Josef Held · Seddik Bibouche · Lucie Billmann Melanie Holbein · Martina Kempf · Tobias Kröll Was bewegt junge Menschen?...
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Josef Held · Seddik Bibouche · Lucie Billmann Melanie Holbein · Martina Kempf · Tobias Kröll Was bewegt junge Menschen?
Josef Held · Seddik Bibouche Lucie Billmann · Melanie Holbein Martina Kempf · Tobias Kröll
Was bewegt junge Menschen? Lebensführung und solidarisches Handeln junger Beschäftigter im Dienstleistungsbereich
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: FAUST Technische Dokumentationen, Roswitha Faust, Halle Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18144-8
Inhalt
5
Inhalt
Einführung ........................................................................................................ 15 A
Konzepte und Methoden .......................................................................... 21
1
Lebensführung und solidarisches Handeln unter Modernisierungsdruck ............................................................................. 21 1.1 Lebensführung ........................................................................................ 22 1.2 Bewältigung und widerständiges Handeln.............................................. 27 1.3 Solidarisches Handeln............................................................................. 29 1.4 Milieu und Feld als Handlungsräume und Handlungsprämissen............ 32 1.5 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen .................................................. 34
2
Forschungsdesign und empirische Methoden ........................................ 37 2.1 Qualitative und quantitative Methoden in Kombination......................... 37 2.2 Beschreibung der Forschungsinstrumente .............................................. 39 2.3 Beschreibung der Stichprobe .................................................................. 45 2.4 Auswertung............................................................................................. 47
6
Inhalt
B
Was bewegt die jungen Beschäftigten? ................................................... 49
1
Die Besonderheit der 25- bis 35-Jährigen ............................................... 51
2
Lebensführung und Orientierung unter (Modernisierungs-)Druck .... 57 2.1 Die subjektive Verarbeitung des Modernisierungsdrucks ...................... 57 2.2 Veränderungen durch die Wirtschafts- und Finanzkrise......................... 61 2.3 Identifizierung mit der Arbeit und Selbstverwirklichung im Beruf ........ 64 2.4 Anerkennung und Zufriedenheit ............................................................. 74 2.5 Ich-Orientierung...................................................................................... 82 2.6 Zukunftsorientierung .............................................................................. 92 2.7 Bewältigung und widerständiges Handeln............................................ 111
3
Solidarisches Handeln ............................................................................ 117 3.1 Der Begriff Solidarität ......................................................................... 117 3.2 Das Problem der Operationalisierung eines unscharfen Begriffs ......... 123 3.3 Empirische Dimensionen der Solidarität .............................................. 125 3.4 Qualitative Analyse............................................................................... 135 3.5 Solidarität als Phänomen der Praxis...................................................... 148
4
Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern ........................ 151 4.1 Engagementfelder ................................................................................. 151 4.2 Gewerkschaften als Engagementfeld .................................................... 160 4.3 Berufsgruppen und Arbeitslogiken ....................................................... 183 4.4 Berufsgruppe soziale Dienste und Erzieher/innen ................................ 207 4.5 Regionen ............................................................................................... 234 4.6 Bildungsmilieus .................................................................................... 244 4.7 Herkunftsmilieus................................................................................... 246
Inhalt 5
7
Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen...................................................................................................... 249 5.1 Gender – unterschiedliche Orientierungen bei Frauen und Männern ... 253 5.2 Lebensformen ....................................................................................... 259 5.3 Vereinbarkeit Familie – Beruf: Frauen mit Kindern............................. 263 5.4 Gesellschaftlicher Druck – Umgang mit Erwartungen ......................... 279 5.5 Alleinstehende Frauen .......................................................................... 289 5.6 Solidarisches Handeln: Sind Frauen die solidarischeren Menschen? ... 294
6
Druck und Gesundheit – aus der Sicht von Psychotherapeut/innen .. 303 6.1 Psychische Probleme und das Verhältnis zu Psychotherapie................ 305 6.2 Probleme in der Privatsphäre ................................................................ 309 6.3 Probleme in der Arbeitssphäre.............................................................. 312 6.4 Der Umgang mit den gesellschaftlichen Anforderungen...................... 315 6.5 Das psychische Leiden an der Gesellschaft – ein Fallbeispiel.............. 318
C
Deutungen und Folgerungen für die Praxis.......................................... 327
Literaturverzeichnis ....................................................................................... 337 Anhang............................................................................................................. 353
Inhalt
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1 Abbildung 2 Abbildung 3 Abbildung 4 Abbildung 5 Abbildung 6 Abbildung 7 Abbildung 8 Abbildung 9 Abbildung 10 Abbildung 11 Abbildung 12 Abbildung 13 Abbildung 14 Abbildung 15 Abbildung 16 Abbildung 17 Abbildung 18 Abbildung 19 Abbildung 20 Abbildung 21 Abbildung 22 Abbildung 23 Abbildung 24 Abbildung 25 Abbildung 26 Abbildung 27 Abbildung 28 Abbildung 29 Abbildung 30 Abbildung 31 Abbildung 32 Abbildung 33
Integriertes Modell.................................................................. 22 Konzept der Lebensführung.................................................... 24 Situations- und personenspezifisches Handeln ....................... 26 Solidarisches Handeln – was bewegt die unter 35-Jährigen?.. 31 Soziale Felder ......................................................................... 33 Theorien zum „Modernisierungsdruck“.................................. 36 Forschungsdesign.................................................................... 37 Leitschema für Focus Group................................................... 44 Drucksyndrom ........................................................................ 57 Karikatur – Kapitalismus ........................................................ 63 Identifizierung mit der Arbeit ................................................. 68 Selbstverwirklichung im Beruf ............................................... 70 Anerkennung in der Arbeit ..................................................... 76 Anerkennung in der Arbeit (DGB-Index Gute Arbeit) ........... 77 Ich-Orientierung...................................................................... 84 Subjektive Zukunftsperspektive der 25- bis 35-Jährigen ........ 93 Zukunftsperspektive und soziale Lage.................................... 94 Zukunftsperspektiv und subjektive Lage ................................ 95 Solidarität im privaten Umfeld ............................................. 126 Aktive Arbeitnehmer/innen-Solidarität................................. 130 Solidaritätssyndrom .............................................................. 133 Subjektive Voraussetzung für Solidarität.............................. 134 Engagement und Urbanisierung............................................ 155 Ausbildung und Engagement ................................................ 156 Organisatorischer Rahmen des freiwilligen Engagements in Prozent der engagierten Befragten.................................... 158 Engagieren Sie sich in Ihrer Freizeit (politisch, sozial ehrenamtlich)?....................................................................... 163 Gewerkschaftlicher Organisationsgrad und Geschlecht........ 164 Branchen – Gerechtigkeitsvorstellungen .............................. 192 Index „Identifizierung mit der Arbeit“.................................. 202 Identifikation mit dem Beruf (Branchen).............................. 211 Identifikation mit dem Beruf (Korrelationen)....................... 212 Entgrenzung der Arbeit (Branchen) ...................................... 217 Entgrenzung der Arbeit (Korrelationen) ............................... 218
Inhalt
11
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1 Tabelle 2 Tabelle 3 Tabelle 4 Tabelle 5 Tabelle 6 Tabelle 7 Tabelle 8 Tabelle 9 Tabelle 10 Tabelle 11 Tabelle 12 Tabelle 13 Tabelle 14 Tabelle 15 Tabelle 16 Tabelle 17 Tabelle 18 Tabelle 19 Tabelle 20 Tabelle 21 Tabelle 22 Tabelle 23 Tabelle 24 Tabelle 25 Tabelle 26 Tabelle 27
Stichprobe der 25- bis 35-Jährigen (Branchen)............................ 46 Stichprobe der 25- bis 35-Jährigen (BW/BB) .............................. 47 Vergleich unter 25-Jährige mit über 25-Jährigen ......................... 54 Weiterer Vergleich unter 25-Jährige mit über 25-Jährigen .......... 56 Banken/Versicherungen ............................................................... 62 Dimensionen solidarischen Handelns......................................... 122 Leistungsprinzip, Gerechtigkeitsprinzip, soziales Prinzip.......... 160 Unterschiede zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Nicht-Mitgliedern................................................................ 165 Weitere Unterschiede zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Nicht-Mitgliedern................................................................ 166 17-Klassen-Schema nach Oesch mit beispielhaften Berufen ..... 187 Reduziertes 8-Klassen-Schema nach Oesch............................... 188 Verteilung der Berufsgruppen .................................................... 190 Branchen/Versicherungen (BV)/Signifikanzen.......................... 194 IT-Bereich/Signifikanzen ........................................................... 196 Öffentlicher Dienst/Verwaltung (ÖD/V)/Signifikanzen............. 198 Gesundheitswesen (Ges)/Signifikanzen ..................................... 199 Öffentlicher Dienst/Pädagogischer Bereich (ÖD/Päd)/Signifikanzen ............................................................. 201 Unterschiede zwischen Erzieher/innen und Sozialpädagoge/innen................................................................. 209 Vergleich Baden-Württemberg (BW) mit Berlin/Brandenburg (BB) ........................................................... 237 Vergleich Baden-Württemberg – Brandenburg.......................... 240 Vergleich Bildung Ü25 .............................................................. 246 Vergleich Herkunft..................................................................... 247 Branchen und Gewichtung der Geschlechterproportionen......... 251 Verortung/Orientierung an der Familie und an soziale Beziehungen................................................................... 253 Psychische Belastung/Zukunftserwartung.................................. 255 Solidarisches Handeln ................................................................ 257 Unterschiede zwischen den Lebensformen ................................ 260
Inhalt
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Vorwort
Das Projekt U35 wurde von der Tübinger Forschungsgruppe durchgeführt. In den vergangenen drei Jahren entstand durch intensive Theoriediskussion und durch die gemeinsamen Erfahrungen im Umgang mit der Generation der 25- bis 35-Jährigen eine Verdichtung der Themen, die uns gemeinsam bewegt haben. Einzelne Kapitel des empirischen Ergebnisberichts im Teil B wurden zum Teil arbeitsteilig erstellt, sind aber dennoch ein gemeinsames Produkt der Autoren/Autorinnen. Das Kapitel „Druck und Gesundheit – aus der Sicht von Psychotherapeut/ innen“ im Teil B (Kapitel 6) entstand in Zusammenarbeit mit Christina Kaindl. Wir danken den vielen Studierenden für ihre Mitarbeit bei der Durchführung der Untersuchungen und bei der Transkription der Interviews und Focus Groups. Wir danken der Hans-Böckler-Stiftung für ihre Unterstützung, ebenso den Personalräten, den Gewerkschafter/innen und den vielen jungen Beschäftigten, die sich an dem Projekt engagiert beteiligt haben. Tübingen, den 17.1.2011
Josef Held
Einführung
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Einführung
Als Ende 2007 das Forschungsprojekt begann, befand sich die ökonomische Entwicklung in der öffentlichen Wahrnehmung in einem Boom. Neoliberale Modernisierungsstrategien dominierten. Im Dienstleistungsbereich fand ein Umbau und Abbau statt, die Vermarktlichung schritt auch hier voran und jungen Beschäftigten wurde Selbstbestimmung als Subjektivierung der Arbeit versprochen. Erstaunlich schien in dieser Situation, dass sich die jungen Beschäftigten zwischen 25 und 35 Jahren im Dienstleistungsbereich – als Hauptbetroffene – weniger als andere Altersgruppen an Mitbestimmung und Interessenvertretung interessiert zeigten. Zumindest machten diese Erfahrung viele in den Gewerkschaften. Daraus entstand die generelle Fragestellung des vorliegenden Forschungsprojekts „Was bewegt junge Menschen unter 35 im Dienstleistungsbereich?“. Die Ergebnisse des Projekts sollten „den Organen der Mitbestimmung konkrete Hinweise liefern, welche subjektiven Voraussetzungen die jungen Beschäftigten mitbringen, welche Formen der Solidarität von ihnen bevorzugt werden und welche Milieubesonderheiten berücksichtigt werden müssen“ (Projektplan 3). Das Forschungsprojekt hat also primär die Subjektivität der jungen Beschäftigten im Blick, allerdings vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels. Zwischenzeitlich hat sich die gesellschaftliche Situation geändert. Ende 2007 haben alle internationalen Institutionen, alle Regierungen und Forschungsinstitute ihre Prognosen nach unten korrigiert. Mit dem Zusammenbrechen der Bank Lehman Brothers setzte die schwerste ökonomische Krise seit der Weltwirtschaftskrise vor 80 Jahren ein. Die Gesellschaft befand sich in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr im „Modernisierungsprozess“ oder im „Wandel“, sondern in einer umfassenden Krise. Die neoliberalen Dogmen blamierten sich auf der politischen Ebene, blieben aber für die Beschäftigten trotzdem bestimmend. Die neue gesellschaftliche Situation wurde in der Öffentlichkeit schnell zur Normalität. Dazu stellte der Sozialpsychologe Harald Welzer in seinem Spiegel-Essay Anfang 2009 fest: „Trotz der täglich einlaufenden Horrormeldungen aus Global-Economy scheinen die Bürgerinnen und Bürger nur mäßig aufgeregt. Was zeigt das alles? Zunächst mal, dass Ergebnisse, die die Nachwelt als historische betrachtet, in der Echtzeit ihres Entstehens und Auftretens selten als solche empfunden werden“ (Welzer, 2009: 132). Diese J. Held et al., Was bewegt junge Menschen?, DOI 10.1007/978-3-531-92826-5_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Einführung
Erfahrung machte auch die Projektgruppe bei der Durchführung des Untersuchungsprogramms, da sich die praktische Durchführung der Untersuchung von April 2008 bis Oktober 2009 erstreckte. Aufgrund des massiven Ausbruchs der Finanz- und Wirtschaftskrise im Oktober 2008 entschloss sich das Projektteam, die Befragungen der jungen Beschäftigten 2009 fortzuführen. Dabei sollte nicht die gesellschaftliche Krise erforscht werden. Es wurde vielmehr angenommen, dass sich die Formen der Lebensführung und des solidarischen Handelns bei den 25- bis 35-Jährigen möglicherweise durch die Krise verändern. Ausgangspunkt war daher die Frage, was diese jungen Menschen im Dienstleistungsbereich subjektiv bewegt, was ihr Handeln antreibt, wie sie mit sozialen Konflikten umgehen, welche Bedeutung soziale Gerechtigkeit, Anerkennung und die Wahrung ihrer eigenen Würde haben. Von besonderem Interesse war, ob sie an der Verbesserung der gesellschaftlichen Situation arbeiten und welche Stellung sie gegenüber den Organen der Mitbestimmung einnehmen. Der Aufbau dieses Buches folgt einer eigenen Logik: Im Teil A werden die zentralen theoretischen Konzepte zu Lebensführung, solidarischem Handeln und „Modernisierungsdruck“ dargestellt. Hier werden nicht Theorien abgebildet, um sie später empirisch zu überprüfen, sondern vorläufige theoretische Ansätze dargestellt, die zwar die empirische Untersuchung angeleitet haben, aber nur den Charakter von sensibilisierenden Konzepten haben. Das folgt einer Anregung von Uwe Flick: „Statt von Theorien und ihrer Überprüfung auszugehen, erfordert die Annäherung an zu untersuchende Zusammenhänge ‚sensibilisierende Konzepte‘, in die – entgegen einem verbreiteten Missverständnis – durchaus theoretisches Vorwissen einfließt“ (Flick, 1995: 10). Das theoretische Vorwissen steuert zum Teil die Untersuchungstätigkeit, weil es den Rahmen bestimmt, in dem sich die forschende Aufmerksamkeit bewegt. Die Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand erfolgte deshalb auch in der Absicht, die für die Untersuchung wichtigen Ansätze zu ermitteln, um sie später auf der Basis der Ergebnisse kritisch zu reinterpretieren und zu ergänzen. Es folgt dann die Darstellung des Forschungsprogramms unter methodischen Gesichtspunkten. Insgesamt wurden mit einem Fragebogen 1298 junge Menschen befragt, davon 1260 unter 35 Jahren, zusätzlich wurden 47 Interviews und sechs Focus Groups sowie ethnographische Beobachtungen vor Ort durchgeführt. Hinzu kamen Interviews mit Experten/innen, d. h. mit Betriebsräten/ innen und Psychotherapeut/innen, die Erfahrungen mit den jungen Menschen gemacht haben. Die Auswertung hat sich nicht auf die Darstellung individueller Besonderheiten oder auf statistische Durchschnittswerte konzentriert, sondern auf den Vergleich von Untergruppen und auf die Darstellung konkreter Fälle, die im sozialen und gesellschaftlichen Kontext interpretiert wurden.
Einführung
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Im empirischen Teil B wird zuerst die Besonderheit der Zielgruppe, nämlich der 25- bis 35-Jährigen, herausgearbeitet, indem sie mit den Jüngeren, d. h. den unter 25-Jährigen, und auch mit den Älteren, den über 35-Jährigen, verglichen werden (Teil B, Kapitel 1). Darauf folgend werden zuerst die allgemeinen Befunde dargestellt und interpretiert: in einem Kapitel die Befunde zu Lebensführung und Orientierung (Teil B, Kapitel 2), in einem weiteren zu Solidarität (Teil B, Kapitel 3). In diesen allgemeinen Kapiteln wird noch keine Differenzierung zwischen verschiedenen Gruppen von jungen Beschäftigten vorgenommen. Da die jungen Beschäftigten zwar von allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen betroffen sind, aber jeweils in unterschiedlichen Kontexten, setzen sich die weiteren Ergebnisberichte (Teil B, Kapitel 4 und 5) mit verschiedenen Untergruppen auseinander, die als Teil sozialer Felder und Milieus betrachtet werden. Entsprechend werden die Befunde zu den jungen Beschäftigten verschiedener sozialer Felder und Milieus dargestellt. Hierzu unterscheidet man das Feld der Organisationen (v. a. Gewerkschaften), vier berufliche Felder im Dienstleistungsbereich (Gesundheitswesen, Öffentlicher Dienst, Banken/Versicherungen, IT), zwei regionale Felder (Baden-Württemberg und Berlin/Brandenburg) sowie Bildungs- und Herkunftsmilieus. Ein umfangreicheres Kapitel widmet sich dann den Besonderheiten der Lebensführung, der Orientierung und des solidarischen Handelns junger Frauen (Teil B, Kapitel 5). In den Berufsfeldern wird sich auf die obigen Branchen beschränkt, da sie für zentral im Bereich der Dienstleistungen gehalten werden. Bei den zusätzlich untersuchten regionalen Feldern, nämlich Baden-Württemberg und Berlin/ Brandenburg, vergleicht die Projektgruppe eine wirtschaftlich starke Region mit einer wirtschaftlich schwachen und versucht festzustellen, ob durch diese beiden Regionen Aussagen über diese Regionen hinaus getroffen werden können, die für den Dienstleistungsbereich in Deutschland spezifisch sind. Ein besonders wichtiges soziales Feld ist in der Untersuchung das Feld der Organisationen und informellen Gruppen. Hier geht es zentral auch um Gewerkschaften und um die Beziehung junger Menschen zu den Organen der Mitbestimmung. Es folgt dann ein spezielles Kapitel, das sich mit den Interviews auseinandersetzt, die mit Psychotherapeuten/innen geführt wurden, und in denen grundlegende und eher verdeckte Dynamiken unter dem Titel „Druck und Gesundheit“ thematisiert werden (Teil B, Kapitel 6). In den Kapiteln zu den empirischen Ergebnissen (Teil B, Kapitel 1 bis 5) werden jeweils die quantitativen und die qualitativen Daten einbezogen. Die quantitativen Ergebnisse aus der Befragung mit einem Fragebogen bilden den Rahmen für die vertiefende Analyse mithilfe der qualitativen Daten von Inter-
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Einführung
views, Focus Groups und Beobachtungen. Je nach Fragestellung werden also zur Bearbeitung jeweils qualitative und/oder quantitative Ergebnisse herangezogen. Gerade das Einbeziehen verschiedener Methodenarten erweitert die Erkenntnismöglichkeiten. In der empirischen Analyse werden theoretische Konzepte entwickelt oder weiterentwickelt, die einen Erkenntnisfortschritt darstellen. Insgesamt soll die Studie damit Antwort auf die Frage geben, was junge Menschen unter 35 Jahren bewegt und aus welchen Gründen. Der Forschungsprozess Die Projektvorbereitung durch die Tübinger Forschungsgruppe begann nicht beim Nullpunkt, weil schon in der ersten Hälfte von 2007 eine Pilotstudie durchgeführt worden war. Im Rahmen eines Projektseminars an der Universität Tübingen waren offene Interviews mit jungen Beschäftigten im Dienstleistungsbereich durchgeführt worden und auf dieser Basis wurde eine erste Version des Fragebogens konstruiert. Die Ergebnisse der Pilotstudie wurden zu Beginn des Forschungsprozesses ausgewertet und der Fragebogen einer gründlichen Revision unterzogen. Zu Beginn des Jahres 2008 lagen der fertige Fragebogen sowie die endgültigen Leitfäden und Focus-Groups-Anleitungen vor. Neben der Vorbereitung der Untersuchungsinstrumente und der Untersuchungsdurchführung wurde sehr intensiv an den theoretischen Grundlagen des Projekts gearbeitet. Bei der Theoriearbeit zeigte sich schnell, dass das Konzept der Lebensführung, das von einer Münchner Soziologengruppe entwickelt wurde (vgl. Kudera & Voß, 2000b), erweitert werden musste. Der Begriff der „alltäglichen Lebensführung“ legte den Schwerpunkt zu stark auf die alltäglichen Routinen und berücksichtigte subjektive Verarbeitungsformen zu wenig. Der subjektwissenschaftliche Ansatz von Klaus Holzkamp zur Lebensführung berücksichtigt das zwar, schien aber zu eng gefasst (Holzkamp, 1995). Besondere Schwierigkeiten bereitete auch das solidarische Handeln, da sich bald herausstellte, dass die ursprüngliche Theorie von Durkheim und auch eine Reihe von anderen modernen Ansätzen jeweils nur einen spezifischen Aspekt der Solidarität und des solidarischen Handelns betonen. Die Projektgruppe entschloss sich deshalb, die Frage nach den relevanten Aspekten des solidarischen Handelns empirisch, d. h. durch die Befragten selbst beantworten zu lassen. Neben diesen Theorieproblemen gab es auch in der praktischen Durchführung der Untersuchung Schwierigkeiten. Im Unterschied zu den Jugenduntersuchungen, die die Tübinger Forschungsgruppe schon durchgeführt hat (Bibouche & Held, 2002; Held, Horn & Marvakis, 1996), können junge Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen unter 35 kaum im Cluster befragt werden. Es
Einführung
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stellte sich als sehr schwierig heraus, die jungen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen an ihrem Arbeitsplatz zu befragen, da die individualisierten Arbeitsbedingungen ein Zugangsproblem für Befragungen darstellten. In der Region Berlin/Brandenburg spitzten sich diese Schwierigkeiten noch dadurch zu, dass die Untersuchungen von Tübingen aus durchgeführt werden mussten. Die Durchführung der verschiedenen Befragungen war sehr eng mit den Zuständigen der Gewerkschaft Verdi und mit Betriebsräten/innen abgestimmt und wurde durch sie unterstützt. Auch private Kontakte zu einzelnen Betrieben stellten sich als sehr hilfreich dar. Trotzdem gelang es in einzelnen Bereichen und beruflichen Sparten nur begrenzt, eine ausreichende Anzahl von Teilnehmern und Teilnehmerinnen für die Befragung zu aktivieren. Das Ausfüllen eines Fragebogens in Papierform erwies sich vor allem im IT-Bereich als Hindernis, und somit wurde entschlossen, deshalb zusätzlich auf das Instrument der OnlineBefragung zurückzugreifen. Die Online-Befragung spielt allerdings bei der Anzahl der Befragten nur eine geringe Rolle. Als sich in der zweiten Hälfte von 2008 die Finanz- und Wirtschaftskrise zuspitzte, entschloss sich die Projektgruppe, die Befragungen über das Jahr 2008 hinaus fortzuführen, um damit zu kontrollieren, ob die Wahrnehmung der Krise einen wesentlichen Einfluss auf Lebensführung und solidarisches Handeln hat. Bis Ende 2008 wurden insgesamt über 900 junge Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen befragt, 600 in Baden-Württemberg und 300 in Berlin/Brandenburg. Diese sind aufgeteilt in die vier Sparten Gesundheitswesen, Banken/Versicherungen, Öffentlicher Dienst und IT-Branche. Die Quoten wurden entsprechend den Populationsdaten ermittelt und erreicht. Bis Ende 2008 wurden 947 unter 35-Jährige befragt. Von Januar 2009 bis Oktober 2009 wurden weitere 351 Beschäftigte unter 35 Jahren befragt, wobei bei der Auswertung aus gegebenem Krisenanlass, und um einen direkten Vergleich zu erreichen, ein Schwerpunkt auf die Branche Banken/Versicherungen gelegt wurde. Auch die qualitative Erhebung mithilfe von Interviews und Focus Groups wurde fortgesetzt. Befragung und Interviews wurden begleitet durch ethnographische Beobachtungen, zusätzlich wurden bestimmte öffentliche Veranstaltungen teilnehmend beobachtet, nämlich Demonstrationen gegen die Verschlechterung der beruflichen Situation, 1.-Mai-Kundgebungen und ähnliches. In dem zweijährigen Untersuchungsprozess hat das Projektteam eine dichte Kommunikation nicht nur mit den jungen Menschen hergestellt, sondern auch mit den zahlreichen Unterstützern, die eine Befragung möglich gemacht haben. Bei allen Beteiligten wurde so ein Problembewusstsein zum Thema „Lebensführung und solidarisches Handeln unter Modernisierungsdruck“ gefördert. In diesem Sinn kann das Projekt als eingreifende Forschung bezeichnet werden.
1.1 Lebensführung
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A Konzepte und Methoden
1 Lebensführung und solidarisches Handeln unter Modernisierungsdruck Um die Arbeits- und Lebenssituation junger Menschen unter 35 so zu erfassen, wie sie sich für die jungen Menschen selbst darstellt, und sie als Begründungen für ihr Handeln zu erforschen, bedarf es angemessener theoretischer Konzepte. Drei Basiskonzepte bieten sich hier an, nämlich Lebensführung, solidarisches Handeln und Modernisierungsdruck. Die drei Konzepte stehen in einer inneren Beziehung zueinander, die zu beachten ist. In der Literatur wird häufig davon ausgegangen, dass die objektiven gesellschaftlichen Bedingungen die subjektiven Formen der Orientierung und des Handelns junger Menschen bestimmen. Junge Menschen kommen in dem strukturalistischen Top-Down-Modell nur als Folge der Bedingungen vor. Um diesen Kurzschluss von der Gesellschaft auf das Individuum zu vermeiden und um zugleich eine Reduktion auf das isolierte Subjekt zu vermeiden, wird im Folgenden zuerst auf Lebensführung und solidarisches Handeln eingegangen, dann auf Milieu und soziales Feld und erst dann auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Dem liegt ein integriertes Modell über die Beziehung zwischen Strukturebene und Subjektebene zu Grunde, wobei zwischen beiden eine Vermittlungsebene eingeschoben ist. Die gesellschaftlichen Bedingungen und Bedeutungen der Strukturebene werden von den Subjekten wahrgenommen, interpretiert und bewertet und gehen so in die Begründungen für Lebensführung und Handeln im Alltag ein. In diesem Bottom-up-Modell sind die Individuen Subjekte mit eigenen Intentionen, die sich bewusst mit strukturellen Gegebenheiten auseinandersetzen können.
J. Held et al., Was bewegt junge Menschen?, DOI 10.1007/978-3-531-92826-5_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Lebensführung und solidarisches Handeln unter Modernisierungsdruck
Abbildung 1
Integriertes Modell
1.1 Lebensführung Das Konzept der Lebensführung lässt sich auf Max Weber zurückführen, der diesen Begriff in seiner Studie zur protestantischen Ethik eingeführt hat. Er ging davon aus, dass durch den modernen gesellschaftlichen Wandel das Alltagsleben nicht mehr primär auf Traditionen beruht, sondern zunehmend rational organisiert wird, wobei es sich an den Zielen Erfolg und Effektivität orientiert (Behringer, 2007: 22). Diese Kategorie von Max Weber wurde von einer soziologischen Forschungsgruppe der Uni München aufgegriffen und weiterentwickelt. In dem Sonderforschungsbereich 333 „Entwicklungsperspektive von Arbeit“ wurde das Konzept der Lebensführung in den 1980er-Jahren eingeführt. Das zentrale Anliegen des Forschungsprojekts war es, „die Auswirkungen von Veränderungen in der Arbeitswelt auf das Leben von Menschen“ zu erforschen (Kudera & Voß, 2000b: 7). Lebensführung wurde schon zu Beginn des Projekts
1.1 Lebensführung
23
definiert „als ein alltäglicher Prozess, in dem sich ein Mensch mit den ihm begegnenden Verhaltungszumutungen (als Berufstätiger, als Ehefrau, als Mutter usw.) im Rahmen bestimmte Gegebenheiten (Wohnverhältnisse, Haushaltseinkommen usw.) auseinandersetzt“ (Kudera & Voß, 2000b: 7). Dieser Begriff alltäglicher Lebensführung, der sehr stark reduziert ist auf Routinen und die Bewältigung gesellschaftlicher Zumutungen, war für das Forschungsprojekt zu eng. Der Subjektaspekt war außerdem zu wenig berücksichtigt. Gleichwohl hat das Konzept den Vorteil, dass Arbeitssphäre und Lebenssphäre hier miteinander verknüpft sind. Es handelt sich nicht um ein ahistorisches Konzept, sondern es nimmt Bezug auf die Probleme moderner Lebensgestaltung. Klaus Holzkamp hat in der subjektwissenschaftlichen Psychologie auf dieses Konzept zurückgegriffen und dabei die Subjektkomponente betont (Holzkamp, 1995, 1996). Zugleich hat er die Reduktion des Konzepts auf alltägliche Routinen aufgehoben, indem er auch das Handeln einbezog, das bei Störung der Alltagszyklizität zum Tragen kommt. Ebenso bezieht er nichtalltägliche Lebenshöhepunkte mit ein, die das Streben nach dem „eigentlichen Leben“ markieren und dem Alltag erst ihren Sinn verleihen. Ebenfalls im Rahmen der Subjektwissenschaft hat Ute Osterkamp die „bewusste Lebensführung“ betont (Osterkamp, 2006). Dass und wie sich die subjektwissenschaftlichen Ansätze der Lebensführung produktiv auf die heutige Arbeitssituation anwenden lassen, hat kürzlich Jost Vogelsang demonstriert, indem er das neue Phänomen der „Subjektivierung der Arbeit“ (Moldaschl & Voß, 2002) mit dem subjektwissenschaftlichen Ansatz der Lebensführung analysiert hat und dabei aufgezeigt hat, wie die Betroffenen in einem Prozess der Selbstverständigung begreifen, „wie ihre unselbständige Selbständigkeit, ihre Individualisierung ökonomischer Anforderungen zustande kommt; dass sie selbst herausfinden können, wie ihr Handeln in der Systemlogik von mehr Eigenverantwortlichkeit, ihre Unterwerfung unter scheinbare Sachzwänge mit Selbsttäuschung und Selbstmanipulation einhergeht und wie sie sich an der Verfestigung der Verhältnisse beteiligen“ (Vogelsang, 2009: 112). In der eigenen Konzeption der Projektgruppe wird der subjektwissenschaftliche Ansatz mit aufgenommen und erweitert damit den Lebensführungsbegriff. Damit wird eine Reduktion der Lebensführung auf die Organisation des Alltags in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht sowie eine Beschränkung auf Rituale, Routinen und Pflichterfüllung vermieden. Es geht bei Lebensführung zwar einerseits um die Bewältigung des Alltags, aber andererseits auch um sinnerfülltes Handeln, das sich in besonderen Situationen, wie z. B. Festen, Höhepunkte verschaffen kann. Zusätzlich wird auch das widerständige Handeln mit zur Lebensführung dazugerechnet, wobei das widerständige Handeln auch Teil des solidarischen Handelns ist, das ebenso von der Projektgruppe unter Lebensführung subsumiert wird.
24
1 Lebensführung und solidarisches Handeln unter Modernisierungsdruck
Die Lebensführung vermittelt zwischen der Privatsphäre und der Erwerbssphäre, d. h., die heute erhöhten Anforderungen aus beiden Sphären müssen von dem Individuum in Einklang gebracht werden. Das wird in verkürzter Form mit dem Begriff der Work-Life-Balance ausgedrückt. Es geht aber nicht nur um das Balancieren zwischen beiden Sphären, sondern das Subjekt, d. h. die oder der junge Erwerbstätige, versucht, in beiden Sphären das Beste für sich zu erreichen und kann bei dieser selbstständigen Gestaltungsaufgabe in eine Überforderungssituation geraten. Selbstbestimmung und Autonomie sind heute begehrte Güter, die von vielen propagiert und von vielen jungen Menschen angestrebt werden. Die vielfältigen Veränderungen sowohl in der Erwerbssphäre als auch in der Privatsphäre eröffnen Spielräume, die eine bestimmte Form von Autonomie und Selbstbestimmung erlauben. Das grundlegende Paradox besteht jedoch darin, dass je stärker Autonomie und Selbstbestimmung angestrebt werden, um so stärker kann eine Überforderungssituation entstehen, die letztlich wieder in Fremdbestimmung umschlägt (vgl. Baur, 2008). Dieses Konzept der Lebensführung, das auf einen zentralen Widerspruch verweist, wird hier graphisch veranschaulicht:
Abbildung 2
-Organisation des Alltags: zeitlich, sachlich, sozial -Rituale, Routinen, Pflichterfüllung -Bewältigung -Sinnerfülltes Handeln, Höhepunkte schaffen -Widerständiges Handeln -Solidarisches Handeln -gesellschaftlich konformes Handeln
Spannung/ Probleme der Lebensführung
Autonomie Selbstbestimmung
Konzept der Lebensführung
Überforderung Fremdbestimmung
Privatsphäre (Lebenssituation)
Erwerbssphäre (Arbeitssituation)
LEBENSFÜHRUNG
1.1 Lebensführung
25
Das Konzept der Lebensführung kann als erweitertes Handlungskonzept verstanden werden. Lebensführung ist demnach eine lebensgeschichtlich erworbene Handlungsform, die als Ergebnis vieler Handlungen biographisch entsteht, wobei alle Handlungen und damit auch die Lebensführung gesamtgesellschaftlich vermittelt sind. Berücksichtigt werden sollte beim Lebensführungskonzept, dass Lebensführung auch mit Orientierungen verbunden ist, wie das bei allen Handlungen der Fall ist. Ohne Orientierung ist Handeln nicht möglich. Orientierungen sind Teil des Handlungsgesamts (vgl. Held, 1994; Marvakis, 1996). Berücksichtigt werden muss weiterhin, dass Kognition, Emotion und Motivation Funktionsaspekte des Handelns darstellen und deshalb in der Analyse mit berücksichtigt werden müssen. Beim Handeln einer Person sollten für die Analyse zwei Pole unterschieden werden, nämlich eine restriktive und eine erweiterte Handlungsfähigkeit. „Das Begriffspaar restriktive und verallgemeinerte Handlungsfähigkeit ermöglicht es, die menschliche Möglichkeit zum Ausdruck zu bringen, sich unter oder in den gegebenen Bedingungen, hier also den neuen Formen der Arbeitsorganisation, konform zu verhalten, oder sich deren »Sachzwang« gemeinsam mit anderen, die sich in gleicher oder ähnlicher Lage befinden, zu widersetzen und damit ein Stück handlungsfähiger zu werden“ (Vogelsang, 2009: 112). Das bedeutet, dass es einerseits die Möglichkeit gibt, sich einfach an die Erfordernisse anzupassen, also an das, was von einem verlangt wird, oder es kann versucht werden, diese Anforderungen zu überschreiten. Es wird also zwischen angepasstem Handeln und überschreitendem Handeln unterschieden. Ersteres beruht zu einem guten Teil auf Bewältigung und kann mit den psychologischen Bewältigungstheorien gut analysiert werden, letzteres ist eher als widerständiges Handeln zu begreifen. Diesen zwei Handlungsformen entsprechen zwei Orientierungsformen, nämlich die Bewältigungsorientierung und die kritische Orientierung. Natürlich ist das situations- und personenspezifische Handeln nicht außerhalb der Gesellschaft angesiedelt, sondern immer durch gesellschaftliche Bedeutungen und Bedingungen mit geprägt. Allerdings wirken diese nicht von außen auf das Subjekt ein, sondern die gesellschaftlichen Voraussetzungen sind immer schon in dem Subjekt repräsentiert und bilden in dieser Form Handlungsvoraussetzungen. In dem folgendem Schema werden die psychischen Komponenten und Zusammenhänge verdeutlicht, die den subjektiven Möglichkeitsraum bestimmen.
26
1 Lebensführung und solidarisches Handeln unter Modernisierungsdruck
Möglichkeitsraum
Orientierung
Kognition Emotion Motivation
Gesellschaftliche Bedingungen
Subjekt
Lebensführung
Gesellschaftliche Bedeutungen
ANGEPASSTES HANDELN (Restriktive Handlungsfähigkeit)
ÜBERSCHREITENDES HANDELN ( Widerständiges Handeln )
Abbildung 3
Situations- und personenspezifisches Handeln
Orientierungen Das Konzept der Orientierungen, das von der Tübinger Forschungsgruppe entwickelt wurde (vgl. Held, 1994), ersetzt in diesem Projekt den Einstellungsbegriff, es hat in Handlungstheorien seinen Stellenwert. Orientierungen sind die Voraussetzung für das Handeln und leiten das Handeln an. In diesem Sinn sind sie funktionaler Bestandteil des Handlungsgesamts. „Mit dem Begriff der ‚Orientierung‘ sind also die antizipatorischen und ausrichtenden Momente/ Aspekte des Handlungsvollzugs, des Funktionsgesamts einer Handlung gefasst“ (Marvakis, 1996: 24). Mit dem fortwährenden Handeln entstehen die Formen der Lebensführung und der Solidarität. Solidarität ist also etwas, das in Handlungsprozessen entsteht, und keine Persönlichkeitseigenschaft. Mit dem Handeln entstehen die Orientierungen und mit dem Handeln verändern sich auch Orientierungen, zugleich sind die Orientierungen aber auch eine Voraussetzung für das Handeln. Unter den verschiedenen Orientierungen, die Lebensführung und solidarisches Handeln anleiten und begründen oder auch behindern können, wurden für diese Umfrage fünf potenziell bedeutsame ausgewählt. Es sind dies die Anerkennung (vgl. Voswinkel, 2005), die Gerechtigkeit bzw. der „Gerechte-Welt-Glaube (GWG)“ (vgl. Dalbert, 1992, 1993), der Autoritarismus (vgl. Rippl, Seipel & Kindervater, 2000) und die Ich-Orientierung (vgl. Frankenberger & Meyer, 2008).
1.2 Bewältigung und widerständiges Handeln
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1.2 Bewältigung und widerständiges Handeln Lebensführung festigt sich lebensgeschichtlich im fortwährenden Handlungsprozess. Die Erfahrungen im Handlungsgeschehen können Anpassung oder Widerständigkeit begünstigen. Ein Handeln, das sich auf die Bewältigung von äußeren Anforderungen und äußerem Druck beschränkt, kann sehr gut durch moderne Bewältigungstheorien erfasst werden (Lazarus, 1981). Insofern wird Bewältigung als eine Form der Lebensführung bezeichnet. Das Bewältigungskonzept nimmt heute einen zentralen Stellenwert in der Entwicklungspsychologie ein. Es wird dabei ergänzt durch das Konzept der „kritischen Lebensereignisse, wobei zwischen normativen und non-normativen unterschieden wird (vgl. Filipp, 1981). Hinzu kommt das Konzept der „Entwicklungsaufgaben“, bei dem davon ausgegangen wird, dass jede Altersphase, also auch die des frühen Erwachsenenalters, mit bestimmten gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen konfrontiert wird (vgl. Brandtstädter, 1980). Die andere Form der Lebensführung, das widerständige Handeln, bezieht sich zwar auch auf äußere Anforderungen, versucht ihnen aber nicht einfach gerecht zu werden, sondern eigenen Bedürfnissen und Intentionen zu folgen. Im Unterschied zur Bewältigungsforschung gibt es keinen eigenen Forschungszweig zum widerständigen Handeln, und auch in der bisherigen Lebensführungsforschung wird diese Möglichkeit menschlichen Handelns kaum thematisiert. Um die Notwendigkeit der Ausweitung und Differenzierung des Lebensführungskonzepts zu belegen, sollen kurz verschiedene Formen des widerständigen Handelns aufgelistet werden: Formen widerständigen Handelns A. Defensive und aktive Formen widerständigen Handelns:
Defensive Formen richten sich gegen Unterdrückung, Zurücksetzung, Missachtung, Geringschätzung, Ungerechtigkeit, Beleidigung und Demütigung der eigenen Person oder Gruppe Aktive Formen wollen etwas verändern, Ziele gegen den herrschenden Trend durchsetzen, z. B. Verbesserung der Arbeitsbedingungen
B. Widerständiges Handeln kann folgende Handlungsformen beinhalten:
Sich wehren (z. B. bei Überschreiten der Grenzen des Zumutbaren) Reaktanz (gegen Einschränkung der Freiheit)
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1 Lebensführung und solidarisches Handeln unter Modernisierungsdruck Trotzreaktion Verteidigung der eigenen Würde/Ehre Verteidigung gemeinsamer Errungenschaften Zivilcourage Rebellion Revolte, Empörung: „Ich empöre mich, also sind wir“ (Camus, 2006) Nein sagen Kritik Demonstration (für oder gegen etwas) Protest (öffentlicher Protest bis schwacher Dissens) Streik Kampf für mehr Rechte Kampf um umfassende Werte und für politische Ziele Aufkündigung von Unterwerfung und Anpassung
Beide Formen von Lebensführung, Bewältigung wie auch widerständiges Handeln, können völlig getrennt voneinander in Erscheinung treten. Die Form der Bewältigung kann als angepasstes Handeln (s. o.) bestimmt werden, bei dem es nicht darum geht, die Bedingungen, welche die belastende Situation erzeugt haben, zu verändern, sondern darum, die soziale Funktionstüchtigkeit zu bewahren bzw. ein Wohlbefinden um jeden Preis herzustellen. Die konkreten Bedingungen, die zu der Bewältigungsnotwendigkeit geführt haben, werden nicht hinterfragt, vor allem aber werden die dahinter stehenden Wertevorstellungen nicht infrage gestellt. Es wird versucht, innerhalb der vorgegebenen allgemeinen und spezifischen Bedingungen eine Aufgabe zu erledigen bzw. ein Problem in den Griff zu bekommen. Anders bei widerständigem Handeln, das eine reine Anpassung an die Bedingungen ablehnt, welche die belastende Situation erzeugt haben. Dabei muss kein persönlicher Bewältigungsdruck vorhanden sein, wie z. B. wenn engagierte Gewerkschafter/innen gegen negative gesellschaftliche Bedingungen oder Produktionsbedingungen Widerstand leisten, von denen sie selbst nicht unmittelbar betroffen sind. Bewältigung und widerständiges Handeln können allerdings ineinander übergehen. So entstehen häufig aus misslungenen Bewältigungsversuchen widerständige Haltungen und Handlungen, wenn beispielsweise Betriebsräte Protest gegen Entscheidungen der Arbeitgeber organisieren, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass Verhandlungen nicht mehr weiterhelfen. Auch wenn die 25- bis 35-Jährigen zum Teil als eine Gruppe erlebt werden, die zu Protesten in Distanz steht, so bleibt doch die Frage, inwieweit die unter 35-Jährigen dennoch die Widersprüche wahrnehmen und wie sie mit hege-
1.3 Solidarisches Handeln
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monialen Diskursen umgehen. Ansätze zu widerständigem Handeln lassen sich somit in widersprüchlichen Orientierungen und im kritischen Umgang mit Bedeutungsstrukturen ermitteln. Überall dort, wo sich der Wille formiert, sich nicht dermaßen regieren zu lassen, finden sich eventuell Ansätze zu widerständigem Handeln (vgl. Foucault, 1992). 1.3 Solidarisches Handeln Ähnlich wie bei dem vorangegangen Konzept der Lebensführung fasst die Projektgruppe das solidarische Handeln sehr weit. Dadurch wird die Möglichkeit eröffnet, im Forschungsprozess die Beteiligten bestimmen zu lassen, was solidarisches Handeln für sie selbst bedeutet. Schon bei den ersten Interviews wurde die Erfahrung gemacht, dass die jungen Menschen unter 35 mit dem Begriff der Solidarität wenig anfangen konnten oder auch nicht unbedingt etwas damit zu tun haben wollten. Dies kann nicht sofort als Entpolitisierung der unter 35-Jährigen gewertet werden. Der Begriff scheint nicht nur im Osten Deutschlands diskreditiert, was aufgrund der Überstrapazierung dieses Begriffs in der ehemaligen DDR verständlich wäre. Die Distanzierung von „Solidarität“ kann viele Gründe haben, und es ist deshalb eine der Forschungsaufgaben zu ermitteln, welche Gründe dahinter stehen. Ist es die Angst vor Gruppenegoismen, die Angst, vereinnahmt zu werden oder unter Gruppendruck zu geraten? Vielleicht trifft auch die These von Steinhardt zu, der meint, „mit der partiellen Aufsplitterung des sozialen Raumes gehen zumindest teilweise auch herkömmliche Formen der Solidarität verloren“ (Steinhardt, 2003: 5). Vielleicht wird auch durch die „Individualisierung“ der soziale Zusammenhalt geschwächt. Vielleicht konzentrieren sich die jungen Menschen auch auf den sozialen Nahraum, vielleicht setzen sie mehr auf Partnerschaft als auf Kampf um Interessen. Vielleicht wird auch die „Sorge um sich“, wie Michel Foucault das nennt (Keupp, 2003: 310), für die jungen Menschen eine primäre Voraussetzung für die Solidarität mit anderen. Vielleicht gibt es auch ein neues Verständnis von Solidarität, das aber heute mit diesem Begriff nicht benannt wird. Dies alles stellt in diesem Projekt eine wichtige Forschungsaufgabe dar. Die Projektgruppe geht davon aus, dass Solidarität auf jeden Fall meint, dass man etwas bewegen will und dass auch eine (emotionale) Bewegung damit verbunden ist. Demnach stünde die im Projekttitel genannte zentrale Fragestellung „Was bewegt junge Menschen?“ im Zusammenhang mit Solidarität. In dem Projekt wird sich mit solidarischem Handeln der jungen Menschen befasst, also mit dem subjektiven Aspekt und nicht mit der Funktion der Solidarität für die gesellschaftliche Integration.
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1 Lebensführung und solidarisches Handeln unter Modernisierungsdruck
Die historische Entwicklung des Begriffs Solidarität erklärt ganz gut das Problem des Umgangs mit diesem Begriff. Ursprünglich als obligatio in solidum ein juristischer Terminus aus dem römischen Recht, der die gemeinsame Verpflichtung einer Gruppe oder Familie bei Schulden festschreibt, wurde er in derselben Bedeutung der Solidarhaftung im Spätmittelalter im französischen Recht übernommen, aus dem heraus es zu dem heutigen deutschen Begriff Solidarität kam. Von da aus entwickelte sich der Begriff Solidarität entlang diverser politischer und ideengeschichtlicher Positionen auf unterschiedlichen semantischen Wegen in Europa. Nur bei wenigen anderen Begriffen kann man eine solche Breite sich zum Teil sogar widersprechender Bestimmungen finden. In der Literatur wird häufig unterschieden zwischen Solidarität bei gleichen Interessen und Solidarität bei unterschiedlichen Interessen (Bierhoff, 2002: 181 ff.). Außerdem kann bei Solidarität der Schwerpunkt auf unmittelbarer Beteiligung liegen (z. B. an Streiks) oder auf Engagement (z. B. Dritte-WeltArbeit). In einem erweiterten Begriff von Solidarität gibt es verschiedene Komponenten und es kann auch ganz unterschiedliche Gründe für Solidarität geben. Hinzu kommt, dass mit Solidarität auch Unterschiedliches gemeint ist. Karl Otto Hondrich und Claudia Koch-Harzberger weisen darauf hin, dass mit fortschreitender Differenzierung der Regelsysteme „der einzelne nicht nur die Wahl hat, sich solidarisch oder nicht solidarisch zu verhalten, sondern auch die Wahl zwischen verschiedenen Solidaritäten“ (Hondrich & Koch-Arzberger, 1992: 16). Hier ließe sich z. B. unterscheiden zwischen universalistischer und partikularistischer Solidarität. Solidarisches Handeln kann in verschiedenen Sphären stattfinden und deshalb auch Unterschiedliches bedeuten. So wird Solidarität als Haltung, als Gesinnung oder als Handlung betrachtet (vgl. Reitzenstein, 1961: 11; ausführlich dazu Bierhoff & Küpper, 1999: 181 ff.), sie wird als moralisch zwingend wie bei Bergson oder als Entscheidung aus freien Stücken wie bei Sartre verstanden. Sie kann Individuen, einzelne Gruppen oder ganze Gesellschaften betreffen. Solidarität wird – wie bei Durkheim – als soziale Bindung der Gesamtgesellschaft definiert oder als Bindung einer einzelnen gesellschaftlichen Gruppe mit Gegnerbezug (Zoll 2000: 24). Sie wird in den politischen Programmen von Parteien auf eine Dimension der Sozialpolitik reduziert oder als unabdingbarer Aspekt einer emanzipatorischen politischen Praxis betrachtet. Solidarität erscheint gelegentlich als Erlebnissolidarität mit rituellem Charakter (Baringhorst, 2001), und sie kann schließlich, Che Guevara folgend, als die Zärtlichkeit der Völker bezeichnet werden (vgl. Lohmann, 1999: 217 ff.). Bei dem Projekt U35 ist es ganz wichtig zu unterscheiden zwischen der gesellschaftlichen Sphäre, zu der z. B. die internationale Solidarität gehört (Hardt & Negri, 2004; Krettenauer, 1998), der Erwerbssphäre, zu der die gewerkschaft-
1.3 Solidarisches Handeln
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liche Solidarität gerechnet werden kann und mit der die Projektgruppe es in dieser Untersuchung häufig zu tun hat, sowie der Privatsphäre, zu der verschiedene Formen der Fürsorge gerechnet werden können. Das für einander Einstehen und andere Formen der Fürsorge in der Privatsphäre wird in der Regel nicht unter Solidarität gefasst. Dennoch kann dieser Bereich der gesellschaftliche Ort sein, in dem solidarisches Handeln primär erlernt und erfahren wird. Familiensolidarität, wie sie als Fürsorge vor allem Frauen leisten, ist nicht nur Privatsache, sondern ein wesentlicher Bestandteil des gesellschaftlichen Zusammenhalts (vgl. Becker-Schmidt, 2009). Das folgende Schema in verdeutlicht diese Aufteilungen:
Gesellschaftliche Sphäre Regierungstechniken Solidarität als Engagement (Foucault): Diskurse in für andere gesellschaftl. Medien… Gruppen: z.B. Dritte WeltErwerbssphäre Arbeit, Anti-Kriegs-Demos… Neoliberale Doxa (Krettenauer; (Bourdieu) Hardt Negri) Solidarität als Beteiligung an Modernisierungsdruck Streiks; Engagement Prekarisierung In Gewerkschaft… Solidarität bei (Candeias Privatsphäre (Dörre) Unterschiedlichen Familie, Arbeitskraftunternehmer Interessen (u.a. Freundeskreis •GGefühl: (Voß; Pongratz) Bierhoff; Sartre) Solidarität bei Individualisierung Empörung Globalisierung ArbeitskraftmanagerIn • Überschreiten der gemeinsamen (Camus) (Beck) • Grenzen der (W inker/Carstensen) korporativen Interessen Solidarität (Sachße) Interessen (Gramsci) (Interessensolid Subjekt • ‚interaktiver‘ • Umschlag von arität; Gramsci) Fürsorge (Benhabib) Lebensstil (Bourdieu) Universalismus: Autonomie in • Symmetrische Freundschaftsdienst Lifestyle-Pflege; Anerkennen u. Entmündigungen Wertschätzung Unmittelbare Solidarität Konsum; • Ausdünnung des Auseinandersetzung (Honneth) (Zürcher) Sozialen mit der (Brumlik; Zoll) Andersartigkeit Aktive u. passive Ich-Orientierung • Segmentierung: Anderer (Benhabib) (Frankenberger/Meyer) Spaltung u. soziale Schließung Ringen um Anerkennung (Honneth) • Standpunkt des (Durkheim; Widerständiges Handeln (Cultural Konkreten Anderen Maffesoli) Studies, Holzkamp) des Verallgemeinerten Bewältigung (Böhnisch; Lazarus) Anderen (Benhabib; • (Un-)Gerechtigkeit (Fraser; Zoll) Moore) • Widerspruchsorientierung (Candeias)
Abbildung 4
Solidarisches Handeln – was bewegt die unter 35-Jährigen?
Eine wichtige Aufgabe des Forschungsprojekts wurde es, ohne theoretische Festlegung und entlang qualitativer und quantitativer empirischer Befunde die unterschiedlichen Erscheinungen von solidarischen Orientierungen und solidarischen Handlungsformen zu identifizieren und in ihrem jeweiligen sozialen und gesellschaftspolitischen Kontext zu explizieren. Die obigen Überlegungen sind deshalb nicht als theoretische Festlegungen zu verstehen, sondern als ein ‚theoretisches Netz‘, das als Grundlage für die empirische Analyse gedient hat.
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1 Lebensführung und solidarisches Handeln unter Modernisierungsdruck
1.4 Milieu und Feld als Handlungsräume und Handlungsprämissen Bei den bisher dargestellten Konzepten der Lebensführung, des solidarischen Handelns und der Orientierungen kann man sich auf das Individuum beschränken und sie nur als individuelle Besonderheiten betrachten. Handeln ist aber nicht nur ein individueller Akt, sondern es ist immer sozial koordiniert. Deshalb werden Konzepte gebraucht, die den sozialen Kontext in den Blick nehmen. Die in der Soziologie dominierenden Begriffe wie Schicht und Klasse wurden inzwischen durch die Begriffe Milieu und Feld ergänzt, um der zunehmenden sozialen Differenzierung gerecht zu werden. Milieus und soziale Felder setzen nicht nur sozioökonomische Bedingungen für die Handelnden, sondern sie stellen auch Handlungsräume und damit Handlungsmöglichkeiten dar. Milieu und Feld begrenzen und regulieren das individuelle Handeln. Die sozialen Felder ermöglichen die Entwicklung verschiedener Milieus und stellen damit den umfassenderen Rahmen dar. Die erste empirische Milieustudie führte 1979 das Heidelberger SinusInstitut durch. Es orientierte sich dabei an dem Ansatz Pierre Bourdieus, der schon vorher mit dem Begriff des sozialen Feldes beziehungsweise des sozialen Raums operiert hatte. Es folgten nicht nur vom Sinus-Institut weitere Milieustudien, sondern auch von der Friedrich-Ebert-Stiftung (vgl. Neugebauer, 2007) sowie von der Forschungsgruppe um Michael Vester (vgl. Vester, TeiwesKügler & Lange-Vester, 2007). Hervorzuheben sind auch die Sigma-Studien von Ueltzhöfer (Frankenberger & Meyer, 2008). Der Milieuansatz ist bei diesen verschiedenen Forschungseinrichtungen ähnlich und auch ihre Ergebnisse sind nicht grundlegend verschieden. In das Projekt werden soziale Milieus in die Analyse mit einbezogen, da aus früheren Untersuchungen bekannt ist, dass junge Menschen nicht nur aus subjektiv-individuellen Motiven handeln, sondern die Lebensführung auch milieuspezifisch geprägt ist (Bibouche & Held, 2002: 184 f). Die Projektgruppe schließt sich der heute üblichen Definition von Milieu an, die unter sozialen Milieus „üblicherweise Gruppen Gleichgesinnter verstanden (hat), die jeweils ähnliche Werthaltungen, Prinzipien der Lebensgestaltung, Beziehungen zu Mitmenschen und Mentalitäten aufweisen“ (Hradil, 2006: 4). In diesem Sinn können verschiedene Diskursgemeinschaften ein Milieu konstituieren. Nach Stefan Hradil sind nur die kleineren Milieus Interaktionsgemeinschaften mit verstärkten Binnenkontakten und einem Wir-Gefühl. Die Milieus, die von den Milieuforschern beschrieben werden, sind in diesem Sinn keine Interaktionsgemeinschaften. Die jungen Menschen im Dienstleistungsbereich verorten sich in sozialen Feldern und werden darin verortet, die Milieus sind wiederum Bestandteile sozialer Felder. In einem sozialen Feld können verschiedene soziale Milieus
1.4 Milieu und Feld als Handlungsräume und Handlungsprämissen
33
vorhanden sein. Je nachdem, welchen Handlungsraum jemand betritt, werden bestimmte soziale Felder für sein Handeln relevant, gleichzeitig kann sich der Einzelne auch in verschiedenen Milieus bewegen. „Die Grenzen zwischen sozialen Milieus (sind) fließend“ und „verändern sich im Laufe der Zeit“ (Hradil, 2006: 7). Die sozialen Felder determinieren nicht soziale Milieus und diese auch nicht die Individuen, es handelt sich vielmehr um eine „Vermittlungskette“, deren erstes Glied ein soziales Feld und deren letztes das individuelle Subjekt darstellt (Vester, 2006: 11). Das einzelne Subjekt verfügt also in seiner alltäglichen Lebensführung durch die Milieus über unterschiedliche soziale Möglichkeitsräume.
Regionales Feld • Baden-Württemberg • Berlin • Brandenburg
Berufsfelder
Verschiedene Milieus
• Gesundheitswesen • Banken / Versicherungen • Öffentlicher Dienst
Lebensformen
• IT-Branche
Subjekt
• Familie / Partnerschaft • Alleinstehend
Kulturelles Feld • Bildungsstand • Herkunft
Engagementfelder • in Organisationen • in informellen Gruppen
Abbildung 5
Soziale Felder
Die Projektgruppe unterscheidet bei den sozialen Feldern die Berufsfelder und speziell die Felder des Gesundheitswesens, der Banken und Versicherungen, des Öffentlichen Dienstes und der IT-Branche. Die Berufsfelder stehen in Wechselwirkung mit den anderen relevanten Feldern, wie z. B. den regionalen Feldern, in diesem Fall Baden-Württemberg und Berlin/Brandenburg; oder auch mit dem Feld der Organisationen, in denen sich junge Menschen engagieren, worunter die Gewerkschaften zu rechnen sind oder auch die Vereine sowie informelle Gruppen.
34
1 Lebensführung und solidarisches Handeln unter Modernisierungsdruck
Hinzu kommen kulturelle Felder, die durch Bildungsstand oder Herkunft geprägt werden. Bestimmte Bildungsschichten oder Einwanderungsgruppen bilden eigene Milieus. Es versteht sich von selbst, dass zwischen allen Feldern eine Wechselwirkung besteht, welche die besondere Differenzierung in kleinere Milieus erzeugt. Alter und Geschlecht moderieren die soziokulturellen Felder. In verschiedenen Bereichen hat sowohl die Trennung von verschiedenen Altersgruppen als auch die Geschlechtersegmentierung zugenommen. Deshalb wird Alter und Geschlecht auch in Beziehung zu sozialen Feldern und Milieus gesetzt. Durch die Einbettung der Milieus in die sozialen Felder wird die in Milieustudien vorherrschende Konzentration auf Freizeit und Konsum vermieden. „Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf Freizeit und Konsum, d. h. auf Muster des Denkens und Verhaltens, die der Erwerbsarbeit eher fern stehen“ (Hradil, 2006: 4). Junge Menschen werden heute nicht nur über Milieuzugehörigkeit definiert, sondern definieren sich auch selber über Milieus und Lebensstile. Deshalb können Milieustudien auch eine Bedeutung für subjektwissenschaftliche Studien haben. In diesem Sinne können sie auch zur Erklärung von Haltungen dienen, z. B. der Haltung zu gewerkschaftlicher Arbeit. Die Milieus determinieren aber nicht an sich das individuelle Handeln, sondern es hängt von der Person ab, welche Beziehung sie zu einem Milieu hat und ob sie sich milieuspezifisch definiert. Sie hat dafür jeweils ihre Gründe. Dieser subjektive Faktor begrenzt die Erklärung des Verhaltens durch das Milieu. Der Ansatz geht vom Feldbegriff von Bourdieu aus und unterscheidet Berufsfelder von kulturellen Feldern sowie von lebensformspezifischen Feldern und Engagementfeldern. Innerhalb der Felder bilden die Betroffenen spezifische Milieus und milieuspezifische Formen der Lebensführung. 1.5 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen An Gesellschaftsdiagnosen gibt es heute keinen Mangel. Allein schon die Bezeichnung für die gegenwärtige Gesellschaft fällt sehr unterschiedlich aus. Die einen sprechen von der Postmoderne und beziehen sich dabei mehr auf die Kultur und kulturell relevante Entwicklungen, die anderen sprechen von Postfordismus und beziehen sich dabei mehr auf die Sphäre der Produktion, wieder andere sprechen von Neoliberalismus und haben dabei den Markt als Bezugspunkt. Alle drei gesellschaftstheoretischen Ansätze sind für das Projekt von Bedeutung, da sie den Rahmen markieren, in dem das Handeln von jungen Menschen im Dienstleistungsbereich begriffen werden kann.
1.5 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
35
Spricht man von Postmoderne, so geht es z. B. um die Auflösung von verbindlichen Ideen und Traditionen, um die Flexibilisierung, die Verflüssigung sozialer Strukturen, die Pluralisierung von Lebensformen, Werten und Kulturen, die zunehmende Diskontinuität und Zerstreuung sowie die Individualisierung. All das spielt in Analysen zur Lebensführung eine Rolle, wie man an den Untersuchungen der Münchner Forschungsgruppe feststellen kann (z. B. Behringer 2007). Die Gesellschaftstheorie des Postfordismus konzentriert sich auf die neuen Tendenzen im Arbeitsbereich. Es geht dabei zum einen um die derzeitige permanente Umstrukturierung der Arbeit, die eine Verdichtung der Arbeit und Intensivierung mit sich bringt, außerdem eine Destandardisierung und Flexibilisierung, verbunden mit einer Entwertung von erworbenen Qualifikationen. Zum anderen werden Tendenzen zu Ökonomisierung beschrieben, die sich für die Beschäftigten als Entgrenzung von Arbeit und Leben darstellen und als Konkurrenz. Die Gesellschaftstheorie des Neoliberalismus konzentriert sich auf die Prekarisierung der Arbeit, die eine Entsicherung von Arbeit, eine Verminderung des Lebensstandards und der sozialen Sicherung mit sich bringt. Die Gesellschaftsdiagnose Neoliberalismus konstatiert eine Subjektivierung der Arbeit, bei der die Beschäftigten zu „Arbeitskraftunternehmern“ (Voß & Pongratz, 1998) werden und in der die Eigenverantwortung und die „kontrollierte Autonomie“ (Vieth, 1995) betont werden. Hinzu kommen Prozesse der Aktivierung und Beschleunigung (vgl. Dörre, Lessenich & Rosa, 2009) Die gesellschaftstheoretische Neoliberalismuskritik scheint für dieses Projekt besonders wichtig, da sie sich sehr gut auf die Besonderheiten der Lebensführung der jungen Menschen beziehen lässt. Im Titel dieses Projekts wird konstatiert, dass die jungen Beschäftigten unter „Modernisierungsdruck“ stehen, und gerade die Drucksituation scheint für die Situation der jungen Beschäftigten im Dienstleitungsbereich heute besonders charakteristisch. Sie beruht unter anderem auf Prekarisierung der Arbeit, Subjektivierung, Mangel an Anerkennung und Bedrohung durch Arbeitslosigkeit (vgl. Candeias, 2004; Dörre, 2008). Die heutigen gesellschaftlichen Bedingungen, die im Projekt durch die Begriffe „neoliberaler Modernisierungsdruck und Krise“ markiert werden, stellen ein weites Feld von theoretischen Ansätzen dar. Von den vielfältigen Konzepten, die wesentliche Aspekte heutiger Entwicklung erfassen, wurden für das Projekt diejenigen ausgewählt, die in Beziehung gesetzt werden zu Situation und Lage der unter 35-Jährigen.
36
1 Lebensführung und solidarisches Handeln unter Modernisierungsdruck
Ökonomisierung
Prekarisierung
Umstrukturierung
Subjektivierung
Abbildung 6
Theorien zum „Modernisierungsdruck“
Die Ökonomisierung des beruflichen und privaten Lebens wurde präziser als „Vermarktlichung“ (Kratzer, Menz, Nies & Sauer, 2008: 12 f.) bezeichnet, wobei die Anpassung an die schnellen Marktbewegungen zu dauernden betrieblichen Umstrukturierungen führt. Das marktgerechte Handeln erfordert eine hohe Flexibilität. Die Subjektivierung der Arbeit wurde von Martin Baethge als ökonomische Notwendigkeit diagnostiziert (Baethge, 1994). Sie bedeutet, dass immer mehr Subjektaspekte für die Arbeit erforderlich werden, die den Beschäftigten als zunehmende Autonomie und Selbstverwirklichung erscheinen können. Es handelt sich aber eher um „kontrollierte Autonomie“ (Vieth, 1995) und um „organisierte Selbstverwirklichung“ (Honneth, 2002). Alle diese Prozesse tragen auch zu einer Reduzierung von Normalarbeitsverhältnissen bei und erhöhen prekäre Beschäftigungsformen (Dörre, Kraemer & Speidel, 2006). Es gibt inzwischen eine breite Literatur zu den Veränderungen in der Arbeitswelt, aber nur wenige empirische Untersuchungen zur subjektiven Situation der jungen Beschäftigten. Viele Studien, die neue Tendenzen im Arbeitsbereich analysieren, so auch die des Münchner Lebensführungsprojekts, analysieren neue gesellschaftliche Entwicklungen in Arbeits- und Privatsphäre und schließen dann unmittelbar auf subjektive Tendenzen bei den jungen Beschäftigten. Das hat eine gewisse Tradition seit dem Individualisierungstheorem von Ullrich Beck, bei dem auch schon unklar war, ob es sich um eine strukturelle oder eine subjektbezogene Diagnose handelt (Beck, 1986). Im Unterschied dazu wird hier im Folgenden – wie schon erwähnt – nicht von einer Arbeits- und Gesellschaftsanalyse ausgegangen, sondern von der Selbstdefinition der jungen Beschäftigten, und diese wird vor ihrem gesellschaftlichen Hintergrund interpretiert.
2.1 Qualitative und quantitative Methoden in Kombination
37
2 Forschungsdesign und empirische Methoden
2.1 Qualitative und quantitative Methoden in Kombination Das Projekt U35 ist gekennzeichnet durch eine Vielfalt der Methoden. Neben einer umfangreichen Fragebogenerhebung (Survey) wurden qualitative Leitfadeninterviews und Focus Groups mit den jungen Beschäftigten durchgeführt; zusätzlich wurden die Untersuchungen durch ethnographische Beobachtungen begleitet und ergänzend kamen Experten/innen-Interviews mit Personalräten und Psychotherapeuten/innen hinzu.
Abbildung 7
Forschungsdesign
J. Held et al., Was bewegt junge Menschen?, DOI 10.1007/978-3-531-92826-5_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
38
2 Forschungsdesign und empirische Methoden
Das Forschungsdesign ist auf die Bedürfnisse der Praxis abgestimmt, d. h., dass sowohl die Befragten als auch die Organe der Mitbestimmung ein praktisches Interesse an einer Kombination von quantitativer Umfrage und offenen qualitativen Interviews sowie Diskussionsmöglichkeiten in den Focus Groups hatten. Für die Befragten stellte die Teilnahme an der Untersuchung eine wichtige Chance dar, über ihre Situation nachzudenken; für die Interessenvertreter/innen waren perspektivisch vor allem die Ergebnisse wichtig. Die Vielfalt der Methoden hat es erlaubt, ein dichtes Netz von Kontakten aufzubauen. Die verschiedenen Methoden unterstützen sich gegenseitig und werden so der Komplexität der Fragestellung „Was bewegt die unter 35-Jährigen?“ gerecht. Die Kombination aus quantitativen und qualitativen Methoden beinhaltete nicht, dass die Daten qualitativ erhoben und quantitativ ausgewertet werden. Vielmehr war bei ihrer kombinierten Anwendung die jeweilige Logik einer Methode zu beachten. Quantitative statistische Forschung bedeutet Hypothesenprüfung, also letztlich das Testen von Theorien. Dagegen strebt qualitative Forschung eher induktiv die Erzeugung oder Veränderung von Theorien an. Die Erfahrung mit quantitativer Forschung ist allerdings, dass auch im statistischen Auswertungsprozess neue Hypothesen und Theorien entstehen können, die vorher nicht im Auswertungsplan standen. Empirisch-statistisch gefundene Zusammenhänge können außerdem nicht nur – wie üblich – als Ursache-WirkungsBeziehungen interpretiert werden, sondern – ähnlich wie in der qualitativen Methodik – auch als Prämissen-Gründe-Zusammenhänge. Die Kombination von quantitativen und qualitativen Methoden folgt in diesem Projekt primär dem sogenannten Vertiefungsmodell, d. h., dass qualitative Methoden quantitative Ergebnisse vertiefen. Im Auswertungsprozess kam es gelegentlich auch zum umgekehrten Weg, nämlich, dass qualitative Ergebnisse zu neuer statistischer Hypothesenprüfung angeregt haben. Dies entspricht dem sogenannten Verallgemeinerungsmodell. Außerdem lassen sich beide Methodenarten im Rahmen der Auswertungsstrategie der „Grounded Theory“ (Strauss, 1991: 26) aufeinander beziehen. Wegen der relativen Gleichwertigkeit und Selbstständigkeit der beiden Methodenarten kann man auch von einer Variante der „Triangulation“ sprechen (Flick, 2004) bzw. von einem „Multi-Method-Design“ (Morse, 2003). Der Fragebogen für die Umfrage bei den jungen Beschäftigten unter 35 Jahren in Baden-Württemberg und Berlin/Brandenburg wurde von der Forschungsgruppe selbst konstruiert. Dazu wurden zuerst in einer Pilotstudie offene Interviews mit unter 35-Jährigen im Dienstleistungsbereich durchgeführt. Auf Grundlage der dabei gewonnenen Erfahrungen erfolgte eine Revision der vorläufigen Fragensammlung. Die Befragten entwickelten dabei ihre eigenen Stellungnahmen,
2.2 Beschreibung der Forschungsinstrumente
39
die in die Revision eingingen. Die endgültige Form des Fragebogens war im April 2008 fertig. 2.2 Beschreibung der Forschungsinstrumente Das von der Forschungsgruppe für das Forschungsvorhaben konstruierte Fragebogeninstrument ist aufgeteilt in 5 Bereiche: 1. 2. 3. 4. 5.
Lebenssituation Arbeitssituation Lebensführung Solidarität Angaben zur Person
Bei Lebenssituation und Arbeitssituation liegt ein Schwergewicht auf den Belastungen, die eventuell aufgetreten sind. Bei den Fragen zur Lebensführung spielen auch begleitende Orientierungen eine Rolle. Der Bereich des solidarischen Handelns besteht aus einer ganzen Reihe von Items. Mithilfe der Faktorenanalyse wurden die Items bestimmt, die zusammen einen Faktor bilden. Auf dieser Basis wurden 25 Skalen bzw. Indizes konstruiert, in denen die Einzelfragen des gesamten Fragebogens zusammengefasst wurden. Zu allen diesen Indizes wurde eine Itemanalyse durchgeführt. Die zu einem Index gehörenden Items definieren den Index, d. h., sie charakterisieren seine inhaltliche Bedeutung. Alle Indizes sind mit ihren jeweiligen Items im Anhang aufgeführt. Die 25 Indizes liegen z. T. quer zu den fünf Bereichen des Fragebogens, die in folgende Bereiche aufgeteilt wurden:
Lebensorientierung (7 Indizes) Berufsorientierung (4 Indizes) Berufs- und Lebenssituation (5 Indizes) Modernisierungsdruck (3 Indizes) Solidarisches Handeln (6 Indizes)
Jeder Index besteht aus einer Reihe von Fragebogenfragen, sogenannten Items, die in die gleiche Richtung weisen und deren Zusammenhang auch in der Itemanalyse bestätigt werden konnte.
40
2 Forschungsdesign und empirische Methoden
Indizes zur Lebensführung Die obigen Bereiche „Lebensorientierung“ und „Berufsorientierung“ sind Aspekte der Lebensführung. Da mithilfe von Fragebogen-Indizes nicht im Detail erfasst werden kann, wie die jungen Menschen genau ihr Leben führen, was sie also tagtäglich machen, wurde vor allem erfragt, wie sie ihre Lebensführung allgemein ausrichten bzw. von welchen Orientierungen sie geleitet werden. Orientierung ist ein funktionaler Bestandteil der Lebensführung, sie charakterisiert die Lebensführung und kann sie z. T. sogar erklären, d. h., sie verweist sozusagen auf die allgemeine Ausrichtung der Lebensführung. Die Lebensorientierung kann gemeinschaftsorientiert sein, d. h. vor allem auf Freunde und Gemeinschaft bezogen sein. Entsprechend enthält der Index „Gemeinschaftsorientierung“ Fragen zur Wichtigkeit von Freunden und zur Einbindung in eine Gemeinschaft (die einzelnen Items dazu finden sich jeweils im Anhang). Die Lebensführung kann aber auch „ich-orientiert“ sein, d. h., die Person sieht sich selbst als Gestalter des eigenen Lebens. Hier lautet das Motto: „Wie mein Leben verläuft, hängt hauptsächlich von mir selbst ab“. Die Bezeichnungen Gemeinschaftsorientierung und Ich-Orientierung verweisen auf unterschiedliche Stile der Lebensführung, bei denen eher die Gemeinschaft oder die eigene Person im Mittelpunkt steht. Es kann aber auch eine bestimmte Gemeinschaft im Mittelpunkt stehen, nämlich die Familie. Das wird durch den Index „Familienorientierung“ erfasst. Die Ausrichtung der Lebensführung kann außerdem autoritär bzw. autoritätsfixiert sein. Es wurde versucht, dies mit einem „Autoritarismus“-Index zu erfassen. Gehorsam, Anpassung und Orientierung an Regeln sind dabei wichtige Elemente. Die dazugehörenden Items im Fragebogen wurden in Anlehnung an das Autoritarismuskonzept von Theodor Adorno formuliert. Dieses Konzept wurde aufgenommen, weil die Vermutung bestand, dass unter den heutigen Bedingungen die Bedeutung von Autoritäten zunimmt und die Lebensführung wieder stärker durch Einordnung und Unterordnung geprägt wird. Gerechtigkeit kann eine Richtschnur für die eigene Lebensführung darstellen; gleichzeitig ist es aber auf Dauer nicht leicht zu ertragen, dass Ungerechtigkeit in der Welt, in der Gesellschaft dominiert. Einen Ausweg aus diesem Dilemma stellt subjektiv der „Gerechte-Welt-Glaube“ dar, der postuliert, dass es auf der Welt im Allgemeinen gerecht zugeht und der die Ungerechtigkeit zur Ausnahme erklärt. Die Folge ist, dass man sich auch nicht gegen Ungerechtigkeit stellen muss. Das drückt der Index „Gerechte-Welt-Glaube“ aus. Die Items und das Konzept wurden von der Psychologin Claudia Dalbert übernommen (vgl. Dalbert 1992; 1993).
2.2 Beschreibung der Forschungsinstrumente
41
Ähnlich ist es wohl mit der Zufriedenheit. Wenn junge Menschen heute sich rundum zufrieden geben, so kann dahinter stehen, dass sie zufrieden sein müssen. Der Index „Zufriedenheit“ erfasst diese zur Schau gestellte Zufriedenheit in allen Lebensbereichen, d. h., die Zufriedenheit mit der finanziellen Lage, der Wohnsituation, der Freizeitsituation, der Arbeitssituation, die Zufriedenheit mit dem Lohn und mit der Bewältigung der alltäglichen Aufgaben. Dem steht der Index „Zukunftsangst“ gegenüber, der Ängstlichkeit, mangelnde Zuversicht und Beunruhigung über die unsichere Zukunft mit speziellen Items zu erfassen versucht. Die zweite wichtige Komponente der Lebensführung, die Berufsorientierung, umfasst vier Indizes, nämlich die Wichtigkeit der Selbstverwirklichung im Beruf, der Identifizierung mit der Arbeit, des guten Arbeitsklimas und der Karriere. Der Index „Selbstverwirklichung im Beruf“ enthält ein Item zur Wichtigkeit von Selbstverwirklichung und eines zur beruflichen Erfüllung. Der Index „Identifizierung mit der Arbeit“ scheint auf den ersten Blick etwas Ähnliches zu erfassen; sieht man sich aber die zugeordneten Items an, dann erkennt man, dass es eher um Selbstbestimmung, engagiertes Arbeiten und Verbundenheit mit dem Beruf sowie der Firma/Einrichtung geht. Die Lebensführung ist hier durch den persönlichen Einsatz im Beruf bestimmt. Im Index „Gutes Arbeitsklima“ geht es um die Wichtigkeit der Qualität der Arbeitsbedingungen. Wenn jemand besonderen Wert legt auf gute Arbeit, Mitbestimmung und das Betriebsklima, dann betont er/sie die soziale Komponente seiner/ihrer auf den Beruf bezogenen Lebensführung. Im Index „Karriere-Orientierung“ wird dagegen eher die materielle Seite der beruflichen Lebensführung betont, nämlich u. a. Gehalt und Aufstiegschancen. Die Konzepte zu den obigen elf Indizes zur Lebens- und Berufsorientierung sind nicht beliebig ausgewählt worden, sondern sie ergaben sich aus den offenen Interviews der Voruntersuchung mit jungen Beschäftigten unter 35 und aus dem Forschungsstand zur jungen Generation (siehe Teil A, 1.1). Das gilt auch für die nachfolgenden Indizes. Indizes zur Berufs- und Lebenssituation In der Literatur wird vielfach auf die „Entgrenzung der Arbeit“ hingewiesen. Der dazu entwickelte Index „Entgrenzung der Arbeit“ enthält Fragen zum Gleichgewicht von Leben und Arbeiten, zur Beeinträchtigung des Privatlebens durch die Arbeit, zur Weiterarbeit zu Hause sowie zur Abstimmung von Arbeit und
42
2 Forschungsdesign und empirische Methoden
Privatleben. Die Grenzen der beruflichen Arbeit sind hier also aufgehoben zu Ungunsten der Freizeit und Privatsphäre. Die Arbeitssituation wird auch durch berufliche Interessen bestimmt. Deshalb findet sich auch ein Index „Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung“. Hier wird danach gefragt, ob man zur Durchsetzung der eigenen beruflichen Interessen gewerkschaftliche Arbeit, den Betriebsrat und/oder spontane Protestformen für sinnvoll hält. Die Arbeits- und Lebenssituation kann geprägt sein durch Routinen und/ oder durch Rituale. Dies erfasst der Index „Alltägliche Routine und Rituale“. Zwar gibt es einen wesentlichen Unterschied in der Bedeutung von Routine und Ritual, die Itemanalyse ergab jedoch eine hohe Korrelation zwischen diesen beiden Items. Eine wichtige Frage war in dem Projekt, ob die jungen Beschäftigten Anerkennung für ihre Arbeit erfahren. Differenziert wurde in dem Index „Anerkennung in der Arbeit“ zwischen Kollegen und Vorgesetzten. Bei dem Index „Anerkennung in persönlichen Beziehungen“ geht es auch um die Anerkennung der Arbeit, aber nicht durch Kollegen und Vorgesetzte, sondern durch Familie und/ oder Kunden/Klienten. In diesem Index findet sich auch ein Item, das nach der persönlichen Wichtigkeit der Anerkennung der Arbeit insgesamt fragt. Indizes zum Modernisierungsdruck Die Indizes zum Modernisierungsdruck enthalten alle die Items, die auf einen Druck hinweisen, unter denen sich der/die Befragte fühlt. Der Index „Zeitdruck“ enthält eine Reihe von Fragen danach, ob die Befragten zu wenig Zeit haben für Freizeitaktivitäten, für Familie/Partner, für Freunde, für soziale Kontakte und/oder für sich selbst. Zusätzlich wird direkt gefragt, ob sie mit der Anforderung Zeitdruck an ihrem Arbeitsplatz umgehen müssen. Der Index erfasst also eine durchschnittliche Zustimmung oder Ablehnung zur Frage nach dem Zeitdruck. Ein weiterer Druck-Index erfasst den „Druck in der Arbeit“. Hier wird danach gefragt, ob sich der/die Betreffende überlastet fühlt durch die Anforderungen und/oder durch die Vorgesetzten und/oder durch Konkurrenz, sowie danach, ob sich der Leistungsdruck negativ auf die Qualität der Arbeit ausgewirkt hat. Bei dem dritten Druck-Index geht es um den „psychischen Druck“ bzw. um die psychischen Folgen des erlebten Drucks. Hier wird danach gefragt, ob sich die Befragten in letzter Zeit erschöpft, niedergeschlagen, gehetzt und/oder gestresst fühlen. Hinzu kommt eine Frage danach, ob sie die erhöhte Eigen-
2.2 Beschreibung der Forschungsinstrumente
43
verantwortung, die neuen Lebensmöglichkeiten und den Entscheidungsdruck eher als Offenheit und Freiheit oder eher als Verunsicherung und Belastung empfinden. Indizes zum solidarischen Handeln Ein wichtiges Ziel des Projekts war es zu erforschen, welche Bedeutungen Solidarität und solidarisches Handeln für die jungen Beschäftigten heute haben. Dazu wurden – auf der Basis einer Pilotstudie – zahlreiche Fragen entwickelt, die viele mögliche Aspekte von Solidarität erfassen können. Durch eine Faktorenanalyse und eine Itemanalyse wurden dann empirisch die Dimensionen des Solidaritätsverständnisses ermittelt. Zu jeder Dimension wurde ein Index gebildet, der diejenigen Fragen enthält, mit denen die Dimension erfasst werden kann. Insgesamt entstanden so die folgenden fünf Indizes:
Index „Unterstützung in Notsituationen“ Index „Allgemeines soziales Verantwortungsgefühl“ Index „Aktive Arbeitnehmer/innen-Solidarität“ Solidarität im privaten Umfeld Solidarismus
Da im Kapitel 3.3 genau auf diese Indizes und auch auf die zu ihnen gehörenden Items eingegangen wird, braucht das an dieser Stelle nicht ausgeführt zu werden. Für die qualitativen Interviews mit den jungen Beschäftigten im Dienstleistungsbereich wurde ein Leitfaden konstruiert, der Impulsfragen enthält, die sich an den Themen des Fragebogens orientieren. Fragebogen und Interview sind also auf diesem Weg miteinander koordiniert. Auch für die Focus Groups konstruierte die Projektgruppe ein Leitschema:
44
Abbildung 8
2 Forschungsdesign und empirische Methoden
Leitschema für Focus Group
Die Experten/innen-Interviews mit Personalräten und Psychotherapeuten/innen wurden sehr offen durchgeführt, d. h. ohne Leitfaden, sie orientierten sich thematisch jedoch auch an der Aufteilung im Fragebogen. Gefragt wurde dabei nach den Erfahrungen, die diese Experten/innen mit den jungen Beschäftigten zwischen 25 und 35 Jahren gemacht haben. Die Interviews mit den Psychotherapeuten/innen waren ursprünglich nicht vorgesehen, erwiesen sich aber nach den Befragungen der jungen Beschäftigten als sinnvolle und notwendige Ergänzung. Es konnte nämlich beobachtet werden, dass im direkten Interview mit den jungen Beschäftigten häufig die Tendenz bestand, die eigene Situation positiv darzustellen und immer wieder zu betonen, dass es keine Probleme gäbe. Diese Tendenz hat sicher einen Grund darin, dass die Interviewer/innen, bestehend aus den Mitarbeiter/innen des Projekts und Studierenden, die Befragten nicht gut kannten. Hinzu kam, dass offenbar heute die Tendenz und z. T. sogar die subjektive Notwendigkeit bei den jungen Menschen besteht, sich immer positiv darzustellen. Dieser Bias war im Rahmen der Interviews nicht zu korrigieren. Die Projektgruppe entschloss sich deshalb, mit Psychotherapeut/innen Kontakt aufzunehmen, die speziell mit 25- bis 35-Jährigen aus dem Dienstleistungsbereich Erfahrungen haben. Es wurden zwei solche Interviews in Tübingen und eines in Berlin durchgeführt. Die Experten/ innen-Interviews mit diesen Psychotherapeuten/innen erwiesen sich als sehr fruchtbar. Auch die Interviews mit den Betriebsräten und Vertrauensleuten ergaben zusätzliche Informationen. Der Untersuchungszeitraum erstreckte sich weit über ein Jahr (von Anfang 2008 bis Oktober 2009) und beinhaltete eine intensive Kommunikation sowohl mit den jungen Beschäftigten als auch mit den Experten/innen. Es wurde dabei
2.3 Beschreibung der Stichprobe
45
die Erfahrung gemacht, dass die jungen Beschäftigten es begrüßten, dass sie selbst über ihre eigene Situation im Rahmen eines solchen Interviews oder einer Focus Group nachdenken konnten und dass das zur Klärung ihrer eigenen Situation beigetragen hat. 2.3 Beschreibung der Stichprobe Wie schon in der Einführung erwähnt, wurden insgesamt 1298 junge Menschen in vier Dienstleistungsbranchen mit einem quantitativen Fragebogen befragt, zusätzlich 43 Leitfadeninterviews und sechs Focus Groups durchgeführt. Hinzu kommen noch drei offene Experten/innen-Interviews mit Psychotherapeuten/innen. Eine wesentliche Begründung für den Projektantrag bestand darin, dass die 25- bis 35-Jährigen im Dienstleistungsbereich als eine besondere Gruppe wahrgenommen wurden, die sich von anderen Gruppen unterscheidet. Personalräte, Vertrauensleute und Gewerkschafter/innen hatten die Erfahrung gemacht, dass diese Gruppe nur sehr schwer für die Mitbestimmung zu gewinnen ist, sich von öffentlichen Angelegenheiten eher fern hält und dass das früher anders gewesen wäre und bei den Jüngeren anders ist. Da es sich dabei um nicht gesicherte, sondern punktuelle Erfahrungen handelt, ist es auch eine Aufgabe des Projekts festzustellen, inwiefern diese Gruppe der 25- bis 35-Jährigen sich von den Jüngeren unterscheidet. Deshalb wurden in die Stichprobe bei der quantitativen Umfrage 207 unter 25-Jährige einbezogen, die mit dem gleichen Fragebogen befragt wurden, um einen Vergleich mit den 25- bis 35-Jährigen zu ermöglichen. Zusätzlich wurden noch 52 über 35-Jährige befragt. Ende 2008 wurden 947 junge Beschäftigte im Dienstleistungsbereich befragt. An dem geplanten Ende des Befragungszeitraums im Oktober 2008 brachen die großen Turbulenzen der Finanz- und Wirtschaftskrise aus und für das Projekt entstand die Frage, welche Bedeutung diese Ereignisse für die jungen Beschäftigten haben. Die Projektgruppe entschloss sich zu einer Fortführung der Befragungen im Zeitraum von Januar bis Oktober 2009. Bis Ende 2009 wurden zusätzlich 351 Beschäftigte in den gleichen Branchen befragt. Bei den Umfragen in Baden-Württemberg und Berlin/Brandenburg konnte sich die Projektgruppe an den Populationsquoten aus Bevölkerungsstatistiken für die Dienstleistungsbereiche orientieren, die untersucht werden sollten (Gesundheitswesen, Banken/Versicherungen, Öffentlicher Dienst und IT-Branche). Dabei musste aber festgestellt werden, dass die Einteilung in die vier Sparten je nach statistischem Amt unterschiedlich gehandhabt wurde. Deshalb wurde die Erhebung innerhalb der Branchen auf relativ homogene Untergruppen be-
46
2 Forschungsdesign und empirische Methoden
schränkt; so im Gesundheitswesen auf Krankenpfleger und Krankenschwestern in Krankenhäusern, im Öffentlichen Dienst auf Kommunalbeschäftigte in der Verwaltung sowie Kindergärtnerinnen und im IT-Bereich hauptsächlich auf die Branchenführer. Bei Banken/Versicherungen konzentrierte sich die Untersuchung auf junge Angestellte in den Banken, d. h., sie sind hier stärker vertreten als die in den Versicherungen. Insgesamt setzt sich diese Stichprobe der 25- bis 35-Jährigen (also ohne die unter 25-Jährigen und ohne die über 35-Jährigen) aus den folgenden Proportionen in den vier Branchen zusammen: Tabelle 1
Gültig
Stichprobe der 25- bis 35-Jährigen (Branchen) Häufigkeit
Gültige Prozente
1 = Banken/Versicherungen
282
31,9
2 = IT-Bereich
131
14,8
3 = Öffentlicher Dienst
265
30,0
4 = Gesundheitswesen
206
23,3
Gesamt
884
100,0
Es ist schwierig, eine repräsentative Stichprobe für Baden-Württemberg und Berlin/ Brandenburg herzustellen, die Projektgruppe hat es aber versucht durch die Branchenquoten, durch Kontrolle von sozialstatistischen Merkmalen, wie z. B. Geschlecht, und durch Clusterbildung. Auf diese Weise konnten insgesamt 884 junge Menschen zwischen 25 und 35 Jahren den beiden Regionen zuordnet werden. Die Stichprobe kann keine Repräsentativität für Deutschland beanspruchen, jedoch werden Verallgemeinerungen über die zwei Bundesländer hinaus dadurch versucht, dass bei nicht vorhandenen Unterschieden zwischen den zwei strukturell sehr unterschiedlichen Regionen darauf geschlossen wird, dass die Ergebnisse auch darüber hinaus gelten. Gerade deshalb wurden ja sehr unterschiedliche Bundesländer in die Untersuchung einbezogen. Detailliertere Angaben zur Zusammensetzung einzelner Gruppen folgen in den entsprechenden Ergebniskapiteln des Teil B.
2.4 Auswertung Tabelle 2
Gültig
Fehlend
47
Stichprobe der 25- bis 35-Jährigen (BW/BB) Häufigkeit
Prozent
Gültige Prozente
1 = Baden-Württemberg
664
71,2
75,4
2 = Berlin/Brandenburg
217
23,3
24,6
Gesamt
881
94,4
100,0
Nicht zuordenbar
52
5,6
933
100,0
Gesamt
2.4 Auswertung Die Projektgruppe verfolgte zwei verschiedene Auswertungsstrategien. Zum einen wurde eine themenzentrierte Auswertung verfolgt, zum anderen wurde eine Auswertung durchgeführt, die sich an den verschiedenen sozialen Feldern und sozialen Gruppen orientiert. Die erste Auswertungsstrategie bezieht sich auf Themen, die eine besondere Wichtigkeit für die Gesamtuntersuchung haben (siehe Kapitel 1 bis 3 im Teil B). Hier erfolgt eine intensive Auswertung in Bezug auf Lebensführung und solidarisches Handeln, sowie die Lebens- und Arbeitssituation. Dabei wurden verschiedene Formen der Lebensführung und des solidarischen Handelns herausgearbeitet und jeweils die spezifischen subjektiven Voraussetzungen dieser Handlungsformen analysiert. Die Lebens- und Arbeitssituation wird aus der Sicht der jungen Beschäftigten rekonstruiert und dabei dann auch gefragt, inwiefern eine Drucksituation besteht. Diese subjektive Wahrnehmung der Betroffenen wird dann in Beziehung gesetzt zu den verschiedenen soziologischen Diagnosen heutiger Lebens- und Arbeitssituationen. Für die zweite Auswertungsstrategie, die Auswertung nach sozialen Feldern bzw. Gruppen, wurden insgesamt vier Felder bestimmt, nämlich: 1. 2. 3. 4.
das Feld der Organisationen bzw. das Engagementfeld, das Berufsfeld, das regionale Feld, das kulturelle Feld, in dem Bildung und Herkunft eine große Rolle spielen.
48
2 Forschungsdesign und empirische Methoden
Geschlecht und Alter verweisen auf bestimmte soziale Gruppen und stellen zusätzlich Moderatorvariablen dar und werden daher auch eigenständig ausgewertet. Die Felder wurden getrennt voneinander ausgewertet, wobei der Projektgruppe bewusst war, dass innerhalb jedes Feldes verschiedene Milieus berücksichtigt werden müssen und dass die einzelnen jungen Beschäftigten zwischen verschiedenen Feldern und Milieus wechseln. Trotzdem kann man sie danach fragen, wie es in ihrem Berufsfeld aussieht, wie sie ihr regionales Feld sehen usw. Diese Strukturierung der Auswertung nach sozialen Feldern ist relativ stark quantitativ orientiert. Beabsichtigt ist jedoch – soweit es geht – dass jeweils an Einzelfällen deutlich gemacht wird, welche Problemlagen in einem sozialen Feld bedeutsam sein können. Es wurden bei der qualitativen Analyse zwei Auswertungsperspektiven verfolgt: eine vertikale und eine horizontale. Bei ersterer handelt es sich um einzelfallbezogene Analysen, bei letzterer um Querauswertung. Bei der Querauswertung wurden alle Interviews thematisch kodiert und dann für die Interpretation nach Codes sortiert. Dadurch entstehen thematische Einheiten und zu jeder Einheit ein Pool von Interview-Ausschnitten. Die Kodierungen wurden mit dem Computerprogramm „AQUAD“ (Analyse qualitativer Daten) von Günther Huber erstellt. Die so erstellten thematischen Einheiten werden im Sinne von Begründungsmustern interpretiert. Bei der Einzelfallauswertung wurden einzelne Interviewte für sich ausgewertet und dann in Vergleich zu anderen gesetzt (vgl. Held, 2001). Sowohl bei der Auswertung nach sozialen Feldern als auch nach inhaltlichen Thematiken werden theoretische Erkenntnisse mit der einschlägigen Literatur vermittelt und zwar jeweils an der entsprechenden Stelle, so dass keine eigenen Theoriekapitel zusätzlich zu den theoretischen Erörterungen im Teil A nötig sind.
2.4 Auswertung
49
B Was bewegt die jungen Beschäftigten?
Auf die Fragestellung des Projekts „Was bewegt junge Menschen unter 35 im Dienstleistungsbereich?“ kann es keine einfache Antwort geben. Dafür sind die jungen Menschen unter 35 im Dienstleistungsbereich zu unterschiedlich. Dass die jungen Beschäftigten in vielfältiger Weise gespalten sind und dass je nach sozialem Feld und sozialen Merkmalen unterschiedliche Antworten auf die Ausgangsfrage gefunden werden müssen, wurde im Auswertungsprozess immer deutlicher. Ein generelles Generationsportrait verbietet sich deshalb. Diese Erkenntnis hat auch die Gliederung im vorliegenden Buch beeinflusst. Zu Beginn wird im Kapitel 1 der Frage nachgegangen, ob die 25- bis 35-Jährigen eine eigene Altersgruppe bilden, die sich von den Älteren und den Jüngeren unterscheidet. Schon hier wird deutlich, dass sie keine homogene Gruppe bilden, sondern verschiedene Differenzlinien in der Analyse beachtet werden müssen. In den darauf folgenden zwei Kapiteln 2 und 3 geht es um Lebensführung und solidarisches Handeln. Hier wird allgemein herausgearbeitet, welche Orientierungs- und Begründungsmuster junge Menschen im Dienstleistungsbereich entwickeln und wie sie auf dieser Grundlage ihr Leben zu gestalten versuchen. Es geht im vorliegenden Projekt nicht um die „alltägliche Lebensführung“, im Sinne von üblichen Tagesabläufen (vgl. Kudera & Voß, 2000a), sondern um die durch allgemeine Orientierungen geleiteten Formen der Lebensführung und ihre Begründungen. Dieser erweiterte Begriff von Lebensführung, der auch den Aspekt der Zukunftsperspektive und das solidarische Handeln einschließt, wurde im Teil A dargelegt, er liegt der Datenanalyse zu Grunde. In den Kapiteln 4 und 5 werden die nötigen sozialen Differenzierungen vorgenommen. Unterschieden werden Engagementfelder, Berufsgruppen, Regionen, Bildungs- und Herkunftsmilieus und die Besonderheit von Lebensführung, Orientierung und solidarischem Handeln junger Frauen. Im darauf folgenden Kapitel 6 wird in einer vertiefenden Analyse anhand von Interviews mit Psychotherapeuten/innen nach den Hintergründen von bestimmten Formen der Lebensführung gesucht.
2.4 Auswertung
51
1 Die Besonderheit der 25- bis 35-Jährigen
Die Altersstufe der 25- bis 35-Jährigen wird in der Entwicklungspsychologie als das frühe Erwachsenenalter bezeichnet. Folgende Entwicklungsaufgaben wurden für dieses Alter ermittelt:
„die bewusste Auseinandersetzung mit dem Spannungsverhältnis von Freiheiten, Zwängen sowie Pflichten im Beruf und die sich darin ausbildende Fähigkeit zum autonomen Handeln, die ebenso bewusste Auseinandersetzung mit dem Spannungsverhältnis von Beruf, Familie sowie Freizeit und die Integration der Lebenssphären“ (Hoff, 1998: 438). „Das frühe Erwachsenenalter ist eine Zeit der Entwicklung in Beziehung. Partnerwahl, das Leben von Partnerschaft und Elternschaft sind die Themen, die das Leben junger Erwachsener im Familienzyklus bestimmen“ (Olbrich & Brüderl, 1998: 396).
Diese Entwicklungsaufgaben sind heute nicht leicht zu erfüllen. Beruf und Familiengründung verschieben sich oft in das mittlere Erwachsenenalter, gleichwohl sind sie wichtige Themen für die 25- bis 35-Jährigen. Für die unter 25-Jährigen sind diese noch weit weg, in einer unbestimmten Zukunft. Es gibt eine Reihe von Surveys zu den jungen Menschen unter 35 Jahren, wobei meist von der jungen Generation gesprochen wird, in die alle ab 16 Jahren einbezogen werden. Da im Dienstleistungsbereich Betriebsräte und Gewerkschafter/innen von besonderen Problemen der 25- bis 35-Jährigen berichtet hatten, wurde untersucht, ob sich diese Gruppe von den Jüngeren und den Älteren unterscheidet. Gibt es tatsächlich markante Unterschiede zwischen den 25- bis 35-Jährigen und den unter 25-Jährigen sowie den über 35-Jährigen im Dienstleistungsbereich? Für diese Fragestellung wurden 2008 und 2009 zusätzlich 344 junge Arbeitnehmer/innen im Alter unter 25 Jahren befragt sowie 52 über 35 Jahren.
J. Held et al., Was bewegt junge Menschen?, DOI 10.1007/978-3-531-92826-5_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
52
1 Die Besonderheit der 25- bis 35-Jährigen
Arbeits- und Lebensverhältnisse Vergleicht man die Arbeits- und Lebenssituation der unter 25-Jährigen (U25) mit der über 25-Jährigen (Ü25), so finden sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten: Der Familienstand ledig ist in beiden Altersgruppen sehr hoch, bei den U25 sind es 97 %, bei den Ü25 immerhin noch 73 %. Allerdings leben die Ü25 häufiger mit Partner (40 %) als die U25 (26 %), auch leben sie häufiger mit Partner und Kind(ern) (16 %/1 %). Nur 19 % der 25- bis 35-jährigen Befragten haben Kinder. Hinzu kommt, dass von den U25 noch 26 % bei den Eltern wohnen, während das bei den Ü25 selten ist (6 %). Das sind für das Alter charakteristische Unterschiede, allerdings ist der Prozentsatz der Paare mit Kindern bei den Ü25 so niedrig (16 %), dass man Unterschiede zu den U25 nicht mit den Problemen junger Familien erklären kann. Interessant ist, dass in beiden Altersgruppen gleich viele (30 %) alleine leben. In Wohngemeinschaften leben jeweils nur wenige (7 %/8 %). Das weist darauf hin, dass wohl in den Lebensstilen wenige Unterschiede zwischen den U25 und den Ü25 bestehen. Auch in den Arbeitsverhältnissen finden sich Unterschiede zwischen den beiden Altersgruppen, die jedoch nicht immer den Erwartungen entsprechen. Die U25 haben häufiger eine Vollzeitbeschäftigung als die Ü25 (U25: 88 %; Ü25: 79 %), entsprechend findet sich bei den Ü25 mehr Teilzeitarbeit. In die Gruppe mit Teilzeitarbeitsstellen fallen vor allem Frauen mit Kindern. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse, z. B. mehrere Arbeitsverhältnisse, sind selten (jeweils 4 %). Die Ergebnisse lassen sich also nicht durch prekäre Beschäftigung erklären; weder bei den Jüngeren, noch bei den Älteren. In Bezug auf Befristung scheinen die Ü25 besser gestellt. 80 % von ihnen haben ein unbefristetes Arbeitsverhältnis, bei den U25 sind es halb so viele (40 %). Beide Gruppen sind in den letzten fünf Jahren relativ häufig umgezogen. Nur ein Drittel ist jeweils nicht umgezogen, die restlichen einmal oder mehrmals. Die Mobilität scheint demnach für beide Gruppen ein gleich wichtiger Faktor ihrer Lebensverhältnisse. Der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder unterscheidet sich bei beiden Gruppen wenig. (13 %/17 %). Bei den sozialstatistischen Merkmalen Geschlecht und Herkunft finden sich keine eindeutigen Unterschiede. In den Arbeits- und Lebensverhältnissen finden sich zwar einige Differenzen zwischen den unter 25-Jährigen und den über 25-Jährigen, und diese entsprechen auch den Erwartungen für die jeweilige Altersgruppe. Die Unterschiede sind allerdings nicht sehr ausgeprägt.
1 Die Besonderheit der 25- bis 35-Jährigen
53
Bewertung der eigenen Lebens- und Arbeitssituation Eine erste Auswertung der Befragung von 2008 führte zu dem konsistenten Ergebnis, dass die Jüngeren ihre Arbeitsverhältnisse kritischer einschätzen, sie die Welt für weniger gerecht halten und entsprechend auch gewerkschaftliche Interessendurchsetzung und solidarisches Handeln für wichtiger ansehen als die über 25-Jährigen. Das stimmte mit den gemachten Beobachtungen bei verschiedenen gewerkschaftlichen Aktionen überein, bei denen die 25- bis 35 Jährigen stark unterrepräsentiert waren. Außerdem verzeichneten in jüngster Zeit die Gewerkschaften IG Metall und Verdi eine sehr positive Mitgliederentwicklung bei den unter 25-Jährigen. Das könnte damit erklärt werden, dass derzeit die unter 25-Jährigen besonders aktiviert sind, da sie große Schwierigkeiten beim Berufseinstieg haben und auch oft die ersten sind, die in der Krise entlassen werden. Andererseits gibt es auch die Einschätzung, dass gerade die Älteren, also die 25- bis 35-Jährigen, besonders belastet sind und sich entsprechend besonders belastet fühlen wegen der vielen Aufgaben in Familiengründung, Lebensgestaltung und Arbeitssituation und dass ihnen unter diesem Druck keine Zeit bleibt für darüber hinausgehendes Engagement. Bei der Auswertung der Gesamtstichprobe, also der Befragungsdaten von 2008 und die von 2009 in der Krise, fielen die Ergebnisse weniger eindeutig aus als bei der Auswertung von 2008. Es fanden sich folgende signifikante Unterschiede zwischen den beiden Altersgruppen:
54 Tabelle 3
1 Die Besonderheit der 25- bis 35-Jährigen Vergleich unter 25-Jährige mit über 25-Jährigen
Autorität Zukunftsangst Selbstverwirklichung im Beruf Karriere-Orientierung
U25 = 1 25 bis 35 = 2
N
Mittelwert
1
329
2,55
s. s.
2
829
2,73
U25 Ĺ
1
321
4,32
s.
2
849
4,45
U25 Ĺ
1
343
1,96
s. s.
2
867
2,28
U25 Ĺ
1
335
2,21
s. s.
Signifikanz
2
856
2,58
U25 Ĺ
Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung
1
321
3,18
s. s.
2
814
3,43
U25 Ĺ
Alltägliche Routine und Rituale
1
336
3,04
s.
2
865
3,21
U25 Ĺ
Anerkennung der Arbeit in privaten Beziehungen
1
325
2,24
s. s.
2
767
2,48
U25 Ĺ
Solidarität Unterstützung in Notsituationen
1
333
2,69
s.
2
838
2,80
U25 Ĺ
Solidarismus
1
337
2,22
s.
2
858
2,37
U25 Ĺ
1
309
2,25
s.
2
715
2,34
U25 Ĺ
Solidaritätssyndrom
Zeichenerklärung s. = signifikant, s. s. = sehr signifikant, Ĺ = stärker zugestimmt
Es finden sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Altersgruppen in den Belastungsfaktoren Zeitdruck, Arbeitsdruck und Psychodruck. Dagegen zeigt die Tabelle, dass die Zukunftsangst bei den unter 25-Jährigen signifikant stärker ausgeprägt ist. Selbstverwirklichung im Beruf und Karriere-Orientierung sind für die unter 25-Jährigen wichtiger als für die Älteren. Gleichzeitig ist ihnen aber auch die gewerkschaftliche Durchsetzung ihrer beruflichen Interessen wichtiger. Erstaun-
1 Die Besonderheit der 25- bis 35-Jährigen
55
licherweise sehen die Jüngeren ihr Leben stärker durch Routinen und Rituale geprägt als die Älteren und sie stimmen auch einer autoritären Orientierung stärker zu. Auch in Bezug auf solidarische Orientierungen finden sich Unterschiede, die unter 25-Jährigen zeigen eine deutlichere solidarische Orientierung. Diese Unterschiede zwischen den beiden Altersgruppen sind zwar signifikant, aber nicht sehr groß. Die Ergebnisse lassen keine klare Linie erkennen und sie stützen insgesamt die These nicht, dass es sich bei den 25- bis 35-Jährigen um eine besondere Altersgruppe handelt, die sich deutlich von den Jüngeren unterscheidet. Im Übrigen scheinen nicht das Alter, sondern die branchenspezifischen Lernerfahrungen im Beruf die Unterschiede zwischen Jüngeren und Älteren zu bestimmen. Wertet man die einzelnen Branchen gesondert aus, so finden sich jeweils andere Unterschiede zwischen den unter 25- und über 25-Jährigen. Die meisten Unterschiede zwischen den beiden Altersgruppen ergaben sich im Gesundheitswesen. Hier äußerten sich die unter 25-Jährigen deutlich kritischer in Bezug auf ihre Arbeitssituation als die über 25-Jährigen. Hier haben offenbar die jüngsten Arbeitsauseinandersetzungen und Streiks bei den Jüngeren deutliche Spuren hinterlassen. Im Bereich der Banken und Versicherungen finden sich diese Effekte nicht. Wenn man die beiden Altersgruppen getrennt nach sozialen Differenzlinien auswertet, also nach Branchen – wie eben vorgeführt – oder nach Geschlecht, Herkunft und Sozialstatus, so findet man jeweils andere Unterschiede zwischen den Altersgruppen. Das liegt daran, dass heute jede der beiden Altersgruppen in sich sehr heterogen ist. Eine Infratest-Umfrage im Auftrag der IG Metall hat zusätzlich die unter 35-Jährigen mit den über 35-Jährigen verglichen und dabei festgestellt, dass die U35 die persönlich Zukunftsperspektive positiv und positiver als die Ü35 sehen (Infratest, 2009: S.33). Die unter 35-Jährigen haben eine optimistischere Einstellung in Bezug auf das Erwerbsleben als die Ü35. Es wurde auch eine kleine Stichprobe von über 35-Jährigen erhoben (N=52) und die Projektgruppe kam bei dem Vergleich mit den unter 35-Jährigen zu ähnlichen Ergebnissen wie die Infratest-Umfrage. Die Zufriedenheit ist bei den unter 35-Jährigen deutlich größer und die Entgrenzung der Arbeit, der Arbeitsdruck und der Psychodruck sind signifikant geringer als bei den über 35-Jährigen. In allen Solidaritätswerten liegen die unter 35-Jährigen deutlich hinter den über 35-Jährigen. Bei einer Reihe von Indikatoren zur Lebensführung finden sich keine Unterschiede zwischen den unter 25-Jährigen und den über 25-Jährigen. Beide Gruppen äußerten sich insgesamt eher optimistisch und unterschieden sich nur wenig voneinander, d. h., die Unterschiede waren nicht signifikant (n. s.).
56 Tabelle 4
1 Die Besonderheit der 25- bis 35-Jährigen Weiterer Vergleich unter 25-Jährige mit über 25-Jährigen
Gerechte-Welt-Glaube Zufriedenheit Zukunftsangst Identifizierung mit der Arbeit Entgrenzung der Arbeit Anerkennung in der Arbeit Anerkennung der Arbeit in privaten Beziehungen
Alter U25 = 1 Ü25 = 2
N
Mittelwert
1
331
3,98 n. s.
2
909
3,96
1
321
2,94 n. s.
2
873
2,93
1
321
4,32 n. s.
2
907
4,46
1
317
2,48 n. s.
2
911
2,44
1
317
3,91 n. s.
2
902
3,85
1
337
2,97 n. s.
2
934
2,90
1
325
2,24 s. s.
2
826
2,48
Alle positiven Indikatoren, die Zufriedenheit, die Identifizierung mit der Arbeit und die Anerkennung der Arbeit liegen bei beiden Altersgruppen auf der Zustimmungsseite (d. h. unter 3,5 auf der sechsstufigen Skala). Den negativen Indikatoren, Entgrenzung der Arbeit und Zukunftsangst wird im Durchschnitt eher nicht zugestimmt. Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen sind nur bei der Anerkennung der Arbeit in privaten Beziehungen signifikant. Dazu die Interpretation von Infratest: „Die durchweg optimistischere Sicht der jungen Generation auf explizit das Erwerbsleben betreffende Gesellschaftsbereiche kann auch an dieser Stelle als Zeichen von Motivation und Leistungsbereitschaft gewertet werden. Es entsteht das Bild einer Generation, die ungeachtet schwieriger werdender Rahmenbedingungen insgesamt ziemlich optimistisch in die Zukunft blickt“ (Infratest, 2009: 25). Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt auch die Shell Jugendstudie von 2010 (vgl. Shell, Deutschland & Holding, 2010). Wegen der gleichwohl bestehenden Unterschiede zwischen den unter 25-Jährigen und den über 25-Jährigen in dieser Untersuchung werden in den folgenden Auswertungen nur die über 25-Jährigen einbezogen.
2.1 Die subjektive Verarbeitung des Modernisierungsdrucks
57
2 Lebensführung und Orientierung unter (Modernisierungs-)Druck
Unstrittig ist in der Sozialforschung, dass der Druck in der Arbeit real zugenommen hat und dass er sich auch in der Privatsphäre ausgebreitet hat. Offenbar ist „mehr Druck durch mehr Freiheit“ entstanden (Dörre et al., 2009; Glißmann & Peters, 2001b). Die Frage ist jedoch, ob und wie die befragten 25- bis 35-Jährigen diesen Druck empfinden. 2.1 Die subjektive Verarbeitung des Modernisierungsdrucks Die Projektgruppe ist von der Hypothese ausgegangen, dass die 25- bis 35-Jährigen stark unter Zeitdruck, psychischem Druck, Arbeitsdruck und Entgrenzung der Arbeit leiden und dass sie im hohen Maß Zukunftsangst entwickeln. Für sich selbst haben die Befragten dies nicht zustimmend beantwortet, wie die Grafik „Drucksyndrom“ im Folgenden darstellt:
Zeitdruck M = 3,03 69 %
Zukunftsangst M = 4,48 14 %
Entgrenzung der Arbeit M = 3,90 30 %
Abbildung 9
Druck Syndrom
Psychischer Druck M = 3,44 56 %
Arbeitsdruck M = 4,08 29 %
Drucksyndrom
J. Held et al., Was bewegt junge Menschen?, DOI 10.1007/978-3-531-92826-5_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
58
2 Lebensführung und Orientierung unter (Modernisierungs-)Druck
Nur 29 % der Befragten stimmten zu, dass sie unter Arbeitsdruck stehen, Entgrenzung der Arbeit wurde nur von 32 % angegeben. Noch geringer ist die Zukunftsangst, die nur von 15 % der Befragten in irgendeiner Form – und sei sie auch gering – erfahren wird. Am höchsten sind offenbar der Zeitdruck, der von 69 % der Befragten angegeben wird und der psychische Druck, der von 56 % der Befragten bestätigt wird. Interessant ist, dass alle Druckfaktoren miteinander in einem sehr signifikanten Zusammenhang stehen, d. h., Zeitdruck, psychischer Druck, Arbeitsdruck, Zukunftsangst und Entgrenzung der Arbeit treten häufig in Kombination auf. Während die Befragten für sich selbst kaum zustimmen, unter Druck zu stehen, ergibt sich ein anderes Bild, wenn sie allgemein zu dem gesellschaftlichen Wandel befragt werden. Im Fragebogen wollte die Projektgruppe wissen, wie sie diesen Wandel sehen. Es gab drei Möglichkeiten zu antworten: 1. 2. 3.
