehr.“ 59
„Mag sein“, sagte ich und versuchte mir vorzustellen, wie Frau Munter aussah. „Aber Küpper war das gewohnt.“ Er blieb geduldig. „Mann, haben Sie schon mal so viel von dem Stoff im Blut gehabt?“ „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur …“ „Küpper konnte das vertragen. Woher nehmen Sie Ihre Weisheit?“ „Ich habe einige Male mit ihm getrunken.“ Munter setzte umständlich den Tabak in Brand. „So, Sie haben also mit ihm getrunken.“ „Dreimal.“ „Dreimal.“ Es klang wie: Sieh einer an. „Und da haben Sie den Mann so genau kennengelernt? Ich hatte mal einen Freund, den kannte ich zwanzig Jahre, von der Schule her, und wir waren viel zusammen. Nach zwanzig Jahren stellt sich ’raus, daß er schwul ist. Bezeichnend, nicht wahr?“ „Sehr bezeichnend. Aber was hat das damit zu tun, daß Küpper viel Alkohol vertragen konnte?“ „Nichts.“ Er setzte den Tabak noch einmal in Brand, paffte unverhältnismäßig lange, bis die Streichholzflamme fast Daumen und Zeigefinger erreicht hatte, und schluckte dann die erste Ladung Qualm ’runter, die er nach zwei Sekunden mit leisem Stöhnen aus Mund und Nase wieder hinausließ. „Ich meine nur: Wer kennt schon einen Menschen?“ Nach dieser philosophischen Anmerkung fuhr er fort: „Sie glauben also, Küpper war nicht betrunken?“ „Ich habe doch kurz vorher noch mit ihm telefoniert.“ „Und da ist Ihnen nichts aufgefallen?“ „Er sprach wie immer. Und er schien einigermaßen bei Laune.“ 60
„Soso, einigermaßen bei Laune.“ Munter stützte sich aus seinem Schreibtischsessel hoch und machte zwei, drei Schritte in Richtung auf sein Grünzeug. Als gäbe es nichts Wichtigeres als das Gedeihen der Pflanzen, bückte er sich zu einem Ableger und befühlte ihn vorsichtig mit knorrigen Fingern. „Er machte auch nicht den Eindruck, als ob er sich in der nächsten Stunde selber umbringen wollte“, sagte ich betont laut, um ihn zum Thema zurückzubringen. Aber Munter machte keine Anstalten, sich wieder auf Küpper einzulassen. Statt dessen ging er plötzlich zur Tür und rief mit querelender Stimme ins Nebenzimmer: „Also, Fräulein Kanters, wenn Sie meinen Gummibäumchen noch mal so viel Wasser geben, lasse ich Sie nicht mehr an sie ran.“ Und er machte die Tür mit einem Knall zu, um die Heftigkeit seines Zorns zu unterstreichen. „Herr Kommissar …“, sagte ich. Weiter kam ich nicht. „Was wollen Sie eigentlich?“ Ich merkte ihm seinen Unmut an, und ich merkte auch, daß sein Zorn wegen der angeblich überbewässerten Pflanzen ein Vorwand gewesen war, Dampf abzulassen, der von einem anderen Feuerchen erzeugt worden war. „Sie dringen in mein Büro ein, um mir irgendwas einzureden. Mann, Sie sollten die Polizei nicht mit Kinkerlitzchen behelligen. Wir haben schließlich von der Pike auf gelernt, wie man so was anpackt.“ „Ich wollte Ihnen nicht reinreden“, sagte ich, nun doch einigermaßen verblüfft über die Heftigkeit, die ich in ihm entfacht hatte. „Ich bin nur hergekommen, um zu fragen, wie es um den Fall Küpper steht.“ „Junger Mann, es gibt keinen Fall Küpper – oder doch nur einen Unglücksfall.“ Er setzte sich wieder auf seinen 61
Platz hinter dem Schreibtisch und rammte den Stopfer so heftig in den Pfeifenkopf, daß die Funken stoben. „Sehen Sie mich doch nicht so mißtrauisch an.“ Er schlug mit dem Handrücken auf eine Akte. „Hier steht es schwarz auf weiß: Ein Mann mit zwo-Komma-acht Promille im Blut ist von einem Dach gestürzt. Keinerlei Anzeichen für Gewaltanwendung vorhanden. Denn darauf wollen Sie doch ’raus. Das sehe ich Ihnen an. Ich habe gestern vormittag, im Hellen, noch einmal den Dachgarten besichtigt und nichts gefunden. Keine Spur von einem Kampf, der da oben stattgefunden haben könnte, keinen Kratzer an der Brüstung. Nichts.“ „Ein Betrunkener, der mitten in der Nacht auf die Idee kommt, über das Parapett zu balancieren, müßte aber doch Spuren hinterlassen, oder nicht?“ Munters Glatze färbte sich zitronenfarben, seine linke Braue fing an zu tanzen. Er versuchte, das Pfeifenmundstück durchzubeißen. „Wohl zuviel Krimis gelesen?“ fragte er mühsam beherrscht. Und dann fuhr er, scheinbar sachlich, fort: „Nehmen wir einmal an, Küpper hätte wirklich den Sturzflug nicht freiwillig angetreten, nehmen wir das nur einmal an. Wer soll ihm dazu verholfen haben?“ „Vielleicht der Etagenkellner, weil er nicht genug Trinkgeld bekommen hat“, mutmaßte ich. Munter ließ sich nicht provozieren. „Nehmen Sie doch die sechs Leute, mit denen er zusammen war, nehmen Sie einen um den anderen …“ „Ich weiß“, unterbrach ich ihn, „alles ehrbare Männer, ein Pfarrer, ein Schauspieler, ein Prokurist und so weiter.“ „Sie brauchen sich nicht zu mokieren“, sagte er. „Es sind jedenfalls Leute, von denen keiner von vornherein 62
zu verdächtigen ist, daß er einen anderen aus der Welt schaffen könnte. Ich sehe wirklich kein Motiv.“ Ich ließ das Kätzchen, das ich im Sack hatte, raus: „Sie waren alle Kunden von Küpper, gute Kunden, bis vor zwei Jahren wenigstens.“ Er richtete Altmänneraugen mit geplatzten Äderchen rings um die Pupillen auf mich. Unverständnis war das einzige, das ich in ihnen las, kein bißchen Verblüffung, wie ich mir das vorgestellt hatte. Er sah in diesem Moment dumm aus, akkurat wie ein Polizist, und der Ausdruck verlor sich nicht so schnell, auch noch nicht, als er ein leeres „Na und?“ hören ließ. Ich war enttäuscht und sagte: „Wenigstens haben wir doch einen Zusammenhang zwischen Heinrich Küpper und den Männern, der über Schulfreundschaft und Klassentreffen hinausgeht.“ „Na und?“ wiederholte er, jetzt schon ein bißchen angriffslustiger. „Und was schließen Sie daraus, daß Küpper ihr Lieferant gewesen ist, bis vor zwei Jahren, wie Sie sagen? Vielleicht, daß er ihnen schlechten Wein verkauft hat, bis vor zwei Jahren, und daß sich einer von ihnen dafür gerächt hat, nach zwei Jahren?“ „Sie haben ja nicht ganz aufgehört, Wein von ihm zu beziehen.“ Ich merkte, wie er mir geschickt den Teppich unter den Füßen wegzog. „Ein paar Flaschen haben sie ihm jedes Jahr noch abgekauft.“ „Wie freundlich von ihnen“, sagte er. Langsam erblühte ein Grinsen auf seinem zerknitterten Gesicht, das ihn noch dümmer aussehen ließ. „Das nenne ich kameradschaftlich gehandelt.“ „Jedes Jahr die gleiche Anzahl von Flaschen und nicht jeder dieselbe Anzahl.“ Wie sollte ich mich ihm verständlich machen? „Hier“, sagte ich und zog mein Notiz63
buch heraus. Ich las ihm alles vor, was ich mir aufgeschrieben hatte. Er hörte mehr höflich als aufmerksam zu, das spürte ich. „Scheinen früher heftige Weintrinker gewesen zu sein, die Herren.“ Das war alles, was er dazu sagte. Langsam kroch vom Nabel aus Verzweiflung in mir hoch. Der wollte mich nicht verstehen. „Er hätte auf dem Klassentreffen ein Hühnchen zu rupfen, hat mir Herr Küpper am Abend vor seinem Tod gesagt.“ „Kein Wunder bei dem Umsatzrückgang.“ Jetzt lag offener Spott in Munters Stimme. „‚Nennt ihr das Kameradschaft‘, wird er ihnen wohl gesagt haben, ‚euren alten Freund und Kupferstecher so im Stich zu lassen? Keinen Wein mehr bei ihm zu kaufen?‘“ Sein Lachen lag um eine Terz zu hoch, um echt zu sein. Er wollte mich aus der Tür rauslachen. „‚Mit euch werde ich mal ein Hühnchen rupfen!‘ Mann, Schweizer, Sie sollten ein Detektivbüro aufmachen. Aber wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, legen Sie sich dann nicht mit ollen Kriminalisten an, die schon ihre dreißig, vierzig Jahre auf dem Buckel haben und denen schon jede Art von Verbrechen unter die Nase gekommen ist, ausgenommen den Fall, daß ein Kunde seinen Lieferanten wegen zu schlechtem Wein umbringt.“ Ich gab noch nicht auf; ich durfte einfach nicht aufgeben. Ich sagte: „Und was würden Sie sagen, wenn der Tote Enthüllungen versprochen hat für den Fall, daß die Leute, mit denen er zu tun hat, nicht brav sind?“ Munter wurde ernst. Wie mit einem feuchten Lappen war ihm das Grinsen vom Gesicht gewischt, und die langweiligen Altmännerzüge lagen wieder bloß. „Wer hat wem was versprochen?“ fragte er trocken. „Küpper mir.“ Es gelang mir nicht, einen kleinen Tri64
umph zu verbergen. „Da staunt wohl auch der langgediente Fachmann, wie?“ „Sie sind ein Phantast, Schweizer“, sagte er langsam, jedes Wort vom anderen klar abgesetzt. Und was jetzt folgte, war wie im Kino, und ich hatte dergleichen schon zu oft gesehen, um noch erstaunt zu sein, daß es so und nicht anders ablief: Der Mann vom Fach legt bedächtig die Handflächen gegeneinander, die beiden Zeigefinger entlang dem Nasenrücken; der – je nachdem – freundliche oder feindliche Ausdruck sickert aus den Augen; und dann kommt die Stimme, kalt, scheinbar unbeteiligt und doch voll Engagement. Genauso hatte, im Kino, die Kapazität von der Sorbonne ausgesehen, als „ein gewisser Herr Pasteur“ ihr zu erklären versuchte, daß winzige Tierchen, Bakterien genannt, in der Milch ’rumschwimmen und Krankheiten beim Menschen verursachen können. So hatte, im Kino, Napoleon aus der Wäsche geguckt, als einer von seinem Stab sagte, jetzt, wo die Preußen auf dem Campus erschienen wären, gäb’s keine Aussicht mehr darauf, die Schlacht zu gewinnen. Sie sind ja nicht wirklich dumm, die Kriminalmenschen und Kapazitäten und Kaiser (wenn sie auch meistens so aussehen), und sie wissen meistens genau, wann ihnen einer etwas wirklich Neues und Schwerwiegendes offenbart. Aber sie sind zu träge oder zu feige, um das, was der andere sagt, anzunehmen, und darum fahren sie Autorität auf. Wie Munter jetzt. Als ich merkte, wie hilflos er sich mit seinen dreißig, vierzig Jahren Erfahrung herumbuckelte und wie er mit beiden Augen nach der Pensionierung schielte und nicht mehr genug Schmiere in den Gelenken und nicht mehr genug Schmalz im Gehirn hatte, um sich noch ein bißchen zu tummeln – als ich das merkte, tat er mir fast leid. 65
Aber das war nur eine vorübergehende Anwandlung. Was er nämlich sagte, trieb mir die Galle ins Blut. „Ich kenne Ihresgleichen“, sagte er, „ganz genau. Ihr mögt uns nicht, nicht das Land, in dem wir leben und in dem wir noch immer bestimmen, wo oben und unten, wo rechts und links ist. Ihr wollt alles in Frage stellen, auch Gesetz und Recht. Ihr lauert nur auf Gelegenheiten, uns ins Unrecht zu setzen, und wenn wir unsere Erfahrung ins Feld führen, dann lacht ihr unverschämt, und wenn wir das Maul aufmachen, dann weist ihr auf unsere Vergangenheit, in der wir angeblich versagt haben. Wir haben versagt, sind Versager auf der ganzen Linie. Und wir haben mit unserem Versagen dieses Land zusammengehalten, so gut zusammengehalten, daß es dem Volk gut geht wie nie vorher.“ „Was hat das alles mit Küppers Tod zu tun?“ fragte ich. „Mit Ihnen, Schweizer, hat das etwas zu tun.“ Er atmete schwer und stoßweise, ein alter Mann. Die Pfeife qualmte nicht mehr; das merkte er aber nicht. „Sie sind auf Enthüllungen versessen, weil man mit Enthüllungen Rummel machen kann. Da kommen Männer zusammen, Männer, von denen bisher keiner einen Fleck auf der Weste hat. Bis auf einen.“ Er machte eine Kunstpause, um mich zu beeindrucken. Ich wußte wieder, was jetzt kommen würde, und ich wußte es, weil ich den alten Film schon gesehen hatte, in dem die Kapazität dem „gewissen Herrn Pasteur“ entgegenhielt, er sei nur mit äußerst schlechten Noten durch die Examina gerutscht, und er solle sich, ehe er nach diesen seltsamen Tierchen in der Milch forsche, erst einmal um die Beherrschung der Wissenschaft kümmern. Ich wußte also, was er sagen würde, und darum war die Pause an mich verschwendet. „Küpper war der einzige, der mit dem Gesetz in Konflikt 66
gekommen ist.“ Er zog einen Schnellhefter zu sich heran. „Hier: zweitausend Mark Geldstrafe wegen versuchter Steuerhinterziehung. Dann: Trunkenheit am Steuer – sechs Wochen Haft, auf Bewährung ausgesetzt und ein Jahr Entzug des Führerscheins.“ „Und die anderen?“ „Nichts. Ich habe es Ihnen schon gesagt.“ Munter war den Sonntag über also nicht faul gewesen, hatte in Akten rumgewühlt. Warum? Was lag ihm daran, Küpper madig zu machen? Und warum griff ich die Ordnung aller Dinge an, weil ich sagte, Küpper hätte Enthüllungen machen wollen? Ich war mir jetzt klar darüber, daß ich von Munter nichts zu erwarten hatte, und mir war wohl, als er anfing zu schimpfen, offen, brutal, so ganz unweinerlich: Journalisten habe er noch nie über den Weg getraut, und man müßte sie eigentlich unter staatliche Kuratel stellen und dergleichen Zeug. „Nichts für ungut“, sagte ich. „Ich habe nur mal fragen wollen, ob der Staat die Mitarbeit eines Bürgers mag.“ Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis Munter sich von dem Schreck in der Morgenstunde erholte. Bei älteren Menschen klingt die Erregung, wenn sie ihre heiligsten Güter in Gefahr sehen, langsam ab, und es ist nicht ausgeschlossen, daß der gute Kommissar noch Stunden nachher an allen Gliedern flog, wie man so sagt. Ich stand vorm Portal des Präsidiums, blinzelte in die käseblasse Sonne und wußte nicht recht, was ich tun sollte. Am liebsten wäre ich nach Haus gegangen und hätte mir Platten angehört. Oder zu Maria. Aber ich ging dann doch in die Brüderstraße. Zweimalige Begegnung mit dem Establishment an einem Morgen ist für meinen schwachen Magen zuviel. An dem Montag aber hatte ich diesen Erfahrungswert 67
vergessen und ließ mich beim Chefredakteur des „Stadtboten“ melden. Kaminski, der Mann, der zu unserem Nutz und Frommen die „Grundsätze für die Arbeit eines Journalisten“ zusammengestellt hatte, empfing mich freundlich wie immer. Er war in meinem Alter, aber Akademiker und aus einflußreicher Familie, und ich hatte, als er noch den Wirtschaftsteil redigierte, manches Bier auf seine Rechnung getrunken und mit ihm halbwegs offenherzige Gespräche über Politik und Liebschaften geführt. Das konnte er nicht vergessen, und er war freundlich geblieben, obwohl er einen erstaunlich rapiden Aufstieg hinter sich gebracht hatte, der noch längst nicht zu Ende war und der ihn, wie es hieß, demnächst ins Bundespresseamt bringen würde. Demokrat vom Scheitel bis zur Sohle, gut angezogen und mit der Fähigkeit ausgestattet, jedem gegenüber den richtigen Ton zu finden: das war Kaminski. „Komm ’rein, Clemens“, sagte er, nahm die Brille ab und kam hinter dem Schreibtisch vor, über dem das Ölbild von Hermann Caspar Jülich hing, dem backenbärtigen Gründer des „Stadtboten“, der Bismarck in einem Leitartikel einmal einen „stieseligen Junker“ genannt und sich eine Beleidigungsklage zugezogen hatte, die in informierten Kreisen als der „Stiesel-Prozeß“ bekannt gewesen ist. Wir setzten uns an ein Tischchen unterm Fenster. Kaminski sah gut aus in seinem mausgrauen Anzug und mit seinem seltsamerweise schon eisengrauen vollen Haar, das er attraktiv in eine Scheitelfrisur zu ordnen wußte. „Wo brennt’s? Schieß los.“ Ich erklärte ihm, wo es brennt. Er hörte aufmerksam zu, wobei er geduldig die Falten aus der grünwollenen Tischdecke strich. Manchmal lächelte er; sonst war er gesammelt wie ein Beichtvater. 68
„Wenn ich dich recht verstehe“, sagte er, als ich mein Pulver verschossen hatte, „möchtest du für eine Weile vom Dienst freigestellt werden, um eine Privatangelegenheit zu regeln.“ Er hatte mich herrlich falsch verstanden. Ich konnte nicht anders, als bewundernd zu grinsen. „So kann man es nennen“, sagte ich. „Eigentlich dachte ich aber, die Redaktion könnte mich für ein paar Tage freistellen, und ich könnte euch ein paar Artikelchen schreiben, wenn an der Geschichte etwas dran ist.“ „Ich weiß genau, was du willst.“ Er lächelte und hob scherzhaft drohend einen Zeigefinger. Aber er erklärte mir nicht, was er wußte und was ich wollte. Vielmehr sagte er: „Stocksiepen und Humbach waren auch dabei?“ Ein kleines Spiel der Muskeln veränderte den Gesichtsausdruck in Richtung auf leichte Besorgnis. „Ich kenne nämlich die beiden aus dem Sankt-Georgs-Club, mußt du wissen. Und der Alte kennt sie auch aus dem Club.“ Der Alte, das war der Urenkel des Mannes mit dem „Stiesel-Prozeß“. „Aber das hat ja nichts zu sagen. Ich wundere mich nur. Du verstehst.“ Und ich verstand. „Du denkst also, da ist was zu holen?“ „Ich weiß es nicht.“ „Aha.“ Kaminski lächelte wieder. „Ich möchte nur mal ein bißchen ’rumstöbern. Wenn das Ganze sich als eine Fehlanzeige herausstellt, muß ich auch zufrieden sein.“ „Natürlich.“ Seine plötzliche Einsilbigkeit fing an, mir auf die Nerven zu gehen. „Bist du an der Sache interessiert oder nicht?“ fragte ich. „Natürlich bin ich an der Sache interessiert, sehr sogar.“ Das kam ohne Anstrengung aus ihm heraus. „Schließlich 69
haben wir als ein Organ der demokratischen Öffentlichkeit und als überparteiliches Blatt das Recht, nein, sogar die Pflicht, unsere Leser über alles“, er wiederholte, „über alles zu informieren, was von Belang sein könnte. Nur: die Spur, auf die du da gestoßen bist, scheint mir ein bißchen vage.“ Als ob ich ein Jagdhund wäre! dachte ich. „Unser Blatt kann so etwas nicht offiziell machen.“ Er mußte meine Enttäuschung bemerkt haben, denn er hob beide Hände in Brusthöhe und sagte: „Das heißt natürlich nicht, daß ich dir auch nur den kleinsten Stein in den Weg legen möchte. Paß mal auf!“ Ein Leuchten kam in seine fritzisch-blauen Augen, als ob der Heilige Geist in ihn gefahren wäre, und er sprang aus dem Sessel und machte sich an Papieren auf dem Schreibtisch zu schaffen. „Ich habe da was für dich. Hier. Da sind ein paar Dutzend Anfragen von Lesern über den Status der Gastarbeiter bei Schimpffer und Weisbach. Ganz interessante Hinweise drunter, Wohnungsfragen, Freizeitgestaltung et cetera et cetera. So was machst du doch mit der linken Hand: Gespräch mit dem Betriebsratsvorsitzenden, mit einem von der Werkleitung, ein paar Interviews mit den Itakern oder was da so arbeitet. Und dann in alter Manier aufgezäumt. Menschenwürde und so.“ Er drückte mir ein Bündel Briefe in die Hand und ließ sich wieder in den Sessel fallen. „Eigentlich wollte ich aber …“ „Das kannst du doch, alter Junge.“ Sein Lächeln war jetzt lauter Wohlwollen, und ich wußte nicht, warum sich mein Unterkiefer verkrampfte. „Sagen wir, in acht Tagen will ich den Rotz da haben. Du bist natürlich freigestellt, dafür sorge ich schon. Da bleibt dir doch ein Haufen Zeit für dein Hobby. Und wenn an dem, was du mir angedeutet hast, was dran ist …“ 70
Er ließ die Stimme bedeutungsvoll in der Schwebe. Ich konnte mir also aussuchen, was wäre, wenn an meinem Hobby was dran sein sollte. „Na gut“, sagte ich resigniert, „dann eben so.“ Kaminski schien sehr zufrieden. Er stand sofort wieder auf den Füßen und klopfte mir die Schulter, nachdem ich auch aufgestanden war. „Wir müssen sehen, daß wir mal wieder eine Stunde für uns finden“, sagte er, „so von Mensch zu Mensch, und vielleicht bekommen wir einen dritten Mann zum Skat. Ich versaure hier.“ Und an der Tür sagte er noch: „Grüß deine Frau schön.“ Er hatte vergessen, daß ich Junggeselle war.
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5. Die Stadt, in der ich damals wohnte und auch heute noch wohne, die Stadt, in der ich geboren bin und die ich nie für längere Zeit verlassen habe, ist nicht gerade schön. Aber sie ist alt, und Fremde, die beim Verkehrsbüro nachfragen, bekommen eine Broschüre in die Hand gedrückt, in der alles Wissenswerte nachgelesen werden kann: daß da, wo jetzt die Schokoladenfabrik steht, einmal ein römisches Kastell gewesen ist, von dem man im Werkshof noch einen Mauerrest bewundern kann; daß Sankt Aposteln und der Quirinus-Dom hervorragende Beispiele staufischer Spätromanik sind und Sankt Maria von den Sieben Schmerzen und Sankt Urban ebenso hervorragende Beispiele für Frühgotik; daß man hier das Stadtrecht schon seit Ludwig dem Kind besitzt und daß einmal, irgendwann im elften Jahrhundert, ein Reichstag hier abgehalten wurde, auf dem es wieder einmal darum ging, einen widerspenstigen Herzog zur römischen Krone zurückzuholen. Das und viel mehr dergleichen ist in der attraktiv aufgemachten Schrift zu lesen, und wer etwas über die weniger romantische und zeitnähere Entwicklung wissen will, dem wird in dem Kapitel „Bürgerfleiß und Initiative“ die Story vorgesetzt, wie der Schmiedemeister Johann Nepomuk Schwitters seine Werkstatt bei Beginn des Industriezeitalters zuerst in eine Besteckfabrik, dann später in einen Zulieferbetrieb für den Lokomotivenbau umgewandelt habe, aus dem schließlich eine der Waffenschmieden des Reiches geworden sei, ohne daß verraten wird, woher denn der fleißige Schmied das Geld zu alledem hatte, und daß sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, „begünstigt durch die ideale Verkehrslage am Rande des großen Industriegebiets und am Strom“, Fabrik auf Fabrik hier angesiedelt hätten: Webereien und Kabelwerke, 72
Schwermaschinenbau und chemische Anlagen, zu denen sich als Prunkstück nach dem zweiten Weltkrieg eine Raffinerie gesellt hat; schließlich auch die inzwischen weltbekannt gewordene Firma Schimpffer und Weisbach, deren Produkte – Damenstrümpfe in allen Sorten und Farben – „auch dem verwöhntesten Geschmack Rechnung tragen“, und nicht zuletzt die Schokoladenfabrik auf historischem Boden, „die Namen und Wappen der Stadt als Firmenzeichen durchs ganze Land und über seine Grenzen hinaus trägt“. Ich wohnte damals übrigens ganz in der Nähe dieser Schokoladenbude mit Stadtwappen und -namen, und wenn sich von Westen her eine Wolkendecke über die Stadt schiebt und die Abgase zur Erde niederdrückt – und das geschieht etwa zweihundert Tage im Jahr –, haben die Bewohner der Altstadt einen zuckrigen Geschmack auf der Zunge, der erst ein paar Kilometer weiter südlich von dem Gestank verdrängt wird, den die chemischen Fabriken absondern. Aber davon steht natürlich nichts im Prospekt des Verkehrsamts. Statt dessen erfährt der Fremde, der sich hierher verirrt, wirklich Nützliches, zum Beispiel, daß unsere Stadt am 31. Dezember 1965 253 469 Einwohner „in ihren Mauern“ beherbergt, von denen vier Fünftel römischkatholisch sind, und daß diese 253 469 Einwohner im Prokopfverbrauch von Bier weit über dem Bundesdurchschnitt liegen und fast schon an München und Dortmund heranreichen, desgleichen im Konsum von Seefisch, in dem sie nur von Hamburg und Kiel übertroffen werden. An all das Wissenswerte aus dem Heftchen des Verkehrsamts dachte ich nicht, als ich an jenem Montag die Redaktion des „Stadtboten“ verließ. Ich weiß nicht mehr, an was ich dachte, vermutlich sann ich Kaminskis allzu freundlicher Verabschiedung nach. Jedenfalls ging ich 73
nicht in die nächste Kneipe, um mir den schlechten Geschmack runterzuspülen, was nahegelegen hätte. Ich ging nach Hause, legte eine alte Platte auf – Jimmie Noone and his Apex Club Orchestra. Wenn ich Jazz höre, bin ich mit der Welt versöhnt, für den Augenblick wenigstens, Ich ließ die Beine seitlich über einen der adriablauen Sessel hängen und döste. Dann kam Pinetop Smith mit einem Boogie-Woogie dran und Trixie Smith mit dem Blues „He May Be Your Man but He Comes to See Me“. Mein Bedarf an Entspannung war gedeckt. Immer noch mit den Beinen über der Seitenlehne, fummelte ich nach meinem Notizbuch und schlug es da auf, wo die Adressen von Küppers Mitschülern standen. Ich starrte wieder mal auf die Namen und Straßen und Hausnummern, als ob mir daraus eine Erleuchtung erwachsen könnte. Sie erwuchs mir natürlich nicht. Statt dessen wuchs mein Unbehagen, und ich klappte das Büchlein zu. Ich konnte die paar Tage, die man mir von der Redaktion freigegeben hatte, einfach vertrödeln. Den Bericht über die Gastarbeiter aus dem Hut zu zaubern, wäre mir nicht schwergefallen. So etwas machte ich damals in ein oder zwei Stunden, das ging mir leichter von der Hand als ein Artikel über die Situation in der Bundesliga, Alle wären zufrieden gewesen, und Kaminski hätte sich den Teufel darum gekümmert, was ich mit meiner übrigen Zeit angefangen hatte. Wäre ich damals das gewesen, was man klug nennt, säße ich heute vielleicht an Vilshofens Stelle, der längst zu einer „überregionalen Zeitung“ gegangen ist, und hätte einen unter mir, den ich schurigeln könnte, so wie ich seinerzeit geschurigelt worden bin. Aber Küppers Tod lag mir an jenem Nachmittag noch immer zu schwer im Magen. Oder war es nicht doch vor 74
allem die Aussicht, einen journalistischen Coup zu landen, die mich sozusagen auf der Spur hielt? Ich habe mir später immer wieder die Frage gestellt, und ich bin bis heute zu keiner eindeutigen Antwort gekommen. Fest steht für mich nur, daß die Affäre von einem bestimmten Punkt an in eine Art Selbstlauf geriet und meiner Freundschaft zu Küpper und vielleicht auch dem beruflichen Ehrgeiz ein Moment hinzusetzte, das mit Neugier oder Bestätigungssucht nur unvollkommen und also schlecht umschrieben ist. Entdeckerfreude wäre, wenn man hochgreifen würde, vielleicht das treffendere Wort. Und schließlich kam noch eine zuerst langsam, dann immer rapider wachsende Empörung hinzu und gewann schließlich die Oberhand. Aber davon wird noch zu berichten sein. An jenem entscheidenden Montagnachmittag war sie noch aus dem Spiel. Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut, das war alles. Zu allem Überfluß klingelte jetzt auch das Telefon. Ich erkannte sofort Marias Stimme, obwohl ich noch nie mit ihr telefoniert hatte. „Ich wollte mich entschuldigen“, sagte sie ohne Vorstellung und Einleitung. „Ich habe mich gestern wohl ein bißchen töricht benommen.“ „Macht nichts“, sagte ich unbekümmert, weil mir nichts Besseres einfiel, und zitierte munter: „Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste.“ Ich war froh, daß sie mich anrief, und wußte selbst nicht recht, warum. „Heinrichs Tod und das alles. Du verstehst.“ Ich verstand und registrierte auch, daß sie mich wieder duzte, und fragte nach „dem allen“. „Ist Frau Wiskirchen noch im Haus?“ Frau Wiskirchen sei noch da, ließ sie mich wissen, aber nicht im Haus, da sie, seit die Polizei den Leichnam 75
am Morgen zur Bestattung freigegeben hatte, unterwegs war, um für ein schnelles Begräbnis zu sorgen. „Spätestens übermorgen will sie wieder in ihrem Kaff sein, hat sie gesagt. Ihr Mann könnte sie nicht so lange entbehren.“ Marias Stimme war scharf geworden, als sie das berichtete. „Bißchen kurz die Zeit, um einen unter die Erde zu bringen“, sagte ich. Ich sah dabei das verkniffene und energische Gesicht von Heinrichs Schwester vor mir und fragte mich unwillkürlich, ob es für die Frau überhaupt etwas geben könnte, das sie nicht zu dem Zeitpunkt erreichte, den sie sich gesetzt hatte. „Das schafft die“, ertönte Marias Stimme aus der Muschel und bestätigte meine Überlegung. „Ihren Rechtsanwalt hat sie noch gestern ins Haus beordert. Seit heute morgen schnüffelt er durch sämtliche Papiere und läßt von einem seiner Büromenschen Listen vom Inventar aufstellen. Seit gestern nachmittag ist die überhaupt von einer Geschäftigkeit …“ „Und Sie … du? Was machst du?“ „Ich stehe überall im Weg.“ Komm doch rum, wollte ich sagen. Aber ich sagte es nicht, und eine Pause entstand, weil mir so schnell nichts anderes einfiel. Auch sie schwieg, ich hörte ihren Atem, ziemlich deutlich. Dann raffte ich mich auf. „Kann ich dir helfen?“ Statt eine Antwort auf meine Frage zu geben, fragte sie: „Denkst du noch immer, mit Heinrichs Tod ist etwas nicht in Ordnung?“ „Habe ich das gedacht?“ sagte ich, und ich dachte: Als ob es mit irgendeines Menschen Tod überhaupt seine Ordnung haben könnte. „Ich hab’s dir doch angemerkt. Und dann hast du auch 76
so komische Andeutungen gemacht.“ „Darüber sollten wir uns in Ruhe unterhalten.“ „Ich finde das überflüssig.“ Marias Stimme war mit Ablehnung gesättigt. „Dabei kommt nichts raus.“ „Weiß man’s?“ Ich ließ meine Stimme in der Schwebe und hörte, wie die Atemzüge am anderen Ende der Leitung heftiger wurden. „Jedenfalls können wir uns doch einmal treffen.“ „Wenn du willst“, sagte sie unsicher. „Ich will.“ „Dazu haben wir beim Begräbnis Zeit.“ Ich hörte förmlich heraus, wie Maria sich Gewalt antat, um nicht noch für heute einen Treff vorzuschlagen. „Wie du willst.“ „Und die Sache mit Heinrich, schlag dir die aus dem Kopf, bitte.“ Das letzte Wort war nicht nur so dahingesprochen. Sie bat mich wirklich. Nach Munter und Kaminski noch einer, dachte ich, der will, daß ich die Finger aus der Sache lasse. „Ich werde es mir überlegen.“ Damit war ich wieder in meine Zweifel hineingerissen: Sollte ich mich oder sollte ich mich nicht um den toten Heinrich kümmern? Ich bin nie einer von den Moralathleten gewesen, wie sie in Büchern und im Kino für Recht und was weiß ich noch kämpfen. Vielleicht war und bin ich dazu zu faul. Aber ich lasse mir nicht gern dämlich kommen. Und Munter und Kaminski waren mir dämlich gekommen, hatten mich – vergnatzt der eine und der andere freundlich – wie einen dummen Jungen behandelt, nach dem Motto: Nimm dem Kind die Streichhölzer weg, es könnte was damit anstellen. Und das ließ allmählich die Wut in mir kochen. Wer sollte mich hindern können, mir 77
Gewißheit zu verschaffen, wie ein Mann gestorben war? Es war Eigensinn, was mich trieb. Ich würde mich ein bißchen bei den honorigen Schulfreunden von Heinrich umsehen und auch bei der Mumie von einem Pauker, dem „komischen Vogel“, wie Heinrich am Telefon gesagt hatte. Während ich mir ein Kännchen Tee aufgoß und das Aroma mir angenehm in die Nase stieg, fühlte ich mich wohl, weil ich eins mit mir geworden war. Auch Maria konnte mich in meinem Gleichgewicht nicht stören, weder der Gedanke an ihren Unwillen, mein Unternehmen gutzuheißen, noch ihre Stimme, die ich an diesem Tag zum zweiten Mal hörte. Sie rief nämlich wieder an, nur um mir mitzuteilen, daß Heinrichs Schwester es erreicht habe, die Beerdigung schon am nächsten Tag stattfinden zu lassen, um drei Uhr auf dem Nordfriedhof. Sonst sagte sie nichts, kein persönliches Wort, und sie kam auch nicht auf ihre Bitte zurück, ich sollte mir die Sache mit Heinrich aus dem Kopf schlagen. Nach einem ausgiebigen Frühstück nutzte ich den nächsten Vormittag dazu, meinen Auftrag von der Zeitung anzupacken. Ich fuhr zu Schimpffer und Weisbach raus, die im Norden der Stadt ein am Ruf der Firma gemessen verhältnismäßig kleines Areal mit einem halben Dutzend Hallen und einem Verwaltungsgebäude gebaut haben. Das Ganze machte auch einen verhältnismäßig freundlichen Eindruck, und die Frauen, die zwischen den Hallen hin- und hergingen, sahen sauber aus in ihren bunten Kitteln. Der Betriebsratsvorsitzende, ein Mann in den Dreißigern, mit einem mächtigen dunklen Schnurrbart, der ihn wie einen Anarchisten von der Jahrhundertwende aussehen ließ, und einer schwarzen Zigarre zwischen den Lippen, 78
empfing mich sofort, nannte mich „Kollege“ und bestellte bei der Sekretärin ein Kännchen Kaffee. „Ja, die Kolleginnen Gastarbeiterinnen“, sagte er, nachdem er den ersten Schluck Kaffee hinter sich hatte, „die machen uns Kummer. Verstehen Sie mich recht. Nicht, daß sie faul wären.“ Ich verstand ihn recht. Er machte mir klar, daß „die Kolleginnen Gastarbeiterinnen“ eigentlich recht fleißig seien, fleißiger als die wenigen männlichen Arbeitskräfte aus dem Süden, und daß „von Arbeitgeberseite wie von Seiten der Gewerkschaft“ kein Grund zur Klage gegeben wäre, wenn sich „die Kolleginnen Gastarbeiterinnen“ nur in letzter Zeit nicht andauernd so aufsässig zeigen würden. Er setzte eine bekümmerte Miene auf und rauchte die Zigarre in tiefen Zügen so weit herunter, daß ich befürchtete, er könnte sich seinen Anarchistenschnauzer ansengen. Und die Briefe an unser Blatt wegen Wohnungsfragen, Freizeitgestaltung, Kantinenessen und so weiter kämen sicherlich „aus Kreisen, die mit den Kolleginnen Gastarbeiterinnen Kontakt aufgenommen haben, um den Betriebsfrieden zu stören“. Ich muß ihn ziemlich dumm angesehen haben, denn er beeilte sich, mir zu erklären: „Linksradikale, Sie verstehen.“ Es war fast rührend, wie er sich dauernd um mein Verständnis bemühte, so als müßte er sich dafür entschuldigen, daß er auf dem Stuhl der Gewerkschaft saß und nicht im Management. Der Eindruck, den der Schnurrbart auf mich gemacht hatte, war trügerisch gewesen. Der Mann war brav, in allem, was er sagte. Er nahm die Unternehmer in Schutz, die doch schließlich den armen Frauen aus Kalabrien und Sizilien endlich mal Gelegenheit gaben, anständig zu verdienen; die um ein Drittel niedrigeren Löhne für die „Kolleginnen 79
Gastarbeiterinnen“ bezeichnete er als durchaus angemessen, wenn man die großen sozialen Aufwendungen der Firma in Betracht ziehe, und im selben Atemzug bat er wieder mal um mein Verständnis, diesmal dafür, daß die Unterkünfte für die Frauen natürlich keine Komfortwohnungen sein könnten, weil sie provisorisch errichtet worden seien. „Denken Sie nur mal, es kommt eine Rezession“, sagte er, und er ließ das schwierige Wort förmlich auf der Zunge zergehen. „Dann müssen die weg. Verstehen Sie? Dann nämlich besetzen sie Arbeitsplätze, die unseren Arbeitnehmerinnen zukommen.“ Diesmal verstand ich nicht. Das einzige, was mir klar wurde, war, daß ich einem Sprecher der Betriebsleitung gegenübersaß, und ich machte mir nicht einmal mehr Notizen, als er von der Notwendigkeit sprach, ein gutes Betriebsklima aufrechtzuerhalten, und davon, daß es im Interesse aller läge, wenn die Firma konkurrenzfähig bleibe. „Sie verstehen?“ Als ich die Baracken sehen wollte, in denen die „Kolleginnen Gastarbeiterinnen“ untergebracht waren, erklärte er sich für nicht zuständig. Er müsse erst die Direktion um Erlaubnis fragen, ob ein Betriebsfremder die Unterkünfte besichtigen dürfe. Ich war froh, als ich wieder durch die trostlose Vorstadtlandschaft ging, an Häusern vorüber, die um die Jahrhundertwende gebaut worden waren und deren Putz vom Qualm eine schwärzliche Färbung angenommen hatte. In einer genauso trostlosen Kneipe aß ich gedünstete Muscheln – „Spezialität des Hauses“ stand auf der Speisekarte – und trank zwei Bier. Dabei legte ich mir scharfe Formulierungen zurecht, mit denen ich den schnauzbärtigen Gewerkschaftsmenschen charakterisieren wollte. Ich schrieb auch schon ein paar Sätze in mein 80
Notizbuch, strich dann aber wieder alles aus. Damit kam ich beim „Stadtboten“ nicht durch. Ich wußte so ungefähr, was Kaminski – lächelnd natürlich – zu so etwas sagen würde. „Wir sind eine überparteiliche Zeitung“, würde er sagen, „und das heißt, wir haben alle Interessen genau gegeneinander abzuwägen, auch die der Unternehmer. Wir können uns nicht den Luxus erlauben, die Armen und Schwachen nur deshalb in den Himmel zu heben, weil sie arm und schwach sind. Wir sind keine Urchristen und keine Tolstoianer.“ So ähnlich hatte ich es oft aus ihm tönen hören. Was er verlangte, das war ein flottgeschriebenes Artikelchen mit vielen „Sowohl-Alsauch“, in dem Probleme „angerissen“ und dann unter den Teppich des sozialen Friedens gekehrt werden sollten. Die Aussicht auf die Abdeckerarbeit machte mich ganz krank. Die Muscheln schmeckten mir plötzlich nicht mehr, und ich schob den Teller von mir weg. Wie lange sollte das noch so weitergehen, daß ich einem Geschäft zuarbeitete, das darauf gerichtet war, einer gutgläubigen Öffentlichkeit anstelle von Information einen gefällig ausgemalten Bilderbogen darzureichen? Friede, Wohlstand, Eierkuchen, Freiheit für jeden, der auf dem Boden der einzig seligmachenden Ordnung steht und sich auch nicht im Traum einfallen läßt, an Säulen oder Säulchen zu rütteln. Den Maximen diente ich seit Jahren, treu, wenn auch ohne sonderliche Begeisterung, seit ich nach dem Abschluß der Realschule als Volontär in die Redaktion des „Stadtboten“ aufgenommen worden war, eigentlich als Laufbursche und Kaffeeholer. Mein Vater – er lebte damals noch – war stolz gewesen, so stolz wie einer sein konnte, der sein Leben lang im blauen Drillichzeug seinen Unterhalt verdient hatte, ohne daraus die Lehre zu ziehen, daß 81
etwas faul sein mußte an einer Gesellschaft, die sich der Mehrzahl ihrer Mitglieder bedient, um das Leben in Gang zu halten, ohne diese Mehrzahl wirklich an der Regulierung dieses Lebens teilhaben zu lassen. Ich hatte etwas Besseres werden sollen. Ich wurde etwas Besseres, verrichtete meine Arbeit in Anzug und Schlips. Den Tag, an dem ich meinen ersten Artikel gedruckt herumzeigen konnte – eine Reportage über neue Abfüllmaschinen im städtischen Milchhof –, erlebte mein Vater nicht mehr. Seitdem hatte ich viele solcher Artikel verfaßt, meistens Illustrationen zum Leben in unserer Stadt, denen nur der eine Nachteil anhaftete: sie blieben an der Oberfläche der Erscheinungen, auch da, wo Kritik geübt wurde. Mit dem Report über die Gastarbeiterinnen würde es nicht anders werden. Hatte ich überhaupt ein Recht, mich über den Betriebsrat zu mokieren? Zog ich nicht am selben Strang wie der? Ich sah auf die Uhr. Es war eins. Es lohnte sich nicht mehr, nach Hause zu gehen. Ich bezahlte und schlenderte durch die Straßen, die in Friedhofsnähe freundlicher wurden, heller und breiter. Hier hatte eine Siedlungsgesellschaft ein paar Zweifamilienhäuser gebaut und ein bißchen Grün drum herum gelassen. In einer kleinen Kurzwarenhandlung kaufte ich einen schwarzen Schlips und in einer Blumenhandlung am Friedhofstor einen Strauß Rosen. Den Schlips band ich gleich im Laden um. Es war noch zu früh fürs Begräbnis. Ich ging trotzdem in die Kapelle, wo noch eine andere Trauerfeier im Gang war, und setzte mich auf die letzte Bank. Vorn, neben dem Sarg, stand ein langer protestantischer Geistlicher mit Bäffchen am Hals, der über den Psalmvers „Der Herr ist mein Hirt, mir wird nichts mangeln“ meditierte, indes zwei schwarzgekleidete Frauen in der ersten 82
Reihe laut schluchzten und der übrigen Gesellschaft von anderthalb Dutzend Männern und Frauen die Tränen in den Augen standen. Als der Sarg von sechs alten Männern, die wie beamtete Gärtner in städtischen Parkanlagen gekleidet gingen, herausgetragen worden war, blieb ich sitzen und wartete. Ich sah, wie nach einer Viertelstunde der Sarg mit Heinrichs Leiche in den Altarraum geschoben wurde, und ein Frösteln kam über mich. Kurz darauf trat Frau Wiskirchen in die Kapelle. Sie hatte einen schwarzen Schleier vorm Gesicht und ging gemessenen Schritts, wie es sich gehört. Von Maria war noch nichts zu sehen. Dafür kamen, im Rudel, die lieben Freunde. Sie hatten sich offensichtlich vor der Kirchentür gesammelt. Ich zählte. Es waren nur vier. Der Herr Studienrat war nicht gekommen, und auch der Geistliche fehlte, wie ich später feststellte. Von den vieren trugen drei schwarze Anzüge, schwarze Mäntel, schwarze Hüte in der Hand. Der vierte, der den Beschluß der solennen Prozession bildete, war mit einem schlecht sitzenden und ziemlich verschossenen dunkelgrauen Mantel bekleidet, aus dem die Hosenbeine bläulich hervorragten. Nach einer Weile erst kam Maria, begleitet von zwei Frauen mit Männern, offensichtlich Nachbarn, die ich nicht kannte. Sie nickte mir leicht zu, und als sie mir den Kopf zuwandte, war mir, als ob ich sie schon jahrelang kannte. Sie nahm neben Frau Wiskirchen Platz. Die Tumba-Gebete wurden von einem vifen Priester vorgetragen, der sich mit geschäftsmäßiger Eile und halblaut durch die Oratorien und gemeinsam mit einem halbwüchsigen Ministranten durch die Wechselgebete wand. In zwanzig Minuten war alles vorbei, und wir gingen hinter dem Sarg endlos über den Friedhof hin, 83
vorn der Ministrant, der das Kreuz trug, und hinten, zwanzig Schritt hinter den anderen, ich. Rechts und links standen vereinzelt Frauen mit Gießkannen und anderen Geräten, die ihren dahingegangenen Männern endlich, sooft sie wollten, zeigen konnten, was eine Harke ist. Als ich dann am Grab stand, und der Sarg verschwand in der Grube, war’s mir, als nehme ich jetzt erst Abschied von dem Mann, den ich nur so kurz gekannt hatte und mit dessen Tod ich mich doch nicht abfinden wollte. „Anima eius et animae omnium fidelium defunctorum per misericordiam Dei, requiescant in pace“, sagte der Priester und warf Erde auf den Sarg. Beim Kondolationsdefilee stand ich als letzter in der Reihe, und als es an mir war, Frau Wiskirchen die Hand zu drücken, schien es mir, als werfe sie mir durch den schwarzen Tüll vor ihrem Gesicht hindurch einen nicht gerade freundlichen Blick zu. Aber das konnte auch meiner Phantasie zu Lasten geschrieben werden. Vielleicht geht es auch aufs Konto meiner Phantasie, daß mir die vier, die stumm und schwarz – bis auf den einzigen grauen Fleck – eng beieinander standen, sehr zufrieden vorkamen, wie Leute, die eine schwere Arbeit hinter sich gebracht haben. Sie verabschiedeten sich auch bald von Frau Wiskirchen, wobei einer von ihnen unendlich bedauerte, die Einladung zu einer Tasse Kaffee nicht annehmen zu können, und gingen, die ganze Breite des Weges einnehmend, auf den Ausgang zu. Ich schaute ihnen eine Minute lang nach, reglos und gedankenlos und so, als müßte ich mir die Rückenpartien der Herren genau einprägen. „Aber du gibst uns doch keinen Korb.“ Marias tiefe, weiche Stimme riß mich aus meinem Starren. 84
„Natürlich nicht.“ Ich versuchte ein freundliches Lächeln. „Wenn es Frau Wiskirchen nichts ausmacht“, setzte ich hinzu. „Ach, die!“ In dem Cafe gleich gegenüber vom Friedhof, wo alles, von der Beleuchtung und den Vorhängen bis zu den kargen gemurmelten Bemerkungen der Bedienerinnen auf Trauer abgestellt war, wollte kein Gespräch aufkommen. „Diese traurige Pflicht läge nun hinter uns“, sagte Frau Wiskirchen, wobei sie sich an die beiden benachbarten Ehepaare wandte, um nicht Maria ansprechen zu müssen. Die vier Leute nickten stumm. Dann wurde Kaffee und Kognak serviert, dazu ein Stück Kuchen. Zwischen zwei Schnäpsen wandte sich Frau Wiskirchen dann auch an mich. „Ich weiß es zu schätzen, daß Sie auch zur Beerdigung von Heinrich gekommen sind“, sagte sie und versuchte, ihr Gesicht ein bißchen aufzuhellen. „Wo Sie ihn doch nur so kurz gekannt haben.“ „Er war mein Freund“, murmelte ich. „Überhaupt schön, daß so viele gekommen sind.“ Sie blickte sich in einer Art um, als säßen wir nicht zu siebt um einen doch kleinen Kaffeehaustisch, sondern tafelten, eine große Gesellschaft, Gott weiß nicht wo, vielleicht im Rheingrafenstübchen vom „Esplanade“. „Auch schön, daß die Herren alle gekommen sind.“ Als sie das sagte, bebte ihre Stimme ein bißchen, wenn man genau hinhörte (und ich hörte genau hin). „Ja, aus Kindern werden Leute. Und nicht einmal schlechte Leute. Weiß Gott.“ Was Gott wissen sollte, ging mir nicht ganz auf. Ich spürte nur so etwas wie Befriedigung aus ihrer Stimme. „Sie wissen nicht zufällig etwas mit dem Namen Gersdorff anzufangen?“ fragte ich in ihre Beschaulichkeit hinein. Ich wußte selbst nicht, warum ich das fragte. Es war mir eben nur so herausgerutscht. Um so mehr 85
staunte ich, daß Frau Wiskirchen gleichsam erstarrte. Die Kuchengabel, auf der Torte gehäuft war, stand für mindestens eine Sekunde reglos in der Luft, zehn Zentimeter von ihren schmalen Lippen entfernt, ehe die süße Ladung ziemlich heftig zwischen die Zähne geschoben wurde. „Gersdorff?“ fragte sie, nachdem sie gekaut und hinuntergeschluckt hatte, und sie rollte dabei die Augäpfel, als säßen wir in einem Quiz, und ich hätte sie nach dem vierten der Sieben Weltwunder gefragt. „Den Namen kenne ich nicht.“ Frau Wiskirchen war im Lügen nicht trainiert. Sie stellte sich an wie die Intrigantin auf einer Laienbühne, wiegte den Kopf, schob die Unterlippe vor, zog dann die Augen zu Schlitzen zusammen und murmelte noch einmal „Gersdorff …?“ und schüttelte resolut den Kopf. „Ich meine natürlich nicht den linken Verteidiger vom FC“, witzelte ich, um über die eigene Verlegenheit hinwegzukommen. „Den kenne ich selber.“ „Den kenne ich nun bestimmt nicht“, sagte Frau Wiskirchen schnell, froh darüber, daß ich ihr die Möglichkeit gegeben hatte, aus einer Peinlichkeit zu entkommen. Und wieder ganz in sich selbst und der Rolle angemessen, die sie als nächste Verwandte eines soeben Begrabenen auszufüllen hatte, sagte sie noch: „Nein, ich kenne überhaupt keinen Gersdorff, bestimmt nicht.“ Ich wußte, sie kannte einen Gersdorff. Und ich ahnte, daß sie mich heute nicht mehr so mir nichts, dir nichts an die Geschäftspapiere ihres Bruders heranlassen würde. Wer war Gersdorff? Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich wieder den Aktendeckel mit der Aufschrift „Konto Gersdorff“, und ich erinnerte mich auch genau, daß er in klobigen Blockbuchstaben geschrieben war. Dann sah ich zu Ma86
ria hinüber. Sie rührte eifrig in einer halbleeren Kaffeetasse. Wahrscheinlich hatte mich das Geklingel vom Löffel gegen das Porzellan aufmerksam gemacht. Auch Maria war verkrampft. Sie hatte die Schultern hochgezogen und schaute irgendwie ängstlich drein. Als ich sie anblickte, schlug sie die Augen nieder und fuhr fort, in der halbleeren Tasse herumzurühren. „Nett, daß Sie alle gekommen sind“, sagte Frau Wiskirchen in das Schweigen hinein, und am Ton ihrer Stimme war zu erkennen, daß die Rede, die folgen sollte, eine Art Rausschmeißer war. Das traf auch zu. Sie bedankte sich für die Anteilnahme, ließ uns gleichzeitig wissen, daß ihr Zug in einer Stunde ging und daß sie ein Taxi nehmen müsse, wenn sie ihn noch erreichen wolle. „Im übrigen“, sagte sie dann, „ist es, glaube ich – nein, ich weiß es –, im Sinne des Verstorbenen, wenn wir still auseinandergehen.“ Sie machte den Anfang mit dem stillen Auseinandergehen, nachdem sie bezahlt und sich einen Wagen hatte herbeirufen lassen. Die Nachbarsleute brachen gleichzeitig auf und fragten Maria, ob sie mit ihnen komme. „Ich bleibe noch und gehe dann ein Stück zu Fuß“, sagte sie, ohne mich anzusehen. Ich blieb natürlich auch. Wir tranken noch zwei Kognaks. Sie schwieg und drehte ihr leeres Glas am Stiel auf der Marmorplatte hin und her. Mit einemmal sah sie sehr blaß aus in ihrem schwarzen Kleid. „Wollen wir hier raus?“ fragte ich. „Wenn du willst.“ Schweigend gingen wir, zuerst an den Siedlungshäusern vorbei, dann durch die rußschwarzen Straßen in der Fabrikgegend. „Kommst du noch auf einen Kaffee mit zu mir?“ fragte ich, weil mir das Schweigen auf die Nerven ging. 87
