Mike Resnick
Walpurgis III
Science-Fiction-Roman
Der Planet Walpurgis III wird von Hexerei beherrscht. Satanisten und...
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Mike Resnick
Walpurgis III
Science-Fiction-Roman
Der Planet Walpurgis III wird von Hexerei beherrscht. Satanisten und Anhänger verschiedener Voodoo-Kulte haben sich einst auf ihm niedergelassen, und nun beherbergt er eine noch größere Gefahr: Conrad Bland, den größten Massenmörder der Geschichte. Aber Bland ist auf Walpurgis III nicht sicher, obwohl ihm die religiös orientierte Regierung des Planeten Asyl und Schutz gewährt. Jericho, ein berufsmäßiger Attentäter, ist auf ihn angesetzt. Jericho soll Bland zur Strecke bringen, bevor dieser auf anderen Welten wieder sein Unwesen treiben kann, bevor zu seinen 30 Millionen Opfern noch weitere kommen. Und so beginnt eine mörderische Verfolgungsjagd auf einer fremdartigen Welt... ISBN 3-426-05805-7 Titel der Originalausgabe »Walpurgis III« Aus dem Amerikanischen von Peter Pape 1986, Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf Umschlaggestaltung Franz Wollzenmüller Umschlagillustration Kevin Johnson
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Autor Mike Resnick wurde 1942 in Chicago geboren und arbeitet seit seinem 22. Lebensjahr als Schriftsteller. Nachdem er eine große Anzahl Bücher der verschiedensten Genres schrieb, wandte er sich Anfang der achtziger Jahre verstärkt der Science Fiction zu. Seine ambitionierte Zukunftsgeschichte der Menschheit »Das Zeitalter der Sterne« (Knaur-Taschenbuch 5793) wurde für den Nebula-Award nominiert. Weitere Titel von Mike Resnick sind für die Knaur-Taschenbuchreihe Science Fiction in Vorbereitung. Von Mike Resnick erschien in der Knaur-Taschenbuchreihe Science Fiction/Fantasy: »Das Zeitalter der Sterne« (Band 5793)
Prolog »Es ist ein Geist des Guten in dem Übel.« Shakespeare »Alles Übel, was uns nicht zerbricht, baut auf.« Emerson »Alles Übel kommt aus uns.« Rousseau Alle lagen sie falsch. »Es gibt keine Erklärung für das Böse. Man muß es wohl in der Ordnung des Universums als notwendig ansehen. Es zu ignorieren wäre kindlich; sich darüber zu beklagen sinnlos.« Maugham Er kam der Sache schon näher.
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1 »Das Böse hat seine eigenen Gesetze. Aus diesem Grund werden Fragen nach Macht, Lust oder nach Profit bedeutungslos. « Conrad Bland Er wußte es. Natürlich wußte er es. Während der kurzen Herrschaft des verrückten Imperators Justazius tötete er elf Millionen Männer in den Todescamps von Pilor IX. Siebzehn Millionen Männer tötete er auf Borgia II, auf eine Art und Weise, die die Gaskammern der alten Erde und ihres Dritten Reiches harmlos wirken ließen. Er tötete fünf Millionen Frauen und Kinder auf Neu-Rhodesien. Dreitausend undsiebzehn Männer tötete er auf Cambria III, jeden auf eine andere Art. Er erfand Foltermethoden, die selbst die Bewohner von Spica VI, die sich gegen die Republik auflehnten, niemals benutzen würden. Keine Fotografie, Holografie oder Videoaufnahme existierte von ihm. Man hatte von ihm niemals Fingerabdrücke genommen. In keinem Computer gab es Retinagramme oder Stimmbilder von ihm. Er besaß auf keiner Welt ein Bankkonto, keine Besitztümer, die jemanden auf seine Spur bringen konnten. Sein Geburtsplanet war unbekannt. Viele Männer hatten ihm gedient, aber bis auf sieben waren sie alle tot - und diese sieben hatten ihn nie in ihrem Leben zu Gesicht bekommen. Er war ein Flüchtling. Sein Name war Conrad Bland, und er war, im Moment jedenfalls, sicher.
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2 »Wenn du einen Menschen tötest, bist du ein Attentäter. Wenn du eine Million Menschen tötest, bist du ein Eroberer. Tötest du jeden, bist du ein Gott. « Conrad Bland Orestes Mela lief an den Schlangen und Skorpionen vorbei, ebenso an den Elefanten und Halbaffen, dem achtbeinigen pflanzenfressenden Rigelianer, dem kugelförmigen Fleischfresser von Wega und dem gepanzerten Allesfresser von Spica - erstaunlich, daß sie sich alle an das Treibhausklima von Serengeti, der Zoowelt des terranischen Sektors, angepaßt hatten. Er wollte sich den Schweiß aus dem rundlichen Gesicht wischen, beschloß aber dann, keine unnötige Aufmerksamkeit auf die kleine Aktentasche zu lenken, die mit einer Kette an seinem Handgelenk festgemacht war, und verharrte mitten in der Bewegung. Er schaute auf die Karte eines Prospektes, stellte fest, daß es zum Vogelhaus noch über sechs Meilen waren und winkte einen Robotwagen herunter. So faszinierend war Serengeti nun auch nicht, es hatte jedenfalls keinen Zweck am Treffpunkt zu müde zu sein, um reden zu können. Einige Minuten später verließ er den Wagen wieder und hinterlegte einen Gutschein, der ihn berechtigte, den mit Schutzschirmen versehenen Pfad zu betreten, der sich durch die Freizeitstätte schlängelte. Er legte noch eine Meile zurück, während er sich wunderte, warum sie ausgerechnet die Vögel der verschiedenen Welten getrennt hielten, und versuchte sich an die Gerüche zu gewöhnen. Schließlich kam er zu einem runden Platz mit Tischen, Bänken und einem automatischen Erfrischungsstand. Drei Männer und eine Frau saßen an verschiedenen Tischen, und ein altertümlich uniformierter Angestellter sammelte sehr penibel -5-
den Abfall auf, der um einige verlassene Bänke lag. Mela betrachtete die vier. Zwei von den Männern waren zu jung, und die Frau wirkte zu zerbrechlich, obwohl sie in Betracht kam. Der andere Mann allerdings schien alle Anforderungen zu erfüllen: ein großer, kräftiger Bursche mit stechenden grauen Augen und einer tiefen Narbe auf der linken Wange. Ein heißer Windstoß ließ den leeren Pappbeche r des Mannes vom Tisch fliegen, aber er fing ihn mit einer kurzen, animalisch graziösen Bewegung wieder auf, bevor er zu Boden fallen konnte. Na gut, dachte Mela, wenigstens sieht er so aus. Mela wartete ab, weil er nicht wußte, wie er sich dem Mann nähern sollte, als dieser auch schon aufstand, sich wie eine wilde Raubkatze streckte und davonging. Etwas verwirrt überlegte Mela, ob er ihm folgen sollte, entschied sich aber dann dafür, sitzen zu bleiben. Die zwei jüngeren Männer verließen den Platz nach ungefähr fünf Minuten, einen Augenblick später folgte ihnen die Frau. Der grauhaarige Angestellte näherte sich ihm. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich einen Moment zu Ihnen setze, mein Herr? « fragte er mit altersschwacher Stimme. »Es ist heiß, und es macht durstig, hinter den Touristen herzuräumen.« »Ich würde es vorziehen, wenn Sie sich an einen anderen Tisch setzten«, sagte Mela irritiert. »Ich erwarte jemanden.« »Jetzt nicht mehr«, sagte der Angestellte und holte sich einen Stuhl. Mela starrte in das alte Gesicht. »Jericho?« fragte er schließlich. Der Angestellte nickte. »Ich werd' verrückt!« stieß Mela überrascht aus. »Haben wir nicht vorher noch etwas zu erledigen?« fragte Jericho, und seine Stimme klang nicht mehr wie die eines alten Mannes. »Etwa hier?« frage Mela ungläubig. »Wir werden nicht gestört«, sagte Jericho. »Ich habe dafür -6-
gesorgt.« Mela zuckte mit den Achseln. »Gab es irgendeinen Grund dafür, daß Sie ausgerechnet diese Welt für unser Treffen ausgesucht haben?« fragte er, hob die Aktentasche auf den Tisch und gab eine Kombination von vierzehn Zahlen in den Computerverschluß ein. »Ich hatte Serengeti noch nie besucht.« »Seltsam«, meinte Mela. »Mir scheint es der ideale Ort für Sie zu sein, wenn ich das sagen darf. Ich kann verstehen, daß hier in bestimmten Gebieten Jagdlizenzen vergeben werden.« »Ich töte niemals zum Vergnügen, Mr. Mela«, erwiderte Jericho emotionslos. »Gut, kommen wir zum Geschäft«, sagte Mela und entnahm der Aktentasche einige Pakete. »Das hier«, sagte er und hielt einen dicken Stapel Disketten hoch, »hat er alles getan. Und das«, fügte er hinzu, während er eine einzelne Diskette hochhielt, »ist alles, was wir über ihn wissen. Es sind schätzungsweise zwei Minuten Informationen. Im Grunde genommen wissen wir nach über achtzehn Jahren noch nicht einmal, ob er überhaupt ein er ist. Trotz alledem, Conrad Bland bleibt nur ein Name; ohne Zweifel besitzt er auch noch andere.« »Zweifellos«, sagte Jericho unverbindlich. »Sicherlich werden Sie sich die Unterlagen ansehen wollen«, sagte Mela und schob das große Paket über den Tisch. »Ich habe für Sie, für die Dauer Ihres Auftrages, eine Unbedenklichkeitserklärung erwirkt. Sie können sie also mitnehmen und sorgfältig studieren.« »Behalten Sie sie«, sagte Jericho. »Behalten?« wiederholte Mela ungläubig. »Aber sie enthält die ganzen Details über Neu-Rhodesien, alle einschlägigen Informationen über Borgia, Quantos, Pilor und -« »Was Conrad Bland auf Borgia oder den anderen Welten angestellt hat, interessiert mich überhaupt nicht.« -7-
»Sie wollen sich nicht mit den Beweggründen des Mannes beschäftigen, dem Sie schlußendlich gegenüberstehen werden?« beharrte Mela und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. »Ich habe noch nie moralische Schlüsse gezogen«, erwiderte Jericho. »Mir genügt es, daß Sie ihn tot sehen wollen und bereit sind, meinen Preis zu akzeptieren. Im Grunde bin ich nur noch sein Henker.« »Um auf diesen Punkt genauer einzugehen, Sie sind ein Profikiller, der einen Mann hinzurichten hat, an den die Republik leider nicht herankommt«, sagte Mela und rümpfte die Nase, als er wieder die Vogelgerüche wahrnahm. »Und dabei möchte ich noch bemerken, daß wir über Sie genausowenig wissen wie über ihn.« »Sie wissen, daß ich auf Ihrer Seite stehe, Mr. Mela. Das sollte doch genügen.« »Ich denke nur mit unguten Gefühlen daran, wie viele von uns Sie im Laufe der Jahre wohl umgebracht haben«, sagte Mela bitter. »Auch das Konzept, einen Killer anzuheuern, um einen anderen Killer loszuwerden, ist mir stark zuwider.« »Trotzdem tun Sie es nun«, bemerkte Jericho. »Ich habe es mir nicht ausgesucht. Ich habe meine Befehle. Ach, übrigens, Jericho ist nicht Ihr richtiger Name, oder?« »Würde das etwas ändern?« »Nein«, sagte Mela. »Aber ich nehme an, daß es ein Kodename oder ein Pseudonym ist. Genauso wie ich annehme, daß Sie weitaus jünger sind, als Sie mir hier vorspielen.« Jericho sah ihn gelassen an und antwortete nicht. Mela erwiderte seinen Blick und schüttelte schließlich den Kopf. »Verflucht«, sagte er. »Irgendwie hatte ich angenommen, jemanden zu treffen, der mehr wie ein Killer aussieht.« »Wie sieht denn ein Killer aus?« fragte Jericho milde. »Sie harmonieren zu gut mit der Umwelt«, fuhr Mela fort und wunderte sich, daß er so aufgeregt war. »Normale Größe, -8-
normales Gesicht, keine Sprachmerkmale. Unter dem ganzen Makeup sind Sie wahrscheinlich der typische Durchschnittsmensch. « »Ich kann Ihnen versichern, daß Sie sich nicht mehr lange über mein Erscheinungsbild Gedanken machen müssen«, sagte Jericho. »Sie werden mich nach diesem Treffen nämlich nie mehr wiedersehen.« »Ich muß schließlich wissen, wie Sie aussehen und unter welcher Identität Sie reisen werden, um unsere Leute zu informieren.« »Das wird nicht nötig sein.« »Der ganze Planet ist militärisch und wirtschaftlich völlig isoliert«, erklärte Mela. »Wie wollen Sie dorthin kommen?« »Genauso wie ich hierher gekommen bin«, sagte Jericho. »Wobei mir im Moment noch eine andere Sache einfällt, Mr. Mela. Es befinden sich siebzehn Schiffe der Republik im Orbit um Serengeti und ungefähr dreihundert Agenten auf dem Planeten selbst. Offensichtlich sind sie nicht zu Ihrem Schutz hier, und genauso offensichtlich sind sie auch nicht hier, um den Planeten vor einem Angriff zu schützen. Ich muß deshalb annehmen, daß diese Leute hier sind, um mich zu überprüfen und genügend Informationen zu sammeln, um mich nach dieser Transaktion festnehmen oder eliminieren zu können. Ich muß Sie warnen. Sollte irgendein Angehöriger der Republik den Versuch wagen, mich in Zukunft in meiner Privatsphäre zu stören, werde ich dies als Vertrauensbruch ansehen und mich nicht scheuen, die Aktion sofort abzubrechen, allerdings ohne Ihnen das Honorar zurückzuerstatten - von dem ich doch annehmen darf, daß Sie es mitgebracht haben.« Mela nickte, zog einen kleinen Titanbehälter aus der Aktentasche und reichte ihn Jericho, der ihn öffnete, einige wertvolle Edelsteine in seine Hand schüttete, nickte und sie wieder in ihrem Behälter -9-
plazierte. »Wollen Sie sich die Steine nicht etwas genauer ansehen?« fragte Mela irritiert. »Nein«, sagte Jericho. »Ich habe nicht vor, meinen Auftrag zu erledigen, bevor sie nicht geschätzt und zu Geld gemacht worden sind.« »Wie lange wird es dauern?« wollte Mela wissen. »Weniger Zeit, als Sie annehmen«, erwiderte Jericho. »Aber nun wieder zum Geschäft. Es gibt da einige Dinge, die ich über Bland wissen muß.« »Ich dachte, Sie wollten unsere Informationen nicht«, meinte Mela gereizt. »Es ist für mich völlig bedeutungslos, ob die Bevölkerung eines ganzen Planeten versklavt wird«, sagte Jericho, wandte seinen Blick von Melas rundem, schwitzendem Gesicht ab und verfolgte den Sturzflug eines Habichts, der einen kreischenden und flügelschlagenden Spatz schlug. »Aber es steht außer Zweifel, daß sich die Republik nicht um meine Dienste bemüht hätte, wenn sie nicht schon einige ihrer Agenten dabei verloren hätte. Wie viele Männer haben versucht, Conrad Bland umzubringen, und wie sind diese Versuche fehlgeschlagen?« »Wir haben insgesamt dreiundzwanzig Männer auf ihn angesetzt, fünfzehn allein und vier Zwei-Mann-Teams«, gab Mela zu. »Wir haben von ihnen nie mehr etwas gehört.« »Wer war es?« fragte Jericho. »Die besten Männer der Republik«, sagte Mela. »Einschließlich Rinehart Guntermann.« »Da hätte euch aber etwas Besseres einfallen können, als ausgerechnet so einen abgetakelten Kämpen auf einen Mann wie Bland anzusetzen.« »Entschuldigen Sie bitte«, schnappte Mela, der verzweifelt sein Temperament zu zügeln versuchte. »Es ist doch wohl nicht -10-
zu leugnen, daß Guntermann der Held der Schlacht um Canphor VII war!« »Die er vom Flaggschiff einer unschlagbaren Flotte führte«, sagte Jericho trocken. »Das ist der Unterschied, Mr. Mela: Wenn Bland da wäre, wo ihn die Flotte kriegen könnte, hätten sie nicht mich ausgesucht, diesen Fall zu übernehmen, und ich hätte Ihnen nicht erlaubt, mich zu finden.« »Mir erlaubt?« wiederholte Mela, als ihn ein weiterer heißer Luftzug strich und erneut unangenehm an die mannigfaltigen Gerüche um ihn herum erinnerte. »Aber natürlich«, sagte Jericho. »Ich habe Ihre peinlichen und ungeschickten Bemühungen seit nahezu einem Jahr beobachtet, und dabei stellte sich heraus, daß sie eher mit Hartnäckigkeit denn mit Geschick geführt wurden. Es war diese Beharrlichkeit, die verzweifelte Art der Versuche, die mich überzeugte, daß es Ihnen um Conrad Bland ging.« »Sie erwarteten, daß wir Sie wegen Conrad Bland aufsuchen würden?« »Früher oder später«, sagte Jericho. »Und Sie freuen sich auf diese Herausforderung?« »Nicht ganz«, antwortete Jericho. »Mich interessiert in erster Linie die Belohnung, die dieser Herausforderung ent spricht.« »Dreiundzwanzig ehrbare und anständige Männer haben ihn verfolgt, ohne einen Gedanken an eine Belohnung zu verschenken. « »Ich nehme an, daß das der Fehler war«, erwiderte Jericho kalt. »Wo wir gerade dabei sind, wurden sie alle auf Blands momentaner Zufluchtswelt ermordet?« »Nein«, sagte Mela. »Er flüchtet nun schon beinahe fünf Jahre vor uns. Unser erster Versuch wurde auf Lodin unternommen, zwei weitere auf Bareimus II, ein anderer auf Belsanidor, drei auf Nimbus VIII und die restlichen auf Pla neten, die auf dem Weg lagen.« -11-
»Ich möchte über alle dreiundzwanzig Agenten Dossiers«, sagte Jericho. »Informationen über ihre Ausbildung, ihre Speziälkenntnisse und ihre früheren Erfolge in ähnlichen Situationen, falls vorhanden.« »Es ist alles hier drin«, sagte Mela und zeigte auf den dicken Stapel. Jericho beugte sich vor und nahm ihn. »Schauen Sie doch nicht so böse, Mr. Mela«, sagte Jericho. »Die Vorauszahlung werden Sie in keinem Fall zurückbekommen. Wenn wir Ihre Gefühle mir gegenüber einmal außer acht lassen, ist es doch für uns beide von Interesse, daß ich meinen Auftrag erfüllen kann.« »Ich bin hier, weil es mir befohlen wurde«, sagte Mela eisig. Ich werde Ihnen in jeder erdenklichen Weise helfen. Das bedeutet jedoch nicht, daß mir diese Sache gefällt.« »Fair genug«, meinte Jericho und schnippte einige übriggebliebene Krümel durch den Schutzschirm zu dem Vogel, der sie schon die ganze Zeit bettelnd angestarrt hatte. »Und nun wäre es vielleicht besser, wenn Sie mir etwas über den Planeten erzählen würden.« »Er wird Walpurgis genannt«, sagte Mela. »Walpurgis III, genauer gesagt.« »Das haben Sie mir schon mitgeteilt«, erklärte Jericho. »Ich konnte ihn auf meinen Karten nicht finden. Wurde er erst kürzlich besiedelt?« »Während der letzten hundert Jahre. In der Liste steht er unter dem Namen Zeta Tau III.« »Walpurgis«, wiederholte Jericho. »Ein interessanter Name.« »Es ist eine interessante Welt«, sagte Mela. »Ein gefundenes Fressen für einen Psychologen.« »In welcher Beziehung?« fragte Jericho, und Mela bemerkte, daß er aufmerksamer wurde, obwohl sich in seinem Ausdruck nichts verändert hatte. -12-
»Während der Großen Freigabe«, begann der Mann der Republik, »wollte jede verfluchte Interessengemeinschaft einen oder zwei Planeten in ihren Besitz bringen. Das Generalkartell bekam vier. Die Vereinigte Silizium schnappte sich ein paar, sogar die Jesuspuritaner bekamen ihre eigene kleine Welt.« »Jesuspuritaner?« erkundigte sich Jericho. »Kirche der Reinheit Jesu Christi«, erklärte Mela. »Es gab so viele Welten, daß sogar die kleinsten der Randgruppen ihre Ansprüche geltend machen konnten.« »Und welche Randgruppe stellt Walpurgis dar?« fragte Jericho. »Hexerei.« »Sie machen Scherze!« sagte Jericho und mußte zum erstenmal lächeln. »Ich wünschte, es wäre so«, erwiderte Mela, der schon wieder lauter sprechen mußte, um das Gekreische eines Vogelschwarms zu übertönen. »Aber Magie funktioniert nicht.« »Das tut auch der Glaube an die Reinheit Jesu Christi nicht«, sagte Mela. »Aus den Fakten geht hervor, daß einige Hexen und Teufelsanhänger Walpurgis beanspruchten, diesem Anspruch nachgegeben wurde, und Walpurgis dann von ihnen besiedelt wurde.« »Okay, diese Leute glauben an Magie«, meinte Jericho. »Aber wieso stellt das ein Problem dar?« »Weil Conrad Bland nach Walpurgis floh und Asyl bekam.« Mela wischte sich wieder über das Gesicht. »Mein Gott, ist es hier schwül!« »Ich sehe das Problem immer noch nicht«, sagte Jericho. »Es ist doch eine Welt der Republik, oder?« »So einfach ist das nicht«, erklärte Mela. »Diese Leute huldigen dem Bösen, vielleicht nicht immer offen und direkt, aber auf jeden Fall prinzipiell. Sie haben zwar eine Regierung, werden aber im Grunde von einer Theokratie regiert. Und diese -13-
Theokratie würde ihn niemals ausliefern. Und nach dem Problem, das wir mit Radillex IV hatten, steht uns nicht der Sinn danach, ihn mit Gewalt herauszuholen.« Jericho nickte nachdenklich. Radillex IV hatte zwei entflohenen Verbrechern Asyl gewährt, auf deren Auslieferung die Republik bestand. Der Planet hatte sich geweigert, und so war die Flotte gegen ihn ausgezogen. Nachdem sich der Staub wieder gelegt hatte, waren drei Millionen Radillexianer tot, und die Republik besaß eine völlig neue Führungsspitze. Ihre Nachfolger bewiesen stärkeres Einfühlungsvermögen und zeigten den Kolonialwelten weniger plump, wer die Macht im All besaß, besonders wo es so viele Fremdwelten gab, reale und erfundene, die es zu unterwerfen galt. »Also wurde Walpurgis ein Embargo auferlegt und unter Quarantäne gestellt«, fuhr Mela fort, »was uns aber überhaupt nichts einbrachte, da sie eh noch nie etwas mit dem Rest der Republik zu tun haben wollten.« »Und Sie sind sicher, daß er immer noch dort ist?« fragte Jericho. »Wir haben diesen Planeten völlig abgeschirmt, da kommt nichts rein und nichts raus«, sagte Mela. »Er ist immer noch dort. Außerdem hatten wir einige streng geheime Gespräche mit der Zivilregierung über ihn. »Und?« »Sie baten uns - sie flehten uns geradezu an -, ihn zu eliminieren. « »Haben sie dafür Gründe angegeben?« fragte Jericho. Mela schüttelte den Kopf. »Ich brauche geschichtliche Informationen, Handbücher und alles andere, was mit Walpurgis zu tun hat«, sagte Jericho schließlich. »Haben wir nicht.« »Nicht einmal eine Karte?« »Topographische, ja, Straßen und Städte, nein«, sagte Mela. »Verstehen Sie doch: Die Gründer sahen sich als unterdrückte -14-
Minderheit an und schlossen sich selbst völlig vom Rest der Republik ab. Ein- und Auswanderer wurden in ihrer Geschichte schon mehrmals abgelehnt. Sie haben keinerlei geschäftliche Beziehungen zu irgendeiner anderen Welt der Republik. Die zahlen sogar lieber die höheren Steuern, die aus ihrer Ablehnung resultieren. Sie erlauben keine Videoübertragungen, weder hinein, noch hinaus. Verflucht, die akzeptieren ja noch nicht einmal den Credit; statt dessen besitzen sie noch solch archaische Währungen wie Dollar, Pfund, Yen oder Rubel.« »Ich verstehe«, sagte Jericho. »Ist einer Ihrer Agenten im Moment dort im Einsatz?« »Einer, wenn er noch lebt«, erwiderte Mela. »Ein Mann namens Ibo Ubusuku.« »Wo befindet er sich, und wie kann ich ihn kontaktieren, wenn es nötig sein sollte?« »Wir haben bis jetzt erst einmal von ihm gehört«, sagte Mela. »Er befindet sich in einer Stadt namens Amaymon in der südlichen Hemisphäre des Planeten, und Sie können mit ihm in Kontakt treten, indem Sie eine bestimmte kodierte Anzeige aufgeben, die sich auf einer der Disketten befindet. Er hat die Funkstille seit seiner Ankunftsnachricht nicht mehr gebrochen, da die Republik in diesen Tagen auf Walpurgis nicht allzu beliebt ist.« »Gibt es noch andere Informationen, die ich wissen müßte?« fragte Jericho. »Unter Umständen«, sagte Mela. »Unglücklicherweise ist niemand von der Regierung in der Lage, sie Ihnen zu geben.« »Dann«, sagte Jericho und stand auf, »können wir unser Treffen wohl als beendet betrachten. Bitte unternehmen Sie nicht den Versuch, mir zu folgen.« »Ein Wort noch«, sagte Mela. »Mir wurde erlaubt, Ihnen jede Waffe zu besorgen, die Sie gebrauchen können.« -15-
»Ich bin sicher, alles, was ich brauche, werde ich auf dem Planeten finden«, erwiderte Jericho. »Aber unsere Waffen sind um einiges anspruchsvoller«, protestierte Mela. »Mr. Mela«, sagte Jericho so langsam, als ob er jedes Wort auf die Goldwaage legen würde, »dies mag Sie jetzt vielleicht überraschen oder auch enttäuschen, aber es gibt viele Männer und Frauen, die bessere Schützen sind als ich, genauso, wie es viele andere gibt, die im Nahkampf perfekter sind. Sie mieten sich hier keinen Raufbold oder einen Scharfschützen. Sie mieten einen Henker. Was ich brauche, werde ich auf dem Planeten bekommen.« Ein riesiger roter Adler schwebte scheinbar mühelos zum Boden, dann krächzte er und stürzte sich auf ein kleines Säugetier. Mela blickte kurz zur Seite, um nach dem Grund des Aufruhrs zu sehen. Als er sich wieder umdrehte, war der Mann, der sich Jericho nannte, verschwunden.
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3 »Mord ist nur eine Leidenschaft, aber ein anständiges Blutbad ist eine Kunst.« Conrad Bland Auf den ersten Blick konnte man nicht behaupten, daß es eine schöne Welt war. Jericho hatte sich, so gut es ging, darauf vorbereitet. Der physische Teil war relativ einfach, er bestand darin, die Schiffssysteme auf die Bedingungen von Walpurgis zu justieren. So gewöhnte er sich während des Fluges an die geringere Gravitation und den höheren Sauerstoffgehalt des Planeten, damit er sich nicht durch eine unabsichtliche Zurschaustellung von Kraft oder Agilität verriet und seinen Körper vor der unausweichlichen langsamen Vergiftung durch die ungewohnt angereicherte Atmosphäre schützte. Er verbrachte drei Wochen damit, alles zu lesen, was er über die verschiedenen Kulte und Sekten der frühen Erde, bis zu deren Ankunft auf Walpurgis III vor 123 Jahren finden konnte aber da sich eine Gesellschaft ständig weiterentwickelt, hatte er das unbestimmte Gefühl, daß seine Informationen, jedenfalls zum größten Teil, veraltet, wenn nicht gar archaisch waren. Nachdem seine Vorbereitungen beendet waren, ging er zum nächsten Teil seines Planes über. Laufend stießen Wartungsschiffe zur Kette der republikanischen Schiffe, die Walpurgis blockie rten, und bei einem dieser Schiffe wurde innerhalb der drei Tage, in denen es seine Position einzunehmen hatte, ein Orbitalfehler festgestellt, der es nötig machte, für eine kleinere Reparatur auf dem Planeten zu landen. Keiner der Männer der Crew hatte Jerichos Anwesenheit an Bord des Schiffes bemerkt. Keiner wußte, daß diese Fehlfunktion derart sorgfältig geplant war, um auf der südlichen Hemisphäre des -17-
Planeten landen zu können. Es sah ihn auch niemand, als er kurz nach der Dämmerung das Schiff verließ. In der Nähe des Raumhafens lag eine größere Stadt, und er benutzte die schützende Dunkelheit für einen schnellen, aber informativen Rundgang zum nächsten Einkaufszentrum. Nachdem er mehrere Schaufenster betrachtet und damit sichergestellt hatte, daß die ortsüblichen Kleider frei von Klassen-, Rang- oder Herkunftssymbolen waren, räumte er sehr systematisch vier Herrenausstatter aus, indem er sich vom einen ein Hemd, vom anderen eine Hose, von dem dritten eine Jacke, und vom letzten Schuhe, Socken und Bargeld nahm. Obwohl er sicher war, daß ihn niemand beim Verlassen des Raumhafens gesehen hatte, änderte er sein Erscheinungsbild. Er verwandelte sich von einem blonden, untersetzten Mann in den Dreißigern in einen irgendwie dünner erscheinenden Mann Anfang Fünfzig. Da er die örtlichen Haarmoden nicht kannte Schaufensterpuppen sind selten auf dem neuesten Stand -, beschloß er, daß es das Beste sein würde, sich einen spärlichen, ausgedünnten Haarschopf mit Stirnglatze zu geben. Er wählte eine braune Haarfarbe mit angegrauten Schläfen. Er entschied sich gegen einen Schnauzer oder einen Vollbart, versah sich jedoch mit einer imposanten Narbe, die von der Oberlippe bis zum Kinn reichte, um in jedem Falle eine Entschuldigung für ein bartloses Gesicht zu haben. Da er sich vor einer direkten Beschattung nun relativ sicher fühlte, unternahm er noch eine zweite gemächlichere Tour, versuchte die Stimmung des Ortes in sich aufzunehmen, und spazierte durch das, was er für das Zentrum der Stadt hielt. Es gab dort einige Geschäfte, die sich auf Waren spezialisiert hatten, die auf dieser Welt das Äquivalent religiöser Talismane und Abzeichen waren. Außerdem befanden sich hier viel mehr Kräuterläden, Handleser und Phrenologen als in einer vergleichbaren Stadt der Republik. Viele Geschäfte boten das an, was er als »normale« Waren bezeichnete - Kleidung, Lebensmittel, Eisenwaren und ähnliches -18-
- fielen jedoch durch aufgemalte oder eingeritzte kabalistische Zeichen an den Fenstern auf. Nahezu alle hatten kleinere Talismane und Amulette mit in ihrem Angebot. Allerdings verkaufte leider niemand einen todsicheren Bannspruchvernichter zum Supersparpreis oder e ine Jungfrau für den Heimaltar, und das störte Jericho. Es wäre einfacher, in einer Gesellschaft unterzutauchen, die ihre Reliquien kommerzialisiert und aggressiv anbietet, als völlig unvorbereitet in diese Gesellschaft zu kommen, in der jeder Glaube für so normal gehalten wird, daß die Reliquien bedeutungslos werden. Plötzlich hörte er Stimmen, die sich von links näherten. Er versteckte sich schnell in einer Toreinfahrt. Im nächsten Moment liefen einige barbusige Frauen an ihm vorbei, die alle die gleiche Kleidung trugen - schulterlange schwarze Handschuhe und Gummistiefel, die ihnen bis über die Oberschenkel reichten. Sie sangen eintönig, und obwohl ihm die Sprache nicht bekannt war, stufte er ihre Litanei als Klagegebet ein. Zwei von ihnen trugen eine kleine Bahre, auf der der ausgestreckte Körper einer toten Katze lag. Die Katze war offensichtlich von einem Fahrzeug überrollt worden. Es schien die Grabesprozession eines Hausgeistes in Form einer Katze zu sein. Auf die Kleidung der Klagenden konnte er sich keinen Reim machen - auch nicht auf das völlige Fehlen femininer Anziehungskraft. Er ging um den nächsten Block und mußte sich scho n wieder verstecken, als zwei Personen, ganz in schwarze Kapuzenmäntel gehüllt, in Begleitung dreier Männer, die etwas trugen, was er für Standardreisekoffer hielt, auf ihn zukamen. Sie diskutierten lebhaft, aber freundlich über ein Sportereignis oder so etwas, aber er konnte keine Einzelheiten hören. Die Verschiedenartigkeit ihres Aussehens schien sie nicht zu stören. Er setzte seinen Weg fort, beobachtete und prägte sich alles ein. An manchen Stellen begann die Stadt ihr Alter zu zeigen, obwohl sich die örtliche Sanierungsabteilung offensichtlich viel -19-
Mühe gab. Die Straßen waren frei von Schmutz und Unrat, die sauberen Gehsteige glänzten, so, als ob sie poliert worden wären, an jeder Ecke standen Müllschlucker - doch hie und da zeigten sich Abnutzungserscheinungen: immer wieder ausgebesserte Schlaglöcher, die sich auf der Straße zeigten, ein Gebäude, das dringend eine Sandstrahlreinigung benötigte, ein kleiner heruntergekommener Laden zwischen zwei riesigen Bürohäusern, der nur noch auf die Zwangsversteigerung wartete, um dann abgerissen und durch einen weiteren Industriepalast aus Stahl und Glas ersetzt zu werden. Auf seinem Weg durch die Stadt kam er an einigen Kirchen vorbei, die meistens in einem pseudogotischen Architekturstil erbaut waren. Bei allen weideten einige Ziegen auf dem Grundstück. Er meinte einige Schreie und Seufzer in einer der Kirchen zu hören, und bei einer anderen sah er durch das Fenster einige nackte Körper irrwitzig tanzen, aber er hatte überhaupt keine Lust, diese Kirchen näher zu untersuchen, bevor er nicht mehr über die Sitten und Gebräuche des Planeten wußte. Eine ziemlich kleine Kirche, die an einem Abhang erbaut war, hatte vor der Eingangstür einen Feuerkreis, durch den die Gemeindemitglieder vermutlich laufen mußten, um ihrem jeweiligen Gott oder Dämonen zu huldigen. Er bemerkte nun, daß er noch immer einige Meilen vom Herzen der Stadt entfernt war und erreichte es auch erst mit Beginn der Morgendämmerung. Als die Geschäfte einige Stunden nach Sonnenaufgang öffneten, beschloß er, sich eine Zeitung zu kaufen. Er lief an fünf Zeitungsautomaten vorbei, einerseits um sicherzugehen, daß er sich auch wirklich in Amaymon befand, anderseits um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, falls er die falsche Münze in den Schlitz stecken sollte. Er machte einen menschlichen Zeitungsverkäufer ausfindig, da er es eher vorzog, beim Geldwechseln hereingelegt zu werden, als durch Unwissenheit zu wenig zu bezahlen. Dann ging er in ein schäbig aussehendes Restaurant, nahm einen Kaffee und ein seltsam schmeckendes Brötchen zu sich, und beschloß, als nächstes für -20-
eine Unterkunft zu sorgen. Die größeren Hotels schloß er aus, da er nicht wußte, welche Identifikation und Geldmittel dazu nötig waren. Am liebsten wäre ihm ein Zimmer in einem Privathaushalt ge wesen, aber er kannte sich in der Stadt noch zu wenig aus. Außerdem fühlte er, daß der Anblick eines fremden Mannes in einem Wohngebiet weitaus mehr Aufmerksamkeit erregen würde, als wenn er in den Geschäftsbereichen der Stadt bliebe. Er ging einige Blocks weiter, bis die Umgebung noch etwas heruntergekommener wirkte, und betrat die Vorhalle eines düsteren Hotels, von der Art wie man sie eigentlich in jeder Gesellschaft eher zum Anmieten von einer Stunde als einer ganzen Nacht findet. »Name?« fragte der gelangweilte Portier. Jericho sah sich um, um festzustellen, ob das Foyer leer war. »Conrad Bland«, sagte er, eine Reaktion abwartend. »Sie sollen mir das nicht sagen, Kamerad«, sagte der Portier, und schob ihm, ohne auch nur im geringsten die Miene zu verzie hen, ein Buch zu. »Sie sollen es hier hineinschreiben.« Jericho nahm einen Stift zur Hand und kritzelte den Namen so unleserlich in das Buch, daß selbst ein Dutzend Handschriftexperten es in tagelanger Arbeit nicht entziffern würden. »Haben Sie Gepäck dabei?« fragte der Portier. »Nur das, was ich bei mir trage.« »Gut«, sagte der Portier, ohne überrascht zu sein. Er reichte Jericho einen kleinen Papierstreifen, auf dem die Schloßkombination des Zimmers stand. »Gehören Sie dem Vorbotenkult oder der Kirche Baals an?« Jericho schüttelte den Kopf. »Okay. Wenn Sie einem anderen Kult oder einer Sekte angehören, wo es erforderlich ist, lebende Tiere zu opfern, müssen Sie die Direktion informieren, da dann ein Aufschlag auf Ihre Rechnung erfolgen muß. Sie sehen nicht so aus, als hätten Sie irgendwelche Kerzen bei sich, doch wenn Sie sich entschließen sollten, welche zu kaufen, denken Sie daran, daß -21-
wir ausschließlich unbrennbare Kerzen erlauben. Keine brennenden Kerzen. Verstanden?« »Verstanden«, sagte Jericho. »Wo ist mein Zimmer?« »Ich bin noch nicht fertig«, sagte der Portier irritiert. »Jegliche Abzeichen, die von Ihnen an den Wänden befestigt werden, gehen in den Besitz des Hauses über. Jede rituelle Waffe, die von einem der Zimmermädchen in Ihrem Zimmer gefunden wird, geht ebenfalls in den Besitz des Hauses über. Besucher jeglichen Geschlechts sind nach Mitternacht untersagt. Und außerdem fordern wir die Miete einer Woche im voraus.« »Und was ist, wenn ich keine ganze Woche bleibe?« fragte Jericho, der sicher war, daß diese Reaktion von ihm erwartet wurde. »Dann bekommen Sie eine Rückerstattung«, erwiderte der Portier. »Das gefällt mir nicht«, brummte Jericho. »Niemand hat Sie gezwungen, unser Haus aufzusuchen«, sagte der Portier. »Ihnen gefällt etwas nicht, also brauchen Sie nichts weiter zu tun, als sich umzudrehen und wieder hinauszugehen. « Jericho starrte den Mann eine lange Minute an. »Wieviel?« fragte er schließlich. Der Portier grinste. Es war das Grinsen eines Mannes, der die gleiche Szene mehrmals täglich spielt und beide Teile des Dialogs schon auswendig kennt. »Siebzig Sterling«, sagte er und streckte eine große Hand aus. Jericho drehte sich um und zog einige Geldscheine aus der Tasche, überprüfte ihre Werte und schob das abgezählte Geld zu dem Portier hinüber. Dabei erlaubte er ihm einen längeren Blick auf sein Geldbündel. »Das ist aber ein anständiger Batzen, den Sie da bei sich haben«, kommentierte der Portier und sah ihn intensiv an. »Und -22-
auch schöne neue Kleider.« »Ich hatte Glück«, sagte Jericho, wieder auf eine Reaktion hoffend. »Sollte es Ihnen in der Tasche brennen, könnte ich Ihnen unter Umständen einige interessante Orte zeigen, wo Sie es ausgeben können«, sagte der Portier. »Gegen eine kleine Vergütung selbstverständlich.« »Vielleicht später«, sagte Jericho. »Wie steht es nun mit meinem Zimmer?« »Dreizehn«, sagte der Portier. »Im dritten Stock und dann am Ende des Korridors. Der Aufzug ist leider außer Betrieb. Sie müssen die Treppe benutzen.« Jericho nickte. Ein kurzer Blick zeigte ihm, daß dieser Aufzug wahrscheinlich seit Monaten oder auch Jahren nicht mehr repariert worden war, und so ging er hinüber zur Treppe. Wenige Augenblicke später hatte er sein Zimmer erreicht, gab die Kombination in das Computerschloß ein und trat in den Raum. Es war ein schmuddeliges, kahles und fünfeckiges Zimmer. Er nahm an, daß die anderen Räume genauso aussahen. Es besaß ein schmales Bett mit einem Fleck auf der Bettdecke, einen grausam mißhandelten Schrank, einen Stuhl und einen Nachttisch. Er öffnete die oberste Schublade des Schrankes, in der Hoffnung, ein Telefonbuch zu finden, aber er fand nur ein liegengelassenes Tarot-Spiel und eine schlechte Ausgabe des Malleus Maleficarum, einem altertümlichen Buch aus der Zeit, als die Menschheit noch an die Erde gebunden war. Es gab kein Telefon, keine Videoanlage, kein Radio, einfach nichts, was ihm mehr Wissen über diese Welt vermittelt hätte. Das Badezimmer enthielt eine kleine Kommode und eine Trockendusche, wie sie auf Raumschiffen benützt wurde. Aber es war ihm nicht klar, ob Wasser hier einfach nur schwer zu beschaffen war, oder ob das Hotel zu billig war, um seine Gäste damit zu versorgen. -23-
Nachdem er alles sorgfältig untersucht hatte, ging er zum Bett, setzte sich auf den Rand und las die Zeitung, die er gekauft hatte. Sie war dünn, zu dünn, um eine Hauptstadt wie diese mit Informationen zu versorgen. Das bedeutete jedoch, daß die meisten Nachrichten durch Informationsbänder und Disketten, beziehungsweise durch die Videokanäle übermittelt wurden. Außerdem bedeutete es, daß er nur die neusten Nachrichten bekommen konnte und weniger die eher lokalen, an denen er interessiert war. In der Titelgeschichte ging es um die Wirtschaft, die jenen zu unstet anstieg, die sie kontrollierten. Auf der ersten Seite befand sich auch ein offener Brief, der in elf Abschnitten gründlichst die Republik verurteilte, ohne allerdings auch nur einmal auf Conrad Bland einzugehen. Auf der dritten Seite wurde kurz erklärt, daß die Bruderschaft der Nacht und der Vorbotenkult ihre Niederlassungen in Tifereth aufgelöst hatten. Ein kurzer Blick in den Wirtschaftsteil erbrachte, daß Tifereths Handelsmarkt, offensichtlich durch einen enormen Warenrückgang ausgelöst, seit nahezu einem Monat eingefroren war. Unter Umständen sah die Stadt harten finanziellen Zeiten entgegen. Vielleicht hatte dies etwas mit Bland zu tun. Er konnte sich mit diesen Minimalinformationen natürlich kein Bild machen, aber beschloß, einen Besuch der Stadt Tifereth auf seine Liste zu setzen. Der Portier und die Zeitungsstorys hatten beide einige Kulte erwähnt, und ein Gefühl der Vorahnung ließ ihn den Anzeigenteil mit den aufgelisteten örtlichen Kirchen aufschlagen. Es war genauso, wie er es befürchtet hatte. Auf Anhieb konnte er mit keiner der Religionen etwas anfangen. Dort war vo n Sekten die Rede wie dem Vorbotenkult, der Kirche des Infernos, den Töchtern der Wonne, der Kirche Baals, dem Orden des Golems, der Schwesternschaft der Sünde, der Kirche Satans und einem Dutzend weiterer. Es gab fast so viele -24-
Splittergruppen, wie das Chr istentum in seinen besten Tagen hatte. Er seufzte. Auf dieser Welt war mehr los, als es den Anschein hatte. Zwischen Anzeigen für Möbel, Kleidung und Grundstücke mischten sich Anzeigen zum Schutz gegen schwarze und weiße Magie, Anzeigen für Amulette, für Voodoopuppen sowie für Liebes- und Lebenselixiere. Nachdem er die Anzeigen und Grußbotschaften gelesen hatte, und dadurch den ungefähren Wert seiner Barschaft ermitteln konnte, ging er die Zeitung noch einmal sorgfältig durch, um zu sehen, ob schon etwas über seine Diebesaktivitäten zu lesen sei, obgleich er annahm, daß es dafür noch zu früh war. Er hatte recht, aber während er danach suchte, fiel ihm etwas anderes auf: Es wurde über kein einziges Verbrechen berichtet. Er konnte nicht glauben, daß eine Stadt der Größe Amaymons, er schätzte die Einwohnerzahl auf über eine Viertelmillion, einen Tag ohne Mord, Raub oder einen Überfall hinter sich bringen konnte, und erst recht nicht auf einer Welt, die solche Dinge beinahe zur Religion machte. Das implizierte folgendes: Entweder wurden die Nachrichten geschickt manipuliert, oder aber, der Begriff Verbrechen war durch eine unglaubliche; Metamorphose auf Walpurgis untergegangen. Er glaubte eher an den ersten Fall. Egal, wieviel Schweigegelder Walpurgis dieses Konzept des Bösen kostete, keine Gesellschaft war in der Lage, ihre Verbrecher zu ignorieren, ohne anarchisch zu werden; und obwohl er diese Gesellschaft nur teilweise kannte, war Anarchie etwas von dem, was er überhaupt noch nicht gesehen hatte. Allerdings konnte die Pressezensur für ihn vorteilhaft sein. Wenn Bland sich solide genug etabliert hatte, um die Zivilregierung dazu zu bewegen, ihn bei seiner Eliminierung zu unterstützen, war es für Jericho unmöglich, in eines seiner Hauptquartiere, wo immer diese auch sein mochten, zu marschieren und den Mann einfach zu erschießen. Bland mußte viele Schutzwälle um sich errichtet haben, ansonsten hätte er gar nicht lange genug gelebt, um Walpurgis zu erreichen. Was -25-
wiederum für Jericho bedeutete, daß er sich Bland nur indirekt nähern durfte. Er wußte nicht, wie lange er seine Anwesenheit verbergen konnte, und so war es schlußendlich ganz angenehm zu wissen, daß die Regierung seine Aktionen genauso wenig erwähnen würde wie er selbst. Nachdem er alles Wichtige aus der Zeitung herausgezogen hatte, legte er sie zur Seite, streckte sich auf dem Bett aus und begann zu schlafen. Kurz nach Sonnenuntergang erwachte er wieder. Er duschte und rasierte sich, verkleidete sich wieder und verließ das Hotel, um ein Abendessen einzune hmen. Er wählte ein Restaurant, das von Leuten besucht wurde, die ähnlich gekleidet waren wie er, und verbrachte längere Zeit damit, die Speisekarte zu studieren. Nach dem Essen ging er noch mal auf eine Tour durch die Stadt, versuchte einige Gesprächsfetzen aufzu schnappen und ging dann in ein Tri-Fi-Kino. Wenn er gehofft hatte, dort etwas über Walpurgis zu lernen, wurde er enttäuscht, da es sich um eine Art Liebesgeschichte handelte, bei der das Publikum immer wieder in hysterisches Lachen ausbrach, wenn die Heldin Beelzebub ein Opfer brachte. Jericho nahm an, daß die Story in den Bereich der leichtherzigen historischen Romanzen einzuordnen war, aber er wagte nicht, jemanden zu fragen. Die nächste Stunde verbrachte er damit, sich in drei weiteren Hotels einzuchecken und unterschrieb dort mit Namen, die alle in dem Tri-Fi-Film vorgekommen waren. Er ging wieder zurück zu seinem richtigen Hotel und verließ es zehn Minuten später als untersetzter Mann in mittleren Jahren mit rothaarigem Bürstenschnitt. In dieser Verkleidung suchte er zwei Bars in der Nähe des Hotels auf, ließ sich aus beiden durch sein gespielt unverschämtes Verhalten wieder hinauswerfen und schob sich dann schwerfällig in ein Restaurant, das die ganze Nacht geöffnet hatte, um sich offensichtlich mit schwarzem Kaffee zu ernüchtern. Als er es nach einer halben Stunde wieder verließ, hatte er ein Steakmesser hinter seinem Gürtel versteckt. Dann -26-
begann er zu jagen, da er noch einiges über die Polizei und deren Arbeitsweise zu lernen hatte. Zwei Blocks von dem Restaurant entfernt, entdeckte er seine Beute, einen sanftblickenden Mann Ende Fünfzig, der alleine und sorglos seines Weges ging. Jericho verfolgte den Mann wie eine schreckliche Dschungelkreatur, die sich ihr Abendessen schon ausgesucht hat. Er beeilte sich nicht, es sah auch nicht so aus, als ob er seine Geschwindigkeit erhöhen würde, sondern eher, als ob er auf diesen verlassenen Straßen in eine ganz andere Richtung ginge. Aber ganz langsam, Meter für Meter, verringerte er geduldig die Entfernung. Anfangs war er vierzig Meter entfernt, dann zwanzig, dann zehn - und dann, schnell und sicher wie eine Kobra, stach er zu. Der Mann gab keinen Laut von sich, fühlte keinerlei Schmerzen, ja, wußte nicht einmal, daß ihm die Kehle durchschnitten worden war. Er war schon tot, bevor er auf dem Asphalt aufschlug. Jericho, in der Art des weißbekittelten Technikers, der in seinem Labor einer chemischen Lösung ein gefährliches Element hinzufügte, zog sich zurück und harrte der Dinge, die da kommen sollten.