Eine neue Zeit mit vielen Möglichkeiten ist angebrochen. Viel Bewährtes löst sich auf und wird instabil. Der Druck in allen Lebenslagen hat zugenommen.
63 % der Befragten stimmen letzterem zu, dass der Druck in allen Lebenslagen zugenommen hätte. 22 % sehen im gesellschaftlichen Wandel den Anbruch einer neuen Zeit mit vielen Möglichkeiten und 15 % meinen, dass Bewährtes sich auflöst und instabil wird. Vor allem Frauen sind der Meinung, dass der Druck in allen Lebenslagen zugenommen hätte. Während signifikant mehr Männer angeben, dass sie eine neue Zeit mit vielen Möglichkeiten anbrechen sehen. Am stärksten wird von den Befragten persönlich der Zeitdruck erlebt. Der forcierte neoliberale Zeitrhythmus „in der extrem beschleunigten Welt des flexiblen Kapitalismus“ (Seddon, 2009: 437) stellt offensichtlich die Grundlage für den erlebten Zeitdruck dar. Hartmut Rosa beschreibt drei Dimensionen der „Beschleunigungslogik“, nämlich die technische Beschleunigung, die Beschleunigung des sozialen Wandels und die Beschleunigung des Lebenstempos. Letztere stellt „eine Reaktion auf die modernetypische Verknappung von (ungebundenen) Zeitressourcen (dar), weshalb sie sich einerseits in der Erfahrung von Zeitnot und Stress manifestiert und andererseits als Steigerung der Handlungs- und/oder Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit bestimmt werden kann.“ (Rosa, 2009: 100). Der Zeitdruck wird durch die Entgrenzung der Arbeit forciert und kann auch psychischen Druck begünstigen. Psychotherapeuten/innen, die mit unter 35-Jährigen arbeiten, und mit denen Interviews durchführt wurden, betonten, dass sich Zeitdruck und psychischer Druck nicht einfach als Folge erhöhter Anforderungen in der Arbeit interpretieren lassen, sondern dass sie auch eine Folge der Deregulierung des Alltagslebens darstellen. Das bedeutet, dass viele sich in der Options-
2.1 Die subjektive Verarbeitung des Modernisierungsdrucks
59
vielfalt verirren und sich dadurch unter Druck bringen. Kaum etwas ist mehr tradierte Selbstverständlichkeit in der Lebensführung, alles muss scheinbar jeweils neu bestimmt werden. In verschiedenen Interviews kam genau dies zum Ausdruck. Deutlich spricht es Pia an, 27 Jahre alt, die nach Beendigung ihres Studiums als Bioinformatikerin in einem Betrieb der IT-Branche angestellt ist und dort auch ihre Promotion vorbereiten will. „Ja, es gibt sicherlich einen starken gesellschaftlichen Wandel, vor allem hinsichtlich der Möglichkeiten. Also es ist schon so, dass man, wenn man möchte, sehr viele Freiheiten und auch Möglichkeiten hat, also jetzt in jeder Lebenslage und nicht nur im beruflichen Leben, sondern auch in der Freizeitgestaltung, bei der Partnerfindung, also bei allem gibt es sehr große Freiheiten. Und ich persönlich finde, dass diese Freiheiten auch häufig fast das Leben auch wieder schwerer machen, einfach, weil man so vielen Möglichkeiten gegenübersteht. Und man kann eigentlich so viel machen und irgendwie ist alles interessant und toll und alles ist irgendwo reizvoll oder viele Dinge sind reizvoll, aber man hat einfach nicht die Zeit und die Möglichkeit, das alles zu machen.“ (I-21: 601-624)
Pia antwortet auf die Frage, worin sie einen gesellschaftlichen Wandel sieht, dass sie diesen in den gestiegenen Möglichkeiten sieht. Diese vermehrten Möglichkeiten und Freiheiten sieht sie auf mehreren Ebenen – in Bezug auf die Berufswahl, der Gestaltung der Freizeit und auf die Wahl des Partners/der Partnerin. Ihr ist im gleichen Atemzug bewusst, dass diese vermeintliche Möglichkeitsvielfalt zum Zwang führt, sich entscheiden zu müssen. Ihre Worte spiegeln letztlich das geflügelte Wort wider: „Wer die Wahl hat, hat die Qual“. An die vielen ‚Möglichkeiten‘ ist, so der Soziologe Axel Honneth, mittlerweile eine institutionalisierte Erwartungshaltung gekoppelt, die dazu auffordert, gemäß seinen Fähigkeiten, den Möglichkeitsraum auch zu nutzen. Es gilt, die Möglichkeiten zur individuellen Selbstverwirklichung effektiv auszuschöpfen (vgl. Honneth, 2002). Dies wird vor allem dann zu einem Empfinden von Zeitdruck, wenn die Befragten unterschiedliche Anforderungen unter einen Hut bekommen müssen – wie z. B. berufstätige Mütter. Als Mittel gegen den Druck wird heute oft eine Arbeit am eigenen „Zeitmanagement“ empfohlen. Der Druck wird hierbei vor allem durch straffe Organisation des Alltags zu lösen versucht, d. h., sie versuchen, möglichst viele Aktivitäten in eine Zeiteinheit hineinzupressen, bringen sich aber dadurch selbst wiederum unter Druck. Die Wahrnehmung von Optionen schlägt dann in eine an sich selbst gestellte Anforderung um, diese Möglichkeiten gewinnbringend umzusetzen. Deutlich wird das z. B. in einem Interview, das mit einer jungen
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2 Lebensführung und Orientierung unter (Modernisierungs-)Druck
Mutter, die im Sozialbereich beschäftigt ist, geführt wurde. Claudia führt sehr genau auf, was sie an einem Tag alles machen muss. Alles ist zeitlich genau getaktet: die Versorgung ihres Kindes, ihre Arbeitszeit als Halbtagskraft in ihrem Beruf als Sozialpädagogin, die Hausarbeit, der Sport oder andere Freizeitbeschäftigungen (vgl. I-31: 156-211). „Ja also, {um} wieder auf die spezielle Alltagssituation zurückzukommen, also ich (Hand zählt mit) man soll möglichst Geld verdienen. Man erwartet auch sehr viel von seinem eigenen Kind, man stellt hohe Erwartungen an seine Erziehung und wie man mit dem (...) man möchte das Kind gut erziehen, man möchte dem Kind was ermöglichen, man möchte, dass das Kind sich wohl fühlt, dass es glücklich ist, dass es was erlebt. Man möchte auch selber zufrieden sein. Es ist wirklich schwer, das alles unter einem Hut zu bekommen, ja, und das schlägt sich eben im Alltag nieder.“ (I-31: 465-480)
Spannend ist hier die Ambivalenz, die sich in diesem Zitat widerspiegelt: Zum einen spürt Claudia die gesellschaftliche Anforderung, dass man sich für einen bestimmten Lebensstil das dafür benötigte Geld erarbeiten muss. Sie spürt auch die Erwartungen, die an sie als Mutter gestellt werden bezüglich der Erziehung ihres Kindes. Im gleichen Augenblick aber wendet sich das ‚man soll‘ zu einem ‚man möchte‘: Es sind auch ihre eigenen Vorstellungen des „eigentlichen Lebens“ (Holzkamp, 1995: 843), ihre eigenen Wünsche im Hinblick auf die Zukunft ihres Kindes, aber auch ihre eigene Zukunft. Es ist zu fragen, inwieweit äußere Anforderungen im Sinne eines Bewältigungshandelns zu inneren Wünschen umgedeutet werden. Dass junge Frauen mit Familien in besonderer Weise unter gesellschaftlichen Anforderungen stehen, wird in Kapitel 5.3 eingehender erläutert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Optionsvielfalt in der heutigen Zeit sowohl in der Arbeit als auch in der Privatsphäre viele autonome Entscheidungen in der Lebensführung ermöglicht, die aber leicht in Überforderung und damit Unfreiheit umschlagen können. Eine subjektive Konsequenz ist, dass die jungen Menschen den Druck nicht außerhalb verorten, sondern zu der Ansicht kommen, dass sie sich den Druck selber machen. In einer derartigen subjektiven Drucksituation geht es überwiegend nur um Bewältigung der unmittelbaren Lebenstätigkeiten und nicht um übergeordnete Ziele, wie z. B. die Erhöhung der gewerkschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit. Übergeordnete, langfristige Ziele und Festlegungen werden offenbar in unsicheren Zeiten und unter Flexibilitätsdruck vermieden. Eine subjektive Folge dürfte Perspektivlosigkeit sein, die teilweise für den Anstieg von Ängsten und Depressionen verantwortlich gemacht werden kann, worauf Psychotherapeuten/ innen in den Experten/innen-Interviews und auch in der Literatur vielfach hin-
2.2 Veränderungen durch die Wirtschafts- und Finanzkrise
61
gewiesen haben (Ehrenberg, 2004; Honneth, 2002: 155 f). Sie lassen sich also nicht nur durch die Zunahme von äußerem und innerem Druck erklären. Lebensziele und Zukunftsorientierung sind für eine bewusste Lebensführung und Lebensgestaltung insgesamt entscheidend. Die Handlungsfähigkeit speist sich nicht nur aus vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen, sondern auch ganz wesentlich aus der Zukunftsperspektive. Gerade die Zukunftsperspektive hat sich aber durch die Finanz- und Wirtschaftskrise objektiv verschlechtert und es ist anzunehmen, dass von der steigenden Arbeitslosigkeit die jungen Menschen in besonderer Weise erfasst werden. Hier stellt sich die Frage, wie die jungen Menschen zwischen 25 und 35 Jahren mit der Krisensituation umgehen. 2.2 Veränderungen durch die Wirtschafts- und Finanzkrise Interessante Ergebnisse lieferte der Vergleich der Befragten vor und in der Krise, also vor Oktober 2008 und ab 2009. Ein Vergleich der jungen Menschen unter 35 Jahren, die vor dem großen Ausbruch der Krise im Oktober 2008 befragt wurden, mit denen, die 2009, also in der Krise, befragt wurden, lässt zwar Unterschiede erkennen, es sind aber wenige, und sie sind insgesamt gering. Um den Einfluss der Branchenproportionen auszuschalten, werden im Folgenden einzelne Branchen gesondert ausgewertet. Eine Branche hat in der Krise eine große Rolle gespielt, nämlich die der Banken. Interessant sind hierbei die statistisch signifikanten Unterschiede bei den Befragten vor und in der Krise. Von den insgesamt 160 Fragen sind nur sieben bei den Befragten der Branche Banken/Versicherungen signifikant und auch bei nur wenigen Indizes gibt es Unterschiede. Sie weisen allerdings alle in die gleiche Richtung: In der Krise finden die Befragten die Karriere und die Selbstverwirklichung wichtiger, d. h. das, was inzwischen in der Krise schwerer erreichbar ist. Geradezu paradox scheint es, dass sie ihren Arbeitsplatz in der Krise sicherer finden als vorher und dass sie in der Krise stärker als vor der Krise die Welt als eher gerecht ansehen. Außerdem ist die Identifizierung mit der Arbeit in der Krise gestiegen, damit ist gemeint, dass die befragten jungen Menschen sich stärker mit ihrem Beruf und ihrer Einrichtung verbunden fühlen, dass ihnen die Arbeit tendenziell mehr Spaß macht, sie sich von ihr weniger überlastet fühlen, sie noch engagierter arbeiten und sie stärker zustimmen, dass die Arbeit ihnen Selbstbestimmung ermöglicht.
62
2 Lebensführung und Orientierung unter (Modernisierungs-)Druck
Nur Banken/Versicherung Tabelle 5
Banken/Versicherungen Nachuntersuchung
Wie sicher ist Ihr Arbeitsplatz?
Mittelwert Signifikanzen
Nachuntersuchung
1,94
Untersuchung vor der Krise
2,36
Ist Flexibilität eine Voraussetzung in ihrem Beruf?
Nachuntersuchung
1,83
Untersuchung vor der Krise
2,23
Gerechte-Welt-Glaube
Nachuntersuchung
3,65
Untersuchung vor der Krise
3,86
Nachuntersuchung
2,00
Untersuchung vor der Krise
2,28
Nachuntersuchung
2,35
Untersuchung vor der Krise
2,55
Nachuntersuchung
2,14
Untersuchung vor der Krise
2,37
Selbstverwirklichung im Beruf
Identifizierung mit der Arbeit
Karriere-Orientierung
s. s.
s.
s.
s. s.
s.
s. s.
Man muss sich dabei vor Augen halten, dass es sich nicht um Manager handelt, sondern um kleine Angestellte, die erst in den Beruf eingestiegen sind. Viele scheinen in der Krise offenbar darauf angewiesen zu sein, sich selbst zu beruhigen, wenn nicht sogar sich selbst zu täuschen. Die geringen Veränderungen, die bei den 25- bis 35-Jährigen im Bereich der Banken und Versicherungen durch die Wirtschafts- und Finanzkrise zu beobachten sind, können zuerst einmal darauf zurückgeführt werden, dass die befragten jungen Menschen sich zwar der gesellschaftlichen Bedeutung der Wirtschafts- und Finanzkrise bewusst sind, dass sie das aber bisher kaum auf ihre eigene Situation beziehen. Darauf weisen einige Interviews hin, die 2009 durchgeführt wurden. Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat schon am Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise in einem Spiegel-Essay darauf hingewiesen, dass die Reaktion auf die Krise gering ausfallen wird, da die Leute die Dissonanz zwischen ihren Alltags-
2.2 Veränderungen durch die Wirtschafts- und Finanzkrise
63
routinen und den globalen Bedrohungen kaum verarbeiten können und deshalb sich in einen allgemeinen Optimismus flüchten (Welzer, 2009). Sie versuchen so schnell wie möglich zur Normalität, d. h. zum bisherigen Handeln und zu bisherigen Orientierungen zurückzukehren. Demnach sind es nicht nur die Bankenund Börsenbosse, die schnell zu den alten Verfahren wieder zurückfinden, sondern auch viele junge Arbeitnehmer/innen im Bankenbereich. Die folgende politische Karikatur lässt sich also nicht nur auf die oberen Etagen in den Banken und Börsen anwenden, sondern auch auf den Umgang junger Bank- und Versicherungsangestellter mit der Krise übertragen:
Abbildung 10 Karikatur – Kapitalismus
In der Gesundheitsbranche, also vor allem bei den befragten Pflegern und Krankenschwestern, finden sich noch weniger Unterschiede zwischen der Befragung vor dem Ausbruch der Krise, d. h. vor Oktober 2008 und in der Krise 2009. Nur das Arbeitsklima wird in der Krise als wichtiger angesehen. Viele Unterschiede finden sich dagegen im Öffentlichen Dienst, bei dem über die Hälfte Erzieher/innen und Sozialarbeiter/innen sind. In der Zeit nach dem Ausbruch der Krise ist bei ihnen die Zufriedenheit mit der eigenen Lage in Beruf und Privatbereich deutlich geringer, dagegen sind die Entgrenzung der Arbeit und die Zukunftsangst größer. Auch Zeitdruck, Arbeitsdruck und Psychodruck werden signifikant stärker erlebt. Entsprechend werden in der Krise von dieser Berufsgruppe die gewerkschaftliche Interessendurchsetzung und auch die Solidarität stärker befürwortet.
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2 Lebensführung und Orientierung unter (Modernisierungs-)Druck
Es entsteht die Frage, ob es sich hier wirklich um einen Effekt der Finanzund Wirtschaftskrise handelt, oder ob nicht andere oder zusätzliche Faktoren eine Rolle spielen. Schon kurz vor dem Ausbruch der Krise hatte sich die Lage im Bereich der Kindergärten und Sozialeinrichtungen zugespitzt. Aktionen und Streiks gegen die Verschlechterung der Arbeitssituation eskalierten. Dies hat sicher zu dem eindeutigen Ergebnis beigetragen, dass Druck in der Arbeit zugegeben wird und sich mit Solidarität und der Bereitschaft zur gewerkschaftlichen Interessensdurchsetzung verbindet. Solidarität scheint hier also nicht eine generelle Eigenschaft einer Berufsgruppe zu sein, sondern eher eine im gesellschaftlichen Lernprozess erworbene Orientierung. 2.3 Identifizierung mit der Arbeit und Selbstverwirklichung im Beruf Die 25- bis 35-jährigen Beschäftigten haben verschiedene Erwerbsorientierungen entwickelt, von denen die Identifizierung mit der Arbeit besonders wichtig erschien. Es wurde deshalb dazu ein Index erstellt, in dem verschiedene Fragebogen-Items enthalten sind (siehe Anhang). Der Index „Identifizierung mit der Arbeit“ umfasst folgende Aspekte:
Verbundenheit mit dem Beruf und der Firma/Einrichtung, Spaß an der Arbeit, keine Überlastung durch die Arbeit, Selbstbestimmung in der Arbeit, Engagement in der Arbeit.
Dies wurde durch Faktorenanalyse und Itemanalyse überprüft. Alle Einzel-Items tragen zum Indexwert bei. Die Erwartung der Projektgruppe, dass die U35 sich stark mit ihrer Arbeit identifizieren, hat sich bestätigt. 90 % der Befragten stimmten zu, dass sie sich mit ihrer Arbeit identifizieren, und auch der Mittelwert des Index liegt deutlich auf der Zustimmungsseite (M = 2,45). Schon dieses Ergebnis ist ein Hinweis darauf, dass bei unter 35-Jährigen im Dienstleistungsbereich das Verhältnis zur Arbeit heute nicht durch Distanz und Entfremdung bestimmt wird, sondern durch Nähe und Identifikation. Die hohe Identifizierung mit der Arbeit wird heute offenbar unterstützt durch die „Subjektivierung der Arbeit“ (Moldaschl & Voß, 2002), durch Strategien „kontrollierter Autonomie“ (Vieth, 1995) bzw. „unselbstständiger Selbstständigkeit“ (Glißmann & Peters, 2001a), d. h., sie dürfte zum Teil auf einer scheinhaften Aufhebung der Entfremdung und der (erzwungenen) Einnahme des „Unternehmer-
2.3 Identifizierung mit der Arbeit und Selbstverwirklichung im Beruf
65
standpunkts“ (Vogelsang, 2009: 114) beruhen. Über solche Prozesse in der Arbeitswelt entsteht ein Typus der Erwerbsorientierung, den Pongratz und Voß als „Arbeitskraftunternehmer“ bezeichnet haben (Pongratz & Voß, 2003). Dies ist aber nur die eine, nämlich die gesellschaftlich-strukturelle Seite. Die jungen Beschäftigten zeigten in den Interviews auch ein eigenes unmittelbares Bedürfnis, eine gute Arbeit zu machen und selbst etwas zu bewegen. Offenbar hat die Arbeit heute für viele von ihnen eine hohe Bedeutung für die Identitätsbildung. Einige der Befragten in den Interviews äußern eine starke Identifikation mit dem Beruf. Pia, 27 Jahre, eine Informatikerin, berichtet über ihre Arbeitssituation: „Also ich hab halt einen außertariflichen Vertrag. Dadurch hab ich schon mehr Freiheiten zum Teil als die normalen Mitarbeiter, hab aber zum Teil auch einfach mehr zu tun. Also bei uns ist es so, dass wir uns an eine 40-Stunden-Woche so halten sollen, so in etwa. Aber die Zeiterfassung bei uns ist nur pro forma. Also es geht halt darum, dass wir während der Arbeitszeit, während wir bei {der Firma} sind, auch Versicherungsschutz haben, also falls uns irgendwas passiert, falls wir einen Arbeitsunfall haben. Und am Ende des Monats ist {es} egal, ob wir Überstunden haben oder ob wir Fehlstunden haben, das wirkt sich {nicht} aus. Also, wir haben weder die Möglichkeit, uns die Überstunden ausbezahlen zu lassen oder sie abzufeiern, und auch Fehlstunden interessieren eigentlich niemanden. Und dann haben wir wiederum auch die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten, also Heimarbeit zu machen.“ (I-21: 144-171)
Aufgrund ihrer ‚Industriepromotion‘ ist Pia bei dem Betrieb außertariflich angestellt. In dem Interview betont sie diesen Umstand als ‚Freiheit‘ gegenüber den anderen Angestellten, die im Schichtbetrieb arbeiten. Im zweiten Teil des Satzes erwähnt sie, dass sie aber auch mehr zu tun hätte als ihre Kollegen/innen. Die Zeiterfassung dient ihrer Aussage nicht der Kontrolle des Mitarbeiters/der Mitarbeiterin, sondern sei nur dazu da, den Arbeitsschutz im Betrieb rechtlich wirksam werden zu lassen. Von Arbeitgeberseite aus, gebe es kein Interesse zu wissen, ob sie Über- oder Unterstunden macht. Dass Pia gewöhnlich sehr viel mehr investiert, sehr viel mehr als 40 Stunden in der Woche arbeitet, erwähnt sie im Interview nicht, bzw. es wird nur in Nebensätzen deutlich. Eine Woche vorher jedoch hat sie im Vorgespräch mit der Interviewerin berichtet, dass sie oft am Wochenende zu Hause am Rechner noch arbeiten würde. Gefragt nach ihren Strategien, Beruf und Privatleben zu vereinbaren, berichtet sie, dass sie sich bewusst ‚Auszeiten‘ nimmt, denn wenn sie „mehr als zehn Stunden“ (273 f.) arbeite, könne sie sich am nächsten Tag einfach nicht konzentrieren, sei sie dann einfach nicht so ‚leistungsfähig‘.
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2 Lebensführung und Orientierung unter (Modernisierungs-)Druck „Gerade zu Beginn der Promotion war ich schon so zwei bis drei Monate so leicht depressiv, einfach weil ich das Gefühl hatte, ich bin diesem ganzen Druck und diesen ganzen Anforderungen, die aber auch mit einer Promotion einhergehen, einfach nicht gewachsen. Also es war einerseits die neue Situation der Promotion, andererseits auch die neue Situation des betrieblichen Alltags. Und das alles zusammen war einfach für mich sehr viel Neues. Also, da konnte ich dann nicht einfach abends abschalten und sagen: O.K., ich lass jetzt die Arbeit Arbeit sein und treffe mich jetzt mit Freunden oder mit meinem Freund oder ich geh joggen, um den Kopf freizubekommen, aber mittlerweile kann ich das eigentlich ganz gut.“ (I-21: 296-318)
Pia möchte ihre Sache gut machen. Das spürt man in dem ganzen Interview. Der Übergang vom Studium zu ihrer Anstellung als Industriepromovierende verlief nicht reibungslos: Die neue Situation mit den damit einhergehenden Anforderungen verlangte von ihr viel Einsatz und brachte sie zunächst an den Rand ihrer Kräfte. Auf die Frage, wie sie diese Situation im Folgenden gemeistert hat, antwortet sie, es sei die Routine gewesen (Pia I-21: 322 f.). Die Routine kann offenbar zur Entlastung beitragen. Pia berichtet, wie sie mit vielen verschiedenen Freizeitaktivitäten versucht, den Stress zu kompensieren (vgl. ebd. 335-355). Sie wird gefragt, was sie bewegt. Pia antwortet auf die Frage auf unterschiedlichen Ebenen, im Hinblick auf ihre Familie, auf Umweltschutz und schließlich auf ihren Beruf (vgl. ebd. 394-439). „Also manchmal habe ich das Gefühl, dass ich schon einem großen Druck ausgesetzt bin, wobei dieser Druck jetzt eher nicht von der Industrie oder der Wirtschaft herrührt oder von der Angst, jetzt keinen Arbeitsplatz zu haben, sondern eher so ein persönlicher Anspruch ist, dass ich die Sache gut mache.“ (I-21: 440-452)
Sie empfindet einen starken Druck, aber dieser kommt für sie nicht von außen, sondern sie macht sich diesen Druck selbst. Hier kommt ihre hohe Anspruchshaltung an sich selbst zutage, die im weiteren Verlauf des Interviews bestätigt wird. „Also die allgemeine berufliche Situation ist schon so, dass ich sehe, dass man sich schon anstrengen und einsetzen muss. Also man muss Engagement und auch Flexibilität zeigen, aber es ist eher nicht so, dass man um seinen Arbeitsplatz bangen muss. Also ich bin mir sicher, dass ich immer was finden werde, vielleicht dann halt nicht so gut bezahlt, aber ich seh’ jetzt nicht so die Existenzängste oder die finanziellen Nöte. (…) Es ist eher die Angst, dass ich meine Sache nicht gut mache oder meinen eigenen Zielen nicht genüge oder vielleicht auch Momentanzielen von anderen, also dass halt das Projekt gut zum Abschluss gebracht werden muss. Aber ich weiß halt auch, wenn es jetzt nicht so gut zum Abschluss gebracht wird, ist es vielleicht nicht toll, aber es ist kein Beinbruch. Es ist eher schon so ein sehr persönlicher Anspruch.“ (I-21: 470-493)
2.3 Identifizierung mit der Arbeit und Selbstverwirklichung im Beruf
67
An dieser Stelle des Interviews erscheinen neben dem eigenen Anspruch auch die Erwartungen von außen, vom Arbeitgeber und von den Kollegen/innen in ihrem Forschungsprojekt. Aber diese Erwartungen an Engagement und Flexibilität schrecken sie nicht. Sie betont, dass es die Ansprüche seien, die sie an sich selbst stellt, die ihr Antrieb für ihr berufliches Engagement sind und vor deren Nichterfüllung sie Angst hat. Man ist geneigt, an dieser Stelle Pia als Prototyp eines „Arbeitskraftunternehmers“ darzustellen. Sie betont die Freiheiten, die sie hat, durch ihren außertariflichen Vertrag, dass niemand ihre geleistete Arbeitszeit kontrolliert. Die Anforderungen, die von außen an sie herangetragen werden, sieht sie, aber sie betont, dass der Druck, den sie spürt, vor allem der sei, den sie sich selbst macht. An diesem Beispiel wird auch verständlich, warum die Befragten insgesamt wenig über (äußeren) Arbeitsdruck und Entgrenzung der Arbeit klagen (vgl. Kapitel 2.1). Nicht der Außendruck erscheint ihnen als Problem, sondern vor allem der Druck, den sie sich selbst machen. Die Art der Identifizierung mit der Arbeit, die in dem Interview mit Pia zum Ausdruck kommt, repräsentiert nicht alle, die sich mit ihrer Arbeit identifizieren, diese wurden bei jungen Menschen in gehobener beruflicher Stellung in Verbindung mit hohem Bildungsabschluss gefunden. Entsprechend kommt Klaus Dörre zu dem Schluss: „Wenn überhaupt, so trifft das allenfalls für Gruppen mit reicher Ausstattung an kulturellen und/oder finanziellen Ressourcen zu. Bei großen Teilen der Bevölkerung und keineswegs nur bei den Prekarisierten und Ausgegrenzten dürfte der stumme Zwang von – auch politisch hergestellten – Marktrisiken indessen die Freiheitsperspektive dominieren“ (Dörre et al., 2009: 201). Gerade in wirtschaftlich unsicheren Zeiten wird wohl die Freiheitsperspektive zunehmend durch ein Disziplinarregime ersetzt und auf diese Weise die Aktivierung der Beschäftigten forciert. Die Auswertung der quantitativen Befragung im Hinblick auf den Zusammenhang des Indexes „Identifizierung mit der Arbeit“ mit anderen Indizes gibt darüber Aufschluss, welche Bedeutung die Identifizierung mit anderen Aspekten der Lebensführung hat. Die linke Seite der Abbildung 11 enthält die positiven Zusammenhänge, die rechte die negativen.
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2 Lebensführung und Orientierung unter (Modernisierungs-)Druck
+
Identifizierung mit der Arbeit
–
Ich-Orientierung
Psychischer Druck
Gemeinschaftsorientierung
Arbeitsdruck
Familienorientierung
Zeitdruck
Autoritarismus
Zukunftsangst
Gerechte-Welt-Glaube Zufriedenheit Solidaritätssyndrom Selbstverwirklichung in der Arbeit Gutes Arbeitsklima Karriereorientierung Solidarismus Solidarität im privaten Umfeld Aktive Arbeitnehmer/innen-Solidarität Solid. Unterstützung in Notsituationen Solid. als soziales Verantwortungsgefühl Anerkennung in der Arbeit Anerkennung der Arbeit im Privaten Abbildung 11 Identifizierung mit der Arbeit
2.3 Identifizierung mit der Arbeit und Selbstverwirklichung im Beruf
69
Betrachtet man die Indizes, die besonders positiv mit dem Index „Identifizierung mit der Arbeit“ korrelieren, werden bestimmte Zusammenhänge sehr deutlich: für diejenigen, die sich sehr mit ihrer Arbeit identifizieren, spielen „Selbstverwirklichung im Beruf“, die Wichtigkeit eines „guten Arbeitsklimas“, eine Orientierung an der Karriere („Karriere-Orientierung“) eine wesentliche Rolle. Darüber hinaus geben sie an, im Großen und Ganzen zufrieden zu sein (Index „Zufriedenheit“). Diese Faktoren tragen zur starken Identifikation mit der Arbeit offenbar bei. Dagegen haben Zeitdruck, Arbeitsdruck, psychischer Druck und Zukunftsangst einen negativen Einfluss auf die Identifizierung mit der Arbeit. Für die Interpretation scheint es wichtig, dass auch „Ich-Orientierung“, „Autoritarismus“ und der „Gerechte-Welt-Glaube“ in einem signifikant positiven Zusammenhang zur Identifizierung mit der Arbeit stehen, was darauf hinweist, dass die Identifizierung mit der Arbeit eventuell durch fragwürdige psychische Abwehrmechanismen gestützt werden muss. Hohe Bereitschaft zu Gehorsam, zu Unterordnung und zur strikten Befolgung von Normen charakterisiert den Autoritarismus (Index siehe Anhang) und das ist offenbar auch eine Voraussetzung für die Identifizierung mit der Arbeit. Hinzu kommt der Glaube, dass es in der Welt eher gerecht zugeht, Ungerechtigkeit eher die Ausnahme darstellt und man auch selbst gerecht behandelt wird. Auch diese beschönigende Deutung der sozialen Realität scheint die Identifizierung mit der Arbeit zu stützen. Interessant ist das Ergebnis, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen Identifizierung mit der Arbeit und der erlebten Anerkennung gibt. Wer sich stark mit seiner Arbeit identifiziert, erfährt mehr Anerkennung für seine Arbeit, sei es aus der Familie, von Freunden oder im Betrieb. Daraus lässt sich folgern, dass Anerkennung in der Arbeit heute besonders wichtig für eine Identitätsbildung sein dürfte, die sich aus der Identifizierung mit der Arbeit speist. Diesen Zusammenhang hat Martin Baethge in einem Aufsatz zu Arbeit und Identität herausgestellt: „Immer mehr Arbeitende wollen ihre Identität nicht länger an der Garderobe abgeben, sondern sich mit ihrer Arbeit identifizieren können“ (Baethge, 1994: 245). Er bezeichnet das als „normative Subjektivierung des Arbeitsprozesses“ (Baethge, 1994: 245), wodurch er zum Ausdruck bringt, dass die Subjektivierung eine normative Anforderung an die Arbeitenden darstellt. Identifizierung mit der Arbeit bedeutet auch, dass vor allem für die jungen Beschäftigten die Qualität der Arbeit in den Vordergrund rückt. Die jungen Beschäftigten wollen nicht nur eine gute Arbeit machen, mit der sie sich identifizieren können, sondern sie wollen sich auch im Beruf selbst verwirklichen. Dabei geht es um die berufliche Erfüllung, aber auch um die Karriere als subjektiv wichtigem Faktor.
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2 Lebensführung und Orientierung unter (Modernisierungs-)Druck
Der Index „Selbstverwirklichung im Beruf“ steht in ganz ähnlichen Zusammenhängen wie die „Identifikation mit der Arbeit“. Das zeigt das folgende Korrelationsdiagramm. +
Selbstverwirklichung im Beruf –
Ich-Orientierung
Psychischer Druck
Gemeinschaftsorientierung
Arbeitsdruck
Gerechte-Welt-Glaube
Zukunftsangst
Autorität Solid. Unterstützung in Notsituationen Anerkennung in der Arbeit Anerkennung in privaten Beziehungen Aktive Arbeitnehmer/innen-Solidarität Gutes Arbeitsklima Karriereorientierung Identifizierung mit der Arbeit
Abbildung 12 Selbstverwirklichung im Beruf
2.3 Identifizierung mit der Arbeit und Selbstverwirklichung im Beruf
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Berücksichtigt man zusätzlich, dass es auch einen positiven Zusammenhang zwischen Identifizierung mit der Arbeit und den Solidaritätsaspekten gibt, so lassen sich daraus weitreichende Folgerungen für die Praxis ableiten. Die Qualität der Arbeit kann nämlich damit zu einem wichtigen subjektiven Antrieb in betrieblichen und politischen Auseinandersetzungen werden. Dieses Arbeitsverständnis ist allerdings „schwer politisierbar, auch wenn es durchaus kritisch gegenüber unbefriedigenden Arbeitsverhältnissen ist. Ihre praktische Wendung erfährt Kritik aber in erster Linie in individuellen Aktivitäten zur Korrektur“ (Baethge, 1994: 253). Durch diese Subjektivierung der Arbeit wird z. T. auch das traditionelle Konzept der „Interessenvertretung (Gewerkschaften) infrage gestellt, da dessen einheitsstiftende Moment, das materielle Interesse, gegenüber den sinnhaft-subjektbezogenen Ansprüchen relativ an Gewicht verloren hat“ (Baethge, 1994: 253). Wie sich das konkret darstellt, lässt sich an folgendem Interview-Ausschnitt verdeutlichen. Es handelt sich bei der Interviewten um Saskia, 25 Jahre alt, die trotz Studium zur Verwaltungswirtin als Sachbearbeiterin bei der Arge (Jobcenter) arbeitet. Die Interviewte wird gefragt, welches Verhältnis sie zu ihrer Arbeit hat. „Ja, wie soll ich das sagen, ähm? Ich hätte zum Beispiel nie von mir selbst gedacht vorher, bevor ich den Job bei der Arge gekriegt hab, dass ich ein Mensch bin, der groß mit Kundenkontakt zurechtkommt. Ich wollte eigentlich, war immer der Meinung, ich bin ein Mensch, der in einem Einzelbüro sitzt und schön tagtäglich seine Arbeit macht und von niemandem gestört wird. Jetzt ist es so, ich sitze mit einer super Kollegin in einem Zimmer, gut da muss man dann auch immer Glück haben. Das mit den Kunden macht mir super Spaß, denen da irgendwie zu helfen, und das spiegelt schon mein, wie sagt man, Verhältnis zur Arbeit wider (lacht).“ (I-9: 121-131)
Durch ihre Arbeitsstelle ist Saskia in einem Bereich gelandet, den sie sich selbst zunächst nicht ausgesucht hätte. Sie sagt von sich, dass sie eigentlich einen Bürojob haben wollte, in einem Einzelbüro ohne großen Kontakt zu anderen Kollegen/innen oder ‚Kunden/innen‘ bzw. Arbeitslosengeld-II-Empfänger/innen. Ihre Beschäftigung bei der Arge bringt sie nun sowohl mit Kollegen/innen als auch mit Kunden/innen zusammen und sie fühlt sich sehr wohl dabei. „Ja, doch, ich kann ich mich selbst verwirklichen, ach, ich weiß es nicht, das Wort (lacht). Verwirklichen? Verwirklichen, ja, das ist schon super, weil man auch selber sehr viele eigene Entscheidungen treffen muss. Man muss selber sagen, ist das jetzt richtig? Ich muss ja entscheiden, geht jetzt das Geld raus oder net? Und das, äh, und dann (Pause 2sec) mit Anzeigen etc., das hab ich ja auch alles selber zu entscheiden. Das ist alles mein Ermessen. Das ist schon auch eine große Verantwortung und das
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2 Lebensführung und Orientierung unter (Modernisierungs-)Druck find ich super, da so die eigene (denkt nach) Initiative. Ja. (Pause 3 sec) Wie mein eigener kleiner Chef zu sein (lacht).“ (I-9, 133-143)
Diese Erfahrungen trugen dazu bei, dass sie ihre Arbeit als eine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung versteht. Hinzu kommen die eigenen Entscheidungen, die sie treffen kann und die ihre Identifikation mit der Arbeit erhöhen. Sie legt den Schwerpunkt auf die Arbeit und nicht auf die Freizeit. Die Freizeitgestaltung ist eher anspruchslos. „Hobbys hab ich eh net (kurzes Lachen). Gut, es ist halt durch den Job, ich (…) schaff ein bisschen länger, also ich komme vor sechs Uhr nie nach Haus, also meistens sechs, siebene, mal auch erst um halb acht. Da ist auch nicht mehr viel. Jetzt unter der Woche schon gar nicht, da ist man froh, man ist daheim; man kann sich auf die Couch setzen, ein bisschen Fernsehen schauen und dann halt, klar, dann liest man auch mal ein Buch. Und so am Wochenende das Übliche, was man halt macht. Mal weggehen. Ja, das ist es im Großen und Ganzen, also (kurzes Lachen) zur Zeit auch ein bisschen langweilig.“ (I-9: 172-181)
Das Hauptaugenmerk auf der Arbeit kommt nicht von ungefähr – offensichtlich macht Saskia regelmäßig Überstunden – so dass ihr die Kraft für andere Dinge außerhalb des Berufs nicht bleibt. Und so resümiert sie, dass ihr Leben jenseits ihres Berufs letztlich eher ereignislos ist. Familienplanung liegt derzeit nicht in ihrem Horizont. In ihren Worten schwingt Enttäuschung mit, dass sie diesen Aspekt in ihrer Lebensplanung noch nicht erreicht hat. Ihre Antwort auf die Frage nach Familienplanung klingt daher ein wenig desillusioniert: „Meine Familienplanung? (lacht kurz) Die gab’s mal, jetzt nicht mehr. Also meine Vorstellungen waren immer gewesen, ähm, dass ich wirklich mit 27-28 mein erstes Kind bekomm’. Das ist nun jetzt nicht mehr realisierbar (lacht kurz auf).“ (I-9: 246-252)
Die Gründung einer Familie hat sie jedoch nicht aufgegeben, sondern auf später verschoben. Sie will erst beruflich vorankommen. Derzeit steht die Karriere im Vordergrund. Die junge Frau will sich „eine gesicherte Zukunft“ erarbeiten, sie will Beamtin werden und hatte kürzlich nach einer Bewerbung ein Vorstellungsgespräch. „Also ich bin jetzt nicht bestrebt, diese Riesenkarriere hinzulegen, dass ich dann irgendwann mal, ähm, Landrätin werden könnte oder so (kurzes Lachen). Das auf keinen Fall, aber schon ’ne Vorgesetztenposition, aber nicht in dem großen Sinn.“ (I-9: 159-163)
2.3 Identifizierung mit der Arbeit und Selbstverwirklichung im Beruf
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Das Verhältnis zu den Kollegen/innen und Vorgesetzten bezeichnet sie als ‚super‘: „Da habe ich auch ganz schön Glück gehabt, ähm, weil wir halt das junge Team sind. (…). Also von daher ist es schon ganz anders. Auch wie man miteinander redet, ist schon ganz anders, ja, das ist super. Und von den Vorgesetzten, die Vorgesetzte ist noch sehr jung (…) von daher passt das alles, sehr harmonisch, macht sehr viel Spaß.“ (I-9, 108-116)
Sie betont das gute Arbeitsklima mit ihren Kollegen/innen, gerät jedoch durch ihre Karriere-Orientierung in Konkurrenz zu einer Kollegin, die sich um die gleiche Position bewirbt. Mit dem Wort Solidarität kann sie wenig anfangen, sie übersetzt es mit „Menschlichkeit“ und meint: „Ich selber beschäftige mich mit solchen Sachen überhaupt nicht“ (I-9, 267). Diese junge Frau lebt letztlich für ihren Beruf. Sie arbeitet viel und hat außer ihrem Job nicht viele andere Betätigungsfelder. Die Arbeitgeberseite wird (im Interview) nicht problematisiert: Saskia meint auf die Frage, was es in ihrem Arbeitsbereich zu ändern gebe, sie wünsche sich neues Büromobiliar. Dementsprechend antwortet sie auf die Frage, ob sie für irgendetwas auf die Straße gehen würde, auch gegen Missstände in ihrem Arbeitsbereich: „Mm, da gibt’s nix, da kann man nix machen. (lachend) Da kann man für nix demonstrieren, das ist das Problem. Ähm, (2 sec Pause) für was würde ich denn? Nicht dass ich wüsste, mir fällt jetzt wirklich nichts ein.“ (I-9: 351-354)
Pia und Saskia sind beide Frauen, die Widersprüchliches in ihren jeweiligen Arbeitsbereichen entweder nicht empfinden oder nicht sehen. Dabei gäbe es objektiv gesehen in den jeweiligen Bereichen starken Anlass: bei Pia der immense Druck auf die Beschäftigten in der Entwicklungsabteilung, das Projekt im vorgegebenen Zeitrahmen effizient zu Ende zu bringen. Saskia arbeitet jeden Tag mit Menschen, die am Existenzminimum leben und auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Damit ist ihre Tätigkeit oft mit Entscheidungszwängen verbunden – oder, wie es eine andere interviewte Beschäftigte bei der Arge formuliert: Man sitzt „zwischen allen Stühlen“. Diese Konflikte werden nicht thematisiert bzw. tauchen nur als Druck auf, den man sich selbst macht, wie im Beispiel von Pia. Beide Frauen befinden sich aber auch in einem Übergang: Pia möchte im Rahmen ihrer Arbeitsstelle ihre Promotion erlangen, Saskia bewirbt sich um den gesicherten Status einer Beamtenstelle. Es ist zu fragen, inwieweit eine nach außen vertretene starke Identifizierung mit der Arbeit gebraucht wird, um die
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2 Lebensführung und Orientierung unter (Modernisierungs-)Druck
Unsicherheiten und das Unbehagen, das diese ‚Übergangszeit‘ mit sich bringt, zu verdecken. Neben solchen eher problematischen Formen der Identifizierung mit der Arbeit und der Selbstverwirklichung gibt es auch einige positive Fälle: So stellen sich die Identifizierung mit der Arbeit und die Selbstverwirklichung im Beruf z. B. bei einer auch in Vollzeit Beschäftigten in Berlin ganz anders dar. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder, auch der Mann ist vollzeitbeschäftigt. Die 34-Jährige ist in der Wohnungsverwaltung tätig und auf Grund ihres beruflichen Engagements im Betriebsrat. Sie kämpft mit sich, ob sie die Betriebsratsarbeit weitermachen oder neue Aufgaben übernehmen soll: „Eigentlich habe ich entschieden, 2010 nicht mehr, also nicht mehr hauptamtlich zur Verfügung zu stehen. Das ist so eine Sache, die ich wirklich immer wieder mit mir durchkämpfe, ähm. Und ja, {ich fühle mich} eigentlich fast so wie jemand, der aufhört zu rauchen, auch für andere Verpflichtungen, und sage: Okay, ich mach es nicht noch mal weiter. Ich will mir noch mal eine andere Herausforderung suchen.“ (I-19, 144-154)
Die Interviewte ist engagiert und identifiziert sich mit der Arbeit. Identifizieren heißt hier, dass sie nicht einfach Außenanforderungen erfüllen will, sondern Anforderungen an sich selbst stellt, dass sie ihre Arbeit gut machen will, dass sie sich auch für andere einsetzen will. 2.4 Anerkennung und Zufriedenheit „Zukunftsgestalterin … fordert Anerkennung!“ So lautete die Beschriftung der roten T-Shirts, die tausende von Erzieher/innen und Sozialarbeiter/innen im Jahr 2009 während der Demonstrationen und Streikversammlungen im Sozial- und Erziehungsdienste in ganz Deutschland getragen haben. Der Streikaufruf von Verdi wurde von dem Slogan getragen: „Chancen fördern, Anerkennung fordern.“ Die gemeinsame Erfahrung von Geringschätzung der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hat den „Kampf um Anerkennung“ (Honneth, 1992) getragen und war damit ein verbindendes Element zwischen ansonsten eher divergierenden Berufsgruppen wie Kita-Mitarbeiter/innen und Sozialarbeiter/innen. Das Thema „Anerkennung“ wird heute nicht nur in den Sozialwissenschaften breit diskutiert, sondern es ist auch ein Thema für die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften geworden. Auf den Beschäftigten der Sozial- und Erziehungsdienste lastet eine hohe Verantwortung: Es gilt, nachwachsende Generationen bestmöglich zu fördern, sie für die Zukunft mit vielfältigen Kompetenzen auszustatten. Die gemeinsame
2.4 Anerkennung und Zufriedenheit
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Feststellung, dass diese Arbeit nicht genügend honoriert wird – im Gegenteil: an die Beschäftigten werden immer mehr Aufgaben zur Erfüllung von Bildungsund Entwicklungsplänen herangetragen – hat dazu beigetragen, dass diese Streikbewegung zu eine der erfolgreichsten der letzten Zeit wurde. Anerkennung kann auf unterschiedlichen Ebenen erfolgen. Auch das Gehalt kann von den Beschäftigten im Dienstleistungsbereich als ein Ausdruck von Anerkennung oder im Gegenteil als Missachtung gewertet werden. Es erhält im DGB-Index Gute Arbeit die geringste Punktzahl und wird damit als sehr schlecht bewertet (vgl. DGB-Index Gute Arbeit, 2009). Wie im letzten Kapitel beschrieben, ist die Identifizierung mit der Erwerbsarbeit bei den Befragten dieser Studie sehr hoch. Die starke Identifizierung ruft gleichzeitig das Bedürfnis hervor, dass diese Arbeit auch anerkannt wird. In dieser Untersuchung halten 95 % der 25- bis 35-Jährigen die Anerkennung in der Arbeit für wichtig, ein Drittel der Befragten sogar für sehr wichtig. Den weiblichen Befragten war Anerkennung signifikant sogar noch wichtiger als den männlichen. Zwischen den Branchen Banken/Versicherung, IT-Bereich, Öffentlicher Dienst und Gesundheitswesen fanden sich keine signifikanten Unterschiede, d. h. dass es sich um eine allgemeine Tendenz bei jungen Beschäftigten im Dienstleistungsbereich handelt und die Unterschiede zwischen verschiedenen Berufsfeldern gering sind. Für die jungen Beschäftigten ist Arbeit insgesamt wichtiger geworden, allerdings nicht jede Arbeit, sondern die, mit der man sich identifizieren kann. In dieser Untersuchung stimmten 90 % eher zu, dass sie sich mit ihrer Arbeit identifizieren. Arbeit ist ein wichtiger Faktor für die Identitätsbildung und für ein allgemeines Gefühl von Anerkennung (Baethge, 1994; Voswinkel, 2009). Die Bewährung im Beruf scheint gerade für die Jüngeren einen besonders hohen Stellenwert zu haben. Das bedeutet auch, dass die Qualität der Arbeit für die Beschäftigten wichtiger geworden ist (Sennett, 2008). Die eigene Verantwortung in der Arbeit und das Verantwortungsgefühl haben zugenommen, schlechte Arbeit wird zugleich als verantwortungslos wahrgenommen. Wenn durch Personalabbau keine gute Arbeit mehr möglich scheint, kann sie nur schwer verantwortet werden. Dies war ein wichtiges Motiv für die letzten Arbeitskämpfe im Gesundheitsbereich. Damit wird die Anerkennung der eigenen Arbeitsleistung zu einem wichtigen Antrieb auch für soziale Kämpfe, die damit letztlich zu Kämpfen um Anerkennung werden. In dieser Untersuchung zeigt sich das auch daran, dass die Wichtigkeit der Anerkennung in der Arbeit mit den Solidaritätsindizes und auch mit dem Index für gewerkschaftliche Interessendurchsetzung signifikant korreliert.
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Die Frage „Wie wichtig ist Ihnen insgesamt die Anerkennung Ihrer Arbeit?“ steht in einem deutlichen Zusammenhang mit einer Reihe von Indizes zu Lebensführung und Solidarität. + Wie wichtig ist Ihnen insgesamt die Anerkennung in Ihrer Arbeit? Selbstverwirklichung im Beruf Identifizierung mit der Arbeit Gutes Arbeitsklima Entgrenzung der Arbeit Arbeitsdruck Zeitdruck Psychodruck Familienorientierung Solidarität: Unterstützung in Notsituationen Allgemeines soziales Verantwortungsgefühl Aktive Arbeitnehmersolidarität Solidarität im privaten Umfeld Solidaritätssyndrom Abbildung 13 Anerkennung in der Arbeit
Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Bedürfnis nach Anerkennung und der Selbstverwirklichung in der Arbeit, sowie der Identifikation mit der Arbeit. Das weist darauf hin, dass die Anerkennung durch hohen Arbeitseinsatz angestrebt wird. Die subjektive Wichtigkeit von Anerkennung der eige-
2.4 Anerkennung und Zufriedenheit
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nen Arbeit steht zugleich in Zusammenhang mit verschiedenen Druckfaktoren: Diejenigen, die angegeben haben, dass ihnen Anerkennung wichtig ist, verspüren sowohl höheren Arbeitsdruck als auch mehr psychischen Druck und Zeitdruck. Außerdem ist ihre Arbeit durch eine deutlich höhere Entgrenzung gekennzeichnet. Der Wunsch nach Anerkennung führt also nicht zu kritikloser Erfüllung von Anforderungen, sondern es wird der damit einhergehende Druck wahrgenommen. Dass der Wunsch nach Anerkennung solidarische Orientierungen begünstigt, zeigen die positiven Korrelationen mit den unterschiedlichen Solidaritätsformen. Es sind nur ca. 5 % der Befragten, denen die Anerkennung ihrer Arbeit eher nicht wichtig ist, d. h., dass fast alle die Anerkennung ihrer Arbeit für wichtig empfinden. Andere Ergebnisse erzielt man, wenn man nicht nach der subjektiven Wichtigkeit von Anerkennung, sondern nach der realen Anerkennung durch Kollegen und Vorgesetzte fragt. + Anerkennung in der Arbeit (DGB-Index Gute Arbeit) –
Identifizierung mit der Arbeit
Arbeitsdruck
Karriereorientierung
Psychischer Druck
Zufriedenheit
Zukunftsangst
Gerechte-Welt-Glaube Ich-Orientierung Selbstverwirklichung im Beruf Abbildung 14 Anerkennung in der Arbeit (DGB-Index Gute Arbeit)
Hier zeigt sich, dass die reale Anerkennung in der Arbeit von denjenigen erfahren wird, die sich mit ihrer Arbeit identifizieren (Index Identifizierung mit der Arbeit), ihre Karriere im Blick haben (Index Karriere-Orientierung) und sich in ihrer Arbeit selbstverwirklichen möchten (Index Selbstverwirklichung). Diese Gruppe der Befragten sieht sich einem weniger starken Arbeitsdruck ausgesetzt
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(Index „Arbeitsdruck“), sehen eher zuversichtlich in die Zukunft (negative Korrelation mit Zukunftsangst) und stehen insgesamt weniger unter psychischem Stress (Index „Psychischer Druck“). Dies ist leicht nachzuvollziehen; bedenklich scheint jedoch, dass die reale Anerkennung sich mit erhöhter Ich-Orientierung, einem erhöhten Gerechte-Welt-Glauben und allgemeiner Zufriedenheit verbindet und dass sie in keinem Zusammenhang mit den solidarischen Orientierungen steht. Die subjektive Einschätzung, dass die eigene Arbeit von Kollegen und Vorgesetzten anerkennt wird, scheint demnach eine kritische Haltung und solidarisches Handeln nicht zu fördern. Das Anerkennungskonzept geht in seiner frühen Fassung bei Friedrich Hegel davon aus, dass durch gegenseitige Anerkennung das Verhältnis von Herr und Knecht stabilisiert wird. Herrschaft kann stabilisiert werden, indem jeder/jede also in seiner/ihrer Position anerkannt wird. In Zeiten von Ökonomisierung bzw. Vermarktlichung (siehe Teil A, Kapitel 1.5) nimmt die Anerkennung der Arbeit eine spezielle Form an. Die Würdigung von guter Arbeit wird zunehmend zu Gunsten von „Bewunderung“ für besondere Leistung abgelöst (vgl. Voswinkel, 2002). Das erhöht den notwendigen Arbeitseinsatz und die Bereitschaft sich kritiklos anzupassen, um Anerkennung zu erreichen. Auch in den qualitativen Interviews wird das Thema „Anerkennung“ in vielfältiger Weise angesprochen. Die Erzieherin Elena berichtet über ihre finanzielle Situation: „Weil das Gehalt (nickt) ist wirklich wenig. Wir sind dann eigentlich auch noch auf fünfundsiebzig Prozent … und … daher ist das Gehalt auch noch etwas weniger. Aber allgemein, und das ist wirklich meine (zeigt auf sich) primäre Meinung, ist (…) es nicht wirklich ein honorierter Job. Und was man an Verantwortung (hat)! Das sind keine Ordner, das sind Kinder! Wir legen eine Basis … einen Grundstein! Die Verantwortung ist immens und dafür ist es dann schon (runzelt die Stirn) knapp.“ (I-1: 81-87)
Für diese Kindergärtnerin ist das geringe Gehalt ein Teil der mangelnden Anerkennung ihrer Arbeit. Der Widerspruch liegt für sie in der Diskrepanz zwischen der großen Verantwortung, die sie gegenüber den zu betreuenden Kindern hat, und dem Gehalt, das sie dafür erhält. Aber es geht ihr nicht nur um mehr Gehalt: „Also die Wertlegung … ist meiner Meinung nach in diesem Bereich irgendwie sehr, sehr niedrig. Und von der Gesellschaft (zieht die Schultern hoch) her auch. Also, wir sind oft auch … die … (winkt mit der Hand ab) Tanten, mit diesem ‚ei der dei‘ … Ja, die spielen mit den Kindern und … es ist aber lange nicht so. Du musst wirklich wachsam sein … Du musst Entwicklungen, Störungen, du musst einfach soziale Hintergründe beobachten, um die Entwicklung wirklich real einzuschätzen. Ob da jetzt eine ergotherapeutische oder logopädische Unterstützung zu empfehlen ist. Das muss man einfach wahrnehmen … Man muss so professionell sein und
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sagen können, dieses Kind hat in diesem und diesem Bereich Defizite und da muss man jetzt den ersten Stein legen und sagen bei Elterngesprächen oder eben im Kontakt mit den Eltern, dass da eventuell was vorhanden ist. Und für dieses Grundsteinlegen (…), finde ich, dass wir einfach eine große Verant … einen Teil der Verantwortung tragen, die dann (…) von der Gesellschaft allgemein nicht so als wichtig eingeschätzt wird.“ (I-1: 107-123)
Sie spricht davon, dass insgesamt die Wertschätzung für diese Arbeit in der Gesellschaft sehr gering ist. Offensichtlich hat sie das Gefühl, dass ihre Arbeit oft von anderen als ‚Spielen mit Kindern‘ abqualifiziert wird. Sie betont die professionellen Anteile in ihrem Arbeitsbereich: das genaue Beobachten, das ImBlick-Behalten der Entwicklung der Kinder. An den Streiks hat sie sich mit ihrer Kollegin nicht beteiligt: „Also, jetzt grad, wo dieser Streik war … da haben wir von vorneherein gesagt, da machen wir nicht mit. Wir waren nicht dabei, von Anfang an nicht, und ich möchte auch nur ganz kurz so viel dazu sagen: Es ist Fakt … also Fakt ist, dass da wenig Geld da ist … Fakt ist, dass dann Sparmaßnahmen herkommen müssen und die Opfer, dass man eventuell fünf oder sechs oder sieben oder höchstens zehn Minuten am Tag mehr arbeitet, so was kann man in Kauf nehmen.“ (I-1: 61-66)
Die Entscheidung, dass sie sich nicht am Streik beteiligen, haben sie und ihre Kollegin zusammen gefällt. Sie arbeiten beide in einer sehr kleinen Einrichtung, die ständig von Schließung bedroht ist. In ihrer Begründung hat sie die Argumente ihres Arbeitgebers aufgenommen, die für sie ‚Fakten‘ sind, an denen sich nicht rütteln lässt. Man müsse daher Opfer bringen. An anderer Stelle berichtet sie, dass sie sich freiwillig als (billigere) Kinderpflegerin bezahlen lässt – ein weiterer Beitrag, um die Einrichtung zu erhalten. Elena sieht den Widerspruch zwischen ihrem hohen beruflichen Engagement zum einen und mangelnder allgemeiner Wertschätzung und Anerkennung durch ein gutes Gehalt zum anderen. Dennoch scheint hier die Angst vor Verlust des trotz allem für sie attraktiven Arbeitsplatzes im Vordergrund zu stehen, dass sie sich nicht dagegen wehrt. Die interviewten Erzieher/innen betonen in einigen Fällen die mangelnde Anerkennung, die sich durch schlechte Bezahlung ausdrückt (vgl. I-6). Sie nennen darüber hinaus die gestiegenen Anforderungen durch spezifische Entwicklungspläne, zunehmende Dokumentationspflicht, deren Erledigung zu ihren sonstigen Tätigkeiten hinzukommt, ohne personelle Aufstockung, finanziellen oder Freizeitausgleich (vgl. I-18, I-20, I-27).
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Die befragten Beschäftigten im Gesundheitswesen berichten ebenfalls von den massiv gestiegenen Anforderungen in ihren Tätigkeitsbereichen. Marian ist Krankenpfleger und ein engagierter Gewerkschafter: „Also für den Beruf, den ich mache, fühl ich mich auch super unterbezahlt, muss ich ehrlich gestehen. Gerade aus dem Aspekt her: Ich bin im Schichtdienst, Wochenendarbeit, Feiertagsarbeit, habe wirklich, physisch wie psychisch, schwer zu kämpfen auf Station. Und das wird schlecht vergütet, super schlecht vergütet meines Erachtens. Es ist halt sozialer Bereich, ich glaube, da ist irgendwie noch so die {Ein-} Stellung, von der höheren Ebene: ‚Ja, die sind ja mit Herz dabei!‘ (nickt).“ (I-16: 545-567)
Für die sowohl in mehrerer Hinsicht aufreibende Arbeit, die er tagtäglich auf Station leisten muss, fühlt er sich nicht genügend entlohnt. In langen Passagen erzählt er im Interview, wie sich die Arbeitsbedingungen dramatisch verschlechtert haben – vor allem, seit das Krankenhaus, in dem er arbeitet, privatisiert und von einem großen Gesundheitskonzern geschluckt wurde. Sarkastisch vermutet er als Grund für die schlechte Bezahlung, dass von Arbeit- und Geldgeberseite angenommen wird, dass die Beschäftigten diese Arbeit nicht des schnöden Geldes wegen, sondern aufgrund ihrer karitativen Ader tun. Von der Befriedigung, anderen Menschen beim Gesunden zu helfen, kann man nicht leben – diese Art von Anerkennung reicht nicht. Und so engagiert sich Marian in der Gewerkschaft. Auf die Frage, was ihn bewege, antwortet er: „Ja, was mich sehr bewegt, ist halt die Gewerkschaftsarbeit. Also das ist meine Hauptaufgabe, mitunter meine Freizeit. Das nimmt sehr viel Freizeit auch ein, weil es mir Spaß macht. Ich engagiere mich da gerne, ich versuch auch, was bewegen zu können. Also mir ist es lieb, auch mit Leuten darüber zu reden, sie selber zu überzeugen, wie wichtig Gewerkschaften sind, und dass es halt auch nicht im Unternehmen darum geht, dass man Anspruch auf den Tarifvertrag hat, sondern auch gesellschaftspolitisch mal Einfluss nehmen kann. Also, dass man sich nicht alles gefallen lassen muss, was von oben jetzt, vom Staat beschlossen wird zum Beispiel.“ (I-16: 1130-1160)
Marian erzählt, dass die Gewerkschaftsarbeit letztlich seine Freizeit hauptsächlich ausfüllt. Es macht ihm Spaß, sich zu engagieren, Kollegen/Kolleginnen von der Wichtigkeit einer Gewerkschaft zu überzeugen. Es geht ihm hierbei nicht nur um die Anerkennung seiner Arbeitsleistung durch einen höheren Tarifabschluss. Er spricht etwas Grundsätzliches an: nicht alle Bedingungsstrukturen, die einem gesetzt werden, zu akzeptieren. In seiner Gewerkschaftsarbeit nutzt er den Möglichkeitsraum, diese Bedingungen zu hinterfragen. Durch seinen Protest zeigt er die Wertigkeit seiner Arbeit, kämpft dafür, dass anerkannt wird, dass es mehr
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gibt als Gewinnmaximierung in einem privatisierten Gesundheitsunternehmen: nämlich Beschäftigte, die von ihrer Erwerbsarbeit leben wollen. Der gestiegene Druck im Gesundheitswesen wird von allen Interviewten, die in diesem Bereich beschäftigt sind, genannt (vgl. I-2, I-15, I-22, I-23, I-28, I-29, I-33, I-40). Die beiden Frauen mit Kindern (I-2 und I-40) benennen darüber hinaus die Schwierigkeit, Beruf und Fürsorgearbeit in der Familie zu vereinbaren. Dieser Konflikt der beiden Krankenschwestern basiert nicht nur auf dem Schichtdienst, sondern er liegt auch darin begründet, dass der Arbeitgeber wenig dafür tut, dass eine Vereinbarung möglich wird. Darüber wird jedoch an anderer Stelle ausführlicher eingegangen (vgl. Kapitel 5). Im Folgenden wird ein weiteres Berufsfeld aufgeführt, das in letzter Zeit Schauplatz eines massiven Umbruchs wurde: das Bankenwesen. Jenny ist Mutter, alleinerziehend und im Moment Hartz-IV-Empfängerin. Sie hat bei einer sehr großen Bank im Back-Office-Bereich gearbeitet. In einer langen Passage berichtet sie über regelmäßige Überstunden, von 12-16 Stunden am Tag und über Mobbing unter den Kollegen/Kolleginnen. Nach einer Fusion ihrer Bank mit einem anderen Konzern, von der sie morgens in den Nachrichten erfahren hat, wurden in ihrem Großraumbüro die Teams ständig neu zusammengesetzt, was wiederum dazu führte, dass Mitarbeiter/innen gegeneinander ausgespielt wurden. Sie wird gefragt, was das bei ihr ausgelöst hat, dass sie ihr Team verloren und eigentlich keine Würdigung ihrer Arbeit erfahren hat: „Ja klar, du kriegst dann (lacht ironisch), du kriegst dann Depressionen, ja. Das löst das aus. Ja. Weil du dir dann einfach vorkommst, als ob du nichts mehr wert bist. Als ob mit dir niemand mehr reden muss. Und … du machst das dann halt von, von deiner Arbeit abhängig. Du denkst dann einfach, du bist nichts mehr wert. Das war nicht gut genug, was du gebracht hast und hast geschuftet wie ein Esel. Das war dann auch echt schön gewesen, wo ich im Sommer sechzehn Stunden gearbeitet habe und der Chef kommt rein und meint so: ‚Haja, machen Sie doch Feierabend. Ist so schönes Wetter draußen.‘ Ja super, du hast so einen riesigen Stapel Akten auf dem Tisch liegen. Weißt nicht mehr vor und zurück … ja, kriegst keine Hilfe von irgendjemandem.“ (I-13: 1129-1156)
Jenny ist letztlich psychisch zusammengebrochen. Den Druck durch unsolidarische Kollegen/Kolleginnen, aber vor allem durch die massiv gestiegenen Anforderungen konnte sie irgendwann nicht mehr kompensieren. Ihre Leistung wurde auf keiner Ebene honoriert – im Gegenteil. Beinahe zynisch erinnert sie ihr Chef daran, dass draußen die Sonne scheint. Dabei wird er derjenige sein, der am nächsten Tag nach den bearbeiteten Akten fragen wird. Jenny ist von allen Interviewten der härteste Fall von erlebter Missachtung.
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In ihrem Fall hat die mangelnde Anerkennung seitens des Arbeitgebers jedoch nicht – wie bei den streikenden Erzieher/innen und Sozialarbeiter/innen im vergangenen Jahr – zu einer Einigkeit geführt. Das Klima in ihrem Großraumbüro war von Mobbing geprägt. Diese drei Interviews sind Fallbeispiele für den Umgang mit mangelnder Anerkennung. Im extremen Fall von Jenny hat es dazu geführt, dass sie psychisch entkräftet gekündigt hat. Elena, die Erzieherin, macht weiter, nimmt die Einschränkungen in Kauf, weil die Angst, die Einrichtung und damit den Arbeitsplatz zu verlieren, größer ist. Marian kämpft um Anerkennung seiner Arbeit mittels gewerkschaftlicher Aktion. Eines haben diese drei Interviews gemeinsam: Alle drei nehmen den Widerspruch wahr zwischen dem, was sie tagtäglich leisten, und der Anerkennung – ob als Gehalt oder ‚aus der Gesellschaft‘ kommend – die sie dafür erhalten. Und sie empören sich darüber. Es wurden zwei Erzieher/innen während einer Streikveranstaltung befragt, wie der Prozess in ihren jeweiligen Einrichtungen verlief, wie es dazu kam, dass sie sich entschlossen haben, sich dem Streik anzuschließen. Sie berichteten, dass sie – nachdem sie von der Gewerkschaft angesprochen worden sind – sich im Team zusammengesetzt und sich über ihre Arbeitsbedingungen unterhalten hätten. Plötzlich wurde deutlich, dass alle schon lange weit über ihre Kapazitäten hinaus arbeiten würden. Von einer Kollegin, die immer stark wirkte, hätten sie erfahren, dass sie letztlich kurz vor dem Nervenzusammenbruch steht. Die gemeinsame Empörung hat sie schließlich dazu gebracht, sich in den Kampf um Anerkennung einzureihen. 2.5 Ich-Orientierung Orientierungen sind – wie beschrieben (vgl. Kapitel 1.4) – die ausrichtenden, antizipatorischen Anteile im Handlungsgesamt eines Menschen (vgl. Marvakis, 1996: 43 f.). Orientierungen spielen heute in Subjekttheorien eine große Rolle (vgl. u. a. Grundmann & Beer, 2004; Keupp & Hohl, 2006). Bei der Ich-Orientierung geht es nicht um die grundsätzliche Frage, ob dem Menschen ein Subjektstatus zukommt (vgl. Daniel, 1981; Holzkamp, 1983), sondern es geht um die empirische Bestimmung des Subjektstatus, wie ihn sich die jungen Menschen heute selbst zuschreiben. Die „Subjektivierung von Arbeit“ (Moldaschl & Voß, 2002) und die Individualisierungsprozesse (Beck, 1994) werden dabei oft als Ausgangspunkt für die Aufwertung von Subjektansprüchen betrachtet (Wagner, 2004). Neue Formen von Arbeit kommen „dem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und selbstverantwortlichen Arbeitsweisen entgegen“ (Candeias, 2007: 50).
2.5 Ich-Orientierung
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Auf der subjektiven Ebene wurde das als „Ich-Orientierung“ bezeichnet und in aktive und passive Ich-Orientierung differenziert (vgl. Funk, 2005). Die aktive Ich-Orientierung ist „geprägt vom Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstinszenierung“ (Frankenberger & Meyer, 2008: 78). In dieser Studie wurde zwar nicht dieses Konzept übernommen, es wurde aber empirisch ein Faktor gefunden, für den der Index „Ich-Orientierung“ gebildet wurde. Diese Ich-Orientierung hat Ähnlichkeit mit dem Konzept der internalen Kontrollüberzeugung (vgl. Krampen, 1982). Internale Kontrollüberzeugung meint „die subjektiv bei der eigenen Person wahrgenommene Kontrolle über das eigene Leben und über Ereignisse in der personspezifischen Umwelt“ (Krampen, 1982: 45). In dem Fragebogen repräsentieren zwei Fragen diese Form der Ich-Orientierung und den entsprechenden Index: Variable: Wie mein Leben verläuft, hängt hauptsächlich von mir selbst ab. Variable: Jede/r ist für ihre/seine eigene berufliche Entwicklung verantwortlich. Es handelt sich um eine Kontrolldimension, die in der Psychologie auch als „Autonomieorientierung“ bezeichnet wird, als „der Glaube, Herr des eigenen Handelns und seiner Konsequenzen zu sein“ (Hoff 1998: 427). Durch den Index wird die Ich-Orientierung sehr eng gefasst, in der qualitativen Analyse wurde deshalb das Konzept erweitert. In dieser Untersuchung lagen bei diesem Index der Ich-Orientierung 93 % der 25- bis 35-Jährigen auf der Zustimmungsseite. Die unter 25-Jährigen erreichen einen ebenso hohen Wert. Frauen und Männer haben gleich hohe Werte. Die Gewerkschaftsmitglieder sind deutlich (sehr signifikant) weniger Ich-orientiert als die Nicht-Mitglieder. Es wurde davon ausgegangen, dass die IT-Branche „eine Vorreiterrolle im postmodernen Wandel“ hat (Frankenberger & Meyer, 2008: 76) und sie dementsprechend auch die neuen Arbeits- und Lebensorientierungen besonders repräsentiert. Es müsste sich also bei den jungen Beschäftigten in der IT-Branche eine stärkere Ich-Orientierung finden als bei denen im Gesundheitswesen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung haben das deutlich (statistisch signifikant) bestätigt (Mittelwerte IT-Branche = 2,09; Mittelwerte Gesundheitswesen = 2,29). Auch bei den Beschäftigten bei Banken und Versicherungen liegt die IchOrientierung deutlich höher als im Gesundheitswesen. Die Ich-Orientierung steht mit einer Reihe anderer Orientierungen in einem empirisch signifikanten Zusammenhang, was tiefergehende Aufschlüsse möglich macht.
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Ich-Orientierung
–
Gemeinschaftsorientierung
Zukunftsangst
Autorität
Entgrenzung der Arbeit
Gerechte-Welt-Glaube
Psychischer Druck
Zufriedenheit
Arbeitsdruck
Selbstverwirklichung im Beruf
Gewerkschaftl. Interessendurchsetzung
Identifizierung mit der Arbeit
Solidarismus
Karriereorientierung Anerkennung in privaten Beziehungen Anerkennung in der Arbeit Abbildung 15 Ich-Orientierung
Interessanterweise findet sich ein deutlicher (signifikanter) positiver Zusammenhang zwischen der Ich-Orientierung und der Gemeinschafts-Orientierung. Offenbar gibt es einen Trend, Ich-Orientierung und Gemeinschafts-Orientierung miteinander zu verbinden. Die beiden gegensätzlichen Orientierungen können in verschiedenen Lebenssphären gelebt werden und dabei sogar wechselseitig eine kompensatorische Funktion erfüllen. Z. B. können die Ich-Orientierung im Beruf und die Gemeinschaftsorientierung im Privatbereich handlungsleitend werden. Es findet sich ein sehr deutlicher (signifikanter) Zusammenhang zwischen IchOrientierung und Identifizierung mit der Arbeit, aber kein Zusammenhang zwischen Gemeinschafts-Orientierung und Identifizierung mit der Arbeit. Wenn sich Ich-Orientierung und Gemeinschafts-Orientierung in einer Person heute offenbar nicht mehr ausschließen, macht auch die beliebte Aufteilung junger Menschen in „Ich-linge“ und „Wir-linge“ keinen Sinn. Die Ich-Orientierung begünstigt die Wahrnehmung von Anerkennung der eigenen Arbeitsleistung. Die stärker Ich-Orientierten erfahren für ihre Arbeit mehr Anerkennung im Privatbereich und in der Arbeit selbst, d. h., dass die IchOrientierung im Arbeitsbereich offenbar gefördert wird.
2.5 Ich-Orientierung
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Trotz ihres erhöhten Arbeitseinsatzes fühlen die stärker Ich-Orientierten weniger Arbeitsdruck und psychischen Druck, offenbar weil sie in der Arbeit mehr Selbstbestimmung empfinden. Auf letzteres weist der deutliche Zusammenhang zwischen Ich-Orientierung und Selbstverwirklichung im Beruf hin. Insgesamt zeigen die höher Ich-Orientierten eine höhere Zufriedenheit und weniger Zukunftsangst als die weniger Ich-Orientierten. Diese positiven Selbstaussagen scheinen aber als Basis den Glauben zu benötigen, dass es im Allgemeinen gerecht zugehe auf der Welt. Zumindest findet sich ein sehr deutlicher Zusammenhang zwischen Ich-Orientierung und Gerechte-Welt-Glauben. An dieser Stelle wird deutlich, wie sich die unter den 25- bis 35-Jährigen verbreitete Distanz zu öffentlichen Angelegenheiten durch ein bestimmtes Begründungsmuster erklären lässt: Die Förderung der Ich-Orientierung in den neuen Arbeitsverhältnissen trifft auf eine subjektive Bereitschaft zu erhöhtem Arbeitseinsatz, der als selbstbestimmt erlebt wird. Dadurch wird die Zukunftsangst in Schach gehalten und gleichzeitig die eigene Zufriedenheit erhöht. Das funktioniert aber nur, wenn störende Gedanken über den Zustand der Welt ausgeblendet werden, man sich die Welt im Kleinen und im Großen als gerecht umdeutet. Gut nachvollziehbar scheint nun, dass es einen deutlich negativen Zusammenhang zwischen Ich-Orientierung und gewerkschaftlicher Interessensdurchsetzung gibt, d. h., je stärker die Ich-Orientierung, umso geringer der Bezug zu gewerkschaftlicher Interessensdurchsetzung. Hinzu kommt, dass die Ich-Orientierung in kaum einem Zusammenhang zu den verschiedenen Solidaritätsformen steht. Die Hoffnung, dass aus den Individualisierungsprozessen, aus denen die Ich-Orientierung hervorgeht, ein neues Verhältnis zum politischen und gewerkschaftlichen Handeln entsteht, dass eine neue „Erfindung des Politischen“ (vgl. Beck, 1993) bevorsteht, scheint vor dem Hintergrund der obigen Ergebnisse zumindest verfrüht, wenn nicht gar verfehlt. In den vielen Interviews des Projekts finden sich nur sehr wenige Aussagen zu gesellschaftlicher Verantwortung und zur Kritik an gesellschaftlichen Entwicklungen. Bei der Analyse der Interviews wurde das Konzept der ‚Ich-Orientierung‘ erweitert. Es wurde danach geschaut, inwieweit die Befragten ihre Selbsttätigkeit und ihre Selbstverantwortung für berufliches und privates Vorankommen in den Vordergrund stellen. Die Orientierung an Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung ist zu einem hegemonialen Anspruch geworden (vgl. Honneth, 2002: 146). Daher kann die Ich-Orientierung zu einer Orientierungsform gezählt werden, die sich in
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gesellschaftlichen Verhältnissen bewegt und sich an hegemonialen gesellschaftlichen Vorgaben ausrichtet (vgl. Marvakis, 1996: 47). In Anlehnung an das Handlungskonzept wurde in den Interviews deutlich, dass das Handeln der Befragten, die stark davon überzeugt sind, die Belange ihrer Lebensführung allein und selbstverantwortlich lösen zu können, eher auf Anpassung und Bewältigung ausgerichtet ist. An folgendem Beispiel wird dies deutlich: Stefan, 26 Jahre alt, ist auf dem zweiten Bildungsweg Auszubildender bei einer Versicherungsagentur. Er hatte zunächst eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann absolviert, war damit aber nicht zufrieden und kam dann über einen Bekannten zu der Ausbildungsstelle bei der Versicherung (vgl. I-7: 32-72). Er hatte am Anfang Zweifel, ob die Versicherungsagentur der richtige Arbeitgeber ist. Anfänglich dachte er, bei der ‚Mafia‘ würde er doch nie arbeiten wollen (vgl. ebd. 49). Dann hat er aber für sich die Wichtigkeit von Versicherungen und Versicherungsschutz im Allgemeinen schnell gelernt. Er wird gefragt, ob er einen anderen Blick auf die Versicherungen erhalten hätte, als er angefangen hat zu arbeiten: „Genau. Also auf total andre Sichtweise … die Wichtigkeit der Versicherungen. Und dann kam{en} … dann die Medien oder der Staat ins Spiel, wo uns jetzt auch tatkräftig unterstützt, indem er einfach sagt: ‚Okay, die Renten könnt ihr vergessen (lacht). Ihr müsst privat vorsorgen.‘ Und dann hat’s bei mir natürlich klick gemacht, weil ich gesagt hab: Okay, das ist der Beruf mit Zukunft.“ (I-7: 86-91)
Nachdem er früher die Sichtweise hatte, dass Versicherer ‚Abzocker‘ sind, die den Leuten das Geld aus den Taschen ziehen wollen (vgl. ebd. 53-57), ist für ihn – vermittelt durch die öffentliche Debatte über das Rentensystem – deutlich geworden, dass der Beruf als Versicherungsagent große Zukunftschancen für ihn birgt. Stefan ist stolz, dass die Gesetzgebung seinen Beruf schützt und fördert – und per Gesetz ‚gute‘ von ‚schlechten‘ Versicherungsverkäufern trennt. Er selbst sieht sich nicht als Verkäufer, sondern als Berater. Ihm ist es wichtig, dass die Kunden/ innen angemessen beraten und nicht um der Prämie willen unnütz versichert werden (vgl. ebd. 95-108). Er wird nach seinen Karriereabsichten gefragt: „Also auf jeden Fall will ich nicht stehen bleiben als Betreuer des Kunden, sondern ich will immer weiter höher. Irgendwann möchte ich vielleicht eine eigene Agentur haben oder Agenturen betreuen, d. h. Vertriebsleiter werden. Es gibt so viele Möglichkeiten, da muss man natürlich einen gewissen Erfolg nachweisen, den werd ich auch höchstwahrscheinlich in den nächsten fünf Jahren bringen. Weil, äh, Ehrlichkeit die währt am längsten. Also man kann kurzfristig sehr schnell Geld verdienen, indem man die Leute einfach vollquatscht, oder man entscheidet sich für die langfristige Sache, indem man ehrlich bleibt und dann dauert’s halt ein Jahr oder zwei Jahre länger.“ (I-7: 149-158)
2.5 Ich-Orientierung
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Stefans Karriereziel ist klar: Das mühsame Geschäft als Kundenbetreuer möchte er nicht lange machen. Er möchte die Karriereleiter aufsteigen. Ohne Erfolg ist das nicht möglich, aber er ist sich sicher, dass er diesen erlangen wird. Sein Motto hierbei ist die Ehrlichkeit mit dem Kunden. Im Moment ist die Arbeit sehr anstrengend: Er erzählt, dass er keinen 8-Stunden-Job hat. Potenzielle Kunden/innen kann er oft erst abends nach deren Feierabend treffen. Da kann es schon mal vorkommen, dass man bis 23 Uhr bei einem Kunden sitzt (vgl. ebd. 191-234). Er nimmt dies aber auf sich, weil er sein Ziel vor Augen hat: möglichst schnell nach oben kommen (vgl. ebd. 265 f.). Er wird gefragt, ob er langfristig plant. Er antwortet, dass er das tun muss, schließlich betreut er seine Kunden auch über eine lange Zeit (vgl. ebd. 275-283). Das bezieht sich auch auf seine Karriere, deren Planung er langfristig anlegt: „Also, von heut auf morgen denken, funktioniert nicht, das funktioniert vielleicht am Fließband – wenn er {man} jeden Tag das Gleiche macht. Aber in dieser Branche, auch im Dienstleistungsbereich, das wechselt so gravierend schnell. Da gibt’s irgendwelche Fusionen oder sonstiges dergleichen, wo man dann einfach mit der Zeit gehen muss. Also man kann nicht stehen bleiben. Man muss sich auch immer weiterbilden, man muss {sich} immer Fachwissen aneignen. Weil sonst hat man in zehn Jahren eigentlich keine Chance mehr in diesem Beruf oder in diesem Bereich.“ (I-7: 289-296)
Wenn man langfristig Karriere machen möchte, so Stefan, müsse er ständig den Wandel mit bedenken. Zum einen sind Fusionen zwischen Versicherungen ständig möglich, zum anderen ändern sich gesetzliche Vorgaben o. ä., so dass Weiterbildung zu einem Muss wird. Der Interviewer fragt ihn, ob dieser schnelle Wandel nicht ein Unsicherheitsfaktor in der Karriereplanung sei: „Eigentlich nicht. Weil, man tut ja was dafür. (…) Wenn man sitzen bleibt, also wenn man stehen bleibt mit der Zeit, dann wär’s ein unsicherer, also wär’s ein Faktor, der ziemlich unsicher ist. Weil man dann natürlich nicht langfristig planen kann. Wenn ich nichts tu, kann ich nichts erreichen.“ (I-7: 301-308)
Der ständige Wandel in seiner Branche ist für ihn kein Unsicherheitsfaktor. Diesen Unsicherheiten kann man begegnen, indem man sich selbst in Bewegung hält – mit der Zeit geht. Durch seine Aktivität in Bezug auf seine Karriere und Fortbildungen kann er an seinen langfristigen Planungen festhalten. Stefans Handeln ist von der Verantwortung geprägt, die er sich und seiner Zukunft gegenüber hat. Er hat klare Vorstellungen davon, wie seine Zukunft aussehen soll – Karriere, Hausbau, Familiengründung. Daher ist sein Grundsatz, ob seine Handlungen von heute ihm morgen nützlich sind:
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Das war nicht immer so in seinem Leben, sagt Stefan. Erst seit seiner Anstellung bei der Versicherung hätte er begonnen, eine solche Geradlinigkeit in sein Handeln zu bekommen. Früher hätte er viel Party gemacht, hätte oft das Geld von seinem Zahltag innerhalb einer Woche ausgegeben (vgl. ebd. 834-845). „Aber seitdem ich jetzt hier auf der Versicherungsseite bin, oder hier in der Finanzdienstleistung, sehe ich auch die Verantwortung, die ich hab. Und ab dem Zeitpunkt hat sich mein Leben eigentlich gravierend verändert. Also auch meine Eltern bestätigen das und sagen, ich bin ein ganz anderer Mensch geworden durch diesen (…) Beruf.“ (I-7: 845-850)
Die neue Umgebung seines Berufsfeldes hat ihn geprägt und ihm deutlich gemacht, dass er Verantwortung hat: Verantwortung für sein Handeln, für seine Biografie. Stefan wird abschließend nochmals gefragt, ob es ihn nicht verunsichert, dass sein Arbeitgeber mit einer anderen Versicherung fusioniert. Er verneint: „Nein, im Gegenteil. Also der Innendienst wird vielleicht rationalisiert, d. h., die Leute, die dann im Büro rumsitzen, in der Direktion irgendwelche Anrufe entgegennehmen, weil … das sind die ersten, wo fliegen. Und ein guter Außendienstmitarbeiter, der wird nicht gefeuert. Oder ein guter Selbstständiger. Gut, den kann man sowieso nicht feuern. Aber die Leute, die gut sind, werden nicht gefeuert. Und die Fusion {Namen der Versicherungen} ich sehe da wieder als Vorteil an. Das bringt mich noch weiter in meiner Karriereplanung.“ (I-7: 886-892)
Für sich selbst sieht Stefan keine Gefahr. Selbstbewusst sagt er, dass Außendienstmitarbeiter nicht gekündigt werden. Den guten Leuten würde sowieso nicht gekündigt. Auf die Fusion ist er sogar gewissermaßen stolz, sie würde seiner Karriere eher nützlich sein, denn dadurch würde die Versicherung zu einer der größten Europas. Damit wächst auch die Reputation. Der Interviewer konfrontiert Stefan mit dem Satz: „Arbeitnehmer/innen im Dienstleistungsbereich müssen heute große berufliche und private Unsicherheiten bzw. Risiken auf sich nehmen“ (vgl. ebd. 909-914). Stefan äußert sich dazu:
2.5 Ich-Orientierung
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„Das würde ich nicht so sagen. Klar, der nichts tut! … Ich sag mal so: Der wird Angst haben. Der wird sagen: Oh, Gott, die haben fusioniert, ich werd’ gekündigt. Aber wer doch gut ist, wer super Leistung bringt, der wird doch nicht gefeuert. … Also der dürfte sich keine Sorgen machen. Und grad jetzt; gut, Deutschland ist nicht kinderfreundlich. Aber … Familien, die sind auch nicht die ersten, wo fliegen. Also die ersten, die wirklich tatsächlich aus einem Unternehmen rausgeschmissen werden, find ich dann auch berechtigt, das sind die Leute, die die Leistung nicht bringen. (…) Wenn du dir das so vorstellst: Ein Büro mit vier Leuten. Jeder kriegt 2000 Euro Netto. Der eine legt die Füße auf den Tisch, die anderen arbeiten wirklich zehn Stunden für das gleiche Gehalt. Dann würde, glaube ich, jeder im Büro sagen: Äh, derjenige, der die Füße auf den Tisch legt, der soll da raus. Und so ist es ja am Anfang. Wer keine Leistung bringt, fliegt.“ (I-7: 916-928)
Stefan stimmt der Aussage nicht zu, dass junge Arbeitnehmer/innen im Dienstleistungsbereich stärker Risiken auf sich nehmen müssen. Dieser Satz könne nur für jemanden gelten, der nichts tue. Diejenigen, die Leistung bringen, haben letztlich nichts zu befürchten. Er ist davon überzeugt, dass bei einem Stellenabbau vor allem diejenigen ‚gefeuert‘ werden, die den Leistungsanforderungen des Arbeitgebers nicht genügen. Stefan hat den Satz ‚Jeder ist seines Glückes Schmid‘, gleichsam ein Synonym für die Ich-Orientierung, stark verinnerlicht. Seine Leistung, sein Engagement – weit über das Soll hinaus – wird sich eines Tages bezahlt machen, dessen ist er sich sicher. Aber es gibt auch Brechungen. Er möchte, wenn er mal mehr Geld verdient, vor Kunden nicht damit angeben. Denn dann würde man gegenüber seinem Kunden abwertend. Und das möchte er auf jeden Fall vermeiden. „Weil, es kann auch mich erwischen, dass ich arbeitslos werd’. Obwohl ich vielleicht meine Ziele hab. Dann muss man halt einen anderen Weg gehen, um an das Ziel zu kommen.“ (I-7: 1041-1043)
Auch er kann arbeitslos werden. Aber mehr lässt er an Gedanken nicht zu. Denn er hat seine Ziele. Und wenn er diese nicht mit diesem Weg erreichen konnte, muss er einen anderen einschlagen. Folgendes Bild nennt er, um dies zu verdeutlichen: „Es gibt so ein schönes Beispiel … mit einem Huhn und einer Glasscheibe und dahinter sind die Körner. Das Huhn wird nie außen rum gehen, sondern immer direkt auf die Glasscheibe und wird nicht zum Essen kommen. Während ein Affe, der geht halt außen rum. Also, mit so einem Beispiel: Verschiedene Wege führen nach Rom, ne?“ (I-7: 1055-1059)
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Dieses Beispiel aus der Tierwelt verdeutlicht nochmals seine Haltung: Es gilt, den Weg um die Glasscheibe herum zu finden, um an dem Reichtum der Welt teilhaben zu können. Stefan glaubt daran, dass er durch sein Schaffen, seine Leistung nach ‚oben‘ kommt. Er sieht sich als Macher seiner (Arbeits-)Biografie. Freizeit, private Kontakte müssen zurückgestellt werden, die Freundin muss akzeptieren, dass man abends erst spät nach Hause kommt. Ihn belastet, dass man immer freundlich sein muss zu den Kunden/Kundinnen. So kann es bei ihm schon vorkommen, dass er zu Hause mal Druck ablassen muss und ‚lautstark‘ wird (vgl. ebd. 510-584). Stefan ist in seiner Haltung ein sehr ausgeprägtes Beispiel innerhalb der Interviews. Er vereinigt in seiner Orientierung alle Merkmale, die auch in der quantitativen Zusammenhangsanalyse festgestellt wurden, wie den GerechteWelt-Glauben als auch die Skepsis gegenüber Gewerkschaften. Sein GerechteWelt-Glaube zeigt sich in seiner Überzeugung, dass er nur um die Scheibe herumgehen muss, um an die Körner zu kommen – anders formuliert: Durch eigene Leistung wird er seine Karriere zimmern. Gegenüber Gewerkschaften zeigt er sich ablehnend. Man würde Beiträge zahlen, aber „in den Genuss von Lohnerhöhung“ kämen dann auch die Nicht-Mitglieder (ebd. 486). Er meint darüber hinaus, dass in ‚anderen Branchen‘ eine Gewerkschaft nützlich sei, aber nicht im Dienstleistungsbereich, der von starkem Wandel geprägt ist. In den Gewerkschaften säßen „ja gerade die Älteren, die nicht mehr so mit der Zeit gehen wollen“ (ebd. 497 f.). Ein weiterer Aspekt des Gerechte-Welt-Glaubens ist das Fehlen einer Auseinandersetzung mit dem aktuellen politischen Geschehen. Es gibt ein Interesse, aber lediglich auf der Ebene, was eine Debatte über die Unsicherheit späterer Renten ihm (beruflich) nützen kann. Stefan ist letztlich der Ansicht, der alleinige Gestalter seiner Lebensführung zu sein, und passt sich mit seinem Verhalten in eine bestimmte gesellschaftliche Erwartungshaltung ein. Der hegemoniale Anspruch, seines eigenen Glückes Schmied zu sein, mit dem Versprechen, dass mit Leistung dies machbar sei, führt zu einem bedingungslosen Sichbeugen unter die vorgegebenen Arbeitsbedingungen. In bestimmter Weise passt Stefan zu Richard Sennets „flexiblen Menschen“ (Sennett, 1998a): Man muss die Verantwortung für sein eigenes Tun und Lassen tragen. Als Einzelner lässt sich nichts gegen das Treiben großer Konzerne, bzw. in diesem Fall Versicherungen, unternehmen. Ergo muss man das Beste aus diesen unsicheren Zeiten ziehen und gegebenenfalls den Untergang einer Versicherung nutzen, um in seiner Karriere bei einer anderen weiter nach oben zu kommen.
2.5 Ich-Orientierung
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Stefan ist – wie beschrieben – ein besonderes Beispiel für eine Ich-Orientierung. Dennoch traf das Projektteam in vielen Interviews auf Versatzstücke eines solchen Denkens. Einige Befragte stellen in Bezug auf den gesellschaftlichen Wandel eine Zunahme von Ich-Bezogenheit fest (vgl. u. a. I-19, I-40). Tina, Betriebsrätin und aktive Gewerkschafterin, wird danach gefragt, ob sie einen gesellschaftlichen Wandel sieht und wenn ja, worin er sich für sie äußert. Sie erzählt von ihrer Beobachtung, dass die Auszubildenden in ihrem Betrieb zwar mit einem enormen Wissen die Schule verlassen, aber soziale Kompetenz und Einfühlungsvermögen kaum vorhanden sind (vgl. I-19: 943-970): „Und das ist gesellschaftlicher Wandel, der so eine Art, wie soll ich das sagen, die {die Auszubildenden} fühlen sich, die sind alle egozentrisch. Also, sie stehen selber im Zentrum und alle anderen gehören eigentlich … in den Außenkreis, und manche sind im Innenkreis: Aber man selber steht im Zentrum und die eigenen Belange und die eigenen Bedürfnisse sind eben die wichtigsten.“ (I-19: 970-979)
Der gesellschaftliche Wandel zeigt sich ihr in der Gruppe ihrer Auszubildenden, die alljährlich in ihren Betrieb eintreten. Wissen bringen sie genügend mit, aber den Blick auf Nöte anderer Menschen, der in dem Betrieb eine wesentliche Voraussetzung ist, haben sie nicht. Sie berichtet, dass in den Schulen viele Jahre Kinder und Jugendliche darauf getrimmt wurden, zu sich selbst zu stehen. Das sei auch wichtig, aber die andere Seite – die sozialen Fähigkeiten – wurden vernachlässigt. Erst jetzt würde man wieder anfangen, Projekte in den Schulen zu starten, die das soziale Miteinander fördern (vgl. ebd. 979-1012). „Das ist hier eine 1-Personen-Gesellschaft. Also, ich bin eins und der neben mir ist auch eins und der daneben ist eben auch eins und – aber es sind selten mal 5 gemeinsam. (…) Ja, also das (…) ist eine Tendenz, die mir persönlich überhaupt nicht behagt. Na gut, vielleicht ändert sich das ja wieder. Es kann sich wieder umkehren und auf Dauer, mal gucken.“ (I-19: 1012-1027)
Zusammenfassend meint Tina, dass sie die jungen Beschäftigten als eine Gesellschaft von einzelnen Individuen erlebt, dass das Gefühl, gemeinsam in einer Gruppe etwas erreichen zu können, verloren gegangen sei. Sie äußert die Hoffnung, dass sich das wieder ändert. Tina verweist durch ihren Bezug auf die Schulprojekte darauf, dass die IchOrientierung nicht nur mit dem Wandel der Arbeitswelt zusammenhängt, sondern auch andere gesellschaftliche Bereiche betrifft. Es bleibt die noch zu beantwortende Frage, wie man der Tendenz zu einer Ich-Orientierung, die sich mit einer Distanz zu öffentlichen Angelegenheiten ver-
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bindet, begegnen könnte. Sicher reichen hier politische Bildung und Gemeinschaftskundeunterricht nicht. Gewerkschaftliche Aktionen und Aktivitäten müssten eine stärkere kritisch-politische Komponente erhalten, die den Blick über den Tellerrand des eigenen Ichs hinaus fördern. Die Folgen der Wirtschaftskrise für die Einzelnen können auch dazu beitragen, die Illusion zu zerstören, dass die IchOrientierung die Lösung ist und nicht das Problem. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang, bei der konkreten Mitbestimmungsarbeit an der bei den jungen Beschäftigten gleichermaßen vorhandenen Gemeinschaftsorientierung anzuknüpfen. 2.6 Zukunftsorientierung Die 25- bis 35-Jährigen fühlen sich im Hinblick auf die Zukunft tendenziell eher unternehmungslustig, zuversichtlich und geben an, eine konkrete Vorstellung darüber zu haben, wie ihr Leben zukünftig verlaufen soll. Sie scheinen im Bezug auf die Zukunft wenig ängstlich oder deprimiert zu sein. Dementsprechend zeigt der „Zukunftsangst-Index“ auf einer Skalierung von 1 bis 6, wobei 1 für zustimmend und 6 für überhaupt nicht zustimmend steht, den Mittelwert von 4,48. Dieser Index ist aus folgenden Items zusammengesetzt: Wenn ich an das kommende Jahr in meinem Leben denke, so fühle ich mich:
ängstlich, nicht zuversichtlich, nicht unternehmungslustig, deprimiert, es beunruhigt mich, dass die Zukunft so unsicher ist.
Der Mittelwert des Indexes weist deutlich darauf hin, dass die Zielgruppe hinsichtlich ihrer Zukunft im Durchschnitt positiv gestimmt ist. Die folgende Grafik zeigt, dass die Befragten eher positiv auf die Zukunft eingestellt sind.
2.6 Zukunftsorientierung
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Abbildung 16 Subjektive Zukunftsperspektive der 25- bis 35-Jährigen
Somit stellt sich die Frage, worauf sich diese optimistische Zukunftsperspektive gründet. Würde sie von der jeweiligen objektiven Lage bestimmt, müssten sich deutliche Unterschiede zwischen sozialen Untergruppen mit unterschiedlicher Lage finden. Auffällig ist aber, dass zwischen verschiedenen Personengruppen zwar Abweichungen festzustellen sind, was die Zuversicht im Hinblick auf die Zukunft anbelangt, dass aber insgesamt eine relativ einheitliche Tendenz bei allen untersuchten Gruppen in Richtung auf optimistische Zukunftsperspektiven sichtbar wird.
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Abbildung 17 Zukunftsperspektive und soziale Lage
Die Befragten unterscheiden sich in ihrer Sicht auf die Zukunft nicht stark voneinander, trotz unterschiedlicher Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Entscheidender als der jeweilige soziale Standort ist offenbar, ob die einzelne Person den Verlauf des eigenen Lebens als selbstbestimmt oder fremdbestimmt deutet. Des Weiteren, inwieweit Selbstverwirklichung in und Identifizierung mit dem Beruf möglich sind und wie die eigene Lebens- und Arbeitssituation eingeschätzt wird. Für einen Vergleich zwischen zukunftssicheren und zukunftsunsicheren jungen Menschen wurden mithilfe des Indexes „Zukunftsangst“ zwei Gruppen gebildet. Ein ablehnender Wert bei dem ZukunftsangstIndex wurde als zukunftssicher festgelegt, während ein zustimmender Wert als zukunftsunsicher gewertet wurde. Bei allen in der folgenden Grafik aufgeführten Mittelwerten steht der Wert 1 für voll zustimmend und 6 für überhaupt nicht zustimmend. Die dargestellten Unterschiede sind jeweils statistisch sehr signifikant.
2.6 Zukunftsorientierung
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Abbildung 18 Zukunftsperspektiv und subjektive Lage
Aus dem Index „Ich-Orientierung“ geht hervor, dass diejenigen, die eher zuversichtlich in die Zukunft blicken, sagen, dass ihr Leben hauptsächlich von ihnen selbst abhängt und dass jeder selbst für seine eigene berufliche Entwicklung verantwortlich ist. Dagegen sagen diejenigen, die eher zukunftsunsicher sind, dass ihr Leben eher nicht von ihnen selbst abhängt, sondern eher von äußeren Umständen oder von anderen Menschen. Des Weiteren zeigt sich, dass die hohe Zustimmung bei den Indizes „Selbstverwirklichung im Beruf“, die „Identifikation mit der Arbeit“, sowie bei der Einschätzung eher nicht „entgrenzter Arbeit“ für eine optimistische Zukunftssicht spricht. „Arbeitsdruck“, „Zeitdruck“ und „psychischer Druck“ werden von den Zukunftssicheren weniger wahrgenommen. In diesem Zusammenhang findet sich eher eine allgemeine „Zufriedenheit“, der Eindruck allgemein gerechter Behandlung (Index „Gerechte-Welt-Glaube“) und „Anerkennung ihrer Arbeit in persönlichen Beziehungen und in der Arbeitsstelle“. Diese positiven Einschätzungen und die damit zusammenhängende Zuversichtlichkeit für die Zukunft überraschen, wenn man sich die Antworten auf die
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Frage nach dem allgemeinen gesellschaftlichen Wandel genauer anschaut. Mit 63 % ist der Großteil der Befragten der Meinung, dass der „Druck in allen Lebenslagen zugenommen hat“. Dennoch sehen sie sich persönlich nicht von dieser Zunahme betroffen. Die 25- bis 35-Jährigen zählten in den Interviews zahlreiche Situationen auf, worin sie gestiegene Anforderungen in ihren Arbeits- und Lebensfeldern feststellen können, wie z. B. Personalmangel oder die Vereinbarung von Familie und Beruf. Dennoch empfinden sie sich persönlich im Umgang damit selbstbestimmt und machen sich, was ihre Zukunft anbelangt, deswegen wenig Sorgen. Diese Diskrepanz zwischen der Einschätzung der generellen Situation und ihrer eigenen, auch was die Zukunft betrifft, gibt ein Hinweis darauf, dass die subjektive Stellungnahme relativ unabhängig ist von den Bedingungen, auf die sie sich bezieht. Daraus kann gefolgert werden, dass die Vorstellungen der 25bis 35-Jährigen von der persönlichen Zukunft in Abhängigkeit von der eigenen subjektiven Konstruktion von Wirklichkeit stehen. Bei den durchgeführten Interviews ergaben sich in diesem Zusammenhang verschiedene Spannungsfelder. Die meisten Befragten haben sich im Hinblick auf ihre Zukunft zwischen einer konkreten und einer offenen Vorstellung bewegt, des Weiteren zwischen Veränderungs- und Kontinuitätswünschen. Bei der Frage „Wo siehst du dich in 10 Jahren?“ haben die Interviewten positive Perspektiven, wie z. B. Aufstiegschance, Karriere und Familienplanung, hervorgehoben. Zukunftssorgen kamen so gut wie nicht vor und konnten nur indirekt erschlossen werden. Für die Lebensplanung spielen auch Wünsche, Träume und Hoffnungen eine große Rolle, diese werden im Folgenden nicht einzeln betrachtet, sondern finden ihre Berücksichtigung in den unterschiedlichen Spannungsfeldern. Zwischen konkreter und offener Lebensplanung Die Lebensphase der 25- bis 35-Jährigen ist stark geprägt von dem Übergang zu einem selbstständigen Leben. Damit ist u. a. das Ablösen von der Herkunftsfamilie gemeint, um ein eigenständiges Leben zu führen, einen eigenen Haushalt und eine eigene Familie zu gründen. Hinzu kommen der Berufseinstieg und die damit verbundene finanzielle Unabhängigkeit. Ausgehend von dieser angestrebten Selbstständigkeit ist das zentrale Thema junger Menschen ihr Verständnis von Selbstbestimmung. Der Blick in die Zukunft und die damit zusammenhängende Lebensplanung knüpft an dieses Verständnis an. Dabei ist es besonders
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auffällig, dass die Lebensplanung offen gehalten wird, um dem Verständnis von Selbstbestimmung zu entsprechen. „Also einen Plan gibt es bei mir in dem Sinne nicht. Weil, ich weiß nicht warum, aber ich bin ein Sonntagskind.“ (I-10: 247-248)
Sven ist 25 Jahre alt. Er arbeitet seit drei Jahren als Krankenpfleger im Raum Stuttgart. Seine Situation zum Zeitpunkt des Interviews ist für ihn mit der Herausforderung verbunden, neben der Arbeit die Schule zu besuchen, um später an der Fachhochschule studieren zu können. Im Hinblick auf die Zukunft erkennt er angesichts des Wunsches zu studieren die damit verbundenen finanziellen Schwierigkeiten (I-10: 27). Schließlich möchte er seinen Beruf „definitiv für das Studium kündigen“ (I-10: 27-28). Die Anforderungen in seinem Berufsfeld sind seiner Ansicht nach dadurch gestiegen, dass die Arbeitstechniken immer weiter fortschreiten. Für ihn stellt dies allerdings eher eine Herausforderung und weniger ein Problem dar. „Also für mich persönlich ist es jetzt nicht so das Problem, weil ich … mich noch als relativ jung bezeichne und dementsprechend auch noch lernfähig bin und anpassungsfähig.“ (I-10: 123-125)
Die Weiterbildungsmaßnahmen, die damit verbunden sind, findet er sehr positiv. „Für mich jetzt persönlich ist {das} eher ein zeitlicher Druck. Also ich empfinde es jetzt nicht so schlimm, jetzt als Megadruck, der mich jetzt dann zu Hause belastet. Wenn ich mich nicht weiterbilde, komme ich auch nicht weiter und es gehört nun mal zum Berufsalltag dazu (…) weil Weiterbildung gehört einfach dazu, dass man persönlich auch ein bisschen weiterkommt (…), lernen macht auch Spaß, zumindest manchmal. Und ich empfinde das nicht so arg als persönlichen Druck.“ (I-10: 139 150)
Sven ist schließlich mit den Weiterbildungsmaßnahmen, die sein Beruf erfordert, nicht privat konfrontiert, sondern im Zusammenhang mit der Arbeit. Sven reflektiert in diesem Zusammenhang, dass die Weiterbildung nicht entlohnt wird: „Natürlich freut sich mein Arbeitgeber, wenn ich mich dementsprechend weiterbilde. Aber es ist gerade in meinem Beruf so, du hast dann einfach ein besseres Gefühl in deiner Arbeit, die du tust, in der Patientenversorgung. Je mehr ich weiß, kann und tue, desto besser ist es auch für die Patienten und desto besser ist die Qualität und dann freut sich mein Arbeitgeber ganz arg drüber; aber ich kriege trotzdem keinen Pfennig mehr.“ (I-10: 166-171)
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Im weiteren Verlauf des Interviews beschreibt er weitere Schwierigkeiten, die sein Beruf mit sich bringt, u. a. „privat abzuschalten“, da es sich um eine soziale Tätigkeit handelt. Dies wurde ihm vor allem bei manchen Arbeitskollegen bewusst. Er selbst verbindet damit keine Schwierigkeiten: „Aber ich muss ganz ehrlich sagen (lacht) für mich, ich hab damit noch nie ein Problem gehabt“ (I-10: 184-186). Auf die Frage, was für Ziele er verfolgt, antwortet er Folgendes: „Mein Ziel war eigentlich immer irgendwie, dass ich halt mit dem zufrieden bin, was ich mach und ich irgendwie kein schlechtes Gewissen haben muss.“(I-10: 211-213)
Als Jugendlicher gab er das Abitur auf: Dies bewertet er als „persönliche Dummheit“ (I-10: 214) und beschreibt weiter: „Das ist das Einzige, was ich jetzt bereuen würde; weil, dann wäre ich gar nicht in dem Beruf gelandet, sondern wäre wahrscheinlich gleich studieren gegangen, aber im Prinzip muss ich sagen, bereue ich es eigentlich nicht, weil, es ist halt so gewesen.“ (I-10: 216-220)
In diesem Zusammenhang kommt die Einstellung zu seinem Beruf hervor. Obwohl der Beruf ihm Spaß macht, empfindet er ihn als „unterbezahlt“. Des Weiteren wird der Beruf nicht seinen Vorstellungen gerecht, weil es keine Aufstiegsmöglichkeiten gibt. Vor allem im Bezug auf Entlohnung erkennt er für sich nur einen Aufstieg in der Gehaltsgruppe durch Familienzuwachs. Er blickt außerdem aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen optimistisch auf seinen zukünftigen Lebensweg. „Ich möchte jetzt nicht sagen, mir fällt alles irgendwie in den Schoß, aber ich hab schon in vielen Lebenslagen einfach Glück gehabt und ich weiß nicht, eine Strategie hatte ich nicht dafür. Ich versuche einigermaßen zielstrebig, das zu erreichen, was ich will, und das klappt irgendwie immer. Auch wenn es vielleicht ein bisschen länger dauert und ich mir vielleicht zwischendrin Pausen gönne, aber eigentlich komme ich immer dahin, wo ich will. Meistens. Und ich weiß nicht, ich mach mir da nicht so viel große Gedanken drüber. Also, ich habe jetzt keinen Punkteplan, der jetzt heißt: Ich muss jetzt das machen oder ich muss so sein, damit ich das und das erreich’. Ich nehme es einfach so, wie es kommt, und mach dann. Hört sich vielleicht ein bisschen abgedroschen an, aber jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Das ist so ein Leitsatz, auch mein Leitsatz, und wenn mir was nicht passt oder ich irgendwo anders hinwill, dann muss ich einfach auch selber dafür sorgen, ganz einfach.“ (I-10: 248-261)
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Sven gehört eindeutig zu denjenigen, die sagen, dass ihr Leben selbstbestimmt verläuft. Wenn etwas nicht so läuft, wie er das möchte, dann empfindet er es als selbstverständlich, „selbst dafür zu sorgen“. Seine Begründung dafür ist, dass „jeder seines eigenen Glückes Schmied“ ist. Es kommt allerdings hinzu, dass er sein Leben offen und flexibel plant. Dabei stehen keine bestimmten Ziele, sondern einzig seine persönliche „Zufriedenheit“ im Zentrum seines Handlungsbewusstseins. Des Weiteren baut er dabei ganz besonders auf die positive Erfahrung auf, die er bereits gemacht hat, und auf das Verständnis von sich als „Sonntagskind“. Eine offene Haltung in Bezug auf die Zukunft ist in weiteren Interviews feststellbar, wie z. B. bei Manu: „Also ich überlasse das manchmal auch so ein bisschen dem Fluss der Zeit: Was kommt und dann muss man schauen, wie man mit dem dann umgeht, genau.“ (I-18: 1395-1404)
Manu (30 Jahre) ist in einem befristeten Arbeitsverhältnis als Erzieherin zu 100 % eingestellt. Ihre beruflichen und privaten Ziele konnte sie bisher nicht erreichen. Beruflich hat sie gezielt an einer Fortbildung teilgenommen, um in weiterer Folge das Gelernte bei ihrer Arbeit umzusetzen. Dies ist ihr allerdings nicht gelungen. „Also in Bezug auf die Arbeit hatte ich mir das Ziel gesetzt, eine Fortbildung zu machen zu einem bestimmten Thema, und die hab ich auch gemacht. Nur dann das weiterführende Ziel war für mich, dass ich das in der Arbeit umsetz’. Und da merke ich jetzt einfach momentan, dass das in der Arbeit nicht klappt. Einfach auf Grund von bestimmten Begebenheiten. Neben der Arbeit das umzusetzen, das pack ich ja einfach zeitlich nicht, des ist mir dann einfach zu viel.“ (I-18: 656-681)
Ihre Zukunftsvorstellungen im privaten Feld haben sich ebenso noch nicht erfüllt: „Ich hab vielleicht gedacht, ich bin mit 30 mal verheiratet, aber das Ziel hab ich leider noch nicht erreicht, aber das ist auch okay.“ (I-18: 686-692)
Sie betont in diesem Zusammenhang, dass sie das nicht „in eine Krise stürzen lässt“(I-18: 693-694). Nur im Hinblick darauf, wo sie sich in 10 Jahren sieht, denkt sie, dass das mit der Heirat zutreffen wird. Sie schätzt, dass sie wahrscheinlich „eventuell zwei“ Kinder haben wird und ein Haus. Ihr Wunsch ist, sowohl den Beruf nicht aufzugeben als auch für die Kinder da zu sein (I-18: 703-711).
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Dabei drückt sie aus, dass die Zukunft nicht bestimmbar ist: „Ja, also das wünsche ich mir. Aber wie gesagt, wie es dann in ein paar Jahren ist, weiß man nicht. Ich vermute mal, dass es nicht so sein wird“ (I-18: 1309-1316). Beruflich ist es unsicher, ob sie weiter dort arbeiten möchte. Die sozialpädagogische Tätigkeit liegt ihr mehr als das, was sie gerade im Kindergarten macht (I-18: 1316-1325). Auf die Frage, wie sie damit umgeht, um ihre Ziele zu erreichen, und wie sie zum eigenen Lebensplan steht, antwortet sie wie folgt: „Also ich hab jetzt keinen Lebensplan. Dass ich jetzt sag, bis ich 30 bin, will ich das erreichen und bis ich 35 bin, möchte ich dieses erreichen (…) Meine Strategie ist, dass es mir gut geht und dass ich zufrieden bin. (…) Aber nicht, dass ich sag, ich setz alle Hebel in Bewegung, um irgendwas zu erreichen. (I-18: 1374-1404)
Ähnlich wie Sven ist Manus Ziel das eigene persönliche Wohlbefinden. Sie möchte dabei mit einer offenen und flexiblen Haltung das, was auf sie zukommt, meistern. Sie hat sich zwar Ziele gesetzt, hält sich aber andere Optionen offen. Junge Menschen sind im Zuge der fortschreitenden Modernisierung immer mehr dazu gezwungen, sich in ihrer alltäglichen Lebensführung und in ihrer Lebensplanung auf einen ständigen Wandel von Lebenslagen und Rahmenbedingung einzustellen. Dies behindert eine langfristige Lebensplanung und fördert das Lebensmotto „nichts Langfristiges“ (Sennett, 1998a: 27). Nach Anthony Giddens stehen sie unter einem stärkeren Handlungs- und Legitimationsdruck in ihrer Lebensplanung. Dieser erfordert zum einen eine „reflexive Regulierung und Steuerung“ der Lebensgestaltung und zum anderen Selbstorganisation und Selbstvertrauen (Lemmermöhle, Große, Schellack & Putschbach, 2006: 26). Zudem werden die vielfältigen Lebensgestaltungsmöglichkeiten von den jungen Menschen, die sich selbst in einer Übergangsphase in ihrem Lebenslauf wahrnehmen, subjektiv positiv bewertet und erfordern eine offene Lebensplanung. Die Entwicklung des Lebenslaufes ist längst nicht mehr linear strukturiert. Die duale Struktur von Produktion und Reproduktion, bzw. Beruf und Familie scheint nicht mehr eindeutig bestimmbar zu sein. Auch die „Entwicklungsaufgaben“, die mit bestimmten Lebensphasen einhergingen, sind nicht mehr vorgegeben. Es scheint eine Entgrenzung stattgefunden zu haben, die die etablierten Strukturen auflöst oder mit neu gewonnen Strukturen vermengt. „Aus Entweder-oder werden Und-Strukturen“ (Böhnisch, Lenz & Schroer, 2008: 9 f.). Damit einhergehend werden lineare Konstruktionen im eigenen Lebensplan hinterfragt. Des Weiteren sind junge Menschen bei der Bestimmung ihrer Lebensplanung damit konfrontiert, nicht mehr auf Erfahrungsräume ihrer Vorgeneration zurückgreifen zu können, sondern sie sollen selbst bestimmen, wie ihrer Zukunft
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aussehen soll. Dies wiederum bewegt sich innerhalb aktuell wahrnehmbarer Möglichkeitsräume und individuell sinnvoll anerkannte Lebenswege. Zwischen Veränderungs- und Kontinuitätswünschen „Das kommt dann, wie es kommt. Also, mehr gibt’s da nicht zu planen, also ich fühl mich in dem Beruf wohl und letztendlich halt des Studium noch. Muss man einfach angehen, um später halt variabel sein zu können.“ (I-06: 340-343)
Jochen ist 26 Jahre alt, ledig, kinderlos und arbeitet seit vier Jahren in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis als Erzieher in Raum Stuttgart. Obwohl er eine sichere Existenzbasis hat und der Beruf ihn Spaß macht, möchte er einen neuen Weg einschlagen und zurückgehen in den Norden Deutschlands, wo er aufgewachsen ist. Dort möchte er ein Studium beginnen: „Ja, gut, beruflich steh ich ja kurz vorm Wechsel. Ich möchte jetzt nach diesem Schuljahr dann schon das Studium noch mal angehen zum Sozialpädagogen; äh, wo ich immer so ein bisschen auch in der Zwickmühle häng, wo ich sag, eigentlich passt das Berufsfeld hier perfekt. Schulkinder betreuen im Gruppendienst, was ich wahrscheinlich später als Sozialpädagoge nicht mehr machen kann, weil ich dann zu teuer bin; aber andersrum, müsst ich es jetzt halt einfach mal angehen, weil ich denk, später mal, irgendwann mit 40 studieren, wird wahrscheinlich auch schwierig.“ (I 06: 291-304)
Jochen würde die Veränderung in seinem Leben nicht auf sich nehmen, wenn das Gehalt als Erzieher „noch um einiges höher wäre“ (I-06: 312-313). Auch schränken ihn die wenigen Aufstiegsmöglichkeiten in seinem Berufsfeld ein. Mit dem Studium möchte er schließlich „variabel“ sein und seinen Möglichkeitsraum erweitern. Er verfolgt mit dem beabsichtigten Ortswechsel das Ziel, im Norden „Fuß zu fassen.“ Für ihn ist die „norddeutsche Mentalität irgendwie lockerer“ und „sympathischer“. Die Veränderung, die er in seinem Leben beabsichtigt, ist mit einer Ungewissheit belastet. Diese Ungewissheit steht in einer Spannung zu seiner jetzigen sicheren Arbeitssituation: „Ich hab einen unbefristeten Vertrag; ich war halt früh dran. Also das wird für mich auch später spannend, ob ich dann überhaupt später noch mal in den Genuss komm, gut als Chef, dann sicherlich, aber wenn ich überhaupt so was krieg. Im Tagdienst ist es schwierig zurzeit, sag ich mal, da guckt man dann lieber nach einer neuen Fachkraft, die dann wieder für zwei Jahre da ist (…). Das ist die Tendenz, wo man zurzeit spürt. Ja.“ (I-06: 438-448)
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2 Lebensführung und Orientierung unter (Modernisierungs-)Druck
Er sieht ein, dass seine Zukunft ungewiss ist, gibt aber dennoch zu verstehen, dass ihn die Suche nach Veränderung optimistisch stimmt, vor allem, weil er in der Zukunft als 50-Jähriger sich nicht mehr in dem Beruf als Erzieher vorstellen kann. „Ungewiss … ja, aber ich hab mir das Ziel gesetzt, einfach das Studium zu machen, einfach fürs Alter. (…) Ich glaub nicht, dass ich mit 50 hier das leisten kann. (…) Und von dem her geh ich das jetzt mal an und bin da einfach optimistisch, dass das wird. Ja.“ (I-06: 453-460).