„Ich glaube nicht“, sagte sie. „Ich bin müde.“ Wir waren an der Station der Vier angelangt, die bis zur Ecke Landtorweg und Spießergasse fuhr. „Willst du einsteigen?“ fragte ich sie. „Ich glaube, es ist besser“, sagte Maria. Sie blickte mich mit ihren schönen braunen Augen an, die voller Trauer waren. Vielleicht irrte ich mich, wenn ich in ihnen auch Angst sah. „Ich ruf dich an“, sagte sie, als sie in die Straßenbahn stieg. „Vielleicht schon morgen.“ „Schlaf dich aus.“
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6. Ich schlief schlecht in der Nacht. Das Laken war zerknüllt, als ich am Morgen aufwachte und versuchte, mich an ein paar Szenen aus meinem Geträume zu erinnern. Als mir einfiel, daß ich nicht in die Redaktion zu gehen brauchte, besserte sich meine Laune. Nur flüchtig kam mir der Gedanke, den Artikel über die Gastarbeiterinnen hinter mich zu bringen. Beim Frühstück war ich schon wieder ganz bei Heinrich Küpper. Gegen zehn verließ ich das Haus und ging ziellos durch die Altstadt, wobei ich, wahrscheinlich unterbewußt, vermied, in die Nähe der Redaktion zu kommen. Und dann stand ich vor Maria von den Sieben Schmerzen. Das ist keine große Kirche, sie sieht ein bißchen verloren aus zwischen den beiden hohen Versicherungsgebäuden, die ihr rechts und links auf den Leib gerückt sind und sogar ihren Turm überragen. Das „Kleinod der Frühgotik“, wie die Fremdenführer die Kirche zu bezeichnen pflegen, ist im Lauf der letzten zwanzig Jahre ziemlich schäbig geworden. Die Abgase der Autos fressen den Sandsteinheiligen Finger und Nasen weg und lassen ihren komplizierten Faltenwurf bröckeln. An irgendeiner Ecke ist immer ein Gerüst für die Steinmetzen aufgeschlagen. Auch an dem Tag. Ich sah den Männern eine Weile bei ihren Hantierungen zu, ehe ich an den Schaukasten neben dem Eingang trat. Gottesdienstankündigungen, Andachten, Versammlungen von Jugendgruppen und der Kolpingsfamilie – und unten die Adresse vom Pfarrhaus: Pfarrer Joseph Humbach, Mariahilfgasse 17. Das war gleich um die Ecke, ein modernes zweistöckiges Gebäude anstelle des im Krieg abgebrannten alten Hauses, mit einem breiten Blumenfenster zur Straße hin. Die Tür ist alt (oder auf alt gemacht) mit ihren geschnitzten Menschen und Tieren. Sie steht in einem schönen Kontrast zu der glatten, fast weißen Fassade und hat sogar einen Klopfer aus Bronze. 89
Hier ließ sich’s wohnen. Ich bin immer enttäuscht, wenn ich höre oder sehe, daß die Diener der Kirche gar nicht so wie Diener leben, eher wie Herren. Vielleicht hat man mir in der Jugend ein falsches Bild von der Klerisei aufgedrängt, eins, in dem Armut und Gehorsam die Züge bestimmen. Auch an dem Tag, als ich vor dem doch recht eindrucksvollen Domizil des Pfarrers der Gemeinde Maria von den Sieben Schmerzen stand, war ich enttäuscht. Wie man einen Türklopfer benutzt, weiß ich aus englischen Filmen. Eine Frau unbestimmten Alters und mit scheuen Augen, die immer so dreinblicken, als suchten sie eine Ecke zum Verkriechen, öffnete mir. Hochwürden, sagte sie, als ich erklärt hatte, ich käme nicht in Pfarrangelegenheiten, sondern privat, sei beschäftigt, und sie müsse erst fragen, ob er Zeit für mich aufbringen könne. „Richten Sie ihm aus, es ist wegen Küpper“, sagte ich auf der Schwelle zu einem Zimmer, das offensichtlich eine Art Warteraum war, jedenfalls den unbequemen Stühlen und den abgegriffenen Zeitschriften nach zu urteilen, die auf einem runden Tisch lagen. Wie beim Zahnarzt. Ich kam nicht dazu, einen Blick in eins der frommen Magazine zu werfen. „Herr Doktor Humbach lassen bitten“, sagte die Alterslose mit sanfter Stimme. Als Knabe bin ich öfters ins Pfarrhaus zitiert worden, meistens weil ich irgend etwas angestellt hatte, das meine religiösen Pflichten gröblich verletzte. Von der Zeit her hatte sich in meiner Vorstellung ein bestimmtes Bild von einer Geistlichenbehausung festgehakt: Bücher und Kruzifixe in allen Himmelsrichtungen, CMB über jeder Tür; in einer Ecke Geranienstöcke, an einer Wand Hieronymus im Gehäus; säuerlicher Geruch, mit dem mir 90
Frömmigkeit schon seit eh und je behaftet zu sein schien. Da, wo Hochwürden Joseph Humbach wohnte, sah es ganz anders aus. Mein erster Blick fiel auf eine Kopie von Picassos Guernica-Bild an weißgekalkter Wand. Zwischen den Fenstern hing eins von den modernen Kreuzen, mit denen Devotionalienhändler seit dem Krieg die besten Geschäfte machen, wahrscheinlich weil der mehr schwebende Kruzifixus so gar nichts mehr von Schmerz und Leid erkennen läßt. Die Bücher mußten in einem anderen Raum untergebracht sein. Hier hing nur ein kleines Regal, auf dem ich neben einer Galerie von Plastik-Figürchen aus Disney-Filmen ein griechisches Wörterbuch und ein Lexikon der Homiletik entdeckte. Es roch nach kalt gewordenem Zigarrenrauch. Dr. Humbach stand so hoch aufgerichtet, wie er mit seinen schätzungsweise Einszweiundsiebzig konnte, lächelte dünn und wies mit der Rechten einladend auf einen der Schwedensessel, die auf einem gutimitierten Täbris standen. Der Sessel war so niedrig, daß ich mir beim Hinsetzen fast den Steiß verstaucht hätte. Ich sah zu ihm hoch, in ein sanft geschwungenes, rundes Gesicht mit Brille. Ich stellte mich vor. Er murmelte seinen Namen. „Whisky oder Kognak?“ fragte er dann. „Korn“, sagte ich und brachte ihn offensichtlich in Verlegenheit. „Ich habe da einen guten Wodka, echten russischen.“ Er sprach, als sei seine Zunge zu groß für seinen Mund, was seiner Stimme etwas Dumpfes verlieh. „Dann den, bitte“, sagte ich. Die Zeremonie des Holens und des Entkorkens der Flasche dauerte ziemlich lange. Ich sah Dr. Humbach 91
von unten her dabei zu. So ein Geistlicher versteht sich schon von Berufs wegen aufs Bereiten von Getränken, dachte ich. „Ich ziehe einen milden Kognak vor“, sagte er, während er mir ein Glas mit Wodka vollgoß. „Die Profession.“ Dabei tippte er mit dem Zeigefinger der Hand, die die Flasche hielt, auf seinen Rumpf, da, wo der Magen sein mußte. „Der Meßwein greift die Schleimhäute an. Zu süß.“ Mit leichtem Ächzen ließ er sich in den Sessel mir gegenüber nieder, viel vorsichtiger als ich. Er kannte eben die Tücken modernen Wohnens. Jetzt waren wir gleichauf, und ich brauchte nicht mehr zu ihm hochzublicken. Das förderte mein Behagen. Nur das irritierte mich: daß ich unentwegt auf das Guernica-Bild sehen mußte, wenn ich den Blick ein bißchen hob. So ein Bild kann einen schon unruhig machen, wenn man es dauernd ansehen muß. „Und was kann ich für Sie tun?“ fragte Humbach, während er an seinem Schwenker herumschnupperte. „Herr Küpper war mein Freund“, sagte ich. Ich ließ sein Gesicht nicht aus dem Blick, während ich den Wodka schluckte. Aber er sah mich nur ausdruckslos an. Seine Brillengläser machten seine Augen grotesk groß. Offensichtlich wartete er darauf, daß ich fortführe. Erst als ich keine Miene machte weiterzusprechen, sagte er etwas. „Armer Heinz!“ sagte er. Sonst nichts, und seine Stimme klang noch einige Grad dumpfer als zuvor. Den Schwenker hielt er dabei mit zwei Händen umklammert, wie ein Eichhörnchen eine Nuß. Er starrte in die braune Flüssigkeit, als ob es in ihr etwas zu entdecken gäbe. „Wir kannten uns noch nicht lange“, sagte ich, nur um das Schweigen zu beenden, das er den beiden Worten 92
folgen ließ. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir etwas über Küpper erzählen könnten, ich meine …“ „Er war doch Ihr Freund“, unterbrach er mich. In seiner Stimme widerstritten einander Mißtrauen und Verdrossenheit. „Das stimmt schon. Aber ich glaube, ich kannte ihn noch nicht so richtig.“ „So, glauben Sie.“ Ehe er fortfuhr, griff er wieder zur Wodkaflasche, sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an und goß mein Glas noch einmal halb voll, als ich nickte. „Ich fürchte, da gibt es nicht viel zu erzählen. Bedenken Sie die fünfundzwanzig Jahre …“ „Ich bedenke.“ Der Zwischenruf schien ihn zu ärgern, seine Ohren wurden rot. „Sie wollen also mehr über Herrn Küpper wissen, als Sie wissen.“ „Um sein Gedächtnis besser in Ehren halten zu können.“ „Das ist löblich.“ Dr. Humbach scherte sich nicht um den Spott in meinen Worten. Er tat, was man zu tun pflegt, wenn man Zeit gewinnen will: Er schweifte ab. „Wir kennen uns doch irgendwoher“, sagte er. Wie er die Stirn in Falten legte, sah es wirklich so aus, als grüble er darüber nach, wo er mich schon einmal gesehen hatte. „Richtig. Sie waren doch an dem Unglücksabend auch im Hotel. Stimmt’s?“ „Ich war auch auf der Beerdigung.“ „Also über Küpper wollen Sie etwas wissen.“ Er schien nun so weit gesammelt, um den Faden wieder aufnehmen zu können. Er lachte kurz und unnatürlich auf. „Wenn ich mich so erinnern soll … Er war ein durchschnittlicher Schüler, von Sexta an. Besonders bei den Leibesübungen haperte es.“ Zum zweiten Mal inner93
halb weniger Tag bekam ich dieses ekelhafte Kunstwort zu hören. „Aber danach kann man nicht gehen, nicht wahr?“ „Und wie war es sonst?“ „Sonst?“ Die Pause geriet ein bißchen zu lang dafür, daß man über jemanden Auskunft geben sollte, der in den letzten Tagen im Mittelpunkt des Interesses gestanden hatte und über den man sich auf jeden Fall Gedanken gemacht haben mußte. „Ja, in Mathematik, in Latein und auch so, ich meine privat.“ „Ach so. Durchschnitt, das sagte ich schon.“ Nach einer Pause sagte Humbach noch, mehr zu sich selbst: „Er war ein Außenseiter.“ Das Wort kann, wenn es entsprechend betont wird, wie „Verbrecher“ klingen. Ich spürte ein Prickeln in den Füßen. Das kam nicht nur durch die unnatürliche Haltung, zu der einen der Schwedensessel zwang und wodurch der Kreislauf in Unordnung geriet. Ich hatte plötzlich Lust, das Haus zu verlassen, einfach wieder durch die Straßen zu gehen, in einer Kneipe zu sitzen und nicht mehr in diesem Zimmer, da zu sein, wo es keinen Picasso an der Wand gab und kein Lexikon der Homiletik auf dem Bord. Und vor allem nicht das Wort. „Für einen Hirten haben Sie eine seltsame Ausdrucksweise“, sagte ich. Ich hätte es nicht sagen sollen. Auf dem runden Gesicht ging ein Wandel vor sich. Sein Mund öffnete sich leicht, wie in Erstaunen, die großen Augen wurden noch größer, als ob sie über die Brillenränder hinauswachsen wollten. „Finden Sie?“ Sein Ansatz zur Ironie ging total daneben, sein Lächeln war gequält. 94
Wenn er mich jetzt rausschmeißt, dachte ich, kann ich mich nicht einmal beklagen. Aber ich kam nicht von dem Ton runter. „Ich finde“, sagte ich. Mein Gesicht war vor Trotz und Anspannung versteinert. „Dann wollen wir erst mal etwas hinunterspülen“, sagte Humbach um eine Spur zu unbekümmert. Er schnaufte ein bißchen beim Trinken. „Sind Sie von der Zeitung?“ fragte er plötzlich, und es klang so, als habe er gefragt: Kommen Sie aus dem Knast? „Ein bißchen. Ich bin beim Lokalteil des ‚Stadtboten‘ beschäftigt. Neulich haben wir etwas über Ihre Kirche gebracht. Zur Siebenhundertfünfzigjahrfeier der Weihe des Hochchors.“ „Das habe ich mir gedacht.“ „Leute von der Presse sind zäh“, sagte ich mit einem halben Lachen, nur um ihn aus der Reserve zu locken. Ich spürte förmlich, wie er dachte: Gott, einer von der Presse! So was gibt’s ja auch. „Und Küpper war wirklich Ihr Freund?“ erkundigte er sich. „Ja.“ „Und Sie wollen jetzt etwas über ihn schreiben?“ „Nicht in der Zeitung.“ Ich versuchte, aus der Klemme herauszukommen, in die ich mich selber hineinmanövriert hatte, konnte mir sogar blitzschnell eine, wie ich glaubte, gute Geschichte ausdenken. „Sie wissen ja: Zeitungsleute wollen durch die Bank mal was Anständiges schreiben, jedenfalls etwas Längeres.“ „Das ist verständlich.“ „Und mir ist da mit Küppers Tod ein Stoff in die Hände gefallen.“ 95
„Ja, ja, das kann ich mir vorstellen.“ Humbach gluckste in sich hinein. „Eine nette Novelle.“ „Genau.“ „Und wo ist in der Geschichte der springende Punkt?“ „Der liegt in der Tragik, daß einer in dem Moment stirbt, wo er sich mit alten Freunden zu einer Feier zusammenfindet.“ „Ganz passabel. Und wie wollen Sie die Geschichte exponieren, ich meine: Wie wollen Sie die Sache einleiten?“ übersetzte er. Ich merkte: Er glaubte mir kein Wort. „Das weiß ich noch nicht.“ „Ich verstehe. Den zu finden, soll ich Ihnen helfen. Und wie sind Sie ausgerechnet auf mich verfallen? Es waren doch noch mehr Freunde an dem Abend da.“ „Frau Wiskirchen hat Sie mir empfohlen.“ Mir fiel so schnell nichts anderes ein. „Frau Wiskirchen?“ Für einen Augenblick vergaß Humbach die Lider wieder aufzuschlagen, die er heruntergeklappt hatte. „Das wundert mich aber sehr“, sagte er mit geschlossenen Augen. „Sie wären der Mann mit dem besten Gedächtnis.“ Ich bemühte mich um einen sachlichen Ton, den man sich bei Interviews aneignet, um nicht ins endlose Quatschen zu kommen. „Also, Herr Doktor Humbach, würden Sie mir einiges über Küpper erzählen wollen?“ „Natürlich will ich, wenn Ihnen daran gelegen ist.“ Er schien bereit, das Spiel mitzumachen. „Er war Durchschnitt, nicht der Schlechteste.“ „Aber auch nicht der Beste.“ „Wer ist schon gut?“ Er breitete die Hände aus wie beim „Oremus“, und ich hatte das beängstigende Gefühl, er würde mich auf der Stelle in einen moraltheologischen Disput verwickeln. 96
„Bleiben wir dabei“, sagte ich schnell, „daß Küpper ein Außenseiter war.“ Das Wort ging mir schwer über die Zunge, und Humbach merkte es, nickte aber nur. „Was hieß das damals, als Sie noch zur Schule gingen?“ „Nun, er war eben … Er schloß sich niemandem so leicht an, mir nicht, uns allen nicht, auch anderen Kameraden nicht, die dann später gefallen sind.“ Ich blieb beharrlich. „Damals konnte man leicht als Außenseiter verschrien werden, weil man den ganzen Rummel nicht mitmachen wollte, mit der HJ und so. Und man war doch ein guter Mensch.“ „Sie müssen doch noch ein Kind gewesen sein, damals“, sagte er, und es klang geringschätzig. „Jahrgang dreiunddreißig.“ „Sehen Sie!“ „Ich habe aber inzwischen auch ein bißchen was gelernt über Ihre … über die glorreiche Zeit. Und was das Paulus-Gymnasium angeht, da hat mir Küpper einiges erzählt.“ „Sicher nichts Gutes.“ Das sagte er mit der Selbstverständlichkeit, die ein unumstößliches Vorurteil voraussetzt. „Ich kann mir vorstellen, daß er für die angeblich so große Zeit nicht so viel übrig hatte“, sagte ich und schnipste den Mittelfinger gegen den Daumen. „Sie kannten ihn anscheinend doch ganz gut.“ Humbach stand auf, erstaunlich geschickt und schnell kam er auf die Füße. Er ging um mich herum, und ich mußte einige Willenskraft aufbieten, um mich nicht nach ihm umzudrehen. Er hantierte in meinem Rücken, ich hörte etwas Metallisches knipsen, dann wie ein Streichholz angerissen wurde. Gleich darauf erreichte mich der aromatische erste Rauchschwall von einer Zigarre. „Er scheint Ihnen doch viel erzählt zu haben.“ 97
„Kommt drauf an, was man unter viel versteht“, sagte ich, während der schwarze Anzug von rechts wieder in mein Blickfeld kam. „Vielleicht auch etwas über seine Mitschüler?“ „Er hat keine Namen genannt. Nur den Namen von einem Lehrer.“ „Frobenius“, sagte er, als hätte es an dem ganzen Gymnasium nur den einen Lehrer gegeben. „Stimmt. Und es war nicht gerade schmeichelhaft, was er von dem zu erzählen wußte.“ „Sie mochten sich nicht.“ Und nach einer Pause: „Er mochte eigentlich wenige Lehrer … und kaum einen von uns.“ „Er war eben ein Außenseiter.“ „Theologisch gesehen“, er lächelte leicht und ließ sich wieder vorsichtig in seinen Schwedensessel nieder, wobei er eine überdimensionale Zigarre liebevoll zwischen zwei Fingern balancierte, „theologisch gesehen, war er ein Apostat, ich meine: wenn man die Zwangsherrschaft von damals als einen Orden ansehen will.“ „Wer will das schon?“ antwortete ich. „Natürlich niemand.“ Er lächelte wieder. „Obwohl … gerade unter den jüngeren Leuten, die alles nur aus Kindheitserinnerungen oder vom Hörensagen kennen, herrschen oft übertriebene Vorstellungen. Als ob alles Terror und Unfreiheit gewesen wäre.“ Unversehens war er ins Dozieren geraten. Er sprach akzentuiert und flüssig, seine dumpfe Stimme gab seinen Worten Gewicht. „Der Gedanke der Gemeinschaft ist urchristlich. Er hat sich so lange als geschichtsbildend erhalten, bis man die Interessengemeinschaften an seine Stelle setzte, die Klassen, wie Marx das nennt.“ Ich kam mir vor wie in einer Volkshochschulvorlesung, 98
in der ein Studienrat von vorgestern über die Vorzüge des ständischen Systems sprach. Ich versuchte den Exkurs mit einem herzhaften Gähnen abzukürzen, aber Humbach ließ sich nicht beirren, verzapfte etwas von zersetzenden Ansichten, Ideen, die sich – leider – auch in der Kirche breitmachten, führte ein paar Bibelstellen an, die belegen sollten, wie wenig der Mensch geschaffen sei, allein zu sein, und sang ein Loblied auf das Gewachsene, auf das, was durch vitales und spirituelles Zusammengehörigkeitsgefühl zueinander gehöre. „Was soll uns eine Lehre“, sagte er, „die die Menschen in Kategorien einteilt, die sich nach ihrer Stellung zu den Produktionsmitteln bemessen? Theologisch gesehen, sind Produktionsmittel völlig gleichgültig.“ Nun war mir in dem Augenblick Pfarrer Dr. Humbachs theologischer Ausflug völlig gleichgültig. Ich hatte nur den einen Wunsch, wieder auf Küpper zu kommen. Schließlich saß ich schon eine halbe Stunde in dem geschmackvoll eingerichteten Zimmer und hatte nicht mehr erfahren, als daß Küpper ein Außenseiter war, was immer man darunter verstehen wollte. Dem Treffen vom Samstag war ich keinen Schritt nähergekommen. „Küpper hat mir übrigens verraten, er hätte ein Hühnchen mit Ihnen allen zu rupfen“, sagte ich, wenig feinfühlig, als er eine kleine Pause machte. Gespannt beobachtete ich sein Gesicht. Aber seine Miene blieb undurchdringlich. Er sah für einen Augenblick nur ein bißchen verwirrt drein, so als müsse er sich nach all dem Gespräch übers Allgemeine erst wieder auf diesen besonderen Gegenstand konzentrieren. „Ich sagte schon“, erklärte er dann, „er mochte kaum einen von uns. Früher schon dachte er immer verquer, und das sich im Lauf der Jahre immer stärker ausgeprägt.“ 99
„Und Sie haben ihn trotzdem eingeladen?“ „Gott, er war einer von den wenigen, die übriggeblieben sind.“ Humbach machte eine winzige Pause, dann fuhr er, mit der Andeutung eines Lächelns in den Mundwinkeln, fort: „Das müssen Sie übrigens in Ihrer Novelle auch anklingen lassen, daß aus einer Abiturklasse von vierundzwanzig Schülern nur eine Handvoll übriggeblieben ist. Und dann vergessen Sie nicht, besonders eindringlich darauf zu verweisen, daß die Jungs, die übrigblieben, sich eng, sehr eng miteinander verbunden fühlen, egal, wie sie auch immer zueinander gestanden haben mochten.“ „Danke. Das werde ich nicht vergessen.“ Ich hatte versucht, meine Worte ein wenig bedeutungsschwer zu machen. Aber Humbach schien davon nichts zu merken. Jedenfalls zeigte er es nicht. Er verschränkte die Finger so ineinander, daß er unauffällig auf die Uhr sehen konnte. Weil es so unauffällig geschah, sah ich keine Veranlassung, es zu bemerken. Sollte er mich doch hinausschmeißen, wenn ihm danach war! Ich sagte nur mit einigem Behagen: „Ich stehle Ihnen wohl Ihre kostbare Zeit?“ Der Attacke hatte er auf die Schnelle nichts entgegenzusetzen. Er sah jetzt sichtbarlich auf die Uhr und murmelte etwas davon, daß er wohl noch ein paar Minuten erübrigen könne. Aus den paar Minuten wurde noch eine Viertelstunde, die ich weidlich zum Fragen ausnutzte. Jetzt wollte ich es wissen, alles mögliche, was sich über Küpper herausbringen ließ. Ich rückte ihm auf den Leib, wurde zudringlich, fragte nach Einzelheiten. Er wich aus, und es war geschickt, wie er das machte. Immer wieder kam er darauf zurück: Küpper war ein Durchschnittsschüler, ein Außenseiter, einer von den wenigen, die übriggeblieben sind. 100
Wenn ich wirklich darauf ausgewesen wäre, eine Novelle zu schreiben, ich hätte mir das Schicksal des Mannes Küpper buchstäblich aus den Pfoten saugen müssen. Nur einmal zeigte er Anzeichen von Unruhe, und zwar als ich ihn fragte, ob er und vielleicht auch die anderen nicht trotz aller Gegensätzlichkeiten zu Küpper, und weil sie doch die wenigen waren, die der Krieg übriggelassen hatte, seine Kunden gewesen wären. „Hat er Ihnen etwas davon erzählt?“ wollte er wissen, und er legte seine Zigarre in den Aschenbecher. „Kaum etwas“, sagte ich nur, und das beruhigte ihn nicht. Er fragte mich, was das mit der Novelle zu tun hätte, und als ich sagte, es wäre mir nur eben so eingefallen, schien er noch immer beunruhigt. Überhaupt kam es mir so vor, als schliche sich, je länger wir miteinander redeten, ein Ton der Besorgnis, vielleicht sogar von Ängstlichkeit in seine Stimme, so als sei er stets auf dem Sprang, nichts zu sagen, was nicht für meine Ohren bestimmt war. So sperrt man sich gegen einen Eindringling ab. Ich war ja ein Eindringling, einer, der darauf bedacht war, einem Pfarrer den Mittwochsmorgenfrieden zu rauben, nur weil ich eine fixe Idee im Kopf hatte. Zivilisierte Menschen tun so etwas nicht, sie bleiben bescheiden aus einer Sache heraus, wenn sie merken, daß sie stören, zumal wenn sie einen Mann von Bildung und Stellung stören. Ich gewann Gefallen daran, Humbach in Verlegenheit zu bringen und ihn, da ich ihn schon nicht gänzlich aus seiner Reserve locken konnte, wenigstens durch Anspielungen und angedeutete Vermutungen aus dem Konzept zu bringen. Ich erwähnte auch den Kommissar Munter, mit dem ich ein längeres, aufschlußreiches Gespräch gehabt zu haben vorgab, und zum ersten Mal ließ er vol101
lends die Pose der Überlegenheit fallen. „Munter?“ sagte er, wobei er jäh aufstand und zum Bücherbord hinüberging. „Was haben Sie mit dem zu tun?“ „Eigentlich nichts.“ Ich dehnte die vier Silben, sosehr ich konnte. Zum ersten Mal verspürte ich den Kitzel, den eine Stellung oder schon die Bekanntschaft eines Mannes mit Stellung verleiht. Und das hätte mich um ein Haar übermütig gemacht. Ich war schon drauf und dran, ihm zu sagen: Ich habe den Eindruck gewonnen, daß die Kriminalpolizei Küppers Tod so ganz und gar nicht uninteressiert läßt. Zum Glück kam er mir zuvor. „Für einen Mann“, sagte er und drehte gedankenlos am Arm einer der Disney-Figürchen, „der eine Novelle schreiben will, gehen Sie aber seltsame Wege.“ „Wenn der Held auf seltsame Weise umgekommen ist …“ „Im übrigen“, er stellte das Figürchen mit solcher Heftigkeit aufs Bord zurück, daß eins der Beine abbrach und er sich verwirrt nach dem Teil bückte, „im übrigen hat Kommissar Munter auch mit uns gesprochen, gleich an dem Abend und noch einmal am Sonntag. Uns hat er nichts Aufschlußreiches mitgeteilt.“ Der Ruin seines Spielzeugs schien ihm die Laune endgültig verdorben zu haben. „Ihr Held, wie Sie Küpper nennen, ist zwar auf ungewöhnliche, nicht aber auf seltsame Weise ums Leben gekommen. Lassen Sie sich von einem älteren Literaturkenner, der ich zu sein glaube, raten: Belasten Sie Ihre Geschichte nicht mit Unwahrscheinlichkeiten, jedenfalls nicht zu sehr. Sonst kommt ein Krimi heraus, und das wollen Sie doch wahrscheinlich nicht. Oder?“ „Ich weiß selber noch nicht so recht, wie ich die Sache anpacken soll.“ Ich beobachtete fasziniert, wie er, scheinbar 102
ganz in sich versunken, das Bein wieder zu befestigen versuchte. Schließlich setzte ich wieder zum Sprechen an. „Die Polizei …“ Weiter kam ich nicht. Humbach sah von seiner Beschäftigung auf und unterbrach mich. „Die Polizei würde ich nicht ins Spiel bringen, auf keinen Fall als recherchierende Instanz. Sie haben doch eine Handvoll interessanter Charaktere, die Sie vorstellen, beschreiben können, Männer im besten Alter und aus unterschiedlichen Professionen.“ Er hielt sich streng an die Fiktion, als wollte ich eine Novelle schreiben, und mir blieb nichts, als darauf einzugehen. „Skizzieren Sie die Schicksale eines jeden von ihnen, lassen Sie Ihre Phantasie dabei walten, in Grenzen natürlich, in Grenzen meine ich, die Ihnen die Charaktere und die Umstände vorschreiben. Dann wird etwas Gutes dabei herauskommen. Kennen Sie den Roman ‚Die Brücke von San Luis Rey‘?“ Während er mir auseinandersetzte, wie in Wilders Buch sich das Schicksal von einigen Leuten vollendet, weil sie nach göttlichem Ratschluß am Ende ihrer Lebensbahn angekommen sind, verfluchte ich innerlich meine Rolle, Gast zu sein. Ich konnte nicht einfach aufstehen wie er, konnte mir nicht an irgendwelchen Gegenständen zu schaffen machen, ich mußte in der widernatürlichen Haltung, in die man mich hineinbugsiert hatte, hocken bleiben, mit Beinen, die inzwischen bis zu den Knien hinauf taub geworden waren. Und ich mußte mir in der Stellung anhören, wie Humbach, jetzt offensichtlich mit Genuß, das Garn weiterspann, mit dem ich mehr aus Verlegenheit angefangen hatte. Je länger das dauerte, desto mehr wurde ich mir bewußt, daß ich mit meinen Versuchen, etwas über die Art, wie Heinrich gestorben war, herauszufinden, gescheitert war. Ich hätte 103
noch fragen können, ganz direkt, wie es denn zugegangen sei, daß Heinrich über die ziemlich hohe Umfriedung des Dachgartens gestürzt war. Aber Gott sei Dank schenkte ich mir das. Ich hätte doch nur die Antworten bekommen, die ich mir selbst zusammenreimen konnte. Als Hochwürden Humbach mit seiner Ermahnung, die Geschichte nicht mit unnötigem Tiefgang zu befrachten, seine Rede schloß, schickte er noch die Perfidie hinterher: „Vor allem: Fassen Sie sich kurz. Aber das brauche ich Ihnen wohl nicht eigens ans Herz zu legen, einem Journalisten, der an Platzmangel gewöhnt ist.“ Das klang nach Ende der Audienz. Er hatte mich so weit gebracht, daß ich heilfroh war, aufstehen zu können. Verstohlen vertrat ich mir ein wenig die Beine und genoß die Wohltat, daß das Blut wieder regelrecht in ihnen zu zirkulieren begann. „Es würde mich freuen, wenn ich Ihnen mit dem wenigen, das ich Ihnen berichten konnte, geholfen habe.“ Humbach war jetzt die Liebenswürdigkeit in Person. Das wenige war so gut wie nichts, dachte ich bitter und sagte: „Danke, ich brauche nicht allzuviel, um mir eine Geschichte zusammenzureimen.“ Den vielversprechenden Unterton, den ich in den Satz legte, schien er nicht zu bemerken. Er fragte nur: „Und was gedenken Sie nun zu unternehmen?“, und es war jetzt an mir, die Anspielung, die in den Worten steckte, zu überhören. „Mal sehen“, sagte ich vage. „Jedenfalls werde ich erst einmal essen gehen.“ „Tun Sie das“, sagte er, während er die Tür zu seinem Zimmer aufhielt und die bereitstehende Frau unbestimmten Alters mit einer Handbewegung wegwedelte. Er brachte mich selbst zur Haustür. 104
7. Als ich ihn verließ, sah Hochwürden Humbach drein wie ein Sportler, der einen Sieg errungen hat, ohne seine Kraft voll einsetzen zu müssen. Er war locker und freundlich. Das Bild vom Sieger begleitete mich bis in meine Wohnung. In der Küche wirtschaftete Frau Kummernuß herum, wie jeden Mittwoch. Und sie hatte – wie immer um diese Zeit – sich gerade ein Kännchen Kaffee aufgebrüht. „Sie sind wohl heute nicht auf Arbeit?“ sagte sie. Dabei sah sie mich über den Rand der Tasse aus ihren grauen Augen vorwurfsvoll an und machte mit der Hand, in der sie die Zigarette hielt, eine unbestimmte Bewegung. Mir blieb nichts übrig, als zu erklären, ich fühlte mich nicht wohl, wenn ich mir nicht einen endlosen Sermon über den Fleiß als das Rückgrat des Menschen anhören wollte. Sie glaubte mir natürlich nicht. Unterm Einswind ihres Blicks machte ich sofort die Tür zur Küche zu. Nach ein paar Minuten der Zurückgezogenheit in einen meiner blauen Sessel, untermalt vom Lärm unwirschen Hantierens mit einem Eimer und anderen hauswirtschaftlichen Geräten, überwand ich allmählich den Schock, den mir der vormittägliche Besuch eingetragen und auf den Frau Kummernuß den Punkt gesetzt hatte. Eine Art von Trotz begann meine Resignation zu verdrängen. Jetzt erst recht würde ich mich nicht aus dem Weg drängen lassen! Ich rief Maria an. Sie meldete sich noch immer mit „Hier bei Küpper“. Ich muß wohl länger als schicklich darüber nachgedacht haben, wie makaber Angewohnheiten an einem bestimmten Punkt werden können; denn ich hörte als 105
nächstes ein mißtrauisches und ungeduldiges „Wer ist denn da?“ „Ich bin’s. Schweizer.“ „Clemens?“ Das Fragezeichen hinter meinem Namen war ganz dick, richtig schwergewichtig. Und dann kam gleich die nächste Frage: „Hast du schon etwas unternommen?“ ‚Und was gedenken Sie nun zu unternehmen?‘ hatte Humbach gefragt, vor gut einer Stunde. Alle schienen Unternehmungen von mir zu erwarten. Dabei wollte ich doch nichts, als mir Gewißheit verschaffen, wie einer ums Leben gekommen war. „Ich bin kein Unternehmer“, gab ich zurück. „Witzbold. Was willst du?“ „Dich sehen.“ Ich war mir bewußt, daß ich den einzigen Menschen, der in dieser Angelegenheit möglicherweise auf meiner Seite stehen konnte, nicht verprellen durfte. Also mußte ich freundlich bleiben. Das fiel mir auch nicht schwer. Maria wiederzusehen war mir wirklich ein Bedürfnis. Als sie mich am Tag zuvor wie nebenbei verabschiedet hatte, war ich mir wie ein weggeschickter Rotzjunge vorgekommen. „So, willst du das?“ Sie wollte offenbar Zeit gewinnen. „Wir müssen doch endlich über einiges reden“, sagte ich, und im selben Moment wurde mir bewußt, daß ich nicht nur an Heinrich Küpper dachte. Maria mußte das gemerkt haben. Sie wurde ein bißchen zugänglicher, erklärte, sie habe nun mehr Zeit für sich, wenn sie sich auch um eine Wohnung kümmern müsse und den Umzug und dergleichen. „Ich möchte so schnell wie möglich hier raus“, sagte sie, und mir schien das nicht nur so dahingesagt. 106
„Dringt Frau Wiskirchen darauf?“ „Ach, die … Ich will einfach raus hier. Verstehst du denn das nicht? Jetzt, wo Heinrich nicht mehr da ist.“ „Hat dich schon einer von den Herren besucht?“ „Von den Herren?“ Wieder war mir, als wollte sie Zeit gewinnen. Aber diesmal gönnte ich ihr keine Pause zum Überlegen und stieß gleich hinterher. „Von den famosen Schulkameraden Heinrichs“, sagte ich. „Und warum, glaubst du, sollten ausgerechnet die mich besuchen?“ Ihre Stimme klang unsicher. „Vielleicht könnten sie sich nach deinem Wohlergehen erkundigen wollen.“ „Witzbold“, sagte sie wieder, ganz trocken. „Du weißt doch, wie Heinrich über sie gedacht hat. Und sie wahrscheinlich über ihn. Und da glaubst du, die kümmern sich um mich.“ „Vielleicht nicht aus Nächstenliebe.“ Mir kam es zwecklos vor, am Telefon lange Reden zu führen. Ich wollte sie sehen, möglichst noch am selben Tag. „Hast du heute um acht Zeit?“ fragte ich ohne Übergang und Einleitung. „Pressiert’s dir so?“ Maria war von einer Schwerfälligkeit, die mir das Blut in Wallung brachte. Alles parierte sie mit Fragen, und nicht einmal mit besonders intelligenten. „Ja, mir pressiert es. Sei bitte um acht im ‚Windfang‘. Oder soll ich zu dir kommen?“ „Nein, ich bin um acht in der Kneipe.“ Das klang ganz danach, als ob sie auflegen wollte. „Momentchen noch!“ Ich mußte noch etwas wissen, unbedingt. „Was ist mit dem Rechtsverdreher von Frau Wiskirchen? Ist der noch im Haus?“ 107
„Was willst du denn von dem?“ Maria gab sich keine Mühe, das Mißtrauen in ihrer Stimme zu unterdrücken. Als ich nicht sofort antwortete, sagte sie: „Da kann ich dich beruhigen. Der ist schon am Montag abgezogen, und er hat alle Geschäftspapiere mitgenommen, wenn dich auch das interessiert.“ Das interessierte mich natürlich; etwas Ähnliches hatte ich mir auch schon zusammengereimt. Jetzt setzte ich zu einem Trick an, und mir war seltsam unwohl dabei, als ich fragte: „Kannst du mir vielleicht die Adresse von diesem Rechtsanwalt Nowak sagen?“ „Rechtsanwalt Nowak?“ Pause. „Den kenne ich nicht. Der Mann, der hier war, hieß Muschelmeier. Das ist der, der für die Wiskirchens alles erledigt. Seine Adresse weiß ich nicht.“ Sie setzte hinzu: „Gib dir keine Mühe, Clemens, der Bursche läßt dich bestimmt nicht in Heinrichs Papieren herumschnüffeln.“ „Warum hast du was dagegen?“ „Darum.“ Vielleicht war ihr schon eingefallen, daß sie mir Muschelmeiers Namen nicht hätte sagen sollen. Sie fertigte mich kurz ab, sagte, daß sie sofort weg müsse, wegen der Wohnung, und schon in Hut und Mantel stehe, wiederholte, daß sie am Abend im „Windfang“ sein werde, und legte auf. Fünf Minuten lang beschäftigte mich die Überlegung, ob das, was ich als nächstes vorhatte, überhaupt sinnvoll war. Aber da ich mir bisher überhaupt nur mit wenig Sinnvollem die Zeit vertrieben hatte, wollte ich auch noch diesen einen Schritt tun. Wenn er wieder ins Leere führen sollte, das schwor ich mir, würde ich noch zur selben Stunde alle Schnüffeleien aufgeben. Im Telefonbuch gab es nur einen Rechtsanwalt Muschelmeier, der den schönen Vornamen Alfons führte 108
und hinter seinen Familiennamen ein „jun.“ gesetzt hatte. Alter Advokatenadel, sagte ich mir, als ich die Nummer wählte. Eine männliche, ziemlich bröcklige Stimme meldete sich: „Hier Sekretariat Rechtsanwalt Muschelmeier.“ „Ich möchte den Herrn Rechtsanwalt sprechen.“ Der Herr Rechtsanwalt, wurde mir mit Wichtigkeit bedeutet, sei auf dem Gericht. Ob da etwas auszurichten wäre, oder ob mir sonst geholfen werden könnte, wollte der Mann wissen. Ich spielte, glaube ich, meine Rolle gut, wenn mir auch zu meiner Belustigung auffiel, daß ich unwillkürlich meine Stimme verstellte, als ich sagte, ich wäre Oberinspektor Wandrey von der Steuerfahndung und hätte den Auftrag, gewissen Unregelmäßigkeiten in der Buchführung des Weinhändlers Heinrich Küpper nachzugehen. Nun sei mir zu Ohren gekommen, Herr Küpper sei verstorben und seine geschäftlichen Unterlagen befänden sich in der Verwahrung von Rechtsanwalt Muschelmeier. „Ganz recht“, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. Sofort hatte sich die Reserve des freiberuflichen Juristen gegenüber den beamteten Kollegen in seine Stimme geschlichen, und ich wußte also, daß ich für voll genommen wurde. „Womit kann ich dienen?“ fragte der Mann am anderen Ende der Leitung wieder, diesmal weniger höflich. „Vielleicht sollte ich doch wieder anrufen, wenn Herr Muschelmeier im Büro ist.“ Das kränkte den Mann. „Ich bin der Bürovorsteher“, sagte er mit Würde, „und ich bin mit allen Vorgängen vertraut, auch mit dem Nachlaß Küpper.“ 109
Für eine Sekunde stellte ich mir vor, wie der Mann aussah, vielleicht grau, auch im Gesicht, vielleicht knochige Finger, die jetzt ungeduldig auf der Schreibunterlage tanzten, vielleicht hatte er einen vorstehenden Adamsapfel. „Nun gut, wenn Sie mir Auskunft geben können …“ „Ich kann, vorausgesetzt, daß die Interessen von Frau Wiskirchen nicht davon berührt werden.“ „Die Interessen Ihrer Klientin?“ „Ganz recht.“ Es schien eine genormte Wortkargheit dieser Leute im Umgang mit den Behörden zu geben, und die bekam ich jetzt zu spüren. „Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß das BGB die berechtigten Interessen eines Erben oder einer Erbgemeinschaft …“ „Schon gut.“ Ich legte alle Arroganz, der ich habhaft werden konnte, in die zwei Worte und dachte gleichzeitig daran, wie höchst unvorsichtig es von mir gewesen war, mich mit Vehemenz in die Sache zu werfen, ohne zuvor die Erbschaftsgesetze wenigstens mit einem Blick bedacht zu haben. „Es liegt mir fern, Ihre Klientin in ihren Rechten zu schmälern. Aber es ist doch wohl besser, wenn Sie mir sagen, wann Herr Muschelmeier wieder da ist.“ Wenn er auflegte, war ich so schlau wie vorher. Er legte nicht auf, geriet vielmehr in gelinde Rage, was seine bröcklige Stimme ein bißchen menschlicher machte. „Ich bin mit allen Vorgängen vertraut“, sagte er noch einmal, und dann noch mit Nachdruck: „Ich bin Rechtsanwalt Muschelmeiers rechte Hand.“ So habe ich mir rechte Hände immer vorgestellt: stets darauf bedacht, um keinen Preis ihr Licht unter den Scheffel zu stellen oder um Gottes willen nicht zur linken Hand degradiert zu werden. „Dann sagen Sie mir bitte, ob sich unter Herrn Küppers Nachlaß ein Konto ‚Gersdorff‘ befindet. Gersdorff 110
schreibt sich mit zwei ‚f‘. Das ist der Akt, für den wir von der Steuerfahndung uns besonders interessieren.“ „Handelt es sich dabei um … äh … Glauben sie, daß da Unregelmäßigkeiten vorliegen?“ „Wir wissen es nicht.“ Ich ergänzte die salomonische Antwort mit einem Appell an seine Kompetenz: „Sie könnten Ihrer Mandantin helfen, früher in den Besitz des Erbscheins zu kommen, wenn Sie …“ „Moment mal.“ Ich hatte Muße, ins Telefon hinein zu sinnieren, ob es wirklich klug gewesen war, mich so direkt zu erkundigen. Es mußte für Muschelmeier und seine rechte Hand ein Kinderspiel sein, bei der Finanzbehörde nach einem Oberinspektor Wandrey zu fragen. Zum Glück für meinen Elan meldete sich der Bürovorsteher erstaunlich schnell wieder. Er sagte: „Unter den Papieren, die Frau Wiskirchen uns übergeben hat, gibt es kein ‚Konto Gersdorff mit zwei ‚f‘. Das wäre mir auch seltsam vorgekommen. Ich selber habe am Montag die Papiere gründlichst“ – er wiederholte den Superlativ mit der ihm zukommenden Betonung – „gründlichst durchgesehen.“ „Sind Sie sicher?“ Ich weiß nicht, ob es mir gelang, die Spannung aus meiner Stimme herauszuhalten. „Ich meine: Sind Sie sicher, daß es keine besondere Akte unter diesem Titel gibt?“ „Mein lieber Herr Oberinspektor“ – die „rechte Hand“ schlug jetzt Töne an wie einer, der endgültig begriffen hat, daß er auf dem längeren Ende der Wippe sitzt –, „wir irren uns selten. Wer hat Sie überhaupt auf die Idee gebracht, daß ein solches Konto existiert?“ Ich murmelte etwas von einer alten Spur, auf die wir vor Jahren schon gesetzt worden seien, und als sich mein 111
Gesprächspartner erbot, noch einmal die ganze Buchführung Posten für Posten durchzugehen („Man will doch schließlich dem Fiskus behilflich sein, wo man kann“, sagte er mit unverhohlener Boshaftigkeit), dankte ich so sachlich wie möglich und stellte in Aussicht, mich in den nächsten Tagen wieder zu melden. Dann schärfte ich ihm – für alle Fälle – noch ein, mich nicht anzurufen, da mich eine umfangreichere Prüfung an Ort und Stelle für mindestens eine Woche aus dem Amt fernhalte. Ich wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Das Gespräch hatte mich doch sehr angestrengt. Im Kühlschrank fand ich nur noch einen Rest Rum, mit dem ich mir an den Abenden den Tee gehaltvoller machte. Ich suchte nicht erst nach einem Glas, setzte die Flasche an den Mund und nahm einen tiefen Schluck. Frau Kummernuß kam hinzu, wie ich mit leisem Ächzen die Flasche auf den Tisch stellte. Sie sah mich an, als hätte sie mich bei etwas Unaussprechlichem ertappt. „Ich muß noch einmal weg“, sagte ich so unbefangen wie möglich, als ich der Tür zustrebte. „Für einen, der sich nicht wohl fühlt, sind Sie aber sehr kregel!“ rief sie mir hinterher, ehe ich noch das Treppenhaus erreicht hatte. Auf dem Weg zum Bahnhof machte ich an einem Wurststand halt. Ich hatte keinen Hunger, nur die Gewohnheit, mittags etwas zu essen, dirigierte mich. Während ich auf der fetttriefenden Wurst herumkaute und zwischendurch Brocken eines altbackenen Brötchens in mich hineinfütterte, überlegte ich, was ich in Brechthoven erreichen könnte. Nichts, wenn Frau Wiskirchen es gewesen war, die den Hefter mit der Aufschrift „Konto Gersdorff“ an sich genommen hatte, gestand ich mir ein. 112
Aber das entmutigte mich nicht. Vielleicht war es ganz gut, ein bißchen Atmosphäre zu schnuppern. So wenig erfolgversprechend sich so eine Tätigkeit auch ausnimmt, ich war lange genug im Zeitungsgeschäft, um sie nicht als nutzlos abzutun. Fest stand, daß die Akte nicht mehr bei Heinrichs Papieren war. In dem Punkt traute ich der rechten Hand von Muschelmeier voll und ganz. So einer macht keine Faxen, wenn er es mit einer Behörde zu tun hat. Aber warum war die Akte nicht mehr bei den anderen Papieren? Wer konnte ein Interesse daran haben, sie verschwinden zu lassen? Natürlich die Leute, die namentlich in ihr genannt waren, auch Hochwürden Humbach, der sich so seltsam aufmerksam gezeigt hatte, als ich Heinrichs Geschäftsbeziehungen mit seinen ehemaligen Schulkameraden erwähnte. Nur drei Menschen hatten Gelegenheit gehabt, die Akte verschwinden zu lassen. Erst einmal Maria, dann Frau Wiskirchen und schließlich Rechtsanwalt Muschelmeier. Maria verschwieg mir etwas, dessen war ich sicher. Aber was? Frau Wiskirchen? Warum konnte sie sich nicht an den Namen Gersdorff erinnern, da sie doch sonst über alles bestens informiert zu sein schien, was mit ihrem Bruder und mit dessen Vergangenheit zusammenhing? Den Rechtsanwalt mußte ich wohl vorerst aus meinen Überlegungen herauslassen. Auf dem Westbahnhof bekam ich nach nur halbstündigem Warten einen Zug nach Brechthoven. Da das Nest zum Einzugsgebiet unserer Stadt gehört, wird es, sozusagen eisenbahntechnisch, wie ein entfernter liegender Vorort behandelt. Es war halb zwei, stellte ich mit einem Blick auf die Bahnhofsuhr fest, ehe ich den Waggon erklomm. Als der Zug sich schon in Bewegung setzte, wurde die Tür noch einmal aufgerissen, und keuchend stieg 113
ein Mann zu mir ins Abteil. Er war alt, mindestens über sechzig, nach meiner Schätzung, aber kräftig, fast athletisch gebaut, hatte einen turmartigen kahlen Schädel und einen weißen Vollbart, der rings um den Mund vom Rauchen braun gefärbt war. Trotz des kühlen Wetters standen ihm die Schweißperlen auf der Glatze, die er hin und wieder, weil sie ihm lästig wurden, mit einem Taschentuch wegtupfte. Kaum war er zu Atem gekommen, fischte er aus seiner Aktentasche ein seriös eingebundenes Buch und begann eifrig darin zu lesen. Den Titel des Buches konnte ich erst nach einigem Halsverrenken entziffern: Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Band zwei. Fast hätte ich „Donnerwetter!“ gesagt. Was war das aber auch für eine Welt, in der man nicht sicher sein konnte, daß nicht ein Opa, der wie ein pensionierter Förster aussah und dem man Brehms Tierleben oder allenfalls Löns schwachsinnige Geschichten zugetraut hätte, plötzlich so eine Scharteke aus der Tasche zog. Unter solchen Überlegungen schlief ich ein und wurde erst wieder wach, als der Zug hielt und der rauschebärtige Großvater, den zweiten Band unterm Arm, die Tür öffnete und auszusteigen sich anschickte. Gleichzeitig hörte ich: „Hier Brechthoven. Anschlußzug nach Warmkirchen vierzehn Uhr zweiundfünfzig vom selben Bahnsteig.“ Wenn man in einem Kaff wie Brechthoven jemandes Adresse erfahren will, geht man am besten in die Drogerie. Die ist nämlich immer gleich am Bahnhof. Ich hatte Glück. Kaum daß ich nach einigem Warten in der Reihe der Käufer den Namen Wiskirchen genannt hatte, erhielt ich auch schon Auskunft aus dem Mund eines Mannes, der so ernsthaft aussah, wie der Slogan in seinem Schaufenster vermuten ließ: In allen Fragen des Lebens empfiehlt sich Ihnen Ihr Drogist. „Gotenring vierund114
dreißig“, sagte er. „Dritte Straße rechts, dann erste links.“ Gotenring, das klang mächtig, fast wie Wagner oder wie Felix Dahn. Und als ich die ziemlich verwahrlosten Bauernhäuser in der Nähe des Bahnhofs hinter mir gelassen hatte und in den Gotenring eingebogen war, fühlte ich mich in meiner Annahme voll und ganz bestätigt. Was sich längs der Straße breitmachte, waren Villen im Stil der Jahrhundertwende. Da gab es italienische Landhäuser, denen ein pfiffiger Architekt einen kleinen Luginsland angeklebt hatte, gotisch gestellte Behausungen von auffallender Häßlichkeit, trotzige Wohnburgen mit Rundbogen über jeder nur möglichen Öffnung, dazwischen Versuche im Jugendstil mit viel Ornament über den Türen und den kühn geschwungenen Fenstern, die aus der Vorderfront herausgestanzt sind. „Mon Repose“ hieß ein Haus, ein anderes „Luisenhöhe“, obwohl der nächste Hügel mindestens zwanzig Kilometer entfernt war, und eins nannte sich sogar „Rheingold“ und sah entsprechend aus. Hier fing das Viertel der Wohlhabenden an, und es würde sich wahrscheinlich in einem „Nibelungenweg“, einer „Parzivalallee“ oder einer „Alarichstraße“ fortsetzen. Das Domizil der Frau Wiskirchen sah noch recht manierlich aus, eher wie ein Schwarzwälder Haus mit tief heruntergezogenem Dach und kleinen Fenstern. „Willy Wiskirchen, Getreidegroßhandel“ war in ein Messingschild in der Gartenpforte graviert, und hinterm Zaun wartete schweifwedelnd und mit stumpfem Blick eine dänische Dogge darauf, mich zwischen die Zähne zu bekommen. Ich meinerseits wartete darauf, nachdem ich geklingelt hatte, daß mich ein Mensch wohlbehalten an dem Vieh vorbeiführen würde. Der Mensch kam auch. Er kam mit langen Schritten über den Steinweg quer durch 115
den Rasen. Doch sein Anblick verursachte mir einen noch heftigeren Schock als das Hundetier: Es war der glatzköpfige, rauschebärtige Förster aus dem Zug. Unwillkürlich vergewisserte ich mich, ob er noch das Buch unter den Arm geklemmt hielt. Der Arm schlenkerte frei zum Takt seiner Schritte.
