EGWARTEN II. „Jetzt und in der Stunde unseres Absterbens . . . .“ Szene von
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EGWARTEN II. „Jetzt und in der Stunde unseres Absterbens . . . .“ Szene von
Rainer Maria Rilke
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Rainer Maria Rilke
WEGWARTEN II. „Jetzt und in der Stunde unseres Absterbens . . . .“ (1896)
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littera scripta manet
Rainer Maria Rilke (04.12.1875 – 29.12.1926)
1. Ausgabe, Dezember 2006 © eBOOK-Bibliothek 2006 für diese Ausgabe Textvorlage: „Jetzt und in der Stunde unseres Absterbens .... Wegwarten II.“ von René Maria Rilke, im Selbstverlag des Verfassers, Prag, 1896
Das „Wegwarten“-Heft Nr. 1 hat reichlich Anerkennung gefunden und seinen Zweck, Freude zu bringen, erfüllt. Dafür zeugen viele Briefe. Zum Teil stammen sie von bekannten Schriftstellern und Literaten her und enthalten ein feinsinniges Urteil, das Lob und Tadel wohlabgewogen umfaßt, zum Teil brachten sie mir in ungelenker Schrift das herzliche, innige Dankeswort eines Namenlosen. Die letztere Art von Briefen hat mich ganz besonders bewogen, das dem Volke gewidmete Unternehmen fortzuführen. — Des weiteren verweise ich auf mein Nachwort. Heft III. erscheint noch in diesem Jahre. An diesem Hefte werden sich außer dem Herausgeber auch andere Schriftsteller mit Beiträgen beteiligen. Prag, im März 1896.
„Jetzt und in der Stunde unseres Absterbens …“ Drama von
René Maria Rilke.
Gang
IV. Stockwerk Matratze
Bett
Treppe
Ofen St.
Tisch
Legekasten
St. St.
Fenster
Zimmer bei Frau Gärtner. Frau Gärtner ist sterbenskrank; sie liegt im Bette an der Rückwand. Helene, die älteste Tochter, etwan 24 Jahre, schön, blond, macht sich beim Ofen zu tun. Dann tritt Trudi ein — die jüngere. Steht im Alter von 18 Jahren. Nicht schön, hat dunkelbraunes Haar und etwas zu derbe Züge.
Personen: Die Wittib, Frau Gärtner. Helene, Töchter der Frau Gärtner. Trudi, Lippold, Hausbesitzer. Der Hausmeister. Der Doktor.
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Zeit: Gegenwart.
FRAU GÄRTNER (im Bette, tief in die Decke gehüllt, stöhnt im Fieberschlafe): Ach! ach! HELENE (wärmt in einem braunen Tonnapf Brühe auf der oberen Abteilung des Ofens, ängstlich): Mutter! FRAU GÄRTNER (stöhnt). HELENE: O, Gott! (Sie nimmt den Napf vom Ofenrost, hebt den Sturz.) Ich will sie wecken, die Suppe ist warm; Mutter! (geht leise zum Bette).
TRUDI (kommt aus der Nähschule, ein Körbchen am Arm. Sie hüpft heiter herein, trällert; dann wird sie ernst, als sie sich der kranken Mutter erinnert).
HELENE: Pst! TRUDI (legt das Körbchen ernst weg und kommt auf den Fußspitzen auch näher zum Bette).
FRAU GÄRTNER: . . . He – lene . . . . HELENE (neigt sich über sie): Ja, meine Mutter? FRAU GÄRTNER (mit Anstrengung): Ist — schon — Tag? HELENE: Mittag, Mutter . . . . hast du gut geschlafen? FRAU GÄRTNER: Mittag . . . Mittag . . . . HELENE: Du bist eingeschlafen — um zehn Uhr, — weißt du, nachdem der Doktor weggegangen war. FRAU GÄRTNER: Der Doktor? (schnell) Ja, ja . . . weiß schon. HELENE: Jetzt wirst du Suppe essen, ja?
FRAU GÄRTNER: Schon wieder essen? . . . Nein, nein . . . . HELENE: Doch, der Doktor meinte, du sollst; und wenn er Nachmittag wiederkommt . . . FRAU GÄRTNER: Wiederkommt? Heute? . . . . HELENE: Er will nur nachsehen . . . FRAU GÄRTNER (milde): Nun, so gib mir Suppe . . . . (Trudi erblickend) Hat die Trudi schon? TRUDI (schüttelt den Kopf). FRAU GÄRTNER: Nicht? Gib — gib . . . (die Stimme versagt ihr; durch Zeichen mit der Hand müht sie sich, Helene zu erklären, sie möge erst der Trudi Suppe geben). HELENE (tut wie geheißen): Ja, ja, — da, Trudi! Halt dich nur
ruhig, Mutter, sonst kommt wieder der Krampf. FRAU GÄRTNER (zurückgelehnt, stöhnt). TRUDI (zupft Helene am Kleid, flüsternd): Du! HELENE (wendet sich zu ihr). TRUDI: Du, — sie will mir kein Geld geben für deine Stikkerei, die Lehrerin. Dort im Korb ist sie; hab’ sie wieder zurückgebracht; weißt du, ist auch besser, heb’ dir’s auf. HELENE (in Gedanken): . . . kein Geld . . . . TRUDI: Das machen die Fabriken besser und . . . . HELENE: Kein Geld . . . (auffahrend) und was mit dem andern? TRUDI: Ah mit dem Posten im G’schäft . . . wart! Da hat sie mir einen Brief geben . . . . FRAU GÄRTNER (stöhnt). HELENE: Schon bekommst du die Suppe, Mutter — gleich! FRAU GÄRTNER (verschwommen): Ja, ja . . . . (Trudi hat aus dem Körbchen einen Brief geholt; sie reicht ihn Helenen. Diese eilt ans Fenster, reißt ihn hastig auf und wirft einen Blick hinein.)