Seine Absicht, Süddeutschland zu verlassen, hat vor allem damit zu tun, das er es schwierig empfindet „nette Leute, Gleichgesinnte, einfach mal kennen zu lernen“ (I-06: 504-505). In Norddeutschland, wo er aufgewachsen ist, hat er andere Erfahrungen gemacht. Und so hofft er, dass die Menschen dort „offener und kontaktfreudiger sind“ (I-06: 524). Des Weiteren erhofft er sich „mehr Kultur, mehr grüne Fläche“. Allgemein glaubt er, „dass es mehr zu ihm passt“. Was seine Berufsaussichten anbelangt, ist er positiv gestimmt: „Ob es beruflich dann funktioniert oder nicht, das wird sich dann beweisen. Aber ich denk, Norddeutschland ist groß, da müsste doch hier oder da für jeden irgendwo eine Stelle frei sein“ (I-06: 613-616). Während für Jochen der Wunsch nach Veränderung zum einen aus privaten und zum anderen aus beruflichen Gründen erklärt werden kann, folgt Christians Wunsch nach Veränderung einer anderen Logik: „Ah, das ist schwierig. Also zum einen denke ich, ich fühle mich an dem Platz, wo ich jetzt bin, im Großen und Ganzen recht wohl. Also, ich habe das Glück, ein sehr gutes Kollegium um mich zu haben, und dass die Widrigkeiten, die durch die schlechteren Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen gang und gäbe sind, dass die dann ein bisschen abgefedert sind. Insofern ist das schon so etwas, wo ich denke, ich finde das gut, ich fühle mich da wohl, aber ich will eigentlich keinen Beruf machen, bei dem ich weiß, da bleibe ich auch genau in der Situation für den Rest, bis zum Rentenalter (…) Ich will mich weiterbilden, weiterentwickeln.“ (I-28: 704-724)
Christian möchte sich weiterentwickeln und verbindet mit einem Wunsch nach Veränderung seiner jetzigen Situation den Wunsch, nicht auf einem Platz „bis zum Rentenalter“ stehen zu bleiben. Gleichzeitig setzt er aber auch auf Kontinuität. Das Streben nach Veränderung ist jedoch nicht die einzige Tendenz, die sich bei der Zielgruppe hervorheben lässt. Der Wunsch nach einer Kontinuität steht im Spannungsfeld dazu.
2.6 Zukunftsorientierung
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Carola ist 32 Jahre alt. Sie arbeitet als Verwaltungsangestellte mit 41 Stunden pro Woche in der kommunalen Verwaltung. Ihr Arbeitsvertrag ist unbefristet. Sie ist ledig, hat keine Kinder, und sie hat einen Nebenjob im Fitnessstudio. In ihrer Arbeit wurde ein neues Programm für die Buchhaltung eingeführt. Die Weiterbildung dafür hat am Rande stattgefunden. In Eigenregie haben sie und ihr Team sich das neue Arbeitsverfahren angeeignet. Dazu haben sie beschlossen, freiwillig (I-11: 240) Überstunden zu machen. „Da muss ich sagen, wir haben sehr viel, auch ab und zu am Wochenende, gearbeitet (…), weil sich einfach viel angestaut hat.“ (I-11: 199-205)
Ihr Leben außerhalb des Berufs hat sich ihrer Meinung nach „ganz normal“ entwickelt, auch wenn sie sich darüber im Klaren ist, dass andere das nicht so empfinden müssen. In diesem Zusammenhang kommt auch ihre Einstellung zu ihrer momentanen Situation zum Ausdruck: „Andere sehen es vielleicht nicht ganz normal: Ich bin jetzt nicht verheiratet und hab keine Kinder, aber ansonsten bin ich eigentlich ein ausgeglichener Mensch. Mach viel Sport, arbeite trotzdem noch viel nebenher, arbeite ja im Fitnessstudio an der Theke, um natürlich auch meinen Lebensunterhalt mitzufinanzieren, weil es sonst einfach alleine, mit einer eigenen Wohnung, mit Auto, mit einem ganz klein bisschen Luxus, nicht möglich wäre.“ (I-11: 329-353)
Carola ist des Weiteren unzufrieden mit ihrer Arbeitssituation. Sie hat ihrer Meinung nach für die ausgeübte Tätigkeit zu wenig Gehalt. Zum Thema „Druck“ empfindet sie, dass dieser zugenommen habe. „Wie soll ich das erklären, ja die Anforderungen, die steigen ständig. Man muss bei uns zum Beispiel alles irgendwie schriftlich festhalten, weil, auf ein Wort von jemand kann man mittlerweile gar nicht mehr zählen. Also, ja es wird einfach immer mehr verlangt, immer mehr Engagement verlangt, sei es auch unausgesprochenes Engagement (zieht die Schultern hoch) anhand von Überstunden oder einfach, ja, solche Dinge. Ja, also ich find schon, dass der Druck zunimmt.“ (I-11: 541-559)
Im Privaten belastet sie das weniger. Als Ausgleich dient für sie die sportliche Tätigkeit. Sie betont im weiteren Verlauf des Interviews, dass sie ihre Arbeit „sehr gerne“ macht, und auch dass sie mit ihren Kollegen/innen „gerne zusammen“ arbeitet (I-11: 613-621). Auf die Frage, was ihre Ziele im Leben seien, hebt sie hervor, dass sie keine „großen Ziele“ habe, und ihre jetzige Situation „einfach so genießt“.
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2 Lebensführung und Orientierung unter (Modernisierungs-)Druck „So ganz große Ziele habe ich mir eigentlich gar nie, gar nie gesetzt so. Also privates Ziel war für mich einfach auch mal eine schönere Wohnung, einfach eine Wohnung, in der ich mich richtig wohl fühle, und mir dann auch ab und zu einen Urlaub leisten zu können, ja, … so große Ziele hab ich jetzt nicht wirklich, wo ich sage, ich möchte noch unbedingt was erreichen. Also ich genieße es einfach so, wie es ist.“ (I-11: 645-660)
Was ihr im Leben besonders wichtig ist, ist u. a. der sichere Arbeitsplatz. Dieser verschafft ihr „viel Ruhe, innerliche Ruhe“ (I-11: 645-660). Trotz fiktiver Tauschangebote von Seiten des Interviewers würde sie diesen nicht so schnell eintauschen. Was vor allem dabei eine Rolle spielt, ist, dass sie sich selbst nicht etwas anderes vorstellen kann: „Also das ist eigentlich das einzige, was ich so wirklich kann und ich glaub da wird’s schwierig irgendwas anderes zu machen“ (I-11: 937-942). Nach weiteren Überlegungen fällt ihr jedoch ein, dass sie sich für eine Kosmetikausbildung interessiert hatte, allerdings konnte sie das zeitlich und örtlich nicht mit ihrer jetzigen Situation verbinden. Die Frage, wo sie sich in 10 Jahren sieht, beantwortet sie wie folgt: „Hm? (lacht) Keine Ahnung! Da lass ich mich, da lass ich mich überraschen. Ich hab jetzt nicht ein großes Ziel, wo ich jetzt sage, was weiß ich. Die einen haben das Ziel ins Ausland, die anderen Heirat und Kinder. Also (schüttelt den Kopf) nö, ich lasse das auf mich zukommen, was passiert.“ (I-11: 1505-1515)
In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass gesicherte Arbeitsverhältnisse nicht unbedingt mit einer gewissen Zukunftsplanung einhergehen. Jochen und Christian sprechen unterschiedliche Gründe an, wieso sie diese Absichten verfolgen, ihr Leben zu verändern. Unabhängig von beruflicher und privater Unzufriedenheit stechen dabei besonders subjektive Sinnstrukturen des „variabel sein und nicht stehen bleiben wollen“ hervor. Beide enthalten den Wunsch nach Optionsmaximierung. Das ist bei Carola nicht so. Der Wunsch nach Kontinuität ist ebenso als Wunsch nach Sicherheit zu verstehen. Veränderungen enthalten schließlich Risiken, die nicht vorausplanbar sind. Die „innere Ruhe“, die Carola dabei spürt, ist eine Gewissheit im Hinblick ihre Zukunft. Trotz allem ist ihre Planung offen. Zwischen Karriere und Familienplanung Auf die Frage „Wo siehst du dich in 10 Jahren?“ wurde oft mit einer Gegenfrage geantwortet: „Beruflich oder privat?“. Im Beruflichen drehte es sich meist darum, inwiefern eine Aufstiegs- oder Karrierechance erstmals möglich und
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inwiefern diese überhaupt angestrebt wird. Die Aussichten darüber fielen sehr unterschiedlich aus. Es zeigte sich aber, dass die meisten Befragten für ihre berufliche Zukunft nach „mehr“ streben. Dieses „mehr“ bemessen sie hinsichtlich ihrer jetzigen Situation und in den meisten Fällen aus der vorherrschenden Perspektive einer Übergangszeit. Im Folgenden soll fallbezogen das Thema „Aufstiegschance“ und „Karriere“ aufgegriffen werden. Stefan ist 26 Jahre alt, lebt in Partnerschaft, hat keine Kinder und ist im zweiten Lehrjahr Auszubildender in einer Versicherungsagentur in Baden-Württemberg. Davor war er im Einzelhandel tätig. Dies hat er aber, als er die Einsicht gewonnen hatte, dass es für ihn dort keine Aufstiegsmöglichkeiten geben würde, aufgegeben. „Ich konnte mich nicht so geben, wie ich wollte. Also … ich war nicht ausgefüllt in diesem Job. Weil, man hat mir versprochen, ich würde da eine Filiale bekommen, und das wurde natürlich dann auch nicht eingehalten. Also, ich war dann der typische Mann, äh, beim Einräumen der Ware, und da dachte ich: Ne, also da ist meine Bildung auch zu hoch.“ (I-07: 33-36)
Den „Beruf mit Zukunft“ (I-07: 90) sah er dann als Versicherungsvertreter, „da die private Vorsorge immer wichtiger wird“. Er sah darin seine Aufstiegschance: „Ich werde hier aufsteigen.“ (I-07: 95) „Also auf jeden Fall will ich nicht stehen bleiben als Betreuer des Kunden, sondern ich will immer weiter höher. Irgendwann möchte ich vielleicht eine eigene Agentur haben oder Agenturen betreuen, d. h. Vertriebsleiter werden. Es gibt so viele Möglichkeiten, da muss man natürlich einen gewissen Erfolg nachweisen, den werd ich auch höchstwahrscheinlich in den nächsten Jahren bringen.“ (I-07: 149-154)
Sein Streben nach Erfolg ist auf das Ziel hin orientiert, „mit eigener Familie Kernarbeitszeiten“ zu haben. Dafür ist er bereit, einiges in Kauf zu nehmen. Momentan sind seine Arbeitszeiten jedoch nicht festgelegt. Zwar hat er die Möglichkeit freier Zeiteinteilung, allerdings muss er seine Zeiten so einteilen, dass ihm gewinnbringende Kunden begegnen. Diese sind erst ab 18 bzw. 19 Uhr nach ihrer eigenen Arbeit erreichbar. Seine Bürotätigkeiten beginnt er zwischen 8 und 9 Uhr früh. „Und das ist natürlich mein Ziel, dass ich so schnell wie möglich nach oben komm, man verdient nicht schlecht in der Branche, aber ich will einfach vielleicht in 10, 20 Jahren an einer Position sein, wo ich sage: Toll, das hab ich geschafft. Hab dann vielleicht 20 Leute unter mir, die ich führe und dann auch betreue. Aber dann so zum Kunden gehen, also das möchte ich dann eigentlich nicht mehr. Weil später hat man vielleicht Familie, Kinder oder Ehefrau. wo man dann sagen kann: Okay, ich hab
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2 Lebensführung und Orientierung unter (Modernisierungs-)Druck meine Kernarbeitszeiten. Wenn man dann in einer höheren Position ist, wo man dann sagt: Okay, ich fang um 9 Uhr an und um 18 Uhr ist Feierabend.“ (I-07: 265-273)
In seiner Perspektive berücksichtigt er, dass gerade im Dienstleistungsbereich „alles sich gravierend schnell verändern kann. Da gibt’s irgendwelche Fusionen oder sonstiges dergleichen“ (I-07: 291-293). Sein Umgang damit ist, „einfach mit der Zeit mitzugehen. Also man kann nicht stehen bleiben. Man muss sich auch immer weiterbilden, man muss immer Fachwissen aneignen. Äh weil sonst hat man in zehn Jahren eigentlich keine Chance mehr in diesem Beruf, oder in diesem Bereich“ (I-07: 293-296). Trotz der Einsicht, dass schnelle Veränderungsprozesse in seinem Arbeitsbereich möglich sind, ist er nicht verunsichert. Sein Umgang damit ist aus seiner Perspektive aktiv mit den Herausforderungen der Zeit mitzugehen. „Wenn man sitzen bleibt, also wenn man stehen bleibt mit der Zeit, dann wär’s ein unsicherer, also ein Faktor, der ziemlich unsicher ist. Weil man dann natürlich nicht langfristig planen kann. Wenn ich nichts tue, kann ich nichts erreichen.“ (I-07: 305-308)
Er ist davon überzeugt, dass er seine Ziele erreicht: „Ja, das werd ich auch äh, erreichen. Also davon bin ich überzeugt. Außer, es gibt irgendeinen Schicksalsschlag. Das kann ich natürlich nicht beeinflussen. Aber ... es wird auf jeden Fall erreicht.“(I-07: 742-744)
Um seine langfristigen Ziele zu erreichen, wie z. B. in seinem Arbeitsbereich aufzusteigen, ein Haus zu bauen und eine Familie zu gründen, ist Stefan sehr offen und flexibel gestimmt. „Also Frauen gibt’s überall, äh, ob es die wirklich ist, wo ich jetzt hab, kann ich nicht beurteilen. Weiß ich nicht, ich wäre auch bereit, ins Ausland zu gehen. Ich bin für alles offen.“ (I-07:758-760) „Also die Frau muss auf jeden Fall mit mir so umgehen können, dass ich flexibel sein darf. Und wenn sie damit nicht klarkommt … tut’s mir leid. Also es ist wirklich so, ich hab meine Ziele. Ich hab meinen Faden. Und da weich ich auch nicht ab. Und wer das nicht akzeptiert, hat ein Problem. Für sich, für mich nicht.“ (I-07: 796-800) „Also das wird schon so alles kalkuliert, dass ich flexibel sein darf und kann.“ (I-07: 808-809)
Stefan ist bereit, unsichere Arbeitsbedingungen auf sich zu nehmen, und strahlt dabei eine Zuversichtlichkeit aus, die vor allem durch sein Selbstbild getragen ist. Darin enthalten sind die Fähigkeit „mit der Zeit mitzugehen“, die Offenheit
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und vor allem die „Flexibilität“. Dieses Selbstkonzept veranlasst ihn zur optimistischen Sicht in die Zukunft. Hinsichtlich der privaten Zukunftsvorstellung äußerten sich fast alle Befragten, vor allem auch diejenigen, die noch keine eigene Familie haben, zu ihrer Familienplanung. Es besteht immer noch ein traditionelles Leitbild von Familie. Wie z. B. bei Hanna: „Na ja, am liebsten natürlich als freiberufliche Hebamme in einem kleinen Seelendorf (lachend) mit einem Mann, zwei, drei Kindern und einem Häuschen im Grünen. ... Nein, aber so ungefähr, dass ich halt bodenständig geworden bin, dass ich meinen Platz gefunden hab, wo ich leben möchte, und, dass ich eventuell, hoff’ ich mal, ein stabiles soziales Umfeld habe.“ (I-24: 1006 -1016)
Die Vorstellung einer eigenen Familie enthält bei ihr die Komponente, „bodenständig“ zu sein und einen Ort im Leben gefunden zu haben. Diese Stabilität ist für sie ein wesentlicher Bestandteil bei ihrer Familienplanung. Die widersprüchliche Mischung, die hierbei in Bezug auf Familiengründung zum Vorschein kommt, lässt sich kaum übersehen. Denn neben traditionellen Sehnsüchten macht sich ebenso ein Mangel an Planbarkeit bemerkbar. Letzteres scheint allerdings nicht als Mangel zur Sprache zu kommen und ist meistens auch mit einer gewissen Unsicherheit im Beruf verbunden. Ein gutes Beispiel für diesen Sachverhalt liefert Florian (28 Jahre), der in einer Gruppendiskussion von seiner Partnerin damit konfrontiert wurde, dass sie sich Kinder wünscht. Florian bekam im Gesundheitswesen als Heilerziehungspfleger zweimal eine Vertragsverlängerung für ein Jahr. Als das dritte Mal sein Vertrag auslief, wurde dieser nicht mehr verlängert. Mit der Familienplanung kann er sich seiner Ansicht nach erst dann beschäftigen, wenn eine gewisse Sicherheit in der Arbeit besteht: „das (Familiengründung) kommt dann tatsächlich erst danach“ (F-4: 120). Ähnlich ist es auch bei Barbara (27 Jahre). Sie selbst hat einen befristeten Arbeitsvertrag und kann, obwohl sie in einer festen Beziehung ist, nicht an Familie denken: „Ne. Keine Familienplanung. Weder heiraten noch Kinder, das ist noch zu weit weg für mich, viel zu weit“ (I-05: 340-341). Das, was „zu weit weg“ ist, scheint bei ihr weniger mit einer zeitlichen Differenz zusammenzuhängen, sondern viel mehr mit ihrer beruflichen Unsicherheit. Sie hat mehrmals den Arbeitsplatz gewechselt und verfügt über keine Sicherheit hinsichtlich ihrer jetzigen Arbeitssituation. Die Frage, inwiefern diese Thematik dann je nach Geschlecht gesondert betrachtet werden muss, soll erst im Kapitel 5 behandelt werden.
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Zwischen Zukunftsangst und Bewältigungsstrategien Die Prozesse der Globalisierung und die daraus resultierenden wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen müssen bei der Analyse der Formen der Existenzsicherung, der individuellen Lebensführung und Lebensgestaltung besonders beachtet werden. Daraus müssen allerdings nicht automatisch bestimmte Ungewissheiten und Verunsicherungen für die eigene Lebensplanung folgen. Auch wenn von den gesellschaftlichen Folgen nicht nur Personen betroffen sind, die sozial an den äußeren Rändern der Gesellschaft angesiedelt sind (vgl. u. a. Mansel, Schweins & Ulbrich-Herrmann, 2001: 7 f.), muss daraus nicht gleich von einer übergreifenden allgemeinen Zukunftsangst die Rede sein. Es gibt durch die Finanz- und Wirtschaftkrise genügend Gründe, um anzunehmen, dass unsichere Zeiten bevorstehen. Die Erfahrung, dass die Zukunft nicht planbar ist, ist bei einem großen Teil der Befragten zur Sprache gekommen. Was allerdings sowohl quantitativ als auch qualitativ nicht geäußert wurde, sind Sorgen und Ängste im Bezug auf das eigene zukünftige Leben. Unsichere Faktoren in der eigenen Lebenssituation wurden mehrmals genannt, allerdings mit einer optimistischen Haltung, diese subjektiv zu bewältigen. Das Selbstkonzept scheint dabei eine wesentliche Rolle zu spielen. Im Folgenden soll fallbezogen das Thema der Unsicherheit und Zukunftsangst behandelt werden. Simone ist 31 Jahre alt, ledig und kinderlos. Sie arbeitet als Sozialpädagogin im Bereich berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen für Jugendliche. Ob ihr Arbeitsvertrag verlängert wird, ist zur Zeit des Interviews noch unklar. „Jetzt bin ich 100 Prozent beschäftigt, ja … genau. Aber die Projekte oder Maßnahmen sind meistens immer nur, dass du wirklich dann für zwei, drei Jahre einen Arbeitsvertrag bekommst und (holt tief Luft und atmet laut aus) du schon die Rückmeldung bekommst, wenn ’se zufrieden mit dir sind, dass sie schon gucken, wie sie dich noch irgendwie wieder unterbringen können, ja ... aber, du hast nicht wirklich das Gefühl anzukommen, sondern du arbeitest halt immer dann irgendwie. Also ich hab zwei Jahre, äh, wirklich sehr viel Energie in das Projekt reingesteckt und hab auch sehr positive Rückmeldung von allen Seiten bekommen. Die Direktoren haben auch Briefe geschrieben ans Wirtschaftsministerium und man hat sich irgendetwas erarbeitet und dann kriegt man relativ bald irgendwie die Mitteilung; ja, … also wenn auch mal angedacht war, dass es länger geht, ich kann ihnen jetzt schon sagen ... (schüttelt den Kopf), das wird dann zu Ende sein.“ (I-12: 672-711)
Simone beschreibt anschaulich die „Verprojektisierung“ der Arbeit und ihre Folgen. Die Arbeit ist in zeitliche Stücke zerlegt und sie muss sich jedes Stück immer wieder erkämpfen. Die einzelnen Stücke stehen dabei in keinem Zusammenhang und zerstückeln somit auch ihre Biographie. Eine kontinuierliche
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Richtung zu einem erreichbaren Ziel ist nicht feststellbar. Die Folge ist auch ein Motivationsproblem. „Und dann ist es halt schon, da muss man sich auch wieder motivieren und sagen, Okay, jetzt sind ja die Jugendlichen da und für die kannst ja jetzt auch was erreichen, aber es macht es halt schwierig, weil man halt immer so viel Energie erst reinstecken muss und wenn es dann in die Phase gehen würde, wo du dich eingearbeitet hast, du Kontakte aufgebaut hast, viele Sachen sich automatisieren könnten und es ist bald wieder vorbei, dann geht halt viel Energie ... einfach schon in der Richtung wieder verloren.“ (I-12: 711-736)
Es handelt sich immer wieder um neue Einarbeitung, die viel Kraft kostet, ohne dass eine kontinuierliche Arbeit entsteht. „I: Und fühlst du dich auch unsicher, dass du jetzt weißt, ich hab für zwei Jahre meinen Vertrag und dann geht das zu Ende? Macht dich das unsicher, oder? S: Hm, macht mich das unsicher? ... Also eigentlich, also eigentlich nicht. Nee, das eigentlich nicht. I: Also machst du dir gar keine Gedanken, dann? S: Na, bisher, sag ich mal, waren meine Erfahrungen einfach so positiv, dass halt, wenn die eine Tür zugegangen ist, eine andere wieder auf ist, und sich immer auch was ergeben hat. Ich denk jetzt schon, ja, also ich werd schon was finden, wo ich da arbeiten kann. Also weil ich bisher halt noch nicht die Erfahrung gehabt hab, über eine längeren Zeitraum irgendwie arbeitslos zu sein und dann zu denken, oh Gott, wie geht’s weiter.“ (I-12: 746-790)
Dieser Umgang mit der Unsicherheit zeigt, das Problem bei diesen Arbeitsverhältnissen nicht unbedingt ist, dass Zukunftsangst auftritt. Simone vertraut darauf, dass sie immer wieder Arbeit finden wird, und sie versucht, der unsicheren Situation sogar positive Seiten abzugewinnen. „Ich bin halt ein bisschen zwiegespalten: Einerseits denk ich, es ist zwar total unbefriedigend, und dann gibt’s auch Phasen, wo ich denk, das ist aber auch wieder eine Chance, was anderes zu lernen, was anderes zu sehen, eine andere Einrichtung kennenzulernen. Je nachdem, welche Tagesverfassung ich hab oder {was} mich anspricht, kann ich dann auch mal sagen: Wow, ich freu mich, guck ich mal wieder, was es gibt. Manchmal würde ich dann sagen, ich hab gar keinen Bock, mich jetzt schon wieder einzuarbeiten, alles neu kennenzulernen, neu also die Kollegen und neues Umfeld. Ja, ich glaub, des ist einfach sehr abhängig ... von der Situation.“ (I-12: 697-890)
Simone möchte die letzten drei Monate vor dem Auslaufen ihres Arbeitsvertrages sich nicht davon beeinflussen lassen, „dass es vorbei ist“. Was danach
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folgt, macht ihr weniger Sorgen, denn bisher hat sie positive Erfahrungen gemacht. Sie geht davon aus, dass sie eine neue Arbeit finden wird. Ihre Haltung, was die neue Arbeit anbelangt, ist allerdings ambivalent. Zum einen erkennt sie darin eine Chance, für sich etwas „anderes zu lernen“, zum anderen hat sie „kein Bock schon wieder {sich} einzuarbeiten“. Je nach Situation wiegt das eine oder das andere schwerer. Klaus Dörre befasst sich in seinem Artikel „Ende der Planbarkeit? Lebensentwürfe in unsicheren Zeiten“ (Dörre, 2009) mit der allgegenwärtigen Unsicherheit. Diese verortet er weniger in einer objektiven Bedrohung, sondern in der Veränderungsstruktur des ökonomischen und gewerblichen Feldes. Des Weiteren wirken sich kulturelle und politische Dimensionen mit auf die soziale Unsicherheit aus und hinterlassen ihre Spuren in den individuellen Lebensplanungen. Den Umgang mit dieser Unsicherheit macht Dörre von Ressourcen abhängig, die materiell und kulturell bestimmt sind. Dabei liegt die Gefahr für die individuelle Planungsfähigkeit vornehmlich in der Haltung, wie auch von Honneth angesprochen, sich selbst zum Planungszentrum seiner eigenen Bastelbiographie zu machen. Und letzteres in besonders großem Ausmaß gerade dann, wenn angesprochene Ressourcen und ein soziales Auffangnetz fehlen. In diesem Zusammenhang führt Dörre die These ein, dass Individualisierungsprozesse heute weniger mit Überflussproblematiken zu tun haben, sondern zunehmend mit Mangelperspektiven. Ein Bewusstsein, das in die Zukunft gerichtet ist, verlangt ein Minimum an Sicherheit, auch im Erwerbsleben. Dies ist eine Voraussetzung für Planungsfähigkeit. Eine solche Art der Planungsfähigkeit verortet Dörre speziell in den drei Jahrzehnten nach 1945. In dieser Zeit konnte man mit einer gewissen Sicherheit mit einem ständigen Aufwärtstrend rechnen. Im Zentrum zukunftsgerichteter Lebensentwürfe stand die sozial gesicherte Erwerbsarbeit. Die individuellen Handlungen und Möglichkeiten enthielten Vorstellungen darüber, wie es möglich wäre, künftige Lebenssituationen in einem gewissen Rahmen abschätzen zu können. Verantwortlich für den Wandel zur „diskontinuierlichen Zeiterfahrung“ und damit zu einem neuen „Laufbahnregime“ ist das Zusammenspiel von „marktgetriebener Landnahmen“, „sozialer Beschleunigung“ und „politischer Aktivierung“. Erstgenanntes sorgte dafür, dass die Verbindung zwischen Lohnarbeit und institutionell garantierter sozialer Sicherheit auseinanderbrach. Im gleichen Maße, wie die traditionelle Arbeiterklasse zu verschwinden begann, stieg die Zahl derer, die in flexiblen, unsicheren und prekären Beschäftigungsverhältnissen standen und stehen. Für Dörre sorgt des Weiteren auf kultureller Ebene eine „verselbstständigte Beschleunigungsdynamik“ für eine Degradierung von gesicherten Qualifikationen, Kompetenzen und Erfahrungen. Und schließlich sind es die aktivierenden Instanzen des Wohlfahrtstaates selbst, die dafür Sorge
2.7 Bewältigung und widerständiges Handeln
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tragen, einen Mobilitätsdruck auszuüben, um beispielsweise „Müßiggänger“ für eine entsprechende Arbeit zu disziplinieren. Diesem Aktivierungsanspruch begegnen die Einzelnen mit einem Leitbild des „unternehmerischen Selbst“ und lösen damit „eine Beschneidung von Sozialeigentum und […] eine Reduktion kultureller wie materieller Ressourcen“ aus, „welche für das Selbstmanagement diskontinuierlicher Biografien und die Aufrechterhaltung individueller Planungsfähigkeit eigentlich dringend benötigt würden“ (Dörre, 2009). In all diesen Vorgängen äußert sich das Leitbild des unternehmerischen Selbst in der Aneignung und Übernahme von Anforderungen in der Lebens- und Arbeitswelt. Dieser Verinnerlichungsvorgang fördert letztlich die optimistische Haltung und den zuversichtlichen Umgang junger Menschen mit dem steigenden Modernisierungsdruck. Allerdings ist das Verständnis von Selbstbestimmung, das vor allem im Bezug auf die eigene Person besteht, ein aktiv angepasstes. Dabei scheint es, dass die Akteure in diesem Verinnerlichungsvorgang eine eigene soziale Identität hinzugewinnen. Dies geschieht im Zuge einer optimistischen Zukunftsschau, z. B. wenn die Anforderung der Flexibilität Teil des Selbstbildes wird und die Person sich selbst als flexibel versteht. Axel Honneth spricht in diesem Zusammenhang von einer „organisierten Selbstverwirklichung“: „Die Mitglieder der westlichen Gesellschaften wurden gezwungen, angehalten oder ermutigt, sich um ihrer Zukunftschancen willen zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanungen und Lebensführungen zu machen“ (Honneth, 2002: 148). „[…] Sie müssen um ihrer zukünftigen Beschäftigungschancen willen ihre eigene Berufsbiographie fiktiv nach dem Muster der Selbstverwirklichung organisieren, obwohl weitgehend doch nur der Wunsch nach sozialer und ökonomischer Sicherheit bestehen dürfte“ (ebd. S. 153). 2.7 Bewältigung und widerständiges Handeln In den politischen Bewegungen spielen traditionell weltbewegende Themen eine entscheidende Rolle. Entsprechend lesen sich Aufrufe zum Widerstand: „Aufbrechen. Wir wollen brechen. Wir wollen die Welt, wie sie ist, aufbrechen. Eine Welt der Ungerechtigkeit, des Krieges, der Gewalt, Diskriminierung, die Welt von Gaza und Guantanamo. Eine Welt von Milliardären und einer Milliarde Menschen, die hungrig leben und sterben. Eine Welt, in der die Menschheit sich selbst auslöscht, nicht-menschliches Leben massakriert, die Bedingungen ihrer eigenen Existenz zerstört. Eine Welt beherrscht vom Geld, beherrscht vom Kapital. Eine Welt der Frustration, von vergeudeten Möglichkeiten.“ (vgl. Halloway, 2010: 9)
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2 Lebensführung und Orientierung unter (Modernisierungs-)Druck
Fundamentale Kritik wird hier als Basis für Widerstand betrachtet. Das war bei den untersuchten jungen Beschäftigten sehr selten ein Zugang zum widerständigen Handeln; damit können nur ganz wenige erreicht werden. Das zeigen fast alle Interviews, Focus Groups und Beobachtungen. Charakteristisch scheint vielmehr, dass die jungen Beschäftigten heute unter dem Druck vielfältiger Aufgaben stehen und durch Anreize in ihrem unmittelbaren Umfeld aktiviert werden. Nach Meinung von Aktiven in den Gewerkschaften und Parteien sollte sich die Bereitschaft zur Gegenwehr verstärken, wenn der Druck steigt. Das ist aber heute bei den jungen Beschäftigten offenbar nicht der Fall. In den Interviews und Gruppendiskussionen finden sich nur wenige Anzeichen von Gegenwehr. Beobachtungen bei Streikaktionen und bei informellen Gesprächen wiesen etwas stärker darauf hin. Da für die 25- bis 35-jährigen jungen Beschäftigten aktive Gegenwehr und widerständiges Handeln nur eine sehr geringe Rolle spielen, wird hier nur kurz darauf eingegangen. Die jungen Beschäftigten gehen unterschiedlich mit dem Druck um. Dabei entscheiden eher Deutungsschemata, die die eigene Person definieren, d. h. die Einschätzung der eigenen Handlungsfähigkeit darüber, wie auf Anforderungen und Herausforderungen reagiert wird. Eine sozialphänomenologische Analyse der Interviews führte zu dem Ergebnis, dass zwei Stile des Umgangs mit gesteigerten Anforderungen und Druck bei den jungen Beschäftigten eine wichtige Rolle spielen, nämlich die Selbstaktivierung und die nachdenkliche Selbstreflexion. In beiden Fällen ist der Bezugspunkt die eigene Person, d. h. der „Zugang zum eigenen Selbst“ im Kontext der eigenen Lebenswelt (vgl. Kempf, 2010). Bei der ersten und offenbar vorherrschenden Strategie wird Überforderung mit Selbstaktivierung beantwortet, d. h. die Betroffenen vertrauen auf ihre eigenen Kräfte und versuchen durch erhöhte Anstrengung, alle Anforderungen zu bewältigen. Das kann bis zum Burn-out und Zusammenbruch führen. Bewältigungsstrategien spielen dabei die entscheidende Rolle. Eine wirkliche Gegenwehr bzw. eine couragierte Aktion ist in diesem Prozess schwer vorstellbar. Ein Interviewpartner drückt das so aus: „Es ist eigentlich ein ständiges Mitschwimmen in neuen Trends, Techniken, Strömungen. Man hat ja ständig neue Sachen zu erfüllen, neue Anforderungen zu erfüllen, und man versucht halt ständig, das möglichst optimal hinzubekommen.“ (I-25: 152 ff.)
Bei dieser ersten Strategie versuchen die Betroffenen, die gesetzten Anforderungen zu erfüllen, und setzen dabei verschiedene Bewältigungsformen ein. Der Bewältigungsforscher Richard S. Lazarus unterscheidet vier Formen, nämlich Informationssuche, direkte Aktion, Aktionshemmung und intrapsychische Pro-
2.7 Bewältigung und widerständiges Handeln
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zesse (Lazarus, 1981: 218 ff.). Die Informationssuche hat eine problemlösende Funktion, kann aber auch zur Beschönigung genutzt werden, indem man gezielt die negativen Informationen ausklammert und sozusagen an der Beschönigung der Situation arbeitet. Eine stressreiche Anforderung kann auch durch direkte Aktion, z. B. durch Einlegen einer Nachtschicht zur Erledigung der Aufgaben, bewältigt werden. In anderen Fällen ist dagegen eher eine Aktionshemmung angezeigt, d. h., dass man seinen spontanen Impulsen nicht nachgibt, weil sie einem schaden könnten. Man unterdrückt also hierbei z. B. Ärger oder Wut. Intrapsychische Bewältigung liegt dann vor, wenn nur die eigenen Emotionen zu regulieren versucht werden, also eine Linderung versucht wird, ohne an der Situation etwas zu ändern, also z. B. indem man sich selbst einredet, dass alles nicht so schlimm ist. Die zweite Strategie besteht darin, dass die Betroffenen sich bei erhöhtem Druck fragen, ob das alles für sie selbst wirklich wichtig ist, ob es die Überanstrengung wert ist und wie sie zu vermeiden wäre. Wenn der vorherrschende Anspruch unserer Zeit „die Ideologie der ‚individuellen Verantwortung‘“ ist (Kastner, 2008: 52), d. h. die Anforderung, sich individuell allen Trends und Veränderungen anzupassen, dann bedeutet Widerständigkeit bereits, genau diesen Anspruch in Frage zu stellen. Gemeint ist damit nicht ein kognitives Kalkül, ob es sich lohnt, kein „rational choice“, sondern eine eher emotionale Einschätzung, ob man das selbst wirklich für sich braucht und vor sich selbst akzeptiert. Dieser Stil des Zuerst-einmal-Zurücktretens, des Sich-in-Distanz-Setzens kann unseres Erachtens für junge Beschäftigte ein wichtiger Ansatzpunkt für widerständiges Handeln sein. Auch für diese Strategie finden sich Belege in den Interviews. Eine junge Beschäftigte berichtet erst von subjektiver Überforderung und Selbstzweifel, um dann auf die zweite Strategie einzuschwenken: „Aber dann gibt es auch Momente, wo ich mehr Kraft hab und wo ich mich aber dann auch besinn’, was wirklich wichtig ist. Also der Druck von außen, man kann sich davor doch trotz allem schützen und man muss auch nicht alles mitmachen. Aber da muss man sich erst manchmal darauf besinnen, weil man ganz schön beeinflusst wird (Geste: Bewegung mit den Händen) durch Medien, Werbung, Bekannte (Geste: Bewegung mit den Händen bei der Aufzählung). Was die nicht alles Tolles hinkriegen und machen. Also ich weiß, dass ich halt nur so und so belastbar bin, dass ich meine Grenzen hab; und muss mich dann auch immer wieder drauf besinnen, was mir eigentlich wichtig ist und was nicht. Und dann geht es eigentlich auch mit der Überforderung.“ (I-35: 273-320)
Diese junge Beschäftigte tritt gedanklich einen Schritt zurück. Sie versucht, sich nicht durch die Anforderungen, die ihr durch Werbung und Bekannte an sie
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2 Lebensführung und Orientierung unter (Modernisierungs-)Druck
herangetragen werden, beherrschen zu lassen. Die Äußerung, dass man nicht alles mitmachen müsse, ist schon eine Brechung, ergibt einen Moment des Widerständigen. Aber dieser Moment führt nicht automatisch auch zu widerständigem Handeln. Wenn kaum Erfahrungen mit widerständigem Handeln vorliegen, Strategien couragierten Handelns also nicht entwickelt wurden, dann liegt individuelles Sichherauswinden, z. B. sich einfach krank zu melden oder sich beim Chef anzubiedern, nahe. Dafür fanden wir in den Gesprächen mit den jungen Beschäftigten Beispiele. Der Rückbezug auf sich selbst steht einerseits in Gefahr, eine unrealistische Selbstüberhöhung nach sich zu ziehen, die sich oft in einer zur Schau gestellten positiven und optimistischen Haltung ausdrückt, andererseits kann es zu einer Verinnerlichung äußerer Anforderungen kommen, die dann als eigene Motivation auftreten. Beide subjektive Tendenzen konnten im Forschungsprozess beobachtet werden, fast 80 % der Befragten äußerten sich eher zufrieden mit ihrer Lebens- und Arbeitssituation, 90 % stimmen eher zu, dass sie sich mit ihrer Arbeit identifizieren. Die beiden Strategien des Umgangs mit Druck schließen sich nicht gegenseitig aus. In Interviews wird zum Ausdruck gebracht, dass manche zuerst mit der ersten Strategie die gestellten Aufgaben zu erfüllen versuchen. Wenn sie dann feststellen, dass sie sich damit selbst schaden, versuchen sie, sich vom Druck zu distanzieren. Damit eröffnet sich die Möglichkeit für widerständiges Handeln. Nicht nur Solidarität entwickelt sich in praktischen Aktionen, sondern auch das widerständige Handeln. Letzteres wird erleichtert, wenn die eigene soziale Umgebung sich solidarisch zeigt. Solidarität kann aber nur dann Courage unterstützen, wenn die couragierte Aktion schon angelaufen ist. Dies kann eine individuelle Aktion sein, die dann einen Gruppenprozess auslöst, d. h., dass Einzelne sich darüber austauschen, wie man sich wehren und seine Ohnmacht überwinden könnte. Eine Ergotherapeutin berichtete uns von einer Aktion an ihrer ehemaligen Arbeitsstelle, einem Krankenhaus in kirchlicher Trägerschaft: „Also bei der alten Arbeitsstelle, da haben wir wirklich richtig so, ähm, Arbeitskämpfe gemacht (…), also auch als Gruppe. Wir haben zum Beispiel, wenn uns Stellen gekürzt werden sollten, überlegt: Was ist am teuersten, also was bringt das meiste Geld von den Behandlungen, die wir machen? Und dann haben wir die als erstes gekürzt und zwar bei den Patienten, wo wir wussten, dass die Angehörigen am nächsten Tag beim Direktor auf der Treppe stehen. Und das hat mich natürlich auch geprägt.“ (I-33: 834-849)
Janina, die Ergotherapeutin, berichtet von einer ganz besonderen Form von ‚Arbeitskampf‘: An ihrer Arbeitsstelle haben sich die Kollegen/innen untereinander abgesprochen und haben angefangen, sich mit subtilen Mitteln gegen Stellenstreichung zu wehren.
2.7 Bewältigung und widerständiges Handeln
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„Das haben wir dann einfach so lange durchgezogen, bis quasi klar wurde, das gibt jetzt ’ne richtige finanzielle Geschichte (…), weil dieser Mensch war eigentlich einfach unfähig, so ’ne Institution zu leiten und war wahnsinnig faul oder phlegmatisch. Faul ist vielleicht zu grob gesagt, war phlegmatisch, und das war einfach die Möglichkeit (…), unsere Art von Kämpfen auszutragen. Ganz sacht, ohne dass er mitgekriegt, was unsere Methode war. Er hat nur irgendwann gesehen: Oh, Geld fehlt! (…) Gott sei Dank, war er dann nicht schlau genug zu gucken, warum das Geld fehlt. Er hätte uns dann ja überprüfen können, aber das (…) haben wir rausgefunden, dass er das nicht macht. Und danach haben wir das ausprobiert und es hat wirklich gewirkt. Die haben jetzt zwei feste zusätzliche Stellen bekommen. Also, da hat der Arbeitskampf wirklich hundertprozentig funktioniert … und daher kommt es, dass es für mich jetzt relativ leicht ist. Ich hab viel gelernt, wie man das macht.“ (I-33: 850-879)
Im Gegensatz zum üblichen gewerkschaftlichem Handeln entwickelt sich hier ein Arbeitskampf innerhalb eines kleinen Kreises. Diese Art des sich Widersetzens setzt eine große Solidarität der Kollegen/innen untereinander voraus. Das Besondere dieses Verhaltens liegt im Nicht-akzeptieren-Wollen des herrschenden Spardiktats seitens des Betreibers des Krankenhauses. „Da waren auch viele Leute, die einfach auch Kenntnisse hatten … von: Wie macht man das am geschicktesten? (…) Viele, die einfach auch, ähm ja, in den 70er-Jahren grundlegende Erfahrungen mit Hausbesetzungen (…) und so weiter hatten. Also es heißt, es war auch schon eher links von der MAV {Mitarbeitervertretung} und dadurch … {waren} halt ja bestimmte Methoden bekannt (lacht).“ (I-33: 885-894)
Die Ergotherapeutin traf hier auf Kollegen/innen, die biografisch mit Praktiken widerständigen Handelns vertraut waren. Das heißt, es gab bereits einige Beschäftigte, die Lust auf mutiges, widerständiges Verhalten hatten und es auch schafften, ihre anderen Kollegen/innen zu überzeugen, gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Für die Ergotherapeutin war die ganze Aktion sehr wichtig und sie ist stolz darauf. Es hat ihre Einstellung gefestigt, dass sie ganz viele Möglichkeiten hat, auf die Arbeitssituation einzuwirken (vgl. I-33: 825-827). Sie ist damit schon einen Schritt weiter als die Interviewte, die nur laut Zweifel äußert, dass man nicht alles mitmachen müsse. Für die gemeinsame Planung und Aktion von Widerständigkeiten braucht es einen Spielraum zur sozialen Selbstverständigung. Es kann sich dabei um reale Kommunikationssituationen im Betrieb oder bei Aktionen handeln, aber auch um Kommunikation in virtuellen Räumen. Die Kommunikationsformen mit den neuen Medien (z. B. Internet, Smartphone) spielen hier eine wichtige Rolle. Dabei wird nicht nur festgestellt, was das Problem ist, sondern es werden auch Strategien der Gegenwehr entwickelt. Das Vorhandensein eines sozialen Raumes zur Selbstverständigung genügt noch nicht, es muss auch bei den Beteiligten eine
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2 Lebensführung und Orientierung unter (Modernisierungs-)Druck
Gemeinschaftsorientierung vorhanden sein. Diese fanden wir bei den jungen Beschäftigten in hohem Maße: 96 % zeigten sich eher gemeinschaftsorientiert, d. h., dass ihnen Freunde und ein fester Freundeskreis eher wichtig sind und sie sich fest in eine Gemeinschaft eingebunden fühlen. Der Bezugspunkt für Gegenwehr und Solidarität ist heute bei den jungen Beschäftigten nicht in erster Linie die gemeinsame Interessenlage. Der Bezug auf sie führt wegen der Unterschiedlichkeit der Interessen und der Milieus häufig eher zu Gruppenegoismen, die gegeneinander antreten. Der Interessenstandpunkt ist in den Verdacht des Gruppenegoismus geraten, dass nämlich einzelne Gruppen nur ihre Privilegien und Besitzstände wahren wollen. In der Frage nach Gegenwehr scheint heute das Thema ‚Anerkennung‘ eine wesentliche Rolle zu spielen. Auch in unserer Untersuchung war 95 % der befragten jungen Beschäftigten die Anerkennung für ihre Arbeit wichtig. Der Kampf um Anerkennung und gegen Missachtung wird auch in Zusammenhang mit Solidarität diskutiert. Dazu Axel Honneth, der in Deutschland die Anerkennungsdiskussion initiiert hat: „Solidarität ist unter den Bedingungen moderner Gesellschaften an die Voraussetzung von sozialen Verhältnissen der symmetrischen Wertschätzung zwischen individualisierten (und autonomen) Subjekten gebunden; sich in diesem Sinne symmetrisch wertzuschätzen heißt, sich reziprok in Lichte von Werten zu betrachten, die die Fähigkeiten und Eigenschaften des jeweils anderen als bedeutsam für die gemeinsame Praxis erscheinen lassen. Beziehungen solcher Art sind ‚solidarisch‘ zu nennen, weil sie nicht nur passive Toleranz gegenüber, sondern affektive Anteilnahme an dem individuell Besonderen der anderen Person wecken: denn nur in dem Maße, in dem ich aktiv dafür Sorge trage, dass sich ihre mir fremden Eigenschaften zu entfalten vermögen, sind die uns gemeinsamen Ziele zu verwirklichen.“ (Honneth, 1992: 209 f.) Solidarisches Handeln als Voraussetzung für kollektives widerständiges Handeln ist also an die gegenseitige Wertschätzung, die gegenseitige Anerkennung und vor allem an die affektive Teilnahme gebunden. Die Folge ist, dass sich die Gegenwehr an prägnanten und eher individuellen Fällen, z. B. von Ungerechtigkeit oder Missachtung, festmachen kann und nicht nur an interessenbestimmten Forderungen. Das drückt sich in der Praxis darin aus, dass politische und gewerkschaftliche Auseinandersetzungen sich z. B. um die Entlassung einer Mitarbeiterin wegen drei Getränkebons drehen, die nicht abgerechnet wurden. Mit diesem Prinzip, an Einzelfällen Aktionen zu unterstützen, tun sich die Gewerkschaften noch schwer. Diskutiert wird dies im Zusammenhang mit Organizing Strategien (vgl. Urban, 2010).
3.1 Der Begriff Solidarität
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3 Solidarisches Handeln
3.1 Der Begriff Solidarität Die Kontroverse aus dem Jahre 1999 zwischen Bierhoff/Küpper und einer Reihe anderer Wissenschaftler/innen (vgl. Bierhoff & Küpper, 1999; R. Zoll, 2001) zeigt anschaulich, wie vielschichtig der Begriff Solidarität sein kann. Dies gründet, wie im Kapitel 1.2 dieses Berichts beschrieben wurde, in der historischen Entwicklung des Begriffs von seiner etymologischen Wurzel, der „obligatio in solidum“, bis hin zu den späteren semantischen, sozialwissenschaftlichen und politischen Bedeutungsverästelungen der heutigen Zeit, die permanent zwischen Alltags- und Wissenschaftsverständnis pendeln. Die folgenden theoretischen Ausführungen stellen Schlussfolgerungen aus den empirischen Ergebnissen dar. Erst daran anschließend werden die eigenen quantitativen und qualitativen Befunde zum solidarischen Handeln dargelegt. Ganz unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Differenzlinien lassen sich durch die diversen Annäherungen an den Begriff Solidarität sichtbar machen. Diese Differenzlinien dokumentieren die Vielschichtigkeit des Phänomens und liefern gleichzeitig die Erklärung für die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Begriff. Die erste Differenzlinie bewegt sich zwischen den beiden Aspekten, ob Solidarität als ein vom Individuum unabhängig bleibendes gesellschaftliches Phänomen oder als ein subjektabhängiges Phänomen betrachtet wird. Im ersten Fall handelt es sich um eine für alle Gesellschaften und sozialen Gruppen notwendige Bindung, die je nach sozialem Differenzierungsgrad unterschiedliche Formen annehmen kann. So kann sie z. B. als mechanische Solidarität fungieren. Bei dieser werden die Mitglieder einer segmentären bzw. funktional nicht differenzierten Gesellschaft zu Zusammenhalt auf der Grundlage ihrer Ähnlichkeiten verpflichtet (vgl. Durkheim, 1988). Im anderen Fall, bei der organischen Solidarität, welche nur in modernen bzw. funktional differenzierten Gesellschaften existiert, wird der Zusammenhalt über intermediäre Organisationen wie Krankenversicherungen, Rentenkassen usw. organisiert (ebd.). Ob mechanisch oder organisch, in diesen beiden Fällen bleibt das Phänomen Solidarität eine gesellschaftliche Erscheinung, welche nicht vom einzelnen Individuum abhängig ist. Wird Solidarität als subjektabhängig definiert, handelt es sich, natürlich in J. Held et al., Was bewegt junge Menschen?, DOI 10.1007/978-3-531-92826-5_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Solidarisches Handeln
sozialen Kontexten, um ein von einem Akteur abhängiges bzw. spezifisch auf diesen bezogenes Phänomen, gleichgültig, ob dies dem Akteur bewusst ist oder nicht. Der Einzelne verhält sich solidarisch oder nicht. Diese zweite Betrachtung findet man hauptsächlich in der Sozialpsychologie (vgl. Bierhoff, 2002), sie differenziert sich allerdings entlang vieler weiterer Linien, welche im Kapitel 1.2 erwähnt wurden, und die an dieser Stelle etwas genauer betrachtet werden. Handelt es sich bei Solidarität nun um eine Haltung oder eine Handlung? Dies ist die zweite Differenzlinie. Eine klare analytische Trennung lässt sich nur schwer bewerkstelligen, da „Einstellungen und subjektive Normen die Verhaltensabsicht beeinflussen, die ihrerseits das tatsächliche Verhalten bestimmt“ (vgl. Bierhoff & Küpper 1999: 246). Und ist Solidarität ein Gefühl oder eine menschliche Grundeigenschaft? Diese Frage bleibt in der Literatur umstritten, und ihre Beantwortung hängt grundsätzlich von der Grundannahme bzw. Definition ab, welche am Anfang einer Argumentation steht, dies alles ohne empirische Beweiskraft. Wichtig bleibt allerdings bei der Differenzlinie zwischen Haltung und Handlung die Tatsache, dass solidarisches Handeln immer eine entsprechende Haltung voraussetzt. Dagegen muss eine solidarische Haltung nicht zwingend in eine solidarische Handlung münden. Damit ist unter anderem das Ergebnis zu erklären, dass viele Befragten bei der Untersuchung U35 zwar die Gewerkschaften als wichtig betrachten, selbst aber gewerkschaftlich nicht aktiv sind. Im Umkehrschluss zeigen gewerkschaftlich Aktive selbstredend eine solidarische Haltung. Ihre Positionen sind dabei allerdings keineswegs einheitlich, sondern, wie es die empirische Ergebnisse belegen, ziemlich nuanciert. So betonen manche eher universalistische und stark politisierte Positionen, andere dafür abstrahieren vom allgemeinen politischen Kontext und beschränken ihre Argumentation bzw. Aktionen auf ihren Betrieb bzw. auf ihre alltäglichen Handlungsfelder. Die dritte Differenzlinie in der Annäherung an den Solidaritätsbegriff ist die zwischen Zwang und freiwilliger Handlung. Sie findet sich in unterschiedlichen Zusammenhängen. So war die Solidarität ursprünglich, worauf die etymologische Wurzel „obligatio in solidum“ hinweist, mit Verpflichtung verbunden. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe im römischen Recht und später im Mittelalter bedeutete für alle Mitglieder dieser Gruppe die Verpflichtung, für etwaige Schulden eines Mitgliedes dieser Gruppe zu haften. Interessanterweise taucht der verpflichtende Charakter der Solidarität in der Geschichte bis heute in unterschiedlichen Zusammenhängen wieder auf. So lassen sich deutliche Spuren dieser Form von Verpflichtung im Subsidiaritätsprinzip der heutigen Gesellschaft erkennen, und die organische Solidarität, so wie sie von Durkheim beschrieben wurde und heute durch die verschiedenen Versicherungen als intermediäre Organisationen artikuliert wird, könnte niemals ohne Verpflichtungen der Mitglieder funktionieren. Dies geht vom Zwang zur Krankenver-
3.1 Der Begriff Solidarität
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sicherung für Menschen unterhalb einer bestimmten Einkommensgrenze bis hin zum für alle Steuerzahler geltenden politisch diffusen Solidaritätszuschlag für die Unterstützung der neuen Bundesländer. Der Zwang zur Solidarität muss allerdings nicht unbedingt gesetzlich bestimmt und durchgesetzt werden, er kann auch aus moralischen Gründen entstehen, wenn nämlich die soziale Ächtung als Sanktion fungiert (vgl. Bergson, 2008). Die mechanische Solidarität in der Tradition von Durkheim vereint beide Aspekte des Zwanges zur Solidarität, den Zwang durch die Regeln der sozialen Gruppe, welche bei einer Nichtbeachtung ihrer Regeln konkrete negative Sanktionen auslöst, und den moralischen Aspekt, weil eine Verantwortung für die Gruppe durch die Sozialisation im Rahmen dieser Regeln verinnerlicht wird (vgl. Durkheim, 1988). Reziprozität und Einseitigkeit bilden eine wichtige vierte Differenzlinie von Solidarität. Je nach Betrachtungsweise ist die eine oder die andere dieser beiden Dimensionen von Solidarität bedeutsam. So kann Solidarität als soziale Bindung nur auf der Grundlage von Reziprozität funktionieren, dagegen als altruistische Haltung ist sie nicht auf Gegenseitigkeit angewiesen. Hans-Werner Bierhoff weist auf diese Dichotomie durch seine umstrittene Unterscheidung von Solidarität als Handlung durch gemeinsame oder eben unterschiedliche Interessen hin. Beide Möglichkeiten fanden sich in den Interviews wieder; zum einen Solidarität nur auf der Grundlage von Reziprozität und auf der anderen Seite Solidarität als selbstloser Akt. An dieser Stelle könnte man auch zwischen persönlichen und entpersönlichten Solidaritätsformen sprechen (vgl. Stegbauer, 2002: 93 f.). Bei der ersten Form kennen sich die Protagonisten, diejenigen, die solidarisch handeln, und diejenigen, die diese Solidarität erfahren. In dieser Konstellation ist Reziprozität möglich, wenn auch nicht immer erwartet. Bei entpersönlichter Solidarität ist eine direkte Reziprozität meistens nicht zu erwarten, weil diese solidarische Handlung entweder anonym oder über intermediäre Instanzen geschieht. Die aus der Distanz solidarisch handelnde Person kann allerdings mit einem höheren Prestige rechnen, was sich gesellschaftlich im Sinne eines höheren symbolischen Kapitals auszahlen kann (ebd. 96 ff.). Die Wahrnehmung von Reziprozität bzw. Einseitigkeit als Differenzlinie erzeugt eine fünfte Differenzlinie entlang der Zeitdimension. So kann die einseitige solidarische Handlung als synchrone Solidarität den Aspekt eines Augenblickphänomens annehmen. Die Bindekraft der reziproken Solidarität hingegen kann sich nur diachron, also auf Dauer, als soziales Band bzw. Zusammengehörigkeit beweisen. Das beste Beispiel dafür ist der Generationenvertrag, der sich in einem auf mehrere Generationen erweiterten Zeithorizont von gegenwartsfixierten Entscheidungen loslöst (vgl. Großheim, 2008). Daraus ergibt sich eine weitere Differenzlinie, nämlich die zwischen Solidarität als normative Sozialbindung und Solidarität als altruistisches variables
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3 Solidarisches Handeln
Phänomen. Denn wenn Solidarität als verlässliches, d. h. auf Beständigkeit und Gegenseitigkeit beruhendes Phänomen funktionieren soll, dann ist es auf verlässliche Orientierungen angewiesen, die zumeist erst als Normen wirksam werden. Im Gegensatz dazu ist Solidarität als altruistische variable Haltung bzw. Handlung auf ein allgemeines normatives Korsett nicht unmittelbar angewiesen, denn das Subjekt kann situativ auf der Grundlage seiner eigenen ethischen Orientierungen, welche nicht zwingend die allgemein gesellschaftlich Gültigen sind, entscheiden, ob es sich solidarisch verhält oder nicht. Zeigt man sich solidarisch auf der Grundlage von universalistischen Werten und Orientierungen oder beruht eine solidarische Handlung auf rein pragmatischen, unmittelbaren Erwägungen? Dies ist die nächste Differenzlinie. Beide schließen sich grundsätzlich nicht aus, werden aber als gegensätzlich definiert, wenn, wie bei Kohlberg, Solidarität als hohe Stufe der moralischen Entwicklung betrachtet wird (vgl. Kohlberg, 1995). Zwei weitere interessante Varianten dieser Dichotomie finden sich bei Seyla Benhabib (1989) und Albert Camus (2006). Seyla Benhabib geht von zwei unterschiedlichen Moralverständnissen aus. Die Standpunkte des „verallgemeinerten“ und des „konkreten Anderen“ erzeugen unterschiedliche solidarische Formen. Camus sieht den Ausdruck der Solidarität in der Revolte gegen das Unrecht, allerdings kann diese Revolte eine historische und eine metaphysische Dimension annehmen. Im ersten Fall droht ihr durch die Verfolgung unmittelbarer Ziele eine Politisierung, die die Revolte in ihr Gegenteil umwandelt, also in Unterdrückung und Gewalt. Nur im zweiten Fall, also in der metaphysischen und universellen Dimension der Revolte, kann diese im Dienste der „menschlichen Solidarität“ stehen. Die Dichotomie Solidarität aus der Nähe bzw. Solidarität aus der Distanz findet sich als Differenzlinie in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen wieder. Die erste Form wäre eine “Florence-Nightingale-Solidarität in Form aufopferungsvoller ‚körpernaher‘ Hilfe für ‚Bedürftige‘“ (Sander, 1999: 10); Solidarität aus der Distanz stellt sich in extremer Form als „televermittelte“ Solidarität dar, die sich als fester Bestandteil der Fernsehprogramme entwickelt hat und entlang einer Katastrophenästhetik mit simplen moralischen Binärkodierungen wie „schwarze Opfer und weiße Retter“ zu einer Art „Instant-Solidarität“ verkommen ist (Baringhorst, 1999: 56 ff.). Die vielleicht wichtigste Differenzlinie des Solidaritätsbegriffs ist in Zusammenhang mit gewerkschaftlicher Arbeit die politische Motivation. Handelt man solidarisch auf der Grundlage einer bewussten politischen Orientierung oder findet die solidarische Haltung oder Handlung außerhalb eines politischen Kontextes statt bzw. ohne expliziten politischen Begründungszusammenhang? Die Parole „Hoch die internationale Solidarität“ der 60er- und 70er-Jahre war eminent politisch, und jede gewerkschaftliche Arbeit musste zwangsläufig eine
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politische Dimension haben. Dies scheint nicht mehr zwingend zu sein. Was einst unbedingt zusammengehörte, hat sich offensichtlich entkoppelt und kommt nur punktuell zusammen. Dieser Trend, der schon in der IG-Metall-Jugendstudie (Bibouche & Held, 2002) festgestellt wurde, hat sich mit der Untersuchung U35 bestätigt, was nicht weiter überrascht, berücksichtigt man, dass die damals befragte Kohorte bis auf die Tatsache, dass dort im Metallbereich befragt wurde, noch immer die selbe ist1. In diesem Auseinanderdriften von solidarischem Handeln und Politik sehen manche eine Krise, welche überwunden werden müsse (Zoll, 2001), andere betrachten es eher als Chance für im politischen Sinne befreite Engagementformen (Beck, 1994). Die sehr unterschiedlichen Differenzlinien, welche bei dem Begriff Solidarität freigelegt wurden, sind deswegen so wichtig, weil sie nicht nur die dem Begriff inhärente Heterogenität zeigen, sondern auch zu einem sehr differenzierten Verständnis von Solidarität führen. In der Konsequenz bedeutet das, dass jeder einseitige Umgang mit dem Begriff Solidarität sowohl auf der theoretischen als auch auf der empirischen Ebene in eine ideologische Falle führt. Vielmehr scheint die Alternative zu sein, das Phänomen Solidarität als „Möglichkeitsraum“ zu betrachten (Sander, 1999: 8) und so darauf hinzuweisen, dass „Solidarität nur ein Element von vielen in der Gemengelage sozialkultureller Beziehungsmuster ist, die moderne Gesellschaften auszeichnet“ (ebd.). Dies ist analytisch von Bedeutung, um die beschleunigte Transformation und Differenzierung der Milieus in der gegenwärtigen Gesellschaft zu verstehen, nicht zuletzt die auffälligen paradoxen Entwicklungen, die Axel Honneth u. a. beschreiben (Honneth, 2002). Anders ausgedrückt, ist es nicht möglich bzw. wäre es sogar kontraproduktiv, Solidarität in eine einfache Definition einzuzwängen und in der Folge diese eine Form als einzig legitime für bestimmte Engagementformen bzw. Organisationen zu betrachten. Es entwickeln z. B. gewerkschaftlich engagierte Menschen eben nicht immer dasselbe Konzept von Solidarität. Ganz abhängig von sehr unterschiedlichen situativen, organisatorischen, biographischen und vielen anderen Faktoren verhalten sie sich und handeln sie im Bezug zur Solidarität vielmehr sehr differenziert und mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Zusammenfassend lassen sich in Bezug auf das Phänomen Solidarität folgende Grunddualismen herausarbeiten, welche in den empirischen Daten zutage treten und so geordnet werden können, dass ein besseres Verständnis der unterschiedlichen solidarischen Haltungen und Handlungen möglich wird. Die zwei Pole der Grunddualismen könnten als subjektunabhängige Dimensionen 1 Die Erhebung für die IG-Metall-Jugendstudie fand im Jahr 2000 statt bei einer Stichprobe mit einem Durchschnittsalter von 19 Jahren. Die Erhebung für U35 fand 2008 statt bei einem Durchschnittsalter von 30 Jahren für eine gleich große Stichprobe.
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3 Solidarisches Handeln
eher einer Strukturebene oder als subjektabhängige Dimensionen einer eher subjektiven Ebene zugeordnet werden, wobei der Übergang von einem Pol zum anderen oder auch umgekehrt bei allen Grunddualismen graduell zu betrachten ist. Es gibt keine klare, abrupte Trennung zwischen den jeweiligen Polen. In diesem Sinne ergibt sich als Überblick für alle möglichen Dimensionen von solidarischem Handeln folgende Tabelle: Tabelle 6
Dimensionen solidarischen Handelns Eher strukturbezogen
Ù
Eher subjektbezogen
Gesellschaftlich vermittelt
Ù
Unmittelbar
Haltung
Ù
Handlung
Verpflichtend
Ù
Freiwillig
Reziprok
Ù
Einseitig
Dauerhaft/Diachron
Ù
Augenblicklich/Synchron
Normativ
Ù
Variabel
Universalistisch/„verallgemeinerter Anderer“
Ù
Partikularistisch/„konkreter Anderer“
Distanz/entpersönlicht
Ù
Nähe/persönlich
Politisch motiviert
Ù
Nicht politisch motiviert
Die diversen Möglichkeiten eines solidarischen Handelns werden erst sichtbar, wenn man sich die unterschiedlichen Differenzlinien in ihrer Bipolarität als jeweilige mögliche Komponenten einer solidarischen Haltung bzw. Handlung vorstellt. Diese Komponenten lassen sich miteinander kombinieren, dies in unterschiedlicher Prägung, d. h., indem sie eher zu dem einen oder anderen Pol der jeweiligen Dualität, wie z. B. verpflichtend-freiwillig, neigen. Bei jeder Konstellation entsteht eine andere Qualität solidarischer Haltung bzw. Handlung mit ganz differenzierten Akzenten. Vor allem wird dabei klar, dass hinter soli-
3.2 Das Problem der Operationalisierung eines unscharfen Begriffs
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darischen Haltungen und Handlungen nicht nur eine Grundkategorie steht, sondern dass diese Haltungen und Handlungen an einem Schnittpunkt als mannigfaltige und zueinander querliegende Achsen von Grunddualismen zu verstehen sind2. In diesem Sinne werden im übernächsten Abschnitt die empirischen Ergebnisse interpretiert. 3.2 Das Problem der Operationalisierung eines unscharfen Begriffs Die im vorherigen Abschnitt beschriebenen möglichen Differenzlinien bei dem Begriff Solidarität machen ihn eher diffus. Sie zeigten in den Voruntersuchungen, dass eine vorab theoretische Festlegung dem Gegenstand dieser Forschung nicht angemessen wäre, da jede Form von Entscheidung für eine der vielen Definitionen des Begriffs Solidarität zwangsläufig den Ausschluss zahlreicher weiterer Aspekte und Differenzlinien mit sich bringen und somit die weiteren Schattierungen ausblenden würde. Eben dieses Problem führte zu den heftigen Auseinandersetzungen um den Begriff Solidarität zwischen Wissenschaftler/innen aus verschiedenen Disziplinen (vgl. Bierhoff & Küpper 1999). Die Vielschichtigkeit des Phänomens Solidarität ist auch darin begründet, dass der Begriff eine wichtige Rolle in vielen Disziplinen spielt, keine davon aber eine Deutungshoheit über den Begriff hat. Deswegen wird der Umgang mit ihm von sehr unterschiedlichen Denk- und Forschungstraditionen beeinflusst. Sowohl Sozialwissenschaften als auch Philosophie, Anthropologie, Sozialpsychologie, Literatur- und Politikwissenschaft haben sich, jede Disziplin auf ihre Weise, mit dem Begriff Solidarität auseinandergesetzt. Zu guter Letzt pendelt der Begriff Solidarität permanent zwischen changierendem Alltagsverständnis und wissenschaftlicher Strenge. Ein wichtiges Argument gegen eine theoretische Festlegung des Begriffs Solidarität war die Feststellung, dass sich in den Interviews der qualitativen Voruntersuchung herausstellte, dass die Interviewpartner/innen mit dem Begriff Solidarität wenig anfangen konnten bzw. ein deutlich weiteres Verständnis von Solidarität hatten als das, was klassischerweise im historischen und sozialen Kontext der Arbeitnehmer/innen-Bewegung zu verorten ist. Eine weitere, noch problematischere Feststellung war die Tatsache, dass die meisten Interviewten nicht unbedingt etwas mit dem Begriff Solidarität zu tun haben wollten, gerade so, als hätte Solidarität eine unanständige Konnotation. Die Projektgruppe wurde 2 Diese Analyselogik ist stark am Intersektionalitätskonzept angelehnt, wie es seit einiger Zeit in Deutschland diskutiert wird (vgl. Leiprecht & Lutz, 2005), allerdings hört da die Analogie auf, da es bei der Intersektionalitätstheorie um die Überschneidung von Persönlichkeitsmerkmalen geht, in unserem Fall um die Überschneidung von Dimensionen einer Haltung bzw. Handlung einer Person.
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3 Solidarisches Handeln
daher bezüglich des Begriffs Solidarität mit einer doppelten Schwammigkeit konfrontiert, einer theoretischen und einer im Verständnis der Befragten. Aufgrund der beschriebenen Schwierigkeiten wurde also auf eine vorgängige theoretische Festlegung verzichtet, und es wurde die Entscheidung gefällt, dass die empirische Bestimmung des Begriffs durch die Befragten selbst passieren soll. Es wurde also untersucht, was die Befragten selbst unter Solidarität verstehen. Bei komplexen Phänomenen, für die noch wenig Erfahrungen und keine fertigen Theorien vorliegen bzw. wie in diesem Fall theoretische Festlegungen problematisch sind, bedarf es am Anfang des Forschungsprozesses theoretischer Annahmen, welche sich aus unterschiedlichen Quellen ableiten lassen. Solche Quellen können andere Untersuchungen, Berichte von Experten/innen, wiederholte Erfahrungen von Betroffenen, Zeitungsartikel aus der anerkannten Referenzpresse usw. sein. Diese Annahmen, in die theoretisches Vorwissen einfließt, sind dann Ausgangspunkt für die Untersuchung. Also wurden Anhaltspunkte gesammelt, welche es ermöglichen sollten, zum einen den Begriff der Solidarität so zu operationalisieren, dass er an die Alltagssprache der Befragten anschlussfähig wird, zum anderen wurde in den theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Begriff nach Konzepten gesucht, die die vielfältigen Vorstellungen von Solidarität adäquat umreißen. Diese unterschiedlichen Konzepte wurden um das Subjekt herum angeordnet und dafür drei Felder definiert, nämlich die gesellschaftliche Sphäre, die Erwerbssphäre und die private Sphäre. Diese aus den Aussagen der Befragten entstandenen Felder stimmen auch überein mit den klassischen Unterteilungen in der Literatur. Insofern stellte die daraus entstandene Grafik (siehe Kapitel 1.2 im Teil A) eine nützliche Grundlage für die weitere Vorgehensweise dar. Es galt dann, die Hinweise aus den empirischen Voruntersuchungen, theoretischen Konzepten und allen sonstigen Anregungen in Forschungsinstrumente zu übersetzen, welche einerseits in der Lage sind, die facettenreichen Erscheinungen des Begriffs Solidarität zu erfassen und andererseits an die Alltagssprache der Befragten anzuschließen. Daraus entstanden einige Fragen für ein Leitfadeninterview und 39 Items für den Fragebogen. Wegen der unterschiedlichen Differenzlinien bei dem Begriff Solidarität wurden die Fragen im Interviewleitfaden um entsprechende Begriffe wie Gerechtigkeit, Mitleid, Verantwortung, Hilfsbereitschaft, Unterstützung, Zusammenhalt, Mitgefühl gruppiert; es wurde auch nach dem gefragt, was die Befragten bewegt, welche Rolle die Unmittelbarkeit im solidarischen Handeln spielt und auf welchem Feld dies geschieht, also etwa in der privaten, beruflichen oder gesellschaftlichen Sphäre. Bei dem Fragebogen wurde einem ähnlichen Prinzip gefolgt. Die Formulierung der Items zum Begriff Solidarität in all seinen Ausprägungen wurden zum Teil aus der einschlägigen
3.3 Empirische Dimensionen der Solidarität
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Literatur übernommen (Adorno, 1995; Krettenauer, 1998), die meisten Items wurden selbst formuliert. Konsequenterweise wurde ein Weg aus dieser großen Menge an Bestimmungsmöglichkeiten durch eine Faktorenanalyse gesucht. Diese ergab sieben Faktoren, bei denen die jeweils dazu gehörenden Fragen zu einem Index zusammenfasst wurden, fünf Indizes davon ließen sich wiederum statistisch zu einem Solidaritätssyndrom zusammenfassen. Interessanterweise spiegeln die fünf Indizes die Bestimmungen wider, die der Solidaritätsbegriff in der Geschichte durchmachte, nämlich das Verständnis von Solidarität als Zusammenhalt von Gruppen über das Verständnis von Solidarität als gegenseitige Hilfe und Tugend der Arbeitnehmer/innen-Bewegung bis hin zu Solidarität als staatlich organisierte Maßnahme. Bei genauer Betrachtung fällt auf, dass einige der oben festgestellten Differenzlinien bei dem Begriff Solidarität sich auch durch die empirischen Ergebnisse ziehen. 3.3 Empirische Dimensionen der Solidarität Die folgenden fünf Indizes, die das Solidaritätssyndrom bildeten, wurden nach der Wichtigkeit bei den Befragten geordnet. Datenbasis ist die Hauptuntersuchung von 723 Befragten bis Ende November 2008. Solidarität im privaten Umfeld
Welche Menschen oder Gruppen können in Notsituationen auf jeden Fall mit Ihrer Unterstützung rechnen? Freunde stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht Ich fühle mich für Menschen, die in Not geraten sind, verantwortlich: Wenn ich sie persönlich kenne: stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht Welche Menschen oder Gruppen können in Notsituationen auf jeden Fall mit Ihrer Unterstützung rechnen? Die eigene Familie stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht
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+
Solidarität im privaten Umfeld
Gemeinschaftsorientierung
–
Gerechte-Welt-Glaube
Gutes Arbeitsklima Entgrenzung der Arbeit Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung Psychischer Druck Anerkennung in privaten Beziehungen Solidarismus Allgemeines soziales Verantwortungsgefühl Aktive Arbeitnehmersolidarität Unterstützung in Notsituationen
Abbildung 19 Solidarität im privaten Umfeld
Die wichtigste Dimension dieser Art von Solidarität ist die persönliche Beziehung. Die Befragten stimmten diesem Index am stärksten zu (MW=1,35). Diese Form von Solidarität entspricht eher einer Form von gegenseitiger Hilfe, bei der der Zusammenhalt auf der Grundlage von engen sozialen Beziehungen bessere Überlebens- oder Durchsetzungschancen ermöglicht. Diese Form der Solidarität, durchaus von Eigennutz motiviert (vgl. Zoll, 2000: 109), scheint in der Moderne ganz gängig zu sein und bestätigt die These von Durkheim (Durkheim, 1988),
3.3 Empirische Dimensionen der Solidarität
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dass Segmentstrukturen trotz Individualisierung und sozialer Differenzierung niemals völlig verschwinden (Durkheim, 1988: 283 ff.). Sie erinnert stark an die „nepotistische Solidarität“ (eine Form der Vetternwirtschaft), wie sie (Voland, 1998) am Beispiel der fraternalen Polyandrie in Tibet, der Beuteteilung der Yanomani-Indianer und der Pilgerväter der Mayflower dargestellt wird (Bayertz, 2002: 297 ff.). Dieser Index korreliert sehr signifikant positiv mit den Indizes „Gemeinschaftsorientierung“, „Gutes Arbeitsklima“, „Entgrenzung der Arbeit“, „Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung“, „Psychischer Druck“, „Anerkennung in persönlichen Beziehungen“ und allen anderen Solidaritätsindizes. Dieser Index korreliert sehr signifikant negativ mit dem Index „Gerechte-Welt-Glaube“. Solidarismus
Der Staat muss für soziale Gerechtigkeit sorgen. stimmt gar nicht (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt genau Es ist beschämend, dass es Menschen gibt, die in so einem reichen Land wie Deutschland in Armut leben. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht
„Nur ein kundiger Leser wird heute den Begriff Solidarismus kennen“, schreibt Rainer Zoll (2000: 87). Diese Form von Solidarität hat ihre Wurzeln bei der christlichen Soziallehre und stellte Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts den Versuch dar, „Individualismus und Sozialismus zu versöhnen“ (ebd.). Aus der Kritik an den üblichen Vorstellungen von Solidarität im Sinne von „Klassen- oder Kampfsolidarität, die Interessensolidarität in der Wirtschaft oder die Sektensolidarität“ (ebd.), entstand die Überzeugung, dass soziale Gerechtigkeit nicht nur, sondern auch vom Staat organisiert werden kann. „Die Assoziation von Kapital und Arbeit sollte nicht nur in Form von Genossenschaften, sondern mittels der Partizipation der Arbeiter am Kapital und am Gewinn realisiert werden“ (ebd. 88). Bei diesem Index wird der Rolle des Staates ein großes Gewicht beigemessen. Er wird für die Missstände in der Gesellschaft verantwortlich gemacht und muss für ihre Aufhebung sorgen. Diese Verpflichtung wird moralisch begründet. Hier bewegt sich die solidarische Haltung eindeutig auf der Strukturseite. Sie beruht auf der Vorstellung, dass der Staat die Strukturen schafft und sie deswegen auch ändern kann. Vor allem die Arbeitsbedingungen hängen davon ab. Logischerweise korreliert dieser Index sehr signifikant negativ mit den Indizes „Gerechte-Welt-Glaube“, „Zufriedenheit“, „Karriere-Orientierung“ und „Ich-Orientierung“.
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3 Solidarisches Handeln
Er korreliert gleichzeitig sehr signifikant positiv mit den Indizes „Zukunftsangst“, „Gutes Arbeitsklima“, „Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung“, „Arbeitsdruck“, „Psychischer Druck“ und allen anderen Solidaritätsindizes. Dieser Index steht in der Bewertung der Befragten an zweiter Stelle mit einem Mittelwert von 2,35. Allgemeines soziales Verantwortungsgefühl
Jede/r ist auch für das gesellschaftliche Ganze verantwortlich. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht Wie gut passen die folgenden Zitate zu Ihrer Lebenseinstellung? Einer für alle und alle für einen. (1) (2) (3) (4) (5) (6) Jeder ist sich selbst der Nächste. Umgedreht gewertet: Das Leben ist zu kompliziert, um sich auch noch um Andere zu kümmern. stimmt gar nicht (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt genau
In diesem Index weisen alle drei Items sehr eindeutig auf eine ausgeprägte soziale Orientierung mit starkem Verantwortungsgefühl für gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge hin, auch hier allerdings ohne explizit politische Dimension, es sei denn, man interpretiert die Verantwortlichkeit für das gesellschaftliche Ganze als implizit politische Haltung. Allerdings weist die Auffassung des Solidaritätsbegriffs hier eher auf ein Kollektivbewusstsein im Dienste einer offenen sozialen Solidarität im Sinne Bergsons hin (vgl. Bayertz, 2002; Bergson, 2008). Dieser Index korreliert sehr signifikant positiv mit den Indizes „Gemeinschaftsorientierung“, „Familienorientierung“, „Selbstbestimmte Arbeit“, „Gutes Arbeitsklima“, „Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung“, „Anerkennung in persönlichen Beziehungen“, „Anerkennung in der Arbeit“ und allen anderen Solidaritätsindizes. Zusammen mit den sehr signifikant negativen Korrelationen mit dem Index „Gerechte-Welt-Glaube“ und „Karriere-Orientierung“ offenbaren diese Korrelationen einen deutlichen Schwerpunkt in Richtung Strukturebene, wobei das Subjekt auch an dieser Stelle nicht verschwindet, sondern eine aktive Rolle im Rahmen von strukturellen Zusammenhängen einnimmt. Also ist auch hier keine deterministisch angehauchte Haltung zu erkennen, allerdings auch keine dezidiert politische. Dem Index wurde mit einem Mittelwert von 2,42 zugestimmt.
3.3 Empirische Dimensionen der Solidarität
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Aktive Arbeitnehmer/innen-Solidarität
Im Notfall bin ich zu einem Streik bereit: stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht Es ist wichtig, sich für gerechte Arbeitsverhältnisse einzusetzen. sehr wichtig (1) (2) (3) (4) (5) (6) nicht wichtig Ohne gemeinsamen Kampf erreicht man nicht viel im Leben. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht Umgedreht gewertet: Es bringt nichts, sich über aktuelle Ereignisse oder öffentliche Angelegenheiten Sorgen zu machen; ich kann ohnehin nichts dagegen tun. stimmt gar nicht (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt genau
Die traditionelle Arbeitnehmer/innen-Solidarität, so wie sie sich im Zuge der Industrialisierung innerhalb der Arbeiterbewegung entwickelt hat, spiegelt sich voll und ganz in diesem Index wider. Die konstitutiven Momente dieser Form von Solidarität sind Gerechtigkeit, die Wahrnehmung einer aktiven Politikfähigkeit der einzelnen Subjekte, die einem überschreitenden Handeln (Holzkamp) entsprechen, die Orientierung auf der Grundlage einer gemeinsamen sozialen Lage und schließlich die Überzeugung von der Wirksamkeit gemeinsamen Handelns für gemeinsame Belange. So wie dieser Index sich bei der Faktorenanalyse herausgebildet hat, wird allerdings die universalistische Dimension der Solidarität, wie sie z. B. als Losung im „Manifest der kommunistischen Partei“ (Marx & Engels, 1848) formuliert wurde: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ und wie sie in den Statuten der Gewerkschaften steht, nicht ersichtlich. Rainer Zoll (2000: 74 ff.) weist in Anlehnung an Irene von Reitzenstein (1961) genau auf diese Diskrepanz hin, nämlich zwischen der offiziellen Haltung der Organisationen der Arbeiterbewegung, welche wohl bei ihrem Streben nach Gleichheit und Gerechtigkeit einen universalistischen Anspruch erheben, und der empirischen Wirklichkeit, bei der die Forderungen sich notwendig auf die Interessen einer Klasse oder Gruppe beschränken. Dies hat mit dem grundsätzlichen Widerspruch zwischen der Logik des Zusammenhalts einer konkreten Gruppe mit einer spezifischen Problematik und, auf der anderen Seite, der Orientierung an Solidarität als universalistischem Konzept zu tun. Letzteres schließt per se alle Menschen ein, also auch gegnerische Gruppen oder Konkurrenten, oder, um es mit anderen Kategorien zu formulieren, es wurde an dieser Stelle eben die Dialektik vom „verallgemeinerten“ und „konkreten Anderen“ (Benhabib, 1989). Auf die gewerkschaftliche Praxis übertragen bedeutet dies, dass ein Eintreten für die unmittelbaren Belange einer Belegschaft in einem konkreten Betrieb oder einer Firma im schlimmsten Fall das gleichzeitige
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3 Solidarisches Handeln
Definieren von anderen Belegschaften als Konkurrenz bzw. Gegnerschaft bedeutet. Dies steht im Widerspruch zu einem universalistischen Konzept von Solidarität. Die Auseinandersetzungen der letzten Jahre weltweit und in der deutschen Automobilindustrie insbesondere in 2009 sind ein Beispiel dafür, wie es zu diesen Widersprüchen kommen kann. Dieser Index korreliert sehr signifikant positiv mit den Indizes „Gemeinschaftsorientierung“, „Zukunftsangst“, „Selbstverwirklichung im Beruf“, „Gutes Arbeitsklima“, „Entgrenzung der Arbeit“, „Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung“, „Zeitdruck“, „Arbeitsdruck“, „Psychischer Druck“, „Anerkennung in persönlichen Beziehungen“ und alle anderen Solidaritätsindizes. Dieser Index korreliert sehr signifikant negativ mit dem Index „Autorität“, „Gerechte-WeltGlaube“ und „Zufriedenheit“. In der Hauptuntersuchung stimmten die Befragten dem Index mit einem Mittelwert von 2,66 zu. +
Aktive Arbeitnehmer/innen-Solidarität –
Gemeinschaftsorientierung
Zufriedenheit
Selbstverwirklichung im Beruf
Gerechte-Welt-Glaube
Zukunftsangst
Autorität
Gutes Arbeitsklima Entgrenzung der Arbeit Arbeitsdruck Zeitdruck Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung Abbildung 20 Aktive Arbeitnehmer/innen-Solidarität
3.3 Empirische Dimensionen der Solidarität
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Eine kritische Einschätzung sowohl der Gerechtigkeit in der Gesellschaft als auch der Arbeitsbedingungen erzeugt eine Unzufriedenheit, welche offenbar in eine Zukunftsangst mündet. Dieser ist man allerdings als Subjekt nicht ausgeliefert, weil man durch gewerkschaftliches Engagement durchaus an eine Veränderung der allgemeinen gesellschaftlichen Situation glaubt. Das Problem der Einzelnen wird in Zusammenhang mit strukturellen Bedingungen in der Arbeit und in der Gesellschaft gesehen, wozu z. B. auch Machtverhältnisse zählen. Auch an dieser Stelle ist die Haltung zwischen Struktur- und Subjektebene verankert. Die Ebenen sind dabei eng dadurch verschränkt, dass die Befragten nicht nur an die Möglichkeit der Veränderung auf struktureller Ebene glauben, sondern auf der Subjektebene auch aktiv etwas dafür tun oder tun würden. Unterstützung in Notsituationen
Welche Menschen oder Gruppen können in Notsituationen auf jeden Fall mit Ihrer Unterstützung rechnen? Benachteiligte Menschen: stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht Welche Menschen oder Gruppen können in Notsituationen auf jeden Fall mit Ihrer Unterstützung rechnen? Ungerecht behandelte Menschen: stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht Welche Menschen oder Gruppen können in Notsituationen auf jeden Fall mit Ihrer Unterstützung rechnen? Menschen aus meiner Kultur: stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht Ich fühle mich für Menschen, die in Not geraten sind, verantwortlich: Grundsätzlich, auch über Ländergrenzen hinweg: stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht Ich fühle mich für Menschen, die in Not geraten sind, verantwortlich: Wenn sie zu einer sozialen Gruppe gehören, die mir wichtig ist: stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht Ich fühle mich für Menschen, die in Not geraten sind, verantwortlich: Kollegen: stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht
Dieser Index „Unterstützung in Notsituationen“ bildet sich nicht aus Items, die den klassischen Themen der Arbeitnehmer/innen-Bewegung entsprechen, sondern eher einem empathischen Kummer, wie ihn M. L. Hoffmann in Anlehnung an Kohlberg beschrieben hat (vgl. Schreiner, 1992). Sie sind näher an einer traditionellen Art der Barmherzigkeit, die ihre Wurzeln in der fraternitas bzw.
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3 Solidarisches Handeln
Brüderlichkeit der jüdisch-christlichen Tradition hat (vgl. Brunkhorst, 2002). Diese Form der Solidarität unterscheidet sich insbesondere von der sogenannten Barmherzigkeit bzw. Brüderlichkeit dadurch, dass sie auf moralische Verpflichtung bzw. religiösen Zwang nicht angewiesen ist. Die zweite Unterscheidung von der Barmherzigkeit liegt darin begründet, dass diese Art von Solidarität nicht mehr nur in den primären Netzwerken wie Familie, Nachbarschaft, religiöser Vereinigung usw. gilt (Zoll, 2001: 94 f.), sondern durchaus Menschen aus fremden Gruppen oder Milieus einschließt, auch über Ländergrenzen hinweg. Eine weitere Unterscheidung von der Barmherzigkeit ist das Fehlen der „schimpflichen Gönnerhaftigkeit des reichen Almosengebers“ (Mauss, 1990: 157). Diese Form der Solidarität ist frei von politischen Konnotationen, also nicht an Forderungen gebunden. Die Variable „über Ländergrenzen hinweg“ erweckt wegen der Formulierung einen Eindruck von internationaler Solidarität, hat aber in diesem Falle wenig mit den gängigen Parolen der früheren politischen linken Bewegungen zu tun, welche Staaten als Adressaten ihrer Solidarität hatten wie z. B. Vietnam oder Nicaragua. Mit der Formulierung „über Ländergrenzen hinweg“ ist lediglich gemeint, dass die Unterstützung in Notsituationen nicht an den eigenen Landesgrenzen aufhört. Dies wird z. B. durch die große Spendenbereitschaft bei Katastrophen auf der ganzen Welt deutlich. Dieser Index korreliert sehr signifikant positiv mit den Indizes „Gemeinschaftsorientierung“, „Selbstverwirklichung im Beruf“, „Selbstbestimmte Arbeit“, „Gutes Arbeitsklima“, „Entgrenzung der Arbeit“, „Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung“, „Zeitdruck“ „Arbeitsdruck“, „Psychischer Druck“, „Anerkennung in persönlichen Beziehungen“ und allen anderen Solidaritätsindizes. Durch diese Korrelationen wird an diesem Index klar, dass man ihn weder einer reinen Strukturebene noch einer Subjektebene zuordnen kann. Beide Pole sind im selben Ausmaß vertreten, denn während „Selbstverwirklichung im Beruf“, „Selbstbestimmte Arbeit“ und „Anerkennung in persönlichen Beziehungen“ eindeutig subjektabhängig sind, positionieren sich „Gemeinschaftsorientierung“, „Gutes Arbeitsklima“ und „Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung“ auf der Strukturebene. Dieser Index korreliert wie alle anderen Solidaritätsindizes sehr signifikant negativ mit dem Index „Gerechte-Welt-Glaube“. Wenn man eher geneigt ist zu glauben, die Welt sei gerecht, ist man auch nicht verantwortlich für die schlechte soziale Lage von Anderen und ist damit von Verpflichtungen zur Solidarität befreit. Die sehr signifikante Korrelation mit dem Index „Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung“ ist möglicherweise ein Hinweis darauf, dass sie Gewerkschaftsarbeit durchaus als positiv bewerten, sich ihnen bis dahin aber kein Anlass oder Zugang dazu bot.
3.3 Empirische Dimensionen der Solidarität
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Der Index liegt mit einem Mittelwert von 2,8 an letzter Stelle der Bewertung durch die Befragten. Solidaritätssyndrom
Abbildung 21 Solidaritätssyndrom
Alle Solidaritätsindizes korrelieren sehr signifikant miteinander. Dies weist darauf hin, dass die unterschiedlichen Formen und Haltungen der Solidarität nicht unbedingt in Widerspruch zueinander stehen. So kann eine Person wohl der Meinung sein, der Staat solle für die Gerechtigkeit sorgen, und dennoch als Individuum sich selbst für die Gesamtgesellschaft verantwortlich fühlen und gezielt andere Menschen unterstützen. Eine Festlegung auf eine bestimmte Variante der Solidarität scheint im Allgemeinen nicht explizit zu existieren, vielmehr scheint eine grundsätzliche solidarische Haltung zu existieren, die je nach Individuum mit dem einen oder anderen Schwerpunkt ausgestattet ist. Dies lässt sich bestätigen, wenn man die Korrelationen aller Faktoren miteinander betrachtet. So stellt man fest, dass alle Solidaritätsindizes in einem sehr signifikant negativen Zusammenhang mit dem „Gerechte-Welt-Glauben“ stehen, gar nicht oder negativ mit der „Karriere-Orientierung“, dafür alle sehr signifikant mit der „gewerkschaftlichen Interessendurchsetzung“, mit dem „guten Arbeitsklima“ und, bis auf „Solidarismus“, alle mit der „Gemeinschaftsorientierung“ korrelieren. Deshalb ist es legitim, am Solidaritätssyndrom stellvertretend für die anderen Solidaritätsindizes als allgemeine Haltung festzuhalten. Eine Korrelation des Solidaritätssyndroms mit den anderen Faktoren
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3 Solidarisches Handeln
ergibt folgendes Bild, wobei links positiv und rechts negativ jeweils sehr signifikant mit dem Solidaritätssyndrom korreliert. +
Solidaritätssyndrom
–
Gemeinschaftsorientierung
Zufriedenheit
Familienorientierung
Gerechte-Welt-Glaube
Anerkennung in persönlichen Beziehungen Gutes Arbeitsklima Entgrenzung der Arbeit Arbeitsdruck Psychischer Druck Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung Zukunftsangst Abbildung 22 Subjektive Voraussetzung für Solidarität
Dieser Index korrelierte sehr signifikant positiv bei der Erhebung vor der Krise mit „Selbstverwirklichung im Beruf“, tut dies aber bei der Erhebung nach der Krise nicht mehr. Menschen unter 35 Jahren im Dienstleistungsbereich zeigen sich also solidarischer, wenn sie unzufrieden sind und weniger an eine gerechte Welt glauben. Dies erscheint schlüssig, weil die Menschen in einer gerechten Welt das bekommen sollten, was ihnen zusteht. Dementsprechend wäre man weniger auf die Unterstützung von Anderen, also auf ihre Solidarität angewiesen. Aus dieser Logik speist sich auch die Gemeinschafts- und Familienorientierung, welche man kompensatorisch zur ungerechten Welt braucht und die anscheinend als Quelle von Anerkennung benötigt wird. Ihnen wäre ein gutes Arbeitsklima
3.4 Qualitative Analyse
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wichtig, in dem sie sich selbst verwirklichen könnten. Ein solches positives Arbeitsklima scheint allerdings nicht immer gegeben zu sein, die Befragten leiden vielmehr unter Arbeitsdruck und psychischem Druck sowie unter Entgrenzung der Arbeit. Gegen diese belastenden Faktoren in der Arbeit setzen sie eher auf eine gewerkschaftliche Interessensdurchsetzung, also auf eine auf Gemeinschaft beruhende Widerstandsform. Ihre Zukunftsangst ergibt sich offensichtlich aus der allgemeinen Unzufriedenheit gepaart mit den unterschiedlichen Belastungen in der Arbeit und dem niedrigen Glaube an eine gerechte Welt. Korrelationen der solidarischen Orientierungen Charakteristisch für solidarische Orientierungen sind folgende Merkmale:
Unzufriedenheit und das Nicht-Glauben an eine gerechte Welt eine starke Gemeinschafts- und Familienorientierung das Leiden unter Entgrenzung der Arbeit, Arbeitsdruck, psychischem Druck und Zukunftsangst der Wunsch bzw. das Erleben von Anerkennung in persönlichen Beziehungen, ein gutes Arbeitsklima und eine Selbstverwirklichung im Beruf eine positive Haltung zu gewerkschaftlicher Interessendurchsetzung
3.4 Qualitative Analyse Kritische Distanzierung vom Solidaritätsbegriff: Betrachtet man die Aussagen zu Solidarität in den qualitativen Interviews, zeigt sich ein sehr heterogenes Bild. Viele Befragte haben Schwierigkeiten, auf die Frage zu antworten, was für sie Solidarität sei. So sagt eine Ergotherapeutin aus Berlin: „Ich finde Solidarität ist so ein ganz großes Wort (Geste: mit den Händen in der Luft), {das} mit so ganz vielen Sachen besetzt ist irgendwie (…). Das ist mir eigentlich alles zu groß.“ (I-33: 763-769)
Sie erfasst intuitiv, dass der Begriff viele Dimensionen umfasst und versucht, sich ihm in zwei Phasen zu nähern. Zunächst wird er auf nur ein Wort reduziert, von dem sie sich distanziert, weil sie zum einen dem Begriff eine gewisse Wichtigkeit beimisst, sie ihn zum anderen aber als zu komplex betrachtet.
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3 Solidarisches Handeln
Gleichzeitig nimmt sie genau diese Wichtigkeit und Komplexität des Begriffs Solidarität so ernst, dass sie versucht, ihn in einem zweiten Schritt für sich, für ihr Handeln in ihrem Alltag aufzuschlüsseln: „Also ich find zum Beispiel, dass unter meinen Kolleginnen eine große Solidarität herrscht, würde ich jetzt sagen. Ich könnte aber auch sagen, es herrscht ein großes Miteinander.“ (I-33: 769-771)
Sie setzt den Begriff Solidarität mit Zusammenhalt gleich und trifft so eine der gängigsten Definitionen. Allerdings lässt sie mit der vorsichtigen Formulierung Raum für andere Dimensionen des Begriffs, welche sie auch gleich liefert: „Und ein großes … wie geht es Dir, aha, dir geht es nicht so gut, deswegen unterstützen wir dich jetzt, damit es uns allen besser geht. (…) Solidarität ist da so (Geste: beschreibt mit beiden Händen kreisförmige Bewegungen in der Luft), ich find das ist so ein pompöses Wort für solche Sachen, die für uns Selbstverständlichkeit sind, weil es in dem Team als Selbstverständlichkeit funktioniert.“ (I-33: 770-785)
Allgemeiner Zusammenhalt bekommt hier Konturen und Sinn, aus ihm wird ganz explizit Unterstützung in Notsituationen und aktive Arbeitnehmer/innenSolidarität, also zwei der Indizes, welche sich aus den quantitativen Daten bei der Untersuchung ergeben haben. Damit bestätigt die Interviewpartnerin ihre ablehnende Haltung gegenüber der Vielschichtigkeit und Komplexität des Begriffs, was für sie Anlass ist, sich wiederum davon zu distanzieren durch die Feststellung, der Begriff sei zu pompös. Ihr Widerstand gegen den Begriff könnte damit begründet sein, dass er nicht zu ihrem Alltag gehört, er ist nicht selbstverständlich, eben zu „pompös“. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, was denn dazu geführt hat, dass ein einst so selbstverständlicher Begriff nun „pompös“ erscheint. Ist er durch seine Komplexität derart problematisch geworden oder ist er durch die inflationäre bzw. unreflektierte Verwendung aller möglicher Ideologien und merkantilischer Entitäten so pervertiert worden? Zweifelsohne trägt die bewegte Geschichte des Begriffs zu seiner Komplexität bei und macht ihn für die Akteure schwierig zu fassen. Die Pervertierung durch Verkaufsstrategien von Versicherungsunternehmen und andere kommerziellen Einrichtungen bekommt man permanent in der Werbung mit und sie gibt dem Begriff Solidarität eine zweifelhafte Aura, die mit den früheren moralischen Dimensionen der Idee der Solidarität wenig zu tun hat. Diese zwei Möglichkeiten, Komplexität und Pervertierung des Begriffs, sind allerdings nur die offensichtlichsten Erklärungen für die kritische Distanzierung von dem Begriff Solidarität.
3.4 Qualitative Analyse
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Bei einer genaueren Betrachtung des Begriffs Solidarität im Gesamtzusammenhang von Orientierung und Lebensführung der befragten Menschen erscheinen andere, sehr plausible Gründe. Da ist die allgemeine Tendenz zu einem Pragmatismus, der den Akteuren durch die immer kleiner werdenden Entscheidungsräume nahegelegt wird. Dies mündet in eine allgemeine Entideologisierung in Zusammenhang mit dem Begriff Solidarität. Das passt zu der seit vielen Jahren beklagten Distanzierung von der Politik bei der Generation, die nach der Wiedervereinigung herangewachsen ist. Eine in diesem Sinne pragmatische und entideologisierte Lösung im Umgang mit dem Begriff Solidarität ist logischerweise dann die Verortung des solidarischen Handels im unmittelbaren Nahbereich und so in einem überschaubaren und leicht handhabbaren Rahmen, welcher mit dem wachsenden Druck für die Akteure zunehmend notwendig wird. Reduktion des Solidaritätsbegriffs Beinah in allen Interviews begegnet man dieser distanzierten Haltung bzw. Unsicherheit gegenüber dem Begriff Solidarität, welche in eine Reduktion des Phänomens Solidarität in der Regel auf sehr einfache Zusammenhänge bzw. eine Dimension davon mündet, z. B. wie das alltägliche Füreinandereinstehen, meistens in der Familie, aber in schwierigen Situationen auch am Arbeitsplatz. Als stellvertretendes Beispiel kann an dieser Stelle eine 29-jährige Logopädin genannt werden: „I: Was bedeutet für dich Solidarität? M: (Pause) Gegenseitiges Füreinander einstehen. I: Und ja … so jetzt im Bezug auf solidarisches Handeln, … betrifft es dich oder dein Leben? M: Ja, würde ich schon sagen, allerdings eher so auf einen kleineren Kreis betrachtet. Also nicht so auf die, was weiß ich, meine ganze Arbeitssituation oder die ganze Welt (lacht) oder so halt, sondern eher Freundeskreis, Familienkreis. So eher … die Leute, mit denen ich mehr zu tun hab, würde ich mal sagen. I: Und ja, wie versuchst du, solidarisch zu handeln, oder was ist da der Antrieb für dich? M: (Pause) Der Hauptantrieb für solidarisches Handeln hat bei mir, glaube ich, ganz viel damit zu tun, dass ich die Leute kenne, mit denen ich da zu tun hab, die dann meine Hilfe in Anspruch nehmen.“ (I-23: 316-343)
Solidarisches Handeln ist für sie stark auf einen überschaubaren Kreis bezogen – auf ihre Familie und Freunde, Menschen also, die sie gut kennt. Damit grenzt sie Solidarität auf das private Umfeld mit seinen inhärenten Begrenzungen ein, denn
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3 Solidarisches Handeln
diese Art von Solidarität ist immer persönlich, partikularistisch und kann mit Reziprozität rechnen. Außerhalb von diesem sehr überschaubaren Kreis gilt ihr Verständnis von Solidarität nicht, nicht einmal in der Arbeit und natürlich nicht für die „ganze Welt“. Mit dieser eher ironischen Formulierung erweckt sie eine starke Skepsis gegenüber universalistischen Gedanken im Bezug auf Solidarität und bestätigt somit, wie wichtig für sie Unmittelbarkeit im solidarischen Handeln ist. Sie vertritt ein sehr subjektbezogenes Verständnis von Solidarität und äußert dementsprechend, dass sie politisch und gesellschaftlich nicht so interessiert sei. Bezüglich der Rolle der Gewerkschaft sagt sie weiter im Interview, dass sie es nicht einschätzen könne, wie viel eine Gewerkschaft überhaupt bringt (vgl. 374-389). Das alltägliche Füreinandereinstehen ist auf den oben beschriebenen Differenzlinien bei dem Grunddualismus „einseitig – reziprok“ dem Pol „reziprok“ eindeutig näher. Mehrere Befragte bezeichnen dies als wesentlichen Aspekt: Solidarisches Handeln basiert für sie auf dem Gefühl von Gegenseitigkeit. An dem Beispiel von einer Verwaltungswirtin wird dies deutlich. Sie hat zunächst, wie viele andere Interviewpartner/innen, Schwierigkeiten mit dem Begriff Solidarität. Erst als der Interviewer von dem Begriff Solidarität ablässt und danach fragt, in welchen Situationen sie für jemanden einstehen würde, kann sie darauf antworten: „Es kommt drauf an, wer der andere ist. Wenn ich das Gefühl hab, der würde für mich nicht einstehen, dann wird’s schwierig.“ (I-11: 1046-1048)
Von vornherein findet eine Selektion statt, nicht jeder Mensch wird ihre Solidarität erfahren. Dabei ist die Grundbedingung für solidarisches Handeln die Erwartung einer Reziprozität. Diese muss nicht objektiv zu beschreiben sein, es reicht, wenn sie das Gefühl hat, nicht mit reziproker Solidarität zu rechnen. Sie relativiert diese Haltung, indem sie versucht, sich in einer neutralen Situation vorzustellen, in der sie sich ohne Erwartungen auf Reziprozität dennoch solidarisch zeigen würde: „Wenn der jetzt natürlich von jemand anderem ungerecht behandelt wird, … dann würde ich da schon auch was dazu sagen.“ (I-11: 1051-1055)
Aber im selben Satz macht sie schon einen Rückzieher: „Aber das ist immer so eine schwierige Sache. Weil oft ist derjenige, der eingreift, letztendlich der Buhmann. Und der andere steht dann doch wieder besser da (…). Das ist verdammt schwierig.“ (I-11: 1055-1063)
3.4 Qualitative Analyse
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Sie fürchtet offensichtlich nicht nur, keinen Nutzen eines möglichen solidarischen Handelns zu haben, schlimmer noch befürchtet sie, daraus als Verliererin hervorzugehen. Sie kann sich nicht vorstellen, in eine solidarische Handlung ohne Gewinn zu investieren. Dies bringt sie dazu, rasch zum Ausgangspunkt zurückzukehren, nun mit einer weiteren Beschränkung: „Also, ich denk, für die nahe stehenden Menschen direkt ist das gar kein Thema. Aber für … Bekannte, sag ich mal, ist es immer ein bisschen schwierig. Es kommt auf die Situation an und was es ist.“ (I-11: 1046-1071)
Ihre Antwort zeugt von einer sehr vorsichtigen Haltung: Sie macht eine mögliche solidarische Handlung von der betroffenen Person abhängig. Darüber hinaus müsste sie gefühlsmäßig davon überzeugt sein, dass diese Person ihr ebenfalls in Notsituationen helfen bzw. für sie einstehen würde. Hier spielen keinerlei verallgemeinerte Vorstellungen von Moral oder Gerechtigkeit, sondern nur noch unmittelbar persönliche Fragen eine Rolle. Bei dem Beispiel des Eingreifens in eine Situation, in der jemand ungerecht behandelt wird, beschäftigt sie die Tatsache, dass es letztlich ein Akt ist, bei dem man öffentlich seine Meinung kundtut, sich auf einen bestimmten Wert bezieht. Das ist für sie eine riskante Handlung, denn sie hat offensichtlich die Erfahrung gemacht, dass das nicht immer honoriert wird: Für jemanden in dieser Weise einzustehen, kann dazu führen, dass sich die allgemeine Meinung gegen einen selbst richtet. Ob das eventuell auch eine typische Aussage über die Atmosphäre im Arbeitsfeld der öffentlichen Verwaltung ist, kann hier nicht geklärt werden. Jedenfalls überwiegt hier das vorsichtige Abwägen, wann und wem man hilft. Zum einen spielt das Prinzip der Gegenseitigkeit eine starke Rolle, zum anderen, wie nahe die Person einem steht. Das solidarische Handeln, das sich auf das nahe Umfeld bezieht, findet sich auch als Aspekt in den Überlegungen von Seyla Benhabib, in dem Verständnis von moralischem Handeln, das sich auf den ‚konkreten Anderen‘ bezieht (vgl. Benhabib, 1989; siehe auch Kapitel 5.6). Delegation von Solidarität an den Staat bei größeren Problemen In den Interviews wird die Rolle des Staates im Sinne von Solidarismus vor allem in Zusammenhang mit gesellschaftlichem Wandel genannt. So macht sich z. B. eine Altenpflegerin, alleinerziehende Mutter eines Kindes, große Sorgen um ihre Zukunft und die Zukunft ihres Jungen. In einer langen Passage nennt sie die gesellschaftlichen Themen, die sie bewegen. Es handelt sich um ein viel-
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schichtiges Konglomerat von Themen wie Arbeitslosigkeit, Verlagerung von Jobs ins Ausland, unsichere Renten. Es mündet in der Frage, wohin denn das alles führen wird. Besonders das Thema Rente beschäftigt sie. Sie meint, dass man da wirklich Zukunftsangst bekäme (vgl. I-29: 631-742). Zusammenfassend meint sie: „I: Also warum kann man denn keine … keine wirkliche Gerechtigkeit schaffen, so einfach. Ich meine, des ist jetzt von mir vielleicht auch einfach gesagt, gell, (kurzes Auflachen) alle einfach so gleich, dass es so extreme Armut gibt, aber auch wieder extremen Reichtum, ich find, des ist … echt Wahnsinn.“ (I-29: 743-751)
Unverständnis zeigt sie über die Unmöglichkeit, wirkliche Gerechtigkeit zu schaffen, wobei sie implizit vermittelt, dass dies für sie vorstellbar wäre. Explizit unterstellt sie im Interview nur dem Staat die Macht, wirkliche Gerechtigkeit zu schaffen, da der Staat für die Organisation der Renten und andere Instrumente des sozialen Ausgleichs zuständig ist. Ihr ist dabei wohl bewusst, dass dies nicht einfach zu erreichen ist, sie gibt sich aber damit nicht zufrieden, weil die Verhältnisse mit den extremen Unterschieden zwischen Reichen und Armen für sie unerträglich wirken: „F: Ja, vor allem, weil es immer mehr in diese Richtung geht. I: Ja, also diese Schere, das ist echt schlimm. Ja, es gibt gar keine Mittelschicht mehr, es gibt entweder arm oder superreich, aber es gibt keine normale klassische Mittelschicht mehr und des find ich nicht gut, dass die wegfällt.“ (I-29: 752-761)
Das Motiv des Auseinanderfallens der Gesellschaft, das Verschwinden der Mittelschicht taucht in einigen Interviews auf (vgl. u. a. I-15, I-25, I-31). Für die interviewte Logopädin ist diese Entwicklung beängstigend und vor allem ungerecht. In ihrer Situation als Alleinerziehende, die ihrer Aussage nach vom Kindsvater auch keine Unterstützung erhält, nimmt daher der Ausgleich zwischen Reichen und Bedürftigen eine zentrale Stellung in ihren Orientierungen ein. Es passt schließlich in ihre Sicht der Dinge, dass sie auf die Frage, was für sie Solidarität sei, antwortet: „Solidarität wäre, wenn man einen gesunden Ausgleich schaffen würde“ (I-29: 846-848). Die Haltung der Logopädin kann man zweifelsohne dem Solidarismus zurechnen. Für sie sind die gesellschaftlichen Probleme gewaltig und drücken sich hauptsächlich in einer krassen sozialen Ungleichheit aus. Diesen gewaltigen Problemen ist nur eine genauso gewaltige Organisation gewachsen: der Staat. Der Staat und dessen Politik spielen vor allem in den Interviews der Beschäftigten im Gesundheitswesen eine zentrale Rolle. Die Gesundheitspolitik ist etwas, das sich ganz konkret in ihrem Arbeitsfeld bemerkbar macht. Eine
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gelernte Erzieherin, die eine Ausbildung zur Hebamme macht, wird gefragt, welche Menschengruppen auf ihr solidarisches Handeln ‚hoffen dürften‘. Sie antwortet, dass es in erster Linie Kinder seien. Das sei ja auch die nächste Generation, die heranwächst, und für die es nicht noch schlechter werden sollte. Als Beispiel nennt sie zunächst die Gesundheitspolitik (vgl. I-24). Die Entwicklungen dort bewegen sie in mehrerer Hinsicht: „Ja, auf jeden Fall merkt man das ja schon mal, jetzt im Gesundheitswesen, wenn man arbeitet. Also die Zweite-Klasse-Fraktion gibt’s ja auf jeden Fall. Also Kassenpatient und Privatpatient.“ (I-24: 518-520)
Bei der Unterscheidung von in der Regel pflichtversicherten Kassenpatienten, die zumeist nicht zu den oberen Schichten gehören, im Vergleich mit Privatpatienten, die im Gegensatz dazu häufig zu den privilegierten Schichten gehören, beschreibt sie entscheidende Grundkategorien des Gesundheitswesens. Darin sieht sie diverse Unterschiede im Umgang mit den beiden verschiedenen Patientengruppen begründet, die sie als Mitarbeiterin im Gesundheitswesen wie folgt beobachtet: „Privatpatienten werden einfach besser behandelt, schneller behandelt, zum Teil auch adäquater behandelt, haben weniger lange Wartezeiten.“ (I-24: 520-522)
Die ungleiche Behandlung, die sie beschreibt, bringt sie in Verbindung mit eigenen Erfahrungen als Kassenpatientin und damit, wie sie es formuliert, „Zweite-Klasse-Mensch“. Als im Gesundheitsbereich Beschäftigte hat sie zudem besonderen Einblick in das ungleiche System, für das sie die Politik verantwortlich macht: „Und ... vieles, was natürlich auch mit meiner beruflichen Zukunft zusammenhängt. Was Hebammen dann auf einmal noch dürfen oder nicht mehr dürfen. Was die Kassen dann auf einmal wieder gestrichen haben, aber vielleicht gar nicht, weil sie es wollen, sondern weil so ’ne Politikerin keine Ahnung hat und denkt, (…) naja, das streich ich jetzt mal. Solche Sachen, na klar, das bewegt mich schon und ich bin halt auch ein Zweite-Klasse-Mensch. Und ich merk das auch, wenn ich zum Arzt gehen möchte, jetzt akut was hab und darf erst in sechs Wochen kommen.“ (I-24: 836-860)
Sie spricht hierbei mehrere Ebenen an: die ungleiche Behandlung von Patienten/ innen, die Entwicklungen in Bezug auf ihre Berufstätigkeit und schließlich ihre eigene Diskriminierung als Kassenpatientin. Aber für alle diese Ebenen ist ausschließlich der Staat zuständig, vertreten in diesem Fall durch eine Ministerin.