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8. „Sie wünschen?“ fragte der alte Mann mit einer so hohen Stimme, wie man sie nie in einem solchen Charakterkopf vermutet hätte. Ich schluckte meine Beklommenheit hinunter. „Mein Name ist Schweizer“, sagte ich. „Ich möchte zu Frau Wiskirchen.“ „Schweizer? Kenne ich nicht.“ Er schüttelte den Kopf, und ich glaubte seinen Bart rauschen zu hören. „Gedulden Sie sich ein Weilchen“, beschied er mich, machte kehrt und rief noch im Gehen: „Mutter!“, was bei seiner hohen Stimme wirklich so klang, als riefe ein verlaufenes Kind nach seiner Mutter. Eine Sekunde lang fühlte ich mich wie in die falsche Theatervorstellung geraten. Doch dann trat Frau Wiskirchen auf, und ich wußte, ich war richtig. Sie trug Dirndl, was ihr, aus einiger Entfernung gesehen, gut stand. Aber dann kam sie näher, nur kurz von dem Förster aufgehalten, und der gute Eindruck war perdu. „Sie?“ rief sie. Dabei brachte sie es fertig, in das eine Wort nicht nur alles Erstaunen der Welt zu legen, sondern auch alle Abscheu, die man in ihren Kreisen vor Zigeunern und Hausierern und dergleichen Volk hegt. Doch dann fing sie sich und sagte zu ihrem Mann: „Ein Freund von Heinrich.“ „Ach, sieh da, von meinem Herrn Schwager“, rief er, und das klang nun noch vernichtender als das „Sie?“, das Frau Wiskirchen mir entgegengebracht hatte. Jedenfalls war ich nun mit einem Schlag über einiges ins Bild gesetzt: Der Förster war kein Förster, sondern der Getreidegroßhändler, den das Schild angekündigt hatte, und er war der Mann von Frau Wiskirchen. „Ich glaube, wir kennen uns schon“, sagte ich zu dem Mann, bemüht, mich so gut und so selbstverständlich wie 117
möglich einzuführen. „Wir? Nicht, daß ich wüßte.“ Er hantierte am Schloß der Pforte und überhörte meinen Einwand: „Doch, aus dem Zug.“ Er hat mich nicht einmal wahrgenommen, dachte ich empört. Aber wie hätte ich auch gegen Spengler aufkommen sollen? Herr und Frau Wiskirchen und der Hund geleiteten mich ins Haus. Der Hund hielt sich dicht neben mir. Nach der Passage durch eine dunkle Diele befand ich mich in einem fast ebenso dunklen, geräumigen Zimmer, das man im Jargon der hier wohnenden besseren Leute wohl als Salon bezeichnen mußte. Es war kalt, und das rührte sicherlich nicht nur daher, daß in dem Kamin von der Größe eines mittleren Ziegenstalls kein Feuer brannte. Frau Wiskirchen deutete stumm auf einen hochlehnigen Sessel, dessen hölzerne Partien über und über mit geschnitzten Weintrauben bedeckt waren. Sie setzte sich mir gegenüber in das Pendant des Möbels, in dem ich saß, und wartete. Ihr Mann stand hoch aufgerichtet mit dem Rücken zum Kamin und wartete auch. Nachdem ich mich geräuspert hatte und den Hals ein paarmal im Kragen hin und her bewegt hatte, sagte ich so unbefangen wie möglich: „Nett haben Sie es hier.“ Frau Wiskirchen war bemüht, so etwas wie Konversation in Gang zu bringen, nachdem ich schon einmal mit dem Sprechen begonnen hatte. Dies Haus, erklärte sie mir, habe der Vater ihres Mannes gebaut, und ihr Mann und sie lebten hier schon seit ihrer Verheiratung – jetzt fünfundzwanzig Jahre. Ich unterdrückte die Frage, warum sie sich denn ausgerechnet so einen Alten erkoren hatte, und sagte statt dessen etwas von frischer Luft und angenehmer Ruhe, 118
die man in der Stadt so sehr entbehren müsse. Dabei wartete jeder von uns dreien darauf, daß endlich zur Sache gesprochen würde. Denn daß es einen sachlichen Grund für mein Kommen gab, davon war auch Herr Wiskirchen überzeugt, das sah man dem Teil seines Gesichts an, der nicht von Haar bedeckt war. Je länger Frau Wiskirchen mit dem Aufzählen von Familienereignissen beschäftigt blieb und ich als artiger junger Mann mit zur Seite geneigtem Kopf ihr lauschte – sie war inzwischen bei der Anzahl und Größe der Zimmer angelangt und wollte dazu übergehen, mir nach allen Vorzügen den Nachteil einer schlechten Wasserversorgung klarzumachen –, desto trockener wurde mein Mund. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als daß man mir eine Tasse Kaffee oder auch nur ein Glas Selters anbieten würde. Endlich, nach vielleicht zehn Minuten, unterbrach sich Frau Wiskirchen und sagte: „Aber um das zu hören, haben Sie sicher nicht den weiten Weg zu uns hinaus gemacht. Stimmt’s?“ Wie wahr! dachte ich, erwiderte aber nichts. „Was wollen Sie also?“ kam die hohe Stimme zupackend vom Kamin herüber. „Sie sind doch sicher wegen Heinrich gekommen“, sagte Frau Wiskirchen, ehe ich noch antworten konnte, vielleicht nur, um der Frage ihres Mannes die Schärfe zu nehmen. „Hatte mein sauberer Schwager Schulden bei Ihnen?“ fragte der Mann am Kamin. „Aber Willy!“ Frau Wiskirchen wandte ihm ruckartig den Kopf zu. „Ist ja wahr!“ murmelte der Mann am Kamin und löste seinen Ellbogen vom Sims. „Wenn Sie wüßten“, wandte 119
er sich an mich, „was wir mit diesem Burschen schon für Tänze gehabt haben.“ „Willy!“ Frau Wiskirchens Ton war um einige Grade schärfer geworden. Aber ihr Mann war vorerst nicht zu bremsen. „Nichts als Ärger“, fuhr er fort. „Wenn ich sein Vater gewesen wäre …“ Er sprach nicht aus, was er für diesen vom Alter her möglichen Fall getan hätte. Aber ich konnte mir leicht ausmalen, wie der Getreidegroßhändler mit einem Nichtsnutz von Sohn verfahren wäre. „Willy, mein Mann … Er mochte Heinrich nicht besonders“, sagte Frau Wiskirchen entschuldigend, und ich hörte etwas von Ängstlichkeit aus ihrer Stimme. „Mochtest du ihn vielleicht?“ „Er war mein Bruder.“ Für den Moment war ich völlig aus dem Gespräch. Hier unterhielten sich zwei, die einander zu gut kannten, als daß der eine dem anderen etwas nachgesehen hätte. „Dein Bruder! Feiner Bruder, der es sein Leben lang zu nichts gebracht hat. Ein Gauner war er!“ „Nun ist aber Schluß!“ Frau Wiskirchen war aufgesprungen und stellte sich hinter ihren Sessel. Dabei umklammerte sie die geschnitzte Lehne mit einer Vehemenz, daß ich glaubte, das Holz müsse zerbrechen. Weil ich höflich war und weil mir höchst unbehaglich wurde, erhob ich mich auch. Wenn ich hier noch etwas ausrichten wollte, mußte ich bald mit meinem Anliegen herausrücken. Denn es sah ganz so aus, als ob in spätestens fünf Minuten jegliche Einmischung von außen mit dem solidarischen Gekeife von zwei Leuten beantwortet würde, die so im Streit miteinander geübt waren, daß sie Störungen um keinen Preis hinnehmen würden. Aber wie beginnen? 120
„Er war ein Lump, dein Bruder.“ Der Rauschebärtige ließ sich nicht einschüchtern, und nach der Entschlossenheit zu urteilen, mit der er das sagte, war er noch nicht am Ende seiner Argumente angelangt. „Wer es in vier Jahren bei den Preußen nur zum Obergefreiten bringt, aus dem wird auch im zivilen Leben nichts.“ Er sagte das so, als hätte er selbst einen Marschallstab aus seinem Tornister gefischt. „Aber philosophieren, das konnte er. Da hätten Sie ihn mal hören müssen“, wandte er sich jetzt an mich, während er einen Schritt näher kam. „Die Welt ist dumm, gemein und schlecht, das war sein ständiges Getöne. Und: Nur die Rücksichtslosen bringen es hierzulande zu was.“ Er machte eine Pause und sagte dann, weniger aufgeregt: „Schließlich habe ich es doch auch zu etwas gebracht“, als könne er mit der einfachen Feststellung Küppers Argument entkräften. Ich warf einen Blick auf Frau Wiskirchen, die die Lehne losgelassen hatte und dreinblickte, als würde sie ihrem Mann, wenn er anders nicht zum Schweigen gebracht werden konnte, an den Hals springen. „Du führst dich wieder auf wie der letzte Penner!“ sagte sie leise, und rote Flecken zeigten sich auf ihrer Haut. „Sie entschuldigen schon“, setzte sie, zu mir gewandt, hinzu. „Mein Mann braucht ab und zu eine kalte Dusche.“ Dabei sah sie wirklich aus, als wäre sie gerade die richtige Person, kalte Duschen, an wen auch immer, zu verabreichen. „Eigentlich bin ich ja nicht hergekommen, um mich in Familienangelegenheiten einzumischen“, sagte ich mutig. „Wozu denn sonst?“ Das kam kalt über ihre Lippen, fast verächtlich. „Wie ich Sie kenne, wollen Sie doch nur etwas über Heinrich rauskriegen. Glauben Sie noch immer, er hat Selbstmord begangen? Und wenn? Was geht Sie das an?“ 121
„Am Sonntag sagten Sie, Sie glaubten nicht an einen Selbstmord.“ „Es ist ja auch nicht gerade angenehm, einen Selbstmörder in der Familie zu haben.“ Das klang seltsam fahrig, als wolle sie schnell über das Thema wegkommen. „Heinrich ist tot und begraben. Den Rest muß er mit seinem Gott abmachen.“ „Vielleicht ist alles besser so, wie es gekommen ist“, mischte sich Herr Wiskirchen wieder ins Gespräch. „Besser so?“ Ich wandte mich ihm zu. Ich sah in ein ausdrucksloses Gesicht, in dem nicht einmal mehr die Augen lebten. „Hören Sie nicht auf den“, sagte Frau Wiskirchen hastig. „Das Begräbnis ist vorüber.“ „Wenn es nur das Begräbnis gewesen wäre.“ Herr Wiskirchen gab nicht auf. „All der Schlamassel …“ Es war meiner Phantasie überlassen, mir auszumalen, was er mit diesem unordentlichen Wort meinte. Aber meine Phantasie war wie ausgetrocknet. Ich registrierte nur, daß Frau Wiskirchen sich inzwischen mit dem Gedanken versöhnt hatte, ihr Bruder könnte sich selber umgebracht haben, und das machte mich stutzig. „Ist es nicht ein bißchen bequem, dem lieben Gott den Rest in die Schuhe zu schieben?“ fragte ich Frau Wiskirchen, und während ich das sagte, kam die Wut über mich, daß ich hier herumstehen und mir anhören mußte, wie ein Ehepaar sich beschimpfte. Die Wut verlieh mir Mut, schob Bedenken beiseite. „Haben Sie sich nie Gedanken darüber gemacht, daß Ihr Bruder vielleicht vom Dach geworfen worden sein könnte?“ In die Pause hinein, die jetzt eintrat, hörte ich so etwas wie ein Keuchen von dem Alten am Kamin und sah, wie Frau Wiskirchen noch bleicher wurde. Auch 122
die roten Flecken von ihren Wangen verschwanden. Sie starrte mich an. „Sagen Sie das noch einmal.“ Ihr Blick wurde von keinem Lidschlag unterbrochen. „Er meint, mein Schwager könnte ermordet worden sein“, erklärte Wiskirchen. Das sollte wie nebenbei klingen, kam aber reichlich gepreßt. Frau Wiskirchen machte nur eine ungeduldige Geste in seine Richtung und sagte: „Halt du dich da raus!“ „Haben Sie nie mit dem Gedanken gespielt?“ fragte ich Frau Wiskirchen, die mich seit meiner letzten Bemerkung unentwegt anstarrte. „Mit solchen Gedanken pflege ich nicht zu spielen“, sagte sie heiser und hart. „Und dann: Wer soll ihn umgebracht haben?“ „Das weiß ich nicht. Ich dachte, vielleicht können Sie mir weiterhelfen.“ Ihr Starren ging in einen Blick voller Verachtung über. So sieht man Aufschneider an und Dummköpfe, die sich angemaßt haben, in Gesellschaft von Klugen eine Meinung zu äußern. Und doch war mir, als ob ich hinter der Verachtung eine geheime Angst entdecken könnte. Ihre Worte jedoch straften mein Gefühl Lügen. Ganz sachlich und nun auch wieder mit vollklingender Stimme fragte sie: „Und haben Sie wenigstens einen stichhaltigen Grund, so etwas anzunehmen?“ „Noch keinen.“ Als sie ihre Mundwinkel spöttisch nach unten zog, setzte ich schnell hinzu: „Ich bin hierhergekommen, um vielleicht einiges zu erfahren, aus der Vergangenheit, meine ich, das mir weiterhelfen könnte.“ „Aus der Vergangenheit! Das Ihnen weiterhelfen könnte!“ Sie spielte die Aufmerksame und ließ sich aufreizend 123
umständlich in dem Sessel nieder. „Da bin ich aber gespannt. Schießen Sie los.“ Sie strich sich über den Rock und wartete. Nun ist das mit dem Losschießen so eine Sache, wenn man kein Pulver hat. So blieb mir nichts übrig, als noch einmal in Ausfallstellung zu gehen. „Ich dachte, bei Ihnen etwas zu erfahren.“ „Bei mir?“ Sie hätte genausogut sagen können: Sie armer Idiot! „Ja, woher sollen wir denn etwas wissen, das Ihre Hirngespinste stützen könnte?“ „Mir wäre schon mit Kleinigkeiten gedient.“ „Zum Beispiel?“ „Ich habe Sie nach der Beerdigung schon gefragt, ob Sie den Namen Gersdorff kennen.“ „Und ich habe Ihnen schon nach der Beerdigung gesagt, daß ich mit dem Namen nichts anfangen kann.“ „Gersdorff?“ murmelte der Alte am Kamin. Wie elektrisiert schnellte mein Kopf zu ihm herum. Aber ich sah nur in ein Gesicht, das dumpf und gequält dreinschaute. „Gersdorff“, sagte er noch einmal, fast gequälter, und schüttelte den Bart. „Hast du nichts anderes zu tun, als hier herumzustehen?“ fuhr Frau Wiskirchen ihren Mann an. Ihre Nase schien mir nun noch spitzer und länger geworden zu sein. Und zu mir sagte sie: „Sie stellen ein seltsames Ansinnen an mich. Heinrich war mein Bruder. Erst wollen sie mir aufschwätzen, er hätte Selbstmord begangen …“ „Das habe ich nie behauptet“, unterbrach ich sie. „… und jetzt“, fuhr sie unbeirrt fort, „haben Sie sich eine Räuberpistole von einem möglichen Mord ausgedacht. Wissen Sie, was ich annehme?“ Sie hielt für einen Augenblick die Luft an. Was immer sie auch von mir denken mochte, ich war 124
sicher, daß es nichts Schmeichelhaftes sein konnte. Und so sagte ich nichts, zog nur die Augenbrauen hoch, um meine Bereitschaft, ihr Urteil entgegenzunehmen, anzudeuten. „Das ist doch der Mann von der Zeitung“, sagte Wiskirchen in die Pause hinein. „Der, von dem du mir erzählt hast? Dem fehlen bestimmt nur ein paar Sensatiönchen, mit denen er sich dicke tun kann.“ „Genau, mein Lieber.“ Plötzlich war er wieder der liebe Mann, nicht mehr der alte Penner, und ich merkte deutlich, wie dankbar sie war, daß sie von seiner Seite Unterstützung bekommen hatte. „Sensationen braucht er, und da ist ihm nicht einmal der Mann zu schade, den er seinen Freund nennt. Pfui!“ „Als Sie mir am Sonntag erlaubten, in den Geschäftspapieren ihres Bruders nachzusehen …“ „Hast du ihm das wirklich erlaubt?“ fragte Wiskirchen fast entsetzt. „Ich kann mich nicht erinnern.“ Frau Wiskirchen war jetzt kleinlaut. „Jedenfalls habe ich nachgesehen“, fuhr ich fort. Mir war jetzt gleichgültig, ob ich auf dezente oder gar elegante Weise an die Informationen kam, von denen ich glaubte, sie seien wichtig, und so redete ich ungehemmt drauflos. „Und ich habe festgestellt, daß die Abrechnungen der Lieferungen an die Herren, mit denen Heinrich an seinem Todestag zusammen war, in einem Ordner aufbewahrt wurden, der die Aufschrift ‚Konto Gersdorff‘ trug. Sagt Ihnen der Name wirklich nichts?“ „Nein.“ Frau Wiskirchen brachte kaum die Lippen auseinander. „Dann finde ich es seltsam, daß der Ordner nicht mehr unter den Papieren ist, die sich bei Rechtsanwalt Muschelmeier befinden.“ 125
„Was soll das heißen?“ Frau Wiskirchen sprang mit einem Satz aus dem Sessel und trat dicht an mich heran. „Hat Muschelmeier Ihnen das gesagt?“ „Muschelmeier ist eine trübe Tasse“, schrie Wiskirchen. „Ich habe es dir immer gesagt. Wenn einer schon Muschelmeier heißt …“ Er brach ab, und ich hörte nur, wie er, vielleicht im Zorn, gegen das Kamingitter polterte. „Ich weiß es jedenfalls“, sagte ich. „Und was wollen Sie damit beweisen?“ fragte sie ruhiger. „Damit ist nichts zu beweisen. Ich finde es nur bemerkenswert, mindestens bemerkenswert, daß der Ordner nicht mehr da ist.“ „Das geht mich nichts an.“ Frau Wiskirchen trat einen Schritt von mir zurück, ich hatte das Gefühl, wieder freier atmen zu können. „Noch einmal, Herr Schweizer, Heinrich war mein Bruder, und ich will nicht, daß Sie Ihre Nase in Angelegenheiten stecken, die Sie nichts angehen.“ „So ist es“, wurde ihr von dem Alten assistiert. „Das wollen wir einfach nicht.“ Zu allem Überfluß löste er sich, endgültig, wie es schien, vom Kamin und kam, die Hände auf dem Rücken, auf mich zu. Ich kam mir wie belagert vor. „Wir haben nämlich einen Ruf zu verlieren, wenn Sie es genau wissen wollen. Wir sind nicht irgendwer in Brechthoven, in der ganzen Gegend. Unsere Handlung besteht seit siebzig Jahren, und noch nie ist auch nur der Schimmer eines Skandals auf sie gefallen.“ Für einen Mann, der sich mit Spenglers großen Zyklen vom Aufstieg und Verfall von Kulturen beschäftigte, dachte er in erstaunlich kleinen Zeiträumen. „Das fehlte noch, daß wir ins Gerede kommen! Wegen meinem Herrn Schwager! Da wird nichts draus, mein Herr. Suchen Sie sich Ihr Fressen für die Zeitung woanders.“ 126
„Aber ich habe gar nicht vor, etwas in die Zeitung zu bringen“, versuchte ich einzuwenden, wurde aber von Wiskirchen nur mit einer wegwerfenden Handbewegung bedacht. „Wir hatten wegen Heinrich schon Scherereien genug“, setzte Frau Wiskirchen den Sermon ihres Mannes fort, mitgerissen von seiner Beredsamkeit. „Erst immer das Theater mit der Hajott. Ich war damals schon verlobt, aber Mutter kam alle naselang hier an und jammerte uns vor, daß sie ihn wieder mal zwangsweise zum Appell geführt haben. Von der Schule sollte er sogar fliegen. Und dann beim Militär. Da hat er sich aufgeführt wie der letzte Mensch. Und dann war Gott sei Dank erst mal ein paar Jahre Ruhe, als er in Gefangenschaft war und danach in der Weinkellerei gearbeitet hat. Aber sobald er wieder in der Stadt auftauchte, ging das Theater weiter. Kredite wollte er von uns, um das Geschäft der Eltern wieder auf die Beine zu bringen …“ „Die Sie ihm doch hoffentlich nicht gegeben haben“, warf ich dazwischen. Und Wiskirchen, dessen Sinn für Ironie offensichtlich nicht ausgebildet war, antwortete tatsächlich: „Kam natürlich überhaupt nicht in Frage!“ „Und als wir dann glaubten, er wäre vernünftig geworden, kam die Sache mit dem Alkohol am Steuer und die Steuerhinterziehung.“ Die Erwähnung der Delikte schien Herrn Wiskirchens Erinnerung besonders unangenehm zu reizen. Er verzog das Gesicht wie einer, der in etwas Weiches getreten ist, und stocherte mit Vehemenz in seinem Bart herum wie in einem defekten Sofakissen. „Glauben Sie mir, wir haben nie stolz sein können auf Heinrich.“ Das war fast weinerlich und mit der entsprechenden Mimik gesagt. „Und als er sich dann auch noch 127
dieses Fräulein Klein anschaffte, diese Konkubine, und sie auch noch hier anschleppte, da hat mein Mann ihm das Haus verboten.“ Der Mann nickte gewichtig dazu, als habe er damit eine Tat von staatsmännischem Rang vollbracht. „Rausgeschmissen!“ kommentierte er mit entsprechend heftiger Geste. „Wir wollen mit dem ganzen Dreck nichts mehr zu tun haben.“ Mit dem ganzen Dreck! Mir schoß für eine Sekunde die Wut in den Hals. Und gleich darauf wurde ich ein bißchen nachdenklich. Ich fragte mich wieder, warum ich mich denn mit „dem ganzen Dreck“ abgab. Eine bündige Antwort fand ich auch diesmal nicht. Aber ich stellte ganz sachlich fest, daß ich nun nicht mehr ein bißchen schwankte, ob ich die ganze Recherche aufgeben sollte oder nicht. Ich war so nahe an den Unrat herangekommen, daß er mir das Atmen schwer machte. Und wenn ich ihn auch noch nicht sah – in dem Moment war ich sicher, ihn einmal ausgebreitet vor mir zu haben. Ich brauchte keine Rücksichten zu nehmen, weder auf eine sicherlich gut dotierte Pfarrstelle noch auf den Umsatz einer womöglich noch lukrativeren Getreidehandlung. Das verschaffte mir den Vorteil der Parias gegenüber den Etablierten, des Wolfs gegenüber dem Hofhund. „Sie wollen mir also nicht sagen, wo die Akte ‚Gersdorff‘ geblieben ist?“ fragte ich fast fröhlich. „Wir wissen es nicht, und es geht uns auch nichts an“, sagte Frau Wiskirchen. Das klang endgültig. „Und lassen Sie, bitte, alle Nachforschungen sein. Sie führen zu nichts.“ Wenn mich etwas in der Welt hätte bestimmen können, mit doppeltem Eifer weiterzuschnüffeln, dann eine 128
solche eindringlich vorgetragene Bitte. „Zu nichts Gutem, wollten Sie sagen?“ Ein letztes Mal versuchte ich eine fruchtbare Antwort zu provozieren. Es war vergebens. Also stand ich auf, sagte, daß ich die Zeit der Wiskirchens wohl schon über Gebühr strapaziert hätte, und verabschiedete mich. Sie schienen sehr erleichtert zu sein. Vor der Tür lag der Riesenköter und schlief. Einer nach dem anderen stiegen wir über seinen tonnenförmigen Körper hinweg in den Garten. Beide Wiskirchens brachten mich bis zur Pforte, wo sie untereinander ein Weilchen darüber stritten, wann nun der nächste Zug führe, bis sie sich auf die Meinung der Frau einigten. „Kommen Sie gut nach Hause“, sagte Frau Wiskirchen, und dann noch, wie nebenher: „Sehen Sie in der nächsten Zeit Fräulein Klein wieder?“ „Schon möglich.“ „Richten Sie ihr aus, wir würden sie gern einmal hier draußen sehen“, sagte Frau Wiskirchen. „Haben Sie etwas Geschäftliches mit ihr zu bereden?“ Diese mehr beiläufige Bemerkung traf Frau Wiskirchen wie ein Fausthieb in den Magen. Sie verzog das Gesicht, als ob sie gleich zu weinen anfangen wollte. Der Alte machte eine unbeherrschte Bewegung, fing sich aber rechtzeitig wieder und sagte, eine ganze Oktave zu tief und heiser: „Versäumen Sie nicht Ihren Zug.“
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9. Im „Windfang“ war es leer wie immer. So konnte ich auf den ersten Blick feststellen, daß Maria noch nirgends saß, obwohl die Zeit für unsere Rendezvous bereits überschritten war. Ich grüßte den Wirt mit einem Kopfnicken und hatte die Auswahl zwischen mindestens acht freien Tischen. Ich wählte den in der Nähe des Ofens, weil es doch schon einigermaßen kühl war, bestellte Korn und Bier und ließ mir die ersten Schlucke schmecken. Ich versuchte meine Verdrießlichkeit über Marias Verspätung zu zügeln, indem ich mit dem Wirt ein Gespräch anfing. Doch der alt gewordene Ringer mit seinen Blumenkohlohren langweilte mich heute mit seinen Geschichten. Und weil er merkte, daß ich mich langweilte, ließ er von mir ab. Ich wartete in mein halbvolles Bierglas hinein. Selbst als ein betrunkener Kraftfahrer, dem der Wirt den Autoschlüssel wegnehmen wollte, zu krakeelen anfing, sah ich nicht hoch. Ich war seltsam müde. Hunger verspürte ich keinen. Mich konnte nur Marias Erscheinen auf die Beine bringen. Aber Maria kam nicht. Ich trank die zweite Lage und konnte plötzlich meine Rauchlust nicht mehr unterdrücken. Die erste Zigarette nach Monaten schmeckte wie Stroh, aber sie hatte eine aufpulvernde Wirkung. An der Kippe zündete ich mir gleich die nächste an, und das war zuviel. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn, der ganze „Windfang“ schaukelte. Als Maria kam, hatte ich den Kopf in die Hände gestützt. Sie mußte annehmen, ich sei blau wie ein Ritter. Entsprechend verhielt sie sich auch. Sie legte mir eine Hand leicht auf die Schulter und fragte in dem vorsichtig-mitleidigen Ton, den man Berauschten und Kranken 130
gegenüber anzuschlagen pflegt: „Geht’s uns nicht gut?“ Ich schrak hoch, erkannte sie und versuchte einen Scherz: „Smoke Got in My Eyes, Lady.“ Entweder sie kannte die Platte von Ella nicht, oder sie war wirklich besorgt. Sie setzte sich wortlos neben mich. „Entschuldige“, sagte sie. „Ich bin aufgehalten worden.“ Ich merkte trotz meines zerrütteten Zustandes: Das war eine zahme Umschreibung, und ich fragte mich, wer oder was sie wohl aufgehalten haben könnte. Da sie aber von sich aus nicht mit der Sprache herauskam, sah ich keine Veranlassung, in sie zu dringen. Ich nahm ihr den Mantel ab. Sie setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber und sah mich einige Sekunden lang wortlos an. So schaut man ein Kind an, aus dem man etwas herauskriegen will. Sie sah überhaupt streng aus in ihrem dunklen Kostüm. „Hattest du einen freundlichen Tag?“ „Freundlich?“ Ich schluckte bitteren Speichel, der sich seit der ersten Zigarette noch immer im Überfluß in meinem Mund sammelte. „Man kann es auch einen freundlichen Tag nennen.“ „Also nicht?“ „Ich habe einen alten Förster kennengelernt, der nicht viel von seinem Schwager hält. Die dazugehörige Frau kannte ich schon.“ Sie begriff sofort. „Warum bist du dahin gegangen?“ „Aus Neugier.“ Mit der Antwort war sie natürlich nicht zufrieden. Aber sie schwieg. „Und du?“ fragte ich, nachdem sie sich einen Kognak und ein Glas Selters bestellt hatte. „Hast du Erfolg gehabt mit einer Wohnung?“ „Am Ersten kann ich einziehen.“ 131
Es wollte kein richtiges Gespräch aufkommen. Maria blickte in das Glas mit der Selters, als sei das Aufsteigen der Bläschen die fesselndste Sache von der Welt, und ich hatte Muße, mich in die weichen Linien ihres Gesichts zu vertiefen. Aber eigentlich wollte ich reden, mit ihr reden und über alles reden, was mich beschäftigte, und fand die richtigen Worte nicht und fühlte, wie ich immer mehr verkrampfte. Eigentlich sollten wir ja miteinander im Bett liegen, dachte ich und grinste. „Ist was?“ fragte Maria. „Was soll schon sein?“ Ich kippte meinen Korn und schüttelte mich. Ihre Augen waren jetzt wieder forschend auf mich gerichtet, und das vertrug ich nicht. „Ich habe einen dummen Einfall gehabt.“ „Darf man erfahren?“ „Man darf nicht.“ Nach ein paar Sekunden lachte Maria leise auf. Dann hielt sie sich die Hand vor den Mund und kicherte noch ein bißchen. „Entschuldige“, sagte sie, als sie meine fragenden Blicke bemerkte. „Ich hatte eben auch einen dummen Einfall.“ „Darf man den erfahren?“ Ihre Augen bekamen etwas Starres, als sie antwortete: „Warum nicht?“ Sie trank von der Selters und krauste die Nase, wahrscheinlich unter der Wirkung der Kohlensäure. „Ich hab’ mir überlegt, daß es doch eigentlich seltsam ist, wenn zwei erwachsene Menschen, die sich sympathisch finden, einander wie verbockte Kinder gegenübersitzen.“ Das tat mir gut. Für den Augenblick vergaß ich, daß sie es ja schließlich war, die sich bockig stellte, seit Heinrich tot war. Sie fand mich sympathisch, das machte mich froh. Später sind mir diese Minuten im „Windfang“ immer 132
als die schönsten in der insgesamt doch tristen Affäre vorgekommen. Es schien sich ein Verhältnis zwischen uns beiden anzubahnen, das frei war von allen lastenden Schatten. Ich vergaß, daß es Heinrich je gegeben hatte, vergaß es für ein paar Sekunden, und daß Maria seine Frau gewesen war. Ich sah nur Maria, die Frau mit dem weichen und blassen Gesicht. „Starr mich nicht so an“, sagte Maria. Das ernüchterte mich, brachte mir zum Bewußtsein, daß Maria von Heinrich nicht zu trennen war, trotz aller Sympathie und jedenfalls so lange nicht, wie ich mir – und wahrscheinlich auch sie sich – Gedanken über seinen Tod machte. Es fiel mir wieder schwer zu antworten. Der Krampf war doch nicht so ohne weiteres aus der Seele zu schütteln. „Die Wiskirchens wollen dich mal wiedersehen“, sagte ich. „Was wolltest du bei denen?“ Das war sachlich gefragt, aber ich konnte Mißtrauen und Tadel nicht überhören. „Ich habe mich nach einem erkundigt, der Gersdorff heißt. Oder hieß. Das muß ein Kunde von Heinrich gewesen sein. Jedenfalls habe ich unter seinen Papieren einen Ordner mit seinem Namen gefunden.“ „Ich weiß.“ Marias Lächeln war dünn, auch ein bißchen spöttisch. „Und hat sie dir diesmal gesagt, wer der Mann ist – oder war?“ „Diesmal?“ „Du hast sie doch schon nach der Beerdigung danach gefragt.“ Maria hatte also meine Frage an Frau Wiskirchen registriert und für so wichtig gehalten, daß sie sie nicht vergessen hatte. Das registrierte ich nun wieder, mehr automatisch. 133
„Die Akte ‚Gersdorff ist weg“, sagte ich. „Schon möglich“, sagte sie, und sie versuchte, ihrer Stimme einen Anflug von Gleichgültigkeit zu geben. „Hast du das bei dem Advokaten ’rausgefunden?“ „Du weißt also, daß ich mich mit Muschelmeier in Verbindung gesetzt habe.“ „Wenn sich einer so sehr für einen Namen interessiert, daß er mit miesen Tricks arbeitet, um ihn herauszubekommen …“ Ich fühlte, wie mir das Blut in den Kopf stieg, und ich ärgerte mich darüber. Maria sagte herausfordernd „Prost!“ und trank. „Zum Teufel, laß die Versteckspielerei!“ Ich hatte Mühe, meine Stimme zu dämpfen. „Was weißt du von der Akte?“ „Nichts.“ Das klang so, als sei sie nicht gewillt, jemals Auskunft über eine Sache zu geben, über die sie genau Bescheid wußte. „Was macht dich eigentlich so wild?“ „Das weißt du genau, Maria.“ „Du bist nicht gerade ein unterhaltsamer Gesellschafter“, sagte sie. „Ist dir der Besuch bei den Wiskirchens so aufs Gemüt geschlagen?“ „Es war nicht der einzige Besuch, der mir aufs Gemüt geschlagen ist.“ „Wie meinst du das?“ „Ich war davor bei Hochwürden Humbach.“ Das schockte sie, ich sah es deutlich. Mit steifem Oberkörper, die Schultern ein wenig in die Höhe gezogen, saß sie mir gegenüber. Die Arme lagen wie hölzern vor ihr auf dem Tisch. „Du machst Ernst.“ Das klang wie die Feststellung eines betrüblichen Tatbestands. „Ganz recht, ich mache Ernst.“ Plötzlich war der 134
Krampf, war die Befangenheit von mir abgefallen. Ich fand Worte, und ich sprach sie aus. „Ich hatte nie vor zu spielen, Maria. Von dem Moment an, wo ich glaubte, mit Heinrichs Tod sei etwas nicht in Ordnung, habe ich mir Gedanken um die Umstände und die Vergangenheit gemacht. Ich bin ein komischer Mensch, der sich nicht ohne weiteres mit dem zufriedengibt, was andere ihm an Erklärungen anbieten. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, daß ich es nie zu was gebracht habe, nicht im Beruf und nicht sonst im Leben.“ Sie sah mich erstaunt an. „Was verbindet dich eigentlich mit Heinrich?“ Auch in der Frage lag schwer ihr Staunen. „Ich weiß, ihr könnt alle nicht verstehen, daß man sich für einen Menschen engagiert, den man nur ein paar Tage gekannt hat. Ihr haltet mich für einen Narren oder einen, der eine. Sensation ausbeuten will. Vielleicht bin ich ein Narr, und vielleicht will ich wirklich etwas für die Zeitung haben. Aber nimm doch nur einmal an, ich hätte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.“ „Davon halte ich überhaupt nichts“, sagte sie unbewegten Gesichts. „Wenn ich das Wort Gerechtigkeit höre, sträuben sich mir die Haare. Wo findest du denn Gerechtigkeit in diesem Land, in der Welt? Sieh dich doch um! Ist es gerecht, daß die einen etwas lernen und also etwas werden können und die anderen nicht? Ist es gerecht, wenn Leute im Krieg von Bomben erschlagen werden? Ist es gerecht, wenn Kinder verhungern?“ Ich sagte: „Aber Maria, was hat denn das alles mit Heinrich zu tun?“ Sie sah mich mit großen Augen an, so als habe sie nicht begriffen. „Laß doch mal die ungerechte Welt in Frieden. Die können wir beide sowieso nicht ändern!“ 135
„Nicht? Da hast du dir ja eine schöne Philosophie zurechtgezimmert. Man merkt doch, du hast Heinrich nicht lange genug gekannt. Dann hättest du nämlich einen Begriff davon bekommen, was er unter Gerechtigkeit verstanden hat. Du mit deinem kleinkarierten Rumschnüffeln! Dir ist etwas aufgefallen, dir stinkt etwas in die Nase, und jetzt glaubst du, du könntest etwas draus machen, ein paar Artikel vielleicht, mit denen du bekannt wirst, oder du denkst, du müßtest den lieben Gott persönlich vertreten, seine Arbeit machen, müßtest Sünder zum Pranger führen, wie ein komischer Heiliger oder einer von den Detektiven aus den Scheißkrimis. Seht, was ich für ein Kerl bin, willst du sagen können. Hör mir auf mit deiner Gerechtigkeit.“ Jetzt erst, als sie tief Atem holte und sich mit dem Handrücken über die blasse Stirn strich, gelang es mir, einen Satz anzubringen. „Maria, du bist ungerecht“, sagte ich. Aber gerade das hätte ich nicht sagen sollen. Mit einer heftigen Handbewegung, mit der sie fast ihr Schnapsglas vom Tisch gefegt hätte, fing sie wieder an zu reden, verhaltener diesmal, aber darum nicht weniger intensiv und zupackend. „Ungerecht bin ich“, sagte sie. „Wenn du das meinst, dann will ich ungerecht sein. Heinrich war auch ungerecht, jedenfalls war er keiner von den Gerechten im Land. Er hat sie gekannt, die Gerechten aller Schattierungen, und er hat sie durchschaut, und er hat sie gezwiebelt.“ Mir wurde unheimlich, und das registrierte Maria mit Behagen. „Nieder mit den Gerechten!“ rief sie leise, doch laut genug, um den Kneipier, der neben dem Tresen seinen Illustriertenroman las, hochblicken zu lassen. Aber der war an betrunkene Gäste gewöhnt. Ich hätte etwas darum gegeben, wenn Maria wirklich betrunken gewesen wäre. 136
„Maria“, sagte ich geniert, „nicht so laut.“ Sie sah mich an, als könnte man von einem wie mir nichts anderes als Miesigkeiten erwarten. „Hast ja recht. Warum soll ich dir etwas erklären, was du sowieso nicht verstehst? Bastei du weiter an deiner Gerechtigkeit.“ Jeder Versuch eines Dritten, sich in ihr Verhältnis zu Heinrich zu drängen, schien vergebens zu sein. Zwar unternahm ich es noch einmal, für mich und meine Absicht um Vertrauen zu werben, doch ich erreichte sowenig wie in einer Luschenlotterie. Maria machte sich nicht einmal mehr die Mühe, mich zu beschimpfen, sie wurde sogar freundlich und mit der Zeit dann auch ein bißchen beschwipst. Stumm saßen wir vor unseren Gläsern. „Das meiste Geld geht beim Bezahlen flöten“, sagte der Wirt, als ich ihm meinen vorletzten Zwanzigmarkschein gab. Maria lachte, ich kannte den Witz schon seit drei Jahren und lachte nicht. „Und jetzt gehen wir noch ein Haus weiter“, sagte Maria, nachdem mir der Wirt das Wechselgeld herausgegeben hatte. „Wo was los ist.“ Sie bemerkte mein erschrockenes Gesicht und lachte wieder. „Wetten wir um einen alten Latschen, daß ich weiß, was du jetzt denkst, mein Herr Gerechter? Also erst mal denkst du: Mein Gott, die zieht mir noch meine letzten Piepen aus der Tasche! Stimmt’s?“ Sie sah mich so umwerfend naiv an, daß ich wie von selbst nickte. „Und dann: Mein Gott, der Mann ist noch keine Woche tot, und sie will schon irgendwohin, wo was los ist.“ „Das finde ich allerdings seltsam“, sagte ich, weniger über sie verärgert, weil sie meine Gedanken erraten hatte, als über mich, dem anscheinend jeder alles von der Nase ablesen konnte. 137
„Seltsam finde ich nur, daß du dir meinen Kopf zerbrichst. Für Geld ist gesorgt. Ein Mann wie Heinrich läßt seine Frau nicht auf dem trockenen zurück. Und was das andere angeht: Heinrich war nicht der Mann, der es als Unrecht sich gegenüber angesehen hätte, wenn ich mit dir ausgehe. Ich glaube, er mochte dich wirklich.“ Sie machte sich an ihren Mantelknöpfen zu schaffen, um mich nicht ansehen zu müssen. Wir gingen ins „Café Nachher“. Unter welchem Namen das Lokal im Handelsregister eingetragen ist, weiß ich nicht, und das wissen vermutlich auch nur wenige. Es liegt drei Minuten vom Alten Graben entfernt, der Bordellstraße unserer Stadt, und bietet mit seinen Plüschfauteuils ermüdeten Männern die ideale Ausruhmöglichkeit. Es war inzwischen fast zehn, und als wir an einem der kleinen runden Tische Platz genommen hatten, begann gerade eine Vartieté-Einlage, in deren Verlauf ein ältlicher Zauberer seiner xylophonspielenden Partnerin eine Taube nach der anderen unterm Rock vorholte. Die Frau lächelte obszön zu der Prozedur und klimperte wie im Akkord. Der Beifall war schütter. Die Männer im Publikum erwarteten Handfesteres. Das Handfestere kam dann auch in Gestalt einer verblühenden Schönheit, die nackt aufs Podium trat und die unter Recken und Gähnen so tat, als sei sie gerade aufgestanden. Dann begann sie langsam, sich anzuziehen. Aus dem Publikum rief jemand „Buh!“ Maria schien sich zu amüsieren. Ich beobachtete das mit Staunen und Mißvergnügen. Sie hatte die Augen aufgerissen wie eine Landpomeranze, und es fehlte nicht viel, und sie hätte in die Hände geklatscht. Sie trank Sekt, ich Bier, das nur serviert worden war, weil sie Sekt trank. An Unterhaltung war kaum zu denken, weil zwischen den 138
Nummern eine Combo dritter Güte zum Tanzen animierte. Wir drehten uns zwei Touren mit den anderen, ich ziemlich lustlos. Maria hängte sich schwer in meinen Arm, und ich hatte den Eindruck, es machte ihr Spaß, mich so in Verlegenheit zu sehen. Ich blieb stocknüchtern. Was Maria mir über Heinrich und ihre Auffassung über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gesagt hatte, ging mir noch immer im Kopf herum. Das hatte alles ein bißchen nach Räuberromantik geklungen. Heinrich als Schinderhannes – das konnte ich mir nicht so recht vorstellen. Und Maria als Räuberbraut, auch das ging mir nicht ein. Nach dem zweiten Tanz fragte ich sie unvermittelt: „Heinrich hat dir Geld hinterlassen?“ „Schlaues Kind.“ Sie blinzelte mich durch ihr Sektglas an. „Auf Witwenfang aus? Los, gib dir mal Mühe.“ „Die Bücher weisen aus, daß er mit dem, was er verdiente, kaum seinen Lebensunterhalt hätte bestreiten können.“ Ich hatte diese Weisheit nicht ins Spiel bringen wollen. Aber ich war gereizt und fühlte mich hilflos. „Die Bücher weisen aus!“ Sie lachte übertrieben laut. „Wenn ich so was höre! Wer arbeitet, hat keine Zeit, Geld zu verdienen. Volksmund.“ Ich war an dem Punkt angelangt, wo man normalerweise die Beherrschung verliert. „Bring mich nicht in Rage“, sagte ich leise. „Der Gerechte muß leiden, steht schon in der Bibel“, sagte sie und goß ein halbes Glas Sekt in sich hinein. Dann machte sie ein Gesicht wie ein Weinkenner, schnalzte mit der Zunge und verdrehte die Augen. „Kann man denn mit dir kein vernünftiges Wort wechseln?“ fuhr ich sie an. „Gegen vernünftige Wörter hab’ ich nichts.“ Das sagte sie sachlich, so als hätte sie nichts getrunken. „Ich kann 139
nur dein Genöle nicht vertragen. Du spielst dich auf, als wärst du berufen, die Welt wieder ins Gleis zu bringen.“ „Fang nicht schon wieder damit an.“ „Ich wollte mich amüsieren, den ganzen Dreck für ein paar Stunden vergessen. Aber du läßt mich nicht. Ich weiß wirklich nicht, warum ich mich mit dir überhaupt abgebe.“ „Überleg mal.“ Das hatte sarkastisch kommen sollen, klang aber doch nur ziemlich kläglich. Das merkte ich. Also setzte ich etwas Seriöseres hinzu. „Vielleicht deshalb, weil wir doch an einem Strang ziehen.“ „Ich weiß nicht, was du damit meinst.“ Sie hatte die Augen niedergeschlagen. und fuhr mit den Zeigefingern die Tischkante entlang. „Wenn das heißen soll, du mußt dich um mich kümmern, weil ich mit mir allein nicht zu Rande komme, dann schlag dir das gemeinsame Ziehen aus dem Kopf. Heinrich hat mir beigebracht, wie man die eigenen Interessen wahrnimmt.“ „Das ist ihm aber nicht gelungen, wenn das stimmt, was ich vermute.“ „Und was vermutest du?“ Es war wie eins von den Kinderspielen, in denen immer wieder Fragen gestellt werden, die der andere ganz gewiß kennt. „Daß die Leute, mit denen er ein Hühnchen rupfen wollte, sich nicht haben rupfen lassen.“ „Und du bist jetzt dazu ausersehen, den großen Rächer zu spielen.“ Wir waren wieder da angelangt, wo wir im „Windfang“ schon einmal gewesen waren. „Clemens Schweizer, der mutige Mann, der Held, der die Wahrheit liebt, über alles, und der die Gerechtigkeit triumphieren sehen will. Du kotzt mich an!“ Ich weiß nicht, was ich für ein Gesicht gemacht habe, ich weiß nicht mehr genau, wie mir zumut gewesen ist. 140
Wahrscheinlich habe ich dreingeschaut wie ein Jockei, der kurz vorm Ziel vom Pferd fällt. Maria nahm ihre Tasche und verschwand in der Tür rechts vom Podium, die ein Witzbold mit der Aufschrift „For Ladies Only“ versehen hatte, und mir blieb Zeit, mich von meinem Schrecken zu erholen. Warum betonte sie so sehr, daß Heinrich sie selbständig gemacht habe, und warum brachte es sie so sehr in Wut, wenn man ihr Hilfe anbot? Ich meine es doch nur gut mit ihr, sagte ich mir, und indem ich mir das sagte, wurde ich wütend darüber, daß man meine Hilfe so einfach ausschlug. Allmählich machten sich die Anstrengungen des Tages bei mir bemerkbar. Und ich hatte plötzlich Hunger. Wenn ich zu Haus gewesen wäre, hätte ich mir wenigstens ein paar Eier braten oder eine Büchse aufmachen können. Im „Café Nachher“ kosteten Ölsardinen mit Toast schon sieben Mark fünfundachtzig. Trotz aller Wirrnis im Kopf war ich froh, als ich Maria wiederkommen sah, und ich ärgerte mich gleichzeitig darüber. Du kotzt mich an, hatte sie immerhin gesagt. Ich versuchte, mich reserviert zu geben. Es gelang mir nicht. Ich glaube, ich habe sogar gelächelt, als sie mir dann wieder gegenübersaß. „Wollen wir nicht all den Krakeel vergessen?“ fragte sie, und sie fragte so, daß ich gar nicht anders konnte, als ihr zuzustimmen. „Meinetwegen“, sagte ich denn auch. „Ich weiß ohnehin nicht, wie das alles gekommen ist.“ „Ich schon. Aber frag mich nicht danach, sonst geht die ganze Geschichte wieder von vorn los.“ Natürlich hätte ich sie lieber gefragt. Aber ich war hungrig und müde und froh, nicht reden zu müssen. „Einen Tanz noch“, bat sie. „Zur Versöhnung.“ 141
„Ich bin nicht böse.“ „Trotzdem.“ Es war das Lied von den Souvenirs, das der Bandleader in das Mikrofon plärrte. Zum ersten Mal am Abend fühlte ich Marias Schwere angenehm in meinem Arm, und zum ersten Mal stieg mir auch wieder das Gemisch von Körpergeruch und Parfüm angenehm in die Nase. Ich dachte an Küppers Geburtstag. Wie lange war das her? Daß erst fünf Tage seitdem vergangen waren, ernüchterte mich ein wenig. Ob Maria auch daran dachte? Sie sah nicht so aus. Sie stampfte mit Vergnügen zum Rhythmus der Combo, drückte sich, wann immer sich Gelegenheit dazu bot, an mich. Vielleicht sind Frauen doch andere Menschen, dachte ich, realistischere Menschen. Ich war froh, daß Maria nach dem Tanz sagte: „Ich glaube, ich hab’ genug.“ Ein Auto müßte ich haben, dachte ich, als wir vorm Lokal im Novemberwind standen und uns nach einem Taxi umsahen. Das denke ich immer, wenn ich nachts irgendwo rumstehe und bald im Bett sein möchte. Erst auf halbem Weg zur Spießergasse erwischten wir ein Taxi. Maria sagte nichts. Sie schien neben mir zu schlafen. Sie erwachte von dem Ruck, als der Wagen hielt, und sie bezahlte, wie sie schon die Zeche im „Café Nachher“ bezahlt hatte. „Das ist mein Abend“, hatte sie gesagt und sich den Teufel darum geschert, daß der Kellner sie mit abschätzigen Blicken maß. „Ruf morgen früh an“, sagte sie an der Haustür, während sie nach den Schlüsseln kramte. „Wir müssen uns mal in Ruhe aussprechen, ohne Schnaps.“ Sie gab mir einen Kuß auf den Mund, ehe sie die Tür aufschloß. „Schlaf gut“, sagte ich. 142
„Ich würde dich ja noch mit reinnehmen …“ Im Schein der Straßenlaterne sah ich, daß sie lächelte. „Aber?“ „Es ist nicht wegen der Leute. Vielleicht ein andermal. Ruf mich an.“ Ich war nicht enttäuscht, als ich die Straße hinunterging. Vielleicht war ich ein bißchen traurig.
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10. Am Donnerstagmorgen rief ich nicht sofort bei Maria an. Ich hatte lange geschlafen und mich dann eine halbe Stunde mit dem Artikel für den „Stadtboten“ beschäftigt, ohne es zu mehr zu bringen als zu ein paar gedrechselten Sätzen. Ich war nicht bei der Sache und trank zwei Flaschen Bier, um mir die leichten Kopfschmerzen zu vertreiben, die ich vom Kneipenzug zurückbehalten hatte. Es war fast Mittag, als ich an Maria dachte, und weil ich mir die Beine vertreten wollte, beschloß ich, nicht erst ans Telefon, sondern gleich in die Spießergasse zu gehen. Ich klingelte, aber niemand machte auf. Ich trat zwei, drei Schritt zurück, bis zum Rand des Trottoirs, und sah nach oben. Im zweiten Stock stand eine der Frauen am Fenster, die ich auf Heinrichs Beerdigung gesehen hatte. Ich erinnerte mich, daß Maria sie mit „Frau Böttcher“ angeredet hatte. „Ist Fräulein Klein nicht zu Hause?“ rief ich zu ihr hinauf. „Ja, wissen Sie denn nicht? Warten Sie, ich komme gleich mal ’runter.“ Die halbe Minute, die es dauerte, bis die Haustür geöffnet wurde, kam mir wie eine halbe Stunde vor. Was wußte ich nicht? Ich versuchte mir vorzustellen, was geschehen sein konnte, aber jeder Ansatz zu einem Gedanken wurde von einem neuen verdrängt, und jeder Ansatz war abenteuerlicher als der andere. Ich biß die Zähne zusammen, um mich zur Ruhe zu zwingen. Endlich hörte ich, wie der Schlüssel im Schloß herumgedreht wurde. Frau Böttcher machte die Tür einen Spalt breit auf und winkte mich heran. „Ich bin nämlich nicht für die Straße angezogen“, sagte sie, als ich im halbdunklen Hausflur vor ihr stand, und 144
wies auf einen buntbedruckten Nylon-Kittel, unter dem sie wahrscheinlich kein Kleid trug. Dann machte sie unvermittelt ein besorgtes Gesicht, indem sie die Stirnhaut in Falten zog und die Mundwinkel nach unten sacken ließ. „Also: Fräulein Klein liegt im Krankenhaus.“ Ich muß nicht gerade intelligent ausgesehen haben, als ich fragte: „Was ist denn passiert?“ „Ja, passiert …“ Frau Böttcher zog die Schultern hoch. „Das wissen wir auch nicht. Mein Mann, der arbeitet doch bei Hansmann und Weilenbroich als Kabelisolierer, und da muß er immer früh raus. Um sechs muß er schon dort sein, und da geht er immer um Viertel nach fünf, spätestens um zwanzig nach aus dem Haus.“ Ich krampfte vor Ungeduld die Hände zu Fäusten zusammen. „Und wie er heute morgen gehen will, da wär’ er fast gestolpert. Über Fräulein Klein nämlich. Die lag hier unten im Flur, direkt an der Treppe.“ Sie wies mit großer Geste hinter sich, ohne sich umzublicken. „Und sie regte sich nicht ein bißchen. Ganz stocksteif hat sie dagelegen.“ Ich merkte, wie mir die Knie weich wurden. Mein Mund war trocken, meine Zunge war pelzig. „Ist sie … Ich meine, war sie …?“ Das verfluchte Wort wollte mir nicht durch die Zähne. „Ne, ne, nicht, was Sie denken.“ Ein Lächeln, das mich wohl beruhigen sollte, huschte über Frau Böttchers Gesicht. „Mein Mann hat gesehen, sie lebt noch, und ist gleich raufgekommen, und ich bin zum Arzt, zum Doktor Schimmelpfennig, hier gleich um die Ecke. Und der ist dann auch sofort mitgekommen. Er hat sich ’nen Mantel über den Pyjama geworfen und Schuhe angezogen. Und dann hat er sie untersucht und das Krankenauto bestellt. Wie sie das nu gemacht hat, ob sie gefallen ist oder gestolpert oder was weiß ich 145
…“ Sie zeigte ihre Ratlosigkeit in ein paar Gesten. „Der Doktor meint, sie könnte auch eins übern Schädel gekriegt haben. Aber genau konnte er das nu auch nicht sagen.“ Allmählich begann sich mein Kopf zu klären. In mir stieg als Reaktion auf die Angst, die in mir rumorte, eine kalte Wut hoch. „Wann ist es denn geschehen?“ „Das weiß ich auch nicht. Der Doktor meint, sie könnte schon ein paar Stunden so gelegen haben.“ Ich fing an zu rechnen, ohne daß ich es wollte. Gegen eins hatte ich mich von ihr verabschiedet, kurz nach fünf war sie gefunden worden. Der Gedanke, daß sie einer überfallen haben könnte, während ich noch in der Straße war, traf mich wie ein Uppercut. „Haben Sie denn nichts gehört?“ fragte ich mit Vorwurf in der Stimme, so als ob die Frau verantwortlich zu machen wäre. Frau Böttcher reagierte denn auch prompt sauer. „Wenn mein Mann schläft, dann schläft er. Schließlich muß er ja schwer arbeiten. Und ich tu’ mir immer Oropax in die Ohren. Ich bin nämlich ziemlich nervös und komm’ schwer zum Schlafen.“ Und wie zum Beweis ihrer Nervosität schnitt sie eine Grimasse. „So habe ich das nicht gemeint“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Aber es muß doch ziemlichen Krach machen, wenn einer die Treppe runterfällt.“ „Wenn Sie mich fragen – Fräulein Klein ist gar nicht die Treppe runtergefallen.“ Frau Böttcher schien halbwegs wieder versöhnt, jedenfalls sprach sie sachlich. „Warum soll sie auch? Die wohnt doch unten, und ich kann mir nicht vorstellen, was sie mitten in der Nacht auf der Treppe zu suchen gehabt hat.“ 146
„Natürlich.“ Daß ich daran nicht gedacht hatte! Sie mußte überfallen worden sein, sozusagen unter meinen Augen. „Gebrochen hat sie nix, sagt der Doktor.“ Frau Böttcher schien froh zu sein, jemandem die ganze Geschichte erzählen zu können. „Sie war nur bewußtlos. Und ’ne Platzwunde hatte sie am Kopf. Gehirnerschütterung hat Doktor Schimmelpfennig gesagt, eine mittelschwere Gehirnerschütterung.“ „Und wo liegt sie?“ „Im Elisabeth-Hospital. Doktor Schimmelpfennig ist extra noch mit ins Krankenauto gestiegen.“ Ich lehnte mich gegen die ölgestrichene Wand und ließ die genaue Beschreibung, wie Maria ausgesehen hatte, zu der Frau Böttcher jetzt ansetzte, über mich ergehen. Ich merkte erst wieder auf, als sie sagte: „Das Haus kommt nicht mehr zur Ruhe, seit der arme Herr Küpper tot ist.“ „Wie meinen Sie das?“ „Na ja, immer raus und rein“, sagte Frau Böttcher. „Erst die Schwester, dann der Rechtsanwalt mit seinem Schreiber, dann der Schwager. Die tun alle so, als wenn Fräulein Klein schon gar nicht mehr hier wohnt. Kommen und gehen, wann sie wollen, schnüffeln rum, schleppen raus. Ich, wenn Sie mich fragen, ich tät’ mir das ja nicht gefallen lassen. Solange ich hier wohne, würd’ ich sagen, kommt mir keiner rein, wenn ich nicht da bin.“ „Kommen denn auch Leute, wenn Fräulein Klein nicht da ist?“ Jetzt war ich hellwach. „Das sag’ ich doch!“ Frau Böttcher stemmte die Arme in die Seiten und machte einen imponierenden Eindruck von entschlossener Rechtschaffenheit. „Gestern 147
zum Beispiel. Ich sitze ja viel am Fenster, weil ich ja wenig zu tun hab’ den Tag über. Gott, zwei Zimmer und ’ne Küche, die sind schnell gemacht. Mit dem Lesen geht’s auch nicht mehr so richtig, wegen der Augen.“ Zur Verdeutlichung tippte sie sich mit dem Zeigefinger auf ein Lid. Vor Ungeduld begann mir die Kopfhaut zu jucken; ich hütete mich aber, die Frau in ihrem Sermon zu unterbrechen. „Da setz’ ich mich eben ans Fenster und seh’ mir die Leute an, die so vorbeikommen. Auch gestern, so um Mittag rum. Fräulein Klein ist grade raus. Ich weiß das, weil sie mir gesagt hat, sie geht, wegen ’ner Wohnung. Als wenn er’s abgewartet hat, kommt doch da der Schwager von Herrn Küpper. Das ist so’n Alter mit ’nem Umhängebart …“ „Ich weiß“, sagte ich. Für den Einwurf kassierte ich einen strafenden Blick aus Frau Böttchers schlechten Augen. „Der kommt also. Schließt auf, geht rein. Als wenn er da wohnen tät’. Und nach ’ner halben Stunde kommt er wieder raus, schließt ab …“ Geht zum Bahnhof und steigt in ein Coupé zweiter Klasse, hätte ich ergänzen können, setzt sich mir gegenüber hin, liest in der Schwarte vom Untergang des Abendlands und steigt in Brechthoven aus. Aber ich ergänzte nichts. „Andere Herren haben Sie wohl nicht gesehen?“ fragte ich. „Herren?“ Sie schien über das Wort zu stolpern. „Gestern abend ist einer gekommen. So’n Dünner in einem schäbigen grauen Mantel. Ich war gerade bei Fräulein Klein und wollte mir die Modezeitung mit dem Schnittmusterbogen pumpen. Ich bin dann gleich rausgegangen. Ich hab’ noch gehört, wie sie sagte: ‚Was wollen Sie denn hier?‘ So als wenn sie erstaunt gewesen wär’.“ 148
Es war nicht leicht, von Frau Böttcher loszukommen. Ich schaffte es erst, nachdem ich dreimal demonstrativ auf meine Armbanduhr gesehen hatte. Auf dem Weg zum Elisabeth-Hospital hatte ich dann trotz aller Unruhe, die mich förmlich voranstieß, Muße, über einiges nachzudenken. Wenn Frau Böttcher, überlegte ich, nicht eine so kleine Wohnung hätte, mit der sie sich nicht den ganzen Tag beschäftigen kann, und wenn sie bessere Augen hätte und lesen könnte und nicht stundenlang am Fenster zu sitzen brauchte, um sich die Zeit zu vertreiben, und wenn sie genug Geld hätte und sich die Modezeitschrift mit den Schnittmusterbogen nicht bei Maria zu pumpen brauchte, dann wäre ich ein Stück dümmer, ein gehöriges Stück. So wußte ich jetzt, was ich geahnt hatte: Mit Heinrichs Tod war das Spiel noch nicht zu Ende. Und ich kannte nun auch einige Akteure: den ehrenwerten Getreidegroßhändler und den Mann mit dem schäbigen grauen Paletot. Als ich an den dachte, sah ich wieder das Bild vom Abzug der Trauergäste vor mir. Ich wußte jetzt auch, wodurch Maria am vergangenen Abend aufgehalten worden war. Das Elisabeth-Hospital ist einer von den scheußlichen alten Kästen aus der Zeit, als man Krankenhäuser noch mehr als Sterbehäuser betrachtete denn als Stätten der Heilung. Dem Pförtner erklärte ich, ich käme von außerhalb und mein Zug führe in einer Stunde. Er brummte etwas, wies mir aber dann doch den Weg zur Station vier, Zimmer zwei, nachdem er im Eingangsbuch nachgeschlagen hatte. „Wenn Sie Glück haben, werden Sie vorgelassen.“ Ich hatte natürlich kein Glück. Eine ältere Schwester mit sanften Augen unter einer großen Flügelhaube – ich 149
glaube, das sind Vinzentinerinnen – stellte sich mir in den Weg, als ich schon die Klinke zu Marias Tür unter den Fingern hatte. Es gelang ihr zwar nicht, streng zu blicken, aber sie blieb entschieden. Fräulein Klein brauche absolute Ruhe. Mit einer Gehirnerschütterung sei nicht zu spaßen. „Ich würde jetzt auch niemanden von der Polizei zu ihr lassen“, sagte sie. „Polizei?“ „Ja, es steht fest, daß Fräulein Klein niedergeschlagen worden ist, mit einem stumpfen Instrument.“ Dieser kriminaltechnische Ausdruck nahm sich seltsam aus in ihrem Mund. „Mit einem stumpfen Instrument“, wiederholte ich mechanisch. „Und wer es war, weiß man das schon?“ Sie sah mich zwei Sekunden lang intensiv an, und in ihrem Blick lag all das Mitleid mit einer schlechten Welt, das Nonnen in Jahren der Abgeschiedenheit von den Tücken des Lebens zu akkumulieren pflegen. „Man weiß es nicht“, sagte sie sanft. „Und die Patientin ist noch nicht so weit bei Kräften, daß sie Auskunft geben könnte.“ Wenn sie Auskunft geben will, setzte ich für mich hinzu und dachte an ihr störrisches Gehabe vom vergangenen Abend. „Wollen Sie Blumen für Fräulein Klein abgeben oder sonst etwas?“ Erst jetzt wurde ich mir bewußt, daß ich mit leeren Händen gekommen war. „Nein, danke.“ Ich machte eine Bewegung der Verlegenheit. „Ich erkundige mich morgen noch einmal.“ Als ich wieder vor dem roten Backsteinbau stand, war ich unentschlossen, was ich als nächstes unternehmen sollte. Sollte ich in die Redaktion gehen und den Artikel runterdiktieren? Am liebsten hätte ich mich auf 150
den Weg zu einem der Klassenkameraden Heinrichs gemacht. Vielleicht zu dem Kerl mit dem grauen Überzieher oder zu Frobenius, dem „komischen Vogel“, wie Heinrich ihn genannt hatte. Aber ich konnte mich nicht entschließen. Innerlich war ich seit dem vergangenen Abend darauf eingestellt, mich mit Maria zu treffen. Ich hatte mir viel von einer Unterhaltung mit ihr versprochen, sicherlich zuviel, und ich konnte nun nicht gleich umpolen. Schließlich entschied ich mich dafür, nach Hause zu gehen. Zu Hause erwartete mich eine Überraschung. In der Tür klemmte ein Blatt, das aus einem Notizbuch gerissen war. Auf dem Blatt stand in flüchtiger, steiler Schrift: „Habe Sie nicht angetroffen. Muß Sie unbedingt sprechen. Bin ab 13 Uhr bei Tucher. Martha Wiskirchen.“ Bei Tucher bin ich noch nie gewesen, war das erste, was ich dachte. Ich sah auf die Uhr. Es war Viertel vor eins. Dann erst dachte ich daran, daß man jetzt schon zu mir kam. „Du machst Fortschritte, Junge“, sagte ich, als ich mich im Spiegel des Badezimmers betrachtete. Ich leckte mir die Lippen und grinste mich an. Das „Restaurant Tucher“ war mir natürlich trotzdem nicht unbekannt. Als Kinder haben wir uns erzählt, da sollte es sogar Schnecken geben, gedünstete Schnecken auf silbernen Tabletts. Das hatte selbstredend keiner glauben wollen, aber seitdem verband sich bei mir mit dem Namen Tucher die Vorstellung von gedünsteten Schnecken auf silbernen Tabletts, auch als ich jetzt durch die Drehtür den Vorraum betrat. Die Teppiche waren dick, der Mann im Cut, der wie eine Schaufensterpuppe neben der Garderobe stand, kam zwei Schritt auf mich zu und musterte mich diskret aufdringlich, ehe er meinen Trenchcoat nahm. 151
„Ich werde erwartet“, sagte ich, unwillkürlich geschockt von so viel Distinguiertheit. „Sehr wohl“, sagte der Mann im Cut und deutete eine Verbeugung an. Er hielt mir sogar die nächste Tür auf. Die führte in einen nicht allzu großen Saal, in dem es mehr Kellner als Gäste gab. Sogar das Klirren war gedämpft. So klingt es nur, wenn schweres Silber mit feinstem Porzellan temperiert zusammentrifft. An einem der Tische wurde flambiert, an einem anderen bemühte sich ein Schwarzgekleideter unter widernatürlichen Verrenkungen ein Glas mit Wein zu füllen. Ich war beeindruckt, als wäre ich in die Kirche einer fremden Religion getreten. Frau Wiskirchen sah ich auf den zweiten Blick, nachdem ich mit dem ersten all das Feine in mich eingesogen hatte. Sie saß mit dem Rücken zur Tür, durch die ich gekommen war, und sie machte selbst von hinten einen bedauernswerten Eindruck. Ihr Rücken war gekrümmt, und ihre Schultern waren nach vorn gezogen, als ob ihr kalt wäre. Ich stellte mich neben ihren Stuhl und räusperte mich so laut, wie es die gedämpft vornehme Atmosphäre nur eben zuließ. „Ach, Sie sind es“, sagte sie, nachdem sie mich erkannt hatte. „Setzen Sie sich.“ Sie deutete auf einen Stuhl dem ihren gegenüber, und ich konnte nun so recht wahrnehmen, wie schlecht sie aussah. Das war nicht mehr die Frau, die mich vor noch nicht vierundzwanzig Stunden mit der dreisten Grandezza einer Bourgeois-Dame empfangen hatte. Ihre Haut hatte einen Stich ins Graue, unter den Augen zeichneten sich gelblich die Tränensäcke ab. Da half auch kein Puder, den sie offensichtlich reichlich verwendet hatte. „Was möchten Sie essen?“ fragte sie mich, und fast hätte ich „Schnecken“ gesagt. Ich besann mich aber noch 152
rechtzeitig und nannte nach einem flüchtigen Blick auf die Speisekarte, deren Preisangaben mir weniger Respekt als Angst einflößten, eine Kleinigkeit: Ragout fin. Da wußte ich wenigstens, was mich erwartete. „Sie werden erstaunt sein, daß ich Sie hergebeten habe“, begann sie, nachdem der Kellner, ohne eine Miene zu verziehen, meine lächerliche Bestellung entgegengenommen und den Wein Nummer siebenunddreißig – „Erdener Treppchen“, trocken und mundig – empfohlen hatte. Frau Wiskirchen aß Häppchen von einem Teller, auf dem neben Kartoffelpüree ein Klacks hellgetöntes Haschee gehäuft war, und bediente sich dabei der umständlichen englischen Art, die Gabel zu halten. „Ich habe den Eindruck“, sagte sie, nachdem sie einen Happen hinuntergekaut hatte, „wir sind gestern nicht auf die beste Art auseinandergekommen.“ Dann machte sie sich wieder daran, ein paar Fleischstückchen auf die Rückseite der Zinken zu praktizieren. „Ich hoffe, Sie sind uns deswegen nicht böse.“ Nach der Einleitung war ich auf vieles gefaßt. Ich setzte mein liebenswürdiges Heiligabendlächeln auf und sagte: „Sie waren eben aufgeregt, Sie und Ihr Herr Gemahl.“ Daß ich mich versöhnlich zeigte, erleichterte sie offensichtlich. Sie lächelte auch, und das gab ihrem blassen Gesicht das Aussehen einer Clownsmaske. „Ich wußte, Sie lassen mit sich reden.“ „Immer!“ versicherte ich. Inzwischen war der Kellner mit dem Wein gekommen. Zur Kostprobe wandte er sich gleich an den Zuständigen, nämlich an Frau Wiskirchen, die denn auch die Schau nach den Regeln der edlen Kunst des Weinverkostens abzog. 153
„Auf daß wir gut miteinander auskommen!“ sagte sie, nachdem eingegossen war. Sie hob ihr Glas, ich hob meines und nickte ihr artig zu. Gleich wird sie ein Scheckbuch aus der Handtasche ziehen und eine ganz lange Zahl aufs Papier schreiben, dachte ich. Ich fühlte mich wieder einmal mitten in einem Film, diesmal in einem, in dem ein unbescholtener junger Mann von der abgebauten Millionärsschönheit mit einer Unsumme bestochen wird, damit er in einer bestimmten, kompromittierenden Angelegenheit den Mund hält. Die ganze Umgebung paßte dazu: die dicken Teppiche, der Damast auf den Tischen, das Kellnerrudel, von dem jeder einzelne viel besser angezogen war als ich. Um nun aber die Illusion nicht auf die Spitze treiben zu lassen, sagte ich etwas Profanes: „Ich habe übrigens Fräulein Klein Ihre Einladung ausgerichtet. Aber ich fürchte, sie kann nicht kommen. Aber dafür bin ich ja jetzt hier.“ Damit war der Film aus. Frau Wiskirchen sah jäh von ihrem Teller hoch, auf dem ihr Blick mit viel Konzentration geruht hatte. Wenn Blasse bleich werden können, dann kann man sagen, Frau Wiskirchen sei in diesem Moment bleich geworden. Ihre Gabel klirrte unfein aufs Porzellan. „Sie wissen schon?“ fragte sie tonlos. „Ich war im Elisabeth-Hospital.“ Jetzt wurde auch mein Schälchen mit Ragout gebracht und dazu ein Körbchen, in dem unter einer Serviette eine Scheibe Toast ruhte, und ein Tablett mit Tunken und Gewürzen, von denen ich nur die Worcestersoße kannte und auch nur die benutzte. Frau Wiskirchen beobachtete stumm meine Hantierungen, und das machte mich befangen. Also sagte ich, um sie abzulenken: „Frau Böttcher hat Ihnen wohl auch schon davon erzählt.“ 154
„Ja, Frau Böttcher“, sagte sie nach einer winzigen Pause. „Ich wollte Maria sprechen.“ „Sie wollten Maria sprechen?“ Das mußte also heute morgen gewesen sein. Frau Böttcher hatte mir aber nur etwas von dem alten Wiskirchen und von dem Kerl im grauen Paletot gesagt. Als ich mir beim besten Willen nicht mehr an dem Ragout zu schaffen machen konnte, blickte ich hoch. „Vielleicht wegen derselben Angelegenheit, in der Ihr Mann gestern in die Spießergasse gekommen ist? Sie haben wirklich Pech. Immer wenn Sie Maria sprechen wollen, ist sie gerade nicht da.“ „Sie sagen es.“ Frau Wiskirchen zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Haschee zuzuwenden. Da ihr das aber nicht recht gelingen wollte, tat sie so, als sei sie gesättigt, schob Teller und Besteck ein kleines Stück von sich weg, betupfte den Mund mit Damast und trank vom Wein, ganz unzeremoniell, weil der Kellner nicht in der Nähe und vielleicht auch weil sie zu aufgeregt war. Mir schmeckte das Ragout. „Warum schnüffeln Sie Heinrichs Leben nach?“ Ich antwortete nicht sofort, sondern kaute demonstrativ und viel länger, als das bei dem weichen Kalbfleisch nötig gewesen wäre. Was wollte ich ihr auch für einen Grund angeben. Sollte ich sagen: Gnädige Frau, ich halte Sie alle für Schufte, Sie, Ihren Förster-Gemahl und die, die sich als Heinrichs Freunde ausgegeben haben? So spricht man nicht mit einer Dame, das wußte ich schon von Kindesbeinen an. Das ist Ganovenmanier, und wer einen Getreidegroßhandel hat oder Seelsorger ist oder sonst etwas Besseres, kann kein Ganove sein. Die sehen anders aus. So verfiel ich nach einer guten halben Minute, während der die Dame den Blick nicht 155
von mir wandte, auf eine verbindliche Formulierung. Ich sagte: „Nehmen Sie einfach an, ich interessiere mich nun eben für das Leben eines Freundes, der nur kurz in meines getreten ist.“ „Reden Sie kein Blech!“ Jetzt gefiel mir Frau Wiskirchen wieder besser. Ich erkannte die Dame wieder, die ihren Mann einen Penner genannt hatte, und während ich mir eine viel zu große Ladung Ragout in den Mund schob, lächelte ich sie an, diesmal vertraulicher und weniger artig. „Wenn Sie es genau wissen wollen“, sagte ich mit noch halbvollem Mund, „ich glaube, da stimmt einiges nicht.“ „Nicht so allgemein.“ „Sie wollen also, daß ich die Karten auf den Tisch lege?“ „Ja, das will ich.“ Das klang bestimmt. „Darf ich erst einmal etwas feststellen?“ „Bitte.“ Sie wurde zusehends sicherer, die ruhige Art, mit der sie ihr Glas zum Mund führte, unterstrich das. „Sie haben ein Interesse daran, daß ich kein Interesse an Ihrem Bruder habe.“ Für ein Wortspiel war das zu primitiv, aber in dem Augenblick war ich ziemlich stolz darauf, bis mich Frau Wiskirchen aus meinem Stolz riß. „Reden Sie nicht so geschwollen daher.“ Ihre Angriffsfreude reizte mich und machte mich seltsamerweise sicherer. „Von Maria habe ich einiges erfahren“, sagte ich. Dann biß ich in die Scheibe Toast und kaute heftig, so daß ich die Antwort von Frau Wiskirchen nicht verstand. Ich hörte nur Marias Namen, fragte mechanisch „Wie, bitte?“ und hörte auf zu kauen. „Was Sie von Maria erfahren haben, will ich wissen.“ Frau Wiskirchens Ton war weniger ungeduldig 156
als lauernd. Ihre starr auf mich gerichteten Augen unterstrichen die Erwartung. Ich ließ zwei, drei Sekunden verstreichen, ehe ich antwortete: „Dies und jenes.“ Das sagte ich mit geschlossenen Augen. „Dies und jenes!“ Das Echo kam sofort. Ich hätte gern die Spannung auf Frau Wiskirchens Gesicht gesehen, die ich aus ihrer Stimme hörte. Aber ich zwang mich, die Augen geschlossen zu halten. Ich spürte, daß ich an einem entscheidenden Punkt in der Sache Küpper angelangt war, und das Gespür machte mich einerseits unsicher, erfüllte mich aber auch mit einer Genugtuung, die ich bisher noch nicht erlebt hatte. Meine Hände, die flach auf dem Tisch lagen, wurden naß. Im Dunkel vor meinen Augen tanzten vielfarbene Feuerpunkte. Ich hörte: „Was hat sie Ihnen erzählt?“ Wort von Wort abgehoben. Ich machte die Augen auf und fixierte einen Punkt an der Decke, wo eine Stuckputte sich einen gipsernen Blumenstrauß unter die Nase hielt. „Einiges über Gersdorff zum Beispiel“, sagte ich. Fast war ich erschrocken über die eigne Courage. Aber nun, da die Lüge heraus war, gab es keinen Rückzug mehr, es sei denn, ich hätte die Sache ganz aufgegeben. Aber danach stand mir der Sinn ganz und gar nicht. Der Unrat, den ich die ganze Zeit über gewittert hatte, war jetzt fast schon zu greifen. Ich mußte nur den Mut aufbringen, die Angelegenheit mit der Entschlossenheit zu betreiben, die sie verlangte. Mit Halbheiten, mit Zögern und allzu vorsichtigem Lavieren kam ich jetzt nicht mehr weiter. Marias Bild stand mir plötzlich vor Augen: Ich sah sie blaß und blutüberströmt in einem Krankenhausbett liegen, unfähig, sich zu bewegen, halb ohnmächtig. 157
Diese Vorstellung brachte mich in Rage, und ich sagte: „Ich an Ihrer Stelle würde Maria fragen, wenn sie wieder ansprechbar ist.“ Ich habe vielleicht ein dutzendmal in meinem. Leben gepokert und es dann ganz aufgegeben, weil ich nicht die Nerven hatte, meine Gesichtsmuskulatur so im Zaum zu halten, wie es nötig ist, um dem Partner nicht die Möglichkeit zu geben, psychologische Kenntnisse sozusagen als sechste Karte ins Spiel schmuggeln zu können. „Nun gut“, sagte Frau Wiskirchen, und schon das klang mir ziemlich hoffnungverheißend in den Ohren, „reden wir von Gersdorff.“ „Gern.“ Gern hätte ich jetzt ein Bier gehabt, ein schönes schaumiges, die schwellende Zunge zu kühlen. Aber ich mußte mit Wein vorliebnehmen, mit Erdener Treppchen, trocken und mundig. Ich trank das Glas aus, ohne zu schlucken. Ich stellte mich darauf ein, Entscheidendes zu erfahren, wurde aber in meinen Erwartungen enttäuscht. Frau Wiskirchen verlegte sich zunächst aufs Lamentieren. „Glauben Sie nicht, daß ich Heinrich nicht gemocht habe.“ Erstaunt löste ich meinen Blick vom Plafond und sah ihre Augen blinzeln wie vor einem Anfall von Weinkrampf. „Aber Ihr Mann?“ fragte ich hoffnungsvoll. „Ach, der arme Willy! Wir haben uns immer so sehr ein Kind gewünscht, einen Sohn.“ Ich war verblüfft. Ich nahm den Rest von der Toastschnitte und fing an, sie zu zerbröseln. Ich hörte, wie die Krümel auf das silberne Tablett fielen. „Aber es kam kein Kind.“ 158
Am liebsten hätte ich gefragt: Und was hat das mit der ganzen Geschichte zu tun? Ich fragte aber nicht. Im Hinterkopf saß mir noch immer das Gefühl, ich dürfe mich nicht rühren, wenn ich nicht etwas verscheuchen wollte. Was da zu verscheuchen war, wußte ich nicht, aber ich verhielt mich neutral, mimte den Zuhörer, von dem angenommen wurde, er wisse mehr, als er wußte. „Darum hing ich besonders an Heinrich. Er hätte unser Sohn sein können.“ „Ich verstehe.“ In Wahrheit war es mir ziemlich unverständlich und auch egal, ob Heinrich nun zu dem Rauschebart Vater und zu seiner väterlichen Schwester Mutter hätte sagen sollen oder nicht. „Nur: Er ist immerhin vom fünften Stock heruntergefallen, und darum geht’s.“ Jetzt kamen ihr zwei von den Tränen, die so lange angestanden hatten. „Das brauchen Sie mir nicht zu sagen.“ Ihre Worte waren klar. „Niemand hat sein Ende tiefer beklagt als wir, mein Mann und ich. Aber vielleicht hat alles so kommen müssen, wie Willy sagt.“ Meinen betretenen Gesichtsausdruck, in dem sich nur die Enttäuschung darüber spiegelte, mit sentimentalen Geschichten gefüttert zu werden, da ich doch Gewichtiges erwartet hatte, mißdeutete sie, wahrscheinlich absichtlich, und sagte mit einem fahrigen Lächeln: „Entschuldigen Sie.“ Sie schneuzte sich, bediente sich noch einmal aus der Weinflasche und fuhr fort: „Heinrich war oft nicht wählerisch in seinen Mitteln. Schon als Kind nicht. Er hat sich immer auf die Seite der Schwächeren gestellt und die Starken rücksichtslos bekämpft, wenn es sein mußte auch mit Kratzen und Beinstellen. Und oft hat er die Prügel abbekommen, die für andere bestimmt gewesen ist.“ Frau Wiskirchen ließ sich mit einem effektvollen Augenaufschlag in die Vergangenheit treiben. 159
„Einmal, ich erinnere mich noch genau, hatten ein paar von diesen Hitlerpimpfen einen kleinen Jungen von sechs an einen Baum gebunden und ihm mit Hundedreck einen Davidstern auf die Stirn gemalt und einen auf jede Wange. Es war der Sohn vom Kürschnermeister Heydenreich, der im Haus neben uns wohnte. Heinrich ist dazwischengegangen. Einem von den Jungen hat er mit einem Stein ein Loch in den Kopf geschlagen. Aber sie haben ihn doch überwältigt und jämmerlich verdroschen. Das hat er ihnen nie vergessen. Eines Tages wurde Hans Basting – das war der Anführer der Jungen – das Fahrrad gestohlen. Nach einer Woche fand man es hinter den Mülltonnen der kleinen Selterswasserfabrik um die Ecke. Es war auseinandermontiert und Stück für Stück mit einem schweren Hammer bearbeitet worden. Eine Reparatur war nicht mehr möglich. Was keiner wußte, ich wußte es: Heinrich hatte das getan, er hat es mir gesagt und dabei ein Gesicht gemacht, als wäre ihm das schönste Geschenk gemacht worden. ‚Denen werde ich zeigen‘, hat er gesagt, ‚was Gerechtigkeit ist.‘ Wählerisch war er wirklich nicht.“ „Sowenig wie in der Angelegenheit Gersdorff“, warf ich kühn ein, um sie von ihren Erinnerungen abzubringen. Frau Wiskirchen schien meinen Einwurf nicht gehört zu haben. „Auch später dann, beim Militär“, fuhr sie fort, nachdem sie mich kurz angesehen hatte, „ist er immer wieder mit seinen Vorgesetzten aneinandergeraten. Einmal sollte er sogar vors Kriegsgericht, weil er seinen Hauptmann oder was das war einen Schinder genannt hatte. Unsere Eltern lebten damals noch, und die haben Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um die Sache aus der Welt zu schaffen. Kistenweise haben sie dem beleidigten Offizier den Wein geschickt, bis er sich bereit 160
erklärte, von einer Anzeige abzusehen. Aber Heinrich, das hat er mir später erzählt, nachdem er aus der Gefangenschaft entlassen war – Heinrich hat dem Mann jeden nur möglichen Tort angetan, heimlich, hat ihn bestohlen, hat ihm, wenn er Küchendienst im Kasino hatte, ins Essen gespuckt und Salz ins Bier geschüttet, und als der Hauptmann dann gefallen war, oben in der Normandie, da hat Heinrich sich vor Freude betrunken.“ „Warum erzählen Sie mir das alles?“ „Damit Sie ihn besser verstehen“, sagte sie und sah mich wegen meiner Frage ziemlich verständnislos an. „Und uns auch.“ „Natürlich“, murmelte ich. Frau Wiskirchen schien aus dem Meer der Erinnerungen aufgetaucht. Ihr Blick klärte sich wieder, und ihre Stimme war härter, als sie sagte: „Er hat das Leben, wenn er es von vorn nicht zu fassen kriegte, von hinten gepackt.“ „So etwas Ähnliches hat er mir auch gesagt.“ „Und er hat nie Rücksicht darauf genommen, ob andere unter seinem Tun und Lassen litten oder nicht.“ Ich wußte: mit „andere“ meinte sie sich und ihren Mann. „Sie haben ihn wohl sicherlich manchmal zum Teufel gewünscht. Als ich gestern bei Ihnen draußen war …“ „Reden wir nicht mehr davon.“ Sie fuhr sich mit der Rechten durchs Haar. „Wir haben uns dumm benommen. Darum sitze ich ja jetzt hier, mit Ihnen an einem Tisch.“ Das klang nach schwerer Überwindung, und ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Da glaubte man nun, ich hätte etwas in Erfahrung gebracht und könnte Gebrauch von meiner Erfahrung machen, und schon wurde ich gesellschaftswürdig, mindestens aber wurde ich als Handelspartner akzeptiert. Frau Wiskirchen war eine zu gute Geschäftsfrau, als daß sie nicht ausschließlich ihr Interesse 161
im Kopf gehabt hätte. Heinrich war ihr gleichgültig, und es war ihr sogar gleichgültig, ob er tot war oder nicht. Sie hatte andere Rücksichten zu nehmen. „Sie fürchten einen Skandal, wenn ich mit dem, was ich weiß, an die Öffentlichkeit gehe“, sagte ich, und ich war mir der Brüskierung, die in den Worten lag, durchaus bewußt, ja, ich hatte den Tatbestand rüder umschrieben, als es nötig gewesen wäre. Warum aber sollte ich auf eine Frau Rücksicht nehmen, die erst mit sich reden ließ, nachdem sie Schlimmes befürchten mußte? Frau Wiskirchen zögerte keinen Lidschlag lang mit der Antwort. „Wir, mein Mann und ich, haben einen Ruf zu verlieren. Das werden Sie gestern schon gemerkt haben. Wir möchten nicht, daß die Angelegenheit Gersdorff, und was Heinrich mit ihr zu tun hatte, an die Öffentlichkeit gebracht wird. Wir sind bereit“, ihre Stimme wurde geschäftsmäßig trocken, „uns das etwas kosten zu lassen, wenn Sie wissen, wie ich das meine.“ Ich war schließlich nicht blöde. „Wieviel bin ich Ihnen denn wert?“ fragte ich, um erst einmal Zeit zu gewinnen. Wenn sich herausstellte, wie wenig ich wußte, dann war nicht nur diese Unterhaltung beendet, dann konnte ich alle weiteren Recherchen in den Kamin schreiben. Auch ich hatte einen Ruf zu verlieren, den Ruf eines gewinnsüchtigen Journalisten, der auf krummen Wegen an eine heiße Information geraten war. Und den mußte ich verteidigen. „Oder sagen wir es anders: Wieviel ist Ihnen denn Ihr Ansehen wert?“ Frau Wiskirchen unterdrückte einen kleinen Hustenanfall, hielt sich die Serviette vor den Mund. Zu allem Überfluß erschien nun der Kellner und räumte das Geschirr ab. 162
„Zaghaft sind Sie gerade nicht“, sagte sie gepreßt, nachdem der Kellner den Tisch verlassen hatte. „War ich nie.“ „Um ehrlich zu sein: Das kann ich nicht allein entscheiden.“ Sie machte eine kleine Pause und schien nachzudenken. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag“, fuhr sie dann fort. „Wir schließen ein Stillhalteabkommen. Darin muß natürlich auch Fräulein Klein eingeschlossen sein.“ „Natürlich.“ Ich hätte jubeln mögen. Man drängte mich geradezu mit Maria in eine Front, indem man uns als Komplizen ansah. „Maria ist ja sowieso im Moment still.“ Die Anspielung auf den Überfall schien ihr nicht zu schmecken. Sie ignorierte sie jedenfalls und sprach weiter zur Sache: „Ich … wollte sagen: Wir müssen uns darauf verlassen, daß nichts geschieht, vor allem nichts mit dem Material, bis wir uns geeinigt haben. Ist das klar?“ Es gab also „Material“! Ich war doch ein Glückskind, dem alles serviert wird, was es so braucht. Aber wer war „wir“? Nur sie und der Rauschebärtige? Oder hatten die ehrenwerten Herren Schulkameraden schon ihre Finger im Spiel? Für den Fall mußte es einen gutfunktionierenden Nachrichtendienst geben. Vielleicht hatte die Wiskirchen Auftrag, mich erst einmal zufriedenzustellen. Aber was konnte Martha Wiskirchen bewegen, sich so stark in der Angelegenheit zu engagieren? Mit „dem Material“ mußte etwas Ehrenrühriges zusammenhängen, das sie und ihren Herrn Gemahl in die Scheiße reiten konnte. Bei diesem unfeinen Wort in feiner Umgebung grinste ich in mich hinein. Aber über allem durfte ich meine Rolle nicht vergessen, und so sagte ich: „Man könnte meinen … ich wollte sagen, man könnte unserer Verläßlichkeit in dieser delikaten Angelegenheit ein bißchen auf die Beine helfen.“ 163
Sie stutzte keine Sekunde lang, sagte nur: „Das habe ich mir gedacht“ und griff nach der Handtasche. Damit schien ich in ihren Augen endgültig ein klarer Fall zu sein, wenn auch ein trüber Fall von Gewinnsucht, die sich so ganz unbürgerlich ausdrückte. Als ich sie dann wirklich wie in der Filmszene das Scheckbuch herauskramen sah, setzte ich, ganz in meiner neuen Rolle, der Frechheit die Krone auf. „Aber nicht doch, gnädige Frau“, sagte ich so lässig wie möglich, „ich habe etwas gegen Banken.“ Das kapierte sie nicht sofort. „Wie bitte?“ fragte sie. Sie war anscheinend kein solch eifriger Kinogänger und Televisionszuschauer wie ich. „Schecks kann man sperren lassen.“ „Ach so!“ Das hörte sich an wie ‚Sie sind wohl mit allen Wassern gewaschen?‘. „Auch für den Fall ist vorgesorgt.“ Sie zog eine saffianlederne Brieftasche heraus, offensichtlich die vom Herrn Gemahl, und fragte: „Genügen fürs erste tausend?“ Jetzt geriet ich in Verzug. Ich war eben nicht in der Übung. Was nahm man denn in so einem Fall, sozusagen als Optionshonorar? Ich legte meine Stirn in Dackelfalten, um Unschlüssigkeit vorzutäuschen. Schließlich sagte ich: „Legen Sie noch fünf Blaue dazu.“ Ich hätte getrost noch zehn Hunderter fordern können, die Brieftasche enthielt noch genug. Frau Wiskirchen zählte ab: zwei Scheine mit einer Fünfhundert drauf – die hatte ich noch nie gesehen – und fünf Hundertmarkscheine. Sie schob mir das dünne Päckchen rüber, ich steckte es mit einer Geste, die sich wie eingeübt ausnehmen mußte, in die Brusttasche des Jacketts. Jetzt war ich eingekauft. Frau Wiskirchen behandelte mich aber nicht wie einen Geschäftspartner. Kaum war das Geld in meiner Tasche, 164
wurde sie eisig. Sie sagte nur noch, sanft, aber deutlich mahnend: „Und machen Sie keinen Unsinn.“ Sie tat so, als habe nicht sie mir, sondern ich ihr ein schmutziges Angebot gemacht. Stumm schob sie mir einen Fünfzigmarkschein zu, und ich wußte: Ich sollte damit die Zeche bezahlen. Dann stand sie auf und ging grußlos und steif davon.
