Max Allan Collins
Waterworld Roman zum Film
scanned by Jamison corrected by MadMax99
Prolog Man sagt, daß die Mensch...
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Max Allan Collins
Waterworld Roman zum Film
scanned by Jamison corrected by MadMax99
Prolog Man sagt, daß die Menschen, bevor die Polargletscher schmolzen, weder auf Atollen noch in Siedlungen, sondern in >Städten< auf dem >Festland< hausten. Sie lebten und arbeiteten in hoch, aufragenden Konstruktionen, die man Gebäude nannte und von denen einige weiter reichten als ein Dutzend Windmühlen übereinander. Nicht alle der damaligen Bräuche wären uns heute fremd: Die Familien lebten zusammen in Einzelbehausungen, doch selbst die bescheidensten von ihnen würden unsere Hütten bei weitem in den Schatten stellen; diese feudalen Wohnstätten aus Holz und/oder Stein konnte man in den Städten finden, ja, aber auch hier und da entlang einer gewellten, grünen Landschaft, wo man auf >Bauernhöfen< sowohl Tiere als auch Pflanzen züchtete, um Nahrung für eine Bevölkerung zu schaffen, die sich über riesige Flächen von Land ausbreitete. Steinerne Gebilde, die Stadt und Land
miteinander verbanden, schlängelten sich durch die Landmeere, und Landboote zogen nach Lust und Laune über diese festen Flüsse, da es Treibstoff in Hülle und Fülle, wie zum Beispiel Wasser, gab. Man sagt, daß dort sogar >Wüsten< waren - weite, derart trockene und wasserarme Flächen Landes, daß nur dornige Pflanzen und stachelige Kreaturen dort existieren konnten; dieses Land wurde von den Menschen gemieden. (Stellt euch nur vor!) In jenen Tagen war fester Boden nicht die Ausnahme, sondern die Regel für die Füße von Männern, Frauen und auch Kindern. Wann war das? Wie lange ist es her? Nun, laßt es mich ausdrücken - es war, bevor man annahm, die Welt sei mit Wasser bedeckt. Solange. Doch diese Erzählung, meine Kinder, handelt nicht von jenen alten Zeiten; sondern von einer jüngeren Vergangenheit, einer Vergangenheit, an die ich mich persönlich erinnern kann. Als diese Hände noch nicht verdorrt und knochig waren. Es fällt euch vielleicht schwer, euch eine Zeit vorzustellen, als mein Gesicht noch glatt und meine Züge faltenlos waren; doch selbst der älteste der Alten ist einst ein Kind gewesen. Und zu dieser Zeit, als auch ich ein glattes, faltenloses Kind war, begegnete ich der legendären Gestalt, die einige von euch als den Mariner, >Seemann< verehrten, und die andere von euch unter einem Namen kennen, der weitaus älter ist als die Zeit der vielen Windmühlen hohen Gebäude.
Doch als ich den Seemann kannte, zumindest als ich ihn zum ersten Mal traf, besaß er eigentlich noch kernen Namen. Möglicherweise konnte ihn deshalb der Tod auch nicht finden. Und eigentlich hatte er auch kein Zuhause oder Menschen, die ihm nahestanden. Ob das traurig ist? Ja und nein. Er hatte niemanden, und das machte ihn stark. Er fürchtete nichts und niemanden, und er konnte Hunderte von Meilen weit hören - unter Wasser. Er konnte sich im Schatten der Mittagssonne verbergen - er konnte direkt hinter dir stehen, ohne daß du es bemerktest -, bis er kurz davor stand, dich zu töten. Fürchtet euch nicht. Er war ein Held. Nun ja, vielleicht nicht von Anfang an; und wenn er es war, dann würde er es abgestritten haben, und vielleicht hätte ihn diese Bezeichnung sogar gekränkt. Doch das war er. Ein Held. Er war der tapferste Mensch in Waterworld, und er war noch nicht einmal ein Mensch ...
Kapitel l Das Wasser, über das der Trimaran hinwegglitt, war eher amethystfarben statt blau, als das plebejische Schiff mit seinen drei Rümpfen und seinem einzelnen Windmühlensegel ein Trio von parallelen Pfaden in die Glätte des endlosen Ozeans pflügte. Die Brise aus Nordosten war so sanft, daß er sich schon versucht fühlte, ein wohltuendes Bad in den Fluten zu nehmen. Es war auch gerade heiß genug, um eine solch tollkühne Tat zu rechtfertigen, denn tollkühn wäre sie in der Tat: Der Seemann wußte, daß die scheinbare Unbeweglichkeit des Trimarans trog. Er wußte, daß ihn sein Schiff - mit dem festgezurrten Ruder und hart am Wind segelnd - im nächsten Augenblick zurücklassen und führerlos über dieses weite Meer gen Horizont jagen würde, falls er es wagen sollte, kurz von Bord zu springen. Und doch war es verlockend. Die glasklare See war so zart gekräuselt, daß sie einen die Gefahren in der Tiefe vergessen ließ. Natürlich gab es auch hier
oben Gefahren - Menschen, die bösartiger waren als jeder Hai -, doch der Seemann war gut genug ausgerüstet, um es mit beiden gleichermaßen aufnehmen zu können. Die sanfte Brise war geradezu perfekt für das Auslegen des Schleppnetzes. Das Schiff des Mariners - war eine zusammengewürfelte Mischung aus Aluminium, Plastik- und Fiberglas, aus den Fossilien einer früheren Zeit zusammengeschweißt, genäht, - geklebt und - gehämmert zu einem vierzig Fuß langen, seltsam ausgestatteten Gefährt, das ebenso verwittert wie sein Kapitän und, wie er, ohne Namen war. Seine drei gleich großen Rümpfe waren durch ein Netzwerk verbunden, wodurch das Schiff ein durchgehendes Deck erhielt und das Wechseln von einem Rumpf zum anderen zu einem Kinderspiel wurde. Trotz alledem wirkte das Schiff merkwürdig geschmeidig - eines der vielen Rätsel dieser Meer- und Atollandschaft, die alle nur Waterworld nannten. Der Mariner lebte hier schon lange auf einem namenlosen Schiff. Seine Limettenpflanzen im Tontopf - ihre dunkelgrüne Frucht brachte einen seltenen Farbtupfer in die Eintönigkeit - stellten die einzige andere Lebensform dar, die er kannte. Aus uralten Computerplatinen und gedruckten Schaltungen gefertigte Windspiele bimmelten und sangen eine melancholische, klanglose Melodie; eine am Kiel befestigte Harmonika spielte ihr eigenes geisterhaftes, namenloses Lied; das Steuer
im Cockpit drehte sich träge mit der Strömung. Einige seiner im Salzwasser gewaschenen Kleidungsstücke flatterten an einer Leine in der Brise. Ein zusammengestückelter Sonnenschutz, eine sachte hin und her schwingende Hängematte und eine blutverkrustete Harpunenspitze - das waren seine Gefährten. Ein angegilbtes Becherglas zu seinen Füßen war keine Herausforderung für ihn, der seine Zielsicherheit schon lange perfektioniert hatte: Sein Urin schoß in hohem Bogen in das Glas, und das Plätschern war ebenso leise wie die behäbigen Wellen, die sein Schiff durchschnitt. Kurz darauf knöpfte er seine Hosen zu - abgeschnittene Jeans, die weitaus älter waren als er -, nahm den Behälter mit der kostbaren, gelben Flüssigkeit vom Deck und trug ihn zu seiner selbstgefertigten Wasseraufbereitunganlage. Er goß den Inhalt in den Plastiktrichter, um den Umwandlungsprozeß in Gang zu setzen, und wippte auf den Zehen, während die Flüssigkeit ihren Weg durch die Kugeln, Filter, Schläuche und Röhren eines Apparates antrat, dessen Entwurf ihm auf einem Atoll von einem dürren, alten Händler verkauft worden war. Jener hatte behauptet, der ursprüngliche Erfinder sei >ein sehr großer Wissenschaftler namens Rübe Goldberg gewesen, der in jener Zeit gelebt hatte, als es noch Festland gab. Als die Flüssigkeit ihre strapaziöse Reise beendet hatte und sich ein Hahn nach unten drehte, durch
den das Zeug zurück in den Becher fließen konnte, den der durstige Seemann unter die Vorrichtung hielt, war die gelbe Färbung des Urins nur noch eine schwacher Erinnerung. Er hielt den Becher an die Lippen, warf den Kopf in den Nacken und ließ die Flüssigkeit in seinen Körper zurückkehren, wobei er sich einen letzten Schluck bewahrte, mit dem er seine Zähne spülte und dessen Rest er mit der ihm eigenen Akkuratesse in die Erde um seine Topfpflanze spuckte. Der Seemann, der momentan nichts bis auf die abgeschnittenen Hosen, ein Messer in der Scheide und einen Muschelohrring trug, besaß einen von Wind und Sonne gegerbten, drahtig muskulösen Körper und die Art von Gesichtszügen, die zu einer anderen Zeit als gutaussehend gegolten haben mochten. Doch die Augen unter den stets wachsam gerunzelten Brauen waren zu Schlitzen verengt, und sein hartes, von Furchen durchzogenes Gesicht war zum größten Teil unter einem Knäuel aus Barthaaren verborgen, die sich manchmal in der schulterlangen, von der Sonne ausgebleichten, braunen Mähne verschlangen, die in seinen Nacken fiel und ein Geheimnis bargen. Ein plötzliches knarrendes Schlingern des Schiffes ließ ihn leichtfüßig auf das Heck zueilen, wo er entdeckte, daß die sich an ihrer Winde befestigte Zugleine straff über der Gilling spannte. Ein uralter, verrosteter Wasserstandsmesser an der
Winde zeigte an, daß sich in 402 Fuß Tiefe etwas in seinem Schleppnetz verfangen hatte ... Mit anmutiger Schnelligkeit schnappte er sich einen Gummibeutel mit Reißverschluß für das Bergungsgut, schnallte seinen Werkzeuggürtel um und wählte ein metallenes Gewicht - gerade das Richtige, weder zu schwer noch zu leicht -, um es an der Reibungsbremse der Zugleine zu befestigen. Dann stellte er eine als Stundenglas dienende Plastikmilchflasche auf den Kopf, aus deren Öffnung getrocknete Fischeier auf ein Tablett an der Winde rieselten. Er mußte hinabtauchen und den Inhalt seines Schleppnetzes in den Beutel befördern, bevor diese Uhr ablief und den Hebel löste, der das Getriebe in Gang setzte, von dem die Zugleine automatisch eingeholt werden würde. Seine Arbeit unter der schimmernden, amethystfarbenen Wasseroberfläche würde länger dauern, als selbst ein Mann mit den kräftigsten Lungen aushaken konnte. Doch der Seemann hatte sich nicht verschätzt: er war weder leichtsinnig noch besorgt. Er gönnte sich einfach nur einige Momente, in denen er tief einatmete. Zwischen den Zehen an seinen Füßen wuchsen Schwimmhäute, die Kiemen unter seiner wallenden Mähne begannen zu arbeiten. Dann tauchte er kopfüber ins Wasser und wurde von der See, die ihn willkommen hieß, verschlungen.
Kapitel 2 Gerade als die Fischeier im Stundenglas zur Neige gingen, der Hebel sich löste und die Zugleine eingeholt wurde, schoß die Bergungstasche neben dem Trimaran an die Wasseroberfläche, und der Kopf des Seemanns tauchte aus den Fluten. Die Tasche war zum Bersten angefüllt mit Beute: silberne, mit >Compact DISC Digital Audio< beschriftete Scheiben (bei denen er sich fragte, wozu sie wohl gedient haben mochten), ein glattes, rotes Plastikteil mit grauer Oberfläche (auf dem >Malen nach Zahlen< stand), einige leere Flaschen aus Glas und auch ein paar aus Plastik. Ein guter Fang; tatsächlich sogar zu viel, als daß alles in dem Beutel Platz gefunden hafte... Tropfnaß und über seinen Erfolg freudig erregt, zog er sich an Bord und legte eine Anzahl der ausgesuchten Dinge, von denen einige ohnehin zu groß für den Beutel waren, auf der Mitte des Decks ab: einen verbogenen Skistock, einen zerbrochenen Ski, ein verfärbtes Paar Skistiefel (es war das erste
Mal in der gesamten Zeit seiner Schatzsuche, daß er ein komplettes Paar Schuhe ergattert hatte!). Den Rest seines Fangs ließ er in dem schwimmenden Beutel - er würde ihn ebenfalls bald an Deck ziehen müssen, bevor er außerhalb seiner Reichweite driftete. Zuvor gestattete er sich jedoch einen Augenblick, um seine Aufmerksamkeit einem winzigen, kostbaren Stück zu widmen; er war schon einmal auf so etwas gestoßen und hatte auch andere Händler mit funktionstüchtigen Exemplaren gesehen, doch er selbst hatte nie eins gefunden, das noch zu gebrauchen war. Es trug die Bezeichnung >Bic<, doch der Seemann hatte gehört, daß man diese rundlichen, kleinen Stäbe Feuerzeuge nannte. Er drehte an dem Rädchen. Eine Flamme erschien am oberen Ende des Bic, und das ledrige Gesicht des Seemanns verzog sich zu einem Lächeln. Na, war das nicht eine tolle Sache ... Das Knarren eines Bootes und das Plätschern, das sein Kielwasser in dem stillen Gewässer verursachte, ließen ihn plötzlich aufhorchen. Blitzschnell eilte er auf die am Bug befestigte Harpunenkanone zu und schwenkte sie in die Richtung, aus der die Geräusche gekommen waren. Kam das fremde Boot näher oder entfernte es sich? Es dauerte nur einen Augenblick, bis der Seemann wußte, daß es sich entfernte. Diese zusammengestückelte, schwerfällig wirkende
Schaluppe - kleiner als sein Schiff - mußte herangeglitten sein, als er unter Wasser war; hatte seine Ein-Mann-Besatzung - ein asiatischer Drifter in erbeuteten Leder- und Stoffetzen - die Zeit seiner Abwesenheit etwa zum Entern des Schiffes und zu einer eiligen Plünderung genutzt? Der Asiate am Ruder der Schaluppe erstarrte, als er die Harpunenkanone entdeckte. Die Zähne in seinem nervös lächelnden Gesicht waren zwar mehrfarbig - wobei Gelb und Grüntöne vorherrschten - jedoch nur rar gesät. Vorsichtig hob er seine Arme. »Ich habe Ihr Schiff nicht geentert«, meinte der Asiate in Hindi. »So etwas würde ich nie tun.« Der Seemann hielt die Kanone auf den Drifter gerichtet, riskierte es jedoch, seinen Blick kurz über den Trimaran schweifen zu lassen. Es schien nichts zu fehlen. Er senkte die Waffe ein klein wenig, ließ den Mann dabei aber nicht aus den Augen. »Sie waren sehr lange dort unten«, fuhr der Asiate in Hindi fort. »Hab' gedacht, Ihnen ist vielleicht was zugestoßen...« »Hast wohl darauf gehofft?« erwiderte der Seemann in derselben Sprache. »Nein, Anglisch.« Der Asiate war ins Englische übergewechselt, das er mit einem sehr starken Akzent sprach. »Ich kein Mensch wünschen Schlechtes ... nur vielleicht Smoker.« Wer ihnen den Namen Smoker gegeben hatte, war nicht mehr auszumachen. Aber dieser Name
paßte vortrefflich, wo immer sie auftauchten, waren sie von Rauch umgeben, sei es, daß sie auf rauchenden und stinkenden Maschinen, über das Wasser jagten, sei es, daß sie Atolle, die sie >besuchten<, brennend und rauchend zurückließen. Manche von ihnen steckten sich sogar kleine Stengel in den Mund, um kurz darauf Rauch auszustoßen. Bei den Smokern handelte es sich um Piraten von der übelsten Sorte, die es in Waterworld gab; Barbaren, die unter dem Einfluß eines bösartigen Verrückten namens Diakonus standen. Der Seemann trat einen Schritt von seiner Harpunenkanone zurück - um seinen guten Willen zu zeigen. »Das hängt davon ab, ob man die Smoker für >Menschen< hält.« »Sind mehr wie Tiere«, erwiderte der Asiate. Mißtrauen verzerrte sein immer noch lächelndes Gesicht. »Aber sag mir ... wie kann ein >Mensch< unter Wasser bleiben, so lange Zeit?« »Der Rumpf ist beschädigt«, meinte der Seemann mit einer beiläufigen Geste. »Ist ein so großes Loch, daß man den Kopf durchstecken und atmen kann.« »Pech.« Der Asiate schüttelte den Kopf. Vorsichtig ließ er seine Hände sinken. »Weißt du, die Sklavenhändler stellen dieser Tage ziemlich gutes Epoxidharz her.« Der Bergungsbeutel trieb an der Schaluppe vorbei; hatte der Asiate ihn bemerkt? Der Seemann erwiderte: »Das wäre aber ziemlich kostspielig.«
»Eine Handvoll Erde - oder vielleicht dieses Windspiel. Oder einen Zuchtmenschen -, wenn du zu den Leuten gehörst, die mit Fleisch handeln.« Der Seemann sah dabei zu, wie sein Beutel von der Strömung, dieser trügerisch ruhigen Strömung, davongetragen wurde. »Und womit handelst du?« fragte er den Fischer. »Mal so, mal so.« »Was hast du neben meinem Boot getrieben?« Der Asiate verzog sein Gesicht erneut zu einem Grinsen. »Nichts weiter - nur gewartet. Auf dich.« »Auf mich?« »Daß du nicht wieder hochkommst.« Der Asiate zuckte mit den Schultern. »Dann hätte ich dein Schiff geentert.« Der Bergungsbeutel war immer noch zu sehen wenn sein Gast nur endlich ginge, so daß er ihn einholen könnte. Er ließ sich seine Ungeduld jedoch nicht anmerken, als er erwiderte: »Dein Boot kommt mir bekannt vor. Ich habe es schon mal gesehen - dich aber nicht.« Der Asiate zuckte erneut mit den Schultern. »Sein früherer Besitzer hat es nicht mehr gebraucht.« »Warum das?« »Er war tot, Anglisch. Habe es rechtmäßig erworben - Bergungsrecht.« Der Asiate deutete mit dem Kopf auf den Trimaran. »Du hattest noch eine Stunde.« »Bevor du mein Boot geplündert hättest?«
»Richtig.« Diesmal ließ er nur eine Schulter zucken. »Verbessere nur meine Mittel. Kann man mir nicht übelnehmen.« »Zumindest hast du gewartet. Dafür schulde ich dir was.« Der andere fuchtelte mit seinen von zerschlissenen, halben Handschuhen bedeckten Händen durch die Luft. »Nein, nein ... du schuldest mir nichts, Anglisch. Ich hab' alles, was ich brauch'. Weißt du, ich komme gerade von einem Atoll... acht Tage in nördlicher Richtung, falls du interessiert bist.« Der Seemann nickte und betrachtete den östlichen Horizont, dem sein Bergungsbeutel entgegensegelte Beinahe abwesend meinte er: »Wenn sich zwei von unserer Sorte treffen, dann muß auch etwas ausgetauscht werden.« »Ich kenne den Kodex genauso gut wie du, Anglisch.« Der Blick des Seemanns verharrte am Horizont; doch es war gar nicht mehr der Beutel, dem seine größte Sorge galt. Er antwortete gleichgültig: »Du hättest mein Boot nehmen können. Ich sollte dich dafür entschädigen ...« Der Asiate winkte nur allzu bereitwillig ab. »Ich sag' dir was - diesmal kriegst du's noch umsonst.« Da war noch etwas anders am Horizont. »In Waterworld gibt es nichts umsonst«, meinte der Seemann. Zwei Rauchwölkchen kräuselten sich über
zwei entfernten Punkten auf dem Wasser. Doch das Geräusch, das über dieses Wasser drang, schien viel näher als diese Punkte: Motoren. Sie klangen zwar fürchterlich, liefen jedoch auf vollen Touren. Der Asiate hörte es ebenfalls, sein Kopf schnellte in dieselbe Richtung, in die der Seemann blickte. »Smoker«, wisperte er hohl, die Augen weit aufgerissen vor Furcht. Er befeuchtete einen Finger und hielt ihn in die Luft, um die Windrichtung zu prüfen. »Gerade genug Wind, um sich aus dem Staub zu machen ...« »Viel Glück!« rief der Seemann. »Das wünsch ich dir auch!« Der Asiate drückte den Großbaum nach außen, richtete sein Segel, und im nächsten Augenblick lavierte er die armselige Schaluppe davon. Der Seemann betrachtete seinen dahintreibenden Bergungsbeutel, und der Asiate unterbrach seinen Zickzackkurs lange genug, um ihn ebenfalls erspähen zu können. »Das ist es nicht wert, Anglisch!« schrie er und schüttelte derart vehement den Kopf, daß sein gesamter Körper davon in Mitleidenschaft gezogen wurde - und zwei kleine, fast grüne Objekte purzelten aus seinem zerschlissenen Hemd auf das Deck der Schaluppe. Der Seemann warf einen kurzen Blick auf seine Limettenpflanze - und sah, daß sie ihrer ach so kostbaren Früchte beraubt worden war.
Doch die Schaluppe befand sich bereits auf ihrem Kurs - ihr zerlumpter Kapitän zuckte erneut mit den Schultern und ließ sein buntes, zahnloses Grinsen aufblitzen. »Siehst du, hast mich also doch noch bezahlt, Anglisch!« rief er. Der Mariner verschwendete noch nicht einmal einen Fluch an diesen Abschaum der Meere - es gab Wichtigeres zu tun. Er wandte sich seinem Steuerpult zu und betätigte einige Hebel, die das Schiff in kurzer Zeit völlig veränderten: Das Segel rollte sich auf und verschwand im Mast, der auf doppelte Höhe anwuchs, und ein Baum bohrte sich durch das Mitteldeck. Segel entfalteten sich - Klüver, Großsegel, Besansegel -, so daß der Trawler sich plötzlich, auf fast magische Art, in ein schlankes Rennboot verwandelte. An Ruder und Tauen zerrend, fuhr der Seemann geradewegs auf die schaukelnde Bergungstasche zu, wobei sein Trimaran die gläserne Oberfläche wie ein rasender Pfeil durchschnitt. Auch die anderen kamen der Bergungstasche immer näher. Jene Punkte am Horizont waren zu einem schrecklichen Quartett angewachsen. Wie der Drifter sehr richtig festgestellt hatte, handelte es sich bei den vier spärlich bekleideten Rohlingen um Smoker - ebenso hitzköpfig wie blöde fuhren sie auf ihren Treibstoff verbrennenden Wasserschlitten (in alten Zeiten unter dem Namen >Jetski< bekannt),
deren fauchende, rauchspeiende Motoren den friedlichen Nachmittag in Stücke rissen, als sie sich dem auf und ab hüpfenden Beutel näherten. Der Seemann wußte, wie brutal diese dümmlichen, muskelbepackten Marodeure waren. Es reichte nicht, daß er klüger war als sie - er würde auch noch schneller sein müssen. Er bearbeitete das Ruder, drehte die Segel nach dem Wind, vollbrachte die Arbeit einer gesamten Mannschaft in wenigen Augenblicken ... Der Trimaran flog mit vierzig Knoten dahin, als das Schiff die Bergungstasche umrundete. Mit einem langen Hakenstock in der Hand kletterte er auf einen der Ausleger und angelte sich die Tasche, währenddessen das Schiff auch schon eine scharfe Wendung vollführte. Dann fuhr der Trimaran in die entgegengesetzte Richtung. Die vier Piraten auf ihren Jetskis plumpsten fast von ihren Sitzen, als sie ihre kleinen Gefährte wutentbrannt herumschwenkten, um die Verfolgung aufzunehmen. Ihr Kielwasser schäumte brodelnd, und ihre Flüche bildeten eine Mischung aus gutturalen Geräuschen, die mit dem Knurren ihrer luftverpestenden Motoren verschmolz. Weit voraus konnte er sie sehen: die Schaluppe des asiatischen Drifters. Er plante, auf Kollisionskurs zu gehen und war verdammt nah dran, sich direkt auf den Fischer zu setzen, bevor der vor sich hin dösende Mann, eine zur Hälfte
verschlungene Limette in der trägen Hand, erkannte, daß diese kristallklaren Motorengeräusche nicht etwa weit entfernt über das Wasser zu ihm herüberdrangen, sondern bereits gefährlich nahe waren. Der Asiate warf die Limette wie ein Stück glühendheiße Kohle von sich und versuchte verzweifelt, seine Segel zu drehen, wobei er heftig an dem Linnen zerrte, um gleichzeitig zu beschleunigen; doch der Trimaran des Seemanns kam immer näher. Und die über das Wasser preschenden Smoker hatten das Heck des Seemanns schon fast erreicht. Der Asiate stieß ein mitleiderregendes Quieken aus. Für einen richtigen Schrei blieb ihm keine Zeit, da der Trimaran auf seinem Kollisionskurs plötzlich von der Seite an ihn heranrauschte, wodurch er das Deck der Schaluppe samt Kapitän völlig durchnäßte und seinen Ausleger wie den Flügel eines Vogels über die Schaluppe hob. Dieser Flügel kappte jedoch den Großmast des kleineren Bootes und knickte ihn in zwei Hälften. Der Seemann blickte sich nach dem geschlagenen Kapitän der schwankenden Schaluppe um, deren Großsegel jetzt nur noch als kraftloses Etwas auf dem Deck herumflatterte, hob einen mahnenden Zeigefinger und bedacht den Mann mit einem strafenden Blick. Den Kodex darf man nicht brechen.
In Anbetracht der immer lauter werdenden, heulenden Schlachtrufe der Wilden war es jedoch unwahrscheinlich, daß der Drifter aus dieser ihm erteilten Lehre jemals einen Nutzen würde ziehen können. Wie der Seemann vorausgesehen hatte, ließen die Smoker von ihm ab, um sich dieser leichteren, bereits angeschlagenen Beute zu widmen. »Du hättest die Limetten nicht nehmen sollen«, murmelte der Seemann vor sich hin. Letztendlich gab es in Waterworld doch nichts umsonst.
Kapitel 3 Man sagt, Atolle seien einst Lagunen gewesen, ringförmige Landabschnitte, welche die Lagunen umgaben; diese Atolle bestanden oftmals aus felsförmigen, skelettartigen Ablagerungen des Meeres, die man >Korallen< nannte. Die Atolle von Waterworld waren zwar ebensolche Knochengerüste, nur wurden sie von Menschenhand, nicht von der Natur geformt, aus den skelettartigen Überbleibseln dieser lange zurückliegenden industriellen Zeit, als es noch Festland gegeben hatte. Eine Woche und einen Tag nach seiner Begegnung mit dem Drifter und den vier Smokern näherte sich der Seemann, nachdem er seinen Trimaran wieder in einen Trawler umgewandelt und östlichen Kurs eingeschlagen hatte, dem breiten Atoll, das zackenförmig aus dem Ozean tauchte wie ein mammuthafter, treibender Müllhaufen, der im Schein der prächtigen Nachmittagssonne einen widersinnig goldenen Schimmer trug. Die von einer
Mauer umgebene, kreisrunde Stadt - mit ihren hie und da aufragenden Wachtürmen und der Zentrallagune - erwuchs aus den Rümpfen zurückgelassener Wracks; diese unwillkürlich aus Resten von Metall, Holz, Plastik und Leinwand "konstruierten Siedlungen bildeten bunt zusammengewürfelte Städte ... was ebenso für die Bevölkerung galt. Als er sich dem massiven Doppeltor und den beiden skelettartigen, aus Holz und Stahl erbauten, mit einem Leinwandbaldachin versehenen Wachtürmen näherte, erspähte er einen dürren, fast nackten Mann, dessen Nußschale von einem Boot vor den dammartigen Toren der Wasserstadt auf und ab schaukelte. Dieses bedauernswerte Geschöpf sein Boot war nur eins von vielen ähnlich winzigen, schäbigen Gefährten, die den Pöbel von Waterworld beförderten - versuchte verzweifelt, sich durch Feilschen Zutritt zu verschaffen. Die beiden Wachposten trugen aus diesem und jenem zusammengenähte, für Atollbewohner typische Gewänder, deren Flicken jedoch derart aufeinander abgestimmt waren, daß ihre Lumpen zu einer >Uniform< wurden und einen formellen Anstrich erhielten, der den meisten Atollern abging. Der bärtige Wächter zur Linken brüllte verdrießlich zu dem Armseligen in seiner Nußschale hinunter. »Quittez mi camino! La! Departez meinen Weg! Bizeff!«
Doch die Ohren der Kreatur schienen für Polyglott unempfänglich zu sein, da er hilflos zu dem Wachposten hochblickte und sein dichtbehaartes Haupt schüttelte. »Wie soll ich es denn noch sagen?« brüllte der bärtige Wachposten gehässig nach unten. »Hau ab! Verdrück dich! Mach die Fliege!« »Dieses Haare!« rief der Arme zurück. Ein Afrikaner, schätzte der Seemann. »Dieses Haare«, fuhr der Afrikaner fort, wobei er mit den Fingern durch seine wirre Krause fuhr wie eine wunderschöne Frau, die ihre wallende Lockenpracht zur Schau stellen wollte, »ich geben dir! Dann ich kriegen Hydro - nur kleine Tasse!« Der bärtige Wächter blickte auf seinen weniger behaarten Kameraden im gegenüberliegenden Turm. »Was meinste?« Der andere Wächter nickte. »Der hat wirklich 'nen ganz schönen Busch aufm Schädel.« »Wenn du einen Tauschhandel nebenbei machen willst«, dröhnte eine imposante Stimme, »dann nur zu ...« Die Stimme gehörte zu einem breitschultrigen, braungebrannt muskulösen Kerl, der dem bärtigen Wächter auf einem Schutzwall entgegenlief - auf seinem Weg nickte er einem Arbeiter zu, der lebensgefährlich aussehende, spitze Knochenpfähle in das Gesims der Atollschutzmauer hämmerte, um daran zu erinnern, daß man draußen /u bleiben hatte. Die mächtige Gestalt mit der befehlsgewohnten
Stimme trug die atolltypische, zusammengestückelte Leder-und-Segeltuch-Tracht und hatte auch gar keine Uniform nötig, um sogleich von dem Seemann erkannt zu werden; jedes Atoll besaß einen Wachposten am Tor - man nannte ihn den Vollstrecker. Der Mann, der sicherstellte, daß kein Unbefugter in die Feier hineinplatzte. »... weil der Tauschhandel Waterworld am Leben erhält«, fuhr der Vollstrecker fort. »Du solltest die Tore dabei aber besser geschlossen lassen.« Sein nüchterner Tonfall klang kein bißchen bedrohlich; und das mußte er auch gar nicht. Dies war ein Mann, der einem den Arm ausreißen und einen damit totschlagen konnte. Der bärtige Wachposten nickte dem Vollstrecker zu und begann damit, einen Wasserschlauch an einem Seil festzubinden. Der Afrikaner durfte zwar sein Geschäft abschließen, der Zutritt zum Atoll blieb ihm jedoch verwehrt. Das Segel drehte sich langsam, als der Trimaran in die konkave Bucht vor dem imposanten Doppeltor glitt und der Seemann die grüne Flagge der Händler hißte; seine Ausbeute hatte er zur Ansicht auf dem Bug ausgebreitet: Radkappen, ein >Yo-Yo<, ein zerbrochenes Objekt, genannt Klarinette (augenscheinlich ein Musikinstrument), die silbernen, als CD gekennzeichneten Scheiben und mehr von den uralten Abfallgütern, die zu modernen Kostbarkeiten geworden waren.
Der Seemann hatte auch sich selbst präsentabel hergerichtet - in seiner ärmellosen Leder-undSegeltuchjacke, den Fischlederhosen und den Skistiefeln, die er in der Woche zuvor geborgen hatte, wirkte er wie ein wohlhabender Händler. Denn so sah er sich letztendlich auch. Mit einem am Riemen baumelnden Lederbeutel trat er nach vorn auf sein Netzdeck und blickte hoffnungsvoll zu dem bärtigen Wachposten auf; der Vollstrecker war in der Nähe stehengeblieben. Ihren Blicken nach zu urteilen, schienen beide jedoch nur wenig beeindruckt. »Quel lang?« fragte der Seemann. Der Vollstrecker antwortete: »Ich würde sagen, deine Sprache ist Anglisch, Drifter.« Der Mariner nickte respektvoll. »Dann also Anglisch«, meinte der Vollstrecker. Völlig sachlich. »Ich fürchte, die Flagge ist unten, Drifter. Wir haben genug Händler auf Oasis.« Das also war der Name des Atolls: Oasis. Der Vollstrecker hob zum Abschied die Stimme: »Fahr weiter.« Es wurde Zeit, die schwereren Geschütze aufzufahren. Der Seemann zog den Lederbeutel am Riemen hoch und entfernte den Deckel der schweren Dose in seinem Inneren. Er tauchte eine Hand in die Dose, schöpfte eine Handvoll der unbezahlbaren Substanz und ließ sie durch die Finger zurück in ihren Behälter rieseln.
Das Aroma schwebte über der Nachmittagsbrise und kitzelte die Nüstern sowohl des bärtigen Wachpostens als auch des stämmigen Vollstreckers: der Duft des Inhalts - von der echten Güteklasse A hatte auf die meisten Leute eine geradezu aphrodisische Wirkung. »Erde«, seufzte der Wachposten. Der Seemann lächelte - nur ein klein wenig. »Öffne ihm das Tor!« grummelte der Vollstrecker. Er schien beinahe davon benebelt. Nichts auf Waterworld - nicht der schmackhafteste, gegrillte Fisch, nicht die sinnlichst parfümierte Frau - konnte sich mit dem Duft der ländlichen Vergangenheit vergleichen. »Feuert die Wasserwerfer ab«, warf der Vollstrecker beiläufig ein, und die Wachposten leisteten seinem Befehl Folge, indem sie den Afrikaner und den anderen Pöbel in ihren armseligen Booten mit nassen Sprengladungen bombardierten, um sie von den großen Eisengattern wegzutreiben, als diese für den Trimaran aufschwangen. Die vier mit Segeltuch überzogenen Flügel der Windmühle schnitten träge durch die Luft, und der bedrohlich aufragende Turm warf einen langen Schatten auf die Oberfläche der Lagune. Die Windmühle war das Elektrizitätswerk des Dorfes und gleichzeitig auch sein höchstes, eindrucksvollstes Gebäude. Selbst in seinem Trawlermodus war das leicht dahingleitende Boot mit einem schlanken Design
noch ein Blickfang für die Atoller - ernste, schwermütige Leute, die in zusammengestückelte, einheitlich in düsteren Grau- und Brauntönen gehaltene Gewänder, ohne jegliche Dekoration oder Schmuck, gekleidet waren; einige von ihnen trugen asiatische, breitkrempige Strohhüte, die ihre Gesichter beinahe vollständig verbargen. Die Atollbewohner wanderten auf Gehwegen von einem festgezurrten Boot oder einer Barkasse zur nächsten; nur wenige schienen einer Arbeit nachzugehen, obwohl ein paar Fischer gerade das Heisch von einem aufgehängten, ausgeweideten Hai schnitten, dessen Rippen wie riesige Zähne in die Luft ragten. Sie entboten ihm keinen Gruß, diese Wasserstadtbürger; kein Winken, kein Rufen. Starrten ihn nur an - einige neugierig, andere mit unverhohlenem Mißtrauen. Der Seemann grüßte ebenfalls nicht, sondern starrte einfach kalt zurück. Obwohl er sich nichts anmerken ließ, war sich der Seemann sehr wohl bewußt, daß der muskulöse Vollstrecker ihn wie ein Schatten, von einem Gehweg zum anderen überwechselnd, verfolgte. Er hatte nichts anderes erwartet. Die Gesetzeshüter behielten Fremde stets im Auge, und der Seemann war sein Leben lang ein Fremder gewesen. Er war daran gewöhnt. Kurz darauf glitt der Trimaran seitlich an einer breiten, mehrreihigen, mit Klosetts gesprenkelten Organo-Barkasse vorbei - einer in jedem Atoll zu
findenden, streng riechenden Anlage. Sie war gleichzeitig Komposthaufen, Obstgarten und Friedhof, aber in diesem Moment war sie ausschließlich Friedhof. Unter einem ebenso traurigen wie riesenhaften Baum hatte sich eine Handvoll Trauernder und ein Schwärm KirchenÄltester - in bizarren Seegrasgewändern und Kappen aus getrockneten Quallen - um die Leiche einer Frau, die zu ihren Lebzeiten zum Rat der Ältesten gehört hatte, versammelt; einer von den Anwesenden war gerade dabei, das Haar des alten Mädchens abzusäbeln und in einen Beutel zu stopfen. Eine schwermütige Stimme hallte über das Wasser, als einer der Ältesten - eine leichenblasse Gestalt mit gebieterischer Ausstrahlung - eine Andacht hielt, während der nun kahlköpfige Korpus auf einem Haufen aus organischem Brei abgelegt wurde. »Knochen zu Beeren«, verkündete der Älteste. »Venen zu Winden ... diese Sehnen zu Bäumen, dieses Blut zu Sole.« Der Körper der alten Frau begann zu sinken, als die Trauernden Gartenhacken hervorholten und Reihen von Obst und Gemüse um sie herum scharrten. Da war sie verschwunden, ohne daß der Komposthaufen auch nur das kleinste Rülpsen von sich gegeben hätte. »Sie war zu alt für das Leben, diese Frau verläßt uns nun...«
Das einzige, was der Seemann noch mehr haßte als Beerdigungen, waren Predigten. Er segelte weiter, doch die Stimme des Ältesten verfolgte ihn. »Körper wiederaufbereitet und verwahrt...« Der Älteste ließ seine Stimme imposant anschwellen. »In der Anwesenheit Dessen, Der Uns Führt!« »Richtig«, meinte der Seemann und lenkte sein Gefährt zu einem gitterartigen Kai. Er wußte, daß diese Atoller ein abergläubischer Haufen waren. Da sie, einzig aufs Überleben bedacht, von einem Tag auf den nächsten lebten, brauchten sie auch etwas, an das sie glauben konnten, und wenn es noch so dumm war. Der Seemann zog es vor, an sich selbst zu glauben. Er vertäute gerade sein Schiff, als ein bedrohlicher Schatten auf ihn fiel und der Seemann zu einem Mann aufblickte, der größer als die Zentralwindmühle wirkte. »Kennst du mich noch?« fragte der Vollstrecker in beiläufigem Tonfall. Der Seemann richtete sich auf und ließ sich nicht einschüchtern. »Ich weiß, wer du bist. Und was du bist.« »Gut.« Der Vollstrecker steckte einen kleinen Eisenstab als Sonnenuhr in ein Loch des Kais. »Du hast zwei Stunden«, verkündete er. »Ich brauche nur eine.«
»Es bleibt dir überlassen, ob du weniger brauchst. Mehr ist ein Verstoß. Verstanden?« Der Seemann nickte. Der Vollstrecker blieb stehen und beobachtete den Seemann, als dieser - den Beutel, der seine wertvolle Dose mit Erde enthielt, über die Schulter geschwungen - eine Segeltuchtasche mit geborgenen Schätzen vom Boot zerrte; er öffnete sie und entnahm ihr einen Rückspiegel, der einst zu einem uralten Treibstoff-Landboot gehört hatte. Er lief den Kai entlang und stoppte eines von zwei zerlumpten Kindern - Knaben -, die sich gegenseitig jagten. Der andere stolperte gegen seinen Spielkameraden, als der Seemann sie nach dem Weg zur Handelsbarkasse fragte. »Dort drüben, Mister«, antwortete der vordere Junge, den er angehalten hatte. Die Augen des Jungen weiteten sich, als sein Blick auf den Spiegel fiel. »Was haben Sie da, Mister?« »Etwas, in dem du dich sehen kannst, obwohl es kein Wasser ist.« »Toll«, staunte der Junge. Er und sein Freund schoben sich ganz nah an das glänzende Objekt heran, und zwei schmutzige Gesichter erwiderten den Blick ihrer Besitzer. »Höllenkrabben!« stieß der andere Junge verwundert hervor. Der Seemann versetzte ihm eine Kopfnuß, jedoch nicht sehr grob.
»Fluch nicht. Das schickt sich nicht... Dies hier nennt man einen Spiegel. Und er gehört dir.« »Welchem von uns?« fragte der erste Junge. »Er ist für euch beide. Ihr wißt doch, wie man etwas teilt, oder?« »Klar!« antwortete der zweite Junge, dem die Vorstellung gefiel, daß der Schatz des anderen Burschen teilweise ihm gehören sollte. »Nun, er gehört euch.« Der Seemann deutete auf seinen Trimaran. »Falls bei meiner Rückkehr noch alles da ist.« Die Jungen nickten bestätigend, als er den Spiegel zurück in seine Segeltuchtasche schob. Die Handelsbarkasse lag in der Nähe, und als er sich auf den Weg dorthin machte, folgte ihm ein ganzer Rattenschwanz von Atollern auf dem Fuße. Die Nachricht von seiner Dose mit kostbarer Erde hatte sich so schnell im Dorf verbreitet wie ein Feuer, das einer Ölspur folgte. Die Handelsbarkasse war teils Taverne, teils Laden, ihre hohen, freiliegenden Balken hatte man mit Netzen bedeckt, die dem geräumigen, riesengroßen Zimmer eine gazeartige Weitläufigkeit verliehen. Es gab Tische, an denen die Männer handelten, und andere, an denen sie aßen und/oder tranken. Eine Theke diente als Bar, an der man verschiedene Güteklassen von Hydro ausschenkte; eine weitere, seitlich gelegene, diente als Bankschalter.
Es war letztere, an die sich der Seemann wandte, um seine Geschäfte zu tätigen. Die Erde aus der Dose wurde von einem beleibten Bankangestellten, dessen Augen vor Verwunderung und Gier weit aufgerissen waren, auf eine Waage geschüttet und genauestens abgewogen, mit der Sorgfältigkeit, die bei einer solch kostbaren Ware angemessen war. »Sieben Komma neun Kilo«, flüsterte der Bankbeamte. »Pur.« Eine Menge von Atollern hatte sich versammelt, um den Transaktionen beizuwohnen, und bei dieser Verkündung lief ein einstimmiges Raunen durch die Reihen. Vor langer Zeit hatten Gold und Silber einmal als kostbar gegolten; jene Leute auf dieser sanft schaukelnden Barkasse, auf der man gerade eine gewisse Menge Erde abwog, würden diese Vorstellung als absurd empfunden haben. Gold und Silber hatten keinen praktischen Nützen - beides versank wie ein Stein und war auch nichts anderes. Erde aber? Nun, sie war etwas Wundervolles ... »Wie bist du nur an so viel Erde gekommen?« fragte der Bankangestellte. Der Seemann zuckte die Achseln. »Auf 'nem anderen Atoll.« »Welches?« »Dreißig Horizonte westlich.« »Hmmm«, meinte der Bankangestellte. Er war von dem Haufen Erde auf seiner Waage wie hypnotisiert. »Und wo haben die es her?«
»Haben sie nicht gesagt.« Ein magerer Atoller meldete sich aus der Menge. »Ich habe von diesem Ort gehört! Die Smoker haben dort geplündert!« Ein anderer Atoller bestätigte: »Jawohl! Sie sind alle umgekommen!« »Deshalb haben sie es auch nicht gesagt«, bestätigte der Seemann. Besorgtes Murmeln lief wie das Rauschen der Wellen durch die Menge. Der Bankangestellte blinzelte den Seemann mißtrauisch an. »Sind sie denn von Smokern umgebracht worden?« »Weiß nicht. Hätten auch Sklavenhändler sein können ... was ist sie dir also wert?« Er deutete zu dem Haufen Erde auf die Waage. »Wollen wir uns unterhalten oder verhandeln?« »Wie war's, wenn wir es wie pures Hydro berechnen?« offerierte der Bankangestellte mit einem Lächeln, das einfach zu verkrampft wirkte. »Es ist mehr wert als Hydro, und das weißt du verdammt genau.« Der Bankangestellte neigte den Kopf zur Seite; sein Lachern ließ sich in einem wabbeligen Winkel seines Gesichts nieder. »Das käme auf zweiundsechzig Marken. Damit kommt man hier in Oasis lange aus.« »Doppelt soviel reicht noch länger«, erwiderte der Seemann. »Und genau das will ich.«
Und er bekam es auch.
Kapitel 4 Der Tavernenabschnitt im rückwärtigen Teil der Handelsniederlassung wurde von einer bemerkenswerten Schönheit namens Helen bewirtschaftet. Ihre großen, klaren Augen waren so dunkel wie ihr herrliches Haar, das sie aus ihrem feingeschnittenen Gesicht gekämmt und zu einem Zopf geflochten hatte. Ihren sanft geschwungenen Hals zierte eine Perlenkette, ihre schlanke Gestalt war in enganliegenden Netzstoff gehüllt. Manch einer der männlichen Tavernengäste blieb noch lange, nachdem er seine Tasse Hydro bis auf den letzten Tropfen geleert hatte, nur um ihre ungewöhnliche Schönheit, diese vollen Lippen, die volle Wölbung ihres Busens über dem Lederwams weiter betrachten zu können. Viele in Oasis hatten schon seit langem sämtliche Hoffnung fahren lassen. Helen wußte, daß die Gäste in ihrer Taverne sich als Mitglieder einer sterbenden Zivilisation sahen. Dennoch war da noch ein Funken Hoffnung.
Was hielt sie aufrecht? Was unterschied sie von den anderen? Ihr Glaube an den uralten Mythos von einem Ort namens >Festland<. Nur war >Festland< für Helen kein Mythos. Diese Überzeugung und das ganz besondere Waisenkind, das sie großzog, gaben ihr Mut, an ein besseres Morgen zu glauben. Momentan bediente sie ein paar von Wind und Wetter gegerbte Händler, die an der Bar lehnten vielleicht um besser in den Ausschnitt ihres Ledermieders lugen zu können. Sie hatte nichts dagegen - solange sie Abstand hielten. Sollte es jedoch einer von ihnen wagen, Hand an sie zu legen, dann würde sie möglicherweise von der Klinge hinter dem Tresen Gebrauch machen, und ihm seine blutigen Griffel ins Gesicht schleudern müssen. »Was ist nur so toll an Erde ?« fragte der jüngere der beiden Händler den anderen. »Du kannst sie nicht essen«, antwortete sein etwas älterer Kumpan. Sie goß beiden ein Glas trübes, drittklassiges Hydro ein. »Du kannst das Obst oder Gemüse essen, das daraus erwächst«, warf sie ein. »Das stimmt schon«, erwiderte der jüngere Händler. »Aber man findet nicht genug, um etwas darin wachsen .zu lassen.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, deutete er auf eine ausgedörrte Tomatenpflanze, die in einem Topf hinter der Bar auf einem der nahezu leeren Regale
des Ladenabschnitts stand. Auch diese Abteilung gehörte Helen und wurde von ihr geführt. »Kannst du dir diese Pflanze leisten?« fragte sie ihn mit einem verschmitzten Lächeln. »Darauf kommt es doch gar nicht an! Tatsache ist, daß dieses Zeug viel zu hoch gehandelt wird, wenn du mich fragst!« »Möwenkacke«, widersprach sein älterer Gefährte. »Du würdest dafür genauso jemanden umbringen wie ich.« »Es geht nicht um das, was man mit der Erde tun kann«, meinte Helen. »Es geht um das, wofür sie steht... woran sie uns erinnert, an einen tiefen, geheimnisvollen Ort in unserem Innern ...« Die Augen der Händler überzogen sich mit einem Schleier, als sie diese Worte hörten; sie sprach eine Wahrheit aus, die für die Menschen in Waterworld von entscheidender Bedeutung war. »Außerdem«, fügte sie hinzu. »Ist da noch die Verheißung, die ihr innewohnt.« »Verheißung?« fragte der jüngere Händler. »Ja. Und die Frage, die jene Erde stellt... Woher komme ich?« »Festland«. Die Stimme des alten Händlers klang weich, sein Tonfall fast ehrfürchtig. »Das war vielleicht eine Erde, die dieser Drifter hatte«, seufzte der andere Händler kopfschüttelnd. »Hab' noch nie reinere gesehen«, gab der ältere zu. »Einen Krug«, meldete sich eine grobe Stimme.
Helen blickte in die harten, kalten, blauen Augen eines muskulösen, in Haifischhaut gekleideten Händlers mit schulterlangem, blondem Haar und Gesichtszügen, die als gutaussehend gegolten hätten, wenn sie nicht von Grausamkeit gezeichnet gewesen wären. Die Haut unter der Sonnenbräune war hell; er war ein Norde. »Zweite Wahl«, sagte der Norde. Sie griff nach dem mit einem Netz umspannten Krug, behielt ihre Hand jedoch auf dem Flaschenhals. »Drei Marken.« Er nestelte die Münzen heraus, bedachte sie mit einem lüsternen Lächeln, und ging, nachdem er ihr den Krug aus der Hand genommen hatte, zu einem Tisch, an dem ein armseliger, kahlköpfiger und zerlumpter Hydroholiker wartete. Was hat ein wohlhabender Händler wie der mit einem Bettler, zu schaffen? überlegte sie. Egal wie leid ihr der alte Mann auch tat, sie hatte ihn dennoch schon allzu oft aus der Taverne geworfen. Sie wartete schon lange darauf, daß er, wie so viele Hydroholiker, eines Morgens als Treibgut endete, nachdem er zum Saufen von Salzwasser übergegangen war. Nun saß der alte Knabe an einem Tisch mit einem wohlhabend aussehenden Fremden, offenbar um an dem Krug Hydro teilzuhaben, den der Norde gerade gekauft hatte. Das gefiel Helen nicht. Sie wußte
nicht warum, aber bei dem bloßen Gedanken daran sträubten sich ihr die Nackenhaare. Als sie die Theke mit einem Lumpen abrieb, begannen die beiden Männer sich zu unterhalten. Helen konnte ihr Gespräch nicht hören, und das war zu schade - schließlich ging es dabei um sie, und das noch nicht einmal nur am Rande. Der Norde, der direkt neben dem schlampigen alten Mann Platz genommen hatte, goß das trübe Hydro in ein Glas, während der alte Mann ihn mit einem glückseligen Grinsen beobachtete. Doch als der Hydroholiker nach dem Glas langte, griff der Norde unsanft nach dessen knochigem Handgelenk. »Das war nicht abgemacht«, sagte der Norde. Dann tauchte er einen Finger in den Wasserkrug und leckte die Flüssigkeit daran ab. Der alte Mann beobachtete dies mit einer grotesken Mischung aus Schmerz und Entzücken. »Zuerst«, meinte der Norde, »erzählst du es mir.« »Es ist das Kind«, flüsterte der alte Mann. »Welches Kind?« »Diese Frau.« Der alte Mann zeigte auf Helen. Der Norde blickte auf Helen, die den beiden Händlern.an der Theke eine neue Runde einschenkte. »Sprechen wir nun über eine Frau oder ein Kind?« fragte der Norde ungeduldig. »Über beides!« »Nun denn. Und was ist mit ihnen?«
»Es ist ihr Kind, weißt du. Na ja, es ist nicht ihr Kind. Höllenkrabben, ich kann nicht denken, kann nicht reden, nicht ohne einen Schluck ...« Der alte Mann langte erneut nach dem Glas, und der Norde packte sein Handgelenk - diesmal noch etwas brutaler. »Zuerst Informationen, dann Hydro.« Der alte Hydroholiker leckte sich die ausgedorrten Lippen und murmelte: »Sie zieht ein Kind groß. Das Kind gehört ihr nicht, es kommt von woanders her.« »Du meinst von einem anderen Atoll?« »Nein. Das ist es ja ...« Nun öffneten sich die Augen des alten Mannes, und obwohl sie ebenso trübe wie das Hydro in dem Glas vor ihm waren, glitzerten diese Augen. »>Festland<«. Der Norde schnaubte verächtlich. >»Festland< ist ein Märchen.« »Vielleicht. Aber dieses Mädchen, sie hat Markierungen ... Tätowierungen, Zeichen ... auf ihrem Rücken. Ich habe sie gesehen!« »Einige Sklavenhändler markieren ihre Frauen auf diese Art«, meinte der Norde achselzuckend. Er hob das Glas an seine eigenen Lippen und nahm einen Schluck. »Das ist nichts Besonderes. Und verdammt sicher kein Glas Hydro wert.« Der alte Mann rutschte näher; es war nicht nur das Glas Hydro in seiner Nähe, das ihn aufbrachte. »Das sind aber keine Markierungen von
Sklavenhändlern! Diese Zeichen ... sie sagen, wenn man sie lesen kann... sind sie wie eine Karte. Zeigen dir den Weg nach >Festland<« Der Norde ließ ein weiteres Schnauben hören. »Das schon wieder. Du redest Mist, alter Mann ...« Doch der alte Mann blickte ihn eindringlich an. »Es gibt einige Leute, die noch daran glauben. Ich habe gehört... aber ich werde dir nicht sagen, was ich gehört habe, nicht wenn du so geizig mit diesem Hydro bist.« »Ich kann auch großzügig sein. Stell mich auf die Probe.« Der alte Hydroholiker beugte sich noch weiter vor, seine Stimme war nur noch ein trockenes Wispern. »Also ... Ich habe einige Händler sagen hören, daß ... gewisse Leute Ausschau nach dem Kind halten. Sie haben nach ihm gesucht. Weißt du, sie haben die Geschichten auch gehört. Über die Karte.« »Was für >gewisse Leute« »Du weißt schon. Smoker.« »Also die Smoker?« Der alte Mann nickte ernst. Der Norde lächelte milde. »Nun... Wir wollen denen doch nicht ins Gehege kommen, nicht wahr? Am besten, wir behalten all das schön für uns, alter Mann. Was sagst du?« Er schob das Glas Hydro auf den Alten zu. »Ich sage, Sie sind ein großzügiger und freundlicher Mann, Sir!«
Der alte Mann goß die Flüssigkeit gierig hinunter, als ein weiterer Händler an die Theke trat. Der Händler mit dem Muschelohrring, der mit seiner hochkarätigen, puren Erde einen solchen Aufstand verursacht hatte ... Als der Fremde an den Tresen trat, war Helen sorgfältig darauf bedacht, ihr Interesse an ihm zu verbergen. Er war gewiß gutaussehend, im weitesten Sinne, doch Männer interessierten sie wenig. Es war die Erde, die er nach Oasis gebracht hatte, und das >Festland<, das sie verfließ, was ihr soviel bedeutete ... was ihr alles bedeutete ... Doch sie klang überaus sachlich, als sie ihn fragte: »Kann ich Ihnen helfen?« Er blickte sich um, als hätte er sich verlaufen. »Ja - Sie führen die Taverne, stimmt's?« »Stimmt.« »Vielleicht könnten Sie mir sagen, wo der Laden ist.« Sie wußte, wie armselig die kahlen Wände hinter ihr wirkten - die Regale aus Holz und Metall waren nahezu abgeräumt, die aus Netzen hergestellten Hängekörbe bereits leer. »Ich fürchte, Sie schauen gerade darauf.« Es klang wie eine Art Galgenhumor. »Höllenkrabben!« meinte er. »Sie haben aber nicht viel zu bieten.« »Das meinst aber bloß du, Drifter!« lachte ein weiterer Händler.
Helen war nicht sehr leicht zu erschüttern, und normalerweise hätte sie so etwas nicht in Verlegenheit gebracht. Doch irgend etwas an dem Verhalten des Fremden ließ diesen Augenblick peinlich werden, und sie fühlte, wie sie rot anlief. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen?« fragte sie. »Wieviel Hydro haben Sie auf Lager?« »Sechs Gallonen.« Er nickte, der Muschelohrring schwang sachte vor und zurück. »Ich nehme alles.« »Dann kann ich dichtmachen ...« »Es würde Ihnen früher oder später ohnehin ausgehen, oder nicht? Sie wollen doch verkaufen?« »Schon, aber...« »Nun, ich kaufe es.« » ... in Ordnung.« »Haben Sie Segeltuch? Taue?« »Wir haben Tau, aber es ist aus Haaren. Kein Segeltuch.« »Brot?« »Nein.« »Holz?« »Nur die Regale an den Wänden, Fremder.« Seine Augen blitzten. »Wie steht's mit ... Zeitschriften?« Das war ein Hammer! »Wenn ich Zeitschriften hätte«, meinte sie, dann wären sie schon längst ausverkauft, und ich könnte in den Ruhestand gehen.«
Zeitschriften waren das einzige in Waterworld, was noch wertvoller war als Erde. Echte Bilder aus den Festlandtagen ... was konnte schon kostbarer sein? Der Fremde ließ enttäuscht die Schultern hängen, da er mit seinen Marken in Oasis so wenig kaufen konnte. Helen wurde von Mitleid übermannt. »Wie wäre es mit einem Drink? Ich bin noch immer im Besitz einiger Flaschen, die Sie nicht gekauft haben.« Er nickte und lehnte sich an den Tresen. »Machen Sie einen Doppelten.« Sie goß aus einem Krug in ein Glas, das sich mit trüber Brühe füllte. »Was ist das, zweite Wahl?« fragte er. »Ja...« »Das gute.« Er warf eine Marke auf den Tresen. »Pur.« Sie griff nach einem anderen Krug und goß ihm gerade ein Glas klares Wasser ein, als sich der nordische Händler plötzlich an die Bar heranschlich und neben den Fremden stellte... »Skol«, sprach der Norde den Seemann an. »Quanto tiempo vous parti?« Der Seemann ignorierte die Anbiederung. Er hob das längliche Glas Hydro an seine Nase und weidete sich an dessen Aroma. Dann nahm er einen kleinen, gemächlichen Schluck. »No habla vous Polyglott, hm?« fragte der Norde. Der Seemann leerte das Glas Schluck für Schluck,
wie ein Mann, der seit einer Woche nichts mehr zu trinken bekommen hatte. »Wie war's dann mit Anglisch?« fragte der Norde. Der Seemann hob das leere Glas und wandte sich an Helen. »Noch eins.« Der Norde berührte ihr Handgelenk. »Mach uns zwei, Süße. Ich bin sicher, daß ein so reicher Mann einem Kerl aus fremden Gewässern anstandshalber ein Glas spendieren wird.« Sie riß ihr Handgelenk zurück und blickte den Norden finster an. Der Seemann sagte leise: »Nur eins.« Der Norde fixierte ihn mit unverhohlenem Mißfallen, doch dann verzog sich sein Gesicht allmählich zu einem Lächeln. Helen schenkte diesem Lächeln jedoch keinen Glauben: Sie hatte das Gefühl, daß der Norde die schmähliche Behandlung, die er von dem Fremden erfahren hatte, nicht so bald vergessen würde. Sie füllte das Glas auf und machte sich erneut daran, die Theke zu säubern. Der Norde sprach den Seemann an: »Das sind ja tolle Stiefel, die du da hast.« »Sind nicht zu verkaufen.« »Schade. Du hast aber doch sicherlich nichts dagegen, daß ich sie bewundere?« Der Seemann antwortete nicht. »Also, Erdenmann«, meinte der Norde, »wie lange warst du unterwegs?«
Der Seemann warf dem Norden einen kalten Blick zu und antwortete immer noch nicht. »Reden kostet nichts«, sagte der Norde. »In Waterworld gibt es nichts umsonst«, erwiderte der Seemann. »Wie lange warst du unterwegs? Ich frage doch nur. Will mich bloß mit dir unterhalten.« Der Seemann wandte sich von dem Norden ab und nippte an seinem zweiten Glas Hydro. »Welchen Lunar haben wir?« Der Norde runzelte nachdenklich die Stirn. »Laß mal sehen ... Lärz, Mapril, Juno ... Faugust, oder nicht?« Die beiden Händler am Ende der Bar, die der Unterhaltung mit halbem Ohr gefolgt waren, nickten bestätigend. »Richtig.« Der Norde nickte. »Faugust. Also. Wie lange warst du unterwegs, zwischen den Atollen?« »Fünfzehn Lunare.« Das brachte den Norden leicht aus der Fassung. »Fünfzehn Lunare? Heiliger Vater! Machst du Scherze?« Der Seemann drehte sich langsam zu ihm um. »Sieht es so aus, als würde ich >scherzen« »Du meinst es ernst. Fünfzehn Lunare ... magst du etwa keine Menschen?« Der Norde schüttelte ungläubig lachend den Kopf; dann fesselte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Seine Augen verengten sich zu winzigen Schlitzen. Sein
Gesichtsausdruck wurde starr. Der Seemann drehte sich um, da er sehen wollte, was den Mann zu einer solchen Reaktion veranlaßt hatte. Es war nur ein Kind. Ein Mädchen war hinter der Plane, die den Lagerraum im rückwärtigen Teil der Bar verdeckte, hervorgekommen ... Sie konnte nicht älter als sieben sein. Ihre Haut war dunkler als die der Barfrau - es schien unwahrscheinlich, daß die Frau ihre Mutter war, obwohl beide sehr gut aussahen. Ihr Netzgewand sah dem der Frau ähnlich, doch der Bauch des Kindes war unbedeckt; dies, und sein zu steifen Locken gekringeltes Haar, verliehen ihm ein Aussehen, das es von den anderen Atollern auf Oasis unterschied. Der Seemann dachte, das Mädchen könnte eine Nepalesin sein. Es ging zu einem Ofen - der bei dieser Witterung natürlich nicht brannte -, stieß die Klappe auf und fischte einige Kohlestücke heraus. Als das Mädchen sich über den Ofen beugte und der Rückenausschnitt seiner Tunika herabrutschte, kam darunter etwas zum Vorschein. Was war das nur? Ein Muttermal? Nein, dachte der Seemann, das sind Tätowierungen ... ein dunkler Kreis, eine gezackte Erhebung, ein Pfeil, und orientalisch aussehende Schriftzüge innerhalb und außerhalb des Kreises ...