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4 »Es ist egal, wie abscheulich die Tat ist, die du erwägst, die wichtigste Frage ist nicht ist sie böse, sondern ist sie möglich?« Conrad Bland John Sable stand an dem fünfeckigen Obsidiantisch in der Ecke seines Büros, ließ sich vor der Statue von Kali auf die Knie nieder, entzündete eine große rote Kerze und sprach murmelnd ein Dankesgebet für Azazel. Es folgten zwei weitere Kerzen mit Gebeten für Asmodeus und Ahriman. Danach hielt er sein Amulett hoch gegen den Baphomet, der an der Wand hinter dem Tisch hing, vollführte in der Luft das Zeichen der Fünf, ging zurück zu seinem Tisch und setzte sich wieder. Er lehnte sich mit einem Seufzer zurück und nahm sich wieder einmal vor, am nächsten Morgen früh genug aufzustehen, um seine Beschwörungsgebete zu Hause durchführen zu können. Nach einer kurzen Pause drückte er den Interkomknopf. »Habt ihr schon was über diesen Leichnam?« »Ja«, kam die Antwort. »Parnell Burnam, siebenundfünfzig Jahre alt, wohnhaft in Nr. 834 Allee der Verzweiflung. Handelte mit Schweißgeräten.« »Sekte?« fragte Sable. »Vorbotenkult.« »Scheiße!« brummte Sable. Er drückte einen anderen Knopf. »Ich brauche eine Vidfonverbindung mit Benito Vertucci.« Er wartete einen Moment, bis die Verbindung zustande kam, dann drehte er sich um und blickte in die Kamera, die an der Seite seines Sessels angebracht war. »Vertucci, ich bin John Sable.« »Ich weiß, wer Sie sind«, sagte die schlanke, schwarzgekleidete Gestalt mit Stentorstimme. »Ich dachte, wir hätten ein Abkommen?« meinte Sable barsch. »Was meinen Sie damit?« fragte Vertucci. »Unser -28-
Abkommen war, höchstens zwei Ritualmorde pro Jahr«, sagte Sable und versuchte, seinen Ärger zu unterdrücken. »Wir haben auch nur zwei in diesem Jahr ausgeführt«, lautete die Antwort. »Beide sind mit Ihrer Abteilung abgesprochen worden.« »Dann wäre es freundlich von Ihnen, wenn Sie mich über Parnell Burnam aufklären würden!« »Der Name ist mir unbekannt«, antwortete Vertucci. »Er war zufälligerweise Mitglied Ihrer Sekte«, schnappte Sable. »Genau besehen war er es, bis ihm letzte Nacht die Gurgel durchgeschnitten wurde. Mord ist nämlich auch in Amaymon ein Kapitalverbrechen. Wir haben uns dazu durchgerungen, bei zwei Tötungen pro Jahr die Augen zu schließen. Sowohl bei Ihrer Gruppe, wie auch bei der Kirche Baals. Voraussetzung dafür war, daß die Tötungen nur jeweils Mitglieder Ihrer eigenen Sekte betreffen. Aber leider haben Sie dieses Limit schon um einen Mord überschritten, und darauf werde ich Sie festnageln.« »Wir vom Vorbotenkult verstümmeln keine Hälse, weder rituell noch aus einem anderen Grund«, sagte Vertucci. »Mir liegt genausoviel daran wie Ihnen, daß dieser Mörder überführt wird, Kommissar Sable. Das müssen Sie mir glauben.« »Wären Sie bereit, sich über den Lügendetektor befragen zu lassen?« fragte Sable wütend. »Ich bin bereit.« »Ich werde ihn auf den Letalfaktor einstellen.« »Satan wird bei mir sein«, sagte Vertucci friedlich. »Schicken Sie mir einen Beamten vorbei, wenn es soweit ist.« »Höchstens eine Stunde«, versprach Sable und unterbrach die Verbindung. Er drückte einen weiteren Interkomknopf. »Schicken Sie jemanden, der Benito Vertucci zum Verhör abholt, und finden Sie heraus, ob die Vorboten bei ihren Ritualmorden variieren -29-
oder Standardprozeduren durchführen. Ach ja - und sagen Sie Langsten Davies, daß ich ihn sprechen möchte.« Er zog eine Zigarre heraus und wollte sie sich gerade anzünden, als ihm einfiel, daß er dann ja Davies auch eine anbieten müßte. Schnell steckte er sie wieder in die Tasche zurück. Ein trockenes Grinsen umspielte seine Lippen, als ihm klar wurde, daß sogar er, der Chef der Ermittlungsabteilung, den Stachel der Inflation spürte. Im nächsten Augenblick betrat Davies sein Büro. Davies, ein dünner, knöchriger Mann Mitte Dreißig, versuchte schon seit einiger Zeit, allerdings ohne großen Erfolg, sich einen anständigen Bart stehen zu lassen. »Sie wollten mich sprechen?« fragte er und zog sich einen Stuhl heran. »Sie arbeiten doch seit heute morgen an dem Fall Burnam, oder?« fragte Sable. Davies nickte. »Ein ziemlich klarer Fall. Der Typ war ein Vorbote.« »Was wäre, wenn ich Ihnen sagen würde, daß Benito Vertucci kommt, um sich dem Lügendetektor zu stellen?« »Er blufft«, antwortete Davies förmlich. »Das glaube ich nicht«, sagte Sable. »Ich habe schon jemanden ausgeschickt, der es überprüfen soll, aber ich nehme an, wir werden herausfinden, daß es kein Ritualmord war.« »Müßte es aber. Der Mann hatte dreitausend Yen in der Tasche und ein riesiges Goldamulett um den Hals. Es war ganz eindeutig kein Raubüberfall.« »Vielleicht ein Liebesstreit?« suggerierte Sable. »Könnte ich nicht bestätigen«, meinte Davies grinsend. »Der Typ wohnte alleine, und laut Medizinaleintragung war er schon die letzten zwanzig Jahre impotent.« »Könnte das eine liebende Frau nicht frustrieren?« warf Sable -30-
mild ein. »Ich werde es nachprüfen, aber ich glaube nicht, daß wir damit weit kommen«, sagte Davies. »Ach, eine andere Frage noch. Sie haben nicht zufällig noch eine dieser wunderbaren Zigarren für mich hier irgendwo rumliegen, oder?« Sable grinste ironisch, zog zwei der Zigarren aus der Tasche, reichte Davies eine und zündete sich die andere an. »Hatte Burnam irgendwelche Probleme auf der Arbeit?« fragte er schließlich. »Ich bezweifle es«, sagte Davies. »Burnam erbte vor einigen Jahren einen anständigen Batzen, gab zwar den größten Teil an den Vorbotenkult weiter, aber behielt genügend, um sich einen angenehmen Lebensabend zu sichern. Er erhöhte die Gehälter der Leute in seinem Maschinengeschäft, das ihm viel Spaß machte. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es ihm viele Feinde eingebracht hat, als er die Angestellten beförderte.« »Was hat er letzte Nacht gemacht?« »Er ließ sich umbringen.« »Ich meinte, was er davor gemacht hat«, sagte Sable irritiert. »Ich weiß es nicht«, sagte Davies. »Er lebte allein und aß meistens auswärts. Vielleicht war er in einer Bar oder sah sich einen Tri-Fi an. Oder er war beim Kult. Sie bestreiten das natürlich, aber so sehe ich die Sache nun einmal. Sie haben ihm aus irgendeinem Grund die Kehle durchgeschnitten und dann dort unten deponiert.« Sable schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich habe das verdammte Gefühl, daß es nicht die Vorboten waren. Wir haben zwar Mordfälle in dieser Stadt, aber normalerweise sind es doch Ritualmorde oder andererseits Morde aus Profitgier beziehungsweise Leidenschaft. Die Sache hier sieht anders aus. Sie fühlt sich falsch an.« »Ja, es ist wirklich schade, daß Sie mit dem Voodoo Schluß gemacht haben, als Sie Siboyan heirateten«, sagte Davies. »Ich habe gehört, sie hätten eine starke Beschwörungszeremonie zum -31-
Auffinden von Verbreche rn.« »Da haben Sie falsch gehört«, sagte Sable. »Voodoo ist genau wie jede andere Religion: ein großer Trost, doch wenig Resultate. »Ja, das erzählen Sie mir ja schon lange«, sagte Davies lächelnd. »Trotzdem ist sie eine der verbreitetsten Sekten.« »Nahezu alle Schwarzen beginnen mit Voodoo«, erwiderte Sable. »Die meisten von uns verlassen sie aber auch früher oder später wieder. Für meinen Geschmack ist es etwas zu barbarisch. Aber wir sollten uns jetzt lieber wieder um unseren Fall kümmern, so barbarisch dieser auch sein mag.« »Um bei der Wahrheit zu bleiben, dieser Mord war gar nicht so brutal«, sagte Davies. »Er war schnell, sauber und ohne Schnörkel. Ich glaube nicht, daß Burnam überhaupt wußte, was mit ihm geschah.« »Sie sollten besser in den anliegenden Bars und Restaurants überprüfen, ob dort gestern nacht jemand über die Stränge schlug«, sagte Sable. »Ich übernehme die Vorboten, obwohl ich nicht annehme, daß sie uns in diesem Fall weiterhelfen können.« »Sonst noch was?« fragte Davies. »Ja«, sagte Sable. »Versuchen Sie herauszufinden, ob die Kirche Baals irgendwelche Schwierigkeiten mit den Vorboten hat. Es ist zwar relativ unwahrscheinlich, aber vielleicht sollte es nur eine Warnung für die Vorboten sein.« Davies verließ das Büro, und Sable lehnte sic h mit im Nacken gefalteten Händen zurück und genoß das Aroma seiner Zigarre. Es war zum Verrücktwerden. Er wußte, daß er Davies auf eine unsinnige Fährte gesetzt hatte, andererseits mußte er natürlich auch jede Möglichkeit überprüfen. Aber wenn Burnams Tod eine Einladung zum Tanz der Kirche Baals war, dann hatten sie vergessen, sie zu unterzeichnen, und er konnte nicht glauben, daß sie so unachtsam gearbeitet hätten. Es war so eine Art Urgesetz. Eher gab es zu viele Tatmotive als gar keines, -32-
und er wußte, daß er früher oder später das Motiv für diesen Mord herausfinden würde und sich ein klares Bild herauskristalli sierte, wenn er nur methodisch und genau genug an diesen Fall heranginge. Im Grunde genommen, dachte er bitter, traf das genau den Punkt seines Jobs: Er mußte dafür sorgen, daß das Chaos der menschlichen Psyche nicht übersprang in die geordnete Struktur des täglichen Lebens. Aber es hätte ihn ja auch noch schlimmer treffen können; schließlich lebte er auf einer Welt, wo die normalen Aggressionen und Haßgefühle eine spirituell kanalisierte Ausweichmöglichkeit besaßen und sich dadurch nicht aufstauten und soweit verstärkten, daß sie überall zu sprießen begannen. Dafür war er dankbar. Seine Träumereien wurden von Siboyans Anruf unterbrochen, die ihm mitteilte, daß sich ihr jüngerer Sohn eine leichte Grippe zugezogen hatte und ihn bat, nach der Arbeit doch kurz beim Kräuterladen vorbeizuschauen und etwas Teufelsdreck und Eisenkraut zu besorgen. Außerdem solle er, falls die Zeit reiche, auch noch einige neue Zeremonienkerzen mitbringen. Er schrieb sich ihre Wünsche sorgfältig auf, vermerkte auf dem Zettel auch, daß er dem Kleinen noch ein Spielzeug kaufen wollte und beschloß dann, sich wieder seiner Arbeit zu widmen. Er wartete im Lügendetektorraum auf Vertucci, erhielt die negativen Antworten, die er erwartet hatte, und entließ ihn wieder. Während des Tages gingen noch weitere Informationen über seinen Schreibtisch. Die Mordwaffe war nicht gefunden worden. Die Kirche Baals hatte momentan gegen niemanden etwas. Die Opferrituale des Vorbotenkults wurden immer mit einem Dolchstoß ins Herz vollzogen, bei denen das Opfer auf einem Altar lag. An dem Leichnam waren keine Fingerabdrücke gefunden worden. Burnam hatte bei Roost, einem eher billigen Restaurant der Innenstadt, zu Abend gegessen, aber wo er sich in seinen letzten drei Stunden aufgehalten hatte, war noch -33-
unbekannt. Ein fetter rothaariger Mann, den niemand identifizieren konnte, war aus einigen Bars hinausgeworfen worden. Auf die Leute hatte er den Eindruck gemacht, als sei er viel zu betrunken, um überhaupt ein Messer halten zu können. Also war es unsinnig anzunehmen, daß er es nach seinen Rauswürfen wie ein Experte zu führen vermocht hatte. Bur nam war im Bereich seiner Arbeit einer der beliebtesten Männer gewesen. Es schien, als hätte er nicht einen Feind auf dieser Welt gehabt. Man hatte Burnam schon seit ungefähr zwei Jahrzehnten nicht mehr in Begleitung einer Frau gesehen, und es waren auch keinerlei Anzeichen von Homosexualität zu finden gewesen. Burnam hatte seine Miete stets drei Monate im voraus bezahlt, und den Großteil seiner Barschaft hatte er bei einer ortsansässigen Bank angelegt. Aber es mußte ein Motiv geben. Sable war sich sicher, daß es sich hier nicht um die Tat eines Wahnsinnigen handelte. Er glaubte auch nicht, daß es Fanatiker gewesen waren, die unter einem Drogen- oder Religionswahn gehandelt hatten - dafür war die Tat zu kaltblütig und perfekt begangen worden. Er wünschte beinahe schon, in der Vergangenheit etwas weniger erfolgreich gearbeitet zu haben, da es sich dann nur um einen weiteren ungelösten Mord handeln würde, nur ein weiterer Killer in der Stadt umherschlich. Aber dem war nicht so. Er war jetzt seit sieben Jahren Chef der Kriminalpolizei, und seine Aufklärungsquote war perfekt: dreiundvierzig Morde, dreiundvierzig Festnahmen, dreiundvierzig Verurteilungen. Etwas wie dieser Mord war ihm in der Vergangenheit noch nicht untergekommen. Sable zündete sich eine weitere Zigarre an - die vierte an diesem Tag, fiel ihm pflichtschuldigst ein - und konzentrierte sich wieder auf die vorliegenden Fakten. Also gut. Es war nicht der Vorbotenkult. Die Kirche Baals war es auch nicht. Es gab keine Geliebte und auch keinen Liebhaber. Es war kein Dieb. Es waren nicht diese. Es waren nicht jene. -34-
Aber wer könnte es dann gewesen sein? Sable versank in dumpfes Brüten, doch plötzlich saß er kerzengerade auf seinem Stuhl. Bland? Sable verfolgte kurz diesen Gedankengang, ließ ihn aber dann wieder fallen. Bland befand sich immer noch in Tifereth, und außerdem waren sie ja auch auf seiner Seite. Mehr noch, sie waren die einzigen in der gesamten Republik, die noch auf seiner Seite standen. Er würde sich hüten, etwas gegen sie zu unternehmen. Nun gut. Wenn es Bland nicht war, wer war es dann? Doch wenn er es mit nichts Vergangenem in Verbindung bringen konnte, mit was dann? Ausdruckslos starrte er auf den Baphomet an seiner Wand und versuchte noch einmal, alle Möglichkeiten zu durchleuchten. Doch dann, ganz plötzlich, wurde John Sable sehr aufgeregt. Er hatte einen völlig verrückten Einfall, doch so irrwitzig der Gedanke auch war, tief in seinem Inneren fühlte er sich richtig an.
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5 »Das Leiden dient zwar keinem nützlichen Zweck, aber es erfreut das Auge.« Conrad Bland Nachdem Jericho den Mann getötet hatte, ging er zu jedem seiner vier angemieteten Zimmer und brachte, um sie bewohnt aussehen zu lassen, die Badezimmer sowie das Bettzeug in Unordnung. Als alles zu seiner Zufriedenheit erledigt war, ging er noch einmal weg, räumte zwei weiteren Geschäften die Kasse aus und mietete sich dann im Talisman, einem Hotel der Mittelklasse, ein. Er schlief bis zum frühen Morgen, frühstückte, kaufte sich bessere Kleidung, ließ die gestohlenen Kleidungsstücke verschwinden und verbrachte die meiste Zeit dieses Morgens damit, sich Filme über die Videoanlage seines Zimmers anzusehen. Er konzentrierte sich dabei auf die Serienschinken, da er hoffte, sich so mehr Informationen über die Gebräuche und Verhaltensmuster auf Walpurgis anzueignen. Was er zu sehen bekam, verwirrte ihn. Es gab Unterschiede zwischen der walpurgischen Gesellschaft und dem Rest der Republik, aber sie waren ziemlich hintergründig. Er war nicht überrascht, als er entdeckte, daß ein Ausdruck wie »Gesundheit«, wenn jemand nieste, als Beleidigung oder Fluch angesehen wurde, da diese Leute natürlich gar kein Verlangen danach hatten, einen Teufel aus ihrem Körper zu wünschen. Aber so sehr er sich auch anstrengte, er konnte nicht verstehen, warum ein Gebet zu Belial gesprochen ein Lachschlager wurde, während dasselbe Gebet offensichtlich auf die Tränendrüse drückte, wenn es Baal gewidmet war. Oder warum eine Frau sich verzückt den sexuellen Demütigungen eines schwarz verhüllten Mannes unterwarf und beim anderen direkt zum Angriff überging, wenn er nur ihre Hand halten wollte. -36-
Beispielsweise gab es dort einen Kult um Cthulu, einen Dämon, von dem er durch seine Nachforschungen wußte, daß es sich um eine fiktive Horrorgestalt handelte, aber seines Wissens nach huldigte oder beachtete niemand Lucifuge Rofo cale, der erwiesenermaßen der Anführer der Armee der Hölle war. Einige der Schauspielerinnen, mit Leder, Gummi, Peitsche und Sporen ausgestattet, sahen so aus, als ob sie der verschrobenen Phantasie eines Jünglings entsprungen wären, andere wiederum waren von Kopf bis Fuß sehr zugeknöpft, und es war einfach unmöglich, eine Beziehung zwischen ihrer Aufmachung und ihrem Verhalten festzustellen. Nachdem er ungefähr ein halbes Dutzend Videoshows angesehen hatte, wurde ihm klar, daß er Ibo Ubusuku, den Undercover-Agenten der Republik, auffinden mußte, um sich ein halbwegs anständiges Hintergrundwissen über diese Gesellschaft anzueignen. Eigentlich hatte er seine Anwesenheit vor jedem geheimhalten wollen, auch vor dem Agenten der Republik, aber er kannte sich in dieser Gesellschaft noch zu wenig aus. Es gab zu viele Imponderabilien, um sich Bland jetzt schon zu nähern. Er sah auf die Uhr und stellte fest, daß es an der Zeit war, sich die Fortschritte der Polizei anzusehen. Er hatte ihnen diesen Vormittag Zeit gegeben, um zu der Entscheidung zu kommen, daß es sich hier nicht um einen normalen Mordfall handelte. Er hatte ihnen schon einen Stundenplan aufgestellt: Wenn sie nicht schon Abends nach einem untersetzten, rothaarigen Trunkenbold suchten und nicht bis zum späten Nachmittag des folgenden Tages die vier billigen Hotelzimmer durchsuchten, würden sie zukünftig kein Problem für ihn darstellen. Wenn sie diesen Zeitplan einhalten würden, nun gut, dann war es wichtig zu wissen, wieviel Ärger sie ihm machen konnten. Er behielt das Aussehen eines blonden Mannes Mitte Dreißig, das er nach dem Mord angenommen hatte, und beschloß, für die Dauer seines Aufenthaltes in Amaymon diese Identität beizubehalten. Er verließ das Hotel und ging die zwei Kilometer bis zu der ersten -37-
der beiden Kneipen, die er letzte Nacht aufgesucht hatte, zu Fuß. Er war erst drei Blocks weit gekommen, als er von einem Mann in roter Robe angesprochen wurde, der einen Stapel Flugblätter und ein markantes juwelenbesetztes Amulett trug. »Entschuldigen Sie, Bürger«, sagte der Mann. »Aber darf ich Ihnen eines davon geben?« Er hielt Jericho ein Flugblatt unter die Nase. »Warum nicht?« sagte Jericho lächelnd und nahm es ihm aus der Hand. »Wie ist Ihre Meinung zu Conrad Bland?« wollte der Mann weiterhin wissen. »Ich habe keine«, sagte Jericho. »Aber Sie haben von ihm gehört?« »Nur wenig.« »Unsere Meinung - übrigens auch die Meinung aller Kirchen ist, daß Bland der Retter von Walpurgis ist«, sagte der Mann enthusiastisch. »Es ist alles in dem Flugblatt erklärt.« »Vor was sollte denn Walpurgis gerettet werden?« fragte Jericho. »Vor der Republik. Wissen Sie, daß sie die Auslieferung von Bland verlangt haben und wir dies abgelehnt haben?« »Ich lese keine Zeitung«, sagte Jericho. »So etwas finden Sie auch nicht in der Zeitung«, erklärte der Mann. »Die Regierung - die Zivil-Regierung - ist über all das nicht besonders erfreut. Sie wollte ihn schon an die Republik ausliefern, aber der Sektenrat hat genügend Druck auf sie ausgeübt, um das zu unterbinden.« »Und wo ist dann das Problem?« »Sie haben es in den Medien unterdrückt. Verflucht, ein Drittel der Bevölkerung weiß nicht einmal, daß Bland auf Walpurgis weilt, und die anderen haben keine Meinung, so wie Sie. Unter Umständen gibt es eines Tages einen Krieg wegen Bland, also versuchen wir, die Massen über Bland aufzuklären.« »Dann nehme ich es besser mit nach Hause und lese es«, -38-
sagte Jericho. »Das war alles, um was wir Sie bitten wollten«, sagte der Mann, erspähte schon den nächsten Fußgänger und eilte davon, um ihm ein Flugblatt zu geben. Jericho warf einen kurzen Blick auf den Zettel, aber er brachte ihm keine neuen Informationen über Bland. In der Tat war es nur ein enthusiastisches Traktat, das Bland als die Personifizierung des Bösen pries und alles andere überging, was dieses Argument nicht untermauerte. Doch die Tatsache, daß das Traktat so wenige Informationen über Bland enthielt, gab ihm einen besseren Einblick in die politische Situation auf Walpurgis. Die Theokratie war nicht so allmächtig, wie Mela ihn hatte glauben lassen, denn sonst würde sie nicht versuchen, die Bevölkerung auf diese Weise auf ihre Seite zu ziehen. Die Zivil-Regierung hielt immer noch die Zügel in der Hand, natürlich kontrollierte sie die Medien und stellte in diesem Fall für die Theokratie ein richtiges Hindernis dar. Doch das Interessanteste war, der Mann auf der Straße war keinesfalls ein schützender oder rettender Verteidiger Blands. Tatsächlich kannten die meisten Leute Bland gar nicht, Wie auch schon die Ignoranz des Portiers seines ersten Hotels gezeigt hatte. Er warf das Flugblatt in den nächsten Müllschlucker und begab sich dann wieder auf den Weg zu der Taverne. Hier war nicht viel los, Polizei war nicht in Sicht, die Nachtschwärmer arbeiteten, und so bestellte er sich Bier und trank es langsam und bedächtig, während er durch den Spiegel, der über der Bar hing, jede Bewegung auf der Straße beobachtete. Eine Stunde verging, dann noch eine. Jericho wurde nicht unruhig, bei seinem Beruf war er daran gewöhnt, die meiste Zeit mit Warten zu verbringen. Es war nun später Nachmittag. Die Straßen begannen sich sowohl mit Menschen wie auch mit Fahrzeugen zu füllen. Dann betrat ein schlanker, großer Mann mit einem spärlichen Bart die Taverne. -39-
Der Mann trat zu dem Barkeeper und sprach leise mit ihm. Der Barkeeper hörte geduldig zu, schüttelte erst den Kopf, nickte dann aber. Der Mann sagte noch etwas, doch diesmal schüttelte der Barkeeper energisch den Kopf. Nun brach der Mann das Gespräch ab und lief in die Mitte des Raumes. »Entschuldigen Sie bitte«, verkündete er mit lauter Stimme und hielt für jeden, den es interessierte, eine kleine goldene Plakette hoch. »Ich bin Langsten Davies, Assistent von Kommissar Sable, und ich suche nach einem dickeren Mann mit rotem oder braunem Haar, der gestern nacht hier gewesen sein soll. Kann sich irgendwer daran erinnern, ihn gesehen zu haben?« Ein allgemein negatives Gemurmel war die Antwort. Jericho wollte eigentlich etwas sagen und eine neue falsche Spur legen, überlegte es sich dann aber anders. Früher oder später würden sie bemerken, daß sie angelogen worden waren, und da nur eine Person daran Interesse haben konnte zu lügen, hätte er damit seine Verwandlungsfähigkeit enthüllt. »Er soll ziemlich betrunken gewesen sein«, fuhr Davies fort und blickte sich hoffnungsvoll in dem Raum um. »Entweder kam er direkt vom Devils Den hierher, oder er ging von hier aus dorthin. Wir haben eine Belohnung ausgesetzt für jeden, der uns Informationen liefern kann.« »Wie hoch soll denn diese Belohnung sein?« fragte eine Frau, die alleine an einem Tisch saß. »Das kommt auf die Information an«, sagte Davies. »Ich lasse auf jeden Fall meine Karte hier, falls sich jemand entschließen sollte, sich mit uns in Verbindung zu setzen.« Niemand antwortete mehr, und nach einem Moment des Schweigens verließ Davies die Kneipe. Jericho sah auf die Uhr an der Wand. Der Zeitplan stimmte. Davies würde noch vor der Dunkelheit das Devils Den und das Restaurant überprüfen. Vielleicht fand er jemanden, der ihn wirklich gesehen hatte; vielleicht aber auch nicht. Das Publikum, das Bars und Cafes zur Nachmittagszeit aufsuchte, war normalerweise um Mitternacht nicht mehr -40-
anwesend. Davies würde seinem Chef davon berichten, und sie würden feststellen müssen, daß ihre Jagd nach Zeugen unsinnig war. Am frühen Morgen würden sie die Hotels der Nachbarschaft überprüfen. Spätestens zur Mitte des Vormittags würden sie feststellen, daß sie eine kalte Spur verfolgen. Dann würde die methodische Suche in jedem Hotel einsetzen. Sie würden seine vier Zimmer bis zum Spätnachmittag des folgenden Tages gefunden haben. Kein schlechter Gegner. Logisch und wirksam, wenn auch nicht direkt begeisternd. Jericho gönnte sich den kleinen Luxus eines versteckten Lächelns. Er bezahlte und verließ die Taverne, wobei er beinahe Davies angerempelt hätte, der wild gestikulierend mit einem Kollegen sprach. »Was zum Teufel will er denn?« verlangte Davies zu wissen. »Ich weiß es nicht«, war die Antwort. »Aber er sagte, wir würden unsere Zeit verschwenden. Es gäbe diesen fetten Kerl überhaupt nicht.« »Und er will, daß wir die Hotels überprüfen?« beharrte Davies. Jericho hätte für sein Leben gern mehr gehört, aber etwas fallen zu lassen, um es wieder aufzuheben, wäre wohl zu auffällig gewesen. So ging er verärgert weiter. Er wußte nicht, wen die beiden Detektive mit »er« gemeint hatten. Vielleicht diesen Kommissar Sable. Aber wer immer es war, er hing ihm ungemütlich schnell am Arsch. Er machte wieder die Runde in den vier Hotelzimmern, richtete sie her, damit sie bewohnt aussahen, kehrte zurück zu dem Hotel, das er als Hauptquartier erkoren hatte und zog die Informationsdiskette über Ubusuku heraus. Die Informationen waren nicht gerade ermutigend. Ibo Ubusuku war ein kleineres Licht des Diplomatischen Corps gewesen, der den Walpurgis-Auftrag wahrscheinlich nur -41-
angenommen hatte, um einige Sprossen der Karriereleiter zu überspringen und sein Gehalt aufzubessern. Er war ein schlanker Neger, stammte von den Zulu ab, besaß ein exzellentes akademisches Wissen, aber hatte kaum Erfahrungen, weder als Spion noch mit Undercover-Arbeit jeglicher Art. Und was für Jericho noch wichtiger gewesen wäre, laut Datenträger besaß er auch kein Wissen über Hexensabbate oder Kulte. Er hatte seinen Antrag bei der walpurgischen Einwanderungsbehörde gestellt, war als einer der zwanzig Einwanderer der letzten zwei Jahre anerkannt worden und hatte sich bisher nur einmal bei seinen Vorgesetzten gemeldet. Kurz gesagt war der Kern dieses Reports, daß der Mann von Conrad Bland noch nichts gesehen und gehört hatte und man ihn erreichen konnte, indem man in der Zeitung von Amaymon ein Inserat aufgab, durch das man bekanntgab, man suche das Rotbrieffaksimile des Compendium Maleficarum auf Latein. Ubusuku würde daraufhin an die Chiffrenummer schreiben, und ein Treffen könnte arrangiert werden. Jericho legte die Diskette zur Seite und überdachte seine Situation. Jemand hatte seine Verkleidung durchschaut, ohne die übliche Kleinarbeit erledigen zu müssen. Es war nicht von der Hand zu weisen, daß derselbe Mann nun auf die Idee kommen konnte, daß er sich mit einem bereits ansässigen Agenten treffen wolle. Dieser Mann konnte nicht wissen, daß es sich bei dem Agenten um Ubusuku handelte, tat er es doch, wurde Ubusuku bereits observiert oder befand sich schon in Haft, war also für Jericho nicht mehr erreichbar. »Nun, John, was soll es denn sein?« fragte Pietre Veshinsky. Er war schlank, distinguiert und tadellos gekleidet, eben das typische Abbild des walpurgischen Aristokraten. »Ein Likörchen, eine Glückspille oder vielleicht etwas Exotischeres?« »Ein Kaffee wäre nicht schlecht«, sagte Sable. »Oh, das sieht Ihnen aber gar nicht ähnlich«, entgegnete Veshinsky lächelnd. -42-
»Ist Ihnen Ihr berüchtigter unersättlicher Sabledurst abhanden gekommen?« »Nein, nein, keinesfalls, den gibt es immer noch«, sagte Sable und erwiderte das Lächeln. »Aber diesmal bin ich geschäftlich hier.« »Oh!« Veshinsky hob die Augenbrauen. »Sie wissen, daß ich mich immer wieder freue, Sie in meinem Heim begrüßen zu dürfen, John - aber wenn Sie geschäftlich hier sind, wäre es da nicht besser gewesen, wenn Sie mich in meinem Büro aufgesucht hätten?« »Das habe ich versucht, aber sie schickten mich mal wieder von Pontius zu Pilatus.« »Ich werde mit ihnen darüber reden«, erklärte Veshinsky. »Die Leute haben sehr viel zu tun. Keiner in der Verwaltung scheint meine Anrufe beantworten zu wollen, und da ich Sie nun schon über fünfzehn Jahre kenne, dachte ich, es wäre das Beste, wenn ich mich mit Ihnen ein wenig unterhalte.« »Ich würde mich freuen, wenn ich Ihnen helfen könnte. Was haben Sie denn auf dem Herzen, John?« »Ich habe Grund zur Annahme, daß die Republik einen Agenten auf Walpurgis abgesetzt hat, der ein Attentat auf Conrad Bland vorhat.« Sable hatte angenommen, daß Veshinsky nun das Zeichen des Horns machen, einen Fluch aussprechen oder wenigstens irgend etwas tun würde. Aber der schlanke Mann nippte nur an seinem Drink und tat so, als ob sie sich über das Wetter unterhielten. »Und was hat Sie mich aufsuchen lassen?« fragte Veshinsky. »Sie sind Mitglied der Stadtverwaltung«, antwortete Sable, den das Fehlen jeglicher Reaktion verwunderte. »Entschuldigung, was bitte hat das eine mit dem anderen zu tun?« fragte Veshinsky. -43-
»Meine Abteilung hat es im Moment schwer, in bezug auf diesen Fall an die nötigen Unterlagen zu kommen«, sagte Sable. »Akten, Aufzeichnungen oder ähnliches. Niemand bestreitet die Rechtmäßigkeit unseres Anliegens, aber sie verschleppen die Sache, und ich glaube nicht, daß ich mehr als achtundvierzig Stunden Zeit habe, diesen Killer zu fassen.« »Nun mal ganz blöd gefragt, John«, meinte Veshinsky, nahm eine Satansstatue in die Hand und spielte geistesabwesend damit. »Was macht Sie so sicher, daß Sie da einen Attentäter...« »Wir hatten vorletzte Nacht in der Innenstadt einen Mord.« »Ach? Wer ist denn ermordet worden?« »Der Name ist nicht wichtig. Das Wichtige an der Sache ist, daß dieser Mord äußerst professionell, geradezu traumwandlerisch sicher ausgeführt wurde und wir nicht in der Lage waren, dafür ein Motiv zu finden.« »Aus diesem Sachverhalt schließen Sie auf die Anwesenheit eines republikanischen Attentäters?« Veshinsky lachte. Er stellte die Statue wieder hin, lief quer über den schweren Teppich zu der Bar und goß sich noch einen Drink ein. Sable schüttelte den Kopf. »Nein. Daraus können wir nur schließen, daß wir einen ziemlich gefährlichen Killer in unserer Mitte haben. Doch als uns unsere Standardermittlungen nicht weitergebracht haben, intensivierten wir unsere Nachforschungen und fanden heraus, daß ein Schiff der Republik zu Reparaturen in der Nacht vor dem Mord hier gelandet ist.« »Seien Sie mir nicht böse, John«, sagte Veshinsky, der zu seinem Stuhl zurückkehrte und das Glas vorsichtig auf einen Untersatz stellte, der auf einem altarähnlichen Beistelltisch thronte. »Aber was Sie mir hier beizubringen versuchen, ist doch etwas weit hergeholt. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich die ganze Sache vergessen, bevor Sie sich in der Öffentlichkeit zum Idioten machen.« »Da ist noch etwas«, sage Sable, der Mühe hatte, seine Wut -44-
zu unterdrücken. »Das möchte ich doch hoffen«, sagte Veshinsky spöttisch. »John, nehmen Sie von einem alten Freund einen Rat an und geben Sie die Sache auf. Selbst wenn Sie recht hätten, Conrad Bland ist Tausende von Kilometern von hier entfernt. Sie haben mit ihm überhaupt nichts zu tun.« »Nein, aber mit Parnell Bur nam habe ich etwas zu tun.« »Wer ist das?« »Der Ermordete. Dieser Attentäter hat in Amaymon einen Mord verübt, und es gehört zu meinem Aufgabenbereich, Verbrechen aufzuklären, die in Amaymon begangen werden. Auf Grund der Tatsache, daß er sein Schiff hier landen ließ, um vermeintliche Reparaturen ausführen zu lassen, obwohl er , auch ein Dutzend anderer Plätze wählen konnte, muß ich davon ausgehen, daß er in Amaymon eine Kontaktperson hat. Ich nehme an, er will diese Person in den nächsten Tagen treffen, und wenn ich ihn bis dahin nicht geschnappt habe, wird er wohl verschwunden sein.« »Was haben Sie denn bis jetzt wegen diesem Mann unternommen?« fragte Veshinsky und sah Sable aus halb geschlossenen Augen an. »Ich lasse alle Außenweltler, die sich in den letzten zwei Jahren in Amaymon niedergelassen haben, observieren. Wenn ich mehr Leute hätte, würde ich es auf die Immigranten der letzten fünf Jahre ausdehnen, aber leider ist dem nicht so.« »Was ist denn, wenn die Kontaktperson Ihres vermeintlichen Killers auf Walpurgis geboren ist?« »Dann haben wir Pech gehabt.« »Ich habe den Eindruck, Sie sind in jeder Beziehung etwas unglücklich. Sie haben mir immer noch keinen Grund genannt, warum der Mörder Burnams ein republikanischer Attentäter sein -45-
soll.« »Oh, natürlich habe ich einen Grund. Gestern nachmittag hat er versucht, eine Anzeige in der Zeitung aufzugeben. Unter Umständen sollte diese Anzeige seiner Kontaktperson seine Ankunft mitteilen.« »Wieso glauben Sie das?« fragte Veshinsky. »Da er als Adresse das Hotel Hannover angegeben hat.« »So?« »Im Hannover wird nur Frauen Logis gewährt«, erklärte Sable mit kalt funkelnden Augen. »Unser Attentäter wußte dies aber nicht. Er hat das Hotel offensichtlich überwacht, sah Männer in das Restaurant oder die Bar gehen, sah, wie Männer die Bewohnerinnen in ihren Zimmern besuchten, war aber selbst noch nicht in dem Hotel. Mehr noch, das Hotel wird von der Schwesternschaft der Sünde betrieben. Er hat ihren Talisman nicht erkannt oder wußte nicht, was er bedeutet. Nur ein Außenweltler konnte sich solch eine Blöße geben. Nachdem das Hotel mehrere Anrufe bekommen hatte und sich Leute nach dem Namen erkundigten, den er angegeben hatte, hat sich der Portier an uns gewandt. Unser Mörder hat sich seinen ersten Schnitzer erlaubt.« »Ach, kommen Sie, John«, höhnte Veshinsky. »Woher wollen Sie wissen, daß das kein Scherz war?« »Ich weiß überhaupt nichts«, erklärte Sable freundlich. »Ich stelle nur weitergehende Vermutungen an. Wenn ich warte, bis ich die richtigen Informationen über diesen Mann bekomme, hat er seinen Auftrag längst erfüllt und den Planeten wieder verlassen.« »Also gut, John«, sagte Veshinsky, dessen Gesicht nun härtere Züge angenommen hatte. »Lassen Sie mich einige einfache Fragen stellen, ja?« »Nur zu, fangen Sie an.« -46-
»Konnten Sie irgendeine Beziehung zwischen Burnam und Conrad Bland feststellen?« »Nein.« »Haben Sie den Beweis, daß jemand dieses Schiff der Republik verlassen hat?« Sable schüttelte den Kopf. »Nein.« »Haben Sie denn Grund zur Annahme, daß einer der Immigranten für die Republik arbeitet?« »Nur die Anwesenheit des Attentäters.« »Wenn es ein Attentäter ist«, korrigierte Veshinsky. »Haben Sie irgendeinen Beweis, daß andere Abteilungen Ihre Ermittlungen erschweren?« »Keinen direkten Beweis.« »Dann erlauben Sie mir bitte die Feststellung, daß Sie eher einen Urlaub brauchten als diese Menschenjagd«, sagte Veshinsky. »An Ihrer Stelle würde ich keinen solchen Raubbau an meiner Gesundheit treiben, indem ich mich länger mit der Sache beschäftige, als nötig ist.« »Darum geht es hier nicht«, sagte Sable förmlich. »Fest steht, wir haben hier einen Attentäter, der nicht in Amaymon warten wird, bis wir ihn geschnappt haben. Er wird seine Kontaktperson treffen und sich dann nach Tifereth aufmachen.« »Wenn es kein Urlaub sein soll, dann vielleicht eine Kur?« sagte Veshinsky. »Ich würde dafür sorgen, daß Ihnen kein finanzieller Verlust entsteht.« »Es wäre mir lieber, wenn Sie sich etwas weniger um mich und etwas mehr um Bland sorgen würden!« sagte Sable. »Abgesehen von der Tatsache, daß ich Sie nicht überzeugen kann, ist in Amaymon ein Attentäter, und sein Ziel ist Bland.« »Ach, John«, seufzte Veshinsky. »Feingefühl war noch nie Ihre starke Seite, nicht wahr? Sie haben mich ja überzeugt, daß das, was Sie sagen, der Wahrheit entspricht. Ich wünschte nur, -47-
ich könnte das auch.« »Von was reden Sie?« »Was denken Sie so über mein Haus, John?« fragte Veshinsky. »Warum?« »Beantworten Sie mir bitte nur meine Frage.« »Es ist ein sehr schönes Haus.« »Es ist mehr als ein sehr schönes Haus. Es ist ein Palast. Es hat siebzehn Zimmer, Videothekanschlüsse in jedem der Zimmer, so viele Kamine und Bars, daß man sie kaum zählen kann, schwere weiße Teppiche, Kunstobjekte, die Sie sich selbst bei dem Zehnfachen Ihres Gehalts nicht leisten könnten. Ich habe vier Butler, zwei Hausmädchen, eine Robotwache, zwei Diener, einen Doktor, der vierundzwanzig Stunden am Tag für mich abrufbar ist. Ich habe...« »Ich weiß, was Sie besitzen«, unterbrach Sable. »Worauf wollen Sie hinaus?« »Mein lieber Freund John, ich habe mir all dies nicht aufgebaut, indem ich meine Nase in Dinge gesteckt habe, die mich nichts angingen.« »Warten Sie mal bitte, Pietre«, sagte Sable. »Heißt das, Sie wollen mich kaufen, damit ich mich in dieser Sache zurückhalte?« »Keinesfalls, John«, antwortete Veshinsky. »Ein Mann wurde ermordet. Sie sind Chef der Kriminalabteilung. Es ist ganz klar Ihre Aufgabe, diese Sache aufzuklären.« »Aber meine Aufgabe endet fü nftausend Kilometer vor Tifereth, meinen Sie das?« beharrte Sable. »Das habe ich nie gesagt, John«, sagte Veshinksy. »Obwohl es natürlich völlig richtig ist.« »Wollen Sie mir wirklich erzählen, die Regierung weiß, daß es jemanden gibt, der vorhat, Conrad Bland umzubringen, und dabei tatenlos zusehen will?« -48-
»Ich habe niemals etwas in dieser Richtung angedeutet.« »Aber Sie würden, wenn Sie es könnten«, sagte Sable. »Unsinn.« »Dann kann ich davon ausgehen, daß ich bei der Erledigung meines Jobs auf Sie zählen kann?« »Ich werde tun, was ich kann«, sagte Veshinsky. Er ging hinter die Bar und öffnete eine längliche Schachtel. Er zog sechs sorgfältig verpackte Zigarren heraus und reichte sie Sable. »Eigentlich sollte ich ja nicht«, sagte Sable, beugte sich aber nach vorn und nahm sie trotzdem. »Wollen Sie jetzt keine rauchen?« fragte Veshinsky, als Sable die Zigarren in seiner Rocktasche verstaute. »Die sind mir zu gut, um sie während der Arbeit zu rauchen. Ich werde eine zum Feierabend probieren. Ach ja, ich danke Ihnen auch recht herzlich.« »Es war mir ein Vergnügen. Darf ich Sie zur Tür begleiten?« »Ich finde den Weg schon«, sagte Sable. »Auf Wiedersehen, Pietre.« »Auf Wiedersehen, John«, erwiderte Veshinsky. Er betätigte hinter der Bar einen Schalter, und eine quadrophonische Aufnahme seines Lieblingssymphonieorchesters erklang. Sable verließ Veshinskys Haus, signalisierte seinem Fahrer, ihn aufzunehmen, und war zwanzig Minuten später wieder in seinem Büro, wobei er sich aber immer noch wunderte, warum die Regierung die Bedrohung Blands, von der sie offensichtlich wußte, auch noch willkommen hieß. Er grübelte einige Zeit darüber nach, schüttelte aber dann den Kopf, als ob er sich so von dieser Problematik freimachen könnte, und rief Davies und sechs andere Mitglieder seines Stabes zu sich - vier Frauen und zwei Männer. »Wie war Ihr Gespräch mit Veshinsky?« fragte eine der Frauen, nachdem alle Platz genommen hatten. »Nicht besonders«, antwortete Sable. »Wie weit seid ihr mit den -49-
Außenweltreisenden?« Er hatte eine Befragung der fünf amaymonischen Geschäftsleute mit Außenweltbeziehungen beantragt. Sable und sein Stab standen nämlich vor einem ähnlichen Problem wie der Attentäter, der sich mit den walpurgischen Gebräuchen schwertat. Keiner von ihnen war jemals außerhalb von Walpurgis gewesen, und so wußten sie nicht, inwieweit sich die Gebräuche der anderen Welten von Walpurgis unterschieden. Sable hoffte nun, daß ihn jemand über den Unterschied von exzentrischem Verhalten und falschem Verhalten eines Außenweltlers unterrichtete. »Sie erstellen Listen«, erwiderte Davies zynisch. »Wozu sind denn Experten sonst noch zu gebrauchen?« »Haben Sie gesagt, wann sie soweit sind, mit uns zu reden?« »Keinen Ton. Ich habe außerdem den Eindruck gewonnen, daß bestimmte Kräfte in der Regierung es vorziehen würden, wenn wir sie nicht behelligten.« »Ein Eindruck, dem ich mich auc h nicht verschließen kann«, bemerkte Sable. Er sah die sieben Mitglieder seines Stabes einen langen Moment sinnend an. »Na gut«, sagte er dann schließlich. »Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ich habe das Gefühl, wir sterben eher an Altersschwäche, als daß uns die Hilfe unserer so redlichen Regierung zuteil wird. Lassen Sie mich also einige Richtungsanweisungen darlegen, die Sie bitte an die Leute weitergeben, die mit Ihnen arbeiten.« »Als erstes«, fuhr er fort, »vergessen Sie seine Aussprache. Es ist bekannt, daß wir auf Walpurgis verschiedene Dialekte sprechen, die alle nur leichte Abweichungen von der republikanischen Aussprache aufweisen. Wenn unser Killer also den Namen einer weiter entfernten Stadt kennt, und das müßte er inzwischen, brauchte er ja nur zu sagen, er kommt von dort. Zweitens: Lassen Sie sich nicht von Beschreibungen verleiten. Dieser Mann ist ein Chamäleon. Wenn Sie annehmen, Sie -50-
wüßten, wie dieser Kerl aussieht, hat er ganz sicher schon wieder sein Aussehen verändert.« »Nach was sollen wir denn nun Ausschau halten?« fragte eine andere Frau. »Kleinigkeiten«, erklärte Sable. »Sachen, die er noch nicht lernen konnte. Suchen Sie nicht nach groben Schnitzern, er wird keine machen.« »Könnten Sie uns ein Beispiel geben«, beharrte die Frau. »Natürlich. Wenn er so sorgfältig arbeitet, wie ich annehme, wird er dafür sorgen, daß das Zimmermädchen abgebrannte Kerzen oder Opfergaben an einen Dämon zu sehen bekommt. Ich glaube, wir sollten nach einem Zimmer suchen, wo die Kerzen in einer ungewöhnlichen Anordnung stehen oder wo er, sagen wir einmal, Früchte einem Dämon wie Belial geopfert hat. Wir sollten nach einem Mann Ausschau halten, der die Inhalte unserer Gebräuche nicht kennt, wohl aber die Gebräuche selbst. Wir wissen beispielsweise, daß ein Mann, der das Zeichen der Fünf macht, niemals das Zeichen des Horns oder das Teufelszeichen machen würde, aber vielleicht weiß er es noch nicht, und er wird es so lange nicht wissen, bis er einen Fehler macht und es ihm erklärt wird. Wir können auch davon ausgehen, daß er anfangs noch Schwierigkeiten mit unseren Symbolen haben wird: Er könnte sehr wohl herausgefunden haben, daß ein Mann, der das Saturnsymbol auf der linken Brust trägt, ein Mitglied des Ordens des Golems ist, aber er kann unmöglich wissen, daß das gleiche Symbol, über der rechten Brust getragen, einen Hexenmeister der Kirche des Infernos auszeichnet. Wenn Sie ihn auf der Straße mit einem Talisman sehen, können Sie nicht wissen, ob er einen Fehler gemacht hat, aber früher oder später wird er in die falsche Kirche gehen oder das falsche Zeichen machen, und dann wird es jemand wissen.« »Da findet man ja eher eine Nadel im Heuhaufen«, sagte einer der Männer. -51-
»Man muß das Problem von der richtigen Seite aufrollen«, sagte Sable. »Sie können stundenlang in einen Silberweizenbusch starren und die Gottesschlange nicht entdecken; aber wenn Sie einmal mit dem Auge zwinkern oder die Ohren spitzen, dann ist sie auf einmal da, riesig wie ein Berg. Wir müssen uns an das Zwinkern gewöhnen - und das sogar schnell. Mit jeder verflossenen Minute vergrößert sich sein Wissen. Und eines ist ja wohl klar: Je mehr er über uns lernt, desto geringer werden unsere Chancen, überhaupt etwas von ihm zu sehen.« »Ich möchte nicht unken«, sagte der andere Mann. »Aber das hört sich nicht gerade hoffnungsvoll an. Vielleicht wäre eine massive Aufklärung, unter Umständen eine Massenpanik, der geeignete Weg, diesen Kerl in der Menge festzunageln.« Sable schüttelte den Kopf. »Nicht mit diesem Mann. Wenn es etwas gibt, was er nicht verlieren wird, ist es seine Abgeklärtheit. « »Was macht Sie so sicher?« »Weil die Republik keinen Anfänger hierher geschickt hat. Wir haben es mit einem Mann zu tun, für den dies alles strikte Routine ist. Es ist seine Arbeit, er kennt alle Winkelzüge des Geschäfts. Unter Umständen fühlt er sich wie zu Hause, wenn er sich in einer Menschenmenge verstecken kann. Er kam völlig unvorbereitet her und hat es fertiggebracht, hier mit mindestens zwei Identitäten aufzutreten und einen Mord direkt unter unserer Nase zu begehen. Bis jetzt hat er erst einen kleinen Fehler gemacht.« Sable schaute sich grimmig im Raum um. »Was glauben Sie, wie viele Fehler wird ein Mann wie dieser noch machen?« Er erhielt keine Antwort, hatte aber auch keine erwartet, und seine Mitarbeiter verließen still sein Büro. »Glauben Sie, daß das etwas nützt?« fragte Davies, der noch geblieben war. »Wer weiß?« antwortete Sable. »Aber irgend etwas müssen wir machen. Ich bin jeglicher Alternative aufgeschlossen.« -52-
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen eine anbieten«, seufzte Davies. In den folgenden fünf Minuten saßen die beiden schweigend in dem Büro. Dann stellte Sables Sekretärin einen Vidfonruf von Pietre Veshinsky durch. »Hallo, John.« »Hallo«, sagte Sable. »Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Sie sich schon so schnell melden würden.« »Warum hätte ich warten sollen?« fragte Veshinsky. »Ich habe einige Anrufe getätigt, habe mit den Leuten gesprochen und sehe keinen Sinn darin, die Sache zu verzögern.« »Können Sie uns helfen?« »Nein, John, das kann ich nicht.« »Kann uns überhaupt jemand helfen?« »Sie stellen peinliche Fragen, John.« »Es ist ja auch eine peinliche Situation, Pietre. Der Mann ist ein bezahlter Killer und hat schon einen Bewohner unserer Stadt umgebracht. Ich kann hier nicht abwarten und Tee trinken.« »Das weiß ich, John.« »Muß ich mit irgendwelchen Schwierigkeiten rechnen, falls ich ihn fangen sollte?« »Das bezweifle ich.« »Sie bezweifeln es?« rief Sable. »Sie wollen sagen, es bestünde die Möglichkeit?« »Nein, John. Lassen Sie es mich genauer ausdrücken: Niemand wird Sie in Ihrer Arbeit behindern.« »Man wird mich nur nicht unterstützen, oder?« »Das ist der Punkt.« »Gut, dann können die mich am Arsch lecken, Pietre!« brüllte Sable. »Ich weiß zwar nicht das mindeste über Bland, aber ich kenne meinen Job und, das können Sie Ihren Freunden ausrichten, ich werde den Attentäter erledigen!« Er unterbrach -53-
die Verbindung und begann durch sein Büro zu stapfen. Er fühlte sich eingeengt und gefangen durch die Wände, das Dach, die Regierung, seine Kleidung, einfach durch alles. »Gut gebrüllt«, applaudierte Davies. »Seien Sie bloß kein Esel, Langston«, schnappte Sable. »Hmmpf?« »Ich kenne meine Arbeit!« wiederholte er stumpf. »Aber, verflucht noch mal, Lang, jetzt besteht mein Job darin, hier herumzusitzen, bis dieser Kerl noch jemanden umbringt!« Er ging hinüber zum Fenster und sah schwer atmend hinaus auf die gewundenen Straßen von Amaymon. Er fragte sich, ob der Killer sich vielleicht in diesem Moment in seinem Blickfeld aufhielt - oder, wenn nicht -, wo er war und was er jetzt tat.
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6 »Das Böse hat keine Freundeaus diesem Grunde hat es auch keinen Zweck, es mit Begriffen wie Loyalität zu belasten.« Conrad Bland Ibo Ubusuku verließ den Aufzug, ging den Korridor hinunter zu seinem Apartment und gab die Kombination des elektronischen Schlosses ein. Nachdem sich die Tür geöffnet hatte, warf er sein rotes Satincape auf den Ebenholzkleiderständer, der so gearbeitet war, daß er einen enormen Phallus darstellte. Dann ging er durch den Flur in die Küche, stellte die beiden Behälter mit Schnaps, die er auf dem Weg von der Arbeit eingekauft hatte, auf den Küchentisch, goß sich einen kleinen Drink ein, ließ sich von seiner Gefriereinheit ein paar Eiswürfel geben und ging hinüber in sein Arbeitszimmer, um noch ein wenig zu lesen. Als er dort ankam, fand er sich einem durchschnittlich aussehenden blonden Mann gegenüber, der ihm völlig emotionslos entgegensah. »Wer sind denn Sie, verflucht noch mal, und was machen Sie hier?« verlangte Ubusuku zu wissen. »Ich dachte, Sie wären unter Umständen daran interessiert, das Rotbrieffaksimile des Compendium Maleficarum in Latein zu erstehen«, sagte Jericho. Ubusuku warf den Kopf zurück und lachte lauthals los. »Sie haben mich halb zu Tode erschreckt. Warum haben Sie mich nicht über die Zeitung informiert?« »Ich hatte gestern eine Testanzeige in der Zeitung. Ich wollte eventuelle Reaktionen überprüfen.« »Man hat die Anzeige entdeckt?« fragte Ubusuku. »Na ja, soviel zu meiner großartigen Idee der verdeckten Kontaktaufnahme. « -55-
»Soweit ich weiß, hat niemand etwas bemerkt«, sagte Jericho. »Ich verstehe vielleicht nicht ganz, aber wenn diese Anzeige durchging, warum haben Sie dann die richtige nicht danach aufgegeben?« »Instinkt«, meinte Jericho. »Nichts, worauf ich mit dem Finger deut en könnte, aber eine innere Stimme warnte mich davor, es noch einmal zu versuchen, und ich habe mir angewöhnt, auf meine Eingebungen zu hören, ohne die ich, mit Verlaub gesagt, gar nicht bis hierher gekommen wäre.« »Wie haben Sie mich denn gefunden?«fragte Ubusuku und bot Jericho seinen Drink an, was dieser allerdings ablehnte. »So schwierig war das nicht. Mir war klar, daß es irgendwo in der Stadt eine Liste geben mußte, die die Fremdbewohner des Planeten aufzeigte. Daß diese Liste bei der Post zu finden ist, war mein nächster Gedanke. Also brach ich dort letzte Nacht ein, fand Ihre Adresse und kam hierher.« »Sie sind bei der Post eingestiegen?« wiederholte Ubusuku glucksend. »Reingeschlängelt wäre wahrscheinlich das bessere Wort dafür«, sagte Jericho. »Alles ist noch so, wie es war, ich habe nichts weggenommen und keine Spuren hinterlassen. Die Videoanlage konnte ich auch austricksen.« »Und dann sind Sie zu mir geschlendert und haben es sich gemütlich gemacht?« »So einfach war es nun auch wieder nicht«, sagte Jericho. »Ich mußte sichergehen, daß mich niemand hereinkommen sah, und das Schloß, das Sie da haben, ist auch nicht von schlechten Eltern. Es hat mich beinahe zehn Minuten gekostet, den Kode zu knacken.« »Zehn Minuten«, empörte sich Ubusuku. »Wissen Sie, was mich dieses verdammte Schloß gekostet hat?« »Regen Sie sich nicht auf«, meinte Jericho beruhigend. »Ich -56-
bezweifle, daß noch jemand von diesem Planeten hier reinkommt, ohne Gewalt anzuwenden.« »Na gut, Sie sind sicher und gesund hier angekommen, und das ist alles, was zählt«, sagte Ubusuku und versuchte die Leichtigkeit, mit der Jericho bei ihm eingedrungen war, aus seinem Geist zu verbannen. »Ich habe nun beinahe ein Jahr darauf gewartet, daß die Republik jemanden schickt. Ich glaube, es wird Ihnen in Amaymon gefallen. Das Klima ist vorzüglich und die Menschen hier sind...« »Ich bin nicht zu meinem Vergnügen hier«, unterbrach Jericho. »Entschuldigung.« Ubusuku grinste. »Aber ich sollte Ihnen vielleicht sagen, daß Sie Ihre Vorstellungen über Hexerei und Teufelsanbeter hier über Bord werfen können. Sie stimmen einfach nicht.« »Oh.« »Ich hatte die gleichen Vorstellungen wie alle anderen, als ich hier ankam«, sagte Ubusuku mit aufkeimender Begeisterung. »Ich dachte, die Leute würden hier bei Vollmond Babys aufschlitzen und so, aber es trifft nicht zu. Ich habe mir sehr genau angeschaut, was diese Leute hier tun und was sie haben, und bei Gott - oder bei Luzifer, wie ich eigentlich sagen sollte -, ich bin konvertiert.« »Ich habe die Anzeichen bemerkt«, sagte Jericho und blickte durch den mit unzähligen Artefakten angefüllten Raum. »Das ist die erste private Wohnung, die ich auf diesem Planeten sehe. Ist sie typisch?« »Nicht für jeden«, sagte Ubusuku mit einem leichten Anflug von Stolz. »Nur für meinen Kult.« Er stellte sein Glas nieder, lief durch den Raum und zeigte auf die für ihn einzigartigen Dinge. »Schauen Sie sich diesen Baphomet hier an. Sie haben alle Ziegenköpfe, aber bei diesem -57-
zeigt der Bart an, daß er dem Orden des Golems entstammt. Oder dieses große runde Ding da drüben, das aussieht wie ein übergroßer Talisman. Es ist das Zeichen Salomons, das Zeichen meines Kultes.« »Und diese pornografischen Bilder an der Wand - sind das auch religiöse Symbole?« fragte Jericho mit einem süffisanten Grinsen. »Natürlich«, sagte Ubusuku. »Mein Kult hat eine etwas hedonistischere Ader als die meisten anderen, was für einen walpurgischen Kult schon einiges bedeutet. Wir stehen jeglicher Triebbefriedigung äußerst aufgeschlossen gegenüber, also umgeben wir uns auch mit Dingen, die das Auge erfreuen, wenn ich das so sagen darf. Die alte Nellie, zum Beispiel, ist mein Lieblingsbild.« Er klopfte anerkennend auf das Hinterteil einer wohlgeformten jungen Frau, die es gleichzeitig mit drei menschengroßen Kröten trieb. »Sie wurde mir von einem Bekannten gemalt, der hier im Hause wohnt. Wenn Sie ihn mal kennenlernen möchten, könnte ich - aber nein, natürlich wollen Sie das nicht. Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie damit behelligt habe. Was ist Ihre Aufgabe hier, und wie kann ich Ihnen dabei helfen?« »So leid es mir tut, aber das kann ich Ihnen leider nicht sagen.« »Es hat etwas mit Conrad Bland zu tun, richtig?« fragte Ubusuku lächelnd. »Warum nehmen Sie das an?« »Ach, hören Sie auf!« Ubusuku lachte. »Was sollte die Republik sonst auf diesem Planeten suchen? Meiner Meinung nach sind Sie hier, um ihn zu entführen oder zu töten - was mir persönlich nichts ausmachen würde, das können Sie mir glauben.« »Warum nicht?« fragte Jericho und spielte mit einem Opferdolch, auf dem Bilder von Kröten, Schlangen und Eidechsen zu sehen waren. -58-
»Was sollte es mir denn ausmachen?« fragte Ubusuku. »Der Kerl ist ein gottverdammter Schlächter, oder nicht? Er hat überhaupt nichts mit Satanismus zu tun.« »Ist Satan denn nicht auch ein Schlächter?« fragte Jericho mild. »Nein«, erklärte Ubusuku. »Sehen Sie, das ist der Punkt, an dem Sie Ihre vorgefaßte Meinung auf den Holzweg führt! Wir glauben an das Vergnügen, an die Leidenschaft und den Genuß. Sicher, wir halten nichts davon, jemandem noch die andere Wange hinzuhalten oder von dem ganzen anderen blütenweißen Mist, aber wir haben eine Religion, die auf der Befriedigung der Sinne basiert, nicht auf deren Unterdrückung.« »Soweit ich das verstanden habe, basieren Blands Befriedigungen darauf, die Sinne anderer auszulöschen«, kommentierte Jericho trocken. »Deswegen ist es mir ja auch ganz egal, was mit diesem Kerl passiert«, sagte Ubusuku, ohne zu bemerken, daß er ziemlich unlogisch argumentierte. Jericho, der nicht gekommen war, um sich in eine theologische Debatte einzulassen, ging nicht weiter darauf ein. Daher sagte er: »Um auf Ihr Angebot zurückzukommen, könnten Sie mir einige Informationen über diese Gesellschaft liefern.« »Historische oder religiöse?« fragte Ubusuku. »Weder noch, das könnten wir höchstens kurz umreißen. Ich muß mich hier wie ein Einheimischer bewegen können, deswegen brauche ich möglichst vielfältige Informationen, damit ich mich nicht durch einen Verhaltensfehler zu erkennen gebe.« »Wieviel Zeit haben Sie?« »Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte Jericho, der sich fragte, wie nahe wohl schon Sable der Wahrheit gekommen war. »Einen Tag vielleicht, oder zwei.« »In der Zeit ist es unmöglich«, sagte Ubusuku. »Ich kann -59-
Ihnen natürlich die Hauptsekten nennen und deren Glaubensrichtungen, die gröbsten Fehler, die man hier begehen kann oder die Entwicklung des Planeten - aber in zwei Tagen kann ich Sie nicht zu einem walpurgischen Bürger machen.« »Ich lerne sehr schnell.« »Niemand kann so schnell lernen«, sagte Ubusuku. »Mich hat es Monate gekostet, und ich hatte nichts anderes zu tun, als zu versuchen, mich anzupassen. Es ist eine heikle Sache, da es zu viele Ähnlichkeiten mit anderen Welten der Republik gibt. Wir essen dasselbe, benutzen die gleichen Transportmittel, leben in den gleichen Gebäuden und bezahlen die Waren auch mit Geld. Aber auf einem tieferen und subtileren Level ist diese Gesellschaft so andersartig, wie man es sich kaum vorstellen kann. Tja, ich sage zum Beispiel das Regie Satanas auf, anstatt dem Vaterunser. Ich benutze keine Credits, wenn ich nicht mit republikanischen Welten Geschäfte mache. Ich kaufe Steaks, Brot und Wein, aber ich kaufe auch Fledermausflügel und tote Spinnen. Ich gehe unter Leitern durch, mache aber das Zeichen des Horns, wenn ich auch nur den Anflug eines Do nners höre. Ich spreche die gleiche Sprache wie Sie, kleide mich auf eine ähnliche Art ein und kann mir auch nicht vorstellen, daß sich unsere Sexualpraktiken großartig unterscheiden. Sehen Sie jetzt das Problem?« »Lassen Sie mich anders an die Sache herangehen«, sagte Jericho. »Macht hier jeder das Zeichen des Horns, wenn es donnert?« »Natürlich nicht«, sagte Ubusuku. »Die Töchter der Wonne machen es noch, während die Bruderschaft der Nacht das Zeichen der Fünf macht. Ich bezweifle sogar, daß andere Sekten überhaupt etwas machen, außer vielleicht, sich unterzustellen oder ihre Regenschirme aufzuklappen.« »Schön!« meinte Jericho. »Damit haben Sie gerade einiges einfacher gemacht.« -60-
»Habe ich?« Jericho nickte. »Nun muß ich nicht jedes hiesige Symbol oder jede Handbewegung kennenlernen. Was ich jetzt von Ihnen noch brauche, ist eine Liste von den Symbolen, Reaktionen, Glaubensmuster, die hier jeder ausdrückt, egal, welcher Sekte er angehört.« »Das kann ich machen«, sagte Ubusuku. »Das werde ich machen. Aber es wird nicht genügen.« »Warum nicht?« »Da Sie auffallen werden wie ein bunter Hund, wenn Sie nicht wenigstens eine Form von Religion praktizieren. Sehen Sie: Weltraumflüge sind billig, Planeten sind billig, und Walpurgis befindet sich jetzt vielleicht in der fünften oder sechsten Generation. Niemand emigrierte anfangs nach Walpurgis, der nicht mehr oder weniger an Satan oder Hexerei glaubte, und natürlich werden auch die Kinder seit über einem Jahrhundert mit diesen religiösen Prinzipien aufgezogen. Es gibt hier keinen christlichen oder buddhistischen Untergrund. Warum auch, wenn es Zigtausende von Planeten gibt, die sich diesen Fragen stellen und die die Motivationskraft besitzen, dort jeden zufriedenzustellen. Wenn Sie hier sind, müssen Sie kein Golemit, Vorbote oder Infernaler sein, aber irgendwas müssen Sie sein.« Er zündete sich eine Zigarre an, bot auch Jericho eine an, der aber dankend ablehnte, und benutzte die verschiedensten Stellen einer kleinen obszönen Statue als Aschenbecher. »Ich verstehe.« »Ich könnte Ihnen alles über den Orden des Golems beibringen«, bot Ubusuku an und versuchte erfolglos, seinen Eifer zu verstecken. »Das finde ich nicht gut«, erwiderte Jericho. »Nach allem«, log er, »möchte ich nicht, daß meine Spuren zu Ihnen führen, wenn ich während meines Auftrages geschnappt werden sollte.« »Da haben Sie nicht unrecht«, sagte Ubusuku. »Gut, auch auf -61-
die Gefahr hin, wie ein Marktschreier zu wirken, welche Art von Religion hätten Sie denn gerne?« »Eine populäre«, sagte Jericho. »Am besten eine der größten.« »Seltsam«, kam als Antwort. »Ich hätte jetzt angenommen, Sie würden eine der kleineren vorziehen.« »Man kann sich viel einfacher in einer großen Menge verstecken als in einer kleinen«, meinte Jericho. »Außerdem brauche ich eine Religion, in der die Jünger weder Symbole noch Abzeichen bei sich tragen, also nur zu den Ritualen gehen, vielleicht einige Worte brummen und dann wieder nach Hause gehen.« »Gut«, sagte Ubusuku nickend. »Ich glaube, dann wäre es am besten, wenn Sie ein Mitglied der Kirche Satans werden. Voodoo ist beinahe so groß, aber die meisten Anhänger dieser Richtung sind Schwarze, und da würden Sie zu sehr auffallen.« »Wenn Voodoo die Sekte der Schwarzen ist, warum sind Sie nicht eingetreten?« fragte Jericho. »Und salbadere nur faulen Zauber vor mich hin, wie das Vaterunser rückwärts oder den ganzen anderen Mist?« sagte Ubusuku Grimassen schneidend. »Nein, danke! Selbst wenn ich nicht mit ihren Prinzipien übereingestimmt hätte, ich wäre auch nur aufgrund des Sexes in den Orden des Golems eingetreten! Glauben Sie mir, mein Freund, Sie haben im ersten Monat schon zwanzig Pfund abgenommen, bevor Sie richtig mitkriegen, daß es sich nicht um einen Traum handelt, der am nächsten Tag verschwunden ist.« Jericho sagte nichts dazu. »Gut, am besten wähle ich jetzt in der Küche ein kleines Abendessen, und dann gehen wir an die Arbeit, oder?« sagte Ubusuku. »Ich werde auch versuchen, uns heute abend in eine Satansmesse einzuschleusen. Fühlen Sie sich in der Zwischenzeit hier wie zu Hause, obwohl ich Ihnen das vielleicht schon etwas zu spät anbiete.« -62-
»Beinhaltet das auch Ihre Bibliothek?« »Aber sicher«, sagte Ubusuku, stand auf und ging zur Küche. »Haben Sie auch Landkarten in Ihrem Arbeitszimmer?« fragte Jericho. »In der obersten linken Schublade meines Schreibtisches«, rief Ubusuku aus der Küche. Jericho wußte natürlich genau, wo sich die Landkarten befanden; er hatte über zwei Stunden Zeit gehabt, jeden Zentimeter von Ubusukus Apartment zu untersuchen, bevor dieser zurückgekehrt war. Die Landkarten hatte er zuerst ausfindig gemacht. Doch um den richtigen Eindruck bei seinem nichtsahnenden Gastgeber zu hinterlassen, holte er eine Karte von Amaymon hervor und breitete sie auf dem Schreibtisch aus. Danach zog er eine Karte größeren Maßstabs, die des gesamten Planeten heraus - die Karte, die er benötigte. Wenn die Polizei bis jetzt noch nicht wußte, wer er war, würde sie es doch bald wissen; und vielleicht würden sie Bland warnen, nach einem Attentäter der Republik Ausschau zu halten, der aus Amaymon, das ungefähr 5000 Kilometer südöstlich von Tifereth liegt, kommen sollte. Er hatte sich bereits gegen die beiden großen und direkten Routen entschieden, bevor Ubusuku angekommen war, und nun suchte er nach Alternativen. Schließlich fand er, was er gesucht hatte: eine kleinere Stadt, die dreihundert Kilometer nordöstlich von Tifereth lag. Sie hieß Malkuth und wies eine Bevölkerungszahl von etwa fünfzigtausend auf. Er beschloß, sich Malkuth von Norden aus zu nähern, wenn möglich in der Bevölkerung unterzutauchen, um dann von Malkuth nach Tifereth zu gelangen. Wenn Bland keine Armee besaß, so hatte er doch sicherlich enorme Sicherheitskräfte, und wenn diese aus dem Hinterland von Tifereth einberufen wurden, stellte Malkuth eine der besten Möglichkeiten dar. Vielleicht schaffte er es ja auch, sich in Blands Sicherheitskräfte einzuschleusen. Einen Versuch wäre es auf jeden Fall wert. Er studierte die Karte -63-
eingehender. Walpurgis war ein relativ frisch besiedelter Planet, und die Bevölkerung war innerhalb der paar Jahrhunderte noch nicht so sehr angewachsen, daß sie den Planeten mit einem Netzwerk von Großstädten, Städten und Dörfern überzogen hatte. Tatsächlich war die spärliche Anzahl von ungefähr hundert Großstädten, die über den ganzen Planeten verteilt waren, ziemlich ungewöhnlich. Die meisten Kolonialwelten begannen mit ein oder zwei zentral gelegenen Städten, die sich im Laufe der Jahrzehnte immer weiter ausdehnten und dann in kleinere Städte auseinanderfielen. Dabei wurde der größte Teil der Planetenoberfläche unberührt gelassen. Wahrscheinlich wurde es auf Walpurgis anders gehandhabt, da die meisten Sekten die Glaubensrichtungen der anderen nicht tolerierten. Da er aber nicht ganz sicher war, beschloß Jericho, sich darüber genauer zu informieren. In den nächsten Minuten prägte er sich die Karte genau ein, faltete und legte sie wieder zurück in Ubusukus Schreibtisch. Fingerabdrücke brauchte er nicht zu entfernen; er besaß schon über fünfzehn Jahre keine mehr. Er stand auf, ging durch das Apartment und betrachtete die Bücher und Bänder in den Regalen. Bei den meisten handelte es sich um Abhandlungen über Insektenkunde bei ChlorWasserstoff-Welten sowie pornografische Werke, die seinen Gastgeber wohl noch stärker interessierten. Als nächstes ging er in Ubusukus Schlafzimmer, das völlig überfüllt war mit Gemälden, Statuen und Hologrammen von Dämonen und Frauen, die sich äußerst variationsreich auf perverseste Weise vereinigten. Er sah kaum hin, sondern ging schnell zu einem Haufen von Büchern und Zeitschriften, die achtlos auf den Boden geworfen waren. Er hatte vorher nicht die Zeit gehabt, sich mit ihnen zu beschäftigen, und hoffte nun, dort lokale Zeitungen zu finden. Zu seinem Ärger handelte es sich auch hierbei hauptsächlich um Lehrschriften der Insektenkunde. Er war gerade wieder im Arbeitszimmer, als auch schon Ubusuku breit grinsend wiederkam. -64-
»Ich weiß, es hört sich etwas seltsam an«, sagte er. »Aber was halten Sie von gefüllten Eiern?« »Nicht schlecht«, meinte Jericho. »Könnten Sie vielleicht nach dem Essen einige Bücher und Magazine besorgen, die mir weiterhelfen würden?« »Wir können uns während des Essens über den Glauben und die üblichen Gebräuche unterhalten«, sagte Ubusuku. »Aber nach dem Essen werden wir kaum Zeit zum Lesen finden.« »Oh, warum?« »Ich habe einen Freund, der Mitglied der Kirche Satans ist. Er versucht nun schon seit Monaten mich zum Konvertieren zu bewegen, und deshalb ist er damit einverstanden, uns heute abend auf eine Schwarze Messe mitzunehmen.« »Sehr gut«, sagte Jericho und folgte Ubusuku von der Küche zum Eßzimmer. »Wir werden Steaks zu den Eiern essen«, sagte Ubusuku, stellte einige silberne Platten auf den Tisch und setzte sich. »Womit wir schon beim ersten Punkt angelangt sind. Es gibt zwar nicht viele Nahrungstabus auf Walpurgis, aber jene, die wir haben, werden von den meisten Bewohnern eingehalten.« »Wie zum Beispiel?« »Keine Ziegen oder Ziegenprodukte zu essen.« »Warum nicht?« »Die Ziege ist eines unserer heiligen Symbole. Sie taucht in den meisten Religionen auf.« »Warum sollte es dann jemand auf der Karte anbieten?« fragte Jericho, während er das Steak zerteilte. »Weil wir ungefähr zwei Millionen Ziegen auf diesem Planeten haben«, sagte Ubusuku. »Einige der Restaurants bieten Ziegenfleisch oder Ziegenmilch für die Weißen an.« »Was sind denn die Weißen?« »Weiße Hexen«, sagte Ubusuku. »Wir haben zwar nicht sehr -65-
viele auf Walpurgis, aber es finden sich in jeder Stadt genug, so daß einige Restaurants Besonderheiten für sie anbieten.« »Inwieweit unterscheiden sich denn Weiße Hexen von den anderen?« »Sie glauben daran, die Weiße Magie zum Guten der Menschen anwenden zu können«, erklärte Ubusuku. »Das hört sich für eine Welt wie Walpurgis ziemlich ungewöhnlich an«, kommentierte Jericho. »Ist es auch«, stimmte Ubusuku zu. »Was mich auch schon zum nächsten Tabu führt: Tragen Sie nichts Weißes.« »Ich habe schon bemerkt, daß dies ziemlich selten ist.« »Es gibt auch einen Grund dafür«, erklärte Ubusuku. »Schwarz ist für die meisten Sekten eine heilige Farbe. Weiß würde Sie als Weiße Hexe ident ifizieren, und es gibt so wenige von ihnen, daß schon die erste Weiße Hexe, die Sie treffen, Sie wahrscheinlich als Hochstapler erkennt. Außerdem könnten Sie auch Schwierigkeiten bekommen, wenn Sie an einen Ort wollen, der für Sie verboten ist.« »Was für ein Ort wäre das denn?« »Das würde uns viel zu weit führen. Tragen Sie einfach kein Weiß.« Jericho nickte. »Kann denn ein Mann eine Weiße Hexe sein?« »Sicher. Wir nennen so einen Mann natürlich Weißen Hexenmeister, aber das läuft ja auf dasselbe hinaus. Die Hexen sind nämlich nicht gerade von ihnen begeistert. Sie haben schon genug Probleme ohne die Hexenmeister. Frauen haben auf Walpurgis eine ziemlich undurchsichtige Stellung.« »In welcher Beziehung?« »Politisch sind sie, wie ja auch in der Republik, gleichberechtigt. Unsere Religionen brauchen sie jedoch, um die verschiedensten Formen der Zeremonien durchzuführen. Die -66-
meisten haben rituellen Charakter, manche sind jedoch sexueller Art, und das birgt die Konflikte. Einige der Frauen haben Positionen mit enormer Machtfülle bekommen: Es gibt da zum Beispiel Magdalene Jezebel, die Anführerin der Töchter der Wonne, und auch der Vorbotenkult hat eine Hohepriesterin. Doch alles in allem sind die meisten der Religionen noch mit den Überbleibseln aus den Tagen behaftet, als die Frauen noch reine Objekte der Lust und der Begierde waren. Manche der Frauen, die außerhalb der Kirche große wirtschaftliche oder politische Macht besitzen, haben Schwierigkeiten, die untergeordneten Positionen innerhalb der Kirche einzunehmen. Eine unangenehme Situation, die sich sicherlich noch zuspitzen wird. Ich hoffe nur, daß ich schon friedlich gestorben sein werde, wenn dieses Pulverfaß in die Luft geht.« »Wie werden denn eigentlich die Frauen von den Männern behandelt?« »Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt.« »Nein, ich meine auf der Straße.« »Ach so«, meinte Ubusuku. »Nun, wie ich schon sagte, sind sie politisch gleichberechtigt, und natürlich glauben wir auch an das Prinzip der Eigenständigkeit. Behandeln Sie die Frauen also nicht anders, als Sie einen Mann behandeln würden. Halten Sie ihnen nicht die Tür auf oder ziehen Sie den Hut vor ihnen. Ritterlichkeit wird nur in der Republik geschätzt. Wo wir gerade bei der Republik sind, sagen Sie bloß nichts Positives über sie. Wir haben hier eine weltweite Haßkampagne gegen sie laufen, seit sie versucht hat, Walpurgis zur Auslieferung von Bland zu zwingen. Sollten Sie irgendeinen republikanischen Dialekt sprechen, vergessen Sie ihn am besten, bis Sie den Planeten wieder verlassen. Wir haben hier so wenig Kontakt zu anderen Welten, daß jeder andersklingende Dialekt sofort auffallen würde.« »Was noch?« fragte Jericho, aß den Rest seines Steaks und -67-
wandte sich dann den gefüllten Eiern zu. »Schütteln Sie niemandem die Hand. Ungeschliffenheit gehört auf dieser Welt nicht zu den negativen Eigenschaften. Außerdem gibt es zu viele Geheimzeichen, die dabei übersehen oder nicht richtig beantwortet werden könnten. Ach ja, Sie sollten sich auch noch einen Geheimnamen zulegen.« »Einen Geheimnamen?« »Ja, jeder besitzt hier einen. Bei Kultisten ist es ziemlich gebräuchlich. Es ist besser, wenn man darauf vorbereitet ist falls Sie einer Kirche beitreten wollen, werden Sie wahrscheinlich danach gefragt. Mein Name ist Ehlis«, sagte er mit einem Anflug von Stolz. »Dann werde ich wohl Judas nehmen«, sagte Jericho geheimnisvoll lächelnd. »Das ist aber kein Dämon«, führte Ubusuku an. »Ich fühle mich trotzdem irgendwie zu ihm hingezogen.« »Wie Sie wollen«, erklärte sein Gastgeber mit einem Achselzucken. »Sie sollten auch eine Heimatstadt haben.« »Warum nicht Amaymon?« »Amaymon ist die größte Stadt des Planeten, und nahezu jeder war schon das ein oder andere Mal hier. Es wäre besser, wenn Sie sich eine kleinere Stadt aussuchen würden, eine Stadt, die von möglichst wenigen Menschen besucht wird. Man wird Ihnen nicht so viele Fragen stellen, die Sie unter Umständen falsch beantworten könnten.« »Könnten Sie mir eine vorschlagen?« »Nun«, sagte Ubusuku. »Ich kenne da ein kleines verschlafenes Nest namens Tannis. Es liegt acht hundert Kilometer westlich von hier, und zufälligerweise weiß ich, daß sie dort eine Kirche Satans haben. Ich habe im letzten Jahr auch nur drei Leute getroffen, die von dort kamen. Sie können also -68-
lügen, wenn Ihnen jemand unbequeme Fragen stellt, und das können Sie bei Amaymon nicht.« »Warum ist das möglich?« »Amaymon war zwar die erste Stadt auf dem Planeten, aber viele Kulte hatten etwas gegen die Toleranz und die religiöse Freiheit in Amaymon, wo ja immerhin siebzig verschiedene Sekten ansässig sind. Also bauten sie sich ihre eigenen Außenposten, die sich dann im Laufe der Jahre zu Städten entwickelten. Die meisten davon liegen am Fluß Styx, da die Schiffahrt hier immer noch die billigste Warentransportmöglichkeit darstellt. Diese Städte sind aber für Außenseiter nicht zugänglich, wenn man einmal von den Hafenanlagen absieht. Seit Amaymon den einzigen Raumhafen besitzt, der die richtig großen Raumschiffe aufnehmen kann, hat sich die Stadt verändert, ist mehr geworden als nur der Schmelztiegel der Religionen.« »Waren Sie schon einmal in einer der anderen Städte?« fragte Jericho.« »Warum sollte ich?« fragte Ubusuku zurück. »Mir gefällt es hier sehr gut. Nebenbei gesagt, einige dieser Städte nehmen ihre Religion für meinen Geschmack etwas zu ernst.« »Ich dachte, Sie würden Ihre auch sehr wichtig nehmen«, hinterfragte Jericho. »Für mich ist in erster Linie wichtig, daß ich jede Menge Frauen haben kann und mir dabei eine gute Zeit mache«, sagte Ubusuku. »Glauben Sie mir, einige dieser Städte erweisen dem Bösen nicht nur Lippendienste. Ich glaube nicht, daß Bland nur aus Zufall in Tifereth untergetaucht ist. Tifereth war auch schon lange vor ihm einer der fremdartigsten Orte dieses Planeten. Aber kommen wir zu den Dingen, auf die Sie achten müssen. Ich muß Ihnen wohl kaum erklären, daß Sie Gott, Allah oder Jehova, wie auch immer er in Ihrem Kulturkreis genannt wird, niemals in Gesprächen oder auch nur als Fluch erwähnen -69-
dürfen.« Er lächelte. »Wir schenken dem Feind hier keine Aufmerksamkeit. Außerdem sollten Sie auch nicht pfeifen.« »Warum nicht?« »Viele der Sekten haben geheime Pfeifsignale, genau wie bei den Handzeichen oder den Parolen. Wenn Sie einmal einen falschen Ton pfeifen, könnten Sie höllischen Ärger bekommen.« »Mir fällt auf, daß die Worte ›Hölle‹ und ›verdammt‹ regelmäßig in Ihren Aussagen vorkommen«, sagte Jericho. »Ist das hier üblich?« »Außer bei den Weißen, ja«, sagte Ubusuku. »Was mir gerade noch einfällt, einige der Leute machen das Zeichen des Horns oder das Zeichen der Fünf, ähnlich wie die Christen das Zeichen des Kreuzes machen. Ihre Kirche benutzt keine Zeichen dieser Art, also ahmen Sie niemanden nach, wenn Sie so etwas sehen.« »Was müßte ich sonst noch über die Kirche Satans wissen?« »Nur daß Ihr Abzeichen das des Ziegenkopfs im Pentagramm ist. Sie werden es oft in Amaymon sehen.« »Ich habe schon unzählige verschiedene Abzeichen gesehen«, sagte Jericho. »Vermeiden Sie die anderen. Die meisten Sekten besitzen Bars, Restaurants und Geschäfte, und wenn dort Ihr Zeichen angebracht ist, heißt das soviel wie „Nur für Mitglieder“ Sie könnten sich verdammt viel Ärger einhandeln, wenn Sie sie nicht beachten.« »Sie besitzen nicht vielleicht ein Buch über die örtlichen Gebräuche und Abzeichen, oder?« fragte Jericho. »Ich habe noch so eine kleine Einwandererbroschüre, die man mir damals aushändigte«, sagte Ubusuku. »Sie gilt aber eigentlich nur für Amaymon.« »Ich würde gerne einen kurzen Blick hineinwerfen, bevor wir zur Kirche gehen.« »Kein Problem«, sagte Ubusuku. »Ich zeige sie Ihnen nach -70-
dem Essen.« »Sehr gut«, sagte Jericho und bewegte sich vorsichtig auf seinem Stuhl, damit der Opferdolch, den er an seine Wade geklebt hatte, nicht verrutschte.
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7 »Ich würde niemals einen Pakt mit Satan schließen. Ich kann keine Untergebenen gebrauchen.« Conrad Bland Die Kirche Satans, brandneu und im Mondlicht glänzend, war ein riesiges Gebäude, in romanischem Stil erbaut, der maurische Einflüsse verriet. Sie stand ungefähr hundert Meter von der Straße entfernt und wurde von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben, an dessen oberen Teil rasiermesserscharfe Zacken angebracht waren. Dissonante elektronische Musik tönte von innen heraus, die Außenansicht des Gebäudes war in rauchigrotes Licht getaucht. Ubusuku und Jericho blieben einige Meter vor dem Tor stehen, und während Jericho die ankommenden Menschen beobachtete, ging Ubusuku zu einer der vermummten Gestalten, die den Eingang bewachten und flüsterte ihr einige Worte zu. Der Mann nickte, zog sich einen Moment zurück und kehrte mit einem kleinen Mann wieder, dessen einzig he rausragendes Merkmal sein dichter unbezähmbarer grauer Haarschopf war. »Ich hatte wirklich nicht gedacht, daß du kommen würdest!« erklärte er, faßte Ubusuku an der Schulter und nahm ihn reichlich affektiert in den Arm. »Wo ist denn dein Freund?« Ubusuku führte ihn zu Jericho. »Das ist Gaston Leroux«, sagte er und zeigte auf den kleinen Mann. »Und das ist mein Freund...« »Orestes Mela«, unterbrach Jericho und trat näher zu den beiden, ohne allerdings die Hand zum Gruß auszustrecken. »Ich freue mich wirklich sehr, Sie kennenzulernen«, sagte Leroux mit einem freundlichen Lächeln. »Wir werden später noch genügend Zeit haben, uns eingehender zu unterhalten, aber die Messe muß -72-
jetzt jeden Augenblick beginnen.« »Viele Leute da?« fragte Ubusuku, als Leroux sie den Steinweg hinauf zu den Toren der Kirche führte. »Für einen Wochentag«, meinte Leroux achselzuckend. »An den Wochenenden sind wir so gut besucht, daß wir zwei Messen am Abend halten müssen.« »Ich glaube nicht, daß ich die Energie hätte, zwei Golemmessen am Abend durchzustehen«, meinte Ubusuku lachend. »Mein Freund der Wüstling«, meinte Leroux augenzwinkernd zu Jericho. »Ich war schon immer ein Wüstling«, sagte Ubusuku. »Aber auf Walpurgis habe ich eine Religion gefunden, die dies akzeptiert. Wie auch immer, ich bin bereit, mir die Fehler meines Lebensweges zeigen zu lassen, aber ich warne dich, es wird nicht einfach sein.« »Die Wege von Luzifer, dem Herren, sind selten einfach«, sagte Leroux. »Aber wir geben ihm die größten Chancen, und schließlich seid ihr ja auch gewillt zuzuhören. Wir werden uns etwas im Hintergrund halten, damit ich euch alles erklären kann, ohne die Priester zu stören.« Er schaute sie einen Moment lang an. »Wir werden sogar hinten sitzen müssen. In der Novizengalerie. Keiner von uns trägt den Ritualumhang.« Sie gingen durch eine reich ausgestattete Vorhalle, dann führte er sie nach rechts durch einige dunkle Korridore, bis sie schließlich an einer Sesselreihe ankamen, die ungefähr fünfzig Meter von einem Onyxaltar entfernt war. Fresken von Orgien und Torturen beherrschten Wände und Decke, erleuchtet wurde die Szenerie durch Tausende von übergroßen Messkerzen. An der Wand hinter dem Altar hing der goldenschwarze Talisman der Kirche Satans. Jericho schätzte seinen Durchmesser auf fünfzehn Meter. Dutzende Lautsprecher, überall in der Kirche verteilt, verbreiteten die Musik, die von einem Grundrhythmus getragen, -73-
aus Schreien und Seufzern bestehend, sowohl Ekstase wie auch Schmerz darstellend, eine seltsame Mischung übermenschlicher Menschlichkeit verriet. Jericho fühlte sich von dieser atonalen Musik irgendwie angezogen. Die Lehnen der Sessel besaßen kleine Öffnungen, in die man Kerzen stecken konnte. Leroux besorgte für jeden eine Kerze, und während Jericho seine anzündete, erklärte Leroux, daß sich diese Kerzen insoweit von den Kerzen der anderen Sekten unterschieden, als daß sie anstatt tierischer menschliche Fette enthielten, die der Kirche Satans von verstorbenen Mitgliedern vermacht wurden. Ubusuku sah etwas bekümmert aus, aber Jericho gab nichts darum und beobachtete weiterhin die Szenerie. In den ersten drei Reihen saßen Männer und Frauen, deren bloße Arme erkennen ließen, daß sie nur wenig oder nichts unter ihren Mänteln trugen. Dahinter kamen ungefähr fünfundzwanzig Reihen mit Männern und Frauen - allerdings in der Mehrzahl Männer -, die ähnlich wie Leroux gekleidet waren. Nach sechs leeren Reihen kam dann die Novizengalerie, die an diesem Abend von vielleicht dreißig Männern und Frauen besetzt war; die meisten saßen alleine oder zu zweit, aber niemand saß so nahe, daß er von Leroux' Geflüster gestört werden konnte. Als er dann wieder auf den Altar blickte, bemerkte er einen schlanken Mann, der seitlich des Altars aufgetaucht war. Der Mann war ganz in Schwarz gekleidet und trug eine schwarze Kappe mit zwei Hörnern. Das Ganze sollte wohl geheimnisvoll aussehen, doch für Jericho wirkte es eher leicht dümmlich. »Das ist Dennison, unser Erster Priester«, flüsterte Leroux. »Man sagt, daß er in den nächsten ein, zwei Jahren zum Hohepriester von Amaymon gewählt werden wird.« Dennison wartete, bis niemand mehr sprach, zog einen Zauberstab aus seinem Umhang und stach mit ihm fünfmal in die Luft. -74-
Ein Gong ertönte, und der Priester sprach: »Ich herrsche über dich, sprach der Herr der Fliegen, mit der preisenden Kraft des Himmels und der Unterwelt.« »Macht es so wie die anderen«, flüsterte Leroux, und Jericho bewegte die Lippen, als das Publikum »Regie Satanas« murmelte. »Seht, rief Satan«, sang Dennison. »Ich bin der Kreis, der die Zwölf Reiche stützt. Sechs sind die Schauplätze des Lebens, der Rest so scharf wie die Sichel oder die Hörner des Todes.« »Regie Satanas«, folgte das Publikum. Dieses Schauspiel ging noch fünf Minuten weiter, während der Priester wieder die fünf imaginären Punkte in der Luft mit seinem Zauberstab berührte. Dann rief der Priester »Shemhamf orash!« und die Besucher antworteten mit dem gleichen Wort. »Das ist unsere heiligste Beschwörungsformel für Satan«, flüsterte Leroux. »Bis jetzt wurde nur die Standardeinleitung unserer Messe eingehalten. Nun wird er eine Predigt halten, von der ich hoffe, daß sie nicht allzu langweilig sein wird, und dann beginnt die eigentliche Messe.« Jericho nickte und blickte wieder nach vorne zu Dennison. »Liebe Gemeinde!« rief der Priester, begleitet von einem weiteren Gongschlag, aus. »Ich möchte nun zu euch über den Mann sprechen, der der Erwartete sein könnte.« »Ach, Mist«, meine Leroux. »Nicht schon wieder.« »Ich spreche von ihm, der da der Schwarze Messias genannt wird«, sagte Dennison. »Derjenige, welcher mit einer Hand die Streitmächte dieser schrecklichen Republik aufhielt. Derjenige, welcher bis zum Letzten all das repräsentiert, was uns wertvoll und wichtig ist. Derjenige, welcher die Sekten von Walpurgis um Hilfe bat. Können wir, dürfen wir, diesem Mann die Hilfe verweigern?« »Bei Luzifer, ich wünschte, er hätte ein anderes Thema gefunden!« flüsterte Leroux. -75-
»Conrad Bland ist die Verkörperung Satans, sein fleischgewordener Geist!« schrie Dennison. »In diesem Moment, wo ich zu euch spreche, umkreisen republikanische Kriegsschiffe unseren Planeten und drohen mit fürchterlicher Vergeltung, wenn wir uns ihren Befehlen nicht unterwerfen. Werden wir das tun?« »Nein«, antwortete das Publikum. »In der Tat: Nein!« wiederholte Dennison. »Genau wie die Kirche niemals dem Staat ihren Willen aufdrängen würde« Ubusuku und Leroux mußten bei diesem Spruch kichern -, »darf der Staat niemals der Kirche diktieren. Und die Sekten von Walpurgis werden niemals den Erlöser der Glaubenden an Satan preisgeben.« »Der erlöst mich von meinem Arsch«, preßte Leroux leise hervor. »Was meinten Sie damit?« fragte Jericho höflich, während Dennison weiter dröhnte. »Verstehen Sie, ich selbst war noch nie in Tifereth«, flüsterte Leroux. »Aber ein Freund von mir war es, und er sagte, Bland hätte die ganze verdammte Stadt in ein Leichenhaus verwandelt.« »Was Sie nicht sagen!« Leroux nickte. »Ich glaube, dort liegen überall Leichen herum und die Folterungen haben derart überhand genommen, daß sogar die Vorboten von dort verschwunden sind. Dieser Bland hat schon die halbe Stadt ausgerottet.« »Das macht es ja richtig schwer, den Mächten der Finsternis zu huldigen«, sagte Jericho sarkastisch. »Bland ist kein Mann der Finsternis!« sagte Leroux hitzig. »Er ist verrückt! Er hat mit meiner Religion überhaupt nichts zu tun. Was, zur Hölle, weiß denn der schon von den Freuden oder der mystischen Versenkung oder...« -76-
»Reden Sie leiser«, flüsterte Jericho, dem aufgefallen war, daß sie Aufmerksamkeit auf sich lenkten. »Entschuldigung«, sagte Leroux. »Aber ich werde krank, wenn ich von diesem Irren höre.« Er drehte sich finster blickend wieder zu Dennison um. »Hütet euch vor der Republik«, sagte der Priester. »Sogar aus dieser Entfernung können sie noch die Dinge verdrehen, können sie immer noch Einfluß nehmen, können sie uns immer noch unterwandern. Ich sage euch, Conrad Bland ist nichts weniger als der entfesselte Satan. Der fleischgewordene Satan!« Dennison plapperte weitere fünfzehn Minuten seine Predigt herunter, dann ertönte wieder der Gong. »Seht ihr, auch das geht vorbei«, seufzte Leroux. »Haben Sie schon einmal eine Schwarze Messe der Kirche Satans besucht, Orestes?« Jericho schüttelte den Kopf. »Nun, egal, was Ihnen mein Freund Ibo darüber erzählt haben mag, es ist eine äußerst symbolische Zeremonie, und alles was passiert, geschieht nicht grundlos. Novizen können nicht teilnehmen, aber die Leute, die in den ersten drei Reihen sitzen, werden sich später in die Messe einfügen.« Eine junge Frau stand von ihrem Platz in der ersten Reihe auf, ging hoch zu dem Altar, löste ihre Kutte, ließ sie auf den Boden fallen und drehte sich einmal im Kreis, damit jeder sehen konnte, daß sie völlig nackt war. Dann legte sie sich mit dem Rücken auf den Onyxaltar. »Das Prinzip einer Schwarzen Messe besteht darin, die traditionelle römischkatholische Messe umzukehren«, flüsterte Leroux. »Ich habe gehört, daß einige Kirchen nördlich von Amaymon es tatsächlich so streng nehmen und Babys oder Jungfrauen opfern, aber bei uns ist das Ritual wichtiger. Das Mädchen repräsentiert einen Altar, und blasphemischer kann ein Altar für das Christentum nicht sein.« Ein schwarzvermummter -77-
Priester näherte sich und gab dem Mädchen eine schwarze Kerze in die linke Hand. »Solche Kerzen bestanden ursprünglich aus den Fetten eines ungetauften Babys«, erklärte Leroux. »Aber natürlich ist sie nicht daraus hergestellt. Auch hier zählt nur das Symbol.« Eine barbusige Frau, die eine Parodie der traditionellen Nonnenkleidung trug, ging zum Altar, postierte eine kleine Schüssel auf den Bauch des Mädchens, stellte sich hinter den Altar und hielt ein Kreuz verkehrt in die Luft. »Weitere Blasphemien«, meinte Leroux. »Die Nonne hält das Kreuz umgekehrt in der Hand, und in der Schüssel sollte sich das Blut einer Prostituierten befinden. Da es auf Walp urgis keine Prostituierten mehr gibt, benutzen wir das Blut einer geopferten Ziege.« Eigentlich wollte Jericho nun wissen, wie es möglich war, daß ein geheiligtes Tier geopfert wurde, aber er entschied sich dann doch dagegen. Ein Priester mit Kapuze, aber nicht Dennison, näherte sich dem Altar und trag ein kleines Teil auf einem Kasten mit sich. »Das ist eine gerußte Zwiebel, die er auf dem Kasten trägt«, flüsterte Leroux. »Er wird sie nun gegen die Schamlippen des Mädchens reiben und dann damit ein Pentagramm um sie und den Altar malen.« »Gibt es dafür einen bestimmten Grund?« fragte Ubusuku. »Ich nehme an, daß dies die blasphemischste Handlung ist, die er in diesem Zusammenhang machen kann«, sagte Leroux.mit einem Achselzucken. »Nun wird er anfangen, Lateinisch zu sprechen. Es ist zwar eine tote Sprache, aber er wird christliche Gebete und Psalme rückwärts singen und dabei die verschiedensten Obszönitäten einflechten, um jeden Engel zu verwirren, der möglicherweise ein bestimmtes Schlüsselwort erkannt' hat.« -78-
»Was auf symbolische Art Satan beschwören soll?« fragte Jericho. Leroux nickte. »Nun hat er den lateinischen Teil gleich beendet. Ab jetzt spricht er in einer Sprache, die wir verstehen können.« Der Priester bekam eine neunschwänzige Katze von der Nonne überreicht und begann damit sanft über den nackten Körper des Mädchens zu streichen. »Ich glaube, das brauche ich nicht näher zu erklären«, sagte Leroux. »Aber er versucht symbolisch, die Gegner aus ihrem Körper zu vertreiben.« »Vor dem erhabenen und mächtigen Herrn der Finsternis und im Beisein der ehrwürdigen Dämonen der Tiefe«, intonierte der Priester, »verneine ich jeglichen anderslautenden Treueeid und erkläre, daß Satan der Herrscher des Universums ist. Ich erneuere und erweitere mein Versprechen, Ihn in allen Belangen ohne Einschränkung zu erkennen, Ihm zu huldigen, und auf Seine mannigfaltige Hilfe bei der erfolgreichen Vervollkommnung meines Vorhabens und der Erfüllung meiner Wünsche zu hoffen.« Der Priester aß dann ein Stück der Zwiebel und nippte an dem Blut der Ziege, worauf eine zweite barbusige Nonne beides an sich nahm und damit durch die ersten drei Reihen ging. »Heil Dir, Satanas!« rief der Priester, und die Gemeinde wiederholte singend diese Worte. Ein Mann, der bis auf eine Ziegenkopfmaske völlig nackt war, trat in das Pentagramm. »Satan?« fragte Jericho trocken. Leroux nickte nur, ohne seine Augen von dem Schauspiel zu wenden. Der Satanspriester nahm dem anderen Priester die Peitsche aus der Hand, riß sie mit zwei oder drei kurzen Bewegunge n auseinander und ließ sie dann mit einem harten Schlag auf das Mädchen niedersausen, das zwar aufschrie, sich aber nicht bewegte. Nachdem er die Peitsche zur Seite geworfen hatte, -79-
vollführte er einige Gesten und Bewegungen, die sich Jericho nicht erklären konnte und die Leroux auch nicht erklärte. Schließlich zog er das Mädchen an sich heran und stieß rhythmisch seinen erigierten Penis in sie, während die Gemeinde jeden seiner Stöße mit einem »Heil Dir, Satanas!« begleitete. Das Mädchen schrie wieder auf und legte die Beine um ihn. Er hob sie von dem Onyxaltar und vollbrachte den Verkehr, während er über die Linien des Pentagramms wirbelte. Als sie fertig waren, legte er sie wieder auf den Altar, drehte sie auf den Bauch, vollführte noch einige Obszönitäten mit einer Kerze und verschwand wieder in den abgedunkelten Hinterräumen der Kirche. »War's das?« fragte Jericho. »Jetzt fängt es erst an!« sagte Leroux, dessen aufgeregtes Gesicht vor Schweiß glänzte. »Alle Beteiligten der ersten drei Reihen werden nun für den Rest der Versammlung diese Zeremonie untereinander wiederholen.« Jericho betrachtete das Ganze, prägte sich, für den Fall, daß er es gebrauchen könnte, die Details und verschiedenen Phasen ein, während Ubusuku und Leroux in den Chor der anderen einfielen und »Heil Dir, Satanas!« sangen. Als die letzten erschöpften Teilnehmer wieder auf ihren Plätzen saßen, kehrte Dennison zurück und sprach einen Fluch/ Segen auf Enochisch, der Sprache Satans, und dann brach die Gemeinde auf. »Nun, was sagt ihr dazu?« fragte Leroux aufgeregt, als er mit Ubusuku und Jericho durch die Tür ging. »Ich sah eine Menge Männer, die viele Frauen fickten«, sagte Ubusuku. »Nein, Ibo!« sagte Leroux. »Was du gesehen hast, war eine symbolische Teufelsbeschwörung und die totale Umkehr ung der römischkatholischen Messe im dämonischen Sinn. Es ist der Austausch des Guten durch das Böse, das Hinwegfegen des Glaubens, der die Menschen für Jahrhunderte gefangenhielt. Verstehst du das?« »Natürlich verstehe ich das.« Ubusuku grinste. »Jede Menge Sex.« -80-
»Ach, mit dir ist es hoffnungslos!« sagte Leroux leicht verärgert. »Wie fanden Sie es denn, Orestes? Hat Ihnen gefallen, was Sie gesehen haben?« »He, gefallen hat es mir auch!« sagte Ubusuku lachend. »Ich fand es interessant«, sagte Jericho. »Ich würde gerne noch einmal zu einer anderen Zeremonie kommen.« »Ich würde mich glücklich schätzen, wenn Sie mein Gast wären«, sagte Leroux. »Vielleicht würden Sie gerne in die Kirche Satans eingeführt werden?« »Vielleicht«, sagte Jericho. »Nun, dann war ja der Abend kein totaler Reinfall«, sagte Leroux. »Siehst du, Ibo, wer braucht dich schon? Jetzt habe ich vielleicht ein neues Gemeindemitglied geworben, und ich bete, daß die Polizei an ihm nicht interessiert ist.« »Von was redest du?« fragte Ubusuku. »Oh, vo n Sables Büro«, sagte Leroux lässig. »Sie haben mich heute nachmittag gerufen, um mir einige Fragen über dich zu stellen. Ich sagte ihnen, du wärest ein solider Bürger und wertvolles Mitglied der Gesellschaft. Sie empfangen Emigranten ja nicht mit dem roten Teppich, wie du weißt.« »Ja, ich weiß«, meinte Ubusuku besorgt. »Was für Fragen haben sie denn gestellt?« fragte Jericho wie beiläufig. »Ach, nichts Direktes«, sagte Leroux. »Die typisch bürokratischen Fragen eben.« »Ich verstehe«, sagte Jericho. »Wie sieht's denn mit einem Drink aus?« fragte Leroux. »Ich lade euch ein.« »Fein«, meinte Jericho. »Ich kenne hier in der Gegend eine nette kleine Bar.« »Gehen wir hin«, sagte Leroux, und Jericho ging an der nächsten Ecke links und führte sie weiter von den Haup tstraßen weg. -81-
»Ich habe mich gefreut, daß ihr gekommen seid«, sagte Leroux während sie durch die leeren Straßen gingen. »Die Schwarze Messe ist zwar nicht eine unserer größten Zeremonien, aber sie unterhält, wenn ihr wißt, was ich meine.« »Sie ist so ähnlich wie eine Golemorgie«, sagte Ubusuku. »Aber es ist nicht dasselbe«, sagte Leroux. »Ihr macht es nur aus Vergnügen, aber wir wollen alles schänden, wofür das Christentum steht. Es repräsentiert die Travestie und Perversion von Gott und Heiligkeit und all diesem selbstverleugnen den Mist. Wir haben auch unsere Orgien, aber sie sind nicht so wie die Messe. Wäre es nicht von solch starker religiöser Bedeutung, würden nur sehr wenige der Frauen bereit sein, an der Sache mit dem Altar teilzunehmen: Es ist zu erniedrigend. Aber sie tun es, weil sie verstehen, was es bedeutet, selbst wenn so ein Golemit wie du darüber lacht.« Er hörte nicht auf, seine Kirche zu preisen und erklärte weitere zehn Minuten die verschiedensten obskuren Blasphemien, bevor er dann plötzlich stehenblieb. »Sind Sie sicher, daß die Bar hier in der Nähe ist?« fragte er Jericho. »Das sieht mir hier ziemlich seltsam aus.« »Sie kommt gleich nach dem nächsten Block«, sagte Jericho leise. »Ach, übrigens, hat einer von euch vielleicht ein Abzeiche n oder einen Talisman verloren?« »Natürlich nicht«, sagte Leroux. »Warum?« »Weil dort hinter dem Zaun etwas blinkt.« Leroux bückte sich darüber, um besser sehen zu können, und Jericho schlug ihm hart mit der Handkante in den Nacken. Es knackte sehr laut als Leroux' Genick brach und er leblos zu Boden stürzte. »Das hätten Sie nicht tun sollen!« brüllte Ubusuku los. »Seien Sie doch etwas leiser«, sagte Jericho sanft. »Er war mein Freund!« »Er war eine Verbindung. Er hätte die Polizei über Sie zu mir führen können. Es war besser, ihn hier und jetzt zu erledigen. « »Und was ist mit mir?« wollte Ubusuku wissen. »Was soll mit -82-
Ihnen sein?« fragte Jericho. »Ich bin auch eine Verbindung unter Umständen hat die Polizei schon meine Wohnung durchsucht.« »Ich weiß«, sagte Jericho. »Sie haben mich ganz schön in Schwierigkeiten gebracht! Wie wollen Sie mir denn jetzt helfen?« »Darüber habe ich mir schon einige Gedanken gemacht«, sagte Jericho. Er faßte hinunter an sein Bein und löste das Band.
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8 »Die Zeit nach einem Blutbad ist die schönste Zeit, um in sich zu gehen.« Conrad Bland Jericho erreichte erst zwei Stunden später sein Hotel, da er eine ausgedehnte Tour unternahm, um sicherzugehen, daß ihm niemand folgte. Er hatte sich mittlerweile dafür entschieden, seine blonde Identität aufzugeben, da er nun Amaymon verlassen würde. Er nahm den Aufzug bis zu seinem Stockwerk, gab die Kombination in das Schloß ein und betrat den Raum. Eine junge Frau, höchstens zwanzig Jahre alt und ganz in Weiß gekleidet, saß auf seinem Bett. »Hallo, Jericho«, sagte sie. »Du warst mal wirklich wieder ein böser Junge.«
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9 »Der grundlegende Vorteil, den das Böse in seinem Kampf mit dem Guten hat, ist, daß seine Gegner immer annehmen, es müßte schlußendlich unvernünftig sein.« Conrad Bland John Sable knipste die Nachttischlampe an und beugte sich vor, um das Vidfon zu aktivieren. Müde brachte er ein »Was ist denn los?« heraus. »Offizier Belasco, Sir«, sagte der ernste, junge Mann, dessen Bild auf dem Schirm zu sehen war. »Sie hatten gesagt, wir sollten uns melden, falls etwas Außergewöhnliches passiert.« »Ja«, sagte Sable, der sich erst noch an das Licht gewöhnen mußte. »Wie spät ist es denn?« »Drei Uhr. Es sind zwei Morde geschehen«, sagte Belasco. »Einer der Ermordeten war Ibo Ubusuku.« »Wer ist denn das?« »Ein Außenweltler.« »Und der andere?« fragte Sable, immer noch bemüht, die Schläfrigkeit zu überwinden. »Gaston Leroux, Sir. Ein Freund von Ubusuku. Wir hatten gestern nachmittag mit ihm gesprochen.« »Wie wurden sie umgebracht?« »Ubusuku wurde erstochen. Ein Stich. Er ging vom Bauch bis zu seinem Brustbein. Leroux scheint das Genick gebrochen worden zu sein. Sie lagen zwanzig Meter voneinander entfernt.« »Wie lange waren sie schon tot?« »Weniger als eine Stunde, sagte der Arzt.« »Ich bin auf dem Weg ins Büro«, sagte Sable. »Sorgen Sie dafür, daß Davies auch dort ist. Lassen Sie die Leichen ins -85-
Labor bringen. Ich will sie sehen, bevor sie ins Leichenschauhaus wandern.« Er unterbrach die Verbindung und zog sich in weniger als einer Minute an. Er nahm sich nicht die Zeit zu duschen oder sich zu rasieren, sondern beugte sich nur kurz übers Bett und küßte seine schlafende Frau. Er hinterließ ihr auf dem Heimcomputer die Nachricht, daß er nicht wisse, ob er zum Abendessen zurück sein könne und kam schon zehn Minuten später beim Hauptquartier an. Davies wartete auf ihn, und sie gingen zusammen hinunter zum gerichtsmedizinischen Institut, wo die beiden Leichen auf Metalltischen aufgebahrt waren. »Saubere Arbeit«, murmelte Sable, als er Ubusukus Wunde inspizierte. Dann ging er hinüber zu Leroux und untersuchte dessen Nacken. »Ein Schlag. Sehr treffsicher.« »Sieht nach unserem Mann aus«, meinte Davies. »Hatten Sie da irgendwelche Zweifel?« fragte Sable, verließ das Labor und ging zu seinem Büro. Er verhielt kur z im Vorzimmer, um bei einer Sekretärin Kaffee zu bestellen, betrat dann sein Büro, in dem er Belasco vorfand, der abwesend die Tagesbefehle und Empfehlungen am Schwarzen Brett studierte. »Ich nehme nicht an, daß sich schon etwas ergeben hat, oder?« fragte er und ließ sich in seinen Vinylsessel fallen. »Nein, Sir«, sagte Belasco. »Es ist zwar noch ein Team draußen, das die Gegend absucht, aber bis jetzt haben wir noch nichts gefunden.« »Wo hat man sie gefunden?« fragte Sable. »Bei Block 4700, auf der Straße der Habsucht.« »Was, zur Hölle, wollten die da?« »Zwei Augenzeugen haben berichtet, daß Leroux zwei Gäste bei einer Messe der Kirche Satans dabeihatte«, sagte Belasco. »Die Beschreibung des einen paßt auf Ubusuku.« »Und der andere?« fragte Sable, verschränkte die Hände -86-
hinter dem Kopf und starrte auf seine kleine Cali-Statue. »Schwer zu sagen, Sir. Einer der Männer meint, es wäre ein blonder Mann Ende Zwanzig gewesen, der mindestens einsachtzig groß gewesen wäre. Der andere erinnert sich an einen Mann mit hellbraunem Haar, um die vierzig, Größe ungefähr einsfünfundsiebzig.« »Na ja, ist ja auch nicht mehr so wichtig«, sagte Sable seufzend. »Er wird dieses Aussehen doch nicht mehr benutzen.« Er drehte sich zu Davies um. »Da haben wir's, Längsten. Es gibt nun für ihn keinen Grund mehr, in Amaymon zu bleiben. Er hat seine Kontaktperson getötet und auch die Person, die bei dem Kontakt zugegen war.« »Wir haben noch andere Außenweltler hier«, sagte Davies. »Wie können wir sicher sein, daß es die einzige Kontaktperson war?« »Ich bin ziemlich sicher«, sagte Sable. »Wenn er mehr gehabt hätte, würde er sie durch den schnellen Mord an Ubusuku verschreckt haben.« »Was machen wir denn nun?« fragte Davies. »Riegelt die Stadt ab. Nichts kommt rein, nichts geht raus. Wir halten nach Satanisten Ausschau, obwohl er wahrscheinlich nicht dumm genug ist, als solcher aufzutreten. Wir schließen die Flughäfen, die Bahnhöfe und die Hafenanlagen des Flusses. Wir werden alle Ausfallstraßen kontrollieren, und außerdem werden wir Conrad Bland warnen, da ich persönlich der Meinung bin, daß unsere Schritte ziemlich nutzlos sind. Das Abriegeln der Stadt hält diesen Mann wahrscheinlich keine Minute länger drin, als er es selbst will. Trotzdem weiß ich nicht, was wir sonst machen könnten. Bringen Sie die Sache also in Bewegung, denn wenn wir noch länger warten, könnte er morgen schon über alle Berge sein.« »Okay«, meinte Davies und ging zur Tür. »Ach, Langsten«, rief Sable ihm nach. »Ja?« »Es besteht kein Grund, wegen meiner Annahme nur halb-87-
herzig zu arbeiten. Jeder macht Überstunden und zwar so lange, bis wir ihn haben oder wissen, daß der Kerl verschwunden ist. Geben Sie mir eine Stunde Zeit, um einige Gespräche zu führen, dann können Sie sich auch von den anderen Abteilungen Leute holen.« Davies nickte und verließ den Raum. »Nun, Offizier Belasco«, sagte Sable, der sich sofort eine Zigarre anzündete, als Davies außer Sicht war. »Wie würden Sie die Morde rekonstruieren?« »Ich würde nicht sagen, daß der Mann uns an der Nase i herumführen will«, sagte Belasco. »Aber er hat auch sicherlich keine Angst vor uns. Er hätte versuchen können, es so hinzustellen, als hätten sich die beiden gegenseitig umgebracht, aber das hat er nicht getan. Außerdem würde ein Mann mit gebrochenem Genick nicht mehr dazu kommen, seinen Angreifer zu erstechen, und ein Mann mit einer Messerwunde wie dieser kann niemandem mehr das Genick brechen und dann noch zwanzig Meter laufen. Wenn er die Tatsache verschleiern wollte, daß beide vom gleichen Täter ermordet wurden, hätte er nur einen der Körper einige Blocks weiter deponieren müssen. Schließlich hatte er sie auf verschiedene Weise getötet. Unter Umständen hätte es uns einige Tage gekostet, diese Morde miteinander in Verbindung zu bringen.« »Scharfsinnig kombiniert, Offizier Belasco«, sagte Sable. »Machen Sie weiter!« »Gut. So wie ich es sehe, hat er den Mann mit dem gebrochenen Genick zuerst getötet.« »Warum?« »Warum sollte er einen Mann mit bloßen Händen töten, wenn er ihm schon gezeigt hatte, daß er einen Dolch besitzt?« »Hört sich vernünftig an«, stimmte Sable zu. »Ich kann doch annehmen, daß wir den Dolch nicht gefunden haben?« Belasco schüttelte den Kopf. »Von der Größe und der Form der Wunde -88-
her, könnte es ein Zeremoniendolch gewesen sein. Auf jeden Fall nicht dieses dünne Steakmesser, das er beim erstenmal benutzt hat, vorausgesetzt, es handelt sich wirklich um den gleichen Täter.« »Es ist der gleiche Täter«, sagte Sable. »Sie haben ihre Arbeit gut gemacht, Belasco. Ich muß nun einige Gespräche führen. Helfen Sie Davies und halten Sie mich auf dem laufenden, falls die Teams am Tatort etwas entdecken.« Belasco verließ den Raum in dem Moment, als der Kaffee kam. Sable nahm einen Schluck, seufzte und rief dann die anderen Abteilungen an und bat um Amtshilfe. Nach einer Stunde war er in der Lage, Davies sechshundert weitere Männer zu präsentieren, die die Stadt abriegeln halfen. Er wartete bis sechs Uhr, dann drückte er den Interkomknopf. »Ja?« meldete sich eine Sekretärin. »Verbinden Sie mich mit Tifereth. Ich möchte mit Conrad Bland sprechen. Falls er schlafen sollte, suchen Sie mir jemanden, der ihn aufweckt.« Einen Moment später erklärte die Sekretärin, daß Bland keinerlei persönliche Gespräche annehme und die Auskunft von Tifereth auch seine Nummer nicht herausgäbe. »Dann besorgen Sie mir irgend jemanden von da unten!« »Wen?« »Ich weiß es nicht! Versuchen Sie es mit Blands Sicherheitschef!« »Ich werde es versuchen!« Nach über zehn Minuten wurde er mit einem Mann in den mittleren Jahren verbunden, der eine abgetragene graue Militäruniform trug. Der Mann starrte in die Kamera seines Gerätes, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. »Ich bin John Sable, Chefkommissar von Amaymon. Mit wem spreche ich?« »Jacob Bromberg.« -89-
»Sie haben Verbindung mit Conrad Bland?« »Wenn es nötig ist«, sagte Bromberg. »Gut! Ich habe Grund zur Annahme, daß ein republikanischer Attentäter Bland liquidieren soll. Er befindet sich noch in Amaymon, aber ich glaube nicht, daß wir ihn noch lange in der Stadt festhalten können.« »So, so.« »Was soll das heißen so, so? Ich versuche Ihnen hier klarzumachen, daß jemand Ihren Anführer umbringen will!« »Dazu muß er erst mal hier sein«, sagte Bromberg lächelnd. »Ich versichere Ihnen, das ist kein Witz!« sagte Sable hitzig. »Dieser Mann ist ein absoluter Profi und mittlerweile lange genug hier, um unsere Gebräuche zu kennen. Wir werden Ihnen in jeder Weise behilflich sein, aber ich kann die Ernsthaftigkeit der Situation gar nicht genug betonen.« »Wir danken Ihnen für die Warnung«, sagte Bromberg. »Aber ich versichere Ihnen, sie war unnötig. Niemand wird Mylord Bland töten.« »Würden Sie es ihm wenigsten weitergeben?« fragte Sable und starrte auf den Schirm. »Wenn ich dazu komme!« sagte Bromberg und unterbrach die Verbindung. Schwer atmend durchwühlte Sable seinen Schreibtisch, zog sein privates Vidfon heraus und rief mit diesem Apparat seinen Kollegen Caspar Wallenbach aus Tifereth an. »Ja?« meinte Wallenbach, der offensichtlich ein Frühaufsteher war, da er schon am Frühstückstisch saß. »Kommissar Wallenbach? Ich bin's... John Sable... aus Amaymon.« »Mr. Sable !« sagte Wallenbach lächelnd. »Wie schön, Sie mal wieder zu sehen! Was kann ich für Sie tun?« -90-
»Ich habe da ein kleines Problem, bei dem Sie mir vielleicht helfen könnten.« »Sie brauchen es nur zu nennen«, sagte Wallenbach. »Meine Abteilung schuldet Ihnen noch einiges.« »Wir haben hier in Amaymon einen republikanischen Killer. Wir haben die Stadt schon abgeriegelt, aber ich weiß nicht, wie lange wir ihn hier halten können.« »Ich wäre glücklich, wenn ich Ihnen einige Leute schicken könnte«, sagte Wallenbach. »Aber leider ist mein Stab momentan etwas klein.« »Darum geht es nicht«, sagte Sable. »Wenn wir ihn halten können, brauchen wir keine Hilfe, aber wenn nicht, wird er sich zu Ihnen aufmachen. Ich glaube, er ist hinter Bland her. Ich habe schon mit Blands Sicherheitschef gesprochen, ein Typ namens Bromberg, aber ich glaube nicht, daß er mich ernst genommen hat, darum wollte ich Sie kurz darüber aufklären.« »Ein Attentäter, sagen Sie?« Sable nickte. »Ist er gut?« »Er läßt uns schon seit drei Tagen im Kreis laufen. Er tötet absolut professionell und kann sein Aussehen schneller wechseln als ich meine Klamotten.« »Äußerst interessant«, sagte Wallenbach und sah gedankenverloren durch den Raum. »Sobald ich weiß, daß er hie r rausgekommen ist, werde ich Sie informieren«, sagte Sable. »Ich nehme aber nicht an, daß wir ihn lange in Schach halten können.« »Ja, Mr. Sable«, meinte Wallenbach zerstreut. »Tun Sie das.« »Werden Sie Hilfe benötigen?« »O, das bezweifle ich«, sagte Wallenbach mit dem Anflug eines Lächelns auf den dicken Lippen. »Wir wissen genau, wie wir solche Situation handhaben müssen.« Was, zur Hölle, geht hier vor? dachte Sable. Blands Sicherheitschef hält das Ganze für einen Witz, und der Polizeichef fühlt sich offensichtlich -91-
nicht zuständig. Laut sagte er jedoch: »Gut. Ich werde mit Ihnen in Verbindung bleiben.« »Sie finden mich hier«, sagte Wallenbach und unterbrach die Verbindung. Ein verwirrter Sable fragte sich am anderen Ende der Leitung, warum das mögliche Attentat auf den Schwarzen Messias von Walpurgis in Tifereth keinerlei Aufregung stiftete.
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10 »Wenn man mir sagen würde, daß ich nur noch eine Stunde zu leben hätte, würde ich als erstes den Kretin umbringen, der mir diese Nachricht gebracht hat.« Conrad Bla nd »Wer sind Sie denn?« fragte Jericho sanft und schloß die Tür hinter sich. Das Mädchen in Weiß grinste ihn vom Bett aus an. »Glaub es oder nicht, ich will dir helfen.« »Glaub ich nicht«, sagte Jericho. Er durchquerte den Raum, schloß das Fenster und stellte das Videogerät an. »Bevor du mich umbringst«, sagte das Mädchen unbeirrt, »sollte ich dir vielleicht sagen, daß du getötet werden wirst, wenn du deinen Plan, nach Malkuth zu gehen, nicht aufgibst. « Jericho starrte das Mädchen durchdringend an. »Du hast dir gerade zu drei weiteren Minuten verholfen«, sagte er schließlich und ließ sich auf einem harten Metallstuhl nieder. »Ich möchte hören, was du zu sagen hast.« »Wie ich schon sagte, wäre es ein Fehler, nach Malkuth zu gehen.« »Habe ich vor, nach Malkuth zu gehen?« »O ja, Jericho.« »Wie kommst du darauf, daß mein Name Jericho ist?« »Tatsächlich ist er es ja nicht«, sagte das Mädchen lächelnd. »Aber es ist der Name, den du dir dafür ausgesucht hast.« »Für was ausgesucht?« »Für die Ermordung Conrad Blands.« »Ich kenne niemanden mit Namen Conrad Bland«, sagte Jericho. »Warum sollte ich ihn töten wollen?« -93-
»Sei nicht so schüchtern, Jericho. Bis jetzt hast du hier Parnell Burnam, Gaston Leroux und Ibo Ubusuku getötet.« »Wer sollen denn die sein?« fragte Jericho, ohne seinen Gesichtsausdruck zu verändern. Das Mädchen seufzte. »Wenn wir nicht ehrlich und direkt zueinander sind, weiß ich nicht, wie ich dir helfen soll. Du hast Ubusuku und Leroux vor zwei Stunden getötet.« Jericho sah sie eine Minute schweigend an, dann stand er auf und stellte sich vor die Tür. »Okay«, sagte er. »Bis jetzt hast du mir nichts gesagt, was nicht auch in Sables Abteilung bekannt ist oder was sie herausfinden könnten. Von daher kann ich nur schließen, daß du auch in der Abteilung arbeitest. Vielleicht könntest du mir kurz sagen, warum ich dich leben lassen sollte.« »Es ist schwierig, mit dir zu reden«, sagte das Mädchen amüsiert. »Was wäre, wenn ich dir sagen würde, daß du unter einem anderen Namen vor ungefähr zwölf Jahren Gustav Gagenbach auf Sirius V getötet hast?« »Ich würde sagen, daß du nur auf den Busch klopfst«, sagte Jericho. »Oder plant Sable, mir jeden ungelösten Mord der Galaxis unterzujubeln?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich muß nun so aufrichtig sein, wie ich es mir von dir gewünscht hätte.« Sie wartete einen Moment, dann ließ sie die Katze aus dem Sack. »Ich weiß, daß du Benson Rallings auf Belore VII getötet hast.« Beinahe hätte sich Jerichos Überraschung auf seinem emotionslosen Gesicht abgezeichnet. Es ging hier um einen seiner ersten Aufträge: Belore VII war eine unbewohnte Minenwelt, Rallings Körper war damals völlig zerfetzt worden und Jerichos Auftraggeber war zwischenzeitlich eines -94-
natürlichen Todes gestorben, bevor er ihm die erfolgreiche Beendigung seines Auftrages hatte mitteilen können. Niemand außer Jericho wußte, daß überhaupt ein Mord geschehen war. »Ah«, sagte das Mädchen wieder grinsend. »Du siehst ja beinahe beeindruckt aus.« »Ich bin es auch«, sagte er. »Wie hast du das herausgefunden?« »Es gibt kein Geheimnis für die Weiße Lucy.« »Bist du das?« »O nein«, meinte das Mädchen. »Ich diene ihr nur. Mein Name ist Colas.« »Wer oder was ist denn die Weiße Lucy?« »Du wirst es bald herausfinden«, versprach Colas. »Sie möchte sich mit dir treffen.« »Warum sollte ich sie treffen wollen?« »Weil du ohne ihre Hilfe nicht nach Tifereth hineinkommst«, sagte Colas. »Und du mußt nach Tifereth, da du sonst Bland nicht töten kannst.« »Jeder hier auf dieser Welt scheint in ihm eine Art Gott zu sehen«, sagte Jericho. »Warum möchtet ihr ihn tot sehen?« »Da er die lebende Verkörperung des Bösen ist«, sagte Colas leidenschaftlich. »Aus diesem Grund können wir seine weitere Existenz nicht tolerieren.« »Denken alle Weißen Hexen auf Walpurgis so?« fragte Jericho. »Ich weiß es nicht«, sagte Colas und zuckte die schmalen Schultern. »Die Weiße Lucy und ihre Geweihten sind eine sehr zurückgezogene Sekte. Wir haben zu den Weißen Hexen keinen Kontakt. Sie sagen natürlich von sich, eher für das Gute als für das Böse zu arbeiten, aber das sind nur Worte. Das Konzept von Gut und Böse hat sich auf Walpurgis stark verschoben, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.« -95-
»Haben alle Mitglieder deiner Sekte die Kraft, Gedanken lesen zu können?« fragte Jericho. »Nein«, sagte Colas. »Außerdem brauche ich kein Gedankenleser zu sein, um zu wissen, was du denkst, und ich muß dich warnen, falls du mich töten willst, wird dich die Weiße Lucy an die Polizei verraten, wo du dich auch verstecken magst.« »Warum hat sie das nicht schon getan?« fragte Jericho. »Also, wenn ich Sable wäre, wäre die Weiße Lucy die erste, die ich aufsuchen würde, um an Informationen zu kommen.« »Zum ersten«, sagte Colas, »weiß er gar nicht, wo er sie suchen sollte.« »Schlecht geantwortet«, sagte Jericho. »Ich bin sicher, er würde sie finden, wenn er wollte.« »Und zum zweiten weiß er nicht, daß die Weiße Lucy diese Kraft besitzt.« »Ist aber schwer zu verbergen, wenn sie ihre Zeit damit verbringt, jedem dabei zu helfen, das zu zerstören, was sie für böse hält«, kommentierte Jericho. »Sie hat vorher noch nie jemandem geholfen«, sagte Colas. »Gut und Böse sind nur abstrakte Begriffe - beziehungsweise waren es, bis Conrad Bland auftauchte. Es interessiert uns nicht, wer wen tötet, solange man uns aus dem Spiel läßt.« »Warum dann diese Aufregung wegen Bland?« »Weil er alles Lebendige auf Walpurgis zerstören wird, wenn er noch länger lebt«, erwiderte Colas. »Seine Weltanschauung steht sicherlich im Widerspruch mit unserer, aber das ist auch bei den meisten anderen auf diesem Planeten so. Der Unterschied ist, daß er die Kraft und den Willen hat, seine Anschauungen durchzusetzen.« »Ich bedanke mich für deine Anteilnahme«, sagte er schließlich. »Aber ich arbeite allein.« -96-
»Wenn du so weitermachst, wirst du auch allein sterben.« »Ich werde meine Chancen nutzen.« »Du wirst dich mit der Weißen Lucy treffen, oder du wirst ganz sicher in Malkuth sterben«, sagte Colas überzeugt. »Sie wußte, wo du dich aufhältst, sie kannte die Kombination deines Schlosses, sie wußte, was du in deiner Vergangenheit getan hast, sie wußte, daß du in dieser Nacht getötet hast, sie wußte, wie du dich Bland nähern willst, und um dir ihren guten Willen zu zeigen, bewahrte sie Stillschweigen. Dann erlaubte sie mir, dir eine ihrer Kräfte zu zeigen, was wieder von ihrem guten Willen zeugt, da nur eine Handvoll Menschen davon wissen.« »Ich nehme es dankbar zur Kenntnis«, sagte Jericho. »Dann nimm auch dies zur Kenntnis: Seit deiner Ankunft hätte sie jederzeit deinen Aufenthaltsort an John Sable weitergeben können, aber sie tat es nicht. Sie ist auf deiner Seite, Jericho, und sie sagt, du würdest ohne ihre Hilfe nicht bis Tifereth kommen. Liegt es denn nicht in deinem Interesse, sie zu treffen?« »Man könnte es in Erwägung ziehen«, antwortete Jericho, nachdem er darüber nachgedacht hatte. »Gut«, sagte Colas. »Hundertfünfzig Kilometer nordwestlich von Amaymon befindet sich eine neue Brücke über den Styx. Sei morgen bei Sonnenuntergang dort, und man wird dich zu ihr bringen.« »Bringst du mich hin?« »Unter Umständen nicht«, sagte Colas. »John Sable hat die beiden von dir getöteten Männer bereits gefunden und die Stadt völlig abgeriegelt. Vielleicht bin ich nicht in der Lage die Stadt zu verlassen.« »Aber du gehst davon aus, daß ich morgen nachmittag schon hundertfünfzig Kilometer weit weg bin?« fragte Jericho mit einem leichten Lächeln. »Die Weiße Lucy sagt, daß du unsere Hilfe nicht benötigst, um aus dieser Stadt zu verschwinden. Ich würde dich begleiten, -97-
aber sie sagt, du hättest noch einige Dinge zu erledigen, an denen ich nicht teilhaben könnte.« »Wann hat sie das gesagt?« »Genau in diesem Moment, während wir miteinander sprechen«, antwortete Colas ruhig. Er trat zur Seite, als sie auf die Tür zuging und mit sicheren, fließenden Bewegungen die Kombination eingab. Die Tür schwang auf, und dann war sie verschwunden. Eigentlich wollte Jericho ihr folgen, ließ es dann aber sein, da er sich nicht in die Gefahr bringen wollte, erkannt zu werden, indem er das Aussehen des blonden Mannes beibehielt, der in der Kirche Satans gesehen worden war. Er stand vor dem Spiegel und arbeitete schnell, aber sorgfältig. Nach einigen Minuten hatte er sich in einen leicht untersetzten Mann mit beginnender Glatze verwandelt, dessen Alter irgendwo zwischen vierzig und sechzig liegen konnte. Ein Kleiderwechsel gab ihm das Aussehen eines etwas wohlhabenderen Mannes, und ziemlich flache Schuhe ließen ihn dann nahezu fünf Zentimeter kleiner als vorher erscheinen. Er betrachtete sich nochmals kritisch, konnte aber keine Spur des blonden Mannes erkennen, der nun auch nie wieder auftreten würde, und ging zum letzten Mal hinaus in die trockenkalte Nacht von Amaymon. Sein Makeup und die dazugehörige Ausrüstung hatte er unter seinem Hemd verstaut. In den nächsten zwei Stunden würde die Sonne noch nicht aufgehen, die Straßen waren nahezu leergefegt. Das machte sein Vorhaben zwar schwerer, aber doch nicht unmöglich. Er ging mit sichtbarer Ziellosigkeit durch die Straßen der Stadt, bis er das fand, wonach er Ausschau gehalten hatte. Einen Fußgänger. Diesmal hatte er nicht, wie bei seinem ersten Opfer, die Zeit, sich anzuschleichen. Nein, er ging seitlich in ein Gäßchen, rannte dann um den Block und stellte sich hinter die Ecke, an der der Mann vorbeikommen würde. Als der Mann in Jerichos -98-
Blickwinkel trat, hob er den Arm und erwischte ihn mit einer fließenden Bewegung im Nacken. Als der Körper auf dem Asphalt aufschlug, trat er gewandt zur Seite. Er legte beinahe zwei Kilometer zurück, bevor er ein zweites Opfer entdeckte. Derselbe Vorgang brachte dasselbe Resultat, und Jericho trat den Rückweg zur Stadtmitte an. Der nächste Fußgänger, den er sah, war eine Frau, aber er entschied sich dafür, sie laufen zu lassen. Er wollte nicht, daß die Polizei an ein Sexualverbrechen glaubte. Sein drittes Opfer fand er in der Nähe des Devils Den, eine der Bars, die er in der Nacht besucht hatte, als er Parnell Burnam tötete. Diesen Mann erstach er und ließ Ubusukus Dolch am Tatort zurück. Dann wartete er auf die Morgendämmerung. Als die Sonne aufgegangen war, setzte er sich in die Halle eines kleinen Bürogebäudes im Herzen der Stadt. Sechs uniformierte Polizisten liefen an dem Gebäude vorbei, bevor er einen sah, den er gebrauchen konnte - einen dunkelhaarigen Mann seiner Größe und seines Gewichts. Er verließ das Bürogebäude und verfolgte den Polizisten, wobei er niemals fünfzehn Meter Abstand unterschritt und sich nie mehr als einen halben Block zurückfallen ließ. Nach einigen Minuten betrat der Polizist ein kleines Cafe. Auch Jericho ging in das Cafe, setzte sich neben den Polizisten an die Theke, brachte es fertig, ihm etwas Kaffee auf den Ärmel zu kippen und entschuldigte sich überschwenglich. Als der Polizist in der Toilette verschwand, um sich die Hände zu waschen und den Fleck zu entfernen, folgte Jericho ihm. Drei Minuten später kleidete Jericho die Uniform der Sfadtpolizei von Amaymon. Er verließ die Toilette, sah sich um, entdeckte den kleinen Lagerraum, der zur Hälfte mit Konserven gefüllt war, und brachte dann den nackten Körper des Polizisten dorthin. Seine eigenen Kleidungsstücke hatte er in einem kleinen Mülleimer in der Toilette versteckt. Er nahm die beiden Rechnungen von der Theke, bezahlte beide am Ausgang, nahm einen Bus und fuhr bis zur Endstation. Von hier -99-
aus war es nur noch ein knapper Kilometer bis zum Stadtrand, wo er einige Polizisten traf, die eine wirksam aussehende Straßensperre bewachten. Er gesellte sich zu ihnen, schickte in der nächsten halben Stunde drei Fußgänger zurück und beobachtete dabei die Polizisten, wie sie den ankommenden Fahrzeughaltern die Situation erklärten, bevor sie sie zurückschicken mußten. Dann begab er sich auf die andere Seite der Straßensperre und begann dort, die Fahrer zurückzuschicken. Als kurz nach zehn Uhr ein Intercitybus ankam, war es Jericho, der zu dem Fahrer ging, um ihm zu sagen, daß er nicht nach Amaymon hineinfahren könne. Der Fahrer protestierte, andere Polizisten kamen hinzu und redeten auf den Fahrer ein, und schließlich wendete er unter vielen Flüchen und indirekten Drohungen, über das was seine Firma mit den Offiziellen von Amaymon deswegen anstellen würde, seinen großen, schwerfälligen Bus und machte sich wieder in die Richtung auf, aus der er gekommen war. Hinter ihm aber hatte sich die Zahl der uniformierten Polizisten um einen Beamten verringert.
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11 »Aufruhr und Chaos sind die Gehilfen des Bösen.« Conrad Bland »Wir haben gerade noch einen dritten gefunden«, sagte Langston Davies, als er Sables Büro betrat. »Gleicher Täter?« fragte Sable. »Genick gebrochen«, sagte Davies. »Scheint nur ein einziger Handkantenschlag gewesen zu sein.« »Sind auf dem Messer schon Fingerabdrücke gefunden worden?« Davies schüttelte den Kopf. »Es sieht zwar nicht so aus, als ob es danach abgewischt worden wäre, aber es sind auch keine Abdrücke darauf. Die Leute vom Labor sagen, es wären Spuren zu entdecken, aber er hätte entweder Handschuhe getragen oder seine Finger operativ behandeln lassen.« »Annahmen«, brummte Sable. Er sah zu seinem Baphomet, doch dieser schien ihn nur auszulachen. »Verflucht noch mal, Lang! Hier stimmt etwas nicht, und ich weiß nicht, was.« »Alles was falsch ist, sind die fünf Morde diese Nacht«, sagte Davies und nahm sich einen Stuhl. »Nein, das ist es nicht«, sagte Sable. »Früher oder später mußte er Ubusuku umbringen, und es war klar, daß er dies dann auch mit Leroux tun mußte, da dieser ihn ja identifizieren konnte. Das ergibt noch einen Sinn. Aber warum diese anderen drei?« »Über sein letztes Opfer wissen wir noch nichts«, führte Davies an. »Er könnte auch ein Außenweltler sein.« Sable schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Spieler, aber ich wette einen Wochenlohn darauf, daß er genauso harmlos war wie die -101-
anderen zwei. Ich wünschte nur, ich wüßte, was diese drei verbindet. Ich hatte angenommen, daß unser Attentäter nach dem Mord an Ubusuku sich in Richtung Tifereth aufmachen würde. Liege ich falsch? Ist er hinter irgend etwas hier in Amaymon her?« Davies zuckte schweigend mit den Schultern, und Sable, der vor sich hinmurrte, stand auf und lief in seinem Büro hin und her. »Warum ließ er den Dolch zurück?« fragte er schließlich. »Warum hat er sie so sauber getötet? Er ist doch nicht verrückt. Was meinen Sie, Langston, ändert er jetzt, wo wir wissen, nach was wir Ausschau halten müssen, seine Vorgehensweise?« »Angeberei?« fragte Langston. »Spott?« »Er ist ein Profi«, sagte Sable. »Profis riskieren nichts. Sie geben nicht mit dem an, was sie getan haben, sondern sie verbergen es.« Er setzte sich wieder auf den Stuhl. »Ich verstehe es einfach nicht! Ich meine, selbst wenn er keine Fingerabdrücke hinterlassen hat, mußte er trotzdem wissen, daß wir den Dolch mit Ubusuku in Zusammenhang bringen - warum hat er ihn dann zurückgelassen?« Ein kleiner Computer auf Sables Schreibtisch meldete sich. »Die Daten von dem letzten kommen rein«, sagte Davies und ging hinüber, um sie abzulesen. »Er hieß Hector Block, war siebenunddreißig Jahre alt und von Beruf Manager eines Lebensmittelgeschäftes. Er wohnte im Neunten Zirkel - einem Hotel der Brüderschaft der Nacht. War noch nie auf einem anderen Planeten und hatte auch keinerlei Kontakt mit Außenweltlern. Todesursache: Genickbruch.« »Ein Niemand«, murmelte Sable. »Ein weiterer verdammter Niemand! Wo, zur Hölle, ist die Verbindung?« »Vielleicht hat er ihn erkannt?« meinte Davies ohne rechte Überzeugung. »Und ging nach dem letzten Mord noch zwei Kilometer -102-
weiter?« höhnte Sable. »Quatsch. Der wußte nicht was mit ihm passierte, er fürchtete nicht um sein Leben. Wir werden es herauskriegen, aber ich könnte wetten, daß keiner der drei die anderen zwei kannte.« »Wir wissen aber immer noch nicht, ob er seine Aufgabe nun beendet hat oder nicht«, sagte Davies. »Richtig«, gab Sable zu. »Trotzdem, wir können nicht abwarten und Tee trinken, sondern müssen zu einer Entscheidung oder wenigstens zu einem Weg dorthin kommen, bevor dieser Kerl sich wieder an die Arbeit macht.« Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Sechs Morde in... vierundfünfzig Stunden? Wir müssen ihn aufhalten!« Die nächsten zwei Stunden verbrachte Sable damit, sich die Ermordeten und die Tatorte anzusehen. Danach, es war schon beinahe Mittag, kehrte er in sein Büro zurück, wartete auf neue Entwicklungen und versuchte mit dem Stand der Dinge ins reine zu kommen. Es paßte nicht zusammen. Wenn der Mörder hinter Bland her war, hatte er nichts davon, länger in Amaymon zu bleiben. Im Gegenteil, nachdem er seine Kontaktperson getötet hatte, besaß er genügend Gründe, die Stadt zu verlassen und sich nicht mit solchem Unsinn zu belasten, insbesondere da ihn die ganze Polizei in dieser Stadt verfolgte, wenn auch nicht sehr effektiv. Lag sein Zielobjekt aber andererseits in Amaymon, war es dumm von ihm gewesen, ihn, Sable, durch den Mord an Parnell Burnam zu warnen. Irgend etwas stimmte hier ganz und gar nicht, doch so sehr er sein Hirn zermarterte, Sable kam nicht darauf. Doch dann, es war schon Nachmittag, platzte Davies in sein Büro. »Wir haben noch einen gefunden«, erklärte er atemlos. »Genau wie die anderen?« fragte Sable. »O Mann. Diesmal ist es Vladimir Kosminov.« »Unser Vladimir Kosminov? Vom Raubdezernat?« Davies -103-
nickte. »Wir haben ihn in einem Lagerraum eines Restaurants gefunden. Oder, genauer gesagt, wir wurden gerufen, nachdem der Besitzer ihn gefunden hat.« »Wie wurde er getötet?« wollte Sable wissen. »Ein gebrochenes Genick«, sagte Davies. »Ein Schlag, so wie bei den anderen. Eine Sache war allerdings anders. Bei ihm könnte es einen sexuellen Hintergrund haben.« »Wie kommen Sie darauf?« »Er war beinahe nackt.« »Oh, Scheiße«, bellte Sable. »Wir haben ihn verloren.« »Wen verloren? Von was reden Sie?« »Den Killer, den Killer«, schnauzte Sable Davies an. »Er ist weg. Lassen Sie die Straßensperren entfernen.« »Was meinen Sie denn?« fragte Davies völlig verwirrt. »Kosminov«, sagte Sable und ließ sich erschöpft in seinen Stuhl zurückfallen. »Das war der fehlende Punkt. Nun ist mir alles klar.« »Mir noch nicht so ganz«, sagte Davies. »Überlegen Sie mal, Längsten. Warum hat er diese drei Männer, die mit ihm nicht das geringste zu tun hatten, wohl umgebracht? Warum hat er nicht versucht, seine Arbeitsweise zu verschleiern? Verdammt noch mal, wir haben uns die richtigen Fragen gestellt und kamen nicht auf die Antwort!« »Ich verstehe es immer noch nicht«, sagte Davies. »Dann gebrauchen Sie doch mal Ihren Verstand, Langston. Er wußte, daß wir die Stadt nach seinem Mord an Ubusuku abriegeln würden. Er wußte, wir würden alle Ausfallstraßen bewachen, da er ja nun keinen Grund zu einem weiteren Aufenthalt hatte. Was hat er also getan? Er hat die ersten drei Leute umgelegt, die ihm über den Weg liefen, um uns glauben zu machen, er würde hierbleiben. Diese drei Männer waren der Köder, und wir sind darauf reingefallen! Das hat ihm einen halben Tag Vorsprung -104-
verschafft. Der wichtigste Mord, der einzige der zählt, war der an Kosminov. Unter Umständen ist der Kerl ganz gemütlich in Uniform vor drei Stunden aus Amaymon hinausgeschlendert.« »Dann geben wir am besten ein APB durch.« »O bester Beelzebub!« Sable lachte bitter. »Sie glauben doch wohl nicht, daß der Kerl immer noch Kosminovs Uniform trägt, oder? Er brauchte doch nur einige Stunden Vorsprung, um durch die Straßensperre zu gelange n. Er wußte, daß wir Kosminov finden würden, aber es war ihm egal. Er brauchte nur ein bißchen Zeit, um zu entwischen. Zur Hölle, wer weiß schon, wie der Kerl jetzt aussieht? Wie wollen Sie denn eine Personenbeschreibung auf diesem ganzen verdammten Planeten verschicken?« Glassplitter flogen in alle Richtungen, als er einen Aschenbecher gegen die Wand warf. »Verflucht! Ich glaube es einfach nicht! Wir wissen alles, was wir wissen müssen, und der Kerl geht uns trotzdem durch die Lappen!« Davies wartete, bis sich die Wut seines Vorgesetzten etwas gelegt hatte, dann brachte er zögernd eine Frage vor. »Wie sieht unser nächster Schritt aus?« »Wir können nichts mehr tun«, sagte Sable verbittert. »Der Kerl ist weg. Er ist außerhalb unserer Machtbefugnisse. Alles, was ich jetzt noch machen kann, ist, Wallenbach und Blands Sicherheitschef nochmals anzurufen, und ihnen diesmal beizubringen, daß dieser Kerl keine halben Sachen macht.« »Gibt es für mich noch etwas zu tun?« fragte Davies. »Nein«, antwortete Sable seufzend. »Sie waren ja auch die ganze Nacht auf den Beinen. Gehen Sie nach Hause und legen Sie sich hin.« Als Davies gegangen war, lehnte Sable sich zurück und starrte lange Zeit aus dem Fenster. Dann, als ihm etwas verspätet einfiel, daß seit Stunden ein neuer Tag angebrochen war, verbeugte er sich vor Kali, entzündete seine Zeremonienkerzen und sprach seine Gebete zu Azazel, Asmodeus und Ahriman. Er hielt sein Amulett gegen das Licht, vollzog halbherzig das -105-
Zeichen der Fünf und ging langsam wieder zu seinem Schreibtisch. Gleich darauf hatte er Caspar Wallenbach auf dem Vidfon. »Mr. Sable«, sagte Wallenbach. »Ich hätte nicht geglaubt, so schnell wieder von Ihnen zu hören.« »Er ist auf dem Weg«, sagte Sable. »Der Attentäter?« Sable nickte. »Ja, ich wünschte, ich hätte bessere Neuigkeiten.« »Das ist schon okay«, meinte Wallenbach. »Wir wissen, wie wir mit ihm umzugehen haben, wenn er es bis hier schafft.« »Er hat noch fünf weitere Männer umgebracht«, sagte Sable. »Ich möchte Ihrer Abteilung ja kein schlechtes Zeugnis ausstellen, aber ich glaube nicht, daß Sie wissen, mit was für einem Mann Sie es hier zu tun bekommen.« »Vielleicht sagen Sie mir das ja noch.« Sable verbrachte die nächsten zwanzig Minuten mit Erklärungen über die Vorkommnisse der letzten drei Tage. Als er fertig war, sah Wallenbach nach unten und rückte einige Akten auf seinem Schreibtisch zurecht. »Gut, ich danke Ihnen für diesen genauen Lagebericht, Mr. Sable«, sagte er. »Ich bin sicher, wir können ihn mit diesen zusätzlichen Informationen bald der Gerechtigkeit zuführen.« »Bitte unterschätzen Sie ihn nicht«, beharrte Sable frustriert. »Ich denke nicht im Traum daran«, sagte Wallenbach. - »Und nun würde ich gerne einige Worte mit meinem Stab darüber wechseln, wenn Sie nicht noch weitere Informationen für mich haben.« Sable hob die Schultern, unterbrach die Verbindung und starrte ungläubig auf den leeren Bildschirm. Er sah schwarz für seinen nächsten Anruf, aber nach Wallenbachs Reaktionen blieb ihm keine andere Wahl. »Ja«, meldete sich Jacob Bromberg. »Ich bin John Sable aus Amaymon. Wir hatten gestern -106-
miteinander gesprochen.« »Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Bromberg. »Ich rufe an, um Ihnen zu sagen, daß der Attentäter aus Amaymon entkommen ist und ohne Zweifel nach Tifereth gehen wird.« »Was soll ich nach Ihrer Meinung denn nun machen?« fragte Bromberg trocken lachend. »Verflucht«, schrie Sable. »Was ist denn mit euch da unten los? Ich erzähle euch, daß sich der perfekteste Killer, der mir in meiner Laufbahn je vorgekommen ist, auf den Weg nach Tifereth gemacht hat, um Conrad Bland umzubringen! Bedeutet Ihnen das denn nichts?« »Das bedeutet, daß er ein sehr unglücklicher Killer werden wird, wenn er erst hier ist«, sagte Bromberg lächelnd. »Sehen Sie - lassen Sie mich mit Bland sprechen. Nur fünf Minuten«, sagte Sable und versuchte sein Temperament zu zügeln. »Wenigstens einer in Tifereth sollte diese Sache ernst nehmen!« »Oh, ich nehme diese Sache ernst«, erwiderte Bromberg und versuchte, das nächste Grinsen zu unterdrücken. »Was wollen Sie denn von mir - soll ich mir in die Hosen machen, nur weil noch ein Verrückter Mylord Bland umbringen möchte?« »Sie wollen mich einfach nicht verstehen!« sagte Sable und wünschte sich irgend etwas in seine Nähe, das er treten oder schlagen könnte. »Dieser Mann ist nicht ve rrückt. Er ist ein effektiver, hochprofessioneller Killer.« »Mr. Sable !« sprach eine fremdartig hoch klingende Stimme, die vor Elektrizität zu knistern schien. »Wer sind Sie?« verlangte Sable zu wissen. »Ich bin Conrad Bland. Ich habe ihr Gespräch überwacht. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, und nun lassen Sie uns bitte in Ruhe.« »Geben Sie mir bitte einige Minuten Zeit, um Sie vom Ernst der Situation zu überzeugen«, sagte Sable. »Ich verstehe die Situation völlig«, sagte Bland. »Ein sehr guter -107-
Killer ist auf dem Weg nach Tifereth, um mich umzubringen. Wenn er bis hierher kommt, was ich bezweifle, wird er lernen müssen, daß ich nicht gänzlich schutzlos bin.« »Dieser Mann ist anders«, sagte Sable. »Alle sind sie anders«, sagte Bland. »Aber sie sind auch alle tot, während ich noch lebe.« »Lassen Sie mich doch wenigstens Ihre Sicherheitskräfte einweisen, damit sie wissen, was auf sie zukommt«, bat Sable. »Ich könnte nach Tifereth fliegen und einige Tage mit ihnen verbringen.« »Das kommt nicht in Frage, Mr. Sable. Sie sind in Tifereth nicht willkommen.« »Aber...« »Mr. Sable, die Gebräuche auf Walpurgis sind von Stadt zu Stadt verschieden, aber es gibt einen, der hier überall gleich ist: Kirchen sind unantastbar, und was sich innerhalb ihrer Schwellen abspielt, geht die Außenwelt überhaupt nichts an.« »Was hat das mit unserer Diskussion zu tun?« fragte Sable. »Mr. Sable«, sagte Bland und seine Stimme gewann noch an Höhe und Intensität. »Tifereth ist meine Kirche. Bleiben Sie draußen!« Eine unsichtbare Hand unterbrach die Verbindung.
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12 »Es besteht eine gewisse poetische Schönheit in der Zerstörung dessen, was man liebt.« Conrad Bland Jericho verließ den Bus vierzig Kilometer südlich von Amaymon. In wenigen Minuten schaffte er es, einen südwärts fahrenden Lastwagen anzuhalten. Kaltblütig beförderte er den Fahrer ins Jenseits, bemächtigte sich seiner Kleidung und legte ihn in den Laderaum des Wagens. Danach durchbrach er den Mittelstreifen und fuhr in Richtung Norden, machte einen großen Bogen um Amaymon und nahm eine Autobahn, die nahezu parallel zu dem Fluß Styx verlief. Als er noch ungefähr zehn Kilometer vom vereinbarten Treffpunkt entfernt war, wartete er, bis keine anderen Autos in Sicht waren, fuhr den Lastwagen in den Fluß und sprang im letzten Moment ab. Obwohl er sofort unter der Wasseroberfläche verschwand, hatte er keinen Zweifel, daß der Wagen innerhalb der nächsten ein bis zwei Tage gefunden werden würde. Allzu tief war der Fluß nicht, und unter Umständen würde die Ladung herausgeschwemmt werden. Aber ein bis zwei Tage Vorsprung war alles, was er benötigte, insbesondere jetzt, wo er außerhalb von Sables Befehlsgewalt war und es ihm frei stand, jegliche neue Identität anzunehmen. Er brauchte nur wenig mehr als eine Stunde, um in der anbrechenden Dunkelheit zu der neuen Brücke zu gelangen. Er erreichte sie genau in dem Moment, als die beiden Monde des Planeten einen faszinierenden Kontrast zu der untergehenden Sonne darstellten. Nach kurzer Zeit näherte sich ihm eine ganz in Weiß gekleidete Dame. »Jericho?« Er nickte. »Folge mir, bitte.« Sie drehte sich wieder um und ging voraus, ohne auf seine Zustimmung oder Einwilligung zu warten. Ohne -109-
zu sprechen, liefen sie ungefähr zwei Kilometer am Fluß entlang. Dann führte sie ihn einen stark ansteigenden Weg hoch zu einem kompakten, länglichen Gebäude oben auf der felsigen Steilküste über dem Styx. Die Nacht war hereingebrochen, doch der Innenhof des Gebäudes wurde durch Lampen erleuchtet. Die Frau ging hinein, bedeutete ihm zu folgen, und führte ihn einen langen Gang hinunter. Jericho sah sich nach Symbolen um, die ihm zeigen konnten, zu welcher Sekte die Weiße Lucy gehörte, doch die weißgetünchten Decken und Wände waren frei von religiösen Zeichen. Sie gingen durch einige Räume, die alle sehr spärlich möbliert waren, und standen dann vor einer mächtigen Holztür. Die Frau verharrte einen Moment, nickte und öffnete die Tür. Jericho trat schnell in den Raum. Auf einem Holzstuhl saß eine sehr alte Frau. Ihre Arme hingen so auf den Lehnen des Stuhles, als wäre sie zu schwach, sie zu bewegen. Zu ihren Füßen saß ein junges Mädchen. Beide waren ganz in Weiß gekleidet. »Komm herein und setz dich«, sagte die alte Frau mit kräftigerer Stimme, als er vermutet hätte. Er sah sich um, entdeckte in dem Schatten zwischen den Fenstern einen Stuhl, und ging hinüber. Die Frau, die ihn geführt hatte, verließ den Raum und schloß die Tür hinter sich. Jericho setzte sich und betrachtete die alte Frau. Sie hatte lange graue Haare, die auf ihrem Kopf einen Knoten bildeten, und ihr Gesicht war derartig faltig, daß Jericho gar nicht erst versuchte, ihr Alter zu bestimmen. Sie wandte ihm das Gesicht zu, und er sah, daß auf ihren Augen dünne weiße Membranen lagen. »Du bist die Weiße Lucy?« fragte er. »Ja, das bin ich«, sagte sie. »Du kannst uns jetzt alleine lassen, Dorcas.« Das Mädchen zu ihren Füßen stand auf und verließ den Raum. »Dorcas ist ein nettes Mädchen, aber jetzt, wo du da bist, brauche ich sie nicht mehr.« »Ich verstehe nicht«, sagte Jericho. -110-
»Deine Augen«, sagte sie. »Ich brauche die Augen eines anderen, um durch sie sehen zu können.« »Du siehst das, was ich sehe?« »O ja«, sagte die Weiße Lucy. »Obwohl ich es lieber nicht sähe. Ich war einmal eine sehr schöne Frau.« »Da bin ich mir sicher.« »Vor ungefähr einem Jahrhundert«, fuhr sie fort. »Ich bin jetzt hundertachtundzwanzig Jahre alt. Kannst du dir das vorstellen?« »Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln«, sagte er. »Natürlich haßt du keinen Grund. Aber wenn du ihn hättest, könntest du ihn auch nicht verbergen. Du hast einen kurios glatten Geist, Jericho. Solch einen Geist habe ich noch nie gesehen.« »Oh.« »Wirklich. Die meisten Menschen würden sich fürchten, wenn sie sich mit einer Frau träfen, die ihre innersten Gedanken lesen kann. Du scheinst dir nichts daraus zu machen. Wahrlich, eine seltsame Seele: nicht eine Höhe oder Tiefe. Keine Voflieben, kein Haß, keine Ängste oder Gelüste. Völlig glatt und geschäftsmäßig. Für dich ist es nicht wichtig, ob ich die Wahrheit sage, denn es macht für dich keinen Unterschied, ob ich so alt bin oder nic ht. Aus diesem Grund hast du wohl auch sofort mein Alter akzeptiert. Was für ein sauberer und klarer Geist! Es wäre interessant, ihn aus seinen Bahnen und sorgfältig aufgebauten Meinungen zu reißen, nur um zu sehen, wie er reagiert. Ich könnte es, weißt du?« »Das bezweifle ich nicht«, sagte Jericho. »Wenn du aber die ganze Zeit in meinem Kopf bist, warum reden wir dann überhaupt?« Die Weiße Lucy kicherte. »Weil du kein Telepath bist. Ich kann deine Gedanken lesen, aber du nicht meine. Deswegen habe ich nach dir geschickt: Wir müssen von Angesicht zu -111-
Angesicht miteinander reden. Ach, es würde mich freuen, wenn du aus dem Fenster blicken würdest. Ich liebe den Anblick der Sterne.« »Okay«, sagte Jericho und sah aus dem Fenster. »Du hast nach mir geschickt, und ich bin hier. Was also kannst du für mich tun?« »Als erstes muß ich dich davor warnen, nach Malkuth zu gehen«, sagte die Weiße Lucy. »Warum?« »Weil Conrad Bland die gesamte Bevölkerung von Malkuth, bis hin zu den Kindern, zur Vernichtung vorgesehen hat. In einer Woche wird dort niemand mehr leben, und selbst du, mit all deinen Fähigkeiten, würdest nicht in der Lage sein, während der Zerstörung dieser Stadt zu entfliehen.« »Interessant«, bemerkte Jericho. »Was hat Bland gegen Malkuth?« »Nichts.« »Aber...« »Ah!« rief die Weiße Lucy aus. »So also sieht dein Geist aus, wenn er etwas verwirrt ist! Ein verrücktes Muster. Ich wünschte, du könntest es sehen.« »Warum möchte Bland Malkuth zerstören?« »Weil er ein böser Mann ist.« »Das ist keine Antwort«, sagte Jericho und schloß langsam und bedächtig die Augen. »Was ist passiert?« fragte die Weiße Lucy verwirrt. »Ah! Nun sehe ich es. Ist es nicht etwas infantil, Jericho, wenn du einer armen, schwachen und alten Frau das Sehvermögen stiehlst?« »Du bist weder arm noch schwach«, sagte Jericho kalt. »Ich dachte mir nur, ich bringe dich wieder zum Kern des Gesprächs: Warum sollte Bland Malkuth zerstören wollen?« »Weil es in seiner Natur liegt, Dinge zu zerstören«, sagte die -112-
Weiße Lucy. »Willst du damit sagen, er wäre irgendwie verrückt?« »Nein!« schnappte die alte Frau. »Conrad Bland ist völlig rational. So rational und selbstkontrolliert, wie du es bist. Ich weiß nicht, ob es das personifizierte Konzept des Guten irgendwo im Universum gibt, aber die Gesamtheit des Bösen vereinigt sich in Conrad Bland.« »Wie du es sagst, klingt es ziemlich mystisch«, sagte Jericho. »Dein Geist sagt gerade, daß es hier verlorene Zeit ist, und ich nichts weiter als eine alte, religiöse Fanatikerin bin«, warf ihm die Weiße Lucy vor. »Doch dein Geist war noch nicht dort wo meiner war. Ich versichere dir ehrenwörtlich, daß Conrad Bland das Leben des ganzen Planeten zerstören wird, wenn man ihn nicht aufhalten kann.« »Das ergibt aber keinen Sinn. Walpurgis ist der einzige Planet der Republik, der ihm Asyl gewährt.« »Er macht es nicht, weil es einen Sinn ergibt, sondern weil es seine Natur ist«, sagte die Weiße Lucy. »Er sah nie eine Alternative zur Zerstörung von Walpurgis. Er wird auch nie eine sehen.« Sie machte eine kleine Pause. »Warum bist du so verwirrt?« »Du hast mich von deiner Ehrlichkeit überzeugt«, gab er mit einem sardonischen Lächeln zu. »Doch da du in meinem Geist lesen kannst, weißt du natürlich auch immer die überzeugenden Antworten. Trotzdem macht es keinen Unterschied. Mir persönlich ist es egal, warum du Bland tot sehen möchtest. Ich will nur wissen, wie du mir helfen könntest und warum du annimmst, ich könnte ihn nicht allein umbringen.« »Du brauchst unsere Hilfe, da du einen schweren Fehler gemacht hast«, sagte die Weiße Lucy und bewegte sich leicht auf ihrem Stuhl. »Die Zeitungsanzeige?« fragte er. -113-
»Die war nicht so schlimm. Nein, dein Fehler war der Mord an Parnell Burnam.« »Wer ist das?« »Dein erstes Opfer.« »Ich mußte herausfinden, wie...« »Ich kenne deine Gründe«, unterbrach sie ihn. »Aber das brachte John Sable ins Spiel, und er ist um einiges schlauer, als du angenommen hast. Doch selbst da wollte ich mich nicht einmischen, aber nun hat er Bland alles gesagt, was er wußte, und ich konnte unser Treffen nicht länger hinausschieben.« »Warum?« fragte Jericho. »Bland weiß genausowenig, nach wem er suchen soll, wie Sable. Ich werde die Identitäten, die ich in Amaymon angenommen habe, nicht mehr benutzen.« »Bland weiß genau, nach wem er Ausschau halten muß«, sagte die Weiße Lucy und strich mit ihrem Fuß über den Boden. »Er kann natürlich nicht so auf dich zeigen, wie ich es kann, aber er weiß, daß ein Attentäter der Republik auf dem Weg nach Tifereth ist. Alleine heute hat er mehr als siebenhundert Menschen getötet, die in einen Radius von dreihundert Kilometern um Tifereth eindrangen. Morgen werden es noch mehr sein. Er baut einen Tod und Verderben bringenden Wall um sich auf und wird jedes Lebewesen töten, das sich ihm nähert.« »Dann sehe ich aber keine Möglichkeit, wie du mir helfen könntest, nach Tifereth zu gelangen«, sagte Jericho. »Erstaunlich!« »Wie bitte?« »Die Tatsache, daß er all diese unschuldigen Menschen umbringt, macht dir nichts aus, oder?« »Ein Profi in meinem Geschäft kann sich keinerlei Gefühlsduseleien leisten.« »Nach allem, was ich dir gesagt habe, ist dein Interesse an -114-
Bland nicht größer als an einem Insekt. Dir selbst ist es egal, ob er lebt oder stirbt, außer daß es Auswirkungen auf deine Belohnung haben könnte.« »Warum sind meine Motive für dich von Belang, wenn es doch nur darum geht, ihn zu töten!« fragte Jericho. »Jede Minute, die ich hier verliere, ist eine Minute, die er zum Aufbau seiner Verteidigung gewinnt. Ich freue mich über die Tatsache, daß auch du ihn lieber tot sehen würdest. Es ist ebenfalls angenehm zu wissen, daß du in seinem Geist oder auch in den Gedanken seiner Sicherheitskräfte lesen kannst. Aber ich verstehe nicht, wie du mir helfen könntest, wenn er doch alles tötet, was sich Tifereth nähert. Nebenbei gesagt, du kannst mich ja auch nicht telepathisch instruieren, wenn ich hier erst mal verschwunden bin, selbst wenn du wichtige Neuigkeiten für mich hättest.« »Doch, das kann ich«, sagte sie. »Ich habe auf ganz Walpurgis Empfangsstationen.« »Deine Weißen Hexen?« »Meine Leute - wir sind keine Weißen Hexen. Wir praktizieren weder magische Rituale noch Teufelsrituale. Wir sind nur Frauen mit einer bestimmten Gabe.« »Warum tragt ihr dann weiße Kleidung?« fragte er. »Zur Tarnung. Das solltest gerade du verstehen.« »Und du hast Leute mit deiner Gabe überall auf dieser Welt?« fuhr er fort. »Nicht genauso wie ich. Die meisten von ihnen können nur empfangen. Einige wenige können senden. Aber nur ich kann beides.« »Ich kann mir nicht helfen, aber du scheinst mir eine ganz schön gefährliche Person zu sein«, sagte Jericho und stand auf, um sich zu recken. »Sei kein Narr«, sagte sie. »Warum sollte ich deine Identität -115-
und deinen Aufenthalt vor der Polizei geheimhalten und dir meine Kräfte offenbaren, wenn ich nicht auf deiner Seite stünde?« »Ich weiß nicht«, sagte Jericho, lief durch den Raum und starrte müßig auf einige Flecken an der Wand. »Ich wünschte, ich wüßte es.« »Du bist ein sehr mißtrauischer Mensch«, sagte die Weiße Lucy. »Dein Geist wurde darauf konditioniert. Ich sage dir die Wahrheit, aber um es mit deinen eigenen Worten auszudrücken - was macht es für einen Unterschied? Wir beide wollen, daß Bland endlich stirbt, und ich habe dir meine Hilfe angeboten. « Er sah sie lang und hart an, versuchte ihr verwittertes Gesicht zu erforschen und wurde sich gleichzeitig bewußt, daß sie vielleicht im gleichen Moment in seinem Geist wühlte, nach schwachen Punkten Ausschau hielt, die sie noch widerlegen konnte, damit er ihre Hilfe akzeptieren würde. Plötzlich, als er an nichts zu denken versuchte, schoß ihm eine groteske erotische Bildfolge durch den Kopf. Verlegen versuchte er sie aus seinem Denken zu vertreiben, aber je stärker er sich bemühte, desto mehr gruben die Bilder sich hinein. »Sehr schön, Jericho«, sagte die Weiße Lucy lächelnd. »Das ist normalerweise die erste Reaktion, wenn jemand bemerkt, daß ich seine Gedanken lese. Ich nenne es die verspätete Reaktion... Oh! Das ist mal was Neues.« Er fühlte eine nervöse Unruhe. Schließlich holte er das Bild von Benson Rallings in seinem Todeskampf hervor. Er fühlte sich weder angenehm noch unangenehm. Er konzentrierte sich darauf. »O ja, du lernst schnell. Wenn es zu deinem Wohlbefinden beiträgt, werde ich mich aus deinem Geist zurückziehen.« Er fühlte keinen Unterschied und wußte nicht, ob er ihr glauben konnte. Er zeichnete in seinem Geist das Bild, wie er sie aufschlitzte und ausnahm und wartete auf ihre_Reaktion. Es gab -116-
keine. »Na gut«, sagte er dann, immer noch nicht sicher, ob sie ihr Versprechen hielt, aber er sah auch keine Alternative als ihr, wenigstens im Mome nt, zu glauben. »Wie könnten deine Leute helfen?« »Ich habe dafür gesorgt, daß du morgen vor Sonnenaufgang an Bord eines Frachters gehen kannst, der den Styx hinaufschippert«, sagte die Weiße Lucy. »Dorcas wird dich begleiten.« »Nein«, sagte er entschieden. »Ich arbeite alleine.« »Das weiß ich«, sagte sie. »Aber nun läßt du mich bitte ausreden. Dorcas wird dich so lange begleiten, bis ich weiß, daß der Aufenthalt auf dem Fluß nicht mehr sicher ist. Dann wird sie hierher zurückkehren, du wirst an Land gehen und dich nach Norden in Richtung Tifereth aufmachen. In den meisten Städten von Walpurgis arbeiten meine Leute als Wahrsager und Handleser. Da ich in der Lage bin, die Gedanken meiner Kunden zu lesen und ihnen die richtigen Informationen zukommen lassen kann, sind wir doch ein wenig erfolgreicher als unsere Mitstreiter in diesem Gewerbe und verdienen dadurch genug Geld, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Ich habe in den meisten Städten zwischen hier und Tifereth Frauen stationiert. Sie werden in der Lage sein, dir alle neuen Entwicklungen zu erklären. Sie werden dir die Aufstellung von Blands Streitkräften und jedem ihrer weiteren Versuche, deinen Aufenthalt zu bestimmen, mitteilen können. Sie werden wissen, welche Städte noch sicher und welche deiner Verkleidungen durchschaut worden sind.« »Es gibt aber eine Menge Wahrsager hier in der Gegend«, sagte Jericho. »Woher soll ich wissen, welche zu dir gehören?« »Sie tragen weiße Kleider.« »Das tun auch die Weißen Hexen.« »Weiße Hexen wahrsagen aber nicht«, erklärte die Weiße -117-
Lucy. »Hast du auch Leute in Tifereth selber?« fragte er. »Ich hatte. Jetzt sind sie tot.« »Warum? Hat Bland herausgefunden, wer sie sind?« »Nein.« »Warum hat er sie dann umbringen lassen?« bohrte Jericho nach. »Weil es seiner Veranlagung entspricht, einfach alles zu töten«, sagte die Weiße Lucy. »Genießt er es?« »Nicht mehr und nicht weniger als du das Atmen«, sagte sie leise. »Ich verstehe nicht.« »Es ist nun einmal die Art des Bösen, böse Dinge zu tun. Du tötest berechnend und ausgesuc hte Leute. Er tötet aus Zwang. Du siehst eine gewisse Schönheit, eine Art Symmetrie, in einer gut geplanten Jagd und einer exzellent ausgeführten Hinrichtung. Er empfindet keine Schönheit oder Symmetrie oder Befriedigung dabei, wenn er Menschen das Leben nimmt, da er es nie in Betracht gezogen hat, es auch nie tun wird, jemandem das Leben nicht zu nehmen. Ihr beiden seid die verschiedenen Pole. Du tötest, weil du es kannst und er, weil er es muß. Die Aussicht, daß du das Instrument seiner Zerstörung sein wirst, oder er das deiner, enthält doch eine gewisse Ironie.« »Er, das Instrument meiner Zerstörung?« wiederholte Jericho. »Was redest du da?« »Ich kann dich zu ihm führen«, sagte die Weiße Lucy. »Ich kann dir helfen, seine Verteidigungswälle zu durchdringen. Aber ich kann den Todesstoß nicht ausführen. Das kannst ausschließlich du.« »Impliziert das, daß ich dazu nicht fähig bin?« »Oh, du hast die Fähigkeit zu töten«, sagte sie. »Daran kann es wohl kaum einen Zweifel geben, oder? Und natürlich werden -118-
wir beten, daß du erfolgreich bist, denn wenn du es nicht bist, wird Walpurgis eine einzige riesige Grabesstätte werden. Aber Conrad Bland ist nicht wie die anderen Männer, denen du bisher gegenübergestanden hast. Für diesen Mann ist die Zerstörung nur eine weitere natürliche Körperfunktion. Du wurdest zum Töten erzogen und trainiert, er aber wurde dazu geboren.« Sie unterbrach sich und richtete ihre bedeckten, nicht sehenden Augen auf ihn. »Er ist die Quintessenz des Bösen, während ich in deinem Geist keine Spur von Bösem finden kann. Ich kann nur hoffen, daß ihm dies keinen unüberwindlichen Vorteil bietet.« »Das ganze wird mir langsam etwas zu metaphysisch«, sagte Jericho. »Er ist aus Fleisch und Blut wie jeder andere Mensch, und genauso wie jeder andere Mensch kann er auch getötet werden. Morgen früh werde ich nach Tifereth aufbrechen.« »Richtig«, sagte die Weiße Lucy. »Die Metaphysik gehört nicht in dieses Geschäft. Ich sollte meine letzte Frage ungestellt lassen.« Er zeigte keinerlei Interesse daran, doch Tausende von stillen Stimmen von dem ganzen Planeten drängten sie dazu die Frage zu stellen, und schließlich tat sie es:
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13 Wenn er die Kraft hat, das ultimate Böse zu töten, ist er dann nicht die größere Geißel? »Es besteht ein grundlegender Unterschied darin, eine helfende Hand abzuweisen oder sie zu verstümmeln. Ich würde niemals eine abweisen.« Conrad Bland Am frühen Morgen, gerade als im Osten die Sonne aufging, standen Jericho und Dorcas an der Reling des Schiffes und betrachteten das vorbeirauschende Wasser. Plötzlich drehte er sich um und sah sie an. »Nun?« fragte er. »Nun? Was meinst du damit?« fragte das Mädchen zurück. »Ich fragte mich gerade, wieviel Kilometer es noch nach Tifereth sind, wenn ich es schaffen kann, auf dem Fluß zu bleiben«, sagte er. »Ich dachte, du könntest meine Gedanken lesen?« »Nein«, erwiderte Dorcas. »Das verwirrt mich ein bißchen«, sagte Jericho. »Was nützt es uns denn, wenn du die Botschaften der Weißen Lucy nicht empfangen kannst?« »Das ist eine andere Sache«, sagte sie. »So? Warum?« »Laß uns frühstücken gehen, ich werde es dir während des Essens erklären«, sagte sie und führte ihn in die Kombüse. Sie waren allein, die kleine Crew hatte schon sehr zeitig gegessen. Dorcas wählte Eier, Müsli und Toast, während Jericho Sojaprodukte vorzog. »Es ist nicht so, daß ich den Geschmack dessen, was du da ißt, nicht mag«, sagte er, als sie ihn fragend ansah. »Es ist nur so, daß es bei den meisten Kolonialwelten an der Voraussicht oder am Geld mangelt, Zuchttiere von der Erde zu importieren, -120-
aber nahezu alle haben daran gedacht, Sojabohnen mitzubringen. Du hast bis jetzt dein ganzes Leben auf Walpurgis zugebracht, aber ich war auf schon Hunderten verschiedener Welten, alle mit unterschiedlicher, selbstangebauter Nahrung. Meine Körpersysteme würden nach einiger Zeit, bei dem ständigen Wechsel, nicht mehr mitspielen, also ziehe ich immer Sojaerzeugnisse, wenn sie erreichbar sind, vor. Sie schmecken meistens gleich - ein bißchen fad vielleicht - aber ich werde davon nicht krank.« »Man kann es sich nur schwer vorstellen, einen solch erfolgreichen Killer mit Magenschmerzen anzutreffen«, lachte Dorcas. »Ich werde sie nicht bekommen«, sagte er. »Durch meine Aufmerksamkeiten im Detail bin ich ja so erfolgreich. Ich bin auch sicher, daß du mir nun ein weiteres Detail erklären wirst.« »Ja«, sagte sie und spülte etwas Müsli mit einem Glas Milch hinunter. »Als erstes mußt du einsehen, daß wir keine Supermenschen sind. Wir sind nur Menschen mit einer bestimmten Gabe. Einer sehr beschränkten Gabe. Ich bin ein Empfänger, kein Gedankenleser. Ich kann die Gedanken empfangen, die mir die Weiße Lucy oder eine der anderen zweitausend Sender schickt. Aber deine Gedanken kann ich nicht lesen. Genausowenig, wie ich die Gedanken eines Menschen lesen kann, der nicht in der Lage ist, diese zu senden. Das kann nur die Weiße Lucy.« »Wie viele von dir gibt es hier?« fragte Jericho. »In der Galaxis? Ich habe keine Ahnung.« »Nein, ich meinte auf Walpurgis.« »Um die sechstausend, bis jetzt«, sagte Dorcas und wandte sich den Eiern zu. »Die Weiße Lucy hat uns auf ihren Exkursionen durch die ganze Republik zusammengeführt. Natürlich hat sie in letzter Zeit keine mehr unternommen. Ihre -121-
letzte Reise war vor fünf Jahren.« »Mich überrascht schon, daß sie es von einem Raum zum anderen kann, also laß jetzt die Weltraumflüge aus dem Spiel«, bemerkte Jericho. »Unsere Weiße Lucy ist eine starke Frau, jedenfalls stärker, als du annimmst. Sie hat sich nur dazu gezwungen, so lange zu leben, um eine Nachfolgerin zu finden.« »Für sich selbst?« Dorcas nickte, wartete aber mit der Antwort noch einen Moment, um nicht mit vollem Mund zu sprechen. »Wir alle sind, bis auf sie, nur teilweise telepathisch veranlagt. Sie wird sich so lange am Leben erhalten, bis wir jemanden mit ihren Kräften gefunden haben.« »Sie ist nun weit über hundert«, sagte Jericho. »Was läßt sie glauben, daß es noch jemanden wie sie gibt?« »Sie hat schon jemanden gefunden«, sagte Dorcas. »Eine Frau von Gamma Epsilon IV. Aber sie ist verrückt.« »Das war die einzige?« »Ja. Doch die Exis tenz dieser einen zeigt, daß es noch mehr geben könnte. Die meisten unserer Sender befinden sich auf anderen Planeten, um einen wahren Telepathen zu finden. Während dieser Suche rekrutieren sie noch weitere Teiltelepathen für Walpurgis.« »Rekrutieren?« fragte Jericho. »Das hört sich ja wie eine militärische Organisation an.« Sie kicherte. »Habe ich irgend etwas Komisches gesagt?« fragte er. »Uns mit einer Armee zu vergleichen, das finde ich lustig«, sagte sie. »Hast du noch nicht herausgefunden, warum wir uns zusammengeschlossen haben?« »Ich nehme an, du wirst es mir sagen.« -122-
»Wir sind allein!« »Warum?« wollte Jericho lächelnd wissen. »Unter Blinden sind doch die Einäugigen Könige.« »Nicht, wenn sie alle in der Dunkelheit leben«, erwiderte Dorcas. »In einer normalen Gesellschaft aufzuwachsen, ist wie, ach, es ist schwer zu beschreiben... als wenn du dein Radio anstellst und bemerkst, daß niemand senden kann.« »Warum gerade Walpurgis?« »Warum wir alle hierher gekommen sind? Natürlich weil die Weiße Lucy hier is t.« »Aber warum ist sie hier? Sie glaubt doch nicht an diesen übernatürlichen Hokuspokus.« »Das ist richtig, aber sie glauben an uns«, sagte Dorcas. »Wir leben hier in einer isolierten Gesellschaft, was für uns bedeutet, daß außer dir hier keiner dieser Geschäftstypen der Republik herumwirbelt. Außerdem setzt sie sich aus ziemlich fremdartigen Glaubensrichtungen und Gebräuchen zusammen, die sie unserem Talent gegenüber sehr tolerant macht. Sie lassen uns in Ruhe und unser Leben leben, während wir versuchen, unser Talent zu reproduzieren.« »Ihr wollt es reproduzieren? Wie soll das funktionieren?« »Ich weiß es nicht genau. Warte, ich werde die Weiße Lucy zu dir sprechen lassen.« Sie schloß für einen Moment die Augen, dann blickte sie ihn wieder an. »Zum ersten ist es eine geschlechtsspezifische Sache, da selbst die Teiltelepathie eine Kraft ist, die nur Frauen besitzen. Wahrscheinlich ist sie auch rezessiv, wobei wir aber nicht sicher sind, ob es sich um einfache oder komplexe Rezessivität handelt, da wir den Ablauf bei Männern nicht nachvollziehen können. Ich wiederhole dir nur, was sie mir gesagt hat - verstehst du es?« »Etwas«, sagte Jericho. »Die beste Möglichkeit für euch scheint mir zu sein, eure Weiße Lucy zur Zucht zu gebrauchen.« -123-
Dorcas schloß wieder für einige Sekunden die Augen. »Sie ist unfruchtbar. Wie auch die Frau auf Gamma Epsilon IV, Die Weiße Lucy nimmt an, daß jede Frau mit ihren Fähigkeiten steril sei, auch wenn sie nicht weiß, warum das so ist.« »Mich müßt ihr da nicht fragen«, sagte Jericho. »Vielleicht fragst du die Weiße Lucy jetzt besser, ob Bland seinen Verteidigungsring letzte Nacht zusammengezogen hat.« »Sie sagt, er habe dies nicht getan, da er keinen Verteidigungsring in diesem Sinne aufgebaut hat, den er enger ziehen könnte.« »Was meint sie damit?« »Er töte jeden innerhalb dieses Bereiches, ohne sich darum zu scheren, ob er ihm mißtraut oder nicht.« »Schließt das auch seine eigenen Leute ein?« »Wenn ihm danach ist«, sagte Dorcas. »Interessant«, sagte Jericho, schürzte die Lippen und verfiel für den Rest der Mahlzeit in Schweigen. Den Tag verbrachte er auf Deck und betrachtete das Ödland dieser Küste, während das Schiff stetig voran kam. Es war eine eigenartige Welt - es gab zwar nichts, was er nicht schon durch die Karte in Ubusukus Apartment erfahren hatte, aber es war nichtsdestotrotz eine fremdartige Welt. Alle paar Stunden kamen sie an einer Stadt oder einem Dorf vorbei, aber dazwischen war nichts. Weder Vorstädte noch Außenbezirke und keine Großgrundbesitztümer. Es gab einige kleinere Farmen, und über diese befragte er Dorcas. »Die meisten davon sind Kooperativen und gehören einigen Stadtbewohnern«, erzählte sie ihm. »Die Mehrzahl der walpurgischen Bürger mag das Landleben nicht besonders.« »Wer bearbeitet das Land?« fragte er, mit dem Hintergedanken, ob Farmer vielleicht relativ sicher vor Blands Überraschung wären. »Roboter.« -124-
»Unsinn. Heutzutage setzt doch niemand mehr irgendwelche Roboter ein.« »Auf Walpurgis schon.« Eine weitere Anomalität. Die Menschheit hatte sich nicht weiter mit Robotern beschäftigt, als man erkannt hatte, daß der auferzwungene Müßiggang, dem man durch den Einsatz von Robotern ausgesetzt war, auch nicht zufriedenstellte. Sie waren zwar nicht verboten, aber doch in gewisser Weise kaltgestellt. Also waren hier auf Walpurgis, dank der Isolation durch die republikanische Planetengemeinschaft, Roboter wieder zur Basis der Landwirtschaft geworden. »Sind denn auch Menschen zur Überwachung eingesetzt?« fragte er dann. »Sehr wenige«, antwortete Dorcas. »Es sind ziemlich hochentwickelte Maschinen.« »Sie haben nicht zufälligerweise ein humanoides Aussehen, oder?« Sie schüttelte den Kopf. »Warum sollten sie für die Farmarbeit ein humanoides Äußeres bekommen? Es sind Erntemaschinen, Drescher und Binder. Sie besitzen ausschließlich funktionale Intelligenz. Übrigens läßt dir die Weiße Lucy ausrichten, daß es trotzdem eine nette Idee war.« »Ich lasse ihr herzlich danken«, erwiderte Jericho ironisch. Die nächsten drei Tage vergingen ohne jeden Zwischenfall, und Jericho konnte sein Wissen über die Gesellschaft von Walpurgis weiter vertiefen. Es war auch einfacher, als er zuvor angenommen hatte, da die Weiße Lucy einer der'drei noch lebenden Originalsiedler war. Sie brachte etwas Licht in die für ihn so mystisch anmutenden historischen Gebräuche dieses Planeten. Das Wichtigste, was er dabei lernte, war, daß nicht alles, was er in Amaymon gesehen hatte, unbedingt auf die anderen Städte von Walpurgis übertragbar war. Amaymon war eine -125-
aufblühende Flußstadt, der Schmelztiegel walpurgischer Kultur und erste Anlaufstelle für Besucher. Die Rituale in dieser Stadt hatten eher symbolischen Charakter und dadurch, daß die Bewohner der Stadt nahezu allen Sekten huldigten, verschwammen die Grenzen und damit auch der wahre Glaube. Die meisten der anderen Städte unterschieden sich stark von Amaymon. Hier waren das Böse und die Huldigung des Teufels oder Schwarze Messen weitaus mehr als nur Lippenbekenntnisse: Sie lebten danach, selbst wenn dadurch anarchische Zustände geschaffen wurden. Die Weiße Luc y versicherte ihm, daß er, je näher er Tifereth kam, Anzeichen entdecken würde, die selbst seinen flachen, emotionslosen Geist schockieren würde. Es gäbe Folterriruale, nicht so wie diejenigen, denen sich Bland zuwandte, geboren aus glühender religiöser Hingabe. Auch gäbe es Zeremonien, die auf die groteskesten Riten der Erde des Altertums zurückgingen. Perversionen - nicht nur sexueller Art -, die man nirgendwo in der Galaxie sähe. Die Weiße Lucy würde ihm helfen, die Gebräuche der verschiedenen Städte auseinanderzuhalten, doch gleichzeitig unterrichtete sie ihn über die Grundlagen der Farbtarnung dieser Welt, da es auch Zeiten geben würde, in denen ihm nicht von den Empfängerinnen der Weißen Lucy geholfen werden könnte. Punkt um Punkt erklärte sie Details, die ihm helfen würden, sein Leben und seine Identität zu schützen und deren Bedeutung Ubusuku nicht einmal erahnt hätte. Über allem stand die stetige Warnung, niemals die Aufrichtigkeit und die innere Gewißheit zu unterschätzen, die diese Leute verspürten. Leben und leben lassen möge für die Weiße Lucy, ihre Anhänger und vielleicht auch für den Rest der Republik stimmen - nicht jedoch für die Leute in diesen Städten, die sich nur den eigenen Regeln, den religiösen und juristischen, unterwarfen. Entweder man verhielt sich nach den Regeln, oder man muße die Konsequenzen tragen, von deneji allerdings keine einzige besonders angenehm war. -126-
Am Morgen des fünften Tages, sie hatten ungefähr die Hälfte des Weges nach Tifereth zurückgelegt, sah Dorcas während des Frühstücks plötzlich Jericho an. »Es ist soweit«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Die Weiße Lucy?« fragte er. Dorcas nickte. »Sie sagt, wir würden in den nächsten drei Stunden an eine Sperre gelangen.« »Sollen wir durchzubrechen versuchen?« fragte er, obwohl er sich schon darauf eingestellt hatte, an Land zu gehen. »Nein. Die Crew würde gefoltert werden, und früher oder später würde einer von ihr zugeben, uns nördlich von Amaymon an Bord genommen zu haben. Wenn das geschieht, würdest du nicht am Leben bleiben.« »Was wird mit dem Schiff?« »Der Kapitän des Schiffes ist einer der wenigen Außenstehenden, die von der Kraft der Weißen Lucy wissen. Wenn ich ihm sage, daß er umdrehen und Kurs auf Amaymon nehmen soll, wird er dies tun, ohne weitere Fragen zu stellen.« »Nun gut«, sagte Jericho. »Es hat keinen Zweck, wenn ich ein Ruderboot nehmen würde, es könnte mich vielleicht verraten. Ich denke, es ist besser, wenn ich schwimme. Warte noch zehn Minuten, nachdem ich es bis zur Küste geschafft habe und sprich dann mit dem Kapitän.« »Alles klar«, sagte Dorcas. »Wie heißt die nächste Stadt?« »Das ist Kether. Sie liegt ungefähr fünfundzwanzig Kilometer nördlich von hier am Fluß.« »Laß das Schiff nicht bis dorthin kommen. Dreht vorher um. Ich möchte, daß niemand eine Verbindung zwischen mir, dem Schiff und Kether feststellen kann.« »Ich verstehe.« Er ging zu seiner Kabine, suchte kurz die wenigen Sachen zusammen, die er brauchte, verstaute sie in einer wasserdichten Tasche und ging wieder an Deck. -127-
»Ich hoffe, dieses Kether ist eine Stadt, in der die Weiße Lucy eine Kontaktperson besitzt«, sagte er. »Ist es«, sagte Dorcas. »Eine Wahrsagerin namens Cybele. Du findest sie auf dem Platz des Stillstands, einem Einkaufszentrurn im Herzen der Stadt.« »O. k.«, sagte Jericho. »Denk daran: zehn Minuten.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ließ er sich in das kalte und dunkle Wasser des Styx gleiten und verschwand unter der Wasseroberfläche.
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14 »Ein kleines Gemetzel sollte niemanden abschrecken, der sich ein Ziel gesetzt hat.« Conrad Bla nd Als er an Land und außer Sichtweite des Schiffes war, legte Jericho seine nasse Kleidung ab und zog die Arbeitskleider an, die er in der wasserdichten Tasche verstaut hatte. Dann verpaßte er sich eine lange Narbe am rechten Backenknochen und eine kleinere über dem linken Auge. Innerhalb weniger Minuten machte er seine Augenbrauen buschiger und seine Gesichtsfarbe etwas bleicher. Nachdem er einen neuen Scheitel gelegt hatte, war sein Alter nur noch schwer zu bestimmen. Es schien irgendwo zwischen fünfunddreißig und fünfzig zu liegen. Er lief auf Kether zu, wobei er den wenigen Straßen, die er sah, fernblieb. Als er sich ungefähr fünfzehn Kilometer vor der Stadt befand, blieb er stehen, entfernte den Staub von Schuhen und Kleidern und entschied sich dann, zur nächsten Hauptverkehrsstraße zu gehen. Im Straßengraben daneben wartete er auf einen Lastwagen, der ihn zur Stadt bringen würde. Er mußte nicht lange warten. Der Lkw kam von einer der nahegelegenen Farmen, und er schaffte es, sich an die Holzlatten zu hängen, die die Ladefläche des Lastwagens sicherten. Als er kurz darauf in Kether einfuhr, saß Jericho zusammengekauert hinten auf der Ladefläche. Er nahm die Möglichkeit wahr und stopfte sich einige Äpfel in die Taschen. Er mochte sie zwar überhaupt nicht, aber vielleicht würde er keine Zeit haben, in Kether ein Restaurant aufzusuchen. Jericho wartete, bis der Lastwagen durch eine relativ unbelebte Straße fuhr und sprang dann ab. Er landete perfekt, sah sich noch schnell um, ob ihn auch niemand gesehen hatte, und ging dann sofort in der entgegengesetzten Richtung zurück. -129-
Nach drei Blocks stieß er auf eine große Kreuzung, überquerte sie, blieb einen Moment nachdenklich stehen, so als ob er sich an etwas erinnern würde, und ging dann links die Straße hinunter. Das wiederholte er so lange, bis er wieder an seinem Ausgangspunkt stand. So konnte er wenigstens überprüfen, ob ihm jemand folgte. Noch immer nicht sicher, lief er wieder zwei Blocks weiter und verschwand dann zwischen zwei Gebäuden. Vom Schatten verborgen, blieb er dort zehn Minuten stehen. Niemand folgte ihm, und so trat er wieder auf die Straße. Wenn ihm jemand gefolgt wäre, würde ihn dieser jemand nun einen Block weiter vermuten. Jericho hatte keine Karte von Kether gesehen, aber es war nicht besonders schwer, von dem ausgehend, was er bisher von der Stadt gesehen hatte, auf den gesamten Aufbau zu schließen. Sie schien in konzentrischen Kreisen angelegt zu sein wahrscheinlich waren es aus religiösen Gründen neun Kreise die regelmäßig von Hauptstraßen, die sternförmig vom Zentrum der Stadt ausstrahlten, unterbrochen wurden. Da er nicht wußte, wie weit er vom Zentrum der Stadt entfernt war, konnte er nicht genau bestimmen, wie viele Hauptstraßen es waren, doch er schätzte ihre Zahl auf acht bis höchs tens zwölf, da Dorcas ihm gesagt hatte, Kether hätte ungefähr hunderttausend Einwohner. Die Architektur unterschied sich stark von der Amaymons. Es gab hier keine Anlehnung an gotische Kirchen oder viktorianische Spukhäuser. Kether war aus Stahl und Glas erbaut, alles war rechtwinklig. Als er sich zum Stadtmittelpunkt aufmachte sah er auch warum: Jedes der Häuser besaß Solarzellen zur Energiegewinnung, was grundsätzlich eine richtige Entscheidung gewesen war, da Kether, wie auch die meisten anderen Städte von Walpurgis, anfangs wohl nicht mit den nötigen Geldmitteln ausgestattet war, um sich eine Fusionsanlage leisten zu können, und zudem von den Nachbarstädten weitgehend isoliert lag. Als die Stadt wuchs und -130-
sich ausdehnte, gab es für die Stadtväter auch weiterhin keinen Grund, eine Anlage aufzubauen, da schon alle Gebäude durch Sonnenlicht betrieben wurden. Eigentlich hatte er sich eine Zeitung kaufen wollen, da dies der schnellste Weg war, etwas über eine Stadt zu erfahren, mußte sich aber dagegen entscheiden, da er nicht wußte, welche Währung in Kether benutzt wurde. Auf seinem Weg kam er durch eine kleine Verkaufspassage, und vor einem Geschäft hielt er für einen Moment an, um sich die Videoauslage anzusehen. Leider wurden auch hier nur die langweiligen Seifenopern gezeigt, die auf Walpurgis so populär waren, und ihm auch keine neuen Informationen boten. Außerdem zeigten ihm einige Außenaufnahmen, daß diese Filme nicht in Kether spielten. Er kam an einem verkrüppelten Bettler vorbei, der seine fehlenden Be ine durch einen handgefertigten Karren zu ersetzen versuchte. Durch einen schnellen Blick in den Hut, den der Bettler hielt, wollte sich Jericho einen Überblick über die gültige Währung verschaffen. Es half nicht viel: Der Bettler hatte einen schlechten Vormittag, und so konnte er die wenigen Münzen, die sich in dem Hut befanden, nicht erkennen, ohne allzuviel Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er setzte seinen Weg fort, und sah dann zwei Blocks weiter eine große Menschenmenge auf der Straße stehen. Zuerst wollte er in eine Seitenstraße abbiegen, um ein Zusammentreffen mit ihnen zu vermeiden. Dann aber beschloß er, sich unter die Leute zu mischen, einige Gesprächsfetzen aufzuschnappen und sich auch die eine oder andere Brieftasche anzueignen. Während er näher kam, hörte er die Schreie und Seufzer eines Kindes aus der Mitte der Menschenmenge heraus. Plötzlich ertönte ein Gong, und als Jericho aufblickte, sah er satanistische Zeichen auf dem Gebäude vor sich, so daß er annehmen konnte, daß es sich um eine Kirche handelte. Er ging zum Rand der Menschenmasse, stahl in Sekundenschnelle zwei Brieftaschen und mußte -131-
erkennen, daß er sich dadurch in eine Menschenschlange eingereiht hatte. Er wußte nicht, wohin ihn diese Schlange führen würde, aber es war ihm klar, daß es weniger auffällig sein würde, wenn er sich wie alle anderen in dieser Schlange verhielt. Nach ein paar Minuten konnte er genau sehen, was dort vor sich ging. Ein Priester und eine Priesterin, beide verhüllt und schwarz gekleidet, standen vor der Tür der Kirche auf einer fünfeckigen Plattform, ungefähr fünfzehn Zentimeter über dem Boden. Vor ihnen stand ein Obsidianaltar, auf dem ein nackter, vielleicht zwölf Jahre alter Junge lag. Jeder, der sich in der Reihe aufgestellt hatte, nahm von der Priesterin ein Messer und drückte es gegen den Oberkörper des Jungen, während der Priester in einer Sprache sang, die Jericho nicht kannte, von der er aber annahm, daß es sich entweder um Latein oder Enochisch handelte. Zuerst dachte er, es wäre ein Ritualmord, doch als er weiter nach vorne kam, zeigte sich ihm, daß dies nicht der Fall sein konnte, da der Junge sonst schon längst tot gewesen wäre. Er wußte wenig über die Satanisten, doch Töten war sein Job, und er hatte die Erfahrung gemacht, daß höchstens einer unter fünfzig Männern Bauchwunden zufügen konnte, die zwar verstümmelten, aber nicht tödlich waren. Je näher er der Szene kam, um so besser durchschaute er sie. Man hatte dem Jungen einige kabbalistische Zeichen auf Brust und Bauch gemalt, und die Versammlung - wie er sie nun nannte - tätowierte ihm nun mit dem Dolch die Zeichen ein. Es war vielleicht etwas schmerzhaft, doch es schien eine relativ normale rituelle Handlung zu sein, um die Entwicklung eines Kindes zum Mann anzudeuten, denn niemand kümmerte sich sonderlich um die Schreie des Jungen. Als vor ihm nur noch zwei Menschen standen, konzentrierte er sich auf deren Handlungen. Beide preßten die Klinge gegen die Lippen, murmelten einige unverständliche Worte und zogen dann das Muster ungefähr zwei Zentimeter weiter. Er sah dann -132-
auch, daß das Messer der Priesterin zurückgegeben wurde und der Priester schnell eine Art Salbe über die frische Wunde strich. Schließlich war er an der Reihe. Jericho trat auf die fünfeckige Plattform, nahm von der Priesterin den Dolch, murmelte leise, so daß ihn niemand hören konnte, einige Worte und fügte dem Oberkörper des Jungen eine weitere Wunde zu. Dann gab er die Klinge zurück, trat von der Plattform und begab sich wieder auf seinen Weg in Richtung Innenstadt. Er hatte vielleicht zwei Blocks zurückgelegt, als ihm eine kräftige Hand auf die Schulter gelegt wurde. Er drehte sich um und sah in die kalten blauen Augen eines schlanken, gutgekleideten und leicht untersetzten Mannes. »Nette Show, die du da abgezogen hast«, sagte der Mann. »Was meinst du damit?« fragte Jericho. »Die Belphegor-Zeremonie«, sagte der Mann. »Nicht einmal der Priester hat etwas gemerkt.« »Ich weiß nicht, wovon du redest.« »Ich glaube, es ist besser, wenn du mit mir kommst«, sagte der Mann. Er griff nach Jerichos Arm. Einen Moment widersetzte sich Jericho, um sicherzugehen, daß niemand in der Nähe war. Mit einer fließenden Bewegung stach er dem Mann mit Daumen und Zeigefinger in beide Augen. Der Mann stolperte, lockerte den Griff und riß den Kopf zurück. Ein schneller Handkantenschlag genügte, um den Adamsapfel des Mannes zu zertrümmern. Er war schon tot, bevor er zusammenbrach. Jericho sah sich um, sah einige Leute flüstern und mit dem Finger zeigen und rannte in ein Gebäude. Er fand einen Hinterausgang, durchbrach ihn in vollem Lauf und rannte ein Sträßchen ungefähr zweihundert Meter hinunter und betrat, wieder durch den Hintereingang, ein anderes Gebäude. Er fand einen Personalaufzug, nahm ihn bis zum fünften Stockwerk und knackte das Schloß der ersten Tür, die er sah. Es war eine kleine Wohnung und er fand auch sofort einen Schrank mit Kleidung. Er zog sich aus, zog einen billigen Anzug mit Hemd an und wollte die Wohnung schon wieder -133-
verlassen, als er die Toilettenspülung hörte. Er wartete neben dem Badezimmer und tötete den Mann schnell und schmerzlos, als dieser auftauchte. Dann gab er sich noch ein paar Extraminuten und veränderte sein Gesicht und die Haarfarbe. Nun hatte er schwarze, krause Haare. Er ging den Flur entlang bis zum Aufzug, fuhr hinunter zur Halle und trat auf die Straße. Er hörte schon die Polizeisirenen, aber es behinderte ihn niemand, als er weiter zum Zentrum der Stadt lief. Das Zentrum war ein großer runder Platz, der einen Durchmesser von annähernd einem Kilometer hatte. Er lief am Rande des Platzes entlang, bis er zu einem großen Einkaufszentrum gelangte. Davor stand eine Statue, die einen reitenden Mann mit einem Speer in der Hand darstellte. Der Mann hatte einen langen Bart, und auf der Plakette darunter stand, daß es sich hier um Forras handelte, auch bekannt als Forcas oder Furcas, einem Ritter Satans sowie Präsident der Hölle, der neunundzwanzig Dämonenlegionen zur Verteidigung der Unterwelt anführte. Er wartete einen Moment, als wolle er sich den Aufbau der Skulptur genauer ansehen, und betrat dann mehrere Geschäfte, bis er schließlich ein Schild sah, das Madame Cybeles Laden anpries. Er sah sich um, bemerkte dann die Treppen, die zu einem muffigen kleinen Souterrainzimmer führten und ging hinunter. Als er eintrat, schreckte eine Katze hoch und verschwand im Schatten des Raumes, woraufhin eine schwarzhaarige Frau in weißer Kleidung erschien. »Setzen Sie sich doch«, sagte sie und zeigte auf einen Stuhl neben einem kleinen Elfenbeintisch. Er tat, was sie sagte, und einen Moment später setzte sie sich zu ihm und stellte eine Kristallkugel auf den Tisch. »Was möchten Sie von Madame Cybele wissen?« fragte sie. »Sie sind -134-
die Wahrsagerin«, antwortete er. »Also sagen Sie mir etwas. Fangen Sie doch mit meinem Namen an.« Sie sah in die Kristallkugel. »Ich kenne Ihren Namen nicht, doch die Weiße Lucy sagt, Sie würden sich Jericho nennen. Außerdem sagt sie, daß Sie sich in größeren Schwierigkeiten befinden als Sie annehmen.« »Ich war vorsichtig.« »Nein, Sie waren es nicht. Der erste Mann, den Sie hie r umbrachten, war einer der Agenten Blands.« »Wie konnte er mich entdecken?« »Sie haben den Dolch mit dem Griff zuerst zurückgegeben.« »Verflucht«, grummelte er. »Wegen solch einer Nebensächlichkeit!« Sie nickte. »Die Priesterin hatte ihre Aufmerksamkeit zu stark auf den Jungen gerichtet, aber die Weiße Lucy sagt, sie wird sich wieder daran erinnern, wenn sie sich darauf konzentriert, und dann wird Bland nicht nur wissen, daß hier ein Mörder herumläuft, auch dessen Unkenntnis unserer Gebräuche wird ihm bekannt sein. Daraus wird er dann schließen, daß es sich um den gleichen Mörder handelt, vor dem Sable schon gewarnt hat.« »Dann gehe ich jetzt wohl besser. Wieviel Zeit bleibt mir noch?« »Höchstens ein paar Stunden.« »So wenig?« »Sie wurden bei dem Mord beobachtet. Vielleicht bringen sie es nicht mit Ihrem zweiten Mord in Verbindung, aber das brauchen sie auch gar nicht. Man wird sich daran erinnern, daß sie beide auf der Belphegor-Zeremonie gewesen sind. Sie werden den Priester und die Priesterin befragen, und denen wird einfallen, warum er Sie verfolgt hat und Sie ihn daraufhin töten mußten. Es wird nicht lange dauern.« -135-
»Wie weit ist es bis zur nächsten Stadt auf dem Weg nach Tifereth?« »Nahezu dreihundert Kilometer«, antwortete Cybele. »Wie heißt dort meine Kontaktperson?« »Sie haben dort keine.« »Ich dachte, die Weiße Lucy hätte in jeder Stadt Agentinnen«, sagte Jericho. »Hatte sie auch. Diese ist tot.« Jericho nickte. »Ich verstehe.« »Das bezweifle ich«, sagte Cybele. »Aber wenn Sie es bis Yesod schaffen, werden Sie es verstehen.« »Yesod? Heißt die Stadt so?« »Ja.« »Fragen Sie die Weiße Lucy, wie groß meine Chancen sind, Yesod in einem gestohlenen Wagen zu erreichen.« Sie schloß kurz die Augen. »Sie sagt, daß nicht einmal Lastwagen auf den Straßen nördlich von hier erlaubt sind. Bis auf autorisierte Fahrzeuge darf dort nichts mehr fahren.« Er zuckte mit den Schultern. »Dann wird es wohl das beste sein, wenn ich mir von der Polizei ein Auto ausleihe, oder?« Er stand auf und verließ das Geschäft.
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15 »Satan hat seinen Krieg verloren. Nur ein Idiot würde ihm huldigen.« Conrad Bland »Mr. Bromberg, hier ist wieder John Sable.« »Verflucht noch mal, Sable !« bellte Bromberg und starrte böse in die Kamera seines Vidfons. »Das ist jetzt schon das vierte Mal in fünf Tage n.« »Nur Routine!« sagte Sable, um Fassung bemüht. »Ist er schon aufgetaucht?« »Ich sage es Ihnen noch einmal: Wenn er auftaucht, bekommen wir die Situation auch ohne Ihre Hilfe in den Griff.« »Dann möchte auch ich mich noch einmal wiederholen«, sagte Sable. »Er wird in Amaymon wegen sechsfachen Mordes gesucht. Falls Sie ihn fangen sollten, wollen wir ihn haben.« »Ich weiß«, sagte Bromberg. »Doch warum in aller Hölle lassen Sie mich dann nicht in Ruhe und warten, bis ich Sie anrufe?« »Auf Wiedersehen, Mr. Bromberg.« Sable seufzte. »Ich werde Sie morgen wieder anrufen.« »Gehen Sie mir nicht auf den Geist!« schnappte Bromberg. »Es ist mein Job«, sagte Sable und unterbrach die Verbindung. Er sah auf die Uhr, die links über seinem Baphomet hing und war sehr erstaunt, daß es noch so früh am Nachmittag war. Er zündete sich eine Zigarre an, die zweite an diesem Tag, oder vielleicht die dritte - er hatte es nach dem zweiten und dritten Mord aufgegeben, sie zu zählen -, und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Theoretisch war es ja nicht mehr sein Problem. Der Mörder -137-
war aus Amaymon verschwunden und weit außerhalb seiner legalen Machtbefugnisse. Auch waren seine Vorgesetzten nicht besonders aktiv in diesem Fall. Er hatte sie aufgesucht und darum gebeten, daß Blands Hauptquartier von höherer Stelle aus angesprochen, Hilfe angeboten werden sollte - aber bis jetzt hatte sich, seines Wissens nach, nicht viel getan. Bland wollte keine Hilfe, und seine Vorgesetzten schienen keine anbieten zu wollen. Es war verwirrend. Er hatte kein gesteigertes persönliches Interesse an Bland. Tatsächlich konnte er ihn, nach ihrem kurzen Gespräch, nicht leiden. Doch beinahe die Hälfte der Bevölkerung von Amaymon verehrte diesen Mann. Sogar seine eigene Frau, Siboyan, hatte Kerzen angezündet und symbolische Gaben zu seiner Sicherheit geopfert. Warum interessierten sich die Autoritäten weder hier noch in Tifereth für die Situation? Selbst wenn er die Anwesenheit dieses republikanischen Attentäters ganz außer acht ließ, gab es noch einiges an diesem Fall, was nicht sofort ins Auge fiel. Dies erschien ihm auch nicht ungewöhnlich oder ärgerlich, denn schlußendlich war es ja seine Arbeit, Kriminalfälle aufzuklären. Aber er hatte alle Möglichkeiten ausgespielt, die er besaß, und es hatte sich nichts getan - und das war es, was ihn ärgerte. Schließlich setzte er sich wieder gerade an seinen Tisch und drückte einen Interkomknopf. »Ja?« meldete sich seine Sekretärin. »Ich werde jetzt nach Hause gehen«, erklärte er. »Soll ich Ihnen die Gespräche nach Hause weiterleiten?« »Nein.« »Unter keinen Umständen?« »Es sei denn, Conrad Bland persönlich möchte mich sprechen«, kicherte er. Er verschloß seinen Schreibtisch, zog die leichte Jacke an und verließ sein Büro. Er entschloß sich, heute nicht den Bus zu nehmen, sondern lief die fünf Kilometer zu Fuß und untersuchte -138-
noch einmal alle ihm bekannten Fakten, aber leider waren es nicht sehr viele. Sein Weg führte ihn durch die verschiedensten Gegenden. Zuerst wichen die Geschäftsbezirke den Wohnbezirken, dann umgaben ihn anstatt der Apartmentblocks die kleineren Vorstadthäuser. Er lief an den schwarzen Häusern der Vorboten vorbei, dann kam er über die roten der Brüderschaft der Nacht zu den violetten der Töchter der Wonne. Er kam sogar an dem weißen Haus vorbei, das von einer der Weißen Hexen bewohnt wurde. Schließlich erreichte er seine Straße, zwar etwas ärmlicher und kleiner, aber immer noch ganz nett zurechtgemacht. Bei seinem Haus konnte man nur die Farbe der Ziegel erkennen, er hatte sich Siboyans Wünschen widersetzt, dem Haus den schwarzgoldenen Anstrich der Cali-Sekte zu geben. Vielleicht begründete es sich darauf, daß er seine Religion geändert hatte, als sie heirateten, vielleicht war es aber auch aus anderen, unterbewußten Gründen geschehen. Auf jeden Fall hatte er keine Lust, seine Anschauungen öffentlich bekanntzugeben. Nebenbei gesagt, gab es für ihn auch, bei drei Kindern, bessere Möglichkeiten, sein Geld wieder auszugeben. »Hallo!« grüßte Siboyan, als er durch die Tür trat. »Heute bist du aber früh dran.« »Das ist aber eine höllisch liebe Begrüßung«, sagte er. »Wenn es dir nicht gefällt, kann ich ja wieder zurück ins Büro gehen!« Sie wischte sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. »Sei nicht kindisch«, sagte sie, lief zu ihm und küßte ihn auf die Wange. »Ich war nur überrascht, dich schon zu sehen, das ist alles.« »Es tut mir leid.« »Hast du wegen der Morde Druck bekommen? « »Nein«, sagte er finster. »Kein bißchen.« »Seltsam«, kommentierte sie. »Nicht wahr?« »Möchtest du jetzt schon essen?« -139-
»In den nächsten Stunden eigentlich nicht«, erwiderte er. »Ich glaube, ich gehe noch etwas hinaus.« Er zog sich ein dickes Hemd und einen Overall an und ging nach hinten in seinen Garten. Er hatte schon vor sechs Jahren damit begonnen, im Garten zu arbeiten; das bißchen Gemüse half zu sparen. Doch über die Jahre hatte er sich zu einem passionierten Gärtner entwickelt, und nun umfaßte seine Anbaufläche nahezu den gesamten Garten. Er liebte die Regelmäßigkeit in dieser Arbeit, die vorhersagbare Gesetzmäßigkeit des Wachstums. Es gab nichts Unbekanntes in diesem Garten, kein Kräfte, die gegeneinander arbeiteten, keine Bedrohung des Lebens, des Körpers oder des Geistes. Es war erfrischend, einige Stunden am Ende eines jeden Tages hier zu verbringen, etwas Neues und Schönes zu entdecken, anstatt immer nur Altbekanntes und Schreckliches neu zu überdenken, ein Gesamtbild zu schaffen, anstatt den Teilen eines anderen Bildes hinterherzujagen. Er hatte zu dem Gemüse auch Blumen gepflanzt, später waren sogar einige schwer zu ziehende exotische Pflanzen hinzugekommen. Die Arbeit im Garten entspannte ihn, klärte seinen Geist und erneuerte seine Tatkraft nur leider heute nicht.Er verbrachte zwei Stunden zwischen seinen Gewächsen, kümmerte sich um sie und suchte erfolglos die Entspannung. Dann schickte Siboyan die beiden Jungen und ließ ihm ausrichten, daß das Essen in einer halben Stunde fertig wäre und er sich nun besser wieder umzöge. Er kämpfte mit den beiden ein paar Minuten, hörte sich ihre Schul- und Kirchensorgen an, versprach ihnen, nach dem Essen ein zerbrochenes Spielzeug zu reparieren, ging danach ins Badezimmer, duschte und zog sich den Pyjama und den Bademantel an. Er rasierte sich naß - die Calisten bestanden aus unerfindlichen Gründen darauf -, ging dann zu seiner Frau, den Söhnen und der Tochter ins Eßzimmer und bemerkte, daß die rotgetupfte Tapete, die er im letzten Frühling selbst angebracht hatte, um das Geld für den Handwerker zu sparen, einen -140-
weiteren Fleck abbekommen hatte. Die Kinder schienen sie mit jedem weiteren Tag ein wenig mehr zu verunstalten. Er machte seine Verbeugung vor der kleinen Cali-Statue auf dem Büffet, der onyxfarbenen Königin der Dämonen mit ihrer Totenkopfkette, setzte sich an den Kopf des Tisches und sprach für die Familie das Tischgebet an Azazel. Das Essen bestand wie immer aus Sojaprodukten. Die Inflation und drei heranwachsende Kinder schränkten den Genuß von richtigem Fleisch gewaltig ein. Außerdem bemerkten die Kinder sowieso keinen Unterschied, selbst Sable hatte von Fall zu Fall Schwierigkeiten, die Gerichte auseinanderzuhalten. Nach dem Essen begannen die Jungs damit, ihre Schularbeiten zu erledigen, während seine Tochter, die solche Arbeiten nie hinauszögerte und sie schon vor dem Essen gemacht hatte, sich vor die Videoanlage hockte. Sable und Siboyan blieben noch am Tisch, tranken Wein und sprachen über die Ereignisse des Tages. Sie verstand seine Frustration darüber, daß er Bland nicht von der Ernsthaftigkeit der Situation und den Fähigkeiten.des Attentäters überzeugen konnte, obwohl Sable sich fragte, ob sich dieses Verständnis nicht eher auf ihre Verehrung zu Bland begründete, als auf ihre Sympathie für seine Lage. Nicht, daß ihm das so wichtig gewesen wäreer suchte nicht nach Sympathien, sondern nach Antworten, die ihm aber anscheinend keiner geben konnte. Sie fühlte seine Ruhelosigkeit und schlug vor, noch in ein Kino zu gehen, doch er entschuldigte sich und gab vor, zu müde zu sein. Es klang nicht direkt aufrichtig - im Grunde wollte er auch nur das Geld sparen, weil er im Augenblick eh nicht abschalten konnte - aber sie ging nicht näher darauf ein, und so verschwand er in seine Kellerwerkstatt, um das Spielzeug zu reparieren. Er war fast fertig damit, als Siboyan auf der obersten Treppenstufe erschien und hinunterrief: »John- Vidfon!« »Ich hatte ihr gesagt, daß sie keine Gespräche durchstellen soll!« rief er hoch. Er hatte keine Lust, das Spielzeug jetzt zur -141-
Seite zu legen. »Ich denke, es ist besser, wenn du kommst«, sagte Siboyan. Etwas in ihrer Stimme ließ ihn das Teil aus der Hand legen und die Treppe hochrennen. Er ging zur Nebenstelle in der Küche und aktivierte sowohl Kamera wie Bildschirm. »Sable.« »Mr. Sable«, sagte eine hohe Stimme. »Ich bin es, Conrad Bland.« »Warten Sie bitte einen Moment, Mr. Bland«, sagte er. »Hier stimmt etwas nic ht, ich bekomme kein Bild von Ihnen.« »Das liegt daran, daß ich keines sende«, sagte Bland. »Ich habe leider im Moment kein Vidfon in Reichweite. Ich sende nur meine Stimme über eine Interkom-Station.« »Was kann ich für Sie tun?« fragte Sable. »Sie sind ein schwer zu erreichender Mann«, sagte Bland und ignorierte seine Frage. »Mein Sicherheitschef informierte mich darüber, daß Sie sich mit mir unterhalten wollen.« »Aber nicht so«, sagte Sable. »Ich bin nicht immer im Dienst. Also reden wir nicht lange drumherum: Sie scheinen etwas sehr Wichtiges auf dem Herzen zu haben, wenn Sie mich schon persönlich anrufen. Um was geht es?« »Schnell und direkt«, sagte Bland lachend. »Das gefällt mir, Mr. Sable. Ja, ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen: Wir haben Ihren republikanischen Attentäter gefaßt.« »Sind Sie sicher?« »Ich mache keinen Fehler, Mr. Sable«, sagte Bland. »Nun, da bin ich froh, daß ich Sie rechtzeitig warnen konnte«, sagte Sable. »Lebt er noch?« »Er ist quicklebendig«, sagte Bland. »Soeben wird er in Tifereth eingesperrt, obwohl wir ihn ein ganzes Stück südlich -142-
von hier gefangen haben.« »Ich bedanke mich für Ihre Information. Ich darf annehmen, daß wir als nächstes seine Auslieferung beantragen müssen?« »Das wollte ich damit sagen«, sagte Bland. »Ich werde die Papiere morgen früh sofort ausfüllen.« »Das wird nicht nötig sein«, sagte Bland. »In Tifereth bin ich sozusagen die einzige Regierungsperson. Sie können ihn so von mir haben.« »Das ist ziemlich ungewöhnlich«, sagte Sable. »Aber, um es mit einem alten Sprichwort auszudrücken - ich schaue einem geschenkten Gaul nicht ins Maul. Wie soll der Transfer vollzogen werden?« »Ich meine, es wäre das beste, wenn Sie nach Tifereth kämen«, sagte Bland. »Meine Arbeit bindet mich hier leider.« »Sie müssen ihn nicht persönlich übergeben«, sagte Sable. »Ich weiß. Trotzdem halte ich es für das Sinnvollste, wenn Sie nach Tifereth kommen.« »Wenn Sie wünschen«, meinte Sable achselzuckend. »Ich fliege morgen zu Ihnen.« »Ich werde Ihnen mein Flugzeug schicken«, sagte Bland. »Könnten Sie, sagen wir, in sechs Stunden schon bereit sein?« »Sie brauchen sich nicht solche Mühe zu machen«, erklärte Sable. »Ich bin ein qualifizierter Pilot und habe auch Zugang zu den Flugzeugen unserer Abteilung.« »Mr. Sable, Sie zwingen mich dazu, offener zu sein, als ich es wollte«, sagte Bland. »Ich kann nicht für Ihre Sicherheit garantieren, wenn Sie in einem eigenen Flugzeug kommen.« »Oh«, meinte Sable überrascht. »Also, in sechs Stunden auf dem Flugplatz in Amaymon«, sagte Bland. »Finden Sie sich dort ein.« Die Verbindung wurde unterbrochen. Sable drehte sich zu Siboyan um, die das ganze Gespräch -143-
gespannt verfolgt hatte. »Nun?« sagte er. »Wie denkst du darüber?« »Über was?« fragte sie ihn. »Hast du nicht zugehört?« fragte er zurück. »Natürlich. Sie haben den Mörder gefangen.« »Ich rede über die andere Sache«, sagte er milde. »Was mag da oben los sein, wenn sie schon die Flugzeuge abschießen?« »Was hat das mit uns zu tun?« erwiderte sie. »Du mußt nur als sein Gast hinfliegen und deinen Gefangene n abholen.« »Etwas ist faul daran«, sagte er kopfschüttelnd. »Irgend etwas daran stimmt nicht.« »Ich sehe das nicht so«, sagte Siboyan. »Er schickt dir sein Privatflugzeug, er bietet dir seine Kooperation an, er übergibt dir sogar den Mann, den die Republik geschickt hat, um ihn umzubringen. Ich an seiner Stelle würde das nicht tun. Ich würde dafür sorgen, daß er sehr langsam und schmerzhaft stirbt, allein schon für das Vorhaben, einen Mann wie Conrad Bland umbringen zu wollen.« »Auch dein neuer Held Conrad Bland hat sich nach dem Gesetz zu richten«, sagte er zynisch grinsend. »Ein Mord hat Vorrang vor einem versuchten Mord. Deswegen wird über diesen Attentäter in Amaymon gerichtet werden.« »Wann wirst du gehen müssen?« »So schnell wie möglich«, antwortete Sable. »Bland mag sich ja über die Auslieferungsregeln hinwegsetzen können, aber ich muß sie einhalten. Ich muß vorher noch im Büro vorbei, um alles Notwendige zu erledigen, und wenn Enoch Toomey von der Rechtsabteilung nicht im Hause ist, werde ich ihn rufen müssen. Ich habe noch nie eine Auslieferung gehabt.« »Soviel zu unserem geruhsamen Feierabend«, sagte sie mit einem wehmütigen Lächeln. »Reg dich nicht auf. Wir werden noch andere haben.« Er ging ins Schlafzimmer und zog sich um. Den Koffer packte -144-
er nicht, da er nicht allzuviel Zeit in Tifereth verbringen wollte, aber er nahm in einer kleinen Tasche Kleidung zum Wechseln mit, um nicht völlig hilflos dazustehen, falls er in einen Wolkenbruch geraten sollte. Bevor er aus der Haustür trat, nahm er noch Siboyan in den Arm. »Bis bald«, sagte er. »Ich war noch nie in Tifereth«, sagte sie. »Bringst du mir etwas Nettes mit?« »Werde ich«, versprach er.
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16 »Ich habe nie bestritten, daß die Wahrheit einen gewissen Wert besitzt. Der Dummkopf erkennt sie an, doch der Weise verdreht sie zu seinem Vorteil.« Conrad Bland Sable verschlief die meiste Zeit des Fluges, er erwachte erst, als die Maschine zur Landung ansetzte. Als sie auf dem Boden waren, schaute Sable aus dem Fenster und stellte fest, daß sie sich auf einem privaten Landeplatz anstatt auf dem Flugplatz von Tifereth befanden. Am Ende der Rollbahn stand Jacob Bromberg, der gleich auf ihn zukam, um ihn herzlich zu begrüßen, als er die Treppe hinunterstieg, die einige Mechaniker zum Flugzeug gerollt hatten. »Willkommen in Tifereth, Mr. Sable«, sagte Bromberg, der nicht die Hand zum Gruß ausstreckte. »Hatten Sie einen angenehmen Flug?« »Kann ich eigentlich nicht behaupten«, erwiderte Sable lächelnd. »Ich habe ihn beinahe ganz verschlafen.« Er drehte sich um und betrachtete die kahle Landschaft. »Wo sind wir denn hier?« »Das ist Mylord Blands Privatflugplatz, ungefähr zwölf Kilometer nördlich der Stadt. Wenn Sie mir bitte folgen wollen, ich fahre Sie in die Stadt.« »Fein«, sagte Sable, schnappte sich die Reisetasche und lief hinter Bromberg her. Die Luft war feucht, schwer und besaß einen muffigen Geruch, den er nicht genau identifizieren konnte. Bromberg führte ihn zu einem offenen Militärfahrzeug, das relativ neu und frisch poliert war. Es wies Schriftzeichen auf, die Sable noch nie gesehen hatte. -146-
»Legen Sie doch Ihre Tasche hinten rein, Mr. Sable.« Nachdem er das getan hatte, setzte sich Sable auf seinen Platz und zündete sich eine Zigarre an. Es war die letzte von denen, die ihm Veshinsky vor einigen Tagen gegeben hatte. »Wie habt ihr ihn gekriegt?« fragte er Bromberg, nachdem dieser den Wagen angelassen hatte. »Ich kann es Ihnen leider nicht sagen, Mr. Sable«, erwiderte Bromberg in einer harten Linkskurve, die sie zur Hauptstraße führte. »Ich hatte nichts damit zu tun.« »Wer ist es?« Bromberg zuckte mit den Achseln. »Ich habe keine Ahnung.« »Hat er denn bis jetzt schon etwas gesagt?« »Meines Wissens nach nicht.« »Auch auf die Gefahr hin, daß Sie mich jetzt für impertinent halten, aber woher wollen Sie dann wissen, daß es sich um den Richtigen handelt?« »Oh, wir haben schon den richtigen Mann«, sagte Bromberg lächelnd. »Mylord Bland macht keine Fehler.« Sable verfiel in Schweigen. Er zog an seiner Zigarre, nahm den Geschmack des Tabaks auf und blies dann einen dünnen Schwall weißen Rauchs aus. Bromberg, Blands Sicherheitschef, wußte offensichtlich überhaupt nichts über den Attentäter. Das alleine war schon seltsam. Noch seltsamer war allerdings, daß sie den Mörder so leicht und schnell gefangen hatten. Es war natürlich möglich, daß sie den richtigen Mann gefangen hatten, aber je mehr er darüber nachdachte, um so mehr bezweifelte er es. Nun, wenn er ihn erst in Amaymon hatte, würde er ihn an den Lügendetektor anschließen, und dann würde er es sicher wissen. Oder vielleicht hatte Wallenbach einen Detektor hier in Tifereth, das konnte ihm eine Menge Arbeit ersparen und auch den möglichen Rüffel, falls der falsche Mann inhaftiert worden war. Gedanklich machte er sich die Notiz, auf jeden Fall noch mit -147-
Wallenbach zusammenzutreffen, bevor er mit dem Gefangenen die Stadt wieder verließ. Tifereth begann sich vor ihnen abzuzeichnen, selbst am hellen Mittag hatte Sable den Eindruck, daß die Stadt irgendwie dunkel und voller Schatten war. Vielleicht lag es an seiner Sichtweise oder auch am Einfallswinkel des Sonnenlichts auf diese Stadt. Trotzdem war es ein ungewöhnlicher Anblick. Doch dann, als sie in der Stadt ankamen, roch er plötzlich den Gestank. Es roch nach verwesenden, verrottenden Dingen, und als erstes schloß er auf nicht abgeholten Müll, doch dann erkannte er den Grund: Leichen, einige von ihnen erst seit kurzem tot, die anderen schon länger und stinkend, lagen einzeln oder in ganzen Gruppen auf den Straßen und Bürgersteigen. Nackte und Bekleidete, einige davon in riesigen Lachen geronnenen Blutes, manche nur mit einer einzigen Schuß- oder Laserwunde im Körper. »Was, zur Hölle, ist hier los?« verlangte Sable, entsetzt über das Ausmaß dieses Blutbades, zu wissen. »Wir hatten hier vor einigen Tagen eine kleine Revolte«, sagte Bromberg gelassen. »Mylord Bland hat sich dazu entschlossen, die Leichen als Warnung für die anderen Ruhestörer liegen zu lassen.« »Vor einigen Tagen?« wiederholte Sable. »Einige der Leichen sehen so aus, als wären sie immer noch warm.« »Da müssen Sie sich geirrt haben, Mr. Sable«, erwiderte Bromberg. Nachdem sie weitere sechs Blocks Richtung Innenstadt gefahren waren, wurden die Leichen zahlreicher, und Sable wußte sicher, daß zwei von ihnen, ein alter Mann und ein sehr junges Mädchen noch zuckten. »Halten Sie den Wagen an«, befahl er. »Warum?« fragte Bromberg. »Einige dieser Menschen leben noch!« »Das kann nicht sein«, sagte Bromberg. »Wir haben den Aufstand vor beinahe einer Woche niedergeschlagen.« -148-
»Lassen Sie mich raus!« »Das kann ich wirklich nicht machen«, sagte Bromberg und gab Gas. »Wir sind jetzt schon zu spät dran.« Die Zahl der herumliegenden Leichen ging in die Tausende, noch bevor sie das Zentrum der Stadt erreicht hatten. Sable sah nun auch, daß alle Häuser, die nicht ausgebrannt oder zer schossen waren, verschlossen und befestigt waren. Keine Menschenseele zeigte sich auf der Straße. Nicht einmal Hunde oder Katzen konnte man sehen. Sogar das Ungeziefer schien sich einen anderen Lebensraum ausgesucht zu haben. Das einzige, was in dieser Gegend noch lebte, waren riesige Wolken von Schmeißfliegen, die um und über den Körpern hingen, sich in Scharen auf sie stürzten, um sich dann wieder auf die Suche nach einem noch verwesteren Stück Fleisch aufzumachen. »Eine Revolte«, schnaubte Sable, der irgendwie diese tödliche Stille durchbrechen mußte. »Es war wirklich eine, Mr. Sable«, sagte Bromberg. »Wie viele Männer von Ihnen wurden dabei getötet?« »Keiner.« »Seltsam, aber es überrascht mich nicht einmal.« »Wir sind eine äußerst schlagkräftige Einheit, Mr. Sable«, sagte Bromberg. »Ja, das sehe ich«, erwiderte Sable. »Dafür sehe ich aber auch keine einzige Waffe bei den Leichen.« »Wir haben sie natürlich konfisziert«, sagte Bromberg mit einem Lächeln auf den Lippen. »Wir lassen sie doch nicht für die nächsten Revolutionäre hier herumliegen.« »Was für eine einleuchtende Erklärung.« »Vielen Dank, mein Herr.« »Nun, da Sie mir ja jetzt diesen ganzen Mist erzählt haben, könnten Sie es mal mit der Wahrheit versuchen.« »Das habe ich gerade, Mr. Sable.« -149-
»Vergessen Sie es«, sagte Sable. »Ich werde mit Bland darüber sprechen.« »Das wird das beste sein, mein Herr«, sagte Bromberg. Die Fahrt ging noch drei Kilometer weiter, die Szenerie um sie änderte sich nicht, und schließlich bogen sie in das Parkgeschoß eines Hotels ein. »Hier lebt Bland?« fragte Sable, als der Wagen endlich anhielt. »Nein«, antwortete Bromberg. »Aber er hat im Moment eine Konferenz, also ließ er Ihnen eine Suite zuweisen. Sie werden bald zu ihm gerufen.« »Warum kann ich denn nicht einfach vor dem Konferenzzimmer warten?« fragte Sable gereizt. »Ich hinterfrage Mylord Blands Befehle nicht«, sagte Bromberg, stieg aus und nahm Sables Reisetasche auf. Sable folgte ihm, eine Glastür schwang vor ihnen auf, und sie gingen zum Lift. Er brachte sie in die oberste Etage - die dreizehnte. Bromberg führte ihn zu einer Tür am Ende des Gangs. Er gab die Kombination ein, die Tür schwang nach innen auf, und die beiden traten in eine reichlich luxuriös ausgestattete Zimmerflucht. Sie standen in einem enorm großen, teuer möblierten Wohnzimmer mit Kamin, gut ausgestatteter Bar und Ausblick auf die Stadt. Rechts war ein weiteres, kleineres Wohnzimmer, links befand sich das Schlafzimmer mit einem Bett, das gut und gern Platz für zehn bot. Hinter dem Schlafzimmer war ein Marmorbadezimmer, das sogar eine Sauna aufwies. »Sagen Ihnen die Räumlichkeiten zu?« fragte Bromberg. »Sie sind überwältigend. Wie lange werde ich hier bleiben?« »Nicht lange. Mylord Bland wird schon bald nach Ihnen schicken. In der Zwischenzeit sollten Sie Ihren Aufenthalt in Tifereth genießen. Ich garantiere Ihnen, daß Sie nicht gestört werden. Sie sind der einzige Gast des Hotels.« »Was ist denn den anderen zugestoßen?« -150-
»Oh, das ist eine sehr, sehr lange Geschichte, Mr. Sable«, sagte Bromberg. »Vielleicht finden wir beim Abendessen etwas Zeit, darüber zu plaudern.« »Ich hatte gehofft, die Stadt bis dahin schon wieder verlassen zu haben«, sagte Sable. »Dann vielleicht bei einer anderen Gelegenheit.« »Übrigens, ich habe hier noch kein Vidfon gesehen...« »Mit wem möchten Sie sprechen?« »Ich möchte meine Frau anrufen und ihr sagen, daß ich gut angekommen bin.« »Das wurde schon erledigt.« »Ich möchte auch mit Caspar Wallenbach sprechen.« »Es tut mir sehr leid, aber das geht wohl nicht mehr«, sagte Bromberg. »Er starb letzte Nacht.« »Wie?« »Ich glaube, es war ein Herzschlag«, antwortete Bromberg. »Nun, wenn Sie keine weiteren Fragen haben...« »Ich hätte Hunderte auf Lager«, sagte Sable. »Da wenden Sie sich besser an Mylord Bland«, sagte Bromberg lächelnd. Er ging zur Tür, gab die Kombination ein und verschwand. Auch Sable ging zur Tür und versuchte sie zu öffnen. Er war aber nicht sonderlich überrascht, als sie nicht nachgab. Er untersuchte dann die großen Bildfenster im Wohnzimmer. Sie ließen sich nicht öffnen, und er sah auch keinen Sinn darin, sie zu zerstören, um dann an der Außenwand eines dreizehnstöckigen Hotels hinunterzuklettern. Er besah sich das Penthouse etwas genauer und fühlte sich dabei immer mehr wie ein gefangenes Tier. Es gab keinerlei religiöse Zeiche n, kein Buch, keine Zeitung, kein Video- oder Radiogerät. Die Schränke waren leer, die Einbauschränke und die Garderobe verschlossen, sogar der Kasten über dem Waschbecken im Bad war verriegelt. -151-
Er sah sich die Bar genauer an, entdeckte dabei einen Korkenzieher und versuchte damit, während der nächsten zwanzig Minuten, die Tür zum Korridor zu öffnen. Er dachte kurz daran, eine Flasche zu zerschlagen, um eine der Scherben als Waffe zu benutzen, doch er verwarf diesen Gedanken, da die Chance, sich damit selbst zu verletzen, zu hoch war. Anstatt also die Schnapsflasche zu zerschlagen, öffnete er sie und goß sich einen Drink ein. Er trank das Glas in einem Schluck aus, versuchte noch einmal die Tür zu öffnen, beendete nach einer Weile dieses sinnlose Unterfangen, zog sich aus und duschte. Er hatte sich gerade abgetrocknet und zur Hälfte angezogen, als Bromberg eintrat und verlauten ließ, daß Bland ihn zu sprechen wünschte. »Sie meinen, ich werde ihn jetzt wirklich sehen?« »Natürlich.« »Ich fühlte mich schon beinahe wie ein Gefangener.« »Das sind Sicherheitsvorkehrungen, nichts anderes. Es gibt hier in der Gegend noch einige Elemente, die unglücklicherweise Tifereth unsicherer machen, als wir es uns wünschen.« »Dieselben Elemente, die auch an Wallenbachs Herzattacke schuld sind?« fragte Sable sarkastisch. »Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen.« »Ich weiß«, sagte Sable. »Sie waren zu der Zeit nicht hier und wissen nicht das Geringste darüber.« »Richtig.« Bromberg grinste. »Wären Sie soweit?« »Kann ich meine Tasche mitnehmen, oder soll ich sie hierlassen?« fragte Sable. »Oh, ich glaube, Sie können sie genausogut mitnehmen. Sollte sich Ihre Abreise doch verzögern, können Sie sie ja wieder herbringen.« Sable nahm grummelnd seine Tasche auf und folgte -152-
Bromberg zum Lift. Unten in der Tiefgarage fiel Sable sofort wieder dieser Verwesungsgeruch auf, aber er nahm stillschweigend seinen Platz ein. Sie fuhren nur ungefähr einen Kilometer weit, kamen dann ab den letzten Blocks an unzähligen Reihen bewaffneter Männer vorbei und hielten schließlich vor den Toren eines großen Gebäudes. Sable hielt es für eine Kirche Baals, doch jemand hatte die gesamten religiösen Symbole der Sekte entfernt. Bromberg flüsterte ein Kennwort, eine Wache öffnete das Tor, und sie fuhren den Weg bis zu dem überdachten Eingangsportal hoch. »Wir sind da«, sagte Bromberg und stieg aus. »Darf ich Ihnen die Tasche abnehmen?« »Gern«, sagte Sable und folgte dem Sicherheitschef zum Portal. Sie gingen durch zwei riesige Holztüren, beide mit handgeschnitzten Sze nen voller Entwürdigungen und Widerlichkeiten verziert. Die fremdartige, wenn auch meisterhaft ausgeführte Arbeit des Künstlers verriet dessen morbide Faszination. Dann standen sie in einer riesigen Halle. Boden und Wände waren aus glänzendrotem Stein. In der Halle standen in anderthalb Meter Abständen Wachen, von denen eine sofort auf ein Nicken von Bromberg den Posten verließ, einen langen Korridor hinunterging und erst nach einigen Minuten wieder erschien. Nach einer kurzen Geste der Wache, nahm Bromberg Sable am Arm. »Er will Sie jetzt sehen«, sagte er und führte Sable in den Korridor. Am Ende des Korridors befand sich eine Metalltür. Sable wußte, daß sich dahinter Bland aufhalten mußte. Sie wurden noch einen Moment aufgehalten, eine Wachtruppe war nötig, um die Tür zu öffnen, dann traten sie ein. Sable überfiel auf der Stelle ein unglaublicher Brechreiz. Der ätzende Gestank des verwesenden Fleisches wurde beinahe noch übertönt durch den modrigen Gestank von Blut. Literweise dickes, salziges und schweres Blut. Frauen und Männer, alle nackt, hingen von -153-
Balken, die kreuzweise unter dem riesigen, domartigen Dach angebracht waren. Ein paar waren an den Wänden gekreuzigt worden. Die meisten lagen natürlich auf dem Boden. Ein Teil der Menschen war schon tot, der Großteil aber lebte noch, wenn man es so nennen konnte, da keiner mehr in der Verfassung war sich noch zu bewegen oder auch nur zu schreien. Entsetzt sah Sable auf die Szene vor seinen Augen. Nur langsam wurde er gewahr, daß ihn jemand am Ärmel zupfte, doch schließlich ließ er sich von Bromberg durch die Toten und Sterbenden zur Mitte des Raumes führen. Er fühlte sich, als würde er schlafwandeln, als ob dies ein Alptraum sein müßte. Doch eine Frau, sie hatte keine Haut mehr im Gesicht und am Körper, griff nach vorne zu seinem Bein, und endlich realisierte er, daß es kein Traum war und die geschnitzten Szenen auf den Türen ein Gegenstück im Leben besaßen. Am fernen Ende des Raumes saß, ganz in Weiß gekleidet, ein schlanker, kleiner, blonder Mann. Während Sable sich zwang, sich ihm zu nähern, sah er das makellose und engelhafte Gesicht des Mannes, seine langgliedrigen und manikürten Finger, sein sorgfältig zurechtgemachtes Haar und seine nahezu weiblichen Gesichtszüge. »Mr. Sable«, sagte er, als dieser nur noch fünf Meter von ihm entfernt war. »Nett, daß Sie gekommen sind.« »Sie sind Conrad Bland?« fragte Sable und versuchte seine aufsteigende Panik unter Kontrolle zu bringen. »In Fleisch und Blut!« sagte Bland lächelnd. »Was geht hier vor?« fragte Sable schwach. »Nichts, was Sie betrifft«, sagte Bland. »Ich bin wirklich erfreut, Sie zu sehen. Ich hatte mich gefragt, wie Sie wohl aussehen mögen.« Sable sah um sich. »Was ist das für Gemetzel?« »Die Art Gemetzel, die ich liebe«, antwortete Bland leichthin. -154-
»Vielleicht wird Ihnen so etwas auch einmal gefallen. Sie wissen natürlich, daß wir Ihren Attentäter noch nicht gefangen haben?« »Natürlich«, wiederholte Sable tonlos. »Warum haben Sie mich dann gerufen?« »Aus Spaß«, sagte Bland auflachend. »Ich wollte sehen, was das für eine Art Mann ist, der die Auslieferung eines Mörders aus seinem Schlachthof beantragt.« »Ich wußte nicht...«, sagte Sable mit erstickter Stimme. Er versuchte seine Aufmerksamkeit auf Bland zu lenken, konnte aber den Blick nicht von den glibbernden Fleischmassen wenden. »Niemand wußte...« »Sie werden es wissen, nur keine Angst«, sagte Bland. »Ausnahmslos. « »Was passiert nun mit mir?« »Warum, Sie bleiben natürlich als mein geschätzter Gast hier in Tifereth«, sagte Bland. »Sie faszinieren mich, Mr. Sable. Wirklich!« »Warum?« »Da Sie außer meinen Söldnern der erste Mann sind, der sich um mein Wohlergehen gesorgt hat.« »Es war meine Pflicht«, sagte Sable stumpf. »Um so besser. Sie sind ein ehrlicher Mann, ein Mann mit Pflichtgefühl. Kurz gesagt, der Feind schlechthin. Sie sind die Verkörperung dessen, was ich zerstören muß. Ich muß Sie sorgfältig studieren, Mr. Sable. In der Tat, das werde ich müssen.« »Angenommen, ich möchte nicht hierbleiben«, sagte Sable, der immer noch versuchte, seine Augen von den Horrorvisionen um ihn abzuwenden. »Vergessen Sie Ihre Annahmen.« Bland lachte. »Sie werden trotzdem als mein Gast hierbleiben.« »Für wie lange?« -155-
»Solange, bis Sie mich nicht mehr amüsieren.« »Und was dann?« »Ich glaube, Mr. Sable, diese Frage erübrigt sich«, sagte Bland.
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17 »Wäre Blut grün, könnte Grün glatt meine Lieblingsfarbe werden.« Conrad Bland Jericho blieb bis zur Nacht den Straßen von Kether fern, dann, kurz vor Mitternacht, bezog er vor einem durchgehend geöffneten Restaurant am Rande der Stadt Wache. Er hatte Glück. Nicht lange danach fuhr eine Polizeistreife vor und die beiden Polizisten betraten das Restaurant. Als sie eine halbe Stunde später wieder herauskamen, erwartete er sie schon. Es war ein kurzer und schmerzloser Kampf, der keinerlei Aufsehen erregte. Einige Minuten später, er hatte die beiden Leichen im Kofferraum verstaut und sich ihre Handfeuerwaffen angeeignet, war er schon auf der kaum befahrenen Autobahn von Kether nach Yesod. Er dachte kurz daran, an Yesod vorüberzufahren und gleich Kurs auf Netsah zu nehmen, der nächsten größeren Stadt auf seinem Weg nach Tifereth, aber die Gefahr, dann entdeckt zu werden, war zu groß. Er rechnete mit einem Vorsprung von drei Stunden, bis das Fehlen der beiden Polizisten bemerkt werden würde, und in diesem Zeitraum konnte er es gerade bis Yesod schaffen. Es waren noch ungefähr fünfundzwanzig Kilometer bis Yesod. Er konnte die Lichter der Stadt am Horizont ausmachen, als ein entgegenkommendes Zivilfahrzeug über den Mittelstreifen der Autobahn fuhr und ihn verfolgte. Gleich darauf ertönte eine Sirene, ein Blaulicht blitzte auf und Jericho hielt es für besser auf dem Seitenstreifen anzuhalten. Die beiden Wagen hielten gleichzeitig an, und sofort stiegen drei Männer aus und näherten sich Jerichos Auto. »Raus«, sagte einer der drei. -157-
Jericho stieg aus seinem Wagen in die feuchte Nacht. »Was ist denn los?« fragte er. »Wir stellen hier die Fragen, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte der Mann. »Was haben Sie in Yesod zu suchen?« »Ich bin Polizeikommissar Parnell Burnam aus Kether«, sagte Jericho. »Ich bin dienstlich unterwegs.«. »In welcher Angelegenheit?« »Wenn Sie mir ihre Legitimation zeigen könnten, würde ich es Ihnen von Herzen gerne sagen.« Der Mann zog seine Brieftasche heraus und zeigte eine Plastikkarte. »Genügt nicht«, sagte Jericho. »Das Sie von einem privaten Sicherheitsunternehmen aus Tifereth kommen, gibt Ihnen nicht das Recht, mich anzuhalten und auszufragen.« »Jason«, sagte der Mann zu einem seiner Kollegen. »Ruf doch mal in Kether an und frag nach, ob sie dort einen Parnell Burnam bei der Polizei haben. Gib auch das polizeiliche Kennzeichen durch.« »Es ist doch nicht nötig, so eine Aufregung zu veranstalten«, sagte Jericho hastig. »Wissen Sie, eigentlich sollte ich schon vor einigen Stunden hier sein. Aber ich habe gleich hinter Kether noch auf ein paar Drinks angehalten, und leider habe ich dabei sehr viel Zeit verloren.« »Das ist Ihr Problem.« »Verstehen Sie«, hakte Jericho nach. »Sie bringen mich da in große Schwierigkeiten, wenn die mitkriegen, daß ich noch nicht weiter bin. Ich zeige Ihnen am besten meine Identifikation und fahre dann weiter.« »Zeigen Sie her«, sagte der Mann unfreundlich. Jericho fingerte nervös in seiner Innentasche, so als wolle er seine Marke herausholen, zog statt dessen aber die Pistole und feuerte sofort. Der Mann starb Sekundenbruchteile vor seinen Kollegen, -158-
schlug aber gleichzeitig mit ihnen auf dem harten Asphalt auf. Jericho ging zu dem Polizeiwagen, zerstörte mit einem Schuß die Funkanlage, durchsuchte dann die Leichen, bis er die Schlüssel gefunden hatte und schaffte die Toten dann beiseite. Er stieg in sein neues Gefährt, und einige Minuten später war er in Yesod. Yesod war eine kompakte kleine Stadt von ungefähr hunderttausend Einwohnern mit einem architektonischen Mischmasch viktorianischer und gotischer Gebäude, Türmen, Spitzgiebeln und Kopfsteinpflaster. Das Ganze sollte wohl altertümlich aussehen, doch noch blitzte die Stadt, als wäre sie nagelneu. Er war etwas über einen Kilometer in die Stadt hineingefahren, als das Funkgerät seines Wagens ansprach. Da er weder die Rufnummer des Wagen noch ein Paßwort kannte, ignorierte er das Gerät und nach einem weiteren knappen Kilometer hatten sich zwei Polizeiautos mit gellenden Sirenen an seine Hinterräder geheftet. Er erhöhte auf der nassen Straße die Geschwindigkeit und raste durch den spärlichen Verkehr. Die Reifen quietschten, als er alle paar Blocks abbog. Doch es half nichts, er hatte nun schon fünf Wagen auf seiner Fährte, die die ganze Gegend durch ihre Polizeisirenen aufweckten. Er wußte, die Polizisten hielten untereinander Funkkontakt und er würde höchstens noch zwei Minuten Zeit haben, bevor sie ihm den Weg abgeschnitten hatten. Er fuhr in eine Seitenstraße, ging mit der Geschwindigkeit herunter, nahm seine Makeup-Tasche, öffnete die Tür, sprang ab und rollte sich sofort in die Schatten, als er auf dem Boden aufgekommen war. Er war sofort wieder auf den Beinen und stand stocksteif, als drei Polizeiwagen an ihm vorbeifuhren. Hundert Meter weiter oben krachte es, als sein Wagen von der Seitenstraße abkam, an zwei viktorianischen Häusern entlangschrammte und dann weiter auf dem Gehsteig fuhr. Aus den Häusern war noch niemand getreten, um zu sehen, was dort -159-
vorgefallen war. Schnell knöpfte er sein Hemd auf, ging hoch zum Ende der Straße, ging einen halben Block nach rechts und kehrte dann wieder zu der Seitenstraße zurück. Mehrere Männer und Frauen, alle angelockt von dem Unfall, näherten sich seinem Wagen. Einige hatten sich nur einen Morgenmantel über die Pyjamas gezogen, andere trugen noch einen Schirm. Als er in Sichtweite der Polizisten war, knöpfte er sein Hemd wieder zu. Zwei der Streifen hatten den Unfallort schon verlassen, bevor er zu dem Halbkreis der Schaulustigen aufschließen konnte. Es war klar, daß sie auf der Suche nach dem vermißten Fahrer waren. Einer der zurückgebliebenen Polizisten befragte die Leute, ob sie jemanden gesehen hätten, der sich schnell von dem Autowrack entfernte. Als sich jedoch herausstellte, daß niemand etwas gesehen hatte, schickte er sie zurück. Alle beeilten sich, wieder aus dem Regen zu kommen. Jericho ging den Weg, den er gekommen war, gemächlich wieder zurück. Streifenwagen patroullierten noch immer in der Gegend, und Jericho wußte, daß er schnell von der Straße mußte, wenn er nicht auffallen wollte. Einige Blocks vor ihm tauchte eine Art Kirche auf. Er hoffte, sich so lange dort verstecken zu können, bis sich die Suche nach ihm verlagert hatte. Dort angekommen sah er, daß die Symbole auf Tür und Säulen identisch waren mit denen der Kirche Satans, die er mit Ubusuku in Amaymon besucht hatte. Nachdem er eingetreten war, sah er sich nach dem Zeichen für die Novizengalerie um. Doch das Zeichen fehlte. Er öffnete die Tür zur Haupthalle der Kirche. Ein Mann übergab ihm einen billig gefertigten Kapuzenumhang, er war mit satanistischen und kabbalistischen Zeichen versehen, und Jericho konnte erkennen, daß es in der Kirche Satans von Yesod überhaupt keine Novizen gab. Die Kirche war kaum besucht, und er setzte sich in eine der hinteren Reihen, den Kopf wie im Gebet gesenkt. In der nächsten Stunde würde die Morgendämmerung einsetzen und -160-
Jericho beschloß, bis zum frühen Nachmittag in der Kirche zu bleiben. Von Zeit zu Zeit betraten Gemeindemitglieder die Kirche, gingen zum Altar, verbeugten sich davor und setzten sich. Es waren keine Priester anwesend, die einzige Aufsichtsperson war der Diener, dessen Aufgabe ausschließlich in der Ausgabe und Annahme der Umhänge bestand. Er blieb etwas mehr als eine Stunde dort sitzen. Dann, die Kirche begann sich zu füllen, stand er auf, ging zu dem Meßdiener, gab den Umhang zurück und suchte eine Toilette auf. Schnell veränderte er sein Aussehen und belegte dann für eine weitere Stunde eine Toilette. Als er wieder in die Halle zurückkam, hatte ein anderer Mann die Arbeit übernommen, die Umhänge zu verteilen. Als er seinen nahm, bemerkte er, daß die Kirche voller geworden war und die Leute alle in den vorderen Reihen saßen. Er gesellte sich zu ihnen. Die Anzahl der Menschen nahm ständig zu, und mittags war die Kirche vollbesetzt. Schließlich ertönte ein Gong, und ein schwarz gekleideter Priester ging zum Altar. »Wir wollen nun den achtzehnten enochischen Schlüssel rezitieren«, verkündete er und sang in einer für Jericho unbekannten Sprache, die jedoch von den anderen Besuchern fehlerlos singend wiederholt wurde. Als sie damit fertig waren, ertönte noch einmal der Gong. Der Priester hob um Ruhe bittend die Hand. »O du mächtiges Licht und ewig brennende Flamme der Tröstung, du, die die Größe Satans bis zur Mitte der Erde sichtbar macht«, psalmodierte er. »Sei auch für mich ein helles Fenster des Trostes. Ruhe nicht und erscheine! Zeige die Mysterien deiner Schöpfung! Sei gut zu mir, denn auch ich bin ein wahrer Sohn des höchsten und erhabenen Königs der Hölle!« Die Menge antwortete mit lauten Rufen wie »Heil Satan!« oder »Regie Satanas!« und lauschte dann wieder. »Meine Brüder«, fuhr der Priester fort und zog die Kapuze zurück. »Ich hatte für heute eine Predigt vorbereitet, aber ich werde sie nicht halten. -161-
Wir haben Wichtigeres zu tun.« Er schwieg einen Moment, dann donnerte er den nächsten Satz geradezu heraus. »Ein Attentäter, gesandt von der Republik, um den Schwarzen Messias zu töten, befindet sich in dieser Minute in Yesod.« Eine betäubende Stille legte sich über den Raum. »Er muß aufgehalten werden!« schrie der Priester. »Er darf Conrad Bland nicht erreichen. Man sagt, er wäre ein Meister der Verwandlung. Mißtraut deshalb euren Nachbarn, zweifelt an euren Gatten und schaut euch eure Kinder genau an. Schießt zuerst und fragt später. Es ist weitaus besser, wenn tausend unschuldige Männer oder Frauen sterben sollten als diesem Mann zu erlauben, Yesod zu verlassen! Wenn ihr zögert, wenn ihr wartet, seid ihr keine Satanisten und gehört nicht in diese Kirche!« Die Leute sahen sich um, betrachteten sich gegenseitig. »Wir brauchen Hilfe, Stärke und Kraft!« schrie der Priester. »Wir brauchen ein Opfer, um zu flehen!« Er sah in sein plötzlich ruhig gewordenes Publikum. »Wer von den Auserwählten ist dazu bereit?« Fünf junge und ein alter Mann sowie eine Frau in den mittleren Jahren standen sofort auf. Eine Sekunde später erhoben sich noch drei Frauen und ein Mann. »Exzellent!« sagte der Priester. »Niemand kann sagen, daß es den Mitgliedern unserer Kirche an Hingabe mangelt!« Er zeigte auf einen der jungen Männer, der daraufhin zum Altar ging, während sich die anderen wieder setzten. »Du sollst heute noch zur Linken von Lord Luzifer sitzen«, sagte der Priester, und der junge Mann mit dem wilden Blick und dem fanatischen Glühen im Gesicht nickte energisch. »Wer will den Stoß ausführen?« schrie der Priester. Sofort standen alle auf. Jericho schaffte es erst mit einer kleinen Verzögerung. Der Priester zeigte auf eine ältere Frau aus der dritten Reihe, -162-
die schnell zum Altar ging. »Mit dieser geweihten Klinge bittest du Lord Luzifer um die Annahme des Opfers und unserer Bitte um Stärke«, sagte er und reichte der Frau einen verzierten Dolch. Der junge Mann zog sich aus, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und blickte ins Publikum. »Die Versammlung soll mich im Bittgesang unterstützen«, sagte der Priester. Er stimmte ein Lied an, und als die Gemeinde mitsang, rückte die Frau ihre Kutte zurecht, um das Kleid darunter vollständig zu bedecken. Sie berührte mit dem Dolch fünf imaginäre Punkte in der Luft, setzte dann die Klinge an den Bauch des Mannes, stieß sie hinein und zog sie hoch bis unter den Brustkasten. Er schrie gurgelnd auf, hustete Blut aus, blieb aber stehen. »Satan schenkt uns ein Lächeln!« rief der Priester. »Je mehr Leiden Lord Luzifer erfreuen, desto mehr Kraft wird er uns schenken! Regie Satanas!« Der junge Mann sank auf die Knie und starrte blicklos zu dem Priester, der ihn aber nicht beachtete. »Höre mich Lord Luzifer!« rief der Priester aus. »Erhöre unsere Bitte, nimm unser Opfer. Kläre unseren Blick, stärke unsere Arme, segne unseren Weg und zerstöre unsere Feinde!« Der junge Mann fiel aufs Gesicht, zuckte noch einmal und rührte sich dann nicht mehr. Die Messe ging noch eine gute Stunde weiter, war aber eine härtere und schmutzigere Version der Schwarzen Messe als jene, die Jericho in Amaymon gesehen hatte. Diesmal war der lebende Altar ein fünfzehnjähriges Mädchen, das vor die Versammlung geschafft und dort ausgezogen wurde. Sie wurde auf dem Steinaltar festgeschnallt und von dem Priester sowie drei Männern aus der Menge vergewaltigt. Danach lag sie, bis auf das rhythmische Heben und Senken -163-
ihrer Brüste, reglos auf dem Altar, während man ihr mit Hilfe von heißem Wachs zwei schwarze Kerzen an die Handflächen klebte. Eine der obligatorischen Oben-ohne-Nonnen reichte dem Priester eine Peitsche. Der Priester nahm die Peitsche und schlug das Mädchen damit, gleichzeitig sangen die drei anderen bei jedem Schlag Psalme. Im nächsten Augenblick betrat ein nackter Mann mit Ziegenkopfmaske das Pentagramm, gemalt mit einer schwarzen Zwiebel, entriß dem Priester die Peitsche, schlug auf das Mädchen ein, bis dessen Haut aufplatzte, und vollzog einige groteske Figuren, die hauptsächlich aus Unterleibsbewegungen bestanden. Das Mädchen wurde auch von ihm vergewaltigt - die Menge begleitete jeden seiner Stöße mit einem gesungenen »Ave Satanas!« Dann nahm er eine Kerze und vollführte damit obszöne Handlungen an dem Mädchen. Schließlich rannte er aus dem Pentagramm zurück in die Dunkelheit hinter dem Altar. Das Verschwinden der Satansfigur schien den Beginn einer Orgie der ganzen Versammlung zu signalisieren, und Jericho sah sich gezwungen, daran teilzunehmen. Er entkleidete sich, bekam eine Peitsche ausgehändigt und folgte der Kirchengemeinde zum Altar. Er versuchte den Schmerz zu ignorieren, der ihm durch das wahllose Peitschenschlagen seiner Nachbarn zugefügt wurde. Er fand ein relativ attraktives Mädchen, das noch keinen Partner hatte, und legte sie auf den Boden. Er wollte gerade no rmalen Sex mit ihr machen jedenfalls so normal, wie es unter diesen Umständen möglich war -, als er sich umschaute und erkannte, daß normaler Sexualverkehr heute wohl nicht auf der Tagesordnung stand. Er drehte das Mädchen schnell auf den Bauch. Während des Verkehrs schrie sie aus Leibeskräften Lieder auf enochisch. Mehrere Peitschenschläge trafen ihn, als er von ihr heruntergezogen wurde und feststellen mußte, daß ein Ende seiner Teilnahme an dieser Orgie nicht abzusehen war. Während -164-
der nächsten halben Stunde, mit verschiedenen Partnern beiderlei Geschlechts, sah er sich derartig degradierenden Geschlechtsakten ausgesetzt, deren Existenz er, vielleicht von den irrsinnigen Imaginationen der vorkommensten Pornographen der Republik abgesehen, angezweifelt hätte. Doch da die einzige Alternative die Aufdeckung seiner Identität war, nahm er diese Prüfung so kalt und emotionslos hin, wie er es bei einem Mord tat. Als er sich zu fragen begann, wieviel er noch hinnehmen könnte (oder um genauer zu sein, wie lange er es noch schaffen konnte), ertönte erneut der Gong, und die Teilnehmer gingen, alle physisch und emotional ausgelaugt, zurück zu ihren Plätzen. Sie brauchten einige Minuten, um sich anzuziehen, wieder zu Atem zu kommen, sich um kleinere Verletzungen zu kümmern, und dann sangen alle noch zwanzig Minuten mit dem Priester Lobgesänge. Schließlich, kurz bevor er die Halle verließ, erinnerte sie der Priester noch einmal daran, den Attentäter zu fangen. Eine schwarz maskierte Frau näherte sich mit einem Arzneikasten dem Mädchen, das den lebenden Altar gespielt hatte, und versorgte sie. Zwei niedere Priester trugen den leblosen Körper des jungen Mannes hinaus, und die Menge strömte dem Ausgang zu. Jericho sorgte dafür, daß er in der Mitte der Menge zum Ausgang kam, wo er seinen Umhang wie alle anderen zurückgab. Die meisten Gemeindemitglieder gingen zu einem nahen Parkplatz. Jericho folgte ihnen. Nachdem die letzten abgefahren waren, untersuchte er die wenigen zurückgebliebenen Autos, fand eines, das mit Computerschloß anstatt mit einem Schlüssel verriegelt war, knackte den Kode und fuhr vom Parkplatz. Er fuhr nördlich durch das Zentrum der Stadt, sorgfältig darum bemüht, immer in der langsamsten Verkehrsspur zu bleiben. Als er die Industriegebiete hinter sich gelassen hatte, fuhr er in westliche Richtung. Einige Minuten später sah er einen Lastkraftwagen, -165-
beschriftet mit »Luftpaketdienst«, dem Pakete aufgeladen wurden. Er bremste ab und verfolgte den Wagen vorsichtig. Der Laster hielt noch mehrmals an, doch Jericho hoffte, daß er zum Flugplatz von Yesod fahren würde, was dieser kurz vor der Abenddämmerung auch tatsächlich machte. Jericho parkte ein gutes Stück vor dem Luftfrachtterminal, lief ungesehen zu dem Laster, wartete, bis der Fahrer auf die Ladefläche geklettert war, um die Güter auszuladen, sprang auf und tötete den Mann. Er nahm ihm Uniform und Identifikationsmarke ab und gab sich das Aussehen des Mannes. Er schloß den Körper des Fahrers im Laderaum ein, nahm einige Pakete und ging mit an die Brust gehefteter ID-Marke zum Frachtannahmebüro. Während er in der Reihe hinter den anderen Kurieren wartete, betrachtete er die Abflugtermine an der Wand und sah, daß in der nächsten halben Stunde ein Flug nach Hod geplant war. Das war mehr als er gehofft hatte. Netsah lag nur dreihundert Kilometer nördlich von Yesod, Hod jedoch war weniger als fünfhundert Kilometer von Tifereth entfernt. Kam er in dieses Flugzeug, konnte er Netsah und vier weitere Städte überspringen. Er ging zur Tür hinaus, änderte bei den Paketen den Bestimmungsort in Hod um, wartete eine Viertelstunde und betrat das Büro noch einmal. Er mußte sich nicht mehr anstellen und konnte direkt zur Annahme vorgehen. »Was haben Sie denn heute für mich?« fragte der Angestellte höflich. »Hochwichtiges Zeug für Hod«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Ich weiß nicht so recht«, sagte der Mann. »Das Flugzeug ist schon beladen und sollte eigentlich in den nächsten Minuten starten.« »Sehen Sie, ich weiß wirklich nicht, was bei diesen Paketen so höllisch wichtig ist, aber wenn sie heute nacht nicht in Hod sind, könnte ich meinen Job verlieren. Könnten Sie es nicht wenigstens versuchen?« -166-
»So wichtig sind sie?« fragte der Angestellte und rieb sich nachdenklich am Kinn. Jericho nickte. »Okay«, sagte der Mann. »Ich rufe den Piloten an und sage ihm, er soll eine Ladeklappe öffnen und auf Sie warten. Fahren Sie zur Schneise sieben.« Jericho bedankte sich bei dem Mann, ging hinaus zum Laster und fuhr bis auf vierzig Meter an die Landebahn heran, die mit Nummer »7« markiert war. Er stieg aus dem Führerhaus, winkte dem Piloten zu und warf die Pakete und seine Makeup-Tasche in den Laderaum. »Alles klar da unten?« rief der Pilot. »Alles klar!« rief Jericho laut, um das Dröhnen der Motoren zu übertönen. Er wartete, bis der Pilot den Knopf gedrückt hatte, der die Ladeklappe langsam schließen ließ, dann zog er sich hoch und in den Laderaum, kurz bevor die Klappe sich schloß. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn er den Piloten hätte töten können, anstatt unter Umständen in Hod im Laderaum entdeckt zu werden. Unglücklicherweise war er aber nicht in der Lage, ein Flugzeug zu bedienen, obwohl er mit Raumschiffen keinerlei Schwierigkeiten hatte. Gleich darauf hoben sie ab und nahmen Kurs auf die weitentfernte Stadt Hod. Jericho fragte sich, ob die Kontaktperson der Weißen Lucy dort wohl noch am Leben war.
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18 »Die Folter ist wie eine Geige nur ein Instrument. Erst unter der Hand eines Könners wird sie zur Kunstform.« Conrad Bland Sable hatte die Nacht nahezu schlaflos in einem kleinen Zimmer im Turm der Kirche verbracht. Obwohl es bei weitem nicht so luxuriös ausgestattet war wie das Hotelzimmer, in dem er kurzzeitig untergebracht worden war, bot es ihm alles nötige außer der Freiheit. Die Tür war aus Stahl gefertigt, die Schloßkombination konnte nur von außen eingegeben werden, und zwei recht stämmige Männer bewachten sie überdies noch. Das bißchen Schlaf, das er bekommen konnte, wurde laufend von den Schreien und Seufzern der sterbenden Menschen unterbrochen. Wachte er erst einmal auf, konnte er wegen dem alles überlagernden Verwesungsgestank kaum noch einschlafen. Eine Stunde nachdem die Sonne aufgegangen war- sie schickte nur wenige Strahlen durch das vernagelte Fenster -, wurde die Tür geöffnet und er über die Wendeltreppe nach unten geführt, vorbei an den geschundenen Körpern, den toten und lebenden, und dann nach draußen gebracht. Seine Augen schmerzten wegen dem ungewohnt hellen Sonnenlicht, als er über einen Steinweg geführt wurde. Angezogen von dem Geruch der Verwesung, zogen über ihnen einige Vögel ihre Bahn. Seltsamerweise fragte Sable sich, ob es wohl auch einige bis in die Kirche schaffen würden. Nachdem sie ungefähr sechzig Meter weit gelaufen waren, erreichten sie ein kleines, schwerbewachtes Pfarrhaus, in das man Sable rauh hineinstieß. Bland erwartete ihn in einer großen Bibliothek, die er mit zahlreichen Büchern und Aufnahmen aus allen Teilen der Republik gefüllt hatte. Eine vielstimmige Lautsprecheranlage spielte die bittersüße Abhandlung einer Symphonie, die Sable -168-
zwar vertraut erschien, die er jedoch nicht erkannte. »Guten Morgen, Mr. Sable«, sagte Bland vergnügt. »Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?« »So gut, wie ich erwartet habe«, erwiderte Sable während er sich umsah. Bei den Bandaufnahmen und Büchern waren auch zahlreiche Gemälde und Statuen, doch nichts davon konnte man auch nur vage als satanisch bezeichnen. Es gab kein Anzeichen auf Blands blutige Karriere. »Setzen Sie sich«, forderte ihn Bland auf und zeigte auf einen Ohrensessel. »Ich muß mich für die Spärlichkeit meines Domiziles entschuldigen, aber jeder muß von Zeit zu Zeit gewisse Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen.« »Aber auf solche könnte man verzichten«, sagte Sable kalt. »Ach hören Sie auf, Mr. Sable. Sie sind nicht gerade sehr freundlich oder amüsant, und Sie sollten nicht vergessen, daß das hier Ihre Aufgabe ist.« »Oder Sie bei Laune zu halten.« »Sie glauben, ich wäre verrückt?« Bland lachte auf. »Gut, warum nicht? Das hilft dabei, daß meine Feinde mich unterschätzen. Aber lassen Sie mich etwas erzählen, Mr. Sable : Mit zwölf Jahren wurde ich zu einem Psychiater gebracht, nachdem meine Mutter gesehen hatte, wie ich unsere Haustiere lebend sezierte. Ich bin vielleicht der einzige Mensch, den Sie kennen, dem ein Gutachten ausgestellt wurde, das kategorisch erklärt, daß ich nicht krank bin.« Bland lachte bei diesen Worten schallend. »Vielleicht hatte Ihr Psychiater ein besonderes Interesse an solch unschuldigen Kinderkapriolen?« sagte Sable, auf eine Reaktion von Bland wartend. Er mußte feststellen, daß es nur ein Lächeln von Bland bewirkte. »Ja, ich bin mir sicher, daß er das vorziehen würde, wenn er noch lebte. Ich tötete ihn mit dreizehn.« Dies wollte Sable aus Sicherheitsgründen nun nicht auch noch kommentieren, doch -169-
Bland, dem es ein Vergnügen war, den Polizisten aus der Reserve zu locken, stachelte ihn an. »Interessiert es Sie nicht, warum ich ihn getötet habe?« »Nur, wenn Sie es mir sagen möchten.« »Ich wußte damals schon, daß eine große und herrliche Aufgabe vor mir lag. Ich wuße noch nicht, um welche Aufgabe es sich handelt, doch sogar in diesem frühen Alter war mir klar, daß es niemanden geben sollte, der mich identifizieren oder meinen Feinden Informationen geben konnte. Aus demselben Grund tötete ich damals auch meine Eltern, aber ich hatte bis auf das und noch einige anderer Zwischenfälle eine ganz normale Jugend. Doch jetzt haben wir genug über mich geredet, Mr. Sable. Erzählen Sie mir etwas über sich.« »Zum Beispiel?« fragte Sable, seine Augen strichen über die vielen Fenster und Türen. »Zum Beispiel, warum in aller Welt jemand - und dann noch ein so moralischer Mensch wie Sie - mein Leben schützen möchte? Ich möchte Ihnen noch vorschlagen, diese sinnlose Suche nach Fluchtwegen aufzugeben. Ihre Situation wäre merklich schlechter und Ihr Leben dementsprechend kürzer, wenn Sie es tatsächlich schaffen sollten, aus diesem Haus zu entkommen, bevor ich Sie wieder schnappe.« Sable seufzte und wartete darauf, daß die Anspannung wieder aus seinen Muskeln verschwinden würde. Bland mochte ein Verrückter sein, doch ganz sicher war er kein nachlässiger oder dummer Verrückter, denn sonst hätte er es nie soweit gebracht. Ein Ausbruch kam nicht in Frage, das wußte er nun. »Ich bin Polizist und habe geschworen, das Gesetz aufrecht zu erhalten. Als ich herausfand, daß die Republik einen Mann töten wollte, dem meine Regierung Asyl gewährt hat, hielt ich es für meine Pflicht, das zu verhindern.« »Würden Sie das jetzt, wo Sie Tifereth gesehen haben, auch noch tun?« fragte Bland vergnügt. -170-
Sable starrte ihn an, atmete tief durch und antwortete dann: »Keinen Finger würde ich krümmen, um Sie zu beschützen.« »Oh?« meinte Bland amüsiert. »Wissen Sie, wie viele unschuldige Frauen und Männer von Walpurgis Ihr Attentäter bis jetzt auf dem Gewissen hat?« »Sechs.« »Ihre Informationen sind nicht auf dem neuesten Stand, Mr. Sable. Es sind jetzt mindestens vierzehn, es könnten aber auch schon zwanzig sein.« »Sie haben ihn immer noch nicht gefangen?« »Wir werden ihn bald haben.« »Wo ist er jetzt?« »Irgendwo zwischen Kether und Tifereth. Vielleicht in Yesod.« »So weit ist er schon gekommen?« meinte Sable überrascht. »Er ist wirklich ein guter Killer. Aber natürlich ist er noch nicht so nahe, um störend wirken zu können. Wenn die Zeit reif ist und sie wird es bald sein -, wird er gestoppt. Aber, Mr. Sable, es würde mich noch interessieren, warum Sie nun einen bezahl ten Mörder, der das ganze Land mit unschuldigen Opfern überzieht, nicht mehr aufhalten würden.« »Wollen Sie von mir eine moralische Abhandlung über das Töten von Unschuldigen hören?« »Er wildert auf meinem Land!« schrie Bland. Doch dann stahl sich wieder das Lächeln auf sein Gesicht. »Vergeben Sie mir. Meine Vorrechte bedeuten mir sehr viel, und manchmal drücke ich mich dann etwas zu hart aus.« An der Wand meldete sich das Interkom. Bland ging hinüber. »Ja?« »Sir«, sagte eine Stimme die Brombergs glich. »Es besteht kein Zweifel mehr: Er ist aus Yesod entkommen!« »Das hatte ich mir schon beinahe gedacht«, antwortete Bland -171-
ruhig. »Wie lange wird er bis Netsah brauchen?« »Drei Stunden, vielleicht auc h vier.« »Warten Sie fünf Stunden, und zerstören Sie es dann.« »Die ganze Stadt?« Bland antwortete darauf nicht mehr. Er schaltete das Interkom aus. »Soviel zu Ihrem Attentäter«, sagte er. »Darf ich Ihnen einen Drink anbieten, Mr. Sable?« Sable schüttelte denn Kopf. »Wie Sie wünschen«, sagte Bland achselzuckend. Er ging zurück zu seinem Stuhl. »Sie sehen bekümmert aus, Mr. Sable. Liegt es an der Zerstörung von Netsah?« »Sie töten Tausende von unschuldigen Menschen«, sagte Sable. Er konnte kaum seinen rasenden Zorn unterdrücken. »Es sind nur Menschen«, sagte Bland. »Früher oder später sterben sie sowieso. Einige Menschen, so wie Sie zum Beispiel, amüsieren und unterhalten mich. Andere, so wie Ihr gutgewappneter Attentäter, fordern mich heraus. Doch wenn ich ehrlich sein soll, so bin ich gezwungen zuzugeben, daß es mir um keinen einzigen leid tut.« Er zeigte auf die Bücher und Bandaufnahmen. »Das Beste der Menschheit, alles Bedeutende, ist dort. Der Rest ist nur Fleisch.« »Wie Ihre Eltern?« fragte Sable kalt. »Sie treffen da einen wunden Punkt, Mr. Sable. Der Tod meiner Eltern beschämt mich nämlich.« »Warum haben Sie es dann getan?« »Lassen Sie es mich anders ausdrücken«, verbesserte Bland. »Ich bedaure nicht ihren Tod, sondern die Art ihres Todes. Ich habe mich wie ein schleichendes Raubtier verhalten - oder«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, »wie ein republikanischer Attentäter. Die beiden waren die Menschen, deren Leiden ich am meisten genossen hätte, aber ich habe sie einfach entfernt schnell und ohne Spuren zu hinterlassen. Sie wußten nicht, was -172-
mit ihnen passierte. Aus diesem Grunde konnte ich mir leider den Kitzel ihrer Todesagonien nicht bewahren. In den folgenden Jahren bin ich weitaus kunstfertiger geworden, doch leider man kann seine Eltern nur einmal töten.« Sable versuchte seine Angst und seinen Ekel zu unterdrücken. Er fühlte, daß es nicht gut wäre, dazu etwas zu bemerken. »Schon wieder sehen Sie so bekümmert drein, Mr. Sable. Dazu besteht doch kein Grund. Es ist mein Wesen, bestimmte Dinge zu tun - und es ist meine Stärke, daß ich sie gut mache. Ich zerstöre, weil die Alternative das Nicht-Zerstören wäre. Das fände ich widerwärtig. Seien Sie ehrlich: Hatten Sie noch nie den Wunsch, Ihre Eltern, Ihre Frau oder Ihre Kinder zu töten?« »Natürlich«, sagte Sable. »Aber es sind nur animalische Gefühle. Man muß sich nicht von ihnen übermannen lassen.« »Ah, aber wie sieht es aus, wenn man sich dazu entschließt, sich übermannen zu lassen? Was wäre, wenn er statt dessen in der Lage wäre, es zu lenken? Was sollte dieser Mann, ausgestattet mit Intelligenz, Tatkraft und den Möglichkeiten, dann nicht tun?« »Eines sollte er auf jeden Fall nicht tun: mich überzeugen zu wollen, daß er recht hat.« »Wundervoll«, rief Bland aus und klatschte vor Freude in die Hände. »Ich wußte, Sie würden mich von Ihrem Unterhaltungswert überzeugen. Wie soll ich Sie belohnen? Ah, ich hab es! Sie dürfen mich in den nächsten fünf Minuten nach allem fragen, was Sie möchten, ohne Angst vor möglichen Konsequenzen haben zu müssen. Sicherlich haben Sie eine Unmenge von Fragen, oder?« »Lassen Sie mich am Anfang eine einfache stellen«, sagte Sable, der nicht so sicher war, ob ihn die falsche Frage nicht doch in größere Schwierigkeiten bringen würde. »Was ist Ihr Ziel - die Eroberung von Walpurgis?« Bland lachte und schüttelte den Kopf. »Was dann? Die ganze Republik?« -173-
»Mein lieber Mr. Sable, wie Sie mich doch in Ihrer ganzen Ignoranz mißverstehen! Ich habe nicht den Wunsch, etwas zu erobern. Ich habe weder diesen Wunsch noch, mit Verlaub gesagt, die Möglichkeiten, über ein ganzes Imperium zu herrschen. « »Warum dann dieses Gemetzel?« »Sie dürfen Eroberungsfeldzüge nicht mit Vernichtungskriegen verwechseln.« Er lief zu einem Fenster und öffnete es. Sable konnte wieder das dumpfe Stöhnen und Schreien vo n Blands Opfern aus der Kirche hören. »Hören Sie das?« fragte Bland mit glänzenden Augen. »Das ist die Symphonie, die in mir klingt, Mr. Sable.« Zusammen mit der Geräuschkulisse kam ein heißer Luftzug und brachte den Gestank, den Geschmack von verrottendem, verwesendem Fleisch, Blut, Ungeziefer und Tod mit sich. Sable wurde krank davon, doch gleichzeitig stellte er mit erstauntem Entsetzen fest, daß er sich während der letzten Nacht schon beinahe daran gewöhnt hatte. Er begann zu verstehen, wie einige der Wachen Blands ihre Objektivität verloren haben mochten und ihre Arbeit zu lieben anfingen - nur wenn man von außerhalb in den Schlachthof trat, bemerkte man den Unterschied und erkannte die volle Tragweite des Geschehens. »Warum kamen Sie nach Walpurgis?« fragte Sable und bedeckte Mund und Nase mit einem Taschentuch, bis Bland widerwillig das Fenster schloß und sich mit bedauerndem Blick wieder setzte. »Dies ist eine Welt, die Satan anbetet«, sagte Bland schließlich. »Ich wurde geboren, um hierher zu kommen, und dieser Planet wurde geboren, um mich zu empfangen. Wir wurden füreinander geschaffen. Es war eine perfekte Heirat, und so wird es auch bleiben - jedenfalls so lange, bis ich die Braut töte.« Sable kämpfte immer noch gegen den Brechreiz an und sagte nichts, also fuhr Bland fort. »Es mag einige Leute schmerzlich -174-
berühren, aber Satanismus und Teufelsbeschwörungen sind doch noch dümmer als der Theismus, aber wenn diese ganze Welt daran glaubt und ich es zu meinem Vorteil ausnutzen kann, habe ich nichts dagegen. Vergessen Sie nie: Es war ihr Klerus, ihre geistlichen Führer, die mir Asyl anboten. Jetzt denken sie, sie würden sich bei mir einschmeicheln könne n, indem sie mich zu ihrem Schwarzen Messias machen.« Er lachte. »Wozu sollte Satan Diener brauchen?« »Sie haben welche«, führte Sable an. »Bromberg und die anderen.« »Bevor ich hier fertig bin, werde ich sie töten. Ich würde von Satan nichts anderes erwarten. Euer Klerus sollte das eigentlich auch nicht.« Er sah auf seine Uhr. »Aber ich sehe, daß wir unser kleines Gespräch nun bald beenden müssen, Mr. Sable. Hinter dieser Tür beginnen jetzt gleich einige Obliegenheiten, denen ich einfach nicht fernbleiben kann. Vielleicht möchten Sie gerne zusehen?« »Ich würde es vorziehen, das nicht zu tun.« »So sei es«, sagte Bland und stand auf. »Nachdem ich gegangen bin, werden Sie zu Ihrem Quartier zurückgebracht. Sie können alles bestellen, was unsere kärgliche Speisekarte bietet, und natürlich steht Ihnen auch meine Bibliothek zur Verfügung. In der Zwischenzeit möchte ich, daß Sie mir eine Liste der Leute der Zivilregierung aufstellen, die gegen mich sind und die überzeugt werden müssen, Ihnen, während Ihres Aufenthaltes in Tifereth, einen kleinen Besuch abzustatten. Sable wollte Einwände dagegen erheben, doch Bland brachte ihn mit erhobenem Zeigefinger zum Schweigen. »Haben Sie von Cambria III gehört, Mr. Sable?« »Nein.« »Ich hatte die Gelegenheit, beinahe ein Jahr dort zu verweilen, nachdem ich gezwungen war, von Neu-Rhodesien zu fliehen. Es war keine verlorene Zeit, da ich bestimmte Theorien entwickelt -175-
hatte, die es zu testen galt. Ich tötete dreitausend Männer auf Cambria - dreitausendundsiebzehn, um genau zu sein. Jeder von ihnen bestand darauf, daß es Dinge gäbe, die zu tun er sich weigern würde, Geheimnisse, die er nie verraten würde und Gelübde, die er nie bräche. Jeder von ihnen, ohne Ausnahme, tat die Dinge, verriet die Geheimnisse und brach seine Gelübde. Es waren starke Männer, Mr. Sable, weitaus stärker als Sie außerdem wurden sie nicht von einer Religion oder Pflichterfüllung behindert. Überlegen Sie sich das, Mr. Sable, bis wir unser nächstes kleines Pläuschchen halten.«
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19 »Das Böse gestattet keine Alternativen.« Conrad Bland Das südliche Hod konnte man nicht mehr mit einer Metzgerei vergleichen, es war eine Metzelei. Jericho hatte keine Schwierigkeiten gehabt, aus dem Flugzeug zu kommen und den Flugplatz zu verlassen. Sein Problem bestand darin, herauszufinden, was von Hod überhaupt übrig war. Die einst aufstrebende Stadt mit 200.000 Einwohnern und hohen, schmalen Gebäuden und vor Menschen wimmelnden Geschäftsstraßen, war zerbombt, ausgebrannt. Die Straßen waren zerstört und die Bevölkerung um die Hälfte reduziert worden. Er war sicher, daß ihn Bland hier noch nicht erwartete, also konnte es sich nur um das Resultat seiner morbiden und blutigen Launen handeln. Die Straßen - die intakten Teile von ihnen - waren voller Müll, Glas und ausgebrannten Autowracks jeder Form und Größe. Zwischen dem ganzen unbrauchbaren Schutt auf den Straßen lagen die Körper. Einige waren erschossen, einige aufgeschlitzt, andere bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, aber alle waren sie tot. Jericho hatte ungefähr einen Kilometer vom Flughafen zurückgelegt, als ihm klar wurde, daß in dieser Stadt nichts mehr auffallen würde als ein gesunder und gutgekleideter Mann. Er betrat die ausgebrannte Ruine eines Einfamilienhauses, begab sich an die Arbeit und tauchte nach einigen Minuten mit Brandwunden am Körper hinkend wieder auf. Sein linker Arm befand sich nun in einer blutigen Schlinge, seihe Kleidung war heruntergekommen und blutverschmiert. Dann machte er sich -177-
schleppend und mit starrem Gesichtsausdruck auf seinen Weg durch die Ruinen. Zu seiner Überraschung traf er auf andere Menschen, die in einer noch schlimmeren Verfassung waren, als die, die er sich selbst gegeben hatte. Die Kranken, Verwundeten und Verstümmelten beachteten ihn nicht, und andere, die ihn nach seiner Identität fragen konnten, waren weit und breit nicht zu sehen. Von Zeit zu Zeit hörte er in der Ferne Detonationen von Granaten, doch da die Stadt schon.zerstört war, konnte er sich nicht vorstellen, worauf das Feuer gerichtet war. Er hinkte unbehindert sechs Kilometer weiter und sah sich dabei das Ausmaß der Zerstörung genauer an. Es hatte einen massiven Brandbombenbeschuß gegeben, doch die Piloten, die die Bomben abgeworfen hatten, waren dabei nicht gerade zielsicher gewesen. Einige Sektionen der Stadt waren drei- oder viermal getroffen worden, andere überhaupt nicht. Doch gerade in den relativ unzerstörten Arealen schien sein heruntergekommenes Aussehen eher die Regel als die Ausnahme zu sein, und so zog er keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich. Er wußte nicht, wo er seine Kontaktperson zuerst suchen sollte, aber er nahm an, daß sie in einer der unzerstörten Sektione n der Stadt sein würde - falls sie noch lebte. Er suchte den größten Abschnitt ohne Erfolg nach ihr ab, verbrachte die Nacht zusam men mit mehreren erschlagenen und liegengelassenen Menschen in der Vorhalle eines ausgebrannten Hotels und machte sich am nächsten Morgen in einem anderen Teil der Stadt wieder auf die Suche. Die Schußgeräusche wurden häufiger, und zweimal waren sie so nahe, daß er sich instinktiv zu Boden fallen ließ. Zu seinem Glück war aber niemand in der Nähe, dem die Schnelligkeit auffallen konnte, mit der er dies tat. Dann, zur Mittagszeit, fand er es: ein geschlossener Chiromantieladen mit dem Foto einer weißgekleideten Frau im Schaufenster und dem Schild: Wegen Geschäftsaufgabe -178-
geschlossen! Er wartete, bis ein paar Verwundete, die des Weges kamen, wieder außer Sichtweite waren, brach dann schnell die Tür auf und betrat einen kleinen Vorraum. Vorsichtig und wachsam ging er durch den Raum, schob den Perlenvorhang zur Seite und ging in den Hauptraum. Eine Frau in mittleren Jahren saß an einem Fenster und blickte stumpfsinnig hinaus. »Wir haben geschlossen«, sagte sie tonlos, ohne aufzublicken. »Jetzt nicht mehr«, antwortete er und setzte sich. Sie drehte sich um und betrachtete ihn. »Sie könnten ein Krankenhaus gebrauchen, falls es noch eines gibt - keinen Wahrsager.« »Vielleicht lassen Sie das meine Sorge sein«, erwiderte Jericho und spielte mit einem Stapel Tarotkarten, der vor ihm auf dem fünfeckigen Tisch lag. »Die Weiße Lucy war der Meinung, ich brauchte einen Seher.« »Jericho?« fragte sie zögernd und starrte ihn entsetzt und fasziniert an. Er nickte. »Was ist dir passiert?« fragte sie schließlich. »Nichts.« »Aber, du bist völlig...« Sie unterbrach sich. »Aber natürlich: Was könnte in einem Schlachthof weniger auffallen, als eines der Opfe r.« »Warum hat dir die Weiße Lucy nicht mitgeteilt, in welcher Verkleidung ich hier auftrete?« fragte er und nahm zum erstenmal seinen linken Arm aus der Schlinge, um ihn auszustrecken. »Ich hatte geglaubt, sie würde jeden meiner Schritte verfolgen?« »Sie ist sehr krank«, sagte die Frau. »Was ist mit ihr passiert?« »Schlaganfall, zu hohes Alter, wer kann das sagen? Sporadisch nimmt sie noch mit uns Kontakt auf, doch die meisten ihrer Gedanken sind irrational und verworren. Ich -179-
glaube, daß sie bald stirbt.« »Konnte sie in lichteren Momenten vielleicht auch etwas Nützliches durchgeben?« »Ja. Die einzige Stadt zwischen hier und Tifereth mit wenigstens minimalen Überlebenschancen ist Binah.« »Binah«, wiederholte er. »Das ist nur noch hundertzwanzig Kilometer von Tifereth entfernt, oder?« Sie nickte. »Aus welchem Grund wird hier geschossen?« »Du bist der Grund«, sagte die Frau. »Ich?« »Bland hat irgendwann gestern herausgefunden, daß du Netsah übersprungen hast und auf dem Weg nach Hod bist. Er hat seinen Leuten gesagt, falls du nicht in Hod getötet wirst, würde er zurückkommen und den Rest der Stadt zerstören. Bis jetzt haben sie ungefähr fünfzig Männer umgebracht, in der Hoffnung, du könntest darunter sein.« »Bland käme auch so wieder hierher« »Natürlich will er das. Hod war schon vor über zwei Wochen zerbombt worden, zu einer Zeit, als er noch nicht einmal von deiner Existenz wußte. Er hat Hod zerbombt, weil es ihm Spaß macht, und aus dem gleichen Grund wird er auch zurückkehren.« »Wie viele Leute hat er hier stationiert?« »Nicht mehr als zweitausend.« »Wie können sich seine Leute zwischen hier und Binah bewegen?« »Laß mich die Weiße Lucy fragen«, sagte sie und schloß die Augen, um sich zu konzentrieren. Nach kurzer Zeit öffnete sie sie wieder. »Es hat keinen Zweck. Sie schafft es nicht. Nichts von dem, was sie sendet, ergibt einen Sinn.« »Na gut«, sagte Jericho. »Vielleicht kannst du mir einige Dinge erläutern, ohne die Weiße Lucy zu fragen.« -180-
»Ich werde es versuchen.« »Warum lassen sich diese Leute derart mißbrauc hen? Warum greifen sie nicht Tifereth an oder versuchen wenigstens von hier zu verschwinden?« »Du mußt das so verstehen: Sie verehren Bland. Er ist ihr Schwarzer Messias, und in ihren Augen kann er nichts Falsches machen. Wenn er meint, daß Hod dem Erdboden gleichgemacht und seine Bevölkerung ausgelöscht werden muß, dann muß er recht haben. Dies sind nicht diese halbherzigen Teufelsanbeter, die du in Amaymon oder in Kether kennengelernt hast. Das sind wahre Satanisten, mit allem was dazugehört. Sie glauben an die Kraft und die Macht des Bösen, sie verehren die Täuschung, die Erniedrigung und die Entwürdigung, sie schwelgen in der Sünde und der Korruption, und das würden sie auf andere Art nicht bekommen. Sie töten sich freiwillig gegenseitig, sie haben keine Angst vor dem Tod, und sie sind voll darauf vorbereitet, Satan in den Tiefen der Hölle zu dienen.« »Das ist Wahnsinn. Niemand möchte sterben. Selbst die Märtyrer der alten Erde hätten es vorgezogen, ohne zu sterben ihre Welt zu verändern, wenn sie die Wahl gehabt hätten.« »Richtig«, sagte sie. »Aber deren Religionen basierten nicht auf der Glorifizierung von Leiden und Tod.« »Sie glorifizierten Jesus, der an ein Kreuz geschlagen wurde«, führte Jericho an. »Aber er litt für sie. Niemand leidet für Satanisten.« »Es ist verrückt.« »Wäre Bland auf einer normalen Welt so weit gekommen?« fragte sie ihn. Er zuckte mit den Achseln. »Kann ich annehmen, daß selbst hier, nach allem was passiert ist, kein Untergrund gegen ihn existiert, mit dem ich arbeiten könnte?« »Keiner.« »Wenn es so ist, wie Hod jetzt«, sagte er und starrte durch das -181-
Fenster auf die zerstörten Gebäude in der Ferne, »kann ich mir nicht vorstellen, daß ich in Binah noch eine Kontaktperson habe.« »Doch, wenn sie noch lebt«, sagte die Frau. »Ihr Name lautet Celia.« Er dachte einen Moment darüber nach, dann schüttelte er den Kopf. »Das ist das Risiko nicht wert, nicht, wenn die Weiße Lucy wahnsinnig geworden ist.« »Ich sagte doch, sie hat auch lichte Momente. Es kann ein zu hohes Risiko sein, den Kontakt mit Celia nicht zu suchen.« »Ich danke dir für den Ratschlag«, sagte Jericho unverbindlich. »Eine letzte Frage noch: Gibt es auch nichtmilitärischen Verkehr zwischen Hod und Binah?« »Meines Wissens nicht. Möglich wäre es natürlich, aber ich bezweifle es.« »Nun, ich glaube, das wäre alles«, sagte er, stand auf und steckte den Arm wieder in die Schlinge. »Bist du hi«r sicher?« »Ich bin hier um einiges sicherer, als dort, wo du hingehst«, erwiderte die Frau. Er zwang sich zu einem freundlichen Lächeln und ging dann durch den Vorraum hinaus auf die Straße. Wieder lief er durch die Stadt, und während seine Sinne die Umgebung überwachten, versuchte sein Geist trotz des Leidens und der Not, die um ihn herrschte, einen Weg aus Hod zu finden. Der Nachmittag war halb vorüber, als er an zwei Truppentransportern vorbei kam, die beide schwer bewacht wurden. Er hinkte die Straße entlang, schien den Transportern keinerlei Aufmerksamkeit zu schenken, und lief weiter, bis er außer Sicht war. Dann machte er kehrt. Er kletterte in die Überreste eines nahegelegenen Bürohauses, wartete dort bis zur Nacht und ging wieder zurück ins Freie. Die Schußsalven nahmen zu, aber das lag wohl eher daran, daß die Leute in der Nacht einen Freund oder Nachbarn mit einem republikanischen Attentäter verwechselten. In seiner Nähe -182-
wurde jedenfalls nicht geschossen. Er näherte sich wieder den Lastwagen, versteckte sich dann so gut es ging im Schatten eines noch intakten Gebäudes und wartete. Dann kam eine der Wachen - es waren sechs zu sehen, wahrscheinlich waren auch noch einige in oder hinter den Transportern -, offensichtlich um ein Restaurant oder dessen Waschraum aufzusuchen, in seine Richtung gelaufen. Jericho duckte sich weg, wartete bis der Mann auf gleicher Höhe mit ihm war und schlug ihm dann kräftig ins Genick und gegen den Kehlkopf. Er zerrte den toten Mann in das nächste Haus, zog sich seine Uniform an und hatte in wenigen Minuten auch sein Gesicht und seine Körperhaltung übernommen. Ein kurzer Blick in die Papiere des Mannes klärten ihn darüber auf, daß er Jacinto Vargas hieß und in Netsah wohnte, doch leider konnte Jericho nicht herausfinden, wohin der Transport gehen sollte. Er entschloß sich, zu den Transportern zu gehen, da eine längere Abwesenheit von Vargas auffallen konnte, ließ diesen Entschluß aber im letzten Moment wieder fallen, weil er sich auf keinen Fall in einem Transport Richtung Süden wiederfinden wollte. So wartete er außer Sicht, bis die Soldaten von Bland in Zweier- und Dreiergruppen zu den Lastwagen gingen. Endlich näherte sich dann auch ein einzelner Uniformierter. Jericho riß ihn in den Schatten des Hauses, warf ihn zu Boden und drückte ihm ein Messer an den Hals. »Wohin geht der Transport?« »Binah!« stammelte der Mann, am ganzen Körper zitternd. »Wohin sonst noch?« »Nur nach Binah, ich schwöre es!« Jericho tötete ihn, ohne das Messer zu benutzen. Die Identität von Vargas war, obwohl er sie nur eine Stunde benutzt hatte, nun zu gefährlich geworden, und er wollte auch keine Blutspuren auf seiner nächsten Uniform haben. Schnell tauschte er die Uniformen mit seinem Opfer, kopierte, so gut es unter diesen Umständen ging, die Gesichtszüge des Mannes, fand -183-
heraus, daß der Soldat Daniel Manning hieß, und steckte die Papiere ein. Er spielte mit dem Gedanken, Vargas Papiere bei der Leiche zu lassen, um die Finder dieser Leiche zu verwirren. Doch dann steckte er sie ein, da er sie vielleicht in Binah noch gebrauchen konnte. Während der ganzen Fahrt war er immer in der Lage gewesen, seine Makeup-Ausrüstung mitzunehmen, entweder in einer kleinen Tasche, als Paket zusammengerollt oder wenigstens unter seinem Hemd, doch er wußte, daß jede Tasche oder Ausbuchtung zuviel Aufmerksamkeit beim Transport erregen würde. Deshalb nahm er eine Tube mit Gesichtskitt, eine Tube mit der er sich die Haare schwarz färben konnte und eine mit Rouge heraus, damit er sich, falls nötig, wenigstens ein anderes Gesicht schaffen konnte. Mit Bedauern mußte er den Rest seiner Ausrüstung zurücklassen. Gleich darauf ging er zu den Lastwagen, wurde angewiesen, auf eine der Ladeflächen zu klettern, setzte sich gleich hinter die Klappe, ließ den Kopf auf die Brust sinken, um Schlaf vorzutäuschen und saß Schulter an Schulter mit Blands Truppen, während die Transporter durch die feuchte Nachtluft Richtung Binah rasten.
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20 »Natürlich besitzt jeder Mensch eine Seele. Sonst könnte ich doch auch Tiere töten.« Conrad Bland Es war immer noch Nacht, als die Lastwagen in fünfminütigen Abständen Binah erreichten. Jericho, der neben der Ladeklappe saß, war klar, daß sein Aussehen Mannings Freunde bei Tageslicht kaum täuschen konnte. Also sprang er ab, als der Fahrer in einer scharfen Linkskurve abbremsen mußte. Er bezweifelte zwar, daß die Schlafenden Soldaten seinen Absprung bemerkt hatten, trotzdem rannte er sofort im Zickzack weiter, als seine Füße die Erde berührten. Nachdem er ungefähr fünfhundert Meter zurückgelegt hatte, indem er durch die Erdgeschosse der Gebäude lief und sich so den Weg abkürzte, zog er sich in einen Hauseingang zurück, um zu verschnaufen. Von seinen Verfolgern war nichts zu hören. Er blieb eine Stunde in seinem Versteck und kam erst heraus, als die Sonne aufging. Dann konnte er den ersten richtigen Blick auf die Stadt werfen. Was immer er erwartet hatte, Binah war nicht so. Erstens war die Stadt relativ unzerstört. Es lagen zwar einige Leichen auf den Straßen, oder hingen an Haken von den Laternen herunter, doch die gleichförmig niedrigen Gebäude der Stadt waren intakt, die Straßen waren nicht durch Bomben oder Granatabwürfe zerstört, und sogar die Stromversorgung funktionierte. Zweitens sah er, bis auf die Leichen, keine Verwundeten, die in Hod so sehr das Bild geprägt hatten. Augenscheinlich wurden in Binah nur bestimmte Leute getötet, denn die Menschen, die er auf den Straßen sehen konnte, schienen glücklich und gesund zu -185-
sein. Nahezu alle Männer trugen schwarze oder rote Capes, die mit den Zeichen ihrer Sekte bestickt waren. Die meisten von ihnen waren sowohl mit Messern als auch Handfeuerwaffen ausgerüstet. Die Frauen hatten hier wohl den gleichen Lederspleen, wie er ihn bei den Frauen von Amaymon während der Grabesprozession der Katze zum erstenmal bemerkt hatte. Überall waren nackte Brüste, Rücken und Hintern zu sehen, wobei die Frauen weder auf ihre Figur noch auf ihr Alter Rücksicht genommen hatten. Jericho wäre es allein schon aus ästhetischen Gründen lieber gewesen, wenn sich neunzig Prozent dieser Frauen doch mit etwas mehr bekleidet hätten. Außerdem stellte sich ihm die Frage, wie sie wohl die harten walpurgischen Winter verbrachten. Einige Soldaten tauchten auf der Straße auf, aber keiner der Bürger schreckte vor ihnen zurück. Sicher, sie wurden nicht wie Helden bejubelt, doch Groll gegen sie war auch nicht zu erkennen. Er wußte nicht, ob auch Soldaten von Mannings Einheit dabei waren und wollte auch nicht auffallen, indem er in diesem Aufzug Celias Laden suchte. Also ging er in eine kleine Seitenstraße und wartete dort mit seiner unglaublichen Ruhe auf einen einsamen Spaziergänger. Nach zwanzig Minuten kam sein Opfer - eine Minute später trug er schon einen dieser capeartigen Umhänge über seiner Uniform und ging zurück zum Gehweg. Binah war eine kleine Stadt. Sie hatte einen Durchmesser von vielleicht drei Kilometern, und Jericho hoffte, Celia noch vor dem Mittag zu finden. Dennoch fand er ihr Geschäft erst am späten Nachmittag. Beinahe wäre er auch noch daran vorbeigelaufen, wenn er nicht erkannt hätte, daß sich Celias Tarnung der Umgebung angepaßt haben mußte. Ansonsten hätte -186-
er das Medium, das hinter dem Fenster stand, und außer einem Korsett und Stiefeln nichts trug, kaum als die gesuchte Frau erkannt. Es war ein relativ neu erbautes gemauertes Haus, das mit einem ihm unbekannten Hartholz verstärkt war. Celias Geschäft befand sich Hochparterre. Er ging die Stufen hinauf und klopfte zweimal an die Holztür, auf der in schmalen Goldlettern verkündet wurde, daß es sich hier um Madame Celia, Medium und Phrenologin, handelte. »Guten Tag«, sagte sie, als sie die Tür öffnete u.nd ihn vorbei an einem ledernen Zweisitzsofa zu einem großen Chrom- Leder-Stuhl führte. »Möchten Sie sich nicht setzen?« »Danke.« »Wie kann ich Ihnen dienen?« fragte sie und setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl. Offensichtlich war es ihr egal, welchen Eindruck ihre nackten Brüste und völlig entblößten Oberschenkel auf ihn machen konnten. »Ich möchte mit jemandem Kontakt aufnehmen«, sagte Jericho. »Wie heißt der Verblichene?« »Die Weiße Lucy.« »Du bist Jericho?« Er nickte. »Lebt sie noch?« »So gerade noch«, sagte Celia traurig. »Selbst in ihren Wachzuständen sendet sie nicht gerade überzeugend. Ich hoffe nur, daß wir zusammenbleiben können, wenn sie erst einmal tot ist. Sie war unser Verbindungsglied.« »Dann hat sie keine Nachricht für mich?« fragte Jericho. »Nur eine. Ich habe sie erst vor ein paar Stunden bekommen. « »Wie lautet sie?« »Sie weiß immer noch nicht, ob du deine Mission erfüllen kannst«, sagte Celia. »Aber wenn du es schaffst, solltest du keinesfalls John Sable töten.« »Sable ist in Tifereth?« fragte Jericho überrascht. »Ja. Du -187-
würdest ohne seine Hilfe nicht in der Lage sein, wieder zu entfliehen.« »Wie will er mir denn helfen?« »Die Weiße Lucy sagt, er wüßte, was zu tun ist.« »Ist das alles?« Sie nickte. »Hatte sie irgendwelche Vorstellungen, wie ich nach Tifereth gelangen könnte?« fragte Jericho. »Nein«, antwortete Celia. »Sie ist sehr schwach und nur selten bei klarem Verstand. Ich glaube, es hat sie schon beinahe den Rest ihrer Kraft gekostet, diese Nachricht zu senden.« »Ich verstehe«, sagte Jericho. Er stand auf und ging zu einem riesigen Spiegel, der zwischen unzä hligen Schaubildern menschlicher Köpfe und Hände an der Wand hing. Er sah sich kurz an und drehte sich dann wieder zu ihr um. »Kannst du mir erklären, was für ein Zeug ich hier trage?« »Der Umhang und die Insignien zeichnen dich als Hexenmeister der Kirche des Infernos aus.« »Und du?« fragte er und starrte auf ihren kaum verhüllten Körper. »Ich bin wie eine Tochter der Wonne gekleidet«, erwiderte sie. »Es ist bei weitem die größte Frauensekte in Binah.« »Ich habe auf meinem Weg hierhin die Frauen nicht angestarrt. War das korrekt?« Sie lachte. »Hast du eine Ahnung, wie unbequem Fischbeinkorsetts und Hüfthalter sein können? Natürlich solltest du uns bewundern. Unsere Mode soll ja das Auge erfreuen, auch wenn sie nicht direkt praktisch ist.« »Ich bin an ungefä hr zwei Dutzend Töchtern der Wonne vorbeigekommen. Könnten mich meine fehlenden Reaktionen entlarvt haben?« »Das bezweifle ich«, sagte Celia. »Die Bewohner von Binah -188-
sehen uns jeden Tag, und hie und da könnten sie ja mal gedankenverloren durch die Stadt laufen. Nein, ich denke, du bist sicher.« »Schön. Kann ein Mitglied der Kirche des Infernos nach Tifereth gehen, ohne angehalten zu werden?« »Keine Chance. Nur Blands Sicherheitskräfte können in Tifereth ein und aus gehen.« »Gibt es in Tifereth noch eine Kontaktperson?« »Nein. Ich bin die letzte. Wenn du Binah verlassen hast, bist du auf dich allein gestellt.« »Gibt es sonst noch etwas, was du mir erzählen sollst? Du mußt verstehen, ich will nie zu lange an einem Platz bleiben.« »Nein, das war alles.« »Dann möchte ich mich für deine Hilfe bedanken«, sagte er. »Außerdem möchte ich noch hinzufügen, daß mir euer Kleidungskode wirklich gut gefällt.« »Vielen Dank«, sagte sie ohne Hemmungen. »Viel Glück noch.« Er lief gerade zur Tür, als eine plötzliche Bewegung auf der Straße seine Aufmerksamkeit erregte. Er sah kurz aus dem Fenster, dann drehte er sich zu Celia um. »Da draußen kommen zwei Soldaten. Haben die hier etwas zu tun?« »Nicht, daß ich wüßte«, antwortete Celia. »Wie viele Geschäfte oder Büros gibt es sonst noch in diesem Haus?« »Fünf.« »Dann hat es ja unter Umständen nichts mit uns zu tun«, sagte er. »Trotzdem ist es wohl besser, wenn ich mich verstecke und abwarte bis sie wieder verschwunden sind. Hast du noch ein anderes Zimmer?« »Nur noch das Badezimmer«, sagte sie und zeigte auf die Tür. »Das reicht doch«, erwiderte er, ging hinein und ließ die Tür einen Spalt offen. Er hatte gerade eine Minute gewartet, als die Ladentür -189-
aufging, und die zwei Soldaten eintraten. Der eine war groß, der andere eher mittelgroß, aber beide waren schlank und ziemlich muskulös. »Sind Sie Madame Celia?« verlangte der eine zu wissen. »Ja.« »Sie wurden auf dem Planeten Beta Tau VIII, besser bekannt als Greenveldt, geboren?« »Warum?« fragte sie ängstlich. »Wenn Sie die Fragen nicht beantworten, muß ich davon ausgehen, daß Sie sie bejahen.« »Ja, ich wurde auf Greenveldt geboren.« »Würden Sie uns bitte folgen.« »Was ist denn los?« »Mylord Bland hat Order gegeben, daß alle Außenwelter zu Befragungszwecken nach Tifereth gebracht werden sollen.« Plötzlich wich das Blut aus ihrem Gesicht, und sie zitterte am ganzen Körper. »Aber ich weiß überhaupt nichts, was Conrad Bland nützen könnte.« »Das ist für uns nicht von Belang«, sagte der Soldat. »Gehen wir.« »Nein«, sagte sie. »Bitte nicht.« Der größere Soldat zuckte mit den Schultern und nickte dann seinem Kameraden zu. Sie gingen zu Celia und packten sie hart bei den Armen. »Jericho! Hilfe!« schrie sie auf. Jericho trat aus dem Badezimmer und erschoß die beiden ruhig und zielsicher. Als sie auf dem Boden lagen, kniete er sich hin und untersuchte einen der beiden Soldaten. »Schau dir die Taschen des anderen an«, sagte er. »Wenn sie dich zu Bland bringen wollten, müssen sie eine Art Paß oder Kennkarte dabeihaben, um aus Binah heraus- und nach Tifereth hineinzugelangen.« -190-
Celia durchsuchte den Mann, und nach kurzer Zeit hielten beide kleine Karten in der Hand, die von Bromberg unterzeichnet waren. »Das wird mich reinbringen«, sagte Jericho. »Aber diese Ausweise gelten nur für Soldaten. Sie scheinen auch keine Auslieferungspapiere dabei zu haben.« »Dann wirst du mich zurücklassen müssen«, sagte Celia sichtlich erleichtert. »Das geht nicht«, sagte er. »Jemand hat sie doch hergeschickt. Früher oder später werden weitere Soldaten nach ihnen suchen.« »Dann werde ich verschwinden.«, »Das wäre auch nicht gut«, sagte er kopfschüttelnd. »Du kommst ohne Paß nicht aus Binah hinaus. Es würde sie auch nicht viel Zeit kosten, dich zu finden, und wenn sie dich erst einmal haben, finden sie Mittel und Wege, dich zum Sprechen zu bringen.« »Ich würde ihnen niemals etwas über dich erzählen!« »Doch, das würdest du. Vor einem Moment noch hast du meinen Namen ausgerufen, als du nur geglaubt hast, sie würden dir vielleicht weh tun. Ich kann nicht zulassen, daß du in ihre Hände fällst.« Er starrte sie lange an. »Es tut mir leid«, sagte er bedauernd. Er hob seine Waffe und feuerte. Er nahm sich noch einige Minuten Zeit, die Leichen so hinzulegen, daß es so aussah, als wäre sie getötet worden, während sie sich gegen die Soldaten verteidigte. Dann zog er sich den Umhang aus, faltete ihn sorgfältig und warf ihn draußen auf der Straße in einen Müllschlucker. Er fand einen computerkodierten Wagen, knackte und testete ihn, zeigte am Rand der Stadt seinen Ausweis vor und fuhr dann durch die flache, karge Prärie in Richtung Tifereth.
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21 »Warum sollte jemand zur Hölle gehen wollen - außer er will sie erobern?« Conrad Bland Sable lief vielleicht schon zum tausendsten Mal in seiner Zelle herum: vier mal drei Meter, in einer Ecke war das Waschbecken und die Toilette. Die Zelle wurde nicht mehr bewacht, die Tür war nicht mehr verschlossen. Nach dem Gespräch vor zwei Tagen hatte Bland ihm freien Zutritt zur Kirche erlaubt. Das Problem war, daß er keine Lust hatte, in die Kirche zu gehen. Der einzige Ort, in dem er nicht die Zeichen der Folterungen sehen mußte, war diese Zelle, und so blieb er hier und weigerte sich auch nur einen Fuß davorzusetzen, solange Bland ihn nicht wieder rief. Genau wie in der Kirche, waren auch in der Zelle alle religiösen Anzeichen entfernt worden. Eine Fotografie von Bland, aufgenommen während der Nacht auf einem entfernten Planeten, hing über dem Bett, und Sable hatte bis jetzt noch nicht den Mut gefunden, sie zu entfernen. Ein kleines Regal, gefüllt mit Politmagazinen der extremsten Richtungen, für die Bland im Laufe der Jahre Artikel geschrieben hatte, stand neben dem Bett. Sable hatte sie, um die Zeit totzuschlagen, gelesen und festgestellt, daß Bland seine Zunge dabei sorgfältig im Zaum gehalten hatte, während er über philosophische Prinzipien sprach, die sich immer mit den jeweiligen Ansichten seiner Geldgeber deckten. Schließlich, vom Auf- und Abgehen müde und ohne Lust, Blands Traktate zu lesen, setzte er sich auf den kleinen Holzstuhl, legte die Beine aufs Bett, verschränkte die Hände im Nacken und dachte an sein Zuhause. Er hoffte, daß Siboyan die Jungs aus seinem Garten heraushielt und daran dachte, ihn zu -192-
gießen. Er beschloß noch einige Narzissen im Vorgarten zu setzen, wenn er noch einmal lebend aus Tifereth entkommen konnte. Auch dachte er daran, daß nun bald der Geburtstag seiner Tochter wäre, aber zu seinem großen Verdruß konnte er sich, so sehr er es auch versuchte, nicht mehr an das Datum erinnern. Er konnte sich vorstellen, wie sie nun vor dem Abendessen in ihrem Zimmer saß und pedantisch einen Aufsatz schrieb, wie er nur von einem neunjährigen Mädchen geschrieben werden konnte, das ihren Lehrer mit allen Mitteln zu beeindrucken versuchte. Danach würde sie darüber grübeln, welche Videoshow sie sich anschauen sollte. Später würde Siboyan den beiden Jungs ihren allabendlichen Vortrag über das rechtzeitige Erledigen von Hausaufgaben halten und sie nörgelnd in ihr Zimmer schieben (das die beiden abschließen und für die richtigen Arbeitsgeräusche sorgen würden, während sie sich mit einem heißen Kartenspiel die Zeit um die Ohren schlugen). Er hatte sie alle - sogar Siboyan - nun schon jahrelang als Selbstverständlichkeit angesehen. Wenn er hier lebend herauskäme, würde er das nie mehr tun. Je mehr er an seine Familie dachte, desto stärker verspürte er das Verlangen, bei ihnen zu sein, einen kleinen Ringkampf mit den Jungs zu machen, seiner Tochter bei ihren Erklärungen über bestimmte obskure wissenschaftliche oder juristische Prinzipien zuzuhören, oder mit Siboya n im Arm einzuschlafen, den Kopf auf ihren kleinen Brüsten, die so fest aussahen und sich so weich anfühlten. Wenn er hier lebend rauskam. Wenn... Plötzlich öffnete sich die Tür, und eine schlanke, rothaarige Frau, im Kostüm der Töchter der Wonne, trat ein. Sable betrachtete sie mit geübtem Auge. Früher mußte sie einmal eine Schönheit gewesen sein, sie war immer noch attraktiv, aber er konnte die kleinen Narben sehen, durch die Silikonpolster in ihre Brüste eingesetzt worden waren, und die viel zu glatte Haut -193-
um ihre Augen war ein todsicheres Anzeichen für Facelifting. Ihr Haar war eine Nuance zu rot, ihre Lippen zu glänzend und sogar ihre Brustwarzen schienen mit Rouge belegt worden zu sein. Er schätzte ihr Alter auf Fünfzig, obwohl sie aus einiger Entfernung betrachtet noch als Fünfundzwanzigjährige durchgehen mochte. Sie stand vor ihm, bemerkte seinen prüfenden Blick und starrte, ohne zu blinzeln, zurück. »Sie sind John Sable«, sagte sie schließlich. Sie hatte eine tiefe Stimme, die sie mit hörbarer Anstrengung rauh klingen ließ. »Wer sind Sie?« fragte er. »Ich bin Magdalene Jezebel.« »Die Hohepriesterin?« »Die ehemalige Hohepriesterin«, korrigierte sie ihn mit einem Lächeln, das ihr Gesicht noch herber wirken ließ. »Magdalena Hecate ist nun die Hohepriesterin der Töchter der Wonne.« Sie ging hinüber zum Bett, setzte sich und überprüfte geistesabwesend die Federn. »Ziemlich unbequem«, erklärte sie letztendlich. Er zuckte mit den Achseln. »Glauben Sie mir, Mr. Sable - Betten sind meine Spezialität, und dieses hier ist echt zu schäbig.« »Vielleicht können Sie mir ja ein besseres besorgen«, sagte er. »Ich werde mit Mylord Bland darüber sprechen.« »Ich darf doch annehmen, daß Sie hier keine Gefangene sind«, sagte er trocken. »Das ist richtig.« »Warum sind Sie in mein Zimmer gekommen?« »Reine Neugier«, sagte die Magdalene Jezebel. »Mylord Bland scheint von Ihnen recht angetan zu sein, deshalb wollte ich Sie persönlich sehen.« »Nun, ist Ihre Neugierde jetzt befriedigt?« »Nicht im geringsten. Ich sehe zum Beispiel, daß Sie das Amulett des Cali-Kultes tragen. Ich hätte angenommen, Sie wären praktizierender Voodoozauberer.« -194-
»Warum muß jeder annehmen, daß alle Schwarzen an Voodoo glauben?« fragte er irritiert zurück. »Sie sollten mal einigen Hennen die Köpfe abschlagen und dabei gregorianische Gesänge rückwärts singen, dann würden auch Sie merken, wie toll das ist.« »Es tut mir leid, wenn ich Sie gekränkt habe«, sagte sie leichthin. »Aber persönliche Glaubensvorstellungen sind mit der Ankunft von Conrad Bland relativ unwichtig geworden.« »Wo Sie gerade von Bland sprechen, wissen Sie vielleicht, was er mit mir vorhat?« »Aus irgendeinem Grund kann er Sie ganz gut leiden. Er will Sie wirklich nicht töten.« »Also hat er mich entführt, um mich zu seinem Verbündeten zu machen?« fragte Sable bitter lächelnd. »Nicht zu einem Verbündeten«, antwortete Magdalene Jezebel und streckte ihren Körper, um ihn in ein vorteilhafteres Licht zu rücken. »Eher als Maskottchen. Sie amüsieren ihn. Sie bringen ihn zum Lachen. Solange Sie sich weiterhin so verhalten, wird er Sie so behandeln, wie Sie vielleicht ein Haustier behandeln würden.« Als er etwas sagen wollte, hob sie die Hand. »Es ist nicht so erniedrigend, wie es klingt, Mr. Sable. Es gibt ja noch Alternativen.« »Die habe ich gesehen.« »Er hat natürlich bestimmte Verschrobenheiten«, sagte sie beunruhigend. »Darüber muß man hinwegsehen.« »Genau wie über die Leichen«, erwiderte er mit einem rauhen Lachen. »Sie verstehen nicht!« »Ich verstehe völlig. Er ist hier, um alle Menschen zu töten, bis zum letzten Mann, der letzten Frau und dem letzten Kind. Wenn er das geschafft hat, macht er unter Umständen noch bei den Tieren weiter.« -195-
»So wie Sie es darstellen, stimmt es nicht! Er ist der Schwarze Messias!« »Er ist der Schlächter von Borgia II!« sagte Sable hitzig. »Alles, was er kann, ist töten.« »Sie haben unrecht!« schrie sie ihn mit blitzenden Augen an. »Erst muß er die alte Gesellschaftsordnung ausradieren, bevor er sie durch seine eigene ersetzen kann.« »Aber in seiner neuen Gesellschaftsordnung wird niemand mehr leben!« »Quatsch! Er hat einige wenige von uns, die wir weitsichtig genug sind, ihn zu verstehen, um sich versammelt, um mit diesem Grundstock das neue Zeitalter, das er mit sich bringt, zu formen. Ich war die Hohepriesterin der Töchter der Wonne, Mr. Sable. Ich besaß Macht, Respekt und Reichtum. Warum, glauben Sie, habe ich alles aufgegeben, um nach Tifereth zu kommen?« »Ich habe nicht einmal die Spur einer Ahnung«, sagte er ironisch trocken. »Weil ich die Kraft sah, die er besitzt, die Macht, die er darstellt. Ich erkannte, daß wir anderen nur Kratzende an der Oberfläche der Dinge waren. Warum Satan huldigen, wenn Conrad Bland, der fleischgewordene Teufel, unter uns ist?« »Mit anderen Worten, Sie wollen von Anfang an dabei sein«, sagte er mit einem harten, kalten Grinsen. »Warum sollte ich es bestreiten? Er ist die stärkste Kraft des Universums. Warum sich ihm nicht anschließen? Wieso, glauben Sie, haben sich die Vorboten in Tifereth aufgelöst? Weil sie gesehen haben, daß der Meister gekommen ist, und sie keine weitere Existenzberechtigung besaßen. Er wird eine neue Welt schaffen, eine neue Republik, und wir, die wir ihm von Anfang an dienten, werden helfen dürfen, über das neue Reich zu herrschen.« »Sehen Sie nicht, daß er alle von euch, bis zum letzten, töten -196-
wird, egal, ob Freund oder Feind?« fragte Sable, der nun schon beinahe einen bedauernden Unterton in der Stimme hatte. »Wissen Sie immer noch nicht, was er ist?« »Er ist die lebende Verkörperung der Kraft und der Macht von Lord Luzifer.« »Und dem huldigen und dienen Sie - seiner Macht und seiner Kraft?« »Ja.« »Was ist, wenn der republikanische Attentäter durchkommt und Bland tötet? Werden Sie dann ihm, als dem größeren Killer, dienen?« »Er wird nicht durchkommen«, sagte sie bestimmt. »Aber wenn er es doch schafft?« »Er wird nicht durchkommen«, wiederholte sie. »Er wird aufgehalten werden, bevor er Binah verlassen kann.« »Er hat Binah erreicht?« fragte Sable überrascht. »Er ist schon so nahe herangekommen?« Sie sah unbehaglich drein. »Mylord Bland hat darüber heute morgen eine Erklärung abgegeben.« »Dann sollten Sie sich aber eine bessere Erklärung einfallen lassen«, sagte Sable. »So rhetorisch scheint die Frage ja nicht mehr zu sein.« »Er wird in Binah gefangen!« »Ich dachte, ich könnte ihn in Amaymon aufhalten, als er von unseren Sitten noch keine Ahnung hatte«, führte Sable an. »Und Bland hat bei demselben Versuch schon einige Städte ausradiert.« »Er hätte diese Städte ohnedies zerstört«, sagte sie unruhig. »Ich weiß. Deswegen hoffe ich ja auch, daß es der Attentäter schafft.« »Ich finde unser Gesprächsthema geschmacklos.« -197-
»Das finde ich auch«, stimmte Sable ihr ironisch grinsend zu. »Über was möchten Sie sonst noch sprechen?« »Über nichts mehr. Vielleicht bringe ich Ihnen Mylord Blands Artikel vorbei.« »Ich habe sie gelesen«, sagte er und zeigte auf den Stapel. »Die wurden aus zweckdienlichen politischen Gründen geschrieben«, sagte sie und nickte gleichgültig zu den Magazinen. »Im Moment arbeitet er an einem dicken Band, der die Hintergründe seiner persönlichen Philosophie erklärt.« »Wer wohl noch leben wird, um das zu lesen?« »Sie sind ein äußerst schwieriger Gesprächspartner, Mr. Sable«, sagte sie irritiert. »Ich kann nicht ganz verstehen, warum Mylord Bland Sie am Leben gelassen hat.« »Ich amüsiere ihn«, antwortete Sable sarkastisch. »Gut, aber mich amüsieren Sie nicht.« »Aber vielleicht haben Sie andererseits Ihre Neugierde befriedigt«, bemerkte er lächelnd. »Nicht ganz«, sagte sie und betrachtete ihn sorgfältig. »Vielleicht sollte ich mit Ihnen ins Bett gehen. Unter Umständen besitzen Sie ja Qualitäten, die nicht sofort ins Auge springen.« »Ist es nicht etwas schizophren - an einem Ort wie diesem vom Vergnügen zu sprechen?« »Was wäre besser, als dieser Ort hier?« fragte sie und begann ihre Kleidung abzulegen. »Ich weiß nicht genau, wie ich es Ihnen sagen soll, Magdalene Jezebel«, sagte er. »Aber ich bin ein verheirateter Mann. Ich habe meiner Frau einen Treueeid geschworen.« »Natürlich - der Cali-Kult«, sage sie. »Nun ist meine Neugie rde vollauf befriedigt, Mr. Sable.« Sie stand auf. »Sie besitzen keine einzige Idee oder Eigenschaft, die ich nur im geringsten annehmbar oder gar amüsant finde.« -198-
»Es tut mir leid, wenn Sie so denken müssen.« »Nachdem ich mit Mylord Bland gesprochen habe, wird es Ihnen noch mehr leid tun«, versprach sie. Sie warf ihm noch einen letzten verächtlichen Blick zu und verlies dann den Raum.
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22 »Der Triumph des Bösen ist so unabänderlich, wie der Wechsel der Jahreszeiten.« Conrad Bland Jericho verließ auf halbem Wege zwischen Binah und Tifereth die Straße, denn er mußte noch die Schußgenauigkeit der Pistole überprüfen, bevor er sich auf den Weg zu Blands Hauptquartier machte. Aus diesem Grund befestigte er sechs kleinere Steine in jeweils fünfzehn Zentimetern Abstand an dem herunterhängenden Ast eines Baumes und zielte auf sie. Die erste Kugel schlug in den Baumstamm ein und lag damit ungefähr zehn Zentimeter zu tief und zu weit links vom Ziel. Er justierte das Visier der Pistole nach und schoß dann in schneller Folge dreimal auf die Steine. Nun war jeder seiner Schüsse ein Treffer. In dem gestohlenen Wagen hatte sich auch eine Laserpistole befunden. Jericho holte sie und justierte sie, so gut es ging. Mit seinem Messer übte er nicht. Es war nicht nur seine Lieblingswaffe, sondern auch ein Werkzeug, das er bis zuletzt aufheben würde. Niemals würde er es als Wurfwaffe benutzen, da er es dabei unter Umständen verlieren konnte. Da er nicht vor Einbruch der Dunkelheit in Tifereth sein wollte, hob er mit dem Wagenheber das Auto an und täuschte, damit man nicht auf ihn aufmerksam wurde, einen Reifenwechsel vor. Der Zufall wollte es, daß die Autobahn in dieser Zeit von niemandem befahren wurde. Nach Sonnenuntergang entfernte er den Wagenheber, stieg ein und fuhr weiter nach Norden in Richtung Tifereth. Er kam an den Überresten dreier kleiner Vorstädte vorbei. Es waren jetzt nur noch ausgebrannte Ruinen, und er erreichte nach einer Stunde den ersten Verteidigungswall der Stadt. Dort legte er den Ausweis vor, wartete ruhig, während -200-
die Daten über einen Handheldcomputer geprüft wurden, und erhielt dann die Erlaubnis zur Weiterfahrt. Er wurde noch zweimal angehalten, sehr genau befragt und überprüft, erhielt aber jedesmal grünes Licht. Der letzte Check wurde an der Stadtgrenze vo rgenommen, und dieser war weitaus sorgfältiger als die vorherigen. Sein Aussehen - er hatte dafür den Rest seines Makeups verbraucht wurde mit dem der gestohlenen Ausweiskarte verglichen, die Personalien erneut durch einen Computer überprüft, sein Wagen wurde nach versteckten blinden Passagieren durchsucht und die Registriernummer seiner Waffe gecheckt. Die Laserwaffe wurde konfisziert, da er nicht beweisen konnte, daß er ihr Eigentümer war. Über eine Stunde wurde er an dieser letzten äußeren Verteidigungslinie aufgehalten, doch schließlich durfte er weiterfahren. Die kleine Schweißspur auf seinem Gesicht trocknete schnell, als er langsam durch die kühle Nachtluft in Tifereth einfuhr.
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23 »Im Lexikon des Bösen existieren die Begriffe Gnade und Bedauern nicht.« Conrad Bland »Satan hat seit Äonen die Kirchen der Republik im Geschäft gehalten. Nun ist es an der Zeit, die Verhältnisse neu zu ordnen«, sagte Bland. Man hatte Sable schon vor Mitternacht aus seinem Zimmer gerufen, doch Bland hatte wie immer bis Mittag geschlafen und war nun dabei, sein Essen einzunehmen. Dies wollte er in Sables Gesellschaft tun. Sable war durch das Mittelschiff der Kirche zu einem großen Raum geführt worden, welcher früher zur Jünglingsweihe der Novizen der Kirche Baals gedient hatte und den Bland zu seinem Eßzimmer erkoren hatte. Ein breiter, polierter und ungefähr zehn Meter langer Tisch stand in der Mitte des Raumes. Die Wände waren mit Bildern und Holographien von Bland bedeckt und mit kleinen Spruchplaketten versehen, von denen er wohl annahm, daß es sich hierbei um seine beißendsten Kommentare handelte. Von vier Wachen beschützt, saß Bland am einen Ende des Tisches, und Sable wurde zu einem Stuhl am anderen Ende geführt. Man bot ihm verschiedene Speisen an, doch hier unten war der Gestank noch schlimmer als oben und sein seit seiner Ankunft in Tifereth geringer Appetit verging ihm völlig. Bland schien diesen Gestank zu genießen, oder wenigstens beachtete er ihn nicht. Auf jeden Fall, so bemerkte Sable, hatte er keinerlei Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Bland das Essen in sich hineinstopfte. »Was ist los mit Ihnen, Mr. Sable?« fragte Bland, als er -202-
gerade einmal nichts im Mund hatte. »Haben Sie dazu keine Meinung?« »Sie kennen meine Meinung«, sagte Sable kalt. »Gut gesagt, Mr. Sable!« Bland lachte auf. »Wie diplomatisch! Sie erfreuen mich, wirklich, das tun Sie! Wie alle guten Menschen, glauben Sie auch jetzt noch an Wohlverhalten und würdevolles Auftreten und daran, daß es etwas nützen könnte, die andere Wange auch noch hinzuhalten.« Bland mußte vor Lachen wieder unterbrechen »Sie wissen natürlich, daß das auch die Eigenschaften sind, die die Farmer bei ihren Schafen besonders heranzüchten.« »Ein Schaf kann man nicht ermorden.« »Verurteilen Sie mich nicht so hart, Mr. Sable«, sagte Bland. »Wenn es einen Gott gibt, dann hat er von Anfang an das Todesurteil über jedes menschliche Wesen gefällt. Dagegen bin ich nicht mehr als ein talentierter Amateur.« Ein Soldat betrat den Raum, ging zu Bland und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Bland runzelte die Stirn, dann gab er einige Befehle, allerdings so leise, daß Sable sie nicht verstehen konnte. Der Soldat salutierte und verließ den Raum. »Ich muß der Republik mein Kompliment aussprechen«, sagte Bland. »Ihr Killer hat sich uns bis auf eine Meile genähert.« »Haben sie ihn gefangen?« fragte Sable. »Das wird gleich geschehen. Wir haben ihn umzingelt. Aber er hat es um einiges weiter gebracht, als ich annahm. Ich glaube, ich sollte morgen früh meine Verteidigungskräfte inspizieren.« Er lächelte Sable engelhaft an. »Doch nun genug der unerquicklichen Dinge. Der Grund, Mr. Sable, warum ich Sie eingeladen habe, ist folgender: Nach dem Essen wird uns Magdalene Jezebel ein wenig unterhalten, und das sollten wir uns nicht entgehen lassen.« Aus der Entfernung waren Schüsse zu hören. »Nun, das war's wohl«, sagte Bland. »Jetzt brauche ich mir wenigstens nicht mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, ob ich ihn töte oder kaufe. Sie sehen traurig aus, Mr. Sable, das müssen Sie doch nicht. Nichts -203-
und niemand kann mich töten, und Sie schützt es außerdem noch vor einer verirrten Kugel oder einem Laserstrahl. Hätten Sie Lust auf etwas Pudding?« »Nein, danke.« »Seien Sie doch etwas höflicher, Mr. Sable«, bat Bland. »Es kommt nicht oft vor, daß ich meinen Besitz - oder meine Mahlzeiten - mit jemandem teile.« Sable schüttelte den Kopf. »Nun, wenn das Ihr letztes Wort ist, sollte ich mich vielleicht nicht zu sehr darüber ärgern. Es bedeutet ja nur, daß ich mehr bekomme.« Er begann seinen Pudding zu löffeln, doch plötzlich hielt er inne. »Verflucht«, meinte er verärgert, nahm seine Serviette und wischte über einen kleinen Fleck auf seiner weißen Jacke. »Ich mache so viele Dinge ohne Fehler, aber eine Mahlzeit einzunehmen, ohne zu kleckern, gelingt mir einfach nicht.« Er tauchte die Serviette in ein Glas Wasser und versuchte dann erneut, den Fleck zu entfernen. Sable hörte zwei weitere Schüsse, diesmal merklich näher. Gleich darauf kam ein anderer Soldat in das Zimmer gelaufen. »Nun?« fragte Bland und blickte von seinem Jackett auf. »Er ist entkommen«, sagte der Soldat und trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. »Wie?« »Wir haben bis jetzt noch keinen Report bekommen, Sir. Ich glaube, er hat ihr Funkgerät zerstört.« »Hinaus!« brüllte Bland. »Komm nicht wieder, bevor dieser Kerl tot ist.« Der Soldat ließ sich dies nicht zweimal sagen und brachte sich schnell vor seinem aufgebrachten Führer in Sicherheit. Bland starrte noch einen langen Augenblick auf die Tür, durch die der Soldat verschwunden war, dann wandte er sich wieder seinem -204-
Pudding zu. Er stocherte noch ein paarmal darin herum, dann wischte er ihn mit einer kurzen Handbewegung vom Tisch. Die Schüssel zerbarst in hundert kleine Scherben. »Verflucht, verflucht, verflucht!« brüllte er. »Für was hält sich dieser Idiot eigentlich? Spaziert hier in Tifereth herum, als wäre ich einer dieser ordinären Typen, die er nur umzulegen brauchte? Es ist Conrad Bland, hinter dem er her ist!« Seine Stimme bekam einen weinerlichen Unterton. »Was ist mit Ihrer Regierung los, Mr. Sable? Erst geben sie mir Asyl, und nun rühren sie keinen Finger, um diesen Mörder aufzuhalten!« Sable seufzte. »Wenn Sie es bis jetzt noch nicht herausgefunden haben, sehe ich keine Möglichkeit, wie ich es Ihnen erklären soll.« Blands Gesicht verzerrte sich in diesem Moment zu einer schrecklichen Grimasse - doch dann stand er plötzlich lächelnd auf, so als wäre nichts geschehen. »Bitte entschuldigen Sie meinen kleinen Gefühlsausbruch, Mr. Sable. Es ist sonst wirklich nicht meine Art. Doch egal, da das Essen nun beendet zu sein scheint, ist es Zeit für ein wenig Unterhaltung.« Er winkte Sable und zwei Leuten der Wache ihm zu folgen und ging zu einer Tür am hinteren Ende des Raumes. Sie führte zu einem spärlich erleuchteten Korridor, den sie ungefähr sechzig Meter entlangliefen. Dann kamen sie schließlich zu einem kleinen Raum, der früher einmal eine Privatkapelle gewesen war. Die gepolsterten Sitzplätze waren noch in dem Raum, doch der Altar war durch ein, mit einem Tuch verhüllten, rechteckigen Gebilde ersetzt worden. Bland setzte sich in die erste Reihe und bedeutete Sable, sich neben ihn zu setzen. Sable sah, daß von dem Gebilde einige Kabel zu einer Fernbedienung führten, die eine Wache zu Bland brachte. »Etwas Musik, bitte«, sagte Bland und sofort erklang über das Interkomsystem eine bizarre Symphonie in der Kapelle. Bland -205-
nickte einer der Wachen zu, die daraufhin das Tuch entfernte. Darunter war ein großer Wassertank, indem sich, gekleidet in Leder und den Juwelen ihres Ordens, Magdalene Jezebel befand. Ihre Händ e und Füße waren an den Seiten des Tanks festgebunden. Sable brauchte eine volle Minute, um zu erkennen, daß sie sich ganz unter Wasser befand und schon lange nicht mehr atmete. Ihre Haare trieben über und neben ihr, glitten sanft auf und ab im leichten Fluß des Beckens. »Warum haben Sie sie getötet?« »Sie ist heute nachmittag zu mir gekommen und verlangte von mir, daß ich Sie töte«, sagte Bland. »Schlußendlich werde ich das auch tun, vielleicht sogar schon in dieser Nacht. Aber keiner gibt Conrad Bland Befehle. Niemand!« Er drückte einen Knopf der Fernbedienung, und Sable konnte das Knistern von Elektrizität hören. Als die Ladung das Wasser erreichte, begann der Körper der Magdalene Jezebel grausam, wie in ruckartigen Krämpfen zu zucken. »Sie sehen, Mr. Sable«, meinte Bland glucksend, »manch eine braucht nicht einmal zu leben, um eine gute Entertainerin zu sein.« Während der nächsten zwanzig Minuten baute sich die Musik immer stärker und schneller auf und Bland spielte sie simultan Note für Note auf seiner Fernbedienung nach. Mit entsetzter Faszination verfolgte Sable den Todestanz der Magdalene Jezebel. Dann hörte die Musik auf zu spielen, und Bland, der nun jedes Interesse verloren hatte, befahl den Wachen, den Behälter wieder mit dem Tuch zu bedecken. »Ich denke, daß ich es beim nächsten Mal mit einer lebenden Frau versuche«, sagte er vertraulich. »Natürlich werden sich nur die ersten paar Schritte unterscheiden, aber genau das könnte das Interessanteste sein, glauben Sie nicht auch?« Sable, der immer noch von dem, was er gesehen hatte, wie vor den Kopf geschlagen war, antwortete nicht. »He, he, Mr. Sable«, sagte Bland. »Sicherlich haben Sie doch schon weitaus -206-
unangenehmere Dinge in Ihrem Beruf gesehen. Verschwenden Sie Ihre Sympathien nicht für unsere Tocht er der Wonne. Sie hatte eine Aufgabe, und die hat sie ganz gut erfüllt.« »War ihre Aufgabe, Sie auf diese Art zu unterhalten?« verlangte Sable zu wissen. »Nein«, sagte Bland. »Ihre Aufgabe war, zu sterben.« »Grundlos?« »Genau«, sagte Bland lächelnd. »Berücksichtigen Sie doch meine Stellung. Wenn ich Unschuldige so behandele, wie sehr werden mich dann erst die Schuldigen fürchten!« »Sie sind verrückt.« »Meinen Feinden steht es frei, so zu denken.« Bland lachte. »Das ist ja auch ihre schwache Stelle.« Wieder waren Schüsse zu hören, wieder waren sie etwas näher an der Kirche. »Jedenfalls bei allen, bis auf diesen«, fügte er noch mit einem düsteren Blick hinzu. »Sie haben ihn immer noch nicht gefangen«, sagte Sable aufgeregt. »Er ist noch immer dort.draußen!« »Wir werden ihn fangen, nur keine Angst«, sagte Bland böse. »Das kann ich Ihnen versprechen, Mr. Sable.« »Das haben Sie mir auch schon vor drei Tagen versprochen«, sagte Sable. »Ihre Grundsätze scheinen etwas durcheinandergeraten zu sein«, sagte Bland mit einem kleinen Lächeln. »Für den Fall, daß Sie es vergessen haben sollten, Sie sind nach Tifereth gekommen, um mich zu beschützen.« Sable schnaubte verächtlich. »Wollen Sie damit andeuten, Mr. Sable, daß Sie mich nicht unter Einsatz Ihres Lebens retten würden, wenn jetzt dieser Attentäter hier hereinspaziert käme?« »Wenn er in diesem Augenblick den Raum beträte, würde ich seinen Weg mit Blumen bestreuen.« »Sie armer verwirrter Mann«, meinte Bland seufzend. »Sie -207-
haben immer noch nicht begriffen, daß ich unbesie gbar bin. Was er mit diesen Schwachköpfen auf der Straße anstellt, ist eine Sache. Was er dann hier macht, ist eine andere. Ich versichere Ihnen, daß dieses Gebäude uneinnehmbar ist.« »Wir werden sehen«, sagte Sable überzeugter, als er es war. »Dieses Gespräch ist vielleicht schon jetzt völlig hypothetisch«, sagte Bland. »Ich höre keine Schüsse mehr.« Er drehte sich zu einer der Wachen um. »Finden Sie heraus, ob er schon getötet worden ist.« Die Wache verließ die Kapelle und Bland spielte gedankenverloren auf der Fernbedienung herum, obwohl er die spastischen Zuckungen der Magdalene Jezebel nicht mehr sehen konnte. »Sie hören auf, mich zu amüsieren, Mr. Sable«, sagte er dann. »Ich hoffe, Sie haben nicht schon Ihr gesamtes Unterhaltungspotential ausgeschöpft.« Sable gab keine Antwort. »Also ehrlich, Mr. Sable«, sagte Bland. »Ich werde von lauter Idioten, Dummköpfen und Kriechern umgeben. Ich würde es bedauern, wenn unsere Beziehung schon zu einem Ende käme.« »Welche Art von Amüsement hätten Sie denn gern - ein Unterwassertanz vielleicht?« fragte Sable und starrte Bland fest an. »Das ist schon besser, Mr. Sable«, kicherte Bland. »Das ist diese Geisteshaltung, die mir so gefällt. Diese wunderbare Art von Humor, während Sie schon in den Rachen des Todes sehen.« In diesem Moment kehrte die Wache zurück. Bland stand auf und ging hinüber, um mit dem Mann zu sprechen. Die beiden flüsterten einige Sekunden, dann zog Bland eine kleine Pistole aus dem Gürtel und schoß dem Mann zwischen die Augen. »Merken Sie sich das«, sagte er und drehte sich zu der anderen Wache, die sich nicht bewegt hatte. »Bringen Sie mir niemals zweimal schlechte Nachrichten an einem Tag.« -208-
»Was ist passiert?« fragte Sable. »Alle unsere Kommunikationsnetze sind zusammengebrochen«, sagte Bland nachdenklich. Sable lachte. »Was ist daran so witzig?« »Sie wissen immer noch nicht, was hier vor sich geht, oder doch?« »Ich habe es Ihnen doch gesagt: Unsere Funkverbindungen sind tot. Das ist ein technischer Fehler und sonst nichts.« »Es sind nicht die Funkanlagen«, sagte Sable. »Die Funker sind tot.« »Unsinn! Ich habe dort draußen fünftausend Männer!« »Und ein einzelner Mann hat Sie umzingelt!« Sable mußte lachen. »Lachen Sie mich nicht aus!«, schrie Bland. Er senkte gedankenverloren für einen Moment den Kopf, dann sah er wieder auf. »Kommen Sie mit, Mr. Sable. Ich denke, es ist an der Zeit, selbst etwas aktiver in das Geschehen einzugreifen.« »Sie werden ihn nie aufhalten können«, sagte Sable nun schon überzeugter. »Doch, das werde ich!« schnappte Bland und ging zur Tür. »Aber glauben Sie nur nicht, daß ich Ihr Lachen vergessen werde. Für die nächsten Stunden werde ich meine Aufmerksamkeit diesem Emporkömmling zuwenden, der der Meinung zu sein scheint, er könne Conrad Bland ungestraft angreifen. Aber wenn ich mit ihm fertig bin, Mr. Sable, werde ich mich mit Ihnen beschäftigen - und ich verspreche Ihnen jetzt schon, daß es keine angenehme Erfahrung für Sie sein wird.«
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24 »Man muß nicht hassen, was man tötet.« Conrad Bland »Man muß nicht hassen, was man tötet.« Jericho Bland führte Sable und die Wache wieder zum Hauptsaal, unterwegs befahl er fünf Soldaten, ihnen zu folgen. In der Halle befanden sich nun weitaus weniger Opfer Blands, was für Sable bedeutete, daß Bland, obwohl er immer das Gegenteil behauptet hatte, in den letzten Tagen zu stark mit dem Attentäter beschäftigt war, um sich noch hier in diesem schrecklichsten aller Räume zu vergnügen. »Wie viele Funkgeräte besitzen die Truppen im Kirchenbereich?« fragte Bland. »Es sind ungefähr ein Dutzend, Sir«, antwortete eine der Wachen. »Gut. Besorgen Sie eine Anlage und richten Sie hier die Kommandozentrale ein. Ich möchte ständig mit den Leuten in Verbindung sein - und wehe, einer der Offiziere antwortet nicht sofort, wenn ich den Funkkontakt aufgebaut habe.« Der Soldat salutierte, schickte jemanden nach einem Funkgerät und teilte eine Ecke des Raumes ab. Sable sah sich im Raum um und mußte feststellen, daß die unmittelbare Nähe zu Bland seinen Standpunkt stärker verändert hatte, als er angenommen hätte. Das Blutbad, das in diesem Raum stattgefunden hatte, die zerschundenen Körper, die Leichen und Schwerverwundeten erfüllten ihn natürlich mit Entsetzen - aber das dröhnende Gefühl des Schocks war verschwunden, der Brechreiz war nur noch minimal und -210-
Fluchtgedanken wurden sofort von seinem Selbsterhaltungstrieb unterdrückt. Die wahnwitzige Natur von Blands Folterangen und Abschlachtereien hatte tief in ihm etwas abgetötet, und darüber war er beinahe so aufgebracht wie über die Brutalität und das sinnlose Leiden, das ihn umgab. Vielleicht war es sein Mitgefühl, vielleicht auch etwas anderes - doch was immer es sein mochte, er hoffte, es nicht für immer verloren zu haben. Davon ausgehend, fügte er als sarkastische gedankliche Fußnote hinzu, daß er aus diesem ganzen Schlamassel lebend herauskäme, was leider mit jeder verstrichenen Minute unwahrscheinlicher wurde. Bland hatte sich von seinen Wachen noch zwei Handfeuerwaffen geben lassen und überprüfte gerade sorgfältig, ob sie geladen und funktionsfähig waren. Schließlich war er befriedigt, verstaute sie in seinen Taschen und begann in der Halle umherzulaufen, wobei er jedem der sich krümmenden Körper, die auf seinem Weg lagen, einen Tritt versetzte. Dann wandte er sich Säble zu. »Wer ist der Mann, Mr. Säble?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Säble achselzuckend. »Aber er muß einen Namen, ein Gesicht und eine Identität haben«, beharrte Bland. »Ich kenne seinen Namen nicht, und er hat schon mehr Gesichter und Identitäten benutzt,.als Sie hier Leichen herumliegen haben.« »Wieso lebt der Kerl denn noch?« fragte Bland, dessen Stimme wieder diesen schrillen, weinerlichen Unterton bekam. »Warum konnten wir ihn bis jetzt noch nicht töten oder fangen?« Er ging zu der gerade aktivierten Kommandozentrale und besprach über Funk mit seinen Offizieren die Lage. Keiner hatte etwas von dem Attentäter gesehen - die Kirche war also noch sicher. »Sollen wir ein paar Leute rausschicken, um nachzusehen, ob -211-
er schon erwischt worden ist?« fragte einer der Offiziere. »Ja«, sagte Bland, änderte aber sofort wieder seine Meinung. »Nein! Keiner verläßt die Kirche, bis der Kerl tot ist!« Er brüllte laut in das Mikrofon. »Wenn ich irgend jemanden dabei erwische, wie er seinen Posten verläßt, passiert etwas, was die Zustände, die hier in der Halle herrschen, wie ein Picknick aussehen läßt! Ich kann und werde Untreue nicht tolerieren! Satan hilft jedem, der zur anderen Seite wechselt, aber ich natürlich nicht!« »Zur anderen Seite?« erwiderte der Offizier, dessen Stimme von den statischen Geräuschen des Funk s begleitet wurde. »Ich hatte gedacht, es handele sich nur um einen Mann.« »Halten Sie den Mund!« schrie Bland. »Zählen Sie Ihre Leute. Zählen Sie sie jetzt. Ich will wissen, ob sie jetzt dort sind, wo sie sein sollten!« »Aber...« »Zählen Sie sie!« schrie Bland. Nach kurzer Stille meldete sich die Stimme wieder: »Wir sind vollzählig, alle sind in Position, Sir.« »Schön!« schnappte Bland. Dann verengten sich seine Augen. »Wie lautet das Paßwort?« »Paßwort?« wiederholte die Stimme. »Das Netzwerk steht doch erst fünf Minuten. Man hat uns kein Paßwort durchgegeben. « »Wie heißen Sie?« verlangte Bland zu wissen. »Marcus Cooper, Sir.« Bland grummelte etwas und unterbrach die Verbindung. »Sie sehen, Mr. Säble«, sagte er, nun wieder lächelnd. »Wir sind immer noch sicher. Ihr Attentäter ist so nahe herangekommen, wie er nur konnte. Ich bin zwar nicht für mein Mitgefühl berühmt, aber ein wenig tut es mir um diesen Mann leid. Es war ein ganz anständiger Erfolg, einer, auf den er stolz sein könnte, -212-
während dieser letzten Minuten seines Lebens, die ihm noch verbleiben.« Nun schien ihm die Situation, die'ihn in der letzten halben Stunde so vereinnahmt hatte, gleichgültig geworden zu sein, denn er lief durch die Halle und betrachtete sein Werk. Sogar in der schlimmen Verfassung, in der sich seine Opfer befanden, erkannten sie Bland und versuchten vor ihm zurückzukriechen. Er machte seine Runde, lächelte den Toten und Halble bendigen zu, und klopfte ihnen derart affektiert anerkennend auf Rücken oder Schulter, wie man es sonst nur von stolzen Generälen angesichts einer erfolgreichen Militäreinheit gewohnt ist. Sable konnte ihn nur noch anstarren. Dieses Verhalten war für ihn auf faszinierende Weise schlimmer, als alles andere, was man diesen armen Seelen bisher angetan hatte. Ganz plötzlich ertönten wieder Schüsse. Bland raste zum Funkgerät und nahm das Mikrofon. »Was ist los da draußen?« bellte er. »Er ist hier irgendwo auf dem Kirchengelände, Sir!« sagte Marcus Cooper. »Er hat das Aussehen eines unserer Soldaten. Wir haben so viele Soldaten hier, daß wir ihn unmöglich herausfinden können!« »Lassen Sie alle töten«, befahl Bland. »Aber Sir...« »Sie haben mich doch verstanden«, sagte Bland ruhiger. »Töten Sie jeden.« Nach einigen darauf folgenden Schußsalven war die Leitung tot. Bland versuchte mit den anderen elf Verbindungsoffizieren Kontakt aufzunehmen, aber nur noch sieben antworteten. Offensichtlich herrschte überall Verwirrung und Chaos. Er befahl jedem von ihnen, auf alles, was sich bewegte oder lebte, zu feuern. -213-
»Sir«, sagte eine von Blands Leibwachen. »Ich bin sicher, daß es nur noch eine Frage von Minuten ist, bis sie ihn getötet haben. Aber trotzdem halte ich es für sicherer, wenn wir zur Kapelle oder zu einem der kleineren Räume gingen. Sie sind leichter zu verteidigen.« »Nein«, sagte Bland bestimmt. »Aber...« »Mir gefällt es hier«, sagte Bland und strich einem von der Decke hängenden Mann sanft über den Hintern. »Ich fühle mich hier wie zu Hause. Hier will ich bleiben.« »Ich kann Sie gut verstehen, Sir, aber...« Bland zog eine Pistole aus der Tasche und erschoß den Mann. »Will sich sonst noch jemand mit mir über meine Befehle streiten?« fragte er mit sanfter Stimme. Keiner wollte. Er sah Sable an. »Nun, und wenn es mich meine ganze Armee kostet, ihn zu fangen, ich werde ihn kriegen«, sagte er. »Ich habe schon früher Armeen verloren. Ich werde bald eine neue aufgestellt haben.« »Wenn Sie lange genug leben«, sagte Sable bedeutungsvoll. »Erst er, dann Sie!« schnappte Bland. »Sie werden ihn nicht mehr aufhalten können!« sagte Sable triumphierend. »Er ist doch schon auf hundert Meter an Sie herangekommen.« »Aber er wird nicht weiter herankommen!« bellte Bland. »Das hat er vielleicht jetzt schon während unseres Gesprächs geschafft«, sagte Sable. »Wie fühlt man sich, wenn sich einem der Tod unerbittlich nähert und man sich nicht dagegen schützen kann?« »Eine exzellente Frage, Mr. Sable«, sagte Bland und spielte liebevoll mit einer Pistole. »Denken Sie gut darüber nach und geben Sie mir dann Ihre Antwort.« -214-
»Ist es nicht Ironie des Schicksals«, fuhr Sable böse fort, »daß Conrad Bland, der schlimmste Mörder von allen, nicht durch eine Revolution, eine Krankheit oder an Altersschwäche stirbt, sondern von einem noch besseren Killer getötet wird?« »Seien Sie still«, sagte Bland unheilvoll. »Ich finde es gerecht und passend, daß Sie ausgerechnet in diesem Raum, wo Sie so viele Menschen getötet haben, auch Ihr Leben verlieren werden.« »Meine Geduld ist nicht endlos, Mr. Sable«, sagte Bland und richtete die Waffe auf Sables Brust. »Ich an Ihrer Stelle würde jetzt sofort den Mund halten.« Sable schloß den Mund und sah Bland herausfordernd an. Bland lächelte ihn kurz an, dann ging er wieder zurück zu seiner Funkanlage. Diesmal antworteten nur noch drei Offiziere. Bland wurde bleich. »Die Türen!« brüllte er. »Warum sind die Türen nicht verschlossen?« Die fünf Wachen rannten zu dem Dutzend Türen, die zum Auditorium führten, und verrammelten sie in dem Moment, als einige Soldaten mit gezogenen Waffen an ihnen vorbei in den Korridor rasten. »Ich habe es Ihnen doch gesagt, Mr. Sable, daß er diesen Raum nicht erreichen wird«, sagte Bland. »Sie haben auch gesagt, er würde Kether, Hod und Binah nicht erreichen«, führte Sable lachend an. »Nur Dreck auf der Landkarte«, höhnte Bland. »Die hätte ich sowieso zerstört.« »Ich weiß«, sagte Sable. Bland wandte sich wieder dem Funkgerät zu. »Habt ihr ihn jetzt endlich?« wollte er wissen. »Wir sind nicht sicher, Sir«, sagte eine heisere Stimme. »Hier -215-
liegen so viele Tote herum, daß es uns Stunden kosten würde, sie zu sortieren und identifizieren, aber wenn er in diesen Minuten auch in den Korridoren war, gehört er jetzt zu den Toten.« »Na, das war's dann wohl«, sagte Bland und rieb sich die feingliedrigen Hände. Sable sagte nichts. »Was ist denn los mit Ihnen, Mr. Sable«, stichelte Bland. »Wollen Sie nicht meinen heroischen Streitkräften gratulieren oder wenigstens Ihrem Anführer applaudieren? Oder sind Sie sich dafür zu gut?« »Wenn Sie sich so sicher sind, daß er tot ist, öffnen Sie doch die Türen und schicken Ihre Wachen weg«, erwiderte Sable. »Alles zu seiner Zeit«, sagte Bland. »Doch bevor ich dazu komme, habe ich, wie Sie sich vielleicht erinnern werden, noch etwas anderes zu erledigen.« Er machte eine Pause, um Sables Reaktion zu beobachten, doch der Gesichtsausdruck des Polizisten änderte sich nicht. »Wenn Sie es noch mal schaffen, mich zu amüsieren, Mr. Sable, die Angst um Ihr Leben wird Sie dabei sicherlich beflügeln, gebe ich Ihnen noch eine letzte Chance. Vielleicht lasse ich Sie dann bis morgen früh am Leben.« »Während Blutbäder stattfinden, bin ich selten geistreich.« »Ein wenig Zynismus, ein Körnchen Frechheit und sehr wenig Esprit«, meinte Bland mit einem Kichern. »Sie haben achtzig Prozent erreicht. Sie sind durchgekommen, aber nur ganz knapp.« »Ich danke Ihnen«, sagte Sable bissig. »Nichts zu danken«, erwiderte Bland. »Überlegen Sie sich besser schon einmal Ihren nächsten geistreichen Einfall.« Sable seufzte und blickte sich in dem Raum um, niedergeschlagen durch den Wahnsinn einen Verrückten in einem Irrenhaus amüsieren zu müssen - und plötzlich hatte er das Gefühl, daß sich etwas verändert hatte. Er konnte nicht mit dem Finger -216-
darauf zeigen, aber da war etwas... Dann hatte er es. Dort, wo fünf uniformierte Soldaten bei den verbarrikadierten Türen stehen sollten, standen nun sechs. Er senkte den Blick und drehte seinen Kopf weg, da er nicht wollte, daß Bland seinen Blick bemerkte. Doch Bland wanderte schon wieder zwischen seinen geliebten Körpern umher, schüttelte lebende und tote Hände, unterhielt sich quietschvergnügt mit Männern und Frauen, die schon lange nichts mehr hören konnten, und so wagte Sable noch einen schnellen Blick. Drei... vier... fünf... sechs! Ja, er hatte recht: Der Mann war jetzt schon hier im Raum! Aber warum wußten die anderen nichts von seiner Anwesenheit? Konnten sie nicht zählen? Dann verstand er. Die sechs standen überall verteilt im Raum, bewachten die vielen Türen. Keiner von ihnen konnte alle anderen fünf sehen. Nur er und Bland, sie standen in der Mitte des Auditoriums, waren in der Lage, alle sehen zu können, doch Bland war viel zu sehr mit seinen Opfern beschäftigt, um es zu bemerken. Aber worauf wartete der Attentäter? Warum zog er nicht die Waffe und erschoß Bland, so wie man es bei einem derartig tollwütigen Hund zu tun hat? Doch dann wurde es ihm klar: Dieser Mann war kein emotionsgeladener Revolutionär, kein mystischer Racheengel, der ausgesandt wurde, ein Monster zu erledigen. Dieser Mann war ein bezahlter Killer - ein leistungsfähigerer Killer als Bland -, der absolut kein Interesse daran hatte, für etwas oder jemanden sein Leben zu opfern. Außer Bland waren noch fünf andere bewaffnete Männer im Raum. Er würde sich nicht bewegen, bevor er sie nicht alle getötet oder sonstwie außer Gefecht gesetzt hatte. Bland lief weiterhin umher und redete. In Sable baute sich mit aller Macht ein Gefühl auf, bei dem er meinte, es würde ihn zerreißen. Doch irgendwie konnte er seine äußere Ruhe -217-
beibehalten, und nach kurzer Zeit näherte sich ihm Bland wieder. »Ich habe keine weiteren Schüsse gehört, Mr. Sable«, bemerkte Bland. »Der Mann ist tot. Da gibt es keine Frage mehr.« »Wenn Sie es sagen«, erwiderte Sable und versuchte die Aufregung in seiner Stimme zu unterdrücken. »Sehr richtig. Doch nun kommen wir zu einem anderen Problem, einem kleineren zwar, aber man muß sich trotzdem damit beschäftigen: Was machen wir denn nun mit Ihnen, Mr. Sable?« Zum erstenmal an diesem Abend war Sable eingeschüchtert. Wenn dieser Attentäter nur eine dunkle emotionslose Figur war, die sich durch die Städte arbeitete, wenn absolut keine Hoffnung auf Rettung mehr bestand, mußte er sich mit seinem eigenen Tod abfinden. Aber daß er dem Überleben so nahe gekommen war, nur wenige Minuten vor Bland sterben sollte - das war für ihn mehr als nur ein schreckliches Gefühl: Er fühlte sich geschlagen. In diesem Augenblick wurde ihm klar, daß der Attentäter nicht einen Finger rühren würde, um ihn zu retten. Dessen Job war das Töten von Menschen, nicht deren Rettung. »Nun, Mr. Sable?« fragte Bland erwartungsvoll. »Ich warte. Sie haben doch sicher etwas zu dieser Sache zu sagen. Irgendein Angebot, das Sie mir offerieren könnten?« Sable starrte ihn an, seine Knie wurden weich und seine Hände begannen zu zittern, aber er sagte nichts. »Wache!« rief Bland und alle sechs Männer drehten sich zu ihm. »Ich glaube, unserem Mr. Sable ist es ein wenig zu warm. Zwei von euch sollten herkommen und ihn seiner Kleidung entledigen, während ich mir etwas einfallen lasse, wie wir ihn von seinem gegenwärtigen Unbehagen befreien könnten.« Zwei der Wachen näherten sich Sable, der verzweifelt hinter sie auf die anderen vier starrte. Jetzt! wollte er schreien. Jetzt, wo ihr euch alle gegenseitig im Visier habt! -218-
Jetzt, bevor sie anfangen zu zählen! Die vier Wachen blieben die längsten zwanzig Sekunden in Sables Leben regungslos stehen. Dann drehte sich einer der Männer, er hatte mit verschränkten Armen vor einer Tür gestanden, mit einer fließenden Bewegung um, und durchbrach die grausame Stille des Auditoriums durch drei schnell abgefeuerte Schüsse. Die drei an den Türen stehengebliebenen Wachen stürzten zu Boden. Die zwei übrigen Wachen, sie hatten Sable beinahe erreicht, waren tot bevor sie sich umdrehen und nach dem Grund der Schüsse sehen konnten. »Rühren Sie sich nicht, Mr. Bland«, rief Jericho kalt, als sich Blands Hand der Jackentasche näherte. »Wer sind Sie?« wollte Bland wissen. »Treten Sie ein Stück zur Seite, Mr. Sable«, sagte Jericho. Sable ging ein Stück zurück und wäre dabei beinahe über eine der toten Wachen gestolpert. Blands Pupillen zogen sich zusammen. »Na gut«, sagte er, seine Stimme hörte sich kühl und gelassen an. »Jemand hat Sie angeheuert, um mich zu töten. Wieviel man Ihnen auch immer gegeben hat, ich gebe Ihnen mehr, wenn Sie es nicht tun.« »Was könnten Sie mir denn anbieten?« fragte Jericho. »Die Hälfte meines Reiches«, sagte Bland und machte eine weitausholende Bewegung mit seinem Arm. »Wozu sollte ich achtundzwanzig tote Planeten besitzen wollen?« »Dann Geld«, sagte Bland. »Mehr Geld, als Sie sich je vorstellen können. Dollar, Rubel, Yen, Credits, Pfund - nennen Sie Ihre Währung. Eine Million, eine Milliarde, oder auch eine Billion - auch das wäre mir egal. Bedenken Sie, wieviel man für eine Milliarde Credits bekommen kann. Denken Sie an die Macht, die der Besitzer einer Billion Yen hätte. Nennen Sie Ihren Preis!« Töte ihn! wollte Sable schreien. Hör ihm nicht zu! Mach das, wozu du hergekommen bist! Aber er wollte weder ein Geräusch noch eine Bewegung machen, damit Jericho nicht von Bland -219-
abgelenkt wurde, und so blieb er regungslos und still stehen und wartete mit dumpfer Gewißheit darauf, daß Bland eine schwache Stelle bei dem Killer finden würde. »Ich nannte schon einen Preis«, sagte Jericho sanft. »Er ist auch schon bezahlt worden. Deswegen bin ich doch hier.« »Wir sind von der gleichen Art, du und ich«, sagte Bland, der sichtbar um Fassung rang. »Wir töten. Wir schwelgen im Tod, die Zerstörung berauscht uns. Komm zu mir. Werde mein General - nein, mein Partner, mein gleichberechtigter Partner -, und ich werde dir unvorstellbar viele Möglichkeiten zum Töten geben.« »Ich töte nicht aus Leidenschaft«, sagte Jericho. »Dann Frauen!« schrie Bland. »Frauen jeder Hautfarbe, jeder Glaubensrichtung, Frauen aller Art, nur dir Untertan!« Jerichos Lippen umspielte kurz ein kleines Lächeln. »Auf dieser Welt, Mr. Bland? Es tut mir leid, aber das ist kein sehr gutes Angebot.« »Dann also«, sagte Bland, er hatte einen triumphierende Ausdruck auf dem Gesicht, »wenn ich dich nicht mit Reichtum, Macht oder Leidenschaften umstimmen kann, mache ich dich zu Conrad Bland!« Jericho zog eine Augenbraue hoch, erwiderte aber nichts. »Es existieren keine Fotos oder Hologramme von mir, auch keine Fingerabdrücke oder Netzhautabzüge. Außer meinen Anhängern in Tifereth weiß niemand, wie ich aussehe. In der ganzen Galaxis gibt es keinen lebenden Menschen, der mein Aussehen kennt. Laß mich am Leben, und ich tausche mit dir die Identität. Denk darüber nach! Laß mich entkommen, ich gehe und komme nie wieder zurück, und du kannst hierbleiben und Conrad Bland werden!« Sable blickte nervös und starr zu dem Attentäter. Zum erstenmal meinte er, Interesse zu erkennen, den Willen die Sache abzuwägen, ein leichtes Schwanken von Jerichos -220-
Grundsätzen zu fühlen. »Ein interessantes Angebot«, sagte Jericho. »In der Tat, Ihr einzig interessantes Angebot. Doch jede Berufssparte besitzt ihren eigenen Ehrenkodex. Meiner beinhaltet das Erfüllen eines Auftrages, wenn ich ihn erstmal angenommen habe.« »Das kannst du nicht mit mir machen!« schrie Bland mit kratzendem Falsett. »Ich bin Conrad Bland!« Jericho hob die Waffe und zielte sorgfältig. »Nein!« röhrte Bland. »Das darfst du nicht tun! Ich habe mein Werk erst begonnen! Ich muß Walpurgis zerstören und dann die Erde und Deluros und...« Blands Hand zuckte, während er tobte, zu seiner Tasche. Jericho feuerte seine Waffe ab. Bland wurde am Kopf getroffen. »Gott sei Dank!« sagte Sable schwach. »Ich dachte, Sie glauben nicht an Gott, Mr. Sable?« sagte Jericho, steckte die Waffe ein und lief hinüber zu Blands Körper. »Ich danke Gott und Satan«, sagte Sable. »Aber in erster Linie danke ich Ihnen.« »Das ist nicht nötig«, sagte Jericho. »Ich wurde gut dafür bezahlt.« »Ich hatte schon mit dem Leben abgeschlossen«, sagte Sable, der bemerkte, daß es sich komisch anhörte, aber nicht aufhören konnte zu sprechen. »Keine Chance«, sagte Jericho lächelnd. »Ihren Tod hätte ich nie zugelassen.« »Ich verstehe nicht«, sagte Sable. »Sie werden mich aus diesem Sündenpfuhl herausbringen.« »Wie?« fragte Sable verwirrt. »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, gab Jericho zu. »Aber gutunterrichtete Quellen haben mir zugesichert, daß Sie uns hier rausbringen können.« -221-
»Wer hat Ihnen das gesagt?« »So leid es mir tut, aber Ihnen das zu sagen, steht mir im Moment noch nicht zu.« Jericho drehte mit dem Fuß Blands Leiche um. »Verflucht!« »Was ist los?« fragte Sable, der sich wieder ärgerte, daß er es nicht unterlassen konnte, Fragen zu stellen. Aber er freute sich so sehr darüber, noch am Leben zu sein, daß es ihm eigentlich egal war, wie er auf Jericho wirkte. »Seine Kleider sind voller Blut.« »So?« »Ich kann mich nicht als Conrad Bland verkleiden, um uns hier rauszuhelfen.« Jericho seufzte. »Es würde sowieso nicht gehen. Ich habe ja keinen Gesichtskitt mehr und die Haarfarbe würde auch nicht stimmen. Ich glaube, die Sache liegt nun bei Ihnen, Mr. Sable.« »Ich weiß nicht, was wir machen könnten«, sagte Sable und hoffte still, nicht noch mehr Unsinn zu reden. »Dann sollten Sie sich aber schnell etwas einfallen lassen«, sagte Jericho. »Wir werden nicht mehr lange alleine bleiben.« »Wie viele Soldaten sind denn noch draußen?« »Ein paar tausend weniger als vorher«, sagte Jericho grimmig. »Aber immer noch genug.« »So viele konnten Sie töten?« »Ich habe nur ein paar davon getötet«, sagte Jericho amüsiert lächelnd. »Die haben sich meist selber umgebracht. Während Sie sich nun Gedanken darüber machen, wie wir hier wegkommen, gibt es für mich noch etwas zu tun.« Er ging zu einer der toten Wachen hinüber, es war die Wache, die Bland und Sable von der Kapelle zum Auditorium begleitet hatte, und zog ihr den Laser aus dem Gürtel. Dann lief er durch den Raum und feuerte methodisch je einen Strahl in die gebrochenen und gemarterten Körper. Als er nach einigen Minuten zurückkehrte, -222-
waren Sable und er die beiden letzten lebenden Wesen im Raum. »Ich kann verstehen, warum Sie sie von ihrem Leiden befreien wollten«, sagte Sable rauh. »Aber ein paar von ihnen hätte man noch retten können.« »Das weiß ich.« »Was wollen Sie damit sagen?« wollte Sable wissen. Ein kalter Schauer lief über seinen Rücken. »Wir beide werden weitaus sicherer sein, wenn wir keine Zeugen zurücklassen, Mr. Sable«, sagte Jericho. »Speziell keine lebenden.« Plötzlich fragte sich Sable, ob Bland nicht das kleinere Übel gewesen wäre.
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25 »Emotionen verunzieren die Geisteshaltung.« Jericho »Warum können wir nicht auf dem gleichen Wege entkommen, wie Sie hereingekommen sind?« fragte Sable. »Weil wir umzingelt sind«, entgegnete Jericho geduldig. Seine Stimme wies nicht einmal den Hauch von Anspannung auf. Sie standen in der Mitte des Auditoriums, und während sie sich unterhielten, beobachtete Jericho wachsam die verschiedenen Türen. »Es war einfach gewesen, mich als einer von ihnen in ihrer Mitte zu verstecken, aber nun hat sich die Situation geändert. Wenn sie Blands Leiche entdecken, werden sie wissen, wer ich bin, egal, was für eine Uniform ich trage.« Seine offensichtliche Ruhe störte Sable. Jericho hatte gerade das Idol eines halben Planeten getötet, er war auf einem fremden Planeten in einer feindlichen Stadt umzingelt, hatte nur noch wenig Zeit, besaß außer einer Projektilwaffe und einem Laser keine besseren Waffen - und wirkte dabei nicht einmal beunruhigt. Mehr noch - er schien sich glänzend zu fühlen. »Nun, auf jeden Fall hat es keinen Sinn, es ihnen zu einfach machen«, meinte Jericho. »Helfen Sie mir ein wenig, Mr. Sable.« Jericho ging zur nächstgelegenen der toten Wachen und zog sie aus. Sable verstand die Idee sofort, und nach zwei Minuten gesellten sich fünf weitere Leichen zu einem Haufen von Blands unglücklichen Opfern. Auch sie waren mit dem Laser durchlöchert worden und durch nichts von deh anderen Leichen zu unterscheiden. Dann entledigten sie Bland seiner Kleidung, und Jericho bestand darauf, ihn an einen freien Balken zu hängen. »Aber -224-
warum?« fragte Sable. »Die Menschen tendieren dazu, eher auf den Boden als nach oben zu sehen«, sagte Jericho und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, als er wieder an Sables Seite trat. Dann zielte er mit dem Laser auf Blands Oberkörper und verbrannte alles, was sich oberhalb des Nackens befand. »Das wird seine Identifikation noch schwieriger machen.« Sable starrte ihn an und schüttelte erstaunt den Kopf. Das alles war für Jericho nur ein Geschäft. Er kümmerte sich einfach um die nötigen Details, so wie auch ein Lebensmittelhändler seine Waren von der besten Seite zeigt. »So weit, so gut, Mr. Sable«, sagte Jericho. »Nun sollten wir uns mit dem Fluchtplan beschäftigen. Es ist klar, daß ich mich nicht als Conrad Bland verkleiden kann. Genauso offensichtlich komme ich nicht als eine der Wachen durch.« »Ich verstehe immer noch nicht, warum.« »Weil ich Sie dann nicht hätte leben lassen dürfen«, sagte Jericho sachlich. »Nein, die Antwort liegt in Ihrer Anwesenheit. Sie sind der Schlüssel.« Er wartete einen Moment. »Was machen Sie denn hier? Warum sind Sie nicht in Amaymon?« Da wußte Sable plötzlich, wie sie entkommen konnten. Er durchsuchte seine Taschen und zog ein gefaltetes Blatt Papier raus. Sie hatten ihm seine Reisetasche nicht wieder ausgehändigt und so hatte er zu keiner Zeit die Möglichkeit gehabt, seine Kleidung zu wechseln oder das Papier wegzupacken. »Was ist das?« fragte Jericho. »Der Auslieferungsbefehl. Er erlaubt mir, Sie nach Amaymon zu überführen«, sagte Sable. »Wegen welchem Verbrechen?« interessierte sich Jericho. »Der Mord an Parnell Burnam.« -225-
»Sehr gut. Dann brauche ich auch nicht als der potentielle Mörder von Bland aufzutreten.« »Was meinen Sie damit -- potentiell?« »Sie denken doch nicht, wir kämen hier raus, wenn sie von Blands Tod erfahren, oder?« fragte Jericho ironisch. »Ich weiß nicht...«, begann Sable. Dann fiel sein Blick auf das Funkgerät. »Sie sind verrückt! Das klappt nie!« »Ich habe seine Stimme oft genug gehört, um die Stimmlage zu kopieren«, sagte Jericho. »Sie könnten mir ein bißchen bei der Satzkonstruktion helfen.« »Das kaufen die uns nie ab.« »Sie werden erstaunt sein, wieviel einem Leute abkaufen, die unter Druck stehen, Mr. Sable«, sagte Jericho ruhig. »Die sind da draußen wie die Fliegen abgekratzt und wußten nicht einmal, wer ihr Feind ist. Die werden el ichter zu lenken sein, als sie annehmen.« Er machte eine Pause. »Weiß außer Bland noch jemand, daß ich Parnell Burnam getötet habe?« »Sein Sicherheitschef- ein Mann namens Bromberg.« »Kennen Sie seinen Vornamen? Welchen militärischen Rang besitzt er?« Sable zuckte mit den Schultern. »Na gut«, sagte Jericho. »Wir werden es nur mit Bromberg zu tun haben. In dem Kleiderberg da drüben befinden sich einige Stifte und Notizbücher, Mr. Sable. Ich möchte, daß Sie mir exakt wie es Bland ausdrücken würde - eine Nachricht aufschreiben. Sie soll beinhalten, daß er den Attentäter gefangen habe und sich noch persönlich um ihn kümmern möchte, was immer das implizieren mag. Dann möchte ich, daß er Bromberg herbestellt und eine bewaffnete Eskorte in fünf Minuten hier erscheinen soll, die uns zu einem Privatflugzeug bringt, mit dem wir nach Amaymon fliegen werden. Da man vielleicht Rückfragen stellen wird, brauche ich eine Liste mit den für -226-
Bland typischen Redewendungen, die meine Autorität darlegen und die Unmöglichkeit weiterer Nachfragen aufzeigt.« »Okay«, sagte Sable, ging zu dem Kleiderstapel und holte sich einen Stift und ein Notizbuch. »Aber selbst wenn es klappt, werden wir ziemlich alt aussehen, wenn Bromberg auftaucht und bemerkt, daß niemand außer uns hier ist. « »In diesem Raum befinden sich Hunderte von Menschen«, sagte Jericho. »Er wird einige Sekunden brauchen, um festzustellen, daß nur noch zwei davon leben.« Sable schrieb die Rede auf, dann schaltete Jericho das Funkgerät ein, nahm das Mikrofon in die Hand, las sie mit Blands hoher Stimme und traf die weinerlichen Untertöne dermaßen perfekt, daß er selbst Sable beinahe getäuscht hätte, der neben ihm stand und ihn mit wachsendem Entsetzen beobachtete. Es entsetzte ihn weniger, daß sich Jericho auch an das Unmögliche heranwagte, es war eher die Mühelosigkeit, mit der er die Situation meisterte. Bald darauf klopfte Bromberg an die Tür und Sable, der sofort hinter ihm die Tür wieder schloß, führte ihn herein. Er hatte gerade einige Meter zurückgelegt, als Jericho ihn mit dem Laser erschoß. »Jetzt muß es schnell gehen!« sagte Jericho zu Sable, warf Laser und Messer durch den Raum und zog den Sicherheitschef aus. Sable kam dazu, und bald konnten sie den nackten Körper zu Blands greulicher Sammlung legen. Die verschiedenen Kleidungsstücke versteckten sie unter anderen Leichen. Jericho reichte Sable die Handschellen aus Brombergs Tasche. »Legen Sie sie mir an«, instruierte er den Kommissar. »Das sieht besser aus. Öffnen Sie jetzt die Türen, nehmen Sie die Pistole aus meinem Gürtel und richten Sie sie auf mich.« Sable tat dies und war kaum zehn Sekunden in dieser Pose, als auch schon die sechs Mann starke Eskorte eintraf. »Wo ist Mylord Bland?« wollte ihr Anführer wissen, während Blands -227-
Beine keinen Meter über ihm sanft hin- und herschaukelten. »Gegangen«, sagte Sable. »Die Krise ist vorbei.« Der Mann sah sich mißtrauisch im Raum um, dann wandte er sich wieder Sable zu. »Mylord Bland erwähnte Auslieferungspapiere. Kann ich sie sehen?« Sable reichte sie ihm. Der Mann studierte sie sorgfältig und gab sie zurück. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Folgen Sie mir.« Jericho ging sofort hinter ihm her, und Sable, der immer noch darauf wartete, daß die Welt in seinem Kopf zusammenbrach, folgte ihm schwerfällig. Sie suchten sich sorgfältig ihren Weg durch die Leichenberge in den Korridoren, dann traten sie raus und liefen zu einem offenen Jeep, der zwischen den ausgebrannten Wracks mehrerer Autos und Panzer stand. Sie wurden durch die totstillen Straßen von Tifereth gefahren. Sirenen heulten während der halbstündigen Fahrt zu Blands Privatflugzeug im Norden der Stadt. Sable, er hielt die Waffe noch immer auf Jericho gerichtet, lief zögernd die Gangway zu der luxuriösen Kabine des Flugzeuges hoch. Er kämpfte gegen den Zwang sich umzudrehen - im stillen erwartete er, daß sich jeden Moment der Flugplatz mit heranrasenden Autos füllen würde, die den Start des Flugzeuges verhindern wollten, da zwischenzeitlich Blands Leiche entdeckt worden war. | Aber nichts dergleichen geschah, einige Minuten später erreichte das Flugzeug das Ende der Startbahn, hob in nordwestlicher Richtung ab, flog eine enge Linkskurve und ging auf Südkurs Richtung Amaymon. Sable sah aus dem Fenster, als sie über Tifereth flogen. Von hier oben sah Tifereth wie jede andere Stadt aus - wenn man von dem Fehlen jeglichen Verkehrs absah. Ein Beobachter würde niemals bemerken, daß der ultimate Schlächter soeben von dem Ultimaten Henker zur Strecke gebracht worden war.
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26 »Wer sich eines Killers erbarmt, schmäht seine Opfer.« Jericho »Wer sich eines Killers erbarmt, schmäht seine Opfer.« John Sable Die Kabine war mit weißem Leder aus den Fellen seltener Tiere ausgelegt. Die Einrichtung, schwere, handgearbeitete mit Brokat und Satin überzogene Stücke, bestand aus zwei Sesseln und einer riesigen Couch. Ein Tisch neben der Couch öffnete sich auf Knopfdruck zu einer kleinen Bar. »Sie können mir jetzt die Handschellen wieder abnehmen«, sagte Jericho, der bequem auf einem der Sessel saß und Sable seine Hände hinhielt. »Nein, das kann ich nicht«, antwortete Sable, der auf der Couch Platz genommen hatte. Er zielte weiterhin mit der Pistole auf Jericho und mußte sich kurz mit seiner freien Hand an der Lehne der Couch festhalten, als das Flugzeug in eine Turbulenz geriet. »Warum nicht?« fragte Jericho unbewegt. »Weil Sie mich sofort umbringen würden«, erklärte Sable. »Da wir jetzt aus Tifereth entkommen sind, brauchen Sie mich nicht mehr, und langsam kenne ich Ihre Ansichten über Zeugen.« »Wenn es Sie beruhigt, nehmen Sie sie eben nicht ab«, sagte Jericho schulterzuckend. »Ich bin sicher, Sie werden sie mir vor der Landung in Amaymon noch abnehmen.« »Darüber habe ich bis jetzt noch nicht entschieden«, entgegnete Sable. »Darf ich Sie daran erinnern, daß ich Ihnen in Tifereth das Leben gerettet habe, Mr. Sable?« »Das weiß ich.« -229-
»Nun, und dann?« Sable seufzte tief. »Ich bin nicht wie Sie. Sie denken, jede Ihrer Handlungen wäre folgerichtig, sie scheinen niemals Zweifel zu haben. Bei mir ist das nicht so. Ich muß bei solchen Fällen langsam und sorgfältig vorgehen, alles genau abwägen und dann in eine bestimmte Ordnung bringen, bevor ich zu einem Entschluß kommen kann.« »Über welchen Fall zerbrechen Sie sich denn jetzt den Kopf?« fragte Jericho zynisch. »Über Sie«, erwiderte Sable mit bekümmertem Gesicht. »Was gibt Ihnen das Recht, über mich zu richten, Mr. Sable?« »Ich sah Sie neben Conrad Bland«, sagte Sable. »Niemand außer mir hätte den nötigen Hintergrund, um über Sie zu richten.« »Sie sehen nicht gerade glücklich aus.« »Bin ich auch nicht«, sagte Sable. »Sie haben Bland getötet, und das mußte getan werden - und Sie haben mein Leben gerettet, wofür ich Ihnen sehr dankbar bin -, aber ich weiß nicht, ob man Ihnen erlauben darf weiterzuleben.« »Sie wollen mich doch sicher nicht mit Bland vergleichen?« fragte Jericho lächelnd. »Nein, das will ich nicht. Sie sind weitaus gefährlicher als er.« »Reden Sie keinen Unsinn, Mr. Sable.« »Ich versuche so gerecht wie möglich zu sein«, sagte Sable. »Wenn die Positionen vertauscht gewesen wären, hätte Bland Sie dann töten können?« »Ich habe keine Ahnung.« »Spielen Sie hier nicht den Bescheidenen«, schnappte Sable. »Meinen Sie, wir spielen hier so ein verfluchtes kleines Spielchen?« »Alles klar, Mr. Sable«, sagte Jericho langsam. »Conrad Bland hätte mich unter keinen Umständen umbringen können.« -230-
»Das wußte ich.« »Trotzdem gibt das immer noch keine anständige Basis, um uns zu vergleichen«, sagte Jericho. »Natürlich gibt es die«, sagte Sable. »Beide habt ihr ausschweifend getötet.« »Aber aus verschiedenen Gründen.« »Er tötete aus Zwang, Sie aus Berechnung. Bevor wir in Amaymon landen, muß ich entscheiden, welche Motivation die schlimmere ist.« »Hätte ich mich nicht dazu entschlossen, Bland zu töten, hätte er den ganzen Planeten vernichtet.« »Er hatte keine Wahl«, sagte Sable. »Es gab für ihn keine entsprechende Alternative. Wieviel Menschen haben Sie auf Ihrem Weg nach Tifereth getötet?« »Einundzwanzig.« »Warum?« »Weil es nötig war.« »Warum haben Sie Ibo Ubusuku getötet?« »Er kannte meinen Auftrag - oder hätte ihn erraten können, wenn er ihn nicht gekannt hat.« Auf Jerichos Gesicht zeigten sich keine Zeichen von Bedauern oder Reue. »Na und?« sagte Sable. »Er arbeitete für die Republik. Er war auf Ihrer Seite.« »Niemand steht auf meiner Seite«, sagte Jericho kalt. »Zogen Sie in Erwägung, Ubusuku leben zu lassen?« »Natürlich«, sagte Jericho. »Wie Sie selbst sagten, töte ich niemals impulsiv.« »Aber Sie haben ihn trotzdem getötet.« »Es war notwendig geworden.« »Und Gaston Leroux?« -231-
»Ein weiteres Glied der Kette.« »Aber er sah Sie nur in Verkleidung. Er kannte Ihren Namen nicht, ja wußte nicht einmal, wie man Sie finden konnte.« »Sein Leben war im Vergleich zu meiner Mission unwichtig.« »Was wäre passiert, wenn Sie ihn verschont hätten?« fragte Sable weiter. »Vielleicht nichts.« »Aber warum mußten Sie ihn dann töten?« »Weil ich mich nicht auf Möglichkeiten, sondern auf Sicherheiten verlasse, Mr. Sable.« »Er war ein Mensch.« »Bland schlachtete zur gleichen Zeit Zehntausende von Menschen ab«, führte Jericho an. »Ich weiß. Sorgten Sie sich um sie?« »Um wen?« fragte Jericho verwirrt. »Blands Opfer.« »Was für einen Unterschied macht es? Ich tötete ihn, bevor er noch mehr Menschen abschlachten konnte.« »Es macht einen Unterschied. Warum töteten Sie Bland?« »Ich verstehe die Frage nicht.« »Ich habe Sie gefragt, warum Sie Bland umgebracht haben.« »Es war mein Job. Ich habe diese Aufgabe akzeptiert.« Sable seufzte wiederum und starrte die nächsten Minuten stumm aus dem Fenster, wog alles was er gesehen und jetzt gehört hatte ab, fügte zusammen, versuchte Hintergründe zu klären, baute seine kleine Pyramide aus Fakten und Entscheidungen und verglich schließlich seine unausweichliche Entscheidung mit der absoluten Notwendigkeit von Blands Tod. Dann wandte er den Blick von der unter ihnen dahinziehenden Landschaft ab, richtete sich auf und sah direkt in das ausdruckslose Gesicht von Jericho. »Sind Sie nun zu einer Entscheidung gekommen?« fragte -232-
Jericho teilnahmslos. »Ja.« »Und?« »Von jetzt an«, sagte Sable, »stehen Sie wegen Mordes an Parnell Burnam unter Arrest.« Dreitausend Kilometer entfernt lächelte die Weiße Lucy, schloß ihre Augen und starb.
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27 »Gott und Satan sind in ihren Reichen - die Welt befindet sich im Lot.« John Sable Sable stand zwischen Pietre Veshinsky und Orestes Mela auf einem kleinen Friedhof in einem Randbezirk von Amaymon. Er blickte auf den flachen Sarg, der gerade in die Erde versenkt wurde. Die Ereignisse hatten sich in den letzten vier Tagen überschlagen. Die Justiz, ansonsten ein wenig langsam auf Walpurgis, war vorangestürmt, als säße Satan persönlich in ihrem Nacken. Schon zwei Stunden nach ihrer Ankunft in Amaymon, war Jericho in einen kleinen Verhandlungsraum ohne Geschworene, Reporter oder einen Gerichtsschreiber geführt worden - sogar Sable hatte man von der Verhand lung ausgeschlossen. Er war für schuldig befunden und zum Tode verurteilt worden, danach hatte man ihn in den Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses abgeführt. Dort konnte er noch zwei der Wachen töten und hatte es schon bis zu einem Versorgungsschacht geschafft, bevor er wieder eingefangen und in eine Einzelzelle gebracht wurde. Während Jerichos Fluchtversuch bekannt wurde, tagten schon die Vertreter der Regierung und des Sektenrates hinter verschlossenen Türen. Am frühen Abend wurde die Sitzung aufgelöst und das Urteil noch vor Mitternacht vollstreckt. Jerichos Beerdigung wurde bis zur Ankunft von Mela, dem Repräsentanten der Republik, aufgeschoben. Auf seinen Wunsch wurden ihm Fotografien und die Maße der Leiche vorgelegt. Nun stand Sable auf dem Friedho f, ignorierte den leichten -234-
Nieselregen, und sah zu, wie man das Grab mit Schutt und Lehm wieder auffüllte. »Keinen Grabstein?« fragte Veshinsky. »Wir konnten seinen richtigen Namen nie herausfinden«, erwiderte Sable. »Sein Kodename war Jericho«, sagte Mela und zog seine Jacke enger um sich. »Aber keiner wußte, wer er wirklich war.« »Nun«, sagte Veshinsky. »Das Wichtigste war doch, daß er seine Mission erfüllen konnte.« »Da kann ich Ihnen nur zustimmen«, sagte Mela. »Das war der vordringlichste Wunsch der Republik. Natürlich werden wir die Arretierung und Exekution von Jericho mit einem Extrabonus belohnen.« »Ich frage mich, wie er so weit kommen konnte, ohne aufgehalten zu werden«, sinnierte Veshinsky. »Wer?« fragte Sable. »Bland natürlich.« »Wer weiß?« sagte Mela. »Dennoch - Hauptsache, er ist tot!« »Richtig«, stimmte Veshinsky zu. »Wir haben ihm zu Ehren einen Nationaltrauertag bestimmt.« Er kicherte belustigt. »Für dieses Monster?« meinte Mela. »Was passiert denn, wenn die Bevölkerung mitbekommt, was wirklich in Tif ereth vor sich ging?« »Das wird sie nicht«, sagte Veshinsky. »Früher oder später werden sie es aber!« beharrte Mela. »Wer wird es ihnen dann sagen, Mr. Mela?« fragte Veshinsky trocken. »Sie vielleicht, die seinen Tod befohlen haben? Die Regierung, die sie darum gebeten hatte, Jericho auf seine Fährte zu setzen? Oder der Sektenrat, der uns dazu gezwungen hat, ihm Asyl zu gewähren und ihn dann nicht mehr unter Kontrolle brachte? Nein, der einzige, der es ihnen hätte sagen können, war Jericho, aber er ist ja nun tot.« »Was ist mit der Presse?« -235-
»Wir kontrollieren die Presse«, antwortete Veshinsky lächelnd. »Es ist für alle Beteiligten das beste, wenn wir Bland als Märtyrer sterben lassen, genauso wie es in unser aller Interesse lag, seinen Attentäter vor Gericht zu bringen und ihn für seine abscheuliche Tat bezahlen zu lassen. Habe ich nicht recht, John?« »Ja, Pietre«, sagte Sable. »Sie haben recht.« Selbst wenn es die falschen Gründe sind, fügte er stumm hinzu. Der Regen wurde nun stärker, und die drei Männer verließen das namenlose Grab und gingen zurück zum Parkplatz. Veshinsky schlug vor, daß Mela von Sables Fahrer zum Raumhafen gebracht wurde, während er und Sable seinen Wagen benutzten. »Ich woilte Sie nur noch wissen lassen, John«, sagte Veshinsky, als sein Fahrer den großen Wagen über die schlüpfrigen Straßen lenkte, »daß wir alle sehr stolz auf Sie sind. Sie haben nun eine glänzende Zukunft vor sich.« »Ich danke Ihnen«, sagte Sable. »Man wird Sie befördern und Ihr Gehalt erhöhen, und ich kann, im Vertrauen gesagt, verstehen, daß der Stadtrat eine kleine Feier zu Ihren Ehren veranstaltet.« »Das freut mich wirklich sehr.« »Natürlich können Sie Ihre Freude jetzt noch nicht so richtig ausdrücken«, meinte Veshinsky verständnisvoll. »Sie sind seit Ihrer Rückkehr noch nicht wieder derselbe geworden.« »Ich werde etwas Zeit brauchen, um nach Tifereth wieder mit den Dingen ins reine zu kommen.« Veshinsky wischte sein beschlagenes Fenster frei und sah hinaus in den Regen. »Wie war es?« fragte er schließlich. »Kennen Sie die Schnitzereien in der Kirche der Vorboten?« fragte Sable zurück. Veshinsky nickte. »Dort war es schlimmer.« »Ich verstehe«, sagte Veshinsky ernst. »Mela war kurz nach -236-
Blands Flucht auf Neu-Rhodesien. Er hat mich über einige Details aufgeklärt.« »Was er auch gesehen hat, es war niemals so schlimm wie in Tifereth.« Sable fröstelte und stellte seinen Kragen hoch, als ob dies ihn wärmen könnte. Veshinsky wartete einen Moment. »Wie geht es Siboyan?« »Gut.« »Wie hat sie Blands Tod aufgenommen?« »Wie die meisten anderen«, sagte Sable leise. »Sie ist traurig darüber, daß ich ihn nicht retten konnte.« »Sie haben es ihr noch nicht gesagt?« »Ich diskutiere meine Fälle nicht außerhalb meines Büros.« Veshinsky lächelte. »Das ist eine sehr kluge Entscheidung, John.« Er zündete sich eine Zigarre an und bot auch Sable eine an, doch dieser lehnte ab. »Ich habe ein paar Karten für den Kampf nächste Woche. Wollen Sie nicht vielleicht mitkommen?« »Vielen Dank für die Einladung, Pietre, aber ich für meinen Teil habe für lange Zeit genug Blut gesehen.« Der Wagen erreichte Sables Straße. »Da gibt es noch einen Punkt, der mich beschäftigt«, sagte Veshinsky. »Wenn Bland all das war, was Sie und Mela über ihn gesagt haben, warum haben Sie dann Jericho nicht laufen lassen?« Sable sah seinen alten Freund lange und durchdringend an, während er sich fragte, ob er es ihm erklären konnte, ob er es überhaupt jemals jemandem erklären konnte. Er hob die Schultern und ließ sie langsam wieder sinken. »Er hat das Gesetz gebrochen.« Veshinsky blickte lange auf die Spitze seiner Zigarre. »Wenn Sie so darüber denken, John. Für mich ist die Sache jetzt -237-
erledigt.« Die Limousine hielt vor Sables Haus. »Wir sehen uns. Und blicken Sie nicht so finster drein - Sie sind ein Held.« Sable winkte ihm zu, als der große Wagen weiterfuhr, dann betrat er das Haus. Die Kinder waren noch in der Schule und Siboyan beim Einkaufen. Sogar die Katze schien verschwunden zu sein. Langsam wanderte er von Zimmer zu Zimmer und fragte sich immer wieder, ob er wohl jemals den Gestank von Tifereth vergessen konnte. Als er an der Cali-Statue vorbeikam, spielte er mit dem Gedanken, sie herunterzunehmen und wegzuwer fen, so wie er es mit der Statue und dem Baphomet in seinem Büro gemacht hatte. Aber dann entschied er sich dagegen. Siboyan glaubte noch immer, und die Kinder natürlich auch, jedenfalls soweit Kinder dazu fähig sind. Wenn sie irgendwann einmal ihrem eigenen Tifereth gegenüberstanden - er hoffte, dies würde nie geschehen -, würden sie die Statue noch schnell genug entfernen. In der Zwischenzeit, na ja, sie bestand doch nur aus Ton und Farbe. Für ihn bedeutete sie nicht mehr, als er ihr an Bedeutung zugestand. Er ging ins Schlafzimmer und zog sich bedächtig seinen Gartenanzug an. Der Regen hatte aufgehört, die Sonne brach schon wieder durch die Wolken, und er hatte genügend zu tun. Der Garten, wie auch sein Leben, befand sich vorläufig in einer Art Verfallszustand. Er würde sich mit beidem beschäftigen müssen, alles zu seiner Zeit. Schließlich, dachte er seufze nd, wurde sein Leben vom Unkraut befreit. Er hatte die Kälte und Dunkelheit der Nacht überlebt. Es würde einige Zeit dauern, aber er würde wieder Wurzeln schlagen und wachsen können. Er ging hinaus in den Garten. ENDE
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