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11. Ich wußte, ich lebte von jetzt an gefährlich, und die Gefahr war um so größer, als ich die Sache, in die ich da hineingeraten war, in die ich mich vielmehr hineingedrängt hatte, nur in reichlich vagen Umrissen kannte. Nun war Geld im Spiel, ein Geschäft war angebahnt, eins mit Mitteln, die nicht bekannt werden durften. Wenn doch Maria erreichbar gewesen wäre! Ich fühlte: Jetzt hätte ich alles aus ihr herausbekommen. Nachdenklich schlenderte ich nach Hause und ertappte mich zweimal dabei, wie ich stehenblieb, um einen Blick hinter mich und auf einen etwaigen Verfolger zu werfen. Einige Male drückte ich sogar die Hand auf die Brusttasche, wo der Mammon verstaut war. Aber das machte mich nicht sicherer. Was sollte ich mit dem Geld überhaupt anfangen? Zu Hause machte ich mir erst einmal etwas zu essen. Das Ragout bei Tucher hatte meinen Appetit auf Herzhaftes geweckt, und ich hatte noch eine Dose mit Szegediner Gulasch im Schrank. Während das Fleisch auf dem Gas stand, schob ich die sieben Geldscheine nach einem letzten bedauernden Blick auf die mir jetzt schon vertrauter vorkommenden Fünfhundertmark-Charakterköpfe in ein Kuvert, das ich in den Wäscheschrank steckte, gleich neben die Unterhosen und Socken. Dann ließ ich mir das Gulasch schmecken. Nach einem Mittagsschläfchen schien noch einmal die Sonne, die sich den Vormittag über hinter Wolken versteckt hatte. Das machte mich zwar nicht unternehmungslustig, aber doch unruhig genug, um mich die vier Wände meiner Wohnung als bedrückend empfinden zu lassen. Der Tag hatte zudem so viel Erfolg gebracht, daß ich zu gern noch weitere Fortschritte gemacht hätte. 166
Ich schlug wieder einmal mein Notizbuch auf, und wieder einmal starrte ich die Namen und Adressen von sechs Männern an. Diesmal blieb ich an dem Namen Markus Stocksiepen hängen. „Direktor beim Versicherungskonzern ‚Kontinentale‘“, das klang bedeutend. Der hatte doch auch den Einladungsbrief unterschrieben, den mit dem vielversprechenden Postskriptum. Der schien so etwas wie der Maître de plaisir dieses Klüngels ehemaliger Klassenkameraden zu sein. Ich suchte im Telefonbuch. Einen Markus Stocksiepen fand ich nicht. Vielleicht gehört er zu denen, dachte ich, die ihre Nummer nicht dem Plebs zum Fraß vorwerfen wollen, und ich rief bei der „Kontinentale“ an, die es sich natürlich nicht erlauben konnte, ihren Anschluß geheimzuhalten. Das Fräulein in der Zentrale zögerte einen Augenblick, nachdem ich meinen Wunsch vorgetragen hatte, Direktor Stocksiepen sprechen zu wollen, sagte dann aber doch: „Ich verbinde mit dem Büro Stocksiepen.“ Es knackte im Hörer. „Büro Stocksiepen.“ Eine frische Mädchenstimme schmetterte mir den stolzen Namen ins Ohr. „Ich möchte Herrn Stocksiepen sprechen.“ Pause, dann: „Rufen Sie aus dem Haus an?“ „Nein, von außerhalb.“ Wieder Pause. „Darf ich um Ihren Namen bitten?“ „Schweizer.“ „Kleinen Augenblick. Ich gebe Ihnen die Sekretärin von Herrn Direktor.“ Wieder Knacken im Hörer, dann Summen. „Meier.“ Das klang nach älterer, zuverlässiger Kraft. „Hier ist Schweizer. Könnte ich wohl Herrn Stocksiepen sprechen?“ 167
„Herrn Direktor Stocksiepen? In welcher Angelegenheit?“ „Privat, sozusagen.“ „Sozusagen?“ Sie schien das Unkorrekte nicht zu lieben. „Also dann: privat.“ „Herr Direktor Stocksiepen ist sehr beschäftigt. Kann ich etwas ausrichten, oder müssen Sie ihn persönlich sprechen?“ „Ich bin auch sehr beschäftigt.“ Mir wurde das Spiel allmählich zu bunt. „Sagen Sie ihm, Schweizer möchte ihn sprechen. Er weiß dann, um was es geht.“ Er schien es wirklich zu wissen; denn nach einigem Knacken und Summen meldete er sich mit „Ja, bitte“ und fragte sofort: „Hat Frau Wiskirchen denn noch nicht mit Ihnen gesprochen?“ Er hatte eine ausgesprochen wohltönende Stimme, der auch das technische Medium nichts von ihrem sonoren Klang und ihrer Wärme nehmen konnte. „Doch, doch.“ Ich weiß nicht, ob die Befriedigung darüber, daß exakt eins ins andere paßte, aus meiner Stimme widerklang. Auf jeden Fall wurde ich dreister, in der Sprache, nicht im Ton. Ich sagte: „Sehr befriedigend war das Ganze ja nicht.“ „Was heißt das?“ „Ich hätte mich gern mal mit Ihnen unterhalten.“ Ich kam mir schon vor wie ein gelernter Ganove, der die Leute allein schon damit erschreckt, daß er sich bemerkbar macht. „Mit mir unterhalten?“ Jetzt klang seine Stimme doch ein bißchen gequetscht. „Warten Sie mal.“ Ich hörte ein Geräusch, als wenn einer Blätter umwendet. „Hat das nicht bis morgen Zeit? Oder noch besser: bis übermorgen? Ich bin nämlich …“ 168
„Ich kann warten“, sagte ich, und ich bedauerte, daß ich keinen Balken von Zigarre im Mund hatte. Mit Zigarre im Mund sagt sich so was nämlich besser. „Ich wollte mich nur mal melden.“ Dann legte ich auf. Vor Vergnügen hätte ich einen Purzelbaum schlagen mögen. Ich begann, mich als einer zu fühlen, den man nicht mehr ohne weiteres beiseite schieben kann. Die Angst vor der größer gewordenen Gefahr, die auf dem Heimweg nach mir gegriffen hatte, war verschwunden. Wenn sogar Herr Direktor Stocksiepen – persönlich – Manschetten vor mir zu haben schien, was sollte da noch schiefgehen? Möglicherweise hatte ich die Schwierigkeiten überschätzt. In mir wuchs die Lust, den Tag nicht vergehen zu lassen, ohne nicht noch etwas für mein Wohlbefinden getan zu haben. Ich ließ meine Blicke noch einmal über die Namenliste spazieren. Fritz Schneifel. Wenn ich den dazu bringen könnte, ein paar Takte über Gersdorff zu sagen und was der mit Küpper und den anderen allen zu tun hatte … Der wohnte irgendwo am Rand der Stadt, wo sich um den Bataillensee die Reichen seit den zwanziger Jahren ihre Zeit damit vertreiben, komfortabel zu wohnen. Man munkelte von phantastischen Grundstückspreisen, die noch lange nicht zum Stillstand gekommen waren. Schneifel, der Schrotthändler, schien aus den Trümmern, die der Krieg hinterlassen hatte, reichliches Kapital geschlagen zu haben, wenn er es sich erlauben konnte, da zu wohnen. Ich überlegte mir nicht lange, warum sich ausgerechnet Schneifels Name bei mir festgehakt hatte, als ich den Adressenkatalog durchsah. Vielleicht wollte ich einen wahrscheinlich selbstgemachten Nabob von nahem betrachten oder einfach nur ein bißchen High Life 169
schnuppern. Da draußen, hieß es, wohnten nicht nur die Industriellen und Händler im großen; da hausten auch solche, die sich auf weniger profane Art und Weise vermögend gemacht hatten, Frauenärzte à la mode zum Beispiel mit buchstäblich zusammengekratztem Geld, auch ein Zweig der berühmten Familie von Boskop, die der Apfelzucht ihren Ruf verdankt, eine ehemalige Stripteuse, von der es hieß, sie verwalte das Vermögen der Gang, die in den fünfziger Jahren im Kreis von hundert Kilometern um unsere Stadt so mancher Bankfiliale einen Besuch mit Maske und Feuerspritze abgestattet hatte und deren Mitglieder sich nur noch ein paar Jährchen hinter schwedischen Gardinen gedulden mußten, ehe sie an ihre zusätzliche Altersversicherung heran konnten. Auch ein ehemaliger Kriegsverbrecher wohnte dort in angemessenem Frieden, dem die Polen seit zwanzig Jahren den Prozeß machen wollten, eine alt gewordene Filmdiva, die den Zuckerkönig Mümmelmann geheiratet hatte, ehe ihre Reize völlig verblüht waren, und die jetzt mit witwenhaftem Anstand bemüht war, die sieben- oder achtstellige Summe des Nachgelassenen zu verplempern, und unser sozialdemokratischer Polizeipräsident wohnte dort in einem vergleichsweise bescheidenen Haus, vor dem, ein Zeichen seiner Würde, ein Doppelposten patrouillierte, wenn jemand zu Haus war. Den Präsidenten hatte ich mal interviewt, anläßlich seines dreißigjährigen Dienstjubiläums (Naziund Kriegszeit mit einbegriffen), und mir war ein freundlicher Empfang bereitet worden. Dorthin also zog’s mich an diesem sonnigen Nachmittag. Ich fuhr bis zur Endhaltestelle und machte mich auf die Suche nach dem Haus Seepromenade sechs. Pfiffig, wie ich bin, orientierte ich mich bei meiner Suche auf 170
den See. In solchen Gegenden ist man fast immer auf sich allein gestellt, weil es Geschäfte, in denen man fragen könnte, nicht gibt und die Bewohner sich selten oder nie außerhalb von Autos auf der Straße zeigen. Nach fünf Minuten hatte ich die Seepromenade gefunden, aber es dauerte, weil sich die Promenade um den ganzen See schlängelte, noch fast eine halbe Stunde, ehe ich Schneifels Haus erreichte. In dieser halben Stunde sah ich das Wasser fast nur hinter Hecken und Zäunen schimmern, während ich an Häusern vorüberging, die die Zeitschrift „Modernes Wohnen“ zutiefst beschämen mußten. Endlich hatte ich das Schneifelsche Grundstück erreicht, und ich ließ seinen Eindruck ein paar Minuten auf mich wirken, ehe ich den Klingelknopf drückte. Währenddessen versuchte ich, den Preis zu schätzen. Ich bin bei einer Dreiviertelmillion hängengeblieben, weil mir alles, was an Zahl darübergeht, doch ziemlich abenteuerlich vorkommt. Man stelle sich aber auch einmal vor: hundert Meter Straßenfront, noch einmal hundert Meter bis zum See, und auf dem Gelände, auf dem zwei Fußballfelder Platz gehabt hätten, stand akkurat in der Mitte ein Haus, vielmehr ein Gebäudetrakt, zwei Stockwerke hoch und die Fenster mit einer Porphyrumrahmung eingefaßt. Im rechten Winkel ging von den Wohnlichkeiten ein Garagenkomplex mit vier Toren ab – man rechnete also mit vielen lieben Gästen auf einmal oder tat doch so, als rechnete man mit ihnen. Der Architekt hatte nicht viel Phantasie und noch weniger Geschmack in das Objekt investiert. Von den porphyrenen Fensterumrahmungen und von einem schaufenstergroßen Wintergarten abgesehen, machte das Haus mit seinen glatten, rauhgeputzten Wänden den tristesten Eindruck von der Welt. Man hätte meinen können, ein durch lang 171
währenden Anblick von Kasernen im Geschmack total verrotteter und dann durch einen Staatsstreich an die Macht und also zu Geld und Geltung gekommener General wäre der Bauherr. Natürlich fehlte auch nicht die durch Zivilschutzgesetz gerechtfertigte Vorkehrung zum Schutz der nobleren Staatsbürger. Aus dem Rasen vorm Haus, der sich durch nichts anderes auszeichnete, als daß er makellos grün war und auch im üppigsten Sommer keinem Löwenzahn Platz zum Wuchern gönnen würde, ragten blecherne Rohre, und ein kreisrunder Betondeckel markierte wahrscheinlich den Notausstieg für die Überlebenden nach drei Wochen Abwarten, nach denen die übelsten Folgen des Fallout sich verduftet haben würden. Der Mann mit gestreifter Weste und Butlergesicht und – schritt, der sich auf mein Schellen hin auf die schmiedeeiserne Gartentür zu bewegte, war sicherlich auch seine zwölfhundert Piepen per month wert. Statt zu fragen, zog er nur die Augenbrauen hoch, und ich, durch meine Reportertätigkeit an solche Höflichkeiten gewöhnt, sagte, ich hieße Schweizer und käme vom „Stadtboten“. Ich kam mir zwar lächerlich vor, daß ich die Zeitung ins Gespräch brachte, sagte mir aber auch, daß die Vorsicht der bessere Teil der Tapferkeit sei. Wenn Schneifel eingeweiht war und zur Sache kommen wollte, sollte er das von sich aus tun. Der Dienstbolzen kehrte mir den Rücken, verschwand im Haus und kam nach erstaunlich kurzer Zeit zurück. Er führte mich durch die auch schmiedeeiserne Haustür, die so schwer war, daß sie nur vermittels eines sinnvollen hydraulischen Mechanismus auf- und zugemacht werden konnte. In der Diele wartete schon Fritz Schneifel in einem grünen Trainingsanzug mit ausgebeulten Knien auf mich. Sein Holzarm lag steif und eng 172
an die linke Körperseite gepreßt und wirkte dadurch kürzer als der natürliche Arm. Gegen all das Exterieur und den stummen Diener wirkte Schneifels Hemdsärmeligkeit ausgesprochen erfrischend. Dem Besitzer eines solchen Gesichts hätte ich zwar die Ersparnisse meiner Großmutter nie und nimmer anvertraut, aber die kleinen blassen Augen, das strähnige blonde Haar, der sich mächtig vorwölbende Bauch ließen mich die Schrecklichkeiten meines Entrees für einige Sekunden vergessen. „Kommen Sie rein ins Stübchen“, sagte er mit frischer Stimme und schob mich in ein Zimmer von der Größe eines mittleren Wartesaals, an dessen schlohweiße Stirnwand mindestens ein halbes Dutzend sicherlich aus süddeutschen Dorfkirchen geklaute Barockmadonnen und – heilige gepappt waren. Sie sahen aus, als warteten sie auf den Bus. Fast hätte ich guten Tag zu ihnen gesagt. „Hier bitte!“ hieß es, und eine schwere Hand drückte mich auf eine Renaissancebank unter einem Gobelin mit Falkenjagdszenen. Ich kann jetzt nur noch schwer beschreiben, was ich alles in dem Raum gesehen habe. Wenn ich mich recht erinnere, gab es da sogar eine Wand mit Büchern, alle in Pergament gebunden, von dem das Fleisch mindestens schon vor hundert Jahren abgekratzt worden zu sein schien. „Zigarre, Zigaretten, Kognak, Whisky?“ Ich kam mir vor wie auf einem exklusiven Bahnsteig. Ich versuchte es wieder mit meiner alten Masche. „Korn“, sagte ich. Er ließ sich davon nicht beirren, ging an ein gotisches Schränkchen, das einmal als Tabernakel gedient haben mußte, und holte eine Flasche wasserklarer Flüssigkeit heraus. 173
„Echter Alter Nordhäuser“, kommentierte er, „direkt aus der Zone. Man darf sich eben durch politischen Hickhack nicht davon abhalten lassen, an die Quelle zu gehen. Was die hier manchmal als Korn verkaufen …“ Er ächzte, während er, die Flasche zwischen die Knie geklemmt, sich mühte, den Schraubverschluß abzudrehen, und sagte: „Scheiße!“ Dann hatte er es geschafft, und er goß mir ein halbes Whiskyglas voll. Er selbst nahm auch einen saftigen Hieb Korn. Er schüttelte sich leicht nach dem Trinken, wie ein Kenner. „Kommen wir zur Sache“, sagte er dann, ganz der vielbeschäftigte Kapitalist aus dem Bilderbuch. Ich verstand: Er war es gewohnt, keine Zeit zu haben, explodierte sozusagen vor Eifer, diese Dimension der Materie in klingende Münze umzuwandeln. „Sie kommen vom ‚Stadtboten‘.“ Keine Frage, was ich wollte, nur eine Feststellung. Seine kalten Augen hinter Wimpern von der Farbe und scheinbar auch von der Beschaffenheit von Schweineborsten sahen mich ausdruckslos an. Doch noch während ich mir die Kehle freiräusperte, ging eine seltsame Wandlung auf Schneifels Gesicht vor. Es wurde immer weicher, fast menschlich, die Augen bewegten sich in den Höhlen, ein Lächeln breitete sich um Mund und Nase aus und kroch zu den Brauen hoch. Ich blickte in die Richtung, in die Schneifel den Kopf gedreht hatte, und sah unter der Tür eine Frau. Sie war eins von den langbeinigen, fast alterlosen Geschöpfen, die äußerst lecker und so aussahen, als hätten sie nichts anderes zu bieten als dekorativ aufgemachtes Fleisch, die aber doch so intelligent sind, daß sie sich neben dem zahlungskräftigen Kerl auch nach einen attraktiven Beruf an Land ziehen. Ich kannte den Typ aus Illustrierten, wo sie 174
einem alle Nasen lang als die Verkörperung der modernen Frau vorgestellt werden, ohne daß dabei verraten wird, wie man es macht, so gut auszusehen, und woher man das Geld für Modellkleider, Sportwagen und eine anständige bis ausgezeichnete Ausbildung nehmen soll. Sie wußte, daß sie lange Beine hatte, die zu mehr taugen als zur Fortbewegung, und sie bewegte sie entsprechend: erstaunlich langsam und aus der Hüfte heraus. „Hallo!“ sagte sie mit rauchiger Stimme, an deren Timbre sie sicherlich lange und intensiv gearbeitet hatte. Schneifel sprang sofort von seinem Sitz, einem ägyptischen Lederpuff, ich blieb sitzen. Man merkte es seinem ganzen Gehabe an, auch dem Versuch, ihr die Hand zu küssen (dem sie sich mit einer geschickten Körperdrehung entzog), daß er auf sie mindestens so stolz war wie auf seine Holzheiligen. „Das ist Herr Schweizer“, sagte er mit einer Handbewegung in meine Richtung, und mehr zu ihr, als zu mir gewandt, sagte er: „Frau Doktor Annelis Schneifel, meine Frau.“ Erst dann drehte er sich gänzlich zu mir herum und erklärte mir, wahrscheinlich um mir den Zahn zu ziehen, ich hätte möglicherweise eine simple Medizinerin vor mir: „Kunsthistorikerin.“ „Sehr angenehm“, sagte ich, und spontan meinte ich, was ich da von mir gab. „Hallo!“ Sie kam nicht näher; vielleicht hatte sie bei ihrem professionsbedingten Verständnis für Maße und Proportionen erkannt, daß die Entfernung, die sie einhielt, die beste sei, um ihren schweren Kaminrock unterhalb der leichten Bluse und das, was die Bluse blähte, zur Geltung zu bringen. „Ich will nicht stören.“ „Du störst nicht“, versicherte Schneifel. „Dann ist es ja gut.“ 175
Sie kringelte sich auf ein Set von Polstern zu ebener Erde und schaute erwartungsvoll zu uns hinüber. „Macht doch weiter, meine Herren.“ Das war nun leichter gesagt als getan. Ich hatte den Eindruck, das dachte auch Schneifel, der sich nur sehr schwer entschließen konnte, seinen Blick von ihr zu wenden. „Also dann zu uns“, sagte er endlich schweren Herzens, und um mich meine Rolle als Eindringling in die heitere Idylle am Bataillensee so recht spüren zu lassen, setzte er hinzu: „Machen wir’s kurz. Was wollen Sie?“ Ich erzählte ihm etwas von einer Artikelserie über die verschiedensten Viertel unserer Stadt, die ich vorbereitete und die den Lesern unseres „Stadtboten“ sozusagen einmal ihre eigene Heimat näherbringen sollte und daß ich, da ich ihn – wenn auch nur vom Sehen – kennte, gern die Gelegenheit beim Schopf fassen würde, einiges über die Häuser am Bataillensee und ihre Bewohner in Erfahrung bringen möchte. Ich merkte selbst, wie lahm das alles klang und mit wie wenig Überzeugungskraft die ganze Idee vom streunenden Reporter ausgestattet war. Aber was sollte ich sonst anstellen? Ich mußte Schneifel die Initiative überlassen. Er schien mir nicht der Mann zu sein, den man einfach ausfragen konnte. Wer ist Gersdorff? Wie ist Küpper vom Dach gefallen? Da müssen Sie Küpper mal fragen, würde er vielleicht antworten, und sicher würde er über soviel Naivität lachen. Einer, der ein Haus wie das hier zusammengebracht hatte, war kaum zu überrumpeln. Den mußte man kommen lassen. Man mußte warten. Ich war gewiß, daß er bald kommen würde, wenn er etwas von Frau Wiskirchens Aktivitäten wußte. Wußte er 176
nichts (aber das konnte ich mir nicht so recht vorstellen), dann konnte ich noch immer ein paar Fragen in der gewünschten Richtung stellen. Vorerst jedoch hatte ich mein Garn abzuspinnen, und das wurde mir sauer genug. Schneifel merkte mein wachsendes Unbehagen, das mich inzwischen in einen Exkurs über die Geschichte dieser Wohngegend getrieben hatte, und als ich ihm erklärte, der See verdanke seinen Namen einem Vorhutgefecht, mehr einem Scharmützel, aus der Zeit des Siebenjährigen Kriegs, als hier die Vorhuten der Reichsarmee und der Preußen aufeinandergeprallt wären, lachte er unverschämt von einem Ohr zum anderen, ohne den zupackenden Blick aus seinen kalten Augen von mir zu wenden. „Sie sollten Fremdenführer werden, mit Ihrem Wissen“, sagte er ohne Bosheit, doch er sagte es so, daß er damit mein Unbehagen noch steigerte. „Ist doch sehr interessant“, tönte es rauh von den Polstern her, und beide wandten wir den Kopf in die Richtung, Schneifel lächelnd, ich mit einem Gefühl der Dankbarkeit in der Magengegend dafür, daß mir aus einer Klemme geholfen worden war. „Schon gut, Häschen“, sagte Schneifel, ließ seinen Blick noch für ein paar Sekunden auf ihr weiden und sah mich dann wieder an, wobei die Reste des Lächelns von seinem Gesicht bröckelten wie der Putz von einer alten Wand. „Schreiben Sie das mal alles auf. Mehr als Sie schon wissen, kann ich Ihnen auch nicht sagen. Ich weiß sogar viel weniger als Sie. Ich hab’ mir das Haus hier nicht gebaut, weil sich Anno dunnemals mal ’n paar Krieger hier verkloppt haben. Von einem Scheißkrieg hab’ ich genug.“ Er wies auf seine linke Hand, die schwarzledern und starr aus dem grünen Ärmel ragte. „Wjasma“, sagte 177
er. „Und da kommen Sie mir mit den ollen Preußen und der Reichsarmee. Nee. Hier ist Ruhe, wissen Sie, und weil es schick ist, hier zu wohnen, steigen die Bodenpreise unaufhörlich. Ein Grundstück von der Größe wie meins können Sie heute schon gar nicht mehr bezahlen.“ „Ich sowieso nicht.“ Frau Dr. Annelis lachte heiser, Schneifel fand den Einwand weniger komisch und knurrte: „Ihr Pech.“ Aus dem Ton, in dem er das sagte, hörte ich heraus, daß er es nicht unbedingt witzig fand, wenn man ihm in die Parade fuhr. Ich mußte ihn bei Laune halten. Also zähmte ich meine Lust, vorlaut zu sein, indem ich noch ein Stückchen vor mich hin referierte, vom Charakter unserer Zeitung als überparteilichem Organ. Ich versuchte sogar, das Gespräch auf Fußball zu bringen, um die Atmosphäre ein bißchen mit Traulichkeit aufzuladen. Aber Schneifel gab nur zur Antwort, Fußball sei nicht seine Branche, er verdiene sein Geld woanders. Da saß ich nun ziemlich manövrierunfähig auf der Renaissancebank und unter einem Gobelin, der bestimmt mehr kostete, als ich mit hundert Artikeln von der Art, wie ich einen zu schreiben vorgab, zusammenverdienen konnte. „Sind Sie jetzt am Ende?“ Das Doppeldeutige der Frage stieg mir wie Essig in die Nase, und ich hatte für einen Moment wirklich das Gefühl, daß ich niesen müßte. Hilfeheischend sah ich zu Schneifels Frau hinüber; aber die war ganz in die Beschäftigung versunken, einen Ring an ihrem linken kleinen Finger um und um zu drehen. „Ich glaube, ja“, sagte ich und glaubte, die Töne so gesetzt zu haben, daß sich der Sinnzusammenhang nur auf meinen vorgeblichen Auftrag, einen Artikel schreiben zu sollen, beziehen konnte. 178
Aber Schneifel hörte meine Unsicherheit heraus, und Schneifel war nicht der Mann, der einen mit so etwas davonkommen ließ. Ich war das gefundene Fressen für ihn, ein Appetithäppchen, das er vor den Augen seiner Angeschwärmten zu verzehren gedachte. Wie zum Zeichen dessen, leckte er sich auch noch die Lippen und lehnte sich weit vor. „Wir kennen uns doch“, sagte er, und man hörte heraus, daß er eine neue Gesprächsphase einleiten wollte. „Vom Friedhof. Sie waren doch auf Küppers Beerdigung.“ Mit dem Namen war das Stichwort gefallen. Es entlockte Schneifel einen undefinierbaren Laut. „Damit hätten Sie gleich anfangen können.“ Er schien grämlich wegen des Umwegs, den ich eingeschlagen hatte. „Der Herr hier“, er wandte sich seiner Frau wieder zu, die noch immer an ihrem Ring drehte, „war nämlich auf der Beerdigung von einem alten Freund, der auf so tragische Weise ums Leben gekommen ist.“ Nun hatte ich in meinem Leben schon vieles in falschen Tönen vortragen hören. Schneifels Melodie aber stimmte überhaupt nicht. Der „alte Freund“ und die „tragische Weise“ ließen meine Trommelfelle schmerzen, und die Frage, ob Schneifel überhaupt einen Freund haben könne und ob er irgend etwas als tragisch aufzufassen gewillt sei, was nicht ihn unmittelbar betraf, stellte sich mir sozusagen automatisch. „Du hast mir davon erzählt“, sagte Frau Dr. Schneifel ohne sonderliche Gemütsaufwallung. Er hatte ihr davon erzählt! Ich kam nicht dazu, die Überlegung anzustellen, wie er ihr davon erzählt hatte, in welcher Gemütslage und unter welchem Aspekt. „Und die ganze Chose mit dem Artikel war natürlich nur ein Vorwand, um sich bei mir einzuschleichen.“ Das 179
klang nach Festnageln eines kleinen Gauners. Ich fühlte, wie meine Ohren rot wurden. Aber Schneifel schien nicht an Entlarvung oder dergleichen zu denken. Im Gegenteil: Er wurde jovial. „Das war ziemlich ungeschickt, und Sie hatten so einen Trick auch gar nicht nötig. Sehen Sie, ich bin aus meinem Beruf an manches gewöhnt. In meinen Kreisen faßt man einander nicht mit Glacéhandschuhen an, glauben Sie mir das.“ Er hatte es anscheinend darauf abgesehen, mir eine kleine Lektion zu erteilen, und spielte den Welterfahrenen und alles Verstehenden. Oder galt das Imponiergehabe der Frau auf dem Polster-Set? „Hätten Sie gesagt, ich kenne Küpper und möchte mich mit Ihnen über ihn unterhalten, ich hätte gesagt: Okay. Was wollen Sie wissen? – Manche Leute denken, ich bin ein Unmensch, weil ich mehr Piepen habe als sie. Alles Quatsch. Ich könnte Ihnen ein Lied davon singen, wie schwer es mir geworden ist, all das“ – er beschrieb einen Bogen, der das Zimmer und darüber hinaus die Welt zu umfassen schien – „zu erringen; wenn Sie das wüßten, dann würden Sie nicht eine Sekunde lang annehmen, ich hätte etwas gegen Leute, die zu mir kommen und mir klipp und klar sagen: Ich möchte dies oder das von Ihnen, Schneifel, für den oder jenen Zweck.“ Schade, dachte ich in Schneifels Gequatsche hinein, da habe ich mich nun darauf gespitzt, endlich einmal einen Kapitalisten mit Witz kennenzulernen, der einem nicht gleich das Lied vom schweren Anfang, und daß er trotz aller Härte Mensch geblieben sei, anstimmt, und nun bläst der dieselbe Melodie. Ob die untereinander verabredet haben, uns für so dumm zu halten, daß wir ihnen das abnehmen? Unauffällig warf ich einen Blick auf Frau Schneifel, die ernst und mit undurchsichtiger Miene auf das hörte, was ihr Mann von sich gab. Jetzt sah sie sehr 180
intelligent aus, und ich hätte um nichts in der Welt in Schneifels Haut stecken mögen, der – das war jetzt offensichtlich – nur noch zu ihr hinüber von dem harten Kampf sprach, den es ihn gekostet hatte, in einem halben Dutzend Großstädten sämtliche Autofriedhöfe an sich zu bringen und überhaupt zu einem der wichtigsten Schrottlieferanten der Stahlwerke zu werden. „Ist ja schon gut, Fritz!“ So reden Mütter mit Kindern, die sich allzusehr in den Vordergrund spielen wollen. „Stimmt aber alles“, versicherte er. „Du hast mich erst kennengelernt, als ich schon ein gemachter Mann war. Die ersten miesen Jahre, als ich zwischen den Ruinen rumgeturnt bin, mit zwei, drei Mann, und den Schrott selber abgefahren habe, hast du Gott sei Dank nicht erleben müssen. Ich hätte auch gern studiert, damals, aber es reichte nicht.“ Die Frage, was „nicht gereicht“ hatte, das Geld oder die Intelligenz, ließ er offen. „Und damals war man ja auch noch so blöd, die Zulassung fürs Studium von der Vergangenheit abhängig zu machen. Ich war nämlich bei der Waffen-SS“, sagte er, zu mir gewandt, nicht ohne Stolz. „Aber eigentlich bin ich froh, daß nichts aus dem Studieren geworden ist. Würde ich sonst so dastehen?“ Die beiläufige Erwähnung seiner Zugehörigkeit zur SS versetzte mir einen Schock. Auch wenn es hierzuland längst nicht mehr zu den herabsetzenden Merkmalen einer Biographie gehört, zu Hitlers Elitemördern gezählt zu haben, bin ich altmodisch genug, mir solche Leute immer bei der Arbeit vorzustellen und mir darüber hinaus auszumalen, was sie jetzt und mit mir, einem halbgehangenen Schlawiner ohne Einsicht in die Notwendigkeit, andere fürs große Ganze hinzuschlachten, anstellen würden, wenn sie noch unumschränkt die Macht besäßen, die sie 181
einmal hatten. Fast wie von selbst schwand das bißchen Sympathie, das Schneifels burschikoses Aussehen und Gehabe in mir geweckt hatte. Ich dachte daran, wie dieser Typ mit einem Mann wie Heinrich umgegangen wäre, wenn er Gelegenheit dazu gehabt hätte. Aber wieso „wäre“ und „hätte“? Bei dieser Überlegung überfiel mich die ganze Lächerlichkeit des schlechten Versteckspiels, das ich hier abzog, und ich konnte nicht länger an mich halten und sagte: „Was hat das alles mit Küpper zu tun?“ Das ernüchterte ihn. Er machte mit seinem heilen Arm noch eine gleichsam bedauernde Geste, die aber eher seiner Frau galt. Dann wandte er sich mir wieder zu: „Sie wollen also unbedingt von Küpper reden?“ Und er setzte hinzu, ganz sachlich, als ginge es um einen Posten schrottreifer Autos, den ich ihm zum Verkauf anbot: „Gut, reden wir von Küpper. Aber das flüstere ich Ihnen gleich: Wenn Ihre Forderungen zu unverschämt sind, dann ist bei mir der Ofen aus.“ „Sie wissen also schon?“ „Dumme Frage.“ Er machte eine winzige Pause. „Natürlich weiß ich nichts, gar nichts.“ Das schien seine Art zu sein, Verhandlungen zu eröffnen. „Trinken wir erst mal noch einen“, schlug er vor. „So was beredet sich immer besser, wenn man keinen trockenen Knorpel hat“, sagte er beim Eingießen. Und dann: „Also, was haben Sie mir anzubieten?“ Ich nahm einen großen Schluck und ließ die Flüssigkeit ein paarmal im Mund herumwandern, bis das Zahnfleisch leicht schmerzte. „Sie wissen, was ich anzubieten habe.“ Gespannt beobachtete ich, wie er das aufnehmen würde. Immerhin hatte ich nicht eine Frau wie die Wiskirchen vor mir, die bei allem Geschäftssinn leicht zu 182
durchschauen und kaum weniger leicht zu handhaben war. Schneifel, der Herr über alles schrottreife Blech im weiten Umkreis, war sicherlich nicht ohne weiteres auszutricksen. Aber er schien mich als Partner zu akzeptieren, vorerst wenigstens. Er nickte und sagte: „Ich weiß. Es gibt ja Telefone.“ „Sie wissen auch, was ich mit Frau Wiskirchen ausgemacht habe?“ Ich steckte meine Nase tief ins Glas, um die Spannung, die auf meinem Gesicht liegen mußte, nicht zu zeigen. Ich sah, wie er nickte, knapp, sachlich. „Es gibt ja Telefone“, wiederholte er. „Darf man wissen, was die beiden Herren zu verhandeln haben?“ hörte ich Schneifels Frau fragen. Sie war aufgestanden und kam mit großer Hüftbewegung auf uns zu, wobei der seitliche Schlitz bei jedem Schritt ihr rechtes Bein bist fast zum Ansatz sehen ließ. „Du darfst nicht“, sagte Schneifel in einem läppisch väterlichen Ton. „Das ist nichts für die Ohren einer schönen Frau.“ Sie gurrte verhalten, so als habe er einen nicht allzu guten Witz gemacht, entgegnete aber nichts, sondern ging stumm an das gotische Schränkchen und hantierte mit Flaschen und Gläsern. Dann begab sie sich wieder aufs Polster. „Sie haben Küpper nicht lange gekannt“, sagte Schneifel, nachdem er den Blick wieder von seiner Frau gelöst hatte. Der Nachrichtendienst schien gut zu funktionieren. „Mir hat es genügt“, sagte ich. „Das sehe ich.“ Er zog die Mundwinkel nach unten, und ich hatte die Wahl, ob ich Geringschätzung oder 183
Anerkennung aus seiner Miene lesen wollte. Ich entschied mich für Anerkennung, schon um mir Mut zu machen. „Sonst säßen Sie ja nicht hier.“ „Eben.“ Zum zweiten Male an einem Tag ein solches Versteckspiel mitzumachen drohte meine Kräfte zu übersteigen. Wenn ich nicht bald herausbrachte, um was es mir zu gehen hatte, bestand die Gefahr, daß ich schlappmachte. Aber wie sollte ich anfangen? Ich wollte schon, vorsichtig, die Sprache auf Gersdorff bringen, aber Schneifel kam mir zuvor. „Küpper war kein übler Kerl“, sagte er, und es lag so etwas wie Wärme in seiner Stimme. „Wenn Sie ihn von früher gekannt hätten, sie wären nie auf die Idee gekommen, daß das derselbe Heinrich Küpper war. Immer schüchtern, immer draußen, damals, konnte keiner Fliege was zuleid tun.“ Ich mußte an das demolierte Fahrrad denken. „Und dann so was. Hat uns ganz schön auf Trab gehalten, der alte Junge.“ So spricht einer wie Schneifel von einem Konkurrenten, den er zwar zur Strecke gebracht hat, dem er aber seine Hochachtung nicht versagen kann, weil ihn die Jagd mehr Schweiß und wahrscheinlich auch mehr Geld gekostet hat, als er voraussehen konnte. „Der hat auch gelernt, daß fast alles auf der Welt eßbar ist, der gute Heinrich, der sanfte Heinrich. Erst haben wir ja alles für einen Witz gehalten. Aber dann ist uns doch das Lachen vergangen, sogar mir, und das will schon was heißen.“ Innerlich verwünschte ich jetzt Schneifels Frau, die dort drüben saß und unverdrossen an etwas Bräunlichem nippte und keine Miene machte, den Raum zu verlassen. Ich hatte das Gefühl, Schneifel würde mehr aus sich herausgehen, wenn sie nicht da wäre. Und daß er aus sich 184
herausging, brauchte ich nötig wie ein Glas Bier in den Hundstagen. „War ja auch nicht ganz einfach, wie er das gemacht hat“, sagte ich aufs Geratewohl. Das brachte Leben in Schneifel. Er blinzelte mich durch seine Schweineborstenwimpern an und fuhr sich mit einem dicken Zeigefinger unter der Nase herum. „Einfach wie Brotessen, so wie die Dinge lagen.“ Er stand auf und stellte sich zwischen die Heiligen. In seinem grünen Trainingsanzug sah er grotesk aus inmitten der kunstvoll gefältelten hölzernen Gewänder, die in Blau und Gold leuchteten. „Glauben Sie, ich hätte es an seiner Stelle nicht genauso gemacht? Und Sie, Sie profitieren ja schließlich auch noch davon.“ Er kratzte an einem Holzwurmloch in Marias Gewand herum. „Nur das mit der Moral“, setzte er nachdenklich und langsam hinzu, „die Schau hätte er nicht abziehen dürfen. Ehrlich, das hat mich geärgert. Jedesmal wieder dasselbe Geschrei: Ihr seid Schweine, seid schon immer Schweine gewesen. Mit euch werde ich abrechnen. – Ehrlich, das ist mir auf den Wecker gefallen. Schließlich war er doch das größte Schwein.“ Er sah zu seiner Frau hinüber, der man anmerkte, daß ihre Neugier mit jedem Wort wuchs. Sicher hätte auch er sie am liebsten aus dem Raum gehabt. „Wie dem auch sei“, sagte er, als er sich wieder setzte, „Sie und die Dame“ – der Name Marias ging ihm offensichtlich nicht über die Lippen – „haben Heinrichs Erbe angetreten. Das ist Fakt.“ „Haben wir das?“ fragte ich und machte dabei ein Gesicht, dessentwegen mich meine Lehrer schon einige dutzendmal geohrfeigt hatten. „Werden Sie nicht ulkig.“ Er war todernst. „Ich bin Geschäftsmann. Mir können Sie nicht mit Mätzchen kommen.“ 185
Und ob ich ihm mit Mätzchen kommen konnte! Ich schickte gleich noch eins hinterher. „Das war aber nicht die feine Geschäftsart, wie Sie mit Maria umgesprungen sind.“ Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie die schöne Kunsthistorikerin den Kopf ruckartig hob, und ich sah auch, daß Schneifel die unbeherrschte Bewegung gesehen hatte. „Was meinen Sie damit?“ fragte er schnell und verlegen. Ich wollte schon etwas von Gehirnerschütterung und Krankenhaus laut werden lassen, unterdrückte es aber. Ich durfte ihn nicht allzusehr gegen mich einnehmen, wenigstens so lange nicht, wie ich in der Angelegenheit der unfreiwillige Maulwurf war, der Gänge schaufelte, ohne die mindeste Ahnung zu haben, wo sie einmal wieder ans Licht führen würden. So sagte ich nur: „Wenn Sie das nicht verstehen, dann lassen wir’s eben.“ „Wer ist diese Maria?“ Erstaunlich, wie sich eine Stimme unterm Einfluß einer Erregung verändern kann. Die von Frau Dr. Schneifel klang nun gar nicht mehr angenehm rauh. Sie knarrte wie ein altes Dielenbrett. „Kümmer dich nicht darum, Häschen.“ „Nenn mich nicht immer Häschen!“ Das war fast gejault. „Maria Klein war die Haushälterin unseres gemeinsamen, auf so tragische Weise ums Leben gekommenen Freundes Heinrich Küpper“, erklärte ich. „Und?“ „Sie ist diese Nacht die Treppe hinuntergefallen und liegt jetzt im Krankenhaus.“ Während ich zu der Frau hin sprach, behielt ich Schneifels Gesicht im Blick. Aber es zeigte keine andere Reaktion außer der Furcht, die aufgebrachte Annelis könnte die Erwähnung von Marias Namen in die falsche Kehle bekommen haben. 186
„Ach so!“ Frau Schneifel drosselte sofort ihren Adrenalinausstoß, und ihr Mann atmete hörbar aus. Fast schien es mir, als ob der Blick, den er zu mir herüberschickte, so etwas wie Dankbarkeit transportierte. „Du darfst dich nicht gleich immer so aufregen“, sagte Schneifel mit der Stimme eines angestrengt um die Seele eines Patienten ringenden Psychiaters. Und zu mir sagte er, fast vorsichtig, als wollte er mir einen Vorschlag machen: „Wir müssen uns noch einmal unterhalten. Allein kann ich sowieso nichts entscheiden.“ „Das habe ich heute schon einmal gehört.“ „Ich weiß.“ „Vielleicht könnten wir doch noch einiges besprechen.“ Um keinen Preis wollte ich in diesem Augenblick das kostbare Haus verlassen, ohne etwas Greifbares in der Hand zu haben. „Ich habe nicht unbeschränkt Zeit.“ „Denken Sie, ich?“ fragte er und stand auf, in einer Manier, die etwas Endgültiges an sich hatte. „Ich melde mich morgen, spätestens übermorgen. Ihre Telefonnummer weiß ich ja.“ So bekannt war ich in diesen ehrenwerten Kreisen also schon. Mir blieb nichts, als mich auch zu erheben und mit einer Verbeugung in Richtung der schönen Akademikerin, die mit einer lässigen Handbewegung beantwortet wurde, anzudeuten, daß ich zum Aufbruch bereit sei. Doch wenn ich gehofft hatte, Schneifel würde mich nach draußen begleiten und mir so die Möglichkeit geben, noch das eine oder das andere Wort mit ihm zu wechseln, das mich einer Aufklärung näher bringen konnte, sah ich mich getäuscht. „Schneider wird Sie ’rauslassen“, sagte Schneifel. Der Mann mit gestreifter Weste nahm mich in der 187
Diele in Empfang und geleitete mich wortlos über den kiesbestreuten Weg. Die langsam aufziehende Dämmerung mischte sich mit dem dünnen Nebel, der über dem See stand.