Der Seemann war nicht der einzige, der es bemerkte. Die Augen des Norden waren weit aufgerissen und starr, und er war so nah an die Theke getreten, daß es fast so aussah, als ob er darüber hinwegklettern wolle. Helen sah es ebenfalls. »Enola!« rief sie nach dem Mädchen. »Ich will noch mehr malen«, erwiderte das Kind. Helen ging in die Knie, zog das Mädchen hoch und zupfte an seiner Tunika, um die Markierungen zu bedecken. »Komm, meine Kleine... »Ich brauch' aber noch mehr!« widersprach Enola. »Ich werde sie dir bringen.« Helen brachte sie zurück. »Du bleibst jetzt dort hinten, hier draußen haben nur Erwachsene Zutritt, du kennst die Regeln ... « Nach einem liebevollen Klaps, führte Helen sie in das Hinterzimmer und zog die Plane nach unten. Als sie zurückkehrte, sah Helen, wie der Norde dem alten Hydroholiker am Tisch zunickte, woraufhin dieser sein Nicken erwiderte. Was hatte das zu bedeuten? Hatten sie die Markierungen entdeckt? War es möglich, daß sie ihre Bedeutung kannten? Es gab keinen Grund zur Beunruhigung, sagte sie sich. Doch die Haare in ihrem Nacken sträubten sich erneut... »Nun«, wandte sich der Norde leutselig an den Seemann, »wie ich schon sagte, wenn du keine
Menschen magst, warum glaubst du dann, diese Atoller würden sich einen Dreck darum scheren ...« Der Blick des Seemanns ließ ihn innehalten - es war ein kalter, todbringender Blick. »Warum sprichst du mit mir?« Das Grinsen des Norden hatte nichts mit einem Lächeln gemein. »Bin einfach nur freundlich.« »Ich habe keine Freunde«, erwiderte der Seemann. Der Norde dachte darüber nach; dann schien er einen Entschluß zu treffen, was seine weitere Vorgehensweise anbelangte. Er zuckte die Achseln, warf den beiden Händlern an der Bar einen >Wasist-denn-mit-dem-los?<-Blick zu, wandte sich vom Tresen ab und verließ die Handelsniederlassung. »Möchten Sie noch einen?« fragte Helen den Seemann, und deutete mit dem Kopf auf sein fast leeres Glas. »Das wird reichen.« Er sah an ihr vorbei auf die zum größten Teil leergeräumten Regale. »Diese Pflanze ... es ist eine Tomatenpflanze, nicht?« Sie lächelte beeindruckt. »Sie haben einen scharfen Blick.« »Hab' einmal ein Bild gesehen. Wieviel?« »Die Erde, in der sie steht, gehört dazu, müssen Sie wissen.« »Ich weiß. Und der Topf. Sonst wäre es ja keine Pflanze, oder?« Sie überlegte einen Augenblick, dann sagte sie: »Die Hälfte Ihrer Marken.«
Er nickte, ohne zu zögern. Was zum Teufel konnte er sonst schon in dieser trostlosen, kleinen Oase kaufen? Sie pflückte die Pflanze vom Regal, als er hinzufügte: »Die nehme ich auch noch.« »Sie nehmen was? Sie haben doch alles, bis auf die Regale, gekauft!« »Genau die meinte ich. Ich nehme sie auch mit.«
Kapitel 5 Die Regale in einem über seine Schulter geschwungenen Netz, die magere Tomatenpflanze in ihrem Topf unter dem Arm, trat der Seemann aus der Handelsniederlassung in den nachmittäglichen Sonnenschein. Die Oberfläche der Lagune trug einen goldenen Glanz, der dem Spiegelbild des Windmühlturmes mit seinen sich gemächlich drehenden Flügeln ein reizvolles Aussehen verlieh so reizvoll wie ein Bild in den uralten Zeitschriften. Um ihn herum herrschte das bunte Treiben der Leute aus dieser Oasis genannten Gemeinschaft Fischerfrauen, die ihre Netze flickten, einige Männer, die ein Loch in der Kaimauer reparierten, umherrennende und spielende Kinder, deren Stimmen über das Wasser schallten. Doch das war nichts für ihn. An diesem Ort war er ein Außenseiter, so wie in jedem Atoll; er machte sich auf den Nachhauseweg - zu seinem Trimaran.
Eilige Schritte, die hinter ihm auf dem Kai klackten, ließen ihn herumwirbeln - handelte es sich etwa um diesen Norden, der auf Ärger aus war? Nein. Es war nur die Frau. Die Tavernenwirtin mit den großen, dunklen Augen und der netten Figur. Wie war noch gleich ihr Name? Helen war erschrocken über die Schnelligkeit, mit der er sich zu ihr umgedreht hatte, doch sie ließ sich ihre Furcht nicht anmerken. Eine alleinstehende Frau in Waterworld mußte lernen, wie man seine Gefühle unter Kontrolle hielt, um nicht ausgenutzt oder sogar getötet zu werden. »Stimmt was nicht?« fragte er sie. »Ich habe Ihnen doch den vollen Preis bezahlt, oder nicht?« »Ja ... natürlich. Ich wollte nur ... mit Ihnen reden, unter vier Augen.« »Warum?« »Sie haben erzählt, daß Sie dort draußen waren..« Sie deutete über die goldene Lagune auf die Tore zur offenen See. ».. .fünfzehn Lunare lang.« »Ja. Und?« »Das ist eine lange Zeit zwischen den Atollen.« Er betrachtete sie eingehend. Sie war hübsch genug, und er war schon seit langem nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen. Doch er konnte erkennen, daß sie mehr Ärger einbringen würde, als sie wert war. Das war bei den Klugen immer der Fall.
Sein prüfender Blick ließ sie erröten, und ihre Stimme klang scharf, als sie weitersprach. »Das sollte kein Angebot sein ...« »Was dann?« »Eine Frage. Oder eigentlich sollte es auf eine Frage hinauslaufen ...« »Dann stellen Sie Ihre Frage.« Ihre Augen waren lebendig und ihr Lächeln bezaubernd. Sie hatte sich nicht entmutigen lassen, wie so viele der Atoller. Wie die meisten Atoller. Der Seemann merkte, daß er sie wider besseres Wissen mochte ... Atemlos stellte sie ihre Frage. »Was haben Sie dort draußen gesehen während der fünfzehn Lunare?« »Was hätte ich sehen sollen, außer Fischen, dem Ozean und gelegentlich einem Boot?« »Ein Ende.« Ihre Stimme war nur noch ein hoffnungsvolles Flüstern. »Das Ende von all dem verflixten Wasser ...« »Da fragen Sie den Falschen.« »Was meinen Sie damit?« Nun deutete er über die Lagune, auf die Stelle, an der die Organo-Barkasse schwamm. Die Trauergäste zerstreuten sich allmählich, Gärtner breiteten kostbare Erde über das Grab. Er fragte sich, ob es sich um die Erde handelte, die er zuvor dem Atoll verkauft hatte. »Fragen Sie die alte Frau, die beerdigt worden ist. Sie hat das einzig wahre Ende gefunden.«
Ihr Gesicht wurde traurig. »Das glaube ich nicht.« »Gut für Sie.« Ihre Augen blitzten. »Das ist kein Grund, gleich eklig zu werden.« »Ich habe es ernst gemeint.« Er nickte ihr zu und ging weiter. Der Seemann lauschte angestrengt nach Schritten, doch sie folgte ihm nicht. Er war darüber ziemlich verwirrt. Einer der beiden zerlumpten Jungen, die er zur Bewachung seines Trimarans zurückgelassen hatte, rannte auf ihn zu. »Kann ich den Reflektor jetzt haben, Mister?« »Das ist ein Spiegel. Nicht, bevor ich auf meinem Boot nachgesehen haben.« »Dort warten Leute auf Sie. Geben Sie ihn mir jetzt, bitte?« »Warum?« »Falls Sie Ärger bekommen.« Der Seemann hielt inne. »Wer wartet denn dort auf mich?« »Der Rat der Ältesten. Der große Boß ist auch da - der echt alte, sie nennen ihn Priam.« »In Ordnung.« Er reichte ihm den Spiegel. »Aber vergiß nicht, ihn mit deinem Freund zu teilen.« »Ja, Mister!« Der Junge wuselte davon, und der Seemann fragte sich, ob man ihn übers Ohr gehauen hatte; doch dann, als er die Kaimauer umrundet hatte und sein Trimaran direkt vor ihm lag, entdeckte er sie: ein Empfangskomitee, das sich aus einem halben
Dutzend Ältester in Seegrasgewändern und mit Mützen aus getrockneten Quallen zusammensetzte. Dämliche Gesellschaft. Als er näherkam, trat der Leichenblasse, der die Beerdigung abgehalten hatte - und den der Seemann ganz richtig als den >großen Boß< Priam identifiziert hatte -, mit gefalteten Händen und einem schwermütigen Lächeln nach vorn. »Wir haben Ihnen ein Angebot zu machen, Sir«, erklärte Priam. »Ich habe meine Geschäfte hier bereits abgeschlossen.« Er versuchte, an Priam vorbeizukommen, doch die Gruppe der Ältesten verstellte ihm den Weg. »Hören Sie«, meinte der Seemann entnervt. »Ich habe von Ihrem Vollstrecker den strikten Befehl erhalten, nach zwei Stunden zu verschwinden.« »Ich bin in der Lage, diesen Befehl rückgängig zu machen«, erwiderte Priam. »Ich gehe.« »Aber Sie haben doch unser Angebot noch gar nicht gehört... oder vielmehr, gesehen.« Die Gruppe der Ältesten teilte sich wie ein Vorhang, hinter dem eine Frau zum Vorschein kam. Eigentlich war es ein Mädchen - wenn überhaupt, dann war sie gerade erst dem Teenageralter entwachsen. Sie trug ein hauchdünnes Netzgewand, das ihre wohlgerundeten Formen nicht verbarg, und ihr Gesicht war hübsch, wenn auch etwas ängstlich.
»Und was denken Sie, hmmm?« fragte der leichenblasse Älteste. »Ich denke, daß Ihr Jungs hier einer interessanten Religion angehört. Entschuldigen Sie mich ...« »Sie ist aber doch ganz annehmbar, oder nicht?« drängte Priam. »Und man sagt, Sie wären fünfzehn Lunare lang unterwegs gewesen ...« »Aus reiner Neugierde ... was muß ich tun, um mir diesen Preis zu verdienen?« Priam runzelte die Stirn, und auf diesem Gesicht wirkte ein Stirnrunzeln wie eine ganze Furchensymphonie. »Sie verstehen nicht. Sie ist das, was wir Sie ... zu tun bitten.« »Was?« Ein weiterer Ältester trat nach vorn. »Sie haben vielleicht bemerkt, daß wir heute einen Bürger zu Grabe trugen. Sie verstehen, wir führen hier eine strenge Bevölkerungskontrolle durch.« »Ja? Und?« »Also«, sagte Priam, »schafft der Tod eines Bürgers Raum für einen weiteren.« »Nun, ich werde nicht bleiben.« »Das verlangen wir auch gar nicht. Das einzige, was wir wollen, ist Ihr Samen.« Er seufzte. »Meine Limettenpflanze ist nicht zu verkaufen. Und ich habe gerade die Hälfte meiner Marken für diese Tomatenpflanze ausgegeben, also ...« »Nein, nein, nein.« Priam wirkte einigermaßen belustigt. »Ihren Samen.«
Der Seemann warf einen kurzen Blick auf das Mädchen, das ihn schüchtern anlächelte. Jetzt verstand er. Und er hatte schon miesere Angebote erhalten ... »Wir könnten uns unter den Einwohnern nach einem Befruchtungskandidaten umsehen.« Ein weiterer Ältester machte eine Geste mit der flachen Hand. »Doch zuviel davon ist ... unerwünscht. Deswegen haben wir es verboten.« Das verwirrte den Seemann erneut. »Was haben Sie verboten?« »>Es<«, antwortete Priam. »Wie sonst, glauben Sie, können wir unsere Bevölkerung kontrollieren?« »Sobald sie ein Kind unter dem Herzen trägt<< sagte ein anderer, »können Sie mit all den Vorräten, die Sie brauchen, weiterfahren.« »Sie haben nichts, was ich brauchen könnte. Ich habe bereits Ihren einzigen Laden leergekauft. Dieser Ort liegt im Sterben. Ich will damit nichts zu tun haben ...« Der Seemann drängte sich an ihnen vorbei. Als er sich seinem Schiff näherte, konnte er hören, wie die Ältesten hinter ihm flüsterten: Kein Mann ist fünfzehn Lunare lang unterwegs und lehnt eine Frau ab; vielleicht ist er ein Spion der Smoker; hat er etwas zu verbergen? Eine unheilvolle Stimmung lastete auf dem Kai. Er warf einen Blick zurück. Die Ältesten starrten ihm mit einer Mischung aus Furcht und Mißtrauen nach, und seine Konfrontation mit ihnen hatte auch
noch andere aufmerksam gemacht - eine Menge von Atollern versammelte sich ganz in der Nähe auf dem Kai. Höllenkrabben. Der Trimaran lag direkt vor ihm, als eine Hand unsanft von hinten nach seiner Schulter griff. Er schüttelte die Hand ab, und wandte sich zu deren Besitzer um, in der Hoffnung, daß es sich nicht um deren breitschultrigen Vollstrecker handelte. Er war es nicht: Doch die Alternative war schlimm genug. Der bärtige Torwächter hauchte ihm seinen fauligen, nach einer Mischung aus minderwertigem Hydro und geräuchertem Fisch stinkenden Atem ins Gesicht. »Wenn die Ältesten es bestimmen, dann kannst du gehen. Vorher nicht.« Der Mariner schwang das Netz mit den Regalbrettern gegen den Torwächter und rannte los, als der sich auf den Hintern setzte; doch plötzlich tauchte auch der andere Torwächter auf, der die eine Hand auf eine kurze, in einem Halfter an seiner Hüfte steckende Speerwaffe legte und mit der anderen nach dem Arm des Seemannes griff. Der Seemann betätigte mit seiner freien Hand den Abzug der Speerwaffe. Ein Pfeil schoß nach unten durch den Fuß des Mannes und nagelte ihn auf dem Kai fest. Als er schmerzerfüllt aufheulte, lockerte sich unwillkürlich auch der Griff um seinen Arm; doch die Freiheit des Seemannes war nur von kurzer
Dauer: Kräftige Arme umfingen ihn von hinten - da der erste Torwächter sich von seinem Hintern erhoben hatte - und drehten ihm die seinen auf den Rücken, woraufhin sowohl die Regalbretter in ihrem Netz, als auch die kostbare, ausgemergelte Tomatenpflanze auf den Kai purzelten, jedoch, wie er dankbar feststellte, ohne daß viel Erde verschüttet wurde oder der Topf zu Bruch ging. Durch ein kurzes Rückwärtsrammen seines Kopfes in das Gesicht des Torwächters brach er dessen Nase, was einen wahren Sturzbach von Blut und einen weiteren schmerzerfüllten Aufschrei auslöste, woraufhin auch sein Arm wieder losgelassen wurde. Und erneut war die Zeit der Freiheit nur kurz bemessen: Drei männliche Atoller, die auf Befehl der Ältesten handelten, starteten einen gemeinsamen Angriff und rissen ihn zu Boden. Das Holz zerkratzte seine Haut, Fäuste schlugen willkürlich auf ihn ein, Finger gruben sich in seinen Hals, in einem Würgegriff, der ihn um sein Leben bangen ließ. Der Seemann drehte seinen Kopf, um sich gegen den Griff zu wehren und seinen Mund näher an eine der ihn würgenden Hände zu schieben. Er biß kräftig zu ... Der Kerl kreischte schrill und lockerte seinen Würgegriff, krallte sich jedoch mit beiden Händen in das lange Haar des Seemanns und zerrte daran, als ob er ihm den Kopf abreißen wollte. Doch statt
dessen wurde der Muschelohrring aus dem Ohrläppchen des Seemannes gerissen, das Haar fiel ihm aus dem Nacken, und das dort verborgene Geheimnis wurde für einen der mit ihm ringenden Männer sichtbar. Die Kieme hinter dem Ohr des Seemannes. »Donnerkeil!« fluchte der Atoller. »Er ist ein Mutol« Er blickte in drei entsetzte Gesichter. Und er konnte hören, wie Priam mit lauter Stimme Alarm schlug: »Mutation!« Der Schrei hallte über das Wasser, durch den Atoll. Er mußte es nicht sehen, um zu wissen, daß die Atoller in Mengen heranschwärmen würden Neugierde gepaart mit Furcht... Wenn er nicht sofort floh, bedeutete das seinen Tod. Er rammte seine Faust in das Gesicht, das ihm am nächsten war, und begann mit rasender Geschwindigkeit drauflos zu boxen und zu treten, kam auf die Füße und konnte sich trotz der nach ihm greifenden Hände und Arme befreien, indem er wie wild um sich schlug und trat und sich so ihrem Zugriff entwand. Er würde den Trimaran zumindest für den Augenblick vergessen müssen - er mußte unter die Wasseroberfläche gelangen, wo er atmen konnte, und sie nicht. Er zögerte und atmete tief ein,
während er einen Weg in das goldgesprenkelte Wasser wählte. »Laßt ihn nicht ans Wasser!« schrie Priam. Einige Atollbewohner blockierten ihm den Weg, dazu bereit, sich auf ihn zu werfen und ihn mit vereinten Kräften zu Fall zu bringen. Sie waren zwar in der Überzahl, doch gingen sie zunächst sprungbereit in die Hocke. Also sprang er zuerst. Er setzte direkt über die Schwachköpfe hinweg, verfehlte sie nur um wenige Zentimeter, doch diese Zentimeter waren ausreichend, und er klatschte in die tiefe, klare, kalte und wundervolle Freiheit der Lagune. Er konnte unter dem Tor hindurchschwimmen und dort draußen überleben, bis ihn irgendein Händler mitnahm... Doch eine Stimme schallte über das Wasser, eine Stimme, die er nicht verstehen konnte, von der er aber dennoch wußte, daß sie zu Priam gehörte. Er konnte sich also denken, was gesagt wurde: »Die Netze! Werft die Netze aus.« Er war nur ein Fisch, den es zu fangen galt. Nun, sollten sie es doch versuchen ... Unter Wasser war das klatschende Geräusch des ersten, der ihm folgte, nur gedämpft zu hören, klang deswegen jedoch nicht weniger unheilvoll. Wenn er hätte beschleunigen können, würde der Seemann sie alle leicht abgehängt haben. Doch er versuchte immer noch, sich unter Wasser zu orientieren, als eine Hand seinen Knöchel umklammerte, und ein
Atollbewohnerer, dessen Kleider im Wasser waberten, nach ihm krallte. Der Seemann warf einen kurzen Blick zurück und sah, wie eine Klinge in der Hand des Mannes aufblitzte. Er drehte sich, tauchte tiefer, und das Messer verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Er änderte die Richtung, schnellte zur Seite und griff nach dem Handgelenk des näherkommenden Atollbewohners, wobei er den Stoß des Mannes abfing, um die Klinge zurücktreiben und in dessen eigenen Bauch zu rammen. Ein Blutstrom breitete sich aus und verflüchtigte sich sofort in dünnen, karmesinroten Fäden. Dann plätscherte es über und neben ihm, überall, und Schaum wirbelte auf, als weitere Männer vom Atoll - so viele - hinabtauchten und ihn umzingelten. Ein Netz, groß genug, um den Trimaran selbst einzufangen, wallte auf ihn herab. Er wirbelte herum in der Hoffnung, tiefer zu tauchen als das Netz oder die Feinde folgen konnten, doch es war bereits zu spät. Das Netz umfing ihn, und sie zogen es immer fester zu. Wie eine Fliege im Spinnennetz wurde er gefangen, wand sich hin und her und benutzte sein eigenes Messer, um das Netz zu zerschneiden, was ihm jedoch nicht gelang. Kurz darauf fischten die Männer auf dem Kai mit ihren Hakenstöcken nach dem Netz - und ihm - ,
holten es ein und zerrten ihn auf die Mole wie einen zappelnden Fisch. Ihr größter Fang... Durch die Maschen des Netzes konnte er sie sehen - es war nicht mehr nur eine Menge, sondern ein ganzer Massenauflauf. Zornige Gesichter, ängstliche Gesichter... nur ein Gesicht, ein mitleidiges Gesicht, konnte er finden: die Frau. Helen. Sie war seinetwegen besorgt... Doch das nutzte nicht viel, da der Rest des Mobs bereits einstimmig zu schreien begann: »Tötet ihn! Tötet ihn! Tötet ihn!« Das Netz wurde entfernt, als sich ein Strick über die Kiemen um seinen Nacken legte und festgezogen wurde. Der bärtige Torwächter war sein Bewacher. Priam, dessen Seegrasrock in der sanften Brise flatterte, schritt würdig heran. Er betrachtete den Seemann, doch seine Worte galten dem Pöbel, der sich um ihn drängte. Der Hohe Älteste begann mit tiefer Grabesstimme zu sprechen. »Er hätte beinahe unser Geschlecht vergiftet.« Der Seemann konnte ein Todesurteil erkennen, wenn er eins hörte. Den Atollern erging es ebenso und sie brüllten ihre Zustimmung. Der Strick um seinen Hals wurde enger; er wehrte sich, war jedoch vom Kämpfen mitgenommen und geschwächt, und außerdem - ob nun Mann oder Fisch - wurde ihm vom Sauerstoffmangel rot vor Augen, und dieses Rot verwandelte sich ganz langsam in Schwarz ...
Das rettende Sirren stammte von einer Machete, die den Strick durchtrennte. Der Seemann fiel keuchend auf die Knie. Über ihm stand der Vollstrecker. Eine riesige Klinge in der gigantischen Faust, blitzte er den Torwächter wütend an. Der Rohling war der letzte Mensch, den der Seemann als Lebensretter erwartet hätte... »Mit welchem Recht...« begann Priam und machte einen Schritt auf den Vollstrecker zu. Der finstere Blick des Ältesten wirkte ebenso hoheitsvoll wie mißbilligend. Der Vollstrecker zeigte sich weder von Priam noch von seinem Blick beeindruckt. Er antwortete in nüchternem Tonfall: »Sie bezahlen mich, damit ich für Frieden sorge. Das hier geht nicht.« Ein weiterer Ältester sprach aufgebracht: »Er hat einen von uns getötet>« »In Notwehr«, erwiderte der Vollstrecker. »Es ist nicht deine Sache, das zu beurteilen«, meinte Priam. »Ist es etwa die Sache des Pöbels?« fragte der Vollstrecker. Der Älteste tat sein Bestes, um den größeren Mann von oben herab zu beäugen. »Er muß vernichtet werden.« »Das kann schon sein. Aber nicht hier - und nicht auf diese Art.« Der Seemann beobachtete, wie Priam darüber nachdachte.
»Wenn Ihr eure eigenen, verdammten Gesetze nicht einhalten wollt,« sagte der Vollstrecker, »dann werde ich mich nach einem anderen Atoll umsehen. Ich bin sicher, daß meine Dienste ...« »Das wird nicht nötig sein«, warf Priam eilig ein. Gute Vollstrecker waren schwer zu finden. »Sperrt den Fremden in den Käfig!« befahl der Hohe Älteste. Dann zerrten sie ihn weg, verfolgt von dem häßlichen, murmelnden Pöbel. Der Vollstrecker nahm sich der Besitztümer des Seemannes - des Netzes mit den Regalbrettern und der eingetopften Tomatenpflanze - an. Der Seemann konnte die als einzige verweilende Person nicht sehen - es war Helen. Er sah auch nicht, wie sie etwas auf dem Kai bemerkte und sich bückte, um es aufzuheben und in ihrer Tunika zu verbergen. Es war der Muschelohrring des Seemannes.
Kapitel 6 Die breite Organo-Barkasse lag ganz in der Nähe, ihre beißenden Abfallgerüche waren eine stetige Erinnerung an den Ort, an dem die Ältesten von Oasis sich seiner zu entledigen gedachten. Im Mondschein wies die Barkasse eine silbrige Schönheit auf, der knorrige, traurige Baum breitete seine vielen Äste über die schäbigen Gärten wie ein Geist, der sich nicht sicher ist, ob er nun spuken oder beschützen sollte. Niedergeschlagen und blutend wurde der Seemann über dem Pier in einem eisernen Käfig aufgehängt, der gerade groß genug war, daß er darin stehen konnte, und klein genug, daß er sich nicht hinlegen konnte, ohne sich zusammenzurollen. Er hatte die Gitter - und das Vorhängeschloß untersucht und keine Fluchtmöglichkeit entdeckt. In der kühlen Abendbrise baumelte er hilflos in seinem Käfig, wie der ausgeweidete Haifisch, den er gesehen hatte, nur eine weitere dem Meer entrissene Bestie.
Das obere Ende des Pfostens, an dem er hing, ragte durch eine vergitterte Plattform; durch einen freiliegenden Treppenaufgang hatten die Einheimischen Zugang zu einer halbkreisförmigen Metallpromenade, die unangenehm nah an dem Käfig vorbeiführte, falls die Leute Lust darauf bekommen sollten, ihren Gefangenen anzustarren, ihn zu beschimpfen oder mit Gegenständen zu bewerten. Drei Lausbuben - einer von ihnen war der Junge, dem er den Rückspiegel geschenkt hatte drangsalierten ihn nun schon seit einer ganzen Weile; als sie begannen, schien noch die Sonne, und sie harrten auch während der Dämmerung aus, und nun war bereits der Mond zu sehen. Er schenkte ihnen keine Beachtung. In seinen Augen traf sie keine Schuld: Ordentliche Eltern hätten schon längst dafür gesorgt, daß die Jungen um diese Zeit daheim wären. Er wußte genau, wie es war, wenn man die falschen Eltern hatte. Zwei von ihnen - nicht der Junge mit dem Spiegel - hatten Bambusangeln dabei, mit denen sie in seinem Käfig herumstocherten. An einer der Angeln hing ein Fisch am Haken - ein Köder. Der andere Junge hämmerte einfach nur mit seiner Stange gegen den Käfig, wobei auch der Seemann gelegentlich einen Hieb abbekam. Es steckte zwar nicht sehr viel Kraft dahinter, doch seine Geduld ging allmählich zu Ende.
»Den hättest du wohl gern, was?« meinte der Junge mit dem Köder und wedelte den Fisch vor dem Käfig herum, gerade außerhalb seine Reichweite. »Knabber doch ein bißchen daran ...« Der Seemann ignorierte ihn. »Stoß ihn noch mal«, sagte der Junge zu seinem Freund mit der köderlosen Angel. Der zweite Junge stocherte in dem Käfig herum, und die Angel stach den Seemann in die Seite. Er reagierte nicht. »Der ist ja wirklich sanftmütig.« Der zweite Junge gab auf. »Nicht so ein Hai wie am Nachmittag ...« Der dritte Junge - der Junge mit dem Rückspiegel - scharrte mit den Füßen auf der Plattform und vermied es, in seine Richtung zu schauen* Er schien unangenehm berührt. Hatte nicht so viel Spaß wie seine Kameraden ... »Warum laßt ihr ihn nicht in Ruhe?« fragte er. »Ihr tut ihm vielleicht weh.« »Na und?« meinte der erste Junge. »Er ist doch nur ein großer Fisch.« »Ach Mensch, kommt schon - gehen wir endlich ...« »Nein!« Der Junge beugte sich über das Geländer, schob seine Angel näher an den Käfig und grinste den Seemann herausfordernd an. »Ich weiß, du bist hungrig ... Ich weiß, du willst ihn ... oder vielleicht ißt du deinesgleichen nicht?«
Der Junge lachte über seinen eigenen Witz, ebenso wie sein Freund mit der leeren Angel, doch das Lachen blieb dem Kind schon sehr bald im Halse stecken. Der Seemann langte mit einem Arm durch die Gitterstäbe, erwischte eine Handvoll der langen, zerzausten Haare des Jungen und zerrte ihn daran über das Geländer der Plattform. Die Angel fiel klappernd auf den Kai weiter unten, und der erschrockene Junge wedelte mit Armen und Beinen, während er, laut heulend vor Schmerz, in der Luft zu schwimmen begann. Seine beiden Freunde griffen über die Reling, die Augen weit aufgerissen vor Furcht; sie streckten die Hände nach ihm aus, versuchten nach ihm zu greifen und erwischten ihn schließlich auch, entrissen ihn dem Seemann und zogen ihn über das Geländer zurück auf die Plattform wie Fischer, die sich mit einem zappelnden Fang abmühten, um ihn in das Boot zu ziehen. Die Jungen rannten wild trampelnd über die Plattform davon; derjenige, der über dem Abgrund gebaumelt hatte, hielt sich heulend seinen Kopf, an dem ihm nun eine Handvoll Haare fehlten. Als die Schritte und das Weinen allmählich immer leiser wurden, vernahm der Seemann ein zarteres, melodischeres Geräusch: Lachen, fröhliches Lachen, das wohlklingend über das mondbeschienene Wasser schallte.
Er blickte in die Richtung, aus der es kam, und sah das dazugehörige Gesicht. Im Fenster des Windmühlturmes stand das Kind dieses dunkle, hübsche, mysteriöse Mädchen aus der Taverne; das zarte Gesicht und die dunklen Augen waren vom Mondlicht erleuchtet, und ihre Zähne blitzten weiß, als ihr kindliches Gelächter wie das Windspiel auf seinem Boot in seinen Ohren klingelte. Sein Blick und der des Kindes trafen sich über die Entfernung hinweg. Ihr Lachen verwandelte sich in ein schüchternes Lächeln; dann wurde ihr Gesicht wieder so starr und rätselhaft wie zuvor, und sie verschwand von dem Fenster. Wie hatte diese Tavernenwirtin, Helen, das Mädchen genannt? Enola. Der Name war ebenso hübsch wie ihr Lachen. Ein lautes, wie ein Aufstöhnen klingendes Knarren ließ ihn zusammenzucken, doch dann erkannte er, daß es sich nur um das Getriebe der Windmühle handelte, die sich immer schneller drehte und mit ihren Segeltuchflügeln durch die Luft peitschte, als wäre das Atoll nur ein einzelnes Boot, das seinen Hafen zu verlassen suchte. Kurz darauf kannte er auch den Grund - dieses plötzlichen Kraftaufschwungs: in Glasbehälterrt befindliche Spiralen auf den Stangen entlang der KaiPromenade, erwachten nach und nach zum Leben, bis hier und dort immer heller werdende Seen aus
gelbem Licht aufglühten, die der schwimmenden Stadt ein Leben nach dem Sonnenuntergang und eine ganz unirdische Schönheit verliehen, wobei die groben Konturen ihrer zusammengestückelten Holzund Stahlkonstruktionen von dem leuchtenden, elektrischen Glanz gemildert wurden. Nicht auf jedem Atoll gab es Straßenlaternen. Er wäre vielleicht beeindruckt gewesen, wenn man ihn nicht in einem Käfig neben einer nach Kot stinkenden Barkasse aufgehängt hätte. Durch diese zusätzliche Lichtquelle konnte er seinen Trimaran viel besser sehen. Sein Schiff. Sein Zuhause. So nah und doch so fern, daß er sich ebenso fünfzehn Lunare westlich hätte befinden können. Höllenkrabben! Da waren Leute auf seinem Deck! Sie hatten es im Schütze der Nacht geentert und waren nun durch die Straßenlaternen entlarvt worden. Er krallte sich in die Gitter seines engen Gefängnisses, das sich hin und her bewegte, fast schon schaukelte, als er den Mund öffnete, um seinen Protest laut herauszubrüllen... doch was würde ihm das schon nützen? Hilflos sah er dabei zu, wie die Atoller mit seihen Besitztümern vom Trimaran sprangen - mit dem Limettenbäumchen, Werkzeugen, die Taschen voll mit seinem Eigentum - und wie Ratten in die Nacht hinaushuschten. »Wirklich Pech, Erdenmann«, sagte eine Stimme.
Der Blick des Seemannes wanderte zu einer nahe gelegenen Lagune, wo der grinsende Norde in einem kleinen Dingi an ihm vorbeiruderte. Der blonde Reisende winkte, doch der Seemann erwiderte die Geste nicht und beobachtete ungerührt, wie das Dingi schwerelos auf die Haupttore zuglitt, die knarrend gerade weit genug aufschwangen, um den Norden durchzulassen, um sich kurz darauf wieder rumpelnd zu schließen. Gedämpfte Stimmen drangen von einer umgebauten chinesischen Dschunke zu ihm herüber. Früher am Abend hatte er gesehen, wie einige Atoller und die Ältesten das Boot einer nach dem anderen betraten; die Tavernenbesitzerin, Helen, war unter ihnen gewesen. Möglicherweise handelte es sich um eine Art Konferenzraum. Vielleicht wurde in eben diesem Moment über sein Schicksal entschieden. Er grinste kopfschüttelnd. Das sagte doch alles über Oasis, oder nicht? Du wirst noch nicht einmal zu deiner eigenen Verhandlung geladen auf diesem verdammten Atoll... Im Konferenzraum hatte der Hohe Älteste - Priam - mit seinen Brüdern an einem besonderen Tisch Platz genommen, während sich die Atoller, einige auf Bänken sitzend, andere im Stehen, um ihn scharten und das aufregende Ereignis, das Einfangen und Einsperren eines Mutanten, nochmals durchexerzierten.
»Die Indizien sprechen für sich«, sagte Priam. »Wir müssen den Muto so bald wie möglich loswerden.« Es folgte zustimmendes Gemurmel und Kopfnicken, doch eine Stimme erhob sich über das ganze: »Warum?« Helen trat aus der Menge auf das Podest und stellte sich dem in Seegras gewandeten Tribunal gegenüber. »Helen«, meinte Priam sanft, »er hat einen von uns getötet. Du kennst das Gesetz. Er muß sterben.« Sie trat nach vorn, ihre eindringliche Stimme bebte vor Leidenschaft. »Aber er hat uns Erde gebracht!« Erneutes Murmeln lief durch die Menge. Sie wandte sich ihr zu, versuchte, an sie zu appellieren. »Erde von einer Beschaffenheit, wie wir sie seit Jahren schon nicht mehr gesehen haben.« »Wir haben schon öfter Erde gesehen«, sagte der Älteste rechts von Priam. »Von anderen Händlern '...« »Nicht solche Erde. Nicht seit Enola zu uns kam ...« »Dann ist es eben pure Erde«, meinte der Altere abweisend. »Na und?« »Also... muß sie irgendwoher stammen«, erwiderte Helen. »Was, wenn sie vom >Festland< stammt?« Das Murmeln der Menge steigerte sich zu einem Brüllen - für einige rührte dieses Wort an ihrer
sterbenden Hoffnung, andere hielten es für Blasphemie; Schreie und Buhrufe wurden laut... »Bitte fange nicht mit deinem ...« begann Priam. »Er kam aus dem Westen«, unterbrach ihn eine kühne Stimme. Köpfe drehten sich. Es war der bärtige Torwächter, der den Seemann überwältigt hatte. Doch das Wort >Festland< hatte auch in ihm eine Regung geweckt. »Der Westen!« Ein männlicher Atoller stand auf und schüttelte seine Faust. »Dort kommen die Smoker her!« »Aus dem Westen«, bestätigte eine Frau. »Das habe ich auch gehört!« »Smoker kommen vom >Festland« fragte ein alter Atoller, wobei er verwirrt ins Leere blickte. »Bitte, bitte!« dröhnte Priam und hob beschwichtigend die Hände. »Beruhigt euch doch.« »Vielleicht ist der Ichthyo-Mann ja tatsächlich ein Spion der Smoker«, warf der Älteste zur Rechten ein. Sämtliche Blicke richteten sich auf ihn. »Und wenn«, fuhr er fort, »dann könnte er unseren Standort ... unsere Schwachstellen verraten.« »Dafür gibt es keinen Beweis«, meinte Helen hocherhobenen Hauptes. »Das sind doch alles Vermutungen ...« »Vielleicht«, sagte ein anderer Ältester, links von Priam.
»Doch selbst wenn, dann ist er als Muto immer noch dazu in der Lage, unsere Gemeinde zu verseuchen.« »Warum lassen wir ihn dann nicht einfach gehen?« fragte Helen. »Euer eigener Vollstrecker hat gesagt, daß er nur aus Notwehr ein Leben nahm ...« »Er könnte andere Gemeinden in Waterworld verseuchen.« »Welche anderen Gemeinden?« Helen lachte rauh. »Wir haben schon seit über einem Jahr nichts mehr von einem anderen Atoll gesehen oder gehört!« Priam fuchtelte erneut mit den Armen durch die Luft. »Bleiben wir bitte beim Thema ...« Helen schüttelte angewidert den Kopf über die selbstgefällige Art dieses Tribunals. Sie breitete die Arme aus und wandte sich an die Menge. »Jedes Jahr, jeden Monat«, sagte sie, »wird es schlimmer. Weniger Atolle ... weniger Händler ... unsere Gärten sterben, unsere Bäume tragen weniger Früchte... Maschinen gehen kaputt ... Dieser Ort, diese ganze Art zu leben - geht einem Ende zu. Kann das denn niemand außer mir sehen?« Diesmal klang das Murmeln der Menge unnachgiebiger. Die Stimme eines alten Mannes wurde laut: »Als ich jung war, gab es viele Atolle! An einem Tag konnte man zwei, drei von ihnen aufsuchen ...«
Jetzt drehte sich Helen erneut dem Ältestenrat zu. »Was habt ihr wegen dieser Probleme unternommen? Gebetet! Um Hilfe gebetet! Nun, könnt ihr denn nicht sehen, daß eure Gebete erhört wurden, wenn die Lösung schon direkt vor eurer Nase liegt?« Priam runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?« »Wir haben jemanden in unserer Mitte, der uns vielleicht tatsächlich den Weg zu einem neuen Ort zeigen kann, einem neuen Land, einen Mann, der ...« »Er ist kein Mann«, unterbrach sie der rechte Älteste. Sie seufzte entnervt, schüttelte den Kopf und hob die Hände. »Es spielt keine Rolle, wer oder was er ist. Ich sage, wenn er den Weg zum >Festland< kennt, dann tötet ihn nicht - bringt ihn dazu, daß er uns zeigt, wo es ist!« »Die Menschen suchen schon seit Jahrhunderten nach dem >Festland<«, meinte Priam, nicht unfreundlich. »Du weißt, was sie fanden, Helen. Sie fanden den Tod. Das ist das einzige, was sie fanden.« Ihr Kinn bebte; Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie trotzig ihre Faust vor dem Rat schüttelte. »Nun, zumindest sind sie gestorben, weil sie es versuchten.« Priams Freundlichkeit verschwand, er zischte sie an: »>Festland< ist ein dummer Scherz! Ein Mythos, ein Kindermärchen! Wir haben es wieder und wieder
ausdiskutiert, und vor langer, langer Zeit ein für allemal beschlossen ...« Der Zeigefinger des Hohen Ältesten schoß in diesem Moment wie ein Speer auf sie zu. »Und es ist schon lange überfällig, Helen, daß du diese Tatsache akzeptierst. Je eher du das tust, desto besser wird es uns allen gehen!« Der bärtige Torwächter trat nach vorn; doch Priam hatte die aufsteigende Hoffnung, die der Mann noch vor kurzem empfand, bereits zunichte gemacht. »Wir wären besser dran, wenn wir auch dieses Kind von ihr loswürden!« Erneutes Murmeln - doch diesmal gehässiger. Dieselben menschlichen Haie, die zuvor den Fremden verfolgt hatten, scharten sich nun um sie. »Diese Zeichen auf ihrem Rücken«, sagte der Torwächter, »bringen die Leute auf dumme Gedanken - sie verursachen Schwierigkeiten! Sie sagen, die Smoker suchen nach ihr... das hat mir ein Händler erzählt!« Aus der Menge drang die wütende Stimme eines Mannes: »Ich würde sagen, wir werden sie beide los - den Muto und das Mädchen!« Das Murmeln steigerte sich zu einem aufgeregten Crescendo. Wenn diese Leute nicht anfingen, sich gegenseitig umzubringen, dann würden sie schon bald jemanden finden, den sie umbringen konnten. Den Fremden. Enola.
Furcht krallte sich in Helens Herz. Sie ließ sämtliche Hoffnung fahren, vernünftig mit diesem Pöbel reden zu können und eilte aus dem Konferenzraum. Vielleicht wußte der Alte Gregor, was zu tun war ...
Kapitel 7 Hoch oben in einer Werkstatt innerhalb des Windmühlenturmes starrte ein weißbärtiger, leicht gebeugter alter Mann durch eine seiner eigenen Erfindungen: ein ziemlich großes Behelfsteleskop, das, so wie das bei allen guten Teleskopen der Fall sein sollte, himmelwärts gerichtet war. In dieser Werkstatt war er umgeben von schnaufenden Blasebälgen, Fischskeletten, verschiedenen Experimenten zur Obstveredelung, Raschen und Tuben und Karaffen auf Tischen (und ähnliche Tische reihten sich auch weiter unten entlang der rustikalen Wände des Windmühlenturms). Gregor war sein Name, und trotz seiner verschrobenen Hinfalls - und des zerstreuten Zustands, in dem er sich ständig befand und der ihn beinahe senil erscheinen ließ - wurde ihm von den Ältesten dieser großzügig bemessene Raum überlassen, wodurch er in der Lage war, all diese widersinnigen Überreste dessen zu sammeln, was
die alten Völker als >Technologie< bezeichnet hatten, denn schließlich war er der Erbauer der Windmühle, deren Getriebe das Atoll mit Strom versorgte. Die Ältesten und eigentlich auch alle anderen Atoller hielten ihn für brillant - für sie war er ein >Genie<. Doch Gregor selbst hatte da eine ganz andere Meinung. Er hielt sich für äußerst beschränkt - obwohl er das nicht war: Er war ein brillanter Wissenschaftler in einer Zeit, in der die Wissenschaft eine nur undeutliche Erinnerung war. Das war sein Problem: Auch der begabteste Zimmermann benötigte Werkzeug. Und Gregors Werkzeug waren die wunderlichen, aufgesammelten Reste von diesem und jenem, übriggeblieben aus einem vergangenen Zeitalter. Und doch. Für Gregor, der durch sein Fernglas starrte und den Himmel absuchte (»... vom Nordstern zum Orion... dann im rechten Winkel vom ...«), lag die Antwort auf die bedeutendste Frage von Waterworld gerade außerhalb seiner Reichweite ... Oder, um genauer zu sein, sie ruhte auf dem Rücken eines Kindes. Es befand sich vierzig Fuß unter ihm im Wohnbereich (der mit unfertigen Experimenten und Erfindungen angefüllt war), saß neben einem Fenster über einen Tisch gebeugt und ging seiner Lieblingsbeschäftigung - dem Malen - nach. Es benutzte dazu ein Kohlestück - einen >Malstab<, wie das Kind es bezeichnete - mit dem
es direkt auf den Tisch malte, wobei es sagenhafte Abbilder von Dingen schuf, die niemand in Waterworld je zuvor gesehen hatte, mit Ausnahme der wenigen Leute, die einen Blick auf jene kostbaren Manuskripte namens Zeitschriften hatten werfen dürfen - und die einzigen Zeitschriften, die dieses Kind kannte, waren die Handvoll Magazine in Gregors eigener, dürftig ausgestatteter Bibliothek. Doch Gregor erkannte eine Vielzahl der Abbildungen - er hatte sie in Zeitschriften von anderen gesehen und wußte, daß jene sagenhaften Bilder, egal wie kindlich die Kritzeleien des Mädchens auf Unwissende wirken mochten, flüchtige Eindrücke aus dem Leben auf dem Lande waren ... ... Pflanzen und Wasserfalle und Vögel und Vieh ... Konnte all dies einzig der Phantasie des Kindes entsprungen sein? Als er über den gewundenen Holzsteg nach unten ging, knarzten nun die Holzleisten oder seine Knochen, oder etwa beide zusammen? -, fragte er sich, ob jene Dinge, die es sah, Visionen waren, und waren es in diesem Fall dann Visionen aus der Vergangenheit, der Zukunft... oder irgendeiner greifbaren Gegenwart, die direkt hinter dem Horizont lag? Als er sich dem kritzelnden Kind näherte, wußte Gregor die Antwort: Dies war kein Kind, das seine Träume wiedergab. Die Kohleskizzen zeigten Dinge,
die dieses Mädchen gesehen hatte... ebenso wie es jetzt einer unfertigen Zeichnung von einem Mann in einem hängenden Käfig noch ein paar letzte Striche hinzufügte. Ohne es zu wissen, diente der Fremde, der >Muto<, dessen Fall Helen gerade bei der Ratssitzung des Atolls vertrat, der jungen Künstlerin durch das Fenster neben ihrem Tisch als Modell. Gregor streichelte über das Haar des Kindes, und das Mädchen blickte mit großen Augen zu ihm auf, Augen von einem tiefen, dunklen Blau, mit dem es nur der Ozean an seiner gefährlichsten und tiefsten Stelle aufnehmen konnte. Der alte Mann tätschelte ihre Schulter. »Sehr hübsch, Kind, sehr hübsch... du hast unseren Fischmann gemalt, und so gut!« »Danke.« Sie wandte sich wieder ihrer Zeichnung zu. »Ich will dich nicht stören, Kind«, sagte er, strich ihr langes Haar zur Seite und zog ihre Tunika nur ein kleines Stück von ihrer Schulter, um die Markierungen direkt unterhalb ihres Nackens ein weiteres Mal zu betrachten. Der Pfad, den er gerade im Himmel nachgezogen hatte - drei Sterne, die, miteinander verbunden, an einem erwachenden Horizont eine gerade Linie bildeten zum ... durfte er es wagen, auch nur daran zu denken? ... >Festland?< -, verfolgte er jetzt anhand der Punkte ihrer Tätowierung.
Doch was in seinen Gedanken zusammengepaßt hatte, versagte in der Praxis. Er seufzte und starrte kopfschüttelnd auf die Tätowierung. War es eine Karte? Ein Kalender? Oder etwas, an das sein ungenügender Intellekt noch gar nicht gedacht hatte! Er zupfte die Tunika wieder zurecht, glättete ihr Haar und fragte sanft: »Du würdest es mir doch sagen, Kind, wenn du seine Bedeutung kennen würdest? Oder nicht, Enola?« »Natürlich«, antwortete sie. Im Augenblick zeichnete sie ein Urtier, das Gregor anhand der Bilder in den Zeitschriftensammlungen der anderen wiedererkannte; solche Tiere liefen auf vier Beinen und ihre Mähnen flatterten im Wind. Diese Tiere hatte man >Pferde< genannt. »Weiß du, was das ist, mein Kind?« Sie zuckte die Achseln. »Nein.« »Erinnerst du dich daran? Oder hat dir jemand gezeigt, wie ein...« »Ich weiß es nicht.« Eine Seitentür öffnete sich, und er wußte, ohne hinsehen zu müssen, daß es sich um Helen handelte. »So früh von der Sitzung zurück?« fragte Gregor. »Ich nehme an, du hast versucht, ihnen Vernunft einzureden, und sie haben nicht zugehört. Komm und sieh dir die neuesten Visionen des verlorenen Kindes an!«
Helen durchquerte den Raum und umrundete den in der Mitte stehenden Metallthron, der eigentlich ein Teil von Gregors neuestem - und grundlegendstem - Projekt war, wie der hinter dem Stuhl aufragende Schornstein vermuten ließ. Der schlanken Frau mangelte es an ihrem üblichen Schwung, und ihre Miene war .besorgt. Als sie das Kind erreichte, streichelte Helen über Enolas langes Haar und erwiderte das strahlende Lächern, das sie ihr schenkte; doch als das Mädchen sich abwandte, verdüsterte sich Helens Lächeln, und ihr Gesicht wurde ängstlich und leichenblaß. Sie flüsterte Gregor zu: »Wir müssen von hier weg.« Er nahm sie sanft am Arm und führte sie weg von dem malenden Kind. »Ich nehme an, die Sitzung ist nicht sehr gut gelaufen.« »Harmlos ausgedrückt«, seufzte sie. »Sie werfen uns hinaus, Gregor.« »Sie würden es nicht wagen, mich vor die Tür zu setzen«, erwiderte Gregor aufgebracht. »Ich würde ihnen so schnell den Saft abstellen ...« »Nicht dich.« Sie flüsterte erneut. »Enola und mich.« »Sie werden euch kein Leid zufügen«, beruhigte er sie. »Sie wissen, daß ich ihnen das Licht abdrehe, wenn sie das tun!« Sie richtete ihren Blick auf den seltsamen Metallthron mit seinem unpassenden Schornstein.
»Wie lange wird es dauern, bis wir wegfahren können?« Er blickte an die Decke, überlegte, rechnete ... »Noch eine Woche«, antwortete er. »Im Idealfall.« »Wir haben keine Woche mehr. Wenn wir Glück haben, bleibt uns noch heute nacht! Du weißt besser als ich, daß wir jederzeit loslegen könnten ...« Sein Achselzucken wirkte extrem ratlos. »Aber, Helen - ich weiß doch noch gar nicht, wohin wir gehen sollen!« Sie blickten beide auf Enola, die dasaß und mit ihrem Kohlestück weitermalte. Trotz all der vollendeten astrologischen Kalkulationen, die Gregor angestellt hatte, blieb das auf ihren Rücken tätowierte Rätsel ungelöst. Helen deutete auf seine Tischbibliothek - die einzige ihrer Art in Oasis: ein People Magazin ohne Umschlag, ein Chilton's Ratgeber für Ford Mustangs, Baujahr 1964-1968 und das Tacoma, Washington, mit seinen gelben Seiten. Er hatte diese Schätze wieder und wieder durchforstet, wobei die bei seiner Großmutter erlernten Lesekenntnisse zur Anwendung kamen. Helen fragte: »Was sagen dir deine Bücher?« »Da steht nichts drin«, antwortete er. »Ich weiß, das Mädchen trägt die Antwort, die wir suchen wenn wir nur das Rätsel auf ihrem Rücken lösen könnten.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur nicht wie ...«
»Vielleicht«, meinte das Kind »weiß er es.« Das Mädchen hatte sich neben den Tisch gestellt und nach vorn gebeugt, um aus dem Fenster zu sehen. Gregor war sich noch nicht einmal bewußt gewesen, daß sie ihrer leise geführten Unterhaltung überhaupt lauschte! Doch da stand sie und deutete ... Auf den Mann ... besser gesagt, den mutierten Mann ... der in seinem vom Mondlicht überfluteten Käfig hing. Im Schatten ihrer hoch aufragenden Zwillingsschwester durchschnitt eine viel kleinere Windmühle mit ihren vier Flügeln die kühle Nachtluft; diese Windmühle befand sich auf Gregors Kappe, und sie versorgte - über ein Kabel, das sich um seinen Ärmel schlang - die Glühspirale der Laterne, die er in der einen Hand vor sich hielt, mit Strom. Er bestieg die Treppen der Plattform, die zu der halbkreisförmigen Metallpromenade führten, und hielt an der Reling inne, an der Stelle, die dem baumelnden Käfig - und dem schweigend in seinem Inneren kauernden Bewohner -.am nächsten lag. Er hob die Laterne, um besser sehen zu können. Der Fremde starrte in die entgegengesetzte Richtung, ohne Gregor auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Der alte Mann fischte eine Lupe aus seinem lockeren, zusammengeflickten Gewand, lehnte sich an die Reling und nahm die Lampe zu Hilfe, um den
Mutanten - und insbesondere dessen Füße - einer eingehenden Musterung zu unterziehen. »Ah, ja«, sagte Gregor, nicht zu dem Fremden, sondern zu sich selbst. »Oh, meine Güte, ja! Sie haben tatsächlich Schwimmhäute, nicht wahr? Sieben, acht, neun, zehn ... alle zehn Stück. Ist das nicht wunderbar ...« Nun bedachte der Fremde den alten Erfinder mit einem düsteren Blick, wobei letzterer Lampe und Lupe verschob, um den Hals der Kreatur näher zu betrachten. »Woll'n mal sehen... isotropische Kiemen. Sind sie aber verkümmert? Nein... nein... sie sind funktionsfähig!« Er strahlte den teilnahmslosen Mutanten an. »Du bist wahrhaftig ein leichtes Beispiel! Ichthyosapiens! Du kannst im Wasser atmen...« Doch der Ichthyosapiens antwortete nicht; es hätte sich bei ihm ebenso gut um eine aus Stein gehauene Statue handeln können. Möglicherweise hatte Gregor, indem er in der dritten Person über ihn sprach, zu abweisend, zu kalt, zu unpersönlich gewirkt... »Ich weiß, daß du sprechen kannst«, meinte Gregor, gar nicht unfreundlich. »Helen hat es mir gesagt. Bitte versuche zu verstehen. Ich bin nur hier, um dir zu helfen.« Der Ichthyosapiens schien plötzlich etwas sagen zu wollen! Und dann spuckte er Gregor ins Gesicht.
Seufzend wischte der alte Mann den Speichel mit einem Ärmel ab. »Du magst Menschen wohl nicht sehr, oder? Kann nicht sagen, daß ich dir das übelnehme. Sind denn alle Angehörigen deiner Rasse so schlecht gelaunt?« »Es gibt keine anderen«, erwiderte der Ichthyosapiens ausdruckslos. »Oh, heilige Angelrute«, sagte Gregor so alltäglich, als wäre diese Unterhaltung schon die ganze Zeit über von beiden Parteien geführt worden. »Es wäre ein schwerer Schlag für mich, wenn es keine anderen gäbe ...« Das ließ den Mutanten aufhorchen. Hatte er nie andere Angehörige, seiner Rasse gefunden? Hatte er nach ihnen gesucht, während Gregor und Helen davon träumten, >Festland< zu finden? »Wenn es momentan wirklich noch keine anderen gibt, mein Junge«, sagte Gregor, »so wird es sie bald geben, bald ... früher oder später. Gib der Natur ein bißchen Zeit, dich einzuholen.« Der Ichthyosapiens wandte sich ab. »Sei jetzt nicht eingeschnappt. Es ist nicht deine Schuld - nur schlechtes Timing deinerseits, daß du so früh aufgetaucht bist. Wirklich Pech.« Gregor konnte den Blick kaum von den fabelhaften, isotropischen Kiemen lösen. »Eigentlich bin ich gekommen, um dich zu fragen ... diese Erde von dir/woher kommt sie? Doch nicht ganz zufällig aus ... >Festland«
Und der Ichthyosapiens starrte erneut auf den alten Mann; lächelte die Kreatur etwa, wenn auch nur andeutungsweise? »Gibt es denn überhaupt einen Ort wie >Festland« fragte der alte Erfinder, unfähig, die Verzweiflung in seiner Stimme zu unterdrücken. Doch die Kreatur wandte sich nur ein zweites Mal von ihm ab. Gregor steckte die Lupe zurück in eine lasche und fand etwas anderes, ein zusammengefaltetes Blatt Papier - Papier war eine Mangelware -, und die Zeichnung darauf war, obwohl mit Kohle gefertigt, genaugenommen nicht das Werk des Kindes: Gregor hatte sie selbst gemalt, nur wenige Augenblicke bevor er sich mit seiner Windmühlenkappe und der Laterne auf den Weg gemacht hatte ... Es war eine grobe Wiedergabe der Tätowierung auf Enolas Rücken. Nie zuvor hatten er und Helen es gewagt, sie auf Papier zu bringen, doch hier war sie nun ... damit man sie diesem Fischmann zeigen konnte. »Weißt du, was es bedeutet?« fragte Gregor ängstlich. »Kannst du es lesen?« Der Ichthyosapiens warf einen gleichgültigen Blick auf das Papier. »Die Urmenschen haben etwas Schreckliches getan, nicht wahr?« fragte Gregor. »Etwas Schreckliches, das all dieses Wasser verursacht hat... vor Hunderten und Aberhunderten , von Jahren?«
Nach einer Pause, die eine Ewigkeit zu dauern schien, antwortete der Ichthyosapiens: »Wenn ich es dir sage >.. wirst du dann dieses Schloß öffnen?« Gregor legte die Stirn in Falten. »Ich habe aber keinen Schlüssel.« Der Blick des anderen wanderte zu der Windmühlenkappe. »Auf mich wirkst du aber ziemlich erfinderisch ... Dort unten liegt eine Klampe, siehst du sie?« Gregor beugte sich über die Reling; weiter unten konnte er ein Metallteilchen erkennen, es war eine zerbrochene Klampe auf dem Kai. »Das sollte so gut wie ein Schlüssel sein ...« »Wenn ich dich wirklich rauslasse«, flüsterte Gregor. »Kann ich dir dann auch trauen?« »Ich werde niemandem etwas zuleide tun«, sagte er. »Ich werde einfach deine Fragen beantworten ... und gehen.« Kurz darauf lief Gregor die Treppen zu der Werft hinunter, wo er die Klampe ergriff. Er reichte dem Fremden die Hand, und der langte gerade durch seinen Käfig nach unten, als eine Stimme erdröhnte: »Gregor!« Er ließ die Klampe fallen, als wäre sie glühendheiß, wirbelte zu dem Geräusch herum und wurde sofort von einem Lichtstrahl erfaßt: Der Vollstrecker des Atolls, der seinen Suchscheinwerfer, Gregors eigene Erfindung, auf den alten Mann gerichtet hatte, brüllte von seinem Wachturm zu ihm herunter.
»Was hast du dort verloren ...?« »Nichts! Habe mir nur deinen Gefangenen angeschaut!« »Nun, dann geh jetzt ins Haus! Die Sperrstunde beginnt gleich ...« Gregor blickte flehentlich zu dem Ichthyosapiens auf. »Es tut mir leid«, flüsterte der alte Mann. »Ich bin kein - mutiger Mann... wenn du irgend etwas über >Festland< weißt, so flehe ich dich an, sag es mir jetzt. Nimm es nicht mit dir ins Grab!« Der Ichthyosapiens kehrte dem Erfinder den Rücken zu, ließ sich in seinem Käfig nieder und schloß die Augen. Gregor stand noch mehrere lange Augenblicke da, auf der Suche nach den Worten, die diese in ihrem einsamen Käfig baumelnde Kreatur aufzurütteln vermochten. Dann schallte die Alarmglocke über das Wasser und verkündete dem Atoll, daß die Sperrstunde angefangen hatte. Und der alte Mann schleppte sich niedergeschlagen nach Hause, auf dem von seiner Windmühlenkappe beleuchteten Pfad.
Kapitel 8 Die goldenen Strahlen des Sonnenaufgangs waren blutrot angehaucht und schenkten den scharfen Kanten und groben Oberflächen des Atolls, hier erleuchtet, dort im Schatten liegend, eine ungewöhnliche Schönheit. Der Mann, der diese wundervolle, gezackte Landschaft betrachtete, tat das über einen gehörigen Abstand hinweg, durch die Doppelgläser eines uralten Gerätes namens Fernglas. Er war ein eindrucksvoll aussehender Mann, sein Schädel besaß nicht nur die Form eines hartgekochten Eis, sondern auch ebenso viele Haare wie ein solches, und seine Haut war rotbraun verbrannt wie ein allmählich runzlig werdender Apfel. Trotz seiner eher unscheinbaren Körpergröße war er eine stattliche Erscheinung und hatte auch genügend Muskeln, wenngleich viele seiner Männer zwar mit mehr Muskelmasse aber erfreulicherweise mit weniger Gehirnmasse ausgestattet waren.
Sein arg zerfleddertes Gewand erschien nichtsdestotrotz undefinierbar formell, ja sogar militärisch. Die Epauletten an den breiten Schultern des antiken Kleidungsstückes - ein >Sportsakko< mit Revers - waren schon vor langer Zeit in der Schlacht zerfetzt worden und nur noch andeutungsweise zu erkennen. Tatsächlich wurde sein Tarnanzug nur lose von Kettengliedern, einem lockerem Faden und herabbaumelndem Stricken zusammengehalten, was ihm das Aussehen eines in Seegras gewandeten Kriegers verlieh. Aber möglicherweise wirkte er auch wie ein Mann, der sich allmählich auflöste. Substanzlos. Sein Lächeln war weiß und blendend, seine Augen hell und wahnsinnig. Er stand auf dem Deck der Tankerbarkasse seiner Flotte und musterte das Atoll Oasis, dessen zerklüftete Konturen sich vor dem Horizont abzeichneten. »Zeit fürs Frühstück, Jungs«, wandte er sich an die barbarischen Smoker, die ihn umstanden und jedem seiner wahnsinnigen Worte hingerissen lauschten. Sein Name war Diakonus. Er hielt sich für einen Kriegsfürsten, was nur allzu passend war, denn falls es so jemanden in Waterworld geben sollte, dann war es der Diakonus. Um seinen Hals hing ein Kreuz an einem Lederband. Seine genaue Bedeutung lag im Nebel der Vergangenheit verborgen. Er wußte jedoch, daß es
sich um ein religiöses Artefakt aus den alten Tagen handelte, und das genügte ihm. Denn der Diakonus predigte von dem Tag, an dem die Menschen wieder auf dem Land gehen konnten, so wie es für sie bestimmt war. >Festand< war kein Mythos: es befand sich dort draußen. Er würde es finden. Und wenn er dazu jedes Lebewesen in Waterworld töten mußte. Leise Schritte, wie das Fallen kleiner Kieselsteine, ließen sie erwachen. Helens Augen öffneten sich langsam. Sie strich mit der Hand über den Platz neben sich. Das Mädchen war verschwunden. Ihr Herz verkrampfte sich sofort vor Angst, und sie sprang aus dem Bett, da ihr die drohenden Worte der Ältesten und Atoller noch in den Ohren hallten. »Enola!« rief sie. »Eno ...« Doch dort stand das Kind, vor einem Fenster. Die Wände um sie herum - all die Wände ihres Wohnbereiches hinter dem Tavernenteil der Handelsbarkasse - waren mit Kohlezeichnungen übersät, die der Phantasie des Kindes... oder seiner Erinnerung entsprangen. Gregor hatte sie für Helen identifiziert, und sie die lesen konnte und im Laufe ihres Lebens einige Bücher und Zeitschriften gesehen hatte - erkannte selbst einige der Bilder: Bäume,Hütten,Berge,Blumen ...
Helen ging ans Fenster und legte behutsam ihre Hand auf die Schulter des Mädchens. Normalerweise hätte das Kind ihr ein Lächeln geschenkt; doch heute war ihr bezauberndes, kleines Gesicht ein Bild des Jammers. »Was werden sie mit ihm machen?« fragte sie. Vor dem Fenster konnten sie beide die Prozession der Ältesten sehen, die, selbstverständlich mit Priam an der Spitze und gefolgt von den Atollern, langsam heranmarschierten. Sie näherten sich der auf Pfählen stehenden Plattform, wo sich der Fremde an den Gitterstäben seines baumelnden Käfigs festkrallte und trotzig auf sie herabstarrte. »Du solltest nicht dabei zusehen«, sagte Helen und zog sanft am Arm des Mädchens. Doch das Kind rührte sich nicht vom Fleck. »Sie werden ihn begraben, nicht wahr?« »Schau nicht hin.« Sie legte behutsam die Hand über die Augen des Mädchens. Das Mädchen griff mit überraschend starken Fingern nach Helens Gelenk und zog ihre Hand fort. »Nicht hinsehen macht es nicht ungeschehen«, erwiderte Enola. Dann wandte sie langsam ihre dunkelblauen Augen von der Szene ab und richtete sie auf Helens Gesicht. »Wir sollten ihm helfen«, sagte das Kind. Der Seemann sah sich dem Tribunal gegenüber, das sich entlang der halbkreisförmigen Promenade der Plattform aufgestellt hatte. Eine leichte Brise kräuselte ihre Seegrasgewänder. Derjenige, den sie
Priam nannten, hob beide Hände in einer Art segnender Geste. Nur, daß es sich dabei um etwas ganz anderes handelte. »Nach eingehender Untersuchung der Indizien«, begann Priam, »sind wir zu einem Entschluß gekommen ...« »Nett von euch, daß ihr mich den Ausgang meiner Verhandlung wissen laßt«, sagte der Seemann. »Tut mir leid, daß ich nicht kommen konnte.« Ohne den Gefangenen zu beachten, hob Priam den Kopf. »Dieser ... >Muto< ... stellt tatsächlich eine Bedrohung für Oasis und auch für Waterworld selbst dar. Deshalb und im Interesse der öffentlichen Sicherheit und des Gemeinwohls wird er hiermit zur Wiederaufbereitung verurteilt...« Zustimmendes Gemurmel aus der Menge. »Verfahren Sie«, sagte Priam, »nach der herkömmlichen Methode...« Ein Atollbewohner in einem uniformartigen Gewand, das dem der Wachposten ähnelte, betätigte einen Flaschenzug. Der Seemann hörte das Knirschen des Getriebes und spürte, wie sich sein Ein-Mann-Gefängnis schaukelnd in Bewegung setzte. Der Balken, an dem er hing, schwenkte nach außen auf die Organo-Barkasse zu. Und kam über der Organo-Barkasse zum Stehen.
