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Warum führen Menschen Krieg?
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Myriam Revault d’Allonnes ist
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Professorin und lehrt Philosophie an
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der École Pratique des Hautes Études
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in Paris. Sie hat zahlreiche Werke zur
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Moralphilosophie und zur politischen
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Philosophie veröffentlicht.
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Jochen Gerner ist Illustrator
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und Comic-Zeichner. Er hat an der
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Kunsthochschule von Nancy studiert
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und arbeitet seit 1994 für
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Verlage und Presse.
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Myriam Revault d’Allonnes
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Illustrationen
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von Jochen Gerner
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Warum führen Menschen Krieg? Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Campus Verlag Frankfurt / New York
Die französische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel Pourquoi les hommes font-ils la guerre? in der Reihe »Chouette! Penser« bei Gallimard Jeunesse / Giboulées. Copyright © 2006 Gallimard Jeunesse für Text, Illustrationen und Gestaltung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http: // dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-593-38657-7
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2008. Alle deutschsprachigen Rechte bei Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Umschlagmotiv: © Jochen Gerner Satz: Campus Verlag, Frankfurt am Main Druck und Bindung: Freiburger Graphische Betriebe Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
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Wann kann man von Krieg sprechen? . . . . . . . . . . . 18 Krieg und Zivilisation, Krieg und Barbarei . . . . . . . . . 35 Sind alle Kriege gleich schlecht? Sind alle Kriege ungerecht? Oder gibt es gerechte und ungerechte Kriege? . . . . . . . . . 45
7
Denn
niemand ist
so unvernünftig, dass er den Krieg wählt statt des Friedens .
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Herodot
11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Krieg ist entsetzlich: Das versteht sich
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von selbst. Niemand führt gerne Krieg,
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keiner möchte ihn erleben und seine
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Schrecken erfahren müssen. Wir alle
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wissen, dass er nur Leid und Qualen
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bringt und zwangsläufig Tod sät, denn
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die Krieg führenden Parteien verfolgen
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alle dasselbe Ziel, den Gegner zu besie-
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gen. Dieser Sieg wird »errungen«, und
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um ihn zu erringen, setzt man alle ver-
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fügbaren Mittel der Zerstörung ein.
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Krieg ist grenzenlose Gewalt.
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Herodot (um 484 bis 424 v. Chr.) Griechischer Geschichtsschreiber; wird als »Vater der Geschichtsschreibung« betrachtet. Herodot ist der erste Historiker, von dem uns geschriebene Texte überliefert sind.
Krieg ist Gewalt – körperliche Gewalt
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und geistige Gewalt, die angewendet
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wird, um andere Menschen zu bezwin-
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gen –, doch es gibt auch andere Formen
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von Gewalt. Krieg ist nicht einfach ir-
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gendein Gewaltakt. Er ist Gewalt ohne
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Schranken, denn wenn Krieg herrscht,
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dürfen die Soldaten ihre Feinde töten.
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Sie haben also die Erlaubnis, etwas zu
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tun, wozu sie in Friedenszeiten kein
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Recht haben.
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Krieg ist ein Gewaltakt, der den Feind
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zwingen soll, unseren Willen anzuneh-
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men, sich unserem Willen zu unterwer-
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fen. Und jede der beiden Krieg führen-
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den Parteien, jedes der beiden Lager,
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erhebt denselben Anspruch auf Unter-
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werfung des Gegners: Deshalb macht
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der Krieg vor nichts Halt, er ist ein
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Kampf auf Leben und Tod.
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Am Ende eines Krieges gibt es Sieger
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und Besiegte. Und Tote. Auf der Seite
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der Sieger ebenso wie auf der Seite der
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Besiegten. Es sterben nicht nur Solda-
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ten, die kämpfen, sondern auch Men-
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schen, die nicht kämpfen, Zivilisten, die
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nur dort leben, wo Krieg geführt wird,
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und unter ihnen sind auch Kinder. Das
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alles wissen wir gut, denn wir sehen
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täglich im Fernsehen Bilder vom Krieg
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– brutale, unerträgliche Bilder –, und
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wir haben Recht, wenn wir sie nicht er-
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tragen, denn nichts ist schlimmer, als
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sich an das zu gewöhnen, was nicht ak-
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zeptabel ist, was man nicht hinnehmen
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darf.
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Deshalb pflichtet jeder bei: Krieg ist
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entsetzlich. Wir möchten lieber Frieden
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haben, wir möchten mit anderen Men-
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schen zusammenleben, uns mit ihnen
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austauschen – auch wenn wir nicht alle
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einer Meinung sind und weil wir nicht
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alle einer Meinung sind. Wir wollen
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ohne Angst in die Schule gehen, Städte
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bauen und sie bewohnen, wir wollen
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Ferien machen und nicht befürchten
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müssen, dass Bomben vom Himmel
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fallen.
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Freilich stellt sich sogleich die Frage,
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ob es nicht möglich wäre, Schluss zu
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machen mit dem Krieg? Warum hören
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die Menschen nicht einfach auf, gegen-
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einander zu kämpfen, warum leben sie
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nicht in Frieden zusammen? Eine Welt
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ohne Krieg, wäre das möglich?
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Als Erstes stellen wir deshalb die Frage:
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»Warum führen Menschen Krieg?« Mit
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dieser Frage hat es etwas Besonderes
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auf sich.
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sophie, »Warum?« fragen sich auch
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alle Kinder und löchern damit die Er-
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wachsenen. Warum ist der Himmel
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blau? Warum gibt es Wolken? Warum
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gibt es das und nicht einfach nur nichts?
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Warum müssen wir sterben?
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Philosophen und Kinder sind näm-
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lich im Grunde genommen Komplizen.
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Sie stellen die gleichen Fragen und hin-
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terfragen die Welt auf nahezu dieselbe
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Weise: Warum sind die Dinge so, wie sie
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sind? Warum tut man lieber dies an-
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statt das?
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Leider kann man auf diese Fragen
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nicht immer antworten – zumindest
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können sie nicht immer mit einem
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»Weil ...« beantwortet werden.
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»Warum?« fragt nicht nur die Philo-
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Die Die Philosophie, Philosophie, diedie nach nach dem dem »Wa»Wa-
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rum?« rum?« fragt, fragt, antwortet antwortet tatsächlich tatsächlich nie nie
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ImIm Gegenteil! Gegenteil! Mit Mit »weil« »weil« zuzu mit mit »weil«. »weil«.
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antworten, antworten, wäre wäre antiphilosophisch. antiphilosophisch. GeGe-
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nauso nauso wie wie Eltern, Eltern, nachdem nachdem siesie genug genug
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gelöchert gelöchert worden worden sind, sind, schließlich schließlich einein-
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fach fach nur nur antworten: antworten: »Weil »Weil eses eben eben soso
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ist.« ist.« EsEs fällt fällt ihnen ihnen nichts nichts mehr mehr ein, ein, und und
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das das nicht nicht nur, nur, weil weil diedie Fragerei Fragerei siesie nervt, nervt,
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weil weil siesie keine keine Zeit Zeit haben, haben, weil weil siesie noch noch
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einkaufen einkaufen gehen gehen müssen müssen oder oder sonst sonst et-et-
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was wastun, tun,sondern sondernvor vorallem, allem,weil weilsiesie
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keine keine Antwort Antwort haben. haben. Die Die hat hat auch auch diedie
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Philosophie Philosophie nicht: nicht: Und Und das das istist einer einer der der
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Gründe, Gründe,weshalb weshalboftoftgesagt gesagtwird, wird,diedie
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Philosophie Philosophie»diene« »diene«zuzunichts. nichts.Dabei Dabei
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istist eses enorm enorm wichtig, wichtig, Fragen Fragen zuzu stellen stellen
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und und siesie auf auf diedie richtige richtige Weise Weise zuzu stellen stellen
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oder oder eses zumindest zumindest zuzu versuchen. versuchen. Das Das
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allein alleinististschon schonsehr sehrschwierig. schwierig.EsEs
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kommt kommtauch auchvor, vor,dass dassman manbemerkt, bemerkt,
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dass dassdiedieFragen Fragenselbst selbstfalsch falschgestellt gestellt
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Thomas Hobbes (1588 – 1679) Englischer Philosoph.
sind, und dass man sie deshalb nicht
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beantworten kann. Dann müssen wir
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unsere Frage also anders stellen.
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Und wenn daher zwei
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Menschen das Gleiche verlangen, in dessen
Genuss sie
dennoch nicht beide kommen
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können, werden sie
und auf dem Weg zu ihrem
Ziel (...) bemühen sie sich, einander zu vernichten oder zu unterwerfen .
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Feinde ;
Hobbes
Wann kann man von Krieg sprechen?
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Stellen wir uns die Frage also noch ein-
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mal und unter verschiedenen Blick-
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winkeln. Warum führen Menschen
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Krieg? Sind Menschen von Natur aus
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gewalttätig und aggressiv? Sind Kriege
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deshalb ein natürliches Ereignis? Wir
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fragen jetzt nach dem Ursprung des
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Krieges: Woher kommt es, dass die Men-
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schen Krieg führen? Hat der Mensch
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eine kriegerische Natur?
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bezeichnet man die Neigung eines Le-
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bewesens, seine Kraft zu entfalten und
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sie zu demonstrieren. Folglich neigt es
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dazu, andere Lebewesen anzugreifen.
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Doch nicht alle Lebewesen sind gleich
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angriffslustig, manche sind es mehr,
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Was bedeutet Aggressivität? Damit
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manche weniger. Aggressiv sein be-
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deutet zunächst einmal seine Lebens-
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kraft entfalten: Wenn ein Lebewesen
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angegriffen wird, wehrt es sich und be-
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dient sich dabei seiner Aggressivität.
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Baruch Spinoza (1632 – 1677) Holländischer Philosoph.
Aggressiv sein bedeutet nicht automa-
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tisch böse sein. Vielmehr bedeutet es
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lebendig sein. Man muss sich also fra-
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gen, ob Krieg nicht schlicht und ein-
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fach eine Demonstration dieser Ag-
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gressivität ist, also eine der Formen,
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in denen sie sich äußert, oder eine
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Folge dieser Aggressivität, das heißt
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eine Folge dessen, was sie bewirkt.
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Die Fische zum Beispiel sind von der Natur bestimmt zu schwimmen, die
Großen die
Kleineren zu fressen, und darum bemächtigen sich die Fische mit dem höchsten natürlichen Recht des Wassers und fressen die Großen die Kleineren.
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Spinoza
Betrachten wir das doch einmal bei
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Tieren. Wir wissen, dass Lebewesen ein-
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ander fressen: Tiere ernähren sich von
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Pflanzen, große Fische fressen kleine,
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Wölfe fressen Lämmer oder Ziegen, Lö-
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wen fressen Antilopen und so weiter.
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Die Starken fressen die Schwachen.
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Aber auch innerhalb derselben Gattung
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kämpfen Tiere gegeneinander: um ein
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Revier, um sich zu verteidigen, wenn
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sie angegriffen werden, um ihr Nest
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und ihre Küken zu beschützen oder
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auch, weil sie Fleischfresser sind, die
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sich von dem ernähren, was sie jagen.
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In diesen Kämpfen geht es ums Leben,
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um die Rangordnung, und den Wunsch,
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sich als der Stärkere hervorzutun ...
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Was wir jedoch über Kampf oder
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Streit im Tierreich wissen, lässt sich
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nicht so ohne weiteres auf den Men-
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schen übertragen.
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Warum nicht? Zuerst einmal kann
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man man Menschen Menschen nicht nicht einfach einfach alsals tieritieri-
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sche sche Lebewesen Lebewesen auffassen, auffassen, beibei denen denen le-le-
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diglich diglich noch noch etwas etwas »dazukommt«, »dazukommt«, zum zum
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Beispiel Beispiel diedie Fähigkeit, Fähigkeit, aufrecht aufrecht zuzu ge-ge-
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hen hen und und diedie Hände Hände zuzu gebrauchen, gebrauchen, eine eine
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Sprache Sprache zuzu haben haben oder oder Werkzeuge Werkzeuge zuzu
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benutzen. benutzen.Denn Dennder derbesondere besondereUnterUnter-
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schied schied zwischen zwischen Mensch Mensch und und Tier Tier liegt liegt
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inin Gemeinschaft Gemeinschaft darin, darin, dass dass Menschen Menschen
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leben, leben, inin organisierten organisierten Gesellschaften, Gesellschaften,
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inin denen denen eses Regeln Regeln und und Gesetze Gesetze gibt, gibt,
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diediefestlegen, festlegen,was waserlaubt erlaubtund undwas was
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verboten verbotenist,ist,und unddass dasssiesieüber übereine eine
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Sprache Sprache verfügen, verfügen, durch durch diedie siesie nicht nicht
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kommunizieren,sondern sondernauch auch nur nurkommunizieren,
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sich sich ausdrücken ausdrücken und und einer einer grundlegengrundlegen-
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den den Tätigkeit Tätigkeit nachgehen nachgehen können: können: der der
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Arbeit. Arbeit. SoSo passen passen siesie sich sich der der Natur Natur anan
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und und verändern verändern siesie zugleich. zugleich. Darüber Darüber hi-hi-
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naus naus verrichten verrichten diedie Menschen Menschen ganz ganz unun-
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terschiedliche terschiedlicheArbeiten, Arbeiten,siesiesind sindauf auf
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eine eine besondere besondere Arbeit Arbeit spezialisiert. spezialisiert. Die Die
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Kommunizieren Kommunizieren Informationen Informationen undund Meinungen Meinungen austauschen. austauschen.
Sich Sich ausdrücken ausdrücken Seine Seine Gedanken Gedanken oder oder Gefühle Gefühle durch durch diedie Sprache, Sprache, aber aber auch auch durch durch Gesten Gesten oder oder durch durch Kunstwerke Kunstwerke an-anderen deren mitteilen. mitteilen.
Gesamtheit dieser Besonderheiten nen-
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nen wir Kultur.
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Die Menschen, die sich bekriegen,
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sind dieselben Menschen, die mit ande-
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ren Menschen sprechen, arbeiten und
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in Gemeinschaft leben nach gemeinsa-
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men Regeln, an die sie sich halten, vor
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allem in politischen Gemeinschaften
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wie Städten oder Staaten.
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Wenn es sich so verhält, dann können
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wir keine Aussage treffen über den
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Krieg zu Zeiten der Steinzeitmenschen,
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in jener frühen Epoche, die wir Vorge-
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schichte nennen und in der die Men-
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schen noch in Höhlen lebten und Tier-
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felle trugen – so stellen wir sie zumin-
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dest dar. Nicht einmal dann, wenn wir
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Filme – wie Am Anfang war das Feuer –
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gesehen haben, in denen vorgeschicht-
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liche Menschen Krieg um den Besitz
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des Feuers führen.
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Dennoch wissen wir, dass sich Men-
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schen schen inin den den frühesten frühesten Gesellschaften Gesellschaften
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und undsogar sogardiedieHöhlenmenschen Höhlenmenschender der
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Urgeschichte Urgeschichtebekriegt bekriegthaben: haben:SkelettSkelett-
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funde funde tragen tragen Spuren Spuren von von VerwundunVerwundun-
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gen gen durch durch Pfeile, Pfeile, und und man man vermutet, vermutet,
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dass Feuersteine und Faustkeile zu-
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gleich Werkzeuge und Waffen waren.
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Mit großer Gewissheit haben Menschen-
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gruppen gegeneinander gekämpft, ob-
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wohl man nicht genau weiß, ob sie dies
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taten, um zu überleben, weil sie in man-
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chen Situationen zu Gewalt neigten,
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oder auch, weil sie ihr Gebiet verteidig-
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ten. Es gab gewalttätige Auseinander-
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setzungen zwischen Gruppen von Jä-
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gern und Gruppen von Sammlern oder
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unter Gruppen, die um ein Jagdgebiet
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kämpften. Doch wir können diese ge-
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waltvollen Begegnungen noch nicht
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Krieg nennen. Warum?
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Von einem Krieg kann man erst spre-
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chen, wenn es sich um Auseinander-
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setzungen organisierter Gesellschaf-
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ten mit organisierten Armeen handelt.
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Und diese hat es mit Gewissheit erst ab
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der Bronzezeit gegeben, die vor unge-
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fähr 5 000 Jahren begann. Zu jener Zeit
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bildeten sich die ersten großen Staaten,
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entstanden die ersten Städte, in denen
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man begann, Vorratswirtschaft zu trei-
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ben und die Ernten in Kornspeichern
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einzulagern. Zu dieser Zeit entwickelte
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sich auch die Schrift, die anfangs dazu
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diente, über die Vorräte Buch zu füh-
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ren. In den ersten Schriftstücken ging
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es um wirtschaftliche Fragen: Sie liste-
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ten Gegenstände, Tierbestände, Kosten
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für Arbeitskräfte auf.
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Was passierte dann? Eine Gesellschaft
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produziert mehr, als sie zum Überleben
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benötigt: Sie sammelt Vorräte, sie legt
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einen Teil der Ernte zur Seite, um Ernte-
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ausfälle in schlechten Jahren auszuglei-
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chen und Hungersnöten vorzubeugen.
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Sie häuft Überschüsse an. Und um
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diese Überschüsse wird sie von ihren
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weniger reichen Nachbarn beneidet,
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zum Beispiel von Nomaden, die Raub-
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züge unternehmen, um in den Besitz
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dieser Überschüsse zu gelangen. Doch
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das ist nicht der wichtigste Punkt.
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Hier also liegt des Pudels Kern: Wenn
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Gesellschaften Reichtümer anhäufen,
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wenn sie mehr produzieren, als sie ver-
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brauchen, sind sie zugleich darauf aus,
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sich auch die Überschüsse anderer an-
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zueignen. Sie produzieren nicht nur
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selbst immer mehr, sondern wollen da-
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bei auch noch in den Besitz dessen ge-
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langen, was andere produziert haben.
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SieSie produzieren, produzieren, und und zugleich zugleich verhalten verhalten
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siesie sich sich wie wie Räuber. Räuber.
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Gibt Gibt eses Kriege Kriege eigentlich eigentlich nur nur inin solsol-
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chen chen Gesellschaften, Gesellschaften, inin denen denen ein ein unun-
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umschränkter umschränkter Herrscher Herrscher regiert? regiert? Sind Sind
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Gesellschaften Gesellschaftenfriedlicher, friedlicher,wenn wenndiedie
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Menschen Menschennicht nichtder derAllgewalt Allgewalteines eines
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Führers Führersunterworfen unterworfensind sindund undmehr mehr
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Gleichheit Gleichheit herrscht? herrscht? Die Die Antwort Antwort lautet lautet
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nein. nein. Eine Eine Gesellschaft Gesellschaft wie wie diedie Athens Athens
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imimantiken antikenGriechenland, Griechenland,wowodiedieDeDe-
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mokratie mokratie erfunden erfunden wurde wurde – also – also eine eine
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Art Art des des Zusammenlebens, Zusammenlebens, inin dem dem diedie
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Menschen Menschen nicht nicht einem einem Einzelnen Einzelnen oder oder
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einem einemkleinen kleinenPersonenkreis Personenkreisunterunter-
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worfen worfensind, sind,der dersiesiebeherrscht beherrscht–, –,istist
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ebenso ebensoeine einekriegerische kriegerischeGesellschaft. Gesellschaft.
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InIn Athen Athen waren waren alle alle freien freien Menschen Menschen
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Bürger Bürger und und gleichermaßen gleichermaßen anan der der AusAus-
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übung übung von von Macht Macht beteiligt. beteiligt. Doch Doch diese diese
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Griechen, Griechen, diedie diedie Demokratie Demokratie erfanden, erfanden,
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haben haben auch auch unaufhörlich unaufhörlich Krieg Krieg geführt: geführt:
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Bürger Bürger Mitglied Mitglied einer einer Stadt Stadt oder oder Ge-Gemeinde. meinde. Bürger Bürger ist, ist, werwer einer einer politischen politischen Ge-Gemeinschaft meinschaft an-angehört gehört undund an an ihr ihr teilhat. teilhat.
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Der Bürger war zugleich Soldat. Es gab
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damals keine Berufsarmee, aber ein
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Bürgerheer: Die Armee war die Ver-
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sammlung waffenfähiger Bürger, und
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5
die Stadt war eine Gemeinschaft von
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Soldaten.
7
7
Die Frage »Warum führen Menschen
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Krieg?« können wir also nicht einfach
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mit einem »Weil ...« beantworten. Aber
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die erste Frage führte uns zu den Vor-
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aussetzungen, die gegeben sein müs-
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sen, damit wir überhaupt von »Krieg«
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sprechen können. Dabei haben wir ge-
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sehen, dass Kriege dann auftreten,
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wenn Menschen in Gesellschaft leben,
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in organisierten Gemeinschaften wie
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Königreichen, Städten, Staaten und so
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weiter. Krieg ist nicht naturgegeben, er
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ist nicht »natürlich«, sondern eine so-
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ziale und kulturelle Erscheinung. Men-
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schen führen nicht als Individuen,
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als Einzelpersonen Krieg. Sie kämpfen
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Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) Französischer Philosoph und Schriftsteller.
nicht in ihrem Namen – nicht einmal
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dann, wenn sie im Nahkampf oder im
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Zweikampf aufeinanderstoßen oder auf
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einzelne Soldaten schießen –, sondern
4
als Angehörige einer Gesellschaft, eines
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Landes, als Mitglieder einer organisier-
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ten Gemeinschaft. Erst in dieser Situa-
7
tion – und nur in dieser Situation – üben
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sie jene schrankenlose Gewalt aus, die
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darin besteht, ihre Feinde zu töten,
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während ihnen das in Friedenszeiten
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nicht erlaubt ist. Krieg ist ein organi-
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siertes Verhalten, ein gemeinschaftlich
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organisierter Gewaltakt zwischen Ge-
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sellschaften.
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Es gibt keinen Krieg
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zwischen Menschen , es gibt nur Kriege
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zwischen Staaten .
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Rousseau
Gerade das wirft eine neue, sehr
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schwierige Frage auf: die nach dem
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Zusammenhang zwischen Zivilisation
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und Barbarei.
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Krieg und Zivilisation, Krieg und Barbarei
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Wenn der Krieg also an ein bestimmtes
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Sozialverhalten gebunden ist und zu-
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dem in einem weiteren Sinn an die Ge-
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sellschaft, müssen wir uns fragen, wie
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sich der Krieg im Laufe der Geschichte
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und der Entwicklung der Menschheit
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entwickelt hat. Vor allem fragen wir
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uns, warum es immer noch Kriege gibt.
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Denn wir leben in vielerlei Hinsicht
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besser als unsere Vorfahren. Wir sind
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weniger Gefahren ausgesetzt, besser
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und länger geschützt, wir haben Medi-
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kamente, durch die wir Krankheiten
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und Epidemien viel wirkungsvoller be-
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kämpfen können. Die hygienischen Be-
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dingungen, unter denen wir leben, ha-
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ben sich verbessert, auch wenn sie auf
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der Welt noch sehr ungleich verteilt
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sind. Und wir könnten den Eindruck
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haben, dass wir uns mehr respektieren.
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Unsere Sitten, heißt es, haben sich
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immer mehr verfeinert, sind immer
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»zivilisierter« geworden – und trotz-
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dem werden noch immer Kriege ge-
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führt. Kriege sind nicht nur nicht ver-
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schwunden, sie sind zudem immer blut-
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rünstiger rünstiger geworden, geworden, immer immer verheerenverheeren-
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der, der, denn denn eses kommen kommen immer immer mehr mehr und und
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immer immer wirkungsvollere wirkungsvollere technische technische WafWaf-
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fen fen zum zum Einsatz. Einsatz.
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technische technischeFortschritt Fortschrittführt führtautomaautoma-
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tisch tisch zum zum moralischen moralischen Fortschritt: Fortschritt: DieDie-
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selben selbenInstrumente, Instrumente,mit mitdenen deneneine eine
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Krankheit Krankheitbekämpft bekämpftoder oderdiedieLebensLebens-
Weder Wederder dermedizinische medizinischenoch nochder der
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Moralischer Fortschritt Die Idee des Fortschritts bedeutet die Veränderung eines Zustands hin zum Besseren. Aber verändert sich mit dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt auch das menschliche Verhalten?
Barbarei Grausamkeit, Rohheit im Verhalten und Handeln des Menschen.
dauer verlängert wird, dienen auch ei-
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ner immer gewaltigeren Zerstörung. Im
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Zuge des technischen Fortschritts ver-
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bessern sich auch die Lebensbedingun-
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gen, der Wohlstand wird immer größer,
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aber auch die Kriege werden immer
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mörderischer: Der Buchdruck wurde
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fast zur selben Zeit erfunden wie das
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Schießpulver. Dasselbe gilt für Antibio-
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tika und die Atombombe. Flugzeuge er-
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möglichen immer schnellere und wei-
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tere Reisen, sie bringen Medikamente
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und Hilfe für die Opfer von Erdbeben.
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Aber sie dienen auch dazu, Bomben ab-
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zuwerfen. Krieg und Zivilisation gehen
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einher: Zivilisation bedeutet nicht,
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dass die Barbarei verschwindet. Zwei
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Dinge gilt es zu bedenken: Mensch-
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liche Gesellschaften werden zwar in
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gewisser Hinsicht immer »friedvoller«,
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immer »zivilisierter«, aber auch im-
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mer gewalttätiger, und diese beiden
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Gesichtspunkte Gesichtspunktesind sinduntrennbar untrennbarmitmit-
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einander einander verbunden. verbunden.
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Anders Andersausgedrückt: ausgedrückt:Menschen Menschenhaha-
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ben ben diedie Neigung, Neigung, sich sich zuzu versammeln, versammeln,
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sich sich zusammenzuschließen, zusammenzuschließen, mit mit andeande-
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ren ren Menschen Menschen zusammenzuarbeiten zusammenzuarbeiten – –
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kurz, kurz, siesie wollen wollen inin Frieden Frieden leben, leben, damit damit
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siesie ihre ihre Kräfte Kräfte und und ihre ihre Fähigkeiten Fähigkeiten fürfür
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ein einbesseres besseresLeben Lebenbündeln bündelnkönnen. können.
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Aber Aber siesie neigen neigen auch auch zum zum Kampf, Kampf, zuzu
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Konflikten Konflikten und und zur zur Konfrontation: Konfrontation: SieSie
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sind sind sowohl sowohl gesellig gesellig alsals auch auch ungeselungesel-
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lig.lig. EsEs istist diese diese »ungesellige »ungesellige GeselligGesellig-
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keit«, keit«, wie wie Immanuel Immanuel Kant Kant eses nennt, nennt, diedie
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siesie imim guten guten wie wie imim schlechten schlechten Sinn Sinn zuzu
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Menschen Menschen macht. macht.
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Hätte HättediedieMenschheit MenschheitFortschritte Fortschritte
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machen, machen, ja ja sich sich überhaupt überhaupt entwickeln entwickeln
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können, können, wenn wenn siesie keine keine Kriege Kriege geführt geführt
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hätte? hätte?Bedeutet Bedeutetdas dasLeben LebenininGesellGesell-
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schaft schaftnicht nichtKrieg? Krieg?Menschen Menschensind sind
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nicht nicht menschlich, menschlich, wenn wenn siesie allein allein leben. leben.
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Immanuel Immanuel Kant Kant (1724 (1724 – 1804) Deutscher Philosoph.
Ohne jene an sich zwar eben nicht
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liebenswürdige Eigenschaften der
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Ungeselligkeit [...] würden in einem arkadischen Schäferleben
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bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: Die Menschen, gutartig wie die Schafe , die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Werth verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat … Kant
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Wetteifer Das Bestreben, es anderen gleichzumachen oder sie zu übertreffen, sie zu überbieten.
Konflikt Eine Situation, in der wir uns anderen entgegenstellen.
Menschen leben nicht isoliert, sondern
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mit und unter anderen Menschen. Und
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das Leben in Gesellschaft führt unaus-
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weichlich zu Wettstreit und Konflikt:
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Vor allem anderen kämpfen Menschen
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um Anerkennung.
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In gewisser Weise ist der Wettkampf
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unvermeidlich und sogar positiv. Und
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Gewalt ist wahrscheinlich ein Element,
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das man niemals ganz zum Verschwin-
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den bringen wird. Das Problem besteht
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also darin, die Gewalt zu kontrollieren,
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sie zu steuern, sie zu kanalisieren. Was
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muss man tun, damit Konflikte Formen
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annehmen, die nicht mörderisch sind?
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Das ist wirklich eine schwierige Frage,
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und vielleicht ist es – zumindest was
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den Krieg betrifft – die einzige wirklich
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interessante Frage, auch wenn wir keine
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fertigen Antworten darauf haben.
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Der Krieg wurde also als eine Form von Gewalt definiert, die insofern un-
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eingeschränkt ausgeübt wird, als man
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in Zeiten des Krieges das Recht hat,
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seine Feinde zu töten. Ein Soldat, der
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einen anderen Soldaten im Krieg tötet,
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ist kein Verbrecher. Und trotzdem hat
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ein Soldat nicht das Recht, zu tun, was
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ihm beliebt. Der Krieg ist zwar nicht
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immer ein Verbrechen, aber es gibt
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Kriegsverbrechen. Was bedeutet das?
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Es gibt Regeln für den Krieg und im
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Krieg: Es gibt ein Kriegsrecht und da-
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her eine Kriegsführung, die sich an
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diese Regeln zu halten hat. Man darf
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zum Beispiel keine Zivilisten, keine Per-
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sonen, die nicht an den Kämpfen betei-
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ligt sind, und keine Kinder angreifen.
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Kriegsgefangene dürfen nicht getötet
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werden, sie müssen unter würdigen Be-
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dingungen gefangen gehalten werden,
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verwundete Feinde dürfen nicht getö-
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tet werden: Die Verträge, in denen diese
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internationalen Übereinkünfte festge-
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Konvention Offizielles Abkommen oder Vertrag zwischen Individuen oder Staaten.
Genfer Konvention Umfangreiches Vertragswerk zwischen vielen Staaten, das etappenweise von 1864 bis 1949 ausgearbeitet wurde.
halten sind, heißen »Genfer Konven-
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tion«. Sie schreiben diese Grundsätze
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und ihre Anwendung im Kriegsfall fest.
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Aber sie werden nicht immer eingehal-
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ten, und wenn sie nicht eingehalten
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werden, sprechen wir von Kriegsver-
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brechen.
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Sind alle Kriege gleich schlecht? Sind alle Kriege ungerecht? Oder gibt es gerechte und ungerechte Kriege?
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Leiden und Leid, die mit einem Krieg
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über Zivilisten und Personen kommen,
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die nicht an Kampfhandlungen betei-
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ligt sind, sind immer ein Unrecht, und
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dieses Leid ist ein Skandal. »Skandal«
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ist ein sehr starkes Wort: Es kommt vom
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griechischen skandalon, dem Hinder-
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nis, über das man fällt, der Stein, über
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den man stolpert und fällt, der Stein
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des Anstoßes. Kein Krieg konnte und
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kann je Leid und Tod aussparen. Der
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Preis, der für einen Krieg gezahlt wird,
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ist immer sehr hoch. Und in diesem
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Sinne ist jeder Krieg ungerecht, weil er
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nie verhindern kann, dass Unschuldige
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Opfer werden, weil er für die Zivilbevöl-
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kerung immer mörderisch ist. Der Krieg
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schließt den Tod mit ein.
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Allerdings kann man eine andere
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Frage nicht außer Acht lassen: Ist man
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in manchen Fällen nicht gezwungen,
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Krieg zu führen, um sich gegen einen
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Angriff zu verteidigen oder um jenen
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zu helfen, die angegriffen werden und
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nicht die Mittel besitzen, um sich selbst
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zu verteidigen, weil sie zu schwach
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sind? Oder wenn es darum geht, ein
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noch größeres Übel abzuwenden? Das
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ist das große Problem zwischen Gewalt
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und Recht. In manchen Situationen
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muss man das Recht auf Gewalt einräu-
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men, in anderen Situationen kann das
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Recht des Schwächeren nur mit Gewalt
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durchgesetzt werden. Ohne Gewalt ist
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die Gerechtigkeit meistens ohnmäch-
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tig. Daher müssen wir die Frage stellen,
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ob es gerechte und ungerechte Kriege
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gibt. Einerseits muss man stets wieder-
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holen, dass in gewisser Hinsicht alle
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Kriege ungerecht sind, weil dabei un-
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schuldige Zivilisten ebenso getötet wer-
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den wie gegnerische Soldaten, die an
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sich nicht böse sind: Auch die Feinde,
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gegen die wir Krieg führen, sind Men-
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schen wie du und ich.
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Recht Das Recht nennt die Regeln, denen man Folge leisten muss, wenn man innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft handelt.
Gerechtigkeit Die Gerechtigkeit ist das Bewusstsein, das wir vom Recht haben. Sie ist eine Notwendigkeit, der in einem bestimmten Rahmen entsprochen wird: Gerechtigkeit ist daher die Macht, das Recht zur Geltung zu bringen.
Jonathan Swift (1667 – 1745) Irischer Schriftsteller.
Dennoch muss man sich fragen, ob
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alle Kriege gleich sind und ob es nicht
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in bestimmten Fällen gerechtfertigt ist,
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Krieg zu führen.
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In Gullivers Reisen erzählt Jonathan
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Swift, wie das Königreich Lilliput und
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sein Nachbar, das Königreich Blefuscu,
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seit Jahrzehnten einen Vernichtungs-
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krieg gegeneinander führen, und das
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aus folgendem Grund:
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Ȇberall wird zugestanden, dass die ur-
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sprüngliche Weise, Eier zu öffnen, darin
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besteht, dass man das breitere Ende der
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Schale zerbricht oder abschneidet . Allein
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der Großvater Seiner gegenwärtigen Ma-
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jestät schnitt sich, da er als Knabe einst
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ein Ei essen wollte, bei dieser Gelegenheit
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in den Finger . Darauf publizierte der Va-
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ter ein Edikt, das allen Untertanen bei
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schwerer Strafe verbot, das breitere Ende
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des Eies zu eröffnen . Das Volk geriet über
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dieses Gesetz in solche Wut, dass darauf-
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hin sechs Rebellionen entstanden . Ein
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Kaiser verlor darin sein Leben, ein ande-
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rer seine Krone . Diese bürgerlichen Zwi-
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ste wurden dauernd durch die Könige
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von Blefuscu genährt, und wenn sie un-
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terdrückt wurden, flüchteten die Ver-
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bannten gewöhnlich in dieses Reich . Man
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berechnet, dass an die elftausend Per-
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sonen zu verschiedenen Zeiten lieber den
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Tod erleiden als die Eier an den spitzen
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Enden öffnen wollten .«
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Dieser Bericht prangert einen Krieg an,
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der durch nichts zu rechtfertigen ist.
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Hinter der absurden Vorstellung, man
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würde sich über die Frage bekriegen, ob
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das Ei am runden oder am spitzen Ende
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geöffnet werden soll, verbirgt Swift eine
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beißende Kritik an der Intoleranz und
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den Verheerungen, die sie mit sich
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bringt.
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Doch es gibt im Gegenteil auch Fälle, in
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denen der Pazifismus – das ist die völ-
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lige Ablehnung des Krieges – zu einem
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Fehler und sogar zu einem Verbrechen
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wird, wenn man sich zum Beispiel
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nicht einem Feind entgegenstellt, der
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nicht nur den Sieg davontragen und
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der Stärkere sein oder sein Gebiet er-
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weitern will, sondern darüber hinaus
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Ausrotten Eine Gemeinschaft bis zum letzten Einzelwesen umbringen. Man kann auch eine Gemeinschaft vernichten, das heißt zerstören, ohne sie auszurotten.
Homer Mythischer Dichter, dem die Ilias und die Odyssee zugeschrieben werden.
einen Teil der Menschheit vernichten
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oder ausrotten will. Dann ist Krieg un-
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vermeidbar.
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So war es mit dem Krieg, den die Nazis
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begannen. Sie führten einen Vernich-
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tungskrieg, in dem selbst Kinder zu
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Feinden wurden und in dem man Men-
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schen systematisch umbrachte, weil sie
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zum Beispiel als Juden oder Zigeuner
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geboren waren. War der Krieg gegen
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Hitler-Deutschland unter diesen Voraus-
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setzungen nicht ein gerechter Krieg?
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Auf die Frage »Warum führen Men-
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schen Krieg?« gibt es also keine einfa-
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che und auch keine vollständige Ant-
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wort. Eine letztgültige Antwort darauf
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kann und wird es nie geben. Doch wer-
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fen wir zuletzt noch einen Blick auf ei-
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nen der ältesten Berichte über einen
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Krieg, den Krieg um Troja. Der Dichter
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Homer besingt in der Ilias die ruhmrei-
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chen Taten und das Heldentum der
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Wie sich ein loderndes Feuer tief in die Täler des dürren Waldes hineinfrisst und weithin die Baumstämme brennen, wütend der Sturmwind nach allen Seiten die Flammen vorantreibt, ebenso tobte mit seinem Speere Achilleus, ein Daimon, über die Toten dahin; es schwamm der Boden vom Blute. (...) Derart stampften, gelenkt vom tapfren Achilleus, die Rosse vorwärts über die Leichen und Schilde, es triefte der Wagen unten vom Blut , es trieften auch die Wände des Fahrzeugs, die von den Hufen der Pferde und den Beschlägen der Räder vollgespritzt wurden. Homer
Bittsteller Im antiken Griechenland steht der Bittsteller, der den Sieger um Verzeihung oder um Gnade bittet, unter dem Schutz der Götter.
Griechen und der Trojaner. Er zeigt, wie
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beide Gegner, Sieger und Besiegte, un-
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ter der Gewalt leiden: Die Starken sind
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niemals nur stark und die Schwachen
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niemals nur schwach. Achill, der in der
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Schlacht unbesiegbar ist und jeden
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Gegner tötet, erschlägt seinen Feind
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Hektor und schleift seinen Leichnam in
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unerhörter Wut um die Stadtmauern
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von Troja herum.
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wut und der Rachedurst nach, und der
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Sieger hört das Flehen des Bittstellers.
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So auch Achill, als er den alten König
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Priamos empfängt, der ihn um den
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Leichnam seines Sohnes Hektor bittet.
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Achill lädt Priamos an seinen Tisch und
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hört tief bewegt die Klage des Vaters.
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Von Mitleid ergriffen, erfüllt er seine
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Bitte.
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Doch manchmal lassen die Kampfes-
Der Dichter hat also den Unterschied zwischen Siegern und Besiegten, zwi-
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schen Griechen und Trojanern aufge-
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löst. Achill, den er oft wie ein blutrüns-
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tiges Tier beschreibt, ist trotz allem
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fähig zu Mitleid und vor allem zur Be-
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wunderung für seinen Feind. Das Leid
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der Besiegten wird auf so eindringli-
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che Weise geschildert, als wäre Homer
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Trojaner gewesen, aber Homer war
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Grieche. Er lässt die Besiegten ebenso
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zu Wort kommen wie die Sieger, und
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Die kalte Brutalität der Heldentaten wird durch nichts verschleiert, weil weder Sieger noch Besiegte bewundert, verachtet oder gehasst werden. Das Schicksal und die Götter bestimmen fast immer über das wechselnde Geschick in den Kämpfen … Und die Vergleiche, durch die die Krieger wie wilde Tiere oder Dinge als Sieger oder Besiegte in Erscheinung treten, können weder Bewunderung noch Verachtung einflößen, sondern höchstens das Bedauern darüber, dass Menschen so verwandelt sein können. Simone Weil
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2008, 210 Seiten, gebunden ISBN 978-3-593-38656-0
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2008, 108 Seiten, mit 20 Illustrationen von Lionel Koechlin ISBN 978-3-593-38658-4
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2008, 192 Seiten, Halbleinen ISBN 978-3-593-38509-9
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