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12. In der Innenstadt brannten schon die Laternen, als ich aus dem Bus stieg. Die Zeit war gekommen, in der letzte Einkäufe gemacht und erste Flaschen geleert werden. Ich hatte zu dem einen keine Veranlassung und zu dem anderen keine rechte Lust. Noch weniger aber wollte ich mich vors Fernsehen setzen. Und doch mußte ich für ein paar Stunden von dem weg, was mich seit dem vergangenen Samstag verfolgte. Von der nächsten Telefonzelle aus rief ich bei Ruth an. Ruth war zu Hause und hatte auch Lust, ein paar Takte mit mir zu quatschen, wie sie das nannte. Ich kannte sie noch von der Realschule her, und obwohl unsere Wege sich nach dem Einjährigen getrennt hatten, waren wir einer dem anderen nie ganz aus dem Gesichtsfeld geraten. Eine Zeitlang waren wir sogar recht intim miteinander gewesen, das heißt, ich hatte sie oft abgeholt, manchmal auch noch spät am Abend, wenn der Modesalon, in dem sie arbeitete, mal wieder ganz eilig eine Kollektion für irgendeine Musterung in Paris oder auch nur in Düsseldorf zusammensticheln mußte. Aber wir waren immer füreinander das geblieben, was man Kumpel nennt. Jetzt betrieb sie eine von den gerade in Mode gekommenen Boutiquen auf eigene Rechnung und kam auf diese Weise viel mit jungen Leuten zusammen. Das hatte sie selber jünger, jedenfalls unbeschwerter gemacht. Die paar Stunden in einem Zimmer, das vor billiger Buntheit fast barst, brachten Erholung von der kostspieligen Neureichenatmosphäre: Popzeug, wo immer man hinblickte, Posters, Fransen an allen möglichen Gegenständen, Lampen, die wie Suppenschüsseln aussahen und umgekehrt, buntbemalte Wände selbst in der winzigen Küche, wo Ruth Speck briet und mir, während sie die Stücke in der Pfanne zu stets neuen Mustern hin und her 189
schob, aufgeregt wie ein Mädchen von all den Eindrücken berichtete, die seit neuem auf sie einströmten. Neid ist nicht die rechte Bezeichnung für das, was ich empfand, eher Wehmut, Sehnsucht Hier schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Und ich ging lange nach Mitternacht mit schwerem Herzen nach Haus, wieder einmal die Überlegung wälzend, ob ich eines Tages nicht doch mit Blumenstrauß und ernsten Absichten bei Ruth aufkreuzen sollte. Den Blumenstrauß vergaß ich nicht am nächsten Morgen, als ich mich zum Elisabeth-Hospital auf den Weg machte, und die Schwester strahlte mich an, als hätte ich ihr eine Freude gemacht. Genauso strahlend verkündete sie mir aber auch, daß Fräulein Klein auch heute noch keinen Besuch empfangen dürfe. Zwar habe sich ihr Befinden gebessert, doch noch nicht so weit, daß sie schon das Bett verlassen, geschweige denn Gespräche pflegen dürfe. „Und wenn ich Sie ganz herzlich bitte?“ Ich hatte Kreide in der Stimme wie der Wolf aus dem Märchen, als ich das sagte. „Nein, nein.“ Sie bewegte Kopf samt Haube leicht hin und her. Ich ließ Maria grüßen und ging stracks in die nächste Kneipe, die zu dieser Vormittagsstunde von Maurern und Fensterputzern besetzt war. Ich brauchte einen Ort, an dem ich mit mir selbst ins reine kommen konnte. Das gelingt mir am besten unter Menschen, mit denen ich nichts zu tun habe. Ob ich weitermachen sollte oder nicht, war jetzt natürlich keine Frage mehr. Ich hatte Schwierigeres zu überdenken. Zwei der sechs Männer kannte ich nun schon, und ich wußte auch, daß es etwas geben mußte, hinter dem sie her waren, etwas, über dem Schneifel das 190
Lachen vergangen war, wie er sich ausgedrückt hatte, und das Heinrich Küpper womöglich das Leben gekostet hatte. Und dieses Etwas war noch virulent. Und es betraf auch Heinrichs Schwester und ihren Mann. Und es hatte Maria eine Gehirnerschütterung und mir vorläufig anderthalbtausend Mark eingetragen, als Stillhaltegeld sozusagen. Was war das? Drei Fragen hinter der Tür. Wenn ich sie nicht beantworten konnte, mußte ich einpacken. Maria konnte Antwort geben, soviel stand jetzt für mich fest. Maria konnte aber nicht antworten, auch das stand fest. Frau Wiskirchen und Schneifel wollten von sich hören lassen, weil sie allein nichts entscheiden konnten. Stocksiepen hatte mich auf übermorgen vertröstet. Ob sie jetzt wohl beisammensaßen, die sechs oder vielleicht sogar ihrer acht, und darüber berieten, wie sie mich loswerden konnten? Es gelang mir nicht, mir eine solche Versammlung vorzustellen. Vielleicht wollte ich mir auch gar nicht vorstellen, wie über mich verhandelt wurde. Zudem war das Problem, wie die Gespräche bei einem solchen Anlaß verliefen, eine Barriere für meine Phantasie. Sprach man da rabiat, gerade draufzu, oder umschrieb man, was man meinte, wie in der Politik oder bei einem Kaffeekränzchen, bei dem über Abwesende nie direkt, aber haarscharf das Urteil gesprochen wird? All die Selbstbefragung half nichts, ich mußte weitermachen, wie ich angefangen hatte, mußte einen nach dem anderen von den Burschen wenigstens in Augenschein nehmen, auch wenn ich jetzt für sie als der miese Kerl abgestempelt war, der ein schmutziges Geschäft unter Dach und Fach bringen wollte. Das erleichterte mir die 191
Aufgabe, wenn es auch nicht gerade angenehm war, als Strolch zu gelten. Aber vielleicht gewöhnte ich mich auch daran. Es war kurz nach zehn, als ich mich auf den Weg machte. So ein pensionierter Studienrat wird doch wohl vormittags anzutreffen sein, dachte ich. Auf ein Gespräch mit Frobenius war ich besonders neugierig. Noch immer hörte ich Küpper sagen: Der mieseste Pauker, den wir hatten. Frobenius wohnte in einem ruhigen Teil der Neustadt, wo die Straßen noch immer nach preußischen Koryphäen benannt sind, von Bismarck über Moltke bis hin zu Roon. Wenn das kein Omen ist, dachte ich, als ich im muffigen und mit falschem Marmor ausgekleideten Vestibül des Hauses Bismarckstraße neunundfünfzig stand. Es war eins von den Häusern, die vor der Jahrhundertwende, als die Stadt über ihre Mauern hinausquoll, anscheinend eigens für die Bedürfnisse von Studienräten, Bürovorstehern und höheren Postbeamten gebaut worden waren. Der Läufer auf der Treppe, von blankgeputzten Messingstäben gehalten, stammte wahrscheinlich noch aus derselben Zeit, wenn man von seinem fadenscheinigen Aussehen auf sein Alter schließen durfte. Das Geländer wackelte bei jeder Berührung. Eine Frau, die jeder beim ersten Anblick als „alte Dame“ und als Haushälterin klassifiziert hätte, öffnete und bat mich in die Diele, wo mir im trüben Licht einer rötlichen Ampel ein Kleiderrechen aus Hirschhorn, ein fast blinder Spiegel in einem üppigen Ornamentrahmen und das schöne Schillerwort „Nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr Alles freudig setzt an ihre Ehre“, gleichfalls gerahmt und in trutzigen gotischen Lettern auf imitiertes Pergament gesetzt, auffielen. So war ich 192
denn eingestimmt, als die alte Dame mich bat: „Ins Arbeitszimmer von Herrn Doktor, bitte.“ Frobenius schien wirklich zu arbeiten. Jedenfalls saß er an einem Schreibtisch mit Löwentatzen statt Füßen vor einem Wust von Papieren und hielt einen Füllfederhalter in der Hand. Hinterm Glas eines Bücherschrankes (auch der stand auf Löwentatzen) schimmerte golden Meyers Klassikerpracht, andere Bücher standen in Regalen, über dem Schreibtisch hing ein Druck von Dürers Porträt des Andreas Holzschuher, auf einer Konsole thronten Kopf und Brustansatz vom Alten Fritz. Frobenius schrieb und schaute erst hoch, nachdem ich mich vorsichtig geräuspert hatte. Ich fand wieder: Das war wirklich ein komischer Vogel. Jetzt noch mehr als bei unserem ersten Zusammentreffen im „Esplanade“ ging mir die Trefflichkeit von Heinrichs Charakterisierung auf. „Mein Name ist Schweizer“, sagte ich, und als ich seinen verständnislosen Blick bemerkte, setzte ich sofort hinzu: „Ich komme vom ‚Stadtboten‘ wegen eines Artikels über das alte Paulus-Gymnasium.“ Auch hier galt es, die Rolle des eifrigen Reporters zu spielen, zunächst jedenfalls. Entweder wußte er, wer ich war beziehungsweise für wen man mich hielt; dann nutzte die Lüge nichts, und er würde mich hinauswerfen oder auf der Basis mit mir verkehren wie Frau Wiskirchen und Schneifel. Oder er wußte es nicht. Für den Fall konnte ich desto sicherer meine Recherche betreiben. „Über das Paulus-Gymnasium?“ sagte er zögernd und wischte sich mit einer altersfleckigen Hand über den Mund. „Und da kommen Sie zu mir?“ „Über das alte Paulus-Gymnasium“, erklärte ich ihm. „Man hat mir gesagt, Sie seien der letzte Lehrer aus der Generation, die das alte Gymnasium noch gekannt habe.“ 193
„So, hat man Ihnen das gesagt?“ Er kicherte vor sich hin, als er um den Schreibtisch herum auf mich zukam. „Setzen Sie sich!“ Das klang ganz nach Lehrerbefehl, und etwas in mir reagierte sofort auf den Ton. Ich setzte mich auf den lederbezogenen Stuhl, der halbrechts vorm Schreibtisch stand, und legte unwillkürlich die Hände auf die Oberschenkel. Frobenius stand vor mir, reckte sich, versuchte ein paarmal auf den Fußspitzen zu wippen, was ihm aber nicht mehr so recht gelingen wollte, und sah mich aus wäßrigen hellen Augen an. „Der ‚Stadtbote‘ erinnert sich also unserer guten alten Schule!“ Ich stellte erleichtert fest, daß er mich nicht kannte. Die anderen hatten ihn wahrscheinlich nicht eingeweiht, vielleicht noch nicht, vielleicht aber hielten sie es nicht für nötig, ihn über mich und meine vermeintlichen Absichten aufzuklären. Das machte mich sicherer dem Mann gegenüber, der ungeheuer dürr in einem grauen Anzug mit Weste vor mir stand. „Das Paulus-Gymnasium, ach ja!“ Er ging steifbeinig, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, auf und ab, vom Schreibtisch zum Bücherschrank und retour. „Ich schreibe gerade an meinen Lebenserinnerungen.“ Er verharrte für einen Augenblick und wies flüchtig auf die Papiere, die den Schreibtisch bedeckten. „Das sollte jeder Mann tun, der nicht nur so dahingelebt hat. Das Paulus-Gymnasium spielt in ihnen natürlich eine bedeutende Rolle. Neunzehnhundertzwoundzwanzig habe ich da angefangen. Als Referendar. Und ich bin ihm treu geblieben bis zum Zusammenbruch.“ An der Art, wie er „Zusammenbruch“ sagte, wurde überdeutlich, daß für ihn wirklich alles zusammengebrochen war. „Die ganze Systemzeit durch, während des Dritten Reiches, im Krieg …“ 194
Er geriet in die Erinnerung und schien mich nicht mehr zu bemerken. „Es waren schwere Jahre, schöne Jahre. Knaben zu Männern zu machen ist eine schöne Aufgabe. Und wir haben noch Männer aus ihnen gemacht, die sich bewähren konnten, weil wir ihnen Vorbilder mit auf den Lebensweg gegeben haben.“ Er machte ein hohles Kreuz und reckte seinen lächerlich schmalen Brustkasten heraus. „Schreiben Sie das, junger Mann.“ Er stand wieder vor mir. „Schreiben Sie, Sie hätten noch einen aus der alten Garde getroffen, die noch deutsch dachte und handelte. Langemark!“ Er hob einen dürren Zeigefinger, als wollte er das Wort aufspießen. „Ich war dabei!“ Der Zeigefinger richtete sich gegen seine Brust. „Ein junger Student. Wir alle waren Studenten, Freiwillige. Wir sind gestürmt, wir sind gestorben, wir haben Ehre für unser Volk erworben, Ehre, wenn Sie wissen, was das ist.“ Mein Gott, dachte ich, der redet wie ein altes Lesebuch. Ich sagte, nur um ihn in seinem Monolog zu unterbrechen: „Ich weiß.“ Damit hatte ich genau das Falsche gesagt. Er schüttelte heftig den Kopf, so daß seine sorgfältig über die Mittelglatze gescheitelten Haare sich verwirrten. „Das wissen Sie nicht!“ Die Leidenschaft ließ seine Stimme umkippen. „Das weiß heute niemand mehr.“ Er versuchte wieder, auf den Fußspitzen zu wippen. „Sehen Sie sich doch dieses saft- und kraftlose Geschlecht an! Ein Volk von Heloten sind wir geworden, Autochthone, die den Eroberern alles nachäffen. Demokratie, Parlamentarismus, Humaniät. Wir Deutschen hatten eine Humanität, eine deutsche, eine gesunde, eine starke Humanität, die auch das Christentum mit seiner Knechtseligkeit nicht schwächen konnte. Man hat uns nichts geschenkt, nie in unserer Geschichte. Wir 195
mußten alles erstreiten, gegen die Welschen, gegen die Slawen, gegen eine Welt von Neidern. Wir haben uns eine Kultur aufgebaut, die ihresgleichen sucht in der Welt, in der Antike und in der Neuzeit. Fichte, Nietzsche! Schiller, Hebbel, George, Flex! Beethoven, Wagner!“ Mein Gott, dachte ich wieder, hört das denn nicht auf? Es hörte nicht auf. Frobenius redete sich in eine Art Rausch hinein. Speichel sammelte sich, wie Heinrich mir das beschrieben hatte, in seinen Mundwinkeln, und ich war auch darauf vorbereitet, daß er leise stinkende Fürze von sich geben würde. Das Vaterland und immer wieder das Vaterland troff aus seiner Rede, wobei er unter dem Begriff weniger ein bewohnbares Stück Erde verstand als eine riesige Zuchtanstalt, in der jedem der Platz genau zugewiesen war, und auf dem hatte er sich zum höheren Ruhm der Anstalt und bei unbedingtem Gehorsam gegenüber den Zuchtmeistern zu bewähren. „Die Nationalsozialisten“, rief er, „haben das Grundund Lebensgesetz eines Volkes von Grund auf erkannt und nach ihm gehandelt. Was soll das Geschrei von Terror? Wenn es um das Volk geht, um Zucht und Ordnung, dann ist kein Mittel unerlaubt. Verweichlichung ist die Mutter allen Untergangs. Als die römische Republik die Tugenden der Väter zu verleugnen begann …“ Seltsam, dachte ich, wie die Pauker alle auf ein und dieselbe Weise ihre Weisheiten verpacken. Ich hatte Frobenius nicht als Lehrer gehabt, aber der Unsinn von der katastrophalen Folge der Sittenverwilderung im alten Rom war mir auch eingebleut worden, von einem recht angenehmen schwäbelnden Mann, der bei der Fronleichnamsprozession am Baldachin mittrug. Allmählich befürchtete ich, mir einen Hirnkrampf bei der angestrengten Überlegung einzuhandeln, wie ich 196
diesen völkischen Lautsprecher abstellen konnte. Ich enthielt mich schon jeder Stellungnahme, um ihn nicht zum Widerspruch aufzureizen oder ihm gar Gelegenheit zu geben, meine Worte als Zustimmung aufzufassen, und hustete statt dessen. Ohne Erfolg. Erst als er, nachdem er die Überfremdung des Völkischen durch Fremdstämmige gebührend herausgestrichen hatte, mit knapp gewordenem Atem zu seinem Schreibtischsessel ging, auf dem er sich dann still und blaß niederließ, versiegte der Redestrom. Aber seine wäßrigen Augen blitzten noch, und sie blitzten mich an, voller Befriedigung. Ich glaube, er war mir dankbar, daß ich ihm Gelegenheit gegeben hatte, völkische Luft abzulassen. Ich ergriff die Gelegenheit und sagte: „Sehr interessant. Aber Sie wollten mir doch vom Paulus-Gymnasium berichten, wie Sie es noch gekannt haben.“ „Ach so, ja.“ Er wischte sich mit einem Taschentuch den Speichel aus den Mundwinkeln. „Wie gesagt, ich habe zwoundzwanzig da angefangen als Referendar, und ich bin ihm treu geblieben bis zum Zusammenbruch. Die ganze Systemzeit durch …“ Ich mußte die Sache fester in die Hand nehmen, sonst bekam ich den schon einmal breitgetretenen Quark wieder vorgesetzt. „Erinnern Sie sich“, fragte ich, „nicht an einige besonders schöne Erlebnisse, die unsere Leser interessieren könnten?“ „Erlebnisse, ja.“ Auf seinem Gesicht spiegelte sich die Anstrengung, die es ihn kostete, einige Fetzen Realität aus den Winkeln seines Hirns zusammenzufegen. „Der Kriegsausbruch neununddreißig“, sagte er dann. „Wir waren alle in der Aula versammelt und hörten die Rede des Führers. Die Stimmung ist unbeschreibbar. ‚Heilig Vaterland‘ wurde gesungen. Kennen Sie das Lied?“ 197
Ich blies die Backen auf. War denn mit dem Mann kein vernünftiges Wort zu wechseln? Und wie überhaupt sollte ich ihn auf das Thema lenken, das allein mich interessierte? Ich versuchte es mit einer frontalen Attacke: „Ich kannte übrigens einen, der war ein Schüler von Ihnen.“ „So?“ Er beäugte mich mißtrauisch. Anscheinend war er nicht davon überzeugt, daß alle seine Zöglinge, die er aus Knaben zu bewährten Männern gemacht hatte, später nur Freundliches über ihn zum besten gaben. „Ich hatte viele Schüler, prächtige Jungs darunter, aber natürlich auch Haderlumpen.“ „Er hieß Heinrich Küpper.“ Gespannt beobachtete ich sein Gesicht. Wie würde es sich verändern? Ich wurde enttäuscht. Frobenius verzog keine Miene. Er sagte nur: „Schlechter Schüler. Schlechte Erbmasse wahrscheinlich.“ Sollte der Mann schon so vergreist sein, daß er sich nicht mehr daran erinnerte, was diesem Heinrich Küpper vor einer knappen Woche zugestoßen war, bei einer Gesellschaft, an der er selber teilgenommen hatte? „Aber Sie erinnern sich doch noch an ihn?“ forschte ich weiter. „Natürlich. Er hat mir ja genug Scherereien gemacht.“ „In der Schule?“ „Auch später.“ „Später?“ „Das geht Sie nichts an.“ Das war nicht unfreundlich gesagt, klang mehr wie eine Feststellung, die freilich mit der Autorität eines Befehlenden getroffen wurde. Ich ließ mich nicht abschrecken und sagte: „Er hat immer freundlich von Ihnen geredet.“ Jetzt zeigte Frobenius Verblüffung. Sein Unterkiefer sackte nach unten, und zwei Reihen perlweißer falscher 198
Zähne wurden sichtbar. „Irren Sie sich da nicht, junger Mann?“ fragte er zögernd „Er hat besonders Ihren Deutschunterricht sehr gelobt.“ „Fünfen am laufenden Band hat er sich bei mir eingehandelt.“ Heinrich mußte sich sehr tief in sein Gedächtnis gegraben haben, wenn Frobenius sich jetzt noch an schlechte Zensuren erinnerte, die er ihm verabreicht hatte. „Der belügt Sie. Glauben Sie ihm kein Wort mehr.“ „Heinrich Küpper ist tot“, erinnerte ich ihn verblüfft. „Ach so, ja, ich weiß.“ Und nach dem nächsten Atemzug sagte er: „Aber das wird Ihre Leser kaum interessieren.“ Ich mußte ihn beim Thema halten, und so wandte ich ein: „Aber vielleicht mich. Ich kannte Küpper doch …“ „Da haben Sie einen der unwürdigsten Menschen gekannt.“ Seine Stimme bebte jetzt vor Abscheu. „Vergessen Sie ihn so schnell wie möglich. Ich bemühe mich auch darum.“ So einfach war das für den Herrn Studienrat i. R. Frobenius. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte ihm gesagt, was ich von ihm und seinem mörderischen nationalistischen Stumpfsinn hielt und was von Heinrich Küpper, dem „unwürdigen Menschen“. Aber ich durfte mich nicht zu so etwas hinreißen lassen. Ich fragte nur, vielleicht lauter als nötig: „Haben Sie auch die Angelegenheit mit Gersdorff vergessen?“ Zuerst dachte ich, Frobenius kippt um. Wachsbleich lehnte er sich im Schreibtischsessel zurück, seine Hände fuhren sinnlos auf der Tischplatte hin und her, um Nase und Mund breitete sich ein Zucken aus, das sich bis zu veitstanzähnlichen Grimassen steigerte. Ich hörte einige Sekunden lang das Ticken eines Regulators, der irgendwo hinter mir hängen mußte. „Was wissen Sie von Gersdorff?“ fragte Frobenius 199
tonlos. Dann begann er zu schreien: „Heraus mit der Sprache: Was wissen Sie von Gersdorff?“ Unwillkürlich war ich aufgestanden, als er zu schreien angefangen hatte, und auch er erhob sich, schwer auf die Fäuste gestützt. Zwischen uns war der löwentatzige Schreibtisch, über den hinweg er mich mit beängstigend vorquellenden Augen anglotzte. „Was Küpper mir über ihn gesagt hat.“ „Hat er Ihnen auch gesagt, was das für ein Charakter war, dieser Herr Doktor Gersdorff?“ Noch immer stützte Frobenius sich auf seine Fäuste, die allmählich weiß zu werden begannen. „Das war ein genauso unwürdiger Mensch wie Küpper, ein Schuft, ein ehrvergessenes Subjekt, jawoll, nicht wert, ein Lehrer genannt zu werden. Männer wie Gersdorff sind schuld daran, daß aus Kindern Küppers werden können.“ Meine Spannung stieg auf den Siedepunkt. Ich wagte kaum zu atmen und stand stocksteif. Mach jetzt nur keine Bewegung, die ihn ablenken könnte, schoß es mir durch den Kopf. „Der hatte viel auf dem Gewissen, so manchen hat der zu vergiften versucht.“ Ich wartete, daß Frobenius fortfahren würde. Aber die Erregung hatte ihm derart zugesetzt, daß ihm die Sprache versagte. Er schnappte noch zwei-, dreimal nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, ehe er sich wieder in seinen Sessel fallen ließ. Dann saß er mit gesenktem Kopf, ein paar Haare standen grotesk in die Höhe. Als er mich wieder ansah, waren seine Augenbälle blutdurchschossen, sein Teint hatte ins Grünliche gewechselt. „Sind Sie wirklich von der Zeitung?“ fragte er leise, wie nach einer übermenschlichen Anstrengung. „Hier ist mein Ausweis.“ Ich griff nach meiner Brieftasche. Er winkte müde ab. „Schon gut“, sagte er. „Die 200
Vergangenheit beutelt einen manchmal heftiger, als die Gegenwart es kann. Entschuldigen Sie mich jetzt. Frau Winzer wird Sie hinausbegleiten. Auf Wiedersehen.“ Ich erkannte, daß hier nichts mehr zu erfahren war, für den Moment wenigstens nichts. „Was ist denn los, Herr Doktor?“ Die alte Dame, die mich empfangen hatte, wieselte ins Zimmer. Offensichtlich war sie durch Frobenius’ Schreien alarmiert worden. „Herr Doktor! Ist Ihnen nicht wohl?“ Sie eilte zu ihm und machte sich an seinem Hemdkragen zu schaffen. Dabei warf sie mir über die Schulter einen anklagenden Blick zu. „Gehen Sie“, sagte sie. Ich machte auf dem Absatz kehrt und suchte meinen Weg aus der Wohnung und aus dem Haus. Auf der Straße nahm ich zunächst nichts wahr. Erst als ich in belebtere Gegenden kam, erwachte ich aus meinen Gedanken, die um den Satz kreisten, den ich einmal irgendwo gelesen hatte: „Der Zufall ist der Clown der Möglichkeiten.“ Fast dankbar schnupperte ich dem Dieselgestank eines Lastwagens nach. Hier war wenigstens Wirklichkeit, wenn auch übelriechende. Ich hatte plötzlich – ich wußte nicht wieso – Sehnsucht nach der Redaktion. Vielleicht brauchte ich wieder mal einen Menschen, der nichts mit Küppers Tod zu tun hatte. Außerdem mußte ich mich ohnehin dort sehen lassen, und sei’s auch nur, um mitzuteilen, daß der versprochene Artikel bald anrollen würde. Der Urlaub, den Kaminski mir bewilligt hatte, war schon zur Hälfte vergangen. Als ich in die Brüderstraße einbog, schlug es zwölf von Sankt Mauritius. Der Pförtner sagte: „Na, Herr Schweizer?“ Wie jedesmal, wenn ich an ihm vorüber201
ging. Vilshofen sah ich schon durch die Glastür. Er ging hin und her und schien etwas zu diktieren. Ich ging ins Zimmer, und Vilshofen blieb mit einem Ruck stehen. Er blickte mich an, als käme ich von einer langen Reise zurück. „Wieder mal hier?“ fragte er überflüssigerweise. „Mal guten Tag sagen.“ „Guten Tag.“ Angenehm war der Empfang nicht, aber bei Vilshofen war ich an Unfreundlichkeiten gewöhnt. „Wie geht denn hier alles so?“ „Danke der Nachfrage.“ Vilshofen legte die Manuskriptseite, die er in der Hand hielt, auf den Schreibtisch und suchte unter den anderen Papieren herum. Dabei sagte er, mit dem Rücken zu mir: „Ich an Ihrer Stelle würde mal gleich zu Kaminski gehen.“ „Ist was?“ „Kann sein.“ Er kehrte mir noch immer den Rücken zu. Ich sah zur Sekretärin hinüber, die mit Stenogrammblock und Bleistift an dem kleinen Tisch saß, an dem wir immer frühstückten. Sie zuckte nur mit den Schultern. „Na, gehen Sie schon.“ Vilshofen sah mich wieder an. Seine Brillengläser funkelten. Kaminski empfing mich lächelnd wie immer. Er bot mir eine Zigarette an und sagte, als ich ablehnte: „Stimmt ja, du rauchst nicht mehr.“ Er zündete sich seine Zigarette an, blickte der ersten Rauchwolke nach, und dann musterte er seine Fingernägel. „Mit dem Artikel bin ich noch nicht soweit“, sagte ich, um das Schweigen zu beenden. „Das hat Zeit.“ Kaminski stieß den Rauch mit leisem Pfeifen durch die Zähne. „Aber schön, daß du gekommen bist. Ich wollte dich sowieso anrufen.“ 202
Ich witterte, daß etwas in der Luft lag, und fragte so unbefangen, wie es mir möglich war: „Gibt es etwas Eiliges?“ „Nichts Eiliges in dem Sinn.“ Wieder machte er eine Pause, ehe er fortfuhr: „Du hast mir doch am Montag etwas von einer Sache erzählt, in die du dich hängen wolltest. Möglicherweise sollte etwas für unser Blatt dabei herausschauen. Bist du der Geschichte eigentlich nachgegangen?“ „Natürlich. Und du wirst dich wundern, wenn ich dir erzähle, was ich alles …“ „Ich wundere mich schon.“ Kaminski zerdrückte die gerade erst angerauchte Zigarette im Aschenbecher. „Sag mal, du bist doch kein heuriger Hase im Geschäft. Und du weißt doch, wie man sich als Journalist in der Öffentlichkeit zu bewegen hat.“ Ich versuchte es mit einem Scherz. „Ich habe ja schließlich dein Handbuch gelesen.“ Kaminski verzog keine Miene. Ich mußte in eine andere Tonart überwechseln, wenn ich nicht weiter mitsingen wollte. „Mach nicht ein Gesicht, als wenn du mit dem Papst persönlich gesprochen hättest“, sagte ich. „Worüber wunderst du dich?“ „Darüber, daß du nicht genügend Grips hast.“ Dann stellte er seine Stimme auf warm. „Mensch, Clemens, das ist kein Kinderspiel. Der Alte ist heute morgen hier hereingeschneit gekommen.“ Er wies mit einer Kopfbewegung auf den Ölschinken überm Schreibtisch, als hinge da das Konterfei von unserer Perle von Chef und nicht das von dessen berühmtem Urgroßvater. „Du machst dir keine Vorstellung davon, wie der rumgetobt hat. Deinetwegen.“ Ich stellte mir trotzdem vor, wie der Alte sich aufgeführt hatte. Daß er getobt haben sollte, nahm ich Kamin203
ski nicht ab. Das hatte der nur angestrickt, um mir eine Gänsehaut anzuhexen. Mit Kaminski tobt nämlich keiner, weil er eine feine Art hat, den Leuten seine Überlegenheit von vornherein zu zeigen, ob er nun überlegen ist oder nicht. Also, der Alte wird gesagt haben: Werfen Sie mal ein Auge auf den Schweizer, der macht Ärger; das hab’ ich gestern im Club erfahren. Aber auch das schmeckte mir nicht. Warum so kompliziert, dachte ich, warum den Alten erst ins Spiel bringen? Kaminski kennt doch zwei von den Freunden Heinrichs, aus dem St.Georgs-Club, diesem piekfeinen Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Tradition zu pflegen und Demokratie zu fördern, auf die exklusive Masche, versteht sich. Da konnte Hochwürden Humbach ihm doch einen Wink gegeben haben oder Direktor Stocksiepen, der Mann mit der angenehmen Stimme. Kaminski deutete mein Schweigen falsch, und so wurde er jovial und sagte: „Ich weiß ja, wie furchtbar leicht man in so etwas reinschlittern kann.“ „In was?“ „Die können dir einen Prozeß wegen versuchter Erpressung anhängen.“ Das sagte er mit kummerdurchwebter Stimme, so als ob ihm nichts auf der Welt mehr Sorgen machte als mein Wohlbefinden. „Überleg dir das mal.“ Ich blieb stur, „unbußfertig“ nennt man das wohl in der Sprache der Theologen und Juristen. „Sollen sie mich doch anzeigen.“ Eine gelassene Heiterkeit breitete sich in mir aus. Für wie dumm hielt mich Kaminski eigentlich? Daß er mir mit solchen Mätzchen kam, stellte mir eigentlich kein gutes Zeugnis aus. Wenn einer zweiter Lokalredakteur an einem Provinzblatt ist, vielmehr geblieben ist, dann muß er doch nicht unbedingt ein Trottel sein. Oder doch? 204
Kaminski fuhr sich inzwischen ein paarmal durchs eisengraue Haar, doch so, daß keine wirkliche Unordnung angerichtet wurde. Mit der Geste wollte er wahrscheinlich andeuten, wie verzwickt die ganze Angelegenheit war, auch für ihn und vor allem für ihn. Dann neigte er den Kopf zur Seite, betrachtete mich eindringlich, fast liebevoll und sagte: „Du bist unklug.“ Unklug, nicht etwa dumm, einfach nicht klug. „Das hat meine Mutter auch schon immer gesagt, wenn sie mich beim Lügen erwischte.“ Er beachtete meinen Einwurf nicht, sondern erklärte mir, warum ich unklug war. „Überleg mal: Lohnt die Sache, in die du dich da eingelassen hast, überhaupt den Aufwand? Zu Geld kannst du auch in deinem Beruf kommen, zu soliderem Geld.“ Soweit also war er informiert! Ich hatte gute Lust, ihm vorzurechnen, wie lange ich an seinem Blatt arbeiten mußte, um fünfzehnhundert Mark zusammenzubekommen. Aber ich verkniff es mir. „Du glaubst das also mit dem Geld?“ „Mit welchem Geld?“ Vielleicht hatte er gemerkt, daß er zu weit gegangen war, als er von dem Geld sprach, das ich mir auch auf anständige Weise verdienen könnte. „Ich meinte nur, daß du deine Stellung nicht leichtfertig aufs Spiel setzen solltest.“ „Tu’ ich das?“ „Der Alte hat gesagt, er könne keinen Mitarbeiter brauchen, der in der Gegend herumrennt und anständige Leute belästigt.“ Kaminskis ebenmäßiges Gesicht legte sich in einige Kummerfalten, die genauso angenehm anzusehen waren wie seine glatte Visage. „Und mir hat er einen Rüffel verpaßt, weil ich dir freigegeben habe, für so etwas. Da kannst du dir vorstellen, in 205
was für einer dummen Lage ich bin.“ Ich konnte es mir nicht vorstellen, sagte aber trotzdem: „Das tut mir leid.“ Er wurde wieder fröhlicher, weil er meinen Satz als Beginn eines Einlenkens deutete, fuhr sich unter leisem Stöhnen mit der flachen Hand übers Gesicht, von der Stirn bis zum Kinn, und die Kummerfalten waren weg. Den Trick wollte ich mir merken, mit dem konnte man beim Bier für Unterhaltung sorgen. Fast tat es mir leid, daß ich ihn enttäuschen mußte; denn ich sah auf mich zukommen, was er mir in der nächsten Sekunde vorschlagen würde. „Das Kind ist ja, Gott sei Dank, noch nicht im Brunnen. Allerdings“, er räusperte sich, um dem folgenden das nötige Gewicht zu geben, „müßtest du die Sache aufgeben – hat der Alte gesagt – und ab sofort wieder Dienst in der Redaktion tun.“ „Hat der Alte gesagt.“ „Genau.“ Er ignorierte den Spott in meinen Worten. „Ab sofort, hat der Alte gesagt.“ „Du hast mir aber doch Arbeitsurlaub gegeben, wegen dem Artikel über die Gastarbeiter.“ „Das hat Zeit.“ Er warf das Projekt mit einer großzügigen Geste in eine weite Zukunft. „Das läuft uns nicht weg. Trouble mit den Itakas werden wir noch lange haben. So was bleibt aktuell. Wichtig ist jetzt erst einmal, daß Gras über deine Sache wächst. Ich schlage vor, du bleibst gleich hier. Vilshofen jammert mir sowieso schon die Ohren voll, daß er ohne dich nicht auskommt.“ Das hätte es denn nun sein können: Braver Zeitungsmensch versucht Ausbruch, wird zurückgepfiffen und verspricht, gegen Zusicherung von guter Behandlung, weiterhin brav zu sein. Aber ich hatte inzwischen ein paar Leute kennengelernt, die mich nicht um ihrer selbst 206
willen interessierten, und in meinem Wäscheschrank steckten zwei Fünfhundertmarkscheine und fünf Hunderter, als Anzahlung sozusagen, und im Elisabeth-Hospital lag Maria mit einer Gehirnerschütterung. Und dann war ich einer Sache auf der Spur, die mit einem Lehrer zusammenhing. Hier konnte nicht einfach der Vorhang über eine Episode von geringem Gewicht fallen. Ich ließ mir Zeit mit meiner Antwort. Schließlich gab es einiges zu überdenken. „Man schüttet das schmutzige Wasser nicht weg“, hätte meine Mutter in solchen Fällen gesagt, „wenn man kein sauberes hat.“ Diese schmuddelige Volksweisheit war durchaus bedenkenswert. Was sollte ich für den Fall anfangen, daß man mir beim „Stadtboten“ den Stuhl vor die Tür stellte? Ich wußte: wenn du jetzt nicht ein „Na gut, machen wir’s eben so“ von dir gibst, bist du die längste Zeit Redakteur an dieser Zeitung gewesen. Und so ein Rausschmiß hatte natürlich auch Folgen. Ich kannte einen, der hatte sich mit seinem Verleger überworfen, wegen irgendeiner Kleinigkeit, die, mit meiner Angelegenheit verglichen, harmlos war; der hatte sich die Hacken abgelaufen nach einer neuen Anstellung, im ganzen Land. Jetzt war er Vertreter für Babynahrung. Ich merkte, wie so etwas wie Defätismus über mich zu kommen drohte, einer von der schofelsten Sorte, unter dessen Einfluß man alles aufgibt, was man an Prinzipien und Hoffnungen noch hat, nur um die Haut zu retten oder vielleicht auch nur das Hemd auf der Haut. Aber ich wehrte mich dagegen. Das war beileibe kein Akt des Heldentums, das war die schiere Verzweiflung. Heinrich Küppers Tod und alles, was damit zusammenhing, war, ohne daß ich es forciert hätte, zum Prüfstein für mich geworden. 207
Längst schon dachte ich nicht mehr daran, mir mit Enthüllungen in diesem Fall eine wirklich erfolgreiche journalistische Karriere zu eröffnen, und darum kränkte mich Kaminskis schroffe Art nicht, mit der er mich von dem zurückzuhalten suchte, was er für den Fehler meines Lebens hielt. Der Mann Heinrich Küpper, den ich nur so kurz gekannt hatte, und sein Tod, das war für mich so wichtig geworden, daß ich mir nicht mehr vorstellen konnte, wie ich alles zu den Akten hätte legen, wie ich alles hätte vergessen können. Das und nichts anderes wäre der Fehler meines Lebens gewesen. „Dann werde ich eben Vertreter“, hörte ich mich sagen. „Was heißt das?“ Kaminski konnte meinen Gedankengang nicht nachvollzogen haben, und das gab mir einen kleinen Triumph. „Entweder du gestehst mir zu, daß ich innerhalb der acht Tage den Artikel schreibe …“ „Aber dir geht es doch nicht um den Artikel!“ fuhr Kaminski dazwischen, plötzlich sehr ungehalten. „… oder dieses Scheißblatt kann mir gestohlen bleiben.“ Kaminski sah mich bekümmert an. „Clemens, hast du dir das auch genau überlegt?“ „Ihr könnt es euch noch mal genau überlegen.“ Jetzt, nachdem ich mich entschieden hatte, stieg mein Selbstbewußtsein wie ein Ballon bei starkem Aufwind. „Ich komme am Montag vorbei. Dann können wir alles noch einmal durchsprechen. Den Artikel bringe ich mit.“ Auf dem Gang blieb ich erst einmal stehen und holte tief Luft. Über allem waren mir doch die Beine ein bißchen schlottrig geworden. Ich stützte mich mit einer Hand gegen die Wand. Der Gedanke, daß mich einer so sehen könnte, pulverte mich wieder auf. Langsam ging ich an den Türen vorüber. Als ich an der Sportredaktion 208
vorbeikam, dachte ich daran, daß der FC am nächsten Tag auswärts spielte. Wenn man da mitfahren konnte, gab’s ganz anständige Spesen, und auch auf den Artikel bekam man einen Zuschlag. Aber damit war es ja nun jetzt aus.
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13. Vor Heinrichs Haus stand ein Möbelwagen. Zwei Männer mit blaugestreiften Blusen waren gerade dabei, Heinrichs Klavier aus der Haustür zu bugsieren. Ich stellte mich ein paar Schritt abseits und beobachtete eine Weile die Szene. Das Büfett folgte als nächstes Möbelstück, dann Kleinigkeiten, unter anderem eine Vergrößerungsapparatur von beträchtlichem Ausmaß, an der auch wieder zwei Männer schleppten. Ich wußte nicht, daß Heinrich sich auch mit Fotografieren abgegeben hatte. Und dann sah ich auch Wiskirchen, wie er rückwärts aus der Haustür kam und offensichtlich eine neue Ladung für den Wagen herauslotste. Als er sich umdrehte und mich vor sich sah, sagte er erst einmal nichts. Er starrte mich feindselig an, so wie man einen lästigen Burschen ansieht, der einem partout nicht von der Pelle geht. Ich konnte mir seine Gefühle für mich ganz gut ausmalen. „Kleiner Umzug?“ fragte ich, nur um etwas zu sagen. Wiskirchen würdigte mich keiner Antwort. Er tat so, als müsse er den erfahrenen Möbelpackern durch Zeichen Anweisung geben, wie so etwas zu transportieren ist. Allmählich fand ich Gefallen daran, ihn zu belästigen. „Weiß übrigens Fräulein Klein davon, was hier vor sich geht?“ „Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten.“ Wiskirchen schien nahe daran, die Beherrschung vollends zu verlieren. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Jetzt, da ich auch noch bei der Räumung von Küppers Haus auftauchte, mußte ja der Verfolgungswahn in ihm wuchern. Sein weißer Bart schien mir zu zittern. Das konnte aber auch Folge des unfreundlichen Winds sein, der an diesem Mittag wehte. „Ich glaube, das ist meine Angelegenheit.“ Ich log dreist drauflos. „Fräulein Klein hat mich nämlich beauf210
tragt, ein Auge auf ihre Sachen zu haben, solange sie – nun, sagen wir – abwesend sein muß.“ „Hier geschieht nichts, was meine Frau oder ich nicht angeordnet haben.“ „Eben.“ Das Wort brachte das Faß seines Unwillens zum Überlaufen. „Herr, was erlauben Sie sich!“ schrie er mich an, und für Bruchteile von Sekunden sah ich nackte Mordlust in seinen Augen. Vom Wagen her blickten zwei Gesichter in unsere Richtung, neugierig, aber nicht sehr freundlich. „Beruhigen Sie sich“, sagte ich vorbeugend. „Fräulein Kleins Zimmer haben wir selbstverständlich überhaupt nicht angerührt“, sagte Wiskirchen im Ton eines beleidigten Ehrenmanns. „Das will ich auch hoffen.“ „Überzeugen Sie sich doch selber.“ Er wies mit einladender Handbewegung auf die Haustür. Das war mehr, als ich erwartet hatte. Anscheinend war ich jetzt in den Augen dieser Leute endgültig einer geworden, dem man zwar nicht mit Respekt, aber doch mit Vorsicht zu begegnen hatte. Ich fühlte mich einen Moment lang wie ein Mann, der eine Stange Dynamit in der Tasche hat und den keiner anzugreifen wagt, weil jeder befürchten muß, selber in die Luft zu gehen. Entsprechend gewichtig war mein Gang, als ich auf die Tür zuschritt. Die Zimmer sahen so trostlos aus, wie Zimmer nach dem Aufräumen auszusehen pflegen; fast geniert man sich, auf die kahlen Wände zu sehen, die noch Spuren vom Leben dessen, der in ihnen gehaust hat, an sich tragen. Da hatte der Sekretär gestanden, in dem ich die Entdeckung gemacht hatte, die mich jetzt noch beschäftigte, dort das Büfett, gegenüber das eierkistenförmige Klavier, 211
auf dem Heinrich „O holde Kunst“ und „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ geklimpert hatte. Wo sich der helle Fleck von der gedunkelten Tapete abhob, waren die „Reiter am Strand“ zu sehen gewesen und neben der Tür das Bildnis des Briefträgers von Arles. Mich überkam die Art von Sentimentalität, die einem das Schlucken schwer macht, und ich ging in den Korridor zurück. Hier gab es noch drei Türen. Die eine stand sperrangelweit offen und ließ in ein jetzt gleichfalls ausgeräumtes Zimmer sehen – offensichtlich in Heinrichs Schlafzimmer; die zweite Tür führte in eine fensterlose Kammer, von deren Decke noch eine blau gepinselte Glühbirne unter einem flachen Emailleschirm herabhing; die dritte Tür schließlich war geschlossen. Ich drückte die Klinke hinunter und blickte in einen Raum, den ich mir so ganz anders vorgestellt hatte. Keine Spur von Boudoir, nichts, was darauf hindeutete, daß hier eine Frau wohnte, außer vielleicht dem Sekretär, der unterm Fenster stand. Der aber wieder paßte in seiner biedermeierlichen Zerbrechlichkeit so gar nicht zu Maria, der handfesten Frau. Eine Couch, ein kleiner Tisch, ein moderner Wäscheschrank, der eher wie ein Aktenmöbel aussah, zwei Sesselchen, an der Wand eine japanische Landschaft, ein Bord mit ein paar Büchern, hinter der Couch eine Binsenmatte, wohl zur Schonung der Tapete angebracht. Wenn man von dem Sekretär absah, gab es nichts, was einen anderen Schluß zuließ als typische Junggesellenbude. Ich war ein bißchen enttäuscht. Als ich die Schranktür aufmachte, quoll mir ein Wust von Textilien entgegen: Handtücher, Dessous, Pullover. Man hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, das Zeug wieder ordentlich an seinen Platz zu packen. Man? Wer 212
war „man?“ Und hatte „man“ sich die Mühe machen können? Vielleicht war „man“ durch Marias Nachhausekommen Mittwoch nacht gestört worden und hatte sie dann niedergeschlagen. Vielleicht. Aber was „man“ auch gesucht haben mochte, „man“ konnte es nicht gefunden haben. Sonst gäbe es nicht nach wie vor starkes Interesse an mir. Aber es war ebenfalls sinnlos, auch nur noch eine Minute an eine neuerliche Durchsuchung der Fächer zu verschwenden. Wer hier am Werk gewesen war, der war gründlich am Werk gewesen. Nachdenklich und mißvergnügt klappte ich die Schranktür zu und ging aus der Wohnung. Als ich wieder auf die Straße trat, hatten die Möbelmänner ihr Werk bereits vollbracht und waren dabei, die hintere Tür des Wagens mit einem Vorhängeschloß zu sichern. Herr Wiskirchen stand, ein Schlüsselbund in der Hand, auf dem Trottoir. Er wartete augenscheinlich auf mich. „Sie wissen wohl nicht“, fragte ich ihn, „ob in den letzten Tagen hier eingebrochen worden ist?“ Er begriff sofort, worauf ich hinauswollte. Das stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Alle Schlösser waren heil“, sagte er mit Genugtuung in der Stimme. „Und wie viele Schlüssel gibt es zu der Wohnung?“ Ich wartete seine Antwort nicht ab. Ich glaubte ohnehin genug zu wissen und hatte ihm nur noch etwas zum Nachdenken auf den Heimweg geben wollen. Wenn mir etwas besonders Unappetitliches untergekommen ist, bekomme ich Lust auf ein Bad. So erging es mir auch an diesem Freitag. Ich konnte nicht schnell genug nach Hause kommen, und fast hätte ich ein vorüberfahrendes Taxi herangewinkt. Zu meinem Glück besann ich mich noch rechtzeitig auf die Schwindsucht in meinem Portemonnaie, und ich machte meine 213
Schritte länger. Nur einmal hielt ich mich eine Minute lang auf. Das war an einer Litfaßsäule, an der ein Theaterplan aushing. Um neunzehn Uhr dreißig fing „Maria Stuart“ an. Das hätte mich sonst kalt gelassen; aber unter den Mitwirkenden war auch der Name Karl Günther aufgeführt. Gerade das hatte ich wissen wollen, und den Rest des Wegs stimmte ich mich darauf ein, mir ein Stück anzusehen, das mir die Schule zwar zum Greuel gemacht hatte, auf das ich jetzt dennoch neugierig war. Ich huldigte nämlich der Anschauung, daß man Schauspieler am besten am Arbeitsplatz kennenlernen könne; im Privatleben gäben sie sich zu unnatürlich. Im Briefkasten fand ich einen weißen Umschlag, handgeschöpft Bütten, ohne Briefmarke. Den mußte ein Bote gebracht haben. Auf der Karte, auch sie handgeschöpft Bütten, war in schön geschwungenen Lettern gedruckt: Herr Markus Stocksiepen und Gemahlin geben sich die Ehre – es folgte, handgeschrieben, mein Name nebst einem davorgesetzten „Herrn“ –, für den 7. November, 20 Uhr, zu einer Abendgesellschaft einzuladen. Und in der rechten unteren Ecke stand neben der Adresse von derselben Handschrift: „Erwarte Sie bestimmt. Stocksiepen.“ Vor Überraschung hätte ich mich fast auf die Treppe gesetzt. Man lud mich zu einer Abendgesellschaft ein! Zwar nicht in der lauteren Absicht, mit mir einige Stunden gedämpft über Nichtigkeiten zu verplaudern, aber immerhin: Man lud mich ein. Ziemlich verwirrt stieg ich zu meiner Wohnung hoch und ließ Wasser in die Wanne. Während ich noch, schaumbedeckt, darüber nachdachte, was einem durchschnittlich begabten jungen 214
Mann alles an einem Tag widerfahren kann, drängte sich mir die Überlegung auf, daß man zu feinen Leuten auch anständig angezogen gehen müsse. Nun konnte ich aber Herrn Stocksiepen nebst Gemahlin wie auch die Gäste unmöglich mit einem Mann konfrontieren, dessen bester Anzug schon zwei Jahre alt und beileibe nicht gemacht war, auf einer Soiree getragen zu werden. Blieb nur der Kostümverleih, den ich vor einigen Jahren frequentiert hatte, um als Pascha zu einem Fastnachtsball gehen zu können. Die hatten sicherlich auch Abendanzüge zu verleihen. Blieb die Geldfrage. Der Verleiher würde eine Kaution verlangen. Selbst die Leihgebühr, auch wenn sie noch so niedrig sein sollte, überstieg meinen Etat. Ich zögerte lange, ehe ich, jetzt wieder mit Hemd und Unterhose bekleidet, an meinen Wäscheschrank ging und das Kuvert mit Frau Wiskirchens Banknoten öffnete. Schließlich sollten die Leute, die mich zu teurer Verkleidung zwangen, ruhig auch die Kosten tragen. Der Kostümverleiher fragte mich: „Cut, Frack, Smoking?“ „Es ist für eine Abendgesellschaft“, sagte ich unsicher. „Also dann Smoking.“ Er suchte einen heraus, der mir fast paßte, kassierte dreihundert Mark Pfand und die Leihgebühren für drei Tage im voraus. Auf dem Weg in meine Wohnung kaufte ich mir noch ein Frackhemd und den dazugehörigen Binder. Die Ausgaben notierte ich säuberlich auf einen Zettel, den ich zu den restlichen Banknoten legte. Die Aufregungen und Abwechslungen des Tages hatten mich das Essen vergessen lassen, so daß mich der Hunger gegen Abend heftig anfiel. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich nicht auch ein Abendessen im Restaurant auf 215
die Spesenrechnung setzen sollte, fand dann aber, das sei zuviel der Sittenverderbnis, an der das alte Rom schon zugrunde gegangen war, und verzehrte ein paar Butterbrote und trank eine Flasche Bier, um das Dreistundenschicksal der schottischen Königin überstehen zu können. Unser altes Stadttheater ist ein scheußlicher Bau gewesen, bei dessen Entwurf und Ausführung sich imperiale Großmannssucht ausgetobt hatte. Zur Befriedigung vieler wurde es im Krieg von Bomben zerstört. Unser neues Stadttheater ist auf andere Weise ein scheußlicher Bau. Mit puritanischer Betonstrenge machte sich in den fünfziger Jahren ein Architektenteam daran, einen grauen Klotz hinzusetzen, für den die Leute schon vor der Eröffnung die Bezeichnung „Mimensilo“ fanden. Nun könnte man sich mit der Scheußlichkeit eines Theaterbaus leichter versöhnen, wenn das, was in ihm geboten wird, einigen Ansprüchen genügte. Aber der Verfasser der Broschüre vom Verkehrsamt schnitt gewaltig auf, wenn er von dem, was hier über die Bretter ging, behauptete, daß sich „der Geist einer weltoffenen und zu aller Zeit kunstliebenden Bürgerschaft“ in ihm aufs schönste manifestiere. Der Spielplan lief sich zwischen „Egmont“ und „Bezauberndes Fräulein“ wund, und als einmal ein Regisseur es wagte, Brechts „Guten Menschen von Sezuan“ auf die Szene zu bringen, wurden viele Abonnements gekündigt. Inzwischen ist ein bißchen absurdes Theater dazugekommen, und dann und wann wird einer von den wilden jungen Autoren gespielt; aber die Qualität der Aufführungen hat sich nicht verändert. An jenem Abend nach dem aufregenden Tag bekam ich so recht zu schmecken, wie strohig Klassikeraufführungen sein können. Da deklamierte jeder seins vor sich hin, machte Gänge, denen der Drill des Regisseurs 216
anzumerken war, und erging sich in Gesten, wie sie sich gekünstelter nicht denken lassen. Elisabeth trug natürlich eine rote Perücke und Maria natürlich ein weißes Kleid, das erst im letzten Akt gegen ein schwarzes mit attraktiver weißer Halskrause eingetauscht wurde. Aber schließlich war ich nicht gekommen, mich zu vergnügen. Ich hatte ein Rendezvous mit Karl Günther, auch wenn der nichts von seinem Glück wußte. Er spielte den Leicester und sprach dabei für meine Begriffe ein bißchen zu undeutlich, stellte aber dafür echtes Gefühl des Bühnenbrunnenvergifters für eindrucksvolle Auftritte und intrigante Blicke aus. Als sich der Lord dann zu Schiff nach Frankreich abgesetzt hatte, wartete ich den dünnen Applaus nicht bis zu Ende ab. Wie ein richtiger Theatermuffel drängte ich mich durch die Reihen und stürzte zur Garderobe. Am Bühneneingang stellte ich mich zwischen die jungen Mädchen und wartete. Günther erschien bald danach und trug ein Gesicht zur Schau, das ohne Schminke und von nahem besehen recht alt wirkte. Er blieb am Eingang stehen, bis er sich vergewissert hatte, daß keins der Mädchen auf ihn wartete, und setzte dann erst den ersten Schritt auf die Straße. Auch der sah aus, als ob er eingeübt wäre. „Herr Günther?“ „Ja, bitte.“ In seinen Augen lag Befriedigung, daß er doch noch angesprochen worden war. „Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen.“ „In welcher Angelegenheit?“ Vielleicht hielt er mich für einen Theateragenten und sprach deshalb so geschraubt. „Ich heiße Schweizer.“ Der Name schien ihm nichts zu sagen. Sollte er, wie Frobenius, noch nichts von der üblen Rolle gehört haben, 217
die ich in seinem Freundeskreis spielte? „Kennen wir uns?“ fragte er. Privatim war er kein besserer Schauspieler als auf der Bühne. Der Klang seiner Stimme verriet, daß er wieder mal bis über den Hals in einer Rolle steckte. „Sie müssen entschuldigen, ich habe nämlich ein äußerst schlechtes Gedächtnis. Schauspielerkrankheit.“ Er lächelte, als hätte er mich in ein Geheimnis eingeweiht. „Wir haben uns bei Heinrich Küppers Beerdigung gesehen.“ Vom Zusammentreffen im „Esplanade“ sagte ich nichts. Bei der Kürze der Begegnung hatte er mich da vielleicht überhaupt nicht registriert. Jetzt tat er so, als dämmerte es ihm. „Schweizer, ja …“, sagte er gedehnt. Und mit einemmal sah er im grellen Licht des Bühneneingangs noch viel faltiger aus. Er kniff die Augen zusammen und spreizte die Finger. „Ich wüßte nicht, was wir miteinander zu besprechen hätten.“ Ich wählte den entschlossensten Ton, den ich drauf hatte. „Ich schon.“ „Geld kann ich Ihnen nicht bieten.“ Er schien so seine eigene Vorstellung von Erpressern zu haben, die wahrscheinlich mehr in die Richtung auf Wegelagerer gingen. Sowenig schmeichelhaft die Antwort auch für mich war, ich blieb ruhig. Schließlich hatte ich ja inzwischen Gelegenheit genug gehabt, mich in meiner neuen Rolle zurechtzufinden. Ich sagte nur: „Es könnte wichtig für Sie sein.“ Das mußte eindringlich geklungen haben; denn plötzlich gab er sich einen sichtbaren Ruck und wandte sich mir voll zu. „Ich wollte ohnehin noch auf eine Stunde ins Theaterkasino. Kommen Sie mit. Wenn es Ihnen Spaß macht“, fügte er hinzu. Das Kasino war auf alt gemacht. Die Wände hatte man bis zur Schulterhöhe mit Paneel beklebt, Karrenräder, 218
besteckt mit Lampen, hingen von der Decke, und um blankgescheuerte Eichentische standen Sessel mit strohgeflochtenen Sitzen. Karl Günther Katzmann umkurvte die vollbesetzten Tische der vorderen Abteilung mit der nonchalanten Geschicklichkeit eines Kellners, der jeden Quadratzentimeter des Terrains kennt, und führte mich in eine Art Séparée hinter einem Bretterverschlag. „Für Kollegen“, sagte er und deutete auf einen der beiden Stühle an einem Zweiertisch, als ob er mir damit eine besondere Ehre zuteil werden ließ. Ich hängte meinen Trenchcoat an den Ständer, ehe ich mich setzte; er behielt seinen Kamelhaarüberzieher an, obwohl das Kasino geheizt war. Vielleicht wollte er damit demonstrieren, für wie kurz er unser Zusammentreffen hielt. Ich tat so, als bemerkte ich das nicht. Jetzt, da er den Hut abgenommen hatte, sah ich, daß sein Haar schütter war. Überhaupt wirkte der Mann, der in der Mitte der Vierziger stand, in dem augenfreundlicheren Licht der Gaststätte wie ein Greis. Seine knochigen Hände zitterten, der Mund stand einen Spalt breit offen, die Wangen waren eingefallen. Kaum daß er Platz genommen hatte, reckte er ungeduldig einen Arm hoch und rief: „Rosie!“ Rosie kam und war eine dralle Blondine mit einem Serviertuch überm Arm. Sie deutete einen Knicks an und wünschte in gekünstelt naivem Ton einen guten Abend. „Ein Fläschchen“, sagte Karl Günther Katzmann. „Mir auch“, fügte ich hinzu, da ich annahm, hier werde das Bier in Flaschen ausgeschenkt. Freundlicherweise bewahrte mich Katzmann vor einem schweren Irrtum. „Ich meine Kognak“, sagte er. Da bestellte ich lieber ein Bier und einen doppelten Korn. 219
Auch ohne daß eine große Flasche Weinbrand von einer obskuren Marke auf den Tisch gekommen wäre, hätte ich in Katzmann den Trinker erkannt, nach dem ersten Schluck, den er zu sich nahm. Es lag gesammelte Spannung in seinen Augen, und seine Hand zitterte nicht mehr, als er das Glas zum ersten Mal an die Lippen führte. Beim Trinken zuckte kein Muskel in seinem Gesicht, sein Adamsapfel bewegte sich kaum, und seine Augen schlossen sich. Er sah aus wie ein Cellospieler, der einem Ton nachlauscht. Sofort griff er wieder zur Flasche, goß sich das Glas wieder voll und trank auch dieses sofort leer. Dann erst rülpste er leicht und leckte sich die Lippen. „Waren Sie in der Vorstellung?“ fragte er frisch, und als ich das bejahte, wollte er wissen, wie er gewesen sei. Damit war ich einigermaßen in Verlegenheit gebracht, ich sagte diplomatisch: „Die Elisabeth war scheußlich.“ „Nicht wahr!“ Er strahlte mich an und trank schnell sein Glas noch einmal leer. Er schien vergessen zu haben, wer ich war und was mich zu dieser Stunde in das triste Kasino gebracht hatte. Er trank unentwegt, soff innerhalb einer Viertelstunde fast die Hälfte der Flasche aus. Seine Haut bekam Farbe, seine Augen verloren die Stumpfheit und das Unstete. Dabei schwadronierte er munter vor sich hin, unbesorgt darum, ob mich seine Geschichten vom Theater überhaupt unterhielten. Von Rollen sprach er vor allem, die er gespielt hatte oder noch gern spielen wollte. Ich hörte ihm eine Weile still zu, sah, wie der Flüssigkeitspegel in der Flasche sank, und vertraute im übrigen darauf, daß Katzmanns Mitteilungsbedürfnis vielleicht doch einmal versiegen würde. Es hörte wirklich auf, plötzlich, mitten im Satz. Er war gerade dabei, mir klarzumachen, wie er den Othello spielen würde, wenn man ihn an ihn ranließe, nämlich so 220
ganz anders und neu („Mehr nach innen, verstehen Sie?“), als er das für ihn schwierig gewordene Wort „Interpretation“ nicht beim ersten und auch nicht beim zweiten Anlauf über die Zunge brachte. Da schloß er die Augen, knautschte das Gesicht zusammen, als hätte er sich entschlossen, ein Nickerchen zu machen, und sagte nichts mehr. Die Flasche war bis auf ein Drittel geleert. Ich wartete ungefähr eine volle Minute, daß er weiterreden oder doch wenigstens die Augen öffnen oder sich bewegen würde. Er blieb starr und stumm. „Herr Günther“, sagte ich vorsichtig, als sei er delirös und in seinen Aktionen nach dem Erwachen unberechenbar, „ich möchte Sie einiges fragen, über Ihre Schulzeit und über Küpper.“ Von den Händen aus verbreitete sich wieder Leben in ihm. Die verschränkten Finger lösten sich auseinander, die Schultern zuckten leicht, er sagte leise, aber deutlich: „Jede Epoche der menschlichen Geschichte zerfällt in drei Phasen, in Aufstieg, Blüte, Untergang.“ Diese geschichtsphilosophische Weisheit hatte man ihm wahrscheinlich schon in der Sexta verpaßt, und sie wurzelte so tief in seinem Unterbewußtsein, daß sie bei Erwähnung der Schule jederzeit hochrülpste. „Über Küpper wollte ich mit Ihnen sprechen“, sagte ich eindringlicher, aber nicht übermäßig laut. Er riß die Hände hoch und preßte sie gegen die Ohren. „Ich bin nicht taub, lieber Herr.“ Wahrscheinlich litt er, wie manche Alkoholiker, an einer Überempfindlichkeit des Gehörs, wenn er „in“ war. „Heinrich war ein guter Junge, wenn Sie das wissen wollen.“ Jetzt öffnete er auch die Augen und sah melancholisch aus. „Er hat Mut gehabt, immer. Aber er war auch ein Schwein. Ein großes Schwein, das war er. Und eben das hätte ich ihm nie zugetraut.“ 221
Katzmann brach ab und griff wieder nach Flasche und Glas, die er jedoch nicht mehr richtig zu koordinieren verstand, so daß ein Teil der Flüssigkeit auf den Tisch plemperte. Am liebsten hätte ich ihm den Fusel aus den Händen genommen und ihn angebrüllt, er solle endlich zur Sache kommen. Aber die Tische hinter dem Verschlag waren inzwischen alle von Katzmanns Kollegen besetzt, einer von der Darstellerin der Maria, die ohne Schminke und Atlaskostüm mehr wie ein alt gewordenes Strichmädchen zwischen zwei Kundschaften aussah, und dem Mann, der ihren Kerkermeister Paulet gespielt hatte, einem typischen Laubenpieper im Winter. Sie und die anderen schienen zwar keine Notiz von uns zu nehmen, doch merkte ich wohl an gelegentlichen Blicken, die sie auf Katzmann schossen, daß sie alles registrierten, was zwischen uns geschah. Wäre ich laut geworden, es hätte sicherlich einen Eklat gegeben. So nahm ich ihn nur sacht am Ärmel und sagte: „Herr Günther!“ Katzmann schaute mich aus Augen an, die inzwischen wieder allen Glanz eingebüßt hatten. Die belebende Wirkung des Alkohols schien verflogen zu sein. Er sah aus wie ein gewöhnlicher Betrunkener, und so sprach er auch. Er sagte: „Heinrich war ein Schuft, auf seine Art, jawoll.“ Als er die Flasche gegen das Licht hob und sah, daß sie leer war, befürchtete ich eine Sekunde lang, er würde zu weinen anfangen. Hilfeheischend sah er sich nach dem Fräulein Rosie um, und als er sie nicht sofort entdeckte, rief er auf gut Glück in den Raum hinein: „Rosie! Noch ein Fläschchen!“ Dann wandte er sich wieder mir zu. „Früher, in der Schule, meine ich, habe ich Heinrich Küpper nie so recht verstanden. Ich habe gedacht wie alle: Heinrich ist ein Duckmäuser. Die hatten 222