HELENE (wie zerschmettert): Nichts! TRUDI (löffelt ihre Suppe, aufschauend): Mein Gott, was hast denn . . . bist du leicht auch krank, Hella? HELENE: Was soll aus uns werden? TRUDI (altklug): Habens dich wieder nicht ins G’schäft aufg’nommen? — Bitt’ dich, sei froh. Wirst doch nicht hinter der Pudel stehen . . . . HELENE (streicht ihr leise den Kopf): Iß nur, Trudi, die Suppe wird dir kalt! TRUDI (kehrt sich wie beleidigt ab und löffelt hastig ihre Brühe hinunter).
HELENE (steht eine Weile reglos; dann gießt sie einen Teil der Suppe in eine Tasse und setzt sich an den Bettrand): So, meine Mutter, . . . so . . . .
FRAU GÄRTNER: Suppe? — HELENE: Ja. — Setz dich ein wenig auf (hilft ihr, richtet ihr die Kissen). Trudi, komm der Mutter helfen! TRUDI (helfend, kindisch): Geht’s dir besser, Mutter? FRAU GÄRTNER (lächelt matt und küßt sie leise auf die Stirn). HELENE: So, koste, Mutter! (Führt leise und geduldig Löffel um Löffel an die Lippen der Mutter.) TRUDI (kniet beim Bette): Gut, nicht wahr?
HELENE: Ob du denn fleißig warst, Trudi? TRUDI (etwas schmollend): No freilich; gelt, Mutter, ich war doch immer fleißig . . . HELENE (zur Mutter): Nicht mehr? FRAU GÄRTNER (schüttelt den Kopf). HELENE: Noch einen Löffel. Auf die Genesung. TRUDI: Ja, so hast du mir’s auch immer g’macht, wenn ich krank war. Und dann noch einen für die Mutter, und einen für’s Bravsein . . . . (lacht).
FRAU GÄRTNER (lehnt sich ermattet zurück): Nein — genug — genug!
HELENE: Hast wenig gegessen! TRUDI (schmiegt sich jetzt wieder zutraulich an Helenen): Und du selbst, Hella, du hast noch gar nichts ’gessen? . . . HELENE: Ach . . . ich! — TRUDI (nimmt ihr die Tasse aus der Hand): Na wart’! Ich werd’ dir geben! Da, jetzt aber nimm (Helenens Stimme nachahmend) einen für die Mutter . . . HELENE (nimmt lächelnd den Löffel an). TRUDI: und einen für — für mich! HELENE: Schelm, kleiner! FRAU GÄRTNER: Trudi! HELENE: Trudi! die Mutter! TRUDI: Was denn? — FRAU GÄRTNER: Hast dein Märchenbuch — hier? TRUDI: Märchenbuch, freilich. Weiß schon, werd’ dir wieder lesen, Mutter. (Nimmt sich einen Stuhl zum Bette, holt vom Legkasten ein Buch und beginnt leise zu lesen. Mit kindischer Betonung.) (Liest): Also, sie kamen in einen großen und schönen
Garten. In diesem Garten gab es gar wunderschöne große Blumen, und zwischen den goldenen Blättern saßen in jeder kleine weiße, lebendige Elfen, die auf winzigen Schalmeien bliesen. Und die hellen Quellen tanzten dazu im Takte und plauderten so fröhlich, daß den beiden ganz licht und lieb zusinne ward. Und der Prinz sagte: „Das ist mein Garten. Und das alles wird Dir gehören, wenn Du mir nur recht treu bleibst, wenn ich in die Welt ziehe, um den großen, bösen Drachen zu töten, der schon vielen unschuldigen Menschen Tod gebracht hat.“ Und das
Mädchen ward sehr rot und sagte: „Oh, ich werde Dir treu sein. Nicht, weil Du ein schöner Prinz bist und weil Dir das Schloß aus Gold gehört und dieser schöne Garten mit den lebendigen Blumen, sondern weil ich Dich gern habe, so recht von Herzen gern . . . .“ (Ganz vertieft, rückt Trudi den Stuhl näher ans Bette und liest jetzt viel leiser, so daß man nur ein Raunen hört. — Helene stand die ganze Zeit, die Stirn an die Scheiben gepreßt, stumm da. Da tut sich die Tür ein wenig auf.)
DER HAUSMEISTER: Fräul’n! HELENE: Ah, Sie! Was . . . DER HAUSMEISTER: Verzeih’ns, der Hausherr laßt Ihnen sagen, Sie sollen mir, — wissens, mir ist herzlich leid, . . . Sie sollen mir das . . . das Geld geben . . . . HELENE: Gott, lieber Walker, sagen Sie morgen, morgen früh . . . DER HAUSMEISTER: Verzeih’ns, Fräul’n, aber . . . HELENE: Es geht nicht, das Unglück, die Krankheit . . . DER HAUSMEISTER: Ja, aber . . . er hat mir g’sagt; verzeih’ns, Sie wissen ja . . . ich sag’s Ihnen nur so heimlich . . . wenn sie nicht zahlen, die da oben, hat er g’sagt, heut’ noch müssens mir aus’n Haus . . . . HELENE: Heut! DER HAUSMEISTER: Heut noch, hat er g’sagt. Na, und man schickt doch keinen Hund auf die Gassen . . . bei dem Wetter! Na, mir tut’s herzlich leid. HELENE: Bitten Sie für uns, guter Walker. Er hält was auf Sie. DER HAUSMEISTER (ratlos): Ja . . . .
HELENE (zu Trudi): Lies nur weiter, Trudi . . . . DER HAUSMEISTER: Bitt’, was soll ich also ’n Herrn Lippold sagen?
HELENE (verzweifelt): Daß wir morgen, morgen . . . früh alles zahlen werden . . . . DER HAUSMEISTER: Also morgen! HELENE: Morgen . . . DER HAUSMEISTER: Na, denn, werd’s ihm sagen, werd’s ihm sagen. HELENE: Gehn Sie, Walker, bitten Sie für uns. DER HAUSMEISTER: Ja, Fräul’n . . . ja . . . FRAU GÄRTNER (stöhnt). DER HAUSMEISTER: Frau Mutter, besser? HELENE (zuckt die Achseln). DER HAUSMEISTER: Ein Kreuz! (will ab; in der Tür) Richtig — also nichts . . . . HELENE: Ich sag’ Ihnen ja, morgen. DER HAUSMEISTER: Morgen. Na, — da soll ich sagen, wenn nichts ist, da soll ich sagen, daß er heute noch ’rauf kommt, der Herr . . . HELENE (bebend): Her!? DER HAUSMEISTER: Ja, soll ich sagen. Jetzt gleich Nachmittag . . . . Tut mir herzlich leid, Fräul’n . . . wirklich leid, — na Adieu. HELENE (sieht ihm wie versteinert nach). TRUDI (heranschleichend): Du, — was ist denn? HELENE (zerstreut): Lies nur, Trudi, lies! TRUDI: Aber . . . . HELENE (ärgerlich): Lies! TRUDI: Mutter schläft ja.
HELENE: Doch, du liest ja gern laut für dich. Lies laut für dich!
TRUDI (schleicht wieder zu ihrem Platze zurück). HELENE: Wart, Trudi, eigentlich, eigentlich kannst du mir was holen. Hol mir, hol mir . . . . ja wart, die Mutter hat fast keine Medizin mehr, (nimmt ein Fläschchen) so, siehst du, das sollen sie dir vollfüllen in der Apotheke. So. Und da ist das Rezept. So, geh, Trudi, — zieh dich an! Schnell! TRUDI: Gleich! (erstaunt) Muß das jetzt sein? HELENE: Ja, jetzt . . . . bist du fertig? TRUDI (während sie in die Jacke fährt): Du, aber Geld! HELENE (zusammenzuckend, entsetzt): Geld!? (ruhiger) Ja so, für die Arznei . . . TRUDI: Was hast’ denn sonst g’meint? Das ist’s Rezept, da stehts drauf, was es kostet. HELENE: Dreißig Kreuzer . . . . (nimmt ihre Geldtasche, zählt) zehn, fünfzehn, zwanzig, eins, zwei, drei . . . . (leise) mein Gott, nicht einmal — das mehr! TRUDI: Na, ich bin fertig . . . . also? HELENE: Nein, Trudi, es ist doch besser, wenn du jetzt nicht gehst, geh später . . . . dann abends. TRUDI: Hast mich zum besten, gelt? — HELENE: Nein, Trudi, bleib jetzt bei der Mutter, bleib jetzt im Zimmer . . . wenn der, wenn der . . . . TRUDI: Na, was du heut hast, Hella! . . . (geht nach hinten, legt die Jacke wieder ab und kommt dann wieder zu Helene; schmeichelnd)
Nicht bös sein! Nein? HELENE (küßt sie leise): Nein, nein, du bist ja brav, Schwester; setz dich nur dort hin und lies, und wenn der Herr Lippold kommt . . .
TRUDI: Der? der kommt zu uns? der rote . . . der . . . HELENE: Pst! er kommt schon, sei brav, Trudi, und lies . . . . Geh . . . .
TRUDI (unwillig): Ich geh schon. (Trudi geht auf ihren früheren Platz am Rande des Bettes zurück und nimmt das Buch wieder auf; von Zeit zu Zeit hört man Frau Gärtner im Schlafe leise stöhnen; Trudi beginnt zu lesen; sobald Lippold eintritt, liest sie immer leiser und schielt verstohlen hinüber. Endlich hört sie ganz zu lesen auf und hört mit großen Augen auf das erregte Gespräch der beiden.)
HELENE (steht am Fenster. Es pocht): Herein! LIPPOLD (kurznackiger, kleiner, rothaariger Mann mit gepflegtem Schnurrbart; Kleidung ziemlich gewählt; Züge nicht unschön, aber verroht; er geht festen Schrittes vor, lächelt, legt seinen blanken Zylinder auf den Legkasten): Tag, Tag, Fräulein Helene. Nun, Frau Mutter . . . besser? . . . besser? (Ohne Antwort abzuwarten) Tag,
Kleine.
TRUDI (nickt nur schmollend). HELENE: Sei artig! . . . . LIPPOLD: Ach, lassen Sie . . . . HELENE: Bitte, Herr Lippold, wollen Sie sich nicht setzen? (Rückt einen Stuhl näher zum Legkasten hin.) LIPPOLD (setzt sich): Danke. Denn zur Sache . . . . . .
HELENE: Bitte . . . . lies, Trudi! LIPPOLD: Ich bin mir selbst, liebes Fräulein, das Geld holen gekommen, das Sie ja heute zahlen wollen . . . .
HELENE (erbleicht, will sprechen . . . ) LIPPOLD: Der Krach in Wien, die schlechten Zeiten, alles teuer . . . . . kurz ich brauche . . . . . HELENE: Herr Lippold, nur einen Tag!
LIPPOLD: Liebes Fräulein, gerne, gerne . . . . aber Sie haben mich schon einigemal damit vertröstet . . . und HELENE (händeringend): Mein Gott, nur diesmal noch! LIPPOLD: Ich sage Ihnen ja gerne, wenn ich nicht selbst augenblicklich Geld brauchte; seit den dreißig Jahren, daß ich mein Geschäft führe, nie ist’s so schlecht gestanden . . . . HELENE: Sehen Sie, die Mutter ist so krank, so krank. TRUDI (horcht). HELENE: Wer weiß ob . . . . (zu Trudi) Lies, Trudi! LIPPOLD: Na, ich — das ist ja traurig . . . . . . HELENE: Und ich tu alles. Ich arbeite mir die Finger wund, und die Augen rot . . . . . LIPPOLD: Ich weiß, Sie sind — fleißig . . . . HELENE (von einer plötzlichen Idee durchzuckt): Sie sind bei so vielen Wohltätigkeitsveranstaltungen, Herr Lippold. Können Sie nicht diese Stickerei? . . . . . (Sie nimmt das Körbchen mit derselben vom Legkasten.) LIPPOLD (lächelnd): Nein, danke, danke, — bin überhäuft mit solchem Zeugs . . . . (näher rückend) Seh’ schon — so kom-
men wir zu keinem Ziel. — Helene, haben’s denn die Blicke nicht verstanden, mit denen ich Sie immer anschau . . . . wird Ihnen dann nicht so ein bissel warm dabei . . . . No! . . . HELENE (sieht ihn ernst an). LIPPOLD: Wirklich, Helene, ich mein’s gut mit Ihnen . . . . Erschrecken’s nicht! — Kurz und gut, ich habe Sie sehr gern, Helene (stürmisch . . . ) sehr gern! HELENE: Gott! TRUDI: Die Mutter ist auf! HELENE: Treten Sie zurück, um Gotteswillen, Herr Lippold, die Mutter würde erschrecken, wenn sie jemanden Frem-
den hier sieht . . . da zurück bis zur Tür, hintern Ofen, Herr Lippold, so . . . . dank schön! (beim Bett) Mutter? . . . . FRAU GÄRTNER (stöhnt laut). TRUDI (dazwischen kindisch): Du, was will der? — FRAU GÄRTNER: He – le – ne . . . . HELENE: Willst du etwas? . . . bißchen Wasser, ja? FRAU GÄRTNER (tonlos): Wasser. HELENE (schenkt aus dem Kruge ein halbes Glas voll): Gleich! (Sie richtet die alte Frau auf, diese nippt aus dem Glase und sinkt dann wieder kraftlos zurück.) . . . FRAU GÄRTNER (tonlos): War . . . niemand da? . . .
TRUDI: Der Lipp . . . HELENE (verschließt ihr mit der Hand den Mund, leise): Niemand, wer soll denn . . . . FRAU GÄRTNER: . . . . lies . . . . Trudi . . . HELENE: Lies! . . . .
FRAU GÄRTNER (stöhnt, dann wird es wieder stiller; sie scheint einzuschlafen). TRUDI (liest so leise, daß man nur ein Raunen hört). HELENE (zu Lippold vortretend): Das Elend! . . . das Elend! LIPPOLD (näher kommend): Ich will Ihnen helfen. Ihre Mutter
soll unten in meiner Wohnung eine gute Stube haben und . . . . HELENE (freudig bewegt): Sie, Sie, Herr Lippold!!!? LIPPOLD (kalt): Freilich, wenn . . . . HELENE (bange): Wenn? LIPPOLD (derb): Wenn Sie mein sein wollen . . . . na? . . . .
HELENE (taumelnd ein paar Schritte zurück und sieht ernst und trostlos im Zimmer umher; da fällt ihr Blick auf die kranke Mutter . . . Plötzlich und entschlossen): Gut — ich heirate Sie, Herr . . . .
LIPPOLD: . . . Heiraten? HELENE (sieht ihn starr und verständnislos an). LIPPOLD: Heiraten, hm, das hab’ ich wohl nicht gesagt . . . . HELENE (begreift voll Entsetzen sein Wort. Ihre Augen sind starr aufgerissen, ihr ganzer Leib zittert, sie hält sich krampfhaft am Legkasten). LIPPOLD (steckt die Hände in die Taschen und sieht mit scheinbarer Gleichgültigkeit zu Boden). TRUDI (liest jetzt etwas lauter). (Liest): Und der Prinz legte seinen Arm um sie und sagte:
„Ja, Du bist gut und rein wie eine Blume und Dein Herz ist hell wie ein Tautropfe. Du verdienst alle die Herrlichkeiten, die ich Dir geben kann. Ja, alle meine Schätze sind nichts gegen das, was Dein edles Herz besitzt, und die schönsten Saphire meiner Krone sind ja lange nicht so licht wie Dein Auge . . . . . . (Trudi sieht sich, durch das Schweigen Helenens und Lippolds überrascht, um.) HELENE (tonlos): Lies nur, Trudi! (zu Lippold, eifrig) Gehen Sie! LIPPOLD (noch immer die Hände in den Taschen, erhebt von unten listig die Augen): Waaas? —
HELENE: Bei Gott! geh’n Sie . . . . LIPPOLD (lacht grell auf): Ha, ha, ha . . . Sie weisen mich ab, Sie . . . . HELENE: Bitte! . . . . LIPPOLD: Was glauben Sie denn, wer Sie sind? . . . . . HELENE: Ich bin nicht — schlecht. LIPPOLD: Schlecht! Papperlapapp! Schlecht! — O du heilige Unschuld du . . . . Einfach lächerlich. Wissen Sie, wenn eine wovon zu nagen hat, dann kann sie sich ja auch den Luxus gönnen, sich so eine Tugend zu halten, so wie andere Leut einen Hund oder einen Canari . . . aber . . . . Sie . . . .
Na, übrigens deswegen sinds noch lange nicht schlecht. Viele geben sich hin einem, der sie gar nicht einmal gern hat . . . und ich . . . . ich! . . . . (glühend) ich! . . . (plötzlich heiser und drohend) und dann, wenn Sie nicht wollen, Mamsell, — wenn . . . mna! dann . . . bitte — packens nur gleich ein — da . . . . HELENE (wirft sich auf die Knie): Erbarmen! LIPPOLD (in steigender Glut): Wenn Sie glauben, daß Ihre Mutter auf der Gassen besser und früher g’sund wird, wenn . . . .
TRUDI (hat das Buch weggelegt und starrt großäugig herüber. Frau Gärtner stöhnt.)
HELENE (noch immer knieend): Erbarmen! LIPPOLD (außer sich, ihre schöne Gestalt betrachtend; sein Auge brennt Gierde): Helene! (Er ruft das gedämpft, heiser, fiebernd. Jäh reißt er Helene empor und preßt sie an sich.) TRUDI (aber ist aufgesprungen, herzugeeilt und hämmert mit den Fäusten auf Lippolds Hände): Sie, Sie, was wollen Sie von Helene . . .
Was . . .
LIPPOLD (läßt wütend von dem Mädchen ab; er lacht, seine Wut zu verbergen, schrill): Ha, ha, der Balg! Der . . . . . Schicken’s sie
weg, Helene!
HELENE (drückt Trudis Köpfchen an sich und schüttelt den Kopf). LIPPOLD (nimmt seinen Zylinder vom Legkasten): Also abends um 7 Uhr kommen Sie zu mir, kommst Du zu mir . . . Helene? (drohend.) HELENE (entsetzt): Nie! LIPPOLD (noch immer lachend): Na, ha, ha, dann haben wir ja
alles in Ordnung, Mamsell, dann muß die Wohnung hier heute um 7 leer sein . . . . Verstanden!? Ha, ha! HELENE (nochmals niederknieend): Gnade!
LIPPOLD (kalt lächelnd): Entweder, oder; ich halt Wort. Überlegen’s sich’s — ha, ha, ha, ha. (Er setzt den Zylinder auf, schaut sich noch einmal im Zimmer um und geht dann pfeifend hinaus.) HELENE (steht auf Trud’chen gestützt auf und läßt sich auf den Stuhl fallen, wo Lippold gesessen; sie schluchzt stürmisch; — Trudi kniet bei ihr). TRUDI (streicht ihr das Haar): Geh, geh, wirst doch nicht weinen . . .
wegen dem . . . . HELENE (schluchzt). TRUDI: Du, jetzt hör’ aber auf; schau! ’s ist schon ½ 6. Gleich wird der Doktor da sein. HELENE: ½ 6? TRUDI: Freilich, ’s ist schon ganz dämmrig. HELENE (trocknet sich die Augen): Gott, was, was soll geschehen! TRUDI: Hella, du, ich hab’ heut’ Mittag nichts als Suppe g’habt; hab’ solchen Hunger. HELENE (ermannt sich): Arme Trudi. Dort ist noch Brot in der Lade, hol’ dir!
TRUDI (tut, wie ihr befohlen, sie findet ein Stück Brot im Legkasten und kaut mit vollen Backen daran; es dunkelt immer mehr). HELENE (immer noch sitzend): Schau’, ob noch ein Stück Kerze
in der Schublade ist.
TRUDI (öffnet die Lade wieder): Ein ganz kleines. HELENE: Gib her. — Damit doch Licht ist, wenn der Doktor kommt. (Sie steht auf. Müde und gebrochen geht sie zum Tische, steckt das Stümpfchen an und stellt es auf die Tischplatte fest.) FRAU GÄRTNER (stöhnt). (Trudi geht, an der Brotrinde kauend, auf und nieder, Helene wankt zum Bette der Mutter und sitzt dort reglos, die Hände vor’s Gesicht geschlagen.
Man hört nur die Uhr ticken. Die Kerze flackert unstet. Irre Reflexe jagen durch die Dachstube. — Da pocht es.)
HELENE (zu sich): Der Doktor. TRUDI (mit vollem Munde): Herein. DOKTOR (rasch): Abend; nun? — (zu Helene) Nun, wie geht’s der Mutter? — Hat sie geschlafen, ja? HELENE (nickt). DOKTOR: Gut, sehr gut. Aber Licht, Licht, so seh’ ich nichts, meine Beste. HELENE: Verzeihung, wir haben . . . . DOKTOR (ärgerlich): So reichen Sie mir wenigstens die Kerze dort; so; halten Sie mir sie! HELENE (mit dem Kerzenstückchen beim Bette): Mutter, der Herr Doktor. FRAU GÄRTNER (murrt etwas Unverständliches). DOKTOR (fühlt ihr den Puls und schüttelt den Kopf): Fieber, Fieber. (lauter) Haben Sie starke Schmerzen, Frau Gärtner? HELENE: Hast du Schmerzen, Mutter? . . . . FRAU GÄRTNER (matt): Schmerzen? Nein . . . . DOKTOR (steht auf): Nun, alles fort, so wie ich’s bestimmt; die Medizin — Sie haben doch frische machen lassen? — HELENE (verlegen): Ich wollte . . . . wenn nur . . . . DOKTOR (barsch): Ja, zum Teufel, wozu komm’ ich denn her, wenn Sie nicht machen, was ich Ihnen verordne! Wie soll denn . . . . HELENE: Es geht uns halt jetzt (zögernd, schamvoll) — gar — so schlecht . . . . DOKTOR (ungeduldig): Ja, das ist sehr traurig — aber mehr als Ihre Mutter umsonst behandeln . . . . HELENE: Aber Herr Doktor . . . .
DOKTOR (ohne sich unterbrechen zu lassen): mehr kann ich nicht tun. Bitt’ Sie, da kommen viele . . . . Schauen Sie, daß Sie die Medizin kriegen. Und kräftige Suppe, verstehen Sie, und einen Tropfen Wein; die alte Frau ist ja ganz von Kräften. HELENE: Ist es heute besser, Herr Doktor? DOKTOR (schon im Gehen): Besser . . . . besser! Wenn Sie nicht einmal tun, was ich sage . . . . HELENE: Kommen Sie morgen früh wieder? . . . . DOKTOR: Morgen?! Ja — es gibt sehr viel zu tun. Übrigens wird morgen mein Besuch (er unterbricht sich jäh . . . . ) Nun, werde sehen. Also Medizin! Guten Abend. (Er schließt die Türe hinter sich, dann kehrt er noch einmal zurück.) DOKTOR (in der Türe): Fräulein! HELENE (eilt erschrocken hinzu). DOKTOR (reicht ihr die Hand etwas wärmer): Seien Sie auf alles gefaßt! Gott stärke Sie! — (Ab.) HELENE (schreit): Mein Gott! FRAU GÄRTNER (hebt jäh den Kopf): He – lene! . . . .
HELENE: Ja, Mutter . . . . FRAU GÄRTNER: Kalt . . . . kalt . . . . TRUDI (die die ganze Zeit zu Seiten der Matratze in der Ecke gestanden war): Freilich, ’s ist kalt hier im Zimmer . . . . ich werd’ heizen. (Sie geht zum Ofen und beginnt Holz einzulegen und Feuer zu machen.) HELENE (sitzt wieder auf dem Bettrande). (Bange Stille liegt auf allen . . . . man hört die Uhr ticken; Frau Gärtner ächzt leise, leise prasselt hie und da ein Span, und manchmal schluchzt Helene unterdrückt auf.)
FRAU GÄRTNER (beginnt immer heftiger zu stöhnen): Helene . . . . Helene . . . . Mir schnürt es so die Kehle — mach Luft, Luft! . . . . HELENE: Mein Gott! (Trudi hockt reglos beim Ofen.)
FRAU GÄRTNER: Gott, Helene — jetzt, jetzt . . . . (Frau Gärtner schreit) Luft! (Sie reckt den Kopf in die Höhe; Helene hält ihr die Schläfe und küßt ihr die schweißige Stirne.) FRAU GÄRTNER (mählich stiller werdend): Luft (leiser) Luft (leiser) Luft . . . . (leise verröchelnd sinkt sie zurück . . . . nur von Zeit zu Zeit stöhnt sie leise. Helene hält ihre Hand.) HELENE (wirr, von Schluchzen unterbrochen): O mein Gott, mein
Gott, was soll ich tun . . . . gib mir nur nur jetzt Hilfe . . . . laß mich jetzt nicht verzweifeln . . . . Ich opfere mich ja . . . . mein Leben opfer ich gern. Aber meine Tugend, Gott . . . . Gott . . . . das kann . . . . das kann ja nicht sein . . . . Sei doch barmherzig, ich war . . . . ja fromm . . . . Gott, Gott! (Sie weint.) (Trudi sitzt auf ihrem Stuhl; sie hat die Schwester ratlos angeblickt; jetzt kommt auch ihr das Weinen nahe. Sie schluchzt auf; wieder Stille . . . . Da pocht es, niemand regt sich. — Vom Gang fällt Lichtschimmer herein, wie die Tür sich öffnet. Der Hausmeister kommt.)
DER HAUSMEISTER (leise): Fräul’n! Fräul’n . . . . HELENE (steht totenblaß auf) (leise): Jetzt steh’ mir bei, Gott! TRUDI (springt vertraulich auf den Alten): Ah, der Herr Walker! DER HAUSMEISTER: Pst! Fräul’n Helen’ — verzeihen’s . . . . aber es soll hier alles wegkommen, alles heraus . . . . so hat er g’sagt . . . . HELENE: Guter Herr Walker!
TRUDI (kindisch): Was soll denn ’raus? — DER HAUSMEISTER: Na, verzeihn’s — ich kann halt nichts dafür — — — aber, es kost’ mich meine Stelle . . . . wenn . . . . na, und ich hab’ Kinder und Enkel . . . . (Während diesen Worten beginnt es sieben Uhr zu schlagen. Man hört Stimmen auf der Treppe.)
DER HAUSMEISTER: Da kommen’s schon . . . . um die Sachen . . . . na . . . . (will vorwärts). (In Helene spielt sich ein entsetzlicher Kampf ab; ihre Mienen drücken fürchterliche Qualen aus. — Da verhallt der letzte Schlag sieben vom Turme.)
HELENE (stürzt in höchster Erregung vor, packt Walkern bei der Schulter und raunt): Gehen Sie zum Herrn, schnell, gehen Sie und sagen Sie . . . . ich . . . . ich komme . . . . DER HAUSMEISTER: Was soll ich? HELENE: Herrn Lippold sagen, daß, daß . . . . ich einwillige und — komme. DER HAUSMEISTER: Sooo. — HELENE: Aber gleich! DER HAUSMEISTER: Na, — dann — kann das alles da bleiben . . . . Also einverstanden und kommen . . . . kommen. (Ab.) (Helene stürzt an das Bett der Mutter, küßt die herabhängende Hand innig. — Dann springt sie auf, reißt eine Schublade des Legkastens auf, schlingt sich das erstbeste Tuch um den Hals, und stürzt zur Tür. Trudi hat ihr sprachlos zugesehen, jetzt faßt sie sie bei der Hand.)
TRUDI: Hella, was hast du? HELENE (küßt sie hastig): — Gleich bin ich da . . . .
TRUDI: Geh’ nicht! HELENE: Ich muß! TRUDI: Ich fürcht’ mich. Die Kerze löscht aus. — HELENE: Sei klug, Trudi . . . . ich muß jetzt . . . . (in der Tür): Trudi . . . . setz’ dich zur Mutter; und wenn sie mich ruft, so sag’ nicht, daß ich weg bin. — TRUDI (ängstlich): Nein! HELENE: Sag’s nicht, damit sie nicht erschrickt; ich geh’ nur was holen . . . . Ich bin gleich da! Also sag’s nicht! — (küßt sie nochmals) Mit Gott! — (Stürzt davon, man hört den hastigen Schritt treppabwärts, dann eine Türe gehen, zuschlagen, dann wird es still . . . . ) (Indessen ist das Kerzenstümpfchen auf dem Tische verloschen. Die Bühne ist ganz finster. — Trudi schleicht ängstlich zu ihrem Stuhl beim Bette zurück. — Sie setzt sich, es bleibt ganz stille.)
FRAU GÄRTNER (beginnt wieder lauter zu stöhnen, sie spricht im Fieber): Nein, nein . . . . ich . . . . kann . . . . ihr’s nicht . . . . sagen . . . . nein . . . . Ja, ich weiß, es war . . . . eine . . . . große . . . . große Sünde . . . . (stöhnt) . . . . große Sünde . . . . Aber . . . . ich war ja noch so jung . . . . Sünde . . . . Nein, nicht in die Flammen . . . . das brennt . . . . Nicht, . . . . ich bereue ja . . . . ja . . . . (stöhnt laut). (Plötzlich erwacht sie; ängstlich, aber mit wacher, veränderter Stimme): Helene! (Keine Antwort.)
Helene . . . . bist du da? — (Keine Antwort.) (Bang): Helene . . . . mir ist jetzt leichter, — leichter, —
ich . . . . ich kann sprechen . . . . ich muß, Helene!
TRUDI (leise und zögernd): Ja!? FRAU GÄRTNER: So, Helene, gib mir die Hand. — TRUDI (tut es): Ja. FRAU GÄRTNER: Ich hab’ noch was auf dem Herzen. Ich muß dir’s sagen. — Ich weiß, ich werd’ sterben . . . . TRUDI (schluchzt auf). FRAU GÄRTNER: Wein’ nicht! — Wein’ nicht! TRUDI: Mutter . . . . FRAU GÄRTNER: Gott, Gott, nur soviel Zeit gib mir noch . . . . Also hör’! — Wenn ich tot bin, Hella, TRUDI (schluchzt). FRAU GÄRTNER: Wenn ich tot bin, da gehst und nimmst aus der Schachtel dort in der Lade das Packel Briefe, und damit gehst zum Lippold . . . . der muß für dich sorgen . . . . TRUDI (erstaunt): Lippold? . . . . FRAU GÄRTNER: Der muß für dich sorgen . . . . für dich, Helene, das ist seine Pflicht! Und für die Trudi wird er’s aus Barmherzigkeit auch tun. — Hör’ . . . . mein Gott, nur so lang’ noch . . . . hör’ (hastig) Mein seliger Mann . . . . der Vater von der Trudi, ist nicht dein Vater; eh’ ich ihn hab’ kenneng’lernt . . . . da, da . . . . wirst mir verzeihen . . . . Hella . . . . TRUDI (kindisch, verständnislos): Ja! FRAU GÄRTNER (in immer steigender Hast): Da . . . . hab’ ich den Lippold, den Lippold gern g’habt, und der, der ist dein — Vater! TRUDI (schweigt). FRAU GÄRTNER: Verzeihst du mir’s? (fieberhaft bange) Gib mir die Hand . . . Verzeihst du? . . . TRUDI (ratlos ängstlich): Mutter! . . .
FRAU GÄRTNER: Schau, es ist so kommen . . . . . . ich weiß ja, ich bin schlecht . . . .
TRUDI (ratlos und entsetzt): Mutter!!! FRAU GÄRTNER: Du verzeihst ja . . . . . ja, also zum Lippold geh . . . . wenn er die Briefe sieht . . . . mich hat er nicht mehr erkannt . . . aber die Briefe . . . . vergiß . . . . . nicht . . . dort links . . . . in der Lade . . . . . . Gott . . . Gott! . . . . . . . . . Jetzt . . . . jetzt (plötzlich schreiend) Luft, Luft! . . . Hel . . . . . . . (Ein Röcheln unterbricht sie. Schneidend und gräßlich steigt es aus ihrer Brust; sie fährt noch einmal empor und sinkt dann mit gellendem Schrei zurück — es bleibt ganz still.)
TRUDI (nach einer Weile): Mutter! (Dann wieder): Mutter! (Endlich schreiend): Mutter! (rüttelt die Tote.) (Dann stürzt das bange Kind zur Türe, reißt sie auf, daß ein breiter Lichtstrom hereindringt; man gewahrt jetzt deutlich das verzerrte Antlitz der Toten in den ärmlichen Kissen.)
TRUDI (schreit bang in das Stiegenhaus hinab): Hella! (Gellend widerhallt es. Man hört unten Stimmen und Türenschlagen.)
TRUDI (stürzt bebend in das Zimmer zurück. Ängstlich schaut das Kind umher; dann, wie die Stimmen näher kommen, kauert es sich wieder auf seinen Stuhl und beginnt zitternd, mit gefalteten Händen, leise und kindisch betonend): Vater unser, der du bist im Himmel . . . .
geheiliget werde . . . . . Ende (Der Vorhang fällt.)
Nachwort. . . . . . . und du siehst auf und sagst mir, Freund aus dem Volke: „Du hast nicht Wort gehalten. Im 1. ‚Wegwarten‘-Heft hast du uns Licht, Trost versprochen, und hier malst du uns Nacht und Weh? . . . . .“ Ich entgegne: „Freund aus dem Volke, hör’ eine ganz kleine Geschichte: Zwei einsame Seelen begegnen sich in der Welt. Die eine Seele tönt Klagen; sie fleht die fremde um Trost. Und leise neigt sich ihr die fremde und raunt: ‚Auch mir ist es Nacht‘ . . . . . .“ . . . . Ist das nicht Trost? . . . . . . .
René Maria Rilke.