»Knochen zu Beeren, Venen zu Winden«, rezitierte Priam. »Diese Sehnen zu Bäumen, dieses Blut zu Sole ...« Nun wurde er herabgelassen. Sie ließen ihn mitsamt seinem Käfig hineinfallen in dieses faulige Kompostgemisch, das sie ihr eigen nannten; direkt hinein in diesen verdammten Glibber.... »Er war zu seltsam für dieses Leben«, sagte Priam. »Dieser >Muto< verläßt uns nun ...« Der Schleim drang durch die eisernen Gitterstäbe des Käfigbodens; er begann an der Seite des Käfigs hochzuklettern, doch es war einfach nicht genug Platz da, um irgendwohin gelangen zu können. »Wiederaufbereitet und verwahrt ...« fuhr Priam fort. Sein einziger Hoffnungsschimmer lag in der Gemächlichkeit, mit der sich das ganze vollzog ... zumindest versank er nur langsam. Das Zeug war ebenso dickflüssig wie faulig, und der Vorgang würde wohl noch eine Weile dauern. Obwohl es wahrscheinlich ganz und gar nicht lange dauern würde, bis er erstickt wäre ... »In der Anwesenheit«, rezitierte der Hohe Älteste feierlich, »Dessen, Der Uns Führt ...« Falls es eine derartige Person oder Wesenheit geben sollte, dachte der Mariner, als der kalte, braune Schlamm durch den Käfigboden drang, dann wäre jetzt ein guter Zeitpunkt für ihr Erscheinen.
In einem Wachturm machte ein Wachposten mit einem Fernglas das, was Wachposten üblicherweise tun: Er hielt Ausschau. In ganz Oasis gab es keinen langweiligeren Job, keine Aufgabe, die eintöniger war als das Beobachten dieses endlosen, unveränderlichen Meeres. Tagelang konnte man seine Augen über das Wasser schweifen lassen und nur ... Meer sehen. Es kam derart selten vor, daß etwas am Horizont auftauchte, daß ... Doch in diesem Moment zeigte sich etwas, das man zuerst nicht hatte sehen können, weil es direkt in der Sonne lag: himmelwärts aufsteigende Rauchsäulen, die aus dem Wasser zu kommen schienen. Rauch. »Smoker!« schrie der Wachposten. Der Schleim reichte ihm bereits bis zu den Knöcheln, und der Seemann - der mit den Gedanken ganz woanders war - konnte mit dem, was der Wachposten schrie, rein gar nichts anfangen. Ganz im Gegensatz zu allen anderen auf Oasis. Der Atoller, der den Hebel des Haschenzugs betätigt hatte, hielt mitten in der Bewegung inne und alle - einschließlich der normalerweise würdevoll einherschreitenden Ältesten - stoben in verschiedene Richtungen davon, wie die Scherben eines zerbrochenen Glases. Das Problem Seemann war augenblicklich in Vergessenheit geraten. Vergessen von allen, außer der Organo-Masse selbst, die den Käfig und seinen Bewohner langsam
und unausweichlich, tief in ihren schleimigen Friedhofsschlund saugte. Draußen auf dem Ozean näherte sich die Smokerflotte des Diakonus der treibenden Stadt. Sie flogen und preschten über die Meeresoberfläche, als wäre Wasser nur eine lästige Begleiterscheinung für entschlossene Männer mit Motoren. Ein umherstreifendes Wasserflugzeug, das Spähflugzeug der Armada, führte die Hovercrafts, Sumpfgleiter, Rennboote und Jetskis an. Einige der letzteren trugen jeweils einen Smoker, auf anderen, größeren Jetskis saßen zwei Scheusale, von denen manche auf dem Bug befestigte Maschinengewehre und Kettensägen besaßen. Die größeren der Rennboote hatten Platz für vier bis sechs Smoker, wobei der Schütze manchmal rittlings auf einer winkelförmigen Sturmleiter hockte und längsseits weitere Waffenträger hingen, als wären sie geradezu begierig darauf, in die Schlacht tauchen zu können. In den Armen hielten sie ihre plump wirkenden, doch tödlichen Geschosse, bei denen es sich um zusammengelötete oder geklebte Teilstücke dieser oder jener alten Schußwaffe handelte, was ihnen allen ein anderes Aussehen verlieh, obschon ihr Ziel das gleiche war. Als die verschieden großen Fahrzeuge, Dieselgestank ausstoßend, auf das Atoll zusteuerten und ihre Motoren die Welt mit einem ohrenbetäubend lauten, donnernden Brüllen zerrissen, durchpflügten sie einen tiefblauen Ozean,
der beinahe weiß wirkte, weil sie die Sonne im Rücken hatten. Was sie wie eine schreckliche Vision, eine alptraumhafte Halluzination aussehen ließ. Doch waren sie, wie auch Öasis selbst, nur allzu wirklich. Innerhalb der treibenden Stadt bezogen die Einwohner ihre jeweiligen Kampfstellungen; die Wasserwerfer der Festung wurden fast augenblicklich bemannt. Andernorts wurden Sturmrolläden herabgelassen, Löscheimer verteilt, und Netze mit lebenden Warfen eingeholt: Es handelte sich um riesige Feuerquallen. Unten in der Waffenkammer wurde ein so oft während des Exerzierens eingeübter Vorgang zur düsteren Wirklichkeit, als die Männer, Frauen und Kinder Waffen von Regalen und Ständern zerrten und zogen - Bogen und Pfeile in Köchern, Klingen, Speerwaffen, Keulen, Lanzen... keine Gewehre, keine Pistolen, obwohl sie alle wußten, daß sie den Feuerwaffen des schlimmsten aller Feinde gegenübertreten mußten. Ein verzweifelter Junge mit rußbeschmiertem Gesicht stieß gegen Helen, als sie und Enola, mit Pfeil und Bogen und Armbrust bestückt, das Waffenarsenal hastig verließen. »Ich... ich kann meinen Papi nicht finden!« heulte der Junge. »Er ist wahrscheinlich auf seinem Posten.« Helen warf dem Knaben die Armbrust zu; es gab für ihn
keinen besseren' Zeitpunkt, um zum Mann zu werden. »Und jetzt geh auf die Mauer und kämpfe!« Ein entsetzter Schrei von einem der Wachtürme übertönte das Getöse der eindringenden Dieselmotoren und des Geschützfeuers. »Berserker!« Ein Frostern durchlief Helen, als sie in das Arsenal zurückkehrte, um sich eine neue Waffe zu holen: Sie fand eine Speerwaffe und einen Köcher mit der dazugehörigen Munition und folgte Enola, die mit ihrem Pfeil und Bogen den Aufgang zu einer Mauer hocheilte, um diese zu verteidigen. Berserker, dachte Helen, und hastete auf ihren Posten. Die schrecklichen Geschichten über diese hirnkranken, halbmenschlichen Smoker hatten so unwahrscheinlich geklungen. Legenden. Flunkerei. Doch da waren sie, draußen auf dem gleißenden Wasser, riesige, fast nackte Wilde auf Wasserskis, die auf Abschußrampen kletterten, um sich in die Luft zu katapultieren und herüberzuschleudern; Einfaltspinsel, die blindlings über die Mauern des Atolls sausten, in dessen Inneren sie dann irgendwo - landeten. Es erschien ihr wie ein Traum, als sie sich duckte, um einer menschlichen Rakete auszuweichen, die über ihren Kopf hinwegschoß und auf dem Dach des Waffenarsenals aufklatsche. Sie drehte sich um und sah den Berserker mit ausgebreiteten Armen und gegrätschten Beinen in einem rötlichen Fleck liegen - tot durch Aufprall. Andere Berserker trafen auf
Fußwegen und Mauern auf, und drangen - wenn sie überlebten - sofort in die Festung ein, zu der Oasis geworden war. Jene Berserker, die sich nicht herüberschleuderten, landeten mehr oder weniger sicher, platschend in der Lagune. Wenn sie nicht zuerst von einem Pfeil oder einer Lanze getroffen wurden, entledigten sich diese Berserker ihrer Skier, schwammen an die Küste, die von der Kaimauer gebildet wurde, und nahmen an dem allgemeinen Handgemenge teil, das überall dort auf dem Atoll ausbrach, wo Atollbewohner gegen Berserker kämpften, die ihre Kamikaze-Landungen überlebt hatten. Helen feuerte ihre Speerwaffe mit tödlicher Akkuratesse auf andere Berserker ab und verwandelte deren erhabenen Auftritt in einen Abgang ... Der Käfig hatte zu sinken aufgehört. Das war die gute Nachricht. Als ihm die ekelerregende Masse gerade über die Knöchel reichte, hatte der Käfig angehalten. Die schlechte Nachricht war, daß überall um ihn herum eine blutige Schlacht wütete, und daß der Seemann weder sich selbst noch sonst jemanden schützen konnte, obgleich die Ideallösung hierbei wohl wäre, wenn beide Seiten, die abergläubischen Atollbewohner und die barbarischen Smoker, sich gegenseitig abmurksten. Doch selbst das würde ihn nicht aus diesem verdammten Käfig befreien...
Dort, wo er sich befand, stellte er eine unbewegliche Zielscheibe dar, und es war nur eine Frage der Zeit, bis ... Ein Smoker stand mit einem ebenso gelben wie idiotischen Grinsen vor ihm und hatte eine Handfeuerwaffe auf ihn gerichtet - ein grotesk aussehendes Geschoß, das von wer-weiß-wie-vielen Pistoleneltern gezeugt war; da der Bastard vor Nässe tropfte, handelte es sich wahrscheinlich um einen Berserker. Na ja, dachte der Seemann, ich hab's ja nicht weit bis zum Friedhof... Er hätte es jedoch vorgezogen, dort draußen zu sterben, auf seinem Trimaran, oder noch besser im Wasser, wo er wirklich hingehörte. Der Berserker erschauerte, sein gesamter Körper wurde von einem Beben ergriffen, und seine Augen weiteten sich, bis sie aus den Höhlen traten. Er kippte vornüber auf den Gehweg. In seinem Rücken steckte ein Speer. Durch den Tumult der Schlacht hatte der Seemann den dumpfen Aufprall des Speers nicht hören können. Als der Berserker fiel, kam einige Meter hinter ihm eine weitere brutale Gestalt zum Vorschein, bei der es sich jedoch nicht um einen Smoker handelte: Es war der Vollstrecker des Atolls. Der Mann betrachtete den Seemann, der ihm einen kaum wahrnehmbaren Dank zunickte und dann zu brüllen anfing: »Laß mich hier raus! Ich kann kämpfen!«
Doch der Vollstrecker ging einfach weiter. »Höllenkrabben!« schrie der Seemann. »Laß mich ...« Die nächsten Worte blieben ihm im Halse stecken, als ein kreischender Berserker auf Skiern über die Mauer flog und eine Bruchlandung auf dem Käfig des Seemanns machte. Der Aufprall tötete den Wilden auf der Stelle, verursachte aber auch noch etwas anderes ... Er traf in einem Winkel auf den Käfig, wodurch dieser tiefer in die Organogrube gedrückt wurde ... und auf einmal wieder zu sinken begann ... Der Schlamm stieg derart schnell bis zu seiner Taille hoch, daß er es fast nicht mitbekam. Der Seemann langte mit der Hand nach oben durch die Gitterstäbe, tastete herum und zog ein Messer aus dem Gürtel des toten Berserkers. Er begann, das Vorhängeschloß damit zu bearbeiten und zu attackieren, bevor es ebenfalls von diesem organischen Schleim verschlungen wurde. Helen und das Kind blieben auf ihrem Posten; ohne zu zögern, töteten die beiden Frauen die Wilden auf Skiern, die über die Atollmauern sausten. Die Gegenwehr der Atoller zeigte ihre Wirkung: Wasserwerfer rissen die Jetskifahrer aus ihren Sitzen, lebende Quallen wurden über den einstürmenden Smokern abgeworfen, weiter unten löschten Brigaden mit Eimern die auflodernden Flammen, und wenn zwei oder mehr Atoller dazu nötig waren, um einen Berserker zu töten, dann war
das auch kein Problem. Schließlich befanden sie sich im Kriegszustand. Ein Sperrfeuer von hinten fraß sich durch die Mauer neben ihr, riß die dort kämpfenden Atollbewohner in Stücke und schleuderte sie wie blutbespritzte Stoffpuppen auf den Gehweg. Helen wirbelte herum, stellte sich mit dem Rücken zu Enola, um das Kind abzuschirmen, und sah vor sich auf dem Laufsteg einen tropfnassen Berserker mit einer zusammengeklebten Feuerwaffe stehen, die man nur mit zwei Händen betätigen konnte. Doch nach dieser eindrucksvollen Explosion, einer Explosion, die ein halbes Dutzend Atollbewohner in den Tod geschickt hatte, blieb die häßliche Waffe in den Händen des Berserkers stumm; er betrachtete sie blöde, holte sich irgendwo einen Ladestock und versuchte die verstopfte Waffe zu reinigen. Helen waren die Speere ausgegangen, doch der tote Atoller neben ihr würde seine Lanze bestimmt nicht mehr brauchen. Sie griff danach und raste schnurstracks auf den Berserker zu. Kurz bevor sie ihn erreichte, gab der Berserker es auf, seine Waffe wieder in Gang zu bringen, und versuchte, sie damit niederzuschlagen; doch er war schon bald nicht mehr mit ganzem Herzen bei der Sache - denn Helens Speer stak schon in seiner Brust.
»Helen!« übertönte Gregors Stimme den Motorenlärm, das Geschützfeuer, die Schreie und Rufe. »Helen!« Der alte Mann winkte ihr von einem Fenster seiner Werkstatt aus zu. »Es ist soweit!« rief er. »Es ist soweit!« »Du alter Narr«, murmelte sie. »Wenn du ohne uns gehst...« Sie zerrte an Enolas Hand, doch das Kind schaltete zunächst einmal auf stur, da es einen >Malstab< aufheben wollte, den es fallengelassen hatte, und dann rannten sie los, wobei sie Körpern ausweichen und das allgemeine Scharmützel umrunden mußten, auf dem Weg zu den Windmühlen, die nur wenige Schritte - und ein ganzes Leben - entfernt lagen... Der Seemann steckte bis zum Hals in Kot und Glibber, doch er hatte die Messerklinge im Schloß; sie befand sich zwar unter der Schlammoberfläche, aber er arbeitete dennoch weiter daran. Wenn er doch nur ... Und dann brach die Klinge entzwei.
Kapitel 9 Am Rande der Schlacht, auf dem Deck der mit Ölfässern übersäten Tankbarkasse, lehnte der Diakonus auf seinem Amtsstab - einem Golfschläger, einem Fünfereisen - und inhalierte den Rauch seines filterlosen Rauchstäbchens. Auf der >Deez<, dem Mutterschiff, hatte er noch viele Stangen der prähistorischen Stengel in seinem mit Diebesgut angefüllten Lager - Camels, Marlboros, Chesterfields; sie alle waren, dank ihrer festen, knisternden Plastikverpackung, noch frisch genug, daß man sie rauchen konnte. Die Urmenschen waren sehr klug gewesen. Wenn er nicht gerade den Qualm seines Räucherstäbchens inhalierte, sog er die duftenden Dämpfe der Zerstörung in seine Lungen, während seine Smoker und diese reizenden, hingebungsvollen Jungs namens Berserker - seine Befehle ausführten. Jetskis und kleine Angriffsboote sausten zum Treibstofflager am Bug der Tankerbarkasse zurück.
Einige seiner Smoker besaßen keine Jetskis und waren mit einem Selbstantrieb ausgestattet worden, den sie in Form von Gummiblasen mit Treibstoff auf dem Rücken trugen. Den naiven Kerlen war nicht bewußt, daß sie menschliche Bomben darstellten. Aber welcher Smoker genoß es nicht, im Ruhmesglanz sein Leben auszuhauchen? Und doch bekam es der Diakonus trotz des hübschen rauchgeschwärzten Himmels allmählich satt, wie dieses Spiel verlief. Offengesagt verärgerte es ihn, daß die Zahl seiner Verluste gegenüber der jener primitiven Atoller, die offensichtlich überhaupt keine Feuerkraft besaßen, so hoch war. Pfeile und Bogen, Speere und Lanzen. Wie peinlich, wenn das, was ein wilder Überfall hatte sein sollen, in eine offene Feldschlacht verwandelt wurde. Er holte versuchsweise mit dem Golfschläger aus, zielte mit einem imaginären Golfball auf Oasis und winkte dann einen Fahnenjungen heran. »Gib denen in der Stadt ein Zeichen«, sagte er. Der Junge nickte, lief an den Rand des Decks und begann, mit den Signalflaggen zu wedeln, um dem Lieblingsspielzeug des Diakonus eine Nachricht zu übermitteln. Das Höllenfeuer-Kanonenboot war eine Barkasse, auf welcher der Diakonus die Überreste eines antiken Gefährtes namens >Laster< - mit dem Wort >Mac< auf dem Bug - befestigt hatte, und auf der ebenen Ladefläche des Lasters befand sich eine gar
wundervolle Waffe, die mit dem besten Schützen des Diakonus bemannt war. Dieser todbringende, mechanische Dämon hatte dem HöllenfeuerKanonenboot seinen Namen eingebracht: Die gigantische Maschinenpistole besaß eine Vielzahl von rotierenden Läufen, die, während sie sich um die eigene Achse drehten, ohne Unterlaß 20-mmMunition abfeuerten. Das Resultat war, einfach gesagt, ein Höllenfeuer. Als der Fahrer des Kanonenbootes - der im Führerhaus des Lasters saß - das Signal des Flaggenjungen empfing, schloß er das Triebwerk des Fahrzeugs kurz, woraufhin sich die Kolben in Bewegung setzten und die riesenhafte Waffe mit Patronen gefüttert wurde. Dem Diakonus auf der Tankerbarkasse klang es wie Musik in den Ohren, als das Kanonenboot sein Höllenfeuer auf das Atoll eröffnete. Sein Lächeln kräuselte sich zu einem perfekten Halbkreis um seinen kerzengeraden Qualmstengel, währenddessen er zusah, wie die Stahlgeschosse das obere Ende der kostbaren Zentralwindmühle kappten. »Ja!« schrie der Diakonus. »Getroffen! Und auch noch einen Wasseraufbereiter ...« Die zerlumpten Smokersoldaten in seiner Nähe nickten verständnisvoll, als könnten sie sich einen Reim auf diese Aussage machen; sie hatten schon vor langem gelernt, daß es klüger war, jedem Wort und jeder Laune des Diakonus bedingungslos zuzustimmen.
Der Diakonus gackerte vor Vergnügen, als die Geschosse durch Mauern fetzten, die Befestigungen der Stadt in Stücke rissen und die Atoller, die jene zerstörten Befestigungen verteidigten, wie aus der Luft geschossene Tontauben ins Meer purzelten. Das Dröhnen des Lkw-Motors, hochgejagt von dem Fahrer des Kanonenbootes, röhrte über das Wasser an die entzückten Ohren des Diakonus, als die Munition schneller und schneller nachgeladen wurde, und die Höllenfeuerwaffe mit Höchstgeschwindigkeit ihre jaulenden, überall Verwüstung anrichtenden Geschosse ausspie. Ein Teil der Atollmauer löste sich - pulverisiert vor den verzückten Augen des Diakonus auf. Nun, das war schon besser. Er amüsierte sich wieder, sein Verdruß wich einem Hochgefühl. Er vollführte einen weiteren Übungsschlag mit dem Fünfereisen und ein weiteres Stück der Atollmauer verwandelte sich unter dem Höllenfeuer in Staub. Wenn sich nun auch noch herausstellte, daß sich die Belohnung, auf die er aus war, innerhalb dieser zerfallenden Atollmauern befand, dann wäre er wieder im Spiel... War Gregor überhaupt noch am Leben? Helen und Enola hatten mit Entsetzen beobachtet, wie das obere Ende der Windmühle unter einem Kugelhagel explodierte und das Dach verschwand, als wäre es nie dagewesen. Sie waren eiligst in Deckung gegangen, als die brennenden Überreste
auf den Boden herabprasselten. Konnte Gregor dieses Desaster überlebt haben? Hoffnung und Furcht kämpften darum, die Kontrolle zu übernehmen, als Helen - mit hämmerndem Herzen, das ihr die Brust zu sprengen drohte - Enolas Hand ergriff und sich mit ihr entlang der Kaimauer an dem Handgemenge und den überall verstreuten Leichen der Atoller und Smoker vorbeischlängelte, bis sie die Windmühle erreicht hatten. Zumindest hatte das Gebäude kein Feuer gefangen, obwohl über der unregelmäßigen Öffnung, dort wo das Dach gewesen war, gekräuselte Fragezeichen aus Rauch emporstiegen. Wären sie nur wenige Augenblicke früher angekommen, würden sie ihn in seiner Werkstatt angetroffen haben, wo die Sonne auf ihn herabstrahlte, während er in fliegender Hast seine kostbaren Bücher, Zeitschriften und Karten in den Stauraum unter dem thronartigen Stuhl mit den beiden Seitensitzen für Helen und Enola stopfte. Er hatte den Steuermechanismus bereits angebracht und den Propeller an dem unausgereiften Motor mit seinem Schornstein befestigt, der sich auf der Rückseite der zusammengebundenen Stühle befand. Doch als sie die Windmühlenwerkstatt betraten, übermittelte das tuckernde Geräusch des Motors Helen eine furchtbare Wahrheit: sie kamen zu spät. Gregor ging ohne sie fort. Sie blickte nach oben und sah ihn wie eine Erscheinung aufsteigen. Der gesteppte, mit heißer
Luft gefüllte Beutel, seine Erfindung - laut Gregor handelte es sich um ein kleines >Luftschiff<, einen lenkbaren Ballon -, befand sich bereits zwei Meter über dem Boden. »Gregor - warte!« »Ich habe so lange gewartet, wie ich konnte!« rief der alte Mann mit bekümmerter Stimme. Er hatte eine Hand auf dem Steuergerät, doch die andere streckte er ihnen nun entgegen. »Eine Explosion hat den Anker gelöst!« »Gregor!« schrie Helen. »Nein!« »Ihr könnt es immer noch schaffen!« rief der alte Mann. Doch er war bereits zu weit oben - mindestens zwei Meter fünfzig. »Bitte geh nicht weg!« rief Enola. Helen sprang, versuchte seine Hand zu erreichen. Enola tat es ihr gleich. Helens Hand streifte Gregors zupackende Finger. Jedoch nur für einen Augenblick... Sie rannten den gewundenen Aufgang hoch, versuchten ihn einzuholen. Zwecklos. Zwecklos. »Vergebt mir!« rief er. »Vergebt mir ...« Dann sahen sie zu ihm auf, und der verzweifelte Gregor sah hinunter, während das Luftschiff durch das zerstörte Dach himmelwärts schwebte. Es nahm die Hoffnung mit sich. Ließ die Furcht zurück.
Der Diakonus war der erste, der den zigarrenförmigen, fliegenden Ballon entdeckte. »Was ist denn das für ein Ding? Schießt es ab!« Er versetzte dem Flaggenjungen eine Kopfnuß. »Gib ihnen das Signal! Heute noch, du Trottel!« Der Flaggenjunge wedelte dem Kanonenbootfahrer mit seinen Fahnen das Signal zu, und kurz darauf hatte der Schütze seine riesenhafte Waffe herumgeschwenkt. Mächtige Arme richteten sich nach oben und nahmen das Ziel ins Visier; der Abzug wurde gedrückt, als es genau in der Schußlinie lag... ...in die ein springender Smoker auf Skiern geriet. Sein Blasenrucksack mit Treibstoff detonierte in einem Feuerball, der wie eine explodierende Sonne wirkte und eine derart große Qualmwolke hinterließ, daß sie den seltsamen, flüchtenden Zeppelin und die Rauchspur seines Antriebsmotors verbarg. Als sich die Wolke verflüchtigte, befand sich die Ballonapparatur schon längst außer Reichweite und war bald nur noch ein Punkt am entfernten Firmament. »Ich nehme nicht an, daß dieser Smoker zufällig überlebt hat«, meinte der Diakonus. »Nein, Sir«, erwiderte der Flaggenjunge. »Wolltest du ihm eine Tapferkeitsmedaille verleihen?« »Nein.« Der Diakonus zündete sich noch ein Rauchstäbchen an. »Ich wollte ihm etwas in den
Hals stopfen, nachdem ich ihm den Kopf abgerissen hätte.« Der Smoker, den das Höllenfeuergeschoß anstelle des Luftschiffs erwischt hatte, überlebte nicht. Sein flammender, schwarzer Körper knallte wie ein Meteor auf die Organo-Barkasse und setzte ihren Zentralbaum in Brand. Helen hatte die feurige Landung des verstorbenen Smokers durch ein Fenster des Windmühlenturms mit angesehen, doch in ihrem Kopf wirbelte alles wild durcheinander, und sie kam erst dann wieder zu sich, als Enola auf den Fremden in seinem Käfig deutete, der schon fast im Glibber versunken war... Gregor war verschwunden und mit ihm die Hoffnung, >Festland< zu finden und zu erreichen. Es gab aber noch jemanden, der von >Festland< wußte, und dieser jemand wäre vielleicht sogar in der Lage, sie und das Kind von diesem Oft wegzubringen, fort von diesem brennenden Chaos, und einem Oasis, dessen unvermeidbarer Tod durch den Angriff der Smoker nur beschleunigt wurde. Helen ergriff Enolas Hand. »Wir sind noch nicht am Ende«, meinte sie trotzig. Das mußte sie sich selbst ebenso wie dem Mädchen sagen. Dann liefen sie aus der Windmühle. Der Tod, ein faulig riechender, klebriger Tod sickerte durch sämtliche Ritzen zu ihm herein. Es war ihm stets bewußt gewesen, daß er möglicherweise eines gewaltsamen Todes sterben
würde; so war es eben in Waterworld. Aber ein Mensch - oder was immer er auch sein mochte -, der mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen und Kiemen ausgestattet war, rechnete eigentlich nicht damit, durch Ertrinken zu sterben. Und in Exkrementen noch dazu ... Also gab er nicht auf. Zumindest würde er beim Versuch sterben. An Mühe und Plage war er ja gewohnt. Er preßte sein Gesicht nach oben gegen die Käfigdecke, wo es immer noch Sauerstoff gab, wo... ... er ein liebreizendes Antlitz erblickte. Die Tavernenwirtin! Mit hochgezogenen Augenbrauen kauerte sie auf einem Stück Plastik, das sie über die Organogrube gelegt hatte, und etwas wie ein Lächeln umspielte ihre vollen Lippen. »Wenn ich dich da raushole«, sagte sie »nimmst du uns dann mit?« Er entdeckte das Kind, das am äußersten Rand der Sickergrube stand. »Denk in aller Ruhe darüber nach«, sagte sie. »Wenn ich das Boot hole«, meinte er. »Kannst du dann das Tor öffnen?« Sie nickte. Dann griff sie nach etwas, das neben ihr lag: ein Brecheisen. Er bekam es gerade noch zu fassen, als der Schleim ihn und seinen Käfig völlig verschluckte.
Kapitel 10 Ein schlammiges Glucksen begleitete das Verschwinden des Käfigs und des Fremden darin, als der Moddersee beide verschlang. Helen auf der Plastikplane hielt erschrocken den Atem an; doch dann rief Enola: »Sieh doch!« Ein schmutzigbrauner Arm tauchte aus der Organo-Barkasse, und eine glitschige Hand klammerte sich an ihren trockenen Rand. Der Fremde, der von oben bis unten mit braungrauem Schleim bedeckt war und dadurch einem Ungeheuer viel ähnlicher sah als einem Menschen, zog sich nach oben und richtete sich auf. Sein Blick wanderte von der wütenden Schlacht über die hinter dem Dunstschleier der Wasserwerfer liegenden Atolltore zu mehreren Smokern, die auf dem Deck seines Trimarans umherhuschten, um ihn auszuplündern und keine Ahnung hatten, daß die Atoller ihnen bereits zuvorgekommen waren. Er schaute Helen nach, die sich, Enola im Schlepptau, bereits von der Organogrube entfernte.
»Die Tore«, erinnerte er sie. »Sie müssen beide offen sein, sonst kommt mein Schiff nicht durch. Verstanden?« »Ich verstehe«, antwortete Helen. »Gut.« Dann ließ er sich von der Barkasse kopfüber in die Lagune fallen. Dort, wo er eintauchte, wurde das Wasser ganz schlammig, doch dann schwamm er tiefer und war verschwunden. Helen hielt Enolas Hand, als sie über die Laufplanken auf die Tore zuliefen. Smoker stürmten durch ein Loch in einer der Atollmauern, überall kämpften sie Mann gegen Mann, doch das Tragische daran war, daß die Atoller zahlenmäßig bei weitem unterlegen waren. Auf der Laufplanke über dem Waffenarsenal konnte Helen sehen, wie man Kindern Fußketten anlegte, um sie als Sklaven zu verkaufen; ein Smoker fällte mit einer Kettensäge den Baum auf der Organo-Barkasse; Hydro wurde aus Entsalzungsbehältern in Smokertanks gepumpt. Sie sah auch noch etwas anderes von ihrer hohen Warte aus: ein nur allzu vertrautes Gesicht. Eine ebenso grausame wie gutaussehende Gestalt in Haifischhaut, deren langes, blondes Haar bis auf die Schultern reichte, schritt über eine Laufplanke und führte einen Smokerschwarm zur Handelsbarkasse. Der Norde. Er war also der Spion der Smoker gewesen.
Die Ältesten hatten dem Organofriedhof den falschen Fremden übereignet. Es war ihnen jedoch nur wenig Zeit geblieben, ihren Irrtum zu bereuen. Gerade in diesem Moment wurden sie auf der entfernten Brustwehr von den Smokern abgeschlachtet und wehrten sich noch nicht einmal, blickten nur fragend in den Himmel, doch die Antwort, auf die sie warteten, blieb aus. Sie hielt einen Moment lang inne, als sie Priam zwischen seinen gefallenen Brüdern stehen sah, obwohl die Smoker bereits die Mauern hinter ihm erklommen. Verwundet und benommen blickte der Hohe Älteste voller Verzweiflung auf seine schwimmende Stadt herab. Sein gequälter Aufschrei hallte über das Wasser. »Alles verloren!« Helen wandte sich erschaudernd ab, als ein Smoker seine Waffe auf den alten Mann abfeuerte, um seiner letzten Prophezeiung Gültigkeit zu verleihen. Der Norde marschierte in die Handelsniederlassung, während die plündernden Smoker den Ort in Grund und Boden stampften. Da er der Barkasse bereits einen Besuch abgestattet hatte, wußte er, daß es nur wenig gab, was es zu rauben lohnte. »Ist sie das?« rief eine Stimme. Er drehte sich um und sah einen seiner Smoker-Leutnants, der ein hellhaariges kleines Mädchen mit erschrockenen Augen hinter sich herzog.
»Nein, du Idiot. Du hast die Anweisung des Diakonus doch gehört. Diejenige, die wir suchen, ist dunkel. Und hat Markierungen auf dem Rücken!« »Ja, Sir.« Der Smoker ließ den Kopf hängen. »Sie ist irgendwo hier drinnen«, meinte er. »Such weiter.« »Ja, Sir.« Der vom Wasser gereinigte Seemann tauchte tief hinunter und schwamm in gerader Linie auf den Trimaran zu. Über ihm zischten Kugeln ins Wasser, und Smoker schössen auf ihren Jetskis hin und her, doch unter Wasser erschienen all diese Geräusch ebenso wie der Lärm der tobenden Schlacht unwirklich und weit entfernt. Kürz darauf schnellte der Seemann wie ein Delphin aus dem Wasser und landete auf dem Heck seines Schiffes, ziemlich genau vor den Füßen eines plündernden Smokers, der seine Speerwaffe herumschwang, um sie auf ihn abzufeuern. In weniger als einem Augenblick hatte ihn der Seemann mit einem harten Faustschlag gegen den Kiefer außer Gefecht gesetzt und die Speerwaffe aus den nun schlaffen Händen gepflückt. Er riß das Messer aus dem Gürtel des Smokers und stieß den Bastard mühelos über Bord ins Wasser, wo er mit lautem Aufklatschen landete. Er band die Heckschleppleine an die Speerwaffe und schoß über die Lagune hinweg; der Speer bohrte sich in die Laufplanke neben der rauchenden Windmühlenruine. Danach betätigte er einige Hebel
an seiner Steuerkonsole, und das Windmühlensegel schwang herum. Die Schleppleine straffte sich, und kurz darauf wurde der Trimaran von ganz allein in die Lagune gezogen, was ihm gestattete, das Schiff mit direktem Kurs auf die riesigen Tore zuzusteuern, die momentan immer noch geschlossen waren. Da an fast allen Ecken und Enden Smoker durch Löcher in der Atollmauer strömten, gab es eigentlich nichts mehr, was diese Tore abschirmen konnten. Einige Atoller versuchten verzweifelt, eine Mauer mit Pfeilern abzustützen, die von den donnernden Geschossen des Kanonenbootes geschwächt worden war, als ein Berserker sie wie eine Kanonenkugel durchschlug und die Verteidiger unter den einstürzenden Mauerteilen zermahnt wurden. Mittlerweile hatte er den Trimaran auf den richtigen Kurs gebracht. Wo war diese Frau? Dann sah er, wie sie, gefolgt von dem Kind, in der Nähe eines der Doppeltore eine Laufplanke erklomm. Er betätigte Hebel und Schalter, eilte mit dem Messer des Smokers ans Heck und kappte die Schleppleine, als der Trimaran bereits mit seiner Transformation begann. Helen, hoch oben auf der Leitplanke, fühlte, wie eine kleine Hand nach ihrem Arm griff. »Sieh nur!« rief Enola. Unten in der Lagune sah man den Trawler des Fremden auf die geschlossenen Tore zusteuern, nur daß er plötzlich etwas mehr als einfach nur ein Trawler zu sein schien.
Der Mast, an den sich die Windmühlenflügel legten, schob sich nach oben, Takelage wurde abgespult, ein Großsegel, das im Inneren des Mastes verborgen gewesen war, entfaltete sich langsam... Der Trawler des Fremden hatte sich in ein schlankes Segelboot verwandelt! »Toll!« sagte Enola. Als sie an dem verwandelten Trimaran vorbeiblickten, offenbarte sich Helen ein weniger erfreulicher Anblick: Durch eine kaputte Mauer in der Nähe des Bootes schwärmten Smoker und ermordeten auf ihrem Weg ganz nebenbei mehrere Atoller, die auf ihre Knie gesunken waren und zum rauchgeschwärzten Himmel beteten. Die praktischer veranlagten Atoller waren in das Wasser der Lagune gesprungen; einige saßen in Kanus, andere in Fässern, wieder andere ließen sich in Rettungsbojen treiben. Auch für sie mußten die Tore geöffnet werden. Ob auch nur einer von ihnen überlebte, hing jetzt ganz allein von ihr ab. Doch am Eingang des Torturmes verharrte der bärtige Torwächter immer noch taumelnd auf seinem Posten - blutüberströmt und durch den Blutverlust ganz trunken. Es schien ihm, trotz seines schwächlichen Zustands, nur wenig Mühe zu machen, seine Speerwaffe auf sie zu richten. »Zed«, sagte sie freundlich und leise, wobei sie sich ihm so vorsichtig näherte, als könnten ihre
Schritte eine tödliche Explosion auslösen. »Der Feind ist bereits eingedrungen ... Sieh selbst...« Er schwankte vor und zurück. »Wenn du... du oder irgend ein anderer versucht, diese Tore zu öffnen... dann kann ich mir nicht helfen, Helen ... dann schmeiße ich dich dahin, wo du -« Er wurde von einem fehlgeleiteten Kugelhagel erwischt und zur Seite geschleudert; seine Augen brachen, als er sterbend von der Brücke des Torturmes stürzte. Sie neigte sich zu Enola herab und musterte das kleine Mädchen streng. »Wenn ich diesen Hebel umlege und das Tor sich zu öffnen beginnt, dann müssen wir losrennen ...« Sie deutete auf den schmalen Steg an der Rückseite der Tore; momentan bildete er eine durchgehende Brücke. Doch wenn ein Tor sich öffnete, dann würde auch der Steg auseinandergleiten. »... und wir müssen springen. Verstehst du?« Das Kind nickte. »Kannst du das?« Das Kind nickte nochmals. »Versuch, keine Angst zu haben«, sagte Helen und drückte die Schulter des Mädchens. Ein weiteres Nicken. »Du auch.« Nachdem sie tief Luft geholt hatte, ging Helen in den Turm, um den Hebel zu betätigen. Das Getriebe knirschte mit den Zähnen, als das erste Tor sich rumpelnd zu öffnen begann.
»Gehen wir!« brüllte sie, griff nach der Hand des Mädchens, und führte sie - vor einem Hintergrund aus Schreien, Rauch und Geschützfeuer - über den schmalen, auseinandergleitenden Steg. Ein Torflügel öffnete sich langsam, doch der Seemann wußte, daß er nicht passieren konnte, bevor die andere Seite ebenfalls nach außen schwang. Er beobachtete, wie die Frau und das Kind über den beweglichen Steg eilten, während er sein Schiff steuerte und gleichzeitig vor den Kugeln, die überall ins Wasser schlugen und klirrend vom Metall des Trimarans abprallten, in Deckung ging. Es wäre ein Wunder, wenn er keine davon einfing. Als er einen dumpfen Aufprall hinter sich hörte, wirbelte er herum und entdeckte einen Smoker - er war von einem Jetski auf eines der Decks gesprungen und richtete sich gerade wieder auf, die Pistole in der Hand. Der Seemann schnellte auf ihn zu und versetzte ihm einen Tritt ins Gesicht, der ihn zurück in die Lagune warf. Doch der führerlose Jetski des Smokers fuhr, oder besser flog immer weiter - und krachte direkt in den ungeöffneten Teil des Tores. »Beeilt euch!« rief er der Frau und dem Kind zu. Sie hatten am Rande des Steges haltgemacht zumindest dort, wo er momentan endete, weil es durch den geöffneten Torflügel nicht mehr weiterging. ' »Springt!« brüllte er. Sie sprangen, doch genau in diesem Moment wurde der Tank des zerstörten Jetskis von einigen
über das Wasser zischenden Querschlägern getroffen und explodierte in einem Minifeuerball, der das Tor erschütterte und Helen und Enola derart aus dem Gleichgewicht brachte, daß sie vom Steg stürzten. Das Kind schrie auf. Helen hing mit beiden Händen am Stegrand, das Kind hatte sich an ihr festgeklammert; sie schwangen hin und her, schlenkerten auf gefährliche Art und Weise, als der Rauch von der Explosion zu ihnen aufstieg. Nachdem sich der Dunst verflüchtigt hatte, konnte der Seemann erkennen, daß die untere Hälfte des Tores zerfetzt worden war. Das Loch war nicht groß genug für sein Schiff, doch er steuerte dennoch darauf zu und hindurch, bis sein Mast knarrend gegen die verbliebene obere Hälfte stieß. Danach erklomm er den Mast und sprang auf den Steg. »Dem Himmel sei Dank!« keuchte Helen, an deren Hals das Kind wie ein menschliches Kollier baumelte. Doch er machte einen Satz über Helens Fingerspitzen, die sich in den Stegrand krallten, und rannte die Planke entlang auf den offenen Turm zu. Er fand den Hebel, der das Gegengewicht senkte, und das Tor - oder vielmehr das, was davon übrig war - begann sich langsam, rumpelnd aufzuschieben. Als er das erledigt hatte, rannte er entlang der auseinandergleitenden Rampe auf die Frau zu, die erleichtert zu ihm aufblickte ... bis er über sie
hinweg auf den Mast des Trimarahs sprang und daran zum Schiff hinunterrutschte. »Du Bastard!« schrie die Frau. Er befand sich bereits am Ruder und steuerte sein Schiff in den dunstigen Regen der Wasserwerfer. Ganz in der Nähe jagten ein paar Smoker, die es nun eindeutig auf den Seemann abgesehen hatten, auf ihren Jetskis durch ein Loch in der Atollmauer. Es donnerte dumpf, als sich die Frau zusammen mit dem Kinde vom Steg auf das gebauschte, vorbeigleitende Segel des Trimarans fallen ließ. Sie rutschte mit Enola daran herab, und die beiden landeten in einem uneleganten Knäuel auf dem Netzdeck, obwohl keine von beiden großen Schaden dabei nahm. Sie funkelte ihn wütend an, doch er betrachtete sie nur. Einen Moment lang überließ er das Steuer sich selbst und lief auf sie zu. Sie schien gerade etwas sagen zu wollen, als er schon an ihr vorüber auf das zueilte, was er gesehen hatte: Die eingetopfte Tomatenpflanze, die er ihr abgekauft hatte, tanzte zwischen allerlei dahintreibendem Unrat auf den Wellen. Er fischte sie aus dem Wasser und kehrte zum Ruder zurück, um das Boot in die offene See hinauszusteuern. Nachdem er sich orientiert hatte, sah der Seemann zu seiner Freude, daß die Höllenkanone der Smoker - mit dem voluminösen Maschinengewehr, das an diesem Morgen so viel Zerstörung angerichtet hatte - hinter ihnen lag, und
ihre Waffe auf einen anderen Abschnitt der Atollmauer zielte. Doch es freute ihn ganz und gar nicht, als er entdeckte, daß ein anderes Gefährt noch vor ihnen lag: eine breite, von Smokern bevölkerte Barkasse, von der sich die Jetskis und kleinen Boote neuen Treibstoff holten. Auf dem Deck des Tankers teilte der Diakonus, der sich gerade in Spendierlaune befand, Rauchstäbchen an seine Smokersoldaten aus. Die Smoker entzündeten sie inmitten all des leicht entflammbaren Treibstoffs und nuckelten genüßlich an diesen Tabakmedaillen, als sich des Diakonus gütiger Gesichtsausdruck auch schon wieder verfinsterte. »Was ist denn das für ein Gefährt?« knurrte er. Ein Segelboot mit drei Rümpfen war in seinem Blickfeld aufgetaucht und entfernte sich gerade vom Atoll, als befände es sich auf einer Vergnügungsfahrt. »Hat einer unserer Männer dieses Boot requiriert?« Er rammte seinen Golfschläger ins Deck, und seine Männer zuckten erschrocken zusammen. »Ich kann mich nicht erinnern, irgend jemandem die Erlaubnis erteilt zu haben, sich mitten in der Schlacht zu entfernen! Habe ich so etwas gesagt?« Keiner seiner Männer wußte auch nur eine seiner Fragen zu beantworten, und ihr freudiges Strahlen wich einem dämlichen Ausdruck.
Der Diakonus schlug seinem Flaggenjungen die Zigarette aus dem Mund. »Gib dem HöllenfeuerKanonenboot ein Zeichen, du Trottel! Sag ihnen, sie sollen dieses Segelboot in tausend Stücke reißen!« Doch der Flaggenjunge konnte die Blicke der Kanonenbootmannschaft nicht auf sich lenken. Der Diakonus versuchte, die Aufmerksamkeit des Kanonenbootfahrers oder des Schützen mit Brüllen und Pfeifen zu erregen ... »Ich hasse Segelboote.« Der Diakonus schüttelte angewidert den Kopf. »Ein Mann ohne Motor ist kein Mann!« Und jetzt begann das Kanonenboot zu drehen, doch sein Schütze bekam davon nicht sehr viel mit. Da Gesicht und Schutzbrille mit Dieselruß beschmiert waren, feuerte der Schütze blindlings, wobei die riesenhafte Waffe unaufhörlich Flammen, Tod und aufgebrauchte Patronen ausspuckte, und man nur raten konnte, ob der Mann nun die Maschine kontrollierte oder umgekehrt. Die Mannschaft des Kanonenbootes hielt sich geduckt, die Hände auf die Ohren gepreßt, während die bombastische Waffe immer weiter röhrte. Der Diakonus zündete sich lächelnd eine Zigarette an, wobei er in der Vorstellung schwelgte, was jene große Mutterkanone mit diesem lächerlichen Segelboot anstellen würde, wenn das Kanonenboot sich erst einmal vollständig gedreht hatte...
Nachdem er einen kurzen Blick auf das Kanonenboot geworfen hatte, war auch dem Seemann seine augenblickliche Lage nicht entgangen. Er wandte sich an Helen, die ihn immer noch anfunkelte. »Übernimm das Steuer«, befahl er ihr. »Warum sollte ich dir trauen?« fragte sie. Er sah sie einfach nur an, woraufhin sie eine Grimasse zog und auf das Ruder zustürzte, während er eine Leine ergriff und sich zur Harpune am Bug schwang. Nachdem er das Höllenfeuer-Kanonenboot sorgfältigst anvisiert hatte, drückte er ab. Die Harpune traf das Kanonenboot am Bug, und die Harpunenleine straffte sich. Der Trimaran hatte einen Fisch am Haken. Kurz darauf befand sich das Kanonenboot im Schlepptau des Seemannbootes und wurde mitsamt seiner gekidnappten Mannschaft herumgezogen, wodurch das immer noch Munition und Feuer spuckende Maschinengewehr unbekümmert den Ozean beschoß, auf dem die Tankerbarkasse ihr nächstes, obschon ungewolltes Ziel darstellte. Der Diakonus sah, wie die Kugeln die Oberfläche der See aufpeitschten und schrie: »Könnte mir irgend jemand sagen, ''warum dieses Boot immer noch feuert? Gib ihm ein Zeichen, du Trottel, an die Flagge!« Der Flaggenjunge übermittelte wild wedelnd den Feuereinstell-Befehl, doch der Schütze des Höllenfeuer-Kanonenboots donnerte immer weiter.
In diesem Moment nahm er gerade einige auf Jetskis heranrauschende Smoker unter Beschuß, die er in blutigen Dunst und Fischfutter verwandelte. Der Orkan des Geschützfeuers kam dem Tanker immer näher und näher, wühlte bereits das Wasser vor ihm auf. Der Ausgang dieses Manövers stand fest. Während seine Smoker blöde glotzend herumstanden, sprang der Diakonus in weiser Voraussicht von Bord, obwohl sein Sprung etwas beschleunigt wurde, als sich das Höllenfeuer des Höllenfeuer-Kanonenbootes in den Bug des Tankers bohrte, woraufhin die Barkasse wie eine schwimmende Bombe, die sie auch war, detonierte und in einem eindrucksvollen Feuerball, der den Hintern des flüchtenden Diakonus ansengte, entschwand. Auf dem Trimaran benutzte der Seemann ein Smokermesser zum Kappen der Harpunenleine, kehrte dann ans Steuer zurück und segelte durch einen Regen aus brennenden Überresten und einen Nebel aus Rauch, der jedoch schon bald durchscheinend wurde, und sich kurz darauf in Luft auflöste.
Kapitel 11 Die endlose, leere Fläche des sich träge dahinwälzenden Ozeans lieferte ein beredtes Argument für eine Welt ohne Menschen. Wie zum Beweis dieser These pflügte ein einsamer, arg mitgenommener Schleppdampfer, der die Überreste einer einst stolzen Smoker-Armada führerlose Jetskis, kleinere Boote, ja sogar Barkassen - hinter sich herzog, eine zerstörerische Schneise in das sanfte, weißbemützte Blau. Manche der Gefährte waren kaputt, andere ohne Treibstoff (nachdem die Tankerbarkasse explodiert war). Einige Smoker, die ebenso mitgenommen wie der Schleppdampfer aussahen, befanden sich an Bord dieser Fahrzeuge, andere klammerten sich an der Seite fest, und manche hingen sogar an Schleppseilen, wobei letztere eifrig darum bemüht waren, ihre Köpfe über Wasser zu halten. Viele von ihnen waren verwundet und preßten provisorische, blutige Bandagen auf Verletzungen, die ihnen die Verteidiger von Oasis zugefügt hatten. Von diesen
Männern würden es ein paar nicht bis zu ihrer Heimstätte, der >Deez<, schaffen. Jetzt, nach dem Überfall, bildete das Atoll Oasis ein anderes Muster auf dem Horizont: Ganze Abschnitte waren komplett verschwunden, und gen Himmel stiegen Rauchsäulen wie kriechende Schlangen aus Kohle. Als ein Patrouillenboot der Smoker in die Lagune brummte, stieß sein Kiel gegen dahintreibenden Unrat - ein Teil davon menschlicher Natur - und schubste ihn aus dem Weg. Kurz darauf stieg der Diakonus von dem Patrouillenboot auf einen noch intakten Teil des Kais, der andernorts klaffende Löcher auf wies, die den Zahnlücken in einem schrecklich grinsenden Gesicht glichen. Der Kriegspriester der Smoker wirkte ebenso angeschlagen wie seine Männer: Um seinen Kopf war eine blutdurchtränkte Bandage gewickelt, die sein kahles Haupt wie ein am falschen Ort sitzendes Halstuch krönte und sein linkes Auge bedeckte (oder vielmehr das, was vor der Explosion des Tankers sein linkes Auge gewesen war). Von seiner Uniform aus Seegras - die zuvor einen ordentlichen Anblick geboten hatte - waren ihm nur noch verkohlte Fetzen geblieben. Ein Smoker, der bei jedermann unter dem Namen >Saldo< bekannt war, eilte mit einem großen, schwarzen Bilanzbuch, das ihm auch seinen Namen eingebracht hatte, auf den Diakonus zu.
»Ich habe gehört, Sie wurden verwundet, Sir. Das tut mir schrecklich leid.« Saldo war für einen Smoker recht klein, und außerdem für einen solchen auch ziemlich klug deswegen hatte ihm der Diakonus auch die Verantwortung für die Buchführung übertragen. »Muntere mich auf«, sagte der Diakonus. Saldo rückte das Drahtgestell seiner Brille zurecht, öffnete das große Buch mit beiden Händen und begann, daraus vorzulesen, als wären die Worte darin heilig. »Sechshundertsechzig Gallonen Hydro geborgen, dritte Wahl oder besser... einhundertzwanzig Posten verschiedene Nahrungsmittel - luftgetrockneter Fisch, Planktonkuchen... sechzig Posten Lampenöl... vierundvierzig ertragreiche Weinstöcke ... zehn verschiedene Obstbäume.« »Neue Munition?« Saldo zuckte zusammen und blickte von seinem Buch auf. »Tut mir leid, Sir. Keine neue Munition. Auf diesem Atoll befindet sich überhaupt kein Waffenlager, nur Speere und Pfeile und Bögen ...« »Primitive kleine Scheißkerle.« »Ebenfalls Null Treibstoff. Keine Raffinationsmöglichkeit.« »Barbaren.« Der Diakonus schüttelte den Kopf, was er aber sogleich bereuen mußte, und betastete sein Gesicht unterhalb der blutigen Bandage. Seine Stimme klang dann jedoch eher melancholisch als
schmerzerfüllt: »Diese kleinen Exkursionen waren früher einmal amüsant. Wie lange hatten wir schon keinen wirklich guten Kreuzzug mehr, Saldo? Sag mir, wie lange?« Saldo begann stirnrunzelnd sein Buch zu durchblättern, da er augenscheinlich keine Meinung dazu äußern wollte, ohne sie auch belegen zu können. »Schon gut.« Der Diakonus seufzte. »Es war nur eine rhetorische Frage.« »Eine was, Sir?« Der Diakonus seufzte erneut. Sein Hauptbuch in Menschengestalt war ziemlich klug für einen Smoker, gewiß; aber was hieß das schon. »Früher gab es an jedem Horizont ein neues Atoll«, meinte der Diakonus wehmütig. Er streckte den Arm aus, und seine Finger deuteten gen Himmel. »Wohin zur Hölle sind sie nur alle verschwunden?« Saldo ließ seinen Blick über die verkohlten Ruinen des Atolls schweifen und schien ihm gerade antworten zu wollen, überlegte es sich dann jedoch anders. In den Überresten dessen, was einst irgendeine Fabrik gewesen zu sein schien, wurde der Diakonus durch eine Entdeckung des Norden etwas aufgeheitert. »Hab' das hier gefunden.« Der Norde grinste hämisch, als er ihm ein mit Netz überzogenes Glas hinstreckte. »Es befand sich unter den
Habseligkeiten der Atoll-Ältesten ...« Der Diakonus öffnete ungeduldig den Verschluß und wühlte mit einer Hand in der Erde. Wie weich sie sich anfühlte! Ungefähr ein Drittel der Erde war verschwunden, wahrscheinlich hatten es diese Primitivlinge bei ihren Zeremonien verschwendet. Er zog seine Hand zurück, hielt sie unter seine Nase, und das Aroma ließ ihn beinahe trunken werden. »Wir kommen der Sache schon näher«, sagte der Diakonus. »Und das Mädchen?« Der Norde schüttelte den Kopf. »Nicht da. Vielleicht konnte sie flüchten.« Der Diakonus ließ seine Faust durch die Luft sausen. Der Norde und die anderen Smoker wichen langsam zurück - sie kannten das aufbrausende Naturell des Diakonus. »Ihretwegen sind wir überhaupt hergekommen!« Er tigerte auf und ab, seine Stiefel donnerten über den Holzboden. »Wir haben das hier nicht zu Übungszwecken veranstaltet. Wir haben unsere Maschinen und unseren Treibstoff nicht verloren, um diesem armseligen, treibenden Müllhaufen ein paar Gallonen Hydro und eine Handvoll verdammter Obstbäume abzuknöpfen!« »Sind noch zwei Leutchen drinnen«, erklärte der Norde zaghaft, »reden nicht viel.« »Bring mich zu ihnen. Ich werde sie persönlich befragen ... und euch Weichlingen zeigen, wie ein echter Mann ein Verhör durchführt...«
Die Handgelenke an ein großes Getriebegehäuse gefesselt, saßen die beiden Atoller - einer von ihnen ein Ältester im charakteristischen Seegrasgewand, der andere ein Torwächter - zusammengesunken, halb ohnmächtig, mit hängendem Kopf auf dem Boden; beide waren schmutzig und klebrig, bluteten aus mehreren Wunden, und ihre Kleidung hing nur noch in Fetzen an ihnen. Ein paar Smoker bewachten sie, doch diese Gefangenen gingen nirgendwohin. Der Diakonus streckte beiden Smokern die offene Handfläche entgegen, und sie wußten sofort, daß sie diese Handflächen mit den Pistolen in ihren Gürteln zu bestücken hatten. Den Norden im Rücken, stellte sich der Diakonus zwischen die zwei Gefangenen und drückte jedem von ihnen eine Waffe an die ihm zugewandte Schläfe. Ihre Augen weiteten sich, und beide Männer begannen wild stammelnd um Gnade zu betteln. »Wenn ihr beide gleichzeitig redet«, schalt sie der Diakonus schulmeisterlich, »dann werde ich einen von euch erschießen'« Sie verstummten. »Gut«, meinte der Diakonus. »Und ... wenn ihr nun eure Blicke auf die arterielle Beschaffenheit des Blutes, das aus dem Loch in meinem Kopf stammt, lenkt, dann könnt ihr euch vielleicht vorstellen, daß ich heute einen miesen Tag hatte. Und ihr könnt meine Männer fragen, falls ihr an meinen Worten
zweifelt... aber wenn der Diakonus einen miesen Tag hat, dann haben alle anderen einen wirklich miesen Tag.« Die Wächter lächelten ein wenig und blickten sich kopfnickend an. Der Norde und Saldo nickten sich ebenfalls zu. »Also«, fuhr der Diakonus fort, »hier kommt es: Ich muß etwas über das tätowierte Mädchen erfahren.« Die beiden Männer plapperten wieder gleichzeitig los, wobei jeder von ihnen versuchte, den anderen zu übertönen. Ihre Worte überschlugen sich geradezu und bildeten einen entsetzlichen Wirrwarr in dem hämmernden Schädel des Diakonus. Im Geiste warf er eine Münze, schoß dem Torwächter das Gehirn in einem Blutschwall aus dem Kopf, und das Echo des Schusses donnerte durch die gesamte Fabrik. Die Smoker zuckten nicht einmal mit der Wimper. Sie kannten den Charakter des Diakonus. »In Ordnung«, meinte der Diakonus leise. Er wandte sich an den Ältesten, »du hast gewonnen. Also, fang noch mal von vorne an.« Der Älteste war starr vor Entsetzen und von oben bis unten mit Blut bespritzt; er blickte flehentlich zu dem Diakonus auf, der den Revolverlauf immer noch an seine Schläfe drückte. Der Diakonus entfernte die Waffe. »Ja, du kannst reden. Ich will, daß du redest. Wenn du nicht redest, werde ich dich auch erledigen. Kapiert?«
»Ich habe das Mädchen gesehen«, flüsterte der Älteste mit krächzender Stimme. »Wo?« »Ich bin nicht sicher ... der Rauch war so dicht... aber sie war bei Helen, und die hat sie großgezogen .,.« Der Diakonus zog eine Grimasse. »Wovon sprichst du überhaupt?« »Von dem tätowierten Mädchen! Sie ging auf ein Boot. Mit Helen.« »Was für ein Boot?« »Das mit den drei Rümpfen.« Das Gesicht des Diakonus wurde scharlachrot vor Wut. Dieses Boot hatte seinen Tanker in die Luft gejagt! Das Boot, das ihn eintausend Gallonen Treibstoff gekostet hatte ... »Wessen Boot?« »Das des >Mutos<«, antwortete der Älteste. Die Grimasse wich einem verdutzten Ausdruck. >»Muto Was zur Hölle soll das denn für ein Wort sein?« Der Älteste arbeitete hart, um sich sein Leben zu verdienen. »Er hat Schlitze im Nacken ... wie Fischkiemen. Er war kein richtiger Mensch. >Ein Glückstreffer der Evolution< hat ihn der alte Gregor genannt.« »Entschuldige«, sagte der Diakonus, der Inbegriff der Geduld und Gutmütigkeit. »Ein Glückstreffer wovon, hast du gesagt?« »>Evolution<«, antwortete Saldo.
Der Diakonus wandte sich lächelnd zu seinem menschlichen Rechnungsbuch um; Saldo blickte weg. Es handelte sich um die Art von Lächeln, der häufig ein K.o.-Schlag folgte. »Ich habe den Mann gehört«, sagte Diakonus. »Tut mir leid, Sir«, meinte Saldo. »Ich sag' euch was. Führen wir doch eine intelligente Unterhaltung - ich rede, und ihr alle hört zu ...« Der Smokerwächter, Saldo, der Norde, alle widmeten dem Diakonus ihre vollste Aufmerksamkeit, während der Älteste einfach nur zitternd an dem Getriebegehäuse baumelte. »Am Anfang«, rezitierte der Diakonus würdevoll, »sprach der Herr, >Es werde Wasser<, und erschuf die Meere. Er schuf alles, was wir kennen - die Sonne, die Luft, die wir atmen. Er schuf den Menschen, er schuf die Fische. Doch keine Mischung aus beidem. Der Herr hält rein gar nichts von dem Begriff >Evolution<.« Die Smokerwächter, der Norde und Saldo stimmten ein gemeinsames »Amen« an. Der Diakonus entgegnete: »Ich segne euch, meine Kinder«, und hielt die Waffe erneut an den Kopf des Altesten, diesmal mit gespanntem Hahn. Die Augen des Ältesten waren riesig und schreckerfüllt. »Aber... du hast doch gesagt, du würdest mich nicht töten!«
»Habe ich das?« Er blickte auf seine Männer. »Irgendwelche - Zeugen? Sagt die Wahrheit. Habe ich das?« Allgemeines Achselzucken. »Du hast« sagte der Älteste. »Ich habe es gehört du hast es gesagt!« Der Diakonus trat zurück, ließ den Hahn einschnappen. »Also weißt du ... vielleicht habe ich es ja gesagt. Und schließlich ist ein Mann nichts wert, der sein Wort nicht hält.« Der Älteste keuchte erleichtert. »Gelobt sei der Herr ...« »Gelobt sei der Herr«, erwiderte der Kriegerpriester, reichte die Waffe mit einem Kopfnicken an den Norden weiter, und entfernte sich, als ein zweiter Schuß durch die baufällige Fabrik hallte. Nachdem der Norde ihn mit der rauchenden Waffe eingeholt hatte, meinte der Diakonus: »Wenn wir bei der >Deez< ankommen, dann tanke das Himmelsboot auf. Geh mit ihm auf Patrouille...« Das Blut tropfte bereits aus dem durchweichten Verband; er riß ihn ab und entblößte das entsetzlich klaffende, scharlachrote Loch, das einmal sein linkes Auge gewesen war. »Ich will diese Ichthy-Mißgeburt! Finde ihn, dann finden wir auch das Mädchen.« Der Norde nickte. »Und verdammt noch mal«, fluchte der Diakonus. »Irgend jemand soll mir einen frischen Verband holen! Muß ich denn alles selber machen?«
Kapitel 12 Die Dünung wurde allmählich stärker, doch der Trimaran - dessen Deck mit Trümmern übersät war, zu denen auch die verkohlten Überreste des explodierten Smokertankers gehörten - segelte eigentlich ziemlich ruhig dahin, insbesondere, wenn man seinen angeschlagenen Zustand in Betracht zog. Mit einem überzähligen Segel in der Hand sprang der Seemann in das eisige Gewässer und tauchte unter den mittleren Rumpf, um ein in der Schlacht entstandenes Leck zu stopfen. Das sollte zumindest für den Augenblick genügen. Kurz darauf schnellte er tropfnaß zurück aufs Deck des Trimarans; er griff nach der Plastikflasche mit dem trüben Wasser dritter Wahl und nahm einen kräftigen Schluck. Dann richtete er seinen Blick auf Helen, die angespannt neben dem Mast mit den zerrissenen Leinen saß, dessen zerfetzte Segel direkt über ihrem Kopf hin und her flappte.
Während er dort unten das Leck stopfte, hätte sie reichlich Gelegenheit gehabt, sich einen Schluck aus der Plastikwasserflasche zu erschleichen. Doch sie hatte die Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen entweder aus Angst, oder um ihm zu zeigen, daß er ihr vertrauen konnte. Nicht, daß er sich auch nur einen Deut darum geschert hätte. »Ich weiß, was du denkst«, meinte sie verdrießlich. Er antwortete nicht. Statt dessen warf er einen kurzen Blick auf das Kind, das schweigend mit vor Angst und Entsetzen starrem Gesichtsausdruck am Heck saß und über das Meer zurück in die Richtung blickte, aus der sie gekommen waren. Ohne dabei hinzusehen, kritzelte das Mädchen mit einem Stück Kohle auf das Deck - Explosionen, Mann-gegenMann-Kämpfe, Bilder von grausamen Begebenheiten, denen kein Kind je ausgesetzt werden sollte. Sie tat ihm leid. Doch das änderte nichts an der Wirklichkeit, mit der sie schon bald konfrontiert sein würden. »Du denkst«, sagte sie, »wieviel länger dein Hydro reichen würde, wenn wir nicht zu dritt auf diesem Boot wären.« Tatsächlich hatte er bereits vor geraumer Zeit darüber nachgedacht. »Nun«, meinte sie in vernünftigem, sachlichem Tonfall. »Enola wird nicht viel trinken, und ich werde ...«
Er schraubte den Verschluß auf die Wasserflasche. Vielleicht hatte sie gedacht, er würde ihre Redlichkeit mit einem Schluck belohnen. Wenn es so war, dann hatte sie sich getäuscht. »...ich werde überhaupt nicht trinken. Nicht bis wir ankommen.« Er runzelte die Stirn. »Wo ankommen?« »Wo auch immer du hinfährst.« »Und wo sollte das sein?« »Wo auch immer du deine Erde her hast.« Das war es also. »Ich habe sie auf einem Atoll geborgen, das von den Smokern überfallen worden war. Die toten Atoller haben nicht gesagt, wo sie die Erde herhatten.« »Netter Versuch«, meinte sie kopfschüttelnd, mit einem gehässigen, kleinen Lächeln im Gesicht. »Die Smoker lassen bei ihren Überfällen nichts zurück insbesondere keine Erde.« Er antwortete nicht. »Und ich habe noch niemals solche Erde gesehen«, fuhr sie fort. Sie betrachtete ihn forschend. »Du bist schon dort gewesen, nicht wahr?« fragte sie. Ihre Stimme war leise und wegen der gegen das Schiff schwappenden Wellen kaum zu hören. Leise und beinahe schmachtend. »Wo?« Sie sprach mit vor Erregung bebender Stimme weiter.
>»Festland< ... du weißt, wo es ist.« Beinahe belustigt ging er auf sie zu und stellte sich neben sie. »Ja. Sicher. Ich weiß, wo es ist.« Sie riß überrascht die Augen auf, sah aus, als hätte sie eine Keule über den Schädel bekommen. »Ich wußte es«, sagte sie. »Und wir ... wir fahren dort hin?« »Wir beide schon, du und ich«, sagte der Seemann. Sehr leise fügte er hinzu: »Das Kind müssen wir über Bord schmeißen.« Ihr Gesicht wurde lang; sie schien zunächst verwirrt, dann entsetzt.»... was?« Er deutete mit dem Kopf auf den mittleren Rumpf. »Das Wasser dringt schon ein. Mein Boot hat in dem Spektakel ein Leck abbekommen. Meine Entsalzungsanlage ist beschädigt ...« Jetzt deutete er mit dem Kopf auf den Apparat mit den Schläuchen, Kugeln, Filtern und Ventilen, der seinen Urin wiederaufbereitete. »Wenn wir Glück haben, gibt es noch eine halbe Hydroration.« Ihre Augen verengten sich. »Ich sagte doch, ich würde nichts trinken ...« »Zwölf Tage lang? Das glaube ich nicht.« Erschaudernd wich sie vor ihm zurück. »Vielleicht hatten die Atoller recht. Vielleicht bist du ein Ungeheuer ...« Er flüsterte: »Besser, eine von euch stirbt jetzt, als daß ihr beide langsam sterben müßt. Du bist
stark. Du hast eine Chance. Dieses Kind ist verloren. Sieh es ein. Leb damit.« Er stand auf, doch sie streckte die Hand aus und griff nach seinem Knöchel. »Warte!« Er blickte kalt auf sie herab. »Es gibt nichts mehr zu bereden.« »Wir haben dir das Leben gerettet! Ohne uns wärst du niemals von dort weggekommen...« »Ihr habt mich rausgeholt«, sagte er. »Um selbst fortzukommen. Damit sind wir quitt.« Sie richtete sich auf. »Paß auf, ich kann fischen ... Ich kann kochen...« »Das kann ich auch.« Ihre Augen glänzten, während sie verzweifelt nachdachte. Dann flogen ihre Finger an ihren Hals und losten ihr Kollier. Sie streckte es ihm entgegen. »Dann nimm das«, sagte sie. »Es hat einen Wert von ...« »Unter Deck habe ich bessere.« Sein Gesicht verzog sich zu einem flüchtigen Grinsen. »Die Plünderer haben nicht alles gefunden.« Sie seufzte kopfschüttelnd. »Hör zu ... Ich kann verstehen, daß du nach dem, was dir in Oasis widerfahren ist, verbittert bis ...« »Ich bin nicht verbittert.« »Na, dann eben wütend ...« »Sehe ich wütend aus?« »Aber sie ist doch noch ein Kind ...« ET antwortete nicht.
Ihr Gesicht verlor jeglichen Ausdruck; ihr Blick wurde hart und durchdringend. »Gibt es dann... irgend etwas anderes, das ich zum Tausch anbieten kann?« »Zum Beispiel?« Sie befeuchtete ihre Lippen. Ob nun ausgetrocknet oder nicht, sie waren trotzdem voll und wunderschön. »Du hast selbst gesagt, daß ... du schon lange unterwegs bist...« Sie war eine Vision, erleuchtet von den Strahlen der Nachmittagssonne ... ihre Lippen voll... ihre Figur so weiblich und doch mädchenhaft...« Seine Gedanken mußten sich in seinem Gesicht widergespiegelt haben, denn sie lächelte ein wenig um es mit ihren Worten zu sagen, es war ein verbittertes, kleines Lächeln - und rief nach dem Mädchen: »Enola!« »Ja?« »Enola, geh unter Deck. Ich muß ... mit unserem Gastgeber sprechen, unter vier Augen.« »Ja, Helen.« Dann stand die Frau vor ihm und streifte die Tunika von ihrer runden, sonnengebräunten Schulter. Enola hüpfte nach unten in die enge Kajüte. So wie jedes andere Kind konnte auch sie der Versuchung nicht widerstehen, alles auszuforschen und zu ergründen, wobei sie fast augenblicklich
einen Riegel entdeckt hatte, der ein Brett herunterknallen ließ. Erschrocken sprang sie zurück und spitzte die Ohren, in der Erwartung, daß die vom Lärm angelockten Erwachsenen sie ausschelten würden... Doch sie mußten dort oben ziemlich beschäftigt sein, da niemand mit ihr schimpfte. Das heruntergeklappte Holzstück stellte eine Art Schreibtisch dar, und auf diesem war eine selbstangefertigte Karte festgesteckt - eine Seekarte, doch dieses Wort war Enola nicht geläufig. Hinter dem Brett waren einige Regale und quadratische Gefache zum Vorschein gekommen. Und dort lagen noch mehr aufgerollte Karten - Papier! Kostbares Papier! Nicht einmal der Alte Gregor hatte einen solchen Reichtum an Papier besessen. Und in einem der Fächer fand sie eine Schachtel. Sie konnte die Schrift darauf nicht lesen WACHSMALKREIDE - 64 FARBEN - doch sie wußte sofort, so wie es jedes andere Kind getan hätte, wozu die darin befindlichen Objekte dienten. Sie waren verschieden groß - einige abgenutzter als die anderen, manche zerbrochen. Enola konnte einen Schatz erkennen, wenn sie ihn sah. Sie schnappte sich ein Kreidestück - mit der Aufschrift »Zyan« - und malte einen Probestrich auf eines der fleckigen, uralten Blätter, nachdem sie es umgedreht hatte, da sie die Zeichnung von jemand anderem nicht verderben wollte.
Sie war kein ungezogenes Kind, diese Enola. Doch sie war ein Kind, und noch dazu ein Kind mit einer Schachtel Wachsmalkreiden. Der Probestrich fiel wunderschön aus, und sie beugte sich tief über das Papier, als die Bilder nur so aus ihr heraussprudelten; sie würde zuerst eine Malkreide benutzen, und dann eine andere. Nie zuvor hatte sie bunte Malstifte besessen, und jetzt konnte sie bunte Bilder malen! Und es waren wundervolle Zeichnungen - Vögel, Pferde, Leute in ihren Hütten, Berge - in den verschiedensten Farbschattierungen. Die eintönigen Kohlebilder waren auf dem Deck zurückgeblieben. Sie stieg aus der Tunika. Ihre Haut war wunderbar makellos, fast ohne Narben, perfekt und glatt - ungewöhnlich für jemanden aus Waterworld; ihre Brüste waren voll und fest, stolz aufgerichtet, ihr Brustkorb war außen gewölbt (gut für das Gebären von Kindern). Ihr Bauch war hart, flach und muskulös, ihre Beine waren ebenfalls kräftig, doch wohlgeformt, als sie mutig, ohne Scham, mit leicht gespreizten Beinen, die Füße fest auf den Boden gestemmt, vor ihm stand. Es war offensichtlich, daß sie sich nicht gerne auf diese Art und Weise feilbot, doch da sie ihre Entscheidung nun einmal getroffen hatte, blieb sie auch dabei. Das konnte er nur bewundern. Und natürlich bewunderte er auch ihre weiblichen Formen.
Ohne sich dessen bewußt zu sein, streckte er die Hand nach einer der liebreizenden, wohlgerundeten Brüste aus; er hatte die weiche Haut kaum mit den Fingerspitzen berührt, als er auch schon spürte, wie es sich in ihm regte... ... und er seine Hand zurückzog. »Nein«, sagte er. Sie war verblüfft. »Nein?« »Es wäre nicht richtig«, erwiderte er säuerlich. »Ich bin anders als du.« Sie klammerte sich an seinen Arm. »Ich bin nicht wie die anderen ... ich habe nie ...« »Ihr Kiemenlosen seid alle gleich.« Er schüttelte ihre Hand ab. »Weißt du, was ich wirklich dachte? Warum sollte ich euch nicht alle beide sofort über Bord werfen! Du hast nichts, was ich brauchen könnte.« Sie bedeckte ihren Busen mit den Armen - als würde sie sich ihrer Nacktheit erst jetzt bewußt -, und er drängte an ihr vorbei, als wäre sie nur ein weiteres flatterndes Segel, und eilte nach achtern. Er hörte, wie sie hinter ihm ihre Kleider aufraffte, während er sich bereits bückte, um das Deck von einigen herumliegenden Trümmern zu befreien. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit den Segeln zu. Ihre Stimme erklang hinter ihm, und es lag eine neue Schärfe darin; eine beißende Schärfe. »Du bringst uns zum >Festland<. Uns beide ...«
Er drehte sich langsam um und blickte zu ihr auf. Sie hatte ihre Tunika wieder angelegt, doch in ihrer Hand befand sich etwas, das vorher noch nicht dagewesen war: eine Waffe. Er hatte keine Ahnung, woher sie gekommen sein mochte; sie mußte sie irgendwie an Bord geschmuggelt haben. Die kleine, einschüssige Speerwaffe zielte direkt auf sein Herz. »Richtig zu töten, ist schwer«, sagte er zu ihr, wobei er immer noch mit den Segeln beschäftigt war. »Und glaube mir, ich tauge nicht als Versuchskaninchen.« Doch ihr Ausdruck war stählern und entschlossen, und die winzige Speerwaffe in ihrer Hand hätte nicht unbeweglicher sein können. Falls sie nervös war, konnte sie es gut verbergen. »Vielleicht wärst du nicht der erste Mensch, den ich töte«, meinte sie. »Vielleicht. Aber wie lange hast du vor, dieses Ding auf mich zu richten?« »So lange wie es dauert«, erwiderte sie gleichmütig. »Von hier bis >Festland<, falls -« Mit einem Ruck zerrte er an der Steuerstange, woraufhin sich der Bug mit rauschendem Klüver aufbäumte; dann schlug er gegen eine Sperrklinke, die den Klüver am Platz hielt. Dieser schnellte plötzlich losgelöst - nach hinten, und umhüllte die Frau mit seiner Segeltuchdecke.
Der Mariner griff nach einem Ruder und versetzte dem Buckel in der Mitte des Segels - ihrem Kopf einen guten, festen Hieb. Der Klumpen fiel in sich zusammen. Dann langte er mit einer flotten Bewegung unter das Segeltuch, fischte ihren leblosen Arm heraus und riß ihr die Speerwaffe aus der Hand. Nun würde er sich vielleicht endlich auf das Segeln konzentrieren und ihnen einen kleinen Vorsprung verschaffen können, bevor diese Smoker mit ihrer Suche begannen.
Kapitel 13 Die Burg des Diakonus - die >Deez< - war ein geräumiges Frachtschiff, welches in den alten Tagen unter dem Namen >Supertanker< bekannt war dreihundert Tonnen verrosteter, mit Entenmuscheln verkrusteter Stahl. Über einem hoch aufragenden Schornstein am Heck wogten zwar schwarze Dampfwolken, doch das Schiff schien sich kaum von der Stelle zu rühren. Seit Jahrhunderten trieb es nun schon auf den Wellen umher, und in dieser Etappe seines Lebens war es mehr Atoll als Fahrzeug. Tief im Inneren der >Deez<, im Schiffslazarett, behandelte Doc - der Privatarzt des Diakonus seinen Patienten. Der kleinwüchsige, ausgemergelte Doc sah nicht sehr gesund aus, sein kränkliches Aussehen wurde von den ständig aus seinen Nasenlöchern ragenden Schläuchen nur noch unterstrichen; das andere Ende der Schläuche steckte in Gasflaschen, die auf einem Rollwagen standen, dem süchtigen Doc jedoch keinen Sauerstoff,
sondern eine der Entspannung dienende Mischung aus verschiedenen Gasen verabreichten; einen Nasencocktail, dessen Durchschlagskraft er über die Hebel an den Flaschen seiner jeweiligen Gemütsverfassung anpaßte. Der Diakonus saß in einer engen, schmuddligen Kabine auf einem Stuhl mit zurückgeklappter Lehne (auf dessen Metallplakette unter' anderem die folgende Bezeichnung stand: »Zahnmedizinische Geräte, KG, Philadelphia«), umgeben von mehreren Zuschauern, die der Prozedur beiwohnen wollten. Unter den Anwesenden befanden sich der Erste Offizier des Diakonus - der Norde - sowie eine Handvoll schmutziger, unerzogener Bengel. Der Doc beschwerte sich jedesmal, wenn diese menschlichen Babyratten in sein Heiligtum eindrangen (»Unhygienisch!« behauptete er dann); für den Diakonus stellten Kinder aber das Morgen dar - sie waren die Zukunft! Also ließ er die kleinen Biester ungehindert auf seinem Schiff herumlaufen. In einer neben dem zurückgeklappten Zahnarztstuhl stehenden Metallschale, die verschiedene antiquierte medizinische Instrumente sowie eine Anzahl von verschieden großen Stahlkugeln aus Kugellagern enthielt, deponierte der Doc das zuletzt benutzte Operationswerkzeug: einen schmalen Malerpinsel. »So!« Der Doc saugte, mit seinem Werk zufrieden, an dem Gasschlauch. »Alles fertig! Ist so gut wie neu - oder sogar besser!«
Der Diakonus zog an der über ihm hängenden Vorrichtung, die außerdem einen Spiegel enthielt, und betrachtete sein neues Auge. Die Stahlkugel, die in seiner linken Augenhöhle steckte, war mit Pupille und Iris bemalt; das Kunstwerk des Doktors glänzte noch feucht. Der Diakonus hatte jedoch die Befürchtung, daß der Doc ein noch schlechterer Künstler als Arzt war. Er kletterte aus dem Zahnarztstuhl, nahm den Putter auf, der seinen neuen Amtsstab darstellte (das Fünfereisen war auf tragische Weise im Krieg verschollen), und versuchte mühsam, das Gleichgewicht zu halten. Der Doc eilte ihm zu Hilfe. »Es könnte einige geringfügige Probleme mit dem Tiefensehen geben ...« »Wehe, es versaut mir mein Spiel«, verkündete der Diakonus unheilvoll. »Sie werden sich schon bald daran gewöhnt haben!« Der Doc lachte nervös. »Ein Mann mit ihrem Intellekt, Ihren angeborenen athletischen Fähigkeiten, wird in kürzester Zeit-« »Na?« Der Diakonus wandte sich an den Norden und deutete auf sein Kugellagerauge. »Was hältst du davon? Ohne Umschweife bitte.« »Äh ... nicht schlecht«, stotterte der Norde. »Ja. Gar nicht schlecht.« »Ich will mich ja nicht selbst loben.« Der Doc warf sich in die Brust. »Aber ich glaube fest, daß ich es Ihrem echten Auge vorziehe.« Der Diakonus
wandte sich an eins der wilden Kinder. »Und was sagst du dazu?« »Sieht beschissen aus«, antwortete der kleine Knilch. Der Diakonus strahlte das Kerlchen an. »Seht ihr? Das ist es, was ich so an Kindern liebe. Keine Arglist. Keine Möwenkacke. Nur die reine, ganze Wahrheit.« Er pikste den Doc mit der Spitze seines Putters in die Brust, und der kleine Mann erbleichte. »Es sieht tatsächlich beschissen aus«, meinte der Diakonus vorwurfsvoll. »Und es fühlt sich wie kalte Scheiße an...« Gerade als der Diakonus abzuwägen begann, ob er die Ventile aufdrehen und dem Doc als Lohn für seine Dienste eine Überdosis verpassen sollte, wurde er durch eine Stimme, die in seinem Rücken ertönte, abgelenkt. »'tschuldigen Sie, Diakonus!« Saldo stand in dem unförmigen Türrahmen, den man aus dem Schott gesägt hatte. »Was ist?« »Wir haben ein Problem in der Grube. Vielleicht sollten Sie mitkommen.« Der Diakonus fischte eine Chlorbrille aus seiner Tasche. Das linke Glas hatte er schwarz gefärbt, um sich eine vorübergehende Augenbinde zu verschaffen. Doch nun, da der Doc bei der Beschaffung einer anständigen Prothese so kläglich versagt hatte, würde die verdammte Brille genügen
müssen. Er setzte sie auf, das schwarze Glas bedeckte sein kaputtes Auge, das andere Glas thronte auf seiner Stirn. Er betrachtete sich im Spiegel des Stuhls und fand sich ziemlich fesch für einen modernen Piraten. »Fahren wir«, wandte er sich an Saldo. Das Diakonusmobil - wie sein Meister es gerne bezeichnete - war aus sechs unterschiedlichen Landyachten der ruhmreichen alten Zeit zusammengestückelt worden; durchgerostet, auf den bereits verbogenen Felgen seiner unbereiften Räder einherrollend, mit einer Vielzahl auf der Kühlerhaube thronender Hupen und einem an seiner Schnauze angebrachten Bug zur Hindernisbeseitigung, stellte das Diakonusmobil für einen Gott eine angemessene Kutsche dar. Der Diakonus nahm auf dem rechten Vordersitz Platz. »Zur Grube«, befahl er seinem Smokerchauffeur. Von irgendwoher kamen einige Smoker und stellten sich hinter dem Diakonusmobil auf, um es anzuschieben. Der Chauffeur löste die Kupplung, das Vehikel erwachte mit einem Ruck und spuckte den anschiebenden Smokern seine Abgase ins Gesicht, was bei diesen krampfartige Hustenanfälle auslöste. »Und laß diesmal die malerische Route beiseite«, kommandierte er den Chauffeur, als das Diakonusmobil einen Gang entlangrumpelte.
Doch jedwede Route in den labyrinthischen Tiefen der >Deez< war malerisch. In einer Ecke saß ein Smoker vor einem Ölfaßfeuer, leerte eine rostige Dose mit gewürztem Schinken und warf sie auf einen Abfallhaufen, woraufhin sich sofort einige dreckige/wilde Kinder darauf stürzten und sich wie die Tiere, die sie schließlich auch waren, um die Dose balgten. Kinder. Der Diakonus lächelte vor sich hin. So natürlich. So unverfälscht... Kurz darauf fuhren sie durch ein Gebiet des dunklen Schiffes, in dem der Diakonus auf seine Smokermannschaft herunterblicken konnte, die mit knisternden, Funken sprühenden Werkzeugen Platten aus einer Stahlwand schnitten. Hin und wieder rutschte eine der Platten durch ein Loch im Boden, und ihrem klirrenden Aufprall folgte das widerhallende Protestgeschrei der Arbeiter auf der unteren Etage - was natürlich ohne großes Aufheben ignoriert wurde. Die hier und in der Entfernung flackernden Schweißbrenner und das Aufleuchten des glühendheißen Eisens, das aus tragbaren Schmiedeherden in Kugelgußformen geschüttet wurde, erzeugten ein Feuerwerk aus Licht in dieser weiten, schattigen Dämmerung - ein mystischer, nostalgischer Anblick für des Diakonus' stolze Augen ... oder, besser gesagt, sein stolzes Auge. Auf einen weniger voreingenommenen Menschen mochte dieser Ort im Inneren des >Deez< einen verwüsteten Eindruck machen, als würden
metallfressende Bakterien die Magenwände der dahinsiechenden Bestie zersetzen. Doch selbst in seiner miesesten (oder pragmatischsten) Gemütsverfassung, betrachtete der Diakonus diese Arbeit noch als ein notwendiges Übel: Die Smoker brauchten Munition, und wenn sie ihre eigenen Wände einschmelzen mußten, um sie zu erhalten, so sei es denn, und möge der Herr uns schützen. Das Diakonusmobil hielt vor der Tür zum Vorratsraum. Der Diakonus wartete, während Saldo (einer der wenigen, die Zutritt zu der weiträumigen Warenkammer hatten) die schwere Stahltür aufschloß; dann trat er gemeinsam mit Saldo und dem Norden ein, und der Chauffeur blieb zurück. An den Wänden und auf Regalen stapelte sich bei zahllosen Smokerüberfällen erbeutetes Diebesgut: allmählich zur Neige gehende Kartons mit prähistorischem Dosenfleisch, Rauchstäbchen und Bier (in Dosen und Flaschen). Der Diakonus wußte, daß die Gelegenheiten, seinen sich leerenden Speicher aufzufüllen, durch das Verschwinden der Atolle, immer seltener und die Zeitabschnitte dazwischen immer größer wurden. Ihre Schritte mußten dem Vasallen unter ihnen ihr Eintreffen angekündigt haben, da plötzlich eine verzweifelte Stimme durch die Bodenplatten schallte: »Wer immer es auch ist! Irgend jemand! Nehmt sie ab! He, ihr da oben!« Mit einem amüsierten, kleinen Lächeln kniete sich der Diakonus auf die Stahlplatte in der Mitte
des Bodens und drehte an dem zapfenartigen Ventil, das die Platte nach oben schwingen ließ, um in das schwarze Loch hinunterzublicken, das die >Heimat< des Smokers mit dem zweifellos miesesten Job auf der >Deez< war. »Ja?« fragte der Diakonus. Und obwohl er nur leise sprach, hallte seine Stimme von den Stahlwänden der tiefen, höhlenartigen Kammer wider. »Ihre Diakonusschaft! Hallo!« rief der einsame Smoker. Sechs Meter in der Tiefe trieb der menschliche Tiefenmesser, dessen Körper vom Brustkasten abwärts mit einer klebrigen, feuchten Masse bedeckt war, auf einem schäbigen Dingi in einem schwarzen Schlammsee und wedelte mit den Armen wie ein Schiffbrüchiger auf einem Floß, der ein Flugzeug herbeizuwinken versuchte. »Was ist los?« »Guten Morgen! Oder ist es Nacht? Was auch immer, ich grüße Sie, Sir!« Der Diakonus langweilte sich bereits. »Leg schon los. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann.« »Ich hab' gedacht, daß Sie es wissen sollten«, brüllte der Tiefenmesser nach oben, seine Stimme wurde von den Stahlwänden zurückgeworfen. »Wir haben nur noch genau einen Meter fünfzig schwarzes Zeug!«
Der Diakonus entfernte sich von der Öffnung und bedeutete dem Norden mit einem Kopfnicken, den Deckel wieder festzuschrauben. »Ihro Diakonusschaft!« rief der menschliche Tiefenmesser. »Besteht die Möglichkeit einer Ablösung ...« Doch seine Worte wurden vom Kratzen des an Ort und Stelle geschraubten Deckels abgeschnitten. Der Diakonus betrachtete Saldo mit unverhohlener Besorgnis. »Wie viele Gallonen sind das? Nach der Raffination?« Saldo rollte die Augen nach oben, während er es schnell durchkalkulierte. Dann blickte er argwöhnisch auf Diakonus. »Vielleicht drei Tankerladungen.« »Wenn wir einen Tanker hätten«, meinte der Diakonus angewidert. »Heiliger Josef«, tönte der Norde. »Ist das alles? Das haben wir doch in zwei Lunaren verbrannt...« »Das spielt keine Rolle«, erwiderte der Diakonus. »Spielt keine Rolle ...« begann der Norde. Der Diakonus brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Das einzige, was eine Rolle spielt, ist dieses tätowierte Mädchen. Spare nicht an Treibstoff, wenn du sie suchst. Es ist mir egal, ob wir jeden Tropfen dieses Zeugs aufbrauchen ... verschwende ihn nur nicht auf irgend etwas anderes.« Der Norde nickte.
Der Diakonus legte seine linke Hand auf die Schulter des Mannes, der seine rechte Hand war. »Mein Freund, auf >Festland< liegt die Hauptquelle. Der erste, der dort ankommt, wird König sein. Kapiert? Nicht der Kapitän irgendeines sterbendes Schiffes. Der König.« Der nächste Halt für das Diakonusmobil war das Theater - wo er seinen loyalen Smokern zur Belohnung ein halbes Dutzend Filme im Wechsel vorführte. Diese Filme waren bei unzähligen Plündereien erworbene Artefakte aus den alten Tagen und noch kostbarer als Zeitschriften. Er stand auf seinem Rednerbalkon und beobachtete von oben, wie Hunderte seiner Männer in der Dunkelheit saßen und die verschrammten Bilder eines Kriegsfilms betrachteten, in dem der legendäre John Wayne die Hauptrolle spielte. Kampfflugzeuge sausten durch die Lüfte, während John Wayne und die Smoker die Flugzeuge ihrer asiatischen Feinde durchlöcherten, so daß sie brennend vom Himmel trudelten. Die Smoker des Diakonus johlten wie wild; sie bildeten einen verrückten Chor, der die seit langem vertrauten Texte synchron mit den Dialogen auf der Leinwand herausbrüllte. Der Norde hatte nach dem Rat des Diakonus geschickt, der aus zwanzig Smokern bestand, den besten und schlauesten seiner Armee, obwohl das natürlich nicht viel heißen mußte.
Ein Sprichwort aus den Urtagen kam dem Diakonus plötzlich in den Sinn: »Unter den Blinden ist der Einäugige König.« »Wenn ich nicht wäre«, flüsterte er dem Norden zu, »würde an diesem Ort das absolute Chaos herrschen. Schon was von unseren Spähflugzeugen gehört?« Der Chefpilot der Smoker, der eine verwahrloste, mottenzerfressene Pilotenmütze trug, trat nach vorn: »Noch nichts.« »Sind die Spürhaie ausgesandt worden?« Der Norde nickte. »Gut«, meinte der Diakonus. »In Ordnung. Schluß jetzt damit.« Kurz darauf wurde die Bildwerferlampe schwächer, nur um dann ganz zu ersterben, der Ton wurde langsamer und verhallte leiernd, und die Smokermenge brach in Protestgeschrei aus. Die wütenden Schreie verstummten jedoch sofort, als das Klicken zweier riesiger Scheinwerfer ertönte, die den Diakonus in weißes Licht tauchten. Die nun schweigende Smokerarmee wandte sieh ihrem Führer zu, alle Augen waren auf den Balkon gerichtet, von dem aus er in der Vergangenheit so viel Weisheit verkündet hatte. »Laßt mich einen Zeugen hören!« dröhnte die Stimme des Diakonus. »Gehen wir nach >Festland< oder nicht?«
Und wieder brach die Menge in Geschrei aus, doch diesmal war es ihr Beifallsgebrüll; jauchzend und jubelnd verkündeten sie ihre Zustimmung. »Laßt es mich hören!« schrie der Diakonus, und seine Stimme schallte durch den Saal. »Was werden wir tun, wenn wir dort ankommen?« Und die Stimmen begannen in fast perfektem Gleichklang mit der Litanei: »Pflügen und streichen ... Stützen und pflastern..« »Minen bauen, Bäume hauen!« fügte der Diakonus hinzu. Seine Faust fuchtelte durch die Luft. »Und vergeßt nicht den Höhepunkt unseres Ehrgeizes, dieses uralte Symbol der irdischen Macht! Was bringt Glanz in unsere Hütten? Die >Festland<-Erfahrung!« Er riß an einer Schnur, und sein Smokerrat trat beiseite, als sich der Vorhang teilte und das riesige Bildnis (mit der Aufschrift >Architektonische Gestaltung<) eines Achtzehn-Loch->Golfplatzes< enthüllte, der sich über grünwallende Hügel zog. Die Smoker tobten, ihre nahezu orgastischen Schreie hallten durch die Metallkammer. »Achtzehn Löcher«, erinnerte sie der Diakonus (da er diese Rede schon viele Male gehalten hatte), der seinen Putter als Zeigestab benutzte. »Weltklasse ... fünftes Loch ein Par Fünf, fünfhundertachzig Meter mit zwei Abhängen.« Jubelrufe ertönten aus der Smokermenge. Jetzt kehrte der Diakonus an das Balkongeländer zurück, lehnte sich darüber und starrte mit einem
weit aufgerissenen, wilden Auge auf seine Männer herunter. »Doch nichts davon wird geschehen, bevor wir nicht diesen Fischmann mit den kleinen Mädchen finden ... richtig?« Das Wort >richtig< wurde vielstimmig wiederholt. »Sie ist der Schlüssel zum Eigentum«, brüllte er. »Sie zu finden ist Aufgabe Nummer Eins. Und der erste Kerl, der sie ausfindig macht, erhält dies hier ...« Und aus seiner Tasche zog er ein Objekt, so selten wie eine Zeitschrift oder ein Film - und hielt es hoch: eine Videokassette. »Operation Wüstensturm«, lockte der Diakonus. Dann donnerte seine Stimme erneut in voller Lautstärke: »Der Krieg der Lüfte!« Die Menge röhrte und stampfte aus dem Theater, auf der Suche nach ihren Unteroffizieren, bei denen sie sich freiwillig für den Spähtrupp melden wollten. Selbst die Augen der Ratsmitglieder fingen bei dem Gedanken an diesen kostbaren Preis an zu leuchten, und der Chefpilot wuselte davon, um sein Flugzeug zu besteigen. Keinem von ihnen war aufgegangen, bemerkte der Diakonus hämisch vor sich hin lächelnd, daß es sich bei der einzigen Videokassette an Bord um Kommunalgut handelte ... und daß derjenige, der die Kassette bekam, sie ohnehin mit dem Rest der Mannschaft würde teilen müssen.
Doch er hatte es zu akzeptieren gelernt, daß seine Männer Trottel waren, und das war gar nicht mal so schlecht. Wären Männer mit Verstand etwa derart loyal?
Kapitel 14 Der Trimaran hatte wieder seine Schiffsform oder eine zumindest ähnliche Gestalt angenommen. Verstärkte Taue surrten über Rollen, ausgefranste Segel falteten sich klatschend zusammen. Nun konnte sich der Seemann der Reparatur seines Hydroaufbereiters widmen; er flickte gerade einige Schläuche, als die Frau, ihr Gesicht eine angewiderte Maske des Schweigens, mit zwei Gläsern voll gelblicher Flüssigkeit über das Netzdeck trat. Selbst mit der Beule auf dem Kopf (dort, wo er sie mit dem Ruder getroffen hatte), und einem Paar Gläsern Urin in den Händen war sie noch eine gutaussehende Frau. Er nahm ihr die Uringläser aus der Hand und schüttete sie nacheinander in den Trichter; dann goß er noch sein eigenes Glas dazu und betätigte die Pumpe. Die Maschine leckte immer noch, aber nicht mehr so schlimm, und in wenigen Augenblicken sickerte ein Rinnsal fast klaren Wassers aus dem Hahn und tropfte in das Becherglas.
»Warum benutzt du nicht einfach Meereshydro?« fragte sie. Der spöttisch verzogene Mund mit den vollen Lippen ließ einen Anflug von Widerwillen erkennen. »Salz beansprucht die Filter zu sehr.« Als der letzte wiederaufbereitete Tropfen gefallen war, hielt er den Becher gegen das Sonnenlicht - die Farbe war richtig. Er nahm einen Schluck. Nicht schlecht. Er leerte den Becher zur Hälfte. »Kann ich was abhaben?« fragte sie. »Ich dachte, die Vorstellung, wiederaufbereiteten Urin zu trinken, würde dich krank machen.« »Es ist nicht für mich. Es ist für das Mädchen.« Er nahm noch einen Schluck, spülte seinen Mund damit aus und spuckte ihn dann in die Erde der Tomatenpflanze. »Ein Teil davon ist auch von mir, weiß du«, meinte sie entrüstet. Er reichte ihr den Becher mit dem restlichen Hydro und beobachtete, wie sie über das Netzdeck zu Enola ging, die beim Mast saß. Die Frau kniete sich lächernd neben das Kind und ließ es das ganze Wasser austrinken. Zumindest hat sie Wort gehalten, stellte der Seemann fest. Hat nichts für sich behalten ... Die Stimme des Mädchen war leise, ihre Worte nur für Helen bestimmt; doch er konnte sie trotzdem hören: »Bringt er uns zum Festland?«
Und er hörte ebenfalls, wie die Frau weniger leise erwiderte: »Ja. Das wird er.« Er spleißte die zerrissene Schleppleine am Heck und biß in das Tau, um seine Stärke zu testen. Es würde halten. Als er das Tau aufrollte, spürte er, wie sich jemand näherte. Das Kind kam langsam, mit ernstem Gesicht, über das federnde Netzdeck, ihre Lockenzöpfe flatterten in der Brise ebenso wie der Stoff ihrer Tunika. Dann stand sie vor ihm und starrte ihn an. Er rollte weiter auf und starrte zurück. Schließlich fing das Mädchen an zu sprechen; es war nur ein Flüstern, kaum hörbar über dem Rauschen des Windes. »Danke, daß du uns nicht umgebracht hast.« Sie beugte sich vor und küßte ihn auf die Wange. Wenn sie ihm einen Faustschlag versetzt hätte, wäre das für ihn kaum überraschender - oder entnervender - gewesen. Er stand auf, schob sie beiseite, und sie fiel mit dem Hintern zuerst auf das Netzdeck, jedoch nicht sehr heftig, da der Untergrund nachgab. Er hatte sie eigentlich nicht umstoßen wollen, und obwohl er das Kind dabei nicht verletzt hatte, stieg eine Welle des Verdrusses in ihm auf. Er entfernte sich eiligst von dem Kind, von ihnen beiden, und verkroch sich in den hintersten Winkel seines Bootes - um sich so viel Abstand wie nur möglich zu verschaffen.
»Halte dich einfach von ihm fern«, vernahm er den für das Kind bestimmten Rat der Frau. Trotz einer unterschwelligen Feindseligkeit tat die Frau ihr Bestes, um ihm nicht in die Quere zu kommen; wann immer sie konnte, legte sie mit Hand an und arbeitete hart, offensichtlich um sich und dem Kind Kost und Logis zu verdienen. Einmal, als er gerade von der Spitze des Mastes zurückkehrte, wo er eine Reparatur ausgeführt hatte, hielt er inne, um zu beobachten, wie sie einen Flicken auf ein Ersatzsegel nähte. Sie besaß Anmut und ein derart sanftes weibliches Wesen, das ihn irgendwo tief in seinem Inneren und nicht nur in seinen Lenden schmerzte. Dann bemerkte sie seinen Blick, und erneut machte sich Verlegenheit in ihm breit, woraufhin er sich schleunigst abwandte und auf seine Steuerkonsole zulief, um den Kurs des Bootes zu überprüfen. Das Kind kauerte, mit irgend etwas beschäftigt, mitten in seinem Weg. »Weg da«, fuhr er sie an. »Enola!« rief die Frau. Helen bedeutete dem Mädchen, ihm aus dem Weg zu gehen, und es gehorchte, indem es auf dem federnden Netzdeck ein paar Schritte zurückhüpfte. Als sie ihm den Rücken zuwandte, erhaschte er einen kurzen Blick auf die seltsamen Zeichen, die sich dort befanden. Er hatte sie schon zuvor bemerkt.
Und natürlich überlegte er, was sie zu bedeuten hatten. Doch wenn er danach fragen wollte, würde er mit den beiden noch mehr Tuchfühlung aufnehmen müssen, und er hatte wirklich keine Lust, ihnen noch näher zu kommen. Nie zuvor hatte er sein Schiff mit jemandem teilen müssen, und diese Menschenansammlung trieb ihn allmählich in den Wahnsinn. Er nahm seinen Platz am Steuer ein, holte sein Teleskop aus dem Futteral und begann, langsam den Horizont abzusuchen. Dann blockierte etwas seine Sicht, und als er das Gerät gesenkt hatte, entdeckte er, daß Enola ihm direkt vor die Linse spaziert war. »Gütiger Poseidon!« fluchte er. »Du stehst mir im Weg!« »Enola!« rief die Frau. »Komm hierher!« Zumindest gehorchte das Kind ziemlich schnell. Als sie jedoch forthuschte, bemerkte er etwas in ihrer Hand: eine seiner Wachsmalkreiden. War sie etwa an seinen Sachen gewesen? Mit gereiztem Gesichtsausdruck wandte er sich an die Frau, um sich bei ihr zu beschweren, doch bevor er auch nur ein Wort herausbrachte, bemerkte er noch etwas anderes. Zeichnungen - direkt auf dem Rumpf! Bilder der Gewalt, nicht mit leicht zu entfernender Kohle, sondern in Wachsmalkreide gemalt... von Pfeilen durchbohrte Smoker, in der Schlacht verwundete Atoller...
»He«, brüllte er. Jetzt saß das Kind samt Wachsmalkreide auf dem mittleren Rumpf des Bootes und bekritzelte ihn mit noch mehr Bildern. Es mußten Dutzende von Zeichnungen sein! Verdammt... Er stampfte auf sie zu. »Was zum Teufel machst du da?« Ohne zu ihm aufzublicken, zuckte sie leicht mit den Achseln. »Ich verziere dein Boot. Es ist häßlich.« Er hob sie hoch - sie wog fast nichts und war so leicht, daß sie ihm fast aus den Händen flog -, stellte sie unsanft beiseite und riß ihr die Wachsmalkreide aus der Hand. Dann suchte er nach einem Lappen und nibbelte auf den Knien an den Zeichnungen herum. Er rieb und rieb. Die Zeichnungen gingen nicht weg. Voller Zorn erhob er sich, warf den Lappen zu Boden und fuchtelte drohend mit dem Zeigefinger. »Du sollst nichts anfassen, was mir gehört.« Sie blickte gelassen zu ihm auf; ihre Augen waren groß und von einem tiefen, tiefen Blau. »Ich habe es für dich gemalt.« Er beugte sich herab und schüttelte seine Faust vor ihrem Gesicht. »Du sollst auf nichts malen, was mir gehört. Verstanden?« Ihr Gesicht war ausdruckslos, sie schien sich kein bißchen zu fürchten.
Gereizt schüttelte er den Kopf - und etwas anderes erschien in seinem Blickfeld: Das Segel in seiner Nähe war mit Wachsmalzeichnungen übersät, zumindest bis zu der Höhe, die das Kind noch erreichen konnte. Er packte sie am Arm. Nicht sehr grob - nur um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Mit einem scharfen Anschnauzer versuchte er sie aus der Fassung zu bringen. »Das ist mein Boot. Ich mache damit, was ich will. Wenn ich Bilder auf meinen Sachen haben wollte, würde ich sie selbst bemalen.« »Vielleicht kannst du nicht so gut malen wie ich.« »Du bist im Weg«, fauchte er das Kind an. »Und du behinderst mich bei meiner Arbeit.« »Sie ist doch nur ein kleines Mädchen«, sagte die Frau. Er hatte nicht bemerkt, daß sie näher gekommen war; es war, als hätte sie sich, wie ein über dem Kind schwebender Schutzengel, ganz plötzlich materialisiert. »Das ist mein Boot«, sagte er. »Sie kennt die Regeln noch nicht«, sagte Helen. »Willst du bleiben?« Die Frau hatte eine Hand auf die Schulter des Mädchens gelegt; sie schluckte schwer und nickte. »Dann bring sie ihr bei«, befahl er und ging ans Steuer. Erneut hörte er, wie die Frau das Kind warnte: »Halte dich von ihm fern.«
Doch keine fünf Minuten später stand das Kind schon wieder vor ihm. Ohne zu blinzeln, betrachteten, ihn die durchdringend blauen Augen in dem feingeschnittenen Gesicht. »Weißt du was?« fragte das Kind. Er antwortete nicht. »Du bist gar nicht so böse«, sagte sie. Er schaute sie nicht an. »Wie viele Männer hast du schon getötet?«, fragte sie. Er gab ihr keine Antwort. »Zehn?« Er antwortete nicht. »Zwanzig?« »Weißt du was?« fragte er. Sie antwortete nicht. »Du redest zuviel«, sagte er. »Ich rede zuviel«, meinte sie. »Weil du nicht genug redest... Wie viele?« »Wie viele was?« »Hast du getötet?« »Du meinst, einschließlich der Kinder?« Sie musterte ihn, versuchte herauszufinden, ob er einen Scherz gemacht hatte, oder ob es eine Drohung war. Dann sagte sie: »Ich habe keine Angst vor dir ... Ich habe Helen gesagt, daß du gar nicht so häßlich wärst, wenn du dir die Haare schneiden würdest.« Das brachte das Faß zum Überlaufen.
Er hob sie hoch wie einen Beutesack. »Du redest die ganze Zeit; wenn du in der Nähe bist, ist das wie ein Orkan«, und hievte das erschrocken dreinblickende Kind über Bord. Die Frau, durch das Klatschen aufmerksam geworden, blickte über die Reling auf das im Meer strampelnde Kind und brüllte ihn an: »Du Bastard! Sie kann nicht schwimmen.« Und dann sprang sie dem Kind hinterher. Höllenkrabben, dachte er. Jetzt sind auch noch alle beide baden gegangen. Natürlich würde es ihm eine Menge Schwierigkeiten ersparen, wenn er sie einfach zurückließ ... Statt dessen rannte er jedoch nach achtern, trat gegen die Winde des Großsegels, das sich sofort zusammenfaltete, und fuhrwerkte herum, um sie an Bord zu ziehen. Die Frau schwamm ziemlich gut sie zog das Kind hinter sich her - und er mußte den Mut bewundern, mit dem sie nachgesprungen war, ohne auch nur einen Gedanken an ihre eigene Sicherheit zu verschwenden. Ein dumpfer Knall erregte seine Aufmerksamkeit. Er blickte über die Frau hinweg auf den Horizont und vernahm ein weiteres fehlzündungsartiges Puffen. Er hatte eigentlich der Frau an Bord helfen wollen, doch dann schob sie Enola auf den Rumpf und schwang sich selbst nach oben, triefnaß und stinksauer. »Du Mistkerl!«
Er sah sie nicht an; sein Blick war auf den Horizont gerichtet. »Ich schwöre dir«, meinte sie gerade. »Wenn du dieses Kind noch einmal anfaßt, es auch nur berührst, dann wirst du in dieser Nacht einschlafen und nie mehr aufwachen ...« Als sie unvermittelt abbrach, konnte sie seine Unruhe direkt spüren. Er duckte sich unter dem Baum hindurch und suchte den gegenüberliegenden Horizont ab. Kein Boot in Sicht... Doch da war dieses Brummen, es klang so ähnlich wie das Dröhnen von Maschinen, bevor die Rennboote und Jetskis von... »Smoker?« fragte Helen. Er richtete seinen Blick himmelwärts. Mit gedrosseltem Motor schwirrte es über das Wasser, spuckte derart viel Rauch, daß es wie ein Absturz und nicht wie ein ruhiges Dahinsegeln wirkte, als das zerschundene Wasserflugzeug trudelnd in Sichtweite kam, eine Schleife zog und über dem Trimaran zu kreisen begann. »Können wir ihn abhängen?« fragte Helen. »Nicht ohne die Segel zu hissen«, erwiderte der Seemann. »Vielleicht eröffnen sie ja kein Feuer. Sie beobachten uns nur...« »Sind es Smoker?« »Ich weiß nicht.« Das Flugzeug umkreiste sie, dann stieß es direkt auf den Bug zu, und als es beidrehte, konnten sie ihn sehen: den bebrillten Schützen im hinteren Teil, der
mit einem grotesk aussehenden Maschinengewehr auf sie zielte. Im nächsten Augenblick bellte es los, seine Kugeln zischten über das Wasser und bohrten sich in den äußeren Rumpf. Sie rannten alle drei zur Mitte, um ins Innere der Hauptkabine zu gelangen, und das Dröhnen des wendenden Flugzeugs kündigte ihnen einen erneuten Angriffsversuch an. Das Kind ging hinter dem Mast in Deckung, und die Frau war direkt hinter ihm, doch der Seemann blickte zurück, drehte sich um, rannte in Windeseile ans Heck des Schiffes und sprang über die Luke ins Wasser. Der Schrei, den die Frau ausstieß, übertönte das Knattern des Wasserflugzeugs: »He!« Sie wollte ihn damit der Feigheit bezichtigen, doch das kümmerte ihn nur wenig; unten angekommen riß er eine doppelläufige Speerwaffe von der Schiffswand. Er zerrte sein Messer heraus, durchtrennte das Seil, mit dem Speere und Waffe verbunden waren und schnellte zurück aufs Deck. Das Maschinengewehr war verstummt, obwohl das Flugzeug bereits herumschwenkte, um ihnen den Todesstoß zu verpassen. Der Seemann konnte einen kurzen Blick auf das verzerrte Gesicht des Schützen werfen, der den verstopften Lauf der blockierten Waffe mit einem Ladestock bearbeitete. Vielleicht konnten sie so ein wenig Zeit gewinnen ... Doch gerade als er darüber nachdachte, wie er sie am besten zum Einsatz bringen konnte, sah er, wie die Frau, Helen, sich über die am Bug angebrachte
Harpunenkanone beugte. Sie hatte den Hahn gespannt und schwenkte die Waffe herum, das kreisende Flugzeug im Visier. Krampfhafte Entschlossenheit spiegelte sich auf ihrem Gesicht, und er mußte ihren Mut bewundern, obwohl er .um die Katastrophe wußte, die sie verursachen würde, als er aufschrie: Neiiiiiin!« Entweder hörte sie ihn nicht, oder seine Meinung war ihr egal, denn sie feuerte die Waffe ab, und die große Harpune sauste, die Leine im Schlepptau, durch die Luft. Gerade als der Schütze seine gemeingefährliche und gereinigte Waffe herumschwenkte, um den Trimaran erneut anzuvisieren, bohrte sich die Harpune durch den Flugzeugrumpf. Der Seemann empfand beinahe so etwas wie Anerkennung für ihre Zielsicherheit - oder ihr Glück - als er sah, wie der Schütze blutend über seiner nun nutzlosen Waffe zusammensackte; sie hatte mit ihrem Schuß nicht nur das Flugzeug getroffen, sondern auch noch den Schützen unschädlich gemacht. Der Pilot warf einen verzweifelten Blick auf seinen toten Schützen ... und sein verwundetes Flugzeug. Doch das Flugzeug war nicht nur verwundet: es war harpuniert wie ein durch die Lüfte schwebender Wal. Durch eine unnachgiebige Nabelschnur mit dem Trimaran verbunden.
Und als das Flugzeug weiterflog, begann sich die Harpunenleine zu straffen, bis sie schließlich völlig gespannt war, und der Gesichtsausdruck der Frau Entsetzen widerspiegelte, da ihr allmählich klar wurde, was sie angerichtet hatte. Das Messer in der Hand rannte der Seemann zum Bug, als das Schiff auch bereits schlingerte, und das Deck um die Harpunenkanone wie ein verwundetes Tier zu stöhnen und zu jammern begann, da das Flugzeug sich gegen die hemmende Leine zur Wehr setzte. Helen war zurückgewichen und hatte sich schützend vor Enola gestellt, doch er flog an ihnen vorbei, und seine Klinge berührte gerade die Leine ... ... als die gesamte Harpunenkanone mitsamt dem Gestell vom Deck gerissen wurde, und er sich gerade noch äußerst unsanft zu Boden fallen lassen konnte, bevor sie über seinen Kopf hinwegsegelte. Wie ein Fisch am Angelhaken, wurde das Kanonen-Gestell nach oben gezogen, zerfetzte und zerriß Segel und Taue auf seinem Weg, nur um dann in den Auslegern hängenzubleiben. Es steckte fest. Als der Seemann hochkam, bemerkte er zu seinem Schrecken, daß sich die Leine um den Mast geschlungen hatte und ihn nun, da das Flugzeug dort oben zu kreisen begann ... völlig einwickelte. Er bedachte die Frau mit einem haßerfüllten, mörderischen Blick, rannte zum Mast, und schob seine freie Hand durch die Öffnung in einem
Taljereep, um an einem Gegengewicht zu ziehen; doch es hatte sich in der Harpunenleine am Mast verfangen. »Höllenkrabben«, murmelte er vor sich hin. Die doppelläufige Speerwaffe hing an einem Riemen, also warf er sie über die Schulter, schob sich das Messer zwischen die Zähne und begann an dem schwankenden Pfosten hochzuklettern. Je höher er kam, desto schwindelerregender wurde das Wanken des Mastes, da das Flugzeug das Boot von einer Seite zur anderen schleuderte. Die verhedderte Leine ruinierte das Großsegel, doch er näherte sich bereits der Rah, von wo aus er die vibrierende Harpunenleine erreichen und den Trimaran durch einen Messerschnitt befreien konnte ... Eine Kugel fetzte durch das Segel neben ihm. Sie stammte jedoch nicht aus dem Maschinengewehr, sondern einem kleineren Kaliber, einer Pistole! Schoß dieser verdammte Pilot jetzt etwa auf einen wehrlosen Mann? Er griff nach einem Tau, stieß sich vom Mast ab und zerrte an dem Schulterriemen der Speerwaffe. Als er das Flugzeug genau im Visier hatte, jagte er dem Mistkerl einen Speer auf den Hals ... Er konnte den Aufprall hören, was wahrscheinlich bedeutete, daß er das Flugzeug, nicht den Piloten getroffen hatte, doch vielleicht würde es den Kerl lange genug ablenken, daß der Seemann sich zurückschwingen und die zitternde
Harpunenleine durchtrennen konnte, um sie beide voneinander zu befreien. Vier Pistolenkugeln durchschlugen das Segel neben ihm. Als er ihnen auswich, rutschte ihm das Messer aus der Hand und purzelte nach unten, wo es klappernd auf dem Deck landete. Mist! Er hatte immer noch einen Speer in der Speerwaffe. Er lehnte sich zurück, und zielte mit Bedacht, als das Flugzeug auf ihn zuschoß. Er konnte ihn sehen, konnte sehen, wie sich der Pilot mit der Pistole in der Hand herausneigte ... der Seemann nahm ihn ins Visier... Doch der Pilot feuerte zuerst, nur daß der Schuß nicht auf den Seemann gemünzt war, sondern auf das Harpunentau, das Flugzeug und Boot verband, oder vielmehr verbunden hatte, da das Smokerflugzeug bereits, die Überreste des Seils hinter sich herziehend, in die Freiheit taumelte. Durch das Zurückprallen des Mastes wurde der Seemann nach hinten durch die zerfetzten Trimaransegel ins Leere geschleudert, bis er schließlich ins Wasser plumpste, als wäre er der Motor aus dem davonjagenden Flugzeug. Er befand sich unter Wasser, als das Kanonengestell herunterfiel und durch das Deck krachte; er hörte zwar das Geräusch, sowohl verstärkt, als auch gedämpft, erkannte jedoch erst um einiges später, was es damit auf sich hatte. Als sein Kopf die Wasseroberfläche durchbrach,
empfand er eine derart kochendheiße Wut, daß man sich nur wundern konnte, warum das Wasser um ihn herum nicht zu brodeln anfing. Er schwamm eiligst zum Boot und zog sich an Bord. Sein Blick schweifte über das Deck. Das Boot sah aus, als hätte der Blitz eingeschlagen. Er funkelte die Frau zornig an, und sie stand wie ein begossener Pudel vor ihm, das Kind hatte sich hinter ihrem Rücken verkrochen. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe nur versucht...« Sein Blick brachte sie zum Schweigen. Er hob sein Messer vom Deck auf und bewegte sich auf sie zu. Die Frau keuchte erschrocken, als er die Hand ausstreckte und sich ihren langen Zopf schnappte; die Klinge sauste herab, das Kind schrie ... Und der Seemann warf den geflochtenen Zopf auf das Deck. »Wenn du das nächste Mal etwas auf meinem Boot anfaßt«, meinte er. »Dann suche ich mir was anderes zum Abschneiden aus.« Die Frau fiel zu Boden und blieb, zu einem erschöpften Bündel zusammengekauert, schweratmend liegen; doch sie weinte nicht. Mit bebender Unterlippe trat das Kind nach vorn und stellte sich ihm in den Weg. »Sie hat doch gesagt, daß es ihr leid tut«, sagte sie.
Er ging an ihr vorbei und versuchte, einen Winkel auf seinem Boot zu finden, wo er eine Zeitlang allein sein konnte, bevor er sich erneut an die Reparatur seines Heims machen würde.
Kapitel 15 Das geräumige Quartier des Diakonus auf der >Deez< hatte einst als Konferenzsaal gedient; die Kapitänskajüte war nicht groß genug für einen Mann seines Formats. Nicht, daß seine Körpermaße derart imposant gewesen wären: doch seine Persönlichkeit und sein Appetit waren gigantisch. Er hatte die Suite selbst dekoriert mit Trophäen von dieser und jener Eroberung. Der beeindruckende Kristallüster hatte einst, während der alten Tage, den opulenten Ballsaal eines Hotels erleuchtet jedenfalls hatte das der Älteste behauptet, der ihm das Stück als eine Art Zoll offerierte, wenn die Smoker das Atoll verschonten (welches, wenn ihn sein Gedächtnis nicht trog, Paradies genannt wurde). Der Diakonus - der schon die bloße Vorstellung, daß ein religiöser Mann einen anderen zu bestechen suchte, als Beleidigung auffaßte - hatte den Norden natürlich angewiesen, den Ältesten langsam zu foltern, um den Standort aller weiteren auf dem Atoll verborgenen Schätze aus ihm herauszukitzeln.
Es fand sich jedoch nichts anderes von großem Wert, und, dank der Waffen, Messer und des Feuers der Smoker, konnte sich der Älteste schon bald darauf - mit dem restlichen Atoll und seinen Bewohnern - auf die Suche nach einem neuen Paradies begeben. Weitere Schätze, die auf diesem oder jenem Atoll gesammelt worden waren, hatten das Quartier des Diakonus in einen wahren Palast verwandelt: der orangefarbene Flokati, der seine intensive Farbe verstrahlte wie eine leuchtende Erinnerung an eine Zeit, als die Welt nicht nur aus blauen und grauen Schattierungen bestand; die purpurroten, in Plastikkokons gehüllten Sofas, ein weiteres buntes Andenken an eine niveauvollere Zeit und Kultur; und einige Kunstwerke, einschließlich eines knalligen Samtgemäldes, eine religiöse Ikone von Elvis, dem Heiligen der alten Tage, und ein etwas prosaischeres, wenn auch friedliches Porträt irgendeiner unidentifizierten Persönlichkeit aus jener Zeit, bei dem es sich angeblich um das Werk eines alten Künstlers namens Rembrandt handelte. Das er jedoch mit Freuden gegen einen John Wayne auf schwarzem Samt eintauschen würde. Durch seine Größe bot sich der Raum geradezu als Golfplatz an - eigentlich zu schade, daß der orangefarbene Teppich nicht grün war -, und er beugte sich mit der Sonnenbrille auf der Nase über seinen Putter, um einen Schlag zu landen. Der
verdammte Stahlaugapfel fiel heraus und klickte gegen das Glas der Sonnenbrille. »Mist«, murmelte er, schob eine Hand unter die Sonnenbrille, um die Prothese an ihren Platz zu rücken, und schlug den Ball danach fachmännisch sanft in die Tasse. »Netter Schlag«, sagte der Norde. Der Diakonus gluckste vergnügt und schob seinen Putter in die Golftasche. »Und ich habe noch nicht einmal mein gutes Auge benutzt.« Der Norde hatte geduldig gewartet. Erst jetzt wagte er es, das Spiel des Diakonus zu unterbrechen. »Du hast gesagt, ich soll dir den Piloten bringen«, sagte er. »Wenn er zurück ist.« »Er ist wieder da? Gut.« Aufgeregt trat der Norde nach vorn. »Er hat sie ausfindig gemacht. Es gab ein Scharmützel...« »Bring ihn rein!« Der Diakonus riß seine Sonnenbrille herunter. »Das soll er mir selbst erzählen ...« Kurz darauf stand der Pilot mit hängenden Schultern vor seinem Meister. Er hatte beide Hände in seine zerschlissene Mütze verkrampft, wirkte erschöpft und seelisch am Ende. Der Diakonus legte in väterlicher Geste seine Hand auf die Schulter des Piloten. »Erzähl mir, was passiert ist.« »Sie ... Sie haben Ed umgebracht...« Der Pilot kämpfte mit den Tränen.
»Tragisch. Äußerst tragisch. Das Kind? Hatte der Fischmann das tätowierte Kind dabei?« Der Pilot nickte. »Ja, und irgend so eine Atollschlampe ... Sie war es, die Ed erschossen hat. Hat ihn harpuniert!« »Es gibt viele schlechte Menschen in Waterworld«, bestätigte der Diakonus mit einem düsteren Kopf schütteln. Dann legte er einen schützenden Arm um seinen Chefpiloten und drückte ihn in einer männlichen Umarmung an sich. »Aber wir beide wissen, daß es dort, wo Ed herkommt, noch viele von seiner Sorte gibt. Also ... In welche Richtung sind sie gefahren?« Der Norde beantwortete die Frage: »Westsüdwest.« Der Diakonus, der den schlurfenden Piloten mit sich zog, stellte sich neben seinen ersten Offizier vor einen Konferenztisch, auf dem antike Karten ausgebreitet waren. Auf einer von ihnen stellte der Norde gerade einige Geschwindigkeits-EntfernungsBerechnungen an. »Zeig es mir«, sagte der Diakonus. Der Pilot nickte gramerfüllt und deutete auf einen Punkt auf der Karte. »Gut. Und jetzt ruh dich ein wenig aus.« Er schob den Piloten von sich. Durch ein Kopfnicken bedeutete er einem Smokerwächter, ihm die bemitleidenswerte Kreatur vom Hals zu schaffen.
»Also, ich denke«, sagte der Norde. »Wenn wir jetzt losfahren, können wir sie ungefähr ...« Er tippte mit dem Finger auf einen Punkt auf der Karte, »...hier einholen. Es sei denn, er ändert seinen Kurs ...« »Unwahrscheinlich«, meinte der Diakonus. »Er ist ziemlich gewitzt.« Der Diakonus nickte weise. »O ja, er ist ein ganz Ausgebuffter, unser Ichthydämon. Wenn er weiß, daß er entdeckt wurde, dann wird er erwarten, daß wir denken, er würde seine Fahrtrichtung ändern.« Das grausame, gutaussehende Gesicht des Norden verzog sich langsam zu einem Lächeln. »Und deswegen wird er auch auf seinem Kurs bleiben.« »Genau«, erwiderte der Diakonus. »Also bleibt nur noch eine Frage - was ist sein Zielort?« Die Augen des Norden verengten sich. »Und weiß er überhaupt«, fuhr der Diakonus fort. »Wie wertvoll seine Fracht tatsächlich ist?« Die abseits stehenden Smokerwächter waren mit ihrem bißchen Verstand nicht in der Lage, dem Gedankengang des Diakonus zu folgen. Nur der Norde hatte verstanden. »Festland?« flüsterte er. »Festland«, bestätigte der Diakonus. »Die Erlösung. Viel Platz zum Ausbreiten!«
Mit glühenden Augen beugte sich der Diakonus tief über die Karte und ließ seinen Finger auf sie herabstoßen. »Ich sage, er fährt nach dort ...« Dann tippte er auf eine andere Stelle. »Was bedeutet, daß wir ihn hier schnappen ...« Die beiden Männer lächelten sich zufrieden an. Und Elvis, direkt über der Schulter des Norden, lächelte ebenfalls.