uns ja allen Bretter vor die Köpfe genagelt, die Alten. Sieg Heil und so.“ Er versuchte den römischen Gruß, brachte die Hand aber nicht mehr hoch genug und hielt den Arm im Ellenbogen gewinkelt. „Und alles fürs Vaterland, und Hitlerjungen sind fanatisch dem Führer ergeben und was weiß ich noch. Wie die Wiesel, glaub’ ich. Oder waren es Windhunde? Und für jeden richtigen Jungen sollte es nichts Schöneres geben, als Soldat zu sein für Großdeutschland.“ Es fiel mir reichlich schwer, mich auf die mehr genuschelt vorgetragenen und sprunghaften Gedanken Katzmanns zu konzentrieren. Es war zwar erstaunlich, daß er nach dem, was er in sich hineingegossen hatte, noch nicht lallend unterm Tisch lag; aber man merkte jetzt doch deutlich, daß das „Fläschchen“ seine tiefen Spuren hinterlassen hatte. Ich fürchtete um den Ertrag des Gesprächs, doch kam ich nicht dazu, korrigierend einzugreifen. Als seien nun die Schleusen seiner Beredsamkeit geöffnet, sprach er schnell und ohne zu stocken weiter. „Stocksiepen, die Feinen, mein’ ich, die haben sich so was zurechtgedacht, von wegen, daß wir eine Elite wären und ein Orden. Und daß wir eine heilige Aufgabe zu erfüllen hätten. Auch der Humbach hat so getönt. Aber der hat dazu immer noch seinen Jesus druntergemengt. Erstaunlich, wie das bei dem klappte. Und der Jesus war dann auch plötzlich kein Jude mehr, sondern so’n arischer Arsch. Von einem Mister Chamberlain hätt’ er das, sagte er, aber nicht von dem, der damals nach München gekommen ist, sondern von ’nem Philosophen gleichen Namens. Heut ist er da ja ganz anders, hat auch schon im Verein für christlichjüdische Versöhnung gesprochen, und wenn Sie mal ’ne Predigt von dem hören, und es geht um die alten Propheten, dann könnte man meinen, er ist rich223
tig stolz, daß das Juden gewesen sind und nicht so’ne Bärenhäuter von Germanen. Und der Stocksiepen erst, der hat doch, was er heut so von sich gibt, die Demokratie geradezu erfunden. Das wär’ unsere Schicksalsfrage, sagt er. Na ja, vom Vokabular hat er ja noch ’n bißchen von damals mit rübergenommen in all die Demokratie: Schicksalsfrage und Lebensraum und so’n Mist.“ Ich wollte es nicht glauben, aber die Rosie kam wirklich noch einmal mit einer vollen 0,7-1-Flasche von dem Weinbrand, sagte aber zur Vorsicht: „Was Sie heut nicht schaffen, Herr Günther, das heben wir Ihnen für morgen auf.“ Mir brachte sie mein zweites Bier und meinen zweiten Doppelten. „Ist gut, mein liebes Kind“, antwortete er mit einem unsicheren Lächeln, das ihn fast schüchtern aussehen ließ, und machte sich über den Schnaps her. „Und Küpper?“ fragte ich. „Der wollte nicht mitmachen. Warum, weiß ich auch nicht. Seine Mutter, hat es geheißen, wär’ eine sehr fromme Frau gewesen, die Adolfen immer nur einen Lump und Verbrecher genannt hat. Vielleicht war er aber auch nur nicht geschaffen, bei ’nem Orden oder so was mitzumachen. Wir haben ihn gelockt, wir haben gedroht, wir wollten ihn sogar vor unser Femegericht stellen. Wir hatten uns nämlich draußen, in den alten Kasematten, so’n Raum eingerichtet, wo wir zusammenkamen, um Verfehlungen gegen Volk und Führer abzuurteilen, wie Stocksiepen die Sauerei immer nannte. Haben wir wirklich gemacht. Meistens ist ja nichts draus geworden, aus der Vollstreckung unserer Urteile …“ „Meistens?“ warf ich drängend ein. „Na ja, wenn der Kerl, der Keile kriegen sollte, zu stark war oder so.“ Immer häufiger fuhr er sich jetzt mit 224
der Zunge über die trockenen, gesprungenen Lippen, und er öffnete auch kaum noch die Augen, was seiner Rede den Charakter des intimen und nicht für fremde Ohren bestimmten Selbstgesprächs verlieh. Nur während er sein Glas wieder vollgoß, schlug er unendlich langsam und wie unter großen Mühen die Lider hoch und visierte Flasche und Glas an. „Schneifel und Scharrer, das waren die Schläger, denen machte das Spaß, einen mit Latten zu verprügeln oder einem mit den Fäusten die Nase blutig zu hauen. Sind ja nun inzwischen auch gestandene Mannsbilder geworden, der Schneifel wenigstens. Was der mit seinem Gelumpe von Schrott verdient hat und noch verdient, das geht auf keine Kuhhaut.“ „Ich weiß“, sagte ich. „Haben Sie den mal kennengelernt? Macht ja ’n ganz patenten Eindruck. Und ich hab’ ihn auch immer bewundert, damals schon. Der war immer so robust, so selbstverständlich. Verstehen Sie das?“ Er wartete meine Zustimmung nicht erst ab, sondern fuhr gleich fort: „Ich war auch so’n Außenseiter in deren Augen, so einer, der nicht mithalten konnte, weil er nicht stark und nicht schnell genug war, und der doch immer gern mithalten wollte und nicht ganz konnte. Nicht so einer wie der Küpper, der so in sich drin war, daß er gar nicht raus wollte. Einmal sollte ich einen Quartaner, so’n halbes Portiönchen, verwichsen, weil der beim Frühappell die Fahne nicht anständig gegrüßt hatte. Ich hab’s nicht fertiggebracht, hab’ ihn laufenlassen, und Stocksiepen und Scharrer haben das gesehen. Da haben sie den Kleinen eingefangen und festgehalten, und ich mußte ihm Ohrfeigen geben. Zwei Dutzend waren es, glaub’ ich. Die beiden haben mir die Schläge vorgezählt. Und hinterher hab’ ich geheult. Das hätte der Heinrich nie gemacht, den Jungen 225
verhauen, meine ich. Aber ’n Lump war der auch. Nach dem Krieg.“ „Und haben Sie diese Feme auch über Erwachsene abgehalten?“ fragte ich gespannt. „Mehr als einmal.“ Er nickte eifrig. „Dem Milchmann vom Steinweg, der hatte als einziger in der ganzen Gegend kein Schild mit ‚Deutsches Geschäft‘ draußen hängen. Dem haben wir die Schaufensterscheibe zerschlagen. Nachts. Und denen von der PX, denen haben wir den Präses verdroschen. Und das Fräulein Schönemann …“ „Wurde auch über Lehrer Gericht gehalten?“ Er sagte nicht sofort etwas. Wieder hob er unendlich langsam die Lider und starrte mich eine Weile stumm an. „Warum wollen Sie denn das von mir wissen?“ fragte er dann. „Stocksiepen hat mir gesagt, Sie wüßten sowieso schon alles und wollten uns jetzt gemeinsam mit der Schickse von Heinrich unter Druck setzen. Oder wissen Sie doch nicht alles, und der Misthund von Stocksiepen will mir angst machen, damit ich …“ Er sah jetzt fast nüchtern aus vor lauter Mißtrauen, und er hörte nicht auf, mich zu fixieren. „Sagen Sie mal“, fragte er mehr sich als mich, „warum erzähle ich Ihnen das eigentlich alles? Und was wollen Sie überhaupt von mir?“ An der halsbrecherisch ungeschickten Art, wie er sich an der Tischplatte hochzustemmen versuchte, merkte ich, daß er doch nicht nüchtern geworden war. Das wäre ja auch ein Wunder gewesen. Immerhin war auch die zweite Flasche bereits fast zu einem Drittel geleert. Resigniert ließ er sich wieder auf seinen Sitz fallen. „Mir können Sie nichts vormachen, mir nicht, mein Herr. Da müssen Sie schon früher aufstehen.“ Ich merkte, daß diese Beteuerungen seiner Wachsamkeit nichts waren als Gerede, mit dem er sich aus 226
der Affäre ziehen wollte, konnte mich aber auch nicht entschließen, noch weiter in ihn zu dringen und mich möglicherweise der Gefahr auszusetzen, sein Mißtrauen ernsthaft zu wecken. So beschränkte ich mich darauf, so zu tun, als sei ich wirklich informiert. Ich schwieg also zum Thema Gersdorff, obwohl mir klargeworden war, daß zwischen diesem Mann und der halbstarken Feme ein Zusammenhang bestehen mußte. Vielleicht, dachte ich, kannst du später noch einmal auf die Angelegenheit zu sprechen kommen, wenn sein Verdacht gedämpft worden ist. Ich versuchte es mit der Taktik, die ich schon bei Humbach angewandt hatte, und mimte den Freund Küppers, der über den Verstorbenen Auskünfte einziehen will, aus keinen anderen als aus sentimentalen Gründen. „Und was da vielleicht an Vermutungen umläuft, ich sei darauf aus, mich erpresserisch zu betätigen, würde ich an Ihrer Stelle nicht glauben. In so etwas bin ich ganz und gar nicht geübt.“ Er blinzelte mich an und versuchte, seinem Gesicht einen entschlossenen Zug zu geben. „Würde ich Ihnen auch nicht empfehlen, Ihre Nase in Sachen zu stecken, die Sie nichts angehen. Bei Ihrem Freund Küpper war das was ganz anderes. Der hatte ein Recht …“ Plötzlich machte er eine wegwerfende Handbewegung, so als lohne es sich überhaupt nicht, sich mit mir über die Sache zu unterhalten. Ich kam mir in diesem Moment hilflos vor. Da stand ich, wie ein Kind vor einem unbekannten Weg, vor der Enthüllung allen Geheimnisses – oder glaubte doch jedenfalls davorzustehen – und konnte dennoch keinen Schritt weitergehen, ohne alles, was sich an halben Erkenntnissen und halbwegs gesicherten Vermutungen angesammelt hatte, zu gefährden. 227
Ich biß die Zähne zusammen und blieb dabei, den wißbegierigen Freund zu spielen. Katzmann sparte denn auch, da er offensichtlich nicht mehr die Kraft hatte, sein Mißtrauen auch dann zu verfolgen, wenn es nicht neue Nahrung erhielt, keineswegs mit Anekdoten aus der Schulzeit, wobei nicht immer und unbedingt Heinrich im Mittelpunkt stand. Es war mehr wie das Abfließenlassen eines lange gestauten Bassins voll von konfusen Erinnerungen. Aber so ungeordnet und nebensächlich auch das meiste war, was da aus Katzmann kam, es vermittelte mir einen guten Eindruck wenigstens von der Stimmung des Mannes, der in seinem von ständiger Alkoholzufuhr paralysierten Hirn so was wie Unbehagen an seiner Vergangenheit und seiner Gegenwart produzierte. Besonders häufig spielte jetzt der Name Scharrer eine Rolle. Zwar sprach er von dem nicht so, als empfinde er besondere Sympathie für ihn; doch war eine gewisse Solidarisierung mit ihm spürbar, die Solidarisierung mit einem, der es auch zu nichts gebracht hatte. So erfuhr ich denn von Scharrer, daß er Waise und bei seinem Onkel, einem Kreisleiter der Nazipartei, aufgewachsen war und daß er, weil er bei der Waffen-SS gewesen war, nach dem Krieg in Gefangenschaft bei den Amerikanern eine entsprechende Behandlung zu kosten bekommen hatte. „Der hat sich nie wieder davon erholt. Ich meine, nicht gesundheitlich. Psychisch, mein Herr, wenn Sie wissen, was das ist. Da ist einer gebrochen, im Ansatz seiner selbst, und die Wunde verheilt nicht.“ Ich erwartete, er würde nach diesem Versuch einer Poetisierung in Tränen ausbrechen. Er sah so aus. Aber dann machte er doch nur wieder seine wegwerfende Handbewegung, als sei sowieso nichts mehr zu retten und als lohne auch das Klagen nicht. „Den Zug verpaßt, das hat er. Schuften muß er 228
wie’n Affe, als Zahntechniker. Scharrer hat mir mal erzählt, wie eintönig das ist, andauernd so ’ne Schmiermasse anzurühren und sie in Gipsformen zu gießen, die das Innere von anderer Leute Mäulern abbilden. Das ist fast so schlimm, wie an dem Theater hier Rollen abzuziehen.“ Er warf einen haßerfüllten stumpfen Blick in die Runde und lachte falsch-lustig, als die Kollegin vom Nebentisch ihm ein „Ta-ta“ zurief. „Wir haben es zu nichts gebracht, er nicht und ich nicht. Oder glauben Sie, es ist zum Totlachen, wenn man vor einem p.p. Publikum, das von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, Schmarren runterrotzt?“ Katzmanns große Stunde der Wahrheit schien angebrochen, und ich machte mich darauf gefaßt, eine Lektion in Sachen unerfülltes Leben vorgesetzt zu bekommen. Ich täuschte mich nicht. Nie vorher und nie wieder habe ich einen Menschen mit solch vehementer Abscheu von seinem Beruf reden hören wie in dieser Nacht Katzmann. Da blieb buchstäblich kein Stein auf dem anderen von dem Gebäude, das er sein Leben nannte und das er im nächsten Augenblick mit einem Abtritt verglich, auf dem jedermann seine Notdurft verrichten könnte. Dabei war unterschwellig immer die Vorstellung im Spiel, er hätte eigentlich etwas aus sich machen können; und die zärtliche Ehrfurcht, mit der er Namen von bekannten Kollegen aus der Vergangenheit und der Gegenwart in den Mund nahm, ließ mich ahnen, daß er trotz allem Haß mit einer äffischen Liebe an seiner Beschäftigung hing. Dazwischen streute er allerlei politisches Gewäsch von der Güte, daß Demokratie eigentlich nur gedeihen könne, wenn sich jeder innerlich frei fühle und wenn Politik nur zu dem Zweck betrieben werde, die Seele des Menschen freizusetzen. Weltbürgerlichkeit und kosmisches 229
Sicheinsfühlen mit dem allmächtigen Atem Gottes wurden durcheinandergewürfelt, unverdauter Nietzsche und christliche Demutslehren aneinandergekoppelt. Ich gewann den Eindruck, er hätte zuviel und das Falsche gelesen und das Falsche nicht einmal nichtig verstanden. Er beendete seinen Monolog, der immer konfuser wurde und mit fortschreitender Lähmung der Zunge auch immer schwerer verständlich, mit dem Ausruf: „Ich bin das Schwert, das die Scheide zerschleißt!“ Womit er mir die Frage zugeschoben hatte, ob er nun das Schwert sei, das sich selber zerschleißt, weil es nicht aus der Scheide gezogen wird, oder ob er die Sentenz so aufgefaßt haben wollte, daß er, das Schwert, die Schneide allmählich zerschleiße. Ich glaube, er wußte es selber nicht. Wahrscheinlich war das ein Satz, den er in irgendeinem schöngeistigen Buch aufgeschnappt, für zitierbar befunden und nicht begriffen hatte. Damit glaubte er, sich einen passablen Abgang verschafft zu haben. Er stand unter Mühen und Ächzen auf, obwohl die zweite Flasche noch halbvoll war. Eine Sekunde lang befürchtete ich, seine Beine würden ihn nicht tragen können, so sehr schwankte er bei dem Versuch, seinen Hut vom Ständer zu angeln. Doch dann fand er das Gleichgewicht wieder und schoß förmlich durch den Raum auf die Tür zu. Dabei polterte ein Stuhl zu Boden. Ich zog meinen Mantel an und bezahlte meine Zeche. Draußen traf ich ihn, wie er an einer Mauer lehnte und Heftiges vor sich hin murmelte. Als ein Taxi in Sichtweite kam, hastete er auf den Bordstein zu und winkte wild rudernd mit beiden Armen, so daß er beinahe doch noch umgefallen wäre. Ehe er die Autotür schloß, sagte er mit emporgewandtem Gesicht: „Vielleicht besuchen Sie mich noch mal, wenn ich ein bißchen besser in Form bin.“ 230
„Ich komme gern auf Ihr Angebot zurück“, erwiderte ich, und es war mir ernst damit. Das Gespräch mit Katzmann hatte mich aufgewühlt. Obschon es fast zwei Uhr war, als ich mich mit dumpfem Kopf und schweren Gliedern zu Hause wiederfand, machte ich mir noch eine Kanne Tee und saß noch lange nachdenklich herum. Am Ende wußte ich dann, was ich am nächsten Morgen unternehmen würde.
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14. Das Paulus-Gymnasium war seinem Ruf entsprechend antik. Obwohl erst in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts an der Stelle erbaut, an der eine Jesuitenschule aus der Barockzeit ein Opfer von Flammen geworden war, hatte man penetrant darauf geachtet, im Baustil humanistische Vergangenheit einzufangen. So versuchte die Schule wie ein Renaissance-Rathaus auszusehen, ohne daß es gelungen wäre, den Sinn dieser Epoche für Proportionen zu treffen. Alles war zu groß und zu grob geraten, die Betonung der Horizontale durch Blendwerk zu ordinär, die Auflockerung der Fassade durch ornamentale Fensterstürze und Figuren zu aufdringlich. Ich ging die breite Freitreppe hinauf, mühte mich mit den zu schweren Türen ab, und dann umfing mich der Schulodeur, der schwer definierbare, den man überall trifft, wo Kinder zum Zweck des Lernens zusammengepfercht werden, ganz gleich, ob es sich nun um alte, verkommene Wissensburgen handelt oder um die luftigen Kreationen menschenfreundlicher Architekten. Der Weg zum Lehrerzimmer wurde mir vom Pedell gewiesen, und als ich die an die Tür genagelte Maxime „Herein, ohne anzuklopfen“ befolgte, traf ich in dem großen Raum, der mit Realienschränken, Spinden und einem langen Tisch möbliert war, einen einzelnen Mann. Der aß ein Butterbrot. Er packte seine Schnitte wieder ins Frühstückspapier und sah mir erwartungsvoll entgegen. „Ich möchte etwas über einen Lehrer erfahren, der wahrscheinlich an dieser Schule tätig gewesen ist“, sagte ich. „Gern, wenn ich Ihnen dabei helfen kann. Ich habe nämlich gerade eine Springstunde.“ Ich war ihm dankbar, daß er mich nicht nach dem Warum fragte, denn ich hätte höchst ungern wieder die Story aufgetischt, ich käme von 232
der Zeitung und wolle irgendeinen Artikel schreiben. „Ich heiße Recht“, fügte er noch hinzu, und er sah auch so aus: rechtwinklig in jeder Bewegung; alles an ihm war exakt, sogar der Haaransatz im Nacken. „Schweizer.“ „Angenehm. Und wer soll dieser Lehrer sein?“ „Ein Doktor Gersdorff. Er ist wahrscheinlich schon längst nicht mehr hier.“ Er murmelte den Namen ein paarmal vor sich hin, rückte überlegend an seiner Brille und sagte schließlich: „Den Kollegen kenne ich nicht.“ Ich half ihm auf die Sprünge. „So in den dreißiger, vierziger Jahren war er am Paulus-Gymnasium.“ Das entlockte ihm ein verstehendes Lächeln. „Ach so. Ja, da habe ich selber noch die Schulbank gedrückt. Und nicht hier. Aber verzweifeln Sie nicht.“ Er schien die Verpflichtung zu fühlen, mich zu trösten. „Sie haben sozusagen Glück. Seit einigen Wochen habe ich die Ehre“ – er lächelte dünn, als habe er einen Witz gemacht –, „die Schulchronik zu führen. In ihr finden sich neben allen buchenswerten Ereignissen alle Namen der Lehrenden und wohl auch hin und wieder der Name eines bemerkenswerten Schülers, so oder so bemerkenswert.“ Er lächelte wieder, diesmal überlegen, weil er ja schließlich von Schülern gesprochen hatte, und ging an einen verglasten Bücherschrank, in dem er eine Weile stöberte. „Dreißiger, vierziger Jahre, sagten Sie.“ Er tauchte mit leicht gerötetem Gesicht aus einer Kniebeuge auf. „Dann müßte in diesem Band etwas über ihn zu lesen sein.“ Der Band, ein dickes, stabil gebundenes Kontobuch, war ziemlich staubig. Aber Herr Recht ließ sich davon nicht abhalten, eifrig in ihm zu blättern. Ich war neben ihn getreten und sah ihm über die Schulter auf die Seiten, 233
die ein offenbar kalligraphiebesessener Studienrat mit einer wie gestochen wirkenden Kurrentschrift bedeckt hatte. Kurze, klare Sätze beherrschten, soweit ich beim Überfliegen feststellen konnte, die Berichte. „Wenn Sie sich erst einmal auf die Jahre vierzig und einundvierzig beschränken würden …“, schlug ich vor. „Wird gemacht“, sagte Herr Recht, blätterte und stutzte plötzlich. „Hier wird ein Studienrat Doktor Gersdorff erwähnt. Da, hören Sie: ‚Doktor Gersdorff hat zwecks Förderung der Fertigkeit der Schüler im aktiven Umgang mit dem Lateinischen ein bemerkenswertes Experiment gewagt. In seiner O I b ließ er deutsche Volkslieder wie ‚Kam ein Vogel geflogen‘ und ‚Am Brunnen vor dem Tore‘ ins Lateinische übersetzen. Eine Befragung der Schüler hat ergeben, daß man allgemein höchst zufrieden mit dieser originellen Aufbereitung des Wissensstoffes war.‘ Wirklich erstaunlich.“ Herr Recht schüttelte den Kopf. „Hilft Ihnen das weiter?“ Es half mir nicht weiter. „Können Sie wohl noch ein wenig suchen?“ fragte ich so liebenswürdig, wie es mir möglich war. „Aber gern.“ Das Kramen in der Vergangenheit schien ihm Spaß zu machen. „Diese Notiz ist unterm sechsten Dezember vierzig eingetragen. Nikolaustag“, setzte er hinzu, als habe er etwas Neues zu verkünden. Er muffelte sich dann eine Weile weiter durch die Kladde, und ich hegte schon die Befürchtung, er könne mein Anliegen vergessen haben über all dem Wissenswerten, das ihm da geboten wurde. Er murmelte, wiegte sein Haupt, kicherte auch einmal kurz. Plötzlich wurde er still, ich sah, wie seine Augen an einer Notiz hängengeblieben waren, noch einmal darüber hinfuhren. Er tippte mit einem kurzen Zeigefinger energisch auf die Stelle. „Hier. Hören Sie 234
mal zu! Vierundzwanzigster Juni einundvierzig. Unsere Anstalt wurde gestern von einem schweren Verlust betroffen. Kollege Gersdorff fand den Tod, als er an der Abiturfeier der O I b teilnahm. In der Nähe des Gasthofs ‚Zum Grünen Blick‘, in dem die Feier stattfand, stürzte er in einen aufgelassenen Steinbruch. Er muß auf der Stelle tot gewesen sein. Die für den Abend vorgesehene Sonnenwendfeier wurde natürlich nicht durchgeführt.‘“ Er sah hoch und mich an. „War es das, was Sie wissen wollten?“ fragte er. „Oder brauchen Sie noch etwas?“ „In Ihrer Chronik wird wohl nicht mehr viel Brauchbares über Gersdorff zu finden sein“, mutmaßte ich. Ich war viel zu aufgeregt, als daß ich zu einer vernünftigen Antwort imstande gewesen wäre. „Sagen Sie das nicht.“ Herr Recht hatte sich schon wieder in die Kladde vertieft. „Hören Sie nur!“ Er las: „‚Fast wäre der saubere Schild unserer Schule befleckt worden. Heute früh erschienen ein Vertreter der Staatsanwaltschaft und der erste Stellvertreter des Kreisleiters der NSDAP. Von einem der Abiturienten war ausgesagt worden, er habe davon gehört, daß Kollege Gersdorff möglicherweise nicht durch Unglück abgestürzt sei; er wisse, daß es Unstimmigkeiten zwischen ihm und einer Gruppe von Mitschülern gegeben habe und daß von dieser Drohungen gegen den Kollegen Doktor Gersdorff ausgestoßen worden seien. Nach einer zweistündigen Unterredung der offiziellen Vertreter der Staatsanwaltschaft und der Partei mit diesem Schüler nahm dieser seine Aussage zurück. Morgen wird Kollege Gersdorff zur letzten Ruhe gebettet.‘ Was sagen Sie nun?“ Ich sagte nichts, versuchte mir nur vorzustellen, wie der Schüler ausgesehen haben mochte, der da zwei Stunden vor Staatsanwaltschaft und Partei gestanden oder 235
gesessen hatte. Immerhin: Er war damals fast neunzehn gewesen, und er mußte viel Ähnlichkeit gehabt haben mit dem, den ich kennengelernt hatte. Nur der Ansatz zum Bauch wird noch nicht dagewesen sein, dachte ich. Ich muß ziemlich verstört ausgesehen haben, vielleicht hatte ich auch zu lange nichts gesagt. Jedenfalls fragte Herr Recht: „Fehlt Ihnen etwas?“ „Nein, danke, ich fühle mich ganz wohl.“ „Betrifft Sie diese …“ Er suchte nach Worten. „Oder so herum: Sind Sie persönlich am Schicksal des Herrn Gersdorff interessiert?“ „Ich wollte nur einmal wissen, wie sich ein Freund benommen hat, damals, zur Zeit Ihres Kollegen Gersdorff.“ Herr Recht sah in diesem Augenblick nicht gerade sehr intelligent drein. „So ist das“, sagte er ins Blaue hinein, nur um irgend etwas zu sagen. Ich war ihm sehr dankbar, daß er nicht doch noch seiner Neugier die Zügel ließ. „Ich bin Ihnen sehr dankbar“, sagte ich noch. Gegenüber der Schule gab es eine Erfrischungsbude. Erfrischung brauchte ich jetzt, und ich bestellte mir irgendeins von den bunten Getränken, die durch Kohlensäure erst genießbar werden. Ich lehnte mich gegen die Bretterwand, ein Plaströhrchen im Mund, auf der Zunge und in der Nase angenehmes Prickeln, und schaute auf den nicht sonderlich starken Samstagsvormittagsverkehr. Fast war ich ein bißchen bedrückt, daß sich alles so selbstverständlich und – wie mir jetzt vorkam – so einfach entwickelt hatte. Dabei wußte ich natürlich, daß ich noch lange nicht am Ende war. Aber den richtigen Weg hatte ich gefunden. Was jetzt auch noch folgen würde: Es würde nur noch das Abspulen eines Knäuels sein, dessen Ende ich in der Hand hielt. Jetzt gab es kein 236
blindes Herumtappen mehr; aber auch der Reiz, Unbekanntes aufzustöbern, schien dahin zu sein. Das dachte ich in diesem Augenblick, und das bedrückte mich an diesem Vormittag. Ich kam mir vor wie nach einer Prüfung, auf die man sich mit Sorgfalt vorbereitet hat und in die man mit Herzklopfen gegangen ist. Und dann hat sich alles als viel einfacher und selbstverständlicher herausgestellt, als man annehmen konnte. Zwar hütete ich mich, schon Schlüsse zu ziehen – im Gegenteil versuchte ich mir vorzustellen, wie schwierig noch alles werden würde, als wie unerfreulich und auch wie gefährlich sich noch alles herausstellen konnte; aber die zwingende Jagdlust, die mich ein paar Tage auf den Beinen gehalten hatte, von der ich kreuz und quer durch diese Stadt getrieben worden war, sie war gedämpft worden. Ich rechnete mir aus, was zu folgen hatte: Am Abend die Gesellschaft bei Stocksiepen. Vor allen Dingen mußte ich an Maria herankommen, unbedingt. Der Gedanke an Maria machte mich unruhig. Ich stellte die Flasche noch halbvoll auf das schmale Brett, das die Bude umlief, und ging mit großen Schritten davon. Unterwegs zum Elisabeth-Hospital dachte ich auch für einige Sekunden an den „Stadtboten“ und an das Gesicht, das Kaminski machen würde, wenn ich ihm – nachdem alles aufgeklärt war – die Angelegenheit auseinanderlegte. Aber die Vorstellung ließ mich kalt. Die Schwester, die ich schon kannte, war an diesem Tag nicht auf der Station. Statt ihrer empfing mich eine ältere, hagere Nonne, die Autorität zur Schau trug und trotz des tristen Habits damenhaft wirkte. Sie hörte mich mit der Sorte Herablassung an, die mich für gewöhnlich in Harnisch bringt, antwortete aber dann mit einer seltsam lieblichen Stimme. Ich war verwirrt, weniger von 237
dem, was sie mir sagte, als davon, wie sie es sagte. Ich bekam natürlich die alte Leier vorgespielt, das Liedchen von der absoluten Ruhe, die die Patientin brauchte, et cetera. Dann jedoch taute das strenge, hagere Gesicht plötzlich auf, die Stimme senkte sich fast bis zum Flüstern, und die ältere Frau in Schwesterntracht erklärte mir, auch Fräulein Klein habe heute morgen darum gebeten, mich zu ihr zu lassen, und sie, die Schwester, sei nun kein prinzipienreitender Unmensch, zumal dann nicht, wenn es sich, wie es ausschaue, um etwas von Wichtigkeit handle. Dabei zwinkerte sie mir freundlich zu, als sei sie in ein Geheimnis eingeweiht. Nur der Stationsarzt sei von außerordentlicher Strenge und dulde kein Abweichen von seinen Anordnungen. Wenn ich es aber Sonntag vormittag noch einmal versuchen wolle, vorm Beginn der Besuchszeit, dann sei Herr Doktor Kallers nicht im Haus, und sie wolle dann für eine halbe Stunde ein Auge, vielleicht auch alle beide Augen zudrücken. Aber nicht für länger. Sie verabschiedete sich mit einem Lächeln von mir. Da stand ich nun, überrascht von nicht erwarteter Konzilianz und gleichzeitig verärgert, daß ich wieder einmal nicht an mein Ziel gelangt war. Alles deutete darauf hin, daß ich am Abend bei Stocksiepen Farbe bekennen mußte. Was Maria mir bisher verschwiegen hatte, hätte mir mit Sicherheit meinen Auftritt erleichtert. Aber mir blieb nichts übrig, als ziemlich nachdenklich davonzugehen. Zu Hause war ich für einen Moment in der Versuchung, den Hörer abzunehmen und Kommissar Munter anzurufen. Doch dann besann ich mich noch rechtzeitig auf unsere Unterredung am Montag. Was hatte ich heute mehr zu bieten als damals? 238
Ich wußte von einem Lehrer, der verunglückt war, und davon, daß ein Schüler die Vermutung geäußert hatte, dieser Lehrer sei nicht freiwillig in einen Steinbruch gestürzt, weil es eine Clique von Schülern gab, die über ihn ein Femegericht abgehalten hatten. Aber dies letztere war ja schon mehr ein Produkt meiner Phantasie, die sich nur auf die wirren Reden eines besoffenen Schauspielers stützen konnte. Und dann wäre ich in der Lage gewesen, Herrn Munter ein paar Takte darüber zu erzählen, wie ehrenwerte Männer und eine nicht minder ehrenwerte Frau mir schmutzige Angebote machten, weil sie annehmen mußten, ich wüßte etwas, das ihnen zum Nachteil gereichen könnte. Aber hatte all das Beweiskraft genug gegenüber einem alt gewordenen Polizeimenschen, dessen Erfahrung sich in Vorurteil verwandelt und dem die nahe Pensionierung eine Scheu vor jeglicher Aufregung und vor allem Eklat eingeimpft hatte? Zu all dieser Unsicherheit gesellte sich bei mir nun auch noch der Trotz. So weit, sagte ich mir, war ich allein gekommen, und es sollte mit dem Teufel zugehen, wenn ich nicht auch den Rest des Wegs allein zurücklegen konnte. Also rief ich Munter nicht an, sondern legte mich auf die Couch und hörte mir ein paar Nummern aus Armstrongs „Boston Concert“ an. Die Posaune von Jack Teagarden ließ mich für ein paar Minuten alles andere vergessen. Als es auf den Abend zuging, war ich natürlich viel zu früh in Schale. Ein paarmal trottete ich vor meinem Spiegel im Korridor auf und ab, um mich an das Bild zu gewöhnen, das ich bot. Ich rückte den Hals im Kragen hin und her, zog die Vorderseite der kurzen Jacke straff, versuchte einen Blick auf die Rückenpartie zu erhaschen, die einige böse Falten warf, und war unausgesetzt damit 239
beschäftigt, wirkliche oder vermeintliche Staubkörnchen von den Ärmeln zu bürsten. Schließlich gab ich die Revue auf, zog meinen Trenchcoat über und ging in die Kneipe an der Ecke, um mir mit einigen Bieren und Schnäpsen Mut einzuflößen. An der Theke wurde ich den Eindruck nicht los, als starre alles auf meine schwarzbehosten Beine und schließe von denen auf den Rest des Anzugs, den das schmuddlige Graugrün des Mantels bedeckte. Unsereinem fehlt eben die Selbstverständlichkeit, mit der sich die durch die Welt bewegen, denen von Kindesbeinen an beigebracht worden ist, sich für deren Mittelpunkt zu halten. Zur Vorsicht hatte ich noch einmal einen Griff in das Kuvert im Wäscheschrank gewagt, diesmal ohne Gewissensbisse, weil schlechte Gewohnheiten einen im Nu abstumpfen, und mich mit einem Hunderter versorgt. Schließlich sagte ich mir, kann man auch das Beruhigungsbier auf dem Konto der Geschäftsunkosten verbuchen und auch das Taxi hin und zurück. Denn bei so etwas mußte man sich vorfahren lassen. Dann stand ich vor dem Haus. Es war zehn nach acht, und viele Gäste schienen sich mit der sprichwörtlichen Höflichkeit von Königen schon eingefunden zu haben. Man sah es an den Autos, die auf eine ziemliche Strecke hin beide Seiten der stillen Villenstraße besetzt hielten und die den Taxichauffeur gezwungen hatten, mich mitten auf der Fahrbahn abzusetzen. Das Haus bot sich mir nur in seinen imponierenden Umrissen. Das Erdgeschoß verströmte eine Lichtflut auf Oleander und Rhododendron. Hinter mir eintreffende Gäste drängten mich auf den Fliesenweg, der in sanftem Bogen auf die Hinterfront des Hauses zuführte, wo man von einem Diener in Empfang genommen und in eine 240
Vorhalle geleitet wurde, in. der Tische zur Lagerung der Überkleider aufgestellt waren. Ich entledigte mich so schnell und unauffällig wie möglich meines Trenchcoats, ehe der dienstbare Mensch ihn mir noch abnehmen konnte, und ging auf eine hohe Flügeltür zu, die in einen saalähnlichen Raum führte. Links von der Tür waren ein Mann und eine Frau postiert, offensichtlich die Gastgeber, die die Honneurs machten. „Sie sind Herr Schweizer?“ redete mich Stocksiepen an. Er war eine blendende Erscheinung, und die angenehme Stimme kannte ich bereits vom Telefonieren her. Als ich ihn im „Esplanade“ gesehen hatte, war mir – wohl wegen der Kürze der Zeit und in der Aufregung – die Grandezza des Mannes nicht aufgefallen. Von den angegrauten Schläfen über die proportioniert breiten Schultern und die gepflegten schmalen Hände bis zu einem flachen Bauch und langen Beinen war alles so, wie man es bei einem Gentleman aus „Cutter and Taylor“ anzutreffen erwarten kann. Nur ein Gesicht schien er auf den ersten Blick nicht zu haben. „Freut mich, daß ich Sie begrüßen darf.“ Er wandte sich an seine Frau, eine Dame. von schwer zu schätzendem Alter, die, jeder Zoll ein Geschöpf der hohen Schneiderkunst, so aussah, als müßte sie nie aufs Klosett. „Das ist Herr Schweizer, Liebe“, sagte Stocksiepen. „Wir sind Geschäftspartner.“ Das Lächeln, das er dieser sinnigen Vorstellung hinterherschickte, gab seinem Gesicht einen Ausdruck, aber einen reichlich widerwärtigen. „Ich hoffe, wir haben später am Abend noch Zeit füreinander.“ Ich machte zwei stumme und steife Verbeugungen und sagte: „Das hoffe ich auch, sehr.“ Und ich grinste unverschämt. Sein Lächeln hatte mir ein bißchen Sicherheit wiedergegeben. 241
Ich war in eine der Gesellschaften geraten, von denen man nicht weiß, warum sie sich zusammenfinden. Mindestens vier Dutzend Männlein und Weiblein standen herum, allein oder – meistens – in Gruppen, und kamen sich, weil noch ohne Teller und nicht essend, offensichtlich recht überflüssig vor. Ein paar Männer mit Tabletts gingen hin und her und boten einen Aperitif an. Ich nahm auch einen und knabberte zuerst an der Olive, die in einer gelblichen Flüssigkeit schwamm und zwecks leichterer Handhabung auf eine Art Zahnstocher aus Plast gespießt war. Die Leute, die da standen und promenierten, kannte ich alle nicht, bis auf einen Typ, der mich bei der letzten Landtagswahl vierzehn Tage lang von Plakatwänden angeblickt hatte, streng und optimistisch zugleich, und der seitdem mit beachtlichem Schlagwortaufwand die Opposition führte. Ich hatte ihn seinerzeit nicht gewählt und also auch jetzt keine Veranlassung, mich zu freuen oder auch nur zu staunen, ihn privat zu sehen. Das Staunen hob ich mir für die Räumlichkeiten auf, in die ich durch eine Verkettung von Umständen Zutritt erhalten hatte. So hatte ich mir immer Wohlhabenheit unterhalb der Königsebene vorgestellt. Da gab es nichts von dem aufdringlichen Zurschaustellen des Reichtums, das ich bei Schneifel beobachtet hatte, keine muffige solide Bürgerlichkeit wie bei den Wiskirchens, hier schien alles selbstverständlich kostbar und an seinem Platz zu sein. Die wenigen Sitzgelegenheiten und Möbelstücke waren nicht aus Antiquitätenläden zusammengeramscht oder im Wettlauf mit geldschweren Konkurrenten auf Auktionen für irrsinnige Summen ersteigert. Das sah man auf den ersten Blick. Hier, schien es, hatten einige Generationen zusammengetragen, was ihnen gefiel, und die Nachfolgenden hatten 242
akzeptiert und gepflegt, was ihnen überkommen war. So wirkte selbst der van Dyck, dem eine ganze Wand in einem kleineren Zimmer zum Wirken vorbehalten war, nicht protzig. Ich stellte mich breitbeinig, die Arme auf dem Rücken und in gehörigem Abstand vor dem Bild auf und ließ die dekorative Problemlosigkeit dieses Porträts von einem noch jungen Manne in einer phantasievollen Uniform auf mich wirken. „Sieh da, unser Freund, der Novellist.“ Ich erkannte Humbachs Stimme sofort, und ich sah in derselben Sekunde auch sein Gesicht vor mir, ohne daß ich mich umzuwenden brauchte. Und als ich mich dann zu ihm kehrte, war die leibhaftige Erscheinung des Pfarrers nur wie eine Bestätigung des genauen Eindrucks, der sich in mir festgehakt hatte. „Na, was macht die Literatur?“ Dabei überschwemmte er mich mit einem Blick aus seinen durch die Brille vergrößerten Augen. „Die Realität hat mich denn doch fortgerissen, Hochwürden.“ Es strengte mich sehr an, nicht gleich zu antworten, er solle doch die Mätzchen lassen. Er nickte, zufrieden wie einer, der sich in seiner von Anfang an gefaßten Meinung bestärkt fühlt. In der nächsten Sekunde aber wurde sein Gesicht ernst, fast mürrisch, und er sagte in einem dazu passenden Ton: „Es führt zu nichts, wenn man sich die Rolle Gottes anmaßt und im Leben von Menschen herumschnüffelt. Wenigstens zu nichts Gutem.“ Er sog an seiner Zigarre, und ehe ich noch antworten konnte, kehrte er mir den Rücken zu und ging langsam davon. Meine erste Reaktion war, ärgerlich zu werden über so viel Unverfrorenheit. Dann zog ich es aber doch vor, die Schulter zu zucken und in der entgegengesetzten Richtung davonzugehen. Wahrscheinlich lohnte es sich für 243
mich nicht, mich mit Humbach auseinanderzusetzen. Ich war in Stocksiepens Haus gebeten, und das deutete darauf hin, daß er das Ruder in die Hand genommen, wenn er es nicht gar schon immer geführt hatte. Im Wintergarten von der Größe eines kommerziell genutzten Gewächshauses verlor ich mich zwischen Ilex und blühendem Flieder. Hier war Ruhe, solange die Empfangsaktivitäten noch ihren Fortgang nahmen. Ich setzte mich auf eine Bank und nippte an meinem Cocktail. Ich erinnere mich nur noch, daß ich mir ziemlich verloren und überflüssig vorkam. Die Begegnung mit Stocksiepen hatte ich mir denn doch etwas anders vorgestellt, viel aufregender auf jeden Fall und weniger nervenaufwendig. Das Umherwandeln und Herumsitzen machte mich nämlich fertig, auch wenn ich das nicht sofort merkte oder zugeben wollte. Ich fragte mich, ob das wohl auch zu der Taktik gehöre, die Stocksiepen eingeschlagen hatte, als er mich zu einem Empfang lud. Oder hatte er mich einfach nur mit der Demonstration dessen, was er war und darstellte, einschüchtern wollen? Eine langsam anschwellende Wut auf all das Grünzeug um mich herum und überhaupt auf den ganzen Abend mit seinen Ungewöhnlichkeiten, auf das Haus, seinen Besitzer, die Gäste überkam mich. Ich konnte nicht mehr auf der Bank sitzen bleiben. Im vorderen Salon war inzwischen das Büfett umlagert. Mit gezügelter Gier drängte man sich zu den Schüsseln und Platten, die, mit Außergewöhnlichkeiten zu bespicken, das Renommee eines Hauses ausmachen. Mir war überm Warten der Appetit vergangen, und so sah ich mit leichtem Ekel auf das Treiben und die Erwartungsfreude in den Mienen derer, die sich mit beladenen Tellern in die Ecken verzogen, wo sie sich im 244
Stehen die Bäuche vollschlugen. Vergebens hielt ich nach Stocksiepen Ausschau. Auch Humbach erblickte ich nirgends. Statt dessen sah ich in einiger Entfernung an der Seite eines gleichfalls schmausenden jungen Mannes die promovierte Kunsthistorikerin in einer faszinierenden ordinären Robe. Wo die Frau war, konnte Schneifel nicht weit sein. Ihm zu begegnen, hatte ich aber nun gar keine Lust. Ich schnappte mir ein Glas Sekt vom Tablett eines vorüberkommenden Lakaien und entfernte mich wieder in Richtung auf das Zimmer, in dem das Bild von van Dyck hing. Wieder wollte ich mich, diesmal in gelinder Verzweiflung über mein sinnloses Herumstehen, in die Betrachtung des Gemäldes vertiefen. Doch ein smarter junger Mann vom Aussehen eines ganz geheimen Sekretärs hinderte mich daran. „Herr Stocksiepen erwartet Sie“, sagte er so selbstverständlich, als seien wir einander schon vor hundert Jahren vorgestellt worden, und mit einer Handbewegung deutete er an, daß ich ihm folgen möchte. Wir gingen durch den Salon und von der Eingangshalle aus eine breite Treppe hinauf, die von einer endlosen Folge von Stichen und alten Landkarten begleitet wurde. „Hier hinein, bitte.“ Der junge Mann öffnete mir eine Tür im ersten Stockwerk und blieb diskret zurück. Da saßen drei Männer um einen niedrigen runden Tisch und sahen im Schein einer Stehlampe aus wie die Richter, die einen Angeklagten erwarten. Die Feme, dachte ich, noch ehe ich dazu kam, die Männer als Stocksiepen, Humbach und Schneifel zu erkennen. Die gespenstische Komik der Situation erfaßte mich sofort, und fast hätte ich laut aufgelacht angesichts eines Spielchens, das anscheinend nach fünfundzwanzig Jahren 245
noch einmal wiederholt werden sollte. Aber ich lachte nicht, denn die Gesichter der Männer waren alles andere als auch nur von einem Schimmer Freundlichkeit überhaucht. Stocksiepen sah mir ausdruckslos entgegen; Humbach hatte alles Sanfte aus seinen Zügen verbannt und blickte nur noch streng wie ein Religionslehrer, der sich im Kreis von weltlichen Kollegen über einen besonders renitenten Schüler bespricht; Schneifel hatte noch das menschlichste Aussehen, weil er aus seinem Ärger kein Hehl machte. Stocksiepen thronte in der Mitte, wie ein Gerichtsvorsitzender, und er war es auch, der mit einer langen, schmalen Hand stumm auf einen freien Stuhl wies, der mit der Lehne zur Tür vor mir stand. Wären zwei der Männer nicht im Abendanzug gewesen und der dritte in dem Aufzug, den wir von Kind an mit Demut und verzeihender Güte in Zusammenhang zu bringen gewohnt sind, mir hätte wirklich leicht das Grauen kommen können. Aber je länger ich auf die Szene blickte, desto ziviler erschien sie mir, und als ich dann gar noch die Flasche „Martell“ bemerkte, die auf der Mitte des Tischchens stand, umgeben von vier Schwenkern, legten sich Überraschung und Unbehagen allmählich in mir, trotz der ernsten Mienen, mit denen ich konfrontiert war. Den Gedanken daran, daß dieselben Männer Heinrich Küpper an seinem letzten Abend in ähnlich ziviler Weise begegnet waren, verscheuchte ich sofort. Jetzt war nicht die Zeit, schwermütigen Erinnerungen nachzuhängen; jetzt ging es um hartes Geschäft. Und auf das hatte ich vorbereitet zu sein. „Fehlen nicht hier noch ein paar Leute“, fragte ich so unbefangen wie möglich, „um das Kränzchen voll zu machen?“ „Ich weiß nicht, worauf Sie anspielen“, sagte Stock246
siepen, und trotz des Tadels klang seine Stimme angenehm weich. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie klang, wenn er in Rage war. Aber der Mann kannte wahrscheinlich solch extreme Gemütsaufwallungen nicht. Vielleicht hatte er auch seine Leute, die an seiner Statt zornig wurden. „Wir haben Sie hierherbestellt …“ „Hierherbestellt?“ Ich wußte, ich mußte sofort versuchen, in meine Rolle hineinzufinden, wenn ich nicht von vornherein riskieren wollte, nicht mehr mitmischen zu können. „Nun gut, dann eben: Wir haben Sie eingeladen, um mit Ihnen ins reine zu kommen.“ Seine Stimme blieb wohl-tönend-sachlich. Nur für den Bruchteil einer Sekunde hatte er mich aus leeren Augen angesehen, nicht erstaunt, nicht tadelnd. Dann referierte er wie einer, der das Protokoll von der vorangegangenen Sitzung verliest: „Sie haben sich aus anfangs für uns unerfindlichen Gründen in eine Angelegenheit gemischt, mit der Sie nicht das geringste zu tun hatten. Den Tod eines unserer Bekannten haben Sie zum Anlaß genommen, uns zu belästigen. Sie sind bei Herrn Doktor Humbach eingedrungen, bei Herrn Schneifel und gestern auch, wie wir heute erfahren haben, bei Herrn Doktor Frobenius …“ Eingedrungen – das klang wahrhaftig nach Ganovenmanier. Aber nicht die Vokabel war es, die mir auffiel. Er hatte die Wiskirchens nicht genannt und nicht Katzmann. Die Wiskirchens in diesen Zusammenhang gebracht zu sehen, hatte ich nicht erwartet. Aber Katzmann? War der noch nicht dazu gekommen, von meinem Ausflug ins Theater zu berichten? Ein Anruf hätte genügt. Oder hatte er von sich aus mit dem Report zurückgehalten? Während der ganzen, wohl viertelstündigen Rede Stocksiepens, die im Stil eines 247
Staatsanwalts vorgetragen wurde, der dem Delinquenten noch einmal sein verpfuschtes Leben vor Augen führt, ließ mich die Frage nicht los, warum Katzmann nicht erwähnt wurde. Unterdessen hatte Schneifel Kognak für alle eingegossen, und meine Zunge hatte damit zu tun, den ihr ungewohnten Geschmack nach leicht ranziger Butter unter Kontrolle zu bekommen, während sich mein Hirn unausgesetzt mit Katzmann beschäftigte. Dann fiel mir auf, daß der Redestrom versiegt war, ohne daß ich Stocksiepens letzte Bemerkung überhaupt registriert hatte. „Sie sehen wohl ein, daß wir Ihr ganzes mieses Spiel durchschaut haben.“ Das sagte Schneifel, und der Wechsel in die rauhere Tonart ließ mich wieder zuhören. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, als ich antwortete: „Stellen Sie die Dinge nicht auf den Kopf?“ Ich hatte mich in der Sache Küpper schon daran gewöhnt, auf einem Siebener-Paar bis nach Rom zu reiten, wie die Pokerer den großen Bluff zu umschreiben pflegen, auch wenn mir dabei noch immer mulmig war. Und auch jetzt mußte ich mir eine gediegene Ausgangsstellung schaffen. Seit gestern, spätestens seit meinem Besuch im Gymnasium, war ich ja nicht mehr so ganz der Dümmling in einer Gesellschaft von Gescheiten. Das machte mich kühn, und ich schickte hinterher: „Sie haben mein Spiel doch schon mit anderthalb Tausendern honoriert, oder irre ich mich da?“ Diese Bemerkung trug mir einen wütenden Blick von Schneifel ein und einen beleidigten Humbachs. Hochwürden war es denn auch, der mich sanft verwies: „Damit sollten Sie sich nicht auch noch brüsten.“ Er rückte an seiner Brille, wohl mehr aus Verlegenheit, als um die Sehhilfe wirklich zu justieren. „Es ist traurig genug, daß alles so gekommen ist.“ 248
„Wie es kommen mußte“, orakelte ich. Das wieder brachte Stocksiepen auf den Plan. Mit einer ungeduldigen Handbewegung, die so gar nicht zu seinen kontrollierten Gesten paßte, unterbrach er unser Geplänkel und sagte: „Wollen wir uns wirklich in Kleinigkeiten verlieren?“ Und das klang wie: Wollen wir uns von dem da ein Gespräch aufzwingen lassen? „Ich weiß nicht, in welchen Dimensionen Sie Ihr Leben eingerichtet haben, aber für mich ist das, was ich seit vorigen Samstag erlebt habe, bei Gott keine Kleinigkeit.“ Ich hatte es plötzlich satt, mich wie einer vom Ballett auf Zehen nach dem Takt einer vorgegebenen Musik zu bewegen, und war entschlossen, diesem Trust von Patriziertum, Geistlichkeit und neureicher Hemdsärmligkeit meine Verachtung ins Gesicht zu schreien. Vielleicht waren die andauernden seelischen Wechselbäder, die ich hatte durchmachen müssen, schuld daran, daß ich die Besonnenheit zu verlieren begann. Ich schlug auf das Tischchen, daß die Flasche leicht taumelte und die Schwenker leise klirrten. „Können Sie sich überhaupt vorstellen“, schrie ich, „was es für einen Mann wie mich bedeutet, sich in solch schmutzige Geschäfte einzulassen? Wissen Sie das überhaupt?“ Da lachte Schneifel ungeniert, daß ihm der Bauch wackelte, und fuhr sich mit der heilen Hand über die Augen, so als wollte er sich Tränen der Heiterkeit herauswischen. Das empörte mich und Humbach. Der Pfarrer sah ihn entrüstet an, ich schoß wütende Blicke gegen ihn los. Nur Stocksiepen blieb gelassen, glücklicherweise, möchte ich sagen, denn ich war drauf und dran, mich von Schneifels Heiterkeit vollends ins Bockshorn jagen zu lassen. Stocksiepens beherrschte Stimme ernüchterte mich. 249
„Wie meinen Sie das?“ fragte er. Ich fand nicht sofort eine Erwiderung, weil ich erst einmal genug damit zu tun hatte, den Tumult in mir zu stillen. Schneifel hatte zu lachen aufgehört, und obwohl ich die Augen niedergeschlagen hatte, spürte ich, wie mich die drei Männer unentwegt ansahen. Ich fuhr mit der Zunge über die Oberlippe und schmeckte den Schweiß, der sich gesammelt hatte. „Nun“, begann ich dann und machte gleich eine Pause, die mir noch eine Winzigkeit an Zeit ließ, von meinem hohen Roß runterzukommen. „Ich meine einfach, daß ich an diese Art von Geschäft nicht gewöhnt bin. Immerhin kostet es doch Überwindung, bei so was mitzumachen.“ Wieder war es Schneifel, der sofort reagierte, diesmal nicht mit Lachen, sondern mit einem bösen Knurren, aus dem sich langsam die Worte lösten: „Und das sagen Sie uns.“ Wenn man als Unvoreingenommener diese Stimme gehört hätte, diesen ehrlichen Ton der Empörung, man hätte den Schrotthändler vor meinen Verdächtigungen auf der Stelle in Schutz genommen und mich einen bösartigen Filou genannt. Ich war Gott sei Dank nicht unvoreingenommen und konterte seinen Satz wie auch den empörten Blick hinter Schweineborstenwimpern mit einem despektierlichen Schnaufen. Ich spürte, wie die Erregung in mir abebbte und wie ich langsam wieder in den Stand eines Menschen kam, der sich vorsichtig in feindlicher Umgebung bewegen muß. „Meine Herren“, sagte Stocksiepen, „wir sollten wirklich nicht mit Kinkerlitzchen die Zeit vertrödeln. Also, Herr Schweizer, wo ist das, was Sie uns anzubieten haben?“ In diesem Augenblick stand Humbach auf, wortlos, und ging zur Tür. Die beiden anderen schauten ihm gar 250
nicht überrascht nach, eher wie Leute, die an eine immerhin doch seltsame Reaktion gewöhnt sind. Mir gab Humbachs Abgang ein paar Sekunden, mich auf die Frage zu orientieren. Jetzt war es endgültig an mir, mich zu bewähren. Mehr einem Instinkt folgend als der klaren Überlegung, tat ich so, als erscheine mir die Frage als nicht so wichtig. Statt eine Antwort zu geben, sagte ich: „Ich war heute früh im Paulus-Gymnasium.“ Schneifel sah anscheinend keinen Zusammenhang zwischen der gestellten Frage und meiner Antwort; sein stumpfes Gesicht wies das aus. „Na und?“ fragte er. Stocksiepen dagegen horchte auf, und wenn er auch keine Miene verzog, erkannte ich doch am leichten Vorbeugen des Oberkörpers, daß er Witterung aufgenommen hatte. „Sie wissen wahrscheinlich, daß damals ein Verhör mit Küpper wegen Gersdorffs Tod stattgefunden hat, eins, an dem die Staatsanwaltschaft und die Kreisleitung teilgenommen haben.“ Ich bemühte mich um einen Ton, der meinem angeblichen geschäftlichen Interesse entsprach. „Darüber gibt es ein Protokoll.“ Stocksiepen sagte nichts, obwohl ich ihm durch eine Pause das Zeichen für seinen Einsatz gegeben hatte. Nur ließ er nach wie vor keinen Blick von mir. Ich wußte, er wollte mir die Stichhaltigkeit meiner Behauptung vom Gesicht ablesen. „Ich habe das Protokoll eingesehen.“ Hartnäckig blieb ich dabei, was mir unter die Augen gekommen war, sei das Protokoll eines Verhörs gewesen und nicht die inkompetente Eintragung eines Lehrers in die Schulchronik, die zudem niemandem, der nicht die Zusammenhänge kannte, einigen Aufschluß zu geben vermochte. 251
„Küpper hat darin über Ihr Femegericht ausgesagt und darüber, daß er gesehen hätte, wie Sie mit Gersdorff umgegangen sind.“ Schneifel gab ein unterdrücktes Stöhnen von sich. „Der Schuft!“ sagte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Weiter!“ befahl Stocksiepen. „Das Weitere wissen Sie doch wohl selbst.“ Ich setzte etwas hinzu, das ich mir aus Katzmanns Besoffenengerede gefischt hatte: „Glauben Sie, die Sache wäre damals so ohne weiteres über die Bühne gegangen, wenn Scharrers Onkel nicht Kreisleiter gewesen wäre?“ Stocksiepen nickte kaum merklich, weniger wohl um meine These zu bestätigen, als um anzudeuten, daß er sich in der Einschätzung der Skrupellosigkeit meines Charakters nicht geirrt habe. „Ist das alles?“ fragte er. „Was soll es denn sonst noch geben?“ fragte ich zurück. „Wenn ich Sie richtig verstehe, wollen Sie uns diese Information auch noch verkaufen.“ „Das wird ja immer schlimmer!“ sagte Schneifel mit einem Ächzen. „Ich hoffe, wir können uns auf einen Preis einigen, der alles in sich enthält. Sozusagen auf einen Pauschalpreis.“ Zum ersten Mal machte es mir aus tiefstem Herzen Spaß, den Erpresser zu spielen. Vor zwei Tagen bei Tucher war ich Frau Wiskirchen gegenüber doch noch ein richtiger Dilettant gewesen, das spürte ich jetzt, da ich zwei ausgekochten Burschen gegenübersaß. „Wie Sie an das Protokoll herankommen, ist allerdings Ihre Sache. Ich konnte nichts, als Ihnen von seiner Existenz berichten.“ „Und das Protokoll liegt im Paulus-Gymnasium?“ fragte Stocksiepen. 252
„Im Paulus-Gymnasium“, bestätigte ich. „Und wo liegt es da?“ „In einem Schrank des Lehrerzimmers.“ Stocksiepens Augen gefielen mir in diesem Moment gar nicht. Ich sah, wie sich seine Pupillen zusammenzogen, als sei ein scharfer Lichtstrahl in sie gefallen. Er stierte mich unentwegt an, und ich versuchte vergebens, meinen Blick aus seinem zu lösen. „In einem Schrank des Lehrerzimmers.“ Das war kein bloßes Echo. Er hatte in die fünf Worte so viel Skepsis gelegt, daß mein gerade erst akkumuliertes Überlegenheitsgefühl zu wanken begann. „Und das glauben Sie alles selber? Sie glauben, daß von einer solchen Sitzung ein Protokoll gemacht worden ist; Sie glauben, daß ein solches Protokoll, wenn es gemacht worden ist, nicht im tiefsten Tresor verschwindet?“ „Ich habe es gesehen!“ sagte ich mit dem Mut der Verzweiflung. Mir war bewußt geworden, daß man Stocksiepen nicht aus dem Spiel bluffen konnte. „Woher soll er denn sonst die Sache mit der Feme wissen“, hörte ich Schneifel sagen, „und das mit dem Verhör hinterher?“ Ich war dem Schrotthändler richtig dankbar. „Was weiß ich, von Küpper oder von der Klein.“ Das klang ziemlich beiläufig. „Jedenfalls nehme ich ihm die Geschichte nicht ab.“ Und zu mir gewandt, sagte er: „Hören Sie, Schweizer, ich bin nicht gesonnen, mit Ihnen Haschen zu spielen. Sie haben etwas in Ihrem Besitz, nennen wir es eine Ware, die uns interessiert.“ Als fürchte er, sich zu beschmutzen, wenn er die Sache, auf die er aus war, beim Namen nannte, blieb er bei der Umschreibung. „Und nur über diese Ware wollen wir mit Ihnen ins Geschäft kommen.“ 253
„Aber ich wollte Ihnen die Nachricht von dem Protokoll im Paulus-Gymnasium doch gar nicht verkaufen“, sagte ich. Das muß ziemlich kläglich geklungen haben, denn Stocksiepen rümpfte leicht die Nase, und das war das erste Mienenspiel, das er während unserer Unterhaltung zeigte. „Ich rate Ihnen, klug zu sein.“ Er machte eine Pause, wie um mich zur Vernunft kommen zu lassen. „Also: Wo ist die Ware?“ Nun war ich wieder da, wo ich am Anfang gestanden hatte. Ich nippte am Kognak und war nicht fähig, das Zittern meiner Hand zu verbergen. „Wird’s bald?“ bellte Schneifel, dem inzwischen aufgegangen zu sein schien, daß die Geschichte von dem Protokoll ein Trick war. „Fräulein Klein“, begann ich, und als ich Marias Namen ausgesprochen hatte, kam der Rest der Geschichte wie von selbst, „Fräulein Klein liegt noch im Krankenhaus …“ „Das wissen wir auch“, fuhr Schneifel dazwischen. „Sie hat die Hälfte des Materials.“ Jetzt hatte ich endgültig den Faden gefunden, und wenn sich das, wonach so dringend verlangt wurde, wirklich teilen ließ, dann war ich aus dem Schneider. Aber was schon auf der Welt ließ sich nicht teilen? So unauffällig wie möglich beobachtete ich über den Schwenker hinaus die Gesichter der beiden Männer. In ihnen regte sich nichts. Schneifel blickte stumpf wie eh und je, nur daß sein Teint sich ins Rötliche verfärbt hatte; Stocksiepen schaute eher gelangweilt, so als sei mein ganzes Gerede keinen Pfifferling wert. Das beruhigte mich, machte mir Mut fortzufahren: „Meine Hälfte allein nutzt Ihnen nichts. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wir warten, bis Fräulein Klein 254
entlassen wird, und dann setzen wir uns noch einmal zusammen!“ Damit stieß ich bei Stocksiepen auf keine Gegenliebe. Er schüttelte leicht den Kopf, als er sagte: „Sie haben Zeit bis morgen, bis morgen mittag. Sehen Sie zu, wie Sie an die Klein rankommen. Wir haben es nicht geschafft.“ Er bemerkte meine Verwunderung und erklärte: „Ja, glauben Sie denn, wir verlassen uns auf einen wie Sie?“ Ich kam nicht dazu, eine beleidigte Miene zu ziehen. Ohne Pause fuhr er fort: „Wir treffen uns um drei Uhr wieder hier, nein, lieber doch in meinem Büro: Interkontinentale, Maximilianstraße, der Pförtner wird Sie raufbringen. Und dann haben Sie alles mit. Dann können wir auch über den Preis sprechen.“ Er stand auf und ging zu einer Rokokko-Kommode, auf der eine französische Stutzuhr hastig vor sich hin tickte. Eine Weile stand er mit dem Rücken zu mir, scheinbar ganz in die Bewegung des kleinen Pendels versunken, während ich zu Boden schaute, um den wütenden und drohenden Blicken, die Schneifel mir entgegenschickte, zu, entgehen. Schließlich sagte er: „Und keine Dummheiten, wenn ich bitten darf.“ Sonst nichts. Ich merkte, daß ich entlassen war, und verließ grußlos das Zimmer. Auf der Treppe begegnete ich Hochwürden Humbach. Beide taten wir so, als ob wir uns nicht kennen. Mir war die Laune, noch einmal in den Saal zu gehen, wo jetzt einige jüngere Paare tanzten, gründlich verdorben. Als ich mir in der Vorhalle meinen Mantel heraussuchte, sah ich vor einem riesigen ovalen Trumeau Frau Wiskirchen und ihren Mann, die offenbar gerade erst eingetroffen waren. Frau Wiskirchen legte letzte Hand an ihre Frisur, während der Alte sich den Smoking zurechtzupfte. Sie sahen mich beide fast gleichzeitig im Spiegel, 255
und wie auf Befehl wandten sich beide zur Seite, dem Saal zu. Beim Abgehen bemerkte ich, daß auf Wiskirchens linker Brustseite, knapp oberhalb der Unterkante der Smokingjacke, die silberne Einfassung des Eisernen Kreuzes blitzte. Je später der Abend, desto schöner die Gäste, dachte ich.