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3 Solidarisches Handeln
Bei dieser Interviewpartnerin ist die dominante Solidaritätsform ganz offensichtlich der Solidarismus. Wie bei der Altenpflegerin verharren diese Äußerungen nur in der Beschreibung eines gesellschaftlichen Zustands. Man regt sich darüber auf, wie man sich über das schlechte Wetter aufregt. Es wird nicht nach Veränderungsmöglichkeiten gesucht, denn alle Macht wird an den Staat delegiert, der dafür sorgen muss, die Missstände zu beseitigen. Individuell bleibt lediglich die Möglichkeit zu schimpfen und sich vielleicht bei den nächsten Wahlen entsprechend zu verhalten. Die Solidarität der kleinen Schritte Im Kontrast zu der Haltung, bei der die Beseitigung von gesellschaftlichen Problemen an den Staat delegiert wird, finden sich einige Interviewpartner/innen, die die großen Ungerechtigkeiten wahrnehmen und dabei versuchen, im Kleinen entsprechend darauf einzuwirken. So antwortet die Ergotherapeutin (I-33) auf die Frage, was sie bewegt: „Mich bewegen Menschen, also eigentlich immer, egal sozusagen in welcher Form, (…) mich interessiert das immer, wer ist das.“ (I-33: 660-664)
Sie bringt gleich eine universalistische Dimension, denn zeit-, ort- und formunabhängig bewegen sie Menschen. Sie präzisiert: „Ich merke, … dass ich relativ schnell gegen Ungerechtigkeiten so … also eine Wut einfach verspüre.“ (I-33: 665-666)
Sie verspürt zwar ein sehr starkes Gefühl, bleibt aber genauso wie bei ihrer Distanzierung vom Begriff Solidarität (siehe oben) lieber vorsichtig und fügt schnell eine für sie handhabbare Einschränkung hinzu: „Aber oft eben dann eher so im Kleinen. Also … mir fällt das schwer, irgendwelchen großen Ideen sozusagen zu folgen, das ist mir zu groß (…), das ist mir zu weit weg von meinem Alltag.“ (I-33: 666-672)
Die universalistische Dimension wird also nicht zurückgenommen, weil sie falsch wäre, sondern weil sie sie überfordert, und daher geht sie den für sie realistischeren und erfolgversprechenderen Weg:
3.4 Qualitative Analyse
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„Aber so was Kleines, das bewegt mich … mich bewegt so, was kann im Kleinen geändert werden oder wo kann ich selber auch Dinge einfach nur durch mein Verhalten ändern, ohne dass es jetzt so Riesenwellen schlägt. Aber (…) diese Sachen, das ist es, was mich eigentlich immer so antickt.“ (I-33: 673-680)
Für diese Ergotherapeutin ist der Antrieb, sich zu engagieren, die wahrgenommene Ungerechtigkeit in ihrem konkreten Umfeld. Diese macht sie wütend, bewegt sie und setzt sie in Bewegung, etwas dagegen zu unternehmen. Das tut sie nach eigener Formulierung jenseits ‚großer Ideen‘ und Konzepte, die die Welt verändern sollen und sie selbst zu überfordern scheinen. Auf die alltäglichen Begegnungen mit Menschen und deren Schwierigkeiten bezogen, kann sie auf Ungerechtigkeit reagieren und ihr entgegentreten. Nach Beispielen gefragt, wo dies bei ihr geschieht, antwortet sie: „Ja, mich beschäftigt das schon, jetzt zum Beispiel im Gesundheitspolitischen, dass ich da bei manchen Patienten einfach merke, okay, nur weil da jetzt keiner hinten dran steht an Angehörigen, kann das einfach nicht heißen, dass derjenige schlechter versorgt wird (…). Solche Geschichten, das beschäftigt mich dann schon.“ (I-33: 685-694)
Der Rahmen, der hier benannt wird, ist wiederum ein großer, nämlich der gesundheitspolitische. Das Handlungsbeispiel aber wird konkret auf einen Menschen bezogen, der nicht mehr nur als Patient gesehen wird, sondern als jemand, der ausschließlich wegen seiner für die Situation ungünstigeren Familiensituation benachteiligt wird. Es bewegt die Interviewpartnerin, weil sie gleichzeitig die strukturelle Ungleichheit und die Folgen für den Einzelnen wahrnimmt. Ihre Handlungsfähigkeit definiert sie dabei ausschließlich auf die Lage „im Kleinen“, also nur auf die unmittelbare Situation bezogen. Sie beschränkt dabei ihre solidarische Handlung nicht auf eine reine karitative Aktion, sondern versucht vielmehr, Instrumente der Selbsthilfe mitzugeben: „Oder, wenn ich sehe, ich hab eine Patientin (…), dass ich so merke, okay, also was kann ich ihr mitgeben, dass sie handlungsfähiger wird.“ (I-33, 695-699)
Diese Haltung nimmt sie ganz allgemein ein, im Beruf ebenso wie im Privaten: „Und dann im Privaten sind es halt oft so diese wirklich kleinen Sachen, also wie eine Freundin, die alleinerziehend ist (…) wie schwer des für so jemanden ist (…) so im Leben zurechtzukommen. Und dass ich dann halt merke, dass es für mich einfach ist, also okay, wie, wie kann ich ihr helfen. Also ich kann eh nix gegen diese große Ungerechtigkeit tun, dass es einfach, ja {dass} sie steuerlich einfach benachteiligt sind … zum Beispiel. Was ich machen kann, ist zu sagen: Okay, pass mal auf,
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3 Solidarisches Handeln Freitag nehme ich irgendwie den Kleinen für drei Stunden. (…) Und das ist dann meine Möglichkeit, ihr irgendwie eine Entlastung zu geben. Okay, das ist meine Möglichkeit einzuwirken. Oder jetzt, ich sehe ’ne Brachfläche, die nicht genutzt wird. Und da dann einfach irgendwie mal ein bisschen was zu säen irgendwie, das find ich auch toll. So diese kleinen Sachen einfach, die verändert werden können.“ (I-33: 685-729)
Die Ergotherapeutin erkennt die großen Zusammenhänge, aus denen die Ungerechtigkeiten herrühren, sie kann sie auch konkret benennen, so wie z. B. die Gesundheitspolitik oder die ungerechte Besteuerung, die zu Schwierigkeiten bei Alleinerziehenden führen. Sie sieht aber für sich kaum eine Chance, mehr dagegen zu tun als ihr in der jeweiligen Situation konkretes Handeln. In der Folge beschränkt sie sich ausschließlich auf dieses, denn nur hiervon verspricht sie sich Erfolg. Nur weil sie weiß, dass sie in ihrem Umfeld dazu beitragen kann, die Auswirkungen der ‚großen Ungerechtigkeiten‘ für ihre Mitmenschen zu lindern, ist sie in der Lage, überhaupt zu agieren. Ihr Blick richtet sich dabei nicht nur auf ihre Mitmenschen: auch in dem brachliegenden Grünstreifen sieht sie die Möglichkeit, etwas zur Verbesserung beizutragen. Der Staat ist auch hier weit weg – etwas, worauf man keinen Einfluss hat. Dennoch führt dieser Umstand nicht zu Passivität. Die Interviewpartnerin fühlt sich verantwortlich, etwas im Kleinen zu tun. Ihre Haltung entspricht ganz eindeutig sowohl einem ‚Allgemeinen Sozialen Verantwortungsgefühl‘ als auch der „Unterstützung in Notsituationen“, geht aber auch durch das Wegschieben von größeren Problemen auf den Staat in Richtung „Solidarismus“. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in den Interviews ungerechte gesellschaftliche Strukturen wohl wahrgenommen und beklagt werden, nicht aber die Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen. Solidarität und Gewerkschaften, die ablehnende Haltung Die volle Delegation der Zuständigkeit für die Veränderung der gesellschaftlichen Missstände an den Staat lässt sich in dieser Form bei aktiven Gewerkschafter/innen nicht finden. Ganz im Gegenteil richten sie ihre Gewerkschaftstätigkeit stark auf ungerechte, gesellschaftliche Bedingungen aus und versuchen, diese durch ihr Engagement zu verändern (vgl. u. a. I-15, I-16, I-28). Da in den Interviews dezidiert nach der Wichtigkeit von Gewerkschaften gefragt wurde, nimmt diese Form von Solidarität eine zentrale Rolle ein. Es zeigt sich eine ganze Bandbreite von Reaktionen auf diese Frage. Einige äußern sich konkret ablehnend (vgl. u. a. I-6, I-7, I-13, I-17). Als ein Beispiel dieser Gruppe der
3.4 Qualitative Analyse
145
Ablehnenden lässt sich ein Informatiker anführen. Auf die Frage, was er von Gewerkschaften hält, antwortet er: „Hab ich jetzt eigentlich keinen Kontakt mit, weil, bei uns gibt’s keine Gewerkschaft, jetzt speziell für die Firma. Und ich glaub, unser Chef ist da auch so ein bisschen ablehnend gegenüber.“ (I-17: 447-451)
Er hat keinen Kontakt zu Gewerkschaften einfach deshalb, weil es sie im Betrieb nicht gibt, und vermutet einen Zusammenhang mit der ablehnenden Haltung des Chefs gegenüber Gewerkschaften, wobei er offensichtlich nicht unbedingt Gewerkschaften meint, sondern den Betriebsrat als gewerkschaftliche Vertretung im Betrieb. Die Frage scheint ihn auch nicht weiter beschäftigt zu haben. Er konstatiert lediglich, dass es sie nicht gibt und macht sich darüber hinaus keine weiteren Gedanken. Im Interviewverlauf wird er präziser: „I: Kannst du sagen, wieso der Chef das ablehnt? B: Na gut. Ich meine, aus Arbeitgebersicht ist natürlich so ’ne Gewerkschaft, ja, sie legt eigentlich nur Steine in den Weg. Wenn man das so sieht.“ (I-17: 454-457)
Er nimmt die Arbeitgeberperspektive ein und findet eine ablehnende Haltung den Gewerkschaften gegenüber in Ordnung, da sie in ihrer Wirkung den Betrieb nur stören würden. Auch als Arbeitnehmer distanziert er sich nicht von dieser Position, vielmehr liefert er die Legitimation für die Absage an eine Mitarbeitervertretung: „Und unser Chef ist halt selbst darum bemüht, dass es den Mitarbeitern gut geht und so weiter. Und wenn irgendwas nicht passt, kann man jederzeit zu ihm kommen. Aber da jetzt noch mal so ne Organisation oder was dazwischen schalten … auch Betriebsrat oder so Geschichten. Also, wir haben keinen Betriebsrat. (I-17: 457-467)
Der Chef übernimmt sozusagen in eigener Person die Aufgabe, für das Wohl der Mitarbeiter zu sorgen. Mehr noch wird ihm zugesprochen, dies besser als eine Organisation zu können, weil bei ihm die Wege kürzer und die Verbesserungen prompt sind. Der Mitarbeiter bestätigt hier nicht nur die gängige Gleichstellung bzw. Verwechselung von Gewerkschaft und Betriebsrat, was in diesem Fall nicht weiter relevant ist, da beide unerwünscht sind. Er geht in seiner Argumentation noch einen Schritt weiter, indem er die Position seines Chefs übernimmt und damit die Vertretung eigener bzw. der Arbeitnehmer/innen-Interessen im Betrieb insgesamt endgültig aufgibt:
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3 Solidarisches Handeln I: Und da seht ihr unter euch Kollegen auch keinen Anlass dazu?“ B: Ne. Also, es hat wohl mal einer den Vorschlag gemacht und da war dann der Chef nicht sehr begeistert von. Aber ich seh’ jetzt da keinen Anlass. Ich wüsste nicht, was das für Vorteile bringen würde. Also, wir haben auch kein Tarifsystem, wo praktisch nach zwei Jahren man eine Gehaltserhöhung kriegt oder so was. Sondern das ist alles außertariflich und selbst verhandelt mit dem Chef.“ (I-17: 468-477)
Der Interviewpartner hatte nie Kontakt mit gewerkschaftlich Aktiven. Er erzählt, dass es nicht einmal einen Betriebsrat in der Firma gebe. Die Firmenorganisation basiert auf letztlich paternalistischen Strukturen: die Mitarbeiter/innen auf der einen Seite und der sich sorgende und kümmernde Chef auf der anderen Seite. Gehälter werden individuell verhandelt. Versuche, einen Betriebsrat zu installieren, wurden im Keim erstickt. Solche Firmenstrukturen sind auch in den quantitativen Erhebungen vor allem in der IT-Branche einige Male aufgetreten. Interessant dabei ist, dass die Mitarbeiter diesen Zustand in der Regel akzeptieren bzw. unterstützen. Dieser Befund stimmt überein mit der Tatsache, dass in dieser Untersuchung IT-Beschäftigte eine signifikant höhere Ich-Orientierung aufweisen als die Beschäftigten in den anderen Branchen. Viele der Befragten äußern sich eher gleichgültig gegenüber dem Thema Gewerkschaft. Sie hatten also weder eigene Erfahrungen mit Gewerkschaften gemacht, noch sind sie von diesen angesprochen worden (vgl. u. a. I-11, I-21, I-23). Solidarität und Gewerkschaft, die kritische Haltung Eine weitere, größere Gruppe ist in ihren Äußerungen zwiegespalten (vgl. u. a. I-18, I-20, I-24, I-26, I-27, I-29, I-40). Zum einen finden sie Gewerkschaften wichtig, zum anderen haben sie Zweifel, ob Forderungen oder das Auftreten von Gewerkschaften angemessen seien. Eine Erzieherin äußert sich diesbezüglich so: „Naja, also ich bin kein Mitglied (lacht) und, ja (schmunzelt) ich find’s (…) schwierig. Einerseits ist es gut, dass sie sich (…) einsetzen für die Arbeitnehmer und es ist wichtig, find ich, dass es Gewerkschaften gibt. Andererseits darf man aber auch nicht vergessen, dass mancher Betrieb, dass … vielleicht von der Gewerkschaft (…) Forderungen gestellt werden, die ein Betrieb einfach gar nicht tragen kann. Und wenn man dann überlegt, wenn es um eine Lohnerhöhung geht, wenn da eine utopische Summe gefordert wird oder ein Prozentsatz, und wenn man dann sagt, okay, wir zahlen euch das, aber dafür müssen wir dann halt zwanzig Arbeitsplätze oder halt je nachdem, wie groß der Betrieb ist, dann wieder Arbeitsplätze abbauen.“ (I-18: 1001-1041)
3.4 Qualitative Analyse
147
Die Interviewpartnerin hat ein Bewusstsein über die gesellschaftliche Rolle von Gewerkschaften und wahrscheinlich auch ihrer Geschichte in der Arbeiterbewegung. Sie leugnet nicht die wichtige gesellschaftliche Rolle von Arbeitnehmer/innen-Organisationen. Andererseits sieht sie die ‚wirtschaftliche Notwendigkeit‘, Kompromisse einzugehen – als Arbeitnehmer/in vor allem, sich mit Lohnforderungen zurückzuhalten, um Arbeitsplätze zu sichern. Es vermittelt sich der Eindruck, dass sie – als Kind ihrer Zeit – geprägt ist von dem allgemeinen, Gewerkschaften diskreditierenden, letztlich neoliberalen Diskurs der vergangenen Jahre. In diesem Interviewabschnitt werden unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Diskurse widergespiegelt, wie sie in der Öffentlichkeit kursieren. Dieser Eindruck wird in einigen Interviews bestärkt, die man zu dieser „Einerseits-andererseits“-Kategorie zählen kann. Zumindest im subjektiven Erleben der Befragten spannt sich hier eine Differenzlinie zwischen dem Eintreten für klassische Arbeitnehmer/innen-Rechte einerseits und ‚dem Verzicht auf Forderungen zugunsten des Überlebens des Betriebs, zur ‚Schonung der Wirtschaft‘, auf der anderen Seite. Die vierte Gruppe sind die gewerkschaftlich Aktiven, auf die in einem anderen Teil des Buches näher eingegangen wird (vgl. I-15, I-16, I-19, I-22; siehe Kapitel 4.2). Die meisten dieser Befragten sind gewerkschaftlich sozialisiert und stehen hinter ihren Aktivitäten. Kritik an der Gewerkschaft geschieht hier aus einer Innenperspektive (vgl. z. B. I-15). Unterstützung in Notsituationen In den Interviews lassen sich zu dieser Kategorie nur sehr wenig direkte Äußerungen finden. Eine Sozialpädagogin ist von der sichtbar zunehmenden Armut in den Städten bewegt: „Also was mir häufig passiert, wenn ich jetzt einkaufen gehe oder durch die Straßen laufe, dass mir in Großstädten einfach die viele Armut immer mehr auffällt: bettelnde Leute, Jugendliche, die letztlich schon versuchen, irgendwie an Geld zu kommen, ranzuschaffen, indem sie Musik machen oder sonst irgendwas ... das bewegt mich. Da fühl ich mich in den Situationen auch häufig sehr unsicher. Am liebsten würde ich Geld reinschmeißen, hab aber auch schon Situationen erlebt, (…) wo dann eben auch mit diesem Geld letztlich sich die Leute nicht das gekauft haben oder nicht das gemacht haben, was ich eigentlich damit bezwecken wollte. Ich hab es auch häufig schon so gemacht, dass ich denen dann etwas zum Essen gegeben hab, also ich hab dann auch etwas zu Essen gekauft, weil ich sowieso beim Bäcker war und hab denen etwas zum Essen gegeben. Das wurde dann auch immer dankbar aufgenommen. Ja aber letztlich hinterlassen solche Situationen immer ein bisschen schlechtes Gewissen bei mir und es bewegt mich auch und ich denk auch ganz arg viel darüber
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3 Solidarisches Handeln nach. (…) Und im Fernsehen gibt’s immer wieder so Situationen, die einen bewegen, vor allem, wenn es letztlich in einer unmittelbaren Nähe passiert, wenn es das Heimatland betrifft oder auch das Land betrifft, wo die Familie meines Mannes herkommt, also Balkan im Gebiet Bosniens.“ (I-31: 267-304)
Diese Art von Not, die sie beschreibt, berührt sie, sie würde dem gerne Abhilfe verschaffen. Aber letztlich verunsichern sie solche Situationen auch sehr. Sie weiß nicht, wie sie sich verhalten soll, welche Hilfe diesen Menschen dienlich ist. Bezogen auf Geldspenden hat sie die Erfahrung gemacht, dass das Geld nicht dafür verwendet wird, wofür sie es gedacht hatte. Daher ist sie dazu übergegangen, diesen Menschen etwas zum Essen vom Bäcker mitzubringen. In ihrer Aussage spürt man, dass solche Situationen ein großes Unbehagen bei ihr auslösen. Sie hätte ein ‚schlechtes Gewissen‘, sagt sie. Des Weiteren nennt sie Szenen aus dem Fernsehen, Bilder, die zeigen, wie Menschen in Not geraten sind. Je näher diese ihr sind – ihrem eigenen Land bzw. dem, aus dem ihr Mann stammt – desto größer ist ihre Betroffenheit. Ihr Unbehagen und schlechtes Gewissen könnten daher stammen, dass sie den Widerspruch spürt, zum einen in einem reichen Land zu leben, in dem sie selbst es sehr gut hat, und zum anderen damit konfrontiert zu sein, dass es Bevölkerungsgruppen gibt, die davon nicht profitieren können – aus welchen Gründen auch immer. Es verwundert nicht, dass der Index „Unterstützung in Notsituationen“ an letzter Stelle der Bewertung bei der quantitativen Befragung liegt. Die Menschengruppen, die in den einzelnen Items genannt werden, sind von den Befragten am weitesten entfernt. Sie haben keinen persönlichen Bezug zu ihnen, es sei denn, sie erleben sie – wie Claudia – in der Fußgängerzone oder werden über deren Not über das Fernsehen informiert. Einzig die Aussage, dass man sich für in Not geratene Kollegen verantwortlich fühlt, scheint zu dieser Vermutung nicht ganz zu passen. Sie zeigt jedoch, dass Kollegialität – wie sie in den qualitativen Interviews an vielen Stellen zur Sprache kommt – zwar eine wichtige Rolle spielt, sie aber auch Grenzen hat. Für in Not geratene Kollegen/Kolleginnen fühlt man sich nur bedingt verantwortlich. 3.5 Solidarität als Phänomen der Praxis Die Schwierigkeit einer theoretischen Bestimmung des Begriffs Solidarität führte im Forschungsprozess dazu, einen Weg zu wählen, bei dem die befragten Menschen selbst die wichtigsten Konturen für das Phänomen liefern. Was verstehen Beschäftigte im Öffentlichen Dienst unter Solidarität, was hat sie mit ihnen zu tun, wie gehen sie damit um, handelt es sich für sie bei Solidarität um
3.5 Solidarität als Phänomen der Praxis
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eine ganz konkrete Angelegenheit oder bleibt sie etwas Abstraktes? Diese und andere Fragen lieferten die Grundlage für eine differenzierte Untersuchung. Dabei sind verschiedenen Solidaritätsformen sichtbar geworden, die ein erheblich besseres Verständnis der solidarischen Haltungen und Handlungen bei den Befragten ermöglichten. Die Solidaritätsformen werden in der Reihenfolge ihrer statistischen Gewichtung aufgeführt:
Solidarität im privaten Umfeld Solidarismus Allgemeines soziales Verantwortungsgefühl Aktive Arbeitnehmer/innen-Solidarität Unterstützung in Notsituationen
Für die jungen Beschäftigten scheint charakteristisch, dass sich ihr Solidaritätsverständnis stark auf den sozialen Nahbereich konzentriert. Die statistischen Ergebnisse wurden weitgehend bei den Interviews bestätigt, unter anderem dahingehend, dass die „Aktive Arbeitnehmer/innen-Solidarität“ eine geringe Rolle im Bewusstsein der Befragten spielt. Allerdings liefern die Ergebnisse gleichzeitig reichlich Hinweise darauf, dass dies nicht als Ablehnung von gewerkschaftlichen Aktivitäten zu interpretieren ist. Vielmehr scheint ein großer Mangel an Information zu herrschen, der, der Einschätzung nach, weniger durch Informationspolitik als vielmehr durch eine gezielte gewerkschaftliche Praxis in und außerhalb von Betrieben zu beheben ist. In der Tat hat die Forschungsgruppe bei unterschiedlichen Aktionen mehrfach, vor allem bei Streiks, beobachten können, wie das Interesse der Beschäftigten für Gewerkschaften bei solchen konkreten Anlässen rapide steigt und wie sich darüber hinaus ein Bewusstsein gegenüber allgemeinen gesellschaftlichen Problemen und gegenüber den Widersprüchen zwischen Kapital und Arbeit entwickelt. So konnte in Berlin bei einer Kundgebung im Rahmen eines Streiks der Banken beobachtet werden, wie die jungen Beschäftigten Schlange standen, um einer Gewerkschaft beizutreten, wobei sie äußerst differenziert über das Streikthema diskutierten. Diese Beobachtungen wiederholten sich bei den Erzieher/innen-Streiks und bei den Streiks im Gesundheitswesen mehrfach. Sie bestätigen, dass das Phänomen Solidarität hauptsächlich ein Ergebnis der Praxis ist. Solidarisches Handeln entsteht in der Praxis. Das gilt für die jungen Beschäftigten allerdings in einem speziellen Sinn. Bei ihnen entsteht Solidarität offenbar vor allem bei Aktionen vor Ort, was mit ihrer Konzentration auf den Nahbereich zusammenhängt. Es ist deshalb auch nicht überraschend, dass bei den Streikaktionen im Sommer 2009 erstaunlich viele junge Beschäftigte spontan Gewerkschaftsmitglieder wurden.
150
3 Solidarisches Handeln
Die Leitfadeninterviews und die statistischen Ergebnisse weisen in dieselbe Richtung; dabei werden allerdings interessante Differenzlinien sichtbar, welche einen nuancenreichen Umgang mit dem Begriff Solidarität und damit ein besseres Verständnis für die Interpretation von solidarischen Haltungen und Handlungen ermöglichen. Rainer Zoll schreibt: „Solidarität wird wahrscheinlich nie der präzise, eng eingegrenzte Begriff, den sich viele wünschen, aber es schälen sich doch mehrere Bedeutungsstränge heraus, die recht genau zu bestimmen sind“ (Zoll 2001: 120). Diese Bedeutungsstränge wurden empirischer Grundlage herausgearbeitet. Klar wurde, dass der Begriff Solidarität augenscheinlich unter anderem deswegen schwer zu bestimmen ist, weil zum einen Solidarität ein Wert ist und sich gerade die jungen Menschen heute wie bei allen Werten schwer tun, derlei Begriffe wegen ihrer Komplexität zu definieren. Zum anderen scheint die Begriffsbestimmung schwierig, weil Solidarität auch ein Phänomen der Praxis ist, und zwar in dem Sinne, dass Solidarität kaum kognitiv vermittelbar, sondern vor allem erfahrbar ist. Michael Vester weist darauf hin, dass Solidarität keine natürliche Eigenschaft des Menschen ist, sie folglich stets aufs Neue erlernt werden und daher in jeder Generation neu mobilisiert werden muss (vgl. Vester, 2009). In der Folge wird sich ein Subjekt, das in seiner Biographie keine Solidaritätserfahrungen gesammelt hat, in der Regel mit dem Begriff schwer tun. In der Untersuchung U35 hat man es mit einer Generation zu tun, die in der Zeit, in der man gewöhnlich politisch sozialisiert wird, keine nennenswerten gesellschaftlichen Konflikte erlebt hat. Ganz im Gegenteil wuchs diese Generation während der triumphalen Expansion neoliberaler Ideologien auf, welche eben nicht auf solidarische Dynamiken setzen, sondern vielmehr auf individualistische Strategien. Eine sich daraus ableitbare interessante Frage ist, ob Stellvertreterpolitik und Ko-Management-Strategien der Organe der Mitbestimmung überhaupt imstande sind, solidarische Dynamiken im gewerkschaftlichen Sinne zu erzeugen. Praktische Auseinandersetzungen, in die die jungen Beschäftigten unmittelbar einbezogen sind, bilden eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung solidarischer Orientierungen.
4.1 Engagementfelder
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4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
Für die 25-35 Jahre jungen Beschäftigten im Dienstleistungsbereich ließen sich zwar einige allgemeine Tendenzen ermitteln (siehe Kapitel 2 und 3), charakteristisch scheint für sie jedoch heute, dass sie vielfältig sozial aufgespalten sind und die verschiedenen sozialen Felder und Milieus in Lebensführung und solidarischem Handeln spezifische Besonderheiten entwickelt haben. Deshalb wurde die Auswertung nach sozialen Feldern differenziert. Jedes soziale Feld hat eigene Milieus gebildet. Das gilt auch für das Feld der Organisationen, in dem das Engagement der jungen Beschäftigten zum Ausdruck kommt. 4.1 Engagementfelder Wie im Abschnitt zu den theoretischen Grundlagen bereits beschrieben, kann solidarisches Handeln in verschiedenen Sphären bzw. Feldern stattfinden und hat dabei jeweils unterschiedliche Bedeutungen. Engagement und Engagementpolitik In seiner sozialen und politischen Bedeutung ist der aus Frankreich stammende Begriff des Engagements dort erst in den 1930er-Jahren aufgekommen (vgl. Regenbogen & Meyer, 1998: 183). In Deutschland ist er seit den 1960er Jahren verbreitet. Entscheidend geprägt wurde der Engagement-Begriff von Jean Paul Sartre im Rahmen seiner Existenzphilosophie. Menschen sind demnach zur Freiheit verurteilt (vgl. Bibouche & Held, 2002: 226 ff.). Als Freie müssen Menschen ihre Freiheit wahrnehmen, um sie bewusst zu leben. Dies geht nach Sartre nur, wenn sich das Individuum für alle Menschen verantwortlich fühlt und sich aus ‚Situationenǥ löst, in die es verwickelt („engageé“) ist, um sich bewusst zu engagieren. Nur so könne der Mensch authentisch leben. Der Begriff des Engagements bezeichnet heute auf individueller Ebene allgemein den persönlichen Einsatz, das leidenschaftliche Eintreten für etwas (vgl. Die Zeit, 2005: J. Held et al., Was bewegt junge Menschen?, DOI 10.1007/978-3-531-92826-5_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
Bd. 4: 187) bzw. den Dienst für eine Idee oder ein Vorhaben (vgl. Regenbogen & Meyer, 1998: 183). Freiwilliges Engagement hat nicht nur individuelle Aspekte, sondern ist auch Ausdruck von vitaler Bürgergesellschaft und funktionierender Demokratie, so die Bundesministerin Ursula von der Leyen (vgl. BMFSFJ, 2009: 2). Der Staat sei deshalb gut beraten, wenn er die Entwicklung des Engagements sorgfältig verfolge und immer wieder die Rahmenbedingungen auf ihre Tauglichkeit überprüfe. Das gleiche gilt selbstredend für große Verbände, die maßgeblich auf das breite Engagement ihrer Mitglieder angewiesen sind, wenn sie politisch wirksam sein wollen. Schon 1999 gab das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) eine Telefonumfrage bei TNS-Infratest zum Thema „Freiwilliges Engagement in Deutschland“ in Auftrag. Dies bildete den Auftakt zu einer öffentlichen Berichterstattung über freiwilliges Engagement. Im Jahr 2004 wurde der zweite Freiwilligensurvey durchgeführt, der dritte wird demnächst veröffentlicht (vgl. Gensicke, 2009). Der Oberbegriff „Freiwilliges Engagement“ wird dabei als Sammelbezeichnung für verschiedenste Formen des Ehrenamtes, der Freiwilligenarbeit und des bürgerschaftlichen Engagements verwendet und soll gleichzeitig die internationale Vergleichbarkeit zum Begriff des „Volunteerings“ herstellen (a. a. O.). Auf Initiative des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend verständigte sich das Kabinett der großen Koalition noch kurz vor dem Ende der 16. Legislaturperiode im Sommer 2009 auf Eckpunkte für eine wirksame engagementpolitische Abstimmung im Bund (vgl. BMFSFJ, 2009: 2). Stärker als bisher sollen auch Länder, Kommunen und Unternehmen für „gemeinsame Ziele und Maßnahmen“ gewonnen werden. Gewerkschaften werden dabei nicht erwähnt. Um wirksame Engagementpolitik betreiben zu können, sei man auf profundes Wissen angewiesen über den Stand des Engagements, bestehende Trends sowie zu erkennende Stärken und Schwächen. Daraus will die Bundesregierung Erkenntnisse darüber gewinnen, worauf sich staatliches Handeln konzentrieren soll. Als Grundlage soll ab der 17. Legislaturperiode ein alle 4 Jahre von der Bundesregierung vorgelegter Bericht dienen. Als Vorläufer wurde von der Projektgruppe Zivilengagement des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) der „Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements“ im Rahmen der Initiative ZivilEngagement „Miteinander – Füreinander“ erarbeitet und im Juni 2009 veröffentlicht (vgl. BMFSFJ, 2009b), der neben einem Überblick über den gegenwärtigen Stand des Engagements auf vorhandene Probleme und deren Lösung hinweisen möchte.
4.1 Engagementfelder
153
U35: Engagement und Modernisierungsdruck In den bislang von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen drei Freiwilligensurveys (1999, 2004, 2009) zeigte sich ein leichter Anstieg des freiwilligen Engagements von 1999-2004. Der „positive Trend“ hat sich seitdem nicht weiter fortgesetzt und die Engagementquote blieb bei 36 % konstant. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) weist in seinen Informationen zum 3. Freiwilligensurvey darauf hin, dass bei der Bewertung dieser Entwicklung eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigt werden muss, „wie z. B. der zunehmende Leistungsdruck auf die Bürgerinnen und Bürger, hervorgerufen durch soziale Reformen und eine gestiegene Beanspruchung auf dem Arbeitsmarkt“ (BMFSFJ, o. J.: 2). Einige Beschäftigte (Gewerkschaftsmitglieder wie Nicht-Mitglieder) äußern auch in den Interviews der U35-Studie im Hinblick auf Engagement, dass sie stark unter ökonomischem Druck stehen. Es stellt sich damit auch die Frage, ob moderne Arbeitsstrukturen Engagement behindern. In den Interviews wurde deutlich, dass viele junge Beschäftigte ihr Engagement stark in der Arbeit verorten. Das scheint besonders für junge Menschen im Dienstleistungsbereich charakteristisch. So sagt z. B. Antonia – eine ledige Erzieherin mit Zweitjob, die in einem Dorfkindergarten in Süddeutschland arbeitet und sich freiwillig unter Tarif bezahlen lässt, da ihre Einrichtung von Schließung bedroht ist – dass ihr das Engagement bei ihrer Arbeit nicht schwer fällt. Wenn sie sich aber in anderen Bereichen engagieren würde, dann müsste sie auf eigene Dinge verzichten. „Weil … es ist auch schwierig, alles unter einen Hut zu kriegen. … Und wir opfern schon sehr viel und wir haben es wirklich nicht einfach. Also, ich habe meine Prioritäten gesetzt und es ist so. Wir tun hier alles, was wir können, und eigentlich viel, viel mehr, als wir sollten, und viel mehr, als wir dafür bezahlt werden. Ich denke, das ist von meiner Sicht aus dann auch ausgeschöpft.“ (I-1: 441-446)
Antonia hat sich entschlossen, für den Erhalt ihres Kindergartens viel zu geben, sich zu engagieren – auch über die eigentlichen Arbeitszeiten hinaus. Somit sieht sie letztlich, wenn man so will, ihr Soll an sozialem Engagement erfüllt. Im weiteren Verlauf kommt sie noch einmal auf soziales Engagement zu sprechen: „Man muss sich Mühe geben. Wie komme ich zurecht? Wenn die Frage nicht so ausgeprägt wäre … dann wäre vielleicht auch dieses soziale Engagement lockerer und offener und häufiger, aber wenn man … selber dann schauen muss, wie man überhaupt zurechtkommt, dann bleibt wenig Kraft und wenig Zeit und auch wenig Motivation, solche Dinge … zusätzlich zu tun. So denke ich.“ (I-1: 459-464)
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4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
Das zusätzliche Engagement im Kindergarten zehrt an den Kräften. Auch wenn ihr der Beruf sehr viel Spaß macht, wie sie an anderer Stelle betont, schwingt in ihrer Aussage, dass man sich Mühe geben muss, dass es immer auch um die Frage ginge, wie man überhaupt zurechtkommt, viel Frustration mit. Sie stellt dies in einen allgemeinen Zusammenhang: Menschen, die darum kämpfen, überhaupt zurechtzukommen in ihrem Leben, hätten keine Reserven mehr, sich außer für ihre Arbeit auch noch für andere Dinge einzusetzen. Engagement in Zahlen Im Fragebogen der U35-Studie wurde danach gefragt, ob sich die jungen Beschäftigten in ihrer Freizeit engagieren („politisch sozial oder ehrenamtlich“). Die allgemeine Frage nach Engagement in der Freizeit bejahten 41,4 % der Befragten über 25 Jahren (58,6 % nicht engagiert/k. A.). Die Vergleichszahlen anderer Untersuchungen zu Engagierten schwanken enorm. Ursachen dafür sind neben unterschiedlichen Stichproben auch in den Erhebungsmethoden sowie unterschiedlichen Konzepten und deren Operationalisierung zu finden. Die Durchschnittsangaben verschiedener Studien beziehen sich meist auf die gesamte Bevölkerung und nicht, wie in der U35-Studie, auf eine bestimmte Gruppe von Erwerbstätigen. Das Eurobarometer kommt auf eine recht hohe Engagement-Quote von 52 %, wobei hier nach aktiver Mitgliedschaft oder ehrenamtlicher Tätigkeit gefragt wurde. Die Studie zur Zeitbudgeterhebung des Statistischen Bundesamtes kommt auf 46 % bei Männern und 42 % bei Frauen für das 2001/2002 (Statistisches Bundesamt 2007: 359). Der Freiwilligensurvey 2009 kommt auf 40 % bei Männern und 32 % bei Frauen. Neben den freiwillig Engagierten gibt es im Freiwilligensurvey noch die Kategorie der „Aktiven, aber ohne freiwillige/ehrenamtliche Aufgabe“ (vgl. Gensicke, 2006: 10). Das Institut für Demoskopie Allensbach kommt lediglich auf eine Engagementquote von 18,3 % und das Sozio-oekonomische Panel auf 17,2 %. Bei letzterem wurde Engagement als eine monatlich mindestens einmal stattfindende Aktivität definiert (vgl. BMFSFJ, 2009: 5). Dies sind allgemeine Ergebnisse, die nach verschiedenen Milieus bzw. Feldern differenziert werden müssten. Unterschiede zwischen den Geschlechtern konnten auch in der U35-Studie festgestellt werden. Frauen kreuzten die Frage zum Engagement etwas weniger an als Männer (Frauen: 41,3 %; Männer: 44,1 %). Möglichkeiten der Ausdehnung („öffentlichen“) weiblichen Engagements werden im 3. Freiwilligensurvey genannt. Dieses Potenzial abzurufen sei demnach gleichermaßen eine
4.1 Engagementfelder
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Herausforderung an zivilgesellschaftliche Organisationen, die Arbeitgeber und die Öffentliche Hand, „indem die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und gesellschaftlicher Teilhabe gefördert wird“ (BMFSFJ, o. J.: 6). Fragt man nach dem Engagement in ihrer Freizeit, so finden sich signifikante Unterschiede zwischen den Bundesländern. In Berlin und Brandenburg ist das Engagement niedriger als in Baden-Württemberg. Wird die Stichprobe jedoch auf Beschäftigte aus Großstädten reduziert (Baden-Württemberg: N=55), dann reduziert sich der Engagement-Wert für Baden Württemberg von 46,3 % auf 32,7 %. Der Unterschied zu Berlin (28,65 %) ist nicht mehr signifikant. Wenn man den Urbanisierungsgrad betrachtet, zeigt sich dann auch in der gesamten Stichprobe ein sehr signifikanter Unterschied hinsichtlich des Freizeitengagements in einem deutlichen Land-Stadt-Gefälle. In Großstädten engagiert sich knapp ein Drittel der Befragten (32,7 %), in Städten 40,7 % und auf dem Land mehr als die Hälfte (51,9 %; siehe Grafik). Der Urbanisierungsgrad scheint für das Engagement in der Freizeit eine größere Bedeutung zu haben als regionale Unterschiede. Verschiedene Ursachen werden dafür in Betracht gezogen. So wird im Freiwilligensurvey 2009 zum einen ein engerer Zusammenhalt, aber auch die größere soziale Kontrolle in ländlichen Gebieten genannt. Zum anderen kann aber auch davon ausgegangen werden, dass bestehende Freizeitangebote – die in der Regel in den Städten umfangreicher sind – sich auf die Engagementbereitschaft auswirken. Auf dem Land ist man stärker auf sich selbst gestellt (vgl. BMFSFJ, 2009b: 37). 60 50
51,9 40,7
40
32,7
30 20 10 0 Land
Stadt
Großstadt
Abbildung 23 Engagement und Urbanisierung (Quelle: eigene Berechnung U35)
Auf die Individuen bezogen können verschiedene Faktoren zu Engagement führen: Motive, Ressourcen, die Einbindung in mobilisierende Netzwerke sowie die für soziale und politische Aktivitäten erforderliche Zeit (vgl. Gabriel, Trüdinger & Völkl, 2004: 340 f.). Engagement in der Freizeit steht in zeitlicher
156
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
Konkurrenz zu anderen Freizeitaktivitäten. Daraus ist aber nicht zu schließen, dass Menschen mit einem größeren Budget an frei verfügbarer Zeit mehr engagiert sind. Ihnen fehlen oftmals andere partizipationsrelevante Ressourcen (a. a. O.: 342). Bildung und Engagement Neben regionalen Milieus können auch soziale Milieus bzw. kulturelle Felder, die durch Bildungsstand oder Herkunft geprägt werden, in den Blick genommen werden. Der Bildungsabschluss spielt ebenfalls eine Rolle, welche Personen sich in ihrer Freizeit engagieren. Je höher der Bildungsabschluss, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit von Engagement (vgl. BMFSFJ, 2009b: 42). Die Ergebnisse der Befragung des Projekts U35 zeigen in der Tendenz die gleichen Ergebnisse auf. Sie sind jedoch nicht signifikant. Es sind 38,7 % mit Berufsausbildung engagiert, 42,9 % mit Fachhochschulabschluss und 48,4 % mit Universitätsabschluss (siehe Abbildung). 60,00 % 48,40 %
50,00 % 40,00 %
38,70 %
42,90 %
30,00 % 20,00 % 10,00 % 0,00 %
Abbildung 24 Ausbildung und Engagement
Berufsausbildung Fachhochschule Universität
4.1 Engagementfelder
157
Subjektive Einflüsse auf Engagement Keinen statistisch signifikanten Zusammenhang mit dem Engagement hat die subjektive Beurteilung der eigenen finanziellen Lage. Teilt man die Befragten in eine Gruppe der finanziell eher Zufriedenen (ca. 74 % der Befragten) und eher Unzufriedene (ca. 26 % der Befragten), dann liegen die Engagementwerte nicht weit auseinander (42,2 %/38,1 %). Kaum einen Zusammenhang mit dem allgemeinen Engagement scheint im Allgemeinen auch die subjektive Beurteilung der gesellschaftlichen Entwicklung zu haben: Diejenigen, die angesichts von „mehr Lebensmöglichkeiten, mehr Eigenverantwortung und mehr Entscheidungszwang“ eher Offenheit und Freiheit empfinden, unterscheiden sich kaum von denjenigen, die dies mit Verunsicherung und Belastung assoziieren (42,1 % zu 41,5 %). Eine Besonderheit findet sich im Engagementfeld der Gewerkschaften, also bei denjenigen, die nicht nur Mitglied sind, sondern sich auch in der Freizeit gewerkschaftlich engagieren. Hier liegt der Anteil derer, die mit Blick auf die Zukunft eher Unsicherheit und Belastung empfinden, bei knapp 43,7 % (27,2 % bei allen Befragten) und der Anteil derer, die Offenheit und Freiheit empfinden, liegt bei 56,3 % (72,8 % bei allen Befragten). Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass diese gewerkschaftlich Engagierten sich von ihrer eher mit Verunsicherung und Belastung verbundenen Zukunftssicht nicht entmutigen lassen, sondern sich gerade deshalb (gewerkschaftlich) engagieren. Dieses Engagement findet zwar in der freien Zeit statt, hat aber einen klaren Bezug zu ihrer lohnabhängigen Beschäftigung, zu ihrem Arbeitsfeld. Auch deshalb lässt sich der anfangs eingeführte Engagementbegriff kaum auf das Engagement in den Gewerkschaften anwenden. Die Abhängigkeit des Engagements von regionalen Milieus und Bildungsmilieus sowie die Unabhängigkeit von der Zufriedenheit mit der finanziellen Lage und mit der gesellschaftlichen Entwicklung lässt das »Engagement« eher als ein „Hobby privilegierter Schichten“ (Wohnort, Zeitbudget, soziale Netzwerke) erscheinen. Das gewerkschaftliche Eintreten für die eigenen Interessen lässt sich dabei offenbar nicht mit dem freiwilligen Engagement und Ehrenamt gleichsetzen, wie es von den genannten Untersuchungen z. B. der Bundesregierung definiert wird. Es hat, wie im Folgenden noch genannt wird, vor allem mit einer Furcht vor gesellschaftlichen Entwicklungen und einem starken Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit zu tun.
158
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
Engagement in Institutionen und Organisationen In der Untersuchung wurde nach Engagement in der Freizeit gefragt. Die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten bezogen sich durchwegs auf institutionalisiertes Engagement. Das informelle Engagement ist wesentlich schwerer zu erfassen und muss durch ergänzende qualitative Interviews erfasst werden. Im Fragebogen wurden sieben Engagement-Felder zum Ankreuzen angeboten sowie eine Zeile „Sonstiges“: 1. Gewerkschaft, 2. Kirche, 3. Bürgerinitiative, 4. Verein/Verband, 5. Nachbarschaftshilfe, 6. Politik/Parteien, 7. Kinder-/Jugendarbeit In der folgenden Grafik wird dargestellt, in welchem institutionellen Rahmen das Engagement stattfindet. 70
62,7
60 47,4
50 40
30,4 30 18,6
20
11,5 10
5,9
t ia tiv e Bü rg er in i
n k/ Pa rte ie Po liti
er ks ch af t G ew
Ve re in i
gu ng en
rb ei t -/J ug en da
rc he /re li g iö se Ki
Ki nd er
Ve re in /V er ba nd
0
Abbildung 25 Organisatorischer Rahmen des freiwilligen Engagements in Prozent der engagierten Befragten
An dem Ergebnis wird deutlich, dass die jungen Beschäftigten für ein Engagement in Organisationen grundsätzlich aufgeschlossen sind. Vor allem die hohen Prozentzahlen bei Vereinen und Verbände weisen darauf hin.
4.1 Engagementfelder
159
Soziale Orientierung und Engagement Einen ersten Hinweis auf Unterschiede zwischen verschiedenen EngagementFeldern liefern die Angaben zu sozialer Gerechtigkeit. Im Fragebogen wurde gefragt, welches unter drei Parteiprogrammen die Befragten bevorzugen würden. Es geht dabei um verschiedene Interpretationen sozialer Gerechtigkeit: 1. 2. 3.
Leistungsprinzip: Nur wer viel leistet, sollte viel bekommen. Gerechtigkeitsprinzip: Jeder soll das bekommen, was ihm gerechterweise zusteht. Soziales Prinzip: Soziale Unterschiede sollten ausgeglichen werden.
Insgesamt war das Gerechtigkeitsprinzip mit ca. 50 % am populärsten. An zweiter Stelle liegt das soziale Prinzip mit knapp einem Drittel aller Befragten. Das reine Leistungsprinzip befürworten 12,4 % aller Befragten (ohne Streik). Diese Reihenfolge besteht mit gewissen Abweichungen in allen Engagementfeldern mit zwei Ausnahmen: Engagierte in Kirche und Gewerkschaften bevorzugen das soziale Prinzip mit 52,7 % bzw. 59,6 %. Hier gibt es offensichtlich eine Parallele, die mit bestimmten Weltanschauungen zu tun hat. Es ist jedoch schwer, Aussagen über Ursache und Wirkung zu treffen. Engagieren sich Personen, die das soziale Prinzip bevorzugen, eher in Kirche und Gewerkschaften, oder fördert das Engagement in Kirche und Gewerkschaften eher die Befürwortung des sozialen Prinzips oder gibt es eine Wechselwirkung zwischen beiden, oder ist es je nach Individuum verschieden? Interessant ist auf jeden Fall, dass bei gewerkschaftlich Engagierten in politischen Zusammenhängen nicht wie erwartet das Gerechtigkeitsprinzip bevorzugt wird, sondern das soziale Prinzip. Auffällig ist außerdem, dass unter den in den Gewerkschaften Engagierten 93,3 % dem Gerechte-Welt-Glauben eher ablehnend gegenüberstehen. Von den kirchlich Engagierten glauben 68,4 % eher nicht, dass es auf der Welt im Allgemeinen gerecht zugeht. Das Empfinden von allgemeiner Ungerechtigkeit scheint also ein wesentlicher Antrieb für gewerkschaftliches Engagement zu sein. Das reine Leistungsprinzip hat bei den Engagierten in der Kinder- und Jugendarbeit den geringsten prozentualen Anteil (5,4 %).
160 Tabelle 7
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern Leistungsprinzip, Gerechtigkeitsprinzip, soziales Prinzip Leistungsprinzip %
Gerechtigkeitsprinzip %
Soziales Prinzip %
Verein/Verband
18,3
65,6
16,1
Kinder-/Jugendarbeit
5,4
57,6
37,0
Kirche
7,7
39,6
52,7
Gewerkschaft
7,0
33,3
59,6
Politik/Parteien
21,1
42,1
36,8
Alle Engagierten
11,1
49,9
39,1
Alle (ohne Streikbeteiligte)
12,4
52,2
35,4
Deutlich wird jedenfalls, dass Engagement nicht gleich Engagement ist. Es gibt einen deutlichen Unterschied, ob man sich in gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen engagiert oder in Kritik zu diesen. Nach den im Projekt U35 befragten Kategorien des Engagements entfaltet sich die Dimension des Engagementbegriffs zwischen Sartres Idee von authentischem Leben und einem eher auf Freizeitverhalten bezogenem bürgerschaftlichem Engagement, welches vor allem das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Sinn hat. Die meisten gewerkschaftlich Organisierten formulieren eine deutliche Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen und sind der Überzeugung, dass soziale Unterschiede ausgeglichen werden sollten. Dies wird auch im folgenden Kapitel deutlich, in dem die Gruppe der gewerkschaftlich Engagierten genauer betrachtet wird. 4.2 Gewerkschaften als Engagementfeld Um die Jahrtausendwende standen die Gewerkschaften in der Öffentlichkeit unter starkem Druck. Sowohl konservative und neoliberale als auch traditionell linksliberale Wortführer griffen die Gewerkschaften als „Partei der Neinsager“, als Feinde der notwendigen „Modernisierung“ hart an (vgl. Deppe, 2003: 3). Teilweise artete die Medienkampagne in ein heiteres „union-bashing“ aus. Die damalige rot-grüne Regierung baut die an neoklassischen Konzepten anlehnende angebotsorientierte Wirtschaftspolitik aus, was sich u. a. in der Agenda 2010 durch massive Einschnitte im Sozial- und Gesundheitswesen niederschlägt.
4.2 Gewerkschaften als Engagementfeld
161
Darüber hinaus werden Errungenschaften der Gewerkschaften von allen Seiten torpediert, wie z. B. durch die Flexibilisierung oder gar Aufhebung des Kündigungsschutzes oder die Ladenschlussregelung im Einzelhandel (vgl. ebd. 1 ff.). „Sozial ist, was Arbeit schafft“, lautet der Grundtenor. Viel Gehör fanden Wirtschaftsjournalisten wie Peter Gillies, der in seiner von der Stiftung Marktwirtschaft herausgegebenen Publikation „marktwirtschaft.de“ schreibt: „Ein dichtes Netz von Regulierungen verhindert (…) dass nötige Arbeit getan wird. Tarifliche und gesetzliche Vorschriften über Arbeits- und Ruhezeiten, über Kündigungen, Mindestlöhne, den Ladenschluss sowie eine Vielzahl von Einschränkungen wirken wie Arbeitsverbote. Diese Regulierungen werden vordergründig als soziale Schutzmaßnahmen definiert, wirken aber in Wahrheit unsozial – arbeitsplatzvernichtend“ (Gillies, 2000: 22). Marktmechanismen sollen alles regeln. Die Besitzer eines Arbeitsplatzes werden als „Besitzstandswahrer“ gesehen und für die Schaffung oder Vernichtung von Arbeitsplätzen alleine haftbar gemacht. Sie sollen durch Einschränkungen den Arbeitslosen helfen: „Sie mögen zwar fürchten, auch einmal erwerbslos zu werden, aber Folgerungen haben sie nicht gezogen. Vielmehr haben sie ihre Position bedenkenlos ausgebaut, ihre Einkommen gesteigert und ihre soziale Sicherung mit mehr Komfort ausgestattet. Der Rest der Jobsuchenden wurde von beidem ausgesperrt – nicht durch Habgier oder niedere Instinkte, sondern durch Strangulierung der Marktmechanismen. Bei Fortsetzung dieser Taktik droht die Spaltung der Gesellschaft und die Überfrachtung der Sozialkassen“ (Gillies, 2000: 21). Diese verbalen Attacken auf Gewerkschaften sind die Bugwellen einer gigantischen Umgestaltung der Wirtschaft zu einem flexibel-marktzentrierten Akkumulationsregime, wie dieser Prozess vom französischen Ökonom Michel Aglietta bezeichnet wird, das sich durch Globalisierung, Informatisierung und einem Aktionärskapitalismus auszeichnet (vgl. Dörre, 2002: 31). Die Gewerkschaften sind mit starkem Machtverlust konfrontiert durch Mitgliederschwund, Erosion der Flächentarifverträge, einer starken Fragmentierung der Arbeitswelt usw. (vgl. Deppe, 2009: 8 ff.). Dies zeigt sich besonders im Dienstleistungsbereich, wo durch weite Verbreitung prekärer Beschäftigung und Niedriglöhnen, durch den zunehmend unter Druck geratene öffentliche Sektor, die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten einer starken Fragmentierung und Destabilisierung ausgesetzt waren und nach wie vor sind (ebd. 9). Gewerkschaftliche Politik war (oder ist) auf Erhalt ihrer institutionellen Macht ausgerichtet und drückt sich in Schlagwörtern wie Co-Management, Wettbewerbspakte, zurückhaltende Lohnpolitik und dem nationalen Bündnis für Arbeit aus (vgl. Brinkmann et al., 2008: 33). Eine weitere Begleiterscheinung der Umgestaltung der wirtschaftlichen Zusammenhänge ist, wie auch schon vielfach in anderen Zusammenhängen dieses Buches erwähnt, das Hervortreten einer neuen Subjektivität: bei der die
162
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
Anforderungen einer flexiblen Produktionsweise in das Individuum hineinverlagert wird. Dabei betrifft die Individualisierung der Leistungsproblematik, „nicht nur die unmittelbare Verausgabung von Arbeitskraft“, sondern sie weitet sich auf „die gesamte Balance von Erwerbsarbeit und arbeitsfreier Zeit“ aus (Dörre, 2002: 36). Das führte letztlich auch zur nachhaltigen Erosion der sozialen Grundlage einer allgemeinen Orientierung am Normalarbeitsverhältnis, was wiederum die Rolle der Gewerkschaften als Vertretungsinstanz weiter massiv schwächte (vgl. Birke, 2010: 66). Man muss sich vergegenwärtigen, dass die hier untersuchte Gruppe der 25bis 35-Jährigen in dieser historischen Phase ihre Jugend erlebt hat und den Übergang Schule-Beruf zu bewältigen hatte. Ein Teil der Befragten war darüber hinaus mit einem Systemwechsel konfrontiert, dessen große Erschütterungen sehr häufig bis in das nächste Familienumfeld zu spüren war. Die vielfältigen gesellschaftlichen Veränderungen prägen diese Generation der unter 35-Jährigen. Man trifft auf eine Altersgruppe mit erheblich ausdifferenzierten Orientierungen. In Kapitel 3.4, in dem u. a. das Thema Arbeitnehmer/ innen-Solidarität im Zentrum steht, wurde auf die vielen Einzelinterviews eingegangen, in denen sich die Befragten sehr zwiespältig zu Gewerkschaften geäußert haben. Vielfach ist in diesen Interviews zu hören, dass Gewerkschaften zwar wichtig seien, aber es gebe eben auch wirtschaftliche Sachzwänge, oder die Gewerkschaften wären nicht mehr zeitgemäß. Dennoch gibt es in der vom Projektteam befragten Gruppe junge Beschäftigte, die nach wie vor von gewerkschaftlicher Interessensvertretung überzeugt sind. Im Folgenden wird zunächst die Gruppe der Gewerkschaftsmitglieder innerhalb der Befragten des Projekts U35 analysiert. Dann wird es in einem zweiten Schritt um die Frage gehen, in welchen Orientierungen sich Gewerkschaftsmitglieder von Nicht-Mitgliedern unterscheiden. In den qualitativen Einzelinterviews kamen einige Aspekte der Fragmentierung der im Projekt U35 untersuchten Branchen zur Sprache, die in Bezug auf Mitglieder-Organisation für Gewerkschaften eine Rolle spielen. Dies wird in einem dritten Teil thematisiert. Schließlich werden die qualitativen Interviews mit aktiven Gewerkschaftern/innen in den Blick genommen. Hier stellt sich die Frage, welche gemeinsamen Orientierungen diese Gruppe der Aktiven teilen und in welchen sie sich voneinander unterscheiden. Anhand von ausgewählten Interviewbeispielen und ethnografischen Beobachtungen wird versucht, drei Achsen einer gewerkschaftlichen Orientierung zu skizzieren. Dabei geht es um die Sicht von Aktiven auf Gewerkschaften als berufliche Interessenvertretung oder als gesellschafts-
4.2 Gewerkschaften als Engagementfeld
163
politischer Akteur, das Verhältnis zu nicht-aktiven Kollegen/innen und schließlich das Verhältnis zwischen Aktiven und der Gewerkschaft als Institution. Engagement / Gewerkschaftlicher Organisationsgrad / Mitgliedszahlen Die Gewerkschaftsmitglieder sind im Durchschnitt aktiver als die Nicht-Mitglieder. Im Hinblick auf freiwilliges Engagement in der Freizeit unterscheiden sich Gewerkschaftsmitglieder signifikant positiv von Nicht-Mitgliedern. Von den befragten Gewerkschaftsmitgliedern dieser Studie (N=199) bejahte jede/r zweite (52,8 %) die Engagement-Frage, im Gegensatz zu 39,3 % bei den NichtGewerkschaftsmitgliedern (N=708; siehe Grafik). 70 60
60,7 52,8
47,2
50 40
39,3
30
Gewerkschaftsmitglieder Nicht-Mitglieder
20 10 0 Ja
Nein
Abbildung 26 Engagieren Sie sich in Ihrer Freizeit (politisch, sozial ehrenamtlich)?
Bei der Auswertung ergab sich, dass Gewerkschaftsmitglieder generell, auch bei nicht-gewerkschaftlichem Engagement höhere Engagement-Werte als der Durchschnitt aufweisen. Gewerkschaftsmitglieder sind offenbar zu eigenem Engagement in besonderer Weise bereit. Offenbar wollen sie sich nicht nur vertreten lassen, sondern sich auch selbst aktiv einbringen. In dieser Untersuchung wurden einige Fragebögen bei Streiks, Versammlungen und Demonstrationen verteilt. Dabei ist der Anteil an Gewerkschaftsmitgliedern z. T. wesentlich höher als in der Gesamt-Stichprobe. Es ist auch anzunehmen, dass die Dynamik von „aktiven Veranstaltungen“ das Antwortverhalten beeinflusst. Um zu untersuchen, ob und wie sich die Beschäftigten der verschiedenen Branchen unterscheiden (siehe folgendes Kapitel „Berufsgruppen und Arbeitslogiken“), wurden bei den Berechnungen zum Engagement – sofern
164
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
nicht anders erwähnt – die Fragebögen, die in einzelnen Branchen bei Streikveranstaltungen ausgefüllt wurden, nicht berücksichtigt, um größere Verzerrungen zu vermeiden und eine Vergleichbarkeit zwischen den Berufsgruppen abzusichern. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad unterscheidet sich stark nach Branchen und Arbeitslogiken. Seidel und Schlese nennen für das Jahr 2003 auf Basis des sozioökonomischen Panels des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) einen durchschnittlichen Organisationsgrad von 17,62 % für alle Beschäftigten (vgl. Seidel & Schlese, 2005). In der Befragung während des Projekts U35 sind überproportional viele Beschäftigte aus dem Sparkassen- und Bankensektor vertreten, deren Organisationsgrad weit unter anderen Branchen liegt, wodurch das Gesamtergebnis beeinflusst wird. Am meisten Gewerkschaftsmitglieder wurden im Verwaltungsbereich des Öffentlichen Dienstes erreicht (25,8 %), es folgen gleichauf die Berufe mit interpersoneller Arbeitslogik (der pädagogische Bereich des Öffentlichen Dienstes und der Gesundheitsbereich) mit 21,4 % bzw. 21,7 %. Im IT-Bereich wurden 11,7 % gewerkschaftlich Organisierte befragt. In der Branche Banken und Versicherungen wurden 5 % Gewerkschaftsmitgliedern interviewt. Unter allen Befragten (ohne Streikbefragung) sind 13,5 % der Frauen und 17,6 % der Männer Gewerkschaftsmitglieder (siehe Grafik), d. h., die Gruppe der jungen Frauen, die ca. 64 % der Befragten im Dienstleistungsbereich ausmacht, ist hier in der Befragung deutlich unterrepräsentiert. 100,00 %
86,50 %
82,40 %
80,00 % 60,00 %
Mitglieder
40,00 %
Nicht-Mitglieder
20,00 % 13,50 %
17,60 %
0,00 % Frauen
Männer
Abbildung 27 Gewerkschaftlicher Organisationsgrad und Geschlecht
Von allen Befragten halten 52 % gewerkschaftliche Arbeit eher für sinnvoll, um ihre berufliche Interessen durchzusetzen, 48 % finden dies eher sinnlos. Letztere sind jedoch nicht zwangsläufig alle gegen Gewerkschaften eingestellt. Wenn
4.2 Gewerkschaften als Engagementfeld
165
man bedenkt, dass mit dieser Studie nur knapp 18 % Gewerkschaftsmitglieder erreicht wurden, aber über die Hälfte der Befragten Gewerkschaften für sinnvoll erachtet, wird deutlich, wenn man denn so möchte, dass Hopfen und Malz für die Gewerkschaften noch nicht verloren sind. Unterschiede zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Nicht-Mitgliedern Bei der quantitativen Auswertung ergaben sich mehrere signifikante Unterschiede zwischen Gewerkschafts-Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern, wobei beide Gruppen in fast allen Indizes im Mittelwert jeweils auf der gleichen (eher dem Index zustimmenden oder eher nicht zustimmenden) Seite stehen. Lediglich bei den Indizes „Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung“ und „Psychischer Druck“ befinden sich die Mittelwerte von Gewerkschaftsmitgliedern und NichtMitgliedern mehr oder weniger knapp auf unterschiedlichen Seiten. Insgesamt gibt es Hinweise darauf, dass sich Gewerkschaftsmitglieder in einigen Grundorientierungen von Nicht-Mitgliedern unterscheiden: Tabelle 8
Unterschiede zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Nicht-Mitgliedern Mitglieder
Nicht- Mitglieder
Ô
Ò
stimmen tendenziell weniger zu
stimmen tendenziell mehr zu
Ich-Orientierung
2,32
2,11
Autorität
3,02
2,69
Gerechte-Welt-Glaube
4,21
3,87
Zufriedenheit
3,10
2,88
Anerkennung in der Arbeit
3,10
2,84
Indizes
So stimmen sie beim Index „Ich-Orientierung“, sowie bei den Indizes „Autorität“ und „Gerechte-Welt-Glaube“ signifikant weniger zu. Die geringere IchOrientierung bedeutet, dass Gewerkschafts-Mitglieder äußeren Einflüssen auf ihr Leben und auf die berufliche Entwicklung jedes Einzelnen tendenziell mehr Bedeutung zumessen. Sie stimmen daher unter anderem der Aussage „Wie mein Leben verläuft, hängt hauptsächlich von mir selbst ab“ weniger zu. Gewerk-
166
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
schaftsmitglieder stehen prinzipiell herrschenden Regeln, Normen und Autoritäten signifikant skeptischer gegenüber als Nicht-Mitglieder. Das drückt sich in der geringeren Zustimmung zum Index „Autorität“ aus. Darüber hinaus glauben sie weniger, dass die Welt momentan gerecht organisiert ist und alle das bekommen, was ihnen zusteht. Das zeigt sich am Index „Gerechte-Welt-Glaube“, der von ihnen mehrheitlich abgelehnt wird. Sie sind mehr an kollektiven Lösungen orientiert. Gleichzeitig dürfte die Unzufriedenheit auch ein wesentlicher Grund für die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft und für gewerkschaftliches Engagement sein: Gewerkschaftsmitglieder denken tendenziell eher in sozialpolitischen Dimensionen und haben konkrete Adressaten für ihre Unzufriedenheit. Es gibt noch weitere signifikante Unterschiede zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Nicht-Mitgliedern: Tabelle 9
Weitere Unterschiede zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und NichtMitgliedern Mitglieder Ò stimmen tendenziell mehr zu
Nicht-Mitglieder Ô stimmen tendenziell weniger zu
Zukunftsangst
4,30
4,49
Gutes Arbeitsklima
1,45
1,72
Entgrenzung der Arbeit
3,61
3,90
Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung
2,45
3,64
Arbeitsdruck
3,79
4,15
Psychischer Druck
3,20
3,51
Solidarität, Unterstützung in Notsituationen
2,67
2,83
Solidarität, allg. soz. Verantwortungsgefühl
2,22
2,46
Aktive Arbeitnehmer/innen-Solidarität
1,97
2,78
Solidarismus
1,82
2,46
Solidaritätssyndrom
2,03
2,38
4.2 Gewerkschaften als Engagementfeld
167
Interessant ist, dass Gewerkschaftsmitglieder tendenziell öfter angeben, dass sie unter Entgrenzung der Arbeit leiden, mehr Arbeitsdruck empfinden und auch stärker unter psychischem Druck stehen. d. h., sie sind häufiger davon betroffen, dass ihre Arbeit sie auch in ihrer Freizeit beschäftigt, bzw. oft die Arbeit überhandnimmt, dass sie von wiederholter Überschreitung der regulären Arbeitszeit betroffen sind. Sie geben häufiger an, dass sie an Überlastung durch ihre Arbeit leiden. Gewerkschaftsmitglieder sagen über sich, dass sie das alles auch stärker psychisch belastet (Index „Psychischer Druck“). Der Mittelwert liegt mit 3,2 zwar auf der ablehnenden Seite, d. h., der psychische Druck wird insgesamt nicht sehr hoch bewertet. Dennoch ist der Unterschied zu den Beschäftigten, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind, signifikant. Auffällig ist nun, dass der als tendenziell höher empfundene Druck bei Gewerkschaftsmitgliedern zu einem höheren allgemeinen sozialen Verantwortungsgefühl führt. Sie stimmen allen Solidaritätsindizes (bis auf „Solidarität im privaten Umfeld“) signifikant stärker zu. Es ist zu betonen, dass die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten zwar auf der einen Seite den Druck in ihrem jeweiligen Arbeitsfeld vermutlich stärker wahrnehmen und auch mehr darunter leiden. Auf der anderen Seite führt das in dieser Gruppe von jungen Menschen nicht zu einem kollektiven Kopf-inden-Sand-stecken: Sie wollen etwas gegen die Zustände unternehmen, etwas verändern. Die Gruppe der gewerkschaftlich Engagierten bildet daher ein besonderes Milieu, deren Mitglieder ähnliche Orientierungen aufweisen in Bezug auf ihre (kritische) Beurteilung der allgemeinen gesellschaftlichen Lage, auf ihre Arbeitssituation, bezüglich ihres (kritischen) Verhältnisses zu Autoritäten und zur Ablehnung einer allzu individualisierten Lebensführung. Sie sind im Großen und Ganzen unzufrieden mit ihrer Gesamtsituation und fühlen sich auch weniger anerkannt in ihrem Arbeitsfeld. Einen großen Stellenwert nimmt daher solidarisches Handeln ein. Berufliche Interessenvertretung und Gewerkschaften In den Einzelinterviews wurden die jungen Erwachsenen nach ihrer Einstellung zu Gewerkschaften gefragt. Hierbei wurde deutlich, dass es eine ganze Bandbreite von Orientierungen in Bezug auf Gewerkschaften bzw. in Bezug auf Arbeitnehmer/innen-Solidarität gibt. In Kapitel 3.4, dem zentralen Kapitel zu Solidarität, wird im Besonderen auf die Interviews eingegangen, in denen sich die Befragten ablehnend zu Gewerkschaften äußern bzw. diesen gegenüber eine kritische Haltung einnehmen.
168
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
Darüber hinaus gibt es Interviews, in denen die Befragten grundsätzliches Interesse an gewerkschaftlicher Interessenvertretung äußern, diese aber in ihrem Fall nicht infrage kommt, da sie beispielsweise in einer sozialen Einrichtung arbeiten, deren Träger ein privater Verein oder die Kirche ist; oder sie sind in einem Beruf beschäftigt, dessen Interessen traditionellerweise von einer berufsständischen Vertretung verteidigt werden. Dies sind Bedingungen, die auch im Zusammenhang mit einem Strukturwandel im Dienstleistungssektor stehen und sind damit Ausdruck der „zunehmenden sozialen Differenzen zwischen den Lohnabhängigen“ (Zoll 2000: 156). Ein Beispiel dafür ist, wenn der Träger einer Kindertagesstätte ein kleiner Verein ist und der finanzielle Spielraum durch Mitgliedsbeiträge und öffentliche Gelder begrenzt wird. Ein Streik in der Einrichtung kommt für diese Beschäftigten nicht infrage, da sie ihren Arbeitgeber nicht als richtigen Adressaten für Forderungen sehen. Als einzig sinnvoller Protest erscheint in dieser Perspektive die Teilnahme an Demonstrationen, die sich gegen eine bestimmte Politik der zuständigen Gremien richtet. Hier dienen Gewerkschaften eher als unterstützende Informationsquelle oder beratende Institution hinsichtlich von Problemen, die auf politischer und nicht tariflicher Ebene gelöst werden müssen, wenn z. B. bei Demonstrationen sozialpolitische Forderungen vorgetragen werden. Auf die Frage, ob Solidarität bzw. solidarisches Handeln unter Kollegen/innen bzw. Streik für sie eine Rolle spielt, meint Aliye, Erzieherin aus Berlin: „Ja natürlich spielt das eine Rolle (lacht)... So ist es ja nicht. Natürlich unter den Kollegen also ... Wir sind ja jetzt hier im Verein. Deswegen können wir ja auch nicht streiken.“ (I-20: 829-865)
Auch wenn sie nicht streiken, erkundigen sich die Beschäftigten dieser Kita über gewerkschaftliche Forderungen. Viele Kollegen/innen sind GEW-Mitglieder. Die Ergotherapeutin Janina, mit unbefristeter Stelle in einem Berliner Krankenhaus, meint auf die Frage, was sie über Gewerkschaften denkt, dass diese auf jeden Fall historisch wichtig waren und auch heute noch wichtig sind. Sie seien aber nicht nah dran an ihrer Arbeitssituation. Für ihren Beruf hält sie den Verband der Ergotherapeuten (Deutscher Verband der Ergotherapeuten (DVE) e.V.) deshalb für sinnvoller. Es scheint ihr dabei nicht nur um tarifpolitische Forderungen zu gehen, sondern auch um eine Verbindung zu fachlicher Qualitätssicherung. Über den DVE bekommt sie viel mit, was politisch passiert, und zudem meint sie, dass der Verband für ihre Berufsgruppe in Verhandlungen viel herausholt:
4.2 Gewerkschaften als Engagementfeld
169
„Aber das läuft wirklich über dieses, über den DVE, eher als dass ich das jetzt über Gewerkschaften mitkriegen würde, weil der natürlich auch sehr nah {dran ist}. Der macht ja auch die ganze Verhandlung und deswegen haben wir auch im Gesundheitswesen noch einen relativ guten Stand. Also wir haben viel besser verhandelt als die Physiotherapeuten, wir kriegen viel mehr Geld, sind einfach richtig teuer zum Teil auch. Aber das waren einfach gute Verhandlungen, die da geführt worden sind und geführt werden. Und die hauen immer wieder wirklich für uns noch was … holen die immer wieder einfach, ja, Zugeständnisse von der Politik ein, die wirklich auch für unser tägliches Leben dann deutliche Auswirkungen haben.“ (I-33: 935-957).
Für Janina liegt der Vorteil einer berufsständischen Interessensvertretung klar auf der Hand: In ihrem Fall hat er im Gegensatz zu anderen Interessensvertretungen gute Verhandlungen geführt, die – in ihren Augen – zu hohen Löhnen führten, zumindest höheren als bei ihren Kollegen/innen, die als Physiotherapeuten/innen arbeiten. Berufsverbände sind hier für die jungen Beschäftigten wohl deshalb so attraktiv, weil sie um die konkreten beruflichen Probleme und Themen wissen und die damit verbundenen speziellen und nicht nur die übergreifenden Themen vertreten. Es gibt sehr engagierte Beschäftigte, wie den Krankenpfleger Matthias aus Baden-Württemberg, der an Streiks teilnimmt, aber mit seiner Gewerkschaft unzufrieden ist, da sie – im Gegensatz zum Verband der Ergotherapeuten im vorherigen Beispiel – seiner Ansicht nach die Interessen seines Berufsfeldes nicht energisch genug vertritt. Auf die Frage, was er generell von Gewerkschaften hält, plädiert er – ein Gewerkschaftsmitglied – für eine eigene Gewerkschaft im Gesundheitsbereich: „Eigentlich muss ich sagen, wir jetzt von der Pflege, wir sind ja bei Verdi. Ich bin zum Teil enttäuscht von Verdi, weil sie es halt nicht richtig anpacken und ich denke auch, dass die Pflege an sich eine eigene Gewerkschaft braucht, um die Interessen zu vertreten. Weil wir eigentlich so ein großes Berufsgruppenbild sind, dass wir eine eigene Gewerkschaft brauchen. Ich find’ Gewerkschaft wichtig, weil die das halt dann auch publik machen. … Jeder einzelne kann das nicht publik machen. … Dafür find’ ich dann eine Gewerkschaft wichtig, die auch dann aufruft und die das dann alles organisiert. Aber ich finde, die Pflege bräuchte eine extra Gewerkschaft, um die Interessen speziell darzulegen und das zu vertreten.“ (I-15: 1277-1305)
Eine Gewerkschaft ist für ihn wichtig, eine Organisation, die alle Beschäftigte vertritt, dass nicht jeder Einzelne allein für seine Rechte eintreten muss. Aber er wünscht sich eine Vertretung, die für seine dem Berufsfeld angepasste Interessen kämpft. Offensichtlich hat er das Gefühl, dass diese speziellen Interessen in der
170
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
großen Einheitsgewerkschaft untergehen. Matthias findet auch, dass es zu viele Schuldzuweisungen unter verschiedenen Beschäftigtengruppen innerhalb des Gesundheitsbereichs gibt. Er erwähnt Vorwürfe von Verdi – als Vertreterin der Pflegekräfte – gegenüber der Ärztegewerkschaft Marburger Bund und umgekehrt. Ärzte würden auch viel machen und viel arbeiten und es sei richtig, dass sie mehr verdienen. Er findet es besser, wenn man sich statt in einer großen Gewerkschaft in Beschäftigtengruppen zusammentut. Matthias stellt damit letztlich die Gründungsidee von Verdi (und auch des DGB) infrage, durch eine größere Einheitsgewerkschaft mehr Schlagkraft zu bekommen, obwohl Matthias sich persönlich auch mit anderen Beschäftigtengruppen – wie den Reinigungskräften im Krankenhaus – solidarisch erklärt und nicht nur an eine berufsständische Interessenvertretung denkt. Hier kommen zwei zentrale Bereiche zur Sprache: zum einen die fachliche Vertretung von Berufen und die Sicherung und Weiterentwicklung des fachlichen Qualitätsstandards. Dies betrifft nicht nur lohnabhängig Beschäftigte, sondern auch Selbstständige im gleichen Berufsfeld, wie z. B. freie Ergotherapeuten oder selbstständige Versicherungsvertreter. Zum anderen tangiert es die Frage nach tarifpolitischer Interessenvertretung als klassisches Arbeitsgebiet der Gewerkschaften in Tarifverträgen und Manteltarifverträgen. Diese ausgewählten Beispiele spiegeln Facetten der internen Problematiken der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, die sich zum einen aus der Fusionierung der fünf ehemals selbstständigen Einzelgewerkschaften ergeben und zum anderen in der starken Fragmentierung der Branchen liegen (wie z. B. den Privatisierungen im Öffentlichen Dienst) (vgl. Deppe, 2009: 9). Engagierte Gewerkschafter In der Auswertung der quantitativen Befragung schien es, als ob die Gruppe der gewerkschaftlich Organisierten ein eigenes kohärentes Milieu in Bezug auf ihre Orientierungen bilden würden. Das führt zunächst zu der Frage, ob es so etwas wie eine einheitliche Gewerkschaftsorientierung oder gar -identität gibt. Hyman sieht Gewerkschaften als kollektive Akteure, die „in organisierter Form auf gesellschaftliche Verhältnisse einwirken“ (Arbeitsgruppe Strategic Unionism, 2006: 17). Im internationalen Vergleich ließen sich verschiedene Varianten gewerkschaftlicher Kollektividentitäten finden, die sich in einem Dreieck von Markt, Gesellschaft und Klasse bewegen (vgl. ebd. 18). D. h., wirtschaftsfreundliche Gewerkschaften legen Wert auf die Betonung des Marktes. Integrative Gewerkschaften haben die gesellschaftlichen Zusam-
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menhänge im Blick. Hier wird versucht, durch gewerkschaftliche Organisationsmacht auf die Verbesserung der allgemeinen Lage der (lohnabhängigen) Beschäftigten innerhalb einer Gesellschaft hinzuwirken. Und schließlich gibt es den Typus der radikal-oppositionellen Gewerkschaften, bei dem der Fokus auf die Überwindung des kapitalistischen Wirtschaftssystems durch die Arbeiterbewegung gerichtet ist. Der Konflikt stellt sich, nach Hyman, ein, wenn eine Gewerkschaft versucht, auf einem der Standpunkte zu verharren (vgl. ebd. 18). Deutsche Gewerkschaften hätten bisher die Achse Gesellschaft – Markt betont. „Im Kern handelt es sich also um den Typus einer sozialintegrativen Gewerkschaft, dessen Stärke lange Zeit darin bestand, über Kollektivverhandlungen in Tarifbezirken und nachgeordnet in Unternehmen und Regionen für eine Beteiligung eines Großteils der Beschäftigten am – grundsätzlich akzeptierten – technisch-organisatorischen Produktivkraftfortschritt zu sorgen (…)“ (ebd. 18). Diese Klassifikation vernachlässigt jedoch den Blick auf interne Strömungen und Ausdifferenzierungen (vgl. ebd. 18). Die Arbeitsgruppe Strategic Unionism stellt weiter fest: „Ideologieträger und -bildner sind, zumindest in den deutschen Gewerkschaften, vor allem haupt- und ehrenamtliche Funktionäre. In der breiten Masse der passiven oder punktuell aktiven Mitglieder finden sich seit Langem allenfalls Fragmente einer gewerkschaftlichen Kollektividenität“ (ebd. 18). Gleichwohl bilden nach den Projektergebnissen die Gewerkschaftsmitglieder den Kern der Arbeitnehmer/innen-Solidarität. In einem Artikel über politische Bildung in den Gewerkschaften stellt Klaus Dörre fest, das Ziel politischer Bildungsarbeit war schon immer, „moralisch und politisch“ ihre Mitglieder an die Gewerkschaften zu binden (vgl. Dörre, 2002: 38). „Diese Integrationsleistung ist seit geraumer Zeit akut gefährdet, weil überkommene Basisphilosophien, unabhängig davon, wo sie sich im identitätsstiftenden Dreieck von Markt, Klasse und Gesellschaft bewegen, immer weniger ausstrahlen“ (ebd. 38). Der Grund liegt im eingangs skizzierten, aufgebrochenen Sozialstaatskompromiss der Nachkriegsära (vgl. ebd. 38). Gewerkschaftliche Kollektividentitäten sind daher nicht statische Gebilde, sondern „äußerst flexible, anpassungsfähige, erfahrungsgesättigte und … ständig in Umwandlung begriffene Bewusstseins- und Habitusstrukturen“ (Arbeitsgruppe Strategic Unionism, 2006: 19). Überlegungen zu einer gewerkschaftlichen Kollektividentität werden hier vom Standpunkt der Institution beschrieben. Die handelnden Subjekte bleiben außen vor. Letztlich wird mit einer solchen Herangehensweise stillschweigend davon ausgegangen, dass die politische Ausrichtung einer Gewerkschaft automatisch sich identitätsstiftend auf das Bewusstsein ihrer Mitglieder auswirkt. Was aber wird deutlich, wenn man aktive Gewerkschafter/innen sprechen lässt? Lassen sich überhaupt Elemente einer wie auch immer gearteten gewerk-
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schaftlichen Kollektividentität finden? Haben sich ihre Orientierungen herausgebildet, weil sie in der Gewerkschaft sind oder sind sie aufgrund ihrer Orientierungen und Grundhaltungen in die Gewerkschaft eingetreten? Wie ist ihr Verhältnis zu den Kollegen/innen, die sich nicht gewerkschaftlich engagieren? Wenn das Handeln der gewerkschaftlich Engagierten als Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen gesehen wird, im Holzkampschen Sinne die Tendenz zum überschreitenden Handeln hat, stellt sich im Weiteren folgende Frage: Bieten sich die Gewerkschaften als Möglichkeitsraum an, dieses Handeln zu verwirklichen, oder erscheinen sie als „Ordnungsmacht“, die widerständige Momente der Aktiven wieder in den institutionellen Rahmen zurückpfeift? Diese Fragen lassen sich nicht alle beantworten, aber in den Interviews und ethnografischen Beobachtungen tauchen einige Aspekte auf, welche bestimmte „Achsen“ einer gewerkschaftlichen Orientierung andeuten. Achse: Gewerkschaft als berufliche Interessenvertretung – Gewerkschaft als gesellschaftspolitischer Akteur Mit einem ersten Blick zeigen sich bestimmte Orientierungen, welche alle befragten Gewerkschafter/innen teilen. Matthias, der Krankenpfleger und Gewerkschaftsmitglied, erzählt, was für ihn Solidarität ist: „Ja, ich denke, ich finde halt, ich muss die Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen, was da jetzt wieder los ist. Und ich möchte auch meine Kollegen, äh, (längere Pause) für die möchte ich auch einstehen, dass wir – also nicht nur, dass ich mehr Geld kriege, sondern auch die Damen, die bei uns putzen, die Reinigungsdamen. Die verdienen an die 900 Euro im Monat und das finde ich also ein Unding für das, was die den ganzen Tag putzen müssen. Und die haben ja auch – das hört sich jetzt blöd an – aber auch eine Verantwortung in einem OP … dass da alles sauber ist. Und ich denk’ halt einfach, das gehört honoriert. Weil die Gesellschaft ist so, es gibt Berufe, die lehnen irgendwo blöd im Eck rum und verdienen ein Schweinegeld, und Leute, die wirklich was tun, die körperlich arbeiten, physisch wirklich hart arbeiten, die verdienen nicht viel, und ich finde, das kann’s nicht sein. Wir leben halt auch in einer Welt, wo ich finde, dass die Reichen immer reicher werden und der Mittelstand und die Armen halt immer weiter abrutschen. Das sind so Sachen … ja deswegen streik´ ich auch.“ (I-15: 1155-1199)
In der Aussage von Matthias kommen Elemente zur Sprache, die in allen Interviews mit engagierten Gewerkschaftern/innen in irgendeiner Weise genannt werden: zum einen Solidarität auch über die eigene Berufsgruppe hinaus. Sie haben die Arbeitsbedingungen anderer Berufsgruppen im Blick, die (gerade innerhalb der starken Hierarchie im Krankenhaus) oft aus dem Blickfeld geraten,
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wie die (zumeist ausgegliederten) Putzkräfte. Zum anderen zeigen die Interviewten ihren Ärger über ungerechte Strukturen innerhalb der Gesellschaft und schätzen die allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen als negativ ein. Das ist auch der Grund für ihr Engagement: „Ja, deswegen streik ich auch.“ Der Staat ist – wie z. B. bei der Festlegung des Renteneintrittsalters – der Adressat gewerkschaftlichen Engagements, um für den allgemeinen Schutz der Beschäftigten zu sorgen. Die Befragten sehen die Gewerkschaften in dieser Hinsicht auch als Akteure, die nicht nur in die tarifliche, sondern auch in die sozialpolitische Diskussion eingreifen (sollen). Das sind Elemente einer Orientierung, die Gewerkschaften als gesellschaftskritische Kraft sehen wollen, die auf die Wunden ungerechter Strukturen die Finger legt, diese benennt und für eine größere soziale Gerechtigkeit eintritt. Dies wird besonders auch in dem Interview mit Marian deutlich. Er ist ebenfalls Krankenpfleger, engagierter Gewerkschafter und Jugend- und Auszubildenden-Vertreter (JAV). Er wird gefragt, was ihn im Allgemeinen bewegt: „Ja, was mich sehr bewegt, ist halt die Gewerkschaftsarbeit, also das ist mein, meine Hauptaufgabe … mitunter meine Freizeit. Das nimmt sehr viel Freizeit ein, weil’s mir Spaß macht. Ich engagiere mich da auch gerne, ich versuch auch, was bewegen zu können. Also mir ist es lieb … auch mit Leuten darüber zu reden, sie selber zu überzeugen, wie wichtig Gewerkschaften sind … und das ist halt auch nicht im Unternehmen darum geht, dass man Anspruch auf den Tarifvertrag hat, sondern auch gesellschaftspolitisch mal Einfluss nehmen kann. Also, dass man sich nicht alles gefallen lassen muss, was von oben jetzt, vom Staat … beschlossen wird, zum Beispiel.“ (I-16: 1130-1160)
Marians Freizeitgestaltung hat einen klaren Fokus: Gewerkschaftsarbeit. Sie macht ihm schlichtweg Spaß. Er möchte etwas bewegen, Menschen zur Einsicht bringen, dass Gewerkschaften wichtig sind. Wie Matthias geht es ihm nicht nur um die Verbesserung seiner Arbeitsbedingungen, sondern er möchte auch auf die gesellschaftspolitische Ebene Einfluss nehmen. Für ihn sind die Gewerkschaften die Organisationen, die dazu auch in der Lage sind/wären. „Es sollte schon gesehen werden, dass Gewerkschaften nicht nur dafür zuständig sind: nicht nur mehr Geld. Also, das ist ja das Problem gewesen, wenn man Leute befragt. Die sagen ja immer nur: ‚Ja, äh, Verdi, öh, die streiken ja nur.‘ Klar, das ist ja auch das, was in der Öffentlichkeit leider Gottes breitgetreten wird. Da würde ich mir halt wünschen, dass die Medien dieses mehr nutzen und auch andere Themen reinbringen.“ (I-16: 1224-1245)
Für ihn liegt die Schwierigkeit darin, dass die gesellschaftspolitische Aufgabe der Gewerkschaften in der medialen Öffentlichkeit nicht genügend beachtet
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wird. Das wirft die Frage auf, ob das an den Medien liegt oder daran, dass die Gewerkschaften bisher sich zu wenig in gesellschaftspolitische Diskurse eingemischt haben. Marian sieht Streiks als ein wichtiges Mittel, Interessen zu vertreten, und sieht hier auch ein Feld für solidarisches Handeln unter Beschäftigten: „Für mich äußert sich das {solidarische Handeln} eher so, dass ich versuche, bei anderen Streiks mit dabei zu sein, bei größeren Demozügen, versuche, da Leute reinzukriegen und mich selber da einzubringen.“ (I-16: 1706-1715)
Deshalb geht auch er zu Streiks von anderen Berufsgruppen: „Streiks sind einfach entscheidend mit Personenzahlen: Die Arbeitgeber haben erst Respekt, wenn auch gewisse Personenzahlen draußen stehen, da der Organisationsgrad relativ schwach ist oder schwächer wird über die Jahre. Es ist notwendig, dass wir uns gegenseitig unterstützen, finde ich und um Macht darzustellen.“ (I-16: 1727-1743)
Druck auf die Arbeitgeberseite kann nur entstehen, wenn auch eine Masse an Menschen auf die Straße geht, sich wehrt. Marian sieht die Schwierigkeit der zurückgehenden Mitgliederzahlen in den Gewerkschaften, deshalb geht er auch zu anderen Demonstrationen oder Streiks, um zu unterstützen und um sich solidarisch zu zeigen. Wenn jemand die Macht hätte, am Schreibtisch eine gewerkschaftliche Kollektividentität zu kreieren, wären Marian und Matthias sicherlich leuchtende Beispiele: Ihr Handeln wird von einer starken Arbeitnehmer/innen-Solidarität geleitet, die auch andere Berufsgruppen mit einschließt. Sie üben Kritik an allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen und zeigen großes Engagement in ihrer Freizeit. Achse: Aktive – Nicht-Aktive Marian bemerkt in seiner Tätigkeit als engagierter Gewerkschafter, dass er das mangelnde Engagement der Kollegen zu kompensieren versucht. Aufgrund seiner JAV-Stelle hat Marian eine Freistellung von seiner Arbeit auf Station. Dennoch trennt er für sich stark sein Engagement als Gewerkschafter und die Aufgaben als JAV’ler. Für ihn ist klar: Man kann Beruf, Freizeit und politisches Engagement verbinden, „wenn man nur will“ (I-16: 2511). Ein Großteil seiner Gewerkschaftsarbeit ist Überzeugungsarbeit. Er zählt auf, was dazu alles gehört: Info-Stände an Schulen, auf Stationen, Schulungen,
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Informationsveranstaltungen etc. Aber diese Überzeugungsarbeit macht auf Dauer auch mürbe: „Aber, ich habe es wirklich schon über 1 1/2 Jahre stark versucht, irgendjemanden von meiner Station gewerkschaftlich … zu organisieren. Und da ist wirklich das Problem: Ich krieg die Leute nicht überzeugt. Ich komm mit allen Argumenten von A bis Z: ja, welche Vorteile sie mitnehmen, ähm, und, nein. Und das Desinteresse ist trotzdem da. Und deswegen erlang ich wirklich auch so einen Punkt, wo ich immer mehr sagen muss: Ich geb’ bald auf. Es kann, es kann net sein.“ (I-16: 2698-2719)
Er stellt fest, dass er immer engagierter geworden ist, während seine Kollegen/ innen immer passiver wurden und er sich damit immer mehr von ihnen entfernt hat. Desinteresse und Ich-Bezogenheit sind für ihn die Hauptgründe, warum sich seine Kollegen/innen oder andere Beschäftigte nicht überzeugen lassen. Das frustriert ihn sehr. Marian steht letztlich für einen Typus von Gewerkschafter, auf den die Forschungsgruppe des Projekts U35 immer wieder gestoßen ist: sehr engagiert, aber auch durch Überarbeitung am Rande der Desillusion. Eine Mitarbeiterin aus der Forschungsgruppe besuchte ein Jahresplanungstreffen der Berliner Jugend- und Auszubildendenvertretung des Fachbereichs 3 von Verdi, dem Fachbereich des Gesundheitswesens. Sie verbrachte einen Tag mit den jungen Gewerkschaftern/innen und sprach mit ihnen über ihre Arbeit, ihre Probleme mit ihren an Gewerkschaften uninteressierten Kollegen/innen und ihren Erfahrungen mit den Gewerkschaftsstrukturen. Folgender Abschnitt stammt aus ihrem ethnografischen Text: „Nach der Mittagspause mit Würstchen und Kartoffelsuppe geht es unter anderem um die Vorbereitung des großen Protesttages ‚zur Rettung der Krankenhäuser‘ am 25. September 2008 in Berlin. Verschiedene mögliche Aktionen werden durchdiskutiert: ob mit Politikergesichtern durch die Straßen ziehen oder als Pflege-Clowns verkleidet. Immer wieder mahnt jemand an, sich nicht in verschiedenen Aktionen zu verzetteln, da man nicht genügend Leute haben werde, die bei den Demonstrationsaktivitäten mitmachen. Man rechnet mit ca. 20 Demonstranten/innen aus der gesamten JAV Berlin. Ich muss bei dieser Zahl schlucken, wenn ich mir vorstelle, wie viele junge Menschen im Moment in Berliner Krankenhäusern eine Ausbildung machen.“ (Bericht vom JAV-Treffen, Verdi Fachbereich 3, am 13.06.2008)
In der Pause spricht die Mitarbeiterin die jungen Gewerkschafter/innen an, wo sie die Gründe sehen, dass so wenige sich gewerkschaftlich engagieren. Letztlich hatte jede/r eine andere Vorstellung: Da sei zum einen der Schichtdienst im Gesundheitswesen und die damit begrenzte freie Zeit. Dieses Argument wurde von anderen mit dem Hinweis abgeschmettert, man würde sich doch auch engagieren.
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4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern „Im späteren Verlauf der Diskussion geht es nochmals um die Frage, warum sie sich engagieren und andere nicht. Ich merke an, dass ich das Gefühl hätte, sie würden sich untereinander gut verstehen (…). Inwieweit spielt es daher eine Rolle, stelle ich fragend in den Raum, dass man sich mit der Gruppe und deren Aktionen identifizieren kann. S. schüttelt den Kopf, selbst gute Freunde, die zahlende Gewerkschaftsmitglieder sind, würden bei Demonstrationen nicht mitmachen. Jemand anderes bringt ein, dass sich die gesellschaftliche Kultur dahingehend verändert hätte, dass eine Erziehung zum Engagement und Mithilfe nicht mehr vorhanden ist. In der ehemaligen DDR wäre das anders gewesen: wenn jemand ein Haus gebaut hat, hat der eine die Dachziegel, der nächste den Zement und der dritte den Kasten Bier mitgebracht. (…) Ich stelle die Frage, ob es an den Protestformen liegt, dass viele mit so genannten „Latsch-Demos“ nichts mehr anfangen können. S. berichtet von ihren verdi@school-Aktionen. Sie seien animierend und niedrigschwellig ausgerichtet. Selbst diese Aktionen werden von den Jugendlichen nicht angenommen.“ (Bericht vom JAV-Treffen, Verdi Fachbereich 3, am 13.06.2008)
Auch diese Gewerkschafter/innen stehen vor dem Phänomen, trotz zunehmend schwierig werdender Arbeitsbedingungen, im Kreise ihrer Arbeitskollegen/innen auf Gleichgültigkeit und Desinteresse zu stoßen. Die Erklärungen sind vielfältig, jede/r hat seine eigenen (biografischen) Erfahrungen und vor allem eine eigene Geschichte seiner Gewerkschaftssozialisation. Marian, der Krankenpfleger und JAV’ler, bringt das in seinem Interview auf den Punkt: „Aber dadurch kommt ja (…) dieses auch erst zustande, diese Multifunktionäre, weil viele nichts machen, müssen halt wenige viel machen. Und das ist halt problematisch.“ (I-16: 2545-2553)
Gewerkschafter/innen wie Marian und die jungen JAV’ler auf dem Planungstreffen verdienen großen Respekt. Von dem Engagement solcher Menschen lebt das, was vielerorts an gewerkschaftlicher Basisarbeit (noch) existiert. Die Frage drängt sich jedoch auf, inwieweit gewerkschaftliche Praxis, wenn sie vielleicht mit zu starkem missionarischem Eifer betrieben wird, auf junge Beschäftigte nicht eher befremdlich wirkt. Inwieweit, so eine Vermutung, wäre es wichtiger, zuzuhören als zu überzeugen. In den Interviews und Focus Groups ist die Forschungsgruppe vielfach auf eine individualisierte Haltung gestoßen, die sich theoretisch in dem Konzept der Ich-Orientierung niederschlägt (vgl. Kapitel 2.5). Junge Menschen mit starker Ich-Orientierung sehen sich als Macher ihrer eigenen Arbeitsbiografie, erleben die individualisierte Arbeitswelt für sich als positiv. Das Herausbilden dieser Orientierung hat mit vielfältigen gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun, mit dem Zusammentreffen ganz unterschiedlicher Indivi-
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dualisierungsprozesse (vgl. Honneth, 2002: 146). Der Soziologe Klaus Dörre führt in seinem Aufsatz zu politischer Bildung in den Gewerkschaften die Individualisierung der Leistungsanforderungen an (vgl. Dörre, 2002: 36). Die Betonung der Subjekthaftigkeit hat zwei Seiten. Zum einen steckt ein befreiender Moment darin: überall dort, wo bürokratische Bevormundung zurückgedrängt wird, ein kommunikativer Austausch gefördert wird und die Beschäftigten das Gefühl erhalten, dass ihre Meinung und Kreativität gefragt ist. Das ist nach Klaus Dörre die „Quelle eines positiven Individualismus, der auf Freiheitsgewinn im Arbeitsprozess beruht“ (ebd. 36). Der negative Individualismus liegt in der Auflösung der kollektiven Regulierungen, des absichernden (arbeitsrechtlichen) Rahmens (vgl. ebd. 36 f.). Klaus Dörre plädiert nun in diesem Aufsatz dafür, dass sich Gewerkschaften diesen neuen Subjektivitäten nicht verschließen dürften. Er erwähnt das bereits oben erwähnte identitätsstiftende Dreieck von Hyman, in welchem sich das Selbstverständnis von Gewerkschaften bewege: Markt, Gesellschaft, Klasse. Dieses gelte es zu erweitern: „Identitätsstiftendes Leitbild sollte … das autonome, selbstverantwortliche Individuum sein, das auf vielfältige Solidaritäten angewiesen ist, um sich selbst entfalten zu können. Aus dem identitätsstiftenden Dreieck muss daher mindestens ein Viereck werden“ (ebd. 41). Seine Intention ist klar: Die Erstarkung der Orientierung von Individuen an Autonomie und Selbstverantwortung gilt es, ernst zu nehmen. Gleichzeitig betont er, auch diese brauchen Solidaritäten, um ihre autonome Lebensweise dauerhaft führen zu können. Letztlich knüpft er an die seines Erachtens vorhandenen emanzipatorischen Potenziale einer solchen Orientierung an. Die Freiheits- und Autonomiebedürfnisse müssten im Fall gewerkschaftlicher Bildungsarbeit stärker als bisher berücksichtigt und vor allem genutzt werden (vgl. ebd. 43). Das Anliegen gewerkschaftlicher Bildungsarbeit „kann nicht die pauschale Ablehnung individualistischer Subjektivitäten sein. Vielmehr muss es ihr darum gehen, spontane, entsolidarisierende, egoistische Orientierungen in einen reflektierten Individualismus zu transformieren, der sich der gesellschaftlichen Voraussetzungen individuellen Freiheitsgewinn bewusst ist“ (ebd. 43 f.). Dörre ist davon überzeugt, dass sowohl in der Bildungsarbeit als auch in der praktischen Interessenvertretung Gewerkschaften eine Anziehungskraft entfalten können, wenn sie die individuellen Autonomiewünsche ernst nehme, sie aber „in einer neuen Kultur der Solidarität“ verorte (ebd. 44). Dies hört sich plausibel und beachtenswert an, aber die Frage stellt sich, wie sich das in der Praxis verwirklichen lässt. Die Forschungsgruppe traf auf eine 35-jährige Betriebsrätin und Gewerkschafterin, die die Anfrage nach der Durchführung einer Focus Group in ihrem dem öffentlichen Dienst nahe stehendem Betrieb sehr gerne angenommen hat.
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Sie ist mit einer Reihe von Kollegen/innen konfrontiert, die dem Betriebsrat und seiner Arbeit eher skeptisch gegenüberstehen. An der Focus Group nahmen sechs Personen teil, drei Frauen und drei Männer. Es wurde sehr viel diskutiert, da einige der Teilnehmer/innen sich von dem Fragebogen des Forschungsprojekts stark provoziert gefühlt haben. Er sei viel zu ‚tendenziös‘; es würde suggeriert, dass man unter einem allgemeinen Druck stehen würde und dass letztlich die Rettung im Engagement, im solidarischen Handeln – letztlich (auch) in der Gewerkschaft liege. Einer der Teilnehmer hat Jura studiert. In der Diskussion geht er auf die Fragen des Fragebogens ein, welchen Stellenwert der Betriebsrat für den Befragten hat und wie wichtig ihm die Arbeit von Gewerkschaften sei. „Jetzt kann ich wiederum nur für mich sprechen (…), ich bin wie gesagt, wieder davon ausgegangen: (…) Ich schlage eine akademische Laufbahn ein, die klassisch auf einen freiberuflichen Job zu zielt. Da übernehm’ ich all die Aufgaben selber und das trau ich mir dann auch von Anfang an zu und sage, das regle ich schon selber: Ich regle meine privaten Zwänge, ich regle die ganzen Zwänge mit dem Job. Das krieg ich alles alleine hin, da brauch ich niemanden, der für mich Entscheidungen trifft. Weil nämlich genau das Problem, was ich hier teilweise habe, ist ja immer, dass Entscheidungen getroffen werden für eine Masse, die für die Masse auch in Ordnung ist, aber in der ich mich nicht wiederfinde, in der ich einfach untergehe und sage, das hätte ich doch in einer anderen Situation, nämlich in der freiberuflichen, für mich anders entschieden.“ (F-3; M3: 366-376)
Dieser Mitarbeiter hat einen klaren Lebensweg eingeschlagen: Sein Jurastudium – das war für ihn von Anfang an klar – wird auch zu Zeiten in freiberuflicher Tätigkeit führen und das sei kein „Schonwaschgang“, wie er an anderer Stelle sagt. Er ist für sein berufliches Weiterkommen selbst verantwortlich, für die Gestaltung seines Privatlebens: Dies alles organisiert er allein und dazu braucht er auch keine Hilfe. Entscheidungen, die für eine große Gruppe (von Beschäftigten) gefällt werden, sagen ihm nicht zu. Er findet sich darin nicht wieder. Im weiteren Verlauf der Focus Group führen einige Teilnehmer/innen an, dass die Arbeitswelt zu individualisiert sei, als dass Gewerkschaften noch darin eine Rolle spielen könnten. Es wurde auch über die letzte Verhandlung im eigenen Betrieb diskutiert, in der es um eine allgemeine Beschäftigungssicherung ging. Im Gegenzug verzichtete die Gewerkschaft auf die tariflich ausgehandelten Lohnsteigerungen. Einigen der Anwesenden kam der Abschluss entgegen, da sie selbst kurz vor der Entlassung standen. Der bereits oben zitierte Kollege war mit dem Ergebnis nicht einverstanden. Aber das größere Problem war für ihn, dass er innerhalb des Entscheidungsprozesses sich nicht einbringen konnte:
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„Ich hab nur das Problem, kann ich Ihnen sagen, damals gehabt, dass man wirklich von dem Ergebnis erst erfahren hat, als es beschlossen wurde. Dass man nicht am Entscheidungsprozess beteiligt wurde, das stinkt mir dann, auf Deutsch gesagt, am meisten. Wenn schon über meinen Kopf entschieden wird, dann möchte ich vorher wenigstens mal gefragt werden. Und ich meine, dass hinterdrein jemand doch wieder völlig anders entscheidet, das mag dann so sein. Dann ärgere ich mich auch nochmal, aber dann ärgere ich mich nicht so doll, als wenn ich von vornherein nicht die Möglichkeit habe, mit mehr oder weniger sachlichen Argumenten mich an der Diskussion zu beteiligen.“ (F-3; M3: 790-798)
Zu der Frage, wie man diese ‚neuen Subjektivitäten‘ in der gewerkschaftlichen Arbeit berücksichtigen kann, bietet die Durchführung dieser Focus Group eine Antwort. Im Gespräch mit der Mitarbeiterin der Forschungsgruppe in der Kantine nach der Focus Group erzählte die Betriebsrätin, dass es ihr wichtig war, überhaupt mal wieder mit diesen Kollegen/innen in ein Gespräch zu kommen – über die Rolle der Gewerkschaften, über den Sinn von Betriebsratsarbeit, über kollektive Interessenvertretung, über die Frage nach Solidarität. Dieser Betriebsrätin ging es in erster Linie nicht darum zu überzeugen, sondern um den Dialog auf Augenhöhe. Die konkrete Orientierung und Situation des jeweils anderen nimmt sie ernst. Dabei geht es nicht darum, seinen eigenen kämpferischen, überzeugten Ansatz aufzugeben. Durch ihre Teilnahme an der Focus Group hat sie dieses Forum genutzt, ihren Standpunkt einzubringen, ihre Orientierung als Gegenentwurf ihren Kollegen/innen darzustellen. Wenn der hegemoniale Diskurs (ob in einem Betrieb oder innerhalb der Gesellschaft, bleibt sich in diesem Fall gleich) von der Vorstellung einer individualisierten Lebensführung dominiert wird, dann bestünde vielleicht ein Weg, diesen infrage zu stellen darin, Räume zu schaffen, in denen diese Lebensführung – ohne den jeweils anderen zu diskreditieren – diskutiert wird. An anderer Stelle in diesem Buch wird diese Herangehensweise als Orientierung am konkreten Anderen genannt (vgl. Benhabib, 1989; siehe auch Kapitel 5.6). Ohne zu versuchen, den Anderen zu überzeugen, wurde in der Focus Group ein Raum geschaffen, sich in der Diskussion auszutauschen. Der jeweils konkrete Andere hatte die Möglichkeit, seine Position einzubringen. Der Dialog bleibt ein offener Prozess. Mitgliederzahlen lassen sich damit voraussichtlich zunächst nicht steigern. Klar ist aber auch, dass das keine Einbahnstraße ist: Die Gewerkschaft als Institution würde in einem solchen Dialog auch mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten konfrontiert werden. In diesem Fall zeigte sich das an dem Vorwurf, die Mitarbeiter/innen nicht genügend in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen. Bei der Begleitung von gewerkschaftlichen Aktionen, Demonstrationen und Kundgebungen erlebten die Mitarbeiter/innen der Forschungsgruppe jedoch auch stark mobilisierende Momente. Besonders hervorzuheben ist der Streik der
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Beschäftigten der sozialen Dienste in Baden-Württemberg im Sommer 2009. Während dieses Streiks wurden zwei Kindergartenleiterinnen interviewt. In dem Interview wurden sie gefragt, wie der Entscheidungsprozess in ihren Kindergärten verlief, dass sie und ihre Kollegen/innen sich entschlossen hätten, sich bei den Streiks zu beteiligen. Sie erzählten, dass es zunächst einen Aufruf der Gewerkschaften gegeben hätte. Daraufhin haben sie sich im Team zusammengesetzt und sich über ihren beruflichen Alltag ausgetauscht. In diesen Gesprächen wurde ihnen die Diskrepanz zwischen den alltäglichen hohen Anforderungen und der geringen Anerkennung, die sie für ihre Arbeit erhalten – sei es durch ihren Arbeitgeber, die Eltern oder in Form ihrer Entlohnung – deutlich. Letztendlich hat die Gewerkschaft durch ihren Aufruf einen Prozess der sozialen Selbstverständigung in Gang gesetzt, ein Forum geboten, in dem man sich der Widersprüche bewusst werden konnte und sie vor allem öffentlich benennen konnte. Insgesamt wurden im Vergleich der aktiven mit den nicht-aktiven Mitgliedern drei wichtige Prozesse deutlich, wie das Verhältnis von Aktiven und Nicht-Aktiven gestaltet werden kann: Zum einen, dass heute unter den Bedingungen von ausgeprägter Ich-Orientierung das Zuhören wichtiger ist, als das Überzeugen. Zum anderen scheint es wichtig, Raum für Diskussionen zu schaffen, in denen verschiedene Orientierungen zum Austausch kommen können. Und schließlich können gewerkschaftliche Aktionen zu der besonders wichtigen sozialen Selbstverständigung beitragen. Achse: Basis – Gewerkschaft als Institution Der Besuch bei der Klausurtagung der jungen Gewerkschafter/innen aus dem Gesundheitswesen brachte nicht nur Einblicke über deren Verhältnis zu gewerkschaftlich eher uninteressierten Kollegen/innen: „Der letzte Tagesordnungspunkt ist der Bericht aus anderen Gremien. Das ist Part von N., da er in einigen Gremien vertreten ist. Er beginnt in einem sichtlich lustlosen Ton. Seine Rede ist gespickt mit verschiedenen Abkürzungen, die mir alle nichts sagen. Ich frage nach und habe sofort das Gefühl, in ein Wespennest gestochen zu haben. ‚Wie, Du kennst die Matrix nicht?‘ fragen sie mich wohlwollend belustigt. N. stürmt an den Flip-Chart und zeichnet mir die Organisationsstruktur von Verdi auf. Vor mir entsteht ein verwirrendes, breitgefächertes Gebilde, aufgeteilt in Bundesebene, Landesebene, Bezirksebene und Ortsverbände. Jede Ebene ist untergliedert in die 13 verschiedenen Fachbereiche. (…) Aus diesem Gebilde ergeben sich eine Hülle und Fülle an Gremien, an denen man als JAV’ler das Recht (und die gefühlte Pflicht) hätte, sich zu beteiligen: Vertretung auf der Bezirksebene, Vertretung auf der Landesebene, beispielsweise. Aus den Erzählungen von R. und N. höre
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ich das Bedauern, dass man bei Verdi die starren Strukturen durchlaufen muss, wenn man etwas erreichen möchte. Gerade in den Gremien, wo überwiegend ältere Gewerkschafter/innen sitzen, seien oft Blockierer, Leute, die nur Informationen abholen oder mit Voten Vorschläge anderer niederschmettern. R. fragt sich, wie viele Gremien es eigentlich wirklich braucht für eine funktionierende Gewerkschaftsarbeit. Später, als einige zum Rauchen draußen sind, erzählt mir S., dass Vorschläge des Jugendfachkreises zur Kampagne ‚Der Deckel muss weg‘, wie zum Beispiel bundesweite Flashmob-Aktionen vor den Gesundheitsämtern, von übergeordneten Gremien abgelehnt wurden. Jetzt – nachdem die Kampagne wenig von der Öffentlichkeit beachtet wird – würden sie alle nach Aktionsformen rufen. Ich spüre ihre Frustration darüber.“ (Bericht vom JAV-Treffen, Verdi Fachbereich 3, am 13.06.2008)
Neben der mühseligen gewerkschaftlichen Basisarbeit auf ihren Stationen oder in Ausbildungszentren, der Organisation von Aktionen, gibt es die „Matrix“, wie sie es treffend nennen; die Organisationsstruktur der Gewerkschaft, die von den Aktiven zumindest in diesem Fall eher als zusätzliche Last, denn als Hilfe empfunden wird. Man hat das Gefühl, dass innerhalb der weit verzweigten Gremien-Kanäle der Organisation der Wille, die Kreativität der Aktiven verrinnt und letztlich Gefahr läuft, vollends in Rinnsalen zu versickern. In der Focus Group nennt die Betriebsrätin ein weiteres Problem, das ihr in der Zusammenarbeit mit Gewerkschaftssekretären/innen begegnet: „Was für mich aber immer wieder der Punkt ist, (…) dass ich mich engagiere oder beziehungsweise, dass ich selber meine (…) Leistung, mein Gedankengut mit einbringe und wiederum tätig werde. Ja, also nicht auf mich zukommen lasse, was da passiert, sondern, wenn ich für mich die Wichtigkeit erkannt habe, (…) begebe ich mich immer dann hinein, dass ich sag: ‚Okay, das sind meine Gedanken, das kommt mir entgegen. Ich möchte mich also für bestimmte Sachen engagieren, ich möchte auch bestimmte Sachen verändern.‘ Wenn wir … mit unserer Gewerkschaftssekretärin vorher sprechen und sagen: ‚Denke dran, es ist hier wirklich eine besondere Situation. Wir brauchen keine Barrikaden, das tut nicht not. Wir haben hier ein sehr vertrauensvolles Verhältnis insgesamt und trotz alledem, wir können eigentlich sowohl mit Kollegen als auch Geschäftsführung verhandeln und sprechen.‘ Die Arbeitswelt hat sich verändert, es gibt so viele kleine Insellösungen, (…) das ist wichtig eben, sich auf Insellösungen einzulassen, aber dafür braucht man eben auch engagierte Leute, die den Gewerkschaften auch dahin helfen, die sagen ‚Komm, pack die rote Fahne ein, wir gucken mal in die Betriebe‘ und … {da} denke {ich}, dass es wirklich eine lange Umbruchphase {braucht}, (…) ehe das wirklich so funktioniert.“ (F-3; F1: 913-940)
Auf die Vorwürfe ihrer Kollegen/innen, die Gewerkschaft würde nicht mit der Zeit gehen, würde sich nicht auf eine individualisierte, ausdifferenzierte Arbeits-
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welt einlassen, reagiert sie reflektiert. Es deprimiert sie, wenn – trotz ihrer Bemühungen – von Seiten der Gewerkschaft nicht auf die Situation oder auf die Atmosphäre im Betrieb eingegangen wird; wenn – um im Bild des identitätsstiftenden Dreiecks zu bleiben – zumindest in den Redebeiträgen, an der Orientierung an dem Klassengegensatz festgehalten wird. Das führt dazu, dass die Vertreter/innen der Gewerkschaft, die auf Betriebsversammlungen auftauchen, als Menschen wahrgenommen werden, die „irgendwie in einer anderen Welt leben“ (F-3; M1: 831). Ihre Kritik an den Gewerkschaften ist, dass die Aktiven an dem Block-Denken festhalten. Für die Betriebsrätin führen diese Erfahrungen aber nicht zu einer pauschalen Verurteilung der Gewerkschaft. Sie möchte ihre Ideen einbringen, an der Veränderung der Gewerkschaft teilnehmen. Sie müssten sich bewegen, die Segmentarisierung sowohl von Arbeitsfeldern als auch von Beschäftigtengruppen in ihrer Arbeit berücksichtigen. Ausblick Der Gewerkschaftstheoretiker Hans Jürgen Urban stellt fest, dass paradoxerweise „in der schwersten Krise des Nachkriegskapitalismus“ die Gewerkschaften in Deutschland ein Comeback zu erleben scheinen (Urban, 2010: 3). „Dennoch wirkt die Comeback-These auch eigentümlich naiv. Unterbelichtet bleibt, dass die neue Wertschätzung der politischen Klasse gegenüber den Gewerkschaften auch auf ihre Einbindung in eine staatliche Krisenstrategie zielen könnte, die perspektivisch die Krisenkosten auf Lohnabhängige und Sozialleistungsbezieher verteilt. Und die, gleichsam konfliktpräventiv, die Gewerkschaften auf die Aufgabe der Eindämmung befürchteter Widerstände vorbereiten möchte.“ (ebd. 3) Ohne nennenswerten Widerstand wurden die Folgekosten der Finanzkrise auf die Sozialversicherungssysteme und die Haushalte von Kommunen, Länder und Bund abgewälzt. Viele Beschäftigte sind von Einkommens- oder gar Arbeitsplatzverlust betroffen. Politische Einflussmöglichkeit ist aber nach wie vor daran gekoppelt, ob es den Gewerkschaften gelingt, ihre Organisationsmacht zu stärken. Urban verweist dabei auf die Strategic-Unionism-Forschung, eine Gewerkschaftsforschung, die sich u. a. den unterschiedlichen „organizing“ Strategien in den Gewerkschaften widmet (vgl. ebd. 4 f.; Brinkmann et al.; 2008). Fakt ist, dass das oben erwähnte identitätsstiftende Dreieck von Markt, Gesellschaft und Klasse, in dem sich die Gewerkschaften bewegen, vielfach als Maskerade erscheint (vgl. auch Birke, 2010: 57). Je nach politischer und wirtschaftlicher Lage wird die Maske gewechselt – Gewerkschaften erscheinen mal in kämpferischer, mal in sozialpartnerschaftlicher Pose. Peter Birke hat dazu in seinem Buch „Die große Wut und die kleinen Schritte“ (Birke, 2010) von
4.3 Berufsgruppen und Arbeitslogiken
183
holländischen Kollegen/innen das Bild vom „Boxen“ und „Tanzen“ aufgegriffen (vgl. ebd. 65 ff.). Seiner Ansicht nach liegt die Chance gerade in der „Offenheit der Situation“. Die zunehmende Erfahrung von diskontinuierlichen und prekärer werdenden Arbeitsverhältnissen würde den Möglichkeitsraum eröffnen, diese Verhältnisse zu benennen (vgl. ebd. 67). Dies knüpft an die oben beschriebene Achse gewerkschaftlicher Orientierung, welche die Rolle der Gewerkschaft als gesellschaftspolitischer Akteur zu betonen sucht. Die Intention für Birke ist jedoch eindeutig: Es geht dabei nicht um das strategische Abwägen, welche Maske zu welcher Situation passt. Das emanzipatorische Moment wäre, die Vernetztheit, Intensität und alltägliche Artikulationsfähigkeit der Beschäftigten zu nutzen und sie selbst sprechen zu lassen (vgl. ebd. 67). Selbstermächtigung – ein oft unproblematisiert genutzter Begriff – ist in der gewerkschaftlichen Alltagsarbeit (oder bei Birke: in den Organizing-Projekten) alles andere als einfach: „Macht, Gegenmacht, Widerstand müssen durch das Nadelöhr der Subjektivität, des Nein-Sagen-Könnens, der gestammelten Sätze, der Wut, auch auf sich selbst und die KollegInnen“ (ebd. 70). Und diese Subjektivitäten sind – wie in diesem Buch vielfach aufgeführt – stark ausdifferenziert: zwischen den Branchen, (nach wie vor) zwischen den Geschlechtern, in den Orientierungen. Es bleibt gewerkschaftlich Aktiven nichts weiter übrig, als dafür ein Ohr zu finden und den Dialog zu suchen. 4.3 Berufsgruppen und Arbeitslogiken Eine weitere Differenzierung zwischen den jungen Beschäftigten ist das Berufsfeld bzw. die Berufsgruppe, in der sie jeweils tätig sind. Es wurde angenommen, dass verschiedene Berufsgruppen jeweils eigene Milieus bilden und dass das in verschiedenen Orientierungen und Handlungsformen der jungen Beschäftigten zum Ausdruck kommt. Bei einem Vergleich verschiedener Berufsgruppen muss darauf geachtet werden, dass nicht Stereotypen, die zu jeder Berufsgruppe existieren, verfestigt werden, sondern dass sich die Interpretation auf die Gründe und Kontexte konzentriert. Die Auswahl der Berufsgruppen erfolgte aufgrund von Annahmen und Erfahrungen über problematische Besonderheiten in diesem Feld. In die Untersuchung wurden die folgenden vier Berufsgruppen des Dienstleistungsbereichs einbezogen.
184 1. 2. 3. 4.
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern Banken/Versicherungen IT-Branche Öffentlicher Dienst Gesundheitsbereich
Mit solch einer „klassischen“ Einteilung der Beschäftigten sind jedoch Unterschiede innerhalb von Berufssparten schwer zu fassen. So haben z. B. die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes im Verwaltungsbereich ganz andere Arbeitsverhältnisse als im sozialen Dienst. Deshalb ist es sinnvoll, die Einteilung der Beschäftigten nach unterschiedlichen Arbeitslogiken vorzunehmen (vgl. Oesch, 2006a, 2006b, 2007). Durch die Veränderungen der (europäischen) Arbeitswelt der letzten dreißig Jahre greifen klassische Einteilungen der Beschäftigten nach Berufssparten immer weniger. Eine Reihe sozioökonomischer Trends veränderte die Beschäftigtenstruktur in Europa grundlegend. Daniel Oesch hat, darauf reagierend, ein neues Modell zur Analyse der Differenzierung von lohnabhängigen Beschäftigten entwickelt. Oesch nennt für das obere Ende der Beschäftigtenhierarchie neben dem Jobwachstum im Dienstleistungsbereich die Ausdehnung des Wohlfahrtsstaats und die Bildungsexpansion. Dies führte zu einem Anwachsen der „lohnabhängigen Mittelklasse“. Analog dazu wurde am unteren Ende der Beschäftigtenhierarchie durch Automatisierung und De-Industrialisierung die Zahl ungeschulter Arbeitskräfte in der Industrie reduziert, während vielfach geringqualifizierte, vorwiegend weibliche Dienstleistungsberufe zugenommen haben. Zusätzlich haben neue Produktionsmethoden zu einer Höherqualifizierung der schrumpfenden Industriearbeiterschaft geführt und damit die Grenze zwischen dem Arbeiter- und Angestelltenstatus verwischt. Im Gewerkschaftsbereich kann sich diese Unklarheit beispielsweise auch in einer gewissen Konkurrenz der Gewerkschaften IG Metall und Verdi um Beschäftigte im IT-Bereich zeigen. Das Erwerbsklassenschema nach Oesch: vertikales Anstellungsverhältnis und horizontale Arbeitslogiken Grundlage von Daniel Oeschs Modell ist die Kritik an den nach wie vor weit verbreiteten Schicht-Modellen, die letztlich die hierarchische Sicht der Arbeitgeber widerspiegeln und die Beschäftigten in eine Arbeiter- und eine Mittelschicht einteilen (vgl. Eversberg, 2009: 7). Mit solchen Modellen können nach Oesch die in einer Dienstleistungsgesellschaft vorherrschenden Konflikte nicht angemessen beschrieben werden. Aus Sicht der Beschäftigten gibt es innerhalb jeder „Schicht“ enorme horizontale Unterschiede, weshalb ein neues theoreti-
4.3 Berufsgruppen und Arbeitslogiken
185
sches Modell notwendig ist. Oesch schlägt vor, die hierarchische Sicht der Arbeitgeberseite und die horizontale Perspektive der Beschäftigten in einem Modell zu vereinen: „Hence, mounting employment heterogenity is analysed by combining the hierarchical perspective of the employer (the demand side of the labour market) with the horizontal perspective of the employee (the supply side of the labour market)“ (Oesch, 2006b: 266). Für sein neues Schema übernimmt Oesch das vertikale Konzept des Anstellungsverhältnisses von Erikson und Goldthorpe, dessen Gliederung aus der „rationalen Handlung der Arbeitgeber“ entspringt. Um die Perspektive der Beschäftigten einzubinden und damit die analytische Schärfe zu erhöhen, fügt er dem Modell auf horizontaler Ebene die Unterscheidung nach Arbeitslogiken hinzu. Anschließend an verschiedene Autoren wie Esping-Andersen („Postindustrial class structures“) benennt Oesch innerhalb der breiten Kategorie der Arbeitnehmer/innen drei grundlegend verschiedene Arbeitslogiken (vgl. Oesch, 2006a, 2006b; 2007): 1. 2. 3.
technische Arbeitslogik administratorische oder organisatorische Arbeitslogik interpersonale Arbeitslogik
Diese Arbeitslogiken kombiniert Oesch jeweils mit vier Ebenen der Qualifikation („marketable skills“): 1. 2. 3. 4.
Professionen Semiprofessionen beruflich qualifizierte Fachkräfte gering Qualifizierte
„Je nach Bedeutung der marktfähigen beruflichen Qualifikation eines Arbeitnehmers bieten die Arbeitgeber ein mehr oder weniger vorteilhaftes Anstellungsverhältnis an, um von ihrem Personal möglichst hohe Produktivität zu erhalten.“ (Oesch, 2007: 60) Das Kriterium der Arbeitslogiken differenziert horizontal zwischen verschiedenen Kategorien, die bezüglich des Anstellungsverhältnisses (aus Arbeitgebersicht) homogen erscheinen (vgl. Oesch, 2007: 61). Die Unterscheidung nach den Arbeitslogiken ist, so Oesch, „zugegebenermaßen schematisch“, scheint aber den empirisch beobachtbaren horizontalen Spaltungen in der Beschäftigtenstruktur nahezukommen (ebd.). Auf der „Ebene der Mittelklassen“ reflektiere sie zentrale Unterschiede der Klassenpositionen von soziokulturellen Semiprofessionen
186
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
(z. B. Sozialarbeiter/innen), technischen Fachleuten (z. B. Elektrotechniker) und unterem Management (z. B. Buchhalter). Zu den Arbeitslogiken der abhängig Beschäftigten nach Oesch im Einzelnen (vgl. dazu auch Eversberg, 2009: 7 ff.): 1.
2.
3.
Die interpersonale Arbeitslogik baut auf der direkten Interaktion zwischen Personen auf. In der Regel gibt es kaum hierarchische Kommandostrukturen. Die Beschäftigten sind vor allem an ihren Klienten und deren Bedürfnissen orientiert. Auf der Führungsebene werden Experten/innenwissen und kommunikative Fähigkeiten benötigt, in den ausführenden Positionen vor allem Sozialkompetenz. Die technische Arbeitslogik entspricht im Wesentlichen einem von den technischen Erfordernissen der Produktion definierten Arbeitsablauf. Auf höheren Hierarchiestufen bedeutet dies eine sehr freie Tätigkeit, auf niedrigeren Hierarchiestufen ist die Tätigkeit dagegen von starker Fremdbestimmung geprägt („Working outside the lines of command for higher grades, working within a clear-cut command structure for lower grades“). Auf den höheren Hierarchiestufen der technischen Arbeitslogik wird wissenschaftliches Experten/innenwissen benötigt, auf den niedrigeren Stufen handwerkliche Fertigkeiten. Gemeinsam ist der starke Bezug auf die Technik. Die Organisatorische Arbeitslogik wird durch Arbeitsprozesse geprägt, die durch die bürokratische Arbeitsteilung im Betrieb strukturiert sind. Die Beschäftigten dieser Arbeitslogik identifizieren sich eher mit dem sie beschäftigenden Unternehmen. Auf den höheren Hierarchiestufen werden Koordinations- und Leitungsfähigkeiten benötigt, auf den niedrigeren Stufen ausführende verwaltende Kompetenzen.
Neben den drei Arbeitslogiken der abhängig Beschäftigten benennt Oesch noch die Gruppe der Selbstständigen mit unabhängiger Arbeitslogik („independent work logic“). So entsteht ein 17-Klassen-Schema. Die selbstständige Arbeitslogik weist bei Oesch von oben her nur drei Hierarchiestufen auf. Die der Ungelernten bzw. Angelernten fehlt.
4.3 Berufsgruppen und Arbeitslogiken Tabelle 10 Arbeitslogiken/ Anstellungsverhältnisse Professionen
SemiProfessionen
Beruflich qualifizierte Fachkräfte
Gering Qualifizierte
187
17-Klassen-Schema nach Oesch mit beispielhaften Berufen Arbeitnehmende
Selbstständige
Interpersonelle Arbeitslogik
Technische Arbeitslogik
Administrative Arbeitslogik
Selbstständige Arbeitslogik
Sozio-kulturelle Experten/ innen/
Technische Experten/ innen/
Oberes Management
Freie Berufe
Große Unternehmer
Universitätsdozenten Spitalärzte
Ingenieure, Informatiker/ innen
Finanzverwalter Administratoren
Anwälte Zahnärzte
Kaufleute Hotelbesitzer
Soziokulturelle SemiProfessionen
Technische Fachleute
Unteres Management
Kleingewerbe mit Angestellten
Primarlehrer/ innen Sozialarbeiter/innen
Elektroniker Sicherheitsinspektoren
Junior Manager Steuerbeamte
Garagisten Restaurantbesitzer
Gelernte Dienstleistende
Facharbeiter/ innen und Fachhandwerker/innen
Gelernte Bürokräfte
Kleingewerbe ohne Angestellte
Kleinkinderbetreuer/innen Friseur/innen
Mechaniker Schreiner
Sekretärinnen Kassiere
Ladenbesitzer Kleinbauern
Ungelernte Dienstleistende
Ungelernte Produktion
Ungelernte Landwirtschaft
Ungelernte Bürokräfte
Verkäufer/ innen Kellner/innen
Monteure Maschinisten
Landarbeiter Gartenbau
Postsortierer/ innen Dateneingeber/ innen
(Nach Oesch, 2007: 63; eigene Darstellung)
188
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass weder das klassische vertikale Konzept noch das von Oesch entwickelte, kombinierte Schema aktuelle, den Status der Beschäftigungssicherheit betreffende Themen wie Leiharbeit oder befristete Beschäftigung (siehe z. B. Pialoux & Beaud, 1998) erfassen kann. Was in dem Schema Oeschs demnach nicht berücksichtigt wird, ist eine dritte Ebene der Art der Anstellung, die auch mit ungleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit und Qualifikation einhergehen kann (Leiharbeit, sowie geschlechtsspezifische Ungleichheiten). Hochqualifizierte Praktikanten/innen werden ebenso wenig erfasst wie Beschäftigte, die unter ihrer Qualifikation angestellt werden. Zu letzteren können ausgebildete Beschäftigte mit Mehraufwandsentschädigung („1-EuroJobber“) zählen oder jene Erzieherin aus dieser Studie, die sich freiwillig nur als Kinderpflegerin bezahlen lässt, um ihre Arbeitsstelle zu erhalten. Beschäftigte einer Branche können nach Oeschs Modell unterschiedlichen Arbeitslogiken unterworfen sein. Im IT-Bereich beispielsweise unterliegen auf der höheren Hierarchie-Stufe Software-Entwickler einer technischen Arbeitslogik. Viele Beschäftigte in Callcentern können den gering Qualifizierten mit interpersonaler Logik zugeordnet werden, die Sozialkompetenz und kommunikative Fähigkeiten benötigen. Im Gegensatz dazu unterliegen Ingenieure und angelernte Fließbandarbeiter einer Automobilfirma beide der technischen Arbeitslogik. Zur besseren praktischen Handhabung, z. B. in empirischen Untersuchungen, hat Oesch sein 17-Klassen-Schema auf ein 8-Klassen-Schema reduziert, bei dem Professionen und Semi-Professionen einerseits sowie beruflich qualifizierte Fachkräfte und gering qualifizierte Kräfte andererseits jeweils zusammengefasst werden: Tabelle 11
Reduziertes 8-Klassen-Schema nach Oesch
Arbeitnehmende
Selbstständige
Interpersonelle Arbeitslogik
Technische Arbeitslogik
Administrative Arbeitslogik
Selbstständige Arbeitslogik
(1) Soziokulturelle Experten/innen und Semi-Professionen
(3) Technische Experten/innen und Fachleute
(5) Oberes und unteres Management
(7) Große Unternehmer und freie Berufe
(2) Gelernte und ungelernte Dienstleistende
(4) Produktionsarbeiter (Facharbeiter und ungelernte Arbeiter)
(6) Gelernte und ungelernte Bürokräfte
(8) Kleingewerbe mit und ohne Angestellte
(Nach Oesch, 2007: 63; 65; eigene Darstellung)
4.3 Berufsgruppen und Arbeitslogiken
189
Berufsgruppen in der U35-Studie Angeregt durch Oeschs Modell wurden im Projekt die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes nach Arbeitslogiken aufgeteilt. Nun bilden die im sozialen bzw. pädagogischen Bereich Tätigen eine eigene Gruppe. Für die weitere Auswertung bestehen folgende fünf Beschäftigtengruppen. 1. 2. 3. 4. 5.
Banken/Versicherungen IT-Bereich Gesundheitsbereich Öffentlicher Dienst (Verwaltung und andere nicht-pädagogische Bereiche) Öffentlicher Dienst (Pädagogischer Bereich)
Es deutet einiges darauf hin, dass die Unterscheidung nach Arbeitslogiken im Dienstleistungsbereich aus Subjektsicht modifiziert werden müsste, wenn konkrete Unterschiede zwischen Berufsgruppen herausgearbeitet werden sollen. So unterscheiden sich Bankangestellte mit Kundenkontakt wesentlich von Krankenschwestern oder Sozialpädagoge/innen und Erzieher/innen, auch wenn alle genannten Berufsgruppen nach Oesch der interpersonellen Arbeitslogik zugeordnet werden, da sie persönlichen Kontakt mit Kunden, Patienten bzw. ihrer Klientel haben. Ein Unterschied liegt offensichtlich in der Art der persönlichen Beziehung. Die Menschen, mit denen die im Sozial- oder Gesundheitsbereich Beschäftigten zu tun haben, stehen oftmals in einem grundlegenderen Abhängigkeitsverhältnis, und die interpersonelle Arbeitslogik ist hier auch vielfach durch Aspekte der Fürsorge geprägt. Der interpersonellen Arbeitslogik wurden in dieser Untersuchung ausschließlich die Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitsbereich zugeordnet. Bankangestellte und Beschäftigte im Arbeitsvermittlungsbereich des Öffentlichen Dienstes wurden der organisatorischen Arbeitslogik zugeteilt. Gleichwohl besteht hier noch Klärungsbedarf. So deutet einiges darauf hin, dass in vielen Berufen Aspekte aller drei Arbeitslogiken in je unterschiedlicher Ausprägung von Bedeutung sind. Die subjektive Gewichtung der Arbeitslogiken wird sich vermutlich je nach Person, Unternehmen oder Anstellungsverhältnis anders ausprägen. So ist es denkbar, dass bei dem einen Arbeitsvermittler im Jobcenter persönlich die interpersonelle Arbeitslogik (mit Fürsorge-/Hilfsaspekten) im Vordergrund steht, bei dem anderen die organisatorische Arbeitslogik, bei der Menschen nur als abzuarbeitende Fälle gesehen werden. Hier könnte es auch zu Konflikten zwischen institutionellen sowie finanziellen Rahmenbedingungen und Vorgaben einerseits und persönlichen Vorstellungen von (guter) Arbeit und Arbeitsqualität andererseits kommen.
190
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
Verteilung der Berufsgruppen In der Gesamtuntersuchung ist die Branche Banken/Versicherungen mit 31,6 % die größte Gruppe, es folgt an zweiter Stelle der Gesundheitsbereich mit 23,4 %, die drittgrößte Gruppe bildet sich aus den Beschäftigten im pädagogischen Bereich (ÖD/Päd) mit 16 %. Es folgen an 4. Stelle der IT-Bereich mit 14,6 % und knapp dahinter die Beschäftigten im Verwaltungsbereich des Öffentlichen Dienstes mit 14,4 % (Abb.). Tabelle 12
Verteilung der Berufsgruppen
Branche
Total (v.H.) U35-Studie (2008/09)
Grundgesamtheit (Statisches Bundesamt, 2007) 13,77
Klassifikation der Wirtschaftszweige WZ 2003 65 Kreditgewerbe
1. Banken/ Versicherungen
31,6
2. IT-Bereich
14,6
5,94
72 Datenverarbeitung und Datenbanken
3. Öffentlicher Dienst (Verwaltung und andere nicht- pädagogische Bereiche)
14,3
17,55
751 Öffentliche Verwaltung
4. Gesundheitsbereich
23,4
30,01
851 Gesundheitswesen
5. Öffentlicher Dienst (Pädagogischer Bereich)
16,0
32,77
80 Erziehung und Unterricht 853 Sozialwesen
Gesamt
100
100
66 Versicherungsgewerbe
Wirtschaftsabteilung/ Wirtschaftsgruppe
Im Jahrbuch 2007 des Statistischen Bundesamtes werden sozialversicherungspflichtig Beschäftigte entweder nach Berufsgruppen und Berufsordnungen unterschieden oder nach Wirtschaftsabteilungen und Wirtschaftsgruppen. Die Vergleichbarkeit mit den Befragten der U35-Studie ist dabei nur bedingt gegeben.
4.3 Berufsgruppen und Arbeitslogiken
191
Die verwendeten statistischen Vergleichsdaten beziehen sich noch auf die Wirtschaftszweigklassifikation WZ 2003. Seit dem 1. Januar 2008 wird in der offiziellen Statistik die Revision der Wirtschaftszweigklassifikation WZ 2008 verwendet, um „Veränderungen von Technologien und Wirtschaftsstrukturen Rechnung zu tragen“ (Emmel, 2007: 138). So gibt es dort eine neue Kategorie „Information und Kommunikation“, die Berufsgruppen aus mehreren Ordnungsabschnitten der WZ 2003 einbezieht. In der vorliegenden Untersuchung wurden vergleichsweise mehr Beschäftigte aus dem IT-Bereich befragt, um der steigenden Bedeutung dieser Branche gerecht zu werden. Sie hat „in den öffentlichen und auch in den wissenschaftlichen Diskursen zur Zukunft der Arbeit mittlerweile den Platz eingenommen, den die Automobilindustrie in den 70er- und 80er-Jahren als Protagonistin des Aufstiegs und Niedergangs des fordistisch-tayloristischen Produktionsmodels innehatte“ (Boes & Thinks, 2006: 13). Ebenso wurden mehr Beschäftigte bei Banken und Sparkassen befragt, was der Bedeutung dieser Branche in der Finanzkrise entspricht. In der offiziellen Statistik des Gesundheitswesens sind im Unterschied zur Stichprobe auch angestellte Ärztinnen und Ärzte sowie Sprechstundenhelferinnen berücksichtigt, weshalb der Anteil dieses Berufsfeldes reduziert wurde. Gleiches gilt für den pädagogischen Bereich („Erziehung und Unterricht“), zu dem offiziell auch Lehrerinnen und Lehrer zählen. Vergleich der Berufsgruppen – Gerechtigkeitsvorstellungen Einen ersten Hinweis auf Unterschiede zwischen den verschiedenen Berufsgruppen liefert die im Fragebogen gestellte Frage nach den bevorzugten Gerechtigkeitsvorstellungen. Es wurden drei verschiedene Gerechtigkeitsprinzipien zur Auswahl gestellt: 1. 2. 3.
Leistungsprinzip: Nur wer viel leistet, sollte viel bekommen. Gerechtigkeitsprinzip: Jeder soll das bekommen, was ihm gerechterweise zusteht. Soziales Prinzip: Soziale Unterschiede sollten ausgeglichen werden.
Die Beschäftigten haben branchenspezifisch sehr unterschiedlich geantwortet (siehe Grafik). Dabei ist augenfällig, dass die Arbeitslogiken sich in den Gerechtigkeitsvorstellungen der Beschäftigten widerspiegeln. Das „Standard-Gerechtigkeitsprinzip“ ist in allen Branchen am häufigsten vertreten. In den Bereichen mit interpersoneller Arbeitslogik, d. h. im Gesundheitsbereich und im pädagogischen Bereich des Öffentlichen Dienstes, ist jedoch das soziale Prinzip überdurch-
192
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
schnittlich vertreten (je 45 %) und kommt in beiden Beschäftigtengruppen nahezu auf die Werte des Gerechtigkeitsprinzips. Das soziale Prinzip befürworten bei den Banken und Versicherungen dreimal weniger Befragte als in den Bereichen mit interpersoneller („Fürsorge“-)Arbeitslogik und halb so viele wie in der gesamten Stichprobe. Das reine Leistungsprinzip ist im Banken-/Versicherungsbereich mit 21 % auf dem zweiten Platz und überdurchschnittlich vertreten. Im pädagogischen Bereich ist dieses Prinzip nur mit 2,5 % weit unter dem Durchschnitt vertreten. 70 60 50 40 30 20 10 0 BV
IT
ÖD_V erw
Ges
ÖD_P äd
Leistungsprinzip Gerechtigkeitsprinzip
21
14,1
9,5
7,4
2,5
63,8
60,2
56,3
47
52,5
Soziales Prinzip
15,2
25,8
34,1
45
45
Abbildung 28 Branchen – Gerechtigkeitsvorstellungen
(fehlende Prozente: k. A. oder Rundungsfehler) Unterschiede und Gemeinsamkeiten der fünf Berufsgruppen Um weitere Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, wurden die verschiedenen Indizes in einer Varianzanalyse miteinander verglichen. Nur in dem Index „Identifikation mit der Arbeit“ unterscheidet sich eine Berufsgruppe von allen anderen Berufsgruppen (sehr) signifikant. Die Beschäftigten im pädagogischen Bereich des Öffentlichen Dienstes identifizieren sich mit Abstand am meisten mit der Arbeit. Zu ähnlichen Befunden kommt die GEW-KiTa-Studie: Das Anforderungsprofil des Erzieher/innen-Berufs verweist demnach auf die sehr hohe Identifikation mit der Arbeit und spiegelt sich dann auch in einer relativ hohen Zufriedenheit von Erzieher/innen mit ihrer Arbeit
4.3 Berufsgruppen und Arbeitslogiken
193
(vgl. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft – Hauptvorstand Organisationsbereich Jugendhilfe und Sozialarbeit, 2007: 3). 23 % der befragten Erzieher/ innen sind vollständig und 55 % alles in allem mit ihrer Arbeit zufrieden. Im Folgenden werden Merkmale einzelner Berufsfelder und signifikante Unterschiede in den Indizes zu anderen Berufsgruppen aufgeführt. Zur Interpretierung der folgenden Mittelwerte ist nochmals anzumerken, dass auf einer 6-stufigen Skala von 1 „volle Zustimmung“ bis 6 „volle Ablehnung“ der Umschlag von Zustimmung zu Ablehnung bei einem Wert von 3,5 liegt. Alle niedrigeren Werte drücken eher Zustimmung, alle höheren Werte eher Ablehnung des jeweiligen Items/Indexes aus. Die Pfeile in den folgenden Tabellen symbolisieren höhere (Ò), bzw. niedrigere (Ô) Zustimmungswerte zu den jeweiligen Indizes in Bezug auf eine oder mehrere andere Berufsgruppen. Die Varianzanalyse zum Vergleich der Berufsgruppen wurde ohne die bei einer aktiven Veranstaltung (Streik/Demonstration) Befragten durchgeführt, da sich die an aktiven Veranstaltungen Beteiligten signifikant von den Nicht-Beteiligten unterscheiden und sich der Anteil der Streikbefragungen je nach Berufsgruppen extrem unterschied. Banken/Versicherungen (BV) Trend bei dieser Berufsgruppe: hohe Zufriedenheit, höhere Karriere-Orientierung, hoher Arbeitsdruck, höherer Autoritätsglaube, viel Routine, weniger Solidarität. Trotz aller Unterschiede gibt es auch gemeinsame Trends. Bei allen Indizes sind die Werte der Beschäftigten bei Banken/Versicherungen im selben Bereich der Skala wie der Durchschnitt, d. h. jeweils im Bereich der Zustimmung oder der Ablehnung. Lediglich beim Index „Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung“ ist der Durchschnittswert aller Beschäftigter nahezu in der Mitte und der der Beschäftigten bei Banken/Versicherungen weiter im ablehnenden Bereich. Letztere haben auch mit Abstand die höchsten Autoritätswerte und unterscheiden sich hierbei signifikant von den Beschäftigten im IT-Bereich, im Gesundheitsbereich und im pädagogischen Bereich. Das könnte darauf hindeuten, dass die interpersonelle (Fürsorge-)Arbeitslogik dem Glauben an Autoritäten entgegenwirkt. Die Beschäftigten bei Banken/Versicherungen haben die höchste Karriere-Orientierung. Ein gutes Arbeitsklima ist ihnen weniger wichtig. Sie sind am zufriedensten mit ihrer finanziellen Lage sowie der Wohn-, Freizeitund Arbeitssituation. Dabei unterscheiden sie sich signifikant von den Beschäftigten im Gesundheitsbereich. Zu diesen und den im pädagogischen Bereich Beschäftigten (interpersonelle „Fürsorge“-Arbeitslogik) bestehen auch die meisten signifikanten Unterschiede.
194 Tabelle 13
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern Branchen/Versicherungen (BV)/Signifikanzen
Ò Höhere Zustimmung
Ô Geringere Zustimmung
Mittelwert (Vergleichswert: alle Berufsgruppen)
Mittelwert (Vergleichswert: alle Berufsgruppen)
Autorität
2,43 (2,68)
Gutes Arbeitsklima
1,84 (1,71)
Gerechte-Welt-Glaube
3,78 (3,90)
Entgrenzung der Arbeit
4,04 (3,93)
Zufriedenheit
2,78 (2,86)
Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung
3,84 (3,54)
Karriere-Orientierung
2,31 (2,55)
Solidarität, Unterstützung in Notsituationen
3,05 (2,84)
Alltägliche Routine/Rituale (auch weniger Zeitdruck)
3,07 (3,18)
Aktive Arbeitnehmer/ innen-Solidarität
2,98 (2,77)
Anerkennung in der Arbeit
2,72 (2,86)
Solidarismus
2,73 (2,43)
Arbeitsdruck
4,00 (4,19)
Solidaritätssyndrom
2,57 (2,16)
Analog zum höheren Autoritätsglauben haben die Beschäftigten bei Banken/Versicherungen auch einen signifikant höheren Gerechte-Welt-Glauben als die Beschäftigten im Gesundheitsbereich und die Beschäftigten im Verwaltungsbereich des Öffentlichen Dienstes. D. h., die Beschäftigten bei Banken und Versicherungen sind eher dazu geneigt zu glauben, dass es im Großen und Ganzen gerecht zugeht auf der Welt. Auffallend ist, dass die Bankangestellten die niedrigsten Werte von allen Berufsgruppen sowohl beim Index „Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung“ (Mittelwert 3,84 im eher ablehnenden Bereich) als auch beim Index „Aktive Arbeitnehmer/innen-Solidarität“ (M: 2,98 im eher zustimmenden Bereich) aufweisen. Darin unterscheiden sie sich jeweils signifikant von den Beschäftigten im Gesundheitsbereich und dem pädagogischer Bereich des Öffentlichen Dienstes. Das mag mit ihrer allgemeinen hohen Zufriedenheit zusammenhängen. Interessant ist, dass trotz einer allgemeinen Lebenszufriedenheit die Beschäftigten in Banken und Versicherung angeben, stärkeren Arbeitsdruck zu empfinden. Darin stimmen sie mit den Beschäftigten im Gesundheitsbereich überein und weichen von den Werten der Beschäftigten im IT-Bereich, ÖD/Ver-
4.3 Berufsgruppen und Arbeitslogiken
195
waltung und ÖD/Pädagogik ab. Der Index „Arbeitsdruck“ beinhaltet die Variablen:
„Meine Arbeit überlastet mich.“ „Der zunehmende Leistungsdruck hat sich negativ auf meine Arbeit ausgewirkt.“ „Der Konkurrenzdruck in meiner Firma belastet mich.“ „Fühlen Sie sich durch Ihre(n) Vorgesetzte(n) unter Druck gesetzt?“ „Fühlen Sie sich durch die Anforderungen insgesamt unter Druck?“
Der Widerspruch – hoher Arbeitsdruck einerseits, vergleichsweise hohe Zufriedenheit und geringe Gewerkschaftsorientierung andererseits – hängt sicherlich damit zusammen, dass die Beschäftigten bei Banken und Versicherungen tendenziell eher bereit sind, sich unterzuordnen (Index „Autorität“) und eher dazu neigen anzunehmen, dass es im Großen und Ganzen gerecht zugeht auf der Welt (Index „Gerechte-Welt-Glaube“). Darüber hinaus haben die Beschäftigten im Vergleich zu anderen Branchen relativ geregelte Arbeitsbedingungen: Ihre Arbeitszeiten sind signifikant weniger entgrenzt. Dies zeigt sich auch in signifikant höheren Werten beim Index „Alltägliche Routine und Rituale“, vor allem im Vergleich mit den Beschäftigten im Gesundheitsbereich. IT-Bereich Trend: Entgrenzung und Anerkennung in der Arbeit, weniger Arbeitsdruck. Auch die Beschäftigten im IT-Bereich unterscheiden sich in vielen Indizes signifikant von anderen Beschäftigtengruppen. Bei allen Indizes sind die Werte der IT-Beschäftigten generell im selben Bereich der Skala (jeweils eher zustimmend oder eher ablehnend), wie der Durchschnitt aller Beschäftigten. Sie haben die niedrigsten Zustimmungswerte bei Gemeinschafts- und Familienorientierung (nicht signifikant). Gemeinsam mit den Bankangestellten haben die IT’ler höhere Zustimmungswerte bei der Karriere-Orientierung (im Gegensatz zu den Beschäftigten mit interpersoneller Fürsorge-Arbeitslogik). Das Gleiche gilt für den Index „Gerechte-Welt-Glaube“, bei dessen Bewertung sie sich signifikant von den Beschäftigten der Öffentlichen Verwaltung und den Beschäftigten im Gesundheitsbereich abheben.
196 Tabelle 14
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern IT-Bereich/Signifikanzen
Ò Höhere Zustimmung
Ô Geringere Zustimmung
Mittelwert (Vergleichswert: alle Berufsgruppen)
Mittelwert (Vergleichswert: alle Berufsgruppen)
Gerechte-Welt-Glaube
3,69 (3,90)
Autorität
2,78 (2,68)
Karriere-Orientierung
2,40 (2,55)
Anerkennung der Arbeit in persönlichen Beziehungen
2,94 (2,51)
Entgrenzung der Arbeit
3,66 (3,93)
Arbeitsdruck
4,45 (4,19)
Anerkennung in der Arbeit
2,67 (2,86)
Solidarität, allgemeines soziales Verantwortungsgefühl
2,50 (2,47)
Solidarität, aktive Arbeitnehmer/innen-Solidarität
2,87 (2,77)
Solidarismus
2,49 (2,43)
Solidaritätssyndrom
2,40 ( 2,39)
Beim Index „Entgrenzung der Arbeit“ weisen die IT’ler den höchsten Zustimmungswert aller Berufsgruppen auf. Sie unterscheiden sich hier signifikant von den Beschäftigten bei Banken und Versicherungen sowie in der Öffentlichen Verwaltung. Gerade die beiden letzten Berufsgruppen arbeiten in Branchen, in denen die Arbeitsbedingungen der Vorstellung vom klassischen Normalarbeitsverhältnis am nächsten kommen. Den zweithöchsten Wert bei der Entgrenzung der Arbeit weisen die Beschäftigten im Gesundheitsbereich auf. Die Beschäftigten in der IT-Branche arbeiten zwar ähnlich entgrenzt wie ihre Kollegen/innen im Gesundheitswesen, aber sie erhalten offensichtlich mehr Anerkennung in der Arbeit von Kollegen/innen und Vorgesetzten. Das zeigen die höheren Zustimmungswerte beim Index „Anerkennung in der Arbeit“. Die Entgrenzung der Arbeit wirkt sich jedoch nicht zwangsläufig in Arbeitsdruck aus. Diesen empfinden die IT’ler signifikant weniger als die Beschäftigten bei Banken/Versicherungen und die im Gesundheitsbereich. Vor allem im Bereich der Software-Entwicklung scheinen viele IT’ler ihr Hobby „Computer“ zum Beruf gemacht zu haben. Dies zeigt sich auch in Aussagen von
4.3 Berufsgruppen und Arbeitslogiken
197
Befragten einer Focus Group, die mit jungen Beschäftigten der IT-Branche durchgeführt wurde. Ein Diskussionsteilnehmer vergleicht sein Einkommen mit dem seiner Mutter, die als Ergotherapeutin arbeitet und der es „gerade so reicht“. Er sagt, dass er wirklich eine „Belohnung“ bekommt für das, was er arbeitet. Ein weiterer Teilnehmer der Focus Group berichtet zudem von nicht-monetären Zusatzleistungen des Arbeitgebers, wie kostenlosem Essen oder einer Sauna im Betrieb. Er gesteht, dass er manchmal trotz Urlaub in die Firma gehen würde. Solche Rahmenbedingungen, wie gute Bezahlung und ein angenehmes Arbeitsklima, könnten Ursache dafür sein, dass die jungen Beschäftigten zwar mit stark entgrenzten Arbeitszeiten konfrontiert sind, aber dies nicht als erhöhten Arbeitsdruck empfinden. Des Weiteren zeigt sich, dass im Gegensatz zu den Bankangestellten die IT’ler eine niedrigere Zustimmung zum Autoritäts-Index haben. d. h., sie sind grundsätzlich weniger dazu geneigt, sich ein- oder unterzuordnen und sind weniger der Meinung, dass man sich nach anerkannten Regeln und Normen richten sollte. IT’ler sind signifikant karriereorientierter als die Beschäftigten mit interpersoneller Fürsorge-Arbeitslogik (Ges, ÖD/Päd). Bei den Solidaritätsindizes haben die IT’ler – bis auf den Index Solidarität, Unterstützung in Notsituationen – durchwegs niedrigere Werte als Beschäftigte mit interpersoneller FürsorgeArbeitslogik. Sie weisen auch ein signifikant geringeres allgemeines soziales Verantwortungsgefühl auf als die Beschäftigten im pädagogischen Bereich des Öffentlichen Dienstes. Darüber hinaus sind Beschäftigte der IT-Branche weniger der Meinung, dass der Staat für soziale Gerechtigkeit zu sorgen hat (Index „Solidarismus“). Vor allem in diesem Index unterscheiden sie sich signifikant zu den Beschäftigten im Gesundheitswesen. Öffentlicher Dienst / Verwaltung (ÖD/V) Trend: Entgrenzung, Routine und weniger Arbeitsdruck. Bei allen Indizes sind die Werte der Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung im gleichen Bereich der Skala wie der Durchschnitt aller Beschäftigten. Zunächst unterscheiden sich die Beschäftigten der öffentlichen Verwaltung in Indizes, die mit der objektiven Arbeitssituation zu tun haben: Beim Index „Entgrenzung der Arbeit“ haben sie die geringsten Zustimmungswerte und unterscheiden sich signifikant vom IT-Bereich und dem Gesundheitsbereich. Dies hängt vor allem mit den Arbeitszeiten der beiden zuletzt genannten Branchen zusammen (unregelmäßige Arbeitszeiten, Schichtarbeit im Gesundheitsbereich,
198
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
Projektarbeit im IT-Bereich). Im Unterschied zum Gesundheitsbereich haben die Beschäftigten der öffentlichen Verwaltung daher auch den höchsten Zustimmungswert beim Index „Alltägliche Routine/Rituale“. Ebenso geben sie im Vergleich zu allen Beschäftigten (außer denen in der IT-Branche) weniger häufig an, unter Zeitdruck zu stehen. Tabelle 15
Öffentlicher Dienst/Verwaltung (ÖD/V)/Signifikanzen
Ò Höhere Zustimmung
Ô Geringere Zustimmung
Mittelwert (Vergleichswert: alle Berufsgruppen)
Mittelwert (Vergleichswert: alle Berufsgruppen)
Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung
3,50 (3,54)
Gerechte-Welt-Glaube
4,01 (3,90)
Alltägliche Routine/ Rituale
3,00 (3,18)
Karriere-Orientierung
2,63 (2,55)
Aktive Arbeitnehmer/ innen-Solidarität
2,74 (2,77)
Entgrenzung der Arbeit
4,20 (3,93)
Anerkennung der Arbeit in persönlichen Beziehungen
2,77 (2,52)
Zeitdruck
3,32 (3,08)
Arbeitsdruck
4,53 (4,19)
Solidarität, Allgemeines soziales Verantwortungsgefühl
2,48 (2,47)
Solidaritätssyndrom
2,37 (2,39)
Die Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung unterscheiden sich in weiteren Indizes signifikant von den Beschäftigten, die in Branchen mit interpersoneller Fürsorge-Arbeitslogik arbeiten. Vor allem bei den Solidaritätsindizes „Allgemeines soziales Verantwortungsgefühl“ und „Solidarismus“, die auf kollektive bzw. staatlich organisierte Solidarität hinweisen, erreichen sie geringere Zustimmungswerte.
4.3 Berufsgruppen und Arbeitslogiken
199
Gesundheitswesen (Ges) Trend: hoher Druck, wenig Zufriedenheit, Entgrenzung der Arbeit, geringe Anerkennung in der Arbeit, hohe persönliche Anerkennung, hohe Solidarität und Gewerkschaftszustimmung. Bei allen Indizes bis auf den Index „Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung“ sind die Werte der Beschäftigten im Gesundheitswesen im gleichen Bereich der Skala wie der Durchschnitt aller Beschäftigten. Tabelle 16
Gesundheitswesen (Ges)/Signifikanzen
Ò Höhere Zustimmung
Ô Geringere Zustimmung
Mittelwert (Vergleichswert: alle Berufsgruppen)
Mittelwert (Vergleichswert: alle Berufsgruppen)
Entgrenzung der Arbeit
3,76 (3,93)
Ich-Orientierung
2,25 (2,14)
Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung
3,00 (3,54)
Autorität
2,94 (2,68)
Anerkennung der Arbeit in persönlichen Beziehungen
2,20 (2,51)
Gerechte-WeltGlaube
4,14 (3,90)
Zeitdruck
2,77 (3,08)
Zufriedenheit
3,04 (2,86)
Arbeitsdruck
3,87 (4,19)
Karriere-Orientierung
2,84 (2,55)
Solidarität, Unterstützung in Notsituationen
2,65 (2,84)
Alltägliche Routine/ Rituale
3,47 (3,18)
Solidarität, allgemeines soziales Verantwortungsgefühl
2,27 (2,47)
Anerkennung in der Arbeit
3,21 (2,86)
aktive Arbeitnehmer/innenSolidarität, IT
2,37 (2,77)
Solidarität im privaten Umfeld
1,27 (1,34)
Solidarismus
2,02 (2,39)
Solidaritätssyndrom
2,16 (2,39)
200
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
Die Beschäftigten im Gesundheitswesen (vor allem aus dem Pflegebereich) haben zusammen mit den Beschäftigten im IT-Bereich die höchsten Werte für Entgrenzung der Arbeit. Im Unterschied zu den IT-Beschäftigten weisen sie jedoch signifikant höhere Zustimmungswerte beim Index „Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung“ auf. Ein Grund dafür könnte sein, dass im Gesundheitsbereich die Arbeit noch eher in „Zwangskollektiven“ (Negt, 2005: 6) organisiert ist als im IT-Bereich. Auch sind viele hoch qualifizierte Beschäftigte im IT-Bereich mit ihrem Lohn sehr zufrieden (vgl. IT-Focus-Group). Die Beschäftigten im Gesundheitswesen geben häufiger an, unter psychischen Druck zu stehen (nicht signifikant). Darüber hinaus empfinden sie einen signifikant höheren Zeitdruck (gegenüber BV, ÖD/V, ÖD/Päd) und Arbeitsdruck (gegenüber IT, ÖD/V und ÖD/Päd). Interessant ist die bereits erwähnte Tatsache, dass die Befragten im Gesundheitswesen zusammen mit denen aus der Branche Banken/Versicherungen den höchsten Arbeitsdruck angeben. In anderen Indizes unterscheiden sie sich jedoch stark (siehe dort). So ist die Zufriedenheit (Wohn-, Arbeits-, Freizeitsituation) bei den Beschäftigten im Gesundheitsbereich signifikant schlechter als bei den Beschäftigten im Bankenbereich. Die Befragten im Gesundheitsbereich erfahren die geringste Anerkennung von Vorgesetzten und Kollegen/Kolleginnen, dafür aber signifikant höhere Anerkennung ihrer Arbeit in persönlichen Beziehungen (gegenüber BV, IT, ÖD/V). Gutes Arbeitsklima ist ihnen signifikant wichtiger als den Beschäftigten bei Banken und Versicherungen. Wenig Anerkennung, psychischer Druck, Zeit- und Arbeitsdruck sind vielleicht die Ursache für die stärkere Betonung einer gewerkschaftlichen Interessendurchsetzung (Index „Gewerkschaftliche Interessenvertretung“; ebenso gegenüber BV, IT und ÖD/V). Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch die Tatsache, dass im Zeitraum des Forschungsprojekts im Gesundheitswesen Arbeitskämpfe stattfanden, verknüpft mit vielen gewerkschaftlichen Aktionen, die sicherlich auf die Atmosphäre in diesem Arbeitsbereich ausgestrahlt haben. Insgesamt weisen die Beschäftigten im Gesundheitswesen die höchste Zustimmung von allen Befragten beim Solidaritätssyndrom auf, d. h., in Bezug auf solidarisches Handeln haben sie allen Fragen tendenziell eher zugestimmt als der Rest der Befragten. Auf die Berufsgruppe des Öffentlichen Dienstes im pädagogischen Bereich (ÖD/Päd) wird am Ende des Kapitels ausführlich eingegangen. Deshalb im Folgenden nur ein knapper Überblick.
4.3 Berufsgruppen und Arbeitslogiken
201
Öffentlicher Dienst/Pädagogischer Bereich (ÖD/Päd) Trend: höchste Arbeitsidentifikation, geringe Bezahlung. Bei allen Indizes bis auf den Index „Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung“ sind die Werte der in der im pädagogischen Bereich des Öffentlichen Dienstes Beschäftigten im gleichen Bereich der Skala, wie der Durchschnitt aller Beschäftigten. Zusammen mit den Beschäftigten im Gesundheitsbereich weisen sie die höchsten Zustimmungswerte beim Index „Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung“ auf. Tabelle 17
Öffentlicher Dienst/Pädagogischer Bereich (ÖD/Päd)/Signifikanzen
Ò Höhere Zustimmung
Ô Geringere Zustimmung
Mittelwert (Vergleichswert: alle Berufsgruppen)
Mittelwert (Vergleichswert: alle Berufsgruppen)
Identifizierung mit der Arbeit
2,04 (2,43)
Autorität
2,84 (2,68)
Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung
3,14 (3,54)
Karriere-Orientierung
2,91 (2,55)
Anerkennung in der Arbeit
2,67 (2,86)
Zeitdruck
3,24 (3,08)
Anerkennung der Arbeit in persönlichen Beziehungen
2,36 (2,51)
Arbeitsdruck
4,42 (4,19)
Solidarität, Unterstützung in Notsituationen
2,53 (2,84)
Solidarität, allgemeines soziales Verantwortungsgefühl
2,13 (2,47)
Aktive Arbeitnehmer/innenSolidarität
2,61 (2,77)
Die Berufsgruppe Öffentlicher Dienst/Pädagogischer Bereich setzt sich aus drei Berufsgruppen zusammen: 1. Sozialpädagoge/innen (N=48), 2. Lehrer/innen (N=15), 3. Erzieher/innen (N=102). Beim Index „Identifizierung mit der Arbeit“ unterscheiden sich diese Beschäftigten signifikant von allen anderen Berufsgruppen (siehe Diagramm).
202
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
2,46
1
Banken/Versicherungen
2,51
IT-Bereich
2,51
ÖD/V
2,48
Gesundheitsbereich ÖD/Päd
2,05
1
1,5
2
2,5
3
3,5
Abbildung 29 Index „Identifizierung mit der Arbeit“
Die drei Berufe des pädagogischen Bereichs weichen dabei in ihren Mittelwerten nur unwesentlich voneinander ab. Die hohe Identifizierung mit der Arbeit der in diesem Bereich Beschäftigten wird auch in anderen Studien festgestellt. Sie spiegelt sich z. B. bei Erzieher/innen laut DGB-Index „Gute Arbeit“ (vgl. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft – Hauptvorstand Organisationsbereich Jugendhilfe und Sozialarbeit, 2007: 3) in einer hohen Zufriedenheit, die auf „intrinsischer Motivation“ beruht, d. h. Motivation durch die Tätigkeit selbst (a. a. O.): „Als spezifisches Merkmal der Arbeitsbedingungen von Erzieherinnen und Erziehern ist ein hoher Zuspruch zum Sinngehalt der Arbeit festgestellt worden. Dabei handelt es sich um eine ganz besondere Form der Motivation, nämlich das Erleben, dass man mit der eigenen Arbeit etwas Nützliches und Sinnvolles für andere Menschen macht: Dienstleistungen zu erarbeiten, deren gesellschaftlicher Nutzen nicht infrage gestellt wird und die zum Funktionieren des gesellschaftlichen Lebens beitragen, vermittelt das Gefühl, einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung und Erhaltung der Gesellschaft zu leisten. Darin liegt ein wichtiger Schlüssel, die eigenen Interessen mit den gesellschaftlichen Interessen übereinander zu bringen. Darüber hinaus vermittelt dies ein Gefühl der eigenen Bedeutsamkeit, das zu den zentralsten Gesundheitsressourcen zählt.“ (GEW 2007/2008:15) Die Erzieherin Antonia drückt dieses Selbstbewusstsein aus. Auf die Nachfrage, ob ihre Hauptmotivation im Beruf ist, sich für Kinder zu engagieren, antwortet sie:
4.3 Berufsgruppen und Arbeitslogiken
203
„Ja, ja natürlich und einfach die Entwicklungen wahrzunehmen und das zu unterstützen … individuell … dass aus jedem ein eigenständiger Kerl oder eine süße Frau wird, die dann auch nein sagen kann. Die dann aber auch fähig ist, ihren Weg zu gehen. Es mag ja weit gegriffen sein, aber es ist wirklich so. Die Standhaftigkeit, das Selbstbewusstsein und dieses soziale Miteinander wird hier gelebt … Wir sind die ersten Menschen, die von einem Kind im nahen Umfeld wahrgenommen werden. Also wir haben dann wirklich eine sehr feste Bindung mit Zweijährigen.“ (I-1: 132-140)
In diesem Interviewbeispiel wird auch deutlich, mit welcher Verantwortung diese Erzieherin Kindern gegenübertritt. Letztlich sieht sie, dass in ihrem Arbeitsfeld die Grundlagen eines sozialen Miteinanders gelegt werden. Die sozialen Dienste standen zur Zeit des Forschungsprojekts im Zeichen von tariflichen Auseinandersetzungen. Vor allem viele Erzieher/innen gingen auf die Straße, um mehr Lohn und Anerkennung. Dies zeigt sich nicht nur in der Beobachtung, sondern auch in anderen Studien: Laut DGB-Index „Gute Arbeit“ fühlen sich 69 % der Erzieher/innen durch „vielfach fehlende Leistungs- und Bedürfnisgerechtigkeit des Einkommens und mangelnde Zukunftssicherheit“ belastet (GEW: 3). 71 % der Erzieher/innen geben nach dem DGB-Index „Gute Arbeit“ an, bereit zu sein, sich für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen einzusetzen (ebd.). Dies ist sicherlich ein Grund dafür, dass die Beschäftigten im pädagogischen Bereich des Öffentlichen Dienstes zusammen mit den Beschäftigten im Gesundheitsbereich (beide mit interpersoneller Fürsorge-Arbeitslogik) die höchsten Solidaritätswerte haben und signifikant höhere Zustimmungswerte bei der gewerkschaftlichen Interessendurchsetzung als die Beschäftigten bei Banken/ Versicherungen und im IT-Bereich. Sie sind diesen gegenüber auch signifikant weniger karriereorientiert. Neoliberale Logik, ökonomischer Druck, Solidarität und Interessenvertretung Über alle Branchen hinweg benennen die jungen Beschäftigten in den Einzelinterviews Aspekte in ihren Arbeitsbereichen, die sich zum einen auf zunehmenden ökonomischen Druck beziehen. Zum anderen verknüpfen viele der Befragten diesen stärkeren Druck mit bestimmten wirtschaftlichen Zusammenhängen, die ihnen in vielen Fällen unausweichlich erscheinen. Einige Beschäftigte (Gewerkschaftsmitglieder wie Nicht-Mitglieder) äußern in den Interviews, dass sie stark unter ökonomischem Druck stehen und zuerst schauen müssen, wie sie sich selbst über Wasser halten.
204
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
Im Hinblick auf solidarisches Handeln zeigt die qualitative Untersuchung, dass sich in nahezu allen untersuchten Branchen eine neoliberale bzw. betriebswirtschaftliche Logik ausgebreitet hat, die oftmals mit zunehmendem Druck einhergeht. Viele Beschäftigte haben Argumentationsmuster neoliberaler Politik verinnerlicht (vgl. Kröll, 2008) und beugen sich vermeintlichen oder tatsächlichen ökonomischen Sachzwängen. Es wird dann mit neoliberalen Allgemeinplätzen argumentiert, statt über diese nachzudenken, sie ggf. infrage zu stellen oder auch Zusammenhänge zu reflektieren (vgl. Bourdieu, 1998: 19) und sie in einen größeren politischen Zusammenhang zu sehen. Antonia arbeitet in einem kleinen Dorfkindergarten mit einer Kollegin unter – wie sie es nennt – „idyllischen Rahmenbedingungen“ (I-1: 13). Der Kindergarten war ursprünglich bis 2005 geplant: „Und wir sind immer noch da. Und wir freuen uns auch. Wir sind auch eigentlich ausgelastet von den Kinderzahlen her und ich glaube dass wir noch ein kleines bisschen erhalten bleiben. Wie lange, ist aber noch fraglich. Es ist wirklich schwierig.“ (I-1: 213-217)
Durch die persönliche finanzielle Situation sei es auch manchmal schwierig, „die Motivation zu erhalten“. Sie klagt, dass es „nicht wirklich ein honorierter Job“ ist und darüber hinaus manchmal auch richtig ein „Knochenjob“. Da im Konzept des Kindergartens vorgesehen ist, dass eine Erzieherin als Leiterin mit einer Erzieherin im Anerkennungsjahr zusammenarbeitet, lässt sich Antonia freiwillig nur als Kinderpflegerin bezahlen und sagt: „(...) insofern dürfte ich hier ja gar nicht arbeiten“. Aber die „Harmonie“ mit ihrer Kollegin am Arbeitsplatz ist für sie so wichtig, dass sie dafür „einiges in Kauf nimmt“: „Wir sind die drei Musketiere in zwei“. In den neun Jahren Beschäftigung in derselben Einrichtung war sie schon Leitungsbeauftragte und ist inzwischen freiwillig auf „Zweitkraftbasis“ angestellt. „Kleine Einrichtungen geben oft das Gefühl, dass sie teuer sind, finanziell einfach nicht so rentabel sind“. Antonia und ihre Kollegin haben aber „nachgewiesen“, dass sie auch nicht teurer als andere sind, wodurch die von Schließung bedrohte Einrichtung erhalten blieb. In den letzten Jahren wurden Stück für Stück die Arbeitsbedingungen verschlechtert. Antonias jetziger Arbeitsvertrag hat mit dem zu Beginn ihrer Anstellung nichts mehr zu tun. Die Vorbereitungszeit wurde immer wieder gekürzt, freie Tage bei Umzug oder ähnlichem wurden gestrichen. Antonia ist trotz Unzufriedenheit über mangelnde finanzielle Anerkennung weiter bereit, noch mehr Zugeständnisse zu machen. Ein Jahr vor Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise (in der Vorstudie 2007) vertritt sie die neoliberale Argumentation („Einsicht“), es sei einfach zu wenig Geld da und „wir alle“ müssten den Gürtel enger schnallen:
4.3 Berufsgruppen und Arbeitslogiken
205
„Also ich habe jetzt grad, wo dieser Streik war, da haben wir von vorneherein (gesagt), da machen wir nicht mit – wir waren nicht dabei, von Anfang an nicht. Und ich möchte auch nur ganz kurz so viel dazu sagen … also Fakt ist, dass da wenig Geld da ist. Fakt ist, dass dann Sparmaßnahmen herkommen müssen. Die Opfer (…) oder dieser Beitrag, was wir dafür leisten konnten, dass man eventuell fünf oder sechs oder sieben oder höchstens zehn Minuten am Tag mehr arbeitet, so was kann man in Kauf nehmen. Das ist ja dieser Zusammenhalt. Dann kann man auch für was anderes kämpfen, wenn man wieder die Grundsteine legt. Also wir waren beim Streiken nicht dabei, weil wir einfach der Meinung waren, wir sind dafür in einem Beruf, wo du die Sicherheit hast, Wo dir, wenn du krank bist, nicht einfach nach zwei Wochen gekündigt wird. Wo du dann ein Kind entbinden kannst und trotzdem drei Jahre später deinen Job wieder hast ... Und wir haben dann einfach abgewogen, welche Bereiche wichtig sind. Von daher haben wir beide dann die Meinung gehabt, diese Opfer, die dann einfach von einem erwartet werden in dem Fall – irgendwas muss passieren – und das unterstützen wir.“ (I-1: 184-200)
Hier werden persönliche Opfer gebracht, es wird Hoffnung in eine bessere Zukunft gesetzt, obwohl diese für den kleinen Dorfkindergarten vollkommen ungewiss ist und insofern auch das Argument mit der Arbeitsplatzsicherheit nicht den Tatsachen entspricht. In vielen weiteren Interviews kommt eine solche Orientierung zum Ausdruck: Eine Hartz-IV-Empfängerin, die früher in einer großen Bank arbeitete, bezeichnet manche Gewerkschaftsforderungen als „frech“. Sie würde auch für weniger Geld arbeiten, Hauptsache, sie habe wieder Arbeit (vgl. I-13). Ein Betriebsrat aus einer Berliner Klinik berichtet vom Widerspruch zwischen der Plausibilität der wirklichen Bedrohung eines Unternehmens durch die verschärfte Marktsituation und seiner „old-schooligen Aufgabe“, die Mitarbeiter/innen zu vertreten. Er pendelt nach eigener Aussage immer zwischen der Identifikation mit dem Unternehmen und einem halsstarrigen „Nein-Sagen“ zu Kündigungen. Der „Jargon der Ökonomisierung“ sei innerbetrieblich unglaublich wirkungsmächtig. Der Druck sei sehr groß. Immer mehr Mitarbeiter/innen seien deshalb auch bereit, Entlassungen von Kollegen/innen zuzustimmen, die lange krank waren (vgl. I-22). Solidarität und Entsolidarisierung am Arbeitsplatz Durch die Entwicklungen der letzten Jahre hin zu mehr Wettbewerb und Markt, ist die Berufswelt „betriebswirtschaftlicher“ geworden. Dies hat Auswirkungen auf verschiedene Aspekte solidarischen Handelns. Oli, ein selbstständiger Versicherungskaufmann mit mehreren Angestellten, meint, dass sich immer mehr eine „Friss-oder-Stirb“-Mentalität breit macht. Ein „Emotions-Transfer“ vom
206
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
Privatleben in die Berufswelt wird weniger geduldet als früher (wohingegen der Emotions-Transfer von der Berufswelt ins Privatleben verbreitet stattfindet und viele Beschäftigte belastet): „Also, es werden auch keine Leute mehr mitgezogen. Früher, wenn jemand ein Alkoholproblem zum Beispiel hatte, {das} weiß ich von früheren Kollegen, da hat man gesagt: ‚Mensch, wir unterstützen dich, dass du das bewältigst.‘ Aber heute ist der weg. Also als Selbstständiger hab ich ja einen freien Vertrag mit der Versicherung, mit der ich ausschließlich arbeite, und den kann man dann gegenseitig aufkündigen. Und wenn jemand natürlich ein Problem hat, im privaten Bereich, sei es Scheidung oder so, und dann ein halbes Jahr nicht arbeitet, kann die Versicherung sagen, okay, wir trennen uns von dir. Und früher hat man das getragen. Da war die nächsthöhere Instanz, da war der Vertriebsleiter, {der} hat gesagt: ‚Mensch, der hat grad’ familiäre Probleme, ähm, da müssen wir hinterher sein.‘ Aber das zählt nicht mehr.“ (I-4: 541-553)
Oli beobachtet, dass auf Mitarbeiter/innen mit persönlichen Problemen früher sehr viel stärker eingegangen wurde. Durch die verbreitete Selbstständigkeit von Versicherungsvertreter/innen ist auch der Zusammenhalt verloren gegangen: Die Beziehung zwischen der Versicherung und dem/der Beschäftigten besteht nur noch durch freie Verträge und der beruflichen Leistung, die jemand erbringt. Alles andere spielt keine Rolle und darf die Arbeit auch nicht beeinträchtigen. Auch im Gesundheitsbereich zeigen sich durch eine zunehmend betriebswirtschaftliche Denkweise und Wettbewerbsdruck am Markt Entsolidarisierungstendenzen und Widersprüche, die auch vor Personalvertretern nicht halt machen. Andreas, Personalrat einer kleineren, kirchlich betriebenen Klinik, meint: „Und man sieht, wie die Krankenhäuser weniger werden und hat auch innerhalb des Betriebs eine sehr starke (…) Konkurrenzsituation, die auch so was wie unkonventionelle Beschlüsse oder Einigungen mit der Verwaltungsleitung oder ähnliches … möglicherweise notwendig macht in Krisensituationen. Und gleichzeitig aber vertritt man ja die Mitarbeiter.“ (I-22: 952-963)
Der „Jargon der Ökonomisierung“ gehe inzwischen auf die Mitarbeiter über: „Also innerbetrieblich ist diese ökonomische Argumentation unglaublich wirkungsmächtig. Auch der Druck geht deutlich auf die Mitarbeiter insofern über, dass die Leute eher bereit sind zu sagen, bei Kündigungen beispielsweise, wenn jemand lange krank ist oder so, wir sind hier keine karitative Einrichtung, obwohl wir es ja sind (schmunzelt). D. h., wir können die Leute nicht ewig durchziehen, sondern wenn sie hier nicht effektiv, effizient arbeiten können, dann kann man sich auch vorstellen, sich von den Leuten zu trennen. So was, glaub’ ich, trifft man heute eher an als noch zu Zeiten starker gewerkschaftlicher Momente in Einrichtungen.“ (I-22: 1418-1440)
4.4 Berufsgruppe soziale Dienste und Erzieher/innen
207
Andreas sieht nicht nur den zunehmenden äußeren ökonomischen Druck auf die Krankenhausleitung, sondern auch die veränderte Orientierung der Beschäftigten. Der „Jargon der Ökonomisierung“ geht nicht spurlos an dem Kollegium vorüber. Anstatt sich untereinander zu solidarisieren, ist die Bereitschaft, Kündigungen zuzustimmen, gestiegen, vor allem wenn es um Mitarbeiter/innen geht, die in den Augen der Kollegen/innen aufgrund ihrer mangelnden Arbeitsleistung nicht mehr tragbar sind. Soziale Räume als Grundlage für Interessenvertretung Die Ökonomisierung bzw. „radikale Vermarktlichung“ erschweren soziale Verständigungsprozesse. Solche sind aber eine grundlegende Voraussetzung für die Entstehung von solidarischem Handeln. Es ist anzunehmen, dass es für die Beschäftigten, welche diesen „Jargon der Ökonomisierung“ verinnerlicht haben, in ihrer Lebensführung zu Widersprüchen kommt. Dabei kann das Interesse der Beschäftigten an Existenzsicherung und der Entfaltung ihrer Individualität in einen Gegensatz zum Interesse am betriebswirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens bzw. des Trägers sozialer/gesundheitlicher Dienstleistungen geraten. „Das Kapitalverhältnis verwandelt sich in ein unmittelbares, persönliches, alltäglich erfahrenes Problem“ (Kratzer et al., 2008: 24). Die Bestimmung ihrer Arbeitnehmer/innen-Interessen müssen die Beschäftigten in Auseinandersetzung mit sich selbst und ihren widersprüchlichen Arbeitsbedingungen erarbeiten. Es geht für sie letztlich darum, Räume (zurück-) zu erobern, wo sie sich mit anderen über ihre Arbeit und ihre Arbeitsbedingungen verständigen können, darüber, was mit ihnen unter diesen Bedingungen geschieht und wo dabei ihre Interessen liegen. Dies kann nicht stellvertretend geschehen. Benötigt werden jedoch politische Anstöße, nicht zuletzt von Betriebsräten und Gewerkschaften, so Kratzer u. a. (a. a. O.). Da die Räume, in denen Verständigung stattfinden kann, durch Prozesse der Vermarktlichung sowie die Auswirkungen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise massiv eingeschränkt werden, scheint der Kampf um diese Räume zu einer zentralen politischen Aufgabe zu werden, um die Interessen der Beschäftigten zu vertreten. 4.4 Berufsgruppe soziale Dienste und Erzieher/innen Die Berufsgruppe soziale Dienste und Erzieher/innen setzt sich insgesamt aus Erzieher/innen und Sozialpädagoge/innen zusammen. Die Erzieher/innen und Sozialpädagogen/innen unterscheiden sich voneinander zum einen in der Art der
208
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
Ausbildung und zum anderen in ihren Tätigkeiten. Es existieren allerdings Beschäftigungsverhältnisse, in denen Sozialpädagoge/innen als Erzieher/innen angestellt sind und andersherum: Erzieher/innen, die in Arbeitsfeldern arbeiten, die konzeptionell für Sozialpädagoge/innen ausgerichtet sind. Die Tätigkeit und die Ausbildung der Erzieher/innen und Sozialpädagogen/innen im Überblick Die Arbeitsagentur definiert den Beruf des/der Erziehers/in wie folgt: „Erzieher/ innen betreuen und fördern Kinder und Jugendliche. Sie sind vor allem in der vorschulischen Erziehung, in der Kinder- und Jugendarbeit sowie in der Heimerziehung tätig. […] Erzieher/in ist eine landesrechtlich geregelte schulische Aus- bzw. Weiterbildung an Fachschulen, Berufsfachschulen, Berufskollegs und anderen Bildungseinrichtungen. Die Aus- bzw. Weiterbildung dauert 2 bis 4 Jahre. Dabei können auch Zusatzqualifikationen erworben werden. Auch immer mehr Hochschulen bieten bereits Bachelor- und Master-Studiengänge für Erzieher/ innen an“ (Arbeitsagentur, 2010a-a, 2010a-b). Der Beruf als Sozialpädagoge/Sozialpädagogin wird wie folgt umschrieben: „Aufgabe von Sozialarbeit und Sozialpädagogik ist, Menschen zur Reflexion ihrer prekären psychosozialen Lage anzuregen und bei der selbstbestimmten Verbesserung dieser Verhältnisse zu helfen. Hierzu vermitteln Sozialarbeit und Sozialpädagogik persönliche und materielle Hilfen zur Verhinderung oder Überwindung von Notlagen und zur Bewältigung von Problemen. Durch Erschließen von Bildungsmöglichkeiten und Bereitstellung ergänzender Erziehungsangebote wird zur Lösung allgemeiner Probleme beigetragen und Notständen vorgebeugt. Zunehmend gewinnt Soziales Management, das sich mit Fragen der Organisation, Finanzierung, des Projekt- und Personalmanagements befasst, an Bedeutung. […] Sozialarbeiter/innen und Sozialpädagogen bzw. -pädagoginnen arbeiten vor allem in der Jugend-, Familien-, Gesundheits- und Sozialhilfe, in der Gefährdetenhilfe, Altenhilfe, Strafrechtspflege, in pädagogischen Einrichtungen, in Heimen und in Wohn- und Selbsthilfegruppen, in Beratungsstellen, in Kliniken und Rehabilitationszentren, bei sozialpsychiatrischen Diensten, in Jugendund Erwachsenenbildungsstätten. […] Die Ausbildung erfolgt überwiegend an Fachhochschulen“ (Arbeitsagentur, 2010b).
4.4 Berufsgruppe soziale Dienste und Erzieher/innen
209
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Erzieher/innen und Sozialpädagogen/innen Im Folgenden werden die statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den unter 35-jährigen Erzieher/innen und Sozialpädagogen/innen dargestellt. Tabelle 18
Unterschiede zwischen Erzieher/innen und Sozialpädagoge/innen Pädagogischer Beruf
N
Mittelwert
Sozialpädagoge/in
46
3,13
Erzieher/in
100
2,95
Selbstverwirklichung im Beruf
Sozialpädagoge/in
47
2,35
Erzieher/in
101
2,27
Solidarität „Unterstützung in Notsituationen“
Sozialpädagoge/in
43
2,48
Erzieher/in
101
2,59
Solidarismus
Sozialpädagoge/in
49
2,14
Erzieher/in
104
1,71
Sozialpädagoge/in
48
4,71
Erzieher/in
101
4,35
Autorität
Zukunftsangst
Signifikanz
s.
s.
s.
s.
s.s.
Ein signifikanter Unterschied zwischen den zwei befragten Personengruppen im Alter von 25 bis 35 Jahren besteht bei dem Index „Autorität“. Die Ergebnisse zeigen, dass die Erzieher/innen eher der Meinung sind, dass ein gewisses Maß an Einordnung und Unterordnung wichtig ist, ebenso Gehorsam und Achtung gegenüber Autoritäten, Regeln und Normen. Die Mittelwerte liegen aber trotz signifikanter Unterschiede im mittleren Bereich bei einer Skala von 1 (eine gewisse Autorität ist selbstverständlich) bis 6 (eine gewisse Autorität ist nicht selbstverständlich) nah beieinander. Beim Index „Selbstverwirklichung im Beruf“ gibt es ebenfalls einen signifikanten Unterschied. Die Selbstverwirklichung ist den Erzieher/innen wichtiger als den Sozialpädagogen/innen, aber auch hier sind die Mittelwerte im positiven Bereich eng beieinander. Solidarität als „Unterstützung in Notsituationen“ ist den Sozialpädagogen/ innen signifikant wichtiger als den Erzieher/innen. Die Mittelwerte betrachtet, liegen sie aber dennoch beide im positiven Bereich.
210
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
Ein weiterer signifikanter Unterschied zwischen den befragten Gruppen besteht bei dem Index „Solidarismus“. Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass die Erzieher/innen stärker der Meinung sind, dass der Staat für soziale Gerechtigkeit sorgen muss und es beschämende Armut in Deutschland gibt. Aber auch hier liegen die Ergebnisse nicht weit voneinander entfernt im positiven Bereich. Ein sehr signifikanter Unterschied zwischen den Erzieher/innen und den Sozialpädagogen/innen besteht bei dem Index „Zukunftsangst“. Erstaunlich an dem Ergebnis ist, dass die Sozialpädagogen/innen weniger ängstlich im Bezug auf ihre Zukunft sind als die Erzieher/innen. Aus dem DGB-Index „Gute Arbeit“ geht ebenfalls hervor, dass die Erzieher/innen unter anderem die mangelnde berufliche Zukunftssicherheit belastend finden (Fuchs & Trischler, 2007/2008: 3). Außerdem ist besonders interessant, dass im Gesamten eine sehr geringe Zukunftsangst besteht, was bei der momentanen Wirtschaftkrise erstaunlich ist. Auf diese Thematik wurde im Kapitel 2.6 genauer eingegangen. Erklärungsansätze für die unterschiedlichen Ergebnisse der Erzieher/innen und Sozialpädagogen/innen könnten folgende sein: Die Ausbildung der Sozialpädagogen/innen reduziert wahrscheinlich auch deshalb die Zukunftsangst, da sie eine breitere Ausbildung haben und somit für mehr Tätigkeitsbereiche infrage kommen. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass viele Erzieher/innen bei einem Streik befragt wurden und in der Aktion eine kritischere Haltung begünstigt wird. Die Sozialpädagogen/innen bewerten vermutlich aufgrund ihres beruflichen Umgangs mit Notsituationen solidarisches Handeln höher, sind sie doch täglich mit verschiedenen Problemsituationen konfrontiert und arbeiten aktiv gegen diese Ungleichheiten. Ihr berufliches Selbstverständnis beeinflusst wohl auch ihre eher kritische Haltung gegenüber Autoritäten (Index „Autorität“), da es bei ihnen nicht ausschließlich um die Arbeit mit Kindern geht, sondern auch mit Erwachsenen. Das Thema „Jemanden auf gleicher Augenhöhe betrachten“ ist für die Beziehungsgestaltung im sozialen Bereich ausschlaggebend. Der Vergleich verweist darauf, dass die Erzieher/innen andere Orientierungen haben als die Sozialpädagogen/innen. Da aber im Großen und Ganzen, trotz der dargestellten Unterschiede, die Tendenzen der Erzieher/innen und der Sozialpädagogen/innen in die gleiche Richtung weisen, werden im Folgenden die Erzieher/innen und die Sozialpädagogen/innen zusammen als ein Berufsfeld betrachtet.
4.4 Berufsgruppe soziale Dienste und Erzieher/innen
211
Die Besonderheiten der Befragten in den sozialen Berufsfeldern im Vergleich mit den anderen Berufsbranchen Die Identifikation mit dem Beruf Ein höchst signifikantes Ergebnis ist, dass sich die befragten Personen in den sozialen Berufsfeldern im Vergleich zu allen anderen untersuchten Branchen am meisten mit ihrem Beruf identifizieren. Auf einem Skalenniveau von 1 (sehr hohe Identifikation) bis 6 (sehr niedrige Identifikation), liegen sie sehr deutlich vor den anderen Berufsfeldern.
2,6 2,5 2,4 2,3 Identifikation mit dem Beruf
2,2 2,1 2 1,9 SW
GW
BV
ÖD
IT
Abbildung 30 Identifikation mit dem Beruf (Branchen) (SW=Sozialwesen, GW=Gesundheitswesen, BV=Banken und Versicherungen; ÖD=Verwaltung des öffentlichen Dienstes, IT=Informatikbranche)
Um herauszuarbeiten, warum sich dieser Personenkreis besonders mit seinem Beruf identifiziert, wurden zum einen statistische Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Orientierungen ermittelt. Die signifikanten Zusammenhänge zwischen der Identifikation mit dem Beruf und anderen Indizes finden sich in der folgenden Grafik. Zum andern wurde eine Varianzanalyse durchgeführt, in der die in den sozialen Feldern Beschäftigten mit denen in den anderen Berufsbranchen verglichen werden.
212
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern + Identifikation mit dem Beruf – Anerkennung in der Arbeit
Zukunftsangst
Zufriedenheit
Arbeitsdruck
Ich-Orientierung Abbildung 31 Identifikation mit dem Beruf (Korrelationen)
Die im Schaubild dargestellten Zusammenhänge zwischen Identifikation mit dem Beruf und den anderen Aspekte der Lebensführung werden im Folgenden aufsteigend nach der Stärke der Korrelation genauer betrachtet. Die dargestellten Zusammenhänge liegen etwas höher als in den anderen befragten Branchen (Banken und Versicherungen, IT-Branche, Verwaltung des Öffentlichen Dienstes, das Gesundheitswesen). Ein wesentliches Ergebnis ist der negative Zusammenhang zwischen der Identifikation mit dem Beruf und dem Arbeitsdruck. Wird der Index „Arbeitsdruck“ genauer betrachtet, unterscheiden sich die befragten Branchen zwar signifikant voneinander, es gaben aber alle an, dass sie eher nicht unter einem hohen Arbeitsdruck leiden. Die Personen aus den sozialen Berufsfeldern befinden sich im mittleren Bereich, verglichen mit den anderen Branchen. Auf den Arbeitsdruck der Personen aus den sozialen Berufsfeldern wird im Folgenden noch genauer eingegangen. Ein weiterer positiver signifikanter Zusammenhang fand sich zwischen der Identifikation mit dem Beruf und der Ich-Orientierung. Den Aussagen „Wie mein Leben verläuft, hängt hauptsächlich von mir selbst ab“ und „Jeder ist für seine eigene berufliche Entwicklung verantwortlich“ stimmten die befragten Personen aus den sozialen Berufsfeldern am wenigsten von allen Branchen zu. Die Identifikation mit dem Beruf steht in einem deutlichen Zusammenhang mit der allgemeinen Zufriedenheit. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass die Befragten aus den sozialen Berufsfeldern von allen Branchen am unzufriedensten mit ihrer Gesamtsituation sind. Gleichwohl befinden sich aber alle befragten Branchen, bei einer Skala von 1 (sehr zufrieden) bis 6 (sehr unzufrieden), im mittleren Bereich. Ulrike Eichinger stellt fest, dass das Ausmaß der Zufriedenheit nicht nur mit der Arbeitssituation, sondern auch mit den eigenen Ansprüchen und Erwartungen zu tun hat. Die Interviewten im Feld der Sozialen Arbeit äußerten sich über ihre Arbeitssituation
4.4 Berufsgruppe soziale Dienste und Erzieher/innen
213
zufrieden, trotz der oft erheblichen Arbeitsbelastungen. Einige begründeten dies mit ihrem Aufgabenspektrum und dem großen Handlungsspielraum, andere mit fehlenden Alternativen (vgl. Eichinger, 2009: 202). Ein ähnliches Ergebnis zeigt der DGB-Index: Trotz der hohen Zufriedenheit der Erzieher/innen (wie im zweiten Teil des Kapitels noch genauer erläutert wird), bewerten nur 8 % der Erzieher/innen ihre Arbeits- und Einkommensbedingungen als umfassend gut, 63 % als mittelmäßig und 29 % berichten von Arbeits- und Einkommensbedingungen, die auf Grund fehlender Ressourcen und vielfältiger Belastungen als ‚schlecht‘ bezeichnet werden (vgl. Fuchs & Trischler, 2007/2008: 3). Die Identifikation mit dem Beruf korreliert am stärksten positiv mit der Anerkennung in der Arbeit. Dieser Zusammenhang ist höchst signifikant und weist darauf hin, wie wichtig diese Art der Anerkennung für die berufliche Identifikation ist. Die Personen aus den sozialen Berufsfeldern befinden sich im mittleren Bereich, wenn es um die Anerkennung von Vorgesetzten und Kollegen geht. Sie bekommen jedoch in privaten Beziehungen am meisten Anerkennung für ihre Arbeit, direkt nach den jungen Beschäftigten aus dem Gesundheitswesen. Vermutlich lässt sich die mittelmäßige Anerkennung seitens der Vorgesetzten und Kollegen auch mit der schwierigen Erfolgskontrolle erklären, die die sozialen Berufe mit sich bringen ( vgl. Enzmann & Kleiber, 1989: 159). Dagegen bekommen die Bekannten und Verwandten in ihrem privaten Umfeld vermutlich eher die tatsächlichen beruflichen Schwierigkeiten, Paradoxien und damit auch verbundenen erhöhten Anforderungen mit, die dieses Berufsfeld mit sich bringt. Werden die Ergebnisse genauer betrachtet, so findet sich auch eine Erklärung dafür, warum sich die jungen Menschen in den sozialen Berufsfeldern mit ihrem Beruf besonders stark identifizieren. Offenbar hängt das von der Zufriedenheit und der Anerkennung ab, die sie erfahren haben. Sie identifizieren sich mit ihrem Beruf, wenn sie das Gefühl haben, dass sie etwas bewegen können (Ich-Orientierung). Zukunftsangst und Arbeitsdruck reduzieren dagegen die Identifikation mit dem Beruf. Werden die Ergebnisse des Branchenvergleichs hinzugenommen, so kommt man zu dem auf den ersten Blick paradoxen Ergebnis, dass die jungen Beschäftigten in den sozialen Berufen eine signifikant geringere Zufriedenheit geäußert haben als die Beschäftigten in den anderen Branchen. Darüber hinaus nehmen sie ihre Arbeit stärker entgrenzend wahr, sprich, dass unter anderem ihr Beruf sie auch in ihrer Freizeit beschäftigt (Index „Entgrenzung der Arbeit“). Die Ich-Orientierung ist außerdem eher geringer als in den anderen Branchen. Trotzdem identifizieren sie sich mit ihrem Beruf signifikant stärker als die Befragten in den anderen Berufssparten. Die Erklärung für dieses paradoxe Ergebnis liegt wohl darin, dass die jungen Beschäftigten in sozialen Feldern ihre Arbeit selbst als sinnvoll und wichtig erleben und dass sie
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für ihre Tätigkeit auch Anerkennung im Beruf und im privaten Bereich erhalten. Diese Anerkennung wird von ihnen tendenziell stärker erfahren als von den gleichaltrigen Beschäftigten in den anderen Berufsbranchen. In den Interviews bestätigen und konkretisieren sich die obigen Ergebnisse und Interpretationen: Jochen ist Erzieher in einer Kindertagesstätte in Stuttgart. Der Beruf ist für ihn eine Tätigkeit, die ihm sehr Spaß macht: „An für sich bin ich mit dem Berufsfeld zufrieden. Eigentlich macht {es} mir Spaß mit der Altersgruppe.“ (I-6: 136-137) „Das ergibt sich von alleine, weil mich der Beruf einfach reizt. (…) Ich habe eben jedes Jahr zwar den Alltag, {den} Hortablauf, aber ich habe jedes Jahr ganz neue Kinder und von dem her ist jedes Jahr auf jeden Fall auch noch mal anders. Also das ist im Grunde auch das Tolle an diesem Beruf, dass man da eben freie Hand hat und relativ viele Sachen einbringen kann.“ (I-6: 550-566)
Jochen ist voll und ganz mit seinem Berufsfeld zufrieden, sein Beruf macht ihm Spaß, und die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten in seinem Beruf findet er super. Manu, Erzieherin im Raum Baden-Württemberg, antwortet auf die Frage, was sie bewegt, Folgendes: „Ein Kinderlachen. Oder einfach eine Situation, in der ich andere Menschen glücklich sehe, oder wo ich dazu beitragen kann, dass es ihnen gut geht.“ (I-18: 859-866)
Manu bewegt ein Kinderlachen oder Menschen zu unterstützen, dass es ihnen gut geht. Diese Aussage spricht ebenfalls dafür, warum Manu sich mit ihrem Beruf stark identifizieren kann. Die zwei Ausschnitte betrachtet, scheinen beide befragten Personen den Beruf gefunden zu haben, der sie glücklich macht. Auch in anderen Interviews berichten Erzieher/innen immer wieder davon, dass ihnen der Beruf Spaß macht. Eine Erzieherin beschreibt ihren Beruf sogar mit den Worten: „Das ist ja total mein Ding.“ Wie bereits erwähnt, wird im DGB- Index „Gute Arbeit“ ebenfalls die hohe Identifikation der Erzieher/innen mit ihrer Tätigkeit bestätigt. 23 % der befragten Erzieher/innen seien mit ihrer Arbeit vollständig zufrieden, 55 % sind alles in allem zufrieden, sehen aber noch Verbesserungspotenziale. Erklärt wird dies anhand der intrinsischen Motivation, d. h. die Motivation durch die Tätigkeit selbst (vgl. Fuchs & Trischler, 2007/2008: 3). Simone, eine Sozialpädagogin, die in einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme mit Jugendlichen tätig ist, äußert zu ihrer Berufswahl Folgendes:
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„Also, ich hab früher, wenn es darum ging, was ich studiere, da hab ich mir kurz Gedanken gemacht, weil ich auch auf dem Wirtschaftsgymnasium war und Spanisch noch als Fremdsprache genommen habe und in den Fächern sehr gut war, einfach in den wirtschaftlichen Bereich zu gehen und dann einfach auch die Sprachkenntnisse {anzuwenden}. Aber dann hab ich mir gedacht, dass ich ja zu dem Zeitpunkt wirtschaftlich mit manchen Sachen so unzufrieden war und ich habe dann gedacht, Karriere werde ich auch nicht machen. Weil ich gegen profitorientierte Haltung bin, und irgendwie hab ich dann gedacht, nein, {ich möchte} eher in sozialen Bereich.“ (I-12: 902-940)
Auf die Frage, was sie denn braucht, um glücklich zu sein, antwortet sie als Erstes: „Also ich hab immer halt so ein Gefühl, auch wenn mich in der Arbeit alles stresst, trotzdem komm ich jeden Tag gern irgendwie hierher und weiß nicht, kann mich immer noch auch über Kleinigkeiten freuen, egal, was sonst irgendwie den Bach runter geht; dass ich denke, aber toll, das hat aber jetzt funktioniert, oder ja, irgendwie positiv {eingestellt bin}. Bisher gab es wenige Tage, an denen ich gesagt habe, mein Gott, was für ein scheiß Tag, ich möchte den nicht erlebt haben.“ (I-12: 1983-1993)
Ihren Antrieb, hilfsbereit zu sein, erläutert sie mit den folgenden Worten: „Mein Antrieb ist, dass, wenn ich mein Leben so betrachte, (...) dass ich eine sehr schöne Kindheit hatte, eine sehr schöne Jugend hatte, meine Eltern mir immer alle Möglichkeiten irgendwie offen gelassen haben. Die haben immer nur gesagt, Hauptsache, du bist zufrieden, (…) also, dass da nie ein Druck war. (…) Ich glaub, das ist so ein Gefühl, dass ich dann denke, Menschen, die erst mal nicht so auf der Sonnenseite des Lebens sind, kann ich dort einfach unterstützen. Und das ist ja irgendwo wahrscheinlich mein Grund zu handeln. Einfach von meinem Glück ein Stück weitergeben zu können und denen auch eine Wertschätzung geben zu können (…) den Menschen.“ (I-12: 2508-2582)
Dieses Interview verdeutlicht, warum sich Simone sehr mit ihrem Beruf identifizieren kann. Sie möchte keine profitorientierte Tätigkeit ausüben. Es geht ihr darum, Menschen zu unterstützen, und sie damit wieder auf die Sonnenseite des Lebens zu bringen und von ihrem eigenen schönen Leben anderen Menschen, denen es nicht so gut geht, etwas abzugeben. Dadurch, dass sie so sehr hinter ihrem Beruf steht und das, was sie macht, gerne macht, geht sie trotz Stress gerne zur Arbeit. Gildemeister nennt prinzipiell zwei unterschiedliche berufliche Zugänge. Zum einen gibt es die Möglichkeit, seinen Beruf nur als Job zu betrachten, der vor allem zur Sicherung des Lebensunterhalts dient, zum anderen kann der Beruf als eine Art Berufung gesehen werden. Letztere Sichtweise haben Beschäftigte,
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die in ihrem Beruf einen individuellen subjektiven Sinn sehen und durch diesen zu individueller Verwirklichung gelangen wollen (vgl. R. Gildemeister, 1983: 1). Der Beruf heutzutage ist laut Gildemeister ein „Indikator, wer und was die Person ist“ (ebd. 5). Dadurch, dass die Ehe, die Familie oder die Traditionen entwertet werden, gewinnt der Beruf zunehmend bei der Identitätsbildung an Bedeutung (vgl. ebd. 10). Auch vorliegende Forschungsergebnisse zeigen, dass soziale Berufe gerade solche Berufe sind, die den Ausübenden einen Sinn geben und identitätsstützend wirken. Eigenschaften wie Empathie, Intuition, soziale Sensibilität und emotionale Qualitäten sind auch sonst weitgehend aus den anderen Berufsbildern ausgeschlossen (vgl. ebd. 13). Nadja Kirsten schreibt in ihrer Studie zu Geisteswissenschaftlern, dass „Geisteswissenschaftler zu sein (…) ja auch eine Haltung (ist). Ich glaube, wir haben höhere inhaltliche Ansprüche an unsere Jobs und auch höhere Ansprüche an uns selbst, an unsere kritische Reflexion“ (Kirsten, 2009: 49). Nadja Kirsten beschreibt die Haltung von Geisteswissenschaftlern verallgemeinernd folgendermaßen: „Ich will etwas tun, was mir Spaß macht, (…) auch wenn es nicht so gut bezahlt ist“ (Kirsten, 2009: 48 f). Abiturienten würden viel häufiger als einen wichtigen Grund angeben, dass für sie die persönliche Entfaltung wichtig sei. Die Aussicht auf einen sicheren Job und das Gehalt seien ihnen dagegen nicht so wichtig (vgl. Kirsten, 2009: 48 f). Diese Haltung findet sich – wie anhand der Ergebnisse deutlich wurde – bei Sozialpädagogen/innen und teilweise auch bei Erzieher/innen. Gründe wie die persönliche Entfaltung, etwas Sinnvolles tun, Spaß bei der Arbeit, wären demnach auch genau die Gründe dafür, warum sich die befragten Personen aus den sozialen Berufsfeldern mit ihrem Beruf besonders stark identifizieren können. Das Besondere in den Helferberufen ist auch, dass durch diese Form der Hilfe eine Unterstützung von Menschen in anderen Lebenslagen erfolgen kann. Bei erfolgreicher Ausübung stellt sich eine Art der Befriedigung ein, die, im Vergleich zu den meisten anderen Berufen, in dieser Form nicht möglich ist. Hierbei geht es nämlich um das Menschliche, anderen Personen unterstützend weiterzuhelfen. Auch Allan Luks meint: „Haben Sie einmal mit der freiwilligen Hilfe angefangen und das gute Gefühl genossen, möchten Sie damit nicht wieder aufhören. Sie würden irgendetwas vermissen, etwas würde in Ihrem Leben fehlen. Helfen ist ein Bedürfnis, das die meisten Menschen leider vergessen haben“ (Wischeropp, 2009: 533 f.).
4.4 Berufsgruppe soziale Dienste und Erzieher/innen
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Die Entgrenzung der Arbeit und Zufriedenheit Die befragten Personen aus den sozialen Berufsfeldern können sich zwar auf der einen Seite sehr mit ihrem Beruf identifizieren, fühlen sich aber auf der anderen Seite, am stärksten von allen Branchen, von der Entgrenzung der Arbeit, vor allem in dem Sinne, dass sie der Beruf zu Hause noch beschäftigt, betroffen. Das zeigt das folgende Diagramm. 4,2 4,1 4 3,9 3,8
Entgrenzung der Arbeit
3,7 3,6 3,5 3,4 3,3 SW
GW
IT
BV
ÖD
Abbildung 32 Entgrenzung der Arbeit (Branchen) (SW=Sozialwesen, GW=Gesundheitswesen, IT=Informatikbranche, BV=Banken und Versicherungen, ÖD=Verwaltung im Öffentlichen Dienst)
Bemerkenswert sind nicht nur die Unterschiede zwischen den Branchen, sondern auch die Gemeinsamkeit, dass sich die jungen Menschen in allen Branchen von der Entgrenzung der Arbeit eher wenig betroffen fühlen. Die obigen Mittelwerte liegen nicht auf der Zustimmungsseite – die meisten Beschäftigten fühlen sich demnach eher wenig betroffen von entgrenzenden Arbeitsstrukturen, d. h. beispielsweise, dass sie viele Überstunden leisten und der Beruf sie auch noch in der Freizeit beschäftigt. Dennoch sind die Beschäftigten in sozialen Diensten signifikant noch am stärksten von allen Berufsfeldern davon betroffen. Um herauszubekommen, was mit der Entgrenzung der Arbeit in Zusammenhang steht, wurden Korrelationen berechnet, die im folgenden Schaubild dargestellt werden. Anzumerken ist, dass sich solche Korrelationen (bis auf den Index Zeitdruck) auch bei den anderen Branchen finden lassen, wenn auch mit etwas anderer Bedeutung.
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4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern + Entgrenzung der Arbeit – Arbeitsdruck
Zufriedenheit
Zeitdruck
Gerechte-Welt-Glaube
Psychischer Druck Aktive Arbeitnehmersolidarität Abbildung 33 Entgrenzung der Arbeit (Korrelationen)
Die Entgrenzung der Arbeit steht in einem signifikant negativen Zusammenhang mit dem Gerechte-Welt-Glauben, d. h., dass je stärker die Arbeit als entgrenzend wahrgenommen wird, desto geringer ist der Glaube, dass es im allgemeinen gerecht zugeht auf der Welt. Die jungen Beschäftigten in den sozialen Berufsfeldern haben dem Glauben an eine gerechte Welt (Gerechte-Welt-Glaube) am wenigsten zugestimmt, dies bedeutet laut unseren Items, dass sie davon ausgehen, dass es Ungerechtigkeiten gibt und die Leute im Großen und Ganzen nicht das bekommen, was ihnen zusteht. Diese Einstellung könnte etwas mit dem beruflichen Feld, in dem sie sich bewegen, zu tun haben. Die Sozialpädagogen/innen werden jeden Tag mit Menschen konfrontiert, denen es nicht gut geht, die etwas Schlimmes erlebt haben oder sich in außergewöhnlichen Situationen befinden. Auch die Erzieher/ innen bekommen einiges mit, im Hinblick darauf, wie es manchen Kindern zu Hause bei ihren Eltern geht. Die Entgrenzung der Arbeit steht ebenfalls in einem negativen Zusammenhang mit der allgemeinen Zufriedenheit (Index „Zufriedenheit“), d. h. auch hier, dass je mehr die Arbeit als entgrenzend wahrgenommen wird, desto höher wird die Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation. Wie bereits erwähnt, sind die Befragten aus den sozialen Berufsfeldern von allen befragten Branchen am unzufriedensten mit ihrer Gesamtsituation, befinden sich insgesamt aber im mittleren Bereich bei einer Skala von eins (sehr zufrieden) und sechs (sehr unzufrieden). Der Artikel „Grund zum Heulen“ gibt einige Hinweise darauf. Nadja Kirsten berichtet, warum gerade Geisteswissenschaftler unzufrieden mit ihrer Arbeitssituation sind. Das liegt daran, dass es Geisteswissenschaftler heute schwerer haben in der Arbeitswelt als andere Akademiker. Sie würden im Schnitt ein Viertel weniger verdienen als andere Hochschulabsolventen und weniger als die
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Hälfte von dem, was der durchschnittliche Wirtschaftsingenieur aufs Konto bekommt. Ein Viertel der befragten Geisteswissenschaftler würden in einem Job arbeiten, in dem ein Hochschulabschluss nicht die Regel ist, und folglich wird die berufliche Position nicht als angemessen empfunden. Eine andere Untersuchung zeige, dass Geisteswissenschaftler deutlich länger bis zur ersten regulären Stelle brauchen als andere Absolventen (vgl. Kirsten, 2009: 48). Die Bildungsministerin Annette Schavan erwähnt in einem Grußwort diesbezüglich, dass die hochwertige Ausbildung keinen hinreichenden Schutz vor Prekariat biete, dass hinter dem hohen Anteil von Selbstständigen (16 %) auch Notgründungen vermutet werden würden und dass Geisteswissenschaftler, um nicht arbeitslos zu werden, häufig erhebliche Flexibilität und Konzessionsbereitschaft aufbringen müssten. Unabhängig vom Geschlecht verspricht ein Studium der Geisteswissenschaften den geringsten beruflichen Erfolg. Ergänzend erwähnt sie eine Zehnjahresstudie des Hochschul-Informations-Systems: „Egal, ob es um die Arbeitsinhalte, das Arbeitsklima oder die Ausstattung des Arbeitsplatzes geht: Immer liegen die Geisteswissenschaftler bei der Frage nach der Zufriedenheit unter dem Schnitt aller Absolventen. Sie sind nicht zufriedener, sie sind unzufriedener als die anderen!“ (Kirsten, 2009: 48). Dennoch sollte man bei der Interpretation solcher Studien genau hinschauen, da die Abweichung nach unten oft nur ein paar Prozentpunkte betragen und 78 % der Geisteswissenschaftler mit den Tätigkeitsinhalten ihrer Arbeit eher zufrieden sind. „Vier von fünfen machen also das, was sie täglich tun, gerne“ (Kirsten, 2009: 49). Auch diese Befunde können gut auf die Sozialpädagoge/innen übertragen werden. So spricht Eichinger ebenfalls von einer Tendenz zur Prekarisierung bei den in der sozialen Arbeit Beschäftigten. Sie nennt hierfür Gründe: wie ein Mangel an professionellem Personal, da Personalkosten eingespart werden, bei gleichzeitigem Bedeutungszuwachs von Laien oder Semi-Professionellen, um die gestiegenen Anforderungen bewältigen zu können (vgl. Eichinger, 2009: 122). Zum Thema Einkommen erwähnt sie, dass sich manche in Anbetracht der beruflichen Anforderungen zwar unangemessen bezahlt fühlen und sich eine höhere finanzielle Anerkennung wünschen. Andere das Gehalt für sich nicht so wichtig finden, da ihnen vor allem wichtig sei, in diesem Arbeitsfeld tätig zu sein (ebd. 128). Roßrucker fand in einer Erhebung im Bereich Heimerziehung verschiedene Ursachen für die Arbeitsunzufriedenheit der dort Berufstätigen heraus. Nach seiner Untersuchung verringert ein hohes emotionales Engagement die Arbeitsunzufriedenheit. Selbstbestimmung und die Selbstverwirklichung in dem Beruf spielen eine große Rolle. Demnach könnten Selbstständige oder Künstler durchaus zufriedener sein, wenn sie sich emotional mehr engagieren. In kleineren Betrieben dagegen ist dies offensichtlich weniger der Fall, da hier die Betroffenen
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bestimmten Zwängen unterliegen. Vielleicht liegt diese erhöhte Arbeitsunzufriedenheit trotz hohen emotionalen Engagements aber auch daran, dass sich Helfer zwar sehr emotional engagieren, aber sich der gewünschte Erfolg beim Klienten nicht einstellt. Ebenfalls stellt er in seiner Studie fest, dass ein von den Ansprüchen abweichendes Tätigkeitsniveau die Arbeitszufriedenheit verringert. Gemeint sein könnte der hohe Verwaltungsaufwand, der immer wieder in der Literatur beklagt wird. Der Einsatz von Machtmitteln gegenüber den Klienten/ innen verringert die Arbeitszufriedenheit ebenfalls, wenn gleichzeitig die emotionale Teilnahme ansteigt. Das kann eintreten, wenn sie auf Druck höherer Instanzen gegen ihre eigenen Überzeugungen handeln. Auch tragen wohl problematisch erlebte Beziehungen mit den Klienten/innen oder Konflikte mit den Kollegen/Kolleginnen oder den Vorgesetzten dazu bei, dass die Arbeitsunzufriedenheit zunimmt. Hinzu kommen sehr hohe Leistungsanforderungen, die die Arbeitszufriedenheit verringern und somit auch die emotionale Beteiligung und die Beziehung zu den Klienten/innen negativ beeinflussen. Das Lebensalter jüngerer Sozialarbeiter/Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen/innen wirkt sich dabei günstiger auf die Arbeitszufriedenheit aus. Roßrucker nimmt an, dass ältere Beschäftigte entweder ihre Ziele schon erreicht oder resigniert haben. Alleinlebende sind dagegen weniger zufrieden mit den Beziehungen zu ihren Klienten/innen und der Beziehung zum Arbeitgeber. Vermutet werden könnte, dass Alleinlebende den Beziehungen zu den Klienten/innen und zu dem Arbeitgeber mehr Bedeutung beimessen, demnach auch emotionaler beteiligt sind. Beschäftigte, die mit Partner/in bzw. in familiären Strukturen leben, sind evtl. in der Lage, die Unzufriedenheit in der Arbeit durch positiv erlebte Beziehungen zu kompensieren. Man kann annehmen, dass diejenigen, die eine eigene Familie haben, eine andere Art von Anerkennung erhalten und das Bedürfnis nach Anerkennung in der Arbeit dadurch etwas an Gewicht verliert (vgl. Roßrucker, 1990: 181-190). Arbeitnehmersolidarität und das Verhältnis zu Gewerkschaften Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Entgrenzung der Arbeit und einer aktiven Arbeitnehmersolidarität. Die befragten Personen aus den sozialen Berufsfeldern weisen das größte gewerkschaftliche Engagement auf. Anzumerken ist, dass viele unserer befragten Personen aus den sozialen Berufsfeldern bei einem Streik in Stuttgart befragt wurden. Dies könnte unter anderem dieses überdurchschnittliche gewerkschaftliche Engagement erklären. Jedoch auch im DGB-Index „Gute Arbeit“ wird berichtet, dass eine überdurchschnittlich hohe Bereitschaft sich zu engagieren bei
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den befragten Erzieher/innen besteht: 71 % sind dazu bereit sich für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen einzusetzen (Fuchs & Trischler, 2007/2008: 3). Welche Gründe sind es, die vor allem die Erzieher/innen dazu bewegen, sich gewerkschaftlich zu engagieren? Um diese Frage besser beantworten zu können, wurde zusätzlich zu den Fragebögen und Interviews Erzieher/innen während des Streiks in Stuttgart interviewt. Als ein wichtiger Grund wurde genannt, dass die Anforderungen an die Erzieher/innen in den Einrichtungen immer mehr steigen. Die Kindergärten oder die Kindertagesstätten entwickeln sich immer mehr von einer Betreuungseinrichtung zu einer Bildungseinrichtung, es gibt viele neue Projekte, die durchgeführt werden müssen, hinzu kommt, dass, die zu betreuenden Kinder immer jünger werden und immer mehr Auffälligkeiten zeigen. Um dies bewältigen zu können sind mehr Weiterbildungen nötig und viele unbezahlte Überstunden. Davon abgesehen, steigen auch die Anforderungen der Eltern an die Erzieher/innen. Eine Erzieherin beschreibt ihre Situation mit folgenden Worten: „Man hat das Gefühl, man schafft es nicht mehr“ (Interview vom 24.07.09). Diese erhöhten Anforderungen sollen die Erzieher/innen bei gleicher Bezahlung, mit gleichbleibendem Personalanteil und trotz des hohen gesundheitlichen Risikos nach einigen Jahren der Berufsausübung erfüllen. Zusätzlich fehlt auch noch die gesellschaftliche Anerkennung für ihr Berufsfeld (vgl. Interview vom 24.07.09). Auf die Frage, welche Gründe es geben kann, sich nicht an einem Streik zu beteiligen, antworteten die Streikbeteiligten, dass die soziale Verantwortung einen teilweise vom Streiken abhält. Der Arbeitskampf birgt hohes Konfliktpotenzial, vor allem mit den Eltern. Wenn ein Kindergarten komplett streikt, stellt es ein Problem für die Berufstätigen da. Die Notgruppenbetreuung als Alternative wird teilweise von den Eltern nicht akzeptiert (vgl. Interview vom 24.07.09). Aliye, eine befragte Erzieherin aus Berlin, würde gerne beim Streik teilnehmen, kann dies aber nicht, da sie ein Verein sind: „Wir sind ja jetzt im Verein, deswegen können wir nicht streiken. Wir sind natürlich, wenn es jetzt nicht in den Zeiten ist, wo wir hier offen haben, dabei und versuchen {das} auch, weil wir denken, wir haben auch ein Recht darauf.“ (I-20: 833-844)
Manu, Erzieherin aus Baden-Württemberg, ist kein Gewerkschaftsmitglied. Ihre Argumentation hierfür ist diese: „Einerseits ist es gut, dass sie sich (…) einsetzen für die Arbeitnehmer, und es ist wichtig, dass es Gewerkschaften gibt. Aber andererseits darf man aber auch nicht vergessen, dass mancher Betrieb das vielleicht von der Gewerkschaft geforderte (…)
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4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern einfach gar nicht tragen kann, wenn es um eine Lohnerhöhung geht, wenn da eine utopische Summe gefordert wird oder ein Prozentsatz. Und wenn man dann sagt, wir zahlen euch das, aber dafür müssen wir dann halt zwanzig Arbeitsplätze oder halt je nachdem, wie groß der Betrieb ist, dann wieder Arbeitsplätze abbauen. Also ich find es wichtig, dass es sie gibt, dass einfach ein Austausch herrscht zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Weil gerade (…), wenn man die Entwicklung jetzt so beobachtet, find ich es schon schockierend, wie sehr doch mancher Chef in die eigene Tasche wirtschaftet und dass diese (…) soziale Verantwortung der Chefs einfach immer mehr auf der Strecke bleibt.“ (I-18: 1004-1069)
Diese Erzieherin ist in ihrer Äußerung sehr zwiegespalten in Bezug auf die Gewerkschaften. Einerseits ist es ihr wichtig zu betonen, dass es eine Seite gibt, die sich für Arbeitnehmer/innen einsetzt. Andererseits sieht sie die Notwendigkeit, dass manchmal Entscheidungen getroffen werden, die die Firmen retten. Alle befragten Gewerkschaftsmitglieder unter den Erzieher/innen sind über das Streiken in die Gewerkschaften eingetreten, davor hatten sie nichts mit Gewerkschaften zu tun (Interview vom 24.07.09). Jochen, ein Erzieher in einem Hort, ist über die Gewerkschaften kaum informiert: Der Interviewer fragt ihn, ob er, wenn es eine Gewerkschaft für Erzieher geben würde, eintreten würde: „Wüsst’ ich nicht, ob es mir was bringen würde letztendlich, weiß ich nicht.“ (I-06: 169-170)
Der Interviewer fragt danach, wann ihm die Gewerkschaft etwas bringen würde: „Für mehr Lohn praktisch? Das würde ich sofort unterschreiben oder mitmachen, wegen mir auch. Ja, aber ich glaube da trotzdem nicht daran, dass das irgendwann mal stattfinden wird.“ (I-06: 185-187) „Ich hab mich eigentlich mit dem Thema Gewerkschaften momentan noch gar nicht richtig irgendwie befasst, von dem her möchte ich da jetzt eigentlich kein Statement dazu abgeben. Ich weiß es nicht, ich hab es bisher nicht genützt, aber ich habe jetzt auch noch nie Probleme gehabt, wo ich dann nicht mehr gewusst hätte, wohin. Von dem her hab ich das jetzt so auch noch nicht gebraucht. Gewerkschaften hin oder her.“ (I-06: 192-199)
Die Unzufriedenheit von Jochen wird in diesem Interviewabschnitt sehr deutlich: sein Gehalt ist ihm für das, was er jeden Tag leistet, zu wenig. Gleichzeitig denkt er, dass eine Gewerkschaft ihm nicht viel nützt. Dieses Interview wurde einige Monate vor der großen Streikbewegung unter Erzieher/innen in Baden-Württemberg geführt. Es wäre interessant zu erfahren, ob Jochen durch diese Bewegung seine Meinung geändert hat.
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Denn alles in allem kann festgehalten werden, dass einer der wichtigsten Gründe, welcher die Befragten zum Streiken bewegt hat, die hohe Unzufriedenheit mit ihrer momentanen Arbeitssituation ist. Bei den Erzieher/innen scheinen Gründe, wie die steigenden gesellschaftlichen Anforderungen bei fehlender Anerkennung des Berufsfeldes, was sich auch in einem geringen Gehalt ausdrückt, für ihr Streikengagement ausschlaggebend gewesen sein. Gründe für die mangelnde Anerkennung in den sozialen Berufen erklärt sich Bader dadurch, dass die ursprüngliche Motivation, einen sozialen Beruf ausüben zu wollen, das Soziale an sich ist. Die Gesellschaft geht aber davon aus, dass die berufliche Tätigkeit des Helfers ohne besondere Qualifikationen in die Tat umgesetzt werden kann (vgl. Bader, 1985: 41 f.). Gründe, welche die Interviewten äußerten, warum sie nicht den Gewerkschaften beigetreten sind, ist das Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Kindern, die Tatsache, dass Vereine nicht streiken können, übertriebene Lohnforderungen und die Angst, dadurch Arbeitsplätze zu verlieren, und vor allem fehlende Informationen über Gewerkschaften und ihre Tätigkeiten. Zu der Frage, wie das gewerkschaftliche Engagement gefördert werden könnte, meinte eine befragte Erzieherin, dass bereits in der Ausbildung im Fach Recht das Thema der Gewerkschaften vertieft werden sollte. Andere Erzieherinnen berichteten, dass sie in ihrer Einrichtung darüber diskutiert hätten, ob sie am Streik teilnehmen sollen oder nicht. Dieser direkte Austausch hätte dann dazu geführt, dass ihnen bewusst wurde, dass alle Kollegen/innen in der Einrichtung etwas belastet und sie mit ihren Problemen nicht alleine dastehen. Pines und Enzmann erwähnen ebenfalls, dass der Austausch untereinander sehr wichtig ist (vgl. Enzmann & Kleiber, 1989: 179; Pines, Aronson & Kafry, 1992). Nur dadurch können nämlich die Betroffenen erkennen, dass sie mit ihrer Problematik nicht alleine sind, es nicht nur um ein persönliches Versagen geht, sondern es auch situationsbedingte Problematiken gibt (vgl. Pines et al., 1992: 17). Räume für einen sozialen Austausch können demnach durchaus sinnvoll sein, um das gewerkschaftliche Engagement zu verstärken (vgl. Interview vom 24.07.09). Der Druck in der Arbeit Die Entgrenzung der Arbeit steht in einem sehr signifikanten Zusammenhang mit dem psychischen Druck, d. h., je stärker die Arbeit die sonstigen Lebensbereiche dominiert, desto größer ist die psychische Belastung. Besonders interessant bei diesem Ergebnis ist, dass sich alle befragten Gruppen, auf einer Skala von 1 (sehr hoher psychischer Druck) bis 6 (sehr niedriger psychischer Druck), im mittleren Bereich befinden. Dennoch stimmen die
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Gruppen der Beschäftigten im Sozialwesen, Gesundheitswesen und der Banken und Versicherungsbereich eher zu, dass sie unter einem psychischen Druck leiden, der IT-Bereich und die Verwaltung im Öffentlichen Dienst dagegen, stimmen dieser Aussage eher nicht zu. Die Unterschiede sind hier nicht signifikant. Die Untersuchungsergebnisse zeigen weiter, dass die Entgrenzung der Arbeit in einem sehr signifikanten Zusammenhang mit dem Zeitdruck steht, d. h., ausufernde Arbeit wird hauptsächlich damit zu bewältigen versucht, dass in eine Zeiteinheit mehr hineingedrückt wird oder für die anderen Lebensbereiche das Zeitfenster kleiner wird. Werden diese höchst signifikanten Unterschiede bei den untersuchten Branchen verglichen, befinden sich die Befragten aus den sozialen Berufsfeldern auf einer Skala von 1 (sehr hoher Zeitdruck) bis 6 (sehr niedriger Zeitdruck) im mittleren Bereich. Die Entgrenzung der Arbeit steht am engsten in Zusammenhang mit dem Arbeitsdruck. Wichtig zu erwähnen ist nochmals, dass die Befragten aller Branchen geantwortet haben, dass sie insgesamt eher nicht unter einem hohen Arbeitsdruck leiden. Dieses Ergebnis steht in einem deutlichen Widerspruch zu vielen Untersuchungen und zu Beobachtungen im Alltag. Der Index „Arbeitsdruck“ beinhaltet zum einen die Variable „Der Konkurrenzdruck in meiner Firma/Einrichtung belastet mich“ und zum anderen die Variable „Fühlen Sie sich durch Ihre(n) Vorgesetzte(n) unter Druck gesetzt?“ Zum Thema Konkurrenzdruck erwähnt Schmidbauer in einem Essay, dass der größte Druck in den Krankenpflegeberufen, nämlich 60 % der subjektiv erlebten Stressbelastung, nicht etwa aus der zweifellos aufreibenden Arbeit, sondern aus den Beziehungen zu den Kollegen/innen und Vorgesetzten resultiert. Auch die Mobbingklagen wären nirgends so häufig wie in ethisch besonders anspruchsvollen Helferszenarien. Als Erklärungsansatz führt Schmidbauer auf, dass Ärzte oder Psychologen besonders dazu neigen, demokratische Spielregeln nur zu respektieren, wenn sie nicht überstimmt werden. „Niemand sollte noch glauben, wer in die Tiefe der menschlichen Seele blicke, sei besser in der Lage, Kränkungen zu verarbeiten, als der Durchschnittsmensch“ (Schmidbauer, 2009: 67). Er beschreibt außerdem, dass die psychologische Einsicht ebenso wie die moralische Ermahnung schwächer seien als das narzisstische Bedürfnis; im Konfliktfall gäbe dieses oft genug den Ausschlag. Demnach werde dies durch psychologische Phrasen gerechtfertigt (vgl. Schmidbauer, 2009: 67). Ulrike Eichinger berichtet von einer Untersuchung in einer kommunalen Verwaltung, dass 41 % der Befragten angaben, dass das Betriebsklima belastend sei und durch den zunehmenden Konkurrenzdruck und das Strebertum Egoismen an Bedeutung gewinnen würden. Folgen seien Spaltungen bei den Mitarbeitern/innen und Mobbing.
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Ebenfalls erwähnt sie eine Studie von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, dass in Deutschland 2,7 % (800.000 Arbeitnehmer) von Mobbing betroffen seien. Im Vergleich zum Durchschnitt aller Arbeitnehmer/innen tragen die Beschäftigten im sozialen Bereich dagegen ein 2,8-faches Mobbing-Risiko (vgl. Eichinger, 2009: 82). Ulrike Eichinger fand außerdem heraus, dass „Kollegen weniger bereit sind und das System auch immer weniger in der Lage ist, Mitarbeiter mitzuschleppen, die im Grunde genommen völlig überfordert sind, aus welchen Gründen auch immer“ (Eichinger, 2009: 152). Außerdem beinhaltet der Index Arbeitsdruck die Variablen „Meine Arbeit überlastet mich“ und „Fühlen Sie sich durch diese Anforderungen insgesamt unter Druck?“ sowie „Der zunehmende Leistungsdruck hat sich negativ auf die Qualität meiner Arbeit ausgewirkt“. Hiervon sind vor allem die Personen aus den sozialen Berufsfeldern betroffen. Ulrike Eichinger schildert die Arbeitssituation der Befragten teilweise als „schlimm“, „krass“ und „katastrophal“ (vgl. Eichinger, 2009: 199). „Die strukturelle Überforderung hinsichtlich des Arbeitspensums und die Gefahr des Ausbrennens von Angestellten werden als ‚schlimm‘ (Frau W.) wahrgenommen“ (ebd. 123). Die Interviewten sprechen deutlich von einer Mehrfach-Anforderung, die zu Überlastung führen. Gründe dafür seien sowohl höhere qualitative als auch quantitative Arbeitsanforderungen und gleichzeitig würden weniger Ressourcen zur Bewältigung zur Verfügung stehen (vgl. ebd. 209). Zum Thema hohe Anforderungen schreibt sie außerdem, dass die Beschäftigten im Sozialwesen hier in einem Spannungsdreieck stehen. Es geht zum einen um den Erhalt der Einrichtung, zum anderen um die fachlichethische Verantwortung, die sie tragen, und um die persönliche Existenzsicherung. Manu, Erzieherin aus dem Raum im Bad Urach, erwähnt in ihrem Interview ebenfalls, dass immer höhere Anforderungen an sie gestellt werden: „Die Dokumentationen wurden mehr, wir müssen die Kinder mehr beobachten, ausführlicher beobachten. (…) Elterngespräche sind jetzt verpflichtend. (…) {Ein} Qualitätshandbuch müssen wir jetzt auch noch erstellen. Dann {die} Konzeption, {das} Leitbild; das sind alles Sachen, die man vorher nicht machen musste. (…) Also es ist so, dass immer mehr Anforderungen an uns gestellt werden und wir aber keinerlei Ausgleich dafür bekommen. Also, wir bekommen nicht mehr Verfügungszeit, mehr Stunden oder mehr Personal, die diese Arbeit dann leisten, und wir finden momentan, oder ich finde, dass es ein bisschen auch zu Lasten der Kinder geht.“ (I-18: 374-391)
Nach der Aussage von Manu sind die Anforderungen in den letzten Jahren sehr gestiegen. Es geht nicht mehr nur darum, klassisch, wie man es sich vielleicht vorstellt, die Kinder zu betreuen. Heutzutage werden an die Erzieher/innen darüber hinaus sehr viele Ansprüche gestellt. Bezüglich des Arbeitsdrucks von
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Erzieher/innen können die Ergebnisse des DGB-Indexes „Gute Arbeit“ hinzugezogen werden. Diese zeigen auf, dass die Erzieher/innen unter anderem das hohe Arbeitspensum, vermutlich auch durch zu große Kindergruppen, und eine sehr hohe Lärmkonfrontation sehr belastend finden. Beides wären stressverursachende Faktoren, die langfristig die Gesundheit der Beschäftigten schädigen können (Fuchs & Trischler, 2007/2008: 3). Auch eine Sozialpädagogin berichtet in ihrem Interview zum Thema Arbeitsdruck, dass sie immer wieder bei der Arbeit in Drucksituationen kommen würde. Ihre berufliche Tätigkeit beschreibt die Sozialpädagogin Simone folgendermaßen: „Also im jetzigen Arbeitsbereich mache ich eine berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme. Ich betreue Jugendliche, (…) die stehen einfach vor dem Problem, keinen Ausbildungsplatz zu bekommen und die keinen Einstieg in {das} berufliche Leben schaffen. Und, die Jugendlichen kommen zu uns {und} bekommen eine Qualifikation. Und ganz wichtig: Weil die Jugendlichen meist nicht ohne Grund hier sind, sondern die haben oftmals große persönliche, familiäre Probleme, dass wir einfach versuchen, auch die Persönlichkeit zu stärken (…). Und natürlich das alles zu organisieren, (…) also ein großes Netzwerk an Kooperation nebenher noch zu betreuen. Eine sehr große Aufgabe ist {die} Verwaltung, das heißt, wir müssen jeden Schritt dokumentieren, weil {die} Maßnahme vom Arbeitsamt finanziert {wird}.“ (I-12: 42-224)
Das Aufgabengebiet von Simone umfasst, wie die Interviewausschnitte zeigen, ganz unterschiedliche Tätigkeitsbereiche. Sie ist einerseits für die berufliche Qualifikation der Jugendlichen zuständig, darüber hinaus fühlt sie sich für deren persönliche Probleme verantwortlich und ist außerdem für die Organisation des gesamten Projekts zuständig. Dass sie in dieser Situation immer wieder in Spannungsverhältnisse kommen kann, ist nachvollziehbar. „Unsere Maßnahme ist halt ein dickes Buch, was wir alles anbieten und was wir alles qualifizieren. Aber wir kriegen eigentlich kein Geld dafür, also nicht für die Leistung, die wir halt anbieten. Und dann bist {du} immer so im Spagat: Einerseits musst du für die Wirtschaft {arbeiten}, du musst sagen, wir wollen die Maßnahme haben, Konzeptionen vorlegen und Preise. Und das ist einfach auch so, dass, wie in der Wirtschaft auch, der der günstiger ist, der kriegt halt dann die Zulage. (…) Und dann sind wir immer im Spagat zu schauen, was sagen wir, was wir anbieten und was können wir wirklich anbieten. Das find ich teilweise recht schwierig.“ (I-12: 998-1063)
Eine Schwierigkeit, die Simone schildert, ist, dass sie einerseits für ihre Klientel gute Angebote machen möchte, aber andererseits dafür sehr niedrige Preise
4.4 Berufsgruppe soziale Dienste und Erzieher/innen
227
angeben muss, damit sie überhaupt Gelder dafür bekommt. Diese Angebote sind dann teilweise personell gar nicht umsetzbar. Eine weitere Problematik, der sich Simone ausgesetzt fühlt, ist, dass einerseits das Arbeitsamt bestimmte Bedingungen hat, die die Jugendlichen erfüllen sollen, um bei dem Projekt dabei bleiben zu können. Andererseits kann sie die Jugendlichen sehr gut verstehen, da sie ihre schwierigen Situationen kennt und es für sie nachvollziehbar ist, warum vielleicht für diese Jugendlichen momentan andere Dinge wichtiger sind als diese Maßnahmen. Darüber hinaus möchte Simone aber dennoch allen Jugendlichen gerecht werden. Dies ist leider nicht immer so einfach, wie sie im Folgenden schildert: „Irgendwie alles zu machen in einem Zeitrahmen, denn du hast dann 17 Teilnehmer. Da zu schauen, dass du dann auch einigermaßen gerecht bist, dass nicht, die wo nur Probleme haben, meine ganze Energie kriegen, sondern dass die, die das gut schaffen und nur einen kleinen Schub brauchen, dass du die nicht aus den Augen verlierst. Also, das find ich schon ein großes Problem.“ (I-12: 1121-1141)
Dieses Interview verdeutlicht, unter welchem enormen Druck Simone eigentlich steht. Es besteht das Spannungsverhältnis zwischen der Tätigkeit im sozialen Bereich und der Tätigkeit als Dienstleister und innerhalb der Tätigkeit im sozialen Bereich, allen Teilnehmern im Projekt gerecht zu werden. Die zeitliche Befristung scheint für Simone dagegen kein belastendes Thema zu sein: „Aber, diese zeitliche Befristung sehe ich jetzt gerade eher relaxed. Wo ich denke, das ist halt so. Also weißt, (…) so viele trifft es auch, dass sie arbeitslos werden, dass ich mich da nicht mehr so unter Druck setze, dass ich denke, der Lebenslauf muss ja auch durchgehend perfekt sein und keine Lücken {haben}. Also von dem hab ich mich einfach schon verabschiedet und hab mir dann auch den Druck genommen.“ (I-12: 2286-2346)
Wird diese Aussage genauer betrachtet, zeigt sich, dass die zeitliche Befristung für sie momentan kein belastendes Thema darstellt. Diese Haltung könnte eine Bewältigungsstrategie sein in dem Sinne, dass es sich nicht lohnt, sich darüber Gedanken zu machen, da es sowieso heutzutage nichts Ungewöhnliches ist, eine gewisse Zeit arbeitslos zu sein und man sich deshalb am besten einfach damit abfindet. Um genauer herauszubekommen, warum gerade die befragten Personen aus den sozialen Berufsfeldern von der Belastung durch die Entgrenzung der Arbeit in dem Sinne, dass sie ihr Beruf zu Hause noch beschäftigt, besonders betroffen
228
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
sind, sollen im Folgenden einige Ausschnitte aus Einzelinterviews und einer Diskussionsgruppe angeführt werden. Aliye, Erzieherin, beantwortet die Frage, was sie bewegt, mit folgender Aussage: „Ich habe so Fühler bekommen für Kinder, die traurig sind, also traurige Augen {haben}. (…) Es kann ja viele Hintergründe haben, aber was mich so in den letzten zwei Jahren wirklich gerührt hat und was mich so nach vorne gebracht hat, waren Kinder, die sexuell missbraucht wurden. Wir hatten auch teilweise {welche}. Man ist sich immer noch nicht sicher, ob das wirklich{so] war, aber hat man auch {den} Verdacht, auch in unserer Kita, und darüber hab ich sehr viele Fortbildungen gemacht in {den} letzten zwei Jahren. (…) Und wenn man überlegt, wir sind mittendrin in diesem Geschehnis. Wenn man Zahlen hört wie (…), jedes vierte Mädchen und jeder siebte Junge wird sexuell missbraucht in seiner eigenen Umgebung, {in der} Gesellschaft, dann sind das Zahlen, die ich mir gar nicht vorstellen kann.“ (I-20: 569-631)
Die Erzieher/innen werden im Alltag nicht nur mit schönen Dingen konfrontiert, sondern sie müssen sich teilweise auch mit Themen der Verwahrlosung oder sogar dem Kindesmissbrauch auseinandersetzen. Dass dies einen beschäftigt, ist verständlich. Dies könnten unter anderem Gründe dafür sein, warum Erzieher/ innen von der Entgrenzung in dem Sinne, dass sie der Beruf besonders in ihrem Privatleben beeinträchtigt, betroffen sind. Susi, Sozialpädagogin, arbeitet in einem Jugendtreff. Sie spricht von den Auswirkungen ihrer beruflichen Tätigkeit auf ihr Privatleben: „Bist du natürlich permanent in Auseinandersetzung und permanent ist deine Person gefragt. Also dieses ständige in der Öffentlichkeit zu stehen, permanent eigentlich zumindest den Anspruch zu haben, deine Reaktion löst jetzt beim Gegenüber was aus, das heißt, reflektier die bitte schön. Also, das find ich unheimlich anstrengend.“ (F-5: 1060-1072)
Die ständige Präsenz zu zeigen, das bewusste Handeln in jeder Situation und sehr viel über die Jugendlichen tagtäglich mitzubekommen, ist für Susi ziemlich stressig. Katharina arbeitet seit zwei Jahren in der offenen Jugendarbeit und beschreibt die Beeinträchtigung ihres Privatlebens durch den Beruf mit folgenden Worten: „Ich war wirklich vor den Weihnachtsferien völlig knülle, ich wollt auch eigentlich niemanden mehr sehen privat, weil ich einfach das Gefühl hatte – allein die Tatsache, dass ich mich dann wieder auf jemanden einstellen muss, den ich vielleicht nicht so hundert Prozent gut kenne (…). Also, das war mir zu viel. Und genau das ist genau der Punkt! – Diese dauernde Kommunikation mit Menschen (…). Also
4.4 Berufsgruppe soziale Dienste und Erzieher/innen
229
ich find das schon enorm anstrengend, wenn man das (…) mit einem eigenen Anspruch macht, nämlich genau das zu reflektieren.“ (F-5: 1087-1130)
Katharina beschreibt auch, dass der Beruf darüber hinaus einen Einfluss auf den Umgang mit den Personen in ihrem Privatleben hat: „Also eben gerade vor allem Menschen also, die dann noch mit irgendeiner Problematik auf mich zugekommen sind, da rutsch ich sofort in dieses, ähm, Distanzierte. (…) Da hab ich schon enorm gemerkt, dass das Auswirkungen nicht nur auf das Leben hat, sondern auch auf die eigene Art des Umgangs mit anderen Leuten. (…) dass ich einfach für mich gemerkt hab, ich bekomme es halt nicht mehr auf die Reihe, weil es mir einfach irgendwann zu viel war.“ (F-5: 1282-1323)
Die intensiven sozialen Beziehungen im Beruf rauben die Kraft, sich in der Freizeit auch auf die Sorgen von Freunden und Bekannten konzentrieren zu können. Dies wird in den Interviewausschnitten von Katharina deutlich. Sie erzählt, dass sie eine Zeit lang im privaten Bereich ihre Ruhe gebraucht hat. Wenn dann Bekannte mit ihren Problemen zu ihr kamen, ging sie eher auf Abstand. Simone, die im vorherigen Abschnitt vorgestellt wurde, antwortet auf die Frage der Entgrenzung der Arbeit, dass sie vor allem die schweren Schicksale ihrer Jugendlichen sehr bewegen: „Und manche Schicksale bewegen dich einfach so, dass du dann mit dem Freundeskreis oder {der} Familie, je nachdem, dass {du das} einfach erzählst, weil das schon belastend ist.“ (I-12: 1343-1349)
Aber nicht nur die Schicksale bewegen sie, sondern auch all die Dinge, die sie noch zu erledigen hat: „Und deshalb denk ich dann auch, irgendwie kommen dann nachts oder morgens so Dinge in den Kopf, ja, um ja nichts zu vergessen. Also es sind schon Zeichen, dass du einfach den Druck hast, allem und allen gerecht zu werden und ja keine Fehler zu machen. (…) Weil ich dann immer denk’, ich kann den jungen Mann jetzt nicht wegschicken, wenn er mir gerade unter Heulen das berichtet. Da möchte ich mir die Zeit nehmen, obwohl ich auch weiß, eigentlich hab ich die Zeit gar nicht, weil, draußen stehen noch zehn andere und {du} musst irgendwie das eher abhaken und schauen. Also das find ich schon, dass dieser Druck echt gewachsen ist. Und das find ich auch sehr unangenehm.“ (I-12: 2301-2346)
Simone spricht über die Auswirkungen des Arbeitsdrucks auf ihr Privatleben: „Da kommt es im Freundeskreis auch ab und an zu Konflikten, weil {du} nur solche Schicksale erfahren {hast}, dass es manchmal irgendwie schwierig war, Freunden
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4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern oder Freundinnen einfach auch zuzuhören mit ihren Problemen. Weil dann teilweise die Sachen irgendwie so banal waren, wo du halt denkst, es ist doch scheißegal.“ (vgl. I-12: 1375-1394)
Im Vergleich zu den Problemen der Klienten war es für sie schwer, die Probleme der Freunde ernst zu nehmen. Dies wiederum merken die Freundinnen, weshalb es immer mal wieder zum Konflikt kommen konnte. Durch die Aussagen der befragten Personen in den sozialen Berufsfeldern wird verständlich, warum die Sozialpädagogen/innen besonders von der Entgrenzung der Arbeit betroffen sind. Sie müssen sich tagtäglich mit schwierigen Lebenslagen ihrer Klientel auseinandersetzen, die einen oft darüber hinaus in der Freizeit noch beschäftigen. Es geht bei ihnen immer darum, adäquat zu reagieren und sich zu reflektieren, darüber, wie sie sich einem Klienten gegenüber zu verhalten haben und welche Konsequenzen dies mit sich bringen kann. Gildemeister spricht von der im hohen Maße psychisch und emotional belastenden Berufstätigkeit. Es wird ein hoher persönlicher Einsatz erwartet. Außerdem müssen die Beschäftigten über spezifische Fähigkeiten wie Einfühlungsvermögen, Engagement und seelische Belastbarkeit verfügen. Mit steigender Berufserfahrung sinkt wohl die nervliche, seelische Belastung, aber die persönliche Belastung, vor allem durch das Ausmaß der zu bewältigenden Arbeitsmenge, steigt. Zu den besonderen Belastungen zählen der Doppelauftrag von Hilfe und Kontrolle sowie die Verwaltungstätigkeiten, die die eigentlichen sozialpädagogischen Aufgaben zurückdrängen und das Vertrauensverhältnis zur Klientel oft schwierig macht. Ein weiterer Problemdruck entsteht dadurch, dass wirkliches Interesse und Engagement einem zeitlich begrenzten Arbeitstag entgegen steht (vgl. Gildemeister, 1983: 100 ff.). Das Besondere in den sozialen Berufen ist die Arbeit mit Menschen und das damit empfundene Gefühl des persönlichen Versagens, wenn sich nicht die erwartete Entwicklung beim Klienten einstellt. Teilweise müssen Sozialarbeiter/ innen sich auch gegen die Interessen der Klienten entscheiden. Gründe hierfür können finanzielle, rechtliche oder individuelle sein. Trotz großer Bemühungen können diese nicht immer gelöst werden. Dies wird von den Sozialarbeitern/ innen ebenfalls oft als persönlicher Misserfolg gedeutet und ihnen bei der Arbeit ständig vor Augen gehalten (vgl. Bader, 1985: 41). Darüber hinaus würden sich die befragten Personen aus den sozialen Berufsfeldern gegen zu hohe Anforderungen wehren. Die genannten Korrela– tionen geben Hinweise darauf, dass der „Arbeitsdruck“, der „Zeitdruck“ und der „Psychische Druck“ zur Entgrenzung der Arbeit beitragen. Ebenfalls hängt die „Aktive Arbeitnehmersolidarität“ positiv mit der „Entgrenzung der Arbeit“ zu-
4.4 Berufsgruppe soziale Dienste und Erzieher/innen
231
sammen. Ein negativer Zusammenhang besteht bei dem Index „Zufriedenheit“ und dem „Gerechte-Welt-Glaube“. Enzmann und Kleiber haben ergänzend herausgefunden, dass Sozialarbeiter/innen höhere Durchschnittswerte haben in Bezug auf negative und belastende Arbeitsplatzmerkmale und in ihren Einrichtungen einer höheren Belastung ausgesetzt sind. Sie unterliegen darüber hinaus einer stärkeren Fremdkontrolle und sind am stärksten vom Zeit- und Verantwortungsdruck betroffen. Erzieher/ innen benennen dagegen weniger negative Arbeitsplatzmerkmale in ihren Einrichtungen, bemängeln jedoch die unklaren Erfolgskriterien ihrer Arbeit. Insgesamt sind jedoch Erzieher/innen und Sozialarbeiter/innen sehr deutlich von Gereiztheit, Belastung, Depression und Arbeitsunzufriedenheit betroffen (vgl. Enzmann & Kleiber, 1989: 159; 168 ff.). Umgang mit zu hohen Anforderungen und Belastungen Es gibt verschiedene Entlastungsstrategien bzw. Bewältigungsstrategien, mit diesen Belastungen umzugehen. Die erste wäre, offen zu sein und eine positive Grundhaltung einzunehmen, weil sie in den Neuerungen eine Weiterentwicklung sehen, und/oder um negativen Sanktionen zu entgehen. Dass diese Strategie beliebt ist, darauf verweisen die hohen Werte für die geäußerte Zufriedenheit. Aufgrund der eigenen Ressourcenbegrenztheit sowie einem möglichen strukturellen Ressourcenmangel, besteht jedoch die Gefahr des Ausbrennens. Eine weitere Möglichkeit wäre, das Beharren bzw. der Dienst nach Vorschrift. Dies bedeutet, nicht bereit zu sein, die Veränderungen umzusetzen, da vor allem die Nachteile gesehen werden. Auffällig war, dass die Befragten wohl diese Denkweise ansprachen, aber sich deutlich von ihr abgrenzten. Hintergründe hierfür könnten laut Ulrike Eichinger sein, dass die Befragten nicht als altbacken angesehen werden wollten oder sich dadurch nicht angreifbar machen wollten. Die dritte Bewältigungsstrategie ist die Strategie des passiven Widerstandes. Hierbei werden der Druck und die Schwierigkeiten betont, ohne dass Möglichkeiten gesehen werden gegenzusteuern oder diese Veränderung aussitzen zu können, wodurch Resignation entstehen kann. Die einzige Möglichkeit besteht dann darin, die Lücken und Spielräume auszunutzen, um durch eine Art Sabotage kurzfristig den Druck neuer Steuerungsinstrumente zu verringern. Diese Variante birgt jedoch hohe psychische Kosten. Es entsteht die Angst, entdeckt zu werden, und die Nachteile, die dadurch auf Seiten der Nutzer/innen oder Kollegen/innen entstehen. Außerdem kann die Vereinzelungsgefahr als
232
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
belastend wahrgenommen werden, da es riskant ist, die teilweise im Grenzbereich zur Illegalität angesiedelten Umgangsformen offen zu thematisieren. Darüber hinaus wäre eine weitere Möglichkeit, pragmatisch zu sein und sich zu engagieren, da für einzelne Klienten teilweise noch Erfolge erkämpft werden können. Bei dieser Strategie bleibt die Arbeitsmotivation noch erhalten, da man durch Erfolge in Einzelfällen und durch Weiterbildungen bestehen bleibt. Die zusätzliche Strategie ist, kritisch zu sein und sich für strukturelle Verbesserungen zu engagieren. Hierbei werden die positiven und negativen Aspekte gesehen, Kritik und Weiterentwicklung werden als möglich und sinnvoll gehalten, es wird die Möglichkeit gesehen, politisch etwas zu bewegen. Ulrike Eichinger ergänzt die Ausführungen mit der Annahme von Bader, dass entweder die neuen gesellschaftlichen Anforderungen schrittweise übernommen und die strukturellen (Arbeits-)Bedingungen resigniert geduldet werden (inkl. psychischer Kosten) oder, dass ihnen bei nicht normkonformen Verhaltensweisen der Ausschluss durch Kündigung drohe. Eine weitere Entlastungsstrategie wäre auch, ein halbes Jahr als Sabbatjahr zu nehmen, welches aber teilweise zulasten der Nutzer/innen und der Kollegen/ innen gehen würde, oder sich die Betroffenen auch finanziell leisten können müssen (vgl. Eichinger, 2009: 123 ff.). Außerdem spricht sie von der Exit-Strategie: „Ich verlasse das Arbeitsfeld, da die Arbeitsbedingungen es nicht ermöglichen die beruflichen Ansprüche zu realisieren und die eigene Gesundheit zu erhalten“ (ebd. 186 ff). Mit so einer Strategie soll vor allem auch dem Burn-out entgegengewirkt werden (vgl. ebd. 201). Blinkert führt weitere Bewältigungsstrategien an. Die in Berufskrisen steckenden Sozialarbeiter/innen haben seiner Argumentation zufolge zum einen die Möglichkeit, die Situation zu vermeiden, indem sie den Arbeitsplatz oder sogar den Beruf wechseln. Durch das Vermeiden der Situation kann der subjektiv empfundenen Hilflosigkeit aus dem Weg gegangen werden. Eine weitere Strategie sei die Immunisierung. Bei dieser Strategie wird die Diskrepanz zwischen den eigenen Ansprüchen und der realen Arbeitssituation abgeschwächt. Die Übernahme bürokratischer Orientierungen ist eine weitere Strategie. Die beiden letzten Strategien helfen den Sozialarbeitern/innen, Ablehnung und Misstrauen der Betroffenen zu erklären, ohne gleichzeitig das berufliche Selbstverständnis infrage stellen zu müssen (vgl. R. Gildemeister, 1983: 89). Die Idee einer solchen Bewältigungsstrategie findet sich auch in Burischs Ansatz, bei der Beschäftigte versuchen, Lösbares zu lösen und Unlösbares gelassen zu ertragen (vgl. Burisch, 2006: 210 f.).
4.4 Berufsgruppe soziale Dienste und Erzieher/innen
233
Je nach Personentyp, den eigenen Ressourcen, der Situation und vor allem dem subjektiv empfundenen Belastungsgrad wird individuell entschieden, welche Strategie dem Subjekt die geeignetste zu sein scheint. Bei all den angesprochenen Problematiken ist es deshalb besonders wichtig, dass bereits in der Ausbildung auf Paradoxien und die schwierigen Anforderungen und Belastungen der in den helfenden Berufen und in Kindertagestätten Beschäftigten hingewiesen wird. Denn nur, wenn die Betroffenen eine ungefähre Vorstellung darüber haben, was sie im Berufsalltag erwarten kann, kann der sogenannte Praxisschock vermieden werden. Sie können sich dann eher auf bestimmte Anforderungen einstellen und auf ein breiteres Repertoire an Handlungsmöglichkeiten zurückgreifen. Wenn die Paradoxien des sozialen Handelns berücksichtigt werden, könnte es einem helfen, subjektiv empfundenen Misserfolge nicht nur persönlich zu nehmen, sondern auch zu bedenken, welche enormen Anforderungen das soziale Berufsfeld an die Beschäftigten stellt. Es wurden einige individuelle Bewältigungsstrategien für den Umgang mit erhöhten Anforderungen genannt. Der Eintritt in eine Gewerkschaft kann dabei zusätzlich eine Möglichkeit darstellen. Die befragten Personen aus den sozialen Berufsfeldern sind am meisten gewerkschaftlich engagiert. Gründe hierfür sind laut den Interviews vor allem die gestiegenen Anforderungen, unbezahlte Überstunden und die fehlende Anerkennung für ihre Tätigkeit. Viele Streikbeteiligte wurden erst durch die aktuelle Streikbewegung auf die Gewerkschaften aufmerksam. Es wäre deshalb wichtig, dass die Arbeitnehmer mehr von den Aktivitäten der Gewerkschaften mitbekommen. Deshalb wurde auch seitens einer Erzieherin in einem Interview angeregt, bereits in der Ausbildung im Fach Recht auf das Thema Gewerkschaften einzugehen. Ein Raum für den persönlichen Austausch fehlt ebenfalls. Denn nur durch diesen Austausch können situationsbedingte Problematiken erkannt werden. Dennoch macht den befragten Personen aus den sozialen Berufsfeldern ihr Beruf sehr viel Spaß, sie können sich – nach ihrer Meinung – dadurch persönlich entfalten, sich durch die Arbeit selbst verwirklichen und sehen in ihrem beruflichen Handeln eine sinnvolle Tätigkeit. Vor allem diese Beweggründe sind für die hohe Identifikation mit dem Beruf verantwortlich und scheinen laut den Ergebnissen aus dem Forschungsprojekt U35 die Problematik der Entgrenzung der Arbeit zu entschärfen. Die positiven Aspekte sollten daher beachtet werden. Denn schließlich geht es doch darum, sich auch an dem, was gut ist zu erfreuen und an diesem Punkt weiter anzusetzen. Maja Heiner erläutert dazu ergänzend mit folgendem Zitat, warum es sich trotz der enormen Arbeits- und psychischen Belastung, die die sozialen Berufe mit sich bringen, lohnt, diesen auszuüben.
234
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
„Zusammen mit anderen mich kümmern und Verantwortung übernehmen für jemanden, der alleine nicht zurechtkommt. (…) Verstehen, wie Leben und Zusammenleben funktioniert. Verstehen, wie Menschen so wurden, wie sie sind, oder, wodurch sie so wurden, wie sie nie werden wollten. Über welche Alternativen verfügen Menschen überhaupt? Wer kann was dazu beitragen? Wie verlaufen Prozesse, gelingen Verbesserungen, können Verschlechterungen verhindert werden? Es bereichert, mich damit zu beschäftigen. Je mehr ich verstehe, desto weniger bin ich in Gefahr, ‚Erfolge‘ auf mein Konto verbuchen zu müssen. Ich unterstütze, informiere – der Betroffene richtet sich etwas auf – Beratung, Bewegung, Reflexion, langsam eine neue Richtung, neues Selbstwertgefühl, mehr Selbstständigkeit. Am schönsten immer wieder: der Blick in gestärkte Augen und ein erster sichtbarer Anfang neuen Glaubens an sich selbst“ (Heiner, 2007: 533 f.). Diese Aussagen zum Berufsfeld soziale Arbeit könnten mit kleinen Änderungen auch auf das Berufsfeld der Erzieher/innen übertragen werden, auch wenn es dort wohl weniger dramatisch ist. Insgesamt scheint es, als ob die Befragten aus den sozialen Berufsfeldern sich ihre Situation schönreden, denn im anonymen Fragebogen geben sie an, von der Entgrenzung der Arbeit und von dem zunehmenden Druck eher wenig betroffen zu sein. Die Interviews und andere Untersuchungen zeigen aber ein gegenteiliges Ergebnis. Hier berichten die im Sozialbereich Beschäftigten von menschlichen Schicksalen, die sie beschäftigen, von einem Gefühl des Ausgelaugtseins, der Suche nach Ruhe im privaten Bereich, von dem Druck, alles unter einen Hut zu bringen, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Besonders die Arbeit mit Menschen stellt unter erschwerten Arbeitsbedingungen eine hohe psychische und emotionale Belastung dar. Die positive Sicht auf die eigene Situation, die in der Umfrage zum Ausdruck kommt, aber sich in vielen Interviews vor allem im Sozialbereich ganz anders darstellt, verweist auf eine bestimmte Bewältigungsstrategie, die darin besteht, über Belastungen hinwegzusehen und eine positive Einstellung zu kultivieren. Eine solche Art von Verdrängung und Verleugnung kann kurzfristig subjektiv nützlich sein, dürfte den jungen Beschäftigten jedoch langfristig schaden. 4.5 Regionen Die Untersuchungen des Projekts U35 wurden in zwei Regionen durchgeführt: in Baden-Württemberg und in Berlin/Brandenburg. Die Auswahl von zwei Regionen verfolgte den Zweck, eine gewisse Repräsentativität der Studie herzustellen.
4.5 Regionen
235
Vergleich wirtschaftlich prosperierende Region – wirtschaftlich schwache Region Die forschungsleitende Frage war diesbezüglich, welche Bedeutung das Milieu einer wirtschaftlich prosperierenden Region (Baden-Württemberg) bzw. einer Region, die als strukturschwach bezeichnet wird (Berlin/Brandenburg), für die Lebensführung, die Einschätzung der Arbeitssituation und letztlich für das solidarische Handeln der jungen Beschäftigten hat. Ein Vergleich der beiden Regionen ist schon deswegen relevant, da sich nicht nur die Regionen unterscheiden, sondern auch die unter 35-Jährigen in den beiden Regionen. Die Unterschiede zwischen den befragten jungen Menschen in den beiden Regionen sind jedoch geringer, als zunächst gedacht wurde. Die Befragten in Baden-Württemberg und Berlin/Brandenburg unterscheiden sich nicht in ihrem Durchschnittsalter und auch nicht in der Geschlechtsproportion. Auch die Unterschiede in Familienstand und in der Schulbildung sind nicht signifikant. Die unter 35-Jährigen in Berlin/Brandenburg haben allerdings deutlich häufiger Kinder. Entsprechend unterscheiden sich die Lebensformen: Während die Befragten in Berlin/Brandenburg mehr mit Partner und Kinder zusammenleben (BB 26 %; BW 15 %), wohnen in Baden-Württemberg mehr noch bei ihren Eltern (7 %) oder zusammen mit dem Partner (42 %). Es gibt Unterschiede in den Arbeitsverhältnissen zwischen den beiden Regionen: In Berlin/Brandenburg haben mehr junge Leute befristete Arbeitsverhältnisse und irreguläre Arbeitsverhältnisse, wie z. B. Wochenend- und Schichtarbeit, dagegen gibt es keine deutlichen Unterschiede zwischen Vollzeit- und Teilzeitarbeit. Ebenso gibt es keine Unterschiede in Bezug auf längere Arbeitslosigkeit. Auch in den Mobilitätskriterien wie Wohnortwechsel oder häufige Umzüge zeigen sich keine Unterschiede. Betrachtet man die Branchen, in denen die jungen Befragen arbeiten, so gibt es zwar signifikante Unterschiede, aber keine Unterschiede zwischen den Branchen mit unterschiedlicher Arbeitslogik. Die Proportion von Banken/Versicherungen und IT einerseits sowie die von öffentlichem Dienst und Gesundheitswesen andererseits sind in beiden Regionen ähnlich. Diese Ergebnisse zu den Lebens- und Arbeitsverhältnissen der unter 35 Jährigen in den beiden Regionen legen nahe, einen Vergleich in den Orientierungen und Lebensführungspraxen anzustellen. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Zeiten vorbei sind, in denen man von den Berlinern und den Baden-Württembergern sprechen konnte, da beide Regionen sehr vermischt sind. Man denke nur an die große Zahl von Baden-Württembergern in Berlin, noch stärker ist die Vermischung zwischen Brandenburg und Berlin. Hinzu kommt, dass 5 % der Befragten nicht in den beiden Regionen wohnen, sondern außer-
236
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
halb. Trotzdem wurde ein Vergleich der beiden Regionen in Bezug auf Orientierung und Lebensführung sowie solidarisches Handeln durchgeführt und zwar deshalb, um festzustellen, inwiefern sich junge Menschen in einer wirtschaftlich schwachen und einer wirtschaftlich starken Region unterscheiden. Sollten sie sich nicht stark unterscheiden, so wäre das ein Hinweis darauf, dass die Ergebnisse auch auf andere Regionen übertragbar bzw. verallgemeinerbar sind. Tatsächlich gibt es nur wenige signifikante Unterschiede in den Orientierungen und Lebensführungsindikatoren. Dass bei den jungen Menschen in Berlin/Brandenburg die Familienorientierung höher ist als in Baden-Württemberg, ist leicht erklärbar daraus, dass in Berlin/Brandenburg mehr junge Menschen mit Partner und Kind(er) leben als in Baden-Württemberg. Die anderen Unterschiede beziehen sich nur auf das subjektive Verhältnis zur Arbeit. Die jungen Menschen in Baden-Württemberg identifizieren sich stärker mit ihrer Arbeit, berichten mehr über Entgrenzung der Arbeit und über Arbeitsdruck, verspüren aber mehr Anerkennung in der Arbeit. Für die unter 35-Jährigen in Berlin/Brandenburg ist dagegen ein gutes Arbeitsklima wichtiger und auch die Karriere wird stärker angestrebt. Diese durchweg signifikanten Unterschiede verweisen auf das bekannte Stereotyp, nachdem die Schwaben besonders arbeitsam sein sollen; es dürfte sich jedoch eher um einen Unterschied in der wirtschaftlichen Stärke der beiden Regionen handeln, die einen stärkeren Bezug zur Arbeit begünstigt.
4.5 Regionen Tabelle 19
237 Vergleich Baden-Württemberg (BW) mit Berlin/Brandenburg (BB)
Familienorientierung
Identifizierung mit Arbeit
Gutes Arbeitsklima
Karriere-Orientierung
Entgrenzung der Arbeit
Anerkennung in der Arbeit
Arbeitsdruck
Regionen
N
Mittelwert
Signifikanz
1=BW
612
2,08
s.
2=BB
213
1,86
BB Ç
1
646
2,41
s.
2
202
2,56
BW Ç
1
656
1,70
s. s.
2
214
1,55
BB Ç
1
646
2,65
s. s.
2
209
2,40
BB Ç
1
644
3,83
s.
2
198
3,97
BW Ç
1
660
2,85
s. s.
2
209
3,07
BW Ç
1
655
4,05
s.
2
209
4,24
BW Ç
In der Stichprobe der Region Berlin/Brandenburg, finden sich doppelt so viele mit Wohnort Berlin wie mit Wohnort Brandenburg. Berlin gilt als eine besonders attraktive Stadt, gerade für junge Menschen, und es wäre deshalb zu erwarten, dass dort die Zufriedenheit insgesamt bei den jungen Menschen höher ist. Das ist aber nicht der Fall. Die sozialen Verhältnisse, von denen die jungen Leute betroffen sind, sind in Berlin in einer Reihe von Bezirken sehr viel schlechter als in Baden-Württemberg. Dies wird auch in Interviews deutlich, die in Berlin mit jungen Beschäftigten geführt wurden, die im sozialen Bereich arbeiten. Eine junge türkischstämmige Erzieherin sieht deshalb ihr Verhältnis zu Berlin eher negativ:
238
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern „Wo sehe ich mich in 10 Jahren? Ich glaube, ich bin nicht mehr in Berlin … (Int: Du bist da nicht mehr in Berlin?) Nee … (Int: Wo bist du dann?)… Das weiß ich noch nicht, also bestimmt in Deutschland, weil ich bin ja auch hier geboren, hier groß geworden … Auch in Berlin bin ich groß geworden, in so einer Großstadt. Aber wenn ich sehe, meine Schwester ist jetzt nach Bremen gezogen, meine andere Cousine nach Hamburg, die dritte ist nach Bayern und denen geht’s … Also grad die, die in Bayern lebt, ihr geht’s ganz gut … Eben, da sind ja auch die Arbeitsverhältnisse ganz anders. Bayern sagt ja auch, ich bin ja ein Eigenstaat (lacht), was ja eigentlich nicht der Fall ist, aber denen geht’s einfach besser. Meine Schwester, die hat zwei Kinder, lebt in Bremen, ähm, da sind einfach die Leitfäden auch in Schulen besser, auch das Familiäre geht und … Es ist einfach anderes. Obwohl man sagt: Eh, das ist alles Deutschland … ist es doch trotzdem anders als hier in Berlin. Ich muss sagen, Berlin hat sich zum Negativen entwickelt.“ (I-20, 370-382)
An solchen Äußerungen zeigt sich, dass das sehr positive Image von Berlin, das viele dort hinzieht, sich nicht unbedingt in der Lebensrealität junger Menschen widerspiegelt. Verfleißigung Ost? Im Folgenden soll auf eine These eingegangen werden, die aktuell in dem Sammelband „Zwischen Prekarisierung und Protest“ diskutiert wird (vgl. Busch, Jeskow & Stutz, 2010). Die Autoren Hörz und Richter weisen darauf hin, dass in Untersuchungen mit ostdeutschen Erwerbstätigen immer wieder ein Denk- und Handlungsschemata auftaucht, das die Autoren als „Verfleißigung Ost“ bezeichnen (vgl. Hörz & Richter, 2010: 359). Hintergrund ist, dass ostdeutsche Arbeitnehmer/innen oft geradezu ideale Eigenschaften als human resource aufweisen: „Sie gelten als genügsam, leistungsbereit, sozial kompetent und willens, sich erheblichen Zumutungen des Alltags auszusetzen, um ihre Arbeitskraft zu Markte zu tragen. Bereit sind sie dafür auch, andere Werte und Lebensziele – Familie, Partnerschaft, Freizeit – gegenüber dem Ziel, in Arbeit zu gelangen bzw. diese dauerhaft zu sichern, hintanzustellen“ (ebd. 359). Die Autoren sehen in dieser Gruppe der Ostdeutschen die „Vorhut einer Gesellschaft“, die letztlich die Forderungen der Arbeitgeber verinnerlicht haben (vgl. ebd. 361). Sie argumentieren, dass der Aufbau der DDR in der Nachkriegszeit von der Idee geprägt war, dass Arbeit das Zentrum menschlichen Seins darstellt (vgl. ebd. 363). Es wurde an die Leistungsbereitschaft der werktätigen Bevölkerung appelliert „mit dem Versprechen, dass der geschaffene Mehrwert dem arbeitenden Menschen – und nur diesem – zu Gute käme“ (ebd. 363). Auch im Westen hat ein verfleißigter Teil der Bevölkerung das Wirtschaftswunder
4.5 Regionen
239
vollbracht – im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft, des fordistischen Klassenkompromisses. Hier hätte aber Arbeit nie einen solch hohen gesellschaftlichen Stellenwert erlangt. Arbeit war in der DDR hingegen mit einer erheblichen emotionalen Wertschätzung verbunden, die Betriebe wurden viel stärker in das gesellschaftspolitische Leben eingebunden, Arbeit und Arbeiter marxistisch glorifiziert (vgl. ebd. 365). Aufgrund dieser These wurde die Gruppe der Befragten, die als Wohnort Brandenburg (und andere ostdeutsche Bundesländer) angegeben haben, mit der Gruppe der Befragten in Baden-Württemberg sowie mit der Gruppe in Berlin Lebenden verglichen. Im Fragebogen wurde nur nach dem Wohnort gefragt, nicht, wo die Befragten aufgewachsen sind. Daher ist nicht mit Sicherheit zu sagen, ob die Befragten tatsächlich den oben genannten biografischen Hintergrund des Aufwachsens in der DDR gehabt haben. Dennoch kamen verblüffende Ergebnisse auf, die auf den ersten Blick die These der Verfleißigung zu stützen scheinen. Für das weitere Verständnis ist darauf zu achten, dass es zum einen nur eine kleine Gruppe von Befragten ist, die aus Brandenburg kommt, und zum anderen, dass die Unterschiede zwischen den Mittelwerten gering sind, wenn auch statistisch signifikant – dass es sich letztlich nur um Tendenzen handelt. Der Index der Ich-Orientierung beinhaltet zwei Aussagen, zu denen die Befragten zustimmen bzw. nicht zustimmen sollten (siehe auch Kapitel 2.5): zum einen die Aussage: „Wie mein Leben verläuft, hängt hauptsächlich von mir selbst ab“; und zum zweiten die Aussage „Jede/r ist für seine/ihre eigene berufliche Entwicklung verantwortlich“. Die Befragten aus Brandenburg haben signifikant mehr diesen Aussagen zugestimmt. Des Weiteren sind sie stärker an der Karriere, an einem hohen Gehalt, Aufstiegschancen etc. orientiert (vgl. Index „Karriere-Orientierung“), zudem weisen sie eine höhere Orientierung an der Familie auf. Signifikante Unterschiede ergaben sich darüber hinaus in Bezug auf den Index „Autorität“, der unter anderem die Frage nach Gehorsam und Achtung gegenüber Autoritäten beinhaltet und wie wichtig es sei, dass man sich nach den bei uns anerkannten Normen und Regeln richte. Schwache Unterschiede zwischen den Befragten in Brandenburg und Baden-Württemberg ergaben sich auch bei einigen Solidaritätsindizes: So stimmten die Brandenburger unter anderem weniger als die Baden-Württemberger dem Index „Solidarismus“ zu, sprich dem Verständnis, dass der Staat für soziale Gerechtigkeit sorgen soll. Da es nahezu zu den gleichen Differenzen kommt, wenn man die Brandenburger mit den in Berlin Befragten vergleicht, kann man sagen, dass es sich bei den Brandenburgern um eine eigene Gruppe mit eigenen Tendenzen handelt.
240 Tabelle 20
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern Vergleich Baden-Württemberg – Brandenburg Vergleich BadenWürttemberg – Brandenburg
Ich-Orientierung
Familienorientierung
Autorität
Karriere-Orientierung
N
Mittelwert Signifikanz
BadenWürttemberg Brandenburg
675
2,20
89
2,01
BadenWürttemberg Brandenburg
628
2,09
90
1,63
BadenWürttemberg Brandenburg
648
2,78
81
2,49
BadenWürttemberg Brandenburg
663
2,65
88
2,24
s. s. Brandenburg Ç stärker zugestimmt s. s. Brandenburg Ç stärker zugestimmt s. s. Brandenburg Ç stärker zugestimmt s. s. Brandenburg Ç stärker zugestimmt
Die Frage ist nun, ob diese Ergebnisse die These der „Verfleißigung Ost“ stützen. Hier wird die Annahme vertreten, dass es sich weniger um Verfleißigung handelt als um eine stärker individualisierte Haltung. Die Begründung von Hörz und Richter, dass die stärkere ‚arbeitgeberfreundliche‘ Haltung aus der hohen emotionalen Wertschätzung von Arbeit zu DDR-Zeiten resultiert, ist anzuzweifeln. Zum einen identifizieren sich die Baden-Württemberger Befragten stärker mit ihrer Arbeit, wie im ersten Teil dieses Kapitels deutlich wird. Das zeigt sich sowohl an den Indizes „Identifizierung mit der Arbeit“ als auch an der stärkeren „Anerkennung in der Arbeit“. Auch in den Interviews, in denen Befragte mit einer DDR-Vergangenheit zu Wort kommen, scheint die Möglichkeit, in der momentanen Gesellschaftsform seine Individualität auszuleben, für die Befragten eine größere Rolle zu spielen, als der Wille, sich völlig verfleißigt seiner Arbeit hinzugeben. In Berlin wurde
4.5 Regionen
241
eine Focus Group in einem größeren Dienstleistungsbetrieb durchgeführt. Die Betriebsrätin hatte die Idee der Durchführung einer Focus Group unterstützt, um mit den Mitarbeiter/innen, die dem Betriebsrat im Besonderen und den Gewerkschaften im Allgemeinen eher fern stehen sowie eher individualistische Haltungen vertreten, überhaupt wieder in ein Gespräch zu treten. Die Focus Group fand in einem Besprechungsraum des Betriebs mit drei Frauen und drei Männern statt. Die Mehrheit der Teilnehmer/innen ist in der DDR aufgewachsen. Die Mitarbeiter/innen hatten im Vorfeld den Fragebogen der Untersuchung ausgefüllt. So wurde zunächst der Fragebogen massiv kritisiert, von mehreren Mitarbeiter/innen als „tendenziös“ bezeichnet. Einige Teilnehmer/innen meinten, der Fragebogen würde das Gefühl auslösen, man müsse sich zum einen durch die verschärften Arbeitsbedingungen unter Druck gesetzt fühlen und zum anderen suggeriere er, dass dann am Ende die Lösung im Engagement liegt, in einem Verein oder noch besser: in der Gewerkschaft. Ein Mitarbeiter, der in der DDR aufgewachsen ist, fasst dies zusammen: „Bei dem Fragebogen fand ich auch, dass es am Ende doch recht tendenziell in die Richtung (…) ging, es gäbe da eventuell Institutionen, die einem da auch unter die Arme greifen. … Das sehe ich nicht so. Also ob ohne Familie oder mit Familie, das ist eine hundertprozentige Eigenverantwortung, die man für sein Leben oder auch für das Leben, was man in die Welt gesetzt hat, haben muss. Und da hilft mir auch keine Gewerkschaft oder (…) auch kein irgendwelcher Verein oder so.“ (F-3; M1: 436-442)
Die Argumentation der Teilnehmer/innen ging im Folgenden dahingehend, dass die Arbeitswelt individualisierter geworden sei, dass es nicht mehr die großen Massen an Arbeitnehmer/innen geben würde, die sich beispielsweise durch eine Gewerkschaft vertreten lassen würden. „Die Arbeitswelt ist individuell. Modern kann man es auch nennen, aber es ist, ich finde, sie ist einfach individueller. Die Arbeitswelt hört nicht mehr in Deutschland auf, sondern die ist jetzt in Europa angelangt, geschweige denn … wir müssen uns jetzt teilweise ja {nach} Asien {orientieren}. (…) Aber ich glaub’, das alles zeigt deutlicher, dass die Welt inzwischen globaler geworden ist. Aber die Arbeit, die Menschen haben, sich auch weiterentwickelt. Haben die Gewerkschaften sich auch so weiterentwickelt? Die Menschen merken das, die Menschen richten sich ein. Prekariat oder ganz unten sozusagen, diese Entkopplung, auch dort richten sich Menschen ein in ihrem Leben.“ (F-3; M1: 1001-1014)
Der Mitarbeiter schildert die veränderte Arbeitswelt, die Effekte der Globalisierung und fragt danach, ob die Gewerkschaften mit diesen Veränderungen Schritt halten. Gleichzeitig schwingt auch eine sehr fatalistische Haltung mit: Es
242
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
ist nicht zu ändern, die Menschen richten sich in dieser Situation ein – auch wenn sie eher zu den Verlierern gehören. Im Folgenden kommt dieser Teilnehmer auf seine DDR-Vergangenheit zu sprechen: „Wir sind nicht mehr in den siebziger Jahren, wo Willy Brandt noch mit ’ner Rede und ‚Hoch die Fahnenǥ und die Arbeiterklasse und diese ganzen pff, … sorry, konnt ich mich noch nie mit, äh, ist einfach nicht. Vielleicht ist das auch ein besonderer Fall, dass wir quasi hier im Osten Deutschlands sind und wir alle, zumindest ein Teil von uns, … in der DDR aufgewachsen ist und auch sozusagen von diesem Einheitsbrei genug hatte oder sich freut, dass es so individuell ist. Wenn ich mir überlege, welche Chancen hätte ich denn früher vielleicht gehabt? Mich zu entfalten und quasi Leistung zu bringen oder Leistung zu erhalten. Klar ist das Risiko jetzt höher, den Job zu verlieren, aber früher in der DDR hätt’ste vielleicht dann aus Langeweile irgendwo in ’ner Werkshalle gesessen und dann die Schrauben reingedreht. Und du hättest gar keinen Bock {gehabt} auf Elektromechaniker oder so.“ (F-3; M1: 1014-1025)
Gerade die starke gesellschaftliche Verankerung von Arbeit in der DDR, die Bedeutung des Arbeiterkollektivs, wird von diesem Teilnehmer abgelehnt. Ihn freut es, dass er nun in einer gesellschaftlichen Formation lebt, in der er seine Individualität ausleben, sich „entfalten“ kann und für seine eigene individuelle Leistung auch die entsprechende Leistung erhält. Arbeit nimmt für ihn insofern eine wichtige Stellung im Leben ein, als dass er nun in der Lage ist, seinen Neigungen zu folgen und den Beruf auszuüben, der ihm Spaß macht. Das ist natürlich nur eine Stimme, wobei ihm von den anderen Teilnehmer/ innen in dieser Focus Group zugestimmt wurde – bis auf die Betriebsrätin. Diese ist ebenfalls in der DDR aufgewachsen. Mit ihr wurde am Nachmittag ein eigenes Interview geführt. Darin wird sie gefragt, worin sie einen gesellschaftlichen Wandel sieht. Für sie äußert sich dieser unter anderem in der zunehmenden „1-Personen-Gesellschaft“, wie sie es nennt: „Also, ich bin eins und der neben mir ist auch eins und der daneben ist eben auch eins. Aber es sind selten mal 5 gemeinsam.“ (I-19: 1014-1017)
Die Interviewerin, die auch bei der Focus Group anwesend war, erinnert sie an das Gespräch und fragt, ob sie glaubt, dass diese individuelle Haltung aus der jeweiligen DDR-Sozialisation resultiert, in der diejenigen vielleicht zu sehr auf das „Wir“ getrimmt wurden. Die Betriebsrätin antwortet darauf differenziert: „Ja, also das ist, das ist einfach die Frage, wie man es empfunden hat. Die, die mir damals die Tür vor der Nase zugeschlagen haben bei der Haussammlung, die würden das genauso empfinden, die würden genauso sagen: ‚Das war das Gruseligste
4.5 Regionen
243
überhaupt, ständig wurde ich gezwungen, 1 Mark hinzugeben für Schulhefte für Mosambikǥ. Das ist einfach so in denen drin und die empfinden das dann auch genauso. Und sag ich mal, Leute, die, oder besonders Kinder, {deren} Eltern dieses ‚Wir-Gefühl‘ abgelehnt haben, weil sie das nicht mochten, weil sie sich einsam fühlten oder wie auch immer, oder anders gedacht haben, die werden auch heute noch eine Abneigung {gegen} ‚Wir-Gefühleǥ haben. Also egal, in welcher Gesellschaft, die werden das einfach haben, weil das … negativ besetzt ist.“ (I-19: 1046-1076)
Für sie ist eine individualisierte Haltung ein Phänomen, das unabhängig vom gesellschaftlichen System auftaucht. Nur sei es einfacher im jetzigen System, diese Haltung auszuleben. Sie selbst – so erzählt sie weiter – hätte dieses „WirGefühl“ sehr positiv erlebt, aber auch, weil sie in einer „Nische“ großgeworden sei. Die Schule, die sie besuchte, war klein, mit einem großen Anteil kirchlich engagierter Familien – eine Ausnahme in der DDR, wie sie selbst weiß. Man war darauf angewiesen, sich zusammenzuraufen; es wäre gar nicht möglich gewesen, Gruppen auszuschließen. „Und, deswegen ist es für mich absolut positiv besetzt, ja. Also das ‚Wir‘ ist auch zu Hause klar, dass man sich für andere einsetzt. Und wie gesagt, auch unabhängig von der Gesellschaft. Also meine Mutter setzt sich noch heute genauso für andere ein, wie sie das zu DDR-Zeiten gemacht hat, ne. (…) Das ist wirklich eine Einstellungsfrage, und deswegen würde ich das gar nicht so sehr am System festmachen. Aber wer das mag und da großgeworden ist und es so empfunden hat, der wird es am System festmachen, ganz klar. Aber er könnte sich ja heute engagieren. Ich sag mir immer, heute wäre es ja dann möglich. Wenn’s wirklich nur am System gehangen hat, dann könnte man heute sagen: ‚Jetzt ist ein anderes System, jetzt komm’ ich damit klar, jetzt bin ich bereit, mich zu engagieren.‘ Aber die haben dieselbe Abneigung gegen das ‚Wir‘ wie eben vor 20 Jahren.“ (I-19: 1091-1118)
Die Betriebsrätin wehrt sich gegen die Argumentation ihrer Kollegen/innen, dem gesellschaftlichen System ihrer Kindheit und Jugend die Begründung für ihre individualistische Haltung zuzuschieben. Sie sieht darin eher eine allgemeine Orientierung, die sicherlich auch mit den Erfahrungen mit einem bestimmten politischen System zusammenhängt, aber eben nicht nur. In ihrem letzten Satz schwingt der Vorwurf an jene Kollegen/innen mit, dass diese ihre Vergangenheit, ihre Kritik am DDR-System nutzen, um ihr Verharren, nichts zu tun, nur auf die Eigenverantwortung jedes Einzelnen zu setzen, zu rechtfertigen. Es ist sicherlich richtig, dass diese Gruppe von Menschen, die sich nach der Wende eher an einen neoliberalen Fatalismus angepasst hat, wie Hörz und Richter in Anlehnung an Pierre Bourdieu argumentieren, kaum dazu zu mobili-
244
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern
sieren ist, sich gegen ein solches politisches System aufzulehnen (vgl. Hörz & Richter, 2010: 366). Aber gerade diese Focus Group zeigt ein differenziertes Bild. Es wurde natürlich auf die Gewerkschaften geschimpft, dass das Auftreten von Gewerkschaftssekretären in Betriebsversammlungen das Bild vermittelt, diese würden „irgendwie in einer anderen Welt leben“ (F-3; M1: 831). Aber vor allem in der Auseinandersetzung mit der Betriebsrätin, die darauf beharrt, dass es wichtig ist, sich selbst, seine Gedanken einzubringen, wenn man etwas verändern möchte, entstand zumindest eine Atmosphäre des Austauschs. Die Position der Betriebsrätin wird in folgendem Zitat deutlich: „Was für mich aber dann steht oder immer wieder der Punkt ist, ist, dass ich sage, okay, das ist genau das gleiche mit den Vereinen. Ich will mich persönlich auch gar nicht von Vereinen auffangen lassen wollen, (…) {auch} nicht von der Gewerkschaft oder der Kirche, sondern ich würde das immer selber so für mich verstehen, dass ich mich engagiere oder … beziehungsweise, dass ich selber … meine Leistung, mein Gedankengut mit einbringe und wiederum tätig werde. Also nicht auf mich zukommen lasse, was da passiert, sondern, wenn ich für mich die Wichtigkeit erkannt habe, das muss jeder selbst entscheiden, ob das jetzt wichtig ist oder nicht. Aber wenn ich die Wichtigkeit erkannt habe, begebe ich mich immer dann hinein, dass ich sag: Okay, das sind meine Gedanken, das kommt mir entgegen, ich möchte mich … für bestimmte Sachen engagieren, ich möchte auch bestimmte Sachen verändern.“ (F-3; F3: 913-925)
Auch sie setzt letztlich auf Eigenverantwortung – aber eben eine Verantwortung, sich dem neoliberalen Fatalismus entgegenzustellen, zumindest bei Kritik an gesellschaftlichen Zuständen nicht nur zu jammern, sondern sich und seine Ideen einzubringen. In diesem Punkt waren sich die Teilnehmer/innen dann auch einig: Nur meckern, bringt nichts. 4.6 Bildungsmilieus Von den Befragten haben insgesamt ca. zwei Drittel (65 %) eine Berufsausbildung und ca. ein Drittel (34 %) eine Fachhochschul- und Universitätsausbildung. Keine Ausbildung hat nur 1 % der Befragten. Diese Verteilung dürfte der Ausbildungsstruktur der unter 35-Jährigen im Dienstleistungsbereich entsprechen. Es soll nicht untersucht werden, welchen Einfluss Bildung und Ausbildung auf die Lebensführung und das solidarische Handeln haben, und das wäre auch gar nicht möglich, da sich mit der Ausbildung viele andere soziale Variablen verbinden, die man nicht isolieren kann. Stattdessen wird davon ausgegangen,
4.6 Bildungsmilieus
245
dass durch Bildung und Ausbildung spezielle Bildungsmilieus hergestellt werden, die ihre Eigenheiten haben und wenig miteinander zu tun haben. In neueren Milieustudien spielen solche Bildungsmilieus eine wichtige Rolle. In dem Milieumodell von Michael Vester wird der soziale Raum auch durch „Bildungskapital“ strukturiert (Vester, 2006: 35). In dieser Milieustudie wird auch festgestellt, dass die sozialen Milieus durch „die ständische Stufung der Bildungswege bestimmt werden“ (Vester, 2006: 37). Um festzustellen, ob sich auch bei dieser Untersuchung unter den jungen Beschäftigten im Dienstleistungsbereich Hinweise auf verschiedene Bildungsmilieus finden lassen, werden im Folgenden diejenigen mit einer beruflichen Ausbildung mit denjenigen verglichen, die eine Universitätsausbildung haben. Wenn Bildungsmilieus für die soziale Aufteilung der jungen Menschen eine besondere Rolle spielen, dann sollte es auch zwischen denen, die nur eine Ausbildung haben und denjenigen, die eine Universität besucht haben, Unterschiede in Bezug auf Lebensführung und solidarisches Handeln geben. Tatsächlich gibt es signifikante Unterschiede zwischen den beiden Gruppen, es sind aber nur sehr wenige. Von den 25 Dimensionen von Orientierungen, Lebensführung und solidarischem Handeln, die durch Indizes erfasst wurden, sind nur fünf signifikant, d. h., in nur fünf Dimensionen gibt es deutliche Unterschiede zwischen den jungen Menschen mit Berufsausbildung und denen mit Universitätsausbildung. Bei den grundlegenden Orientierungen fand sich nur in Bezug auf Autoritarismus ein Unterschied zwischen den beiden Gruppen. Diejenigen mit Berufsausbildung neigen deutlich stärker zu autoritären Auffassungen als diejenigen mit Universitätsausbildung. Dies ist in der Autoritarismusforschung und der Rechtsextremismusforschung ein bekanntes Ergebnis (vgl. Held u. a., 2010). Es gibt zwischen den beiden Gruppen auch signifikante Unterschiede bei Druckfaktoren in der Arbeit, diese sind jedoch unterschiedlich. Während die Gruppe mit Universitätsausbildung stärker die Entgrenzung der Arbeit betont, sehen sich die jungen Menschen mit Berufsausbildung stärker unter Psychodruck. Dieses Ergebnis ist insofern nicht überraschend, als gerade in intellektuell anspruchsvollen Tätigkeiten die Entgrenzung der Arbeit sehr stark zugenommen hat, während in dem Bereich der Beschäftigten mit Berufsausbildung der unmittelbare Druck in der Arbeit zugenommen hat. Das scheint sich in den Ergebnissen dieser Untersuchung widerzuspiegeln.
246 Tabelle 21
4 Junge Beschäftigte in verschiedenen sozialen Feldern Vergleich Bildung Ü25 Welche Ausbildung haben Sie?
Autorität
Entgrenzung der Arbeit
Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung Psychischer Druck
Solidarismus
N
Mittelwert
Berufsausbildung
566
2,60
Universität
91
3,36
Berufsausbildung
559
3,92
Universität
100
3,47
Berufsausbildung
536
3,22
Universität
102
3,58
Berufsausbildung
548
3,37
Universität
103
3,63
Berufsausbildung
575
2,21
Universität
101
2,55
Signifikanz s. s.
s. s.
s. s.
s.
s.
Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung und Solidarität sind dagegen bei den jungen Menschen mit Berufsausbildung stärker ausgeprägt als bei denen mit Universitätsausbildung. Dies entspricht auch den Erfahrungen der Gewerkschaften, die immer wieder festgestellt haben, dass junge Menschen mit Universitätsausbildung schwerer für gewerkschaftliche Aktivitäten zu mobilisieren sind. Es gibt also Unterschiede zwischen den Gruppen mit verschiedener Bildung und Ausbildung und sie lassen sich auch mit dem Milieukonzept, d. h., durch den Hinweis auf Bildungsmilieus, erklären. Allerdings sind die Unterschiede, die in dieser Studie gefunden werden konnten, zu wenige und zu gering, um von homogenen Bildungsmilieus zu sprechen, die sich deutlich unterscheiden. 4.7 Herkunftsmilieus Auf die Frage, ob ihre Familie aus einem anderen Land stammt, antworteten 10 % mit „Ja“ und 7 % mit „Teilweise“. Diese 17 % haben also einen Migrationshintergrund und 83 % haben keinen. Das dürfte sich mit den realen Zahlen bei den Beschäftigten unter 35 im öffentlichen Dienst decken. Damit ist aber noch nicht viel ausgesagt, da sich die Beschäftigten mit Migrationshintergrund im Allgemeinen beruflich in einer anderen Position befinden, als diejenigen, die
4.7 Herkunftsmilieus
247
nicht aus Migrationsfamilien stammen. Vergleicht man die verschiedenen von den untersuchten Branchen in Bezug auf die Verteilung der jungen Menschen aus Migrationsfamilien, so finden sich keine signifikanten Unterschiede. Ähnlich wie bei den Bildungsmilieus, gibt es auch für die Herkunftsmilieus nur wenige Unterschiede in Bezug auf Orientierung, Lebensführung und Solidarität. Tabelle 22
Vergleich Herkunft
Zukunftsangst
Karriere-Orientierung
Solidarismus
„Stammt Ihre Familie aus einem anderen Land?“
N
Mittelwert
Signifikanz
Ja
88
4,24
s. s.
Nein
747
4,49
Ja
91
2,29
Nein
752
2,60
Ja
94
2,09
753
2,38
Nein
s. s.
s.
Dass die Zukunftsangst bei jungen Menschen, deren Familie aus einem anderen Land stammt, größer ist als bei den Einheimischen, verwundert nicht, da ihre beruflichen Chancen ja auch real geringer sind. Gleichzeitig ist aber die KarriereOrientierung bei den jungen Menschen aus Migrationsfamilien stärker ausgeprägt, was darauf hindeutet, dass sie im Allgemeinen nicht resignieren, sondern sich auch Chancen ausrechnen. Es wurde ein deutlicher Unterschied erwartet zwischen den beiden Herkunftsmilieus in Bezug auf Solidarität, da im gewerkschaftlichen Bereich häufig die Erfahrung gemacht wird, dass gerade die jungen Menschen mit Migrationshintergrund eine besondere Bereitschaft zu gewerkschaftlichem Engagement gezeigt haben. Bei aktuellen Aktionen spielen sie häufig eine wichtige Rolle. Dies scheint sich jedoch nicht stark in einer solidarischen Orientierung auszudrücken. Zwar finden sich bei den meisten Solidaritätskomponenten Hinweise auf stärkeres solidarisches Handeln, die Unterschiede sind jedoch nicht signifikant, außer bei einer einzigen Komponente. Die wenigen Unterschiede zwischen Leuten mit und ohne Migrationshintergrund weisen darauf hin, dass die jungen Leute mit Migrationshintergrund entweder keine Milieus ausbilden, oder dass diese Milieus im Arbeitsbereich eine sehr geringe Rolle spielen.
4.7 Herkunftsmilieus
249
5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen
Frauen stellen mit 60 % den größeren Teil der Befragten in der quantitativen Stichprobe. In den Branchen Öffentlicher Dienst und Gesundheitswesen sind sie mit den ‚frauentypischen‘ Berufsgruppen Erzieherinnen und Krankenschwestern stark vertreten. Das Alter zwischen 25 und 35 Jahren ist für viele Frauen mit der Frage nach Familiengründung verbunden. Der Mikrozensus 2008 stellt fest, dass 43,4 % der Frauen der Jahrgänge 1974 bis 1983, im Großen und Ganzen die Altersgruppe dieses Projektes, ein oder mehrere Kinder haben (vgl. Statistisches Bundesamt, 2010: 31 f.). In der Hauptstichprobe gaben jedoch nur 19 % aller Frauen an, ein Kind bzw. mehrere Kinder zu haben. Dies weist darauf hin, dass vermutlich viele Frauen mit Kindern, die aufgrund ihrer familiären Situation ihren Beruf zeitweise aufgeben, mit der Befragung nicht erreicht wurden. Studien weisen darauf hin, dass, trotz Umbrüchen, Verschiebungen und Aufweichungen in den Geschlechterbeziehungen, „die Orientierung am Muster der hegemonialen Männlichkeit“, das Männer in der Rolle des familiären Alleinernährers sieht, weitgehend ungebrochen bleibt (Jurczyk, Schier, Szymenderski, Lange & Voß, 2009: 55). Geschlechterhierarchien tradieren sich fort, was auf verschiedenen Ebenen zum Ausdruck kommt. Zum einen in Bezug auf den Arbeitsmarkt: Der Ausbau des Dienstleistungssektors hatte zwar eine Erhöhung der Erwerbstätigkeit von Frauen zur Folge, aber hier wirken nach wie vor Strukturen, die sie auf bestimmte Berufsfelder festlegen – vor allem im Bereich sozialer Dienste, Tätigkeiten im sogenannten Care-Bereich. Darüber hinaus droht die momentane Arbeitsmarktpolitik Frauen verstärkt in ‚bad jobs‘ im Niedriglohnbereich und andere prekäre Arbeitsformen zu führen (vgl. Nickel, 2007: 31 f.). Die Sparpakete der Bundesregierung, welche die sozialen Dienste in den Kommunen, aber auch das Gesundheitssystem treffen werden, lassen vermuten, dass vor allem die Tätigkeitsbereiche, in denen überwiegend Frauen beschäftigt sind, weiter unter Druck geraten. Abgesehen von diesen geschlechterdifferenzierenden Arbeitsmarktstrukturen werden in erschreckender Regelmäßigkeit die nach wie vor vorherrschenden Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen festgestellt, sowohl vertikal J. Held et al., Was bewegt junge Menschen?, DOI 10.1007/978-3-531-92826-5_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
250
5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen
zwischen den Berufsgruppen, als auch innerhalb der gleichen Berufsgruppen (vgl. BMFSFJ, 2009). In Bezug auf die Fürsorgearbeit in Familien, gibt es Anhaltspunkte einer Neugestaltung der Geschlechterbeziehungen. Dennoch kommt es bei vielen Paaren in der Phase der Familiengründung häufig zu einer Re-Traditionalisierung bezüglich der Fürsorgearbeit in der Familie (vgl. u. a. Böcklerimpuls, 19/2008; Hoff, 2008: 140; Wetterer, 2003: 304 ff.). Das hat verschiedene Gründe: zum einen ist das Betreuungs- und Bildungssystem trotz politischer Versuche der Verbesserung vielerorts nach wie vor darauf ausgerichtet, dass eine erwachsene Person für das zu betreuende Kind zur Verfügung steht. Zum anderen gibt es ein geschlechtsspezifisches Alltagshandeln in Bezug auf Fragen der Haushaltsführung, das sich hartnäckig hält und immer wieder reproduziert wird (vgl. u. a. Wetterer, 2003). Aber auch hier gibt es politische Bemühungen, Strukturen zu ändern: Durch die Einführung des neuen Elterngeldes ist die Anzahl der Väter, die dieses in Anspruch nehmen, sprunghaft angestiegen. Befragte Väter geben an, Fürsorgearbeit in der Familie realistischer einschätzen zu können und wollen sich auch nach Rückkehr in die lohnabhängige Erwerbsarbeit stärker an Kinderbetreuung und Haushaltsarbeiten beteiligen (vgl. Pfahl & Reuyß, 2009: 11). Offensichtlich gibt es einen spürbaren Bewusstseinswandel. Obgleich es nachdenklich stimmt, dass erst die Erfahrungen der Männer mit der Problematik Vereinbarung von Familie und Beruf „in den Betrieben die Sensibilität für die Belange von Beschäftigten mit Fürsorgeaufgaben“ weckt, wie die Autor/innen einer 2009 veröffentlichten Studie der Hans-Böckler-Stiftung zusammenfassend feststellen (ebd. 12). Unwillkürlich fragt man sich, warum es erst einer Handvoll von Männern braucht – denn bei aller Euphorie: 2008 beantragten 18 % aller Väter das Elterngeld und die meisten davon nur 1-2 Monate (vgl. Böcklerimpuls, 17/2009) – um diese Problematik ins öffentliche bzw. betriebliche Bewusstsein zu rücken. Trotzdem weist dieses Beispiel darauf hin, dass Elternschaft in einem Pluralisierungsprozess steht. Und auch hier ist es eine Frage des sozialen Ortes, an dem sich Eltern bzw. Mütter gesellschaftlich befinden: „Für das Familienleben ist es ein bedeutender Unterschied, ob die Mutter eine Putzfrau hat oder eine Putzfrau ist“ (Thiessen & Villa, 2009: 8). Eine Ausdifferenzierung von (familialen) Lebensformen und die Gestaltung der individuellen Geschlechterbeziehungen sind eng mit dem Wandel der Arbeitswelt verknüpft (ebd. 10). Die neoliberale Umgestaltung der Erwerbssphäre erzeugt Druck auf die lohnabhängig Beschäftigten. Dies kann dazu führen, dass sowohl überzeugte „neue Väter“ als auch Mütter sich wieder verstärkt auf den Beruf konzentrieren müssen aufgrund gestiegener Arbeitsplatzunsicherheit und längeren Arbeitszeiten (vgl. Connell, 2009: 37). Dazu kommt ein steigender Druck, seinen Kindern eine möglichst effektive Bildung zukommen zu lassen, sie zu fähigen „Marktagenten“ auszu-
4.7 Herkunftsmilieus
251
bilden, die in der Lage sind, ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt gut zu verkaufen (ebd. 38). Im Forschungsprojekt wurde der Schwerpunkt auf Lebensführung und Orientierungen junger Frauen gelegt. Bis Ende November 2008 wurden 723 Männer und Frauen über 25 Jahre befragt. Davon sind 60 % Frauen und 40 % Männer. Für das Kapitel 5.1 und 5.2 wurden nur die Ergebnisse aus der Hauptuntersuchung berücksichtigt. Da in der Nachuntersuchung besonders viele Frauen aus sozialen Diensten (Erzieherinnen) erreicht wurden, hätte es einen zu starken Überhang von Frauen in Berufen mit einer interpersonellen „Fürsorge“-Arbeitslogik gegeben (vgl. Kapitel 4.3). Innerhalb der in die Studie einbezogenen Branchen gibt es eine unterschiedliche Gewichtung der Geschlechterproportionen. Die Forschungsgruppe hat mithilfe des Statistischen Jahrbuchs 2007 eigene Berechnungen zu den jeweiligen Geschlechterproportionen in den Branchen erstellt. In unserer Studie liegt der Frauenanteil in der Branche Banken und Versicherungen bei 55,7 % (Statistisches Jahrbuch 2007 und eigene Berechnungen: 55,4 %). Im IT-Bereich wurden 46 % Frauen erreicht (Statistisches Jahrbuch 2007 und eigene Berechnungen: 36 %). Im Öffentlichen Dienst wurden 73 % Frauen befragt (Statistisches Jahrbuch 2007: 60 %). Auch im Gesundheitswesen weichen die Prozente ab: Statt 82 % wurden in der Erhebung 70 % Frauen erreicht (vgl. Statistisches Jahrbuch 2007 und eigene Berechnungen). Tabelle 23
Branchen und Gewichtung der Geschlechterproportionen Statistisches Jahrbuch 2007 und eigene Berechnungen:
Hauptuntersuchung des Projekts U35 – bis Ende November 2008:
Anteil von beschäftigten Frauen in Prozent
Anteil der befragten Frauen in Prozent
Branche
Banken/Versicherungen
55,4 %
55,7 %
IT
36,0 %
46,0 %
Öffentlicher Dienst
60,0 %
73,0 %
Gesundheitswesen
82,0 %
70,0 %
Verteilt auf die Branchen ergibt sich folgendes Bild: Obwohl viele Frauen im ITBereich erreicht wurden, zeigen sich dennoch signifikante Unterschiede innerhalb der Branchen: Ein deutlicher Frauenüberhang ist im Bereich des Öffentlichen Dienstes und im Gesundheitswesen zu verzeichnen. Dies spiegelt sich
252
5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen
auch in der Beantwortung der Frage nach dem Ausbildungsbereich. Hier zeigt sich die Tendenz zur ‚klassischen‘ Berufswahl: Während die befragten Frauen überwiegend im sozialen Bereich, im Gesundheitswesen und im öffentlichen Dienst ihre Ausbildung gemacht haben, sind sie deutlich unterrepräsentiert in den technischen Berufen. Signifikante Unterschiede zeigen sich auch in der Frage nach der Art der Ausbildung. In der Gruppe aller Befragten haben proportional mehr Frauen (70 %) eine Berufsausbildung gemacht als Männer (55 %). Deutlich mehr Männer haben eine Ausbildung an der Fachhochschule (29 % zu 20 % Frauen) und an der Universität (15 % zu 9 % Frauen). Neben der tendenziell stärkeren Präsenz von Frauen in den ‚klassischen‘ Frauenberufen, zeigt sich daher in der Struktur der Befragten auch eine Geschlechterhierarchie in Bezug auf Bildungsabschlüsse. In den ersten beiden Teilen werden Ergebnisse aus der quantitativen Auswertung vorgestellt (vgl. Kapitel 5.2 und 5.3). Forschungsleitende Fragen waren hierbei, welche signifikanten Unterschiede sich zwischen Frauen und Männern in Fragen der Lebensführungen, in ihren Orientierungen, in Bezug auf psychische Belastungen und Zukunftsangst, in ihrem Glauben an eine gerechte Welt und in ihrem solidarischen Handeln ergeben. Des Weiteren wurde untersucht, worin sich die Befragten in verschiedenen Lebensformen (Alleinlebende, mit Partner/in, mit Partner/in und Kind/ern) in Fragen der Lebensführung, Orientierungen und solidarischem Handeln unterscheiden. In diesem Kapitel werden beide Geschlechter zusammen untersucht. Einige sehr aussagekräftige Interviews mit Frauen verweisen auf die speziellen Anforderungen an eine Lebensführung, die auf die Vereinbarung von Familienarbeit und Berufstätigkeit ausgerichtet ist. Da dieses Thema die im Projekt befragte Altersgruppe aus biografischen Gründen in besonderem Maße betrifft, wurden diese Interviews in einem gesonderten Kapitel analysiert (vgl. Kapitel 5.3). Bei der Auswertung der Interviews erschienen weitere Themen, die von den Befragten mit einer besonderen Intensität genannt wurden. So wurde in den Interviews die Frage gestellt, welchem gesellschaftlichen Druck sich die Befragten ausgesetzt sehen. In einigen Interviews tauchte die Figur der Optionsvielfalt in der Lebensführung auf: Die Befragten sehen sich in einer „Welt der vielen Möglichkeiten“. Im Kapitel 5.4 wird danach gefragt, wie diese Optionsvielfalt in der Lebensführung erlebt wird, wie sie damit umgehen und worin sich dieses Erleben bei den befragten Frauen unterscheidet. In einem weiteren Interview wurde das Thema Alleinstehende Frauen nachdrücklich thematisiert. Das Kapitel 5.5 geht daher der Frage nach, was es besonders für Frauen bedeutet, alleine zu leben.
5.1 Gender – unterschiedliche Orientierungen bei Frauen und Männern
253
Im Kapitel 5.6 stehen die Aussagen in den Interviews von Männern und Frauen zu Solidarität im Zentrum. Forschungsleitende Frage ist, ob sich die Aussagen von Männern und Frauen qualitativ unterscheiden. Hier orientiert sich die Analyse an einem Konzept von Seyla Benhabib, das die Motive für moralisches Handeln in den Blick nimmt. Sie unterscheidet moralisches Handeln, das sich an „verallgemeinerbaren Standpunkten“ – wie z. B. soziale Gerechtigkeit – orientiert, bzw. moralisches Handeln, das eher den „konkreten Anderen“ in den Blick nimmt (vgl. Benhabib, 1989: 467). 5.1 Gender – unterschiedliche Orientierungen bei Frauen und Männern Im Folgenden werden signifikanten Unterschiede zwischen den befragten Frauen und Männern aufgeführt. Dabei wird der Schwerpunkt auf signifikante Unterschiede bei den Indizes gelegt. In diesen wurden immer mehrere Fragen in Bezug auf Orientierungen, Fragen nach der Lebensführung, zur Arbeitssphäre, zu psychischen Belastungen, zu solidarischem Handeln zusammengefasst. Frauen: stärkere Verortung/Orientierung an der Familie und an sozialen Beziehungen Tabelle 24
Verortung/Orientierung an der Familie und an soziale Beziehungen Index Familienorientierung
Index Karriereorientierung
Index Gutes Arbeitsklima
Index Anerkennung in der Arbeit
Frauen 60 %
Ò 1,93
Ô 2,70
Ò 1,67
Ô 2,96
Männer 40 %
Ô 2,20
Ò 2,51
Ô 1,80
Ò 2,78
Die Indizes wurden aufgrund einer Faktorenanalyse gebildet und setzen sich aus verschiedenen Items zusammen, die eine Skalierung von 1 bis 6 (1 = trifft zu; 6 = trifft nicht zu) aufweisen. Die in der Tabelle angegebenen Zahlen sind die errechneten Mittelwerte. Pfeil nach oben bedeutet: „trifft eher zu“, nach unten „trifft weniger zu“.
254
5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen
Zunächst muss vorweggenommen werden, dass im Folgenden von Tendenzen zwischen den Geschlechtern die Rede ist. Insgesamt liegen alle Mittelwerte meistens sehr nahe bei einander. Dies ist für das weitere Verständnis von Bedeutung. Die Ergebnisse der quantitativen Befragung verweisen auf das allgemein angenommene Phänomen, dass Frauen sich stärker an Familie und an anderen sozialen Beziehungen orientieren (vgl. auch u. a. Hoff, 2008; Jurczyk & Oechsle, 2008). Dies zeigt sich in erster Linie an dem Index „Familienorientierung“, dem Frauen signifikant einen höheren Wert beimessen. Der Index setzt sich aus verschiedenen Items zusammen: So geben Frauen signifikant stärker an, dass es ihnen wichtig ist, eigene Kinder zu haben, und sie bewerten Familie insgesamt stärker als die befragten Männer. Die Frage, ob die Haushaltsführung zusätzlich belastet, ist nicht Teil des Indexes. Sie wird aber ebenfalls signifikant mehr von Frauen zustimmend beantwortet und kann als Indiz genommen werden, dass sich die befragten Frauen tendenziell stärker in der Fürsorgearbeit in der Familie bzw. zu Hause einbringen. In der Geschlechterforschung wird die These der „doppelten Vergesellschaftung“ vertreten, die besagt, dass die Arbeitskraft von Frauen gesellschaftlich doppelt genutzt wird: zum einen in der Erwerbssphäre, zum anderen sind sie nach wie vor hauptverantwortlich in der Reproduktionssphäre gefordert, in der Hausarbeit und der Versorgung von Familienangehörigen (vgl. Becker-Schmidt, 2003: 115; 2007; Becker-Schmidt & Knapp, 2007). Reinhard Kreckel hat darauf hingewiesen, dass die „doppelte Vergesellschaftung“ „in der bürokratisch-kapitalistischen Gesellschaft für beide Geschlechter“ gilt (Kreckel, 1992: 268). Alle Gesellschaftsmitglieder seien von diesem grundlegenden Spannungsverhältnis betroffen. Die Frage ist, wie sie damit umgehen. Und offensichtlich sei es Männern bisher eher gelungen, sich der Ambivalenz dieses Spannungsverhältnisses in gewisser Hinsicht zu entziehen und den Anforderungen des Berufslebens in ihrer Lebensführung stärkeres Gewicht beizumessen (vgl. ebd. 268). Regina Becker-Schmidt spricht auch von der „Doppelorientierung“ von Frauen (vgl. Becker-Schmidt & Knapp, 2007: 53). Dies trifft für die befragten Frauen in besonderer Weise zu, da die Gruppe derjenigen, die angeben, mit Partner/in und Kind/ern zusammenzuleben, insgesamt – Männer und Frauen zusammen – in der Stichprobe nur 15,9 % ausmachen (siehe Lebensformen). Von 434 befragten Frauen haben 82 Frauen Kinder, darunter 10 Alleinerziehende. Obwohl aufgrund der Häufigkeiten nur 19 % der Frauen Kinder haben, weisen die Ergebnisse darauf hin, dass die befragten Frauen sich tendenziell stärker an familiären Beziehungen orientieren und in ihrer Lebensplanung nachdrücklicher an einer Familiengründung interessiert sind. Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse, dass sie soziale Beziehungen im Allgemeinen stärker bewerten als die
5.1 Gender – unterschiedliche Orientierungen bei Frauen und Männern
255
befragten Männer: Für sie sind nicht nur Freunde signifikant wichtiger, sie geben auch häufiger an, von Freunden Unterstützung zu erlangen. Außerdem erhalten Frauen tendenziell mehr Anerkennung ihrer Arbeit durch die Familie. Auch sind sie stärker an einem guten Betriebsklima interessiert. Darauf verweisen die signifikanten Unterschiede bezüglich des Indexes „Gutes Arbeitsklima“. Die Ergebnisse hinsichtlich der befragten Männer hingegen bestätigen das allgemein angenommene Phänomen, dass Männer sich tendenziell stärker an Erwerbsarbeit und ihren Beruf orientieren (vgl. auch u. a. Dörre, 2007). Sie legen signifikant einen höheren Wert auf Karriere und auf ihre Aufstiegschancen. Diese Items sind im Index „Karriere-Orientierung“ enthalten. Der Index „Anerkennung in der Arbeit“ zeigt an, dass Männer tendenziell stärker angegeben haben, Anerkennung von Vorgesetzten zu erhalten. Sie sind proportional stärker in Vollzeitstellen vertreten: 88 % der befragten Männer geben an, in Vollzeit zu arbeiten, zu 73 % der befragten Frauen. Zudem geben die befragten Männer häufiger an, tendenziell stärker mit einer Überschreitung regulärer Arbeitszeiten konfrontiert zu sein. Psychische Belastung/Zukunftserwartung Tabelle 25
Psychische Belastung/Zukunftserwartung Index Psychischer Druck
Index Zukunfts- Index Gerechteangst Welt-Glaube
Frauen 60 %
Ò 3,38
Ò 4,42
Ô 4,03
Männer 40 %
Ô 3,64
Ô 4,59
Ò 3,85
Frauen geben signifikant häufiger an, dass sie sich in letzter Zeit erschöpft und niedergeschlagen und gehetzt und gestresst fühlen. Diese Items sind Bestandteil des Indexes „Psychischer Druck“. Im Allgemeinen stimmen die Befragten den Fragen zur Zukunftsangst eher nicht zu: Der Mittelwert sowohl bei Frauen als auch bei Männern liegt deutlich auf der Ablehnungsseite. Dennoch fühlen sich die befragten Frauen ängstlicher, wenn sie „an das kommende Jahr“ denken und sind tendenziell stärker beunruhigt, dass die Zukunft so unsicher ist. Nicht im Index enthalten ist die Frage „Wie sehen Sie den gesellschaftlichen Wandel?“ Hier haben signifikant mehr Frauen (= 66 %; Männer = 56 %)
256
5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen
der Antwort zugestimmt: „Der Druck in allen Lebenslagen hat zugenommen.“ Wohingegen die Aussage „Eine neue Zeit mit vielen, neuen Möglichkeiten ist angebrochen“ tendenziell mehr Männer (= über 25 %; Frauen = 21 %) bejahten. Gründe für die stärkere Tendenz von Frauen, „Druck in allen Lebenslagen“ zu empfinden, könnten zum einen im erforderlichen Engagement sowohl in der beruflichen als auch in der privaten Sphäre und zum anderen in der deutlichen Überrepräsentation in prekären Arbeitsverhältnissen liegen. Der Blick auf die Unterschiede zwischen Männern und Frauen bezüglich ihrer Arbeitssituation zeigt, dass sich bestimmte Phänomene wiederholen, die auch in anderen Studien herausgefunden wurden (vgl. u. a. Böcklerimpuls, 19/2008; Dörre, 2007; Jurczyk, Lange & Szymenderski, 2005). Die befragten Frauen sind signifikant öfter in Teilzeitarbeitsverhältnissen als die befragten Männer: 21,5 % aller Frauen zu 6,9 % aller Männer. Darüber hinaus geben sie häufiger an, dass ihr Arbeitsplatz unsicher sei. Auch sind sie unzufriedener mit ihrem Lohn. In Orientierung an Pierre Bourdieu stellt Klaus Dörre fest, dass für die Herausbildung eines zuversichtlichen, auf die Zukunft gerichteten Bewusstseins minimale Beschäftigungs- und Einkommenssicherheit gegeben sein muss (vgl. Dörre, 2007: 286). Die emotional deutlichere Belastung von Frauen kann auch als Hinweis auf das Empfinden ungleicher Geschlechterverhältnisse betrachtet werden. Gefühle, Gefühlsäußerungen können eventuell Ausdruck unterdrückter Erfahrungen sozialer Widersprüche sein (vgl. Treeck, 2004: 119). Diese sozialen Widersprüche spiegeln sich zum einen in ungleichen Löhnen wider: Frauen erleben vielfach, dass sie für die gleiche Arbeit weniger Geld bekommen als ihre männlichen Kollegen (vgl. BMFSFJ, 2009). Darüber hinaus befinden sie sich häufiger in Teilzeitstellen, mit denen finanzielles Prekarität verbunden ist (vgl. Böcklerimpuls, 19/2008). Die Unterschiede in der Beantwortung der Fragen zum Index „Gerechte-Welt-Glaube“ scheinen diese Interpretationen zu unterstützen: Die befragten Männer gehen tendenziell eher davon aus, dass es gerecht auf der Welt zugeht. Frauen hingegen stimmen signifikant stärker der Aussage zu, dass Ungerechtigkeiten in allen Lebenslagen eher die Regel als die Ausnahme ist. Solidarisches Handeln In den Ergebnissen der quantitativen Befragung sticht hervor, dass Frauen bezüglich fast aller Solidaritätsindizes signifikant positiver geantwortet haben. Ähnliche Ergebnisse sind in der Literatur schwer zu finden. In spieltheoretischen Studien aus den 1980er-Jahren gibt es Hinweise, dass Frauen eher dazu bereit sind zu kooperieren, Männer hingegen sich stärker in Wettbewerbsituationen
5.1 Gender – unterschiedliche Orientierungen bei Frauen und Männern
257
hervortun (vgl. Bierhoff & Küpper, 1999: 186). Dennoch ist auch hier darauf hinzuweisen, dass die Unterschiede der Mittelwerte zwischen den Geschlechtern nicht sehr hoch sind. Der einzige Index, in dem beide Gruppen annähernd ähnliche Mittelwerte aufweisen, ist der Index „Aktive Arbeitnehmersolidarität“ (Mittelwerte Frauen: 2,66; Männer: 2,68). Tabelle 26
Solidarisches Handeln Solidaritäts- Solidarität syndrom im privaten Umfeld
Solidarität: Allgemeines Verantwortungsgefühl
Unterstützung Solidarismus in Notsituationen
Frauen 60 %
Ò 2,26
Ò 1,32
Ò 2,38
Ò 2,75
Ò 2,26
Männer 40 %
Ô 2,51
Ô 1,39
Ô 2,51
Ô 2,89
Ô 2,51
Was Engagement im Allgemeinen anbelangt, hat sich in der Befragung kein signifikanter Unterschied ergeben zwischen Männern und Frauen. Nur in der Art und Weise des Engagements zeigen sich Differenzen: Proportional unterrepräsentiert sind Frauen in Bereichen öffentlichen Engagements (Engagement in der Politik/in einer Partei), überproportional hingegen in Engagementbereichen, die dem Fürsorgebereich (Care) zugeordnet werden können (Engagement in Kinderund Jugendarbeit). Was könnte der Grund sein für die unterschiedlichen Antworten hinsichtlich der Solidaritätsformen? Wenn man die Gruppe der Frauen nach Branchen unterteilt und sie miteinander vergleicht, dann zeigt sich, dass hier die Werte bei einigen Solidaritätsindizes – bis auf Solidarität im privaten Umfeld – signifikant voneinander abweichen. Daher ist die Gruppe der Frauen an sich nicht homogen. Im Gegenteil, das Berufsmilieu, in dem man sich befindet, spielt eine entscheidende Rolle für die solidarische Haltung. Die Ergebnisse sind vergleichbar mit denen, die an anderer Stelle in Bezug auf Berufsmilieus festgestellt wurden (vergleiche auch hierzu: Kapitel 4). Dazu kommt, dass vor allem die Bereiche Gesundheitswesen und Öffentlicher Dienst im Zeitraum dieser Erhebung in Arbeitskämpfen standen. In
258
5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen
diesen Bereichen arbeiten mehr als 70 % Frauen. Wie Michael Vester betont, steht die Entwicklung einer solidarischen Haltung immer in Abhängigkeit einer bestimmten Praxis – wie z. B. Arbeitskämpfen (vgl. Vester 2009). Die Frage ist, ob diese Erfahrung, einschließlich des an einer bestimmten Organisationslogik ausgerichteten Berufsmilieus zu einer positiveren Bewertung solidarischen Handelns führt. Eine weitere These für die Tatsache, dass Frauen signifikant positiver auf die Solidaritätsindizes antworten, könnte in der Ursache liegen, dass Frauen sich intensiver an sozialen Bezügen orientieren und daher sich und ihren Bezug zu ihrer sozialen Umgebung in anderer Weise bewerten als Männer. Zusammenfassung Zum einen verweisen die Ergebnisse auf geläufige Phänomene, dass Frauen sich bezüglich ihrer Orientierung stärker in Familie und sozialen Netzwerken verorten und Männer hingegen häufiger den Schwerpunkt auf Beruf und Karriere legen. Es hat sich darüber hinaus gezeigt, dass Frauen signifikant stärker unter psychischem Druck stehen. Fernerhin äußern sie sich weniger zuversichtlich bezüglich ihrer Zukunftserwartungen. Die Gründe hierfür könnten in der Erfahrung ungerechter, die Frauen tendenziell benachteiligender gesellschaftlicher Verhältnisse liegen: z. B. häufigere Beschäftigung in Teilzeitstellen, ungleiche Löhne, Mehrbelastung durch Hausarbeit etc. Während Männer sich eher in der politischen Sphäre engagieren, geben Frauen proportional stärker an, sich in Bereichen zu engagieren, die dem Fürsorgebereich zugeordnet werden können (Kinder- und Jugendarbeit). Darüber hinaus stimmen sie einigen solidarischen Aspekten häufiger zu als Männer. Vor allem der letzte Aspekt wird in Kapitel 5.6 nochmals aufgenommen und im Spiegel der Äußerungen zum Thema ‚Solidarität‘ in den qualitativen Interviews betrachtet. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind gering. Dennoch zeichnen sich Differenzlinien ab, die auf gesellschaftliche Strukturen verweisen, die nach wie vor segregierend wirken. Gerade die Ergebnisse hinsichtlich des stärker gefühlten ‚Drucks in allen Lebenslagen‘ seitens der Frauen werfen die Frage auf, welche weiteren Faktoren – außer den bereits genannten – dazu beitragen, dass dieser Druck besonders von Frauen empfunden wird.