Kapitel 16 Dank einer Brise aus Westsüdwest dümpelte der Trimaran trotz zerfetzter Segel langsam dahin. Der Seemann, der sämtliche Reparaturen mit dem wenigen, was ihm dafür zur Verfügung stand, ausgeführt hatte, pflückte eine Tomate von der zwar dürren, aber dennoch heranreifenden Topfpflanze. Er lief an der Frau und dem Kind vorbei, die auf dem Deck saßen und erschrocken vor ihm zurückwichen. Weiber! Was hatte er denen jetzt wieder getan? Auf einem kleinen, viereckigen Holzblock, an dem er des öfteren seine Mahlzeiten aß, schnitt er die Tomate mit dem Messer in vier Stücke; die Klinge war rasiermesserscharf und führte saubere Schnitte aus, doch trotzdem spritzte ein wenig Saft auf den Holzblock. Er aß die Stücke bedächtig, um diesen Genuß voll auszukosten, dann leckte er den Saft vom Holzblock. Und wollte gerade seine Hand ablecken, mit der er
sich den restlichen Saft aus dem Gesicht gewischt hatte, als er einen Punkt am Horizont bemerkte. An der Steuerkonsole holte er das Teleskop aus dem Futteral und blickte hindurch: ein Trawler, kleiner als sein eigener, abgenutzt, aber seetüchtig, wurde von einem faltigen, bärtigen Drifter gesteuert, der ihm lächelnd zuwinkte und nach oben deutete... ... auf die grüne, in der Brise flatternde Flagge an seinem Mast. »Wer ist das?« Die Frau war plötzlich neben ihm aufgetaucht. »Nur irgendein Drifter«, antwortete er. »Bedeutet diese Flagge nicht, daß er handeln will?« »Ja.« »Halten wir nicht an?« »Nein.« Der Mariner schob das Teleskop ins Futteral zurück. Sie bedachte ihn mit einem süßlichen Lächeln. »Ich dachte, ihr Drifter müßtet immer anhalten, wenn ihr einander begegnet. Ist das nicht euer >Kodex« Er schob sich an ihr vorbei. »Vielleicht hat er Nahrungsmittel«, sagte sie hinter ihm. »Weißt du, das Kind ist nicht so wie du es muß jeden Tag essen...« Er betrachtete sein armseliges Schiff und überlegte, ob es das Risiko lohnte, anzuhalten und mit dem faltigen Drifter zu verhandeln. Doch womit
sollte er schon großartig handeln, nach all dem, was er und sein arg gebeutelter Trimaran durchgemacht hatten? Hinter ihm ertönte ihre Stimme. »Wir treffen vielleicht tagelang kein Boot mehr ...« Er drehte sich um und funkelte sie an. »Setz dich und sei still.« Sie gehorchte. Alsbald versah der Seemann ein Tau mit einem festen Knoten und befestigte es an der Reling, um das Boot des Drifters längsseits heranzuziehen. Der Drifter betrat das Schiff des Seemanns, verweilte jedoch, als das Tauschgeschäft seinen Lauf nahm, in der Nähe seines eigenen Kahns. Zunächst sollten einige Höflichkeitsformeln ausgetauscht werden, und der Drifter begann: »Schön, jemanden zu treffen, der sich noch an die Regeln hält.« Ein Grinsen überflog das haarige Gesicht. »Heutzutage findet man nicht mehr viele, die den Kodex in Ehren halten.« »Das kannst du dir sparen«, sagte der Seemann. »Welche Art von Geschäft hast du dir vorgestellt?« »Was schon?« Der Drifter zuckte mit den Schultern. »Einen Tauschhandel.« »Hast du Segel?« Der Drifter beäugte den Trimaran, schnaubte verächtlich und schüttelte den Kopf über den Größenwahn des anderen. »Du hast nichts, was mich reizen könnte.«
»Ich hatte genug, um dich deine Flagge hissen zu lassen.« »Hab' mich nur an den Kodex gehalten ... Das Gesetz der See...« »Es war deine Idee«, erwiderte der Seemann kalt. »Also mach schon.« Hinter dem Seemann ertönte erneut die nörgelnde Stimme: »Wie stehts mit Nahrungsmitteln?« Er warf der Frau einen wütenden Blick zu. Wußte sie nicht, daß sie bei einem Tauschhandel den Mund zu halten hatte? Doch sie sah ihn gar nicht an, bedachte statt dessen den Drifter mit einem höflichen Lächeln. »Nahrungsmittel?« fragte der Drifter. »Tolle Idee! Ich habe schon seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Was haste denn da?« Ihr Lächeln schwand; anscheinend war das nicht die Antwort, die sie erwartet hatte. Doch das Lächeln des Drifters wurde noch breiter und seine Augen größer, als er ihre weiblichen Formen begutachtete. »Bist du die Köchin? Oder vielleicht die Bedienung? >Bedienungen< waren schon immer meine Lieblingsspeise ...« Sie schauderte, als der Drifter über seinen eigenen, lahmen Witz lachte. Ihr Ausdruck wurde verächtlich, und sie legte ihren Arm schützend um Enola, die sich verwirrt an sie schmiegte, weil sie nicht wußte, was eigentlich vorging.
Der Drifter kaufte in Gedanken bereits ein - sein Blick schweifte über das Deck des Trimarans. »Wie du schon gesagt hast«, lenkte der Seemann ein. »Ich habe nicht viel.« Doch der Blick des Drifters landete erneut auf der Frau; gierig musterte er sie von Kopf bis Fuß. »Wenn ich es mir recht überlege, weiß ich eigentlich nicht, ob ich dir da zustimmen soll.« Die Frau wich einige Schritte mit dem Kind zurück. Der Drifter deutete mit dem Kopf auf die Tomatenpflanze. »Wie war's, wenn wir mit dem Obstgarten da drüben anfangen?« Der Handel war schon bald abgeschlossen. Zuerst folgte die Zeremonie des Wasseraustauschs. Der Seemann bot dem Drifter ein Glas seines Hydros an, und der Drifter tat es ihm gleich. Nach dem Feilschen befanden sich die Tomatenpflanze und zwei Rückspiegel zu Füßen des Drifters, und der Seemann besaß eine Rolle Tau. Schließlich kam der Drifter zur Sache. »Hast ja einen richtigen kleinen Harem dabei«, meinte er. Der Seemann antwortete nicht. »Was willst du für die Weiber?« fragte der Drifter. »Wir stehen nicht zum Verkauf.« Die Frau hatte beinahe geschrien. Mit hocherhobenem, jedoch
leicht bebendem Kinn hielt sie das Kind fest an sich gepreßt. »Ich kaufe nicht, Süße«, erwiderte der Drifter. »Ich tausche ... und in Waterworld kann man alles eintauschen.« »Unser Geschäft ist hiermit beendet«, sagte der Seemann. »Sind sie ein Pärchen?« fragte der Drifter, die Feststellung ignorierend. »Oder würdest du auch in Betracht ziehen, sie getrennt zu verkaufen?« »Wir müssen weiter«, erwiderte der Seemann. »Danke für den Handel...« »Wie war's, wenn ich sie nur miete?« Der Seemann dachte darüber nach. »Hast du Segel, oder Haar, von dem du dich trennen kannst?« Die Frau trat einen weiteren Schritt zurück und zog das klammernde Kind mit sich. »Ich hab' dir schon gesagt, daß ich nix davon, übrig habe. Ist schon Lunare her, daß ich beides im Angebot gesehn hab'.« »Dann sind wir fertig.« Die Augen des Drifters glitzerten. »Ich hab' aber was anderes, bei dem du dir's überlegen wirst - was, das du einfach nicht ablehnen kannst...« Er griff in sein zerschlissenes Hemd und zog eine kleine, versiegelte Flasche daraus hervor; in ihrem Inneren befanden sich einige Seiten aus einer
altertümlichen Zeitschrift - sowohl Bilder als auch Schrift. >Dies und Das< war darüber zu lesen. Die Kopfhaut des Seemanns begann zu prickeln. »Hab' sie ein paar Atollerflüchtlingen abgenommen«, sagte der Drifter. »Sind die gesamten Ersparnisse von dem ganzen Klan. Hab' sie aufgehoben ... für einen ganz besonderen Handel...« »Tu's nicht«, sagte die Frau. Es war kein Befehl, sondern eine flehentliche Bitte. Der Drifter bedachte die Frau mit einem hämischen Grinsen. »Vielleicht rede ich hier mit dem Falschen. Vielleicht ist das ja Ihr Boot...« Der Seemann streckte die Hand aus, und der Drifter reichte ihm die Flasche, samt den darin befindlichen, lockenden Seiten, mit glänzenden Augen und vor Geifer feuchtem Mund. »Eine halbe Stunde«, sagte der Seemann. »Nein«, keuchte Helen. »Eine halbe Stunde?« Der Drifter runzelte die Stirn und riß die Flasche zurück. »Da drin sind zwei Seiten! Damit könntest du ein halbes Dutzend Mädchen kaufen!« »Dann geh dorthin, wo du sie kriegen kannst. Auf diesem Schiff bekommst du eine halbe Stunde. Gilt der Handel nun, oder nicht?« »Tu das nicht«, sagte die Frau leise. »Halt den Mund«, befahl er.
»Ich sollte vielleicht lieber die Kleine nehmen«, meinte der Drifter. »Die andere redet zuviel...« Der Seemann schüttelte den Kopf. »Das Kind kannst du dir nicht leisten. Eine halbe Stunde mit der Frau.« »Bitte ...« sagte Helen. Doch er brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. Und dieser Blick besagte, daß dies das Fahrtgeld für sie und das Kind war; der Preis für das, was sie ihm zugemutet hatte. Für einen kurzen Moment lag irgend etwas in ihren Augen - fast als würde es aufflackern, um gleich darauf zu ersterben -, dann sank ihr Kinn herab, und ihr Blick senkte sich ebenfalls. Sie wußte, sie hatte keine Wahl. Der Seemann hielt ihm die Hand hin, und der Drifter warf ihm die Flasche zu. »Komm«, wandte er sich an Helen und deutete auf sein Boot; sie bewegte sich gehorsam nach vorn. Doch der Seemann blockierte ihr mit seinem Arm den Weg. »Auf meinem Boot«, sagte er. Der Drifter zuckte mit den Achseln. Sie beide kannten das Protokoll des Tauschhandels. »Das ist nur gerecht«, meinte er. Die Frau ging auf die Luke der Hauptkabine zu, der Drifter leckte sich gierig die Lippen und folgte ihr. Das Gesicht vor Verwirrung und Besorgnis ganz starr, wollte Enola den beiden hinterher. »Helen!« rief das Kind.
Der Seemann griff nach ihrem Arm und hielt sie zurück. »Setz dich«, befahl er dem Mädchen. Ohne zurückzublicken, kurz bevor sie in der Kajüte verschwand, sagte die Frau: »Enola - tu, was er sagt.« Dann schlug der Drifter die Kabinentür zu, und das Geräusch schoß dem Seemann wie ein Speer durch den Kopf. Er stand auf Deck und barg sein Gesicht in den Händen, als sich der verwirrte Blick des Kindes auf ihn richtete. Helen wandte sich dem Drifter in der überfüllten Kajüte zu. »Zieh das nicht aus.« Er kam näher und deutete mit einer Kopfbewegung auf ihre Tunika. »Für den Preis, den ich bezahlt hab', werd' ich sie runterreißen ...« Sie wich zurück. »Es ist nicht nötig, daß du grob wirst. Ich werde mich nicht wehren, solange du ...« »Hält's Maul.« Sein Grinsen war so gelb und grün wie ein gräßlicher Algenstrang. »Du kannst ruhig wissen, daß ich mir die Kleine auch noch vornehmen werde ...« Sie schnappte nach Luft und hätte vielleicht auch geschrien, doch plötzlich wurde die Lukentür aufgerissen, und der Kapitän des Trimarans erschien in einem Sonnenstrahl. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch seine Augen blitzten wild. »Der Handel ist ungültig«, sagte er.
Der Drifter wandte sich um, und seine Antwort klang fast wie ein Fauchen: »Was? Warum?« »Ich hab's mir anders überlegt.« Sie schob sich eiligst an dem Rohling vorbei und stellte sich hinter ihren unverhofft aufgetauchten Erlöser. »Habe ich richtig gehört?« Die Augen des Drifters waren kalt und zu Schlitzen verengt, sein Gesicht wie eine Faust verkrampft. »Hast du! Der Handel ist ungültig.« »Das kannst du nicht machen ...« Ihr Held warf dem Drifter die Flasche mit den kostbaren Seiten zu und erwiderte sarkastisch: »Hab' ich aber grade.« Der Drifter ließ die Flasche fallen, statt dessen hatte er nun ein glänzendes Messer in der Hand. »Nun, dann tut' s mir leid«, meinte der Drifter. »Aber ich hab' eben meine Bedürfnisse und akzeptiere kein Nein als Antwort.« »Geh raus«, befahl er Helen. »Ja«, nickte der Drifter. »Verschwinde, beweg' dich! Aber lauf nicht zu weit weg ... Es wird nicht lange dauern ...« Sie hastete aus der Kabine, gerade als der Drifter hinzusetzte: »Bist ziemlich geizig, ha, für einen Mann, der alles hat...« Dann schlug er die Kabinentür zu, und Helen rannte zu Enola und drückte das zitternde Kind an sich, als der schreckliche Kampflärm unter Deck den Trimaran wie in einem Sturm erbeben ließ - Schreie,
und das krachende, schmetternde Geräusch von umgestoßenen Objekten und Männern... Sie durchsuchte das Deck, bis sie die doppelläufige Speerwaffe entdeckt hatte; sie war geladen. Gut. Dann drehte sie sich zu der Luke um, als diese sich öffnete ... .. .und der Drifter herauskroch. Sollte er der Sieger gewesen sein, so mußte die Schlacht für ihn trotzdem als verloren gelten, denn er war blutüberströmt, von seinem eigenen Messer aufgeschlitzt, und das, was ihm an Menschlichkeit noch geblieben war, stand jetzt in seinem Blick geschrieben, als er ihn flehentlich auf die Frau richtete, die er eigentlich hatte vergewaltigen wollen. »Bring mich... Bring mich... zurück zu meinem... Boot...« Er taumelte auf sie zu, und sie wich an den Mast zurück, die Speerwaffe auf ihn gerichtet. »Bring mich...« Schwankend kam er noch ein Stück näher, doch sie empfand keine Angst mehr und ließ ihre Waffe sinken. »Bitte.,.« Er verdrehte die Augen und plumpste aufs Deck, mausetot. Dann schien sich die Leiche nochmals zu regen, doch es war nur ihr Gastgeber, der den schweren Körper von der Luke wegschob.
Sie konnte gar nicht glauben, wie sehr sie sich freute, ihn zu sehen. Auch auf Enolas Gesicht erschien ein strahlendes Lächeln. Sie beobachteten voller Bewunderung, wie er, die Leiche des Drifters haßerfüllt ins Wasser trat. Dann wandte er sich mit finsterem Blick zu ihnen um. »Kommt mit. Helft mir.« »Wobei?« fragte Helen. »Wenn wir zu dritt arbeiten«, sagte er. »Dann haben .wir das Boot dieses armseligen Mistkerls in Null Komma nichts ausgeräumt.«
Kapitel 17 Durch die Plünderung des Drifterbootes erhielt der Kapitän des Trimarans, was er brauchte, um zumindest kleinste Reparaturen ausführen zu können; der Drifter hatte jedoch nicht gelogen, als er sagte, daß sich keine Nahrungsmittel an Bord befinden würden. Helen saß neben der in Tagträume versunkenen, im Schneidersitz hockenden Enola auf dem Mitteldeck und versuchte, eine kaputte Angelrolle zu reparieren, die sie vom Schiff des Drifters mitgenommen hatte. Sie blickte zu ihrem Gastgeber auf, der gerade seine neugeflickten Segel auftakelte, wollte jedoch keine Schwäche zeigen, indem sie ihn um Hilfe bat, wünschte aber gleichzeitig, daß sie es getan hätte. Plötzlich griff er nach unten, pflückte die kaputte Rolle aus ihrer Hand, warf einen kurzen Blick auf die ruinierte Mechanik, und warf die Rolle in hohem Bogen ins Wasser, wo sie mit einem leisen Plätschern landete.
Enola erwachte blinzelnd aus ihren Träumereien und runzelte die Stirn. »Warum hast du das getan?« Helen berührte den Arm des Kindes. »Enola ... Bitte laß ihn in Ruhe.« Er machte sich bereits wieder an den Segeln zu schaffen und warf seinen beiden Passagieren einen gleichgültigen Blick zu. »Bitte«, sagte Helen. »Wir wissen zu schätzen, was du für uns getan hast...« Ohne eine Erwiderung kehrte er ihnen den Rücken zu und ging an seine Steuerkönsole. »Warum benimmt er sich so?« fragte Enola. »Ich weiß, daß er uns mag.« »Er hat uns verschont«, antwortete Helen. »Das heißt nicht, daß er uns mag.« »Er mag uns«, beharrte das Kind. »Ich wünschte, ich wüßte seinen Namen.« »Ich glaube nicht, daß er einen hat.« Die Brise zupfte sanft an den Locken des Kindes. »Ich habe einen für ihn.« »Und welchen?« »Seemann.« Helen runzelte die Stirn. »Ich habe dieses Wort schon gehört... es war in einem Gedicht, das der Alte Gregor immer aufsagte ...«
Helen erinnerte sich an das Gedicht, das der alte Mann vorgetragen hatte, oder besser gesagt an einen Teil davon. Die Worte waren sehr alt, sie stammten aus den alten Tagen. Wie ging es nur gleich wieder? »Es bedeutet >Matrose<«, sagte das Kind. »Tatsächlich«, erwiderte Helen, »glaube ich, daß es mehr als das bedeutet. Ein Matrose kehrt immer nach Hause in seinen Hafen zurück. Aber ein Seemann... der lebt auf dem Meer. Es ist seine Heimat.« Das Kind nickte. »Es ist ein guter Name für ihn. Du kannst ihn auch so nennen.« Und von da an war das der Name, den er in Helens Gedanken trug. Der Magen des Kindes knurrte, und Helen streichelte seine Wange. »Du hast bestimmt schrecklichen Hunger, nicht wahr?« Enola zuckte die Achseln. Sie war keine Nörglerin. Helen blickte auf den Seemann an der Steuerkonsole; er stand so bewegungslos, als wäre er aus Holz geschnitzt. . »Ich hoffe, du hast recht«, sagte Helen an das Mädchen gewandt. »Womit?« »Damit, daß er uns gern hat.« Sie stand auf, näherte sich ihm befangen und stellte sich ebenfalls an die Konsole.
»Bitte...« Er würdigte sie keines Blickes. »... Wir wollen dich nicht verärgern. Wenn du uns aber nur etwas geben würdest, womit wir angeln könnten, dann würde ich die Fische selbst fangen.« »Nicht in diesen Gewässern«, sagte er. »Was?« Der Mariner wandte sich von ihr ab. »Wir lösen uns nicht einfach in Luft auf«, meinte Helen. »Nur weil du uns den Rücken zudrehst.« Er wirbelte herum und blickte sie an. Er sah nicht wütend aus. Er sah nach überhaupt nichts aus ... »Wir sind hungrig«, sagte sie. »Das Kind ist hungrig ...« »Du verstehst nicht.« »Was verstehe ich nicht?« »Wie es ist, in dieser Gegend zu fischen.« Hinter ihm ertönte Enolas Stimme: »Vielleicht weiß er gar nicht, wie man fischt.« Er schüttelte angewidert den Kopf, stürmte davon und sprang in die Kabine des Mitteldecks. Einige Augenblicke lang glaubte sie schon, daß er einfach nur von ihnen wegkommen wollte, um dem Problem, für das er sie hielt, aus dem Weg zu gehen; dann jedoch ließen klappernde Geräusche unter Deck vermuten, daß er irgend etwas vorhatte ... Er tauchte mit einem seltsam aussehenden Doppelharpunengeschoß auf, das größer war als die Speerwaffe, die sie bereits gesehen hatte. Wie viele Waffen und verborgene Schätze hatte er eigentlich
noch dort unten verstaut? Für ein Schiff, das sowohl von Atollern als auch von Smokern geplündert worden war, besaß der Trimaran einen wahren Reichtum an Ausrüstungsgegenständen, die sein gewitzter Kapitän an geheimen Orten hortete. Was hatte er vor? Mit brennenden Augen und vor Wut gerötetem Gesicht befestigte er einen verschlungenen, rostigen Draht an der Schleppvorrichtung des Hecks. Enola stand neben ihr. »Was macht er da, Helen?« »Ich bin nicht sicher ...« Jetzt schlang er das andere Ende des Drahtes um die Mitte des Harpunengeschosses. »Soll ich ihn fragen?« murmelte Enola vor sich hin. »Nein!« sagte Helen. Dann - als wäre es die natürlichste Sache der Welt - schnellte der Seemann, die Harpune in beiden Händen, rückwärts vom Heck des langsam dahintreibenden Bootes, was nur ein bescheidenes Platschen verursachte. Er klammerte sich an das Harpunengeschoß in seiner Hand, als wäre es ein Griff, den man an die Wasserskileine des Drahtes gebunden hatte, legte sich mit dem Gesicht auf die sprudelnde Wasseroberfläche, und ließ sich von dem Boot ins Schlepptau nehmen. Hin und wieder tauchte sein Kopf aus dem Wasser, die meiste Zeit jedoch blieb er mit dem Gesicht nach unten liegen.
Helen und Enola konnten die Töne zwar nur dann hören, wenn sich sein Kopf über Wasser befand, doch der Seemann gab unablässig ein seltsames, delphinartiges Quieken von sich, während er, von dem Boot gezogen, dahinglitt. Mit fachmännischen Beinstößen schwang er im Kielwasser des Trimarans hin und her, bis er plötzlich um das Ende des Drahtes herumzuwirbeln begann! Helen runzelte die Stirn. Wie ... wie ... ein Köder? Die Oberfläche des Meeres fing auf einmal an zu brodeln, daß die Kielwellen des Bootes dagegen wie ein bedeutungsloses Blubbern wirkten, und eine gigantische, blaue Kreatur kam zum Vorschein. Mindestens neun Meter lang, mit dem Körper eines Wals und scheinbar unzähligen ruderartigen Flossen ausgestattet, schnellte sie anmutig wie ein Delphin heran; Delphine besaßen jedoch keine undenkbar riesigen, mit spitzen, rasiermesserscharfen Zähnen bestückten Rachen, die sich zu einem gähnenden Höllenschlund öffneten. Enola umklammerte Helens Taille, und sie beide keuchten entsetzt, die weit aufgerissenen Augen starr auf die Bestie gerichtet, als sie den Seemann mit einem einzigen Biß verschlang und den Schleppdraht schnappte ... »Nein!« schrie das Kind. Helen, die sich ebenso verwirrt wie ängstlich fühlte, streichelte dem Mädchen beruhigend über das Haar.
Die Bestie war nicht wieder abgetaucht, trieb statt dessen reglos an der Oberfläche, möglicherweise, um ihr Mahl noch einem Moment auszukosten, oder es zu verdauen ... Aus dem Inneren des Ungeheuers drang ein reißendes Rummsen, gefolgt von einer Harpune, die direkt aus seinem grotesken Kopf schoß, woraufhin ein weiterer dumpfer Knall das Erscheinen der zweiten Harpune ankündigte, die plötzlich aus der anderen Schädelseite des häßlichen, verendenden Biests ragte. Kurz darauf bohrte sich ein Messer durch das Fleisch des Kiefers, als sich der Seemann einen Ausstieg aus seiner fetten Beute schnitt. »Oh, Gott«, meinte Helen. Sie hatte tatsächlich keine Ahnung gehabt, wie man in diesen Gewässern fischte ... Am späten Nachmittag hatte Helen ihr Versprechen eingelöst und das Kochen übernommen, woraufhin riesenhafte Walphinsteaks auf dem kleinen Grill vor sich hin brutzelten, den sie vom Schiff des verstorbenen Drifters mitgenommen hatten. Sie wendete das Fleisch mit bloßen Händen und würzte die Steaks mit Salz und Krautern, die ihr Gastgeber beigesteuert hatte. Der Seemann hatte den monströsen Kadaver des Walphins (als den er die Meeresbestie identifizierte) in so viele Steaks zerlegt, daß es ihrer Meinung nach für die nächsten Tage reichen würde, und saß nun geduldig wartend da, während der Duft des frisch gebratenen Fisches verlockend nach oben wehte.
Leises Singen - das des Kindes - schwebte über der Brise. »Es gibt ein Mädchen, das lebt im Wind«, sang sie, den einen Arm um den Mast geschlungen. »Im Wind, im Wind. Es gibt...« Der Seemann warf ihr einen tadelnden Blick zu. Sie hielt inne. »Gefällt dir mein Lied nicht?« Er antwortete nicht. »Helen sagt, du magst meinen Gesang nicht«, sagte das Kind. »Weil du selber nicht singen kannst.« »Enola!« rief Helen. Der Seemann wandte sich an das Mädchen: »Hältst du jemals den Mund, um einfach nur zu lauschen?« Enola schien verdutzt. »Auf was?« »Die Musik des Wassers.« Das Kind horchte aufmerksam, ob da etwas zu hören war, und schüttelte dann den Kopf. »Ich höre gar nichts.« »Weil du zu laut bist«, erwiderte er. »Entweder zappelst du herum, oder du redest die ganze Zeit. Versuch zur Abwechslung doch mal stillzusitzen.« Sie zog eine Grimasse; es kam einem Schmollen sehr nahe, was Helen noch nie bei Enola erlebt hatte. Der Seemann mußte es ebenfalls bemerkt haben, denn er machte ihr ein Friedensangebot. Er ging zu
dem Steakhaufen, den er geschnitten hatte, und kehrte mit ausgestreckter Hand von dort zurück. »Du kannst einen haben ...« In seiner Hand lagen zwei große Augäpfel, die sich vordem im Besitz des Walphins befunden hatten. Das Kind wich voller Entsetzen zurück, woraufhin er schulterzuckend einen der Augäpfel nahm, und ihn über seinem geöffneten Mund ausquetschte. »Du weißt gar nicht, was du versäumst«, meinte er. Helen konnte sich ebenfalls nicht dazu überwinden, einen davon zu nehmen, also wiederholte er den Saftquetschprozeß nach einem erneuten Achselzucken, und warf die schleimigen Überreste danach ins Wasser. Dann versetzte er den beiden einen noch größeren Schock, indem er mit dem Fuß den Wasserbehälter auf sie zuschob. Helen streckte zögernd die Hand danach aus. »Es ist wirklich in Ordnung? ... Wir können?« »Trinkt so viel ihr wollt«, entgegnete er. »Heute abend gibt es Regen.« Enola starrte auf den Fuß, der den Behälter geschoben hatte. Helen ekelte sich ein wenig vor den Schwimmhäuten zwischen seinen Zehen; schließlich und endlich war ihr Gastgeber - wie der Walphin, den er erlegt hatte - ebenfalls eine Mutation.
Das Kind fühlte sich jedoch nicht davon abgestoßen, es interessierte sie nur. Sie fand es sogar faszinierend. »Ich wünschte, ich hätte auch so Füße wie du«, sagte sie. »Enola!« rief Helen. Der Seemann sah das Kind einfach nur an. »Dann könnte ich vielleicht schwimmen«, sagte Enola. Nach dem Abendessen rollte sich Helen zufrieden auf dem Deck zusammen, um ein Nickerchen zu machen; schon bald war sie fest eingeschlafen, zum ersten Mal seit Beginn dieser Odyssee mit einem vollen Magen, den sie sogar noch länger nicht mehr gehabt hatte, da auf dem Atoll auch nicht gerade ein Überfluß an Nahrungsmitteln bestand. Ein undefinierbares Geräusch riß sie aus dem Schlaf. Sie stützte sich mit dem Ellbogen ab. Eine blutrot versinkende Sonne verlieh dem Meer einen karmesin und gold schimmernden Anstrich. Sie ließ sich zurück aufs Deck sinken und wollte gerade wieder einschlummern, als sich das Geräusch wiederholte; diesmal erkannte sie es. Ein Schrei! Sie setzte sich auf, ihre Augen schweiften suchend über das Deck - nichts von Enola zu sehen, und genaugenommen fehlte auch von dem Seemann jegliche Spur. Ein weiterer Schrei - der Schrei eines Kindes, Enolas Schrei - ließ sie hochschnellen.
Draußen auf dem karmesin-goldenen Wasser, schwamm der Seemann gemächlich auf dem Rücken, und die fröhliche Enola saß rittlings auf seiner Brust. Bei den Schreien hatte es sich um Quietschen gehandelt - vergnügtes Quietschen. Das Kind amüsierte sich königlich, hatte den größten Spaß, doch das war nicht der entscheidende Punkt... »Enola!« brüllte Helen verzweifelt. »Was machst du denn nur?!... Diese Ungeheuer werden dich fressen!« »Die schlafen jetzt.« Die Stimme des Seemanns war kaum lauter als das sanfte Plätschern, mit dem er durch das Wasser zog. Er nahm sie bei der Hand, zog sie, während er sich drehte, von seiner Brust, und schwang das Kind auf seinen Rücken; sie klammerte sich an seinen Hals, um nicht herunterzufallen. »Du mußt keine Angst haben«, sagte er zu ihr. »Ich werde nicht zulassen, daß dir irgend etwas passiert... Laß dich von dem Wasser leiten, hör ihm zu/und es wird dir sagen, wie du deine Arme und Beine bewegen mußt...« Und während der nächsten Stunde beobachtete Helen, wie der rauhbeinige Kapitän dem Kind Schwimmunterricht erteilte. Von Zeit zu Zeit blickte Enola beifallheischend zu Helen auf, woraufhin diese zustimmend lächelte und nickte. »Sieh nur!« rief Enola. »Schau, Helen!«
Es war zwar nur ein klägliches Hundegepaddel, aber es war ein Anfang. Später auf Deck, als die Sonne bereits untergegangen war, und das Meer tiefblau unter einem dunkel bewölkten Himmel ruhte, fragte sie ihn, warum er das getan hatte. Er saß an der Ruderpinne und zuckte mit den Achseln. »Ich habe einfach noch nie jemanden getroffen, der nicht schwimmen konnte.« Sie wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte, und die Stille wurde bereits unbehaglich, als sie sich an das Stück Stoff in ihrer Hand erinnerte. »Wir ... Wir wollten dir danken ...« Er sah sie einfach nur an. »... für ... alles. Aber wir kennen noch nicht einmal deinen Namen.« »Ich habe keinen.« Es war die schlichte Feststellung einer Tatsache, doch für Helen war es das Traurigste, was sie je gehört hatte. Er mußte ihr Mitleid gespürt haben. »Ich habe nie einen gebraucht«, fügte er hinzu. Sie holte das Stück Stoff hinter ihrem Rücken hervor. »Ich ... Ich habe etwas für dich«, sagte sie. »Was?« »Es ist nur ein Stück Stoff, das ich auf dem Schiff des Drifters gefunden habe. Nur ein Lumpen.« »Lumpen sind nützlich.«
»Nun, ich hoffe, daß du diesen hier nicht benutzen wirst.« Sie hielt ihn hoch und zeigte ihm die grobe und doch liebenswerte Skizze, die Enola von ihnen angefertigt hatte. Das Bild zeigte sie alle drei zusammen auf dem Deck des Trimarans. »Enola wollte sie dir geben, aber sie hat sich nicht getraut.« Er antwortete nicht. Doch dann streckte er die Hand aus und nahm den Lumpen entgegen. »Oh, und hier.« Sie reichte ihm die Wachsmalkreide, mit der das Kind gezeichnet hatte. »Ich habe sie ihr weggenommen. Sie wird es nicht wieder tun.« Als er sie endlich anblickte, wurde ihr mulmig es war, als würden sich seine Augen direkt in sie hineinbohren ... Schließlich fragte er sie: »Diese Zeichen auf ihrem Rücken - was haben sie zu bedeuten?« Sie hatte sich schon gefragt, Wann sie zu diesem Thema kommen würden; ein Frösteln durchlief sie. »Nichts.« »Sie müssen doch etwas bedeuten«, meinte der Seemann. »Es ist kein Muttermal. Irgend jemand hat sie dort angebracht.« Sie senkte den Blick, und als sie wieder aufschaute, merkte sie, daß er sie immer noch anstarrte. »Du ... du wunderst dich über uns, nicht wahr?« »Na ja ... du siehst ihr nicht sehr ähnlich. Es sei denn, sie schlägt nach ihrem Vater.« »Ich bin nicht ihre Mutter.«
»Du benimmst dich aber so.« Das endlose Meer war schwarz und anthrazitfarben, grau und blau, und der Wind wisperte über seine Oberfläche: Vertraue ihm ...du kannst ihm vertrauen ... »Vor ungefähr sechs Jahren«, begann sie leise, »trieb vor Oasis ein Korb mit einem Kind darin ... einem Säugling ... einem kleinen Mädchen.« »Enola«, sagte er. Sie nickte. »Alle wollten sie zurück ins Meer stoßen - es war das Gesetz der Ältesten. Doch ich sagte, ich würde sie aufnehmen... sie war so zierlich, und ich besaß wegen meines Ladens ein gewisses Ansehen auf dem Atoll, also hörten sie auf mich. Doch sie sagten, wenn ich schon so sehr nach ihr verlangte, dann dürfte ich nie ein eigenes Kind gebären. Sie würde dann mein Kind sein müssen, mein erstes und einziges Kind.« »Du hast dem zugestimmt.« »Ich hatte keine andere Wahl. Außerdem gab es keinen Mann in meinem Leben ... offen gesagt, habe ich auch niemals geglaubt, irgend jemanden in meinem Leben haben zu wollen, zumindest niemanden vom Atoll.« »Doch das Kind kam nicht vom Atoll.« »Nein. Nein, das tat sie nicht, und da war niemand sonst, der sie wollte, der für sie sorgen würde - sie wäre gestorben.« Er zuckte die Achseln.
»Na und?« Sie blickte ihn stirnrunzelnd an. »Hast du noch niemals das Wort >Erbarmen< gehört?« »Nein. Was hat es zu bedeuten?« Sie seufzte kopfschüttelnd. »Ist egal. Es wäre schwer, jemandem seine Bedeutung klarzumachen, der schon so lange allein lebt wie du ...« Er antwortete nicht. Nicht unfreundlich sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihm: »Weißt du, eigentlich habe ich Mitleid mit dir.« »Was ist Mitleid?« »Du weißt es wirklich nicht, oder?« »Wenn ich es wüßte, würde ich dann fragen?« »Wenn du es nicht weißt«, meinte sie sanft. »Fürchte ich... fürchte ich, daß ich es dir nie begreiflich machen könnte...« Er zuckte nur mit den Schultern und wandte sich der Ruderpinne zu. Und sie beschloß, ihm nichts mehr über Enola zu erzählen, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt... Sie starrte erneut hinaus auf das Wasser. »Wann werden wir >Festland< erreichen?« »Morgen, vielleicht«, entgegnete er. »Spätestens übermorgen. Hier.« Er gab ihr die Wachsmalkreide zurück. »Was ist das?« fragte sie mit einem überraschten Lächeln.
»Ich schenke sie dem Kind nicht, kapiert? Es ist nur ...« »Eine Leihgabe?« Er nickte. »Eine Leihgabe. Kein Geschenk.« Vielleicht war er gar kein so hoffnungsloser Fall. Sie schlang ihre Arme um sich und trank die klare Nachtluft, ließ die Brise durch ihr Haar wehen. »Ist >Festland< schön?« fragte sie. »Sag mir die Wahrheit.« »Du wirst es schon bald selbst sehen.« »Für mich«, sagte sie verträumt, »wird es wie das Himmelreich sein.« Dann ließ sie den Seemann auf seinem Posten zurück, und ging zu Enola, um ihr zu sagen, daß es Schlafenszeit wäre. Der Seemann überzeugte sich davon, daß die Frau schlief - er überließ ihr das Cockpit als Nachtquartier -, und duckte sich in die tiefer gelegene Kabine des Mitteldecks. Er gestattete dem Kind, dort zu schlafen, und sie lag bereits in tiefem Schlummer zusammengerollt. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß er ungestört sein würde, öffnete er ein Geheimfach an der Wand und entnahm ihm seine kostbarsten Besitztümer - drei mit Eselsohren versehene Ausgaben einer Zeitschrift namens >National Geographic<. Er war des Lesens mächtig. Es war ihm von seiner Mutter - dem freundlichsten Menschen, den er
je gekannt hatte - beigebracht worden. Also studierte er die geheiligten Seiten, verstand nicht immer, was er da las, war jedoch trotzdem davon fasziniert >Treibhauseffekt - Eine Realität<, >Der Tod der Regenwälder<, >Luftverschmutzungsspirale< (in einer Zeitschrift des Jahres 1999); >Unser Freund, das Atom<, >Unsere herrlichen Autobahnen<, >Die Erforschung des Weltraums< (von 1953); und die allerbeste, und älteste - von 1932! - mit seinem Lieblingsartikel und seinen Lieblingsbildern, >Mit Gewehr und Kamera den Kongo entlang«. Es gab jedoch ein Bild, das ihn immer wieder heimsuchte; es berührte etwas in seinem Inneren und drohte, die bittersüße Freude, die er beim Anblick der anderen Fotos empfand, zu zerstören. Auf einer Schwarzweißfotografie stand ein schwarzer Eingeborener direkt vor einem Zelt im strömenden Regen. In dem Zelt saß ein weißer Mann mit einem Helm, der aussah wie eine umgestülpte Schüssel; und kurzen, kindischen Hosen an den Beinen, und kochte sich auf einem kleinen Herd eine Mahlzeit. Die Bildunterschrift besagte: >Haben Sie Mitleid mit dem armen, eingeborenen Führer, der im Regen stehen muß, während Professor Matthews sämtliche Vorzüge eines Aluminium-Gaskochers genießt. < Draußen fing der Himmel an zu grollen. Es würde bald regnen. Er mußte seine kostbaren Zeitschriften weglegen und Behälter verteilen, um das Hydro aufzufangen.
»Haben Sie Mitleid mit dem armen Eingeborenen«, sagte er leise vor sich hin und machte sich an die Arbeit.
Kapitel 18 Der spiralförmige Turm ragte am Horizont auf wie ein riesiger, deformierter Baum, als wären die Metallund Holzteile irgendwie zusammengewachsen. Aus einem Schornstein kräuselte schwarzer Rauch in den klaren Himmel, während viel kleinere, schachteiförmige Gebilde die durch Stricke mit dem Turm verbunden waren ihn wie schaukelnde Bojen umkreisten. Helen erblickte dies durch ein Fernglas und furchte die Stirn. Zu klein für ein Atoll. Was war das für ein Ort? Was hatte dieser alptraumhafte Turm zu bedeuten? Vorne auf dem Vorschiff blickte das Kind mit zusammengekniffenen Augen auf den zwei Kilometer entfernt lauernden Turm. Dann stellte es die Frage, die Helen ebenfalls beschäftigt hatte: »Was ist das?« Helen, die neben dem Seemann im Cockpit stand, blickte auf den Kapitän des Trimarans, obwohl sich bereits ein kalter Verdacht in ihr regte.
»Handelsaußenposten«, erwiderte er beiläufig. Ohne sie anzusehen. »Du hast gesagt, wir würden heute Festland erreichen.« Sie versuchte, ihre Worte nicht allzu vorwurfsvoll klingen zu lassen. »Heute, morgen. Was macht das schon?« Sie zuckte zusammen. »Was macht das schon ... ?« »Ich brauche Segeltuch.« »Wir haben Segeltuch«, sagte Helen. »Wir haben es vom Boot des Drifters mitgenommen ...« Doch er antwortete nicht. Irgend etwas stimmte hier nicht. Sie wollte ihre Frage gerade etwas schärfer formulieren, als sie bemerkte, daß sein Gesichtsausdruck ebenfalls besorgt wirkte. Der Trimaran näherte sich dem Turm mit eingeklapptem Ausleger, doch hundert Meter davon entfernt änderte der Seemann plötzlich seine Meinung. Sie musterte ihn, als er abdrehte, augenscheinlich; um hoch ein wenig Zeit vor dem Anlegen verstreichen zu lassen. Er streckte die Hand aus, und sie kapierte, daß sie ihm das Fernglas reichen sollte. »Was siehst du?« frage sie. »Die Händler im Turm winken uns zu«, erwiderte er. Dann ließ er das Fernglas sinken und rief einen Gruß. Er schallte über das Wasser, in einer Sprache, die Helen noch nie zuvor gehört hatte. Von der anderen Seite kam keine Erwiderung.
»Was für eine Sprache war das?« fragte sie. »Portugriechisch«, antwortete er. »So reden sie in diesen Gewässern ... oder jedenfalls habe ich das geglaubt.« Sie nahm ihm das Fernglas aus der Hand, um nochmals hinüberzublicken. Sie konnte die Händler winken sehen, ja, doch irgend etwas war seltsam daran, irgend etwas ... schien nicht richtig zu sein. Dann lenkte sie ihren Blick auf die hüpfenden, schachtelartigen Gebilde und sah, daß es Käfige waren. Und an die Gitterstäbe dieser Käfige klammerten sich - ebenso wie der Seemann, als er über der Organo-Barkasse gebaumelt hatte bemitleidenswerte, schäbige, im schlimmsten Zustand befindliche Exemplare der Menschheit. Sklaven. Furcht krallte sich in ihr Herz. Als sie das Fernglas sinken ließ, sagte sie: »Das sind ... Es ist eine Sklavenkoloniel« Er antwortete nicht. War es für ihn ebenfalls eine Überraschung? Zumindest machte es den Eindruck, als würde er den Turm und seine Bewohner eingehend mustern ... mißtrauisch ... Oder (und der Gedanke verursachte ihr ein starkes Frösteln) hatte er Helen und Enola hergebracht... um sie zu verkaufen? Die Sklavenhändler in dem spiralförmigen Turm winkten dem Seemann und seinem Trimaran in der Tat zu. Doch man half ihnen dabei.
Das war auch nötig - sie waren nämlich tot. Einigen war die Kehle durchschnitten worden, andere hatte man erschossen, erstochen, aufgespießt und sonstwie mißhandelt. Dennoch hatten sie alle etwas gemein. Sie waren tot, dahingemeuchelt von den Puppenspielern hinter ihnen, die sie wie Leichenmarionetten bewegten. Während seine Smokermänner mit den Armen der toten Männer herumwedelten, stellte sich der Diakonus auf einen Haufen toter Sklavenhändler, um an ein Guckloch in der Turmmauer zu gelangen, durch das er sein Teleskop wie einen Rüssel schieben konnte. Dadurch hatte er einen wunderbaren Ausblick auf das hundert Meter entfernte Dreirumpfschiff. Auf seinem Vorschiff stand, wie eine exquisite und perfekt geschnitzte Galionsfigur, das dunkle, kleine Kind. »Ah«, sagte der Diakonus. »Da ist ja mein kleines Mädchen...« Der Seemann lief an den äußersten Rand seines Schiffes. Die Frau klebte ihm an den Fersen. »Warum hast du uns hergebracht?« »Still«, befahl er und beugte sich vor, um über den Rand zu blicken. Das Wasser trug den nur leichten, aber verräterisch schillernden Glanz einer Ölschicht - ein untrüglicher Hinweis auf ein Treibstoffboot, und ein sicheres Anzeichen, das auf die Benutzer solcher Vehikel schließen ließ - die Smoker.
Doch es war nicht die Spur eines Bootes, geschweige denn eines Treibstoffgefährtes oder Smokers zu sehen ... Und doch mußte der Mariner seinem Instinkt gehorchen. Hier draußen war es das einzige, was einen Mann am Leben erhielt. Also ließ er die Frau zurück, damit sie ihr fragendes Geplapper an den Wind richten konnte, und ging auf den Steuerbordrumpf zu, wo er sich in eine Nische unter Deck zwängte. Im Inneren des Schiffes entfernte er ein Bodenbrett, unter dem ein Hohlraum zum Vorschein kam, der zum Wasser hin geöffnet war. Sein tragbares Periskop stand ganz in der Nähe, und er ließ es in den Hohlraum gleiten. Zunächst sah er nichts außer Wasser. Was hatte er denn anderes erwartet? Er drehte das Periskop, um den gesamten Mittelrumpf im Blick zu haben, und dann - erschreckend nah - tauchte plötzlich das häßliche Gesicht eines bebrillten Smokers mit einem Atemschlauch in der Nase auf. Als der konsternierte Smoker davonpaddelte, erschienen hinter ihm, so weit das Auge des Periskops reichte, Dutzende der herumhampelnden Mistkerle, die sich, ausgerüstet mit Taucherbrillen, Atemschläuchen und Gewichten an den Gürteln, auf ihren Jetskis unter Wasser versteckten ... sie waren einfach überall. Der Seemann stürmte nach oben, sprang an seinen Platz am Cockpit, entfaltete den Klüver und
wendete das Großsegel, wobei der herumschwenkende Baum die Frau beinahe enthauptete. »Hey!« schrie Helen sowohl wütend als auch schockiert. »Was zum Teufel ist...« »Smoker!« brüllte er. Beim Sklavenhändlerturm erscholl eine gebieterische Stimme, die über das Wasser hallte: »Gib Laut, gib Laut, gib Laut!« Obwohl vom Wasser gedämpft, konnte man das Blöken der Hupe auf dem Deck des Trimarans hören, als die abgetauchten Smoker ihre Motoren anwarfen und die Jetskis zum Leben, erwachten, um brüllend und donnernd aus dem Wasser zu schießen. Die Smoker formierten sich wie ein Wasserballett und schleppten ein riesiges Treibnetz hinter sich her, mit dem sie den Trimaran ohne Zweifel einzufangen gedachten. Das Kind versuchte vom Vorschiff zurückzuweichen, Verlor dabei jedoch den Halt. Dem Seemann blieb für ihre Errettung keine Zeit, doch die Frau behielt die Nerven und rief ihr zu: »Halt dich fest! Runter, und halt dich an irgendwas fest!« Das Mädchen kauerte nieder und krallte sich mit ihren kleinen Fingern am Bug fest; an ihrem entschlossenen Blick konnte man erkennen, daß sie für die Schlacht gewappnet war. Er konnte ihre Zähigkeit nur bewundern.
In der Zwischenzeit hatte er die richtige Windrichtung gefunden und setzte zur Flucht an; da die Smoker jedoch bereits an beiden Flanken auftauchten - und dem Bug immer näher kamen -, wußte er, daß die Schlinge sich bald um ihren Hals legen würde. Er kreuzte hart am Wind, drehte ab. Er wußte, was zu tun war. »Backbord!« schrie er der Frau zu, als er auf die linke Seite zusprang. »Sofort!« Er löste die ausziehbare Leiter und schob sie so weit über Bord, bis der größte Teil über die Wasseroberfläche ragte, als wäre das Meer eine Wand, die er zu besteigen gedachte. »Was hast du ...?« kreischte sie, als sie den linken Ausleger erreichte. Als Antwort ergriff er ihr Handgelenk und zerrte sie mit sich auf die Leiter, wo sie sich in einem gefährlichen Balanceakt zurücklehnten, um dem Schiff mehr Gewicht zu geben. Er verlängerte die Leiter um weitere fünfzehn Zentimeter ... ... und der langsam aus dem Wasser steigende Steuerbordausleger entwand sich dem immer enger werdenden Netz! Er führte sie zurück, sie verlagerten ihr Gewicht auf die Mitte, und der Trimaran klatschte zurück aufs Wasser, in die Horizontale. Der Mariner brüllte: »Kielschwert - zieh's hoch!« Sie nickte, flitzte zum Mittelrumpf und schoß unter Deck.
Der Mariner griff nach einem Tau, schwang sich über das Heck und landete auf dem Steuerbordausleger. Er konnte hören, wie sie in der vorderen Kabine unter Deck die Kurbel betätigte, die das Kielschwert - im Kiel des Schiffes innerhalb des Bootes nach oben zog, um ihm mehr Stabilität zu verleihen. Die Frau befand sich immer noch unter Deck, als er ihr zurief: »Steuerbord, sofort!« Im selben Moment entdeckte er, wie sich ein Berserker auf einem Jetski - kein Angehöriger der Schleppnetzmannschaft - dem Bug des Schiffes näherte; er streckte die Arme nach dem Mädchen aus, dem vor Schreck fast die Augen aus dem Kopf kullerten. »Duck dich!« brüllte der Seemann. Sie gehorchte, und der Berserker - der sich immer noch nach vorne lehnte, um sie zu schnappen krachte mit voller Wucht in den Bug des Trimarans, zersplitterte einen der vorderen Querspanten und verschwand unter dem Boot, ohne auch nur den kleinsten Laut von sich zu geben. Die Frau erschien an der Oberfläche und gehorchte dem Seemann und seinen Anweisungen, indem sie die ausziehbare Leiter an Steuerbord erklomm, woraufhin der Backbordausleger durch das zusätzliche Gegengewicht aus dem Wasser gehoben wurde.
Als sie ihr Gewicht wieder verlagerten, klatschte das Boot erneut ins Wasser - außerhalb des Netzes, das sich immer mehr zusammenzog. Dann liefen sie beide schweratmend zurück nach Steuerbord, und er zog die Leiter ein. »Du hast uns aus diesem Schlamassel rausgebracht!« sagte sie verwundert. Und wieder schallte die kommandierende Stimme über das Wasser: »Kappt die Leinen! Kappt die Leinen!« Die Smoker auf ihren Jetskis hackten mit Macheten auf ihr Schleppnetz ein - augenscheinlich war das Ding entweder mit ihnen oder ihren Fahrzeugen verbunden. Wie auch immer, das Gewicht ließ sie jedenfalls langsamer werden, wie der Mariner mit einem grimmigen Lächeln feststellte. Er sprang zurück in sein Cockpit und trat mit dem Fuß gegen eine Lukentür, um so beschleunigen zu können, wie es die augenblickliche Situation erforderte; er rammte seinen Fuß auf das Pedal in der Luke, und die Lebensrettungskanone - am Bug katapultierte seinen letzten Trumpf für den Notfall über dem Kopf des verdutzten Kindes in die Luft. »Was?« Die Frau folgte dem von ihm abgefeuerten Kometen mit den Augen. Er bemerkte, daß sie wieder an seiner Seite stand. »Spinnaker«, erwiderte er. Durch das dreieckige, wie ein Kastendrachen geformte Vorsegel, das gleich einem Stern am
taghellen Himmel schimmerte, erhielten sie den nötigen Schwung. Die Smoker lagen plötzlich weit zurück. Die Schlacht war zu Ende. Doch plötzlich durchfuhr den Seemann ein rasender Schmerz; ein Pfeil hatte sich in seine Schulter gebohrt und einen wahren Blutstrom ausgelöst. Sein Kopf schnellte herum, um die Ursache für seine Pein ausfindig zu machen, und da entdeckte er ihn - den Berserker, der in den Bug gekracht war! Unter dem Schiff hatte sich der Bastard, noch halb im Wasser, in das Netzwerk des Decks gekrallt, als wäre es ein Käfig aus Maschendraht. Auf seinem häßlichen Kopf trug er einen ZweischußSpeerwaffenhelm - und die Tatsache, daß er ziemlich dämlich aussah, machte das Geschoß nicht weniger tödlich und verringerte auch gewiß nicht den stechenden Schmerz, den der kleine, durch seine Schulter fetzende Speer verursacht hatte. Außerdem war noch ein Schuß in der Helmvorrichtung übrig. Mit seinem heilen Arm riß er eine Harpune aus der Cockpit-Halterung, hob sie über seinen Kopf und rammte sie dem Berserker direkt durch die Wirbelsäule. Der Bastard fiel nach hinten und verschwand nach einem kurzen Aufwirbeln roten Schaums unter der Wasseroberfläche. »Bleib auf diesem Kurs«, befahl er der Frau und taumelte weg, um den verdammten Speer zu
entfernen. Auf dem Achterdeck brach er ohnmächtig zusammen und sein Blut tropfte in das Wasser hinab, als der Trimaran weiterglitt. Der Diakonus stand mit dem Teleskop auf seinem menschlichen Abfallhaufen und beobachtete den überaus enttäuschenden Ausgang seines wohldurchdachten Plans, mit dem er den Trimaran in einen Hinterhalt hatte locken wollen. Sein Erster Offizier, der Norde, erklomm gerade die aus Schädeln, Schultern und Knien bestehenden Stufen, um seinem wutentbrannten Chef Gesellschaft zu leisten. »Ich würde sagen«, riskierte der Norde einen Vorstoß, »wir verfrachten den ganzen Treibstoff in ein Boot und veranstalten eine Hetzjagd auf den komischen Vogel.« Der Diakonus ließ sein Teleskop sinken und richtete seinen einäugigen Blick auf den Vertrauten. »Möwenkacke«, meinte er. »Wir erwischen ihn nicht mit zehn Booten, und du willst nur eins ausschicken? Das sollte doch bestimmt ein Scherz sein.« Kopfschüttelnd hielt er das Teleskop erneut an sein Auge. Hoppla - das verkehrte. Hier sind wir richtig. »Außerdem«, fuhr der Diakonus fort, während er das Fernrohr justierte, »gibt es noch andere Mittel und Wege.« Der Diakonus hatte den Trimaran im Blickfeld er wurde zwar immer kleiner, doch er konnte ihn
noch sehen. Er konnte den Fischmann erkennen, der anscheinend ohnmächtig auf dem Achterdeck lag. Was war das für ein roter Fleck auf seiner Schulter? Blut? »Ich glaube, wir haben ihn verwundet«, sagte der Diakonus. »Verwundet?« Der Diakonus nickte und verzog sein Gesicht zu einem höchst selbstzufriedenen Lächeln für einen Mann, der gerade von einer Frau, einem Kind und einem Fischmann aufs Kreuz gelegt worden war. »Er hat uns eine Brotkrumenspur hinterlassen«, meinte er. »Was?« »Eine sehr gebrüchliche Redewendung aus den alten Tagen., Laß sie loslegen.« »Sir?« »Setz die Spürhaie aus.« Kurz darauf öffnete sich das Maschendrahtgitter eines Unterwasserkäfigs und entließ die Spürhaie, die in immer schnelleren Kreisen durch das Wasser zogen, als würde der Blutgeruch sie alle gleichzeitig verrückt machen, verrückt vor Erregung. Dann jagten sie davon.
Kapitel 19 Um den Kurs zu halten, zurrte Helen das Steuerruder fest, so wie sie es viele Male bei ihm gesehen hatte, und lief über das Netzdeck des Trimarans, während das Schiff ganz selbständig behende durch das Wasser pflügte. Ein Wettstreit der Gefühle tobte in ihrem Inneren - die allmählich abebbende Angst vor dem Hinterhalt der Smoker, eine nur schwache Erleichterung darüber, daß sie sich (zumindest für den Augenblick) außer Gefahr befanden, doch am stärksten von allem war die rasende Wut auf den Seemann, der sie verraten hatte. Sie war davon überzeugt, daß ihr Gastgeber sie und Enola auf dem höllischen Sklavenmarkt, an dem sie vorbeigekommen waren, hatte verkaufen wollen. Ihr Zorn verflüchtigte sich jedoch etwas, als sie sah, daß er ohnmächtig zusammengesackt war und das Blut aus seiner durchbohrten Schulter in einem Rinnsal an der Bordwand herabfloß. Sie hievte ihn
aufs Deck, und er kam derart schnell zu sich, als würde er aus einem Traum hochschrecken. Er blinzelte mit schmerzverzerrtem Gesicht, setzte sich auf und versuchte, den Speer herauszuziehen. »Kann ich dir helfen?« Sie beugte sich zu ihm herab. »Verschwinde«, fauchte er. Das schlug dem Faß den Boden aus. Zornbebend stellte sie sich über ihn und scherte sich nicht mehr darum, wieviel Schmerzen der Mistkerl auszustehen hatte. »Du hast uns angelogen«, sagte sie. »Du wolltest uns dort verkaufen.« »Wir haben beide gelogen«, knurrte er und bearbeitete den Speer. »Was?« Er unterbrach seine Bemühungen mit dem Speer, um ihr direkt in die Augen zu blicken. »Du hast gesagt, die Zeichen auf dem Rücken des Kindes hätten nichts zu bedeuten. Du hast gelogen.« »Ich ... Ich weiß wirklich nicht, was sie bedeuten.« Zähneknirschend zerrte er an dem Speer. Dann fügte er schweratmend mit zusammengekniffenen Augen hinzu: »Diese Smoker waren hinter dem Mädchen her. Deshalb auch dieser Hinterhalt.« »Du bist verrückt.« »Ich weiß, was ich gesehen hab'!« Sein Daumen machte einen Ruck auf die durchbohrte Schulter zu.
»Das habe ich von einem Smoker, der sein Leben verlor, weil er nach ihr greifen wollte!« Das Kind hatte die Streiterei mitbekommen und bewegte sich zögernd über das Netzdeck auf sie zu. Ihr Gesicht war starr vor Sorge, als sie sich dem verwundeten Seemann näherte. »Du bist verletzt«, sagte sie. »Spar dir dein Mitleid, Enola«, meinte Helen spröde. »Er wollte uns verkaufen.« Sie streckte die Hand aus, entriß dem Kind die Wachsmalkreide, die es fest umklammert hielt, und schleuderte dem Seemann seinen >Malstift< mitten ins Gesicht. Er zuckte noch nicht einmal mit der Wimper, als die Kreide von seiner Wange abprallte und auf dem Deck landete. Enola wollte sich nach der Wachsmalkreide bücken, doch Helen hielt sie mit ihrem Schrei zurück: »Laß sie liegen!« Das Kind verließ sie mit hängendem Kopf, um alleine zu sein. »Warum wollen sie das Mädchen haben?« fragte er. »Was haben die Markierungen zu bedeuten?« Helen weigerte sich, seinen Fragen Beachtung zu schenken. Statt dessen warf sie ihm einen ätzenden Blick zu. »Du besitzt rein gar nichts Menschliches. Man hätte dich bereits am Tag deiner Geburt töten sollen.« »Das hat man auch versucht«, erwiderte er und riß den Speer mit einer einzigen, ruckartigen Bewegung aus seiner Schulter, was einen erneuten
Blutschwall zur Folge hatte. Sein schmerzverzerrtes Gesicht verwandelte sich jedoch sogleich in eine Maske des Zorns, als er sich erhob und nach der ungesichert auf dem Deck hegenden Machete griff. Blut strömte aus der verwundeten Schulter; mit der heilen Hand richtete er das große, todbringende Messer drohend auf sie, wobei dessen Spitze ihrer Nase verdammt nahe kam. »Also ... was sind das für Zeichen auf dem Rücken des Kindes?« Sie glaubte nicht, daß er sie benutzen würde ... andererseits konnte sie aber auch nicht mit Sicherheit sagen, daß er es nicht tun würde. Dann hörte sie sich selbst sagen: »Die Leute ... die Leute glauben, es wäre eine Karte, die den Weg nach >Festland< zeigt.« Er sackte zusammen und senkte die Machete. »>Festland<. >Festland< ist ein Mythos.« Wie konnte er das nur sagen? »Das ist es nicht!« stieß sie hervor. »Du hast es selbst gesagt, du hast gesagt, du wüßtest, wo es ist, du hast gesagt, du würdest uns hinbringen.« »Ich bin ein Lügner, weißt du noch?« Dann sank er auf die Knie, die Machete landete klirrend auf dem Deck, und er fiel vornüber auf sein Gesicht, da der Schmerz ihm die Besinnung raubte. Als er erwachte, hatte der Schmerz etwas nachgelassen und machte sich nur noch als dumpfes Pochen bemerkbar. Seine Schulter war verbunden, und sein Oberkörper lehnte am Mast. Die neben ihm
kniende Frau reichte ihm seinen Wasserbehälter, er nahm ihn entgegen und genehmigte sich einen Schluck. »Warum hast du mich nicht umgebracht?« fragte er. »Du hattest die Möglichkeit dazu.« »Tot nützt du mir nichts«, sagte sie. »Ich kann dieses Boot nämlich nicht steuern.« »Du hast sehr schnell sehr viel gelernt«, räumte er grollend ein und blickte sich kopfnickend auf dem Boot um. »Aber du bist eine Närrin, wenn du an etwas glaubst, das du noch nie gesehen hast.« Ihre Augen glitzerten und ihr Lächeln war das eines Kindes: »Ich habe es aber doch gesehen.« »D« hast >Festland< gesehen?« »Ich habe es berührt.« Ihre Hand vollführte eine greifende Geste und verkrampfte sich zu einer bebenden Faust. »In diesen Händen habe ich Erde gehalten, die weitaus fruchtbarer und dunkler war als das, womit du auf dem Atoll gehandelt hast, und ihren Duft eingeatmet.« Er saß aufrechter, war trotz seiner Zweifel interessiert. »Wo?« Sie lächelte ein wenig; bereit, ihr Geheimnis mit ihm zu teilen. »Sie war in dem Korb«, sagte sie. »Korb?« »Der Korb, in dem wir Enola gefunden haben.« Das war es also, worauf sich ihre Hoffnung aufbaute ... arme Frau. Arme, irregeleitete Frau.