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15. In dieser Nacht machte ich kein Auge zu. Ich hatte Angst. Angezogen saß ich im Sessel; ich hatte mir nicht einmal die Mühe gemacht, den gepumpten Abendanzug gegen etwas Bequemeres auszutauschen. Um mich wach zu halten, trank ich starken Tee mit einem ordentlichen Schuß Korn in jeder Tasse – Rum war nicht mehr im Haus –, und als ich gegen drei Uhr trotzdem einzuschlafen drohte, hielt ich den Kopf unter die kalte Brause. Platten zu hören, hatte ich keine Lust. Zudem redete ich mir ein, ich müßte auf jedes Geräusch Obacht geben. Aber das automatische Ein- und Ausschalten des Kühlschrankmotors war das einzige, das die immer bedrückender werdende Stille unterbrach. Nur einmal raffte ich mich zu einer kleinen Aktivität auf, nachdem ich mit mir ins reine gekommen war, daß es jetzt doch besser sei, die Polizei zu verständigen. Munter war natürlich nicht mehr auf dem Präsidium, und irgendeinem Nichteingeweihten die ganze Sache auseinanderzusetzen, dazu hatte ich keine Lust. Ich ließ mir Munters Privatnummer geben, rief dann aber doch nicht an. Wer weiß, dachte ich, wie der eine nächtliche Störung aufnimmt. Und dann beruhigte ich mich: Am nächsten Tag war ich durch alles hindurch. Dann konnte ich die Polizei noch immer benachrichtigen, dann hatte ich wenigstens auch etwas vorzuweisen. Nur die Nacht mußte ich überstehen. Als es dann hell war, schlief ich trotz allem. Vom Schrillen des Telefons wachte ich auf. Ich glaubte noch zu träumen, als sich Kommissar Munter meldete. „Sie haben sich diese Nacht auf dem Präsidium nach meiner Nummer erkundigt?“ fragte er. „Woher wissen Sie das?“ „Ich weiß eben vieles.“ Das sollte geheimnisvoll klingen, hörte sich aber nur arrogant an. „Also, was ist los? 257
Polken Sie noch immer an der Sache rum und haben im Traum ’ne Erleuchtung gehabt?“ „Ich polke noch immer, und ich hatte eine Erleuchtung.“ „Lassen Sie hören.“ „Ich muß erst zu Ende träumen. Dann melde ich mich bei Ihnen. Spätestens um drei.“ Jetzt war ich richtig wach und fühlte mich einigermaßen wohl. Wäsche und Rasur besorgten den Rest. Ich zog meine gewohnten Sachen an und dehnte mich wie ein Kater vorm Bückling. Im Trenchcoat klimperten Münzen und knisterten Scheine aus Frau Wiskirchens splendider Anzahlung. Ich fuhr mit der Elektrischen zum Bahnhof, ließ mir trotz aller guten Vorsätze, mein Gewicht betreffend, im Wartesaal Eier auf Speck servieren, dazu eine Kanne Mokka, goß zwei Korn hinterher und kaufte Blumen und Konfekt für Maria und Konfekt und Blumen für die Schwester. Die Sonne schien, als ich den Bahnhof verließ. Selbst der Hospital-Pförtner kam mir heute freundlicher vor. Die ältliche Schwester erwartete mich schon, und sie errötete nicht, als ich ihr aus Respekt vor dem Armutsgelübde die Mitbringsel nur zögernd anbot. Sie sagte nur in kollektiver Bescheidenheit: „Da freuen wir uns aber.“ Und sie führte mich vor die Tür des Krankenzimmers, hinter der Maria lag. Ich war aufgeregt wie ein Bräutigam vorm Antrag. Maria war nicht so blaß, wie ich es mir vorgestellt hatte. Nur der Kopfverband deutete darauf hin, daß sie nicht zu ihrem Vergnügen hier lag, und dann natürlich das Zimmer, diese spartanisch möblierte und hygienisch aufgemutzte Kammer. „Nicht so lange“, mahnte die Nonne, ehe sie den Kopf samt Flügelhaube aus dem Türspalt zog. 258
„Tag, Maria“, sagte ich, nachdem die Tür geschlossen war. Mir fiel nichts anderes ein. Und dann noch: „Wie geht’s?“ Dabei hielt ich Blumen und Konfekt vor mich hin. „Vielen Dank.“ Sie schnupperte an den Rosen, wie Frauen das immer tun, wenn man ihnen welche schenkt und sie es nicht erwartet haben, und legte sie dann auf den Nachttisch. „Nett, daß du gekommen bist.“ „Mußte ja mal nach dir sehen.“ Keiner fand ein Wort, das die Dringlichkeit der Begegnung hätte ausdrücken können. Ich setzte mich auf den Stuhl neben ihr Bett, sie schob sich ein Stückchen höher. Ich schüttelte die Kissen auf und stopfte sie ihr in den Rücken. Dann war erst mal Pause, bis sie sagte: „Ach, Clemens!“ Das war kein Klagelaut, mehr Erleichterung lag in den zwei Worten, die von einem entsprechenden Blick begleitet wurden, und ich wünschte mir nur, ich wäre zu einem anderen Anlaß gekommen. „Wir haben, glaub’ ich, nicht viel Zeit“, sagte ich. „Die Schwester …“ „Ich weiß.“ Und dann fing ich an, ihr meine Erlebnisse der letzten Tage zu schildern, erst stockend, dann zusammenhängender. Ich merkte, daß das Zuhören sie anstrengte, aber ich war dermaßen auf diese Stunde programmiert, daß ich den Redefluß nicht hemmen konnte. Ich durchlebte alles noch einmal und ließ mich ins Detail ziehen. Als ich mir meiner Weitschweifigkeit bewußt wurde und sie fragte, ob ich ihr zuviel zumutete, schüttelte sie den Kopf. „Erzähl weiter“, sagte sie. „Schließlich geht uns das ja beide an, nicht nur dich.“ 259
Das klang noch ziemlich schwach. Die Darstellung meines Zusammentreffens mit Martha Wiskirchen bei Tucher aber brachte sie in Rage. Ich befürchtete, der Wortschwall, der aus ihr herausbrach, könnte zuviel für sie sein. Aber sie wehrte meine Beschwichtigungsversuche beinahe ärgerlich ab. „Laß mich“, sagte sie. „Schließlich darf ich mich doch über eine Ziege ärgern, die nur aus Lüge und Verstellung besteht. Am Sonntag, als du da warst, war sie ja noch sanft. Aber am Mittwoch bekam sie einen Anruf, und sie ging aus dem Haus. Wie ausgewechselt kam sie zurück. Sie schloß Heinrichs Schlafzimmer ab, das Wohnzimmer, die Dunkelkammer. Und dann lag sie mir in den Ohren, bis spätabends. Ob ich denn nichts von Heinrichs seltsamen Verbindungen zu seinen früheren Schulfreunden wüßte. Ich stellte mich dumm. Am nächsten Tag dasselbe. Und dieser Rechtsverdreher kam und stöberte in den Papieren ’rum und ließ alles registrieren. Auf dem Boden haben sie gelegen, die Teppiche haben sie aufgerollt, jedes Stück Möbel innen und außen und von unten Zentimeter um Zentimeter abgesucht.“ Maria hielt inne, auf ihrer Stirn hatten sich Schweißtropfen gebildet, die sie mit einer heftigen Handbewegung wegwischte. „Das Aufregen bekommt mir noch nicht wieder so gut wie früher“, fuhr sie mit einem schwachen Lächeln fort. „Die Wiskirchen war jedenfalls wie aus dem Häuschen. Sie versuchte es auf alle Touren. Sie redete süß, wie sehr sie an ihrem Bruder hänge und wie schrecklich es ihr wäre, daß er auf so tragische Weise ums Leben gekommen ist, und wie sehr sie wünsche, daß kein Makel an seinem Namen hängenbleibt. Als ob ich nicht gewußt hätte, daß Heinrich ihr und ihrem senilen Kerl völlig gleichgültig gewesen ist und sie nur darauf bedacht gewesen waren, ihn sich vom Hals zu halten.“ 260
Wieder hatte Maria sich in Schweiß geredet. „Hör auf“, sagte ich. „Ich kann mir vorstellen, wie sie zu Heinrich gestanden hat. Ich war da und habe sie bei Tucher erlebt.“ „Gar nichts kannst du dir vorstellen.“ Erregt langte sie nach einem Glas Apfelsaft, das auf dem Nachttisch stand. Sie nahm einen großen Schluck. „Mich haben sie seine Konkubine genannt. Das Haus haben sie mir verboten. Ich habe drei Jahre mit Heinrich zusammen gelebt, und nur, weil wir nicht verheiratet waren, war ich in ihren Augen eine Nutte. Aber dann, als er tot war und als die Brüder ihr was gesteckt hatten, war ich der Schreckschraube gut genug, Rede und Antwort zu stehen. Clemens, ich habe die Tage genossen.“ Sie machte die Augen zu und sielte sich in der Erinnerung. „Jede Stunde kam sie an, und immer wieder versuchte sie, mich auszufragen. Das Andenken von Heinrich war ja noch das wenigste, was sie auf dem Kasten hatte, und das hat sie sich denn auch bald abgeschminkt. Um ihren Mann hat die gebarmt.“ Maria öffnete die Augen einen Spalt breit, als sie von Wiskirchen sprach. „Man hätte meinen können, der alte Kerl hätte auf dem Hoteldach gestanden und Heinrich runtergeworfen, eigenhändig. ‚Willy überlebt die Schande nicht, wenn das unter die Leute gerät’, hieß es, und: ‚Willy hat einen Ruf zu verlieren, wenn Heinrichs Name durch die Öffentlichkeit gezerrt wird’, und: ‚Willys Firma ist in Gefahr, wenn das rauskommt.‘“ „Wenn was rauskommt?“ Marias atemlose Erzählung ging mir allmählich auf die Nerven. Ich machte diesen Besuch nicht, um mir ihre Ressentiments gebündelt anzuhören, ich wollte in der Sache weiterkommen. „Maria, wir haben nicht viel Zeit. Faß dich kurz, bitte.“ 261
Trotz der freundlichen Formulierung schien sie verletzt zu sein. „Du weißt, was los war“, sagte sie hart. All die verlegene Zärtlichkeit, die ich in der ersten Minute unserer Begegnung zu spüren geglaubt hatte, war verflogen. „Heinrich hat die anderen erpreßt“, sagte ich. „So ist es, wenn du das, was Heinrich getan hat, Erpressung nennen willst.“ „Und ich weiß auch, womit er sie erpreßt hat.“ Ich konnte nicht den Anklang von Befriedigung aus meiner Stimme heraushalten, als ich sagte. „Er wußte etwas aus ihrer Vergangenheit.“ „Wußte! Gut gesagt.“ Ich erwartete ein hinterhergeschicktes Lachen, aber es kam nicht. „Er konnte etwas beweisen.“ Ich mußte auf die Hauptsache kommen, ehe man mich hier wieder rausschmeißen würde. „Er konnte beweisen, daß Studienrat Gersdorff nicht verunglückt ist.“ Das schien sie denn doch zu beeindrucken. Sie sah mich erstaunt an und fragte: „Woher hast du das erfahren?“ Ich kam nicht zum Antworten. Nach einem kaum hörbaren Klopfen schob sich wieder der Kopf der Nonne durch den Türspalt. „Es wäre schade um die schönen Rosen“, sagte sie, und sie wies eine weiße Vase als Grund für die Störung vor. Als sie dann quer durchs Zimmer auf Marias Bett zuging, sah es wegen des langen schwarzen Rocks so aus, als laufe sie lautlos auf Rollen. Sie stellte Marias Strauß ins Wasser. Dabei gab sie sich nicht die geringste Mühe, zu verbergen, daß ihr Kommen weniger den Blumen als der Patientin galt, die sie, seit sie ins Zimmer getreten war, nicht aus den Augen ließ. 262
„Wie fühlen Sie sich denn, mein Kind“, fragte sie dann auch prompt. „Soll ich Ihnen irgend etwas bringen?“ „Vielen Dank, Schwester Adelgundis“, sagte Maria mit dem strahlendsten und sanftesten Lächeln, so als habe sie sich nicht eine Minute zuvor noch heftig engagiert. „Herrn Schweizers Besuch ist für meinen armen Kopf direkt eine Wohltat.“ Dabei warf sie mir einen Blick zu, der mich daran zweifeln ließ, ob ihr mein Besuch nicht wirklich trotz allem Bedürfnis sei. „Klingeln Sie, wenn Sie etwas brauchen“, sagte Schwester Adelgundis mit einem letzten prüfenden Blick auf Maria und rollte wieder zur Tür hinaus. „Ich bin den Nonnen ja so dankbar“, sagte Maria freundlich. „Du bist nämlich nicht der einzige, der hier rein wollte. Frau Wiskirchen zum Beispiel hätte ihren linken Arm dafür gegeben, ein paar Worte mit mir wechseln zu können. Du glaubst ja gar nicht, wie ärgerlich es für die alle ist, daß ich jetzt hier unter Verschluß liege.“ „Wer hat dich denn überfallen?“ fragte ich hastig, da mir jetzt erst bewußt wurde, daß ich mich bisher noch nicht einmal nach der Ursache ihres Krankenhausaufenthalts erkundigt hatte. Aber Maria schien den Umstand ihrer Geborgenheit im Elisabeth-Hospital so sehr zu genießen, daß sie einfach antwortete: „Was weiß ich. Ich konnte bei der Schnelligkeit, mit der alles vonstatten ging, und bei der runzligen Hausbeleuchtung nicht sehen, wen ich da beim Kramen gestört hatte. Vielleicht war es der Kerl, der mich am Abend schon mal besucht und der mich so komisch eindringlich gefragt hat, ob ich denn wirklich nicht wüßte, wo das Zeug versteckt ist.“ „Wahrscheinlich Scharrer“, kommentierte ich. „Ja, der oder Wiskirchen.“ 263
„Wiskirchen?“ fragte ich. „Oder der schwule Schauspieler“, sagte sie. „Katzmann?“ „Du weißt wohl nicht, daß er schwul ist?“ Das alles schien sie nicht zu interessieren. „Einer so gut wie der andere. Oder vielmehr: einer so mies wie der andere.“ Eine heitere Gelassenheit hatte sie überkommen. Sie sagte: „Weißt du eigentlich, daß ich dich auch für einen von denen gehalten habe?“ fragte sie, und als sie meinen gekränkten Blick sah, korrigierte sie sich: „Nicht direkt für einen von denen, aber doch für einen, der sich an Heinrich eine goldene Nase verdienen wollte. So oder so.“ Dabei kippte sie eine aufgestellte Hand nach links und nach rechts hinunter, und ich konnte mir nun übersetzen, was sie damit meinte. „Du hast so gierig ausgesehen – aber das weißt du wahrscheinlich nicht –, am Geburtstag von Heinrich, als er davon sprach, er könnte dir eine Story erzählen, nach der sich alle Zeitungen die Finger lecken würden. Oder so ähnlich. Und dann bist du auch gekommen, wie bestellt, gleich am nächsten Tag, nachdem Heinrich tot war, und hast dußlig gefragt. Eben wie einer von der Zeitung.“ „Ich bin nicht mehr beim ‚Stadtboten‘.“ Das sagte ich einfach dahin, obwohl ich mir doch noch Chancen ausrechnete, daß die Kündigungsandrohung nicht so schroff gemeint war, wie sie Kaminski ausgesprochen hatte, daß es vielleicht doch noch eine Chance für mich gab. „Das freut mich aber“, sagte Maria und beschämte mich. „Aber ich hab’ dich ja bald durchschaut. In dem scheußlichen Nachtlokal war es mir klar: Dir geht’s nicht um einen Artikel, dir geht es um Heinrich. Wie mir.“ Sie machte den Eindruck, als ob sie froh wäre, mir das sagen zu können. „Aber dann war es auch schon zu spät. Ich 264
hätte dich mit ins Haus nehmen sollen. Wir wären jetzt bestimmt schon viel weiter.“ „Wieso ‚weiter‘?“ „Du fragst wie ein Dummer.“ Maria stützte sich auf die Ellbogen hoch, und ich konnte nicht anders, als auf ihre Brüste zu sehen, die sich bei dieser Bewegung nach vorn schoben. Gleichzeitig hatte ich wieder einen Anflug von dem Geruch in der Nase, der mir bei Heinrichs Geburtstag so angenehm gewesen war. „Als ob du dir das nicht ausrechnen könntest.“ „Was soll ich mir ausrechnen können?“ Die Frage hatte wahrscheinlich ein bißchen zu schroff geklungen. Maria ließ sich wieder ins Kissen fallen und lag, für eine Weile stumm da. Als sie wieder zu sprechen begann, war ihre Stimme leise, wie zur Erklärung sagte sie: „Ich habe Heinrich geliebt. Heinrich war ein Mann, wie ich keinen bisher gefunden habe.“ Das war der Ton, den ich von unserem Gespräch in der Nachtbar her kannte, als sie mich „zum Kotzen“ gefunden hatte. „Deshalb bin ich auch seiner Schwester so entgegengetreten, als die von ihrem Mann sabberte und von dem Ruf, den die Familie Wiskirchen zu verlieren hätte.“ Jetzt hatte Maria den Faden wiedergefunden. „Gerechtigkeit, wie sie Heinrich verstanden hat, kennt sie nicht. Sie hat andauernd nur an sich und an ihr bißchen Glück mit dem alten Kerl gedacht. So wie die anderen nur darauf gelinst haben, was es ihnen wert ist, daß ihre Vergangenheit nicht bekannt wird, der Versicherungsdirektor, der Schrotthändler, der Pfaffe, der Schauspieler und der unangenehme Kerl von einem Zahntechniker. Menschen waren das alles nicht.“ „Aber Heinrich war ein Mensch.“ Das hatte ziemlich emphatisch geklungen, und Maria 265
nahm den Tonfall auf, als sie antwortete: „Ja, Heinrich war wirklich ein Mensch. Und du“, sagte sie mit einem warmen Blick auf mich, „du bist auch einer. Für mich.“ Da saß ich nun an einem Krankenbett, begierig zu erfahren, was ich noch nicht wußte, und mußte ein Kompliment schlucken, dessen Tragweite ich nicht abschätzen konnte, solange ich nicht genau wußte, was Maria mit dem Wort „Mensch“ denn nun meinte. Vorsichtig versuchte ich, sie wieder aufs Wesentliche zu drängen. „Komm, Maria“, sagte ich, „erzähl weiter. Für Komplimente haben wir später Zeit.“ „Die Tour der Zeitungsfritzen hast du dir aber noch nicht abgewöhnt.“ Sie versuchte das im Spaß zu sagen, konnte aber den Ärger nicht ganz aus ihrer Stimme halten. „Ich verspreche dir, du sollst alles hören. Nur: dräng mich nicht. Schließlich bin ich eine arme kranke Frau, die seit Tagen nur ein paar Worte mit einem Schnösel von Arzt und mit Nonnen wechseln konnte, und Nonnen sind auch nicht gerade die besten Gesprächspartner.“ Sie machte eine Pause, trank von dem Apfelsaft und sagte dann sachlich: „Wo war ich stehengeblieben?“ „Daß Stocksiepen und Konsorten keine Menschen wären“, antwortete ich, bemüht, meine Ungeduld nicht zu zeigen. „Warum sagst du ‚Stocksiepen und Konsorten‘?“ fragte sie, wartete aber meine Antwort nicht ab. „Genau wie Heinrich. Der hat auch immer gesagt, Stocksiepen ist der Mieseste von den Miesen. Der hat kein Herz, hat er gesagt, der hat nie eins gehabt, der will nur Macht haben und obenan stehen. Ich hab’ ihn ja nie kennengelernt, aber so, wie er mir von Heinrich geschildert worden ist, stelle ich mir einen richtigen bösen Menschen vor.“ Sie sann dieser kindlichen Formulierung nach. „Heinrich 266
konnte einem jemand so richtig lebendig machen, nur durchs Erzählen. Über die anderen hat er manchmal gelacht. Über Stocksiepen nie, und auch nicht über Frobenius. Die beiden hat er auf den Tod gehaßt.“ „Und tüchtig ausgenommen“, ergänzte ich, um wieder zur Sache zu kommen. „Ausgenommen hat er sie alle.“ Das sagte sie heiter. „Zuerst, als ich anfangs bei ihm war, wußte ich ja noch nichts von der Sache. Aber dann, an einem Abend, hat er mich eingeweiht. Wir waren im Konzert gewesen und hatten hinterher noch ein bißchen getrunken. Er war fröhlich und hat viel gelacht. Wie wir zu Hause angekommen sind, hat er gesagt: ‚Jetzt zeig’ ich dir was ganz Komisches.‘ Er hat den Schnellhefter ’rausgeholt, denselben, den du am Sonntag in der Hand hattest. ‚Das sind Leute, die bei mir eine alte Schuld abtragen‘, hat er erklärt und ist plötzlich ganz ernst geworden. Er erzählte von der Schule und wie scheußlich es da gewesen ist mit den Nazis, wie sie ihn und andere, die bei dem hohlköpfigen Zeug nicht so richtig mitmachen wollten, drangsaliert hätten. Ich habe das ja alles nicht bewußt erlebt, weil ich in diesem Dritten Reich noch Kind war. Mir hat sich richtig eine Gänsehaut hochgestellt, als Heinrich von alledem sprach, von der ganzen Atmosphäre und so. Gott ja, man weiß, was sie mit den Juden gemacht haben und mit den Kommunisten, Aber das weiß man eben nur. Wenn aber jemand einem Einzelheiten erzählt, dann ist das etwas ganz anderes. Bei uns zu Haus wurde darüber fast nie gesprochen, Mein Vater war bei der Post, und der sagte immer nur, man sollte ihn mit dem ganzen Quatsch in Ruhe lassen, Briefe und Pakete müßten immer befördert werden, und also gäb’s auch immer eine Post, ob nun die Nazis dran wären oder der Adenauer oder der 267
Graf Teufel. Durch Heinrich erst habe ich begriffen, was das für ein Pack war. Und er hat mir auch erklärt: Das Pack sitzt noch immer oder jetzt wieder an den entscheidenden Stellen. Das müßte so sein, hat er gesagt, denn es hätte sich nichts wirklich geändert, nur die Kappen wären ausgetauscht worden. Jeder anständige Mensch hätte die Pflicht, das Kroppzeug zu bekämpfen. Er täte es auf seine Weise, er würde ein paar von ihnen, von denen er genau weiß, daß sie Schweine waren und geblieben sind, bluten lassen. Und dann hat er mir erklärt, wie er das macht.“ Gespannt wartete ich auf den Fortgang der Enthüllungen. Doch Maria, die meine Ungeduld bemerkte, schien es zu genießen, daß ich ihr an den Lippen hing wie der Enkel der märchenerzählenden Großmutter. Sie nahm wieder einen Schluck von dem Apfelsaft und lächelte mich dabei an, als wollte sie sagen: Feine Sache, die ich dir da erzähle, nicht? „Womit hat er sie erpreßt?“ fragte ich in die Pause hinein. „Eins nach dem anderen“, sagte Maria und hob beschwichtigend eine Hand. „Er hat mir also die Mappe gezeigt. ‚Konto Gersdorff‘ stand drauf. Und er hat mir all die Namen vorgelesen, die da verzeichnet waren. ‚Die‘, sagte er, ‚haben einen Lehrer umgebracht, einen prima Mann. Das kann ich beweisen. Das war am vierundzwanzigsten Juni einundvierzig, ich sehe alles noch wie gestern vor mir: wie sie ihn zusammengeschlagen haben, wie sie mit Steinen auf ihn losgegangen sind, wie sie ihn beschimpft haben und wie er um sein Leben gebettelt hat. Bolschewistenschwein und Judenknecht haben sie gebrüllt, und als er dann liegengeblieben ist, haben sie ihn hochgezerrt und an den Rand des Steinbruchs gestellt 268
und ’runtergestoßen, dreißig, vierzig Meter in die Tiefe!‘“ Maria schloß die Augen. Bei dem Bericht hatten sich ihre Hände in die Bettdecke verkrampft, als habe sie selbst erlebt, was sie schließlich nur aus Heinrichs Erzählung kannte. Als sie die Augen wieder aufschlug, war ihr Blick leer. Sie fuhr fort: „Dabei hat der Lehrer nichts anderes gesagt, als daß Hitler ein Dummkopf wäre, weil er die Russen überfalle, und daß Deutschland das noch einmal sehr bereuen würde. Zu Frobenius hat er das gesagt, und der hat es an die Burschen verraten. Die haben denn auch so eine Art geheimes Gericht über ihn gehalten, sofort, und ihn zum Tod verurteilt. Und Frobenius hat dabeigestanden, als sie ihn umgebracht haben, und er hat keinen Finger gerührt. Und alle sind wieder ins Gasthaus zurückgegangen und haben weitergefeiert. Da war nämlich so ein Abitur-Kommers im Gang. Gersdorff war ihr Lateinlehrer, und sie hatten ihn auch eingeladen, diese Mörder.“ Maria schüttelte den Kopf. Sie konnte die Tat dieser Burschen einfach nicht begreifen. „Clemens“, sagte sie, „ich habe die Bilder gesehen …“ „Die Bilder?“ Etwas wie Schreck durchzuckte mich. „Was für Bilder?“ „Na, die Fotos. Heinrich hat doch alles fotografiert.“ Das sagte sie so, als sei es die selbstverständlichste Angelegenheit der Welt, daß jemand fotografiert, wie einer umgebracht wird. „Vier Bilder sind es. Heinrich hat schon damals gern fotografiert, und er hatte auch an dem Tag, an dem sie den Ausflug und die Feier gemacht haben, seinen Apparat mit, wollte ein paar Schnappschüsse zum Andenken ans letzte Beisammensein der Klasse machen. Und dann ist er aus der Kneipe weggegangen, weil es ihm da zu laut war oder was weiß ich. Im Wald am Steinbruch hat er Geschrei ge269
hört und ist hingelaufen. Da hat er dann alles gesehen. Hinter einem Baum stand er, am Waldrand. Er hat mir erzählt, wie er zuerst hinlaufen und Gersdorff helfen wollte. Aber er ist zu feige gewesen, und er hätte sich selber anspucken mögen, sagte er, weil er zu feige war. Und dann ist die kalte Wut über ihn gekommen, und er hat geknipst, aus höchstens zehn Meter Entfernung, auch wie sie Gersdorff in den Steinbruch runtergeschmissen haben.“ Mir war kalt geworden. Mein Mund war trocken wie die Sahara, und für mein Leben gern hätte ich einen Schluck von dem Apfelsaft getrunken. Aber ich brachte nicht einmal die Energie auf, nach dem Glas zu langen. Zusammengesunken saß ich auf dem Stuhl und starrte auf das Linoleum. „Heinrich wollte alles anzeigen“, fuhr Maria fort. „Anderen Tags ist er zum Direktor gegangen und hat ihm gesagt, er glaubte nicht, daß Gersdorff verunglückt sei, und er hat Andeutungen gemacht, er wüßte, wie er ums Leben gekommen ist. Die ganze Wahrheit hat er sich nicht zu sagen getraut. Er hatte Angst, die würden ihn auch umbringen oder er könnte in irgendeinem Lager verschwinden. Das mit dem Lager hätte ihm denn auch fast geblüht. Am selben Tag noch kamen zwei Kerle, die Heinrich in die Zange genommen haben, und er mußte versprechen, keine Silbe mehr von dem Blödsinn, wie sie sagten, laut werden zu lassen. Sonst würden sie ihn dahin bringen, wo man aus zersetzerischen Elementen anständige Volksgenossen macht. Da hat Heinrich noch einmal gekniffen, und davon, daß er die ganze Sache geknipst hat, hat er erst gar nichts gesagt. Was hättest du denn gemacht?“ fragte sie mich so, als hätte ich Heinrichs Verhalten mißbilligt. 270
„Ich weiß es nicht, Maria“, sagte ich, und ich wußte es wirklich nicht. „Wahrscheinlich hätte ich dasselbe gemacht, mit neunzehn. Vielleicht würde ich heute noch so handeln, unter denselben Umständen. Ich weiß es wirklich nicht.“ „Eben.“ Maria nickte befriedigt. „Aber Heinrich hat sich immer damit herumgeschlagen. Ich glaube, er hat die Kerle später auch deshalb so gezwiebelt, weil sie ihn dazu gebracht haben, sich selber anspucken zu wollen.“ „Aber doch nicht nur aus dem Grund“, warf ich ein. Heinrich war mir ein Rätsel geworden, das ich nicht ohne weiteres lösen konnte. „Natürlich nicht nur deshalb.“ Marias Ton war wieder gelassener. Wahrscheinlich dachte sie mit einem gewissen Vergnügen daran, wie Heinrich die Verbrecher zur Ader gelassen hatte. „Aber sollte er sich diesen Burschen gegenüber als der Edle zeigen? Außerdem ist er ja erst viel später auf die Idee gekommen, die Stocksiepen und Konsorten zu piesacken. Erst wurde er eingezogen, schon drei Wochen nach der Geschichte, und der Film mit den Bildern war in einer Kiste im Keller seiner Eltern in der Spießergasse, mit all seinem übrigen Kram. Und als die Bombe da einschlug und Heinrichs Eltern zerfetzte, im Winter vierundvierzig, da war Heinrich schon in Gefangenschaft. Als er zurückkam und die Ruine sah, dachte er gar nicht daran, daß überhaupt noch etwas gerettet worden wäre. Dann ist er ja erst mal aus der Stadt gegangen und hat irgendwo unten an der Mosel gearbeitet, in einer Weinkellerei. Erst als er vor ungefähr acht Jahren zurückgekommen ist und wollte die Weinhandlung und das Haus seiner Eltern wiederaufbauen, da erst hat er erfahren, daß die Kiste mit seinen Sachen noch da ist. Bei Wiskirchens auf dem Boden 271
hat sie gestanden.“ Sie lachte. „Die werden sich heute die Krätze an den Leib ärgern, daß sie ihm die Kiste wiedergegeben haben. Ja, und mit dem Film hat er dann ein paar fröhlichen Jungs gezeigt, wo der Hund begraben ist.“ „Maria!“ „Ist doch wahr“, sagte sie. „Da saßen die Schufte ’rum und hatten den Mord längst vergessen oder wollten nicht mehr dran denken. Und der eine verdiente sich dämlich am Schrott, der andere war drauf und dran, seinem Vater auf den Direktorensessel zu folgen, der dritte war Kaplan im Generalvikariat, hatte die besten Aussichten auf eine gute Pfarre und hatte außerdem noch einen Onkel beerbt. Und Heinrich hatte den Kopf voller Sorgen, wie er das Haus wiederaufgebaut kriegte. Darlehen hat er aufnehmen müssen, an denen er noch Jahre zu knabbern gehabt hätte. Von Schneifel wollte er was gepumpt haben. Aber der hat den armen Mann gespielt. Auch Stocksiepen sagte, er könnte ihm nicht helfen. Da ist Heinrich denn auf die Idee gekommen, ein paar Abzüge von den Negativen machen zu lassen.“ So einfach war das also, ganz der freien Marktwirtschaft angepaßt. Jemand hatte eine Ware, und er bot sie da an, wo er am meisten für diese Ware bekam. Auch Heinrich war da nicht anders verfahren, Heinrich Küpper, der mir so sympathisch gewesen war. Vielleicht ist es das System, das die Menschen versaute, dachte ich, die täglich gepriesenen Vorbilder für ein Leben in Freiheit und die Slogans vom Eigentum, das frei macht, von der Tüchtigkeit, die erst den Menschen erschafft, das „Haste was, biste was“. Heinrichs Motive, ganz gleich, wie tief und ehrlich sie auch sein mochten, hatten eben doch nur zu ganz gewöhnlichem Gewinnstreben geführt. 272
Es hielt mich nicht länger auf dem Stuhl. Ich ging zum Fenster und starrte auf den Innenhof hinunter, wo Menschen in Bademänteln um ein Rondell mit spärlichem Rasen oder auf Bänken unter schon entlaubten Kastanien saßen. „Du findest das wohl nicht richtig“, sagte Maria. „Du meinst wohl, Heinrich hätte zum Gericht laufen sollen, wo die Beweise dann womöglich jahrelang liegengeblieben wären.“ Ich wußte keine Antwort, wollte auch keine geben. Was sollte das nachträgliche Richten? Ich sagte: „Erzähl weiter, Maria.“ „Jedes Neujahr hat er sie ihnen geschickt, die Bilder.“ Sie schien froh, daß ich mich wieder gesetzt hatte und daß sie mit ihrem Bericht fortfahren konnte, anstatt mit mir über Heinrichs Tun zu rechten. „Die ersten Jahre mußten sie ja nur Wein zu normalem Preis von ihm kaufen, aber in solchen Mengen, daß sie darin hätten baden können. Übrigens nicht alle gleich viel. Heinrich hatte auch hier ein ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit. Die dicken Verdiener mußten am meisten kaufen, die weniger hatten, weniger. Und Heinrich hat über alles genau Buch geführt. Es hat ihm Genugtuung bereitet, wenn er wieder mal etwas auf das ‚Konto Gersdorff‘ schreiben konnte. Vor drei Jahren ist ihm dann in den Sinn gekommen, den Preis zu erhöhen. Und das hat er denn auch getan. Auf tausend Mark für die Flasche hat er den Preis erhöht.“ Mir stockte der Atem. Ich dachte an die Anzahl der gelieferten Weinflaschen, die auf den Konten verzeichnet waren, und ich versuchte zu überrechnen, wieviel Heinrich in diesen drei Jahren zusammenbekommen hatte. Ich schaffte es nicht so schnell, verhedderte mich 273
und sagte nur: „Da muß ja ein ganz beträchtliches Sümmchen zusammengekommen sein.“ Maria nickte ernsthaft. „So viel war ihnen die weiße Weste wert.“ Und unbekümmert setzte sie hinzu: „Wenn sie es nicht gehabt hätten, hätten sie’s nicht bezahlen können.“ „Und was ist mit dem Geld geschehen?“ Maria antwortete nicht sofort. Sie trank wieder vom Apfelsaft. „Wir haben gut gelebt“, sagte sie, als sie das Glas absetzte. „So gut kann keiner leben. Ich habe doch schließlich auch einen Blick in euren Haushalt tun können.“ Ich begann ärgerlich zu werden, wie immer, wenn mich einer für dumm verkaufen will. „Also: Was ist mit dem Geld geschehen?“ Jetzt schwieg Maria aus Trotz. Sie kehrte mir den Rücken zu, und ich hörte, wie sie heftig atmete. „Maria!“ Ich berührte sie leicht an der Schulter. Vielleicht war ich doch zu weit gegangen. Was hatte ich schließlich für ein Recht, mich um Heinrichs Ausgaben zu kümmern? Als sie sich mir wieder zuwandte, sah ich in ein ziemlich klägliches Gesicht. „Das Geschäft ging nicht gut“, sagte sie. „Und dann waren da noch Darlehen abzutragen. Und wir mußten uns ja auch etwas auf die hohe Kante legen.“ Das klang solid kleinbürgerlich und gar nicht nach großangelegtem und verwegenem Coup, dem dazu noch ein moralischer Anstrich verpaßt worden war. Das ließ mich grinsen. „Lach nicht!“ sagte sie in ehrlichem Zorn. „Wir brauchten das Geld, und ein paar von denen hatten zuviel davon.“ „Eine Art Umverteilung von Eigentum also“, stellte ich fest. 274
„Wenn du es so nennen willst. Geld ist das einzige, was sie haben, und das einzige, hinter dem sie her sind, hat Heinrich immer gesagt, und wenn man sie am Geld packt, dann packt man sie an ihrem Leben. Und er hat sie an ihrem Leben gepackt!“ „Bis sie ihn an seinem Leben gepackt haben“, sagte ich. Maria sah mich groß an, fast erschrocken, so als habe sie etwas erfahren, was sie noch nicht gewußt hatte. „Sie haben ihn umgebracht“, sagte sie dann tonlos, „wie einen Hund haben sie ihn totgeschlagen, wie Gersdorff haben sie ihn umgebracht.“ „Das können wir nicht beweisen, Maria, wenigstens so lange nicht, bis wir ihr Motiv stichhaltig belegen können.“ Sie achtete nicht auf meinen Einwurf und fuhr fort: „Ich hatte immer die Angst, er würde eines Tages nicht mehr nach Haus kommen. Immer wieder haben sie ihn beredet, er solle ihnen die Negative geben. Sie wollten eine anständige Summe dafür zahlen. Aber Heinrich hat nur gelacht. ‚Ich werde mir doch nicht den Spaß versauen, diese Scheißer bibbern zu sehen‘, hat er gesagt. ‚Die sollen bis an ihr Lebensende daran denken, daß man Menschen nicht totschlagen darf.‘ Auch an seinem letzten Tag wollten sie ihn überreden, ihnen die Negative zu verkaufen. Aber er hat sie gar nicht erst mitgenommen. Schneifel war vorher bei ihm, Katzmann kam, und dann ist auch noch Wiskirchen gekommen und hat an seinen Familiensinn appellieren wollen. Seine Schwester würde es nicht überleben, hat er gejammert, wenn einmal herauskäme, daß ihr Bruder ein Erpresser sei.“ „Die Wiskirchens haben also davon gewußt?“ fragte ich, nachdenklich geworden. „Sie nicht, nur er. Ihn haben sie eingeweiht, wohl weil sie dachten, er richtet mehr bei Heinrich aus. Sie hat erst 275
am Sonntag von dem ganzen Schlamassel erfahren, nachdem sie angerufen worden ist und das Haus verlassen hat. Aber dann war sie die Eifrigste bei der Suche nach den Dingern.“ „Und wo sind diese … Dinger?“ Maria machte ein pfiffiges Gesicht, und das ließ sie trotz des weißen Turbans liebenswert aussehen. „Da, wo sie immer waren“, sagte sie. „Heinrich war nicht so dumm, sie im Haus zu behalten.“ „Und warum hast du nach Heinrichs Tod die Negative nicht sofort der Polizei übergeben?“ Maria lachte nur kurz. „Warum?“ sagte ich schon schärfer. Der Gedanke daran, daß sie nicht nur die Polizei, sondern auch mich an der Nase herumgeführt hatte, brachte mich in Brast. Daß sie mich bei allem noch gelassen ansah, konnte mich nicht besänftigen. Wäre nicht in diesem Augenblick wieder die Tür einen Spalt breit geöffnet worden, ich glaube, ich hätte Maria bei der Schulter genommen und sie geschüttelt, um eine Antwort aus ihr herauszubekommen. „Wir müssen aber jetzt ans Schlußmachen denken“, flötete es von der Tür her. „Nur noch ein paar Minuten, Schwester Adelgundis. Ich verspreche es Ihnen“, sagte Maria, „wir sind bald zu Ende.“ „Denken Sie daran, Sie sind noch nicht wieder die Stärkste.“ Und die Tür wurde wieder geschlossen. „Du hast mich gefragt, warum ich mich nicht an die Polizei gewandt habe.“ Maria sprach nun ganz sachlich. „Vielleicht wollte ich noch eine Stange Geld aus den Gentlemen herauspressen. Vielleicht war auch mir der Gedanke unangenehm, daß Heinrich in der Öffentlichkeit als Erpresser hingestellt wird. Vielleicht deshalb, weil die 276
Mörder wirklich bis an ihr Lebensende daran denken sollten, daß man Menschen nicht umbringen darf, so wie es Heinrich gewollt hat. Such dir aus, was dir paßt. Es ist ohnehin nicht mehr von Bedeutung. Und es ist zu gefährlich geworden.“ Sie deutete mit einem flüchtigen Lächeln auf ihren Kopfverband. „Ich geb’ dir den Schlüssel zu dem Fach im Hauptpostamt. Da liegt das Zeug. Mach damit, was du willst. Kitzel sie damit: noch ein bißchen, wenn es dir Spaß macht oder wenn du Geld brauchst. Geh zur Polizei. Verbrenn den Kram. Mach, was du willst.“ Diese Gelassenheit war mehr, als ich verkraften konnte. Ich sprang vom Stuhl auf, der hinter mir zu Boden polterte, ohne daß ich das überhaupt registrierte, und rief: „Aber wir müssen doch beweisen, daß Heinrich ermordet worden ist!“ „Das macht ihn auch nicht wieder lebendig“, sagte Maria. Sie wandte sich zum Nachttischchen, nahm eine Handtasche aus der Schublade, kramte in ihr herum und hielt mir einen kleinen Schlüssel entgegen. „Hier, Clemens, nimm. Und sei vorsichtig.“ „Ich besuch’ dich bald wieder“, sagte ich hastig, als ich den Schlüssel nahm. „Morgen vielleicht schon.“ „Komm, wann du willst.“ Als ich ihr die Hand geben wollte, sagte sie: „Und keinen Kuß für eine arme Kranke?“ Ich beugte mich über sie, und dann spürte ich ihre weichen, vollen Lippen, und sie roch gut, wie immer, trotz der Spur von Krankenhausodeur auf ihrer Haut.