5.2 Lebensformen
259
5.2 Lebensformen Man kann davon ausgehen, dass eine Lebensführung in unterschiedlichen Lebensformen unterschiedliche Umgangsformen mit Zeitressourcen erfordert. Menschen, die Verpflichtungen sowohl in ihrem Beruf als auch in familiären Strukturen nachgehen müssen, haben möglicherweise weniger Zeit und Energie, sich darüber hinaus in anderen Bereichen zu engagieren. Als Familie wird im Folgenden die Lebensform bezeichnet, in der in einem Haushalt mindestens zwei Generationen zusammen leben. „Zeit zu haben ist eine der zentralen Ressourcen für die Gestaltung von Gesellschaft und bedeutet – in Kombination mit Bildung, Geld etc. – strukturelle Macht“ (Jurczyk, 2000: 227). Darüber hinaus geht man in soziologischen Debatten davon aus, dass vor allem Familien unter dem Druck stehen, familiäres Leben und zunehmende Anforderungen aus der Arbeitswelt unter einen Hut zu bekommen (vgl. Rerrich, 2000: 249). Es ist sogar von der „Taylorisierung der Familie“ die Rede (vgl. Kratzer & Sauer, 2007: 242). Von den 723 in der Hauptuntersuchung befragten Männern und Frauen über 25 Jahre leben 29 % alleine, 41 % in Partnerschaften und 16 % mit Partner/in und Kindern, 1,4 % sind Alleinerziehende, 6 % leben bei den Eltern und 7 % geben an, in einer Wohngemeinschaft zu leben. Die Gruppen derjenigen, die bei den Eltern oder in Wohngemeinschaften leben, einschließlich der Gruppe der Alleinerziehenden, wurden aufgrund ihrer geringen Anzahl in den Berechnungen nicht berücksichtigt. Verglichen wurden daher die Gruppen der Alleinlebenden, in Partnerschaft Lebenden und in einer Familie Lebenden (mit Partner/in und Kind/ern). Der Terminus ‚Alleinlebende‘ bezieht sich hier nur auf die Wohnform. Im Fragebogen wurde nicht nach dem aktuellen Beziehungs- bzw. Partnerschaftsstatus gefragt. Daher handelt es sich dezidiert nicht um ‚Singles‘ (vgl. Definition: Menschen ohne feste/n Partner/in von Baas, Schmitt & Wahl, 2008: 27). Dass in dieser Gruppe dennoch wahrscheinlich ein hoher Anteil Singles ist, zeigt sich an der Beantwortung der Frage, ob sie von ihrem/ihrer Partner/in Unterstützung in schwierigen Lebenssituationen erhalten würden: Hier antwortete über die Hälfte der Gruppe der Alleinlebenden mit „Nein“. Ein Blick auf die Branchen zeigt, dass in den untersuchten Arbeitsbereichen die drei Lebensformen signifikant unterschiedlich vertreten sind. In allen Branchen überwiegt die Gruppe derjenigen Befragten, die in Partnerschaft leben. In den jeweiligen Branchen schwanken die Prozente dieser Gruppe zwischen 45 % und 55 %: bis auf das Gesundheitswesen, wo der Prozentsatz der Alleinlebenden mit 44,6 % am höchsten liegt. Die IT-Branche zeigt mit knapp 40 % ebenfalls einen hohen Prozentsatz Alleinlebender auf. Die Gruppe derjenigen, die mit Partner/in und Kind/ern leben, ist insgesamt nicht sehr hoch. Dennoch zeigt sich die stärkste Gewichtung in der Branche Öffent-
260
5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen
licher Dienst mit 23,4 %, danach folgen die Branchen Banken/Versicherungen (18 %) und Gesundheitswesen (15 %). Diese Gewichtungen sind insofern von Bedeutung, als dass man daraus die Vermutung ableiten kann, dass die Gründung einer Familie möglicherweise leichter fällt, wenn man in einem Arbeitsfeld mit geregelten Arbeitszeiten beschäftigt ist, und die Möglichkeit, einen unbefristeten Arbeitsvertrag zu erhalten, stärker gegeben ist. In einer Branche, die durch entgrenzte Arbeitszeiten wie Schichtarbeit, Wochenendarbeit etc. gekennzeichnet ist, wie das Gesundheitswesen, ist es zum einen weitaus mühsamer, soziale Kontakte außerhalb des Berufsfeldes kontinuierlich zu pflegen, und zum anderen sehr viel schwieriger, einen geregelten Familienalltag zu organisieren. Signifikante Unterschiede zwischen den Lebensformen Tabelle 27
Unterschiede zwischen den Lebensformen Index Index Index Index FamilienZufrieden- Zukunfts- Entgrenorientierung heit angst zung der Arbeit
Index Zeitdruck
Index Arbeitsdruck
Alleinlebende (28,4 %=205) In Partnerschaft Lebende (40,2 %=291) Mit Partner/in und Kind/ern (15,6 %=113)
Ô 2,45
Ô 2,96
Ò 4,36
Ò 3,75
Ò 2,98
Ò 4,06
Î 1,97
Î 2,86
Ô 4,61
Î 3,93
Î 3,01
Î 4,10
Ò 1,26
Ò 2,74
Î 4,46
Ô 4,11
Ô 3,37
Ô 4,37
Zeichenerklärung Ê = signifikant stärkere Zustimmung als bei den anderen Gruppen (wie z. B. Orientierung an der Familie) Ì = signifikant schwächere Zustimmung als bei den anderen Gruppen (wie z. B. Zukunftsangst) Æ = Wert liegt zwischen den anderen beiden Vergleichsgruppen
5.2 Lebensformen
261
Das Schaubild (Tabelle 27) zeigt die signifikanten Ergebnisse einer Varianzanalyse zwischen den drei Lebensformen. Es ergaben sich Unterschiede in Bezug auf die Orientierung an der Familie, bezüglich einer allgemein bewerteten Zufriedenheit, in Bezug auf Einschätzung der Zukunft (Zukunftsangst), bezüglich Zeitdruck und Druck in der Arbeitssphäre. Familie – soziales Netzwerk Die Gruppe der Befragten mit Familie hat – wie zu erwarten – die höchsten Zustimmungswerte im Index „Familienorientierung“. Darüber hinaus gibt sie häufiger an, dass ihr Alltag stark von Routine geprägt ist. Im Fragebogen wurde danach gefragt, ob die allgemeine Rede von Eigenverantwortung und neuen Lebensmöglichkeiten ein Gefühl von Verunsicherung und Belastung oder der Offenheit und Freiheit auslöst. Diejenigen, die in einer Familie leben, geben tendenziell stärker an, dass sie das verunsichert und belastet (vgl. V 97). Diejenigen der Befragten, die mit einer Familie leben, sind überdurchschnittlich in Teilzeitbeschäftigungen. Im vorherigen Abschnitt wurde deutlich, dass in diesen Teilzeitbeschäftigungen proportional stärker Frauen vertreten sind (Böcklerimpuls, 19/2008; Dörre, 2007; Jurczyk et al., 2005). Der Gruppe der Alleinlebenden sind Freund/innen besonders wichtig. In Bezug auf diesen Item haben sie den signifikant höchsten Mittelwert (MW: 1,45). Das Gleiche gilt für die Zustimmung zu der Aussage, dass sie einen festen Freundeskreis haben (MW: 1,67). Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass Alleinlebende sich andere Arten von sozialen Netzwerken aufbauen und dabei erweiterte soziale Bezüge entwickeln als (nur) eine Orientierung an Familienstrukturen. Dies wurde in der Forschung in Bezug auf ‚Singles‘ ebenfalls wiederholt festgestellt, dass Singles über sehr viel größere soziale Netzwerke verfügen als in Partnerschaft bzw. in Familien Lebenden (vgl. Baas et al., 2008: 54 ff.). Lebenszufriedenheit – Zukunftserwartung Es fällt auf, dass die Gruppe der Alleinlebenden tendenziell unzufriedener ist (vgl. Index „Zufriedenheit“). Es zeigen sich signifikante Unterschiede bezüglich der Zufriedenheit mit ihrer finanziellen Lage und ihrer Wohnsituation. Ergebnisse in Bezug auf Zufriedenheit wurden auch in soziologischen Untersuchungen zu Alleinstehenden erzielt: Sie äußern sich im Vergleich zu gleichaltrigen NichtSingles weniger zufrieden (vgl. Baas et al., 2008: 70). Die Gruppe der Alleinlebenden zeigt sich darüber hinaus signifikant ängstlicher bezüglich der Zukunft
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5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen
als die Gruppe der in Familie bzw. der in Partnerschaft Lebenden (vgl. Index „Zukunftsangst“). Die Ursache dafür könnte sein, dass Menschen, die in Familien leben, zum einen höheren Schutz genießen vor Arbeitslosigkeit und zum anderen in der Gewissheit leben, dass im Fall eines Verlustes des Arbeitsplatz das Einkommen des/der Partner/in zumindest eine Zeit lang kompensatorisch genutzt werden kann. Arbeitssituation Alleinlebende leiden signifikant stärker unter Zeitdruck, Leistungsdruck und entgrenzter Arbeitsformen (vgl. Index „Entgrenzung der Arbeit“). Die Gründe hierfür könnten in den Branchen liegen, in denen sie von der Gewichtung her stärker vertreten sind: im Gesundheitswesen und in der IT-Branche. Zudem ist die Gruppe der Alleinlebenden verstärkt in Vollzeitberufen vertreten und tendenziell mehr von befristeten Arbeitsverträgen und Überschreitung regulärer Arbeitszeiten betroffen. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass Alleinlebende in Betrieben eher zu größerer Verantwortung herangezogen werden als diejenigen, die Verpflichtungen in familiären Zusammenhängen haben. Menschen mit Familie haben gegenüber Forderungen nach mehr Engagement aus dem Arbeitsbereich eher die Möglichkeit, sich abzugrenzen mit Verweis auf ihre ‚Doppelbelastung‘. Dass dies zu Lasten der Anerkennung seitens der Vorgesetzten oder Kollegen/innen geht, zeigen die Ergebnisse aus dem vorherigen Kapitel. Dennoch lässt sich aus den Ergebnissen in Bezug auf Alleinlebende ablesen, dass diese offensichtlich weniger ‚gute Gründe‘ haben oder anführen können, die geforderte Verantwortung über das normale Maß hinaus abzulehnen. Alleinlebende geben darüber hinaus signifikant häufiger an, dass ihnen ihre Arbeit weniger Spaß macht oder sie sich durch die Arbeit überlastet fühlen. Dennoch ist die These zu prüfen, inwieweit verstärkte Anforderungen im Beruf emotional bedrückender empfunden werden, wenn es außer dem Freundeskreis, wenngleich dieser eine stärkere Rolle spielt als bei den anderen Gruppen, kein emotionales Unterstützungssystem gibt. Solidarität Die These, dass aufgrund von Belastungen durch verschiedene Tätigkeitsbereiche, wie Arbeit in der Erwerbssphäre und in der Familie, die Zeitressourcen für gesellschaftspolitisches Engagement knapper sind, muss angezweifelt werden. Zumindest was die sozialen, politischen und ehrenamtlichen Engagementformen
5.3 Vereinbarkeit Familie – Beruf: Frauen mit Kindern
263
anbelangt, zeigt sich keine Signifikanz in den Antworten der Frage „Engagieren Sie sich in Ihrer Freizeit?“ Bezüglich des solidarischen Handelns gibt die Gruppe der Alleinlebenden signifikant am häufigsten an, im Notfall zu einem Streik bereit zu sein, und findet eher gewerkschaftliche Interessenvertretung wichtig. Zudem würden sie sich signifikant stärker in Notsituationen für ihre Freunde einsetzen. Zusammenfassung Wie eingangs erwähnt, befinden sich Elternschaft, familiale Lebensformen im Wandel in enger Verknüpfung mit dem Wandel der Arbeitssphäre. Dies betrifft letztlich auch alle weiteren Lebensformen. Ein Beruf, der beispielsweise von stark wechselnden Arbeitszeiten, einer hohen Beschäftigungsunsicherheit, geringen Verdienstmöglichkeiten gekennzeichnet ist, schmälert evtl. den Möglichkeitsraum, eine Familie zu gründen. Jedenfalls scheinen die Ergebnisse hinsichtlich der Gewichtung der Lebensformen in den jeweiligen Branchen darauf zu verweisen. In den soziologischen Debatten wird häufig davon ausgegangen, dass Familien stärker unter Druck geraten durch übergriffige Anforderungen der Arbeitswelt. In dieser Erhebung zeigt sich, dass die Gruppe der Alleinlebenden signifikant stärker unter Entgrenzung der Arbeit leiden. Sie zeigen sich insgesamt unzufriedener und pessimistischer bezüglich der Zukunft. Allein zu leben führt darüber hinaus nicht automatisch zu einer individualistischen Lebensweise – sprich, losgelöst aus sozialen Bindungen und bar jeglichen solidarischen Gemeinschaftsgefühls –, wie ebenfalls mancherorts befürchtet wird (vgl. Baas et al., 2008; Beck & Beck-Gernsheim, 1990). Im Gegenteil: Sowohl die Ergebnisse bezüglich der Wertigkeit von Freunden als auch bezüglich der Wichtigkeit einer gewerkschaftlichen Interessenvertretung weisen darauf, dass andere (als familiäre) soziale Netzwerke eine Rolle spielen. Die qualitativen Interviews zeigen, dass die Vereinbarung von Familie und Beruf eine große Herausforderung insbesondere für Frauen darstellt. Im Folgenden werden daher die beiden Gruppen – Frauen in Familien und alleinstehende Frauen – unter Heranziehen der Interviews einer genaueren Betrachtung unterzogen. 5.3 Vereinbarkeit Familie – Beruf: Frauen mit Kindern In der quantitativen Stichprobe hat sich gezeigt, dass 19 % der befragten Frauen Kinder haben. Unter den 40 bearbeiteten qualitativen Interviews sind acht Frauen
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5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen
und ein Mann, die mit Kindern zusammen leben. Drei der acht Frauen sind alleinerziehend. Das Thema Vereinbarung von Familie und Beruf spielt jedoch auch bei den anderen Frauen in den qualitativen Interviews häufig eine Rolle – vor allem, wenn sie über ihre Zukunft sprechen. Eine Erzieherin beispielsweise wird nach den Herausforderungen gefragt, vor denen sie heute steht: „Also in erster Linie wird wahrscheinlich die nächste Herausforderung sein, irgendwann einmal Beruf und Familie zu kombinieren. Aber im Moment ist das noch (stöhnt) ja – relativ gut, alles unter einen Hut zu bringen. Eine Herausforderung wäre auf jeden Fall vielleicht eine Leiterinnenposition irgendwann. Und da stellt sich halt für mich die Frage, wie ist das, wenn man so eine Leiterinnenposition annimmt, wie ist das dann, wenn man sich zwei Kinder wünscht, wenn man Kinder haben will? Lässt sich das noch alles unter einen Hut bringen? Also irgendwie genug für das Kind da zu sein und gleichzeitig halt eine gute Leitung zu sein.“ (I-27: 25-40)
Diese Erzieherin nennt ihre berufliche Zielsetzung, eines Tages die Leitungsstelle eines Kindergartens zu übernehmen. Gleichzeitig nimmt in ihrer Lebensplanung Mutter zu werden eine zentrale Rolle ein. Ihr ist bewusst, dass die Vereinbarung dieser beiden Arbeitsbereiche ihre zeitlichen Kapazitäten sprengen könnte und fragt sich, wie sie das schaffen kann. Eine weitere Erzieherin sieht sich in zehn Jahren ebenfalls als Mutter. Sie wünscht sich, einige Zeit zu Hause bei den Kindern bleiben zu können – gleichzeitig möchte sie sich weiter in ihrem Beruf engagieren (vgl. I-18: 1270-1310). Auch die Ergebnisse der quantitativen Stichprobe haben gezeigt, dass Frauen sich stark an familiären Bezügen orientieren. Es ist daher davon auszugehen, dass die Frage nach Vereinbarung von Familie und Beruf eine zentrale Stellung einnimmt. Vereinbarkeitsproblematik Anne: Heilerziehungspflegerin – zwei Kinder – 50 %-Stelle – mit Partner Anne, 32 Jahre alt, ist von Beruf Heilerziehungspflegerin. Zur Zeit des Interviews hat sie gerade ihren Erziehungsurlaub beendet und wieder angefangen, zu 50 % zu arbeiten. Sie hat zwei Kinder im Alter von drei und eineinhalb Jahren. Die Betreuung der Kinder sowie ihre Arbeit als Heilerziehungspflegerin zu vereinbaren, ist für sie ein umfassender Konflikt. Dieses Thema zieht sich durch das gesamte Interview. Sie möchte arbeiten gehen, um Geld hinzuzuverdienen, aber auch um etwas „eigenes“ zu haben. Gleichzeitig bedeutet die Organisation der Betreuung der Kinder ein „kompliziertes Management“. Auf ihrer Arbeits-
5.3 Vereinbarkeit Familie – Beruf: Frauen mit Kindern
265
stelle fühlt sie sich als Teilzeitkraft nicht richtig wertgeschätzt, man sei dadurch „nicht so drin“. Der Druck von außen ist ein weiteres zentrales Thema des Interviews: Anne empfindet den Druck durch die Gesellschaft (Medien, Werbung, Bekannte), alles gut hinbekommen zu müssen: als Mutter, trotzdem motiviert arbeiten zu gehen, als Partnerin die Partnerschaft zu pflegen, als junge Frau auch attraktiv zu bleiben. Sie würde dabei oft an ihre Grenzen kommen. Sie fühle sich erschöpft. Ihr kommt es so vor, als ob der Druck zugenommen hätte. Es sei eine schnelllebige Zeit; es gebe viele Möglichkeiten und Angebote. Ihre Bewältigungsstrategie ist, sich zu besinnen und darauf zu konzentrieren, was wirklich wichtig ist. Zeit für sich hat sie nur, wenn die Kinder anderweitig betreut sind. Diese muss sie sich erkämpfen und ist zu einem kostbaren Gut geworden. Auf die Frage, was sie bewegt, kommt Anne nochmals auf die Schwierigkeit, alles zu vereinbaren, zu sprechen. Das sei für sie auch ein „Identifikationsding“: die Frage, wie man als Mutter, Arbeitnehmerin und junge Frau ‚sich selbst‘ bleiben kann. Wie lässt sich „alles unter einen Hut bekommen“, ohne depressiv zu werden? Anne wird nach ihrem beruflichen Werdegang gefragt und vor welchen Herausforderungen sie heute steht. Sie antwortet: „Ich bin Heilerziehungspflegerin von Beruf und hab vor gut drei Jahren ein Kind bekommen und noch ein zweites Kind vor anderthalb Jahren und bin jetzt ein bisschen raus aus dem Berufsleben. Hab immer wieder zwischendurch Teilzeit gearbeitet und steig auch jetzt grad wieder ein, Teilzeit zu arbeiten in einer Einrichtung für behinderte Menschen. Und ich find es ein bisschen schwierig, alles zu vereinbaren, also Kinder, Familie, Haushalt und arbeiten gehen und so. Also ich komm da schon an meine Grenzen und ich fühl mich da oft auch nicht gut unterstützt.“ (I-35: 44-58)
Die Biografie von Anne ist von einem starken Wechsel zwischen Phasen der Berufstätigkeit und Fürsorgearbeit in ihrer Familie geprägt. Sie hat versucht, in ihrem Beruf als Heilerziehungspflegerin den Fuß in der Tür zu halten, indem sie in der Zeit zwischen der Geburt ihrer zwei Kinder immer wieder in Teilzeit gearbeitet hat. Dennoch stellt sie für sich fest, dass sie aus dem Berufsleben „raus“ sei, dass es zum einen schwierig ist, jetzt – nach der Elternzeit – wieder einzusteigen. Zum anderen fühlt sie durch den Versuch, alle Arbeitsbereiche zu vereinbaren, dass sie an ihre Grenzen kommt und dass ihr Unterstützung fehlt. Sie fährt fort: „(…) oder ich weiß nicht, wie ich sagen soll, also ich find, in der Gesellschaft gibt es schon einen großen Druck, dass man Karriere machen soll, arbeiten gehen, sein Geld verdienen, das man am besten auch wieder ausgeben soll. Und von der Kinderbetreuung wird immer ganz groß geredet in den Nachrichten und so, aber für mich ist das irgendwie alles echt ziemlich erschwert: also die Kinder betreut zu haben und gleichzeitig noch arbeiten gehen zu können. Mir ist es schon wichtig, erstens, um
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5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen was dazuzuverdienen für die Familie, aber auch dass ich so in meinem Beruf drin bleibe und was eigenes hab und so. Mir ist das schon wichtig, aber ich find’s schwierig, für mich ist das echt grad ein Konflikt. (…) Wie ich die Kinder betreue, das ist so richtig kompliziertes Management.“ (I-35: 58-81)
Anne benennt ein wesentliches Thema, das im weiteren Verlauf des Interviews immer wieder zur Sprache kommt: der Druck, die Erwartung, die sie aus der Gesellschaft kommend verspürt. Sie empfindet den Widerspruch, dass zum einen ein hohes berufliches Engagement erwartet wird, zum anderen dies gerade für Mütter unter der gegebenen (Kinderbetreuungs-)Situation nur sehr erschwert machbar ist. Sie betont, dass ihr das Arbeiten in ihrem Beruf wichtig ist, um etwas zur wirtschaftlichen Situation ihrer Familie beizusteuern, um ihren Beruf ausüben zu können und vor allem: um etwas „Eigenes“ zu haben – einen Bereich, in dem sie ihre Fähigkeiten, ihr Können und Wissen ausleben und weiterentwickeln kann und diese nicht zugunsten der Fürsorge in ihrer Familie verkümmern müssen. Diese unterschiedlichen Anforderungen zu bewältigen hat sich für sie zu einer Konfliktsituation entwickelt. Arbeiten, einen Beruf zu haben, der einen erfüllt und eine Familie zu gründen, waren Ziele, die sich Anne schon früh in ihrem Leben gesetzt hat: „Also mir war’s immer ganz arg wichtig, auch mal Kinder zu kriegen. Ich bin jetzt einunddreißig und ich hab mir immer gedacht, ich möchte eigentlich bis dreißig meine Kinder haben, weil ich nicht so ’ne furchtbar alte Mutter sein möchte und das find ich eigentlich voll schön. Also ich bin dreißig geworden und das war ganz komisch, dann hab {ich} aber schon so ein bisschen Resümee gezogen, wo ich eigentlich bis jetzt steh. Und war eigentlich dann einfach zufrieden, dass ich gedacht habe, ich hab mit dreißig zwei kleine Kinder, ich hab meine Berufsausbildung, möchte gerne in meinem Beruf weiterarbeiten. Da gibt’s immer diesen kleinen Konflikt, dass ich das eben so schwierig find’, Kinder und arbeiten. Das geht nicht immer so ganz, wie ich es gerne hätte, weil, ich möchte zum einen nicht meine Kinder komplett abgeben wegen der Arbeit, soviel ist es mir dann auch nicht wert. Aber ich möchte auch nicht überhaupt nicht arbeiten wegen meiner Kinder (…), da bin ich ein bisschen unzufrieden und denk immer, das wird dann bestimmt im Lauf der Zeit besser, weil die Kinder dann größer werden. Dann werd ich mich wohl auch ein bisschen mehr wieder im Beruf verwirklichen. Aber so eigentlich bisher, was ich mir vorgenommen hab so, ich bin eigentlich ganz zufrieden.“ (I-35: 468-499)
Anne ist rückblickend mit ihrem bisherigen Leben zufrieden. Sie konnte die Ziele, die ihr wichtig waren, verwirklichen. Die beiden Bereiche in ihrem Leben zu vereinbaren, bringt sie dennoch in ein Dilemma – oder in einen „kleinen Konflikt“, wie sie es hier nennt. Auf der einen Seite steht ihr Wille, für ihre Kinder da sein zu können, auf der anderen Seite ihr Wunsch nach beruflicher
5.3 Vereinbarkeit Familie – Beruf: Frauen mit Kindern
267
Selbstverwirklichung. Letzteres kommt für sie gerade zu kurz. Ihre berufliche Weiterentwicklung stellt sie zugunsten der Kinderbetreuung zurück und hofft auf die Zukunft, auf die Zeit, in der ihre Kinder älter sind und sie nicht mehr so stark in Anspruch nehmen. „Als eine der großen Reibungsflächen der historisch ererbten Lebensformen gilt … die Verbindbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit im Lebensverlauf von Frauen (Mantl, 2006).“ (Krüger, 2008: 266) Helga Krüger hat innerhalb der Lebenslaufforschung darauf aufmerksam gemacht, dass der weibliche Lebenslauf „zwischen zwei Strukturgebern in der Lebensführung, mit zwei Planungsperspektiven und zwei für die Phasengestaltung relevanten Partizipationsmustern“ balanciert (vgl. Krüger, 1995: 201). Der Status als Mutter bzw. als Arbeitnehmerin bringt jeweils höchst unterschiedliche Anforderungen in die Lebensführung (vgl. ebd. 202). Diese zu einem konsistenten Lebenslauf zusammenzusetzen ist für Anne schwierig, wie sie häufig betont. Sie nimmt Abstriche in ihrem beruflichen Werdegang hin. Dennoch betont sie das bereichernde Element, von allem etwas zu haben. Das Leben sei mit den Kindern viel komplexer, aber eben auch bereichernder geworden (vgl. I-35: 157-172). „Ich find’s gut, von allem was, also Zeit für die Kinder zu haben und arbeiten zu gehen und so. Bin tendenziell schon zufrieden, aber was mich stresst, ist eben, dass das alles so viel ist, (…) dieses Komplizierte einfach, dass es gar nicht so einfach ist.“ (I-35: 189-197)
Anne kämpft mit den sehr unterschiedlichen Anforderungen: zum einen die Versorgungspflichten als Mutter kleiner Kinder, zum anderen die Erfordernisse an der Arbeitsstelle, präsent zu sein und – trotz Halbtagskraft – einen guten Job dort zu machen. Diese Vereinbarkeitsproblematik wird in allen Interviews der Frauen thematisiert, welche sowohl Kinder zu versorgen haben, als auch überwiegend in Teilzeitstellen einem Beruf nachgehen (vgl. I-2, I-14, I-29, I-31, I-40). Im Folgenden werden diese Interviews zur Verdeutlichung mit einbezogen. Die Sozialpädagogin Claudia, verheiratet, ein Junge im Kindergartenalter, antwortet auf die Frage, vor welchen Herausforderungen sie heute steht: „Die Herausforderung ist eigentlich, den Alltag mit Familie und einer Teilzeitstelle von 50 % so gut wie möglich zu vereinbaren, dass letztlich niemand das Gefühl hat, er leidet darunter; aber auch wirklich allen Bereichen gerecht zu werden: der Familie …, dem Kind im Speziellen, sich selber, sich als Paar. Und den Freizeitbereich, den möchte man ja auch nicht vergessen, seinen persönlichen. Zeit zu zweit,
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5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen Zeit als Familie und dann aber noch genügend Energie für den Job und alles, was man drum herum noch organisieren muss. (…) Also das ist ein Balanceakt, den man immer wieder versuchen muss zu strukturieren.“ (I-31: 48-66)
Ulrike, Sparkassenfachwirtin mit zwei Kindern, erzählt: „Es ist also eine wahnsinnige Organisation (…). Vom Zeitfenster her ist es ziemlich knapp. Es ist (...), wie soll ich sagen. Also ich find’s angenehm, hier zu arbeiten, weil’s was ganz anderes ist. Aber dann muss ich halt wieder relativ schnell, ich hab’ halt auch einen weiten Weg zu fahr’n, heim, und dann sind die Kinder schon da und dann geht’s halt gleich weiter. Also, es gibt eigentlich keine Pause, auch für mich nicht. Und klar, die woll’n dann auch, also sie machen dann ganz toll mit, aber wenn ich dann da bin, vereinnahmen sie mich auch ziemlich, was als Ausgleich, denk ich, logisch ist.“ (I-14: 178-213)
In beiden Aussagen der Frauen spielt der Faktor Zeit eine erhebliche Rolle. Bei Claudia ist es die Frage nach der Zeit für bestimmte Teilaspekte ihrer Lebensführung: die Betreuung ihres Kindes, ihre Teilzeitstelle, Zeiten die man als Familie oder als Paar zusammen verbringen möchte. Ulrike nennt ganz konkret die Zeitfenster jeden Tag, die eng geschnitten sind, so dass sie für sich selbst keine Pause nehmen kann. Jedes dieser Zeitsequenzen hat einen wichtigen Wert für sie, bedeutet aber einen immensen alltäglichen Organisationsaufwand. In ihrem Interviewausschnitt wird noch ein weiteres Element deutlich. Helga Krüger weist darauf hin, dass die Familie eher als „strukturlose Strukturierung“ im Lebenslauf auftaucht (vgl. Krüger, 1995: 201). Das führt zu einer ambivalenten Gefühlsgemengelage (vgl. auch Becker-Schmidt, 2003: 121). Ulrike macht ihre Beschäftigung als Sparkassenfachwirtin Spaß. Sie betont, dass ihre Kinder das alles gut mitmachen. Diese Äußerung könnte, wenn nicht auf die Befürchtung, dann doch auf das Gespür verweisen, dass Kinder in der Alltagsorganisation ein nicht vollständig planbares Element sind, dass sie beispielsweise krank werden können, dass die Schule ausfallen kann oder schlichtweg sie sich weigern können, zum Mittagessen zur Oma zu gehen. Davon abgesehen wird deutlich, dass durch den Versuch, die verschiedenen Anforderungslogiken miteinander zu vereinbaren, Abstriche gemacht werden müssen – bei Ulrike sind es die Pausen, Zeit für sich zum Luftholen. Wenig später im Interview fasst sie jedoch zusammen: „Also hier {in der Filiale} gefällt es mir, weil, es ist was ganz anderes. Und ich kann für mich arbeiten, und es ruft nicht jemand zehnmal mal irgendwas dazwischen. Aber zu Hause gefällt’s mir auch, also (lachend). Es ist halt was ganz anderes. Eigentlich ich bin ja auch froh, dass es so flexibel ist. Also da bedaure ich manchmal die Männer, dass sie immer nur arbeiten müssen.“ (I-14: 246-269)
5.3 Vereinbarkeit Familie – Beruf: Frauen mit Kindern
269
Trotz Jonglierens mit den Zeitfenstern, hat jeder der Bereiche für Ulrike seinen eigenen Wert. Hinter der Aussage bezüglich ihres Arbeitsverhältnisses „weil es etwas ganz anderes ist“, könnte die Erfahrung stecken, nicht nur brachliegende Kompetenzen weiterentwickeln zu können, sondern auch dafür öffentliche Anerkennung zu erhalten. Dieser Aussage spürt man ab, dass sie irgendwie auch stolz darauf ist, so viele unterschiedliche Arbeitsbereiche in ihrem Leben zu haben. Der Kampf mit unterschiedlichen Zeitlogiken prägt die Lebensführung der befragten Frauen. „Herbert Marcuse bezeichnet Institutionen als ‚geronnene Gewalt‘ der Geschichte, da sie Leitbilder, Normen und Wertsysteme einer Gesellschaft strukturell verfestigen. Hiernach ist davon auszugehen, dass seit der historischen Trennung von Arbeitsmarkt und Familie und ihrer Unterlegung mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung (…) sich diese als Segregationsprinzip in alle gesellschaftlichen Organisationen eingelagert hat“ (Krüger, 1995: 202). Das öffentliche Betreuungssystem, sei es das Kindergarten- oder das Schulsystem, geht davon aus, dass es eine Person gibt, die vollkommen zur Verfügung steht (vgl. Jurczyk, 2000: 231; Jurczyk et al., 2005: 16). Dies kollidiert häufig mit den Arbeitszeiten vor allem in Berufen des Gesundheitswesens oder im sozialen Bereich. Anne bezeichnet das alles als sehr widersprüchlich – arbeitsrechtlich hat sie ihre Stelle, das Recht auf Erziehungsurlaub, aber „dass dann die Arbeitszeiten, die meine Arbeitgeber mir anbieten, dass die dann passen mit den Betreuungszeiten von den Kindern, das finde ich alles höchst kompliziert (…)“ (I-35: 90-95). Sehr viel deutlicher formuliert es die Krankenschwester Christine, die im Moment in Mutterschutz ist mit ihrem ersten Kind, die sich aber wünscht, wieder in den Beruf einzusteigen (vgl. I-2). „Dadurch, dass wir im Schichtdienst arbeiten, hat zum einen keine Kinderkrippe morgens um fünf offen, wo ich ein Kind abgeben kann, und abends um neun auch nicht mehr. Somit gibt’s da schon mal eingeschränkte Möglichkeiten mit einem Kind (…), {dieses} wegzugeben, wenn man wieder arbeiten gehen möchte. Bei uns ist es etwas einfacher, ich hab eine Schwiegermutter um die Ecke. Und ich werd sicher nächstes Jahr wieder einsteigen, mit vier Tagen, allerdings nur im Monat.“ (I-2: 223-229)
Die Problematik Arbeitszeiten und Betreuungszeiten der Kinder miteinander abzustimmen, ist bei den beiden befragten Frauen, die alleinerziehend sind, sehr viel gravierender. Es handelt sich um die Altenpflegerin Pauline (vgl. I-29) und die Krankenschwester Britta (vgl. I-40). Beide müssen mindestens 50 % arbeiten, um sich finanziell einigermaßen über Wasser halten zu können. Pauline kann sich keinen Ganztageskindergarten leisten (vgl. I-29: 371-374). Sie arbeitet in
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einem Altenheim auf einer 60 %-Stelle in der Nachtschicht. Die Verzahnung der Betreuung ihres Sohnes und der Arbeit ist eine genaue zeitliche Organisation: „Er {der Sohn} geht um acht bei meiner Mutter ins Bett. Ich geh um dreiviertel neun schaffen und morgens um sieben komm ich dann hin, weck ihn auf. Er hat dann nur die Nacht gehabt, Augen zu, Augen auf, Mama ist wieder da, so nach dem Motto. Und dann bring ich ihn in den Kindi, er ist dann sowieso nicht da. Ich kann schlafen, er kommt und ich bin da. Also das ist eigentlich die optimale Lösung momentan.“ (I-29: 394-405)
Der Tagesablauf ist passgenau darauf ausgerichtet, dass sie ihren Sohn möglichst umfassend betreuen, für ihn da sein kann. Dafür nimmt sie auch eigene körperliche Einschränkungen in Kauf: der Kräfte zehrende Nachtdienst und nur vier Stunden Schlaf am Tag. Sie würde sehr gerne in der Tagschicht arbeiten und sich auch mehr in ihrem Beruf engagieren, neue Herausforderungen wie die Übernahme einer Stationsleitung oder die Ausbildung von Altenpfleger/innen annehmen. Aber eine 100 %-Stelle ist einfach nicht möglich. Da möchte sie warten, bis ihr Sohn „aus dem Gröbsten“ raus ist (vgl. ebd. 283-298). Britta arbeitet als Krankenschwester. Sie hat eine 50 %-Stelle und ein Kind im Kindergartenalter. „Ich bin jetzt auf einer Station, wo ich auch erst mal bleiben werde aufgrund der Familiensituation. Weil da die Kollegen mir entgegenkommen aufgrund meines Kindes, (…), dass ich nicht in drei Schichten in der Woche arbeite. Also ich darf halt in der Woche nur Frühdienste machen und mache am Wochenende halt mal Dienst, dann halt auch mal Spät- und Nachtdienst. (…) Ist eine Abmachung auf Station. Da ist der Arbeitgeber mir leider nicht entgegengekommen. Also hätten die Kollegen mir da nicht geholfen, (...) hätte ich Hartz IV beantragen müssen.“ (I-40: 114-134)
Für sie als Alleinerziehende bedeutet das Entgegenkommen ihrer Kollegen/ innen, dass sie weiter in ihrem Beruf arbeiten kann und dass sie nicht in die finanziell wesentlich prekärere Lage als Hartz-IV-Empfängerin rutscht. In der Frauenforschung gibt es die These, dass die Attraktivität von traditionellen Frauenberufen für junge Frauen eben darin besteht, weil sie Frauenberufe sind. Sprich – allein die Tatsache, dass der Frauenanteil in einem Berufsfeld hoch ist, scheint zu versprechen, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, nach wie vor ein grundsätzlicher Anspruch an die weibliche Normalbiografie, gelingt (vgl. Gildemeister & Robert, 2008: 138). Gerade in den Berufen im Gesundheitswesen wird dieses Vereinbarkeitsversprechen nicht eingelöst. Britta, die alleinerziehende Krankenschwester, erzählt:
5.3 Vereinbarkeit Familie – Beruf: Frauen mit Kindern
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„Also ich hatte mir mit 16 gesagt, ich möchte einen Beruf ergreifen, wo ich mich mit einem Kind alleine, unabhängig von einem anderen Menschen, leben kann. Und das habe ich erreicht. (…) Ja, das lernt man, man lernt ja dazu, na? Das war halt für mich persönlich wichtig, einen Beruf zu ergreifen, wo ich sage: Okay, da kann ich Geld verdienen, man lebt jetzt auch nicht superschlecht, jedenfalls damals war es noch so, und man kann trotzdem noch ein Kind großziehen. Finanziell gesehen und mit Schwierigkeiten, wie krieg ich das Kind dann unter: Natürlich habe ich das mit sechzehn noch nicht beachtet.“ (I-40: 393-409)
Die Lebensplanung, wie sie sich die 16-jährige Britta ausgemalt hat, ist modern. Das Bild einer ‚heilen Kleinfamilie‘ hat sie kritisch betrachtet und realistisch eingeschätzt, dass sie einen Beruf braucht, mit dem sie sich und ein Kind allein ernähren kann. In ihrem Beruf als Krankenschwester macht sie jedoch die Erfahrung, dass es ihr nur aufgrund der Kollegialität auf Station möglich ist, weiterhin arbeiten zu gehen und ihre Beschäftigung mit den Betreuungszeiten ihres Kindes zu vereinbaren. Aber selbst in Branchen, die eher geregelte Arbeitszeiten aufweisen, wie im Bankenwesen, bedeutet die Organisation von Arbeit und Betreuungszeiten einen immensen Aufwand. Zunehmend erwartete Flexibilität der einzelnen Familienmitglieder steigert den Anspruch an die Alltagsherstellung (vgl. Rerrich, 2000: 254). Darüber hinaus besteht ein hoher Flexibilisierungsdruck auf die Beschäftigten aufgrund von Prozessen der Vermarktlichung im Dienstleistungsbereich (vgl. Nickel, 2007: 28). Ulrike, die Sparkassenfachwirtin, hat nach ihrem Erziehungsurlaub eine 57 %-Stelle in einer kleinen Sparkassenfiliale angenommen. Sie erzählt: „Also (…) es hat sich alles total geändert, als ich herkam. Die ganzen Computerprogramme waren total neu, die Beratungen werden jetzt anders durchgeführt, viele Abläufe sind anders, neue Bestimmungen. Also für mich war eigentlich alles neu und was nicht neu war, hab ich hinterfragen müssen, ob es vielleicht doch eine Änderung gibt.“ (I-14: 48-66)
Durch ihren Erziehungsurlaub hat Ulrike die betrieblichen Neustrukturierungen letztlich ‚verpasst‘ und muss nun durch Schulungen und Seminare sich selbst auf den neusten Stand bringen. Darüber hinaus wird von ihr erwartet, dass sie außerhalb der Schalteröffnungszeiten ‚flexibel‘ Beratungsgespräche anbietet: „(…) wo man mir gesagt hat, ich muss diese Beratungen machen. Und diese ganzen Schulungen musste ich machen …vor allem dann auch gerade nicht in der Arbeitszeit, sondern mittags oder so, oder Ganztagsseminare, wo ich dann auch {für} meine Kinder wieder extra Betreuung suchen musste. Wo ich dann nicht wusste, wo die sind, oder ja … wie krieg ich sie unter und wollen die das, machen sie mit?“ (I-14: 111-134)
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Die Erwartungen seitens ihres Arbeitgebers, ihre Arbeitszeiten flexibel den Kundenwünschen anzupassen, kollidiert mit ihren Fürsorgepflichten bezüglich ihrer Kinder. Auch hier kommt zum Ausdruck, dass das nicht einfach eine Frage der Organisation ist. Sie macht sich Sorgen darüber, ob ihre Kinder die Betreuungslösung, die sie für sie gefunden hat, auch mittragen. Die meisten der Befragten berichten von starken Veränderungen und neuen Strukturen in ihrem Arbeitsbereich. Das trifft nicht nur auf den Bankensektor zu. Christine, die Krankenschwester, erzählt, dass sie ständig damit rechnen müssen, dass von heut auf morgen Betten aus anderen medizinischen Abteilungen auf ihre Station gebracht werden. Mitarbeiter/innen müssen sich selbstständig neues Fachwissen aneignen – oft in der Freizeit, um diese Patienten/Patientinnen angemessen versorgen zu können. Von der Klinikleitung würden sie keine Unterstützung erhalten, die Fortbildungen organisieren sie sich eigenständig (vgl. I-2: 125-189). Britta erzählt, dass sie in Teilzeit arbeitet auch aufgrund der psychischen Belastung, die der Beruf und die gestiegenen Anforderungen mit sich bringen. Sie wird gefragt, ob sie auf mehr Gehalt verzichtet, um mehr Freizeit zu haben. Sie antwortet, dass sie das für ihr Kind machen würde: „Fürs Kind ja. Es bringt ja nichts, da hat er nichts von, davon hab ich nichts … der Beruf ist halt stressig. Man ist halt ausgelaugt, wenn man nach Hause kommt und möchte eigentlich nur seine Ruhe haben … Und das würde ich nicht kompensieren können. (…) Es ist einfach sehr viel.“ (I-40: 499-517)
Ihr ist klar, dass mehr Arbeit auch mehr psychische Belastung mit sich bringen würde. Das möchte sie ihren Sohn nicht spüren lassen. Veränderungen in den Arbeitsbereichen setzen Frauen, die aufgrund ihrer Kinder zeitweise aus dem Beruf aussteigen, unter einen noch stärkeren Druck. Berufseinstieg bedeutet eben nicht, dort wieder anzufangen, wo man aufgehört hat, sondern bringt die zusätzliche Last des sich Einarbeitens mit sich. Für Anne, der Heilerziehungspflegerin, kommt hinzu, dass sie darunter leidet, nur die Teilzeitkraft zu sein: „(…) ich fühl mich manchmal so als Teilzeitkraft nicht ganz so wertgeschätzt. Manchmal tut mir es ein bisschen leid; die Leute, die jetzt so die ganze Woche da sind, die machen das so ernsthaft, und ich komm immer nur für einen Teil. Das ist ein bisschen schwierig. (…) Also ich möchte es (…) dort gut machen und auch ernsthaft, aber man ist einfach nicht so drin, weil (…) das macht man eben nur so Teilzeit und hat auch noch ganz viel anderes.“ (I-35: 139-154)
5.3 Vereinbarkeit Familie – Beruf: Frauen mit Kindern
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Gerade wenn man vorher eine Vollzeitstelle hatte, fällt es schwer, kürzer zu treten und die Rolle der Halbtagskraft mit der damit eingeschränkten Teilhabe, beispielsweise am Leben in einer Wohngruppe mit behinderten Menschen, zu akzeptieren. Eigene professionelle Ansprüche müssen zurückgesteckt werden. Zusammenfassung Der Versuch, beide Arbeitsbereiche zu vereinbaren, die Fürsorgearbeit in der Familie und die lohnabhängige Beschäftigung in der Erwerbssphäre, bedarf einer enormen Organisierungsleistung. Je nach Arbeitsfeld in der Erwerbssphäre kollidieren die Arbeitszeiten unterschiedlich stark mit den erforderlichen Betreuungszeiten der Kinder. Dies liegt auch an den historisch gewachsenen staatlichen Institutionen – das Betreuungs- und Bildungssystem, das darauf baut, dass eine betreuende Person zu Hause ist und zeitlich zur Verfügung steht. Gleichzeitig sind die jeweiligen Arbeitsbereiche einem starken Wandel unterworfen. Berufstätige Mütter müssen diesem in besonderer Weise standhalten. Durch Mutterschutz und Elternzeit fehlen ihnen die Kenntnisse über Änderungen und Neustrukturierungen im Arbeitsbereich, die sie sich dann – den Aussagen der Interviewten nach – oft selbst erarbeiten müssen. Dennoch ist festzuhalten, dass sich einige der Frauen positiv darüber äußern, beide Bereiche in ihrem Leben zu haben. Diese „Mehrdimensionalität von Arbeitserfahrung“ (Becker-Schmidt, 2003: 122) spielt für viele Frauen eine große Rolle. In folgendem Ausruf von Ulrike kommt dies gut zur Geltung: „Ja und dann hüpft man so von (angedeutete Anführungszeichen) Geschäftsfrau in die Mamarolle“ (ebd. 215-220). Auf welche Unterstützungssysteme die interviewten Frauen zurückgreifen können, wird im folgenden Kapitel erörtert. Familiale und staatliche Unterstützung Tina ist Betriebsrätin in einem großen, dem Öffentlichen Dienst nahestehendem Betrieb. Sie arbeitet 100 %, ist verheiratet und hat Zwillinge im Grundschulalter. Darüber, wie sie ihren Alltag organisiert, erzählt sie: „Ich hab einfach Glück, dass ich ein gutes familiäres Netzwerk habe, dass also Oma und Opa voll einsatzfähig sind – noch. Und auch neben uns wohnen. Also wir haben jetzt tatsächlich so ein Verhältnis, dass es eigentlich schon wie ’ne Art Generationenhaus zu betrachtet ist, nur dass wir halt einfach auf einer Etage wohnen. (…) Das ist das eine, worauf ich mich immer schon 100 %ig verlassen konnte.“ (I-19: 434-448)
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Das eine Unterstützungssystem sind ihre Eltern. Das Verhältnis zwischen den Generationen ist entspannt, man lebt zusammen in einem Haus und ist füreinander da. „Und das andere ist, dass ich überhaupt kein Problem hab, aber das ist eben, weil ich selber so großgeworden bin, die Kinder in ‚fremdeǥ Betreuung zu geben. Also wir haben uns entschieden für einen Verbund aus Schule und Sport, wo die Kinder oder die Jungs tatsächlich 8 Stunden am Tag genauso beschäftigt sind wie ich hier auf Arbeit. Da ist eben alles ineinander verwoben: Training, Schule, Essenszeit und Freizeit. Und mittlerweile, dadurch dass sie dann schon in der 4. Klasse {sind}, steigen auch die Trainingszeiten. Wir fahren morgens gemeinsam los und bis um 17 Uhr sind sie – im Regelfall – eigentlich immer betreut oder sind eben aktiv. Damit hab ich halt überhaupt kein Problem (…). Da gibt’s mit Sicherheit auch andere Lebensentwürfe. Und deswegen funktioniert das eben, auch das.“ (I-19: 448-470)
Das andere Unterstützungssystem ist die Infrastruktur von Tageseinrichtungen für Kinder vor Ort. Ihre Kinder sind in einer Einrichtung, deren Betreuungszeiten sich mit ihrer Arbeitszeit decken. Tina ist in der ehemaligen DDR aufgewachsen. Daher ist es für sie eine Selbstverständlichkeit, die Verantwortlichkeit für ihre Kinder tagsüber anderen zu überlassen. Es könnte daran liegen, dass das Interview von einer westdeutschen Frau geführt wird, dass sie betont, dass das für sie überhaupt kein Problem darstellt. Andererseits könnte ihre Aussage auch auf öffentliche Diskurse verweisen, die – zumindest von konservativer Seite – die umfassenden DDR-Hort- und Betreuungssysteme systematisch diskreditieren. Rerrich stellt in ihren Untersuchungen fest, dass Familien mit kleineren Kindern, in denen beide Eltern berufstätig sind, die Unterstützung einer mithelfenden – meist weiblichen – Verwandten benötigen. Darüber hinaus macht sie die Beobachtung: „Die Verantwortung für die Herstellung eines gemeinsamen Familienalltags liegt in den meisten Fällen bei den Frauen. Ständige Organisation und Neuorganisation inklusive der dazugehörigen Irritationen und kleinen Unfälle stellen nicht die Ausnahme in der alltäglichen Lebensführung von Müttern dar, sondern die Regel“ (Rerrich, 2000: 257). Bei den befragten Frauen scheint ebenfalls dieses Phänomen vorzuherrschen. In den Interviews der Frauen mit Partnern und Kindern scheinen sie diejenigen zu sein, die die Organisation des Alltags – zum Teil mit Unterstützung weiblicher Familienangehöriger in den Händen halten. In dem Interview mit der Sparkassenfachwirtin Ulrike kommt dies direkt zur Sprache. Sie wird gefragt, wo sie Unterstützung erhält. „Also die Hauptlast liegt schon bei mir, weil ich das alles organisieren muss. Aber meine Schwiegermutter sagt meistens ‚geht klarǥ, also die ist eigentlich unter der
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Woche immer da oder auch meine Freunde. Wenn ich da anrufe, also wenn die Zeit haben, ist es auch kein Problem. Mein Mann ist auch relativ flexibel, wenn er nicht unterwegs ist im Ausland, dann kann er auch mal eine halbe Stunde früher kommen oder er bringt die Kinder in den Kindergarten. Da hab ich schon Unterstützung, aber grad das alles organisieren und das hinzukriegen, das liegt halt dann schon bei mir.“ (I-14: 897-928)
Ulrike kann auf die Unterstützung ihrer Schwiegermutter zurückgreifen, die vor Ort wohnt und zu der die Kinder unter der Woche mindestens einmal zum Mittagessen gehen (vgl. I-14: 809-822). Bei der Altenpflegerin Pauline ist die Mutter eine wesentliche Säule in ihrer Wochengestaltung. Wenn sie Nachtdienst hat, verbringt ihr Sohn bei der Oma die Nacht. Als Alleinerziehende hätte sie ohne diese Unterstützung enorme Schwierigkeiten, überhaupt ihrer Arbeit nachzugehen (vgl. I-29 a. a. O.). Auch Claudia berichtet davon, dass sie in Notsituationen, wenn das Kind, sie oder ihr Partner krank werden, sie auf die Unterstützung der Großeltern zurückgreifen kann (vgl. I-31: 253-255). Die Rolle der Partner/der Väter Die Erzieherin Elena, 28 Jahre, verheiratet, ohne Kinder, wird gefragt, ob sie einen gesellschaftlichen Wandel sieht und worin er sich für sie äußert: „Ja, das würde ich sagen (…) Es ist halt gerade so, dass die Gleichberechtigung von Frau und Mann … Also das ist, glaube ich, gerade ganz aktuell (...), zum Beispiel, dass auch mittlerweile Väter zu Hause bleiben und die Frauen arbeiten oder so. Das hat es früher fast, würde ich jetzt mal so sagen, nicht gegeben. Also da haben sich die Zeiten ja schon geändert. Ja, dass beide Partner gleichberechtigt sind und … so weg vom Klischee vielleicht. Also da hat sich die Gesellschaft schon total gewandelt.“ (I-27: 566-578)
Ein wesentlicher Aspekt gesellschaftlichen Wandels ist für sie der Wandel der Beziehung zwischen den Geschlechtern. Es geht für sie dabei ganz konkret um die Frage, wer im Falle einer Familiengründung zu Hause bleibt. Hier sieht sie, dass es auf der Ebene der gesellschaftlichen Akzeptanz eher möglich wird, dass auch Männer zu Hause bleiben und die Fürsorgearbeit übernehmen. Wie eingangs erwähnt, ist durch die Einführung des Elterngeldes eine Rahmenbedingung geschaffen worden, die immer mehr Männer – wenn auch meistens nur für kurze Zeitspannen von 1-2 Monaten – für sich entdecken und nutzen (vgl. Böcklerimpuls, 17/2009; Pfahl & Reuyß, 2009).
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Es sind immer noch sehr wenige Väter, die das Elterngeld in Anspruch nehmen. Von einer „totalen“ Wandlung – wie die Erzieherin Elena meint – kann daher nicht die Rede sein. Immerhin – offensichtlich sind Geschlechterrollen am Aufbrechen. Durch die enge Verknüpfung mit dem Wandel der Arbeitssphäre aber bedeutet dies nicht unbedingt eine Entwicklung zugunsten einer gleichberechtigteren Verteilung der Fürsorgearbeit in der Familie. Wie Connell in einem Vergleich weltweiter englischsprachiger Studien feststellt, tritt vielerorts ein, dass durch die neoliberale Umgestaltung vieler Branchen selbst überzeugte „neue Väter“ gezwungen sind, sich wieder verstärkt auf ihre lohnabhängige Erwerbstätigkeit zu konzentrieren (vgl. Connell, 2009: 35). In den Interviews mit den berufstätigen Müttern mit Partner fällt auf, dass die Rolle der Partner, der Väter nahezu verschwindet. Das hat verschiedene Gründe. Im Interviewleitfaden wurde nicht nach partnerschaftlicher Arbeitsteilung gefragt. Es ist dennoch bezeichnend, dass weder die in der Regel Studentinnen noch die Mitarbeiterinnen des Projekts während des Interviews auf die ‚Idee‘ kamen, die berufstätigen Mütter (bzw. die berufstätigen Frauen ohne Kinder mit Partnern) nach ihren Partnern und ihrer Rolle in der Organisation des Alltags zu befragen. Dementsprechend verschwinden sie geradezu und tauchen, wenn überhaupt, nur als Nebenfiguren auf. Ulrikes Partner sei „relativ flexibel“; wenn er nicht im Ausland sei, könne er auch mal die Kinder vom Kindergarten abholen oder sie hinbringen (vgl. I-14: a. a. O.). Anne, die Heilerziehungspflegerin, erwähnt ihren Partner zum ersten Mal im Zusammenhang mit erkämpfter Zeit: freie Zeit für sich – ohne die Kinder – die sie sehr genießt (vgl. I-35: 546-573). Einzig in dem Interview mit Claudia, der Sozialpädagogin, taucht der Partner als feste Unterstützung in der Alltagsorganisation auf. „Mein Mann macht seinen Anteil der Hausarbeit eben an einem anderen Tag, wo es für ihn einfach vom Job ganz gut vereinbar ist. Und seine Freizeitaktivitäten, die er für sich macht, das macht er mittlerweile in seiner Mittagspause (…). Für uns beide haben wir das herausgefunden, das ist einfach die angenehmere Variante. Er steht nicht unter Druck, das ist auch für ihn in der Arbeitssituation entspannt, wenn er zwischendurch noch Bewegung hat. Er muss das eben nicht abends machen, sondern kann sich dann dem Sohn widmen; das finde ich persönlich auch gut.“ (I-31: 222-238)
Da gibt es genau festgelegte Zeiten, wann er auf das Kind aufpasst, seinen Freizeitbeschäftigungen nachgeht, seinen Anteil an Hausarbeit macht. Hier scheint es sich um ein Familiengefüge zu handeln, das in der Familiensoziologie als „Verhandlungsfamilie“ bezeichnet wird: Alles wird mit dem Partner genau abgesprochen und ausgehandelt (vgl. Wetterer, 2003: 308).
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Daneben erscheint das Schweigen der Interviewerinnen und den interviewten Frauen in bestimmter Weise sehr beredt. Angelika Wetterer verweist auf den Prozess einer rhetorischen Modernisierung, im Zuge dessen von der Modernisierung der Geschlechterverhältnisse die Rede ist, Ulrich Beck u. a. sogar von der „Geschlechterrevolution“ spricht (vgl. Wetterer, 2003: 286). Brisant ist der Verdeckungszusammenhang zwischen dem Wissen über Geschlechterdifferenzen und den Strukturen und sozialen Praktiken, die nach wie vor die ungleiche Geschlechterhierarchie reproduzieren. „Die rhetorische Modernisierung, die Modernisierung des diskursfähigen Differenzwissens, schließt als ihre Kehrseite die De-Thematisierung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ein. Im Prozess der rhetorischen Modernisierung verändert sich nicht nur das Reden über die Geschlechter, sondern auch das Schweigen; verschiebt sich die Grenze zwischen dem, worüber wir sprechen, und dem, worüber sich nur Stillschweigen bewahren lässt“ (ebd. 290). Das Nicht-Thematisieren der Geschlechterdifferenzen in den Interviews könnte ein Indiz dafür sein, dass die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern überhaupt nicht (mehr) problematisiert bzw. sich nicht (mehr) bewusst gemacht wird. Haushalt und gegebenenfalls Kindererziehung sind offensichtlich nach wie vor Teil eines eher „weiblichen“ Verhaltenskapitals, eines „Fundus an selbstverständlichen Praktiken …, die wie von selbst geschehen“ (ebd. 300). Ausbau staatlicher Betreuungsinstitutionen Sehr deutlich formulieren jedoch einige Frauen das Problem der nicht oder nur ungenügend vorhandenen staatlichen Betreuungsinstitutionen. Tina, die Betriebsrätin, erzählt, dass ohne ein solches Unterstützungssystem sie sich das Thema Familiengründung überlegt hätte: „Wenn (…) {es} diesen Schulverbund nicht geben würde – hier in Berlin ist das relativ unproblematisch, weil da gibt’s nicht nur den Sportverbund, sondern es gibt auch so genügend Ganztagsschulen oder selbst Halbtagsgrundschulen, die auf jeden Fall einen Hortbereich dran haben und die Kinder bis 18 Uhr im Normalfall betreut sind. Das gibt es zwar auch nicht überall. Dann wäre das natürlich ein echtes, echtes Problem, weil dann hätte ich mich auch wirklich so massiv einschränken müssen, dass ich gar nicht weiß, ob ich die Entscheidung für Kinder nach wie vor so positiv sehen würde, weil ich ja genauso gern arbeite. Ich möchte mich dann noch mit anderen Dingen beschäftigen und so und nicht nur damit, dass die Kinder dann betreut sind, ne, dass sie Mittagessen haben und dass der ganze Nachmittag da irgendwie verbracht ist. Und ne, das wäre für mich sehr schwierig.“ (I-19: 471-493)
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In ihrem Lebensentwurf nimmt die berufliche Weiterentwicklung einen wesentlichen Platz ein, den sie nicht bereit wäre, zugunsten einer Vollzeitbetreuung ihrer Kinder aufzugeben. Wie bereits an anderer Stelle formuliert, wird auf der Ebene der „Anlieger-“ oder „Schatteninstitutionen“ die Ungleichheit der Geschlechter reproduziert (vgl. Krüger, 1995; Wetterer, 2003: 310). Einige Frauen verweisen auf das Missverhältnis, dass Betreuungseinrichtungen ungenügend vorhanden sind, nur bestimmte Tageszeiten abdecken und damit das Vorhandensein einer betreuenden Person zu Hause eigentlich voraussetzen. Claudia erwähnt diesen Mangel ausdrücklich. Am Ende des Interviews wird sie gefragt, ob sie zu den besprochenen Themen noch etwas hinzufügen würde: „Also in dem Zusammenhang (…) würde ich mir gern, glaub ich, wünschen, dass sich bei uns in Baden-Württemberg aber auch in Deutschland sich die Betreuungssituation für Kinder noch – also die sind nochmals verbesserungswürdig. Das würde, glaub ich, vielen Familien ein bisschen auch den Druck nehmen, sei es … von der Qualität (…), von den Preisen. Viele können sich das auch einfach nicht leisten, phasenweise ganztags betreuen zu lassen, um sich auch im Job einfach Ziele stecken zu können und wieder einzusteigen. … Das fände ich sehr wichtig, das wäre ein wichtiger Schritt. Und ja: Unterstützung, finanzielle Unterstützung für Familien: Da gibt’s auch noch sehr großen Verbesserungsspielraum. (…) Ja, das wäre so einfach und auch von … der Arbeitgeberseite her, mehr Möglichkeiten, auch Teilzeit zu arbeiten … ja und auch Verständnis für manche unbequeme Situation, die in den Familien entstehen können. Das ist, glaub ich, nicht überall der Fall.“ (I-31: 522-550)
In diesem Abschnitt spricht Claudia nicht nur die schlechte Betreuungssituation an, sondern auch das Ausblenden oder gar Ablehnen vieler Arbeitgeber der besonderen Situation von Familien. Sie wird gefragt, ob das auch für ihren Arbeitgeber gilt. Das verneint sie und berichtet, dass ihr Arbeitgeber sehr kulant sei, ihr viel Freiraum gelassen hat und den Platz in der Kindertagesstätte zur Verfügung gestellt hat. Sie würde vielmehr auf die Erfahrungen im Freundeskreis verweisen und deren Situationen, die sie sehr nachdenklich gestimmt hat (vgl. I-31: 552-571). Zusammenfassung Die Vereinbarung von Berufstätigkeit und Fürsorgearbeit in der Familie benötigt unterstützende Systeme – zum einen werden erweiterte Familienstrukturen (die Großeltern) in Anspruch genommen. Zum anderen wird nach stärkerem staatlichem Engagement verlangt bezüglich eines Ausbaus der Betreuungseinrichtungen.
5.4 Gesellschaftlicher Druck – Umgang mit Erwartungen
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Dennoch machen die Befunde in Bezug auf die Arbeitssphäre deutlich: Es sollte wieder verstärkt die Forderung in den Blick genommen werden, dass es grundsätzlich möglich sein muss, Beruf und Familienleben (auch für Väter) zu vereinbaren. Wenn nachhaltige Veränderungen in der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern passieren soll, bezieht sich dies vor allem auf die Frage nach „kollektiver Reduzierung der tariflichen Arbeitszeit“ (Jürgens, 2005: 47). 5.4 Gesellschaftlicher Druck – Umgang mit Erwartungen Gesellschaftlicher Druck – die doppelte Überforderung In Anlehnung an Klaus Holzkamp wird davon ausgegangen, dass gesellschaftliche Verhältnisse sich dem Subjekt als „Bedeutungen, Bedeutungskonstellationen, Bedeutungsanordnungen“ vermitteln. Das Subjekt fasst sie in seinem eigenen Sinn auf. Die Bedeutungen sind bei Holzkamp aber zugleich gesellschaftlich produzierte verallgemeinerte „Handlungsmöglichkeiten (und -beschränkungen), die das Subjekt im Interessenzusammenhang seiner eigenen Lebenspraxis in Handlungen umsetzen kann, aber keinesfalls muss (…)“ (Holzkamp, 1995: 838). In einigen Interviews wird der ‚Druck aus der Gesellschaft‘ thematisiert. Es verweist auf die Vielfalt an Bedeutungsstrukturen, die Fülle an Themen, mit denen sich die Interviewten auseinandersetzen. In dem Interview mit Anne, Heilerziehungspflegerin in Teilzeit und Mutter von zwei Kleinkindern, spielt der Druck aus der Gesellschaft eine große Rolle: „Man lässt sich als Mensch echt beeinflussen von dem Äußeren, was man so denkt, was man alles heutzutage so tun sollte, machen soll, hinkriegen sollte in der Gesellschaft. Da wo man steht mit kleinen Kindern, sollte man halt arbeiten gehen, die Kinder bestmöglich betreuen, eine möglichst attraktive Frau sein und nach sich selber schauen, Sport machen und dies und das und {die} Beziehung pflegen und so …“ (Anne I-35: 279-290)
Anne eröffnet an dieser Stelle des Interviews mehrere Themenfelder, auf denen sie sich äußerem Druck ausgesetzt fühlt. Es bündelt einen ganzen Strauß an Anforderungen, die sich überlappen oder diametral entgegenstehen. Die Versuche der Beeinflussung sprechen sie in unterschiedlichen Funktionen an: als Mutter, als Arbeitnehmerin, als junge Frau, als Partnerin. Sie spricht weiter: „Es gibt einfach so Tage, Wochen, wo … das mir alles irgendwie zu stressig wird oder ich auch das Gefühl hab, ich bin in allem nicht so gut, ich komm nicht so gut hinterher … wo ich dann denk, ich bin gar nicht so eine gute Mutter (lacht) oder ich
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5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen bin gar nicht so eine gute Partnerin und auch bei der Arbeit nicht so gut. Aber dann gibt’s auch so Momente, wo ich mehr Kraft hab und wo ich mich aber dann auch besinne, was wirklich wichtig ist oder so. Also der Druck von außen: Man kann sich davor doch auch trotz allem schützen und man muss auch nicht alles mitmachen und so. Aber da drauf muss man sich erst manchmal … besinnen, weil man ganz schön beeinflusst wird durch Medien, Werbung, Bekannte, was die nicht alles Tolles hinkriegen und machen.“ (I-35: 291-312)
Es scheint, als fühle sie sich in einer Art Netz von Vereinnahmungsversuchen durch Werbung, Medien und Bekannte, die mit Erwartungen und auch Forderungen an sie herantreten. Sie hat für sich den Anspruch, in allem „gut“ zu sein und beschreibt Tage, an denen sie den Anforderungen nicht entspricht, an denen sie die Bewältigung der Funktionen als Mutter, als Arbeitnehmerin, als Partnerin richtig stresst. Sie nennt auch die Tage, an denen sie mehr Kraft hat. Wichtig dabei ist für sie die Feststellung, dass man nicht alles mitmachen müsse, aber das müsse man zunächst für sich klarstellen, darauf müsse man sich „besinnen“. Der Druck aus der ‚Gesellschaft‘ ist ein Thema, das in verschiedenen Interviews immer wieder auftaucht. Claudia, die Sozialpädagogin, spricht ebenfalls vom Druck von außen, der den Alltag sehr prägt. „Letztlich ist es so, dass … ich häufig das Gefühl habe, es muss alles funktionieren. Es muss funktionieren, dass man arbeitet, es muss funktionieren, dass man das Kind gut erzieht, man muss viel Geld verdienen, man muss sich einen Lebensstandard erhalten, … Eigentum erwerben. Und das soll, find ich, alles in kurzer Zeit passieren. Bedingt durch diesen langen Ausbildungsweg {hat man}nicht mehr so viel Zeit, alles nacheinander zu machen. Man empfindet das so, man steckt sich aber auch selber die Ziele, also so empfinde ich das in unserer Situation. Wir leiden jetzt nicht an Geldmangel, wir haben auch nicht beide reiche Eltern die uns alles geben können. Wir müssen uns das schon erarbeiten, aber (…) wir {sind} in der Situation (...), in der wir zufrieden sein können, auf jeden Fall. Aber ich merke auch im Bekanntenkreis, dass viele mit diesem Druck nicht so gut umgehen können und (…) {an dem} wirklich schon viele (…) dran zu knabbern haben. Ich merke den Druck bedingt auch, (…) einfach allen Anforderungen gerecht zu werden.“ (I-31: 428-460)
Claudia nennt hier zum einen den Druck zu funktionieren, als Arbeitnehmerin und als Mutter, zum anderen aber auch den Druck auf sie als Gesellschaftsmitglied. Dessen Funktion sieht sie in der Erfüllung der allgemeinen Erwartung, Geld zu verdienen – und zwar viel Geld, sich Eigentum anzuschaffen, überhaupt einen gewissen Lebensstandard zu erarbeiten und zu halten. Im Gegensatz zu Anne bringt sie an dieser Stelle eine andere Zeitdimension zur Sprache: die des gesamten Lebenslaufs. Durch lange Ausbildungszeiten sieht sie sich und ihren
5.4 Gesellschaftlicher Druck – Umgang mit Erwartungen
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Partner in der besonderen Drucksituation, alle Erwartungen an eine bestimmte Lebensphase – Familie gründen, seinem Beruf nachgehen, den Lebensstandard halten oder gar ausbauen – möglichst auf einmal in einer kurzen Zeitspanne zu verwirklichen. Der Druck ist aber für Claudia nicht etwas, was ihr dauerhaft auf die Stimmung schlägt. Sie betont auch, dass es ihr und ihrer Familie eigentlich gut geht und dass sie mit ihrer Lebenssituation zufrieden sein kann. Diese gesichtslosen Aufforderungen aus der Gesellschaft seien, so sagt sie, auch Ziele, die man sich letztlich selbst stecke. Mit Holzkamp argumentiert, lässt sich sagen, dass hier Bedeutungskonstellationen verinnerlicht und als Handlungsaufforderungen zunächst aufgefasst, dann aber auch zu bestimmten Handlungsprämissen umgewandelt werden (vgl. Holzkamp 1995: 838). Familien erbringen eine Vielfalt von gesellschaftlich relevanten Leistungen, die wie selbstverständlich abgefragt werden (vgl. Jurczyk et al., 2005: 14). Karin Jurczyk und ihre Kollegen/innen stellen fest, dass in allen westlichen Ländern „derzeit ein zunehmender Druck auf die angemessene und persönlich befriedigende Balance von Erwerbsarbeit, Familie und anderen Lebensbereichen wahrgenommen“ wird (ebd. 14). Ursache für die Veränderungen sehen die Autoren/ innen in neuen Organisationsmustern in der Erwerbssphäre (vgl. ebd. 14). Ein Gesichtspunkt dieser Veränderung drückt sich in der These der „Subjektivierung der Arbeit“ aus (vgl. Becker-Schmidt, 2007: 255; Voß, 2007). Diese besagt, dass die Landnahme des Kapitals nicht nur in deregulierten Finanzmärkten nach neuen Wertschöpfungen sucht, sondern auch nach innen strebt, alle sozialen Fähigkeiten der Arbeitnehmer/innen zu aktivieren und zu vereinnahmen (vgl. Becker-Schmidt, 2007: 255; Dörre, 2007). Günter Voß und Hans Pongratz haben bezüglich dieses Phänomens den Begriff des „Arbeitskraftunternehmers“ geprägt. Dessen Arbeitskraft zeichnet sich durch verstärkte Selbst-Kontrolle, Selbst-Ökonomisierung und Selbst-Rationalisierung aus (vgl. Pongratz & Voß, 1998; Voß, 2007). Der Druck aus der Erwerbssphäre ist vorhanden und wird von den Befragten in verschiedener Weise zum Ausdruck gebracht. Dies ist aber nur eine Facette des Drucks, den Anne und Claudia ansprechen. Beide sprechen von den Erwartungen, die an sie herangetragen werden nicht nur in Bezug auf die Erziehung ihrer Kinder, sondern wie soziale Bezüge insgesamt zu gestalten sind. Gegenüber den Kindern haben sie auch für sich selbst den Anspruch, eine „gute Mutter“ zu sein (vgl. Anne I-35: 428). Regina Becker-Schmidt kritisiert an dem Konzept des „Arbeitskraftunternehmers“, dass es letztlich mit „Geschlechtsblindheit“ geschlagen sei (vgl. Becker-Schmidt, 2007: 256). Nicht nur die Erwerbssphäre stehe unter dem Druck der Leistungssteigerung, auch die private Reproduktionssphäre ist gesellschaftlichen Rationalisierungsprozessen ausgesetzt (vgl. ebd. 257). Die kulturel-
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len Standards bezüglich Haushaltsführung, Kindererziehung und sonstigen Fürsorgearbeiten steigen und damit auch „das Ausmaß an Intensität, die in der regenerativen Arbeit aufgebracht werden muss“ (ebd. 256). Berufstätige Familienfrauen stehen damit in einer zweifachen Überforderung; zum einen durch die gestiegenen Erwartungen in der Erwerbssphäre und zum anderen durch die Übergriffe von gesellschaftlichen Rationalisierungsprozessen auf die Privatsphäre (vgl. ebd. 257). Auch Winker und Carstensen diskutieren die Aussparung der Reproduktionssphäre im Konzept des Arbeitskraftunternehmers (vgl. Winker & Carstensen, 2007). Durch Abbau sozialstaatlicher Leistungen wird die Institution Familie als Ausgleich wieder neu entdeckt: „Der Rückbau öffentlicher Versorgungs- und Unterstützungsleistungen erfordert eigenverantwortliches Handeln in den Familien, gleichzeitig nimmt allerdings auch die öffentliche Kontrolle der Familie zu“ (ebd. 281). Kinder werden zu einem Kostenfaktor und zu einer Investition (die sorgfältig geplant sein soll) (vgl. auch Connell, 2009: 35). Auf den Eltern lastet der Druck, dass sich Kinder optimal entwickeln müssen, um deren Chancen zu steigern. Den Druck, eine „gute Mutter“ zu sein, nennt auch Anne: „(…) um jetzt ne gute Mutter zu sein, muss ich mit meinem Kind nicht in jeden … Babyschwimmkurs und dies und das. Man hört dann schon in so Krabbelgruppen, was die anderen Mütter alles machen, und ich denk mir dann, ja schön und so, das muss ja auch nicht alles schlecht sein, aber ich mach da halt ganz arg viel gar nicht mit und überleg mir dann, was ist meine Meinung dazu. (…) Informier mich schon auch, so (…) interessiert mich, was jetzt da dahinter steckt oder was das alles für Ansätze sind. Dann denk ich mir halt oft so, ich besinn mich auf … Sachen zurück wie so ein bisschen Natürlichkeit ... ich denk, … man muss jetzt nicht die Babys da ins Chlorbecken … schmeißen. (…) Das sind nämlich alles so Termine, was einen unter Druck setzt: da Babymassagetermin, da Termin (…). Des ist schon voll der Stress, wenn man ein kleines Kind hat irgendwie, was man alles machen könnte.“ (I-35: 427-456)
Als Ort, an dem sie mit gesellschaftlichen Erwartungen konfrontiert wird, was man alles mit einem kleinen Kind tun sollte, nennt sie die Babykrabbelgruppe. Die Maßnahmen, die andere ergreifen, um ihre Kinder bestmöglich zu fördern, nimmt sie ernst: Sie versucht, sich mit den Ideen dahinter auseinanderzusetzen. Gleichzeitig spürt sie, dass die Umsetzung all dieser Förderungen ihren Alltag überfrachten würde. Es wären einfach zusätzliche Termine, die ihre zeitlichen Kapazitäten sprengen würden. Ihr Verzicht auf bestimmte Maßnahmen begründet sie mit ein bisschen mehr „Natürlichkeit“.
5.4 Gesellschaftlicher Druck – Umgang mit Erwartungen
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Die steigenden Erwartungen an Kinderförderung usw. machen Familienzeitpläne immer dichter; sie müssen stärker synchronisiert werden. Winker und Carstensen merken an, dass Hausarbeit bisher eine Leerstelle innerhalb der empirischen Untersuchungen darstellt bezüglich der Fragestellung, ob sich die Anforderungen an die Individuen auch in der Hausarbeit erhöhen. Die Vermutung liegt allerdings nahe: Das zeigen die Debatten über Lifestyle-Pflege und „Selbstinszenierung im Privaten“ etc. (vgl. Winker & Carstensen 2007: 281). Das Gleiche gilt für die gestiegenen Erwartungen an Mutterschaft (respektive Elternschaft). Der öffentliche Diskurs umfasst ein breites Spektrum von Vorstellungen, wie Frauen zu sein haben. Das reicht vom Bild der Frauen als hochgebildete Alleskönnerinnen (‚Alpha-Mädchen‘ bzw. die ‚F-Klasse‘) bis zum Heimchen am Herd (Diskussion um Eva Hermann) (vgl. z. B. Haug, 2008). Was eine ‚gute Mutterschaft‘ bedeutet, variiert demnach je nach Kontext: Auf der Ebene der Familien und Arbeitsmarktpolitik ist eine ‚gute Mutter‘ diejenige, die sowohl einen ‚guten Beruf‘ als auch ‚gutes Geld‘ mit nach Hause bringt und für eine sichere materielle (und kulturell hochwertige) Basis sorgt. Gleichzeitig wird – wie bereits diskutiert – auf der Ebene des Bildungswesens und Jugendhilfe erwartet, dass Mütter für ihre Kinder in Vollzeit zur Verfügung stehen (vgl. Thiessen & Villa, 2009: 13). Solche Diskurse beeinflussen den normativen Druck, unter dem berufstätige Mütter stehen, der zwischen „Arbeitskraftunternehmerin“ und eine „gute Mutter“ sein pendelt (vgl. Winker & Carstensen 2007: 282). Im Falle von Claudia und Anne sprechen beide von Augenblicken, in denen sie überlegen, wieder aufhören zu arbeiten. Anne bezeichnet die Situation mit ihrem erneuten Berufseinstieg als einen Versuch zu beobachten, ob es allen damit gut gehe. Damit meint sie nicht nur ihr Wohlbefinden, sondern auch das ihrer Kinder. Sie möchte herausfinden, ob der Alltag in dieser Weise funktionieren kann: Wird es ihr zu stressig, geht es den Kindern gut dabei, klappt die Freizeit, der Haushalt noch neben der Berufstätigkeit usw. Sprich, schafft sie es, alle Anforderungen zu bewältigen „ohne depressiv zu werden“ (I-35: 715 f.). Auch Claudia nennt Momente, in denen sie darüber nachdenkt, ob es nicht doch besser wäre, zu Hause zu bleiben, weil das Kind doch viel Zeit und Aufmerksamkeit benötigt und weil man dann auch wieder mehr Zeit für sich selbst hätte (vgl. I-31: 68-90). Diese Überlegungen können sich die beiden alleinerziehenden Frauen nicht erlauben. Pauline, die Altenpflegerin, sagt, dass sie sich im Privaten keinen Druck machen würde. Sie meint schon, dass es wohl gewisse Erwartungen an sie als Mama gibt, aber sie würde einfach mal machen und eigentlich denkt sie, dass sie den richtigen Weg geht. Es gebe auch Freunde, die sie manchmal anmachen würden, dass sie nicht genügend Zeit hat für sie. Aber da denkt sie für sich: „Ihr in Euren Familien, nicht arbeitend, ihr habt doch keine Ahnung, wie das ist, wenn du hier alles (Lachen) alleine machen musst“ (I-29: 521-525).
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Gesellschaftlicher Druck – die vielen Möglichkeiten Es gibt noch einen anderen Aspekt, der hinsichtlich des „Drucks aus der Gesellschaft“ in einigen Interviews genannt wird: die vielen Möglichkeiten, die man hätte, und der damit verbundene Zwang, sich entscheiden zu müssen. Bevor nochmals Anne und Claudia zu Wort kommen, soll an dieser Stelle ein anderes Interview aufgegriffen werden, das in kontrastierender Weise dieselbe Thematik zur Sprache bringt, jedoch mit einem wesentlichen Unterschied, auf den noch eingegangen wird. Pia promoviert nach Beendigung ihres Studiums der Bioinformatik in einem Betrieb. Sie ist unverheiratet, hat einen Partner. Auf die Frage, worin sie einen gesellschaftlichen Wandel sieht, antwortet sie: „Ja, es gibt sicherlich einen starken gesellschaftlichen Wandel, vor allem hinsichtlich der Möglichkeiten … Also es ist schon so, dass – wenn man möchte – sehr viele Freiheiten und auch Möglichkeiten hat, also jetzt in jeder Lebenslage und nicht nur im beruflichen Leben, sondern auch in der Freizeitgestaltung, bei der Partnerfindung. Bei allem gibt es sehr große Freiheiten. Und ich persönlich finde, dass diese Freiheiten auch häufig fast das Leben auch wieder schwerer machen, … einfach, weil man sich so vielen Möglichkeiten gegenüber sieht und man kann eigentlich so viel machen und irgendwie ist alles interessant und toll und alles ist irgendwo reizvoll oder viele Dinge sind reizvoll, aber man hat einfach nicht die Zeit und die Möglichkeit, das alles zu machen. Man muss sich halt zu einem bestimmten Zeitpunkt für etwas entscheiden und hinter dieser Entscheidung eigentlich auch stehen. Denn wenn man nicht hinter dieser Entscheidung steht, schafft man es nicht, es weiter zu bringen, sei es auf der beruflichen Ebene, sei es auf der freizeitlichen Ebene oder auch für Partnerschaften.“ (I-21: 601-634)
Es wirkt, als ob für Pia die Welt wie ein großer Möglichkeitsraum vor ihr ausgebreitet liegt, bei dem man nur zuzugreifen braucht. Der bunte Strauß an Möglichkeiten bedeutet, dass es den Moment der Entscheidung braucht – für einen bestimmten Beruf, für passende Freizeitbeschäftigungen, für den rechten Partner. Diese Entscheidung ist wichtig, um weiterzukommen, wie sie sagt. „Und ich glaube, wenn man es halt nicht schafft, sich irgendwann zu entscheiden, dann wird man eher unzufrieden. Aber wenn man sich fürs Falsche entscheidet, dann wird man halt auch unzufrieden: Und wenn man sieht, was es für andere Möglichkeiten gibt und was man hätte vielleicht erreichen können, dann ist man auch unzufrieden. Also ich glaub, dass halt mit diesen vielen Freiheiten auch irgendwo eine … oder die Gefahr einer Unzufriedenheit steckt.“ (I-21: 634-648)
5.4 Gesellschaftlicher Druck – Umgang mit Erwartungen
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Sie sagt, dass zum einen die Unzufriedenheit darin lauert, wenn man es nicht schafft, sich zu entscheiden. Nach gefallener Entscheidung kann zum anderen das Unbehagen auftauchen in dem Gedanken, ob man sich für das Richtige entschieden hat. Auf die Frage, ob es irgendwelche Entscheidungen gibt, die sie gerne anders getroffen hätte, antwortet sie: „Es gibt eigentlich nichts, mit dem ich total unzufrieden bin. Manchmal denke ich mir: Ach ja, ich würde viel lieber irgendwo in den Bergen wohnen, in der Schweiz oder in Skandinavien oder in Norditalien oder so. Vielleicht hätte ich ja besser dort hingehen sollen zum Studium, vielleicht hätte ich mich ein bisschen anstrengen sollen, um dort einen Studienplatz zu finden, aber ansonsten … Mit meiner Studienwahl bin ich schon eher zufrieden. Also manchmal gefällt mir natürlich auch nicht, was ich mache, aber ich denke mal, man findet nie etwas, was einem immer Spaß macht. Generell macht es mir Spaß, meistens macht es mir Spaß (lacht).“ (I-21: 718-737)
Die Möglichkeiten, die Pia für sich sieht, bleiben an dieser Stelle vor allem in der Zweidimensionalen – ob man das Leben im Süden oder im Norden verbringen möchte. Bezüglich ihres Berufes sieht sie es differenzierter: Ihr ist bewusst, dass es nicht den Beruf gibt, der einen völlig erfüllen kann, dass es immer Phasen gibt, in denen man mit sich unzufrieden ist. Dieser gesellschaftliche Wandel, den Pia beschreibt, ist eine Facette des Prozesses, der in den soziologischen Debatten mit dem Begriff der „Individualisierung“ beschrieben wird. Axel Honneth definiert den Begriff der Individualisierung – wie ihn Emile Durkheim schon verwendet hat – als den „Prozess einer wachsenden, unumkehrbaren Freisetzung der Gesellschaftsmitglieder von traditionalen Bindungen und stereotypisierenden Zwängen …, die ihnen zu größerer Wahlfreiheit und Autonomie verhilft“ (Honneth, 2002: 141). Axel Honneth weist auf das Paradoxe innerhalb dieser Entwicklung hin. „Von Anfang an ist hier das zentrale Problem, inwiefern sich aus der deskriptiv erfassten Pluralisierung individueller Rollen, Bindungen und Zugehörigkeiten tatsächlich ein Hinweis auch auf die Steigerung persönlicher Autonomie ergeben kann“ (ebd. 142). Daher, so Honneth, schwinge mit dem Begriff der Individualisierung von Beginn an eine prekäre Ambivalenz mit: Es gebe sowohl ein „äußeres“ Faktum, das die Zunahme individueller Eigenschaften beschreibt. Gleichzeitig kommt das „innere“ Faktum hinzu: die gestiegene Anforderung an das Subjekt, Eigenleistung zu erbringen (vgl. ebd. 142). Honneth schlussfolgert im Weiteren: „Die These, die ich vertreten möchte, lautet: dass die Ansprüche auf individuelle Selbstverwirklichung, die durch das historisch einmalige Zusammentreffen von ganz unterschiedlichen Individualisierungsprozessen in den
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westlichen Gesellschaften vor dreißig, vierzig Jahren rapide angewachsen sind, inzwischen so stark zu einem institutionalisierten Erwartungsmuster der sozialen Reproduktion geworden sind, dass sie ihre Zweckbestimmung verloren haben und vielmehr zur Legitimationsgrundlage des Systems geworden sind“ (ebd. 146). Dieses „institutionalisierte Erwartungsmuster“ erscheint gleichsam als Matrix in verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhängen. Honneth nennt die Rolle der elektronischen Medien, die unter anderem Werbestrategien transportieren, ein kulturelles Angebot, die unterschwellig die Selbstverwirklichung (verbunden freilich mit einer vehementen Konsumaufforderung) mit organisieren sollen (vgl. ebd. 152). Die Frage sei natürlich, inwieweit solche medialen Effekte überhaupt einen Einfluss haben. Größer seien da schon die Umstrukturierungen im Produktions- und Dienstleistungssektor – und die Hervorbringung eines neuen Arbeitssubjektes: der kreative „Unternehmer seiner selbst“ (vgl. ebd. 152 f.). In dem Interview mit der Heilerziehungspflegerin Anne erscheint eine andere Facette dieses „institutionalisierten Erwartungsmuster“. Anne wird gefragt, ob sie denke, dass der Druck zugenommen hat. „Mir kommt es so vor. Ich kann’s nicht so wirklich sagen, inwiefern jetzt in welcher Zeit der Druck zugenommen hat, aber mir kommt’s schon so vor, dass es ’ne schnelllebige Zeit ist, dass es dermaßen viele Möglichkeiten und Angebote gibt ... und man sich dann irgendwie auf das besinnen muss, was man davon tut, macht, annimmt. Mir kommt es schon so vor, als gäbe es einen relativ großen Druck … Dass ist auch {das} Resultat von diesen unendlich vielen Möglichkeiten, die es so gibt und was alles so angeboten wird und was man nicht mit den Kinder alles so machen kann und sollte, ab da, wo sie schon auf die Welt kommen, und beruflich und weiterbilden und hier und da und privat und hier einkaufen und da dies machen und jenes (…).“ (I-35: 225-246)
Auch Anne nennt die vielen Möglichkeiten und Angebote, die man hätte. Sie nennt die Angebote, sich beruflich weiterzuentwickeln bzw. die Konsummöglichkeiten. Als erstes nennt sie jedoch die Möglichkeiten, die sich auf ihre Pflicht beziehen, als ‚gute Mutter‘ das ‚Richtige‘ für ihr Kind zu tun. Der entscheidende Unterschied zu dem gesellschaftlichen Wandel, den Pia beschreibt, ist das gesellschaftlich stark umkämpfte Feld der Kindererziehung. Pias Entscheidungsfragen, aus Sicht einer gut gebildeten jungen Frau, beschränken sich auf die Wahl des Partners oder des Landes, in dem man leben möchte (vgl. I-21: a. a. O.). Pias bunte Möglichkeitswelt beschreibt eine ‚gefühlte Möglichkeitswelt‘ – Freiheiten, die einem theoretisch offen stehen. Die Diskrepanz zwischen den gefühlten Möglichkeiten und dem, was tatsächlich umsetzbar ist, wird am Beispiel von Anne deutlich: Annes Lebensführung ist stark geprägt von ihren Fürsorgeaufgaben gegenüber ihren Kindern. Ihre individuelle Selbstver-
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wirklichung ist daher zeitlich eingeschränkt. Als Anne gefragt wird nach ihrer freien Zeit, die sie für sich beanspruchen kann, antwortet sie, dass es viel weniger geworden sei. Freizeit sei Zeit, die sie sich erkämpft. Zeit für sich selbst, seien immer Zeiten, in denen sie nicht mit ihren Kindern zusammen ist. Freie Zeit sei für sie ein knappes und kostbares Gut geworden (vgl. I-35: 542-611). Die individuelle Selbstverwirklichung als institutionelles Erwartungsmuster (vgl. Honneth 2002: a. a. O.), wird auch an Frauen herangetragen. Die Lebensführung berufstätiger Mütter ist hingegen stark von der „Flugbahn der Hingabe“ (Kaufmann, 2006: 53) gezeichnet – von der Aufgabe, kleine Gesellschaftsmitglieder, zukünftige Erwachsene zu einem Leben – orientiert an der ‚individuellen Selbstverwirklichung‘ – hinzuführen und in dieser Zeit eigene Autonomiewünsche hintenanzustellen. Regina Becker-Schmidt kritisiert anhand der Individualisierungsthesen von Beck/Beck-Gernsheim das Nicht-Berücksichtigen der objektiv unterschiedlichen Handlungsbedingungen für Männer und Frauen (vgl. Becker-Schmidt, 1999). „Weder sind die sozialen Handlungsbedingungen für Frauen immer so eindeutig, dass es – statt zu schlechten Kompromissen – wirklich zu ‚Abstimmungen‘ zwischen individuellen Bedürfnissen und objektiven Chancen kommen kann, noch haben Frauen normativ und materiell die gleichen Handlungsspielräume wie Männer. Vor allem: Sie sind keineswegs aus den sozialen Bindungen der Privatsphäre entlassen. Sie unterliegen vielmehr der gesellschaftlichen Verpflichtung, Familienmitglieder – Kinder, Lebensgefährten, Angehörige – zu versorgen. An diesen vorgegebenen Bedingungen bricht sich das individuelle Handeln in geschlechtsspezifischer Weise“ (ebd. 132). Der zentrale Ort in der Gesellschaft zur Reproduktion ist die private Haushaltung, der durch Frauen als Versorgende, als Gebärende, als Arbeitende maßgeblich getragen, hergestellt und gestützt wird. Die Institutionen Ehe und Familie mögen unter Veränderungen und Ausdifferenzierungen stehen, aber geschlechtliche Rollenverteilung werden nach wie vor für den gesellschaftlichen Zusammenhalt funktionalisiert (vgl. ebd. 132). Momente des Widerstands Die Frage ist, wie gehen die befragten Frauen mit diesen Bedeutungskonstellationen (Holzkamp) um. Innerhalb des Feldes der Handlungsmöglichkeiten verortet Klaus Holzkamp die „doppelte Möglichkeit“ zu handeln: zum einen das Handeln unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen, zum anderen Handeln als Erweiterung der Verfügungsmöglichkeiten innerhalb der spezifischen Bedingungen, der konkreten Lebenslage, in der das Individuum sich befindet (vgl. Holzkamp, 1983: 368).
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5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen
Anne wirkt sehr angespannt. Dennoch ist bei ihr sehr deutlich zu spüren, dass sie versucht, sich nicht „dermaßen“ in diesem Fall vom Druck „regieren zu lassen“ (vgl. Foucault, 1992: 12). In seinen Überlegungen über „Was ist Kritik?“ führt Foucault auf, wie zu unterschiedlichen Zeiten Menschen versuchen, sich gegen Regierungskünste zur Wehr zu setzen. Ein Element von Kritik ist: „nicht als wahr annehmen, was eine Autorität als wahr ansagt (…)“ (ebd. 14). Die Autoritätsfunktion übernimmt in Annes Fall der öffentliche Diskurs, der in Form beispielsweise anderer besorgter Mütter in Krabbelkursen an sie in bestimmter Weise herangetragen wird. Mit den gesellschaftlichen Aufforderungen geht Anne an verschiedenen Stellen kritisch um. Dazu kommt ihre häufige Betonung, dass es entscheidend ist, sich darauf zu besinnen, was wichtig ist. „Also ich weiß, dass ich halt nur so und so belastbar bin, dass ich meine Grenzen habe. Ich muss mich darauf besinnen, was mir eigentlich wichtig ist und was nicht, und dann geht’s eigentlich auch mit der Überforderung.“ (I-35: 312-319)
Was für sie das Wichtige ist, bleibt ungesagt. Das ist evtl. auch nicht das Entscheidende: der Akt an sich, sich über gesellschaftlichen Druck und vermeintlicher Vielfalt von Möglichkeiten (bei gleichzeitigem Zwang, sich zu entscheiden) bewusst zu werden, ist ein wesentlicher Schritt. Foucault spricht hier von der Erlangung einer Haltung. Durch den „entschiedenen Willen nicht regiert zu werden“ gelangt man, in Anlehnung an Kant, zu einer Haltung, mit der man aus dem Zustand der Unmündigkeit heraustreten kann (vgl. Foucault 1992: 41). Ein zweiter Schritt ist, sich seiner eigenen Lebensinteressen zu vergewissern und sich dem vermeintlichen Handlungszwang versuchen zu entziehen. Ob das bereits einem Verständnis von erweiterten Handlungsmöglichkeiten entspricht, soll hier nicht beurteilt werden. Zusammenfassung und Ausblick Der gesellschaftliche Druck erscheint in den Interviews mit Anne und Claudia mit zwei Gesichtern: zum einen als ganz konkrete Erwartungen an sie als Arbeitnehmerin, als Mutter und als Gesellschaftsmitglied, das in einem bestimmten Lebensalter bestimmte Dinge erreicht haben sollte. Der andere Aspekt des gesellschaftlichen Drucks bezieht sich auf die ‚vielen Möglichkeiten‘ – Möglichkeiten, die im gleichen Atemzug einen immensen Aufforderungscharakter haben, oben genannte Erwartungen zu erfüllen.
5.5 Alleinstehende Frauen
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Es wurde herausgearbeitet, dass Frauen in Familien, aufgrund des gesellschaftlich stark umkämpften Bereichs der Familienfürsorge, sowohl Druck als auch Möglichkeiten in gesonderter Weise erfahren. Dennoch führt das Erleben des Drucks nicht zu einer passiven Haltung. Die befragten Frauen verhalten sich bewusst dazu, reflektieren darüber, was für sie wichtig ist. Der Keim widerständigen Handelns liegt im kritischen Betrachten des ‚Drucks aus der Gesellschaft‘, in welchen Formen er auch immer erlebt wird, ob als äußere Zwänge oder als verinnerlichte Ansprüche an seine eigene Lebensführung. Für die Selbstverständigung junger Erwachsener braucht es den Raum, die Möglichkeit, sich sowohl über widersprüchliche gesellschaftliche Erwartungen und Drucksituationen zu verständigen, als auch sich über ihre Lebensinteressen auszutauschen. Vielleicht ergebe sich aus der Diskrepanz ein neues Verständnis, eine neue Vorstellung von Erweiterung der alltäglichen Lebensführung um die Dimension des Was-noch-möglich-Wäre, um den eigenen Selbst-Wert zu unterstreichen und nicht derart regiert zu werden. 5.5 Alleinstehende Frauen Simone, 31 Jahre alt, Sozialpädagogin in einer 100 %-Stelle, alleinstehend Simone ist 31 Jahre alt und arbeitet 100 % im Integrationsdienst, in einer Einrichtung, die berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen für Jugendliche anbietet. Durch die vom Arbeitsamt finanzierte Maßnahme soll den Jugendlichen der Einstieg ins Berufsleben gelingen. Während und nach dem Studium hat sie mit Flüchtlingen gearbeitet. Das sei ihr Traumberuf gewesen. Die Asylbezirksstelle wurde geschlossen, sie wurde arbeitslos und kam dann über Kontakte zu der jetzigen Stelle. Da die Maßnahmen nur auf 2-3 Jahre bewilligt werden, ist ihre Stelle immer befristet. Ihr momentaner Vertrag läuft im nächsten Jahr aus. Ihr macht dieser Widerspruch zu schaffen: Sie bekommt gute Rückmeldung für ihre Arbeit, hat das Gefühl, viel Energie in das Projekt gesteckt und sich viel erarbeitet zu haben, aber die offizielle Rückmeldung ist, dass dieses Mal die Maßnahme nicht verlängert wird und damit auch nicht ihr Vertrag. Darüber hinaus leidet sie unter dem Spagat, im sozialen Bereich zu arbeiten, aber als Dienstleister wirtschaftlich handeln zu müssen. Sie berichtet von dem Druck, zu Dumpingpreisen Maßnahmen an Land ziehen zu müssen. Die Schicksale der Jugendlichen bewegen sie sehr. Sie empfindet es als schwierig, Jugendliche zum ‚funktionieren‘ zu bringen, sie in die Leistungsgesellschaft integrieren zu müssen. Das Dilemma ist, die Forderungen des Arbeitsamtes, des Geldgebers,
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5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen
umzusetzen und dem jeweiligen Jugendlichen mit seiner spezifischen Problemlage gerecht zu werden; das müsse ausbalanciert werden, was sich oft als sehr schwierig erweist. Über ihr Leben außerhalb des Berufs erzählt sie, dass sie einen großen Freundeskreis hat. Sie ist viel gereist. Babysittet bei ihrem Bruder. Alles in allem ganz normal, meint sie. Gefragt nach prägenden Ereignissen, zeigt sich, dass sie sich in ihrer Biografie familiär sehr engagiert hat: Sie hat ihre Schwester mit großgezogen und geholfen, die Großmutter bis zu ihrem Tod zu pflegen. Nachdenklich fügt sie hinzu, dass sie am liebsten keinen Menschen verlieren würde, den sie liebt. Das Interview mit Simone ist eines der ausführlichsten und es stecken sehr viele verschiedene Themen darin. Im Folgenden soll vor allem auf ihre Äußerungen zu ihrem Single-Dasein eingegangen werden. Von den 40 Interviewten haben 15 angegeben, alleinstehend zu sein, darunter 11 Frauen, 2 von ihnen alleinerziehend mit einem Kind. Simone ist die Einzige, die auf das Thema „Alleinstehend“ in einer längeren Passage eingeht. An ihr wird jedoch exemplarisch deutlich, dass die Lebensform Alleinstehend sich gerade für Frauen nicht einfach bruchlos als eine weitere gesellschaftlich akzeptierte Lebensform in die Vielfalt gesellschaftlicher Realitäten einfügen lässt. Simone bringt das Thema auf den Tisch, als sie gefragt wird, ob sie einen gesellschaftlichen Wandel verspürt. Sie kann zunächst mit dem Begriff nichts anfangen, fragt lachend zurück, ob der denn wirklich stattfindet. Die Interviewerin führt dann aus, ob sie denke, dass es junge Menschen heute schwerer hätten, eine Familie zu gründen, gleichzeitig dem Job nachgehen usw. (vgl. I-12: 2084-2108). „Wie find ich das? (Pause) Da muss ich jetzt mal nachdenken, wie ich des find. Ja, ich hab ja selber keine Kinder … ich arbeite (lacht leicht verkrampft). Also prinzipiell denke ich, erstmal muss jeder seinen Lebensweg gehen, den er gehen möchte. Jeder sollte sein Leben so leben, dass er zufrieden und glücklich mit sich und mit seinem Leben ist. Das wäre mein erster Ansatzpunkt, dass man (...) nicht sagt: So, was will die Gesellschaft von mir? Ich bin jetzt so alt, eigentlich müsste ich das und das erreicht haben und ich sollte so viele Kinder haben und eigentlich sollte ich ein Haus und ein Auto da stehen haben. Also von der Vorstellung würde ich mich … {gern ein} bisschen verabschieden.“ (I-12: 2111-2139)
Simone geht erst gar nicht auf den gesellschaftlichen Wandel ein – flüchtet sich nicht in Allgemeinplätzen über die Schwierigkeit der Vereinbarung von Familie und Beruf, sondern bringt sofort ihre Lebenssituation als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zur Sprache: ‚Ich habe keine Kinder – ich arbeite!‘ Allein in den Ausführungen der Interviewerin schwingen für sie offensichtlich sogleich ein
5.5 Alleinstehende Frauen
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Bündel an gesellschaftlichen Erwartungen mit, dass sie den Impuls hat, diese zurückzuweisen und energisch ihren Ansatzpunkt formuliert: Jeder solle den Lebensweg gehen, der ihn glücklich und zufrieden macht und nicht nur das machen, was die Gesellschaft von einem fordert. Sie nennt die gesellschaftlichen Erwartungen, welche die Erfüllung bestimmter altersspezifischer Normen beinhalten: In ihrem Alter sollte man (Wohn-)Eigentum und andere Statussymbole besitzen, aber eben auch Kinder haben. Diese Anforderungen, aus der Gesellschaft kommend, formulieren ebenfalls die Heilerzieherin Anne und die Sozialpädagogin Claudia (vgl. I-35 und I-31). Der Unterschied ist, dass Claudia Kinder hat und sich bei ihr der Druck verschiebt in Richtung der ‚guten Erziehung‘ des Kindes (vgl. I-31: 428-460). Das Fehlen von Kindern wird Simone vorgehalten. Sie spricht weiter: „Aber ich hab jetzt auch schon eine Erfahrung gemacht. Ich bin auch 31, dass da die Leute einen irgendwie ständig ansprechen, naja, jetzt wird’s doch mal Zeit und {du} musst doch mal Kinder kriegen und du magst doch Kinder. Wo ich dann immer so zwischendrin bin, wo ich denk: Ja aber, warum? Kann ich nicht selber entscheiden, wie mein Leben verlaufen soll?“ (I-12: 2139-2153)
An dieser Stelle bekommt der ‚Wille der Gesellschaft‘ ein Gesicht. Menschen im Umfeld, die – wahrscheinlich in familiären Zusammenhängen lebend – Simone daran erinnern, dass sie eine wesentliche Funktion als Frau noch nicht erfüllt: die Mutterschaft. Anknüpfungspunkt ist ihr Alter, ihre nur noch begrenzte biografische Lebenszeit, Kinder zu bekommen. Jean-Claude Kaufmann hat in seiner qualitativen Studie über alleinstehende Frauen hervorgehoben, dass das Thema „Alleinstehend“ für Frauen eine andere Dimension als für Männer beinhaltet: „Entgegen den öffentlichen Erklärungen (‚Jeder kann tun, was er will‘) gibt es … doch ein verstecktes, heimliches Modell für das Privatleben, das plötzlich und auf gemeine Weise hervortreten kann, wenn die alleinstehende Frau den ‚erhobenen Zeigefinger‘ auf sich gerichtet sieht“ (Kaufmann, 2006: 53). Der ‚erhobene Zeigefinger‘ der Gesellschaft ist in diesem Fall der ‚Makel‘ einer Frau, im fortgeschrittenen gebärfähigen Alter (noch) keine Kinder zu haben. „Stärker noch als die Tatsache, nicht zu zweit zu leben, ist die Tatsache, kein Kind zu haben, mit dem Verdacht der Anomalität behaftet“ (ebd. 99). Im Fall von Simone löst die Kinderlosigkeit im näheren sozialen Umfeld offensichtlich besonderes Unverständnis aus: eine Sozialpädagogin, die mit Jugendlichen arbeitet, gut mit Kindern (z. B. ihres Bruders) umgehen kann – letztlich alle Eigenschaften erfüllt, die eine ‚gute Mutter‘ ausmacht. Simone fühlt sich auch auf einer gesellschaftlichen Diskursebene angegriffen. Sie spricht weiter:
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5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen „Was tu ich jetzt der Gesellschaft Schlimmes an? Ja, ich bin kein asozialer Mensch, sag ich mal. Ich hab auch Verantwortung, die übernehme ich auch in meinem Leben, halt nicht für eigene Kinder grad oder für einen Partner, aber ich hab auch ein Umfeld, für das ich da bin. Da find ich es schwierig, dass man selber eigentlich zufrieden und glücklich ist, aber von außen immer eingeredet bekommt, dir fehlt doch was, ja. Du musst doch, du musst doch mal dran denken und deine Uhr tickt, und der, was weiß ich was, ist früher dran. Und da find ich und denk dann immer, warum können die mich jetzt konfrontieren? Ich frag ja auch niemanden, he, Kinderkriegen kann ja auch ein Egoismus sein, ja! Da fragt man ja auch nicht, ob die Kinder kommen wollen, aber da würde ich mich auch nicht einmischen.“ (I-12: 2153-2184)
Offensichtlich schwingt in den Vorhaltungen der anderen für Simone der Vorwurf mit, man wäre nicht bereit, Verantwortung (in der Gesellschaft) zu übernehmen. Sie wirkt zornig, sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, ein ‚asozialer Mensch‘ zu sein, wogegen sie sich wehrt. Das Bild, das hinter Simones Äußerungen auftaucht, ist, dass man als Frau die gesellschaftliche Aufgabe hat, Verantwortung für einen Mann/Partner (sic!) und für das Aufziehen von Kindern zu übernehmen. Wenn man diese Funktion nicht erfüllt, wird einem eingeredet, dass es einem schlecht gehen, einem etwas fehlen müsste. Dem Anspruch, zu einem erfüllten (gesellschaftlichen) Leben gehören Kinder, setzt sie entgegen, dass das ja letztlich auch nur die Umsetzung egoistischer Wünsche sei. Stephan Baas und seine Kollegen/innen haben sich unter anderem mit der Thematik auseinandergesetzt, wie das Thema „Alleinlebende“ oder „Singles“ öffentlich, medial usw. diskutiert wird. Dabei haben sie festgestellt, dass zum einen Alleinlebende und Singles als „Repräsentanten eines modernen und bisweilen prototypischen Lebensentwurfs, als ‚Seismograph für die gegenwärtige und anstehende Situation moderner Menschen überhaupt‘ (Hradil, 1998, S. 9)“ gelten (Baas et al., 2008: 11). In manchen Diskussionen wird ihnen ein hedonistischer Lebensstil unterstellt: sexuelle Freizügigkeit, starkes Konsumverhalten und beruflicher Erfolg. „In der jüngeren Vergangenheit ist die Wahrnehmung von Singles jedoch immer häufiger mit negativen Konnotationen verbunden, da sie in deutlichem Kontrast zur Lebensaufgabe ‚Familie‘ und gesamtgesellschaftlich notwendigen Anforderung ‚Generativität‘ gesehen werden. Vor einem solchen Hintergrund gelten Singles mithin als deutlichster Ausdruck der These vom ‚Zerfall der Familie‘. Im Rahmen der Diskussion über die Generationensolidarität und der weiteren Finanzierung der sozialen Sicherung wird auch häufig angemerkt, dass Kinderlose und Singles (häufig erfolgt eine automatische Gleichsetzung) unsolidarisch und egoistisch seien, da sie das Gebot der Subsidiarität verletzten“ (ebd. 11).
5.5 Alleinstehende Frauen
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Singles werden daher mit gesellschaftlichen Phänomenen wie ‚Individualisierung‘ und ‚Modernisierung‘ in Verbindung gebracht (vgl. ebd. 11). Auch Beck/Beck-Gernsheim produzieren mit ihren Überlegungen bezüglich Individualisierungsbestrebungen das Bild des Zerfalls der Familie: „Doch was um alles in der Welt treibt die Menschen dazu, Freiheit, Selbstentfaltung, den Griff nach den Sternen des Ichs ausgerechnet gegen Familie auszuspielen?“ (Beck & Beck-Gernsheim, 1990: 11). Sie fragen sich, was Menschen dazu bringt, gar in ‚kollektiver Trance‘ entweder ihr ‚Eheglück‘ (sic!) zu verlassen oder gar „einfach für sich zu leben“ (ebd. 11 f.). Sie fragen weiter: „Ist das eine Art Egoismus-Epidemie, ein Ich-Fieber, dem man durch Ethik-Tropfen, heiße Wir-Umschläge und tägliche Einredungen auf das Gemeinwohl beikommen kann?“ (ebd. 12). Das Bild des individualisierten Alleinstehenden als jemanden, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet, der seinen egoistischen Neigungen folgt und seine gesellschaftlichen ‚Pflichten‘ vernachlässigt, wird hier zurückgewiesen. Es verzerrt die Sicht auf die soziale Wirklichkeit von Alleinstehenden. Stephan Baas und Kollegen/innen weisen darauf hin, dass Individualisierung nicht nur Freisetzung aus ‚traditionellen‘ gesellschaftlichen Strukturen beinhaltet, sondern es führt darauf hinaus, dass neue soziale Netzwerke entstehen – wenn sie auch stärker eigenverantwortlich hergestellt werden müssen (vgl. Baas et al., 2008: 12). Dies spiegelt sich auch in dieser quantitativen Ergebnissen wider: die stärkere Bedeutung des Freundeskreises für Alleinlebende (vgl. Kapitel 5.3). Im Falle von Simone wäre es geradezu absurd, von einem Ich-bezogenen Menschen zu sprechen. Sie lebt in einem großen Freundeskreis, dessen Kontaktpflege ihr sehr wichtig ist. In ihrer Familie hat sie in ihrem bisherigen Leben viel Verantwortung übernommen: Sie war sowohl maßgeblich an der Fürsorge und der Erziehungsarbeit ihrer kleineren Schwester beteiligt als auch an der Pflege der Großmutter bis zu deren Tod. Ganz zu schweigen von ihrer enormen sozialen Kompetenz, die sich in ihrer Arbeit mit Jugendlichen zeigt. In ihrem Beitrag zur Konferenz „Lebensführung und solidarisches Handeln in der Krise – U35“ im Oktober 2009 betont Regina Becker-Schmidt, dass die private Lebenswelt Lernfeld für solidarisches, gemeinschaftliches Verhalten ist. Sie bezieht es in ihrem Beitrag vor allem auf das Tätigkeitsfeld von Frauen in Familienstrukturen (vgl. Becker-Schmidt, 2009). „Nicht nur die ‚konkreten Anderen‘, d. h. die einzelnen Familienmitglieder, motivieren zu freiwillig erbrachten Zuwendungen, sondern ebenso – wie bewusst oder unbewusst auch immer – der Wunsch, einen sozialen Raum zu schaffen, der die individuelle Lebensqualität verbessert und Gemeinschaftlichkeit stiftet“ (vgl. ebd. 3). Weiterführend ist der Hinweis, dass die Institution Familie nicht nur Fürsorge bedeutet,
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5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen
dass alle satt und die Kinder ordentlich erzogen werden, sondern es darüber hinaus um die Schaffung eines ‚sozialen Raums‘ geht, der viel mehr beinhaltet, nämlich die Erzeugung von Gemeinschaftlichkeit. Hier wird die These vertreten, dass Menschen, die nicht in familialen Zusammenhängen leben, dennoch maßgeblich soziale Räume herstellen und gestalten. Es wäre zu überprüfen, ob es Unterschiede gibt zwischen alleinstehenden Männern und Frauen. Allein aus Gründen eines ‚inkorporierten Handlungskapitals‘ (vgl. Wetterer, 2003: 302) liegt die Vermutung nahe, dass Frauen, durch frühzeitiges Erlernen von fürsorglichem Verhalten, dieses auch im Leben als Single transformieren und für sich in anderer Weise als in familiären Zusammenhängen produktiv nutzen. Diese sozialen Räume sind evtl. gesellschaftlich nicht so offensichtlich sichtbar wie ein vor sich her geschobener Kinderwagen. Aber sie sind deshalb nicht weniger vorhanden und nehmen eine wichtige Stellung ein. Zusammenfassung Es lässt sich zum einen abschließend zusammenfassen, dass Frauenleben sich ausdifferenzieren. Eine Familie zu haben ist für viele Frauen zwar eine wesentliche Option in ihren Lebensplanungen und nach wie vor eine zentrale Orientierung (siehe Kapitel 5.2), aber eben zunehmend nicht für alle. Es wäre wichtig, in der Geschlechterforschung, aber auch in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen (auch in der Gewerkschaftsarbeit) diese Lebensform stärker und vor allem differenziert zu berücksichtigen. Die Frage ist, wie die vorhandenen sozialen Ressourcen von Alleinstehenden sichtbar gemacht werden können, um es evtl. auch für gesellschaftspolitisches Engagement zu nutzen. 5.6 Solidarisches Handeln: Sind Frauen die solidarischeren Menschen? Die Ergebnisse der quantitativen Stichprobe haben die Frage aufgeworfen, ob Frauen die solidarischeren Menschen seien. Fast alle Solidaritätsindizes haben sie signifikant höher bewertet als die befragten Männer (vgl. Kapitel 5.1). Eine Deutung der Ergebnisse könnte darin bestehen, dass große Teile der befragten Frauen in den Branchen Gesundheitswesen und Öffentlicher Dienst beschäftigt sind, die im Zeitraum der Erhebung zum Teil in Arbeitskämpfen standen. Solidarisches Handeln ist nicht einfach per se vorhanden, sondern entsteht in Zusammenhang mit einer bestimmten Praxis (vgl. auch Vester, 2009) – vor allem in einem Berufsfeld, in dem eine hohe soziale Kompetenz abverlangt wird (Gesundheitswesen; Soziale Dienste im Öffentlichen Dienst).
5.6 Solidarisches Handeln: Sind Frauen die solidarischeren Menschen?
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Eine weitere Deutungsmöglichkeit bietet die Tatsache, dass Frauen tendenziell stärker in sozialen und familiären Bezügen engagiert sind und unter anderem durch ihre schlechtere Stellung im Beruf (überwiegend in Teilzeitstellen und geringere Entlohnung) eher ungerechte gesellschaftliche Strukturen wahrnehmen. Becker-Schmidt hat auf den Wert der privaten Lebenswelt als Erfahrungsraum basaler Formen solidarischen Handelns hingewiesen (vgl. Becker-Schmidt, 2009). Mit Blick auf diese private Lebenswelt lassen sich in den Aussagen über Solidarität in den leitfadengestützen Interviews weiterführende Ansatzpunkte finden. In den 60er-Jahren hat die US-amerikanische Psychologin Carol Gilligan die These aufgestellt, dass Frauen eher ein Moralverständnis haben, das sich an Werten der Fürsorge orientiert. Bei den von ihr befragten Männern hingegen richtet sich das Moralverständnis tendenziell eher nach abstrakten ethischen Normen und Rechten (vgl. Benhabib, 1989: 454; Gilligan, 1996). Hintergrund ihrer These ist eine kritische Auseinandersetzung mit Lawrence Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung. Carol Gilligan und Kollegen/innen werfen Kohlbergs Theorie über Moralentwicklung vor, dass diese „nur für die Messung eines Aspekts moralischer Orientierung, dem einer Ethik der Gerechtigkeit und der Rechte, geeignet ist und kontrastieren sie mit einer Ethik der Fürsorge und Verantwortung“ (ebd. 454). Die Aussage von Gilligan ist dahingehend, dass Frauen eher dazu tendieren, in ihren moralischen Urteilen „den Standpunkt des ‚besonderen Anderen‘ einzunehmen, und Frauen scheinen besser in der Lage zu sein, die dafür notwendigen Gefühle der Empathie und Sympathie aufzubringen“ (Benhabib, 1989: 455). Auf dieser These aufbauend entwickelt Seyla Benhabib zwei Standpunkte, die das Verhältnis zum Anderen beleuchten. Es handelt sich um zwei Perspektiven, „die sowohl moralische als auch interaktive Strukturen verdeutlichen“ (ebd. 467). Sie unterscheidet den Standpunkt des „verallgemeinerten“ und von dem des „konkreten“ Anderen. In den Interviews wurden Aussagen über Solidarität vorgefunden, die man diesen beiden Standpunkten zuordnen kann. Beim Standpunkt des verallgemeinerten Anderen ist die Beziehung zum Anderen geprägt sowohl durch Normen formaler Gleichheit als auch durch Reziprozität, wobei die Normen öffentlich und institutionell verankert sind. Die moralischen Kategorien, an denen das Verhalten ausgerichtet wird, bewegen sich im Feld des Rechts, des Anspruchs und der Verpflichtung. Die dazugehörigen moralischen Empfindungen sind Respekt, Pflicht, Würde und Ehrbarkeit (vgl. ebd. 468).
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5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen
Aussagen über Solidarität, die sich ausschließlich auf Normen formaler Gleichheit beziehen, gibt es in den Interviews nicht. In den meisten Interviews spielt solidarisches Handeln im ‚Nahbereich‘, d. h. gegenüber Familienangehörigen, Freunden und Freundinnen, Kollegen und Kolleginnen, in irgendeiner Weise eine Rolle. Daher werden im Folgenden Interviews genannt, die sich in bestimmter Form auf einen ‚verallgemeinerbaren Rahmen‘ (wie z. B. Demokratie, Arbeitnehmer/innen-Rechte, Gerechtigkeit etc.) beziehen. Aussagen zu Solidarität, die man am ehesten einem Standpunkt des verallgemeinerten Anderen zuordnen kann, macht beispielsweise ein Erzieher. Auf die Frage, was Solidarität für ihn bedeutet, antwortet er: „Für mich würde ich jetzt sagen, auf jeden Fall gerechtes Handeln, irgendwo (lächelt). Für beide Seiten, irgendwo.“ (I-6: 155-156)
Solidarisches Handeln bezieht er auf einen konkreten verallgemeinerbaren Wert: den der Gerechtigkeit – Gerechtigkeit, die nach beiden Seiten gleichermaßen gilt – unabhängig von Situation, Person und Angelegenheit. Ein weiteres Beispiel sind die Aussagen in einem Interview eines Krankenpflegers, eines engagierten Gewerkschafters, tätig in der Jugendauszubildendenvertretung, also JAV’ler. Auf die Frage, was für ihn persönlich solidarisches Handeln ist, antwortet er: „Wir haben einfach mal eine Globalisierung, die ist auch nicht mehr aufzuhalten. Ob die jetzt gut oder schlecht {ist}, sei dahingestellt, aber ich glaube, dass bisher die Globalisierung sich halt nur (…) auf heutige ökonomische Standards, auf ökonomische Ziele richtet. Und ich glaube, dass (...) da eine Solidarität, eine weltweite, wichtig ist, aber auch in Europa. Ich finde es jetzt besonders interessant auch in Bezug auf Europa. Was da alles schon an Gemeinsamkeiten, an Verträgen, an Verhandlungen stattfindet, da fehlt mir eine Komponente immer: Es gibt überhaupt gar keine soziale gemeinsame Linie, eine Sicherheit, die gegeben wird. Die ist komplett ausgeblendet. Und (betont) da finde ich, wird es gefährlich, und da glaube ich, müssen wir zum Beispiel eine übergreifende Länder- oder lokal übergreifende Solidarität entwickeln. (...) Es passiert unglaublich viel Ungerechtigkeit. Und das andere: Wir können etwas bewegen, also zum Beispiel in der politischen Arbeit, ob das jetzt Gewerkschaften oder gewerkschaftsnahe Gruppierungen sind, ob das auch politische Bereiche sind oder Hilfsorganisationen. Ich denke schon (betont), alles, was in die Richtung geht, dass man über den Tellerrand ein bisschen hinausschaut, über den eigenen. Schon sich damit zu beschäftigen, führt eigentlich dazu, dass man, denke ich, solidarischeres Verhalten entwickelt.“ (I-28: 425-460)
Dieser Gewerkschafter wagt den Blick über den Tellerrand: Er sieht nicht nur sich und sein Arbeitsfeld als Krankenpfleger in einer Klinik, sondern hat die
5.6 Solidarisches Handeln: Sind Frauen die solidarischeren Menschen?
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großen globalen Veränderungen vor Augen. Er bezieht sich in seinen Aussagen auf den verallgemeinerbaren Wert der ‚sozialen Gerechtigkeit‘ und führt aus, allein die Beschäftigung mit den großen Ungerechtigkeiten würde bedeuten, dass sich solidarisches Handeln entwickelt. Es ist wichtig, dass man sich mit globalen Veränderungen, Ungerechtigkeiten beschäftigt. Aber er wurde gefragt, was für ihn „persönlich“ solidarisches Handeln sei – letztlich das konkrete, alltägliche Handeln. Darauf gibt er keine Antwort. Die Art von Aussagen, die sich um verallgemeinerbare Werte drehen, findet sich nicht nur bei den Interviews mit Männern, aber sie sind in der Mehrzahl. Bei den meisten Frauen, aber nicht nur bei den Frauen, finden sich Aussagen, die eher den Standpunkt des konkreten Anderen einnehmen. „Der Standpunkt des konkreten Anderen verlangt … von uns, jedes einzelne rationale Wesen als ein Individuum mit einer konkreten Geschichte, Identität und affektiv-emotionalen Verfassung zu betrachten“ (Benhabib, 1989: 468). Dieser Standpunkt bedeutet, dass von Gemeinsamkeiten abstrahiert wird. Es wird versucht, die Bedürfnisse der anderen Person, ihre Motivationen, was sie erreichen möchte, was sie sich wünscht, zu verstehen. Die Normen, die in dieser Form von Beziehung eine Rolle spielen, heißen Fairness und komplementäre Reziprozität. Diese Aussagen über solidarisches Handeln, die sich diesem Standpunkt zuordnen lassen, orientieren sich tendenziell stärker an konkreten Beziehungen, an Bedürfnissen, an der jeweiligen Situation. Eine Diplom-Verwaltungswirtin antwortet auf die Frage, was sie unter solidarischem Handeln versteht: „Also wenn ich merke, dass ich jemandem helfen kann. Das ist das eine. Weil wenn ich jemandem gar nicht helfen kann, also nicht in der Lage bin, macht es auch keinen Sinn, wenn ich mir den Kopf zerbreche und Sorgen mache oder so. Weil ich kann eh nichts an der Lage ändern. Das ist etwas Wesentliches. Und das zweite ist: Man muss ja ein bisschen so abwägen können. Man kann nicht allen helfen, sondern wie viel Sinn macht es, jemandem zu helfen? (...) Klar, wenn es ein Freund ist oder in der Familie, dann hilft man trotzdem immer wieder. Aber wie viel Sinn macht es, der Person zu helfen, wird sie das, was man hilft, egal in welcher Art es sich auch auswirken mag, wird sie das auch nehmen und damit dann wieder was Gutes machen? Wird es ihr helfen oder nicht? Macht es Sinn?“ (I-26: 1226-1252)
Als Beispiel führt sie weiter an, wenn die Geschwister kämen und hinter dem Rücken der Eltern Hilfe einforderten, dann würde sie diese nicht gewähren. Kurzfristig könne man das gute Verhältnis zu den Geschwistern wahren, aber langfristig das zu den Eltern gefährden (vgl. ebd. 1264-1271). Die Interviewte nennt zunächst ihr persönliches Verständnis von solidarischem Handeln: wenn sie jemandem helfen kann. Mit Betonung auf „wenn“. Sprich: Wenn sie Leid bemerkt, aber gleichzeitig begreift, dass sie nichts zu
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5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen
dessen Abhilfe beitragen kann, sei es auch nicht sinnig, sich darüber Gedanken zu machen. In ihren weiteren Ausführungen fragt sie nach dem Sinn, den es mache, wenn sie jemandem helfe. Sie bezieht sich und ihr solidarisches Handeln sehr stark auf die Beziehung, den Blick auf die konkrete Person und auf die jeweilige Situation. Eine kommunikative Ethik der Bedürfnisinterpretation und das beziehungsorientierte Modell moralischer Autonomie Seyla Benhabib gibt kritisch zu bedenken, dass beide Perspektiven, jede für sich, nicht ausreichen. Moralisches Handeln, das sich nur auf verallgemeinerbare Werte bezieht, verliert den konkreten Anderen aus den Augen, mit dessen eigener Geschichte, Bedürfnissen und Erfahrungen. Eine Moraltheorie, die sich wiederum ausschließlich auf den Standpunkt des „konkreten Anderen“ beruft, ist zu einseitig und läuft Gefahr, rassistisch, sexistisch oder kulturrelativistisch zu werden. Es braucht den Abstraktionsschub durch die Einnahme eines verallgemeinerten Standpunktes (vgl. Benhabib, 1989: 475). Sie entwirft deshalb das „Modell der kommunikativen Bedürfnisinterpretation“, das diese beiden Standpunkte zusammennimmt (ebd. 477): Es bedarf des Blickwinkels auf die konkrete Geschichte des Anderen, verknüpft mit einem verallgemeinerbaren Standpunkt. Eine solche Sichtweise kann eine dialogische, interaktive Verständigung ermöglichen, sowohl über innere Dispositionen und Bedürfnisse von Individuen als auch über die Gestaltung der öffentlichen Sphäre, über universelle Rechte und Gerechtigkeit. Zum anderen könnte das Modell einen Bezugsrahmen liefern, in dem alle politisch Handelnden an einem Verfahren beteiligt sind, das die konkreten Identitäten berücksichtigt (und damit auch Erfahrungen mit unterdrückenden und versteckten Differenzierungen) und die gegenseitig anerkannte Würde als generalisierte Andere im Blick behält. Eine kommunikative Ethik der Bedürfnisinterpretation bedeutet für Seyla Benhabib, den Gegenstandsbereich der Moraltheorie zu erweitern, „so dass nicht nur Rechte, sondern auch Bedürfnisse; nicht nur Gerechtigkeit, sondern auch mögliche Formen des guten Lebens in eine antizipatorisch-utopische Perspektive gerückt werden können. Solche Diskurse können nicht nur universelle Normen hervorbringen, sondern auch Anregungen für zukünftige Formen des Zusammenlebens bieten“ (ebd. 477). Es wurden einige wenige Interviews gefunden, die Aussagen zu solidarischem Handeln enthalten, die sich einem solchen Modell annähern.
5.6 Solidarisches Handeln: Sind Frauen die solidarischeren Menschen?
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Die Aussagen eines Krankenpflegers, stellvertretender Stationsleiter und aktiver Gewerkschafter, kommen dem Modell der „kommunikativen Bedürfnisinterpretation“ sehr nahe: „Also, Solidarität ist für mich einfach, dass ich auch für den Kollegen, jetzt im Geschäft, einstehe, und dass man mit mir spricht und dass ich versteh, warum handelt er jetzt so und ich ihn auch verteidigen kann oder ihn auch rechtfertigen kann, jetzt vor Ärzten oder sonstiges. Das ist für mich eigentlich schon … Solidarität.“ (I-15: 927-939)
Solidarität hat zum einen für ihn viel mit Kollegialität zu tun. Aber im gleichen Satz nennt er ein wesentliches Element, das sich durch dieses Interview zieht: die Kommunikation. Sie ist für ihn sehr wichtig, letztlich um den konkreten Fall des Anderen zu verstehen. An mehreren Stellen im Interview nennt er den Begriff „Aufklärung“: „I: Also bedeutet solidarisches Handeln für Dich, dass man drüber redet ... A: (unterbricht mit leicht erhobener Stimme) Aufklärung. Ja, Aufklärung! I: Also genau und dass man auch zusammen was erreicht oder versucht? A: Eigentlich schon ... zusammen einen Weg findet. Das finde ich. Dass man das aufklärt, warum man so handelt, und dass man zusammen eine Lösung findet.“ (I-15: 1097-1116)
Indem man die konkrete Situation des Anderen im Dialog ergründet, lässt sich ein Verständnis über dessen Bedürfnisse entwickeln. Der südamerikanische Pädagoge Paulo Freire stellt den Dialog in das Zentrum seiner „Pädagogik der Unterdrückten“: „Solidarität verlangt echte Kommunikation“ (Freire, 1998: 62). Solidarität kann erst entstehen, wenn durch den Dialog das Verstehen der konkreten, sozialen Wirklichkeit des Anderen möglich wird. Der Krankenpfleger bezieht die Kommunikation nicht nur auf den Alltag auf Station und den OP-Saal, sondern weitet sie auf andere Kreise aus: „Ich find halt, ich muss die Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen, was … da jetzt wieder los ist und ich möchte auch für meine Kollegen, äh, (längere Pause) einstehen, dass wir – also nicht nur, dass ich mehr Geld krieg – sondern auch (…) die Damen, wo bei uns putzen. Die Reinigungsdamen, die verdienen an die 900 € im Monat und das finde ich also ein Unding für das, was die den ganzen Tag putzen müssen. Und die haben ja auch – das hört sich jetzt blöd an – aber auch ne Verantwortung {im} OP, dass da alles sauber ist. Und ich denk halt einfach, das gehört ... honoriert. Weil die Gesellschaft ist so: Es gibt Berufe, die lehnen irgendwo blöd im Eck rum und verdienen ein Schweinegeld. Und Leute, wo wirklich was tun, wo körperlich arbeiten, physisch wirklich hart arbeiten, die verdienen nicht viel, und
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5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen ich find, das ... das kann’s nicht sein. Wir leben halt auch … in einer Welt, wo ich find, dass die Reichen immer reicher werden und der Mittelstand und die Armen halt immer weiter abrutschen. Das sind so Sachen, ja deswegen streik ich auch, das da auch.“ (I-15: 1155-1199)
In dieser Aussage wird deutlich, dass der Krankenpfleger sein solidarisches Handeln nicht nur auf den konkreten Alltag und Kollegen/innen bezieht, sondern er betrachtet kritisch allgemeine gesellschaftliche ungerechte Zustände. Dagegen bezieht er Stellung durch Streik – um die Öffentlichkeit aufmerksam zu machen. Ein weiteres Beispiel ist eine Betriebsrätin in Berlin, die sich sehr aufgeschlossen gegenüber dieser Studie zeigte. Sie nutzte den Fragebogen und die Durchführung einer Focus Group, um mit Mitarbeiter/innen in ihrem Betrieb, die eher „individualistisch“ eingestellt waren, die der Arbeit eines Betriebsrates sehr skeptisch gegenüberstehen, ins Gespräch zu kommen. Ihr ging es nicht darum, sie zu überzeugen (z. B. vom Sinn der Arbeit eines Betriebsrates), sondern überhaupt wieder in ein Gespräch zu kommen über Solidarität im Betrieb usw. Im Interview betont sie, dass es ihr wichtig sei, die Kommunikation zu denjenigen, die ihr immer wieder die Tür vor der Nase zuschlagen, nicht abbrechen zu lassen. Folgende Aussage, in der sie von einer Solidaritätsaktion in ihrem Betrieb berichtet, verdeutlicht dies: „Und ‚Cent-um-Cent‘ bedeutet eben, dass wir Mitarbeiter dafür gewinnen, 50 Cent ihres Einkommens zu spenden im Monat, und die Summe, die im Jahr dann zusammenkommt, dann eben Vereinen und Aktionen (…) zukommen zu lassen, die sich hier in {Stadtteil; L.B.} (…) engagieren. Und das ist so eine, ja, wie so eine Art Haussammlung unter den Mitarbeitern. Und … da wird mir hin und wieder mal die Tür vor der Nase zugeknallt. Aber ich denke, das darf man (…) sich nicht {zu} nahe kommen lassen. Die Mitarbeiter sind der Meinung, jeder hat seine eigene Erfahrung und … das muss man eben akzeptieren. Ich persönlich hab dann die Erfahrung gemacht, dass es wirklich besser ist, diese Idee anonym in die Menge hineinzutragen und den Leuten auch eine gewisse, ja, wie soll ich sagen, ‚freie‘ Entscheidung zu lassen und ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie damit niemandem irgendwie einen Gefallen tun. Also, … vor allen Dingen nicht einer bestimmten Person, nicht derjenigen Person, die die Idee hatte oder so. Und das funktioniert am besten. Wir werden eben Stück für Stück die Mitgliederzahl steigern.“ (I-19: 679-711)
Mit dieser Aktion versucht sie, den verallgemeinerbaren Wert umzusetzen, dass ein großer Betrieb die Verantwortung hat, wieder etwas an das Gemeinwesen zurückzugeben, und sei es nur in Form einer alljährlichen Geldspende an lokale soziale Vereine und Organisationen. In ihrem Betrieb stößt sie jedoch auf eine skeptische Mitarbeiterschaft. Sie tastet die Meinung dieser Mitarbeiter/innen
5.6 Solidarisches Handeln: Sind Frauen die solidarischeren Menschen?
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nicht an, versucht nicht, sie zu solidarischerem Handeln zu bewegen, gibt aber deshalb auch nicht ihr Ziel auf: die Steigerung der Anzahl von Mitarbeiter/innen, die sich an der Aktion beteiligen. Ihr ist bewusst, dass die Lösungen, die sie für sich gefunden hat, sich nicht auf andere übertragen lassen, und wendet daher den „Trick“ an, beständig auf die „Cent-um-Cent“-Aktion hinzuweisen und den individualistisch eingestellten Kollegen/innen die „freie“ Entscheidung zu lassen, ob sie sich beteiligen wollen oder nicht. An einer anderen Stelle verdeutlicht sie, dass sie versucht, sowohl ihren Freundinnen als auch Kollegen/innen keine Ratschläge mehr zu erteilen. „Worauf ich (…) immer mehr achte, ist, keine Ratschläge zu erteilen, weil ich merke, dass jeder Ratschlag eben auch ein Schlag ist. Also es wirkt oft besserwisserisch oder, wie soll ich sagen, zurechtweisend. Das (…) vermeid’ ich ganz und gar. Also ich glaub, den meisten Menschen ist wirklich geholfen, wenn man einfach da ist, wenn man zuhört. Womit man dann natürlich auch klarkommen muss, ist oftmals, dass, wenn die Sache erledigt ist, man dann auch raus ist. Also (...), es ist eben dann auch erledigt. Aber gut, dann geht’s ihnen ja auch wieder besser, ja (schmunzelt).“ (I-19: 750-766)
Durch das aktive Zuhören bringt sie sich in die Situation, den konkreten Anderen mit seinen Problemen und Bedürfnissen letztlich genau kennen zu lernen und auch erst einmal in seiner eigenen Wahrheit bestehen zu lassen – ohne ihm ihre eigene aufoktroyieren zu wollen. Dies zeigt sich auch in ihrem Engagement als Betriebsrätin und Gewerkschafterin: „Ja, Gewerkschaft ist auch noch ein Bereich (lacht). (…) Also ich bin schon sehr lange Gewerkschaftsmitglied, schon seit 1994. Wir haben da einen sehr engen Kontakt zu unserer Gewerkschaftssekretärin und natürlich versuchen wir (…) da Gewerkschaftsarbeit mitzumachen. Wir haben regelmäßig einen Arbeitskreis der Betriebsräte, auch {aus den} anderen Unternehmen, und auch da kann man natürlich solidarisch handeln. (…) Über diese Plattform der Gewerkschaft tauschen wir uns über unternehmensrelevante Sachen aus, wo man sagt: ‚Mensch komm, wir haben hier schon ’ne Lösung gefunden, guck dir das mal an.ǥ Aber auch da ist es wichtig, dass man immer akzeptiert, dass der andere eben auch eine andere Situation hat und … bestimmte andere Grundlagen da herrschen. Deshalb sind wir da auch wirklich solidarisch miteinander. Also wir bieten an, jeder, der was weiß, bietet {die Information} an und wenn’s angenommen wird: Okay. Und wenn’s nicht angenommen wird, ist’s auch okay. Da muss man immer wieder darauf zurück.“ (I-19: 786-815)
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5 Lebensführung, Orientierung und solidarisches Handeln junger Frauen
Auch in ihrer Arbeit als Betriebsrätin und in der Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft versucht sie, in der Kommunikation nie den Blick des konkreten Anderen – in diesem Fall ihren Betriebsratskollegen aus den anderen Unternehmen – aus dem Blick zu verlieren. Zusammenfassung und Ausblick Frauen erreichten bei allen Indikatoren in Bezug auf solidarisches Handeln höhere Werte. Auf die Frage, ob Frauen die solidarischeren Menschen sind, kann man antworten, dass es darauf ankommt, was man unter Solidarität versteht. Bei den im Forschungsverlauf gefundenen fünf Komponenten solidarischen Handelns spielt der Bezug zu einem unmittelbaren sozialen Umfeld eine große Rolle. Frauen sind vielleicht nicht die solidarischeren Menschen, aber die Sorge um Andere wird ihnen sowohl beruflich als auch im privaten Umfeld nahegelegt und von ihnen auch in vielerlei Hinsicht angenommen. Die Interviews zeigen auf, dass die subjektiven Vorstellungen, was solidarisches Handeln sei, unter anderem zwei unterschiedliche Orientierungen beinhalten können: Zum einen gibt es Aussagen, die sich an verallgemeinerbaren Werten orientieren, an abstrakten Werten wie soziale Gerechtigkeit beispielsweise. Andere Aussagen zu solidarischem Handeln orientieren sich eher an konkreten sozialen Beziehungen und der Art und Weise, diese zu gestalten. Gewerkschaftspolitische Strategien haben historisch bedingt den „Standpunkt des verallgemeinerten Anderen“ als Grundlage: den des Arbeitnehmers/der Arbeitnehmerin und seiner/ihrer Rechte. Die Frage ist, inwieweit der „Standpunkt des konkreten Anderen“, der offensichtlich tendenziell mehr der vielfältigeren sozialen Lebenswelt von Frauen entspricht, bereits seinen Platz hat bzw. stärker betont werden kann.
5.6 Solidarisches Handeln: Sind Frauen die solidarischeren Menschen?
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6 Druck und Gesundheit – aus der Sicht von Psychotherapeut/innen
In den vergangenen 30 Jahren ist der Krankenstand der gesetzlich Versicherten in Deutschland im langfristigen Trend zurückgegangen. Er lag 1975 in der alten Bundesrepublik bei 5,3 % und 2008 (Ost- und Westdeutschland) bei 3,3 % (vgl. Kocyba & Voswinkel, 2007: 9). Mit 3,7 % hatte das Gesundheitswesen den höchsten Krankenstand, gefolgt von der Öffentlichen Verwaltung mit 3,6 %. Bei „Organisationen, Verbänden, sozialen Einrichtungen“ betrug der Krankenstand 2,9 %, bei Banken/Versicherungen 2,6 % und im IT-Bereich/Datenverarbeitung 2,3 % (vgl. DAK Forschung, 2009: 91). Mehr als die Hälfte der Krankheitstage hatten ihre Ursache in Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und der Atemwege (52,5 %). Der Anteil psychischer Erkrankungen am Krankenstand betrug im Jahr 2008 10,6 % (Frauen: 13,1 %, Männer 8,7 %). Auffällig ist, dass die Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen insgesamt stärker angestiegen ist als bei anderen wichtigen Erkrankungsgruppen (vgl. Kocyba & Voswinkel, 2007: 9). Alle neueren arbeitswissenschaftlichen Untersuchungen geben eindeutige Hinweise darauf, dass der Stress in der Arbeitswelt zunimmt und psychische Belastungen und Erkrankungen eine immer größere Rolle spielen (vgl. Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V., 2009). Seit 2006 beschäftigt sich deshalb ein Forschungsverbund von sechs wissenschaftlichen Instituten im Projekt PARGEMA – Partizipatives Gesundheitsmanagement – mit der Frage, wie unter den gegebenen ökonomischen Bedingungen Arbeitsüberlastung vermieden und Gesundheitsgefahren vorgebeugt werden kann (ebd.). Auch die WSI-Betriebsräte-Befragung (eine Befragung von 1700 Arbeitnehmervertreter/innen aus Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten zwischen September 2008 und Januar 2009) ergab, dass es in vier von fünf Betrieben Beschäftigte gibt, die unter „dauerhaft hohem Druck“ arbeiten. Betroffen sind demnach 43 % der Belegschaft (vgl. Hans-Böckler-Stiftung, 2009). Zudem geben auch 79 % der befragten Betriebsräte an, dass die psychischen Belastungen in den letzten drei Jahren vor der Befragung zugenommen haben. Dem zunehmenden Arbeitsdruck sind besonders Beschäftigte in Dienstleistungsberufen ausgesetzt. Die Gesundheitsexpertin des WSI, Heike Ahlers, erklärt zu den Ursachen: J. Held et al., Was bewegt junge Menschen?, DOI 10.1007/978-3-531-92826-5_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6 Druck und Gesundheit – aus der Sicht von Psychotherapeut/innen
„Durch neue Organisationsformen in den Unternehmen steuern zunehmend Kundenvorgaben und Ergebnisorientierung den Arbeitsrhythmus. Und das mit immer weniger Personal“ (ebd.). Zudem wird „mehr Eigenverantwortlichkeit“ zum Belastungsfaktor. 58 % der befragten Betriebsräte gaben an, dass Mitarbeiter regelmäßig mit Umsatz- und Renditezahlen konfrontiert und daran gemessen werden. Für die Zukunft wird befürchtet, dass sich die Befunde noch verschlimmern, da sich durch die Krise die Personaldecke weiter ausdünnt (ebd.). Im privaten Bankensektor beklagen viele Beschäftigte, dass die Zustände nach Ausbruch der Finanzkrise „schlimmer als jemals zuvor“ geworden sind: Zielvorgaben wurden erhöht und vielerorts herrsche eine „Führungskultur“, die von Angst und persönlichen Drohungen und Gängelungen geprägt sei (vgl ver.di Landesbezirk NRW, März 2009/1). Aber auch im Bereich der Sparkassen und Genossenschaftsbanken gibt es Hinweise „als würden die Vorstände in die gleiche Richtung gehen, wie im privaten Bankensektor“, so ein Vorwurf der Gewerkschaft Verdi (vgl. ver.di Landesbezirk NRW, März 2009/2). Es werde zunehmend mit Angst und Druck „geführt“ (ebd.). Verdi-Gewerkschaftssekretär Roman Eberle berichtete im Juni 2009 in der ZDF-Sendung „Frontal 21“, dass sich inzwischen viele Bankangestellte für das schämen, was sie tun. Kundenberater hätten „im Regelfall keine freie Auswahl“, was sie Kunden anbieten: „Es geht nicht um kundenorientierte Beratung, sondern darum, dass von der Bank vorgegebene Produkte abgesetzt werden müssen. Mittlerweile wird an vielen Stellen mehrmals täglich überprüft, ob die Ziele erreicht werden“, so der Gewerkschaftssekretär. „Die Bank macht uns krank“ so der Vorwurf vieler Beschäftigter (ebd.). Verdi richtete aus den oben genannten Gründen die Internetseite www.verkaufsdruckneindanke.de ein, auf der Beschäftigte anonym berichten können. Die Berichte der Bankangestellten werden durch Erkenntnisse von Krankenkassen gestützt. So kommt der Forschungsbericht der Deutschen Angestellten Krankenkasse DAK zu Arbeitsbedingungen und Krankenstand im Kreditgewerbe schon ein Jahr vor Ausbruch der weltweiten Finanzkrise zu dem Befund, dass die globale Öffnung der Märkte einen weltweiten Strukturwandel in Gang gesetzt habe, der die Strukturen der Finanzwelt verändert habe (vgl. DAK, 2007). Der allgemein zu beobachtende Trend der Zunahme von psychischen Erkrankungen zeige sich auch im Kreditgewerbe. Die Forschungsergebnisse zeigen einen engen Zusammenhang zwischen Belastungen wie Zeitmangel, Personalmangel, Überforderung etc. und psychosomatischen Beschwerden, „die sich in der Krankenstandstatistik vielfach als psychische Diagnosen niederschlagen“ (ebd.). Ferner deuten die Daten darauf hin, dass für den größeren Leistungsdruck und die Intensivierung der Arbeit der Strukturwandel der Branche ursächlich ist. Stress,
6.1 Psychische Probleme und das Verhältnis zu Psychotherapie
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Mehrbelastungen und Unsicherheiten würden „im Zuge von Reorganisationsund Rationalisierungsprozessen entstehen und eine erhöhte Aufmerksamkeit der Krankenkassen erfordern (ebd.). Es gibt Hinweise darauf, dass der insgesamt historisch niedrige Krankenstand in Deutschland und die Zunahme psychischer Erkrankungen zwei Seiten einer Medaille darstellen. Ein Forschungsprojekt an der Universität Frankfurt beschäftigt sich mit „Krankheitsverleugnung“, auch „Präsentismus“ genannt. Der niedrige Krankenstand bedeutet demnach nicht, dass die Beschäftigten in Deutschland „so gesund wie nie“ sind, sondern, dass immer mehr Beschäftigte auch zur Arbeit gehen, wenn sie krank sind. „Mit mehr Eigenverantwortung sowie Projekt- und Teamarbeit unter Zeitdruck nähmen viele Beschäftigte den sozialen Druck ihrer Arbeitskollegen vorauseilend vorweg und räumten beruflichen Belangen Priorität vor der Gesundheit ein“, so die Süddeutsche Zeitung mit Bezug auf den Sozialforscher Stephan Voswinkel (vgl. Deckstein, 2009). Da psychische Erkrankungen offensichtlich bei immer mehr Beschäftigten eine Rolle spielen, wird in der Untersuchung auch ein Augenmerk darauf geworfen. Die Befragungen und Interviews haben kurze Kontakte zu den jungen Menschen hergestellt und meist hat es sich um Kontakte zu Unbekannten gehandelt. Darin liegen Chancen aber auch Beschränkungen. Eine wichtige Einschränkung besteht darin, dass wirklich schwerwiegende Probleme dabei selten zur Sprache kommen können. Ein/e Psychotherapeut/in ist dagegen dafür zuständig und er/sie hat längeren und intensiveren Kontakt. Deshalb wurden in der Untersuchung zwei Psychotherapeutinnen, eine in Berlin und eine in BadenWürttemberg, sowie ein Psychotherapeut/innen interviewt. Die Auswahl der drei Therapeuten/innen erfolgte unter dem Gesichtspunkt, ob Erfahrungen mit jungen Menschen unter 35 bestehen und ob die Therapeuten/innen die Vermittlung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Prozessen einbeziehen. 6.1 Psychische Probleme und das Verhältnis zu Psychotherapie Zu Beginn des Interviews wurde jeweils gefragt, mit welchen Problemen und Beschwerden die unter 35-Jährigen in die psychologischer Beratung und Therapie kommen. Deutlich wurde hier ein Unterschied gemacht zwischen Beratung und Therapie. Während die psychologische Beratung von den unter 35jährigen häufig aufgesucht wird, kommen sie in die Psychotherapie, vor allem in die mit psychoanalytischer Ausrichtung, meist über den Umweg über eine Beratungsstelle oder den Arzt. Wenn sie sich explizit in eine Psychotherapie begeben, dann „muss schon ein massiver Leidensdruck oder eine massive Blockade“ vorhanden sein. Das Leiden äußert sich dabei verstärkt im psychosomatischen Bereich:
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6 Druck und Gesundheit – aus der Sicht von Psychotherapeut/innen „Die Leute suchen dann wegen schwerer Schlafstörungen oder auch Arbeitsstörungen selbst um therapeutische Hilfe nach oder sie werden wegen Beschwerden mit dem Herzen oder anderer Organe ohne organischen Befund von den Ärzten zu den Psychotherapeut/innen überwiesen. Schaut man ein bisschen näher hin, werden solche Leidenszustände und Erkrankungen von einer Angst vor Leistungsversagen genährt oder von gravierenden Beziehungsstörungen. Es kann sich effektiv um große Tragödien handeln. Was immer auch im Hintergrund das psychische Problem sein mag, auffällig ist, dass häufig der Anlass Schlafstörungen, Beziehungsstörungen oder Leistungsstörungen sind.“ (I-38, 33-44)
In der psychologischen Beratung liegt der Akzent etwas anders: Hier geht es mehr um persönliche Krisen und Beziehungsprobleme. „Zu uns kommen viele Menschen mit Partnerschafts- bzw. familiären Schwierigkeiten. Dazu kann auch das Verhältnis zu den Eltern bzw. Schwiegereltern gehören oder natürlich das Verhältnis zu den eigenen Kindern, seien diese nun erwachsen oder seien es Erziehungsfragen. Die Beratungsanliegen umfassen auch das ganze Spektrum von persönlichen Krisen wie Depression, Suizidalität, aber auch Versagensängste im Beruf oder Prüfungsängste bei Studierenden usw.“ (I-39, 13-19)
Bei den jungen Familien mit kleinen Kindern liegt der Schwerpunkt auf sogenannten „normativen Krisen“, also solche Krisen, die zu erwarten sind in diesem Alterssegment und dieser sozialen Konstellation: „Die Neuorientierung als Elternpaar, die Frage, wie die Partnerschaft trotz Elternschaft gelebt werden kann, die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf, der Umgang mit dem Stress, der in all diesen Anforderungen entsteht. Viele Partnerschaften haben ihren Tiefpunkt (einschließlich Scheidungshäufigkeit) nach dem ersten oder spätestens nach dem zweiten Kind.“ (I-39, 39-45)
Interessant ist die Beobachtung, dass die Problemlage oft als individuelle verstanden wird und nicht als Partnerschaftsproblem oder Problem mit der Arbeit. Dann heißt es z. B.: „Ich fühle mich so ausgebrannt“ oder „Ich weiß nicht, wie es in meinem Leben weitergehen soll“. „Wenn man aber genauer fragt, merkt man, wie hoch die Anteile wirklich sind, die mit der Partnerschaft zu tun haben. Häufig treffen zum Beispiel finanzielle Schwierigkeiten, Probleme am Arbeitsplatz oder Schwierigkeiten, überhaupt eine Stelle zu finden, mit in diese Partnerschaftsfragen ein.“ (I-39, 50-57)
In dem Interview mit der Berliner Psychotherapeutin ist viel von Erschöpfungssyndromen und von dem Anstieg der Depressionen die Rede. Dass es sich dabei nicht um eine isolierte Erfahrung handelt, sondern um ein Problem von großer
6.1 Psychische Probleme und das Verhältnis zu Psychotherapie
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Tragweite, das zeigen neuere Daten. Das Bundesgesundheitsministerium geht z. B. davon aus, dass 4 Millionen Deutsche von einer Depression betroffen sind und dass gut 10 Millionen Menschen bis zum 65. Lebensjahr eine Depression erlitten haben. Bis 2020, so die Weltgesundheitsorganisation, wird die Depression die zweithäufigste Krankheit der Industrienationen sein. Ängste und Depressionen können heute als Leitsymptome nicht nur bei jungen Menschen verstanden werden. Das Verhältnis der unter 35-Jährigen zur Psychotherapie ist nicht unproblematisch. Offenbar fällt es vielen schwer, „sich auf einen Prozess einzulassen und sich auch so einem Prozess zu überlassen. (…) Das ist in der Generation, die alles im Griff haben muss, eher schwierig“ (I-38, 32-33). Offenbar sind viele durch ein gesellschaftlich vorherrschendes technisches Verständnis geprägt. „Solche Menschen – und ich finde es schon auffällig, dass sie in dieser Altersgruppe verstärkt zu finden sind – haben eine bestimmte Erwartung an die Therapie. Sie kommen mit einer Erwartung, wie wenn sie in einem Reparaturbetrieb gingen: ‚Du weißt, wie es geht, jetzt mach mal was mit mir, damit das wieder in Gang kommt.ǥ Eine solche Erwartungshaltung ist besonders für analytische Verfahren nicht so günstig.“ (I-38, 80-85)
Ein weiteres Problem besteht darin, dass es in vielen Kreisen immer noch ein Stigma darstellt, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dies gilt nicht nur für die Privatsphäre, sondern auch im Beruf. „Wir haben in der Beratungsstelle eine ganze Gruppe, die uns wirklich zunehmend beschäftigt. Leute, die zum Beispiel Lehrer werden wollen, oder Juristen oder Pfarrer, die in ihren Ausbildungszusammenhängen nicht sagen dürfen, dass sie eine Therapie machen oder machen wollen. Sie wissen, dass, wenn die Tatsache einer Therapie über die Krankenkasse oder die Beihilfe bei den Beamtenanwärtern offenbar wird und in ihre Akten kommt, sie in Bewerbungen Schwierigkeiten kriegen; und eine Berufsunfähigkeitsversicherung kriegen sie auch nicht. Deshalb wenden sie sich an eine Beratungsstelle, die nichts mit den Krankenkassen zu tun hat, und obwohl sie eigentlich willig und motiviert wären, eine Therapie zu machen, können sie es nicht, da dies nicht aktenkundig werden darf, um die Berufskarriere nicht zu gefährden.“ (I-39, 687-688)
Psychotherapie kann also, wenn sie bekannt wird, zu einer zusätzlichen Gefährdung in schwieriger Lebenslage werden, da sie häufig das Stigma geringer Belastbarkeit mit sich bringt. Dies gilt in besonderer Weise im Dienstleistungsbereich und vor allem in Krisenzeiten wie der jetzigen.
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6 Druck und Gesundheit – aus der Sicht von Psychotherapeut/innen
Die jungen Menschen sind häufig mit der Anforderung konfrontiert, dass sie wie eine Maschine funktionieren sollen, und erwarten auch von Psychothera– peut/innen, dass ihre psychische ‚Maschine‘ repariert wird. „Alles soll bestens und toll sein. Alle unvollkommenen, problematischen, schwachen, alle eher negativen Seiten werden weitgehend verleugnet. Dies gilt für alle Ebenen und von Konflikten, die man mit anderen, mit sich selbst, mit der Arbeit und Vorgesetzten oder sonstigen hat. Die ganze Konfliktseite wird abgespalten, aber auch die ganze Seite des negativen Erlebens. Negative Gefühle zu haben, also etwa auf jemand anderen wütend, ärgerlich zu sein, Angst zu haben, von Skrupeln geplagt zu werden, ist immer ein Indiz dafür, dass man sozusagen nicht zu den Gewinnern gehört. Und deshalb müssen solche Aspekte vor sich selbst ausgeblendet werden.“ (I-38, 71-79)
Es gibt jedoch nicht nur die jungen Menschen, die Psychotherapien aus den genannten Gründen eher meiden, sondern entgegengesetzt auch diejenigen, die gerne Therapien machen; das kann sogar bis zur Abhängigkeit von Therapien führen. „Viele haben vorherige Therapieerfahrungen. Ich frage inzwischen regelmäßig am Anfang von dem Gespräch: ‚Ist das für Sie eine ganz neue Situation, Beratung oder Therapie, oder kennen Sie das?ǥ Und nachdem ich das frage, erfahre ich, dass circa die Hälfte der Klienten schon andere therapeutische oder beraterische Hilfe in Anspruch genommen hat. Das würden sie vielleicht von sich aus nicht erzählen, aber schon, wenn ich danach frage und nach den Erfahrungen damit. Also es gibt heute durchaus ,therapeutische Karrierenǥ – und zwar vielfältiger Art. (I-39, 614-620)
Es muss sich dabei nicht um explizite Psychotherapien handeln, sondern es können auch andere therapieähnliche Vorerfahrungen vorliegen. „Ja, z. B. eine Selbsterfahrungsgruppe oder psychologische Workshops bei der Volkshochschule, die beispielsweise Mobbing zu vermeiden helfen. Ich würde sagen, die Zahl der Klienten, die als allererste Anlaufstelle sich an die Beratungsstelle wenden, war früher viel höher. Vor 15 Jahren waren das ca. 80 % und heute sind es vielleicht 30 % oder 40 %. Und die andere Hälfte hat eine Beratungskarriere schon hinter sich. (…) Mir hat neulich jemand gesagt, er sei Ende 30. Seit seinem 11. Lebensjahr sei er irgendwie in Kindertherapie, Jugendtherapie, Paartherapie, Elterntherapie. Gut, das ist jetzt extrem. Also es gibt auch Leute, die sagen: ‚Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich so was brauche, und Sie sind die Erste, die davon erfährt, dass es mir nicht gut geht.‘ Den Fall gibt es auch.“ (I-39, 614-640)
Die Psychologisierung realer Probleme hat zugenommen und sie manifestiert sich bei einem Teil der unter 35-Jährigen offenbar in ihrer Therapienachfrage.
6.2 Probleme in der Privatsphäre
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Die einen haben Schwierigkeiten, weil sie ihre Probleme kaum ohne therapeutische Unterstützung bewältigen können, ihnen aber der Zugang zur Psychotherapie erschwert ist; die anderen können sich offenbar kaum mehr vorstellen, Probleme auch ohne Therapie zu lösen. Schon in dem Verhältnis der jungen Menschen zur Psychotherapie werden viele gesellschaftlich erzeugte Problemkonstellationen deutlich. Auch die psychischen Beschwerden verweisen auf den gesellschaftlichen Kontext, d. h., es kann nicht davon ausgegangen werden, dass nur die beruflichen Probleme auf den gesellschaftlichen Kontext verweisen, sondern ebenso die Probleme in der Privatsphäre und dass beide Sphären stark miteinander zusammenhängen und zu einem Anwachsen der Probleme führen können. Trotzdem wird im Folgenden zuerst aufgeteilt in Probleme in der Privatsphäre und Probleme in der Arbeit. 6.2 Probleme in der Privatsphäre An Partnerschaftsproblemen lässt sich gut und exemplarisch darstellen, wie komplex die Problemlagen sind und wie unterschiedlich sie von den jungen Menschen interpretiert werden. Dazu die Therapeutin aus der Beratungsstelle: „Es sind fast immer multifaktoriell bedingte Schwierigkeiten. Zum Beispiel, wenn eine Frau sagt: ‚Mein Mann ist nicht mehr ansprechbar, der hat sich in den Job gestürzt, seit dem wir das erste Kind haben, arbeitet er noch mehr als früher.ǥ Man weiß aus empirischen Untersuchungen, dass das viele Männer nach der Geburt des Kindes so tun. Sie fühlen sich (häufig ganz in einem traditionellen Rollenmuster) verantwortlich für den Lebensunterhalt der Familie und stürzen sich in ihre berufliche Karriere bzw. in ihren Beruf. Und die Frauen denken oft, das habe was mit der Partnerschaft zu tun. Der Mann gehe auf Distanz zu ihr, seitdem das Kind da sei. Der Mann sieht seine Situation aber ganz anders, er würde sagen: ‚Das ist nicht wegen dir und wegen dem Kind, sondern weil ich beruflich so unter Druck bin und ich darf jetzt, wo ich eine Familie habe, doch nicht riskieren, meinen Arbeitsplatz zu verlieren.ǥ Vielleicht hat er aber zugleich auch Mühe, seinen Platz in der neuen Dreierkonstellation zu finden und fühlt sich ausgeschlossen aus der Beziehung zwischen seiner Frau, die jetzt auch Mutter ist, und dem Baby. Was da primär und sekundär ist, was da persönlicher Faktor und äußerer sozialer Faktor ist, kann man nicht so einfach und allgemein sagen. Es ist eben auch eine Frage der unterschiedlichen Zuschreibungen: Die Frau würde es vielleicht eher den persönlichen Beziehungen zuschreiben, während der Mann es eher den strukturellen Bedingungen zuschreibt.“ (I-39, 62-81)
Obwohl die Scheidungsraten stark gestiegen sind, wird Scheidung selten als Belastung von jungen Menschen thematisiert. Das gilt nicht nur für die Sozial-
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6 Druck und Gesundheit – aus der Sicht von Psychotherapeut/innen
forschung, sondern auch für den beruflichen Alltag. Die Trennung eines Paares bringt nicht nur eine Reihe von psychischen Belastungen mit sich, sondern auch eine Reihe von Folgeproblemen. Dazu die Psychotherapeutin aus der Beratungsstelle: „Zum Beispiel stellt sich ja bei getrennten Paaren mit Kindern die Frage nach dem Unterhalt, der davon abhängig ist, bei welchem Elternteil die Kinder leben. Wenn beide Elternteile häufig Kontakt zu den Kindern haben – was ja nur wünschenswert ist – und die Kinder abwechselnd bei Vater oder Mutter leben, verändert das auch die Unterhaltszahlungen. Dann kann es zum Streit kommen, dass ein Partner weniger Unterhalt an den anderen zahlen möchte bzw. der andere einen höheren Unterhalt wegen der Kinder möchte. Ich denke an eine Situation, wo ein Vater, bei dem zwei Kinder lebten, auch das dritte Kind bei sich haben wollte, was auch bedeutet hätte, dass er dann keinen Unterhalt an die Frau bzw. das Kind zahlt, sondern die Frau voll berufstätig hätte werden und Unterhalt an ihn zahlen müssen. Der Mann sagte, er hätte kein Problem, sich ganz als Hausmann und Vater zu verstehen und seinen Beruf zu lassen – aber für die Frau war diese Vorstellung eine Katastrophe, weil es ihr ganzes Frauenbild und Familienbild durcheinanderbrachte. Und natürlich stellte sich auch die Frage, was für einen Arbeitsplatz die Frau hätte finden können. Da kommen dann sehr subjektive Befindlichkeiten und die objektiven Bedingungen der Arbeitswelt zusammen.“ (I-39, 161-177)
In solchen Beispielen wird deutlich, dass die jungen Menschen und jungen Familien nicht nur im Beruf und im beruflichen Einstieg unter Druck stehen, sondern dass auch in der Privatsphäre der Druck wächst. Nach Aussage der Psychotherapeutin geht es bei mindestens der Hälfte der Beratungen um Menschen, die von Trennung und Scheidung betroffen sind (I-39, 246-248). Die Therapeutin betont, dass die Überforderung durch die hohe Berufsbelastung sicher auch ein Grund ist für die doch häufigen Trennungszahlen (I-39, 214-215). Zusätzlich bringt die Trennung dann finanzielle und soziale Belastungen mit sich, die zu den psychischen noch hinzukommen. Für die Bewältigung solcher Belastungen bieten sich zwei unterschiedliche Strategien an: zum einen der Rückzug auf sich selbst, was man heute mit Individualisierung bezeichnet, zum anderen der starke Bezug auf Gemeinschaften, in denen man Halt sucht. Die Erfahrungen der beiden Therapeuten aus Baden-Württemberg verweisen eher darauf, dass der Bezug auf Wir-Gruppen die bevorzugte Lösung von jungen Leuten heute sein dürfte. Ein Aspekt dabei ist die Beobachtung, dass die Bindung an die Herkunftsfamilie bei den jungen Menschen zugenommen hat.
6.2 Probleme in der Privatsphäre
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„Das beschäftigt uns sehr, dass zum Beispiel auch die älteren Studenten am Wochenende nach Hause fahren oder gar mit ihren Eltern in den Urlaub fahren. Und wenn sie dann Kinder haben, dann kommen natürlich Oma und Opa mit in die Ferien, das ist ja auch schön, es ist ja auch praktisch. Aber wir wären damals als junges Paar nicht auf die Idee gekommen, die Eltern oder Schwiegereltern mit in unseren Urlaub zu nehmen. Nicht weil es Familienstreit gab, sondern weil wir eine abgetrennte, eigene Familie waren.“ (I-39, 316-323)
Die Therapeutin führt weiter aus, dass viele heute in Familiennetzen leben und dass das quer durch alle Schichten so gemacht wird. Man suche die Geborgenheit, den Schutz der Herkunftsfamilie. Ein solches eher harmonisches Generationsverhältnis hat aber nicht nur Vorteile zur Problembewältigung, sondern auch negative Folgen. Solche Folgen lassen sich in den Beratungsstellen häufig beobachten. Sie bestehen vor allem in Depressionen und Leistungsängsten. Viele kommen auch bei guten äußeren Voraussetzungen nicht zurecht. „Und wenn man dann fragt, erfährt man oft, dass sie noch nie auf eigenen Füßen gestanden sind und davor Angst haben. Auch wenn sie sich unglücklich fühlen, rufen sie ihre Mutter an und sagen: ‚Mama, komm mal, ich fühl mich so alleinǥ. Also da ist dieser Ablösungsschritt gar nicht erfolgt. Wenn man dann fragt: Was war denn, als sie 15 oder 16 Jahre alt waren? Gab es da Zoff damals? Gab es Krach in ihrer Pubertät, Auseinandersetzungen? Nein, antworten sie dann oft; ich habe mich immer gut mit meinen Eltern verstanden, weil die auch sehr tolerant sind. Diese Konstellation gibt es heutzutage häufig.“ (I-39, 353-360)
Die Therapeutin befürchtet, dass das die persönliche Entwicklung eher schwächt als stärkt. Auch das Gruppenleben hat sich verändert. Die Psychotherapeut/innen beobachten in den letzten Jahren, dass das Gruppenleben für die unter 35-Jährigen eine größere Bedeutung erhalten hat. Die würde man bei der verstärkten Diskussion über Individualisierung und Ich-Orientierung eigentlich nicht vermuten. Wie stellt sich nun das Verhältnis von Gruppe und Individuum dar? Dazu die Therapeutin aus der Beratungsstelle: „Auf jeden Fall tritt man eher in der Gruppe auf und das Individuelle – glaube ich – ist eher, dass man wählen kann, zu welcher Gruppe man gehören will und man sich diese auch wirklich aussucht. Sprich: Ich geh nicht mit jedem irgendwo hin. Und das individualisierte Leben ist eher das, was durch äußere Bedingungen erzwungen ist. Weil man einen Ausbildungsplatz nur in Hamburg kriegt, muss man halt da hin und umziehen.“ (I-39, 457-462)
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6 Druck und Gesundheit – aus der Sicht von Psychotherapeut/innen
Der interviewte Therapeut kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: „Das Verbundensein, Dazugehören, Dabeisein (ist) in dieser Ausprägung meiner Meinung nach ein völlig neues Phänomen, in den letzten 10-15 Jahren entstanden: Freiheit wird nicht mehr als individuelles Frei- und Ungebundensein erlebt, sondern als Verbundenseinwollen. Freiheit heißt, mit anderen in Kontakt zu sein, zu jemandem zu gehören, dabei zu sein. Die Logik lautet, nicht gebunden zu sein, aber immer verbunden zu sein.“ (I-38, 216-221)
Wesentlich ist also das Dazugehören. „Dazugehören kann eben auch heißen, zur Familie gehören zu wollen; nicht umsonst kommt eben die Familie wieder so hoch – feiert sie fröhliche Urstände, weil angesichts des Verlusts von Sicherheiten und Orientierungen das Verbundensein etwas ganz Wesentliches geworden ist. Letztlich ist es eine Reaktion auf diese totale Atomisierung, bei der der Einzelne in seiner Eigentümlichkeit in Wirklichkeit völlig uninteressant ist. Er ist ein Spielball irgendwelcher Kräfte, hat letztlich überhaupt keine Kraft und Macht und muss somit zu anderen gehören und verbunden sein.“ (I-38, 251-258)
Der starke Gruppenbezug wird hier als eine Reaktion auf die Individualisierungsprozesse verstanden, durch die sich der Einzelne zu behaupten versucht. 6.3 Probleme in der Arbeitssphäre Die Intensivierung des Gruppenlebens hat noch eine andere psychische Voraussetzung: das Bedürfnis nach Verlässlichkeit. Gerade die ist heute in der Arbeitswelt stark infrage gestellt. „In Blick auf Patienten und auf die psychotherapeutische Praxis tun sich Menschen, die ein großes Bedürfnis nach Verlässlichkeit haben, mit den heutigen Anforderungen an Mobilität, Flexibilität und Projektorientierung besonders schwer. Sie suchen in der Arbeit eine verlässliche Bindung, die ein sicheres Zugehörigkeitsgefühl garantiert, sowie die Gewissheit, dass der Arbeitgeber einen braucht. Solche Menschen werden richtiggehend aus dem Gleis geworfen, wenn „McKinsey-Leute“ auf einmal sagen, dass alles ganz anders laufen muss. Besonders dort, wo eine hohe Flexibilität erwartet wird, kommt es zu massiven inneren Konflikten. Menschen, die für ihre psychische Stabilität ein hohes Maß an Sicherheit, Geborgenheit und Verlässlichkeit brauchen, scheitern am stärksten an den Flexibilitätsdynamiken, die das Aushalten von Unverbindlichkeit voraussetzen.“ (I-39, 427-438)
6.3 Probleme in der Arbeitssphäre
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Es liegt auf der Hand, dass junge Menschen im Dienstleistungsbereich und speziell in den Branchen, die untersucht wurden, stärker auf Sicherheit und Verlässlichkeit setzen als junge Menschen in anderen Branchen, da sie oft den Beruf wegen der damit verbundenen Sicherheit gewählt haben. Gerade sie dürften sich durch solche Prozesse besonders unter Druck gesetzt fühlen. Als Eingangsproblem äußern die jungen Klienten in der Therapie häufig, dass sie einfach mit allen Anforderungen überlastet sind. Die Therapeutin aus der Beratungsstelle nennt folgendes Beispiel: „Ich denke zum Beispiel an ein Paar, wo der Mann immer wieder Zeitverträge hatte, und der letzte Zeitvertrag läuft genau in dem Zeitrahmen aus, in dem das zweite Kind geboren ist. Er sieht sich damit konfrontiert, dass der nächste Job nicht in Sicht ist. Und dass das angesichts der Geburt des zweiten Kindes die Ängste erhöht und die partnerschaftlichen Toleranzmöglichkeiten beeinträchtigt, ist doch sehr verständlich.“ (I-39, 98-105)
An diesem Beispiel wird deutlich, dass bei Arbeitsproblemen immer auch die private Sphäre mit betroffen ist. Aus den beruflichen Schwierigkeiten können aber auch noch andere Überforderungen entstehen, die etwas mit dem Rollenverständnis zu tun haben. Dazu noch ein Beispiel von der Therapeutin aus der Beratungsstelle: „In dem Fall war die Frau Teilzeit berufstätig gewesen und jetzt seit der Geburt des zweiten Kindes zu Hause. Das Paar war also mit der Frage konfrontiert: Soll eventuell die Frau voll in den Beruf und der Mann bleibt zu Hause, weil für ihn beruflich nichts in Sicht war? Für beide war das prinzipiell eine Möglichkeit, aber es würde die Lebenssituation von beiden natürlich enorm verändern. Und die Entscheidung dafür ist ja wirklich nicht so leicht. (…) Für beide sind das doch erhebliche Veränderungen, im konkreten Alltag, aber auch im Rollenverständnis. Das geht nicht einfach so von selbst, es braucht Zeit, sich da rein zu finden, und Zeit, die Irritationen zu bewältigen. Dazu fallen mir etliche Beratungsfälle ein.“ (I-39, 109-122)
Die klassische Rollenverteilung wird von jungen Menschen heute prinzipiell infrage gestellt, dies heißt jedoch nicht, dass sich im Familienleben viel ändern muss. Auf die Frage, ob die Beraterin eine Veränderung der klassischen Rollen in Beziehungen sieht, antwortet sie: „Auf jeden Fall. Vielleicht gar nicht so sehr im Faktischen, aber der Anspruch ist da, dass die klassische Rollenverteilung zur Disposition steht. Es steht im Raum, dass der Mann ja wirklich auch zu Hause bleiben könnte, und Gott sei Dank ist es auch für die meisten Partnerschaften nicht mehr völlig indiskutabel, dass ein Mann zu Hause bleibt und die Frau arbeiten geht. Aber diese Möglichkeit auch wirklich um-
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6 Druck und Gesundheit – aus der Sicht von Psychotherapeut/innen zusetzen, als Frau arbeiten zu gehen und als Mann ganz zu Hause zu bleiben oder nur auf der 400-€-Basis zu arbeiten, das ist ein enormer Schritt. Einer grundsätzlichen Option zuzustimmen ist etwas anderes, als sie zu leben.“ (I-39, 146-155)
Der Rollentausch in Bezug auf die Arbeit stellt also eine Möglichkeit dar, mit den Schwierigkeiten in der Arbeitswelt umzugehen, sie zu bewältigen; er setzt aber persönliche Entwicklungen in der Paarbeziehung voraus. Ein besonderes Problem stellen heute die vielfältigen Flexibilisierungsanforderungen dar, die in der Arbeit ihren Mittelpunkt haben, sich aber auch dann im Privatbereich ausweiten. Dazu der interviewte Therapeut: „Die geforderte Flexibilisierung sämtlicher Lebensbereiche inklusive der eigenen Persönlichkeit ist meiner Meinung nach etwas Überforderndes und deshalb Inhumanes. Sie befördert eine Art von Bezogensein auf sich und die Welt, die bindungslos ist. Jeder soll jederzeit zur Disposition stehen und gleichzeitig den Einsatz seiner ganzen Leistungsfähigkeit bringen. Dies ist meiner Meinung nach etwas extrem Unnatürliches und letztlich psychisch nicht zu machen bzw. nicht zu leisten. Kein Wunder, dass Menschen sich Kompensationsmöglichkeiten suchen, die sie nur zu oft abhängig machen.“ (I-38, 476-483)
In ähnlicher Weise wird auch die sogenannte Entgrenzung zu einem Problem, das subjektiv schwer zu bewältigen ist. In der sozialwissenschaftlichen Forschungsliteratur spielt die Entgrenzung der Arbeit heute eine Rolle (Minssen, 2000; Pongratz & Voß, 2000; Schönberger, 2007). Es gibt jedoch nicht nur die Entgrenzung der Arbeit, sondern die Entgrenzung in ganz verschiedenen Sphären und auch als psychische Realität. Dies spielt auch in der Psychotherapie mit jungen Menschen eine Rolle: „Entgrenzung ist eine Alltagserfahrung heute, eine politische und wirtschaftliche Realität, wie die Stichworte ‚Europa‘ und ‚Globalisierung‘ zeigen. Inzwischen ist sie auch eine psychische Realität: Viele Menschen haben heute ein starkes Bedürfnis, Entgrenzungserfahrungen zu machen, ob in der Meditation, im Zen-Buddhismus oder bei irgendwelchen völlig riskanten Sportarten. Ohne Grenzen zu leben ist ein hohes Ideal geworden.“ (I-38, 576-572)
Gebundenheit und Verbindlichkeit widersprechen z. B. diesem Idealpunkt. Dies ist ein Beispiel dafür, wie sich Entgrenzungsprozesse, die im Arbeitsbereich ihren Ursprung haben, nicht nur in andere Lebenssphären ausweiten, sondern bis in die individuelle Psyche hineinragen können.
6.4 Der Umgang mit den gesellschaftlichen Anforderungen
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Die befragten Psychotherapeuten/innen lassen keinen Zweifel daran, dass der Arbeitsbereich und die Probleme im Arbeitsbereich oftmals den Ausgangspunkt für persönliche Probleme auch in der Privatsphäre bilden und dass die Probleme aus der Arbeitssphäre zunehmen. „Auf jeden Fall kann das aus Sicht der Beratungsstellen gesagt werden. In den letzten 5-6 Jahren wird das Thema Arbeit immer häufiger: als Überforderung am Arbeitsplatz, als Mobbing, als Angst um den Arbeitsplatz, als geforderter oder erzwungener Wechsel des Arbeitsstandortes und natürlich die psychosozialen Folgen von Arbeitslosigkeit, die enorm sind. Unglaublich viele Menschen fühlen sich inzwischen davon bedroht. Und viele junge Leute laufen mit einem Grunddruck oder Grundgefühl herum, ob sie überhaupt einen Arbeitsplatz finden. Viele Depressionen sind auch auf diesem Hintergrund zu sehen.“ (I-39, 181-188)
6.4 Der Umgang mit den gesellschaftlichen Anforderungen Menschen, auch junge Menschen, verhalten sich zu gesellschaftlichen Anforderungen ‚bewusst‘ (im Unterschied zu ‚bedingt‘): Die Bedingungen ‚wirken‘ nicht einfach, sie werden von den einzelnen aktiv in ihr Handeln einbezogen, unter Berücksichtigung ihrer Lebensinteressen wie sie sie (selbst) wahrnehmen. Die in politischen Diskussionen oft schnell gestellte Frage, warum die Leute sich denn nicht wehren, warum sie ihren scheinbar „objektiven“ Interessen zuwiderhandeln, bleibt unterhalb der subjektwissenschaftlichen Ebene. Scheinbar objektive Interessen und der subjektive Blick auf die eigenen Interessen können aus guten Gründen auseinander fallen: Es stellt sich z. B. die Frage, ob alternative Umgangsweisen mit den Anforderungen überhaupt als Handlungsmöglichkeiten „für einen selbst“ wahrgenommen werden oder ob sie als unrealistisch, „Hirngespinste“, „für mich nicht machbar“ erscheinen. Die herrschenden Verhältnisse und Anforderungen legen den Einzelnen gute Gründe nahe, nicht über sie hinaus zu denken: Sie stellen sich mit der ganzen Macht des Faktischen dar, haben die herrschaftlichen Ressourcen der hegemonialen Denkformen, der Institutionen, der existenziellen Bedrohungen hinter sich. Überschreitung der Anforderungen bedeutet gleichzeitig auch, den eigenen Status quo zu gefährden. Die doppelte Funktionalität von Herrschaftssicherung „nach oben“ und Selbstverortung der Einzelnen „nach unten“ macht aus, was in der kritischen Psychologie „restriktive Handlungsfähigkeit“ genannt wird (Holzkamp, 1983: 197). Die Forderungen von neoliberaler Politik und Kapital zielen auf eine Veränderung der Erwartungshorizonte der Menschen; einen Mentalitätswandel, der sie befähigen soll, mit den schwindenden Leistungen des Sozialstaates zurechtzukommen und den veränderten Anforderungen durch Arbeitsmarkt und Kapital
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nachzukommen: lebenslängliche Lernanstrengungen, kein Beharren auf Qualifikation und Erfahrungen, Flexibilität in Raum, Arbeitszeit und Einkommen. Für viele sind diese Aufrufe und Versprechen zwar mit einer erweiterten ‚Selbstbestimmung‘ im Sinne einer Planung von Arbeitshandlungen sowie zunehmender ökonomischer Selbstständigkeit etc. verbunden. Durch die starke Vermittlung über den Markt und den verstärkten Profitdruck, Reallohnverluste und Prekarisierung aber bekommt Selbstbestimmung oft den Beigeschmack von Stress und Arbeitsdruck. Dabei ist es nicht leicht, eigenes und fremdes Interesse auseinander zu halten. Anders zu denken und zu handeln, Nahelegungen zu überschreiten und allseits als normal Empfundenes zu hinterfragen, ist nicht als einfacher Willensakt zu denken. Vorausgesetzt ist, dass andere Denkformen überhaupt in den Möglichkeitsraum der Einzelnen hineinragen, Denkmöglichkeiten subjektiv wahrnehmbar werden – und durch Formen von Solidarität und Gegenhegemonie auch das Risiko der Überschreitung. In der kritischen Psychologie wird das „kooperative Integration“ genannt (Holzkamp, 1983: 331). Inwieweit die Überschreitung restriktiver Bewältigungsweisen für die Einzelnen funktionaler werden kann, hängt nicht zuletzt davon ab, ob und wie stark diese Handlungs- und Denkmöglichkeiten in den Bedeutungszusammenhängen repräsentiert sind, „inwieweit für das Individuum eine gegenwärtige Einschränkung seiner Handlungsfähigkeit nur auf kooperativem Wege in Richtung auf Verfügungserweiterung, Angstüberwindung“ (ebd.) aufhebbar ist. Der befragte Psychoanalytiker sieht heute folgende Dynamik für die Subjektentwicklung als charakteristisch an: Im Zuge der neoliberalen Modernisierung entstehen charakteristische Persönlichkeitstypen, die letztlich Umgangsweisen mit diesen gesellschaftlichen Prozessen darstellen und sich in der Persönlichkeit niederschlagen. Empirisch lassen sich zwei Varianten der so entstehenden „IchOrientierung“ finden, nämlich die aktive Ich-Orientierung und die passive IchOrientierung (vgl. Funk, 2005). Diese Formen der Ich-Orientierung beinhalten im Wesentlichen die Prozesse, über die schon berichtet wurde, nämlich Verbundenheit statt Gebundenheit als zentrales Bedürfnis, eigene Identitätskonstruktion und Selbstinszenierung. Auch Selbstverwirklichung im Beruf und Leistungsorientierung fallen darunter. Dieser Typus der Ich-Orientierung sollte nicht mit Egoismus verwechselt werden, und er beruht auch nicht auf einem starken Ich. „Meiner therapeutischen Erfahrung und Überzeugung nach kommt es bei vielen Menschen – ganz im Gegensatz zu ihrem bewussten Erleben – in Wirklichkeit zu einer sehr umfassenden ‚Ich-Schwäche‘, die durch eine Überbetonung des selbstbestimmten, egoistisch anmutenden Ichs kompensiert wird. Die Überbetonung ihrer Selbstbestimmtheit ist ein Ausdruck der Verzweiflung über ihre faktische, ihnen aber nicht bewusste Ich-Schwäche. Darum stellen sie ihren letzten Rest von IchStärke zur Schau bzw. inszenieren eine solche Ich-Stärke. Im Hintergrund steht aber
6.4 Der Umgang mit den gesellschaftlichen Anforderungen
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eine Schwäche: mit den eben auch zum eigenen Erleben gehörenden Zeiten ihres Ichs – den negativ erlebten Gefühlen von Abhängigkeit, Ohnmacht, Unvermögen, Destruktivität, Angst, Schuld, Scham usw. – können und möchten sie nichts zu tun haben. Oft können sie es sich noch nicht einmal eingestehen.“ (I-38, 107-117)
Die Basis von Ich-Orientierung ist also in dieser psychoanalytischen Interpretation eine Ich-Schwäche, die man sich nicht eingestehen kann. Sie entsteht dadurch, dass in der Sozialisation Konflikte und Auseinandersetzungen unter anderem mit den Eltern vermieden werden konnten und es selten notwendig war, seine eigenen Interessen und Bedürfnisse zu bestimmen und durchzusetzen gegen den Widerstand anderer. Zu einem ähnlichen Schluss kommt der Soziologe Richard Sennett: „Und was für eine Persönlichkeit entwickelt sich aus der Erfahrung von Intimität? Eine Persönlichkeit, die nach Vertrauen, Wärme und Wohlbehagen verlangt – und sie vielleicht auch findet. Aber woher nimmt sie die Kraft, sich in einer auf Ungerechtigkeit gegründeten Welt zu bewegen? (…) Ist es menschenfreundlich, in einer harten Welt die Herausbildung eines weichen Selbst zu unterstützen?“ (Sennett, 1998b; 310 f)
Sennett sieht die Erfahrung von Intimität in einem behüteten Nest von Familie und Gruppe als ein Problem. Subjektive Probleme können nach Ansicht des interviewten Psychoanalytikers auch dann entstehen, wenn von außen dauernd Anforderungen gestellt werden, deren Erfüllung die eigenen Bedürfnisse blockiert. Solche Prozesse beginnen in den primären Sozialisationsagenturen und setzten sich später im Ausbildungs- und Arbeitsprozess fort. Eine Möglichkeit, vor den vielfältigen Anforderungen zu bestehen, liegt nach Ansicht des Psychoanalytikers darin, dass man sich jeweils selbst inszeniert und zwar in situationsangemessener Weise. Auf diese Art und Weise kann jemand versuchen, sehr unterschiedlichen Außenanforderungen gerecht zu werden, auch wenn sie sich gegenseitig ausschließen. „Eben weil das völlig widersprüchliche Erwartungen sind, denen niemand mit seiner eigenen psychischen Ausstattung zugleich gerecht werden kann, bleibt nur ein Ausweg: All diese Erwartungen, die an meine soziale Kompetenz und Intelligenz gestellt werden, kann man dann erfüllen, wenn man nicht mehr den Versuch macht, dies mithilfe seiner ureigensten menschlichen Fähigkeiten zustande zu bringen. Vielmehr gilt es, auf seine in einem selbst liegenden Möglichkeiten zu verzichten und stattdessen das Erwartete zu inszenieren und sich anzueignen. Ob das etwas mit mir und meinen Gefühlen und eigenen Fähigkeiten zu tun hat, ist völlig egal. Indem ich mich
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6 Druck und Gesundheit – aus der Sicht von Psychotherapeut/innen als der inszeniere und zu dem mache, der den Erwartungen gerecht wird, bin ich derjenige, der alles kann.“ (I-38, 361-371)
Mit Ich-Orientierung ist in dieser psychoanalytischen Interpretation eher die Inszenierung eines eigenen Ichs und nicht die Entwicklung der Persönlichkeit gemeint. Der damit verbundene Verzicht auf einen Teil der eigenen Subjektentwicklung bleibt dann nicht ohne negative psychische Folgen: „Zumindest erlebt der Einzelne es heute als eine Katastrophe, wenn er sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht inszenieren kann, wenn einem die eigene Selbstdarstellung, die eigene Inszenierung gelingt, weil man krank ist oder weil man doch durch die Prüfung gefallen ist. Dann bricht sozusagen dieser ganze inszenierte Überbau zusammen. So kommt es eben auch zu den depressiven Erscheinungen.“ (I-38, 177-182)
Es gibt von Psychotherapeut/innen nicht nur negative Einschätzungen zum Strukturwandel der Psyche bei den unter 35-Jährigen. Einige Therapeuten sehen im Gegenteil eine „progressive Differenzierung“, d. h., „die Persönlichkeit wird freier, weniger zwanghaft, flexibler und kreativer.“ Martin Dornes vom Institut für Sozialforschung in Frankfurt/M. diagnostiziert einen „ambivalenten Strukturwandel“. Er beinhaltet sowohl regressive wie progressive Elemente. Die liberalisierte Erziehung ab den 1970er-Jahren führte „zu größerer psychischer Freiheit und größerer Verletzlichkeit“ (Dornes, 2009: 617 und 623). Die psychische Struktur ist beweglicher, flexibler geworden, was auch den neuen gesellschaftlichen Anforderungen mehr gerecht wird als eine starre Struktur. Sie ist damit aber auch störanfälliger geworden bei größeren äußeren Belastungen. Festzuhalten ist insgesamt, dass alle epidemiologischen Studien zu dem Schluss kommen, dass sich die Erkrankungshäufigkeit von jungen Menschen in den letzten 50 Jahren nicht nennenswert verändert hat. Es gab jedoch eine Verschiebung in der Art der Erkrankung: Depressionen haben zugenommen und nehmen weiter zu (vgl. ebd. 624). 6.5 Das psychische Leiden an der Gesellschaft – ein Fallbeispiel Das folgende Fallbeispiel stammt aus einem Interview mit einer Berliner Psychotherapeutin, in dem versucht wurde zu rekonstruieren, wie die Anforderungen in der Arbeit, die neuen Subjektanrufungen ihren Klienten zum Problem werden und inwieweit alternative Denkformen, Solidarität und Gegenwehr in konkreten Fallbeispielen präsent sind.
6.5 Das psychische Leiden an der Gesellschaft – ein Fallbeispiel
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Eine Klientin arbeitet als Grafikerin bei einer großen deutschen Zeitung. Sie leidet unter Angstzuständen, besonders in sozial strukturierten Situationen. Aus ihrer Arbeit schildert sie, wie von den Angestellten gefordert wird, „sich als Person ganz einzubringen“. Der Ansatz wird als Teil der Kompetenzvorstellungen durch den Arbeitgeber vertreten und ist auch in ihrem Selbstverständnis verankert. Dies entspricht Ansätzen des „Total Quality Management“ (TQM), mit dem neue Unternehmenskulturen implementiert werden. Das betrifft sowohl die Beziehungen unter den Angestellten als auch den Einsatz der „ganzen Person“, ihrer Kreativität und Emotionen für die Entwicklung neuer Produkte und Waren. In seinem Rahmen haben Grundvorstellungen der humanistischen Psychologie Eingang in die Betriebsrealität gefunden und verbinden „Effizienzsteigerung und Markterfolg für Unternehmen wie für andere Institutionen“ mit Modellen des Managements der eigenen Person, „wie sie sich aus der Ratgeberliteratur zum Persönlichkeits-Coaching und Selbstmanagement erschließen lassen. Sie konvergieren im Leitbild des ‚Unternehmers seiner selbst‘“ (Bröckling, 2002: 153). Das Einbringen der „ganzen Person“ wird als Teil der Unternehmenskultur gefördert und in Mitarbeitergesprächen und Arbeitsorganisation organisiert. Wichtiges Mittel in dem Prozess sind „Runden“, in denen jede/r gehalten ist, ein Statement abzugeben. Das Abgeben eines Statements als solches gilt als konstruktiv und Voranbringen des Arbeitsprozesses. Dabei sind die Kriterien für Beiträge nicht immer klar. TH: „Die haben einen Arbeitspsychologen, der sagt, ‚wir müssen Produktionsabläufe optimieren‘ und deswegen muss jeder ein Statement, immer, zu jeder Ausgabe, abgeben. Und sie sitzt hier und erklärt mir, dass es total unproduktiv ist und enorme Zeitverschwendung, dass aber ein enormer Druck da herrscht, dass sie dieses Statement abliefern muss, aber sie hätte ja so soziale Ängste.“
Das Sich-ganz-als-Person-Einbringen wird dabei nicht einfach als Beziehungspflege oder Networking betrieben, in dem es darum gehen würde, sich mit den Kollegen/innen gut zu stellen; vielmehr wird die Beziehungspflege umgekehrt als Aspekt von Qualität in der Arbeit verstanden. Das Einbringen der eigenen Person wird als originäre Arbeitskompetenz gesehen: „Für meine Arbeit ist das doch wichtig“, formuliert die Klientin selbst. So wird etwa die Bewertung einer Arbeitsaufgabe, bspw. die Auswahl eines Fotos, damit verbunden, ob sie an ihrem Arbeitsort freundlich auftritt und lächelt. Die durch keine sachlichen Kriterien vermittelten Zusammenhänge von persönlichen Befindlichkeiten, Eigenarten und gegenseitigen Wahrnehmungen „kommen“ den Angestellten sehr „nah“. In Kritikrunden muss jede/r Beteiligte in der Arbeit der anderen Fehler aufweisen. Die Teilnahme ist verpflichtend und bei allen Beteiligten müssen
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6 Druck und Gesundheit – aus der Sicht von Psychotherapeut/innen
Fehler gefunden werden. Das „offene Ansprechen von Fehlern und Verbesserungsmöglichkeiten“ wird als Teil der Unternehmenskultur verstanden und die Beteiligung an der ‚rücksichtslosen Fehleraufdeckung‘ wird als Bestandteil von Kompetenz verstanden. Die Klientin leidet stark unter Ängsten, wenn sie an der Reihe ist, sich vor anderen äußern soll oder auch, wenn in der Mittagspause über Persönliches gesprochen wird. Das lockere Gespräch in der Mittagspause ist nicht als Teil der Arbeitsorganisation angelegt. Durch die Konstruktion, dass alles Persönliche Teil des Bewertungsdiskurses ist, ist die Kommunikation aber von Konkurrenz geprägt. TH: „In den Mittagspausen gehen die dann los und fangen sofort an, über persönliche Probleme zu reden, die dann wieder durch den Häcksler gehen und in diesen Runden wieder auftauchen. Ich habe am Anfang mehrere Therapiestunden darauf verwendet, bis ihr irgendwann das Muster klar wurde und sie sich dann hinterher nicht immer wundert, warum es ihr jetzt um die Ohren fliegt, sondern dass es ein System ist.“ CK: In welcher Form sind die Themen der privaten Gespräche wieder aufgetaucht? TH: „Die Kolleginnen sagen dann in den Runden z. B., ja, du bist ja auch immer sehr nett zu allen und das ist dann ja klar, dass ich gar nicht weiß, wie deine Haltung zu dem Blatt ist und deswegen ist dann xy schief gegangen.“ CK: Das, was sie äußern, wenn sie denken, sie geben sich ganz als Person in einem Sozialzusammenhang, begegnet ihnen wieder als Teil eines Konkurrenzzusammenhangs? TH: „Genau. Dazu kommt aber, dass sie dieses sich da voll Reingeben auf der einen Seite tun, um es irgendwie nett miteinander zu haben, auf der anderen Seite das aber auch implizit mitläuft, dass das eine Kompetenz für die Arbeit ist. Ich habe vorgeschlagen, sich da nicht so hinein zu geben, sondern, wenn die anderen das nächste Mal ihre privaten Geschichten austauschen, vielleicht nur ‚Hmm‘ zu sagen. Das hat sie zuerst zurückgewiesen, nicht, weil sie die soziale Situation nicht aushält, sondern weil sie sagt, ‚das ist doch wichtig für meine Arbeit‘. Aber sie kann gar nicht sagen, warum, was haben diese Gespräche mit Grafikgestaltung zu tun? ... Das ist wirklich interessant, wie das so geht, dass eine Arbeitsleistung, also die Auswahl eines Fotos, damit verknüpft wird, dass sie irgendwie ein freundliches Lächeln zeigt. Das ist so absurd, aber es wird so ineinander verschränkt. Wenn du das zum ersten Mal hörst, denkst du ‚Was redet die für irres Zeug?‘ Aber für sie ist es ’ne absolute Selbstverständlichkeit.“
Nach der Einführung der Kritikrunden erfolgte die Etablierung von „Morgenrunden“: Hier sind keine inhaltlichen Kriterien ausschlaggebend; es kann darüber gesprochen werden, was für Ideen für die nächste Nummer existieren, aber auch nur die eigene Befindlichkeit kundgetan werden. Zentral aber ist die Beteiligung, das „Sicheinbringen in den Prozess“. Eine Äußerung zur eigenen Befindlichkeit,
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die sich nicht auf die Arbeit bezieht, ist dabei ein akzeptierter Beitrag in der Morgenrunde; nichts zu sagen, ist es nicht. Arbeitsdruck und Überstunden sind an der Tagesordnung, soziale Kontakte beschränken sich daher oft auf Arbeitskollegen/innen. Aufgrund der langen Arbeitszeiten können soziale Interessen im Privatleben nur schwer verfolgt werden; Die Klientin ist zunehmend isoliert. Der Arbeitsplatz wird gewissermaßen ihre ganze Welt. Es fällt oft schwer, die professionellen und von Konkurrenz geprägten Kooperationsformen von alltäglichen, privaten zu unterscheiden. Die Trennung von Kooperation in der Arbeit und sozialen Beziehungen, die räumliche Trennung von Produktion und Reproduktion ist historisch erst in der bürgerlichen Gesellschaft durchgesetzt. Mit ihr gehen häufig spezifische Probleme einher, wie das den nicht über Kooperation vermittelten Sozialbeziehungen ein gemeinsames Projekt, „gemeinsames Drittes“ (Brecht) fehlt. Holzkamp hat analysiert, wie Gefühle für derartige Beziehungen oft zum einzigen Bindemittel werden und zu besonderer Tiefe stilisiert werden (Holzkamp, 1983: 408). In den sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz, wie sie von der Klientin erlebt werden, ist das gemeinsame Projekt allgegenwärtig; dadurch sind auch persönliche Beziehungen zwischen den in der Kooperation Beteiligten nahegelegt. Die Arbeitsorganisation nutzt Bedürfnisse, sich mitzuteilen, sich als Teil eines Sozialzusammenhangs zu fühlen, als Teil der Techniken zur Leistungssteigerung. Indem in den Diskussionen um die Arbeit und der Zugriff auf die „ganze Person“ aber als Mittel in der Herstellung von Leistungsbereitschaft dienen, sind die kooperativen Formen gleichzeitig von Konkurrenz und gegenseitigem UnterDruck-Setzen gekennzeichnet. Holzkamp bezeichnet solche Beziehungen als Instrumentalbeziehungen, in denen man sich „einerseits grundsätzlich über die Absichten des anderen im klaren sein muss, um seine Rückschlüsse für die Kalkulation von Vorteil und Risiko ziehen zu können, der andere aber zur Verbesserung seiner ‚Verhandlungsposition‘ diese Absichten und Ziele prinzipiell verdecken und nur kalkuliert kundgeben wird“ (Holzkamp, 1983: 409). Das „Innenleben“ des Anderen ist hier „von zentralem Interesse: Ich möchte in den anderen ‚hineinschauen‘ können, um seine geheimsten Absichten und Ziele zu erfahren, und muss, da dies nicht möglich ist und der andere mir einen solchen Einblick ja gerade verwehrt, mich möglichst differenziert in den anderen ‚einzufühlen‘ versuchen“ (ebd.). TH: „Nichts ist sicher, nichts ist vertraulich, alles kann für Konkurrenz genutzt werden – also, es ist ja nicht so, dass es dann permanent auf Konkurrenz hinausläuft, sondern es gibt ja auch kurzfristige Bündnisse oder Mitfühlen für Probleme der anderen: ‚na ja, jetzt musste ich wieder Freitag länger arbeiten und dann tun wir uns
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6 Druck und Gesundheit – aus der Sicht von Psychotherapeut/innen leid‘. (...) Das Veröffentlichen des Eigenen muss immer im abgesicherten Modus erfolgen. Dass sie in solchen Situationen Angst hat, ist ja ganz berechtigt.“
Vertraulichkeiten und soziale Kontakte sind unentwirrbar mit konkurrenzförmigen Methoden verknüpft. Solidarische Formen der Kooperation sind so kaum noch vorstellbar: TH: „... was natürlich ganz schnell an die Grenzen stößt, denn die Frage nach ‚Wie viel verdienst du denn, du hast den gleichen Job wie ich‘, die ist schon fast nicht möglich.“
Sozialangst und Depression Die wachsende Bedeutung von Beziehungen, Beziehungspflege und Emotionsregulation in der Arbeit verschärft die individuelle Verstrickung in die Widersprüche der Arbeit und befördert Angst- und Depressionserkrankungen. Einerseits stimmt die Klientin (Grafikerin) mit der Vorstellung, dass das Einbringen der eigenen Person Teil ihrer Arbeitskompetenz sei, nicht überein, andererseits kann/will sie die Anforderungen auch nicht zurückweisen. Sie nimmt die Anforderungen „nach innen“, als eigene Ansprüche an ihre Arbeit und als abstrakte Anforderung an sich selbst, mit der Situation und ‚dem Leben‘ zurechtzukommen. TH: „Sie hat die Idee, dass sie nicht richtig funktioniert, hat eine starke Anpassungsbereitschaft und gibt sich überhaupt nicht die Möglichkeit, diese Anforderungen zu verneinen oder subversiv damit umzugehen. Sondern sie nimmt das immer zu den eigenen Lasten.“
Biografisch kann dies auf einer familiären Tradition aufbauen, in der ihr Vater, ehemals kleinbürgerlicher Aufsteiger, im Umgang mit Anforderungen vor allem auf Denkformen wie „da muss man durch“, „so ist das Leben“, „wenn du das nicht schaffst, dann bist du nicht richtig“ zurückgegriffen hat. Die Möglichkeiten von gesellschaftlichem Aufstieg und „Selbstverwirklichung“ werden hier unversehens zu Anforderung, denen sich die Klientin unterstellt (sieht). Der französische Psychoanalytiker und Psychiater Alain Ehrenberg (Ehrenberg, 2004: 256) sieht eine Verschiebung von gesellschaftlichen Normen: Weg von moralischen Verboten ginge es zunehmend um die Norm, „man selbst zu sein“ und an der grenzenlosen Verbesserung des eigenen Selbst zu arbeiten. Depression sieht er als Krankheit der Erschöpfung angesichts gesellschaftlicher
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(Aufstiegs-)Möglichkeiten, die subjektiv als Aufgabe und Verpflichtung verstanden werden: „Die Depression ist nicht die Krankheit des Unglücks sondern die Krankheit (...) der Persönlichkeit, die versucht, nur sie selbst zu sein: Die innere Unsicherheit ist der Preis für diese ‚Befreiung‘“. (Ehrenberg, 2004: 256)
Der äußere Konflikt ist einerseits entschärft, indem die Klientin in der Sozialangst und ihren Symptomen vor allem sich selbst als „nicht funktionsfähig“ empfindet, Konflikte mit der Arbeitsanordnung, mit machtvollen Instanzen so nicht eingehen muss. TH: „Die Sozialangst hat ganz viel mit dem Wunsch zu tun, anders in Erscheinung zu treten. Sie hat die Idee zu sagen, diese Morgenrunde kotzt mich an, oder so. Sie hat diese Idee zu sagen, ‚Ich finde es jetzt überhaupt nicht konstruktiv, was ist daran konstruktiv, wenn ich sage, heute ist ein schöner Montag?‘ Sie hat die Idee der Infragestellung, kriegt aber richtig klassische Symptome: Schwitzen, Herzrasen, Tunnelblick, Blackout; denkt, sie fällt um. Also schon eine ausgewachsene vegetative Beteiligung.“
Im Erleben der Klientin stehen ihre Symptome ihr bei der Erfüllung der Anforderungen im Weg. Ähnlich beschreibt Ehrenberg den Wandel der Depressionserkrankungen: „Die alte traurige Verstimmtheit wird zu einer Handlungsstörung und das in einem Kontext, in dem die persönliche Initiative zum Maß der Person wird“ (Ehrenberg, 2004: 256). CK: Und wie kommt sie dann über den Tag? TH: „Schwer. Sie sitzt zitternd rum und denkt die ganze Zeit, was jetzt die anderen über einen denken und dass man demnächst wahrscheinlich rausfliegt und der Einjahresvertrag nicht verlängert wird und alle anderen aber so toll sind. Also man denkt einfach in diesen grausamen Schleifen.“
Alternativen – im Denken und Handeln – sind der Klientin in der Situation zunächst nicht zugänglich, reichen kaum in ihren „subjektiven Möglichkeitsraum“ hinein. Vorstellung von Kritik und Solidarität sind in ihrer Erfahrungswelt kaum repräsentiert. In den Symptomliste zur Diagnose von Depression erscheinen diese Schleifen als „formale „Denkstörungen“, die sich in Selbstanklagen und „negativer Selbstsicht“ im Kreis drehen: „Die genannten Gefühle führen zu fluktuierenden Assoziationen, zu intrusiv (gegen ihren Willen) sich aufdrängenden Gedankenfetzen, die weder festzuhalten noch einzuordnen sind und dann immer wieder neue negative Erwartungen, besonders bezogen auf Katastrophen und eigenes Versagen, produzieren. (…) Die Gedanken kreisen zum einen um die
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negative Vergangenheit, zum anderen um zukünftige Katastrophen und zum Dritten um die Minderwertigkeit der eigenen Person: „Du kannst nicht einmal mehr das“ (Hoffman & Hofmann, 2002: 40 f). „Insgesamt gelingt es nicht, einen sinnhaften Realitätsbezug herzustellen, der eine angemessene Basis für Handeln darstellen würde. (…) In den schlaflosen Nächten haben die Patienten gar nichts zu tun und fühlen sich ganz auf sich geworfen“ (Hoffman & Hofmann, 2002: 41). Diese formalen Denkstörungen könnten als „geschlossene“, verschärfte Form dessen gefasst werden, was Holzkamp als deutendes Denken bezeichnet: ein um die Möglichkeit über die gegebenen Formen hinaus zu gehen verkürztes Denken. Die Funktion dieser Denkformen liegt darin, dass alternative Handlungsmöglichkeiten gar nicht erst als denkbar erscheinen. TH: „Und dann hat es auch damit zu tun, dass in diesem Grafik-Beruf kaum Widerstand, alternatives Denken verbreitet ist. Wo gibt es da Berührungspunkte – unabhängig vom Elternhaus und ihrer Sozialisation – dass sie mal auf andere Ideen kommt?“
Weder in ihrer Berufsausbildung zur Grafikerin noch in der Berufspraxis sind ihr Formen des Hinterfragens von Anforderungen und kollektiv-solidarischen Widerstandsformen als denkbar oder lebbar erschienen. CK: Es gibt ja zumindest einige Leute im Grafikbereich, die dann so Klitschen aufmachen, also sich zu zweit oder zu dritt zusammen tun und zumindest nicht diese absurden Formen – sofern sie diese sich nicht selber ausdenken – bedienen müssen. Das war keine Option für sie? TH: „Da hätte sie überhaupt nicht die Traute, weil sie sich ja nicht lebensfähig findet, sondern sie die Idee hat, dass jemand anders ihr sagen muss – eigentlich sie erlöst und sagt: Jetzt funktionierst du gut. Sie ist sehr ausgerichtet darauf, dass – ich weiß auch nicht von woher, von irgendwoher kommt es dann eines Tages und sagt: Jetzt funktionierst du richtig, links in den Himmel. Oder du hast es nicht geschafft, rechts in die Hölle.“
Die Widersprüchlichkeiten in den eigenen Erfahrungen werden nach außen verlegt, „Rückschläge und Misserfolge ‚psychisiert‘ und ‚personalisiert‘, der eigenen Unfähigkeit [...] angelastet“ (Holzkamp, 1983: 412). Gegenstrategien Bearbeitungsformen in der Therapie zielten einerseits darauf, die Verquickung von Konkurrenz, Kooperation und privaten Sozialkontakten zu entwirren. Gegen die unmittelbare Übernahme der durch die Arbeitskonstellation nahegelegten
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Anforderungen und Perspektiven auf die eigene Arbeit, Person etc. sollte die Möglichkeit strategischer Distanz erarbeitet werden. So scheint angesichts der Konkurrenzförmigkeit der sozialen Kontakte am Arbeitsplatz sinnvoll, systematisch solche im Privaten aufzubauen. TH: „Dieses Umdenken, dass sie mal irgendwie guckt, ob es in der Welt vielleicht Leute gibt, denen sie gerne was erzählt, und dass sie da auch gut aufgehoben ist. Da haben wir viel gemacht und dann konnte sie sich auch besser distanzieren, weil da natürlich auch Bedürfnisse drin sind, sich mitzuteilen, die vielleicht woanders realisiert werden können.“
Die Klientin hat sich hier einige Freiräume erarbeiten können, hat für sich ein eigenes Büro durchgesetzt, sitzt nicht mehr mit ihrer direkten Vorgesetzten an einem Tisch und kann die eigenen Arbeitszeiten besser vertreten. Gespräche und Gesprächsstrategien wurden in der Therapie geübt. CK: Und was macht sie dann jetzt in diesen Situationen in der Arbeit? TH: „Sie hält einfach oft die Klappe und – das ist ja nur die halbe Miete – die andere Hälfte ist ja, was im Kopf abgeht, sozusagen die Spiele der Erwachsenen, die Machtspiele zu verstehen.“
Für Vorstellungen und Möglichkeiten, Solidarität und Kooperation am Arbeitsplatz zu entwickeln oder Formen von gemeinsamer Organisation von Gegenkräften zu entwickeln, gibt es allerdings kaum Spielraum; sie stellen kaum konkrete Perspektiven dar. Diese Wahrnehmung zieht sich durch viele der Fälle, mit denen die Interviewpartnerin zu tun hat: TH: „Ich finde, es ist allgemein eine erschreckende Abwesenheit von Solidarität, überhaupt von der Denkmöglichkeit, Solidarität festzustellen.“
Schon aus diesem Grund beschränkt sich die Therapeutin nicht auf Psychotherapie im klassischen Sinn. TH: „Ich bin wirklich viel damit beschäftigt, Adressen über Sozialberatungen und Rechtsberatungen auszuteilen, den Mieterverein zu empfehlen und zu fragen: ‚Sind Sie eigentlich in der Gewerkschaft, da könnten Sie einen Rechtsbeistand bekommen.‘“
Die Kenntnis der psychosozialen Versorgungslandschaft, aber auch der Strukturen von organisierter gesellschaftlicher Beratung und Solidarität wäre in diesem Sinne eine zentrale Anforderung an psychologische Beratung. Wenn sie sich
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nicht einseitig auf die Seite des „Trainings“, der „Aktivierung“ und des Fitmachens für neoliberale Subjektanforderungen stellen will, sondern alternative, auch kollektive Denk- und Handlungsmöglichkeiten bereitstellen will, bedarf es des Wissens um und des Interesses für die gesellschaftlichen Solidaritätsstrukturen oder gar Gegenmacht.
C Deutungen und Folgerungen für die Praxis
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C Deutungen und Folgerungen für die Praxis
Ausgangspunkt des Forschungsprojektes war die Erfahrung von Personalräten und Gewerkschafter/innen, dass die Altersgruppe der 25- bis 35-Jährigen in öffentlichen Angelegenheiten wenig in Erscheinung tritt und sich an Aktionen und in der Mitbestimmung wenig beteiligt. Verbreitet ist hierbei die Einschätzung, dass die 25- bis 35-Jährigen stärker als die Jüngeren und auch die Älteren belastet sind und sich entsprechend besonders belastet fühlen wegen der vielen Aufgaben in Familiengründung, Lebensgestaltung und Arbeitssituation und dass ihnen unter diesem Druck keine Zeit und Kraft bleibt für Engagement in öffentlichen Angelegenheiten. Das hat sich bei dieser Untersuchung nicht bestätigt. Die jungen Beschäftigten zwischen 25 und 35 konzentrieren sich stark auf die Arbeit, geben sich eher zufrieden, nehmen eine optimistische Haltung ein und betonen eine Distanz zu öffentlichen Angelegenheiten. Sie schätzen sich im Durchschnitt als eher wenig belastet ein. Das gilt vor allem für den Arbeitsdruck, die Entgrenzung der Arbeit und die Zukunftsangst. Die Belastungsfaktoren „Zeitdruck“ und „Psychischer Druck“ scheinen dagegen deutlicher ausgeprägt. Die Zufriedenheit ist bei den unter 35-Jährigen deutlich größer und die Entgrenzung der Arbeit, der Arbeitsdruck und der psychische Druck sind geringer als bei den über 35-Jährigen. In allen Solidaritätswerten liegen die unter 35-Jährigen deutlich hinter den über 35-Jährigen. Die Zukunftsangst ist bei den Jüngeren unter 25 Jahren stärker ausgeprägt als bei den 25- bis 35-Jährigen. Den Jüngeren sind die gewerkschaftliche Durchsetzung ihrer beruflichen Interessen und das solidarische Handeln wichtiger. Die beiden Altersgruppen unterscheiden sich, die Unterschiede sind aber insgesamt nicht sehr groß. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die 25- bis 35-Jährigen sich eher zufrieden und optimistisch geben und sie nicht zum Jammern neigen. Dies widerspricht der üblichen Einschätzung, z. B. in der Frankfurter Allgemeinen, „die Generation 30 (sei) unzufrieden und pessimistisch“ und der unangebrachten Aufforderung in der Headline „Hört auf zu jammern“ (FAZ 23.5. 2010, Sonntagsausgabe, S. 1). Die positive Sicht auf die eigene Situation, die in der Umfrage zum Ausdruck kommt, aber sich in vielen Interviews vor allem im Sozialbereich ganz anders darstellt, verweist auf eine Bewältigungsstrategie, die darin besteht, über J. Held et al., Was bewegt junge Menschen?, DOI 10.1007/978-3-531-92826-5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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C Deutungen und Folgerungen für die Praxis
Belastungen hinwegzusehen und eine positive Einstellung zu kultivieren. Eine solche Art der positiven Darstellung der eigenen Situation kann kurzfristig subjektiv nützlich sein, könnte den jungen Beschäftigten jedoch langfristig schaden. Die Optionsvielfalt in der heutigen Zeit sowohl in der Arbeit als auch in der Privatsphäre ermöglicht viele autonome Entscheidungen in der Lebensführung, die aber leicht in Überforderung und damit Unfreiheit umschlagen können. Entsprechend empfinden die jungen Beschäftigten weniger einen Druck von außen, sondern haben eher den Eindruck, dass sie sich den Druck selbst machen. Auffällig ist, dass die Lebensplanung offen gehalten wird, um dem Verständnis von Selbstbestimmung zu entsprechen. Der individuelle Umgang mit dem gesellschaftlich erzeugten Druck geht auf Kosten der gemeinsamen Interessendurchsetzung sowie der Solidarität und richtet sich damit langfristig auch gegen sie selbst. Deshalb sollte dieser Stil der Lebensführung von den Organen der Mitbestimmung nicht ignoriert werden. Durch den Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt sich die Generation der unter 35-Jährigen bisher wenig beeindruckt. Die jungen Beschäftigten der Branche Banken/Versicherungen scheinen sogar mit paradoxen Verhaltensmustern zu versuchen, die Krise zu bewältigen. So wird beispielsweise der eigene Arbeitsplatz nach Ausbruch der Krise im Oktober 2008 für sicherer gehalten als vor der Krise. Darüber hinaus vertreten sie stärker als vor der Krise den Glauben, dass es in der Welt im Allgemeinen gerecht zugehen würde. Außerdem ist die Identifizierung mit der Arbeit in der Krise gestiegen; damit ist gemeint, dass die befragten jungen Menschen sich stärker mit ihrem Beruf und ihrer Einrichtung verbunden fühlen, dass ihnen die Arbeit tendenziell mehr Spaß macht, sie sich von ihr weniger überlastet fühlen, sie noch engagierter arbeiten und sie stärker zustimmen, dass die Arbeit ihnen Selbstbestimmung ermöglicht. Viele scheinen in der Krise offenbar darauf angewiesen zu sein, sich selbst zu beruhigen, wenn nicht sogar sich selbst zu täuschen. In der Gesundheitsbranche, also vor allem bei den befragten Pflegern und Krankenschwestern, finden sich noch weniger Unterschiede zwischen der Befragung vor dem Ausbruch der Krise, d. h. vor Oktober 2008, und in der Krise 2009. Viele Unterschiede finden sich dagegen im Öffentlichen Dienst, bei dem über die Hälfte Erzieher/innen und Sozialarbeiter/innen sind, die durch Streiks und Aktionen im Befragungszeitraum offenbar stärker zu solidarischen Orientierungen aktiviert wurden (siehe Kapitel 4).
C Deutungen und Folgerungen für die Praxis
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Individuelle Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung, verbunden mit einer hohen Identifizierung mit der Arbeit, sind bei unter 35-Jährigen im Dienstleistungsbereich insgesamt ein wesentlicher Anspruch geworden. Das Verhältnis zur Arbeit wird heute nicht durch Distanz und Entfremdung bestimmt, sondern durch Nähe und Identifikation. Entsprechend erhält die Arbeit einen höheren Stellenwert für die individuelle Identitätsbildung. Die jungen Beschäftigten wollen nicht nur eine gute Arbeit machen, mit der sie sich identifizieren können, sondern sie wollen sich auch im Beruf selbst verwirklichen. Dabei geht es um die berufliche Erfüllung, aber auch um die Karriere als subjektiv wichtigem Faktor. Berücksichtigt man, dass es auch einen positiven Zusammenhang zwischen Identifizierung mit der Arbeit und den Solidaritätsaspekten gibt, so lassen sich daraus weitreichende Folgerungen für die Praxis ableiten. Da das kollektive materielle Interesse offenbar gegenüber den sinnhaftsubjektbezogenen Ansprüchen relativ an Gewicht verloren hat, kann die Qualität der Arbeit zu einem wichtigen subjektiven Antrieb in betrieblichen und politischen Auseinandersetzungen werden. Dabei sollte beachtet werden, dass auch „Ich-Orientierung“, „Autoritarismus“ und der „Gerechte-Welt-Glaube“ in einem positiven Zusammenhang zur Identifizierung mit der Arbeit stehen, was darauf hinweist, dass die Identifizierung mit der Arbeit teilweise durch fragwürdige psychische Abwehrmechanismen gestützt wird. Anerkennung ist zu einem wichtigen Antrieb geworden. Die starke Identifizierung mit der Arbeit ruft gleichzeitig das Bedürfnis hervor, dass Arbeit auch anerkannt wird. Viele Probleme der Arbeitswelt stellen sich heute für die jungen Beschäftigten als Anerkennungsprobleme dar. In dieser Untersuchung zeigt sich das auch daran, dass die Wichtigkeit der Anerkennung in der Arbeit stark zusammenhängt mit den Solidaritätsformen und auch mit der gewerkschaftlichen Interessendurchsetzung. Der Bezug auf gemeinsame Interessen ist schwieriger geworden, da die Soziallagen heute sehr unterschiedlich geworden sind und die Interessen heute eher subjektiv definiert werden. Die Beteiligung an Arbeitskämpfen im Dienstleistungsbereich wird heute stark durch die gemeinsame Erfahrung mangelnder Anerkennung und durch das Bedürfnis nach Anerkennung motiviert. Durch die neuen Arbeitsverhältnisse wird die Ich-Orientierung als individuelle Eigenverantwortung gefördert. Das drückt sich darin aus, dass viele junge Beschäftigte in ihrer Lebensführung stärker auf ihre eigenen Kräfte vertrauen und auf individuelle Eigenverantwortung setzen.
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C Deutungen und Folgerungen für die Praxis
Die eher Ich-Orientierten besitzen eine wesentlich optimistischere Sicht auf die Zukunft und äußern sich zufriedener über ihre Arbeits- und Lebenssituation. Sie glauben in der Regel auch stärker, dass es im Allgemeinen gerecht auf der Welt zugehe („Gerechte-Welt-Glaube“). Gleichzeitig stimmen sie den Solidaritätsaussagen weniger zu. Ein solches Einstellungsmuster ist an Bedingungen geknüpft: Diese Befragten neigen dazu, die Anforderungen der Lebens- und Arbeitswelt für sich positiv umzudeuten und zu verinnerlichen. Diejenigen, die eher auf gewerkschaftliche Interessenvertretung setzen, blicken dagegen tendenziell pessimistischer in die Zukunft. Das deutet wohl darauf hin, dass sie in den momentanen gesellschaftlichen Entwicklungen eher die Risiken für Arbeitnehmer/innen erkennen und diese nicht verdrängen. An dieser Stelle wird deutlich, wie sich die unter den 25- bis 35-Jährigen verbreitete Distanz zu öffentlichen Angelegenheiten erklären lässt. Die Förderung der Ich-Orientierung in den neuen Arbeitsverhältnissen trifft auf eine subjektive Bereitschaft zu erhöhtem Arbeitseinsatz, der als selbstbestimmt erlebt wird. Dadurch wird die Zukunftsangst in Schach gehalten und gleichzeitig die eigene Zufriedenheit erhöht. Das funktioniert aber nur, wenn störende Gedanken über den Zustand der Welt ausgeblendet werden, man sich die Welt im Kleinen und im Großen als gerecht umdeutet. Gut nachvollziehbar scheint nun, dass es einen deutlich negativen Zusammenhang zwischen IchOrientierung und gewerkschaftlicher Interessensdurchsetzung gibt, d. h., je stärker die Ich-Orientierung, umso geringer der Bezug zu gewerkschaftlicher Interessensdurchsetzung. Hinzu kommt, dass die Ich-Orientierung in kaum einem Zusammenhang zu den verschiedenen Solidaritätsformen steht. Solidarität ist für die jungen Beschäftigten einerseits ein zu großes, andererseits ein unklares, diffuses Wort. Dahinter steht die generelle Tendenz zu pragmatischem Handeln. Gleichzeitig lässt sich eine generelle Entideologisierung solidarischen Handelns beobachten. Solidarisches Handeln wird bevorzugt im unmittelbaren Nahbereich verortet; es beruht auf dem Bedürfnis, selbst etwas bewegen zu wollen. Organizing Strategien können erfolgreich an diese Selbstaktivierung anknüpfen. Die Frage ist, welche Bedeutung der Solidarität im Allgemeinen von der Generation der unter 35-Jährigen beigemessen wird. Empirisch konnten fünf Dimensionen der Solidarität ermittelt werden, die alle miteinander in Zusammenhang stehen und sich zu einem Solidaritätssyndrom zusammenfassen ließen:
C Deutungen und Folgerungen für die Praxis 1. 2. 3. 4. 5.
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Solidarität im privaten Umfeld Solidarismus (Sozialstaatsprinzip) Allgemeines soziales Verantwortungsgefühl Aktive Arbeitnehmer/innen-Solidarität Unterstützung in Notsituationen
Diese fünf Dimensionen sind nach dem Grad der Zustimmung angeordnet, d. h., dass der Solidarität im privaten Umfeld am meisten zugestimmt wurde. Die unter 35-Jährigen entwickeln solidarisches Handeln bevorzugt in der praktischen Erfahrung; der Mangel an Solidarität beruht demnach auf fehlender Praxis. Daraus wird auch verständlich, dass der Begriff „Solidarität“ diffuse Formen angenommen hat, der wenig mit der traditionellen Arbeitnehmer/innenSolidarität zu tun hat. Eine große Rolle spielt solidarisches Handeln im Nahbereich, also das sich gegenseitige Unterstützen und Helfen im engen familiären, Freundes- und Kollegenkreis. Letztlich bewegen sich diese Formen solidarischen Handelns im Rahmen des Erlaubten und führen nicht zu einer grundlegenden Kritik am System oder gar zu widerständigem Handeln. Soziale Felder und Milieus unterscheiden sich jeweils in einer Reihe von Merkmalen. So unterscheiden sich Gewerkschaftsmitglieder in einigen Grundorientierungen von Nicht-Mitgliedern. Die Gewerkschaftsmitglieder stimmen der „Ich-Orientierung“ sowie dem „Autoritarismus“ und dem „Gerechte-WeltGlauben“ weniger zu. Die Prozesse der Individualisierung und Subjektivierung führen bei den jungen Beschäftigten dazu, dass sie nicht überzeugt werden wollen, sondern erwarten, dass man ihnen zuhört und sie in ihrer Eigenheit und ihren jeweils spezifischen Problemen wahrgenommen werden. Gewerkschaftliches Handeln muss deshalb durch das Nadelöhr der Subjektivität betrachtet werden. Gleichwohl fehlen Möglichkeiten zum kommunikativen Austausch mit den Kollegen/ innen und damit zur sozialen Selbstverständigung. Gewerkschaftsmitglieder stehen prinzipiell herrschenden Regeln, Normen und Autoritäten skeptischer gegenüber als Nicht-Mitglieder, und sie glauben weniger, dass die Welt momentan gerecht organisiert ist und alle das bekommen, was ihnen zusteht. Sie sind mehr an kollektiven Lösungen orientiert und haben einen stärkeren gesellschaftsbezogenen Blick. Deshalb erwarten viele gewerkschaftlich Aktive, dass die Gewerkschaften ihre Rolle als gesellschaftspolitischer Akteur stärker wahrnehmen. Diese Grundorientierungen äußern sich offensichtlich im Zusammenspiel mit der konkreten Arbeits- und Lebenssituation, in höherer Zukunftsangst und einer geringeren Zufriedenheit. Gewerkschaftsmitglieder sind generell weniger
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C Deutungen und Folgerungen für die Praxis
zufrieden mit ihrer Lebens- und Arbeitssituation. Sie erhalten subjektiv weniger Anerkennung von Kollegen und Vorgesetzten und sie fühlen sich mehr von Arbeitsdruck, psychischem Druck und Entgrenzung der Arbeit betroffen. Letzteres beinhaltet nicht nur die Arbeitszeit, sondern auch die Abstimmung zwischen Arbeit und Privatleben sowie die Frage, ob die Arbeit sie auch in der Freizeit beschäftigt. Im Gegenzug ist Gewerkschaftsmitgliedern ein gutes Arbeitsklima (einschließlich der Mitbestimmung) wichtiger. Deshalb ist es wichtig zu betonen, dass das Engagement von Gewerkschaftern/innen sich von dem üblichen bürgerschaftlichen Engagement in der Freizeit unterscheidet. Ihr Engagement in der Freizeit verbindet sich mit ihrem Engagement in ihrem jeweiligen Arbeitsfeld. Es gibt deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Berufsfeldern des Dienstleitungsbereichs im Hinblick auf solidarische Orientierungen. Bei den Beschäftigten im Pflege- und Sozialbereich sind solidarische Orientierungen höher als in Berufen, die einer kaufmännischen oder technischen Logik folgen. Ein Grund dafür könnte darin liegen, dass die gefundenen fünf Dimensionen solidarischen Handelns einen Schwerpunkt auf soziale Interaktionsformen legen. Ein anderer Grund liegt wohl darin, dass gerade im Gesundheitswesen und in den Berufen der sozialen Dienste im letzten Jahr Arbeitskämpfe stattfanden. Diese Erfahrung hat sicherlich dazu beigetragen, dass Fragen nach Arbeitnehmer/innen-Solidarität positiver zugestimmt wurde. Die Beschäftigten im Pflege- und Sozialbereich unterscheiden sich aber auch in grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen von anderen Berufsgruppen. Den jungen Beschäftigten wurden drei Gerechtigkeitsvorstellungen zur Auswahl gestellt. Das weit interpretierbare „Gerechtigkeitsprinzip“ („Jeder soll das bekommen, was ihm gerechterweise zusteht“) findet in allen Berufsgruppen die höchste Zustimmung. Das „Soziale Prinzip“ („Soziale Unterschiede müssen ausgeglichen werden“) ist bei den Beschäftigten im Pflege- und Sozialbereich überdurchschnittlich vertreten. Bei den Banken und Versicherungen befürworten dreimal weniger Beschäftigte das Soziale Prinzip als in den Pflege- und Sozialbereichen. Das reine „Leistungsprinzip“ („Nur wer viel leistet, soll viel bekommen“) befürwortet im Banken- und Versicherungsbereich jede/r fünfte Befragte. Besonders die befragten Personen aus den sozialen Berufsfeldern können sich einerseits sehr mit ihrem Beruf identifizieren, andererseits sind sie sehr stark von der Entgrenzung der Arbeit betroffen. Der hohe Sinngehalt ihrer Tätigkeit und die persönliche Entfaltungsmöglichkeit in ihrem Beruf kompensieren wohl die negativen Aspekte wie ein geringes Einkommen, einen hohen Arbeitsdruck und die permanente Konfrontation mit schwerwiegenden Problemen ihrer Klientel, mit denen sie sich auch oft noch in ihrer Freizeit beschäftigen.
C Deutungen und Folgerungen für die Praxis
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Nicht nur die IT-Branche, die Banken und Versicherungen, sondern auch die Arbeitsfelder Gesundheitswesen und Sozialdienste stehen zunehmend unter Ökonomisierungsdruck. Durch Vermarktlichung und Verinnerlichung neoliberaler Logiken werden die Räume torpediert, die Beschäftigte benötigen würden, um sich über ihre gemeinsamen Bedürfnisse und Interessen zu verständigen. In einigen Bereichen sind Beschäftigte zwar gewerkschaftsnah orientiert, sehen aber keine Möglichkeit, bei ihren Arbeitsverhältnissen, z. B. mittels Streik, ihren Forderungen und Wünschen Nachdruck zu verleihen. Es ist jedoch zu betonen, dass insgesamt über die Hälfte der Befragten die Gewerkschaften für wichtig halten, um ihre Interessen durchzusetzen. Damit wäre das Potenzial dreimal so hoch wie die Zahl der tatsächlichen Gewerkschaftsmitglieder. Es wurde ein Vergleich der beiden Regionen Baden-Württemberg und Berlin/Brandenburg durchgeführt, um festzustellen, inwiefern sich junge Menschen in einer wirtschaftlich starken und einer wirtschaftlich schwachen Region unterscheiden. Tatsächlich gibt es nur wenige deutliche Unterschiede in den Orientierungen und Lebensführungsindikatoren. Das ist ein Hinweis darauf, dass die Ergebnisse auch auf andere Regionen übertragbar bzw. verallgemeinerbar sind. Die jungen Menschen in BadenWürttemberg identifizieren sich stärker mit ihrer Arbeit, berichten mehr über Entgrenzung der Arbeit und über Arbeitsdruck, verspüren aber mehr Anerkennung in der Arbeit. Für die unter 35-Jährigen in Berlin/Brandenburg ist dagegen ein gutes Arbeitsklima wichtiger und auch die Karriere wird stärker angestrebt. Vergleicht man nur die Befragten aus Brandenburg mit denen aus Baden-Württemberg wird deutlich, dass erstere eine stärker individualisierte Orientierung aufweisen. Auch in den Interviews haben einige Befragte mit DDRSozialisation betont, dass die momentane Gesellschaftsform ihnen die Möglichkeit gibt, ihre Individualität auszuleben. Frauen zwischen 25 und 35 Jahren sehen sich mit bestimmten Anforderungen konfrontiert: Neben den beruflichen Verpflichtungen setzen sich viele in besonderer Weise mit Fragen der Familiengründung auseinander und vor allem mit der Frage, wie sich Familie und Beruf vereinbaren lassen. Im Vergleich zu den männlichen Befragten sehen sie stärker, dass der Druck in allen Lebenslagen zugenommen hat. Darüber hinaus geben sie häufiger an, unter psychischem Druck zu stehen. Sie sind öfter in Teilzeitstellen, geben häufiger an, dass ihr Arbeitsplatz unsicher sei und sind unzufriedener mit ihrem Lohn.
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Einige Frauen ohne Kinder berichten von ihren Plänen, eine Familie zu gründen. Gleichzeitig wollen sie in ihrem Beruf bleiben. Die Frage, wie sich beides vereinbaren lässt, beschäftigt sie sehr. Frauen in Familien berichten von der großen Organisationsleistung, Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen. Auf der einen Seite sehen sie sich steigenden Engagementaufforderungen aus ihrem Berufsfeld konfrontiert, auf der anderen Seite existiert ein Bildungs- und Betreuungssystem, das nach wie vor darauf ausgerichtet ist, dass ein Elternteil überwiegend zu Hause ist. Darüber hinaus erleben sie, dass unterschiedliche gesellschaftliche Erwartungen an sie herangetragen werden. Zum einen fühlen sie sich unter Druck durch die diffuse Aufforderung, sich individuell selbst zu verwirklichen, z. B. im Beruf – ein Anspruch, der für sie auch einen wichtigen Stellenwert einnimmt. Zum anderen fühlen sie sich unter Druck bezüglich des gesellschaftlich umkämpften Feldes der Kindererziehung, in dem von Müttern tendenziell erwartet wird, ihre eigenen Autonomiewünsche hintenanzustellen zugunsten der ‚richtigen‘ Erziehung von Kindern. Immer mehr Frauen (auch Männer) leben allein. Diese Lebensform führt jedoch nicht – wie in manchen Debatten angedeutet – zur Vereinzelung und einer auf egoistischen Motiven beruhenden Lebensführung. Im Gegenteil: Die alleinstehenden jungen Menschen bewerten tendenziell den Freundeskreis höher – leben letztlich andere Formen des sozialen Miteinanders als in Familienstrukturen. Den Fragen nach Solidarität haben Frauen positiver zugestimmt als die Gruppe der befragten Männer. Die Ergebnisse zeigen, dass Frauen in einer intensiveren Weise in Familien- und anderen sozialen Bezügen eingebunden sind. Das könnte der Grund dafür sein, dass der Maßstab für ihr solidarisches Handeln sich tendenziell stärker an ihrem konkreten Gegenüber, an dessen Bedürfnissen und an der Art der Beziehung orientiert. Die vom Projekt befragten Psychotherapeut/innen lassen keinen Zweifel daran, dass der Arbeitsbereich und die Probleme im Arbeitsbereich oftmals den Ausgangspunkt für persönliche Probleme auch in der Privatsphäre bilden und dass die Probleme aus der Arbeitssphäre bei den jungen Menschen zunehmen. Es geht dabei um Überforderung, um Mobbing, um die Angst um den Arbeitsplatz, der erzwungene Wechsel des Arbeitsortes und um die psychosozialen Folgen von Arbeitslosigkeit. Aber auch die Probleme in der Privatsphäre nehmen zu, vor allem Bindungsprobleme. Mindestens die Hälfte der Beratungen dreht sich um Trennung und Scheidung. Die Psychologisierung realer Probleme hat bei den unter 35-Jährigen zugenommen und sie manifestiert sich offenbar in einer erhöhten Therapienachfrage.
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Einige Therapeuten sprechen von einem Strukturwandel der Psyche bei den unter 35-Jährigen und beurteilen diesen entweder negativ als Abnahme der psychischen Stabilität oder positiv als größere psychische Freiheit und Flexibilität. Die liberalisierte Erziehung seit den 1980er-Jahren scheint einen ambivalenten psychischen Strukturwandel begünstigt zu haben, der zu größerer psychischer Flexibilität, aber auch zu größerer Verletzlichkeit beigetragen hat. Die Folge ist nicht eine generelle Zunahme psychischer Erkrankungen, sondern eine Verschiebung in der Art der psychischen Störungen: Depressionen haben zugenommen und nehmen weiter zu. Nicht nur die psychotherapeutischen Beratungsstellen, sondern alle Einrichtungen, die auf die Handlungsfähigkeit der jungen Beschäftigten setzen, sollten sich nicht einseitig auf die Seite des „Durchhaltens“, der „Aktivierung“ und des Fitmachens für neoliberale Subjektanforderungen stellen, sondern alternative, auch kollektive Denk- und Handlungsmöglichkeiten bereitstellen und die gesellschaftlichen Solidaritäts-Strukturen unterstützen. Insgesamt lässt sich zusammenfassend feststellen: Die jungen Beschäftigten in den verschiedenen sozialen und beruflichen Feldern unterscheiden sich stark voneinander in ihrer Lebensführung und ihren solidarischen Orientierungen. Diese Unterschiede zwischen den Gruppen haben zu differenzierten Lebens- und Solidaritätsformen geführt. Unter dieser Voraussetzung ist es einerseits schwer, allgemeine Aussagen über Lebensführung und solidarisches Handeln der unter 35-Jährigen zu treffen, andererseits ist es aber auch für die Betroffenen schwer, eine gemeinsame Handlungsebene zu finden. Gleichwohl kann festgehalten werden, dass den jungen Beschäftigten eine starke Identifizierung mit dem Beruf und ein starkes Bedürfnis nach Anerkennung gemeinsam ist. Darüber hinaus sind ihnen trotz einer individualisierten Orientierung soziale Bezüge bis hin zu festen Gemeinschaften sehr wichtig. Die Ergebnisse des Projektes weisen auf, dass vielen jungen Beschäftigten die Vermittlung zwischen ihren Erfahrungen und den gesellschaftlichen Strukturen nicht gelingt, dass sie sich allein verantwortlich machen für ihre Schwierigkeiten in der Berufs- und Privatsphäre. Viele versuchen offenbar mit einem nach außen gezeigten Optimismus, die an sie gestellten Anforderungen individuell zu bewältigen. In all diesen Vorgängen äußert sich das Leitbild des unternehmerischen Selbst in der Aneignung und Übernahme von Anforderungen in der Lebens- und Arbeitswelt. Dieser Verinnerlichungsvorgang fördert letztlich die optimistische Haltung und den zuversichtlichen Umgang junger Menschen mit dem steigenden Modernisierungsdruck. Mit diesem Projekt wurde auch der Versuch unternommen, die Vermittlung zwischen der Lebensführung junger Menschen und den gesellschaftlichen Struk-
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turen zu analysieren. Die Erfahrungen, die das Projektteam in den Gesprächen und Diskussion mit den jungen Beschäftigten dabei gemacht hat, zeigen, dass die Schaffung von Räumen der sozialen Selbstverständigung einen guten Zugang zu der Lebensführung und den Orientierungen der jungen Beschäftigten ermöglicht.
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Bildung der Indizes Lebensorientierungen 1. Index „Gemeinschaftsorientierung“ V4: Wie wichtig sind Ihnen Freunde? sehr wichtig (1) (2) (3) (4) (5) (6) unwichtig V17a: Ich habe einen festen Freundeskreis. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V18a: Ich bin in eine Gemeinschaft fest eingebunden. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht
2. Index „Ich-Orientierung“ V27: Was würden Sie sagen: Wie mein Leben verläuft, hängt hauptsächlich von mir selbst ab. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V111: Jede/r ist für ihre/seine eigene berufliche Entwicklung verantwortlich. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht
3. Index „Familienorientierung“ V3: Wie wichtig ist Ihnen Familie? sehr wichtig (1) (2) (3) (4) (5) (6) unwichtig V8a: Wie wichtig sind Ihnen eigene Kinder? sehr wichtig (1) (2) (3) (4) (5) (6) unwichtig V25: Manche sagen, zu einem erfüllten Leben gehören eigene Kinder. Wie stehen Sie dazu? stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt überhaupt nicht J. Held et al., Was bewegt junge Menschen?, DOI 10.1007/978-3-531-92826-5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4. Index „Autoritarismus“ V144: Welches Verhältnis haben Sie zu Autorität? Ein gewisses Maß an Einordnung und auch Unterordnung ist für mich selbstverständlich. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V145: Gehorsam und Achtung gegenüber Autoritäten sind die wichtigsten Tugenden, die Kinder lernen sollten. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V146: Man sollte sich wieder mehr nach den bei uns anerkannten Regeln und Normen richten. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht
5. Index „Gerechte-Welt-Glaube“ V138: In der Regel fühle ich mich gerecht behandelt. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V139: Ich finde, dass es auf der Welt im Allgemeinen gerecht zugeht. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V140: Ungerechtigkeiten sind nach meiner Auffassung in allen Lebensbereichen (z. B. Beruf, Familie, Politik) eher die Ausnahme als die Regel. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V141: Ich glaube, dass die Leute im Großen und Ganzen das bekommen, was ihnen gerechterweise zusteht. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht
6. Index „Zufriedenheit“ V9: Wie zufrieden sind Sie mit ihrer finanziellen Lage? sehr zufrieden (1) (2) (3) (4) (5) (6) gar nicht zufrieden V10: Wie zufrieden sind Sie mit ihrer Wohnsituation? sehr zufrieden (1) (2) (3) (4) (5) (6) gar nicht zufrieden V11: Wie zufrieden sind Sie mit ihrer Freizeitsituation? sehr zufrieden (1) (2) (3) (4) (5) (6) gar nicht zufrieden
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V11a: Wie zufrieden sind Sie mit ihrer Arbeitssituation? sehr zufrieden (1) (2) (3) (4) (5) (6) gar nicht zufrieden V49a: Wie zufrieden sind Sie mit der Höhe Ihres Lohns? sehr zufrieden (1) (2) (3) (4) (5) (6) gar nicht zufrieden V89: Inwieweit gelingt es Ihnen, die verschiedenen Aufgaben in Ihrem Alltag zu Ihrer Zufriedenheit zu organisieren? sehr weitgehend (1) (2) (3) (4) (5) (6) überhaupt nicht
7. Index „Zukunftsangst“ V31: Wenn ich an das kommende Jahr in meinem Leben denke, so fühle ich mich ängstlich. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt überhaupt nicht V32u: Wenn ich an das kommende Jahr in meinem Leben denke, so fühle ich mich zuversichtlich. stimmt überhaupt nicht (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt genau V33u: Wenn ich an das kommende Jahr in meinem Leben denke, so fühle ich mich unternehmungslustig. stimmt überhaupt nicht (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt genau V34: Wenn ich an das kommende Jahr in meinem Leben denke, so fühle ich mich deprimiert. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt überhaupt nicht V35: Es beunruhigt mich, dass die Zukunft so unsicher ist. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt überhaupt nicht
Berufsorientierung 8. Index „Selbstverwirklichung im Beruf“ V5: Wie wichtig ist ihnen Karriere? sehr wichtig (1) (2) (3) (4) (5) (6) unwichtig V6: Wie wichtig ist ihnen berufliche Erfüllung? sehr wichtig (1) (2) (3) (4) (5) (6) unwichtig V7: Wie wichtig ist ihnen Selbstverwirklichung? sehr wichtig (1) (2) (3) (4) (5) (6) unwichtig
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9. Index „Identifizierung mit der Arbeit“ V50: Wie sehr fühlen Sie sich verbunden mit Ihrem Beruf? sehr stark (1) (2) (3) (4) (5) (6) überhaupt nicht V51: Wie sehr fühlen Sie sich verbunden mit Ihrer Firma/Einrichtung? sehr stark (1) (2) (3) (4) (5) (6) überhaupt nicht V52: Meine Arbeit macht mir Spaß. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V54u: Meine Arbeit überlastet mich. stimmt gar nicht (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt genau V55: Meine Arbeit empfinde ich als notwendiges Übel. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V79: Meine Arbeit ermöglicht mir Selbstbestimmung. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V81: Ich arbeite sehr engagiert. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt überhaupt nicht
10. Index „Gutes Arbeitsklima“ V58: Wie wichtig sind für Sie die folgenden Arbeitsmerkmale? Gute Arbeitsbedingungen sehr wichtig (1) (2) (3) (4) (5) (6) unwichtig V59: Wie wichtig sind für Sie die folgenden Arbeitsmerkmale? Mehr Mitbestimmung sehr wichtig (1) (2) (3) (4) (5) (6) unwichtig V60: Wie wichtig sind für Sie die folgenden Arbeitsmerkmale? Gutes Betriebsklima sehr wichtig (1) (2) (3) (4) (5) (6) unwichtig
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11. Index „Karriere-Orientierung“ V5: Wie wichtig ist Ihnen Karriere? sehr wichtig (1) (2) (3) (4) (5) (6) unwichtig V57: Wie wichtig sind für Sie die folgenden Arbeitsmerkmale? Hohes Gehalt sehr wichtig (1) (2) (3) (4) (5) (6) unwichtig V61: Wie wichtig sind für Sie die folgenden Arbeitsmerkmale? Aufstiegschancen sehr wichtig (1) (2) (3) (4) (5) (6) unwichtig V84: Für meinen Lebensstil ist eine gute finanzielle Ausstattung notwendig. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht
Berufs- und Lebenssituation 12. Index „Entgrenzung der Arbeit“ V19u: Haben Sie für sich ein Gleichgewicht zwischen dem Leben und dem Arbeiten gefunden? nein, stimmt überhaupt nicht (1) (2) (3) (4) (5) (6) ja, stimmt genau V42: Sind Sie durch Ihre Arbeit in Ihrem Privatleben beeinträchtigt (Bsp. Schichtarbeit, Wochenendarbeit usw.)? ja, sehr (1) (2) (3) (4) (5) (6) nein, gar nicht V53: Meine Arbeit überlastet mich. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V67: Mit welchen erhöhten Anforderungen müssen Sie an Ihrem Arbeitsplatz umgehen? Zu Hause weiterarbeiten stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V69: Mit welchen erhöhten Anforderungen müssen Sie an Ihrem Arbeitsplatz umgehen? Überschreitungen regulärer Arbeitszeiten stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V85: Mein Beruf beschäftigt mich auch in der Freizeit. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht
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Anhang V86: Wie stark belastet Sie das? sehr stark (1) (2) (3) (4) (5) (6) gar nicht V87u: Ich kann Arbeit und Privatleben gut aufeinander abstimmen. stimmt gar nicht (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt genau
13. Index „Gewerkschaftliche Interessendurchsetzung“ V91: Was halten Sie für sinnvoll, um Ihre beruflichen Interessen durchzusetzen? Gewerkschaftliche Arbeit sinnvoll (1) (2) (3) (4) (5) (6) sinnlos V93: Was halten Sie für sinnvoll, um Ihre beruflichen Interessen durchzusetzen? Spontane Protestformen sinnvoll (1) (2) (3) (4) (5) (6) sinnlos V93a: Was halten Sie für sinnvoll, um Ihre beruflichen Interessen durchzusetzen? Betriebsrat sinnvoll (1) (2) (3) (4) (5) (6) sinnlos
14. Index „Alltägliche Routine und Rituale“ V82: Mein Leben ist geprägt durch tägliche Routine. sehr stark (1) (2) (3) (4) (5) (6) gar nicht V83: Mein Leben ist geprägt durch Rituale (z. B. Fernsehserie). sehr stark (1) (2) (3) (4) (5) (6) gar nicht
15. Index „Anerkennung in der Arbeit“ V74: Von wem erfahren Sie Anerkennung für Ihre Arbeit? Von den Kollegen sehr stark (1) (2) (3) (4) (5) (6) überhaupt nicht V75: Von wem erfahren Sie Anerkennung für Ihre Arbeit? Von Vorgesetzten sehr stark (1) (2) (3) (4) (5) (6) überhaupt nicht
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16. Index „Anerkennung in persönlichen Beziehungen“ V76: Von wem erfahren Sie Anerkennung für Ihre Arbeit? Von meiner Familie sehr stark (1) (2) (3) (4) (5) (6) überhaupt nicht V77: Von wem erfahren Sie Anerkennung für Ihre Arbeit? Von Sonstigen (z. B. Klienten/Kundschaft) sehr stark (1) (2) (3) (4) (5) (6) überhaupt nicht V78: Wie wichtig ist Ihnen insgesamt die Anerkennung Ihrer Arbeit? sehr wichtig (1) (2) (3) (4) (5) (6) überhaupt nicht wichtig
Modernisierungsdruck 17. Index „Zeitdruck“ V12: Ich habe zu wenig Zeit für Freizeitaktivitäten. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V13: Ich habe zu wenig Zeit für Familie/Partner. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V14: Ich habe zu wenig Zeit für Freunde. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V15: Ich habe zu wenig Zeit für mich selbst. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V44u: Lässt Ihnen Ihre Arbeit ausreichend Zeit, soziale Kontakte zu pflegen? nein, gar nicht (1) (2) (3) (4) (5) (6) ja, sehr V64a: Mit welchen erhöhten Anforderungen müssen Sie an Ihrem Arbeitsplatz umgehen? Zeitdruck stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht
18. Index „Druck in der Arbeit“ V53: Meine Arbeit überlastet mich. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht
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Anhang V70: Fühlen Sie sich durch diese Anforderungen insgesamt unter Druck? ja, sehr stark (1) (2) (3) (4) (5) (6) nein, überhaupt nicht V71: Der zunehmende Leistungsdruck hat sich negativ auf die Qualität meiner Arbeit ausgewirkt. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V72: Der Konkurrenzdruck in meiner Firma/Einrichtung belastet mich. sehr stark (1) (2) (3) (4) (5) (6) überhaupt nicht V73: Fühlen Sie sich durch Ihre(n) Vorgesetzte(n) unter Druck gesetzt? sehr stark (1) (2) (3) (4) (5) (6) überhaupt nicht
19. Index „Psychischer Druck“ V97u: Heute spricht man viel von Eigenverantwortung, neuen Lebensmöglichkeiten und dem damit verbundenen Entscheidungszwang. Haben Sie dabei eher das Gefühl von Offenheit und Freiheit oder eher das einer gewissen Verunsicherung und Belastung? Offenheit und Freiheit (1) (2) (3) (4) (5) (6) Verunsicherung und Belastung V97a: Fühlen Sie sich in letzter Zeit erschöpft und niedergeschlagen? stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt überhaupt nicht V97b: Fühlen Sie sich in letzter Zeit gehetzt und gestresst? stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt überhaupt nicht
Solidarisches Handeln 20. Index „Unterstützung in Notsituationen“ V99: Ich fühle mich für Menschen, die in Not geraten sind, verantwortlich: Wenn sie zu einer sozialen Gruppe gehören, die mir wichtig ist. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V100: Ich fühle mich für Menschen, die in Not geraten sind, verantwortlich: Grundsätzlich, auch über Ländergrenzen hinweg stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V102: Welche Menschen oder Gruppen können in Notsituationen auf jeden Fall mit Ihrer Unterstützung rechnen? Kollegen stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht
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V103: Welche Menschen oder Gruppen können in Notsituationen auf jeden Fall mit Ihrer Unterstützung rechnen? Benachteiligte Menschen stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V104: Welche Menschen oder Gruppen können in Notsituationen auf jeden Fall mit Ihrer Unterstützung rechnen? Ungerecht behandelte Menschen stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V105: Welche Menschen oder Gruppen können in Notsituationen auf jeden Fall mit Ihrer Unterstützung rechnen? Menschen aus meiner Kultur stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht
21. Index „Allgemeines soziales Verantwortungsgefühl“ V112: Jede/r ist auch für das gesellschaftliche Ganze verantwortlich. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V115u: Das Leben ist zu kompliziert, um sich auch noch um andere zu kümmern. stimmt gar nicht (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt genau V116: Es ist normal in Notsituationen, Hilfe bei anderen zu suchen. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V121: Wie gut passen die folgenden Zitate zu Ihrer Lebenseinstellung? Einer für alle und alle für einen. (1) (2) (3) (4) (5) (6) jeder ist sich selbst der Nächste.
22. Index „Aktive Arbeitnehmer/innen-Solidarität“ V107a: Im Notfall bin ich zu einem Streik bereit. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V108u: Es bringt nichts, sich über aktuelle Ereignisse oder öffentliche Angelegenheiten Sorgen zu machen; ich kann ohnehin nichts dagegen tun. stimmt gar nicht (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt genau V109a: Es ist wichtig, sich für gerechte Arbeitsverhältnisse einzusetzen. sehr wichtig (1) (2) (3) (4) (5) (6) nicht wichtig V113: Ohne gemeinsamen Kampf erreicht man nicht viel im Leben. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht
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23. Solidarität im privaten Umfeld V98: Ich fühle mich für Menschen, die in Not geraten sind, verantwortlich. Wenn ich sie persönlich kenne stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V101: Welche Menschen oder Gruppen können in Notsituationen auf jeden Fall mit Ihrer Unterstützung rechnen? Die eigene Familie stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V106a: Welche Menschen oder Gruppen können in Notsituationen auf jeden Fall mit Ihrer Unterstützung rechnen? Freunde stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht
24. Solidarismus V119: Der Staat muss für soziale Gerechtigkeit sorgen. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht V120: Es ist beschämend, dass es Menschen gibt, die in so einem reichen Land wie Deutschland in Armut leben. stimmt genau (1) (2) (3) (4) (5) (6) stimmt gar nicht
25. Index „Solidaritätssyndrom“ Indizes: Solidarität_Unterstützung_in_Notsituationen, SoliAllgSozVerantwortungsgefühl, AktiveArbeitnehmer/innenSolidarität, Solidarität im privaten Umfeld Solidarismus