»Es gibt kein >Festland<«, erwiderte er leise. Fast sanft. »Aber...« Er betonte jedes einzelne Wort, als er wiederholte: »Es ... existiert ... nicht.« Sie schüttelte den Kopf, wollte es nicht hören. »Wie kannst du dir so sicher sein?« Mit einer Kopfbewegung deutete er aufs Meer. »Weil ich schon weiter gesegelt bin, als die meisten sich erträumen ... und es nie gesehen habe.« Sie schüttelte immer noch den Kopf, ihre Augen ließen erkennen, daß sie verzweifelt an ihrer Hoffnung festzuhalten suchte. »Aber ... diese Sachen auf deinem Boot.« »Welche >Sachen« An ihrer Stimme konnte man hören, wie Hoffnung und Verzweiflung in ihrem Inneren miteinander rangen: »Diese ... diese Sachen, die niemand in Waterworld je gesehen hatte ... die Muscheln in deinem Haar ... reflektierendes Glas... wenn nicht von >Festland<, wo kommen sie dann her?« »Du willst also >Festland< sehen«, meinte er mit einem humorlosen Lachen. »Du willst es wirklich sehen?« Ihr Blick wirkte nahezu geistesgestört. »Natürlich! Was glaubst du...« »Dann werde ich es dir zeigen.« An der Rückseite des Bootes schaukelte eine glockenförmige, halb unter Wasser liegende
Bergungsvorrichtung auf den Wellen. Sie beobachtete, wie der Seemann unter Wasser ein Halteseil mit Gewichten anbrachte und eine große quallenartige Membran behelfsmäßig über eine Röhre stülpte, die mit einem an der Vorrichtung hängenden Gaskanister verbunden war. Sie hatte ihm bei der Anfertigung des rundlichen Käfigs geholfen - der sie auf Unangenehme Art und Weise an die Sklavenkäfige erinnerte. Die Drahtstücke, aus denen er bestand, hatte der Seemann von unten mitgebracht. Sie war immer wieder verwundert über die nahezu endlose Ansammlung an Werkzeugen und Waffen, die er auf magische Art und Weise aus Geheimfächern und Nischen unter Deck hervorholte. Doch dann erinnerte sie sich daran, was er auf dem Atoll gesagt hatte: Er hatte siebzehn Lunare hier draußen, zwischen den Atollen überlebt. Sie hatte ihm geholfen, den Drahtkäfig über Bord zu werfen, während das Kind den Vorgang mit staunenden Augen beobachtete. Der Trimaran hatte sich wieder in einen Trawler verwandelt, sein Windmühlsegel flappte tosend im Wind. Der Seemann tauchte erneut unter Deck, diesmal in die hintere Nische, und kehrte mit einer Handvoll Rohre zurück. »Was ist das?« fragte sie. »Leuchtfeuer«, erwiderte er. Das Wort sagte ihr jedoch nichts, bis er sie nacheinander zu funkensprühendem, leuchtendem
Leben erweckte und ins Wasser hielt. Was will er damit erreichen? dachte sie. Im Wasser würden die Feuerstäbe doch sicherlich erlöschen. Jetzt war er ebenfalls über Bord gesprungen, wobei er wassertretend auf einer Stelle verharrte, um den Tauchapparat vorzubereiten. Dann rief er zu ihr hoch: »Steig ein!« Enola, die all diese Aktivitäten mit weit aufgerissenen Augen verfolgt hatte, wandte sich mit sehnsuchtsvoller Stimme an Helen: »Ich will auch mit.« Helen rief zu ihm herunter: »Was ist mit dem Kind?« »Es gibt nur Sauerstoff für einen«, brüllte er zurück. »Komm jetzt sofort ins Wasser!« Sie warf dem Kind einen um Verzeihung heischenden Blick zu, doch das Mädchen nickte mit einer Weisheit, die ihr Alter Lügen strafte, und die vor freudiger Erregung bebende Helen ließ sich klatschend neben dem Seemann ins Wasser fallen und kam an seiner Seite wieder nach oben. Das Wasser war kalt, aber erfrischend, obwohl sich ihr gesamter Körper sogleich mit einer Gänsehaut überzog. »Steig in die Glocke«, befahl der Seemann. Sie tauchte ab, schwamm in das Maschendrahtgerüst, und nachdem sie die Öffnung der Luftblase gefunden hatte, stieg sie in ihr nach oben. Was machte er nur da draußen? Die Membran begann sich um sie herum aufzublähen und wurde
unter ihr verschlossen, so daß sie die kugelartige Blase wie eine Hülle umgab ... und es gab darin auch noch Luft zum Atmen. Sie konnte ihn dort draußen sehen, er benötigte keine Luft, hatte keinen Sauerstoffapparat außer den Kiemen hinter seinen Ohren nötig; sein Haar schwebte schwerelos im Wasser, sein Gesicht wirkte fischartig, als er an seinen Platz schwamm und lautlos den Mund bewegte: »Alles klar?« Sie nickte innerhalb ihres durchsichtigen Kokons und machte das O. k.-Zeichen mit hochgerecktem Daumen. Jetzt kappte er einen Haltestrick, und die gesamte Vorrichtung wurde von den Gewichten immer weiter unter die Oberfläche gezogen, sank tiefer und tiefer und tiefer. Der Seemann krallte sich mit einer Hand in den Maschendraht und folgte ihr auf dieser Reise zum Meeresboden. Helen blickte aus ihrer transparenten Blase, als Quallen und andere Meeresbewohner in ihrem Gesichtsfeld auftauchten; einige von ihnen glitten dahin, andere wiederum schienen zu krabbeln, und ihre Farben stellten die faden Blau-, Braun-und Grautöne der Wasserwelt bei weitem in den Schatten. So fremdartig einige dieser Kreaturen auch waren, mußte sie ihnen in ihrer Kugelblase bestimmt wie eine Bekannte vorkommen. Die Glocke war in eine Tiefe hinabgestiegen, in die keine Sonnenstrahlen mehr drangen, und doch konnte Helen direkt unter sich kreisförmige rosarote
Lichterscheinungen sehen, von denen die Welt um sie her erleuchtet wurde. Als der Käfig noch etwas weiter gesunken war, erkannte sie, worum es sich bei den Lichtkreisen handelte: es waren die Feuerstäbe, die immer noch gemächlich nach unten trudelnden Leuchtfeuer, die ihnen wie glühende, pinkfarbene Laternen den Weg wiesen. Doch dann überholte der stetig absackende Käfig die brennenden Stäbe, und sie betraten ein Gebiet, in dem nur trübes Zwielicht herrschte. Was hatte das mit >Festland< zu tun? Es gab bestimmt nirgendwo in Waterworld einen Ort, der noch nasser war! Dann hielt der Käfig mit einem Ruck, die Landung wurde jedoch durch das Wasser gedämpft. Irgend etwas Festes! Sie blickte unter sich, und der Käfig ruhte auf etwas Dunklem, Hartem. Sie konnte nichts erkennen, noch nicht einmal den Seemann - der hatte sich nämlich irgendwann aus dem Staub gemacht. Wo war er? Ihr Atem wurde kürzer, sie fühlte sich in ihrer Blase gefangen, die Welt rückte immer näher, und als sich die Innenseite mit Wasserdampf beschlug, konnte sie draußen noch weniger erkennen. Sie versuchte, sich zur Vernunft zu bringen. Kämpfte die Panik nieder und wischte den kondensierten Dampf vom Plastik, oder was immer es auch sein mochte, um sich ein rundes Loch zu schaffen, aus dem sie gucken konnte, und da war er auch schon: der Seemann.
Einen Augenblick lang war sie erschrocken, doch seine beschwichtigende Geste - seine Lippen formten das Wort: »Warte« - ließ sie zur Ruhe kommen. Es dauerte gar nicht lange, da hatten die herunterschwebenden Leuchtfeuer sie eingeholt und schufen eine künstliche, rosarot angehauchte Dämmerung, deren Licht auf ein Panorama fiel, das ihr fast den Atem raubte. Es war die phantastische, gezackte Unterwassersilhouette einer jahrhundertealten Stadt, von den Lebewesen der See zerfressen wie von einem prunkvollen Krebsgeschwür, die massigen Grabmäler einer vom Meer verschlungenen Kultur. Und Helen thronte - in ihrer Blase, ihrem Käfig direkt auf einem Dachfirst. Unter ihr befand sich ein beeindrucken des Aufgebot von Gebäuden, die man einst >Wolkenkratzer< nannte, nur daß diese nicht mehr an den Wolken kratzten, sondern wie quadratische Steinfinger in den Ozean hinaufragten. Weit unten offenbarte sich ihrem Blick eine schwindelerregende Aussicht auf die Stadt in der Tiefe, die sie ganz benommen machte. In diesem Moment zog der Seemann den Käfig vom Dach. Und jetzt trudelten sie, an zerfallenden Fensterrahmen vorbei, weiter nach unten ... das Ganze schien eine Ewigkeit zu dauern. Wie unglaublich hoch diese Gebäude gewesen waren! Die Windmühle des Atolls war ihr schon riesig
vorgekommen; doch hier würde sie nichts weiter als ein Spielzeug sein. Mit einem vom Wasser gedämpften Scheppern landete der Käfig auf dem Grund - auf >StraßenFirst National Bank<; Muränen ruckten in den glaslosen Fenstern eines städtischen Busses< vor und zurück; mit Seetang umhüllte Straßenlaternen säumten die Straße; Fahrzeuge - >Autos<, oder >Automobile<, wie man sie in den Zeitschriften nannte - rosteten überkrustet vor sich hin; in dem Fenster eines Gebäudes, das früher ein Laden gewesen sein, mußte >Nordström's< -, stand eine Frauenfigur, eine Art Statue, nackt, aber glatt und unlackiert, die eine Kette aus glitzernden, glasartigen Steinen und Entenmuscheln trug; und außerdem wiegten sich überall lange Bleikästen in der Strömung ... waren das etwa Särge? Der Seemann betrat diese ungeheure und traurige Szenerie und schaufelte mit beiden Händen vom Ozeanboden ein wenig Schlamm auf, den er ihr entgegenhielt, um ihr zu zeigen,... ... daß es seine Erde war. Und dann verschmolz sie mit dem Wasser, die Strömung verwandelte den Schlamm in braune, von dannen schwebende Streifen, löste ihn auf, verteilte ihn im Meer, reinigte die Hände des Seemanns.
Und in Helens Herzen war etwas gestorben. Auf Deck behielt Enola den Tiefenmesser am Heck des Bootes im Augen. Bevor er unter Wasser verschwunden war, hatte der Mariner ihr eine ernsthafte Warnung zuteil werden lassen: »Faß ja nichts an.« Und das hatte sie auch nicht. Sie hatte einzig den Weg der Tiefenmessernadel verfolgt, die Helens Abstieg verdeutlichte: 20 ... 30 ... 40 ... so furchtbar tief ... 70 ... 80 ... 90. Wie tief können Menschen tauchen? fragte sie sich. Doch der Seemann war ja eigentlich kein >Mensch< - sie hoffte nur, daß mit Helen alles in Ordnung war, daß der Seemann sie nicht in eine Tiefe führte, in der sie krank wurde, oder sogar starb, oder sonst was. Schließlich verharrte der Tiefenmesser bei 110 Metern. Und dann blieb er lange, lange Zeit stehen. Gerade als Enola sich Sorgen zu machen begann, lief die Nadel in die.entgegengesetzte Richtung: 100 ... 90 ... 80 ... Sie seufzte lächelnd, erleichtert darüber, daß ihre Freunde zurückkehrten, und betrachtete das Wasser, wobei sie sich fragte, wann sie den Käfig wohl würde sehen können. Sie hatte nicht aufgepaßt, wie lange es dauerte, bis sie bei ihrem Abtauchen unter Wasser außer Sichtweite gerieten, weil sie so mit der Betrachtung des dämlichen Tiefenmessers beschäftigt gewesen war. Doch jetzt konnte sie etwas dort unten erkennen, etwas Blaues, Verschwommenes ... nicht den Käfig,
sondern etwas anderes, etwas Lebendiges Delphine? Nein... Haie! Sie zuckte zurück, für einen Augenblick zutiefst erschrocken, doch dann seufzte sie vor Erleichterung, froh darüber, daß sie sich auf dem Boot in Sicherheit befand, und diese schauderhaften Kreaturen ihr keinen Schaden zufügen konnten. Der Seemann half der Frau aufs Achterdeck, und beide rangen zunächst einmal nach Atem. Der Bergungskäfig tanzte auf der Wasseroberfläche, die eingesunkene Luftblase nur noch eine schwebende Membran in seinem Inneren. »Ich ... wußte es nicht«, sagte sie zitternd, und erschüttert. »Die ganze Zeit... wußte ich nicht, daß da ... Städte sind, dort unten.« »Niemand weiß das«, meinte er. »Außer mir. Und - jetzt - dir.« In diesem Moment entdeckte er im Wasser die Smokerboote, die den Trimaran einkreisten. Von dem Kind keine Spur. Keine Smoker auf Deck. Doch die verrosteten Treibstoffboote der Smoker waren überall, umzingelten sie von allen Seiten. Jetzt hatte sie auch die Frau entdeckt und klammerte sich an seinen Arm. »Kannst du uns hier rausbringen?« flüsterte sie. Eine befehlende Stimme erscholl unter Deck und bellte eine Antwort: »Ich würde sagen, da gibt es zwei Möglichkeiten.«
Und ein Smoker - nicht einfach nur irgendein Smoker, sondern eine Art erhabener, kommandierender Smokerchef, ein einäugiger, kahlköpfiger, grinsender Verrückter von einem Smoker in einem zerlumpten Kampfanzug - trat aus der Kabine. »Keinesfalls«, meinte der Smokerhäuptling mit seinem furchterregenden Lächeln.
Kapitel 20 Hinter ihrem Boß tauchten zwei weitere Smoker aus dem Inneren der Mitteldeckskabine auf - und einer von ihnen war der blonde Händler mit den grausamen Gesichtszügen, derjenige, der auf dem Atoll als Spion fungiert hatte. Der Norde. Auf dem Deck lag die ungesicherte Speerwaffe des Seemannes. Der Smokerhäuptling und seine beiden Männer hatten ihre Blicke hämisch grinsend auf den Mariner und die Frau gerichtet. Augenscheinlich war die unbeaufsichtigte Waffe noch nicht von ihnen entdeckt worden. Der Seemann machte einen Satz darauf zu. Doch eine mächtige, geäderte Hand riß sie von Deck, der Seemann landete auf seinen Knien und blickte nach oben in das kantige, höhnisch lächelnde Gesicht des Norden. Mit der Spitze der Speerwaffe kitzelte er das Kinn des Seemanns, wodurch er ihn zwang, den Kopf ins Genick zu legen.
»Hättest mir diesen Drink kaufen sollen, Erdenmann«, meinte der Norde, zerrte ihn hoch und schubste ihn zurück an die Seite der Frau. Allmählich erschienen immer mehr Smoker auf den Decks der sie umzingelnden Boote; ihre haarigen, vertrottelten Gesichter beobachteten hingerissen, wie ihr Führer über das Schiff stolzierte. Der Smokerhäuptling - dessen Körpermaße eigentlich nicht sonderlich beeindruckend waren, der jedoch nichtsdestotrotz eine imposante Figur abgab zündete sich ein Rauchstäbchen an. Sein kahler Kopf war von der Sonne rot verbrannt. Er trat näher an den Seemann und Helen heran und baute sich in wichtigtuerischer Pose hoch erhobenen Hauptes vor ihnen auf. »Zunächst einmal sollten wir uns bekannt machen, so wie es sich gehört«, sagte er. »Ich bin der Diakonus.« Das war ein Name, der dem Seemann nur allzu vertraut klang. Ein Name, den ganz Waterworld kannte und zum größten Teil fürchtete. Der Seemann behielt jedoch seinen nichtssagenden Gesichtsausdruck. Dieser arrogante Vandale sollte nicht auch noch die Genugtuung haben, daß er ihn erkannte. »Vielleicht habt ihr mich schon einmal gesehen«, meinte der Diakonus. »Und erinnert euch nur nicht an das Gesicht.« Und der Smokerhäuptling zog seine ausgefallene Augenbindenbrille nach .oben, unter der ein
gräßliches, verkohltes Loch zum Vorschein kam, wo eigentlich ein Augapfel hätte sein sollen, und schob sein Gesicht ganz nah an das des Seemanns heran, wobei er ihn anglotzte wie ein schwachsinniger Zyklop. »Das könnte sein, weil ich nicht immer so ausgesehen habe.« Der Seemann behielt seinen gleichgültigen Ausdruck. Der Diakonus trat zurück und rückte seine Brillenbinde wieder zurecht. »Nun, ich schätze, sie ist irgendwo in der Nähe.« Der Seemann wußte, wen er mit >sie< meinte: Die Piraten waren eindeutig des Kindes wegen gekommen. Die Frau zitterte. Helen war kein Feigling, was immer er auch sonst von ihr halten mochte. Ihre Angst galt dem Kind, doch er wünschte, ihre Augen würden nicht auf diese Art und Weise das Deck absuchen, weil sie damit nach und nach die möglichen Verstecke des Kindes preisgaben. Zum, Beispiel die Nische zwischen den Querhölzern, in die sich Enola oft zurückzog, wenn sie allein sein wollte. Der Seemann konnte sich regelrecht vorstellen, wie sie dort drinnen saß, wahnsinnig vor Angst, zusammengekauert in der Dunkelheit, ihre Schachtel mit Wachsmalkreiden fest an sich gedrückt, während für sie jeder Schritt an Deck wie Donner hallte, und
die Stimme ein Echo erzeugten, als würde der Trimaran von dämonischen Geistern heimgesucht. »Wir könnten auch das Boot zerreißen, um sie zu finden«, meinte der Diakonus, sämtliche Möglichkeiten abwägend. Dann streckte der Smokerhäuptling beide Hände aus, mit den Handflächen nach oben; es war eine derart vertraute Geste, daß der Seemann sie sofort als ein Ritual erkannte. Ein tödliches Ritual: Der Norde und der Smokerwächter bestückten diese Hände mit jeweils einer Handfeuerwaffe. Mit einem Lächeln, das fast seine Wangen zu sprengen drohte, stellte sich der Diakonus zwischen den Mariner und die Frau und hob beide Arme, so daß sich ein Waffenlauf auf die Schläfe des Seemanns und der andere auf Helens Schläfe richtete. »Doch ich hätte es lieber, wenn es mir irgend jemand einfach sagt«, meinte der Diakonus beiläufig. »Ich würde nur ungern solch ein ungewöhnliches Fahrzeug zerstören. Hast eine Menge Arbeit in diese Wanne gesteckt, nicht wahr, Fischmann?« Der Seemann antwortete nicht; der Druck, den der kalte Stahllauf auf seine Schläfe ausübte, nahm zu. »Und so läuft unser Spielchen«, sagte der Diakonus genüßlich. »Der erste, der mir sagt, wo das
Kind ist, überlebt. Der Zweitbeste ... nun, eigentlich gibt es in diesem Spiel keinen Zweitbesten.« Egal, ob sie nun eine Waffe an der Schläfe hatte oder nicht, die Frau drehte ihren Kopf, um den Seemann mit einem mißtrauischen Blick zu durchbohren; er gab diesen Blick direkt an sie zurück, denn er vertraute ihr auch nicht mehr als sie ihm. »Ich persönlich«, flüsterte der Diakonus der Frau mit einschmeichelnder Stimme zu, »würde viel lieber diese Ausgeburt der Hölle hier loswerden.« Bei dem vernichtenden Blick, mit dem Helen den Diakonus bedachte, mußte der Seemann fast lächeln. Der Diakonus lächelte jedoch nicht. »Aber ich glaube nicht, daß du es mir sagen wirst, oder?« Der Diakonus klang, als hätte sie ihn schwer enttäuscht. Dann zuckte er mit den Achseln und wandte sein einäugiges Antlitz dem Seemann zu, wobei er dem Pistolenlauf an der Schläfe ein wenig mehr Druck verlieh. »Also, dann mal los, Fischlein«, meinte der Smokerhäuptling. »Was meinste?« Der Seemann antwortete nicht. Mit einer raschen Handbewegung zog der Diakonus das Haar des Seemanns zurück und entblößte dessen Kiemen. »Sie ist noch nicht einmal deine Artgenossin!« brüllte der Diakonus. »Nicht, daß es so etwas überhaupt gäbe.«
Der Seemann schwieg. »Sie ist nur ein Klotz am Bein - so wie alle Frauen.« Der Diakonus beugte sich vor; sein Atem stank schrecklich nach Rauchstäbchen. »Sag einfach das magische Wort, und sie verschwindet aus deinem Leben - wie es auch sein mag.« Helen meldete sich eiligst zu Wort: »Wann du es sagst, wird er uns trotzdem beide umbringen.« Die schallende Ohrfeige, die der Diakonus ihr mit dem Handrücken verpaßte, war auf dem gesamten Schiff zu hören und hallte über das Wasser wie ein Pistolenschuß. »Wir sollten doch auf dem Boden bleiben«, meinte der Diakonus sanft. Dann beugte er sich erneut zu dem Seemann vor und flüsterte fast: »Wenn du es mir nicht sagst... dann, schwöre ich, bei Poseidon, werde ich dein Boot abfackeln.« Seine übelriechende Drohung hätte den Seemann eigentlich in Rage bringen sollen. Statt dessen legte sich eine friedliche Ruhe wie eine tröstende Decke über ihn. Der schäbige, einäugige Smokerhäuptling hatte die Dinge für ihn plötzlich ins rechte Licht gerückt: Es gab Menschen in Waterworld, die etwas schlimmeres als den Tod verdienten; doch es gab auch andere, die es wert waren zu leben. Er sah an dem Pistolenlauf des Diakonus vorbei und richtete seinen Blick auf Helen, deren Augen sein Starren zunächst kalt erwiderten; doch dann schien sie seinen Sinneswandel zu bemerkten, und in
ihrem Blick spiegelte sich eine wachsende Gelassenheit. Während ihres gemeinsamen Schweigens knüpften der Seemann und die Frau ein neues Band der Freundschaft, das, wenn sich auch das Bündnis in aller Stille vollzog, deswegen nicht weniger stark war. Möglicherweise spürte es der Diakonus ebenfalls, oder vielleicht erkannte er einfach nur, daß er weder von dem einen noch von dem anderen eine Antwort erhalten würde. Jedenfalls zog er sich zurück und entfernte die Pistolenläufe von ihren Schläfen. Das sollte jedoch keine Begnadigung sein. Der Diakonus schmetterte seine Faust in das Gesicht des Seemanns, der äußerst unsanft gegen den Mast geschleudert wurde. Er rutschte daran herab und krachte mit dem Hinterteil aufs Deck. »Verdammt«, meinte der Diakonus. Der Seemann schob seine Hand im Sitzen hinter den Mast, während er vortäuschte, angeschlagener zu sein, als er es tatsächlich war; er fand schon bald, was er gesucht hatte: die Schlaufe des Fallreeps. Der Diakonus, der immer noch in jeder Hand eine Waffe schwang, wandte sich an seinen blonden Ersten Offizier: »Frisch mein Gedächtnis auf. Was passiert, wenn keiner redet?« Der Norde schien aufrichtig verblüfft. Dann antwortete er achselzuckend: »Ist noch nie vorgekommen.« Die Schlaufe wurde weiter.
Frustriert ließ der Diakonus seinen Blick über den Trimaran schweifen, sein Auge funkelte, während er nachdachte. »In Ordnung«, meinte er und hob eine der Waffen. »Wenn sie uns nicht sagen, wo das Kind ist, machen wir es einfach jetzt gleich. Wir töten sie beide.« Die Waffe nach oben gerichtet, feuerte er zwei Schüsse ab, die in der Luft explodierten. Der Seemann zuckte zusammen; er wußte bereits, was passieren würde. Das Kind krabbelte aus dem Hohlraum zwischen den Balken hervor und schoß schreiend nach oben: »Nein! Nein!« Als sie sah, daß der Seemann und Helen noch am Leben waren, verwandelte sich ihr gequälter Gesichtsausdruck in ein freudiges Strahlen, das sich jedoch, sogleich wieder verdüsterte. »O, sie sind so leicht zu übertölpeln, diese Kinder«, sagte der Diakonus. »Aber ich liebe die unschuldigen, kleinen Gören trotzdem von ganzem Herzen. Bring sie her.« Der Smokerwächter grabschte sich das Kind, als wäre es kein Mensch, sondern nur irgendein Objekt, und schleppte es zu dem Diakonus, wo er es einfach fallen ließ. Der Häuptling der Smoker neigte sich herab und zupfte an der Tunika des Kindes, um die Tätowierung zu entblößen. Er gackerte, schob die Hände unter ihre Achseln und hielt sie von sich ab,
damit auch die Smoker ihren Rücken begutachten konnten. »>Nehmt, und euch wird gegeben werden!<« brüllte der Diakonus. »Mit diesen Worten endet eure tägliche Kurzpredigt.« Und die Smoker auf ihren Booten fingen an zu jubeln, während der Diakonus triumphierend auf dem Deck stand. Ein weiterer Smoker tauchte aus der Mitteldeckskabine auf. »Schaut her!« rief er. Dem Seemann, der mit dem Ausweiten der Reepschlaufe beschäftigt war wurde plötzlich übel: Der Mann hatte seine National Geographics. Jedoch nicht sehr lange: Der Diakonus grabschte danach und begann mit weit aufgerissenem Auge die Seiten der Zeitschriften zu durchblättern; seine Kinnlade fiel herab, als wolle er im nächsten Moment zu sabbern anfangen. »Seht euch nur all dieses Land an«, sagte der Diakonus mit gedämpfter Stimme, während er Bild für Bild studierte. »Ich kann noch nicht einmal ansatzweise... herrlich! Seht nur all diese Quadratmeilen!« Der Smokerwächter ging zu dem Seemann und zerrte ihn auf die Füße, doch der Seemann behielt das Tau hinter seinem Rücken in der Hand. Der Smoker stellte sich in seiner Nähe auf und behielt den Gefangenen im Auge, jedoch nicht sonderlich aufmerksam: Sein Interesse galt dem Diakonus, während der Häuptling der Smoker die
faszinierenden Bilder aus der mythischen Vorzeit verschlang. Schließlich richtete der Diakonus seinen Blick wieder zögernd auf Enola, doch die kostbaren Zeitschriften hielt er weiterhin fest umklammert. »Zieht ihr die Tunika aus«, sagte er. »Und legt sie ausgestreckt auf den Boden, damit wir uns diese Markierungen genauer ansehen können.« Es waren noch mehr Smoker an Bord gekommen, die seinen Anweisungen jetzt Folge leisteten, woraufhin der Norde und ein weiterer Smoker sich zu dem Diakonus gesellten und mit ihm Enolas Rücken musterten, als wäre er eine Mahlzeit, die sie gemeinsam einzunehmen gedachten. »Ergibt das für dich irgendeinen Sinn?« fragte der Diakonus den Norden und deutete auf die Markierungen. »Nein.« »Ich kann es ebenfalls nicht entschlüsseln. Das machen wir, wenn wir wieder auf der >Deez< sind.« Der Diakonus wedelte mit seinen Zeitschriften über Enola herum. »Wir haben gekriegt, was wir wollten.« Der Norde warf einen kurzen Blick auf den Seemann und Helen. »Was machen wir mit denen?« »Mach sie beide kalt.« »Und das Boot?« »Fackel es ab.« Der Norde runzelte die Stirn. »Es ist aber ein verteufelt gutes Boot, Diakonus.«
»Es ist verseucht. Unsauber. Fischig. Außerdem habe ich es versprochen, und ich pflege meine Versprechen stets einzuhalten. Und jetzt tu es!« Mit einer fließenden Handbewegung legte, der Seemann die vergrößerte Schlaufe um den Hals des Smokerwächters und trat gegen einen Hebel, der das Gegengewicht herabsausen ... ... und den gefangenen Smokerwächter in der Umkehrung eines Lynchprozesses wie eine Rakete an die Mastspitze schießen ließ. Der Seemann zerrte Helen an ihrem Handgelenk hinter sich her, als er auf den Bug zurannte und über die Bordwand setzte. Die Schüsse des Norden explodierten an der Stelle, die sie gerade verlassen hatten und prallten zischend auf das Wasser, als sie nach unten sprangen.
Kapitel 21 Er hielt ihr Handgelenk fest umklammert und zeigte ihr den Weg, und sie ließ sich von ihm unter Wasser führen, bis sie plötzlich im Inneren des Mitteldecks wieder nach oben kamen; in einem Hohlraum, von dem sie nichts gewußt hatte. Er schwamm auf der Stelle und wartete geduldig, bis sie sich die Lungen wieder mit Luft vollgepumpt hatte; ihr Herz raste. »Enola ist dort oben«, flüsterte sie. »Ich weiß. Es gibt nichts, was wir im Moment tun können.« Er bedachte sie mit einem eiskalten Blick. »Wir müssen nach unten.« »Nach unten?« »Ganz weit runter. Und unten bleiben.« Ihr schwindelte. »Wie? Ich kann nicht wie du dort unten atmen.« Er berührte ihr Gesicht, eine überraschend sanfte Geste. »Ich werde für uns beide atmen.« Die Angreifer mußten ihre Stimmen gehört haben, denn plötzlich jagten Kugeln blindlings durch
den gesamten mittleren Rumpf. Er nickte ihr zu, sie tauchte mit ihm ab und überließ sich seiner Führung. Sie schwammen tiefer und immer tiefer, von Kugeln verfolgt, die ihnen jedoch nichts anhaben konnten, da sie, vom Wasser gebremst, harmlos wie kleine Bleigewichte um sie herum versanken. Doch ging ihr allmählich die Luft aus, verflüchtigte sich in einer immer kleiner werdenden Blasenspur, und Panik überfiel sie. Ich ertrinke, dachte sie. Himmel hilf, ich ertrinke! Der Seemann hielt inne und zog Helen an sich heran. Es war, als würde er sie küssen, doch es war eher ein Kuß des Lebens, durch den er seinen Sauerstoff mit ihr teilte. Dann hielt er sie an den Schultern fest und seine vorstehenden Fischaugen suchten sie zu beruhigen, als sie gemeinsam immer tiefer schwebten. Gefaßt ließ sie es zu, daß er einen Arm um ihre Taille schlang, und wie eine Fischschule mit nur zwei Mitgliedern schwammen sie in die Tiefe, wobei sich ihre Beine im Takt bewegten und sie ab und zu eine Pause einlegten, damit der Seemann seinen Atem in einem Überlebenskuß mit ihr teilen konnte. Es war dunkel dort unten und kalt, doch nach einer Weile wurde ihr warm und sie fühlte sich dieser Kreatur ... diesem Mann sehr nahe. Etwa eine Stunde später kamen sie weit entfernt von dem Trimaran wieder an die Wasseroberfläche.
Er war nur noch ein kaum erkennbarer Punkt am Horizont. Doch sie konnten die verräterische Rauchspur sehen, die sich wie ein schreckliches Fragezeichen am Himmel kräuselte. Und sie sahen auch, wie sich die Smokerboote im Triumphzug entfernten. Während sie dort auf der Stelle schwammen, erschauerte Helen bei dem Gedanken an Enolas Schicksal. Hatten sie das Kind umgebracht und ihm die Haut vom Rücken gezogen, damit sie die Karte besser befördern konnten? Oder befand sie sich einfach nur in der Gewalt dieses skrupellosen und wahnsinnigen, einäugigen Smokerhäuptlings? »Wir müssen zurück«, sagte Helen. »Ich muß es wissen.« Der Seemann, der neben ihr auf den Wellen schaukelte, nickte. »Wir können gleich loslegen... dann sind wir bei Sonnenuntergang da.« Und das waren sie. Das letzte Stück ihrer Heimreise legten sie erneut unter Wasser zurück, wobei der Seemann sie mit Sauerstoffküssen bedachte, und als sie wieder an die Oberfläche kamen, vorsichtig, weil sie nicht wußten, ob die Smoker einen Wachtposten zurückgelassen hatten, fiel ihr Blick auf den schwelenden Rumpf des einst stolzen Trimarans, der wie ein verkohlter Leichnam auf dem Meer trieb. »Enola...« keuchte Helen. . »Mein Boot«, sagte der Seemann.
Sie schwammen zu dem Wrack und kletterten an Bord. Als hätte man ihr einen Hieb verpaßt, fiel sie auf die Knie und krabbelte auf allen vieren über das, was vom Mitteldeck noch übriggeblieben war. Keine Spur von dem Mädchen. Dann entdeckte sie etwas: die Schachtel mit Wachsmalkreiden, deren geschmolzener Inhalt in einem bunten Farbenwirrwarr über den versengten Rumpf verteilt war. Sie blickte hoch und beobachtete den Seemann, wie er mit hängenden Schultern einherwanderte, ein niedergeschlagener Geist, der die Ruinen seines eigenen Hauses heimsuchte. Ab und zu hielt er inne, um die verkohlten Überreste von diesem und jenem zu betasten; dann stand er vor dem verbogenen Wrack seiner Wasserreinigungsapparatur und schüttelte müde den Kopf. »Sieh unter Deck nach«, sagte sie. »Schau nach, ob sie ihre ...« Sie konnte sich nicht dazu überwinden, das Wort >Leiche< auszusprechen. »... schau nach, ob sie dort unten ist.« Er nickte und verschwand. Sie setzte sich hin, und als eine Brise die verbrannten Überbleibsel des Trimarans zum Flattern brachte, vermeinte sie beinahe das Lied zu hören, das Enola immer gesungen hatte: Es gibt ein Mädchen, das lebt im Wind, im Wind, im Wind ... Er kam wieder nach oben und schüttelte verneinend den Kopf.
»Die haben sie entweder mitgenommen oder über Bord geworfen.« Irgend etwas lag in seiner Hand: es war die Flasche, die der Drifter gegen eine halbe Stunde mit Helen eingetauscht hatte. Die uralten, vergilbten Seiten befanden sich immer noch darin. »Das haben sie übersehen.« Er ging neben ihr in die Hocke. »Vielleicht können wir es gegen ein wenig Hydro eintauschen.« »Bei wem? Dieser Möwe da?« »Wir haben Glück, daß sie uns überhaupt etwas zurückgelassen haben.« »Glück?« Ihr Lachen klang rauh und beinahe schon hysterisch. »Glück?« »Wir müssen weitermachen.« »Ich kann nicht weitermachen«, sagte sie, und Tranen liefen an ihren Wangen herab. »Nicht ohne sie ... oder die Hoffnung auf >Festland<.« Er starrte sie an. Wie konnte sein Gesicht nur so ausdruckslos, so nichtssagend sein? War das Mißbilligung oder Zustimmung in diesen Augen? Wer zum Teufel sollte das wissen? »Ich ... ich will noch nicht mal mehr weiterleben«, sagte sie. »Wenn nichts mehr übrig ist... wenn es keine Hoffnung gibt.« »Es gibt uns«, sagte er, und jetzt verstand sie. Das war Zuneigung, was man in diesen harten Augen sah! Wie wunderbar dieser Ausdruck für sie beide gewesen wäre, bevor dieses Boot zu einem Haufen angesengtem Treibholz verbrannt war, bevor diese
Wilden dieses liebe Kind stahlen, das für Helen sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn die Hoffnung auf ein besseres Morgen verkörpert hatte. Sie streckte die Hand nach der Flasche mit den zerfallenden, kostbaren Seiten aus; auf einem der Bilder konnte sie herumtollende Kinder sehen. Auf dem Land. Dem Boden. Der Erde. Sie zeigte es ihm. »Das ist es, was die Urvölker hatten«, erinnerte sie ihn. Er deutete auf das Meer und sein zerstörtes Boot. »Und das ist es, was sie damit gemacht haben.« Sie dachte einen Moment lang darüber nach, dann nickte sie. »Du hast recht... du hast recht.« Er zeigte verächtlich auf die Kiemen hinter seinen Ohren. »Und das ist auch der Grund, warum ich das bin, was ich bin.« Er stand auf und raffte genügend Entschlußkraft zusammen, daß er sie wie einen schützenden Mantel um sich legen konnte, schlenderte auf das verbogene Wasserreinigungssystem zu und begann damit, es nach brauchbaren Teilen zu durchsuchen. Das leichte Schaukeln des ruinierten Schiffes wiegte sie in einen ironischnachdenklichen Zustand, eine Art gelassene Verzweiflung. »Es ist schon komisch«, begann sie. »Ich habe immer geglaubt, >Festland< würde schwimmen. Vom Wind getrieben. Ich habe mir vorgestellt, daß es deswegen so schwer zu finden ist.«
Er erhob sich, ließ von seiner Apparatur ab zumindest für einen Augenblick - und gesellte sich zu ihr. »Warum hast du so fest daran geglaubt, wenn niemand sonst es tat? Wenn sie dich sogar deswegen bekriegten?« Sie deutete auf ihre Füße. »Weil die Menschen nicht für das Meer geschaffen sind ... wir haben Hände und Füße. Wir sollten laufen ... auf etwas Festem.« Ihre Finger strichen über die geschmolzenen, bunten Wachsmalstreifen auf dem Rumpf. Und sie begann zu weinen. »Ich vermisse den Klang ihres ... ihres Gesangs«, sagte sie. »Du auch?« Er sah weg. »Ich vermisse mein Boot.« Aus irgendeinem Grund empfand sie das nicht so sehr als eine gefühlskalte, sondern vielmehr als eine traurige Bemerkung. »Weißt du«, sagte Helen. »Du kannst viel besser allein sein als ich.« Er hockte sich neben sie. Sein Ausdruck war sowohl distanziert als auch intim. »Ich bin auf einem Atoll geboren«, erzählte er leise. Eigentlich war es eher ein Flüstern, das sich im Flüstern des Windes "fast gänzlich verlor. »Die Leute wollten mich umbringen. Ich war ein Monstrum.« Sie berührte seinen Arm.
Er senkte den Blick. »Meine Mutter hat mir das Lesen beigebracht, aber sie ist jung gestorben. Manche werden stärker, wenn sie am Ende sind ...« Sie wußte, daß er mit sich selbst sprach. »... andere, sanfte Menschen wie sie, brechen einfach in Stücke.« »Was ist mit deinem Vater?« Er lächelte. Sie hatte noch nie ein schwächeres, oder verbitterteres Lächeln gesehen. »Mein Vater hat mich aus reiner Herzensgüte am Leben erhalten«, sagte er. »Hat mich nach Fischen tauchen lassen. An eine Bleischnur gefesselt.« »...was?« »Er wußte, wenn er es nicht tat, würde ich nie zurückkommen. Also stahl ich sein Boot, nachdem ich ihn ermordet hatte.« Der Wind erschien ihr plötzlich kälter. »Seitdem«, sagte er, »bin ich mal auf diesem, mal auf jenem Boot gewesen.« Sie streichelte sein Gesicht, schob ihm das Haar aus den Augen. »Wie alt warst du?« »So alt wie dieses Kind«, antwortete er. »Vielleicht ein wenig älter.« »Enola wußte, was es heißt, anders zu sein«, sagte sie. »Ich glaube, deswegen hat sie dich auch gemocht.« Er schwieg. Sie strich sanft sein Haar zurück. »Nachdem wir von dem Atoll geflohen waren ... als ich mich dir
hingeben wollte ... warum hast du mich nicht genommen, als du es konntest?« »Weil... du mich nicht wolltest.« Sie beugte sich vor und küßte ihn sehr zärtlich auf den Mund. Er wich zurück, als hätte sie ihn verbrannt. »Nein ... nein«, sagte sie sanft, sehr sanft. »Ist schon gut. Was wir vorher gemacht haben ... wir haben falsch angefangen. Ich habe falsch angefangen. Laß es uns noch einmal versuchen. Ich möchte es noch mal versuchen.« Sie küßte ihn wieder, doch er reagierte nicht, erwiderte auch nicht ihren Kuß, sein Gesicht war eine steinerne Maske. Doch da gab es noch etwas anderes, etwas in seinen Augen ... hatte er Angst? »Warst du ... warst du schon einmal mit einer Frau zusammen?« Er sah weg. »Du bist noch nie mit einer Frau zusammengewesen, stimmt's?« fragte sie. Sein Achselzucken war nichtssagend. »Es ist schon lange her, daß ich mit einem Mann zusammen war«, gestand sie. »Vielleicht habe ich vergessen, wie es geht.« Sie rückte näher, schob seine Arme um sich. Er schien plötzlich so jung zu sein; wie ein Kind. »Es war nett von dir, daß du Enola das Schwimmen beigebracht hast«, sagte sie. »Und jetzt können wir es uns gegenseitig beibringen.«
Die untergehende Sonne verlieh dem Meer einen karmesinroten und goldenen Glanz; es sah aus, als würde der Ozean in Flammen stehen, und der Trimaran - von dem immer noch Rauchsäulen aufstiegen - war der verirrte Funke. Dort lagen sie zusammen, lehrten sich gegenseitig zu lieben. Und indem sie sich in den Armen hielten, erblühte auch die Hoffnung zu neuem Leben. Am Nachmittag darauf hatten sie aus den Schiffsüberresten ein Floß gebaut. Ihr war nicht entgangen, wie schwer ihm diese Arbeit gefallen war, bei der er sich gefühlt hatte, als würde er in den Knochen eines geliebten Menschen wühlen. Doch sie konstruierten ihr Floß (eigentlich war es zum größten Teil er), und setzten es ins Wasser, wo es auf den Wellen tanzte, während sie ausruhten und mit geschlossenen Augen darauf warteten, daß der Wind sich entschied, in welche Richtung er sie treiben würde. »Helen ...« wehte eine Stimme über das Wasser. Träumte sie etwa? Ihre Lider öffneten sich flatternd, und sie blickte in das verdutzte Gesicht des Seemanns. »Bist du das ...?« Sie ließen ihren Blick suchend über das Meer schweifen, entdeckten jedoch nichts und sahen sich achselzuckend an. Wer sprach da mit ihnen? Der Allmächtige? Oder vielleicht Poseidon? »Nein, nein, nein ... hier draußen!«
Dann wurde plötzlich eine unmögliche Erscheinung sichtbar; das zigarrenförmige Luftschiff mit dem zusammengestückelten Ballon trieb rechts über ihnen am Himmel, und auf seinem Stuhl saß derjenige, der das alles steuerte ... der Alte Gregor. Ihr Herz tat einen Freudensprung, und als sie hochschoß, brachte sie das Floß zum Schwanken: »Gregor!« »Kluger Gedanke«, meinte der alte Mann in unterhaltendem Tonfall, als hätten sie sich zum letzten Mal beim Frühstück getroffen. »Dein Boot anzuzünden ... ohne den Rauch hätte ich dich niemals gesehen. Wen hast du denn da dabei?« Der Seemann hatte sich ebenfalls erhoben und musterte ihren schwebenden Besucher abschätzend. »Na so was, das ist ja der Ichthyosapiens!« rief Gregor, während er seine Kontrollvorrichtung bearbeitete, und sein weißbärtiges Gesicht strahlte vor Entzücken. »Bist du es wirklich?« Der Mariner antwortete nicht, doch Helen schrie: »Was machst du denn hier?« »Ich suche nach Überlebenden vom Atoll«, sagte er. »Der Rest von uns befindet sich bei den östlichen Sandbänken.« Er kam näher, und sein Lächeln war ebenso breit wie das Luftschiff. »Das ist ein Wunder, ein echtes Wunder. Hier, haltet euch fest... Ich lasse euch ein paar Seile hinunter und ziehe euch hoch.«
Kurz darauf kletterten sie auf die Sitze des Luftschiffes, die einst für Helen und Enola entworfen waren. Was den zerstreuten Erfinder schließlich zu der Frage veranlaßte: »Liebe Güte - das Kind! Wo ist Enola?« »Die Smoker haben sie mitgenommen«, erwiderte Helen düster. Ihr Ausdruck erhellte sich jedoch wieder, als sie auf den Seemann deutete. »Ohne ihn wäre ich jetzt auch bei ihnen.« Der Seemann, der in diesem über den Himmel anstatt im Meer treibenden Boot ein wenig nervös wirkte, warf seinem Trimaran einen sehnsüchtigen Blick zu. »Sehr menschlich von dir«, meinte Gregor. Daraufhin erhoben sie sich in die Lüfte. Und segelten von dannen.
Kapitel 22 Wie sich schließlich herausstellte, handelte es sich bei den Punkten am Horizont um eine kunterbunte Ansammlung von Booten, die man mit Tauen aneinander geknüpft und durch Stege verbunden hatte. Die Überlebenden des Smokerüberfalls auf Oasis hatten sich zusammengetan und somit den Anfang für ein neues Atoll geschaffen. Helen, die sich mit vom Fahrtwind zerzaustem Haar auf ihrem Sitz im Luftschiff drehte, empfand einen gewissen Stolz angesichts der Anpassungsfähigkeit ihrer Mitbewohner vom Atoll. Doch gleichzeitig wußte sie auch, daß dies nicht der richtige Weg war. Das Leben auf dem Atoll war zum Scheitern verdammt. Hier waren ihre Bemühungen und ihre Hoffnung auf ein Morgen fehl am Platz. Dann nahm sie den Gesichtsausdruck des Seemanns wahr, der die Hände in die Armlehnen seines Sessels verkrallt und die Flasche mit den
beiden kostbaren Magazinseiten zwischen die Beine geklemmt hatte. Es sah aus, als fürchtete er sich vor diesem Flug: sie wußte jedoch, daß er sich schon vor Stunden daran gewöhnt hatte, mit dem Luftschiff durch die Lüfte zu schweben. Es mußte etwas anderes sein. »Geht es dir gut?« fragte Helen. »Das hier war ein Fehler.« »Was?« »Ich hätte auf dem Floß bleiben sollen.« Da verstand sie plötzlich. »Sie werden dir nichts tun«, sagte sie. Er bedachte sie mit einem skeptischen Blick. Sie langte um Gregor herum und berührte seinen Arm. »Sie werden dir dankbar sein ... und dich willkommen heißen, genau wie Gregor.« Der Wind zerwühlte sein Haar; sie konnte sowohl den Muschelohrring als auch die Kiemen erkennen. »Das letzte Mal«, sagte er. »Haben sie mich in ihrer Organo-Barkasse willkommen geheißen.« »Ich werde ihnen sagen, was du getan hast... wie du mein Leben gerettet hast.« Er schüttelte verneinend den Kopf. »Ich will nicht bleiben. Ich will einfach nur ein Boot.« Er deutete mit dem Kopf auf die brüchigen Seiten in der Flasche. »Ich werde ihnen meine Seiten geben für irgend etwas, das auf dem Wasser treibt.« »Ist es das, was du willst?« »Das ist es, was ich will.«
Sie blickte forschend in sein Gesicht, es blieb ihr jedoch verschlossen. »Wirst du mich mitnehmen?« Jetzt betrachtete er sie - die Augen zu Schlitzen verengt. »Ist es das, was du willst?« »Ich will Enola hinterher.« »In einem Boot?« Jetzt schüttelte sie verneinend den Kopf. »Ich will sie dazu überreden, all die Boote voneinander zu trennen und den Smokern zu folgen ... Enola zu folgen.« Er betrachtete sie lange Zeit, dann seufzte er mit einem humorlosen Lachen. »Das werden sie nicht tun.« Sie erwiderte verbissen: »Vielleicht machen sie es ja doch.« " »Das Kind ist möglicherweise schon tot.« »Ich weiß. Aber ich muß es trotzdem versuchen.« Er zückte mit den Achseln. »Sie werden es nicht tun.« Der Ballon neigte sich nach unten, als der Alte Gregor ihn auf die klägliche Ansammlung von Booten zusteuerte. Es war eine bemitleidenswerte Armada, die sie auf die Suche nach den Smokern, Enola und (ihre Hoffnung war in vollem Maße zurückgekehrt) >Festland< zu schicken suchte. In der Abenddämmerung wirkten die Fischtrawler von Neu-Oasis wie seltsam abstrakte Scherenschnitte am kupferfarbenen Horizont. Kleine Boote bildeten goldschimmernde Tupfen auf dem Wasser.
Auf dem Deck eines zerschundenen Trawlers saß der Seemann und nahm allein eine Schüssel Brei zu sich. Sie war ihm von einer Atollerfrau überreicht worden. Diese hatte ihn dabei mit einem äußerst mißtrauischen Blick bedacht, der noch weniger appetitanregend wirkte als der kalte Brei. Im Inneren des Trawlers wurde gerade eine Versammlung abgehalten, während der über sein Schicksal entschieden werden sollte. Wieder einmal hatte man ihn nicht zu seiner eigenen Verurteilung geladen. Helen hatte ihm versichert, daß es sich um keine Verurteilung handelte. Niemand hatte auch nur den Versuch unternommen, ihn zu fesseln oder anzuketten; und nicht ein dickbäuchiger Ältester ... keiner von ihnen war bei dem Massaker mit dem Leben davongekommen ... hatte auf Neu-Oasis das Sagen, sondern ein alter Freund des Seemanns - der breitschultrige, braungebrannte Gesetzeshüter, der seinen alten Oasistitel auch hier beibehielt: der Vollstrecker. »Ich werde dafür sorgen, daß dir nichts geschieht«, hatte der Vollstrecker ihm versprochen. Der Seemann glaubte dem Mann, und jetzt wartete er, während Helen - deren Gesicht gelegentlich am Fenster des Trawlers auftauchte und zu ihm hinausstarrte - seinen Fall vertrat. In der Zwischenzeit hatte er beschlossen, daß dieser Trawler es genauso gut wie jeder andere tun würde, woraufhin er begann, die Besitztümer der
Atoller auszuräumen und auf das Deck zu werfen. Er wollte ihre zerlumpten Sachen nicht. Nur das Boot. Nur das Boot. Sie stand am Fenster und blickte hinaus auf die einsame Gestalt des Seemannes mit seiner Schüssel Brei und seinem ausdruckslosen Gesicht, während die Atoller hinter ihrem Rücken keiften und zankten. Manche Dinge änderten sich eben nie. »Es ist nicht sicher, ihn ohne Ketten dort draußen zu lassen!« brüllte ein Atoller. Eine Frau fügte, den Tränen nahe, hinzu: »Er hat recht! Wir haben Kinder hier!« Sie wandte sich vom Fenster ab und drehte sich zu der an Tischen sitzenden oder neben ihnen stehenden Gruppe um; auf fast jedem der Gesichter zeigte sich Furcht. Eine Ausnahme war der Alte Gregor, der auf einer Bank in der vorderen Reihe saß und ihr ein tröstendes Lächeln schenkte, während er schweigend mit dem Kopf nickte, um sie anzuspornen. »Ihr müßt euch nicht länger den Kopf darüber zerbrechen, was ihr mit ihm anstellen sollt«, sagte sie. »Er verläßt uns nämlich gerade.« »Wie?« fragte einer der Atollbewohner. »Auf einem unserer Boote?« wollte ein anderer wissen. Sie zuckte mit den Achseln. »Ihr könnt ihm eines davon überlassen ... oder er nimmt sich einfach eins. Ihr habt die Wahl.«
Die kräftige Gestalt des Vollstreckers bewegte sich nach vorn; in dieser Gruppe wirkte er wie ein Erwachsener unter kleinen Kindern. »Das hat er sich verdient. Und es steht ihm frei zu gehen.« Es gab einiges Gemurmel, das jedoch nicht sehr laut wurde: Hier galt das Wort des Vollstreckers als Gesetz. Doch Helen wußte, der Mann, der in diesem mächtigen Körper steckte, war nicht grausam; er war im Gegenteil sogar äußerst gerecht - was seine nächsten Worte verdeutlichten. »Wir haben eine Entscheidung zu fällen«, sagte der Vollstrecker. »Helen hat uns gebeten, unsere Boote voneinander zu trennen und uns auf die Suche nach dem Kind zu machen.« »Sie ist eine von den Smokern«, warf jemand ein. »Lassen wir sie ausreden«, meinte der Vollstrecker, deutete auf Helen und nahm auf seiner Bank neben einem Tisch Platz. »Helen - bitte sprich.« Den Kopf stolz erhoben, aber dennoch zitternd, stellte sie sich in die Mitte des Raumes. Sie wußte, wie wichtig ihre kleine Rede war - für sie, Enola, für die Zukunft. »Die Welt wurde nicht während der Großen Sintflut erschaffen.« Sie hatte kaum ausgesprochen, als alle auch schon ungläubig die Augen aufrissen, angesichts dieser ketzerischen Behauptung. »Das Land wurde nicht davon fortgespült - es wurde von
ihr bedeckt.« In den hinteren Reihen kreischte eine Frau mit schriller Stimme: »Die Ältesten sagen ...« »Sie sagen gar nichts mehr«, fiel Helen ihr ins Wort. »Sie sind tot. Sie alle. Ich lebe und ich stehe hier vor euch, um euch zu erzählen, was ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Dort unten gibt es Land, direkt unter unseren Rümpfen ... es gibt Städte da unten, sie sind jetzt zwar tot, doch sie waren einmal lebendig.« Das Gemurmel wurde jetzt lauter, und der Vollstrecker brachte sie zum Schweigen: »Ruhe! Helen ... sprich weiter.« Sie gehorchte. »Wenn es da unten Land gibt, dann könnte es auch über dem Wasser Land geben irgendwo am Horizont.« Jetzt wurde spöttisches Gelächter laut. Eine Stimme rief: »Und wo?« Eine weitere Stimme höhnte: »In welcher Richtung? Wie weit entfernt?« Helen war frustriert, für einen Moment hatte es ihr die Sprache verschlagen. Der Alte Gregor sprang mit derart jugendlichem Elan auf, daß er sein Alter Lügen strafte. . »Meine Freunde«, tönte er mit donnernder Stimme. »Hört mir zu. Ihr kennt mich - und ihr vertraut mir, hoffe ich. Ich bin davon überzeugt, daß Enola den Weg nach >Festland< auf ihrem Rücken trägt. Ich habe das Rätsel zwar noch nicht lösen
können ... aber eines weiß ich: Ohne sie werde ich es nie lösen können.« Ein weiterer Atoller erhob sich. »Müssen wir uns diesen Unsinn anhören? >Festland< ist ein übler Scherz - das haben wir schon vor Jahren beschlossen, und je eher ihr beide diese Tatsache akzeptiert, desto besser wird es uns allen gehen.« Einige nickten mit den Köpfen, und das Murmeln verwandelte sich in Murren, dem der Vollstrecker Einhalt gebot, indem er aufstand, um sie abstimmen zu lassen. Doch Helen wußte schon vor den Handzeichen, was dabei herauskommen würde. Der Mariner hatte das Deck von den Besitztümern der Atoller befreit und den Trawler zum Ablegen bereitgemacht. In Gedanken war er bereits mit dem Umbau des Bootes beschäftigt; er benötigte bessere Segel, und die Bergungsarbeiten in den toten Städten würden Monate dauern, bis er die nötige Tauschware eingesammelt hatte, um ... Sie stand neben ihm. Und machte ein betretenes Gesicht. »Sie werden nicht nach ihr suchen.« »Was hattest du denn erwartet?« Sie seufzte kopfschüttelnd. »Du mußt das verstehen, sie haben Angst... es sind nur Menschen.« »Damit kenne ich mich nicht aus.« »Tut mir leid.« Achselzuckend fuhr er mit seiner Arbeit fort. »Ich kann nicht verstehen, wenn Lebewesen, ob nun
menschliche oder sonstwelche, sich nicht auf die Suche nach ihresgleichen machen.« Ihre Hand legte sich auf seine Schulter, mit Fingern so zart wie Blütenblätter. »Wirst du ihr folgen?« »Nein.« Ihre Hand fiel herab. Die Abenddämmerung verschmolz allmählich mit der Nacht. Auf NeuOasis gab es keine Straßenlampen. Vielleicht würde der alte Erfinder ihnen eine neue Windmühle bauen, damit die Smoker kommen und sie abbrennen konnten. »Du sagst, du verstehst die Leute nicht, die sich nicht auf die Suche nach ihresgleichen machen«, sagte sie, und es klang eigentlich nicht sehr vorwurfsvoll. »Doch dann sagst du, daß du ebenfalls nicht gehen wirst.« »Sie ist nicht meinesgleichen.« Seine Worte ließen sie zusammenzucken. »Ich dachte, du und Enola ...« »Du hast was gedacht?« Der Ausdruck auf ihrem Gesicht ließ einen fast glauben, daß er sie geohrfeigt hatte. »Ich brauche sechs Gallonen Hydro«, meinte er. »Sie können meine Seiten haben.« »Du bekommst sie«, erwiderte sie sachlich. »Ich werde dafür sorgen. Es gibt immer noch einige anständige Leute hier.« Er hielt kurz in seiner Arbeit inne. »Diese Taurolle - sie gehört zu dem Boot, richtig?«
Sie antwortete nicht. Statt dessen meinte sie: »Enola hat gesagt, du wärst ihr Freund.« Und jetzt sah es so aus, als hätte sie ihn geohrfeigt. Außerdem waren ihm ihre Worte auf den Magen geschlagen - oder lag das etwa nur an dem Brei? Er tat es mit einem Achselzucken ab und fuhr damit fort, das Tau aufzurollen. Helens Stimme bebte, als sie leise fortfuhr: »Was soll ich ihr sagen, wenn ich sie wiedersehe?« Was sollte er darauf erwidern? Hatte er der Frau nicht gesagt, daß dieses Kind wahrscheinlich schon tot war? Und wenn nicht, dann wäre der Tod für sie bestimmt besser als ein Leben unter diesen Barbaren. Er kehrte ihr den Rücken zu, um seine Tätigkeiten wieder aufzunehmen und sein Bestes zu tun, diesen armseligen Pott in ein anständiges Schiff zu verwandeln. Er bemerkte nicht, wie sie den Trawler verließ und den Bootssteg betrat. Später in der Nacht stand sie mit verschränkten Armen und unbewegtem Gesichtsausdruck neben dem Alten Gregor, der seinen Arm um sie gelegt hatte, auf dem Steg und beobachtete den Seemann am Steuerruder des Trawlers, bis dieser mit der Nacht verschmolz und ihren Blicken entschwand. »Du darfst ihm keinen Vorwurf machen«, meinte der Alte Gregor sanft. »Überleben ist das einzige, was er kennt.« »Überleben ist aber nicht leben«, erwiderte sie.
»Nein. Aber es ist ein Anfang. Deswegen wird es eines Tages mehr von seiner Sorte geben, eine ganze Rasse von ihnen, eine Spezies.« Das Seufzen des alten Erfinders klang kummervoll. »Und - das wage ich zu behaupten - nur noch sehr wenige von uns.«
Kapitel 23 Enola fror und fürchtete sich. Sie befand sich in einer Zelle an einem Ort, der von den Smokern, wie sie gehört hatte, als >der Knast< bezeichnet wurde; sie war in dieser nackten Metallzelle mit dem Knöchel an eine nackte Metallpritsche gekettet und kauerte daneben auf dem nackten Metallboden. Die Flammen der Hoffnung loderten noch in ihrem Herzen, und sie fürchtete sich nicht so sehr wie sie fror, konnte aber trotzdem nicht aufhören zu weinen. Sie vermißte Helen. Und sie vermißte den Seemann. Sie dachte an sein wundervolles Boot, und wieder erschien der brennende Trimaran vor ihrem geistigen Auge, diese Flammen, die an den Segeln leckten und sie schwarz färbten. Und dann weinte sie. Draußen vor der Zelle kündigte sich das Eintreffen des Führers - des einäugigen Mannes namens Diakonus - durch das Geräusch seines schrecklichen Treibstoff-Landbootes an; sie hatten
Enola darin zu dem Knast gebracht. Jetzt kehrte es zurück und brachte den Diakonus mit. Sie konnte hören, wie er sich dort draußen mit dem fiesen, blonden Mann namens Norde unterhielt. »Was gibt' s Neues?« fragte der Diakonus. »Kein Sterbenswörtchen«, antwortete der Norde. »Sie sitzt einfach nur da und heult Rotz und Wasser.« Draußen vor der Zelle wurde etwas Schreckliches für sie vorbereitet, was sie aber nicht sehen konnte. Der kränklich aussehende Doc, dem die Schläuche seines hinter ihm rollenden Gaskanister- und Cocktailkarrens in der Nase steckten, hielt in der einen Hand einen Kugelfisch und in der anderen eine Spritzennadel. Die Nadel wurde in den Kugelfisch gerammt, und der Doc entnahm ihm gerade eine gallertartige Flüssigkeit. »Ein wenig Glibber aus der Leber«, meinte der Doc frohgemut. »Ist ziemlich giftig - damit wird sie all ihre Geheimnisse preisgeben.« »Ja«, sagte der Diakonus. »Oder es wird sie umbringen.« Mit einem Handwedeln bedeutete er dem Doc, beiseite zu treten. »Zuerst werde ich versuchen, mit ihr zu reden. Du weißt, wie gut ich mit Kindern umgehen kann.« »O ja«, bestätigte der Doc und wich eiligst ein paar Schritte zurück. Sie hatte diese Unterhaltung wohl gehört - aber nicht verstanden - und als die Tür zu der kleinen
Zelle entriegelt wurde und aufschwang, trat der Diakonus ein - dicht gefolgt von dem fiesen, blonden Norden - und begrüßte sie mit einem Lächeln, das wie eine fürchterliche Wunde in seinem Gesicht klaffte. »Solch ein goldiges Kind«, sagte er. Der Norde grinste einfältig. Und dann verdüsterte sich die Miene des Diakonus, als er den Mitleidigen spielte. »Was soll denn das bedeuten? Nehmt dem Kind diese Ketten ab! Sind wir etwa Barbaren?« Ein extrem behaarter Smokerwächter polterte herein und entfernte die Kette von ihrem Knöchel. »Na, also«, sagte der Diakonus. »Ist das nicht besser?« Enola antwortete nicht. »Komm, setz dich mit mir auf die Pritsche. Nimm meine Hand.« Zögernd ergriff sie seine Hand; sie fühlte sich überraschend weich an, als er das Mädchen neben sich auf die Metallpritsche schob. »Ist das nicht besser?« fragte er mit einem weiteren schrecklichen Lächeln. Er nestelte ein viereckiges Objekt aus einer Tasche seiner fürchterlich zerfetzten Uniform. Es war eine kleine Papierschachtel mit Rauchstäbchen. Er zog eines heraus, zündete es an und hielt ihr die Schachtel entgegen. »Zigarette?« Sie schüttelte verneinend den Kopf. »Nun, ja ... wie wäre es dann damit?«
Und er zeigte ihr ein Objekt, das eine ähnliche Form besaß... Ihre Wachsmalkreide. Ein Smoker hatte sie ihr auf dem Trimaran entwunden, und sie war die ganze Zeit der Meinung gewesen, die Kreide auf ewig verloren zu haben. Wie sehr es sie danach verlangte! Sie könnte damit diese entsetzlich kahlen Wände dekorieren. Sie behielt jedoch ihren steinernen und ungerührten Gesichtsausdruck. Mit großen, unbeweglichen Augen starrte sie ihn an und überlegte, was der Seemann wohl tun würde, wenn er der Gefangene dieses Verrückten wäre. »Sie gehört dir«, sagte der Diakonus und machte einen tiefen Lungenzug, »wenn du mir bei einem bestimmten Problem behilflich sein kannst.« Sie schwieg. »In der Tat glaube ich, daß sich in meinem Lagerraum eine ganze Schachtel mit diesen ... man nennt sie Wachsmalkreiden ... befindet. Möchtest du die gerne haben?« Sie antwortete nicht. »Ich sollte es erklären«, meinte der Diakonus einsichtig. »Weißt du, ich habe da diese Gemeinde. Ich erwähnte bereits, daß ich ein Mann Gottes bin, oder nicht? Nun, das bin ich, und ich habe diese Gemeinde, eine gute Gemeinde. Eine riesige Gemeinde. In der Tat wird sie von Mal zu Mal riesiger.« Er schüttelte den Kopf. »In der Tat ist auf
der ollen >Deez< einfach nicht genug Platz für all diese Leute.« »Warum machst du dann nicht weniger Leute?« fragte sie. Er blinzelte. »Wie bitte?« »Auf dem Atoll«, erklärte sie, »wird nur dann ein Baby geboren, wenn genug Platz ist. Denn so ist immer genug Essen und Hydro für alle da. Auch für das Baby.« Sein Blick schien sich zu verschleiern und sein schreckliches Lächeln zu erstarren. Dann tätschelte er ihren Kopf und erwiderte: »Nun, ist das nicht ein drolliger Vorschlag ... dieses Prinzip würde man hier nur nicht anwenden können, Liebes. Weißt du, wir sind nämlich die Kirche des Ewigen Wachstums. Zu viele Leute sind nicht das Problem.« »Nicht?« »Nein, nein, nein. Es geht nicht darum, daß es zu viele Leute gibt, Liebes - es geht darum, daß wir nicht genug Platz haben.« »Oh.« Er klopfte sich auf die Knie, und sein Lächeln wurde verkrampft. »Nun ... mir wurde gesagt, daß es sich bei der Tätowierung auf deinem Rücken eigentlich um irgendeine Art Karte handelt.« Sie nickte. »Sie beschreibt den Weg nach >Festland<. Sagt Gregor.« .,,.
Er strahlte sie an. »Jetzt kommen wir der Sache schon näher! Äh ... könntest du mir vielleicht zufällig, äh ... erklären, wie man diese Karte liest?« Sie schüttelte verneinend den Kopf. »Rückschlag«, murmelte der Diakonus. Er dachte einen Augenblick lang nach, dann sagte er: »Nun, haben deine Freunde jemals etwas darüber gesagt? Deine Mami, oder dein großer Lieblingsfisch?« »Helen ist nicht meine Mami«, erwiderte Enola spröde. »Und du solltest dich nicht über meinen Freund lustig machen. Das würde ihm nicht gefallen.« Der Diakonus blinzelte erneut. Er hatte einen komischen Ausdruck auf dem Gesicht - irgendwie als würde er das, was sie sagte, lustig finden, und irgendwie, als wäre er wütend, weil sie es gesagt hatte. Als er weitersprach, lag in seiner Stimme eine gewisse Schärfe. »Es ist mir völlig wurscht, was ihm gefällt, Kleine. Dieses Tier hat mein Auge kaputtgemacht. Sollte ich ihn jemals wiedersehen, werde ich ihm den Schädel aufschneiden und sein Gehirn fressen - roh. Glaubst du, das würde ihm gefallen?« Sie ließ ihn nicht merken, daß sie sich fürchtete, erwiderte nur leise, in sachlichem Tonfall: »Du kannst ihn nicht töten.« Der fiese, blonde Mann trat vor; er sah sehr wütend aus. »Ich werde ihr das Maul stopfen -«
Doch der Diakonus hob seine Hand, und der Norde hielt inne. Sehr sanft fragte er Enola: »Ich kann ihn nicht töten? Warum nicht?« Sie zuckte mit den Achseln. »Weil er schnell ist, und stark, wie ein großer Sturm. Und er ist sogar noch gemeiner als du.« Der Diakonus zog eine Grimasse. »Es gibt keinen Menschen, der noch am Leben ist und das von sich behaupten kann.« Sie zuckte erneut mit den Achseln. »Er ist kein Mensch.« Das schreckliche Lächeln war wieder zurückgekehrt, doch Enola wußte, daß es nichts mit irgendeinem Glücksgefühl zu tun hatte. Da lag Haß in diesem Lächeln - er glühte fast vor Haß. Immer wenn er sich vorlehnte, konnte sie seinen widerlich stinkenden Atem riechen. Er mußte schon eine ganze Menge von diesen Stäbchen geraucht haben. »Du hast recht, was deinen Freund angeht«, meinte der Diakonus. »Er ist ein großes, ekelhaftes Tier und er verursacht mir eine Gänsehaut. Er ist aber nicht hier, und er wird auch nicht kommen. Also wird dich niemand retten.« Sie schluckte, doch ihr Ausdruck blieb gleichgültig. Das war schwer, wenn einem jemand seinen übelriechenden, heißen Atem ins Gesicht hauchte. »Niemand wird dich retten«, wiederholte er. »Kapiert?« . Sie rutschte weg von dem
schrecklichen Gesicht und dem noch schlimmeren Atem. »Er wird kommen ... und mich retten.« Er beugte sich vor. »Nun, dann erzählst du mir besser, was ich wissen will, oder er kann deine Überreste in einer gottverdammten Dose retten!« Sie betrachtete ihn nur. Funkelte ihn an. Er stand unvermittelt auf und wirkte mit einem Mal ganz ruhig. Gefaßt. Er tätschelte sanft ihren Kopf. »Ich bin froh, daß wir diese kleine Unterhaltung führen konnten«, sagte er. »Nahrung für die Gedanken. Wache!« Der behaarte Smoker trampelte wieder herein. »Fessle das Gör«, befahl der Diakonus. Darm stürmte er, den Norden auf den Fersen, aus dem Raum. Der Wächter befestigte die Kette an ihrem Fuß, während sie an die Wand gekauert vor sich hin flüsterte. »Er wird kommen und mich finden«, sagte sie und nickte mit dem Kopf. Einmal. Zweimal. »Er wird mich wegbringen ... er wird mich finden.« Die Tür fiel krachend ins Schloß.
Kapitel 24 Neben dem verbrannten Gerippe seines einst stolzen Bootes mit den drei Rümpfen wirkte der klapprige Trawler wie ein prächtiges Schiff. Auf dem Deck des Trawlers lagen Werkzeuge, Waffen und andere geheime Schätze aus den verborgenen Nischen des Trimarans. Der Seemann hatte eine Bergungsaktion auf seinem eigenen Schiff veranstaltet. Momentan saß er auf der angesengten Koje in seinem verkohlten Kajütengehäuse und betrachtete eine Karte, die von den Plünderern bei der hastigen Zerstörung seiner Heimstatt übersehen worden war. Er hatte auch einen Buntstift gefunden, eine von Enolas Wachsmalkreiden, die in einer Nische von der Hitze verschont geblieben war. Er malte einen Punkt auf die Karte und schrieb in kindlichem Gekrakel, was er jedoch nicht als solches erkannte, das Wort: DENVER daneben. Das war die versunkene Stadt, die er und Helen unlängst besucht hatten. Auf dieser Karte gab es noch andere Punkte,
neben denen die Namen weiterer schon seit langem toter Städte standen: SEATTLE, RIO, FLINT... Doch in vielen Fällen waren die Städte nur durch einen Punkt markiert. Die während der damaligen Sintflut zerstörten Städte waren nicht immer so leicht zu identifizieren. Aber er beschäftigte sich jetzt schon seit Jahren mit der Registrierung der Unterwasserstädte, um seine Welt besser begreifen zu können. Und seine Welt war mehr als Waterworld - zu ihr gehörte auch dieses Königreich unter dem Meeresspiegel. Heute jedoch, in der Zentralkajüte des einsamen, gerösteten Wracks seines Schiffes, wollte ihm irgend etwas keine Ruhe lassen, als er seine selbstgemachte Karte studierte. Er ging zurück zu den Nischen und entdeckte gelobt sei Poseidon - die uralte, verwitterte Karte, auf der die Welt der alten Tage abgebildet war. Wie schon so oft verglich er sie mit seiner selbstgemachten Karte und runzelte die Stirn. Doch dann lächelte er. Das Hinzufügen von >Denver< hatte plötzlich Licht in das Dunkel gebracht - oder zumindest erklärte es, warum die Dinge überhaupt im Dunkeln gewesen waren. Nachdem er die selbstgemachte Karte über die prächtig bedruckte gelegt hatte - das Papier seiner Karte war dünn genug, um die alte Weltkarte darunter erkennen zu können - drehte er seine Karte auf den Kopf und ...
... all seine durch Punkte gekennzeichneten und eingetragenen Städte stimmten mit den ebenso gekennzeichneten Städten darunter überein. Denver lag über Denver, Rio über Rio, und so weiter, und so weiter. Jetzt konnte er auch die unbeschrifteten Punkte identifizieren; jetzt konnte er... Und plötzlich ging ihm ein weiteres Licht auf. Es gab da ein bestimmtes Muster, das er noch nie zuvor gesehen hatte. »Höllenkrabben«, murmelte er. »Das ist die Antwort.« Von seiner Erkenntnis ganz benommen, drehte er abwesend seine Karte herum, um sie aufzurollen und den anderen von ihm geborgenen Dingen hinzuzufügen, als er Enolas Zeichnungen auf der Rückseite bemerkte; skizzenhafte Erinnerungen an ihre gemeinsamen Tage auf See. Der Trimaran als Segelboot. Helen, deren Haar im Wind wehte. Der Seemann, der Enola ins Meer warf. (Er mußte lächeln.) Der Walphin, als er aus dem Wasser sprang. Er und Enola, als sie im Ozean schwammen. (Das ließ sein Lächeln verschwinden.) Sanft fuhr er mit dem Zeigefinger die einfachen und doch beredten Linien der Kunstwerke nach. Wenn ihn in diesem Augenblick irgend jemand hätte sehen können, so würde er das Gesicht des Seemanns in seinem sanftesten,, kindlichsten,
ernsthaftesten und menschlichsten Zustand erlebt haben. Dann hätte er gesehen, wie sein Ausdruck sich versteinerte und seine Miene entschlossen wurde, und wie seine Augen ins Leere blickten, als er auf das Deck hinaustrat; sie schauten auf nichts Bestimmtes, weder auf sein ruiniertes Schiff oder den armseligen Trawler, noch auf den Horizont. In Gedanken betrachtete er die Sache, zu der er sich entschlossen hatte, als ihm plötzlich ein Windstoß wie zustimmend durchs Haar fuhr und seine Kiemen entblößte, als ob er ihn anspornen wolle. Das Knallen eines Gewehrschusses durchschnitt die Nacht und schreckte Helen aus dem Schlaf. Instinktiv tastete sie nach Enola - die natürlich nicht da war - und sprang dann aus dem Feldbett in der Kajüte der lecken, alten Schute, die man ihr und dem Alten Gregor als Quartier überlassen hatte. Gregor war ebenfalls wach, sie konnte ihn oben auf dem Deck hören, wo er sich geräuschvoll im Schlaf gewälzt hatte. Sie hörte auch andere Bewohner des Atolls auf ihre Boote klettern. Und kurz darauf blickte Helen ebenso wie sie hinaus in die sowohl unheimlich als auch wunderschöne mondhelle Nacht, wo der elfenbeinfarbene Glanz des Wassers durch die Anwesenheit von zwei Smokern, die auf Jetskis mit undichten Öltanks heranritten, besudelt wurde.
Einer war dick, der andere mager; beide waren behaart und ungepflegt, was der offizielle Zustand der Smoker zu sein schien. Außerdem grinsten beide schwachsinnig, während sie mit ihren dröhnenden, gedrosselten Maschinen auf den Wellen hüpften. Dem qualmspuckenden Jetski des Mageren folgte eine Ölspur wie ein schwarzes Band, das sich bis zum Horizont erstreckte. Der Fettere hatte den Schuß abgefeuert aus einem rauchenden Gewehr, das er himmelwärts gerichtet in der einen Hand hielt, als wolle er damit auf den Mond zielen. Nur ein Boot von Helens Schute entfernt, auf dem Deck eines Trawlers, der seitlich des Eingangs zu der kleinen Lagune von Neu-Oasis lag - vor der es natürlich noch keine Tore gab - stand der dunkelbraungebrannte, muskelbepackte Vollstrecker. Von den Decks der anderen zusammengeknoteten Boote drang ängstliches Gemurmel zu ihnen herüber, was der Gesetzeshüter des Atolls mit einem Stirnrunzeln quittierte. »Verhaltet euch ruhig!« Die beiden Jetskis gaben ein lärmende Geknatter von sich, als die Smoker mit ihnen auf der Stelle trieben und sich lachend wie zwei ungezogene Kinder anblickten. »Was wollt ihr?« fragte der Vollstrecker gebieterisch.
»Alles Mögliche«, erwiderte der Fette. »Aber wir geben uns auch mit allem, was ihr habt, zufrieden. Stimmt's nicht, Bohne?« Chester, der dicke Smoker, war der Kopf dieses Pärchens. Er schob sein Gewehr in ein längsseits am Jetski befestigtes Futteral. »Wir warten«, meinte er und verschränkte seine mächtigen Arme. »Warum kommt ihr nicht herauf?« fauchte der Vollstrecker. »Dann seht ihr, was ihr kriegt.« Chester, der auf den Wellen schaukelte und schwankte, lachte schnaubend. »So funktioniert das nicht. Ihr wollt nicht kooperieren. Prima. Wir fahren zurück und holen unsere Freunde, und dann erst >kommen wir rauf < ... wir gehören zu einer religiösen Gruppe, mußte wissen.« »Religiös«, kicherte Bohne. »Wir glauben daran, daß man teilen sollte«, bestätigte Chester. »Ihr habt unsere Heimat zerstört!« brüllte einer der Atoller. »Warum könnt ihr uns nicht einfach in Ruhe lassen?« Chester zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht. Auch religiöse Leute haben ihre Schwächen. Stimmt' s nicht, Bohne?« Und Chester blickte, ebenso wie Helen, auf seinen Kumpel Bohne, nur daß Bohne plötzlich nicht mehr da war. Einzig sein Jetski tanzte und hüpfte führerlos auf dem Wasser. Eine kleine, verlassene, Treibstoff
saufende Geistergaleone auf dem ölverpesteten Elfenbeinmeer. Chesters Miene wirkte überraschend nachdenklich, dachte Helen. Verdutzt langte der schwabbelige Smoker nach dem Gewehr in seinem Futteral... ... und der Seemann schoß in einem wütenden Schwall direkt neben dem Jetski aus den Fluten, landete klatschend auf seinem dickbäuchigen Opfer, packte es und zog es nach hinten ins Meer, unter Wasser, aus dem hin und wieder wild um sich schlagende Gliedmaßen tauchten, um kurz darauf wieder zu verschwinden - ein Bein, ein Arm, eine Hand mit erhobenem Messer - und dann erschien im Mondlicht das dort unten vergossene Blut wie eine schwärende Wolke auf der Oberfläche, mehr schwarz als rot. Mit eleganten Stößen schwamm der Seemann durch das vom Kampf noch aufgewühlte Wasser auf das nächstgelegene Boot - die Schute - zu, und gestattete mehreren Atollern ... die mit einem Male sehr erfreut schienen, diesen >Muto< zu sehen ... ihn an Deck zu ziehen. Er richtete sich auf, das blutige Messer zwischen den Zähnen. Er nahm es aus dem Mund, schob es in die Scheide und ging auf Helen zu. Seine Miene wirkte wild. Und dabei sehr menschlich. »Du bist zurückgekommen«, sagte sie, und ihr Gesicht wagte ein Lächeln.
»Ich werde das Kind holen«, meinte er schlicht. Der schäbige Trawler des Seemannes wurde längsseits der Schute, die jetzt Helens Heim zu sein schien, festgemacht. Der Jetski des dicken Smokers war ganz in der Nähe befestigt, als der Seemann auf einem behelfsmäßigen Kai - die Anfänge der AtollZivilisation hier in Neu-Oasis - einige uralte Glasflaschen, auf denen >Coke< und >Coca Cola< stand, mit Öl füllte. Dann stopfte er sie mit alten Lumpen zu. Der Alte Gregor half ihm dabei. »Weißt du«, sagte der alte Mann, »für eine häßliche Mißgeburt bist du gar nicht mal so übel.« Der Seemann sah ihn einfach nur an. »Das sollte ein Scherz sein«, erklärte der alte Mann. »Es war freundlich gemeint.« »Ich weiß, was das für ein Bild war.« Gregor legte die Stirn in Falten. »Welches Bild?« Der Seemann antwortete nicht, stopfte nur einen weiteren Lumpen in eine Colaflasche. »Oh!« stieß Gregor plötzlich hervor. »Das Bild, das ich dir gezeigt habe? Im Käfig bei der OrganoBarkasse! Ja.« Der Seemann nickte. Gregor bebte vor Erregung. »Ist es eine Karte? Ich habe immer gedacht, daß es eine ist, mit Längengraden und Breitengraden, aber...« »Es ist eine Karte«, erwiderte der Seemann. »Aber sie steht auf dem Kopf.« »Auf dem...?«
»Kopf«, beendete der Seemann den Satz. Eine weitere mit Öl gefüllte Flasche, ein weiterer Lumpen. »Die Welt...« Der alte Mann legte seine Stirn in tiefe, nachdenkliche Falten. »Könnten die Pole sich ... umgekehrt haben?« »Du bist der Wissenschaftler.« »Wie kannst du diese Dinge wissen!« Der Mariner deutete mit einer Kopfbewegung auf das Meer. »Ich habe die Städte dort unten in eine Karte eingetragen.« »Was für eine wundervolle Idee!« rief der alte Mann. »Und du bist sicher, daß Enolas Karte auf dem Kopf steht? Oh. Oh. Oh, liebe Güte! Das ist wundervoll!« »Reich mir den Lumpen da.« Der alte Mann beugte sich zu dem Seemann vor, sein Ausdruck und Tonfall waren verschwörerisch. »Willst du Enola deswegen holen? Damit du >Festland< finden kannst?« »Das spielt für mich keine Rolle«, entgegnete der Seemann. Gregor nickte. Es schien den alten Mann einige Mühe zu kosten, seine Fassung wiederzuerlangen, als er sagte: »Nein, natürlich nicht. Es ist das Kind, um das du dir Sorgen machst... doch das würdest du ja niemals zugeben.« Der Seemann funkelte ihn zornig an.
»Aber das, was du mir erzählt hast«, meinte Gregor überwältigt, mit leiser Stimme, »ist so viel wert. Ich ... ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« »Gut«, sagte der Seemann. Gregor lachte; es war ein herzliches Lachen, und der Seemann mußte sich ein wenig anstrengen, um nicht zu lächeln. Der alte Kerl strahlte, als Helen sich näherte. Sie strahlte jedoch nicht. Sie trug einen resoluten Ausdruck im Gesicht, als sie verkündete: »Ich komme mit dir.« Es dauerte einen Moment, bevor der Seemann antwortete. »Es ist am leichtesten, wenn ich allein gehe.« Mehrere Atoller kamen näher. Es schien sich bei ihnen um eine kleine, selbsternannte Delegation zu handeln. Der Seemann, Gregor und Helen verschoben ihre Unterhaltung auf einen späteren Zeitpunkt. Der vorderste Atoller begann zu sprechen. »Es ist einfach lächerlich, die Smoker verfolgen zu wollen. Und gefährlich. Warum willst du Unruhe stiften?« Der Seemann antwortete nicht und stopfte einen weiteren Lumpen in eine weitere mit Öl gefüllte Colaflasche. »Du weißt noch nicht einmal, aus welcher Richtung sie gekommen sind.« Der Seemann zog den kleinen rundlichen >Feuerzeug<-Stab namens Bic aus seiner Tasche. Durch ein Schrappen am Rädchen entzündete er die
Flamme und hielt sie an den Stoffetzen der letzten von ihm gefüllten Flasche. Fast beiläufig schleuderte er die feuerspeiende Flasche mit einem Ruck über Bord, auf den immer noch schaukelnden, unbemannten Jetski, der dem verstorbenen Smoker namens Bohne gehört hatte. Die Flasche zerbarst, der Jetski entzündete sich und explodierte in einem Feuerball, der die Nacht für einen Moment zum Tag machte. Die Atoller auf dem Kai schrien überrascht auf und bedeckten ihre Augen vor der blendenden Helligkeit. Dann beobachteten sie alle, wie die Ölspur hinter dem Jetski Feuer fing, und die züngelnden Flammen bis zum Horizont jagten. Um den Weg des Seemanns zu beleuchten ... Er bedachte Helen mit einem eindringlichen Blick. »Wenn sie lebt, werde ich sie dir zurückbringen.« Nachdem er die Flaschenbomben auf dem Jetski untergebracht hatte, bestieg er ihn ebenfalls, wendete und fuhr in der Richtung, die ihm die Flammenspur wies, davon. Während sie mit hoffnungsvoll klopfendem Herzen dastand und dabei zusah, wie er immer kleiner und kleiner wurde, konnte Helen über die Bemerkungen der umstehenden Atoller nur entsetzt den Kopf schütteln. Eine Frau sagte: »Wir verschwenden nur wertvolle Zeit. Diese Smoker werden zurückkommen. Wir müssen von hier weg.«
Ein Mann meinte: »Sie hat recht. Dieses Monstrum wird sie nur noch mehr aufstacheln.« Ein weiterer Atoller berührte ihre Schulter. »Vergiß diesen >Muto<.« Sein anzüglicher Tonfall, der seine Worte wie eine sexuelle Anspielung klingen ließ - und sein übler, nach rohem Fisch stinkender Atem - reichten gerade aus, um sie in Rage zu versetzen. Sie streifte seine Hand ab, als wäre es Möwenmist. Dann schlug sie ihm ins Gesicht. Heftig. Das Geräusch hallte über die winzige Lagune. Dann stellte sie sich in ihre Mitte. »Also was ... sollen wir etwa wieder weglaufen? Wir haben kaum einen neuen Anfang gemacht, und ihr wollt schon wieder von vorne beginnen? Noch ein Atoll aufbauen ... Neu Neu-Oasis? Früher oder später werdet ihr begreifen müssen, daß ein Ort wie der hier nie unsere Heimat sein kann. Wir können so nicht mehr leben!« Sie drängte sich an ihnen vorbei und stand plötzlich dem Vollstrecker und dem Alten Gregor gegenüber. Der Vollstrecker runzelte die Stirn, doch Gregor offenbarte ein boshaftes, geheimnisvolles Grinsen. »Die anderen mögen Feiglinge sein«, sagte der Vollstrecker, »aber sie haben recht. Er befindet sich auf einem Selbstmordkommando.« »Ich werde ihm folgen.« »Es ist auch für dich Selbstmord.«
Sie schüttelte hilflos den Kopf. »Das ist mir egal. Ich kann nicht... kann nicht noch einmal weglaufen, und ich kann auch nicht einfach zurückbleiben und warten.« Gregor beugte sich strahlend nach vorn. Worüber war dieser alte Narr nun, so verdammt glücklich? Er flüstert ihr ins Ohr: »Oh, aber meine Liebe ... wir werden bestimmt nicht zurückbleiben.«
Kapitel 25 Die Morgendämmerung war ebenso glühend wie die Feuerspur, der sein Jetski folgte; während der Seemann die hohen Wellenkämme durchschnitt, hoffte er einzig, daß sein Treibstoffvorrat ausreichen würde. Er hielt den Blick starr geradeaus auf den Horizont gerichtet und wartete darauf, daß sich irgend etwas zeigte, offenbarte, wartete darauf, herauszufinden, an welch verderbtem, geheimnisvollem Ort die Smoker nach ihren widerwärtigen Atollüberfällen herumlungerten. Der Seemann beugte sich über den Lenker seines Jetskis, nur ein einziges Ziel vor Augen, das er so unbeirrbar verfolgte wie ein Blut witternder Hai. Er flüsterte: »Ich komme, Enola. Ich komme, um dich zu holen.« Außer dem Wind und dem Seemann selbst vernahm niemand diese Worte. Oder konnte das Kind, eingesperrt in irgendeiner modrigen Zelle, seine Botschaft als Prickeln im Nacken spüren?
Sie hatten sie aus der kalten Zelle in diesen riesigen, häßlichen Raum gezerrt. Na ja, nicht alles daran war häßlich - Enola mochte das Glitzern der Glasscherben, die von der ausgefallenen Laterne in der Decke herunterhingen. Doch die meisten der Zeichnungen waren scheußlich - >Gemälde< lautete das Wort, das der Alte Gregor ihr als Bezeichnung für ausgefallene, bunte Bilder wie die hier beigebracht hatte - und der Boden war mit einem fürchterlichen, orangefarbenen Tuch bedeckt. Sie befand sich noch genau dort, wo der gemeine Blonde, derjenige, den sie >den Norden< nannten, sie lieblos abgesetzt hatte: auf dem Boden, auf der schrecklichen, zotteligen Bodendecke, neben einem großen, weich aussehenden Stuhl, der mit kaltem, knisterndem Plastik überzogen war. Der Norde beobachtete sie wachsam, und der schreckliche Doktor mit den Schläuchen in der Nase, der diese großen Kanister auf Rädern hinter sich herzog, war ebenfalls da. Gestern hatte ihr der >Doc< eine Nadel in den Arm gepikst, und sie war fürchterlich krank geworden. Sie hatte die ganze Nacht lang geglüht, und es war ein schlimmeres Fieber als damals, als sie das hatte, was Helen (die sie gesund pflegte) die >Grippe< nannte. Ihr war immer noch übel, sie fühlte sich verschwitzt, und die Stelle an ihrem Arm, wo Doc die Nadel hineingestochen hatte, war ganz blau und geschwollen. Manchmal entschlüpfte ihr ein
unkontrolliertes Wimmern, weil sie sich so krank fühlte. »Halt den Mund«, befahl der Norde. »Wenn du keine Fragen beantwortest, dann halt die Klappe.« »Er kommt«, entgegnete Enola leise. »Er wird auf dem Wind reiten. Er wird kommen und mich retten.« »Halt die Klappe!« fauchte der Norde. »Ich fürchte, sie kann nichts dafür«, meinte der Doc. »Nach meiner >Behandlung< hat sie ihre Sinne wohl noch nicht so ganz beisammen.« »Du hast aber gesagt, sie würde reden wie ein Buch«, schnauzte der Norde vorwurfsvoll. »Und das einzige, was wir bekommen haben, war irgendwelches Geplapper! Keine Antworten!« Der Doc zuckte mit den Achseln und lächelte kraftlos. »Ich fürchte, die Medizin auf Waterworld ist eine etwas oberflächliche Wissenschaft.« Aus einem anderen Raum, der mit diesem verbunden war, rauschte der Diakonus herein. Er trug jetzt eine kunstvoll gearbeitete Flickwerkrobe mit flatternden Schößen, ein kunterbuntes Gewand, Pupurrot hier, Gelb dort, Schwarz, Gold, jeder Flicken ein kostbares Stück aus der Vergangenheit. Keiner von ihnen wollte so recht zum anderen passen, doch es wirkte trotzdem beeindruckend, dachte Enola, auf eine schreckliche Art und Weise. »Wie seh' ich aus?« fragte der Diakonus mit einem Glitzern in den Augen; oder besser: dem einzigen Auge. »Keine Beschönigungen, bitte.«
»Wie ein König«, sagte der Doktor. »Ein Kriegerkönig«, fügte der Norde hinzu. »Der Herr segne euch beide.« Der Diakonus strahlte. »Ich fühle mich wie ein Samurai-Papst!« Das schien die beiden Männer ebenso zu verwirren wie Enola; weder >Samurai< noch >Papst< hatten auch nur die geringste Bedeutung für sie. Doch dem Diakonus, der in seinem Quartier herumstolzierte und sich vor seinen beiden Busenfreunden wie ein Mädchen in einer neuen Tunika drehte und wendete, schienen sie offensichtlich sehr viel zu bedeuten. »In der Tat«, meinte der Diakonus großzügig, »möge Gott euch alle segnen! Selbst unsere kleine Freundin hier ... und wie geht es unserem kleinen Gast?« Der Doc glitt etwas näher an die kauernde Enola heran. »Faselt immer noch von ihrem fischigen Freund. Wahnvorstellungen. Ungünstige Nebenwirkung meiner Behandlung.« Der Diakonus zog eine Grimasse, seine übermütige Heiterkeit verflüchtigte sich. »Die Männer versammeln sich gerade«, verkündete der Norde. »Werden allmählich unruhig, kann ich mir vorstellen.« Der Diakonus deutete mit dem Kopf auf Enola. »Nun, das hier sollte sie bei Laune halten.« Zu dem Norden sagte er scharf: »Du kennst dein Stichwort?« »O ja.«
Der Diakonus ging neben Enola in die Hocke. »Wenn dies hier vorbei ist, mein Liebes ... werde ich dich dem Herrn vorstellen.« Er erhob sich und rauschte nach einem kurzen Aufwallen seiner bunten Flickwerkrobe von dannen; der Doc, der Norde und Enola blieben zurück. Der Doktor verstellte einige Ventile an seinen Kanistern, während der Norde Enola zulächelte. Es war kein sehr angenehmes Lächeln. Was haben sie nur mit mir vor, fragte sie sich. Und wer war >der Herr Wer immer er auch sein mochte, sie war sich ziemlich sicher, daß sie ihn nicht kennenlernen wollte. Die glühende Morgendämmerung war einem nebligen Morgen gewichen, wodurch er seine Geschwindigkeit drosseln mußte. Der Flammenpfad schien immer kürzer zu werden, aufgefressen von dem feuchten Dunst. Doch die Spur, die ihm der dahingeschiedene Bohne ungewollt hinterlassen hatte, war jetzt weniger wichtig: Stimmen und lärmendes Geklapper drangen zu ihm herüber, und in der Entfernung waren schemenhafte Gebilde aufgetaucht. Er lenkte den Jetski in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Dann war es plötzlich da, durchschnitt den Nebel und türmte sich wie ein riesiges, groteskes Meeresungeheuer vor ihm auf! Höllenkrabben, was war das für ein Ding? Ein Schiff.
Gütiger Poseidon, das größte Schiff, das er - oder irgend jemand auf Waterworld - je gesehen hatte, ein uralter Kahn, höher als zehn von Gregors Windmühlen ragte der gewölbte Bug des Ungeheuers über dem Kopf des Seemannes auf, als dieser sich ihm näherte. Ein stählernes, mit einer Kruste aus Entenmuscheln bedecktes und vom Rost zerfressenes Monstrum. Er drosselte den Motor und sprang von dem schaukelnden Jetski auf einen von Entenmuscheln gebildeten Vorsprung an der Unterseite des Schiffes, wo das Wasser gegen den rostigen Rumpf schwappte, als würde es an einer Wunde lecken. Er begann nach oben zu klettern, wobei er immer wieder auf verrostete Löcher traf, die ihm bei seinem Aufstieg behilflich waren. Es dauerte ewig, bis er oben anlangte, und das Schiff war so stark gewölbt/daß er schließlich beinahe einen Kopfstand beim Klettern machte. Weit oben schnurrte ein Motor wie ein summendes Insekt. Was war das? Dieses Schiff lag mehr oder weniger vor Anker. Was war das für ein Motor, der dort oben dröhnte? Er tat es mit einem Achselzucken ab und fuhr damit fort, den rostigen Abhang zu erklimmen. Endlich hatte er das obere Ende erreicht, krallte seine Finger um die stählerne Reling und lugte über den Rand. Sämtliche Smoker von Waterworld stürmten Zeter und Mordio schreiend auf ihn zu.
Verwirrt und wie von Sinnen vor Angst duckte er sich wieder nach unten, wobei er sich fragte, wie zum Teufel sie sein heimliches Entern hatten entdecken können, und ob er vielleicht im nächsten Augenblick tot sein würde. Doch der nächste Augenblick wich dem übernächsten Augenblick, dem noch ein weiterer folgte, und obwohl das Schreien anhielt, wurde er von keinem Smoker mit Mordabsichten (oder, was das anging, irgendwelchen anderen Absichten) an Bord gezerrt. Er hing weiterhin einfach nur da, und ihre Schreie wurden ebenso wie das schnurrende Motorengeräusch immer lauter. Dann bemerkte er ein verrostetes Loch im Bug, durch das er hindurchspähen konnte, ohne seinen Kopf über den Rand schieben zu müssen; er konnte die Smoker jetzt sehen, - es waren vielleicht hundert oder noch mehr - die sich in zwei übel aussehende Gruppen aufgeteilt hatten und in entgegengesetzten Richtungen auf dem Deck auseinanderliefen, wodurch sie ein dickes, schweres Tau strafften, von dem jede Gruppe ein Ende hielt, als wollten sie eine bizarre und überdimensionierte Form des Wettkampfes aufführen, den die Urmenschen als Tauziehen bezeichnet hatten. Sie schienen den Kopf des Seemannes, der über den Rand ihres Schiffes lugte, gar nicht bemerkt zu haben. Sie waren viel zu beschäftigt und durch ihre Aufgabe abgelenkt.
Und worum es sich bei dieser Aufgabe handelte, wurde dem Seemann schon bald klar, als sich das schnurrende Motorengeräusch über und hinter ihm zu einem Brüllen steigerte. Der Seemann, der immer noch an derselben Stelle hing, blickte nach oben, und aus dem Nebel, dessentwegen es so aussah, als wäre es zur Hälfte unsichtbar, tauchte dasselbe zerbeulte Wasserflugzeug auf, gegen das er und sein Trimaran vor noch gar nicht so lange Zeit gekämpft hatten. Die Finger in Rostlöcher gekrallt, klammerte er sich an den Bug und machte sich ganz klein, als das Flugzeug herabstieß und direkt über den Seemann hinwegdonnerte, um derart heftig auf dem Deck zu landen, daß die Welt erbebte. Durch sein Guckloch beobachtete der Seemann, wie sich die Aufbauten des Flugzeugs in dem Tau verfingen, und die Smoker bei dem angestrengten Versuch, das Tempo des Luftschiffs zu drosseln, grunzten, stöhnten und brüllten. Das durch ihre Hände gleitende Tau schürfte ihnen die Haut auf, während der ganze Haufen wie ein Mann hinter dem immer noch rollenden Flugzeug herrutschte. Dann, wenige Meter von der Kommandobrücke entfernt, kam das Flugzeug - und sein SmokerLandungstrupp - endlich mit kreischenden Bremsen zum Stehen, wobei die Männer, die jetzt jedoch vor Freude jubelten, übereinander purzelten und stolperten. Eine weitere erfolgreiche Smokerlandung.
Der Lärm eines weiteren Motors, der zu einem Treibstoffboot gehörte, ließ ihn seine Aufmerksamkeit auf das Wasser lenken. Er blickte nach unten auf die Stelle, an der er den schaukelnden Jetski zurückgelassen hatte, und entdeckte ein kleines Patrouillenboot mit zwei Smokern, das neben ihm zum Stehen kam. Als er erneut durch sein Rostloch lugte, sah er, wie die Smoker einen Schlauch aus einem breiten Schacht zu dem verstummten Wasserflugzeug zerrten. Ein Schwall von Öl quoll zu früh aus dem Stutzen und spritzte aufs Deck, dann wurde er in den Treibstofftank des Flugzeugs geschoben. Dort herrschte einfach zu viel Betrieb; zu viele Smoker befanden sich auf Deck. Und unterhalb von ihm gab es nur zwei Smoker, die Jacken und Schutzbrillen trugen und, einer von ihnen mit einem Harpunengewehr in der Hand, über den Rand ihres Bootes gebeugt, den leeren Jetski untersuchten, ohne nach oben zu blicken. Dort standen seine Chancen besser. Als sie schließlich doch nach oben schauten, sahen die beiden Smoker - viel zu spät, natürlich den Seemann wie einen Stein, zwischen sich plumpsen. Er nahm sie in den Schwitzkasten und riß sie über die Bordwand des Bootes mit sich ins Wasser, wo sie mit einem lauten Klatschen aufprallten. Als er sich erst einmal unter Wasser befand, zog er die beiden Männer, die er immer noch im
Klammergriff hielt, tiefer und tiefer hinab, verfolgt von einem Schweif verzweifelter Luftblasen; es waren jedoch kräftige Barbaren, und einer von ihnen, derjenige mit dem Harpunengewehr, entwand sich seinem Griff, wobei er es schaffte, gleichzeitig abzudrücken und auf den Seemann zu feuern. Der schnellte aber aus der Schußlinie und ließ es zu, daß der zweite Smoker den Pfeil erwischte; ein Schwall schwärzlichen Blutes strömte aus seinem leblosen Körper. Dem Smoker mit der Harpune waren sowohl die Pfeile als auch die Luft ausgegangen. Er schwamm mit hektischen Bewegungen nach oben, Luftblasen zerbarsten vor seinem Mund und lösten sich in Nichts auf, als der Seemann seinen Knöchel erwischte und ihn wenige Meter unter der Wasseroberfläche gefangen hielt. Der wild um sich schlagende Smoker starrte nach oben auf ein Fenster aus Wasser, das er weder öffnen noch erreichen konnte und gelegentlich blickte er auch mit weit aufgerissenen, irren Augen unter sich, um in dem Gesicht des Seemannes nach Erbarmen zu forschen. Eine sinnlose Suche. Nicht sehr lange danach tauchte der Seemann allein aus dem Wasser und bestieg den Jetski... mit der Schutzbrille und Jacke des Smokers. Smitty war der Smoker, der die Verantwortung für die Abfahrtsbasis hatte, eine ziemlich große, direkt an der Wasserlinie befindliche Kammer. Kurze Rampen ragten aus dem riesigen Rostloch an
der Seite des Schiffes, und in der Kammer stand das Wasser etwa sechzig Zentimeter hoch, damit die Smoker ihre Jetskis hinein- und hinauschauffieren konnten. Eine Anzahl der Fahrzeuge - in verschiedenen Stadien der Reparatur - waren an den Stahlwänden aufgereiht. Zwei überaus nervtötende Smoker - Truan und Djeng - waren vorbeigekommen, um ihm die Ohren wegen ihrer Jetskis vollzuheulen, die er wieder zum Laufen bringen sollte, weil sie seit dem Angriff auf Oasis nicht mehr zu gebrauchen waren. Wußten sie denn nicht, daß er ein vielbeschäftigter Mann war? »Ich mach's schon noch, ich mach's schon noch«, versicherte Smitty. »Ich muß mich erst davon überzeugen, daß die Dinger sicher genug zum Fahren sind. Wollt ihr vielleicht bei irgendeinem schrecklichen Unfall verrecken, ihr lahmarschigen Trottel?« Das Geräusch eines näher kommenden Jetskis rief ihn an die verrostete Öffnung der Kammer; er watete durch die sechzig Zentimeter tiefe Pfütze, setzte sich rittlings mit gegrätschten Beinen, die Hände in die Seiten gestemmt, in den Eingang, und blinzelte hinaus in den Nebel. »Horse?« rief Smitty. »Bist du das? Geh runter vom Gas, Donnerkeil! Bring sie langsam rein!« Doch statt dessen hörte man, wie der Jetskimotor plötzlich aufheulte.
»Ich hab' gesagt, mach langsam, dammich! Du wirst...« Und das waren Smitties letzte Worte, als der Jetski in die Kammer flog, den Brustkorb des Smokers zertrümmerte und ihn auf der Stelle tötete. Der Seemann, dessen Jetski durch den inzwischen verschiedenen Smoker ruckartig zum Stehen kam, fand sich in der Jetski-Abfahrtsbasis des Schiffes wieder, in der zwei überrascht wirkende Smoker durch das seichte, den Boden bedeckende Wasser auf ihn zuwateten. Er blieb einfach ruhig sitzen und wartete ab, welche Maßnahmen sie ergreifen würden, wobei seine Hand direkt über dem Futteral mit der Schußwaffe des verstorbenen Chester verharrte. »Du hast Smitty umgebracht!« sagte einer der Smoker. Doch der andere ... lachte. »Nette Landung, Blödmann!« rief der zweite Smoker dem Seemann zu. Der andere schüttelte den Kopf. »Dieser Smitty, Mann, steht immer im Weg rum.« »Jau!«, meinte der zweite. »Sieht so aus, als war' er bei 'nem schrecklichen Unfall verreckt!« »Jau!« erwiderte der erste. »Was'n Lahmarsch!« Daraufhin marschierten die beiden Smoker Arm in Arm aus der Kammer in das Schiffsinnere und ihr Gelächter hallte von den Stahlwänden wider. Überrascht, aber erleichtert dachte der Seemann, was für eine selten merkwürdige und dämliche
Rasse diese Smoker doch waren und glitt von seinem Jetski. Dann warf er sich den Riemen von Chesters Gewehr über die Schulter, und ließ das Fahrzeug und seinen aus einem toten Smoker bestehenden Landestreifen zurück. Der Seemann trat vorsichtig durch die schlampig ausgesägte >Türöffnung<, die in das Innere des Schiffes führte, als plötzlich eine donnernde Stimme über seinem Kopf ertönte und ihn mit gezücktem Messer herumwirbeln ließ. »Hier ist er!« dröhnte die Stimme, und sie kam aus einem kleinen, mit Stoff bezogenen Kasten, der in Kopfhöhe an der Stahlwand befestigt war! Was für eine Art Kasten war das, der sprechen konnte? Und es ging noch weiter: »Brüder und Schwestern erhebt euch! Lenkt euren Blick auf ihn und öffnet eure Herzen für euren demütigen Wohltäter, euren göttlichen Hirten und Führer auf Lebenszeit - den Diakonus der >Deez!« Konnte es sein, daß dieser Kasten irgendwie eine Stimme von irgendwo auf dem Schiff übertrug? Was immer es war und wo auch immer es herkam, es war nichts, das er hören wollte. Er schlug mit der offenen Hand gegen den Kasten, als wäre er ein spöttisches Gesicht, wodurch das Gerät direkt aus der Wand gerissen wurde und in Einzelteilen auf den Boden krachte. Nachdem er sein Messer in die Scheide zurückgeschoben hatte, hastete er weiter, immer
tiefer in den Bauch des Schiffes, und hoffte, daß Smokerbrille und Jacke ihm den Weg ebnen würden. Truan und Djeng, die beiden Smoker, die Zeugen des >schrecklichen Unfalls< von Smitty gewesen waren, kehrten kurz darauf in die Kammer zurück mit einem Ersatz-Smoker, der den Platz des verschiedenen Smitty als Meister des Abfahrtsbereich einnehmen sollte. Doch irgend etwas direkt vor dem Eingang, nahe genug, daß es der Nebel nicht verbergen konnte, hatte ihre Blicke auf sich gelenkt. Er stand an demselben Platz, wo Smitty unwissentlich auf seine Ermordung gewartet hatte, als Truan auf ein leeres, schaukelndes Patrouillenboot... und zwei im Wasser treibende Smokerleichen blickte. »Wir haben einen Eindringling«, sagte Djeng. »Scheiße«, meinte Truan. »Und er hat genau vor unserer Nase gestanden.« »Erzähl's bloß nicht dem Diakonus«, sagte Djeng. »Was, meinst du etwa, ich will mich abmurksen lassen?« Über ihnen erscholl das Brüllen der Smokermenge, die das Erscheinen des Diakonus bejubelte. Truan dachte an die Konsequenzen, die es für sie alle haben würde, wenn der große Abend des Diakonus durch eine Sabotage versaut, wurde. Und was, wenn dies das Werk des Fischmannes war? Auf der >Deez< kursierten allerlei Gerüchte über das gefangene Kind, und daß es etwas von einem
Dämonen plapperte, der zu seiner Rettung herbeieilen würde. »Verbreite die Nachricht«, sagte Truan. »Findet ihn.« »Fangen und zur Strecke bringen?« fragte Djeng. »Fangen und zur Strecke bringen«, bestätigte Truan.
Kapitel 26 Von der Brücke der >Deez< aus gesehen, bildete die Masse der Smoker unten auf dem Deck ein wirres Knäuel aus Menschen, die es mit ihren Manieren ebenso wenig genau nahmen wie mit ihrer individuellen Körperpflege. Die Männer brüllten, rempelten sich gegenseitig an und gerieten völlig aus dem Häuschen vor Freude über die Aussicht, >Festland< zu finden, ein Gedanke, der von den Gerüchten über das Mädchen mit der Rückenkarte genährt worden war (und außerdem wurde gemunkelt, daß sich dieses Mädchen in eben diesem Moment als Gefangene auf dem Schiff befand!); sie waren jedoch ebenfalls ruhelos und angespannt, der leeren Versprechungen und des hoffnungsfrohen Geredes müde, da selbst diese Blödmänner wußten, daß die Vorräte auf der >Deez< allmählich zur Neige gingen. Der einzige Weg, sich Munition zu beschaffen, war das Einschmelzen ihrer eigenen vier Wände, und die Atolle waren neuerdings rarer gesät als Zeitschriften.
Trotzdem brachen sie, als ihr Führer die Metalltreppe zur Brücke der >Deez< erklomm, in wilden, enthusiastischen Jubel aus, der ebenso unbeirrbar zu ihrem lächelnden Gebieter aufstieg wie ihr kollektiver Körpergeruch. Seine kunterbunte Aufmachung schien sie nur noch weiter aufzustacheln, wirkte wie Benzin auf ihre feurige Begeisterung. Der Diakonus winkte ihnen bescheiden lächelnd zu - vorerst zum Gruße; doch dann, um sie zum Schweigen zu bringen. Den Doc und seinen Rat im Rücken, stand er vor einem Mikrophon und begann mit donnernder Stimme zu predigen, und seine Worte erschollen nicht nur auf diesem Deck, sondern auf jedem Korridor und in jedem Abteil des Schiffes. »Kinder des Herren«, sprach er sie hocherhobenen Hauptes an. »Bürger dieses Schiffes des guten Glaubens, Pilgersleute der Redlichkeit... hört, was ich zu sagen habe. Ich ... hatte ... eine ... Vision!.« Doch inmitten der großäugigen, bewundernden Menge ertönte eine ketzerische Stimme, eine Stimme, die deutlich machte, wie schmal der Grat zwischen ihrer Freude und ihrer Verzweiflung war. »Wir sind deine Visionen leid!« rief der Abtrünnige. »Was ist mit dem Land, das du uns versprochen hast?« Mehr Stimmen wurden laut: »Jo!«, '»Eben!«, »Was ist damit?!«
Der Diakonus war über diese Mißfallensäußerungen kein bißchen beunruhigt; seine Smoker waren Kinder, einfältige Seelen, und er wußte sehr gut, wie sie zu kontrollieren waren. Unerschrocken, ihrem Kommentar scheinbar keine Beachtung schenkend, fuhr er in herrischem Tonfall fort: »Eine Vision so großartig, so phantastisch, daß sie mich...« Er senkte seine Stimme zu einem dramatischen Flüstern. »... zum Weinen brachte.« Ein kollektives Raunen lief durch die Menge seiner sentimentalen Smoker. »Ja, meine Kinder«, schwoll die Stimme des Diakonus an. »Ich habe geweint! Denn in diesem herrlichen, wunderbaren Augenblick sah ich ... könnt ihr es erraten? ... wißt ihr es?« Die kindlichen Augen wurden weit aufgerissen; ebenso wie die brutalen Münder. »Ich sah das Land.« »Land!« schrie der Ketzer und in diesem Moment waren all seine Zweifel zerstreut. Das Jauchzen der Menge war ohrenbetäubend, ihre Freude, Hoffnung und ihr Vertrauen ließen das Deck erbeben. Der Diakonus lächelte nachsichtig vor sich hin, während er darauf wartete, daß sie wieder zur Ruhe kamen. Er hatte keine Eile. In den Gemächern des Diakonus kauerte Enola auf dem Boden und wartete auf ihre Errettung. Sie fühlte sich besser. Ihr Arm schmerzte zwar immer
noch von dem Nadeleinstich, doch ihr Magen hatte sich wenigstens einigermaßen beruhigt. Und ihr Verstand war klar. Er würde kommen und sie holen. Sie wußte, daß er kommen würde. Der fiese Blonde, der Norde, kramte in seiner Kiste, die eine Menge Flaschen enthielt. Grinsend hob er eine von ihnen hoch, auf deren Etikett >Gin< stand, und nippte mehrmals verstohlen daran. Dann betrachtete er mit gefurchter Stirn den niedrigen Stand der Flüssigkeit in der klaren Flasche und füllte sie aus einer Hydrokanne auf. »Das solltest du nicht tun«, stichelte sie, um ihn nur ein ganz klein wenig aus der Fassung zu bringen. Er wirbelte so schnell herum, daß sein langes, blondes Haar flatterte; es war, als hätte er sie vergessen. Vielleicht hatte er auch nicht damit gerechnet, daß ihr noch ein Funken Lebenswillen geblieben war. »Du wirst Arger bekommen«, tadelte sie ihn. »O, das hatte ich ganz vergessen«, meinte er. »Du hast ja keine Angst. Dein Lieblingsmonster wird kommen, um dich zu retten.« »Stimmt«, erwiderte sie und straffte den Rücken. Sie saß immer noch auf dem häßlichen, orangefarbenen Flokati-Teppich neben dem mit Plastik überzogenen Sessel. »Nur, daß er kein Monster ist. Er könnte dich jederzeit verprügeln.« Er lächelte leicht belustigt. »Mich verprügeln?«
»Jederzeit«, bestätigte sie. »Tatsächlich.« Die Stimme des Diakonus war die ganze Zeit aus einem kleinen, an der Wand hängenden Kasten gekommen; doch während der letzten paar Minuten hatte diese Schachtel nur noch lautes Jubeln von sich gegeben. Das schien den Norden nervös zu machen. Er tigerte unruhig auf und ab. Sie stichelte weiter. »Er hat schon Dutzende von Leuten umgebracht, weißt du«, sagte sie. »Ist das wahr.« »Der Herr hat es mir höchstpersönlich erzählt«, ertönte die Stimme des Diakonus. »Und er läßt keine Gnade walten, niemals, bei niemandem«, sagte sie. »Er bringt sogar kleine Mädchen um.« »Wir müssen dort hingehen«, sprach der Diakonus. »Und es besiedeln. Aufbauen.« »Er bringt also kleine Mädchen um, hm?« fragte der Norde und betrachtete sie mit einem breiten Lächeln. »Nun, ich freue mich zu hören, daß wir eine Sache gemein haben.« Enola schluckte. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, ihn zu reizen. Der Seemann lief über einen Steg. Es war offensichtlich für ihn, daß irgendeine Art von Alarm ausgelöst worden war, durch die man von seiner Anwesenheit an Bord wußte. Smokerpatroulien eilten Korridore entlang, erklommen Leitern,
zückten ihre Waffen. Es waren organisierte Gruppen, und es würde trotz seiner Smokerjacke und Schutzbrille schwierig werden, nicht unter ihnen aufzufallen. Er beschloß, ihnen aus dem Weg zu gehen, sich im Schatten zu halten und weiterhin die verschiedenen Etagen des Schiffes zu durchsuchen. Die ganze Zeit über drang die Stimme des Smokeranführers aus den kleinen, zum Teil hoch oben an den Wänden hängenden, sprechenden Kästen, so als wolle er die Suchtrupps anspornen. Wegen der vielstimmigen Rufe, die den Verkündigungen des Diakonus folgten, war er zu dem Schluß gekommen, daß die Masse der Smoker sich an einem Ort versammelt hatte, um den Reden ihres Führers zu lauschen. Und dieser Ort mußte logischerweise das Deck sein. »... wir werden diesen ganzen, großen Haufen Erde mechanisieren, modernisieren und anderweitig monopolisieren!« versicherte der Diakonus gerade seiner Gemeinde mittels eines mit Stoff bezogenen Kastens direkt über dem Kopf des Seemannes. Schritte auf dem metallenen Steg verrieten ihm, daß er Gesellschaft bekommen würde. Direkt hinter dem Geländer sah ihn eine schwere, hin und her baumelnde Kette verlockend an. Er beugte sich vor - sie war mindestens zwei Laufstegebenen über ihm befestigt - hielt sich daran fest und begann zu klettern.
Auf der Brücke fuchtelte der Diakonus mit der geballten Faust in der Luft herum, mit der anderen Hand hielt er den Mikrophonständer umklammert, und bei jeder seiner ausdrucksstarken Gesten bauschte sich seine Amtsrobe, um seine herrische, elektronisch verstärkte Stimme, die das Deck unter ihm erschütterte, zu unterstreichen. »Wenn es einen Fluß gibt«, schrie er, »werden wir ihn eindämmen. Wenn dort ein Baum steht, werden wir ihn fällen! Denn ich rede hier vom Fortschritt, meine Kinder!« »Fortschritt!« fielen die Smoker im fast perfekten Chor ein. Die Nerven des Norden waren zum Zerreißen gespannt, während er in den nahen Gemächern des Diakonus auf sein Stichwort lauschte, wobei er es auch noch mehrmals wagte, hinten in der Schnapskammer einen kräftigen Schluck aus der Ginflasche zu nehmen. Der Boß würde den Gin nie vermissen, wenn der Norde ihn erst mal durch einen weiteren Schuß Hydro ersetzt hätte. »Wir werden all den süßen Duft auskosten und in unsere Lungen saugen«, tönte die Stimme des Diakonus und verzerrte die uralte Lautsprecherbox, »den Duft von >Festland
Er fuhr herum und blitzte das Kind zornig an. »Ich werde nie nervös.« Doch die Smoker dort draußen bearbeiteten mit Fäusten und Füßen das Deck, während sie im Sprechchor riefen: >»Festland< ... >Festland<... >Festland< ...« Es reichte aus, um auch den vernünftigsten Mann in den Wahnsinn zu treiben, wie einen von der Sonne ausgedörrten, vor Durst verrückten Berserker. »Dein Gesicht ist ganz rot«, stellte das Kind fest. Sie kauerte neben dem Sessel auf dem Boden und bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick aus ihren riesigen Augen. »Helen sagt, jeder mit einem so roten Gesicht hat zuviel Sonne abbekommen ... oder zuviel Glückssaft.« »Ist mir scheißegal, was >Helen< sagt.« »Tja, ich glaube nicht, daß du zuviel Sonne abbekommen hast.« »Jetzt reicht's.« Er rammte die Ginflasche auf die Theke der Schnapsbar und machte einen Satz auf sie zu. »Ich reiß' dir deinen kleinen ...« Die Kabinentür öffnete sich, und der Doc trat ein, gefolgt von seinem rollenden Karren mit Gasleckereien. Das ließ den Norden innehalten. »Ist fast soweit«, sagte der Doc. »Stimmt was nicht?« »Nein«, entgegnete der Norde. »Wir haben uns nur über ihren Freund unterhalten.« »Den Fischmann?«
»Eigentlich über die Frau. Sagt, ihr Name sei >Helen<. Mit der würde ich gerne mal 'nen Nachmittag verbringen.« »Wie heißt denn dein anderer Freund, Liebes?« fragte der Doc. »Er hat keinen Namen.« »Wirklich«, meinte der Doc. »Ja wirklich. Weißt du warum?« »Warum sagst du's mir nicht einfach. Liebes.« »Damit der Tod ihn nicht finden kann.« Der Doc warf dem Norden einen kurzen Blick zu; es war selbst für den Doc ein schauderhafter Blick. »Er hat auch kein Zuhause«, fing das Kind erneut an zu plappern. Hatte diese verdammte Medizin denn immer noch nicht zu wirken aufgehört? »Und er hat auch keine Leute, denen er nahesteht, oder die ihm nahestehen. Er hat vor nichts Angst... am allerwenigsten vor Menschen. Und er kann unter Wasser hundert Meilen weit hören, und er kann auch hundert Meilen weil sehen unter Wasser.« »Halt die Klappe.« Der Norde tastete nach dem Griff des Messers an seinem Gürtel. Doch das Kind hörte nicht auf; vielleicht konnte es das auch nicht. »Er kann sich im Schatten der Mittagssonne verbergen. Er kann direkt hinter dir stehen, und du wirst es nicht merken, bis er dich totmacht.« Der Norde schleuderte das Messer. Es zischte an der Wange des Kindes vorbei und bohrte sich in die
Armlehne des Sessels, wo es direkt neben ihrem Gesicht vibrierend stecken blieb. Der Doc schien schockiert. »Ach, du meine Güte«, meinte er. Doch das Kind zuckte kaum mit den Wimpern. »Leg mal 'ne Pause ein«, riet ihr der Norde. Er stampfte auf das Kind zu, sie wich zurück und preßte sich an den Sessel, dessen Plastikbezug leise raschelte. »Er wird kommen und mich holen«, sagte sie. »Das wird er. Wart' s nur ab.« »Ja?« Der Norde neigte sich herab. Sie schrak zurück und bedeckte ihr Gesicht schützend mit ihrer winzigen Hand. Doch er griff an ihr vorbei, um das Messer mit einem Ruck aus dem Sessel zu zerren. Das Gesicht des Norden war ihrem sehr nahe, als er fortfuhr: »Nun, ich hoffe, daß er wirklich kommt, um dich zu holen. So hab' ich etwas, auf das ich mich freuen kann.« Die Augen des Kindes blickten reglos, klar und hart, und seine Stimme hatte plötzlich einen erwachsenen, autoritären Klang. »Ich werde mich daran erinnern, daß du das gesagt hast.« Truan, der die Suche nach dem Eindringling leitete, erspähte einen Smoker, der an einer Kette auf die höhergelegene Laufplanke zukletterte. »Du da oben!« schrie er nach oben. »Gib dich zu erkennen!«
Doch der Smoker hatte ihn entweder nicht gehört, oder beobachtete ihn nicht, da er die Kette noch weiter erklomm. Truan furchte nachdenklich die Stirn. Einer der auf dem Wasser treibenden Leichen hatten Weste und Schutzbrille gefehlt. Der Eindringling - bei dem es sich möglicherweise um den Fischmann handelte - hatte sich sehr wahrscheinlich als einer von ihnen verkleidet. Truan trommelte eiligst einige Smoker zusammen, die den Kletterer überprüfen sollten. Diese wuselten auch sogleich mit fliegender Hast Leitern und Treppen hinauf, um dem Mann den Weg abzuschneiden. Doch als Truan wieder hochblickte, war da nur noch eine baumelnde, menschenleere Kette, die ihn zu verhöhnen schien. Auf einer der oberen Laufplanken sank ein Smoker tot zu Boden, nachdem sich kräftige Hände von hinten um seinen Hals gelegt und ihm das Genick gebrochen hatten. Eine dieser kräftigen Hände pflückte gerade eine Pistole aus den leblosen Smokerfingern. Der Mariner schob die Pistole in die Jackentasche und lief einen dunklen Korridor entlang. Näher kommende Schritte verhießen weiteren Besuch. Er erblickte einige Metallstreben über sich, sprang hoch und zog sich nach oben. Direkt neben seinem Kopf befand sich wieder einer der Stoffkästen, der "den Blödsinn des
Diakonus von sich gab: »Seht uns an! Wir sind der Grund für die Schöpfung!« Unter ihm trabte ein Smoker heran; ein Raufbold mit dichtbehaartem Gesicht, dem die Augen fast aus den Höhlen quollen, als der Seemann - die Beine um die Sparren geklammert - plötzlich direkt vor seiner Nase schaukelte und ihn in den Würgegriff nahm. Als er sich wieder nach oben zog, nahm der Seemann den Smoker mit und hielt den Mann, dessen Beine krampfartig zuckten, gut sechzig Zentimeter über dem Boden fest. »>Festland< ist nicht nur unser Ziel, sondern auch unser Schicksal!« Der Überfall hatte sich so unerwartet ereignet, daß der Smoker nur wenig dagegen unternehmen konnte, und selbst seine Arme waren kraftlos, als sie sich an den herabgefallenen Angreifer zu klammern suchten. »Denn sind wir etwa keine Menschen?« fragte die Diakonusstimme aus dem Kasten. Der Smoker schien wie zustimmend zu nicken, doch es war nur noch ein letztes Zucken, bevor er endgültig starb. »Und obwohl ich der erste unter den Menschen bin«, erzählte der Diakonus, »sank ich auf die Knie ...« Die Smokerleiche wurde aus dem Würgegriff entlassen und sank auf die Knie.
»>Zeig mir den Weg< flehte ich den Allmächtigen an. >Wie kann ich diesen Ort finden?<« Der Seemann sprang neben der aufs Gesicht geplumpsten Leiche zu Boden und holte sich noch einige Waffen von dem Toten, bevor er weitermarschierte. »Und der Große Herr sagte zu mir, >ein Kind wird dich führen!<« Im Quartier des Diakonus griff der Norde nach dem Kind. Es schnappte erschrocken nach Luft. »Du hast Glück«, verkündete der Norde, als er es zur Tür schleppte. »Das ist dein Stichwort.«
Kapitel 27 Eine Hand über den Mikrophonständer streichelnd, die andere in feierlicher Geste ausgestreckt, ließ der Diakonus seinen Blick über den Pöbel schweifen, der sich unten auf dem Deck versammelt hatte und mit großen Augen zu ihm aufblickte. »Sehet - das Instrument unserer Errettung!« Und er deutete auf den Norden, der die Stufen zur Brücke erklomm und das Kind an einer Hand hinter sich her schleifte. Sie wehrte sich nicht, war im Gegenteil ziemlich fügsam. Nur war es nicht der Norde, den der Diakonus zum >Instrument< ihrer Errettung gekrönt hatte, sondern das Kind. Das Kind, das sie führen würde. Der Norde hielt sie wie eine Trophäe nach oben, um sie dem dicht gedrängten Gesindel zu präsentieren und die Gerüchte über das gefangene Kind zu bestätigen, woraufhin die Menge zu toben begann. Alles jubelte, jauchzte und brüllte.
»Sieh nur all diese Leute«, murmelte das Kind vor sich hin. »Das sind keine Leute, mein Mädchen«, flüsterte der Diakonus, als er ihr die Tunika von den Schultern streifte. »Das ist meine treue Gemeinde ... und dank dir sind ihre Seelen jetzt wieder mein.« Und der Diakonus befahl seinem blonden Ersten Offizier, der frohlockenden Menge die Markierungen auf dem Rücken des Mädchens zu zeigen; die Jubelrufe blieben ihnen im Hals stecken und sie verfielen in ehrfürchtiges Schweigen. »Sie ist unser Führer in der Wildnis«, donnerte der Diakonus in sein Mikrophon. »Sie ist unser Leuchtturm in der Dunkelheit! Und sie hat mir den Weg gezeigt!« Laut brüllend brachten die Smoker von unten ihre Zustimmung, ihre Freude und ihre nahezu orgiastische Begeisterung zum Ausdruck. Mit einem Kopfnicken bedeutete der Diakonus dem Norden, das Mädchen abzustellen. »Ihr guten Pilger«, sprach der Diakonus, und sie verstummten, um seine weisen Worte zu vernehmen. »Unser Schicksal ist nahe, denn dies ist der Tag unserer Erlösung! Und bevor der heilige Moment gekommen ist, wollen wir dem Großen Herrn ein Opfer bringen.« Der Diakonus streckte die Hand aus, und einer seiner Ratgeber legte eine Flasche mit der Aufschrift Jack Daniels< hinein. Die Blicke der Menge hefteten
sich auf den Diakonus, als dieser die kostbare Flasche am Geländer zertrümmerte, und ein Schauer aus Glasscherben und Glückssaft auf das Kind herabregnete. »Dies ist der Augenblick, auf den wir gewartet haben!« Mit himmelwärts gerichtetem Blick fuchtelte der Diakonus mit beiden Händen in der Luft herum. »Bringt diesen Scheißkahn auf Touren!« Die Smoker unten auf Deck feuerten Hallelujah brüllend mit ihren Revolvern in die Luft, und ihre Salven verschmolzen zu einem einzigen donnernden Krachen. Leuchtpistolen jagten glühende Kometen in den bewölkten Himmel. Und dann begann sich das Deck zu leeren, als die Herde des Diakonus an ihre Posten eilte. Im Inneren der >Deez< wimmelte es auf einmal von Smokerkreaturen, die an Stangen hinabglitten, über Leitern nach unten kletterten, an Tauen und Ketten herabrutschten, und in alle Richtungen auseinanderliefen. Truan, der die Suche nach dem Eindringling geleitet und gerade zwei Smokerleichen mit gebrochenem Genick entdeckt hatte, wurde dabei fast zu Tode getrampelt. Draußen glitten Drahtseile aus dem Bug des drohend aufragenden Schiffes und wurden an Schleppern befestigt, deren Motoren gequält aufheulten, stöhnten, knurrten und seufzten, nur um schließlich doch anzuspringen. Ihre Schiffsschrauben zerwühlten das Wasser, während
sie sich mit der puren Tonnage ihrer Last - dem größten Frachter auf Waterworld - abmühten. Doch die Schlepper reichten nicht aus. Das riesige Schiff rührte sich nicht vom Fleck, bis sich direkt über der Wasserlinie vom Bug bis zum Heck Ruder durch verrostete Löcher ins Wasser bohrten. Im unteren Bereich der >Deez< saßen die willfährigen Galeerensklaven des Schiffes. Wo man auch hinsah besetzten mehrere Smoker jeweils eines der massigen Ruder - wobei der Kleinste und Lauteste von ihnen am Kopf Platz genommen hatte und die anderen durch einen Trichter anfeuerte: »Und zuuu-gleeiich!« Und zuu-gleiich lief er dann auch, dieser gigantische menschliche Motor, als die muskelbepackten Hohlköpfe in perfektem Gleichtakt losruderten ... ... und die Exxon Valdez zum ersten Mal seit Jahrhunderten den Hafen verließ. Der Diakonus verfolgte das alles mit großer Genugtuung von der Brücke aus, während immer noch Smoker vom Deck strömten. Mit vor Selbstzufriedenheit triefender Stimme wandte er sich an den Doc: »Wir laufen aus.« Der Doc runzelte verblüfft die Stirn. »In welche Richtung?« Der Diakonus zuckte dramatisch mit den Achseln. »Ich habe auch nicht die leiseste Ahnung.«
Die Furchen auf des Doktors Stirn vertieften sich, und er saugte schnaubend an seinen Schläuchen. »Wa...?« »Keine Sorge.« Der Diakonus tätschelte die knochige Schulter seines Leibarztes. »Die können einen Monat lang rudern und haben dann immer noch nicht kapiert, daß ich geflunkert habe.« »Aber...?« »Reiß dich zusammen! Ich werde diesen Tieren doch nicht sagen, daß wir die Bedeutung der Karte noch nicht ergründet; haben. Aber bis es soweit ist, werde ich sie in Trab halten. Schau mich nicht so an! Ich habe ihnen Ergebnisse versprochen, und sie werden Ergebnisse bekommen, selbst wenn ich dem verdammten Kind die Karte vom Rücken schälen muß.« Das Mädchen vernahm diese Drohung, reagierte jedoch nicht. Sie stand schweigend neben dem Norden, der die immer noch an ihrem Knöchel befestigte Kette in Händen hielt. Der Glückssaft aus der zerbrochenen Flasche hatte sie zwar völlig durchnäßt, von den herumfliegenden Scherben war sie jedoch nicht verletzt worden. Der Diakonus warf einen kurzen Blick auf das nahezu leere Deck und zog eine Grimasse. »Wer ist denn das?« Ein Smoker mit Schutzbrille und Jacke war übriggeblieben. Er stand direkt unter ihnen und starrte nach oben, als hätte er nicht gemerkt, daß die Rede bereits vorbei war.
»Wer ist das?« fragte der Diakonus an den Norden gewandt. Dann brüllte er zu dem Nachzügler hinunter. »Warum ruderst du nicht?« Der Smoker nahm die Schutzbrille ab, und der Norde keuchte. »Höllenkrabben - er ist es!« Das Kind trat strahlend nach vorn. »Er ist es.« Dann wanderte ihr Blick vom Diakonus zu dem Norden, und sie fügte fast mitleidig hinzu: »Junge, jetzt steckt ihr aber ganz schön in der Klemme.« Sie eilte an das Geländer und winkte ihm begeistert zu, woraufhin ihr der Diakonus eine Kopfnuß verpaßte, um ihr Einhalt zu gebieten, als der Norde sie auch schon von hinten packte und zurückzerrte. »Hol mich der Teufel.« Der Diakonus beugte sich über das Geländer und starrte auf den Fischmann herab. »Unser gnädiger Herr Guppy.« »Ich will nur das Mädchen«, sagte der Fischmann. Der Norde flüsterte dem Diakonus in ätzendem Tonfall zu: »Schneid ihr die Kehle durch. Direkt vor seiner Nase. Laß das Blut auf das Deck tropfen, direkt vor seine Füße fließen. Das ist es, was sie beide verdienen.« Der Diakonus mußte lächeln; was für ein reizender Gedanke! Kein Wunder, daß er den Norden so gerne um sich hatte. Doch sein Realitätssinn gewann die Oberhand, und er wandte sich beinahe traurig an seinen Ersten
Offizier. »Das können wir einfach nicht. Nicht/bevor wir herausgefunden haben, wo >Festland< liegt.« »Du hast es doch selbst gesagt«, erwiderte der Norde gereizt. »Töte sie und zieh ihr die Haut ab, dann hast du deine verdammte Karte!« Das Kind wimmerte; sie klammerte sich an die schmuddligen, einst weißen Hosenbeine des Docs. Anscheinend war der Doc für sie der mitfühlendste Mensch, den sie im Moment finden konnte. »Nein, nein, nein«, sagte der Diakonus. »Sie ist zu einem Symbol für meine Gemeinde geworden. Ich fürchte, man kann ein religiöses Artefakt nicht einfach so abschlachten.«. Er klopfte dem Norden auf die Schulter. »In der Theorie hat es mir aber sehr gut gefallen.« Von unten kam die Stimme des Fischmannes: »Nun? Gebt mir das Mädchen! Von mir aus könnt ihr auch zuerst die Karte auf ihrem Rücken kopieren! Aber dann laßt uns einfach unserer Wege gehen, und wir sind quitt.« »Quitt, sagt er«, meinte der Diakonus leise, mehr zu sich selbst. Dann rief er zu dem Fischmann herunter: »Ich habe dich schon immer für dämlich gehalten, mein feiner, fischiger Freund. Aber ich habe dich unterschätzt - du bist komplett schwachsinnig! Du könntest selbst meine Smoker noch in Idiotie unterrichten!« »Ich will das Mädchen. Das ist alles.« Der Diakonus beugte sich über das Geländer, und die Adern in seinem Gesicht quollen hervor, als er
praktisch schon schrie: »Und was auf dieser unserer vermurksten Waterworld hat dich auf den Gedanken gebracht, daß ich sie dir geben werde?« Der Fischmann zog eine Leuchtbombe aus der Smokerjacke, entzündete sie - und hielt den glühenden Stab direkt über den Schacht, wo sich unlängst der Tankschlauch für das Wasserflugzeug befunden hatte. Der Schacht führte in den Öltank des Schiffes, den der menschliche Tiefenmesser des Diakonus überwachte. Der Treibstoff ging zwar allmählich zur Neige aber es befanden sich immerhin noch drei Tankerladungen dort unten. Mehr als genug, um die >Deez< mitsamt ihrer Besatzung in verkohltes, blutiges Treibgut zu verwandeln. »Du weißt, wo der hinführt«, sagte der Fischmann, wobei er die funkensprühende Leuchtpatrone direkt über die Öffnung hielt. »Ich laß' sie fallen, und ihr verbrennt.« Hinter dem Rücken des Diakonus ertönte die jämmerliche Stimme des Doktors: »Wir alle werden verbrennen.« Der Diakonus blickte jedoch nur lächelnd auf den Fischmann herab. »Wir sollten jetzt nicht... übereilen. Ich meine, bist du sicher, daß sie all die Mühe wert ist?«
Jetzt war das Mädchen wirklich verängstigt. Sie wich ein paar Schritte zurück. »Er wird es tun«, murmelte sie vor sich hin. »Er wird es tun.« »Ich meine, willst du dieses Kind wahrhaftig haben?« fragte der Diakonus in ausreichend sachlichem Tonfall. »Schließlich hält sie nie die Klappe!« »Das habe ich bemerkt«, mußte der Fischmann zugeben. »Also, was ist es dann, die Karte? Du hattest sie lange genug, um sie hundert Mal kopieren zu können!« »Sie ist meine Freundin.« Der Diakonus warf die Arme nach oben. »Nun, möge der Herr uns beistehen, während eine Träne meine heilige Wange hinabrollt! Du willst also für deine kleine Freundin sterben? Und sie dadurch ebenfalls umbringen?« Der Fischmann zuckte die Achseln. »Falls es soweit kommt.« Der Norde klammerte sich an das Geländer und warf dem Mann, der die glühende Flamme über das Loch hielt, einen haßerfüllten Blick zu. »Der blufft nur.« »Er blufft nicht«, erscholl die Stimme des Kindes. »Er blufft niemals.« »Halt die Klappe!« Der Diakonus hob die Hand, um dem Kind eine Ohrfeige zu verpassen, doch es befand sich außerhalb seiner Reichweite. Dann kehrte er ans Geländer zurück und sprach in
demselben vernünftigen Tonfall von vorhin weiter: »Ich glaube nicht, daß du diese Fackel in das Loch dort werfen wirst, mein Freund.« »Und warum nicht?« »Weil du vielleicht dämlich bist«, erwidert der Diakonus. »Aber nicht verrückt.« Der Fischmann und der Diakonus fixierten einander; ein winziges Grinsen erschien auf dem Gesicht des Mannes, und dieses Grinsen verkündete dem Diakonus, daß er zweifellos, wie das Kind bereits angedeutet hatte, ganz schön in der Klemme steckte. »Du hättest lächeln sollen, als du das gesagt hast«, meinte der Fischmann. Er öffnete seine Hand, die Fackel purzelte in den Schacht und machte sich auf den Weg zum Öl.
Kapitel 28 Der markerschütternde Schrei des Diakonus »Neiiiiiiin!« - war ein unnötiges Alarmsignal: seine Ratgeber krabbelten bereits durch eine Türöffnung von der Brücke. Sein Blick traf auf das Mädchen - es drückte sich an die Wand - doch sie hatte jetzt nicht mehr den Vorrang. Es war wichtiger zu überleben. Weder der Norde noch die zwei treuesten Wächter des Diakonus waren bisher geflohen; sie standen einfach nur da, benommen und wie vom Donner gerührt von dem, was sie gerade erlebt hatten. »Steht nicht einfach so rum!« keifte der Diakonus. »Tötet ihn!« Unten auf Deck hatte der Seemann bereits die Flucht ergriffen, und der Norde - dem das Smokerpärchen auf dem Fuße folgte - stürmte von der Brücke und setzte ihm nur wenige Augenblicke später hinterher. Die Gedanken des Diakonus wirbelten wild durcheinander; wo konnte man auf
einem Schiff, das zu explodieren drohte, in Deckung gehen? Und sein Blick traf auf die Stelle, wo das Kind sich an die Wand gepreßt hatte: doch sie war verschwunden. Wahrscheinlich war sie durch dieselbe Türöffnung geschlüpft, die seine getreuen Ratgeber als Fluchtweg gewählt hatten. In der Zwischenzeit purzelte die glühende, brennende Fackel immer weiter in den Schacht hinab, prallte mit metallischem Scheppern gegen die Wände, um dann klappernd und taumelnd ihre weite Reise in die Tiefe fortzusetzen, bis sie schließlich mit einem Klatschen in dem Ölsee landete, wo der menschliche Tiefenmesser des Diakonus auf seinem Floß darauf wartete, daß die Zeit verging. Der Tiefenmesser blickte in die Richtung, aus der das klatschende Geräusch gekommen war, und sah, wie sich ein Meer von Flammen ausbreitete, um dann über die schillernde Schwärze auf ihn zuzurasen; ein unerwarteter Tod, der ihn in seine Arme schließen wollte. Er lächelte, ihm blieb gerade noch genug Zeit, um den Augenblick seiner Erlösung auszukosten. »Dem Herrn sei Dank«, sagte er. Und der um ihn auflodernde Flammensturm verbrannte ihn zu glühender, menschlicher Asche, setzte seinem Leiden ein Ende, indem er neues Leid entfachte und eine noch größere Explosion verursachte, die als feuriger Ball durch das verrottete Schott in die Höhe schoß. Donnernde, grollende
Detonationen setzten im Inneren des Schiffes ein und arbeiteten sich allmählich nach oben, als Feuer und Verheerung die >Deez< erbeben ließen. Den freiwilligen Galeerensklaven des Schiffes, die mit ihren massigen Rudern herumhantierten, war bereits der Schweiß ausgebrochen. Einer von ihnen wollte seinem Nebenmann gerade die Frage stellen: »Wird es hier drinnen allmählich heiß? Oder denk' ich das nur?« als der Boden unter ihnen aufbarst und sie verschlungen wurden von emporzüngelnden Flammen, denen weitere Flammen folgten, die durch die Ruderöffnungen im Rumpf nach draußen jagten. Es war, als hätte die Hölle ihre Pforten aufgestoßen. Der Diakonus hastete einen Korridor entlang, wobei der Boden unter seinen Füßen bebte. Die Explosionen, die er in der Entfernung hören konnte, schienen mit jedem Mal näher zu kommen. Sein gesamtes Schiff wurde von den wiederholten Detonationen erschüttert. Er stieß beinahe mit seinem treuen Piloten zusammen, dessen ramponierte Pilotenmütze ganz schief auf seinem Kopf saß und der mit irrem Blick nach Atem ringend an ihm vorbeirennen wollte. Der Diakonus hielt ihn am Arm fest. »Und wo willst du jetzt hin?« »Diakonus, dieser Kahn wird gleich explodieren! Wir müssen hier raus!« »Wir? Ich nehme an, das sollte eine Einladung sein.« Der Pilot nickte aufgeregt. »Es ist Platz für
zwei.« Der Diakonus nickte ebenfalls. »Und nur zwei.« Woraufhin er eine Pistole unter seiner wallenden Robe hervorzog und dem Piloten genau zwischen die Augen schoß. Eine Explosion weiter unten schien den Schuß zurückzuwerfen, als der Pilot mit offenen Augen und offener Kinnlade auf den Metallboden plumpste. Der Diakonus stieß die Leiche mit dem Fuß beiseite und lief weiter. Sein schwimmendes Schloß war dem Untergang und seine idiotische Armee dem Tode geweiht. Doch er hatte bereits einen neuen Plan: Der Diakonus besaß einen unerschöpflichen Einfallsreichtum und den unerschütterlichen Glauben, daß ein besseres Morgen im Bereich des Möglichen lag. Auf diese Weise hatte er es auch fertiggebracht, sich über den Abschaum der Piratenbanden auf Waterworld zu erheben. Er kannte einen Ausweg. Außer ihm gab es nur noch einen Mann auf dem Schiff, der das Aufklärungsflugzeug steuern konnte; und der war tot. Doch bevor er sich auf den Weg zurück zum Deck und dem aufgetankten Wasserflugzeug machte, mußte er noch etwas finden, das er in seinem Leichtsinn verlegt hatte. Seine Karte. Seine menschliche Karte.
Truan, dessen Suchtrupp auf zwei Smoker reduziert und dessen Mission zum Teufel war, lief eine Ebene unter dem Deck des Schiffes mit gezückter Pistole über einen Korridor, wahrend der Boden unter seinen Füßen von Explosionen erschüttert wurde. »Das hat dieses Fischmonstrum gemacht!« brüllte er den beiden, die ihm folgten, zu. »Ich gab' was drum, wenn ich nur einmal auf diesen Bastard schießen könnte!« Und dann, als hätte der Allmächtige Vater Truan erhört, fiel eine Gestalt durch eine grob aus dem Deck gesägte Luke über ihnen und landete unsanft auf dem Boden, gerade als Truan mit seinem Smokerpärchen um die Korridorecke bog. Die Gestalt trug zwar die Weste eines Smokeraufsehers, doch handelte es sich bei ihr keineswegs um einen Smoker: es war der Eindringling. Der Fischmann. Und plötzlich konnte Truan mehr als nur einen Schuß auf den Bastard abgeben - leerte fast sein gesamtes Magazin in einem wilden Sperrfeuer, wobei der pfeifende Kugelhagel überall gegen Metallboden und -wände prallte. Doch es waren trotzdem nicht genug Schuß, da keiner von ihnen sein Ziel zur Strecke brachte. Truan versuchte sich zu beruhigen, um besser zielen zu können, als der Eindringling ein Gewehr herumschwang und ihn über den Haufen schoß.
Nach außen gekehrtes Innerstes spritzte auf die Wände und auf die hinter ihm stehenden Smoker, die durch einen weiteren Gewehrschuß zurückgeschleudert wurden und die Wände mit ihren eigenen Eingeweiden besprühten. Als der Seemann gesehen hatte, daß der Norde und das Smokerpaar die Metalltreppe heruntereilten, um ihn auf dem Deck zu verfolgen, war er durch die grob ausgesägte Luke abgetaucht. Nachdem er das Smokertrio erledigt hatte, rannte er weiter, auf einen unterhalb des Korridors liegenden Laufsteg zu. Er mußte direkt unter dem Deck bleiben, da er darauf abzielte, wieder nach oben auf die Brücke zu kommen, wo er nach dem Kind suchen konnte. Es war bestimmt nicht nach unten gelaufen, denn dort gab es nichts außer Feuer und unaufhörliche Explosionen. Rauchschwaden schlängelten sich durch die Rostlöcher im Boden. Er bog um eine Ecke und blieb wie angewurzelt stehen, als dieser Korridor ebenso wie sämtliche Korridore unter ihm - plötzlich in einem gähnenden Abgrund endete; Smoker auf der anderen Seite, die über das Loch hinwegsetzen wollten, stürzten schreiend in die nach oben leckenden Flammen. Widerwillig trat er den Rückzug an und lief eine Treppe zu einem unterhalb liegenden Laufsteg hinunter, was ihn noch tiefer in das Innere des sterbenden Schiffes führte, als er sich hatte vorwagen wollen. Enola war dort oben -
Höllenkrabben, und er war gezwungen, noch weiter nach unten zu gehen. Als der Seemann über den nächsten Laufsteg lief, klammerte sich ein Smoker über ihm an die Kette eines Flaschenzugs und schwang sich damit auf den Treppenabsatz direkt vor seine Füße. Der Mariner riß das Gewehr hoch, drückte es wie eine Pistole in das häßliche Gesicht, und betätigte den Abzug. Das hohle Klicken der Waffe erinnerte ihn daran, daß er bereits beide Läufe leergeschossen hatte. Der Smoker grinste belustigt und erleichtert - in diesem Grinsen waren einige Lücken zu sehen, denen der Seemann noch ein paar mehr hinzufügte, indem er seinen Lauf in das Gesicht des Mannes rammte und ihn über das Geländer stieß. Es ertönte ein gellender Schrei, der jedoch allmählich verebbte, als der Körper nach unten und der Hölle entgegensauste. Hinter ihm waren polternde Schritte zu hören; der Seemann wirbelte herum und rammte den Gewehrkolben in ein weiteres Smokergesicht, dessen Nasenbein eine mörderische Kurzreise in die nur selten verwendete Gehimmasse antrat. Der Smoker fiel tot zu Boden. Als wieder ein Schwarm der Barbaren über den Laufsteg auf ihn zustürmte und sie ihre Handwaffen auf ihn abfeuerten, daß die Kugeln ihm nur so um den Kopf schwirrten, warf der Seemann mit seinem ungeladenen Gewehr nach ihnen, in der Hoffnung, damit wenigstens einen zum
Stolpern zu bringen, zerrte eine Pistole unter seiner Weste hervor und erwiderte das Feuer. Die Flaschenzugkette baumelte ganz in seiner Nähe. Nun, es hatte ja schon einmal funktioniert. Er machte einen Satz auf einen der Stränge zu, klammerte sich daran fest, und der Flaschenzug brachte ihn nach unten, während die Kugeln an seinem Kopf vorbeijagten. Dann knallte ein Gewehrschuß, der ihn, wenn er getroffen hätte, zweifellos in zwei Hälften gerissen hätte, statt dessen jedoch eines der Kettenglieder sprengte. Seine Rettungsleine wurde schlaff und trudelte in die Tiefe, als er auf einen anderen Strang der Flaschenzugkette sprang, der ihn weiter nach unten brachte. Er wußte jedoch, daß es sich dabei nur um eine vorübergehende Mitfahrgelegenheit handelte, da es nicht lange dauern würde, bis der zerrissene Strang bei der Rolle anlangte, und er ebenfalls in der Hölle landete. Er schaukelte hin und her, um sich über einen zwei Stockwerke tiefer gelegenen Laufsteg zu manövrieren, auf dem er relativ sicher landen würde, wenn er sich fallen ließ; doch gerade als er direkt über dem Laufsteg baumelte, fiel eine knurrende Bestie mit grellgelben Augen über ihn her. Der Norde war, gefolgt von den zwei Smokern, ebenfalls durch die Luke gesprungen, um die Verfolgung des Fischmannes aufzunehmen, und rannte in die Richtung, aus der die Gewehrschüsse
gekommen waren. Er kam jedoch zu spät: Der Fischmann war verschwunden, von Truan und zwei weiteren Smokern waren nur noch einige blutige Fetzen übriggeblieben. Er folgte dem Weg, den der Fischmann logischerweise genommen haben mußte, und traf auf dasselbe gähnende Loch, durch das der Korridor neuerdings ein abruptes Ende fand. Pistolensalven aus der Tiefe ließen den Schluß zu, daß der Fischmann zunächst nach unten gegangen war, um später zurückzukehren und nach dem Kind zu suchen. Dann hatte der Norde eine Idee (eine Fertigkeit, die ihn von dem durchschnittlichen Smoker unterschied). Er beschloß, mit seinen beiden Männern den Ort aufzusuchen, an dem die Kutsche seines Meister auf einen Mann mit Initiative wartete. Ich hab' dieses Monster schon immer fahren wollen, dachte er und grinste. Kurz darauf hatte er genug umherstreunende Smoker zusammengetrommelt, die ihn anschieben konnten, und löste die Kupplung. Nachdem er sich an dem Röhren des zum Leben erwachenden Motors geweidet hatte, rumpelte er davon, um sich, per Diakonusmobil, auf die Jagd nach Menschenfischen zu begeben. Der Seemann hatte schon Landboote gesehen, doch das waren tote, verrostete und mit Seegras
behangene Relikte in den von ihm erforschten Geisterstädten gewesen. Dieses Landboot - hinter dessen gewölbter Windschutzscheibe sich der Norde mit einem irren Lächeln über das Lenkrad beugte - war jedoch sehr lebendig; sein Motor dröhnte, und der Seemann schwang sich an seiner Flaschenzugkette völlig unbeabsichtigt direkt vor seine Schnauze. Dann hatte die nach oben laufende Kette ihren zerschossenen Abschnitt eingeholt, und der Seemann wurde über den Bug des mächtigen Landbootes hinweggeschleudert, wobei ihn die Bestie nur um wenige Zentimeter verfehlte. Dann ließ die nun schlaffe Kette den Seemann recht unsanft auf den Metallboden herunterkugeln, als das Fahrzeug auch schon wendete, um einen erneuten Angriff zu starten. Die riesige Maschine mit dem Norden am Lenkrad näherte sich drohend, ihre Metallräder versprühten glitzernde Funken in sämtliche Richtungen. Neben dem Norden hatte ein Smoker gesessen, der jetzt auf seinem Sitz stand und ein Gewehr auf den Seemann richtete. Dieser war bereits wieder auf den Füßen, hob seine Pistole und feuerte zuerst; seine Kugel durchbohrte sowohl die Windschutzscheibe als auch die Brust des Smokers. Der blutige Körper des Mannes plumpste auf den Norden, der jedoch bereits genug Mühe damit hatte, durch die mit Spinnweben
bedeckte Windschutzscheibe zu blinzeln, und das Landboot schwankte torkelnd hin und her. Der Seemann rollte sich zur Seite, kurz bevor das Fahrzeug gegen einen eisernen Stützbalken krachte, und der Kopf des Norden mit voller Wucht gegen das Lenkrad prallte. Der Seemann ergriff die Flucht. Er konnte zwar nicht mehr sehen, wie der Norde mit blutüberströmtem Gesicht aus dem Landboot krabbelte; doch den wütenden Schrei des Mannes, der von den Metallwänden widerhallte, konnte er klar und deutlich hören. Vielleicht hätte er sich die Zeit nehmen sollen, den Bastard umzubringen, doch ihm blieb ohnehin wenig genug davon, also erklomm er eine Treppe und arbeitete sich weiter durch das Labyrinth der Korridore, während er versuchte, den richtigen Weg zur Brücke zu finden. Das Schiff begann sich bebend zur Seite zu neigen. Die wenigen Smoker, auf die er stieß, zeigten keinerlei Kampfbereitschaft: Sie waren zu sehr damit beschäftigt, schreiend umherzurennen und ausreichend große Rostlöcher zu finden, durch die sie das Schiff verlassen konnten, um sich den zahllosen anderen Smokern anzuschließen, die auf Booten oder Jetskis flohen, oder einfach nur dort unten herumschwammen und ertranken. Er verschwendete also keine Zeit damit, irgendeinen von ihnen umzubringen. Er hatte jetzt nur noch ein Ziel - das Mädchen.
Dann war sie auf einmal direkt vor ihm! Verdammt, wohl eher, sie beide waren es: Etwa fünfzig Meter entfernt, auf einer offenen Treppe, zerrte der Diakonus das Kind hinter sich die Stufen hinauf. Der Seemann rief nicht nach ihnen. Weder der Diakonus noch das Kind hatten ihn bisher entdeckt; er konnte immer noch einen Überraschungsangriff starten. Als er dann jedoch auf sie zurennen wollte, war er derjenige, der überrascht wurde: Eine kleine Explosion sandte ihn auf einen Höhenflug; dem eine heftige Landung folgte. Irgendwie brachte er es fertig, sich gerade noch rechtzeitig aufzurappeln bevor ein von Kopf bis Fuß in Flammen stehender Smoker schreiend und torkelnd an ihm vorübertanzte. Na ja, dachte er, wenigstens habe ich kein Feuer gefangen. Doch in gewisser Weise hatte er das eben doch, als er dem Mädchen und seinem Häscher hinterhersetzte. Auch Enola war darum bemüht gewesen, sich in dem Labyrinth der dunklen, rauchgeschwängerten Korridore zurechtzufinden, als sie um eine Ecke bog und dem Diakonus höchstpersönlich direkt in seine offenen Arme lief. Und jetzt zog der Smokerhäuptling sie zurück nach draußen auf die Brücke des Schiffes. »Siehst du das?« fragte er und zeigte ihr ein Flugzeug auf dem Deck, wo seine Smoker in
kopfloser Panik durcheinanderliefen und vom Schiff sprangen, um den Flammen zu entgehen. »Das ist deine Errettung.« »Dein Schiff geht in die Luft«, erwiderte Enola. »War das deine große Vision?« Er kniete sich neben sie und legte ihr seinen Arm um die Schulter. Sein Atem stank fürchterlich nach den Rauchstäbchen. »Ich hab' jetzt eine neue Vision, Schätzchen. Eine Wallfahrt für zwei. Ich... du ... und ein Bungalow auf >Festland<.« »Was?« Sie kapierte nicht. Er war doch ein Erwachsener. »Oh, ich weiß, daß du ein wenig zu jung für mich bist«, meinte er, als er sich wieder erhob und ihre Hand so fest quetschte, daß sie schon glaubte, in Tränen ausbrechen zu müssen. »Ich bin jedoch bereit, das zu übersehen. Nichts Unschickliches Ehemann und Ehefrau, mit dem Segen des Herrn.« »Du bist ja bescheuert.« »Mag sein ... aber du wirst mich in Zukunft sehr oft zu sehen kriegen.« Er zerrte sie die Treppen hinunter, von der Brücke zum Deck und lief mit ihr durch die Feuersbrunst auf das Flugzeug zu.
Kapitel 29 Der Seemann stürzte auf die Brücke, beugte sich über die dort angebrachte Harpunenkanone und ließ den Blick langsam über das Inferno auf Deck wandern, währenddessen die Smoker den gähnenden, mit stählernen Zähnen bewaffneten, flammenspeienden Löchern auszuweichen und irgendeine Deckung oder einen Fluchtweg zu finden suchten. Viele von ihnen sprangen einfach blindlings über Bord. Doch inmitten all dieses Höllenspektakels stand der Diakonus neben dem Flugzeug und schob Enola gelassen - wenn auch ziemlich grob - in den rückwärtigen Teil des Flugzeugs auf den Sitz des Bordschützen. Konnte der einäugige Bastard dieses Ding denn fliegen? Augenscheinlich glaubte der Diakonus zumindest, daß er es konnte, da er gerade in das Cockpit gestiegen war und den Motor startete. Aber, verdammt! Das Wasserflugzeug befand sich eine Million Meilen entfernt, am anderen Ende
des Decks! Wie sollte der Seemann rechtzeitig dort hingelangen, um ihn aufhalten zu können? Dann blinzelte er: Er beugte sich doch gerade über die Antwort! Und das> was er dazu brauchte, befand sich in einer Vorratskiste neben der Kanone: Er schnappte sich einen Harpunenpfeil, knotete ein schweres Tau an sein unteres Ende, und lud das riesige Geschütz. Gerade als er die Waffe auf das Deck richten wollte, vernahm er hinter sich eine Stimme: »Hättst mir den Drink spendieren sollen, Erdenmann.« Der Seemann drehte sich um, und da stand er: der Norde. Sein langes, blondes Haar triefte vor Blut, sein Gesicht war scharlachrot gestreift und rußbeschmiert und das Grinsen darauf ebenso selbstzufrieden wie wahnsinnig. In der Hand seines ausgestreckten und bewundernswert ruhigen Armes hielt er eine Pistole. Im Bruchteil einer Sekunde hatte der Seemann die Harpunenkanone herumgeschwungen und ein Geschoß abgefeuert, das ohne weiteres einen Walphin zur Strecke gebracht hätte. Und doch bellte die Pistole des Norden mehrmals auf, als er wieder und wieder abdrückte ... ... was aber lediglich ein Reflex war, das konvulsivische Zucken einer Hand, die den Kontakt zum Gehirn des toten Mannes verloren hatte. Die Harpune war zuerst durch den Unterarm des Norden und dann durch seine Brust gejagt, um ihn wie eine
zappelnde, von einem boshaften Kind aufgespießte Fliege an den Rumpf zu nageln. »In Waterworld gibt es nichts umsonst«, ermahnte der Seemann den toten Mann, der mit weit aufgerissenen Augen zu ihm höchstarrte, als er sich mit einem Fuß auf der Brust des Norden abstützte und die Harpune heraushebelte. Unten auf dem Deck wendete das Flugzeug zum Start. Die Augen des Seemannes - keine gewöhnlichen Augen - hefteten sich auf das Deck in der Nähe des Bugs; was konnte er nur benutzen? Was konnte er nur benutzen? Dann lächelte er. Der Seemann schob eine Harpune in die Kanone und feuerte sie mitsamt der daran befestigten Leine über die gesamte Länge des Schiffes, woraufhin sie sich wenige Meter vom Bug entfernt neben der Startrampe des Flugzeugs ins Deck rammte. Die Harpune, deren Leine sich über das Deck erstreckte, befand sich jetzt ein gutes Stück vor dem Flugzeug, das gerade in diesem Moment beschleunigte und über die Rollbahn auf die Rampe zusteuerte. Der Seemann zog die Harpunenleine straff und befestigte sie am Brückengeländer. Aus der geöffneten Vorratskiste holte er eine Eisenstange, das wird reichen müssen, und kletterte über das Geländer. Nachdem er die Eisenstange quer über die Leine geschoben hatte, ergriff er die beiden Enden mit jeweils einer Hand. Und sprang.
Er sauste an der straffen Leine entlang über das Deck, wobei er sich alle Mühe gab, das Wasserflugzeug zu überholen. Der Diakonus an den Instrumenten stieß einen Fluch aus, als sein Blick auf den Seemann fiel, während das Wasserflugzeug weiter auf die Startrampe zurollte und beschleunigte, beschleunigte, beschleunigte. Doch dann wurde das Flugzeug allmählich wieder langsamer, als würden seine Räder im Schlamm durchdrehen. Der an seiner Leine entlanggleitende Seemann mußte grinsen: Das kochend heiße Deck hatte den Gummibelag der Flugzeugräder zum Schmelzen gebracht! Er befand sich mittlerweile etwa eine Nasenlänge vor dem Flugzeug, landete, nachdem er die Leine losgelassen hatte, geschmeidig auf dem Deck und holte sich ein aufgerolltes, altes Kabel, das er von der Brücke aus erspäht hatte. Er arbeitete flink, ging mit dem schweren Stahlkabel um, als hätte es fast überhaupt kein Gewicht, schlang sein freies Ende um eine Stütze und zog es dann mit einem Ruck straff, so daß es sich wie ein Bein ausstreckte, mit dem ein unvorsichtiger Fußgänger zu Fall gebracht werden sollte. Das Fahrgestell des Flugzeugs rammte gegen das Kabel, beide Räder wurden mit einem ohrenbetäubenden, metallischen Kreischen vom Rumpf getrennt, und das Wasserflugzeug rutschte
auf dem Bauch über die Startrampe, wippte kurz auf und ab ... ... und stürzte kopfüber in die Tiefe. Es krachte in den Bug, wobei es zwar einigen Schaden erlitt, jedoch nicht völlig zerstört wurde, knallte auf die Seite, ein Flügel riß ab, der Motor wurde zermalmt, und die wohl letzte Landung des Flugzeugs war vollbracht. Der Seemann sprintete hinter der Stütze vor, die er als Deckung benutzt hatte. Der Treibstoff in diesem Flugzeug konnte es in jedem Moment in einen Feuerball verwandeln; er mußte das Kind da rausholen, und wenn es bei dem Absturz schwer verletzt oder gar getötet worden war, würde er sich mit einem Leben voller schlafloser Nächte abfinden müssen... auch wenn er wußte, daß der Tod für das Kind immer noch besser war als ein Leben mit diesem geistesgestörten Smoker... ... der blutüberströmt und ohnmächtig, vielleicht sogar tot, über dem Steuer zusammengesunken war. Viel wichtiger war die Fracht im rückwärtigen Teil: das betäubte, ängstliche, aber lebendige Kind. Und als der Seemann sie aus dem Wrack herauszog, erblühte ein strahlendes Lächeln auf ihrem dunklen, liebreizenden und rußbeschmierten Gesicht. Er nahm sie in seine Arme und setzte sie auf dem Deck ab. »Kannst du laufen?« fragte er. »Ich kann rennen!« antwortete sie lächernd. Doch er wußte, daß es keinen Grund zum Lächeln gab. Das Schiff um sie herum fiel allmählich
auseinander, seine Planken hoben und senkten sich, während weitere Explosionen unter Deck - nicht sehr tief unter der Oberfläche - das Schiff erschütterten. Er nahm sie bei der Hand und blickte zur Brücke, um einen neuen Plan zu ersinnen, als die schreckliche Stimme ertönte. »Glaubst du, wenn ich >Festland< nicht haben kann«, sagte der Diakonus, »werde ich es irgendeinem Thunfisch auf Beinen überlassen?« Der Boß der Smoker hatte seine Leuchtpistole direkt auf den Seemann und das Kind an seiner Hand gerichtet. Angesengt, seine Kleidung in Fetzen, das Gesicht mit roten Striemen übersät, entstieg der Diakonus den Überresten des Flugzeugs und behielt sein Ziel dabei im Visier. »Wir werden alle zusammen sterben, mein Freund«, meinte er. »So lautet die Abmachung. Du wirst meiner Gemeinde in der Hölle Gesellschaft leisten.« Der Seemann dachte gerade, vielleicht kann ich ihn überwältigen, bevor er dieses Ding abfeuert, als ihnen beiden jemand zuvorkam. Mit einer Flasche voller Öl, die von einem brennenden Lumpen verschlossen, einem bizarren Hagelkorn gleich vom Himmel herabpurzelte und wenige Zentimeter von den Füßen des Diakonus entfernt aufs Deck knallte. Es folgte eine kleine, aber völlig ausreichende Explosion, die den Leuchtraketenschuß des Diakonus harmlos verpuffen ließ, als dieser auf seinem Hintern landete.
Der Seemann und das Kind blickten verblüfft und erleichtert in den Himmel, um zu sehen, welcher Gott ihnen dieses Geschenk gesandt hatte. Und was sie dort wie eine wunderbare Erscheinung über dem Deck der >Deez< schweben sahen, war der Ballon des Alten Gregor! Doch dies war eine gepanzerte Ausführung, ein neuerer, größerer, für den Kampf gerüsteter Korb mit einer Metallverschalung, die sowohl den Korb als auch die Unterseite des . Ballons schützen sollte. Über die kugelsichere Panzerplatte lugten drei äußerst willkommene, vertraute Gesichter: Gregor, Helen und der Vollstrecker des Atolls, der eine weitere Flaschenbombe zum Anzünden bereit in der Hand hielt. Normalerweise zog es der Seemann zwar vor, seine Probleme selbst zu lösen, doch er beschloß, diesmal eine Ausnahme zu machen. »Enola!« rief Helen. Es war zugleich Begrüßung und Bestätigung, denn die Frau hievte gerade ein Seil über die Korbwand und ließ es zu ihnen herunter. Doch bevor sie es ergreifen konnten, gab es einen gewaltigen Knall, gefolgt von einer grell lodernden Flamme, die sich mitten durch das Deck bohrte und das Schiff in zwei Hälften spaltete. Wie bei einem Klappmesser strebten die beiden Enden aufeinander zu, als ob sie sich vereinigen wollten.
Die Hälfte des Decks, auf dem sich der Seemann, Enola und der Diakonus (der sich benommen aufgerappelt hatte, nachdem der Flaschenbombenrauch verschwunden war) befanden, verwandelte sich plötzlich in eine gigantische Rutschbahn, über die alle drei dem Rand des aufgerissenen Decks und einem endlosen Sturz ins Wasser entgegenglitten und -stolperten. Der Seemann schnappte das baumelnde Seil. »Enola!« Das vorbeischlitternde Kind krallte sich an seiner Taille fest. Woraufhin der Diakonus die Kette vollendete, indem er sich an Enolas Bein klammerte. »Ich werde dir deine niedliche, kleine Lunge aus dem Leib reißen«, kreischte der Diakonus ihr zu. »Du redest zuviel«, brüllte sie, zog ihren freien Fuß an und rammte ihre Ferse in das linke Auge des Diakonus, sein schlimmes Auge, sein brillenbedecktes Auge. Das Glas zerbrach, der Diakonus heulte auf. Und ließ los. Er rutschte über das Deck, fiel über den Rand, und es dauerte eine lange Zeit, bis er auf dem Wasser aufklatschte. Mit der an seiner Taille hängenden Enola verließ der Seemann das Deck und erklomm das schaukelnde Seil; Kugeln flogen ihnen um die Köpfe und prallten scheppernd gegen die Metallhülle des bewehrten Ballons, den sie zu erreichen suchten. Ein
auf der Brücke thronender Smoker ballerte, während das Schiff seine unvermeidliche Reise zum Meeresgrund antrat, auf die nach oben kletternden Gestalten und ihren Zielpunkt, den Ballon. Der Vollstrecker warf eine Flaschenbombe nach unten auf das Deck, woraufhin der Smoker sein Feuer einstellte, um das zu tun, was, nach des Seemanns Meinung, jeder gute Smoker tun sollte: Er fiel tot um - ein brennender, qualmender Trottel. Mit Helens Hilfe stieg der Seemann teils aus eigener Kraft, teils von ihr gezogen, in den Korb und brachte Enola in dem gepanzerten Nest in Sicherheit. Es waren mehr als ein Flugzeugunglück, ein paar Explosionen und ein langer Fall ins Meer dazu nötig, um dem Diakonus den Garaus zu machen. Seine unbändige Wut verlieh ihm die Kraft, von dem brennenden Schiff wegzuschwimmen. Als er sich schließlich in sicherer Entfernung davon befand, begann er wild zu fluchen. »Höllenkrabben«, murmelte er plätschernd. »Ich werde diesem Fischmann den Kopf abreißen und in seinen Hals spucken.« Ein Motor donnerte heran, und er wurde mit Wasser bespritzt, als ein Smoker auf einem Jetski ruckartig neben ihm bremste. »Ihro Diakonusschaft!« schrie der loyale Smoker und streckte seine Hand aus, während sein Jetski im Leerlauf verharrte. »Steigen Sie auf!«
»Danke!« Der Diakonus ergriff die Hand und kletterte auf den Rücksitz. »Diese Dinger verbrennen doch mehr Treibstoff, wenn sie mit zwei Mann besetzt sind, oder nicht?« »Ja, Sir!« Der Diakonus riß die Pistole aus dem Gürtel des Smokers und schoß ihm in den Hinterkopf. »Hab' ich mir gedacht«, meinte der Diakonus, und wieder spritzte Wasser auf, als er die Leiche vom Jetski schubste. »Aber trotzdem vielen Dank für das Angebot... im Ernst.« Ein Schatten flog über ihn hinweg, er blickte nach oben und da war das verdammte Ding: der Ballon! Er schwang die Pistole nach oben und begann, wild drauflos zu feuern wobei er jeden Kraftausdruck, den er nur kannte, herausbrüllte und auch einige neue erfand. Als die hochjagenden Kugeln gegen den Metallmantel prasselten, duckten sich sämtliche Insassen in dem gepanzerten Ballon ganz automatisch. »Keine Sorge«, sagte Gregor. »Uns kann nichts passieren.« In genau diesem Moment durchtrennte eine der Kugeln ein Seil, wodurch der Ballon aus dem Gleichgewicht kam, sich zur Seite neigte, und darauf wiederum das Kind die Balance verlor. »Neiiiiin!« schrie Helen und versuchte gleichzeitig mit dem Seemann nach dem Kind zu greifen; doch es war zu spät.
Enola war über die Korbwand geschleudert worden und stürzte hilflos, mit weit aufgerissenen Augen in die Tiefe. Noch nicht einmal ein Schrei drang über ihre Lippen, bevor sie mit einem Geräusch, das eher einem Blubbern als einem Klatschen glich, ins Wasser plumpste, als hätte das Meer sie verschlungen. Unten saß der Diakonus rittlings auf seinem schaukelnden Jetski und blickte grinsend in den Himmel, wobei er triumphierend mit seiner Pistole herumwedelte. Er hielt inne, wartete darauf, daß das Kind wieder hochkommen würde - und es kam, wild um sich schlagend und Wasser spuckend. Er hatte sein Gaspedal bereits durchgedrückt, als er noch einige andere Smoker auf Jetskis herbeiwinkte. Seine Truppen waren stark reduziert worden, doch drei seiner Smoker, von denen sich jeder an einem anderen Punkt in der Nähe seines sinkenden Schiffes befunden hatte, eilten jetzt aus verschiedenen Richtungen herbei; sie drückten ebenfalls aufs Gas, diese Handvoll robuster Überlebender, begierig darauf, ihrem Häuptling bei seiner erneut ins Leben gerufenen Mission beizustehen. Der Diakonus zog eine Machete aus dem Futteral am Jetski und ließ sie durch die Luft gleiten, wobei er schallend über diesen lustigen Einfall lachte; er würde ihr den Kopf abhacken, und die Karte auf ihrem Rumpf hinter sich herziehen.
Als sie ihren Führer eine Waffe ziehen sahen, nahmen auch die Smoker aus verschiedenen Richtungen Kurs auf das Wasser tretende Kind, ihre klobigen, zusammengestückelten Pistolen in der Hand. Aus vier Richtungen drangen das Smokertrio und sein glorreicher Fürst auf ihr winziges, auf den Wellen hüpfendes Opfer ein. Oben am Himmel war der Seemann gerade damit beschäftigt, das durchschossene Seil aufzuwickeln, jedoch nicht, um es zu reparieren: Solcherlei Anstrengungen überließ er dem Vollstrecker, der momentan seine ganze Kraft einsetzte, um den schwebenden Korb am Auseinanderfallen zu hindern. Wohingegen der Alte Gregor eine beinahe hysterische Helen davon abhielt, dem Kind hinterherzuspringen, weil das kein sehr guter Plan war. Doch der Seemann hatte einen guten Plan zumindest einen besseren als Helen. Nachdem er das Seil behende eingeholt hatte, untersuchte er erfreut dessen dehnbare Beschaffenheit - es handelte sich nämlich nicht um ein bloßes Tau, sondern um etwas, das in Waterworld sehr kostbar war: Gummi. Innerhalb von Sekunden, die ihm wie Minuten erschienen, hatte er es aufgewickelt und den von der Kugel durchtrennten Abschnitt erreicht; er bückte sich und band das Ende der Leine um seine Knöchel. »Was hast du ...« begann der Vollstrecker.
Doch die Frau wußte es. Helen wußte Bescheid. Sie lächelte verkrampft und nickte, und er nickte ebenfalls, wodurch das Band ihrer Freundschaft noch stärker wurde. Es war der eleganteste Hechtsprung, den Waterworld je gesehen hatte, als er sich von dem Korb in die Luft fallen ließ, und die Gummischnur wie ein Aal direkt hinter ihm her schlängelte. Das fachmännisch wassertretende Kind starrte entsetzt auf die stetig näherkommenden und immer lauter dröhnenden Jetskis. Der Seemann brüllte: »Enola!« Sie schaute in dem Moment nach oben, als er eintauchte und ihre Arme ergriff. Ihm blieb nur der Bruchteil einer Sekunde, um dem Diakonus einen letzten strengen Blick zuzuwerfen, bevor die Gummischnur zurückschnalzte und den Seemann mit seinem kostbaren Fang wieder in die Luft schnellen ließ. Unmittelbar bevor er mit den anderen drei Jetski kollidierte, hatte der Diakonus eine letzte Vision: seinen eigenen Tod. Er hob die Arme, um dem Himmel seinen Protest kundzutun, der jedoch nur von kurzer Dauer war. Er dauerte noch nicht einmal so lange wie die Explosion mitsamt dem orangerot-blauen Feuerball, der kurz darauf in die Luft jagte und den schwebenden Ballon, in dessen Korb der Seemann und Enola von dem Vollstrecker und Helen gezogen wurden, nur um Haaresbreite verfehlte.
Helen schloß das Kind in ihre Arme und drückte es fest an sich; Tränen der Freude kullerten ihre Wangen hinab, während sie Enola liebkoste und den Retter des Kindes voller Dankbarkeit betrachtete. Und auch in ihm regte sich ein seltsames Gefühl, als er diese Wiedervereinigung von Ziehmutter und Tochter mit ansah. Enola wandte sich erneut dem Seemann zu. »Ich bin geschwommen!« Er nickte lächelnd. »Das habe ich bemerkt.« Dann beobachteten sie gemeinsam, wie das Heck des zerstörten Schiffes gluckernd unter der Wasseroberfläche verschwand und schon bald nichts mehr von dem einst prächtigen Reich des Diakonus geblieben war - bis auf ein wenig Treibgut, zum Teil menschlicher, zum Teil mechanischer Natur, wobei aber weder das eine noch das andere mehr zu gebrauchen war. Nicht lange danach segelte der Ballon am Himmel, unter den leuchtenden wegweisenden Sternen, aber nicht in Richtung Neu-Oasis. Alles schlief Helen und Enola geborgen aneinandergekuschelt; Gregor lag, vor sich hin schnarchend, flach auf dem Rücken; der Vollstrecker wiegte sich, eingerollt wie ein Riesenbaby, in friedlichen Träumen. Alles schlief, nur der Seemann nicht. Er steuerte. Er hatte einen Kurs eingeschlagen, der auf einer gewissen Karte basierte.
Kapitel 30 Mehrere Tage später, als ihre Nahrungsmittel allmählich knapp wurden, das beständig freundlicher werdende Wetter sie jedoch bei Laune hielt, driftete die kleine Gruppe in dem gepanzerten Ballon durch eine dichte Wolkenbank. Der Seemann lenkte das Luftboot nach unten, und als der Ballon aus den Wolken trat, offenbarte sich ihren Blicken eine phantastische Luftspiegelung. Es war aber mehr als nur eine Luftspiegelung. Es war eine Insel... kein Atoll... sondern Land, festes, trockenes Land. >Festland<. Die Insel bestand zum größten Teil aus einem Berg, bei dem es sich jedoch nicht um einen steinigen, leblosen Gipfel handelte, ganz und gar nicht - dieses von einem Dunstschleier umgebene Wunderwerk schimmerte in sämtlichen Grüntönen, und es gab ihrer mehr, als er jemals für möglich gehalten hatte - das war etwas völlig anderes als Seegras!
Außerdem gab es noch einen Strand, einen leuchtend weißen Sandstrand, und dieser Strand war von Bäumen begrenzt. Da gab es so viele Bäume, so viele Arten von Bäumen, mehr Bäume, als er je auf irgendeinem Bild in irgendeiner Zeitschrift oder irgendeinem Buch gesehen hatte. Und doch - irgend etwas störte den Seemann an dem Paradies, das sie gefunden hatten und das sich nun unter ihm erstreckte. Die anderen - Gregor, Enola, Helen, und selbst der hartgesottene Vollstrecker waren wie versteinert (wobei man völlig außer acht lassen sollte, wie müde sie von ihrer Reise waren, und wie abgehärmt sie ausgesehen oder sich gefühlt haben mochten). Keine freudigen Jauchzer. Kein >Land Ahoi!<, was den Erzählungen zufolge die Matrosen der Urzeit immer gerufen haben. Keine Tränen. Noch nicht einmal ein Lächeln. Es waren die Gesichter von Matrosen, die vom Meer heimkehren. Doch der Matrose, der sie hergebracht hatte, wußte noch in demselben Augenblick, als er in der Pracht der vor ihm liegenden, schimmernden Landschaft schwelgte, daß die See seine Heimat war. Ein Wasserfall plätscherte über stufenförmig angeordnete Felsen in ein Becken. Es war herrlich. Die Gedanken des Seemannes wirbelten wild durcheinander, doch seine Füße fanden keinen rechten Halt auf dieser ... dieser ... Erde.
Der Alte Gregor kniete sich vor das Becken und schöpfte mit beiden Händen ein wenig Wasser, das ihm durch die Finger rann, als er es kostete. »Frisch!« schrie er laut, um die Musik des fallenden Wassers zu übertönen. »Alles hier - so frisch!« Von weit oben auf dem Hang rief der Vollstrecker zu ihnen hinunter: »Ich habe etwas gefunden!.« Mit Helen an der Spitze und Enola direkt hinter ihr liefen sie durch eine Welt der Pflanzen den Hügel hinan, unter dem Schatten der Bäume, die ihre Blätter wie riesenhafte, grüne Messerklingen über sie breiteten. Doch Grün war nicht ihre einzige Farbe - es gab auch rote Blätter, und Blätter von einem derart grellen Orange, daß man in die Sonne zu blicken meinte. Gregor schaute zurück zu dem Seemann, der die Nachhut bildete. »Hast du es bemerkt?« fragte der alte Mann und deutete auf den Boden. »Er bewegt sich nicht!« »Ich hab's bemerkt«, bestätigte der Seemann, der einen Fuß zaghaft vor den anderen setzte, und dabei noch einen Anfall von Übelkeit zu unterdrücken versuchte. Plötzlich, als sie auf eine Lichtung hinaustraten, wurde der Boden von einem donnernden Dröhnen erschüttert, und der Seemann mußte sich - verblüfft an einen Baum lehnen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Und dann - Höllenkrabben! -
galoppierte eine Herde vierbeiniger Tiere vorbei, wilden Blickes, mit wehenden Mähnen und Körpern, in denen Muskeln und Adern spielten. Und eine Wolke wirbelte auf... eine Wolke aus Erde! Was für ein Anblick. »Pferde!« schrie Helen voller Freude. Der Seemann atmete langsam aus, stieß sich von dem Baum ab und begann erneut zu laufen. Vor seinen Augen drehte sich alles. »Seht nur dort!« rief Helen. Etwas abseits stand eine Ansammlung von Gebilden; gelbbraune Behausungen, die aus irgendeiner Substanz erbaut waren. Woraus nur? Getrockneten Blättern? »Hütten«, erklärte Helen. »So etwas war früher unter dem Namen >Dorf< bekannt.« Und sie eilte aufgeregt in Richtung der Hütten davon. Enola folgte ihr auf den Fersen. Es waren dann jedoch Gregor und der Vollstrecker, die als erste die Haupthütte betraten, da die Frau und das Kind den wunderbaren Ort zunächst nur staunend betrachteten. Dann erst folgten sie den beiden. Doch der Seemann hatte kein Interesse an der Hütte. Etwas anderes hatte seinen Blick gefesselt, etwas, das halb vom Unkraut verborgen war. Ein Boot. Kaum mehr als ein Kanu, aber mit Auslegern bestückt. Das Gefühl des Unwohlseins verflüchtigte sich, als er zuerst darauf zulief und dann beinahe rannte.
Neugierig darauf, was der Alte Gregor und der Vollstrecker entdeckt haben mochten, betrat Helen die Strohhütte mit Enola an ihrer Seite. Doch was die beiden gefunden hatten, war der Tod: zwei Skelette. Die kränklich schwarzen Knochen ineinander verschlungen, mußten die beiden, wie ein Liebespaar, einer in den Armen des anderen, gestorben sein. Auf einem schlichten Tisch in der Nähe lag eine Vielzahl von Objekten, doch nur eines davon erregte Helens Aufmerksamkeit: ein Blatt Papier, auf dem eine Karte abgebildet war ... die genau mit den Markierungen auf Enolas. Rücken übereinstimmte. »Sie... sie mußten gewußt haben, daß sie sterben würden«, sagte Gregor mit gedämpfter, ehrfürchtiger Stimme. »Wir sollten sie unter die Erde bringen«, meinte der Vollstrecker. »Ich habe gehört, daß die Landleute damals so etwas gemacht haben.« »Das stimmt«, bestätigte Helen. Sie beobachtete, wie das Kind dieses schreckliche, und doch friedliche Bild in sich aufnahm. Enola weinte nicht. Sie lief einfach zu dem Tisch, wo sie Helens Meinung nach die Karte untersuchen wollte; doch statt dessen ließ Enola eine kleine, aus Holz geschnitzte Schachtel aufschnappen. Und als der Deckel sich öffnete, verursachte irgend etwas im Schachtelinneren ein wundervolles Geräusch: Musik.
Die Melodie, die liebliche Melodie, die von der Schachtel gespielt wurde, war ihnen nicht fremd. Es war Enolas Lied, ihr Lied für den Wind. »Ich bin zu Hause«, sagte das Kind leise. Helen blickte auf Gregor; auch in seinen Augen standen Tränen. Er nickte Helen zu, als wolle er sagen, wir alle sind zu Hause. Dann runzelte Helen die Stirn; irgend jemand fehlte. »Wo ist der Seemann?« fragte sie. »Wer?« fragte Gregor zurück. »So nennen wir ihn«, erklärte Enola. Doch Helen war bereits aus der Hütte geeilt. Sie fand ihn dort, wo sie ihn vermutet hatte, und so wie sie es befürchtet hatte, am Strand. Er war gerade dabei, ein kleines Boot über den Sand auf das blauschimmernde Meer zuzuschieben. »Ich verstehe nicht«, sprach sie ihn an. Leicht verwundert drehte er sich zu ihr um und betrachtete sie ausdruckslos. »Du verstehst was nicht?« »Du hast uns hergebracht. Du gehörst ebenso hierher wie wir.« Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht sogar noch mehr.« Doch er antwortete nicht und begann, das Boot erneut über den Sand zu schieben. Sie folgte ihm, half ihm jedoch nicht. »Wonach willst du suchen? Was glaubst du dort draußen zu finden?«
Er hielt inne, betrachtete zuerst sie und dann das glitzernde Wasser. »Gregor hat einmal gesagt, daß es vielleicht irgendwo noch andere gibt, die so sind wie ich.« »Ah...« Er bedachte sie mit einem Lächeln. »Wenn mir andere begegnen, die so sind wie du ... andere, die Hoffnung und Mut besitzen ... werde ich ihnen von diesem Ort erzählen. Und wie eine Frau ihn gefunden hat.« Sie kämpfte mit den Tränen. »Wir haben ihn gemeinsam gefunden.« Er nickte. »Ja, das haben wir.« Sie wußte nicht, was sie noch sagen sollte. »Geh noch nicht, laß dir von uns helfen. Du kannst dir auch genauso gut noch einen Vorrat an Hydro und anderen Sachen zulegen. Denn, wie oft triffst du schon auf einen Ort wie diesen?« »Nur einmal im Leben«, antwortete er. Mit einer Vielzahl an Vorräten, die sie zusammengesammelt hatten, marschierten Helen, Gregor und der Vollstrecker hintereinander zum Strand. Der Seemann hatte bereits so lange allein gelebt, daß er sich an gar nichts anderes mehr erinnern konnte; er war überrascht über das Gefühl der Wärme, das diese Leute in ihm erzeugten. Enola half ihm jedoch nicht. Sie saß auf einem Baumstamm und starrte mit verdrießlichem Gesichtsausdruck hinaus aufs Meer. Es sah beinahe
aus, als würde sie schmollen, und etwas Ähnliches hatte er bei ihr noch nie erlebt. Er stapfte durch den Sand auf sie zu und sprach sie an: »Du hast zum ersten Mal in deinem Leben nichts zu sagen?« Sie antwortete nicht; würdigte ihn keines Blickes. »Sing dein Lied«, sagte er. »Du haßt dieses Lied.« »Ich mag es, wenn du es singst.« Sie blickte immer noch nicht zu ihm auf; also kniete er sich neben sie, um ihr näher zu sein. »Enola...« Er berührte ihren Arm. »... Ich muß jetzt gehen.« Jetzt schaute sie ihn an; und die großen blauen Augen standen voller Tränen. »Aber - du bist doch wegen mir zurückgekommen!« »Natürlich bin ich das«, erwiderte er. »Du bist doch meine Freundin.« Da warf sie sich in seine Arme und ließ ihren Tränen freien Lauf. »Warum ... warum willst du ... willst du uns dann verlassen?« Er tätschelte ihren Rücken. »Weil ich nicht hierhergehöre.« Er schob sie behutsam von sich und warf ihr einen eindringlichen, aber gütigen Blick zu. Mit dem Kopf deutete er auf das Meer. »Dort gehöre ich hin.« »Du gehörst hierher.« »Nein«, widersprach er sanft. »Hier ist alles so ... fremd. Es bewegt sich nicht unter meinen Füßen.«
Die Stimme des Kindes klang nahezu verzweifelt. »Helen sagt, du bist einfach nur landkrank. Das wird bald vergelten!« Das Gefühl, das plötzlich auf ihn einstürmte, war schlimmer als die vorhergegangene Übelkeit! Wie seltsam! Wie schrecklich! Wie wundervoll. »Für mich ... ist es mehr als das«, sagte er. Die Unterlippe des Kindes bebte. »Ich... ich kann dich nicht umstimmen, oder?« »...nein.« Sie erhob sich und zog etwas hervor, das sie hinter ihrem Rücken verborgen gehalten hatte. Es war eine kleine, mit eigentümlichen, wunderhübschen Schnitzereien verzierte hölzerne Schachtel. Sie ließ den Deckel aufspringen, und Musik erklang. Eine Melodie. Ihre Melodie. »Nimm dieses Geschenk«, sagte sie, »und denk an mich.« Dann küßte sie ihn und rannte weinend auf das Dorf zu. Der Seemann begab sich zu dem kleinen Boot, wo Helen auf ihn wartete. Gregor und der Vollstrecker näherten sich ebenfalls; der alte Erfinder trug einen Sack über der Schulter. »Was hast du denn da?« fragte Gregor und deutete mit dem Kopf auf die Spieldose.
»Es gehört mir«, antwortete der Seemann abweisender, als er eigentlich vorgehabt hatte. »Enola hat es mir geschenkt.« »Das bezweifle ich nicht«, sagte Gregor, und sein freundliches Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, als er gütig seine Hand auf des Seemannes Schulter legte. »Ich habe ebenfalls etwas für dich.« Der alte Mann schwang den Sack von seinen Schultern, und er plumpste schwer in den Sand, vor die Füße des Mariners. »Es ist Erde«, sagte Gregor und lud den Sack ins Boot. »Tausch nicht gleich alles an einem Ort ein ... vielleicht sollte ich dir aber lieber freie Hand beim Handeln lassen. Auf diese Art hast du früher einen Grund, zurückzukommen und uns zu besuchen.« Der Vollstrecker trat vor und streckte verlegen die Hand aus. »Das ist das einzige, was ich dir anbieten kann, Drifter,« »Es ist genug«, erwiderte der Seemann, und die zwei schüttelten sich die Hände, ohne den Blick voneinander zu wenden. Sie besiegelten damit einen Bund, geschlossen von Kriegern, die gemeinsam so manche Schlacht überlebt hatten. Gregor nickte dem Vollstrecker zu - um ihm zu verstehen zu geben, daß Helen und der Seemann vielleicht noch ein wenig allein sein wollten -, und die beiden Männer marschierten vom Strand auf das Dorf zu. Der Seemann fuhr mit dem Einpacken der Vorräte fort, die seine Freunde ihm so großzügig
überlassen hatten, während Helen danebenstand und ihn dabei beobachtete. »Ist es wirklich so leicht für dich?« fragte sie. »Was?« »Einfach davonzuziehen?« Er schluckte; und lud einen mit klarem Hydro gefüllten Tonkrug, das ehemalige Eigentum eines Dorfbewohners, ins Boot. »Ich habe nie gesagt, es sei leicht.« »Ich ... ich habe auch etwas für dich. Etwas, das du auf deiner Reise vielleicht brauchen wirst.« Diese Geschenke bedrückten ihn. »Ich würde mich besser fühlen«, erwiderte er, »wenn ich etwas zum Tausch anbieten könnte.« »Nein. Das hier ist umsonst.« »In Waterworld gibt es nichts ...« Sie unterbrach ihn: »Laß dies die erste Ausnahme sein.« Er blickte ihr in die Augen. »Es ist ein Name«, sagte sie. Und sie nannte ihn. »Ich ... ich habe etwas für dich«, sagte er. »Ich habe doch gesagt, daß ich nichts dafür haben will.« »Es ist umsonst. Es ist ein Geschenk.« Und dann gab er ihr einen sehr sanften, sehr behutsamen Kuß. Sie liefen durch die Bäume auf den Gipfel des Berges zu einer Lichtung neben dem Rand der Klippen, und von dort aus beobachteten Helen und
Enola Hand in Hand, wie sein Boot in der Entfernung über das blauschimmernde Wasser in den Nebel glitt und wie es immer kleiner und kleiner wurde, bis es sich in der endlosen Weite des Ozeans verlor. Auch nachdem er bereits verschwunden war, blieben die Frau und das Kind noch dort stehen, hielten sich an den Händen und blickten aufs Meer. »Dieser Name«, sagte Enola. »Woher hast du den?« »Aus einer alten, uralten Geschichte über einen großen Krieger, der aus der Schlacht zurückgekehrt ist.« »Eine alte Geschichte?« »Ja.« »Erzähl' sie mir, Helen. Erzähl' mir die Geschichte.« Und Helen erzählte, und als sie geendet hatte, verließen sie und das Kind den Rand der Klippen. Auf dem Weg entdeckten sie etwas, das sie beinahe zum Stolpern gebracht hätte. Es waren die Überreste einer Fahne, die irgend jemand, wahrscheinlich vor Urzeiten, in den Boden gesteckt hatte. Daneben sahen sie eine halb in der Erde verborgene sehr alte Tafel, auf der stand: »An dieser Stelle betraten Hillary und Norgay 1953 zum ersten Mal den Gipfel des Everest.« Dann nahm Helen das Mädchen bei der Hand, und sie liefen durch die Bäume den Hang hinab, auf
das Dorf zu. Während sie gingen, sang Enola, doch ihr Lied hatte sich verändert. »Es gibt einen Jungen«, sang sie. »Der lebt im Wind, im Wind ...«
Epilog ... Es gibt einen Jungen, der lebt im Wind, und seine Mutter ist der Mond. Was ist das, meine Kinder? Was war das für eine Geschichte, die Helen dem Mädchen erzählte? Nun, der große Krieger hatte gerade die Segel gesetzt, als ihn der Wassergott mit einem Fluch belegte. Zehn Jahre lang segelte der Krieger über die Meere und konnte den Weg zurück in die Heimat nicht finden. Ja, es ist eine traurige Geschichte ... doch sie nimmt ein gutes Ende. Die Götter hatten schließlich Erbarmen mit ihm. Sie riefen einen warmen Wind herbei, der ihn nach Hause - zu seiner Familie - wehte. Und wißt ihr was? Er hat sie, oder sein Heim, danach nie mehr verlassen. Sein Name? Odysseus. Ja, das war der Name, den Helen dem Seemann gab.
Ob er jemals zurückgekehrt ist? Oh, aber meine Kinder - die alte Enola ist des Erzählens müde, und das ist auch eine ganz andere Geschichte ...
ENDE