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16. Die Hauptpost ist nur drei Straßen vom Elisabeth-Hospital entfernt. Ich ging aber nicht auf dem nächsten Weg dorthin, weil ich Verfolgung fürchtete. Mit einem Taxi ließ ich mich fünf Minuten lang fahren, wobei ich immer durch die Rückscheibe beobachtete, ob uns kein Auto folgte. An einer Straßenbahnhaltestelle ließ ich mich absetzen und fuhr zurück bis in die Nähe der Post. Es war genügend Angst in mir, um mir mein Verhalten nicht als lächerlich erscheinen zu lassen. Die Postfächer hatte man in der Vorhalle angebracht, damit sie auch an Sonntagen zugänglich waren. Dreiundfünfzig stand auf dem Schlüssel. Als ich das Fach gefunden hatte, sah ich mich um wie einer, der einbrechen will. Aber die Halle war menschenleer. Ich schloß auf und nahm einen großen braunen Umschlag heraus, das einzige, was in dem Safe deponiert war. Ich weiß heute nicht mehr, ob ich das Fach wieder abgeschlossen habe, so schnell verließ ich die Hauptpost. Ich schwitzte wie nach einer schweren Arbeit, als ich mich in einer gegenüberliegenden Kneipe, die ziemlich angefüllt war mit Männern, an einen freien Tisch im Hintergrund setzte. Man sprach nur vom Fußball und vor allem davon, daß der FC am Tag zuvor schon wieder verloren hatte, und bereitete den Magen mit einigen Schnäpsen auf den Sonntagsbraten vor. Den braunen Umschlag legte ich vor mich hin. Ich hatte Hemmungen, ihn zu öffnen, und ich trank auch erst einen Doppelten, ehe ich mit dem Zeigefinger unter die Lasche fuhr. Das Papier zerriß mit einem trockenen Laut. Vier Fotos im Postkartenformat enthielt der Umschlag – und, in Seidenpapier gehüllt, einen Streifen Film. Heinrich mußte damals schon ein geschickter Fotograf gewesen sein, und er mußte eine gute Kamera gehabt haben. 278
Denn was ich zu sehen bekam, das waren Bilder, die Menschen und Landschaft gestochen scharf zeigten. Dreimal waren die Szenen einander zum Verwechseln ähnlich: Vor dem Hintergrund eines grellweißen Himmels hob sich eine Menschengruppe ab, mitten in heftiger Bewegung erstarrt. Doch bei näherem Hinsehen entdeckte man, daß drei verschiedene Situationen festgehalten waren, in deren Mittelpunkt jedesmal ein Mann mit wirrem Haar stand. Ich versuchte, die Bilder in die richtige Reihenfolge zu bringen, was mir beim zweiten Sortieren gelang, und ich hatte den Ablauf des Geschehens vor mir, so wie er mir von Maria mit Heinrichs Worten geschildert worden war. Auf dem ersten Bild stand der Mann mit wirrem Haar noch aufrecht. Er war sehr groß und schlank und überragte die anderen beträchtlich. Sein Mund war offen. Mit dem Rücken zur Kamera sah man drei junge Männer in hellen Hemden, einer von ihnen in Knickerbocker, die auf den Mann anstürmten. Zwei hatten den rechten Arm gehoben, waren offensichtlich mitten im Schlag. Sechs weitere junge Männer waren von vorn oder im Profil zu sehen, auch sie alle in heftigen Bewegungen begriffen, die eindeutig die Absicht verrieten, auf den Mann mit Schlägen einzudringen. Drei erkannte ich sofort. Stocksiepen hatte sich in den fünfundzwanzig Jahren nicht verändert. Wenn man von dem lächerlich kurzen Haarschnitt absah, war es das Gesicht des Mannes, dem ich gestern begegnet war, und es schien, der Heftigkeit der Szene ganz unangepaßt, seltsam gelassen zu sein. Humbach trug damals schon eine Brille, und sein Gesicht war schon so rund wie heute, wenn auch das Doppelkinn noch fehlte. Auch Katzmann, obwohl in vollem Haar und asketisch schmal, war leicht zu erkennen. Er stand ein wenig abseits, so als zögerte er, in den Tumult einzugreifen. Die anderen Gesichter sagten mir nichts. Sie gehörten 279
wahrscheinlich zu denen, die im Krieg gefallen waren, und sicherlich gab es unter ihnen auch das Scharrers, den ich ja bisher noch nicht kennengelernt hatte. Vergebens suchte ich nach Schneifels Porträt, wenigstens auf der ersten Fotografie. Entweder hatte er sich so verändert, daß ich ihn nicht mehr erkennen konnte, oder er war einer von denen, die mit dem Rücken zur Kamera standen. Auf dem zweiten Bild sah ich dann auch Schneifel. Er hatte den Mann, der jetzt auf den Knien lag, an der Gurgel gepackt und holte mit der Rechten zu einem Schlag aus, und in dieser Rechten hielt er etwas, wahrscheinlich einen Stein. Stocksiepen war im Begriff, dem Mann vor die Brust zu treten; Katzmann war näher an die Gruppe herangerückt, ohne indes in das Geschehen einzugreifen; Humbach stand diesmal einige Schritte entfernt und ließ die Arme schlaff herunterhängen. Das dritte Bild gab am wenigsten her. Der Mann lag jetzt flach auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten, und die Umstehenden verharrten in gebückter Haltung. Ich erkannte nur Stocksiepen, der ein Bein ergriffen hatte und an ihm zog, wahrscheinlich um den Mann der Steinbruchkante, die auf diesem Bild näher gerückt war, ein Stück entgegenzuzerren. Das vierte Bild schließlich war ein ausstellungsreifer Schnappschuß. Schräg gegen den weißen Himmel gestellt sah man den Mann, der beide Arme von sich streckte, und im Vordergrund, meist in der Rückenansicht, standen die jungen Männer, und es blieb nicht der geringste Zweifel, daß sie den Bruchteil einer Sekunde zuvor ihrem Opfer einen Stoß gegeben hatten. Drei von ihnen waren en face und im Profil zu sehen: Schneifel, der seine Hand noch nicht ganz vom Rücken des Mannes gelöst hatte, einer, den ich nicht kannte und dessen 280
Gesicht zur Fratze verzerrt war, und Stocksiepen. Stocksiepen schien zu lächeln, als sei er im Stadium höchster Befriedigung. Ich wünschte, ich hätte eine Lupe bei mir gehabt, schon um das Gesicht von Frobenius studieren zu können. Er stand auf allen vier Bildern am Rand, die Arme ineinander verschränkt, und sah sehr zufrieden aus. Seine straffe Haltung hatte noch nichts von der Karikatur an sich, mit der sie sich mir vor zwei Tagen präsentiert hatte. Aber schließlich, nachdem ich mir die Bilderfolge zum zweiten und dann zum dritten Mal angesehen hatte, war ich doch froh, daß ich keine Lupe bei mir hatte. Mir war übel geworden, und mein ganzer Körper stand in Schweiß. Ich kippte noch einige Doppelte hinterher, und als das nicht half, machte ich den obersten Hemdknopf auf. Ich saß regungslos da, die Hand auf den Fotografien. Als mir wieder besser wurde, hatte sich die Gaststube merklich geleert. Es war nach zwölf. Auf dem Weg in meine Wohnung kamen mir Marias Worte in den Sinn: Mach, was du willst! Aber ich verscheuchte sie, auch ihre resignierende Feststellung: Das macht ihn nicht wieder lebendig. Ich erinnerte mich, mehr automatisch, daß sie dasselbe schon einmal gesagt hatte, vor einer Woche, etwa um diese Zeit, als ich in Heinrichs Wohnung gewesen war. In dieser Woche hatte sich viel für mich geändert. War ich ein anderer Mensch geworden? Ich fragte mich vergebens. Immerhin, ich hatte ein Stück Welt kennengelernt, auf dessen Existenz ich bisher wenig Obacht gegeben hatte, ich war mit Erbärmlichkeiten konfrontiert worden, hatte Abstoßendes gehört und gesehen, auch ein Stück Zuneigung erlebt. Wäre ich auf meinem Stuhl in der Redaktion klebengeblieben, mir wäre wahrscheinlich wohler gewesen bei den Meldungen 281
von Bränden und Verkehrsunfällen und hin und wieder einem anspruchsvolleren Bericht, vielleicht über den neuesten Stand der Ausgrabungen im Werkhof der Schokoladenfabrik, wo man neuerdings wieder ein paar Amphoren ans Tageslicht gefördert hatte, oder einer Reportage über den FC, dem mein Herz gehörte, auch wenn er schlecht spielte. Fast hätte ich so etwas wie eine geschichtsphilosophische Theorie gewagt, daß sich nämlich niemand aus den Bindungen an die Vergangenheit lösen kann: Heinrich hatte es nicht gekonnt, und er war in kriminelle Handlungen geraten, als er allein und auf seine Weise mit der Vergangenheit hatte fertig werden wollen; seinen ehemaligen Schulkameraden war es nicht gelungen, ihr vergangenes Verbrechen aus der Welt zu schaffen, und sie hatten, um es wenigstens zu vertuschen, ein neues auf sich geladen und vielleicht geglaubt, die Vergangenheit damit auf ihre Weise bewältigt zu haben. Wie bequem sich das doch anließ: die Sünden in die Vergangenheit zu werfen und so diese samt jenen aus einer Gegenwart zu verbannen, die sich fleckenlos gab und demokratisch und europäisch und christlich und was weiß ich noch, die sich als eine Zeit der Anständigen deklarierte, der Tüchtigen, der Gutwilligen. Da war ich nun auf ein Stückchen Wirklichkeit gestoßen, auf nicht mehr als einen Fetzen dieser meiner Gegenwart, in der die Vergangenheit nicht bewältigt war und auch nicht bewältigt werden konnte, weil niemand ein Interesse daran zeigte, die Bande, die sie an die Gegenwart knüpfte, auszustellen. Ich hatte, weil ich mich einem Freund über dessen Tod hinaus verpflichtet fühlte und auch weil es mir vorgekommen war, als könnte ich etwas für meine Karriere tun, die Decke von Wohlanständigkeit gelüftet und war auf denselben 282
Dreck gestoßen, den man längst beseitigt geglaubt oder doch allzugern vergessen hatte, vermehrt um neuen Unrat, der nicht minder stank als der alte. Ich fühlte das dicke rauhe Papier des Umschlags zwischen den Fingern. Es lag nun bei mir, was ich aus meinen Entdeckungen machen wollte. Mach, was du willst! Ich würde mit dem Kram nicht machen, was ich wollte. Herr Markus Stocksiepen würde vergebens auf mich warten, um drei in seinem Büro. Ich würde Munter anrufen. Als ich die Haustür aufschloß, fiel mein Blick auf die Briefkästen. Ich kann mir bis heute nicht recht erklären, warum ich den braunen Umschlag in den Schlitz meines Kastens warf. Vielleicht war es ein Akt unbewußter Angst. Ich wollte mit dem Material, an dessen Besitz schon einer gestorben war, der Ware, wie Stocksiepen gesagt hatte, nicht länger belastet sein, wollte Munter, wenn er kam, nur den Briefkastenschlüssel geben müssen und dann nichts mehr mit der Sache zu tun haben. Als ich die Treppe zu meiner Wohnung hinaufging, fühlte ich mich erleichtert. Kaum hatte ich meinen Trenchcoat an den Kleiderrechen im Korridor gehängt, da schrillte die Klingel. Vor der Tür stand ein Mann, in dem ich sofort den Halbstarken erkannte, dessen Gesicht auf dem letzten der Bilder ins Fratzenhafte verzerrt war. Scharrer, dachte ich. Es hätte ja auch mit dem Teufel zugehen müssen, wenn ich nicht auch noch den letzten aus der Reihe der ehrenwerten Männer kennengelernt hätte. Er war dürr, doch machte er nicht den Eindruck eines Schwächlings. Die Krempe eines grauen Filzhuts verschattete seine Augen, um seinen Mund lag ein Zug, den man bei chronisch Magenleidenden findet oder bei Typen, die sich an der eigenen Erfolglosigkeit verzehren. 283
„Ich habe lange auf Sie warten müssen“, sagte er, als er sich, ohne daß ich ihn aufgefordert hätte, an mir vorbei in den Korridor drängte. „Unten, am Zeitungsstand.“ Die Unverschämtheit klang auch noch wie Vorwurf, und das verwirrte mich für eine Sekunde. Dann hatte ich mich wieder gefangen. „Ich verstehe nicht …“ Ich wollte sagen, daß ich sein Benehmen nicht verstünde und daß ich nicht vorhätte, ihn zu empfangen. Aber er ließ mich nicht aussprechen. „Kommen Sie rein“, sagte er leise, aber doch wie einer, der zu befehlen gewohnt ist. Und als ich seiner Aufforderung nicht gleich folgte, zog er mich am Ärmel von der Tür weg. Dann schloß er die Tür. „Braucht ja nicht das ganze Haus zu hören, was wir zu bereden haben.“ „Was erlauben Sie sich!“ So etwas war mir noch nicht vorgekommen, und ich machte Miene, ihm an den Hals zu springen. Scharrer blieb ruhig. „Da geht’s wohl in die gute Stube? Und hier ist das Bad. Aha.“ Er machte die Badezimmertür auf, und während er sich mir wieder zuwandte, schlug er mir mit dem Handrücken quer über den Mund. „Damit Sie schön brav bleiben“, sagte er ohne Erregung. Dann prallte seine rechte Faust gegen meine Schläfe, und ich taumelte, noch ehe mir zum Bewußtsein gekommen war, was gespielt wurde. Meine Oberlippe fühlte sich taub an, und ich schmeckte Blut auf der Zunge. Ich riß die Arme hoch und wollte mich auf ihn stürzen, wurde aber mit einer blitzschnellen Bewegung abgefangen. Unter stechendem Schmerz flogen meine Arme zur Seite, und Scharrers Knie, das gegen meinen Unterleib prallte, nahm mir die Luft. Ich sackte zusammen, wurde aber am Jackett hochgerissen, noch ehe ich den Boden berührt hatte, und gegen die Wand geprellt. 284
„Fürs erste genügt das wohl“, sagte Scharrer, den die Prozedur nicht im mindesten angestrengt zu haben schien. Er atmete regelmäßig und wischte sich mit dem Taschentuch Blut von der Hand. Schwäche, Schmerz und Wut legten mir einen Schleier vor die Augen, durch den ich alles nur schemenhaft sah, und in meinen Ohren dröhnte es. Ich verstand kaum, was er sagte. Als Scharrer sich mir wieder näherte, zuckte eins meiner Beine reflexhaft nach vorn und hätte ihn am rechten Knie getroffen, wenn er nicht gewandt einen Sprung zur Seite vollführt hätte. Er griff mir mit beiden Händen ins Haar und riß mich zu Boden. Ich hatte ein Gefühl, als ob mir die Kopfhaut abgezogen würde. Ich lag bäuchlings auf der Erde. Scharrer hatte mir ein Knie in die Nierengegend gestemmt. „Na, wie ist es mit den Bilderchen?“ fragte er, und seine Stimme blieb völlig gelassen. Als ich nicht sofort antwortete, verstärkte er den Kniedruck, und ein messerscharfer Schmerz fuhr mir durch den Rücken. „Ich habe sie nicht.“ Ich erkannte meine Stimme nicht mehr. Sie war dumpf, als spräche ich unter einem Kissen. „Du hast sie nicht? Das ist aber gar nicht gut für dich.“ Er krallte sich wieder in meine Haare fest und riß mich hoch. Meine Arme waren wie gelähmt, als er mich hinter sich her und durch die offene Badezimmertür zerrte. Er drehte den Wasserhahn über der Wanne auf und hielt meinen Kopf darunter. Er ertränkt dich! Das war das einzige, was ich denken konnte, und ich sperrte mich so heftig, wie es meine nachlassenden Kräfte erlaubten. Aber sein Griff in meinem Haar lockerte sich nicht. Er zwang mich, den Kopf unter den Wasserstrahl zu halten, der widerlich warm über mein Gesicht lief. 285
„Die Bilder“, hörte ich ihn sagen. Selbst wenn ich hätte antworten wollen, ich konnte nicht, ohne Gefahr zu laufen, Wasser zu schlucken. Das schien er denn auch einzusehen. Er riß meinen Kopf nach hinten, schleuderte mich gegen den Türpfosten und gab mir ein paar Sekunden Zeit, wieder zu Luft zu kommen. „Wo sind sie?“ Gelassenheit lag wie eine Maske über seiner Miene. Etwas in mir sagte: Gib ihm die Fotos, sonst schlägt er wieder zu. Aber ich sagte: „Ich hab’ sie nicht.“ Ein Hagel von Schlägen prasselte auf mich nieder, auf meinen Kopf, gegen den Magen, in den Unterleib. Ehe ich das Bewußtsein verlor, war mir, als hielte er mein Gesicht in offenes Feuer. Als ich zu mir kam, lag ich auf der Couch. Ich erinnerte mich an nichts, der Schmerz hielt alle meine Sinne besetzt. Allmählich erst lösten sich die Pfropfen, die mir in den Ohren zu stecken schienen, und ich vernahm dumpfes Poltern. Dann hob sich auch das schwarze Tuch vor meinen Augen, und ich erkannte die gelblich getönte Decke und an ihr, genau über meinem Kopf, den dreiarmigen Leuchter. Noch einmal fiel ich ins Dunkel zurück. Vielleicht hatte ich auch nur die Augen geschlossen, denn ich hörte weiter das dumpfe Rumoren. Das nächste, was ich sah, war wieder Scharrers Gesicht. Es war so dicht über dem meinen, daß ich seinen säuerlichen Atem riechen konnte. Ich blickte in bernsteinfarbene Augen. „Ich habe mich inzwischen hier umgesehen.“ Ich glaubte nicht, daß er sonderlich laut gesprochen hat, aber seine Stimme stieß schmerzhaft gegen mein Trommelfell. „So kommen wir nicht weiter. Sehen Sie sich das nur an.“ Er beschrieb einen Bogen mit der Hand. 286
Ich versuchte, der Bewegung mit dem Kopf zu folgen, sank aber sofort wieder zurück. Mir war, als hätte mir jemand ein Messer in den Nacken gestoßen. Alles, was ich durch einen kurzen Blick mitbekommen hatte, war ein allgemeiner Eindruck von Chaos. So hatte es im Krieg ausgesehen, wenn in der Nähe eine Luftmine niedergegangen war. Mich berührte es nicht im mindesten. „Also Mann: Wo sind die Bilder?“ Ich wünschte, wieder in Bewußtlosigkeit fallen zu können. Jede Faser meines Körpers zitterte bei dem Gedanken daran, daß Scharrer mich noch einmal hochreißen und wieder zuschlagen könnte. Doch allmählich, trotz aller Furcht und allem Schmerz, stieg Haß in mir hoch, ein abgrundtiefer Haß, der sich verdichtete, bis er mir wie ein Stein im Magen lag. Gersdorff und Heinrich standen mir vor Augen, Gersdorff so, wie ich ihn am Vormittag auf dem Bild gesehen hatte: beide Arme von sich gestreckt über dem Abgrund. Und ich sah Heinrich vor mir, auf der Bahre und zugedeckt, wie sie ihn aus dem Hotel getragen hatten. Mir wurde speiübel vor Haß. Zum ersten Mal in meinem Leben verspürte ich dieses würgende Gefühl, und es übertäubte allen Schmerz und ließ der Angst immer weniger Platz. Mörder! schrie es in mir. Der letzte Rest von Angst hielt mir das Wort von der Zunge. Scharrer schien die Wandlung, die in mir vor sich ging, aufgefallen zu sein. Vielleicht sah er sie meinen Augen an. Sein Blick flackerte, wurde unstet, glitt schließlich zur Seite. Sein Kopf verschwand, und ich hörte Schritte, Füße, die an Gegenstände stießen. Dann waren die Schritte hinter mir, und ich schloß wieder die Augen und wartete auf einen Schlag. Aber ich hörte nur Scharrers Stimme. „Für einen, der 287
sich aufs Erpressen einläßt“, sagte sie, „sind Sie erstaunlich wenig durchtrainiert. In Ihrer Lage muß man auf alles gefaßt sein, auch auf eine Tracht Prügel oder ein bißchen mehr.“ Die Stimme schien sachlich zu sein, doch der Sarkasmus, der in ihr schwang, war nicht zu überhören. Jetzt, da ich wehrlos dalag, jederzeit des nächsten Hiebs gewärtig, registrierte ich, daß es eine heisere Stimme war, die zu mir sprach. „Auf einen Schlag reich werden, ist nicht so einfach. Ich hab’ es nie geschafft.“ Ich hörte ein kurzes, hartes Lachen, das mehr einem Husten glich. „Auf einen Schlag mit so was reich zu werden, ist sogar gefährlich. Und wie! Da kommt einem immer einer in die Quere. Übrigens habe ich mir erlaubt, die beiden Fünfhunderter einzustecken, die aus Ihrem Wäscheschrank. Sozusagen als Anzahlung.“ Noch einmal klang das knarrende Lachen auf. „Trifft ja keinen Armen. Heute soll’s doch noch viel mehr geben, wie ich gehört habe. Stocksiepen läßt sich nicht lumpen, wenn es um seinen Frieden geht, und die anderen sind dann auch nicht gerade knauserig. Bis auf Katzmann, Das ist genau so’n armes Schwein wie ich.“ Ich spürte am Luftzug, daß er nahe an mir vorbeiging. Als ich die Augen aufschlug, stand er wieder über mir. „Jetzt reden wir mal vernünftig, sozusagen von Mann zu Mann. Setzen Sie sich mal auf. Ist ja anstrengend, immer nach unten quatschen zu müssen. Los, setzen Sie sich!“ Als ich seinem Befehl nicht sofort nachkam, packte er mich an den Revers, zog mich hoch und lehnte mich gegen die Wand. Die neue Stellung ließ meine Schmerzen wieder anschwellen, und am liebsten hätte ich mich wieder zur Seite fallen lassen. Aber Scharrer hielt mich einige Sekunden aufrecht, bis ich nicht mehr schwankte. Dann setzte er sich mir gegenüber auf einen der Sessel. 288
„Eigentlich sollte ich ja überhaupt nicht mit so einem Dreckskerl reden, der Leute damit erpreßt, daß er in ihrer Vergangenheit rumschnüffelt“, begann er. „Was damals geschehen ist, war richtig, das sag’ ich heute noch. Und wenn wir all den Scheiß-Gersdorffs den Hals gebrochen hätten, all den Meckerern und Miesmachern, den Saboteuren, den feigen Hunden, den Kapitulanten …“ Er redete sich in einen Rausch hinein. Von der Gelassenheit, mit der er mich traktiert hatte, war nicht die Spur geblieben. Jedes Wort unterstrich er mit einem Faustschlag auf den Tisch. „Ja, wenn wir denen all den Hals gebrochen hätten, dann brauchte ich nicht hier zu sitzen. Dann wär’ ich wer, Mann!“ Er donnerte noch einmal auf den Tisch los. Der Schlag dröhnte in meinem Kopf nach. „Mein Onkel und ich, wir säßen jetzt vielleicht irgendwo, wo’s schön sonnig ist, an der Riviera oder so.“ Jetzt sprach er wieder ruhig, wie versonnen. „Herrenmenschen wären wir, und auch Sie wären mal einer geworden. Wenn Sie sich angestrengt hätten. Jetzt sind wir im Dreck. Sie auch, sonst würden Sie nicht in dieser Bude hausen.“ Er sah sich abschätzig um, von der Decke bis zum Boden, wo herausgerissene Bücher und Papiere, eine Vase, die umgeworfene Stehlampe, zwei aus dem Rahmen gefetzte Bilder und die Blätter eines Kartenspiels herumlagen. „Eine Uniform würde ich haben, mit so dick Lametta drauf“, er zeigte zwischen Daumen und Zeigefinger eine unwahrscheinlich hohe Schicht an, „und die französischen Nutten, die würden mir die Stiefel lecken, und Sekt könnte ich saufen und Trüffeln fressen, und Autos hätte ich.“ Seine Stimme war immer heiserer geworden. Seine Unterlippe glänzte vor Nässe, und seine gelben Augen sprühten. Ich hatte alles um mich vergessen und starrte 289
ihn gebannt an, so schwer es mir auch fiel, ihn mit meinen schmerzenden Augen zu fixieren. Der ist wahnsinnig geworden, dachte ich. Ohne Übergang wurden die Augen glanzlos, die Hände entkrampften sich. Er strich sich eine Strähne seines graumelierten Haars aus der Stirn und schnaufte. „Ist aber alles nicht“, sagte er. „Wir müssen uns damit abfinden, daß es keine Volksgemeinschaft mehr gibt. Die meisten haben sich denn ja auch abgefunden. Ich tu’s manchmal auch. Und manche haben sich prima abgefunden. Schneifel zum Beispiel. Das war mal ein Bursche, mit dem konnte man Pferde stehlen. Und jetzt? Kein Mumm mehr in den Knochen, alles faules Fett und Fleisch. Und Stocksiepen. Das war eine Führernatur, ein Kämpferherz hatte der! Jetzt hockt er am Schreibtisch und scheffelt Geld und gibt Parties, zu denen er mich nicht mal einlädt. Hin und wieder ein Hunderter, das ist alles, was die für mich übrig haben. Ich hab’ vier Kinder. Da bleibt kein Pfennig übrig bei dem Scheißberuf, den ich hab’. Natürlich war auch kein Pfennig da, um Küpper zu bezahlen. Meins haben die Großkopfeten mitgeblecht, freundlicherweise.“ Das brachte ihn anscheinend wieder auf das, was er mir eigentlich hatte sagen wollen und weswegen er mich extra in eine sitzende Stellung gehievt hatte, und sein Tonfall wurde beinahe trocken. „Hören Sie zu“, sagte er. „Als ich von Stocksiepen erfuhr, daß Sie ihm heute um drei die Negative übergeben, ist mir eine Idee gekommen. Lachen Sie nicht.“ Mir war, weiß Gott, nicht zum Lachen zumut, und ich lachte auch nicht, vielleicht hatte sich mein Gesicht verzogen, so daß es wie Lachen aussehen mochte. Ich konzentrierte mich, so gut es gehen wollte, auf das, was er mir eröffnen würde. „Ich will das Geld von den Brüdern kassieren.“ 290
„Sie?“ Vor Schreck machte ich eine unbedachte Armbewegung, und ich schrie leise auf, als sich mir der Schmerz in die Brust krallte. „Was glauben Sie denn, weshalb ich hergekommen bin? Was Sie können, kann ich schon lange. Nur fehlt mir eben das Material. Und das haben Sie. Und das suche ich.“ Er zog ein Taschentuch aus der Hose und schneuzte sich umständlich. „Vielleicht war es nicht ganz richtig, wie ich mich hier eingeführt habe. Ich hoffe, Sie tragen es mir nicht nach, die kleinen Unfreundlichkeiten, meine ich.“ Der Mann war wirklich ein Spaßvogel, aber nicht spaßig genug, um meinen Haß auch nur um ein Grad abzukühlen. Die neue Wendung, die das Gespräch genommen hatte, machte ihn mir nur noch widerwärtiger. Während ich den heruntergekommenen Herrenmenschen betrachtete, kam mir ein Einfall, und ich hatte Mühe, eine diesmal von Freude ausgelöste Bewegung zu unterdrücken. „Ich habe die Bilder nicht“, wiederholte ich zunächst einmal und versuchte ein bedauerndes Kopfschütteln. „Machen Sie keinen Ärger“, sagte er. „Ich habe Ihnen noch nicht alle meine Kunststückchen gezeigt. Judo, Karate, ich habe auch gelernt, mit allerlei Waffen umzugehen.“ Ich glaubte es ihm. „Also: Wo sind die Negative?“ Ich tat, als sei ich von seinen Drohungen beeindruckt und gab mir eine nachdenkliche Miene. Schon die Stirn kraus zu ziehen bereitete Schmerzen. Aber ich biß die Zähne zusammen. „Ich habe die Bilder nicht hier“, sagte ich dann. Zuerst machte er ein verdutztes Gesicht, dann wurde er nachdenklich, entschied sich schließlich aber doch fürs Mißtrauen. „Machen Sie keinen Ärger“, wiederholte er. „Oder haben Sie die Bilder gefunden?“ 291
„Natürlich nicht.“ Das klang unwirsch, aber ich merkte, daß sich bereits leise Zweifel bei ihm eingestellt hatten, ob an der Sache nicht doch etwas sein könnte. „Sie sind auf der Hauptpost, in einem Schließfach. Ich wollte sie erst holen, wenn ich zu Stocksiepen gehe.“ „Wo ist der Schlüssel?“ Er hatte angebissen. Ich zögerte. „Die Negative sind einen Haufen Geld wert. Ich wäre ja ein Idiot …“ „Wo ist der Schlüssel?“ Er war aufgestanden und kam um den Tisch herum auf mich zu. Angesichts seiner unmißverständlichen Haltung sprang mich wieder die Angst an, und ich mußte allen Mut zusammennehmen, um zu sagen: „Machen wir halbe.“ Er hielt mitten in der Bewegung inne. Dann grinste er und sagte: „Gut, machen wir halbe. Und jetzt den Schlüssel her.“ „In meiner linken Manteltasche. Ein kleiner Patentschlüssel, mit einer Nummer dran.“ Er ging aus dem Zimmer und kam Sekunden später zurück. „Der hier?“ „Ja, der.“ Jetzt hatte Scharret es eilig. Er trat noch einmal – an mich heran, sagte: „Ich komme wieder, wenn Sie mich belogen haben.“ „Sonst nicht?“ Einen Augenblick lang blieb er mit dem Rücken zu mir stehen. Als er sich zu mir herumdrehte, lachte er ungeniert. „Natürlich“, sagte er, „natürlich komme ich wieder. Wir müssen doch teilen.“ „Und wenn Stocksiepen Ihnen das Zeug nicht abkauft?“ „Der kauft, darauf können Sie sich verlassen. Der wird es auf keinen Fall auf eine Begegnung mit dem Gericht 292
ankommen lassen, auf keinen Skandal.“ Er ließ die Zimmertür offen, als er ging, und ich konnte noch seinen verhallenden Schritt im Treppenhaus hören und dann, wie die Haustür ins Schloß fiel. Die Erleichterung umhüllte mich wie ein warmes Tuch. Gern hätte ich mich ganz in ihr versinken lassen. Aber mit zusammengebissenen Zähnen mobilisierte ich meine letzte Energie. Zu meinem Glück hatte er nicht daran gedacht, das Telefon unbrauchbar zu machen. Er war eben kein Profi. Ich ließ mich sacht vom Sofa gleiten und kroch unter Stöhnen auf das Tischchen zu, auf dem der Apparat stand. Ich kramte in meiner Tasche nach dem Zettel, auf dem ich mir Munters Nummer notiert hatte, fand ihn und bediente mit zitternden Fingern die Wählscheibe. Als der Kommissar sich meldete, erzählte ich in fliegender Hast, was mir zugestoßen war. Er sagte zwar nicht: ‚Sie sind ein Spinner, Schweizer‘, aber sein Mißtrauen hörte ich deutlich, als er mich beruhigte: „Langsam mit den jungen Pferden. Ich komme gleich rum.“ „Beeilen Sie sich. Wenn der Kerl merkt, daß ich ihn beschwindelt habe, kommt er zurück und schlägt mich tot.“ „Legen Sie die Kette vor“, riet er mir, „und machen Sie nur auf, wenn Sie meine Stimme erkennen.“ Die nächsten zwanzig Minuten waren die längsten, die ich je erlebt habe. Nie hatte ich erfahren, wie schwer es sein konnte, auf den Beinen zu stehen, geschweige denn einen Schritt zu tun. Es schien nicht allein der Schmerz zu sein, der mich lahm machte, wahrscheinlich lastete ein Schock genauso schwer auf meinen Gliedern. Bei jedem Schritt durch das Zimmer und dann über den Korridor auf die Wohnungstür zu knickte ich nach vorn. Mein ganzer Unterleib war ein einziger brennender Schmerz. Schweißüberströmt lehnte ich schließlich gegen die Tür 293
und schob den Kettenknopf in die Nut. Am liebsten hätte ich mich auf der Stelle zu Boden sacken lassen. Aber ich zwang mich, den Weg zum Bad einzuschlagen. Als ich das Klosettbecken sah, überfiel mich würgende Übelkeit. Ich erbrach mich. Hinterher fühlte ich mich zwar noch schlapper, aber der Schock war gewichen, als wenn ich ihn ausgekotzt hätte. Mit zitternden, aber jetzt doch wieder unbeschwerteren Gliedern tastete ich mich zum Spiegel. Das Bild, das sich mir bot, war grotesk. An der rechten Schläfe, wo mich ein Fausthieb getroffen hatte, klaffte eine Wunde, die sich quer in die Augenbraue hineinzog. Die ganze Gesichtshälfte war angeschwollen und schien noch weiter zu schwellen. Die Nase war aufgetrieben und schmerzte bei der leisesten Berührung. Die Oberlippe war gespalten. So müssen Amateure aussehen, nachdem sie einen Gang mit dem Schwergewichtsweltmeister der Berufsboxer ausgetragen haben. Ich wusch mir, so gut es ging, das Blut mit kaltem Wasser aus dem Gesicht und betupfte die offenen Wunden mit Jodoform. Dann setzte ich mich auf den Rand der Badewanne und wartete. Die Klingel schrillte aggressiv und jagte mir einen Schauer durch den Körper. Gleich darauf wurde mit der Faust gegen die Tür gedonnert, und dann hörte ich auch schon Munters grämliche, knarrende Stimme. Nach unserer Unterhaltung vom Montag hätte ich nie geglaubt, daß ich diesen senilen Gnom jemals wieder mit Sympathie betrachten würde, von Freude erst gar nicht zu reden. Aber als ich den Mann mit dem zerknitterten Gesicht unterm Hut sah, wäre ich ihm am liebsten um den Hals gefallen. Gott sei Dank ließ er mich gar nicht erst dazu kommen, meine Freude auch zu äußern. 294
„Sehen ja wirklich ganz nett aus.“ Das war das erste, was er sagte. Und dann: „Das kommt davon, wenn man sich in Sachen mengt, die einen nichts angehen.“ Nun hatte ich nicht erwartet, Munter würde mich überschwänglich mit Dankesworten empfangen. Aber auf ein bißchen mehr Anerkennung hatte ich doch gehofft. „Aber es ist was dabei rausgekommen“, sagte ich und lehnte mich gegen die Wand, weil mir das lange Stehen nicht bekam. Munter gab sich keine Mühe, seine Abneigung zu verbergen. Er sagte: „Werden ja sehen, ob’s was taugt.“ „Dann sehen Sie mal gleich unten in meinem Briefkasten nach.“ Den kleinen Jubelton in meiner Stimme konnte ich mir nicht verkneifen. „In Ihrem Briefkasten?“ Er sah mich prüfend an, als hätte ich bei der Balgerei doch einen Dachschaden davongetragen. „Und was werde ich da finden?“ „Ein paar Fotos, die beweisen, daß Küpper nicht durch ein Unglück vom Dach gefallen ist.“ Das schien ihn denn doch zu interessieren. Er blickte mich ein paar Sekunden lang reglos an, ehe er sagte: „Na, dann geben Sie mir mal den Schlüssel.“ Er war schon im Treppenhaus, als er sich umwandte und fragte: „Und was suchen die Fotos im Briefkasten?“ „Wenn ich sie in der Wohnung gehabt hätte, würden Sie sich die Bilder jetzt nicht ansehen können.“ Nach einer Minute war er mit dem braunen Umschlag wieder oben. „Übrigens“, sagte er, „zur Vorsicht habe ich doch einen Mann zur Hauptpost beordert.“ „Danke.“ „Ich kann es mir nicht erlauben, daß so einer wie Sie hinterher breittritt, die Polizei hätte einem Bürger den 295
erbetenen Schutz verwehrt.“ Das sagte er schon, als er dabei war, die Bilder aus dem Umschlag zu praktizieren, und für eine Sekunde war mir danach, seine Liebenswürdigkeit mit einem Arschtritt zu vergelten. Aber dann beschied ich mich doch mit dem Gedanken, daß er nun einmal Polizist wäre. Er war übrigens inzwischen ganz still geworden, ich meine, er atmete auch nicht mehr vernehmbar, und es schien so, als habe er die Luftzufuhr überhaupt eingestellt. Er glotzte nur auf die Bilder, schob eins jeweils unter die anderen. „Wenn die echt sind“, sagte er, „dann glaube ich gern, daß einige Leute hinter ihnen her waren.“ „Nur nicht die Polizei.“ Er sah mich mit einem stumpfen Blick an. Einen Vorwurf hatte er daraus scheinbar nicht gehört. „Erklären Sie mir mal die Geschichte, die hier vor sich geht.“ Er ging ins Wohnzimmer, schob, während er zu dem schwachbeinigen Nierentisch ging, ungerührt mit dem Fuß Bücher und andere Gegenstände beiseite und setzte sich. Ich humpelte hinter ihm her. Ich erzählte ihm, was zu erzählen war, und einiges mehr, nämlich, so gut es die kurze Zeit zuließ, alles, was ich in der letzten Woche erlebt hatte. Er unterbrach mich nur einmal, als er wissen wollte, wie denn die Negative so lange überdauert hatten. Nachdem ich es ihm erklärt hatte, sagte er nachdenklich: „Da sieht man’s mal wieder!“ und ließ mich fortfahren. „Ja, da werden wir wohl denn mal müssen.“ Ich war am Ende mit meinem Bericht, und Munter straffte sich. Man sah es an der zögernden Art, wie er seine drei Mantelknöpfe wieder schloß, daß er wirklich nur „denn mal mußte“, Ich hätte zweiundfünfzig drum gegeben, seine Gedanken zu erfahren. Einen Abglanz von ihnen ließ er aufleuchten, als er mich, schon im Stehen, plötzlich, als 296
sei ihm ganz apropos was eingefallen, fragte: „Sie sind sicher, daß Sie nicht irgendwann mal vorgehabt haben, diese Bilder da zu privaten Zwecken zu benutzen, sagen wir zu einem Artikel, mit dem Sie der Polizei eins auswischen könnten?“ Es tat mir endgültig leid, ihn benachrichtigt zu haben, „Danke für den Rat. Ich merke ihn mir fürs nächste Mal.“ „Sie sind um drei mit Stocksiepen verabredet?“ Nach der kleinen Eskapade war er wieder sachlich. Er sah auf die Uhr. „Höchste Eisenbahn. Können Sie sich überhaupt fortbewegen?“ Er musterte mich von den Füßen zum Kopf. „Wegen dem Gesicht müssen Sie was unternehmen. Ich fahre Sie bei irgendeinem Notdienst vorbei, und dann nichts wie raus zu Stocksiepen. Ich nehme an, Sie wollen dabeisein, wenn ich ihn wegen der Bilder frage.“ „Ich will dabeisein, wenn Sie ihn wegen Küpper fragen.“ Das schmeckte ihm nicht. Er maulte: „Nun ja, auch wegen Küpper.“ „Und weil es um Küpper geht, hätte ich einen anderen Vorschlag.“ „Lassen Sie hören. Aber schnell.“ Ich merkte, Munter war ans Kommandieren gewöhnt. „Aus Stocksiepen oder auch aus Schneifel werden wir nichts herausbekommen, wenigstens nicht so bald.“ „Interessant. Und wie geht’s weiter bei Ihnen?“ „Ich habe das Gefühl, als wäre ein Besuch bei Katzmann am einträglichsten.“ „So, Sie haben das Gefühl.“ Er überlegte eine Sekunde. „Ja, dann suchen wir mal den Hofschauspieler auf.“ Er glaubte, er hätte einen Witz gemacht, und belachte ihn auch. „Ich telefoniere nur noch mal rasch. Sie können sich ja im Bad noch ein bißchen menschli297
cher machen, damit der Arzt nicht in Ohnmacht fällt, wenn er Sie sieht.“ Ich merkte, er wollte mich, loswerden. Ich ging ins Bad. Das Wasser ließ ich aber erst laufen, als ich gehört hatte, daß er mit seiner Dienststelle telefonierte. Auf dem Weg zu Katzmann machten wir kurz bei einer Unfallstation halt, und der Arzt, ein unfreundlicher älterer Mann, sah mich vorwurfsvoll an, als hätte ich ihm den schönen Sonntagnachmittag versaut. Als ich, jetzt fachmännisch verpflastert, wieder im Auto neben Munter saß, sagte der: „Seien Sie froh, daß Sie sich bei Ihrem Alleingang nicht die Ohren gebrochen haben.“ Ich überlegte, ob das ein Trostwort, gewesen sein konnte.
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17. Katzmann stand übernächtig in der Tür, unrasiert und in einem alten blau und grün gestreiften Bademantel, an dem die Fäden des Frottees herunterhingen wie Würzelchen. Munter sagte: „Munter. Kriminalpolizei.“ Er zückte seinen Dienstausweis. Katzmann sah nicht hin. Er sah mich an, aus Augen, die schon wieder oder noch immer trüb waren. „Ich wußte, Sie kommen wieder“, sagte er zu mir. Daß Katzmann sich an mich wandte, schien Munter übelzunehmen. Er schnarrte so laut, wie es seine Altmännerstimme zuließ: „Ich habe einiges mit Ihnen zu klären. Darf ich?“ Letzteres bezog sich darauf, daß er bereits einen Fuß über die Schwelle geschoben hatte. „Kommen Sie rein“, sagte Katzmann, und er sah noch immer nur mich an. Und das ging nicht nur a conto der Pflaster. Mir war das unangenehm, aber vielleicht hatte sich Katzmanns Hirn schon wieder so weit vernebelt, daß es nicht in der Lage war, neue Gesichter überhaupt noch zu registrieren. Er gab die Tür frei, und wir traten in eine kleine Diele, die nach Katze roch. Irgendwie paßte der Geruch zu Katzmann, nicht weil er so hieß, meine ich. Ein einzelner Mensch und eine Katze allein zusammen, das ist für mich so etwas wie das Sinnbild der Einsamkeit, vielleicht weil meine Großmutter ihre letzten Lebensjahre mit so einem Tier verbracht hat. Und auch der Mann hier war einsam, trotz seines Berufs, der ihn immer wieder ins Rampenlicht trieb. Er wies uns in ein Zimmer, das von zerschlissener Eleganz bestimmt wurde. Sicherlich hatte das alles, was hier herumstand, vor zehn Jahren einmal proper ausgesehen und vielleicht sogar Bewunderung erregt. Jetzt machte es 299
nur noch den Eindruck von Verwahrlosung. Die wuchtigen Sessel waren an den Armlehnen abgeschabt und zeigten stellenweise ihre Innereien, die Bücherschränke, massiv noch nach damaliger Mode, wiesen staubtrübe Scheiben vor, im schmutzigen gelben Bouclé auf dem Boden sah man ein faustgroßes Brandloch, die Gardinen waren seit hundert Jahren nicht gewaschen. Munter sah sich ungeniert um, wie einer, der den ganzen Ramsch kaufen will, oder eben wie ein Polizist, dem es zur Gewohnheit geworden ist, Privatleben nicht unbedingt zu respektieren, vor allem dann nicht, wenn gegen den, zu dem es gehört, „etwas vorliegt“. Ohne zu fragen, ließ er sich in einen Sessel fallen, legte den Hut auf einen Kacheltisch, der noch mit dem Frühstücksgeschirr samt Eierschalen, vier leeren Bierflaschen und einer fast leeren Schnapsflasche bedeckt war und kramte sein Notizbuch aus dem Mantelinneren. Katzmann stand unsicher herum, so als müßte er aufgefordert werden, sich zu setzen, bot mir dann stumm den anderen Sessel an und nahm selbst auf der Kante der Couch Platz. „Sehen Sie sich den an“, sagte Munter, und er zeigte auf mich. „Das hat einer von Ihren Freunden getan.“ „Scharrer?“ fragte Katzmann nach kurzem Zögern. „Genau.“ Mit einem nassen Zeigefinger blätterte Munter in seinem Büchlein und gab sich den Eindruck von Wichtigkeit. „Er hat uns auch alles gestanden.“ Der alte Polizistentrick verfehlte auf Katzmann völlig seine Wirkung. Er zog Glas und Schnapsflasche zu sich heran und goß sich ein. Dann trank er ruhig und, wie es schien, auch mit Genuß. „Und die Beweise haben wir auch, wenigstens die Beweise, daß Sie ein Motiv hatten.“ Munter warf mit 300
Siegermiene das Päckchen Fotos auf den Tisch, so als hätte er sie in unermüdlicher und gefährlicher Tag- und Nachtarbeit eigenhändig dem Rachen der Hölle entrissen. „Die Bilder!“ sagte Katzmann. Er sagte es fast erleichtert. Dann lächelte er, trank noch einen Schluck. „Davon kann ich Ihnen ein paar mehr zeigen, wenn Sie wollen. Jedes Neujahr haben wir nämlich jeder einen Satz davon bekommen.“ „Ich weiß“, sagte Munter schwergewichtig. Dabei wußte er erst seit nicht einmal einer halben Stunde davon. Ich hatte Mühe, mich zurückzuhalten. Munters Gehabe empörte mich. Ich merkte, wie mein Kopf zu schmerzen begann. „Haben Sie’s nicht für zwei Groschen billiger?“ fragte ich. Munter sah mich an, als hätte ich ihn aus einem Mittagsschläfchen gerissen. Seine Augen spiegelten nichts als Verständnislosigkeit. „Wie meinen Sie?“ Ich hatte keine Lust, ihm auf die Sprünge zu helfen, und antwortete nicht. „Soll ich sie Ihnen zeigen?“ Katzmann war schon aufgestanden und suchte hinter Büchern. Munter war verblüfft. „Da bewahren Sie so gefährliches Zeug auf?“ fragte er mit dem Ton dessen, der es sich nicht vorstellen kann, daß Menschen nicht nach einem Schema reagieren, in dem sich ein Kriminalistenhirn bewegt. „Nicht alle“, sagte Katzmann. „Das wäre zuviel geworden.“ „Und wenn Ihre Putzfrau die gefunden hätte?“ „Ich habe keine.“ „Aber bei einer Haussuchung …“ 301
„Hier hat bis jetzt noch keine stattgefunden.“ Als er sich uns wieder zukehrte, lächelte er unsicher. „Hier sind sie. Und hinten steht was drauf, immer dasselbe, seit Jahren schon. Lesen Sie.“ Ich las: „Zur gefälligen Erinnerung an den 24. Juni 1941. Dein Heinrich“. Heinrich Küpper hatte einen Sinn fürs Effektvolle gehabt, den ich dann doch recht abgeschmackt fand. Ich legte das Bild auf den Tisch. „Sie leugnen also nicht“, hörte ich Munter fragen. „Was soll ich denn jetzt noch leugnen?“ Das klang ziemlich kläglich und paßte so gar nicht zu der Gelassenheit, die Katzmann bisher zur Schau gestellt hatte. „Darf ich mir in der Küche eine neue Flasche holen?“ „Bitte, Sie sind hier zu Hause.“ Munter war ganz Liebenswürdigkeit. So sind die, wenn sie einen so weit haben, dachte ich, dann bieten sie auch von ihren Zigaretten an und Kaffee. Das hatte ich oft genug im Film gesehen. Trotz der Liebenswürdigkeit stand Munter auf und stellte sich in die Tür, den Blick nach draußen gerichtet. Es ist wohl Dienstvorschrift, kein Auge von einem Verdächtigen zu lassen. Katzmann kam mit einer vollen Flasche wieder. Es war derselbe Fusel, den ich ihn schon im Theaterkasino hatte trinken sehen. Er ließ sich Zeit mit dem Öffnen und fragte nebenbei, als sei es nicht ernst gemeint: „Darf ich Ihnen auch einen anbieten?“ Munter lehnte ab. Ich sagte: „Einen Kleinen.“ „So, nun schießen Sie mal los“, sagte Munter, nachdem Katzmann mich mit dem Weinbrand versorgt hatte, der wie Möbelpolitur mit Melasse schmeckte. „Am Abend vor dem Abitur-Kommers hatten wir unser Femgericht abgehalten. Schneifel und Stocksiepen war Doktor Gersdorff schon seit Jahren ein Dorn im Auge.“ 302
„Mann“, unterbrach Munter ihn ärgerlich. „Das habe ich schon alles erfahren. Das sind olle Kamellen. Was im ‚Esplanade‘ losgewesen ist, will ich wissen.“ Katzmann blieb unbeirrt. Er mußte die ganze. Geschichte loswerden, das merkte ich, und während er erzählte, wie sie Gersdorffs Tod beschlossen und ihn während der Feier gegen Mittag aus dem Lokal gelockt hatten und dann über ihn hergefallen waren, blickte er unverwandt auf zwei große gerahmte Fotografien, die zwischen den Fenstern untereinanderhingen. Beide zeigten Katzmann: die obere Katzmann als gut ausgeleuchtete Porträtstudie mit markanten Zügen und gekonnt retuschierter Augenpartie, die untere einen jungen Katzmann, der kaum der Schauspielschule entlaufen sein konnte, im schwarzen Gewand des Hamlet, der den Totenschädel in eingeübter Pose vor sich hält und ihn mit angestrengtem Nachdenken betrachtet. Und einer der dazugehörigen Sätze kam mir in den Sinn: „Haben diese Knochen nicht mehr zu unterhalten gekostet, als daß man Kegel mit ihnen spielt?“ Katzmann erzählte mit dem Sinn des Schauspielers fürs Effektvolle, und sogar Munter schien mit einigem Interesse zuzuhören. Bewegt war er nicht, das sah man. Er war aufs Sachliche aus, während er die wirren Rechtfertigungsversuche, die mit Selbstanklagen wechselten, mit einer gequälten Miene quittierte. Er war nicht der Mann, der sich lange bei so etwas aufhielt. „Und dann kam es zu den Erpressungen durch Heinrich Küpper“, sagte Katzmann. „Ich wollte es zuerst nicht glauben. Wäre er zum Kadi gelaufen, ich hätte ihn verstehen können. Aber das? Das Zahlen ist mir sauer geworden, besonders in den letzten Jahren, als er mit den Preisen so irrsinnig hoch ging. Aber Stocksiepen und Schneifel, auch Humbach bestanden darauf: Es darf 303
nichts an die Öffentlichkeit! Wir müssen bezahlen. Eines Tages werden wir schon mit ihm fertig werden.“ „Und der Tag war der Samstag im ‚Esplanade‘“, sagte Munter. „Ja. Wochen vorher hatten sie ihn bedrängt, die Negative zu verkaufen.“ „‚Sie‘?“ fragte Munter. „Na gut, also wir. Ich war ja auch bei ihm. Und Schneifel.“ „Und Wiskirchen.“ „Ja, der auch.“ Katzmann sah mich mit merkwürdigem Blick an. „Sie wissen aber auch alles.“ „Unterbrechen Sie den Mann nicht“, sagte Munter ungnädig. „Den hatten wir eingeweiht, weil der doch stracks in die Hölle marschiert wäre, um seinen guten Ruf zu retten. Einen Schwager zu haben, der ein gemeiner Erpresser war, das war für ihn das schlimmste. Aber wir haben alle nichts ausgerichtet. Küpper versprach nur, zu der Feier zu kommen, und wenn wir ganz brav wären und ihm ein akzeptables Angebot machten, wollte er mit sich reden lassen, über die Negative. Stocksiepen hatte als erster den Gedanken, ihn umzubringen, wenn er unverschämt würde. Schneifel und Scharrer waren sofort Feuer und Flamme, Humbach hat dagegengesprochen. Mußte er ja wohl auch, bei seinem Beruf.“ Er lächelte schwach. „Ich hab’ mich natürlich mal wieder der Mehrheit angeschlossen. Und Küpper ist unverschämt geworden. Er ist mit uns umgesprungen wie mit Rotzjungen.“ „Und dann haben Sie ihn totgeschlagen?“ forschte Munter grimmig. „Wer?“ Die Erinnerung schien Katzmann nun doch zu überwältigen. Er goß das Wasserglas, aus dem er trank (mir 304
hatte er einen normalen Stamper gegeben), halbvoll und kippte das widerliche Zeug in einem Zug ’runter. „Wer?“ fragte Munter noch einmal. Er hatte sich inzwischen eine Pfeife angezündet und sprach unter Paffen. Katzmann schüttelte den Kopf. Er hockte im Kutschersitz auf der Couch, die Hände hingen ihm schlaff nach unten. „Und dabei war alles so sinnlos“, sagte er tonlos. „Küpper hatte natürlich nicht die Negative bei sich. Und der ganze Tanz ging von vorn los. Mit diesem Fräulein Klein diesmal. Wir glaubten, sie hätte das Zeug, und Frau Wiskirchen, die jetzt informiert war, hat sie zu überreden versucht. Aber die Klein blieb stur. Sie wüßte von nichts, sie hätte nichts.“ Wieder machte er eine Pause. Die Energie, die ihm ermöglicht hatte, eine gewisse Gelassenheit an den Tag zu legen, schmolz merklich dahin. So kannte ich ihn schon aus dem Kasino. Auch Munter schien Witterung von Katzmanns Schwäche bekommen zu haben. Er wurde ungeduldig und fragte zum dritten Mal: „Wer hat Küpper umgebracht?“ „Und dann tauchten auch Sie noch auf.“ Katzmann machte eine müde Kopfbewegung zu mir hin. „Wir waren schon alarmiert, als Sie Humbach besuchten. Aber Stocksiepen riet, nichts zu unternehmen, vorerst nichts. Wir standen andauernd in Telefonverbindung miteinander. Stocksiepen war so etwas wie die Zentrale. Aber als Sie dann auch noch die Wiskirchens bedrängten, war uns klar, daß wir etwas unternehmen mußten. Entweder wollten Sie uns an den Galgen bringen, nachdem die Polizei uns ja ungeschoren gelassen hatte …“ „Reden Sie keinen Unsinn, Mann!“ bellte Munter und verschluckte sich am Pfeifenrauch. Er hustete ausgiebig 305
und aus tiefster Brust brodelnd. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. „… oder Sie wollten, gemeinsam mit der Klein, Küppers Spiel fortsetzen. Für den Fall mußte man Sie erst mal zu kaufen suchen. Die Wiskirchens haben sich sofort nach Ihrem Besuch mit Stocksiepen in Verbindung gesetzt. Und der hat mich beauftragt, Ihnen auf den Fersen zu bleiben. Ich habe Sie an der Bahnhofssperre gleich wiedererkannt, von damals im ‚Esplanade‘ und vom Friedhof her. Und dann haben Sie sich mit der Klein getroffen und sind den ganzen Abend mit ihr zusammen gewesen. Ich war dabei, auch in dem Tingeltangel.“ „Während Scharrer Marias Zimmer durchwühlt hat“, unterbrach ich ihn. „Als sie zu früh zurückkam, hat er sie niedergeschlagen.“ Katzmann nahm die Pause dankbar zum Anlaß, sich noch einen Hieb von der Möbelpolitur einzuverleiben. Er nickte beim Trinken. „War alles von Stocksiepen koordiniert. Der hatte schon immer großes Organisationstalent. Führertum hieß das früher. Er hat Ihnen auch am anderen Tag die Wiskirchen auf den Hals geschickt.“ Munter war völlig aus dem Gespräch. Katzmann redete jetzt nur noch mit mir. Man sah dem Kommissar an, wie wenig ihm das behagte. „Ich hatte ihm nämlich berichtet, daß Sie mit Fräulein Klein recht intim wären, und da hat er geschlossen, Sie hätten so eine Art Interessengemeinschaft aufgemacht, sozusagen eine Erbengemeinschaft Küpper. Und dann wußte ja auch die Wiskirchen zu berichten, was Sie für einer waren, nach Ihrem Zusammentreffen bei Tucher, und Schneifel hatte auch den Eindruck, Sie wären einer aus der Erpressergilde. Nur ich“, er schlug sich mit einer Hand auf die Brust, daß es dumpf hallte, „nur der Schauspieler Katzmann, Menschenkenner und 306
feinnervig, hat gewittert, daß Sie was anderes wollen als Geld.“ Ich versuchte mich zu erinnern, konnte mir aber keinen Satz aus unserer Unterhaltung ins Gedächtnis rufen, der auf so eine Erkenntnis hätte schließen lassen. „Und ich wußte: Sie würden wiederkommen, nicht um Geld zu kassieren, um Rechenschaft zu fordern. Und ich habe Sie erwartet.“ In Katzmann begann sich nun Leben mit einer Rolle zu mischen. Er hatte auch den sachlichen Berichtston aufgegeben. Seine Sprache wurde akzentuierter und affektierter. Man merkte,, er hatte auf der Bühne oft in Situationen gestanden, in denen von ihm deutlich gemachte Untergangsstimmung gefordert worden war. Fünfter Akt: Der Held sieht, daß sein Leben nicht mehr zu retten ist. „Die Geschäftswelt geht mit stumpfen Sinnen durch den Tag, der Künstler allein vermag des Lebens Urgrund zu erschließen. Und ich hatte keine Angst mehr vor Ihrem Kommen, meine Rechnung mit dem Himmel ist gemacht.“ Und dann zitierte er noch einmal, plötzlich mit leicht stockender Zunge, Schiller: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes aber ist die Schuld.“ Munters Ungeduld war auf dem Siedepunkt angelangt. „Jetzt ist Schluß!“ bellte er, und dann zügelte er seine Stimme ein bißchen, als er in Katzmanns unschuldiges Erstaunen blickte: „Geben Sie doch zu, daß Sie Küpper ermordet haben.“ Es folgte wieder der Polizeitrick: „Scharrer hat’s gestanden.“ „Scharrer lügt“, sagte Katzmann sicher. „Dann wollte Scharrer sich eben reinwaschen.“ „Als wir, Scharrer und ich, Küpper aufs Dach getragen und von da runtergeschmissen haben, da war er wahrscheinlich schon tot.“ Er schluckte schwer. „Wir beide mußten das nämlich tun. Stocksiepen und Schneifel haben 307
das bestimmt, weil wir immer am wenigsten bezahlt haben.“ Ehrbare Geschäftsleute bis zuletzt, dachte ich nur, gerecht bis auf die Knochen. „Was heißt ‚wahrscheinlich schon tot‘?“ wollte Munter wissen. „War er nun tot oder nicht?“ „Er lag in dem Sälchen und rührte sich nicht mehr. Wiskirchen hatte ihn ein halbes dutzendmal oder mehr hart getroffen.“ Ich hatte das Gefühl, als ob mir der Boden unter den Füßen wegsackte. Wiskirchen! Und dann fielen mir die sprichwörtlichen Schuppen von den Augen. Ich hörte wieder Heinrichs Stimme, als ich ihn vom „Windfang“ aus angerufen und er mir erzählt hatte, da sei noch so ein komischer Vogel gekommen und die unheilige Familie wäre jetzt komplett. Wieso hatte ich das nur auf Frobenius beziehen können? Daß der bei dem Abituriententreffen zugegen war, war doch Selbstverständlichkeit, der gehörte doch dazu, und sein Erscheinen hätte Heinrich doch nicht mit einem Wort zu erwähnen brauchen, geschweige denn so nachdrücklich. Ich schüttelte midi wie im Fieber. „Wiskirchen?“ Munters Erstaunen war auch deutlich, wenngleich er sich nicht betroffen zeigte. „Der Mann von Küppers Schwester?“ Ich konnte nur nicken. Katzmann sah meine Betroffenheit, und das gab ihm ein bißchen von der alten Redseligkeit zurück. Er wußte, daß er mich in unermeßliches Staunen geschickt hatte, und er fühlte sich vielleicht verpflichtet, mich zu trösten. Vielleicht war ich ihm sympathisch, weil ich, anders als er, Kraft genug besessen hatte, mich nicht in die Sache hineinziehen zu lassen, da man doch bereit gewesen war, 308
mein Schweigen zu kaufen. Vielleicht. Mag sein, er wollte sich wichtig tun, indem er seine Rolle als der einzig Wissende bis zum letzten ausspielte. Ich kann das nicht entscheiden. Auf jeden Fall begann er wieder zu sprechen. „Stocksiepen hatte den Wiskirchen nämlich sozusagen als moralische Verstärkung bestellt. Er sollte, wenn wir schon nichts ausrichteten, Küpper ins Gewissen reden. Von wegen Familienschande und so. Als aber der Alte wirklich damit anfing, da hat Küpper noch hemmungsloser gelacht, ‚Ihr miesen, dreckigen Halunken‘, hat er gesagt – oder so was Ähnliches –, ‚ihr schreckt auch vor nichts zurück!‘ Und Wiskirchen zitterte vor Wut. ‚Wenn du willst, daß ich deine Ehrpuzzligkeit mit denen der Verbrecher hier in einen Topf werfe und gar koche, dann bitte.‘ Kurz darauf ist Heinrich ans Telefon gerufen worden, und Wiskirchen hat gesagt: ‚Den bring’ ich um!‘ Das hat der nicht nur so gesagt. Wenn Sie seine Stimme gehört hätten, Sie hätten’s auch geglaubt. Stocksiepen jedenfalls begriff sofort, was die Glocke geschlagen hatte. Er ist Humbach in die Parade gefahren, der den Alten beschwichtigen wollte, und hat später, als Heinrich wieder bei uns war, den Kellner mit einer großen Bestellung in die Küche geschickt. Dann hat er wieder angefangen, mit Küpper zu diskutieren. Stocksiepen weiß, wie man einen Menschen hochbringt.“ Das sagte er ohne Anerkennung, mehr so wie einer, der sich endgültig darüber klargeworden ist, von wem er sich die ganze Zeit über hat dirigieren lassen. „Heinrich war im Nu in Harnisch, hat uns alle wieder beschimpft, besonders Wiskirchen, den er einen unerträglichen Heuchler genannt hat. Da ist plötzlich Wiskirchen aufgestanden. Ich sehe das noch wie heute.“ Katzmann schloß die Augen und schüttelte sich leicht, ehe er langsam weitersprach. „Plötzlich stand 309
Wiskirchen auf und hatte einen Totschläger in der Hand, so eine Stahlspirale mit einem Bleiknopf oben dran, wie man sie oft bei Leuten findet, die sich vor Überfällen fürchten. Die kann man ja überall kaufen.“ „Machen Sie weiter“, sagte Munter, aber nun nicht mehr ungeduldig und herrisch. Aber Katzmann trank erst mal wieder und sagte dann zu mir, als sei ich der kompetente Mann im Zimmer: „Ja, das ging so schnell, daß Heinrich nicht einmal dazu kam, die Hände über den Kopf zu halten oder eine andere Abwehrbewegung zu machen. Wiskirchen saß nämlich neben ihm. Und er hat zugeschlagen, immer wieder. Heinrich lag schon am Boden, da hat Wiskirchen immer noch das Ding auf ihn niedersausen lassen. Er hat sich in einen Rausch reingeprügelt und dabei mit seiner hohen Stimme immer was vor sich her gesagt. Und keiner ist Heinrich zu Hilfe gekommen.“ Das schien ihn in der Erinnerung zu bedrücken. Er wischte sich mit einer Hand über die Augen. Als ich wieder sein ganzes Gesicht sehen konnte, wußte ich endgültig: Der Mann war fertig. Er erfüllte, indem er mir das alles erzählte, nur noch eine Pflicht, die er sich gesetzt hatte. „Humbach hat das Säälchen fluchtartig verlassen. Ich konnte kein Glied rühren. Schließlich haben Scharrer und Schneifel den Alten zurückgerissen und in eine Ecke gedrängt, und Stocksiepen ist an Küpper ’rangetreten und hat ihn durchsucht. Ich sagte schon, daß er die Negative nicht bei sich hatte. ‚Jetzt sitzen Sie ganz schön in der Falle‘, hat er zu Wiskirchen gesagt und so getan, als wär’ nicht sowieso beschlossen gewesen, Heinrich umzubringen, wenn er sich störrisch zeigen sollte. ‚Aber wir helfen Ihnen, wenn Sie uns helfen.‘ Und dann hat er Wiskirchen, über den der große Katzenjammer gekommen war, an den Fahrstuhl gebracht und nach 310
unten geschickt. Und Scharrer und ich mußten Küpper aufs Dach schleppen und von da in den Hof runterwerfen. Küpper war schwer.“ Katzmann atmete tief, und es klang wie Schnauben und Stöhnen in einem. Munter war es vorbehalten, die jetzt eintretende Stille zu brechen. Es klang wie Verteidigung, als er sagte: „Warum hat mir der Etagenkellner denn nichts davon gesagt, daß noch ein Mann im Zimmer gewesen ist?“ „Wahrscheinlich haben Sie ihn nicht danach gefragt“, mutmaßte ich. Mir war über allem die Lust zur Rechthaberei vergangen, und doch konnte ich nicht ganz an mich halten. „Vielleicht hätte man auch im Gastzimmer Spuren feststellen können. Aber dazu wäre es nötig gewesen, nach ihnen zu suchen. Die Kriminalpolizei hat doch, wie man hört, erstaunliche Mittel, Verbrechen aufzuklären – wenn sie die Mittel anwendet. Aber wenn ein Geistlicher und ein Versicherungsdirektor und ein Millionär im Spiel sind …“ „Genug“, sagte Munter, ohne mich anzusehen. Er befahl Katzmann, sich anzuziehen.
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Nachtrag Was sich danach zugetragen hat, ist schnell erzählt. Alle Beteiligten an dem Mord an meinem Freund Heinrich Küpper wurden noch am selben Tag, wenigstens vorübergehend, verhaftet. Die Zeitungen berichteten äußerst zurückhaltend in dieser Angelegenheit, der „Stadtbote“ meldete nur, was in der polizeilichen Verlautbarung zu lesen war: Eine Reihe von Bürgern unserer Stadt haben unter dem Verdacht eines gemeinsam begangenen Mordes in Haft genommen werden müssen. Kein Wort von dem Mord an Gersdorff wurde laut. Das Verfahren in dieser Sache wurde sofort abgetrennt. Es schwebt noch heute, nach fünf Jahren, und ich habe den Eindruck, daß es noch lange schweben wird. Humbach, Stocksiepen und Schneifel wurden bald aus der Untersuchungshaft entlassen, an dem Tag übrigens, an dem Katzmann sich in seiner Zelle mit einer eingeschmuggelten Rasierklinge die Pulsadern aufschnitt und verblutete. Zwei Wochen später starb Frobenius eines natürlichen Todes. Der Prozeß wurde äußerst fair geführt. Selbst der Staatsanwalt machte geltend, daß man es hier nicht mit einer Tat zu tun habe, die mit gewöhnlichen Maßstäben zu messen sei; viel Tragik und Verwirrung, die die Tragik und Verwirrung unseres ganzen Volkes gewesen sei, mische sich ein. Die Verteidiger verstanden etwas von ihrem Fach und nutzten die Unklarheit des komplizierten Tatbestandes, jede Lücke oder Interpretierbarkeit des Gesetzes, natürlich auch die Fairneß, die das Gericht den Angeklagten entgegenbrachte. Gemeinschaftlich begangener Mord lag nicht vor, gemeinschaftlich geplanter 312
Mord konnte nicht nachgewiesen werden, da Katzmann, der einzige, der das zugegeben hatte, nicht mehr lebte und die anderen das unisono bestritten. Mord war selbst im Fall Wiskirchen nicht anzunehmen. Der alte Herr (man verwies auf seinen Leumund und auf seine Verdienste) habe in Empörung über das verbrecherische Treiben seines Schwagers und im Affekt gehandelt. So blieb nach allem „in dubio pro reo“ das folgende übrig: fünf Jahre Gefängnis wegen Totschlags für Wiskirchen, von denen er drei Jahre verbüßte; zweieinhalb Jahre Gefängnis für Scharrer wegen unterlassener Hilfeleistung, Spurenbeseitigung und Körperverletzung in zwei Fällen (begangen an den Zeugen Maria Klein und Clemens Schweizer); neun Monate Gefängnis mit Bewährung für Schneifel, Stocksiepen und Humbach wegen unterlassener Hilfeleistung und versäumter Anzeigepflicht. Schneifel ist in der Stadt geblieben und hat, wie ich hörte, wieder geheiratet, nachdem seine Schöne sich einem attraktiveren und weniger bescholtenen, wenn auch nicht ganz so geldschweren Mann zugewandt hatte. Stocksiepen konnte natürlich nach dem Eklat den Direktorposten in der Zentrale nicht mehr bekleiden und leitet jetzt die Schweizer Filiale der „Kontinentale“. Dr. Humbach wurde von seinem Bischof in das Benediktinerkloster Bernburg geschickt, wo er Studien obliegen kann und wo er hoffentlich mit Gott ins reine kommt. Von Scharrer habe ich nie wieder etwas gehört. Kommissar Munter genießt wahrscheinlich in Frieden seine Pension. Maria Klein hat bald nach dem Prozeß die Stadt verlassen. Wir haben uns noch einige Male getroffen und nette Stunden miteinander verlebt. Sie ist wieder in ihre pfälzische Heimat zurückgekehrt, wo sie einen Tabak313
bauern geheiratet hat, der sicherlich über ihr ansehnliches Sparkonto nicht ungehalten gewesen sein wird. Manchmal bekomme ich eine Karte von ihr, mit freundlichen Grüßen und so. Martha Wiskirchen habe ich noch einmal auf einer Gartenschau gesehen. Sie war nun wirklich eine alte Frau. Sie tat so, als kenne sie mich nicht. Vielleicht hat sie mich auch wirklich nicht erkannt. Und ich, ich bin nicht mehr zur Zeitung zurückgegangen, auch nicht, nachdem mir Kaminski eine halbherzige Entschuldigung angeboten und mir ein ebenso halbherziges Angebot gemacht hat, mich zu den alten Bedingungen weiterzubeschäftigen. Ich hatte die Nase voll. Jetzt bin ich Vertreter, aber nicht so ein Treppenterrier, der von Tür zu Tür gehen muß. Ich schließe ich Auftrag einer seriösen Firma Aufträge zur Reinigung großer Bürokomplexe. So komme ich auch manchmal ins Polizeipräsidium. Man muß ja schließlich leben, in einem Land, in dem nur der Tüchtige etwas gilt.
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Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage • 1972 Verlag Das Neue Berlin, Berlin Lizenz-Nr.: 409-160/61/72 • ES 8C Lektor: Gisela Bentzien Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM*